Zwischen Berlin und Paris: Bernhard Groethuysen (1880-1946): Eine intellektuelle Biographie [Reprint 2010 ed.] 9783110943795, 9783484350915

The philosopher and historian Bernhard Groethuysen was an outstanding figure in German-French cultural transfer between

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German Pages 344 [348] Year 2002

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Table of contents :
Vorwort
Einleitung: Bern(h)ard Groethuysen. Bausteine zu seiner intellektuellen Biographie
1. Groet. Repräsentationen
2. »Horizont«, »Feld« und »Tradition«. Das Schreiben einer intellektuellen Biographie
3. »Der Untergang des Absoluten«. Groethuysen und die intellektuelle Kultur seiner Zeit
I. Geist und Geschichte. Eine Berliner Spurensuche (1880-1914)
1. »Kindersinn«, Wahn und Mitgefühl
2. Wilhelm Dilthey, Edmund Husserl und die Grundlagen der Geistesgeschichte
3. Die Philosophie der Französischen Revolution. Von der Ideen-zur Erlebnisgeschichte
4. »Weltanschauung« oder: Die Suche nach einer neuen Metaphysik
5. Georg Simmel, Henri Bergson und die »Intuition« als Methode
6. Charles Du Bos, Alix Guillain und der Weg nach Frankreich
II. Die nationale Frage. Der Krieg zwischen »Kultur« und »Zivilisation« (1914-1920)
1. Châteauroux. Abseits der Schützengräben
2. »Furor teutonicus« und »esprit de finesse«
3. Boheme oder Bürgerlichkeit?
4. Marx und Marianne
III. Lieux et milieux. Zwischen Paris und Berlin (1920-1933)
1. Paris und die Nouvelle Revue Française
1.1. Jacques Rivière, André Gide und die »Demobilisierung des Geistes«
1.2. »Briefe aus Deutschland«
1.3. Das literarische Geschäft
2. Berlin: »Eine Stadt ohne Details«
2.1. Das Erbe Diltheys
2.2. Das akademische Geschäft
3. Pontigny und das sokratische Gespräch
3.1. »Ein Europa im kleinen«
3.2. Im Reich der Ideen
IV. »Alles Denken ist ein Dialog«. Studien zur Archäologie des modernen Subjekts (1927-1939)
1. Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich
1.1. Auf dem Weg zu einer »anonymen« Geistesgeschichte
1.2. Das Bürgertum als »diskutierende Klasse«
1.3. Die ungeschriebenen Bände
2. Philosophische Anthropologie und historische Hermeneutik
2.1. »Mythos« und »Dialog«
2.2. »Geltung« und »Meinung«
2.3. »Wissen« und »Erzählen«
V. Exil - Widerstand - Kollaboration: Die Zeit des Schweigens (1932-1944)
1. Abschied von Deutschland
2. Mesures - Maßnahmen
3. Zwischen Anpassung und Widerstand
VI. Neuanfang, Tod und Erinnerung (1944-1946)
Abkürzungen
Quellen und Literatur
1. Ungedruckte Quellen
2. Schriften von B. Groethuysen
3. Sonstige Literatur
Personenregister
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Zwischen Berlin und Paris: Bernhard Groethuysen (1880-1946): Eine intellektuelle Biographie [Reprint 2010 ed.]
 9783110943795, 9783484350915

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STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR

Herausgegeben von Wolfgang Frühwald, Georg Jäger, Dieter Langewiesche, Alberto Martino, Rainer Wohlfeil Band 91

Klaus Große Kracht

Zwischen Berlin und Paris: Bernhard Groethuysen (1880-1946) Eine intellektuelle Biographie

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2002

Redaktion des Bandes: Alberto Martina

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Große Kracht, Klaus:

Zwischen Berlin und Paris: Bernhard Groethuysen (1880-1946) ; eine intellektuelle Biographie / Klaus Große Kracht. - Tübingen: Niemeyer, 2002 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; Bd. 91) ISBN 3-484-35091-1

ISSN 0174-4410

D361 © Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2002 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Binden: Siegfried Geiger GmbH, Ammerbuch

Inhalt

Vorwort

VII

Einleitung: Bern(h)ard Groethuysen. Bausteine zu seiner intellektuellen Biographie

I.

II.

III.

l

1. Groet. Repräsentationen 2. »Horizont«, »Feld« und »Tradition«. Das Schreiben einer intellektuellen Biographie 3. »Der Untergang des Absoluten«. Groethuysen und die intellektuelle Kultur seiner Zeit

14

Geist und Geschichte. Eine Berliner Spurensuche (1880-1914)

21

1. »Kindersinn«, Wahn und Mitgefühl 2. Wilhelm Dilthey, Edmund Husserl und die Grundlagen der Geistesgeschichte 3. Die Philosophie der Französischen Revolution. Von der Ideenzur Erlebnisgeschichte 4. »Weltanschauung« oder: Die Suche nach einer neuen Metaphysik 5. Georg Simmel, Henri Bergson und die »Intuition« als Methode . . 6. Charles Du Bös, Alix Guillain und der Weg nach Frankreich . . .

21

42 53 59 67

Die nationale Frage. Der Krieg zwischen »Kultur« und »Zivilisation« (1914-1920)

73

1. 2. 3. 4.

73 81 90 95

Chäteauroux. Abseits der Schützengräben »Furor teutonicus« und »esprit de Boheme oder Bürgerlichkeit? Marx und Marianne

finesse«

l 9

32

Lieux et milieux. Zwischen Paris und Berlin (1920-1933)

103

1. Paris und die Nouvelle Revue Franqaise 1.1. Jacques Riviere, Andre* Gide und die »Demobilisierung des Geistes« l .2. »Briefe aus Deutschland« 1.3. Das literarische Geschäft

103 103 111 126

2. Berlin: »Eine Stadt ohne Details« 2.1. Das Erbe Diltheys 2.2. Das akademische Geschäft 3. Pontigny und das sokratische Gespräch 3.1. »Ein Europa im kleinen« 3.2. Im Reich der Ideen IV. »Alles Denken ist ein Dialog«. Studien zur Archäologie des modernen Subjekts (1927-1939)

136 136 143 148 148 160 171

1. Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich 1.1. Auf dem Weg zu einer »anonymen« Geistesgeschichte . . . 1.2. Das Bürgertum als »diskutierende Klasse« 1.3. Die ungeschriebenen Bände 2. Philosophische Anthropologie und historische Hermeneutik . . . . 2.1. »Mythos« und »Dialog« 2.2. »Geltung« und »Meinung« 2.3. »Wissen« und »Erzählen«

171 171 183 195 206 206 220 230

Exil - Widerstand - Kollaboration: Die Zeit des Schweigens (1932-1944)

241

1. Abschied von Deutschland 2. Mesures - Maßnahmen 3. Zwischen Anpassung und Widerstand

241 252 272

VI. Neuanfang, Tod und Erinnerung (1944-1946)

289

Abkürzungen

297

Quellen und Literatur

299

V.

1. Ungedruckte Quellen 2. Schriften von B. Groethuysen 3. Sonstige Literatur Personenregister

VI

299 301 306 331

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2000 von der Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie der Universität Bielefeld sowie - in einem co-tutelle-Verfahren - von der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales (Paris) als Dissertation im Fach Geschichtswissenschaft angenommen. Für die Drucklegung wurde sie geringfügig überarbeitet und gekürzt. Meinem Doktorvater Jörn Rüsen danke ich für seine langjährige Unterstützung, Heinz-Gerhard Haupt ftlr die Übernahme des Zweitgutachtens. Jacques Revel, meinem directeur de these von französischer Seite, der das Zustandekommen der Arbeit über Jahre hinweg aufmerksam begleitet hat und dessen Rat und Unterstützung mir stets eine große Hilfe waren, gilt mein ganz besonderer Dank, ebenso Michael Werner, der durch zahlreiche Hilfestellungen sehr viel zur Realisierung meines deutschfranzösischen Vorhabens beigetragen hat. Der Studienstiftung des deutschen Volkes danke ich für die großzügige Gewährung eines Promotionsstipendiums sowie dem Ministere de l'Education, de la Recherche et de la Technologie für eine Beihilfe zur Förderung der deutsch-französischen co-tutelle de these. Wissenschaft ist Teamwork. Das gilt auch für akademische Qualifikationsschriften. Ich danke daher allen, die das Zustandekommen der vorliegenden Arbeit unterstützt haben, auch wenn sie an dieser Stelle nicht alle namentlich Erwähnung finden können. Ein ganz besonderer Dank gilt Herbert Groethuysen, der mir sämtliche Familienunterlagen zur Verfügung gestellt und das Entstehen der Arbeit interessiert begleitet hat. Daran anschließen möchte ich meinen Dank an Hannes Böhringer, Bernard Dandois und Philippe Delpuech, die mich in den Kreis der Groethuysen-Forscher freundlich aufgenommen haben und an ihrem Wissen teilhaben ließen. Für die Erlaubnis zur Einsicht in unveröffentlichtes Archivmaterial danke ich neben Herbert Groethuysen und Hannes Böhringer Catherine Gide, Irene Fernandez, Claire Mouton und Ciaire Paulhan. Andrö Berne-Joffroy, Hans Manfred Bock, Dominique und Jean-Toussaint Desanti, Gregor Fitzi, Maurice de Gandillac, Marcus Guedes Veneu, Gangolf Hübinger, Pierre Nora, Johannes Mikuteit, Nathalie Raoux, Matthias Schloßberger, Manfred Schröter und viele andere mehr haben meine Forschungen auf verschiedene Weise unterstützt. Hans Cymorek, Friedrich Wilhelm Graf und Hermann-Josef Große Kracht haben das Manuskript einer aufmerksamen und kritischen Lektüre unterzogen und viele Verbesserungsvorschläge beigesteuert. Ihnen verdankt das vorliegende Buch seine endgültige Gestalt, die ohne ihr kritisch-kompetentes Engagement so nicht zustande gekommen wäre. Die bleibenden Mängel der Arbeit habe ich freilich selbst zu verantworten.

VII

Mehr als alle anderen hat schließlich meine Frau Astrid Reuter den Entstehungsprozeß der Arbeit begleitet und sämtliche Versionen des Buches ihrer kompetenten Kritik unterzogen. Immer wieder von neuem hat sie Groethuysens Diktum, alles Denken sei ein Dialog, für mich mit Leben und Sinn erfüllt. Meinen Eltern Agnes und Hermann Große Kracht, deren Vertrauen und Zuversicht das Fundament zu dieser Arbeit gelegt haben, sei das Buch gewidmet.

München, im November 2001

VIII

Klaus Große Kracht

»En effet, tout ce qu'il öcrit peut-£tre considore" comme une interpretation de lui-meme, de son passe", de son pre"sent, du sens de toute sa vie. La täche du biographe consisterait done ä recueillir ses interpretations, ä en docouvrir le sens la ou on ne les trouve que sous forme de Symbole, et ä les rounir pour en composer image d'une vie.« Bernhard Groethuysen

Einleitung: Bern(h)ard Groethuysen. Bausteine zu seiner intellektuellen Biographie

l. Groet. Repräsentationen Mitte September 1946 wird der französische Schriftsteller Jean Paulhan in die Luxemburger Klinik Sainte Elisabeth gerufen. Sein langjähriger Freund Bernhard Groethuysen liege dort im Sterben, lautet die Nachricht. Ein Krebsgeschwür, das nicht rechtzeitig erkannt worden sei, habe seine Lungen befallen. Groethuysen werde nur noch wenige Tage zu leben haben. In Luxemburg angekommen, trifft Paulhan Alix Guillain, die Lebensgefährtin seines Freundes; bereits seit mehreren Tagen wacht sie am Sterbebett des Mannes, den sie vor mehr als dreißig Jahren in Paris kennengelernt hatte. Bernhard Groethuysen selbst ist zu diesem Zeitpunkt kaum mehr in der Lage, sich verständlich zu äußern. Er stirbt am folgenden Tag, dem 17. September 1946, um halb zwei Uhr nachmittags.1 Gegen vier Uhr erreicht die Nachricht die Pariser Freunde. Nach kurzer Betroffenheit setzt bei ihnen Geschäftigkeit ein. Der Gallimard-Venag, für den Groethuysen in den letzten zwanzig Jahren als literarischer Berater tätig war, wird verständigt: »Der schnellste Weg«, so heißt es, »um eine große Anzahl von Menschen zu erreichen«.2 In Luxemburg kehrt Jean Paulhan in sein Hotelzimmer zurück und beginnt, seine Eindrücke der letzten Stunden zu notieren: Warum? Das ist die Frage, die der Tod uns stellt, und auch ich, wie ich da so bei ihm saß, wich ihr nicht aus. Er hatte diesbezüglich einmal zu mir gesagt: »Der Christ weiß, was von Anfang an geschehen ist, Gott hat ihm das Nötige mitgeteilt. Unsereiner aber kommt immer erst während des vierten Aktes: unmöglich zu erfahren, warum der eine fröhlich oder der andere traurig ist, warum dieser Darsteller sich umbringt und ein anderer sich aufregt. [...] Wir müssen es selber herausbekommen. Wir schwindeln, wenn wir so tun, als wüßten wir schon Bescheid. Wir wollen kein Programmheft verlangen.«3

Groethuysens Leben verlief in der Tat ohne Programmheft. Auch den Autoren der zahlreichen Nachrufe, die in den Monaten nach Groethuysens Tod in französischen und deutschen Zeitschriften erschienen, fiel es schwer, das Leben des deutsch1

2 3

Vgl. Paulhan 1969. Literaturangaben werden im folgenden durch den Namen des Autors sowie das Jahr der Erstveröffentlichung abgekürzt; die vollständigen bibliographischen Angaben der jeweils benutzten Ausgabe sind dem Literaturverzeichnis zu entnehmen. Übersetzungen fremdsprachiger Zitate stammen, sofern im Literaturverzeichnis nicht anders vermerkt, vom Verfasser. Hervorhebungen in Zitaten entstammen, sofern nicht anders angegeben, dem Original. Vgl. dazu die Erinnerungen von Maria van Rysselberghe 1973-1977, IV, 36. Paulhan 1969, 568. l

französischen Philosophen, Ideenhistorikers und Literaturkritikers Bern(h)ard Groethuysen auf den Begriff zu bringen.4 So schreibt der Romanist Gerhard Hess nach dem Tod seines verehrten Lehrers: Für die, welche nicht das Glück hatten, Groethuysen zu kennen, wird er als ein Diltheyschüler und als einer seiner kongenialen Fortsetzer nachleben, als ein Gelehrter, der universale Kenntnis der Ideengeschichte mit einer besonderen Gabe der Einfühlung in die historische Individualität verband [...]. Und doch ist mit all diesen Zügen vom Eigensten dieses besonderen Mannes noch zu wenig gesagt. Noch nichts vom Zauber dieses durchgeistigten Gesichts, dem sich auch anfänglich Zögernde [...] rasch willenlos ergaben; noch nichts vom Rührenden der Gestalt, die mit kleinen Schritten wie schwebend, den Stock unter den Arm geschoben, die ewige Zigarette im Munde durch die Straßen ging; noch nichts vom lebendigen Spiel der Hände. Es ist auch noch nichts gesagt von seiner wesentlichsten Form geistiger Mitteilung, von welcher das geschriebene Wort und Vorlesung oder Vortrag wohl manches ahnen ließen: vom Gespräch.5

Und auch noch nichts, so ließe sich die Aufzählung fortsetzen, von seinem Leben zwischen Berlin und Paris, von dem jene, die Groethuysen nur aus seinen Schriften kennen, wohl nur weniges wissen. Margarete Susman berichtet: In Deutschland geboren, von der Seite des Vaters deutscher, von der Mutter russischer Abkunft, früh mit Frankreich verbunden, zwischen den beiden Weltkriegen bis zum Anbruch des Hitler-Regimes die eine Hälfte des Jahres an der Universität Berlin, die andere in Paris lehrend und wirkend, war Bernhard Groethuysen schon seiner äußeren Lebensform nach eine in seiner Zeit einzigartige Erscheinung. Aber auch seine Philosophie steht in ihr abseits; sie ist nicht nur ohne jede nationale Prägung; sie läßt sich auch dadurch in keinen bestehenden Zusammenhang einreihen, daß sie sich an keinem bestimmten Denkergebnis aufzeigen läßt, ja, daß sie ihrem Wesen nach jedes in fester Form niedergelegte Denkergebnis als dem eigentlichen Philosophieren inadäquat ablehnt. Es ist eine Philosophie, der das Ziel nichts, der Weg, die Wanderschaft durch die Welt alles ist [...].*

Das Motiv des wandernden und heimatlosen Philosophen findet sich auch in den Nachrufen von französischer Seite. Bei Jean Paulhan erscheint Groethuysen als eine Art philosophischer Flaneur, als ein Wanderer durch die Ideengeschichte, der jeden, den er am Wegesrand trifft, in ein Gespräch verstrickt: Groethuysen zog seiner ganzen Natur nach die Fragen den Antworten vor. Oder vielmehr, er hatte keine Ruhe, bis er hinter jeder Antwort die Frage entdeckte, die jene ausgelöst hatte: er war ununterbrochen auf der Suche nach einem Gedanken, der nicht das Denken zum Stillstand bringt [...]. Er war der Überzeugung, jeder Gedanke flehe darum,

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5 6

Die ursprüngliche Schreibweise des Vornamens als Bernhard wird in der deutschsprachigen Literatur bis heute beibehalten; französische Autoren geben den Namen hingegen so wieder, wie Groethuysen ihn selbst während seiner Frankreich-Aufenthalte geschrieben hat, nämlich als Bernard. Im folgenden werde ich die ursprüngliche Schreibweise verwenden. Hess 1946/1947, 406-^08. Susman 1948, 79.

neu gedacht zu werden. So durchstreifte er die Welt der Doktrine [sie!], und keine Idee, die sich ihm bot, hatte vergeblich auf ihn gewartet.7 Und bereits unmittelbar nach Groethuysens Tod notierte Paulhan: Ich bin in meinem ganzen Leben keinem zweiten Menschen begegnet, für den eine Idee, auch wenn sie offenkundig falsch oder absurd war, sobald ein Mensch sie entdeckt hatte, einen solchen Wert besaß. Er sagte: »das ist eine Idee«, mit dem Tonfall eines Feinschmeckers.8 Das Bild des philosophischen Gourmets, der in geselliger Runde den dargebotenen Ideen nachschmeckt, verdichtet sich in vielen Erinnerungen zur Gestalt des Sokrates, mit der »Groet«, wie er von seinen Freunden genannt wurde, auf deutscher wie auf französischer Seite identifiziert wird: »Groethuysen war der geborene Dialogiker«,9 ein »Mensch des ewigen Dialogs«,10 ein »modemer Sokrates«.11 »Er besaß«, so Gerhard Hess, »die sokratische Gabe, dem Partner seine eigenen Möglichkeiten im Austausch der Gedanken bewußt zu machen«.12 Ganz ähnlich schreibt der Kunstkritiker Andre" Berne-Jofrroy: Groethuysen ließ unweigerlich an Sokrates denken [...]. Das Gespräch war ein wesentlicher Bestandteil seiner Philosophie. Er war der Ansicht, daß man als Einsiedler in der Gefahr stehe, sich im Irrgarten des isolierten Denkens zu verlaufen, die einzig wirklich wichtigen Probleme jedoch jene seien, die sich nicht nur uns selbst, sondern auch den anderen stellten, jene also, die uns erst das Gespräch aufzeige.13 »Solidaire«, nicht »solitaire«, solle deshalb nach Groethuysen der Denker sein.14 Das schönste Zeugnis dieser mäeutischen Gabe, die Gedanken des anderen im Gespräch zu wecken, hat der französische Dichter Francis Ponge hinterlassen. Groethuysen, so Ponge, [...] schlief unter den Brücken der Metaphysik [...]. In ihm war etwas von einem Taugenichts, einem Vagabunden [...], von einem Führer durch Schlösser und Systeme, von einem Führer durch die eigenen Gedanken.15

Und Andre" Gide steht in seiner Begeisterung nicht zurück, wenn er über Groethuysen schreibt: Wenn man mit ihm plauderte, ah! wie gescheit wurde man! Man blühte auf. In seiner Begleitung entdeckte man in sich selbst die Reichtümer, die er verlieh. [...] In ihm war etwas von einem Spurenleser und auch von einem Zauberer.16

7 8 9 10 11 12 13 14

15 16

Paulhan 1947, 12. Ders. 1969, 553. Hess 1946/1947, 408. Cassou 1946. Morin\941. Hess 1946/1947, 408; vgl. auch Mayer 1947, 592. Berne-Joffroy 1961, 5ff. Ders. 1948, 14. Ponge\948,4. Gide 1947, 123.

Dabei entbehrte Groethuysen in den Augen seiner Freunde keineswegs einer gewissen Skurrilität. »Ebenso wie die Bürger Athens beim Anblick des Sokrates«, so schreibt der Soziologe Edgar Morin, »belächelten jene Groethuysen, die ihn nur aus der Ferne kannten. Sie hatten recht. Groethuysen war anders als sie, als wir«.17 Denn Groethuysen - »halb Spötter, halb Theoretiker«18 - war in seinem Lebensstil zunächst einmal »pittoresk«.19 Wenn man nicht auf ihn achtete, berichtet Maria van Rysselberghe, die aufmerksame Begleiterin Andro Gides, so nahm er leicht »das klassische Aussehen eines Vagabunden an, denn er vernachlässigte gern, in aller Unschuld, die kleinen tyrannischen Erfordernisse unserer zivilisierten Welt«.20 Andr£ Berne-Joffroy erinnert sich: Wir waren verwundert zu hören, daß er in einem Atelier an der Rue CampagnePremiere wohnte, sah er doch eher aus, als schliefe er unter einer Brücke. Seine struppigen Haare und sein Bart zeugten von einer verwegenen äußerlichen Nachlässigkeit, trotz der weitkrempigen Hüte, des obligatorischen Spazierstockes, der ihm zu kaum mehr als zur Zierde diente, und der betont hellen, manchmal sogar mit kleinen Rosen verzierten Westen, die er an manchen Tagen zur Schau stellte und die sich dann über seinen etwas beleibten Bauch ausbreiteten. Ich habe ihn niemals anders als von Zigarettenasche überstreut gesehen [...]. Er rauchte ohne Unterlaß und ignorierte bewußt jeden Aschenbecher.21 Das also war das Bild, das Groethuysen 1946 bei seinem Tod hinterließ: ein philosophischer Vagabund, ein Grenzgänger zwischen Deutschland und Frankreich, zwischen Geist und Geschichte, ein Bohemien, ein Ideenkünstler. Seine Schriften fanden hingegen nur wenig Interesse. Groethuysen galt vielen als ein »gonie oral«,22 als jemand, der weniger durch das geschriebene als vielmehr durch das gesprochene Wort wirkte, wie der Historiker Gustav Mayer schrieb: Denn er [...] war in höchster Potenz ein Denker, der sich redend äußerte und der fast nur schrieb oder, genauer gesagt, veröffentlichte, wenn ein Verleger oder der Redakteur einer Zeitschrift ihm eine Zusage abgenötigt hatte. Das Fertigstellen und das Erreichen endgültiger Formulierungen war nicht eben das, was seinem Geist in erster Linie Bedürfnis war; der dialektische Prozeß als solcher bedeutete ihm mehr als alle Resultate. Deshalb war das Gespräch sein natürliches Element; er war ein Causeur[,] wie mir in gleicher Vollendung niemals ein zweiter begegnete.23

17 18 19 20 21 22

23

Morin 1947. Paulhan 1969, 554. Berne-Joffroy 1961, 6. Saint-Clair [= van Rysselberghe] 1946, 81. Berne-Joffroy 1961, 5. So berichtet Andr6 Malraux über Groethuysen: »De tous les hommes que j'ai rencontre's, c'itait celui qui imposait le plus certainement l'idoe du gonie intellectuel. Mais il n'attachait pas d'importance ä ce qu'il Scrivait. C'est le seul cas que j'ai connu de gonie oral«(zit. nach Lacouture 1973/1976, 145). Mayer 1947, 592; vgl. dazu auch Cassou 1946.

Wer in den Jahren nach Groethuysens Tod über ihn schrieb, hatte ihn noch persönlich gekannt. Erinnerungen wurden ausgetauscht.24 Eine Auseinandersetzung mit seinem schriftlichen Werk - immerhin über zweihundert Titel - setzte hingegen nur sehr zögernd ein. Groethuysens Introduction a la pensee philosophique allemande depuis Nietzsche (1926), seine Philosophische Anthropologie (1931) sowie seine Schrift über Die Dialektik der Demokratie (1932) mochten dem kritisch-existentialistischen Zeitgeist der fünfziger und sechziger Jahre ebenso unzeitgemäß erscheinen wie seine zahlreichen geistes- und literaturhistorischen Studien aus der Zwischenkriegszeit.25 Auch die Herausgabe zweier nachgelassener Schriften durch Alix Guillain - Studien zu Rousseau (1946) und zur Philosophie de la Revolution franfaise (1956) - blieb weitgehend unbeachtet, ebenso wie die bereits 1947 von Jean Paulhan besorgte Ausgabe der wichtigsten literarischen Essays unter dem Titel Mythes et Portraits. Groethuysens Hauptwerk schließlich, seine unvollendet gebliebene Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich (1927/1930) fristete über Jahrzehnte ein geistesgeschichtliches Schattendasein. Erst seit kurzem wird es als ein geheimes »Meisterwerk der Sozialgeschichte der Moderne« wiederentdeckt.26 Groethuysens unkonventioneller Denkstil ließ sich in den ideologischen Konstellationen der europäischen Nachkriegsgesellschaft nur schwer verorten. War Groethuysen wirklich ein »Kommunist strikter Observanz«, wie Jean Paulhan behauptete,27 war er tatsächlich ein »Bewunderer Heideggers«, wie Jean Wahl meinte,28 und schließlich: war Groethuysen, der 1938 französischer Staatsbürger wurde, ein deutscher oder ein französischer Denker, gab er seine Heimat preis oder wahrte er im Grunde seines Herzens nicht doch eine »deutsche Eigenart«?29 Groethuysens Schriften, soviel war klar, bereiteten Kopfschmerzen, wie es in lobenswerter Offenheit Hans-Martin Lohmann gestand.30 Die Mühe einer inhaltlichen 24

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27 28 29 30

Vor allem in der sehr reichhaltigen Memoiren-Literatur (z.B. van Rysselberghe 19731977; Malraux, Cl. 1963-1979; als vorerst letztes Glied in dieser Kette: Desanti 1997, 189-199). Eine Auswahl aus Groethuysens philosophischen und literaturhistorischen Essays bieten die drei posthum edierten Aufsatzsammlungen: Groethuysen 1947a; 1995a; 1995b. So Reno König (1987, 259). Bereits zuvor hatte Thomas Nipperdey (1973, 43) Groethuysens Werk als ein »klassisches Beispiel« anthropologischer Geschichtsschreibung gewürdigt, doch erst in den letzten Jahren lassen sich erste Ansätze zu einer eingehenden theoretischen Beschäftigung mit Groethuysens historiographischem Werk erkennen (vgl. Ermarth 1993; Gordon 1997). Paulhan 1947, 12; dagegen: Berne-Joffroy 1961, 15; ders. 1984, 200. Wahl, J. 1950, 38; dagegen: Susman 1948, 83. Vgl. Misch 1946/1947, 124. »Die LektUre Groethuysens hat mir einige Kopfschmerzen bereitet, was natürlich damit zusammenhängt, daß es so schwierig ist, in seinem Fall >klare Verhältnisse< herzustellen. Die intellektuelle und politische Irritation, die von Werk und Person Groethuysens ausgeht, ist in der Tat beträchtlich. Sein Denken läßt sich nicht katalogisieren; in seiner provozierenden Offenheit ist es von geradezu Ärgernis erregender Unbestimmtheit und Ungreifbarkeit. Und zugleich ist es vom Willen zur Synthese, zur Einheit und Stimmigkeit durchdrungen« (Lohmann 1981, 71).

Auseinandersetzung mit Groethuysens Werk auf sich zu nehmen, fand sich erst eine jüngere Generation bereit. Ihre Suche nach unverbrauchten Denktraditionen ließ sie seit 1968 in Deutschland und Frankreich auch auf die Schriften Groethuysens stoßen. Dessen unorthodoxer Denk- und Sprachstil geriet seit den siebziger Jahren auf französischer Seite als Alternative zu den Meisterdenkern von Marxismus und Strukturalismus in den Blick,31 auf deutscher Seite als eine von professoraler Rhetorik und bloßer Gelehrsamkeit wohltuend freie geistige Attitüde.32 Das Interesse hielt jedoch weder in Frankreich noch in Deutschland langfristig an. Erst in den letzten Jahren ist Groethuysens Werk in Frankreich - diesmal vor allem in literaturhistorischer Perspektive - wieder in den Blick geraten,33 in Deutschland scheint es hingegen - nach anfänglichem Interesse34 - erneut dem Vergessen anheimzufallen.35

31 32

33

34

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So Duvignaud 1973, 9; Meschonnic 1977-1978,1, 105. So heißt es im Nachwort zur deutschen Übersetzung von Groethuysens Philosophie de la Revolution frangaise: Der »Text des Autors ist brillant formuliert, er ist kohärent und deshalb leicht faßbar. Der Verzicht auf trockene Belege dient der Einheit der Darstellung. So ist Groethuysens Buch das Gegenteil eines Lehrbuches und doch in eminenter Weise pädagogisch« (Schnitt, E. 1971, 206). Vgl. die beiden Aufsätze von Bernard Dandois über Groethuysen und Malraux (1987, 1988a), seine Studie über Groethuysen und Paulhan (ders, 1999) sowie die Introduction (ders. 1995), die er der von ihm unter dem Titel Philosophie et Histoire herausgegebenen Sammlung von Aufsätzen Groethuysens vorangestellt hat (Groethuysen 1995a). Im gleichen Jahr erschien in Frankreich eine weitere Anthologie mit Schriften Groethuysens unter dem Titel Autres Portraits (Groethuysen 1995b), die von Philippe Delpuech herausgegeben wurde, der auch die 1997 erschienene Neuauflage von Groethuysens Mythes et Portraits (Groethuysen 1947a) besorgt hat. Erwähnt seien außerdem die beiden Aufsätze von Bourg/Muller (1992) und Foucart (1997) über Groethuysen und Andro Gide sowie die Überblicksdarstellung von Cacciatore (2000) über die philosophischen Arbeiten Groethuysens. Vgl. etwa/fa/z«, A. 1980; Sieß 1981a; Lohmann 1981. Dabei wurde Groethuysen sogar die Aufnahme in die von Hans-Ulrich Wehler herausgegebene Sammlung Deutsche Historiker zuteil (vgl. Schmitt, E. 1980). Angesichts dieser nationalen Vereinnahmung konnte sich aber selbst der Autor des Beitrags gewisser Skrupel nicht erwehren und schrieb am Ende seiner Darstellung: »Bernhard Groethuysen war in seinem beruflichen Werdegang, in seiner unsteten Lebensweise wie in seinem Arbeiten einer der großen Außenseiter der europäischen Wissenschaft dieses Jahrhunderts, und es bleibt zweifelhaft, ob es überhaupt gestattet ist, ihn - der als Psychologe, als Philosoph, als Historiker, als Literaturwissenschaftler und als Feuilletonist arbeitete - für die deutsche Geschichtswissenschaft zu vereinnahmen« (ebd., 101). Allerdings finden sich auch hierzulande in letzter Zeit Anzeichen für eine erneute Aufmerksamkeit. So haben vor kurzem Volker Gerhardt, Reinhard Mehring und Jana Rindert (1999, 155ff.) in ihrer Geschichte der Berliner Universitätsphilosophie auf die Bedeutung Groethuysens hingewiesen; auch der im gleichen Jahr erfolgte Wiederabdruck von Paulhans (1969) Erinnerungen an Groethuysens Tod in der Literaturzeitschrift Akzente (6, 1999) läßt sich als Anzeichen eines langsam wiedererwachenden Interesses in Deutschland deuten.

