133 68 5MB
German Pages 299 [304] Year 2012
Zwischen Familie, Heilern und Fürsorge Das Bewältigungsverhalten von Epileptikern in deutschsprachigen Gebieten des 16.–18. Jahrhunderts
von Angela Schattner MedGG-Beiheft 42
Franz Steiner Verlag Stuttgart
Zwischen Familie, Heilern und Fürsorge
Medizin, Gesellschaft und Geschichte Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung herausgegeben von Robert Jütte Beiheft 42
Zwischen Familie, Heilern und Fürsorge Das Bewältigungsverhalten von Epileptikern in deutschsprachigen Gebieten des 16.–18. Jahrhunderts von Angela Schattner
Franz Steiner Verlag Stuttgart 2012
Umschlagabbildung: Kupferstich von Jean Duplessis-Bertaux (1750–1818). © Wellcome Library London
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und der Robert Bosch Stiftung GmbH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09947-9 Zugleich Dissertation an der Universität des Saarlandes, Saarbrücken 2010.
Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2012 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren Printed in Germany
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Forschungsstand und Forschungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Begriffserklärung und methodisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11 13 17 21
2 Hoffnung auf Heilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.1 Der medizinische Markt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.2 Die Säftelehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.3 Neoplatonismus, Alchemie und (Natur-)Magie . . . . . . . . . . . . . . . 48 2.4 Gott, Teufel und die Heiligen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 2.5 Epileptiker als Nutzer des medizinischen Marktes . . . . . . . . . . . . 100 3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen . . . . . 3.1 Der lange Weg zur Heilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die chronische Erkrankung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Versorgungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Ehe und Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Der typische Epileptiker? – Die Quellen im Vergleich . . . . . . . . .
107 107 128 155 169 180
4 Fürsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Die Reform der Armenpflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Landgrafschaft Hessen-Kassel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Hochstift Würzburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Grafschaft Saarbrücken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Außerhalb des obrigkeitlichen Fürsorgesystems . . . . . . . . . . . . . .
197 197 203 219 243 253
5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Soziale Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Bewältigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
260 260 267 271
6 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Orts-, Personen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
275 275 280 281 297
Für meine Eltern und Michael
Vorwort Die Idee für dieses Buch hat ihren Ursprung in meiner Studienzeit als ich als Hilfskraft im Wohnprojekt für Selbstbestimmtes Wohnen „VIWIH“ der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft in Saarbrücken arbeitete. Dort konnte ich einerseits erleben, wie schwierig es sein kann den Alltag mit einer Behinderung zu gestalten, andererseits wie jeder Bewohner eigene Strategien entwickelte mit seiner Erkrankung und den täglichen Problemen umzugehen. Auf die historische Relevanz der Frage, wie chronisch Kranke und Menschen mit Behinderung in früheren Epochen ihr Leben gestalteten, stieß mich schließlich einer der Bewohner. Frank Wagner stellte mir die Frage, wie chronisch Kranke früher mit ihren Problemen umgegangen seien und wie man sie behandelt habe. Ich konnte sie nur unbefriedigend beantworten. Die seitdem entfachte Neugier mündete schließlich in einer Diplomarbeit zum Leben von Menschen mit Behinderung in der Frühen Neuzeit und zum Entschluss das Thema unter Berücksichtigung einer Krankengruppe zur Dissertation auszubauen. Das Projekt hätte allerdings weder entstehen noch gedeihen können, ohne die Unterstützung meines Doktorvaters Prof. Dr. Wolfgang Behringer, der mir mit viel praktischem und theoretischem Rat half, es umzusetzen. In zahlreichen Gespräche motivierte er mich „dran zu bleiben“ und half mit vielfältigen Anregungen das jetzige Buch zu formen. Vielen Dank dafür. Meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Peter Schuster möchte ich an dieser Stelle ebenfalls für die Hinweise und Anregungen danken, die das Manuskript verbesserten. Während meiner Recherchen und im Schreibprozess habe ich vielfältige Unterstützung erfahren. Ich möchte mich ganz herzlich bei Prof. Dr. H. C. Erik Midelfort bedanken, der mir freundlicherweise wertvolle Hinweise für meine Quellenrecherche gegeben hat. Ebenso war Prof. Dr. Mary Lindemann so nett, mit mir über mein Projekt zu diskutierten, und half mir mit wichtigen Anregungen. Hilfreiche Beratung erhielt ich von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der zahlreichen Archive und Bibliotheken, die ich im Lauf meiner Recherchen aufsuchte. Mein Dank gilt hier besonders den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Staatsarchivs Würzburg, des Historisches Archivs des Juliusspitals Würzburg, der Stadtarchive Würzburg, Saarbrücken, Ebern, Haßfurth und Kitzingen, der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel und des Fürstlich und Gräflichen Fuggerschen Familien- und Stiftungsarchivs. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Thüringer Hauptstaatsarchivs, des Staatsarchiv Wolfenbüttel und des Staatsarchiv Bückeberg danke ich für die unbürokratische Bereitsstellung von Quellen in Form von Kopien. Dank gebührt auch dem Kirchenpfleger der Gemeinde Diepoltskirchen Herrn Johann Pongratz, der mir Gelegenheit gab, das Mirakelbuch der Wallfahrt zum Heiligen Valentin einzusehen, das sich in seiner Verwahrung befindet. Besonders herzlich möchte ich Frau Prof. Dr. Christina Vanja vom Landesarchiv des Wohlfahrtsverbandes Hessen danken, die mir nicht nur wichtige Hinweise für
10
Vorwort
die Arbeit gegeben hat, sondern auch so nett war, mich in die Geheimnisse der LWV-Archiv-Datenbanken Hospia und LARS einzuführen. Viele Freunde und Kollegen haben entscheidend zur Verbesserung des Manuskripts beigetragen, indem sie Teile oder das ganze Manuskript gelesen und korrigiert und mit mir über das Projekt diskutiert haben: Tanja Karmann, Susanne Schäfer, Judith Reinholdt, Sebastian Zanke, Dr. Heidi Mehrkens und Dr. des. Katharina Reinhold. Herzlichen Dank auch an Prof. Dr. Martin Dinges, der noch entscheidende Verbesserungsvorschläge für das Manuskript hatte, und an Prof. Dr. Helmut Neuhaus für seine Kritik. Außerdem möchte ich mich bei meiner Lektorin Dr. Barbara Schwindt bedanken, die das Manuskript in kürzester Zeit mit großer Sorgfalt durchgearbeitet hat. Die Arbeit hätte nicht entstehen können ohne die großzügige und unbürokratische Unterstützung durch das Promotionsstipendium der Studienstiftung des Deutschen Volkes, die mir erst ermöglichte die umfangreichen Recherchen durchzuführen. Für die Möglichkeit der Drucklegung möchte ich mich bei Prof. Dr. Robert Jütte, dem Herausgeber der Reihe Medizin, Gesellschaft und Geschichte, bedanken. Mein herzlicher Dank gilt auch der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und der Robert Bosch Stiftung, deren großzügige Unterstützung die Drucklegung erst ermöglichte. Nicht zuletzt möchte ich mich bei meinen Eltern bedanken, die immer an mich geglaubt haben und immer wieder im Stande waren, mich zu motivieren, wenn es wieder einmal gar nicht voran gehen wollte. Vielen Dank auch an meinen Partner Michael für seine Geduld während der langen Archivaufenthalte und des Schreibprozesses und seine ständige Bereitschaft, mit mir sowohl theoretische als auch praktische Probleme der Arbeit zu diskutieren.
1 Einleitung Wer sich mit dem Thema Epilepsie in vergangenen Jahrhunderten beschäftigt, muss sich zunächst mit einem Konglomerat an Assoziationen, Fallgeschichten und vorgefertigten Meinungen auseinandersetzen, die sowohl in Zeitungsartikeln als auch in wissenschaftlichen Aufsätzen vertreten werden. So wird zum Beispiel in einem Artikel der „ZEIT“ von 2007 über die psychischen und sozialen Folgen von Epilepsie die Behauptung aufgestellt, Epileptiker seien aufgrund ihrer Erkrankung bis in die Neuzeit Opfer ständiger Diskriminierung gewesen. Gleichzeitig wird der Mythos der Genialität von Epileptikern anhand von Beispielen berühmter Persönlichkeiten gepflegt, die an Epilepsie gelitten haben sollen: „Es ist auch auf die oft erschreckenden Symptome zurückzuführen, dass Epilepsie in der Vergangenheit als Ausdruck von Sünde und dämonischer Besessenheit galt. In einigen Entwicklungsländern hat sich dieses Vorurteil bis heute gehalten, ebenso wie das der Ansteckungsgefahr. Obwohl Epilepsie bei den alten Griechen als ‚heilige Krankheit‘ galt und Persönlichkeiten wie Sokrates, Julius Cäsar und Vincent van Gogh Anfälle erlitten haben sollen, kennt die Geschichte grausame Diskriminierungen. Im Mittelalter wurden Betroffene als Hexen verfolgt, im ‚Dritten Reich‘ fielen sie der Euthanasie zum Opfer.“1
Die Autorin eines Artikels über die Therapie von Epilepsie in der „Süddeutschen Zeitung“ aus dem Jahr 2006 stellt fest, dass die Erkrankung überhaupt erst ab dem 17. Jahrhundert als solche anerkannt wurde: „Im Mittelalter galt die Fallsucht wegen ihres spektakulären Erscheinungsbildes noch als Strafe Gottes. Erst im 17. und 18. Jahrhundert reihte man sie in die ‚normalen’ Erkrankungen ein.“2
Unterstützt und geprägt wird die Einschätzung der Epilepsie als dämonischer und furchterregender Krankheit vermutlich dadurch, dass in Teilen Afrikas, vor allem in Nigeria, die Epilepsie als angehexte und ansteckende Krankheit gilt, die zur Stigmatisierung und Ausgrenzung der Erkrankten aus der sozialen Gemeinschaft führt.3 In Deutschland werden Epileptiker laut einer 1996 durchgeführten Umfrage bis heute in der Gesellschaft nicht völlig vorurteilsfrei behandelt, mit Geisteskranken gleichgesetzt und als potentielle Gefahr im Beruf und Straßenverkehr wahrgenommen.4 Auch Film und Literatur tragen in nicht unbeträchtlichem Maße dazu bei, die Assoziationen von Epilepsie mit Besessenheit und stigmatisierender Krankheit zu verfestigen, auch wenn sie dabei nicht zwangsläufig auf das Mit1 2 3 4
Wüstenhagen, Claudia: Epilepsie. Angst vor dem Fall, in: DIE ZEIT, 13.09.2007, Nr. 38, siehe auch: http://www.zeit.de/2007/38/epilepsie?page=1 (zuletzt eingesehen am 23.08.2011). Rögener, Wiebke: Dämpfer fürs Gehirn. Cannabinoide können die Tätigkeit der Hirnzellen hemmen, in: Süddeutsche Zeitung, 11./12. November 2006, Nr. 260, S. 21. Awaritefe, Alfred: Epilepsy: The Myth of a Contagious Disease, in: Culture, Medicine and Psychiatry 13 (1989), S. 449–456. Krämer, Günter: Das große TRIAS-Handbuch Epilepsie, 3. überarbeitete Auflage, Stuttgart 2005, S. 326 f.
12
1 Einleitung
telalter und die Frühe Neuzeit verweisen. Scott Derricksons Film „The Exorcism of Emily Rose“ von 2005 beispielsweise greift als Vorlage den Fall von Anneliese Michels aus den 1970er Jahren auf, der in der Bundesrepublik für Schlagzeilen sorgte: Die 23-jährige diagnostizierte Epileptikerin starb nach 64-fachem Exorzismus an den Folgen von Unterernährung. Sehr religiös erzogen und als Studentin der katholischen Theologie in der Pädagogischen Hochschule in Würzburg eingeschrieben, leugnete sie die Diagnose und führte ihren Zustand auf die Besessenheit durch den Teufel zurück. Bestärkt durch ihre Mutter und Geschwister, nahm sie neun Monate vor ihrem Tod Kontakt zu dem Priester Arnold Renz und dem Pfarrer Ernst Alt auf, die die Exorzismen nach römisch-katholischem Ritual durchführten. Sowohl die beteiligten Geistlichen als auch die Mutter wurden nach Annelieses Tod wegen unterlassener Hilfeleistung zu drei Jahren Gefängnis auf Bewährung verurteilt.5 An der Entstehung dieses Films war auch die amerikanische Linguistin, Kulturanthropologin und Religionswissenschaftlerin Felicitas Goodman beteiligt, die den Fall aufgearbeitet hatte und die für eine nach ihrer These richtige Darstellung des Exorzismus’ und der Besessenheitserscheinung sorgte.6 Auch Hans-Christian Schmids Film „Requiem“ aus dem Jahr 2006 basiert auf diesem Fall. Bestärkt wird die Vorstellung von Epilepsie als einer in der Geschichte missverstandenen und mit Besessenheit gleichgesetzten Erkrankung auch in Teilen der medizinischen und medizingeschichtlichen Literatur: Darin wird die These vertreten, dass ein rationaler Umgang mit Epilepsie nur in der Antike und dann erst wieder ab der Zeit der Aufklärung stattgefunden habe. Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit seien Epileptiker ebenso wie Geistesgestörte von der Mehrheit der Bevölkerung und vor allem von Theologen für Besessene gehalten worden und hätten zahllose Exorzismen über sich ergehen lassen müssen. Erst die Aufklärung habe Ende des 18. Jahrhunderts dieser Behandlung Einhalt gebieten können, und erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts seien Epileptiker und Geistesgestörte einer medizinischen Therapie zugeführt worden.7 Während die zuvor genannten Arbeiten das Phänomen Epilepsie aus einer modernen Sicht betrachten und auf die Vergangenheit projizieren, ist das Ziel der vorliegenden Arbeit, diesen Vorurteilen und Annahmen aus zeitgenössischer Perspektive auf den Grund zu gehen. Für den Zeitraum der Frühen Neuzeit soll untersucht werden, wie die Erkrankung namens ‚epilepsia‘, Epilepsie, Fallsucht, fallende Sucht, Hinfallende Krankheit (die Liste der Synonyme ließe sich beliebig fortsetzen) von den Zeitgenossen wahrgenommen 5
6 7
Böning, Jobst: Der Weg von der Epilepsie zur „Besessenheit“ der Anneliese Michels aus Klingenberg, in: G. Wahl/W. Schmitt: Besessenheit und Hysterie, Weinsberger Gespräche zur Seelenheilkunde (= Wissenschaftliche Gespräche zur Seelenheilkunde, Bd. 4), Reichenbach 2001, S. 121–138. Goodman, Felicitas D.: The Excorcism of Anneliese Michel, Garden City 1981. Krämer: Das große TRIAS-Handbuch Epilepsie, S. 20 f.; Schneble, Hansjörg: Heillos, Heilig, Heilbar: Die Geschichte der Epilepsie von den Anfängen bis heute. Berlin 2003, S. 66; Arts, Nicolaas: Epilepsy through the Ages. An Anthology of Classic Writings on Epilepsy, Alphen aan den Riijn 2001, S. 71–78.
1.1 Forschungsstand und Forschungsansatz
13
wurde. Dabei wird in erster Linie der gesellschaftliche Umgang mit der Erkrankung und den Erkrankten in den Blick genommen. 1.1 Forschungsstand und Forschungsansatz Vor einigen Jahrzehnten hat die Geschichtswissenschaft den Körper als Forschungsgegenstand neu entdeckt, was zu einer Fülle von Untersuchungen über die Wahrnehmung von Körperlichkeit, Gesundheit und Krankheit sowie körperlichen Erfahrungen wie Leid, Schmerzerfahrung, Lust oder Emotionen geführt hat.8 Mit diesen Untersuchungen wurde auch die bis dahin grundlegende Annahme, der Körper sei ein unveränderliches und ahistorisches Objekt, in Frage gestellt und neue Methoden zur Erforschung von Körper und Körperwahrnehmung entwickelt.9 Auch in der Medizingeschichte wurde die Perspektive gewechselt: 1985 rief der britische Medizin-Historiker Roy Porter in seinem Aufsatz „The patients view“ dazu auf, sich von der ärztezentrierten Forschung zu lösen und eine Geschichte aus Sicht der Patienten zu schreiben. Gleichzeitig forderte er die Loslösung von gelehrten Texten studierter Ärzte und die Erschließung neuer Quellen.10 Unter diesem Einfluss hat sich die Patientengeschichte erst in der amerikanischen und englischen, etwas später in der deutschsprachigen Forschung etabliert, und eine Reihe einschlägiger Studien haben die Patienten als handelnde, wertsetzende und wahrnehmende Akteure in den Mittelpunkt ihrer Arbeit gestellt.11 Auch über einzelne Erkrankungen und Patientengruppen, vor allem den „Wahnsinn“ und die Gruppe der „Wahnsinnigen“, sind unter Zuhilfenahme historischer Kontextualisierungskonzepte im letzten Jahrzehnt bereits einige Forschungen veröffentlicht worden.12 Dagegen blieb die Geschichtsforschung zur Epilepsie weitgehend der klassischen Medizingeschichte überlassen. Als Standardwerk kann hier noch immer die erstmals 1945 von dem britischen Medizinhistoriker Owsei Temkin veröffentlichte Studie „The Falling Sickness. A History of Epilepsy from the
8 9 10 11 12
Lorenz, Maren: Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte (= Historische Einführungen, Bd. 4), Tübingen 2000, S. 25 ff. Stolberg, Michael: Homo patiens. Krankheits- und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit, München 2003, S. 12–21. Ernst, Katharina: Patientengeschichte. Die kulturhistorische Wende in der Medizinhistoriographie, in: Ralf Bröer (Hg.): Eine Wissenschaft emanzipiert sich. Die Medizinhistoriographie von der Aufklärung bis zur Postmoderne, Pfaffenweiler 1999, S. 97–110. Eckart, Wolfgang U./Jütte, Robert: Medizingeschichte. Eine Einführung, Köln/Weimar 2008, S. 181–190. Kutzer, Michael: Anatomie des Wahnsinns: Geisteskrankheiten im medizinischen Denken der Frühen Neuzeit und die Anfänge der pathologischen Anatomie, Hürtgenwald 1998; Midelfort, H.C. Erik: A History of Madness in Sixteenth Century Germany, Stanford 1999; Derselbe: Mad Princess of Renaissance Germany, Charlottesville 1994.
14
1 Einleitung
Greeks to the Beginning of Modern Neurology“ gelten.13 Daneben sind die Bücher des Epileptologen Hansjörg Schneble14 und des Medizinhistorikers Michael Kutzer zu nennen.15 Die genannten Studien zeichnen sich vornehmlich durch die Untersuchung von Erklärungs- und Vorstellungsmodellen auf der Grundlage zeitgenössischer medizinischer Texte aus. Mit diesem Quellentypus wird vorzugsweise der Blick auf die Vorstellungen einer kleinen, medizinisch geschulten und hochgebildeten Schicht von Ärzten frei, wogegen der praktische Umgang mit der Epilepsie und die Vorstellungen anderer Bevölkerungsschichten nicht beachtet werden. Neben den medizingeschichtlichen Forschungen werden die Wahrnehmung von Epilepsie und ihre Behandlung vor allem in älteren volkskundlichen Arbeiten aufgegriffen, in denen hauptsächlich „volksmedizinische“ Heilmittel und die daran anknüpfenden Vorstellungen zusammengetragen werden.16 Neuere Forschungsarbeiten konzentrieren sich auf die Auswertung von Romanliteratur: Durch die Analyse der Darstellung von Epilepsie sollen die Vorstellungen, Ängste und Vorurteile, die die Autoren mit der Krankheit verbanden, herauskristallisiert werden, wodurch Erkenntnisse über die gesellschaftliche Akzeptanz von Epileptikern ermöglicht werden.17 Allerdings konzentrieren sich die bisherigen Bemühungen größtenteils auf neuere Literatur und entwickeln keine zusammenhängende Darstellung der einzelnen Untersuchungen. Die einzigen bisherigen Arbeiten mit einem kulturgeschichtlichen Ansatz sind in den Aufsätzen von P.P. Faust „Aus der Geschichte des Priorates und der Epileptiker-Wallfahrt St. Valentin in Rufach“18 und von Bartholomäus Spirkner „Kulturgeschichtliches aus dem Mirakelbuche der Wallfahrt zum Hlg. Valentin in Diepoldskirchen 1420–1691“19 zu finden. In diesen Aufsätzen 13
Temkin, Owsei: The Falling Sickness. A History of Epilepsy from the Greeks to the Beginning of Modern Neurology, 1. Auflage 1945, 2. Auflage, London 1994. 14 Schneble, Hansjörg: Krankheit der ungezählten Namen. Ein Beitrag zur Sozial-, Kulturund Medizingeschichte der Epilepsie anhand ihrer Benennung vom Altertum bis zur Gegenwart, Bern/Stuttgart/Toronto 1985; Derselbe: Heillos, Heilig, Heilbar. 15 Kutzer, Michael: Das Bild der Epilepsie in medizinischen Inauguraldissertationen aus der Zeit zwischen 1670 und 1770, med. Diss., Mainz 1983. 16 Grabner, Elfriede: Krankheit und Heilen. Eine Kulturgeschichte der Volksmedizin in den Ostalpen, 2. Auflage, Wien 1997; Bargheer, Ernst: Eingeweide. Lebens- und Seelenkräfte des Leibesinneren im deutschen Glauben und Brauch, Berlin/Leipzig 1931. 17 Waller, Friederike/Waller, Hans Dierk/Marckmann, Georg (Hg.): Gesichter der Heiligen Krankheit. Die Epilepsie in der Literatur, Tübingen 2004; Engelhardt, Dietrich von/ Schneble, Hansjörg/Wolf, Peter (Hg.): „Das ist eine alte Krankheit“: Epilepsie in der Literatur: mit einer Zusammenstellung literarischer Quellen und einer Bibliographie der Forschungsbeiträge, Stuttgart 2000; Tellenbach, Hubertus: Schwermut, Wahn und Fallsucht in der abendländischen Dichtung, Hürtgenwald 1992. 18 Faust, P. P: Aus der Geschichte des Priorates und der Epileptiker-Wallfahrt St. Valentin in Rufach, in: Rolf Kruse (Hg.): Epilepsie 84, Reinbek 1984, S. 198–209. 19 Spirkner, Bartholomäus: Kulturgeschichtliches aus dem Mirakelbuche der Wallfahrt zum Hlg. Valentin in Diepoldskirchen 1420–1691, in: Verhandlungen des Historischen Vereins für Niederbayern 42 (1906), S. 175–209.
1.1 Forschungsstand und Forschungsansatz
15
werden vor allem die kulturgeschichtlichen Aspekte von Epileptiker-Wallfahrten untersucht, ihre Entstehung, Wallfahrtspraktiken und ihre Veränderungen. In keiner der genannten Arbeiten wird der Umgang mit der Epilepsie und den Epileptikern eingehend untersucht. Die vorliegende Arbeit greift dieses Forschungsdefizit auf, indem sie die Betroffenen – die Kranken und ihr unmittelbares Umfeld – in den Mittelpunkt stellt. Gefragt wird, wie die frühneuzeitliche Gesellschaft und die Betroffenen die Erkrankung wahrnahmen, welche sozialen Folgen sich aus der Erkrankung und ihrer Wahrnehmung für die Epileptiker ergaben und wie Gesellschaft und Betroffene versuchten, die Probleme zu bewältigen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass es den Epileptiker nicht gab. Die Kranken waren vielmehr wahrnehmende und handelnde Individuen, aber zugleich Produkt ihrer Umgebung. Zudem waren Epileptiker in vielfältige Beziehungsgeflechte eingebunden, die hier ebenfalls berücksichtigt werden. Um diesen Umständen Rechnung zu tragen, sollen die Erfahrungen von Epileptikern nicht isoliert, sondern eingebettet im Netz ihrer gesellschaftlichen Beziehungen und Rahmenbedingungen betrachtet werden.20 Außerdem sollen die unterschiedlichen Rollen eines Epileptikers als Kranker und Patient21, als Hilfsbedürftiger, als Familienmitglied und als Fürsorgeempfänger berücksichtigt werden. In der vorliegenden Arbeit werden daher jeweils unterschiedliche Aspekte und Blickwinkel der Erkrankung aufgegriffen und auf die gesellschaftliche Wahrnehmung und Bewältigung hin untersucht. Außerdem wird berücksichtigt, dass im Gegensatz zu heute die Epilepsie in der Frühen Neuzeit als heilbar galt. Die Statusänderung von der heilbaren hin zur chronischen bzw. unheilbaren Krankheit Epilepsie wird nachvollzogen. In Kapitel 2 steht der noch als heilbar wahrgenommene Epileptiker im Mittelpunkt, dem als Patient die Wahl zwischen verschiedenen Heilern und Therapien offen stand. Um die Wahlmöglichkeiten und Unterschiede zwischen den Angeboten verstehen zu können, werden in diesem Kapitel zuerst die Vorstellungen und die Bewältigungsangebote von professionellen Heilern dargestellt und ein Überblick über den frühneuzeitlichen medizinischen Markt 20 Ich orientiere mich hier sehr grob an einem von Franziska Loetz und Aline Steinbrecher auf der von der „Arbeitsstelle für historische Kulturforschung“ im März 2000 ausgerichteten Tagung „Krank sein. Krankheitserfahrung im Spiegel von Selbstzeugnissen von 1500 bis heute“ vorgeschlagenen Konzept der Einbettung von Kranken in ihr soziales Umfeld und der Untersuchung der daraus resultierenden Beziehungen und Deutungen: Jung, Vera/Ulbricht, Otto: Krank Sein. Krankheitserfahrung im Spiegel von Selbstzeugnissen von 1500 bis heute. Ein Tagungsbericht, in: Historische Anthropologie 1 (2001), S. 137–148, hier S. 142. 21 Der Begriff des „Patienten“ ist hier wie in allen patientengeschichtlich orientierten Arbeiten problematisch, weil das Wort „Patient“ in seiner ursprünglichen lateinischen Bedeutung einen passiven Kranken beschreibt, in dieser Arbeit soll aber gerade der handelnde und wahrnehmende Kranke im Mittelpunkt stehen, vgl. Wolff, Eberhard: Perspektiven der Patientengeschichtsschreibung, in: Norbert Paul/Thomas Schlich (Hg.): Medizingeschichte: Aufgaben, Probleme, Perspektiven, Frankfurt a. M./New York 1998, S. 311–334, hier S. 313 f.
16
1 Einleitung
gegeben. Vorgestellt werden Epilepsie-Therapien, die auf unterschiedlichen Konzepten basieren, zum Beispiel der Säftelehre, (natur-) magischen und alchemistischen Lehren und dem klerikalen Heilangebot, und die ihnen zugrundeliegenden Diskurse und Konzepte. Dabei wird der Schwerpunkt auf die am weitesten verbreiteten Epilepsie- bzw. Behandlungskonzepte und ihren Einfluss auf die Therapie gelegt. Sogenannte magische Ansätze und klerikale Heilangebote, die von der bisherigen Forschung vernachlässigt wurden, sollen in der vorliegenden Arbeit stärker beleuchtet werden. Da die Säftelehre und die auf ihr fußenden Epilepsie-Konzepte bereits eingehend erforscht wurden, werden sie hier nur kurz vorgestellt. In einem zweiten Schritt wird untersucht, wie sich Epileptiker dieser Angebote bedienten. Wegen des fehlenden Quellenmaterials kann keine quantitative Analyse geboten werden. Auf den Begriff der sogenannten Volksmedizin wird verzichtet, da er wegen seiner vagen Definition eher verwirrend als verständnisfördernd erscheint und eine Gesamtheit volksmedizinischen Wissens und ausgeübter Praktik vorspiegelt, die es so nicht gegeben hat.22 Kapitel 3 beschäftigt sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen heilbarer und unheilbarer Epilepsie. Auf der Grundlage von Autobiographien, Suppliken, Gerichtsakten und seriellen Quellen nimmt dieses Kapitel vor allem die Erfahrungen der Epileptiker selbst und ihrer Familien in den Blick. Untersucht wird, wie Epileptiker und ihre Angehörigen die Erkrankung wahrnahmen und interpretierten, wie die Therapie und Pflege für Epileptiker aussah und welche Strategien zur Bewältigung der Erkrankung angewandt wurden. Durch die Gegenüberstellung von Quellen geheilter Epileptiker und chronischer Patienten kann zudem gezeigt werden, wie sich die Strategie im Umgang mit der als heilbar und als unheilbar wahrgenommenen Epilepsie veränderte. Wegen der fehlenden Quellenbasis beschäftigt sich dieses Kapitel nur am Rande mit der Frage, wie Außenstehende, die nicht unmittelbar in täglichem Kontakt mit den Kranken standen, die Erkrankung wahrnahmen und welche konkreten sozialen Folgen dies wiederum für die Epileptiker hatte. Im Kapitel 4 stehen obrigkeitliche Maßnahmen im Mittelpunkt, die sich in erster Linie auf unheilbare, bedürftige Epileptiker bezogen. Außerhalb des medizinischen Diskurses spielten die Epilepsie bzw. die Epileptiker als eigenständiges Thema in öffentlichen Debatten und obrigkeitlichen Überlegungen keine Rolle; lediglich in der im 15. Jahrhundert beginnenden Diskussion über die Fürsorge für Bedürftige wurde eine bestimmte Gruppe von Epileptikern berücksichtigt. Im Rahmen dieses Kapitels werden obrigkeitlich geregelte Fürsorgeangebote und die Frage behandelt, wie diese Angebote von Epileptikern genutzt wurden. 22 Stolberg, Michael: Probleme und Perspektiven einer Geschichte der „Volksmedizin“, in: Thomas Schnalke (Hg.): Die Grenzen des Anderen. Medizingeschichte aus postmoderner Perspektive (= Sozialwissenschaftliches Forum, Bd. 28), Köln 1998, S. 49–74, hier besonders S. 51 f.; Derselbe: „Volksfromme“ Heilpraktiken und medikale Alltagskultur im Bayern des 19. Jahrhunderts, in: Michael Simon (Hg.): Auf der Suche nach Heil und Heilung. Religiöse Aspekte der medikalen Alltagskultur, Dresden 2001, S. 155–174.
1.2 Begriffserklärung und methodisches Vorgehen
17
Geographisch und zeitlich liegt der Schwerpunkt der Arbeit auf den deutschsprachigen Gebieten des 16. bis 18. Jahrhunderts. Der zeitliche Rahmen wurde aus zwei Gründen gewählt: Zum einen wurde gerade das 16. bis 18. Jahrhundert in der Geschichtsforschung zur Epilepsie bisher weitgehend ausgeklammert, während Antike, Früh- und Hochmittelalter und das 19. Jahrhundert bereits eingehend untersucht wurden. Zum anderen lassen sich durch die vielfältigen philosophischen und weltanschaulichen Umbrüche durch die beginnende Renaissance, den Humanismus und die Reformation einerseits und die Aufklärung andererseits interessante Veränderungen in Bezug auf die Wahrnehmung der Epilepsie vermuten. Obwohl die meisten Quellen des Untersuchungssamples für das 17. und vor allem im langen 18. Jahrhundert vorliegen, werden in dieser Arbeit die Anfänge der Wahrnehmungs- und Interpretationsweisen bis ins Spätmittelalter und das 16. Jahrhundert zurückverfolgt, um festzustellen, inwieweit sich diese in Bezug auf die Epilepsie veränderten. Als Untersuchungsraum wurden die deutschsprachigen Gebiete gewählt, da hier in einem kulturell relativ homogenen Raum sowohl katholische und protestantische als auch reichere und ärmere Gebiete miteinander verglichen werden können. 1.2 Begriffserklärung und methodisches Vorgehen So wie die neue Körpergeschichte die Perspektive auf ihr Forschungsobjekt verändert hat und nun den Körper und dessen Wahrnehmung als historisch gewachsenes und kulturabhängiges Konstrukt untersucht, wird auch das Verhältnis zur Deutung von Krankheit in Quellen und in der Wahrnehmung von Krankheiten in historischer Perspektive in jüngster Zeit neu überdacht. In diesem Zusammenhang sei auf Karl-Heinz Levens richtungsweisenden Artikel „Krankheiten – historische Deutung versus retrospektive Diagnose“ verwiesen.23 Darin wendet sich der Autor gegen die bis heute verbreitete Praxis, historische Krankheitsfälle retrospektiv zu diagnostizieren, das heißt, historische Krankheitsbeschreibungen mit einem modernen Krankheitsnamen zu verbinden bzw. moderne Erkrankungen in historischen Quellen wiederzufinden. Dies ist eine Praxis, die besonders in medizingeschichtlichen Abhandlungen und Pathographien über das Leben und die Erkrankungen reicher und berühmter Patienten praktiziert wurde und wird.24 Eine retrospektive Diagnose, argumentiert Leven, könne nie über Spekulation hinausreichen und sei in ihrer Aussagekraft sehr eingeschränkt, da dem Forscher kein mit wissenschaftlichen Methoden zu untersuchendes Material vorliege, sondern er nur auf die in den Quellen geschilderten Krankengeschichten zurückgreifen könne. Diese Krankengeschichte und das darin gebrauchte Vokabular dürften 23 Leven, Karl-Heinz: Krankheiten. Historische Deutung versus retrospektive Diagnose, in: Norbert Paul/Thomas Schlich (Hg.): Medizingeschichte. Aufgaben, Probleme, Perspektiven, Frankfurt a. M./New York 1998, S. 153–185. 24 Leven: Historische Deutung versus retrospektive Diagnose, S. 153 ff.
18
1 Einleitung
jedoch nicht als objektives „Primärerleben“ von Krankheit begriffen werden, vielmehr unterlägen bereits die in den Patientengeschichten gebrauchten Begriffe und Wahrnehmungen den Krankheitsvorstellungen ihrer Zeit, denen humoralpathologische Krankheitsvorstellungen zugrunde liegen. Diese könnten daher nur äußerst schwer mit heutigen Vorstellungen in Verbindung gesetzt werden. Demzufolge sei es wichtig, zeitgenössische Krankengeschichten und Darstellungen von Krankheit nicht als objektive Symptombeschreibungen, sondern als soziales Konstrukt ihrer Zeit zu begreifen. Zudem könnten Untersuchungen, die sich retrospektiver Diagnosen bedienten, nur einen äußerst eingeschränkten Aussagewert erreichen.25 Für viel ergiebiger hält Leven demgegenüber eine historische Deutung von Krankheit und Krankheitswahrnehmung. Hierbei wird die zu untersuchende Erkrankung nicht modernen Definitionen unterworfen, sondern Erkrankungen wie Pest oder auch „Epilepsie“ werden im historischen Kontext analysiert und in Beziehung zu zeitgenössischen Vorstellungen und Definitionen gesetzt. Dieser Ansatz biete nach Leven den Vorteil, Aussagen über kultur- und epochenabhängige Deutungsmuster treffen zu können, die wiederum Vergleichsmöglichkeiten zu modernen Deutungsmustern von Krankheit böten.26 Diesem Ansatz – Körperwahrnehmung und Krankheitserfahrung zu kontextualisieren und in historischer Perspektive zu begreifen – schließt sich die vorliegende Arbeit an und untersucht die Erkrankung im frühneuzeitlichen Verständnis. Inwiefern unterscheidet sich jedoch das frühneuzeitliche Verständnis von Epilepsie von dem heutigen und warum ist eine Trennung der beiden Begriffe notwendig? Der Begriff „Epilepsie“ bzw. seine alt-griechische Variante šp…lhyij (epílēpsis) und seine lateinische Form „epilepsia“ bestehen schon seit der Antike und gaukeln dadurch eine Kontinuität der Krankheitsvorstellung vor. Der altgriechische Begriff wurde erstmals in der antiken Schrift „De morbo sacro“ geprägt, die zum Corpus der hippokratischen Schriften gezählt wird und nach neuen Erkenntnissen wohl tatsächlich dem griechischen Arzt Hippokrates (um 460–um 370 v. Chr.) zugeschrieben werden kann.27 Epílēpsis wurde in dieser Schrift als Abgrenzung zum bis dahin gebräuchlichen Namen „Heilige Krankheit“ gebraucht, da Hippokrates die Ansicht vertrat, es handele sich bei ihr um eine völlig natürliche und nicht von Göttern verursachte Erkrankung. Im Gegensatz zur heutigen Definition verstand er unter epílēpsis alle Formen anfallartiger Erkrankungen, die er auf eine Störung des Gehirns infolge einer Ablagerung von Schleim zurückführte.28 Vom römischen Arzt Galen (129–216 n. Chr.) aufgegriffen und weiterentwickelt, war die hippokra25 Ebenda, S. 157–166. 26 Leven: Historische Deutung versus retrospektive Diagnose, S. 165–181; zur Umsetzung des Konzepts der historischen Deutung im Zusammenhang mit „Epilepsie“ vgl.: Leven, Karl-Heinz: Die „unheilige“ Krankheit – epilepsia, Mondsucht und Besessenheit in Byzanz, in: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 13 (1995), S. 17–57. 27 Rütten, Thomas: Hippokratische Schriften begründen die griechische Medizin. „De morbo sacro“ – „Über die Heilige Krankheit“, in: Heinz Schott (Hg.): Meilensteine der Medizin, Dortmund 1996, S. 48–56, hier S. 48. 28 Rütten: Hippokratische Schriften begründen die griechische Medizin, S. 52–55.
1.2 Begriffserklärung und methodisches Vorgehen
19
tisch-galenische Lehre besonders in der Frühen Neuzeit von großer Bedeutung; sie wirkte bis ins 18. Jahrhundert hinein. Anfang des 18. Jahrhundert wurde die Erkrankung in dem Artikel „Epilepsia“ in Johann Heinrich Zedlers Universal-Lexicon folgendermaßen beschrieben: Epilepsia, Morbus caducus […] Teutsch, fallende Sucht, böses Wesen, schweres Gebrechen […]. Eine Kranckheit wovon der Mensch, so damit beschweret ist, zu gewissen Zeiten schnell, ohne Sinn und Verstand dahin fället, bißweilen ganz ohne Bewegung bleibet, zuweilen aber ein und das andere Glied zucket, und dabei gemeiniglich aus dem Munde schäumet. 29
Diese Beschreibung der Erkrankung erinnert moderne Leser an die Art, wie große epileptische Anfälle, die bei Medizinern unter dem Begriff „GrandMal“ bzw. „generalisierter tonisch-klonischer Anfall“30 geläufig sind, auch heute von Laien beschrieben werden. Dadurch ist die Versuchung groß, anzunehmen, die modernen Symptom-Beschreibungen könnten problemlos in die Vergangenheit und auf die Quellen übertragen werden. Dabei wird allerdings außer Acht gelassen, dass sich der frühneuzeitliche Epilepsie-Begriff bereits per Definition und durch die Art der Diagnose wesentlich von unserem modernen Begriff unterscheidet. Während die frühneuzeitliche Definition nämlich die Erkrankung mit dem Anfall gleichsetzt und für einen epileptischen Anfall der Verlust des Bewusstseins vorausgesetzt wird, unterscheidet sich heute das Verständnis der Erkrankung schon dadurch, dass die moderne Medizin den Begriff „epileptischer Anfall“ von der Erkrankung „Epilepsie“ trennt. Ein epileptischer Anfall wird als eine vorübergehende Funktionsstörung von Nervenzellen des Gehirns definiert, die aufgrund vermehrter gleichzeitiger elektrischer Entladungen entsteht. Je nachdem, in welchem Teil des Gehirns diese Entladungen stattfinden, kann sich auch der epileptische Anfall unterschiedlich gestalten. Die Ärzte sprechen hier von verschiedenen Anfallsformen, die auch nicht zwangsläufig mit einem Bewusstseinsverlust verbunden sein müssen. Die elektrischen Entladungen, die von vielen Ärzten als Gewitter im Gehirn beschrieben werden, können heute im Elektroenzephalogram (EEG) nachgewiesen werden. Von einer Epilepsie wird allerdings erst dann gesprochen, wenn in einem Abstand von mindestens 24 Stunden mindestens zwei epileptische Anfälle ohne erkennbare aktuelle Ursachen oder
29 Artikel Epilepsia, in: Johann Heinrich Zedler (Hg.): Großes vollständiges Universal-Lexicon, Bd. 8, Halle/Leipzig 1734, S. 1402–1405, hier S. 1403. 30 Unter einem Grand-Mal-Anfall bzw. generalisierten tonisch-klonischen Anfall verstehen heutige Mediziner Anfälle, bei denen beide Hirnhälften betroffen sind und die in drei Phasen ablaufen: In der tonischen Phase versteift sich die Muskulatur des Patienten, er verliert das Bewusstsein und stürzt durch die Versteifung von Armen und Beinen meist zu Boden. In der klonischen Phase, die meist nach 10 bis 20 Sekunden erfolgt, wechselt die Anspannung und Erschlaffung der Körpermuskulatur zuerst schnell, dann immer langsamer, was ein heftiges Zucken des Körpers verursacht. In der Nachphase des Anfalls erlangen die Patienten langsam ihr Bewusstsein wieder, viele können jedoch erst nach einigen Minuten wieder reden und sind meist noch schläfrig, reizbar oder verwirrt, vgl.: Krämer: Das große TRIAS-Handbuch Epilepsie, S. 65 f. und S. 74.
20
1 Einleitung
Auslöser (z. B. akute Erkrankungen, einen Unfall oder übermäßiger Alkoholgenuss) auftreten.31 Hier wird bereits der zweite grundlegende Unterschied in der Krankheitswahrnehmung deutlich: Eine moderne Epilepsie wird nur als solche diagnostiziert und im Anschluss an die Diagnose von der Umgebung als solche wahrgenommen, wenn die mit ihr verbundenen Anfälle auf einer im EEG angezeigten sogenannten epileptischen Kurve basieren. Dagegen diagnostizierten die frühneuzeitlichen Heiler und Laien die Erkrankung auf der Grundlage ihrer Beobachtung und entwickelten eigene Kriterien, nach denen ein epileptischer von anderen Anfällen (z. B. hysterischen oder spastischen) unterschieden wurde.32 Diese Beobachtungen unterschieden sich zum Teil stark von unserem modernen Epilepsie-Verständnis. Daher wurden einige Anfallsformen, die wir heute als Epilepsie wahrnehmen, in der Frühen Neuzeit wohl keinesfalls als solche wahrgenommen. Umgekehrt nahmen die Menschen der Frühen Neuzeit Krankheitszustände als Epilepsie wahr, die die heutigen Mediziner aufgrund moderner Definitionen nicht als solche diagnostizieren würden. Bei der Untersuchung der Epilepsie aus historischer Perspektive muss also beachtet werden, dass sich die frühneuzeitliche Wahrnehmung der Erkrankung wesentlich von unserem modernen Verständnis unterscheidet und eine moderne Interpretation der Quellen den Blick auf die Wahrnehmung der Zeitgenossen verstellen würde. Um sicherzustellen, dass die in den Quellen beschriebene Erkrankung im zeitgenössischen Sinne als Epilepsie verstanden wurde, und um eine moderne Interpretation der Quellen anhand von Symptomen zu vermeiden, werden in die Untersuchung nur solche Quellen einbezogen, in denen der Begriff „Epilepsie“, „epilepsia“ oder die zahlreichen zeitgenössischen Synonyme verwendet wurden. Hinweise darauf, welche Begriffe für die Epilepsie synonym verwendet wurden, finden sich in dem bereits erwähnten Zedler-Artikel,33 aber auch in zeitgenössischen medizinischen Dissertationen,34 die zu Beginn Synonym-Sammlungen der Erkrankung anführen und dabei synonyme deutsche, lateinische und griechische Begriffe der Krankheit angeben. Daneben lassen sich in den Beständen der Hohen Hessischen Hospitäler Hessen Kassel35 Querverweise zwischen den Bittschriften medizinischer Laien und den ihnen beigegebenen medizinischen Gutachten herstellen: Während Epileptiker in den Suppliken in erster Linie als fallsüchtig, hinfallend u. a. beschrieben wurden, diagnostizierten die Ärzte die Erkrankung in der Fachsprache als Epilepsie bzw. epilepsia, verwendeten aber gleichzeitig die volksgebräuchlichen Synonyme. Dadurch ist sichergestellt, dass die von Ärzten und Bevölkerung ver31 32 33 34
Krämer: Das große TRIAS-Handbuch Epilepsie, S. 16–23. Temkin: The Falling Sickness, S. 193 ff. Zedlers Großes Universal-Lexicon, Bd. 8, S. 1342. Moebius, Gottfried [Praes.]/Chiliani, Balthasar [Verf.]: Dissertatio Medica Inauguralis De Epilepsia, Jena 1664, fol. 1, caput 1; Planer, Andreas [Praes.]/Havvenreuter, Johann Ludwig [Verf.]: Disputatio De Epilepsia, Argentorati 1586, fol. 1, Abschnitt 1–3. 35 LWV-Archiv, Bestand 13; StaM, Bestand 17, 229, 229B/III.
1.3 Quellen
21
wendeten Begriffe synonym gebraucht wurden und im frühneuzeitlichen Verständnis für die gleiche Erkrankung standen. Da die zeitgenössischen Quellen zum Teil selbst mit dem Begriff „Epilepsie“ arbeiten und die Verwendung der zahlreichen zeitgenössischen Synonyme zu verwirrend wäre, wird in der vorliegenden Arbeit der Begriff „Epilepsie“ gleichrangig neben weiteren zeitgenössischen Begriffen wie „Fallende Sucht“, „Hinfallende Krankheit“ oder „Fallendes Weh“ als Sammel- und Oberbegriff verwendet. 1.3 Quellen Dieser Arbeit liegt eine breite Quellenbasis zugrunde. Es werden sowohl Suppliken und weitere Selbstzeugnisse als auch Gerichtsakten, medizinische Texte (Dissertationen, Lehrwerke, ärztliche Konsiliensammlungen, Kräuter- und Arzneibücher), Gutachten, Mirakelbücher und -bilder sowie Quellen zur Armenfürsorge (Bettelordnungen, Almosenlisten, Almosenrechnungen, Hospitalakten) berücksichtigt. Patientenbriefe, die sonst einen sehr detaillierten und persönlichen Blick auf die Wahrnehmung von Krankheit bieten und gerade in den letzten Jahren in verschiedenen Studien sehr fruchtbar genutzt wurden,36 können nicht herangezogen werden, da kein genügend großes Sample für Epileptiker zusammengestellt werden konnte. Die Arbeit stützt sich deshalb in weiten Teilen auf andere Egodokumente: Der Begriff des Egodokuments entstammt der niederländischen Diskussion über die Problematik subjektiver Quellen aus den 1970er Jahren und wurde durch den niederländischen Historiker Rudolf Dekker in mehreren Beiträgen entscheidend geprägt.37 1992 wurde der Begriff in dem von Winfried Schulze herausgegebenen Sammelband „Ego-Dokumente. Annäherungen an den Menschen in der Geschichte“,38 in dem Schulze dem recht eng gesetzten Begriff der Selbstzeugnisse den der Egodokumente gegenüberstellt, wieder aufgegriffen und methodisch untersucht. Unter Egodokumenten fasst er alle jene Quellen, „in denen ein Mensch Auskunft über sich selbst gibt, unabhängig davon, ob dies freiwillig – also in einem persönlichen Brief, einem Tagebuch, einer Traumniederschrift oder einem autobiographischen Versuch oder durch andere Umstände bedingt geschieht.“39 Dadurch stellt der Begriff keinen Kon36 Stolberg, Michael: Homo patiens. Krankheits- und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit, München 2003; Dinges, Martin/Barras, Vincent (Hg.): Krankheit in Briefen im deutschen und französischen Sprachraum. 17.–21. Jahrhundert, Stuttgart 2007. 37 Dekker, Rudolf M.: Ego-Documents in the Netherlands 1500–1814, in: Dutch Crossing 39 (1989), S. 61–72; Derselbe: Egodocumenten: Een literatuuroverzicht, in: Tijdschift voor Geschiedenes 101 (1988), S. 161–189. 38 Schulze, Winfried: Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung „Ego-Dokumente“, in: Schulze, Winfried (Hg.): EgoDokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, S. 11–32. 39 Schulze: Ego-Dokumente, S. 21.
22
1 Einleitung
trast, sondern vielmehr eine Erweiterung des klassischen Selbstzeugnis-Begriffs dar, indem in ihn neben selbstverfassten freiwilligen Niederschriften auch Aussagen zur Person im Rahmen behördlicher Vorgänge einbezogen werden. Die im Rahmen dieser Arbeit untersuchten Egodokumente umfassen die Autobiographie eines Epileptikers der gebildeten Oberschicht und Gnadensuppliken von Vertretern der Mittel- und Unterschichten an die frühneuzeitlichen Obrigkeiten. In die Untersuchung werden vor allem Hospitalsuppliken, die sich als sehr reichhaltiges und gut vergleichbares Quellenmaterial herausgestellt haben, einbezogen; das Quellensample setzt sich dabei in erster Linie aus Bittschriften an den Landesherren von Hessen-Kassel zur Aufnahme in die Hohen Hessischen Hospitäler Haina und Merxhausen, an das Bürgerspital Würzburg, das Epileptikerhaus in Würzburg und das Heilig-Kreuz-Hospital Saarbrücken zusammen. Autobiographien haben sich bereits in einschlägigen Studien als unverzichtbares Quellenmaterial zur Erforschung von Körper- und Krankheitserfahrungen medizinischer Laien erwiesen.40 Dagegen werden Suppliken als Quelle für die medizin- und patientengeschichtliche Forschung erst seit kurzem wahrgenommen, obwohl sie sich bereits in anderen Bereichen der historischen Forschung bewährt haben.41 Helmut Neuhaus hat auf Suppliken als Quelle für verfassungsgeschichtliche sowie landes- und sozialgeschichtliche Fragestellungen bereits Ende der 1970er Jahren in seiner Arbeit über den Reichstag und dessen Supplikationsausschuss im 16. Jahrhundert42 und das Supplikenwesen der Landgrafschaft Hessen43 aufmerksam gemacht. Seitdem halten Gnadensupplikationen als Quelle zur Analyse von Gerichts- und Strafpraktiken sowie von rhetorischen Mustern Einzug in die Historische Kriminalitätsforschung44 und werden als 40 Als Beispiele: Lachmund, Jens/Stollberg, Gunnar: Patientenwelten. Krankheit und Medizin vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert im Spiegel von Autobiographien, Opladen 1995; Lumme, Christoph: Höllenfleisch und Heiligtum. Der menschliche Körper im Spiegel autobiographischer Texte des 16. Jahrhunderts (= Münchner Studien zur Neueren und Neuesten Geschichte, Bd. 13), Frankfurt a. M. 1996. 41 Der folgende Forschungsüberblick erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und will nur einen groben Einblick in die bereits bestehende Arbeit mit Suppliken bieten. Ein detaillierter Überblick lässt sich finden bei: Würgler, Andreas: Bitten und Begehren. Suppliken und Gravamina in der deutschsprachigen Frühneuzeitforschung, in: Cecilia Nubola/Andreas Würgler (Hg.): Bittschriften und Gravamina, Politik, Verwaltung & Justiz in Europa (14.–18. Jahrhundert), Berlin 2005, S. 17–52. 42 Neuhaus, Helmut: Reichstag und Supplikationsausschuss. Ein Beitrag zur Reichsverfassungsgeschichte der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (= Schriften zur Verfassungsgeschichte, Bd. 24), Berlin 1977. 43 Neuhaus, Helmut: Supplikationen als landesgeschichtliche Quellen. Das Beispiel der Landgrafschaft Hessen im 16. Jahrhundert, Erster Teil, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 28 (1978), S. 110–190, Zweiter Teil, in: Ebenda 29 (1979), S. 63–97. 44 Ulbricht, Otto: Kindsmord und Aufklärung in Deutschland (= Ancien Régime, Aufklärung und Revolution, Bd. 18), München 1990, S. 379–385; Zemon Davies, Natalie: Fiction in the Archives. Pardon Tales and their Tellers in Sixteenth-Century France, Stanford
1.3 Quellen
23
Quelle zur Untersuchung der Kommunikation zwischen Untertanen und Obrigkeit genutzt.45 In der Revolten- und Ständeforschung nahmen Justizsuppliken neben den zuvor bereits untersuchten Gravamina etwa ab Ende der 1980er Jahre, Anfang der 1990er Jahre eine immer wichtigere Stellung ein. Sie geben einen Einblick in den Beitrag der Untertanen zur Entstehung des vormodernen Staates und deren Einfluss auf die staatliche Gesetzgebung.46 Mit Hilfe verschiedener Supplikformen konnten erfolgreich Verwandschafts- und Klientelsysteme rekonstruiert werden.47 Seit Mitte der 1990er Jahre werden Justiz- und Gnadensuppliken als Quelle für alltags- und mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen herangezogen, mit denen Fragen nach dem Alltag, nach Problemen, Erfahrungs- und Wahrnehmungsweisen der Unterschichten in den Blick genommen werden können. Otto Ulbricht schlug beispielsweise vor, Suppliken als Egodokumente zu lesen, um so die Selbstsicht gerade weniger gebildeter Personengruppen zu rekonstruieren, die sonst unsichtbar blieben.48 Helmut Bräuer stellte Suppliken als sozial- und mentalitätsgeschichtliche Quellen heraus, um mit ihnen die Lebens- und Gedankenwelt von Unterschichten in der Frühen Neuzeit zu erforschen.49 Für medizin- und patientengeschichtlich relevante Fragestellungen bieten sich besonders die Bittgesuche um Unterstützung an den Landesherren an, die wegen Armut und Krankheit verfasst wurden. Auf die besondere Bedeutung von Bittgesuchen um Aufnahme in ein Hospital für die frühneuzeitliche Patientengeschichtschreibung hat bereits Christina Vanja hingewiesen. Sie betont die Möglichkeit, das Wissen um Krankheitsbilder, um Kranksein und Krankheitstherapien auf der Basis von Supplikationen durch eine Vielzahl von In-
45
46
47
48 49
1987; Schwerhoff, Gerd: Aktenkundig und gerichtsnotorisch. Einführung in die Historische Kriminalitätsforschung, Tübingen 1999. Jütte, Robert: Sprachliches Handeln und Kommunikative Situation. Der Diskurs zwischen Obrigkeit und Untertanen am Beginn der Neuzeit, in: Helmut Hundsbichler (Hg.): Kommunikation und Alltag in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Internationaler Kongress Krems an der Donau 9. bis 12. Oktober 1990, Wien 1992, S. 159–181. Blickle, Peter/Fuhrmann, Rosi (Hg.): Gemeinde und Staat im alten Europa, München 1997; vgl. dazu auch die Abstracts von Peter Blickle, Beat Kümin, Helmut Neuhaus und Andreas Würgler in der Sektion „Supplizieren. Zur Politik der Untertanen“, in: S. Weinfurther/M. Siefarth (Hg.): Geschichte als Argument, 41. Deutscher Historikertag, München 17.–20. September 1996, S. 104–108. Christ, Dorothea A.: Zwischen Kooperation und Konkurrenz. Die Grafen von Thierstein, ihre Standesgenossen und die Eidgenossenschaft im Spätmittelalter, Zürich 1998; Sabean, David W.: Kinship in Neckarhausen 1700–1870, Cambridge 1997; Teuscher, Simon: Bekannte – Klienten – Verwandte. Soziabilität und Politik in der Stadt Bern um 1500, Köln/ Weimar/Wien 1998. Ulbricht, Otto: Supplikationen als Ego-Dokumente. Bittschriften von Leibeigenen aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts als Beispiel, in: Winfried Schulze (Hg.): Ego-Dokumente. Annäherungen an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, S. 149–174. Bräuer, Helmut: Persönliche Bittschriften als Sozial- und Mentalitätsgeschichtliche Quellen. Beobachtungen aus frühneuzeitlichen Städten Obersachsens, in: Gerhard Ammerer/ Christian Rohr/Alfred Stefan Weiß (Hg.): Tradition und Wandel. Beiträge zur Kirchen-, Gesellschafts- und Kulturgeschichte, Wien/München 2001, S. 294–304.
24
1 Einleitung
formationen zu bereichern.50 Einen ersten Versuch in diese Richtung unternahm bereits Louise Marsha Gray in ihrer Dissertation „The Self-Perception of Chronic Physical Incapacity among the Labouring Poor. Pauper Narratives and Territorial Hospitals in Early Modern Rural Germany“. Darin untersuchte sie die Suppliken der Hohen Hessischen Hospitäler in Bezug auf die Erfahrung von Arbeitsunfähigkeit und Armut durch Kranke und deren Familien.51 Um die persönliche Wahrnehmung der Betroffenen in den gesellschaftlichen Rahmen einzubetten, werden zeitgenössische medizinische Texte, theologische und medizinische Gutachten zur Erkrankung sowie Mirakel- und Wallfahrtsliteratur hinzugezogen, um dadurch die gesellschaftliche Wahrnehmung und Deutung der Erkrankung sowie die zeitgenössischen Therapiemöglichkeiten zu erforschen. Durch die mikrogeschichtliche Untersuchung von Hospitalbeständen, Bettelordnungen und Almosenlisten einzelner Regionen werden die für Epileptiker zugänglichen obrigkeitlichen Fürsorgeangebote herausgearbeitet. Obwohl die Arbeit im Titel den Anspruch erhebt, den deutschsprachigen Raum zu untersuchen, beschränken sich gerade die Quellenbestände der Suppliken und Fürsorgeeinrichtungen auf drei Gebiete: die Landgrafschaft Hessen-Kassel, das Hochstift Würzburg und die Grafschaft Saarbrücken. Die Landgrafschaft Hessen-Kassel und das Hochstift Würzburg wurden wegen der bereits gut erforschten Angebote obrigkeitlicher Fürsorge und der großen zusammenhängenden Quellenbestände ausgewählt, die einen direkten Vergleich zwischen den unterschiedlichen Angeboten in den beiden Gebieten und zwischen den Erzählmustern der Suppliken ermöglichen. Zudem können durch den Vergleich auch die Unterschiede zwischen katholischen und protestantischen Gebieten erforscht werden. Die Grafschaft Saarbrücken wird als ergänzendes Beispiel herangezogen, um die Fürsorge in einem kleinen, mit wenigen Mitteln ausgestatteten Gebiet zu zeigen, und um zu vergleichen, ob die Suppliken an den Landesherren sich hier wesentlich von den beiden anderen Gebieten unterschieden. Die regionalen Quellenbestände werden durch die Untersuchung überregionaler Einzelbittschriften, Gerichts- und Amtsakten sowie medizinischer Texte und Mirakelbücher ergänzt, wodurch ermöglicht wird, aus den Mikrobeispielen allgemeingültige Aussagen für die Lebenssituation von Epileptikern im deutschsprachigen Raum zu gewinnen.
50 Vanja, Christina: Arm und krank. Patientenbiographien im Spiegel frühneuzeitlicher Bittschriften, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 19 (2006), S. 26–35. 51 Gray, Louise Marsha: The Self-Perception of Chronic Physical Incapacity among the Labouring Poor. Pauper Narratives and Territorial Hospitals in Early Modern Rural Germany, Dissertation, University College London 2001; Dieselbe: Patientenbiographien: Armut, Krankheit, körperliche Leiden, in: Arnd Friedrich/Fritz Heinrich/Christina Vanja (Hg.): Das Hospital am Beginn der Neuzeit. Soziale Reform in Hessen im Spiegel europäischer Kulturgeschichte, Petersberg 2004, S. 243–253.
2 Hoffnung auf Heilung 2.1 Der medizinische Markt Gesundheit galt in der frühneuzeitlichen Gesellschaft ebenso wie heute als wichtiges Gut. Um diese zu erhalten, wurde eine Fülle an Mitteln und Kuren eingesetzt, die prophylaktisch gegen Erkrankungen wirken und die Körperkräfte stärken sollten.1 Daneben existierte ein breites Angebot an Heilmitteln und Kuren, die im Kampf gegen Erkrankungen eingesetzt wurden. Die Behandlung der Epilepsie bildet hier keine Ausnahme, denn sie galt sowohl unter Medizinern als auch unter Laien als heilbare Krankheit. Allerdings wurde von Medizinern einschränkend darauf hingewiesen, dass eine Heilung nicht in allen Fällen und nur unter bestimmten Voraussetzungen gelingen konnte. Einige hielten die Heilung der Erkrankung für so schwierig, dass sie die Chancen als äußerst gering einstuften,2 während andere die Heilung ein wenig optimistischer einschätzten. Als Grundsatz galt in der Medizin der Frühen Neuzeit aber, die Epilepsie sei im Kindesalter gut, im Erwachsenenalter,3 d. h. nach dem 25. Lebensjahr, nur schwer zu heilen. Die Chancen schwänden, je länger die Krankheit bestünde, weil sich die Krankheit im Laufe der Jahre im Körper „einwurzele“, dadurch den Körper schwäche und seine Heilkräfte zunichte mache. Als Faustregel galt: Die Chancen, eine bis zu sieben Jahre bestehende Epilepsie zu heilen, seien gut, danach nähmen sie jährlich ab.4 Weiterhin wurde zwischen einer ererbten bzw. angeborenen und einer durch vorangehende Erkrankung oder Verletzung entstandenen Epilepsie unterschieden. Die besten Chancen auf Heilung sprachen die Ärzte Patienten mit einer später aufgetretenen Epilepsie zu, während die angeborene oder ererbte Erkrankung meist als unheilbar eingestuft wurde, da sie auf eine krankhafte Grunddisposition des Körpers zurückgehe, an der Arz1 2 3
4
Jütte, Robert: Ärzte, Heiler und Patienten. Medizinischer Alltag in der Frühen Neuzeit, München 1991, S. 55 f. So schätzte beispielsweise der niederländische Arzt Heurnius im 16. Jahrhundert die Heilung der Epilepsie als so gut wie unmöglich ein, vgl. Loots, G.M.P.: Epilepsie in de zestiende eeuw. De observationis van Pieter van Foreest, Rotterdam 2007, S. 40 f. Schon in der hippokratischen Schrift „Über die Heilige Krankheit“ galt, dass je jünger der Patient war, desto besser seien seine Heilungschancen. Trat die Epilepsie bei älteren Menschen auf, solle man sie am besten gleich unbehandelt lassen. Diese Grundätze wurden 400 Jahre später auch von Celsus in seinem Werk „De medicina“ aufgegriffen, vgl. dazu Temkin: The Falling Sickness, S. 65. Die frühneuzeitlichen Ärzte formulierten diese Regel unter Berufung auf Hippokrates und Galen noch etwas genauer aus, und so lässt sich in den meisten medizinischen Dissertationen zur Epilepsie die Faustregel finden, dass eine Epilepsie nach dem 25. Lebensjahr und nach dem 7. Jahr ihres Bestehens nur schlecht zu heilen sei. Bokelius, Johannes (Praes.)/Gabelius, Johannes (Verf.): Theses de Epilepsia, Helmstadt 1588, Punkt 3 Anzeichen der Epilepsie; Ziegler, Christopher M.: De epilepsia, Disputatio Inauguralis, Basel 1619, Punkt 37 Signa prognostica; Kalt, Andreas: De epilepsia. Dissertationes medicae, Freiburg 1609,§ 6 Heilung; Crausius, Rudolph Wilhelm (Praeses)/Laurentius, Johann Teophil (Verf.): De Epilepsia, Dissertatio Inauguralis Medica, Jena 1717, S. 45.
26
2 Hoffnung auf Heilung
neien und Kuren nur wenig ändern könnten.5 Trotz dieser Faustregeln finden sich in Konsilien und Observationes Fälle epileptischer Patienten, die Ärzte unabhängig von der vermuteten Ursache, von der Krankheitsdauer und ihrem Alter auch bei schlechten Heilungsaussichten aufsuchten. Nach mehreren erfolglosen Behandlungsversuchen wandten sich Betroffene als letzte Hoffnung an berühmte Kapazitäten ihrer Zeit, um letztlich doch noch Heilung zu finden.6 Denn die Alternative bestand darin, die Unheilbarkeit der Erkrankung zu akzeptieren und einem Leben mit der Erkrankung entgegenzusehen, die eine besondere Belastung nicht nur für die Erkrankten selbst, sondern auch für deren Angehörige und nahe Verwandte darstellte. Deshalb wurde viel Zeit, Energie und Geld in die Behandlung der Patienten investiert. Ein besonders extremes Beispiel, auf das in Kapitel 3 noch zurückgekommen wird, ist das des Regierungsbeamten Drais von Sauerbronn, der in seinem autobiographisch angelegten Krankheitsbericht etwa 335 unterschiedliche Mittel und Kuren aufzählt, die er bis zu seiner endgültigen Genesung ausprobierte.7 Auch in ärmeren Bevölkerungsschichten wurden Versuche unternommen, die Erkrankung zu kurieren, wie aus Suppliken hervorgeht, die gerade im Rahmen dieser Arbeit noch etwas genauer untersucht werden sollen. Die Patienten und ihre Angehörigen setzten dabei so viel Hoffnung in die Behandlung, dass sie unter Umständen mit den letzten zur Verfügung stehenden Geldmitteln bestritten wurde. Der Leinweber Johann Adam Fischer berichtete beispielsweise in seiner Supplik an den Landgraf von Hessen-Kassel von 1745, er habe in dem Versuch, seine Erkrankung zu kurieren, sein ganzes Vermögen für Medikamente verbraucht und sei nun mittellos.8 Bei der Auswertung von Kräuter-, Arznei- und medizinischen Lehrbüchern des 16. bis 18. Jahrhunderts fanden sich über hundert verschiedene Kuren, Medikamente und Lebensregeln, die die Epilepsie heilen oder zumindest die Anfälle abschwächen sollten. Dieser Befund deutet bereits die Bandbreite der medizinischen Behandlungs- und Wahlmöglichkeiten der Patienten an. Auf der Suche nach Heilung konnten die Patienten auf ein breites Spektrum an Heilmitteln und Kuren zurückgreifen und sich an unterschiedliche Heilpersonen wenden. Während die ältere Medizingeschichte den frühneuzeitlichen Heilermarkt in zwei Bereiche trennte, indem sie den studierten Ärzten alle übrigen Heilpersonen als Pfuscher, Scharlatane und Wunderdoktoren gegenüberstellte, differenziert die jüngere Forschung stärker zwischen autorisierten und nicht5 6 7 8
Kalt, Andreas: De epilepsia. Dissertationes medicae, Freiburg 1609, § 6 Heilung; Ziegler, Christopher M.: Disputatio. De epilepsia inauguralis, Basel 1619, Punkt 37 Signa prognostica. Crausius/Laurentius: De Epilepsia, S. 45, der von einem Fall berichtet, in dem auch ein Patient nach dem 25. Lebensjahr geheilt wurde. Diaetophilus [Freiherr Drais von Sauerbronn, Karl Wilhelm Ludwig Friedrich]: Physische und Psychologische Geschichte seiner siebenjährigen Epilepsie, Teil 1, Zürich 1798, S. 299–319; zur Behandlung vgl. Kapitel 3.1, S. 113–119. LWV-Archiv, Bestand 13, Reskript vom 04.04.1745.
2.1 Der medizinische Markt
27
autorisierten Heilern.9 Neben dem an Universitäten erlernten Arztberuf existierten die in praktischer Ausbildung erlernten Heilberufe wie Wundarzt, Feldscher beziehungsweise Chirurg, Hebamme, Bader, Barbier und Apotheker, die meist zünftisch organisiert waren. Sie alle mussten eine mehrjährige Lehrzeit absolvieren und eine Prüfung bestehen, um ihr Handwerk ausüben zu dürfen. Danach konnten sie in einer Stadt oder in der Region, in der sie eine Autorisation durch die Obrigkeit erhielten, praktizieren.10 Diesem Kreis durch die Obrigkeit autorisierter Heiler stand ein vermutlich ebenso großer Kreis an unautorisierten Heilpersonen gegenüber. Zu diesen zählen unter anderem weise Frauen und Männer, Schäfer, Gesundbeter und Segensheiler, die ihr Wissen nicht durch jahrelange praktische Ausbildung erlangten, sondern denen ihre Rolle aufgrund überlieferter Traditionen zufiel.11 Den Schäfern wurden heilende Fähigkeiten zugeschrieben, weil sie Schafskrankheiten behandelten und ihr heilerisches Wissen, das sie über die Behandlung der Tiere erworben hatten, auch auf den Menschen übertragen konnten. Weise Frauen bzw. Männer oder Gesundbeter hatten ihre Rolle durch eine Familientradition geerbt, in der das Wissen um besondere Heilverfahren von Generation zu Generation weitergegeben worden war. Den Mitgliedern dieser Familien wurden daher besondere Fähigkeiten in der Behandlung bestimmter Krankheiten nachgesagt. Sie praktizierten ohne Genehmigung der Obrigkeit und verdienten sich durch ihre Heildienste neben ihren eigentlichen Berufen etwas dazu.12 Die Position zwischen autorisierten und unautorisierten Heilern nahm der Scharfrichter ein. Dieser war zwar kein handwerklich ausgebildeter Mediziner, musste sich aber aufgrund seines Berufs mit der menschlichen Anatomie auskennen. Trotz fehlender handwerklicher Ausbildung war er in den meisten Städten und Regionen bis ins 17. Jahrhundert als Heiler von der Obrigkeit anerkannt.13 Aufgrund seines Berufes hatte er Zugriff auf ein wichtiges Heilmittel, das er ebenfalls völlig legal an Ärzte, Apotheken aber auch direkt an Patienten verkaufen durfte: den in der Blüte seines Lebens gewaltsam dahingerafften menschlichen Körper, dem in der Frühen Neuzeit eine geradezu magische Heilkraft zugesprochen wurde.14 9
10 11 12 13 14
Kinzelbach, Annemarie: Heilkundige und Gesellschaft in der frühneuzeitlichen Reichsstadt Überlingen, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 8 (1989), S. 119–149; vgl. zur Kritik an der Einseitigkeit der älteren medizinhistorischen Forschung auch: Sander, Sabine: Handwerkschirurgen. Sozialgeschichte eines verdrängten Berufsstandes, Göttingen 1989, S. 11 f. und 233 ff. Stolberg, Michael: Heilkunde zwischen Staat und Bevölkerung. Angebot und Annahme medizinischer Versorgung in Oberfranken im 19. Jahrhundert, med. Dissertation, München 1986, S. 186–194. Stolberg, Michael: Heilkunde zwischen Staat und Bevölkerung, S. 127–140. Ebenda, S. 132 ff. Nowosadtko, Jutta: Wer Leben nimmt, kann auch Leben geben – Scharfrichter und Wasenmeister als Heilkundige der Frühen Neuzeit, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 12 (1993), S. 43–74. Nowosadtko: Wer Leben nimmt, S. 51 ff.; Dülmen, Richard van: Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafritual in der Frühen Neuzeit, München 1985, S. 163 f.
28
2 Hoffnung auf Heilung
Die Autorisierung der Heiler erfolgte durch die von den jeweiligen städtischen oder ländlichen Obrigkeiten erlassenen Apotheken- bzw. Medizinalordnungen, die bestimmten, welche Heilberufe anerkannt waren und wie diese ausgeübt werden durften. Dadurch schlossen sie nicht genannte als unautorisierte Heilpersonen aus. Diese sollten ihre Dienste nicht anbieten dürfen, und Patienten wurden davor gewarnt, sie aufzusuchen, auch wenn die Praxis fernab der Apothekenordnung anders aussah. In den Medizinalordnungen wurde zum Beispiel in der Regel15 bestimmt, nur studierte Ärzte dürften innere Erkrankungen behandeln und Medikamente verschreiben, während den Wundärzten und Feldschern nur die Behandlung und Versorgung äußerer Verletzungen und der Aderlass erlaubt waren.16 In der Praxis behandelten aber auch Wundärzte, Bader und Barbiere sowohl äußere als auch innere Erkrankungen und verabreichten Medikamente. Auch der Apotheker spielte eine wichtige Rolle bei der Diagnose der möglichen Krankheit, zu deren Bekämpfung er Medikamente empfahl und verkaufte.17 Ortsfremde Heiler wie fahrende Ärzte, Okulisten, Zahnbrecher und Steinschneider waren laut Apothekenordnungen ebenfalls nicht befugt, ohne Erlaubnis in einer Stadt oder Region zu praktizieren, was die Bevölkerung allerdings nicht daran hinderte, diese dennoch aufzusuchen. War die Nachfrage nach einem Heiler besonders groß, zum Beispiel weil er auf eine bestimmte Krankheit spezialisiert war, war die Obrigkeit bereit, ihm für einen festgelegten Zeitraum eine Sondergenehmigung zum Praktizieren in der Stadt zu erteilen. So erlaubte der Stadtrat in Ulm fremden bzw. fahrenden Ärzten mehrfach zu praktizieren, weil sie auf die Heilung der Fallsucht spezialisiert waren.18 Überhaupt scheint die obrigkeitliche Unterscheidung zwischen autorisierten und unautorisierten Heilern in der Bevölkerung auf wenig Interesse gestoßen zu sein, denn sowohl studierte Ärzte, handwerklich ausgebildete Heiler als auch nicht legalisierte Heiler wurden von der Bevölkerung gleichermaßen frequentiert und genossen oft einen sehr guten Ruf. Gerade in der jüngeren Forschung hat sich herausgestellt, dass die handwerklich ausgebildeten Berufsgruppen wichtige Pfeiler der medizinischen Versorgung in der Frühen Neuzeit darstellten und lange Zeit gleichberechtigt neben den studierten Ärzten – die es zu Beginn der Frühen Neuzeit nicht in so großer Zahl gab – praktizierten und häufig sogar größeren Zulauf hatten. Den Vorwurf der Scharlatanerie und der Pfuscherei dürften diese Berufsgruppen wohl in erster Linie ihren studierten Kollegen zu verdanken gehabt haben, die sie in ihren Werken generell in dieser Weise abqualifizierten.19 15 16 17 18 19
Die Apothekenordnungen variierten von Region zu Region, und so lässt sich nur schwer eine pauschale Verordnung zusammenfassen. Jütte: Ärzte, Heiler und Patienten, S. 20 f. Kinzelbach, Annemarie: Heilkundige und Gesellschaft, S. 119–149, hier S. 134 f. Kinzelbach, Annemarie: Gesundbleiben, Krankwerden, Armsein in der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Gesunde und Kranke in den Reichsstädten Überlingen und Ulm, 1500–1700 (= Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 8), Stuttgart 1995, S. 343. Jütte, Robert: Ärzte, Heiler und Patienten, S. 30 ff. Franciska Loetz konnte in ihrer Studie nachweisen, dass sich die Heilmethoden von akademischen Ärzten und anderen Heiler-
2.1 Der medizinische Markt
29
Der medizinische Markt der Frühen Neuzeit war noch sehr viel offener als wir es vom heutigen medizinischen System kennen: Mehrere medizinische Traditionen, an denen Heiler sich in ihrer Behandlung orientierten, existierten gleichberechtigt nebeneinander. Sie waren entweder von hippokratisch-galenischen, neoplatonistischen, christlich-religiösen oder magischen Konzepten geprägt. Die Grenzen zwischen Laien- und Schulmedizin waren fließender, und beide beeinflussten sich gegenseitig. Die hippokratisch-galenische Medizinlehre fußte auf der Humoralpathologie des griechischen Arztes Hippokrates‘ (um 460–um 370 v. Chr.) und den Erweiterungen und Ergänzungen durch den in Rom praktizierenden Arzt Galen (um 129–199 oder 216 n. Chr.). Sie nahm an, der Körper bestehe aus vier Säften (Blut, Schleim, schwarzer und gelber Galle), denen die Eigenschaften kalt, warm, trocken und feucht zugeordnet waren. Die Säfte und ihre Eigenschaften mussten im Gleichgewicht zueinander stehen; ein Ungleichgewicht (Dyskrasie) verursache Krankheiten. Um das Gleichgewicht des Körpers wieder herzustellen, mussten die krankheitsverursachenden Säfte mit Mitteln geheilt werden, die ihren Eigenschaften entgegengesetzt waren. Dieses Prinzip nannte sich „contraria contrariis“, Gegensätzliches heilt Gegensätzliches. In der Renaissance entwickelte sich in Europa durch die nun vermehrte Rezeption griechischer Texte im Original ein neues kosmologisches Weltbild auf der Grundlage platonischen und neoplatonischen Gedankenguts. In diesem wurde angenommen die weltliche und himmlische bzw. göttliche Sphäre seien nicht getrennt, sondern durch kosmische Strahlung verbunden. Nach dieser Vorstellung waren alle Dinge verknüpft und dadurch abhängig voneinander. Krankheiten entstanden diesem Konzept zufolge durch äußere kosmische Einflüsse, die es zu erkennen und denen es mit geeigneten Mitteln zu begegnen galt. Der Arzt musste demnach die dem Universum zugrundeliegenden Zusammenhänge kennen, um die geeigneten Medikamente finden zu können. Dabei konnte er sich auf astrologische Erkenntnisse und Analogieschlüsse stützen, die dem Wissenden die Natur der Dinge erschloss. Besonders Paracelsus bediente sich teilweise dieses Konzepts und entwickelte aus ihm seine Signaturenlehre, nach der Medikamente durch symphatetische Reihen, das heißt durch ihre Ähnlichkeit zu der behandelnden Krankheit gefunden werden konnten. Sie waren dem Prinzip „Similia similibus“ unterworfen, d. h. Gleiches heilt Gleiches.20 Auch religiöse und magische Konzepte prägten die Vorstellungswelt der frühneuzeitlichen Gesellschaft, wenngleich sich die gebildeter und die ungebildeter Bevölkerungsschichten zum Teil drastisch voneinander unterschiegruppen nicht wesentlich voneinander unterschieden und vielfach von beiden ähnliche Mittel verwendet wurden: Loetz, Francisca: Vom Kranken zum Patienten. „Medikalisierung“ und medizinische Vergesellschaftung am Beispiel Badens 1750–1850 (= Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 2), Stuttgart 1993, S. 114–119. 20 Müller-Jahnke, Wolf-Dieter: Neoplatonismus, in: Werner E. Gerbarek/Bernhard D. Haage/Gundolf Keil/Wolfgang Wegener (Hg.): Enzyklopädie Medizingeschichte, Berlin 2005, S. 1033 f.
30
2 Hoffnung auf Heilung
den. Krankheiten konnten auf göttliche, teuflische oder magische Einflüsse zurückgeführt werden. Da Gott als letzte Ursache aller Dinge angenommen wurde und damit auch Verursacher von Krankheit war, war es ihm auch gegeben, Kranke durch ein göttliches Wunder von ihren Leiden zu befreien, auch wenn die Krankheit nicht von Gott selbst, sondern beispielsweise durch den Teufel verursacht worden war. Dementsprechend konnte der Kranke durch religiösen Beistand geheilt werden. Lag als Ursache einer Erkrankung jedoch Magie zugrunde, konnte diese durch gegenmagische Mittel vertrieben werden.21 In Bezug auf die Behandlung der Epilepsie ließen sich Kuren und Therapien aus allen Bereichen finden. Anhand der vorhandenen Quellen lassen sich einzelne Heilprinzipien nur schwer bestimmten Berufsgruppen zuordnen. Am einfachsten ist dies noch bei studierten Ärzten, die sich in ihren medizinischen Lehrwerken und Dissertationen bis weit ins 18. und noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf die hippokratisch-galenische Tradition beriefen. Dennoch lässt sich bei dieser Berufsgruppe der Glaube an die Wirkung von Amuletten sowie an angehexte Krankheiten nachweisen. In den Rezept- und Arzneibüchern, die zu einem großen Teil von studierten Ärzten verfasst wurden,22 finden sich neben den althergebrachten galenischen Methoden genauso Anleihen aus sympathetischen oder dem Analogiedenken verhafteten Rezepturen und Mittel aus naturmagischen Traditionen. Besonders schwierig zu rekonstruieren sind die Behandlungsmethoden der Wundärzte und Empiriker, zu deren Behandlungsmethoden kaum Quellen existieren. Es scheint als hätten auch diese, neben magischen und sympathetischen Konzepten, auf traditionelle humoralpathologische Konzepte und die damit verbundenen Heilmittel zurückgegriffen.23 Es zeigen sich also Überschneidungen der einzelnen Bereiche. Einerseits orientierten sich studierte Ärzte an den Wünschen und Bedürfnissen der Bevölkerung und den Traditionen praktischer Heiler. Umgekehrt übernahmen praktisch ausgebildete Heiler Konzepte und Heilmethoden der studierten Ärzteschaft. In beiden Bereichen gab es Neuentwicklungen, und das, was von der galenischen „Richtung“ praktiziert wurde, fand Eingang in andere Konzepte und wurde von anderen Heilern praktiziert. Es gab also einen Austausch, der den Markt im Laufe der Zeit veränderte.24 Nicht vernachlässigt 21
Vanja, Christina: „Krankheit (Neuzeit)“, in: Peter Dinzelbacher (Hg.): Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen, Stuttgart 1993, S. 200–207. 22 Friedrich, Christoph/Müller-Jahnke, Wolf-Dieter: Rudolf Schmitz. Geschichte der Pharmazie, Bd. 2: Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Eschborn 2005, S. 101 f. 23 Stolberg, Michael: Alternative Medicine, Irregular Healers and the Medical Market in Ninteenth-Century Bavaria, in: Jütte, Robert/Eklöf, Motzki/Nelson, Marie C. (Hg.): Historical Aspects of Unconvential Medicine. Approaches, Concepts, Case Studies, S. 139– 162, hier S. 142. 24 Michael Stolberg weist beispielsweise in seinem Artikel darauf hin, dass der Aderlass noch von verschiedenen Heilergruppen angewandt wurde, lange nachdem studierte Ärzte aufgehört hatten, diesen als medizinisches Mittel einzusetzen, und er wurde daraufhin von studierten Ärzten als „Volksmedizin“ abgetan. Stolberg, Michael: Probleme und Perspektiven einer Geschichte der „Volksmedizin“, in: Thomas Schnalke (Hg.): Die
2.2 Die Säftelehre
31
werden dürfen bei diesen Überlegungen die Bedürfnisse und die Wünsche der Kranken und deren Familien, denn es hing wohl auch in erster Linie von ihnen ab, wie sie diesen Markt nutzen und welche Heilkonzepte sie für erfolgversprechend hielten.25 Da die Quellen fehlen um herauszuarbeiten, welche Heilmethoden Epileptiker bei welchen Heilpersonen erwarten konnten, soll im Folgenden ein Überblick über die verschiedenen Heilkonzepte und die Medikamente gegeben werden, um so darzustellen, welche Möglichkeiten ein Epilepsiekranker bei seiner Behandlung wählen konnte. In einem zweiten Schritt wird nachvollzogen, wie Epileptiker den medizinischen Markt nutzten und welche Rolle die soziale Stellung und finanzielle Erwägungen in der Wahl der Heiler spielten. 2.2 Die Säftelehre Theorie Über das hippokratisch-galenische Lehrgebäude zur Epilepsie und die darauf fußenden Heilmethoden liegt eine Fülle an Informationen vor, weil sich die studierten Ärzte eingehend mit ihr beschäftigten und ihre Ergebnisse publizierten. In der Zeit von 1561 bis 1799 enstanden etwa 160 Bücher und Druckschriften sowie 134 Zeitschriftenartikel europaweit, in denen Theorien zur Entstehung und Behandlung der Epilepsie dargelegt wurden. Deutschsprachige Gebiete spielten mit etwa 93 Büchern und 72 Artikeln zu diesem Thema eine Vorreiterrolle.26 Hier sind die zahlreichen Fallstudien zur Epilepsie nicht mitgerechnet, die in von Ärzten herausgegebenen Observationes und Konsilien erschienen. Untersucht wurden die Ursachen und Entstehung der Erkrankung, Anfall auslösende Momente sowie Einflüsse auf den Krankheitsverlauf. Außerdem wurden Therapien und Heilmittel diskutiert und empfohlen.27 Die Geschichte der ärztlichen Epilepsie-Behandlung beginnt in der Antike, und ohne die antiken Vorbilder, die von den Ärzten der Frühen Neuzeit rezipiert und gedeutet wurden, sind ihre Vorstellungen über die Krankheit nicht verständlich. Als Gründungsväter der Medizin galten den frühneuzeitlichen Ärzten der griechische Arzt Hippokrates, der durch die ihm zugeschriebenen Schriften die Lehre von der Humoralpathologie entscheidend prägte, Grenzen des Anderen. Medizingeschichte aus postmoderner Perspektive (= Sozialwissenschaftliches Forum, Bd. 28), Köln 1998, S. 49–74, hier S. 62–66. 25 Duden, Barbara: Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730, Stuttgart 1987, S. 92–96. 26 Ros, Guillermo Olagüe de: La literatura médica sobre epilepsia. Siglos XVI-XIX. Análisis bibliométrico, Valencia 1976, S. 19 ff. und 37 ff. Zu den Zeitschriftenartikeln zählte der Autor auch kurze Bücher und Thesenauszüge. 27 Dieckhöfer, K.: Die Epilepsie an der Wende zum 18. Jahrhundert. Kleiner geschichtlicher Abriß anhand von drei zeitgenössischen medizinischen Dissertationen aus den Jahren 1695, 1699 und 1733, in: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie, Heft 1, 11(1972), S. 89–97.
32
2 Hoffnung auf Heilung
und der römische Arzt Galenus, dem es gelang, die antiken Lehren zusammenzufassen und das Lehrgebäude der Humoralpathologie zu erweitern. Gerade die Schrift „De morbo sacro“, die zum Corpus der hippokratischen Schriften gezählt wird und nach neuesten Erkenntnissen wohl tatsächlich Hippokrates zugeschrieben werden kann,28 galt den frühneuzeitlichen Ärzten im Hinblick auf die Behandlung der Epilepsie als unverzichtbare Autorität und wurde bis weit ins 18. Jahrhundert zitiert. In dieser Schrift vertrat der Autor die Ansicht, die sogenannte heilige Krankheit basiere auf rein natürlichen Ursachen.29 Ausgangspunkt der Krankheit sei das Gehirn, das nach antiker Theorie von zwei Blutgefäßen, von denen das eine aus der Leber, das andere aus der Milz nach oben steigt, mit Blut versorgt wird. Neben dem Blut fließe auch „pneuma“ (= Luft) in den Gefäßen, das als Trägerin der Denkfähigkeit galt. Das Gehirn kann nach dieser Vorstellung seine Denktätigkeit nur durch regelmäßige Luftzufuhr aufrecht erhalten. Die Körpervorgänge würden durch zwei Säfte beeinflusst, Schleim (Phlegma) und Galle, die im richtigen Mischungsverhältnis zueinander stehen müssten. Gerieten diese Säfte ins Ungleichgewicht (Dyskrasie), entstünden Krankheiten. Für die epílēpsis ist nach Hippokrates ein Übermaß an Schleim verantwortlich, das sich im Gehirn festsetzt. Der übermäßige Schleim sammele sich im Gehirn, welches sich nicht davon reinigen könne, und fließe unter begünstigenden Voraussetzungen wie dem Umschlagen der Witterung, dem Wechsel der Winde, plötzlichem Temperaturwechsel, zu langem Aufenthalt in der Sonne sowie dem Auftreten von Schrecken oder Furcht über die Blutgefäße ab. Das Blut in den Gefäßen kühle durch den kalten Schleim ab, komme zum Stillstand und unterbinde dadurch die Aufnahme und Bewegung der Luft in den Blutgefäßen. Dadurch könne keine Atemluft zum Gehirn getragen werden und die Blutzufuhr zu den Organen und den Gliedmaßen sei unterbunden. Durch den Mangel an „pneuma“ im Gehirn entstehe die Bewusstlosigkeit, und die Stockung von Luft und Blut in den Adern verursache die Krämpfe des Körpers. Grundvoraussetzung der epílēpsis ist nach Hippokrates eine angeborene phlegmatische Konstitution des Körpers, die überhaupt erst zu einer vermehrten Schleimbildung beiträgt und nur unter begünstigenden Voraussetzungen zum epileptischen Anfall führt. Diese Disposition kann Hippokrates zufolge vererbt werden.30 Im 2. Jahrhundert nach Christus griff der römische Arzt Galen die hippokratische Medizinlehre auf, verband sie mit weiteren antiken Theorien und schuf dadurch ein eigenes medizinisch-philosophisches System, auf dessen Ba28 Thomas Rütten verweist nicht zu Unrecht darauf, dass „De morbo sacro“ ursprünglich keine Epilepsieschrift war, sondern der Autor lediglich den Begriff epilepsis verwandte, der für einzelne Anfälle und alle mit Anfallschüben verbundene Krankheiten stand. Rütten: Hippokratische Schriften begründen die griechische Medizin S. 48 und 51 f. Nichtsdestotrotz wurde „De morbo sacro“ aber in der Frühen Neuzeit häufig im Zusammenhang mit der Epilepsie zitiert und damit als wichtiges Werk zur Epilepsietheorie begriffen. 29 Grensemann, Hermann: Die hippokratische Schrift „Über die Heilige Krankheit“, Berlin 1968; Rütten: Hippokratische Schriften begründen die griechische Medizin, S. 50 ff. 30 Grensemann: Die hippokratische Schrift „Über die Heilige Krankheit“, S. 69–79.
2.2 Die Säftelehre
33
sis er auch die Entstehung der epilepsia erklärte.31 Galen sah wie Hippokrates den Ausgangspunkt der epileptischen Anfälle im Gehirn, das für ihn das Zentralorgan nervlicher Vorgänge bildete. Es sei Sitz der Seele, der Empfindung, des Verstandes, des Erinnerungsvermögens und Ursprung willentlicher Bewegung, die sich über das Rückenmark und die Nerven übertrug. Vermittler und Überträger zwischen Gehirn und Körperteilen war für Galen das „pneuma psychikon“ oder die „spiritus animales“, eine Substanz feinster luftartiger Beschaffenheit, die aus dem Blut der Gehirngefäße und der darin enthaltenen Atemluft abgeschieden würde.32 Galen baute Hippokrates‘ Zweisäfte-Lehre zur Viersäfte-Lehre aus: Für ihn setzte sich der Körper aus Blut, Schleim, schwarzer und gelber Galle zusammen, denen er die Qualitäten trocken, feucht, kalt und heiß zuwies. Für den Ausbruch der Epilepsie waren nach seiner Theorie ein Überschuss an kalten Säften verantwortlich, nämlich das kalte und feuchte Phlegma sowie die kalte und trockene schwarze Galle, die sich im Gehirn sammelten, dort die Hirnventrikel verstopften und somit das Fließen der „spiritus animales“ verhinderten.33 Zudem durchfeuchteten und verstopften sie die Ursprünge der Nerven im Gehirn, welche darauf mit einer schüttelnden Bewegung reagierten, um sich von diesen schädlichen Agentien zu befreien. Daraus resultierten die Konvulsionen des Anfalls.34 Galen grenzte epileptische Anfälle, die seiner Meinung nach im Gehirn entstanden, da sie mit einem Bewusstseinsverlust einher gingen, von einfachen Krämpfen ab. Ihren Ursprung vermutete er im Rückenmark oder in den Blutgefäßen, weil sie nicht zum Bewusstseinsverlust führten. Er klassifizierte auch erstmals drei unterschiedliche Epilepsiearten: 1. die Epilepsie, bei der das Leiden primär im Gehirn durch dessen Verstopfung entstehe. 2. die Analepsie, die er auf einen Überfluss an gelber Galle oder sonstiger schädlicher Flüssigkeiten im Mageneingang zurückführte, deren Ausdünstungen die Nerven des Magenmundes und in letzter Instanz die Nerven des Gehirns so reizten, dass dieses mit Krämpfen reagiere. 3. die Katalepsie, bei der die schädlichen Ausdünstungen in den Gliedmaßen entstünden, von diesen ins Gehirn stiegen und es so stark reizten, dass es ebenfalls mit Anfällen antworte.35 Die Theorien der antiken Autoritäten Hippokrates und Galen wurden etwa um 500 von medizinischen Schulen im Osten aufgegriffen. Von dort verbreitete sich die scholastische Medizin weiter östlich zu syrischen und arabischen Ärzten, die sie nicht nur aufgriffen, sondern auch entscheidend prägten. In dieser Form gelangte sie zu den westlichen Gelehrten und wurde an medizinischen Schulen wie Salerno und Pavia gelehrt.36 Bis ins 15. Jahrhundert 31 Temkin: The Falling Sickness, S. 60 f. 32 Schmitt, Wolfram: Die Epilepsie in der Theorie der älteren Medizin, in: Heidelberger Jahrbücher 18 (1974), S. 66–80, hier S. 68 f. 33 Siegel, Rudolph E.: Galen on Psychology, Psychopathology, Function And Diseases of the Nervous System, Basel/München/Paris 1973, S. 245. 34 Temkin: The Falling Sickness, S. 62 f. 35 Ebenda, S. 64. 36 Ebenda, S. 121.
34
2 Hoffnung auf Heilung
wurden die klassischen Lehren Hippokrates‘ und Galens nicht wesentlich verändert, wenn die mittelalterlichen Autoren auch einzelne Aspekte modifizierten, Details in den Lehren ergänzten und eine neue Terminologie einführten, die auch in der Frühen Neuzeit in Gebrauch bleiben sollte. Die mittelalterlichen scholastischen Ärzte übernahmen Galens Dreiteilung der Epilepsie in Epilepsie, Analepsie und Katalepsie.37 Die Schule von Salerno prägte aber auch eine neue Unterscheidung von Anfallsformen, die der „epilepsia major“ und der „epilepsia minor“. Der salernische Arzt Platerius erklärte bei der „epilepsia major“ würden die Hauptventrikel des Gehirns völlig blockiert, weshalb der Betroffene in Konvulsionen zu Boden stürze, wogegen die Gehirnventrikel bei einer „epilepsia minor“ nur teilweise blockiert seien und der Patient dadurch nicht unbedingt zu Boden stürze.38 Arnold von Villanova (um 1235–1311) arbeitete eher mit den Begriffen der „epilepsia vera“ und „epilepsia non vera“, die im Prinzip dasselbe Konzept darstellten, wobei er die wahre Epilepsie auf eine Obstruktion der Gehirnventrikel durch Schleim, die „epilepsia non vera“ auf eine Mischung aus schwarzer Galle und Schleim zurückführte.39 Diese Begriffe prägten die weitere Epilepsieforschung und finden sich auch in frühneuzeitlichen Dissertationen. Ein weiterer Diskussionspunkt der scholastischen Medizin war die Frage, welcher Saft genau die Gehirnventrikel blockiere und an welchen äußeren Zeichen man dies erkennen könne. Wurde bei Hippokrates‘ noch angenommen, überschüssiger Schleim blockiere die Gehirnventrikel, argumentierte Antonius Guainerius in seiner Schrift „Opera Medica“, die Blockade könne durch alle Säfte erfolgen, wobei Schleim die häufigste Ursache und Galle die seltenste sei. Daran anschließend diskutierte er die unterschiedlichen Zeichen, woran der Arzt erkennen könne, welcher Saft nun für die Epilepsie des Patienten verantwortlich sei.40 Auch bei der Erklärung der Ursachen von Epilepsie lassen sich verschiedene Veränderungen bei den mittelalterlichen Ärzten feststellen: Erstens legten diese mehr Gewicht auf Kopfverletzungen. Besonders Alī Ibn Abbās führte aus, dass Schädelbrüche Druck auf das Gehirn ausüben und zur Epilep37
Cassano, D./Collucci d’Amato, C.: „The Moon“ and the „Blood“: Two Emblematic Symbols in Headache and Epilepsy according to Scientific Traditions of the Salerno Medical School and Popular Medicine in Southern Italy, in: Journal of the History of the Neurosciences 1 (1992), S. 97–110, hier S. 107 f.; Storch, Edna P. von/Storch Theo J.C. von: Arnold of Villanova on Epilepsy, in: Annals of Medical History 10 (1938), S. 251–260, hier S. 253. 38 Artikel Epilepsie, in: Enzyklopädie der Medizingeschichte, S. 361 f.; Temkin: The Falling Sickness, S. 122 ff. 39 Villanova, Arnold von: Brevarium practicae medicinae, Pavia 1482, S. 40 ff.; Storch, Edna P. von/Storch Theo J.C. von: Arnold of Villanova on Epilepsy, S. 253; Temkin: The Falling Sickness, S. 124. 40 Guainerius, Antonius: Opera Medica, Pavia/Charcavo 1488, Tract 7, Epilepsia; übernommen aus der Übersetzung von: Lennox, William G.: Antonius Guainerius on Epilepsy, in: Annals of Medical History 2 (1940), S. 482–499, hier S. 485 ff.; auch Bernard of Gordon vertrat eine ähnliche Ansicht: Gordon, Bernard von: Lilium Medicinae, Lyons/ Lambillon/Serrazin 1491; in Übersetzung bei: Lennox, William G.: Bernard of Gordon on Epilepsy: Annals Of Medical History 2 (1941), S. 372–383, hier S. 373 f.
2.2 Die Säftelehre
35
sie führen könnten. Zweitens wurde die Erblichkeit der Krankheit als Ursache sehr viel stärker gewichtet als in der Antike, und es wurde angenommen, dass die ererbte Epilepsie nicht geheilt werden könne.41 Drittens trat neben die durch Galen vertretene Ursachen-Theorie, die von einer Obstruktion der Gehirnventrikel durch Säfte ausging, eine bei Aristoteles ausgeführte Theorie, die Ausdünstungen des Magens durch schadhaftes Essen als Ursache für eine Reizung des Gehirns und die daran anschließenden Anfälle annahm. Aristoteles’ Theorie bot den mittelalterlichen Ärzten eine plausible Erklärung für das Abklingen des Anfalls durch die Annahme, die schädlichen Dämpfe lösten sich nach einer Weile wieder auf und unterbrachen damit die Reizung des Gehirns. Sie wurde besonders stark von dem arabischen Arzt Averroës vertreten, der sogar soweit ging, die galenische Theorie völlig zu verneinen. Andere mittelalterliche Ärzte versuchten beide Theorien zu kombinieren und gingen von aufsteigenden Dämpfen oder Dämpfen im Gehirn aus, die sich verfestigten und ablagerten und dadurch die Obstruktion hervorriefen.42 Durch die Neuentdeckung antiker Schriften in der Renaissance wurden diese vermehrt im Original gelesen und neu gedeutet, was besonders an der massiven Auseinandersetzung mit Galens und Hippokrates‘ Werken in medizinischen Dissertationen zur Epilepsie im 16., aber auch noch im 17. Jahrhundert deutlich wird. Seit dem 16. Jahrhundert zeigte sich die Tendenz, antike und mittelalterliche Epilepsietheorien weiterzuentwickeln und an eigenen Beobachtungen anzuschließen. Einer dieser „Modernisten“ war der französische Arzt Jean François Fernel (um 1497–1558). Er entwickelte auf der Grundlage der bereits angesprochenen mittelalterlichen Theorien die Ansicht, epileptische Anfälle entstünden allein durch giftige Dämpfe, zum Beispiel durch Quecksilber, die im Körper aufstiegen und das Gehirn sowie die Hirnhaut reizten. Auf diese Reizungen reagiere das Gehirn mit heftigen Bewegungen, die sich auf den ganzen Körper übertrügen und dadurch die Konvulsionen im Körper auslösten. Die Zurückweisung der galenischen Theorie einer Verstopfung der Gehirnventrikel und der von ihm neu entwickelten Reizungstheorie gründete Fernel auf Beobachtungen, die er bei der Sektion zweier epileptischer Patienten gewonnen hatte, in deren Gehirnventrikeln er keinerlei Verstopfung durch Säfte entdecken konnte. Diese Beobachtungen wurden in Obduktionen weiterer Ärzte wie Volcher Coiter (1534–1600) und Thomas Erastus (1523–1583) bestätigt. Den Widerspruch zur klassischen galenischen Lehre löste Fernel durch die Entwicklung seiner Theorie der Gehirnirritation auf.43 Obwohl während des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts sowohl die klassische galenische Theorie weiter bestand als auch neue Theorien von Medizinern entwickelt wurden, wurde die Idee der Reizung des Gehirns als elementarer Ursache der Anfälle von den meisten frühneuzeitlichen Medizinern übernommen und in die Behandlung einbezogen. Da nun generell angenommen wurde, die Anfälle würden durch Reizung ausgelöst, entfernten sich die 41 Temkin: The Falling Sickness, S. 131 f. 42 Ebenda, S. 127 ff. 43 Ebenda, S. 198 f.
36
2 Hoffnung auf Heilung
frühneuzeitlichen Ärzte von der klassischen galenischen Dreiteilung und unterschieden nur noch zwischen der im Gehirn selbst entstehenden Form der Epilepsie, die „idiopathisch“ hieß, und der durch aufsteigende Dämpfe in irgendeinem Teil des Körpers entstehenden „sympathischen“ Epilepsie.44 Die frühneuzeitlichen Ärzte entfernten sich noch in weiteren Fragen von der klassischen Definition. So wurde im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert verstärkt nach den anfallauslösenden Faktoren der Epilepsie geforscht: Die meisten Ärzte waren sich einig, plötzliche Angst und Aufregung könnten eine Epilepsie verursachen. Ebenso könne aber das Mitansehen eines Anfalls, durch die sich die Impression der Krankheit in die Seele des Betrachters oder bei Schwangeren über deren Eindruck in die Seele des Kindes im Leib einbrenne, Ursache der Krankheit sein. Weitere Auslöser der Epilepsie könnten Kopfverletzungen und vorhergehende Erkrankungen wie die Blattern, Masern oder Pocken sein.45 Außerdem wurden atypische Epilepsieformen, die nicht unbedingt der klassischen galenischen Definition entsprachen, untersucht, und es wurden Formen ohne Niederfallen oder ohne Konvulsionen am ganzen Körper als Epilepsieformen begriffen. Der Arzt Markus Marci (1595– 1667) erweiterte die klassische Definition auf der Grundlage seiner Beobachtungen folgendermaßen: „Jeglicher Befall des Körpers, bei der die Opfer geistig verwirrt sind, während sich die Teile [des Körpers], seien es alle, oder nur einige, oder auch nur ein einziger, gegen ihren Willen bewegt werden.“46 Als essentiell für einen epileptischen Anfall wurden nicht mehr nur die Symptome eines großen Anfalls, sondern auch weitere Formen betrachtet. Auch der Zusammenhang mit anderen Erkrankungen wie Fieber und Syphilis wurden in dieser Zeit erkannt und näher untersucht, wenn die zeitgenössischen Ärzte jedoch zugaben, nicht in jedem Fall abschätzen zu können, was in diesen Fällen Ursache und Wirkung war. Die hippokratisch-galenische Lehre wirkte bis weit ins 18. Jahrhundert auf die medizinischen Vorstellungen zur Epilepsie, wurde aber Ende des 17. Jahrhunderts, beinflusst durch neue Erkenntnisse in der Physik und Chemie, zunehmend von neuen medizinischen Epilepsietheorien ersetzt, die aus den Körpervorstellungen zeitgenössischer medizinischer Schulen erwuchsen. Gemeinsam war diesen Theorien, dass sie die epileptischen Anfälle ebenfalls von einer Störung des Gehirns herleiteten, die allerdings je nach Ausrichtung der medizinischen Schule unterschiedlich begründet wurde.47 Zedlers Universallexikon erklärt den Unterschied der Schulen in seinem Artikel „Epilepsia“ 1734 folgendermaßen: Die unmittelbare Ursache dieser Kranckheit hat denen Medicis viel zu schaffen gemacht, und weil sie nicht alle einerley Hypothese haben, als ist es gekommen, daß jede Secte solche aus ihren Principiis herleiten will, dahero viele unterschiedliche Meinungen entstanden. Einige glauben, die Seele sey die wahre und unmittelbare Ursache dieser Krank44 45 46 47
Ebenda, S. 201 f. Ebenda, S. 185 ff. Ebenda, S. 192 Kutzer: Das Bild der Epilepsie, S. 19–40.
2.2 Die Säftelehre
37
heit; andere halten aber die Lebensgeister vor selbige; und wieder andere behaupten, daß gedachte Krankheit unter anderem von einem sauren und scharffen Giffte herrühre, das entweder im Gehirne, in denen Fingern und Zehen, oder sonst in einem andern Gliede des Leibes seinen Sitz hat.48
Gemeint waren hier die vom Hallener Professor Georg Ernst Stahl (1659– 1734) geprägte animistische, die von Franciscus de le Boë Sylvius (1616–1672) an der Universität Leiden verfochtene iatrochemische und die von Friedrich Hoffmann (1660–1742) ebenfalls in Halle vertretene iatrophysische Lehrmeinung, denen jeweils unterschiedliche medizinische Konzepte zugrunde lagen.49 Die iatrophysische Schule verstand den Körper in erster Linie als Einheit, in dem alle Körperfunktionen mechanisch abliefen, und sah Krankheiten als Störungen innerhalb dieses mechanischen Systems. Dagegen führte die iatrochemische Schule die Körpervorgänge in erster Linie auf chemische Reaktionen innerhalb des Körpers zurück, deren Störung Erkrankungen hervorrief. Während sich die iatrophysische und iatrochemische Schule noch weitgehend ähnelten und nur in Details voneinander unterschieden, entwickelte Georg Ernst Stahl ein eigenes theoretisches System, das die Vorstellung von einem Körper ablehnte, der allein mechanischen oder chemischen Vorgängen unterlag. Vielmehr sah er die Seele des Menschen, deren Sitz er im Gehirn vermutete, als Steuerungselement jeder Bewegung und jedes Vorgangs im menschlichen Organismus. Erst durch die empfindende, erkennende und das Nervensystem willentlich steuernde Seele könne überhaupt erst Bewegungen im Organismus erfolgen.50 Ausgehend von diesen Grundannahmen, leiteten sich die jeweiligen Theorien zur Entstehung der Epilepsie ab. Der iatrochemische Ansatz basierte auf den Überlegungen der beiden bedeutenden Vertreter Franciscus de le Boë Sylvius (1614–1672) und Thomas Willis (1622–1675). Sie griffen auf Ansätze der paracelsischen Alchemie51 zurück, obwohl diese bis Ende des 16. Jahrhunderts unter galenisch geschulten Ärzten eher verpönt war, und begannen diese mit orthodoxeren, das heißt, galenischen Konzepten, zu verbinden.52 Sylvius sah in der Verdauung und dem fehlerhaften Ablauf der chemischen Reaktionen in diesem Prozess, die zu einer Umwandlung der Körpersäfte führe, die Ursache verschiedener Erkrankungen. Je nachdem, wie sich die Körpersäfte veränderten, unterschied Sylvius zwischen Krankheiten, die aus „saurer Schärfe“ und die aus „alkalischer Schärfe“ entstünden. Die Epilepsie entstehe aus saurer Schärfe: Übersäuerte Dämpfe, die sich dem Blut beimischten, gelangten mit diesem zum Gehirn, wo sie sich in schädlicher Weise mit den 48 Artikel „Epilepsia“: in Zedlers Universallexikon, Bd. 8, Halle/Leipzig 1734, S. 1342– 1405. 49 Temkin charakterisierte diese Zeit als die Zeit der großen Systeme: vgl. dazu: Temkin: The Falling Sickness, S. 205–220.; Kutzer: Das Bild der Epilepsie, S. 35–40. 50 Eckart, Wolfgang U.: Geschichte der Medizin, 2. komplett überarbeitete Auflage, Berlin/ Heidelberg/New York u. a. 1994, S. 177 f. 51 Siehe zu Paracelsus auch das Unterkapitel: Neoplatonismus, Alchemie und (Natur-)Magie, S. 51–55. 52 Temkin: The Falling Sickness, S. 181.
38
2 Hoffnung auf Heilung
„spiritus animales“ mischten. Die „spiritus animales“, in der zeitgenössischen Literatur auch animalische-, tierische- oder Lebensgeister genannt, waren in der medizinischen Vorstellung kleinste Teilchen, die für die Sinneswahrnehmung im Gehirn zuständig waren. Sie stießen aber auch die Bewegung der Muskeln an, indem sie den Reiz vom Gehirn über das Rückenmark und die Nervenbahnen zu den Sehnen und Muskeln transportierten. Durch die Vermischung der Lebensgeister mit den schädlichen sauren Dämpfen gerate, so Sylvius, deren Bewegung in Unordnung, was zum Verlust der Sinneswahrnehmung und zu den unkontrollierten Bewegungen der Muskeln während des Anfalls führe. Die Dämpfe entstünden durch eine falsche Ernährung und Lebensweise, die zu einer fehlerhaft ablaufenden Verdauung (effervescentia) und zu einer Ansammlung saurer Schärfen führe. Durch irritative Einflüsse von außen wie feuchte Luft, Schrecken und Furcht, sprudelten die Dämpfe über und vermischten sich mit dem Blut, das diese zum Gehirn transportiere. Die Therapie musste also nach Sylvius zum einen in der Beseitigung der Ursachen, also dem Abstellen der falschen Ernährung, und im Binden der sauren Dämpfe bzw. Gifte durch alkalische Salze bestehen.53 Thomas Willis (1622–1675) sah die Ursache für die epileptischen Anfälle ebenfalls in einer chemischen Reaktionskette: Wie Muskelkrämpfe und Konvulsionen durch ein Zusammenziehen der Muskeln entstünden, ausgelöst von einer krampfhaften, explosiven Kopula, würden auch die epileptischen Anfälle durch eine krampfhafte Kopula ausgelöst, die allerdings nicht auf die Muskeln, sondern auf die animalischen Geister im Gehirn wirke. Die krampfhafte Kopula entstehe durch eine Ansammlung von salpetrigen und schwefligen Partikeln, die in die Muskeln oder das Gehirn strömten, sich dort mit den Lebensgeistern mischten und durch Irritation zur Explosion gelangten. Durch die Explosion im Gehirn entstehe der epileptische Anfall.54 Der italienische Arzt Giorgio Baglivi (1668–1707) und der von ihm beeinflusste Friedrich Hoffmann gingen dagegen von einem mechanischem Körpersystem aus, in dem zwar chemische Prozesse eine Rolle spielten, aber vor allem mechanische Abläufe die Vorgänge im Körper beeinflussten. Nach Baglivi gab es im Körper zwei Arten von Sehnen, die Membransehnen und die fleischlichen Sehnen, die in den Muskeln endeten. So wie die Muskelsehnen sich kontrahieren könnten, um eine Bewegung im Muskel hervorzurufen, könnten auch die Membransehnen des Gehirns kontrahieren und dadurch Nervenflüssigkeit, die man sich ebenfalls als Lebensgeister vorstellte, über den ganzen Körper verteilen, wodurch überhaupt erst eine Reaktion in den Muskelsehnen hervorgerufen würde. Diese Verteilung der Lebensgeister sei ein rein mechanisches System, das durch ein Zusammenziehen der „dura mater“ (der harten Hirnhaut) hervorgerufen würde. Kontrolliert würde diese Bewegung von der Seele, die ihren Sitz ebenfalls im Gehirn habe, und die sämtliche Körperbewegungen kontrolliere. Als Hauptinstrument der Seele sitze die Wahrnehmung in der Hirnhaut, die die Körperbewegungen überwache. Die 53 Temkin: The Falling Sickness, S. 205–207; Schneble: Heillos, Heilig, Heilbar, S. 86 f. 54 Temkin: The Falling Sickness, S. 207 ff.; Schneble: Heillos, Heilig, Heilbar, S. 87 f.
2.2 Die Säftelehre
39
Epilepsie entstehe unter dem Einfluss eines heftigen Erregers, durch den die normale Bewegung der dura mater beeinflusst werde und sich in eine heftige, irreguläre Bewegung umwandele, wodurch auch die Nervenflüssigkeit nur noch ungleichmäßig verteilt werde, woraus alle Nervenkrankheiten einschließlich der Epilepsie entstünden.55 Friedrich Hoffmann übernahm Baglivis Theorie, modifizierte sie aber in einigen Punkten: Er sah den Hauptgrund für die Auslösung der Anfälle in einer Verengung der harten Hirnhaut, hervorgerufen durch eine Stagnation von Blut. Der Blutfluss im Gehirn würde dadurch behindert und grobe Partikel drängten von den Arterien ins Gehirn. Zur selben Zeit würden die Blutgefäße erweitert, was zu einer spastischen Einziehung der Hirnhaut führe, wodurch das Gehirn gestaucht werde, mehr Nervenflüssigkeit in die Nerven ströme und Konvulsionen vor allem in den Muskeln verursache. Die Nerven, die normalerweise mit den Sinnesorganen kommunizierten, würden gleichfalls eingeengt, wodurch ein zeitweiliger Verlust der äußeren als auch inneren Sinne entstehe. Gleiches gelte für konvulsive Bewegungen, wenn dieser Vorgang in der Haut des Rückenmarks oder in den Gelenken stattfinde. Da die Häute des Gehirns und des Rückenmarks aber verbunden seien, könnten konvulsive Bewegungen auch in epileptische übergehen, indem die Bewegungen auf das Gehirn übergriffen.56 Im animistischen System Georg Ernst Stahls wurden die epileptischen Anfälle als ursprünglich vorteilhafte Reaktion der Seele oder der „Natur“, die über den lebenden Körper und dessen Tonus wacht und die Bewegungen des Organismus reguliert, auf einen schädlichen Stimulus angesehen. Er nahm an, die Seele reagiere mit Konvulsionen bzw. Krämpfen, wenn sich ein Schadstoff im Gehirn oder in den Nervenbahnen absetze und diesen blockiere. Durch die Erschütterungen wolle die Seele die Schadstoffe wegschütteln. Neben Verstopfungen in den Hirnventrikeln oder Nervenbahnen könnten auch weitere Stimuli, wie Fremdkörper im Ohr oder Würmer, epileptische Konvulsionen hervorrufen. Die Epilepsie sei eine Fehlfunktion dieser ursprünglich nützlichen Reaktion des Körpers, eine Überreaktion der Seele, die durch angstmachende und erschreckende „Präfigurationen“ hervorgerufen werde.57 Aus Stahls animistischen Konzept erwuchsen einige weitere Konzepte, die die Lebenskraft in den Mittelpunkt stellten. Auf zwei von diesen soll hier kurz eingegangen werden, weil sie einen indirekten Einfluss auf die Epilepsietheorie und ihre Behandlung ausübten und an späterer Stelle weitere Erwähnung finden werden: Der Brownianismus und Mesmers „tierischer Magnetismus“, die sich besonders gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Teilen der gelehrten Bevölkerung großer Beliebtheit erfreuten.
55 Temkin: The Falling Sickness, S. 210 ff. 56 Ebenda, S. 211 ff. 57 Ebenda, S. 213–217; Ceglia, Francesco Paolo de: The Blood, the Worm, the Moon, the Witch: Epilepsy in Georg Ernst Stahl’s Pathological Architecture, in: Perspectives on Science, vol. 12,1 (2004), S. 1–28.
40
2 Hoffnung auf Heilung
Der Brownianismus, genannt nach seinem Begründer, dem schottischen Arzt John Brown (1735–1788), verstand das Leben als einen durch innere und äußere Reize erregten und dadurch aufrechterhaltenen Gesundheitszustand. Für Gesundheit oder Krankheit sei die Grunddisposition des Körpers entscheidend, d. h. die Bereitschaft und Fähigkeit des Organismus, auf entsprechende Reize zu reagieren, seine Reizbarkeit. Differenziert wurde von Brown zwischen sthenischen Krankheiten, die man als Reizüberflutung mit der Folge der Abnahme der Erregbarkeit ansehen könne, und asthenischen Krankheiten, die aus einer Reizmangelerscheinung resultierten. Therapieziel müsse es deshalb sein, wo man die schädigenden Einflüsse auf den Körper nicht beseitigen könne, ein Gleichgewicht der Erregbarkeit zu schaffen, um so die Gesundheit wieder herzustellen. Dazu müssten entweder dämpfende Mittel (kalte Getränke, vegetarische Ernährung, Ruhe, Aderlass, Erbrechen etc.) oder anregende Therapeutika (Wärme, fleischreiche Ernährung, Bewegung, frische Luft, Alkohol, Elektrizität etc.) angewendet werden.58 Franz Anton Mesmers (1734–1815) Konzept des „tierischen Magnetismus“, genannt Mesmerismus, begründete seine Lebens- und Behandlungstheorie auf der Annahme eines beeinflussbaren magnetischen „Fluidums“, das jedem lebendigen Körper innewohne. Diese „magnetische“ Lebenskraft könne durch andere Organismen beeinflusst und dadurch wieder ins Gleichgewicht gebracht werden. Der Arzt könne durch den eigenen Magnetismus das magnetische System des Patienten verändern und damit den Gesundheitsoder Krankheitszustand therapeutisch beeinflussen. Zu diesem Zweck entwickelte Mesmer eine besondere Berührungs- und Streichmethode, mit der er Schmerzen beseitigen und Krankheiten behandeln konnte.59 Seine Methode wandte er auch in der Epilepsie-Behandlung an und kontrastierte damit besonders Gaßners Exorzismen an der Epilepsie, auf die im Unterkapitel 2.4 „Gott, Teufel und die Heiligen“ eingegangen wird.60 Im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts erschienen diverse Dissertationen zu den Ursachen und der Entstehung der Epilepsie. Sie stützten sich alle mehr oder weniger auf die beschriebenen Konzepte; modifizierten sie geringfügig oder versuchten sie zu verbinden. Eine Darstellung der feinen Unterschiede der Konzeptionen und der einzelnen Traditionen würde hier zu weit führen.61 Für die Patienten war die Frage, wie die frühneuzeitlichen Ärzte die Epilepsie erklärten, und die spitzfindigen Diskussionen darüber, in welchem Teil des Gehirns die Anfälle ausgelöst würden, zweitrangig. Viel wichtiger erschien ihnen die Frage, wie und womit sie behandelt werden sollten. Diese Frage ist heute insofern schwierig zu beantworten, da von Seiten der Kranken Behandlungsverläufe kaum überliefert sind. Als Quellen stehen in erster Linie Dissertationen, Rezeptsammlungen und Fallbeschreibungen von Ärzten zur Verfü58 59 60 61
Eckart: Geschichte der Medizin, S. 183 f. Ebenda, S. 188 ff. Kapitel 2.4, S. 83–85. Zumal diese Fragen schon sehr eingehend von Temkin und Kutzer untersucht wurden: The Falling Sickness und Das Bild der Epilepsie.
2.2 Die Säftelehre
41
gung, die allerdings lediglich zeigen können, welche Mittel den Patienten üblicherweise bei Epilepsie verschrieben wurden. Sie lassen keine Aussagen über den Umgang der Patienten mit den ärztlichen Anweisungen und Empfehlungen zu. Dennoch können die Rezeptsammlungen zeigen, mit welchen Mitteln die Betroffenen behandelt wurden, wenn sie sich an akademisch geschulte Ärzte wandten. Die Therapie Traditionell wurden Medikamente seit der Antike in pharmazeutische, diätetische und chirurgische Mittel unterteilt. Diese Dreiteilung lässt sich in medizinischen Lehrbüchern bis weit ins 18. Jahrhundert nachvollziehen und spiegelt sich auch in der Epilepsie-Behandlung wider.62 Zu den pharmazeutischen Mitteln gehörten in erster Linie pflanzliche Rezepturen und Mischungen. Die am häufigsten in der frühneuzeitlichen Epilepsie-Behandlung genannte Pflanze ist die Päonie oder Pfingstrose. Sie wurde in nahezu allen Rezeptsammlungen, medizinischen Dissertationen und Observationen erwähnt und als Antiepileptikum gepriesen. Sie behielt ihren Ruf als Heilmittel gegen Epilepsie noch im 18. Jahrhundert und wurde auch von aufgeklärten Medizinern akzeptiert, obwohl zu dieser Zeit viele ehemals als wirksam empfundene Pflanzen nun eher skeptisch hinterfragt und zunehmend aus dem Kanon der Heilmittel entfernt wurden.63 Weitere in der Epilepsie-Behandlung beliebte Mittel waren die Mistel (vor allem die Eichenmistel), der Rosmarin, die Maienblume, der Lavendel, das Betonienkraut und die Raute. Sie wurden selten einzeln verordnet, sondern als Kräutermischung, die jeweils von Arzt zu Arzt variierte. Bei vielen dieser Rezepte scheint es, als sollte die schiere Menge an Heilpflanzen eine Heilung bewirken. 1558 verabreichte beispielsweise Felix Platter einer epilepsiekranken Frau, die zudem noch nie die Menses gehabt hatte, ein „Apozema“ aus: Rp. Rad. Graminis, Asparagi, Rubiae an. Rad. Paeoniae, Herb. Melissae, Hyssopi, Mentae, Betonicae, Arthemisiae, Nepetae, die Samen von Anis, Paeonien, die Blätter des Rosmarin. Salviae, Tamaricis, Genist. An. P.I. fiat decoctio, & in.col. lb.I. . disolve Sacchari q.s. fiat Apozema aromat. Cinamom. Santali, Nucis. Mosch. Fünfmal morgens zu verwenden.64
Selten wird in den Fallbeschreibungen oder den Rezeptbüchern allerdings die Frage aufgegriffen, warum gerade diese Pflanzen so häufig in der EpilepsieBehandlung eingesetzt wurden. Vielmehr kompilierten die Autoren der Rezeptsammlungen, Dissertationen und Fallbeschreibungen antike und arabisch geprägte Rezepte aus unterschiedlichen Quellen. So wurden vor allem Mittel 62 Kutzer: Das Bild der Epilepsie, S. 12 f. und S. 129 f. 63 Ebenda, S. 131 f. 64 Platter, Felix: Buess, Heinrich (Hg.)/Goldschmidt, Günther (Übersetz.): Observationes. Krankheitsbeobachtungen in drei Büchern, 1. Buch: Funktionelle Störungen des Sinnes und der Bewegung, Bern/Stuttgart 1963, S. 43 f.
42
2 Hoffnung auf Heilung
von Galen und Hippokrates übernommen,65 aber auch Rezepte von Plinius und Dioskurides. Byzantinische und arabische Autoren erfreuten sich in der Frühen Neuzeit großer Beliebtheit. Ebenso wurden zeitgenössische Autoritäten zitiert.66 Eine mögliche Erklärung, warum Heilpflanzen wie die Päonie besonders häufig eingesetzt wurden, liegt in der Klassifikation der Epilepsie als einer kalten und feuchten Erkrankung, die deshalb im Sinne des Prinzips „contrarius contrarii“ mit wärmenden Medikamenten behandelt werden musste. Die Ärzte Jason Pratensis (1486–1558) und Levinus Lemnius (1505–1568) empfahlen in ihren Werken wärmende Medikamente gegen die Epilepsie, zu denen beide die Pfingstrose zählten.67 Die verabreichten Pflanzen und Medikamente wurden demzufolge in erster Linie als wärmende und feuchtigkeitsaustreibende Medikamente kategorisiert. Dafür spricht, dass Pflanzen, die der Epilepsie-Behandlung dienten, in Arznei- und Kräuterbüchern auch für die Behandlung von anderen „kalten Krankheiten“ empfohlen wurden.68 Neben pflanzlichen Heilmitteln verwendeten Ärzte sogenannte Spezifika,69 das heißt, Mischungen aus pflanzlichen, tierischen und menschlichen Bestandteilen, ohne deren Wirkungsweise zu erläutern. So setzten Ärzte zur EpilepsieBehandlung das sogenannte Bibergeil,70 eine Flüssigkeit, die der Biber in seiner Brunftzeit absondert, oder auch zerstoßenen Menschenschädel in ihrer Therapie ein.71 Ab Ende des 17. Jahrhunderts gerieten diese Spezifika immer stärker in die Kritik, weil sie nun als abergläubische und nicht rational durchdachte Mittel betrachtet wurden.72 Während einige Ärzte Spezifika generell ablehnten, setzten andere diese weiterhin ein, versuchten dies aber nun im Sinne neuer Theorien zu interpretieren und dadurch ihre Wirkungsweise zu erklären. Deshalb lassen sich auch noch im 18. Jahrhundert aufgeklärte Medi65 Fries, Lorenz: Spiegel der Artzney, Straßburg 1546, S. 73 f. 66 Annemonatum Koytherum, Johannes: Hauß-Apothek/ Guter gebräuchlicher Artzney zu jedern Leibesgebrechen und Kranckheiten/ Artzney und Rath/ Nach dem ABC/ Eilends zubefinden und kräftig zu erholen. Zu Nutz und Trost und heilsamer Wolfahrt vor das arme Land-Volck/ und gemeinen Manne/ zusammen colligiert …, Wittenberg 1600, S 78 f.; Gufer, Johann: Kleine Hauß-Apotheke. Darinnen allerhand schöne Experimenta oder Artzneyen/ auch von geringeren und verächtlichen Sachen zu finden/ und denen Kranken zum Nutzen nun zum zwölftenmal mitgeteilet …, Augsburg 1673, S. 48 f., 202 f. 67 Loots, G.M.P.: Epilepsie in de zestiende eeuw, S. 40 f. 68 Leonhart Fuchs: New Kreuterbuch/ in welchem nit allein die gantz histori/ das ist/ namen/gestalt/ statt und zeit der wachsung/ natur/krafft und würckung/ des meysten theyls der kreüter so in Teütschen unnd anderen Landen wachsen …, Basel 1543, S. 31 E. 69 Zum weiteren Gebrauch von Spezifika und Erklärungen aus der Signaturenlehre siehe Unterkapitel Neoplatonismus, Alchemie und (Natur-)Magie, S. 55–60. 70 Bartholdus Kruger: Corpus Medicinae Practicae oder Hand-Büchlein vieler singularen und in der Vernunfft-Probe bestandenen Experimenten. Wie allen Menschlichen Gebrechen nechst Gott! Durch schlechte geringe Artzeneymittel könne geholffen und sie curiert werden …, Braunschweig 1699, S. 7 f. 71 Cratonis von Krafftheimb, Johannes: Außerlesene Artzney-Künste. Vor alle des Menschlichen Leibes Zufälle/Gebrechen/ und Krankheiten, Frankfurt a. M. 1690, S. 23. 72 Kutzer: Das Bild der Epilepsie, S. 131 f.
2.2 Die Säftelehre
43
ziner finden, die ihren Patienten beispielsweise menschlichen Schädel als Antiepileptikum verschrieben.73 Unter dem Einfluss neuer Theorien, z. B. der iatrochemischen, aber auch der iatrophysischen Schule, wurden im Laufe des 17. Jahrhunderts chemische Medikamente als Ergänzung der traditionellen Epilepsietherapie angewandt. Die Iatrochemiker, allen voran Sylvius de le Böe, empfahlen zur Bindung und Auflösung der scharfen Dämpfe und Säfte, die nach ihrer Theorie die Epilepsie verursachten, flüchtige Salze und alkalische Mittel.74 So empfahl Sylvius in einem Buch über Kinderkrankheiten den Puder von gestoßenen Perlen, roten Korallen, Kreide oder Elchklauen gegen Epilepsie, alle schon zuvor angewandte Medikamente, weil diese flüchtige Salze enthielten.75 Abraham Bultynck, der 1669 eine Dissertation über Epilepsie unter der Präsidentschaft von Sylvius verfasste, pries als Heilmittel gegen die Epilepsie besonders die alkalischen Mittel „sal tartari fixum“,76 den Salmiakgeist,77 aber auch menschlichen Schädel, weil dieser alkalische Salze enthalte.78 Ein Schüler Georg Wolfgang Wedels – ebenfalls ein Vertreter der iatrochemischen Richtung – empfahl ein alkalisches „lixivium commune“79 und den Salmiakgeist zur Auflösung des Anfalls und von Dämpfen sowie Flüssigkeiten im Gehirn.80 Aber auch Vertreter der iatrophysischen Richtung empfahlen chemische Mittel im Kampf ge73
74
75 76 77
78 79
80
Schuster, Gottwald: Vernünfftige, Naturmäßige und in der Erfahrung gegründete Methode, die meisten Kranckheiten des menschlichen Leibes bald, sicher und auf eine angenehme Art zu heilen …, Chemnitz 1749, S. 469; Friedel, David: Expediter Und Bewährter Medicus Welcher Wieder alle, so wohl inn- als äusserliche Kranckheiten, Schäden, und Gebrechen des Menschlichen Leibes, genugsame Und Bewährte Artzney-Mittel besitzet, Bd. 1, Leipzig/Rostock 1726, S. 38. Alkalien, heute als Kaliumkarbonat bekannt, waren bis ins Hochmittelalter nur als fixe Alkali bekannt, im 18. Jahrhundert wurden diese in mineralische (Soda, Natron) und vegetabilische (Pottasche) Alkali differenziert. Alchemisten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit nannten die Alkali auch sal vegitabile, sal tartari und spiritus urinea. Priesner, Claus: Akalien, in: Claus Priesner/Karin Figala: Alchemie. Lexikon einer hermetischen Wissenschaft, München 1998, S. 41 f. und Schneider, Wolfgang: Lexikon alchemistischpharmazeutischer Symbole, Weinheim 1962, S. 62. Sylvius, Franciscus de le Boë: Of Childrens Diseases: Given in a familiar style, London 1682, S. 61. Das „Sal tartari fixum“ ist ein weißes Salz, das zurückbleibt, wenn die Rückstände des verbrannten Weinstein verglüht werden, Hauptbestandteil Kaliumkarbonat, vgl. Schneider: Lexikon alchemistisch-pharmazeutischer Symbole, S. 7. Heute als Ammoniumchlorid bezeichnet, ist als Wortform seit dem 17. Jahrhundert bekannt, geht aus der Zusammenziehung des Namens Sal ammoniacum hervor. In Europa wurde bis ins 18. Jahrhundert durch Erhitzen von Mist künstlich hergestellter Salmiak vor allem aus Ägypten eingeführt. Brey, Gerhard: Salmiak, in: Claus Priesner/Karin Figala: Alchemie. Lexikon einer hermetischen Wissenschaft, München 1998, S. 317 f. Sylvius, Franciscus de le Boë (Praes.)/Bultynck, Abrahamus (Verf.): De Epilepsia, Elsivier 1669, Abschnitt. XXXIV Lixivium wurde die alkalische Lauge, die durch Ausziehung aus Pflanzenasche gewonnen wurde, genannt. Wurde diese eingedampft, entstand ein weißes Salz, das als Pottasche oder sal tartari bekannt war, vgl Schneider: Lexikon alchemistisch-pharmazeutischer Symbole, S. 62 und 78. Kutzer, Michael: Das Bild der Epilepsie, S. 101 und S. 129.