Im Jahr 1978 erschien die erste Monographie, die ausschließlich Groethuysen und seinem Werk gewidmet war.36 Hannes Böhringer ist in seinem Buch Bernhard Groethuysen. Vom Zusammenhang seiner Schriften erstmals den Spuren, die Groethuysen im Gedächtnis seiner Zeitgenossen hinterlassen hatte, kritisch nachgegangen und konnte so einige der Ungenauigkeiten, die sich in die Nachrufe auf Groethuysen eingeschlichen hatten, korrigieren. Im Zentrum seiner Arbeit stand jedoch nicht so sehr die Biographie, sondern vielmehr das schriftliche Werk Groethuysens und dessen Interpretation. Auch wenn, wie Böhringer schreibt, in seiner Arbeit »geistesgeschichtliche Zusammenhänge eher am Rande gestreift« werden, so entwirft er doch ein umfassendes Bild von Groethuysens Werk, als dessen »begeisterter Leser« er sich zu erkennen gibt.37 Böhringers Buch liest sich über weite Strecken als ein überaus einfühlsamer, gelungener Essay, in dem kongenial Zitate Groethuysens mit Interpretationen des Autors verwoben werden. Eines der größten Verdienste dieser Arbeit ist die nahezu vollständige Bibliographie der Schriften Groethuysens;38 wer immer sich mit dessen Werk vertraut machen will, wird auf diese Pionierleistung zurückgreifen müssen. Böhringers Arbeit markiert bis heute den Forschungsstand.39 Zwar ist Mitte der achtziger Jahre eine weitere Monographie über Groethuysens Werk erschienen, die dessen Ansatz für die verstehende Soziologie fruchtbar zu machen versucht, ohne jedoch an die empirische und interpretative Dichte der Studie Böhringers heranzureichen.40 Darüber hinaus hat Hannes Böhringer sich als erster und bislang einziger bemüht, unveröffentlichtes Quellenmaterial systematisch für seine Untersuchung heranzuziehen. Seine Funde sind um so wichtiger, als der Nachlaß Groethuysens weiterhin als verschollen gelten muß. Dominique Desanti, die Groethuysen und Alix Guillain in den vierziger Jahren kennengelernt hatte, berichtet in ihren vor wenigen Jahren veröffentlichten Memoiren, Alix Guillain habe die nachgelassenen Papiere ihres Lebensgefährten in einem alten Koffer aufbewahrt, der nach ihrem Tod zunächst in den Räumen des kommunistischen Parteiverlags Editions Sociales, für den Guillain lange Zeit tätig gewesen war, verblieben, bei einem Umzug des Verlags jedoch verschollen sei.41 Alix Guillain hatte zu ihren Lebzeiten zwar bereits manches aus dem Nachlaß retten können, so z.B. die oben erwähnten Studien zu Rousseau und die Vorlesung über die Philosophie de la Revolution fran36 37

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Böhringer 1978. Ebd., 10. Ebd., 207-228. Vgl. auch ders. 1996. Treuheit 1985; vgl. dazu auch ders. 1984. Vgl. Desanti 1997, 192f. Hannes Böhringer berichtet, der damalige Direktor der Editions Sociales, Josef Ducroux, der von Alix Guillain als Testamentsvollstrecker eingesetzt worden sei, habe den Koffer dem Musee de l 'histoire vivante in Montreuil übergeben wollen, doch sei dieser dort vermutlich niemals angekommen (Böhringer 1978, 23). Anfragen bei den Erben Josef Ducroux', bei Dominique und Jean-Toussaint Desanti sowie bei dem Archivar des Musee de l 'histoire vivante in Montreuil ergaben leider keine weiteren Hinweise über den Verbleib des Nachlasses.

, der besagte Koffer dürfte aber noch zahlreiche Briefe und Notizen sowie weitere unveröffentlichte Manuskripte enthalten haben. Wenngleich die Suche nach dem Nachlaß bislang ergebnislos geblieben ist, so sind die Spuren, die Groethuysen in deutschen und französischen Archiven hinterlassen hat, doch zahlreicher, als die Studie Böhringers zunächst vermuten läßt.42 Das gilt vor allem für den umfangreichen Briefwechsel, den Groethuysen mit seinen Freunden und Familienangehörigen in Paris und Berlin unterhalten hat. Sein ständiger Wohnortwechsel zwischen den beiden Städten veranlaßte ihn, die jeweils am Ort Zurückgebliebenen über seinen Lebenswandel schriftlich auf dem laufenden zu halten. Seine Mutter unterrichtete er so bis in die dreißiger Jahre hinein regelmäßig über seinen Pariser Alltag;43 Jean Paulhan schrieb er seine Eindrücke aus Berlin und teilte ihm seine Lektüren mit;44 Margarete Susman erfuhr aus seinen Briefen vom Zögern und Schwanken, sich endgültig in einer der beiden Städte niederzulassen.45 In der vorliegenden Arbeit werde ich versuchen, Groethuysens Denk- und Lebenswege, seine intellektuelle Biographie, zu rekonstruieren. Dabei bin ich im wesentlichen auf die schriftlichen Dokumente, die Groethuysen hinterlassen hat, angewiesen, denn anders als die Verfasser der vielen Nachrufe kann ich nicht aus persönlicher Erinnerung schöpfen. Am Anfang dieser Arbeit standen deshalb die schriftlichen Spuren, die Überreste und Repräsentationen, die von Groethuysens Lebensgeschichte geblieben sind. Aufgabe der folgenden Kapitel wird es sein, diese Indizien seines Lebens zum Bild seiner historischen Gestalt zusammenzufügen.

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Hannes Böhringer hat bereits den Großteil der unveröffentlichten Briefe Groethuysens an Margarete Susman sowie einige Dokumente, die in den Archiven der HumboldtUniversität und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften aufbewahrt werden, ausgewertet. Zu den weiteren Quellenfunden, die für die vorliegende Arbeit herangezogen werden konnten, vgl. im einzelnen das Quellenverzeichnis am Ende der Arbeit. Der Neffe Bernhard Groethuysens hat vor kurzem über zweihundert Briefe wiedergefunden, die Groethuysen zwischen 1911 und 1934 an seine Mutter sandte. Diese Korrespondenz befindet sich heute im Privatbesitz der Familie. Für die Möglichkeit der Einsichtnahme danke ich Herbert Groethuysen (München). Vgl. dazu die über siebzig im Institut Memoires de l'Edition contemporaine (IMEC, Paris) aufbewahrten Briefe Groethuysens an Paulhan. Ein Teil der Briefe Groethuysens an Margarete Susman befindet sich heute im Deutschen Literaturarchiv (Marbach). Von weiteren über sechzig Briefen Groethuysens an Susman, deren Originale verschollen sind, befinden sich Abschriften und Kopien im Besitz von Hannes Böhringer (Berlin), der sie mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat und dem ich für die Möglichkeit der Einsichtnahme danke.

2. »Horizont«, »Feld« und »Tradition«. Das Schreiben einer intellektuellen Biographie Wenn in den folgenden Kapiteln versucht werden soll, die intellektuelle Biographie Groethuysens zu rekonstruieren, so ist damit zweierlei gemeint: Zum einen soll Groethuysens intellektuelles Leben, seine »geistige Arbeit«, nachgezeichnet werden, zum anderen aber auch sein Leben als Intellektueller, d.h. als »geistiger Arbeiter«, um ein Schlagwort aus seiner Zeit aufzugreifen.40 In meiner Rekonstruktionsarbeit werde ich also versuchen, eine hermeneutische Perspektive auf Groethuysens Werk mit einer kultursoziologischen auf seinen Karriereweg zu verbinden. Die hermeneutische Blickrichtung zielt auf den Sinn der schriftlichen Dokumente, die Groethuysen hinterlassen hat. Der Sinn einer schriftlichen oder mündlichen Mitteilung darf nicht auf den bloßen Informationswert, den sie enthält, reduziert werden. So besteht der Sinn einer Aussage nicht nur in dem, was sie mitteilt, sondern zugleich auch darin, wie sie es mitteilt. Sinn muß stets als Einheit von Information (was) und Intention (wie) verstanden werden oder, wie Edmund Husserl gesagt hat, als ein »Gegenstand im Wie« des Bewußtseins.47 Denn in jedem Gedanken »ist ein Gegenstand als so und so bestimmter >vorgestelltBildungsNatur- und Geisteswissenschaft< an, und von da an 39

Husserls Kontaktaufhahme mit Dilthey im März 1905 bot nun offenbar auch Groethuysen die Gelegenheit, mit dem Göttinger Gelehrten ins Gespräch zu kommen, denn kurze Zeit später bedankt er sich schriftlich bei Husserl für die »schönen Stunden«, die sie zusammen in Berlin verbracht hätten: Ich muß nun das Alles allein weiter durchdenken, wovon Sie sprachen, es wird lange dauern, bis ich damit auch nur einigermaßen fertig bin.118 Groethuysen scheint in der Tat von der Begegnung mit Husserl nachhaltig beeindruckt gewesen zu sein, denn auch in späteren Jahren setzte er sich intensiv mit den Arbeiten Husserls auseinander.119 In der Zwischenkriegszeit bemühte er sich sogar, den nunmehr in Freiburg lehrenden Philosophen auf eine Professur nach Berlin zu holen. In einem Schreiben an den Dekan der Philosophischen Fakultät heißt es dazu 1921: Die meisten jüngeren Philosophen verdanken dem grundlegenden Werke Husserls: »Logische Untersuchungen«, entscheidende Anregungen. Es ist mit Sicherheit vorauszusehen, dass Husserl, wenn er an der Berliner Universität lehrt, bald einen Umkreis von Schülern um sich sammeln würde. Seine Forschungsmethoden, die nicht ein fertiges System übermitteln, sondern vor allem in ein weites Gebiet neuer Probleme einführen, scheinen mir besonders geeignet zu sein, zu selbständigem philosophischem Denken anzuregen.120 Zwei Jahre später, als es um die Neubesetzung des Troeltsch-Lehrstuhls ging, wiederholte Groethuysen seinen Vorschlag und führte dazu aus: HusserPs Werke haben den grössten Einfluss auf die jüngere Generation ausgeübt, und ihre Wirkungen sind bei weitem nicht erschöpft. Dies ist um so bemerkenswerter, als es sich dabei nicht um ein ausgebildetes System handelt[,] sondern um eine Denkrichtung, die von selbständigen Köpfen in mannigfaltiger Weise ausgebildet worden ist und noch weiter ausgebildet werden kann. Dieses bezieht sich nicht nur auf Philosophen[,] sondern auch auf Philologen, Juristen etc. Man darf hoffen, dass gerade in Berlin Husserl zahlreiche Schüler finden wird, die er zur Exaktheit des Denkens erzieht und ihnen zugleich die Möglichkeit bietet, die Methoden, die er ihnen [sie!] lehrt, auf weitere Gebiete des Denkens anzuwenden.121

beschäftigten mich die zugehörigen Probleme einer geisteswissenschaftlichen Phänomenologie jahrelang fast mehr als alle anderen, obschon davon nichts bisher publiziert ist« (in: Husserl 1994, III, 456-463, hier: 460). 118 B. Groethuysen an E. Husserl, 28.3.1905 (in: ebd., VI, 171). 119 So schlägt er z.B. 1907 als Thema für seine Probevorlesung die »Begriffsbestimmung der Phänomenologie« vor (»Habilitationsakte B. Groethuysen«, UAHU, Phil. Fak. 1228, 225). 120 »Anstellung und Besoldung der ordentlichen und außerordentlichen Professoren in der Philosophischen Fakultät der Universität Berlin (Philosophische Wissenschaften)«, Geheimes Staatsarchiv, Preußischer Kulturbesitz, Berlin, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 2., Tit. IV, Nr. 68 A, Bd. l, 143. 121 Ebd., 219. Husserl, an den tatsächlich ein Ruf nach Berlin erging, lehnte diesen jedoch ab und zog es vor, in Freiburg zu bleiben (vgl. dazu Schuhmann 1977, 271).

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Die Begegnung zwischen Dilthey und Husserl im Frühjahr 1905 blieb allerdings trotz der gegenseitigen Wertschätzung nur eine Episode; ein langfristiger Gedankenaustausch knüpfte sich jedenfalls nicht daran. Husserl begann in Göttingen, einen eigenen Schülerkreis um sich zu versammeln; der über siebzigjährige Dilthey schien sich hingegen in den immer größer werdenden Stapeln seiner Entwürfe und Manuskripte zu verlieren. So sah es zumindest Bernhard Groethuysen, der über die letzten Lebensjahre seines Lehrers später schreiben wird: Je mehr die Masse der Handschriften anschwoll, desto weniger vermochte es dann Dilthey schließlich selbst, sich darin zurechtzufinden.122 Diesen Eindruck scheint Dilthey selbst allerdings nicht geteilt zu haben, denn 1910 legte er mit seiner Abhandlung Der Aufbau der geschichtlichen Weh in den Geisleswissenschqften eine Synthese aus seinen einige Jahre zuvor wieder aufgenommenen Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften vor, die seinen Status als Klassiker der Hermeneutik bis heute begründet.123 Interessanterweise wird Husserl in dieser Schrift nicht mehr namentlich genannt, wohl aber Hegel, mit dessen Schriften sich Dilthey um 1905 ebenfalls intensiv beschäftigt hatte.124 Husserls Lehre vom bedeutungserfüllten »Ausdruck« wird von Dilthey jedoch keineswegs fallengelassen, sondern lediglich einer hegelianisierenden Lektüre unterzogen, durch die sie sich schließlich zu einer Art historischer Kulturtheorie wandelt. So wird der Begriff des »Ausdrucks«, der bei Husserl auf rein sprachliche Erscheinungen eingegrenzt war,125 von Dilthey auf sämtliche Symbolbereiche der menschlichen Kultur ausgedehnt, auf »Gebärden, Mienen und Worte« ebenso wie auf »die beständigen Objektivierungen des Geistes in gesellschaftlichen Gebilden«, in Recht, Religion und Kunst.126 Den Gesamtbestand dieser kulturellen Ausdrucksgehalte bezeichnet Dilthey dabei in Übernahme eines Begriffs von Hegel als »objektiven Geist«, der nun allerdings nicht mehr als die Manifestation eines den Begriff verwirklichenden Weltgeistes verstanden wird, sondern als der historisch konkrete »Ausdruck« menschlicher Erlebnisse, oder, wie Dilthey sagt, als die geschichtliche »Objektivation des Lebens«.127 In dieser, im »objektiven Geist«, 122

Groethuysen 1927c, 349. Gegenüber Arthur Stein, der Groethuysen später bei der Erschließung des handschriftlichen Nachlasses Diltheys behilflich sein wird, soll Groethuysen erwähnt haben, Dilthey habe diese Schrift bewußt in seiner Abwesenheit zu Ende geschrieben und in den Druck gegeben, da er den Einfluß Groethuysens auf seine systematische Arbeit in dieser Zeit als zu stark empfunden habe (vgl. Böhringer 1978, 148). 124 1906 hatte Dilthey seine Jugendgeschichte Hegels veröffentlicht, die den Beginn der Hegel-Renaissance in der deutschsprachigen Philosophie markiert (vgl. Dilthey 1906b). 125 Gesten und Mienenspiel wurden von Husserl ausdrücklich ausgeschlossen (vgl. Husserl 1900/1901, H/1, 37). 126 Dilthey 1910, 86. 127 Ebd., 146-152. »Indem so der objektive Geist losgelöst wird von der einseitigen Begründung in der allgemeinen, das Wesen des Weltgeistes aussprechenden Vernunft, losgelöst auch von der ideellen Konstruktion, wird ein neuer Begriff desselben möglich: in ihm sind Sprache, Sitte, jede Art von Lebensform, von Stil des Lebens ebensogut 123

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finden die »Geistes«-Wissenschaften nach Dilthey nun ihren eigentlichen Gegenstand,128 der damit zugleich als ein historischer gekennzeichnet ist: Denn auf dem »Trümmerfeld« der Geschichte, so Dilthey in einem nachgelassenen Fragment, ist der »Ausdruck [...] zurückgeblieben, nachdem das Leben selbst vergangen ist«.129 Diltheys Verzicht auf die psychologische Innenperspektive des Erlebnisses zugunsten eines verstehenden Zugriffs auf den äußeren »Ausdruck«, auf die kulturellen »Objektivationen« des Lebens, gibt so schließlich die Geistesgeschichte als anthropologische Fundamentaldisziplin frei. An die Stelle der psychologischen Beschreibung und Zergliederung tritt beim späten Dilthey daher die hermeneutische Ausdeutung der Kulturgeschichte. Denn der Mensch, so heißt es in dem bereits erwähnten Fragment, »erkennt sich nur in der Geschichte, nie durch Introspektion«.130 Die Aufgabe des Hermeneuten liegt demnach darin, das Leben aus den Trümmern des »Ausdrucks« wieder zusammenzusetzen. In seinem Nachruf auf den 1911 verstorbenen Lehrer schreibt Groethuysen: In der Art, in der die Bestandteile eines Werkes, seine verschiedenen Ausdrücke die Erlebnisse repräsentieren, liegt eine grenzenlose Mannigfaltigkeit Bald deuten sie das Erlebnis nur an, bald sind es Ausdrücke, die nach der Tiefe des Erlebnisses selbst hinweisen; ein Stammeln oft nur, dann wieder das Siegreiche des erfüllten Ausdrucks. Das gab Diltheys Interpretationsweise ihre, ich möchte sagen, dramatische Lebendigkeit: dieses Eindringen in die Innerlichkeit der Ausdrücke, um ihnen ihre Lebendigkeit abzuringen, die wechselvollen Momente, die immer von neuem für das Verstehen in den Spannungszuständen zwischen Erlebnis und Ausdruck liegen.131

3. Die Philosophie der Französischen Revolution. Von der Ideen- zur Erlebnisgeschichte Groethuysens Tätigkeit für die Leibniz-Kommission der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften brachte notwendigerweise eine Verlagerung seiner Arbeitsschwerpunkte von der Psychologie zur Philosophiegeschichte mit sich, die durch den engen Kontakt zu Wilhelm Dilthey noch bestärkt wurde. Bereits 1904 war Groethuysen von der Akademie ein erstes Mal nach Paris geschickt worden; diesmal jedoch nicht, um nach unveröffentlichten Dokumenten von Leibniz zu forschen, sondern nach dem Briefwechsel Immanuel Kants, dessen Schriften ebenfalls von der Akademie - und zwar unter dem Vorsitz Diltheys - herausgegeben umfaßt wie Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat und Recht. Und nun fällt auch das, was Hegel als den absoluten Geist vom objektiven unterschied: Kunst und Religion und Philosophie unter diesen Begriff [...]«(ebd., 150f.). 128 »Und auch der Ausdruck >Geisteswissenschaft< erhält an dieser Stelle seine Rechtfertigung. [...] Jetzt können wir sagen, daß alles, worin der Geist sich objektiviert hat, in den Umkreis der Geisteswissenschaften fällt« (ebd., 148). U9 Ders. 1927b, 279. 130 Ebd. 131 Groethuysen 1913a, 255. 42

wurden.132 Groethuysen nutzte diese Forschungsaufenthalte, um eine ideengeschichtliche Habilitationsschrift vorzubereiten, die die Verfassungsdiskussion zu Beginn der Französischen Revolution behandelte und die er drei Jahre später mit der Unterstützung Wilhelm Diltheys in Berlin einreichte. In Diltheys Gutachten zu dieser Arbeit heißt es: Dr. Groethuysen, welcher hier in Berlin mit dem Prädikat summa cum laude promoviert hat, legt zum Zweck der Habilitation eine Abhandlung »Das Naturrecht als Grundlage des Privat- und Staatsrechts im Anfang der Revolution« vor.133 Die Grundlage der damaligen Rechtsdebatte, so referiert Dilthey den Gedankengang der Arbeit, sehe Groethuysen dabei in [...] der Lehre von den Menschenrechten (Freiheit und Gleichheit), wie diese von den bewegenden Persönlichkeiten der Revolution überall anerkannt wird. Während nun die privatrechtliche Auffassung der Revolutionszeit von den römisch-rechtlichen Begriffen, insbesondere dem Eigentumsbegriff bedingt bleibt, hat die Revolution im öffentlichen Recht neue Rechtsbegriffe zur Realisierung der naturrechtlichen Forderung ausgebildet. Die Darstellung dieser Begriffe bildet das Hauptthema der vorgelegten Arbeit. [...] Mir scheint, daß wir die Habilitation dieses hervorragenden jungen Gelehrten mit Freude begrüßen dürfen.134 Diltheys Ausführungen über die Habilitationsschrift Groethuysens sind leider das einzige, was von ihr überliefert ist. Groethuysen selbst hat sie zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht, und so muß sie heute ebenso wie andere Teile aus seinem Nachlaß als verschollen gelten. Alix Guillain fand allerdings nach Groethuysens Tod in den von ihm zurückgelassenen Papieren ein Vorlesungsmanuskript aus dem Jahr 1907, das mit Philosophie der Französischen Revolution überschrieben war und das sie 1956 in einer französischen Übersetzung publizierte.135 Im zweiten Teil dieses Manuskriptes kommt Groethuysen ausführlich auf das Naturrecht und die Grundrechtediskussion während der Französischen Revolution zu sprechen, und es ist zu vermuten, daß er sich hierbei im wesentlichen auf den Gedankengang 132

In seinem Lebenslaufaus dem Jahr 1907 schreibt Groethuysen: »Während eines Aufenthaltes im Sommer 1904 in Paris stellte ich Recherchen nach eventuell unveröffentlichten Dokumenten Kants in Bibliotheken und Archiven an, und es gelang mir, einen bislang unveröffentlichten Brief Kants [...] aufzufinden« (Nl. O. Groethuysen, Familienbesitz); Groethuysen publizierte diesen Brief 1906 mit einem ausführlichen Kommentar in den Sitzungsberichten der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (vgl. Groethuysen 1906a). Zu Diltheys Tätigkeit für die Kant-Ausgabe der Akademie siehe Rodi 1996. 133 Gutachten W. Dilthey (»Habilitationsakte B. Groethuysen«, UAHU, Phil. Fak. 1228, 227). Das Gutachten Diltheys findet sich nahezu vollständig abgedruckt bei Böhringer 1978,44f. I3 'Ebd. 13 Vgl. Groethuysen 1956a (sowie die Endanmerkung von Alix Guillain in Groethuysen 1956b, 77). Groethuysen hielt in der Tat nach der erfolgreichen Habilitation im Wintersemester 1907/1908 eine Vorlesung gleichen Titels; vgl. dazu die entsprechenden Angaben im Vorlesungsverzeichnis der Berliner Universität ((Königliche) FriedrichWilhelms-Universität 1907-1936). 43

seiner Habilitationsschrift stützte.130 So heißt es gleich zu Beginn des zweiten Teils: Was man zu Beginn der Revolution fordert, sind Rechte; genauer, Rechte, die jeder einzelne bereits hat, die er aber nicht ausübt.137

Für die Legitimation dieser Rechte, so Groethuysen, boten sich nun zu Beginn der Revolution zwei unterschiedliche Begründungsstrategien an, die sich in der Rechtsphilosophie bis auf den heutigen Tag erhalten haben: Diese Rechte können entweder in dem von der Geschichte überlieferten positiven Recht, oder aber im Naturrecht begründet sein.138

Dem dialektischen Spiel dieser beiden Ansätze, dem naturrechtlichen Denken einerseits und der durch historische Erfahrung gewonnenen Rechtsüberlieferung andererseits, widmet Groethuysen nun seine Darstellung. So habe zunächst, d.h. zur Zeit der Declaration des droits de l'komme et du citoyen von 1789, die Idee natürlicher und unveräußerlicher Rechte des Menschen überwogen;139 doch schon bald habe sich gezeigt, daß bei der konkreten Definition und Umsetzung dieser Rechte auf historische Modelle der Rechtskodifikation - vor allem in der Tradition des römischen Rechts - nicht verzichtet werden konnte.140 Die Prinzipien von Freiheit und Gleichheit aller vor dem Gesetz, die sich als Grundlage des neuen Privatrechts nach und nach durchsetzten,141 stießen dabei im Laufe der Revolution zunehmend auf den Widerspruch der Vertreter eines vor allem durch Rousseau radikalisierten naturrechtlichen Souveränitätsgedankens, die ihrerseits die Privatrechte des Individuums zugunsten eines durch den gesamten Gesellschaftskörper repräsentierten Allgemeinwillens einzuschränken versuchten. Das naturrechtliche Denken, das 1789 mit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte institutionell verankert wurde, wird für Groethuysen somit zum »Kodex der revolutionären Theorie« überhaupt, denn: [...] im Verlauf der Revolution ereignen sich immer wieder Fälle, wo die Ausgestaltungen des politischen Lebens sich im Widerspruch zur Erklärung der Menschenrechte befinden. Wir sind rechtlich noch nicht frei und gleich; wir haben noch nicht das allgemeine Wahlrecht, es gibt in unseren Kolonien noch Sklaven, es gibt noch Aristokraten, die mehr sein wollen als das Volk; wir haben noch einen König. Solcherlei Einwände werden später erhoben. In der Erklärung der Menschenrechte, in den darin ein

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Allerdings ist es nur bedingt möglich, die Thesenführung Groethuysens aus dem posthum edierten - und möglicherweise veränderten - Vorlesungsmanuskript zu rekonstruieren, zumal es über weite Teile eher summarisch angelegt ist, auf bibliographische Hinweise verzichtet und im ganzen das Gepräge einer vor allem für Anfänger konzipierten ideengeschichtlichen Überblicksvorlesung trägt (vgl. dazu Schmitt, E. 1971). ™ Groethuysen 1956a, 118. 138

Ebd. Ebd., 120ff. 140 Ebd., 135ff. 141 Ebd., 138. 139

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für allemal festgelegten fundamentalen Prinzipien, liegt gewissermaßen eine immanente Logik, die zu immer revolutionäreren Konsequenzen führt.142 Die Französische Revolution habe diese Dialektik zwischen subjektiv-naturrechtlichem Rechtsanspruch einerseits und objektiv-historischer Rechtskodifikation andererseits nicht dauerhaft zum Stillstand bringen können. Auch heute noch bewege sich die Dynamik der privatrechtlichen Entwicklung in Bahnen, die die Französische Revolution vorgezeichnet habe. Groethuysen resümiert daher am Ende seiner Vorlesung: Es bleibt den künftigen Generationen vorbehalten, die Auflösung der Widersprüche zu versuchen, die möglicherweise zwischen der Idee des souveränen Volkes und jener anderen Idee bestehen, die dem Volk die Hauptaufgabe zuweist, die unveräußerlichen und unverordenbaren Rechte des Individuums, insbesondere das Eigentumsrecht, zu verteidigen.143 Mit anderen Worten: Die Französische Revolution eröffnet für Groethuysen das Zeitalter der politischen Moderne, in der die Rechte des Individuums und die Rechte der Allgemeinheit immer wieder neu ausgehandelt werden müssen.144 Eine Lösung dieses Widerstreits schien Groethuysen - zehn Jahre vor der Oktoberrevolution - noch nicht in Sicht. Warum wählt Groethuysen, der mit einer psychologischen Arbeit promoviert wurde und sich anschließend mit Editionsarbeiten von Leibniz- und KantDokumenten beschäftigt hatte, nun ausgerechnet die Rechtsdebatten der Französischen Revolution zu seinem Forschungsthema? Auch über diese Frage läßt sich letztendlich nur spekulieren, da Groethuysen sich zu den Gründen seiner Wahl nicht geäußert hat. Daß Dilthey die Themenwahl angeregt hat, scheint eher unwahrscheinlich, hatte sich der Berliner Ordinarius selbst bis dahin doch kaum mit der Geschichte der Französischen Revolution beschäftigt.145 Auch ein bloßer Hinweis auf die seit Edmund Burke immer wieder - auch von deutschen Revolutionshistorikern - formulierte Kritik am Naturrechtsdenken der französischen Aufklärung (die, so der Vorwurf, die Grundlagen der historisch gewachsenen französischen Monarchie einer vermeintlich abstrakten Kritik preisgegeben habe)146 wird kaum ausreichen, um die Wahl des Themas hinlänglich zu erklären. Ein Blick über den engen wissenschaftlichen Raum hinaus in den weiteren Horizont der intellektuellen Debatten um 1900 wird in dieser Frage vielleicht mehr Aufschluß bringen. 142 143

Ebd., 133.

Ebd., 192. »Die Philosophie der Französischen Revolution versucht, diese beiden Standpunkte miteinander zu vereinbaren. Sie räumt ein, daß - wie Rousseau sagte - die Souveränität der Gesamtheit der Mitglieder einer Gesellschaft zusteht, ihrem Gemeinwillen, aber das hindert nicht, daß das Individuum seine Rechte hat, wie sie die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte< festgelegt hat« (ebd., 179). Zu den wenigen Studien Diltheys zur französischen Geistesgeschichte vgl. den Überblick bei Marquardt 1995. 146 So in Deutschland vor 1907 zuletzt bei dem Freiburger Historiker Adalbert Wahl (1905, 112ff.). 144

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Denn um 1900 war die Frage nach dem Verhältnis von Individualrecht und den Rechten der Allgemeinheit erneut auf die Tagesordnung öffentlicher Debatten getreten, und dies keineswegs nur in Frankreich, wo die Dreyfus-Affäre die Sensibilität für die unveräußerlichen Rechte der Person geschärft hatte. Auch in Deutschland war um die Jahrhundertwende eine öffentliche Rechtsdebatte ausgebrochen, die mit dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) am 1. Januar 1900 ihren Höhepunkt erreicht hatte. Denn das neue Gesetzbuch, das erstmals für das gesamte Reich eine gemeinsame zivilrechtliche Grundlage schuf, war von der Bevölkerung keineswegs nur begrüßt worden. Bereits während der Beratungszeit mehrten sich Stimmen, die - wie etwa August Bebel oder der Wiener Zivilrechtsprofessor Anton Menger - die mangelnde soziale Ausrichtung des BGB scharf kritisierten. Zwar garantiere das neue Gesetzbuch die rechtliche Freiheit und Gleichheit aller, doch trage, so die Kritiker, gerade die Betonung formaler Gleichheit zum Fortbestand sozialer Ungleichheit - etwa auf dem Arbeite- oder Wohnungsmarkt - bei.147 Zum Sprachrohr dieser Kritik machte sich der Berliner Rechtshistoriker Otto von Gierke, ein Freund Diltheys.148 In seiner über fünfhundert Seiten starken Schrift Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches und das deutsche Recht hatte Gierke sich schon 1889 gegen die Ausblendung sozialer Fragen aus der damals veröffentlichten ersten Vorlage des später verabschiedeten Gesetzestextes gewandt.149 Die mangelnde Klarsicht und die einseitige Orientierung am Modell des römischen Rechts, so Gierkes Kritik, habe dazu geführt, daß sich eine »verborgene sociale Tendenz« in den Gesetzesentwurf eingeschlichen habe, die er als »die individualistische und einseitig kapitalistische Tendenz des reinsten Manchestertums« anprangert, als eine »gemeinschaftsfeindliche, auf die Stärkung des Starken gegen den Schwachen zielende, in Wahrheit antisociale Richtung«.150 Was dem deutschen Gesetzgeber fehle, so Gierke im gleichen Jahr in seiner vielbeachteten Rede über Die soziale Aufgabe des Privatrechts, sei vielmehr »ein Tropfen sozialistischen Öls« und »ein Hauch des naturrechtlichen Freiheitspathos«.151 Nun wird man Gierke jedoch kaum als Vertreter einer sozialistischen Rechtstheorie bezeichnen können. Den »Tropfen sozialistischen Öls« suchte er deshalb auch nicht bei Marx, sondern in der Tradition des deutschen Genossen-

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Zur Auseinandersetzung um die Einführung des BGB, das weder Mietpreisbindungen noch Kündigungsschutz vorsah, vgl. Nipperdey 1983-1992, II/2, 193ff.; Wesel 1997, 443ff.; zu den geistigen Strömungen in der deutschen Rechtswissenschaft um 1900 vgl. den Überblick bei Sprenger 1997. 148 Zu Gierke, der 1911 in den erblichen Adelsstand erhoben wurde, vgl. Schröder 1989; Oexle 1988. Zur persönlichen Beziehung zwischen Dilthey und Gierke vgl. den Hinweis bei Dilthey/Yorckvon Wartenburg 1923, 251. 149 Vgl. G/er&? 1889a. 150 Ebd. m Ders. 1889b, 10. 46

Schaftsrechts,152 und den »Hauch des naturrechtlichen Pathos« nicht bei Rousseau, sondern bei Johannes Althusius.153 Dieser im 19. Jahrhundert nahezu vergessene deutsche Rechtsgelehrte des Späthumanismus erscheint bei Gierke geradezu als eine Art deutscher Gegen-Rousseau, der alles Positive des Control social bereits vorweggenommen, alles Negative dieser Theorie jedoch vermieden habe.154 Althusius' Werk dient Gierke somit gewissermaßen als eine Art ideengeschichtlicher Filter, um die positiven Elemente des Naturrechts in die deutsche Rechtstradition einfließen zu lassen, die »zerstörende Staatslehre«155 Rousseaus jedoch zugleich abwehren zu können. So ließe sich selbst das Prinzip der Menschenrechte bereits bei Althusius finden,156 denn die Idee menschlicher Freiheit, so Gierke in nationalpolitischer Zuspitzung, sei keineswegs eine französische Erfindung; ihre »letzte Quelle« sei vielmehr die »uralte und unausrottbare germanische Freiheitsidee«.157 Mit dieser Strategie, die Errungenschaften der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 nachträglich national zu vereinnahmen und dabei zugleich ihr revolutionäres Potential zu entschärfen, stand Gierke in seiner Zeit keineswegs allein. Bereits einige Jahre zuvor hatte der Heidelberger Staatsrechtler Georg Jellinek mit seiner Schrift Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1895), auf die sich auch Gierke später ausdrücklich beziehen wird,158 einiges Aufsehen erregt, hatte er doch den französischen Ursprung der Menschenrechtserklärung kurzerhand in Abrede gestellt.159 Denn die französische Menschenrechtserklärung, so Jellineks zentrale These, stehe mit ihrer Betonung persönlicher Individualrechte zur politischen Philosophie Rousseaus und seiner Schüler in krassem Widerspruch und könne keineswegs auf den Autor des Contrat social allein zurückgeführt werden.160 Vielmehr liege ihr Ursprung fernab der französischen Geistesgeschichte im Unabhängigkeitskampf der englischen Kolonien in Nordamerika: Die »Principien 152

Zu Gierkes mehrbändigem Werk Das deutsche Genossenschaftsrecht (1868-1913) vgl. Oexle 1988. 153 Vgl. dazu Gierke 1880/1902. 154 An der »unmittelbaren Einwirkung [...] des Althusius auf das Lehrgebäude Rousseau's« kann für Gierke daher in der zweiten, veränderten Auflage seines Althusius-Buches (1902) »ein Zweifel nicht obwalten« (ebd., 332). Insbesondere in der Lehre von der Volkssouveränität habe Rousseau unmittelbar an Althusius anschließen können (ebd., 201, 342), aber auch in der Idee unveräußerlicher Menschenrechte gebe es Berührungspunkte, denn diese seien bereits vor Rousseau bei Althusius »zu vollem Durchbruch« gekommen (ebd., 112). Andererseits stehe Althusius zu Rousseau jedoch »in scharfem Gegensatz«, da er gegenüber dem Theoretiker des Allgemeinwillens am Vertrag zwischen Herrscher und Beherrschten auf der Grundlage einer gegenseitigen »Verpflichtungskraft« festhalte (ebd., 335) und so schließlich »zum Verfassungsstaat« (ebd.) gelange, während Rousseaus Theorie »jedes Recht des Einzelnen gegenüber der Gesamtheit [...] zu verschlingen« drohe (ebd., 346). 155 Ebd., 322. 156 Ebd., 347. 157 Ebd., 346. 158 Ebd. 159 Jellinek 1895; zu Jellinek vgl. T/o/1989 und Stolleis 1992, 450fT. 160 Jellinek 1895, 6.

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von 1789«, so erklärt Jellinek provokativ, seien »in Wahrheit die Principien von 1776«.161 Sind die positiven Errungenschaften der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte somit erst einmal ihres revolutionären Kontextes entkleidet, so ist es für Jellinek ebenso wie für Gierke nur noch ein kleiner Schritt, sie anschließend der eigenen nationalen Rechtstradition einzuverleiben. Denn die Idee unveräußerlicher Individualrechte, so meint Jellinek feststellen zu können, gehe letztlich nicht so sehr auf politische, sondern vielmehr auf genuin religiöse Motive zurück, deren Ursprung er im reformatorischen Prinzip der Gewissensfreiheit und dessen Aneignung durch die englischen Kolonisten in Nordamerika vermutet. »Was man bisher für ein Werk der Revolution gehalten hat«, so Jellineks Kurzschluß über die Jahrhunderte hinweg, sei »in Wahrheit eine Frucht der Reformation und ihrer Kämpfe«;162 diese aber wiederum eine Frucht der alten germanischen Freiheitsidee. So sei der »monarchische germanische Staat« bereits von Anbeginn an auf einen Vertrag zwischen »Fürst und Volk« gegründet und damit von wechselseitigen Rechten und Pflichten erfüllt gewesen.163 Jellinek konstruiert so eine eigenwillige Tradition deutschen Freiheitsverständnisses, die bürgerliche Privatrechte mit autoritären, monarchischen Verfassungsstrukturen vereinbar erscheinen läßt und später unter dem Kampfruf von der »deutschen Freiheit« den »Ansturm der westlichen Demokratie« verhindern helfen sollte.164 Die Nähe seiner Ausführungen zu den innenpolitischen Debatten seiner Zeit kann Jellinek dabei kaum verhehlen, zieht er doch selbst aus seiner ideengeschichtlichen Parforcejagd den willkommenen Schluß, daß in »Wahrheit [...] im Deutschen Reiche das Maß öffentlicher Rechte des Individuums viel größer als in den meisten Staaten mit verfassungsmäßig katalogisierten Grundrechten« sei.165 Wie reagiert Groethuysen nun in seiner Habilitationsschrift beziehungsweise in seiner Vorlesung von 1907 auf die aktuellen rechtshistorischen Debatten seiner Zeit? Eine direkte Auseinandersetzung mit den Thesen Gierkes oder Jellineks wird man in dem posthum edierten Text, der weder bibliographische Angaben noch sonstige Hinweise auf Sekundärliteratur enthält, vergeblich suchen. Dennoch scheint nicht zuletzt Groethuysens Schlußbemerkung, es bleibe einer zukünftigen Generation vorbehalten, den möglichen Widerspruch zwischen der Idee der Volkssouveränität (und damit des Gemeinwohls) und den individuellen Persönlichkeits-

161

Ebd., 48. Die »französische Erklärung der Rechte ist im großen und ganzen den amerikanischen bill of rights oder declarations of rights nachgebildet worden« (ebd., 11). Was jedoch in Amerika historisch gewachsen und damit legitim sei, habe sich durch die »voreilige Rezeption fremder Institutionen« in Frankreich als politisch verheerend herausgestellt: »Was dort ein Moment im Prozesse der Konsolidierung war, wurde hier mit zur Ursache weiterer Zerstörung« (ebd., 23). 162 Ebd., 42. 163 Ebd., 26. 164 Vgl. stellvertretend: Troeltsch 1917.

165

48

Jellinek \S95, 4.

rechten, insbesondere dem Eigentumsrecht, zu lösen, darauf hinzudeuten, daß ihm Gierkes Kritik am BGB durchaus vertraut war. Was jedoch an Groethuysens Vorlesung von 1907 im Horizont der zeitgenössischen Debatten vor allem auffällt, ist seine im Unterschied zu Gierke und Jellinek stets positive Darstellung der Errungenschaften von 1789. Ängstliche Vorbehalte gegen Rousseau und die französischen Revolutionäre, wie man sie in Deutschland zu dieser Zeit nicht nur bei Gierke und Jellinek finden kann,166 fehlen in seiner Darstellung völlig. Eine Warnung vor der »zerstörerischen Staatslehre« eines Rousseau (Gierke) oder der revolutionären »Zerstörung« des Staatsfundaments (Jellinek) wird man bei Groethuysen vergeblich suchen. Er folgt auch nicht den Versuchen Gierkes und Jellineks, den positiven Gehalt der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 seines revolutionären Kontextes zu entkleiden und durch seine nachträgliche Germanisierung national »genießbar« zu machen. Für Groethuysen bleibt die Declaration des droits de l 'homme et du citoyen eine rein französische Angelegenheit, eine revolutionäre Tat des französischen Volkes, die über antike und zeitgenössische Vorbilder weit hinausging: Das Beispiel Amerikas legitimierte die Hoffnungen der Revolutionäre, aber das amerikanische Volk war zu weit weg, seine Lebensverhältnisse waren zu verschieden von den ihren, als daß die Franzosen es als Kampfgenossen betrachten konnten. Auch die Antike hatte Beispiele geliefert, von denen man sich leiten lassen konnte [...]. Hier fanden die Männer der Revolution einen Heroismus, der ihrem eigenen verwandt war. Das waren die Quellen, aus denen die Revolution bei der Schaffung einer neuen Gesellschaftsordnung schöpfen konnte. Aber all das waren eben nur Beispiele, ähnlich liegende Fälle, Überlieferungen - nicht das, was notwendig war, um die revolutionären Forderungen zu befriedigen.167

Denn das, »was Frankreich wollte,« so Groethuysen, »mußte es selbst verwirklichen. Frankreich hatte es nicht nötig, andere Länder nachzuahmen«.168 Groethuysen äußert sich damit aber nicht nur kritisch gegenüber der Vereinnahmungsstrategie Gierkes und Jellineks, sondern zugleich auch gegenüber der Methode einer rein ideengeschichtlichen Lesart, die meint, die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte auf ihre Theorie-Vorbilder vollständig zurückführen zu können, ohne den Prozeß ihrer revolutionären Radikalisierung gegen Ende des 18. 166

Adalbert Wahl qualifizierte in seiner Vorgeschichte der Französischen Revolution Rousseau folgendermaßen ab: »Er war ohne Zweifel moralisch wie geistig krank. Kaum brauchen wir uns an seine geschmacklosen Verirrungen erinnern« (Wahl, A. 1905, 136). Zum zeitgenössischen Bild der Französischen Revolution innerhalb der deutschsprachigen Historiographie vgl. Schmidt, H. 1990. ™ Groethuysen 1956a, 143. 168 Ebd., 142. Und zum Vorbild der nordamerikanischen Kolonien heißt es bei Groethuysen genauer: Die »Franzosen hatten in der Mehrzahl keine unmittelbare Anschauung von dieser neuen Entwicklung [...]. Für die Franzosen waren die Amerikaner Menschen einer anderen Welt, Kolonisatoren, die sich im Busch vorwärts arbeiteten und unter unbekannten Lebensbedingungen ein neues Land eroberten - Kolonisatoren, die auf einer neuen Erde eine mehr oder weniger dauerhafte Union verschiedener Staaten errichtet hatten« (ebd.). 49

Jahrhunderts ausreichend mit in den Blick zu nehmen. Denn für Groethuysen waren sämtliche theoriegeschichtlichen Vorläufer, einschließlich der Bill of rights und des Control social, letztendlich nichts anderes als bloße Eckpunkte und Angebote: Aus sich selbst heraus »führten [sie] nicht zu einer unmittelbar revolutionären Aktivität«,169 »sie waren nur Möglichkeiten, Wünsche, Träume in voneinander abweichenden Formen«.170 Groethuysen scheint hier - wenn auch wiederum unausgesprochen - der Kritik des französischen Staatswissenschaftlers Emile Boutmy, des Gründers der renommierten Pariser Ecole libre des sciences politiques, Folge zu leisten, der bereits 1902 in einer kritischen Besprechung der Thesen Jellineks von der methodischen »Irritation« gesprochen hatte, die ideengeschichtliche Untersuchungen bei ihm immer dann auslösten, wenn diese »den Ursprung von Ideen in anderen vorangegangenen Ideen« suchten, »unabhängig von den Veränderungen der Gesellschaft und sich entwickelnden neuen Bedürfhissen«.171 Denn das »Genie des Denkers«, so Boutmy, habe »nicht alles besorgt. Das soziale Milieu und die Umstände waren mindestens zur Hälfte mit daran beteiligt«.172 Und so glaubt er deshalb auch nicht, [...] daß die Ideen eines Luther, nachdem sie hundert Jahre übersprungen haben, sich in den Ideen Roger Williams173 wiederfinden lassen, dann, nachdem sie noch einmal ein Jahrhundert hinter sich gelassen haben, sich in den nordamerikanischen Erklärungen niedergeschlagen haben, von denen aus sie dann schließlich in die französische Bürgerrechtserklärung eingegangen sind.174

Auch für Groethuysen, der Boutmys Argumentation hier zu folgen scheint, muß die Suche nach den geistesgeschichtlichen Ursachen der Französischen Revolution tiefer ansetzen, als es eine bloße ideengeschichtliche Rekonstruktion ihrer wichtigsten Theorieelemente zu leisten vermag. Das eigentliche Interesse, so Groethuysen bereits in der Einleitung zu seiner Vorlesung von 1907, müsse sich vielmehr darauf richten, »wie bestimmte abstrakte Grundsätze eine konkrete Form annehmen, sozusagen zu lebendigen Bildern werden, die den Triebkräften des Wollens entsprechen und in gewisser Weise die Ziele verkörpern, denen die Menschen der Epoche zustreben«.175 Geistesgeschichte ist für Groethuysen daher weniger die Suche nach den Vordenkern als vielmehr diejenige nach den Bewußtseinsveränderungen innerhalb der breiten Masse. Denn bei der Formierung revolutionärer Ideen handelt es sich für Groethuysen im wesentlichen um eine »anonyme Entwicklung, bei der das Individuum, wenn es aus der Masse heraustritt, nur zum Ausdruck bringt, wie diese 169 170 171 172

173

Ebd., 114. Ebd. Boutmy 1902, 181. Ebd., 182.

Auf den Prediger Roger Williams, den Gründer der ersten Baptistengemeinde in Nordamerika, hatte sich Jellinek in seiner ideengeschichtlichen Rekonstruktion vor allem bezogen (vgl. Jellinek 1895, 35). 174 Boutmy 1902, 182. 175

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Groethuysen 1956a, 7.

Masse die Dinge begreift und empfindet«.176 Geistesgeschichte, darin folgt Groethuysen seinem Lehrer Dilthey, ist Ausdrucksgeschichte: Von der artikulierten Idee muß sie den Weg zurück zum fundierenden Erlebnis finden. Zugleich geht Groethuysen aber auch über Dilthey hinaus, der nur das Erlebnis der großen Dichter und Denker kannte, und fragt nach dem Erlebnis der breiten Masse: Als juristische Begriffe bleiben Mensch und Volk etwas Abstraktes, Unfaßbares, es sind allzu formale Begriffe, so daß ihr Gehalt nicht richtig sichtbar wird. Um seine Rechte zu fordern, muß der Mensch seiner selbst bewußt geworden sein, er muß seinen Wert als Mensch erkannt haben. Und wenn er Recht für sein Volk fordert, muß er fühlen, daß er ein Teil davon ist, daß das Volk etwas anderes ist als eine rein theoretische Konstruktion, die das Recht entwickelt hat. Er muß in Berührung mit dem Volk gewesen sein, muß dessen Leben mitgelebt haben. [...] Der Mensch in seiner ganzen Werthaftigkeit und das Volk als moralische Person werden so während der Revolution zu lebendigen Vorstellungen, erwerben einen affektiven Gehalt.177 Dilthey stand der Erweiterung seines eigenen hermeneutischen Ansatzes durch seinen Schüler, wie es scheint, wohlwollend und interessiert gegenüber. In einem undatierten Brief aus dem zeitlichen Umfeld der Habilitationsschrift Groethuysens schreibt er an diesen: Sie haben bis jetzt an der Geschichte der Revolution bis zum Abschluß der ersten Periode, dem Schluß der assemble nationale 1791 gearbeitet. Wenn ich Sie recht verstehe, so sind die Ergebnisse eine viel tiefere Auffassung der zwei zusammenwirkenden Faktoren der Bewegung. [...] Ich möchte dem Problem die folgende allgemeinste Fassung geben [...]. Wie entsteht eine Totalkraft in einer Nation, welche herrschend in ihr wird und eine neue Ordnung in der Welt der Objektivitäten, eine neue Kirche, einen neuen Staat und, mehr noch als das, ein neues Verhältnis jedes Einzelnen zur Organisation des Ganzen herbeiführt? [...] Man wird immer finden, daß ein Zusammenwirken von zwei Arten der Kräfte stattfindet. Die einen sind Spannungen, die aus mannigfacher Art von Defizits [sie!], von durch das Gegebene nicht erfüllten Bedürfhissen, von einer Ohnmacht in diesem Gegebenen, von Reibungen und Kämpfen, von Sehnsüchten hervorgegangen sind. Die anderen sind in der Ideenwelt gegründete Ideale allgemeiner Art. Man nennt sie wohl auch Theorien, verkennt aber schon durch diesen Ausdruck ihren wahren Charakter. Sie beruhen auf den Erlebnissen bedeutender Naturen, und wie diese Erlebnisse aus der Totalität unseres Wesens hervorgehen, aus der Vergangenheit wachsen, auf die Zukunft sich hinrichten, sich ihr entgegenwenden, sind sie Kräfte.178 Mit anderen Worten: Im Übergang vom Erlebnis zur revolutionären Idee, im Moment der theorieförmigen Artikulation von Sehnsüchten, Bedürfnissen und Spannungen wandelt sich diese zu einer geschichtsmächtigen Kraft, in der sich das Erleben der breiten Masse bündelt: 176c, ,

Ebd. Ebd., 187f. 178 Abschrift eines undatierten Briefes W. Diltheys an B. Groethuysen durch Sigrid von der Schulenburg (AABBAW, Nl. Paul Ritter 31); der Brief findet sich vollständig abgedruckt bei Böhringer 1978, 42ff. Teile dieses Briefes, darauf weist Böhringer hin (ebd., 161), sind nahezu identisch in Diltheys A u/bau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschqften eingegangen (vgl. Dilthey 1910, 165). 177

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Es ist mir nun ganz einleuchtend, daß Sie wirklich auf dem Wege sind, eine Antwort zu finden, welche zugleich die Antwort auf eines der größten geschichtsphilosophischen Probleme ist. Denn die quellenmäßige exakte Methode, die Probleme von der Umsetzung der historischen Kräfte in der Geschichte aus einer Form in die andere zu erkennen, liefern: das heißt die neue Geschichtswissenschaft begründen.™ Seine Vorlesung von 1907 konnte diesen Anspruch freilich nicht einlösen, sie konnte nur, wie Groethuysen selbst einschränkend zu Beginn seiner Ausführungen bemerkt, anhand einiger philosophischer Zeugnisse auf den tiefgreifenden Erlebniswandel in der damaligen Zeit hinweisen und die philosophischen Strömungen der Zeit in ihrer »symptomatischen Bedeutung«180 zu verstehen versuchen.181 Nun war Groethuysens Habilitationsschrift allerdings nur der erste Schritt hin zu einem größeren Werk über die geistesgeschichtlichen Voraussetzungen der Französischen Revolution, das er schon zum damaligen Zeitpunkt zu schreiben beabsichtigte, das jedoch erst zwanzig Jahre später unter dem Titel Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich erscheinen sollte.182 Doch schon 1907 schrieb er im Zusammenhang mit seinem Habilitationsgesuch: Winter 1904 begann ich ein größeres Werk über die Philosophie der französischen Revolution. Zunächst beschäftigten mich Studien über die Geistesentwicklung im 17. und 18. Jahrhundert vor der Revolution in Frankreich. Aus den Pamphleten und Zeitungen der Revolutionszeit suchte ich dann in Fortsetzung dieser Studien ein Bild zu gewinnen von den philosophischen Grundanschauungen in der Revolutionszeit selbst. In den Bibliotheken von Paris und Berlin bot sich mir hierfür ein reiches, zum größten Teil wissenschaftlich noch nicht berücksichtigtes Material. Meine Quellenstudien erstreckten sich auf die Zeit von 1787 bis 1795. Es wird meine Aufgabe sein, nach dem Ursprung und den Vorbedingungen der philosophischen Grundanschauungen in der französischen Revolution zu suchen.183 Zwei Jahre später äußert Groethuysen dann gegenüber einem französischen Freund, »ein kollektiv-psychologisches Buch« über die Revolution schreiben zu

17Q

Ebd., zit. nach Böhringer 1978, 43. Groethuysen 1956a, 8. 181 So folgt auch seine Darstellung letztlich im wesentlichen den Werken der bekannten Protagonisten der französischen Aufklärung, ohne dem selbstgesteckten Ziel einer Betrachtung der Geisteshaltung der breiten Masse wirklich gerecht zu werden. 182 Vgl. dazu unten Kapitel 3.1. 183 Lebenslauf zum Habilitationsgesuch von 1907 (Nl. O. Groethuysen, Familienbesitz). Entsprechend heißt es in Diltheys Gutachten über die Habilitationsschrift Groethuysens: »Diese Abhandlung ist Teil eines in der Ausarbeitung begriffenen größeren Werkes, welches die philosophischen Ideen zum Gegenstand hat, die als wirkende Kräfte den Verlauf der französischen Revolution bedingt haben. Dies Werk wird im ersten Band die Entstehung dieser Ideen vom 16. Jahrhundert ab entwickeln; der andere Band soll dann die Ideen der französischen Revolution in ihrer Wirksamkeit während derselben darstellen und schließlich zeigen, wie in ihrer immanenten Logik Momente enthalten waren, die zum heutigen französischen Staatswesen hinüberleiten« (Gutachten W. Dilthey, »Habilitationsakte B. Groethuysen«, UAHU, Phil. Fak. 1228, 227); vgl. Böhringer 1978, 44f. 180

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wollen, das weder rein empirisch noch rein theoretisch sein solle.184 Auch nach der Fertigstellung seiner Habilitationsschrift arbeitet Groethuysen also an seinem Werk über »den Ursprung und die Vorbedingungen« der philosophischen Anschauungen zu Beginn der Revolution weiter. Und so liest er als frischernannter Privatdozent an der Berliner Universität ausschließlich über Themen, die eng mit seinem wissenschaftlichen Vorhaben zusammenhängen.185 Seine Vorlesungen fallen dabei stets ins Wintersemester, während er die Sommermonate für ausgedehnte Archivrecherchen in Paris und in der französischen Provinz nutzt.186

4. »Weltanschauung« oder: Die Suche nach einer neuen Metaphysik Groethuysen hatte sich in den Jahren nach seiner Dissertation von der Psychologie zunehmend entfernt und im Umkreis Wilhelm Diltheys den Weg zur Geistesgeschichte gefunden. Dilthey, der sich selbst im Laufe der Jahre von seinen psychologischen Ambitionen getrennt hatte, begrüßte diese Interessenverlagerung seines Schülers ausdrücklich. In dem oben bereits zitierten Brief an Groethuysen heißt es zum Schluß: Ich begreife wohl, welche Gärung diese Erweiterung und zugleich Zentralisierung Ihrer Arbeit in Ihnen hervorruft. [...] Aber fürchten Sie nichts hierbei für Ihre philosophischen Lebensaufgaben! Was Sie tun, ist Philosophie, und eine neue Philosophie muß hierbei immer weiter sich ausbilden.187 Dilthey setzte um so mehr auf die geistesgeschichtlichen Arbeiten seines Schülers, als er das Deutungspotential der traditionellen Universitätsphilosophie nach dem »Untergang des Absoluten« für weitgehend erschöpft hielt. So sah er um 1900 »die Lage des gegenwärtigen Geistes« vor allem dadurch gekennzeichnet, daß in ihr »die metaphysische Kathederphilosophie zur schattenhaften Existenz geworden« sei und sich »die leeren Möglichkeiten metaphysischer Konzeptionen« allein schon durch »die Anarchie, in welcher sie sich befehden, als wirkungslose Kathederweisheit« und »philosophischer Katzenjammer« entpuppten.188 Dilthey stand mit seiner Kritik an der »Kathederweisheit« der deutschen Universitätsphilosophie um 1900 keineswegs allein. Spätestens seit Nietzsche und der Popularisierung seiner Ideen durch Autoren wie Paul de Lagarde oder Julius Langbehn hatte sich im deutschen Kaiserreich die Kritik am modernen Wissenschaftsbetrieb zu einem blühenden literarischen Topos entwickelt, der nicht nur innerhalb 184

Vgl. Du Bös 1981, 62 (Tagebucheintrag vom 30.7.1909). So z.B. im WS 1909/10 über »Das Naturrecht und die historische Schule«, im WS 1910/11 über »Rechtsphilosophische Probleme« und im WS 1913/14 über »Die Französische Philosophie des 18. Jahrhunderts« (Angaben nach den Vorlesungsverzeichnissen der (Königlichen) Friedrich-Wilhelms-Universität (1907-1936)). 186 Vgl. dazu die Briefe Groethuysens an seine Mutter vom 4.5.1911 und 9.10.1912 (Nl. O. Groethuysen, Familienbesitz). 187 W. Dilthey an B. Groethuysen, undatiert; zit. nach Böhringer 1978, 44. 188 Z>i7//ie>>1931c,200. 185

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des intellektuellen Feldes gern bemüht wurde, sondern darüber hinaus auch immer dann, wenn es darum ging, in der Öffentlichkeit modernitätsfeindliche, antidemokratische und nicht selten auch antisemitische Ressentiments zu schüren.189 Wie erfolgreich Wissenschaftskritik in solch ressentimentgeladener Absicht sein konnte, zeigte beispielsweise der 1890 von Langbehn anonym veröffentlichte Bestseller Rembrandt als Erzieher, der bereits ein Jahr später in der achtunddreißigsten Auflage vorlag.190 Langbehn, ein akademisch gescheiterter Archäologe, wetterte in diesem Pamphlet, dessen nationalistischer und antisemitischer Tenor in den späteren Auflagen immer deutlicher zutage trat, lautstark gegen den vermeintlichen Ausverkauf der deutschen Bildung und den Niedergang der Universität. Der Hauptschuldige für den Verfall der deutschen Kultur ist für Langbehn schnell ausgemacht: Es ist der moderne Wissenschaftler, der »Professor«, wie Langbehn ihn nennt, und sein Sitz ist die Universität Berlin: »Berlin ist die Stadt der Intelligenz«,191 die »Berliner Bildung« eine »Bildung auf rein wissenschaftlicher oder noch genauer gesagt: auf rein verstandesmäßiger Basis«.192 Der Gelehrte, der »Berliner Professor« - Langbehn nennt Du Bois-Reymond, Mommsen und Ranke -, wird für ihn damit zur Negativfolie des von ihm konstruierten Idealbildes einer vollständig ausgebildeten Künstlerpersönlichkeit, die er in dem »Niederdeutschen« Rembrandt meint ausmachen zu können.193 Denn dieser zeichne sich durch eine feste und in sich geschlossene »Weltanschauung« aus, durch ein »Gefühl für den direkten Zusammenhang der einzelnen und einzelnsten natürlichen wie menschlichen Erscheinungen«, ein Gefühl, das dem deutschen »Professor« in seiner Spezialistenexistenz durchgängig verloren gegangen sei.194 Wie reagieren nun die Angegriffenen, die deutschen »Professoren«, auf diesen Ruf nach mehr weltanschaulicher Ordnung, der sich um 1900 nicht nur bei Langbehn und seinen Lesern vernehmen ließ?195 Der Großteil wird sich vermutlich unbeeindruckt gezeigt haben und seinen wissenschaftlichen Alltagsgeschäften auch weiterhin ungestört nachgegangen sein. Andere, wie der Jenaer Philosoph und spätere Literaturnobelpreisträger Rudolf Eucken, werden hingegen versuchen, den Ruf nach mehr Orientierung aufzunehmen und durch den Entwurf einer »neuen 189