44
2 Hoffnung auf Heilung
gen die Epilepsie. Der angehende Mediziner Christian Etzler verordnete in seiner um 1690 entstandenen Dissertation ebenfalls den Salmiakgeist und flüchtige Salze gegen die Epilepsie, da sie den Spiritus anregten und die im Gehirn festsitzenden Flüssigkeiten wieder zur Bewegung antrieben.81 Christoph Gottlieb Büttner riet zu Tinkturen, die „spiritus vitrioli philosophicus“ (verdünnte Salzsäure) und „spiritus nitri bene rectificatus“ (= Salpetergeist) enthielten, um die Schärfen im Körper des Patienten zu mildern und zu neutralisieren.82 Neben dem Gebrauch von Heilpflanzen, Spezifika und Chemikalien zählten auch purgative Methoden wie Klystiere oder Vomitaria zu den Pharmazeutika. Durch sie sollten schädliche Stoffe abgeführt und das Gleichgewicht des Säftehaushaltes wiederhergestellt werden. Auch als die Humoralpathologie infolge der Entdeckung des Blutkreislaufs zunehmend in Zweifel gezogen und durch neue Theorien ersetzt wurde, verloren diese purgativen Methoden nicht an Bedeutung für die Behandlung, sondern ihre Wirkung wurde nun durch diese neuen Theoriegebäude erklärt. Die Purganzen leiteten beispielsweise der Theorie der Iatrochemiker zufolge schädliche Dämpfe oder Gifte aus dem Körper und brachten die chemische Zusammensetzung des Körpers wieder ins Gleichgewicht. Nach wie vor wurde also die Reinigung des Körpers als notwendig erachtet. Dies entsprach den Behandlungskonzepten der Humoralpathologie.83 Der Gedanke der Reinigung und der Verbesserung des Säfte- bzw. Bluthaushaltes lag auch dem Aderlass zugrunde, der allerdings schon zu den chirurgischen Maßnahmen gezählt wurde. Der Aderlass wurde bis ins 18. Jahrhundert praktiziert und diente wie die purgativen Medikamente als gesundheitsfördernde und gesundheitserhaltende Maßnahme. Die Menschen der Frühen Neuzeit pflegten sich regelmäßig zur Ader zu lassen, weil sie dadurch ihren Säftehaushalt im Gleichgewicht halten wollten. Der Aderlass galt zwar in erster Linie als prophylaktische Maßnahme,84 wurde aber auch gegen Krankheiten eingesetzt. In der Epilepsie-Behandlung spielte er eine nicht zu unterschätzende Rolle: Aderlässe wurden für die Füße oder für den Nackenbereich empfohlen, wodurch die schlechten, die Epilepsie verursachenden Säfte bzw. Verstopfungen oder Dämpfe aus dem Kopf, genauer gesagt aus dem Gehirn, gezogen werden sollten. Mit dem Fortschreiten der Forschung zur Epilepsie wurde auch die Begründung des Aderlasses an die neuen Lehrmeinungen angepasst. Nach Ablösung der Verstopfungstheorie durch überschüssige Säfte wurde der Aderlass mit der herausragenden Bedeutung der 81
Ebenda, S. 103 f.; Berger, Johann Gottfried (Praes.)/Etzler, Christian (Verf.): Exercitatio inauguralis de epilepsia, Wittenberg 1690, Bl. C4 r und v. 82 Kutzer: Das Bild der Epilepsie, S. 121 f.; Hoffmann, Friedrich (Praes.)/Büttner, Christoph Gottlieb (Verf.): Dissertatio inauguralis medica de vera mali epileptica causa, Halle 1732, S. 34 ff. 83 Kutzer: Das Bild der Epilepsie, S. 129–135. 84 Jütte: Ärzte, Heiler und Patienten, S. 72 f.; Hoffman, Susanne: Gesundheit und Krankheit bei Ulrich Bräker (1735–1798), Zürich 2005, S. 99–108.
2.2 Die Säftelehre
45
Ableitung schlechter Substanzen im Blut und durch Auflösung der Plethora (Blutüberschuss im Körper) begründet.85 Als weitere reinigende Maßnahmen wurden Fontanellen86 gesetzt und Blasen, in denen sich schädliches Material sammeln sollte, wurden mit Hilfe von Blasenpflastern87 gezogen.88 Einen äußerst drastischen Eingriff bei Epilepsie stellte die Treptanation dar, bei der dem Patienten ein Loch in den Schädel gebohrt wurde, um dadurch schädliche Materie aus dem Kopf zu lassen. In der Praxis wurden Treptanationen aber in erster Linie bei Kopfverletzungen durchgeführt, da man erkannt hatte, dass Kopfverletzungen zu epileptischen Anfällen führen konnten. Viele Ärzte zeigten sich jedoch gegenüber dieser extremen Maßnahme eher skeptisch und betrachteten den Eingriff als allerletztes Mittel. Ähnlich verhielt es sich mit der Kauterisation, bei der der Epileptiker mit einem glühenden Eisen im Nacken berührt wurde, um durch diese Wunde schädliche Materie aus dem Kopf zu ziehen.89 In Lehrbüchern und Fallbeschreibungen des 17. Jahrhunderts wurde diese Praxis noch relativ häufig beschrieben, wobei nicht nachvollziehbar scheint, wie häufig diese Methode tatsächlich angewendet wurde. Im 18. Jahrhundert standen Ärzte dieser Behandlungsmethode zunehmend skeptisch gegenüber und beschrieben sie als das äußerste zu gebrauchende Mittel.90 Die Diätetik spielte in der gesamten frühneuzeitlichen Medizin bis weit ins 19. Jahrhundert eine enorm wichtige Rolle in der Behandlung. Sie umfasste, nach dem antiken Vorbild, nicht nur Regeln zur Ernährung, sondern auch Regeln für eine gesunde Lebensweise, die in den „sex res non naturales“ von Galen (1. Licht und Luft; 2. Speise und Trank; 3. Absonderungen und Ausscheidungen; 4. Schlafen und Wachen; 5. Ruhe und Bewegung; 6. Gemütsbewegungen) ihren Ausdruck fanden. Nur das richtige Maß und die richtige Mischung in diesen Dingen garantierte nach antiker wie frühneuzeitlicher Vorstellung Gesundheit durch ein Gleichgewicht des Körpers. Bei Erkrankungen musste deshalb versucht werden, durch spezielle Einhaltung diätetischer Lebensregeln wieder zu diesem ausgewogenen Verhältnis zurückzukehren.91 85 Ender, Anke Maria: Grundlinien der diätetischen Epilepsie-Behandlung im Rahmen der allgemeinen Heilkunde des 18. und 19. Jahrhunderts, med. Dissertation, Heidelberg 1966, S. 48 f. 86 Ein Fontanell war eine durch einen Schnitt oder ein Ätzmittel erzeugte Wunde, die durch eingelegte Kügelchen künstlich offen gehalten wurde, Gurlt, Ernst: Geschichte der Chirurgie und ihrer Ausübung. Volkschirurgie, Altertum, Mittelalter, Renaissance, Bd. 3, Nachdruck Hildesheim 1964, S. 639 f. 87 Das Blasenpflaster enthielt vornehmlich Senfkörner und „Spanische Fliegen“ (getrocknete europäische Käferart), die zu einer Hautreizung mit anschließender Blasenbildung führten. Finger, Margarete: Über die arzneiliche Verwendbarkeit der Canthariden, med. Diss., Berlin 1931, S. 6 ff. 88 Gurlt: Geschichte der Chirurgie, Bd. 3, S. 639 f. 89 Vgl. zum Beispiel die Einstellung Pieter van Foreests zur Treptanation, der diese wirklich nur als allerletztes Mittel billigte: Loots: Epilepsie in de zestiende eeuw, S. 41. 90 Im 18. Jahrhundert wurde die Treptanation bei Epilepsie von den meisten Ärzten weitgehend abgelehnt: Kutzer: Das Bild der Epilepsie, S. 129 f. 91 Jütte: Ärzte, Heiler und Patienten, S. 55–71; Vanja, Christina: Das Nachwirken der antiken Diätetik in frühneuzeitlichen Hospitälern, in: Historia Hospitalium 24 (2004–2005), S. 11–23.
46
2 Hoffnung auf Heilung
Der Diätetik wurde von Ärzten ein besonders großer Stellenwert in der Epilepsie-Behandlung beigemessen. Diätetische Lebensregeln wurden in nahezu allen Dissertationen, Fallbeschreibungen und medizinischen Lehrbüchern zur Epilepsie im Untersuchungszeitraum diskutiert. Bei der Betrachtung der einzelnen Anweisungen fällt auf, dass sich die diätetischen Regeln für Epileptiker allerdings nur geringfügig von generellen Empfehlungen zur Gesunderhaltung unterschieden. Ihnen wurde beispielsweise empfohlen, stets den Mittelweg einzuhalten und sowohl ein Übermaß zum Beispiel an Essen, Bewegung, Schlaf und frischer Luft als auch einen Mangel an denselben zu vermeiden. Nach Galen sollten Epileptiker zwar genügend, aber nicht zu viel schlafen. Hier galt es eine gesunde Mischung zwischen beiden Extremen zu finden. Keinesfalls sollte man direkt nach den Mahlzeiten schlafen, um Völlegefühle im Magen und Magenbeschwerungen zu vermeiden, die zu schlechten Magensäften und Dämpfen führen konnten. Aristoteles bewertete den Schlaf als eine Art Epilepsie und führte Anfälle unter anderem auf unterbrochenen Schlaf oder Schlaflosigkeit zurück.92 Von dieser Annahme ausgehend forderte Paracelsus, die Kranken schlafen zu lassen, wann immer sie wollten.93 Dagegen setzte sich im 17. und vor allem im 18. Jahrhundert die Überzeugung durch, Epileptiker sollten nicht zu lange und vor allem nicht tagsüber schlafen, wie beispielsweise Gualtherum Ryff in seinem „New Kochbuch“94 vorschlug und André Samuel Auguste Tissot ein Jahrhundert nach diesem.95 Die Patienten sollten nicht direkt nach dem Essen schlafen, sondern mindestens zwei Stunden verstreichen lassen, bevor sie sich niederlegten. Weiter schlug Ryff vor, das Haupt beim Schlafen mit hohen Kissen aufzurichten und den Körper zuzudecken, damit die äußeren Glieder warm gehalten würden und beim Schlaf keine Materie in den Kopf stiege. Ein Erschrecken beim Wecken sollte möglichst vermieden werden.96 Zudem wurden Wachheit in der Nacht und Arbeiten bei Kerzenlicht als besonders schädlich angesehen.97 Als wichtigste Regeln in der Epilepsie-Behandlung führte Ryff in seinem „New Kochbuch“ an: „Die Fallendsucht ist ein erschreckliche schwere Plag, welche in erwachsenen nicht wol zuwenden, dann in fleissiger und gebuerlicher veraenderung speis und trancks und fuernemlich des Luffts, wie auch Hippokrates in Sonderheit bezeuget.“98 In den Ernährungsvorschriften lassen sich interessanterweise große Diskrepanzen zwischen den Theorien einzelner Autoren entdecken. Generell einig waren sich Ärzte, dass kalte Speisen vermieden werden sollten und wärmende zu empfehlen seien. Auch galt es alle schwerverdaulichen und blähen92 Kutzer: Das Bild der Epilepsie, S. 115 f., S. 129 ff.; Ender: Grundlinien der diätetischen Epilepsie-Behandlung, S. 65–79. 93 Ender: Grundlinien der diätetischen Epilepsie-Behandlung, S. 69. 94 Ryff, H. Gualtherum: New Kochbuch. Wie man krancker person in mancherley Fehl und Leibsgebrechen warten und Pflegen soll …, Frankfurt a. M. 1608, S. 95. 95 Ender: Grundlinien der diätetischen Epilepsie-Behandlung, S. 71 ff. 96 Ryff: New Kochbuch, S. 97 f. 97 Dieckhöfer.: Die Epilepsie an der Wende zum 18. Jahrhundert, S. 95. 98 Ryff: New Kochbuch, S. 95.
2.2 Die Säftelehre
47
den Speisen zu vermeiden, da spätestens mit der im 16. Jahrhundert aufkommenden Irritationstheorie schädliche Dämpfe aus dem Magen als Anfall auslösend galten. Was von den einzelnen Ärzten in den verschiedenen Epochen als wärmend oder nicht blähend gehalten wurde, konnte allerdings sehr variieren. Bei der Durchsicht diätetischer Anweisungen drängt sich der Eindruck auf, dass gerade über die Frage von Speiseverordnungen keine konzeptionelle Einigkeit geherrscht hat. Meist wurden leicht verdauliche Speisen und eine vegetarische Diät verordnet, da man davon ausging, Fleischnahrung disponiere zur Vollblütigkeit und führe damit zu einem Blutüberschuss. Außerdem wurden im Allgemeinen salzige und scharfe Speisen als schädlich betrachtet und verboten. Zu diesen zählten die Verwendung von Knoblauch, Zwiebeln und Senf.99 Verschiedene Ärzte zitierten Avicenna als Autorität, der bei phlegmatischer Feuchte, Kälte des Magens und der Milz vom Verzehr aller schleimigen Speisen, Gemüse und großer Tiere abriet. Ebenso sollten alle Kochkräuter feuchter Natur vermieden werden, da durch sie die feuchte Konstitution des Epileptikers vermehrt werden könne. Gut seien Mangold mit Ysop sowie Salbei, wobei hier auf eine Erklärung verzichtet wurde, warum gerade diese Kräuter empfehlenswert waren. Ryff verbot in seinem „New Kochbuch“ den Verzehr von Früchten, pries aber hartgedörrte Haselnüsse mit Zucker, Pinienkerne und frische Marseiller Feigen als sehr zuträglich. Trinken sollten die Patienten vor allem Wasser: Im Winter Honigwasser, im Sommer Zuckerwasser mit Ysop, Salbei und Muskatnuss. Weine, besonders schwere Weine, sollten dagegen nur in Maßen genossen werden.100 Die Tatsache, dass Alkoholgenuss einen negativen Einfluss auf Epileptiker hatte und Anfälle begünstigte, war bereits Hippokrates bekannt. Deshalb empfahl dieser, keine schweren Weine zu trinken.101 Ryff riet zu sauren Weinen und dazu den Köper zuvor mit Purganzen zu reinigen, um schädliche Stoffe auf ein Minimum zu reduzieren. Nach dem Essen sollten sich die Betroffenen bewegen, damit die im Essensvorgang angesammelte Materie nach unten gezogen würde. Dabei seien aber zu schnelle und heftige Bewegungen und zu große Anstrengung zu vermeiden; vor allem die obere Partie des Körpers sollte nicht zu heftig bewegt werden, damit die Materie nicht in den Kopf gezogen würde.102 Ein weiterer Faktor, der schon in den antiken Diätvorschriften eine wichtige Rolle spielte, war das Klima: Besonders ein gemäßigtes und trockenes Klima, Aufenthalt im Freien und frische Landluft wurden als der Genesung zuträglich angesehen.103 Dagegen wurden unreine, trübe und feuchte Luft als äußerst schädlich betrachtet. Epileptiker sollten sich möglichst nicht in der Nähe von großen Wasseransammlungen aufhalten, denn sie brauchten tro99 Alt, Konrad: Die diätetische Behandlung von Epileptikern in Vergangenheit und Gegenwart, in: Zeitschrift für klinische Medizin 53 (1904), S. 380–402, hier S. 383; Ender: Grundlinien der diätetischen Epilepsie-Behandlung, S. 67. 100 Ryff: New Kochbuch, S. 97. 101 Alt: Die diätetische Behandlung von Epileptikern, S. 384 f. 102 Ryff: New Kochbuch, S. 98 f. 103 Ender: Grundlinien der diätetischen Epilepsie-Behandlung, S. 65.
48
2 Hoffnung auf Heilung
ckene Luft. Daneben sollte ihnen viel Licht zu Verfügung stehen. Bei feuchtem und trübem Wetter sollte die Luft temperiert und mit angenehmen Kräutern wie Majoran, Rauten und Ysop angereichert werden.104 Selbst die Ausscheidungen unterlagen Regeln: Die natürlichen Ausscheidungen wie Urin, Schweiß und Schleim galt es zu regulieren, denn wenn sich diese unreinen und schädlichen Stoffe im Körper ansammelten, konnten sie Verstopfungen herbeiführen und giftige Dämpfe hervorrufen. Deshalb sollte zum einen eine geregelte Verdauung durch die richtige Ernährung, aber auch durch galletreibende Mittel wie Klystiere, milde Laxantien und Brechmittel, sichergestellt werden.105 Die Schweißabsonderung sollte durch Bäder, Abreibungen, Abwaschungen und Übergießungen angeregt und reguliert werden.106 Auch Körperflüssigkeiten, die im Übermaß produziert werden konnten, mussten unter Beobachtung stehen. So wurde ein Übermaß an Blut, wie bereits erwähnt, durch regelmäßigen Aderlass kontrolliert.107 Betrachtet man die Observationen und die Fallschilderungen des 16. bis 18. Jahrhunderts, fällt auf, dass sich trotz der sich wandelnden Theorien an den Heilmethoden wenig änderte. Bis ins 19. Jahrhundert lässt sich die antike Dreiteilung der Therapie in diätetische, pharmazeutische und chirurgische Heilmittel finden. Besonders die Derivation – die Ableitung schädlicher Stoffe durch Abführ- und Brechmittel oder auch durch Aderlässe und Fontanellen – spielte in der Therapie des 18. Jahrhunderts generell und in der Epilepsie-Behandlung eine entscheidende Rolle. Sie fußte trotz neuer Erkenntnisse und Theorien weiterhin auf der als notwendig erachteten Verbesserung und Reinigung von Körpersäften, dem Grundprinzip der Humoralpathologie also.108 2.3 Neoplatonismus, Alchemie und (Natur-)Magie Neben den hippokratisch-galenischen Heilmethoden existierten auf dem frühneuzeitlichen medizinischen Markt noch viele weitere Heilmittel, die sich aus anderen Traditionen speisten. So lassen sich Einflüsse von Platon, hermetischem Gedankengut, Plotinus, Plinius und weiteren antiken Autoren auf die Epilepsie-Behandlung erkennen. Wie die galenischen Schriften in der Renaissance neuentdeckt und teilweise neuinterpretiert worden waren, entwickelte sich in der Renaissance auch ein Welt- und Denkkonzept weiter, das auf den Schriften des Platon aufbaute und sich mit den Vorstellungen anderer antiker Autoren, wie zum Beispiel Plotinus, mischte. Der italienische Philosoph Marsilio Ficino (1433–1499) hatte im Auftrag Cosimo de Medicis (1389–1464) 1459 begonnen, die Schriften Platons und Plotinus‘ aus dem Griechischen ins Lateinische zu übersetzen, 104 105 106 107 108
Ryff: New Kochbuch, S. 97 f. Ender: Grundlinien der diätetischen Epilepsie-Behandlung, S. 74. Ebenda, S. 75. Ebenda, S. 76 f. Kutzer: Das Bild der Epilepsie, S. 129 f.
2.3 Neoplatonismus, Alchemie und (Natur-)Magie
49
denen in den 1460er Jahren hermetische Werke folgten.109 Damit hatte er der frühneuzeitlichen Welt Zugang zu der „prosca theologia“ verschafft und zu einer Theologie und Philosophie, die sich von der aristotelisch geprägten Scholastik völlig unterschied.110 Während im Aristotelismus Welt und Kosmos streng getrennt voneinander gedacht wurden, wurden im spätantiken Platonismus die Welt und der Kosmos als ganzheitliche Entitäten verstanden, die in einer hierarchisch organisierten Harmonie aller Naturdinge miteinander verbunden waren.111 Marsilio Ficino erarbeitete auf der Grundlage der übersetzten Texte sein Konzept der „magia naturalis“, das er erstmals 1482 in einem Kommentar vorstellte und später in seiner „Theologia Platonica“ verfeinerte. Hier soll nur kurz auf die kosmologischen Vorstellungen in der „Theologia Platonica“ eingegangen werden, da diese Ficinos medizinische Theorien wesentlich beeinflusste: Diesen kosmologischen Vorstellungen zufolge nimmt die Seele, unabhängig vom Körper, eine zentrale Stellung im Kosmos ein, da sie durch die alles verbindende und umspannende Weltseele mit allen Dingen des Kosmos verbunden ist. Gott, das Eine und Gute, teilt seine Ideen durch die Weltseele stufenweise dem Universum mit, das von einer Reihe beseelter Zwischenkörper erfüllt ist. Die von Gott ausgehende „anima mundi“ teilt sich zuerst den Engeln mit, die ihrerseits wieder die Sphären mit Seelen und Ideen füllen. Als Mittler zwischen den kosmischen Polen Gott und Materie oszilliert die Seele des Menschen, die sowohl zur Erde herabsinken als sich auch zur Erkenntnis Gottes erheben kann. Durch diese Verbundenheit aller Dinge durch die „anima mundi“ wird dem Menschen sowohl die Erkenntnis der Welt als auch die Gotteserkenntnis möglich, die ihn dazu befähigt, die in den Dingen liegenden Eigenschaften zu erkennen und zu beeinflussen. Die Erkenntnis der kosmischen Zusammenhänge durch die Astrologie und die dadurch ermöglichte Einflussnahme sind für Ficino die „magia naturalis“.112 Dieses Konzept erweiterte Ficino in seinem 1489 erschienenen Buch „De vita libri tres“, das dem geistig Arbeitenden, seinen Krankheiten und deren Verhütung gewidmet war, indem er eine „medicina platonica“ auf der Grundlage der „magia naturalis“ und der Astrologie entwirft.113 Nach Ficino ist der Himmel harmonisch zusammengesetzt und wird harmonisch bewegt, um den sublunaren Bereich zur Aufnahme von Ideen vorzubereiten. Als Mittler der 109 Müller-Jahnke, Wolf-Dieter: Ficino, Marsilio, in: Werner E. Gerbarek/Bernhard D. Haage/Gundolf Keil/Wolfgang Wegner (Hg).: Enzyklopädie Medizingeschichte, Berlin 2005, S. 395 f. 110 Müller-Jahnke, Wolf-Dieter: Neoplatonismus, in: Gerbarek/Haage/Keil/Wegner (Hg).: Enzyklopädie Medizingeschichte, S. 1033 f. 111 Kauertz, Claudia: Hexenforschung, Dämonologie und Medizin. Zum Verhältnis von Magie und gelehrter Medizin in der Frühen Neuzeit, in: Walter Bruchhausen (Hg.): Hexerei und Krankheit. Historische und ethnologische Perspektiven, Münster/Hamburg/London 2003, S. 71–92, hier S. 76 ff. 112 Mühler-Jahnke, Wolf-Dieter: Astrologisch-Magische Theorie und Praxis in der Heilkunde der Frühen Neuzeit, Stuttgart 1985, 34–38. 113 Müller-Jahnke: Ficino, Marsilio, S. 395 f.
50
2 Hoffnung auf Heilung
Ideen bedient sich die Weltseele der Strahlung der Gestirne, der Geister oder des „spiritus mundi“ (des Weltgeistes). Die lebenden und bewirkenden Eigenschaften dieser Mittler sammeln sich vor allem in Metallen und Edelsteinen, weil diese sie speichern können, ohne zerstört zu werden. Alle anderen Körper werden durch den „spiritus mundi“ geprägt, der das eigentlich belebende Prinzip darstellt. Die Stellung der Gestirne bestimmt, wie der Spiritus im Körper wirkt. Durch die Kenntnis, was Planetenkonstellationen in Verbindung zu den Säften und Spiritus im Körper bewirken, wird es dem Arzt möglich, dem Kranken zu helfen und die richtigen Heilmittel zu bestimmen.114 Neben dem Wissen darüber, welche Heilmethoden bei welchen Sternenkonstellationen angewendet oder nicht angewendet werden sollen, können auch Naturdinge wie zum Beispiel Metalle, Edelsteine, aber auch Tiere und Pflanzen als Heilmittel eingesetzt werden. Denn sie sind nach Ficinos Vorstellung in sympathetische Reihen zusammengefasst und unterstehen entweder einem Planeten, einem Zodiakalbild, einem Fixstern oder einem Dekan und enthalten verborgene Eigenschaften, die sich nur dem Wissenden offenbaren. Dadurch kann der astrologisch und magisch Geschulte Heilmittel erkennen und einsetzen.115 Gerade diese medizinische Dimension des Neuplatonismus wurde von zwei deutschen Vertretern neoplatonischer und naturmagischer Vorstellungen auf der Grundlage Marsilio Ficinos aufgegriffen und weiterentwickelt:116 Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim (1486–1535) und Bombastus Theophrastus von Hohenheim (1493–1541), genannt Paracelsus. Agrippa von Nettesheims „De occulta Philosophia“, das von 1510 bis 1530 in mehreren Fassungen erschien, ist als Kompendium der Magie zu verstehen: Agrippa definierte in ihm die „magia naturalis“ im Sinne Ficinos dahingehend, dass der Mensch mit ihrer Hilfe die Eigenheiten der natürlichen Dinge und Gestirne erkennen und sich ihrer in der Medizin bedienen könne.117 Jeder Gegenstand besitze innerlich eine bestimmte Kraft („virtus“), die in Sympathie oder Antipathie zur Kraft anderer Dinge stehe. Durch diese sympathetische oder antipathetische Konstellation der Dinge zueinander wirkten diese in verschiedener Weise aufeinander, was deren natürliche Magie sei, die es in der Therapie zu nutzen gelte.118 Erst wenn sich der Arzt der kosmologischen Zusammenhänge bewusst sei, könne er durch dieses Wissen auf Krankheiten einwirken. Die Heilung des erkrankten Körpers sei deshalb durch Sympathie oder Antipathie bedingt zu verstehen, da die „virtutes“ der Dinge auf die gestörte Harmonie des kranken Körpers wirken könnten. Dementsprechend entwickelte Agrippa von Nettesheim Therapien aufgrund kosmischer Analo114 Müller-Jahnke: Astrologisch-Magische Theorie und Praxis, S. 45–49. 115 Ebenda, S. 50 f. 116 Webster, Charles: Paracelsus. Medicine, Magic and Mission at the End of Time, New Haven/London 2008, S. 132. 117 Müller-Jahnke: Astrologisch-Magische Theorie und Praxis, S. 62 ff. 118 Müller-Jahncke, Wolf-Dieter: Magie als Wissenschaft im frühen 16. Jahrhundert. Die Beziehungen zwischen Magie, Medizin und Pharmazie im Werk des Agrippa von Nettesheim (1486–1535), Marburg 1973, S. 156 ff.
2.3 Neoplatonismus, Alchemie und (Natur-)Magie
51
gien, indem er sympathetische und antipathetische Reihen erstellte und Metalle, Amulette, Pflanzen, aber auch tierische und menschliche Organe diesen Reihen zuwies. Erschlossen wurden diese Reihen über astrologische Konstellationen: Jedes menschliche Organ und Körperteil sei dem Einfluss eines Gestirns unterworfen, ebenso wie jeder andere Gegenstand. Die Harmonie des Körpers könne deshalb durch den Einfluss des „virtus“ von Pflanzen, Metallen, Amuletten, tierischer und menschlicher Teile hergestellt werden, wenn deren „virtus“ den gleichen oder entgegengesetzten Gestirnen unterworfen sei. Entsprechend dieser Theorie sei die Epilepsie dem Kopf zuzuordnen, der wiederum dem Gestirn Mars unterworfen sei. Die Krankheit müsse deshalb mit Medikamenten behandelt werden, die nach dem Prinzip similia similibus dem gleichen Gestirn unterworfen seien.119 Zur Therapie der Epilepsie empfahl Agrippa von Nettesheim deshalb die Behandlung mit Eisen, das als Metall ebenfalls dem Mars zugeordnet war. Allerdings wurde das Metall nicht innerlich angewandt, sondern dessen „virtus“ sollte durch Übertragungshandlungen auf den Epileptiker übergehen. So sollten Epileptiker das Wildbret eines Tieres essen, das mit der gleichen eisernen Waffe erlegt wurde, mit der auch ein Mensch getötet worden war. Ein ähnliches Prinzip beruhte auf der Empfehlung, einen eisernen Nagel an der Stelle in den Boden zu schlagen, an der der Epileptiker mit dem Kopf aufgeschlagen sei.120 Auch Amulette aus Koralle oder Smaragd seien zur Abwehr der Anfälle hilfreich. Daneben empfahl Agrippa als althergebrachte Heilmethode aber auch die Päonie, die bereits bei Galen als Heilmittel Erwähnung fand. Diese Vorstellungen hatten großen Einfluss auf die Medizin von Paracelsus; war Agrippa von Nettesheim doch einer der Autoren, die Paracelsus mit großer Wahrscheinlichkeit gelesen hat.121 Während Marsilio Ficino seine „De vita libris tres“ nur auf die Melancholie ausrichtete und Agrippa von Nettesheim überhaupt nicht auf die Entstehung einzelner Krankheiten einging, sondern sie lediglich als gestörte Harmonie des Körpers beschrieb, ging Paracelsus in mehreren Schriften auf die Ursachen der Epilepsie ein. 1520 erschienen die „Elf Traktat vom Ursprung, Ursachen, Zeichen und Kur einzelner Krankheiten“, in denen sich das 11. Kapitel mit Krankheiten, die den Menschen der Vernunft berauben, beschäftigte, zu denen Paracelsus auch die Epilepsie zählte. 1530 widmete er der Fallenden Sucht gleich zwei Bücher: „Von den fallenden siechtagen“, das die Epilepsie allgemein behandelte, und „Vom hinfallenden siechtagen der Mutter“, das die im Uterus entstandene Epilepsie als Sonderform beschrieb.122 Mit seinen Theorien stellte er sich gänzlich gegen die studierte Medizin seiner Zeit und verwarf die Theorien von Galen und Hippokrates völlig. Sein gesamtes medizinisches System basierte ebenfalls auf den neoplatonischen Vorstellungen der kosmischen Analogien, wie sie bereits 119 Müller-Jahncke: Magie als Wissenschaft im frühen 16. Jahrhundert, S. 158. 120 Ebenda, S. 186. 121 Zambelli, Paola: White Magic, Black Magic in the European Renaissance. From Ficino, Pico, Della Porta to Thrithemius, Agrippa, Bruno, Leiden/Boston 2007, S. 15 122 Schneble: Heillos, Heilig, Heilbar, S. 76.
52
2 Hoffnung auf Heilung
bei Marsilio Ficino zu finden waren:123 Der Makrokosmos, der die Natur, die Welt und die Gestirne umfasse, spiegele sich im Mikrokosmos, dem Menschen, wider. Das heißt konkret, im Mikrokosmos Mensch existieren alle Dinge und vollziehen sich in gleicher Weise wie im Makrokosmos, also der uns umgebenden Welt. So können nach Paracelsus alle Vorgänge im Menschen, auch Gesundheit und Krankheit anhand von Beobachtungen der Natur nachvollzogen werden.124 Den Makrokosmos unterteilte Paracelsus in zwei Bereiche, den Himmel und die Erde. Beiden Bereichen könnten jeweils zwei Elemente zugeordnet werden: Feuer und Luft seien Elemente des Himmels, Erde und Wasser hingegen Elemente der Erde. Allerdings verstand Paracelsus unter dem Begriff „Element“ nicht die althergebrachte wissenschaftliche Bezeichnung wie sie von Hippokrates oder Galen verstanden wurden. Für ihn bildeten die Elemente vielmehr die Schichten des Kosmos, die Früchte wie Pflanzen oder Metalle hervorbrachten. Die Erde bringe als Frucht die Pflanzen hervor und das Wasser die Metalle und Steine. Abseits dieser Früchte könnten die Elemente auch „impressiones“ erzeugen, die er als Ausdruck gestörter Harmonie deutete. So erzeuge das Feuer als Frucht den Regen, seine Impression sei das Gewitter. Paracelsus setzte diese Impressionen mit den Krankheiten des Menschen gleich, die er ebenfalls auf ein Ungleichgewicht zurückführte.125 So verstand er auch die Entstehung der Epilepsie, die er in seiner ersten Schrift folgendermaßen definierte: Was es sei So sich ein Mensch, jung oder alt, unbewußt fallen lässt, oder in der Jugend oder im Anfange der Krankheit dess` bewußt ist und wollte fallen und fällt, und alsdann ohne Vernunft ist oder es ist wie ein harter Schlaf, oder mit einem Zittern oder Schaum oder Zähneklappern oder Gliederkrampf in allen Gliedern, in Augen, Ohren, Mund, Hals, Beinen, Armen, und erbebt, wie die Erde oder ein Haus sich erschüttert, unter dem das Erdbeben ist, so sag, daß er das Fallende habe. Und ob es aber den einen nicht wie den anderen ankäme, den mit Vorwissen, den mit einem andern Paroxysmus, den selten, den oft, den fängst in einem Glied an, den kommts an im Magen, den im Eingeweide oder ohn Wissen, in der Eil, es seien Frauen oder Mann, jung oder alt, so sag jetzt, das sei auch der caducus. Denn so sie ohne ihren Willen und ohne Vernunft fallen, oder mit einem Schlaf oder Ohnmacht, so ist es das Fallende. Auch wenn es von einer Krankheit zu der andern geht, daß da ein Paroxysmus käme, das ist auch das Fallend. Denn das Fallend wird aus etlichen Krankheiten, wie sich ein Salm und ein Lachs abwechseln. Aber es soll doch alles als eine Krankheit verstanden werden.126
Paracelsus definierte die Epilepsie als eine Krankheit, die sich in erster Linie durch das Niederfallen des Patienten und anschließenden Konvulsionen äußerte. Diese Konvulsionen konnten unterschiedliche Formen haben, den Betroffenen mal mehr mal weniger angreifen oder sich auch aus anderen Erkrankungen entwickeln. Das Entscheidende sei aber der Bewusstseinsverlust, der 123 124 125 126
Webster: Paracelsus. Medicine, Magic and Mission, S. 142 f. Ebenda, S. 76–80. Ebenda, S. 76–80. Peuckert, Will-Erich (Hg.): Theophrastus Paracelsus Werke, Bd. I. Medizinische Schriften, Darmstadt 1965, S. 148 f.
2.3 Neoplatonismus, Alchemie und (Natur-)Magie
53
überhaupt erst anzeige, dass es sich bei der Krankheit um eine Epilepsie handele – womit er die Krankheit genauso definierte wie seine galenisch geprägten Kollegen. Ausgelöst würde die Epilepsie nach Paracelsus durch einen schlafbringenden Rauch, Dampf oder auch Geruch, der ins Gehirn steige, wo er den Verlust der Sinne herbeiführe und die Krämpfe auslöse. Die schlafbringenden Dämpfe entstünden aus im Körper abgelagertem „sulphur vitrioli“,127 der sich erst durch eine anstoßende Ursache in den Dampf verwandele und zum Gehirn steige. Diese Umwandlung sei abhängig vom Lauf der Gestirne. Denn jedes Material sei mit einem Stern verbunden, der auf es einwirke. Auf diese Weise hätte erst eine bestimmte Sternenkonstellation, die abhängig vom Aszendenten sei, Einfluss auf den „sulphur vitrioli“ und entzünde ihn erst. Wenn nun ein Mensch, der diese Mischung in sich trage, durch den Aszendenten exaltiert würde, erleide er einen Anfall. Die unterschiedlichen Formen der Anfälle seien durch den Aufstieg des Rauches zu erklären: Steige der Rauch direkt bis zum Kopf, komme es zu einem schweren Anfall, wenn er aber nicht so hoch steige, würden nur die Glieder angegriffen, die der Rauch erreiche.128 Paracelsus unterschied vier Formen der Epilepsie, die vier Erscheinungen im Makrokosmos entsprächen: Der Makrokosmos kenne als Erschütterungen das Gewitter als Impression des Feuers, das Erdbeben als Impression der Erde, den Sturm als Impression des Wassers und eine leichtere Form des Gewitters ohne Regen, Hagel und richtige Blitze als Impression der Luft. So wie es im Makrokosmos vier verschiedene Formen der Epilepsie gebe, gebe es auch im Menschen diese vier Arten, die durch unterschiedliche Sternenkonstellationen und Aszendenten entstünden. Die „materia“ im Körper könne durch verschiedene Konstellationen entzündet werden, wodurch mehrere Paroxysmen-Arten aufeinander folgen könnten.129 Die „materia“, die durch Entzündung im Makrokosmos die „impressiones“ hervorrufe und im Menschen die Erkrankungen, entstünde durch eine bestimmte Mischung von Quecksilber, Schwefel und Salz, aus denen sich sowohl der Makrokosmos als auch der Mikrokosmos zusammensetze. Diese mineralischen Stoffe formten die „corpora“ der Dinge, die ihrerseits wieder den Gestirnen unterworfen sei. So habe jedes Element seinen Stern, dem es folge und dessen Konstellation für den Ablauf von Ereignissen verantwortlich sei. Dementsprechend entstünden Gewitter nicht nur durch die sie umgebenden Mineralien Quecksilber, Schwefel und Salz, sondern erst durch die astralen Konstellationen. Der Schweregrad der Anfälle sei abhängig vom Element, 127 Paracelsus‘ Medizin ist untrennbar mit seiner Alchemie verbunden: Er entwickelte eine „Tria principia“, zu denen er die Prinzipien Sulphur (Quecksilber), Mercurius (Schwefel) und Sal benennt. Sal repräsentiert dabei alles Unbrennbare, zum Beispiel nichtflüchtige Asche oder Erde, Sulphur das Brennbare und Mercurius das Flüchtige und Metallische. Müller-Jahnke, Wolf-Dieter: Paracelsus, in: Claus Priesner/Karin Figala (Hg.): Alchemie. Lexikon einer hermetischen Wissenschaft, München 1998, S. 267–270, hier S. 268. 128 Temkin: The Falling Sickness, S. 170–177. 129 Peuckert: Theophrastus Paracelsus Werke, 149–154.
54
2 Hoffnung auf Heilung
dem sie entsprängen, und dem Stern, unter dem sie stünden. Die schwersten Anfälle seien die, die von dem Element Feuer abhingen, gefolgt von der Erde und dem Wasser. Die leichteste Form des Anfalls ordnete Paracelsus der Luft zu. Da der Mensch die Sternenkonstellationen nicht beeinflussen könne, sei die einzige Möglichkeit, die Krankheit zu verhindern, die corpora, die die Krankheit hervorrufe, von der astralen Konstellation abzuspalten. Im Fall der Epilepsie bedeute das, die corpora zu verhindern, die zur Entstehung des anfallauslösenden Rauches beitrage: Solche fixen mineralia sind im Leibe, daß sie brennen und rauchen, und das doch ohn ein Abgehen des corpus. Drum sind verdauende und abführende Mittel nichts nutz in der Kur […] Denn die Kur muß allein dahin geführet werden, daß die drei ersten, sulphur, mercurius und sal, in der Feuchte bleiben und nicht in der Oleität, im Öligen.130
Die Behandlung der Epilepsie speiste sich bei Paracelsus vor allem aus antiken Überlieferungen, die er in sein eigenes theoretisches System zu adaptieren versuchte, wie es seine galenischen Kollegen übrigens auch taten. Dabei griff er auf ältere astrologische, alchemistische und magische Lehren zurück, die er auch in sein Gedankengebäude hatte einfließen lassen. Die Heilmittel aus galenischer Tradition lehnte er indes ab.131 Er hielt sie für unnütz, da nur magische Heilmittel, die den Lehren seines kosmischen Systems entsprachen, zur Heilung führen konnten: Denn die äußeren Dinge müssen innerlich werden. Soll das nun geschehen, so muß die magia den Grund anzeigen, und keine andere facultas weiter. Aber sie ist den Skribenten nicht bekannt gewesen, darum haben sie übel traktieret und den Prozeß der Kur übel geführt. Denn die Kur muß magisch vorgenommen werden und nicht nach der Anweisung ihres Gradierens, Digerierens, Purgierens usw. Denn es sind zwo Theorien in der Medizin, die so sie physicam heißen und die, die magica heißt.132
Paracelsus empfahl zur Behandlung der Epilepsie alchemistische Präparate mit Gold und Koralle, die auch schon in früheren Werken zu finden gewesen waren. Er adaptierte sie in sein System, indem er erklärte, dass diesen Stoffen flüchtiges Vitriol133 innewohne, das durch seine Flüchtigkeit die Verbindung zu den Sternen unterbrechen könne, und empfahl besonders den „spiritus vitrioli“134 und das grüne Vitriolöl.135 Ähnlich interpretierte er Spezifika wie den Mistelzweig, das Blut eines Geköpften und Stücke des menschlichen Schädels für die Epilepsie-Behandlung neu. So sei die Mistel gut bei Epilepsie, 130 131 132 133
Peuckert: Theophrastus Paracelsus Werke, S. 158. Temkin: The Falling Sickness, S. 170–177. Peuckert: Theophrastus Paracelsus Werke, S. 159. Vitriol: Heute veralteter Name für Sulfate der Schwermetalle, insbesondere von Kupfer und Eisen. Das Vitriol wurde ab dem 12. Jahrhundert als eigene Gattung von den Salzen unterschieden, bekannt waren vor allem Kupfer- und Eisenvitriol. Priesner, Claus: Vitriol, in: Claus Priesner/Karin Figala: Alchemie. Lexikon einer hermetischen Wissenschaft, München 1998, S. 367 f. 134 Vitriolöl wurde aus Eisen- oder Kupfersulfat gewonnen und als Arzneimittel eingesetzt. Mit Alkohol umgesetzt wird es zu Vitrioläther, der in einer Mischung aus 1 Tl. Vitrioläther und 3. Tln. Alkohol zu süßem Vitriolgeist (spiritus vitrioli) wird, vgl. ebenda, S. 368. 135 Temkin: The Falling Sickness, S. 176 f.
2.3 Neoplatonismus, Alchemie und (Natur-)Magie
55
weil sie vom Element Wasser komme und die Verbindung zur Konstellation von Venus und Mond, Mond und Saturn, oder Saturn und Venus separiere. Allerdings könne die Mistel nur dann ihre volle Wirkung entfalten, wenn sie zu einer bestimmten Zeit zubereitet würde, nämlich wenn der Mond, die Venus oder der Saturn im Aszendenten stünden.136 Die Astrologie als Wissenschaft von den Sternen spielte in diesem magischen bzw. kosmologischen System eine wichtige Rolle, da die Konstellation der Gestirne einen wesentlichen Einfluss auf die Erkrankung hatten und als auslösende Ursache anzusehen waren. Deshalb musste in diesem System auch die Zubereitung der Heilmittel in Abhängigkeit von den Gestirnen geschehen, wollte man einen bestimmten Einfluss brechen. Damit die Heilmittel ihre volle Wirkung entfalten konnten, war es daher äußerst wichtig, sie auf eine vorgegebene Art zuzubereiten oder sie zu einer vorgegebenen Zeit zu graben oder zu verwenden. In vielen Arzneibüchern finden sich daher Anweisungen wie die folgenden: „Grabe am St. Johannistag vor Sonnenaufgang den toten Beifuß, dieser muss der Epileptiker um den Hals tragen.“137 Die Päonien-Wurzel sollte bei abnehmendem Mond ausgegraben und um den Hals gehängt werden, dadurch werde der Epileptiker geheilt.138 Paracelsus und Agrippa von Nettesheim schöpften bei der Aufzählung ihrer Heilmittel und Behandlungsmethoden ebenfalls aus den Werken des Plinius. Gleiches taten ihre Zeitgenossen, weswegen es nicht verwunderlich scheint, dass sich in Rezept- und Arzneibüchern die gleichen Behandlungsmethoden und Heilmittel finden lassen. Viele dieser Arzneimittel wurden ohne Erklärungen, vielfach auch ohne Angabe ihres Ursprungs übernommen, deshalb muten die verschiedenen Therapeutika gegen Epilepsie manchmal ein wenig seltsam an. Teilweise kann nur schwer nachvollzogen werden, woher die Vorstellungen zu diesen Rezepten stammen und wie sie in der Frühen Neuzeit adaptiert und umgedeutet wurden. Ein im Zusammenhang mit der Epilepsie kontinuierlich erwähntes Heilmittel ist zum Beispiel das von Plinius in seiner „Historia Naturalis“ empfohlene Trinken menschlichen Blutes, speziell das von in einer Arena getöteten Gladiatoren.139 In der Frühen Neuzeit ist zwar von Gladiatorenblut keine Rede mehr, aber das Trinken menschlichen Blutes wurde in verschiedenen Rezept- und Arzneibüchern empfohlen.140 Anhand verschiedener Quellen lässt sich nachweisen, dass diese Therapie nicht nur in den Arzneibüchern 136 Ebenda, S. 170–177. 137 Kruger, Bartholdus: Corpus medicinae Practicae oder Hand-Büchlein vieler singularen und in der Vernunfft-Probe bestandenen Experimenten. Wie allen Menschlichen Gebrechen nechst Gott! Durch schlechte geringe Artzeneymittel könne geholffen und sie curiert werden …, Braunschweig 1699, S. 7. 138 [Anonym]: Georgica Curiosa, Das ist umständlicher Bericht und klarer Unterricht Adelichen Land- und Feldleben …, Nürnberg 1682, S. 267. 139 Schild, Wolfgang: Das Blut des Hingerichteten, in: Christina von Braun/Christoph Wulf (Hg.): Mythen des Blutes, Frankfurt a. M./New York 2007, S. 126–154, hier S. 130. 140 Paullini, Kristian Frantz: Neu vermehrte heilsame Drecksapotheke/ Wie nemlich mit Koth und Urin fast alle ja auch de schwerste/ gifftigste Kranckheiten/ und bezauberte
56
2 Hoffnung auf Heilung
Erwähnung fand, sondern tatsächlich angewendet wurde. In einem Eintrag des Nürnberger Amtsbuchs von 1674 wurde beispielsweise beschrieben, wie das Blut eines Hingerichteten vom Scharfrichter in einer Schale aufgefangen wurde, um es armen Fallsüchtigen zur Kur zu geben, die daraufhin geheilt gewesen seien.141 Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts geriet diese Praxis in den Fokus der Aufmerksamkeit, da sie nun von Ärzten allgemein verurteilt und als Aberglauben abgetan wurde. Die Ausgabe von menschlichen Bestandteilen und des Blutes eines Hingerichteten musste nun erst von der Obrigkeit genehmigt werden, weshalb diese Praxis zunehmend dokumentiert wurde. Diese Genehmigung war in akuten Fällen wohl relativ problemlos zu bekommen, wie im Fall von zwei Schneidergesellen in Dresden, die für einen dritten an Epilepsie Leidenden die Erlaubnis erbaten, dass dieser das Blut eines Enthaupteten nach der Hinrichtung trinken dürfe und dem die Bitte gewährt wurde.142 Im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts lassen sich weitere Beispiele dieser Art finden.143 Hinter dieser Handlung stand die Vorstellung, dem Blut und den Körperteilen eines Menschen, der in der Blüte seines Lebens gewaltsam aus dem Leben gerissen wurde, wohne eine besondere magische Kraft inne. Ein Hingerichteter stellte eine solche Person dar, weshalb dessen Körperteile zur Heilung von Krankheit und zur Abwehr von Dämonen und Schadenszauber in der Bevölkerung durchaus begehrt waren, und der Scharfrichter einen blühenden Handel mit diesen Mitteln treiben konnte.144 Das Trinken menschlichen Blutes bei Epilepsie war mit der magischen Vorstellung verknüpft, der Kranke könne sich dadurch die Lebenskraft des Delinquenten einverleiben, um damit seine eigene schwache Lebenskraft auszugleichen.145 Eine Abwandlung dieser Form des Bluttrinkens war die Verwendung von Tierblut, das sich als Ingredienz in verschiedenen Rezepten findet.146 Beide Formen sind der Organotherapie zuzuordnen, auf die später noch ausführlich eingegangen wird. Die ursprünglichen Vorstellungen hinter nicht-galenischen Rezepturen gegen Epilepsie, die in Rezeptsammlungen, Kräuter- und Arzneibüchern des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit zu finden sind, sind aus heutiger Sicht nur noch schwer nachvollziehbar. Ihnen fehlen allgemeinverbindliche Para-
141 142 143 144 145 146
Schaden/ vom Haupt biß zun Füssen/ inn- und äusserlich/ glücklich curiert worden, Frankfurt a. M. 1697, S. 20 f. Dülmen: Theater des Schreckens, S. 163. Keller, Albrecht: Der Scharfrichter in der deutschen Kulturgeschichte, Bonn/Leipzig 1921, S. 232. Evans, Richard J.: Rituale der Vergeltung. Die Todesstrafe in der deutschen Geschichte 1532–1987, Berlin/Hamburg 2001, S. 125 ff. Dülmen: Theater des Schreckens, S. 162 ff.; vgl. zur Rolle des Hingerichteten auch: Peacock, Mabel: Executed Criminals and Folk-Medicine, in: Folklore 3 (1896), S. 268–283. Bargheer, Ernst: Eingeweide. Lebens- und Seelenkräfte des Leibesinneren im deutschen Glauben und Brauch, Berlin/Leipzig 1931, S. 230 f.; Schild: Mythen des Blutes, S. 130 ff. Gaebelkhoveri, Oswald: Artzney-Buch, Darinnen fast alle deß Menschlichen Leibes Anliegen und Gebrechen/ außerlesene und bewährte Artzneyen …; Frankfurt a. M. 1694, S. 28 f.; Paullini: Neu vermehrte heilsame Drecksapotheke, S. 27 f.
2.3 Neoplatonismus, Alchemie und (Natur-)Magie
57
digmen und übergreifende Konzepte. Viele Rezepte und Behandlungsmethoden wurden, wie bereits gezeigt, von antiken Autoren übernommen, umgewandelt und in eigene Systeme integriert. Als Gemeinsamkeit lässt sich lediglich ein allgemeines Analogiedenken herausarbeiten, zu dem die SignaturenLehre, die Organotherapie, die Entsprechungs-Magie, aber auch der Schluss von gestalthaften Homologien bzw. Analogien auf das Wirkungsprinzip gehören.147 Das Konzept der arzneikundlichen Signaturenlehre findet sich bereits in der „Historia Naturalis“ des Plinius und in der „Materia Medica“ des Dioskurides. Die Signaturenlehre nimmt an, dass die „Signatura rerum“ (die Signatur der Dinge) auf die ihnen innewohnende Kraft verweisen. So könne die Wirkung einer Pflanzen oder eines Gegenstandes aufgrund der Form, Farbe oder des Namens erschlossen werden. Die Pulmonaria (das Lungenkraut) wurde beispielsweise für Lungenleiden und die Euphrasia (der Augentrost) ihrer Form wegen bei Augenkrankheiten angewandt. In der Frühen Neuzeit wurde die Signaturenlehre durch die Werke Paracelsus‘ und Giovanni Batista della Portas (um 1535–1615) neu belebt und fand durch die Zusammenfassung „De signaturis“ des Paracelsisten und Arztes Oswald Croll148 (1560–1608) weitere Verbreitung.149 Durch Homologien bzw. Analogieschlüsse über die Astrologie konnten Wirkungsweisen von Dingen erkannt werden. Edelsteinen und Metallen wurden aufgrund der Zuordnung zu bestimmten Sternzeichen besondere Kräfte gegen bestimmte Krankheiten zugesprochen. Gleiches galt für Pflanzen und tierische Präparate. Die so gefundenen Heilmittel konnten je nach Konzept wie die galenischen Heilmittel nach dem Prinzip „contraria contrariis“ oder nach dem entgegengesetzten Simile-Prinzip (d. h. Gleiches wird durch Gleiches geheilt) eingesetzt werden. Dementsprechend entsprang die Anwendung pulverisierter menschlicher Schädel als Heilmittel gegen die Epilepsie wohl in erster Linie einer Kopfanalogie: Der Kopf, der als krankes Körperteil bei der Epilepsie behandelt werden musste, wird hier in Form des menschlichen Schädels als Arznei verwendet. Da in diesen Rezepten aller Wahrscheinlichkeit nach ebenfalls der Schädel eines Hingerichteten verwendet wurde, lässt sich eine ähnliche Übertragungshandlung wie im Fall des Bluttrinkens vermuten. Eine abgewandelte Form dieser Analogie spiegelt sich in der Berührung oder dem Trinken aus der Hirnschale Heiliger wider, wie dies an Wallfahrtsorten wie Ruffach oder Cornelimünster praktiziert wurde.150 Zur Organotherapie zählen alle Rezepturen, die organische Substanzen wie Haare, Nägel, aber auch Innereien oder Exkremente enthalten. Aus dem Bereich der Organotherapie fanden unterschiedliche Präparate Anwendung
147 Keil, G.: Artikel Volksheilkunde, Volksarzneibücher, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 8, München 1997, S. 1829–1833. 148 Crollius, Oswaldus: Tractatus novus de signaturis rerum internis, Frankfurt 1612. 149 Müller-Jahnke, Wolf-Dieter/Friedrich, Christoph: Geschichte der Arzneimitteltherapie, Stuttgart 1996, S. 58 f. 150 Vgl. auch das Unterkapitel Gott, Teufel und die Heiligen, S. 99 f.
58
2 Hoffnung auf Heilung
in der Epilepsie-Behandlung.151 In den Arzneibüchern findet sich ein recht großes Spektrum an Tierpräperaten, die gegen Epilepsie empfohlen wurden: Besonders häufig wurden Teile der Schwalbe in verschiedenen Varianten als Heilmittel verwendet. Besonders dem Schwalbenstein,152 der sich angeblich im Magen der Schwalben befand, und einer Rezeptur aus jungen, gedörrten Schwalben wurde eine außerordentlich gute Wirkung zugeschrieben.153 Auch die Elendsklaue, mit der der Huf des Elches gemeint ist, wurde recht häufig erwähnt. In einer Beschreibung von Christophorus Hartknoch über Alt- und Neupreussen findet sich zur Verwendung der Elchklaue ein kurzer, aber interessanter Absatz, in dem der Autor gemäß des Simile-Prinzips erklärte, Elche hätten eine besondere Wirkung, weil sie selbst Epileptiker seien und dadurch die menschliche Epilepsie heilen könnten.154 Worauf sich die Annahme, der Elch sei Epileptiker, begründet und weshalb gerade der Huf eine so gute Wirkung in der Behandlung erziele, erläuterte der Autor leider nicht. Die Frage konnte bisher auch nicht mit Hilfe anderer Quellen geklärt werden. Auf Empfehlung eines weiteren Rezepts sollten Epileptiker Wachteleier essen, da man annahm, Wachteln übertrügen die Fallsucht auf ihre Eier. In diesem Fall sollte die Fallsucht gegen Fallsucht helfen.155 Die Liste weiterer Tiere, deren Organe in der Epilepsie-Behandlung erwähnt werden, ist lang. Aufgeführt sind zum Beispiel der Rabe, der Hund, die Katze, der Wolf, die Gemse, der Maulwurf, der Frosch, der Bär und der Biber. Die Tierpräperate wurden auf der Grundlage zweier Analogischlüsse ausgewählt, erstens einer Assoziation zwischen dem Tier und der Erkrankung, zweitens einer Analogie zwischen dem verwendeten Organ oder Sekret und der Erkrankung. Nicht bei allen Tierassoziationen kann eindeutig geklärt werden, worauf die Analogievorstellung beruht. Die Tiere wurden entweder aufgrund von Eigenschaften ausgewählt, die dem Epileptiker fehlten oder die der Epilepsie ähnlich waren, oder weil sie Lebenskraft übertragen konnten. Die Wahl der Katze, der Gemse und der Schwalbe begründet sich vermutlich in der Wahrnehmung als äußerst geschickte Tiere, die immer auf die Füße fallen – Eigenschaften, die dem Epileptiker zu wünschen waren. Dem Wolf wurde eine große Lebenskraft zugesprochen, während Ähnlichkeiten in der Verhaltensweise des Maulwurfs mit den Krankheitssymptomen assoziiert wurden.156
151 Bargheer: Eingeweide, S. 229–238. 152 Cratonis von Krafftheimb: Außerlesene Artzney-Künste, S. 24. 153 Matrei, Klaus von: Artzneybuch des Hochberühmten und Weiterfahrnen …, 1572, S. 175; Ludovici, M.C.: Englisches Artzney-Büchlein. Das ist: Des weltberühmten Englischen Medici Hrn. D. Loweri und unterschiedlicher anderer vortrefflichen englischen Medicorum in London/ nützliche. Bewehrte und viel Jahr lang an vielen Menschen probierte und gut befundene Recepte und Artzney-Mittel, Leipzig 1722, S. 28. 154 Hartknoch, Christophorus: Alt- und Neupreussen, Frankfurt/Leipzig 1684, S. 144 und S. 215 f. 155 Büttner, Ludwig: Fränkische Volksmedizin. Ein Beitrag zur Volkskunde Ostfrankens, Erlangen 1934, S. 61 und S. 78. 156 Bargheer: Eingeweide, S. 271.
2.3 Neoplatonismus, Alchemie und (Natur-)Magie
59
Daneben wurden bestimmte Organe und Sekrete wiederholt in der Epilepsie-Behandlung verwendet: Hirn, Herz, Galle, Leber, Blut und das Bibergeil, eine Absonderung aus den Geschlechtsorganen des Bibers. Während man Schädel und Hirn wegen der Analogie zum Kopf als Sitz der Erkrankung wählte, wurden Herz und Blut als Lebens- und Seelensitz assoziiert, der Überträger von Lebenskraft war. Die Leber wurde einerseits ebenfalls als Seelensitz definiert, andererseits als Gefäß übernatürlicher Kräfte und in dieser Funktion gegen Krankheiten mit dämonischem Charakter gebraucht. Allerdings fand die Tierleber auch dort Anwendung, wo die Funktion der Leber in der volkstümlichen Säftelehre bei einer Erkrankung in den Vordergrund trat. Schon bei Plinius ist ein umfänglicher Gebrauch von Tierlebern nachzuweisen, vor allem der Eselleber als antiepileptischem Heilmittel. Allerdings war es zeitlichen Moden unterworfen, welches Tier gerade besonders häufig empfohlen wurde. So wurde die Eselleber als Präparat ab dem 16. Jahrhundert nur noch vereinzelt empfohlen, und die Froschleber findet sich nur in Rezepten des 14. bis 16. Jahrhunderts. Dagegen trat ab dem 16. Jahrhundert die Leber des Hasen in den Vordergrund, wobei nicht genau zu klären ist, warum gerade diese nun verstärkt mit der Erkrankung in Verbindung gebracht wurde. Bargher erklärt ihre gehäufte Nutzung mit der Assoziation des Hasen als Tier, in das sich Teufel und Hexen verwandeln können. Die Assoziation sei über die Vorstellung des dämonischen Tieres zu der dämonischen Krankheit herzustellen.157 Ob diese Assoziationskette so tatsächlich existierte, bleibt fraglich, da die Epilepsie nicht unbedingt als dämonische Erkrankung wahrgenommen wurde.158 Ein Teil dieser organischen Substanzen ist der sogenannten Dreck-Apotheke zuzuordnen, die den Urin und die Exkremente von Menschen und Tieren zur Heilung einsetzte. So etwa in folgender Rezeptur, die ein einem Hausvaterbuch Erwähnung fand: „Pfauen-Mist morgens nüchtern im Cicori – Wasser und geschabte Poeonienwurtzel auf die Fußsohlen legen“.159 Die DreckApotheke, die ihren Namen im Anschluss an das im Jahre 1696 erschienene Buch „Heilsame Dreck-Apotheke“ des Eisenacher Arztes Kristian Frantz Paullini (1643–1712) erhielt,160 speiste sich aus Vorstellungen der „magnetischen Medizin“ der Barockzeit, in der organische Träger wie Blut, Urin, Kot, Leichenteile, Haare und Nägel als mit Lebensgeist aufgeladen galten. Mit Hilfe dieses Lebensgeistes könnten Krankheiten übertragen und dadurch geheilt werden. Paullini bediente sich dieser Vorstellungen und fasste in seinem Buch vornehmlich Rezepturen mit Kot und Urin zusammen, die gerade dem „gemeinen Mann“, der nicht viel Geld für teure Medikamente hatte, nützlich sein sollten.161 Diese Rezepturen, obwohl sie ebenfalls in gewisser Weise zur Organotherapie gehören, gehen allerdings über reines Analogiedenken sowie das Simile- und Contrarius-Prinzip hinaus, indem in ihnen bereits magische 157 158 159 160 161
Bargheer: Eingeweide, S. 282 f. Unterkapitel 2.4 Gott, Teufel und die Heiligen, S. 67–85. [Anonym]: Georgica Curiosa, S. 266. Paullini: Heilsame Dreck-Apotheke. Müller-Jahnke/Friedrich: Geschichte der Arzneimitteltherapie, S. 59 ff.
60
2 Hoffnung auf Heilung
bzw. iatromagische Vorstellungen der Übertragung, auf die später noch zurückgekommen werden soll, aktiv wurden. Wie häufig diese Mittel nun tatsächlich Anwendung fanden, lässt sich nicht mehr nachvollziehen, zumal nicht geklärt werden kann, welche Bevölkerungsschichten diese akzeptierten. Es scheint zumindest, dass einige dieser Mittel auch in den Rezepturen studierter Ärzte aufgenommen wurden. Gerade Arzneien, die mit Schwalbenwasser oder dem Schwalbenstein hergestellt wurden oder die Teile des menschlichen Schädels enthielten, lassen sich in den Anwendungen studierter Ärzte vom 16. und 17. Jahrhunderts bis weit ins 18. Jahrhundert finden,162 obwohl sie unter dem Einfluss der Aufklärer heftig kritisiert wurden.163 Neben den Lehren der „magia naturalis“, der „signatura rerum“ und astrologischer Prinzipien, die den Ansichten Gelehrter und Studierter entsprangen, existierten noch die magischen Vorstellungen der ungebildeten Bevölkerung. Diese können nur schwer rekonstruiert werden, weil sie auf tradiertem und mündlich überliefertem Wissen basierten und deshalb nur über Umwege, wie zum Beispiel die Berichte von Pfarrern, die diesen magischen Praktiken eher skeptisch gegenüberstanden, erschlossen werden können. Aus den vorhandenen Quellen geht hervor, dass es zwischen den magischen Vorstellungen der Laien und den der Gelehrten Überschneidungen gab sowie einen Austausch der Ideen. Beiden gemeinsam war der Glaube an übernatürliche Kräfte und die Möglichkeit, diese zu beeinflussen.164 Diese Beeinflussung basierte in den Lehren der „magia naturalis“ und der Signaturenlehre vor allem auf der Kenntnis der kosmischen Zusammenhänge und der Wirkkraft von Pflanzen, Metallen und Tieren sowie auf Kenntnissen der astrologischen Zusammenhänge und der Einflüsse der Gestirne. Auch den volksmagischen Vorstellungen lag ein ausgeprägtes Analogiedenken zugrunde. Die Volksmagie operierte einerseits mit magischen Ritualen, in denen materielle, natürliche Gegenstände genutzt wurden, denen magische Eigenschaften zugesprochen wurden. Andererseits bediente sie sich in ihren magischen Praktiken der Hilfe des Übernatürlichen oder Außerweltlichen und bewirkte mit erbetener oder erzwungener Unterstützung von Geistern oder Dämonen magische Handlungen.165 Hier unterschieden sich volksmagische von gelehrten Vorstellungen: Während die Vertreter der gelehrten Magie Veränderungen und Krankheiten auf natürliche Vorgänge zurückführten und alchemische sowie astrologische Vorgänge für Erkrankungen verantwortlich machten, glaubten die Vertreter volksmagischer Vorstellung an die Beeinflussung durch Krankheitsgeister oder 162 [Anonym]: Die sicherste und beste Methode die meisten Krankheiten, Gebrechen und Schwachheiten des menschlichen Leibes sicher und geschwind zu heilen. Auf vielfältiges Begehren zu jedermanns Nuzen, Frankfurt a. M./Leipzig 1761, S. 73–79. 163 Kutzer: Das Bild der Epilepsie, S. 129 ff. 164 Labouvie, Eva: Hexenspuk und Hexenabwehr. Volksmagie und volkstümlicher Hexenglaube, in: Richard van Dülmen (Hg.): Hexenwelten. Magie und Imagination vom 16.– 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1987, S. 49–93, hier S. 49 f. 165 Labouvie: Hexenspuk und Hexenabwehr, S. 53 ff.
2.3 Neoplatonismus, Alchemie und (Natur-)Magie
61
-dämonen ebenso wie an die schädliche Wirkung magischer Praktiken, wenn sie zu „schlechten Zwecken“ eingesetzt wurden. In der Volksmagie wurde zwischen weißer und schwarzer Magie unterschieden, die sich nicht in der Art ihrer Praktiken, sondern in der Art ihrer Zielsetzung unterschieden. Diente die weiße Magie dazu, Menschen zu helfen, sie zu heilen und ihr Leben zu erleichtern, war die schwarze Magie darauf aus, Schaden zu stiften, zum Beispiel Krankheiten bei Mensch oder Vieh hervorzurufen.166 Dementsprechend mussten sich magische Praktiken, die Krankheiten vertreiben wollten, gegen solche schädlichen Einflüsse von außen stellen und sowohl Krankheitsdämonen als auch schädliche Hexen- und Zauberkünste vertreiben. Obwohl Magie nicht nur zur Verursachung und Heilung von Krankheit eingesetzt wurde, sondern auch in Form von Hilfszaubern wie der Wahrsagerei oder in Form von Abwehr-, Schutz- und Schadenszaubern, sollen im Folgenden nur Formen der Heilzauber angesprochen werden. Zu ihnen gehörten sowohl Formen, die sich auf magisch-kultische oder magisch-natürliche Zusammenhänge stützten, als auch christlich-religiös geprägte Formen des Heilzaubers, wie etwa die Segnerei oder das Gesundbeten.167 Die magisch-kultischen Heilzauber operierten mit rituellen Handlungen und Spruchzaubern, die die Erkrankung vertreiben sollten und sich dabei gegen Krankheitsdämonen, böse Einflüsse und Zauber wenden konnten. Diese Sprüche bedienten sich sowohl rein magischer bzw. heidnischer Formeln als auch christlicher Symbolik. Zur Abwehr der Epilepsie sollte man beispielsweise vor Sonnenaufgang folgende Worte sprechen: Ach meine liebe Sonn, hier sein ich geschickt als ein armer Bot und warten auf unsern lieben Herr Gott, und möchte ihn bitten, das er den Mangel oder Fallentkrankheit abnehmen im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.168
Solche und ähnliche Segenssprüche kamen auch in Form von Spruchzetteln zum Einsatz, die dem Erkrankten als Amulett um den Hals gehängt wurden169 (s. Abb. 2, S. 276). Begleitet wurden diese Spruchzauber häufig von kultischen Handlungen wie dem Bestreichen, Segnen oder Umkreisen kranker Körperteile und Körperstellen. Sie konnten durch natürliche Gegenstände, denen magische Wirkung nachgesagt wurde, unterstützt werden. So konnten bestimmte Kräuter oder Korallenanhänger, die in der Abwehr von Geister und Dämonen, aber ebenso zur Abwehr von Mördern und Dieben eingesetzt wurden, als Amulett genutzt oder im Krankenzimmer aufgehängt werden. Die Krankheitsmagie kannte außerdem das „Übertragen“ der Krankheit auf Menschen, Tiere, Pflanzen, Gegenstände und auf Tote.170 In dieser Zeit sprach man eher vom Binden, Lösen oder Ablösen. Man übertrug die Krankheit auf einen Zwischenträger, den man dann vergraben, einpflanzen, weg166 167 168 169 170
Ebenda, S. 49–58. Ebenda, S. 59 ff. Ebenda, S. 63. Temkin: The Falling Sickness, S. 111 ff. Seyfarth, Carly: Aberglaube und Zauberei in der Volksmedizin Sachsens, Hildesheim/ New York 1979, S. 180–193.
62
2 Hoffnung auf Heilung
schwemmen oder vernichten konnte, um damit die Krankheit verschwinden zu lassen.171 Magische Praktiken, egal ob sie sich aus Zauber- oder Segenssprüchen, magischen Zeichen, rituellen Handlungen oder einer Kombination aus allen zusammensetzten, wurden oft mit einer starken christlich-religiösen Symbolik verknüpft. Dazu wurden Spezialisten aufgesucht, die die Krankheiten durch Segnerei heilen sollten. Eine besonders interessante, aber noch weitgehend unerforschte Rolle spielten sogenannte Gesundbeter im Genesungsprozess. Wie der Name bereits verrät, beteten sie mit und für den Erkrankten, um auf diese Weise seine Heilung zu erwirken oder zumindest zu beschleunigen. Nicht klar ist hingegen, wie dieser Prozess im Einzelnen aussah, da zu diesen Heilpersonen nur sehr wenige Informationen überliefert sind. Das hängt zum einen damit zusammen, dass der Großteil der Klientel aus illiteraten Schichten stammte und Patienten aus höheren Schichten diese Vorgänge entweder nicht für aufzeichnungswürdig hielten oder sich schämten diese festzuhalten. Zum anderen war das Gesundbeten zwar von Theologen nicht gerne gesehen, wurde aber von der Obrigkeit bis Ende des 18. Jahrhunderts weitgehend geduldet. Erst ab dem 19. Jahrhundert wurde diese Form des illegalen Praktizierens systematischer geahndet, weshalb die Zahl der behördlichen Unterlagen erst seit diesem Zeitpunkt zunimmt. Deshalb ist der im Folgenden geschilderte Fall der Maria Sophie Brest von 1831172 von besonderem Interesse, obwohl er eigentlich nicht mehr in den Untersuchungszeitraum der vorliegenden Arbeit fällt. Überliefert wurde dieser Fall, weil besagte Maria Sophie durch ihre Kuriermethode in den Blick der Gesetzeshüter geriet und sie sich wegen „unbefugten Curierens“ und „Vagierens“ vor der Behörde des Amt Hohnsteins verantworten musste. Der Fall kann eine Vorstellung von dieser Praxis vermitteln, da zu vermuten ist, dass sich die Methoden der Gesundbeter bis ins 19. Jahrhundert nicht wesentlich veränderten. Maria Sophie Brest, die angeblich aus Pamplona stammte, wurde im Amt Hohnstein 1831 ohne Papiere auf dem Hof des Bauerngutsbesitzer Kunge aufgegriffen, bei dem sie sich nach Aussage des Gendarmen Schuhmann geraume Zeit aufgehalten hatte. Dort war sie gerade mit der Kur des 19-jährigen Sohnes von Johann Gottfried Kunge und des Sohnes des benachbarten Bauers Häuster beschäftigt gewesen, die beide an epileptischen Anfällen litten. Maria Brest war nach eigener Aussage eine Spezialistin für Epilepsie, die häufig von Erkrankten angesprochen und um eine Kur gebeten wurde. Ihr Geschäft funktionierte über Mundpropaganda, d. h. durch Empfehlungen von Freunden und Bekannten, wie der Gutsbesitzer Kunge seinen Kontakt zur der Spezialistin im Verhörprotokoll beschrieb:
171 Labouvie, Eva: Verbotene Künste. Volksmagie und ländlicher Aberglaube in den Dorfgemeinden des Saarraums 16.–19. Jahrhundert, St. Ingbert 1992, S. 101. 172 SHStaD, 10055, Amt Hohnstein mit Lohmen, Nr. 315. Acta, das von Marien Sophien Brestin aus Pamplona in Spanien unternommene Curieren der Epilepsie betreffend 1831.
2.3 Neoplatonismus, Alchemie und (Natur-)Magie
63
Er habe einen Sohn von 19 Jahren, welcher schon seit 10 Jahren mit der Epilepsie behaftet sey. Alle diesfalls gemachten und mit vielen Geldkosten verbundenen Versuche ihn an dieser Krankheit zu behandeln seyen immer fruchtlos gewesen, als er vor einiger Zeit von dem Fuhrmann Negel seines Amts gehört hatte, daß sich bey Chemnitz eine Frau aufhalte, welche die epileptischen Zufälle völlig heilen könne. Dieß habe ihm Hoffnung gemacht, vielleicht durch diese Frau seinem Sohn die Gesundheit wieder zu erschließen und er habe daher den Fuhrmann Negel aufgetragen, wenn er wieder nach Chemnitz kommen sollte, jene Frau mit zu ihm zu bringen.173
Sie selbst gab in dem Verhör an, ihre Kuren beschränkten sich auf epileptische Zufälle und die „sogenannte böse Stäupe“. Dabei wehrte sie sich gegen den Vorwurf des unerlaubten Curierens mit der Begründung, sie reiche den Patienten keine Medikamente, sondern: „nur ganz gewöhnliche Hausmittel als Bitterklar und dergl. […], die Hauptcur bestehe aber einzig und allein in Anwendung sympathetischer Mittel.“174 Die Kur setzte sich aus wenigen Mitteln zusammen. Maria Sophie Brest überreichte dem Patienten zuerst ein in Leder eingenähtes Pergamentblättchen, das mit verschiedenen Wörtern und Zeichen beschrieben war. Dieses müsse der Patient, so lange er lebe, an der Brust tragen. Das Pergament dürfe nie angesehen oder gar mit den Händen berührt werden, andernfalls verliere es seine Wirkung. Dann bete sie drei Morgen hintereinander mit dem Patienten, wobei sie ihm ein Gebet vorsage, dessen Inhalt sie im Verhör nicht preisgeben wollte. Daneben bestreiche sie die bloße Brust des Patienten mit ihrer Hand und sage dabei ein gewisses Gebet auf. Manchmal unterstütze sie diese Prozedur durch Dampfbäder, für die sie nur klares Wasser und Heusamen verwende. Die Kur, die aufgrund der Gebetssitzungen durchaus dem Bereich des Gesundbetens zuzuordnen ist, bestand aus verschiedenen Komponenten, die sich teils aus natürlichen Medikamenten, teils aus magischen und schamanistisch anmutenden Praktiken zusammensetzten. Der Zettel, den sich der Erkrankte um den Hals hängen musste, erinnert gerade im Zusammenhang mit der Epilepsie an die bereits angesprochenen Fallsuchtsegen, die ebenfalls eingenäht sein mussten und nicht berührt werden durften. Sie sind dem Bereich der Wortmagie zuzurechnen, die den Erkrankten vor bösen Einflüssen schützen sollte.175 Bei den Worten auf dem Zettel handelte es sich um eine Mischung aus Latein und magischen Worten, die keinen wirklichen Sinn ergeben, sondern lediglich aus unterschiedlichen Traditionen stammen. Als weitere Komponente kommen die segnenden Worte ins Spiel, die eine religiöse Motivation hatten, da mit diesen der Kranke gesundgebetet werden sollte. Die gleiche Funktion erfüllten die mehrfach gemeinsam mit dem Patienten durchgeführten Gebetssitzungen. Das Bestreichen der bloßen Brust und die reinigenden Dampfbäder erinnern an schamanistische Prozeduren, deren Ursprünge und Vorstellungen allerdings nicht ganz klar sind. Die von Maria Sophie Brest hier beschriebene Praxis geht wohl tatsächlich auf schamanistische 173 SHStaD, 10055, Amt Hohnstein mit Lohmen, Nr. 315, fol. 7r–8v. 174 SHStaD, 10055, Amt Hohnstein mit Lohmen, Nr. 315, fol. 3r–4v. 175 Vgl. zu diesen Formen des Besprechens und Gesundbetens: Labouvie: Verbotene Künste, S. 95–110.
64
2 Hoffnung auf Heilung
Rituale zurück, die möglicherweise in ihrer ursprünglichen Form der Vertreibung böser Geister und Krankheitsdämonen diente. Ob diese Vorstellungswelt Maria Sophie Brest zugänglich war oder ob sie einfach auf tradierte Praktiken mit lediglich noch rudimentärem Verständnis der ursprünglichen Sinnbedeutung zurückgriff, ist leider nicht mehr nachvollziehbar. Die Prozedur vermittelt allerdings den Eindruck, als werde hier überliefertes Wissen aus Religion und Volksmagie zusammengewürfelt, ohne sich der Ursprünge bewusst gewesen zu sein. Auch wenn Aufklärer solche Praktiken als Aberglauben verdammten und den Einsatz adäquater Mittel propagierten, scheinen diese Kuren bei der Bevölkerung weiterhin starken Anklang gefunden zu haben. Nicht nur die beiden Bauern sagten im Verhör aus, dass sie in dieser Kur der Epilepsie die letzte Chance für die Genesung ihrer erkrankten Söhne sahen, sondern Maria Brest trug auch mehrere Zeugnisse mit sich, in denen einige ihrer Patienten oder deren Familienmitglieder den Erfolg ihrer Kuren bestätigen. Der Viktualienhändler Johann August Völcker aus Chemnitz berichtete in einem Attest vom Januar 1831, sein Sohn hätte über zehn Jahre an der Epilepsie gelitten, die sich jeden siebten, achten oder neunten Tag eingestellt hätte. […] in Folge dieses furchtbaren Übels sich derselbe mehrmals bedeutende Verletzungen am Kopfe zuzog, deshalb ihn kein Meister in der Lehre behielt in der gerechten Furcht und Besorgniß durch den dadurch erregten Schreck sich selbst oder Seinigen in gleiche unglückliche Lage versetzt werden zu können, ich auch nur nutzlos vieles Geld seit dieser obgedachten Zeit sowohl an hiesige als auswärtige Ärzte verwandt […]176
Er hatte schon alle Hoffnung aufgegeben, bis seine Tochter, die an derselben Krankheit litt, von der Frau Brest geheilt wurde, und dieselbe Kur auch bei seinem Sohn anschlug, und dies ganz ohne alle Medikamente. Ihre Hilfe wurde sowohl in der Stadt als auch auf dem Land in Anspruch genommen, hauptsächlich von Handwerkern und Bauern, aber auch von einzelnen Vertretern des Bildungsbürgertums. Auch die beiden Bauerngutsbesitzer Häuster und Kunge glaubten fest an die Heilung ihrer Söhne durch Frau Brest. Häuster berichtete, dass er nach der Kur zwar noch keine Heilung an seinem Sohn feststellen könne, aber auf jeden Fall eine Besserung seines Zustandes erreicht worden sei. Normalerweise bekäme sein Sohn mindestens alle 8 Tage einen Anfall, während der zweiwöchigen Behandlung sei er aber anfallsfrei gewesen, was bei seinem Sohn seit Jahren nicht mehr der Fall gewesen sei. Deshalb verspreche er sich einen guten Erfolg von dieser Kur. Aus diesem Grund traten die beiden Gutsbesitzer vehement für ihre Freilassung ein: So geben beide zu vernehmen wie sie sehnlichst wünschten daß der Brestin verstattet werden möchte, die an ihren Söhnen begangenen Curen fortsetzen und vollenden zu dürfen, sie hätten beyderseits das feste Vertrauen daß ihre unglücklichen Söhne durch die Heilmethode der Brestin hergestellt werden würden, und insbesondere glaube er, Förster, es um so mehr als sich an seinem Sohne binnen der 14 tägigen Cur die vortheilhafftesten Wirkungen gezeigt hätten und derselbe […] dieser Zeit von den epileptischen Zu176 SHStaD, 10055, Amt Hohnstein mit Lohmen, Nr. 315, fol. 18.
2.4 Gott, Teufel und die Heiligen
65
fällen befreyt geblieben, auf welche Zeit die seit 10 Jahren noch nie der Fall gewesen sey.177
Ganz anders sahen dies die Behörden, die Maria Sophie Brest zwar freiließen, aber mit der Auflage, direkt in ihre Heimatstadt Dresden zu reisen und sich dort bei der Polizeibehörde zu melden. Damit sie dorthin reisen konnte, stellte man ihr ein Zeugnis aus. Ihre sieben Atteste aber wurden einbehalten. Der Fall zeigt zum einen, wie gut der Ruf eines solchen Spezialisten in der Bevölkerung sein konnte. Maria Sophie Brest wurde zu zahlreichen aussichtlos erscheinenden Fällen gerufen, und viele ihrer Kunden waren äußerst zufrieden mit ihren Diensten. Dabei wurden bereits kleinste Erleichterungen im Krankheitsalltag, zum Beispiel ein längeres Ausbleiben der Anfälle, als positive Entwicklung wahrgenommen. Zum anderen wird an den Beispielen deutlich, dass die Patienten sich in ihrer Heilung nicht nur auf die Hilfe von Gesundbetern, Wunderheilern oder sonstigen Spezialisten verließen, sondern auch die Hilfe verschiedener Ärzte in Anspruch nahmen. 2.4 Gott, Teufel und die Heiligen Die Interdependenzen zwischen medizinischer und religiöser Deutung sowie medizinischer und geistlicher Behandlung von Krankheit sind bis jetzt kaum erforscht.178 Aus den bisherige Forschungsergebnissen zu diesem Thema läßt sich schließen, dass Religion im weitesten Sinne und Medizin in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaft eine Koexistenz führten und sich Theologen und Mediziner unterschiedlichen Arbeitsbereichen zuwandten: Während der Geistliche als Seelenarzt begriffen wurde, war der Mediziner für den Körper und seine Leiden zuständig. Obwohl die mittelalterliche und frühneuzeitliche Gesellschaft dazu tendierte, die Seele über den Körper zu stellen und die Leiden des Körpers als vergängliche und damit weniger wichtige Übel zu betrachten, stellten bereits mittelalterliche Theologen die Bedeutung der medizinischen Berufe heraus, indem sie die Abhängigkeit von Körper und Seele nicht verleugneten und betonten, ein kranker Körper ziehe auch die Seele in Mitleidenschaft.179 Für die mittelalterlichen Scholastiker und auch später für die Protestanten und Calvinisten war die Medizin ein göttliches Instrument und verdiente ihren Platz unter den Künsten.180 Bei den Protestanten wurde die göttliche Stellung des Arztes gerade in der Barockzeit unter dem „Christus Medicus“-Topos aufgegriffen, und selbst Martin Luther, der persönlich eine eher ambivalente Haltung gegenüber Ärzten hatte, gestand diesen 177 SHStaD, 10055, Amt Hohnstein mit Lohmen, Nr. 315, Fol. 9r. 178 Ziegler, Joseph: Religion and Medicine in the Middle Ages, in: Peter Biller/Joseph Ziegler (Hg.): Religion and Medicine in the Middle Ages, Suffolk 2001, S. 3–14, hier S. 3 ff. 179 Ziegler: Religion and Medicine in the Middle Ages, S. 5 ff.; Porter, Roy: Religion and Medicine, in: W.F. Bynum/Roy Porter: Companium Encyclopedia of the History of Medicine, Volume 2, London/New York, 1994, S. 1449–1468, hier S. 1451 f. 180 Porter: Religion and Medicine, S. 1451 f.
66
2 Hoffnung auf Heilung
einen wichtigen Platz in der göttlichen Schöpfung zu, weil sie der Kreatur Gottes (dem Mensch) durch Kreatur (Arznei) halfen. Für Luther waren Arzneien Gaben Gottes, die der Mensch nicht ausschlagen dürfe, womit er klar Stellung gegen Theologen wie Johann Karlstadt bezog, die arzneiliche Medizin für nichtig erachteten und eine rein geistliche Medizin propagierten. Demgegenüber argumentierte Martin Luther: Derjenige, der medizinische Hilfe ausschlüge, verachte die Gaben Gottes und damit diesen selbst, da das heilende Handeln Gottes mit Hilfe von Arzneien Teil der göttlichen „conservatio“ und von Gott gewollt sei.181 Der Arzt übernehme diese Funktion, wogegen der Geistliche nach Luther vor allem als Seelenarzt fungierte und gegen Anfechtungen der Seele auch in Krankheiten zuständig war.182 Diese Trennung der beiden Bereiche und die Zuweisung der Behandlung von Krankheiten in den Zuständigkeitsbereich der Ärzte, erklärt vermutlich, warum sich Theologen in ihren Schriften nur selten mit Krankheiten und Krankheitsbildern befassten. Die Existenz von Krankheiten wurde zwar durchaus religiös begründet und Gott als letzte Ursache aller Krankheiten angenommen: Gott sende Krankheiten, um menschliche Verfehlungen zu strafen. Aber Krankheiten wurden weniger als Ursache persönlicher Verfehlungen, sondern allgemeiner als Heimsuchung Gottes aufgrund der Schlechtigkeit der Menschen begriffen. Gerade schwer Erkrankte wurden als Mahnmal Gottes für die Sündhaftigkeit der Menschen betrachtet. Gott prüfe durch Erkrankungen aber auch den Glauben und die Standfestigkeit der Menschen, so wie er in der biblischen Geschichte Hiob prüfe, indem er ihn durch den Teufel mit Krankheiten plagen ließ.183 Doch änderte dies nichts an der natürlichen Ursacheninterpretation durch die Mediziner und an der Krankheitswahrnehmung von Patienten. Letztere sahen Gott zwar als letzte, übergeordnete Ursache ihrer Krankheit, weil es an Gott war Krankheiten zuzulassen oder zu heilen, sie führten sie aber nur in den allerwenigsten Fällen auf ihre individuellen Verfehlungen zurück.184 Auch Theologen akzeptierten die ärztlichen Ursachenerklärungen von Krankheiten und ganz in diesem Sinne interpretierte Martin Luther die Epilepsie als natürliche Krankheit, die er als Spasmus im Gehirn begriff.185 Von wenigen Ausnahmen abgesehen, fand die Epilepsie in der theologischen Literatur des 16. bis 18. Jahrhunderts kaum Erwähnung. Wurde sie doch einmal aufgegriffen, diente sie hauptsächlich als Metapher. Martin Luther verglich in seiner Genesisvorlesung beispielsweise den epileptischen Anfall mit einer Art Schlaf und dem Tod, da der Epileptiker während 181 Steiger, Johann Anselm: Medizinische Theologie. Christus medicus und theologia medicinalis bei Martin Luther und im Luthertum der Barockzeit, Leiden/Boston 2005, S. 7 ff. 182 Steiger: Medizinische Theologie, S. 25 ff. 183 Vanja, Christina: „Krankheit (Neuzeit)“, in: Peter Dinzelbacher (Hg.): Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen. Stuttgart 1993, S. 200–207. 184 Stolberg: Homo patiens, S. 50 f. 185 Miles, M.: Martin Luther and Childhood Disability in 16th Century Germany: What did he write? What did he say?, in: Journal of Religion, Disability & Health 5 (2001), S. 5–36, online: www.independentliving.org/docs7/miles2005b.html, zuletzt eingesehen am 23.08.2011.
2.4 Gott, Teufel und die Heiligen
67
des Anfalls seiner Sinne beraubt sei wie im Schlaf, und er dadurch gleichzeitig lebend aber auch wie tot sei.186 Trotz dieser weitgehenden Trennung der Zuständigkeiten gab es zwei Überschneidungspunkte, in denen die Kirche ihre Autorität im Hinblick auf die Interpretation und die Behandlung von Krankheit geltend machte: 1. Sowohl katholische als auch evangelische Geistliche gingen davon aus, dass neben Gott auch der Teufel und seine Dämonen Krankheiten verursachen konnten, wodurch diese die Menschen verderben und plagen wollten. Diese Interpretation entfachte unter Theologen aller Konfessionen und Ärzten eine Kontoverse darüber, wie weit die Macht des Teufels über Krankheiten reiche. Die einen wiesen dem Teufel eine nahezu unbegrenzte Macht zu, Krankheiten auszulösen, sich in die Säfte zu mischen und diese zu beeinflussen. Andere betrachteten diese Macht als sehr viel begrenzter und nahmen vielmehr an, der Teufel könne nur mit Zustimmung Gottes – wie im Fall Hiobs – Krankheiten verursachen und sei damit nur ein Werkzeug Gottes.187 2. Gott war nach frühneuzeitlicher Interpretation nicht nur letzte Ursache von Krankheit, sondern er war auch in der Lage, jegliche Form von Krankheit wieder von dem Erkrankten zu nehmen. Die Menschen vertrauten daher auf Gottes Gnade und erhofften sich seine Hilfe und seinen Beistand.188 Als Ergänzung und Alternative zur medizinischen Behandlung boten Theologen Gottvertrauen, Buße und Gebet als Therapie nicht nur für sämtliche Krankheiten, sondern auch zur Abwehr böser, teuflischer Mächte an.189 Der Katholizismus erfüllte darüber hinausgehende religiöse Heilungsfunktionen, indem er Hilfe durch die christlichen Benediktionen, die wundertätige Kraft von Mirakelbildern und Reliquien versprach.190 Besessenheit und unnatürliche Krankheit In der medizingeschichtlichen Literatur wird häufig die These vertreten, Epileptiker und Geistesgestörte seien im Mittelalter und der Frühen Neuzeit für Besessene gehalten worden. Erst die Aufklärung hätte Ende des 18. Jahrhunderts dieser Interpretation durch die Vernunft langsam Einhalt gebieten können, und zu Beginn des 19. Jahrhunderts seien Epileptiker wie Geistesgestörte
186 Luther, Martin: Reichert, O. (Hg.): D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 44, Weimar 1915, S. 812, Zeile 26–36. 187 Martin Luther vertrat beispielsweise die Ansicht, dass der Teufel die meisten Krankheiten verursache, dies könne er allerdings nur mit Erlaubnis Gottes tun: „Es erlaubt aber Gott dem Teufel, uns Schaden zuzufügen, da er von uns verachtet wird“; in: Borcherdt, H.H./Merz, Georg (Hg.): Martin Luther ausgewählte Werke, 3. Auflage, München 1963, S. 234 f.; Temkin: The Falling Sickness, S. 138 f.; Porter: Religion and Medicine, S. 1456– 1459. 188 Stolberg: Homo patiens, S. 50 ff. 189 Steiger: Medizinische Theologie, S. 20. 190 Porter: Religion and Medicine, S. 1456–1459.
68
2 Hoffnung auf Heilung
endlich einer geeigneten Therapie zugeführt worden.191 Dieser Annahme liegt vor allem das Missverständnis zugrunde, für die Menschen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit seien Erkrankungen und Besessenheit eins gewesen. Diese Vorstellung gründet sich jedoch in erster Linie auf Interpretationen des 19. und 20. Jahrhunderts, die keineswegs den Konzepten der Frühen Neuzeit gerecht werden.192 Die Ineinssetzung besonders von Epilepsie und Besessenheit wird von Medizinhistorikern, die eine retrospektiv-diagnostische Richtung vertreten, aus den Exorzismus-Geschichten der Bibel, vor allem der Geschichte des mondsüchtigen Knaben in Matthäus 17, Markus 9 und Lukas 9, abgeleitet. In dieser Geschichte wird Jesus von einem Mann gebeten, seinen mondsüchtigen Knaben, der von einem bösen Geist besessen war, zu heilen. In Markus 9 werden die Symptome des Knaben vom Vater folgendermaßen beschrieben: „[…] immer wenn der Geist ihn überfällt, wirft er ihn zu Boden, und meinem Sohn tritt Schaum vor den Mund, er knirscht mit den Zähnen und wird starr.“ Und in Lukas 9 wird noch etwas genauer beschrieben: „[…] plötzlich schreit er auf, wird hin und her gezerrt, und Schaum tritt ihm vor den Mund, und der Geist quält ihn fast unaufhörlich.“ In der Bibelgeschichte nimmt sich Jesus des Knaben an und treibt ihm den Dämon aus, der nach lautem Geschrei und Hin- und Herwerfen des Knaben dessen Körper verlässt. Die Symptome, besonders das Hin- und Hergeworfen-Werden, der Schaum, der vor den Mund tritt, und das Knirschen mit den Zähnen lassen den modernen Mediziner an einen epileptischen Grand-Mal-Anfall denken. So interpretiert beispielsweise auch der Epileptologe Hansjörg Schneble in seinem Buch „Heillos, Heilig, Heilbar“ diese Bibelstelle und schließt daraus, für die Menschen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, denen diese Bibelstellen nachweislich bekannt waren und die im Kontext der Rechtfertigung von Besessenheit wiederholt zitiert wurden, sei die Epilepsie eine dämonische Krankheit gewesen.193 Problematisch an dieser Interpretation ist allerdings, dass dabei nicht berücksichtigt wird, was die Zeitgenossen zur Besessenheit dachten und wie und in welchem Zusammenhang sie diese Bibelstellen interpretierten.194
191 Krämer: Das große TRIAS-Handbuch Epilepsie, S. 20 f.; Schneble: Heillos, Heilig, Heilbar, S. 66. 192 Kutzer, Michael: Besessenheit oder Krankheit? Psychische Störungen in der Medizin der Frühen Neuzeit, in: G. Nissen/F. Badura (Hg.): Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde, Bd. 2, 1997, S. 219–240, hier besonders S. 219 f. und S. 228. 193 Schneble: Heillos, Heilig, Heilbar, S. 66 ff. 194 Zudem scheint eine retrospektive Diagnose der biblischen Darstellung als Epilepsie sehr problematisch, denn wie schon Michael Kutzer konstatierte, können die unter dem Begriff Besessenheit beschriebenen verschiedenartigen, zum Teil als „widernatürlich“ geschilderten Zustände aus heutiger Sicht nicht mit einer Störung wie etwa Epilepsie oder auch Schizophrenie gleichgesetzt werden; vgl. dazu Kutzer: Besessenheit oder Krankheit, S. 226.
2.4 Gott, Teufel und die Heiligen
69
Besessenheit und Erkrankungen wurden von den Zeitgenossen per Definition klar voneinander unterschieden; wurde die eine durch die Einflüsse des Teufels oder die Besitzung des Körpers durch Dämonen, also durch übernatürliche Phänomene, hervorgerufen, entstanden die anderen durch ein Ungleichgewicht der Säfte, also auf einer völlig natürlichen Grundlage. Das Rituale Romanum von 1614, das erstmals Richtlinien im Umgang mit Besessenen und Exorzismen festlegte, empfahl dem Exorzierenden, er solle: „[…] zuerst nicht einfach glauben, dass einer von einem Dämon besessen sei; sondern hat jener Zeichen, die an Besessenen erkannt werden, oder leidet jener an Wahnsinn oder einer anderen Krankheit.“195 Die wichtigsten Zeichen, mit denen ein Besessener von einem an einer natürlichen Krankheit Leidenden unterschieden werden könne, waren nach dem Rituale Romanum: Das Sprechen oder Verstehen fremder Sprachen, die der Betroffene nie erlernt hatte; wenn der Betroffene Entferntes und Verstecktes offenbaren könne; wenn er übernatürliche Kräfte zeige oder unverschluckbare Gegenstände ausspeie.196 Als Zeichen der Besessenheit wurden in erster Linie übernatürliche Phänomene beschrieben, die eine Unterscheidung von einer natürlichen Krankheit möglich machten. Die Unterscheidung der beiden Zustände lag dabei sowohl in den Händen der Priester als auch in denen der Ärzte, die den Patienten an einen Priester verweisen sollten, wenn ihr Patient nicht an einer natürlichen Krankheit, sondern an Besessenheit litt. Dabei durfte nach den Anweisungen des Rituale Romanum nur ein unbescholtener Priester mit Genehmigung eines Bischofs den Exorzismus durchführen. Beim Exorzismus sollte der Dämon vom Priester mit Gebeten, dem Vorlesen von Bibelstellen und geheiligten Gegenständen so lange gereizt werden, bis er endlich den Körper verließ.197 Die Unterscheidung zwischen Besessenheit und einer Erkrankung fiel dabei nicht leicht, denn dem Teufel wurden allumfassende Möglichkeiten zugeschrieben. In Berichten über Besessenheit spielen Täuschungen durch den „bösen Feind“, dem es möglich war, eine Besessenheit als normale Erkrankung erscheinen zu lassen, eine große Rolle. So berichtete ein Flugblatt aus dem Jahr 1559 über den Fall einer durch den Teufel besessenen Schmiedstochter mit Namen Anna in Platten. Anna war ein sehr frommes und tugendhaftes Mädchen, das zur Fastnachtszeit vom Teufel ergriffen wurde „[…] und zu weilen hat er sie niedergeworffen, gleich einem Menschen, der mit der schweren kranckheit beladen ist, das ire Eltern und andre Leute nicht anders gewußt, denn sie hab das hinfal195 „In primis, ne facile credat, aliquem a daemone obsessum esse; sed nota habeat ea signa, quibus obsessus dignoscitur ab iis, qui vel atra bile, vel morbo aliquo laborant“, in: Papst Paul V. (Hg): Triacca, Achille M. (Hg): Rituale Romanum 1614, Faksimile, Vatikan 2004, Caput XII, 1,4, S. 198; Übersetzung Verfasserin. 196 „Signa autem obsidentis daemonis sunt. Ignota lingua loqui pluribus verbis, vel loquentem intellegere: distantia, et occulata patefacere: vires supra aetatis, seu conditionis naturam ostendere; et id genus alia, quae cum plurima concurrunt, maiora sunt indicia.“ Papst Paul V. (Hg): Rituale Romanum 1614, S. 198; Übersetzung Verfasserin. 197 Papst Paul V. (Hg): Rituale Romanum 1614, S. 199 f.
70
2 Hoffnung auf Heilung
lend und wie man sagt, haben sie bey einer Warsagerin rath gesucht aus unverstand.“198 Die Eltern des Mädchens hatten die eigentliche Besessenheit also zuerst für eine Krankheit, die Epilepsie, gehalten und in ihrer Not eine Wahrsagerin aufgesucht, die dem Mädchen helfen sollte. Erst kurz nach Ostern offenbarte sich diese vermeintliche Krankheit als teuflische Besitzung, als der Teufel begann, aus ihr zu reden und sich in verschiedenen Gestalten zu zeigen. Es wurden noch weitere übernatürliche Begebenheiten beschrieben, bis der Teufel aus dem Körper ausgetrieben und Anna von ihrer Besessenheit befreit werden konnte. Interessant an dieser Erzählung ist zum einen, dass hier klar zwischen den beiden Zuständen Krankheit und Besessenheit unterschieden wurde, zum anderen wurde die vermeintliche Erkrankung erst nach verschiedenen übernatürlichen Phänomenen wie dem Erscheinen des Teufels in der Tochter des Schmieds als Besessenheit begriffen. Dieses Motiv der übernatürlichen Handlungen und Phänomene lässt sich auch in weiteren Berichten über Besessenheit und Exorzismen finden, die gerade im 16. und 17. Jahrhundert massenweise verbreitet wurden. In all diesen Geschichten machte erst das Übermenschliche und Übernatürliche, wie das Ausspeien von Nägeln oder Schlangen, die plötzlichen übermenschlichen Kräfte und die teuflische Stimme, die Besessenheit aus.199 Da die Besessenheit nach Vorstellung der Zeitgenossen wie eine völlig normale Erkrankung erscheinen konnte, taten sich Ärzte bisweilen schwer, eine natürliche Krankheit vom Zustand der Besessenheit zu unterscheiden. In einem Fallbericht des französischen Arztes Jean Fernel aus dem 16. Jahrhundert lässt sich lesen, wie er einst einen Epileptiker zu behandeln glaubte, obwohl dieser in Wahrheit vom bösen Feind besessen war. Der junge Edelmann litt unter schweren Konvulsionen und einem Schütteln des Körpers, das sich manchmal nur in einzelnen Teilen, z. B. nur im linken oder rechten Arm, manchmal nur an einem Finger, manchmal auch nur an einem Bein oder aber auch am ganzen Körper zeigte. Sein Kopf war davon aber niemals befallen und er blieb auch die ganze Zeit bei Bewusstsein, konnte frei sprechen, sehen und hören. Die besten Ärzte wurden zu ihm gerufen und alle diagnostizierten bei ihm Konvulsionen und eine Art der Epilepsie, obwohl sie wegen des fehlenden Bewusstseinsverlustes nicht als wirkliche Epilepsie begriffen werden konnte. Deshalb wurde der Patient mit verschiedenen Purganzen behandelt, durch heiße Bäder, Öfen und einem Sud aus Guajakum zum Schwitzen gebracht, um dadurch den Körper von den unheilvollen und giftigen Dämpfen zu reinigen, die als Ursache der Erkrankung angesehen wurden. Im dritten 198 HAB, VD 16 G 2969: Eine grawsame erschreckliche unnd wunderbarliche Geschichte oder Newe Zeitung/ Welche warhafftig geschehen ist/ in diesem M.D. LIX. Jahr/ zur Platten/zwo meils weg von Jochimßthal/ Allda hat ein Schmid ein Tochter/ die ist vom bösen Feind dem Teufel eingenomen und besessen worden …, 1559. 199 Midelfort, H.C. Erik: The Devil and the German People: Reflections on the Popularity of Demon Possession in Sixteenth-Century Germany, in: Steven Ozment (Hg.): Religion and Culture in the Renaissance and Reformation, Kirksville 1989, S. 99–120.
2.4 Gott, Teufel und die Heiligen
71
Monat, nachdem alle Heilversuche vergeblich geblieben waren, offenbarte sich der Teufel im Körper des Patienten, indem er in ungewöhnlichen Wörtern und Sätzen, auf Latein und Griechisch sprach (Sprachen, die der Patient angeblich nicht beherrschte) und die Geheimnisse der Umstehenden, besonders der Ärzte, offenbarte. Der Teufel verspottete die Ärzte, weil er sie dazu benutzt habe, den Körper des Patienten durch ihre nutzlosen Purgationen zu schwächen, und ihm dadurch geschadet zu haben.200 Dieser Fallbericht sollte die Ärzte wohl daran erinnern, dass es Fälle gab, in denen sie nichts ausrichten konnten, weil hier der Teufel seine Hand im Spiel hatte und sie darauf achtgeben mussten, den Patienten durch übertriebene Kuren nicht zu sehr zu schwächen. Gleichzeitig ist aber interessant, dass die Ärzte, obwohl die beschriebenen Symptome nicht unbedingt in das zeitgenössische Schema der Epilepsie passten, dennoch zuerst von einer Erkrankung ausgingen und erst später als natürliche Erklärungen aufgrund übernatürlicher Phänomene nicht mehr griffen, die Erklärung Besessenheit akzeptierten.201 Nun könnte man argumentieren, die Epilepsie sei in untypischen Fällen also durchaus für Besessenheit gehalten worden und die Zeitgenossen hätten Symptome der Epilepsie, z. B. unkontrolliertes Reden oder unkontrollierte Geräusche, für das Sprechen fremder Sprachen oder für teuflische Stimmen gehalten und dadurch als Besessenheit interpretieren.202 Es kann nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden, dass vereinzelte Fälle von Krankheiten, die heute als Epilepsie diagnostiziert würden, von den Zeitgenossen als Besessenheit interpretiert wurden. Eine solche retrospektive Interpretation der Erzählungen um Besessenheit erscheint meines Erachtens wenig sinnvoll. Zum einen, weil bereits angedeutet wurde, dass die Wahrnehmung und Interpretation von Krankheit und Besessenheit der frühneuzeitlichen Gesellschaft sich wesentlich von modernen Interpretationen unterscheidet und damit eine retrospektive Diagnose fast unmöglich erscheint. Zum zweiten müssen diese Berichte um Besessenheit und Exorzismus im Kontext der frühneuzeitlichen Literatur betrachtet werden, um das Phänomen und die Erzählungen überhaupt einordnen zu können. Ansätze in dieser Richtung wurden in verschiedenen Studien aufgegriffen. Dabei zeigte sich, dass die Fälle von Besessenheit und besonders von Massenbesessenheit zwar zum Teil mit anfallartigen Phänomenen in Zusammenhang standen, aber sich in erster Linie aus den religiösen Vorstellungen und Gefühlen der Betroffenen und ihrer Umgebung speisten.203 So spielten die im 16. Jahrhundert im Zuge der Reformation weit verbreitete Weltuntergangsstimmung, die Vorstellungen von Sünde und dem Vormarsch teuflischer Mächte in der Welt, eine wichtige Rolle bei der Interpretation von 200 Fernelius, Ioannes: Universa Medicina, De abditis rerum causis, II, 16, Frankfurt a. M. 1577, S. 89; Zusammenfassung bei: Temkin: The Falling Sickness, S. 140 ff. 201 Temkin: The Falling Sickness, S. 141. 202 Schneble: Heillos, Heilig, Heilbar, S. 66 ff. 203 Waardt, Hans de: Dämonische Besessenheit. Eine Einführung, in: Hans de Waardt/Jürgen Michael Schmidt/H.C. Erik Midelfort (Hg.): Dämonische Bessenheit. Zur Interpretation eines kulturhistorischen Phänomens, Bielefeld 2005, S. 7–35, S. 10 f.
72
2 Hoffnung auf Heilung
Besessenheit. Die Eigeninterpretation von Besessenheit bei den Betroffenen hing demnach vielfach von deren religiösen Interpretationen und weniger von tatsächlich existierenden Erkrankungen ab.204 Im Zusammenhang mit der Unterscheidung von Besessenheit und Epilepsie ist eine sehr interessante Stellungnahme der protestantischen theologischen Fakultät zu Wittenberg aus dem Jahr 1628 überliefert, zu der Frage: „[…] ob die Epilepsie eine Art teuflischer Besessenheit (species obsessionis diabilicae) sei.“205 Am 8. Februar 1628 verfassten die Räte und der Kanzler der Lüneburgischen und Braunschweigischen Regierung ein Schreiben an die theologische Fakultät zu Wittenberg, in dem sie berichteten, es habe sich begeben, dass ein Prediger öffentlich von der Kanzel verkündete: „der epilepsia oder schwere noth ein species obsessionis diabolica sei, und alßo die jenigen so nun solcher kranckheit behafftet, dahin zu achten ob sie etlicher massen von dem bösen leibhaftigen besessen […]“.206 Über diese Rede hätten sich viele fromme Christen geärgert und sie könnten nicht glauben, dass dieser Umstand tatsächlich der Wahrheit entspräche. Da man sich unsicher sei, ergehe deshalb die Frage an die theologische Fakultät zu Wittenberg, ob diese Aussage richtig sei, mit der Heiligen Schrift übereinstimme und ob sich ein gelehrter Theologe dazu schon geäußert habe. Zudem wolle man auch gerne wissen, „was die Facultatis Medica hiervon halte und iudicire […]“. Die Antwort der medizinischen Fakultät ist nicht überliefert, dafür aber die der theologischen Fakultät zu Wittenberg: Alß können wir zur freundlichen antwort […] nicht bergen, daß ein epilepsiam in ihrer natur, […] wie sie endweder uff den menschen ererbet oder in vita progressu aus allerley ursachen entstehen kann oder auch den menschen auf dem todtbette anstoßen kann, sie eine natürliche oder aus natürlicher ursache herrührende kranckheit iederzeit gehalten, die ohne leibliche besizung des Satans wohl sein kann; also undt dergestalt, daß sie zwar ihren uhrsprung wie alle kranckheiten von der sünde […] undt darumb der anfang aller cur vom gebeth und wahrer bußfertigkeit muß gemacht werden, […] gleichwohl aber so berührt außer diesem respect die kranckheit selbst in natürlicher Ursachen, denen abzuhelffen Gott der Herr die arzeney auß der erde wachsen laßen.207
Im Gegensatz dazu sei die Besessenheit oder leibliche Besitzung aber ein übernatürliches Übel, das durch das Einfahren des Teufels in den Körper und durch dessen Kontrollausübung geprägt sei: Die leibliche besitzung aber, do aus verhengnis Gottes der böse geist die gliedmaßen der menschen einnimbt, daß ihrer der mensch nicht allein nicht mächtig ist, wie in anderen kranckheiten wohl auch geschieht, sondern der Satan sie regieret, in undt aus denselbigen bald durch den mundt, bald durch andere glieder redet, oder sich im munde sehen läßet, frembdt sprachen fürbringet, ärger geschrey undt selzam gehör anrichtet, weißsaget, die leute beschädigt, wie solche undt dergleichen schreckliche sachen in historien 204 Midelfort: The Devil and the German People, S. 101 ff. und S. 107 ff. 205 Hauptstaatsarchiv Hannover, Celle Br. 48, Nr. 44, Das von der theologischen Fakultät zu Wittenberg eingeholte Gutachten über die Frage, ob die Epilepsie eine Art teuflischer Besessenheit (species obsessionis diabilicae) sei. 206 HStaH, Celle Br. 48Nr. 44, fol. 2r. 207 Ebenda, fol. 3r.
2.4 Gott, Teufel und die Heiligen
73
viel zu finden: haben wir gehalten für ein malum supernaturale das zwar auch auß der sünde ursprünglich entstehet, aber nicht von natürlichen ursachen, sondern vom teuffel selbsten außgeübet werde: darumb auch solche mittel allein zu suchen, welche die schrifft zeuget, daß sie dem teuffel entgegen zusezen sein.208
Die Unterscheidung zwischen beiden Phänomenen war außerordentlich wichtig, denn erst durch die Lokalisierung der Ursache konnte dem Betroffenen überhaupt geholfen werden. Entstand die Krankheit aufgrund einer natürlichen Ursache, musste der Erkrankte mit Medikamenten behandelt werden und fiel somit in die Zuständigkeit des Arztes. Dagegen konnte einem Besessenen, dessen Zustand allein auf übernatürliche Einwirkung des Teufels zurückzuführen war, nur durch den Beistand Gottes, durch Gebet und Exorzismus geholfen werden. Allerdings sei die wahrhaftige Besessenheit häufig schwer von der Epilepsie zu unterscheiden und so hielten auch „hochwohlerfahrene ärzte diejenigen pro epilepticis […] undt curieren welche wahrhafftig vom teuffel besessen“.209 Mancher Besessene würde so fälschlich für einen Epileptiker gehalten, den man auf die falsche Weise zu kurieren versuche. Interessanterweise zogen die Wittenberger Theologen als Beispiel hierfür ebenfalls die Geschichte des mondsüchtigen Knaben heran und erklärten diesen aber für wahrhaftig besessen: Hier bedencke man nur das exempel des armen menschen in evangelio Matth. 17 Marc. 9 Luc. 9, welcher lunaticus oder monsichtig genant wirdt, […] deßen plage anderes nicht alß epilepsia beschrieben wirdt, von außen anzusehen wie er nemlich auff erden gefallen, sich gewelzet, die zeen geknirschet und gescheumet. Dennoch aber ist wahrhafftig des teuffels werck gewesen, wie der ihn denn in waßer und feuer stürzen wollen, anders nicht alß wie er sonst mit beseßenen leuten zu ihrem verderb zu eilen pfleget.210
Die biblische Geschichte wurde von den Wittenberger Theologen also nicht als Epilepsie, sondern als Besessenheit gedeutet und zur Vorsicht bei der Vermischung der beiden Formen gewarnt, wobei sie einräumten, dass ein Besessener in Einzelfällen die Symptome einer Epilepsie aufweisen konnte. Damit griffen die protestantischen Theologen auf die Definition der Besessenheit des Rituale Romanum zurück und teilten die alt-gläubige Unterscheidung einer natürlichen Krankheit von einer Besessenheit. Gleichzeitig griffen die Wittenberger Theologen bei der Interpretation der Geschichte des mondsüchtigen Knaben auf eine bereits von Origen (185–254 n. Chr.) geprägte Tradition zurück, der ebenfalls keine natürliche Interpretation der Bibelstelle gelten ließ, sondern davon ausging, dass die in der Bibelgeschichte dargestellte Krankheit tatsächlich von einem tauben und unreinen Geist gebracht wurde und keine natürlichen Ursachen habe. Allerdings grenzten sich die Wittenberger Theologen und auch das Rituale Romanum in einem Punkt klar von der Interpretation des Origen und nachfolgender griechischer und lateinischer Kirchen-
208 Ebenda, fol. 3v. 209 Ebenda, fol. 5r. 210 Ebenda, fol. 5r.
74
2 Hoffnung auf Heilung
väter ab, indem sie davon ausgingen, dass die Geschichte überhaupt keine Krankheit, sondern eine dämonische Besessenheit darstellte.211 Auch wenn die Epilepsie keine Besessenheit sei, argumentierten die Wittenberger Theologen weiter, gebe es neben diesen beiden Formen – der Besessenheit und der natürlichen Erkrankung Epilepsie – nach der Heiligen Schrift noch eine Form, in der sich der Teufel als Vollstrecker der Strafe Gottes für die Sünden eines Menschen in die natürliche Krankheit einmische und sie durch Manipulation der „humores“ verändere. In diesem Fall sei die Krankheit nicht mehr völlig natürlich und deshalb auch nicht durch eine gewöhnliche ärztliche Kur zu heilen: […] so gar, dass auch viel natürliche kranckheiten nicht können durch einige arzeney mittel geheilet werden, dieweil der böse geist sich eingemischet, undt des patienten gliedmaß hemmet oder lahmet, die humores turbieret, daß der natur durch die curam medici nicht kann geholffen werden. 212
Hierbei handelt es sich um einen dritten Fall, der als unnatürlich hervorgerufene Epilepsie eingestuft werden kann. Auch dieser Zustand wird von der Besessenheit abgegrenzt, ist aber auch nicht wirklich zur natürlichen Erkrankung zu rechnen. Von der Besessenheit unterscheidet er sich insofern, als kein übernatürliches Wesen in den Körper eindringt und ihn unter seine Kontrolle bringt, vielmehr würden die natürlichen Säfteverhältnisse durch übernatürliche Einmischung so verändert werden, dass eine Krankheit – in diesem Fall die Epilepsie – entstehe. Die unnatürliche Erkrankung zeichne sich durch ihre besondere Hartnäckigkeit und die Unwirksamkeit natürlicher Medikamente aus. So kommen die Theologen zu dem Schluss, dass in diesem Fall zuerst der Einfluss des Teufels durch Gebet und Buße gebrochen werden muss, bevor Medikamente überhaupt anschlagen können. Dementsprechend schließen die Gutachter, dass die: […] epilepsia an ihr selbst schwerlich zu heilen, wie aus der medicoram disputationibus consiliis (alß D. Brunneri undt andere) aus täglicher erfahrung zuersehen, 2. daß es leicht geschehen kann das Satan selbst seine mörderhand im Spiel habe undt denselben gifft regieret, oder sonst uff verborgene weise mit den natürlichen ursachen sich vermischet, 3. das endlich dieser arglistige höllische mörder sein werck so betrüglich treiben kann, daz vortrefliche undt erfahrene medici verführet werden undt pro Epilepsia halten, was primario corporalis obsessionis ist.213
Die Unterscheidung dreier Zustände – natürliche Krankheit, unnatürliche Krankheit und Besessenheit – gliedert sich in eine zu dieser Zeit sehr aktuelle Diskussion ein: Die Frage, wie weit die Macht des Teufels reiche und inwieweit er in Krankheiten eingreifen könne, wurde von Theologen wie Ärzten konfessionsübergreifend heftig debattiert. Die Vorstellung, der Teufel könne Krankheiten durch Manipulation der Körpersäfte hervorrufen, wurde dabei keineswegs nur auf die Epilepsie bezogen. Der Dämonologe Francesco Maria Guazzo legte beispielsweise in seinem 211 Temkin: The Falling Sickness, S. 91 f. 212 HStaH, Celle Br. 48 Nr. 44, fol. 4v. 213 Ebenda, fol. 6v.
2.4 Gott, Teufel und die Heiligen
75
Compendium Maleficarum von 1608 die Ansicht dar,214 der Teufel und die Dämonen könnten Krankheiten durch die Vermischung und Durchmischung von Säften hervorbringen, indem sie den inneren Grund in Bewegung setzten. Der Teufel könne die Melancholie durch Störung des Flusses der schwarzen Galle im Körper und ihre Verteilung über das Gehirn verursachen, indem er dafür sorge, dass sich schwarze Galle im Körper ansammele und einen Abfluss verhindere. Auf diese Art bringe er Epilepsie, Paralyse und weitere Krankheiten, indem er die Bewegung der schweren Flüssigkeiten stoppe und die Gehirnventrikel und die Nervenenden blockiere. Auf eben diesem Wege könne er auch weitere schwere Erkrankungen wie Blindheit und Taubheit verursachen. Guazzo bezog sich mit diesen Aussagen auf anerkannte Wissenschaftler seiner Zeit wie die Ärzte Giovanni Battista Codronchi, Andreas Cesalpino, Jean Fernel sowie Franciscus Valesius und den Juristen Burchard, die er in diesem Zusammenhang zitierte.215 Auch der Theologe André Valadier ging in seinem Sermon über die Hexerei und den Dämonismus von 1612 davon aus, der Teufel habe volle Gewalt über die Geister und Säfte des Menschen und könne so alle Arten von Krankheiten verursachen.216 Selbst der deutsche Arzt Johannes Weyer, der heute im Allgemeinen für seine Gegnerschaft der Hexenverfolgung durch sein Buch „De praestigiis daemonum“217 bekannt ist, schloss die Möglichkeit einer Einflussnahme des Teufels auf Krankheiten nicht aus.218 Nur in seiner Einschätzung darüber, wie häufig dieses Phänomen tatsächlich vorkam, unterschied er sich von einigen seiner Kollegen, da er eher bereit war, zuerst eine Betrügerei zu vermuten als eine tatsächliche Einflussnahme des Teufels. Mit der Diskussion über die mögliche Einflussnahme des Teufels auf Erkrankungen wurde auch die Frage aufgeworfen, inwieweit Hexen imstande waren, Krankheiten aus eigener Kraft anzuhexen, oder ob diese nur durch die Hilfe des Teufels in der Lage waren Krankheiten hervorzurufen. Über die Möglichkeit des Anhexens von Erkrankungen, besonders der Epilepsie, schrieb der Jurist und Staatstheoretiker Jean Bodin (1530–1596) in seinem 1581 erschienenen Buch „De Daemonomania Magorum“ im Abschnitt „Von der Fallend Sucht“: […] Hippokrates schreibt in seinem Buch De Morbo Sacro, das zu seiner Zeit Zauberer waren, welche sich für Meister außthaten der fallend sucht, so sie die heylig Kranckheit nannten, rat zuthun allein, wenn sie etliche Gebet darüber sprächen und etliche Opfer hielten. Dadurch sie dann in solche Achtung kamen, daß man sie für heylige Leute hielte. 214 Guazzo, Francesco Maria: Compendium Maleficarum, Mailand 1608. 215 Guazzo: Compendium Maleficarum, S. 127 f. 216 Clark, Stuart: Thinking with Demons: The Idea of Witchcraft in Early Modern Europe, Oxford 1997, S. 187. 217 Weyer, Johann: De praestigiis daemonum, et incantationibus, ac veneficiis, Libri V, Basel 1563. 218 Klinnert, Renate S.: Von Besessenen, Melancholikern und Betrügern. Johann Weyers De Praestigiis Daemonum und die Unterscheidung der Geister, in: Hans de Waardt/Jürgen Michael Schmidt/H.C. Erik Midelfort (Hg.): Dämonische Bessenheit. Zur Interpretation eines kulturhistorischen Phänomens, Bielefeld 2005, S. 89–105, hier besonders S. 92 ff.
76
2 Hoffnung auf Heilung Aber er sagt, es seien nur abscheuliche lose Buben und Blender gewesen: Auch wird Got von solchen leichtfärtigen Leuten gelästert, wan sie sagen, daß die Götter solche Kranckheiten zuschicken. Wol war ist es, Hippokrates will nicht recht offentlich bekennen, daß die Bösen Geister die Leut einnemmen und besitzen, sondern sagt, es sei das fallend Wee. Aber alle Nachkommen haben war genommen und erkant, daß man fallend süchtige findet, denen bißweilen durch Natürliche Medicin geholffen, hingegen andere, die von den Geystern besessen geweßt, von den Zauberern bald rhat gethan worden, entweders durch verstand, den sie mit dem Sathan hatten, oder wan man etliche Opffer oder Abgöttereien, die der Sathan selbst geboten, getriben. So wöllen wir derwegen nun schließn, daß die Zauberer durch Hülff des Sathans beschädigen und verletzen mögen, zwar nit alle, sondern allein die, welche Gott durch seyn geheim urtheyl darzu gestattet und ubergibet, die seien nun from oder bößlich zwar die einen zuzüchtigen, die andere zu verderben, auff daß er in seinen Auserwelten seinen Segen vermehre, wann er sie treu und standhafft hat erkant und befunden. 219
Bodin bezog sich hier auf das Werk von Hippokrates „De morbo sacro“, in dem dieser jegliche übernatürliche Ursache der Epilepsie ausschloss und allein natürliche Ursachen für die Erkrankung suchte. Dem widersprach Bodin, indem er klarstellte, es gebe zwar natürliche Krankheiten, die auch mit natürlichen Medikamenten kuriert werden könnten. Es gebe aber auch Fälle, in denen keine natürliche Kur helfe, weil diese Menschen bezaubert seien, weshalb sie sich an Zauberer wendeten, um von ihrer Krankheit befreit zu werden. Eben diese Zauberer seien aber ebenfalls Werkzeuge des Teufels, die die Krankheit mit der Hilfe des Satans wieder auflösten, falls sie die Krankheit nicht sowieso selbst verursacht hätten. Bodin vertrat die Meinung, dass es unnatürliche Krankheiten gebe, die die Hexen allerdings nur mit Hilfe des Teufels erzeugen könnten. Der Teufel wiederum könne nie ohne die Einwilligung Gottes handeln, der dem Teufel aber erlaube, solche unnatürlichen Krankheiten auf die Menschen zu bringen, um dadurch ihre Standfestigkeit im Glauben zu prüfen.220 Andere Gelehrte wie Daneau Lambert (um 1535–um 1590) sprachen den Hexen mehr Eigeninitiative zu, indem sie davon ausgingen, dass diese durch Gifte ihre Opfer verhexten und ihnen dadurch die Krankheiten brächten: Etliche tödten sie mit irem gifft, andere machen sie krank und schwach. Etliche habe ich gesehen, welche allein mit einem anrüren der hende etlicher Ammen Brust dermaßen ausgedürreten, das sie darnach gar keine Milch gaben. Etliche habe ich gesehen, welche die menschen alsbald mitt bauchwee, darmgeicht, mit dem schlach, gicht und fallender sucht peinigten und verdurben. Machten auch etliche lafft und krank, und andere siechtagen brachten die über dieselbigen, welche darnach weder sie selbst, weder auch einige Arzet erkennen oder heilen mochten. […]221
Die Epilepsie erscheint in der gelehrten Diskussion über angehexte Krankheiten recht häufig, wobei die Erkrankung hier weniger als dämonische Krank219 Bodin, Jean: De Daemonomania Magorum. Vom außgelaßnen Wütigen Teuffelsheer der Besessenen Unsinnigen Hexen und Hexenmeister …“, übersetzt von H. Johann Fischart, Straßburg 1591, S. 448 f. 220 Bodin: De Daemonomania Magorum, S. 448 f. 221 Lambert, Daneau: Von den Zaubereren Hexen und Unholden, Köln 1576, S. 59 f.
2.4 Gott, Teufel und die Heiligen
77
heit interpretiert wurde. Vielmehr wurde sie von den Zeitgenossen als so schwerwiegend begriffen, dass Autoren dämonologischer Literatur die Epilepsie als Beispiel nutzen, um so die Bösartigkeit, aber auch die Macht des Teufels und der Hexen zu unterstreichen, die eine solche schwere und fürchterliche Erkrankung durch Schadenszauber auf die Menschen bringen konnten. Eben dieses Stilmittel benutzten beispielsweise Heinrich Kramer (Institoris) und Jacob Sprenger im „Malleus Maleficarum“.222 In dem Kapitel „Über die Weise, wie sie jede Art von Krankheiten zufügen können; und zwar im allgemeinen über die schweren [Krankheiten]“223 erklärten die Autoren, Hexen seien in der Lage, alle Arten von Krankheiten hervorzurufen, selbst so schwerwiegende wie den Aussatz oder die Epilepsie.224 Obwohl diese Krankheiten gewöhnlich „[…] aus anhaltenden und vorausgehenden Anlagen und Defekten der inneren [Organe] […]“225 entstünden, könne jedoch nachgewiesen werden, dass sie bisweilen durch Schadenszauber entstünden. So könnten Hexen die Epilepsie beispielsweise durch Eier, die mit den Körpern von Verstorbenen ins Grab gelegt worden waren, die in Getränke oder Essen gemischt würden, anderen anhexen.226 Erkennen konnte man angehexte und vom Teufel beeinflusste Erkrankungen nach Francesco Maria Guazzo daran, dass sie durch Ärzte besonders schwer zu diagnostizieren seien, dass Medikamente nicht oder sogar schädlich wirkten. In diesen Fällen riet Guazzo den Patienten zu festem Glauben, Buße und Gebeten. Auch heilige Gegenstände wie Weihwasser, Amulette mit Segenssprüchen und das Glockengeläut in Kirchen oder heilige Handlungen wie das Empfangen von Sakramenten, könnten den Patienten bei der Heilung helfen. Ebenso könnten sie durch heilige Personen, denen es gegeben war, Wunder zu wirken, oder stellvertretend durch das Berühren von Reliquien Heiliger geheilt werden.227 Heinrich Institoris ging sogar so weit, Laien kleine Exorzismen gegen angehexte Krankheiten zu erlauben, indem sie von der Kirche und im Einklang mit der Bibel erlaubte Segen benützen sollten.228 Das zuvor besprochene Gutachten der theologischen Fakultät zu Wittenberg ist in diesem Zusammenhang in zweifacher Weise interessant: Zum einen, weil es die Haltung der Wittenberger Theologischen Fakultät zu einer aktuellen Debatte an einem praktischen Beispiel darstellt. Zum anderen zeigt der Fall, dass diese Frage theologische und medizinische Laien – in diesem Fall die Räte und den Kanzler der Lüneburgischen und Braunschweigischen Regierung – so umtrieb, dass sie nicht blind der Ansicht ihres Predigers – die sie offensichtlich für falsch hielten – anschließen wollten, sondern sich eine 222 Sprenger, Jacob/Kramer, Heinrich (Institoris): Malleus maleficarum, Straßburg 1587. 223 Hier zitiert in der Übersetzung von Jerouschek, Günter/Behringer, Wolfgang (Hg.): Malleus maleficarum. Der Hexenhammer, 6. Auflage, München 2007, S. 455. 224 Jerouschek/Behringer: Malleus maleficarum, S. 455 225 Ebenda, S. 461. 226 Ebenda, S. 463. 227 Guazzo: Compendium maleficarum, S. 177 ff. 228 Jerouschek/Behringer: Malleus maleficarum, S. 562 ff.
78
2 Hoffnung auf Heilung
fachmännisch fundierte Antwort wünschten. Gerade der Fall des Predigers und die darauffolgende Reaktion der Bürger lässt vermuten, dass die Epilepsie bei der nicht medizinisch oder theologisch geschulten Bevölkerung durchaus nicht mit Besessenheit gleichgesetzt wurde, wenn dieser Fall auch nur bedingt verallgemeinerbar ist. Um wieder auf das Gutachten zurückzukommen, soll an dieser Stelle noch kurz die Einschätzung des Gutachterkollegiums in Hinsicht auf das Verhalten des Priesters dargestellt werden: Die Gutachter verdammten das Verhalten des Priesters nicht direkt, sondern versuchten ihn zu stützen, indem sie zu bedenken gaben, dass neben der natürlichen Krankheit Epilepsie auch durchaus die Möglichkeit bestehe, dass sich der Teufel in eine Krankheit einmische: So achten wir ein prediger thun recht und wohl, undt sey solches Gottes worte gemeß, wenn er von der epilepsia wie auch von der pest undt derggleichen straffen Gottes nicht predigt alß von einer gemeinen natürlichen krankheit, sondern die Zuhörer, so viel desto mehr zu fleißigem gebeth undt bußfertigkeit ermahnet, so viel größer gefahr dabey ist, das nicht alleine ein schreckliches gifft, sondern vielleicht der höllische gifftkoch selbst in diesen gebrechen vorhanden sey, welcher art denn nicht kann außgetrieben werden, alß durch fasten und gebeth.229
Wenn der Priester mit dieser drastischen Aussage nur seine Gemeinde vor der Gefahr durch den Teufel warnen und sie zum Gebet und zur Bußfertigkeit ermahnen wollte, hätte er wohl getan, und es wäre nur zu wünschen gewesen, dass er sich dabei ein wenig deutlicher ausgedrückt hätte. Die Gutachterkomission hieße aber nicht gut, wenn er glaube jegliche Form von Epilepsie sei Besessenheit. In diesem Fall seien die Worte des Predigers schlichtweg falsch, denn so wie die Pest vom Teufel kommen könne, sei sie trotzdem keine leibliche Besitzung des Satans. […] wie auch in delirio sinn und verstand sich verdunkelt undt der mensch nicht weiß, was er mit seinen gliedmaßen verrichtet, undt dennoch nicht alle deliria vom teuffel kommen, oder mit leiblicher besetzung des Satans vermenget seyn: alßo uns billich dieser unterschied gehalten worden auch in epilepsia.230
Es bleibt festzuhalten, dass die wenigsten Menschen des 16. und 17. Jahrhunderts das Phänomen Besessenheit und die Kraft des Teufels Menschen anzufechten kategorisch ausschlossen. Für die Argumentation in der Debatte über Besessenheit wurden die bereits erwähnten Bibelstellen, insbesondere die Geschichte des mondsüchtigen Knaben, herangezogen. Allerdings wurde der mondsüchtige Knabe im 16. und 17. Jahrhundert noch ganz klassisch als Besessener interpretiert, obwohl von den Wittenberger Theologen eingeräumt wurde, dass an diesem Symptome der Epilepsie zu erkennen seien. Die Unterscheidung zwischen Besessenheit, natürlicher und unnatürlicher Krankheit hielt sich in dieser Form bis ins 18. Jahrhundert und wurde auch weiterhin von Ärzten getragen.231 Allerdings begann sich – zuerst in ärztli229 HStaH, Celle Br. 48 Nr. 44, fol 6v-r. 230 Ebenda, fol. 6r. 231 So verfochten Ende des 17. Jahrhunderts auch noch medizinische Größen wie Thomas Willis, Friedrich Hoffmann und Georg Ernst Stahl – um nur einige zu nennen – die Auf-
2.4 Gott, Teufel und die Heiligen
79
chen, später auch in theologischen Kreisen – eine gewisse Skepsis gegenüber dem Phänomen Besessenheit und gegenüber dem Einfluss des Teufels zu regen. Einer der ersten, der in diesem Zusammenhang deutliche Worte fand, war der Leibarzt des englischen Königs Richard Mead (1673–1754). In seiner 1749 erschienen Abhandlung „Medica sacra sive de morbis insignioribus, qui in bibliis memorantur“232 interpretierte er die Bibelgeschichten des mondsüchtigen Knaben rundheraus als natürliche Erkrankung: „Was übrigens jene Mondsüchtigen anlangt, die mit zu den Dämonischen gesetzt werden, als wenn sie eine verschiedene Krankheit gehabt hätte, wo gesagt wird, daß Jesus sie geheilt habe; so waren sie entweder Wahnwitzige oder wahnwitzig und epileptisch zugleich.“233 Diese Interpretation fand ihren Einfluss in deutschsprachigen Gebieten, obwohl viele Theologen und Ärzte nach wie vor der Meinung waren, dass in dieser Bibelstelle ein Fall von Besessenheit beschrieben wurde. Allerdings räumten auch sie ein, es gebe in ihrer Zeit weniger Besessene als zur Zeit Jesu, ja, es ließe sich nur noch ganz selten ein Fall der Besessenheit finden. Während in diesem Lager also nur eine Akzentverschiebung stattfand, in der Besessenheit prinzipiell für möglich, aber für selten gehalten wurde, interpretierten andere deutsche Aufklärer den Zustand des Knaben in der Bibelgeschichte nun erstmals nicht mehr als Besessenheit, sondern als Erkrankung, die von den Zeitgenossen Jesu nicht als solche erkannt worden wäre. Der Hallenser evangelische Theologie-Professor Johann Heinrich Semler vertrat in diesem Zusammenhang wie Richard Mead die Ansicht, der mondsüchtige Knabe sei keinesfalls besessen gewesen, sondern habe vielmehr an Epilepsie gelitten, die von den Zeitgenossen Jesu aus Mangel an Fachkenntnis als Besessenheit gedeutet worden sei.234 Damit wurde gleichzeitig der Grundstein für moderne Interpretationen gelegt. Die Bereitschaft, an das tatsächliche Vorkommen von Besessenheit zu glauben, nahm in der gelehrten Gesellschaft des 18. Jahrhunderts nach und nach ab. Umso seltsamer mutet daher der Fall des Exorzisten Johann Joseph Gaßner an, der Ende des 18. Jahrhunderts behauptete, alle Erkrankungen mit seinen Exorzismen heilen zu können. Zu seinen als Volksspektakel inszenierten massenhaften Exorzismen strömte nicht nur die ungebildete Bevölkerung,
fassung, Krankheiten könnten durch Einfluss des Teufels entstehen und gehörten in diesem Fall nicht in den Handlungsbereich eines Arztes. Temkin: The Falling Sickness, S. 220 ff. 232 Mead, Richard: Medica sacra sive de morbis insignioribus, qui in bibliis memorantur, London 1749. 233 Übersetzung zitiert aus: Heintel, Helmut: Quellen zur Geschichte der Epilepsie, Stuttgart/Wien 1975, S. 48 f. 234 Semler, Johann Salomo: D. Johann Salomo Semlers Umständliche Untersuchung der dämonischen Leute oder sogenannten Besessenen …, Halle 1762, S. 25 f. und besonders S. 53 f.