Vgl. dazu immer noch die mittlerweile klassische Studie von Stern 1961. Langbehn 1890. Zu Erfolg und Stoßrichtung des Buches vgl. Stern 1961, 190ff. 191 Langbehn 1890, 114. 192 Ebd., 113. 19 »Wie es überhaupt keine Persönlichkeit giebt, welche dem echten Künstler mehr entgegengesetzt ist als der echte Professor, so giebt es wohl keinen größeren Gegensatz zu dem typischen Berliner Professor von heute als den typischen niederländischen Maler von einst. Dort geistige Gebundenheit, kühle Kritik, kennerhaftes Rückwärtsblicken; hier geistige Freiheit, frisches pulsierendes Leben, mannhaftes Umsichblicken; hier der Homunculus in und neben seiner Retorte, dort der Mensch, welcher der Welt schöpferisch gegenübersteht« (ebd., 109). 194 Ebd., 57, 60. 195 Zur Geschichte des Weltanschauungsbegriffs und seiner wissenschaftskritischen Popularisierung um 1900 vgl. Meier 1968, 201 ff. 190

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Lebensanschauung« publikumswirksam zu beantworten.196 Wieder andere, wie etwa Max Weber, werden indes gegen die selbsternannten Weltanschauungspropheten zu Felde ziehen und den Anspruch auf umfassende Daseinsorientierung als ideologische Überfrachtung des modernen Wissenschaftsbetriebs zurückweisen.197 Wilhelm Dilthey und der Kreis seiner Schüler nimmt nun gewissermaßen eine mittlere Position ein zwischen dem Anspruch auf weltanschauliche Führerschaft im Sinne Euckens und der resignativ-defensiven Stellung Max Webers. Dies wird besonders deutlich in einem 1911 erschienenen Sammelband mit dem bündigen Titel Weltanschauung, in dem neben Beiträgen von Paul Natorp, Ernst Troeltsch, Georg Simmel u.a. die Dilthey-Schule mit Arbeiten von Dilthey selbst, aber auch seiner Schüler Georg Misch, Bernhard Groethuysen und Eduard Spranger vertreten ist.198 Der Herausgeber, Max Frischeisen-Köhler, selbst ein langjähriger DiltheySchüler,199 schreibt über das gemeinsame Anliegen der in dem Band vertretenen Autoren: Die in diesem Bande vereinigten Aufsätze wollen dem Bemühen unserer Zeit um eine einheitliche Welt- und Lebensbetrachtung dienen. Nach einer langen Epoche bewußter Entsagung und Abwendung von metaphysischen und religiösen Problemen wagen wir uns wieder den Fragen, an denen nun einmal das Herz hängt [...], zu nähern.2

Diese Herzensfragen, so Frischeisen-Köhler, richteten sich weniger auf die Einzelerkenntnisse der »selektiven« Wissenschaft als vielmehr auf deren Zusammenhang, denn das »Verlangen, die Fragmente und Bruchstücke, die der Mensch in seiner Hand hält, zu einem sinnvollen Ganzen zu ordnen«, sei »unausrottbar«,201 und so entstehe auch heute »für uns aufs neue das alte Problem, ein abschließendes Bild der Welt und des Lebens zu gewinnen«.202 Doch trotz aller Sehnsucht nach dem durchgehenden Sinn gelte für die Autoren des Bandes, so Frischeisen-Köhler weiter, daß »für immer Spekulationen der Art, wie sie am Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden und die Welt berauschten, gerichtet« seien:203 Die Aufteilung der Wissenschaftsarbeit, die Andacht zum Kleinen und zum Tatsächlichen, die wir jahrzehntelang gepflegt, die uns unser naturwissenschaftliches Weltbild

1

Vgl. Eucken 1907. Zu Euckens neoidealistischer Philosophie, deren Verehrer sich 1920 im sogenannten Eucken-Bund zusammenschlössen und so gewissermaßen eine Gegenformation zu dem von Euckens Jenaer Kollegen Ernst Haeckel angeführten Monistenbund bildeten, vgl. Graf1991. Zu Haeckel und dem Monistenbund siehe Hübinger 1997a und Drehsen/Zander 1996. 197 Vgl. dazu Webers berühmten Vortrag Wissenschaft als Beruf, in dem er sich mit deutlichen Worten von der Zumutung geistig-moralischer Führerschaft distanzierte (Weber, M. 1917/1919). 198 Vgl. Frischeisen-Köhler 191 Ib.

199

200

201

Vgl. dazu die Danksagung in Dilthey 1906a, 5. Frischeisen-Köhler 1911a, IX.

Ebd. Ebd., X. 203 Ebd., IX. 202

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wie unser historisches Bewußtsein geschaffen haben, können wir nicht mehr preisgeben.204 Der Weg zu mehr Daseinsorientierung könne deshalb nicht jenseits moderner, wissenschaftlicher Rationalität gesucht werden, sondern müsse durch diese hindurch. Das moderne Bewußtsein gestatte »uns nicht mehr, sogleich in das Wasser zu tauchen, um zu schwimmen«;205 es bedürfe vielmehr, wie Frischeisen-Köhler abschließend formuliert, »männlicher Reife, zuvor die Kräfte abzuschätzen, nach allen Seiten hin den Blick zu wenden, um das Mögliche von dem Unmöglichen zu trennen«.206 Diesem Anliegen, dem Bedürfnis nach weltanschaulicher Daseinsorientierung mit Hilfe geisteswissenschaftlicher Reflexion auf halbem Wege entgegenzukommen, sind nun auch die übrigen Beiträge der Dilthey-Schule zum Weltanschauw«g5-Band von 1911 verpflichtet. Dilthey selbst gibt dazu den Auftakt, indem er sich in seinem Einleitungsaufsatz über Die Typen der Weltanschauung um eine genetische Theorie ihres Aufbaus und damit um ihren »Sitz im Leben« bemüht.207 Denn die »letzte Wurzel der Weltanschauung ist das Leben«, so Dilthey,208 und an diesem entzünde sich immer wieder von neuem die Frage nach dem Sinn der Welt. So bleibe das [...] Antlitz des Lebens [...] im ganzen vollkommen rätselhaft. [...] Der Mittelpunkt aller Unverständlichkeiten sind Zeugung, Geburt, Entwicklung und Tod. Der Lebendige weiß vom Tod und kann ihn doch nicht verstehen.209 Je nachdem, wie nun der Mensch das »Rätsel des Lebens«, d.h. die existentielle »Lebenserfahrung« empfinde, bilde er feste affektive »Stimmungen dem Leben« gegenüber aus.210 Solche »Lebensstimmungen«, etwa Optimismus oder Pessimismus, konstituieren nach Dilthey die basale Schicht,2" auf der sich die späteren »Weltanschauungen« in den kunstvoll artikulierten Gestalten von Religion, Metaphysik und Dichtung erhöben und ihre »Versuche der Auflösung der Lebensrätsel« darböten.212 Da nun, wie Dilthey weiter ausführt, »die menschliche Natur immer dieselbe ist, so sind auch die Grundzüge der Lebenserfahrung allen gemeinsam«,213 denn jeder Mensch ist stets von neuem mit dem »Rätsel des Lebens« konfrontiert. »Jede einzelne Lebensäußerung« des Menschen stelle daher im objektiven Geist ein »Ge204 Ebd. 205

Ebd., VIII. Ebd. 207 Vgl. Dilthey 1911, hier zitiert nach der von Groethuysen besorgten Ausgabe in Band VIII der Gesammelten Schriften. 208 Ebd., 78. 209 Ebd., 80. 210 Ebd., 81. 211 Ebd., 82. 212 Ebd. 213 Ebd., 79. 206 n. j

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meinsames« dar.214 Doch dieses »Gemeinsame« im jeweiligen Erlebnis verschwinde gleichsam sofort wieder hinter der historisch bedingten Gestalt des jeweiligen Ausdrucks. Denn sobald sich das Erlebnis im objektiven Ausdruck nach außen kehre, beginne, wie Dilthey an anderer Stelle sagt, das »Werk der Geschichte«: die »Differenzierung«.215 So äußere sich die »Lebenserfahrung« des Menschen im Laufe der Geschichte in immer neuen und wechselhaften Formen und Gestalten, in einer Mannigfaltigkeit, deren Einheit geschichtsphilosophisch nicht mehr verbürgt werden könne. Die Geschichte kenne deshalb nur, wie es in Diltheys Aufsatz von 1911 heißt, »immer neue Kombinationen von Lebenserfahrung, Stimmung, Gedanken«;216 die Einheit des objektiven Geistes, die für Hegel noch selbstverständlich war, könne sie hingegen nicht mehr verbürgen. Denn jede einzelne »Weltanschauung«, die die Menschheit im Laufe ihrer Geschichte hervorgebracht habe - Dilthey ordnet sie nach drei Gruppen in »Naturalismus«, »Idealismus« und »objektiven Idealismus«217 -, bezeichne nur einen partiellen Aspekt des Lebens, nie das ganze, und so artikuliere sie auch nur eine der vielen Haltungen dem Leben gegenüber, dessen Totalität das Denken nicht zu fassen vermöge. Treten die einzelnen »Weltanschauungen« hingegen mit dem Anspruch auf, das Leben als ganzes deuten zu wollen, so wandeln sie sich laut Dilthey zu haltlosen metaphysischen Spekulationen.218 An die Stelle einer theoretisch »geschlossenen und festen Weltanschauung«, wie Langbehn und andere sie um die Jahrhundertwende gefordert hatten, tritt bei Dilthey daher der Respekt vor der Vielfalt möglicher »Weltanschauungen« und den Überresten, die von diesen historisch geblieben sind. Das Bedürfnis nach »Weltanschauung«, nach der Auflösung der großen Lebensrätsel, erfährt bei Dilthey somit seine volle Anerkennung und anthropologische Würdigung, doch der Möglichkeit, dieses Bedürfnis langfristig und umfassend zu stillen, steht er mehr als skeptisch gegenüber: Das »metaphysische Bewußtsein der Person ist ewig«, so heißt es am Ende der Einleitung in die Geisteswissenschqften,219 doch »Metaphysik als Wissenschaft ist unmöglich«.220 Genau an diesem Punkt, der Spannung zwischen dem unstillbaren Bedürfnis des Menschen nach Metaphysik einerseits und der Unmöglichkeit einer geschlossenen metaphysischen »Weltanschauung« andererseits, setzt nun auch der Beitrag Bernhard Groethuysens zum Welianschauungs-Band von Frischeisen-Köhler ein. In 214

Ders. 1910, 146; zu Diltheys Aufnahme des Hegeischen Begriffs des »objektiven Geistes« vgl. oben S. 41. 215 Ders. 1931b, 16. 216 Ders. 1911,85. 217 Ebd., 94ff. 218 Die großen Weltanschauungen, so Dilthey an anderer Stelle, stünden unversöhnlich nebeneinander, da sich in jeder von ihnen nur »eine Seite des Universums« ausdrücke: »Jede ist hierin wahr. Jede ist aber einseitig« (ders. 1931c, 222). Werde dies vergessen, dann werde aus einer Weltanschauung pure Spekulation: Denn erst die »Verselbständigung ist es, was ein System zur Metaphysik macht« (ders. 1931 b, 8). 219 Ders. 1883,386. 220 Ebd., 402.

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seinem Aufsatz mit dem Titel Das Leben und die Weltanschauung™ seiner ersten größeren Veröffentlichung seit der Dissertation von 1904, nimmt Groethuysen, hierin Dilthey folgend, seinen Ausgangspunkt zunächst in einer genetischen Theorie von »Weltanschauung«. Denn auch für Groethuysen vollzieht sich der Aufbau von relativ stabilen Welt- und Selbstbildern über mehrere »Stufen der Aneignung«,222 durch die der Mensch die ihn umgebende Welt mit Sinn erfüllt. Im einzelnen unterscheidet Groethuysen als erste Stufe die »Bedeutung«, d.h. den Bezug eines Gegenstandes zum eigenen Leben, dann die »Bedeutsamkeit«, mit der die bedeutungstragenden Elemente des Lebens untereinander geordnet werden, dann ihren jeweiligen »Wert« als positive oder negative Würdigung und schließlich den »Sinn«, der sich so aus der Verknüpfung der verschiedenen Lebenserfahrungen für das Leben insgesamt ergibt.223 Der so beschriebene Aneignungsprozeß der Welt läuft für Groethuysen nun keineswegs notwendigerweise bewußt und reflektiert ab. Im Gegenteil, das Resultat dieser ursprünglichen Weltaneignung ist zunächst vielmehr eine Art unreflektierter Alltagsverstand: [...] es ist das eigentlich Selbstverständliche für den Menschen, das, wonach er nicht fragt. Dieses alles hat ja bestimmte Beziehungen zu seinem Leben erhalten, ist charakterisiert durch bestimmte Lebensbedeutungen, es ordnet sich kraft seiner eigenen Lebensregelung. Es ist sein tägliches Leben, das absolut Gewisse, das, woran er nicht zweifeln kann.22r

Diese zumeist unartikulierte und latent gehaltene »Weltanschauung« des Alltagsverstands gibt nach Groethuysen dem Menschen Sicherheit in seinen Lebensvollzügen; sie ist gewissermaßen das Gerüst, das seine Lebensgeschichte trägt: In all der Fülle der Geschehnisse, in dem Fluktuieren des Lebens bleiben wir sicher und gewiß unserer selbst und der Dinge, solange wir in lebendiger Gemeinschaft verbleiben mit alledem, was uns umgibt, dieses alles immer wieder durch die unmittelbare Beziehung zum Leben seinen Sinn und seine Bedeutung erhält.225

Diese »Lebensgewißheit«,226 so Groethuysen weiter, werde nun durch die Reflexionstätigkeit des Denkers, des »Metaphysikers«, der hinter die vordergründige Welt des Alltags schauen will, empfindlich gestört: Die metaphysische Selbstbesinnung hebt die Sicherheit der Lebensattitude auf. Die Gewißheit, in der wir leben, hält nicht stand, wenn wir über das Leben selbst nachsinnen.

221

Vgl. Groethuysen 191 la. Ferdinand Fellmann (1991, 189ff.) hat vor einigen Jahren auf diesen heute vergessenen Text wieder hingewiesen, ihm zugleich jedoch einen »ausgesprochen psychologischen Charakter« (ebd., 192) attestiert, der m.E. allerdings in Diktion und Anlage des Textes ebensowenig zutage tritt wie der von Fellmann vermutete »direkte Angriff auf den phänomenologischen Philosophiebegriff« (ebd., 189). 222 Groethuysen 191 la, 57. 223 Ebd.,55ff. 224 Ebd., 58. 225 Ebd., 60. 226 Ebd., 58. 58

Besinnen wir uns auf uns und auf das, was uns umgibt, stellen wir uns dem allen gegenüber, suchen wir es zu überschauen, so wird es uns zu etwas Fremdem.227

Der »Metaphysiker«, der es mit dem metaphysischen Bedürfnis des Menschen, mit seiner Suche nach dem durchgehenden Sinn, ernst meint, wird für Groethuysen so schließlich zum Fremden und Fragenden in seiner eigenen Welt: So wird das, was in der Lebenserfahrung ein Selbstverständliches war, in der metaphysischen Selbstbesinnung zu etwas Fremdem, das, woran wir hängen, worauf wir unser Leben aufbauen, ein Schein, die Gewißheit, mit der wir von alledem sprechen, eine Täuschung.228

Das, was den »Metaphysiker« für Groethuysen somit auszeichnet, ist seine dem Leben und dem Alltagsverstand gegenüber kritische Haltung. Angetrieben von einer inneren »metaphysischen Sehnsucht«229 treibe er die Frage nach dem Sinn der Welt beständig über die allzu einfachen Antworten der Weltanschauungsphilosophen hinaus: Das Ideal des metaphysischen Strebens nach Lebenswahrheit wäre erreicht in der Einreihung alles Einzelnen in die durch universale Gesichtspunkte bestimmte Lebensgliederung [...]. Doch niemals ist dieses Ideal ganz erreichbar in einem Einzelleben. Immer bleibt etwas in der Lebenserfahrung, was außerhalb bleibt, was sich nicht unterordnet diesem Prinzip. Immer geht es daneben einher, das Andere, das Fremde.230

Die Aufgabe des »Metaphysikers« besteht für Groethuysen somit also gerade nicht in der Konstruktion geschlossener Weltbilder und umfassender »Weltanschauungen«. Im Gegenteil: Sein Dienst am Gedanken besteht darin, an das Unabgeschlossene des Denkens zu erinnern und dem, was noch aussteht, nachzustellen.

5. Georg Simmel, Henri Bergson und die »Intuition« als Methode Dilthey wird der Forderung nach einer neuen, kritischen Metaphysik, wie sie im Beitrag seines Schülers Groethuysen zum Weltanschauungs-Band von 1911 anklingt, vermutlich eher skeptisch gegenübergestanden haben, hielt er die Metaphysik mit dem Aufstieg der modernen Geisteswissenschaften doch für überwunden. Zustimmung mag Groethuysen eher von einem anderen Mitautor des Weltanschauungs-Bandes erfahren haben: von Georg Simmel.231 Denn auch in dessen 227

Ebd., 60.

"Ebd., 64. 229 Ebd., 74.

230 ., - · Ebd., 76. 231

Georg Misch berichtet, Dilthey habe Groethuysen einmal vor die Frage gestellt: »Aber an die Metaphysik glauben doch auch Sie nicht? Es war eine heikle Frage, da Dilthey von seinem Kantschen wie von seinem positivistischen Ausgangspunkte her ein ausgesprochener Antimetaphysiker war und an dieser Stellung auch festhielt, als Simmel, der auch als Positivist, ja als Anhänger Spencer's begonnen hatte, bereits die modernen philosophischen Tendenzen als >Metaphysik< des Lebens bezeichnete. Es war eine Frage 59

Beitrag zum Sammelband von Frischeisen-Köhler kommt der »metaphysischen Sehnsucht« des Menschen zentrale Bedeutung zu. So habe trotz Aufklärung und Religionskritik, wie Simmel meint, ein unabgegoltenes »Bedürfnis« nach Transzendenz im Seelenleben des modernen Menschen »überlebt«, das allerdings »durch die grundsätzliche Aufhebung der Glaubensinhalte gelähmt und wie vom Wege zu seinem eigenen Leben abgeschnitten« scheine.232 Eine Rückkehr in die metaphysische Verzauberung der Vormodeme durch die Reaktivierung geschlossener »Weltanschauungen« hält jedoch auch Simmel nicht für möglich.2" Anstatt eine Heimstatt der Transzendenz jenseits des modernen Lebens zu suchen, müsse vielmehr dieses selbst seinem Wesen nach als ein beständiges »Transzendieren seiner selbst« verstanden werden, wie Simmel an anderer Stelle schreibt.234 Denn das Leben dränge nicht nur nach einem beständigen »Mehr-Leben«, sondern zugleich auch nach einem »Mehr-als-Leben«.235 In jedem Erlebnis, so Simmel, [...] ist noch etwas anderes dabei, das Unaussprechbare, Undefinierbare, das wir an jedem Leben als solchem fühlen: daß es mehr ist als jeder anzugebende Inhalt, daß es über jeden hinausschwingt.236

Genau dies macht fiir Simmel den »metaphysischen Trieb« des Menschen aus,237 von dem die religiösen und philosophischen »Weltanschauungen« überhaupt erst ihren Impuls erfahren. So versteht schließlich auch Simmel unter »Metaphysik« ganz ähnlich wie Groethuysen - die Lebendigkeit eines Denkens, das beständig über seinen eigenen Horizont hinausgetrieben wird. An die Stelle der »Metaphysik als Dogma« tritt bei ihm daher eine »Metaphysik als Leben«,238 die - und hier lehnt sich Simmel an Dilthey an - in einem vorrationalen »Erlebnis« ihren Ursprung findet. Denn das Leben, darin stimmen Simmel, Dilthey und Groethuysen überein, ist »der Ausdruck für unser ganz primäres Weltverhältnis, mit ihm fängt also, absolut genommen, auch die Erkenntnis an«.239 des Sprachgebrauchs« (Misch 1946/1947, 122); zu Diltheys Metaphysik-Kritik vgl. bereits Dilthey 1883, 130ff. 232 Simmel, G. 191 lb, 331. 233 So schreibt Simmel bereits 1890 in einer Besprechung von Langbehns Rembrandt als Erzieher. »Noch nie habe ich so landläufige und zum großen Theil unbedeutende Grundgedanken mit so sprühendem Geist und origineller Sprechweise vorbringen hören [...]; noch nie eine so einseitige Weltanschauung mit einem solchen Aufwande umfassenden Denkens und vielseitiger Kenntnisse vertheidigen.« Und ähnlich wie Dilthey wendet Simmel bereits an dieser Stelle ein, daß »es keine allgemeine Aussage über die Gegenwart gibt, die ganz richtig [...] wäre, weil die unermeßliche Mannigfaltigkeit des Seins [...] nicht durch einen einheitlichen Satz zu erschöpfen ist [...]« (ders. 1890,232). 234 Ders. 1918,228. 235 Ebd., 229ff. 236 Ebd., 231. 237 Ders. 191 la, 163. 238 Ebd., 165. 239 Ders. 1917/1918, 150. Zur sachlichen Nähe und Differenz zwischen Dilthey und Simmel vgl. Gerhardt 1971. 60

Trotz dieser Nähe zum Erlebnisbegriff DiItheys und seines Beitrags zum Weltanschauungs-Band von Frischeisen-Köhler wird man Georg Simmel kaum zum engeren intellektuellen Umfeld Diltheys zählen können. Denn obwohl beide lange Zeit gemeinsam an der Berliner Universität lehrten, führten institutionelle wie persönliche Differenzen schließlich dazu, daß - zumindest aus der Sicht Simmels - die Gegensätze zwischen den beiden »Lebensphilosophen« ihre Gemeinsamkeiten bei weitem überwogen.240 So schreibt Simmel, der sich 1884 unter erheblichen äußeren Schwierigkeiten an der Berliner Universität habilitiert hatte, aber noch zehn Jahre später über den Status eines Privatdozenten nicht hinausgekommen war, 1894 an seinen Verleger: »Der Grund dieser auffälligen Zurücksetzung liegt in dem gespannten Verhältnis zwischen mir und dem bisher einzig entscheidenden Mitgliede der Fakultät«,241 womit nur Wilhelm Dilthey gemeint sein konnte.242 Das asymmetrische institutionelle Verhältnis zwischen dem alten Ordinarius Dilthey und dem fünfundzwanzig Jahre jüngeren Simmel, der erst nach langer Zeit des Wartens im Jahr 1900 zum außerordentlichen Professor ernannt wurde,243 schlug sich nicht zuletzt auch im unterschiedlichen Habitus nieder, mit dem sie vor ihre Studentenschaft traten. So schreibt Paul Fechter, der sowohl Simmels Vorlesung als auch Diltheys Seminar besuchte: Dilthey war in vielem ein Gegenstück zu Simmel. Er war klein, schmal, füllte mit seiner leisen Stimme kaum den Raum des Collegium maximum, in dem er las; [...]. Sein Kolleg war sehr anstrengend, nicht weil er so viel voraussetzte und forderte: da ging Simmel viel weiter, der grundsätzlich Daten und Tatsachen überging und nur von Menschen und Werken als geistigen Phänomenen sprach.244

Und Ludwig Curtius, der ebenfalls beide gehört hatte, erinnert sich: Ein paarmal hörte ich als Gast bei W. Dilthey. [...] Aber Dilthey, ein rundlicher mittelgroßer Mann mit gerötetem Gesicht und kurzgehaltenem Vollbart, der so schlicht, beinahe jovial daherkam, hatte äußerlich nichts Bestechendes. Er trug nicht frei vor, sondern las die sorgfältig stilisierte Prosa seines Manuskripts mit einem gewissen Pathos, das mich befremdete. Ich ging lieber zu dem Privatdozenten Georg Simmel, um den damals eine gewisse geistige Elite Berlins versammelt war. Der zarte, blasse, so vergeistigte Mann auf dem Katheder, der, während er mit zögernder Stimme etwas singend die komplizierte Dialektik seiner Gedanken entwickelte, immer mit einem Bleistift

240

Vgl. dazu vor allem Köhnke 1989; ders. 1996, 380-397. Zit. nach ders. 1989,302. 242 Denn Eduard Zeller, neben Dilthey lange Zeit der einzige Ordinarius für Philosophie in Berlin - an dem übrigens Simmels erster Habilitationsversuch gescheitert war (vgl. Landmann 1958,21)-, wurde noch im gleichen Jahr emeritiert (zu weiteren Hinweisen auf das gespannte Verhältnis zwischen Dilthey und Simmel vgl. Köhnke 1989, 318). Simmels verbitterte bis ironische Distanz zu den beiden Ordinarien tritt in einer spöttischen Bemerkung zutage, die der Simmel-Schüler Paul Ernst überliefert hat, dem Simmel einmal anvertraut haben soll, »daß Zeller überhaupt nicht wisse, was Philosophie sei, und Dilthey wisse es zwar, verrate es aber keinem Menschen« (Ernst 1931, 141). 243 Zur Biographie Simmels vgl. immer noch Landmann 1958. 244 Fechter 1948, 162. 241

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spielte, der genau so scharf zugespitzt war wie seine Argumente, erschien mir wie ein moderner Spinoza.245

Zu den Grenzgängern zwischen Dilthey und Simmel gehörte damals auch Bernhard Groethuysen, der, wie Margarete Susman später berichtet, schließlich sogar zum »Lieblingsschüler« beider wurde.246 Zusammen mit Margarete Susman, Ernst Bloch und anderen genoß Groethuysen den Vorzug, an Simmels Privatseminar teilnehmen zu dürfen, das dieser einmal in der Woche abends in seiner Villa im Berliner Westend veranstaltete.247 Ein weiterer Gast dieser jours fixes, Ernst Robert Curtius, erinnert sich später: Der einzige Mann, der neben Simmel geistig zur Geltung kam, war der junge Bernhard Groethuysen. Er stand Dilthey und Simmel gleich nahe. Die philosophischen Aphorismen seiner Konversation schienen ein völlig neuartiges denkerisches Werk vorauszukünden.248

Diesen Eindruck bestätigt auch Hans Simmel, der berichtet, sein Vater habe mit Groethuysen »wohl mehr und intensiver zusammen philosophiert als mit irgend jemand anderem sonst«,249 und dies, wie Arthur Stein ergänzt, obwohl Simmel nie verstehen konnte, »daß so ein gescheiter Mann so auf Dilthey schwört«.250 In den gemeinsamen Gesprächen zwischen Simmel und Groethuysen wird es vermutlich nicht selten auch um die neue »Metaphysik als Leben« gegangen sein, die beiden vorschwebte. In einem Manuskriptfragment, das sich heute im Nachlaß Margarete Susmans befindet, skizzierte Groethuysen bereits 1908 die Grundzüge seiner neuen »Metaphysik«, die er später in seinem Beitrag zum Sammelband von Frischeisen-Köhler näher ausführen wird. In deutlicher Anlehnung an Simmels Motiv des »Fremden«251 schreibt er hier: Der Philosoph liebt das Nahe und Ferne des Lebens. Er liebt das Vergangene als Vergangenheitsein; er liebt den Traum als nur erträumt. Er liebt das rauschende Tönen, das leise Verklingen, das Widerklingen des Lebens. Fremde Lebensweisen klingen in sein Leben; er liebt das Fremde, Lebensweisen vergangener Zeiten, Lebensweisen derer, die mit ihm sind [...]. Und Lebensträume ohne Zahl klingen herein, und ohne Grenzen wird ihm seine Lebenswelt.252

Groethuysen wird sich mit dieser Skizzierung des Philosophen als eines Träumenden, der zugleich die »Lebensweisen vergangener Zeiten« wie die »Lebensweisen 245

Curtius, L. 1950,138. Susman 1964, 65. 247 Vgl. dazu ebd., 52. ™ Curtius, E. R. 1952,500. 249 Simmel, H. 1976,255. 250 Zit. nach Landmann 1976, 274. Und Margarete Susman berichtet sogar folgenden Ausspruch Simmels über Groethuysen: »Der wird ein größerer Philosoph werden als ich« (Susman 1957, 286). 251 Vgl. dazu oben S. 17. 252 Das abgebrochene Manuskript trägt weder Titel noch sonstige Angaben, allerdings einen handschriftlichen Zusatz Groethuysens mit dem Datum 7.12.08 (DL, Nl. M. Susman, A: 32). 246

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derer, die mit ihm sind«, vernimmt, der also das Zusammensein von nah und fern deutlicher erlebt als andere Menschen, durchaus in Übereinstimmung mit dem geistesgeschichtlichen Ansatz Diltheys gefühlt haben. Simmel, der sich, wie wir bereits gesehen haben, von Dilthey hingegen zurückgesetzt fühlte, konnte diese Nähe freilich nicht empfinden. Er selbst wählte daher auch nicht Dilthey zu seinem Gewährsmann, sondern den französischen »Lebensphilosophen« Henri Bergson, mit dessen Werk er sich nach der Jahrhundertwende intensiv beschäftigt hatte.253 In der Tat hatte Bergson 1903 in seiner Introduction a la metaphysique das Programm einer kommenden Philosophie entwickelt, das Simmels eigenen Vorstellungen einer neuen Metaphysik sehr entgegenkam. Grundlage dieser neuen Metaphysik, die sich ganz dem elan vital, dem Leben und dem lebendigen Bewußtseinsstrom, verschreiben sollte, war nach Bergson die »Intuition«, die die starre und festgezurrte Begrifflichkeit herkömmlicher Metaphysik und Erkenntnistheorie gleichsam wieder »verflüssigen« und an die »innere Dauer« und Bewegtheit des Erlebnisses zurückbinden sollte. So bezeichnet »Intuition« bei Bergson genau »jene Art von intellektueller Einfühlung, kraft derer man sich in das Innere eines Gegenstandes versetzt, um auf das zu treffen, was er an Einzigem und Unausdrückbarem besitzt«.254 Dieses »Unausdrückbare« am Gegenstand bzw. an seinem Erlebnis ist nun aber, so Bergson weiter, nichts anderes als das Erkenntnissubjekt selbst, und zwar in seiner zeitlichen Verfaßtheit, d.h. es ist »unsere eigene Person in ihrem Verlauf durch die Zeit. Es ist unser Ich, das dauert«.255 Diese letztlich kaum zu artikulierende tiefste Erlebnisschicht des Menschen - die duree, wie Bergson sie nennt - lasse sich erst dann erfassen, wenn man im Modus der einfühlenden »Intuition« auf die standardisierte und feste Begrifflichkeit herkömmlicher Erkenntnistheorie, die nach dem Generellen und Zeitlosen in unserem Bewußtsein frage, vollständig verzichte: Die »Metaphysik« sei vielmehr [...] nur dann ganz sie selbst, wenn [...] sie sich von den starren und fertigen Begriffen befreit, um Begriffe zu bilden, die ganz verschieden sind von denen, die wir gewöhnlich handhaben; ich meine geschmeidige, bewegliche, fast flussige Vorstellungen, die immer bereit sind, sich den flüchtigen Formen der Intuition anzubilden.256

Die Nähe zu Simmels und Groethuysens Versuch einer Neubegründung der »Metaphysik« liegt auf der Hand: Wie Simmel, so versucht auch Bergson eine radikale Alternative zum traditionellen Philosophiebegriff zu entwickeln, eine neue »Metaphysik«, die nicht mit spekulativer Begriffsarbeit anhebt, sondern direkt vom 253

254

»Daß Bergson so viel bedeutender ist als ich«, so soll Simmel einmal gesagt haben, »das ist ja sehr erfreulich; aber daß ich so viel unbedeutender bin als Bergson, ist geradezu unerträglich« (Landmann 1976, 274; vgl. dazu auch Simmel, H. 1976, 263). Siehe auch Simmels späteren Überblick über die Philosophie Bergsons (Simmel, G. 1913/1914) und den Brief Simmels an Edmund Husserl vom 19.2.1911 (abgedruckt in: Gassen/Landmann 1958, 86f.) sowie die Hinweise bei Schwerdtfeger 1995.