80
2 Hoffnung auf Heilung
auch Gelehrte nahmen an diesen Massenspektakeln teil, und durchaus nicht alle verdammten Gaßners Kuren.235 Johann Joseph Gaßner wurde 1727 in Braz geboren. Er studierte Theologie in Prag und Innsbruck und begann bereits nach seinem Studium in der ihm übertragenen Pfarrei Klösterle mit seinen Exorzismen. Seine wichtigsten und größten Massen-Exorzismen führte er von 1774 bis 1776 in den Umgebungen von Regensburg und Ellwangen (nordöstlich von Stuttgart) durch.236 Unter seinen Klienten befanden sich sowohl einfache Leute, die in Scharen nach Ellwangen pilgerten, um von ihm geheilt zu werden, als auch höherrangige Persönlichkeiten.237 Gaßner begründete sein Handeln in seiner 1775 in Ellwangen und Augsburg gedruckten Schrift: „Johann Joseph Gaßners […] weise, fromm und gesund zu leben, auch ruhig und gottselig zu sterben oder nützlicher Unterricht wider den Teufel zu streiten …“, in der er seine Ansichten bezüglich der Macht des Teufels Krankheiten zu verursachen und wie mit solchen Krankheiten umgegangen werden müsse, darlegte. Hier erklärt Gaßner, er glaube durchaus, dass es natürliche Krankheiten gebe, die auch mit natürlichen Mitteln zu heilen seien. Doch genauso könne auch der Teufel den Leib des Menschen anfechten, wie dies auch bei Hiob geschehen sei: „Job ist krank geworden, nicht von der natur, sondern vom Teufel. Warum soll dann dieses nicht auch anderen menschen geschehen können? […]“.238 Neben den natürlichen Krankheiten gebe es auch vom Teufel verursachte, der sehr geschickt darin sei, diesen Zustand zu verbergen: „[…] weil der Teufel unter den natürlichen scheinenden Krankheiten sehr oft sich verborgen hält, wie die Schlange im Grase […]“.239 Der Teufel könne den Leib auf dreierlei Art anfechten: 1. durch tatsächliche Schmerzen, indem er physisch auf den Menschen einwirke. 2. durch imaginative Schmerzen, indem er auf die Phantasie und die Einbildungskraft des Menschen einwirke oder
235 Schott, Heinz (Hg.): Der sympathetische Arzt. Texte zur Medizin im 18. Jahrhundert, München 1998, S. 303–312. 236 Müller, Siegfried: Drei „Wunderheiler“ aus dem Voralberger Oberland, Feldkirch 1986, S. 21 ff. und S. 31–38., Midelfort, H.C. Erik: Exorcism and Enlightenment. Johann Joseph Gaßner and the Demons of Eighteenth-Century Germany, New Haven/London 2005, S. 59 ff. 237 [Anonym]: Fortsetzung der erstaunlichen Wirkungen, welche durch die wunderbare Kraft des glorwürdigsten Namen Jesu, und der exorcistischen Kirchengewalt Titl. Herrn geistlichen Raths Gaßner, ihm sowohl, als den von ihm unterwiesenen Patienten in der Stadt Sulzbach vom 21.09. bis zum 04.10.1775 erfolgt sind, Exemplar in: Universitätsbibliothek Würzburg, Bav. 687. 238 Gaßner, Johann Joseph: Weise fromm und gesund zu leben, auch ruhig und gottselig zu sterben oder nützlicher Unterricht wider den Teufel …, Ellwangen 1775, S. 22. 239 Gaßner: Weise fromm und gesund zu leben, S. 23.
2.4 Gott, Teufel und die Heiligen
81
3. per naturam, indem er die natürlichen Feuchtigkeiten, Flüsse und das Geblüt manipuliere und dadurch die Krankheit hervorrufe. Gerade in diesem letzten Fall könnten die Kuren der Ärzte nur teilweise helfen, weil sie mit ihren Medikamenten zwar die natürlichen Ursachen bekämpften, durch den Einfluss des Teufels aber nicht in der Lage seien, die Krankheit zu besiegen. Deshalb könnten Ärzte in einer solchen Krankheit scheinbar helfen, die alte Krankheit sei aber kurze Zeit später wieder da.240 Für Gaßner waren vor allem schwere Erkrankungen, die unheilbar erschienen oder mit vielen Rückfällen verbunden waren, Zeichen dafür, dass die Krankheiten durch den Teufel verursacht wurden. In diesem Fall könne nur noch geistliche Medizin helfen. Für Gaßner gab es drei Arten vom Teufel geplagter Menschen: 1. die circumcessos (die Angefochtenen) 2. die Obsessos seu Maleficiatos (die Bezauberten) 3. die Posessos (die Besessenen). „Von diesen letztern giebt es sehr wenig in der That, viele aber in der Einbildung, und boshaften Verstellung […].“241 Dagegen spräche einiges dafür, dass es viele Angefochtene an Leib und Seele gebe. Der Teufel fechte alle Menschen an, sowohl die sündhaften als auch die frommen, deshalb könne man von dieser Anfechtung nicht auf die Sündhaftigkeit schließen. Aber der Teufel habe besondere Macht […] über jene Menschen, die vielen und starken Schrecken ergeben sind; wo dann insgemein die Fallendsucht, ausserordentliche Gichter von solchen Schrecken herkommen, auch selben kein Arzt helfen kann; indem dergleichen Zustände unnatürlich zu seyn von der Erfahrenheit bey vielen Hunderten bekannt geworden.242
Der Teufel habe besondere Gewalt über die Trübsinnigen und die dem Zorn Ergebenen, denn sie seien Kinder des Misstrauens, und dadurch habe er leichteres Spiel bei ihnen.243 Gaßner vermischt in seiner Interpretation verschiedene Ansichten miteinander. Mit seiner Auffassung natürlicher und unnatürlicher Krankheiten lehnt er sich an die Lehre der Kirche an, wie sie zuvor bereits dargestellt wurde. Auch er ging davon aus, dass Besessenheitsfälle eher selten seien, räumte dem Teufel aber eine besonders große Macht bei der Beeinflussung des Körpers ein. An dieser Stelle ging er über die offizielle kirchliche Meinung hinaus, indem er annahm, dass nahezu alle unheilbaren Krankheiten in Wahrheit keine natürlichen, sondern vom Teufel verursachte Erkrankungen darstellten. Dies gelte insbesondere für die Epilepsie, die er in den meisten Fällen als vom Teufel verursachte Erkrankung ansah. Interessant ist auch, dass er in diesem Zusammenhang so explizit auf Zorn und Schrecken einging, Gefühlszustände, die gerade im 18. Jahrhundert als eine der Hauptursachen der Epilepsie angesehen wurden. 240 241 242 243
Ebenda, S. 25. Ebenda, S. 27. Ebenda, S. 37. Ebenda, S. 38 f.
82
2 Hoffnung auf Heilung
Hilfe für diese Angefochtenen sah Gaßner in geistlicher Unterstützung und einer Art Exorzismus, der die teuflische Krankheit bzw. den Einfluss des Teufels aus dem Körper vertreiben sollte. Dazu war seiner Meinung nach nicht notwendigerweise ein Priester nötig. Die Betroffenen sollten die Benediktionen erhalten, damit der Teufel von ihnen weiche. Zukünftig sollten sie Schrecken, Furcht, Zorn und Traurigkeit meiden; Emotionen, die dazu führen könnten, dass der Teufel wieder Gewalt über sie erlange. Danach bräuchten sie vor allem einen festen Glauben, um dem Teufel keine weiteren Angriffsflächen zu bieten, und müssten lernen, selbst wider den Satan und die durch ihn geschickten Krankheiten zu streiten. Zur Abwehr teuflischer Angriffe solle der Betroffene bei einer Attacke seiner Krankheit folgende Formel gebrauchen: „Geh hinweg Satan mit diesen leiblichen Anfechtungen.“244 und damit den Schmerz bekämpfen.245 Weiterhin könne er dem Teufel mit folgenden Worten entgegentreten: „Ich befehle dir höllischer Geist, und deinem Anhange, durch die Kraft des allerheiligsten Namens Jesu, daß du alsbald mit dieser Anfechtung N.N. von meinem Leibe, und (wenn die Anfechtung an der Seele ist) von meiner Seele fortweichest, im Namen Gottes des Vaters + und des Sohnes + und des heiligen Geistes + Amen.“.246 Gaßner sah sich in erster Linie als Unterweiser, der den Teufel durch Benediktionen und den Exorzismus vertrieb, um dem Betroffenen dann selbst Mittel in die Hand zu geben, die Anfechtungen und damit die Erkrankung zu beherrschen. Überlieferte Augenzeugenberichte von Gaßners Anhängern beschreiben die Praxis seiner Teufelsaustreibungen, die nur selten mit dem Rituale Romanum konform gingen und publikumswirksam inszeniert waren. Sichtbare Erkrankungen wie Körper- und Sinnesbehinderungen behandelte er durch Worte und Handauflegen. Bei Erkrankungen wie der Gicht und der Epilepsie, die sich in Schüben zeigten, stand Gaßner aber vor dem Problem, seinem Publikum deutlich zu machen, dass seine Patienten krank waren. Daher begann Gaßner laut Augenzeugen seine Exorzismen damit, die Anfälle vorzuführen, indem er dem Teufel befahl, den Körper des Betroffenen mit dem jeweiligen Leiden heimzusuchen. Sie beschrieben, wie Gaßner dem Teufel mit lateinischen Formeln befahl, den Leib des Opfers zu peinigen, woraufhin sich die Anfälle zeigten. Ein solches Verfahren wurde eindrucksvoll im Fall der 17-jährigen Anna Maria Mezger, die unter epileptischen Anfällen litt, von einem anonymen Augenzeugen beschrieben: Ihr Vater erzählte, wie sie fast alle Stund des Tags mit dieser leidigen Krankheit belästiget werde. Worauf Herr Gaßner: agitetur caput hujus puellae. Der Kopf [des Mädchens wurde] auf eine nie geschehene geschwinde weise hin und wieder herumgedrehet. Cesset it agitatio. Sie war still. Agitetur totum corpus. Die Erschütterungen des ganzen Leibs waren allen unbegreiflich. Die Gichter sollen nur innerlich seyn. Der Leib, Brust, Hals Gesicht und Augen wurden aufgetrieben, der Schaum stunde vor dem Mund, sie 244 Ebenda, S. 54. 245 Ebenda, S. 44–54. 246 Ebenda, S. 61.
2.4 Gott, Teufel und die Heiligen
83
knirschte mit den Zähnen. In dem Puls wurde die größte Geschwindigkeit, jetzt das Sinken, jetzt ein wahrer subsultus tendonum wahrgenommen. Cesset iste paroxismus. Sie wurde auf einmal still. […] Sie musste noch unterschiedliche Rückfälle des zertheilten Paroxismus erdulden, bis sie fähig war, alle schnell zu vertreiben; sie erhielt eine vollständige Instruction, wie sie sich in Zukunft zu verhalten habe, und wurde nach erhaltener Benediction ihrem mit Freudenzähren benetzten Vater zurückgeführt.247
Gaßners Methode stand der offiziellen Exorzimuslehre deshalb schon entgegen, weil er Fälle behandelte, die sich nicht durch eine wirkliche leibliche Besitzung auszeichneten. Vielmehr schien der Teufel die Anfälle einzeln auszulösen und konnte den Anfall sogar in Einzelteilen bewirken. Deshalb löste Gaßner die Anfälle ganz bewusst aus, um dem Betroffenen zu verdeutlichen, wie der Teufel diese Anfälle bewirkte. In einem zweiten Schritt sollte Anna Mezger die aufkommenden Anzeichen der Anfälle selbst vertreiben und so den Einfluss des Teufels brechen. Glaubt man den vielfach veröffentlichten Augenzeugenberichten, heilte Gaßner auf diese Weise hunderte von Menschen mit unterschiedlichen Erkrankungen. Seine Methode blieb allerdings nicht unumstritten. Befürworter von Gaßners Praktiken, zu denen unter anderen der Hof- und Regierungsrat im Dienst des Fürstprobst von Ellwangen, Joseph von Sartori, der Abt von Oberzell, Oswald Loschert, und der jesuitische Hofprediger in Augsburg, Alois Merz, gehörten, sahen in Gaßners Erfolgen den Beweis für die Existenz von Besessenheit und bejubelten die erfolgreiche Abwehr der teuflischen Mächte. Die Kritiker, zu ihnen zählten unter anderen der Hallenser Professor Johann Salomo Semler und der Münchner Theatinerpriester Don Ferdinand Sterzinger, lehnten seine Praktiken entweder als Scharlatanerie ab oder glaubten zumindest nicht, er vertreibe tatsächlich den Teufel, sondern seine Heilungen seien auf natürliche Wirkweisen zurückzuführen, möglicherweise ohne dass ihm dies selbst bewusst sei. Ferdinand Sterzinger vertrat in diesem Zusammenhang die Ansicht, Gaßner löse durch das Berühren seiner Patienten während des Exorzismus’ und vor allem durch das Drücken und Streichen bestimmter Nervenpunkte im Nackenbereich eine natürliche und heilende Wirkung im Körper aus. Dabei bediente sich Sterzinger der zu dieser Zeit populären Idee von elektrischen oder magnetischen Kräften im Körper, die durch gezielte Manipulation in ihre natürlichen Bahnen zurückkehren und damit Krankheiten heilen könnten. Im Laufe der Debatte, die von Befürwortern und Kritikern mit äußerster Schärfe geführt wurde,248 konsultierten Komissare des Münchner Hofs Maximilian des III. Dr. Franz Anton Mesmer (1734–1815), um den Fall Johann Joseph Gaßners wissenschaftlich zu beurteilen. Dieser erklärte den Münchner Kommissaren und der Bayerischen Akade247 [Anonym]: Fortsetzung der erstaunlichen Wirkungen, welche durch die wunderbare Kraft des glorwürdigsten Namen Jesu, und der exorcistischen Kirchengewalt Titl. Herrn geistlichen Raths Gaßner, ihm sowohl, als den von ihm unterwiesenen Patienten in der Stadt Sulzbach vom 21.09. bis zum 04.10.1775 erfolgt sind, Exemplar in: Universitätsbibliothek Würzburg, Bav. 687, S. 55 f. 248 Ein Überblick zu dieser Debatte, auf die hier nicht in aller Ausführlichkeit eingegangen werden kann, bietet Midelfort: Exorcism and Enlightment, S. 87–117.
84
2 Hoffnung auf Heilung
mie der Wissenschaft, der auch Ferdinand Sterzinger angehörte, Gaßner bewirke tatsächlich Heilungen, diese basierten aber keinesfalls auf dem Austreiben teuflischer Mächte, sondern seien eine Form der Heilung mittels der Beeinflussung des tierischen Magnetismus; eine Richtung, die er selbst vertrat.249 Eine Einigung unter den Gelehrten konnte diese Untersuchung nicht herbeiführen. Unter dem Einfluss der Kritiker wurden die gaßnerischen Exorzismen, denen auch die Kirche aufgrund der unkonventionellen Art des Exorzismus skeptisch gegenüberstand, Ende der 1770er Jahre zunehmend beschnitten. 1776 wurde der Bischof von Regensburg vom Papst instruiert, Gaßner dürfe Patienten außerhalb seiner eigenen Gemeinde nur noch mit oberhirtlicher Bewilligung behandeln. Dies hielt ihn zwar nicht davon ab, 1777 gegen den päpstlichen Befehl erneut in Ellwangen tätig zu werden, doch wurde seine Tätigkeit zunehmend erschwert. 1779 erkrankte Gaßner schwer an einem „hitzigen Fieber“ und verstarb kurze Zeit später. Die Lager blieben indes gespalten, und der Streit wurde nach Gaßners Tod ungelöst beendet, womit die Debatte um Besessenheit aber noch lange nicht endete. Es hing nach wie vor von der Interpretation des Einzelnen ab, ob er eine Besessenheit oder den Einfluss des Teufels für möglich hielt oder nicht. Wie auch immer die Gelehrten Gaßners Praktiken nun beurteilten, ihre Meinung hatte keinen Einfluss auf die Menschen, die bereit waren, sich Gaßners Kuren anzuvertrauen. In den Jahren 1767 bis 1769 verzeichnete Gaßner selbst in einer Art Report, den er angelegt hatte, um die Erfolge seiner Exorzismen zu rechtfertigen, die Heilung von etwa 140 Personen, davon etwa 13 Epileptikern. Die Zahl der Epileptiker unter Gaßners Patienten nahm im Lauf der Jahre ab. Im Sommer 1773 heilte er etwa 130 Personen, von denen allerdings nur noch vier Epileptiker waren, die damit nur noch knapp drei Prozent der Behandelten ausmachten.250 In seiner Zeit in Regensburg behandelte Gaßner von Juni bis Juli 1775 101 Patienten. Davon allerdings nur noch fünf Epileptiker. Die Zahl der Patienten mit chronischen Schmerzen und mentalen Problemen überwog die der Epileptiker bei weitem.251 Dies ist umso interessanter, als diese eher geringe Frequentierung von Gaßner bei Epilepsie im großen Kanon weiterer Erkrankungen, so gar nicht in das Bild der Epilepsie als besonders dämonischer und teuflischer Krankheit passen will. Warum im Laufe der Zeit weniger Epileptiker Gaßner aufsuchten, kann nicht mit Sicherheit geklärt werden. Vermutlich versprachen sich die Betroffenen keinen großen Erfolg von dieser Kur oder glaubten nicht an den Teufel als Ursache ihrer Erkrankung. Hinzukommen mag vielleicht, dass Gaßners Kuren nicht immer erfolgreich verliefen, wie Aufzeichnungen aus Regensburg zeigen, die die dortigen Behörden anordneten, um Gaßners Kuren genauer zu untersuchen. Im Gegensatz zu Gaßners eigenen Aufzeichnungen in Tagebuchform, in denen er nur die Fälle festhielt, in denen ihm der Exorzismus geglückt war, verzeichne249 Midelfort: Exorcism and Enlightment, S. 18 f. 250 Ebenda, S. 63 f. 251 Ebenda, S. 78.
2.4 Gott, Teufel und die Heiligen
85
ten die Regensburger Behörden in ihrem Report alle Personen, die Gaßner aufsuchten. Aufgelistet waren jeweils der Erfolg und das Ergebnis der Behandlungen. In diesen Berichten zeigte sich, dass Gaßners Kuren nicht bei allen Personen zum Erfolg führten. In den Regensburger Aufzeichnungen lassen sich in dem Eintrag am 20. Juni von 21 Behandelten bereits acht Personen finden, die Gaßner ohne Heilung wegschicken musste. Im August überwog die Zahl derer, denen Gaßner nicht hatte helfen können.252 Insofern mögen Gaßners Exorzismen eines Tages ihre Attraktivität für Epileptiker verloren haben. Die Menschen, die Gaßner aufsuchten, verbanden mit dieser Kur wohl eine ganz besondere Hoffnung, nämlich die, geheilt zu werden, obwohl ihre Krankheit unheilbar erschien. Ob diese Menschen nun tatsächlich daran glaubten, ihre Erkrankung stamme vom Teufel, und ob ihnen diese Erkenntnis wichtig war, sei dahingestellt. Angesichts der Tatsache, dass etwa ein Jahr nach Gaßners großer Heiltournee in Süddeutschland auch Franz Anton Mesmer mit seiner Idee des „tierischen Magnetismus“ dort auf Tour ging und ähnliche Krankheitsbilder mit eben solchem Zuspruch behandelte,253 muss Gaßner, unabhängig von seinem Selbstverständnis, eher als zeitgenössischer Wunderheiler, denn als tatsächlicher Exorzist begriffen werden. Wallfahrt Wunderheiler wie Johann Joseph Gaßner oder auch Maria Sophie Brest wurden getragen durch den Glauben und die Hoffnung der Kranken, durch diese besonderen Menschen auch von unheilbar erscheinenden Krankheiten Heilung zu finden. In diesem Sinne muss auch der Glaube an die Kraft von Wundern gesehen werden, der in der Anbetung von Heiligen, deren Reliquien und in Wallfahrtsorten ihren Ausdruck fand. Spuren dieses weitverbreiteten Wunderglaubens lassen sich in zahlreichen Mirakelbüchern finden, die in der Frühen Neuzeit eine weite Verbreitung fanden. In ihnen lassen sich hunderte von Einträgen wie der folgende finden: „Es ist auch hye gewesen ein perdenknecht von Teckendorf der hat den vallenden siechtumb gehabt der ist auch gesund worden.“254 Mit diesem schlichten, fast schon nichtssagenden Eintrag dokumentiert das Mirakelbuch der Wallfahrt zum Heiligen Valentin in Diepoltskirchen die wundersame Heilung eines Pferdeknechtes, der an fallender Sucht litt, durch die Gnade beziehungsweise die Fürsprache des Heiligen Valentin. 252 Gaßner selbst erklärte misslungene Exorzismen damit, dass der Betroffene entweder an einer natürlichen Erkrankung leide, an der er mit Exorzismus nichts ändern könne, oder so ungläubig sei, dass ein Exorzismus nicht greifen könne. Midelfort: Exorcism and Enlightment, S. 75 ff. 253 Ebenda, S. 59. 254 Gemeinde Diepoltskirchen, Verwahrung beim Kirchenpfleger Johann Pongratz, „Vermerk der großen zaichn die sand valtan hat getan und noch thuet“, Mirakelbuch der Valentinswallfahrt zu Diepoltkirchen, gebundene Handschrift, Entstehung ca. 1533–1699 (?), fol. 2.
86
2 Hoffnung auf Heilung
Dieser einfache Satz, der im modernen Leser eher Verwunderung und Ungläubigkeit hervorruft, spiegelt sowohl die Selbstverständlichkeit wider, mit der viele Menschen der Frühen Neuzeit an die Möglichkeit von Wundern und wundersamen Ereignissen glaubten, als auch das Vertrauen, das Gläubige in die Gnade Gottes und die Hilfe der Heiligen setzten.255 Die Verehrung Heiliger, die in der Vorstellung der Gläubigen Gott aufgrund ihrer Herzensreinheit und ihres unerschütterlichen Glaubens besonders nahe standen, gehörte zumindest bis zur Reformation zum festen Bestandteil christlicher Praxis. Seine besondere Stellung erhielt der Heilige durch die Begünstigung, die ihm Gott aufgrund seiner anderen Gläubigen überlegenen Gottesfürchtigkeit und moralischen Reinheit gewährte, und die den Heiligen in die Lage versetzte, Großes von Gott zu erbitten. Deshalb betonten viele Heiligenlegenden die Zahl der Wohltaten und Wunder, die der Heilige schon zu Lebzeiten bewirkte, wenn er diese auch nicht durch eigene Kraft, sondern in der Vorstellung der Gläubigen allein durch die Gnade Gottes vollbringen konnte. Der Heilige wurde dadurch schon zu Lebzeiten zu einem Gefäß des göttlichen „virtus“, durch den er seine Wohltaten wie Schutz- und Strafwunder vollbringen konnte. Dieser göttliche „virtus“ umgab den Heiligen, und alles, was dieser Gottesmensch besaß und berührte, wurde mit dieser „Göttlichkeit“ aufgeladen. Der berührte Gegenstand konnte entweder belebend oder vernichtend, heilend oder strafend wirken; je nachdem mit welcher Einstellung man sich ihm näherte. Aus dieser Vorstellung heraus lässt sich der blühende Reliquienkult erklären, auf den an späterer Stelle noch zurückgekommen wird.256 Der Heilige als Gott Nahestehender nahm eine Mittlerfigur zwischen Mensch und Gott ein, da er für die arme Menschheit vor Gott eintreten und diesen um Gnade und göttliches Eingreifen bitten konnte. Diese Mittlerschaft blieb auch nach dem Tod des Heiligen bestehen und wurde im Prinzip gerade durch dessen Tod erst zum wahren Kern der Verehrung. Die Heiligen gelangten nämlich nach zeitgenössischer Vorstellung direkt in den Himmel und saßen am Fuße des göttlichen Altars, wo sie in direktem Kontakt zu Gott standen. Gleichzeitig bliebe ein Verbund mit ihrem toten Leib auf Erden, der erst am jüngsten Tage auferstehen werde. Dadurch war der Heilige sowohl auf der Erde durch seinen Körper, der noch Spuren von Leben und Spuren des wirkmächtigen göttlichen „virtus“ enthielt, als auch im Himmel bei Gott präsent. Auf der Grundlage dieser Vorstellungen entwickelte sich im Laufe des Mittelalters eine ausgeprägte Heiligenverehrung, die zum einen die Taten des Heiligen und dessen Leben als nachahmungswürdiges Beispiel würdigte, zum anderen wurde den Heiligen aufgrund ihrer Mittlerstellung auch eine spezielle Schutz- und Hilfsfunktion zugesprochen.257
255 Siehe zur Entwicklung Habermas, Rebekka: Wallfahrt und Aufruhr, Zur Geschichte des Wunderglaubens in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1991. 256 Angenendt, Arnold: Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, München 1994, S. 69 ff. 257 Angenendt: Heilige und Reliquien, S. 81 ff. und S. 106–115.
2.4 Gott, Teufel und die Heiligen
87
Im Zusammenhang mit Krankheiten spielten die Heiligen in zweierlei Hinsicht eine wichtige Rolle: Erstens wurden die Reliquien, das heißt, vor allem der Leichnam des Heiligen, als wirkungsmächtig und heilend angesehen, weswegen sich schon sehr früh Wallfahrten und Pilgerschaften zu den Graborten der Heiligen entwickelten, um dort deren Gräber und Reliquien zu berühren.258 Zweitens hatte sich im Laufe des Mittelalters die Mittlerfunktion der Heiligen zu einer Patronatsfunktion gewandelt; die Gläubigen stellten sich die Heiligen nun als ihre Schutzpatrone vor Gott vor. Das Patrozinium bezeichnete im römischen Recht die Schutzpflicht eines Patrons gegenüber seines Klienten bzw. Schutzbefohlenen. Auf den Heiligen übertragen bedeutete dies, er war im Himmel gegenüber seinen Schutzbefohlenen auf der Erde verantwortlich und musste diesen in Not und Elend beistehen. Die Patronate hatten sich im Laufe des Mittelalters derart ausgebildet, dass bestimmten Heiligen eigene Schutzpatronate zugewiesen worden waren. So wie es Schutzpatrone für bestimmte Berufe, Länder, Städte und Regionen gab, gab es auch Schutzpatrone, die in bestimmten Krankheiten angerufen wurden und von denen sich die Kranken Beistand und Heilung erhofften.259 Die Heiligen wurden aufgrund ihrer Heiligenlegenden mit bestimmten Problembereichen assoziiert, und es wurde angenommen, der Heilige sei diesen aufgrund persönlicher Erfahrungen besonders zugewandt und bereit, sich Betroffenen zuzuwenden. Deshalb rief man jeweils den als Schutzpatron gegen eine Erkrankung wahrgenommenen Heiligen an. Die Zuordnungen variierten allerdings regional, und mehrere Heilige konnten für dieselbe Erkrankung oder ein Heiliger konnte auch für verschiedene Erkrankungen „zuständig“ sein. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass Carl Trüb in seinem Buch über Krankheitspatrozinien etwa 40 verschiedene Heilige nachweisen konnte, die gegen die Epilepsie oder Fallsucht angerufen wurden; manche von diesen waren nur von regionaler Bedeutung, andere versanken im Lauf der Zeit in der Bedeutungslosigkeit, wieder andere setzten sich durch und waren besonders bekannt.260 Der bekannteste Heilige gegen Epilepsie – zumindest in deutschsprachigen Gebieten – war der heilige Valentin, der seine Berufung als Schutzheiliger gegen Epilepsie bzw. Fallsucht wohl eher der kuriosen Assoziation seines Namens Valentin (vallent) mit der fallenden (vallenden) Sucht verdankte als seiner Heiligenlegende. Daneben spielte gerade in der Frühen Neuzeit die heilige Maria eine wichtige Rolle als Schutzpatronin, da mit ihr eine besondere Großmütigkeit und Mitleid mit dem Menschengschlecht assoziiert wurde, weswegen sie in allen Belangen angerufen wurde. Sie schützte vor Unfällen und Schicksalsschlägen und wurde auch als Heilerin von Krankheiten und Gebrechen verehrt.261 Auch Epileptiker wandten sich mit ihrer Krankheit nachweislich an 258 Ebenda, S. 132. 259 Ebenda, S. 190–193. 260 Trüb, C.L. Paul: Heilige und Krankheit, (= Geschichte und Gesellschaft, Bd. 19), Stuttgart 1978, S. 284 und 279 ff. 261 Gierl, Irmgard: Bauernleben und Bauernwallfahrt in Altbayern. Eine kulturkundliche Studie auf Grund der Tuntenhausener Mirakelbücher, München 1960, S. 93.
88
2 Hoffnung auf Heilung
Maria, indem sie zu einem der in der Frühen Neuzeit zahlreichen Schreinen und Gnadenstätten pilgerten, um vor diesen zu beten oder für die bereits erfolgreiche Heilung zu danken.262 Obwohl die Heiligen in der Vorstellung der frühneuzeitlichen Menschen allgegenwärtig waren und Gebete überall erhören und Hilfe bewirken konnten, benötigten die Gläubigen dennoch einen Ort, den sie mit dem Heiligen in Verbindung bringen konnten, an dem sie zum ihm beten oder ihren Dank ausdrücken konnten. Diese Funktion hatten seit dem Mittelalter die Grabstätten der Heiligen erfüllt, zu denen Wallfahrer aus ganz Europa reisten und Ströme von Kranken pilgerten. Hier konnten sie nicht nur die Reliquien der Heiligen berühren, sondern auch vor dessen Grab um Hilfe flehen oder ihrem Dank Ausdruck verleihen. Durch die Aufteilung der Reliquien und ihre Verbreitung zu verschiedenen Gnadenorten in Europa entstand spätestens im Spätmittelalter die kuriose Situation, dass ein Heiliger multilokal präsent war und verschiedene ihm geweihte Gnadenorte existierten.263 Im Spätmittelalter entwickelte sich zudem eine neue Form von Gnadenort mit angebundener Wallfahrt, die im Gegensatz zur Grabwallfahrt nicht mehr an das Vorhandensein des Heiligen selbst oder an eine seiner Reliquien gebunden war, sondern ein wundertätiges Bildnis in Form eines Heiligenbildes oder einer Statue besaßen. Heiligenbildern wurde zwar offiziell die Heilsmacht abgesprochen, denn im Prinzip bestand zwischen ihnen und dem Heiligen keine tatsächliche, das heißt, körperliche Verbindung. Dennoch wurden diese Bilder in der Bevölkerung verehrt. Ihnen wurden ähnliche wunderwirkende Kräfte zugesprochen wie den Reliquien, sie konnten sogar wie beseelte und lebendige Dinge reagieren, konnten erbleichen, weinen und bluten.264 Diese Assoziationen aufgreifend entstanden gegen Ende des Spätmittelalters und zu Beginn der Frühen Neuzeit eine Reihe neuer Wallfahrten zu Orten, an denen der Gründungslegende zufolge mirakulöse Ereignisse wie Erscheinungen oder das Auffinden eines wundertätigen Bildes geschehen waren.265 Auf diese Weise entstanden nicht nur hunderte von Mariengnadenstätten im deutschsprachigen Raum,266 sondern auch die drei Wallfahrtsorte des Heiligen Valentin in Diepoltskirchen, Kiedrich im Rheingau und im elsässischen Ruffach. Während die Wallfahrt zum Heiligen Valentin in Diepoltskirchen ihren Ursprung im 16. Jahrhundert in einem wundertätigen Bild hatte, besaß die Diözese in Ruffach seit dem 15. Jahrhundert ein Kopfreliquiar des Heiligen Valentin von Terni, und die Wall262 Vgl. zum Beispiel Wallfahrt Andechs: In einer Chronik von 1657 wurden hier 188 Personen aufgezählt, deren „Hinfallende Kranckheit foellig nachgelassen“ habe: Amereller, Almut: Votiv-Bilder. Volkskunst als Dokument menschlicher Hilfsbedürftigkeit, dargestellt am Beispiel der Votiv-Bilder des Klosters Andechs, 2. Auflage, München 1994, S. 53 oder Wallfahrt Altötting, dieses Kapitel, S. 92–96. 263 Angenendt: Heilige und Reliquien, S. 126 ff. 264 Zu denken sei hier nur an die weinenden Madonnenstatuen. 265 Angenendt: Heilige und Reliquien, S. 136 f. und S. 184–189. 266 Hüttl, Ludwig: Marianische Wallfahrten im süddeutsch-österreichischen Raum. Analysen von der Reformations- bis zur Aufklärungsepoche (= Kölner Veröffentlichungen zur Religionsgeschichte, Band 6), Köln/Wien 1985.
2.4 Gott, Teufel und die Heiligen
89
fahrt in Kiedrich im Rheingau gründete sich im 16. Jahrhundert auf einer Reliquie des Heiligen Valentin von Rätien. Durch die Entstehung neuer Wallfahrtszentren Ende des Spätmittelalters und zu Beginn der Frühen Neuzeit, die sich nun nicht mehr nur in Rom oder dem Heiligen Land, sondern in unmittelbarer Nachbarschaft befanden, wurden die Fernwallfahrten in der Frühen Neuzeit zunehmend von Nahwallfahrten abgelöst. Die Kranken wandten sich nun vermehrt an den nächstgelegenen Wallfahrtsort des Schutzpatrons und unterstellten sich dessen Gnade.267 Das Hilfeersuchen beim Heiligen und die Wallfahrt konnten viele unterschiedliche Formen haben. Die Wallfahrt umschloss nicht nur die Verehrung des Gnadenbildes oder der Reliquie am Ort selbst, sondern auch den Weg zum Gnadenort, die kultischen Handlungen vor Ort und den Rückweg.268 Für die Krankenwallfahrt sind zwei Formen des Ersuchens überliefert: die Bittund die Dankwallfahrt. Bei der Bittwallfahrt stand das Ersuchen um Heilung und der Vollzug kultischer Handlungen an der Gnadenstätte selbst im Vordergrund. Im Mittelpunkt der Bittwallfahrten standen die Reliquien, durch deren Berührung oder Nähe sich die Kranken Heilung erhofften. In der Dankeswallfahrt wurde dem Heiligen dagegen in erster Linie für eine bereits erfolgte Heilung gedankt. Der Patient hatte sich in seiner Krankheit an einen Heiligen verlobt, das heißt, er überantwortete sich und seinen Körper der Gnade und Hilfe des Heiligen und gelobte im Fall seiner Heilung eine Wallfahrt zu einem seiner Gnadenorte zu unternehmen, der bei der Verlobung meist explizit festgelegt wurde. Die eigentliche kultische Handlung lag hier in der Erfüllung gelobter Handlungen nach der Heilung, die in der Regel aus der Wallfahrt und Dankesopfern bestand. Die letztgenannte Praxis wird besonders häufig im bereits erwähnten Mirakelbuch des Heiligen Valentin in Diepoltskirchen genannt. Über die Wallfahrt ist lediglich bekannt, dass sie ihren Anfang sehr wahrscheinlich im 15. Jahrhundert nahm und sich auf einem wundertätigen Bild begründete. Auch die Entstehung des Mirakelbuches269 bleibt eher im Unklaren. Es scheint, als seien die Aufzeichnungen der Wunder in der Pfarregistratur zu Falkenberg angelegt worden, zu der das Amt Diepoltskirchen gehört. Das Mirakelbuch besteht aus 728 Quartseiten und trägt auf dem Titelblatt die Aufschrift: „Vermerkt die grossen zaichn dy sandt valtan hat gethan und noch thuet etc.“ Der exakte Beginn der Aufzeichnungen geht leider weder aus dem Mirakelbuch noch aus den Unterlagen der Pfarregistratur hervor. Allerdings spricht die Form der Führung des Mirakelbuchs dafür, dass die Aufzeichnungen 1606 begannen und bis 1696 kontinuierlich weitergeführt wurden. Zwar werden auf den ersten 28 Seiten bereits Wunder aus den Jahren 1420 bis 1535 zusammen267 Hüttl: Marianische Wallfahrten, S. 22 f. 268 Harmening, Dieter: Fränkische Mirakelbücher. Quellen und Untersuchungen zur Historischen Volkskunde und Geschichte der Volksfrömmigkeit (= Würzburger Diözesengeschichtsblätter, Bd. 28), Würzburg 1966, S. 100 f. 269 Gemeinde Diepoltskirchen, „Vermerk der großen zaichn die sand valtan hat getan und noch thuet“.
90
2 Hoffnung auf Heilung
gefasst, doch scheinen diese erst nachträglich eingefügt worden zu sein. Denn sie unterscheiden sich durch ihre Pergamentseiten, die Schrift und die aufwendig gemalten Anfangsbuchstaben eindeutig vom restlichen Buch, das in einfacher teils wechselnder Handschrift von 1606 bis 1691 auf den übrigen 700 Seiten etwa zwanzig Wunder pro Jahr verzeichnet. Die Einträge des Mirakelbuches vermitteln den Eindruck einer mittelgroßen Wallfahrt, die zwar im 15. Jahrhundert noch Besucher aus Ulm, Linz und Cham anlockte, die sich aber spätestens im 16. Jahrhundert endgültig zur Nahwallfahrt wandelte und nun hauptsächlich Bewohner der näheren Umgebung anzog.270 Bei der Untersuchung der aufgezeichneten Wunder zeigt sich sehr schnell, dass die Wallfahrt nach Diepoltskirchen, obwohl St. Valentin im Allgemeinen als Schutzpatron der Fallsüchtigen angenommen wird, durchaus nicht nur von Epileptikern wahrgenommen wurde. Vielmehr wandten sich die im Mirakelbuch aufgeführten Personen in allen Formen von Leiden und Unglücksfällen an den Heiligen. Darunter nahmen die wegen Erkrankungen, Verletzungen und Behinderungen den größten Raum ein. Blinde, Lahme, „Krüppelhaftige“ suchten die Diepoltskirchner Gnadenstätte ebenso auf wie Frauen wegen unterschiedlicher Frauenleiden wie zum Beispiel Schmerzen im Unterleib oder in Geburtsnöten. Auch wenn eine Krankheit nicht näher spezifiziert werden konnte, ersuchten die Menschen Hilfe bei St. Valentin, in diesen Fällen wurde im Mirakelbuch einfach von einer schweren Krankheit oder einem „prechen“ gesprochen. Den größten Teil der Mirakelbucheinträge umfassen allerdings Gelöbnisse an den Heiligen Valentin wegen der „Frais“. Zwar machen auch die Gelöbnisse wegen der Epilepsie, im Mirakelbuch meist „vallendes siechtumb“ aber auch synonym „das Hinfallet“ genannt, einen recht großen Teil der Mirakelbucheinträge aus, sie werden aber von der Zahl der Fraisfälle um ein Vielfaches übertroffen. Der volkstümliche Begriff „Frais“, der im ursprünglichen Wortsinn Schrecken, Erschrecken und auch Gefahr bedeutete, umfasst nach Max Höflers Krankheitsnamenbuch ein breites Symptomspektrum: Plötzlich auftretende, anfallartige Symptome, die Krämpfe beinhalten konnte, Zuckungen von Gliedmaßen, plötzlich eintretende Bewegungshemmungen, Krampfhusten mit bedrohlicher Erstickungsgefahr, Phrenesie, Tobsucht unter anderen.271 Im Mirakelbuch von Diepoltskirchen wurde der Begriff für sämtliche in Schüben, in Form von Anfällen und plötzlich auftretende, Erschrecken verursachenden Krankheitszustände verwendet, die sehr viel weniger spezifiziert waren und wesentlich mehr Krankheitsformen umfassen konnten als der Begriff des „vallenden siechtumbs“. Die Frais wurde je nach Erscheinungsform weiter spezifiziert und auch als Kopffrais, Zanfrais, Wurmfrais u. a. bezeichnet.272 Die Frais konnte zwar ebenfalls krampfhafte Anfälle wie die Fallsucht 270 Spirkner: Kulturgeschichtliches aus dem Mirakelbuche der Wallfahrt zum hl. Valentin, S. 180 ff. 271 Höfler, Max: Artikel Frais, in: Derselbe: Deutsches Krankheitsnamen-Buch, München 1899, S. 165 f. 272 Die von Max Höfler und Johann Andreas Schmeller aufgeführten Frais-Bezeichnungen finden sich auch im Diepoltskirchener Mirakelbuch wieder: Schmeller, Johann Andreas:
2.4 Gott, Teufel und die Heiligen
91
aufweisen, die beiden Zustände wurden aber eher als ähnliche Formen verstanden und nicht synonym gebraucht. Ein weiteres Mirakelbuch aus Bogenhausen fasste diesen Zusammenhang folgendermaßen zusammen: „Der Hinfall und das Fraßl [Fraisl, Frais] sind Geschwistert.“273 Bei der Untersuchung des Diepoltskirchner Mirakelbuch zeigt sich, dass sich die Wallfahrtsbräuche und Gelöbnisformen einzelner Krankheiten nur wenig unterschieden.274 Es gab zwar sowohl Bitt- als auch Dankwallfahrten, doch überwogen die Verlöbnisse nach Diepoltskirchen deutlich. Wie eine solche Verlobung genau ablief, wird aus den äußerst kurzen Einträgen nicht ersichtlich. Hier zwei Beispiele: Georg Porter von Neumarkt hat ein khind im neunt jahr so das hinfallende ain zheit gehabt und sankt valentin verlobt ist davon erledigt worden.275 Jacobe Mayerin aus Zällinger Pfarr hat ihr khind so 8 Tage die frais gehabt mit ein inwendtuch, einer kherze und einer hen verlobt ist wieder besser worden.276
Leider liefern die sehr kurzen Einträge, die in dieser Form das ganze Mirakelbuch durchziehen, kaum Hinweise auf den Umgang mit der Erkrankung. Besonders häufig verlobten Eltern ihre epilepsie- oder fraiskranken Kinder an den Heiligen Valentin und suchten dann für und mit diesen zum Dank die Gnadenstätte in Diepoltskirchen auf. Das Alter der verlobten Kinder bewegte sich zwischen dem Kleinkindalter, die jüngsten Kinder waren gerade wenige Wochen alt, und dem jungen Erwachsenenalter, wenn überhaupt eine Altersangabe gemacht und die Verlobten nicht einfach mit „Kind“ tituliert wurden. Über den Moment des Verlöbnisses wird in dem Mirakelbuch wenig gesagt, und so bleibt im Dunkeln, was der Anlass für die Verlobung war. Aus den Mirakelberichten geht hervor, dass eine Verlobung nach einer nur wenige Stunden oder Tage währenden Erkrankung ebenso spontan erfolgen konnte wie nach einem jahrelang andauernden Leiden.277 Ob es für die nach Jahren der Erkrankung erfolgte Verlobung einen besonderen Auslöser gab, kann nicht mit Sicherheit beantwortet werden. Während sich Kinder fast nie selbst verlobten, war diese Praxis bei epilepsiekranken Erwachsenen nicht unüblich, obwohl sie genauso häufig von nahen Verwandten, wie dem Ehegatten oder den Geschwistern, verlobt wurden. Üblicherweise pilgerte man zu Fuß zur Gnadenstätte, betete vor dem Bildnis oder dem Kultobjekt und brachte dem Heiligen bzw. dessen Gnadenort zum Dank die zuvor versprochenen Opfergaben dar. Opfergaben, die dem Heiligen Valentin in Diepoltskirchen dargebracht wurden, waren Geld,
273 274 275 276 277
Artikel Frais, in: Bayerisches Wörtbuch. Sammlung von Wörtern und Ausdrücken, die in der lebenden Mundart sowohl, als auch in der älteren und ältesten Provincial-Litheratur des Königreich Bayerns […] üblich sind, 1. Teil, Stuttgart/Tübingen 1827, S. 826 f. Schmeller: Artikel Frais, S. 826. Auch nicht in Bezug auf weitere Erkrankungen. Gemeinde Diepoltskirchen, „Vermerk der großen zaichn die sand valtan hat getan und noch thuet“, Eintrag 1697, fol. 675. Ebenda, Eintrag 1698, fol. 683. Ebenda, 1694, fol. 628 und 1698, fol. 690.
92
2 Hoffnung auf Heilung
Wachs, schwarze Hennen, das Lesen einer oder mehrerer heiliger Messen, Tuch (so zum Beispiel helles Tuch oder das Inwendtuch) und Kleidungsstücke (zum Beispiel der beste Rock, weißen pfaitn = weißes Hemd). Diese Opfergaben waren individuell kombinierbar und während manche Wallfahrer nur Geld oder Wachs opferten, trugen andere dem Heiligen Valentin gleich mehrere Opfergaben an.278 Die Dankeswallfahrt konnte individuell verschärft werden, indem beispielsweise gelobt wurde, die Wallfahrt barfuß, im Hemd oder almosenbettelnd zu vollziehen. Es gab keine strengen Richtlinien, wie viele Opfergaben gegeben werden oder in welcher Form die Wallfahrt stattfinden musste; die Auflagen richteten sich nach dem individuellen Ermessen der Hilfesuchenden. Wichtig war aber, dass die in der Verlobung gemachten Versprechungen bis ins Detail eingehalten wurden, sonst konnte sich der Heilige erbost von seinem Schützling abwenden und ihn seiner ursprünglichen Erkrankung oder auch einer neuen anheim fallen lassen. Dazu als Beispiel die Geschichte eines ungehorsamen Knaben aus dem Diepoltskirchener Mirakelbuch: „Es ist hey gewesen ain knab, der hat vallenden siechtumb gehabt und sich sandt valtan zinsbar gemacht, aber nit gehalten; da ist er wider gevallen, hat er aber versprochen wie vor, er well Im genueg thun, da ist er gesund worden.“279 In diesem Bericht zeigt sich, dass der Knabe seinen Fehler wiedergutmachen konnte, indem er sein Fehlverhalten bereute, sich wieder dem Heiligen anvertraute und diesmal die gegebenen Versprechungen einhielt. Ähnliche Formen der Wallfahrts- und Verlobungspraxis finden sich in den Mirakelbüchern der Kapelle zu „Unserer Lieben Frau“ in Altötting, die nur etwa 20 Kilometer entfernt von Diepoltskirchen liegt. Die Wallfahrt zur Gnadenkapelle gründete sich ebenfalls auf einem wundertätigen Bildnis, dem der Jungfrau Maria. Der Entstehungslegende der Wallfahrt zufolge hatte sich um das Jahr 1490 vor eben diesem Bildnis ein erstes Wunder ereignet: Die Mutter eines dreijährigen Knaben hatte ihn „als es [der Knabe] zu Alten Oetting in das wasser, die Mehren gefallen, und ein halb stund darin gerunnen, ist es endlich gantz todt herauß gezogen worden, in großen Vertrauen zur Mutter Gottes […] zur Kapelle getragen und es auf den Altar gelegt, […] fällt sambt andern auf die knye nider und bitet umb erlangung des kinds leben flehentlich. Alsbald wird das Kind lebendig. […]“.280 Diesem ersten Wunder schloss sich kurz darauf ein weiteres an, woraufhin weitere Hilfesuchende zur Maria von Altötting pilgerten. Tatsächlich scheint die Wallfahrt in den 1490er Jahren ihren Anfang gefunden zu haben, und in den nächsten Jahren pilgerte ein wahrer Strom an Gläubigen und Hilfesuchenden nach Altötting.281 Es handelte sich um so viele, dass Anfang des 16. Jahrhunderts mit Hilfe der Spenden eine neue, größere Kapelle gebaut wurde, weil die alte Kapelle nicht mehr 278 Ebenda, S. 68, fol. 629, fol. 638, fol. 649, fol. 683. 279 Ebenda, fol. 7. 280 Zitiert nach: König, Maria Angela: Weihegaben an Unsere Liebe Frau von Altötting, Band 1: Überzeitliche Zusammenhänge, München 1939, S. 15. 281 König: Weihegaben an U.L. Frau, Bd. 1, S. 16 und Band 2: Im Rahmen der Zeitgeschichte 1492–1750, München 1940, S. 4 f.
2.4 Gott, Teufel und die Heiligen
93
in der Lage war, die zuströmenden Gläubigen aufzunehmen.282 Auch wenn es ebenfalls Bittwallfahrten zur Maria von Altötting gab, berichten die Mirakelbücher hauptsächlich von Verlobungen an Maria in Krankheit. Unter diesen finden sich auch Verlobungen von Epileptikern, von denen an dieser Stelle beispielhaft zwei aufgeführt seien: Mertein Pretschneyders Hausfrau zu Cassel im Lande Hessen hat ein Knäblein geboren ohne Beine und Füße, auch ohne Hände, daran sie erschrocken ist, daß sie gewann den fallenden Siechtum so schwehrlich, daß sie zu Tage und Nacht zu dreißgmahlen fiel. Hat also gewähret ein halbs Jahr. Zu jüngst in den vergangenen Ostern des XCVII. Jahres hat sie angeruft Mariam etc. sich ihr versprechend gen alten Öding mit einem Kreuz auf ein Meßgewand. Von stundan verließ sie der Gebrechen so vollkomenlich, als hätte sie ihn nie gehabt.283 Magdalena Polweynin von Petta in der untern Steyermarck dreizehn Meil wegs hinter Gratz hat gehabt den hinfallenden Siechtum, als daß sie einen Tag zu acht oder neunmalen fiel. Versprach sie eine andere der Mutter Maria gen alten Öding. Von stund an ließ sich der Siechtum ab. Aber sie verzog das also zu tun. Fiel sie in Kankheit, daß sie beiläufig anderthalb Jahre erkrumpt lag an Händen und Füßen, keines Glieds Gebrauch hatte, daß sie selbst weder essen noch trinken mochte. Dann wann man ihr etwas fürlegte auf einen Tisch, so naschet sie das auf mit dem Munde als ein unvernünftiges Tier. Zuletzt nächst vor den Pfingsten des gemeldeten XCVII. Jahres fing sie wiederum Herze, zu rufen an Mariam die Mutter der Barmherzigkeit unser und Gottes Mutter sich ihr versprechend gen alten Öding zu gehen mit dem Almosen und einem Pfund Wachs. Von stundan war ihr Sach besser, daß sie auftat ihre Hände der guten Gebrauch nehmend auch sehen und gehen mocht wiewohl kräncklich, jedoch erhob sie sich auf den Weg ohn länger Verzug, und auf dem Weg ist sie ganz frisch und gesund geworden.284
(s. Abb. 4, S. 278) In den viel detaillierteren Mirakelberichten von Altötting wird nicht nur die jeweilige Krankheit angegeben und von der wundersamen Heilung durch Maria berichtet, sondern auch – im Gegensatz zum Diepoltskirchener Mirakelbuch – die Erkrankung ein wenig genauer beschrieben, so sind sowohl die Häufigkeit der Anfälle als auch die Krankheitsdauer aufgeführt. Die Anfälle des „hinfallenden Siechtums“ werden schlicht mit dem Verb fallen umschrieben. So „fielen“ die beiden Frauen mehrmals täglich, womit die Anfälle, die sie überkamen, umschrieben wurden.285 Bei der Pretschneyderischen Hausfrau zu Kassel wurde darüber hinaus der Grund ihres Leidens angeführt, nämlich der Schrecken über die Geburt ihres arm- und beinlosen Kindes. Der Mirakelbericht greift hier eine unter Medizinern wie Laien anerkannten Auslöser der Epilepsie auf und erklärt die Entstehung der Erkrankung auf natürliche Weise. In anderen Altöttinger Mirakelberichten werden als weitere Ursachen der Epilepsie beispielsweise Verletzungen als Folge von Stürzen aus gro282 König: Weihegaben an U.L. Frau, Bd. 2, S. 11–14. 283 Issickemer, Jacobus: Das Büchlein der Zuflucht zu Maria der muter Gottes; zitiert nach: Bauer, Robert: Das Büchlein der Zuflucht zu Maria. Altöttinger Mirakelberichte von Jacobus Issickemer, Passau 1964/65, S. 113 f. 284 Issickemer: Das Büchlein der Zuflucht zu Maria, S. 102 ff. 285 Diese Beschreibung der Erkrankung ist in der gleichen Weise in frühneuzeitlichen Suppliken zu finden, vgl. dazu Kapitel 3.2, S. 142–144.
94
2 Hoffnung auf Heilung
ßer Höhe erwähnt. Ein Beispiel hierfür ist der Fall des Mathäus Eberhard: „[…] ein glaubhaftiger berühmter Mann zu Sumeroawsen im Lande zu Francken saget und bezeuget das genugsamlich, daß er wäre vom Gerüst gefallen, darauf ihn ankommen wäre der hinfallende Siechtum, daß er zu Tage und Nacht ohne Unterlass auf achtzig mal gewöhnlich fiele.“286 In anderen Fällen wie der der Magdalena Polweyn findet die Ursache der Erkrankung keine Erwähnung, vermutlich weil der Epilepsie keine besonderen Ereignisse vorausgingen und die Ursache schlicht nicht bekannt war. In diesem Zusammenhang spielen die Erwähnung der Ursache und die Schwere der Erkrankung sowieso nur insofern eine Rolle, als sie hervorheben sollten, wie groß das geleistete Wunder durch Maria war. Die Hervorhebung der besonderen Gnade der Heilung lässt sich an weiteren Erzählelementen in den Mirakelberichten verdeutlichen. So wird im Mirakelbericht des bereits erwähnten Matthäus Eberhard aufgeführt: „Hulf kein Arznei noch Gelübde, weder gen Ach noch zu Sanct Valentin noch anderswohin an viel Ende. Sondern da er Mariam et cetere anrufet und gelobet heimzusuchen zu alten Öding barfuß und mit dem Almosen zu gehen, doch daneben zwo andere Personen mit ihm zu nehmen, denen zu lohnen und zu verzehren, da wurde er von stundan gesund, als sich dann an ihm ausweiset zu Öding.“287 Die wundertätige Maria zu Altötting half also nicht nur bei dieser schweren Krankheit, sondern sie bewirkte auch etwas, das keine Medizin und kein anderer Heiliger vor ihr bewirkt hatte: Sie befreite Mathäus Eberhard von seinem Leiden. Dieses Beispiel verdeutlicht zweierlei: Erstens wurde die Hilfe der Heiligen von der Bevölkerung nicht als einzige Möglichkeit wahrgenommen, etwas gegen die Erkrankung zu unternehmen. Die Abgrenzung gegenüber Ärzten und natürlichen Arzneien in den Mirakelbüchern verdeutlicht, dass hier eine Konkurrenzsituation bestand, da die Hilfesuchenden sich möglicherweise nicht zuerst an die Heiligen wandten, sondern ihr Glück zuerst mit medizinischen Kuren versuchten. Die Herausstellung der Tatsache, dass (in diesem Fall) Maria da helfen konnte, wo menschliche Heilmittel versagten, erscheint als besondere Auszeichnung der Heilung mit der für den Wallfahrtsort geworben wurde. Zweitens entstand durch die Vielzahl der Heiligen und die vielen existierenden Gnadenstätten, die zum Teil in Nachbarschaft zueinander lagen, eine Konkurrenzsituation. Der Hinweis in Mathäus Eberhards Mirakelbericht, er habe zuvor schon andere Heilige erfolglos um Hilfe angefleht, ist damit als Teil der Wallfahrtswerbung zu verstehen, zu der gerade die gedruckten und verbreiteten Mirakelbücher dienten. Auch wenn diese Mirakelberichte zu propagandistischen Zwecken verbreitet wurden und es in den Schilderungen darum ging, die Vorzüge der eigenen Gnadenstätten gegenüber der „Konkurrenz“ herauszustellen, wurden dabei sicherlich keine Ereignisse hinzugedichtet. Wenn dies der Fall wäre, würde die Überlegenheit des Heiligen vermutlich in jedem Mirakelbericht als festste286 Issickemer: Das Büchlein der Zuflucht zu Maria, S. 98 f. 287 Ebenda, S. 98 f.
2.4 Gott, Teufel und die Heiligen
95
hende Wendung und in einer gleichbleibenden Formel herausgehoben. Die Erwähnung früherer Verlobungen und Kuren wird aber nur in einigen Fällen genannt, obwohl die Mirakelberichte sonst in der Art ihres Aufbaus, d. h. in der Nennung des Namens, der Erkrankung, der Verlobung, des Gelübdes u. a., weitgehend standardisiert erscheinen. Dies lässt darauf schließen, dass solche Elemente nicht standardmäßig in den Mirakelberichten aufgenommen wurden, sondern tatsächlich nur dann, wenn der Geheilte sie in seiner Promulgation erwähnte. Was das Beispiel des Mathäus Eberhard betrifft, scheint es durchaus wahrscheinlich, dass dieser mehrere Wallfahrtsorte besuchte, bevor er bei der Heiligen Maria in Altötting Gehör fand. Ein weiterer Aspekt scheint hier interessant: Mathäus Eberhard wandte sich nicht nur an St. Valentin sondern auch nach „Ach“, also Aachen, wo er sich vermutlich an den Heiligen Cornelius und dessen zwischen Aachen und Köln im Kloster Cornelimünster liegender Gnadenstätte verlobte. Zu dieser Gnadenstätte pilgerten neben Geisteskranken auch viele Epileptiker, worauf an späterer Stelle genauer eingegangen werden soll. Eberhard suchte also gezielt Hilfe bei auf Epilepsie spezialisierten Gnadenstätten, und erst nachdem er dort enttäuscht worden war, wandte er sich an Maria. Die namentliche Hervorhebung dieser in Sachen Epilepsie in klarer Konkurrenz zu Maria als Heiliger stehenden Zentren sollte in diesem Mirakelbericht wohl die besondere Macht Marias bei der Heilung aller Krankheiten hervorheben. Die Konkurrenz zu spezialisierten Gnadenstätten und die eigene Logik der Wallfahrt und Dankesbezeugung als kultischer Handlung, zeigt sich besonders deutlich im Mirakelbericht von Conrad Schwartz aus Allendorff bei Bayreuth: […] in gutem Glauben, daß ihn angestoßen wäre eine Krankheit, daß er zu Mind und Nase überflüsig geschweisset hätt und seiner Sinne wurde beraubt, daß man ihn in einen Trog band. Rufet seine Hausfrau an Maria et cetera, so er gesund würde sie heimzusuchen mit einem halben Pfund Wachs zu alten Öding. Also kam er von stundan zu Vernunft und Gesundheit. Aber als er sein Gelübde verbrachte, sagt er das nit an zu verkünden. Darum, da er wider heimkam, stieß ihn die vorige Kranckheit wiederum an. Und da er zum dickermal fiel als hätt den fallenden Siechtum. Suchet viel Rates und Arznei, half nichts. Erhob sich darnach aus Gelübde zu gehen zu sankt Valentin gen Ruefach, kam etwan fern, konnte aber einen Schritt nit weiter gehen. Also kehret er wieder mit großem Zittern aller seiner Glieder, und zu Nurmberg ihm viel Volks nachfolget, sehend und erbarmend solch grausames wunderlichs Erzittern. Da entdecket seinen Handel, wurde ihm von weisen Leuten geraten, daß er sich wiederum verspreche zu Maria gen alten Öding und so er dhin käme, soll er das Gott zu Lob und seiner werten Mutter der Jungfrau Mariae in Dankbarkeit ansagen zu verkünden. Da er das Gelübde tat, kehret er wieder auf dem Weg und im Antreten des Wegs wurde er ganz frisch und gesund, als wäre ihm nichts gebrochen, versprach sein Gelübd mit großem Lob Gottes und der Jungfrau Maria.288
An diesem Mirakelbericht sind zwei Details besonders interessant. Zum einen litt Conrad Schwartz zu Beginn an einer der Sinne beraubenden Krankheit, 288 Ebenda, S. 99 ff.
96
2 Hoffnung auf Heilung
wegen der ihn seine Frau an Maria verlobte. Er erfüllte diese Gelübde, aber hielt es nicht für nötig, das geschehene Wunder aufschreiben zu lassen. Daraufhin strafte ihn Maria mit seiner ursprünglichen und einer weiteren Krankheit, die sich wie eine Fallsucht äußerte. Erst eine weitere Verlobung und das Nachholen der Promulgation veranlassten die Heilige dazu, ihn endgültig von seiner Erkrankung zu erlösen. Das Nicht-Erfüllen eines wichtigen Bestandteils der Wallfahrt führt hier also unweigerlich zu einem Rückfall. Zum anderen kann der Heilige Valentin in Ruffach, den Schwartz als Patron in seiner fallsuchtartigen Erkrankung anruft, nicht helfen, weil ihn die Gottesmutter wegen seines Verhaltens gestraft hat. Seine Erkrankung wird auf dem Weg zur Gnadenstätte des Heiligen Valentin schlimmer, bis er schließlich zur Umkehr gezwungen wird. Auch hier sollte die Überlegenheit der Macht Marias gegenüber der des Heiligen Valentin hervorgehoben werden, der trotz seiner Spezialisierung nicht im Stande, ist eine von Maria auferlegte Krankheit aufzuheben. Im Gegensatz zur genannten Marienwallfahrt gründete sich die Ruffacher Wallfahrt auf einer Reliquie, nämlich der Kopfreliquie des Heiligen Valentin von Terni. Nach der Gründungslegende, die von dem in Ruffach geborenen Chronisten Maternus Berler überliefert wurde und seit dem 15. Jahrhundert Gültigkeit besaß, war das Haupt des Heiligen Valentin durch drei Benediktinermönche des Klosters Casia nach Ruffach gelangt. Die drei besagten Mönche erhielten bei einem Rom-Besuch im dortigen Kloster der hl. Praxedis auf inständiges Bitten das Haupt des Heiligen, mit dem sie heimwärts zogen. Auf dem Weg zu ihrem Kloster gelangten sie nach Ruffach, wo sie auf freiem Feld am Hügel unterhalb der Isenburg nächtigen mussten, weil bei ihrer Ankunft die Stadttore bereits geschlossen waren. Als sie von dort am nächsten Morgen weiterziehen wollten, ließ sich das Haupt des Heiligen Valentin nicht von der Stelle bewegen. Diesen Vorfall deuteten die Mönche und die Bewohner der Stadt als Wunder und himmlischen Fingerzeig dafür, dass an eben dieser Stelle eine Kapelle zu Ehren des Heiligen Valentin gebaut werden sollte.289 Tatsächlich bestand bei der Überführung der Kopfreliquie bereits ein Kloster in Ruffach, das Johannes dem Täufer geweiht war und ebenfalls eine Reliquie von diesem besaß. Mit der Überführung der Kopfreliquie nach Ruffach, deren genauer Zeitpunkt allerdings nicht überliefert ist, aber vermutlich bereits im 14. Jahrhundert erfolgte, begann der Kult um den Heiligen Valentin das ursprüngliche Patronat zu überlagern. Klar belegt ist die Wallfahrt seit Beginn des 15. Jahrhunderts, vermutlich datiert sie aber bereits bis ins 14. Jahrhundert hinein.290 Die Geschichte der Wallfahrt ist eng mit der Geschichte des Benediktinerpriorates verbunden, das die Leitung des Klosters und der Kapelle innehatte. Durch deren Prior Johannes Sansetti (tätig von 1465 bis zu seinem Tode 1506), der für die Entwicklung der Wallfahrt von entscheidender Bedeu289 Berler, Maternus: Chronik von Maternus Berler, in: Code historique et diplomatique de la ville de Strasbourg I, 2, Strasbourg 1848. 290 Assion, Peter: Reinhardsachsen und der hl. Valentin von Rufach. Fränkisch-elsässische Wallfahrtsstudien, in: Badische Heimat, Heft 2, 56 (1976), S. 191–208.
2.4 Gott, Teufel und die Heiligen
97
tung war, erlebte die Wallfahrt in der Zeit vom Ende des 15. bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts ihren Höhepunkt. Sansetti festigte die Stellung des Klosters und der Wallfahrt durch Landkäufe und weitreichende Baumaßnahmen wie der Renovierung und Neuausstattung des Klosters und der Wallfahrtskirche 1482. Durch gezielte Werbung in Form von Flugschriften, die durch die Almosen sammelnden Mönche sogar bis Franken gelangten, und vermutlich auch durch die gedruckten Mirakelbüchlein konnte er den Ruf der Wallfahrt erweitern und neue Pilger anziehen.291 Zugute kam Ruffach, dass es sehr günstig an der Pilgerstraße nach Santiago de Compostella lag und dadurch bereits einen regen Zulauf an Pilgern verzeichnen konnte. Durch den Zustrom an Geldern aufgrund der erblühenden Wallfahrt konnte Sansetti 1495 auch den Bau eines an das Priorat und die Wallfahrt angeschlossenen Hospitals für Fallsüchtige finanzieren,292 das Kaiser Maximilian am 18. März 1507 unter seinen Schutz nahm. Der Bau des Spitals war wohl notwendig geworden, um die zum Valentinheiligtum strömenden Fallsüchtigen zu versorgen und während ihres Aufenthaltes in Ruffach zu betreuen. Informationen über die Betreuung der Kranken in diesem Hospital, ob sie beispielsweise eine Behandlung erfuhren oder wie sie gepflegt wurden, sind nur ansatzweise vorhanden. Nach den Aufzeichnungen des Chronisten Maternus Berler über den Prior Johannes Sansetti handelte es sich beim Ruffacher Hospital in erster Linie um eine Pflegeeinrichtung. In seiner Chronik beschrieb er, den Epileptikern seien Pfleger beigegeben, die sich pflichtbewusst und barmherzig um diese Menschen kümmerten.293 Demnach kümmerten sich angestellte Pfleger um die Kranken, und man bemühte sich, diese abzuschotten, weil man von einer Ansteckungsgefahr ausging. Das Hospital diente also eher der Pflege dieser Kranken denn der Heilung. Die durchaus plausible These, die Mönche hätten die Reliquie des Heiligen Valentin genutzt, um die Kranken durch Segnungen und Berührung zu heilen, wurde bereits in einem Artikel zur Wallfahrt von Peter Assion vertreten.294 Möglicherweise diente das Hospital als Auffangbecken für in der Wallfahrt nicht geheilte Kranke, die man durch die Nähe zum Wallfahrtsort doch noch zu kurieren versuchte – doch muss diese Annahme mangels einschlägiger Quellen Spekulation bleiben. Mitte des 16. Jahrhunderts begann der Niedergang der Wallfahrt: Schlechte Wirtschaftsführung durch Sansettis Nachfolger, die Zersetzung des mittelalterlichen Einzugsbereichs durch die Reformation und der Mangel an Mönchen für das Kloster, ließen das Benediktinerpriorat zerfallen. Irgendwann in diesem Zeitraum wurde deshalb auch das Spital – wegen Geld- oder wegen Personalmangels – wieder geschlossen. Mitte des 16. Jahrhunderts übergab der Straßburger Bischof das Priorat den Cluniazensern, 1578 verei291 Mirakelbuch ist keines überliefert. Ich danke Herrn P.P. Faust, dem ehemaligen Leiter des Stadtarchivs zu Ruffach, für diese Information. 292 Sudhoff, Karl: Ein spätmittelalterliches Epileptikerheim zu Rufach, in: Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin 6 (1913), S. 449–455. 293 Sudhoff: Ein spätmittelalterliches Epileptikerheim zu Rufach im Oberelsaß, S. 453. 294 Assion: Reinhardsachsen und der hl. Valentin von Rufach, S. 202.
98
2 Hoffnung auf Heilung
nigte er es mit dem bischöflichen Kollegium zu Schlettstadt. 1618 wurde es schließlich dem Jesuitenkollegium zu Schlettstadt geschenkt, unter dessen Führung es bis zur Aufhebung des Jesuitenordens 1765 verblieb. Unter den Jesuiten erblühte die Wallfahrt in der Barockzeit wieder, wenn sie auch nie wieder zu ihrer früheren Bedeutung aufstieg. Im Dreißigjährigen Krieg war die Wallfahrt gänzlich zum Erliegen gekommen. Ruffach war von den Schweden und Franzosen geschatzt und geplündert, die Jesuiten vertrieben und die Reliquie nach Besançon in Sicherheit gebracht worden, wo sie etwa 20 Jahre verblieb und dann zum Jesuitenorden nach Schlettstadt gelangte. Von dort wurde sie auf Drängen des Ruffacher Rates am 23. August 1653 wieder in die alte Kirche überführt. Mit der Rückführung der Reliquie nach Ruffach konnte die Wallfahrt wieder ihren Lauf nehmen. In dieser Zeit entstand vermutlich die Valentinsbüste, in der die Reliquie bis heute aufbewahrt wird. Durch das Abnehmen der Mitra konnte der Schädel weiterhin von den Pilgern angesehen und berührt werden. Mit der Schaffung eines über drei Meter hohen Altarbildes des Heiligen im 17. oder 18. Jahrhundert sollte die Wallfahrt neu belebt und dem Heiligen wieder größeres Ansehen zuteil werden. Über die Pilger, die zum Heiligen Valentin nach Ruffach reisten, ist wenig bekannt. Mirakelbücher, die es möglicherweise gegeben hat, sind nicht bis heute erhalten geblieben. Viele Unterlagen der Wallfahrt wurden bei Bränden im Gefolge des 30-jährigen Krieges zerstört. Die einzigen erhaltenen Unterlagen, die Auskunft über Pilger geben, sind behördliche Armenaufzeichnungen, in denen Unterstützungsmaßnahmen für sozial schwache Pilger verhandelt wurden, aber wenig Aufschluss über die Wallfahrtspraxis selbst geben.295 Die besondere Verehrung des Heiligen Valentin im deutschsprachigen Raum gründet sich interessanterweise auf der Ruffacher Wallfahrt und auf derem Kopfreliquiar. Diese Entwicklung vollzog sich auf mehreren Ebenen. Vor dem Erblühen des Valentinskultes bestand in Ruffach, wie bereits erwähnt, die Wallfahrt zu den Reliquien Johannes des Täufers, der gerade im Mittelalter als Patron für Fallsüchtige galt. Mit der Überlagerung des Kultes durch die Verehrung des Heiligen Valentin übertrug sich anscheinend diese Assoziation auf den „neuen“ Heiligen. Zuvor hatte der Heilige Valentin von Terni nicht mit der Fallsucht in Verbindung gestanden. Als zweiter Aspekt erscheint besonders das Kopfreliquiar von Bedeutung. In den magischen Vorstellungen der frühneuzeitlichen Bevölkerung spielte ein Denken in Analogien eine entscheidende Rolle. Durch Analogieschlüsse wurden Zusammenhänge in der Welt hergestellt, und sie spielten eine wichtige Rolle bei der Assoziation eines Heiligen mit einer bestimmten Krankheit, zum Beispiel auf der Grundlage seiner Heiligenlegende. Im Ruffacher Fall scheint es, als hätte die Kopf-Reliquie des Heiligen Valentin die Assoziation mit Kopfkrankheiten, zu denen auch die Epilepsie zählte, bewirkt.296
295 Sehr dankbar für diese Hinweise bin ich Herrn P.P. Faust, dem ehemaligen Leiter des Stadtarchivs zu Ruffach. 296 Assion: Reinhardsachsen und der hl. Valentin von Rufach, S. 200.
2.4 Gott, Teufel und die Heiligen
99
Diese Assoziationskette lässt sich für weitere Wallfahrtsorte im deutschsprachigen Raum nachweisen. Die Bedeutung des Heiligen Cornelius als Patron der Fallsüchtigen und Geisteskranken im Kölner und Aachener Bereich war ebenfalls von der Reliquie geprägt. Die Verehrung des Heiligen Cornelius ging von der Abtei Cornelimünster aus, wo seit dem frühen Mittelalter das Haupt des Heiligen Papstes Cornelius aufbewahrt wurde. „Obwohl eine Legende erzählt, der Heilige werde deshalb bei Fallsucht angerufen, weil er einen Fallsüchtigen geheilt habe, scheint doch die Aufbewahrung gerade des Hauptes in Cornelimünster Anlass dazu gegeben zu haben, Cornelius bei Fallsucht anzurufen.“297 Der Kult des Heiligen Cornelius als Patron gegen Fallsucht und Geistesstörungen existierte etwa seit dem 13. Jahrhundert in der Aachener und Kölner Gegend, in der Hocheifel (Manderscheid, Prüm, Leidenborn) und Brabant. In der Kölner Gegend setzte sich seit dem 15. Jahrhundert von Remagen aus Appolinaris als Patron bei Fallsucht durch. Auch in diesem Fall spielte das Haupt des Heiligen Appolinaris, das auf dem Appolinarisberg bei Remagen bis heute aufbewahrt wird, die entscheidende Rolle bei der Durchsetzung des Heiligen im Kölner Raum.298 Die beiden Beispiele stützen die Annahme, dass sich auch die Ruffacher Wallfahrt aufgrund der Kopfreliquie zu einer spezialisierten Wallfahrt für Fallsüchtige entwickelte hatte. Als älteste Valentinswallfahrt im deutschsprachigen Raum diente sie als Vorlage für den Ausbau der Valentinslegende. Die Legende, der Heilige Valentin von Terni habe zu seiner Zeit einen Fallsüchtigen geheilt, entstand nämlich erst im 15 Jahrhundert, vermutlich aufgrund dieser Assoziation.299 Das Patronat gegen Fallsucht übertrug sich dann auch auf die Legende des Heiligen Valentin von Rätien, der von den Zeitgenossen häufig mit dem Heiligen Valentin von Terni gleichgesetzt wurde. Als dann 1454 eine Reliquie des Valentin von Rätien aus Passau über Würzburg und Worms nach Kiedrich gelangte, war diese Vorstellung bereits so fest in den Köpfen der Bevölkerung verankert, dass sich auch in Kiedrich eine spezialisierte Wallfahrt für Fallsüchtige entwickelte, die weit bis ins 19. Jahrhundert existierte, obwohl lediglich ein Finger des Heiligen nach Kiedrich gelangte.300 Gleiches galt für die Entstehung der Wallfahrt zu St. Valentin in Diepoltskirchen, die sich lediglich auf einem wundertätigen Bildnis des Heiligen gründete. Nach welchen Kriterien die Betroffenen den Wallfahrtsort nun konkret auswählten und in welchem Stadium der Krankheit sie dazu tendierten, ein Verlöbnis an einen Heiligen zu vollziehen oder eine Wallfahrt zu unternehmen, bleibt leider im Dunkeln. Die Hinwendung von Epileptikern zu bestimmten Wallfahrtsstätten hing vor allem von Assoziationen, Traditionen und persönlichen Vorlieben ab. Denkbar ist auch, dass Empfehlungen von Freunden und Bekannten eine ebenso wichtige Rolle für die Entscheidung spielten 297 Zender, Matthias: Wallfahrten bei Fallsucht und Krämpfen, in: Rheinische Vierteljahresblätter 4 (1934), S. 285–290, hier S. 287. 298 Zender: Wallfahrten bei Fallsucht und Krämpfen, S. 287 f. 299 Assion: Reinhardsachsen und der hl. Valentin von Rufach, S. 199. 300 Ebenda, S. 199 f.
100
2 Hoffnung auf Heilung
wie lokale Traditionen. Während sich im Aachener Bereich der Heilige Cornelius als Patron gegen Fallsucht durchsetzte, wurde er in der Kölner Gegend im 15. Jahrhundert durch den Heiligen Appolinaris ersetzt. In anderen Gebieten übernahm der Heilige Valentin diese Funktion. Auch Marienwallfahrtsstätten wurden, wie gezeigt werden konnte, von Fallsüchtigen frequentiert. Andere Wallfahrtsstätten zogen dagegen trotz gezielter Wallfahrtswerbung kaum Epileptiker an.301 Die zahlreichen überlieferten Mirakelbücher liefern zu der Frage, in welcher Situation Epileptiker zu den Wallfahrtsorten pilgerten und warum sie sich dazu entschlossen, leider keinen Ansatzpunkt. Sie lassen zwar Schlüsse über das Wallfahrtsbrauchtum, die Zahl der Verlöbnisse und die Art der Opfer zu, die den Heiligen gebracht wurden. Sie spiegeln diese aber eben nur aus der Perspektive der Wallfahrtsorte wider, denen es lediglich darum ging, die Prosperität ihrer Gnadenstätte zu dokumentieren. Überhaupt geben die Mirakelbücher nur wenig Aufschluss über den Umgang mit den Betroffenen und ihrer Krankheit. Es hat sich gezeigt, dass Wallfahrten eine gängige Alternative zu medizinischen Kuren waren, vor allem weil Wunder unabhängig von der Ursache funktionierten. Das heißt, die Heiligen oder in letzter Instanz Gott waren sowohl bei natürlichen, bei unnatürlichen, bei leichten und schweren Erkrankungen und vor allen Dingen bei unheilbar erscheinenden Erkrankungen in der Lage, diese durch ein Wunder von dem Erkrankten zu nehmen. Mit dieser Hoffnung wandten sich einige Betroffene bereits im Anfangsstadium ihrer Erkrankung, andere erst nach verschiedenen Kuren an einen Heiligen. In der Wahl des Heiligen, in der Gestaltung des Verlöbnisses, der Durchführung der Wallfahrt und in der Form der Opfergaben zeigen sich volksmagische Assoziationen, die zum Gelingen der Heilung beitragen sollten. 2.5 Epileptiker als Nutzer des medizinischen Marktes Wie sich in den vorangehenden Kapiteln gezeigt hat, existierte in der Frühen Neuzeit ein von Medizinern wie medizinischen Laien gleichermaßen akzeptiertes und angewandtes Konzept von Krankheit für die Epilepsie. Die Erkrankung wurde von den Zeitgenossen – ob gebildet oder ungebildet – auf eine Vielzahl von Ursachen zurückgeführt. Die Epilepsie wurde einmal als natürlich verursachte Krankheit wahrgenommen, die nach dem humoralpathologischen ebenso wie nach dem paracelsischen Konzept erklärt werden konnte. 301 Das Kloster Tegernsee verbreitete beispielsweise einen Einblattdruck, in dem das Heilige Quirin-Öl der Wallfahrt als Heilmittel gegen Krankheiten, unter anderem auch gegen Kopfkrankheiten und die fallende Sucht angepriesen wurde, vgl. BHStaBi, Einblattdruck VII, 24 sha. Allerdings zeigte sich, dass tatsächlich kaum Epileptiker nach Tegernsee wallfahrten, vgl. Söllner, Elisabeth: Die Wallfahrt zum Hlg. Quirinus in Tegernsee im 18. Jahrhundert – ein Beitrag zur Mirakelbuchforschung, in: Beiträge zur altbayerischen Kirchengeschichte 50 (2007), S. 75–132, hier S. 103.
2.5 Epileptiker als Nutzer des medizinischen Marktes
101
Andererseits konnte die Krankheit aber auch von übernatürlichen Kräfte bewirkt werden, indem Hexen sich magischer Fähigkeiten und teuflischer Mächte bedienten oder der Teufel selbst die körpereigenen Vorgänge beeinflusste. Auch wenn Formen der Besessenheit in der zeitgenössischen Vorstellung mit der Epilepsie in engem Zusammenhang standen bzw. mit dieser verwechselt werden konnten, muss an dieser Stelle klar zwischen zeitgenössischen und modernen Vorstellungen unterschieden werden. Da das Konzept der Besessenheit in der modernen Vorstellungswelt keinen Sinn macht, neigen moderne Leser frühneuzeitlicher Quellen dazu, die Beschreibung von Besessenheit nicht ernst zu nehmen und ihnen einen neuen Sinn auf der Grundlage moderner wissenschaftlicher Erkenntnisse zuzuschreiben. Dementsprechend wird Besessenheit von einigen Historikern und Medizingeschichtlern retrospektiv als unerkannte Form der Epilepsie oder psychischer Störungen diagnostiziert. Für die Menschen der Frühen Neuzeit waren aber Krankheiten und der Zustand der Besessenheit per Definition zwei klar voneinander abgegrenzte Zustände, die sich auf unterschiedliche Ursachen zurückführen ließen. Zwar war es für Ärzte, Theologen und Laien in der Praxis nicht immer leicht zu unterscheiden, wann es sich um einen Krankheitszustand und wann um eine Besessenheit handelte – zumal die Interpretation in diesen Fällen auch vom Weltbild des betreffenden Arztes, Heilers oder auch des Betroffenen abhing. Doch bedeutet dies nicht, dass Epilepsie und Besessenheit per se gleichgesetzt wurden. Die Interpretation und Ursachenerklärung der Epilepsie hatte in der Frühen Neuzeit keinen Sonderstatus, sondern sie gliederte sich in die allgemeingültigen Deutungsmuster von Krankheit ein. Zwischen den Deutungsmustern natürliche und unnatürliche Krankheit sowie Besessenheit gab es zum Teil fließende Übergänge, wie der Fall Gaßner deutlich zeigt. Ein tieferes Eindringen in die zum Teil sehr spitzfindigen Unterscheidungen der Zeitgenossen scheint meines Erachtens nicht notwendig, denn letztendlich liefen sie für die Erkrankten und ihr engeres Umfeld auf eine einfache, sehr praxisorientierte Formel hinaus: Finde die Ursache des Leidens und behandele den Betroffenen danach. Wurde demzufolge eine natürliche Ursache der Epilepsie angenommen, wurde der Kranke mit natürlichen Mitteln behandelt; wurde eine unnatürliche Ursache angenommen, wurden magische oder spirituelle Mittel eingesetzt. Den Erkrankten standen damit eine Vielzahl an Kuren und Therapien zur Verfügung. Sie konnten auf Medikamente aus dem Kanon der Humoralpathologie ebenso zurückgreifen wie auf Heilmittel, die nach der Signaturenlehre oder astrologischen Prinzipien gefunden worden waren. Volksmagische Rituale wie das Abstreifen der Krankheit standen neben Gebeten oder der Anrufung Heiliger, die ein Eingreifen Gottes in die Krankheit bewirken sollten. Die einzelnen Bereiche waren gerade in der Praxis der ungebildeten Bevölkerung oft nicht klar zu trennen. Gesundbeter bedienten sich beispielsweise einer Mischung aus religiösen und magischen Ritualen, deren Ursprung
102
2 Hoffnung auf Heilung
ihnen vermutlich selbst nicht ganz klar war. Segenssprüche, die an christliche Symbolik angelehnt waren, existierten neben magischen Praktiken und wurden verbunden. Zwar standen gebildete Theologen und Ärzte diesen Praktiken häufig mit einer gewissen Skepsis gegenüber, was Geistliche aber nicht davon abhielt, diese Praktiken in ihrer Gemeinde zu dulden oder sie, z. B. im Wallfahrtswesen, selbst zu fördern. Wurde dagegen angenommen, die Erkrankung sei durch eine Hexe oder gar den Teufel selbst entstanden, mussten ebenfalls ursachenwirksame Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Wenn eine übernatürliche Ursache im Spiel war, konnten natürliche Medikamente nichts gegen die Erkrankung ausrichten, sondern man konnte ihr nur durch ebenso übernatürliche Mittel begegnen. Gebildete Theologen rieten in diesen Fällen zu Gebeten und Segnungen der Kirche, um den Einfluss des Teufels zu vertreiben. Auch die Anrufung Heiliger, die ein göttliches Eingreifen erwirken konnten, mochte in diesen Fällen helfen. Ein Exorzismus kam nach offizieller kirchlicher Lehre bei Epilepsiekranken eigentlich nicht in Frage, denn dieser konnte nur helfen, wenn eben keine Erkrankung, sondern eine leibliche Besitzung durch den Teufel oder durch Dämonen vorlag. Deshalb stellen Johann Joseph Gaßners Exorzismen an Epileptikern Ende des 18. Jahrhunderts einen Sonderfall dar. Sie wichen insofern von der offiziellen Lehre ab, als Gaßner Exorzismen auch in den Fällen als wirksam erachtete und praktizierte, in denen der Teufel die Krankheit verursachte, ohne den Körper leiblich zu besitzen. Neben der religiösen Praxis kannte die ungebildete Bevölkerung eigene magische Praktiken bzw. bemühte magische Spezialisten, um angehexten Krankheiten zu begegnen. In diesen Fällen galt es, den Verursacher der Erkrankung, die Hexe oder den Hexer, zu treffen, um so den Zauber und damit die Krankheit zu brechen. Dies konnte auf vielfältige Art geschehen, zum Beispiel durch schützende Amulette, die die Macht des Zaubers brechen konnten, oder durch magische Rituale, die den Verursacher trafen. In keinem bisher bekannten Fall wurde der Epileptiker als vermeintliche/r Hexe/r begriffen und mit teuflischen Kräften in Verbindung gebracht. Vielmehr wurden Erkrankte, deren Erkrankungen als angehext wahrgenommen wurden, als Opfer böser Mächte behandelt.302 Sowohl die Akzeptanz der Deutungsmuster natürliche oder unnatürliche Krankheit als auch die Wahl der Heilmittel unterlagen zeitlichen Veränderungen. Im 16. und 17. Jahrhundert war die Unterscheidung zwischen natürlichen und unnatürlichen Krankheiten unter Laien, Theologen und Ärzten noch allgemein akzeptiert. Ende des 17. Jahrhunderts entfachten jedoch die Aufklärer 302 Davon abgesehen wurden auch Besessene meist sehr liebevoll gepflegt, und man bemühte sich um ihre Heilung, weshalb mehrere Fälle der Vortäuschung von Besessenheit bekannt sind, in denen der vermeintliche Besessene die soziale Zuwendung, die Besessenen zuteil wurde, ausnutzte. Vgl.: Beyer, Jürgen: Besessenheit und Bußpredigt. Der Fall Hans Vater (1559–1562), in: Hans de Waardt/Jürgen Michael Schmidt/H.C. Erik Midelfort (Hg.): Dämonische Bessenheit. Zur Interpretation eines kulturhistorischen Phänomens, Bielefeld 2005, S. 193–211, hier besonders S. 197 ff.
2.5 Epileptiker als Nutzer des medizinischen Marktes
103
die Diskussion um die Möglichkeiten der Einflussnahme durch den Teufel und der leiblichen Besitzung neu. Zwar gab es in der Aufklärung weiterhin Gebildete, die unnatürlich verursachte Erkrankungen nicht ausschlossen und die Möglichkeit der Besessenheit verteidigten, doch die Tendenz verschob sich langsam zugunsten einer rein natürlichen Interpretation von Erkrankung. Gleiches galt für die von Ärzten verwandten Heilmittel: Hatten studierte Ärzte im 16. und 17. Jahrhundert zur Behandlung von Epilepsie Heilmittel eingesetzt, die der Organotherapie und der Dreckapotheke entstammten – zu nennen sind hier speziell der Einsatz von pulverisiertem menschlichen Schädel, von Amuletten und gebranntem Schwalbenwasser – wurden solche Mittel im 18. Jahrhundert auf ihren Nutzen geprüft. Manches früher gepriesene Medikament – wie Amulette – verschwand im 18. Jahrhundert aus der ärztlichen Therapie oder wurde zunehmend skeptisch beurteilt. Sämtliche Spezifika wurden nun genauer untersucht. Nicht alle diese Mittel verschwanden vom Markt. Einigen wurde lediglich die magische Wirkung abgesprochen, und ihre Wirkungsweise wurde nach den neuen medizinischen Modellen erklärt. Oder ihr Einsatz wurde mit dem Hinweis auf die über Jahrzehnte erprobte Wirksamkeit dieser Mittel gerechtfertigt, wenn deren Wirkungsweise nicht zu erklären war.303 Neue pflanzliche Heilmittel kamen neben altbewährten zum Einsatz. Ab dem 17. Jahrhundert erfreuten sich beispielswiese der Baldrian und das Opium zunehmender Beliebtheit und traten damit zur Pfingstrose und Mistel in Konkurrenz.304 Im Großen und Ganzen blieben aber der Aderlass, die Diätetik und pharmazeutische Mittel bis zum Ende des 18. Jahrhunderts gängige Heilmethoden in der ärztlichen Epilepsie-Behandlung; gerade die Diätetik erlebte Mitte bis Ende des 18. Jahrhunderts und zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine Renaissance.305 Fehlendes Quellenmaterial macht es nahezu unmöglich, zeitliche Veränderungen in der Wahrnehmung und den Deutungsmustern der ungebildeten Bevölkerung zu untersuchen. Gerichts- und Amtsakten, in denen Fälle wie der der Gesundbeterin Maria Sophie Best verhandelt werden, zeigen, dass magische Behandlungsmethoden bis weit ins 19. Jahrhundert in verschiedenen Varianten praktiziert wurden und durchaus nicht nur bei der ungebildeten Bevölkerung beliebt waren. Religiöse Behandlungsmethoden wurden noch viel länger eingesetzt; Epileptikerwallfahrten existieren bis heute.306 Inwieweit sich in ungebildeten Bevölkerungsschichten die Akzeptanz magischer Deutungsmuster und Behandlungsmethoden zugunsten natürlicher verschob und welche Bedeutung magischen und religiösen Behandlungsmethoden im Vergleich zu rein medizinischen überhaupt zukam, kann aufgrund der Quellenlage nicht abschließend geklärt werden. 303 304 305 306
Kutzer: Das Bild der Epilepsie, S. 131 f. Ebenda, S. 132 f. Ender: Grundlinien diätetischer Epilepsie-Behandlung, S. 28 ff. Stolberg, Michael: „Volksfromme“ Heilpraktiken und medikale Alltagskultur im Bayern des 19. Jahrhunderts, in: Michael Simon (Hg.): Auf der Suche nach Heil und Heilung. Religiöse Aspekte der medikalen Alltagskultur, Dresden 2001, S. 155–174.
104
2 Hoffnung auf Heilung
Die Erkenntnis, ob die Erkrankung nun auf natürlichen oder übernatürlichen Ursachen basierte, tangierte zudem weniger die Wahrnehmung und soziale Stellung des Epileptikers als vielmehr die Wahl der Heilmittel. Ob Epilepsien von der Bevölkerung nun eher auf natürliche oder übernatürliche Ursachen zurückgeführt wurden, ist schwer einzuschätzen, da nur ein geringer Teil der Quellen Behandlungsverläufe von Epileptikern beschreibt. Die Interpretation der Ursache hing wohl in erster Linie von der persönlichen Einstellung der Betroffenen und Heiler gegenüber übernatürlichen Phänomenen ab. Davon abgesehen, scheint es eine gewisse pragmatische Tendenz gegeben zu haben, im Zweifelsfall einfach alle Mittel auszuprobieren, in der Hoffnung, dass eines dieser Mittel den Erkrankten kurieren würde. Die Wahl der Heilmittel und der Heilpersonen hing bei der Epilepsie-Behandlung wie bei allen anderen Erkrankungen auch von mehreren Faktoren ab: 1. Von den in der Umgebung zur Verfügung stehenden Heilpersonen, 2. von den finanziellen Möglichkeiten, 3. von der persönlichen Wahrnehmung und den Vorlieben des Erkrankten. Durch neuere medizingeschichtliche Forschungen, die den Patienten und dessen Verhalten ebenso in den Blick nahmen wie die Arzt-Patienten-Beziehung,307 konnte ein völlig neues Bild der Behandlung in der Frühen Neuzeit entstehen. Entgegen früherer Forschungsergebnisse konnten sie zeigen, dass die Heiler-Patienten-Beziehung keineswegs eindimensional verlief. Der Patient ließ die ärztlichen Kuren nicht einfach widerstandslos über sich ergehen. Der Verlauf der Behandlung hing vielmehr von den Patienten selbst ab, und diese wussten meist sehr genau, was sie wollten. Sie behandelten sich selbst oder ließen sich von Freunden und Bekannten raten und probierten in Eigenregie verschiedene Kuren gleichzeitig oder nacheinander aus.308 Stellte sich der gewünschte Erfolg eines Mittels nicht ein, waren Patienten schnell gewillt, den Heiler zu wechseln oder neue Kuren auszuprobieren. Auch hier scheint sich ein äußerst pragmatischer Umgang mit den Heilmitteln abzuzeichnen. Man versuchte alle möglichen Kuren und sicherte sich mehrfach ab, indem bei unklarer Ursache nach und neben natürlichen Kuren auch magische oder religiöse Methoden zur Anwendung kamen.309 Nicht umsonst ist in vielen Mirakelberichten von erfolglos gebliebenen Kuren zu lesen. Welche Heiler kontaktiert und welche Kuren ausprobiert wurden, hing dabei beispielsweise von der Frage ab,310 welche Heilpersonen der Betroffene und dessen Angehörige für besonders kompetent hielten und welchen Kuren sich der Patient überhaupt unterziehen wollte bzw. welche Kuren er für sinnvoll hielt. Hier spielte beispielsweise eine Rolle, ob der Patient eine religiöse Behandlung bevorzugte oder eine Wallfahrt überhaupt als Alternative betrachtete. Friedrich Drais von Sauerbronn offenbarte in seinem autobiographisch angelegten Bericht eine eigene Vorliebe: Er verwarf als Anhänger der Aufklärung alle in irgendeiner Form mit Aberglauben behafte307 308 309 310
Jütte: Ärzte, Heiler und Patienten, S. 89–130. Duden: Geschichte unter der Haut, S. 92–96. Kinzelbach: Gesundbleiben, Krankwerden, Armsein, S. 295 ff. Stolberg: „Volksfromme“ Praktiken, S. 163 f.
2.5 Epileptiker als Nutzer des medizinischen Marktes
105
ten Heilmittel und vertraute sich nur akademisch gebildeten Ärzten und deren Behandlungsmethoden an. Er probierte zwar ebenfalls verschiedene Kuren aus, um letztlich durch den Rat einer Bekannten bei der zu dieser Zeit sehr beliebten diätetischen Kur des Arztes John Brown fündig zu werden, doch schränkte er seine Heilerwahl von Anfang an ein. Welchen Einfluss die soziale Herkunft des Betroffenen auf die EpilepsieBehandlung hatte, lässt sich nur lückenhaft rekonstruieren. Die von der älteren Forschung geprägte Formel, der Gebildete und Adlige ging zum studierten Arzt, während alle ärmeren Bevölkerungsschichten sich nur unqualifizierte Heiler und Pfuscher leisten konnten, ist heute endgültig überholt. Neuere Studien zeigen, auch die Landbevölkerung und ärmere Schichten konsultierten studierte Ärzte, wenn sie einen Sinn darin sahen. Umgekehrt konnte Barbara Duden in ihrer Studie zeigen, dass Adlige und Gebildete nicht unbedingt einen studierten Arzt aufsuchten, sondern dass diese Bevölkerungsgruppen ebenso gewillt waren auf handwerklich ausgebildete Heiler zurückzugreifen.311 Auch finanzielle Erwägungen spielten bei der Heilerwahl nur eine untergeordnete Rolle, denn handwerklich ausgebildete Heiler wie Chirurgen, Bader und Empiriker ließen sich ebenso gut bezahlen wie akademisch gebildete Ärzte.312 Damit auch ärmere Bevölkerungsschichten die Möglichkeit hatten, einen Heiler aufzusuchen, stellte die Armenfürsorge Gelder für die Behandlung zur Verfügung. Zum einen bezahlten Städte einen Stadtphysikus, der vom Rat angehalten wurde, ärmere Patienten kostenlos zu behandeln. Zum anderen wurden von den Armenkästen der Städte zum Teil Gelder für Behandlungskosten übernommen.313 Der Arzt Felix Platter berichtete beispielsweise vom Fall eines zwanzigjährigen epileptischen Schlossers, dessen Behandlung durch den Rat der Stadt Bern finanziert wurde.314 In der Stadt Langenzenn übernahm das dortige Hospital die Kosten für die Behandlung von Andreas Eckart, einem epilepsiekranken Langenzenner Zimmergesellen, beim Stadtphysikus und dem Hospitalarzt Dr. Haas in Höhe von 2fl.315 Bei Handwerkern war die zünftische Finanzierung und Organisation der Krankenbehandlung nicht unüblich. Kranken und arbeitsunfähigen Meistern wurden Darlehen oder wöchentliche Zahlungen aus der Zunftkasse gewährt, und die Zunftbrüder halfen in der ersten Zeit der Krankheit oder nach einem 311 Duden: Geschichte unter der Haut, S. 96. 312 Kinzelbach: Gesundbleiben, Krankwerden, Armsein, S. 298 ff.; Duden: Geschichte unter der Haut, S. 98 ff. 313 In Frankfurt am Main wurde beispielsweise ein Wundarzt aus dem Gemeinen Kasten bezahlt und auch sonstige Gelder für Behandlungen und Spitalaufenthalte finanziert, und in Köln zahlte der Kölner Rat ebenfalls einen Armenarzt: Jütte, Robert: Obrigkeitliche Armenfürsorge in deutschen Reichstädten der Frühen Neuzeit. Städtisches Armenwesen in Frankfurt am Main und Köln, Köln/Wien 1984, S. 128 ff., S. 324. 314 Platter: Buess/Goldschmidt: Observationes, S. 45 f. 315 Präger, Frank: Das Spital und die Armen. Almosenvergabe in der Stadt Langenzenn im 18. Jahrhundert, Regensburg 1997, S. 875 f. Ob die Kur anschlug und was im Anschluss mit dem Betroffenen geschah, ist leider nicht überliefert.
106
2 Hoffnung auf Heilung
Unfall aus, indem sie dafür sorgten, dass die Arbeit eines Meisters nicht zum Erliegen kam. Die Zünfte unterhielten auch Betten in Hospitälern, die für erkrankte Zunftmitglieder bestimmt waren. Für die Gesellen finden wir ähnliche Leistungen in den Gesellenverbänden.316 Die Wahl der Heiler und der Mittel zur Behandlung hing also einerseits von persönlichen Vorlieben, andererseits von finanziellen Erwägungen ab. Manche Familien trieben sich in den finanziellen Ruin, um ihre erkrankten Familienmitglieder behandeln zu lassen, oder nahmen weite Wege auf sich, um sie zu einem Wallfahrtsort zu bringen. Dabei lassen sich in Fallberichten und in der Mirakelliteratur Fälle finden, in denen berichtet wird, wie der Erkrankte nach einer bestimmten Kur oder durch ein Wunder seine Gesundheit wiedererlangte. Allerdings finden sich in anderen Quellen ebenso viele Berichte von Fällen, in denen sich die Erkrankung als nicht behandelbar und damit als chronisch herausstellte. Auf die unterschiedliche Wahrnehmung und den unterschiedlichen Umgang mit beiden Situationen soll anhand von Egodokumenten und seriellen Quellen im nächsten Kapitel eingegangen werden.
316 Fröhlich, Sigrid: Die soziale Sicherung bei Zünften und Gesellenverbänden. Darstellung, Analyse, Vergleich (= Sozialpolitische Schriften, Heft 38), Berlin 1976, S. 142–160.
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen 3.1 Der lange Weg zur Heilung Aus heutiger Sicht ist schwer zu beurteilen, inwieweit die im vorherigen Kapitel angesprochenen Kuren und Medikamente tatsächlich Wirkung bei den Kranken zeigten und wie viele davon einen reinen Placebo-Effekt erzielten. Eine abschließende Beurteilung wäre aufgrund fehlender Fachkenntnisse reine Spekulation. Wie wirksam die Kuren tatsächlich waren, ist im Grunde zweitrangig. Entscheidend ist vielmehr, dass sich die Zeitgenossen viel von diesen versprachen. Deshalb waren die Behandlung und die Suche nach geeigneten Heilmitteln für die Erkrankten von zentraler Bedeutung. Leider sind nur wenige Selbstzeugnisse von Epileptikern überliefert, in denen dieser Aspekt ausführlich angesprochen wird. Insgesamt sind Krankentagebücher oder Autobiographien von lebenslang Kranken äußerst selten zu finden.1 Sie entsprachen nicht der Schreibtradition dieser Zeit. Biographien und Tagebücher, die sonst einen interessanten Einblick in die Wahrnehmung von Krankheiten und den Umgang mit diesen geben, können somit für diese Untersuchung nicht herangezogen werden. Autoren wie der Kölner Ratsherr Herrmann von Weinsberg2 oder der Toggenburger Ulrich Bräker3 berichteten in ihren autobiographischen Schriften zwar sehr ausführlich von ihren eigenen Krankheitserlebnissen und denen ihrer Verwandten und Bekannten, doch werden meist nur akute, wenige Tage oder Wochen andauernde Krankheiten beschrieben, selten chronische.4 Gleiches gilt für Familienkorrespondenzen, in denen chronische Leiden selten über einen längeren Zeitraum Erwähnung finden bzw. der Umgang mit ihnen nicht ausführlich beschrieben
1
2
3 4
Sauder, Gerhard: Nosce te ipsum! Diaetophilus` Krankentagebuch und Geschichte der Selbstheilung von siebenjähriger Epilepsie (Carl Wilhelm Friedrich Ludwig Freiherr von Drais von Sauerbronn), in: Dietrich von Engelhardt/Hansjörg Schneble/Peter Wolf (Hg.): Das ist eine alte Krankheit: Epilepsie in der Literatur, Stuttgart 2000, S. 237–250, hier S. 238. Das Buch Weinsberg, das im Kölner Stadtarchiv liegt, ist bereits in verschiedenen Editionen erschienen: Höhlbaum, Konstantin (Hg.): Das Buch Weinsberg. Kölner Denkwürdigkeiten aus dem 16. Jahrhundert, Bd. 1 und 2, Leipzig 1886–1887, Nachdruck Düsseldorf 2000; Lau, Friedrich (Hg.): Das Buch Weinsberg. Kölner Denkwürdigkeiten aus dem 16. Jahrhundert, Bd. 3 und 4, Bonn 1897–1898, Nachdruck Düsseldorf 2000; Hässlin, Johann Jakob (Hg.): Das Buch Weinsberg. Aus dem Leben eines Kölner Ratsherrn, Stuttgart 1961. Bürgi, Andreas (Hg.): Ulrich Bräker. Sämtliche Schriften, Bd. 1–4, München 1998–2000. Jütte, Robert: Aging and Body Image in the 16th Century. Hermann Weinsberg‘s (1518– 1597) Perception of the Aging Body, in: European History Quarterly 18 (1988), S. 259– 290; Derselbe: Krankheit und Gesundheit im Spiegel von Hermann Weinsbergs Aufzeichnungen, in: Manfred Groten (Hg.): Hermann Weinsberg (1518–1597). Kölner Bürger und Ratsherr. Studien zu Leben und Werk. Köln 2005, S. 231–251; Hoffmann: Gesundheit und Krankheit.
108
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
wird.5 Der Krankenbericht in den Familienbriefen, diente nicht dazu, den Empfänger über alle Einzelheiten des Krankheitsverlaufs zu informieren, sondern muss als Teil eines Gesamtberichts verstanden werden mit dem Ziel, dem Empfänger einen ungefähren Eindruck vom Gesundheitszustand des Betroffenen und von der allgemeinem Lage im Haushalt zu vermitteln. Dem Gegenüber wurde also die aktuelle Lage geschildert, in der genaue Angaben und einzelne Ereignisse ausgespart wurden, zumal den Verwandten die Hintergründe der Erkrankung meist schon bekannt waren.6 Dieses Vorgehen findet sich beispielsweise in der Korrespondenz Hans Fuggers mit seinen Kindern und Freunden, in der seine chronische Podraga nur am Rande Erwähnung findet.7 Auch die sonst fruchtbare Arbeit mit Patientenbriefen8 lässt hier keinen Zugang zu, da kein ausreichend großer Quellenbestand für Epileptiker zusammengestellt werden konnte. Insofern stellen die Aufzeichnungen des 1798 in Zürich unter dem Pseudonym „Diaetophilus“ erschienenen autobiographischen Werkes „Diaetophilus` Physische und Psychologische Geschichte seiner siebenjährigen Epilepsie“ einen Sonderfall dar, der einen guten, wenn auch schwer vergleichbaren Ansatz für die Untersuchung bietet. Hinter dem Pseudonym Diaetophilus verbarg sich der 1755 in Ansbach geborene Karl Wilhelm Ludwig Friedrich Freiherr Drais von Sauerbronn, badischer Geheimer Rat und Oberhofrichter. Der protestantische Spross einer alten lothringischen Familie, dessen Vater markgräflich-brandenburgischer Geheimer Rat und Oberhofrichter und dessen Mutter eine geborene Reck war, schlug nach einem juristischen Studium in Erlangen und Altdorf ebenfalls die Karriere als badischer Beamter ein. 1777 erhielt er einen Sitz im markgräflich-badischen Regierungs- und Hofgerichtskollegium. 1778 wurde er Assessor und Hofjunker und arbeitete als Deputierter der Polizei und als erster Ephorus am Karlsruher Gymnasium.9 1790 wurde er Obervogt zu Kirchheim in der Grafschaft Sponheim,10 wo er sein Amt mit einer zehnmonatigen Unterbrechung im Jahr 1792 ausübte, bis ihn die Kriegsereignisse im Gefolge der französischen Revolution wie alle linksrheinischen Beamten Badens 1794 5
6 7 8 9 10
Vgl. zu Krankheit in Familienbriefen: Lane, Joan: The Doctor Scolds Me: The Diaries and Correspondence of Patients in Eigteenth Century England, in: Roy Porter (Hg.): Patients and Practitioners. Lay Perceptions of Medicine in Pre-Industrial Society, Cambridge 1985, S. 205–248; Feschet, Valérie: S’éscrire en famille, des sentiments déclinés: la correspondence rurale en Provence alpine au XIXe siècle, in: Pierre Albert (Hg.): Correspondence jadis et naguère, Paris 1997, S. 481–499. Steinke, Hubert: Krankheit im Kontext. Familien-, Gelehrten- und Patientenbriefe im 18. Jahrhundert, in: Martin Dinges/Vincent Barras (Hg.): Krankheit in Briefen im deutschen und französischen Sprachraum. 17.–21. Jahrhundert, Stuttgart 2007, S. 35–44, hier S. 36 ff. Karnehm, Christl: Quellen zur Neueren Geschichte Bayerns. Privatkorrespondenzen: Die Korrespondenz Hans Fuggers von 1566 bis 1594: Regesten der Kopierbücher aus dem Fuggerarchiv, Bd. 1 und 2, München 2003. Stolberg: Homo patiens, 2003; Derselbe: Patientenbriefe und vormoderne Medikalkultur, in: Martin Dinges/Vincent Barras (Hg.): Krankheit in Briefen im deutschen und französischen Sprachraum. 17.–21. Jahrhundert, Stuttgart 2007, S. 23–34. Sauder: Nosce te ipsum!, S. 239. ADB, Bd. 5, Leipzig 1877, S. 372 f.
3.1 Der lange Weg zur Heilung
109
zu einer Rückkehr nach Karlsruhe zwangen. In der Zeit von 1794 bis 1797 lebte er, wohl wegen der Kriegsereignisse ohne Amt zurückgezogen in Durlach, wo er auch seine Krankheit überwand.11 Während des Friedenskongresses in Rastatt übernahm Drais von Sauerbronn das Amt des Polizeidirektors. 1800 wurde ihm das Amt des Polizeidirektors in Karlsruhe übertragen. 1806 übernahm er als Hofkommissar den nach dem Preßburger Frieden dem Großherzogtum Baden zugesprochenen Breisgau, in dem er die neue Verwaltung einführen sollte. Dort wurde Drais von Sauerbronn auch zum Oberhofrichter des obersten Gerichtshofes des Badischen Herzogtums berufen, das seinen Sitz damals in Bruchsaal, ab 1810 in Mannheim hatte. Auf dieser Position verblieb er bis zu seinem Tod am 2. Februar 1830.12 Seine Schrift ist eher als autobiographisch gestaltetes Krankentagebuch denn als Autobiographie zu sehen. Im Gegensatz zur klassischen Autobiographie war die Intention des Verfassers weniger, seine Lebensgeschichte aufzuzeichnen als vielmehr den im Vergleich eher kurzen Lebensabschnitt von sieben Jahren zu beleuchten, in dem er an Epilepsie litt. Doch nicht nur im Hinblick auf die Einschränkung des dargestellten Lebensabschnitts stellt „Diaetophilus` Physische und Psychologische Geschichte seiner siebenjährigen Epilepsie“ eine Besonderheit dar, sondern auch in Bezug auf die Wahl von Krankheit als Thema einer ichbezogenen Darstellung.13 Insofern durchbricht Drais von Sauerbronn die Tradition des autobiographischen Schreibens im 18. Jahrhundert. Er verfasste seine Autobiographie weniger wegen literarischer Ambitionen, zur Selbstfindung oder Selbsterkenntnis, sondern eher in einem altmodisch aufklärerischen Sinn auf einen konkreten Nutzen hin.14 Seine Geschichte sollte als Fallschilderung dienen, die vielleicht am ehesten an die Darstellung in zeitgenössischen ärztlichen Observationen bzw. Fallsammlungen erinnert. Seine autobiographischen Aufzeichnungen basieren auf einem Krankentagebuch, das er auf Anraten seiner Ärzte während der ganzen Zeit seiner Erkrankung geführt hatte und in dem er sowohl Symptome als auch Kuren und Seelenzustände minutiös verzeichnet hatte. Das Werk sollte zum einen der Beleuchtung der medizinischen und therapeutischen Aspekte seiner Krankheit dienen, zum anderen als Erfolgsgeschichte anderen Epileptikern Mut machen und sie zu weiteren Kurversuchen motivieren. Er selbst empfand seinen Fall aufgrund seiner von den Ärzten nach sieben Jahren für aussichtlos gehaltenen Heilung als einzigartig. Seine Geschichte diente ihm als Beweis dafür, dass jede Epilepsie mit der richtigen Kur sowie genügend Ausdauer und Selbstdisziplin geheilt werden konnte. Drais von Sauerbronn teilte sein Werk in zwei Hälften: Die erste sollte die chronologische Geschichte seiner Krankheit und Genesung darstellen, die er dem Leser möglichst ohne Eigeninterpretationen präsentieren wollte. Die zweite Hälfte lieferte eine Analyse seiner Symptome, die Ursachenerklärung 11 12 13 14
Sauder: Nosce te ipsum!, S. 239. ADB, Bd. 5, Leipzig 1877, S. 372 f. Sauder: Nosce te ipsum!, S. 237. Ebenda, S. 239.
110
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
seiner Krankheit sowie einen Anhang mit diätetischen Maßnahmen (körperlicher Art und Seelendiät), die besonders Patienten dienlich sein sollte.15 Die erste Hälfte ist für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit besonders interessant, denn darin beschreibt Drais von Sauerbronn den Verlauf seiner Erkrankung und interpretiert die Ursachen in engem Zusammenhang mit den Medikamenten und Kuren, die er ausprobierte, und verbindet diese Schilderungen mit der Beschreibung seines Lebens, das heißt, vornehmlich mit seiner beruflichen Karriere und privaten Veränderungen. Der Autor kündigt in der Einleitung seines Werkes zwar größtmögliche Objektivität an sowie die Vermeidung von Eigeninterpretationen, aber an der Art seiner Darstellung lässt sich erkennen, wie sehr zum einen die Deutungsmuster seiner Zeit in seine Beobachtungen einflossen und wie die chronische Erkrankung zum anderen seine Lebensgeschichte mit neuem Bedeutungsinhalt füllte. Dies wird bereits im ersten Kapitel deutlich, in dem der Autor seine Kindheit und Jugend schildert: Der Autor bereitete hier bereits die Erklärung für seine Erkrankung vor, indem er seine ganze Lebensgeschichte im Licht der Krankheit neu deutete. Hierbei handelt es sich um einen von Soziologen als „erzählerische Neugestaltung“ bzw. „narrative reconstruction“ bezeichneten Vorgang, die Beschreibung der ganzen Lebensgeschichte, die auf die Erklärung der gegenwärtigen Situation ausgerichtet ist.16 Michael Stolberg konnte diese Neudeutung besonders in Patientenbriefen nachweisen, die von Patienten mit langwierigen Leiden verfasst worden waren. Durch die Neuinterpretation der eigenen Lebensgeschichte wurde der Erkrankung Sinn verliehen als „logischer Endpunkt einer langen Entwicklung“.17 Drais von Sauerbronn begriff seine Krankheit zum Zeitpunkt des autobiographischen Schreibens als „Schwäche der allgemeinen Lebenskraft“18 und als „Schwäche der Nerven“, die er durch übermäßige Geistesanstrengung selbst herbeigeführt habe.19 Er begann sein Einleitungskapitel daher mit der Beschreibung seiner schwachen Leibeskonstitution, deren Ursprung er bereits in der Kindheit sah: Er sei ein schwächlicher Knabe mit einem sehr schmalen Körperbau gewesen, der von einer 40-jährigen bleichen und jähzornigen Amme gesäugt und in seiner Jugend besonders behütet und verzärtelt worden sei. Schon in seiner Jugend habe er an einer besonders großen „Reizbarkeit
15 16
17 18 19
Diaetophilus [Freiherr Drais von Sauerbronn, Karl Wilhelm Ludwig Friedrich]: Physische und Psychologische Geschichte seiner siebenjährigen Epilepsie, Erste und Zweite Hälfte, Zürich 1798. Robinson, Ian: Personal Narratives, Social Careers and Medical Courses. Analysing Life Trajectories in Autobiographies of People with Multiple Sclerosis, in: Social Science and Medicine 30 (1990), 1173–1186; Kohler Riessmann, Catherine: Strategic uses of narrative in the presentation of self and illness. A research note, in: Social science and medicine 30 (1990), S. 1195–1200. Stolberg: Patientenbriefe und vormoderne Medikalkultur, S. 29. Diaetophilus: Physische und Psychische Geschichte, Erste Hälfte, S. 8 Diaetophilus: Physische und Psychische Geschichte, Zweite Hälfte, S. 91 ff.
3.1 Der lange Weg zur Heilung
111
der imaginatio“20 gelitten, die er als Hinweis auf seine Nervenschwäche deutete. Besonders machte er die ständige geistige Anstrengung für seine Erkrankung verantwortlich, der er sich sowohl während seines Studiums als auch danach in seinen Amtsgeschäften ausgesetzt hatte. Sie hätte seine angegriffenen Nerven weiter geschwächt, so dass eine Epilepsie entstanden sei. „Von diesem Zeitpunkte, dem 18. Jahr an, dauerten fast unablässig die übertriebenen Anstrengungen des Kopfes fort, welche im 32. mir schwer zu fallen begannen, und unter welchen, anderthalb Jahre darauf, die fürchterlichen Ausbrüche einer Epilepsie folgten.“21 Sehr eindringlich beschrieb er seine allzu vergeistigten Diskussionen und intensiven Studien, in deren Rahmen er Tag und Nacht las und damit seine Augen zu sehr anstrengte: Sogar noch während seiner Spaziergängen führte er ein Buch mit sich und gönnte sich so keinerlei Erholung. Seinen Kanzleigeschäften ging er mit „Feuer und eisernem Fleiß“22 nach, gönnte sich kaum Ruhephasen und lud sich durch den Zeitdruck verschiedener Ämter täglichen Stress auf. Darüber hinaus habe er sein „allzureizbares Gehirn“23 mit weiteren starken Reizen drangsaliert, indem er die Angewohnheit hatte, „alles was mir in die Hände kam, stark an den vordern Fingern zu reiben und den Geruch davon zu versuchen.“ Er überlud seinen Magen mit „leckerhaften Speisen“ und trank hastig kaltes Wasser.24 In den folgenden Kapiteln wird deutlich, dass Drais von Sauerbronn neben den von ihm als schädlich angesehenen geistigen Anstrengungen, besonders seine Essgewohnheiten, unregelmäßige Nahrungsaufnahme, zu wenig Schlaf, Völlegefühl und Verstopfung für die Reizung seiner Nerven verantwortlich machte und diese als Anfall auslösende Momente begriff. Anzeichen für seine Nervenschwäche habe es schon vor den eigentlichen Anfällen gegeben: Ich achtete den schwerern fortgang meiner schriftlichen Aufsäze am Vormittag, mein öfteres (mir jedoch nicht unangenehmes) Niesen, ja selbst die Empfindlichkeit, die einige Male rechter Seits in dem Kopfe, gerade unter den Anstrengungen der Achtsamkeit oder der Einbildungskraft, sich wie an einer einzelnen Stelle, meinem hierinn dunklen Gefühle nach, aufwärts zog – für nichts, und sah die kurzen Geistesermattungen welche mich jezuweilen in Sessionen und Gesellschaften überfielen, für bloß zerstreutes Wesen an.25
Drais von Sauerbronn interpretierte im Zuge der Ursachenerforschung auch Befindlichkeiten neu, denen er zuvor keine Beachtung geschenkt hatte. Zu diesen gehörte ein Symptom, das er fortan als Stumpfheiten bezeichnete und seinen Ärzten folgendermaßen beschrieb: […] eine Dunkelheit und Schwere, die mich im Denken aufhielt, noch mehr im Sprechen und Hören. In machen Minuten versagte mir das Gedächtnis die bekanntesten Wörter, in 20 21 22 23 24 25
Ebenda, Erste Hälfte, S. 11 Ebenda, Erste Hälfte, S. 14. Ebenda, Erste Hälfte, S. 15. Ebenda, Erste Hälfte, S. 19. Ebenda, Erste Hälfte, S. 19. Ebenda, Erste Hälfte, S. 16.
112
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen manchen das Sprachorgan seinen ganzen Dienst. Wollt` ich den Ausdruck sogleich erzwingen, so lallte ich falsche Töne oder musste wohl sechsmal langsamer als gewöhnlich eine Sylbe um die andere articulieren.26
Dieses Symptom, das sich besonders durch zu große geistige Anstrengungen, Arbeiten mit nüchternem Magen und in geschwächtem Zustand einstellte, sah er als Zeichen seiner Nervenschwäche und in engstem Zusammenhang mit seiner Epilepsie. Er unterteilte das Symptom im weiteren Krankheitsverlauf in drei Arten (die täglichen, kleinen Stumpfheiten, die „langwierige“ und die „gefährliche“ Stumpfheit“) und verzeichnete deren Auftreten in seinem Krankentagebuch. Diese Zustände zeigten seiner Meinung nach nicht nur seine nach wie vor vorhandenen schwachen Kopfnerven, sondern sie waren auch direkte Vorboten einer Überanstrengung, die zu einem epileptischen Anfall führen konnte. Die langwierigen Stumpfheiten verglich er mit einer Art Lähmung oder Blödsinnigkeit und beschrieb sie als einen Zustand, in dem ihm über längere Zeiträume das Denken und Sprechen schwerfiel und in dem er sich nur schlecht konzentrieren konnte. Die gefährlichen Stumpfheiten dauerten meist nur kurze Zeit und überkamen ihn plötzlich. In den letztgenannten sah er auch direkte Vorzeichen eines Anfalls, weil er glaubte, beobachtet zu haben, dass ihnen in den meisten Fällen ein epileptischer Anfall folgte.27 Da er diese Symptome in engem Zusammenhang mit seiner Erkrankung sah und sie für direkte Vorboten eines Anfalls hielt, zeichnete er diese genau auf, um dadurch die Zusammenhänge zu zeigen.28 In gleicher Weise standen die in den folgenden Kapiteln beschriebenen Behandlungen und Kuren in engem Zusammenhang mit dieser Interpretation der Krankheitsursachen. Eine Vermeidung der Anfall auslösenden Momente wurde zum obersten Ziel jeder Handlung. Seine Vorstellungen über die Erkrankung sowie seine Interpretation entwickelte Drais von Sauerbronn erst im Lauf der Jahre, wobei er stark durch die Korrespondenz und Gespräche mit seinen Ärzten geprägt wurde, von denen er die Terminologie und medizinische Ansätze übernahm. Die Ursachenfindung und Behandlung seiner Epilepsie war ein jahrelanger Prozess. Zusammen mit seinen Ärzten versuchte er, eine Ursache für seine Erkrankung durch Beobachtung seines allgemeinen Gesundheitszustandes und seines Krankheitsverlaufs zu finden. In die Erklärung wurden Symptome wie die sogenannten Stumpfheiten, die er im direkten Zusammenhang mit seinen Anfällen sah, einbezogen. Gleichzeitig wurden Befindlichkeiten berücksichtigt, die auf den ersten Blick nichts mit der Erkrankung zu tun hatten: Seine unregelmäßigen Ausscheidungen, häufige Blähungen und Verstopfungen, Flechten am Kopf und ein „Jucken am After“, das ihn über Jahre quälte, wurden verzeichnet und in Zusammenhang mit der Epilepsie gebracht. Im Laufe dieses Prozesses veränderten sich die Erklärungsversuche seiner Ärzte und davon beeinflusst auch seine; bereits vorhandene Symptome wur26 Ebenda, Erste Hälfte, S. 20. 27 Ebenda, Erste Hälfte, S. 35 ff.; Zweite Hälfte, S. 9–22. 28 Ebenda, Tabelle, S. 197.
3.1 Der lange Weg zur Heilung
113
den unter dem Einfluss neuer Erklärungsversuche uminterpretiert. Erklärten seine Ärzte beispielsweise seine Flechten und das Jucken zu Beginn seiner Erkrankung noch mit Schärfen im Körper, interpretierten sie diese später als zusätzliche Reizung und damit Schwächung seiner bereits angegriffenen Nerven.29 Bei der Ursachenfindung und in der daran anschließenden Therapie spielte das „Versuch und Irrtum“-Prinzip eine wichtige Rolle, wie am Behandlungsverlauf ersichtlich wird. Drei Ärzte behandelten Drais von Sauerbronn im Zeitraum von 1788 bis 1795 auf den Grundlagen der Gelehrtenmedizin ihrer Zeit. Vom ersten Arzt, in der Autobiographie nur als „S.“ bezeichnet, wurde er in Karlsruhe zuerst gegen Würmer behandelt, nachdem im Dezember 1788 nach drei Anfällen eine tatsächliche Epilepsie diagnostiziert worden war.30 Dieses Vorgehen war im Laufe des 18. Jahrhunderts zur gängigen Praxis geworden, da viele Ärzte festgestellt hatten, dass der Epilepsie häufig Würmer zugrunde lagen. In der medizinischen Literatur des 18. Jahrhunderts häuften sich Fallbeschreibungen, in denen fallsüchtigen Patienten durch wiederholte Wurmkuren geholfen worden war.31 Nachdem Würmer als Ursache der Erkrankung ausgeschlossen worden waren, behandelte S. Drais von Sauerbronn gegen „Schärfen“ im Unterleib, die er als Ursache seiner Anfälle vermutete. Im Laufe des Jahres 1789, nachdem sämtliche „schärfereduzierenden“ Mittel nicht anschlagen hatten, konstatierte S. eine allgemeine Nervenschwäche.32 Diese Diagnose wurde von dem neuen Arzt aufgegriffen, den Drais von Sauerbronn nach seiner Versetzung nach Sponheim konsultierte. Als S. 1792 den Kollegen S-r. hinzuzog, weil er vermutlich am Ende seiner Weisheit angelangt war, hielt auch dieser eine Schwäche der Kopfnerven für die Ursache der Krankheit, konstatierte aber zugleich, dass sich eine Schärfe auf die Kopfnerven geworfen haben müsse und dass besonders „Unordnungen des Unterleibes“ als Auslöser für diese in Betracht gezogen werden müssten.33 Drais von Sauerbronns Ärzte griffen bei der Behandlung auf eine bereits bei Hippokrates bekannte Theorie von scharfen Säften im Körper zurück, die den Körper oder Teile des Körpers angriffen und dadurch Ausschläge und Krankheiten verursachten. Diese Theorie hatte im 17. und 18. Jahrhundert 29 Ebenda, Erste Hälfte, S. 97 f.; Zweite Hälfte, S. 82–88. 30 Ebenda, Erste Hälfte, S. 27 ff. 31 Gordack, Johann: Geschichte der Krankheit und der Cur eines 27 Jahre hindurch mit der Epilepsie geplagten Frauenzimmers, Königsberg 1770, besonders S. 5 f.; J., T.E.H.: Nachricht eines epileptischen Patienten, so durch einen ohngefähren Zufall seine Krankheit verloren, in: Hamburgisches Magazin oder gesammlete Schriften, zum Unterricht und Vergnügen. 1747–62/63. 1755, Bd. 15, S. 313–323; in einem Aufsatz geht ein Dr. Pietsch sogar soweit zu behaupten, dass es kaum eine Epilepsie gäbe, die nicht von Würmern herrühre: Pietsch, J.G.: Nachricht über die Wirkungen der großen Baldrianwurzel wider die Würmer und Epilepsie, in: Neues Hamburgisches Magazin, Bd. 16, 93 (1775), S. 269– 278. 32 Diaetophilus: Physische und Psychische Geschichte, Erste Hälfte, S. 37. 33 Ebenda, Erste Hälfte, S. 51 ff. und S. 97.
114
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
dank der stärker werdenden iatrochemischen Schule34, die die Schärfen chemisch definierten und sie in der Nähe von Salzen und Säuren ansiedelten, neue Anhänger gefunden, und ihre Bedeutung wuchs in der medizinischen Behandlung.35 Ihren Ursprung nahmen die Schärfen nach Meinung der Ärzte in hitziger und scharfer Nahrung sowie alkoholischen Getränken. Als weitere Ursache galten die übermäßige Erhitzung oder die Verbrennung von körpereigenem Material.36 Da der alleinige Einsatz schärfeaustreibender Medikamente jedoch in früheren Behandlung erfolglos geblieben war, verbanden die Ärzte die Theorie der Schärfen im Körper mit einem weiteren zeitgenössischen Konzept, das sich im ärztlichen Diskurs bereits im 17. und 18. Jahrhundert verstärkt zu einem zentralen, erkenntnisleitenden Erklärungsmodell entwickelt hatte: dem Konzept der Nervenkrankheit. Hatten viele Ärzte im 17. Jahrhundert noch eine Störung der „Seelengeister“ bzw. „spiritus animales“, die durch die als kleine Röhrchen beschriebenen Nerven strömten und zwischen Gehirn und weiteren Körperteilen vermittelten, als Ursache verschiedener Erkrankungen angenommen, sah im 18. Jahrhundert eine zunehmende Zahl von Ärzten die Nerven und das Gehirn als eigentlichen Ort der Krankheit an. Nicht mehr eine von außen kommende Störung der Lebensgeister verursachte nach diesem neuen Modell die Erkrankungen, sondern eine Reizung der Nervenbahnen selbst, deren Empfindlichkeit zu verschiedenen Störungen führe. Diese neue Theorie wurde nicht zuletzt durch die Mitte des 18. Jahrhunderts von Albrecht Haller durchgeführten Forschungen zur Sensibilität und Irritabilität von Nerven- und Muskelfasern bestärkt. Im Zusammenhang mit dieser neuen Nerventheorie wurden vor allem die Hysterie und Hypochondrie, aber auch die Krankheit der „Vapeur“ als Nerven- und Gehirnkrankheiten umgedeutet. In Aufklärungsschriften erklärten Ärzte das neue Modell der Nervenleiden durch eine erhöhte Reizbarkeit oder Reizung der Nerven.37 Das Konzept der Nervenkrankheit, die im 18. Jahrhundert zur Modekrankheit wurde,38 hatte in Drais von Sauerbronns Diagnose schon sehr früh zur Debatte gestanden. Bevor die Ärzte 1788 Epilepsie bei ihm diagnostizierten, hatten sie die Anfälle nämlich als Hypochondrie gedeutet. Diese ist nicht mit der modernen Hypochondrie gleichzusetzen, sondern war im 18. Jahrhundert eine mit vielfältigen Beschwerden einhergehende Nervenkrankheit. Erst als die Anfälle typische Symptome aufwiesen wie das Einschlagen der Daumen und Schaum vor dem Mund, wurde die Erkrankung von seinen Ärzten als Epilepsie gedeutet.39 Diese Interpretation kehrte also in die Diagnose zurück, indem nun die Ursache der Epilepsie als Überreizung seiner Nerven gedeutet wurde. Für Drais von Sauerbronns Verständnis seiner Krankheit und 34 35 36 37 38 39
Vgl. iatrochemische Epilepsiekonzepte, Kapitel 2, S. 37 f. und S. 43–45. Stolberg: Homo patiens, S. 139 f. Ebenda, S. 142. Ebenda, S. 229. Stolberg: Patientenbriefe in vormoderner Medikalkultur, S. 29. Diaetophilus: Physische und Psychische Geschichte, Erste Hälfte, S. 19 und S. 29–33.
3.1 Der lange Weg zur Heilung
115
sein Selbstverständnis als Kranker bedeutete dies, er durfte seine Nerven auf keinen Fall überreizen, wenn er weitere Anfälle vermeiden wollte. Die Reizungen, vor denen der Patient sich hüten musste, konnten vielfältig sein. Übermäßige Emotionen, wie Zorn, Ärger, aber auch große Freude, konnten ihn ebenso in Mitleidenschaft ziehen wie mangelnder Schlaf und zu große geistige Anstrengungen wie Lesen oder das Verfassen von Texten. In den von 1788 bis 1792 angewandten Kuren spiegelten sich diese Theorien wieder. So begann Drais von Sauerbronns Kur nach seinem ersten Anfall 1788 mit Wurmmitteln, um Würmer als Krankheitsursache ausschließen zu können. Um die Schärfen im Unterleib auszutreiben, die nach der ärztlichen Theorie aus dem Magen aufsteigend die Nerven angriffen und damit die Anfälle auslösten, verschrieben seine Ärzte ihm Klistiere, Brechmittel und die sogenannten Kämpfschen Methode. Aufgrund der Diagnose „allgemeine Schwäche der Nerven“ wurde ihm über sieben Jahre Baldrian, Belladonna und weitere als nervenstärkend geltende Medikamente verabreicht. Molken, Abführ- und Brechmittel, Fontanellen, blasenziehende Pflaster und Blutegel sollten die noch immer angenommenen Schärfen verdünnen und aus seinem Körper transportieren.40 Eine körperliche und seelische Diät, die auf Speisen, die keine Blähungen hervorrufen, und auf die Schonung der Kopfnerven abzielte, sollte die angegriffenen Nerven beruhigen und eine Ansammlung der Schärfen im Unterleib vermeiden. Deshalb verordneten die Ärzte eine Diät aus Gemüse, gekochtem Obst, schleimigen Suppen und weißem Fleisch, das den Magen schonen, eine regelmäßige Verdauung herstellen und Blähungen vermeiden sollte. Wein und Kaffee sollte er strikt meiden. Im Jahre 1792 konsultierte Drais von Sauerbronn auf Drängen seiner Familie und Freunde auch den französischen Arzt de V., der einen guten Ruf genoss und gerade die Gegend durchzog. Der führte die Anfälle auf einen zu starken Zufluss des Blutes in den Kopf und eine gleichzeitig zu geringe Durchblutung der Extremitäten zurück. Er empfahl, bluterzeugende Nahrungsmittel zu meiden, Blutegel am After anzusetzen und kalte Kopfbäder, um das Blut aus dem Kopf zu ziehen. Dazu sollten Molken sein Blut verdünnen und es wurden Aloepillen, Salmiak41 und Isländisches Moos zur Austreibung der Schärfen gereicht. Drais von Sauerbronn stand dem Arzt und dessen Kurvorschlägen allerdings so skeptisch gegenüber, dass er diese erst nach Absprache mit seinem regulären Arzt ausprobierte.42 Diese Form der Behandlung wurde bis 1795 weitergeführt. Wechselnde Abführmittel wurden in Kombination mit neuen nervenstärkenden Mitteln eingesetzt. Ab 1793 kamen Belladonna in steigender Dosis und ein „acidum
40 Ebenda, Erste Hälfte, S. 299–319. 41 Salmiak wurde von Vertretern der iatrochemischen sowie iatrophysischen Richtung empfohlen, um saure Dämpfe und Flüssigkeiten im Gehirn aufzulösen: Kutzer: Das Bild der Epilepsie, S. 101 ff., 129. 42 Diaetophilus: Physische und Psychische Geschichte, Erste Hälfte, S. 310.