Bergson 1903,4. Ebd., 5. 256 Ebd., 13. 255

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Leben her denkt. In seiner Darstellung der Philosophie Henri Bergsons von 1913 schreibt Simmel: [...] die Intuition bedeutet, daß das Leben nur vom Leben begriffen werden kann - [...] Lebendiges denkend sind wir lebendig. Und darum ruht auf dem Grunde dieser Philosophie der Trost: wir verstehen wirklich und von innen her nur das Lebendige, weil wir selbst lebendig sind.257

Wie dieses Verstehen »von innen her« konkret verfahren soll, wenn es nicht - wie bei Dilthey - den Umweg über die konkreten und historisch sedimentierten Formen des »Ausdrucks« wählen will, das freilich bleibt bei Bergson unklar, und so weiß auch dieser, wie Simmel anmerkt, letztendlich »nichts anderes zu sagen, als daß die Intuition immer flüssigere, sich immer erneuernde, der Wirklichkeit sich immer näher anschmiegende Begriffe liefern müßte [,..]«.258 Doch in genau dieser - letztlich hilflosen - Maxime, in der Forderung nach einer beständigen Verflüssigung der starren wissenschaftlichen Begrifflichkeit, begrüßte Simmel die Philosophie Bergsons ausdrücklich. So feierte er den französischen Philosophen, wie Arthur Stein berichtet, als den eigentlichen Überwinder des Wörtchens »exakt«,259 des sprachlichen Siegels des populären Positivismus des späten 19. Jahrhunderts, von dessen Sprachgestus auch Simmel sich dezidiert abgekehrt hatte, der an die Stelle der vermeintlichen »Exaktheit« von Ideen, wie Margarete Susman und Ernst Bloch beobachtet haben, die sprachlichen Vorbehalte des »Vielleicht« und »Sozusagen« setzte.260 Dieser Sprachgebrauch des Unentschiedenen, des Vorbehaltlichen und Nuancierten wird bei Simmel schließlich zu einem ganz eigenen, unverkennbaren Stil, den er selbst einmal mit dem erotischen Spiel der »Koketterie« zu versinnbildlichen versucht hat. Denn »die Reize des gleichzeitigen Für und Gegen, des Vielleicht, des verlängerten Vorbehaltes der Entscheidung [...] sind nicht nur der Koketterie der Frau mit dem Mann eigen«, sondern sie bestimmen nach Simmel auch die Weltwahrnehmung des Menschen in »tausend anderen Inhalten«.261 So bezeichnet das dialektische Spiel des Für und Wider, das in der »Koketterie« kunstvoll zum Einsatz komme, für Simmel eine Grundtatsache des menschlichen Lebens überhaupt, das im »symbolischen Ineinanderwachsen«262 der Widersprüche 251

Simmel, G. 1913/1914,143. Ganz ähnlich schreibt auch Groethuysen in einer Rezension von Bergsons Einführung in die Metaphysik, die 1912 in der Deutschen Literaturzeitung erschien, das Wesentliche der »Metaphysik«, wie Bergson sie verstehe, liege darin, »das Leben der Dinge selbst durch Intuition sich zu eigen zu machen. Sie ist die Wissenschaft, die sich an die Intuition hält und ohne Symbole auskommen will« (vgl. Groethuysen 1912b, 854; vgl. dazu auch Groethuysens spätere Rezension von Bergsons Les deux sources de la morale et de la religion von 1932 (ders. 1932f)). 258 Simmel, G. 1913/1914, 143. 259 Vgl. Landmann 1976, 274. 260 Susman 1959, 48; Bloch 1958, 57. 261 Simmel, G. 1909/1911,276. Zum »transzendentalen Wesen« der »Koketterie« bei Simmel vgl. Lichtblau 1996, 388. 262 Simmel, G. 1909/1911, 259. 64

seinen sprachlichen Ausdruck finde. Die »Koketterie« ist filr ihn daher auch keineswegs eine geistige Frivolität, sondern vielmehr eine ganz bestimmte »Form, in der die Unentschiedenheit des Lebens zu einem ganz positiven Verhalten kristallisiert ist, und die aus dieser Not zwar keine Tugend, aber eine Lust macht«:263 Mit jenem spielenden, obgleich keineswegs immer von der Stimmung des »Spieles« begleiteten Sich-Nähern und Sich-Entfernen, Ergreifen, um wieder fallen zu lassen, Fallenlassen, um wieder zu ergreifen, dem gleichsam probeweisen Sich-Hinwenden, in das schon der Schatten seines eigenen Dementis fällt - hat die Seele die adäquate Form für ihr Verhältnis zu unzähligen Dingen gefunden. Der Moralist mag dies schelten; aber es gehört nun einmal zu der Problematik des Lebens, daß es vielen Dingen gegenüber [...] keinen eindeutigen, von vornherein festen Standpunkt besitzt [...]. Simmel hat seinen Aufsatz über die »Koketterie« zusammen mit einigen weiteren kürzeren Texten, darunter auch seinem Beitrag zum Weltanschauungs-Band von Frischeisen-Köhler, 1911 in einem Buch wiederveröffentlicht, dem er den Titel Philosophische Kultur gab. In der Einleitung zu diesem Band formuliert Simmel einmal mehr seine Überzeugung, daß das »Wesentliche« der Philosophie »nicht oder nicht nur der Inhalt ist, der jeweils gewußt, konstruiert, geglaubt wird, sondern eine bestimmte geistige Attitüde zu Welt und Leben«.265 Denn die »philosophische Kultur« eines Menschen, so Simmel, zeige sich doch »nicht in der Kenntnis metaphysischer Theorien oder dem Bekenntnis zu einzelnen Theorien«,266 sondern vielmehr in »einer intellektuellen Bewegtheit«,267 in einer Denkweise, die sich der begrifflichen Fixierung zu entziehen und sich »labil« zu erhalten wisse.268 Das Fragmentarische und Bruchstückhafte, das Langbehn und andere im Gefolge der populären Kulturkritik um 1900 am modernen Wissenschaftsbetrieb kritisiert hatten, wird von Simmel somit geradezu positiv umgedeutet und zur Maxime philosophischer Lebensführung überhaupt erklärt. Denn alles, was wir vom Leben wissen könnten, so Simmel, sei doch stets nur »ein durch eine zufällige, passagere Form herausgeschnittenes Stück einer metaphysischen Absolutheit«.269 Der Philosoph, der diesen Fragmenten des Lebens nachspüren will, muß in den Augen Simmels daher auch mehr sein als ein bloßer Sachwalter des Wörtchens »exakt«; das Bild vom Philosophen, das Simmel vorschwebt, ist vielmehr das eines »Abenteurers des Geistes«, wie es an einer anderen Stelle der Philosophischen Kultur heißt,270 eines »Abenteurers«, der sich von vordergründigen Sicherheiten löse und alles »auf die schwebende Chance, auf das Schicksal und das Ungefähr« setze.271 263 Ebd., 264 c. .

276. Ebd. 26S Ders. 1911 a, 162. 266 Ebd., 165. 267 Ebd. 268 Ebd., 166. 269 Ders. 1916/1917,32. 270 Deri. 1910/1911, 175. 271 Ders. 1911 a, 166. 65

Die Ergebnisse eines solchen, nicht zuletzt von der »Intuition« im Sinne Bergsons angeleiteten Denkens mögen dabei auch »fragmentarisch sein, die Bemühung«, so Simmel, »ist es nicht«.272 Einiges von dieser philosophischen Kultur des »Vielleicht«, der Schwebe und des Nuancierten läßt sich auch bei Groethuysen wiederfinden. »Wenn die Ideen alt werden«, so schreibt er 1919 an Margarete Susman, »trägt man sie zu Grabe, und das Grab heißt System«.273 An die Stelle der systematischen Präsentation fertiger Gedankengebäude tritt daher auch bei Groethuysen zunehmend ein Darstellungsstil, der den Ideen die Chance beläßt, ihrer stillstellenden Fixierung zu entgehen. So fallen dem Leser seines Beitrags zum Band von Frischeisen-Köhler schon gleich zu Beginn die Wörtchen »irgendwie« und »gewissermaßen« ins Auge,274 zwei rhetorische Unschärfe-Partikel, die in der Folgezeit zu regelrechten Stilindizes seiner Schriften werden. »Jeder Mensch ist in gewissem Sinne Lebensphilosoph. Er macht sich Gedanken über das Leben; er sucht irgendwie das Ergebnis, seine Lebenserfahrungen, festzustellen«, so schreibt er beispielsweise 1931 zu Beginn seiner Philosophischen Anthropologie,275 und im ersten Band seiner Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung von 1927 heißt es über den modernen Menschen: »Irgendwie muß sich [...] seine Anschauung von Leben und Tod verändert haben; irgendwie müssen die Bedeutungen sich verschoben haben.«276 Durch solche und ähnliche Formulierungen, wie sie allenthalben in seinen Schriften anzutreffen sind, kennzeichnet Groethuysen einen erkenntnistheoretischen Vorbehalt, den er ebensogut der philosophischen Kultur Simmels wie der neuen »Metaphysik« Bergsons entlehnt haben konnte: die Unabgeschlossenheit des eigenen Gedankens, die »Unexaktheit« der Idee. Der »logische Pedant« von 1904277 hat sich so im Horizont der »Lebensphilosophie« von Dilthey, Simmel und Bergson zu einem sprachsensiblen, nuancierten Essayisten gewandelt. Das »Vielleicht«, das »Irgendwie«, das »Gewissermaßen« stehen in seinen Schriften, wie Groethuysen selbst später einmal schreibt, wie »Höflichkeitsformen« der Wirklichkeit gegenüber. Sie markieren die Distanz zwischen Sprecher und Welt und erweisen so der unerreichbar komplexen Wirklichkeit ihre Reverenz.278 272 c·. .

Ebd. B. Groethuysen an M. Susman, 2.5.1919 (Abschrift, Privatbesitz). 274 »Nur aus dem Leben selbst kann dieses stammen, was über das Leben selbst hinausstrebt; es muß irgendwie in der Natur, in der Beschaffenheit dieses Lebens liegen [...]. Alles hat einen lebendigen Charakter innerhalb des Lebens, eine bestimmte Lebensfärbung gewissermaßen«, (Groethuysen 191 la, 55 [Hervorhebung: K.G.K.]). 27S Ders. 1931 a, 3 [Hervorhebung: K.G.K.]. 216 Ders. 1927b, 11 [Hervorhebung: K.G.K.]. 277 Vgl. oben S. 31. 273

Doktor Philosoph! !< qui me permettra de fonder mon ocole en France. Mais ce sera une entreprise difficile car comme vous le savez le gouvernement fran£ais est en train de vouloir monopoliser l'enseignement [...]« (A. Guillain an G. Mayer, undatiert; IISG, Nl. G. Mayer, Ergänzung 43). 01 »[...] la Sorbonne ne vaut d'ailleurs pas mieux que toute autre universito - on y exige de Porudition plus que de l'intelligence [...]. Mais ne nous plaignons pas, il y a de re"elles compensations. Le travail avec Bergson par exemple, qui est passionnant [...]« (A. Guillain an G. Mayer, undatiert; IISG, Nl. G. Mayer, Ergänzung 43). 302 Ebd.

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Alix Guillain scheint ihren Abschluß an der Sorbonne niemals erworben zu haben, und auch Groethuysens Buch über die geistesgeschichtlichen Ursprünge der Französischen Revolution wird noch über zehn Jahre auf sich warten lassen.

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II. Die nationale Frage. Der Krieg zwischen »Kultur« und »Zivilisation« (1914-1920)

l. Chäteauroux. Abseits der Schützengräben Am Vorabend des Ersten Weltkriegs war Bernhard Groethuysen im intellektuellen Feld Frankreichs kein gänzlich Unbekannter mehr. Bereits seit längerer Zeit hatte er die intellektuelle Produktion jenseits des Rheins aufmerksam zur Kenntnis genommen. Das zeigt bereits seine Rezensionstätigkeit für die Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, in der er in den Jahren nach seiner Promotion bis 1913 regelmäßig über französische Neuerscheinungen auf dem Gebiet der »Psychologie der Gefühle« berichtete.1 Mit seiner Tätigkeit für die Leibniz-Edition der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften und der allgemeinen Verlagerung seiner Interessen hin zur Philosophie- und Geistesgeschichte ging Groethuysens Rezensionstätigkeit im Bereich der Psychologie in den letzten Vorkriegsjahren allerdings zurück. Sein Interesse an der intellektuellen Produktion Frankreichs blieb zwar weiterhin wach, doch galt es nun nicht mehr so sehr der Psychologie als vielmehr Arbeiten zur französischen Geistesgeschichte, über die er ab 1906 im Rezensionsorgan der Akademie, der Deutschen Literaturzeitung, zu berichten begann. Hier besprach er in den Jahren vor 1914 Arbeiten zu Rousseau, Comte, Maine de Biran und anderen,2 zeigte deutsche Übersetzungen von Edmond und Jules de Goncourt sowie Henri Bergson an3 und wies auf Arbeiten französischer Autoren zur Ethik und Religionsgeschichte hin." Seit seiner Dissertation im Jahr 1904 hat Groethuysen sich somit beständig über Themengebiete und Arbeiten französischer Philosophen informiert, doch war er stets nur diesseits des Rheins mit Veröffentlichungen in Erscheinung getreten. Erst 1912 gelang es ihm, auch in Frankreich mit einer Publikation an die Öffentlichkeit zu treten. Dabei handelte es sich um einen Aufsatz über die Philosophie seines im Jahr zuvor verstorbenen Lehrers Wilhelm Dilthey, dessen Gesamtwerk damit zum ersten Mal dem französischsprachigen Publikum in einem Überblicksartikel präsentiert wurde.5 Groethuysens Darstellung, die weniger den frühen psychologischen als vielmehr den späten hermeneutischen Ansatz Diltheys in den Mittelpunkt stellt, ging auf einen Vortrag zurück, den er im Winter 1910/1911 an der Pariser Ecole des Hautes Etudes Sociales gehalten hatte, einer privat organisierten Hoch1 2 3 4 5

Vgl. dazu oben S. 31. Groethuysen 1911 c; 1914a; 1914b. Ders. 1906b; 1906c; 1912b. Ders. 1909; 1910; 1912c; 1913c. Ders. 1912a. 73

schule, die sich vor allem um die Förderung der damals noch jungen Sozialwissenschaften bemühte.6 Der Vortrag war Teil einer Ringvorlesung zum Thema La Philosophie allemande au XIXs siede, die von Wundt bis Husserl einige Strömungen der deutschen Gegenwartsphilosophie vorstellen sollte und von dem französischen Germanisten Charles Andler eingeleitet wurde.7 Wie es zu der Teilnahme Groethuysens an dieser Veranstaltungsreihe kam, ist unklar. Bis zum damaligen Zeitpunkt hatte Groethuysen außer seiner Dissertation und den oben erwähnten Rezensionen noch nichts - geschweige denn etwas auf französisch - veröffentlicht. Andererseits wird es für ihn, der spätestens seit seiner Habilitation 1907 regelmäßig mehrere Monate im Jahr in Frankreich verbrachte, um seine Studien zur Philosophie der Französischen Revolution voranzutreiben, genügend Gelegenheit gegeben haben, mit den Veranstaltern der Vortragsreihe in Berührung zu kommen. So dürften ihm seine Verbindungen zur Berliner Akademie der Wissenschaften zahlreiche Möglichkeiten geboten haben, um in Paris mit französischen Leibniz-Forschern in Kontakt zu treten, wie beispielsweise mit dem Philosophiehistoriker Lucien Lovy-Bruhl, der wie Andler an der Sorbonne unterrichtete und ebenfalls an der Ringvorlesung von 1910/1911 beteiligt war.8 Vielleicht ist der Kontakt aber auch über einen weiteren Teilnehmer der Vorlesungsreihe zustande gekommen, den Soziologen Colestin Bougie", der in seinem Vortrag an der Ecole über Georg Simmel referierte und mit diesem bereits seit längerem korrespondierte.9 Denkbar ist schließlich aber auch, daß Andler selbst - etwa während einer Deutschland-Reise, die ihn 1908 u.a. auch nach Berlin führte - auf Groethuysen aufmerksam geworden war. Andler begleitete damals eine Gruppe von etwa dreißig Studenten der Sorbonne, was seiner Reise einen gewissen offiziellen Charakter verlieh und vor allem in der rechten, nationalistischen Presse mit Argwohn beäugt wurde, sah diese doch in der Fahrt eine gezielte Anbiederung an den »Erbfeind«. Andlers Verteidiger, allen voran Colestin Bougie", machten hingegen darauf aufmerksam, daß die französische Kultur für fremde Einflüsse stets offen gewesen und an der Reise Andlers somit nichts zu beanstanden sei.10 In diesem Sinne sollten auch die Vorträge über die deutsche Philosophie des 19. Jahrhunderts, die Andler - der übrigens während des Kriegs zu einem der 6

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Andler 1912a, III-VI; vgl. dazu auch den Rechenschaftsbericht: Ecole des Hautes Etudes Sociales 1911, sowie allgemein über die Ecole: Prochasson 1985. Vgl./4«i//i?7-1912b. In der Nachkriegszeit gehörte Livy-Bruhl, wie aus Groethuysens Berichten an die Leibniz-Arbeitsstelle der Preußischen Akademie der Wissenschaften hervorgeht, in der Tat zu den wichtigsten Ansprechpartnern Groethuysens in Sachen LeibnizNachforschungen (vgl. AABBAW, Korrespondenz der Leibniz-Arbeitsstelle, Akte 30, 39). Wann genau Groethuysen mit Livy-Bruhl in Kontakt getreten ist, läßt sich nicht mehr rekonstruieren. Zu LeVy-Bruhls Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung von 1910/1911 vgl. die Hinweise bei Andler 1912a, IV. Vgl. dazuGw//cA1990. Zur öffentlichen Resonanz dieser Reise, die zeitweilig sogar zur Behinderung der Lehrtätigkeit Andlers führte, siehe Blum 1995.

schärfsten Kritiker der deutschen Kulturpropaganda werden sollte11 - im Winter 1910/1911 an der Ecole des Haules Etudes Societies organisierte, zu einer unvoreingenommenen Offenheit dieser gegenüber beitragen. In seiner Einleitung zu den Vorlesungen spricht Andler ausdrücklich von der »verkable Sympathie«, mit der die Referenten sich der neueren geistigen Strömungen in Deutschland angenommen hätten.12 Bernhard Groethuysen hat sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zu nationalpolitischen Fragen dieser Art nicht geäußert, und auch sein Beitrag zur Vorlesungsreihe von 1910/1911 enthält keinerlei Bekenntnis zur nationalen Eigenart der deutschen Philosophie oder zur deutsch-französischen Freundschaft. Seine Präsenz in Frankreich scheint zu dieser Zeit vor allem seinem Interesse geschuldet zu sein, seine Arbeit über die geistigen Ursprünge der Französischen Revolution möglichst rasch voranzutreiben. Als ein erstes Ergebnis seiner Forschungen veröffentlichte er 1913 einen weiteren französischsprachigen Text, in dem er sich mit der Philosophie Diderots auseinandersetzte und der sich im wesentlichen als eine Art Ausarbeitung der entsprechenden Teile seiner oben bereits erwähnten Vorlesung von 1907 liest.13 So wird Diderot von Groethuysen als Repräsentant einer neuen Geisteshaltung dargestellt, die sich von allen dogmatischen Denktabus zu trennen und sich - im zeitlichen Umfeld der Encyclopedic - der unvoreingenommenen Erforschung der Welt in all ihren Einzelheiten und Schattierungen zuzuwenden beginne. Gleichwohl verliere sich Diderot dabei nie im empirischen Skeptizismus, sondern finde Halt in einer Idee des Menschen, die diesen in den Mittelpunkt des Weltgeschehens rücke und damit zum einzig festen Bezugspunkt in einer Welt der flüchtigen Erscheinungen erhebe.14 Groethuysens Aufsatz über Diderot war Teil seiner Studien zur Vorgeschichte der Französischen Revolution, die weiter voranzubringen in den Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs sein wichtigstes Bestreben gewesen zu sein scheint. Die meiste Zeit während seiner Frankreichaufenthalte wird er daher im Archiv verbracht haben. So schreibt er beispielsweise im Mai 1911 aus Paris an seine Mutter: 11 12

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Vgl. Prochasson 1993, 156f. Andler 1912a, V. Zur ambiyalenten Einschätzung der deutschen Bildungstradition innerhalb der französischen Öffentlichkeit während der III. Republik vgl. immer noch die mittlerweile klassische Studie von Digeon 1959; für den Hochschulbereich auch: Charle 1994, 21-59. Groethuysen 1913b. Groethuysens Aufsatz, der auf einen Vortrag zurückgeht, den er ein Jahr zuvor in Gent gehalten hatte, erschien in der liberal-bürgerlichen La Grande Revue (vgl. B. Groethuysen an O. Groethuysen, 7.7.1912; Nl. O. Groethuysen, Familienbesitz). »Nous retrouvons en Diderot un des caracteres essentiels de l'homme du XVIII e siecle, qui, s'abandonnant aux suggestions de son imagination, ne se perd pas lui-meme au milieu des idees et des images qui Penvahissent. Ouvert ä toutes les possibilite"s, il trouve en lui, dans le sentiment humain, un fond stable qui determine son attitude en face de la vie. [...] C'est ce sentiment qui domine 1'oeuvre de PEncyclopodie. L'homme y est considero comme le terme auquel il faut tout ramener; c'est son existence et son bonheur qui importera« (Groethuysen 1913b, 86). 75

Mit der Archivarbeit geht es gut. Ich arbeite mit mehr Eifer, mit mehr elan jetzt als früher. Oft freue ich mich den vorhergehenden Abend auf den nächsten Tag, wenn ich wieder bei den Dokumenten bin. Das war früher so nicht der Fall. Trotz der langen Zeit, die diese Arbeit nun schon dauert, fühle ich keine Ermattung.15 Die besten Arbeitsbedingungen fand er dabei allerdings nicht in Paris, sondern, wie er 1914 an Margarete Susman schreibt, in einer kleinen Bibliothek in Rouen: Seit vierzehn Tagen bin ich in Rouen. Ich sitze hier gefangen. Man hat mich in eine bisher noch ganz unbekannte Bibliothek geführt, dort habe ich alles das herausgesucht, was ich lesen wollte und bei Seite legen lassen. Was soll ich tun? Es liegen Tausende von Broschüren, Memoiren, Predigten da, ich kann sie jetzt nicht im Stich lassen. [...] Es ist sehr gut für mich, daß ich endlich einmal ganz ungezwungen in alten Papieren wühlen kann, ohne jedes Stück einzeln bestellen zu müssen. Das zieht alles an einem vorbei ohne irgendwelche Ordnung, und es bilden sich so die Eindrücke und die Erfahrungen, die ich brauche.16 Die Arbeit an den Quellen scheint Groethuysen dermaßen in Besitz genommen zu haben, daß er die Zuspitzung der politischen Lage zwischen Deutschland und Frankreich augenscheinlich nicht zur Kenntnis nahm. So fehlt in seinen Briefen aus den Sommermonaten 1914, als er sich abermals in Paris aufhielt, jeglicher Hinweis auf die drohende Kriegsgefahr; statt dessen plante er noch am Tag der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien, dem 28. Juli 1914, eine erneute Reise nach Rouen, um in der dortigen Bibliothek seine Nachforschungen fortzusetzen.17 Diese Reise wird er vermutlich jedoch kaum mehr angetreten haben, da die französische Regierung wenige Tage später, am 1. August, zwei Tage vor der offiziellen Kriegserklärung des deutschen Kaiserreichs an die französische Republik, die Freizügigkeit der in Frankreich lebenden Ausländer drastisch einzuschränken begann.18 Zwar hätte Groethuysen innerhalb einer Frist von ein bis zwei Tagen das Land noch verlassen können, doch wird es für ihn ebenso wie für Tausende andere kaum mehr möglich gewesen sein, rechtzeitig einen der wenigen von der Armee nicht beschlagnahmten Züge nach Westen zu erreichen. Ein Augenzeuge, der ebenfalls versuchte, das Land Anfang August 1914 zu verlassen, erinnert sich später:

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B. Groethuysen an O. Groethuysen, 4.5.1911 (Nl. O. Groethuysen, Familienbesitz). B. Groethuysen an M. Susman, undatiert (Kopie, Privatbesitz). B. Groethuysen an M. Susman, 28.7.1914 (DL, Nl. M. Susman, A: 32). Georges Navel berichtet später, Groethuysen sei noch am Tag des Kriegsausbruchs zum deutschen Botschafter geeilt und habe ihn persönlich zu bewegen versucht, den Krieg aufzuhalten. Ob nun authentisch oder legendär, im Freundeskreis Groethuysens wird sich diese Anekdote vermutlich deshalb in Erinnerung gehalten haben, weil sie seine letztlich unbekümmerte Art in politischen Angelegenheiten überhaupt treffend zum Ausdruck bringt (vgl. Navel 1960, 277). Leider liegen zu Groethuysens politischer Haltung vor dem Ersten Weltkrieg keine weiteren Hinweise vor. Zu Status und Schicksal der deutschen Zivilisten in Frankreich während des Ersten Weltkriegs vgl. Farcy 1995.

Am Pariser Bahnhof gab es ein solches Gedränge (man sprach von 30 000 Personen), daß wir 5 Stunden brauchten, um 150 Meter vorwärts zu kommen.19 Wer nun nicht mehr innerhalb der vorgegebenen Frist ausreisen konnte, hatte sich in den folgenden Tagen bei den französischen Behörden registrieren zu lassen und wurde fortan einer strengen Überwachung unterzogen. Staatsangehörige des deutschen Kaiserreichs und der Österreich-ungarischen Doppelmonarchie, die sich nach Kriegsbeginn noch in Frankreich befanden, wurden von den Überwachungsmaßnahmen besonders hart getroffen, da die französische Regierung mit Beginn der militärischen Auseinandersetzung deren Umsiedlung, schließlich sogar Internierung in eigens hergerichteten Zivilgefangenenlagem verfügte.20 Zu diesen über siebzehntausend deutschen und österreichischen Zivilisten, die nach offiziellen französischen Angaben im Februar 1915 in Frankreich interniert waren,21 gehörte nun auch Bernhard Groethuysen. Über sein Schicksal während der ersten Kriegsmonate heißt es im Juli 1915 in einem Bericht des Präfekten von Chäteauroux, einer Kleinstadt sudwestlich von Paris, in der Groethuysen gezwungen wurde, die Jahre 1914 bis 1918 zu verbringen: Herr Bernhard Groethuysen, deutscher Staatsangehöriger, Professor der Philosophie an der Universität Berlin, wurde am Freitag, dem l. August, mit dem Zug um 8 Uhr 45 nach Chäteauroux gebracht. [...] Es ist ihm zugestanden worden, auf eigene Kosten in der Stadt zu wohnen, ohne jedoch von den Überwachungs- und Kontrollvorschriften, die für alle Evakuierten gelten, ausgenommen zu werden. Gegenüber dieser ihm entgegenkommenden Haltung der Regierung hat er sich sehr dankbar gezeigt und seine Absicht bekräftigt, vorübergehend in Chäteauroux zu bleiben. In der Tat ist der Betreffende bis zum 25. Februar in der Stadt wohnhaft geblieben, als er gemäß den Vorgaben [...] bezüglich der Revision der Aufenthaltsbescheinigungen für Deutsche und Österreicher in Bitray interniert wurde.22 Das Lager von Bitray, in das Groethuysen im Februar 1915 geschickt wurde, galt damals als das fortschrittlichste unter allen Internierungslagern und wurde von den französischen Behörden wiederholt als Musterbeispiel ihrer humanitären Bemühungen präsentiert. Es war unweit von Chäteauroux in einem umfunktionierten Behindertenheim untergebracht, dessen Bau erst kurz vor Ausbruch des Krieges fertiggestellt worden war, und verfügte sogar, für die damalige Zeit nicht selbstverständlich, über Zentralheizung und Elektrizität.23 Nichtsdestotrotz handelte es sich um ein Gefangenenlager, dessen Insassen zwar einerseits von den eigentlichen Kriegshandlungen abgeschirmt, andererseits aber beständiger Überwachung ausge-

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Unveröffentlichter Brief eines ungarischen Zivilgefangenen, zit. nach ebd., 14. Langfristig festgehalten wurden jedoch nur die wehrfähigen Männer, da die französische Regierung ihre Rekrutierung durch die deutsche bzw. österreichische Armee verhindern wollte. Farcy 1995, 127. Die Prefecture de l 'Indre an die Direction de la Sürete Generale, 20.7.1915 (Archives departementales de l'Indre, Chäteauroux, dossier: »Etrangers 1914-1919«, R 867 (2)). Vgl. Farcy 1995, 140. 77

setzt waren und keiner freien Betätigung nachgehen konnten. Ein Mitgefangener notiert dazu im Herbst 1915 in sein Tagebuch: Ein Tag gleicht dem ändern zwischen unsern vier Wänden, den kalten Mauern und den ewigen Drahtgittern. Sicher, wir sind hier fern vom Tod, vom Grauen der Schlachtfelder, spüren nicht viel von großen Ängsten, unmittelbarer Not, tiefer Trauer. [...] Wir sind wie die ungetauften Kinder, für die weder Himmel noch Hölle da ist, wie an einem öden, freudeleeren Ort.24 Während Groethuysens Familie in Berlin zunächst von seiner Internierung nichts erfährt,25 beginnen seine Pariser Freunde umgehend, sich für ihn einzusetzen und reichen beim zuständigen Präfekten eine gemeinsame Petition zu seinen Gunsten ein.26 Wer genau diese Bittschrift verfaßt und wer sie unterschrieben hat, kann heute leider nicht mehr festgestellt werden, da das Original, nachdem es offenbar mehrere Male zwischen Paris und Chäteauroux hin und her gereicht wurde, heute als verschollen gelten muß.27 Sicherlich wird Charles Du Bös, wahrscheinlich aber auch Charles Andler, auf den Groethuysen sich nach Kriegsende erneut berufen wird, zu den Unterzeichnern gehört haben,28 vielleicht sogar auch Henri Bergson, der sich, wie Ernst Robert Curtius Jahre später berichtet, ebenfalls im Krieg für Groethuysen eingesetzt haben soll.29 Gefruchtet hat diese gemeinsame Aktion zugunsten des internierten deutschen Privatdozenten allerdings wenig, wie aus einem abschlägigen Schreiben des französischen Innenministeriums an den zuständigen Präfekten hervorgeht: Mit dem Bericht vom 13. des laufenden Monats haben Sie mir eine Petition in Kopie zukommen lassen, mit der 17 Angehörige der Pariser Universität eine zuvorkommende Behandlung des Herrn Groethuysen, eines evakuierten Deutschen in Chäteauroux, und insbesondere die Erlaubnis für ihn, in der Stadt zu wohnen, erbitten. Ich darf Ihnen bekanntgeben, daß es mir, da Herr Groethuysen [...] eindeutig unter keinerlei Ausnahme-

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Claudia 1917, 51 f. Vgl. dazu die Briefe Olga Groethuysens an Margarete Susman vom Februar 1915 (DL, Nl. M. Susman, A: 32). Die Petition findet in mehreren Briefen der Prefecture Erwähnung (Archives dopartementales de PIndre, Chäteauroux, dossier: »Etrangers 1914-1919«, R 867 (2)). Aus einem Bericht vom 30.1.1915 geht weiterhin hervor, daß bereits unmittelbar nach seiner »Evakuierung« aus Paris »plusieurs personnalitos litteraires« sich für Groethuysen eingesetzt hätten, um ihm Zugang zu nahegelegenen Universitäten zu ermöglichen. Die Petition konnte, obwohl vom Präfekten in seinen Berichten mehrmals erwähnt, weder in den Archives departementales del'Indre noch in den entsprechenden Aktenbeständen der Archives Nationales (»Surveillance d'otrangers, 1914-1918« (F7/12731) und »Rapports des profets ä la direction de la Süreto Gonorale, 1914-1918« (F7/12936)) ausfindig gemacht werden. So bittet Groethuysen nach seiner Freilassung Alix Guillain, wie aus einem Brief an Margarete Susman vom 22.3.1919 hervorgeht, um ein Empfehlungsschreiben Andlers, um in Lausanne, wo er sich damals für einige Wochen aufhält, wissenschaftliche Kontakte knüpfen zu können (DL, Nl. M. Susman, A: 32). Vgl. Curtius, E. R. 1952, 501.

regelung fällt, unmöglich erscheint, der besonderen Situation dieses Ausländers weitere Beachtung zu schenken und der Bittstellung zu seinen Gunsten nachzugeben [...].30 Die Petition seiner französischen Freunde und Kollegen verlief also ergebnislos. Erst die Verschlechterung seiner gesundheitlichen Lage brachte Groethuysen die ersehnte Vergünstigung, das Lager wieder verlassen und in der Stadt Wohnung nehmen zu dürfen. Auf Initiative des Innenministeriums, das möglicherweise wiederum durch Groethuysens Freunde auf dessen labilen gesundheitlichen Zustand hingewiesen worden war - in dem sich dieser übrigens schon vor Kriegsbeginn befunden hatte31 -, prüfte der Lagerarzt Ende März 1915 Groethuysens gesundheitliche Konstitution und bescheinigte ihm Haftunfähigkeit.32 Auf der Grundlage dieses Attests wurde Groethuysen einige Tage später aus dem Lager entlassen und erhielt die Berechtigung, sich unter strengen Auflagen in Chäteauroux eine eigene Wohnung zu suchen.33 Diese fand er schließlich als Untermieter bei einer französischen Familie, die gegen den deutschen Gast offenbar keine »patriotischen« Einwände erhob und der Groethuysen auch in den Nachkriegsjahren freundschaftlich verbunden bleiben sollte.34 Nicht alle in Chäteauroux, wo er sich von nun an bis zum Kriegsende aufhalten wird, werden ihm gegenüber so unvoreingenommen gewesen sein. Margarete Susman berichtet in ihren Erinnerungen, man habe Groethuysen sogar mehrfach nach dem Leben getrachtet,35 und so verwundert es nicht, wenn die französischen Behörden ihn schließlich aufforderten, von seiner Freizügigkeit so diskret wie möglich Gebrauch zu machen.36 Seine Arbeitszeit fernab von den Bibliotheken in Paris und Rouen wird Groethuysen im wesentlichen darauf verwandt haben, an seinem Buch über die Vorgeschichte der Französischen Revolution zu schreiben. Alix Guillain, die ihn regel-

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Die Direction de la Surete Generale an die Prefecture de l'Indre, 21.3.1915 (Archives departementales de PIndre, Chäteauroux, dossier: »Etrangers 1914-1919«, R 867 (2)). Vgl. dazu den Bericht der Prefecture an die Surete Generale vom 20.7.1915 (ebd.). Bereits in der Vorkriegszeit berichtet Groethuysen in mehreren Briefen an seine Mutter von einem Magenleiden, das ihn im Sommer 1912 zur Unterbrechung seiner Archivarbeit und zu einem Aufenthalt in einem Schweizer Sanatorium zwang (Nl. O. Groethuysen, Familienbesitz). Vgl. den Bericht der Prefecture vom 20.7.1915 (Archives dopartementales de l'Indre, Chäteauroux, dossier: »Etrangers 1914-1919«, R 867 (2)). Ebd. So kehrt Groethuysen beispielsweise Anfang 1925, wie aus einem Brief an seine Mutter vom 5. Februar des gleichen Jahres hervorgeht, nach Chäteauroux zurück, um seinen ehemaligen Vermietern einen Besuch abzustatten: »Der Empfang war überaus herzlich, nicht nur bei den Leuten, bei denen ich so lange gewohnt hatte, sondern auch bei allen Nachbarn, die ich der Reihe nach besuchen mußte, was übrigens ziemlich ermüdend war« (Nl. O. Groethuysen, Familienbesitz). Susman\964,93. Vgl. dazu die Briefe der Direction de la Surete Generale an die Prefecture de l'Indre vom 18. und 25.7.1915 (Archives döpartementales de l'Indre, Chäteauroux, dossier: »Etrangers 1914-1919«, R 867 (2)).

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mäßig in Chäteauroux besuchte und mit dem Nötigsten versorgte, berichtet Margarete Susman: Hier ist die Situation immer noch die gleiche. Bernhard arbeitet sehr intensiv. [...] Er hofft, den ersten Teil seines Buches hier fertigzustellen [...]."

Zugleich kümmert Groethuysen sich aber auch um die Belange seiner im Lager verbliebenen Leidensgenossen.38 Seine Solidarität beschränkt sich dabei keineswegs nur auf die deutschen und österreichischen Zivilinternierten; über seine Verbindungen nach Deutschland bemüht er sich ebenso, die Haftbedingungen der dortigen französischen Kriegsgefangenen zu mildern. An Margarete Susman, die sich zu Kriegsbeginn in der neutralen Schweiz aufhält, schreibt er bereits am 20. September 1914: Jede Aktion, die in diesem Augenblick unternommen wird, kann nur gegenseitig sein, kann nur gegründet sein in dem Prinzip der Wechselseitigkeit. Man müßte also in Deutschland Geld für die französischen Verwundeten sammeln. [...] Falls ich positive Nachricht erhalte, könnte man hier etwas Ähnliches unternehmen. Das ist augenblicklich die einzige Lösung, für alle Leidenden, ohne Unterschied, zu handeln.39

In weiteren Briefen, in denen er sich wiederholt nach dem Schicksal französischer Zivilisten in Deutschland erkundigt, fordert Groethuysen über die Schweiz Geld und Medikamente für die Lagerinsassen in Bitray an. Über die Ergebnisse seiner humanitären Hilfsaktionen zeigt er sich dabei sehr befriedigt, auch wenn er selbst kaum mehr zur Ruhe kommt, wie er im Frühjahr 1915 an Margarete Susman schreibt.40 Über den Kriegsverlauf zwischen Deutschland und Frankreich wird er fernab in seinem kleinstädtischen Exil hingegen nur wenig mitbekommen haben. Auch von den intellektuellen Frontstellungen, die nicht wenige Gelehrte und Schriftsteller diesseits und jenseits des Rheins bezogen, dürfte er in aller Ausführlichkeit erst später erfahren haben.

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A. Guillain an M. Susman, undatiert (DL, Nl. M. Susman, A: 32). Vgl. dazu den Hinweis bei Mayer 1949, 338. B. Groethuysen an M. Susman, 20.9.1914 (Kopie, Privatbesitz). Vgl. dazu die Briefe B. Groethuysens an M. Susman vom September 1914 bis zum Mai 1915 (Kopien, Privatbesitz). Im Dezember 1914 gibt Groethuysen erstmals Rechenschaft über seine karitative Tätigkeit: »Voilä les premiers risultats de notre oeuvre de bienfaisance. [...] D'abord la question des chaussures. On achetera des sabots. Cela coütera 175 frs. II y a tant de personnes qui en ont besoin. Puis: 50 frs pour rinfirmerie. Ensuite on s'occupera avant tout des enfants. II y en a une centaine. On fera tout [...] pour qu'ils n'aient pas froid [...]« (B. Groethuysen an M. Susman, 12.12.1914, ebd.). Im darauffolgenden Frühjahr zeigt Groethuysen sich über den Erfolg seiner Hilfsaktion zufrieden: »Dans l'Intervalle j'ai pu faire oeuvre vraiment utile. Etant plus intimement melo ä la vie de la communaute", j'ai pu beaucoup mieux agir et organiser. J'ai pu esquisser tout un reglement, oü j'ai pu faire entrer beaucoup de mes idoes. Je n'ai pas une minute de repos et je suis dans un 6tat de tension perpituelle« (B. Groethuysen an M. Susman, 21.5.1915, ebd.).

2. »Furor teutonicus« und »esprit de finesse« Zu den prominenten Gelehrten, die sich in Deutschland und Frankreich am ideologischen Einsatz gegen den jeweiligen Erbfeind beteiligten, gehörten auch zwei Philosophen, die noch vor kurzem gemeinsam für eine »neue Metaphysik«, für eine neue »Philosophie des Lebens« geworben hatten: Georg Simmel und Henri Bergson.41 Bereits unmittelbar nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Belgien und schockiert von den Pressemitteilungen über deutsche Kriegsverbrechen an der dortigen Zivilbevölkerung42 gab Bergson in seiner Eigenschaft als Präsident der Pariser Academie des sciences morales et politiques die Parole aus, die später zum Leitmotiv der intellektuellen französischen Propaganda überhaupt werden sollte: »Der aktive Kampf gegen Deutschland ist im wesentlichen der Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei«, so verkündete Bergson in seiner Akademie-Ansprache vom 8. August 1914:43 Alle fühlen es, doch unsere Academie hat vielleicht eine besondere Autorität, dies auch zu sagen. Sie erfüllt nur eine einfache wissenschaftliche Pflicht, wenn sie, die sich zu einem großen Teil der Erforschung psychologischer, moralischer und sozialer Fragestellungen widmet, auf den Rückfall in die Wildheit hinweist, der sich in der Brutalität und dem Zynismus Deutschlands, in seiner Verachtung jeglichen Rechts und jeglicher Wahrheit zeigt.44

Simmel, der Bergson noch kurz zuvor als einen der größten lebenden Philosophen verehrt hatte, zeigte sich mehr als empört über diese Worte und veröffentlichte unter dem Titel Bergson und der deutsche Zynismus umgehend eine entrüstete Replik: Von dem französischen Durchschnittspublikum, das von Deutschland nur weiß, was ihm seine Zeitungen erzählen, wird niemand etwas Besseres erwarten. Aber daß ein Bergson keine kritische Zurückhaltung gegenüber der »Objektivität« dieser Zeitungen übt, Bergson, der sich jahrzehntelang um deutsche Philosophie bemüht hat (er hat Kant sehr eingehend, wenngleich unter wunderlichen Mißverständnissen, studiert, hat sich mit Dilthey und Cohen beschäftigt, hat sich aufs lebhafteste für die französische Übersetzung der Arbeiten des Schreibers dieser Zeilen eingesetzt) - das zeigt mit einem Schlage die mit al ledern hoffnungslose Unfähigkeit des Franzosen, deutsches Wesen zu begreifen.45 41

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Zur »geistigen Mobilmachung« der akademischen Eliten im Ersten Weltkrieg siehe für Deutschland vor allem: Flasch 2000; für die französische Seite den Überblick bei Prochasson/Rasmussen 1996, 168-220. Allgemein zur politischen Öffentlichkeit in Deutschland und Frankreich zu Beginn des Kriegs: Raithel 1996. Vgl. dazu Kramer 1993. Bergson 1914, 1102. Ebd. Zum Ideologen! der »deutschen Barbarei« in der französischen Propaganda während des Ersten Weltkriegs vgl. Jeismann 1992, 339-349. Zu Bergsons politischpropagandistischen Aktivitäten zwischen 1914 und 1918 siehe Soulez 1989; Soulez/Worms 1997, 151-179. Simmel, G. 1914, 198. Noch Jahre später kommt Simmel in einem Brief an Hermann Graf Keyserling (vom 18.5.1918) auf Bergsons Akademie-Rede zurück: »Kein Mensch 81

Denn nicht Zynismus, so Simmel in seiner Entgegnung, habe die ersten Kriegstage in Deutschland begleitet, sondern im Gegenteil wahrer Enthusiasmus angesichts der gemeinsamen nationalen Herausforderung: Verschwunden ist damit der Mammonismus [...], verschwunden die Selbstsucht der einzelnen Klassen, für die der Gedanke des Ganzen zur Chimäre wurde; verschwunden das ästhetisierende Genießertum, das von den Furchtbarkeiten und Gefahren der Existenz einfach wegsah. [...] Diesen Krieg, den wohl ein jeder von uns als die furchtbarste Erschütterung seines Lebens empfindet, konnten wir überhaupt nur aufnehmen, weil wir uns im selben Augenblick von all jenen Beeinträchtigungen unserer sittlichen Kraft frei wußten.46

Simmel hatte den Krieg keineswegs herbeigesehnt, doch, so notiert er wenige Tage nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Belgien in sein Tagebuch, »da es so gekommen ist, gibt es nur eines: Deutschland muß um seine Existenz kämpfen bis aufs letzte ... der furor teutonicus ist losgelassen und rast auch in mir«.47 »Gerast« hat es allerdings nicht nur in Simmel, sondern ebenso in vielen seiner gelehrten Kollegen. So veröffentlichte das Berliner Tageblatt am 4. Oktober 1914 den berüchtigten Aufruf An die Kulturwelt!, den zunächst 93 deutsche Geistesgrößen unterschrieben hatten und denen in weiteren Aufrufen etwa 4000 weitere - fast die gesamte deutsche Professorenschaft - folgten.48 Im »Aufruf der 93«, diesem seltenen Dokument akademischer Einhelligkeit in Deutschland, heißt es gegen die Propaganda der West-Mächte gewandt: Sich als Verteidiger europäischer Zivilisation zu gebärden, haben die am wenigsten Recht, die sich mit Russen und Serben verbünden und der Welt das schmachvolle Schauspiel bieten, Mongolen und Neger auf die weiße Rasse zu hetzen. Es ist nicht wahr, daß der Kampf gegen unseren sogenannten Militarismus kein Kampf gegen unsere Kultur ist, wie unsere Feinde heuchlerisch vorgeben. [...] Glaubt, daß wir diesen Kampf zu Ende kämpfen werden als ein Kulturvolk, dem das Vermächtnis eines Goethe, eines Beethoven, eines Kant ebenso heilig ist wie Herd und Scholle.49

Der Machtkrieg der europäischen Staaten wurde damit unter der Hand zu einem Krieg der Kulturen und des Geistes umgedeutet. Nicht zufällig hatten die Professo-

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wird von ihm Unparteilichkeit verlangen oder ihm den leidenschaftlichen Patriotismus, ja den Haß gegen Deutschland verdenken, da Deutschland nun einmal zum Vollstrecker des weltgeschichtlichen Urteils über Frankreich geworden ist. Aber daß er unter der Maske der kühlen Wissenschaftlichkeit die albernsten Schauermärchen über deutsche Greuel vorbringt, daß er, der sehr wohl die deutsche Geistigkeit kennt, bei uns nichts als eine tote Mechanisierung des Lebens sehen will, wogegen Frankreich das voll blühende Leben sei [...] - das ist doch einfach unwürdig und zeigt eine unverzeihliche Form von Psychose, die mir gerade bei ihm moralisch verdächtig ist« (ders. 1987, 246). Ders. 1914,200. Tagebuchnotiz, zit. nach Simmel, H. 1976, 267. Zu Simmels Kriegsschriften, die sich gleichwohl im Vergleich zu den Äußerungen vieler seiner Kollegen noch gemäßigt ausnehmen, vgl. Barrelmeyer 1994; Watier 1996; Lichtblau 1996, 399-407. Der Aufruf An die Kulturwelt! findet sich abgedruckt in: Böhme 1975, 47-49; vgl. dazu auch: vom Brocke 1985; Bollenbeck 1994, 274. Zit. nach Böhme 1975, 48.

ren in ihrem Aufruf die »deutsche Kultur« der »europäischen Zivilisation« gegenübergestellt.50 Aus der asymmetrischen Opposition »Zivilisation« und »Barbarei«, wie Bergson sie Anfang August 1914 als Parole ausgegeben hatte, wurde so in deutscher Perspektive die Opposition von »Zivilisation« und »Kultur«, nun allerdings mit geändertem Vorzeichen. Thomas Mann, dessen Betrachtungen eines Unpolitischen um diesen Gegensatz kreisen,51 weiß die vermeintlich »barbarischen« Elemente der deutschen »Kultur« daher positiv zu wenden. So heißt es bereits in seinen 1914 veröffentlichten Gedanken im Kriege: Zivilisation und Kultur sind nicht nur nicht ein und dasselbe, sondern sie sind Gegensätze, sie bilden eine der vielfältigen Erscheinungsformen des ewigen Weltgegensatzes und Widerspieles von Geist und Natur. [...] Kultur ist offenbar nicht das Gegenteil von Barbarei; sie ist vielmehr oft genug nur eine stilvolle Wildheit, und zivilisiert waren von allen Völkern des Altertums vielleicht nur die Chinesen. Kultur ist Geschlossenheit, Stil, Form, Haltung, Geschmack, ist irgendeine gewisse geistige Organisation der Welt, und sei das alles auch noch so abenteuerlich, skurril, wild, blutig und furchtbar. Kultur kann Orakel, Magie, Päderastie, [...] Blüte des Giftmordes und die buntesten Greuel umfassen. Zivilisation aber ist Vernunft, Aufklärung, Sänftigung, Sittigung, Skeptisierung, Auflösung, - Geist.52 Die »deutsche Seele«, so das Fazit von Thomas Mann, aber »ist zu tief, als daß Zivilisation ihr ein Hochbegriffoder etwa der höchste gar sein könnte«.53 Spuren dieses zivilisationskritischen Kulturgebarens lassen sich während der Kriegszeit bei vielen deutschen Autoren finden. Auch Georg Simmel war von der allgemeinen Zivilisationsskepsis der Kriegsjahre keineswegs frei. Im November 1914 rühmte auch er in einer Rede in Straßburg, wohin er einige Monate zuvor auf das langersehnte Ordinariat für Philosophie berufen worden war, die erneuernden Kräfte des Krieges, die das Leben aus seinen erstarrten Hüllen endlich wieder hervorholen sollten: Die behagliche Ungestörtheit des Friedens mag es sich leisten können, das Überständiggewordene, innerlich Abgestorbene noch mitzurechnen, es mittels allmählicher Übergänge mit dem wirklich Lebendigen zu vereinheitlichen. Mit der Härte und Entschiedenheit, zu der der Krieg unser Dasein ausgehämmert hat, verträgt sich dies nicht länger, er stellt alle und alles vor ein unbarmherziges Entweder-Oder von Wert und Recht und läßt nur noch Raum für das wahrhaft Keimkräftige und Echtgebliebene [...]. Wer nicht mitbauen kann an dem neuen Deutschland, muß beiseite stehen, welche Menschen und Dinge innerlich schon gerichtet und unfruchtbar geworden sind, an denen vollzieht der Krieg nur den Richterspruch. Denn seine Erschütterungen schütteln 50

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Es ist hier nicht der Ort, die verschlungene Vorgeschichte der Antithese von »Kultur« und »Zivilisation« von Kant bis Alfred Weber nachzuzeichnen. Material hierzu findet sich reichhaltig in der klassischen Darstellung von Norbert Elias (1939,1, 1-42) sowie bei Fisch 1992; Bollenbeck 1994; Breuer 1995, 185-201. Siehe dazu seine Auseinandersetzung mit Romain Rolland (Mann, Th. 1918-1920, 154179); zu Thomas Manns gar nicht so unpolitischen Betrachtungen aus der Kriegszeit vgl. u.a. Koester 1996; Dumont 1991, 75-89. Mann, Th. 1914, 188. Ebd., 198. 83

die Bäume, daß abfällt, was überreif ist und nur lässiger Duldsamkeit noch frisch erschien.54 Was für Simmel nun im einzelnen »überreif« war und »abgeschüttelt« werden sollte, hatte er bereits in seiner Antwort auf Bergson deutlich zu verstehen gegeben: der »Mammonismus«, die »Selbstsucht der einzelnen Klassen«, das »ästhetisierende Genießertum«. In seiner Straßburger Rede heißt es nun: Alle Umstände, in denen wir uns sonst bewegten, haben etwas Relatives, Abwägungen des Mehr oder Weniger entscheiden in ihnen, von dieser oder jener Seite her sind sie bedingt. All solches kommt jetzt nicht mehr in Frage, wir stehen mit dem Kräfteeinsatz, der Gefährdung, der Opferbereitschaft vor der absoluten Entscheidung, die keine Ausbalancierung von Opfer und Gewinn, kein Wenn und kein Aber, kein Kompromiß [sie!] [...] mehr kennt.55 Es muß Simmel klar gewesen sein, daß er mit diesen Worten nicht nur ein Strafgericht an den Auswüchsen der modernen »Zivilisation« vollzog, sondern zugleich auch an seinen eigenen philosophischen Überzeugungen rüttelte. Hatte seine vor dem Krieg gepriesene philosophische Kultur nicht gerade in einer Kultur der Schwebe, der Balance, des bloßen »Vielleicht« bestanden? War die »Koketterie« des »Sowohl-als-auch« für ihn nicht Sinnbild und Lebensform des Menschen in der Moderne überhaupt? Doch dies, so Simmel jetzt, war eben nur der »moderne Mensch« und nicht »der neue Mensch, von dem jetzt unsere Hoffnung spricht«.56 Was Simmel im Krieg fordert, sind daher auch nicht mehr die »Reize des gleichzeitigen Für und Gegen, des Vielleicht, des verlängerten Vorbehaltes der Entscheidung«;57 ganz im Gegenteil: Es ist die Wahrnehmung der »absoluten Situation«58 und der Mut zur »absoluten Entscheidung«: »Ich liebe Deutschland und will deshalb, daß es lebe [,..].«59 Und eine solche Liebe, so schreibt er im September 1914 an seine Schülerin Margarete Susman, »hat mit keiner ratio, mit keiner >Idee< zu tun«.60 Es sei, so Simmel, der hier die »Koketterie« der Vorkriegszeit gegen den Dunst einer schwülen Deutschland-Mystik einzutauschen scheint, vielmehr die Liebe zu einer reinen »Seele«, deren äußerer »Körper« bedroht sei: 54 55

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Simmel, G. 1917a,21. Ebd., 22. Und an anderer Stelle heißt es in seinen Kriegsschriften: »Die friedlichen Zeiten der allmählichen Übergänge, der Mischungen, des angenehmen Halbdunkels, in dem man sich auch den einander ausschließenden Gegensätzen abwechselnd hingeben kann, durften vorbei sein. Die Entschlossenheit, mit der das deutsche Volk in diesen Jahren seinen Weg geht, wird hoffentlich auch in dieses Gebiet innerster Entscheidungen weiterstrahlen« (ebd., 43). Ebd., 27. Vgl. dazu oben S. 64f. Simmel, G. 1917a,22. Ebd., 23. »[...] zum Teufel mit aller >objektiven< Rechtfertigung dieses Wollens aus der Kultur, der Ethik, der Geschichte oder Gott weiß was heraus. [...] Wir würden für Deutschland kämpfen, auch wenn damit einem angeblichen >Sinn der Geschichtec schnurstracks entgegengehandelt würde« (ebd.). G. Simmel an M. Susman, 21.9.1914 (abgedruckt in: Schlösser 1964, 308-311, hier: 310).