116
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
vitrioli“43 zu altbewährten Mitteln wie Schwefel- und Kampferpillen sowie Mineralwässern.44 Neben der Behandlung der eigentlichen Krankheit lag ein weiterer Augenmerk auf vorbeugenden Maßnahmen. Alle Anstrengungen und Belastungen, die die Nerven schwächen und zu Symptomen wie Stumpfheit oder zu einem Anfall führen konnten, sollten vermieden werden. Deshalb sollte sich der Patient keinen allzu starken geistigen Anstrengungen unterziehen,45 sollte jede Art von Aufregung vermeiden und für genügend Erholungsphasen, d. h. für ausreichenden Schlaf und Pausen sorgen. Auch die Einnahme regelmäßiger Mahlzeiten, die aber nicht zu üppig sein durften, wurde empfohlen. Als sich 1792, im dritten Jahr seiner Krankheit, seine Anfälle und „Stumpfheiten“ merklich häuften, rieten ihm seine Ärzte zu stärkerer Schonung und weniger geistiger Tätigkeit, was in der Konsequenz einen vorläufigen Rückzug aus den Amtsgeschäften bedeutete.46 Deshalb bat Drais von Sauerbronn im März 1792 um eine Dispensation durch den Landesherrn, die es ihm ermöglichte, einen Großteil seiner schriftlichen und geistigen Arbeit abzugeben. Doch im September desselben Jahres musste er nach einer weiteren Häufung der Anfälle und Stumpfheiten einen zehnmonatigen Urlaub nehmen, in dem ihm jede geistige Anstrengung verboten war, woraufhin er sich im Haus seines Bruders zurückzog.47 Im Laufe der Jahre wurden Drais von Sauerbronn wechselnde Anfall vorbeugende Medikamente gereicht, die er in akuten Situationen zu sich nehmen konnte. Er setzte zu diesem Zweck verschiedene Riechmittel ein, die ihn bei Bewusstsein halten sollten;48 in den letzten Jahren der Erkrankung griff er besonders häufig auf den Liquor Lentini oder Hoffmanschen weißen Liquor49 zurück.50 Familie und Freunde nahmen regen Anteil an seiner Erkrankung und spielten eine wichtige Rolle in der Krankheitsbewältigung und Behandlung. Drais von Sauerbronn berichtet in seinem Werk zum Beispiel von regelmäßiger Korrespondenz mit seiner Stiefmutter und Freunden und von den vielen 43 Ebenda, Erste Hälfte, S. 314; Vitriol wurde aus Eisen- und Kupfersulfat gewonnen und mit Alkohol umgesetzt: Priesner: Vitriol, S. 367 f. 44 Diaetophilus: Physische und Psychische Geschichte, Erste Hälfte, S. 309 ff. 45 Auch Friedrich Hoffmann empfahl einem 19-jährigen epileptischen Patienten, alle geistigen Anstrengungen zu vermeiden, so solle er sich besonders vor „studiis“ und Nachdenken hüten und starke Getränke, die den Kopf einnehmen, meiden. Zudem verschrieb er ihm einen „nervenstärkenden spirituum“, um die Kopfnerven zu kräftigen: Hoffmann, Friedrich: Medicina Consultatoria, Worinnen unterschiedliche über einige schwehre Casus ausgearbeitete Consilia, auch Responsa Facultatis Medicae enthalten …, Sechster Teil, Halle 1728, S. 23 f. 46 Diaetophilus: Physische und Psychische Geschichte, Erste Hälfte, S. 97 f. 47 Ebenda, Erste Hälfte, S. 107 f. 48 Ebenda, Erste Hälfte, S. 79, 98. 49 In den Hoffmannstropfen bzw. Liquor anodynu Hoofmanni (benannt nach dem Arzt Friedrich Hoffmann) wurde vor allem süßer Vitriolgeist, der aus Eisen- und Kupfersulfat gewonnen und mit Alkohol umgesetzt wurde, verwendet, vgl. Priesner: Vitriol, S. 367 f. 50 Diaetophilus: Physische und Psychische Geschichte, Erste Hälfte, S. 104 und 181, 184.
3.1 Der lange Weg zur Heilung
117
Krankenbesuchen während seines Aufenthaltes in G. bei seinem Bruder, die ihm neue Kraft gäben. Seine Verwandten und Freunde verfolgten seine Behandlung und versuchten ihm Ratschläge für seine Genesung zu geben. Auf Drängen von Freunden und Bekannten probierte er Kuren aus, denen er selbst eigentlich eher skeptisch gegenüberstand: Direkt zu Beginn seiner Krankheit nahm er ab Januar 1790 auf den Rat von Verwandten hin mehrere Dosen eines Arkanums ein, das ihm eigens aus Holland geschickt wurde.51 Im August 1792 gab er dem Drängen seiner Freunde nach und konsultierte den französischen Arzt de V. 52 Eine herausragende Bedeutung kam in diesem Zusammenhang seiner Frau zu, die in der Behandlung und bei der Pflege eine wichtige Stütze war. Zusammen mit ihrem Mann überwachte sie den Verlauf seiner Krankheit und übernahm dort die Beobachterrolle, wo er sie nicht ausüben konnte. Auf seinen Wunsch hin beobachtete sie den Verlauf seiner Anfälle und achtete gemeinsam mit ihm auf sein Befinden. Verspürte er beispielsweise die Vorzeichen eines Anfalls, die sich in Form einer gefährlichen Stumpfheit oder als Gefühl einer aufsteigenden Aura ankündigten, stand seine Frau ihm zur Seite, indem sie ihm Riechmittel oder anfallvorbeugende Medikamente reichte. Sie half ihm beim Frottieren, einer Prozedur, bei der mit groben Handtüchern vom Kopf abwärts über die Haut gestrichen wurde.53 Diese sollte aufsteigende Nervenbewegungen bzw. eine zu starke Blutzufuhr zum Kopf unterbinden und vom Kopf wegtreiben. Diese Vorstellungen führte Drais von Sauerbronn auf das Gefühl einer aufsteigenden Bewegung während seinen Auren zurück.54 Ließ sich der Anfall nicht mehr abwenden – ob er sich durch solche Maßnahmen tatsächlich aufhalten ließ sei dahingestellt –, assistierte ihm seine Frau während des Anfalls, indem sie ihn vor allzu harten Stürzen bewahrte und ihn günstig bettete. Sie beteiligte sich auch am Abfassen seines Krankheitsjournals, indem sie zum Beispiel miterlebte Anfälle und deren Ablauf schilderte. Sie trug damit zur Korrespondenz zwischen Drais von Sauerbronn und seinem Arzt bei und übernahm somit die Rolle einer Pflegerin und Beobachterin. Im Mai 1794 verkündete sein Arzt, was er selbst sich auch schon gedacht hatte: Seine Krankheit sei unheilbar. Er notierte am 12. Mai 1794 in sein „Moralisches Tagebuch“: „Am Abend dieses Tages erhielt ich des Arztes redliche Ankündigung, dass er meine Epilepsie für unheilbar halte – ohne Seelenerschütterung, meiner Erwartung gemäss, und soviel als vorhin in Heiterkeit.“55 Danach begann er, alle Medikamente abzusetzen, zumal er selbst eingestand, dass er keine sonderliche Lust mehr verspürte, weitere Kuren auszuprobieren. In Gebrauch blieben die Belladonna, die einen guten Schlaf garantieren sollte, und verschiedene vorbeugende Medikamente. Die traditionelle Epilepsie-Be51 52 53 54 55
Ebenda, S. 46 und 48. Ebenda, S. 105. Kutzer: Das Bild der Epilepsie, S. 105 f. Diaetophilus: Physische und Psychische Geschichte, Erste Hälfte, S. 117 und 120 f. Ebenda, Erste Hälfte, S. 291.
118
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
handlung hatte versagt, und seine Ärzte mussten die Krankheit als unheilbar einstufen.56 Im Januar 1795 startete sein Arzt einen neuerlichen Versuch, der Krankheit entgegenzuwirken. Er hatte sich mit der neuen Theorie von Brown und Weikard beschäftigt und gab seinem Patienten „Weikards Entwurf einer einfacheren Arzneikunst“57 zu lesen.58 Darin übersetzte und kommentierte Melchior Adam Weikard die von John Brown an der Universität zu Edinburgh entwickelte Krankheitstheorie: John Brown (1735–1788) verstand das Leben als einen durch innere und äußere Reize erregten und dadurch aufrecht erhaltenen Gesundheitszustand. Für Gesundheit oder Krankheit sei die Grunddisposition des Körpers entscheidend, d. h. die Bereitschaft und Fähigkeit des Organismus auf entsprechende Reize zu reagieren, seine Reizbarkeit also. Differenziert wurde von Brown zwischen sthenischen Krankheiten, die man als Reizüberflutung mit der Folge der Abnahme der Erregbarkeit ansehen könne, und asthenischen Krankheiten, die aus einer Reizmangelerscheinung resultierten. Die Epilepsie ordnete Brown den asthenischen Krankheiten zu, die durch eine Schwächung des Körpers hervorgerufen wurde, der durch diese nicht mehr in der Lage war alle Reize zu verarbeiten, was zu einer größeren Erregbarkeit führte.59 Bei Epilepsie fehle es, so Brown, an gutem Blut und guten Säften im Körper, denen eine „debilitas rectas“, eine eigentliche oder regelmäßige Schwäche des Körpers zugrunde liege.60 Diese eigentliche Schwäche führe zu einer größeren Erregbarkeit des Organismus und reagiere bei einer Reizüberflutung von außen mit den Krämpfen.61 Das Therapieziel müsse deshalb sein, dort, wo man die schädigenden Einflüsse auf den Körper nicht beseitigen könne, ein Gleichgewicht der Erregbarkeit herzustellen, um so die Gesundheit wiederherzustellen. Dazu müssten bei asthenischen Krankheiten anregende und kräftigende Therapeutika angewendet werden.62 Weikards Theorie schien Drais von Sauerbronn überzeugend oder schien ihn zumindest insofern anzusprechen, als er im Anschluss an diese Lektüre einen neuen Behandlungsversuch wagte und gemeinsam mit seinem Arzt seine Diät umstellte: 1.) Mich fast ganz an Fleisch und an die Fleischbrühe, an Reis, Gerste, Gries, Eier und Milch zu halten; dagegen fast alles Gemüse, Obst und die meisten überzuckerten Kleinigkeiten, die ich auch unter Tages viel genossen habe, zu entfernen. 2.) Etwas mehr ächten alten Wein und Cafee zu geniessen, auch zuweilen ein Caffelöffelchen Kirschengeist unter Wasser zu mengen.
56 Ebenda, Erste Hälfte, S. 155. 57 Weikard, Melchior Adam: Entwurf einer einfacheren Arzeneykunst oder Erläuterung und Bestätigung der Brownischen Arzeneylehre, Frankfurt a. M. 1795. 58 Diaetophilus: Physische und Psychische Geschichte, Erste Hälfte, S. 199. 59 Weikard: Entwurf einer einfacheren Arzeneykunst, S. 88 ff. 60 Ebenda, S. 90. 61 Ebenda, S. 19 ff. 62 Eckart: Geschichte der Medizin, S. 183 f.
3.1 Der lange Weg zur Heilung
119
3.) Im Ganzen weniger Wasser, und nur wohl überschlagenes, zu nehmen, statt daß ich sonst fast alle Stunde kaltes geschluckt hatte. 4.) Alle frappante Abänderungen von Wärme und Kälte sorgsam zu verhüten. 5.) Das Waschen des Körpers seltener, auch wärmlichter einzurichten, und nur den dagegen nicht empfindlichen Kopf öfter und kühler zu formentiren.63
Diese Diät richtete sich genau gegen die vorhergehende für die Epilepsie-Behandlung traditionelle Diät, in der der Fleisch- und vor allem der Weingenuss untersagt waren, weil man durch diese eine Vollblütigkeit fürchtete. Mit Hilfe der neuen Diät sollte in erster Linie die schwache Leibeskonstitution ausgeglichen werden, die im Fall von Drais von Sauerbronn als Ursache der epileptischen Anfälle vermutet wurde. Dem Körper wurden nun vorrangig als stärkend klassifizierte Lebensmittel und Getränke wie kräftigendes Fleisch, Eierspeisen, Wein und Kirschgeist zugeführt.64 Diese Diät wurde, wie aus der Korrespondenz mit einer Freundin, die sich um das Wohl Drais von Sauerbronns sorgte, hervorgeht, noch einmal modifiziert. Sie schlug ihm in einem Brief vor, die neue Brownsche Methode auszuprobieren, an die sich Weikard in weiten Teilen anlehnte. Diese hatte sie von ihrem Arzt empfohlen bekommen. Zur Bekämpfung welcher Krankheit der Arzt ihr diesen Ratschlag erteilt hatte oder ob sie ihm vielleicht den Fall ihres Freundes dargelegt hatte, ist nicht bekannt. Der Patient war zuerst skeptisch gegenüber weiteren Experimenten. In ihrem Antwortschreiben empfahl Fräulein G. die „Brownsche Kurart“ noch nachdrücklicher, woraufhin sich sein Arzt mit dem Arzt des Fräulein G. in Verbindung setzte und daraufhin ebenfalls die Brownsche Methode empfahl. Drais von Sauerbronn akzeptierte die neue Diät und aß den Empfehlungen der Brownschen Diätetik folgend, fortan fast ausschließlich Fleisch, um seinen Körper zu kräftigen. Ab März wurde zusätzlich Chinarinde verordnet. Dass die Anfälle seit Januar 1795 ausblieben und sich sein Gesundheitszustand verbesserte, führten Drais von Sauerbronn und dessen Ärzte auf die neue Diät zurück. Sie deuteten die Ursache seiner Erkrankung dementsprechend um als allgemeine Schwäche der Lebenskraft des Patienten. Diese habe durch fortwährende geistige Anstrengung, denen der schwache Körper nichts entgegenzusetzen hatte, zu einer Unordnung des Kreislaufs, einer Unordnung des Magen- und Verdauungstraktes und zu einer Schwächung der Nerven geführt und damit die Grundlage zu seiner Epilepsie gelegt. Deshalb habe erst durch die Stärkung der allgemeinen Lebenskraft seine Erkrankung geheilt werden können.65 Drais von Sauerbronn kritisierte im Nachhinein aber keineswegs die zuvor unternommenen Kuren; auch die zuvor angenommenen Ursachen wie Würmer, Infarkt, Schärfen, Blutanhäufungen im Hirn oder andere Stockungen in der rechten Hirnhälfte hätten ihre Berechtigung gehabt, da es für alle 63 Diaetophilus: Physische und Psychische Geschichte, S. 199. 64 Weikard: Entwurf einer einfacheren Arzeneykunst, S. 309 ff. 65 Diaetophilus: Physische und Psychische Geschichte, Zweite Hälfte, S. 89–107, besonders S. 91 ff.
120
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
ausreichende Symptome gegeben habe.66 Allerdings hätten diese Kuren bei ihm nicht anschlagen können, weil seine Epilepsie nicht auf einer zu lokalisierenden Ursache, sondern, wie sich herausgestellt habe, auf einer allgemeinen Schwäche des Körpers basiere, die wiederum in Zusammenwirkung mit verschiedenen Ursachen erst zu seiner Epilepsie geführt habe. Damit stilisierte Drais von Sauerbronn seinen Fall nicht nur zu einer Besonderheit, sondern glaubte, durch seine glückliche Heilung eine neue Ursache der Epilepsie erkannt zu haben, die von den Ärzten bisher nicht in Betracht gezogen worden war. Seiner Meinung nach existierten drei Ursachen: 1. Eine kranke Beschaffenheit im Kopf (durch Unfall), 2. Allgemeine Schwäche des Körpers bzw. allgemeine oder partielle Verdorbenheit (dazu rechnete er lokale Ursachen wie Schärfe, Würmer u. a.) und 3. Mischung mehrerer Übel, vor allem Mischung des Kopfübels mit einem weiteren Übel, wozu er seine Art der Epilepsie rechnete, bei der seine allgemeine Schwäche der Lebenskraft und seine Nervenschwäche zur Erkrankung geführt habe.67 Daraus folgerte er, dass Epileptiker, deren Epilepsie mit der traditionellen Form der Epilepsie-Behandlung nicht geheilt werden konnten, möglicherweise an der gleichen Form wie er selbst litten und dass für diese nun ein neuer Behandlungsansatz existiere, der möglicherweise erfolgversprechender sei.68 Welche Auswirkungen hatte die Epilepsie nun auf den Alltag des Patienten? Diese Frage ist nur indirekt zu beantworten, da der Autor in seinen Schilderungen sowohl seine Emotionen als auch die Beschreibungen der Auswirkungen auf sein Leben ausspart. Der Umgang mit seiner Krankheit wird dadurch nur spärlich sichtbar, und vielfach muss zwischen den Zeilen gelesen werden, um überhaupt Aussagen treffen zu können. Sicher ist, dass seine ersten Anfälle im Jahr 1788 für einiges Aufsehen sorgten, da er sie in der Öffentlichkeit erlitt: Die erwähnten zween Vorfälle haben den Verdacht einer fallenden Sucht erregt – und Verdacht ist beim Publikum nur allzuleicht zum allgemeinen Glauben hinreichend, der doch auf die Schäzung eines Mannes, auf seinen Wirkungs-Kreis und auf die Wolfahrt der Seinigen einen nicht geringen Einfluss hat. Ich halte es also um so mehr für meine Pflicht, der Sache auf das genaueste nachforschen zu lassen. […] Sagen sie [die Ärzte], es sey wirklich ein Anfall davon, so ist die Entdeckung wieder höchst wichtig, um in Zeiten noch durch kräftige Mittel geheilt zu werden oder andern Falls eine passende Lebensbestimmung zu wählen.69
Diese ruhige und gefasste, beinahe schon gefühlskalte Beobachtung seiner Lage dürfte Drais von Sauerbronn erst später bei der Betrachtung seiner Krankengeschichte möglich gewesen sein. Dennoch spricht gerade diese Passage zwei wesentliche Punkte an: Erstens war sich Drais von Sauerbronn sehr deutlich bewusst, dass seine Krankheit sich als heilbar oder als unheilbar herausstellen konnte und eine chronische Epilepsie sein Leben vermutlich wesent66 67 68 69
Ebenda, Zweite Hälfte, S. 93 ff. Ebenda, Zweite Hälfte, S. 111 ff. und 125 ff. Ebenda, Zweite Hälfte, S. 146–152. Ebenda, Zweite Hälfte, S. 25.
3.1 Der lange Weg zur Heilung
121
lich verändern würde. Zweitens wird aus dieser Passage deutlich, dass schon bloße Gerüchte über eine mögliche epileptische Erkrankung sich auf seine gesellschaftliche Stellung und seine Karriere auswirken konnten. Seinen dritten Anfall beschrieb Drais von Sauerbronn in seinem Krankheitsjournal, aus dem Auszüge auch in der Krankengeschichte selbst präsentiert wurden, besonders ausführlich: Am 16. December stand ich Abends schon am Tische und rief nach meinen Gesellschaftern; in wenigen Augenblicken aber, da sie in das Zimmer traten, sahen sie mich hingefallen auf den Boden, und gleich darauf in Convulsionen. Ich selbst erinnere mich soviel, dass, gleich nachdem ich zum Essen gerufen hatte und mich hinsetzen wollte, mehrere ganz verschiedene Bilder sich in meinem Kopfe durchkreuzten; dass dieses Hin- und Wiederziehen stärker wurde, und mir dann schnell die Sinne raubte, wie beim ersten und zweiten Anfall. Mein Bedienter, der im Zimmer stand, sagt aus: ich habe vor und während dem Hinfallen einen in der Stärke zunehmenden aneinander hängenden Ton, so wie ein Schaf blökt, von mir gegeben, sey nach dem Hinfallen mit den Füßen ganz ruhig gelegen, habe aber mit den Aermen mich desto mehr bewegt, und die Daumen seyen eingeschlossen gewesen. Ein wenig Schaum hat man vor dem Munde gefunden. Die convulsivischen Bewegungen haben etwa eine halbe Viertelstunde, die Ohnmacht aber beinahe eine Viertelsstunde gedauert […]70
Diesem Anfall gebührte deshalb besondere Aufmerksamkeit, weil in ihm die typischen Symptome eines epileptischen Anfalls, wie die eingeschlagenen Daumen, die Ohnmacht, die konvulsivischen Bewegungen und der Schaum vor dem Mund, den Ärzten den Hinweis für die Diagnose gaben.71 Es handelte sich tatsächlich um Epilepsie, und der Patient musste sich nun mit diesem Umstand auseinandersetzen. Die Hoffnung auf Genesung und die Prophylaxe bildeten für Drais von Sauerbronn in den nächsten Jahren einen wichtigen Ausgangspunkt im Umgang mit der Erkrankung. Dazu gehörte auch die ständige Selbstbeobachtung und deren Aufzeichnung in seinem Krankheitsjournal, durch die er hoffte, die Zusammenhänge zwischen seinen einzelnen Symptomen sowie Anfall auslösende Momente und Vorzeichen zu erkennen und diese zu vermeiden. Gleichzeitig diente die Selbstbeobachtung dazu herauszufinden, ob eines der angewandten Heilmittel anschlug oder zumindest eine Besserung der Symptome zeigte. Aus diesem Grund zeichnete der Verfasser seine epileptischen Anfälle exakt auf und versuchte, seine Symptome und Handlungen zu rekonstruieren, die diesen vorausgingen. Nach einiger Zeit der Beobachtung vermutete er, dass ihm besonders Schlafmangel und Arbeiten auf nüchternen Magen zu 70 71
Diaetophilus: Physische und Psychische Geschichte, Erste Hälfte, S. 33. In ärztlichen medizinischen Gutachten über die Echtheit oder Simulation von Epilepsien wurde das Fehlen einer oder zwei dieser Symptome häufig zum Anlass genommen, die Echtheit der untersuchten Epilepsie anzuzweifeln. Dann wurde versucht, mit Stockschlägen den Anfall zu unterbrechen oder durch Leuchten in die Augen festzustellen, ob der Patient reagierte, um dadurch den endgültigen Beweis der Epilepsie-Simulation zu erbringen: Hasenest, Johann Georg: Des Medicinischen Richters oder Actorum PhysicoMedico Forensium, 3. Theil 1735–1757, Onolzbach 1757, S. 54–56; Fritsch, Johann Christian: Seltsame jedoch wahrhafftige Thelogische/Juristische/Medicinische und Physicalisch Geschichte, Leipzig 1730, besonders S. 679 f. und S. 682 f.
122
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
schaffen machten und die Stumpfheiten hervorrief.72 Auch regelmäßige Ausscheidungen schienen ihm sehr wichtig, weil Verstopfungen und Blähungen einen Angriff auf seine Nerven bedeuteten, die ebenfalls Stumpfheiten, sogar Anfälle auslösen konnten.73 Daher zeichnete er seine Stuhlgänge und sonstigen Ausscheidungen nahezu obsessiv auf und wandte bei kleinsten Anzeichen von Verstopfungen oder Blähungen sofort Klistiere74 oder bei einem überfüllten Magen Brechmittel an.75 Viel Wert legte er auf einen geregelten Tagesablauf mit regelmäßigen Mahlzeiten, die ihn vor Schwächeangriffen schützen sollten, mit genügend Pausen zum Ausruhen und mit weniger Geistesanstrengungen. Wie aus Tabelle 1 ersichtlich wird, erlitt Drais von Sauerbronn in sieben Jahren 65 epileptische Anfälle, davon in den ersten Jahren nur drei bis fünf pro Jahr. Im Jahr 1792, das er als das schlimmste hinsichtlich seiner Krankheit empfand, steigerte sich diese Zahl schlagartig auf 20 Anfälle pro Jahr, von denen er am 9. Mai drei Ausbrüche und am 20. Dezember zwei am selben Tag hatte, die er in der Tabelle als einen Ausbruch rechnete.76 Tabelle 1 Jahr
Langwierige Stumpfheiten
Gefährliche Stumpfheiten
Ausbrüche
1788
---
---
3
1789
11
7
3
1790
Mehr als 7
Mehr als 8
5
1791
Mehr als 7
Mehr als 12
5
1792
11
Ca. 44
20
1793
7
46
10
1794
10
Ca. 22
18
1795
---
---
1
1796
---
---
---
1797
---
---
---
Übernommen aus: Diaetophilus: Physische und Psychische Geschichte, Erste Hälfte, S. 197.
72 73 74
Diaetophilus: Physische und Psychische Geschichte, Erste Hälfte, S. 35 f., 61, 76. Ebenda, Erste Hälfte S. 56, 96; Zweite Hälfte, S. 66 ff. Auch Friedrich Hoffmann wies bei einem 23 jährigen Patienten, dessen Krankheit schon sehr eingewurzelt war, darauf hin, wie wichtig es sei den „Leib offen zu halten“. Deshalb solle er seine Diät auf einen regemäßigen Stuhlgang ausrichten und im Fall von „Hartleibigkeit“ Klystiere gebrauchen: Hoffmann: Medicina Consultatoria, Zweiter Teil, S. 220 f. 75 Diaetophilus: Physische und Psychische Geschichte, Erste Hälfte, S. 300–319; Zweite Hälfte, S. 68 f. 76 Ebenda, S. 121 und 127.
3.1 Der lange Weg zur Heilung
123
In den darauffolgenden Jahren nahm die Zahl seiner Anfälle nur geringfügig ab, bis sie nach einem Ausbruch im Jahr 1795 schlagartig aufhörten.77 Drais von Sauerbronn erlitt faktisch also nur einige Anfälle pro Jahr. Viel häufiger zeigten sich dagegen die Symptome, die er als langwierige und gefährliche Stumpfheiten bezeichnete. Deren Zahl steigerte sich ebenfalls bis zum Jahr 1792. Diese Stumpfheiten, die er als Ausdruck seiner Nervenschwäche und als Ausdruck abgewendeter Anfälle wertete, beeinträchtigen ihn anscheinend wesentlich stärker in seinem Alltag als die gelegentlich auftretenden Anfälle. Er berichtete in seiner Krankengeschichte, die Stumpfheiten hinderten ihn am Denken und störten seine Konzentration, wodurch seine Arbeit beeinträchtigt würde.78 Drais von Sauerbronn arbeitete zum Zeitpunkt seines ersten Anfalls 1788 als Beamter der Regierungs-, Konsistorial- und Justiz-Kollegien in Karlsruhe. Durch die Stumpfheiten, die ihn seiner Konzentration beraubten, fühlte er sich häufig nicht in der Lage, seinen Aufgaben gerecht zu werden. Da er diese zudem, bestärkt von seinen Ärzten, als Folge zu großer Anstrengung begriff,79 versuchte er bereits zu Beginn seiner Erkrankung, seine Kopfnerven durch Einschränkung seiner Aufgaben, weniger Lese- und Schreibarbeiten und längeren Pausen zu schonen. Wichtig war für ihn vor allem, regelmäßig zu essen und sich nicht mehreren großen Belastungen am Tag auszusetzen. Standen beispielsweise am Abend geschäftliche Essen an, die ihn wegen ihrer Länge und der intensiven Gespräche sehr anstrengten, bemühte er sich, am Tag weniger Kopfarbeiten zu erledigen und bereits ein wenig vorzuschlafen.80 Insofern schränkten die Stumpfheiten und das Gebot der Schonung seine Arbeitsfähigkeit sehr viel mehr ein als die Anfälle selbst, die er bis auf die ersten drei Anfälle 1788 auch nie mehr in der Öffentlichkeit erlitt.81 Die Geschäfte liefen trotz dieser Einschränkungen, der Belastung durch die immer wiederkehrenden Stumpfheiten und gelegentlichen epileptischen Anfällen gut, wie der Autor in seinen Ausführungen immer wieder betonte. Er versah seine Aufgaben trotz der Erkrankung weiter; gönnte sich aber mehr Schonung und verschiedene kleinere Lustreisen zur Erholung. Zwei mehrwöchige Badekuren in Deinach82 und Schwalbach83 dienten ebenfalls seiner Wiederherstellung. Von diesen Unterbrechungen abgesehen, setzte er seinen Dienst bis 1792 fast ununterbrochen fort. 1790 übernahm er sogar eine neue Stelle als Oberbeamter in der linksrheinischen Obervogtstelle in Kirchberg in der Grafschaft Sponheim.84 Es ist allerdings schwer zu beurteilen, ob seine Erkrankung Ursache des Arbeitswechsels war und man ihn durch einen Abruf 77 78 79 80 81 82 83 84
Ebenda, Erste Hälfte, S. 197. Ebenda, Erste Hälfte S. 35 f. Ebenda, Erste Hälfte, S. 35 f., S. 45, S. 76; Zweite Hälfte, S. 229–232. Ebenda, Erste Hälfte, S. 35–40. Ebenda, S. 16, S. 52, S. 57, S. 67. Ebenda, Erste Hälfte, S. 37 ff. Ebenda, Erste Hälfte, S. 42 ff. ADB, Bd. 5, Leipzig 1877, S. 372.
124
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
von seinen Karlsruher Ämtern und einer Versetzung auf das Land schonen wollte. Er selbst äußert sich in seiner Darstellung dazu nicht. Über seinen Amtsantritt notierte er in seiner Autobiographie, dass er die ihm gestellten Aufgaben trotz seiner Erkrankung so gut wie möglich meistern wolle. Er wolle vor seinen neuen Kollegen und Untergebenen im bestmöglichen Licht erscheinen. Dennoch wüssten seine Mitarbeiter von seiner Erkrankung, und diese Tatsache helfe ihm, seine Arbeit einzuschränken und weiterhin darauf zu achten, sich nicht zu sehr zu überfordern. Am 17. Januar 1791 notierte er in seinem Krankheitsjournal: Ich brauche weniger Zeit mit Abhörung der Partheien und mit Sollicitanten zu verlieren, weil man es nun nicht für Gemächlichkeit, sondern für eine nothwendige Eintheilung meiner Gesundheitskräfte erkennt, wenn ich kleinere Gegenstände an andere weise, um desto mehr Einsicht von den erheblicheren zu nehmen. 3) Dadurch dass man mein Nervenübel kennt, ist der üblen Nachrede, welcher doch kein Mensch entgeht, schon ein bestimmter Theil angewiesen, und man ist weniger mehr neugierig, andere Mängel zu entdecken. Damit ist 4) der wesentliche Vortheil verbunden, dass jene Nachrede mir nicht, wie irgend eine andere, Hass, sondern Mitleiden und liebevolle Entschuldigung, auch wohl eine Hochachtung darüber, dass ich noch so weit tätig bin, gewinnt. Denn im Ganzen geht das Amt gut.85
Die Epilepsie scheint also seinem Ruf unter den neuen Untergebenen keinen Abbruch getan, sondern ihm vielmehr einen gewissen Freiraum für Schonung verschafft zu haben. Doch scheint es, als habe er sich nicht allzu sehr in seiner Arbeit eingeschränkt. Denn als 1792 die Anfälle stark zunahmen, führte er dies auf die viele Arbeit zurück. Er hatte das Gefühl, er könne im Arbeitsalltag seine Nerven nicht schonen. Auf Anraten seiner Ärzte, die ihm nahe legten, jede geistige Anstrengung auf ein Minimum zu reduzieren, musste er eine Dispensation vom Landesherren erbitten, die ihm auch gewährt wurde. Durch diese stand er zwar weiter seinem Amt vor, wurde aber von großen Teilen seiner Pflichten entbunden. Er hoffte, mit weniger Arbeit und damit weniger gedanklicher Anstrengung, die Anfälle und vor allem die Stumpfheiten wieder in den Griff zu bekommen.86 Doch trotz der Dispensation fühlte er sich offensichtlich genötigt, wichtige Arbeiten selbst zu erledigen: Ich hatte seither erfahren, dass es, um anwesend und kein Kloz zu seyn, bei aller Dispensation von den meisten laufenden Amtsgeschäften, nicht anders möglich sey, als dennoch viele Sachen nachzusehen, zuweilen eine zu ergründen, die mit Vertrauen hinzudringenden Landleute, vor deren Augen ich, noch gutaussehend, täglich spazieren reiten und fahren konnte, öfter anzuhören und manche Dinge auch schriftlich ins Reine zu bringen. Aber ebenso gewiss erschien diese Anstrengung, in unwillkührlichen halben Stunden, als das stärkste Hinderniss an einer möglichen Erholung und als die Bahn zu grösserem Elende. Ich musste also, so schwer ich mich auch in den damaligen politischen Zeitläufen dazu entschloss, gänzlich Diensturlaub nehmen, der in der Folge auf zehn Monate verlängert wurde. Hätte ich nur die Ruhezeit besser zu benuzen verstanden! Ich reiste mit Weib und Kindern am Ende Septembers nach G. zu meinem Bruder […]87
85 Diaetophilus: Physische und Psychische Geschichte, Erste Hälfte, S. 273. 86 Ebenda, Erste Hälfte, S. 107 f. 87 Ebenda, Erste Hälfte, S. 108.
3.1 Der lange Weg zur Heilung
125
In dieser Zeit stellte er das Lesen nahezu völlig ein und übernahm kleine handwerkliche Arbeiten, um sich abzulenken und sich körperlich zu betätigen. Nach einer vermeintlichen Besserung des Leidens nahm er Ende 1793 wieder seine Amtsgeschäfte auf, doch daraufhin verschlimmerten sich die Anfälle wieder. Trotzdem blieb er bis Ende 1794 im Amt, bis ihn die Kriegsunruhen im Gefolge der Französischen Revolution zusammen mit seinen Kollegen zu einem Rückzug nach Karlsruhe zwangen.88 Er flüchtete danach von Karlsruhe nach Durlach, wo er drei Jahre auf einen erneuten Amtsberuf wartete. In dieser Zeit überwand er seine Erkrankung, was er nicht nur auf die neue Diät, sondern auch auf seine geistige Schonung während dieser Zeit zurückführte. Auf der Grundlage dieser Schilderungen ist es schwer einzuschätzen, welche Auswirkungen die Epilepsie tatsächlich auf sein berufliches Leben hatte und welche Auswirkungen eine chronische Epilepsie auf seine zukünftige Karriere gehabt hätte. So wie Drais von Sauerbronn seine beruflichen Bemühungen beschrieb, scheinen die Dispensation und der zehnmonatiger Urlaub zur Wiederherstellung seiner Gesundheit unproblematisch gewesen zu sein. Immerhin taten die weiteren epileptischen Anfälle und Symptome in den Jahren von 1793 bis 1794 seiner Tätigkeit als Oberbeamter zumindest keinen sichtbaren Abbruch. Laut Sauerbronn akzeptierten seine Mitarbeiter seine Erkrankung und die damit einhergehende geringere Belastbarkeit. Seine Erkrankung wurde aber auch nicht für jeden sofort sichtbar, hatte er doch keine weiteren Anfälle mehr in der Öffentlichkeit – die meisten seiner Anfälle ereigneten sich morgens nach dem Aufstehen oder abends zu Hause89 – und seine Stumpfheiten waren wohl nicht auffällig. Darüber hinaus zog sich der Autor, obwohl er in seiner Schrift die Schonung seiner Kopfnerven immer wieder propagierte, nicht aus seinem Amt zurück und erfüllte dieses höchstens etwas langsamer als zuvor.90 Insgesamt scheint die Erkrankung seine Arbeit nicht wesentlich belastet zu haben. Vermutlich bemühte sich Drais von Sauerbronn auch gerade darum, die von ihm gefühlte Schwäche nicht zu sehr nach außen zu tragen und sich trotz der Erkrankung in guter Verfassung zu zeigen. Wahrscheinlich hätte ihn eine chronische Epilepsie also nicht an der weiteren Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit gehindert. Allenfalls hätte man ihm keine höheren Ämter angeboten. Von zentraler Bedeutung waren für Drais von Sauerbronn dagegen die psychischen Belastungen, die seine Krankheit mit sich brachte. Auch diese können nur indirekt und anhand marginaler Äußerungen rekonstruiert werden.
88 Sauder: Nosce te ipsum!, S. 239. 89 Diaetophilus: Physische und Psychische Geschichte, Zweite Hälfte, S. 9. 90 So vermerkte er selbst im 2. Teil seiner Abhandlung, er habe sich nicht immer an die Anweisungen der Ärzte gehalten, weil er manchmal einfach keinen Zusammenhang habe erkennen können: Diaetophilus: Physische und Psychische Geschichte, Zweite Hälfte, S. 103.
126
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
Die Anfälle und der damit einhergehende Kontrollverlust waren für den Patienten mit großer Scham verbunden. Drais von Sauerbronn versuchte daher so gut es ging, Anfälle in der Öffentlichkeit, wie sie ihm zu Beginn seiner Erkrankung mehrmals erlitten hatte, zu vermeiden. In der Konsequenz zog er sich vermehrt in den Kreis seiner Familie zurück und vermied Veranstaltungen mit größeren Menschenansammlungen. Er vermied zum Beispiel Theaterbesuche91 und besuchte nur selten die Kirche. In der Kirche konnte er der Messe nicht richtig folgen, weil er zu sehr damit beschäftigt war, die Vorzeichen eines Anfalls zu erkennen: „Die Obsorge gegen die Anwandlung meiner Krankheit lässt mich freilich bei öffentlichen Auftritten, ob ich gleich nicht ängstlich werde, keine Andacht; aber Gott fordert sie gerade dann so wenig, als in der Sterbestunde.“92 Obwohl er sich nicht völlig zurückzog, sondern weiterhin täglich zur Arbeit ging, zur körperlichen Ertüchtigung tägliche Ausritte unternahm und wichtige geschäftlich Termine wahrnahm, entzog er sich doch weitgehend den gesellschaftlichen Ereignissen. Ging er aus, war er bemüht, Anzeichen für einen Anfall zu erkennen. Dazu zählten Vorempfindungen wie „Dickheit vor den Ohren, Engung des Athems, zuweilen auch aufsteigende Wärme gegen den Kopf.“93 Er schätzte sich sehr glücklich, diese Vorempfindungen zu haben: Sie war für mich noch glücklich, um vor äusserlichen Beschädigungen und vor der Erregung eines Abscheues in der menschlichen Gesellschaft mich zu schüzen; um nicht dem Genusse der freien Luft und alles Umgangs entsagen zu müssen; auch um öfters von dem Ausbruch selbst mich noch zu befreien.94
Der weitgehende Rückzug ins Private scheint für den sonst in der Öffentlichkeit stehenden Drais von Sauerbronn nicht ganz unproblematisch gewesen zu sein. Obwohl er an verschiedenen Stellen betonte, dass ihm der Aufenthalt in seiner Familie viel Kraft gebe95 und er diesen Rückzug aus der Öffentlichkeit sehr schätze, empfand er dies nicht immer als positiv. Der Zwang zur Zurückgezogenheit wird besonders an dem Eintrag vom 10. Februar 1795 aus seinem Krankheitstagebuch deutlich, den er im Gesundungsprozess festhielt: „Wie froh bin ich, wieder mehr zum Genusse menschlicher Gesellschaft zu taugen […].“96 Eben dieser im vorletzten Kapitel geschilderte Gesundungsprozess verdeutlicht die Einschnitte in seinem Leben. Denn in diesem Kapitel schilderte er, welche Aktivitäten er nun wieder aufnahm, die er zuvor zur Schonung und Prophylaxe unterlassen hatte.
91 92 93 94 95 96
So berichtete er in seinem Krankheitsjournal am 12. März 1796: „Nach vielen Gesprächen am Nachmittage gieng ich das erste Mal seit 1788, wieder ins Theater […]“: Ebenda, Erste Hälfte, S. 243. Ebenda, Erste Hälfte, S. 291. Ebenda, Zweite Hälfte, S. 3. Ebenda, Zweite Hälfte, S. 2. Ebenda, Erste Hälfte, S. 259–296. Ebenda, Erste Hälfte, S. 294.
3.1 Der lange Weg zur Heilung
127
Obwohl der Autor sich bemühte, ein seelisches Gleichgewicht zu wahren und sich nicht zu sehr von seiner Erkrankung bedrücken zu lassen, machten ihm die erzwungene Untätigkeit und die Hilflosigkeit schwer zu schaffen. Dies wird besonders in Passagen aus seinem moralischen Tagebuch deutlich, aus dem er Ausschnitte im Anhang präsentierte. In diesem deutete er mehr beiläufig an, er müsse lernen, mit seinen Ausbrüchen von Ungeduld, von übler Laune und Zorn über oft nur kleine Fehler der ihn umgebenden Menschen und der noch unvollständig gebildeten Kinder umzugehen.97 Während der erzwungenen Ruhephase von 1792 bis 1793 berichtete er von einem Gefühl der Niedergeschlagenheit und Nutzlosigkeit. Auf Anraten der Ärzte beschäftigte sich Drais von Sauerbonn mit anderen Tätigkeiten, die ihn von schlechten Gedanken ablenken, ihn aber geistig nicht zu sehr beanspruchen sollten. Er versuchte sich an kleinen handwerklichen Tätigkeiten, die ihn aber nicht befriedigten, weil er dazu keine rechte Lust empfinden könne.98 Und so fühlte er sich während dieser Zeit unbefriedigt und überflüssig.99 Einen Anteil an diesen negativen Empfindungen hatte sicherlich, dass Drais von Sauerbronn das Gefühl hatte, seine Rolle als Ehemann und Vater nicht mehr vollständig ausfüllen zu können. Er stellte bereits zu Beginn seiner Erkrankung die ehelichen Beiwohnungen100 ein, aus Angst durch den Geschlechtsverkehr Anfälle zu provozieren.101 An anderer Stelle äußerte er, er verwende viel Zeit auf die Bildung seiner Kinder, woran er großen Gefallen habe und woraus er auch große geistige Befriedigung ziehe. Trotzdem sei er seinen Kindern nur ein halber Vater, könne er sich doch nur bedingt um sie kümmern, um sich nicht zu sehr zu überanstrengen. Er sei beispielsweise nicht in der Lage, mit seinen Kindern zu spielen wie dies ein normaler Vater könne. Als umso glücklicher beschrieb er sich deshalb in seinem Gesundungsprozess, seinen Kindern nun wieder ein Vater zu sein und sich um sie kümmern zu können, ohne die ständige Sorge, sich zu überanstrengen.102 Obwohl die Anfälle Drais von Sauerbronn also nur wenig in seinem täglichen Leben zu behindern schienen, litt er ständig an der Sorge, durch eine überanstrengende Handlung einen Anfall oder eine Stumpfheit zu provozieren. Diese Handlungen konnten vielfältig sein: Er konnte sich geistig überan97 98 99 100 101
Ebenda, S. 287. Ebenda, Erste Hälfte, S. 283 und 287. Ebenda, S. 259–296. Ebenda, S. 27. Der Arzt Leon Elias Hirschel empfahl in sein Werk die Sparsamkeit des Beischlafs bei Epilepsie, weil dieser selbst eine Art „convulsivische Bewegung“ sei, was den Körper dazu veranlassen könnte diese Bewegungen einzuwurzeln. Ganz besonders riet er von der Masturbation ab, vgl.:Hirschel, Leon Elias: Gedanken die Heilungsart der fallenden Sucht betreffend. Nebst einem Anhang, von einigen gegen die Würmer dienlichen Mitteln, 2. Auflage, Berlin 1770, S. 82 ff.; Vgl. zu Ehe und Sexualität S. 172 f. 102 Diaetophilus: Physische und Psychische Geschichte, Erste Hälfte, S. 295: „Ich unterhalte gern in meinen Kindern ihre Neigung zu unschuldigem Muthwillen. Sie wissens von mir, fordern mich Abends zum Rasen auf, und ich mache oft ein wenig mit. Glücklich als Hausvater – und wieder gesund!“
128
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
strengen durch zu langes Lesen, durch das das Schreiben eines schwierigen Aufsatzes oder durch besonders lebhafte Gespräche oder Diskussionen. Seiner Konstitution konnte durch Schlafmangel oder schlechtes bzw. unregelmäßiges Essen, das zu Verstopfungen, Blähungen oder Schwächeanfällen führte, so zugesetzt werden, dass er dadurch ebenfalls eine Stumpfheit oder einen Anfall riskierte. Selbst zu große Aufregung durch Streit oder Angst konnten diese Anfälle provozieren. Insofern bedeuteten die Bemühungen, Anfälle zu vermeiden, teilweise größere Belastungen für sein Leben als die Anfälle selbst. Gleichzeitig klammerte sich Drais von Sauerbronn an die Hoffnung, durch seine Kuren zu genesen und wieder zu einem normalen Leben zurückkehren zu können, denn er litt unter diesen Einschränkungen sehr. Vermutlich deshalb nahm er 29 verschiedene Kurversuche in Kauf und probierte 335 Heilmittel aus. Denn eigentlich wollte er nur eines: seiner Epilepsie endlich Herr werden. Glücklicherweise zeigte eine Kur am Ende doch Wirkung,103 so dass Drais von Sauerbronn letztlich nicht mit der Frage konfrontiert wurde, wie er sein Leben mit einer chronischen Epilepsie gestalten sollte. 3.2 Die chronische Erkrankung Während in „Diaetophilus Physische und Psychologische Geschichte seiner siebenjährigen Epilepsie“ ganz klar die Behandlung im Mittelpunkt steht, thematisieren die im Folgenden zu untersuchenden Suppliken diesen Aspekt eher am Rande. Dies bedeutet nicht, dass die Schreiber der Suppliken oder deren Angehörige keine Versuche unternommen hätten, die Epilepsie zu heilen. Auch in den Schichten, zu denen die Autoren der Suppliken gehörten, nämlich den städtischen und ländlichen Mittel- bis Unterschichten, stand zuerst einmal die Heilung der Erkrankung im Mittelpunkt. Der Marburger Tabaksfabrikant Johann Georg Hippe, der sich 1797 an den Landgrafen zu Hessen-Kassel wandte, glaubte sogar so sehr an die Heilung seines epilepsiekranken Sohnes, dass er sich in finanzielle Schwierigkeiten brachte: Durchlauchtigster Landgraf. Gnädigster Fürst und Herr! Ich habe unter meinen 9 kindern wovon noch 4 unerzogen und die anderen auch noch nicht versorgt sind einen sohn von 22 jahren, der das unglückliche Schicksal hat seith seinem 8ten jahre mit einer epilepsie zu kämpfen, zu deren curirung leider kaum hoffnung mehr übrig ist […]. Noch immer hoffte ich ihn aus dieser erbarmungswürdigen lage zu retten, brauchte desfalls die berühmtesten ärzte, schickte ihn ein ganzes Jahr ins hiesige clinicum und nach103 Die Frage, ob Drais von Sauerbronn tatsächlich an einer Epilepsie modernen Sinnes gelitten hatte und warum seine Anfälle letztlich ausblieben, muss hier leider ungeklärt bleiben. Wichtig erscheint im Prinzip nur, dass Drais von Sauerbronn und seine Ärzte fest an eine vorhandene Epilepsie und deren Heilung im Jahre 1795 glaubten und die Brownsche Diät als Heilung sahen.
3.2 Die chronische Erkrankung
129
dem ich dieses alles gethan, und dadurch den größtentheil meines geringen Vermögens aufgeopfert habe, muß ich sehen: daß nicht nur alle mittel fruchtlos bleiben, sondern das übel so zunimmt, daß sich zuweilen schon spuren von einer verwirrung bei ihm zeigen.104
Umso größer war natürlich die Enttäuschung, wenn keine Heilung oder zumindest Besserung der Erkrankung eintrat, oder sie sich gar noch verschlimmerte. Die Frage, wie oft Behandlungsversuche unternommen wurden, bis die Patienten selbst und ihre Angehörigen die Hoffnung auf eine Heilung verloren, kann aufgrund der Quellenlage nicht beantwortet werden. Insbesondere in Suppliken zur Aufnahme in Hospitäler, wie zum Beispiel in denen an den Landesherren von Hessen-Kassel, zu denen auch der zuvor zitierte Brief von Georg Hippe gehört, werden missglückte Heilversuche erwähnt. Allerdings bleiben sowohl die Art der Mittel als auch der Zeitraum, in dem Heilversuche unternommen wurden, im Dunkeln.105 Mit der Erkenntnis, dass die Erkrankung unheilbar war und sie den Kranken vermutlich ein Leben lang begleiten würde, verschob sich der Akzent der Problemwahrnehmung der Krankheit. In Johann Georg Hippes Bittschrift an den Landgrafen von Hessen lässt sich diese Akzentverschiebung deutlich wahrnehmen: So schmerzhaft dieses schicksal einem vater seyn muß, so gern wollte ich diesen unglücklichen doch bis zu meinem ende verpflegen, wenn ich nur noch das mindeste im vermögen hätte. Ich bin seith 13 jahren hier tabacsfabricant, aber durch verschiedene unfälle so zurück gekommen, daß ich dieses metier nun schon 2 jahre nicht mehr betreiben kann, also völlig außer stande [bin] […] meinem unglücklichen sohn die nöthige pflege länger zu verschaffen. Ich müßte demnach mit demselben dem kummer unterliegen, wenn ich nicht meine zuflucht zu Euer hochfürstlichen Durchlaucht nehmen könnte – ich wage dieß mit der untertänigsten bitte diesen mit der baldigen aufnahme in das Gesamt Hospital Haina huldreichst zu begnadigen. Ich getröste mich der gnädigsten erhörung meiner unterthänigsten bitte und bin in tiefster Erniedrigung Euer hochfürstlichen Durchlaucht unterthänigster Knecht Johann Georg Hippe tabacs fabricant zu Marburg.106 104 LWV-Archiv, Bestand 13, Reskript vom 17.12.1797. 105 Wurde in den Suppliken die Behandlung der Erkrankung erwähnt, wurden wie bei Johann Georg Hippe (LWV-Archiv, Bestand 13, Reskript vom 17.12.1797) keine Medikamente oder Kuren aufgezählt, sondern lediglich davon gesprochen, dass verschiedene „Mittel“ oder „Kuren“ erfolglos angewandt oder Ärzte erfolglos aufgesucht worden waren: LWV-Archiv, Bestand 13, 04.06.1733; StadtSB, Hospitalakten Nr. 8/1089, Rouget. In den Würzburger Suppliken des Epileptikerhauses wurden zum Teil Aderlässe als Heilmittel erwähnt, vgl. AJSp, 2769, S. 32 f. 106 LWV-Archiv, Bestand 13, Reskript vom 17.12.1797.
130
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
Nachdem kaum mehr Hoffnung auf Heilung für seinen Sohn bestand, rückte für Johann Georg Hippe die Frage nach dessen langfristiger Versorgung in den Vordergrund. Da sich seine finanzielle Lage so verschlechtert hatte, dass er nicht mehr imstande war, seinen Sohn zu verpflegen, sah er seinen einzigen Ausweg in einer Bittschrift an den Landesherren. Damit wollte er die Aufnahme seines Sohnes in das Landeshospital Haina erwirken. Die Absicherung der Versorgung und Pflege des Sohnes wurde zum zentralen Thema und bestimmte den weiteren Umgang mit der nun als chronisch wahrgenommenen Erkrankung. Mit solchen und ähnlichen Problemen sahen sich auch andere Epileptiker und deren Angehörige konfrontiert. Dies zeigen die vielen überlieferten Bittschriften an obrigkeitliche Institutionen,107 in denen Epileptiker oder deren Angehörige um Hilfe in ihrer speziellen Situation baten. Das Schreiben von Bittgesuchen, auch Suppliken, Supplikationen oder Bettelbriefe genannt, an den Landesherren oder andere obrigkeitliche Institutionen war in der frühneuzeitlichen Gesellschaft gängige Praxis und ein Privileg, das von nahezu allen Bevölkerungsschichten, unabhängig von sozialer oder regionaler Herkunft, von Alter, Stand, Geschlecht, von Rechtsstatus, Konfessions- bzw. Religionszugehörigkeit, genutzt wurde.108 Denn „Supplizieren und Wassertrinken sind jedermann erlaubt“, wie uns ein altes Sprichwort versichert.109 Die Gründe für das Verfassen einer Bittschrift waren sehr unterschiedlich und reichten von der Bitte, Gesetze zu ändern, dem Eintreten gegen Missbräuche oder Ungerechtigkeiten über Gnadenbitten für Verurteilte und Dispensationsgesuchen bei Ehehindernissen bis hin zu sehr persönlichen Bitten um Unterstützung in einer wirtschaftlichen Notlage.110 In den konkreten Fällen der supplizierenden Epileptiker und deren Familien handelte es sich um Gnadengesuche, in denen in der Regel die Bitte um Diensterlasse oder Unterstützung durch die Obrigkeit im Mittelpunkt stand. Die erbetene Hilfe konnte durchaus unterschiedliche Formen haben. Andreas Paier aus Sollingen im heutigen Niedersachsen zum Beispiel wandte sich 1660 an seinen Landesherren mit der Bitte, ihn von seiner Pflicht der Herrendienste zu befreien. Der Oberamtmann, der den Fall untersuchte, beschrieb in der Akte, Andreas Paier sei „[…] mit dem jammer continuierlich behafftet, als, das solcher jammer denselben alltäglich mal mehr den 15 mahl antrift, stets zu bette sich helt und deßen ehefrau in stetiger ufwartung beiwohnen muß […]“; er wurde von seinem Dienst zuerst befristet, später ganz befreit.111 Gleiches galt für die Witwe des Schutzjuden Levi aus Heidorn nahezu 100 Jahre später. Sie supplizierte an ihren Landesherren, um eine Befreiung von 107 Hierunter wurden sowohl der Landesherr selbst als auch Stadtobrigkeiten etc. gezählt. 108 Würgler: Bitten und Begehren, S. 17. 109 Calker, Wilhelm van: Entstehung, rechtliche Natur und Umfang des Petitionsrechts nach hessischem Staatsrecht, in: Staatsrechtliche Abhandlungen, Bd. 2, Tübingen 1908, S. 365; zitiert nach Neuhaus: Supplikationen als landesgeschichtliche Quelle, Bd. 1, S. 137. 110 Nubola, Cecilia/Würgler, Andreas: Einführung, in: Cecilia Nubola/Andreas Würgler (Hg.): Bittschriften und Gravamina. Politik, Verwaltung & Justiz in Europa (14.–18. Jahrhundert), Berlin 2005, S. 9. 111 StaWolfenbüttel, 4 Alt 2 Schön Nr. 1799, 1660.
3.2 Die chronische Erkrankung
131
den Herrendiensten zu erwirken, die ihr verstorbener Ehemann anstelle der Schutzgeldzahlungen geleistet hatte, da er sie nicht hatte aufbringen können: „[…] da nun mein mann vor ¾ jahr mit tode abgegangen ist, und mich arme wittwe mit 7 lebendigen kindern zurückgelaßen, wovon der älteste sohn von 18 jahren ist, dieser könnte die herrendienste wohl vor mir verrichten wenn er gesund wäre, da er aber mit der fallenden sucht behafftet und man sich darauf nicht verlassen kann, die übrigen kinder auch zu der Verrichtung dieses Dienstes noch nicht brauchbar sind, so gelanget an Euer Durchlaucht diese meine untherthänigste bitte […] selbe verbemeldete herrendienste zu erlassen […]“112 Während in diesen Fällen lediglich Alltagserleichterung erbeten wurden, ging es den Bittstellern an die Hessischen Hohen Hospitäler,113 das Bürgerspital und das Epileptikerhaus in Würzburg114 sowie das Heilig-Geist-Spital in Saarbrücken115 in ihren Supplikationen um Unterstützung finanzieller Art oder um stationäre Aufnahme in eine der genannten Institutionen. Sich in einer Notlage an die Obrigkeit zu wenden, war in der Frühen Neuzeit nicht ungewöhnlich, und die Bitte um finanzielle Unterstützung oder Aufnahme in ein Hospital durchaus legitim.116 Vor allem Witwen, Waisen, Alten und Kranken wurde in der frühneuzeitlichen Gesellschaft ein moralischer Anspruch auf Hilfe der Gemeinschaft zugestanden, und die Sorge um deren Wohl war immer ein wichtiger Aufgabenbereich des Herrschers.117 Zudem erfüllte die Institution Hospital, die sich zu Beginn der Frühen Neuzeit zunehmend von einer geistlichen zu einer weltlichen Institution in landesherrlicher oder städtischer Hand entwickelte, schon dem Stiftersinn nach den Zweck, Notleidende zu verpflegen. Dementsprechend kann Helmut Bräuers Definition von Bittschriften als „fixierte Ergebnisse der geistigen Auseinandersetzung einer Person (mitunter einer Personengruppe) mit der eigenen Notlage, defizitären Situation oder solchen Umständen des Nichthabens, die als bedrohlich angesehen wurden und daher nach einer Zustandsveränderung verlangte“118, sicherlich als sinnvolle Voraussetzung im Umgang mit dieser Quellengattung angesehen werden. Bittschriften sind also in erster Linie als Bewältigungsstrategie von Problemen zu sehen, was gleichzeitig die größte Schwierigkeit im Umgang mit dieser Quellengattung bedeutet: In den Suppliken findet sich keine vollständige Biographie der Bittsteller, sondern die Schilderung der Lebensgeschichte war auf die darzustellenden Probleme ausge-
112 StaB, Judenshg L 2 H Nr. 80, 1775. 113 Hierzu wurden die Bestände des LWV-Archiv, Bestand 13 und des StaM Bestand 229 und 17 untersucht. 114 StadtW, Archiv des Bürgerspitals, Abtheilung II (Akten), Nr.16; AJSp Nr. 2769, Nr. 5856, 5858. 115 StadtSB, Hospitalakten Nr. 1137, Nr. 1138, Nr. 1083–1085, Nr. 1088–1089, Nr. 1091. 116 Neuhaus: Supplikationen als landesgeschichtliche Quellen, S. 113–125. 117 Ulbricht: Supplikationen als Ego-Dokumente, S. 151. 118 Bräuer: Persönliche Bittschriften, S. 296.
132
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
richtet und dementsprechend unvollständig.119 „Von ‚ausgewogener’ autobiographischer Information kann deshalb schwerlich die Rede sein, denn eine solche hätte sich nicht in die Schreibabsicht eingefügt.“120 Daher muss bei der Untersuchung der Suppliken beachtet werden, dass sie lediglich einen Ausschnitt aus dem Leben Fallsüchtiger zeigen. Bitten um Hilfe in individueller Notlage waren außerdem eng an bestimmte Voraussetzungen wie die soziale Herkunft, den familiären Hintergrund und die finanzielle Lage des Antragstellers geknüpft. Hoffnung auf Hilfe durften sich nur diejenigen machen, deren familiäre und finanzielle Situation es nicht erlaubte, die Probleme aus eigener Kraft zu lösen. Das bedeutet gleichzeitig, dass die im Folgenden zu untersuchenden Suppliken nur die Aussagen eines Teils der Bevölkerung widerspiegeln, die der Armen und Bedürftigen. Eine weitere Frage, die sich in Bezug auf diese Quellen stellt, ist die nach der Authentizität der Aussagen: Zum einen, weil die Suppliken auf ein Ziel ausgerichtet waren, was die Form der Bitte und die damit verbundene Darstellung der Krankheit notwendigerweise beeinflusste. Zum anderen mussten bestimmte Formalitäten eingehalten werden, damit der Antrag Aussicht auf Erfolg hatte. Dadurch war der Schreibstil starrer. Die Regeln eines festgelegten, an einen amtlichen Stil angelehnten Sprachstandard und des formellen Aufbaus des Gesuchs mussten eingehalten werden. Die Bittschriften wurden in der Regel nicht von den Antragstellern selbst verfasst, sondern von Schreibern nach den Angaben der Bittsteller. Dies galt übrigens sowohl für illiterate Antragsteller, die wohl den größten Teil in diesem Sample bilden dürften, als auch für Schreibkundige. Viele Landesherren verlangten ein solches von professionellen Schreibern verfasstes Schreiben wegen der besseren Lesbarkeit und lehnten Anträge, die die Mindestanforderungen nicht erfüllten, von vorneherein ab. Somit war es im Interesse jedes Antragstellers, seine Bitte von einem Schreiber, wie zum Beispiel einem Advokaten, Notar, Pastor, Schulmeister oder auch Stadtschreiber, aufsetzen zu lassen, zumal diese die angemessenen Anrede-, Bitt- und Verabschiedungsfloskeln bestens beherrschten.121 Eine wichtiger Kritikpunkt an Bittschriften als Quelle besteht darin, dass die Bitten derart vorgeformt und durch den Einfluss des Schreibers so überformt seien, dass die Sicht der tatsächlichen Antragsteller nicht mehr durchscheinen könne. Tatsächlich sind auch die untersuchten Bittschriften nach diesem feststehenden Schema verfasst: Der Brief wurde eröffnet mit einer formelhaften Anrede des Adressaten (Intitulatio), daran schlossen sich persönliche Angaben und die Sachverhaltspräsentation an (Narratio), auf dem das eigentliche Gesuch nebst Begründung aufbaute und mit dem Ausdruck der Hoffnung auf Gewährung der Bitte abgeschlossen wurde (Petitio). Es folgten eine 119 Kemenah-Stanislaw, Alexandra-Kathrin: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Supplikationen des 16. und 17. Jahrhunderts zur Aufnahme in das Dresdner Jakobshospital, in: Philipp Osten (Hg.): Patientendokumente. Krankheit in Selbstzeugnissen (= MedGGBeiheft 35), Stuttgart 2010, S. 81–98, hier S. 84. 120 Bräuer: Persönliche Bittschriften, S. 301. 121 Ulbricht: Supplikationen als Ego-Dokumente, S. 153.
3.2 Die chronische Erkrankung
133
vorab ausgesprochene Dankesbezeugung mit Verabschiedung und eine Datierung und Unterschrift bzw. Namensnennung des Antragstellers (Subscriptio).122 Während Anrede, Danksagung und die eigentliche Bitte in den Bittschriften alle gleich sind, sind das wirklich Interessante die persönlichen Angaben und die Darstellung des Gesuchs, denn hier wurden die Familienhintergründe erklärt, die Krankheit und deren Verlauf beschrieben und die Probleme geschildert, die dann zum eigentlichen Gesuch führten. In den untersuchten Bittschriften umfasste diese die Bitte um Aufnahme in das jeweilige Hospital oder zumindest um finanzielle Unterstützung aus den Hospitalgefällen. Die Beschreibung der Erkrankung ist in den Suppliken sehr unterschiedlich gestaltet. So finden sich sehr kurze Beschreibungen, die die Krankheit des Antragstellers oder des erkrankten Familienangehörigen nennen und den Schweregrad beschreiben. Es finden sich aber auch ausführliche Schilderungen, zum Teil mit Ausschmückungen und Angaben zur Entstehungsgeschichte der Krankheit, zur Häufigkeit der Anfälle und zur weiteren Entwicklung. Auch bei der Aufnahmebegründung, in der die konkreten Probleme und Ängste der Betroffenen und ihrer Familien dargestellt wurden, sind die persönlichen Spielräume der Antragsteller unübersehbar. Natürlich bleibt die Grundessenz der Antragsbegründung nahezu immer die gleiche, da die Antragsteller ein konkretes Ziel vor Augen hatten. Dennoch sind die Erklärungen von Ursache und Wirkung für diese Probleme sehr individuell gestaltet. Sie liegen immer in der Einzelsituation des Supplikanten und dessen Familie begründet. So finden sich in den Anträgen zwar zum Teil sehr ähnliche Beschreibungen, was sicherlich auch auf die ähnlichen sozialen Umstände der Supplizierenden zurückzuführen ist, aber auch sehr persönliche Noten zur Problemerklärung.123 Sehr schön zu sehen ist dies beispielsweise an der Gegenüberstellung zweier Suppliken an den Landgraf zu Hessen-Kassel aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In der einen schilderte Anna Maria Schade im Jahr 1736 ihre Erkrankung und die daraus erwachsenden Probleme folgendermaßen: Eure königl. Mayest. geruhen allergnädigst, sich von mir, als einer armen höchst elenden vatter und mutterlosen weysen, fußfällig fürtragen zu laßen; wie ich von meiner jugend an, mit dem schwehren creutz der epilepsie befallen geweßen, und ob ich zwar anfänglich ein und ander mittel dargegen gebrauchet, haben doch solche nicht angeschlagen, sondern es wird mit mir von tag zu tag schlimmer, so daß mein brod mit meiner handarbeit wie bishero geschehen, nicht mehr verdienen, ja öffters bey christl. und guthertzigen Leuthen für den thüren solches zu suchen, nicht im Stande sondern von aller Welt verlassen bin […] 124
Dagegen beschrieb die Ehefrau des Salomon Fritzmann in ihrer Supplik die Probleme mit der Erkrankung ihres Mannes so: 122 Bräuer: Persönliche Bittschriften, S. 297; Neuhaus: Reichstag und Supplikationsausschuss, S. 146 f. Zur sprachlichen Analyse von Bittschriften siehe Kemenah-Stanislaw: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit, besonders S. 86–94. 123 Ähnliche persönliche Noten fand auch Otto Ulbricht bei seiner Untersuchung der Bittschriften Leibeigener: Ulbricht: Supplikationen als Egodokumente, S. 161 ff. 124 Staatsarchiv Marburg, Bestand 229BIIIb, Akte der Anna Maria Schadin, 04.05.1736.
134
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen Durchlauchtigster Landgraff, Gnädigster Fürst und Herr! Es ist schon eine geraume zeit, daß mein mann, Salomon Fritzmann, mit convulsivischen oder epileptischen zufällen behafftet gewesen, die dann seith einem jahr zu zweyhmalen in eine solche raserey ausgebrochen sind, daß dadurch nicht nur die nachbarschafft, sondern auch sogar der ganze flecken weilen es zur nachtszeit geschehen in größten schrecken und unruhe versetzet worden ist. […] 125
Anhand dieser Beispiele lässt sich auch die Frage nach dem Einfluss des Schreibers auf die Darstellung der Krankheitsbeschreibung und die Glättung der Formulierungen klären. Sicher kann man davon ausgehen, dass der Sprachstil der Antragsteller vom Schreiber angehoben wurde. So übersetzte der Schreiber die mündlich vorgetragene Bitte ins Hochdeutsche und hob sie sprachlich auf das erwartete Niveau. Für Justizsupplikationen ließ sich in einigen Fällen darüber hinaus nachweisen, dass der Schreiber sich an der Argumentationsstrategie beteiligte, gerade wenn es darum ging, den Herrscher als Obrigkeit nicht in Frage zu stellen.126 Eine derartige Umformung war im Fall der hier untersuchten Bittschriften nicht nötig, da sich die Bitte um Unterstützung für Arme in eine seit dem Mittelalter anerkannte und in der Reformationszeit weiter ausgebaute Tradition und anerkannte Praxis fügte.127 Dementsprechend stand die Antragsstrategie schon von vorneherein fest und musste kaum vom Schreiber umgeformt werden. Dies wird auch an den beiden zuvor vorgestellten Beispielen ersichtlich, deren Krankheits- und Problemschilderungen bei der gleichen Erkrankung unterschiedlicher nicht sein könnten. Zudem lassen auch die Formulierungen vermuten, dass der Schreiber nur wenig regulierend eingriff. So wurden in den Suppliken keine latinisierten Formen der Krankheitsnamen wie „epilepsia“ oder „morbus caducus“ verwendet, wie dies in den ärztlichen Gutachten, die den Suppliken beigegeben waren, üblich war.128 Schon der Begriff „Epilepsie“ oder „epileptische Zufälle“, der von Anna Maria Schad und der Ehefrau des Salomon Fritzmann in ihren Bittschriften verwendet worden waren, waren in den Suppliken eher unüblich. Vielmehr wurde die Krankheit als Fallsucht, fallende Sucht oder fallendes Siechtum oder mit weiteren in der Bevölkerung verbreiteten Synonymen bezeichnet. In einigen Passagen der Bittschriften lassen sich darüber hinaus Elemente der Umgangssprache nachweisen.129 So zum Beispiel im Antrag des Patienten Hoppe, dessen Vater den Zustand seines Sohnes in der Bittschrift folgendermaßen beschreibt: „[…] daß ich ein sohn von 24 jahren habe, welcher alß ein kindt von 3 jahren das unglück 24 stunden am stük [hatte], welches ihm den kopf dergestalt zerissen, daß er ganz albern und blöden ver125 126 127 128
LWV-Archiv, Bestand 13, Akte Salomon Fritzmann, 28.10.1788. Ulbricht: Supplikationen als Ego-Dokumente, S. 166 ff. Siehe dazu Kapitel 4.1, S. 197–201. Bereits Christina Vanja hat in ihrem Artikel über Suppliken als Patientenbiographien auf die interessanten Möglichkeiten der Auswertung von den beigegebenen Gutachten hingewiesen: Vanja: Arm und krank, S. 29. 129 Ulbricht: Supplikationen als Ego-Dokumente, S. 158 f. Hier führt der Autor ähnliche Beobachtungen für die von ihm untersuchten Supplikationen von Leibeigenen auf und wertet diese als Ausdruck der Authentizität.
3.2 Die chronische Erkrankung
135
standes worden.“130 Hier wurde als Umschreibung der Krankheit nicht nur „das unglück“ als Synonym für die Epilepsie vom Schreiber nicht geändert, sondern es wurden auch Verben verschluckt und Ausdrücke wie den „kopf dergestalt zerissen“ verwendet, die nicht unbedingt für einen amtlichen Sprachstandard stehen. Womöglich war mehr als ein Anheben der Sprache durch den Schreiber auch gar nicht nötig, denn die narrative Kompetenz der Antragsteller sollte nicht unterschätzt werden. Auch wenn viele der Antragsteller des Lesens und Schreibens nicht kundig waren, ist es dennoch sehr wahrscheinlich, dass sie ihre eigenen Belange darzustellen verstanden. Immerhin stammten sie aus einer durch mündliche Tradition und Erzählweise geprägten Gesellschaft, in der der Vermittlung eines Themas oder einer Geschichte in mündlicher Form große Bedeutung zukam und damit ein gewisses erzählerisches Können in weniger gebildeten Schichten erforderlich war.131 Doch auch wenn man nur einen geringen Einfluss des Schreibers auf die Darstellungen annimmt, bleibt die Frage, wie die Darstellungen in den Bittschriften zu bewerten sind: Muss man sie nicht als stark übertrieben ansehen, weil die Bittsteller auf diese Weise die Chancen auf Bewilligung des Antrages zu erhöhen suchten? Können die in den Suppliken dargestellten Probleme und Krankheitsbeschreibungen also tatsächlich als glaubwürdig erachtet werden? Zum einen muss hier bedacht werden, dass das Schreiben einer Bittschrift an eine Obrigkeit in erster Linie ein freiwilliger Akt war. Es lässt sich also annehmen, dass sich die Bittsteller erst zu einer solchen Bitte entschlossen, wenn sie sich tatsächlich in einer misslichen Lebenslage befanden132 bzw. sich – wie im Fall der untersuchten Bittschriften von Epileptikern – einem Problem ausgesetzt sahen, welches sie nicht mehr alleine bewältigen konnten. Andernfalls müsste man den Antragstellern von vorneherein betrügerische Absichten und Unehrenhaftigkeit unterstellen.133 Dementsprechend darf bei der Mehrzahl der Anträge von tatsächlich vorhandenen Problemen ausgegangen werden. Zum anderen muss an dieser Stelle in Betracht gezogen werden, dass die überlieferten und hier untersuchten Anträge tatsächlich bewilligt wurden und den Antragstellern ein Platz in einem Hospital oder sonstige Unterstützung gewährt wurde. Das bedeutet, dass in den Suppliken eine von den Obrigkeiten anerkannte Antragsstrategie genutzt wurde. Die angeführten Argumente mussten demnach also plausibel und nachprüfbar sein,134 da von den Obrigkeiten entweder eine Prüfung der Verhältnisse durchgeführt oder zumindest ein Gutachten einer anerkannten Persönlichkeit, d. h. des Arztes oder
130 131 132 133
LWV-Archiv, Bestand 13, Reskript vom 05.08.1721. Ulbricht: Supplikationen als Ego-Dokumente, S. 160. Bräuer: Persönliche Bittschriften, S. 301. Ebenda, S. 301, siehe zum Thema des Ehrgefühls auch: Dülmen, Richard van: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. Bd. 2: Dorf und Stadt, 16.–18. Jahrhundert, 2. Auflage, München 1999, S. 194–214. 134 Würgler: Bitten und Begehren, S. 42; Bräuer: Persönliche Bittschriften, S. 300 f.
136
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
des Pfarrers oder beider, verlangt wurde.135 Daraus lässt sich ableiten, dass die Unterstützungswürdigkeit und der Schweregrad der Erkrankung zwar ein wenig übertrieben werden konnten, aber den Bereich des Glaubwürdigen nicht verlassen durften. Demnach ist zu vermuten, dass die Begründungen zumindest als von der Obrigkeit, aber auch von der Gesellschaft anerkannte und für glaubwürdig erachtete Krankheits- und damit verbundene Problembeschreibungen einzustufen sind. Somit kann die Untersuchung der Bittschriften aufzeigen, mit welchen Problemen Epileptiker und deren Angehörige im Alltag zu kämpfen hatten. Die folgenden Untersuchungen stützen sich auf die Auswertung und den Vergleich verschiedener Bestände von Hospital-Suppliken, die aufgrund ihrer guten Archiv-Lage ausgewählt wurden. Darüber hinaus lassen sie sich wegen der ähnlichen Bittstellung am ehesten überregional vergleichen. Die Regionen Hessen-Kassel und Würzburg wurden wegen ihrer umfangreichen Bestände, in denen sich genügend Suppliken von Epileptikern finden ließen, und wegen des Vergleichs einer katholischen mit einer protestantischen Region ausgewählt. Den umfangreichsten Quellenbestand im Sample bilden die Unterlagen der Hohen Hessischen Hospitäler Haina und Merxhausen mit etwa 4000 Suppliken aus dem Zeitraum von 1600 bis 1800, von denen etwa 320 Suppliken von Epileptikern136 herausgefiltert und gesondert untersucht wurden.137 In den Beständen des Epileptikerhauses in Würzburg sind etwa 126 Gesuche von Epileptikern zwischen 1773 bis 1810 überliefert,138 die, ergänzt durch die Bestände des Bürgerspitals von Würzburg mit 9 Bittschriften139 aus dem Zeitraum von 1600 bis 1700, untersucht wurden. Der recht kleine Bestand des Saarbrücker Heilig-Kreuz-Spitals und späteren Hospital, Waisen- und Zuchthaus140 mit ebenfalls ca. 20 Suppliken aus dem Zeitraum von 1700 bis 1800 wurde zur weiteren Gegenüberstellung herangezogen. Beim Vergleich der unterschiedlichen Bestände fiel auf, dass sich kaum Unterschiede in der Darstellung der Epilepsie und den Problemen im Umgang mit der Erkrankung über Regionengrenzen hinweg zeigten. Daher werden im Folgenden die allgemeinen Befunde dargestellt, die aus den Suppliken herausgearbeitet wurden. Einzig die Bestände des Würzburger Epileptikerhauses zeigen einige Unterschiede in der Darstellung der Erkrankung. Diese sind aber weniger mit einer unterschiedlichen Wahrnehmung der Epilepsie 135 Vanja: Arm und krank, S. 28 f.; auch Helmut Bräuer wies daraufhin, dass Falschaussagen nur begrenzt möglich gewesen seien, da Möglichkeiten zur Falschaussage durch öffentliche Kontrollen weitgehend eingeschränkt waren: Bräuer: Persönliche Bittschriften, S. 300. 136 Anhand der Küchenrechungen der Hospitäler lässt sich nachweisen, dass im genannten Zeitraum etwa 472 Epileptiker aufgenommen wurden. Allerdings sind nicht alle Suppliken überliefert. Von einigen aufgenommenen Epileptikern liegen z. B. nur Aufnahmereskripte vor. 137 LWV-Archiv, Bestand 13; StaM, Bestand 17, 229, 229 B/III. 138 AJSp, 2769, S. 31–89; A 5856; A 5858. 139 StadtW, Archiv des Bürgerspitals, Abtheilung II (Akten), Nr.16, Nr. 43. 140 StadtSB, Bestand Hospital, Nr. 1137–1138, 1083–1085, 1088–1089, 1091.
3.2 Die chronische Erkrankung
137
als vielmehr mit der unterschiedlichen Überlieferung- und Aufnahmepraxis sowie Zielsetzung der Hospitäler zu erklären. Die Hohen Hessischen Hospitäler, das Würzburger Bürgerspital und das Saarbrücker Hospital, Waisen- und Zuchthaus sind sich sowohl von ihrer Struktur als auch vom Aufbau der Quellenbestände sehr ähnlich. Es handelt sich bei ihnen um multifunktionale Hospitäler, in denen Epileptiker nur eine Gruppe unter anderen Kranken und Alten bildeten. Zugangsvoraussetzung war, dass die Patienten unheilbar krank waren, sich nicht mehr selbst versorgen und auch nicht auf die Versorgung durch ihre Familie zurückgreifen konnten. Von den Hohen Hessischen Hospitälern sind vermutlich nicht alle, aber ein Großteil der erfolgreichen Aufnahmegesuche überliefert, nicht erfolgreiche Gesuche wurden nicht aufbewahrt. Neben dem eigentlichen Bittgesuch sind jeweils auch das Gutachten des Pfarrers und des Arztes, ein Geburtsnachweis und das Aufnahmereskript überliefert.141 Im Würzburger und Saarbrücker Spital ließen sich demgegenüber nur die Bittgesuche finden. Die großen Unterschiede der Bestandszahlen gehen auf die unterschiedliche Größe der Spitäler zurück. Konnten in den Hohen Hessischen Hospitälern Haina und Merxhausen bis zu 300 Personen gleichzeitig aufgenommen werden, waren es im Saarbrücker und Bürgerspital nur um die 30 Plätze, die jeweils erst wiederbesetzt werden konnten, wenn ein Patient verstorben war. Da zudem nicht nur Epileptiker, sondern auch Patienten mit anderen Krankheiten aufgenommen wurden, ist ihre Anzahl in den kleineren Hospitälern im Untersuchungszeitraum zwangsläufig wesentlich geringer. Anders als in den zuvor dargestellten multifunktionalen Hospitälern war das Würzburger Epileptikerhaus als spezialisierte Anstalt konzipiert worden, die nur epileptische Kranke aufnehmen sollte.142 Zudem war das Hospital nicht nur auf die Aufnahme unheilbar kranker Epileptiker und deren Versorgung ausgerichtet, sondern die Spitalplätze sollten zur Hälfte mit Pfründern und zur Hälfte mit Kuristen besetzt werden.143 Die Kuristenplätze sollten Epileptiker erhalten, denen man noch gute Chancen auf Heilung einräumte. Dagegen sollten die Pfründnerplätze diejenigen Epileptiker erhalten, deren Erkrankung als unheilbar eingestuft wurde.144 In der Folge supplizierten nicht nur unheilbar Kranke Epileptiker um Aufnahme im Epileptikerhaus, sondern auch solche, die sich noch Hoffnung auf Heilung machten, die sie sich von einer intensiven Kur im Epileptikerhaus versprachen. Leider ist die Überlieferung des Epileptikerhauses sowohl in Bezug auf die Suppliken selbst als auch in Bezug auf den eigentlichen Akt des Supplizierens äußerst dürftig: Die eigentlichen Suppliken wurden nicht aufbewahrt oder sind nicht mehr auffindbar. In den Beständen des Epileptikerhauses finden sich für die Jahre 1774 bis 1781 sowie 1789 und 1791 lediglich Berichtsbögen
141 142 143 144
Vanja: Arm und krank, S. 29. AJSp, Stiftungsbrief des Epileptischen Instituts 23.05.1773, A 5670. AJSp, Lit. 2769, S. 50 ff. AJSp, Lit. 2769, S. 51 f.
138
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
mit Zusammenfassungen der Suppliken.145 Vermutlich dienten diese der Hospitalkommission zur Vereinfachung der Entscheidungsfindung bei der Vergabe der Plätze, denn es wurden nur die wichtigsten Stichpunkte und Argumente der jeweiligen Suppliken festgehalten. Außerdem wurden in diesen Berichtsbögen, im Gegensatz zu den zuvor beschriebenen Beständen, nicht nur die Gesuche der aufgenommen Bittsteller zusammengefasst, sondern auch derjenigen, deren Anträge im Auswahlprozess abgelehnt wurden. Der eigentliche Akt des Supplizierens bzw. die Richtlinien, die für diesen von der Landesregierung vorgegeben wurden, lassen sich nur anhand eines zum Teil überlieferten Gutachtens der Marktheidenfelder Ortspolizei-Kommission rekonstruieren. Darin unterstützten der Pfarrer, der Schultheiß und der Bürgermeister von Marktheidenfeld 1804 das Gesuch der Witwe Roßmann, die für ihren epilepsiekranken Sohn um Aufnahme im Epileptikerhaus bat. Das Prozedere schilderten die Gutachter im beigegeben Protokoll folgendermaßen: Erschien bey heutiger komissions-versammlung Georg Roßmanns wittib, und machte die Anzeige: Sie sehe sich genöthigt, da sie sich selbsten nur kärglich und größthenteils durch taglohn nähren müsste, wegen ihres bereits schon 20 jahre mit der fallenden sucht behaffteten sohnes Peter Andreas Brod, bey eurer Churfürstlichen Landes-Direction um die gnädigste aufnahme deselben in das Epileptische Hauß mit einem demüthigsten bittgesuch einzukommen. Sie habe zu dem ende von dem hrn amts-physicus Doher dahier schon ein attestum medicum und die krankheitsgeschichte ihres epileptischen sohnes verlangt und auch verschlossen erhalten, welches hier beygegeben liegt, und nun wolle sie, die dahiesige Orts-Polizei-Komission ersuchen, ihr vorhabendes demüthiges Bittgesuch durch ein […] Zeugnis zu unterstützen. Es wurde demnach zur schuldigsten befolgung der gnädigsten verordnung vom 19. April 1773, die vorgeschriebenen berichts-punkten von der komission untersucht und beantwortet […] 146
Die im Protokoll genannte Verordnung bezog sich dabei auf die im § 10 der Stiftungsurkunde des Epileptikerhauses festgelegten Berichtspunkte für „Pfarrer, Beamte und Medici“.147 Diese Berichtspunkte sollten als Grundlage für die Gutachten dienen, die mit dem Bittgesuch einzureichen waren. Neben dem eigentlichen Gesuch bildeten die Gutachten der Pfarrer, Beamten und Ärzte die Grundlage für die Beurteilung der Aufnahmewürdigkeit. Die Punkte, die die Gutachter untersuchen und angeben mussten, waren in der Stiftungsurkunde strikt festgelegt worden. Die Berichtspunkte der Pfarrer und Beamten sollten dazu dienen, den Leumund und die finanzielle Situation des Supplikanten zu klären. Abgefragt werden sollte von den Beamten vor allen Dingen, ob der Patient Landeskind war und ob er tatsächlich keinerlei Mittel hatte, um sich zu versorgen, oder ob er nicht von Verwandten mitversorgt werden konnte. Besonders interessant ist, dass auch die Frage gestellt werden sollte: „Ob derselbe keinen Nahrungs-Contract mit jemandem 145 AJSp, Lit. 2769, S. 31–89; A 5856; A 5858. 146 AJSp, A 5858, S. 81–86, hier S. 81 f. 147 AJSp, A 5670 Stiftungsurkunde.
3.2 Die chronische Erkrankung
139
gemacht?“,148 ob in seinem Ort kein eigenes Hospital sei und ob der Betroffene kein Bettler oder „Vagabundierer“ sei. Die Berichtspunkte der Beamten überschnitten sich mit denen der Pfarrer, die neben dem „moralischem Zustand“ des Bittstellers (gefragt wurde nach der Religionszugehörigkeit, der Regelmäßigkeit des Gottesdienstbesuches, seinem Leumund, ob er dem Zorn, Spiel oder Trunksucht ergeben sei), auch den Krankheitszustand und die Verpflegung beurteilen sollten.149 Im Gegensatz dazu beantworteten die Ärzte nur Fragen in Bezug auf die Erkrankung selbst. Diese waren ebenfalls in der Verordnung vorgegeben, waren aber in ihren Fragen und Beschreibungen sehr viel detaillierter als die Gutachten der Hospitäler von Haina und Merxhausen. Die Ärzte sollten den Patienten gezielt nach seiner Krankheit und den bereits erfolgten Behandlungen fragen: 1. Wie der patient heiße? 2. Ob er mit der hinfallenden Krankheit behafftet, und aus welchen Zeichen dieses wahrgenommen werde? 3. Wie alt, und wie ihm dieses Uebel zugestossen sey, und ob er solches von Geburt geerbet, oder sonst durch Schrecken, oder eine andere heftige Leidenschaft sich zugezogen? Und wie lange dieses schon sey? 4. Ob der Paroxysmo ihn öfters, oder selten, zu gewissen Zeiten oder unversehens überfalle? 5. Ob er es nicht zuvor merke, wenn der Paroxysmo kommen wolle? 6. Ob er nach dem Paroxysmo sich wiederum wohl, oder matt und entkräftet befinde? 7. Ob der Patient wisse, was ihm schädlich, und das Hinfallen verursache, ob daran Zorn, hitziges Getränk, oder was sonsten schuld sey? 8. Was für Mittel gegen den zustand schon gebraucht worden und mit was für Wirkung? 9. Welches das beste Mittel für den Patienten erachtet und beobachtet worden?150
Während sich die vorgegebenen Fragen der Beamten und Pfarrer weitestgehend auf die Darstellung der sozialen Hintergründe konzentrierten, die sich auch in den Gesuchen der multifunktionalen Spitälern finden, zielten die Fragen der Ärzte vor allem darauf ab, die Schwere der Erkrankung einzuschätzen und eine Aussage über die Heilungschancen der Erkrankten zu geben. Dies sollte die Entscheidung über die Besetzung der Kuristen und Pfründnerplätze erleichtern. In den Berichtsbögen wurden alle als wichtig erachteten Angaben aus den Suppliken und den Gutachten zusammengefasst. Dadurch wird leider nicht klar, wie die Bittsteller ihre Gesuche aufbauten und welche Punkte der Zusammenfassungen von den Bittstellern selbst und welche von den Gutachtern stammten. Im Vergleich zu den übrigen Supplikenbeständen zeigt sich aber, dass die Darstellung der Versorgungsprobleme und die Bitte um Hilfe sich
148 AJSp, Stiftungsurkunde, A 5670. 149 AJSp, Stiftungsurkunde, A 5670. 150 AJSp, Stiftungsurkunde, A 5670.
140
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
nicht unterscheiden. Lediglich die Darstellung der Erkrankung ist detaillierter, weil diese Angaben für die Antragstellung erforderlich waren. In der folgenden Untersuchung werden in erster Linie die Suppliken untersucht. Die Gutachten der Hohen Hessischen Hospitäler werden lediglich ergänzend hinzugezogen, wenn sie etwas detaillierter über die soziale Stellung der Bittsteller Auskunft geben. Die Angaben der medizinischen Gutachten werden weitgehend ausgespart, weil sie hauptsächlich die Angaben der Bittsteller bestätigten und vor allem medizinische Erklärungsmuster aufgreifen, die bereits im vorherigen Kapitel untersucht worden sind. Die Bitte um Aufnahme in ein Hospital wurde nicht unbedingt von den Erkrankten selbst formuliert.151 Tatsächlich traten von 321 Fällen, in denen der Antragsteller bekannt ist, nur 75 Betroffenen (23 %) selbst als Bittsteller auf.152 Selbstbitten trugen zudem nur erwachsene Personen vor, die entweder schon außerhalb des elterlichen Hauses gelebt und sich selbst ernähren konnten oder die keine Familie mehr besaßen. In den meisten anderen Fällen waren es Angehörige (Eltern, Ehepartner, Geschwister, Kinder, auch Stiefeltern, und -geschwister), die als Bittsteller vor der Obrigkeit auftraten. 211 Antragsteller (65 %) waren Verwandte der Betroffenen. Vor allem Eltern (137; 64 % der verwandschaftlichen Antragsteller) reichten Bittgesuche für ihre kranken Kinder153 ein, wobei die Väter (74; 52 %) in der Funktion des Familienoberhauptes als Bittsteller agierten, während die Mütter (59; 48 %) in ihren Suppliken betonten, als Stellvertreter ihrer Männer zu fungieren, da diese bereits verstorben oder nicht anwesend waren. Waren beide Elternteile verstorben, übernahmen andere Angehörige die Funktion des Bittsteller. Neben den Angehörigen ließen sich nur noch 28 Vormünder (8 %) als Bittsteller in den Sup-
151 Die quantitativen Angaben dieses Kapitels wurden auf der Grundlage der Daten des gesamten Supplikenbestandes gewonnen. Die unterschiedlichen Supplikenbestände wurden zusammengenommen, da sich in allen die gleichen Trends abzeichneten. Zahlen der Einzelbestände werden nur dort aufgeführt, wo sich regionale Unterschiede abzeichnen. Bei der dargestellten quantitativen Analyse muss immer berücksichtigt werden, dass die Daten lückenhaft sind und dass nicht zu allen vorgestellten Aspekten gleich viele Daten vorlagen. Die angegebenen Prozentzahlen beziehen sich daher immer auf den Vergleich der Zahlen eines Aspekts zu den vorliegenden bekannten Fällen. Die Fälle, in denen zu einem Aspekt keine Daten vorliegen, werden nicht berücksichtigt. Die Zahlen sind dementsprechend als Trend und nicht als absolute Zahlen zu verstehen. 152 Im Fall der Bittsteller mussten die 126 Fälle des Epileptikerhauses in Würzburg ausgespart werden, da durch die besondere Form der Überlieferung im Gegensatz zu den anderen Spitälern keine Antragsteller überliefert wurden. Das bedeutet aber nicht, dass der dargestellte Trend dort nicht zutraf. 153 Bei den Kindern handelte es sich nicht unbedingt um Personen im Kindesalter, sondern die Eltern baten auch für ihre – nach heutigem Verständnis bereits – erwachsenen Kinder um eine Hospitalaufnahme. Dies hängt mit dem unterschiedlichen Verständnis des Begriffs von „Mündigkeit“ in der frühneuzeitlichen Gesellschaft zusammen, nach dem ein „Kind“ nicht ab einem bestimmten Alter mündig wurde, sondern die Mündigkeit hauptsächlich mit der Erwerbstätigkeit und einer Heirat zusammenhing: Dülmen: Kultur und Alltag, Bd. 1, S. 121 ff.
3.2 Die chronische Erkrankung
141
plikenbeständen nachweisen.154 Einweisungen durch obrigkeitliche Institutionen finden sich nur in extremen Ausnahmefällen (7; 2 %), beispielsweise wenn man Grund zur Annahme hatte, dass eine Gefahr von dem Kranken ausging.155 Zwischen den Suppliken, die von den Kranken selbst, und solchen, die von Angehörigen formuliert wurden, ließen sich keine nennenswerten Unterschiede feststellen: Beide formulierten die Krankheits- und Problembeschreibungen ähnlich. Allerdings betonten die Selbstbittsteller in ihren Gesuchen im Gegensatz zu den Fremdbittstellern häufig als besonderen Umstand, dass sie keine Angehörigen besaßen.156 Die Angehörigen des Kranken spielten für dessen Umgang mit der Erkrankung also eine wichtige Rolle. Das Fehlen familiärer Unterstützung führte zu Problemen, die nicht zu unterschätzen waren. Die Einbettung in ein soziales Netzwerk war für Epileptiker von überragender Bedeutung, weshalb die Suppliken im Folgenden auch nicht getrennt, sondern ergänzend untersucht werden sollen. Vor dem Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Erkrankung in den Suppliken eher selten als Epilepsie bezeichnet; die Bittsteller sprachen üblicherweise davon, dass die Erkrankten mit der „schwehren Kranckheit“ oder auch „hinfallenden Kranckheit“ bzw. „fallenden Sucht“ behaftet,157 beladen oder heimgesucht seien. In diesen Beschreibungen erscheint die Krankheit als etwas von außen Kommendes, den Körper Heimsuchendes. Damit schließen sich die Vorstellungen an Krankheitswahrnehmungen an, die Michael Stolberg in seiner Studie „Homo patiens“ bereits für weite Teile gebildeter Schichten im 18. Jahrhundert nachweisen konnte.158 Die Bittsteller Hessen-Kassels begannen die Beschreibung ihrer Krankengeschichte häufig mit Formeln, mit denen die göttliche Zuweisung ihrer Krankheit hervorgehoben wurden. So schreibt Jost Grebe in seinem Selbstantrag von 1753: „Hierbey bin ich durch göttliche Schickung mit der Epilepsie sehr stark befallen worden […]“.159 Johann Henrich Plock schildert in seinem Aufnahmeantrag von 1700, „[…] daß ich leyder nicht nur mit dem bösen Übel und schwerer hinfallenden Sucht von Gott dem Allmächtigen gestraffet, heimgesuchet […]“160, sondern dass er darüber hinaus noch mit „Saltzflüssen“161 154 Wobei nicht immer einwandfrei geklärt werden konnte, ob diese nicht auch auf irgendeine Art mit den Betroffenen verwandt waren. 155 Zum Beispiel im Fall des Michel Gräßner, wo die Stadt Ottweiler diesem befahl, seinen epilepsiekranken und rasenden Sohn in das Hospital in Saarbrücken transportieren zu lassen: StadtSB, Bestand Hospital, Nr. 13/1083. 156 StadtW, Stadtarchiv, Archiv des Bürgerspitals, Abtheilung II (Akten), Nr.16, Barbara Lutin; StaM, Bestand 17, Nr. 932. 157 Neben dieser Beschreibung ließen sich in den Akten auch noch die Ausdrücke mit dem schweren Creutz beladen“ und die „hinfallende seuche“ finden, die allerdings eine geringere Rolle spielten. 158 Stolberg: Homo patiens, S. 38 ff. 159 LWV-Archiv, Bestand 13, Reskript 06.11.1753. 160 LWV-Archiv, Bestand 13, Reskript 02.08.1700. 161 „Salzfluß, ein Ausschlag auf der Haut, welcher eine scharfe, dem Salzwasser ähnliche Feuchtigkeit von sich giebt, und wenn er abtrocknet, eine weiße, dem Salze ähnliche Rinde bekommt.“, aus: Artikel „Salzfluß“, in: Krünitz, Johann Georg: Oeconomische
142
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
behaftet sei. Diese Wendungen zeigen, dass man davon überzeugt war, die Krankheit sei von Gott „geschickt“ worden, um den Betroffenen damit „heimzusuchen“ und zu „beladen“. Die in den Suppliken gebrauchten Ausdrücke wie mit dem „schwerem Kreuz“ oder dem „Hauskreuz beladen“ zu sein, zeugen von diesen Vorstellungen, da sie eine starke christliche Assoziation aufweisen. Allerdings geht aus den Suppliken nicht klar hervor, warum Gott die Betroffenen mit der Krankheit „belädt“. Einzig Johann Henrich Plock bezeichnet in seiner Supplik die Erkrankung als eine Strafe Gottes, was besonders interessant ist, weil diese Begründung im gesamten Quellensample sonst nur noch im Schreiben eines Pfarrers, das der Bittschrift von Anna Gertrud Wilhelm 1743 als Gutachten beigegeben war, aufgegriffen wurde: „[…] daß der allmächtige, allein weise, gerechte und heilige gott so wohl macht, als ursach habe, das gefallene menschliche Geschlecht auff mancherlei weise zu züchtigen, das hat eine Weibsperson […] in der That erfahren […]“.162 Allerdings wird die Epilepsie in diesem Fall nicht als individuelle Strafe Gottes für die begangenen Sünden der Anna Gertrud geschildert, sondern der Geistliche sah die Erkrankung eher im allgemeinen Kontext der Züchtigung der verdorbenen Menschheit. Die Wahrnehmung von Krankheiten als Strafen oder Prüfungen Gottes bezogen sich in der Frühen Neuzeit nicht nur auf die Epilepsie, sondern auf alle Krankheiten; sie bot eine religiöse Erklärung für die Existenz von Krankheiten im Allgemeinen.163 Da diese Formel aber in den übrigen Supplikenbeständen nicht vorkommt, muss sie im Fall Hessen-Kassels als regionale Besonderheit begriffen werden. Das Anhexen der Krankheit durch teuflische oder dämonische Einflüsse beziehungsweise Besitzungen wurde in keiner der Suppliken als Ursache für die Erkrankung angeführt. Ob übernatürliche Erklärungen in den Suppliken fehlen, weil sich die somatischen Erklärungen der Erkrankung in der Bevölkerung durchgesetzt hatten und das tradierte Wissen um Anhexen und teuflische Einflüsse zu dieser Zeit nur noch eine untergeordnete Rolle spielte oder ob die Supplikanten fürchteten, mit dieser Krankheitserklärung bei der Obrigkeit auf negative Reaktionen zu stoßen, ist schwer einzuschätzen.164 Überhaupt geben die untersuchten Suppliken kaum Auskunft zur Behandlung oder zu den Ursachen der Erkrankung. Die vorangegangene Behandlung spielte für die Aufnahme in die multifunktionalen Hospitäler auch nur insofern eine Rolle, als sie wirkungslos geblieben war. Eine medizinische Behandlung wurde in diesen Suppliken lediglich über die Formel, „verschiedene MitEncyclopädie oder allgemeines System der Land-, Haus-, und Staats-Wirthschaft, T. 134, Berlin 1823, S. 153. 162 LWV-Archiv, Bestand 13, Reskript 15.12.1743, Begleitschreiben des Pfarrers. 163 Vgl. Vanja, Christina: „Krankheit (Neuzeit)“, S. 200–207; Stolberg: Homo patiens, S. 50 ff. Stolberg konnte ähnliche Krankheitsbeschreibungen in Patientenbriefen des 16. Jahrhunderts nachweisen. 164 Vanja, Christina: Waren die Hexen gemütskrank? Psychisch kranke Frauen im hessischen Hospital Merxhausen, in: Ingrid Ahrendt-Schulte/D.R. Bauer/S. Lorenz/J.M. Schmidt (Hg.): Geschlecht, Magie und Hexenverfolgung, Bielefeld 2002, S. 175–192, hier S. 182.
3.2 Die chronische Erkrankung
143
tel“ seien gebraucht worden, erwähnt und unterstrichen damit lediglich die Unheilbarkeit der Epilepsie. Allerdings ist diese Aussage nicht allein als strategisches Argument für die Unheilbarkeit zu werten. Denn auch in Gesuchen an das Epileptikerhaus, bei denen sich die Betroffenen auf Pfründner- und Kuristenplätze bewarben, wurde lediglich auf angewandte Heilmittel verwiesen, ohne diese genau zu nennen, wenn die Epilepsie von den Ärzten als „incurabel“ eingestuft wurden.165 Anscheinend war die Erläuterung von Kuren für die Landesherren und Hospitalkomissionen, die über die Aufnahme entschieden, unwesentlich. Umgekehrt gebrauchten die Ärzte die Formel „hat noch nicht die Kunst eines Arztes gesucht“166, wenn sie darauf hinweisen wollten, dass bei diesem Patienten noch eine Chance auf Heilung bestand. Eine ähnliche Funktion erfüllte die in einigen wenigen Gesuchen (8 von 126) angeführte Äußerung, Aderlässe milderten die Anfälle.167 Vermutlich sollte damit eine bessere Chance auf Heilung und eine Bewerbung auf einen Kuristenplatz angezeigt werden. Die Epilepsie wurde in ausnahmslos allen Suppliken als natürliche Krankheit geschildert. Die angegeben Ursachen waren allerdings so vielfältig, dass sich hier kein wirklicher Trend erkennen lässt. Genannt wurden die Vererbung der Krankheit durch die Eltern oder Großeltern,168 erlittene Stürze, erfahrener Schrecken oder vorausgehende Erkrankungen wie heftiges Fieber oder die Kindsblattern,169 ohne dass Ursache und Wirkung erklärt wurden. Der Stadtgerichtsassessor Lambrecht schilderte beispielsweise, wie sein damals neunjähriger Sohn nach einem schweren Unfall am Wasser, bei dem er fast ertrunken wäre, und nachdem er eine darauf folgende „tödtlichen Krankheit“ überstanden hatte, von der Krankheit befallen worden war.170 Die Mutter der 26-jährigen Anna Magdalena Kessler berichtete, ihre Tochter habe die Epilepsie in ihrem fünften Lebensjahr bekommen, nachdem sie die Kinderblattern gehabt habe.171 Darüber hinaus wurden das „Versehen“172 der schwangeren Mutter an einem Epileptiker oder das Miterleben eines epileptischen Anfalls als Ursache der Erkrankung immer wieder erwähnt. Der Schreck, den der Anblick bei der Schwangeren ausgelöst hatte, wurde als Ursache für das Auftreten der Epilepsie des Kindes gedeutet.173 Auch übermäßige Emotionen wie heftiger Schreck 165 166 167 168 169 170 171 172 173
AJSp, Lit. 2769, S. 45, Dill, Christoph; 2769, S. 48, Raab Johannes. AJSp, Lit. 2769, S. 45, Sell, Sigismund. AJSp, Lit. 2769, S. 40, Rösner, Adam; 2769, S. 31 f., Fleischmännin, Theresia M. AJSp, A Nr. 5856, Heß Georg, 1791; LWV-Archiv, Bestand 13; Reskript vom 22.03.1796. LWV-Archiv, Bestand 13, Reskript vom 31.01.1733; Reskript vom 31.01.1764; Reskript vom 16.03.1790; Reskript vom 26.03.1768. StadtW, Archiv des Bürgerspitals, Abtheilung II (Akten), Nr.16, 15.09.1653. StaM, Bestand 229, 02.09.1732. Bennholdt-Thornsen, Anke/Guzzoni, Alfredo: Zur Theorie des Versehens im 18. Jahrhundert. Ansätze einer pränatalen Psychologie, in: Thomas Kornbichler (Hg.): Klio und Psyche, Pfaffenweiler 1990, S. 112–125. LWV-Archiv, Bestand 13, Reskript vom 14.04.1778, StaM, Bestand 229BIIIb, Reskript vom 08.03.1721; AJSp, A Nr. 5856, Sieblerinn, Christina, 1791.
144
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
oder Zorn, sogar das „Kitzeln der Spielgesellin“174 oder die Schmerzen beim Zahnen175 konnten als Ursachen gesehen werden. Die Ursachenerklärungen, die die Bittsteller in den Suppliken anführten, decken sich weitgehend mit den Vorstellungen, die bereits im vorherigen Kapitel ausgeführt wurden. In diesen Krankheitsdarstellungen wurden allerdings lediglich die Momente oder Ursachen rekonstruiert, die die Bittsteller als Auslöser der Erkrankung betrachteten. Eingehende medizinische Diagnosen der Erkrankung wurden ausgespart. Dies liegt zum einen darin begründet, dass eine detaillierte medizinische Erklärung der Funktionsweise der Krankheit für die medizinischen Laien eher zweitrangig war. Für sie war die Frage wichtiger, ob und wie die Erkrankung behandelbar war. Zum anderen fügte sich eine ausführlichere Abhandlung über die Natur der Erkrankung nicht in die Erzählabsicht der Bittsteller, denn die Darstellung der Erkrankung verfolgte den Zweck, die durch sie entstehenden Probleme zu schildern und damit das Gesuch zu begründen. Die Krankengeschichte wurde in die Narratio, die Darstellung der Lebensgeschichte und der aktuellen Situation, eingebettet. Dementsprechend wurden nur solche für das Gesuch relevante Details der Erkrankung geschildert, weshalb in keiner einzigen Bittschrift der Ablauf eines Anfalls näher beschrieben und die Ursachenerklärung auf auslösende Schlüsselmomente reduziert wurde. Viel wichtiger als die Ursache der Erkrankung war deren Verlauf, der in den Suppliken sehr viel detaillierter dargestellt wurde. Geschildert wurde beispielsweise, wie lange die Erkrankung schon bestand, wie häufig und wie heftig die Anfälle bei dem Erkrankten auftraten und ob eine Veränderung im Krankheitsverlauf stattgefunden hatte. Aus den Schilderungen der Bittsteller wird deutlich, dass es sich hier um extreme Fälle handelte: Beschrieben wurden Epileptiker, die sehr häufig Anfälle erlitten und deren Anfälle als sehr heftig beschrieben wurden. In einigen wenigen Bittschriften wurden genaue Angaben über die Häufigkeit der Anfälle gmeacht. So wurde in 55 von 476 bekannten Fällen (11,5 %) tägliche Anfälle der Bittsteller beschrieben, von denen einige auch auch mehrere Anfälle am Tag erlitten.176 In den übrigen Bittschriften wird zwar von einer starken Epilepsie gesprochen, dazu aber formalhafte Umschreibungen verwendet, zum Beispiel der Betroffene sei „mit der Epilepsie im höchsten Grade behafftet“177 oder könne „wegen allzeitigem fallens nicht fortkommen“.178 Diese Wendungen wurden jedoch nicht nur von den Bittstellern, sondern auch von den begutachtenden Ärzten verwendet. 174 AJSp, A Nr. 5856, Weberin, Anna, 1791 (wobei dies der einzige Fall im gesamten Quellenbestand ist, der „Kitzeln“ als Ursache aufführt). 175 In der Supplik von Anna M. Müller, AJSp, Lit. 2769, S. 31 gibt ihr Vater, an sie habe die Epilepsie „seit dem zweiten Geburtstag ex dentitione“. 176 Magdalena Plotzin wurde als „mit der großen schweren Krankheit von Gott täglich beladen„ beschrieben: StadtW, Archiv des Bürgerspitals, Abtheilung II (Akten), Nr.16, Aufnahmedatum 21.05.1649; Nickel Wunn schrieb in seiner Supplik, dass er einen Sohn namens Johan Peter habe, der täglich 6 bis 7 mal „falle“: StadtSB, Bestand Hospital, 24/1137, Nickel Wunn. 177 LWV-Archiv, Bestand 13, Reskript vom 14.11.1733. 178 StadtW, Abtheilung II (Akten), Nr.16, Zimmermännin Margartha, Aufnahme 23.05.1651.
3.2 Die chronische Erkrankung
145
Deshalb ist anzunehmen, dass auf diese Weise starke Formen der Epilepsie angezeigt wurden. In einigen Bittschriften,179 in denen der Krankheitsverlauf etwas genauer beschrieben wurde, wurde auch die Verschlechterung des Krankheitszustandes erwähnt: Die Krankheit werde „von Jahr zu Jahr schlimmer“.180 Die Unterlagen des Würzburger Epileptikerhauses wichen hier ein wenig ab. Neben 14 Fällen (von 126; 11 %), in denen von täglichen Anfällen die Rede war, wurden in 35 Fällen (27 %) mehrmalige wöchentliche Anfälle, in 33 Fällen (26 %) mehrmalige Anfälle im Monat und in 10 Fällen (10 %) mehrere Anfälle pro Jahr aufgeführt. In 33 Fällen blieb die Beschreibung der Epilepsie vage und es wurde nur von starken Anfällen oder einfach nur von einer Epilepsie gesprochen. Zusammen mit der Erwähnung der Periodizität der Anfälle, z. B. einer Häufung der Anfälle bei Voll- oder Neumond, dienten diese detaillierten Angaben möglicherweise zur besseren Einschätzung der Heilungschancen durch die Hospitalkomission. In 251 von 476 Fällen (52 %) litten die Betroffenen an zusätzlichen Erkrankungen. Davon entfielen 66 der 251 Fälle (26,3 %) auf zusätzliche körperliche Gebrechen wie Blindheit oder Lähmungen.181 In den restlichen 185 Fällen (73,7 %) trat jedoch zusammen mit der Epilepsie eine geistige Erkrankung beziehungsweise Behinderung auf. Ihre verschiedenen Formen sind in den Suppliken schwer zu unterscheiden, da das Vokabular wenig spezifisch ist. Die Betroffenen wurden zusätzlich zu ihrer Fallsucht als blödsinnig, simpel, verwirrt, sinnlos, des Verstandes beraubt, aber auch als rasend, tobsüchtig und wahnsinnig bezeichnet.182 In den Suppliken wurde ein enger Zusammenhang zwischen der Fallsucht und der geistigen Erkrankung hergestellt. Ausnahmsweise wurde die geistige Erkrankung als Grunderkrankung begriffen und die Fallsucht als eine Art Zusatz- oder Nebenerkrankung. So erzählte der Leinweber Hermann Umbach, seine 22-jährige Tochter sei schon von Geburt an „sinnlos“ gewesen und zu dieser „Sinnlosigkeit“ habe sich zu einem späteren Zeitpunkt, der im Gesuch nicht näher spezifiziert wird, auch die fallende Sucht beigemischt.183 In den meisten Fällen wurde die Epilepsie jedoch als Grunderkrankung wahrgenommen und als Ursache der geistigen Störung gesehen. In den Bittschriften wurden gehäufte und schwere Anfälle für geistige Störungen verschiedener Art verantwortlich gemacht. Sie konnten in der Wahrnehmung der Bittsteller zu einer Art von Demenz führen. Jacob Mengel konstatierte in seinem Antrag, er habe „[…] durch die kranckheit merklich den verstand verloren […]“ und führte als Beispiel an, teilweise an Orten wach geworden zu 179 Im Bestand der Hessischen Hospitäler waren solche Wendungen in 50 von 320 Suppliken zu finden (15,5 %). 180 LWV-Archiv, Bestand 13, Reskript vom 30.07.1627; Reskript vom 28.09.1795; StadtSB, Bestand Hospital, Nr. 1/1089. 181 Vgl. z. B. LWV-Archiv, Bestand 13, Reskript vom 26.11.1709; 14.03.1797. 182 StadtW, Archiv des Bürgerspitals, Abtheilung II (Akten), Nr.16, Aufnahmedatum 13.05.1633. 183 StaM, Best. 229BIIIb, Reskript 20.05.1722.
146
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
sein, ohne zu wissen, wie er dort hingekommen sei.184 Auch eine Retardierung wurde von den Bittstellern wahrgenommen, wie es beispielsweise der Vater des unglücklichen Hoppe in seinem Gesuch schilderte: „[…] daß ich einen Sohn von 24 Jahren habe, welcher alß ein kindt von 3 Jahren das unglück 24 stunden am stük [hatte], welches ihm den kopf dergestalt zerissen, daß er ganz albern und blöden verstandes worden.“185 Sie konnten auch gefährliche Formen von Geistesstörungen wie Tobsuchtsanfälle oder Raserei-Attacken sowie Gewaltausbrüche auslösen. Nach Auffassung der Zeitgenossen unterlagen Epileptiker zuweilen nach ihren Anfällen kurzzeitigen Wesensänderungen. Es schien ihnen nicht ungewöhnlich, wenn Epileptiker nach ihren Anfällen kurzzeitig entweder benommen, verwirrt oder „sinnlos“ waren, oder rasend oder tobsüchtig wurden.186 Über diese kurzen, in der Regel direkt nach dem Anfall auftretenden Perioden hinaus, darüber waren sich Ärzte wie medizinische Laien gleichermaßen einig, konnten sich diese Zustände als dauerhafte Wesensänderung bei den Betroffenen manifestieren. Die Krankengeschichte bildete die Grundlage für das eigentliche Anliegen: Die Bitte um Aufnahme. Als Begründung wurden die (drohende) finanzielle Mangelsituation der Erkrankten, die fehlende „pflegerische“ Unterstützung im Alltag oder die Gefahr, die der Betroffene für sich und andere darstellte, angeführt.187 All diese Probleme wurden in den Gesuchen immer aus der Krankengeschichte heraus begründet. Die Darstellung der bestehenden oder drohenden materiellen Unterversorgung wegen Arbeitsunfähigkeit erscheint weniger interessant, da diese die Antragsteller nach den Aufnahmebedingungen der Hospitäler erst einer Aufnahme würdig machte. Deshalb lässt sich diese Darstellung in nahezu allen Suppliken finden.188 Viel interessanter als die Erwähnung der Notlage erscheint dagegen, wie die Arbeitsunfähigkeit aus der Krankengeschichte heraus begründet wurde. Sie war einmal auf die Gefahren, die mit einem Anfall im jeweiligen Arbeitsumfeld verbunden waren, und auf die Vorurteile der Mitmenschen zurückzuführen. 184 LWV-Archiv, Bestand 13, Reskript 28.04.1732. 185 LWV-Archiv, Bestand 13, Reskript 08.05.1721. 186 Magdalena Leimbach berichtete beispielsweise in ihrem Gesuch, dass ihre Tochter Elisabeth fast täglich Anfälle bekäme und manchmal nach diesen in eine solche Raserei gerate, dass sie ihrer Tochter einfach nicht mehr Herr würde: StaM, Best. 229BIIIb, Reskript 18.03.1727. 187 Nicht in allen bekannten Epilepsiefällen war eine Supplik beigegeben oder eine genaue Aufnahmebegründung genannt. Die nachfolgenden Angaben beziehen sich daher auf die 365 Fälle, in denen eine genaue Aufnahmebrgündung festzustellen war. Bei den Aufnahmebegründungen kam es auch zu Mehrfachnennungen, daher überschneiden sich die Prozentzahlen. Armut wurde in 265 von 365 Fällen (72 %) als Aufnahmebegründung genannt. Dringend benötigte Aufsicht wegen Verletzungsgefahr oder mit der Epilepsie verbundener Verstandesschwäche wurde in 75 Fällen (20,5 %) genannt bzw. angedeutet. Eine Gefahr die Epileptiker für sich oder andere darstellten wurde in 98 Gesuchen (27 %) hervorgehoben. 188 Gray: Patientenbiographien, S. 243–253; Dieselbe: The Self-Perception of Chronic Physical Incapacity among the Labouring Poor.
3.2 Die chronische Erkrankung
147
Die mit einem Anfall einhergehenden Gefahren stellten sich allerdings nicht für alle Berufsgruppen gleich dar. Besonders betroffen von der Arbeitsunfähigkeit waren Soldaten, Zimmerleute und Bäcker. Soldaten waren deshalb besonders betroffen, weil eine unbehandelbare Epilepsie zur sofortigen Dienstentlassung führte.189 Zimmerleute, weil ein Sturz vom Dach während eines Anfalls tödliche Folgen haben konnte, und Bäckermeister und ihre Gesellen waren durch die Arbeit am offenen Ofen verstärkt der Gefahr von Brandverletzungen bei einem Anfall ausgesetzt. In anderen Berufsgruppen, z. B. der der Hirten, oder in Berufen mit vorwiegend schreibender Tätigkeit, stellten die Anfälle ein geringeres Problem dar. Obwohl die Anfälle nicht in allen Berufen ein Problem darstellten, hing die Arbeitssituation von Epileptikern zugleich von den Vorurteilen ihrer Kollegen und potentiellen Arbeitgebern ab. Aus den Schilderungen der Suppliken geht hervor, das Fallsüchtige, die mit der Erkrankung geboren worden waren oder seit ihrer Kinder- oder Jugendzeit an ihr litten, es schwerer hatten, überhaupt erst Arbeit zu finden. Besonders der Zugang zum Handwerk wurde Epileptikern erschwert, wie dies aus verschiedenen Suppliken hervorgeht. Die Mutter des 17-jährigen Andreas Horschel begründete seine Arbeitsunfähigkeit folgendermaßen: „Er kann deswegen kein handwerk, womit er sich dereinsten ernähren könnte, erlernen und kein vermögen hat er.“190 Neben der Annahme, Epileptiker könnten aufgrund ihrer Anfälle nicht alle Arbeiten verrichten, mag auch die Furcht vor dem Verlust von Kunden mitgespielt haben.191 Auch Lohnabhängige wie Schulmeister und Gesinde sahen sich dem Problem ausgesetzt, dass sie von ihren aktuellen und zukünftigen Arbeitgebern aufgrund ihrer Krankheit nicht als geeignet für die Arbeit betrachtet wurden. Dem 27-jährigen Joseph Süßmann aus Dettelbach wurde – wahrscheinlich von seiner Gemeinde – bescheinigt, er habe sich immer „[…] mit dienen ernährt, wozu ihn aber diese kranckheit unbrauchbar gemacht […]“, denn ihn wolle „[…] niemand mehr in Diensten nehmen […]“.192 Bei Lehrern kam erschwerend hinzu, dass sie als Gefahr für ihre Schüler gesehen wurden, die durch den täglichen Kontakt ebenfalls an der Epilepsie erkranken konnten. Von diesen Faktoren abgesehen, spielte die Häufigkeit der Anfälle eine wesentliche Rolle. Die Arbeitsunfähigkeit bereits Erwerbstätiger wurde in den Bittschriften neben den Gefahren vor allem auf die Häufigkeit der Anfälle zurückgeführt. Sophia Schweinebraden, die sich zuvor selbst versorgt hatte, berichtete beispielsweise in ihrem Gesuch: „Ich bin seit meinem 12ten Jahre mit der Epilepsie leider behaftet und nunmehro nimt dieses Malheur so zu, daß
189 ThHStaw, Eisenacher Archiv, Militär- und Kriegssachen Nr. 428; Vanja, Christina: Homo miserabilis. Das Problem des Arbeitskraftverlustes in der armen Bevölkerung der Frühen Neuzeit, in: Paul Münch (Hg.): Erfahrung als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte. München 2001, S. 194–207, S. 201. 190 LWV-Archiv, Bestand 13, Reskript 04.06.1790. 191 Fall des Michel Wenkel 1791, AJSp, A Nr. 5856. 192 Fall des Joseph Süßmann, AJSp, A Nr. 5856.
148
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
ich mit der Hände Arbeit nichts mehr verdienen kann.“193 Und der Schweinehirte Georg Lauterbach erzählte in seinem Gesuch, er sei bereits seit über 20 Jahren fallsüchtig und habe 15 Jahre lang gearbeitet. Erst durch die Zunahme der Anfälle in den letzten Jahren sei er nicht mehr in der Lage, seinen Dienst auszuüben, weswegen er ihn habe aufgeben müssen. Nun könne er sich und seine Familie, die aus seiner Frau und zwei Kindern bestand, nicht mehr ernähren.194 Es hing demnach vor allem vom Beruf, aber auch von der Häufigkeit der Anfälle und den Vorurteilen der Arbeitgeber ab, ob ein Epileptiker mit seiner Erkrankung noch arbeiten konnte. In manchen Berufsgruppen zwangen erst regelmäßig und gehäuft auftretende Anfälle zur Aufgabe der Arbeit. Denn mit der Häufigkeit der Anfälle stieg das Risiko für den Erkrankten, sich bei einem Anfall ernsthaft zu verletzen, wenn er unbeaufsichtigt war. Im Fall der Arbeitsunfähigkeit und damit verbundenen Versorgungsunfähigkeit war in der frühneuzeitlichen Gesellschaft in erster Linie die Familie für die Versorgung zuständig.195 Erkrankte Kinder und Jugendliche wurden ganz selbstverständlich auch im Erwachsenenalter weiterversorgt, und erwachsene Kinder, die das Elternhaus bereits verlassen und sich selbst ernährt hatten, kehrten wieder zu ihren Eltern zurück. Nur wenn die Kinder bereits verheiratet waren und eine eigene Familie gegründet hatten, ging die Verantwortung für den Arbeitsunfähigen von den Eltern auf den Ehegatten über, gleichgültig, ob dies nun den Ehemann oder die Ehefrau betraf. Dieses soziale Netz spiegelt sich auch in der Verteilung der Antragsteller wider: So baten die nach diesem Versorgungssystem Verantwortlichen um die Aufnahme des Erkrankten in eines der Hospitäler. Deshalb war die Zahl der Angehörigen unter den Antragstellern und unter diesen die der Mütter und Väter so hoch. In den meisten Bittschriften wurde die familiäre Situation als von Armut bedroht beschrieben:196 Die Familie könne sich durch die Arbeit des Vaters, der Mutter und der Geschwister nur kümmerlich ernähren.197 Durch die Aufnahme bzw. Unterhaltung des erkrankten Familienangehörigen, der seinerseits nichts zum materiellen Auskommen der Familie beisteuern konnte, aber eine zusätzliche finanzielle Belastung darstellte, drohten diese Familien endgültig in die Armut zu fallen. In diesen Fällen konnte das soziale Netz Familie die Erkrankten nicht mehr auffangen, weshalb sie in ihrer Not ein Bittgesuch an den Landesherren oder die Stadtobrigkeit richteten. Deshalb scheint es auch nicht verwunderlich, dass die Bittsteller alle aus der Unter- und Mittelschicht stammten und sich in erster Linie aus Soldaten, deren Frauen und Kindern, Tagelöhnern, Lohnabhängigen wie Gesinde und Lehrern, aber auch
193 194 195 196 197
StaM, Best. 229BIIIb, Reskript 10.07.1781. LWV-Archiv, Bestand 13, Reskript 16.11.1753. Vanja: Homo miserabilis, S. 195. Armut wurde in 265 von 365 Fällen (72 %) als Aufnahmebegründung genannt. StaM, Bestand 17/1827, Reskript vom 19.07.1806.
3.2 Die chronische Erkrankung
149
kleinen Handwerkern, vor allem Zimmerleuten und Bäckern, zusammensetzten.198 Als weiteres Problem im Umgang mit der Erkrankung wurde in den Aufnahmebitten immer wieder auf das Fehlen nötiger „fremder“ Unterstützung im Alltag verwiesen, die von dem Kranken vor allem in Form von Aufsicht benötigt wurde. Die Unvorhersehbarkeit und Plötzlichkeit, mit der ein Anfall erfolgen konnte, führte wohl zu einer enormen Verunsicherung der Betroffenen, die, egal wo sie sich befanden oder welcher Tätigkeit sie nachgingen, nie völlig sicher sein konnten, nicht gerade von einem Anfall überkommen zu werden. Daher zeigen die Umschreibungen „heimgesucht“ und „befallen“ zu werden und von der Krankheit „gepackt und niedergeworfen“ zu werden einen durchaus realen Bezug zur Wahrnehmung der Patienten. Wie sich diese Unsicherheit auf ihr Selbstbewusstsein auswirkte, muss leider Spekulation bleiben, da in den Suppliken die psychischen Belastungen der Betroffenen nicht geschildert wurden. Die Epilepsie war vermutlich vor allem wegen des massiven Kontrollverlusts während der Anfälle furchterregend und rief damit sowohl bei den Erkrankten als auch in ihrer Umgebung Ängste hervor, wie Michael Stolberg, der französische Patientenbriefe des 18. Jahrhunderts ausgewertet hat, feststellt.199 Inwiefern das zu Stigmatisierung und Ausgrenzung der Kranken führte, zumal die Anfälle durchaus nicht immer nur als bemitleidenswert empfunden wurden, lässt sich anhand dieser Quellen allerdings schwer ermitteln. Im Fall des Bechtolf Wendel erschwerte die Abscheu, mit der die Menschen der Umgebung auf Bechtolfs ständige Anfälle reagierten, seiner verwitweten Stiefmutter das Handwerksgeschäft, das sie nach dem Tod ihres Mannes weiterführte. Sie sah sich deshalb genötigt, Bechtolf im Hospital unterzubringen. Bechtolfs Onkel, der den Antrag für seinen Neffen stellte, schilderte diese Probleme im Aufnahmegesuch sehr deutlich: „[…] daß sie das schuhmacherhandwerk fortführet, kan sie ihres stiefsohnes wegen keinen gesellen behalten, weilen sich diese aus abscheu vor dessen kranckheit immer wieder wegbegeben.“200 Dies mag natürlich nur ein Vorwand gewesen sein, zumal Bechtolf anscheinend kein Problem im väterlichen Haushalt dargestellt hatte. Vielleicht mangelte es der Handwerksmeisterin einfach an Autorität den Gesellen gegenüber. Aber auch der Stiefvater des Phillip Stauffenberg berichtete in seiner Supplik von den täglich bis zu zwanzig Anfällen, an denen sein Stiefsohn leide, wodurch ihm die Kunden wegblieben und ihn in ernsthafte finanzielle Bedrängnis brachten: „[…] als weniger aber diesen denen mahlgästen zum abscheu seyenden sohn länger hir behalten kan, ansonsten sich diese alle von mir wegziehen und mir und denen meinigen alsdann gar nichts zum leben bleiben würde.“201 Wie repräsentativ diese Fälle nun sind, ist schwer zu ergründen, im Quellensample bilden sie mit vier von 476 Fällen aber die ab198 199 200 201
Vanja: Homo miserabilis, S. 195. Stolberg: Homo patiens, S. 74. LWV-Archiv, Bestand 13, Reskript 07.09.1791 und Reskript 31.03.1792. Ebenda, Reskript 07.11.1786.
150
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
solute Ausnahme. Wobei der Umstand, dass solche Ausgrenzungsfälle in den übrigen Suppliken nicht erwähnt wurden, nicht bedeutet, dass es solche Fälle nicht doch häufiger gab. Sie mögen lediglich seltener als Aufnahmebegründung angeführt worden sein. Sprachen die Antragsteller zwar nicht von den psychischen Auswirkungen, die die Krankheit auf die Betroffenen hatte, so gaben sie doch ganz konkrete Ängste und Gefahren wieder, die mit den plötzlichen Anfällen verbunden waren: Etwa schwerwiegende Verletzungen und Knochenbrüche durch den unkontrollierten Sturz beim Anfall; je nachdem, wie oder worauf der Krampfende fiel, konnte dies schwerwiegende Folgen haben und bis zu tödlichen Verletzungen führen. Auch Stürze ins offene Feuer oder Wasser während eines Anfalls werden in den Quellen erwähnt.202 So gab die Tante von Adam Abe an, sie könne sich nicht um ihn kümmern, weil sie selbst Hospitalitin in Schmalkaden sei, ihr Neffe bedürfe aber dringend der Aufsicht, denn er sei ganz verlassen und obdachlos, schon zweimal ins Feuer gefallen und habe sich beim zweiten Mal die Füße so stark verbrannt, dass er jetzt auch noch lahm sei.203 Die Sorge, Fallsüchtige könnten bei einem Anfall ins Wasser fallen und ertrinken, scheint angesichts eines Obduktionsberichtes aus Johann Gottlieb Kühns „Medicinischen Gutachten“ verständlich, konnte dies doch bei den alltäglichsten Verrichtungen geschehen: „Es ist ganz sicher, dass defuncta [Anna Maria Weis] beym Waschen in einen paroxysmus epilepticum verfallen, da sie damit sehr behaftet gewesen, auf den Kopf ins Wasserloch gestuerzt, und, weil sie sich, als eine sich unbewußte Person nicht hat helfen können, habe ertrinken müssen.“204 Daher waren die Betroffenen auf die Aufsicht durch andere angewiesen. Diese Aufsicht übernahmen die Familienangehörigen, die den Betroffenen im Auge behielten und bei einem Anfall Hilfe leisteten. Die Hilfe bestand in erster Linie darin, den Krampfenden aufzufangen, dafür zu sorgen, dass er sich bei seinem Sturz nicht verletzte, und ihn während seines Anfalls möglichst weich zu betten. Außerdem ging es darum zu verhindern, dass er in eine mögliche Gefahrenquelle wie Feuer, Wasser oder auch scharfe Gegenstände stürzte. Der Schwager der Anna Elisabeth Blum beschrieb in seiner Supplik zudem die Sorge der Familie, sie könne „[…] während eines paroxismo allein sein und elendig crepieren“.205 Der Wunsch, dem Kranken während seines Anfalls beizustehen, setzte voraus, ihn womöglich dauerhaft zu beaufsichtigen. Im Prinzip musste immer eine Person zur Pflege abgestellt werden, was aber nicht jede Familie leisten konnte, wie auch der Vater von Conrad Leher, der 202 Verletzungen und Verbrennungen durch Stürze und die Angst davor wurden zwar mit 46 zu 476 Fällen (9 %) als Aufnahmebegründung relativ selten in den Suppliken angesprochen, bezogen sicher aber wohl doch auf konkrete Gefahren. Es scheint auch, dass die Suppliken an die Hohen Hessischen Hospitäler etwas detaillierte Aufnahmebegründungen vorwiesen, denn in ihren Beständen wurde immerhin in 41 zu 320 Fällen (12 %) von diesen Gefahren gesprochen. 203 LWV-Archiv, Bestand 13, Reskript 26.12.1752. 204 Kühn, Johann Gottlieb: Sammlung medicinischer Gutachten. Breßlau 1791, S. 127. 205 LWV-Archiv, Bestand 13, Reskript 13.03.1711.
3.2 Die chronische Erkrankung
151
schon „[…] verschiedentlich in feuers und wassers noth geraten […] und weilen er der vatter bey dieser bewandtniss [es geht hier um seine Arbeit als Tagelöhner – Anm. Verf.] selten zu hauß, so steht zu befürchten, daß dessen elendiger sohn entlich einmal, da die epilepsie stärker wird, in ein größeres unglück kommen und sein leben ohnvernunnft einbüßen möge.“206 War es der Familie aber nicht möglich einen unentgeltlichen Betreuer zu finden, z. B. weil nur noch ein Elternteil lebte oder weil die Familie so arm war, dass sie nicht auf die Einnahmen einer Arbeitskraft verzichten konnten, lief der Epileptiker Gefahr, sich schwer bis tödlich zu verletzen. Auch das fortschreitende Alter der Eltern spielte in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle,207 wie aus einigen Gesuchen hervorgeht. Zum einen konnten betagte Eltern ihre Kinder nicht mehr richtig versorgen, wie die 69-jährige Mutter des Johannes Fritz Gossmann. Sie beschrieb in ihrem Gesuch, dass sie wegen ihres Alters „[…] dem sohn beym öfftern hinfallen, nicht mehr, wie ich gern wollte, assistiren kann, und dannhero täglich ein größeres unglück befürchten muß.“208 Zum anderen befürchteten diese Eltern, nach ihrem Tod ihre fallsüchtigen Kinder einem ungewissen Schicksal überlassen zu müssen. Deshalb wollten sie diese noch zu Lebzeiten in einem Hospital versorgt sehen. Der Vater der 50-jährigen Catharina Pfalz schilderte in seinem Gesuch sehr eindringlich, dass er und seine Frau, beide nun 80-jährig, fürchteten, bald zu sterben und die Tochter unversorgt zurücklassen zu müssen. Sie sähen sich wegen ihres Alters nicht mehr imstande, die Tochter zu beaufsichtigen. Deshalb hätten sie sich nach etlichen Jahren zu der Entscheidung durchgerungen, ihre seit der Kindheit fallsüchtige Tochter in das Hospital Merxhausen zu geben. Ein Nachbar bekräftigte in einem Schreiben noch einmal, wie schwer den Eltern diese Entscheidung gefallen und wie nötig diese Aufnahme sei: „[…] so sey diesen alten leuthen schon längstens gerathen worden, ihre gebrechliche tochter in ein hospital zu bringen zu suchen, worzu aber selbige sich erst jezo, da sie die äußerste noth triebe entschlossen hätten.“209 Der Wunsch, das eigene Kind versorgt zu sehen, scheint umso mehr verständlich angesichts der Tatsache, dass gerade in Selbstbitten Fallsüchtiger die fehlende Unterstützung durch Angehörige oft besonders stark herausgestellt wurden. So schilderte der Vormund der 18-jährigen Marthe Elisabeth Keil, deren Mutter vor einigen Jahren, der Vater erst kurz vor dem Antrag, verstorben war, die nun fehlende Aufsicht eindringlich: Von kindheit an immer kräncklich und mit epileptischen Zufällen behafftet, machte die Pflege und Aufsicht ihrer mutter ihren zustand erträglich und verheimlichte zum theil ihr elend, nach dem tod derselben ist sie ganz verlassen, ohn pflege, ohn hülfe, ohn trost. Jeder den sie […] trifft erschrickt, weil sie plötzlich von der fallenden sucht ergriffen unter 206 LWV-Archiv, Bestand 13, Reskript 02.03.1716. 207 In 26 von 320 Gesuchen (8 %) der Hohen Hessischen Hospitäler wurde das zunehmende Alter der Eltern als eine Aufnahmebegründung aufgeführt. In den Beständen des Würzburger Epileptikerhauses spielte dieses Argument keine Rolle, was aber vermutlich wiederum mit der Detailarmut der Suppliken-Zusammenfassungen zusammenhängt. 208 LWV-Archiv, Bestand 13, Reskript 18.03.1766. 209 LWV-Archiv, Bestand 13, Reskript 01.05.1720.