Und darum: wir kämpfen jetzt mit äußeren Waffen um etwas gar nicht Äußeres: um Weltstellung, Macht, materielle Existenz. Wir kämpfen mit unseren Körpern sozusagen um den Körper von Deutschland. Allein er ist eben der Körper der Seele von Deutschland.61

Trotz seines furor teufonicus der ersten Augusttage wird man Simmel, vor allem in den späteren Kriegsjahren, jedoch kaum zu einem tobenden Militaristen und Kriegstreiber erklären können.62 Gerade die militärische Auseinandersetzung mit Frankreich erschien ihm stets besonders widersinnig, denn, so schreibt er 1915 in einem Beitrag für das Berliner Tageblatt, selbst wenn Deutschland »um seiner selbst willen bis zum letzten Mann das Elsaß halten muß und wird - weltgeschichtlich ist es ziemlich gleichgültig, ob diese vierzehntausend Quadratkilometer [...] deutsch oder französisch sind«.63 Es sei daher, wie er fortfährt, »eine der Paradoxien dieses Krieges, daß seine unerhörtesten Opfer gerade zwischen uns und demjenigen Volke fallen, dessen Konflikt mit uns den am wenigsten weitgreifenden Inhalt hat«.64 Sorgen wird Simmel sich dabei nicht nur um das allgemeine Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich gemacht haben, sondern vermutlich auch ganz konkret um das Schicksal seines in Frankreich in Zivilgefangenschaft geratenen Schülers.65 Um so erleichterter wird er daher gewesen sein, als er von Margarete Susman nach den ersten Kriegswochen erste Hinweise auf Groethuysens Verbleib erhält: »Die Nachricht von Groetfhuysen] war natürlich eine Erlösung«, so schreibt er ihr am 21.9.1914 zurück.66 Gleichwohl kann Simmel nicht umhin, in Groethuysens Abwesenheit von der militärischen wie intellektuellen Front ein tiefes Erlebnis-Defizit zu sehen, das seinem Schüler, wie er in seinem Brief an Margarete Susman fortfährt, auch späterhin als bleibender Makel anhaften werde: Daß er diese große, unwiederholbare Zeit in einer derartig vertrackten und abstrusen Situation verbringt - im Gefängnis und als Gefängnisorganisator - darin scheint mir, in irgendeiner Ecke, etwas von Sinn zu stecken. Es ist ein, freilich ins Groteske umschlagendes Symbol der singulären und paradoxen Stellung, die er der Welt gegenüber nicht nur hat, sondern auch sucht; dieses Schicksal enthält ein wenig mehr als bloßen äußeren Zufall. Und daß zwischen den Menschen, die diese Zeit erlebt haben und denen, die von

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Ebd., 309. Simmels Haltung im Krieg ist immer wieder kontrovers diskutiert worden; zum aktuellen Stand der Debatte vgl. die Beiträge von Fitzi (1997), Latzel (1997) und vor allem Kramme (1997) im siebten Band des Simmel-Newsletters. Simmel, G. 1915. Ebd. So traf Simmel, wie er an gleicher Stelle berichtet, vor »mehreren Monaten [...] in einem neutralen Land mit einem in wichtigen Missionen tätigen Franzosen zu einer Besprechung zusammen, in der es sich um unsere Zivilgefangenen in Frankreich handelte; der Franzose hatte sich bereit erklärt, für Verbesserungen in der Lage gewisser internierter Deutscher zu wirken« (ebd.). G. Simmel an M. Susman, 21.9.1914 (abgedruckt in: Schlösser 1964, 308-311, hier: 308). 85

ihr nur abgesperrt waren, künftig eine Lücke und Leere liegen wird, ist gewiß richtig [...].67 Simmel denkt dabei offenbar keineswegs nur an die Generation der Frontsoldaten, sondern auch an sich selbst, denn, so bricht es förmlich aus ihm heraus, »allein, was mich persönlich betrifft, so ist damit nur eine schon bestehende Negativität zwischen Gr[oethuysen] und mir quantitativ erweitert«.68 Simmel kann in dieser Zeit der »absoluten Entscheidung« Groethuysens bescheidenden Versuch einer humanitären Hilfe für deutsche, aber auch französische Zivilgefangene diesseits und jenseits des Rheins, seine Tätigkeit als »Gefängnisorganisator«, wie er es abschätzig nennt, offenbar nicht tolerieren. Sein Abgrenzungsbedürfhis geht sogar so weit, sich gegenüber Margarete Susman selbst von Groethuysens Schülerschaft zu distanzieren: Ich habe nie Bedürfnis noch innere Möglichkeit gehabt, mit ihm über subjektiv Persönliches zu sprechen. Ja, diese Hemmung geht sogar in das objektiv Persönliche hinein: über meine eigenen zentralen philosophischen Probleme und Lösungsversuche äußere ich mich kaum ihm gegenüber, ich folge ihm immer in seine Probleme hinein und unsere Unterhaltungen bewegen sich um seine primären und produktiven Interessen, nicht um meine...69 Als Groethuysen später von Simmels furor teutonicus, von seinen Angriffen auf Bergson und von der Rücknahme seines philosophischen Ethos der Schwebe zugunsten eines überstürzten Dezisionismus der nationalen Selbstbehauptung erfährt, ist er entsetzt. Als er im April 1920 Charles Du Bös zum erstenmal seit Kriegsbeginn wiedersieht, kommen beide schnell auf ihren gemeinsamen früheren Lehrer zu sprechen, der wenige Tage vor Kriegsende an einem Krebsleiden gestorben war. »Wir haben lange über Simmel gesprochen«, notiert Du Bös anschließend in sein Tagebuch: Simmel war der Welle des Nationalismus, von der ganz Deutschland während des Krieges zu gewissen Zeiten erfaßt wurde, nicht gänzlich entgangen. Eines Tages sagte er zu seiner Freundin Frau von Bendemann (Margarete Susman)70 - und zu deren größtem Schrecken: »Wo wir Seele zu sagen pflegten, müssen Sie jetzt Deutschland sagen«. [...]. Ich kann das nicht ertragen, sagt G[roethuysen]. Gewisse Schriften von Simmel während des Krieges sind von dieser Sache nicht ganz frei. Es ist, als wolle man mit einer Formulierung wie »Die Welt als Wille und Vorstellung« aus gegebenem Anlaß ein Kriegerstandbild Hindenburgs errichten. Das ist mir zuwider.71

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Ebd. Ebd. Ebd. Margarete Susman hatte 1906 den Kunsthistoriker und Maler Eduard v. Bendemann geheiratet. Du Bös 1981, 78 (Tagebucheintrag vom 12.4.1920). Groethuysen war übrigens nicht der einzige Simmel-Schüler, der sich während des Krieges bzw. nach Kriegsende von seinem Lehrer distanzierte, ähnliches gilt auch für Ernst Bloch und Georg Lukäcs (vgl. Lichtblau 1996, 402ff.).

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Groethuysens Auseinandersetzung mit Simmels Kriegspublizistik erwies sich für ihn, wie er 1919 an Margarete Susman schrieb, als »etwas ganz Wesentliches«, dennoch führte sie nicht zur gänzlichen Aufkündigung seines philosophischen Erbes.72 Im Gegenteil: Während Simmel sich im Krieg von der philosophischen Kultur der Schwebe mehr oder weniger losgesagt hatte, versuchte Groethuysen in der unmittelbaren Nachkriegszeit, genau diesen Aspekt der Simmelschen Philosophie zu retten. So wird er auch weiterhin die Philosophie des »Vielleicht« gegen den Altersstarrsinn philosophischer Systeme zu verteidigen versuchen; doch wird er es nun nicht mehr als Schüler Simmels tun, sondern vielmehr im Anschluß an eine diskursive Tradition, deren Ursprünge er bis ins 17. Jahrhundert zurückdatiert und der er selbst fortan folgen wird: »Ich habe viel darüber nachgedacht, was Ihr Franzosen unter esprit de finesse versteht«, so äußert sich Groethuysen im April 1920 Charles Du Bös gegenüber und stimmt dessen - Vauvenargues entlehnter Definition der französischenßnesse zu: »Die Feinheit ist der Gebrauch von Ausdrücken, die viel zu erraten übriglassen.«73 Genau diese »Feinheit« sieht Groethuysen in der literarischen und philosophischen Tradition der großen französischen Moralisten von Montaigne bis Rivarol verwirklicht, die den menschlichen Geist in seinem Schwebezustand zu fassen versuchten und zu denen die Deutschen in ihrem Bedürfnis nach Schwere und Tiefsinn nur selten Zugang fänden. Den Deutschen müsse vielmehr verständlich gemacht werden, so Groethuysen weiter, »wie sehr sie sich irren, wenn sie von der französischen Oberflächlichkeit reden, wie sie es ohne Unterlaß tun«.74 Denn nicht »Oberflächlichkeit« sei das Kennzeichen des französischen Geistes, sondern im Gegenteil die geradezu »schöne Eigenschaft des Taktes, eines Taktes der Gefühle, der Gedanken, des Ausdrucks«, den er selbst »von jeher mit den bedeutendsten Werken der französischen Literatur in Verbindung gebracht« habe.75 In der Tat hatte Groethuysen bereits in seiner Vorlesung von 1907 über die Philosophie der Französischen Revolution ausführlich über den esprit de finesse berichtet, den Blaise Pascal gegen Ende des 17. Jahrhunderts dem more geometrico der Rationalisten entgegengesetzt hatte.76 Der esprit de finesse, der dem Differenzierten, der Nuance und der Andacht zum Detail galt, war für Groethuysen schon damals die spezifische Denkhaltung des (früh-)modernen Menschen, dem die Erreichbarkeit der absoluten Wahrheit ungewiß geworden war: Die Menschen des ausgehenden 17. Jahrhunderts werden beherrscht von dem Gedanken, daß das Leben absurd ist, daß in der geistigen Welt nichts sinnvoll ist und daß die Welt

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B. Groethuysen an M. Susman, 24.3.1919 (Kopie, Privatbesitz). Du Bös 1981, 80 (Tagebucheintrag vom 18.4.1920). Ebd. Ebd. Die hier zitierte Tagebuchaufzeichnung Du Bos' wurde erstmals 1948 in den Cahiers du Sud veröffentlicht, dort allerdings versehentlich auf »vendredi, 16 avril 1908« datiert. (Eine Überprüfung des Datums ergab jedoch, daß der 16. April 1908 nicht auf einen Freitag fiel, die Erstdatierung insofern nicht richtig ist.) Groethuysen 1956a, l Off. 87

der Natur ein undurchsichtiges Geheimnis bleibt. Pascal wird gepackt von der Angst vor der Unendlichkeit des Alls, die der menschliche Geist nicht begreifen kann.77

Der esprit deßnesse, so Groethuysen, drücke als Denkstil genau diese Lebenserfahrung des Zögerns und des Ungeklärten aus: Der Mensch steht [...] zwischen dem Nichts und dem Unendlichen, zwischen zwei Unendlichkeiten, dem unendlich Kleinen und dem unendlich Großen. Wir stehen zwischen diesen beiden Unendlichkeiten und können keinen sicheren festen Halt finden. Das Endliche läßt sich nicht definieren zwischen diesen beiden Unendlichkeiten, die es einschließen und zugleich fliehen.78

Die Nähe des esprit deßnesse zu Simmels philosophischer Kultur und Bergsons neuer »Metaphysik der Intuition« liegt auf der Hand. Simmel hat diese Nähe allerdings nicht gesehen,79 wohl aber Bergson, der 1922 schreibt, daß es »keinen Gedanken ohne den esprit deßnesse« gebe, denn dieser sei gewissermaßen »die Reflexion der Intuition in der Intelligenz«.80 Etwas Ähnliches wird vermutlich auch Groethuysen gemeint haben, als er gegenüber Charles Du Bös auf den esprit de finesse zu sprechen kam. Doch sah Groethuysen zu dieser Zeit im esprit de finesse nicht nur eine geistesgeschichtlich tradierte Möglichkeit, der »Intuition« zu ihrem Recht zu verhelfen, sondern zugleich auch eine Art nationale Tugend der Franzosen, die in seinen Augen aufs schärfste mit dem Denkgestus der Deutschen kontrastiert. So berichtet Du Bös folgende Äußerung Groethuysens: Der Deutsche und vielleicht mehr noch die Deutsche geben sich hingegen einer völligen geistigen Schamlosigkeit hin; und wenn sie diese mit ihrem Gesprächspartner nicht praktizieren und Gegenseitigkeit nur um den Preis spürbarer Unschicklichkeit erreichen können, so geraten sie sofort in völlige Verzweiflung, und da sie sich keinerlei Grund für eine derartige Verweigerung vorstellen können, bleibt ihnen nichts anderes Übrig, als bei dem Franzosen und der Französin auf eine unheilbare Oberflächlichkeit zu schließen. Doch liegt, von nahem betrachtet, nicht mehr echte Oberflächlichkeit in einem systematischen Geist wie beispielsweise Hegel, der zu seinem Publikum gewandt zu sagen scheint: »Seht her, in diesem Buch liegt die Wahrheit eingeschlossen, lest und erfreut Euch daran, denn endlich seid Ihr von allen Ungewißheiten erlöst«? - und dabei

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Ebd., 13. Ebd., 12. Als ein Meister dieses Stils erschien ihm schon damals Diderot (ebd., 26ff.), den er einige Jahre später geradezu als den »m&aphysicien de l'esprit de finesse« präsentiert (ders. 1913b, 78): »Les mots, les phrases ne seront pour lui que des signes qui, en indiquant des voies multiples ä l'esprit, mettent l'imagination ä l'aise. Autour de Pidoe qui n'est qu'esquissee se grouperont les idoes accessoires flottantes et variables. Le mouvement des pensdes ne fera que passer par des expressions nuancees et souples pour redevenir du mouvement, de la vie« (ebd., 75). Das »lebensphilosophische« Vokabular zeigt bereits an, wie sehr bei Groethuysen die Gestalt Diderots mit Theorieelementen Bergsons und Simmels durchwoben ist; vgl. dazu Böhringer 1978, 139. Für Simmel tendierte der esprit de finesse mit seinen im Umfeld der höfischen Gesellschaft geprägten Konversationsformen hingegen zu »Oberflächlichkeit« und bloßer »Karikatur« (vgl. Simmel G. 1917b, 118f). Bergson 1922, 87.

vergißt, daß er durch eine solche Haltung der Willkür Tür und Tor öffnet, der gerade der französische esprit de finesse so gut zu entgehen weiß.81 Der »deutsche Tiefsinn« verkehrt sich für Groethuysen somit in sein genaues Gegenteil, in eine willkürliche Oberflächlichkeit, die dem Schwebe-Zustand des esprit de finesse nicht gewachsen ist. Das »deutsche Denken«, so Groethuysen in einem weiteren Gespräch mit Du Bös aus dieser Zeit, bewege sich stets in Extremen, das »französische Denken« hingegen auf der Ebene des »Dazwischen«: Ich könnte mir ein Buch vorstellen mit dem Titel: »Von Parzival zum Stechschritt«, das unter dieser etwas groben Überschrift nichtsdestotrotz einen wirklichen philosophischen Gehalt haben könnte. Dieses Reich der Mitte, diese eigentlich menschliche Region, das, was Pascal als das »Dazwischen« bezeichnet hat, [...] das ist es, was dem Deutschen fehlt und weshalb die Gefühlsregung eines Deutschen niemals mein Interesse wecken kann: Sie besteht nicht in einer Stimmung, sie ist immer Frucht eines Automatismus oder einer reinen Geistigkeit. [...] Ich erinnere mich, mit welch eigenartiger Mischung von Verbitterung und Bewunderung ich 1916 ein Buch mit dem Titel Kriegsbriefe deutscher Studenten gelesen habe. Bevor ich dieses Buch las, wußte ich selbst nicht, wie tief die ganze intellektuelle deutsche Jugend dem geistigen Einfluß unseres Lehrers Simmel ausgesetzt war. In all diesen Briefen fand ich einen gewissen Ton, einen gewissen Akzent, fast einen bestimmten Satzbau wieder, den Sie und ich so gut kennen. All diese jungen Leute standen dem Tod gegenüber als dem großen Erlebnis, dem großen Abenteuer. Auf ein einziges Ziel hatte sich bis dahin all ihr Bemühen gerichtet: dies Erlebnis hervorzurufen und in ihrer Seele zu erfahren - und nun haben ihnen die Tatsachen dieses Erlebnis von außen angeboten: Die Tatsache der Front, das war das eigentliche Erlebnis. Sie erwarteten es mit einer Erregung, die fast schon Freude war. Und ich war verbittert, daß keiner von ihnen auch nur ein einziges Mal erwähnte, daß es nicht nur darum ging, den Tod selbst zu akzeptieren, sondern auch darum, ihn anderen zuzufügen. Daß sich der Deutsche niemals diese Frage gestellt hat, das war es, worunter ich zweifellos während des ganzen Krieges am meisten gelitten habe... Doch es ist immer das gleiche: die schwindelerregenden Tiefen des innerlichen Lebens, der Automatismus vorinstallierter Reflexe. Die Häufigkeit, mit der diese beiden Elemente ins Spiel kommen, gleichzeitig anzutreffen sind, macht den Deutschen aus und zeigt, weshalb er nach meinem, aber ich glaube auch nach dem französischen Verständnis, kein Mensch ist.82 »Der Deutsche«: für Groethuysen also kein Mensch, sondern vielmehr eine Art Zwitterwesen aus reiner Geistigkeit und technischem Automatismus. Die Erfahrungen des Krieges und seine persönliche Verbitterung über Simmel münden bei Groethuysen so in eine Enttäuschung über die geistigen Traditionen seines Heimatlandes überhaupt. Was er von diesen positiv in Erinnerung behält, wird im Sinne einer rückwirkenden Durchstreichung (Husserl) von einer neuen Tradition, derjenigen des esprit de finesse, überlagert und auf einen veränderten Horizont, den der französischen Geistesgeschichte, ausgerichtet. Auch Groethuysen scheint damit wie Simmel eine »Entscheidung« angesichts der »absoluten Situation« des Krieges getroffen zu haben. Am Scheideweg von »Kultur« und »Zivilisation« optiert er allerdings für das Mutterland der letzteren, deren philosophischem Erbe 81 82

Du Bös 1981, 81 (Tagebucheintrag vom 18.4.1920). Ebd., 79f. 89

er sich von nun an verpflichtet fühlt, auch wenn Frankreich ihn vier Jahre lang an seiner Freizügigkeit gehindert hatte.

3. Boheme oder Bürgerlichkeit? Noch vor Ende des Ersten Weltkrieges einigten sich die Mittelmächte und die französische Regierung im April 1918 auf eine Rückführung der im jeweiligen Land internierten Zivilisten über die Schweiz.83 Groethuysen stellte daraufhin ein Repatriierungsgesuch,84 doch der Zusammenbruch des Kaiserreichs und die revolutionären Unruhen in Deutschland verzögerten zunächst seine Abreise,85 so daß er erst am 20. Februar 1919 die Französische Republik in Richtung Schweiz verlassen konnte.86 Als Margarete Susman ihren Freund an der französischschweizerischen Grenze in Empfang nahm, war sie schockiert: Kaum ist mir je eine solche Veränderung eines Menschen begegnet. Er, der immer gut Angezogene, kam mit einem völlig zerfetzten Anzug zurück und war von einer solchen Angst vor allem und jedem gepeinigt, daß ihm alles Neue als fremd und feindlich erschien.87

Auch Alix Guillain war diese Zustandsveränderung an ihrem Lebensgefährten bereits seit einiger Zeit aufgefallen, und so hatte sie bereits im Januar 1919 an Margarete Susman geschrieben, um sie auf Groethuysens verändertes Erscheinungsbild vorzubereiten: [...] unser Freund [...] hat mehr denn je jegliche Selbständigkeit und jeglichen praktischen Sinn fürs Leben verloren, und ich habe ein wenig Angst, ihn in seinem jetzigen Zustand sich selbst zu überlassen.88

Groethuysen selbst scheint zunächst keine Eile gehabt zu haben, aus der Schweiz nach Deutschland zurückzukehren. Seine Mutter sorgte sich noch Wochen später, weil ihr Bernhard noch immer nicht mitgeteilt habe, was er eigentlich zu tun gedenke; aus seinen Briefen schließe sie jedoch, daß er zunächst in der Schweiz bleiben wolle.89 In der Tat scheint sich Groethuysen, der sich vermutlich schon damals weder nach »Parzival« noch nach dem »deutschen Stechschritt« zurücksehnte, auf einen längeren Aufenthalt in der Schweiz vorbereitet zu haben, denn, so schreibt er an Margarete Susman, er betrachte sich immer »noch moralisch als französischer Kriegsgefangener« und könne daher nach Deutschland nicht so 83 84 85 86 87 88 89

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Farcy 1995, 120. Archives dopartementales de PIndre, Chäteauroux, dossier: »Etrangers 1914-1919«, R 867 (2). Farcy 1995, 121. Archives dopartementales de PIndre, Chäteauroux, dossier: »Etrangers 1914-1919«, R 867 (2). Susman 1964, 93. A. Guillain an M. Susman, 28.1.1919 (DL, Nl. M. Susman, A: 32). O. Groethuysen an M. Susman, 28.3.1919 (DL, Nl. M. Susman, A: 32).

einfach zurückkehren.90 Als Gründe für seine Haltung gab er dabei unter anderem an, daß er nicht der Ansicht Vorschub leisten wolle, »daß man keinem Deutschen vertrauen könnte«; außerdem wolle er seine »günstige Stellung« zwischen den Nationen, »die für später ideelle Wirkungsmöglichkeiten« biete, nicht gefährden.91 Doch nicht nur die Rücksichtnahme auf seine französischen Freunde und Förderer wird Groethuysen zögern lassen haben, auf schnellstem Wege in sein Heimatland zurückzukehren. Vielmehr scheint er sich selbst nicht sicher gewesen zu sein, in Deutschland - zumal in einem durch den Krieg sozial, politisch und auch weltanschaulich zerrütteten Deutschland -jemals wieder heimisch werden zu können. An Margarete Susman schreibt er Ende März 1919: Wie Sie es ja selbst gut wissen, bin ich aus dem Stadium der Erwägungen noch nicht hinaus, die sich zwischen zwei Unbekannten hin und her bewegen. Die eine Unbekannte bin ich selbst. Das ist die Folge meines Lebens während der letzten Jahre. [...] In diesem Plane kommt es nun auch wesentlich auf das andere X: Deutschland und überhaupt die geschichtliche Lage an.92

Seine zögernde Haltung erklärt er dabei aus dem Umstand, daß er, wie er bereits einige Tage zuvor an seine Freundin geschrieben hatte, »zugleich zu viel und zu wenig von Deutschland« wisse.93 Was Groethuysen vor dem Krieg mehr oder weniger vertraut gewesen war, scheint somit durch die Erfahrung der Jahre 1914 bis 1918 für ihn radikal seinen Sinn geändert zu haben: Aus der Heimat »Deutschland« war für ihn eine »Unbekannte« geworden, der Horizont, in dem er sich vormals sicher bewegt hatte, erschien ihm nun dunkel und verstellt. Den einzigen Halt in dieser Zeit des Schwankens sah er einmal mehr in der Arbeit an seinem Buch, »weil dieses allein etwas Kontinuierliches [...], etwas Bestimmtes« sei und er »sonst noch nichts Bestimmtes« sehe:94 Ich habe das richtige Leben nicht gefunden, dieses hier ist es nicht, und es hätte etwas so Beruhigendes, könnte man es finden, und es wäre nicht mehr dieses Zufällige, wie von außen her (durch Beruf, Familie u. dgl.) Gegebene.95

Auch die Schweiz bot ihm langfristig jedoch keine wirkliche Perspektive, wie er in einem weiteren Brief an seine Freundin schreibt: Ich weiß, daß es hier keine Wirkungsmöglichkeiten gibt, es müßten dazu besondere Umstände eintreten. Insofern bin ich auch den Deutschen im Reich näher gerückt. Sie sind die Bedürftigen, die Menschen, denen man etwas zu sagen hat. Mehr als die Franzosen.96

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B. Groethuysen an M. Susman, 24.3.1919 (Kopie, Privatbesitz). Ebd. B. Groethuysen an M. Susman, 28.3.1919 (Kopie, Privatbesitz). B. Groethuysen an M. Susman, 26.3.1919 (Kopie, Privatbesitz). Ebd. B. Groethuysen an M. Susman, 2.5.1919 (Kopie, Privatbesitz). B. Groethuysen an M. Susman, 31.3.1919 (Kopie, Privatbesitz). 91

Eine Rückkehr nach Deutschland scheint für Groethuysen nun also nicht mehr völlig ausgeschlossen und die Angst vor der unbekannten Heimat sich zu einer Art Mitleid für eine desorientierte Nation gewandelt zu haben: Der Krieg hat den Menschen - speziell den Deutschen - Erlebnisse aufgezwungen, er hat die Idee der reinen Innerlichkeit verschüttet. [...] Mir kommt es vor, als ob viele bei uns jetzt so hilflos seien, weil sie einen Ausgleich suchen zwischen dem Zwang von außen und den inneren Notwendigkeiten.97 Als eine Hilfsbedürftige rückt ihm Deutschland, diese »Unbekannte«, somit also wieder näher, und der unklare Horizont seiner Zukunft beginnt sich zu lichten. Zwar habe er, wie er ein weiteres Mal an seine Freundin schreibt, seine Skepsis noch nicht ganz überwunden, wohl aber die »lähmende Unsicherheit vor dem Unbestimmten, vor allem vor dem Unbekannten, das mir so fernab gerückt war, mit Menschen und Geistern, die ich nicht mehr kannte: vor Deutschland«.98 Trotz aller Skepsis, die in seinen Briefen an Margarete Susman vom Frühjahr 1919 zum Ausdruck kommt, kehrte Groethuysen daher im Verlauf des Jahres tatsächlich nach Berlin zurück und versuchte, an sein akademisches Leben der Vorkriegszeit wieder anzuknüpfen. Als er im Sommersemester 1920 seine Vorlesungstätigkeit an der Berliner Universität wieder aufnahm, stieß er durchaus auf Interesse von selten der Studentenschaft sowie der dortigen Professoren.99 Dennoch scheint sich Groethuysen im veränderten Deutschland nicht mehr wohl gefühlt zu haben. So konnte er, wie Margarete Susman sich später erinnert, »die vollkommene Veränderung Deutschlands [...] nicht verstehen«:100 Er spottete nicht nur unermüdlich über den Versailler Vertrag, er begriff nicht, warum alle bisher in freien Berufen stehenden Menschen auf einmal Stellungen und immer »mit Pension« suchten, er verstand nichts vom Zerfall aller Verhältnisse durch die Inflation [...]·101 Groethuysen hat sich an dieser Suche nach »Stellungen mit Pension« selbst kaum beteiligt. So schlug er Angebote der Frankfurter Zeitung und der ebenfalls in Frankfurt angesiedelten Arbeiterakademie aus, die Margarete Susman ihm vermittelt hatte;102 auch Hinweise auf freiwerdende akademische Anstellungen in Heidel-

97

Ebd. Einige Jahre später schreibt er von seinen Eindrücken aus Berlin: »Ich glaube, daß die Studenten jetzt ein größeres Interesse an allgemeinen Fragen haben [...]. Das ist wohl eine Wirkung der Ereignisse, man lebt eher in dem Gefühl des Allgemeinen, [...] die Menschen wollen wissen, woran sie eigentlich sind, und um es zu wissen, suchen sie nach synthetischen Anschauungen« (B. Groethuysen an M. Susman, 19.5.1923; DL, Nl. M. Susman, A: 32). 98 B. Groethuysen an M. Susman, 12.4.1919 (Kopie, Privatbesitz). 99 Vgl. dazu den Brief O. Groethuysens an M. Susman vom 16.5.1920 (Nl. O. Groethuysen, Familienbesitz). 100 5«ima«1964,93. 101 Ebd. 102 Vgl. dazu die Briefe von M. Susman an B. Groethuysen vom 28.3.1919 und 12.3.1920 (Kopien, Privatbesitz). 92

berg und Göttingen verfolgte er nicht weiter,103 und dies, obwohl das Familienerbe durch die Kriegsinflation, wie seine Mutter in einem Brief andeutete, drastisch vermindert war.104 Dem bürgerlichen Leben in Deutschland schien Groethuysen nur wenig abgewinnen zu können. Bei seiner unermüdlichen Abwägung zwischen dem Leben diesseits und jenseits des Rheins gewann seine Pariser Existenz einmal mehr die Oberhand. Seine Mutter schreibt 1920 besorgt an Margarete Susman: Bernhard geht mit dem Gedanken um, nach Schluß des Sommersemesters nach Paris zurückzukehren, dort, unter dem Protektorat und mit Hilfe von Frl. G[uillain] einen literarischen Wirkungskreis zu finden, der ihm ermöglicht, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Wie wenig sympathisch mir dieser Plan ist, können Sie sich denken [...].IOS Doch trotz aller mütterlichen Einwände blieb Groethuysen seinem Plan treu und kehrte im Sommer 1920 nach Paris zurück, wo er fortan den Großteil seines Lebens in materiell prekären Verhältnissen verbringen sollte. Nach Berlin wird er künftig nur noch für die wenigen Monate des Sommersemesters zurückkehren, um seine Lehrverpflichtungen an der Berliner Universität zu erfüllen und Deutschland, die große »Unbekannte«, nicht völlig aus dem Blick zu verlieren. In Paris angekommen bezieht Groethuysen im Herbst 1920 ein Künstler-Atelier an der Rue Campagne Premiere, das er in den nächsten fünfundzwanzig Jahren bewohnen wird. An seine Mutter schreibt er im September 1920 über sein neues Pariser Leben: Hier habe ich [...] bis jetzt still für mich gelebt, ohne irgendwelche Besuche zu machen, und mich ganz in meine Arbeit vertieft. Das Atelier, in dem ich wohne, ist angenehm ruhig, da es kein Fenster auf die Straßen hat, es hat auch den Vorteil, recht geräumig zu sein, so daß ich ohne Schwierigkeiten meine Papiere ausbreiten kann.106 Was Groethuysen seiner Mutter in diesem Brief jedoch nicht mitteilt, ist die Tatsache, daß Alix Guillain bereits seit längerer Zeit dasselbe Atelier bewohnt.107 Über 103

Vgl. dazu den Brief von Ch. Du Bös an B. Groethuysen vom 8.5.1920 (BLJD, Nl. Charles Du Bös, MS 38040/1) sowie das Schreiben B. Groethuysens an P. Ritter vom 29.12.1921 (AABBAW, Nl. P. Ritter, 3). 104 Olga Groethuysen zeigte sich gegenüber Margarete Susman daher sehr in Sorge um die finanzielle Lage ihres Sohnes: »[...] Bjemhard] muß jetzt unbedingt suchen etwas zu verdienen, bei den so rasend gestiegenen Preisen kann er unmöglich von dem leben, was ich ihm gebe und wer weiß, wie lange überhaupt noch geben kann [...]«(O. Groethuysen an M. Susman, 16.5.1920; Nl. O. Groethuysen, Familienbesitz). 105 Ebd. 106 B. Groethuysen an O. Groethuysen, 21.9.1920 (Nl. O. Groethuysen, Familienbesitz). 107 Alix Guillain bewohnte bereits seit 1911 die Atelier-Anlage an der Rue Campagne Premiere, wie aus einem Brief an Gustav Mayer vom 14. Februar des gleichen Jahres hervorgeht (IISG, Nl. G. Mayer, Ergänzung 43); vgl. hierzu auch die Angaben von Jean Paulhan (1969, 551). An Groethuysens Verschwiegenheit in dieser Angelegenheit wird sich übrigens auch später nichts ändern. In keinem der zahlreichen Briefe, die er während der Zwischenkriegszeit an seine Mutter nach Berlin schickt, erwähnt er auch nur mit einem Wort seine Lebensgefährtin. 93

ihr gemeinsames Leben ohne Trauschein berichtet Jean Paulhan, der eine Zeitlang Tür an Tür mit den beiden gewohnt hat: Es gibt Gatten, die schließlich vergessen, daß sie miteinander verheiratet sind (das ist sogar bei den meisten Eheleuten der Fall), aber keinen einzigen Augenblick während ihres langen treuen Lebens zu zweit [...] hatte Alix je im geringsten vergessen, daß sie, aus Prinzip, in freier Gemeinschaft miteinander lebten.108 Margarete Susman zeigte sich hingegen weniger verständnisvoll, als sie von Groethuysens gewandelten Ansichten über die Liebe erfuhr: »Für mich schien alles zu Ende, da Groethuysen [...] das mir Fremdeste sanktionierte.«109 Sie kündigte ihm zwar daraufhin nicht die Freundschaft auf, doch wird sie Groethuysens Libertinage für ein weiteres Anzeichen seiner in den Kriegsjahren begonnenen Distanzierung von bürgerlichen Lebensformen genommen haben. Denn im »Eigensten«, so schreibt sie später rückblickend, »war er ein leidenschaftlich unbürgerlicher Mensch«;"0 ein Eindruck, den Jean Paulhan sicherlich bestätigt hätte. Über das Erscheinungsbild Groethuysens während seiner Pariser Zeit berichtet Paulhan später: Er sprach im Auf- und Abgehen in seinem Atelier, einen Schal um den Hals. Ob er in Unterhosen war, einen Schlafanzug oder Hosen anhatte (die er manchmal zuzuknöpfen vergaß), immer sprach er mit der gleichen Lebhaftigkeit und rauchte dazu ununterbrochen schwarze Zigaretten [...]. Er jedoch mißtraute den Dingen aufs äußerste. Er hatte eine Art, wie ich sie nur bei ihm gesehen habe, eine Kochplatte oder einen elektrischen Wasserkessel mit wachsam schrägem Blick zu beobachten, wie man ein kleines wildes Tier anblickt. Ein Gashahn, der anfing zu pfeifen, genügte, ihn in Schrecken zu versetzen: und wenn Alix nicht da war, lief er sofort zu uns - denn wir bewohnten damals zwei nebeneinanderliegende Ateliers-, um sich Rat zu holen.1" Mit solchen und ähnlichen Bildern evozierte Paulhan in seinen Erinnerungen nicht ohne eine gewisse Nostalgie die Nonchalance einer künstlerisch-intellektuellen Boheme, die sich ungeachtet bürgerlicher Konventionen ganz dem geistigen Leben verschrieb. Paulhan war sich dabei durchaus bewußt, was ihn damals, zu Beginn der zwanziger Jahre, mit Groethuysen verband: Sie waren Nachbarn, sie waren Schriftsteller, sie interessierten sich überdies wechselseitig für ihre Arbeiten. Aber das alles wäre noch zu »wenig gewesen: unsere soziale Lage (wenn ich so sagen darf) war ebenfalls die gleiche«, so berichtet Paulhan, denn beide lebten zu dieser Zeit ohne regelmäßiges Einkommen in einer sozial ungesicherten Existenz.112 Aus dem erfolgversprechenden Privatdozenten und Lieblingsschüler Diltheys und Simmels, dem möglicherweise in Deutschland eine glänzende UniversitätsKarriere bevorgestanden hätte, war nach dem Krieg an der Schnittstelle von Infla™* Paulhan \969, 547.