152
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen den schrecklichsten zuckungen in die spinnräder stürzt, wodurch sie sich wiederholt im gesicht beschädigt und schon oft in gefahr war die augen zu verlieren.210
Außerhalb des familiären Netzes gab es wenige dauerhafte Betreuungsmöglichkeiten für Fallsüchtige. Sicherlich leisteten Nachbarn auch ab und zu Hilfe und achteten darauf, dass nichts Schlimmeres geschah. Aus den Quellen geht auch hervor, dass Fremde gegen Unterstützungsleistungen vom Hospital Epileptiker bei sich aufnahmen. Barbara Lutin bat beispielsweise 1667 um Aufnahme in das Bürgerspital zu Würzburg, die ihr auch gewährt wurde. Doch statt ins Bürgerspital zu gehen, nahm sie ein gewisser Hanns Adelmann bei sich zu Hause auf und bot ihr Hilfe an. Dafür erhielt er als Unterstützungsleistung vom Hospital 1/8 Korn im Quartal. Außerdem konnte Barbara Lutin, wie sie selbst angab, noch einen Teil zur Arbeit beitragen, weil sie sich auf die Feldarbeit verstand.211 Doch müssen diese Fälle eher als Ausnahme denn als Regel betrachtet werden. Von einigen Ausnahmen der Nachbarschaftshilfe abgesehen, scheint die Bereitschaft, sich dauerhaft um einen „fremden“ Kranken zu kümmern, wenig ausgeprägt gewesen zu sein. So schilderte Jost Grebe in seiner Bittschrift von 1753, wie er durch die Epilepsie arbeitsunfähig wurde und, da er früh verwaist war, niemanden finden konnte, der sich, um ihn kümmern wollte. „Hierbey bin ich durch göttliche schickung mit der epilepsie sehr stark befallen worden, daß jedermann mich verabscheüet und keine zufflucht weiß, weniger mich ernähren kann […]“212 Die Situation der 47-jährigen Maria Lamb aus Lengenfürth wurde in den Akten des Epileptikerhauses folgendermaßen beschrieben: „[…] ist bei irer offt wiederholenden fallsucht so arm und verlaßen, daß sie niemand mehr im haus behalten will […].“213 Dies muss auf die Angst zurückgeführt werden, die viele vor der Erkrankung und einer möglichen Ansteckung hatten. Der Schultheiß Rebenack von Lauterbrunn in der Grafschaft Saarbrücken begründete 1788 seine trotz intensiver Bemühung und dem Angebot von finanzieller Unterstützung erfolglosen Bemühungen, die Epileptikerin Anna Maria Reinhard in einer Familie in Lauterbrunn unterzubringen: „[…] indem sich jedermann besonders weiber, für eine Person mit dergleichen Krankhait scheuen.“214 Eine vom Erkrankten ausgehende Gefahr als Aufnahmebegründung spielte in den Suppliken, in denen lediglich Epilepsie oder eine damit verbundene Retardierung oder Verwirrung als Erkrankung geschildert wurden, keine Rolle, obwohl von den Zeitgenossen angenommen wurde, der Anblick eines epileptischen Anfalls könne ebenfalls Anfälle bei den Anwesenden auslösen. Als besonders gefährdet galten diesbezüglich schwangere Frauen, weil sie den Anblick auf ihr Kind übertragen und dadurch ein fallsüchtiges Kind zur Welt
210 211 212 213 214
StaM, Best. 17, Reskript Nr. 932, 12.04.1806. StadW, Archiv des Bürgerspitals, Abtheilung II (Akten), Nr.16, 28.07.1667. LWV-Archiv, Bestand 13, Reskript 06.11.1753. Fall der Maria Lamb, AJSp, A Nr. 5856. StadtSB, Bestand Hospital, 2/1085, Januar 1789.
3.2 Die chronische Erkrankung
153
bringen könnten.215 Doch auch der Schreck, den der Anblick eines Anfalls bei einer Schwangeren erzeugen konnte, konnte für eine später auftretende Epilepsie des Kindes verantwortlich gemacht werden. Johannes Gude erklärte die Fallsucht seines Mündels Anna Elisabeth Buchmann damit, dass deren Mutter während ihrer Schwangerschaft in der Kirche zu Merxhausen eine Klosterschwester bei ihrem Anfall gesehen hätte und sich dadurch so erschreckt habe, dass ihr Kind fallsüchtig geworden sei. Inwiefern diese Aussage nun als Strategie gewertet werden muss, um zu zeigen, dass die Betroffene in Merxhausen aufgenommen werden musste, sei dahingestellt. Doch scheint diese Erklärung allgemein anerkannt gewesen zu sein, denn auch der Arzt sprach in seinem Attest von den „impressionis der Mutter“.216 Die mögliche Gefahr für die Gemeinschaft und vor allem für schwangere Frauen erscheint als Argument für eine dringend nötige Aufnahme in den Suppliken aber äußerst selten. Nur in einem Fall im gesamten Quellensample wies der Bittsteller Johann Jost Nell auf diese Gefahr hin: „[die Fallsucht] welche mich dann öfters in der kirche zu jedermans schrecken überfällt, dahero mich auf die straße zu wagen scheü tragen muß, solches die beyliegenden atestata des mehreren bestärcken werden […]“217 Sonst wurde diese Gefahr nur in den Beglaubigungsschreiben der Pfarrer aufgegriffen, wenn diese ihre Gemeinde gefährdet sahen: „[…] indem man gar zu vieles unglück in rücksicht schwangerer frauen befürchten muß, wenn ihn die krankheit mit dem darauffolgenden wahnsinn in der kirche unter öffentlichem gottesdienst befällt.“218 Wenn die Epilepsie allerdings mit einer gefährlichen Form des Wahnsinns, die sich in einer Raserei oder Tobsucht der Betroffenen äußerte, in Verbindung stand, wurde die Gefahr, die von dem Erkrankten ausging, zur zentralen Begründung des Aufnahmegesuchs. Interessanterweise treten in diesen Fällen die Probleme, die durch die Fallsucht entstehen konnten, völlig zurück. Die Fallsucht spielt in diesen Anträgen nur insofern eine Rolle, als sie als Auslöser für die geistige Erkrankung und die daraus resultierende Raserei betrachtet wurde.219 Im Mittelpunkt dieser Anträge stand also nicht mehr die „Grunderkrankung“, sondern die Raserei, aus der das eigentliche Problem, nämlich die von dem Erkrankten ausgehende Gefahr, resultierte. Die Anträge schildern sehr anschaulich die Gewalttätigkeiten der Epileptiker und die Angst der Angehörigen um das eigene Leben. So beschrieb der Vormund des 24 Jahre alten Johannes Thiele, der schon seit seiner Jugend an 215 Labouvie, Eva: Andere Umstände. Eine Kulturgeschichte der Geburt. Köln/Weimar/ Wien 1998, S. 37; Bennholdt-Thornsene/Guzzonio: Zur Theorie des Versehens, S. 112 ff. 216 StaM, Best. 229BIIIb, 08.03.1721. 217 LWV-Archiv, Bestand 13, Reskript 06.06.1741. 218 LWV-Archiv, Bestand 13, Reskript 02.03.1792. 219 Wie im Fall des Johann Simon Schott, dessen Ehefrau in einem Satz schilderte, dass ihr Mann seit etwa 7 Jahren an der „fallenden Sucht“ leide, „[…] dargegen zwar alle diensamen mittelen und medicamente angewendet, welche aber nicht anschlagen wollen, sondern vielmehr die krankheit von tag zu tag zugenommen biß er endlich gar in die raserey verfallen […]“, diese Raserei wurde dann im weiteren Antrag als der eigentliche Aufnahmegrund geschildert: Ebenda, 02.08.02.1725.
154
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
Epilepsie gelitten hatte, beispielsweise dessen Hang, mit offenem Feuer in der Nähe von brennbarem Material wie Stroh herumzulaufen, und seine Angst, sein Mündel könne dadurch einmal das ganze Dorf anzünden. Gleichzeitig war Johannes Thiele extrem jähzornig und geriet leicht in Raserei, wenn sein Vormund ihn auf dieses gefährliche Verhalten ansprach und ihm den Umgang mit Feuer verbot: „[…] so gehet er auf mich oder wer ihm solches verwehret, mit tödtlichen instrumenten los, wie er dann ohnlängst noch, als ich ihm darinnen einhalt thun wollte, einen überaus dicken stein nach mir geworfen, wodurch, wenn er mich getroffen, ich auf der stelle des todes hätte sein können.“220 Auch die Ehefrau des Sattlermeisters Salomon Fritzmann schilderte dessen Gewalttätigkeiten wie das Einschlagen der Scheiben eingehend und betonte, sowohl sie als auch ihre Verwandtschaft könnten sich „[…] ihres lebens nit mehr sicher […]“ sein.221 Aus den Gesuchen geht implizit hervor, dass die Grunderkrankung Fallsucht auch nicht der Grund für ein Aufnahmegesuch darstellte. Denn sie hatte nach Aussage der Bittsteller schon jahre- oder sogar jahrzehntelang bestanden, doch erst der Übergang zu wahnsinnigen Anfällen und Gewalttätigkeiten löste dann solche Probleme aus, dass die Aufnahme in einem Hospital unvermeidlich erschien. Dabei formulierten die wenigsten Bittsteller den Zusammenhang so klar wie der Vater der 20-jährigen Hospitalitin Lipp, die an täglichen Anfällen litt und derart „verwirrt im kopf“ war, dass sie versucht habe, das Haus anzuzünden: „[…] hätte ihr auch gerne so lange als mir gott der herr das leben fristen würde das brod geben wollen, wann sie nur bey verstand geblieben wäre.“222 Bei der Untersuchung gerade dieser letzten Gruppe von Suppliken konnte ein enger Zusammenhang mit den Suppliken für Wahnsinnige bzw. Geistesgestörte, die bereits Christina Vanja und Eric Midelfort für die Hospitäler Haina und Merxhausen untersucht haben, hergestellt werden.223 Darin wurden die Bitten um Aufnahme der geistesgestörten Angehörigen auf die gleiche Weise dargestellt, und es wurden dieselben Erzählmuster verwendet. Dies legt den Schluss nahe, dass die Zeitgenossen nicht mehr die Fallsucht als solche wahrnahmen, sondern dass nun die Geistesstörung der Betroffenen zum eigentlichen Antragsgrund geworden war. Deshalb standen in den Suppliken, in denen die Grunderkrankung Fallsucht in den Augen der Zeitgenossen zur einer Geistesstörung geführt hatte, nicht mehr die Probleme, die die Fallsucht verursachte, im Mittelpunkt, sondern die schwerwiegenderen Probleme, die die Geisteserkrankung verursachte. In diesen Suppliken wurde die Grunderkrankung Fallsucht nicht mehr als Auslöser der Probleme wahrgenommen, sondern lediglich als Ursache der Geisteskrankheit.
220 221 222 223
LWV-Archiv, Reskript 28.01.1791. LWV-Archiv, Bestand 13, Reskript 28.10.1788. StaM, Best. 229BIIIb, Reskript 10.07.1737. Midelfort: A History of Madness, S. 357–365; Vanja: Waren die Hexen gemütskrank?, S. 175–192.
3.3 Versorgungsmöglichkeiten
155
Die Darstellungen der Epilepsie blieben in den Suppliken nicht nur über einen Zeitraum von etwa 200 Jahren nahezu unverändert, sondern die geschilderten Probleme glichen sich auch über Landesgrenzen hinweg. So konnten bei der Untersuchung der Suppliken der Hospitäler Hessen-Kassels aus dem 16. bis 18. Jahrhundert, des Saarbrücker Hospitals aus dem 18. Jahrhundert und des Würzburger Bürgerhospitals aus dem 17. Jahrhundert keine nennenswerten Unterschiede sowohl in der Wahrnehmung als auch in den Problemschilderungen in Bezug auf die Erkrankung Epilepsie festgestellt werden. Die kleinen Unterschiede zwischen den Suppliken des Bürgerhospitals zu Würzburg aus dem 17. Jahrhundert und denen des Epileptikerhauses Ende des 18. Jahrhunderts gehen meines Erachtens weniger auf eine neue Wahrnehmung der Erkrankung durch die Bittsteller zurück, sondern beruht vielmehr auf den unterschiedlichen Zugangsvoraussetzungen der Institutionen sowie auf der unterschiedlichen Überlieferung. Deutlich an dieser Untersuchung wurde erstens, dass Angehörige der Unter- und Mittelschichten Zugriff auf medizinische Erklärungen von Ärzten hatten und diese in ihren Suppliken übernahmen. Zweitens stand in den Suppliken weniger die Erklärung der Erkrankung als vielmehr der Umgang damit und die Frage nach der weiteren Pflege im Mittelpunkt. Drittens nahmen die Bittsteller mit dem Akt des Supplizierens ein ganz bestimmtes Angebot der Obrigkeit wahr und richteten – wie im Fall des Würzburger Epileptikerhauses – ihre Suppliken auch daraufhin aus. Die Zugangsvoraussetzungen bedeuten aber auch, dass die hier untersuchten Suppliken nur den Blick auf eine bestimmte Gruppe von Epileptikern bieten können. Diejenigen nämlich, die aufgrund ihrer Erkrankung und ihrer sozialen Umstände als würdig erachtet wurden, in einer obrigkeitlichen Institution aufgenommen zu werden. Im Prinzip zeigen die Suppliken also spezifische Probleme der Unter- und Mittelschichten und von besonders schwer erkrankten Epileptikern. 3.3 Versorgungsmöglichkeiten Abgesehen von den Suppliken und dem Sonderfall Diaetophilus ist es schwer, Quellenmaterial zu finden, das direkten Einblick in das Leben von Epileptikern gibt. Aufgrund ihrer besonderen Entstehungssituationen lassen diese Quellen den Blick auf das Leben von Epileptikern auch nur aus einem ganz bestimmten Winkel zu. So verfasste Drais von Sauerbronn seine Autobiographie hauptsächlich deswegen, weil er seine Form der Epilepsie als einen medizinischen Sonderfall betrachtete, weshalb er seine Darstellungen auf Behandlungsmethoden fokussierte und Fragen des sozialen Lebens weitgehend unbeachtet ließ. Die Suppliken wurden überliefert, weil die Verwaltungsvorgänge der Hospitäler das Anlegen von Aktenbeständen erforderten. Sie spiegeln nur die Fälle wider, in denen das Netzwerk Familie versagte, das ursprünglich für die Versorgung Erkrankter vorgesehen war. Wie sich eine „normale“ Versorgung und der Umgang mit der Erkrankung in einer nicht vom finanziellen
156
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
Ruin bedrohten Familie gestaltete, lässt sich anhand dieser Quellen also schwer ergründen. Da keine Briefe oder weitere Autobiographien zur Verfügung stehen, die einen tieferen Einblick in das Leben von Epileptikern bieten könnten, muss an dieser Stelle ergänzend auf Quellen zurückgegriffen werden, die ebenfalls mit einer gewissen Vorsicht zu betrachten sind: Es handelt sich hierbei um ein Sample aus Einzelquellen, das sich aus Gerichts- und Amtsakten zusammensetzt.224 Diese Quellen sind, da sie Auskunft über Einzelfälle geben, nur schwer in einen Kontext zu setzen und sind insofern nicht repräsentativ. Sie müssen zudem ebenfalls als Sonderfälle betrachtet werden, weil sie erst aufgrund besonderer Umstände überhaupt durch ein Gericht oder ein Amt untersucht wurden. Unter Einbeziehung dieser Defizite können diese Quellen dennoch interessante Informationen über das Leben von Epileptikern bieten. Da über die Epilepsie der Betroffenen am Rande berichtet wird, weil die Quellen in andere Kontexte eingebunden sind, bieten sie einen neuen Zugang zu den Vorstellungen über die Epilepsie der Zeitgenossen und eine ergänzende Perspektive zu den bereits untersuchten Quellen. Im Fall der im Jahre 1606 vor dem Reichskammergericht in Speyer ausgetragenen Klage der Geschwister der verstorbenen Maria Magdalena Mörder, geborene Rüttlin, gegen ihren Ehemann, den Rechtslizentiaten Justinian Mörder, spielte die Krankheit nur eine Nebenrolle.225 Maria Magdalena Rüttlin litt von Geburt an an Epilepsie. Ihre Erkrankung war allerdings nicht der Klagegrund, sondern Erbangelegenheiten zwischen Justinian Mörder und den Geschwistern seiner Frau. Diese beschuldigten ihn des Testamentsbruchs, weil er ihnen das von Maria Magdalena Mörder zugesprochene Erbe verweigere. Interessant an diesem Fall ist, dass die Erkrankung der Frau dem Ehemann als Begründung für den Testamentsbruch – er sah sich selbst als Universalerben des Vermögens – diente und in diesem Zusammenhang das Leben der Epileptikern Maria Magdalena beleuchtete. Maria Magdalena Mörder hatte – wie aus den Prozessakten hervorgeht – kurz vor ihrem Tode ein Testament aufgesetzt, das ihrem Ehemann das gemeinsame Haus, den gesamten Hausrat, 1400 Gulden sowie einen silbernen Becher und Löffel zusprach. Auch ihre Geschwister hatte sie bedacht: Sie hinterließ ihrem Bruder Friedrich 200 Gulden, ihrem Bruder Armin 216 Gulden, ihrer Schwester Ephrosina 200 Gulden und einen silbernen Gürtel, ihrer Schwester Sabina 200 Gulden und ihrer Schwester Anna einen Garten und Weingarten zu Gablenberg, einen in Silber beschlagenen Gürtel und ein vergoldetes Messer.226 Maria Magdalena Mörder, Tochter des württembergischen Landschreibers Arminius Rüttel, war also eine wohlhabende Frau gewesen.227
224 LaSp, Bestand E 6, Reichskammergerichtsprozess 2417; StAWt, R. Rep. 87 e Nr. 120; BAV, Pal. Lat. 1892, fol. 137–260; StadtSB, Bestand Hospital, Nr. 702. 225 LaSp, Bestand E 6, Reichskammergerichtsprozess 2417. 226 Ebenda, Q2. 227 Ebenda, Q2.
3.3 Versorgungsmöglichkeiten
157
Justinian Mörder zweifelte die Gültigkeit dieses Testaments jedoch an, da seine Frau kurz vor ihrem Tod einen gemeinsamen Sohn geboren hatte. Wäre seine Frau nicht so kurz nach der Geburt des Knaben gestorben, argumentierte der Beklagte, hätte sie sicherlich diesen als Universalerben ihres Vermögens eingesetzt. Sein Sohn sei jedoch ebenfalls einige Tage nach der Geburt verstorben, und so stehe ihm als dessen Universalerbe nun das gesamte Vermögen zu. Diesem Argument setzte die Klägerpartei jedoch entgegen, Maria Magdalena habe ihr Testament während der Schwangerschaft aufgesetzt und damit ganz bewusst das Kind übergangen. Dagegen argumentierte der Witwer, sie hätte das Kind nicht bewusst übergangen haben können, da sie aufgrund einer Fehlgeburt und ihren „Leibsumständen“ nicht mit der Geburt eines lebenden Kindes rechnen konnte. Sie habe das Testament aufgesetzt, damit ihr Ehemann nach ihrem Tode versorgt sei und etwas von ihrem Vermögen bekomme. Ein Testament sei vor der Geburt aufgesetzt und während der Schwangerschaft auf Anraten des Herrn Cameral nicht geändert worden, weil das Kind die Geburt vielleicht nicht überlebe, seine Frau aber möglicherweise nicht mehr im Stande sein würde, ein neues Testament aufzusetzen, weil sie „offt morbo epileptico laborirt“ und aufgrund ihrer heftigen Anfälle immer zu befürchten stand, sie könne plötzlich sterben. In diesem Fall aber bliebe der Mann ohne jedes Vermögen seiner Frau zurück. Dabei berief er sich auf die Aussage des Arztes, der angab, es sei nicht ungewöhnlich, dass Epileptiker während ihrer Anfälle eines schnellen und plötzlichen Todes stürben. Interessant an diesem Fall ist viel weniger die komplizierte Rechtsstreitigkeit um das Erbe der Frau, sondern die Beschreibung ihrer Erkrankung. Während der Arzt ganz klar von einer „morbus epilepticus“, also einer Epilepsie sprach, vermied es der Ehemann, die Erkrankung seiner Frau namentlich zu nennen und nutzte Umschreibungen: […] demnach meine nunmehr eine gute zeith, zu Gott ganz wohl verschiedene, getreue vielgeliebete ehegenossin und hausfrau, Maria Magdalena geborene Rüttlin, auß einem fast unerhörten mangel und gebresten, so sie (:laider:) an Ihr getragen, und mir ehrenhalber alhir anzudeutten nicht geziemen noch gebühren will, offt augenblicklichen in schwere ohnmachten und schwachheiten incidiert und gefallen, […]228
Das Benennen der Erkrankung wurde in diesem Fall entweder als schambeladen oder zu schrecklich und angsteinflößend empfunden. Die Anfälle wurden im Gegensatz zu den Suppliken nicht mit „Fallen“ umschrieben, sondern als Ohnmachten bezeichnet. Es scheint fast, als wolle Justinian Mörder die Krankheit seiner Frau verschleiern, was seltsam anmutet angesichts des ärztlichen Gutachtens und der Tatsache, dass zumindest in der Nachbarschaft die Krankheit seiner Frau bekannt gewesen war. Denn er rief vor Gericht seine Nachbarinnen als Zeuginnen für den Gesundheitszustand und die Beweggründe seiner Frau auf. Diese hätten ihre Krankheit gut beobachten können, da sie ihr „[…] aus nachbarlichem gemüth in mitten tag und nacht zugesprungen […]“229 seien. Die Zeuginnen bestätigten den gefährlichen Gesundheitszustand der 228 LaSp, Bestand E 6, Reichskammergerichtsprozess 2417. 229 Ebenda
158
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
Frau und dass tatsächlich zu befürchten gewesen war, sie würde einmal während eines Anfalls plötzlich sterben. Die Nachbarinnen, die Maria Magdalena während ihrer Anfälle betreuten, hätten […] gäntzlich dafür gehallten, sie gehe ihnen under den händen hinweg, auch nicht allein die herrn medici obstetrices, sondern sie auch meine liebe hausfrau seelige, wegen irer angeborenen gefährlicher tödtlicher krankheit, ob Gott mit leibesfrüchten segnen würdt, selber ungewiß im zweiffel und gantz dunkel gestanden, deswegen sie meine liebe hausfrau seelige, im eulogium der disposition ihres letzten willens uffzurichten verursacht worden, damit wann sie einmahl also schnell unversehener sachen unnd plötzlichen darauff ginge, unnd ihr Leben uffopfertem ich nit mit ihren geschwistrigen in einen streitt, ihrer verlassenschafft halben, gerathen möchte.230
Sicherlich ist die Aussage, man hätte den plötzlichen Tod seiner Frau ständig befürchten müssen, in diesem Fall als strategische Aussage zu werten, um auf diese Art den Prozess zu gewinnen. Auch die Aussagen der Nachbarinnen, man meine, sie „stürbe einem unter der Hand weg“ können als solche gesehen werden. Dennoch lassen sich ihren Aussagen verschiedene interessante Aspekte zum Leben der Maria Magdalena Mörder entnehmen: Sie stand anscheinend ohne Vorbehalte dem Haushalt ihres Mannes vor und versah ihre Pflichten als Haus- und Ehefrau. Die Nachbarin Frena Kurtzin beschrieb Frau Mörder als „arbeitsseligen Mensch“. Sie hätte allerdings viele Ohnmachten gehabt. Maria Holzschuherin präzisierte dies mit den Worten, es „[…] sei wohl dreißig mal geschehen, dass sie in solchen Ohnmachten gelegen habe.“ Auch die anderen Nachbarinnen – insgesamt scheinen sich neben der Magd sechs Frauen regelmäßig um Magdalena Mörder gekümmert zu haben – bestätigten, sie hätten ihr in diesen Ohnmachten häufig beigestanden. Waltburga Vältins beschrieb, wie sie in diesen schlimmen Anfällen häufig vom Ehemann gerufen worden seien. Auch die Dienstmagd, Helena Dächsin, gab an, man hätte häufig Leute holen müssen, da man befürchtete, die Herrin sei tot.231 Leider sind die Aussagen der Frauen und auch die des Ehemannes in Bezug auf die Anfälle sehr kurz gehalten. Es wird also nicht klar, wie die Hilfe während der Anfälle aussah oder wie sich die Anfälle gestalteten. Aus den Aussagen geht ebenfalls nicht deutlich hervor, ob die Nachbarinnen bei jedem Anfall gerufen wurden oder nur bei besonders schweren. Aber es scheint sich die gleiche Problematik wie in den zuvor ausgewerteten Suppliken anzudeuten: Maria Magdalena Mörder war im Alltag auf die Hilfe anderer – in diesem Fall ihrer Nachbarinnen und ihrer Magd – angewiesen. Von ihren spektakulären Anfällen abgesehen, scheint es ihr aber dennoch möglich gewesen zu sein, dem Haushalt vorzustehen und die Mägde anzuweisen. Auch das Verhältnis zu ihren Nachbarinnen scheint durchaus gut gewesen zu sein, und ihre Anfälle waren – zumindest was das Bild in den Akten zeigt – bekannt und weitgehend akzeptiert, wenn auch furchteinflößend. Im Gegensatz zu den Verfassern der Suppliken entstanden Maria Mörder und ihrem Mann durch die epileptischen Anfälle keine finanziellen Schwierigkeiten, und die Betreuung wurde durch 230 Ebenda 231 Ebenda, Q5 und 6.
3.3 Versorgungsmöglichkeiten
159
ein nachbarschaftliches Hilfssystem und durch die Magd gewährleistet. Für Maria Mörder war demnach ein einigermaßen normales Leben im heimischen Umfeld möglich. Auch hatte ihre Erkrankung einer Ehe mit dem Rechtslizenziaten nicht im Wege gestanden, weil ihr Vermögen vermutlich attraktiv genug war, um sie trotz ihrer Krankheit zu einer guten Partie zu machen. Allerdings war den Eheleuten kein lebendes Kind beschieden, was sowohl Maria Mörder selbst als auch der Ehemann und die Hebamme auf ihren schwachen Körperzustand, ihre schwachen monatlichen Blutungen und ihre Epilepsie zurückführten. Sie hatte einige Jahre zuvor bereits eine Fehlgeburt gehabt, bei der sie, so die Aussage der geschworenen Hebamme Sattel Margreth, ein „Brand oder Mondkalb“ geboren hatte. Da sie die Fehlgeburt und das missgestaltete Kind auf ihre „Leibsumstände“ zurückführte, hatte das Ehepaar wirklich wenig Hoffnung, ein gesundes Kind zu bekommen.232 Wie sehr dieser Umstand Maria Mörder und das Verhältnis zu ihrem Mann belastete, ist nicht mehr nachvollziehbar. Festzuhalten bleibt, dass ihre gesicherten finanziellen Verhältnisse, abgesehen von allen psychischen Belastungen, die die Erkrankung möglicherweise für sie bedeutete, ihr ein weitgehend normales Leben im häuslichen Kreis ermöglichte. Ähnlich stellte sich das Leben für Ulrich Fugger (1526–1584) dar, den vierten Sohn von Raymond Fugger und dessen Frau Catharina Thurzo von Bethlemfalva.233 In einem Gutachtenband,234 der sich in Ulrich Fuggers Bibliotheksbeständen befand, berichteten mehrere Ärzte von dessen Erkrankung. Unter diesen befand sich auch Achilles Pirmin Gasser, ein Augsburger Arzt und Vertrauter der Familie Fugger, der ein Freund Ulrich Fuggers und wohl über einen längeren Zeitraum auch dessen persönlicher Arzt war. Zumindest erschien Ulrich Fugger auf dessen Patientenliste.235 Darüber hinaus finden sich auch Schreiben der Ärzte Jo. Henricus Muntzinger, Lucas Stenglin und Hieronymus Donzellinus. In welchem Zusammenhang diese Gutachten und Ratschläge entstanden sind, ist bisher allerdings ungeklärt, zumal die Gutachten nicht datiert sind. Trotzdem können sie Aufschluss über Ulrich Fuggers Erkrankung geben. In den Gutachten wird berichtet, Ulrich Fugger litte bereits seit seiner Geburt an Epilepsie, die er – so die Ärzte – von seiner Mutter Catharina geerbt habe, die ebenfalls Epileptikerin gewesen sei. Zusätzlich zur Epilepsie sei er schon immer kränklich gewesen und habe an vielen Kinderkrankheiten gelitten.236 Die Kränklichkeit wurde hier von den Ärzten als Grundzustand der Erkrankung gewertet. Über Jahre hinweg sei er von Kopfschmerzen geplagt worden und wäre dadurch zudem melancholisch und hy-
232 233 234 235
Ebenda, Q5 und 6. ADB Bd. 8, S. 182 f.; NDB Bd. 5, S. 720. BAV, Pal. Lat. 1892, fol. 137–260. Burmeister, Karl Heinz: Achilles Pirmin Gasser 1505–1577. Arzt, Naturforscher und Humanist, Wiesbaden 1970, S. 133 und 189. 236 BAV, Pal. Lat 1892, fol. 188.
160
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
pochondrisch geworden.237 In den Dokumenten wird nicht beschrieben, wie schwerwiegend diese Epilepsie war, das heißt, wie viele Anfälle Ulrich Fugger im Laufe seines Lebens erlitt. Insgesamt ist wenig von seiner Epilepsie und deren Auswirkungen überliefert, von den Gutachten der Ärzte abgesehen, die sich zudem auf medizinische Aspekte der Erkrankung konzentrieren. In anderen Quellen sind nur sporadische Hinweise zu Ulrich Fuggers Leben zu finden. Bekannt ist beispielsweise, dass ihm als viertem Sohn eine kirchliche Laufbahn bestimmt gewesen war. Er studierte Jura in Frankreich an der Hochschule von Bourges, in Deutschland, vermutlich in Ingolstadt, und später in Italien, dort ab 1543 in Bologna. Unter Papst Paul III. wurde er schließlich zum päpstlichen Kämmerer ernannt.238 Seine Zeit in Italien scheint Ulrich Fugger gut getan zu haben, denn in einem Gutachten wird berichtet, das milde Klima Italiens und die strenge Diät, die Ulrich dort eingehalten habe, hätten zu einem Nachlassen seiner Anfälle geführt. Während der Zeit in Frankreich und Deutschland habe er sich allerdings nicht nach den Vorschriften gerichtet und durch häufiges und übermäßiges Essen und Trinken sowie durch übertriebenes Studium sein Leiden neu entfacht.239 Die Ernennung zum päpstlichen Kämmerer war ein erster Schritt in die kirchliche Laufbahn, die ihn weit hätte führen können. Seine Anfälle scheinen ihn wenig behindert zu haben. Zumindest standen sie seiner Ernennung zum päpstlichen Kämmerer nicht im Weg. Allerdings beschloss Ulrich selbst, diese Karriere zu beenden, denn er hatte sich im Laufe der Jahre dem Protestantismus angenähert. Ulrich quittierte seinen Dienst und ließ sich in Augsburg nieder, wo er sich 1553 zum Protestantismus bekannte.240 In Augsburg finanzierte er sich wohl hauptsächlich durch die bei der Güterteilung von 1548 erhaltenen Herrschaft über Mickhausen mit Ettelried, Anried und Langenneufach.241 Ulrich Fugger wird in den Quellen vor allem als stiller Bücherfreund charakterisiert. Schon während seiner Studien hatte er offensichtlich seine Leidenschaft für Wissen und die Wissenschaft entdeckt und in Italien bereits den Grundstock für seine große Bibliothek gelegt, wegen der ihn die Welt im Gedächtnis behalten sollte. Schon in der Zeit von 1546 bis 1553 hatte er 126 000 Gulden für Bücher ausgegeben. Zudem war er sehr an der Wissenschaft interessiert und förderte als Mäzen Wissenschaftler bei der Drucklegung ihrer Bücher.242 Diese Leidenschaft führte zum endgültigen Bruch mit seiner Familie: Nachdem Ulrich durch zahllose Bücherkäufe in so hohe Schulden geraten war, dass verschiedene Gläubiger beim Stadtrat – in dem auch sein Bruder 237 Ebenda, fol. 188 f. 238 Lehmann, Paul: Eine Geschichte der alten Fuggerbibliotheken, 1. Teil, Tübingen 1956, S. 73 ff. 239 BAV, Pal. Lat 1892, fol. 189 f. 240 Lehmann: Eine Geschichte der alten Fuggerbibliotheken, S. 73 ff. 241 FA, Friedrich Dobel: Geschichte des Fuggerschen Hauses, Bd. I, Augsburg o. J., S. 194– 215. 242 Eine Übersicht über seine Bücherkäufe und seine Bibliothek bei Lehmann: Eine Geschichte der alten Fuggerbibliotheken, S. 75–103.
3.3 Versorgungsmöglichkeiten
161
Hans Jakob und sein Cousin Markus Fugger Mitglieder waren – Beschwerde gegen ihn eingelegt hatten, sahen sich die Fuggers gezwungen, etwas gegen Ulrichs Verschwendungssucht zu unternehmen. Am 09. Juli 1562 ließ ihn der Stadtrat unter tatkräftiger Mitwirkung von Hans Jakob und Markus Fugger auf seinem Landsitz festsetzen, wo er etwa ein Jahr unter Arrest behalten wurde. Gleichzeitig wurde er unter Kuratel gestellt, um ihm jede Möglichkeit zu nehmen, weitere Schulden zu machen. Als Kuratoren wurden sein Bruder und sein Vetter eingesetzt, die seine 160 000 fl. Schulden durch den Verkauf seiner Wertsachen, hauptsächlich wertvolle Stoffe und Schmuck, beglichen und ihm auch die Herrschaft entzogen. Seine Bücher blieben ihm allerdings erhalten.243 Zuerst liegt die Vermutung nahe, Ulrich wäre von seinen Verwandten wegen seiner Erkrankung entmündigt worden, doch bestätigten die Prozessakten diese Annahme nicht. Zwar gaben sein Bruder und sein Vetter vor dem Stadtrat an, ihn entmündigen zu wollen, weil all ihre Hilfe „seines seltsamen Kopfs halber“ nicht fruchten wolle.244 Doch war in diesem Fall weniger seine „Kopfkrankheit“ Epilepsie gemeint, sondern seine Verwandten spielten auf seine ungewöhnliche Lebensführung und seinen Starrsinn an. Darunter verstanden sie nicht nur seinen Übertritt zum Protestantismus, der wohl zu zahlreichen Zwistigkeiten geführt hatte,245 sondern auch seine Leidenschaft für Bücher und die Wissenschaft und die Bereitschaft, dafür immer neue Schulden zu machen. Deshalb argumentierten sie weiter: „es sei vielmehr zu besorgen“, dass er „durch seinen Unverstand und Irrigkeit“ sich in unwiederbringlichen Schaden und Verderben stürzen werde, und beantragten daher, ihn in Anbetracht seines „gefehrlichen Lebens und Schuldenmachens“ von Amtswegen unter Kuratel zu stellen.246 Der beschriebene Unverstand und die Irrigkeit bezogen sich also viel eher auf die Schulden, in die er sich verstrickt hatte, und seine Sturheit, weil er nicht einsehen wollte, dass er seine Bücherkäufe einschränken musste. Von seiner Erkrankung ist in keiner der überlieferten Akten die Rede, und sie spielte bei seiner Entmündigung auch keine Rolle, zumal diese Form der Enteignung im Hause Fugger nicht unüblich war. Auch andere Mitglieder des Hauses Fugger wurden bei zu großer Verschuldung unter Kuratel gestellt, wofür sich vom 16. bis zum 18. Jahrhundert immer wieder Fälle finden lassen.247 243 1.1.3., „Protocoll, was sich mit Herrn Ulrich Fugger von 1562–1585 in seinen Lebzeiten zugetragen und hernach nach tödtlichem Angang in seiner Erbschaft gehandelt worden“, fol 32r–33r. und Friedrich Dobel: Geschichte des Fuggerschen Hauses, Bd. I, Augsburg o. J., S. 194–215. 244 FA, 1.1.3., „Protocoll, was sich mit Herrn Ulrich Fugger von 1562–1585 in seinen Lebzeiten zugetragen und hernach nach tödtlichem Angang in seiner Erbschaft gehandelt worden“, fol 32r–33r. 245 Burmeister: Achilles Pirmin Gasser, S. 162 f. 246 FA, 1.1.3., fol 32r–33r. und Friedrich Dobel: Geschichte des Fuggerschen Hauses, Bd. I, Augsburg o. J., S. 198. 247 Ich bin Herrn Franz Karg M.A., dem Archivar des Fürstlich und Gräflichen Fuggerschen Familien- und Stiftungsarchiv in Dillingen an der Donau, sehr dankbar für diesen Hinweis.
162
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
Gegen diese Behandlung erhob Ulrich Fugger am 2. September 1562 Klage vor dem Reichskammergericht und forderte die Aufhebung seines Arrestes und der Kuratel. In dem Prozess setzten sich seine Schwester Ursula Fugger-Ortenburg und deren Ehemann, die beide ebenfalls protestantisch waren, für Ulrichs Belange ein.248 Doch erst als Kurfürst Friedrich von der Pfalz und Herzog Christoph von Württemberg Partei für Ulrich Fugger ergriffen und für ihn Fürsprache beim Kaiser einlegten, konnte die Freilassung Ulrichs erwirkt werden. Die Kuratel indes blieb bestehen, und Hans Jakob und Markus Fugger zwangen ihn, die Maßnahmen seiner Kuratoren zu bestätigen. Ihm wurde daraufhin ein jährlicher Unterhalt von 1300 fl. zur Verfügung gestellt, den er 1577 durch Bittschrift an den Kaiser auf 2000 fl. jährlich erhöhen konnte.249 Nach diesem unerfreulichen Zwischenfall verließ er Augsburg endgültig und nahm das Angebot des Kurfürsten Friedrich von der Pfalz an, der ihm als Fürsprecher bereits in seinem Prozess zur Seite gestanden hatte, an dessen Hof nach Heidelberg zu kommen. Dort verbracht er den Rest seines Lebens. In dieser Zeit stellte er eine beeindruckende Bibliothek zusammen. Diese vermachte er elf Tage vor seinem Tod der Kurpfalz, vertreten durch den Fürsten Johann Casimir, Pfalzgraf bei Rhein, „[…] von weggen viel feltiger Sr. Gn. Vonn der churf. Pfalz unnd hochsternantem unserm gnedigisten herrn viell jhar hero erzeigtenn gutthaten […]“.250 Dem Kurfürsten selbst hinterließ er zudem seine Kleinodien.251 Wie Ulrichs Alltag am Hof des Kurfürsten von der Pfalz aussah, welche Aufgaben er dort übernommen hat, ist leider nicht mehr rekonstruierbar. Auch über seine Epilepsie geben die Quellen keine Auskunft. Es ist überliefert, dass er sich noch einige Male mit den Belangen seiner Familie befasste und vor allem ebenfalls zum Protestantismus übergetretene Familienmitglieder unterstützte. So trat er beispielsweise für seine Schwester Ursula und deren Mann verschiedentlich ein und förderte deren Sohn Anton ideell und finanziell in seiner Ausbildung. Seiner Nichte Anna Jacobäa verhalf er zur Flucht aus dem Kloster.252 Ansonsten scheint er weitgehend zurückgezogen gelebt und sich vor allem seiner Leidenschaft, den Büchern, gewidmet zu haben. Da über Ulrich Fuggers Epilepsie nicht viel mehr überliefert ist, als dass er von seiner Geburt bis zu seinem Tode an ihr litt, kann man keine Aussagen über seinen Umgang mit der Erkrankung machen. Das einzige Fazit, das aus seiner Biographie gezogen werden kann, ist daher, dass ihn seine Erkrankung wohl nicht allzu stark eingeschränkt hat. Sie hinderte ihn offensicht248 Schad, Martha: Die Frauen des Hauses Fugger von der Lilie (15.–17. Jahrhundert). Augsburg–Ortenburg-Trient, Tübingen 1989, S. 100. 249 FA, 1.1.3, fol. 26v–28r. 250 Simnacher, Georg/Gräfin von Preysing, Maria: Die Fuggertestamente des 16. Jahrhunderts, Bd. II, Tübingen 1992, S. 265–271, hier S. 265. 251 Simnacher, Georg: Die Fuggertestamente des 16. Jahrhunderts, Bd. I, Tübingen 1960, S. 164. 252 Schad: Die Frauen des Hauses Fugger, S. 113–132.
3.3 Versorgungsmöglichkeiten
163
lich nicht daran zu studieren und sich wissenschaftlich zu engagieren. Auch einer geistlichen Karriere hätte seine Erkrankung wohl nicht im Wege gestanden. Überhaupt scheint es, als habe ihm sein Bekenntnis zum protestantischen Glauben wesentlich mehr Probleme eingetragen. Inwieweit seine Erkrankung Einfluss auf seinen Lebensstil hatte, muss offen bleiben, ebenso wie die Frage, ob sich jemand um Ulrich Fugger kümmerte, wenn er epileptische Anfälle erlitt. Sofern die finanzielle Situation eines Epileptikers gesichert war, scheint ihm ein relativ selbstständiges Leben möglich gewesen zu sein. Dennoch waren Epileptiker immer auf die Hilfe bzw. Unterstützung ihrer Familie oder – wenn die Familie besonders gut situiert war – von Bediensteten im Alltag angewiesen. Diese Abhängigkeit konnte auch zu ernsthaften Problemen führen, wie der folgende Fall der Witwe des Caspar Eyrich aus Bestenheyd zeigt. Diese weigerte sich im Jahre 1753 nach dem Tod ihres Mannes, zu ihrem Sohn Bernd Eyrich nach Bindelbach zu ziehen. In den Akten des Amtes Wertheim wurde dazu vermerkt: […] schultheiß zu bestenheyd zeiget an, daß des jüngtshin verstorbenen Caspar Eyrichs wittib mit ihrem sohn Bernd Eyrich abdritteln wolle. Da nun die mutter zu ihrem sohn sich zu begeben bedenken trage, so wolle er unterthänigst angefragt haben, wie er sich zu verhalten, weilen diese frau mit der fallenden krankheit behafftet und ihr ohne aufsicht nicht wohl feuer und licht anzue vertrauen seyen.253
Die Gemeinde und insbesondere der Schultheiß zu Bestenheyd sahen sich hier in der Pflicht, zwischen der Witwe und deren Sohn Bernhard zu vermitteln. Denn nach dem Tod ihres Mannes schien es der Gemeinde unmöglich, sie ohne Aufsicht im eigenen Haus bleiben zu lassen. Dies hätte nicht nur eine Gefahr für sie selbst, sondern auch für die Gemeinde dargestellt, denn ihr ohne Aufsicht Feuer anzuvertrauen, stellte ein zu großes Risiko dar, da sie während eines Anfalls eine Kerze umstoßen und damit einen Brand verursachen könnte. Die einfachste Lösung schien daher der Umzug zu ihrem Sohn nach Bindelbach, der sich dort um sie kümmern konnte. Die Witwe hatte jedoch einen triftigen Grund, den Umzug abzulehnen. So erklärte sie dem Schultheiß: „[…] dieser ihr Sohn wäre gar schnell zornig, und befürchte sie sich sie möchte eben so hart wie bey seinem Vater gehalten werden.“254 Die Gemeinde zu Bestenheyd sah sich aber außer Stande, die Eyrische Witwe zu versorgen und zu beaufsichtigen. Deshalb beschloss das Amt Wertheim, an das sich der Schultheiß gewandt hatte, nach Vernehmung der beiden Parteien sowie einem Gutachten über den Zustand der Witwe Eyrich, diese dennoch zu ihrem Sohn nach Bindelbach zu geben, mit der Begründung, sie sei erstens wegen ihrer Krankheit nicht in der Lage, einen eigenen Haushalt zu führen und sie könne sich zweitens mit einem Drittel des Gesamt253 StaWertheim, R. Rep. 87 e Nr. 120, „Acta in Sachen Bernd Eyrichs zu Bindelbach gegen seine Mutter zu Bestenfrey, weilen dieselbe sich weigert zu Ihm zu kommen, da sie doch langen habend epilepsie selbsten keine Haushaltung mehr zu führen im Stande sei.“, Acta 1, Bl. 1. 254 StaWertheim, R. Rep. 87 e Nr. 120, Acta 1, Bl. 1.
164
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
gutes auch nur schlecht „fortbringen“. Zudem hatte der Sohn bei seiner Vernehmung durch den Schultheiß beteuert, seine Mutter zu „halten“, wie sie es wolle. Es wurde also beschlossen, dass die Witwe von ihrem Sohn entweder ein jährliches Deputat erhalten oder bei ihm am Tisch essen und ihr Quartier dort beziehen solle. Das Amt Wertheim nahm die Klage der Witwe dennoch ernst und forderte von Bernd Eyrich, er solle den Drittel des Erbteils zurückzulegen, der seiner Mutter zustand „[…] damit die mutter im fall sie bey dem sohn nicht länger bleiben könnte oder bei gesund und kranken tagen nicht gebührlich gehalten und gepfleget würde, sie allemal freye hand behalten, nach dem ihrigen wieder zu gehen.“255 Schon 1754 musste diese Klausel in Kraft treten: Nach einem Akt häuslicher Gewalt, in dem Bernd Eyrich sowohl seine Familie als auch seine Mutter misshandelte, indem er sie mit einer Flinte schlug und sie trat, während sie am Boden lag, erstattete sie Anzeige beim Schultheiß und forderte ihr Drittel. Schon wenige Tage später zog sie die Klage wieder zurück und entschuldigte sich, sie sei durch ihre Krankheit manchmal nicht mehr ganz richtig im Kopf und könne sich nicht an die fraglichen Geschehnisse erinnern. Auch der Sohn, Bernd Eyrich, leugnete in seinem Verhör beim Schultheiß seine Tat. Dennoch schien der Schultheiß zu große Bedenken zu haben, die Witwe bei ihrem Sohn zu lassen, weil er Bernd Eyrich als „groben Mann“ kannte. Die Anklage musste aber fallen gelassen werden, da er Bernd Eyrich die Tat nicht nachweisen konnte; zum einen weil dessen Mutter die Anklage – vermutlich aus Angst – zurückgezogen hatte, zum anderen weil nicht zweifelsfrei geklärt werden konnte, ob die blauen Flecken von Schlägen oder von den Anfällen der Mutter herrührten. Trotzdem hatte der Schultheiß kein gutes Gefühl dabei, die Witwe unter der Aufsicht ihres Sohnes zu lassen, und bemühte sich, sie anderweitig unterzubringen, obwohl sich dabei wieder das Problem der Aufsicht stellte. Glücklicherweise hatte der Schultheiß dafür schnell eine Lösung gefunden. Er schlug vor, sie bei dem Mitbürger Peter Thöning gegen das Drittel ihrer Erbschaft in Pflege zu geben. Dieser Vorschlag wurde vom Amt Wertheim bewilligt, und so verbrachte die Witwe Eyrich, wie es scheint, den Rest ihres Lebens unter dessen Schutz.256 Da die Aktennotizen mit diesem Vermerk enden, scheint es, als habe sich diese Lösung bewährt. Die Witwe Eyrich hatte großes Glück, dass sich die Obrigkeit in diesen Fall einmischte und die Misshandlung der kranken Frau nicht zuließ. Bemerkenswert ist auch, dass der engagierte Schultheiß jemandem außerhalb der Familie fand, der bereit war, sich gegen Einbringung des Vermögens der Witwe bis an ihr Lebensende um diese zu kümmern. Dies war keine Selbstverständlichkeit, wie bereits im vorigen Kapitel angesprochen wurde. Trotz guter Bezahlung wollten sich nur wenige um einen Epileptiker kümmern. Zu groß war die Angst vor Ansteckung. Der folgende Fall des Friedrich von Maldiß unterstützt diese Annahme. 255 StaWertheim, R. Rep. 87 e Nr. 120, Acta 2, Bl. 3. 256 Ebenda, Akten 12.08. 1754–19.08.1754.
3.3 Versorgungsmöglichkeiten
165
Friedrich von Maldiß war der Sohn des bereits verstorbenen Saarbrücker hochfürstlichen Oberhofmeisters von Maldiß. Dessen Witwe, die sich nach dem Tod des Oberhofmeisters mit dem Baron von Stallburg nach Frankfurt verheiratet hatte, erhielt zur Unterstützung ihres kranken Sohnes 150 Gulden von der Renterey der Saarbrücker Grafschaft. Im Jahre 1775 erhielt die Witwe von Maldiß einen Brief des Geheimen Rats zu Saarbrücken, in dem ihr dargelegt wurde, der Rat sei darüber informiert worden, ihr Sohn Friedrich von Maldiß, der an der fallenden Sucht leide, sei in einem Zuchthaus in Straßburg untergebracht und würde dort so schlecht unterhalten und gekleidet, dass man es nicht mit ansehen könne. Da die Witwe von Maldiß aber Unterstützung von der Renterey zum Unterhalt ihres kranken Sohnes erhalte, weise die Saarbrücker Regierung sie an, den Sohn in ein Hospital zu bringen und ihn standesgemäß verpflegen zu lassen. Andernfalls sehe sich die Regierung gezwungen, dies selbst in die Hand zu nehmen und dafür die 150 Gulden zu verwenden. Frau von Stallburg rechtfertigte sich daraufhin in einem Schreiben, die Pension zur Unterhaltung ihres Sohnes, 250 weitere Floren und Kleidung, sobald sie benötigt werde, gingen an das Zuchthaus zu Straßburg, das sie mit größtmöglicher Sorgfalt ausgewählt habe und das eine abgesonderte Anstalt „zum vortheil kränklicher personen von stand“ beherberge. Sie sehe ihren Sohn in dieser Anstalt besser versorgt als bei einer Privatperson, […] weil man in einer öffentlichen anstalt auf bessere verpflegung als bey einem particulier zählen kann, alldorthin auch bey wichtiger zahlung keine veränderungen unterworfen ist die sich bey privat personen oft und unvermuthet ereignen können und vor meinen unglücklichen sohn sehr schwer ausfindig zu machen sind, weil ihm gott ein solches übel auferleget hat, welches der größte theil menschen scheüet, ohne diese hinderniß würde ich keinen Augenblick versäumen, den gnädigsten befehl von Ihro Hochfürstlichen Gnaden zu befolgen. 257
Frau von Stallburg war es demnach nicht gelungen, jemanden zu finden, der sich um ihren erkrankten Sohn kümmern wollte. Deshalb hatte sie ihn – so zumindest lautet ihre Erklärung – in die Straßburger Anstalt gegeben, aber nicht ohne die Versicherung des Verwalters Mr. Dabeint, es handele sich bei dieser eigentlich nicht um ein Zuchthaus, sondern um eine abgetrennte Abteilung für „Leute von Stand“, die man dorthin zur Versorgung gebe. Weiterhin rechtfertigte sie sich, sie hätte die Kosten des Zuchthauses immer bezahlt und ihrem Sohn auch regelmäßig Kleidung geschickt oder diese in Auftrag gegeben, sobald ihr Sohn Kleidung benötigt hätte. Als Nachweis legte sie ein Schreiben Mr. Dabeints und einen Brief ihres Sohnes bei, in dem er sich für die erhaltene Kleidung bedankte. Die Erklärungen der Frau von Stallburg wurden zunächst von der Rentkammer akzeptiert, und sie erhielt weiterhin die Zahlung ihrer Pension. Damit war die Angelegenheit jedoch nicht geklärt, denn am 31. März 1780 folgte ein Schreiben von Herrn von Stallburg im Auftrag seiner Frau an den Geheimen Rat. Darin bezog er sich auf ein vorangegangenes Schreiben der Rentkammer – das in den Akten leider nicht erhalten ist –, in dem seiner Frau 257 StadtSB, Bestand Hospital, Nr. 702.
166
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
der Vorwurf gemacht wurde „[…] daß der junge von Maldiß anstatt eines honetten aufenthalts zu genießen, in dem zuchthaus zu Straßburg unter denen züchtlingen und mit canaillen vermenget sich befindet.“258 Es sah also sehr danach aus, als wäre die von Frau von Stallburg geschilderte Situation in der Anstalt doch nicht so positiv und Friedrich in einem gewöhnlichen Zuchthaus untergebracht. Herr von Stallburg antwortete darauf im Auftrag seiner Frau, ihnen sei diese Situation nicht bekannt gewesen und Mr. Dabeint habe ihnen stets versichert, Friedrich lebe abgesondert von den „Züchtlingen“. Deshalb habe sich seine Frau auch an den Zuchthausverwalter gewandt, um von diesem eine Erklärung abzufordern. Er habe ihnen versichert, „[…] daß aber die pensionnaire, obwohlen sie in dem nemlichen hof sich befinden, wo sich die züchtlinge befinden, dennoch von denenselben, nach ihrem gemachten arrangement gemäß, völlig abgesondert bleiben.“ In dem beigegebenen Brief des Mr. Dabeint wurde zudem erklärt, die bedauerliche Situation wäre erst durch die Zusammenlegung des Zuchthauses mit dem Armenhaus entstanden, so dass die „pensionaire“ sich aus Raummangel zur Zeit den Hof mit den Häftlingen teilen müssten. Eine Trennung der Gruppen sei aber gewährleistet: „[…] denn die Gefangenen spazieren dort [auf dem Hof ] nicht herum bis sich die Pensionsgäste zurückgezogen haben und folglich sind die Pensionsgäste immer während dieser Zeit verpflichtet sich in ihrem Zimmer aufzuhalten.“259 Von dieser bedauerlichen Situation abgesehen, kümmere man sich teilnahmsvoll um seine Pfleglinge und von Maldiß könne sich allezeit in der Stadt und in der Umgebung als freier Mann bewegen: […] Es muss eingestanden werden Madame, dass Euer Herr Sohn, der, wie Ihr wisst, eine Krankheit hat, die jedermann fürchtet, allerdings nicht in der Lage ist sich über die Hilfe, die er in unserem Haus erhält, zu beklagen. Obgleich sein Los unglücklich ist, hat er entgegen den Regeln dieses Hauses dennoch die Erlaubnis auszugehen und spazieren zu gehen wie ein freier Mann und in die Stadt und in die Umgebung wenn er möchte, aus Achtsamkeit für seine Familie, wird er immer von einer oder zwei Personen begleitet, die ihn betreuen im Fall, dass er in die fallende Krankheit fällt, die sein Unglück in dieser Welt ist. […]260
Auch diesmal wurde die Resolution der Rentkammer wieder aufgehoben, und Friedrich von Maldiß blieb bis 1782 im Straßburger Zuchthaus. Am 14. August 1782 sah sich die Saarbrücker Rentkammer dann allerdings endgültig genötigt, etwas zu unternehmen, und erließ eine Resolution, der zufolge Fried258 StadtSB, Bestand Hospital, Nr. 702. 259 „[…] car les prisionnaire ne s`y proménent, que quand les autres pensionaire s´en sont retirés et par conséquent les pensionaires font toujours pendant ce temps obligés de se tenir dans leur chambre.“, StadtSB, Bestand Hospital, Nr. 702. Übersetzung Verfasserin. 260 „Il faut vous avouer, Madame, que Mr. Votre fils, qui a une maladie, comme vous savez, que tout le monde craint n`est cependant pas dans le cas de se plaindre des secouer qu`il recoit dans notre maisons, qoique son sort soit malheureux, il a contre la regle de cette maison, cependant la permission de sortir et de se promener comme un homme libre et en ville et en dehors s`il veut, et, par attention pour sa famille, il est toujours accompagne d`un ou deux personnes qui ont soin de lui en cas qu`il tombe du mal caduc, qui est son malheur dans ce monde.“, StadtSB, Bestand Hospital, Nr. 702. Übersetzung Verfasserin.
3.3 Versorgungsmöglichkeiten
167
rich von Maldiß im Saarbrücker Hospital unterzubringen war, weil er sich in erbarmungswürdigen Umständen befinde. Die von Stallburgs widersprachen dieser Anordnung nicht, sondern beteuerten lediglich, ihnen sei nicht bekannt gewesen, dass man Friedrich schlecht behandelt hätte. Sie hätten die Rechnungen des Zuchthauses immer pünktlich bezahlt und sich auch um eine standesgemäße Ausstattung gekümmert. Friedrich hätte sich selbst niemals über seine Unterbringung oder seine Pflege bei ihnen beklagt. Auch der Zuchthausverwalter bekräftigte in mehreren Schreiben, Friedrich von Maldiß sei immer ordentlich behandelt worden und hätte sich im Zuchthaus zu Straßburg nie anders als ein freier Mann fühlen können. Nichtsdestotrotz wurde von Maldiß Ende 1782 von Straßburg in das Saarbrücker Hospital, Waisen- und Zuchthaus gebracht. Bei dem Umzug ließen die Beamten der Hospitalkommission besondere Vorsicht walten und ließen Friedrich von Maldiß mit einer Chaise abholen und instruierten den Fahrer, er solle vorsorgen für den Fall, dass der Patient unterwegs einen Anfall erleiden sollte. Wie diese Vorsichtsmaßnahmen aussahen, ist leider nicht überliefert. Vermutlich ging es um eine besondere Auspolsterung der Chaise und darum, dass der Fahrer gewappnet war, sich während eines Anfalls um von Maldiß zu kümmern. Friedrich von Maldiß blieb daraufhin bis zu seinem Tod am 31. Mai 1799 im Saarbrücker Hospital. Ob Friedrich von Maldiß im Straßburger Zuchthaus tatsächlich schlecht versorgt wurde und ob dies an der mangelnden Fürsorge seiner Mutter lag, oder ob das Zuchthaus möglicherweise das Geld unterschlug, anstatt es für den Patienten zu verwenden, ist nicht zu klären. Zudem ist nicht klar, weshalb sich die Saarbrücker Rentkammer zum Eingreifen genötigt sah beziehungsweise woher sie ihre Informationen bezog. Ganz so schlecht wie die Saarbrücker Rentkammer es darstellte, scheint es Friedrich von Maldiß im Straßburger Zuchthaus nicht ergangen zu sein, denn als Erkundigungen von der Hospitalkommissionen zu von Maldiß’ Unterbringung eingezogen wurden, um auf dieser Grundlage die Kosten für Saarbrücken zu berechnen, beschrieb der zuständige Beamte die Unterbringung folgendermaßen: […] habe mich bey Mr. Dabeint Verwalter des hiesigen Zuchthauses, worinnen Hr. von Maldiss freyer Kostgänger, erkundigt und von solchem vernommen, daß dieser Herr ein besonders Zimmer in dem Zuchthaus bewohnet, welches mit einem […] Tisch, Stühle und Bett solchem Haus gehörig versehen, er habe keine besondere Aufwärter, sondern die Wächter des Hauses, bedienen Ihn, und wenn er ausgehet, so wird er von deren einen begleitet, […] 261
Möglicherweise hielt man die Verpflegung einfach nur nicht für standesgemäß, denn in Saarbrücken wurden Friedrich von Maldiß zwei Zimmer mit Möbeln bereitgestellt sowie eine eigene Näherin und ein persönlicher Aufwärter unter Vertrag genommen. Die Frage, ob es sich in diesem Fall also um Verwahrlosung aufgrund des Desinteresses der Mutter am kranken Sohn handelte, ist schwer zu klären. Auffällig scheint zumindest, dass sich die Mutter und der Stiefvater die Unter261 StadtSB, Bestand Hospital, Nr. 702.
168
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
bringung ihres Sohnes niemals angeschaut hatten und dass Friedrich von Maldiß auch keine Besuche im Zuchthaus empfing. Die Kommunikation zwischen Mutter und Sohn beschränkte sich auf Briefe. Insofern mag tatsächlich ein gewisses Desinteresse am Sohn und ein Widerwille, sich mit dessen Krankheit auseinanderzusetzen, bestanden haben. Dass Friedrich von Maldiß nicht im familiären Haushalt versorgt wurde, wie dies bei den zuvor beschriebenen Fällen üblich war, könnte zum einen an der geringen Bereitschaft der Mutter gelegen haben, sich um die Krankheit ihres Sohnes zu kümmern. Andererseits kann man das Argument der Mutter, sie finde keinen „particulier“, der bereit wäre, sich um ihren Sohn zu kümmern, nicht ganz von der Hand weisen. So wie sich die Situation aus den Akten des Saarbrücker Hospitals darstellt, litt Friedrich von Maldiß tatsächlich an einer besonders schweren Form von Epilepsie, die auch im Saarbrücker Hospital für einige Probleme sorgte: Dessen neuer Aufwärter, der Hospitalit Neufang, weigerte sich bereits nach acht Tagen, sich weiter um Friedrich von Maldiß zu kümmern. Er führte als Begründung an, von Maldiß erlitte täglich bis zu 20 Anfälle, dadurch könne er nicht mehr schlafen, denn der Patient beanspruche ihn durch seine Anfälle sowohl tagsüber als auch nachts. Er habe Angst, dadurch seine Gesundheit zu ruinieren. Zudem fürchte er, selbst mit dieser „bösen Krankheit“ befallen zu werden. Demnach scheint es nicht unwahrscheinlich, dass Frau von Stallburg mit ähnlichen Problemen bei ihren Bediensteten zu kämpfen und ihren Sohn daher lieber gegen gute Bezahlung nach Straßburg gegeben hatte. Auch der Saarbrücker Aufwärter Neufang nahm seine Aufgaben nur auf Druck der Hospitalverwaltung wieder auf, die ihn daran erinnerte, dass er als Hospitalit des Saarbrücker Hospital zur Mithilfe verpflichtet war. Zudem versprach die Hospitalverwaltung Neufang, dass er sich künftig nicht die ganze Nacht um von Maldiß kümmern müsse. Damit dieser auch ohne Aufsicht während seiner Anfälle nachts nicht aus dem Bett fallen konnte, wurden zusätzliche Gitter an seinem Bett angebracht. Diese Lösung schien nicht im Sinne Friedrich von Maldiß’ zu sein, denn er drohte sich zu beschweren.262 Doch führte die Drohung nicht zum Erfolg. Dies geht aus den Akten hervor, die keine weiteren Lösungsversuche verzeichneten, sondern nur noch die Quartalsrechungen über von Maldiß’ Versorgung beinhalten.263 Erst gegen Ende seines Aufenthaltes 1799 wurde vermerkt, dass man ihm auf seinen Wunsch hin einen weiteren Krankenwärter zur Verfügung stellte. Offensichtlich hatte sich sein Zustand verschlimmert. Am 31. Mai 1799 verstarb er.264 Die Unterbringung Friedrich von Maldiß’ zuerst im Straßburger Zuchthaus und danach im Saarbrücker Hospital scheint tatsächlich seiner besonders schwerwiegenden Form der Epilepsie geschuldet gewesen zu sein. Was können diese Einzelquellen nun überhaupt zeigen? Zum einen, dass sich die Betreuung je nach individueller Situation sehr unterschiedlich gestaltete und der soziale Status eine nicht unwesentliche Rolle spielte. So war es 262 StadtSB, Bestand Hospital, Nr. 1084. 263 Ebenda, Nr. 703,704. 264 Ebenda, Nr. 704.
3.4 Ehe und Sexualität
169
Epileptikern in gesicherten finanziellen Verhältnissen offensichtlich möglich, ein einigermaßen normales Leben zu führen. Zumal epileptische Anfälle nicht zwangsläufig dazu führen mussten, dass der Betroffene keine normalen Aufgaben mehr wahrnehmen konnte. Zum anderen belegen die Quellen, dass die Abhängigkeit von ihrer Umgebung, in der Epileptiker wegen ihrer Anfälle standen, ebenfalls zu sehr individuellen Problemen führen konnte. Dennoch waren Epileptiker ihren Betreuern nicht völlig hilf- und schutzlos ausgeliefert, denn Obrigkeit und Gesellschaft griffen in besonders schwerwiegenden Fällen von Missbrauch und häuslicher Gewalt durchaus regulierend ein, wie der Fall der Witwe Eyrich zeigt. Andererseits gab es obrigkeitliche Angebote für gut situierte Epileptiker, wenn die Familie nicht bereit war, sich um den Erkrankten zu kümmern oder wenn die Vorurteile und der Schrecken vor der Erkrankung keine anderen Betreuungsmöglichkeiten zuließen. 3.4 Ehe und Sexualität Die Frage, ob Epileptiker heiraten konnten, und was geschah, wenn ein Ehepartner an Epilepsie erkrankte, scheint nicht ganz unwesentlich, um die soziale Stellung von Epileptikern zu ergründen. Immerhin stellte die Ehe in der frühneuzeitlichen Gesellschaft eine äußerst wichtige Institution des gesellschaftlichen Zusammenlebens dar. Durch sie wurde der frühneuzeitliche Mensch, egal ob Mann oder Frau, erst zum vollwertigen Mitglied der Gesellschaft. Die Heirat markierte nicht nur den Übergang zum Erwachsenenalter, sondern auch den Ort legitimierter Sexualität und Handlungsbevollmächtigung. Erst ein verheirateter Mann und eine verheiratete Frau konnten einen eigenen Hausstand gründen und damit selbstständige Mitglieder der ständischen Gesellschaft werden. Unverheiratete unterstanden unabhängig von ihrem Alter entweder als Kinder, als Gesinde oder Lehrlinge der Entscheidungsgewalt des jeweiligen Hausvaters. Deshalb war es wohl auch das subjektive Ziel jedes Menschen zu heiraten, denn das Ledigendasein war in der frühneuzeitlichen Gesellschaft nur dann ehrenvoll, wenn es mit dem Eintritt in ein Kloster oder einem geistigen Amt verbunden war.265 Rein rechtlich betrachtet stand einer Heirat mit einem Epileptiker nichts im Wege. Das kanonische Recht der Frühen Neuzeit kannte zwar verschiedene trennende Ehehindernisse, die eine Eheschließung unmöglich machten oder deren Annullierung erlaubten wie das eheliche Unvermögen – also die Impotenz oder die Unfruchtbarkeit eines Partners –, doch Gebrechen oder Krankheiten zählten nicht dazu. So erlaubte das kanonische Recht Eheschließungen auch im Falle von Blindheit, Stummheit und Taubheit. Die einzige Ausnahme stellten geistige Behinderung und Wahnsinn dar, da der Betreffende nicht zweifelsfrei seinen freien Willen zur Eheschließung bekunden
265 Dülmen: Kultur und Alltag, Bd. 1, S. 158 f.
170
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
konnte.266 Auch durch die Reformation änderte sich zumindest an diesem Teil des Eherechts nichts Wesentliches, und so stand der Verheiratung von Epilepsiekranken prinzipiell nichts im Wege. Der recht hohe Anteil an unverheirateten Epileptikern unter den Supplikanten zur Aufnahme in einem Hospital und die Aussage des italienischen Arztes Paulus Zacchias, die Epilepsie sei neben Impotenz, Schwangerschaft und Syphilis die am häufigsten „dissimulierte“ (verschwiegene) Krankheit, weil sie heiratsunfähig mache,267 lassen jedoch eher vermuten, dass Epileptiker selten heirateten. Sicherlich konnten Epileptiker heiraten, wenn der Partner die Erkrankung akzeptierte. Es gab Fälle, in denen seit der Kindheit an Epilepsie Erkrankte heirateten.268 Doch stellte sich in vielen Fällen die Frage, ob diese Verbindung ökonomisch sinnvoll war, da für Epileptiker durchaus die Gefahr bestand, durch ihre Erkrankung arbeitsunfähig zu werden. In den Unterschichten konnte dies zu einem enormen Problem werden, während Epileptiker in gehobenen Kreisen möglicherweise von ihrem Status als gute „Partie“ profitieren konnten.269 Das Eherecht der Frühen Neuzeit sah auf jeden Fall die Möglichkeit vor, eine Verlobung zu lösen, wenn eine Krankheit zuvor verschwiegen worden war oder wenn einer der Verlobten während der Verlobungszeit erkrankte. In diesem Fall wurde auch die Annullierung der Ehe erlaubt, zumindest wenn diese noch nicht vollzogen worden war. Diese Regelung baute auf Gratians Irrtumslehre auf, die vier Irrtümer unterschied, die die Auflösung einer Verlobung oder Annullierung der Ehe rechtfertigten: 1. den „error personae“, den Identitätsirrtum, 2. den „error fortunae“, den Irrtum über Vermögensverhältnisse, 3. den „error conditionis“, den Irrtum über die soziale Stellung, 4. den „error qualitati“, den Irrtum über die Eigenschaften des Verlobten. Zu den „error qualitati“ zählte Luther ausdrücklich, wenn jemand einen Mangel oder „ewige seuche“ an sich habe, von der der Partner vorher nichts gewusst hatte:270 „Wenn nach Schließung des Verlöbnisses […] eine solche Veränderung eintritt, daß man mit Grund voraussetzen darf, es wäre bei diesem Stand der Dinge zum Verlöbnis nicht gekommen, so verliert dasselbe für beide Kontrahenten, nach Umständen wenigstens für einen seine verpflichtende Kraft“.271 Dazu gehörten schwerwiegende Veränderungen am Gesundheitszustand durch Aussatz, Epilepsie, Paralysis, Verlust des Augenlichts, des Gehörs 266 Dieterich, Hartwig: Das protestantische Eherecht in Deutschland bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, Jus Ecclasiasticum Bd. 10, München 1970, S. 64 und S. 65, Fußnote 288. 267 Zacchias, Paulus: Quaestiones medico-legales, Bd. 3, Noriberga 1726, S. 169–170. 268 Johannes Reinemann heiratete beispielsweise und hatte zwei Kinder mit seiner Frau, obwohl er bereits seit seiner Kindheit an Epilepsie litt und diese deshalb als unheilbar gelten musste: LWV-Archiv, Bestand 13, Reskript vom 23.12.1755. 269 Vgl. Maria Magdalena Mörder, LaSp, Bestand E 6, Reichskammergerichtsprozess 2417, dargestellt im vorigen Unterkapitel, S. 156–159. 270 Dieterich: Das protestantische Eherecht in Deutschland, S. 65. 271 Weber, J.: Die kanonischen Ehehindernisse samt Ehescheidung und Eheprozeß mit Berücksichtigung der staatlichen Ehehindernisse in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Freiburg i. Br. 1886, S. 321.
3.4 Ehe und Sexualität
171
oder des Geruchsinns, sehr übler Atem, Hydropsie, Auszehrung, Schwindsucht und generell alle Krankheiten, „[…] welche das eheliche Leben als solches sehr beschweren, oder den damit Behafteten verhindern, die ihm zufallende Last des Hauswesens zu tragen.“272 Gerade das Argument der Erfüllung der ökonomischen und häuslichen Pflichten durch Mann und Frau war ein ausschlaggebendes Argument gegen die Heirat mit einem Epileptiker oder einer Epileptikerin. Da – wie zuvor bereits ausgeführt – gehäufte Anfälle zu Arbeitsunfähigkeit führen konnten, steht zu vermuten, dass Epileptiker nicht unbedingt begehrte Heiratspartner waren. Waren sie bereits von Kinder- oder Jugendzeit an erkrankt und hatten deshalb bereits keinen Beruf lernen oder einer Arbeit nachgehen können, bestand wohl kaum eine Chance auf Heirat. Anders mag es in den Fällen ausgesehen haben, in denen Epileptiker arbeitsfähig blieben. In einer Klage vor dem fürstlichen Konsistorium in Rudolstadt 1749, in der der Steinmetz-Geselle Johann Christoph Weber um die Lösung seiner Verlobung mit Susanna Dorothea Madlung ersuchte, diente ihm das Argument, sie könne nicht allein gelassen werden und damit implizit den Haushalt nicht führen, als Begründung. In seinem Gesuch an das Konsistorium schilderte er, er habe sich mit Susanna Dorothea im beiderseitigen Einverständnis der Eltern verlobt. Die Heirat hatte sich aus verschiedenen Gründen bis zum darauffolgenden Jahr verzögert, was ihm Zeit gab, an seiner Verlobten eine Krankheit zu bemerken, „[…] welche die medici vor eine arth der epilepsie und vor incurabel halten.“273 Nun habe er Bedenken, die Verlobte tatsächlich zu heiraten. Als Begründung gab er an, er müsse sein Brot außerhalb verdienen, könne seiner Braut aber wegen deren „Maladie“ weder Feuer noch Licht anvertrauen. Dies bedeutete auch, dass sie nicht in der Lage war zu kochen. Da sich die Anfälle häuften, sei sie auch keinen Tag oder Stunde vor einem „Zufall“ sicher. Der Vater der Verlobten gab den schlimmen Gesundheitszustand zu und stellte sich nicht gegen die Lösung der Verlobung, woraufhin das Eheversprechen krankheitshalber, da sich die Anfälle vermehrten und die Heilungschancen schlecht seien, im beiderseitigen Einverständnis der Familien, aufgehoben wurde.274 Es scheint also weniger die Abscheu vor der Erkrankung oder die Angst vor Ansteckung gewesen zu sein, die gegen die Heirat mit einem Epileptiker sprachen, sondern handfeste ökonomische Gründe. Die Gefahr, dass man ebenfalls epilepsiekranke Kinder bekommen könnte, wurde in diesem Zusammenhang interessanterweise fast nie erörtert.275 Sie begann erst Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrunderts eine Rolle zu spielen als rassehygienische Überlegungen im Gefolge des Kulturdarwinismus die Forderung begünstigten Epileptiker zusammen mit Geisteskranken von der übrigen Gesellschaft abzusondern und ihnen die Ehe zu verbieten, um so erbkranken Nachwuchs zu 272 273 274 275
Weber: Die kanonischen Ehehindernisse, S. 321. StaR, Konsistorium Arnstadt 10947, fol. 102. Ebenda, fol. 102 ff. Alberti, Michael: Systema Jurisprudentiae Medicae, Bd. 4, Leipzig/Görlitz 1737, S. 495.
172
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
verhindern.276 Diese Entwicklungen mündeten in der unter dem Nazi-Regime am 14. Juli 1933 verabschiedeten „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, indem erbliche Fallsucht explizit neben Geisteskrankheiten als Ziel genannt wurde, was zum staatlich durchgeführten Sterilisierungsprogramm von Epileptikern und Geisteskranken führte.277 Im ärztlichen Diskurs des 18. Jahrhunderts wurde die Eheschließung von Epileptikern vor allem im Hinblick auf die möglichen gesundheitlichen Folgen sowohl für den Epileptiker als auch dessen Ehepartner sehr ambivalent diskutiert: Die Epilepsie könne sich negativ auf den Krankheitsverlauf auswirken, sie könne in einzelnen Fällen aber auch einen durchaus positiven Effekt auf den Erkrankten haben.278 Für bedenklich hielten die Ärzte zum einen die negativen Auswirkungen, die Streit oder Unfrieden in der Ehe auf den Epileptiker haben könnten. Dabei wurde von den meisten Ärzten die Ansicht vertreten, dass in der Ehe zwangsläufig Unstimmigkeiten zwischen den Ehepartnern entstehen würden. Die starken Emotionen, die durch solche Unstimmigkeiten ausgelöst würden, seien äußerst bedenklich für Epileptiker,279 mussten diese doch nach den diätetischen Lebensregeln jegliche Aufregung, insbesondere Zorn und Schrecken, vermeiden. Zum anderen wurden die medizinischen Auswirkungen des Geschlechtsverkehrs auf die Epilepsie diskutiert, über dessen Schädlichkeit die Ärzte durchaus geteilter Meinung waren. Schon bei Hippokrates war zu lesen, dass ein Übermaß an sexueller Aktivität, aber auch der völlige Verzicht, schädliche Auswirkungen habe. Diese Meinung wurde zwar von einigen frühneuzeitlichen Ärzten geteilt, doch wurde im beginnenden 17. Jahrhundert und dann vor allem im Diskurs des 18. Jahrhunderts zunehmend die sexuelle Enthaltsamkeit für Epileptiker propagiert, weil der Geschlechtsverkehr zu anstrengend und vor allem der Samenerguss für den Mann zu entkräftend sei. Außerdem reize der Geschlechtsverkehr und der Orgasmus die Nerven zu stark und könne dadurch einen epileptischen Anfall provozieren. Deshalb schlug bereits Paulus Zacchias in seinem medizinischen Lehrwerk „Quaestiones medico-legales“ aus dem 17. Jahrhundert vor, ein epileptischer Mann sei von seinen ehelichen Pflichten zu entbinden, weil ihn diese zu sehr forderten. Allerdings gelte dies nicht für die Frau, da der Coitus für den Mann wesentlich anstrengender und der Geschlechtsakt für sie deshalb nicht so schädlich sei.280 Von anderen Ärzten wurde auch die Schädlichkeit des Geschlechtsverkehrs für Frauen hervorgehoben. So antwor276 Schmuhl, Hans-Walter: Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“, 1890–1945, Göttingen 1987, S. 43 ff. 277 Ley, Astrid: Zwangssterilisation und Ärzteschaft. Hintergründe und Ziele ärztlichen Handelns 1934–1945, Erlangen 2003, S. 59 ff. 278 Amann, Paul: Medicina Critica, sive Decisoria centuria casuum Medicinalium in concilio Facult. Med. Lips., Erfurt 1670, S. 423 ff.; Lorenz, Maren: Kriminelle Körper – Gestörte Gemüter. Die Normierung des Individuums in Gerichtsmedizin und Psychiatrie der Aufklärung, Hamburg 1999, S. 129 f. 279 Alberti: Systema Jurisprudentiae Medicae, S. 495. 280 Fischer-Homberger, Esther: Medizin vor Gericht, Gerichtsmedizin von der Renaissance bis zur Aufklärung, Bern/Stuttgart/Wien 1983, S. 185.
3.4 Ehe und Sexualität
173
teten die Ärzte der medizinischen Fakultät Leipzig Mitte des 17. Jahrhunderts einem Kollegen, der eine Patientin ehelichen wollte, die an einer halbseitigen Lähmung und seit ihrem 22. Lebensjahr an epileptischen Anfällen litt, auf dessen Frage, ob ihre Krankheit in der Ehe geheilt werden könne oder ob ihre Krankheit einer Ehe im Wege stünde wie folgt: Es hätte bereits Fälle gegeben, in denen die Ehe eine Epilepsie geheilt habe, in diesem Fall sei das jedoch nicht zu erwarten, da die Krankheit der Patientin schon zu früh begonnen habe. Die Ehe sei für einen Epileptiker zudem nicht förderlich, da der Geschlechtsverkehr eine große Belastung für die Nerven darstelle, und deshalb sei zu überlegen, ob diese Ehe ratsam sei. Wenn er sie aber trotz dieser Bedenken heiraten wolle, so stünde dieser Ehe sonst nichts im Wege, und er könne als Arzt ein besonders wachsames Auge auf den Verlauf der Krankheit haben.281 Die im Gutachten erklärte Überzeugung, eine Epilepsie könne durch die Ehe geheilt werden, entsprang der Vorstellung, dass nicht nur übermäßiger Geschlechtsverkehr, sondern auch das Gegenteil, nämlich großes ungestilltes Verlangen und Sehnsucht, eine Epilepsie herbeiführen könne. In solchen Fällen sprachen sich die Ärzte durchaus für eine Eheschließung aus und befürworteten den Geschlechtsverkehr ausdrücklich. So auch im Fall eines 24-jährigen Mannes, der seit kurzem an epileptischen Anfällen litt. Er selbst sah als Ursache seines Leidens das Verbot seiner Eltern, ein Mädchen zu heiraten, das er sehr liebe. Die Ärzte stimmten ihm darin zu und sahen in der Verweigerung der Heiratsgenehmigung eine ernste Bedrohung für seinen Gesundheitszustand. In diesem Fall könne die Ehe Abhilfe schaffen, weil sie erst durch das Sehnen nach dem Ehestande herbeigeführt worden sei. Dies treffe aber für geborene Epileptiker nicht zu, denn bei diesen könne der Beischlaf die Anfälle provozieren.282 Dagegen versicherten die Ärzte einem frisch verheirateten Ehemann, der kurz nach seiner Hochzeit entdeckt hatte, dass seine Ehefrau epileptische Anfälle hatte, und der sich deshalb mit der Frage an die Ärzte wandte, ob der Geschlechtsakt überhaupt weiterhin mit ihr vollzogen werden könne: Es seien „[…] viel Exempel epilepticam mulierim bekannt, so dennoch coitum zu admittiren, zu appetiren und ohne Wiederwillen zu vollbringen pflegen.“283 Die Tatsache, dass seine Frau Anfälle bekäme, wenn sie mit ihm zusammen sei, führten die Ärzte in diesem Fall nicht auf den Geschlechtsverkehr zurück, sondern auf die offensichtliche Abneigung der Frau gegen ihren Mann. Denn diese war offensichtlich in die Ehe gezwungen worden und hätte eigentlich lieber einen anderen Mann geheiratet. Die Ärzte rieten ihm von der weiteren Ausübung des Geschlechtsaktes ab, da diese wegen der Aversion die Krank281 Amann: Medicina Critica, S. 423 ff. 282 Lorenz: Kriminelle Körper – Gestörte Gemüter, S. 129 f. 283 Zittmann, Johann Friedrich: Medicina Forensis, (Das ist: Eröffnete Pforte zur Medicin und Chirurgie … Über allerhand schwere zweiffelhaffte und seltene von Anno 1650 bis 1700 vorgekommene und in die Medizin auch Chirurgie laifende Fragen und Fälle), Frankfurt a. M. 1706, S. 1508.
174
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
heit seiner Frau nur verschlimmern werde. Auch die vom Ehemann geäußerte Frage, ob die Krankheit in der Ehe geheilt werden könne, mussten diese ihm deshalb verneinend beantworten.284 Erkrankte ein Ehepartner erst während der Ehe an Epilepsie, so stellte die Erkrankung sowohl nach kanonischem als auch reformatorischem Recht keinen Grund für eine Scheidung dar. Während im kanonischen Recht eine Scheidung bzw. die Nichtigkeitserklärung der Ehe nur in wenigen Fällen, wie der der bereits erwähnten Impotenz oder zu naher Verwandtschaft, möglich war, wurden in reformatorischen Gebieten daneben auch der Ehebruch, die Desertation und die Quasidesertation285 als Scheidungsgründe anerkannt.286 In seinen Ausführungen zur Ehe und Ehescheidung schloss Martin Luther weitere Gründe, vor allem unverschuldete Übel, zu denen er auch unheilbare und ekelerregende Krankheiten zählte, kategorisch aus.287 An diesen Vorgaben orientierten sich die meisten reformatorischen Gebiete, und nur in wenigen Eheordnungen des 16. Jahrhunderts finden sich Scheidungsgründe, die über die genannten hinausgehen. Deshalb zählt die Niedersächsische Kirchenordnung von 1584, die unheilbare Krankheiten als Insidie, das heißt, als Lebensbedrohung des Ehegatten gelten ließ und damit zumindest theoretisch eine Trennung von Tisch und Bett erlaubte, eher zu den Ausnahmen.288 Luthers Ansichten zur Ehe und Ehescheidung schlossen sich auch die Reformatoren Calvin, Bugenhagen und Joachim von Beust an. Einzig Zwingli und Butzer vertraten eine „mildere“ Richtung. Zwingli sprach sich beispielsweise für die Möglichkeit der Ehescheidung bei Wahnsinn und ansteckender Krankheit aus. Butzer ging sogar noch einen Schritt weiter und erkannte jede unheilbare Krankheit als Scheidungsgrund an, womit er vom Verschuldungsgrundsatz abwich.289 Allerdings griffen nur wenige reformatorische Gebiete diese „milderen“ Richtlinien auf, und nur in seltenen Fällen wurden schwere Krankheiten in Eheordnungen überhaupt diskutiert. Eine der wenigen Ausnahmen stellt die mansfeldische Konsistorialordnung von 1586 dar, die die Frage aufgreift, ob eine chronische Krankheit, die eine Bedrohung für das Leben des gesunden Ehegatten darstellt, als Scheidungsgrund anerkannt werden solle. Im neunten Kapitel „Von den Ehesachen und wie damit verfahren werden soll“ ist im IV. Abschnitt vom Ehescheiden folgende Erklärung zu lesen: 284 Zittmann: Medicina Forensis, S. 1503–1508. 285 Unter der Quasidesertation wurde verstanden, wenn die Ehepartner sich in Hass entzweit hatten und ein Ehegatte sich vehement weigerte, die Ehe wieder aufzunehmen. Wurde als Scheidungsgrund allerdings nur in einigen wenigen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts anerkannt. 286 Hesse, Hans Gert: Evangelisches Ehescheidungsrecht in Deutschland (= Schriften zur Rechtslehre und Politik, Bd. 22), Bonn 1960, S. 7 ff.; Dietrich, Hans Christian: Evangelisches Ehescheidungsrecht nach den Bestimmungen der deutschen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, Erlangen 1892, S. 6 f. und S. 27. 287 Dietrich: Evangelisches Ehescheidungsrecht, S. 31; Hesse: Evangelisches Ehescheidungsrecht in Deutschland, S. 16. 288 Hesse: Evangelisches Ehescheidungsrecht in Deutschland, S. 33 f. 289 Ebenda, S. 23 ff.
3.4 Ehe und Sexualität
175
[…] Oft würd auch geklaget über grosse gefahr leibes und lebens, die ein ehegemahl vom andern zugewarten hat, item über gefahrliche schwere krankheiten und gebrechen, damit der eine theil beladen ist, und wird darauf die ehescheidung gesuchet. In solchen fällen ist abermal zu sehen auf alle umbstände der zeit personen, und ob solche mängel können geändert und gebessert werden, oder nicht, dass man sich nicht übereile. So sind auch abermal in allen diesen fällen gelehrter leute rathschläge und bedenken vorhanden, darnach man sich richten könne, und soll darauf verfahren.290
Interessant ist an diesem Abschnitt, dass Krankheiten nur deshalb als Scheidungsgrund Anerkennung fanden, weil sie als Bedrohung für das Leben des gesunden Ehegatten angesehen wurden. Deshalb wurden sie in der mansfeldischen Konsistorialordnung in einen Paragraphen mit den Lebensnachstellungen gestellt. Aus dem Abschnitt geht hervor, dass außerdem nicht klar entschieden wurde, ob eine Scheidung in diesem Fall erfolgen solle. Die Fälle wurden zwar als bedenklich eingestuft, aber die Notwendigkeit der Scheidung sollte vor einem Ehegericht von Fall zu Fall entschieden und dabei genau abgewogen werden, ob die Krankheit nicht doch heilbar sei und wie schwerwiegend die Gefahr für den Partner tatsächlich war.291 Welche Krankheiten nun genau zu den gefährlichen und schweren Krankheiten gezählt wurden, wird aus diesem Abschnitt nicht klar. Da die Epilepsie aber, wie bereits zuvor herausgestellt wurde, als ansteckend galt, stellt sich die Frage, ob hier nicht die Basis für die Ehescheidung bei Epilepsie gelegt wurde. Da die Anweisungen in den Eheordnungen dazu wenig Aufschluss geben, können nur tatsächlich verhandelte Fälle zeigen, ob Epilepsie als Scheidungsgrund anerkannt wurde beziehungsweise in der Praxis auch zur Scheidung führte. Es gab einzelne Fälle, in denen versucht wurde, die Epilepsie eines Ehepartners als Scheidungsgrund vor dem Ehegericht anzugeben. Aus dem 17. Jahrhundert ist durch ein medizinisches Gutachten ein Fall überliefert, bei dem ein Mann die Epilepsie und die Geschlechtskrankheit seiner Frau als Scheidungsgrund vor dem Ehegericht angeben wollte. Zu diesem Zweck wandte er sich an die Medizinische Fakultät Leipzig und bat um ein ärztliches Gutachten. Der Mann, dessen Namen in der Veröffentlichung des Falles nicht genannt wurde, schilderte den Fall folgendermaßen: Er habe eine Frau geheiratet, die an starkem weißem Ausfluss vor allem während des Geschlechtsaktes leide, aus diesem Grund könne und wolle er ihr nicht mehr ehelich beiwohnen: […] diselbe ohne mein vorheriges Wissen mit der bösen Krankheit beladen weßwegen ich gehörigen orts die Ehescheidung oder doch allen Falls nur die Seperation von Tisch und Bette gesuchet dabey mir obliegen will ermeldte Beschafenheit bey der ehelichen cohabitation, und den auch gedachten morbum Epilepticum, wieder sie beyzubringen gestalt dieselbe dieses letztere gäntzlich verneinet.292
290 Sehling, Emil: Die evangelische Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts. Bd. 2, Leipzig 1904, S. 207. 291 Hesse: Evangelisches Ehescheidungsrecht in Deutschland, S. 37. 292 Zittman: Medicina Forensis, S. 1545 ff.
176
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
Nun wollte er von der medizinischen Fakultät wissen, ob es eine Möglichkeit gebe, die Epilepsie nachzuweisen, da sie diese beharrlich leugne. Die medizinische Fakultät antwortete daraufhin, er täte gut daran, den Geschlechtsverkehr mit seiner Frau einzustellen, da zu befürchten sei, dass der Ausfluss tatsächlich ansteckend sei. Die Epilepsie seiner Frau könne allerdings so einfach nicht nachgewiesen werden. Leider ist nicht bekannt, ob der Mann tatsächlich die Scheidung oder die Trennung von Tisch und Bett vor Gericht anstrebte und ob diese Klage zum Erfolg führte. Zumindest versprach sich der Mann einen Erfolg vor dem Ehegericht aufgrund des möglicherweise ansteckenden Vaginalausflusses seiner Frau, durch die ihm die weitere „eheliche Beiwohnung“ unmöglich wurde, und aufgrund ihrer epileptischen Anfälle. Allerdings handelte es sich hier um einen wenig repräsentativen Einzelfall, denn Scheidungsgesuche oder die Trennung von Tisch und Bett über längere Zeiträume waren in protestantischen Gebieten schon an sich eher selten erfolgreich.293 Zudem lassen verschiedene Mikrostudien über Scheidungsgesuche und Ehekonflikte für das 16. bis 18. Jahrhundert vermuten, dass Gesuche um eine Scheidung (protestantische Gebiete)294 oder Trennung (katholischen Gebiete)295 wegen körperlicher Gebrechen an Ehegerichten marginal waren. Im Vergleich zu den Hauptscheidungs- und Trennungsgründen Ehebruch, Impotenz und böslicher Verlassung fielen sie überhaupt nicht ins Gewicht. Vor dem Hofgericht Zweibrücken waren zum Beispiel in den zwei Jahren 1558 und 1589 101 Klagen um Ehescheidung eingereicht worden. Nur in zwei dieser Fälle wurde die Ehescheidung wegen Krankheit des Ehepartners gesucht (wobei nicht klar wurde, um welche Krankheiten es sich handelte), in keinem der beiden Fälle erfolgte die Scheidung. Knapp 200 Jahre später wurden in den Jahren 1760 bis 1766 und 1769 bis 1771 vor dem Ehegericht in Karlsruhe nur drei Scheidungsfälle wegen Krankheit verhandelt. In zwei Fällen erfolgte die Scheidung der Eheleute.296 Diese Zahlen verdeutlichen bereits, dass Scheidungsgesuche wegen Epilepsie eher die Ausnahme waren und tatsächliche Scheidungen wohl noch viel seltener. Im 17. und 18. Jahrhundert erfuhr der Diskurs über die Ehe und die Ehescheidung durch Naturrechtler und Juristen eine neue Wendung. Die Ehe wurde nicht mehr als geistliche Einrichtung, sondern als privat-rechtliche verstanden. Von einigen Juristen wurde deswegen auch für die Möglichkeit der Scheidung bei lasterhaftem Leben des Ehepartners, bei unversöhnlicher Feindschaft und Entfremdung der Ehepartner plädiert.297 Ärzte sprachen sich in diesem Zusammenhang dafür aus, Scheidungen auch bei unheilbaren 293 Dülmen: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, Bd. 1, S. 179. 294 Lutz, Alexandra: Ehepaare vor Gericht. Konflikte und Lebenswelten in der Frühen Neuzeit, Frankfurt/New York 2006, besonders S. 136–145; Möhle, Sylvia: Ehekonflikte und sozialer Wandel. Göttingen 1740–1840, Frankfurt/New York 1997, besonders S. 90 ff. 295 Deutsch, Christina: Ehegerichtsbarkeit im Bistum Regensburg (1480–1538), Köln/Weimar/Wien 2005, besonders S. 299–308. 296 Dülmen: Kultur und Alltag, Bd. 1, S. 180 f. 297 Lutz: Ehepaare vor Gericht, S. 136 f.
3.4 Ehe und Sexualität
177
Krankheiten des Ehepartners zu erlauben, um den gesunden Partner nicht zu gefährden. So argumentierte im 18. Jahrhundert auch der Arzt Johannes Ernestus Hebenstreit und nannte in seinem Werk „De anthropologia forensis“ neben der Melancholie und Manie auch die Epilepsie als Scheidungsgrund. Er definierte die Epilepsie in diesem Zusammenhang wie die Manie und Melancholie als vernunftberaubende Krankheit, die er als Bedrohung für das Leben des Ehepartners einstufte und damit zu den Saevitien – zu Lebensnachstellungen beziehungsweise Lebensbedrohungen durch einen Ehepartner – zählte.298 In einer um 1736 vorgetragenen Scheidungsklage vor dem Leipziger geistlichen Konsistorium verlangte eine Frau die Scheidung von ihrem Mann mit der Begründung, er leide an epileptischen Anfällen, von denen sie vor der Ehe keine Kenntnis besessen hatte. Im Verlauf der Verhandlungen wurde von der medizinischen Fakultät Leipzig ein Gutachten darüber eingeholt, ob der Ehemann heilbar sei und ob die Krankheit der Frau schaden könne. Die Fakultät antwortete: „So ist zwar die Epilepsie nicht eben ein morbus contagiosus, und lehret die Erfahrung sattsam, daß mehrmalen eines von den Eheleuten mit der Epilepsie behaftet, obwohl der andere Ehegatte davon weder die Epilepsie bekommen, noch auch einigen Abruch der Gesundheit dieserhalben verspuehret habe […]“299 Dennoch sei die Erkrankung eine schwere Belastung, vor allem für den gesunden Ehepartner. In dem vorliegenden Fall sei eine Scheidung ratsam, da die Frau offensichtlich eine starke Aversion gegen ihren Mann habe, sie durch die Krankheit bekümmert und erschreckt sei, was sich nachteilig auf ihre Gesundheit auswirken könne.300 Die Erkrankung des Ehemannes wurde in diesem Fall von der medizinischen Fakultät zwar nicht als direkte Bedrohung gesehen, weil sie die Epilepsie nicht für ansteckend hielten, die Gesundheit der Partnerin stünde aber aufgrund des Schreckens, den sie vor ihrem Mann empfand, dennoch auf dem Spiel. Zu dem gleichen Fall wurde ein weiteres Gutachten, diesmal von der medizinischen Fakultät von Halle, angefordert. Auch diese Mediziner befürworteten eine Scheidung, allerdings weniger wegen der bedrohten Gesundheit der Partnerin – obwohl diese ebenfalls anerkannt wurde –, sondern wegen der des kranken Ehemannes. Denn, so argumentierten die Hallenser Ärzte, der Ehestand wirke sich auf Epileptiker sehr negativ aus und fördere die Erkrankung noch, und zwar wegen der Aufregung durch Streit in der Ehe und der Entkräftungen, die der Geschlechtsverkehr verursache. Deshalb sei Epileptikern die Ehe generell nicht zu empfehlen. Außerdem sei zu befürchten, dass aus dieser Verbindung epileptische Kinder entstehen könnten, da die Krankheit erwiesenermaßen erblich sei.301 Beide Fakultäten schlossen damit die Heirat von Epileptikern nicht explizit aus oder empfahlen per se eine Scheidung. 298 Hebenstreit, Johannes Ernestus: Anthropologia forensis sistens Medici circa Rempublicam ausasque dicendas Officium, Leipzig 1753, S. 627. 299 Alberti: Systema Jurisprudentiae Medicae, S. 492 f. 300 Alberti: Systema Jurisprudentiae Medicae, 492 f. 301 Ebenda, S. 494 ff.
178
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
Vielmehr argumentierten sie, dass es durchaus ratsam sei, die Ehe zu scheiden, da aus dieser offensichtlich ungewollten Verbindung nur Leid für beide Ehepartner entstehen könne.302 Dennoch erörterten sie medizinische Gründe, die eine Ehe für Epileptiker bedenklich machen konnten. In diesem Fall zeigte sich recht deutlich, dass die Epilepsie des Ehemannes von der Ehefrau als Klagegrund instrumentalisiert wurde, um die Scheidung zu erreichen. Die Einstellung der Ehepartner zueinander, deren Zu- oder Abneigung, spielte also eine wesentliche Rolle dafür, wie die Epilepsie von dem gesunden Ehepartner begriffen wurde und wie er mit ihr umging. Leider sind nur wenige Quellen über verheiratete Epileptiker überliefert, die zudem nur spärliche Einblicke in deren Ehe bieten. Die wenigen überlieferten Suppliken von Ehemännern und -frauen um Versorgung ihrer epileptischen Partner in Hospitälern bestätigen die Annahme, dass die Art der Beziehung der Eheleute ausschlaggebend für den Umgang mit der Krankheit war. Aus vielen Suppliken lässt sich die Sorge um den erkrankten Ehepartner und um dessen Pflege und Versorgung herauslesen. Viele Ehepartner hatten lange gezögert und mit der Erkrankung des Partners so lange wie möglich gelebt, bevor eine Verschlimmerung der Erkrankung die Versorgung zu Hause nicht mehr zuließ. Die Familie wurde darüber hinaus vor so große finanzielle Probleme gestellt, dass sie die Versorgung nicht mehr gewährleisten konnte. Auffällig ist auch der recht hohe Anteil an Suppliken, die erst gestellt wurden, nachdem der Partner geisteskrank geworden war. In vielen Suppliken wurde herausgestellt, dass erst die Wesensänderung des Partners und dessen Rasereiund Tobsuchtsattacken, sie dazu bewogen hätten, um die Aufnahme in ein Hospital zu bitten. Dies war beispielsweise der Fall bei der Ehefrau des Pferdeschmieds Johann Hermann Dietrich, die sich seit 12 Jahren um ihren epilepsiekranken Mann kümmerte. Da dieser wegen seiner häufigen Anfälle seinem Gewerbe nicht mehr nachgehen konnte, führte sie seit einigen Jahren zusammen mit ihrem ältesten Sohn den Betrieb. In ihrem Gesuch erklärte sie, dass ihr Mann nun aber seit einigen Monaten nach jedem epileptischen Anfall Tobsuchts- und Wahnsinnsanfälle bekam, die sie dazu zwangen, ihn ständig zu beaufsichtigen, da sonst zu befürchten stünde, er zünde das Haus an oder lege Hand an die Kinder.303 Auch die Ehefrau Henrich Georg Dannhauers hatte sich jahrelang um ihren epilepsiekranken Mann gekümmert. Sie hatte ihn sogar trotz dessen Epilepsie geheiratet. Wie sie berichtete, litt ihr Mann bereits seit seinem 18. Lebensjahr und sogar in den neun Jahren, in denen er beim Regiment gedient hatte, von Zeit zu Zeit an epileptischen Anfällen. Die Anfälle hätten sich im Laufe der Jahre gesteigert und kämen nun fast täglich, und es mischten sich Wahnsinnsanfälle unter diese, so dass man fürchten müsse, er werde zu einer Gefahr für sich und andere.304 Aus diesen Suppliken spricht eine selbstverständliche Solidarität, nämlich die Bereitschaft der Frau, sich so lange wie möglich um den Ehepartner zu kümmern und ihn in seiner Krank302 Alberti: Systema Jurisprudentiae Medicae, S. 495. 303 LWV-Archiv, Bestand 13, Reskript vom 28.09.1795. 304 Ebenda, Reskript vom 05.09.1755.
3.4 Ehe und Sexualität
179
heit zu unterstützen. Auch Friedrich Drais von Sauerbronn berichtete in seinem autobiographischen Krankheitsbericht, wie sehr seine Frau ihn während der Krankheit stützte und half, indem sie sowohl seine Pflege als auch von Zeit zu Zeit die Aufsicht über ihn übernahm und zugleich den Verlauf seiner Krankheit beobachtete und mit ihm durchlebte.305 Selbst in Fällen, in denen der Partner sich offensichtlich schwer tat, die Erkrankung zu akzeptieren, oder in denen Unstimmigkeiten zwischen den beiden herrschten, scheint es eine gewisse Solidarität unter den Eheleuten gegeben zu haben. Im Gesuch Martin Rüppels an die Landesregierung HessenKassel, in dem er um Aufnahme seiner Frau Anna Elisabeth in das Hospital zu Merxhausen bat, betonte dieser, dass ihm seine Frau ihre Erkrankung vor der Eheschließung verheimlicht habe. Dennoch habe er es auf sich genommen, sich um seine kranke Frau zu kümmern und ihr Hilfe angedeihen zu lassen: Mein ehefrau Anna Elisabeth geborene Sonnschein leidet seit Ihrer mannbarkeit an dem unheilbaren übel der epilepsie. Schon 10 jahre habe ich die ungemächlichkeit dieser traurigen krankheit – woher ich bei meiner verehligung nichts wußte – mit unglaublicher geduldt ertragen, immer gefasst daß die angewandten Mittel zu ihrer Heilung wirken sollten und kein kosten gescheut um ihr hülfe zu schaffen.306
Nun strebe er aber die Aufnahme im Hospital Merxhausen an, da die Krankheit seiner Frau immer schlimmer werde und sie auch Wahnsinnsanfälle habe. Dadurch störe sie ihn so sehr in seiner Arbeit als Wagner, dass er fast nichts mehr verdienen könne.307 Allerdings hatte nicht jeder die Geduld, die Krankheit des Partners zu ertragen. In einigen Fällen versuchten Ehepartner gar nicht erst, sich scheiden zu lassen, sondern verließen ihre Partner. Margaretha Zimmermann aus Würzburg beispielsweise, die sich nach dem Tod ihres Vaters verehelicht hatte, berichtete, dass sie kurz nach der Hochzeit epileptische Anfälle bekommen habe. Ihr Mann habe vor einigen Jahren wegen des schlecht geführten Hausstandes „von ihr gelassen“. Seitdem sei sie auf sich allein gestellt und habe niemanden, der sich um sie kümmere.308 Es kam also ganz auf das persönliche Verhältnis zwischen den Eheleuten an, wie sich die Ehe für Epileptiker gestaltete. Der Ehepartner konnte für den Erkrankten eine große Stütze im Alltag sein, indem er sich wie zuvor die Eltern um dessen Pflege und Versorgung kümmerte. Angst vor Ansteckung scheint dabei nicht vorhanden gewesen zu sein, denn in keinem der Gesuche wurde eine solche thematisiert. Mögliche Ansteckungsgefahren wurden in den Suppliken eher von Pfarrern oder obrigkeitlichen Behörden angesprochen. Interessanterweise wurde die Empfindung von Abscheu und Schrecken vor der Krankheit aber zum Teil in den zuvor dargestellten Scheidungsgesuchen als Argument für eine Scheidung der Ehe verwendet.
305 306 307 308
Diaetophilus: Physische und Psychische Geschichte, Erste Hälfte, S. 117 und 120 f. StaM, Best. 17, Reskript vom 23.04.1808. StaM, Best. 17, Reskript vom 23.04.1808. StadtW, Archiv des Bürgerspitals, Abtheilung II (Akten), Nr.16, Reskript vom 23.05.1651.
180
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
3.5 Der typische Epileptiker? – Die Quellen im Vergleich In diesem Kapitel wurden sehr unterschiedliche Quellen aus dem Zeitraum von 1600 bis 1800 vorgestellt, die alle verschiedene Aspekte der Wahrnehmung und des Umgangs mit der Erkrankung zeigen, dafür aber andere Aspekte aussparen. Es war von der Entstehungssituation der Quellen und der Erzählintention der Verfasser abhängig, welche Aspekte im Umgang mit der Epilepsie im Mittelpunkt standen. Der Autor der zu Beginn des Kapitels vorgestellten Autobiographie fokussierte seine Darstellung beispielsweise auf die medizinische Behandlung seiner Erkrankung, die nach eigener Aussage nach 7 Jahren geheilt worden war. Durch sie wird ein Einblick in die Epilepsie-Therapien und die Behandlungsmethoden akademisch-gebildeter Ärzte möglich. Da beim Verfassen dieser Autobiographie das medizinisches Erkenntnisinteresse im Vordergrund stand, wurden Fragen nach der sozialen Einbettung und der Bewältigung der Erkrankung fernab der Heilungsversuche nur am Rande erwähnt. Die Darstellungen sind gleichzeitig durch die bildungsbürgerliche Herkunft des Verfassers und seine sich daraus ergebende Weltsicht sowie seine Lebenumstände geprägt. Daher können sie ausschließlich als repräsentativ für die bildungsbürgerliche Oberschicht gelten. Einen ganz anderen Einblick gewähren demgegenüber die untersuchten Bittgesuche. Die aus den Unter- und Mittelschichten stammenden Bittsteller hatten die Unheilbarkeit ihrer Erkrankung bereits akzeptiert und wollten mit einer Aufnahme in das Hospital ihre Versorgung sichern. Sie konzentrierten sich in ihren Bittgesuchen auf die für das Gesuch relevante Darstellung ihrer finanziellen Situation und auf die Probleme, die die Erkrankung ihnen im täglichen Leben bereitete. Dabei erwähnten sie vorausgegangene Behandlungsversuche nur beiläufig, ohne sie näher zu beschreiben, weil sie für das Gesuch keine Rolle spielten. Kann bei den beiden beschriebenen Quellentypen noch von einer bestimmten Erzählintention und der damit einhergehenden notwendigen Verkürzung des Erzählten gesprochen werden, sind die Schilderungen über den Umgang mit Epilepsie in den im dritten Unterkapitel untersuchten Gerichtsund Amtsakten als Nebenprodukt des eigentlichen Vorgangs zu verstehen. Die in ihnen beschriebenen Akteure entstammten alle der Mittel- oder Oberschicht. Sie rückten in den Fokus der Akten, weil sie in eine amtliche oder gerichtliche Auseinandersetzung verstrickt waren, in denen ihre Epilepsie eine untergeordnete Rolle gespielt hatte. Indirekt wurde es dadurch möglich, den Umgang mit der Epilepsie, die Versorgungsmöglichkeiten und damit verbundene Probleme innerhalb von Familien zu zeigen, die im Gegensatz zu den Bittstellern der Suppliken nicht vom finanziellen Ruin bedroht waren. Obwohl die Quellen vor unterschiedlichen Hintergründen entstanden, und jeweils nur ausschnittartig die Situation von Epileptikern beleuchten, lassen sich dennoch gemeinsame Motive und Anknüpfungspunkte finden. So wurde die Epilepsie durchweg als natürliche Erkrankung dargestellt, die sich
3.5 Der typische Epileptiker?
181
als heilbar aber auch als unheilbar herausstellen konnte. Die Ursachenerklärungen, soweit sie zur Sprache kamen, weisen einen starken Bezug zu den in Kapitel 2.2 im Zusammenhang mit der ärztlichen Epilepsie-Erklärung angesprochenen Theorien auf. Drais von Sauerbronn beschrieb zum Beispiel seine Erkrankung als Nervenkrankheit, die ihren Ursprung in schwachen Kopfnerven habe und im Kopf zu lokalisieren sei. Bei der Ursachenerklärung griff er auf die zu dem Zeitpunkt neue Krankheitstheorie John Browns zurück, der zufolge die Epilepsie die Folge einer allgemeinen Schwäche der Lebenskraft sein konnte. So detailliert wie Drais von Sauerbronn beschäftigten sich die Verfasser der Suppliken nicht mit den Entstehungsursachen der Epilepsie, und sie griffen nicht auf komplexe ärztliche Theorien zurück. Dennoch begriffen auch sie die Epilepsie als natürliche Krankheit, deren Ursprung sie im Kopf lokalisierten. Als Ursachen wurden in den Bittschriften Geburtsfehler, Vererbung oder vorangegangene Erkrankungen wie die Kindsblattern, Fieber oder auch die Masern genannt. Auch Unfälle, heftiger Schrecken, das „Versehen der Mutter“ oder das Miterleben eines epileptischen Anfalls wurden als Epilepsie auslösende Momente beschrieben. Zudem berichteten die Suppliken von den Unterschieden im Verlauf und in Bezug auf den Schweregrad der Epilepsie, der anhand der Häufigkeit und Heftigkeit der Anfälle bestimmt wurde. Die Verfasser der Suppliken nahmen die Epilepsie auch als sich verändernde Krankheit wahr, deren Anfall-Periodizität und Schweregrad sich im Krankheitsverlauf verändern und zu Wesensänderungen und Geistesschwäche der Patienten führen konnten. Die unvorhersehbaren Anfälle machten die Patienten hilfs- und pflegebedürftig. Welche Schlussfolgerungen über den sozialen Umgang mit Epilepsie können aber nun aus diesen unterschiedlichen Quellen gezogen werden? Beim Vergleich der unterschiedlichen Situationen, die in den Quellen dargestellt sind, wird deutlich, dass es weder „eine“ Wahrnehmung der Epilepsie, noch „den“ Umgang mit Epilepsie gab. Vielmehr waren der Umgang und das Bewältigungsverhalten von verschiedenen Faktoren abhängig, die in enger Beziehung zueinander standen: Die angenommene Heilbarkeit oder Unheilbarkeit der Erkrankung, die Schwere der Erkrankung, der soziale Status und die individuelle Familiensituation, die Reaktion der Mitmenschen und regionale obrigkeitliche Bestimmungen. Aufgrund der großen Unterschiede und der Datenlücken im Quellenmaterial gibt es keine Basis für ein gemeinsam vergleichbares Datenmaterial, das zur quantitativen Analyse herangezogen werden könnte. Deshalb müssen die folgenden Ausführungen als qualitativer Vergleich der Quellen mit bedingter Repräsentativität verstanden werden. Gezeigt werden soll lediglich, in welchen Punkten die Quellen Gemeinsamkeiten aufweisen oder sich ergänzen und welche Schlussfolgerungen aus dem bisher untersuchten Quellenmaterial über das Bewältigungsverhalten von Epileptikern gezogen werden kann. Das Spannungsverhältnis von Heilbarkeit und Unheilbarkeit der Erkrankung spielte eine immense Rolle zum einen in der Problemwahrnehmung der Erkrankung, zum anderen in der Bewältigungsstrategie. Solange die Erkran-
182
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
kung von den Betroffenen als heilbar eingestuft wurde, verknüpfte sich mit dieser Wahrnehmung die Hoffnung, sich mit der richtigen Behandlung der Erkrankung und den mit ihr verbundenen Problemen entledigen zu können. Schwand diese Hoffnung indes bzw. wurde die Unheilbarkeit der Erkrankung akzeptiert, mussten sich die Betroffenen mit einer dauerhaften Bewältigung der Probleme im Umgang mit der Epilepsie auseinandersetzen. Die Übergänge zwischen der Wahrnehmung als heilbarer und unheilbarer Epilepsie konnten dabei ebenso fließend sein, wie die Auseinandersetzung mit verschiedenen Bewältigungsstrategien. Dies lag vor allem darin begründet, dass es keinen festgelegten Zeitpunkt gab, ab dem sich dieser Übergang vollzog. Auch die Mechanismen, wie eine heilbare Epilepsie zur unheilbaren wurde, lässt sich aus dem vorliegenden Quellenmaterial nicht schließen. Die Übergangsphase zur Akzeptanz der unheilbaren Epilepsie war beispielsweise in den Suppliken an die multifunktionalen Hospitäler (deren Zugangsbestimmungen eine unheilbare Erkrankung voraussetzten) bereits abgeschlossen. Der Akt des Supplizierens selbst war bereits Ausdruck einer gewandelten Bewältigungsstrategie. Lediglich die Supplikenbestände des Epileptikerhauses in Würzburg bieten einen bescheidenen Einblick in ärztliche Kriterien für die Diagnose einer heilbaren und unheilbaren Epilepsie.309 Da im Epileptikerhaus Kuren durchgeführt und bei der Aufnahme auf Kuristenplätze nur Supplikanten mit einer hohen Chance auf Heilung berücksichtigt wurden, mussten die Bittsteller genauere Angaben zu ihrem gesundheitlichen Zustand machen.310 In den Akten des Epileptikerhauses findet man sowohl die Bittgesuche von Kranken, die aufgenommen wurden, als auch die von Kranken, deren Aufnahme man ablehnte. Anhand des Vergleichs lässt sich herausarbeiten, welche Kriterien den begutachtenden Ärzten und der Hospitalkommission bei der Einschätzung der Heilungschancen wichtig waren. Bei der Erstvergabe der Kuristenplätze 1773 wurden der 13-jährige Johannes Raab311 und der 16-jährige Sigismund Sell aufgenommen.312 Raab hatte seit 5 Jahren „Zeichen der Epilepsie“, Sell seit etwa 2,5 Jahren. Die Heilungschancen waren für beide günstig. Denn laut einer in der zeitgenössischen ärztlichen Fachliteratur verbreiten Faustregel, waren die Heilungschancen bei einer bis zu sieben Jahren und vor Vollendung des 21. Lebensjahres bestehenden Epilepsie äußerst günstig, danach eher schlecht. Allerdings zeigte sich in den Fällen der zur Kur ins Epileptikerhaus aufgenommenen Patienten, dass diese Faustregel durchaus nicht immer beachtet wurde. Im Fall der erst 16-jährigen Catharina Reinhardt spielte ihre Jugend für den begutachtenden Arzt beispielsweise keine Rolle. Er erklärte sie trotzdem wegen ihrer häufigen Anfälle für „incurabel“ und empfahl sie für eine Pfründnerstelle im Epileptikerhaus.313 Neben dem Umstand, dass Raab und Sell erst vor kurzer Zeit erkrankt 309 310 311 312 313
AJSp, A 5856, Lit. 2769. AJSp, Lit. 2769, S. 49 ff. AJSp, Lit. 2769, S. 48. AJSp, Lit. 2769, S. 45. AJSp, A 5856.
3.5 Der typische Epileptiker?
183
und noch jung waren, war das ausschlaggebende Argument für ihre Aufnahme als Kuristen, dass sie noch keine medizinische Behandlung genossen hätten. In den Beschreibungen weiterer als Kuristen aufgenommener Patienten stand die Tatsache im Mittelpunkt, dass therapeutische Maßnahmen (hier wurden Aderlässe immer wieder hervorgehoben) eingesetzt worden waren und diese eine lindernde Wirkung gezeigt hatten. Desweiteren wurde die Periodizität von Anfällen herausgehoben, die immer zu bestimmten Zeiten wie bei Vollmond oder zunehmendem Mond auftraten. Im Fall Catharina Büttnerin waren die Periodizität der Anfälle (zu jedem neuen Mond erlitt sie drei bis vier Anfälle pro Tag) und die bisher ausgebliebene Menstruation, die als zugrundliegendes Problem angenommen wurde, die ausschlaggebenden Gründe für ihre Aufnahme zur Kur. Dass sie bereits 20 Jahre alt war und schon seit 13 Jahren an der Epilepsie litt, spielte dabei keine Rolle.314 Aus der Untersuchung der Zusammenfassungen des Epileptikerhauses geht also hervor, dass durchaus nicht nur die in der ärztlichen Literatur verbreitete Faustregel für die Einschätzung der Heilungschancen ausschlaggebend war. Neben der Jugend und der Dauer der Erkrankung waren vor allem die Fragen relevant, ob bereits (akademisch-ärztliche) Therapien angewendet worden waren, ob sich hinter den Anfällen eine Periodizität und damit ein Muster, das der Behandlung zugrunde gelegt werden konnte, zu erkennen war, wie häufig die Anfälle auftraten und ob sie sich schon einmal gebessert hatten. Dementsprechend konnte auch bei einer jahrzehntelang bestehenden Epilepsie immer noch die Chance auf Heilung angenommen werden. In Diätophilus‘ Autobiographie, in der die Heilung seiner Epilepsie im Mittelpunkt steht, wird der Übergang der Wahrnehmung von der heilbaren zur unheilbaren Epilepsie am Ende seiner Behandlung lediglich angedeutet, aber letztlich nicht vollzogen. In seinem Krankentagebuch beschreibt er, wie sich nach 6-jähriger Behandlung mit etlichen fehlgeschlagenen Therapien sowohl bei seinen Ärzten als auch bei ihm Ratlosigkeit einstellte. Es überraschte ihn deshalb kaum, als ihm die Ärzte am 22. Mai 1794 erklärten, sie hielten seine Epilepsie für unheilbar: „Am Abend dieses Tages erhielt ich des Arztes redliche Ankündigung, dass er meine Epilepsie für unheilbar halte – ohne Seelenerschütterung, meiner Erwartung gemäss, und soviel als vorhin in Heiterkeit.“315 Er hatte sich selbst bereits damit auseinandergesetzt, dass er möglicherweise an einer chronischen Epilepsie leide. Infolge der Diagnose der Ärzte hatte ein vorläufiger Akzeptanzprozess eingesetzt, in dem sich Drais von Sauerbronn mit seiner Situation auseinandersetzte und sich geistig damit zu arrangieren begann. In der Folge stieß ein Brief, den ihm eine Freundin schrieb, in der Autobiographie Louise G. genannt, die ihn zu weiteren Diätversuchen drängte und ihm eine neuartige Kur vorschlug, auf zurückhaltende Resonanz:
314 AJSp, Lit. 2769, S. 38 f. 315 Diaetophilus: Physische und Psychische Geschichte, Erste Hälfte, S. 291.
184
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen Ich behalte mir vor, Ihnen bald mündlich den gerührtesten Dank für Ihre Teilnahme an meiner Krankheit und zugleich die Gründe darzulegen, warum ich mich schwer entschließen würde – nach vielfältig mißlungenen Proben, die mich an Gemüth und Körper nur noch mehr beunruhigten und schwächten – mich einem neuen Arzt und neuem Angriff zu unterwerfen; nachdem ich zumal unter dem, nun anderthalbjährigen Gebrauch der Belladonna so viel Herstellung von Kräften gefunden habe, daß ich ziemlich bei Tage sicher bin, an meiner eigenen und meiner Kinder Bildung fortarbeiten, auch mit mehrerlerntem Gleichmuth und von meinem guten Weibe unterstützt, so weit froh, als Sie mich im Jahre 1788 gesehen haben, wieder seyn kann. Der hohe Anschlag dieser Erträglichkeit und meine herzliche Resignation auf andere Genüsse – die nur mit einiger Wagschaft von jener, und an sich nicht mit Wahrscheinlichkeit zu erreichen wären – diese Zufriedenheit, in der ich mich noch unter den Glücklichen fühle, sey und bleibe das Dankopfer, das ich der Gottheit weihe.316
Einerseits ist diese Antwort als Stilmittel zu verstehen, um die Kur hervorzuheben, die zum Erfolg führte, und Drais von Sauerbronns Botschaft an die Epileptiker unter seiner Leserschaft, sich nicht entmutigen zu lassen, zu unterstreichen. Insofern stellt sich die Frage, wie ernst der Inhalt des Briefes tatsächlich zu nehmen ist, zumal der Originalbrief – falls er jemals existiert hat – nicht aufzufinden ist. Andererseits spielte Drais von Sauerbronn hier mit den Erwartungen seiner Leser, die sich in diesen Beschreibungen wiederfinden sollten. Dementsprechend ist anzunehmen, dass er hier bewusst akzeptierte Erzählstrukturen verwendet. Er deutete einmal die Enttäuschung an, die mit jeder missglückten Therapie einherging und der er sich nicht erneut aussetzen wollte. Gleichzeitig beschrieb er, wie er sich mit seiner Situation abgefunden hatte und nun in der Lage war, seine Erkrankung und die Beeinträchtigungen zu akzeptieren. Bei der Akzeptanz seiner Situation spielte sicherlich eine Rolle, dass sich sein Zustand nach etwa drei Jahren vermehrter Anfälle einigermaßen verbessert und stabilisiert hatte. Er litt tagsüber nicht an Anfällen, so dass sie ihn im Alltag nicht beeinträchtigten. Zudem waren mit einer chronischen Epilepsie, soweit aus seiner Autobiographie hervorgeht, keine wesentlichen Nachteile beruflicher oder finanzieller Art verbunden. Dennoch ließ er sich nach Rücksprache mit seinen Ärzten zu dem neuen Kurversuch überreden, der ihn letztlich heilte und ihn damit auch von den letzten mit der Krankheit verbundenen Beeinträchtigungen befreite. Für die Beantwortung der Frage, ab wann die Patienten selbst und ihre Angehörigen aufhörten, auf Heilung zu hoffen, und die Kurversuche einstellten, müssen verschiedene Faktoren berücksichtigt werden: Erstens spielte die fachliche Meinung von Ärzten und Heilern für die Beurteilung der Heilbarkeit oder Unheilbarkeit der Erkrankung eine wichtige Rolle. Wie aus den Gutachten des Epileptikerhauses hervorgeht, schätzten Ärzte die Heilungschancen für junge Patienten, die erst kürzlich an Epilepsie erkrankt waren, sehr hoch ein und bestärkten damit wohl deren Hoffnung auf Heilung. Gleichzeitig spielte eine Rolle, ob und welche Heilmittel bereits angewendet worden wa316 Auszug aus einem Schreiben an Luise G, das in dieser Form von Drais von Sauerbronn selbst in seinem Werk zitiert wird: Diaetophilus: Physische und Psychische Geschichte, Erste Hälfte, S. 293.
3.5 Der typische Epileptiker?
185
ren. Die meisten studierten Ärzte stuften einen Fall von Epilepsie erst dann als unheilbar ein, wenn der Patient sich bereits akademisch-ärztlichen Kuren unterzogen hatte und diese wirkungslos geblieben waren. Zweitens beeinflussten die finanzielle Situation und die Vorlieben in der Wahl der therapeutischen Maßnahmen, die Entscheidung, wie viel Zeit und Geld in Kuren investiert wurden bzw. investiert werden konnten. Es ist anzunehmen, dass in allen Schichten zumindest einige Versuche unternommen wurden, die Krankheit zu heilen. Unterstützt wird diese These durch die Suppliken und die beigegeben ärztlichen Gutachten, in denen zwar keine detaillierten Angaben zu den Kuren selbst gemacht wurden – weshalb sich das Therapieverhalten der Unterund Mittelschichten kaum nachzeichnen lässt –, die aber zumindest andeuten, dass verschiedene therapeutische Maßnahmen angewendet worden waren, bevor die Krankheit als unheilbar eingestuft wurde.317 Zudem konnte bereits im Kapitel zur Behandlung gezeigt werden, dass auch Angehörige der Mittelund Unterschichten bereit waren, ihre geringen finanziellen Mittel in Heilmittel zu investieren, wenn sie sich davon eine Verbesserung versprachen. Für finanziell Schwache oder Mittellose existierten außerdem verschiedene obrigkeitliche Maßnahmen, die eine medizinische Behandlung ermöglichten, so zum Beispiel die Bereitstellung eines Amtsarztes oder die Übernahme von Kosten für Kuren.318 Dementsprechend ist anzunehmen, dass diese Schichten zwar nicht unbedingt frei in der Wahl der Heiler waren (sofern sie die obrigkeitliche Unterstützung in Anspruch nahmen), aber zumindest Zugang zu medizinischer Behandlung hatten. In finanziell besser gestellten Schichten, die sich eher erlauben konnten, ihre Heiler frei zu wählen, bestimmten vor allem persönliche Vorlieben und Empfehlungen, welche Therapien eingesetzt wurden. Wie viele Kuren eingesetzt und unterschiedliche Heiler zur Behandlung hinzugezogen wurden, hing in diesem Fall vom persönlichen Ermessen der Patienten ab. Der Fall Friedrich Drais von Sauerbronns muss aufgrund seiner vielen Kurversuche und der Dauer der Behandlung sicherlich als Sonderfall betrachtet werden. Die Hoffnung auf Heilung der Epilepsie wurde dann aufgegeben, wenn sich den Patienten aus ihrer Perspektive keine Möglichkeiten mehr boten, die Erkrankung weiter zu behandeln, oder wenn sie sich selbst als unheilbar einstuften. Ein Übergang von der einen zur anderen Interpretation war immer möglich, und die medizinische Behandlung konnte nach Phasen völligen Stillstands wieder in den Vordergrund treten, wenn sich den Patienten neue Möglichkeiten boten. Auch die Hoffnung der Erkrankten, auf wundersame Weise geheilt zu werden, versiegte nie völlig. Deutlich wird dies zum Beispiel in dem bereits in Kapitel 2.3 behandelten Fall der Gesundbeterin Maria Sophie Brest.319 Diese bediente als spezialisierte Heilerin, die den Ruf genoss, die schwierigsten Fälle von Epilepsie heilen zu können, die schwache Hoffnung lange Erkrankter und ihrer Familien. Zu diesen zählten zum Beispiel die bei317 Siehe S. 142 f. 318 Vgl. Kapitel 2.5, S. 105–107. 319 Vgl. Kap. 2.3, S. 62–65.
186
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
den Kunden Kunge und Häuster, Bauern aus dem Amt Hohnstein, deren Söhne sie gerade behandelte, als sie von den Amtmännern wegen „unerlaubten Curierens“ aufgegriffen wurde. Die beiden Befragten gaben zu Protokoll, ihre beiden erwachsenen Söhne hätten bereits seit ihrer Kindheit an Epilepsie gelitten, kein bisher gebrauchtes Heilmittel hätte geholfen und sie hätten die Hoffnung schon aufgegeben, dass ihre Kinder jemals von der Krankheit befreit würden. Durch einen befreundeten Fuhrmann hatte Kunge einige Wochen zuvor von der Wunderheilerin erfahren, woraufhin er nicht zögerte, um eine Kur für seinen seit Jahrzehnten erkrankten Sohn zu bitten. In der Behandlung wurde auch die kleinste Verbesserungen der Erkrankung – zum Beispiel das Ausbleiben der Anfälle für einige Tage – von den Betroffenen und deren Familie sehr positiv bewertet und mit einer beginnenden Heilung gleichgesetzt.320 Während der Behandlungsphase fand sicherlich bereits eine Auseinandersetzung mit den sozialen Folgen der Epilepsie und der Bewältigung der durch die Anfälle verursachten physischen Probleme statt. Die sozialen Auswirkungen gestalteten sich nicht für alle Epileptiker gleich. Vielmehr waren sie vom Schwergrad der Epilepsie und der sozialen und beruflichen Stellung der Betroffenen abhängig. Der Schweregrad der Epilepsie wurde von den Zeitgenossen anhand der Häufigkeit und Heftigkeit der Anfälle bestimmt. Je häufiger ein Epileptiker Anfälle erlitt, desto konkreter wurde die Gefahr von Verletzungen wahrgenommen. Das Bedürfnis nach regelmäßiger Aufsicht der Patienten wurde in den Suppliken immer wieder betont. Ihre Notwendigkeit wurde mit den starken und häufigen Anfällen der Patienten begründet, die zu Verletzungen führen konnten. Nur durch eine ständige Beaufsichtigung konnte der Gefahr entgegengewirkt werden. Die Notwendigkeit der ständigen Aufsicht wurde auch in den Hospitalunterlagen für den aus der Oberschicht stammenden Hospitaliten Friedrich von Maldiß betont. Seine Mutter, die Witwe des Saarbrücker hochfürstlichen Oberhofmeisters von Maldiß und wiederverheiratete von Stallburg, gab bei der Befragung durch die Saarbrücker Rentkammer, von der sie Unterhalt für ihren Sohn bezog, zu Protokoll, dass es unmöglich gewesen sei, einen „particulier“ zu finden, der auf ihren Sohn achtgeben wolle. Daher habe sie ihn in einem Hospital unterbringen müssen. Der Leiter des Straßburger Zuchthauses erklärte, dass Friedrich von Maldiß sich wegen seiner mehrfach täglich auftretenden Anfälle nie alleine aufhalten dürfe und dass ihm immer zwei Krankenwärter mitgegeben seien, die sich während der Anfälle um ihn kümmerten. Die Häufigkeit der Anfälle wirkte sich nach Angaben der Supplikanten auch auf die Arbeitsfähigkeit der Erkrankten aus. In einigen Berufen wie dem des Schweinehirten, des Vogts oder Amtsschreibers wurden die epileptischen Anfälle erst ab einer gewissen Regelmäßigkeit zum Problem; spätestens wenn der Kranke nicht mehr unbeaufsichtigt bleiben konnte. Dagegen mussten 320 SHStaD, 10055, Amt Hohnstein mit Lohmen, Nr. 315, fol 9r.
3.5 Der typische Epileptiker?
187
Handwerker – besonders betroffen waren Zimmerleute und Bäcker – schon frühzeitig ihren Beruf aufgeben, weil die Anfälle während der Arbeit zu gefährlichen bis tödlichen Verletzungen führen konnten. Bei seit ihrer Geburt an Epilepsie Erkrankten oder solchen, die seit der Kinder- oder Jugendzeit an Epilepsie litten, wirkte sich die Erkrankung noch auf andere Weise aus, nämlich insofern, als sie kaum eine Chance hatten, eine Lehre zu beginnen oder außerhalb des elterlichen Betriebes zu arbeiten, weil sie keine Anstellung fanden. Ähnlich erging es Tagelöhnern und Lohnabhängigen, wovon besonders Dienstmägde und Knechte, Soldaten und Lehrer betroffen waren. In diesen Fällen spielte die Angst vor Ansteckung einerseits und die – zumindest von den potentiellen Arbeitgebern angenommene – geringere Belastbarkeit der Epileptiker andererseits eine Rolle. Die Arbeitsfähigkeit war demnach vom Beruf des Betroffenen, der Häufigkeit seiner Anfälle und den Vorurteilen seiner Mitmenschen abhängig. Im Gegensatz zu den Suppliken erwähnte Drais von Sauerbronn in seiner Autobiographie nur selten die Notwendigkeit der Aufsicht und die Verletzungen, die er durch die Anfälle erleiden könnte. Laut seinem Bericht stellte er auch seine täglichen Ausritte nicht ein, obwohl gerade bei einem Sturz vom Pferd die Gefahr ernsthafter Verletzungen bestand. Dass der Autor das Problem der Aufsicht nicht thematisierte, bedeutet nicht zwangsläufig, dass ihn seiner Meinung nach die Verletzungsgefahr nicht betraf. Es lag aber nicht in seiner Intention, die psychischen und sozialen Folgen seiner Erkrankung zu erörtern, und da diese Aspekte für ihn möglicherweise auch schambeladen waren, erwähnte er sie nicht. Deshalb fällt es schwer zu beurteilen, ob er tatsächlich nicht das Bedürfnis nach ständiger Aufsicht hatte oder ob er dies nur nicht erwähnte. Möglicherweise beeinträchtigte ihn seine Erkrankung aber tatsächlich nicht so stark, wie sie dies im Fall der supplizierenden Fallsüchtigen tat. Gemessen an der Zahl der Anfälle, die in den Suppliken beschrieben wurden, litt Drais von Sauerbronn mit etwa drei bis vier Anfällen im Jahr, die sich in seinem schlimmsten Krankheitsjahr auf zwanzig steigerten, an vergleichsweise wenigen Anfällen und hatte zudem das Glück, dass sie meist nur morgens oder abends auftraten. Auch auf seine Arbeitsfähigkeit hatten die Anfälle wenig Einfluss. Er war trotz seiner Erkrankung weitgehend in der Lage, seine Aufgaben zu erfüllen. Dank seiner leitenden und verwaltenden Tätigkeit fiel es ihm leichter, die Anfälle und „Stumpfheiten“, die er als Teil seiner Erkrankung begriff, in seinen Arbeitsalltag zu integrieren. Er konnte sich also einfacher mit seiner Situation arrangieren als beispielsweise ein epilepsiekranker Handwerksmeister oder -geselle. In diesen Fällen deutet sich bereits ein weiterer Aspekt an, der die Auswirkungen der Epilepsie nicht unwesentlich beeinflusste: Die soziale Stellung der Betroffenen. Sie bestimmte, ob eine epilepsiebedingte Arbeitsunfähigkeit und die Notwendigkeit ständiger Aufsicht zur existentiellen Krise führten. Zumindest legen dies Fälle wie die von Ulrich Fugger, Maria Magdalena Mörder, Friedrich von Maldiß und Drais von Sauerbronn nahe. Sie alle entstammten wohlhabenden Familien und mussten sich wenig um die Folgen einer drohen-
188
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
den Arbeitslosigkeit sorgen. Maria Magdalena Mörder wurde beispielsweise im Alltag von ihrer Magd betreut, die die Nachbarinnen zu Hilfe rief, wenn sie sich mit der Situation überfordert fühlte. Die Aufsicht, die die Kranke benötigte, stellte also in diesem Fall kein größeres Problem dar. Die Familie Mörder konnte es sich leisten, der Hausherrin eine eigene Aufsichtsperson zur Seite zu stellen. Dadurch konnten die Anfälle in den Alltag integriert werden. Die ständige Aufsicht, die Friedrich von Maldiß wegen seiner extrem häufigen Anfälle benötigte, bereitete seiner Familie weniger finanzielle Probleme, sondern führte dazu, dass kein Angestellter zu finden war, der sich Tag und Nacht um ihn kümmern wollte. Deshalb schien die Unterbringung im Straßburger Armen- und Zuchthaus, die standesgemäß war, und die sicherlich keine kostengünstige Alternative darstellte, die einfachste Lösung. Auch Friedrich Drais von Sauerbronns gesicherte finanzielle Lage bewahrte ihn vor Schwierigkeiten bei längeren Dienstausfällen, wie er selbst vermerkte: Mich selbst hat mein gutes Schicksal hier nie auf eine harte Probe geführt; aber unsere turbulenten Zeiten, und der Mangel des Kranken an physischer Kraft zum Brotverdienst, geben mir einige vorbereitende Ideen für schlimmere Fälle an die Hand.321
Dagegen führte krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit Epileptiker, die selbst kein Vermögen hatten oder ihren Alltag ohne fremde Hilfe nicht meistern konnten, in die direkte Abhängigkeit von ihrer Familie und nächsten Umgebung. Dies konnte insbesondere in den Mittel- und Unterschichten zu existentiellen Problemen führen, denn nicht jede Familie besaß die finanziellen Mittel, um dem Kranken ein Familienmitglied oder eine andere Aufsichtsperson zur Seite zu stellen. Die Aufsicht zwischen den Anfällen und die Unterstützung während der Anfälle übernahm in der Regel die Familie. Besonders die Frauen spielten eine herausragende Rolle in der Pflege. In den Suppliken sind es die Mütter, Schwestern und Ehepartnerinnen, die sich um Erkrankte kümmern. Im Fall der Maria Magdalena Mörder sprangen die Nachbarinnen ein, um während der Anfälle unterstützend einzugreifen. Konnte die Familie diese Art der Pflege nicht mehr stellen und wurde eine Unterbringung im Hospital erreicht, übernahmen die Krankenwärter und die Mithospitaliten die Aufsicht. Friedrich von Maldiß wurden zu diesem Zweck im Straßburger Zuchthaus ein oder zwei Krankenwärter mitgegeben, die sich um ihn kümmern sollten, wenn er das Hospital verließ, und in Saarbrücken sollte ihm sogar ein eigener Aufwärter bei seinen Anfällen assistieren.322 Wie diese Unterstützung und Pflege allerdings konkret aussah, lässt sich aus den Quellen lediglich erahnen. Im Artikel „Epilepsia“ in Zedlers Universallexikon wird eine Reihe von Maßnahmen beschrieben, die während eines Anfalles ergriffen werden konnten: In der Cur des Bösen Wesen hat man vornemlich darauf zu sehen, daß der Patient vom Paroxysmo befreyet werde: Solches zu erlangen, dienen Schreyen und Rufen, Zwacken 321 Diaetophilus: Physische und Psychische Geschichte, Erste Hälfte, S. 358. 322 Dieses Kapitel, S. 168 f.
3.5 Der typische Epileptiker?
189
bey den Haaren, Scharff reiben, die daumen und übrigen Finger aufbrechen, Raute in die Nase stecken, scharffe Niese-Pulver aus Euphorbio, Vitriolo albo, Helleboro albo, Castor. Fol. Majoran. Den Mund öffne man mit Rad. Poeoni oder Visc. Quern. Ungul. Alcis, räuchere mit Rebhühner-Federn, Schwefel, Leder, Asa foetid., Spir. Sal. Ammoniac. Urinae., vor die Nase gehalten. Gleichwie aber die Epilepsie mehrentheils von sich selbst nachlässet; also bitten die Patienten offtermals inständigst, daß man sie inskünfftig vornehmlich mit den Spirituosen verschonen möge, damit man ihnen nicht mehr Pein mache: denn das brennet ihnen hernach in der Nase, und werden davon viel matter.323
Diese Empfehlungen stammen aus der medizinischen Fachliteratur des 16. bis 18. Jahrhunderts. Die Anwendung starker Riechsalze und antiepileptischer Mittel wie der Päonienwurzel sollten den Anfall unterbrechen und den Patienten wieder zu Bewusstsein bringen. Gleiches sollte das Aufzwingen der im Anfall zusammengekrampften Finger und des typischerweise eingedrehten Daumens bewirken.324 Andere Ärzte empfahlen dem Patienten, während des Anfalls einen Keil oder eine Päonienwurzel in den Mund und zwischen die Zähne zu schieben, um dadurch den verkrampften Kiefer zu öffnen. Diese Maßnahme sollte den Anfall unterbrechen und verhindern, dass sich die Patienten die Zunge verbissen, und helfen, dass der Schaum aus dem Mund abfließen konnte.325 Gegen diese Maßnahmen regte sich unter den Ärzten im 18. Jahrhundert eine gewisse Skepsis. Wie bereits in Kapitel 2.2 angesprochen, bevorzugten viele Ärzte des 18. Jahrhunderts den Einsatz milderer Mittel auch während der Anfälle, weshalb sie empfahlen, möglichst wenige Mittel einzusetzen und den Patienten während seiner Anfälle so weit wie möglich in Ruhe zu lassen. Man hatte nämlich festgestellt, dass zum Beispiel das gewaltsame Öffnen des Kiefers während des Krampfes zu Verletzungen führen konnte und bei dem Patienten Beschwerden verursachte. Gleiches galt für das Verabreichen von Riechsalzen, Brechmitteln und Klistieren während der Anfälle, von denen viele Ärzte des 18. Jahrhunderts nicht glaubten, dass sie eine positive Wirkung hätten. Sie empfahlen, den Anfall ausklingen zu lassen und lediglich während des Anfalls darauf zu achten, dass sich der Patient nicht verletzte.326 Wie üblich der Einsatz solcher Mittel tatsächlich war, lässt sich aufgrund der lückenhaften Quellen nicht beurteilen. Im untersuchten Quellenmaterial wurde jedenfalls keine einzige der zuvor beschriebenen Maßnahmen erwähnt. In den Suppliken wurde betont, dass der Betroffenen davor bewahrt werden müsse, in gefährliche Gegenstände zu stürzen, sich bei den Stürzen zu verletzen oder ins Feuer oder Wasser zu fallen. Daneben ging es um die Notwendigkeit der Präsenz während und nach den Anfällen, wenn die Betroffenen meist noch ein wenig orientierungslos waren. In seiner Autobiographie führte Drais von Sauerbronn ein wenig genauer aus, wie diese Assistenz aussehen konnte. Seine Frau, die ihn neben einem Bediensteten während der Anfälle unterstützte, schilderte die Hilfestellung, die zur Routine geworden war: 323 324 325 326
Zedler: Artikel Epilepsia, S. 1404. Kutzer: Das Bild der Epilepsie, S. 106 f. Ebenda, S. 103. Ebenda, S. 107 f., 119.
190
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen Der Anfall vom 9. Mai im Garten kam, während mein Mann die gewöhnlich vorangehende Anwandlung durch starkes Laufen und Tabak nehmen vertreiben wollte. […] Seine Lage war auf dem Rücken, weil ich ihn gleich beim Schrei in die Arme fasste, und so nach und nach zur Erde niederließ. Sobald die Konvulsionen vorbei waren. Und ich Hülfe von Anderen hatte, ward er in das Gartenhaus auf den Lehnstuhl getragen, wo er gegen eine halbe Stunde noch fortschlummerte, nachher eine Tasse Kammillenthee trank und etwas heftig etliche Bissen weisses Brod ahs.327
Die Freiherrin Drais von Sauerbronn tat also nicht mehr, als ihren Mannes zu betten und über ihn zu wachen. Diese Prozedur des Auffangens und Bettens war wohl generell üblich. Es ist zu vermuten, dass sich bei den Betroffenen und ihren Betreuern im Laufe der Zeit eine gewisse Routine im Umgang mit den Anfällen entwickelte. Es wurde beispielsweise beobachtet, wie sich diese entwickelten und in welchen Situationen sie auftraten. Die Patienten und deren Angehörige schilderten den begutachtenden Ärzten in ihren Bittschriften um Aufnahme ins Juliusspital zum Teil sehr detailliert, ob sie eine Periodizität erkennen konnten, wie häufig die Anfälle in der Regel wiederkehrten oder ob keine Regelmäßigkeit zu erkennen war. Einige Betroffene schilderten, sie könnten die Anfälle vorhersehen, weil sie zuvor Auren verspürten und das Aufsteigen des Anfalls aus einem Körperteil, zum Beispiel vom Magen oder von den Füßen, spüren könnten, während andere angaben, sie würden völlig unvermutet von diesen überfallen. Die Schilderungen Drais von Sauerbronns lassen vermuten, dass seine Frau und seine Bediensteten Strategien entwickelten, um mit seiner Erkrankung umzugehen. So spiegelt die Beschreibung seiner Frau einen bereits eingeübten Ablauf wider. Sie wusste mittlerweile genau, wie sie während der Anfälle ihres Mannes zu reagieren hatte, wodurch die Anfälle unspektakulärer und alltäglicher wurden. Darüber hinaus hatte Drais von Sauerbronn selbst Strategien entwickelt, um den Anfällen vorzubeugen. Er verspürte Auren, die er als Indikator für einen bevorstehenden Anfall nutzte. Spürte er eine solche Aura, versuchte er, wie dies seine Frau auch beschrieben hatte, durch Bewegung, Tabak oder Liköre den Anfall zu vertreiben. Auch das Frottieren des Rückens vom Kopf hin zu den Füßen gehörte zu diesen Präventivmaßnahmen, in denen ihn seine Frau und sein Bediensteter unterstützten. Diese Form der Prävention ist ebenfalls aus der ärztlichen Literatur bekannt. Weitere Empfehlungen waren das Anwenden von Riechsalzen vor den Anfällen, um eine Bewusstlosigkeit des Patienten zu verhindern. Konnte ein Patient den Aufstieg eines epileptischen Anfalls in den Gliedmaßen spüren, sollte das betreffende Glied abgebunden werden, um den Aufstieg des Anfalls zum Kopf zu verhindern.328 Die untersuchten Quellen vermitteln den Eindruck eines unaufgeregten Umgangs mit Epilepsie durch nächste Verwandte und Freunde. Sie kümmer327 Diaetophilus: Physische und Psychische Geschichte, Erste Hälfte, S. 121. 328 Lysons, Daniel: Practisch Abhandlungen von den Wechselfiebern, der Wassersucht, den Krankheiten der Leber, der fallenden Sucht, […], aus dem Englischen übersetzt bey Caspar Fritsch, Leipzig 1774, S. 198 ff.
3.5 Der typische Epileptiker?
191
ten sich um die Epileptiker, wenn diese nicht mehr in der Lage waren, sich selbst zu versorgen, und nahmen sie zur Pflege ins eigene Haus. In keiner der untersuchten Quellen ist von Furcht, Schrecken oder Abscheu im Umgang mit den Erkrankten die Rede. Ganz anders wird allerdings die Reaktion Außenstehender geschildert. Leider wird dieser Aspekt nur in einigen wenigen Quellen angedeutet und spielt in den Schilderungen nur eine Nebenrolle. Dennoch lässt sich ein gemeinsamer Grundtenor in der Reaktion Fremder herauslesen: Furcht und Abscheu vor den Anfällen. Die Abscheu vor den Anfällen und die Annahme, Epilepsie sei ansteckend und könne sich durch den Anblick eines Anfalls übertragen, erschwerte den sozialen Umgang der Betroffenen. Die Vorurteile führten dazu, dass Epileptiker in der Öffentlichkeit, das heißt, auf belebten Plätzen wie Märkten oder Kirchen, nicht unbedingt erwünscht waren. Besonders Pfarrer fürchteten um die Sicherheit ihrer Gemeinde, wenn Epileptiker Anfälle während der Messe erlitten und die ganze Gemeinde diesem Anblick ausgesetzt war. Einige führten diese Bedenken in ihren Gutachten auf, die den Suppliken beigegeben waren. Sie hoben besonders die Gefahr heraus, Schwangere könnten sich an den Anfällen „versehen“.329 Diese Furcht ging so weit, dass sich in den Suppliken Fälle finden lassen, in denen die Betroffenen auf Wunsch der Pfarrer nicht mehr an der Messe teilnahmen. Ihnen erteilte der Geistliche die Heilige Kommunion „ad privatim“.330 Es bestand kein offizielles Verbot für Epileptiker, sich in der Öffentlichkeit zu bewegen. Dennoch sorgten eine Mischung aus Scham, möglicherweise Anfälle vor den Augen Fremder zu erleiden, und die Abscheu, die die Anfälle in den umstehenden Beobachtern hervorrief, dafür, dass es Epileptiker oft selbst vorzogen, sich nicht in der Öffentlichkeit zu zeigen. Drais von Sauerbronn begegnete der Möglichkeit, Anfälle in der Öffenlichkeit zu erleiden, indem er nach Beginn seiner Krankheit Menschenansammlungen z. B. bei Theater- und Kirchenbesuchen mied, um dadurch den Kreis von Beobachtern möglichst klein zu halten. Jost Henrich Nell schilderte in seiner Supplik, er traue sich nicht mehr auf die Straße, weil er Angst habe, er könne jeden Moment einen Anfall erleiden.331 Eine Strategie war also der weitgehende Rückzug ins Private. In den Supplikenbeständen lassen sich darüber hinaus einige nicht repräsentative Fälle finden, in denen Epileptikern, die häufig in der Öffentlichkeit Anfälle bekamen, von der Obrigkeit geraten wurde, sich besser zu Hause aufzuhalten.332 329 LWV-Archiv, Bestand 13, 06.06.1741. 330 Ebenda, Reskript vom 18.03.1766. Die Anfälle des Johannes Gossmann waren sogar so schlimm, dass der Pfarrer ihn „ad privatim“ konfirmierte: Ebenda, Reskript vom 18.03.1766. 331 Ebenda, Reskript vom 06.06.1741. 332 In der Stadt Kitzingen wurde einem Tuchscherer besipielsweise geraten „[…] sich eine zeittlang [der] gemeinschafft der leuth zu enthalten die weill er mit der bösen Krankheit beladen sein“, vgl: STAKT, Rat 7, 1563, S. 104. Kilian Leiblein wurde auf Initiative des Würzburger Epileptikerhauses ein wöchentliches Almosen aus der Armenkasse zuge-
192
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
In ebenso seltenen Fällen konnte sich die Epilepsie eines Familienmitglieds sogar negativ auf das Familiengeschäft auswirken. So erklärte eine Minderheit an Bittstellern, dass ihnen aufgrund der häufigen Anfälle ihres Kindes die Gesellen wegliefen oder die Kunden ausblieben.333 Ein weiterer Aspekt, der einige Male in den Quellen betont wurde, bezog sich auf die Unterbringung von Epileptikern außerhalb der Familie. Bittsteller beschrieben zum Beispiel, wie sie in ihrer Krankheit ganz verlassen waren, weil sie keine Familie mehr hatten, sich aber aus Furcht niemand sonst um sie kümmern wollte. Angesichts der Tatsache, dass sich in den Quellenbeständen aber durchaus auch Fälle finden lassen, in denen Epileptiker Anschluss und Betreuungsmöglichkeiten in anderen Familien fanden, darf dieser Aspekt sicherlich nicht überbewertet werden. Da die Wahrnehmung Außenstehender ein Randthema in der Quellen darstellen und sich auch sonst kaum Quellen finden lassen, die sich damit näher beschäftigen, soll im Folgenden nur exemplarisch anhand von vier, eher extraordinären Quellen, auf diesen Aspekt eingegangen werden. In einem Artikel aus Johann Georg Krünitz‘ Ökonomischer Enzyklopädie stellte der anonyme Autor vor allem die Plötzlichkeit, die Unvorhersehbarkeit und den gewaltsamen Ausbruch des Anfalls heraus, der die Mitmenschen so erschreckte: Wir sehen einen Menschen, der, dem Ansehen nach, gesund und stark ist, wie er plötzlich, mitten in seinen Geschäften, den Gebrauch seines Verstandes und aller Sinne verlieret; wie ihm ein Schaum aus dem Munde gähret; wie alle seine Glieder bald steif und unbeweglich stehen, bald auf die gewaltsamste Weise hin und her geworfen und gezogen werden, und wie er nach einiger Zeit, wenn dieser Zufall überstanden ist, wieder an seine Geschäfte geht, und eben so gesund scheint, wie vorher. Die ganze Menschlichkeit empört sich in uns bey einem so entsetzlichen Anblicke, und wir drücken diese Krankheit mit Worten aus, die sonst den Umfang des ganzen menschlichen Elends überhaupt bezeichnen, indem wir sie das schwere Gebrechen, die schwere Noth, das böse Wesen, den Jammer, das Unglück, nennen.334
Der Schrecken und die Abscheu, die der Anblick des epileptischen Anfalls im zeitgenössischen Beobachter auslöste, wurden von diesem als so stark empfunden, dass er der Ansicht war, die Epilepsie könne sich durch den bloßen Anblick eines Anfalls übertragen. Die Theorie, die Epilepsie sei eine ansteckende Krankheit, lässt sich bereits im 14. und 15. Jahrhundert finden. Zu dieser Zeit wurde die Ansteckung durch einen Epileptiker besonders auf dessprochen, dafür wurde ihm verboten, das Haus bis auf Notfälle zu verlassen, AJSp, A 5856. 333 Nur 4 von 476 Suppliken sprachen derlei Probleme an. Sie bilden damit im Quellensample die absolute Ausnahme. Dennoch zeigen sie, wie negativ sich die Ausgrenzung von Epileptikern auswirken konnte. Vgl. LWV-Archiv, Bestand 13, Reskript 07.09.1791; Reskript 31.03.1792; Reskript 07.11.1786; AJSp, A Nr. 5856, Wenckel, Michel, 1791. 334 Artikel „ Epilepsie der Menschen“, in: Krünitz, Johann Georg: Oeconomische Encyclopädie oder allgemeines System der Land-, Haus-, und Staats-Wirthschaft, T. 11, Berlin 1777, S. 128–143, hier S. 129.
3.5 Der typische Epileptiker?
193
sen Atem und Speichel sowie seine Berührung zurückgeführt.335 Im Laufe des 17. Jahrhunderts änderte sich diese Theorie, und eine Ansteckung wurde in erster Linie auf die Anfälle und den Schrecken, der von dem Anblick ausgelöst würde, zurückgeführt. Diese Auffassungen lassen sich auch noch im 18. Jahrhundert unter Patienten und aufgeklärten Ärzten finden, die auch völlig andere Leiden auf das Erschrecken durch das Miterleben eines epileptischen Anfalls zurückführten,336 wobei durchaus nicht alle diese Meinung teilten.337 Zu diesem Schrecken, den ein Anfall auslöste, und die mögliche Angst vor Ansteckung kam ein Gefühl der Hilflosigkeit. Wussten Experten – wie Ärzte oder Heiler – sowie die nächsten Angehörigen und Freunde aufgrund jahrelanger Erfahrung, was während eines Anfalls zu tun war, hing die Reaktion „Unbedarfter“ in erster Linie von ihrem Wissensstand über die Krankheit und ihrer Bereitschaft ab, Hilfe zu leisten. Ein von Helmut Heintel aufgearbeiteter Bericht über die kurzfristige Aufnahme eines Epileptikers im Heilig-Geist-Spital in Nürnberg 1783 gibt einen guten Einblick in die Reaktion „Unbedarfter“ auf einen epileptischen Anfall.338 Am 3. Juli 1783 gegen 11 Uhr erlitt der in Nürnberg weilende Herrnhuterer Jakob Friedrich Christmann auf offener Straße einen epileptischer Anfall. Kurz vor seinem Anfall hatte er wohl eine Vorahnung, denn er hielt den Armen-Schulmeister Appelt, der zu diesem Zeitpunkt gerade des Weges kam, an und bat diesen, Herrn Kießling, seinen Glaubensbruder, den er in Nürnberg besucht und dessen Haus er gerade verlassen hatte, zu holen. Kießling traf gerade zu dem Zeitpunkt ein, als Christmann bereits in seinem Anfall zu Boden gestürzt war. Dem Bericht des Arztes zufolge, der sich bei seiner Diagnose lediglich auf die Augenzeugenaussagen der Umstehenden stützen konnte, soll Christmann „[…] Zuckungen gehabt haben und ohne Bewußtseyn mit vor dem Mund stehenden Schaum gelegen seyn […]“339 und leide daher aller Wahrscheinlichkeit nach an der Epilepsie. Nach seinen eigenen Aussagen habe Christmann einen solchen Anfall bereits einige Zeit vorher erlitten.340 Der Anblick des Anfalls muss Johann Tobias Kießling stark erschüttert haben, denn er befahl dem beistehenden Stadtdiener Steinhäuser mit den Worten „[…] pack er ihn doch an, der Mensch stirbt 335 Temkin: The Falling Sickness, S. 115 ff. 336 Stolberg: Homo patiens, S. 74 f. 337 Bereits der französische Arzt Jean Fernel vertrat im 16. Jahrhundert die Ansicht, Epilepsie sei nicht ansteckend (vgl. Temkin: The Falling Sickness, S. 117), diese Meinung wurde auch im 17. und dann im 18. Jahrhundert von verschiedenen Ärzten weiter vertreten. In einem medizinischen Gutachten bei Michael Alberti sprach sich dieser ebenfalls gegen eine mögliche Ansteckung durch Epilepsie aus: Alberti: Systema Jurisprudentiae Medicae, 492 f. 338 Heintel, Helmut/Hirschmann, Gerhard: Notaufnahme eines Epileptikers im HeiligGeist-Spital Nürnberg im Jahre 1783, in: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte der Stadt Nürnberg 61 (1974), S. 293–301, der Bericht selbst findet sich in: Stadtarchiv Nürnberg, Spitalamt, Akten, Schachtel 118, Bündel 25. 339 Stadtarchiv Nürnberg, Spitalamt, Akten, Schachtel 118, Bündel 25, Produkt 8. 340 Zusammenfassung bei Heintel/Hirschmann: Notaufnahme eines Epileptikers im HeiligGeist-Spital Nürnberg, S. 295 f.
194
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
ja alle Augenblick, wenn er nicht will, so faße ich selbst an, und er bekommt deswegen Verantwortung […]“, Christmann in das nahegelegene Heilig-GeistHospital zu schaffen, wo er Hilfe durch erfahrene Pfleger oder einen Arzt erwartete. Im Hospital selbst geschah allerdings nicht mehr viel. Der Anfall hatte nachgelassen, und Christmann kam zu sich, wenn er wohl auch noch unter den Nachwirkungen des Anfalls litt, denn er fand seine Sprache erst einige Stunden später wieder. Der Spitalarzt untersuchte ihn und bescheinigte ihm eine Epilepsie und verordnete ihm Ruhe. Nach einigen Tagen im Spital wurde er wieder entlassen und, mit einem Attest über seine Krankheit versehen, auf die Weiterreise geschickt. Ähnlich entsetzt und hilflos schilderte auch Johann Gottlieb Schummel in seinem Reiseroman „Empfindsame Reisen durch Deutschland“ (1771) seine Reaktion auf den epileptischen Anfall eines jungen Mädchens, den er auf seiner Reise nach Leipzig miterlebte.341 Ihm war die junge Frau schon kurz vor ihrem Anfall durch ihr Erscheinungsbild – die Haut blass, die Augen unstetig umherwandernd – und ihren taumelnden Gang aufgefallen. Als er deshalb kurz darauf ein „tumultarisches Geschrei“ vernahm und die Menschenmenge wahrnahm, die sich gebildet hatte, nahm er an, es sei etwas mit dem Mädchen geschehen und eilte direkt zu der Menge, um zu helfen: Ich drang mich durch den dicken Haufen von Menschen durch, der in der größten Eile zusammengelaufen war, und sahe die arme, bedauerte Kreatur auf der Erde liege – mit verzogenem Gesichte – Schaum vor dem Munde. Eine so heftige Erschütterung hat meine Seele nie empfunden als bei diesem grauenvollen Anblicke.342
Aus einem Impuls heraus hob er sie auf und rannte mit ihr zum Gasthof, in den er einkehren wollte, wo er sie auf ein Zimmer brachte und in ein Bett legte, um dann einen Arzt zu rufen. Doch bevor dieser überhaupt benachrichtigt werden konnte, hatte der Anfall des Mädchens wieder nachgelassen und die Betroffene konnte Schummel nun selbst Anweisungen geben, was zu tun sei. Allerdings beschränkte sich die „Nachbehandlung“ nach dem Anfall lediglich auf die Versorgung der Sturzwunden und das Nachhausegeleiten der Betroffenen. Interessanterweise könnte die Schilderung dieser Szenen auch aus heutiger Zeit stammen, denn beide beschreiben die Aufregung, die der Anfall in fremder Umgebung auslöste, und die Hilflosigkeit unbeteiligter Umstehender, wie sie auch heute noch bei einem epileptischen Anfall vorkommen. Auch die Reaktion derer, die eingriffen, erinnert sehr an heutige Reaktionen: Das beherzte, wenn auch etwas kopflose und verunsicherte Eingreifen umfasste in beiden Szenen das Wegschaffen von der Straße und der gaffenden Menge und das Aufsuchen eines Experten, das heißt, des Personals des Hospitals beziehungsweise eines Arztes.
341 Auszug aus Schummel, Johann Gottlieb: Empfindsame Reisen durch Deutschand (1771), in: Friederike Waller/Hans Dierck Waller/Georg Marckmann: Gesichter der „Heiligen Krankheit“. Die Epilepsie in der Literatur, Tübingen 2004, S. 89–92. 342 Schummel, Johann Gottlieb: Empfindsame Reisen durch Deutschland von S***, 1. Teil, 2. Auflage, Wittenberg/Zerbst 1771, S. 171.
3.5 Der typische Epileptiker?
195
Eben diese Reaktionen spiegeln sich auch in einem Kupferstich des französischen Künstlers Jean Duplessi-Bertaux wider (s. Abb. 5, S. 279). Der Kupferstich zeigt einen bewusstlos auf der Straße liegenden Mann, dessen Oberkörper von einem hinter ihm Knienden gestützt wird, vermutlich um ihn vor Verletzungen zu bewahren. An der linken Seite des Bewusstlosen befindet sich ein weiterer Herr, der in seinem Eifer Stock und Hut abgelegt hat, um entweder den Mann zu untersuchen oder um sein Hemd zu öffnen. Ein Dritter – zur Rechten des Bewusstlosen – hält ihm ein Fläschen vor das Gesicht, wahrscheinlich Riechsalz, um den Bewusstlosen aufzuwecken. Weiter rechts bedeutet ein Vierter den anderen Akteuren, den Kranken anzuheben und auf die anscheinend gerade herbeigeschaffte Trage zu legen, vermutlich um den Kranken in ein Hospital oder zum Arzt zu schaffen. Links hinter den knienden Männern, bietet eine Frau mit einem weiteren Riechfläschen ihre Hilfe an. Die ganze Szenerie ist umringt von weiteren Frauen und Männern, die mit erschrecktem Gesichtsausdruck die Szene beobachten und Ratschläge erteilen. Wie sich die Unsicherheit und die Reaktionen der Mitmenschen auf die Psyche der Betroffenen auswirkten, ist schwer abzuschätzen. Auf jeden Fall mussten die Betroffenen lernen, mit der Angst umzugehen, unvermutet und plötzlich Anfälle zu erleiden und diesen schutzlos – möglicherweise im Beisein Fremder – ausgeliefert zu sein. Drais von Sauerbronn begegnete dieser Möglichkeit, indem er nach Beginn seiner Krankheit Menschenansammlungen mied, um dadurch den Kreis von Beobachtern möglichst gering zu halten. So vermied er nach Ausbruch seiner Erkrankung Theater- und Kirchenbesuche. Auch Jost Henrich Nell schilderte in seiner Supplik, er würde sich nicht mehr auf die Straße trauen, hätte er doch Angst, er könne jeden Moment ein Anfall erleiden.343 Eine Strategie wird also ein weitgehender Rückzug ins Private, weg von Menschenansammlungen und belebten Orten, gewesen sein. Dagegen unternahm Friedrich von Maldiß trotz seiner häufigen Anfälle regelmäßig Spaziergänge im nahegelegenen Straßburg, immer begleitet von einem oder zwei Krankenwärtern des Straßburger Zuchthauses. Er fühlte sich also durch seine Begleitung sicher und mied offenbar auch nicht die Öffentlichkeit, obwohl die Wahrscheinlichkeit recht groß war, auf einem seiner Spaziergänge einen Anfall zu erleiden, wie dies nach Aussage seines Saarbrücker Dieners Neufang bis zu zwanzigmal täglich vorkam. Über die gerade beschriebenen Aspekte hinaus waren gerade bedürftige Epileptiker von den obrigkeitlichen Bestimmungen der Armenfürsorge ihrer jeweiligen Heimat abhängig. Wie sich unterschiedliche Bestimmungen auf das Bittverhalten auswirkten, wurde bereits im Unterkapitel „Die chronische Erkrankung“ angedeutet. Eine genauere Analyse dieser Bestimmungen auf das Bewältigungsverhalten armer Epileptiker würde aber an dieser Stelle zu weit führen und wird daher im nächsten Kapitel gesondert behandelt.
343 LWV-Archiv, Bestand 13, Reskript vom 06.06.1741.
196
3 Persönliche Erfahrungen und gesellschaftlicher Rahmen
Beim Vergleich der Quellen konnte gezeigt werden, wie sich die unterschiedlichen Lebenssituation, vor allem die soziale Stellung und der Schwergrad der Erkrankung, auf den Umgang mit der Epilepsie und dessen soziale Folgen auswirkten. Ein Epileptiker der Oberschicht mit wenigen Anfällen konnte sein Leben demnach sehr viel „normaler“ gestalten als dies einem Epileptiker der Unterschicht, den seine Epilepsie in eine existenzielle Krise führen konnte, möglich war. Die Epilepsie verschärfte also in den Schichten, die bereits am Rande der Armutsgrenze lebten, die bestehenden finanziellen Probleme und machte sie zu schutz- und hilfsbedürftigen Kranken, deren einzige Rettung die Familie oder die Obrigkeit waren.
4 Fürsorge 4.1 Die Reform der Armenpflege Im vorigen Kapitel wurde deutlich, dass die Epilepsie – besonders wenn der Betroffene unter vielen Anfällen litt – eng mit Arbeitsunfähigkeit verbunden war. Die faktische Unmöglichkeit, sich das „eigene Brot zu verdienen“, verursachte finanzielle Probleme, die bis hin zu extremer Armut reichen konnten. Es hat sich jedoch auch gezeigt, dass Epileptiker in dieser Situation nicht auf sich alleine gestellt, sondern im Idealfall in ein familiäres Netzwerk eingebunden waren, auf das sie sich bei der Bewältigung ihrer Probleme stützen konnten. In seltenen Fällen waren sie in der glücklichen Lage, genügend Geldmittel zur Verfügung zu haben und somit finanziell unabhängig zu sein. In erster Linie kümmerten sich die nächsten Verwandten oder der Ehegatte um den Erkrankten. Manche Epileptiker wurden darüber hinaus von Nachbarn und Freunden unterstützt.1 Diese Form der Unterstützung bedürftiger Familienmitglieder stellte einen traditionell in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaft verankerten Schutzmechanismus vor Armut und Not dar.2 Entfiel dieses soziale Netz, weil ein Hilfsbedürftiger keine Familie besaß oder weil die Familie selbst zu arm war, sah sich die Gesellschaft in der Pflicht, sich um ihn zu kümmern. Wie bereits erwähnt, war die Fürsorge für Arme und Kranke schon immer zentrales Thema christlicher Nächstenliebe. Im Gegensatz zu heute basierte die Fürsorge für Bedürftige im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit nicht auf einem Sozialversicherungssystem, sondern auf einem System der Spitalfürsorge und Almosen, das zu Beginn der Frühen Neuzeit einer weitreichenden Reform unterzogen wurde.3 Im Mittelalter war die Armenfürsorge noch nicht obrigkeitlich strukturiert, sondern beruhte auf einer Fürsorge durch Spitäler, die bis ins Spätmittelalter in kirchlicher Hand lagen,4 und der privaten Gabe von Almosen durch Adelige und reiche Bürger.
1
2 3 4
Im Gegensatz zu Robert Jüttes Untersuchung des sozialen Netzes, auf das arbeitende Arme zurückgriffen, um sich in Zeiten finanzieller Probleme zu helfen, in der er vor allem nachbarschaftliche und freundschaftliche Netzwerke neben der Familie betont, lag der Schwerpunkt bei den untersuchten Fällen von Armut bei Epilepsie vor allem auf der Familie: Jütte, Robert: Arme, Bettler, Beutelschneider. Eine Sozialgeschichte der Armut in der Frühen Neuzeit, Weimar 2000, S. 106–130. Gray: The Self-Perception of Chronic Physical Incapacity among the Labouring Poor. Wagner, Alexander: Armenfürsorge in (Rechts-) Theorie und Rechtsordnungen der Frühen Neuzeit, in: Sebastian Schmidt/Jens Aspelmeier (Hg.): Norm und Praxis der Armenfürsorge in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Stuttgart 2006, S. 21–59, hier S. 24. Windemuth, Marie-Luise: Das Hospital als Träger der Armenfürsorge im Mittelalter, Stuttgart 1995, besonders S. 88–112; Scheutz, Martin/Sommerlechner, Andrea/Weigl, Herwig/Weiß, Alfred Stefan (Hg): Europäisches Spitalwesen. Institutionelle Fürsorge in Mittelalter und Früher Neuzeit, Wien/München 2008.
198
4 Fürsorge
Bedürftigen Almosen zu geben, war in der mittelalterlichen Gesellschaft fest verankert. Es handelte sich dabei um eine der drei Möglichkeiten der „satisfactio“ nach dem Bußsakrament der Kirche und wurde als religiös-ethische Pflicht eines jeden Christen verstanden. Durch das Geben von Almosen war es dem Spender möglich, sich von Sünden rein zu waschen und seine christliche Pflicht zu erfüllen. Der Empfänger war seinerseits dazu verpflichtet, für den Spender zu beten und diesem dadurch möglicherweise einen Platz im Himmel zu sichern. Thomas von Aquin führte in seiner „Summa Theologica“ sogar aus, die Armen seien als eigener Stand zu sehen, die durch ihre Bedürftigkeit die Möglichkeit gaben, christliche Nächstenliebe zu praktizieren, und daher derjenige spenden solle, der Geld über das standesgemäße Leben hinaus besitze. Zwar wurde bereits im Mittelalter die „extrema necessitas“ des Empfängers einer Spende vorausgesetzt,5 doch wurde in der Praxis von den Spendern kaum überprüft, ob der Almosenempfänger tatsächlich bedürftig war. Dieser Vorwurf wurde zumindest zunehmend von Theologen und weltlichen Behörden im Spätmittelalter erhoben, die begannen, die Effektivität dieses Systems der Armenfürsorge infrage zu stellen und neue Formen von Kontrolle verlangten. Sie argumentierten, durch die fehlende Kontrolle in der Almosenvergabe würde es arbeitsscheuen Personen, die durchaus in der Lage seien, sich selbst zu versorgen, ermöglicht, ihren Lebensunterhalt zu erbetteln, wodurch den wahrhaft bedürftigen Bettlern Zuwendungen verloren gingen. Die Forderung nach wirksamerer Unterstützung der wirklich Bedürftigen durch stärkere Kontrolle wurde erhoben, verbunden mit der Forderung, die weltlichen Behörden sollten mehr Verantwortung in der Armenfürsorge übernehmen.6 Praktiker wie der Straßburger Theologe Johannes Geiler von Kaysersberg (1445–1510), Martin Luther (1483–1546), der an der Sorbonne lehrende Occamist John Mayor (1470–1550) und der Humanist Juan Luis Vives (1492–1540) beschäftigten sich eingehend mit der neuen Armenfürsorge und wie diese umgesetzt werden sollte.7 Daneben hatten bereits im 14. Jahrhundert einige Stadtverwaltungen begonnen, ihre Zuständigkeitsbereiche auszuweiten und die Aufsicht über die stadteigenen Hospitäler und weitere karitative Einrichtungen zu übernehmen. Erste Armen- und Bettelordnungen wurden erlassen, die die Regulierung und Einschränkung des Bettels zu ihren Kernpunkten machten. Die früheste Bettelordnung ist die 1370 in Nürnberg erlassene Ordnung, in der bereits festgelegt wurde, dass Personen, die arbeiten könnten, kein Almosen erhalten sollten.8 Ein Prozess setzte ein, in dem die Städte versuchten, die wahrhaft Bedürf5 6 7 8
Wagner: Armenfürsorge, S. 24 f. Jütte, Robert: Tendenzen öffentlicher Armenpflege in der Frühen Neuzeit Europas und ihre weiter wirkenden Folgen, in: Theodor Strohm/Michael Klein (Hg.): Die Entstehung einer sozialen Ordnung Europas, Bd. 1, Heidelberg 2004, S. 78–104, hier S. 78 f. Wagner: Armenfürsorge, S. 22. Jütte: Tendenzen der öffentlichen Armenpflege, S. 78 f.; Schmidt, Sebastian: „Gott wohlgefällig und den Menschen nutzlich“. Zu Gemeinsamkeiten und konfessionspolitischen
4.1 Die Reform der Armenpflege
199
tigen von denen zu unterscheiden, die Hilfsbedürftigkeit nur vortäuschten. Die Bedürftigen wurden spätestens seit Beginn des 16. Jahrhunderts in zwei Klassen unterteilt, in die der würdigen und der unwürdigen Armen, auch „mendicantes invalidi“ und „mendicantes validi“ genannt. Diese Kategorien existierten bis weit in die Neuzeit hinein.9 Unter den verschuldeten oder „starken“ und damit unwürdigen Armen verstand man diejenigen, die sich entweder durch Verschwendung ins Unglück getrieben hatten oder keine Arbeit annahmen, obwohl sie arbeitsfähig waren. Zu den würdigen Armen wurden diejenigen gezählt, die durch ein Unglück oder durch Krankheit in die missliche Lage geraten waren. Hierzu wurden Witwen und Waisen ebenso gerechnet wie Arbeitsunfähige, die nicht von Verwandten unterstützt werden konnten.10 Bedürftige Epileptiker gehörten zur letztgenannten Kategorie, obwohl die meisten Bettelordnungen nicht explizit festlegten, welche Gruppen genau als arbeitsunfähig einzustufen waren. Man sprach eher allgemein von „bresthaften“ und „unvermöglichen“ Leuten. In manchen Bettelordnungen ließen sich Kategorisierungen der „bresthaften“ finden wie zum Beispiel Krüppel, Lahme oder Blinde.11 Epileptiker beziehungsweise Fallsüchtige wurden als eigene Gruppe in keiner der untersuchten Bettelordnungen aufgeführt. Einzig eine Denkschrift an die Zünfte, die 1531 vom Straßburger Almosenschaffner Hackfurth als Ergänzung zur 1523 erlassenen Almosenordnung verfasst worden war, zählte sie unter den des Almosens Würdigen als eigene Gruppe auf: Von den Almosenpflegern erhalten „je nach des almusens vermögen“ grundsätzlich folgende Arten von Armen Unterstützung:“ was blind, lam, ihres alters halb unvermöglich, doch wäfern und nit zu bet ligent, item so mit schäden und fallenden siechtagen beladen sind, kindbetterin, item die sich nit wol mit irer arbeit und handwerken erneren mögen und sonst mit vil kindern uberfallen, die sie mit irer arbeit nit erziehen können; item do so us dem spital gewissen werden und doch zu schwach sind noch zur vollkommenen arbeit.12
Im Zuge der Kontrollbemühungen wurde in den Bettelordnungen festgelegt, dass nur noch stadteigene, tatsächlich bedürftige Bettler versorgt werden soll-
9
10 11
12
Unterschieden frühneuzeitlicher Armenfürsorge, in: Sebastian Schmidt/Jens Aspelmeier (Hg.): Norm und Praxis der Armenfürsorge in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Stuttgart 2006, S. 61–90, hier S. 64 f. Sachße, Christoph/Tennstedt, Florian: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Vom Spätmittelalter bis zum ersten Weltkrieg, Stuttgart/Berlin 1980, S. 15; Jütte, Robert: Abbild und soziale Wirklichkeit des Bettler- und Gaunertums zu Beginn der Neuzeit. Sozial-, mentalitäts- und sprachgeschichtliche Studien zum Liber vagatorum (1510), Köln/ Wien 1988, S. 35. Jütte: Arme, Bettler, Beutelschneider, Weimar 2000, S. 114 ff. Baader, Joseph (Hg.): Nürnberger Polizeiordnungen aus dem XIII. bis XV. Jahrhundert, Amsterdam 1966, S. 317; Winckelmann, Otto: Das Fürsorgewesen der Stadt Straßburg vor und nach der Reformation bis zum Ausgang des sechzehnten Jahrhunderts, Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte Bd. V, Zweiter Teil Urkunden und Aktenstücke, S. 141. „Inhalt des gemeinen almusens bruch, für die zünft begriffen uf dornstag nach S. Jörgen tag“, 1531, in: Winckelmann: Das Fürsorgewesen der Stadt Straßburg, Teil 2, S. 141.
200
4 Fürsorge
ten. Stadtfremde Bettler versuchte man durch Verordnungen aus der Stadt fernzuhalten und sie gegebenenfalls in ihre Heimatgemeinden zu bringen, beziehungsweise der Stadt- oder Landesgrenzen zu verweisen.13 Damit man die stadteigenen bedürftigen Bettler erkennen konnte, vergaben einige Städte „Bettelpässe“, eine amtliche Bettelerlaubnis, die dem Träger bescheinigte, dass er wahrhaftig bedürftig war.14 Um an einen dieser Pässe zu gelangen, verlangte beispielsweise die Stadt Nürnberg in ihrer Bettelordnung von 1478, jeder Bettler müsse sich erst beim Rat vorstellen und dort genaue Angaben über sein Vermögen, seinen Ehestand und die Anzahl seiner Kinder machen, damit seine Bedürftigkeit geprüft werden könne.15 Das sich daraus entwickelnde Gemeindeprinzip, das heißt, jede Gemeinde hatte für seinen eigenen Bedürftigen zu sorgen, wurde mit Beginn des 16. Jahrhunderts stärker betont.16 Mit der reichsrechtlichen Festschreibung des Gemeindeprinzips setzte sich zunehmend die Exklusion fremder – d. h. nicht stadt- oder landeigener – Bettler durch, die sich bis weit ins 18. Jahrhundert fortsetzte und zur Wahrnehmung fremder Bettler als Gefährdung der öffentlichen Sicherheit führte.17 Dieser Prozess der Kriminalisierung und Wahrnehmungsverschiebung gegenüber fremden Bettlern und Nichtsesshaften lässt sich anhand der sogenannten Gaunerbüchlein nachvollziehen, die sich mit der Frage des falschen und betrügerischen Bettels beschäftigten und vornehmlich im 15. und 16. Jahrhundert entstanden. Eines der bekanntesten dürfte das „Liber vagatorum“ sein, das Gaunerbüchlein des Mattias von Hütlin von 1510, in dem ausdrücklich vor betrügerischen Bettlern gewarnt wurde, die Gebrechen vortäuschten, um auf diese Weise an Geld zu kommen.18 Hatten die Städte im 14. und 15. Jahrhundert in ihren Bettelordnungen, den Bettel, genauer gesagt, die private Almosenvergabe lediglich reguliert und eine Kontrolle von Bedürftigkeit eingeführt, vollzog sich im Laufe des 16. Jahrhunderts eine gänzliche Neuorganisation der Armenfürsorge, in deren Rahmen die private Almosenvergabe abgeschafft wurde und an ihre Stelle öffentlich geregelte Formen der Armenfürsorge traten.19 Die Neuorganisation der Armenpflege begann im Zuge der Reformation vor allem in protestantischen Städten, die die Armenfürsorge unter die zentrale Aufsicht weltlicher Behörden stellten. Gemeinsame Kassen („gemeiner Kasten“ genannt) wurden eingeführt, aus denen die Bedürftigen in einem festgelegten Turnus Geld erhalten sollten. Die Kassen wurden gespeist aus dem Vermögen ehemaliger katholischer karitativer Institutionen wie z. B. Klöstern, 13 14 15 16 17 18 19
Schmidt: „Gott wohlgefällig und den Menschen nutzlich“, S. 67 f. Richel, Arthur: Armen- und Bettelordnungen. Ein Beitrag zur Geschichte der öffentlichen Armenpflege; in: Archiv für Kulturgeschichte 2 (1904), S. 401. Baader: Nürnberger Polizeiordnungen, S. 317. Fischer, Thomas: Städtische Armut und Armenfürsorge im 15. und 16. Jahrhundert. Sozialgeschichtliche Untersuchungen am Beispiel der Städte Basel, Freiburg i. Br. und Straßburg, Göttingen 1979, S. 263; Richel: Armen- und Bettelordnungen, S. 398. Schmidt: „Gott wohlgefällig und den Menschen nutzlich“, S. 65 ff. Fischer: Städtische Armut, S. 157 f. Ebenda, S. 263.
4.1 Die Reform der Armenpflege
201
Schenkungen und Stiftungen an die Kirche, aus der Kollekte und sonstigen Spenden. Da mit dem Geld aus dem „gemeinen Kasten“ neben der Armenfürsorge auch der Pfarrer, der Kirchendiener und die Erhaltung der Schul- und Kirchengebäude bezahlt wurde, kam häufig nicht viel bei den Armen an. Deshalb wurde im Laufe des 16. Jahrhunderts in den meisten Städten der „Armenkasten“ aus dem „gemeinen Kasten“ herausgelöst.20 Um Unterstützung zu bekommen, musste der Bedürftige in der Armenliste seiner Stadt oder Gemeinde eingetragen sein. Dies erreichte er über einen Antrag beim Stadtrat oder der sonst zuständigen Behörde, die daraufhin seine familiäre und finanzielle Situation prüfte. Wurde der Antragsteller als bedürftig anerkannt, trug man seinen Namen in die Almosenliste des Almosenschaffners (je nach Region auch Kastenmeister genannt) ein. Je nach Bewilligung erhielt der Bedürftige nun turnusweise (z. B. wöchentlich oder quartalsweise) einen bestimmten Betrag. In der Forschung wurde bis in die letzten Jahrzehnte die Ansicht vertreten, die Neuorganisation der Armenfürsorge hätte sich lediglich auf protestantische Gebiete beschränkt. Die altgläubigen Gebiete hingegen hätten an dem zuvor bestehenden System festgehalten beziehungsweise lediglich den Bettel reguliert.21 Diese Meinung wurde durch jüngere Forschungen revidiert. Zwar wird noch immer angenommen, dass das reformatorische Gedankengut einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der Neuorganisation der Armenfürsorge genommen hat, doch ist man sich weitgehend darüber einig, dass die neue Wohlfahrtspolitik konfessionsübergreifend umgesetzt wurde. Tendenzen, die private Almosenvergabe zugunsten obrigkeitlich geregelter Versorgung abzuschaffen, gab es auch in katholischen Gebieten, wobei diese Form der öffentlichen Fürsorge auf andere Weise geregelt werden musste als in den protestantischen Gebieten. Die katholischen Gebiete konnten nämlich nicht auf Vermögen aus säkularisiertem Kirchengut zurückgreifen. Trotzdem richteten auch katholische Gebiete und Städte ebenfalls eine zentralisierte Form der Armenfürsorge ein.22 Andere bevorzugten eine dezentralisierte Form, die sich aus verschiedenen Institutionen wie Bruderschaften und Pfarreien zusammensetzten und sich stark auf die Spitalfürsorge stützten.23 Bruderschaften, die mit Privatpersonen und kirchlichen Institutionen zusammenarbeiteten, um ein ausgefeiltes Wohlfahrtsprogramm einzurichten, entstammten einer Tradition des Mittelalters. Die im 16. und 17. Jahrhundert neugegründeten Organisationen waren allerdings viel spezialisierter: Neben Krankenbesuchen, dem Austeilen von Almosen bei festlichen Akten und einem ausgefeilten Vorsorgesystem für Mitbrüder – die bereits im Mittelalter existierten – richteten wohlhabendere Bruderschaften Häuser für Alte und Kranke ein und sorgten für ein christliches Begräbnis nicht nur ihrer Mitglieder, sondern auch für Arme.24 20 21 22 23 24
Jütte: Tendenzen öffentlicher Armenpflege, S. 82–85. Wagner: Armenfürsorge, S. 42. Jütte: Tendenzen öffentlicher Armenpflege, S. 84 f. Ebenda, S. 95 ff. Ebenda, S. 95.
202
4 Fürsorge
Daneben entwickelten sich im frühen 16. Jahrhundert in der Gegenreformation Hilfsvereine auf Pfarrebene, die „Armenbretter“ genannt wurden. Sie bildeten das Gegenstück zu Luthers „Gemeinem Kasten“, indem sie als Sammelstelle freiwilliger Almosen, der Pfarrkollekte und Hinterlassenschaften von Gemeindemitgliedern fungierten. Das Geld wurde durch Bruderschaften, Kirchenvorstände oder andere Gruppen an die würdigen Armen des Pfarrsprengels verteilt.25 Die Menge der regelmäßig oder gelegentlich ausgeteilten Güter variierte zum Teil beträchtlich.26 Die Hospitäler blieben als eine Art der geschlossenen Armenfürsorge in protestantischen wie katholischen Gebieten weiterhin als eigenständige Institutionen bestehen, obwohl protestantische Städte und Obrigkeiten versuchten, sie in die allgemeine Versorgung mit einzubinden.27 Sie waren seit dem Beginn der Frühen Neuzeit meist vom Stadtrat verwaltete Institutionen, die – von Siechen- oder Blatternhäuser abgesehen – in der Regel multifunktionalen Charakter besaßen: Sie dienten in vielen Fällen als Armenanstalten, Pflege-, Waisen- und Altersheime.28 In einigen Städten waren sie der Verwaltungsund Versorgungsmittelpunkt städtischer Kranken- und Armenfürsorge.29 Sie übernahmen zum Teil auch die Funktion von Almosenausteilungsplätzen, die Geld und Brot an Stadtarme und – zum Verdruss der städtischen oder ländlichen Obrigkeit – an fremde Bettler verteilten. In manchen Hospitälern wurden Mahlzeiten für Bedürftige angeboten. Das Heilig-Geist Spital in Rothenburg zum Beispiel brachte Kranken die Speisen sogar in die Wohnung. Andere Hospitäler stellten neben Plätzen im Spital sogenannte „äußere Pfründen“ zur Verfügung, bei denen die Betroffenen regelmäßig Geld und Naturalien erhielten, damit sie ihren Lebensunterhalt im eigenen Heim bestreiten konnten.30 Obwohl die Spitäler in der Regel eigenständige Institutionen blieben, in die nur bestimmte Bedürftige aufgenommen wurden, waren sie in den meisten Städten und Gemeinden eng mit der öffentlichen Armenfürsorge verwoben. Aus dem Vermögen der Hospitäler wurde in Einzelfällen Ausgaben der öffentlichen Armenfürsorge bezahlt. Umgekehrt zahlte man aus dem Almosenkasten in einigen Fällen die Unterbringungs- und Verpflegungskosten für einen Bedürftigen im Hospital. Abhängig war diese Verzahnung von der indi-
25 Ebenda, S. 97 26 Jütte: Obrigkeitliche Armenfürsorge in deutschen Reichstädten der Frühen Neuzeit. 27 Hatje, Frank: Institutionen der Armen-, Kranken- und Daseinsfürsorge im nördlichen Deutschland (1500–1800), in: Martin Scheutz/Andrea Sommerlechner/Herwig Weigl/ Alfred Stefan Weiß (Hg): Europäisches Spitalwesen. Institutionelle Fürsorge in Mittelalter und Früher Neuzeit, Wien/München 2008, S. 316 f. 28 Scheutz, Martin/Weiß, Alfred Stefan: Spitäler im bayerischen und österreichischem Raum in der Frühen Neuzeit (bis 1800), in: Martin Scheutz/Andrea Sommerlechner/ Herwig Weigl/Alfred Stefan Weiß (Hg): Europäisches Spitalwesen. Institutionelle Fürsorge in Mittelalter und Früher Neuzeit, Wien/München 2008, S. 185–229, hier S. 188 ff. 29 Kinzelbach: Gesundbleiben, Krankwerden, Arm sein, S. 323–389. 30 Scheutz/Weiß: Spitäler im bayerischen und österreichischem Raum, S. 211 f.
4.2 Landgrafschaft Hessen-Kassel
203
viduellen Regelung der einzelnen Städte und Gemeinde, die gleichzeitig die Aufnahmebedingungen für die Armenlisten und die Hospitäler festlegten. Da die Fürsorge in einzelnen Regionen des Alten Reichs sehr unterschiedlich organisiert war, fällt es schwer, allgemeingültige Aussagen über die obrigkeitliche Armenfürsorge zu treffen. Noch schwieriger ist zu ergründen, inwieweit die Fürsorge Epileptiker in dieses System einbezog. Daher sollen im Anschluss drei Beispiele einen detaillierten Einblick in die Fürsorgesituation von Epileptikern in Abhängigkeit vom Territorium, in dem sie lebten, geben. Ausgewählt wurden die Landgrafschaft Hessen-Kassel, das Hochstift Würzburg und die Grafschaft Saarbrücken. Die ersten beiden wurden aufgrund der überaus gut erschlossenen Quellen und zur Gegenüberstellung eines protestantischen und eines katholischen Gebietes gewählt. Die Grafschaft Saarbrücken wurde als „Kontrollgruppe“ gewählt, um eine Vergleichsgrundlage zu erarbeiten und um ein kleineres, finanzschwaches Territorium in die Untersuchung mit einzubeziehen. 4.2 Landgrafschaft Hessen-Kassel Hintergründe Mit der Zuwendung Landgraf Philipps (1504–1567) zur Reformation 1524, begann in der Landgrafschaft Hessen-Kassel eine Zeit des Umbruchs, die die Neuorganisation der Armenfürsorge in der Grafschaft entscheidend beeinflusste. Durch die Säkularisierung und Sequestrierung der Klöster wurden Ressourcen für eine neue Strukturierung der Armenpflege frei. Bereits 1525 trug die Stadt Marburg Landgraf Philipp die Bitte vor, die Einkünfte von Bruderschaften und Spenden in einen geeinten Kasten legen zu dürfen, um „hausarme“ Personen versorgen zu können. Philipp griff diese Bitte, die ganz dem zeitgenössischen reformatorischen Gedankengut entsprach, auf und erteilte 1527 die Anweisung, die kirchlichen Einnahmen in den Dörfern und Flecken für die Armen zu verwenden und geeignete Personen als Armenpfleger und Spitalverwalter einsetzten zu lassen.31 Einen ersten vorläufigen Abschluss fand diese Entwicklung in der neuen Kastenordnung von 1530, die genaue Vorgaben bezüglich des Aufbaus und der Verwaltung des Kastens machte.32 In ihr wurde der örtliche Pfarrer zum obersten Kastenmeister bestimmt, der gemeinsam mit dem Schultheiß und Rentmeister den Kastenmeister wählen sollte. Rentmeister und Schultheiß fungierten darüber hinaus als Kontrollinstanzen gegenüber dem Kastenmeister und wohnten der Aufschließung des Kastens und der jährlichen Abrechnung bei, die versiegelt an die Marburger Kanzlei geschickt werden sollte. 31
Heinemeyer, Walter: Armen- und Krankenfürsorge in der hessischen Reformation, in: Derselbe: 450 Jahre Psychiatriegeschichte in Hessen, Marburg 1983, S. 1–20, hier S. 5. 32 Sohm, Walter: Territorium und Reformation in der hessischen Geschichte 1526–1555, 2. Auflage, Marburg 1957, S. 60 ff.
204
4 Fürsorge
Eine weitere Kontrollinstanz wurde durch die Visitation fürstlicher Räte alle drei bis vier Jahre hinzugefügt, die die von den Kastenmeistern angelegten Zinsregister prüften. In den Kasten sollten neben den Geldern der Bruderschaften und Spenden von Priestern auch Gelder vom Stadtrat und aus dem Hospitalzins fließen. Außerdem sollte der Kastenmeister jeden Sonntag vor der Kirche Almosen für den Gemeinen Kasten sammeln.33 Aus dem Kasten sollten neben dem Prediger und Vorstand der Gemeinde „[…] alle arme, kranke und gebrechliche leut, so an einem itzlichen ort sein […]“34 versorgt werden. Für die Registrierung der Armen auf Armenlisten waren der Pfarrer und der Kastenmeister zuständig, die auf landgräflichen Befehl die Umgebung visitieren und alle Armen und Bedürftigen notieren sollten: „Item der pfarern soll mit den kastenmeistern in der stadt, flecken odir dorfes umbhergehen und sehen helfen, wo arme leute wern, die alters odir krankhait halben sich nit erneren konnten, daß man denselben aus dem kasten gebe eine zimliche steuer alle wochen.“35 In diesen Registern sollte die Höhe der Zuwendung notiert werden, das heißt, wie viel Geld oder Naturalien der jeweilige Bedürftige bekam. Sie sollten der jeweiligen städtischen oder dörflichen Obrigkeit zugestellt werden, welche die Bedürftigkeit und Frömmigkeit der Almosenempfänger überprüfen sollte.36 Im Zuge der Neuregelung des Armenwesens ließ Philipp ab 1531 Visitationen der Armenkästen und Hospitäler im Fürstentum durch den Hofprediger Adam Krafft und den Hauptmann Heinz von Lüder durchführen, da er beabsichtigte, das Hospitalwesen neu zu regeln. Die Visitatoren erließen im Rahmen dieser Begutachtungen neue Spitalordnungen, die vom Fürsten geprüft und besiegelt wurden. Dadurch geriet das städtische Spitalwesen – ohne den geringsten Widerstand – unter fürstliche Aufsicht. Die Hospitäler wurden dem gemeinen Kasten als übergeordneter Einrichtung zugewiesen. So wurde beispielsweise in der Spitalordnung von Gudenberg aus dem Jahr 1531 festgelegt alle geistlichen Lehen der Stadt im Spital- und Gemeindekasten zu vereinen.37 Im Rahmen dieser Visitation zeigte sich, dass die ländlichen Gebiete Hessen-Kassels in der Versorgung Armer und Kranker deutlich schlechter gestellt waren als die Städte. Es gab keine Bruderschaften und Kalanden auf den Dörfern, die eingenommen Spenden und Seelgerätschaften waren gering und Hospitäler, die die Armenfürsorge hätten stützen können, existierten fast nicht.38 Die Aufgaben der Spitäler hatten auf dem Land bis zur Reformation vorwiegend Feldklöster erfüllt, die Krankenstuben unterhielten und Arme un33 34 35 36
Sehling: Die Evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, Bd. 8, S. 68 f. Ebenda, S. 68 f. Ebenda, S. 69. Sohm: Territorium und Reformation, S. 65 ff.; Sehling: Evangelische Kirchenordnungen, S. 68 f. 37 Ebenda, S. 96–99; Heinemeyer: Armen- und Krankenfürsorge, S. 14. 38 Sohm: Territorium und Reformation, S. 15 f.
4.2 Landgrafschaft Hessen-Kassel
205
terstützten. Mit der von Philipp 1527 angeordneten Auflösung der Klosterkonvente brach damit für die ländliche Bevölkerung ein wichtiger Zweig der Kranken- und Armenfürsorge zusammen. Deshalb und aufgrund des Drucks durch die Reformationsgegner, die eine Rechtfertigung der Auflösung der Klosterkonvente verlangten, gründete er zum Ausgleich für die ländliche Bevölkerung die Hohen Hessischen Hospitäler.39 1533 waren die ersten beiden Hospitäler Haina bei Marburg und Merxhausen bei Kassel gegründet worden. Ihnen folgten 1535 das Hospital Hofheim bei Darmstadt, das heute als Philippshospital bekannt ist, und 1542 das Hospital Gronau bei St. Goar, das im Dreißigjährigen Krieg zerstört wurde.40 Haina und Gronau sollten nur Männer, Merxhausen und Hofheim nur Frauen aufnehmen. Nach der Zerstörung Gronaus übernahm Hofheim eine Doppelfunktion, wobei immer mehr Frauen als Männer aufgenommen wurden, weil es in seiner ursprünglichen Funktion ein reines Frauenhospital gewesen war.41 Die Hospitäler deckten zugleich unterschiedliche Gebiete ab; Haina und Merxhausen waren zur Versorgung der Bevölkerung in der Altgrafschaft Hessen gedacht, d. h. für das Gebiet um Marburg, Gießen und Kassel, während Hofheim und Gronau die südliche Grafschaft Katzenelnbogen um Darmstadt und St. Goar versorgten.42 Durch die Einrichtung der Hospitäler in ehemaligen Klosterkonventen konnten diese sich durch die dazugehörigen Ländereien und die daran geknüpften Pachtzinsen weitgehend selbst versorgen und erreichten auch eine weit größere Aufnahmekapazität als städtische Hospitäler, die häufig mit Platz- und Geldmangel zu kämpfen hatten. In den Hospitälern konnten jeweils zwischen 100 bis 300 Personen aufgenommen werden. Die Aufnahmezahlen der einzelnen Hospitäler schwankten im Laufe der Zeit allerdings beträchtlich. Mitte des 16. Jahrhunderts boten die vier Hospitäler zusammen Platz für insgesamt 1000 Patienten: Davon fanden jeweils 200 bis 300 Patienten Platz in Haina und Merxhausen, während das Hospital Hofheim zu seiner Gründungszeit etwa 100 Patienten und bis zum Dreißigjährigen Krieg etwa 300 beherbergen konnte. Die Hospitäler blieben von den kriegerischen Auseinandersetzungen des Dreißigjährigen Krieges nicht unberührt. Die Anzahl an Patienten verringerte sich in Kriegszeiten immer sehr stark; so waren beispielsweise nach dem Dreißigjährigen Krieg 1641 nur noch 24 arme Männer in Haina. Nach 1700 nahmen die Patientenaufnahmen wieder stark zu und 39 Vanja, Christina: Die Neuordnung der Armen- und Krankenfürsorge in Hessen, in: Inge Auerbach (Hg.): Reformation und Landesherrschaft. Vorträge des Kongresses anlässlich des 500. Geburtstages des Landgrafen Philip des Großmütigen von Hessen vom 10.–13. November 2004 in Marburg, Marburg 2005, S. 140 f. 40 Vanja: Die Stiftung der Hohen Hospitäler zwischen Mittelalter und Neuzeit, S. 20. 41 Vanja, Christina: Zwischen Armenfürsorge und Heilkunde, Tradition und Wandel – Das Landeshospital Hofheim, in: Irmtraut Sahmland/Sabine Trosse/Christina Vanja u. a. (Hg): „Haltestation Phillipshospital“. Ein psychiatrisches Zentrum – Kontinuität und Wandel 1535–1904–2004, (= Historische Schriftenreihe des Landeswohlfahtsverband Hessen, Quellen und Studien Bd. 10), Marburg 2004, S. 46–64, hier S. 50. 42 Vanja: Die Stiftung der Hohen Hospitäler, S. 19.
206
4 Fürsorge
erreichten die Zahlen des 16. Jahrhunderts. Ende des 18. Jahrhunderts war die Zahl der Patienten in Haina sogar auf 400 angestiegen, so dass in zeitgenössischen Quellen die starke Beengtheit der Patienten beklagt wurde; einige Betten mussten aus Platzgründen sogar in den Kreuzgängen aufgestellt werden. Mit den steigenden Aufnahmezahlen stieg auch die Zahl derer, die nicht sofort in das Hospital aufgenommen werden konnten. Im Jahr 1750 zählte die Warteliste etwa 160 Personen.43 In welchem Maße Epileptiker nun in die einzelnen Institutionen der Armenfürsorge eingebunden waren, lässt sich nur teilweise nachvollziehen. Während die Überlieferung und die Quellenerschließung bezüglich der Hohen Hessischen Hospitäler außerordentlich gut sind, existieren nur wenige Unterlagen, die Aufschluss darüber geben, wie stark Epileptiker in die offene Armenfürsorge aus den Gemeinen Kästen eingebunden waren. Auf der Grundlage der erhaltenen Almosenrechnungen,44 lässt sich nicht viel über die Regelmäßigkeit der Versorgung von Epileptikern sagen, da in diesen Rechnungen zwar die Namen der Almosenempfänger und die Höhe des Almosens notiert, aber die Aufnahmegründe nicht angegeben wurden. War in den Listen doch einmal eine Begründung vermerkt, handelte es sich um allgemeine Umschreibungen wie „kränklich“ oder „gebrechlich“. Auch die Häufigkeit der Aufnahme von Epileptikern in städtische Hospitälern lässt sich nicht klären, da die Akten der Spitäler bei weitem nicht so gut erschlossen sind wie die der Hohen Hessischen Hospitäler. Dagegen erlaubt die Quellenlage zur Aufnahmepraxis der Hessischen Hohen Hospitälern Aussagen über die Aufnahme, Unterbringung und Versorgung von Epileptikern in einem multifunktionalen Hospital, weshalb diese Aspekte im Folgenden genauer untersucht werden sollen. Die Hohen Hessischen Hospitäler Aufnahme In den Hohen Hessischen Hospitälern wurden nach den Bestimmungen der Stiftungsurkunde alle kranken und gebrechlichen Armen aufgenommen, die nicht mehr in der Lage waren, sich selbst zu versorgen und deren Familie diese Aufgabe nicht übernehmen konnte. Dementsprechend finden sich in den Aufnahmeakten der Hospitäler Haina und Merxhausen sowohl Patienten mit Körperbehinderungen als auch solche mit Geistes- und Sinnesbehinderungen; beispielsweise Blinde, Taube, Gelähmte, geistig Behinderte und Geistesgestörte. Von den Aufnahmebedingungen und dem Aufnahmespektrum 43 Vanja, Christina: Leben und Arbeiten im Hospital Haina um 1750, in: Arnd Friedrich/ Fritz Heinrich/Christiane Holm (Hg.): Johann Henrich Wilhelm Tischbein (1751–1829). Das Werk des Goethe Malers zwischen Kunst, Wissenschaft und Alltagskultur, Petersberg 2001, S. 33–45, hier S. 34 f. 44 Auszugsweise wurden die Armenlisten von Marburg und Amöneburg durchgesehen: StaM, 330 Marburg B Nr. 850, 866–868; 330 Amöneburg Nr. B 1794/1796.
4.2 Landgrafschaft Hessen-Kassel
207
unterschieden sich die Hessischen Hohen Hospitäler also nicht von anderen multifunktionalen Hospitälern der Frühen Neuzeit.45 Für die beiden Hohen Hospitäler Haina und Merxhausen liegen durch die Auswertung von Küchenrechnungen und einer Aufarbeitung der Suppliken in mehreren Datenbanken,46 solide Zahlen über die Aufnahme von Patienten und deren Erkrankungen vor. In Haina und Merxhausen wurden im Zeitraum von 1535 bis 1810 ca. 4000 Patienten aufgenommen, davon etwa 472 Epileptiker (206 Frauen und 266 Männer). Beim Vergleich der Aufnahmezahlen von Epileptikern mit denen Körper- und Sinnesbehinderter zeigte sich, dass beide Gruppen etwa gleich häufig aufgenommen wurden. Epileptiker nahmen also keinen Sonderstatus ein, wie dies bei Geisteskranken der Fall war, die im Vergleich zu den übrigen Kranken weit häufiger aufgenommen wurden. Dagegen fiel auf, dass Epileptikern in der Art der Aufnahme durchaus eine gewisse Sonderstellung zugesprochen wurde. Im Fall eines positiven Aufnahmebescheids schloss der Landesherr das Verfahren durch die Ausstellung eines Aufnahmereskripts ab. Auf diesem wurde zugleich festgelegt, ob der Erkrankte „extra ordinem“, also unmittelbar, oder „secundum ordinem“ und damit erst nach Freiwerden eines Platzes im Hospital aufgenommen werden sollte. Diese Entscheidung richtete sich nach dem Schweregrad der Erkrankung, und Aufnahmen extra ordinem wurden in der Regel nur „rasenden“ Geisteskranken und besonders schwer körperlich Erkrankten bewilligt. Bei der Untersuchung der Aufnahmeakten von Epileptikern zeigte sich, dass Epileptiker häufig extra ordinem aufgenommen wurden, obwohl dies aufgrund der großen Datenlücken relativ betrachtet werden muss. Zu 202 von 472 Fällen, also zu knapp 43 %, lassen sich keine Angaben machen. In den folgenden Angaben, die sich auf den Vergleich zu den 270 Fällen mit überlieferten Angaben beziehen, muss also ein recht hoher Unsicherheitsfaktor mitgedacht und die Zahlen als Trendangaben verstanden werden. Von den 270 in die folgende Analyse einbezogenen Epileptikern wurden immerhin 128 extra ordinem (47 %) und 144 secundum ordinem (53 %) aufgenommen. Allerdings dürfen diese Zahlen nicht überbewertet werden. Angesichts der sonst seltenen Bewilligungen von Aufnahmen extra ordinem durch den Landesherren, ist davon auszugehen, dass sich hinter den unbekannten Fällen vermutlich mehr Aufnahmen secundum ordinem als extra ordinem verbergen. Die Zahl der Aufnahmen extra ordinem erscheint trotz des genannten Unsicherheitsfaktors sehr hoch und lässt eine Sonderstellung von Epileptikern vermuten; ähnlich dem Geisteskranker, wie dies bereits von Christina Vanja und Eric Midlefort festgestellt wurde.47 Bei genauerer Betrachtung zeigt sich 45 Matheus, Michael (Hg.): Funktions- und Strukturwandel spätmittelalterlicher Hospitäler im europäischen Vergleich (= Geschichtliche Landeskunde, Bd. 56), Stuttgart 2005. 46 Ich möchte mich sehr herzlich bei Prof. Dr. Christina Vanja für die Möglichkeit bedanken, die beiden Datenbanken des Archivs des Landeswohlfahrtsverbands Hessen Hospia und LARS zu nutzen. 47 Vanja: Waren die Hexen gemütskrank?, S. 190. Midelfort: A History of Madness, S. 357– 365.
208
4 Fürsorge
jedoch, dass nur bei speziellen Fällen der Fallsucht eine solche unmittelbare Aufnahme bewilligt wurde. Es wurden nämlich die Personen unmittelbar aufgenommen, bei denen die epileptischen Anfälle mit einer akuten Geistesstörung, mit Raserei oder Tobsucht einhergingen und die deshalb eine konkrete Gefährdung der Familie und der Umgebung darstellten. Diese Fälle wurden vom Landesherren in der gleichen Weise behandelt wie die Fälle reiner gefährlicher Geistesstörungen. Daneben spielten in gewissem Maße auch andere geistige Erkrankungen eine Rolle. So wurde Epileptikern, die an einer Form geistiger Retardierung oder einer weniger gefährlichen Form von Verwirrung litten, ebenfalls häufiger eine Aufnahme extra ordinem als secundum ordinem zugestanden.48 In diesen Gesuchen scheint die Darstellung der akut benötigten Aufsicht ausschlaggebend für die besondere Form der Aufnahme gewesen zu sein, weil angenommen wurde, die Patienten könnten durch ihre Verstandesschwäche in Notsituationen geraten oder würden das öffentliche Leben durch ihr unsinniges Verhalten stören. Nur in 23 Fällen (18 %) wurde dagegen einer unmittelbaren Aufnahme zugestimmt, wenn der Betroffene lediglich an einer besonders starken Epilepsie litt. In diesen wenigen Fällen scheinen die Schilderung besonderer Umstände und/oder das Fehlen von Angehörigen als Begründung entscheidend gewesen zu sein. Als Beispiel sei hier der Fall Johann Henrich Richards angeführt, dessen Situation sich folgendermaßen darstellte: Wegen seiner extrem häufigen Anfälle, aufgrund derer er dringend Aufsicht benötigte, war er im Gefangenenhaus des Amtes Neunkirchen untergebracht worden. Als eine Besserung seines Zustandes immer unwahrscheinlicher wurde, wandte sich die Leitung des Gefangenenhauses persönlich an den Landesherren und bat um die Aufnahme Henrich Richards im Hospital Haina mit der Begründung, dieser könne nicht länger im Gefangenenhaus bleiben, weil er die Gefangenen störe und man ihn unter ständiger Aufsicht halten müsse. Da er aber „incurabel“ sei, wisse man nicht, wohin er außer nach Haina gehen könne.49 Im Fall des Bechtolf Wendel wurde die Aufnahme extra ordinem im zweiten Anlauf anscheinend gewährt, weil der Onkel des Erkrankten schilderte, dessen Stiefmutter könne den Handwerksbetrieb ihres verstorbenen Mannes nicht weiterführen, weil ihr wegen der Anfälle ihres Stiefsohns die Gesellen davonliefen: „[…] kann sie ihres Stiefsohnes wegen keinen Gesellen behalten, weilen sich diese aus Abscheu vor dessen Krankheit immer wieder wegbegeben.“50 Die Annahme, bei einfacher Epilepsie könne nur die Schilderung besonderer Umstände eine unmittelbare Aufnahme bewirken, bestätigt 48 Die Suppliken der 128 extra ordinem Aufnahmen wurden auf Erzählmuster untersucht. Dabei zeigte sich, dass im Großteil der Fälle (65; 50,8 %) Epilepsie verbunden mit gefährlicher Raserei als Aufnahmebegründung genannt wurde. In 28 Fällen (21,9 %) wurde zwar weder eine Gefahr noch Raserei hervorgehoben, aber dennoch eine mit der Epilepsie verbundene Geistesschwäche genannt. In 9 Fällen (7 %) war keine eindeutige Zuordnung zu den genannten Kategorien möglich. 49 LWV-Archiv, Best. 13, Reskript 02.07.1786. 50 LWV-Archiv, Best. 13, Reskript 31.03.1792.
4.2 Landgrafschaft Hessen-Kassel
209
sich in den Fällen, in denen erst nach dem zweiten Gesuch einer solchen Aufnahme zugestimmt wurde. Während in dem ersten Gesuch noch Fallsucht mit damit verbundener Armut und Arbeitsunfähigkeit dargestellt wurde, wurde in diesen zweiten Anträgen mehrheitlich eine Verschlimmerung entweder der Krankheits- oder der Familiensituation beschrieben. Frauen wurden prozentual seltener extra ordinem aufgenommen als Männer. Während 89 Männer (69,5 %) extra ordinem aufgenommen wurden, belief sich die Zahl der Frauen auf gerade einmal 39 (30,5 %). Bei der secundum ordinem Aufnahme war das Geschlechter-Verhältnis mit 74 Männern (51,4 %) zu 70 Frauen (48,6 %) sehr viel ausgeglichener. Bei der Untersuchung der Bittschriften von Frauen, denen vom Landesherren eine Aufnahme extra ordinem bewilligt wurde, fiel auf, dass „Raserei“ oder „Tobsucht“ und die damit verbundene Gefahr sehr viel seltener als Aufnahmebegründung genannt wurde als in den vergleichbaren Bittschriften für Männer. Überhaupt fiel beim Lesen der Quellen auf, dass bei den Frauen sehr viel seltener als bei den Männern von der Gefahr gesprochen wurde, die durch die geistige Verwirrung der Kranken bestand.51 Gleichrangig neben der Raserei spielten in diesen Bittschriften die Häufigkeit und der Schweregrad der epileptischen Anfälle eine wichtige Rolle.52 Der auffallende Unterschied der Aufnahme extra ordinem zwischen Frauen und Männern lässt sich abschließend kaum erklären. Möglicherweise galten Frauen in ihrer „Raserei“ als beherrschbarer, weil sie körperlich einfacher zu bändigen waren als Männer.53 Deshalb wurden womöglich generell weniger Gesuche in diesen Fällen eingereicht oder aber diese Gesuche wurden vom Landesherren häufiger abgelehnt. Diese These muss aufgrund der Quellenlage allerdings spekulativ bleiben. Es scheint also, eine Aufnahme extra ordinem wurde hauptsächlich dann gestattet, wenn eine besondere Belastung der Familie vorlag. Dabei wurde die Gefahr, die von dem Patienten ausging, als besonders schwerwiegender Grund für die Aufnahme gewertet. Im Gegensatz dazu stehen in den Gesuchen, deren Aufnahme secundum ordinem bewilligt wurden, die Schilderung der Armut, der Arbeitsunfähigkeit und der mangelnden Versorgung der Betroffenen im Mittelpunkt, sogar wenn mit der Epilepsie eine geistige Erkrankung verbunden war. Von 144 secundum ordinem Fällen lässt sich dieses Begründungsmuster in 110 Suppliken (76,5 %) finden. In ganz wenigen Fällen (18; 12 %) wurde trotz der Nennung von Raserei und Geistesschwäche vom Landesherrn trotzdem nur eine Aufnahme secundum ordinem bewilligt. Eine einfache Epilepsie wurde von den 51
Von den in Fußnote 48, S. 208 erwähnten 65 Fällen, in denen gefährliche Raserei als Aufnahmebegründung genannt wurden, entfielen 52 auf Männer (80 %) und nur 13 auf Frauen (20 %). Dies waren auch die einzigen Suppliken, in denen von den Frauen als Gefahr gesprochen wurde. 52 Bei den Frauen spielte die Beschreibung einer starken Epilepsie in 14 Fällen (61 %) eine Rolle bei der Entscheidung, sie extra ordinem aufzunehmen. Zum Vergleich: Bei den Männern waren es gerade einmal 9 (39 %). 53 Vanja: Waren die Hexen gemütskrank?, S. 190.
210
4 Fürsorge
Angehörigen als eine körperliche Erkrankung begriffen, die in erster Linie zu einem sozialen Notstand führte, und sie wurde dementsprechend in den Suppliken dargestellt. Von den Mitgliedern der Hospitalkommission wurde sie ebenfalls wie andere körperliche Gebrechen behandelt. Erst wenn sich ein Fall als besonders schwerwiegend darstellte, wurde einer unmittelbaren Aufnahme zugestimmt. In diesen Fällen wurde die Epilepsie mit einer aus ihr resultierenden Geistesstörung in Verbindung gebracht und dann auch wie eine solche behandelt. Die besonders schnelle und unbürokratische Art der Aufnahme bei Geisteskrankheit in Haina und Merxhausen hat schon H.C. Erik Midelfort in seiner Untersuchung Wahnsinniger herausgestellt.54 Das Gros der Bittsteller – soweit sich das aus dem lückenhaften Datenmaterial sagen lässt – war zum Zeitpunkt der Antragstellung zwischen 17 und 39 Jahre alt. Da das Material lückenhaft ist, wurden für die folgenden Auswertung nur die 215 Fälle (45,6 %) mit kompletten Daten berücksichtigt. Bei 257 Fällen (54,4 %) ist nicht bekannt, wie alt die Betroffenen zum Zeitpunkt der Antragstellung waren. Die dargestellten Zahlen sind daher nur bedingt repräsentativ, lassen aber einen Trend erkennen. 69,8 % der Epileptiker waren zum Zeitpunkt der Antragstellung zwischen 17 und 39 Jahre alt, für sie wurden 150 von 215 Aufnahmebitten gestellt. Dabei lag der Schwerpunkt mit 88 zu 62 Bitten auf der Gruppe der 20- bis 29-Jährigen. Die Gruppe der 17- bis 19-Jährigen machte 24 Bitten, die der 30- bis 39-Jährigen 38 Bitten aus. 17 Bitten (7,9 %) sind für die Gruppe der Unter-17-Jährigen, davon nur 7 (3,3 %) für Unter-10-Jährige, überliefert. 41 Bitten (19,1 %) entfallen auf die Gruppe der Epileptiker ab 40 Jahre, wobei nur 17 (7,9 %) von Epileptikern ab 50 Jahre gestellt wurden. Die relativ geringe Anzahl der aufgenommen Kinder55 lässt sich aus der Tatsache erklären, dass die Hohen Hessischen Hospitäler nicht für Kinder gedacht waren. Allerdings konnte Christina Vanja in ihrer Studie über die Aufnahme von Kindern nachweisen, dass fallsüchtige und geistigbehinderte Kinder überproportional häufig im Vergleich zu anderen Krankengruppen aufgenommen wurden.56 Damit muss die hier angegebene Zahl schon als recht hoch begriffen werden. Da nur die Suppliken aufgenommener Kranker überliefert sind, lässt sich nicht mit Sicherheit klären, ob alle Gesuche für epilepsiekranke Kinder bewilligt wurden oder ob sehr viel mehr Aufnahmegesuche gestellt, aber nur die schwersten Fällen bewilligt wurden. Es ist jedoch wahrscheinlicher, dass insgesamt weniger Suppliken zur Aufnahme von Kindern geschrieben wurden. Die Grenze zum Alter von 20 Jahren war entscheidend: Bei genauerer Untersuchung der bewilligten Suppliken fiel nämlich auf, dass die Suppliken für Unter-17-Jährige mit 24 vergleichsweise gering waren. Die Anzahl der bewilligten 54 Midelfort: A History of Madness, S. 357–365. 55 Hier als Unter-17-Jährige begriffen. 56 Vanja, Christina: Die Versorgung von Kindern und Jugendlichen in den hessischen Hohen Hospitälern der Frühen Neuzeit, in: Udo Sträter/Josef N. Neumann (Hg.): Waisenhäuser in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2003, S. 23–40, hier S. 27.
4.2 Landgrafschaft Hessen-Kassel
211
Suppliken von 17- bis 20-Jährigen nimmt mit 24 Bitten stark zu und steigt in der Gruppe der 20- bis 29-Jährigen mit 88 Suppliken sprunghaft an. Die meisten Patienten der Altersgruppe um die 20 Jahre waren schon von Kindheit an epileptisch. Für sie scheint die Überschreitung der Altersgrenze zum 20. Lebensjahr deshalb so bedeutend, weil spätestens nun klar wurde, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr heilbar waren und damit nicht in der Lage, das Elternhaus zu verlassen. Die Familien mussten sich daher mit der langfristigen Versorgungsperspektive dieser jungen Erwachsenen auseinandersetzen. Dies mag ein ausschlaggebendes Momentum für ein Aufnahmegesuch gewesen sein. Der hohe Anteil seit Jugend erkrankter Epileptiker erklärt zugleich den hohen Anteil an Ledigen unter den Supplikanten.57 Wie bereits im zweiten Kapitel gezeigt werden konnte, hatten Epileptiker der Unter- und Mittelschichten, besonders schon frühzeitig Erkrankte, nur geringe Chancen auf dem Heiratsmarkt. Die drohende oder im Fall der seit Jugend erkrankten Epileptiker bestehende Arbeits- und Versorgungsunfähigkeit machten sie als Ehepartner unattraktiv. Hinzu kommt, dass die meisten in den Hessischen Hospitälern Aufgenommen an besonders schweren Formen der Epilepsie litten, die mit weiteren körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen verbunden waren. In 41 von 320 bekannten Fällen (12,8 %) beschrieben die Bittsteller tägliche Anfälle, von denen einige mehrmals täglich auftraten.58 50 weitere Bittschriften (15,5 %), in denen der Krankheitsverlauf etwas genauer beschrieben wurde, sprachen von einer über Jahre andauernden Verschlechterung des Krankheitszustandes: Die Krankheit werde „von Jahr zu Jahr schlimmer“.59 In den übrigen Bittschriften wurde die Epilepsie als sehr stark charakterisiert, zur Beschreibung wurden aber formelhafte Ausdrücke verwendet wie der Betroffene sei „mit der Epilepsie im höchsten Grade behafftet“.60 Diese lassen keine genaue Aussage über die Anfallshäufigkeit und den Verlauf der Krankheit zu. Darüber hinaus wurden in 218 von 320 überlieferten Bittgesuchen zusätzliche Erkrankungen erwähnt.61 In den Hohen Hessischen Hospitälern wurden demnach vor allem besonders schwere Fälle von Epilepsie mit der Aussicht auf lebenslange Pflege auf57
Von 376 bekannten Fällen zu 472 aufgenommenen Epileptikern, gaben 325 an, unverheiratet, 35 verheiratet und 15 verwitwet zu sein. Von 235 bekannten Fällen gaben 137 an, sie seien seit ihrer Kinder oder Jugendzeit erkrankt, während 97 angaben, sie seien im Erwachsenenalter erkrankt. In 237 Fällen gibt es keine Angaben zu diesem Aspekt. 58 Magdalena Plotzin wurde als „mit der großen schweren Krankheit von Gott täglich beladen„ beschrieben: StadtW, Archiv des Bürgerspitals, Abtheilung II (Akten), Nr.16, Aufnahmedatum 21.05.1649; Nickel Wunn schrieb in seiner Supplik, dass er einen Sohn namens Johan Peter habe, der täglich 6 bis 7-mal „falle“: StadtSB, Bestand Hospital, 24/1137, Nickel Wunn. 59 LWV-Archiv, Bestand 13, Reskript vom 30.07.1627; Reskript vom 28.09.1795; StadtSB, Bestand Hospital, Nr. 1/1089. 60 LWV-Archiv, Bestand 13, Reskript vom 14.11.1733. 61 Von diesen 218 Fällen entfielen 55 auf physische Erkrankungen und 163 auf geistige Erkrankungen bzw. geistige Behinderungen.
212
4 Fürsorge
genommen. Im Umkehrschluss lässt sich annehmen, dass nicht so schwerwiegende Fälle bedürftiger Epileptiker eher in der Familie blieben und mit Beihilfen aus dem Armenkasten rechnen konnten. Leben im Hospital Über die Räumlichkeiten und Unterbringung in den Hospitälern ist nicht allzu viel bekannt. In Haina wurden, soweit sich das nachvollziehen lässt, verschiedene Krankenstationen unterschieden und die Erkrankten in Gruppen zusammengefasst. So wurden die Bettlägerigen und die noch Arbeitsfähigkeiten in gesonderten Abteilungen untergebracht. Blinde brachte man zusammen mit Epileptikern unter und Taube mit Wahnsinnigen. Die Zusammenlegung gerade dieser Krankengruppe folgte der Strategie, dass sich die Kranken nicht gegenseitig schaden konnten; die Blinden könnten die epileptischen Anfälle der Fallsüchtigen nicht sehen und sich dadurch nicht erschrecken und die Tauben würden nicht durch die Schreie der Wahnsinnigen gestört.62 Hatte ein Erkrankter nicht nur eine Aufnahmebewilligung, sondern auch einen Platz erhalten, verbrachte er in der Regel den Rest seines Lebens im Hospital. Zwar wurden Hospitaliten, wenn sich ihre Krankheitssymptome im Hospital gebessert hatten oder sogar ganz abgeklungen waren, beurlaubt und verbrachten zumindest einige Monate oder Jahre in ihrer Heimat, doch die meisten kehrten wieder nach Haina oder Merxhausen zurück. Auch die Unterbringung in Pflegefamilien war im 18. Jahrhundert bereits bekannt. Doch die beurlaubten Hospitaliten bzw. Hospitalitinnen legten großen Wert darauf, dass ihnen ein Platz im Hospital erhalten blieb, damit sie bei einem Rückfall oder wegen Altersgebrechlichkeit zurückkehren konnten. Eine Neubewerbung wäre nämlich aufgrund der langen „Expektantenliste“ aussichtslos gewesen.63 Andere Hospitaliten verließen das Hospital nie und verbrachten dort den Großteil ihres Lebens. Der Epileptiker Christian Adler zum Beispiel war zum Zeitpunkt seiner Aufnahmebewilligung 1702 24 Jahre alt. Er war auf Bitten seines Vaters Johannes Adler aufgenommen worden, der ihn aufgrund seiner Armut nicht mehr versorgen konnte und selbst an einem „Beinschaden“ litt.64 Er lebte dort 43 Jahre und starb 68-jährig am 28. August 1745.65 Die Tatsache, dass die Angehörigen Fallsüchtiger für diese meist noch recht jungen Kranken um Aufnahme baten und diese dann über Jahrzehnte im Hospital verblieben, könnte zu dem Schluss führen, dies sei ein Akt der Abschiebung und die Hospitäler seien Verwahranstalten gewesen. Diese Annahme ist jedoch schon deshalb unbegründet, weil es vielen Bittstellern 62 Vanja: Die Stiftung der Hohen Hospitäler, S. 22. 63 Vanja, Christina: „Gleichwie ich aber eine arme wittib bin …“. Einwohner aus Crumbach und Ochsenhausen in den Hohen Hospitälern Haina und Merxhausen, in: Gemeindevorstand der Gemeinde Lohfelden (Hg.): Streifzüge durch 900 Jahre Ortsgeschichte Crumbach und Ochshausen 1102–2002, Lohfelden 2001, S. 74–79, hier S. 77. 64 LWV-Archiv, Best. 13, Reskript 11.11.1702. 65 Hecker, Horst: Achtzehn Kisten im Blockhaus. Der Hainaer Hospitalit Christian Adler aus Gilsa, in: Fankenberger Allgemeine, 23.04. 2006.
4.2 Landgrafschaft Hessen-Kassel
213
schwerfiel, ihre erkrankten Familienmitglieder ins Hospital zu geben und sie sich erst zu einer Bitte durchringen konnten, wenn eine Verschlimmerung des Krankheitszustandes eintrat, die die weitere Versorgung zu Hause unmöglich erscheinen ließ.66 Eine Aufnahme im Hospital wurde angestrebt, weil sie den Patienten die Versorgung bot, die die supplizierenden Familien aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation nicht mehr gewährleisten konnten. Gerade für die arme ländliche Bevölkerung stellten die Hospitäler eine echte Versorgungsalternative dar, denn dort erhielten die Kranken tägliche Mahlzeiten, eine Unterkunft und die nötige Bekleidung. Die Mahlzeiten in den Hospitälern richteten sich zwar an der gewohnten Kost hessischer Landleute aus, waren aber qualitativ und quantitativ bedeutend besser und wurden regelmäßiger gereicht als dies in den Dörfern üblich war.67 So wurden in Haina und Merxhausen täglich zwei Hauptmahlzeiten (eine um 9 Uhr, die andere zwischen 16 und 17 Uhr) und mittags eine Zwischenmahlzeit serviert. Zur ersten Hauptmahlzeit gab es üblicherweise eine Suppe, Fleisch oder Fisch und ein Zugemüse. Unter Zugemüse verstand man in erster Linie einen Brei aus Gerste, Grieß, Breimehl, Hirse oder Erbsen. Gemüse nach unserem heutigen Verständnis wurde auch gegessen, aber dessen Genuss war saisonal bedingt und wurde hauptsächlich in den hospitaleigenen Gärten geerntet. In den Rechnungen der Hospitäler ließen sich Samenkäufe für Möhren, Kohl (darunter auch Weißkraut, das zu Sauerkraut verarbeitet wurde), Zwiebeln, Rüben, Senf, Meerrettich und Brunnenkresse finden. Die zweite Hauptmahlzeit bestand ebenfalls aus einer Suppe, Fleisch oder Käse und einem Zugemüse. Der Käse wurde selten selbst hergestellt, sondern man kaufte Holländischen oder Friesischen Käse auf dem Markt. Zwischen den Hauptmahlzeiten wurde gegen Mittag Brot und Bier gereicht.68 Auch wenn die Quantität und Qualität der Speisen in den Hospitälern in Krisen- und Teuerungszeiten stark nachließ und sich die Kost der armen Hospitaliten im Gegensatz zu adeligen Hospitaliten, die einen eigenen Speiseplan hatten, im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts verschlechterte,69 war die Ernährung der armen Hospitaliten wesentlich besser als zu Hause. Über diese leibliche Versorgung hinaus waren die Hospitäler speziell für Epileptiker eine wichtige Versorgungsalternative, da sie hier die benötigte ständige Aufsicht erhielten: Einerseits durch die dortigen Aufwärter und deren Ehefrauen bzw. Aufwärterinnen, andererseits durch ihre Mit-Hospitaliten.
66 Sahmland, Irmtraut: „Welches ich hiermit auf begehren Pflichtmäßig attestiren soll“ – Geisteskrankheiten in Physikatsgutachten des 18. Jahrhunderts, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 25 (2006), S. 9–57, hier S. 47 f. 67 Schlieper, Edith: Die Ernährung in den Hohen Hospitälern Hessens 1549–1850 mit einigen kulturgeschichtlichen Beobachtungen, in: Walter Heinemeyer/Tilman Plünder (Hg.): 450 Jahre Psychiatrie in Hessen (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 47), Marburg 1983, S. 211–266, hier S. 216. 68 Schlieper: Ernährung in den Hohen Hospitälern. S. 215 ff. 69 Ebenda, S. 211–266.
214
4 Fürsorge
Zudem musste das Bild der Hospitäler als finsterer Verwahranstalten für ungewollte Kranke in jüngster Zeit gründlich revidiert werden.70 Entgegen den Darstellungen früherer Forschungen wurden die Kranken in den Hospitälern nämlich nicht einfach sich selbst überlassen, sondern sie wurden im Gegenteil in einen geregelten Tagesablauf integriert, der sich aus den drei Mahlzeiten, festgelegten Gebets- und Andachtszeiten sowie aus Arbeits- und Ruhephasen zusammensetzte. Die Landesspitäler basierten auf dem Grundgedanken der christlichen Diakonie, der den Lebensalltag in den Hessischen Hospitälern maßgeblich beeinflusste.71 Nicht die Therapie und Heilung der Erkrankung, sondern die leibliche Versorgung durch kostenlose Ernährung, Unterbringung und Bekleidung und ihr seelisches Wohlbefinden standen im Mittelpunkt des hospitälischen Lebens.72 In diesem Sinne erfüllten sie eher die Funktion eines Pflegeheims als eines modernen Krankenhauses. Geregelt wurde das Zusammenleben der Hospitaliten und des Dienstpersonals durch die 1534 von Heinz Lüder, dem Oberaufseher der Hohen Hessischen Hospitäler, verfasste Hospital- und Zuchtordnung. In ihr wurden sowohl die Pflichten und der tägliche Tagesablauf der Bewohner als auch die Aufgaben des Dienstpersonals festgelegt.73 Von den Hospitaliten wurde ein halbklerikales Leben verlangt: Sie sollten im Hospital ein christliches Leben nach Luthers Verständnis führen, um sich so auf ihren Tod vorbereiten zu können. Zu diesem christlichen Leben gehörte neben der religiösen Erbauung und Seelsorge auch ein geregelter Tagesablauf und Arbeit,74 die die Patienten vor sündigem Müßiggang und schlechten Gedanken schützen sollte.75 Der Tagesablauf der Hospitaliten war sehr streng geregelt. Sie mussten laut Hospitalordnung von 1534/1535 von einer durch das Dienstpersonal festgelegten Uhrzeit aufstehen,76 sich waschen und anziehen, um sich dann zur Morgenandacht zu versammeln, „[…] dorth soll man sie underweysen, wie sie Gott dancken sollen, der sie die nacht behutet hat, und eine kurze lehr geben 70
71
72 73 74 75
76
Vanja, Christina: Nur „finstere und unsaubere Clostergänge“? Die hessischen Hohen Hospitäler in der Kritik reisender Aufklärer, in: Heiner Fangerau/Karen Nolte (Hg.), „Moderne“ Anstaltspsychiatrie im 19. und 20. Jahrhundert – Legitimation und Kritik (= Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 26). Stuttgart 2006, S. 23–42. Friedrich, Arnd: Die Seelsorgeämter im Hospital Haina. Pfarrer-Lektor-Vorsänger, in: Walter Heinemeyer/Tilman Plünder (Hg.): 450 Jahre Psychiatrie in Hessen (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 47), Marburg 1983, S. 161–184, hier S. 169 f. Demandt, Karl E.: Die Anfänge der staatlichen Armen- und Elendenfürsorge in Hessen, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 30 (1980), S. 176–235, hier S. 220. Vanja: Die Neuordnung der Armen- und Krankenfürsorge in Hessen, S. 147. Friedrich: Die Seelsorgeämter im Hospital Haina, S. 172. „Darnach geb man einem jeden vermöglichen, dem alter nicht beschwerlich, ein arbeit, zu vermeyden den müßiggang, nicht umb großen nutzes willen, sondern das man dem teufel durch den müßiggank nicht raum beweise […]“, Auszug aus der Hospitalordnung von 1534/1535, abgedruckt bei Demandt: Die Anfänge der staatlichen Armen- und Elendenfürsorge in Hessen, S. 200. Ebenda, S. 200.
4.2 Landgrafschaft Hessen-Kassel
215
aus dem catechismo.“77 Danach sollte jedem der „vermöglich“ war, eine Arbeit zugewiesen werden, die er trotz seiner Erkrankung bewältigen konnte. Ziel dieser Arbeit war weniger, die Patienten zur produktiven Arbeit anzuhalten, als sie vielmehr sinnvoll zu beschäftigen.78 Gleichzeitig trugen sie zu ihrem eigenen Lebensunterhalt und der Befriedigung ihrer Bedürfnisse bei, indem sie beispielsweise Hilfsarbeiten in den Krankenstuben verrichteten. Die Männer arbeiteten in Haina daneben noch in der Schneiderei, Schusterei oder wurden in der Landwirtschaft eingesetzt, wogegen die Frauen in Merxhausen frauentypische Arbeiten wie Spinnen und das Nähen, Flicken und Waschen von Hospitalkleidung übernahmen. Auch Botengänge wurden von den Patienten übernommen.79 Durch diese Maßnahmen beteiligten sich die Insassen des Hospitals am Arbeitsprozess und der Erwirtschaftung ihres Lebensbedarfs, ohne dem Druck von Lohnarbeit ausgesetzt zu sein. Allerdings war die Arbeit für „Vermögliche“ nicht freiwillig, sondern sie mussten arbeiten, andernfalls drohte ihnen eine Strafe in Form von Essensentzug. Von der Arbeit ausgenommen waren nur diejenigen, die aufgrund ihrer Erkrankung nicht in der Lage waren zu arbeiten wie die Bettlägerigen.80 Wie aus den Unterlagen der Hohen Hessischen Hospitäler hervorgeht, wurden Epileptiker prinzipiell als arbeitsfähig eingestuft. So äußerte sich der Amtmann Fuhrhans 1793 zur Arbeitsfähigkeit des 1787 wegen Epilepsie im Hospital aufgenommenen Ludwig Löhlbach, dieser sei zur Arbeit fähig, er müsse sich nur davor hüten, in Affekt zu geraten, denn dann würde ihm unweigerlich ein epileptischer Anfall widerfahren.81 Im Gutachten eines Pfarrers zur Aufnahme der Anna Maria Schad betonte dieser, sie werde im Hospital noch zum Spinnen und dergleichen tüchtig sein.82 Welche Arbeiten darüber hinaus für Epileptiker als angemessen empfunden wurden, konnte nicht erschlossen werden. Es wurde aber darauf geachtet, Fallsüchtigen keine Arbeiten zuzuweisen, bei denen sie sich verletzten konnten. Zumindest wäre dies eine Erklärung, warum Epileptikerinnen in Merxhausen nie als Backmägde eingesetzt wurden, denn die Verletzungsgefahr durch einen Anfall in der Nähe des heißen Ofens wurde als zu hoch eingeschätzt.83 Die Arbeit wurde von der Morgenmahlzeit um 9 Uhr, nach der die Patienten eine Stunde frei hatten, in der sie ihre Kammer aufräumen und säubern konnten, und vom Vespertrank um 13 Uhr unterbrochen. Beendet wurde die Arbeit um 16 oder 17 Uhr mit der Abendmahlzeit. Nach dem Abendessen und der Danksagung hatten die Hospitaliten laut Hospitalordnung frei und 77 78 79 80 81 82 83
Ebenda, S. 200. Demandt: Die Anfänge der staatlichen Armen- und Elendenfürsorge in Hessen, S. 200 f. Midelfort: A History of Madness, S. 331 und Vanja: Homo miserabilis, S. 26. Midelfort: A History of Madness, S. 331. LWV-Archiv, Best. 13, Reskript 12.05.1787, Stellungnahme des Amtmann Fuhrhans. StaM, Bestand 229 229BIIIb, Reskript 04.03.1736 Vgl. dazu den Beitrag von Noll, Natascha: Die Arbeit von Hospitalitinnen im Hospital Merxhausen (1764–1810), in: Arnd Friedrich/Irmtraut Sahmland/Christina Vanja (Hg.): An der Wende zur Moderne. Die hessischen Hohen Hospitäler im 18. und 19. Jahrhundert, Petersberg 2008, S. 199–226, hier S. 211 f.
216
4 Fürsorge
konnten ruhen oder sonstigen Beschäftigungen nachgehen, bis sie sich zu einer festgelegten Zeit schlafen legten.84 Über die Vermeidung des Müßiggangs hinaus war dieser geregelte Tagesablauf auch unter diätetischen Gesichtspunkten im Sinne der „sex res non naturales“ nützlich; nach den aus der Antike überlieferten diätetischen Lebensregeln konnte nur ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Ruhen und Wachen, Licht und Luft, Nahrung und Ausscheidung sowie das richtige Maß an Bewegung die Voraussetzung für eine gesunde Lebensführung bilden.85 In diesem Sinne waren die Hospitäler zwar nicht unbedingt um Heilung, aber doch um eine gesunde Lebensführung ihrer Hospitaliten bemüht. In der Epilepsie-Behandlung spielten diätetische Maßnahmen schon seit der Antike eine bedeutende Rolle. Als besonders bedeutend wurden neben regelmäßigen und leicht verdaulichen Mahlzeiten ein geregelter Tagesablauf und Ruhe für den Patienten eingeschätzt, da zu große Aufregung oder ein Übermaß und ein Mangel an Schlaf, Bewegung sowie Nahrung als Auslöser von Anfällen betrachten wurden. Deshalb wurde Epileptikern geraten, in allem ein gesundes Mittelmaß zu halten, das heißt nicht zu viel und nicht zu wenig Schlaf, genügend Aufenthalt an der frischen Luft – besonders Landluft – und eine gesunde Mischung aus Ruhe und Bewegung.86 Der französische Arzt Samuel Auguste André Tissot empfahl in seinem „Traité de l`épilepsie“ eine geregelte Tageseinteilung mit häufigen Spaziergängen, aber auch eine den Epileptikern angepasste Arbeit. Dabei sollte jede Arbeit vermieden werden, die zur Ansammlung von Blut und Feuchtigkeit im Kopf führe, denn diese Plethora könne Anfälle auslösen. Darum sollten sich Epileptiker nicht zu oft bücken, starke mechanische Erschütterungen und jede Form von Aufregung sowie anstrengende geistige Tätigkeiten vermeiden.87 Der geregelte Tagesablauf und die Ruhe in Haina und Merxhausen wurden für die epileptischen Patienten deshalb als besonders wirksam angesehen. So führte der Medizinische Doktor und Landphysikus Eckhardt in dem Attest eines späteren Hospitaliten zu dessen Aufnahme an, ihm könne im Hospital durch „den Gebrauch dienlicher Arzeneien und die Beobachtung eines heilsamen Verhaltens in der Diät“ geholfen werden.88 In einem Bericht von 1794 führte der Amtmann Fuhrhans die Tatsache, dass der Hospitalit Anton Simon in den letzten Jahren selten unter Anfällen gelitten hatte, auf die Ruhe und Ordnung zurück, die er im Hospital in Haina genoss.89 Obwohl nur unheilbare Patienten Aufnahme in Haina und Merxhausen finden sollten, heißt das nicht, dass die Hospitaliten und Hospitalitinnen keine medizinische Behandlung erhielten. Regelmäßiger 84 Midelfort: A History of Madness, S. 332; Demandt: Die Anfänge der staatlichen Armenund Elendenfürsorge in Hessen, S. 201. 85 Vanja: Das Nachwirken der antiken Diätetik in frühneuzeitlichen Hospitälern, S. 15–22. 86 Kutzer: Das Bild der Epilepsie, S. 115 f., S. 129 ff.; Ender: Grundlinien der diätetischen Epilepsie-Behandlung, S. 65–79. 87 Ender: Grundlinien der diätetischen Epilepsie-Behandlung, S. 71–79. 88 LWV-Archiv, Best. 13, Reskript 03.11.1760. 89 LWV-Archiv, Best. 13, Reskript 07.03.1789, Stellungnahme des Amtmannes Fuhrhans.
4.2 Landgrafschaft Hessen-Kassel
217
Aderlass wurde bis ins 18. Jahrhundert als vorsorgende gesundheitliche Maßnahme begriffen und auch bei den Hainaer und Merxhausener Patienten durchgeführt. Bei Epileptikern sollte der Aderlass der Ansammlung von Blut und Feuchtigkeit im Kopf vorbeugen und nach den Vorstellungen des 18. Jahrhunderts das Blut von schädlichen Inhaltsstoffen reinigen.90 Seit den 1720er Jahren waren Wundärzte und Feldscherer in den Hospitälern angestellt, die sowohl akute Erkrankungen behandelten als auch Heilmittel aus der eigenen Hausapotheke applizieren konnten. Für die fallsüchtigen Hospitaliten lässt sich anhand der erhaltenen Medizinalrechnungen eine breite Palette an angewandten Mitteln nachweisen. Ihnen wurden abführende Medikamente wie „pulvis laxans“, „pilulae purgans“ und Klistiere verabreicht,91 die in erster Linie prophylaktisch wirkten; durch sie sollte eine Reinigung des Körpers von schädlichen Dämpfen und Stoffen und eine regelmäßige Ausscheidung erreicht werden.92 Aber auch beruhigende Mittel wie „spiritus nervinus“ und Spasmolytika wie ein „pulvis antispasmodicum“ und ein „antispasmodicum mixtum“, die die Anfälle zumindest lindern sollten, ließen sich unter den angewandten Medikamenten finden.93 Dementsprechend erfüllten die Hohen Hessischen Hospitäler Haina und Merxhausen durchaus therapeutische Funktionen, wenn auch nicht im Sinne eines modernen Krankenhauses. Neben der therapeutischen Behandlung spielte in den Hospitälern die seelsorgerische Betreuung der Patienten eine wichtige Rolle. Das Hospital legte größten Wert auf die geistliche Erbauung der Patienten, wozu sowohl die Morgen- und Abendandacht als auch die Gebete und Lesungen vor und während den Mahlzeiten zählten. Für die Seelsorge wurde jeweils ein Pfarrer für Haina und Merxhausen eingestellt. Dieser und der ihm beigegebene Prädikant waren für die Seelsorge der Patienten zuständig. So hielt der Pfarrer die Morgen- und Abendandacht ab und feierte mit den Kranken einmal im Monat das Abendmahl, während der Prädikant – ein theologisch geschulter Laie – für die christliche Unterweisung der Hospitaliten zuständig war, d. h. er unterrichtete sie in den Glaubensgrundsätzen und im Katechismus; außerdem kümmerte er sich tagsüber um diejenigen, die nicht arbeiten konnten, indem er ihnen tröstend beistand.94 Man schätzte die enge Bindung des Pfarrers an das Hospital und die Seelsorge an den Hospitaliten sehr hoch für deren See90 Ender: Grundlinien der diätetischen Epilepsie-Behandlung, S. 47 f. 91 LWV-Archiv, Best. 13, Belege zur Jahresrechnung, Medizinalrechnung 1750. 92 Diese vorbeugende Behandlung war allerdings nicht spezifisch auf Epileptiker zugeschnitten, sondern wurde bei verschiedenen Erkrankungen eingesetzt; vgl. Aumüller, Gerhard/Rumpf-Lehmann, Barbara: Einblicke in das Krankheitsspektrum und die Verschreibungspraxis im Hospital Haina im 18. Jahrhundert – Die Medizinalrechnungen der Hospitalchirurgen, in: Arnd Friedrich/Irmtraut Sahmland/Christina Vanja: An der Wende zur Moderne. Die hessischen Hohen Hospitäler im 18. und 19. Jahrhundert, Petersberg 2008, S. 121–138; Friedrich, Christoph: Arzneimittelanwendungen im Hohen Hospital Merxhausen 1760, in: Ebenda, S. 139–162. 93 LWV-Archiv, Best. 13, Belege zur Jahresrechnung, Medizinalrechnung 1750, z. B. bei Jacob Mengel 1750. 94 Friedrich: Die Seelsorgeämter im Hospital Haina, S. 171.
218
4 Fürsorge
lenheil und seelisches Gleichgewicht ein.95 Aus diesem Grund wurde großer Wert auf eine sehr sorgfältige Auswahl der Pfarrer gelegt. Die seelsorgerische Tätigkeit in den Hospitälern war nicht immer ganz einfach, und die seelischen Belastungen, die durch die Arbeit mit den chronisch Kranken entstanden, zehrten an den Kräften. Vom Beginn des 17. Jahrhunderts ist dazu eine prägnante Stellungnahme des Pfarrers Magister David Strumpffius überliefert, der eine erneute Annahme des Amtes als Prediger in Haina 1625 mit folgender Begründung ablehnte: Nunmehr zu meinem alter kommen und 50 jar überschritten, bin ich auch durch vilgehapte Mühe und ausgestandene schwachheiten […], so ich in meiner jugent im Hospital Heina bei wansinnigen, beseßenen und mit schwerer noth beladenen armen leuthen, deren etliche in iren paroxismis ich in armen gehalten und nit fallen lassen, erlitten und gleich als in mein glieder hinenempfangen, in Mattigkeit und Verlust meiner Kräfte gerathen […] und fühle mich untüchtig, die schwere last des predigtamtes im Hospithal zu tragen, dazu frische und Starcke personen gehören, zu allerlei arbeit und bosen geruch, in unreinn gemachen und bei allerhand armen gebrechlichen leuthen […] geschickt und tüchtig.96
Demnach zählte nicht nur die religiöse Betreuung und Unterweisung zu den Aufgaben des Pfarrers und seiner Mitarbeiter, sondern auch die seelische Unterstützung der Patienten, auch während ihrer Anfälle. Das Leben in den Hospitälern war von der Außenwelt abgeschottet. Regelmäßige Besuche waren nicht vorgesehen; in einer im 16. Jahrhundert entstandenen Disziplinarordnung für die Patientinnen in Merxhausen wurde verfügt: „Kompt jemandes ein freunde, soll er vor der pforten bleiben und soll zue ihm hinauskommen und also sein noth mit ihm reden, so ers begehrt, bier, brod oder ein suppen handtreichen.“.97 Besuche waren prinzipiell erlaubt, doch wurden sie durch diese Verordnung sicherlich nicht zu einer festen Institution. Außerdem galt eine Art Ausgehverbot. Den Hospitaliten war es nicht gestattet, ohne Genehmigung das Hospital zu verlassen, um beispielsweise in die Stadt oder in das Dorf zu gehen. Diese Regelung hatte zum Ziel, die Patienten vor leichtfertigem und sündhaftem Verhalten zu bewahren. In der bereits erwähnten Disziplinarordnung wurde deshalb die Regel erlassen, dass „[…] kein arme spitalsperson ohne ursach und verleubnus vor die pforten gehen, desgleichen auch nicht zu kirmeß noch hochzeiten und aller leichtfertigkeiten sich zu enthalten.“98 Diese Regelungen führten dazu, dass besonders Bettlägerige ein von der Außenwelt nahezu abgeschottetes Leben führten. Doch diejenigen, die noch zum Gehen in der Lage waren, scheinen sich nicht immer an diese Regel gehalten zu haben. 1573 beklagte sich der Hospitalleiter von Haina, Reinhard Schenck zu Schweinsberg, dass einige der Patienten in alle Arten von Kommerz und Handel, sogar am Sonntag, eingebunden seien und dass sie wö95 Ebenda, S. 173. 96 StaM 22b, Pak. 43, Hütteroth 1, S. 104; Zuerst zitiert bei Friedrich: Die Seelsorgeämter im Hospital Haina, S. 173. 97 Demandt: Die Anfänge der staatlichen Armen- und Elendenfürsorge in Hessen, S. 207. 98 Ebenda, S. 207.
4.3 Hochstift Würzburg
219
chentlich ins Dorf gingen, um an Hochzeiten und sonstigen gesellschaftlichen Ereignissen teilzunehmen, sich dort zum Teil sinnlos betranken und sich unmoralisch verhielten. Er sah dies als einen Missbrauch der Almosen an, der Unmut unter den Dorfbewohnern hervorriefe und einen schlechten Ruf für das Hospital bedeute. Zwar gab es strikte Regeln und sogar einen Strafkatalog, der die jeweilige Strafe bei Regelverletzungen festlegte,99 doch inwieweit sich diese tatsächlich durchsetzen ließ, ist nicht mehr festzustellen. In den vielen Hospitalordnungen, die bis ins 18. Jahrhundert erlassen wurden, war ein immer wiederkehrender Punkt das Zusammenleben in Haina und Merxhausen, das sich offensichtlich nicht immer unproblematisch gestaltete. Deshalb wurde in einer späteren Disziplinarordnungen ergänzt und in folgenden Ordnungen immer wieder bestärkt, dass sich die Brüder und Schwestern gegeneinander freundlich betragen, nicht zanken und schelten sollten, dass sie den Anweisungen der Mägde und Wärterinnen folgen und nicht gotteslästerlich reden sollten. Ein weiteres Problem scheint das „Hamstern“ von Nahrungsmitteln oder Kleidung gewesen zu sein, die die Patienten dann außerhalb des Hospitals verkauften. Außerdem scheinen Fälle von „Unzucht“ zwischen Patienten und Dienstpersonal oder Personen außerhalb des Hospitals ein immer wiederkehrendes Problem gewesen zu sein. In einer Disziplinarordnung für die Frauen in Merxhausen hieß es: „Es sollen auch alle spitalpersonen sich ehrlich und zuchtig halten und alle böse gesellschaft der menner meyten mit worten und wercken. In wo sich jemandts in soviel leichtfertigkeit finden lest, soll des spitals freyheit entsatzt werden.“100 Dieser Grundsatz galt ebenso für die Männer. Die „Unzucht“ wurde als besonders schweres Vergehen eingestuft und dementsprechend hart, nämlich durch die Ausweisung aus dem Spital, bestraft. Andere Strafen reichten je nach Schwere und Häufigkeit der Vergehen von Essensentzug, über Gefängnisstrafen bis hin zur Ausweisung aus dem Hospital, wenn der Hospitalit keine Besserung zeigte.101 4.3 Hochstift Würzburg Im Gegensatz zur Landgrafschaft Hessen-Kassel, wo Epileptiker zusammen mit anderen Kranken in die Spitäler aufgenommen wurden, errichtete der Fürstbischof Adam Friedrich von Seinsheim 1773 in Würzburg eine Anstalt eigens für Epileptiker. Er begründete die Notwendigkeit der Einrichtung mit seiner Pflicht als Landesherr, sich um seine armen und bedürftigen Untertanen zu kümmern. Sein besonderes Augenmerk galt den Epileptikern, da sie zurzeit „von allen spithälern ausgeschlossen“ und „[…] bis anhero ohne alle hüllfe und beystand trostlos verlassen gewesen […]“ seien.102 Deshalb sah er 99 100 101 102
Midelfort: A History of Madness, S. 351–356. Demandt: Die Anfänge der staatlichen Armen- und Elendenfürsorge, S. 207. Vanja: Leben und Arbeiten im Hospital Haina, S. 42 f. Ankauf eines Hauses für Epileptiker und Unterhalt der darin untergebrachten Pfründner 1765–1775, AJSp, A 5669, darin „Proiect. Eines Bericht- und Bestätigungs Instrumenti
220
4 Fürsorge
sich in der Pflicht, sich um diese völlig verlassene und hilflose Gruppe zu kümmern und Epileptikern eine Spitalaufnahme zu ermöglichen. Eine Unterbringung in dem von seinem Vorgänger Julius Echter von Mespelbrunn gegründeten Juliusspital, in dem Kranke aus dem ganzen Hochstift behandelt wurden, lag nahe, doch schloss Friedrich von Seinsheim diese Unterbringungsmöglichkeiten wegen Platzmangel und „[…] anderen bedenklichen und wohl überlegten ursachen […]“ aus.103 Worin diese anderen Ursachen lagen, lässt sich heute nur noch vermuten, doch es handelte sich aller Wahrscheinlichkeit nach um Bedenken gegenüber der Zusammenlegung von Epileptikern mit anderen Patienten, weil der Fürst eine Ansteckung durch diese fürchtete. Diese Vermutung lässt sich durch spätere Pläne stützen, die die Zusammenlegung von Syphilitikern und Epileptikern in einem gemeinsamen Haus vorsahen, bei der die Planer aber die gegenseitige Ansteckung der Patienten fürchteten.104 Zudem war die von Epileptikern ausgehende Ansteckungsgefahr und ihr Ausschluss aus den fürstlichen Landesspitälern schon weit vor der Errichtung des Epileptikerhauses ein Thema im Hochstift Würzburg gewesen. In Geldersheim wurden Epileptiker und andere Patienten mit ansteckenden Krankheiten in der Stiftungsurkunde der Engelhardschen Stiftung von 1516 – die vom Fürstbischof Lorenz von Bibra bestätigt wurde – explizit von der Aufnahme in das Hospital ausgeschlossen, um die Ansteckung anderer Hospitaliten zu vermeiden105: […] will der stieffter ernstlich und unversprochenlich gehalten haben, das man kein kranck leut, sie sein reich oder arm, welche zufellige und unversehentliche kranckheiten haben oder gewynnen, die ein menschen von anderen natürlich empfangen mag, als nemlich ausaz, der Franzosenkrankheit, pestilenz, hinfallende siechtung oder andere dergleichen wie man sie nennen möcht, in solche spital […] genomen […] werden solle.106
Eben diesen Gedanken und nahezu den gleichen Wortlaut übernahm Fürstbischof Julius Echter von Mespelbrunn in der Stiftungsurkunde des 1601 neugegründeten Spitals in Rothenfels. In dieser wurden wie bei der Engelhardschen Stiftung neben Aussatz, Franzosenkrankheit und Pestilenz auch Fallsüchtige von der Aufnahme ausgeschlossen: Zum anderen ist unßer Will und Meinung, daß in dieses unßer neuaufgerichtete Spital niemndts wer dergleichen sey reich oder armb, uffgenommen werden solle, welcher zufällige oder gefehrliche Kranckheiten, die ein Menssch vom anderen natürlich empfan-
103 104 105 106
über daß pro Epilepticis anerkauffte und eingerichtete Haus und deren dahier übewachte Pfründnerunterhaltung, auch dissertwegen angeschlagene Concurrenz, nicht weniger deren dahin eingeschlagenen den sonstigen Vorsehungen und dergleichen betreffend“. AJSp, A 5670, Stiftungsbrief des Epileptischen Instituts 23.05.1773. AJSp, A 5686, Einrichtung eines Venerischen und Epileptischen Hauses mit Plänen 1785–1787. Meißner, Monika: Valentin Engelhardt und seine Spitalstiftung in Geldersheim, in: Mainfränkisches Jahrbuch für Geschichte und Kunst Bd. 20, 1968, S 1–190, hier S. 75. Abschrift der Stiftungsurkunde aus: Meißner: Valentin Engelhardt und seine Spitalstiftung, S. 117.
4.3 Hochstift Würzburg
221
gen mag, haben, alß nemblich Aussatz oder Frantzosen, Pestilenz, hinfallende siechtung oder andere abscheuliche Kranckheiten.107
Der Ausschluss dieser Erkrankten wurde durch Julius Echter mit der vermehrten Pflegearbeit und der Infektionsgefahr begründet. Julius Echter hatte sich zur Aufgabe gemacht, durch Neugründungen von Spitälern eine gleichmäßige medizinische Versorgung auf dem Lande zu schaffen und die Aufnahmebedingungen der Landesspitäler zu vereinheitlichen. Seine Bemühungen mündeten 1631 in einer Zusammenfassung von vereinheitlichen Spitalordnungen der Spitäler Volkach, Röttingen, Rottenfels, Halßfürth, Carlstatt, Ebern, Dettelbach, Geroltzhoven, Iphoven, Heydingstfeldt, Melrichstatt, Newstadt, Münnerstatt, Königshoven, Geldersheim, Arnstein, Bartheimb und Aub, den „Abschriften Aller des Stiffts Würzburg Spithalordnungen, wie sie von dem hochwürdigen Fürsten und Herrn Julio Bischoffen zu Würzburg und Herzogen zu Franken […] vörderst vorgenommene Inquisition und Reformation von neuem uffgerichtet und gegeben worden“.108 Die Stiftungsurkunde des Spitals zu Rothenfels scheint die Grundlage für die Angleichung dieser Spitalordnungen gewesen zu sein.109 Der Wortlaut ist bei allen identisch: In ihnen wird die Zugehörigkeit zur katholischen Religion ebenso zur Aufnahmebedingung gemacht wie die Tatsache, dass die Supplikanten alte und kranke Leute sein mussten, die einen ehrlichen Lebenswandel geführt und ihr Hab und Gut nicht unnütz vertan hatten. Sie mussten Landeskinder sein und aus der Stadt oder den angrenzenden Dorfschaften stammen, um in das jeweilige Hospital aufgenommen zu werden. Wie bereits in der Rothenfelser Spitalurkunde verbot auch Julius Echter die Aufnahme bestimmter Erkrankter: Zum anderen soll in dieses unsere Spithal niemandt weder gleich sey reich oder arm aufgenommen werden, welcher gefehrliche Krankheiten, die ein Mensch vom andern empfangen oder sonsten grosse Abscheu gebehren kann, haben in ansehung die arme bedürftige Leuth, so vorhin in dießem unseren Spithal seindt, Ihnen selbst zupflegen und außzuwarten genugsamb zu thun […] solche Leuth ohn diejenigen Orth im Stifft, so für dergleiche Kranckheien gebauet, gewißen, damit andere so it dißen oder dergleichen gebrechen nit beladen, auch nit inficirt werden.110
Die Spitalordnungen führen zwar nicht genau auf, was unter „gefehrlichen Krankheiten“ zu verstehen ist. Doch lässt die Ähnlichkeit zur Formulierung in der Rothenfelser Stiftungsurkunde vermuten, dass dieselben Krankheiten gemeint sind. Die Ansteckungsgefahr, die von Epileptikern, Aussätzigen, Syphilitikern und an Pestilenzerkrankten ausging, wurde von Julius Echter von Mespelbrunn also als so hoch eingeschätzt, dass er diese Gruppen generell von der Aufnahme in die Landesspitäler ausschloss. Gleiches galt für seine Nachfolger, 107 Ebenda, fol. 100r–101v. 108 STAW, Standbuch 240. 109 Wendehorst: Das Juliusspital in Würzburg, Bd. I Kulturgeschichte, Würzburg 1976, S. 46 f. 110 STAW, Standbuch 240, fol. 1 f.
222
4 Fürsorge
die diesen Ausschluss durch die Erneuerungen der Hospitalordnungen für die Landesspitäler immer wieder bekräftigten. Noch im 18. Jahrhundert wurden Supplikanten in einem Aufnahmekonkurs um eine Stelle im Hospital in Ebern gefragt, ob sie „[…] mit keiner ansteckenden Krankheit behafftet oder ob nicht die Stiftung für solche leuthe gewidmet sey.“111 Interessanterweise antwortete eine der Bewerberinnen darauf: „[Sie] sey mit einer fallenden Krankheit oder Muttergfraisch behafftet gewesen, jetzo aber für sothane Krankheit auf.“ Die Bewerberin hob deshalb explizit hervor, dass diese fallende Sucht geheilt und nicht Grund für den Antrag gewesen war, weil eine Aufnahme für sie sonst von vorneherein ausgeschlossen gewesen wäre. Friedrich Adam von Seinsheim bekräftigte 1759 das Aufnahmeverfahren für die Landeshospitäler und initiierte sogar einen neuen Fragenkatalog, der den Pfarrern und Beamten der Ortschaften des Hochstifts Würzburg als Vorlage im Aufnahmeverfahren dienen sollte. In diesem wurde vorgeschrieben, den Supplikanten nach möglichen ansteckenden Krankheiten zu fragen, zu denen die Fallsucht hier auch gezählt wurde,112 und die damit als Ausschlussfaktoren galten. Möglicherweise aus diesem Grund strebte Adam Friedrich von Seinsheim einige Jahre später die Einrichtung eines eigenen Epileptikerhauses an. Versorgung vor dem Epileptikerhaus Würzburger Umland Allerdings bedeutete der in den Stiftungsurkunden festgelegte Ausschluss aus den Landesspitälern nicht unbedingt, dass Epileptiker im Würzburger Umland gänzlich unversorgt blieben. Zum einen findet sich 1688 eine „[…] fürstliche Verordnung, die mit der hinfallenden Krankheit behaffteten Personen in das Siechenhaus aufzunehmen“,113 womit auf dieses Problem reagiert und die Aufnahme der Epileptiker statt in die Landesspitäler in die Siechenhäuser festgelegt wurde. Zum anderen ist nicht bekannt, wie rigide dieses Aufnahmeverbot tatsächlich gehandhabt wurde, da für die Landesspitäler des Würzburger Umlandes kaum Aufnahmeprotokolle überliefert sind und in den Aufnahmebüchern nur den Namen, aber nicht die Aufnahmegründe verzeichnet sind. 111 Stadtarchiv Ebern Sect VI, Tect. VI 33, Pfarrers und Spital Verwalthers zu Ebern pflichtmäßiger Bericht über gnädigst ertheilte Fragestück de 22.ten Juni 1739 bey Vorzunehmender Besetzung der durch ableben Margaretha Köserin erledigt wordenen Pfründnerstelle im dahiesigen Hospital. 112 „Ob Ebenda nicht mit der hinfallenden Sucht, krebsmäßigen oder anderen ansteckenden Krankheiten behaftet sey?“, in Stadtarchiv Ebern Sect VI, Tect. VI 33. 113 STAW, WU (Würzburger Urkunden) 44 103, Fürstliche Verordnung, die mit der hinfallenden Krankheit behafteten Personen in das Siechenhaus aufzunehmen 1688. (Bd IV S. 606). Misc. 1310–1312. Bekannt ist die Existenz einer solchen Verordnung leider nur dem Titel nach durch die Verzeichnung als Akte in den „Würzburger Urkunden“ des Staatsarchiv Würzburgs. Die Urkunde selbst ist 1945 bei der Bombardierung Würzburgs verbrannt und der Inhalt damit leider nicht bekannt.
4.3 Hochstift Würzburg
223
In Rothenfels kümmerte sich die Juliusspitalstiftung nachweislich um einige Epileptiker, obwohl sie in der Stiftungsurkunde ganz explizit ausgeschlossen waren. 1642 wurden beispielsweise auf fürstlichen Befehl der Tochter des verstorbenen Conradt Proser aus Erlach, „welche die fallende Krankheit hatt und ins spital begehrt“, 2 Malter Korn zugewiesen.114 Andere Epileptiker erhielten ähnliche Zuwendungen und konnten generell auch eine sogenannte Außenpfründe erhalten, das heißt, ihnen wurde ein festgelegter Betrag vom Spital als Beihilfe gezahlt, ohne dass sie einen Platz im Spital selbst erhielten. Es kam sogar vor, dass Epileptiker entgegen der Aufnahmeordnung auf Anweisung des Landesherren in das Spital zu Rothenfels eingewiesen wurden – wenngleich diese Fälle eher selten waren.115 Es ist durchaus vorstellbar, dass diese Vorgehensweise auch bei anderen Landesspitälern von den Fürstbischöfen übernommen wurde. Die Würzburger Fürstbischöfe hielten also die Aufnahme von Epileptikern in die Landesspitäler wegen der Ansteckungsgefahr zwar prinzipiell für bedenklich, billigten Epileptikern dennoch einen Versorgungsanspruch zu. Diese Versorgung wurde beispielsweise in Form einer Bettelerlaubnis, von Almosen aus Institutionen der Gemeinde, so zum Beispiel aus den Hospitalgefällen, oder der Aufnahme in ein Siechenhaus gewährt. Leider ist die Überlieferung bezüglich der Aufnahme von Epileptikern in den Siechenhäusern und der Almosen in den ländlichen Gebieten Würzburgs äußerst dürftig. Sind Almosenrechnungen überliefert, geben diese lediglich die Namen der Almosenempfänger wieder, somit wird nicht nachvollziehbar, wie viele Epileptiker tatsächlich versorgt wurden. In der Landstadt Kitzingen konnte anhand vereinzelter Einträge in den Stadtratsprotokollen nachgewiesen werden, dass Epileptiker ins dortige „Siechen- und Seelhauß“ aufgenommen wurden und Gelder aus dem Almosenkasten bezogen.116 Dabei konnten verschiedenen Formen der Fürsorge verknüpft werden. Als nämlich der Kitzinger Bürger Martin Kees beim Stadtrat vorsprach, weil er eine Epileptikerin zur Pflege in seinem Haus aufgenommen hatte, die er aber nicht länger mit seinen Kindern allein lassen wollte, boten die Räte ihm an, die Frau ins „Seelhauß“ aufzunehmen und ihr, wenn sie sich nicht selbst versorgen könne, auch einen Zuschuss aus dem Kasten zu gewähren.117 Trotz dieser ineinandergreifenden Institutionen und teilweise sehr unbürokratischen Hilfeleistungen, stand es um die Fürsorge für arme Epileptiker nicht immer zum Besten. So versuchten die Fürstbischöfe immer wieder, Fallsüchtige aus dem Umland auf ihren Befehl hin in das Würzburger Siechenhaus einweisen zu lassen. Allerdings weigerte sich der Stadtrat Würzburgs hartnäckig, diese Einweisungen einfach so hinzunehmen und Bewohner des Umlandes aufzunehmen, da die städtischen Pflegen von den Würzburger Bürgern finanziert wurden und laut Gründungsurkunde auch nur für diese be114 115 116 117
Kolb, Peter, Die Juliusspitalstiftung zu Rothenfels, Würzburg 1985, S. 131. Kolb: Juliusspitalstiftung zu Rothenfels, S. 107. StAKT Rat 6, fol. 168, Rat 9, fol. 140, fol. 245, Rat 12, fol 619. StAKT Rat 6, 1560, fol 16 r.
224
4 Fürsorge
stimmt waren.118 Häufig gelang es dem Stadtrat, die Aufnahme Fremder zu verhindern mit dem Verweis auf die missliche Lage des Siechenhauses aufgrund von Überbelegung und die bevorzugte Aufnahme städtischer Fallsüchtiger. So antwortete der Stadtrat dem Fürsten Adam Friedrich von Seinsheim 1756 auf dessen Befehl, Dorothea Rothin aus Rossbrunn aufzunehmen: Nachdem die Gemeinde von Rossbrunn bey Ihro Hochfürstliche Gnaden umb aufnahmb Dorothea Rothin, einer mit der fallenden Kranckheit behaffteten 35 jährigen Weibsperson in die dahiesige Siechenhaus Pfleeg angesucht hat, […] wurde dieses Memoriale dem Siechenhaus Pfleger zugestellet, derzumahlen mehrere von hier mit eben derley Krankheiten ihre aufnahmb dahin bittlichst ansuchen und erwarten.119
Der Stadtrat vertröstete den Fürsten – nicht nur in diesem Fall – mit dem Hinweis auf die lange Warteliste des Siechenhauses. Im Fall des Nikolaus Stenkuch aus Sonderhoffen aus demselben Jahr war dies ebenfalls das Argument für die Ablehnung seiner Aufnahme. Der Rat antwortete dem Fürsten auf dessen Befehl: Die Pflege sei zurzeit überbesetzt, weshalb „[…] auch sogar einige hiesige mit der fallenden Kranckheit oder KrebsZustand ohnversorgte in Geduld stehen müssen, umb so weniger also frembte […] dahin eingenommen werden können.“120 Stadt Würzburg Besser ist die Quellenlage für die Stadt Würzburg. Die Akten geben zwar weder Auskunft über die Anzahl der dort lebenden Epileptiker sowie die Form der Unterstützung, die sie erhielten. Das heißt, dass eine quantitative Auswertung nicht möglich ist. Doch wird aus den Akten ersichtlich, an welche Institutionen sich Fallsüchtige in der Stadt Würzburg wenden konnten. Das 1579 von Julius Echter gegründete und von der Landesregierung verwaltete Juliusspital nahm, wie aus den Aufnahmebüchern hervorgeht zwar einige Epileptiker aus der Stadt und dem Umland Würzburgs auf. Doch ist die Zahl der ins Juliusspital aufgenommenen Epileptiker mit 13 Aufnahmen (davon nur 2 als Pfründer, die übrigen als Kuristen) über einen Zeitraum von 80 Jahren (1580–1662) so gering, dass hier nicht von einer wichtigen Anlaufstelle gesprochen werden kann.121 Die Versorgung bedürftiger Epileptiker der Stadt Würzburg oblag vielmehr den städtischen Pflegen, die sich aus verschiedenen Institutionen zusammensetzen. Insgesamt hatte der Rat an die 20 Stiftungen und Pflegen unter sich vereinigt, von denen hier allerdings nur auf die für Epileptiker relevanten eingegangen werden soll. Aus den Almosenrechnungen geht nicht hervor, ob Epileptiker Unterstützung aus dem Almosenkasten erhalten konnten. Allerdings konnte in den Stadtratsprotokollen ein Hinweis auf die Versorgung von Epi118 Schott, Herbert: Das Verhältnis der Stadt Würzburg zur Landesherrschaft im 18. Jahrhundert, (= Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg, Bd. 48), Würzburg 1995, S. 530; vgl. auch StadtW, Stadtratsprotokoll 22.02.1731, S. 114 f. 119 StadtW, Stadtratsprotokoll 1756, S. 26. 120 StadtW, Stadtratsprotokoll 1756, S. 142 f. 121 AJSp, Lit. 2290, S. 34, 84, 131, Lit. 2291, S. 16.
4.3 Hochstift Würzburg
225
leptikern im Viertelalmosen gefunden werden: 1722 wurde Marie Elisabetha Grillin, einem „armen mit der fallenden Kranckheit behaffteten Weib mit 2 Kindern“, vom Stadtrat „eine addition in den Viertel-Almosen“ zugesprochen.122 Hans-Christoph Rublack geht in seiner Untersuchung frühreformatorische geistliche Residenzen auch auf die Fürsorgesituation in Würzburg ein. Die Almosenempfänger Würzburgs von 1791 und die Gründe für den Almosenempfang listet er in einer Tabelle auf,123 ohne allerdings genaue Angaben darüber zu machen, woher die Zahlen und Angaben stammen. Nach dieser Tabelle machte die Zahl der epileptischen Almosenempfänger weniger als 20 Personen aus. Angesichts von 486 Almosenempfängern ist dies also eine verschwindend geringe Zahl. Dennoch bot das städtische Almosen den Würzburger Epileptikern eine zusätzliche Möglichkeit, sich zu versorgen. Mit der Regelung des Almosens hatte die Stadt Würzburg bereits im 15. Jahrhundert begonnen. Die älteste überlieferte Almosenordnung von 1490 regelte erstmals den Bettel, ohne diesen allerdings zu verbieten. Vielmehr wurde in der Ordnung die gängige Unterscheidung zwischen einheimischen und fremden sowie zwischen würdigen und unwürdigen Armen getroffen. Zu diesem Zweck sollte den einheimischen würdigen Armen Bettelpässe gegeben werden.124 In der Almosenordnung von 1636 wurde darüber hinaus genauer ausgeführt, wie mit einheimischen armen Kranken umzugehen sei: Waß aber die Kranckhen belanget, die alle nachfolgender Ordnung gemäß, durch die Medicos und Chyrurgos besichtige, darauf den jeniges, welche allhier zu Würzburg seßhafft undt mit derglechen Kranckheiten, welche durch warten undt artzney zur hellfen, ein träglicher zuschuß, zur solcher Ihrer notwendigen wardt, nach weißung deren Directoren oder Oberpfleger, in ihre Heußer gereichet, undt wann sie Ihrer Gesundheit wieder erlanget zu der arbeit undt mit derselbigen sich undt die Ihrigen zu nehren angewiesen werden. […] Zum Fall aber etzliche welche unhailbare Kranckheiten an sich haben, sich darunter auch befinden ließen, denen solle, wenn sie bürger oder einländisch /: beschaffenen sachen nach:/ daß allmußen zu samblen erlaubt […] 125
Die ausländischen heilbaren Kranken sollten dagegen im Juliusspital zur Kur aufgenommen werden, während die unheilbaren ausländischen Kranken ausgewiesen werden sollten. Anfang des 18. Jahrhunderts war die Regulierung des Bettels zugunsten einer obrigkeitlich organisierten Almosenfürsorge gewichen. In der Almosenordnung von 1703 wurde bereits die Bestellung eines Almosenpflegers durch den Rat angeordnet, der jeden Freitag im Sanderviertelhof Almosen aus dem Kasten an die Bedürftigen Würzburgs verteilen sollte. Diese sollten jeweils im Frühjahr und Winter in einem „examen pauperum“ ermittelt und in einer Liste festgehalten werden. Die Almosen wurden normalerweise in Form von 122 StadtW, Stadtratsprotokoll 1722, S. 49 f. 123 Rublack, Hans-Christoph: Gescheiterte Reformation. Frühreformatorische und protestantische Bewegungen in süd- und westdeutschen geistlichen Residenzen (= Tübinger Beiträge zur Geschichtsforschung Bd. 4), Stuttgart 1978, S. 153, Tabelle 7. 124 Schott: Das Verhältnis Würzburgs zur Landesherrschaft, S. 498. 125 StadtW, Ratsakte Nr. 1907, 1636 „Ordnung wegen der armen Leuthen, unndt almuß Samblung“.
226
4 Fürsorge
Geld und Brot, ausnahmsweise auch in Form von Kleidung ausgegeben. Gleichzeitig wurde in der Almosenordnung festgelegt, wer Almosen erhielt, und wer beim Betteln erwischt würde, sei sofort vom Viertelalmosen auszuschließen. Das Viertelalmosen setzte sich aus Almosen, die vom Vierteldiener zu Beginn zweimal wöchentlich in der Stadt gesammelt wurden, und Beiträgen aus dem Kammerzahlamt, dem Futteramt, dem Universitätsrezeptorat sowie dem Julius- und Hofspital zusammen. Zusätzlich spendeten das Domkapitel, die Klöster, Stifte und Prälaturen in den Kasten. Dennoch kämpfte das Viertelalmosen mit ständigem Geldmangel. Die Landesherren versuchten dem Abhilfe zu schaffen, indem sie die Vierteldiener anwiesen, öfter Spenden zu sammeln.126 Außerdem wurden die Zuzahlungen durch die Ämter erhöht.127 Trotz dieser Maßnahmen wurde 1746 durch den Fürstbischof Friedrich Karl festgelegt, dass die Armen nur das Notwendigste als Almosen erhalten sollten, womit das Almosen eher als Zuschuss zum Lebensunterhalt zu verstehen war.128 Die wichtigste Pflege der Stadt war das Bürgerspital. Vom Würzburger Bürger Johannes von Steren gegründet und vom Bischof 1319 bestätigt, war es der Stiftungsurkunde zufolge für Würzburger Bürger zur Pfründe bestimmt, und reiche Bürger konnten sich einkaufen.129 Das Bürgerspital nahm in der Zeit von 1561 bis 1667 sechs Fallsüchtige als Pfründner130 und drei zur Außenpfründe auf.131 Die überlieferten Bittgesuche spiegeln ähnliche Aufnahmebedingungen wider, wie sie bereits für die Hohen Hessischen Hospitäler und für die späteren Pfründnerplätze des Epileptikerhauses galten: Aufgenommen wurden unheilbare Fallsüchtige, die arm waren und deren Familiensituation es nicht gestattete, sie im familiären Umfeld zu versorgen. Daneben konnten sich wohlhabendere Bürger in das Hospital einkaufen oder die Pfründe des Aufgenommenen konnte durch Geldgaben aufgestockt werden. Der Würzburger Gerichtsassessor Lambrecht erklärte sich beispielsweise bereit, seinen Sohn mit dem Nötigsten wie Kleidung zu versorgen, was dessen Verköstigung wohl mit einschloss.132 Im Gegensatz zu den Hohen Hessischen Hospitälern und dem späteren Würzburger Epileptikerhaus gewährte das Bürgerspital neben den festen Pfründen im Spital, die mit einem Einzug in die Einrichtung verbunden war, auch Außenpfründen. Diese bestanden aus Naturalien- und Geldzuwendungen, um die Versorgung der Erkrankten zu gewährleisten, die Kranken blieben aber in ihrem Zuhause. Die Gewährung einer Außenpfründe war in erster Linie davon abhängig, ob der Erkrankte noch eine Person hatte, die ihn pfle126 127 128 129 130
StadtW, Ratsakte, Nr. 2646. Schott: Das Verhältnis Würzburgs zur Landesherrschaft, S. 513 f. Ebenda, S. 515 f. Ebenda, S. 470 f. StadtW, Archiv des Bürgerspitals, Abtheilung II (Akten), Nr.16, Reskripte vom: 1633.05.13, 1649.02.21, 1649.05.21, 1651.05.23, 1652.02.16, 1653.09.15. 131 Ebenda, Reskripte vom: 1647.10.18, 1649.01.08, 1667.07.28. 132 Ebenda, Reskripte vom: 1653.09.15.
4.3 Hochstift Würzburg
227
gen konnte. Im Fall der Apolonia Heimbeck von 1647 erklärte sich die Gewährung einer Außenpfründe mit der Pflege durch die Mutter. Diese schilderte in ihrem Gesuch, sie sei verwitwet und könne sich aufgrund der steigenden Preise keine Lebensmittel mehr leisten. Ihre Tochter sei wegen der Erkrankung zu keiner „handtarbeit“ fähig und könne sich deshalb nicht selbst ernähren. Das eigentliche Problem stellte hier also weniger die Pflege dar, sondern die tägliche Versorgung. Mutter und Tochter wurden daraufhin 4 Metzen Korn und 2fl. im Quartal zugesprochen, die die Mutter bis zum Tode ihrer Tochter im Jahr 1660 bezog.133 Da keine weiteren Gesuche zu diesem Fall überliefert sind, scheint es, als hätte ihnen diese Zuwendung ausgereicht. Vielleicht konnten sie sich aber auch noch weitere Zuwendungen aus einer anderen Institutionen sichern. Denn in Würzburg konnten Betroffene Zuwendungen aus mehreren Stiftungen erhalten: Ursula Vait beispielsweise, die Tochter eines Würzburger Schmieds, deren Eltern beide verstorben waren, wurde auf ihr Gesuch hin 1649 in die „Hohe Zinne“ aufgenommen, eine Privatstiftung, die ebenfalls dem Rat unterstand. Im Haus „Zur Hohen Zinne“ erhielten arme Frauen eine Unterkunft und Feuerholz; ihren Lebensunterhalt sollten sie mit der Pflege von Kranken selbst verdienen oder über Almosen bestreiten.134 Da Ursula Vait aufgrund ihrer Erkrankung keinen Pflegedienst verrichten konnte, war sie auf ein Almosen für ihren Lebensunterhalt angewiesen, das ihr noch im selben Jahr vom Bürgerspital als Außenpfründe in Form von zwei Broten wöchentlich und zwei Metzen Korn im Quartal bewilligt wurde. Zwei Jahre später wurde sie im Bürgerspital aufgenommen, in dem sie 1698 verstarb.135 Neben der Aufnahme im Bürgerspital gab es also verschiedene weitere Möglichkeiten der Versorgung. Dies konnte auch die Aufnahme in einen anderen Haushalt beinhalten. So beantragte Barbara Lutin 1667 die Aufnahme im Bürgerspital, nachdem ihre Eltern beide verstorben waren. Sie schilderte sich als eine völlig verlassene und von der schweren Krankheit geplagte Frau, die wegen ihrer Anfälle vor Feuer und Wasser nicht sicher, aber noch begrenzt arbeitsfähig sei. Sie könne Feldarbeiten verrichten und wolle sich so lange wie möglich im Armenhaus oder Bürgerspital ihr Brot verdienen. Ihre Bitte wurde ihr gewährt, doch bevor es zur eigentlichen Aufnahme in das Bürgerspital kam, erbot sich ein gewisser Hanns Adelmann, sie bei sich aufzunehmen und auf sie achtzugeben. In welchem Verhältnis er zu Barbara Lutin stand, ist nicht bekannt. Dieser Vorschlag wurde angenommen und Barbara Lutin wurde zur weiteren Versorgung 1/8 Korn im Quartal zur Verfügung gestellt.136 Dadurch konnte sie sich weiterhin ins gesellschaftliche Leben integrieren. Im Austausch 133 StadtW, Archiv des Bürgerspitals, Abtheilung II (Akten), Nr.16, Reskripte vom: 1647.10.18. 134 Kolb: Das Spital- und Gesundheitswesen, S. 556; Schott: Das Verhältnis der Stadt Würzburg zur Landesherrschaft, S. 479. 135 StadtW, Archiv des Bürgerspitals, Abtheilung II (Akten), Nr.16, Reskripte vom: 1649.01.08. 136 Ebenda, Reskripte vom: 1667.07.28.
228
4 Fürsorge
für die Aufsicht und Pflege stand Hanns Adelmann dafür eine Arbeitskraft zur Verfügung, die sich in Form von Lebensmitteln am Unterhalt beteiligte. Nach 1667 konnten keine weiteren Gesuche Fallsüchtiger für das Bürgerspital mehr nachgewiesen werden. Es ist nicht zu klären, ob nach diesem Zeitpunkt tatsächlich keine Epileptiker mehr ins Bürgerspital aufgenommen wurden oder ob möglicherweise nur nicht alle Aufnahmegesuche überliefert sind. Aber allem Anschein nach spielte die Versorgung im Bürgerspital nach dieser Zeit keine Rolle mehr. Wahrscheinlich überwogen nun die Bedenken einer möglichen Ansteckung anderer Spitalbewohner, so dass Fallsüchtige ab dieser Zeit generell von der Aufnahme in andere Spitäler als in das Siechenhaus ausgeschlossen wurden. Die fürstliche Verordnung von 1688,137 nach der Epileptiker ins Siechenhaus aufzunehmen seien, mag daher eine Reaktion auf eine zuvor bereits gängige Praxis gewesen sein oder der Versuch, Epileptikern eine Anlaufstelle zu schaffen. Das Sondersiechenhaus vor dem Zeller Tor, das 1663 abgerissen und 1664/65 am Fuße des Steinbergs wieder errichtet worden war, erscheint in den Akten als Hauptaufnahmeort für städtische Epileptiker. Es sind leider weder Aufnahmegesuche noch genaue Aufnahmezahlen für das Siechenhaus überliefert und so kann weder nachvollzogen werden, wie viele Epileptiker im Laufe der Jahre im Siechenhaus aufgenommen wurden, noch können Aussagen über die Aufnahmepraxis gemacht werden. Aber die Anzahl von Epileptikern, die um Aufnahme baten, scheint groß gewesen zu sein und überstieg nur allzu häufig die Kapazität des Siechenhauses, die sich auf 12 bis 14 Pfründnerplätze beschränkte.138 Das Problem der Überbelegung des Siechenhauses erscheint sehr plausibel, da nicht nur Epileptiker, sondern auch andere Personen mit ansteckenden Krankheiten aufgenommen wurden; z. B. „Krebsmäßige“, die zu dieser Zeit ebenfalls als ansteckend galten. Unter den Pflegrechnungen des Sondersiechenhauses von 1731 befindet sich ein Stadtratsprotokoll, in dem auf die Frage, ob sich das Kapital noch in gutem Zustand sei und ob sich Pfründner mit der „hinfallenden Kranckheit behafftet“ noch darin befänden, vermerkt wurde, das Kapital sei noch im guten Zustand und das Siechenhaus sei „[…] dergestalten mit dergleichen leuth angefüllet, das aniezo die stallung darmit besehen seye.“139 Zudem war der Stadtrat seit dem 18. Jahrhundert tatsächlich bestrebt, Epileptiker nur im Siechenhaus aufzunehmen. Dies wird am Fall der Geschwister Schell deutlich, die für ihren fallsüchtigen Bruder eigentlich eine Aufnahme in das Bürgerspital angestrebt hatten, was vom Stadtrat aber rigoros abgelehnt wurde. Im Stadtratsprotokoll vom 31. Juli 1760 ist zu lesen, die Schellischen Erben bäten „umb aufnahme ihres malo epileptico behaffteten bruders in einer Stadraths-Pfleeg.“ Der Stadtrat wollte über diesen Fall allerdings erst ein 137 STAW, WU (Würzburger Urkunden) 44 103, Fürstliche Verordnung, die mit der hinfallenden Krankheit behafteten Personen in das Siechenhaus aufzunehmen 1688. (Bd IV S. 606). Misc. 1310–1312. 138 Schott: Das Verhältnis Würzburgs zur Landesherrschaft, S. 478 ff. 139 StadtW, Stadtratsprotokoll 1731, S. 287 f.
4.3 Hochstift Würzburg
229
Gutachten über dessen Gesundheitszustand und Vermögen erstellen „[…] gleichwohl weilen Er noch in jüngeren Jahren wäre, und etwa noch viele Jahre in diesem elenden Zustand unter nöthiger aufsicht, oder einer benöthigten wärterin zu erhalten seyn dörffte:/ Einer milden Stifftung Kost auch zur großen Last fallen mögte.“ Eine Unterbringung im Bürgerspital schloss der Stadtrat mit der Begründung aus, „[…] solche Kranckheit [sei] in das Bürgerspithal nicht qualifiziert“ und es sei daher nur eine Unterbringung im Siechenhaus möglich.140 Nachdem das Gutachten erstellt worden war, entschied der Bürgermeister am 13. September 1760, besagter Bruder sei „gantz simpel und mit der fallenden Kranckheit“ behaftet, auch sei er in der Tat sehr „armselig“, so dass man dieser Bitte stattgeben könne. Da aber zu diesem Zeitpunkt kein freier Platz im Siechenhaus vorhanden war, kam der Stadtrat – nicht zuletzt dank größerer Geldzuwendung durch die Geschwister – zu einer unerwarteten Lösung: Eine „gesunde Person“141 aus dem Siechenhaus sollte in das Bürgerspital geschickt und dessen Platz dem Schellischen Erben überlassen werden. Der Stadtrat nahm also die Absonderung von Epileptikern im Siechenhaus durchaus ernst. Gleichzeitig zeigt der Fall, dass eine Überbesetzung des Siechenhauses der Realität entsprach und dass eine solche Lösung nur dank des 550 fl. umfassenden Vermögens, das der Betroffene ins Siechenhaus einbrachte, vom Stadtrat in Erwägung gezogen wurde.142 In einigen Fällen wurde die Finanzierung der Versorgung im Siechenhaus aus anderen Quellen finanziert. So befahl der Fürst im Jahr 1748, den im Findelhaus lebenden Franz Hardt unverzüglich in das Siechenhaus aufzunehmen. Für dessen Verpflegung im Siechenhaus solle eine „[…] alimentation wochentlich 1Rt. aus der Findel Pfleeg, auch die benöthigte Kleydung aus der dahiesigen Rocks- und Schuhe Almosen Pfleeg ihm gereichet werden.“143 Hier zeigt sich wieder das Ineinandergreifen der verschiedenen Stiftungen und Pflegen sowie die Möglichkeit für Bedürftige, verschiedene Institutionen in unterschiedlichem Umfang zu nutzen. Nach der Errichtung des Epileptikerhauses spielte das Würzburger Siechenhaus und erstaunlicherweise ab dieser Zeit auch das Ehehaltenhaus, das vorher keinerlei Anteil an der Versorgung von Epileptikern gehabt hatte, noch immer eine wichtige Rolle in der Versorgung von Epileptikern. Beide Institutionen mussten auf fürstlichen Befehl, in dringenden Fällen, wenn nicht auf eine Vakatur im Epileptikerhaus gewartet werden konnte, Plätze zur Verfü-
140 StadtW, Stadtratsprotokoll 1760, S. 114 f. 141 Der aus der Quelle übernommene Begriff „gesunde Person“ erscheint hier sehr verwirrend, da eigentlich anzunehmen ist, dass keine gesunden Personen im Siechenhaus zu finden waren. Vermutlich handelte es sich hierbei um eine alte oder gebrechliche Person, deren Erkrankung oder Behinderung nicht als ansteckend betrachtet wurde, so dass ein Austausch ins Bürgerspital ungefährlich erschien. Interessanterweise wurden immer wieder nicht ansteckende Personen in Siechenhäusern aufgenommen, obwohl dies aus heutiger Sicht nicht wirklich logisch erscheint. 142 StadtW, Stadtratsprotokoll 1760, S. 153 f. 143 StadtW, Stadtratsprotokoll 1748, S. 10 f.
230
4 Fürsorge
gung stellen.144 Diese Praxis lässt sich am Fall der Anna Maria Hellmuthin verdeutlichen. 1753 ging ein Schreiben vom Stadtrat an den Fürstbischof: Anna Maria Hellmuthin, eine 56-jährige ursprünglich aus Rottenburg stammende Konvertitin, befinde sich zurzeit im Ehehaltenhaus außerhalb des Sander Tores. Ihr Mann habe sechs Jahre in Würzburg als Soldat gedient, doch er sei schon vor langer Zeit verstorben. Die städtischen Pflegen könnten sie nicht weiterhin versorgen, weil es an Platz fehle und „[…] weilen sie der fundattionsmäßigen Vorschrifft gemäs zu keiner von unseren Pflegen geeigenschaffet ist, ihrer Unterkunft und Verpflegung unserers Orths entgegen.“ Deshalb würde sie, wenn sie in keines der fürstlichen Spitäler aufgenommen werden könne, zum Amt ihres Geburtsortes gebracht werden. Der Fürst bewilligt daraufhin die Aufnahme in das Epileptikerhaus, sobald dort ein Platz frei werde. Gleichzeit verfügte der Fürstbischof allerdings, dass die Betroffene bis zu ihrer Aufnahme im Ehehaltenhaus bleiben solle, da sie niemanden hätte, der sich um sie kümmern könne und sie sonst Anfälle „auf den Gassen“ habe, die dem „Publico“ Schauer einjagten. Gleichwie aber inmittels diese Person auf offener Straße nicht belassen werden könne, gestalten selbige so übel bekleydet sey, daß sie bey dem Anfall ihres Übels zum äussertsen Grausen aller Zuschauer, und zum größten ärgernus der zulauffenden Jugend ihre blöße nicht bedecken könne, und endlich ein mensch sey, den man nicht tag und nacht bey ihrem elenden zustand unter freyem himmel ohne obdach und nahrung lieg und verschmachten lassen könne.
Anna Maria Hellmuthin wurde daraufhin tatsächlich im Ehehaltenhaus belassen. Doch zeigte sich schon bald, dass ihre Versorgung dem Stadtrat ein Dorn im Auge war. Denn nach 25 Wochen erfolgte eine Beschwerde vom Ehehaltenhaus an den Fürsten, diese Frau sei eine zu große Last und man verlange ihre Unterbringung an einem anderen Ort, da man für ihre Versorgung nicht aufkommen könne. Trotz der ständigen Beschwerden des Ehehaltenhauses blieb sie über neun Monate dort, unterstützt durch Zuwendungen aus der Gutenbergischen Stiftung, die ihre Unterbringung durch wöchentliche Zahlungen finanzierte.145 Erst 1788 wurde sie im Epileptikerhaus aufgenommen.146 Die Frage, ob die Versorgung für bedürftige Epileptiker in Würzburg und Umgebung ausreichend war, ist schwierig zu beantworten, da konkrete Zahlen fehlen. So lässt sich nicht ermitteln, wie viele Epileptiker in Siechenhäusern und sonstigen Institutionen unterkamen oder wie viele einer Unterstützung bedurften. Sicherlich hat Herbert Schott recht, wenn er in seiner Studie feststellt, dass die Gelder aus dem Würzburger Almosen lediglich einen Zuschuss zum täglichen Leben von Bedürftigen bildeten, zumal sich der Jahresrechnung von 1756 entnehmen lässt, dass sich die jährlichen Ausgaben für kranke Arme auf lediglich 50 fl. beliefen. Im Vergleich: Für arme Studenten wurde 1756 444 fl. und für arme, unerzogene Kinder immerhin noch 120 fl. im 144 StadtW, Stadtratsprotokoll 1772, S. 190; 1766, S. 73; 1767, S. 192 und S. 201. 145 STAW, GAA VII W 637 Die Unterbringung der ausser dem Sander Thor liegenden mit der fallenden Sucht behaffteten Bergoldischen Soldaten wittib betreffend 1783/1784. 146 AJSp, A 5856.
4.3 Hochstift Würzburg
231
Jahr ausgegeben.147 Allerdings wurde aus dem Almosen auch 400 fl. für Medizin148 ausgegeben, die möglicherweise ebenfalls bedürftigen Fallsüchtigen zugutekommen konnten. Daneben muss man bedenken, dass die Almosenpflege nicht die einzige Institution war, bei der Fallsüchtige auf Hilfe hoffen konnten. Wie zuvor ersichtlich wurde, arbeiteten die Stiftungen und Pflegen zum Teil zusammen und die Zuwendungen einzelner Stiftungen waren kombinierbar. Dadurch scheint es zumindest einigen Fallsüchtigen möglich gewesen zu sein, ihre Versorgungskosten zu decken. Außerdem hatten die aus Würzburg stammenden Epileptiker Anspruch auf Versorgung im Siechenhaus, wenn auch die Warteliste zum Teil sehr lang war und demnach nicht jeder Bedürftige aufgenommen werden konnte. Im Würzburger Umland scheint die Versorgung von Epileptikern sehr schwierig gewesen zu sein, denn immer wieder bewarben sich Betroffene – oder stellvertretend für diese auch ihre Gemeinden und Städte – um ihre Aufnahme in das Juliusspital bzw. in die städtischen Spitäler Würzburgs. Der Stadtrat erkannte diesen Bewerbern allerdings keinen Versorgungsanspruch in den städtischen Pflegen zu, und das Juliusspital war nur in Ausnahmefällen bereit, Epileptiker zur Kur aufzunehmen. Um dennoch eine Versorgung von Epileptikern aus dem Umland zu gewährleisten, versuchte der Landesfürst, sie auf seinen Befehl in den städtischen Pflegen unterbringen zu lassen, wogegen sich der Stadtrat jedoch vehement – meist erfolgreich – wehrte. Es lässt sich festhalten, dass man Epileptikern zwar einen Versorgungsanspruch zusprach, dessen Erfüllung durch ihren Ausschluss aus den Landesspitälern und die Zuweisung in die Siechenhäuser aber wesentlich erschwert wurde. Insofern scheint es nicht verwunderlich, wenn Adam Friedrich von Seinsheim die unversorgte Lage von Epileptikern als Argument nutzte, um für diese Gruppe eine eigene Einrichtung zu schaffen. Das Epileptikerhaus in Würzburg Obwohl erste Pläne Adam Friedrich von Seinsheims zu diesem Projekt schon 1765 in den Akten vermerkt wurden,149 zog sich die Planung und Durchführung sehr lange hin. Aufgrund verschiedener Probleme konnte das Epileptikerhaus erst 1773 fertig gestellt werden. Das erste Problem stellte bereits die Suche nach einer geeigneten Unterkunft für die Fallsüchtigen dar. Es wurden verschiedene Vorschläge diskutiert, bis endlich in dem zum Verkauf stehenden „Ganzhornischen Haus“ 1770 die 147 Schott: Das Verhältnis der Stadt Würzburg zur Landesherrschaft, S. 515 f. 148 Diese wurden über Armenrezepte vergeben, die auf Anweisung des Vizekanzlers oder Almosenpflegers ausgegeben wurden. 1755 umfassten diese etwa 253 Rezepte, vgl. Schott: Das Verhältnis der Stadt Würzburg zur Landesherrschaft, S. 624, Anmerkung 860. 149 AJSp, A 5669, Ankauf eines Hauses für Epileptiker und Unterhalt der darin untergebrachten Pfründner 1765–1775.
232
4 Fürsorge
geeignete Lösung gefunden wurde. Das nächste Problem bestand in der Finanzierung des Projektes. Der Fürstbischof plante nämlich nicht nur den Kauf, sondern auch die Versorgung der Patienten durch Zuzahlungen des fürstlichen Juliusspitals, des städtischen Bürgerspitals und der Landesspitäler zu bestreiten. Dies führte zu heftigem Protest und langen Verhandlungen über die Höhe der Zuzahlungen mit dem Rat der Stadt Würzburg und den Landesspitälern. 1770 konnte schließlich der Kauf des Ganzhornischen Hauses, der hauptsächlich von den Spitälern getragen wurde, durchgesetzt werden. Zu diesen gehörten das Juliusspital, das unter städtischer Verwaltung stehende Bürger- und Hofspital und außerhalb Würzburgs die Landesspitäler Münnerstadt, Arnstein, Rottenfels, Röttingen, Dettelbach, Carlstadt, Lauda, Kitzingen, Mellerichstadt, Volckach, Geroltzhofen, Neustadt, Hassfurth, Geldersheim, Hardheim, Ipfhofen und Königshohen im Grabfeld.150 Zu Verzögerungen bei der Einrichtung kam es erneut, weil die Versorgung der Patienten im Spital erst sichergestellt werden musste und sich nach Berechnungen ergab, dass, obwohl die bereits genannten Hospitäler auch jährlich einen Teil zur Verpflegung beitragen sollten, der Unterhalt der Pfründner und die Bezahlung des nötigen Dienstpersonals nicht gewährleistet werden konnte. Nach langen Verhandlungen wurde das Vermächtnis der Johanniter Amtmännin Juliana Gehrigin zur Unterhaltung des Epileptischen Hauses verwendet.151 Aus diesem Grund wurde den Patienten in der Folge zur Auflage gemacht, die Amtmännin in ihre täglichen Gebete einzuschließen.152 Das Juliusspital übernahm die Kosten für Essen, Kleidung und die Besoldung des Dienstpersonals, weshalb das Epileptikerhaus administrativ zu diesem gehörte. Die Juliusspitalverwaltung entschied z. B. über die Aufnahme und Entlassung der Pfründner. Außerdem kümmerten sich die Hospitalmedici und –chirurgi des Juliushospitals um die Epileptiker, indem sie diese regelmäßig untersuchten und ihnen präventive und kurative Medikamente zuteil werden ließen.153 Das ehemalige Ganzhornische Haus wurde erneuert und 17 Zimmer für Epileptiker eingerichtet. Darüber hinaus existierten in dem Haus eine Küche, ein Zimmer für den Hausvater, ein Speisezimmer, jeweils ein Zimmer für das männliche und weibliche Dienstpersonal, ein Oratorium und verschieden Räume zur Aufbewahrung von Wäsche.154 1773 wurde die erste Pfründneraufnahme ausgeschrieben. Die Nachfrage war groß, offensichtlich wollten viele Epileptiker einen Platz im Hospital, denn auf die 8 ausgeschriebenen Plätze, von denen jeweils vier für Männer und Frauen vorgesehen waren, bewarben sich 59 Personen. Über das Aufnah150 AJSp, Akte 5670, Stiftungsbrief des Epileptischen Instituts 23.05.1773. 151 AJSp, A 5669, „Proiect. Eines Bericht- und Bestätigungs Instrumenti über daß pro Epilepticis anerkauffte und eingerichtete Haus und deren dahier überwachte Pfründnerunterhaltung, auch dissertwegen angeschlagene Concurrenz, nicht weniger deren dahin eingeschlagenen den sonstigen Vorsehungen und dergleichen betreffend“. 152 AJSp, Lit. 2769, S. 59. 153 AJSp, A 5669. 154 Rieger, Conrad: Die Psychiatrie in Würzburg von 1583–1898, I. Theil, in: Verhandlungen der Physikalisch- Medicinischen Gesellschaft zu Würzburg, Bd XVII 1893, S. 122.
4.3 Hochstift Würzburg
233
meprozedere schrieb man im späteren „Einrichtungsinstrument des Epileptischen Hauses“: Demnach in Gemäßheit der in Land erlassenen Generalien 59 Epileptici beyderley geschlechts sich gemeldet haben, die alle um die Aufnahme in das zu ihrer Versorgung und Kur gnädigst angeordneten Haus supplicieren und darauf aus deren Bittschriften und beygefügten attetstatis der Pfarrern, Beamten und Physicorum nach genauest genommener Rücksicht auf einen jeden Supplicanten Armuth, Verlassenheit, Heftigkeit der Kranckheit dannen deren Kur oder incurabilität bey voriger Sehsion ein selectus von 20 Weibs- und 14 Mannsbildern gemacht […] zur weiteren Auswahl und Aufnahme der gnädigst bestimmten 4 Weibs und 4 Mannspersonen beschreiben werden.155
Die große Zahl von Bewerbern zwang die Auswahlkomission, sich mit Kriterien für die Aufnahme auseinanderzusetzen. Es war vorgesehen, dass in das Epileptikerhaus neben unheilbaren auch heilbare Epileptiker zur Kur aufgenommen werden sollten. Würden diese Patienten nicht geheilt, müssten sie das Hospital zwar verlassen, würden aber bei der Vergabe von Pfründerplätzen bevorzugt berücksichtigt. Dagegen wurden die Pfründerplätze wie in den Hohen Hessischen Hospitäler auf Lebenszeit vergeben. In der Auswahlkomission entspann sich eine heftige Diskussion über die Frage, in welchem Verhältnis Kuristen und Pfründner aufgenommen werden sollten. Einige Komissionsmitglieder traten für eine Verteilung zugunsten der Pfründner ein, weil diese der Fürsorge bedürften. Andere hingegen befürworteten die bevorzugte Aufnahme von Kuristen, da man durch die schnellere Wiederbesetzung dieser Plätze einer größere Zahl von Patienten helfen könnte. Letztendlich entschied sich die Auswahlkommission dafür, jeweils zwei männliche und zwei weibliche Patienten „ad praebandum“, also zur Pfründe, und zwei „ad curam“ aufzunehmen,156 und zwar so „daß von jedem Geschlechte zwey Personen und zwar die Verlassensten ad praebandum, dann zwey jüngere, die secundum judicium Medicorum am ersten curiert werden dörfften ad curam aufgenommen“ würden.157 Auf diese Weise könne verhindert werden, dass Praebenden, die doch kuriert würden, „auf ewig“ im Spital verblieben. Als Kuristen sollten vor allem jungen Personen aufgenommen werden, die am besten zu heilen seien.158 Aus den 59 Bewerbern wurden die 39-jährige Katharina Böhleinin, die 53-Jährige Elisabetha Klubertabzin, der erst 18-jährige Johan Georg Neugebauer und der 51-jährige Kaspar Endres aus Helmstadt als Pfründner ausgewählt. Als Kuristen wurden die 20-jährige Katharina Büttnerin, die 29-jährige Katharina Krügin, der 13-jährige Johann Raub und der 16-jährige Sigmund Sell aufgenommen. Den übrigen Kandidaten gab man Reisegeld und Medikamente; sie mussten bis zur nächsten Vakatur warten.159 Die Aufnahme gerade älterer Personen als Pfründner hatte zwei Bewandtnisse: Zum einen ging die 155 156 157 158 159
AJSp, Lit. 2769, S. 49 f. Ebenda, S. 50. Ebenda, S. 52. Ebenda, S. 51 f. Ebenda, S. 53–55.
234
4 Fürsorge
Hospitalkomission davon aus, dass die Betroffenen nicht mehr zu heilen waren, zum anderen legte man Wert auf eine frühere Vakatur der Plätze. Doch war dies nicht das einzige Kriterium für die Besetzung der Plätze, wie der Fall des erst 18-jährigen Johan Georg zeigt. Die Tatsache, dass er mehrfach behindert – zusätzlich zur Epilepsie war er am ganzen Körper gelähmt und geistig verwirrt – und dazu „ganz verlassen“ war, begünstigte die Entscheidung.160 In den folgenden Jahren wurde die Zahl der Plätze erhöht. 1775 konnten zwei weitere Pfründnerplätze durch die Stiftung von 1000 Reichsthalern geschaffen werden, die der Hofrath und Professor Christan Unger dem Spital überließ. Er knüpfte diese Stiftung an die Bedingung, wenn jemand aus seinem Freundeskreis an der Epilepsie erkranke, solle dieser bevorzugt aufgenommen werden bzw. den gestifteten Spitalplatz erhalten.161 1779 entschloss sich Adam Friedrich von Seinsheims Nachfolger, Franz Ludwig Freiherr von Erthal (1730–1795), fünf weitere Plätze für Kuristen zu schaffen, die er selbst finanzierte, weshalb es am 17. Oktober 1779 ein zusätzliches Auswahlverfahren zur Aufnahme gab.162 1781 folgten fünf weitere Plätze und 1783 ließ Ludwig von Erthal sogar sieben weitere Epileptiker versorgen.163 Durch die Erweiterungen wurden in den ersten 22 Jahren des Bestehens 57 Fallsüchtige, davon 19 Pfründner und 38 Kuristen versorgt, unter ihnen befanden sich in den Jahren 1781 bis 1788 drei epileptische Soldaten.164 Unter Franz Ludwig von Erthal stellte man in der Zeit zwischen 1785 und 1787 zudem Überlegungen an zum Bau eines Hauses für Venerische (Syphilitiker) und Epileptische, in dem jeweils 18 Venerische und Epileptische hätten versorgt werden können, diese Pläne wurden in dieser Form aber nie umgesetzt.165 Die Maßnahme erschien notwendig, da zu dieser Zeit einige Venerische im ersten Stock des Epileptikerhauses untergebracht waren, die aber 1786 endgültig in die Elisabethenpflege verlegt wurden.166 Dennoch scheint es weiterhin Pläne gegeben zu haben, den Epileptikern andere Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen, denn für 1786 lässt sich ein Plan zur Errichtung eines Hauses für Epileptiker und Venerische in der alten Gärtnerswohnung nachweisen. Allerdings ist nicht ganz ersichtlich, ob dieser geplante Umbau der Gärtnerswohnung und der Umzug der Epileptiker stattgefunden hat, denn in einem Bericht vom 25. Juli 1787 heißt es, die Patienten sollten nicht so schnell umziehen, weil einige frisch gekalkte Zimmer noch nicht ganz ausgetrocknet seien, wodurch sich Nachteile für den Gesundheitszustand der Leute ergeben würden. Doch es lassen sich in den Akten keine Umzugsmaßnahmen feststellen, so dass der geplante Umzug in die umgebaute Gärtnerwohnung wohl doch nicht stattgefunden hat.167 160 161 162 163 164 165
Ebenda, S. 53. AJSp, A 5690 Schenkungen und Legate Privater an die Epileptiker Anstalt. AJSp, Lit. 2769, S. 91. Rieger: Die Psychiatrie in Würzburg, S. 124. Ebenda, S. 124. AJSp, A 5686 Einrichtung eines Venerischen und Epileptischen Hauses mit Plänen 1785– 1787. 166 Wendehorst: Das Juliusspital in Würzburg, S. 175. 167 AJSp, A 4787, Einrichtung eines Krankenhauses für E.
4.3 Hochstift Würzburg
235
Sieht man von den großen Stiftungen des Fürstbischofs Adam Friedrich von Seinsheim und seines Nachfolgers Franz Ludwig von Erthal einmal ab, ließ die Stiftertätigkeit nach 1775 stark nach. Nach der großzügigen Stiftung von Christian Unger lässt sich erst wieder 1800 von der Stiftung des Juliusspitalvorstehers Deppisch eine Gabe an das Epileptikerhaus nachweisen.168 Es scheint ebenso, dass sich die Situation der Epileptikeranstalt nach Ludwig von Erthal dramatisch verschlechterte. So beschrieb der Stadtphysikus und Arzt des Bürgerspitals Dr. Joseph Horsch in seinem 1805 erschienenen Buch „Versuch einer Topographie der Stadt Würzburg, in Beziehung auf den allgemeinen Gesundheitszustand und die dahinzielenden Anstalten“ das Epileptikerhaus zu Zeit des Juliusspitalvorstehers Deppisch als sehr heruntergekommen. Zu dieser Zeit seien nur noch acht Epileptiker darin unterhalten worden.169 Unter Georg Karls Regierung versuchte der verdienstvolle Spitalpfarrer Deppisch zuerst wieder die Anstalt zu heben. Er stellte dem Fürsten die große Anzahl der Epileptischen, ihr Elend und die Nothwendigkeit, sie von dem Oeffentlichen zu entfernen, vor, und Georg Karl verlangte von dem Konsilium einen Vorschlag über die Mittel zur Vergrößerung dieser Anstalt.170
Allerdings änderte sich zu Lebzeiten Deppischs an dieser Situation nichts, erst mit seinem Tod und der Errichtung seiner Stiftung änderten sich die Zustände ein wenig. In seinem Testament vom 3. Juni 1800 setzte Johann Baptist Deppisch das Epileptikerhaus als seinen Haupterben ein, weil er sein Geld möglichst sinnvoll einsetzen wollte, da er „[…] aber keine elendere Klasse von Menschen kenne, als diejenigen, welche mit der fallenden Sucht behaffet sind, so bestimme ich mein ganzes Vermögen nach meinem Tod für solche elenden Menschen.“171 Er hinterließ dem Epileptikerhaus 8679 fl. 53 ¼ Kreuzer, die aus dem Verkauf seiner Bibliothek stammten und ordnete in seinem Testament an, „[…] dagegen soll eine oder zwey Personen mehr in dem epileptischen Haus unterhalten werden, und bey der Aufnahme allzeit Rücksicht auf solche Personen genommen werden, welche von Röttingen gebürtig sind […]“172, vermutlich weil er selbst dort geboren worden war.173 Durch sein Vorbild wurden auch andere Personen zur Errichtung von Stiftungen animiert, 168 AJSp, A 5690, Schenkungen und Legate Privater an die Epileptiker Anstalt. 169 Horsch, Joseph: Versuch einer Topographie der Stadt Würzburg, in Beziehung auf den allgemeinen Gesundheitszustand und die dahinzielenden Anstalten, Arnstadt/Rudolfstadt 1805, S. 285: Zu Zeiten Adam Friedrichs waren laut Horsch etwa 18–24 Pfründner im Spital gewesen, weil dieser sich sehr für Epileptiker eingesetzt und vieles aus seiner Privatschatulle finanziert hätte. Nach dem Tod des Stifters sei die Pfründneranzahl immer weiter bis auf 8 gesunken. Aus den Quellen geht jedoch hervor, dass auch Ludwig von Erthal sich sehr für die Epileptiker einsetzte und vieles im Epileptikerhaus finanzierte, so dass diese Aussage nur bedingt für wahr gehalten werden kann. Dennoch scheint es, dass nach dessen Regierungszeit eine Verschlechterung eingetreten ist. 170 Horsch: Versuch einer Topographie der Stadt Würzburg, S. 286. 171 AJSp, A 5857, Hinterlassenschaft des JSp. Vorstehers Pfarrer Johann Baptist Deppisch, S. 1. 172 Ebenda, S. 3. 173 Wendehorst: Das Juliusspital in Würzburg, S. 176.
236
4 Fürsorge
und dadurch bekam das Epileptikerhaus wieder mehr Zuwendung.174 Unter anderem hinterließ der Weihbischof Andreas Fahrmann (gest. 1802) dem Epileptikerhaus weitere 2728fl. 1½ Kreuzer und schuf damit zwei weitere Pfründen.175 1804 erfolgte der Umbau des Hauses für Epileptische zu einer Entbindungsanstalt. Die im Epileptikerhaus untergebrachten fallsüchtigen Patienten wurden nun in den Hauptbau des Juliusspitals verlegt. Doch konnte dies nur eine Übergangslösung darstellen.176 Coelestin Erbacher schrieb 1822 in seiner „Beschreibung des Sehens- und Merkwürdigsten in und um Würzburg. Den gebildeten Reisenden gewidmet“ über die Verlegung der Epileptiker ins Juliusspital: „[…] Diese Unglücklichen lebten vorerst in dem dermaligen Entbindungshause, und, da dieses sehr zerfallen, eine Reparatur und die jetztige Bestimmung bekam, nachher eine zeitlang im Juliusspital, bis man von der Unschicklich- und Schädlichkeit ihres Zusammenlebens mit anderen Menschen immer mehr überzeugt, für sie ein eigenes Haus kaufte.“ 177 Auch in diesem Fall konnte die Zusammenlegung also nicht gutgeheißen werden, weil man befürchtete, der Anblick Epileptischer werde anderen zum Nachteil. Deshalb wurde die Verlegung der Epileptiker in ein neues, eigenes Haus angestrebt, das letztlich vom Hofmedicus Dr. Anton Müller gekauft und eingerichtet wurde. Zu dieser Zeit wurden etwa 12 Epileptiker versorgt. Erbacher brachte in seinem Werk jedoch den dringenden Wunsch zum Ausdruck, der Fond möge sich vermehren, um noch weitere Unglückliche aufnehmen zu können. Denn offensichtlich gab es wesentlich mehr Epileptiker, die versorgt werden mussten, als es Plätze im Spital gab. Erbacher schätzte, dass sich „[…] deren Anzahl sich in unserem Würzburgischen Lande auf 2–300 erstrecken soll […].“178 Leben im Epileptikerhaus Der Tagesablauf im Epileptikerhaus lässt sich nur anhand von Pfründnerordnungen rekonstruieren. In der „Pflicht der Armen so in das Epileptische Haus aufgenommen werden“ zeigten sich bei der Auswertung große Parallelen zu den Pfründerordnungen in Haina und Merxhausen, ergänzt durch einige katholische Besonderheiten. Wie in den Hessischen Hohen Hospitälern wurde im Würzburger Epileptischen Haus ein streng geregelter Tagesablauf einge174 Horsch: Versuch einer Topographie der Stadt Würzburg, S. 286, siehe dazu auch AJSp, A 5690 Schenkungen und Legate Privater an die Epileptiker Anstalt, wo nach 1800 viele weitere Stiftungen zu finden sind. 175 AJSp, A 5690, Schenkungen und Legate Privater an die Epileptiker Anstalt. 176 Kolb, Peter: Das Spital- und Gesundheitswesen, in: Ulrich Wagner (Hg.): Geschichte der Stadt Würzburg. Vom Bauernkrieg 1525 bis zum Übergang an das Königreich Bayern 1814, S. 540–568, hier S. 525. 177 Ebacher, Coelestin: Beschreibung des Sehens- und Merkwürdigsten in und um Würzburg. Dem gebildeten Reisenden gewidmet, Würzburg 1824, S. 27. 178 Ebacher: Beschreibung des Sehens- und Merkwürdigsten, S. 29.
4.3 Hochstift Würzburg
237
halten. Der Tag begann für die Patienten im Sommer um 5 und im Winter um 6 Uhr. Die erste Pflicht des Tages war das Gebet; man betete gemeinsam einen Rosenkranz. Dann wurden die Patienten genau wie in Haina und Merxhausen zur Arbeit angehalten: „Sollen jene, die da können, in dem daran liegenden Garten, oder auch in dem Hause auf Anweisung der Vorgesetzten und des Hausvaters gutwillig arbeiten, und keiner sich ohn Erlaubnis davon entkommen […].“179 Leider geht aus diesen Anweisungen nicht genau hervor, wer als nicht arbeitsfähig galt. Sehr wahrscheinlich wurde dies von Fall zu Fall entschieden, und man darf annehmen, dass sich die Arbeitsfähigkeit nach dem Grad der Anfälle und dem damit verbundenen Aufwand der Aufsicht richteten. Aus den Anweisungen geht ebenfalls nicht genau hervor, zu welcher Arbeit Epileptiker eingesetzt wurden. Gartenarbeit scheint eine für sie ungefährliche und sinnvolle Tätigkeit gewesen zu sein. Es wird jedoch nicht ausgeführt, welche Arbeiten sie im Hause verrichten sollten. Wahrscheinlich konnte man Epileptikern nicht alle Arbeiten zuweisen, denn in den Akten taucht die Frage auf, zu welcher Arbeit die Epileptiker eingesetzt werden sollten. So wurde bei den Plänen für das Venerische Haus auch besprochen, wie die Epileptiker vom Müßiggang abgehalten werden könnten: „Die Kranken so lange sie noch etwas zu thun fähig sind, dem Müßiggang entzogen werden, und eine ihnen angemessene mit Bewegung verbundene Arbeit erhalten, welche […] im voraus nicht leicht bestimmt werden kann doch scheint hierzu ein Garten noch am besten.“180 Joseph Horsch beschrieb in seiner Topographie Würzburgs über das Leben im Epileptikerhaus, dass diejenigen, die noch zu einer Arbeit fähig gewesen seien, im Sommer beim Gartenbau halfen oder – dies betraf die Frauen – die Wäsche wuschen.181 Um 11 Uhr gab es die Mittagsmahlzeit für die Patienten mit anschließender Pause bis 12 Uhr. Dann wurde wieder gemeinsam der Rosenkranz gebetet und bis zur Abendmahlzeit um 17 Uhr weitergearbeitet. Nach der Abendmahlzeit hatten die Patienten bis zum gemeinsamen Abendgebet und der anschließenden Nachtruhe, um 21 Uhr im Sommer und um 20 Uhr im Winter, freie Zeit, die sie ganz nach ihrem Belieben einteilen konnten. In der Pfründnerordnung wurden als mögliche Aktivitäten für diese Zeit Spaziergänge, Unterhaltungen und kleinere Arbeiten wie das Aufräumen der Zimmer oder das Anfertigen für den Eigenbedarf genannt.182 Die Sorge um das seelische Wohl der Patienten spielte auch im Lebensalltag des Epileptischen Hauses eine zentrale Rolle. Die religiöse Praxis war durch die gemeinsamen Gebete und die Lesungen während der Mahlzeiten fest in den Tagesablauf integriert. Zudem sollte den Patienten täglich eine
179 AJSp, Lit. 2769, „Pflicht der Armen so in das Epileptische Haus aufgenommen werden“, S. 57 f. 180 AJSp, A 5686, Einrichtung eines Venerischen und Epileptischen Hauses mit Plänen 1785–1787. 181 Horsch: Versuch einer Topographie der Stadt Würzburg, S. 289. 182 AJSp, Lit. 2769, S. 60.
238
4 Fürsorge
Messe gelesen, einmal im Monat durch einen Priester die Beichte abgenommen und die Kommunion erteilt werden. Adam Friedrich von Seinsheim lag die religiöse Betreuung der Epileptiker sehr am Herzen. So finanzierte er einen eigenen Gottesdienst für die Epileptiker, der notwendig war, da der gemeinsame Gottesdienstbesuch mit den übrigen Patienten des Juliusspitals wegen der Ansteckungsgefahr ausgeschlossen wurde. In der Stiftungsurkunde stellt er heraus wie wichtig die Seelentröstung gerade für Epileptiker sei: „[…] diese von aller menschlichen Gesellschaft ausgeschlossenen und für allzeit davon ausgesonderten armseligen leuth einen beständigen Seelentrost gewiehesen, und einen tägliche heilige Messe, dann auch an Sonn- und Feyertagen einen geistlichen Diskurs über das Evangelium überkommen möge.“183 Die Notwendigkeit der Seelsorge wurde in der Pfründnerordnung weiter bestärkt: Wegen ihres „armseligen“ Zustands schwebten die Epileptiker in großer Gefahr, sehr plötzlich von dieser Welt genommen zu werden,184 und deshalb sei es für sie von enormer Wichtigkeit, täglich mit Gott und ihrem Gewissen im Reinen zu sein und sich jeglicher Sünden zu enthalten. Die religiöse Praxis ähnelt sehr der Haina und Merxhausens. Unterschiede ergaben sich im Epileptikerhaus wie im Juliusspital durch die katholische Ausrichtung, indem z. B. explizit das Beten der Rosenkränze und die Fürbitte für die Johanniter Amtmännin Gehrigin in die religiöse Praxis eingeschlossen waren.185 Ein weiterer wesentlicher Unterschied zu Haina und Merxhausen erwuchs aus der Tradition des Juliusspitals, das vom Fürstbischof Julius Echter von Mespelbrunn 1579 gegründet worden war, um Kuristen aufzunehmen: Neben chronischen Patienten, die wie in Haina und Merxhausen auf Lebenszeit im Hospital angenommen und dort gepflegt wurden, nahm das Epileptikerhaus Kuristen auf, deren Therapie durch die Ärzte des Juliusspitals einen wesentlichen Aspekt des Lebensalltags im Epileptikerhaus ausmachte.186 In der Pfründnerordnung wurden die Kuristen darauf hingewiesen, sie sollten sich an die Anordnungen der Ärzte halten und die von diesen verschriebenen Medikamente regelmäßig einnehmen. Eine gewisse Eigeninitiative war in der Therapie erwünscht, die Patienten wurden auch angehalten, die Wirkung der Medikamente zu beobachten und den Ärzten oder Wärtern zu melden, falls die Medikamente nicht anschlugen. Auf die Heilung bezog sich wohl auch der Passus über den Weingenuss der Patienten. Dieser wurde ihnen ausdrücklich untersagt, es sei denn, er würde von den Ärzten empfohlen.187 Hinter dieser Anweisung stand vermutlich die in der zeitgenössischen Medizin verbreitete Erkenntnis, der Genuss von Alkohol könne Anfälle auslösen.188
183 184 185 186 187 188
AJSp, A 5670, Stiftungsurkunde des Epileptischen Instituts, § 16. AJSp, Lit. 2769, S. 61. AJSp, Lit. 2769, S. 59. Wendehorst: Das Juliusspital in Würzburg, S. 32 f. und S. 39 ff. AJSp, Lit. 2769, S. 64. Vgl. Kapitel 2.2, S. 47.
4.3 Hochstift Würzburg
239
Die Patienten lebten – abgesehen von der Gartenarbeit und dem Abholen der Speisen aus dem Juliusspital – sehr abgeschottet im Epileptikerhaus, denn es war ihnen verboten, in die Stadt zu gehen: „Sollet ihr euch zu Haus halten, und niemals aus und in die Stadt gehen, welcher oder welche hiergegen handeln wird, soll nach befindlichen Dingen hinlänglich gestrafet oder gar aus dem Hause geschaffet werden.“189 Ebenso beschreibt der Stadtphysikus Horsch in seiner „Topographie der Stadt Würzburg“ das Leben der Hospitaliten: „In der Regel soll kein Epileptischer aus dem Hause gehen, und weiter als in das Juliusspital kommen sie auch nicht“. Dort holten sie zusammen mit einer Wärterin das Essen und sonstige nötige Sachen wie Kleidung ab und kehrten dann wieder zurück ins Hospital.190 Hervorgehoben wurde in der Pfründnerordnung die Sorge, dass ein Feuer ausbrechen könnte, nämlich durch Fallenlassen oder Umstoßen einer Lampe oder Kerze durch einen Epileptiker während seines Anfalls. Deshalb hatte es schon vor der Errichtung des Epileptikerhauses Überlegungen gegeben, eine Versicherung gegen Feuer abzuschließen. Letztendlich verzichtete man auf diese Maßnahme und hieß die Spitäler, für Rücklagen zu sorgen.191 Doch die Sorge ob der Gefahr blieb, und deshalb widmete man diesem Problem einen eigenen Passus in der Pfründnerordnung: Die Patienten sollten „Fleißig acht geben auf Feuer und Licht, damit dem Haus kein Schaden daraus erwachse, und derley keines in euren Stuben und Oefen erhalten.“192 Neben der Pfründnerordnung lassen sich auch detaillierte Anweisungen für das Dienstpersonal des Epileptikerhauses finden, die das Zusammenleben mit den Patienten und den Tagesablauf des ganzen Hauses regelten. Oberstes Gebot für alle Hausangestellten war, sich den Patienten gegenüber gütlich zu verhalten. Dieses Gebot wurde in den Dienstinstruktionen der Wärterinnen hervorgehoben, die den Patienten mit „christlicher lieb“ und guten Worten begegnen sollten. Insbesondere sollten sie nicht mit den Patienten zanken, „[…] daß sie durch zorn in ihren schmerzlichen zustand gerathen.“193 Die Aufgaben des Hausvaters beschränkten sich hauptsächlich auf die Organisation des Tagesablaufs und dessen Kontrolle. So verteilte er die Tagesaufgaben an das Personal und überprüfte, ob diese Arbeiten auch korrekt ausgeführt wurden. Außerdem sollte er auf die Medikation und die richtige Behandlung der Patienten achten, das heißt, es gehörte zu seinem Aufgabenbereich, Rücksprache mit den Ärzten zu halten bzw. sie auf deren Visiten zu begleiten. Er sollte zudem darauf achten, dass die Anordnungen der Ärzte korrekt ausgeführt wurden. Die Knechte übernahmen neben den anfallenden Arbeiten in Haus und Hof ähnliche Funktionen. Sehr interessant ist die Stellung der Wärterin im Epileptikerhaus. Denn neben den üblichen Aufgaben wie Reinigung der Stuben, des Geschirrs und 189 190 191 192 193
AJSp, Lit. 2769, S. 64, § 15. Horsch: Versuch einer Topographie der Stadt Würzburg, S. 288. AJSp, A5669, 17. Oktober 1770, § 6. AJSp, Lit. 2769, S. 65, § 21. Ebenda, Dienstinstruktionen für das Dienstpersonal, S. 83.
240
4 Fürsorge
der Kleidung, dem Bettenmachen und der Essensausgabe194 übernahm sie die Aufgaben einer modernen Krankenschwester und die einer Seelentrösterin: Zum einen wurde in der Dienstordnung für die Krankenwärterinnen festgelegt, sie sollten den Patienten ein gutes Vorbild sein, ihnen gut zusprechen und „[…] dieselben [die Patienten] mit heilsamen ermahnungen trösten, daß sie in diesen ihren umständen gedultig seyen […]“.195 Zum anderen übernahmen sie die Pflege und die Aufsicht während des Anfalls und wurden zusätzlich zur Beobachtung eingesetzt. So legte die Dienstordnung fest: „Wann einer fallet, oder sonsten krank wird, solet ihr demselben mit geduld beyspringen, und durch vorgeschreibene arth und mittel schleunig beistehen“.196 Die Krankenwärterinnen hatten eine Beobachtungsfunktion, denn sie waren die Ansprechpartnerinnen und Helferinnen der Ärzte. Sie sollten 1. darauf achten, dass jeder Patient die Medikamente richtig einnahm, 2. mit den Ärzten kommunizieren und sich merken, was verordnet wurde, 3. den Gesundheitszustand und das Wohlbefinden der Patienten beobachten und 4. beobachten, zu welchen Zeiten sie ihre Anfälle bekamen.197 Auf diese Weise konnten der Verlauf der Erkrankung und die Wirkung der Medikamente nachvollzogen und von den Ärzten in ihre Überlegungen miteinbezogen werden. Später hinzugefügte Erläuterungen zu diesen Instruktionen lassen sich bei den Überlegungen zur Einrichtung eines Hauses für Venerische und Epileptische finden. Es ist leider nicht bekannt, inwieweit diese dann später umgesetzt wurden. Aber in diesen Überlegungen lassen sich viele Angaben dazu finden, welche Form der Pflege man für Epileptiker anstrebte. Außerdem sind diese Überlegungen ein Anhaltspunkt dafür, dass in der Zeit von 1773 bis 1785 einige Dinge im Epileptikerhaus im Argen gelegen haben, weil man so viele Punkte als verbesserungswürdig ansah. Der Verfasser dieser Pläne, dessen Name nicht überliefert ist, sah ein Zimmer für die zwei Wärterinnen als notwendig an, damit sich diese immer in der Nähe der Patienten aufhalten konnten. Sie sollten immer abwechselnd unterschiedliche Funktionen ausüben, denn während die eine den normalen Hausdienst versehen sollte, sollte die andere in dieser Zeit nur für die Kranken zuständig sein, um bei einem Anfall direkt zur Stelle zu sein. Deshalb sollte die Hauptfunktion dieser Wärterin die Verabreichung der verschriebenen Medikamente und die Beobachtung der Kranken sein. Außerdem gab es genaue Vorschriften, wie sich die Krankenwärterin beim Anfall eines Patienten verhalten sollte: „[…] dem leidenden im Anfalle schleunigst beyspringt, eine Rolle unterlegt, und ihn nach Vorschrift des Arztes vor schaden schützt.“198 Da die Wärterinnen ihre Patienten nicht immer im Auge behalten könnten – vor allem zur Nachtzeit – müssten nach Ansicht des Verfassers für diese 194 195 196 197 198
AJSP, Lit. 2769, S. 82 f. Ebenda, S. 83. Ebenda, S. 83. Ebenda, S. 84–86. AJSp, A 5686, Einrichtung eines Venerischen und Epileptischen Hauses mit Plänen 1785–1787.
4.3 Hochstift Würzburg
241
Zeit Vorkehrungen getroffen werden. Er schlug deshalb eine besondere Ausstattung der Betten vor: Diese sollten „[…] ganz niedrig, ohn scharfe Ecken, und mit Pferdshaaren oder dergleichen ausgefüttert seyn.“199 Überhaupt stand der Schutz vor Verletzungen während des Anfalls im Vordergrund. Um Verletzungen zu vermeiden, sollten auch die Öfen mit einem hölzernen Geländer umfasst sein, damit der Epileptiker nicht im Anfall dagegen fallen und Verbrennungen erleiden konnte. Auch sollten die Gänge besser mit Brettern als mit Steinen gepflastert sein, weil der Boden dann etwas weicher sei und keine so starken Verletzungen beim Hinfallen der Patienten hervorrufe. Und man sollte den Patienten keine Messer oder andere gefährliche Gegenstände geben, mit denen sie sich verletzen könnten. Eine Schelle sollte an jedem Bett angebracht werden für diejenigen, die vor dem Anfall noch nach Hilfe rufen könnten.200 Ein besonderes Problem scheint die psychische Veränderung von Patienten nach dem Anfall oder durch besonders viele Anfälle gewesen zu sein. Der Verfasser stellte fest, dass viele „Epileptische“ nach ihrem Anfall über einen kürzeren oder längeren Zeitraum tobsüchtig würden. Um sie und andere vor Gewalttätigkeiten zu schützen, müssten die Fenster im ganzen Haus vergittert sein. Man forderte auch abschließbare Türen, damit die Patienten nach einem Anfall eingeschlossen werden könnten, sollten sie zu Tobsuchts- und Wahnsinnsanfällen neigen. Ein weiterer wichtiger Punkt neben der Vermeidung von Verletzungen war die Vermeidung von Anfällen. Zu diesem Zweck sollte auf alles geachtet werden, was einem Anfall auslösen könnte.201 Der Verfasser dieser Verordnungen sah beispielsweise die Praxis, dass mehrere Patienten aus einer Schüssel äßen, sehr kritisch, denn dadurch könne nur allzu leicht Streit entstehen, der die Patienten aufrege.202 So ist auch die Instruktion zu verstehen, dass die Wärterinnen nicht mit den Patienten zanken sollten.203 Diesen Überlegungen lag die Vorstellung zugrunde, die Anfälle würden durch Zorn oder Erschrecken der Patienten hervorgerufen. Deshalb sollte alles, was die Patienten aufregen oder erschrecken könnte, möglichst von ihnen ferngehalten werden. Zur Verhütung von epileptischen Anfällen müsse außerdem die Diät nach Vorschrift des Arztes streng eingehalten werden, wofür auch die Wärterinnen verantwortlich gemacht wurden.204 Aus der Beschreibung des Epileptikerhauses von Horsch um 1805 geht hervor, dass die zuvor beschriebenen Überlegungen zur Pflege von Epileptikern zum Teil tatsächlich umgesetzt wurden. Horsch bemerkte, dass ein Zimmer von zwei Personen bewohnt würde, die Fenster vergittert seien und dass es in den meisten Zimmern Öfen gebe. Früher sei zudem über jedem Bett ein 199 200 201 202 203 204
AJSp, A 5686. Ebenda Ebenda Ebenda AJSp, Lit. 2769. AJSp, A 5686.
242
4 Fürsorge
Schellenzug angebracht gewesen, damit die Wärterin gerufen werden konnte.205 1805 gab es laut Horsch zwei Wärterinnen, eine wohnte im oberen Stock bei den Männern, eine im unteren Stock bei den Frauen. Sie hatten die Aufgabe, den Patienten bei den Anfällen beizustehen: „Befällt einen Patienten seine Krankheit, so läßt man ihn auf der Stelle liegen, wo er fällt, und schiebt blos ein Kissen unter den Kopf, kehrt das Bewußtseyn zurück, so wird er zu Bette gebracht, bis er sich erholt.“206 Der Plan, ein abschließbares Zimmer für tobsüchtige Epileptiker einzurichten, wurde nicht umgesetzt. So wurden Epileptiker mit Tobsuchtsanfällen in ein abgetrenntes Zimmer gebracht und mit Beinschellen und Handgurt gefesselt, bis sie wieder zur Besinnung kamen.207 Aus Horschs Beschreibungen geht hervor, dass nicht alle Anweisungen und Überlegungen zur Versorgung der Patienten befolgt wurden. So schaffte man laut Horsch im Lauf der Jahre die Kuristenplätze ganz ab. Zu seiner Zeit gab es nur noch zehn Pfründner im Haus. Dies stellte seiner Meinung nach ein großes Problem dar, denn unter einer so kleinen Anzahl entstünden nur wenige Vakaturen, was zu langen Wartezeiten für die Aufnahmen führe.208 Auch mit der medizinischen Versorgung der Epileptiker stand es zu dieser Zeit nicht zum Besten. So schreibt Horsch, dass zur Versorgung der Patienten das Epileptikerhaus zwar eigentlich dem Ersten Arzt des Juliusspitals unterstehe, aber die Patienten würden häufig den Assistenten überlassen. Nur bei den Neuankömmlingen würden überhaupt noch Versuche unternommen, diese zu heilen, ansonsten würden keine Kuren durchgeführt. Horsch kritisiert diesen Zustand heftig und plädierte dafür, dass man diese Anstalt wieder ihrem ursprünglichen Zweck zuführen solle und dass nicht nur Pfründner, sondern auch Kuristen aufgenommen werden sollten. Außerdem hielt er es für wünschenswert, dass dem Epileptikerhaus ein eigener Arzt zur Verfügung gestellt werde.209 Das Epileptikerhaus hatte also mit einigen Problemen – vor allem mit der Finanzierung von Pfründnerplätzen – zu kämpfen. Hinzu kam das Problem, dass es wesentlich mehr Anwärter für Pfründner- und Kuristenplätze gab, als diese zur Verfügung standen. So entstand eine lange Warteliste von Anwärtern, die bei jeder Vakatur wieder berücksichtigt werden mussten und zu denen jeweils neue Anwärter hinzukamen.210 Einigen dieser Epileptiker gelang es nie, ins Epileptikerhaus aufgenommen zu werden, anderen erst nach Jahren. Einige waren zum Zeitpunkt der Aufnahmebewilligung sogar bereits verstorben oder nicht mehr am Ort, weil sie vermutlich ihr Auskommen irgendwo anders suchten.211 Insofern durften sich die wenigen Epileptiker, die 205 206 207 208 209 210
Horsch: Versuch einer Topographie der Stadt Würzburg, S. 288. Ebenda, S. 288 f. Ebenda, S. 289. Ebenda, S. 287. Ebenda, S. 289. Carl Münch stellte beispielsweise jeweils 1791, 1792 und 1793 einen Antrag um Aufnahme, der aber erst 1793 bewilligt wurde; AJSp, A 5856; Auch Conrad Hohe stellte 1791 seinen ersten Antrag, der allerdings erst 1794 angenommen wurde, AJSp, A5856. 211 AJSp, A 5858, Aufnahme ins Epileptikerhaus 1803, Johann Keil.
4.4 Grafschaft Saarbrücken
243
aufgenommen wurden, als glückliche Ausnahmen schätzen, da ihnen im Hospital eine gute Therapie und Pflege zuteil wurde. Es lässt sich also festhalten, dass im Hochstift durchaus Versuche unternommen wurden, Epileptikern eine gute Versorgung zu bieten, die aber keinesfalls flächendeckend oder ausreichend war. 4.4 Grafschaft Saarbrücken Stiftungen und Hospitäler Über die Versorgung in der Grafschaft Saarbrücken-Nassau sind nur wenige Details bekannt. Anhand dieser Informationen soll ein Einblick in die Versorgungslage in der kleinen Grafschaft gegeben werden, was als Beispiel für viele weitere kleinere Territorien dienen kann. In der Grafschaft Saarbrücken wurde – ähnlich wie in Hessen-Kassel – mit der Einführung der Reformation 1575 eine Neuorganisation des Armenwesens durch Philipp III. durchgeführt. In der nassauischen Kirchenordnung wurde die Armenfürsorge nun der lutherischen Landeskirche zugewiesen. Außerdem fasste man die bisher unabhängigen Institutionen der Armenfürsorge in einer gemeinsamen geistlichen Güteradministration in der Kirchenschaffnei zusammen.212 Spätestens seit dem 16. Jahrhundert wurde in SaarbrückenNassau zwischen fremden und einheimischen Bettlern unterschieden, wobei man ersteren das Betteln verbot und ihnen die Versorgung verweigerte. Die Erträge wurden aus Stiftungen nun zentral an Hausarme und Bettler in Form von Speisungen und finanzieller Unterstützung verteilt.213 Wie die Organisation des „gemeinen Kastens“ in dieser frühen Zeit aufgebaut war, ist nur noch schwer nachvollziehbar. Für das 18. Jahrhundert zeigt sich aber, dass sich die Organisation nicht wesentlich von der der bisher dargestellten unterschied: Das Stadtgericht bestimmte unter den Schöffen einen Almosenpfleger oder Armenvogt, der die Armenkasse verwaltete. In diese flossen zum einen die Spenden der Bürger, die sonntags im Gottesdienst gesammelt wurden, zum anderen auch die Zinsen aus den Stiftungen von Bürgern. In der Fürstenzeit gab es in St. Johann zwölf bürgerliche Stiftungen, von denen etwa 20 bis 100 Gulden jährlich in den Kasten flossen.214 Eine solche Stiftung war zum Beispiel die des Gebhard von Spulden, Nassau-Saarbrückischer Oberforstmeister, der im Jahre 1619 3000 Gulden den Armen stiftete. Der Betrag sollte geteilt und jeweils 1500 Gulden zum Besten der „armen, kranken und bresthaften Leute“ der Grafschaft Saarbrücken und der Herrschaft Ottweiler angelegt werden. Die Zinsen sollten durch den Pfarrer, einen Gerichtsmann und den Kirchenschaffner an die Hausarmen in Stadt und Land
212 Wittenbrock, Rolf (Hg.): Geschichte der Stadt Saarbrücken, Saarbrücken 1999, S. 261. 213 Wittenbrock: Geschichte der Stadt Saarbrücken, S. 261. 214 Ebenda, S. 408.
244
4 Fürsorge
verteilt werden.215 Weitere kleinere Stiftungen um das Jahr 1600 umfassten zwischen 20 bis 50 Gulden oder auch Fruchtzuteilungen, wie zum Beispiel die des Saarbrücker Gerichtsmanns Georg Reuther, der den Armen zwei Malter Frucht jährlich zuwies.216 Daneben speiste sich der Armenkasten aus den Zinsen der aus ihm vergebenen Kredite. Die Armenkasse fungierte nämlich über ihre Funktion als Sozialfonds hinaus als Kreditinstitut, in dem Bürger Kapitalien gewinnbringend anlegen konnten. Aus diesem Stammkapital konnten Kredite vergeben werden, die mit einem Zins von fünf Prozent abgetragen wurden. Diese Zinsen wurden jährlich vom Glöckner eingesammelt und flossen zur Unterstützung der Armen ebenfalls in die Armenkasse. Die Gelder wurden dann, wie in anderen Städten auch, an die registrierten bürgerlichen Hausarmen verteilt. Allerdings muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass die Einnahmen der Armenkassen in Saarbrücken eher gering waren. Die festen Ausgaben an Hausarme überstiegen selten zwei Gulden pro Jahr. Daneben wurden auch noch verschiedene Einmalzahlungen, z. B. für Medikamente oder zur punktuellen Unterstützung, aus den Almosenkästen gewährt.217 Neben den Almosenkästen in Stadt und Land übernahmen in der Grafschaft Saarbrücken zuerst das Heilig-Kreuz-Hospital in Saarbrücken und ab 1769 das unter Wilhelm Heinrich errichtete Hospital, Waisen-, Armen-, und Zuchthaus eine wichtige Funktion in der Armenpflege. Das Saarbrücker Heilig-Kreuz-Hospital, das vor der westlichen Vorstadt gelegen war, fand 1440 die erste Erwähnung. Träger des Hospitals scheint zu diesem Zeitpunkt die sogenannte Hofgesindebruderschaft St. Georg gewesen zu sein.218 Obwohl das Spital unter Aufsicht der Georgenbruderschaft stand, unterstand es gleichzeitig der Aufsicht des Stadtgerichtes, das berechtigt war, dessen Jahresrechnungen zu prüfen.219 Da es als multifunktionales Spital eingerichtet worden war, wurden hauptsächlich Alte, Kranke und Gebrechliche aufgenommen, daneben Waisen versorgt und durchreisende Kranke betreut. Zudem übernahm das Hospital die Beerdigung Landfremder, die Armenspeisung und allgemeine Aufgaben der Wohlfahrtspflege. Im Laufe des 15. Jahrhunderts entwickelte es sich in erster Linie zu einem Pfründnerspital.220 Da in der Reformation die Auflösung der Georgenbruderschaft beschlossen worden war, übernahm zuerst die Landesverwaltung die Aufsicht über das Heilig-Kreuz-Hospital. In der Kirchenordnung wurde nun der Superintendent zum Oberaufseher über das gesamte Spitalwesen der Grafschaft gemacht. Das 215 Köllner, Adolph: Geschichte der Städte Saarbrücken und St. Johann, 2. Band, Saarbrükken 1865, S. 493. 216 Köllner: Geschichte der Städte Saarbrücken und St. Johann, S. 492 f. 217 Wittenbrock: Geschichte der Stadt Saarbrücken, S. 408. 218 Klein, Hanns: Das Saarbrücker Spitalwesen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 1 (1975), S. 177–214, hier S. 186 f. 219 Ruppersberg, Albert (Hg.): Geschichte der ehemaligen Grafschaft Saarbrücken, Bd. 3: Geschichte der Städte Saarbrücken, St. Johann und Mallstatt-Burbach, Saarbrücken 1903, S. 637. 220 Klein: Das Saarbrücker Spitalwesen, S, 189 f.
4.4 Grafschaft Saarbrücken
245
Saarbrücker Hospital wurde der Kirchenschaffnei Saarbrücken unterstellt, die sich aus den vereinigten Vermögensfonds der Pfarrgemeinden Alt-Saarbrücken und St. Johann sowie den Fonds der aufgelösten St. Georgsbruderschaft und des Heilig-Kreuz-Hospitals zusammensetzte.221 In einer weiteren Erneuerung des Hospitalwesens 1601 bat allerdings das gemeinsame Stadtgericht von Saarbrücken und St. Johann um die Verwaltung des Hospitals. Da sich unter der Verwaltung der Kirchenschaffnei einige finanzielle Probleme durch Misswirtschaft aufgetan hatten, wurde diese Bitte gewährt, und das Hospital unterstand bis 1730 der Verwaltung des gemeinsamen Stadtgerichtes. Das Hospital wurde immer wieder mit verschiedenen Spenden bedacht. So vermachte Philipp der III. dem Spital 1601 fünfzig Gulden jährlich aus den Gefällen des ehemaligen Klosters Rosenthal. Und auch dessen Gemahlin schenkte dem Hospital 300 Gulden.222 Im 17. Jahrhundert wurde das Hospital dank der großzügigen Förderung durch Graf Ludwig (1602–1626) erweitert. Die Stadt stellte einen neuen Hospitalpfleger ein, der sich gegenüber dem gräflichen Oberamtmann und dem gemeinsamen Stadtgericht Saarbrücken und St. Johann verantworten musste. Beide Institutionen beaufsichtigten die Vermögensverwaltung und entschieden über die Aufnahme von Pfründnern.223 Es lässt sich nicht klären, ob ein Gebäude an das bereits existierende Hospital angebaut wurde oder ob ein eigenständiges Gebäude in der Nähe des Hospitals entstand. Auf jeden Fall wurde ab diesem Zeitpunkt in den Quellen von dem „neuen“ und dem „alten“ Hospital gesprochen. Während das „alte“ Hospital vermutlich wie bisher weitergeführt wurde und Arme, Kranke und Gebrechliche betreute, war das neue Gebäude ausschließlich als Versorgungsanstalt für 15 Pfründner vorgesehen.224 Dadurch stieg die Zahl der zur Verfügung stehenden Aufnahmeplätze des Hospitals, die an 15 „[…] aus dem hiesigen Lande gebürtige alte, arme, bresthafte Personen, die ihr Brot nicht mehr verdienen können […]“ vergeben werden sollten.225 Nicht ganz klar ist allerdings, wie viele Pfründner zuvor bereits versorgt worden waren. Albert Ruppersberg spricht in diesem Zusammenhang von zwei zuvor vorhandenen Pfründen, ohne dass diese Zahl allerdings nachvollziehbar wäre.226 Sicherlich wurden aber zu Beginn des 17. Jahrhunderts nicht wesentlich mehr als 17 bis 20 Pfründner in das Saarbrücker Hospital aufgenommen. Da Pfründner aus der ganzen Grafschaft aufgenommen wurden, blieben die Versorgungsmöglichkeiten durch das Spital deutlich begrenzt. Ende des 17. Jahrhunderts (vermutlich um 1693/94) wurden die Einkünfte und das Vermögen des Saarbrücker Hospitals mit dem vormaligen Heilig221 222 223 224 225 226
Ebenda, S. 202. Köllner: Geschichte der Städte Saarbrücken und St. Johann, Bd. 2, S. 488. Klein: Das Saarbrücker Spitalwesen, S. 206. Ebenda, S. 205. Zitiert aus: Ruppersberg: Geschichte der ehemaligen Grafschaft Saarbrücken, S. 638. Ebenda, S. 638; Friedrich Köllner spricht davon, dass davon auszugehen sei, dass es vorher bereits Pfründen im Heilig-Kreuz-Hospital gegeben habe, er hätte aber außer den 15 von Ludwig gestifteten Pfründen keine nachweisen können: Köllner: Geschichte der Städte Saarbrücken und St. Johann, Bd. 2, S. 489.
246
4 Fürsorge
Geist-Hospital, auch Gutleutehaus genannt, zusammengeführt. Das Saarbrücker Heilig-Kreuz-Hospital wurde damit zur einzigen Spitalanstalt in Saarbrücken. Seine Einkünfte stiegen in der Zeit von 1693/94 bis 1714 von 300 Gulden im Jahr bis 1100 Gulden. Mit diesen Einnahmen wurden Verpflegungskosten für arme Kranke und Verletzte in und außerhalb des Hospitals sowie Arzt- und Arzneikosten, Kostgeld für Waisen, Schul- und Lehrgeld und die Begräbniskosten von Spitalinsassen bestritten. In den Spitalrechnungen ab 1714 wurde nun auch Dr. med Becker, der fürstliche Leibarzt, aufgeführt, der wohl nebenberuflich das Spital mitversorgte.227 Mit der Neuordnung der allgemeinen Landesverwaltung 1730/31 unter der vormundschaftlichen Regentschaft der Fürstin Charlotte Amalia (1728– 1738) erlosch der Einfluss der städtischen Verwaltung auf das Hospital gänzlich. Hatten vorher neben zwei landesherrlichen Beamten noch drei Vertreter des gemeinsamen Stadtgerichtes Einfluss auf die Verwaltung und das Aufnahmeverfahren des Hospitals, wurde die Hospitalverwaltung nun dem neugeschaffenen landesherrlichen Konsistorium unterstellt. Damit war das Saarbrücker Hospital endgültig zum Landeshospital geworden.228 Allerdings befand sich das Hospital mittlerweile in einem schlechten Zustand und konnte somit den Bedürfnissen der Landesuntertanen nicht mehr gerecht werden. Spätestens Ende der 1750er Jahre waren die Kapazitäten des Heilig-Kreuz-Hospitals vollständig ausgelastet, und auf fürstlichen Befehl wurde die Aufnahme von Pfründnern wegen Überfüllung eingestellt.229 Um diesem Problem entgegenzuwirken, plante Fürst Wilhelm Heinrich ab 1761 den Bau eines neuen „Hospital, Waysen-, Armen und Zuchthaus[es]“. Im Juni 1765 erfolgte nach langjähriger Planung die Grundsteinlegung für das neue Hospital am Ludwigsplatz. Eröffnet wurde es am 3. April 1769. In dem weiträumigen dreigeschossigen Gebäude wurden Arme, Alte und Kranke beherbergt, darüber hinaus Findel- und Waisenkinder, außerdem fungierte es als Internat für Gymnasiasten. Im Erdgeschoss des neuen Hospitals befanden sich die körperlich Kranken, die Geisteskranken und die Gefangenen. Die Geisteskranken und die Gefangenen waren in einer geschlossenen Abteilung untergebracht. 1778 wurden die Züchtlinge von den Geisteskranken getrennt, und die Geisteskranken wurden in einem im Hof der Anstalt neuerrichteten Gebäude untergebracht. Ganz oben im Hospital wohnten die Gymnasiasten und vermutlich auch die Waisenkinder. Der mittlere Teil war für die Armen und das Personal eingerichtet.230 In einem Teil wurde zusätzlich ein Zuchthaus eingerichtet, in dem Kriminelle und Arbeitsunwillige unterkamen.231 Die Besetzung Saarbrückens durch französische Revolutionstruppen 1793 führte zu einschneidenden Veränderungen für das neu erbaute Hospital. Die 227 Klein: Das Saarbrücker Spitalwesen, S. 210 f. 228 Ebenda, S. 211 f. 229 Landesarchiv des Saarlandes, Arch. Slg. HV A 581, Akte betreffend die Aufnahme verschiedener Untertanen in das Hospital zu Saarbrücken 1748–1759. 230 Wittenbrock: Geschichte der Stadt Saarbrücken, S. 415. 231 Ebenda; Klein: Das Saarbrücker Spitalwesen, S. 212 f.
4.4 Grafschaft Saarbrücken
247
Besatzer funktionierten das Spital zum Militärlazarett um, und die verbliebenen Pfründner wurden vorübergehend wieder in das alte Spitalgebäude verlegt.232 Ein großer Teil der Anstaltseinnahmen entfiel: Die Einkünfte waren in den Besatzungsjahren dramatisch von 4000 auf 250 Francs gesunken. Da dieser Betrag nicht mehr ausreichte, um die Pfründner weiterhin im Spital verpflegen zu können, wurden die verbleibenden Einkünfte zur häuslichen Armenpflege und zur Unterbringung der Bedürftigsten bei ehrbaren Leuten verwendet. Der Schneider Andreas Schmidt führte beispielsweise ein solches Armenhaus und erhielt für seine Dienstleistungen eine Unterstützung von der Mairie.233 Mit der Einführung des französischen Verwaltungssystem 1798 wurde das Hospitalwesen in Saarbrücken wieder reformiert und die Selbstverwaltungsrechte zugunsten der Aufsichtsrechte von Staat und Stadt beschnitten. Eine neue Verwaltungskomission wurde für das Hospital eingesetzt, zu der neben namenhaften Saarbrücker und St. Johanner Kaufleuten auch Ludwig Bartels, der frühere fürstliche Kammerrat, gehörte. Die Einkünfte des Hospitals waren wieder soweit gestiegen, dass das Hospital erneut besetzt werden konnte. Allerdings fehlte ein geeignetes Gebäude, da das alte Hospitalgebäude am Ludwigsplatz noch immer als Lazarett diente. Nach jahrelangen schwierigen Verhandlungen fand die neue Hospitalkommission 1807 ein bisher als Wirtshaus genutztes Gebäude am Gersweiler Weg. Das „Wahlstersche Haus“ wurde als Domizil für Blinde und Epileptiker, Irre und verlassene hilflose Personen eingerichtet und blieb bis 1905 bestehen.234 Versorgung Über die Versorgung in den einzelnen Institutionen lassen sich nur wenige Angaben machen. So ist es die Überlieferung für das Heilig-Kreuz-Hospital lückenhaft, und es lässt sich lediglich sagen, dass dort mit größter Wahrscheinlichkeit seit seiner Gründung Epileptiker versorgt wurden. Für das 18. Jahrhundert sind etwa 22 Gesuche Fallsüchtiger überliefert, die im Zeitraum von 1734 bis 1808 erfolgten. Davon wurden nur drei zur Zeit der Existenz des Heilig-Kreuz-Spitals gestellt, die meisten erfolgten bereits nach Errichtung des Hospital, Waisen- und Zuchthaus durch Wilhelm Heinrich. Man kann davon ausgehen, dass durch die Errichtung des neuen Gebäudes einfach wieder mehr Kapazitäten zur Versorgung Fallsüchtiger freigeworden waren. Die Versorgungsleistungen des Hospitals umfassten zum einen die Aufnahme Fallsüchtiger, wobei Kranke aus Stadt und Land und sogar aus auswärtigen Oberämtern wie Saarwerden oder Ottweiler aufgenommen wurden.235 Zum anderen unterstützte das Hospital die Armenpflege in Privathäusern.236 232 233 234 235 236
Klein: Das Saarbrücker Spitalwesen, S. 214. Burg, Peter: Saarbrücken 1789–1860, Blieskastel 2000, S. 327 f. Burg: Saarbrücken 1789–1860, S. 328. Köllner: Geschichte der Städte Saarbrücken und St. Johann, Bd. 2, S. 504. Wittenbrock: Geschichte der Stadt Saarbrücken, S. 415.
248
4 Fürsorge
Aus der Hospitalrechnung von 1749 geht hervor, dass es zur Unterstützung von Wahnsinnigen, Fallsüchtigen und Waisen im Hospital sogar einen eigens festgelegten Etat gab, der sich im Jahr 1749 auf 47 fl. und 20 albus belief. Neben diesem Etat wurden Gelder für Fallsüchtige außerhalb des Hospitals vergegeben, die allerdings nicht gesondert aufgeführt wurden, sondern im Etat für „Wöchentliche und jährliche fixe Unterstützungen an Personen außerhalb des Spitals, in Saarbrücken, St. Johann und auf den Dörfern“ enthalten waren. Dieser belief sich 1749 auf 100fl. (siehe dazu untenstehende Tabelle über die Ausgaben des Hospitals um 1749). Hospitalrechnung von 1749: Einnahmen von 2751fl 28 alb. 3 Pfennig, Ausgaben237: Tabelle 2 1. An ausgeliehenen Capitalien
1339 fl.
9 alb.
4 pf.
63 fl
–
–
51 fl.
–
–
100 fl.
–
–
c. Desgleichen für die Erziehung von Waisenkindern
24 fl.
–
–
d. An den Spitalvater für die Pflege der Irrsinigen, Fallsüchtigen und Waisen im Spital
47 fl.
20 alb.
–
Geschenke für Arme, Kranke, Hauszins, Lehrgeld, Reisegeld, Zehrpfennig, Medizin in Stadt und auf dem Land
73 fl.
23 alb.
4 pf.
Collecten für Kirchen, Schulen, Verbrannte
38 fl.
24 alb.
–
Schulgeld für arme Kinder in Stadt und Land
26 fl.
14 alb.
–
Vermessung und Aussteinung des Hospital-Ackerlandes
10 fl.
17 alb.
–
Baukosten im Hospital
20 fl.
4 alb.
4 pf.
101 fl.
2 alb.
2 pf.
2. An Dienstbesoldungen: Dr. Becker 22 fl., Spitalrechner 22 fl. Spitalvater 18 fl. 15 alb 3. Jährliche Beneficia (Pfründen): a. An verschiedene gebrechl. Personen im Hospital, außer dem Brod noch wöchentlich 6 bis 7 alb. thut järlich b. Wöchentliche und jährliche fixe Unterstützungen an Personen außerhalb des Spitals, in Saarbrücken, St. Johann und auf den Dörfern
Ausgabegeld insgemein für Medicamente u. s. w. (N.B. Hierunter sind auch 17 Gld. 10 alb. Zinsen aus der Botzheimischen Stiftung begriffen, die zur Vertheilung an die Pfarrer eingehändigt)
Übernommen aus: Köllner: Geschichte der Städte Saarbrücken und St. Johann, 2. Band, S. 498 f. 237 Köllner: Geschichte der Städte Saarbrücken und St. Johann, 2. Band, S. 498 f.
4.4 Grafschaft Saarbrücken
249
Das Aufnahmeprozedere und die Aufnahmegesuche unterschieden sich nicht wesentlich von denen der bereits für Hessen-Kassel und für Würzburg untersuchten Hospitäler. In das Saarbrücker Hospital wurden in erster Linie nur von der Obrigkeit bestimmte Bedürftige aufgenommen: In der Grafschaft Saarbrücken betraf dies in erster Linie Landeskinder, da das Heilig-KreuzHospital durch die Bemühungen der Fürsten vor allem zum Landeshospital geworden war. Aus den überlieferten Aufnahmevorgängen geht hervor, dass dieses Prinzip strikt eingehalten wurde. Zwar war eine kurzfristige Aufnahme schwer Erkrankter, die keine Landeskinder waren, möglich, doch war das Hospital immer bemüht, schnell eine andere Lösung für deren Unterbringung zu verwirklichen. So wurde 1751 auf Empfehlung des Landphysikus und Hospitalarztes Dr. Becker ein landfremder Husar, der an schweren epileptischen Anfällen litt, im Hospital untergebracht, dort beaufsichtigt und versorgt, doch wurde gleichzeitig nach dessen Eltern geschickt, die ihn zwei Tage später im Hospital abholten und nach Hause brachten.238 Ähnlich wurde auch mit anderen Landesfremden, zum Beispiel mit zugezogenem Dienstpersonal verfahren, die zwar kurzfristig im Hospital versorgt wurden, für die aber baldmöglichst eine Überführung in ihre Heimatgemeinde veranlasst wurde.239 Konnten die Betroffenen ihre Landeszugehörigkeit nachweisen, kamen dieselben Prinzipien zum Tragen, wie sie für die Aufnahme in andere Hospitäler zutrafen: Der Betroffene musste bedürftig sein und anderweitig nicht mehr versorgt werden können. Dabei konnten die Betroffenen in der Grafschaft Saarbrücken entweder um die Aufnahme ins Hospital oder um eine Beisteuer aus dem Hospitalgefälle bei der Hospitalkommission ansuchen. Um eine Beisteuer bemühten sich in der Regel Familien, in denen noch beide Elternteile lebten, die aber selbst nicht genug Geld zur Unterstützung und Pflege des epilepsiekranken, arbeitsunfähigen Kindes aufbringen konnten. Dies wurde entweder mit der schwindenden Arbeitskraft der Eltern begründet oder implizit mit der fehlenden Möglichkeit des Erwerbs, weil der Kranke beaufsichtigt werden musste. In diesen Familien war der Wunsch, sich weiter um die Pflege des Kranken zu kümmern, vorhanden, und einzig finanzielle Schwierigkeiten standen dem im Weg. Den Antragstellern wurden wöchentliche oder jährliche Beihilfen in Form von Naturalien und/oder Geld zur Verfügung gestellt. Die Beihilfen aus verschiedenen Institutionen konnten kombiniert werden: 1750 ordnete die Hospitalkommission an, dem St. Johanner Bürger Thomas Mexer seien zwei Melter vier Faß Korn aus dem St. Johanner Stift zu bewilligen und wöchentlich 15 albus aus dem Hospitalgefälle zu gewähren, um für seinen 22 Jahre alten Sohn zu sorgen, der seit 18 Jahren von der „fallenden Sucht heimgesucht“ sei. 240 Die einzelnen Institutionen der Armenpflege waren also wie in der Stadt Würzburg eng miteinander verknüpft, und das Saarbrücker Hospital war in die Armenfürsorge eingebunden. Reichte die Beisteuer nicht aus, waren die Betroffenen bereit, sich immer wieder an das Hospital zu wenden. 238 StadtSB, Bestand Hospital Nr. 17/1089. 239 Ebenda, Nr. 1/1083 Juli 1772. 240 Ebenda, 18/1136, 2.04.1750.
250
4 Fürsorge
So zum Beispiel Benedict Hacklinger, der 1783 sein erstes Gesuch zur Unterstützung seiner zwei fallsüchtigen Kinder stellte. Ihm wurden auf sein erstes Gesuch hin 3 Gulden jährlich zur Verfügung gestellt, die aber nicht ausreichten, um seine Ausgaben zu decken. So wandte er sich 1785, 1787 und 1789 erneut an das Hospital, um eine Erhöhung seiner Beisteuer zu erreichen. Diese wurde auch tatsächlich von drei auf sechs Gulden jährlich erhöht, und man sprach ihm nach einem weiteren Antrag noch zusätzlich sechs Gulden jährlich aus dem Stift St. Arnual zu.241 Der Hinweis auf Teuerungen wurde vom Hospital durchaus ernst genommen. Denn 1761 bat Nickel Wunn, der zwei kranke Söhne hatte, von denen einer an Engbrüstigkeit und der zweite an Epilepsie litt, um eine Erhöhung seiner Beisteuer, indem er auf die Teuerung hinwies. Seit 1741 bezog er für den epilepsiekranken Sohn Johann Peter etwa sechs Gulden jährlich. Der Pfarrer bestätigte im beigegebenen Schreiben, das bisher gewährte Geld würde wegen des teuren Briketts nicht mehr ausreichen, woraufhin das Hospital Nickel Wunn noch einen Melter Korn aus dem St. Arnualer Stiftsgefällen bewilligte.242 Um Aufnahme in das Hospital, wurde vor allem dann gebeten, wenn nur noch ein Elternteil – meist die Mutter – lebte und die Pflege zu viel Zeit in Anspruch nahm und von den Familienmitgliedern nicht mehr gewährleistet werden konnte. In einigen Fällen wurde die Aufnahme allerdings abgelehnt – vermutlich um Plätze im Hospital frei zu halten oder weil keine Versorgung im Hospital möglich war – und stattdessen eine Beisteuer gewährt.243 Zum Teil versuchte die Obrigkeit in den einzelnen Gemeinden, Epileptiker anderweitig zu versorgen, ohne sie im Hospital unterzubringen, was aber nur in den seltensten Fällen gelang. Beispielsweise schrieb der Schultheiß Rebenack von Lauterbrunn 1788 an das Hospital und bat um eine Beisteuer für die fallsüchtige Anna Maria Reinhard, die er, da sie keine Verwandten mehr hätte, bei anderen Leuten unterbringen wollte. Dazu wurde ihm Geld aus dem Hospital zugesprochen. Letztlich musste Anna Maria Reinhard aber ins Hospital aufgenommen werden, da der Schultheiß niemanden hatte finden können, der bereit war, die epileptische Frau bei sich aufzunehmen.244 Zudem hatte „die Reinhardin“ Angst davor gehabt, sie könne von einem armen Mann des Geldes wegen aufgenommen werden und müsse dann Not leiden. Daher sei er mit ihr einig geworden, dass sie im Hospital besser aufgehoben sei.245 Über die Betreuung und Versorgung der Epileptiker im Hospital ist nur wenig bekannt, doch darf angenommen werden, dass sich der Tagesablauf, die Betreuung und die Seelsorge sich nicht wesentlich von der Praxis in den anderen Hospitälern unterschieden. Auch im Saarbrücker Hospital, Waisen241 242 243 244
Ebenda, Nr.11/1088 Ebenda, 24/1137, 19.09.1759. Ebenda, Nr. 8/1089. Er begründete diese Weigerung mit dem Verweis, „[…] indem sich jedermann besonders weiber, für eine Person mit dergleichen Krankhait scheuen.“, vgl. StadtSB, Bestand Hospital 2/1085. 245 StadtSB, Bestand Hospital, 2/1085.
4.4 Grafschaft Saarbrücken
251
und Zuchthaus wurden die Patienten zu verschiedenen Arbeiten herangezogen. Sie verrichteten beispielsweise Arbeiten in den Krankenstuben,246 und arbeitsfähige Hospitaliten waren für die Pflege und Versorgung ihrer Mithospitaliten verantwortlich: So stand die fallsüchtige Catharina Magdalena Held unter der Mitaufsicht der Beneficarin Weidemann.247 Die Pflege der Fallsüchtigen unterschied sich wohl kaum von der in anderen Hospitälern und setzte sich im Wesentlichen aus Beaufsichtigung und Unterstützung während des Anfalls zusammen. Aus einigen Unterlagen des Saarbrücker Hospitals geht hervor, dass man sich bemühte, zumindest die Kammern für die Epileptiker sicher zu machen. So wurde zum Beispiel am Bett des Hospitaliten Friedrich von Maldiß ein Gatter angebracht, damit er sich bei nächtlichen Anfällen nicht verletzten konnte.248 Für Anna Barbara Schmirer wurde 1745 ein „Matrazenlager“ beantragt, mit der Begründung, sie bräuchte dieses wegen ihrer häufigen Anfälle, damit, wenn sie die fallende Sucht bekomme, das Schlimmste abgewendet werden könne. Für Epileptiker wurde häufiger Kleidung benötigt. In demselben Antrag bat der Hospitalverwalter um neue Kleidung für Anna Barbara, da sie durch die Anfälle schneller abgenutzt würde und zerreiße. Die Kleidung solle diesmal aus festerem Material bestehen.249 Über die sonstige Versorgung der Fallsüchtigen im Hospital ist wenig bekannt. Sie hing vor allem von der wirtschaftlichen Lage des Hospitals ab. Hatte das Hospital Einkünfte und war es nicht überbesetzt, dürften die Hospitaliten eine recht gute Versorgung im Hospital genossen haben. Doch Kriegsund Notzeiten trafen auch das Saarbrücker Hospital und seine Pfründer hart. In den Kriegswirren von 1628 flossen beispielsweise keine Gelder mehr in die Kasse des Hospitals, das seine Pfründner in der Folge nicht einmal mehr mit dem Nötigsten versorgen konnte. So ist überliefert, dass die Pfründner 1629 vor der Stadtbehörde erschienen und klagten, ihnen würde die tägliche Nahrung nicht mehr gereicht.250 Die Umfunktionierung des Hospital, Waisen- und Zuchthauses durch die französischen Besatzer wirkte sich sehr zum Nachtteil für die Pfründner aus, die nun anderweitig untergebracht werden mussten. Besonders hart traf diese Regelung den fallsüchtigen Hospitaliten Andreas Gottlieb. Er war seit 1783 im Spital versorgt worden. 1797 wurde er, weil keine Versorgung im Hospital mehr möglich war, zu Friedrich Brandt geschickt, bei dem er leben und arbeiten sollte. Brandt verpflichtete sich in einem Vertrag mit dem Hospital, dass er sich um Gottlieb so kümmern werde, wie es dessen Krankheit erforderte. Dafür bekam er aus der Hospitalkasse 80 Gulden jährlich für Kost, Verpflegung 246 So wurde „beneficarius“ Neufang 1782 zum Aufwärter des Hospitalpfründners Friedrich von Maldiß gemacht, vgl.: StadtSB, Bestand Hospital, Nr. 1084 und Andreas Gottlieb sollte „zum Nutzen des Hospitals“ Arbeiten verrichten; StadtSB, Bestand Hospital, Nr. 1083. 247 Ebenda, Nr. 15/1083 und 12/1088. 248 Ebenda, Nr. 1084, Oktober 1782. 249 StadtSB, Bestand Hospital, Nr. 11/1089. 250 Köllner: Geschichte der Städte Saarbrücken und St. Johann, 2. Band, S. 497.
252
4 Fürsorge
und Kleidung sowie für Medikamente und den Wundarzt. Leider stellte diese Lösung für Andreas Gottlieb keine echte Alternative dar, da er anscheinend ein schwieriger Patient war und seine Erkrankung seine Pflegefamilie ängstigte. Noch im selben Jahr kündigte Brandt den Vertrag mit dem Hospital, weil „[…] er ihm zu viel Last und Schrecken mache.“251 Für Andreas Gottlieb begann nun eine Odyssee durch verschiedene Familien, die ihn alle nur kurze Zeit aufnahmen oder den Vertrag bereits kündigten, bevor er bei ihnen einzog. Aus den Akten geht zudem hervor, dass er zum Teil stark vernachlässigt wurde. 1813 kam er zur Familie Frank in völlig verwahrlostem Zustand, wo er ein Jahr später verstarb.252 Bei der Untersuchung der Versorgungsmöglichkeiten für Epileptiker in der Grafschaft Saarbrücken lässt sich festhalten, dass durchaus ein Versorgungsanspruch bestand. Epileptiker, die aus einem Dorf oder einer Stadt der Grafschaft stammten, konnten auf eine Aufnahme in das Hospital oder eine Beisteuer aus dem Hospitalgefällen hoffen. Als Saarbrücker Bürger konnte ihnen auch Almosen aus den jeweiligen Stiftsgefällen zugesprochen werden. Allerdings zeigt sich an diesem Beispiel besonders deutlich, wie abhängig die Zuwendungen und die Versorgung im Hospital von der finanziellen Lage der Institutionen waren. Immer wieder kam es beispielsweise vor, dass Gesuche von Epileptikern – auch von anderen Bedürftigen – abgelehnt werden mussten, weil das Hospital überfüllt war oder nicht genug Kapital zu deren Versorgung zur Verfügung stand. Fürst Ludwig verfügte beispielsweise in einer Verordnung von 1782, jegliche Aufnahme zu stoppen: Daß von nun an weder Einheimische noch Fremde zur Verpflegung in das dermaßen mit Ausgaben überladene Hospital zu Saarbrücken, insolange sich deßen Ausgaben nicht genugsam vermindert haben werden, weitere aufgenommen, sondern selbige entweder ihren Anverwandten oder Zunfftgenossen, Bürgerschafften und anderen Gemeinden zur nöthigen Versorgung überlaßen werden sollen.253
Zwar konnten die Finanzlage des Hospitals meist durch großzügige Zuwendungen der Fürsten verbessert werden, doch ist es eher unwahrscheinlich, dass alle, die eine Aufnahme wünschten auch aufgenommen oder vom Hospital unterstützt werden konnten. Beim Vergleich der drei Beispiele zeigt sich, dass arme Epileptiker generell als bedürftig und als einer Fürsorge durch die Gesellschaft und Obrigkeit würdig angesehen wurden. Die Unterschiede in den Fürsorgeangeboten erklären sich vor allem aus der unterschiedlichen Umsetzung dieser Fürsorgepraxis, den finanziellen Möglichkeiten, die den Territorien zur Verfügung standen, sowie aus der Einschätzung der Gefahren einer Ansteckung durch Epileptiker und wie diese gelöst wurden. In allen Territorien hatten Epileptiker Anspruch auf Zuwendungen aus milden Stiftungen und Almosen, die weitgehend von der Obrigkeit zentral verwaltet wurden. Daneben wurden Epilepti251 StadtSB, Bestand Hospital, Nr. 1083 Andreas Gottlieb 1783–1813. 252 Ebenda 253 LaSaar, N-S II 4046 Oberamt St. Johann: Das Hospital und andere pia corpora: Generalia; Verordnungen 1741–1789.
4.5 Außerhalb des obrigkeitlichen Fürsorgesystems
253
kern auch – wie die drei Beispiele zeigen – auf Gesuch Hospitalplätze zur Verfügung gestellt. Während allerdings die Grafschaft Hessen-Kassel und die Grafschaft Saarbrücken Epileptiker mit anderen Patienten zusammen in multifunktionalen Hospitälern unterbrachten – wobei in den Hessischen Hohen Hospitälern versucht wurde, eine Ansteckung anderer Patienten durch die Zusammenlegung von Epileptikern mit Blinden zu minimieren –, wurde im Hochstift Würzburg großer Wert auf die Isolierung von Epileptikern gelegt. Aus diesem Grund wurden die Epileptiker im Hochstift nur in spezialisierte Einrichtungen wie die Siechenhäuser und später das Epileptikerhaus aufgenommen. Eine ähnliche Praxis ließ sich auch in anderen Städten nachweisen: Die Stadt Ulm beispielsweise brachte Epileptiker bereits seit Mitte des 16. Jahrhunderts im sogenannten Fallenden Haus bzw. der Fallenden Stube unter, einer an das dortige Hospital angegliederte Einrichtung für Epileptiker. In ihr wurden zwischen 1550 und 1648 rund 90 Personen versorgt.254 Damit war das Würzburger Epileptikerhaus nicht die erste Isolierstation für Epileptiker und auch kein Einzelfall. Doch lässt sich nicht feststellen, welche Form der Unterbringung für Epileptiker verbreiteter war. 4.5 Außerhalb des obrigkeitlichen Fürsorgesystems In den vorhergehenden Kapiteln konnte gezeigt werden, dass es verschiedene Formen der Versorgung für Epileptiker gab: Die erste Anlaufstelle in der Not war die Familie. War es dieser nicht möglich, den Kranken zu versorgen oder hatte der Betroffene keine Familie mehr, bestand die Möglichkeit, sich an die obrigkeitlich initiierte Fürsorge zu wenden. Diese umfasste zum einen die offene Armenfürsorge in Form von wöchentlichen Geldzahlungen oder Naturaliengaben, zum anderen die geschlossene Armenfürsorge in Form der Unterbringung in einem Spital. Wie gut oder schlecht sich die Versorgung von Fallsüchtigen in diesem System nun generell gestaltete, ist aufgrund der Quellenlage schwer zu beurteilen, denn es ist weder bekannt, wie viele Bedürftige es tatsächlich gab, noch wie viele in den einzelnen Institutionen Aufnahme fanden oder wie viele im Vergleich unversorgt blieben. Die vorhergehenden Beispiele haben allerdings gezeigt, dass die Frage der guten oder schlechten Versorgung und die Möglichkeit, in einer der zahlreichen Institution Aufnahme zu finden, vor allem von den Angeboten und finanziellen Möglichkeiten des Territoriums abhing. So nahmen die Hessischen Hohen Hospitäler Haina und Merxhausen in einem Zeitraum von 200 Jahren um die 470 Epileptiker auf, die städtischen Hospitäler übernahmen ebenfalls eine Versorgungsfunktion für städtische Epileptiker, und wahrscheinlich konnten sie auch Beihilfe beim jeweiligen örtlichen Armenkasten finden. Im Hochstift Würzburg war die Versorgung in der Stadt durch verschiedene Stiftungen wie zum Beispiel dem Sondersiechen254 Kinzelbach: Gesundbleiben, Krankwerden, Armsein, S. 335 und 342.
254
4 Fürsorge
haus und der Almosenpflege zumindest ansatzweise abgedeckt, zudem wurden Epileptiker Ende des 18. Jahrhunderts auch im eigens für sie geschaffenen Epileptikerhaus untergebracht. Es gab also durchaus verschiedene Institutionen, die sich Epileptikern annahmen. Allerdings reichten die Aufnahmekapazitäten nicht immer aus, und lange Wartelisten entstanden. In einigen Fällen mussten Aufnahmegesuche wegen Platz- und Geldmangels sogar ganz abgewiesen werden. Das bedeutet, dass es zwar Stiftungen gab, die sich bedürftiger Epileptiker annahmen, dass die Kapazitäten solcher Institutionen aber je nach wirtschaftlicher und politischer Lage oft nicht für alle Antragsteller ausreichten. Was geschah nun mit Bedürftigen, wenn aus Mangel an Geld und Platz keine Unterstützung für sie möglich war? Vermutlich konnten sie, wenn sie vom Hospital eine Absage erhielten, von anderen Institutionen Beihilfen bekommen. In den vorigen Kapiteln wurde deutlich, dass einzelne Institutionen miteinander verflochten waren und sich gegenseitig unterstützten. Zudem gab es wohl Verknüpfungen mit außerobrigkeitlichen Institutionen wie Bruderschaften. Die Zünfte als Solidargemeinschaft gewährten bedürftigen Zunftmitgliedern zum Teil großzügige Geldmittel aus den Zunftkassen, um ihnen weiterzuhelfen: So wurden kranken und arbeitsunfähigen Meistern aus der Zunftkasse Darlehen gewährt, und die Mitglieder halfen sich bei Krankheit oder Unfall in der ersten Zeit gegenseitig aus, indem sie dafür sorgten, dass die Arbeit eines Meisters nicht zum Erliegen kam. In einigen Zunftordnungen lassen sich regelmäßige Zahlungen an erkrankte Zunftmitglieder nachweisen.255 Als beispielsweise der an Epilepsie erkrankte Tischlermeister Johann Philipp Oeding 1751 die Tischlergilde in Wolfenbüttel um Unterstützung ersuchte, weil er aufgrund seines Leidens „ganz heruntergekommen“ war und nicht mehr alle Arbeiten zufriedenstellend erledigen konnte, diskutierten die Meister der Gilde darüber, ob sie dem Zunftbruder einen bestimmten Betrag quartaliter aus der Zunftkasse zur Verfügung stellen sollten. Das Gesuch wurde letztlich abgelehnt, „[…] da oedings Frau dem vernehmen nach alles durchbrächte“, und Johann Oeding wurde stattdessen an die Direktion der örtlichen Armenanstalt verwiesen.256 Den Zunftgenossen standen hier also durchaus Gelder zur Verfügung. Außerdem unterhielten die Zünfte Betten in Hospitälern, die für erkrankte Zunftmitglieder bestimmt waren. Für die Gesellen finden sich ähnliche Leistungen in den Gesellenverbänden.257 Allerdings hing die Versorgung in hohem Maß von den Möglichkeiten der Zunftkassen ab, die meist keine längere Versorgung gewährleisten konnten.258 Ein interessantes Arrangement wurde unter Mitwirkung der Hochfürstlichen Regierung des Amtes Stauffenberg zur Versorgung des epileptischen Pastors Kestner in Mönchhof getroffen. Dessen Gemeinde hatte 1719 ein Gesuch an die Hochfürstliche Regierung gestellt, in dem sie um die Absetzung des 255 256 257 258
Fröhlich: Zünfte und Gesellenverbände, S. 142–160. StaWolfenbüttel, 34 N Nr. 2500. Fröhlich: Zünfte und Gesellenverbände, S. 142–160. Ebenda, S. 77–88.
4.5 Außerhalb des obrigkeitlichen Fürsorgesystems
255
derzeitigen Pastors Kestner baten, weil dieser aufgrund seiner Erkrankung sein Amt nicht mehr richtig versehen könne: So bekäme er Anfälle im Beichtstuhl, auf der Kanzel und sogar beim Heiligen Abendmahl, wodurch er die Oblaten verstreue. Außerdem habe sein Gedächtnis infolge der vielen Anfälle dermaßen gelitten, dass er zuweilen vergesse, welches Evangelium er bereits gelesen habe oder manche Evangelien aus Zerstreutheit gar nicht lese. Deshalb hatten sich die Gemeindemitglieder zusammengeschlossen, um die hochfürstliche Regierung um die Absetzung des alten und um die Berufung eines neuen Pastors zu bitten. In ihrem Gesuch machten sie allerdings deutlich, sie würden nicht wollen, dass ihr derzeitiger Pfarrer dadurch unversorgt bliebe, und sie baten die Regierung deshalb, eine Möglichkeit für seine Versorgung zu finden.259 Die Regierung reagierte prompt, setzte den alten Pfarrer ab und begann mit der Suche nach einem Nachfolger, der den Abgesetzten mitversorgen sollte. Zu diesem Zweck sollten die Kandidaten bei ihrer Bewerbung um die Stelle erklären, wie sie ihren Vorgänger versorgen wollten. Der Bewerber Julius Henrich, der vorher Pastor zu Gandersheim gewesen war, erklärte sich bereit, Kestner im Haus und am Tisch zu behalten und ihn zu verköstigen und ihm darüber hinaus auch noch 12 Reichtaler jährlich für seine Kleidung zur Verfügung zu stellen.260 Der zweite Kandidat Johann Peter Otto, ein 33-jähriger Theologiestudent, erbat dagegen von den 100 Reichthaler jährlich, die die Pfarrei abwarf, nur 30 für sich selbst. Darüber hinaus könne Kestner weiterhin im Pfarrhaus leben. Pastor Kestner, der in die Entscheidung um seinen Nachfolger miteinbezogen wurde, entschied sich, für den letzten Kandidaten, weil dieser ihn besser versorgen würde. Die Stelle wurde also unter dem Vorbehalt, dass der alte Pastor das Amt wieder übernehmen könne, sollte er von seiner Krankheit genesen, mit Johann Peter Otto besetzt.261 Wahrscheinlich waren solche Arrangements eher selten und nur für einen kleinen Teil der Bedürftigen möglich. Konnten Bedürftige keine Unterstützung irgendeiner mildtätigen Stiftung erlangen oder reichte die gewährte Unterstützung nicht aus, blieb den Betroffenen nichts anderes übrig, als sich auf die Mildtätigkeit ihrer Umgebung zu verlassen. Denn obwohl der Bettel und das private Almosengeben offiziell verboten waren, hörte diese Form der Unterstützung auch noch im 18. Jahrhundert und 19. Jahrhundert nie völlig auf zu existieren. Gerade sesshafte Arme, die in einer Gemeinde integriert waren, konnten auf ein gewisses Sozialkapital zurückgreifen, in dem sie vor den Haustüren in ihrer näheren Umgebung und bei Bekannten bettelten.262 Dabei scheint der Übergang zwischen institutioneller Versorgung und Bettel zum Teil fließend gewesen zu sein. In den Aufnahmegesuchen gerade für das Epileptikerhaus in Würzburg und für das Saarbrücker Hospital erwähnten einige Betroffene, sie hätten sich bis dahin mit Betteln durchgebracht und hofften 259 260 261 262
StaWolfenbüttel, 8 Alt Stauf Nr. 821, fol 1r-v. Ebenda, fol. 2 f. Ebenda, fol 4. Rheinheimer, Martin: Arme, Bettler und Vaganten: Überleben in der Not 1450–1850, Frankfurt a. M. 2000, S. 139.
256
4 Fürsorge
nun auf eine Unterstützung im Hospital. So schilderte Marie Rouget, die eine fallsüchtige Tochter zu versorgen hatte, in ihrem Gesuch an das Saarbrücker Hospital, weil sie ihre Tochter nicht alleine lassen und deshalb keiner Arbeit nachgehen könne, müsse sie ihrem ganzen Dorf zur Last fallen, wo sie als Bettelfrau lebe.263 Der häufige Neuerlass der Bettelordnung und die ständigen Bekräftigungen des Bettelverbotes in Würzburg deuten darauf hin, dass sich dieses Verbot von der Obrigkeit nicht durchsetzten ließ und Betroffene weiterhin bettelten, wenn ihre Versorgung nicht gewährleistet war.264 Wie die Praxis des Bettelns genau aussah, das heißt, welche Gruppen nun bettelten und wie weit die Bettler die nähere oder weitere Umgebung auf der Suche nach Unterstützung miteinbezogen, ist aufgrund der schlechten Quellenlage schwer zu beurteilen. Eine interessante Mikrostudie zu diesem Thema hat Frank Präger verfasst. Seiner Untersuchung der Almosenlisten des Spitals Langenzenn aus dem 18. Jahrhundert zufolge gab das Hospital zu Langenzenn Almosen sowohl an ortsfremde als auch an ortsarme Bedürftige aus und verzeichnete diese Vergabe sehr detailliert. Es zeigte sich, dass es unter den Bettlern Sesshafte gab, die nur zeitweise ihren Wohnort verließen, um sich den nötigen Lebensunterhalt zu erbetteln. Dies geschah zum Beispiel, wenn die Betroffenen keine Arbeit finden konnten oder die Armenkasse am Ort bzw. ihre Verwandtschaft ihnen nicht genügend Unterstützung gewähren konnte. Unter diesen Bettlern befanden sich sogar Personen, die in einer Versorgungsanstalt untergebracht waren oder Unterstützung durch ihren Kirchensprengel erhielten. Reichte das Geld für die Ernährung oder für notwendige Medikamente oder Kuren nicht aus, dann gingen sie in andere Orte, um zu betteln. Als Anlaufstellen wurden fremde Hospitäler und andere Institutionen genutzt, die an fremde Bettler einmalige oder mehrmalige Spenden vergaben.265 In der näheren Umgebung des Langenzenner Hospitals verteilten beispielsweise das Bürgermeisteramt der Stadt Langenzenn und das des fünf Kilometer entfernte Laubendorf bestimmte Summen an ortsfremde Bettler. Von den inoffiziellen Spenden von Dorf- und Stadtbewohnern einmal abgesehen, hatten Bettler hier also ihnen bekannte Anlaufstellen, um ein Almosen zu erhalten.266 Die Umgebung von Langenzenn bildete hier keine Ausnahme, auch für Orte im Hochstift Würzburg, zum Beispiel Haßfurth und Würzburg, lässt sich eine solche Praxis in den Bürgeramtsmanualen267 und Almosenrechnungen268 nachweisen. Allerdings können diese Almosen nur als kurze, punktu263 264 265 266 267
StadtSB, Bestand Hospital Nr. 8/1089. STAW, Ms. f. 713. Präger: Das Spital und die Armen, S. 127. Ebenda, S. 121–125. In den Bürgeramtsmanualen des Stadtarchivs Haßfurth wurde explizit zwischen den Ausgaben an Hausarme und ortsfremde, durchreisende Bettler unterschieden: StadtH, Rechnungen 592–600. 268 In der Reichen Almosenpflege, die durchreisenden Kranken Geld gab, wurde im März 1688 beispielsweise „[…] einem armen Mann welcher die fallende Krankheit [hat] […]“ 3 albus gegeben, vgl. StadtW, Ratsakte 2645, Rechnung der Reichen Almosenpflege.
4.5 Außerhalb des obrigkeitlichen Fürsorgesystems
257
elle Hilfe angesehen werden, denn sie waren selten höher als einige Kreuzer und richteten sich nach dem Stand des Almosenempfängers. So belief sich die höchste Summe, die an einen Epileptiker vergeben wurde, auf 20 Kreuzer, weil er ein verarmter Adeliger war.269 Normalerweise beliefen sich die Spenden auf etwa drei bis vier Kreuzer. Fallsüchtige Handwerker konnten zwischen sechs bis zehn Kreuzer erhalten.270 Auch waren die Spenden meist Einzelgaben oder wiederholten sich jährlich lediglich ein- oder zweimal. Der weitaus größte Teil der 153 ortsfremden Almosenempfänger, die unter Epilepsie litten, nahmen nur zwei- bis dreimal in ihrem Leben Almosen vom Hospital in Langenzenn in Empfang. Nur etwa 40 der 153 Almosenempfänger kehrten jährlich wieder und bezogen über einen längeren Zeitraum vom Hospital Zuwendungen. Das Hospital konnte also nur punktuelle Hilfe leisten, die aber keine Verbesserung der Grundsituation mit sich brachte.271 Allerdings zeigt sich in Frank Prägers Studie auch, dass das Hospital nur eine Anlaufstelle für die Betroffenen darstellte. Die Almosenempfänger des Spitals sowie die der Bürgermeisterämter von Langenzenn und von Laubdorf waren oftmals dieselben. Es handelte sich also um ortsfremde Bettler, die sich an mehre Anlaufstellen wandten und vielleicht systematisch abwanderten. Weitere Anlaufstellen bildeten – wie Frank Präger herausarbeiten konnte – Kirchen, Klosterämter und – vor allem für ziehende Handwerksburschen, die arbeitsunfähig geworden waren – die Zünfte.272 Unter der Klientel des Hospitals zu Langenzenn befanden sich in erster Linie abgedankte Soldaten, umherziehende Handwerker und deren Frauen. Dies bestätigte sich auch für ortsfremde Epileptiker, die dank der detaillierten Almosenlisten Langenzenns, in denen die Gebrechen der Almosenempfänger verzeichnet wurden, gesondert untersucht werden konnten. Die Bettler stammten weniger aus umliegenden Städten wie Nürnberg oder Würzburg, sondern aus ländlichen Gebieten und Dörfern. Es ist deshalb also anzunehmen, dass die Versorgung in der Stadt wohl doch die wichtigsten Bedürfnisse deckte, während die obrigkeitliche Unterstützung auf dem Land nicht immer ausreichend war.273 Allerdings waren diese Institutionen nicht nur eine Anlaufstelle für sesshafte Bettler, sondern auch für vagierende Arme, die von der Obrigkeit meist nicht als Bedürftige anerkannt wurden. Zu diesen gehörten zum einen Arbeitslose, die sogenannten starken Armen, die zwar arbeitsfähig waren, aber keine Arbeit hatten, zum anderen Bedürftige, die stadt- oder landfremd waren. Diesen letzteren wurde zwar generell ein Versorgungsanspruch zugebilligt, doch galt schon seit der 1530 erlassenen Reichspolizeiordnung, dass sie in ihrer 269 Präger: Das Spital und die Armen, Microfiche Beilage, S. 622, Christoph von Serelau. 270 Ebenda, Microfiche-Beilage, vgl als Beispiele: Elisabeth Barbara Reuter, S. 580; Sebastian Reichel, S. 571; Johann Haim, S. 329, Johann Thomas Weiß, S. 774. 271 Die Angaben beziehen sich auf die Auswertung einer Auflistung aller Almosenempfänger des Hospital Langenzenns, die Frank Präger seiner Studie beigelegt hat: Präger: Das Spital und die Armen, Microfiche-Beilage. Unter diesen fanden sich 157 Epileptiker, 153 ortsfremde, 4 Langenzenner Bürger. 272 Präger: Das Spital und die Armen, S. 121–125. 273 Ebenda, S. 127.
258
4 Fürsorge
Heimatgemeinde zu versorgen seien.274 Alle Bedürftigen, die keine Stadtbürger oder Landeskinder waren, sollten demnach in ihre Heimatgemeinden zurückgeschickt werden. In der Praxis bedeutete dies aber für eine unbestimmte Anzahl an Armen, dass sie durch das – in vielen Gebieten sowieso nicht sehr engmaschig geflochtene – obrigkeitliche soziale Fürsorgenetz fielen. Von dieser Regelung besonders betroffen waren umherziehende Soldaten und Handwerksgesellen sowie Gesinde, das jahre- oder jahrzehntelang fernab der ursprünglichen Heimat gelebt hatte und dem weder ein Versorgungsanspruch in der Stadt/Gemeinde, in der sie nun lebten, noch in ihrer Heimat zugesprochen wurde. Konnten diese Personen nicht doch einen Versorgungsanspruch in ihrer Wahlheimat geltend machen – in Würzburg wurden im Ehehaltenhaus beispielsweise bedürftige Bedienstete auch ohne Bürgerrecht aufgenommen, wenn sie nachweislich schon sehr lange in Würzburg gedient hatten – bedeutete dies für viele ein Abgleiten in die Nicht-Sesshaftigkeit. Sie zogen als bettelnde Vaganten umher. Es lässt sich nicht nachvollziehen, wie viele fallsüchtige Arme dieses Problem tatsächlich betraf. Doch lassen sich in verschiedenen Almosenrechnungen von Städten und Hospitälern, die immer wieder gelegentlich Geld an auswärtige Bettler verteilten und dies aufzeichneten, bettelnde und umherziehende Fallsüchtige finden. So wurden zum Beispiel im Hospital zu Langenzenn immer wieder Almosen an umherziehende Fallsüchtige verteilt. Da diese Fallsüchtigen keine feste Bleibe hatten, übernachteten sie in Armen- und Hirtenhäusern, in Scheunen, Mühlen und Feldscheuern, zum Teil versuchten sie sogar, sich in Backöfen vor der Kälte zu schützen. Dabei konnte es zu schweren Unfällen kommen, wie dies zum Beispiel im März 1746 in Großreuth bei Nürnberg geschah. Dort hatte ein unbekannter preußischer Soldat, der an der epileptischen Krankheit litt, wegen der Kälte in dem Gemeindebackofen Zuflucht gesucht und wurde am nächsten Morgen mit Verbrennungen tot aufgefunden.275 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass arme Epileptiker von der Obrigkeit und ihrer Umgebung durchaus als wahre Bedürftige, denen eine Versorgung durch die Gesellschaft zustand, wahrgenommen wurden. Zu ihrer Versorgung gab es verschiedene Institutionen, an die sich bedürftige Epileptiker und deren Familien wenden konnten: So standen Epileptikern Plätze in Hospitälern zur Verfügung, oder sie konnten Zuwendungen aus Armenkästen, Kirchenstiften und privaten Stiftungen erhalten oder auch Hilfe bei Bruderschaften finden. Die Dichte und Organisation dieser Institutionen sowie ihre Verknüpfung gestaltete sich, wie anhand der Beispiele der Landgrafschaft Hessen-Kassel, 274 Schnabel-Schüle, Helga: Wer gehörte dazu?-Zugehörigkeitsrechte und die Inklusion von Fremden in politische Räume, in: Andreas Gestrich/Lutz Raphael (Hg.): Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M./Berlin/Bern u. a. 2004, S. 51–62, hier S. 54 f. 275 Präger: Das Hospital und die Armen, S. 129.
4.5 Außerhalb des obrigkeitlichen Fürsorgesystems
259
des Hochstifts Würzburg und der Grafschaft Saarbrücken deutlich geworden ist, jedoch regional sehr unterschiedlich. Die finanzielle Situation der Institutionen war davon abhängig, wie viele Mittel die Stadt oder auch der Landesherr bereitstellen konnten und wie groß das Interesse der Obrigkeit an diesen Institutionen war. Je nach Region war die Versorgung von Bedürftigen also besser oder unzureichender. In einigen Territorien gab es darüber hinaus spezielle Angebote für Epileptiker, wie dies im Hochstift Würzburg der Fall war, während Epileptiker in anderen Gebieten, wie zum Beispiel der Landgrafschaft Hessen-Kassel oder in der Grafschaft Saarbrücken, mit anderen Bedürftigen in multifunktionalen Hospitälern behandelt und versorgt wurden. Trotz vielfältiger Bemühungen erhielten aber wohl nicht alle bedürftigen Epileptiker die benötigte Unterstützung. War dies der Fall, mussten sie ihre Einkünfte durch gelegentlichen Bettel, möglicherweise auch mit kleinen Gelegenheitsarbeiten aufbessern. Im schlimmsten Fall glitten sie in die Nicht-Sesshaftigkeit ab und waren gezwungen, ein Leben als Vaganten zu führen.276 Dabei kann letztlich nicht geklärt werden, wie groß der Anteil dieser unversorgten Epileptiker gegenüber ihren versorgten Leidensgenossen tatsächlich war.
276 Ammer, Gerhard: Heimat Straße. Vaganten im Österreich des Ancien Régime (= Sozialund Wirtschaftshistorische Studien, Bd. 29), Wien 2003.
5 Fazit Ziel dieser Arbeit war es, die Wahrnehmung und das Bewältigungsverhalten von Epileptikern in deutschsprachigen Gebieten des 16. bis 18. Jahrhunderts zu untersuchen und ihre Lebensumstände zu rekonstruieren. Ausgegangen wurde nicht von einer modernen Epilepsie-Definition, sondern im Zentrum der Untersuchung stand sowohl die Wahrnehmung und Deutung der Erkrankung als auch der Umgang mit den Erkrankten im zeitgenössischen Kontext. Gleichzeitig wurde dem Epileptiker als wahrnehmendem und handelndem Akteur ebenso Rechnung getragen wie den Abhängigkeiten, sozialen Deutungen und Rahmenbedingungen, die sein Leben beeinflussten. Neben den Deutungsmustern von Heilern und Ärzten wurde die Wahrnehmung der Erkrankung aus der Perspektive der Betroffenen und aus der Perspektive von Außenstehenden in den Blick genommen. Außerdem wurde der Frage nachgegangen, in welche gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Epileptiker eingebettet waren und welche sozialen Folgen sich aus diesen und aus der Wahrnehmung der Erkrankung ergaben. Über die Wahrnehmungs- und Gesellschaftsebene hinaus wurde ergründet, welche Strategien Erkrankte und nächste Angehörige im Umgang mit der Erkrankung und zur Bewältigung der Probleme und sozialen Folgen der Erkrankung entwickelten. Es hat sich gezeigt, dass sich im Untersuchungszeitraum die medizinische Wahrnehmung der Epilepsie infolge des Humanismus und der Aufklärung änderte. Ein Wandel in den Bewältigungsstrategien oder den sozialen Folgen fand dagegen kaum statt. 5.1 Wahrnehmung Die Wahrnehmung der Epileptiker und der darauf aufbauende soziale Umgang mit ihnen hingen – wie bei anderen Krankheiten auch – in erster Linie mit der Deutung der Erkrankung zusammen. Dabei hat sich in der Untersuchung gezeigt, dass die Epilepsie sowohl von Medizinern als auch von medizinischen Laien keineswegs eindimensional als dämonische Erkrankung oder Besessenheit wahrgenommen wurde. Die Deutung als Besessenheit spielte – von wenigen Ausnahmen wie beispielsweise dem katholischen Priester und Exorzisten Johann Joseph Gaßner Ende des 18. Jahrhunderts abgesehen1 – in der zeitgenössischen Wahrnehmung keine Rolle, weil die beiden Zustände prinzipiell voneinander unterschieden wurden. Zwar stellten Theologen und Ärzte gleichermaßen fest, Epilepsie ähnele der Besessenheit bisweilen, da Letztere ebenfalls mit Konvulsionen einhergehen und dadurch wie eine einfache Epilepsie erscheinen könne, wodurch eine Unterscheidung nicht immer leicht falle. Im Zweifelsfall wurde aber die Deutung der Epilepsie als eine natürliche Krankheit favorisiert. Erst 1
Kapitel 2.4, S. 79–85.
5.1 Wahrnehmung
261
wenn keine Behandlung zum Erfolg führte oder sich deutliche Zeichen einer Besessenheit – wie das Sprechen in einer fremden Sprache, übermenschliche Kräfte oder das Ausspeien von Gegenständen – zeigten, wurde der Betroffene von den Zeitgenossen nicht mehr als Epileptiker wahrgenommen, sondern galt als besessen.2 Die Epilepsie konnte in der Wahrnehmung der frühneuzeitlichen Bevölkerung allerdings durchaus dämonischen oder zauberischen Ursprungs sein: Der Teufel oder seine Handlanger, die Hexen, waren nach zeitgenössischer Interpretation in der Lage, jede natürliche Krankheit zu verursachen, dementsprechend auch Epilepsie. Allerdings unterschieden sich die Vorstellungen von Theologen, Medizinern und der ungebildeten Bevölkerung darüber, wie Teufel und Hexen dies vollbrachten. Theologen und Mediziner waren sich prinzipiell einig, dass es dem Teufel möglich war, Krankheiten durch eine übernatürliche Beeinflussung der Körpersäfte zu verursachen. Im 16. Jahrhundert diskutierten sie darüber, wie weit die Macht des Teufels reiche und unter welchen Umständen Gott, dem der Teufel nach zeitgenössischer Auffassung unterstellt war, diese Einflussnahme zuließ. Noch weiter gingen die Meinungen darüber auseinander, inwieweit Hexen tatsächlich Krankheiten verursachen konnten und ob sie diese aus eigener Kraft, mit Hilfe von Gift oder nur durch die Kraft des Teufels bewirkten. Während einige Theologen und Mediziner sowohl dem Teufel als auch den Hexen allumfassende Möglichkeiten zusprachen und deren Grausamkeit betonten, sahen andere – wie beispielsweise der Arzt Johannes Weyer – die Einflussnahme des Teufels und der Hexen skeptisch und diagnostizierten im Zweifelsfall eine hartnäckige natürliche Krankheit oder gingen von Betrug aus, bevor sie die Krankheit als eine teuflische akzeptierten. Da sich diese Diskussion nicht auf die Epilepsie beschränkte, sondern alle Krankheiten und Schadenszauber einschloss, soll hier nicht im Detail auf sie eingegangen werden.3 Sie war zudem eher auf ein gebildetes Publikum beschränkt und hatte wenig Einfluss auf die Vorstellungen der ungebildeten Bevölkerung, die sich wenig bis gar nicht mit der Idee beschäftigte, der Teufel manipuliere Körpersäfte. Dagegen war der Glaube an Schadenszauber und angehexte Krankheiten durchaus verbreitet. In dieser Vorstellungswelt konnte eine böse Zauberin oder Hexe durch Anblasen, Bestreichen und weitere magische Handlungen Krankheiten bei ihren Opfern verursachen. Wurde als Ursache einer Epilepsie oder anderen Krankheit ein Schadenszauber vermutet, galt es, den Verursacher zu finden und unschädlich zu machen oder ihn dazu zu bewegen, den Zauber wieder aufzuheben. Darüber hinaus gab es die Möglichkeit, einen magischen Spezialisten zu dem Fall hinzuziehen, der durch einen Gegenzauber den angerichteten Schaden wieder gutmachen konnte.4 Parallel dazu existierte die Deutung der Epilepsie als natürliche Erkrankung, die durchaus nicht nur von Medizinern vertreten wurde, sondern auch 2 3 4
Ebenda, S. 67–74. Ebenda, S. 74–77. Kapitel 2.3, S. 60–65.
262
5 Fazit
unter medizinischen Laien bis hin zu der ungebildeten Bevölkerung eine breite Akzeptanz fand. Die natürliche Deutung fußte auf einer langen Tradition, die bis in die Antike zu Hippokrates‘ Schrift „De morbo sacro“ zurückreichte und auf die sich besonders akademisch ausgebildete Ärzte stützten. Die Krankheitserklärung basierte auf der hippokratisch-galenischen Säftelehre, die die Ursache der Erkrankung in einer Blockierung der Ventrikel des Gehirns sah, durch die keine Luft mehr zum Gehirn transportiert werden konnte, worauf der Betroffene bewusstlos wurde und dessen Körper mit Krämpfen reagierte. Diese hippokratisch-galenische Deutung und Ursachenerklärung wurde im Lauf des 16. bis 18. Jahrhunderts von akademisch ausgebildeten Ärzten auf der Grundlage eigener Beobachtungen und Obduktionen ergänzt und erneuert.5 Die Theorie, die Gehirnventrikel würden durch Säfte blockiert, wurde bereits im 16. Jahrhundert durch den französischen Arzt Jean Fernel dahingehend modifiziert, dass die Gehirnventrikel eher durch saure Dämpfe gereizt würden und darauf mit schüttelnden Bewegungen reagierten. Diese neue Epilepsie-Theorie fand breiten Anklang unter den Ärzten, dennoch blieb die traditionelle Erklärung weiterhin bestehen. Besonders im 17. Jahrhundert beeinflussten neue Forschungen und Erkenntnisse in der Physik und Chemie auch die medizinischen Vorstellungen, und es entwickelten sich unterschiedliche medizinische Schulen, die den Körper und dessen Erkrankungen durch ihre Modelle erklärten: die iatrophysische, iatrochemische und animistische Richtung. Diese entwickelten aus ihrer Schule heraus jeweils eigene Theorien zu der Funktionsweise und den Ursachen der Epilepsie. Die iatrophysische Schule begriff den Körper in erster Linie als mechanische Einheit, in dem Körperfunktionen nach den Gesetzen der Physik rein mechanisch abliefen. Daher erklärten die Vertreter dieser Theorie die Epilepsie durch eine Kontraktion des Gehirns, ausgelöst durch einen Blutstau im Kopf oder einen äußeren Erreger, der dazu führe, dass das Gehirn mehr und unregelmäßig Nervenflüssigkeit in die Muskeln pumpe, was zu den Krämpfen führe. Durch die heftige Kontraktion der harten Hirnrinde käme es zum Bewusstseinsverlust. Dagegen führten die Iatrochemiker Krankheiten auf fehlerhaft ablaufende chemische Reaktionen im Körper zurück. Sie sahen die Epilepsie als Folge eines übersäuerten Körpers an, der saure Dämpfe produziere, die das Hirn reizten, das darauf mit Bewusstseinsverlust und epileptischen Krämpfen reagiere. Die Animisten vertraten schließlich ein Leib-Seele-Konzept, nach dem die Epilepsie durch eine Überreaktion der Seele hervorgerufen werde, die über den Körper wache und dessen Funktionen reguliere. Die Seele reagiere auf einen eingebildeten Schadstoff, den sie durch Krämpfe aus dem Körper befördern wolle.6 Da die neuen Erklärungsmodelle, wie die ursprüngliche Säftelehre, die Körperreaktionen bei Epilepsie auf ein Ungleichgewicht im Körper und auf schädliche Substanzen zurückführten, hatten diese neuen Körpervorstellungen nur begrenzten Einfluss auf die Behandlung, die sich noch immer auf das 5 6
Kapitel 2.2, S. 31–36. Ebenda, S. 37–41.
5.1 Wahrnehmung
263
Prinzip der Reinigung stützte und sich traditioneller Therapien wie Aderlass, Diät und Pharmazeutika bediente. Neu hinzu kamen lediglich chemische Medikamente, die sich auf der Grundlage der neuen iatrochemischen Theorien und alchemistischer Traditionen entwickelten und das chemische Gleichgewicht des Körpers wiederherstellen sollten. Außerdem verschob sich der Fokus in der Arzneimittelgabe im Laufe des Untersuchungszeitraums, vor allem im 18. Jahrhundert, in dem althergebrachte Spezifika wie der pulverisierte menschliche Schädel von Medizinern zunehmend kritisch hinterfragt wurden.7 Neben dieser traditionellen hippokratisch-galenischen Vorstellung zur Epilepsie entwickelte sich in der Renaissance unter dem Einfluss neoplatonischen Gedankengutes eine neue Weltanschauung, die durch Neuübersetzungen platonischer, nach-platonischer und hermetischer Schriften aus dem Griechischen entstanden war. Die Neoplatoniker nahmen die Welt und die göttliche Sphäre nicht als getrennte Bereiche wahr, wie dies die bis dahin vorherrschende aristotelische Vorstellung voraussetzte, sondern als einen großen Makrokosmos, dessen Teile miteinander in Verbindung stünden und durch kosmische Strahlung durchdrungen seien. Der Mensch war in diesen Vorstellungen ebenfalls Teil des Makrokosmos und seine Körperfunktionen wurden durch dessen kosmische Strahlungen beeinflusst. Auf dieser Grundlage entwickelten sich neue Vorstellungen zur Medizin, deren Aufgabe nun die Deutung dieser Einflüsse auf den menschlichen Körper war. Der Arzt musste daher die verborgenen Zeichen der Natur und des Kosmos zu deuten wissen, wollte er seine Patienten heilen. Besonders die Astrologie und die Signaturenlehre wurden zu einem wichtigen Deutungsprinzip in der neoplatonischen Medizin. Paracelsus griff diese bereits von Vorgängern wie Marsilio Ficino und Aggrippa von Nettesheim geprägten medizinischen Vorstellungen auf und entwickelte eine eigene medizinische Theorie zur Epilepsie: Sie entstünde durch im Körper abgelagertes „sulphur vitrioli“, das sich unter dem Einfluss bestimmter Sternenkonstellationen entzünde, dadurch zu einem schlafbringenden Dampf werde, der in das Gehirn steige und dort den Bewusstseinsverlust und die Krämpfe auslöse. Dementsprechend galt es in der paracelsischen Medizin, den Einfluss dieser entzündenden Sternkonstellationen einzudämmen, wofür Paracelsus alchemistische und pflanzliche Medikamente empfahl, die auf der Grundlage astrologischer Zuweisungen gefunden werden konnten.8 Paracelsus‘ Anhänger, wie z. B. der Arzt Oswald Croll, bauten dessen Lehre weiter aus, und sie fand auch noch im 18. Jahrhundert großen Anklang. Auch auf die akademische Medizin hatte Paracelsus‘ Gedankengut insofern Einfluss, als im 17. Jahrhundert Ärzte wie der Leidener Professor Franciscus de le Boë Sylvius, dessen alchemistische Prinzipien und Theorien aufgriffen und mit ihrer traditionellen hippokratisch-galenischen Medizin verbanden, woraus sich die bereits erwähnte iatrochemische Medizinrichtung entwickelte.9 7 8 9
Ebenda, S. 41–48. Kapitel 2.3, S. 48–55. Kapitel 2.2, S. 37 f.
264
5 Fazit
Medizinische Laien beschäftigten sich nur in den seltensten Fällen so detailliert mit der Ursachen- und Krankheitserklärung, wenn auch gerade in gebildeten Schichten durchaus medizinische Begriffe und Vorstellungen bekannt waren. Allerdings differierten das Konzept der Erkrankung und die Umgangsformen mit Erkrankten beträchtlich zwischen Personen, die bereits Kontakt mit der Erkrankung hatten – aus eigener Erfahrung, durch ein erkranktes Familienmitglied oder einen Erkrankten im weiteren Bekanntenkreis –, und solchen, die noch nie oder zum ersten Mal mit der Erkrankung in Berührung gekommen waren. Epileptiker und Familienangehörige hatten durch den direkten Kontakt und die alltägliche Erfahrung mit der Erkrankung ein sehr viel plastischeres Bild von der Epilepsie als Außenstehende. Trotzdem wurde ihr Krankheitsbild stark durch den Kontakt mit den Heilpersonen, deren Konzepten und Theorien beeinflusst, da sie einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis des eigenen Leidens leisteten. Der Freiherr Drais von Sauernbronn beispielsweise entwickelte durch die Kommunikation mit seinen Ärzten erst eine Diagnose und danach ein Konzept der Erkrankung, indem er deren medizinische Erklärungsmodelle übernahm und seine Krankengeschichte in der Retrospektive entsprechend uminterpretierte. Darauf aufbauend, passte er seine Therapie immer wieder den modifizierten Diagnosen und seinem daraus abgeleitetem Befinden an.10 Aus den Suppliken Epilepsiekranker und deren Angehöriger, in denen sie um Aufnahme in ein Hospital baten, geht nicht klar hervor, wie ausgeprägt deren Bild der Erkrankung war und wie stark sie sich mit Fragen der Ursachenerklärung auseinandersetzten. Diese Aspekte wurden in den Suppliken eher ausgespart, da sie sich nicht in die Darstellungsabsichten der Bittsteller fügten. Dadurch konnte die Wahrnehmung der Erkrankung in diesen Schichten nur lückenhaft beleuchtet werden. Unklar bleibt beispielsweise, ob und welche Epilepsieformen außer dem typischen großen Anfall mit Bewusstseinsverlust, Sturz und Konvulsionen am ganzen Körper in der Unter- und Mittelschicht bekannt waren und ob andere Epilepsieformen, wie die Absence oder „kleine“ epileptische Anfälle, die von zeitgenössischen Ärzten unterschieden wurden, überhaupt von diesen als Epilepsie wahrgenommen wurden. Von den Bittstellern wurde zwar immer nur der erste Epilepsietyp beschrieben, doch dies lässt keine Rückschlüsse auf deren Kenntnisse zu, da in die Hospitäler nur Kranke, die an schweren epileptischen Anfällen litten, aufgenommen wurden. Es bleibt im Dunkeln, ob andere Epilepsieformen in diesen Bevölkerungsschichten einfach nicht bekannt waren oder ob es sich hier um eine Überlieferungslücke handelt. Die Suppliken können aber zeigen, dass es in ungebildeten Schichten durchaus ein Bewusstsein für die natürliche Deutung von Epilepsie gab. Die Bittsteller benutzten in ihren Suppliken zwar kein medizinisches Vokabular, doch griffen sie bei der Ursachenerklärung auf medizinische Vorstellungen 10
Kapitel 3.1, S. 110–113.
5.1 Wahrnehmung
265
zurück: In den Suppliken wurden beispielsweise als Ursachen der Epilepsie vorhergehende Erkrankungen wie starkes Fieber und Kindsblattern oder Kopfverletzungen in Folge von Stürzen genannt. Mehrfach wurde die Vorstellung angesprochen, die Epilepsie entstünde durch einen heftigen Schrecken, ohne allerdings die dahinterstehenden akademisch-medizinischen Erklärungen zu erwähnen. Entweder wurden diese als bekannt vorausgesetzt oder sie waren den Bittstellern selbst nicht bekannt. Überdies wurde die Epilepsie von den Betroffenen und ihrem nächsten Umfeld als sich verändernde Erkrankung wahrgenommen. In den meisten Suppliken wurde beschrieben, wie sich die Erkrankung im Krankheitsverlauf veränderte, die Anfälle beispielweise schlimmer wurden und häufiger auftraten. Den Vorstellungen der Mediziner und der medizinischen Laien entsprechend, konnte sich die Epilepsie auch auf den Verstand der Betroffenen auswirken, wenn nämlich durch häufige und heftige Anfälle das Gehirn und damit der Verstand angegriffen und geschwächt wurden. Die Bittsteller stellten diesen Zusammenhang sehr deutlich heraus, indem sie angaben, durch die jahrelang mit heftigen Anfällen einhergehende Epilepsie habe sich bei den Patienten eine Geistesschwäche eingestellt, die in schwerwiegenden Fällen bis zur Raserei oder Tobsucht führen konnte.11 Dagegen kannten Außenstehende, die zuvor mit Epilepsie nicht in Berührung gekommen waren, im Regelfall zwar den Namen der Erkrankung und assoziierten mit dem Begriff Epilepsie oder Fallende Sucht unterschiedliche Symptome, hatten aber oft kein klares Bild davon, wie die Anfälle ablaufen und mit welchen Begleiterscheinungen sie einhergehen konnten. So erlebte der Lehrer und Schriftsteller Johann Gottlieb Schummel den epileptischen Anfall eines Mädchens auf offener Straße und eilte diesem zu Hilfe, ohne jedoch zu erkennen, um welche Krankheit es sich handelte. Im Gegenteil, er musste erst hinterher von der Betroffenen selbst über ihren Zustand aufgeklärt werden. Sobald er allerdings einen Namen für die Erkrankung hatte, die er in seinem Reiseroman als schrecklichstes Erlebnis seines bisherigen Lebens beschrieb, konnte er diese mit Erzählungen und Assoziationen in Verbindung bringen. Er bemitleidete das Mädchen wegen ihrer schrecklichen Erkrankung. Zufällig vorbeikommende Passanten fühlten sich häufig überfordert und konnten die Begleiterscheinungen eines epileptischen Anfalls, etwa die andauernde Bewusstlosigkeit nach dessen Abklingen, oft nicht einordnen. Deshalb wurde der Epileptiker Jakob Friedrich Christmann bei einem Anfall in Nürnberg für tot gehalten und im Hospital aufgebahrt, als er nach seinem Anfall nicht direkt wieder zu Bewusstsein kam.12 Für Unbeteiligte war ein zufällig miterlebter Anfall ein angsteinflößendes und traumatisierendes Erlebnis, bei dem die meisten nicht wussten, wie sie reagieren oder helfen sollten. Im Regelfall wurde ein Arzt gerufen oder der Betroffene in eine Einrichtung mit Pflegepersonal, z. B. ein Hospital, gebracht. Dort konnte das erfahrene Pflegepersonal oder ein Heiler die Krankheit einordnen und die richtigen Maßnahmen ergreifen. Die Anfälle wurden von den 11 12
Kapitel 3.2, S. 143–146. Kapitel 3.5, S. 193–195.
266
5 Fazit
nicht direkt Involvierten häufig als mitleiderregend, aber auch als beängstigend empfunden, sogar in dem Maße, dass der Schrecken wiederum als Auslöser für verschiedene Erkrankungen, auch für die Epilepsie gesehen wurde. Viele Außenstehende hatten Angst, einen Anfall mitzuerleben, und fürchteten, durch den Schrecken selbst epileptisch zu werden. Diese Wahrnehmung führte teilweise so weit, dass die Angehörigen von Epileptikern, die ein Geschäft besaßen, darunter litten, dass Kunden ausblieben, weil diese fürchteten, Zeugen eines Anfalls zu werden.13 Das medizinische Deutungskonzept spielte ebenfalls eine herausragende Rolle in der religiösen Wahrnehmung von Epilepsie: Theologen beschäftigten sich zwar mit der Frage, wie Krankheiten in einer von gottgelenkten Welt überhaupt entstehen konnten und griffen dabei auf Erklärungskonzepte zurück, die von der Strafe Gottes und der teuflischen Einmischung ausgehen. Doch sie erkannten durchaus die Existenz natürlicher Krankheiten und deren medizinische Erklärungskonzepte an. Martin Luther beispielsweise begriff die Epilepsie als Krampf im Gehirn, der sich über den ganzen Körper ausbreite. Da Theologen die Deutung und Therapie nicht als ihre Aufgabe, sondern als die der Mediziner ansahen, stellte die Epilepsie für sie nur ein Thema im Zusammenhang mit der Frage dar, inwieweit sie als unnatürliche Erkrankung vom Teufel und von Hexen verursacht werden und wie religiöse Praktiken bei der Behandlung helfen konnten.14 Hier stellten Protestantismus und Katholizismus unterschiedliche Mittel der Bewältigung bereit: Luthertum und Calvinismus beschränkten sich in erster Linie auf religiösen Beistand im Krankheitsfall, das heißt, der Teufel bzw. dessen Einfluss sollte durch das Erteilen der Sakramente und durch Gebete und Bibellesungen aus dem Körper vertrieben werden. Dagegen lehnten sie alle Formen der Anrufung Heiliger und den Einsatz geweihter Gegenstände als Aberglaube ab. Der Katholizismus hingegen erlaubte neben Gebeten, Bibellesungen und gesegneten Gegenständen ebenso die Anrufung Heiliger, Wallfahrten und den Gebrauch von Reliquien nicht nur bei unnatürlichen, sondern auch bei natürlichen Krankheiten und bot den Erkrankten damit medizinische Alternativen.15 Für Theologen beider Konfessionen stand der Epileptiker als Trost- und Beistandsbedürftiger im Mittelpunkt, da Erkrankungen – gerade schwere Erkrankungen wie die Epilepsie – als Prüfung Gottes angesehen wurden, an denen die Betroffenen verzweifeln konnten und dadurch leichter zugänglich für die Zuflüsterungen des Teufels waren. In dieser schwierigen Situation benötigten die Betroffenen besondere Hilfe, um nicht Opfer des Teufels zu werden. Die Frage, ob die Epilepsie häufiger als natürliche oder unnatürliche Krankheit wahrgenommen wurde und ob sie mehr mit teuflischen und zauberischen Einflüssen in Verbindung gebracht wurde als andere Erkrankungen, kann nicht beantwortet werden, da Quellen für eine quantitative Analyse fehlen. Aus demselben Grund lässt sich nicht feststellen, ob im Untersuchungs13 14 15
Ebenda, S. 191 f. Kapitel 2.4, S. 65–67. Ebenda, S. 85–100.
5.2 Soziale Folgen
267
zeitraum eine Verschiebung von magischen Deutungsmustern hin zu rationelleren Erklärungsmustern stattfand. Einzig Fälle wie der des Exorzisten Johann Joseph Gaßner lassen darauf schließen, dass noch im 18. Jahrhundert in weiten Kreisen der Bevölkerung eine gewisse Akzeptanz für teuflische Phänomene herrschte. Doch lässt sich aus den vorhandenen Quellen nicht schließen, ob im 18. Jahrhundert eine größere oder geringere Akzeptanz für die Deutung von Epilepsie als vom Teufel verursachter oder angehexter Krankheit bestand als in vorhergehenden Jahrhunderten und wie häufig die Epilepsie als unnatürliche Erkrankung wahrgenommen wurde. Für die Betroffenen machte diese Unterscheidung nur in Bezug auf die Wahl der Behandlungsmethoden einen Unterschied – etwa ob bei der Annahme einer teuflischen Ursache eher mit magischen Gegenmitteln oder religiösen Ritualen reagiert wurde –, aber nicht im Umgang mit den Erkrankten. 5.2 Soziale Folgen Die aus der Epilepsie entstehenden Probleme und gesellschaftlichen Folgen resultierten einerseits aus den Anfällen selbst, andererseits aus der Wahrnehmung der Erkrankung durch die Zeitgenossen. Die epileptischen Anfälle schränkten die Betroffenen durch ihre Unvorhersehbarkeit und die mit ihnen einhergehende Verletzungsgefahr ein. Je nachdem, wie häufig der Epileptiker Anfälle erlitt, behinderte die Erkrankung ihn mehr oder weniger im Alltag. So machte es durchaus einen Unterschied, ob der Betroffene tägliche Anfälle erlitt oder ob die Anfälle in monatlichen Abständen oder nur einige Male im Jahr auftraten. War der Epileptiker nämlich nicht in der Lage, seine Anfälle vorherzusehen, beispielsweise durch kurz vor den Anfällen auftretende Auren, oder mussten der Erkrankte und seine Umgebung davon ausgehen, dass er jeden Moment ein Anfall erleiden konnte, stieg auch die potentielle Verletzungsgefahr. Außerdem musste der Betroffen regelmäßig beaufsichtigt werden. Gerade häufige Anfälle führten in der Regel zur Arbeitsunfähigkeit, wobei einige Berufsgruppen davon stärker betroffen waren als andere.16 Soldaten wurden beispielsweise in der Regel aus dem Dienst entlassen, wenn bei ihnen eine Epilepsie festgestellt wurde, und diagnostizierte Epileptiker wurden gar nicht erst zum Militärdienst zugelassen, weshalb es immer junge Männer gab, die eine Epilepsie vortäuschten, um dem Militärdienst zu entgehen. Dieser Ausschluss diente der allgemeinen Sicherheit, denn die Epilepsie stellte eine Gefahr für den Betroffenen und seine Kameraden dar. Wegen der großen Verletzungsgefahr konnten beispielsweise auch epileptische Zimmerleute oder Bäcker ihren Beruf nicht mehr ausüben. Dagegen war eine leichte Form der Epilepsie unproblematisch in Berufen wie dem des Hirten oder in schreibenden und verwaltenden Positionen, z. B. als Vogt oder Gehei16
Kapitel 3.2, S. 146–152.
268
5 Fazit
mer Rat. In diesen Berufen führten erst häufig auftretende und besonders schwere Anfälle dazu, dass die Betroffenen ihre Arbeit aufgeben mussten. Anders sah es bei Lohnabhängigen wie Schulmeistern, Gesinde oder Pfarrern aus. Sie waren abhängig vom Wohlwollen ihrer Arbeitgeber, die entschieden, ab wann deren Epilepsie nicht mehr tragbar war. Je nachdem, wie sehr sich die Arbeitgeber vor einer Ansteckung fürchteten oder sich von der Arbeitskraft des Erkrankten nichts mehr versprachen, desto früher erfolgte die Entlassung. Bei Schulmeistern spielten vor allem Bedenken bezüglich der möglichen Ansteckung der Schüler eine große Rolle, weswegen Epileptiker oft den Dienst quittieren mussten.17 Geborene oder in der Jugend erkrankte Epileptiker hatten es sogar noch schwerer: Sie konnten im Regelfall weder eine Lehrstelle noch eine Anstellung finden, womit sie schon von vorneherein zur Arbeitsunfähigkeit verdammt waren. Sie blieben normalerweise bei ihren Eltern und gingen diesen in irgendeiner Form zur Hand. Im schlimmsten Fall waren sie wegen häufiger Anfälle zu keinerlei Arbeit fähig und mussten wegen der großen Verletzungsgefahr Tag und Nacht beaufsichtigt werden. Doch auch erwachsene Töchter und Söhne kehrten ins Elternhaus zurück, wenn sie durch die Epilepsie arbeitsunfähig geworden waren. Waren die Eltern bereits verstorben, erstreckte sich die familiäre Fürsorge auf den Verwandtenkreis, und Geschwister, Onkel und Tanten sprangen ein, wenn sie in der Lage waren, sich um die Versorgung der Erkrankten zu kümmern.18 In den Fällen, in denen die Familie diese Fürsorge nicht leisten konnte, wurden Epileptiker – wie übrigens andere Arbeits- und Versorgungsunfähige auch – von der Gesellschaft als unverschuldete Hilfsbedürftige definiert, denen im Sinne christlicher Nächstenliebe Unterstützung zustand. Hatte diese Hilfeleistung im Mittelalter aus persönlichen Almosen oder einem Hospitalplatz bestanden, wurde Armen im Zuge der Neuregelung der Armenfürsorge im 16. Jahrhundert ein Recht auf gesellschaftliche Versorgung durch die Gemeinschaft zugesprochen.19 Diese Zuwendung richtete sich an den Versorgungsbedingungen des jeweiligen Territoriums aus und konnte deshalb sehr unterschiedlich sein. So war in einigen Landstrichen das Betteln weiterhin erlaubt, wurde aber durch sogenannte Bettelpässe reguliert, die nur an wirklich Bedürftige nach Prüfung durch den Stadtrat ausgegeben wurden. In anderen Gebieten wurde bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts das Betteln verboten und ein Fonds für Bedürftige eingerichtet, in den Spenden – in protestantischen Gebieten auch Gelder aus ehemals katholischen Besitztümern – flossen. Die Bedürftigen der Region konnten dann um Zuwendungen aus diesen supplizieren. Epileptiker hatten in allen untersuchten Gebieten Anspruch auf Unterstützung in Form von Bettelerlaubnissen, Zuwendungen aus Armenkästen oder auf einen Hospitalplatz. Allerdings unterlagen sie in einigen Gebieten insofern 17 18 19
Ebenda, S. 148 f. Ebenda, S. 148 f. Kapitel 4.1, S. 197–203.
5.2 Soziale Folgen
269
Einschränkungen, als die Vorstellung, ihre Erkrankung sei kontagiös, dazu führte, dass sie dort nur in speziellen Einrichtungen z. B. Siechenhäusern oder speziellen Epileptiker-Einrichtungen untergebracht wurden. In Würzburg durften Epileptiker ab dem 17. Jahrhundert laut fürstlicher Verordnung nur noch in Siechenhäuser aufgenommen werden, in denen aber häufig eine nicht ausreichende Anzahl an Plätzen zur Verfügung stand. Im 18. Jahrhundert schuf Adam Friedrich von Seinsheim deshalb eigens ein Epileptikerhaus in Würzburg, um dadurch mehr Aufnahmeplätze zu schaffen.20 In Ulm wurde dagegen eine Epileptiker-Abteilung – die „fallende Stube“ – an das dortige multifunktionale Hospital angegliedert, um Epileptiker von den übrigen Kranken abzusondern. In anderen Gebieten – wie beispielsweise in Hessen-Kassel21 oder in der Grafschaft Saarbrücken22 – scheinen diese Bedenken nicht bestanden zu haben. So wurden Epileptiker in die dortigen Hospitäler zusammen mit anderen Erkrankten aufgenommen. Während in Hessen-Kassel eine Zwischenlösung gefunden wurde, indem Epileptiker mit Blinden zusammengelegt wurden, die die Anfälle nicht sehen und sich dadurch nicht erschrecken konnten, scheint es eine solche Trennung in Saarbrücken nicht gegeben zu haben. Die angenommene Kontagiosität von Epilepsie, der öffentliche Tumult und die Abscheu, die ein Anfall in der Öffentlichkeit auslösen konnte, führte noch in anderen Bereichen des Zusammenlebens zum Ausschluss der Epileptiker. Die Obrigkeit mischte sich zwar im Regelfall nicht ein, doch wurden Epileptikern in einigen Fällen Ausgehverbote erteilt, wenn man befürchtete, dass ihre häufigen Anfälle die öffentliche Ruhe stören könnten. Diese Maßnahme wurde nur in extremen Fällen ergriffen, und zwar wenn davon auszugehen war, dass der Betroffene das Haus nicht verlassen konnte, ohne einen Anfall zu erleiden. Hierbei handelte es sich eher um Personen, die von der öffentlichen Fürsorge abhängig waren.23 Auch Pfarrer waren häufig besorgt, wenn Epileptiker ihren Gottesdienst besuchten. In den Gutachten, die den Suppliken Epilepsie-Kranker beigegeben waren, bemerkten diese häufig, wie störend ein epileptischer Anfall sei, weil dieser immer mit großem Tumult und dem Erschrecken der Umstehenden einherginge. Zudem drückten sie in ihren Gutachten die Sorge aus, dass andere Mitglieder der Gemeinde – besonders Schwangere – durch die Epileptiker in Gefahr gebracht würden. Deshalb schlossen Pfarrer epileptische Gemeindemitglieder zuweilen von ihren Gottesdiensten aus. Da die Zuwendung eines Geistlichen aber für schwer Erkrankte als besonders wichtig empfunden wurde, glichen die Priester den Ausschluss aus den Gottesdiensten durch Hausbesuche aus und gaben die Kommunion „ad privatim“. Im Epileptikerhaus in Würzburg wurde sogar ein eigener Pfarrer angestellt und ein Gottesdienst für Epileptiker abgehalten, um auf der einen Seite zu vermeiden, dass 20 21 22 23
Kapitel 4.3, S. 219–222. Kapitel 4.2, S. 212. Kapitel 4.4, S. 250 f. Kapitel 3.5, S. 191.
270
5 Fazit
diese mit anderen Kranken in Berührung kamen und auf der anderen Seite Epileptikern die Möglichkeit zu geben, an Gottesdiensten teilzunehmen. Diese Gottesdienste waren Adam Friedrich von Seinsheim sogar so wichtig, dass er sie aus seiner Privatschatulle zahlte, weil es sonst keine Finanzierungsmöglichkeit gab. Begründet wurde die Anstellung eines Pfarrers für das Epileptikerhaus mit der Notwendigkeit der geistlichen Zuwendung, denn die Erkrankten könnten plötzlich aus dem Leben gerissen werden. Deshalb sei es unerlässlich, dass ihnen regelmäßig die Beichte abgenommen würde.24 Viele Epileptiker mieden die Öffentlichkeit, gerade große Menschenansammlungen, freiwillig, weil ein Anfall dort besonders beschämend war. Freiherr Drais von Sauerbronn beschrieb in seinem autobiographischen Krankentagebuch zwar nicht die psychischen Folgen, die solch ein Anfall in der Öffentlichkeit nach sich zog, doch deutete er seine Angst vor weiteren öffentlichen Anfällen dadurch an, dass er Orte wie das Theater oder auch die Kirche mied.25 Insofern führte die Epilepsie durchaus zum Ausschluss aus dem öffentlichen Leben und zur Isolation. Dabei muss allerdings gesehen werden, dass der Grad dieser Isolation von verschiedenen Faktoren abhängig war, wie der Häufigkeit der Anfälle, ob die Betroffenen Fürsorgeempfänger waren oder in einem Hospital lebten. Arme, die Unterstützung aus den Armenkästen erhielten, unterlagen generell Einschränkungen, weil man es nicht als angemessen empfand, wenn sie ihr Geld zur Trinkstube brachten. Auch Hospitaliten lebten sehr viel abgeschotteter von der Außenwelt, weil prinzipiell nicht vorgesehen war, dass sie mit der Welt außerhalb des Hospitals interagierten. Dagegen scheinen Epileptiker, die aufgrund ihrer finanziellen Lage unabhängig und deren Anfälle nicht häufig auftraten, ein einigermaßen normales Leben geführt zu haben. Die Erkrankung schränkte die Betroffenen in einem weiteren Feld öffentlicher Teilhabe ein: der Möglichkeit, eine Ehe zu führen. Zwar verbot kein Gesetz die Heirat von Epileptikern, und die Möglichkeit, dass Epileptiker epilepsiekranken Nachwuchs bekamen, wurde in der Frühen Neuzeit erstaunlich selten diskutiert. Einer Ehe mit einem Epileptiker stand demnach theoretisch nichts im Weg. In der Praxis schränkten allerdings die Arbeitsunfähigkeit von Epileptikern sowie die häufig negative Wahrnehmung der Erkrankung ihre Heiratschancen sehr ein.26 Rechtlich hatten Epileptiker in der frühneuzeitlichen Gesellschaft eine Sonderstellung, weil sie aufgrund ihrer Erkrankung als besonders schützenswert betrachtet wurden. Dies galt zum einen, wie bereits ausgeführt, im Bereich der Fürsorge, zum anderen im Strafrecht. In der frühneuzeitlichen Rechtsprechung erfolgte der Schuldspruch bis ins 18. Jahrhundert auf der Grundlage eines Geständnisses, das auch durch Tortur erpresst werden konnte. Kranke, Behinderte und Schwangere waren aber von dieser Prozedur ausgenommen, weil der Zustand der Betroffenen durch die Tortur nicht verschlim24 Kapitel 4.3, S. 238. 25 Kapitel 3.1, S. 126. 26 Kapitel 3.4, S. 169–179.
5.3 Bewältigung
271
mert werden sollte.27 Insbesondere bei Epileptikern, so argumentierten Medizinern und Rechtsgelehrten, könnte die Tortur durch die extremen Schmerzen und Emotionen, die diese auslöse, die Anfälle verschlimmern. Darüber hinaus wurden Schwerstkranke von Hinrichtungen verschont,28 wobei sich diese Regelung im Laufe des 18. Jahrhunderts lockerte und bei schweren Verbrechen, zum Beispiel der Brandstiftung, auch Epileptiker hingerichtet wurden, wenn klar nachgewiesen werden konnte, dass sie zum Zeitpunkt der Tat bei klarem Verstand waren.29 5.3 Bewältigung In der Untersuchung kristallisierten sich verschiedene Strategien der Betroffenen und ihrer Angehörigen im Umgang mit den täglichen Problemen, die die epileptischen Anfälle verursachten, heraus. Diese veränderten sich im Krankheitsverlauf, je nachdem, ob angenommen wurde, die Epilepsie sei noch heilbar oder schon chronisch. Gingen die Betroffenen und deren Angehörige noch von einer Heilung aus, setzten sie alles daran, eine erfolgversprechende Therapie zu finden. Dabei wurden unterschiedliche Behandlungen ausprobiert und kombiniert, bis eine Besserung des Zustands eintrat oder die Behandlung als erfolglos eingestuft und abgebrochen wurde. Schon kleine Veränderungen, wie größere Zeiträume zwischen den Anfällen, wurden als Verbesserung betrachtet. War eine Heilung nicht möglich, so wurden dennoch weiterhin eine Verbesserung des Zustands angestrebt. Nach welchen Kriterien die Patienten einen Heiler aussuchten, und welche der zur Verfügung stehenden Medikamente und Therapien Patienten und Angehörige favorisierten, konnte aufgrund der Quellenlage leider nicht herausgearbeitet werden. Ebenso wenig können Aussagen darüber gemacht werden, ob sich die Präferenzen in der Medikamenten- und Heilerwahl im Untersuchungszeitraum änderten. Allerdings zeigte sich, dass die Heilerwahl – wie bei anderen Patientengruppen bereits nachgewiesen – nicht unbedingt schichtspezifisch war. Mitglieder der ärmeren Schichten suchten akademisch gebildete Ärzte auf, während Mitglieder adeliger und bürgerlicher Schichten auch Wunderheiler wie Johann Joseph Gaßner konsultierten.30 Finanzielle Gesichtspunkte spielten weniger eine Rolle für die Behandlung von Epilepsie. Arme Epileptiker wurden auf unterschiedliche Weise unterstützt. Es gab verschiedene Institutionen, bei denen Patienten und Angehörige um Gelder für Behandlungskosten supplizieren und dadurch Therapien 27 Dülmen: Theater des Schreckens, S. 35 f. 28 BHStaM, Hexenakten 10 c, fol. 354. 29 Troppanneger, Christian Gottlieb: Decisione Medico-Forensis. Sowohl dessen eigene, und zwar die meisten Judicia, als auch andere, und unterschiedlicher Juristisch- und Medizinischer Facultäten, Urtheil und Responsa …, Dresden/Neustadt 1733, S. 139 f. 30 Kapitel 2.5, S. 104–106.
272
5 Fazit
finanzieren konnten. Insofern lässt sich festhalten, dass die meisten Epileptiker – auch die, die armen Schichten angehörten – einer Therapie zugeführt wurden. Allerdings schränkten fehlende finanzielle Mittel die Zahl der Therapien und der zu konsultierenden Heiler insofern ein, als Patienten aus ärmeren sozialen Schichten darauf angewiesen waren, die Heilpersonen aufzusuchen und die Therapien anzuwenden, für die die jeweilige Institution Geld zur Verfügung stellte. Im Langenzenner Hospital oder in Städten war es beispielsweise üblich, dass man einen festangestellten Physikus für die Behandlung der Patienten bezahlte und den supplizierenden Patienten keine andere Wahl blieb, als sich von diesem Heiler behandeln zu lassen.31 Die Wahl der Heiler war in diesen Fällen also nur bedingt von ihnen selbst abhängig, sondern eher von den finanzierenden Institutionen bzw. von ihrer geschickten Supplikationsstrategie. Patienten aus ärmeren Schichten werden daher weniger Therapien im Laufe ihrer Epilepsie-Behandlung durchlaufen haben als solche aus wohlhabenderen Schichten, die ihre Heiler und Therapien nach individuellen Präferenzen und Empfehlungen von Verwandten und Bekannten auswählten. Wohlhabende konnten es sich leisten, verschiedene Heiler aufzusuchen und Therapieformen zu kombinieren, bis entweder der gewünschte Erfolg eintrat oder die Behandlung eingestellt wurde. Ab welchem Zeitpunkt die Erkrankung von Patienten, Angehörigen und Ärzten als unheilbar diagnostiziert und akzeptiert wurde, lässt sich nicht klären und war von der Situation und dem Willen des Kranken abhängig. So gab es zwar die ärztlichen Regel, nach der eine Epilepsie nach dem 21. Lebensjahr oder nach sieben Jahren des Bestehens unheilbar war. Doch ließen sich weder behandelnde Ärzte noch Patienten davon abbringen, weitere Therapien auszuprobieren, wenn sie eine Chance auf Heilung sahen. Ausschlaggebend für die Akzeptanz einer unheilbaren Epilepsie war daher vielmehr der Mangel an Therapiealternativen, zum Beispiel wenn sich bereits mehrere Therapien als erfolglos erwiesen hatten und sich den Patienten keine weiteren Möglichkeiten mehr boten. Drais von Sauerbronn und dessen behandelnde Ärzte gaben die Hoffnung auf Heilung erst auf, als aus ihrer Sicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft waren und der Patient therapiemüde wurde. Als sich dann aber eine neue Therapiemöglichkeit auftat, wurde ein erneuter Versuch unternommen.32 Auch die Klienten von Wunderheilern oder Wallfahrer machten sich nach vorübergehender Akzeptanz der unheilbaren Erkrankung erneut Hoffnung, wenn sie von neuen Behandlungsmöglichkeiten erfuhren, und waren bereit, diese auszuprobieren. Dies erklärt auch den großen Zulauf von Wunderheilern und den guten Ruf, den zum Beispiel die Epilepsiespezialistin Maria Sophie Brest hatte.33 Der Glaube an die Heilbarkeit der Epilepsie wurde von den meisten Betroffenen also eher an den zur Verfügung stehenden Behandlungsmöglichkeiten und Medikamenten festgemacht denn an ärztlichen Vorschriften. Dementsprechend sind die in Suppliken zu findenden Aussagen 31 Kapitel 2.5, S. 105. 32 Kapitel 3.1, S. 117–119. 33 Kapitel 2.3, S. 62–65.
5.3 Bewältigung
273
zu verstehen, dass „allerhand Mittel gebraucht“ worden waren, dies jedoch ohne sichtbaren Erfolg. Dies bedeutet allerdings auch, dass bei ärmeren Patienten die Therapien mangels Geldmittel früher eingestellt wurden als bei vermögenderen Patienten. Im täglichen Umgang mit der Erkrankung spielten zwei Probleme die Hauptrolle: Die Arbeits- und häufig damit einhergehende Versorgungsunfähigkeit der Erkrankten und die Verletzungsgefahr, der die Betroffenen während ihrer Anfälle ausgesetzt waren. Für wohlhabende Epileptiker war die Arbeitsunfähigkeit insofern nicht so bedrohlich, da sie genügend Rücklagen besaßen, um trotzdem finanziell unabhängig zu bleiben.34 Dagegen bedeutete die Arbeitsunfähigkeit für alle anderen Epileptiker die faktische Unmöglichkeit, sich selbst zu versorgen und damit im Regelfall eine Rückkehr zu den Eltern oder zu Geschwistern, die die erkrankten Familienmitglieder unterstützten. Im Familienkreis wurde normalerweise auch eine Strategie entwickelt, mit den Anfällen umzugehen. So wurde der Epileptiker rund um die Uhr beaufsichtigt, damit man während eines Anfalls helfend eingreifen konnte, das heißt, den Sturz des Erkrankten abfangen, um dadurch Verletzungen und Unglücksfälle wie einen Sturz ins offene Herdfeuer zu vermeiden. Teilweise versuchten die Betreuer, den Anfall zu unterbrechen, indem sie zum Beispiel als krampflösend geltende Medikamente verabreichten oder versuchten, dem Betroffenen die verkrampften Finger zu lösen. Über die Jahre hinweg entwickelten Betreuer und Erkrankte Abläufe, um bestmöglich auf die Anfälle zu reagieren, und versuchten durch Beobachtung den Rhythmus der Anfälle zu erkennen. Die Betreuung der Epileptiker wurde in der Regel von Familienmitgliedern, meist der Mutter, übernommen. In wohlhabenderen Familien konnte diese Aufgabe von Bediensteten oder von Pflegepersonal übernommen werden. Allerdings war dies eher selten, weil sich Außenstehende häufig weigerten, Epileptiker zu versorgen aus Ekel vor den Anfällen oder aus Furcht sich anzustecken.35 In ärmeren Bevölkerungsschichten stellte die Betreuung und Versorgung erkrankter Familienmitglieder meist ein existenzbedrohendes Problem dar, da nicht genug Geld aufgebracht werden konnte, um ein arbeitsunfähiges Familienmitglied mitzuversorgen und um eine Betreuungsperson anzustellen. Deshalb banden gerade arme Epileptiker und deren Angehörige die Fürsorgeangebote obrigkeitlicher oder geistlicher Institutionen in ihre Versorgungs- und Betreuungsstragie ein, indem sie entweder um Beihilfen aus Armenkästen oder um einen Hospitalplatz für die Erkrankten supplizierten. Was allerdings aus solchen Familien oder einzelnen Epileptikern wurde, die trotz problematischer Versorgungs- und Betreuungsfunktion keine oder ungenügende Zuwendungen erhielten, ist aufgrund der Quellenlage nicht zu klären. Wahrschein-
34 Kapitel 3.3, S. 155–163. 35 Kapitel 3.5, S. 188.
274
5 Fazit
lich ist, dass manche Epileptiker ohne Familien als wandernde Bettler endeten oder sich mit Almosen von Nachbarn und Bekannten behalfen.36 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Epilepsie in der Frühen Neuzeit durchaus als stigmatisierende Krankheit wahrgenommen wurde, die dadurch bis zu einem gewissen Grad zur Isolation der Betroffenen von der Außenwelt führte. Allerdings ging diese Stigmatisierung keineswegs auf die Vorstellung zurück, Epileptiker seien Besessene oder gar mit dem Teufel im Bunde gewesen. Vielmehr führte die von einigen Ärzten und Teilen der Bevölkerung angenommene Kontagiosität der Erkrankung zu deren Stigmatisierung und zum Ausschluss von Epileptikern aus bestimmten Bereichen der Öffentlichkeit und zu einem Rückzug in den familiären Kreis. Allerdings wurde die Epilepsie nicht von allen Medizinern für ansteckend gehalten, weshalb die Stigmatisierung nicht durchgängig und allerorts gegeben war, wie dies bei anderen kontagiösen Erkrankungen zum Beispiel der Lepra oder Syphilis der Fall war. Epileptiker wurden in verschiedenen Gebieten nur in bestimmte – für kontagiöse Erkrankte vorgesehene – Einrichtungen aufgenommen, doch dies wurde ihnen nie zur Auflage gemacht. Es war aber gerade für arme Kranke ein Privileg und eine günstige Versorgungsalternative, in eine solche Einrichtung aufgenommen zu werden. Zudem wurden Epileptiker noch vielfach in der Familie versorgt und konnten dort, je nachdem wie schlimm ihre Erkrankung war, ein einigermaßen normales Leben führen. Daneben wurden Epileptiker aber auch als einfache Kranke wahrgenommen, die den Schutz und die Zuwendung ihrer Mitmenschen benötigten und denen deshalb verschiedenen Einrichtungen und Institutionen, an die sie sich wenden konnten, zur Verfügung standen.
36 Kapitel 4.5, S. 253–259.
Abbildung 1: Miniatur aus Bartholomäus Anglicus: „Über die Eigenschaften der Dinge“, 15. Jahrhundert. © Bibliothèque nationale de France
6 Anhang
6.1 Abbildungen
276
6 Anhang
Abbildung 2: Anbetung der Heiligen, Stich auf roter Seide, Wellcome Library London, Nr. 22200i.© Wellcome Library London
6.1 Abbildungen
277
Abbildung 3: Miniatur aus dem Stundenbuch des Duc de Berry der Brüder Limburg – die Heilung der Besessenen. © bpk – Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte/RMN/René-Gabriel Ojéda
278
6 Anhang
Abbildung 4: Mirakeltafel aus Altötting, Magdalena Polweyn, Tafel XI, 4. Bild von links. © Bischöfliche Administration der Kapellstiftung, Altötting.
Abbildung 5: Kupferstich von Jean Duplessis-Bertaux (1750–1818), Wellcome Library London, Nr. 18630i. © Wellcome Library London
6.1 Abbildungen
279
280
6 Anhang
6.2 Abkürzungsverzeichnis ADB AJSp BAV BHStaBi BHStaM FA Fl. HAB HStaH Kr. LaSaar LaSp LWV-Archiv NDB SHStaD StaB StadtE StadtSB StadtW StAKT StaM StaR StaWertheim StaWolfenbüttel STAW ThHStaW
Allgemeine Deutsche Biographie Historisches Archiv des Juliusspitals, Würzburg Bibliotheca Apostolica Vaticana Bayrische Hauptstaats-Bibliothek Bayrisches Hauptstaatsarchiv München Fürstlich und Gräflichen Fuggerschen Familien- und Stiftungsarchiv, Dillingen an der Donau Florin (= Gulden) Herzog-August-Bibliothek, Wolfenbüttel Hauptstaatsarchiv Hannover Kreuzer Landesarchiv des Saarlandes Landesarchiv Speyer Archiv des Landeswohlfahrtsverband Hessen, Kassel Neue Deutsche Biographie Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden Staatsarchiv Bückeberg Stadtarchiv Ebern Stadtarchiv Saarbrücken Stadtarchiv Würzburg Stadtarchiv Kitzingen Staatsarchiv Marburg Staatsarchiv Rudolstadt Staatsarchiv Wertheim Staatsarchiv Wolfenbüttel Staatsarchiv Würzburg Thüringer Hauptstaatsarchiv
6.3 Quellen- und Literaturverzeichnis
281
6.3 Quellen- und Literaturverzeichnis Ungedruckte Quellen Archiv des Landeswohlfahrtsverband Hessen (LWV-Archiv) Bestand: 13 Bibliotheca Apostolica Vaticana (BAV) Pal. Lat. 1892, fol. 137–260. Bayrisches Hauptstaatsarchiv München (BHStaM) Hexenakten 10 c, fol. 354. Bayrische Hauptstaats-Bibliothek (BHStaBi) Einblattdruck VII, 24 sha Fürstlich und Gräflichen Fuggerschen Familien- und Stiftungsarchiv (FA) 1.1.3.; Friedrich Dobel: Geschichte des Fuggerschen Hauses, Bd. I, Augsburg o. J., S. 194–215. Gemeinde Diepoltskirchen, Verwahrung beim Kirchenpfleger Johann Pongratz (Stand: 08/2011) „Vermerk der großen zaichn die sand valtan hat getan und noch thuet“, Mirakelbuch der Valentinswallfahrt zu Diepoltkirchen, gebundene Handschrift, Entstehung ca. 1533–1699 (?). Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel (HAB) VD 16 G 2969 Eine grawsame erschreckliche unnd wunderbarliche Geschichte oder Newe Zeitung/ Welche warhafftig geschehen ist/ in diesem M.D. LIX. Jahr/ zur Platten/zwo meils weg von Jochimßthal/ Allda hat ein Schmid ein Tochter/ die ist vom bösen Feind dem Teufel eingenomen und besessen worden …, 1559. Historisches Archiv des Juliusspitals (AJSp) Bestand: A Nr. 4787, Nr. 5856, Nr. 5858, Nr. 5669, Nr. 5670, Nr. 5686, Nr. 5690, Nr. 5857 Bestand: Lit. Nr. 2769 Landesarchiv des Saarlandes, Saarbrücken (LaSaar) Arch. Slg. HV A 581, Akte betreffend die Aufnahme verschiedener Untertanen in das Hospital zu Saarbrücken 1748–1759 Landesarchiv Speyer (LaSp) Bestand E 6, Reichskammergerichtsprozess 2417 Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden (SHStaD) 10055, Amt Hohnstein mit Lohmen, Nr. 315 Hauptstaatsarchiv Hannover (HStaH) Celle Br. 48, Nr. 44, Das von der theologischen Fakultät zu Wittenberg eingeholte Gutachten über die Frage, ob die Epilepsie eine Art teuflischer Besessenheit (species obsessionis diabilicae) sei.
282
6 Anhang
Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden (SHStaD) 10055, Amt Hohnstein mit Lohmen, Nr. 315. Acta, das von Marien Sophien Brestin aus Pamplona in Spanien unternommene Curieren der Epilepsie betreffend 1831. Staatsarchiv Bückeberg (StaB) Judenshg L 2 H Nr. 80 Staatsarchiv Marburg (StaM) Bestand: 17 Bestand: 229 Bestand: 229 B/III Staatsarchiv Wertheim (StaWertheim) R. Rep. 87 e Nr. 120 Staatsarchiv Rudolstadt (StaR) Konsistorium Arnstadt 10947 Staatsarchiv Wolfenbüttel (StaWolfenbüttel) 4 Alt 2 Schön Nr. 1799 8 Alt Stauf Nr. 821 Staatsarchiv Würzburg (STAW) Bestand: Standbuch 240 Bestand: Gebrechensamtsakten (GAA) IV J 185, VII W 637 Stadtarchiv Ebern (StadtE) Sect VI, Tect. VI 33 Stadtarchiv Haßfurth (StadtH) Rechnungen 592–600 Stadtarchiv Kitzingen (StAKT) Bestand Rat 6–9, 12 Stadtarchiv Saarbrücken (StadtSB) Bestand Hospital Nr. 702–704, Nr. 1137–1138, Nr. 1083–1085, Nr. 1088–1089, Nr. 1091 Stadtarchiv Würzburg (StadtW) Bestand: Archiv des Bürgerspitals, Abtheilung II (Akten) Nr.16, Nr. 43 Bestand: Stadtratsprotokoll 1756, 1760, 1766, 1767 Bestand: Ratsakten Nr. 1906 Thüringer Hauptstaatsarchiv (ThHStaW) Eisenacher Archiv, Militär- und Kriegssachen Nr. 428
6.3 Quellen- und Literaturverzeichnis
283
Gedruckte Quellen [Anonym]: Die sicherste und beste Methode die meisten Krankheiten, Gebrechen und Schwachheiten des menschlichen Leibes sicher und geschwind zu heilen. Auf vielfältiges Begehren zu jedermanns Nuzen, Frankfurt a. M./Leipzig 1761. [Anonym]: Georgica Curiosa, Das ist umständlicher Bericht und klarer Unterricht Adelichen Land- und Feldleben …, Nürnberg 1682. [Anonym]: Fortsetzung der erstaunlichen Wirkungen, welche durch die wunderbare Kraft des glorwürdigsten Namen Jesu, und der exorcistischen Kirchengewalt Titl. Herrn geistlichen Raths Gaßner, ihm sowohl, als den von ihm unterwiesenen Patienten in der Stadt Sulzbach vom 21.09. bis zum 04.10.1775 erfolgt sind; Exemplar in: Universitätsbibliothek Würzburg Bav. 687. Alberti, Michael: Jurisprudentiae Medicae, Bd. 4, Leipzig/Görlitz 1737. Amann, Paul: Medicina Critica, sive Decisoria centuria casuum Medicinalium in concilio Facult. Med. Lips., Erfurt 1670. Annemonatum Koytherum, Johannes: Hauß-Apothek/ Guter gebräuchlicher Artzney zu jedern Leibesgebrechen und Kranckheiten/ Artzney und Rath/ Nach dem ABC/ Eilends zubefinden und kräftig zu erholen. Zu Nutz und Trost und heilsamer Wolfahrt vor das arme Land-Volck/ und gemeinen Manne/ zusammen colligiert …, Wittenberg 1600. Kruger, Bartholdus: Corpus Medicinae Practicae oder Hand-Büchlein vieler singularen und in der Vernunfft-Probe bestandenen Experimenten. Wie allen Menschlichen Gebrechen nechst Gott! Durch schlechte geringe Artzeneymittel könne geholffen und sie curiert werden …, Braunschweig 1699. Berger, Johann Gottfried (Praes.)/Etzler, Christian (Verf.): Exercitatio inauguralis de epilepsia, Wittenberg 1690. Berler, Maternus: Chronik von Maternus Berler, in: Code historique et diplomatique de la ville de Strasbourg I, Strasbourg 1848. Bodin, Jean: De Daemonomania Magorum. Vom außgelaßnen Wütigen Teuffelsheer der Besessenen Unsinnigen Hexen und Hexenmeister …, übersetzt von H. Johann Fischart, Straßburg 1591. Bokelius, Johannes (Praes.)/Gabelius, Johannes (Verf.): Theses de Epilepsia, Helmstadt 1588. Bräker, Ulrich: Bürgi, Andreas (Hg.): Ulrich Bräker. Sämtliche Schriften, Bd. 1–4, München 1998–2000. Sylvius, Franciscus de le Boë (Praes.)/Bultynck, Abrahamus (Verf.): De Epilepsia, Elsivier 1669. Cratonis von Krafftheimb, Johannes: Außerlesene Artzney-Künste. Vor alle des Menschlichen Leibes Zufälle/Gebrechen/und Krankheiten, Frankfurt a. M. 1690. Crausius, Rudolph Wilhelm (Praes.)/Laurentius, Johann Teophil (Verf.): De Epilepsia, Dissertatio Inauguralis Medica, Jena 1717. Crollius, Oswaldus: Tractatus novus de signaturis rerum internis, Frankfurt a. M. 1612. Diaetophilus [Freiherr Drais von Sauerbronn, Karl Wilhelm Ludwig Friedrich]: Physische und Psychologische Geschichte seiner siebenjährigen Epilepsie, Erste und Zweite Hälfte, Zürich 1798. Ebacher, Coelestin: Beschreibung des Sehens- und Merkwürdigsten in und um Würzburg. Dem gebildeten Reisenden gewidmet, Würzburg 1824. Fernelius, Ioannes: Universa Medicina, De abditis rerum causis, II, 16, Frankfurt a. M. 1577. Friedel, David: Expediter Und Bewährter Medicus Welcher Wieder alle, so wohl inn- als äusserliche Kranckheiten, Schäden, und Gebrechen des Menschlichen Leibes, genugsame Und Bewährte Artzney-Mittel besitzet, Bd. 1, Leipzig/Rostock 1726. Fries, Lorenz: Spiegel der Artzney, Straßburg 1546. Fritsch, Johann Christian: Seltsame jedoch wahrhafftige Theologische/Juristische/Medicinische und Physicalische Geschichte, Leipzig 1730.
284
6 Anhang
Gaebelkhoveri, Oswald: Artzney-Buch, Darinnen fast alle deß Menschlichen Leibes Anliegen und Gebrechen/ außerlesene und bewährte Artzneyen …, Frankfurt a. M. 1694. Gaßner, Johann Joseph: Des Johann Joseph Gassners … Weise, fromm und gesund zu leben, auch ruhig und gottselig zu sterben oder nützlicher Unterricht wider den Teufel zu streiten, durch Beantwortung Fragen: I. Kann der Teufel dem Leibe des Menschen schaden?, II. Welchen am mehresten?, III. Wie ist zu helfen?, Ellwangen 1775. Gordack, Johann: Geschichte der Krankheit und der Cur eines 27 Jahre hindurch mit der Epilepsie geplagten Frauenzimmers, Königsberg 1770. Gordon, Bernard von: Lilium Medicinae, Lyons/Lambillon/Serrazin 1491. Guainerius, Antonius: Opera Medica, Pavia/Charcavo 1488. Guazzo, Francesco Maria: Compendium Maleficarum, Mailand 1608. Guazzo, Francesco Maria: Compendium Maleficarum, The Montague Summers Edition, New York 1988. Gufer, Johann: Kleine Hauß-Apotheke. Darinnen allerhand schöne Experimenta oder Artzneyen/ auch von geringeren und verächtlichen Sachen zu finden/ und denen Kranken zum Nutzen nun zum zwölftenmal mitgeteilet …, Augsburg 1673. Hartknoch, Christophorus: Alt- und Neupreussen, Frankfurt/Leipzig 1684. Hasenest, Johann Georg: Des Medicinischen Richters oder Actorum Physico-Medico Forensium, 3. Theil 1735–1757, Onolzbach 1757. Hebenstreit, Johannes Ernestus: Anthropologia forensis sistens Medici circa Rempublicam ausasque dicendas Officium, Leipzig 1753. Heintel, Helmut: Quellen zur Geschichte der Epilepsie, Stuttgart/Wien 1975. Hippokrates von Kos: Grensemann, Hermann (Hg.): Die hippokratische Schrift „Über die Heilige Krankheit“, Berlin 1968. Hirschel, Leon Elias: Gedanken die Heilungsart der fallenden Sucht betreffend. Nebst einem Anhang, von einigen gegen die Würmer dienlichen Mitteln, 2. Auflage, Berlin 1770. Hoffmann, Friedrich (Praes.)/Büttner, Christoph Gottlieb (Verf): Dissertatio inauguralis medica de vera mali epileptica causa, Halle 1732. Hoffmann, Friedrich: Medicina Consultatoria, Worinnen unterschiedliche über einige schwehre Casus ausgearbeitete Consilia, auch Responsa Facultatis Medicae enthalten …, Zweiter Teil, Halle 1721. Hoffmann, Friedrich: Medicina Consultatoria, Worinnen unterschiedliche über einige schwehre Casus ausgearbeitete Consilia, auch Responsa Facultatis Medicae enthalten …, Sechster Teil, Halle 1728. Horsch, Joseph: Versuch einer Topographie der Stadt Würzburg, in Beziehung auf den allgemeinen Gesundheitszustand und die dahinzielenden Anstalten, Arnstadt/Rudolfstadt 1805. Issickemer, Jacobus: Bauer, Robert: Das Büchlein der Zuflucht zu Maria. Altöttinger Mirakelberichte von Jacobus Issickemer, Passau 1964/65. J., T.E.H.: Nachricht eines epileptischen Patienten, so durch einen ohngefähren Zufall seine Krankheit verloren, in: Hamburgisches Magazin, oder gesammlete Schriften, zum Unterricht und Vergnügen 15 (1755), S. 313–323. Kalt, Andreas: De epilepsia. Dissertationes medicae, Freiburg 1609. Krünitz, Johann Georg: Epilepsie, in: Oeconomische Encyclopädie oder allgemeines System der Land-, Haus-, und Staats- Wirthschaft, T. 11, Berlin 1777, S. 128–143, hier S. 129. Derselbe: Salzfluß, in: Oeconomische Encyclopädie oder allgemeines System der Land-, Haus-, und Staats- Wirthschaft, Oeconomische Encyclopädie oder allgemeines System der Land-, Haus-, und Staats- Wirthschaft, T. 134, Berlin 1823, S. 153. Kruger, Bartholdus: Corpus medicinae Practicae oder Hand-Büchlein vieler singularen und in der Vernunfft-Probe bestandenen Experimenten. Wie allen Menschlichen Gebrechen nechst Gott! Durch schlechte geringe Artzeneymittel könne geholffen und sie curiert werden …, Braunschweig 1699. Kühn, Johann Gottlieb: Sammlung Medicinischer Gutachten, Breßlau/Hirschberg 1791.
6.3 Quellen- und Literaturverzeichnis
285
Lambert, Daneau: Von den Zauberern, Hexen und Unholden, Köln 1576. Leonhart Fuchs: New Kreuterbuch/ in welchem nit allein die gantz histori/ das ist/ namen/ gestalt/ statt und zeit der wachsung/ natur/krafft und würckung/ des meysten theyls der kreüter so in Teütschen unnd anderen Landen wachsen …, Basel 1543. Luther, Martin: Borcherdt, H.H./Merz, Georg (Hg.): Martin Luther ausgewählte Werke, 3. Auflage, München 1963. Luther, Martin: Reichert, O. (Hg.): D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 44, Weimar 1915. Lysons, Daniel: Practisch Abhandlungen von den Wechselfiebern, der Wassersucht, den Krankheiten der Leber, der fallenden Sucht …, aus dem Englischen übersetzt bey Caspar Fritsch, Leipzig 1774. Mead, Richard: Medica sacra sive de morbis insignioribus, qui in bibliis memorantur, London 1749. Moebius, Gottfried (Praes.)/Chiliani, Balthasar (Verf.): Dissertatio Medica Inauguralis De Epilepsia, Jena 1664. Papst Paul V. (Hg.): Triacca, Achille M. (Hg): Rituale Romanum 1614, Faksimile, Vatikan 2004. Paracelsus: Peuckert, Will-Erich (Hg.): Theophrastus Paracelsus Werke, Bd. I., Medizinische Schriften, Darmstadt 1965. Paullini, Kristian Frantz: Heilsame Dreck-Apotheke, Frankfurt a. M. 1696. Paullini, Kristian Frantz: Neu vermehrte heilsame Drecksapotheke/ Wie nemlich mit Koth und Urin fast alle ja auch de schwerste/ gifftigste Kranckheiten/ und bezauberte Schaden/ vom Haupt biß zun Füssen/ inn- und äusserlich/ glücklich curiert worden, Frankfurt a. M. 1697. Pietsch, J.G.: Nachricht über die Wirkungen der großen Baldrianwurzel wider die Würmer und Epilepsie, in: Neues Hamburgisches Magazin, 16. Bd., 93 (1775), S. 269–278. Planer, Andreas (Praes.)/Havvenreuter, Johann Ludwig (Verf.): Disputatio De Epilepsia, Argentorati 1586. Platter, Felix: Buess, Heinrich (Hg.)/Goldschmidt, Günther (Übersetz.): Observationes. Krankheitsbeobachtungen in drei Büchern, 1. Buch: Funktionelle Störungen des Sinnes und der Bewegung, Bern/Stuttgart 1963. Schuster, Gottwald: Vernünfftige, Naturmäßige und in der Erfahrung gegründete Methode, die meisten Kranckheiten des menschlichen Leibes bald, sicher und auf eine angenehme Art zu heilen …, Chemnitz 1749. Sprenger, Jacob/Kramer, Heinrich (Institoris): Malleus Maleficarum, Straßburg 1587. Sprenger, Jacob/Kramer, Heinrich (Institoris): Jerouschek, Günter/Behringer, Wolfgang (Hg.): Malleus Maleficarum. Der Hexenhammer, kommentierte Neuübersetzung, 6. Aufl., München 2007. Sehling, Emil: Die Evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, Bd. 8: Hessen, Tübingen 1965. Semler, Johann Salomo: D. Johann Salomo Semlers Umständliche Untersuchung der dämonischen Leute oder sogenannten Besessenen …, Halle 1762. Sylvius, Franciscus de le Boë: Of Childrens Diseases: Given in a familiar style, London 1682. Villanova, Arnold von: Brevarium practicae medicinae, Pavia 1482. Weikard, Melchior Adam: Entwurf einer einfacheren Arzeneykunst oder Erläuterung und Bestätigung der Brownischen Arzeneylehre, Frankfurt a. M. 1795. Weinsberg, Hermann von: Hässlin, Johann Jakob (Hg.): Das Buch Weinsberg. Aus dem Leben eines Kölner Ratsherrn, Stuttgart 1961. Weinsberg, Hermann von: Höhlbaum, Konstantin (Hg.): Das Buch Weinsberg. Kölner Denkwürdigkeiten aus dem 16. Jahrhundert, Bd. 1 und 2, Leipzig 1886–1887, Nachdruck Düsseldorf 2000.
286
6 Anhang
Weinsberg, Hermann von: Lau, Friedrich (Hg.): Das Buch Weinsberg. Kölner Denkwürdigkeiten aus dem 16. Jahrhundert, Bd. 3 und 4, Bonn 1897–1898, Nachdruck Düsseldorf 2000. Weyer, Johann: De prestagiis daemonum, et incantationibus, ac veneficiis, Libri V, Basel 1563. Winckelmann, Otto: Das Fürsorgewesen der Stadt Straßburg vor und nach der Reformation bis zum Ausgang des 16. Jahrhunderts (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte Band 5), Leipzig 1922. Zacchias, Paulus: Quaestiones medico-legales, Bd. 3, Noriberga 1726. Zedler, Johann Heinrich: Epilepsia, in: Großes vollständiges Universal-Lexicon, Bd. 8, Halle/ Leipzig 1734, S. 1402–1405. Ziegler, Christopher M.: De epilepsia, Disputatio Inauguralis, Basel 1619. Zittmann, Johann Friedrich: Medicina Forensis, Das ist; Eröffnete Pforte zur Medicin und Chirurgie … Über allerhand schwere zweiffelhaffte und seltene von Anno 1650 bis 1700 vorgekommene und in die Medizin auch Chirurgie laifende Fragen und Fälle, Frankfurt a. M. 1706.
Literatur Alt, Konrad: Die diätetische Behandlung von Epileptikern in Vergangenheit und Gegenwart, in: Zeitschrift für klinische Medizin 53 (1904), S. 380–402. Amereller, Almut: Votiv-Bilder. Volkskunst als Dokument menschlicher Hilfsbedürftigkeit, dargestellt am Beispiel der Votiv-Bilder des Klosters Andechs, 2. Auflage, München 1994. Ammer, Gerhard: Heimat Straße. Vaganten im Österreich des Ancien Régime (= Sozial- und Wirtschaftshistorische Studien, Bd. 29), Wien 2003. Angenendt, Arnold: Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, München 1994. Arts, Nicolaas: Epilepsy through the Ages. An Anthology of Classic Writings on Epilepsy, Alphen aan den Riijn 2001. Assion, Peter: Reinhardsachsen und der hl. Valentin von Rufach. Fränkisch-elsässische Wallfahrtsstudien, in: Badische Heimat, Heft 2, 56 (1976), S. 191–208. Aumüller, Gerhard/Rumpf-Lehmann, Barbara: Einblicke in das Krankheitsspektrum und die Verschreibungspraxis im Hospital Haina im 18. Jahrhundert – Die Medizinalrechnungen der Hospitalchirurgen, in: Arnd Friedrich/Irmtraut Sahmland/Christina Vanja (Hg.): An der Wende zur Moderne. Die hessischen Hohen Hospitäler im 18. und 19. Jahrhundert, Petersberg 2008, S. 121–138. Awaritefe, Alfred: Epilepsy: The Myth of a Contagious Disease, in: Culture, Medicine and Psychiatry 13 (1989), S. 449–456. Baader, Joseph (Hg.): Nürnberger Polizeiordnungen aus dem XIII. bis XV. Jahrhundert, Amsterdam 1966. Bahrs, O./Ritter, G.: Historische Aspekte zur sozialen Einstellung gegenüber Anfallskranken, in: Rolf Kruse (Hg.): Epilepsie 84, Reinbek 1985, S. 219–230. Bargheer, Ernst: Eingeweide. Lebens- und Seelenkräfte des Leibesinneren im deutschen Glauben und Brauch, Berlin/Leipzig 1931. Bennholdt-Thornsen, Anke/Guzzoni, Alfredo: Zur Theorie des Versehens im 18. Jahrhundert. Ansätze einer pränatalen Psychologie, in: Thomas Kornbichler (Hg.): Klio und Psyche, Pfaffenweiler 1990, S. 112–125. Beyer, Jürgen: Besessenheit und Bußpredigt. Der Fall Hans Vater (1559–1562), in: Hans de Waardt/Jürgen Michael Schmidt/H.C. Erik Midelfort (Hg.): Dämonische Besessenheit. Zur Interpretation eines kulturhistorischen Phänomens, Bielefeld 2005, S. 193–211. Blickle, Peter/Kümin, Beat/Neuhaus, Helmut/Würgler, Andreas: Abstracts in der Sektion „Supplizieren. Zur Politik der Untertanen“, in: S. Weinfurther/M. Siefarth (Hg.): Ge-
6.3 Quellen- und Literaturverzeichnis
287
schichte als Argument, 41. Deutscher Historikertag, München 17.–20. September 1996, S. 104–108. Blickle, Peter/Fuhrmann, Rosi (Hg.): Gemeinde und Staat im alten Europa, München 1997. Bräuer, Helmut: Persönliche Bittschriften als Sozial- und Mentalitätsgeschichtliche Quellen. Beobachtungen aus frühneuzeitlichen Städten Obersachsens, in: Gerhard Ammerer/ Christian Rohr/Alfred Stefan Weiß (Hg.): Tradition und Wandel. Beiträge zur Kirchen-, Gesellschafts- und Kulturgeschichte, Wien/München 2001, S. 294–304. Burg, Peter: Saarbrücken 1789–1860, Blieskastel 2000. Burmeister, Karl Heinz: Achilles Pirmin Gasser 1505–1577. Arzt, Naturforscher und Humanist, Wiesbaden 1970. Büttner, Ludwig: Fränkische Volksmedizin. Ein Beitrag zur Volkskunde Ostfrankens, Erlangen 1934. Bynum, W.F./Porter, Roy: Companion Encyclopedia of the History of Medicine, Volume 2, London/New York 1994. Calker, Wilhelm van: Entstehung, rechtliche Natur und Umfang des Petitionsrechts nach hessischem Staatsrecht, in: Staatsrechtliche Abhandlungen, Bd. 2, Tübingen 1908. Cassano, D./Collucci d’Amato, C.: „The Moon“ and the „Blood“: Two Emblematic Symbols in Headache and Epilepsy according to Scientific Traditions of the Salerno Medical School and Popular Medicine in Southern Italy, in: Journal of the History of the Neurosciences 1 (1992), S. 97–110. Ceglia, Francesco Paolo de: The Blood, the Worm, the Moon, the Witch: Epilepsy in Georg Ernst Stahls Pathological Architecture, in: Perspectives on Science, Heft 12, 1 (2004), S. 1–28. Christ, Dorothea A.: Zwischen Kooperation und Konkurrenz. Die Grafen von Thierstein, ihre Standesgenossen und die Eidgenossenschaft im Spätmittelalter, Zürich 1998. Clark, Stuart: Thinking with Demons: The Idea of Witchcraft in Early Modern Europe, Oxford 1997. Dekker, Rudolf M.: Ego- Documents in the Netherlands 1500–1814, in: Dutch Crossing 39 (1989), S. 61–72. Dekker, Rudolf M.: Egodocumenten: Een literatuuroverzicht, in: Tijdschift voor Geschiedenes 101 (1988), S. 161–189. Demandt, Karl E.: Die Anfänge der staatlichen Armen- und Elendenfürsorge in Hessen, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 30 (1980), S. 176–235. Deutsch, Christina: Ehegerichtsbarkeit im Bistum Regensburg (1480–1538), Köln/Weimar/ Wien 2005. Dieckhöfer, K.: Die Epilepsie an der Wende zum 18. Jahrhundert. Kleiner geschichtlicher Abriß anhand von drei zeitgenössischen medizinischen Dissertationen aus den Jahren 1695, 1699 und 1733, in: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie, Heft 1, 11(1972), S. 89–97. Dieterich, Hartwig: Das protestantische Eherecht in Deutschland bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts (= Jus Ecclasiasticum, Bd. 10), München 1970. Dietrich, Hans Christian: Evangelisches Ehescheidungsrecht nach den Bestimmungen der deutschen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, Erlangen 1892. Dinges, Martin/Barras, Vincent (Hg.): Krankheit in Briefen im deutschen und französischen Sprachraum. 17.–21. Jahrhundert, Stuttgart 2007. Duden, Barbara: Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730, Stuttgart 1987. Dülmen, Richard van: Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafritual in der Frühen Neuzeit, München 1985. Derselbe: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. Bd. 2: Dorf und Stadt, 16.–18. Jahrhundert, 2. Auflage, München 1999. Eckart, Wolfgang U./Jütte, Robert: Medizingeschichte. Eine Einführung, Köln/Weimar 2008.
288
6 Anhang
Eckart, Wolfgang U.: Geschichte der Medizin, 2. komplett überarbeitete Auflage, Berlin/Heidelberg/New York 1994. Ender, Anke Maria: Grundlinien der diätetischen Epilepsiebehandlung im Rahmen der allgemeinen Heilkunde des 18. und 19. Jahrhunderts, med. Dissertation, Heidelberg 1966. Engelhardt, Dietrich von/Schneble, Hansjörg/Wolf, Peter (Hg.): „Das ist eine alte Krankheit“: Epilepsie in der Literatur: mit einer Zusammenstellung literarischer Quellen und einer Bibliographie der Forschungsbeiträge, Stuttgart 2000. Ernst, Katharina: Patientengeschichte. Die kulturhistorische Wende in der Medizinhistoriographie, in: Ralf Bröer (Hg.): Eine Wissenschaft emanzipiert sich. Die Medizinhistoriographie von der Aufklärung bis zur Postmoderne, Pfaffenweiler 1999, S. 97–110. Evans, Richard J.: Rituale der Vergeltung. Die Todesstrafe in der deutschen Geschichte 1532– 1987, Berlin/Hamburg 2001. Faust, P.P.: Aus der Geschichte des Priorates und der Epileptiker-Wallfahrt St. Valentin in Rufach, in: Rudolf Krause (Hg.): Epilepsie 84, Reinbeck 1985, S. 198–209. Feschet, Valérie: S’éscrire en famille, des sentiments déclinés: la correspondence rurale en Provence alpine au XIXe siècle, in: Pierre Albert (Hg.): Correspondence jadis et naguère, Paris 1997, S. 481–499. Finger, Margarete: Über die arzneiliche Verwendbarkeit der Canthariden, med. Diss., Berlin 1931. Fischer, Thomas: Städtische Armut und Armenfürsorge im 15. und 16. Jahrhundert. Sozialgeschichtliche Untersuchungen am Beispiel der Städte Basel, Freiburg i. Br. und Straßburg, Göttingen 1979. Fischer-Homberger, Esther: Medizin vor Gericht. Gerichtsmedizin von der Renaissance bis zur Aufklärung, Bern/Stuttgart/Wien 1983. Friedrich, Arnd: Die Seelsorgeämter im Hospital Haina. Pfarrer-Lektor-Vorsänger, in: Walter Heinemeyer/Tilman Plünder (Hg.): 450 Jahre Psychiatrie in Hessen (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, Bd. 47), Marburg 1983, S. 161–184. Friedrich, Christoph/Müller-Jahnke, Wolf-Dieter: Rudolf Schmitz. Geschichte der Pharmazie, Bd. 2: Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Eschborn 2005. Friedrich, Christoph: Arzneimittelanwendungen im Hohen Hospital Merxhausen 1760, in: Arnd Friedrich/Irmtraut Sahmland/Christina Vanja (Hg.): An der Wende zur Moderne. Die hessischen Hohen Hospitäler im 18. und 19. Jahrhundert, Petersberg 2008, S. 139– 162. Fröhlich, Sigrid: Die soziale Sicherung bei Zünften und Gesellenverbänden. Darstellung, Analyse, Vergleich (= Sozialpolitische Schriften, Bd. 38), Berlin 1976. Gerbarek, Werner E./Haage, Bernhard D./Keil, Gundolf/Wegner, Wolfgang (Hg.): Enzyklopädie Medizingeschiche, Berlin 2005. Gierl, Irmgard: Bauernleben und Bauernwallfahrt in Altbayern. Eine kulturkundliche Studie auf Grund der Tuntenhausener Mirakelbücher, München 1960. Goodman, Felicitas D.: The Excorcism of Anneliese Michel, Garden City 1981. Grabner, Elfriede: Krankheit und Heilen. Eine Kulturgeschichte der Volksmedizin in den Ostalpen (= Mitteilungen des Instituts für Gegenwartsvolkskunde, Bd. 16), 2. korrigierte und um eine Einl. erw. Aufl., Wien 1997. Gray, Louise Marsha: The Self-Perception of Chronic Physical Incapacity among the Labouring Poor. Pauper Narratives and Territorial Hospitals in Early Modern Rural Germany, Dissertation, University College London 2001. Dieselbe: Patientenbiographien: Armut, Krankheit, körperliche Leiden, in: Arnd Friedrich/ Fritz Heinrich/Christina Vanja (Hg.): Das Hospital am Beginn der Neuzeit. Soziale Reform in Hessen im Spiegel europäischer Kulturgeschichte, Petersberg 2004, S. 243–253. Gurlt, Ernst: Geschichte der Chirurgie und ihrer Ausübung. Volkschirurgie, Altertum, Mittelalter, Renaissance, Bd. 3, Nachdruck Hildesheim 1964.
6.3 Quellen- und Literaturverzeichnis
289
Habermas, Rebekka: Wunder, Wunderliches, Wunderbares. Zur Profanisierung eines Deutungsmusters in der Frühen Neuzeit, in: Richard van Dülmen (Hg.): Armut, Liebe, Ehre. Studien zur Historischen Kulturforschung, Frankfurt a. M. 1988, S. 38–66. Dieselbe: Wallfahrt und Aufruhr. Zur Geschichte des Wunderglaubens in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1991. Harmening, Dieter: Fränkische Mirakelbücher. Quellen und Untersuchungen zur Historischen Volkskunde und Geschichte der Volksfrömmigkeit (= Würzburger Diözesengeschichtsblätter, Bd. 28), Würzburg 1966. Hatje, Frank: Institutionen der Armen-, Kranken- und Daseinsfürsorge im nördlichen Deutschland (1500–1800), in: Martin Scheutz/Andrea Sommerlechner/Herwig Weigl/Alfred Stefan Weiß (Hg): Europäisches Spitalwesen. Institutionelle Fürsorge in Mittelalter und Früher Neuzeit, Wien/München 2008. Hecker, Horst: Achtzehn Kisten im Blockhaus. Der Hainaer Hospitalit Christian Adler aus Gilsa, in: Fankenberger Allgemeine, 23.04. 2006. Heinemeyer, Walter: Armen- und Krankenfürsorge in der hessischen Reformation, in: Derselbe: 450 Jahre Psychiatriegeschichte in Hessen, Marburg 1983, S. 1–20. Heintel, Helmut/Hirschmann, Gerhard: Notaufnahme eines Epileptikers im Heilig-GeistSpital Nürnberg im Jahre 1783, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 61 (1974), S. 293–301. Hesse, Hans Gert: Evangelisches Ehescheidungsrecht in Deutschland (= Schriften zur Rechtslehre und Politik, Bd. 22), Bonn 1960. Hippel, Wolfgang von: Armut, Unterschichten, Randgruppen in der Frühen Neuzeit. München 1995. Hoffmann, Susanne: Gesundheit und Krankheit bei Ulrich Bräker (1735–1798), Zürich 2005. Höfler, Max: Frais, in: Derselbe: Deutsches Krankheitsnamen-Buch, München 1899, S. 165 f. Hüttl, Ludwig: Marianische Wallfahrten im süddeutsch-österreichischen Raum. Analysen von der Reformations- bis zur Aufklärungsepoche (= Kölner Veröffentlichungen zur Religionsgeschichte, Band 6), Köln/Wien 1985. Jung, Vera/Ulbricht, Otto: Krank Sein. Krankheitserfahrung im Spiegel von Selbstzeugnissen von 1500 bis heute. Ein Tagungsbericht, in: Historische Anthropologie 1 (2001), S. 137– 148. Jütte, Robert: Obrigkeitliche Armenfürsorge in deutschen Reichstädten der Frühen Neuzeit. Städtisches Armenwesen in Frankfurt am Main und Köln, Köln/Wien 1984. Derselbe: Abbild und soziale Wirklichkeit des Bettler- und Gaunertums zu Beginn der Neuzeit. Sozial-, mentalitäts- und sprachgeschichtliche Studien zum Liber vagatorum (1510), Köln/Wien 1988. Derselbe: Aging and Body Image in the 16th Century. Hermann Weinsberg‘s (1518–1597) Perception of the Aging Body, in: European History Quarterly 18 (1988), S. 259–290. Derselbe: Ärzte, Heiler und Patienten. Medizinischer Alltag in der Frühen Neuzeit, München 1991. Derselbe: Sprachliches Handeln und Kommunikative Situation. Der Diskurs zwischen Obrigkeit und Untertanen am Beginn der Neuzeit, in: Helmut Hundsbichler (Hg.): Kommunikation und Alltag in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Internationaler Kongress Krems an der Donau 9. bis 12. Oktober 1990, Wien 1992, S. 159–181. Derselbe: Arme, Bettler, Beutelschneider. Eine Sozialgeschichte der Armut in der Frühen Neuzeit, Weimar 2000. Derselbe: Tendenzen öffentlicher Armenpflege in der Frühen Neuzeit Europas und ihre weiter wirkenden Folgen, in: Theodor Strohm/Michael Klein (Hg.): Die Entstehung einer sozialen Ordnung Europas, Bd. 1, Heidelberg 2004, S. 78–104. Derselbe: Krankheit und Gesundheit im Spiegel von Hermann Weinsbergs Aufzeichnungen, in: Manfred Groten (Hg.): Hermann Weinsberg (1518–1597). Kölner Bürger und Ratsherr. Studien zu Leben und Werk, Köln 2005, S. 231–251.
290
6 Anhang
Karnehm, Christl: Quellen zur Neueren Geschichte Bayerns. Privatkorrespondenzen: Die Korrespondenz Hans Fuggers von 1566 bis 1594: Regesten der Kopierbücher aus dem Fuggerarchiv, Bd. 1 und 2, München 2003. Kauertz, Claudia: Hexenforschung, Dämonologie und Medizin. Zum Verhältnis von Magie und Gelehrter Medizin in der Frühen Neuzeit, in: Walter Bruchhausen (Hg.): Hexerei und Krankheit. Historische und ethnologische Perspektiven, Münster/Hamburg/London 2003, S. 71–92. Keller, Albrecht: Der Scharfrichter in der deutsche Kulturgeschichte, Bonn/Leipzig 1921. Kinzelbach, Annemarie: Heilkundige und Gesellschaft in der frühneuzeitlichen Reichsstadt Überlingen, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 8 (1989), S. 119–149 Dieselbe: Gesundbleiben, Krankwerden, Armsein in der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Gesunde und Kranke in den Reichsstädten Überlingen und Ulm, 1500–1700 (= Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 8), Stuttgart 1995. Klein, Hanns: Das Saarbrücker Spitalwesen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 1 (1975), S. 177–214. Klinnert, Renate S.: Von Besessenen, Melancholikern und Betrügern. Johann Weyers De Praestigiis Daemonum und die Unterscheidung der Geister, in: Hans de Waardt/Jürgen Michael Schmidt/H.C. Erik Midelfort (Hg.).: Dämonische Besessenheit. Zur Interpretation eines kulturhistorischen Phänomens, Bielefeld 2005, S. 89–105. Kohler Riessmann, Catherine: Strategic Uses of Narrative in the Presentation of Self and Illness. A Research Note, in: Social Science and Medicine 30 (1990), S. 1195–1200. Kolb, Peter: Die Juliusspital-Stiftung zu Rothenfels, Würzburg 1985. Kolb, Peter: Das Spital- und Gesundheitswesen, in: Ulrich Wagner (Hg.): Geschichte der Stadt Würzburg. Bd. 2: Vom Bauernkrieg 1525 bis zum Übergang an das Königreich Bayern 1814, Stuttgart 2004, S. 540–568. Köllner, Adolph: Geschichte der Städte Saarbrücken und St. Johann, Bd. 1: Historische Nachrichten, Saarbrücken 1865, unveränderter Nachdruck 1981. Derselbe: Geschichte der Städte Saarbrücken und St. Johann, Bd. 2, Saarbrücken 1865. König, Maria Angela: Weihegaben an Unsere Liebe Frau von Altötting, Band 1: Überzeitliche Zusammenhänge, München 1939. Dieselbe: Weihegaben an Unsere Liebe Frau von Altötting, Band 2: Im Rahmen der Zeitgeschichte 1492–1750, München 1940. Krämer, Günter: Das große TRIAS-Handbuch Epilepsie, 3. überarbeitete Auflage, Stuttgart 2005. Kutzer, Michael: Das Bild der Epilepsie in medizinischen Inauguraldissertationen aus der Zeit zwischen 1670 und 1770, med. Dissertation, Mainz 1983. Derselbe: Besessenheit oder Krankheit? Psychische Störungen in der Medizin der Frühen Neuzeit, in: Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde 2 (1997), S. 219–240. Derselbe: Anatomie des Wahnsinns: Geisteskrankheiten im medizinischen Denken der Frühen Neuzeit und die Anfänge der pathologischen Anatomie, Hürtgenwald 1998. Labouvie, Eva: Hexenspuk und Hexenabwehr. Volksmagie und volkstümlicher Hexenglaube, in: Richard van Dülmen (Hg.): Hexenwelten. Magie und Imagination vom 16.–20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1987, S. 49–93. Dieselbe: Verbotene Künste. Volksmagie und ländlicher Aberglaube in den Dorfgemeinden des Saarraums 16.–19. Jahrhundert, St. Ingbert 1992. Dieselbe: Andere Umstände. Eine Kulturgeschichte der Geburt, Köln/Weimar/Wien 1998. Lachmund, Jens/Stollberg, Gunnar: Patientenwelten: Krankheit und Medizin vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert im Spiegel von Autobiographien, Opladen 1995. Lane, Joan: The Doctor Scolds Me: The Diaries and Correspondence of Patients in Eigteenth Century England, in: Roy Porter (Hg.): Patients and Practitioners. Lay Perceptions of Medicine in Pre-Industrial Society, Cambridge 1985, S. 205–248.
6.3 Quellen- und Literaturverzeichnis
291
Lefrère, Sieglinde: Die Entwicklung des Saarländischen Apothekenwesens. Von den Anfängen bis zu den im Wiener Kongreß getroffenen Regelung (1815), Frankfurt a. M. 1963. Lehmann, Paul: Eine Geschichte der alten Fuggerbibliotheken, 1. Teil, Tübingen 1956. Lennox, William G.: Antonius Guainerius on Epilepsy, in: Annals of Medical History 2 (1940), S. 482–499. Lennox, William G.: Bernard of Gordon on Epilepsy, in: Annals Of Medical History 2 (1941), S. 372–383. Leven, Karl-Heinz: Die „unheilige“ Krankheit – epilepsia, Mondsucht und Besessenheit in Byzanz, in: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 13 (1995), S. 17–57. Leven, Karl-Heinz: Krankheiten: Historische Deutung versus retrospektive Diagnose. in: Norbert Paul/Thomas Schlich (Hg.): Medizingeschichte: Aufgaben, Probleme, Perspektiven, Frankfurt a. M./New York 1998, S. 153–185. Ley, Astrid: Zwangssterilisation und Ärzteschaft. Hintergründe und Ziele ärztlichen Handelns 1934–1945, Erlangen 2003. Loetz, Francisca: Vom Kranken zum Patienten. „Medikalisierung“ und medizinische Vergesellschaftung am Beispiel Badens 1750–1850 (= Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 2), Stuttgart 1993. Loots, G.M.P.: Epilepsie in de zestiende eeuw. De observationis van Pieter van Foreest, Rotterdam 2007. Lorenz, Maren: Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte (= Historische Einführungen, Bd. 4), Tübingen 2000. Dieselbe: Kriminelle Körper – Gestörte Gemüter. Die Normierung des Individuums in Gerichtsmedizin und Psychiatrie der Aufklärung, Hamburg 1999. Lumme, Christoph: Höllenfleisch und Heiligtum: der menschliche Körper im Spiegel autobiographischer Texte des 16. Jahrhunderts (= Münchner Studien zur Neueren und Neuesten Geschichte, Bd. 13), Frankfurt a. M. 1996. Lutz, Alexandra: Ehepaare vor Gericht. Konflikte und Lebenswelten in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M./New York 2006. Matheus, Michael (Hg.): Funktions- und Strukturwandel spätmittelalterlicher Hospitäler im europäischen Vergleich (= Geschichtliche Landeskunde, Bd. 56), Stuttgart 2005. Meißner, Monika: Valentin Engelhardt und seine Spitalstiftung in Geldersheim, in: Mainfränkisches Jahrbuch für Geschichte und Kunst 20 (1968), S. 1–190. Midelfort, H.C. Erik: The Devil and the German People: Reflections on the Popularity of Demon Possession in Sixteenth-Century Germany, in: Steven Ozment (Hg.): Religion and Culture in the Renaissance and Reformation, Kirksville 1989, S. 99–120. Derselbe: Mad Princess of Renaissance Germany, Charlottesville 1994. Derselbe: A history of Madness in Sixteenth-Century Germany, Stanford 1999. Derselbe: Exorcism and Enlightment. Johann Joseph Gaßner and the demons of eighteenth century Germany, New Haven 2005. Miles, M.: „Martin Luther and Childhood Disability in 16th Century Germany: What did he write? What did he say?“, in: Journal of Religion, Disability & Health 5 (2001), S. 5–36. Möhle, Sylvia: Ehekonflikte und sozialer Wandel. Göttingen 1740–1840, Frankfurt a. M./New York 1997. Müller, I.: Valentin von Rätien, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 8, Rom/Freiburg u. a. 1976, S. 529 f. Müller, Siegfried: Drei „Wunderheiler“ aus dem Voralberger Oberland, Feldkirch 1986. Müller-Jahncke, Wolf-Dieter: Magie als Wissenschaft im frühen 16. Jahrhundert. Die Beziehungen zwischen Magie, Medizin und Pharmazie im Werk des Agrippa von Nettesheim (1486–1535), Marburg 1973. Derselbe: Astrologisch-Magische Theorie und Praxis in der Heilkunde der Frühen Neuzeit, Stuttgart 1985. Derselbe: Paracelsus, in: Claus Priesner/Karin Figala (Hg.): Alchemie. Lexikon einer hermetischen Wissenschaft, München 1998, S. 267–270.
292
6 Anhang
Derselbe: Neoplatonismus, in: Werner E. Gerbarek/Bernhard D. Haage/Gundolf Keil/Wolfgang Wegner (Hg).: Enzyklopädie Medizingeschichte, Berlin 2005, S. 1033 f. Derselbe: Ficino, Marsilio, in: Werner E. Gerbarek/Bernhard D. Haage/Gundolf Keil/Wolfgang Wegner (Hg.): Enzyklopädie Medizingeschichte, Berlin 2005, S. 395 f. Neuhaus, Helmut: Reichstag und Supplikationsausschuss. Ein Beitrag zur Reichsverfassungsgeschichte der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (= Schriften zur Verfassungsgeschichte, Bd. 24), Berlin 1977. Derselbe: Supplikationen als landesgeschichtliche Quellen. Das Beispiel der Landgrafschaft Hessen im 16. Jahrhundert, Erster Teil, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 28 (1978), S. 110–190, Zweiter Teil, in: Ebd. 29 (1979), S. 63–97. Derselbe: „Supplizieren und Wassertrinken sind jedem gestattet.“ Über den Zugang des Einzelnen zum frühneuzeitlichen Ständestaat, in: Dietrich Murswiek/Ulrich Storost/Heinrich A. Wolff (Hg.): Staat – Souveränität – Verfassung. Festschrift für Helmut Quaritsch zum 70. Geburtstag (= Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 814), Berlin 2000, S. 475–492. Noll, Natascha: Die Arbeit von Hospitalitinnen im Hospital Merxhausen (1764–1810), in: Arnd Friedrich/Irmtraut Sahmland/Christina Vanja (Hg): An der Wende zur Moderne. Die hessischen Hohen Hospitäler im 18. und 19. Jahrhundert, Petersberg 2008, S. 199– 226. Nowosadtko, Jutta: Wer Leben nimmt, kann auch Leben geben – Scharfrichter und Wasenmeister als Heilkundige der Frühen Neuzeit, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 12 (1993), S. 43–74. Nubola, Cecilia/Würgler, Andreas: Bittschriften und Gravamina. Politik, Verwaltung & Justiz in Europa (14.–18. Jahrhundert), Berlin 2005. Nubola, Cecilia/Würgler, Andreas: Einführung, in: Cecilia Nubola/Andreas Würgler (Hg.): Bittschriften und Gravamina. Politik, Verwaltung & Justiz in Europa (14.–18. Jahrhundert), Berlin 2005, S. 7–16. Paul, Norbert/Schlich, Thomas (Hg.): Medizingeschichte: Aufgaben, Probleme, Perspektiven, Frankfurt a. M./New York 1998. Peacock, Mabel: Executed Criminals and Folk-Medicine, in: Folklore 3 (1896), S. 268–283. Porter, Roy: Religion and Medicine, in: W.F.Bynum/Roy Porter (Hg.): Companion Encyclopedia of the History of Medicine, Bd. 2, London/New York 1994, S. 1449–1468. Präger, Frank: Das Spital und die Armen. Almosenvergabe in der Stadt Langenzenn im 18. Jahrhundert, Regensburg 1997. Priesner, Claus: Vitriol, in: Claus Priesner/Karin Figala: Alchemie. Lexikon einer hermetischen Wissenschaft, München 1998, S. 367 f. Rheinheimer, Martin: Arme, Bettler und Vaganten: Überleben in der Not. 1450–1850, Frankfurt a. M. 2000. Richel, Arthur: Armen- und Bettelordnungen. Ein Beitrag zur Geschichte der öffentlichen Armenpflege; in: Archiv für Kulturgeschichte, 2 (1904), S. 393–403. Rieger, Conrad: Die Psychiatrie in Würzburg von 1583–1898, I. Theil, in: Verhandlungen der Physikalisch- Medicinischen Gesellschaft zu Würzburg 17 (1893), S. 57–146. Ritter, Gerhard: Epilepsie und soziales Vorurteil in historischer Sicht, in: Psychiatrie, Neurologie, medizinische Psychologie 25 (1973), S. 754–761. Robinson, Ian: Personal Narratives, Social Careers and Medical Courses. Analysing Life Trajectories in Autobiographies of People with Multiple Sclerosis, in: Social Science and Medicine 30 (1990), 1173–1186. Rögener, Wiebke: Dämpfer fürs Gehirn. Cannabinoide können die Tätigkeit der Hirnzellen hemmen, in: Süddeutsche Zeitung, 11./12. November 2006, Nr. 260, S. 21. Ros, Guillermo Olagüe de: La literatura médica sobre epilepsia. Siglos XVI-XIX. Análisis bibliométrico, Valencia 1976. Rublack, Hans-Christoph: Gescheiterte Reformation. Frühreformatorische und protestantische Bewegungen in süd- und westdeutschen geistlichen Residenzen (= Tübinger Beiträge zur Geschichtsforschung, Bd. 4), Stuttgart 1978.
6.3 Quellen- und Literaturverzeichnis
293
Ruppersberg, Albert (Hg.): Geschichte der ehemaligen Grafschaft Saarbrücken, Bd. 3: Geschichte der Städte Saarbrücken, St. Johann und Malstatt-Burbach, Saarbrücken 1903. Rütten, Thomas: Hippokratische Schriften begründen die griechische Medizin „De morbo sacro“ – „Über die heilige Krankheit“, in: Heinz Schott (Hg.): Meilensteine der Medizin Dortmund 1996, S. 48–56. Sabean, David W.: Kinship in Neckarhausen 1700–1870, Cambridge 1997. Sachße, Christoph/Tennstedt, Florian: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Vom Spätmittelalter bis zum ersten Weltkrieg, Stuttgart/Berlin u. a. 1980. Sahmland, Irmtraut: „Welches ich hiermit auf begehren Pflichtmäßig attestiren soll“- Geisteskrankheiten in Physikatsgutachten des 18. Jahrhunderts, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 25 (2006), S. 9–57. Sander, Sabine: Handwerkschirurgen. Sozialgeschichte eines verdrängten Berufsstandes, Göttingen 1989. Sauder, Gerhard: Nosce te ipsum! Diaetophilus` Krankentagebuch und Geschichte der Selbstheilung von siebenjähriger Epilepsie (Carl Wilhelm Friedrich Ludwig Freiherr von Drais von Sauerbronn), in: Dietrich von Engelhardt/Hansjörg Schneble/Peter Wolf (Hg.): Das ist eine alte Krankheit: Epilepsie in der Literatur, Stuttgart 2000, S. 237–250. Schad, Martha: Die Frauen des Hauses Fugger von der Lilie (15.–17. Jahrhundert). Augsburg– Ortenburg-Trient, Tübingen 1989. Scheutz, Martin/Sommerlechner, Andrea/Weigl, Herwig/Weiß, Alfred Stefan (Hg.): Europäisches Spitalwesen. Institutionelle Fürsorge in Mittelalter und Früher Neuzeit, Wien/München 2008. Schild, Wolfgang: Das Blut des Hingerichteten, in: Christina von Braun/Christoph Wulf (Hg.): Mythen des Blutes, Frankfurt a. M./New York 2007, S. 126–154. Schlieper, Edith: Die Ernährung in den Hohen Hospitälern Hessens 1549–1850 mit einigen kulturgeschichtlichen Beobachtungen, in: Walter Heinemeyer/Tilman Plünder (Hg.): 450 Jahre Psychiatrie in Hessen, Marburg 1983, S. 211–266. Schmeller, Johann Andreas: Frais, in: Bayerisches Wörterbuch. Sammlung von Wörtern und Ausdrücken, die in der lebenden Mundart sowohl, als auch in der älteren und ältesten Provincial-Litheratur des Königreich Bayerns […] üblich sind, 1. Teil, Stuttgart/Tübingen 1827, S. 826 f. Schmidt, Sebastian: „Gott wohlgefällig und den Menschen nutzlich“. Zu Gemeinsamkeiten und konfessionspolitischen Unterschieden frühneuzeitlicher Armenfürsorge, in: Sebastian Schmidt/Jens Aspelmeier (Hg.): Norm und Praxis der Armenfürsorge in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Stuttgart 2006, S. 61–90. Schmitt, Wolfram: Die Epilepsie in der Theorie der älteren Medizin, in: Heidelberger Jahrbücher 18 (1974), S. 66–80. Schmuhl, Hans-Walter: Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“, 1890–1945, Göttingen 1987. Schnabel-Schüle, Helga: Wer gehörte dazu? – Zugehörigkeitsrechte und die Inklusion von Fremden in politische Räume, in: Andreas Gestrich/Lutz Raphael (Hg): Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M./ Berlin/Bern 2004. Schneble, Hansjörg: Krankheit der ungezählten Namen. Ein Beitrag zur Sozial-, Kultur- und Medizingeschichte der Epilepsie anhand ihrer Benennung vom Altertum bis zur Gegenwart, Bern/Stuttgart/Toronto 1985. Derselbe: Heillos, Heilig, Heilbar: Die Geschichte der Epilepsie von den Anfängen bis heute, Berlin 2003. Schneider, Wolfgang: Lexikon alchemistisch-pharmazeutischer Symbole, Weinheim 1962. Schott, Herbert: Das Verhältnis der Stadt Würzburg zur Landesherrschaft im 18. Jahrhundert (= Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg, Bd. 48), Würzburg 1995. Derselbe: Der sympathetische Arzt. Texte zur Medizin im 18. Jahrhundert, München 1998.
294
6 Anhang
Schütz, L.: Valentin von Rom, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 8, Rom/Freiburg 1976, S. 530. Schwager, Hans J.: Epilepsie bei Luther und in der evangelischen Theologie und Diakonie. Ein Beitrag zur Vorurteilsforschung, in: Zeitschrift für Epileptologie 1 (2004), S. 43–54. Schwerhoff, Gerd: Aktenkundig und gerichtsnotorisch. Einführung in die Historische Kriminalitätsforschung, Tübingen 1999. Seyfarth, Carly: Aberglaube und Zauberei in der Volksmedizin Sachsens, Hildesheim/New York 1979. Siegel, Rudolph E.: Galen on Psychology, Psychopathology, Function and Diseases of the Nervous System, Basel/München/Paris 1973. Simnacher, Georg/Gräfin von Preysing, Maria: Die Fuggertestamente des 16. Jahrhunderts, Bd. 2, Tübingen 1992. Simnacher, Georg: Die Fuggertestamente des 16. Jahrhunderts, Bd. 1, Tübingen 1960. Sohm, Walter: Territorium und Reformation in der hessischen Geschichte 1526–1555, 2. Auflage, Marburg 1957. Söllner, Elisabeth: Die Wallfahrt zum hl. Quirinus in Tegernsee im 18. Jahrhundert – ein Beitrag zur Mirakelbuchforschung, in: Beiträge zur altbayerischen Kirchengeschichte 50 (2007), S. 75–132. Spirkner, Bartholomäus: Kulturgeschichtliches aus dem Mirakelbuche der Wallfahrt zum hl. Valentin in Diepoldskirchen (1420–1691), in: Verhandlungen des Historischen Vereins für Niederbayern 42 (1906), S. 175–196. Steiger, Johann Anselm: Medizinische Theologie. Christus medicus und theologia medicinalis bei Martin Luther und im Luthertum der Barockzeit, Leiden/Boston 2005. Steinke, Hubert: Krankheit im Kontext. Familien-, Gelehrten- und Patientenbriefe im 18. Jahrhundert, in: Martin Dinges/Vincent Barras (Hg.): Krankheit in Briefen im deutschen und französischen Sprachraum. 17.–21. Jahrhundert, Stuttgart 2007, S. 35–44. Stolberg, Michael: Heilkunde zwischen Staat und Bevölkerung. Angebot und Annahme medizinischer Versorgung in Oberfranken im 19. Jahrhundert, med. Dissertation, München 1986. Derselbe: Heilkundige: Professionalisierung und Medikalisierung. in: Norbert Paul/Thomas Schlich (Hg.): Medizingeschichte: Aufgaben, Probleme, Perspektiven, Frankfurt a. M./ New York 1998, S. 69–86. Derselbe: Probleme und Perspektiven einer Geschichte der „Volksmedizin“, in: Thomas Schnalke (Hg.): Die Grenzen des Anderen. Medizingeschichte aus postmoderner Perspektive (= Sozialwissenschaftliches Forum, Bd. 28), Köln 1998, S. 49–74. Derselbe: „Volksfromme“ Heilpraktiken und medikale Alltagskultur im Bayern des 19. Jahrhunderts, in: Michael Simon (Hg.): Auf der Suche nach Heil und Heilung. Religiöse Aspekte der medikalen Alltagskultur, Dresden 2001, S. 155–174. Derselbe: Alternative Medicine, Irregular Healers and the Medical Market in Ninteenth-Century Bavaria, in: Robert Jütte/Motzki Eklöf/Marie C. Nelson (Hg.): Historical Aspects of Unconvential Medicine. Approaches, Concepts, Case Studies, Sheffield 2001, S. 139–162. Derselbe: Homo patiens. Krankheits- und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit, München 2003. Derselbe: Patientenbriefe und vormoderne Medikalkultur, in: Martin Dinges/Vincent Barras (Hg.): Krankheit in Briefen im deutschen und französischen Sprachraum. 17.–21. Jahrhundert, Stuttgart 2007, S. 23–34. Storch, Edna P. von/Storch, Theo J.C. von: Arnold of Villanova on Epilepsy, in: Annals of Medical History 10 (1938), S. 251–260. Sudhoff, Karl: Ein spätmittelalterliches Epileptikerheim zu Rufach im Oberelsaß, in: Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin 6 (1913), S. 449–455. Tellenbach, Hubertus (Hg.): Schwermut, Wahn und Fallsucht in der abendländischen Dichtung, Hürtgenwald 1992.
6.3 Quellen- und Literaturverzeichnis
295
Temkin, Owsei: The Falling Sickness. A History of Epilepsy from the Greeks to the Beginning of Modern Neurology, 1. Auflage 1945, 2. Auflage (Taschenbuchausgabe), London 1994. Teuscher, Simon: Bekannte – Klienten – Verwandte. Soziabilität und Politik in der Stadt Bern um 1500, Köln/Weimar/Wien 1998. Trüb, C.L. Paul: Heilige und Krankheit (= Geschichte und Gesellschaft, Bd. 19), Stuttgart 1978. Ulbricht, Otto: Kindsmord und Aufklärung in Deutschland (= Ancien Régime, Aufklärung und Revolution, Bd. 18), München 1990. Derselbe: „Angemaßte Leibeigenschaft“. Supplikationen von schleswigschen Untertanen gegen ihre Gutsherren zu Beginn des 17. Jahrhunderts, in: Demokratische Geschichte 6 (1991), 11–34. Derselbe: Supplikationen als Ego-Dokumente. Bittschriften von Leibeigenen aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts als Beispiel, in: Winfried Schulze (Hg.): Ego-Dokumente. Annäherungen an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, S. 149–174. Vanja, Christina: „Krankheit (Neuzeit)“, in: Peter Dinzelbacher (Hg.): Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen, Stuttgart 1993, S. 200–207. Dieselbe: Homo miserabilis. Das Problem des Arbeitskraftverlustes in der armen Bevölkerung der Frühen Neuzeit, in: Paul Münch (Hg.): Erfahrung als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte, München 2001, S. 194–207. Dieselbe: „Gleichwie ich aber eine arme wittib bin …“. Einwohner aus Crumbach und Ochsenhausen in den Hohen Hospitälern Haina und Merxhausen, in: Gemeindevorstand der Gemeinde Lohfelden (Hg.): Streifzüge durch 900 Jahre Ortsgeschichte Crumbach und Ochshausen 1102–2002, Lohfelden 2001, S. 74–79. Dieselbe: Leben und Arbeiten im Hospital Haina um 1750, in: Arnd Friedrich/Fritz Heinrich/ Christiane Holm (Hg.): Johann Henrich Wilhelm Tischbein (1751–1829). Das Werk des Goethe Malers zwischen Kunst, Wissenschaft und Alltagskultur, Petersberg 2001, S. 33– 45. Dieselbe: Waren die Hexen gemütskrank? Psychisch kranke Frauen im hessischen Hospital Merxhausen, in: Ingrid Ahrendt-Schulte/D.R. Bauer/S. Lorenz/J.M. Schmidt (Hg.): Geschlecht, Magie und Hexenverfolgung, Bielefeld 2002, S. 175–192. Dieselbe: Die Versorgung von Kindern und Jugendlichen in den hessischen Hohen Hospitälern der Frühen Neuzeit, in: Udo Sträter/Josef N. Neumann (Hg.): Waisenhäuser in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2003, S. 23–40. Dieselbe: Zwischen Armenfürsorge und Heilkunde, Tradition und Wandel – Das Landeshospital Hofheim, in: Irmtraut Sahmland/Sabine Trosse/Christina Vanja (Hg): „Haltestation Phillipshospital“. Ein psychiatrisches Zentrum – Kontinuität und Wandel 1535–1904–2004 (= Historische Schriftenreihe des Landeswohlfahtsverband Hessen Quellen und Studien, Bd. 10), Marburg 2004, S. 46–64. Dieselbe: Die Neuordnung der Armen- und Krankenfürsorge in Hessen, in: Inge Auerbach (Hg.): Reformation und Landesherrschaft. Vorträge des Kongresses anlässlich des 500. Geburtstages des Landgrafen Philip des Großmütigen von Hessen vom 10.–13. November 2004 in Marburg, Marburg 2005, S. 137–147. Dieselbe: Das Nachwirken der antiken Diätetik in frühneuzeitlichen Hospitälern, in: Historia Hospitalium 24 (2004–2005), S. 11–23. Dieselbe: Die Stiftung der hessischen Hohen Hospitäler im 16. Jahrhundert: Krankenversorgung zwischen Mittelalter und Neuzeit, in: Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde 11 (2005), S. 135–155. Dieselbe: Nur „finstere und unsaubere Clostergänge“? Die hessischen Hohen Hospitäler in der Kritik reisender Aufklärer, in: Heiner Fangerau/Karen Nolte (Hg.): „Moderne“ Anstaltspsychiatrie im 19. und 20. Jahrhundert – Legitimation und Kritik (= Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 26), Stuttgart 2006, S. 23–42.
296
6 Anhang
Dieselbe: Arm und krank. Patientenbiographien im Spiegel frühneuzeitlicher Bittschriften, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 1 (2006), S. 26–35. Dieselbe: Medizin, Religion und Magie – Krankheit und Heilung in der Frühen Neuzeit, in: Annette Bopp/Dietmar Schulte (Hg.): Das Verhältnis von Arzt und Patient. Wie menschlich ist die Medizin?, Paderborn 2008. Waardt, Hans de: Dämonische Besessenheit. Eine Einführung, in: Hans de Waardt/Jürgen Michael Schmidt/H.C. Erik Midelfort (Hg.): Dämonische Besessenheit. Zur Interpretation eines kulturhistorischen Phänomens, Bielefeld 2005, S. 7–35. Wagner, Alexander: Armenfürsorge in (Rechts-) Theorie und Rechtsordnungen der Frühen Neuzeit, in: Sebastian Schmidt/Jens Aspelmeier (Hg.): Norm und Praxis der Armenfürsorge in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Stuttgart 2006, S. 21–59. Waller, Friederike/Waller, Hans Dierk/Marckmann, Georg (Hg.): Gesichter der Heiligen Krankheit: die Epilepsie in der Literatur, Tübingen 2004. Weber, J.: Die kanonischen Ehehindernis samt Ehescheidung und Eheprozeß mit Berücksichtigung der staatlichen Ehehindernisse in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Freiburg i. Br. 1886. Webster, Charles: Paracelsus. Medicine, Magic and Mission at the end of Time, New Haven/ London 2008. Wendehorst, Alfred: Das Juliusspital in Würzburg, Bd. 1: Kulturgeschichte, Würzburg 1976. Windemuth, Marie-Luise: Das Hospital als Träger der Armenfürsorge im Mittelalter, Stuttgart 1995. Wittenbrock, Rolf (Hg.): Geschichte der Stadt Saarbrücken, Saarbrücken 1999. Wolff, Eberhard: Perspektiven der Patientengeschichtsschreibung, in: Norbert Paul/Thomas Schlich (Hg.): Medizingeschichte: Aufgaben, Probleme, Perspektiven, Frankfurt a. M./ New York 1998, S. 311–334. Woodward, John/Jütte, Robert (Hg.): Coping with Sickness. Historical Aspects of Health Care in a European Perspective, Sheffield 1995. Würgler, Andreas: Bitten und Begehren. Suppliken und Gravamina in der Frühneuzeitforschung, in: Cecilia Nubola/Andreas Würgler (Hg.): Bittschriften und Gravamina. Politik, Verwaltung & Justiz in Europa (14.–18. Jahrundert), Berlin 2005, S. 17–52. Wüstenhagen, Claudia: Epilepsie. Angst vor dem Fall, in: DIE ZEIT, 13.09.2007, Nr. 38. Zambelli, Paola: White Magic, Black Magic in the European Renaissance. From Ficino, Pico, Della Porta to Thrithemius, Agrippa, Bruno, Leiden/Boston 2007. Zemon Davies, Natalie: Fiction in the Archives. Pardon Tales and their Tellers in SixteenthCentury France, Stanford 1978. Zender, Matthias: Wallfahrten bei Fallsucht und Krämpfen, in: Rheinische Vierteljahresblätter 4 (1934), S. 285–290. Ziegler, Joseph: Religion and Medicine in the Middle Ages, in: Peter Biller/Joseph Ziegler (Hg.): Religion and Medicine in the Middle Ages, Suffolk 2001, S. 3–14.
6.4 Orts-, Personen- und Sachregister
297
6.4 Orts-, Personen- und Sachregister Aderlass, 44 f., 143, 183, 217 Alchemie, 52–54, 263 (vergleiche auch Iatrochemie) Almosenordnung –› siehe Bettelordnung Altötting, 92 f. Analogie, 50 f., 52–54, 57–59, 98 f. Animalische Geister –› siehe Lebensgeister Animismus, 37, 39, 262 Arbeit, 123–125, 146–148, 160 f., 170, 171 f., 187 f. , 199 f., 209 f., 215 f., 251, 267 f. Aristoteles, 35, 46 Armenfürsorge Almosen, 198, 202, 225, 225 f., 255, 257 f. Armenkasse, 105 f., 200–202, 203 f., 223, 224 f., 243 f., 249, 273 f. Bettelordnung, 198–200, 225 f., 256 Bruderschaften, 201, 204, 244, 254 Hospital, 202 f., 205 f., 211 f., 222–223, 226–231, 244, 249, 273 f. Reform, 198–203, 203–206, 219–222, 225 f., 243 f. Zünfte, 105 f., 254 Armut, 146 f., 148 f., 150–152, 209 f., 273 f. Arzneibücher, 26, 30, 55 f., 57 f. Arzt, akademisch, 30, 56, 60. 104 f., 172 f., 185, 232, 264, 265 Arzt-Patienten-Beziehung, 104 f., 112–115, 117–119, 264, 271 f. Astrologie, 50 f., 52 f., 55, 57, 263 Autobiographie, 107, 109 f. Behinderung, 90, 145 f., 169, 206 f., 211 Besessenheit Epilepsie als, 69–75, 260 f. Moderne Interpretation, 67 f. Zeitgenössische Interpretation, 69–74, 78–81, 260 Bettler, 198–200, 255–259 Bibel, (Matthäus 17, Markus 9, Lukas 9) –› siehe mondsüchtiger Knabe Bittschriften –› siehe Suppliken Blut, 54, 55 f., 118 Bodin, Jean, 75 f. Brief –› siehe Korrespondenz Brown, John, 40, 118 f. Cornelimünster, 95, 99 Croll, Oswald, 57, 263 Deppisch, Johann Baptist, 235 f. Diätetik, 45–48, 115, 118 f., 216 f. Diaetophilus –› siehe Drais von Sauerbronn
Diepoltskirchen, 89 f. Drais von Sauerbronn, Karl Wilhelm Ludwig Friedrich, Freiherr, 108–128, 183 f., 264 Dreckapotheke, 59 f. Echter von Mespelbrunn, Julius, 220–222 Egodokumente, 21 f. Ehe, 159, 169–173, 178 f., 211 Eherecht, 169–171, 174 f. Ehescheidung, 174–178 Ellwangen, 80, 84 Emotionen, 36, 38, 39, 81 f., 143 f., 149 f., 172 f., 177 f., 265 f. Empiriker, 27 f., 56, 105 Epilepsie Arten von, 33, 34, 36, 53, 192 f., 264 als kontagiöse Krankheit, 152 f., 174 f., 177, 220–222, 228 f., 269 f. gesellschaftliche Folgen von, 124, 126, 146 f., 148 f., 152 f., 171 f., 186–188, 191 f., 218 f., 228 f., 267–271 Heilbarkeit, 25–27, 81, 117 f., 120 f., 128–130, 137, 142 f., 181–186, 238 f., 271–273 Historische Definition, 18 f., 20, 36 f., 52 f. In Forschung, 12, 18 f. Moderne Definition, 19 f. Moderne Vorstellung zu historischer, 11–12 Therapie, 38, 41–48, 51, 54–60, 61–65, 77, 82 f., 94–96, 101 f., 115–119, 217, 238 Ursachenerklärung, 32 f., 34 f., 36, 37–39, 51–54, 93 f., 110–114, 119 f., 141 f., 143 f., 265 Vererbung, 25 f., 32 f., 35, 143, 159, 171 f., 177 Wahrnehmung, 121–123, 129–130, 133 f., 141 f., 144 f., 157–159, 193 f., 260–267 Epileptiker Betreuung, 117, 130, 150 f., 157–159, 165–169, 178 f., 186–191, 213, 240–242, 251, 273 f. Krankheitsbewältigung, 117 f., 131, 135, 150 f., 157–159, 162 f., 178 f., 181 f., 212 f., 271–274 Psychische Folgen, 126–128, 149, 191, 195, 270 f. Umgang mit, 15, 148 f., 181, 265 f.
298
6 Anhang
Versorgung (finanziell), 130, 148 f., 161–163, 165–169, 222–231, 224–231, 233–236, 249–252, 254 f., 268 f., 273 f. Epileptischer Anfall Beschreibung, 36, 120 f., 193 f. Häufigkeit, 147 f., 186 f., 267 Prophylaxe, 116, 117, 121–123, 190 Ernährung, 38, 46 f., 115, 118 f., 213 Erthal, Franz Ludwig von (Freiherr), 234 f. Exorzismus, 12, 69, 77, 82–84 Fallsucht/Fallende Sucht –› siehe Epilepsie Familie, 116 f., 126 f., 140 f., 148 f., 150–152, 163 f., 188 f., 268, 273 f. Fernel, Jean François, 35, 70 f., 75 Ficino, Marsilio, 48 f., 263 Frais, 90 f. Fugger, Markus, 161 Fugger, Raymond, 159 Fugger, Ulrich, 159–163 Fugger-Ortenburg, Ursula, 162 Galen, 29, 32 f., 262 Gaßner, Johann Joseph, 79–85, 260, 267 Gehirn, 32 f., 34, 35 f., 37 f., 38 f., 53 f., 75, 111, 262 Geisteskrankheit, 95, 145 f., 153 f., 174, 207–209, 241 Gesundbeten, 62–65 Gesundheit, 25, 45 f. Guazzo, Francesco Maria, 74 f., 77 Gutachten, 72, 135 f., 137–139, 152, 159 f., 173 f., 175 f., 177 Heilige, 86–89 Henker, 27, 56 Hessen-Kassel Hohe Hessische Hospitäler, 136 f., 206–219 Landgrafschaft, 136 f., 203–206 Hexen, 75–77, 271 Hippokrates von Kos, 29, 31 f., 113, 172, 262f. Hoffmann, Friedrich, 37, 38f. Hospital (siehe auch Armenfürsorge) Aufnahmeprozedere, 138–140, 206–212, 221 f., 222 f., 226, 228, 232–234, 249 f. Finanzierung, 97 f., 205 f., 231 f., 234– 236, 244–246 Organisation, 137, 212 f., 236–239, 226–229, 245–247, 247 f., 214 f. Patienten, 237, 240–242, 249–252, 212 f., 214–219 Personal, 239–41 Humoralpathologie –› siehe Säftelehre Iatrochemie, 37 f., 43 f., 114, 262 f.
Iatrophysik, 37, 43 f., 262 Karlsruhe, 108f., 123 Katholizismus, 67, 69–71, 83 f., 201 f., 219–231, 237 f., 266 Kaysersberg, Johannes Geiler von, 198 Kiedrich im Rheingau, 99 Kirchheim, 108, 123 Kitzingen, 223, 232 Körpergeschichte, 13 Korrespondenz, 107 f., 112, 116 f. Krankheit, 69 f., 74–78, 81 f., 102 f., 142 f., 261–266 Lambert, Daneau, 76 f. Langenzenn, 256 f. Lebensgeister, 33, 37–39, 114 Lebenskraft, 39 f., 56, 59, 110 Luther, Martin, 65 f., 174, 198, 266 Magia naturalis –› siehe Naturmagie Magie, 56, 59–65, 261 Magnetismus –› siehe Mesmer Medikamente (pharmazeutisch), 41–44, 103, 115 f., 189, 217 Medizinischer Markt, 26–29, 100–106 Mesmer, Franz Anton, 40, 83 f. Mirakelbuch, 85 f., 89 f., 92 f., 94 f. Mondsüchtiger Knabe, 68, 73 f., 79 Narrative Reconstruction, 110 f. Naturmagie, 49–51, 54 f. Neoplatonismus, 29, 49 f., 51 f., 262 Nerven, 33, 38 f., 110 f., 114 f., 119 f. (vergleiche auch Lebensgeister) Nettesheim, Agrippa von, 50 f., 262 Organotherapie, 57 f. Päonie –› siehe Pfingstrose Paracelsus, Bombastus Theophrastus von Hohenheim, 46, 50–55, 262 Patientenbrief –› siehe Korrespondenz Pfingstrose, 41, 55 Philipp I. von Hessen, 203, 204, 205 Philipp III. von Nassau-Weilburg, 243, 245 Plinius, 55 f. Protestantismus, 65–67, 72–74, 160–162, 174 f., 200 f., 203 f., 243–245, 266 Purgation, 44 f., 47 f., 115 f., 189, 217 Raserei –› siehe Geisteskrankheit Regensburg, 80, 84 f. Reiz/Reizung, 33, 35, 40, 110–112, 114 f., 118 f. Reliquie, 87, 88, 96, 98 f. Retrospektive Diagnose, 17 f., 67 f. Rothenfels, 220 f., 223, 232 Ruffach, 96–98 Saarbrücken
6.4 Orts-, Personen- und Sachregister Hospital, Waisen- und Zuchhaus, 136 f., 244, 246. 247–253 Heilig-Kreuz-Spital, 136 f., 244 f., 247 f. Stadt, 136 f., 165 f. Säftelehre Antike, 29, 31–33, 262 Frühe Neuzeit, 35 f., 37 f., 44, 74 f., 118, 262 f. Mittelalter, 33 f., 35 St. Appolinaris, 99 St. Cornelius, 95, 99 St. Valentin, 90, 96, 98 f. Schadenzauber, 75–77, 261 Schädel, 42, 54, 57, 96, 98 f. Schärfen, 113 f. Scharfrichter –› siehe Henker Schlaf, 46, 66 f. Schwangerschaft, 157, 158 Seele, 33, 36, 37, 38 f., 49 f., 65 (siehe auch Animismus) Seelsorge, 217 f., 237 f. Seinsheim, Adam Friedrich von, 219, 231, 235, 238 Semler, Johann Heinrich, 79, 83 Sexualität, 127, 172 f. Signaturenlehre, 57 Soziales Kapital, 157–159, 163 f., 255 f. (vergleiche auch Familie) Spiritus animales –› Siehe Lebensgeister Stahl, Georg Ernst, 37, 39 Sterzinger, Ferdinand, 83 f. Stigmatisierung, 149f., 152 f., 191–193, 274 (siehe auch Vorurteil) Straßburg, 165, 166 Supplikanten, 140 f., 264 f. Suppliken, 22–24, 130–138, 178 f., 182f., 191f., 264 f. Sylvius, Franciscus de le Boë, 37 f., 43, 263 Teufel, 69–71, 72–79, 80–83, 261 Tissot, Samuel Auguste André, 46, 216 Verdauung, 37 f. Viersäftelehre –› siehe Säftelehre Vorurteil, 147, 193 f., 265 (siehe auch Stigmatisierung) Wahnsinn –› siehe Geisteskrankheit Wallfahrt, 14 f., 88–100 Epileptikerwallfahrten, 88, 89–92, 96–100 Marienwallfahrten, 92–96 Praxis, 89, 91 f., 93–96 Weikard, Melchior Adam, 118 Weyer, Johannes, 75
299
Wilhelm Heinrich von Nassau-Saarbrücken, 244, 246 Willis, Thomas, 37 f. Würmer, 113 f., 115 Würzburg Bürgerspital, 136 f., 226–228 Epileptikerhaus, 136–140, 143, 182 f., 231–243 Hochstift, 136 f., 222–224, 256 Juliusspital, 220, 232, 235, 236 238 Siechenhäuser, 222–224, 228–230 Stadt, 224–231 Zacchias, Paulus, 170, 172
MEDIZIN, GESELLSCHAFT UND GESCHICHTE
–
BEIHEFTE
Herausgegeben von Robert Jütte.
Franz Steiner Verlag
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
ISSN 0941–5033
Jens Lachmund / Gunnar Stollberg (Hg.) The Social Construction of Illness Illness and Medical Knowledge in Past and Present 1992. 183 S. mit 8 Abb., kt. ISBN 978-3-515-05839-1 Francisca Loetz Vom Kranken zum Patienten „Medikalisierung“ und medizinische Vergesellschaftung am Beispiel Badens 1750–1850 1993. 428 S. mit 30 Abb. und 25 Tab., kt. ISBN 978-3-515-06245-9 Wolfgang U. Eckart / Robert Jütte (Hg.) Das europäische Gesundheitssystem Gemeinsamkeiten und Unterschiede in historischer Perspektive 1994. 211 S. mit 4 Abb., 7 Tab. und 2 Graf., kt. ISBN 978-3-515-06485-9 Cornelia Regin Selbsthilfe und Gesundheitspolitik Die Naturheilbewegung im Kaiserreich (1889 bis 1914) 1995. 492 S., kt. ISBN 978-3-515-06432-3 Beate Witzler Großstadt und Hygiene Kommunale Gesundheitspolitik in der Epoche der Urbanisierung 1995. 264 S. mit 25 Tab., kt. ISBN 978-3-515-06590-0 Martin Dinges / Thomas Schlich (Hg.) Neue Wege in der Seuchengeschichte 1995. 251 S. mit 9 Abb., kt. ISBN 978-3-515-06692-1 Christian Oberländer Zwischen Tradition und Moderne Die Bewegung für den Fortbestand der Kanpô-Medizin in Japan 1995. 253 S., kt. ISBN 978-3-515-06612-9 Annemarie Kinzelbach Gesundbleiben, Krankwerden,
Armsein in der frühneuzeitlichen Gesellschaft Gesunde und Kranke in den Reichsstädten Überlingen und Ulm, 1500–1700 1995. 496 S. mit 20 Abb., kt. ISBN 978-3-515-06697-6 9. Martin Dinges (Hg.) Medizinkritische Bewegungen im Deutschen Reich (ca. 1870 – ca. 1933) 1997. 206 S., kt. ISBN 978-3-515-06835-2 10. Eberhard Wolff Einschneidende Maßnahmen Pockenschutzimpfung und traditionale Gesellschaft im Württemberg des frühen 19. Jahrhunderts 1998. 524 S., kt. ISBN 978-3-515-06826-0 11. Hans-Christoph Seidel Eine neue „Kultur des Gebärens“ Die Medikalisierung von Geburt im 18. und 19. Jahrhundert in Deutschland 1998. 469 S., kt. ISBN 978-3-515-07075-1 12. Lutz Sauerteig Krankheit, Sexualität, Gesellschaft Geschlechtskrankheiten und Gesundheitspolitik in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert 1999. 542 S. mit 9 Abb., kt. ISBN 978-3-515-07393-6 13. Barbara Leidinger Krankenhaus und Kranke Die Allgemeine Krankenanstalt an der St. Jürgen-Straße in Bremen, 1851–1897 2000. 298 S., kt. ISBN 978-3-515-07528-2 14. Sylvelyn Hähner-Rombach Sozialgeschichte der Tuberkulose vom Kaiserreich bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs unter besonderer Berücksichtigung Württembergs 2000. 404 S., kt. ISBN 978-3-515-07669-2 15. Thomas Faltin Heil und Heilung
16.
17.
18.
19.
20.
21.
22.
23.
Geschichte der Laienheilkundigen und Struktur antimodernistischer Weltanschauungen in Kaiserreich und Weimarer Republik am Beispiel von Eugen Wenz (1856–1945) 2000. 458 S., kt. ISBN 978-3-515-07390-5 Karin Stukenbrock „Der zerstückte Cörper“ Zur Sozialgeschichte der anatomischen Sektionen in der frühen Neuzeit (1650– 1800) 2001. 309 S., kt. ISBN 978-3-515-07734-0 Gunnar Stollberg / Ingo Tamm Die Binnendifferenzierung in deutschen Krankenhäusern bis zum Ersten Weltkrieg 2001. 624 S. mit 4 Abb., kt. ISBN 978-3-515-07733-0 Jens-Uwe Teichler „Der Charlatan strebt nicht nach Wahrheit, er verlangt nur nach Geld“ Zur Auseinandersetzung zwischen naturwissenschaftlicher Medizin und Laienmedizin im deutschen Kaiserreich am Beispiel von Hypnotismus und Heilmagnetismus 2002. 233 S. mit 16 Abb., kt. ISBN 978-3-515-07976-1 Claudia Stein Die Behandlung der Franzosenkrankheit in der Frühen Neuzeit am Beispiel Augsburgs 2003. 293 S., kt. ISBN 978-3-515-08032-3 Jörg Melzer Vollwerternährung Diätetik, Naturheilkunde, Nationalsozialismus, sozialer Anspruch 2003. 480 S., kt. ISBN 978-3-515-08278-5 Thomas Gerst Ärztliche Standesorganisation und Standespolitik in Deutschland 1945–1955 2004. 270 S., kt. ISBN 978-3-515-08056-9 Florian Steger Asklepiosmedizin Medizinischer Alltag in der römischen Kaiserzeit 2004. 244 S. und 12 Taf. mit 17 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08415-4 Ulrike Thoms
24.
25.
26.
27.
28.
29.
30.
31.
Anstaltskost im Rationalisierungsprozeß Die Ernährung in Krankenhäusern und Gefängnissen im 18. und 19. Jahrhundert 2005. 957 S. mit 84 Abb., kt. ISBN 978-3-515-07935-8 Simone Moses Alt und krank Ältere Patienten in der Medizinischen Klinik der Universität Tübingen zur Zeit der Entstehung der Geriatrie 1880 bis 1914 2005. 277 S. mit 61 Tab. und 27 Diagr. ISBN 978-3-515-08654-7 Sylvelyn Hähner-Rombach (Hg.) „Ohne Wasser ist kein Heil“ Medizinische und kulturelle Aspekte der Nutzung von Wasser 2005. 167 S., kt. ISBN 978-3-515-08785-8 Heiner Fangerau / Karen Nolte (Hg.) „Moderne“ Anstaltspsychiatrie im 19. und 20. Jahrhundert Legimitation und Kritik 2006. 416 S., kt. ISBN 978-3-515-08805-3 Martin Dinges (Hg.) Männlichkeit und Gesundheit im historischen Wandel ca. 1800 – ca. 2000 2007. 398 S. mit 7 Abb., 22 Tab. und 4 Diagr., kt. ISBN 978-3-515-08920-3 Marion Maria Ruisinger Patientenwege Die Konsiliarkorrespondenz Lorenz Heisters (1683–1758) in der TrewSammlung Erlangen 2008. 308 S. mit 7 Abb. und 16 Diagr., kt. ISBN 978-3-515-08806-0 Martin Dinges (Hg.) Krankheit in Briefen im deutschen und französischen Sprachraum 17.–21. Jahrhundert 2007. 267 S., kt. ISBN 978-3-515-08949-4 Helen Bömelburg Der Arzt und sein Modell Porträtfotografien aus der deutschen Psychiatrie 1880 bis 1933 2007. 239 S. mit 68 Abb. und 2 Diagr., kt. ISBN 978-3-515-09096-8 Martin Krieger Arme und Ärzte, Kranke und Kassen Ländliche Gesundheitsversorgung und kranke Arme in der südlichen Rheinprovinz
32.
33.
34.
35.
36.
37.
(1869 bis 1930) 2009. 452 S. mit 7 Abb., 16 Tab. und 5 Ktn., kt. ISBN 978-3-515-09171-8 Sylvelyn Hähner-Rombach Alltag in der Krankenpflege / Everyday Nursing Life Geschichte und Gegenwart / Past and Present 2009. 309 S. mit 22 Tab., kt. ISBN 978-3-515-09332-3 Nicole Schweig Gesundheitsverhalten von Männern Gesundheit und Krankheit in Briefen, 1800–1950 2009. 288 S. mit 4 Abb. und 8 Tab., kt. ISBN 978-3-515-09362-0 Andreas Renner Russische Autokratie und europäische Medizin Organisierter Wissenstransfer im 18. Jahrhundert 2010. 373 S., kt. ISBN 978-3-515-09640-9 Philipp Osten (Hg.) Patientendokumente Krankheit in Selbstzeugnissen 2010. 253 S. mit 3 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09717-8 Susanne Hoffmann Gesunder Alltag im 20. Jahrhundert? Geschlechterspezifische Diskurse und gesundheitsrelevante Verhaltensstile in deutschsprachigen Ländern 2010. 538 S. mit 7 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09681-2 Marion Baschin Wer lässt sich von einem Homöopathen behandeln?
38.
39.
40.
41.
42.
Die Patienten des Clemens Maria Franz von Bönninghausen (1785–1864) 2010. 495 S. mit 45 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09772-7 Ulrike Gaida Bildungskonzepte der Krankenpflege in der Weimarer Republik Die Schwesternschaft des Evangelischen Diakonievereins e.V. Berlin-Zehlendorf 2011. 346 S. mit 12 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09783-3 Martin Dinges / Robert Jütte (ed.) The transmission of health practices (c. 1500 to 2000) 2011. 190 S. mit 4 Abb. und 1 Tab., kt. ISBN 978-3-515-09897-7 Sylvelyn Hähner-Rombach Gesundheit und Krankheit im Spiegel von Petitionen an den Landtag von Baden-Württemberg 1946 bis 1980 2011. 193 S. mit 27 Tab., kt. ISBN 978-3-515-09914-1 Florian Mildenberger Medikale Subkulturen in der Bundesrepublik Deutschland und ihre Gegner (1950–1990) Die Zentrale zur Bekämpfung der Unlauterkeit im Heilgewerbe 2011. 188 S. mit 15 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10041-0 Angela Schattner Zwischen Familie, Heilern und Fürsorge Das Bewältigungsverhalten von Epileptikern in deutschsprachigen Gebieten des 16.–18. Jahrhunderts 2012. 299 S. mit 5 Abb. und 2 Tab., kt. ISBN 978-3-515-09947-9
ISBN 978-3-515-09947-9