109

Susman 1964, 94. Groethuysen hatte sich ihr gegenüber zuvor für die »vollkommene Freiheit im Leben der Geschlechter« ausgesprochen und auch den Ehebruch für legitim erklärt (ebd.). 110 Ebd., 65. 111 Paulhan 1947, 13. 112 Deri. 1969,552. 94

tion und persönlicher Orientierungskrise ein sozial »freischwebender« Intellektueller geworden, ein Lebenskünstler der Boheme, der am Rande des Existenzminimums die Philosophie der »Schwebe« zu leben versucht. Mit dem intellektuellen Traditionsbruch, der Kritik an Simmel und der »deutschen« Art des Denkens, ging so ein intellektueller Habituswandel einher: Der »Lieblingsschüler« wurde zum »Original«. An Margarete Susman schreibt Groethuysen - vermutlich Anfang der zwanziger Jahre - über seinen neuen Lebenswandel: [...] ich suche leichtsinnig zu sein, aber es gibt so wenig Menschen, die um mich sind, welche es sind. Alle haben sie das Vertrauen zum Leben verloren, alle flüchten sie in die Keller. Ich bleibe oben und suche zu lächeln, doch zieht es mich manchmal hinunter. Die Menschen sind alle so demütig geworden und vernünftig, ich werde zum Original, wozu ich eigentlich gar nicht geschaffen bin. [...] Es ist dies das merkwürdige Geheimnis in Paris ftlr mich immer gewesen: diese gewisse Selbstgenügsamkeit des Lebens, die so viele Fragen gar nicht mehr aufkommen läßt."3

4. Marx und Marianne Groethuysen lebte in Paris Anfang der zwanziger Jahre zunächst von kleineren Zuwendungen seiner Mutter und von den Einkünften Alix Guillains, die ihren Lebensunterhalt mit Gelegenheitstätigkeiten als Übersetzerin sowie als Redaktionssekretärin der sozialistischen Tageszeitung L'Humanite bestritt.114 Die Zeitschrift war 1904 von einer Gruppe Pariser Intellektueller um Jean Jaures - darunter übrigens auch Lucien Lovy-Bruhl und Charles Andler - gegründet worden, seit der russischen Oktober-Revolution jedoch zunehmend unter die Kontrolle der französischen Kommunisten geraten. Als sich diese Ende 1920 zur französischen Sektion der Kommunistischen Internationale, zum späteren Parti Communiste Frangais, zusammenschlössen, war auch die Redaktionssekretärin von L 'Humanite zugegen, die umgehend ihren Beitritt erklärte und der Partei fortan als aktives Mitglied ihr Leben lang die Treue halten wird."5 Neben ihrer Tätigkeit für L 'Humanite beteiligte sich Alix Guillain Anfang der zwanziger Jahre an weiteren sozialistischen Zeitschriften, so etwa an der feministischen L'Ouvriere oder der pazifistisch orientierten Intellektuellen-Zeitschrift 113 114

B. Groethuysen an M. Susman, undatiert (Kopie, Privatbesitz). Vgl. dazu den Brief A. Guillains an G. Mayer vom 5.10.1919 (IISG, Nl. G. Mayer, Ergänzung 43). In einem weiteren undatierten Brief an den sozialdemokratischen Journalisten und Historiker berichtet A. Guillain über ihre Tätigkeit: »Mon travail a PHumanito consiste d'abord ä traduire tous les documents socialistes allemands et anglais pour le journal et pour le parti, ensuite a donner et grouper les dopeches de Potranger, et ä ocrire des articles de temps en temps [...]. Mais vous me connaissez, je n'ai pas, malgro mon tempirament passionno en politique, le caractere qu'il faut pour faire un bon journaliste« (IISG, Nl. G. Mayer, Ergänzung 43); zu Geschichte und Profil von L 'Humanite vgl. Prochasson 1993, 201-206.

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Clarte, in denen sie selbst von Zeit 201 Zeit kleinere Artikel veröffentlichte."6 Aus ihren politisch-gesellschaftlichen Ansichten machte sie dabei keinen Hehl: Der jetzige Zustand der Gesellschaft, die kapitalistische Ordnung, die gänzlich auf unrechtmäßig erworbenen Gütern beruht, muß verändert werden. [...] Eine Utopie! wird der Bourgeois ausrufen. Früher einmal konnte das den Anschein haben, so werden wir antworten, doch jetzt gibt es die große Sowjetrepublik.117 Was sie an den revolutionären Vorgängen im Osten vor allem faszinierte, scheint die Aussicht auf eine umfassende Befreiung der Frau und der Familie gewesen zu sein: Die Familie ist gegenwärtig vor allem eine ökonomische Institution, die es ermöglicht, das Eigentum und die Einkünfte eines Mannes auf eine kleine Gruppe umzuverteilen, die er ganz besonders und im strengen Sinne des Wortes als die seine versteht.118 Die moderne Kleinfamilie sei daher auch nichts weiter als ein Ausdruck der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, »die sie geschaffen hat und die wir durch eine bessere ersetzen wollen«.119 Ist diese gesellschaftliche Umwälzung erst einmal erreicht, dann »werden wir jedes Kind zunächst einmal als Kind der großen Gemeinschaft betrachten [...] und die Ehe als eine organische Verbindung, die auf Zuneigung allein basiert und aufhört zu existieren, wenn diese Zuneigung nicht mehr besteht«.120 Dann endlich seien auch die Voraussetzungen geschaffen, so Alix Guillain in einem anderen Artikel, daß der Ehemann aufhöre, im Mittelpunkt der Welt der von ihm abhängigen Frau zu stehen,121 und der Traum, für den schon Lassalle gekämpft habe, könne dann endlich Wirklichkeit werden: »das Recht auf freie Liebe«, die »Würde der Frau« und »das Recht, sich ganz der Leidenschaft hinzugeben, ohne dafür irgend jemandem Rechenschaft schuldig zu sein«.122 In die Zeit der großen politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen in Europa nach dem Ersten Weltkrieg dürfte auch Groethuysens Hinwendung zum Kommunismus gefallen sein. Doch im Gegensatz zu seiner Lebensgefährtin war 116

Vgl. die Hinweise auf die Mitarbeit Alix Guillains an Clarta bei Sirinelli 1990, 99; ferner Moussinac 1951, 6; zu Clarte insgesamt: Prochasson 1993, 192-197. 117 Guillain 1924. 118 Dies. 1923a. 119 Ebd. 120 Ebd. 121 Dies. 1922a. 122 Dies. 1922b, 521ff. Besondere Bewunderung empfindet Alix Guillain in ihrem revolutionären Pathos übrigens für Rosa Luxemburg, deren Gefängnisbriefe sie ins Französische überträgt und veröffentlicht (vgl. Luxemburg 1921; sowie dazu Dandois 1988b, 92). Im Kampf für Gerechtigkeit, Frieden und die Befreiung der Frau ist die ermordete deutsche Revolutionärin ihr großes Vorbild: »Dans Phistoire des Evolutions, Rosa Luxembourg [sic!] restera une de ces grandes figures que nous aimons pour leur sensibilito autant que nous les admirons pour leur vaillance et dont Phoro'isme nous parait d'autant plus grand que nous les sentons plus humaines« (Guillain 1923b, 445f.). Rosa Luxemburg ist für Alix Guillain »ce grand coeur qui, avec un souci maternel, embrassait tout ce qui concernait la grande cause rivolutionnaire« (dies. 1922c, 10). 96

er selbst nie Mitglied einer politischen Partei. Der rückblickenden Einschätzung Jean Paulhans, Groethuysen sei ein »Marxist und Kommunist strikter Observanz« gewesen, wird man daher mit einer gewissen Skepsis begegnen müssen.123 Eher als ein strenger Parteisoldat wird Groethuysen vermutlich einer der vielen kriegsmüden Europäer gewesen sein, die in Lenin weniger den Berufsrevolutionär als vielmehr den Friedensstifter von Brest-Litowsk erblickt haben. So war die Hinwendung zum russischen Bolschewismus bekanntlich für viele Intellektuelle zunächst einmal nur die Fortsetzung ihres pazifistischen Engagements mit anderen Mitteln. Als der Präsident der Vereinigten Staaten zur Eröffnung der Pariser Friedensverhandlungen in die französische Hauptstadt kam, begrüßten ihn Tausende mit den Rufen »Vive Wilson! Vive Le"nin!«, und nur wenige unter ihnen werden in diesem \vilsonisme bolchevik der unmittelbaren Nachkriegszeit einen Widerspruch gesehen haben.124 Wie sehr Groethuysens, aber auch Alix Guillains »Kommunismus« in diesem Sinne auch noch in späteren Jahren zutiefst pazifistisch grundiert war, geht aus einer sehr viel späteren Beobachtung Jean Gue"hennos hervor, der nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941 in sein Tagebuch notiert: Der alte Groethuysen und seine Freundin sind traurig und beunruhigt. Als Kommunisten haben sie sich niemals über den deutsch-russischen Krieg gefreut. Sie jammern, daß der erste sozialistische Staat wie die kapitalistischen Staaten zum Krieg gezwungen wird und sich für eine gewisse Zeit wieder auf seine Armeen stützen muß. Als wenn die Waffen jemals über die Gerechtigkeit entscheiden könnten. Die Angst dieser beiden reinen Wesen lehrt mich mehr über den Geist des Kommunismus als viele Bücher. Sie lassen mich fühlen, wie sehr es ein Geist des Friedens und der Arbeit ist.125 Doch auch in theoretischer Hinsicht wird man Groethuysen kaum als einen Marxisten »strikter Observanz« bezeichnen können. So fehlt in den wenigen Schriften, in denen er direkt auf Marx und auf seine eigenen politischen Anschauungen zu sprechen kommt, jeglicher Bezug zu einer festgezurrten Parteiideologie. In einem Aufsatz von 1923 über die Junghegelianer und die Ursprünge des Sozialismus in Deutschland bemüht er sich vielmehr, gerade die durch die offizielle Parteilinie verschütteten Seitenwege des europäischen Sozialismus freizulegen.126 Denn auch wenn sich Marx und Engels später von der Gruppe der Junghegelianer um Arnold Rüge, Bruno Bauer und andere getrennt hätten, so sei es dennoch, wie Groethuysen sich ausdrückt, »für die jetzt in Deutschland heranreifende Generation sicherlich von Interesse, die Erinnerung an diese Philosophen wachzuhalten«.127 Besonders eine Gestalt wie Moses Hess, so Groethuysen weiter, sei heute zu Unrecht in Vergessenheit geraten, habe doch Hess als Vermittler zwischen den deutschen Junghegelianern und den französischen (Früh-)Sozialisten erst den entscheidenden Anstoß 123

Paulhan 1947,21; vgl. ders. 1969, 552; ebenfalls bereits skeptisch hierzu: Berne-Joffroy 1984. 124 Vgl. Trebitsch 1998, 42; siehe dazu auch Füret 1995, 85, 113. 125 Guehenno 1947, 161. 126 Vgl. Groethuysen 1923a. 127 Ebd., 396. 97

zur praktisch-revolutionären Erweiterung der vormals eher kopflastigen Perspektive der Hegel-Schüler Marx und Engels gegeben:128 Während einige Junghegelianer den Ideen des französischen Sozialismus feindlich gegenüberstanden, versuchte eine wichtige Gruppe, zu der Karl Marx, Friedrich Engels und Moses Hess gehörten, zu zeigen, daß von nun an die französischen Sozialisten und die deutschen Philosophen gemeinsam an der Erneuerung der Welt arbeiten müßten. Es war vor allem Moses Hess, der zu beweisen versuchte, daß diese Verbindung notwendig sei und die beiden Bewegungen sich gegenseitig ergänzten.129 Der vor allem über Hess hergestellte Kontakt mit den französischen Sozialisten habe Marx und Engels damit dem dominanten Einfluß der Philosophie Hegels entzogen: Die Theorien des französischen Sozialismus, so Groethuysen in bewußter Zuspitzung, seien für die Begründung des modernen Sozialismus daher »von entscheidender Bedeutung« gewesen.130 Während sich andere Denker wie etwa Georg Lukäcs zur gleichen Zeit um eine stärkere Rückbindung des Marxismus an Hegel bemühten,131 betont Groethuysen in seinem Aufsatz von 1923 somit ausdrücklich die Unterschiede zwischen Marx' Philosophie der Praxis und dem Idealismus Hegels. Mitte der 1840er Jahre, so Groethuysen, habe Marx bewußt mit der Philosophie Hegels gebrochen und sich unter dem Einfluß der französischen Sozialisten zu einem politischen Revolutionär gewandelt.132 Groethuysen wiederholt damit im Grunde die gleiche Argumentationsfigur wie in seiner Auseinandersetzung mit Simmel: Was ihm nach dem Ersten Weltkrieg von den Traditionen deutscher Geistesgeschichte noch akzeptabel erscheint, führt er kurzerhand auf französische Kultureinflüsse zurück. Nicht Hegel, sondern die frühen französischen Sozialisten gaben seiner Meinung nach den entscheidenden Anstoß zur Ausbildung der kommunistischen Gesellschaftslehre. Und so ist es für ihn schließlich auch nicht verwunderlich, daß die deutschen Junghegelianer die französischen »Philosophen des 18. Jahrhunderts zu zitieren liebten« und sich »manchmal [...] sogar mit den Revolutionären aus der Zeit des Konvents« verglichen.133 Wie sehr Groethuysen schließlich auch seine eigenen politischen Überzeugungen in die Tradition der französischen Aufklärung stellte, zeigt seine Abhandlung 128

Ebd., 389. Ebd., 390. 130 Ebd., 389. 131 Vgl. Lukacs 1923 (vor allem auch die rückblickende Selbsteinschätzung im Vorwort von 1967, ebd., 21 ff). 132 »II paraitrait done que Marx et Engels, ä partir de 1845 environ, avaient cesso d'etre des Jeunes-Hogoliens ou mieux encore qu'ä partir de cette date ils avaient rompu avec toute motaphysique, au point que Pinfluence de Hegel, dont autrefois il s'e"taient doclaros les disciples, aurait disparu pour ne plus etre qu'un souvenir de jeunesse, une erreur du passi« (Groethuysen 1923a, 397). »La rupture avec les philosophes forme un des ments docisifs dans le döveloppement intellectuel et moral de Karl Marx. Ce ne fut qu'apres avoir renoncö ä prendre pour point de dopart des generalisations d'ordre philosophique qu'il devint le fondateur du socialisme moderne« (ebd., 400). 133 Ebd., 396. 129

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über Die Dialektik der Demokratie, die zwar erst 1932 erscheinen sollte, deren »Hauptgedanken« jedoch, wie er an Margarete Susman schrieb, aus der »Zeit nach dem Kriege« stammten.134 Das große gesellschaftspolitische Problem, dem Groethuysen sich in diesem Text stellt, ist dabei weniger der Klassenkampf zwischen dem Proletariat und der besitzenden Klasse als vielmehr das bereits in seiner Habilitationsschrift angeklungene Problem der Vermittlung von Privat- und Allgemeinwillen.135 Groethuysens Abhandlung liest sich über weite Strecken als ein Kommentar zu Rousseau, der in seinem Conlrat social von 1762 dem Problem seine klassische Formulierung gegeben hatte. So unterscheidet Groethuysen ganz ähnlich wie Rousseau zunächst zwischen dem bourgeois, der lediglich seine Privatinteressen verfolge, und dem citoyen, der diese bewußt zugunsten der allgemein staatlichen Interessen zurückstelle.136 Doch der Allgemeinwille, dem der citoyen diene, so wendet Groethuysen - dem hier seine Kriegserfahrungen vor Augen gestanden haben mögen - gegen Rousseaus Staatslehre ein, lasse sich nicht auf einzelne Nationalstaaten begrenzen, sondern übersteige in seinem Geltungsanspruch jegliche nationale oder sonstige Grenzziehung. Der Gegensatz von bourgeois und citoyen, wie er bei Rousseau seine klassische Darstellung erfahren habe, müsse daher um den »Gegensatz von Nationalismus und Internationalismus« erweitert werden.137 Denn von einem »Allgemeinwillen«, so Groethuysen, könne erst dann wirklich gesprochen werden, wenn die nationalstaatliche Perspektive des citoyen zugunsten eines wahrhaft internationalistischen Politikverständnisses überwunden werde. Träger einer solchen Politik des universalen Menschheitswillens kann für Groethuysen daher auch nie eine national begrenzte Partei sein, sondern nur eine Partei des Internationalismus, die den politischen Raum zur Entfaltung des Allgemeinwillens auf die gesamte Menschheit ausdehne.138 Um aber dem Anspruch, den Allgemeinwillen zu repräsentieren, gerecht werden zu können, bedarf es nach Groethuysen neben dem internationalistischen Zuschnitt noch eines weiteren Elements: der Führung der Politik durch eine intellektuelle Avantgarde. Denn solange sich eine Partei - und sei sie noch so internationalistisch ausgerichtet - lediglich als soziale Interessenpartei, d.h. als bloße Klassenpartei, begreife, laufe sie Gefahr, das Partikularinteresse einer Gruppe mit dem Allgemeinwillen der Weltgemeinschaft zu verwechseln. Um dieser Gefahr zu entgehen, bedürfe sie der ideologischen Anleitung durch eine spezifische Elite, die international zu denken verstehe und sich zugleich jenseits ökonomischer Interessen bewege: die Philosophen.139 Denn der »Philosoph [...] repräsentiert keine Interes134

Vgl. ders. I932a; B. Groethuysen an M. Susman, 16.3.1932 (DL, NI. M. Susman, A: 32). 135 Vgl. oben S. 43ff. ™ Groethuysen 1932a, 14ff. 137 Ebd., 55. 138 Ebd., 51 ff. 139 Durch die theoretisch-philosophische Reflexion vermöge die Partei nämlich »nicht nur Argumente zu finden, um das von ihr vertretene verallgemeinerte Partikularinteresse kraft des ihm zugeschriebenen allgemein zu begründenden Wertes als Interesse der gan99

sengemeinschaft«,140 so schreibt Groethuysen, für den der »Intellektuelle« damit zum eigentlichen Träger des Allgemeinwillens wird. Neben bourgeois und citoyen tritt bei ihm somit als dritter Typus der philosophe: [...] d.h. es gibt nicht nur den Willen des einzelnen in der ihm eigenen Interessensphäre und auf der anderen Seite den Willen der Nation, sondern einen von gewissen Individuen oder Gruppen ausgehenden, und zwar außer- oder übernational bestimmten Willen. Neben den Privatmann und den Bürger tritt der »aufgeklärte Philosoph« - das Wort hier im weitesten Sinne genommen - der Philosoph als Exponent für weltanschaulich begründete Überzeugungen.141 Groethuysen kombiniert hier gewissermaßen die alte Idee Platons von der Herrschaft der Philosophen und Mannheims Hoffnung auf die »freischwebenden Intellektuellen« als Träger einer politisch-kulturellen »Synthese«142 mit seiner eigenen politischen Vorliebe für den kommunistischen Internationalismus und gelangt so schließlich zu einem Parteientypus leninistischen Zuschnitts, den er aus der Fortführung der Gedanken Rousseaus konsequent ableiten zu können meint.143 Orthodox wird man seine politischen Anschauungen kaum nennen können, eher eklektizistisch verwegen. Auch wird Groethuysen den selbstgesetzten Ansprüchen, als Philosoph Anleiter zum Allgemeinwillen zu sein, zu keinem Zeitpunkt seines Lebens gerecht. Weder wird er Mitglied einer Partei der Kommunistischen Internationale, noch gehört er - wie bspw. Gide und Malraux - zu ihren compagnons de route; ebensowenig findet er nach 1933 in der Öffentlichkeit deutliche Worte gegen die Herrschaft einer totalitär-faschistischen Einheitspartei in Deutschland.144 Groethuysens »Kommunismus«, so scheint es, verdankt sich letztendlich weniger konkreten politischen Überzeugungen als vielmehr dem alten, weitabgewandten Philosophen-Traum vom »ewigen Frieden«. Ein »Marxist strenger Observanz«, wie Jean Paulhan meint, war Groethuysen somit sicherlich nicht, eher ein »romanzen Gemeinschaft darzustellen; sie ist auch in der Lage, sich über die Grenzen dieser besonderen Gesellschaft zu erheben und das von ihr vertretene Interesse als einen übernationalen oder internationalen Wert zur Geltung zu bringen. Sie löst sich damit überhaupt aus den Schranken, die ihr durch die Funktionen zugewiesen waren, die sie im ganzen einer bestimmten Gesellschaft auszuüben hatte. Sie wird zu einem international zu bestimmenden Gebilde und vermag schließlich von ihrem ideologischen Standort aus zu allgemeinen Forderungen zu gelangen, die auf Umgestaltung der Gesellschaft überhaupt hinzielen« (ebd., 51). 140 Ebd., 55. 141 Ebd., 54; und zwar für Überzeugungen, »die ich nicht nur andersdenkenden Individuen, sondern schließlich auch meiner andersdenkenden Gemeinschaft gegenüberstellen kann« (ebd.). 142 Vgl. oben S. 17, 19. 143 Groethuysen vermeidet in seiner Schrift zwar eindeutige politische Stellungnahmen, doch sein Einfordern von Internationalismus und intellektueller Führerschaft läßt deutliche Sympathien für Parteien kommunistisch-leninistischen Zuschnitts erkennen. Insofern erscheint es fraglich, ob Groethuysen mit seiner Schrift tatsächlich das parteienstaatliche System der Weimarer Republik verteidigen wollte (vgl. Gerhardt/Mehring/Rindert 1999, 156). 144 Vgl. unten S. 252ff. 100

tischer Revolutionär«, als den ihn der Sozialdemokrat Gustav Mayer einmal bezeichnet hat,145 oder einfach ein durch den Krieg verletzter und sich nach Frieden sehnender Mensch, der sich in der Sprache der politischen Theorie zu artikulieren versuchte.

145

G. Mayer an M. Susman, 1.9.1920 (abgedruckt in: Schlösser 1964, 326f.). 101

III. Liewc et milieux. Zwischen Paris und Berlin (1920-1933)

1.

Paris und die Nouvelle Revue Frangaise

1.1. Jacques Riviere, Andre" Gide und die »Demobilisierung des Geistes« Am 18. Januar 1919 begannen die Pariser Friedensverhandlungen, die dem Aufbau einer friedlichen und stabilen europäischen Nachkriegsordnung dienen sollten. Eine Delegation der jungen deutschen Republik, die bereits mit den Waffenstillstandsvereinbarungen vom November 1918 ihre Niederlage de facto anerkannt hatte, wurde zu den Verhandlungen nicht zugelassen. Anfang Mai 1919 wurde ihr das fertige Vertragswerk übergeben, das für Deutschland neben hohen Reparationsforderungen und der Rückkehr Elsaß-Lothringens nach Frankreich die Schaffung einer entmilitarisierten und zunächst teilweise besetzten Zone im Westen sowie große territoriale Verluste im Osten vorsah. Nach heftigen, aber erfolglosen Protesten von deutscher Seite sah sich die Nationalversammlung in Weimar schließlich durch ein Ultimatum der Westmächte Ende Juni gezwungen, den nur geringfügig geänderten Friedensvertrag in Versailles zu unterzeichnen. Alix Guillain dürfte manches von der diplomatischen Geschäftigkeit der Friedensverhandlungen mitbekommen haben, da sie als Übersetzerin einer jüdischen Delegation bei den Pariser Verhandlungen tätig war.1 Von den entscheidenden Vorgängen und Gesprächen wird sie hingegen ebensowenig erfahren haben wie die übrige Pariser Bevölkerung. Gleichwohl wird sie dem nationalistischen Siegestaumel, der sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit in der französischen Hauptstadt breitmachte, kaum verfallen sein.2 Politisch hat sich die überzeugte Pazifistin und Rosa-Luxemburg-Verehrerin vermutlich eher der Gruppe um den sozialistischen Schriftsteller Henri Barbusse nahe gefühlt, der am 10. Mai 1919 in Z, 'Humanita zur Gründung einer pazifistischen Internationale de la Pensee mit dem programmatischen Titel Clarte aufgerufen hatte.3 Diesem Aufruf war am 26. Juni des gleichen »Je travaille en ce moment au Comito des Delegations Juives aupres de la conference de la Paix, oü je traduis une foule de choses interessantes et oü j'apprends ä aimer les juifs de tout mon creur« (A. Guillain an G. Mayer, 5.10.1919; IISG, Nl. G. Mayer, Ergänzung 43). Zum französischen Nachkriegsnationalismus vgl. Jeismann 1992, 370ff., sowie insbesondere im Hinblick auf die französischen Intellektuellen: Sirinelli 1990, 74ff.; Winock 1997, 145ff. Die Bezeichnung Clarte geht auf den gleich betitelten Antikriegsroman zurück, den Barbusse 1919 veröffentlichte; 1921 gründete er eine Zeitschrift gleichen Namens, für 103

Jahres ebenfalls in L 'Humanite ein von Romain Rolland verfaßtes und von etwa einhundert namhaften europäischen Intellektuellen - darunter wiederum Henri Barbusse, aber auch Albert Einstein, Stefan Zweig und Heinrich Mann - unterzeichnetes Manifest gefolgt, das später als Declaration d'independance de l'esprit bekannt wurde.4 Rolland und seine Mitstreiter riefen die »Geistesarbeiter« aller Nationen auf, das Denken endlich wieder aus dem nationalen Korsett, in das es vier Jahre lang eingezwängt war, zu befreien und dem Geist sein universales Menschheitsmandat zurückzugeben. Die Reaktion von rechts auf diese Versuche, die internationale Gelehrtenrepublik unter sozialistisch-pazifistischem Vorzeichen wiederherzustellen, ließ nicht lange auf sich warten. Auf die von Rolland verfaßte Declaration d'independance de l'esprit antwortete der rechtsgerichtete französische Schriftsteller Henri Massis einen Monat später im Figaro mit dem nationalen Sammlungsaufruf Pour un parti d'intelligence, der ebenfalls von einer Vielzahl französischer Intellektueller unterschrieben wurde, darunter nicht wenige Mitglieder der ultranationalistischen Action Franyaise.5 Hatten Rolland und Barbusse für ihr internationalistisch-pazifistisches Projekt noch ausdrücklich auf die Mitwirkung deutscher Intellektueller gesetzt,6 so wollten Massis und die Unterzeichner seines Manifestes die geistige Produktion Frankreichs hingegen auch weiterhin dem Dienst am nationalen Interesse und dem Abwehrkampf gegen Deutschland anheimgestellt wissen.7 Die Auseinandersetzung vom Sommer 1919 um die geistige Nachkriegsordnung in Frankreich spaltete dabei nicht nur das intellektuelle Feld in zwei feindliche Lager; die publizistischen Kämpfe zwischen den internationalistisch-pazifistisch und zunehmend kommunistisch gesinnten Intellektuellen einerseits und den autoritär-nationalistischen Schriftstellern andererseits fanden ihren Niederschlag auch innerhalb einzelner intellektueller Kreise und Gruppierungen. Ein prominentes Beispiel hierfür ist die Redaktionsgruppe der Nouvelle Revue Franqaise (NRF), der wohl bedeutendsten französischen Literaturzeitschrift der Zwischenkriegszeit, zu der Groethuysen zwischen 1920 und 1940 nicht weniger als neununddreißig Beiträge, Rezensionen und kleinere Essays, beisteuern wird. Die Zeitschrift, die 1909 von einem Kreis jüngerer Schriftsteller um Andre" Gide, den späteren Literaturnobelpreisträger, gegründet worden war, hatte ihr Erscheinen während des Ersten Weltkriegs eingestellt, da einige ihrer wichtigsten Mitarbeiter zum Militär-

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die auch Alix Guillain, wie wir bereits gesehen haben (vgl. oben S. 95f.), hin und wieder kleinere Artikel schrieb (zu Clarte vgl. Prochasson 1993, 192ff., sowie Racine 1967). Das Manifest findet sich abgedruckt bei Sirinelli 1990, 62ff. Vgl. ebd., 66ff. Vgl. dazu die Tagebucheintragungen Romain Rollands vom Juni 1919 (Rolland 1952, 946ff.). Vgl. Sirinelli 1990, 66ff. Zur ideologischen Auseinandersetzung über das Mandat der »Intelligenz« im Frankreich der unmittelbaren Nachkriegszeit vgl. auch die konzise Darstellung von Trebitsch 1998.

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dienst einberufen worden waren.8 Ein Verlust, der den Herausgeberkreis besonders hart traf, war die Einberufung Jacques Rivieres, der 1911 die Redaktion der Zeitschrift übernommen hatte und bereits nach nur drei Wochen Fronteinsatz in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten war, aus der er erst 1917 entlassen wurde.9 Als es nach Kriegsende darum ging, die Zeitschrift neu zu lancieren, kam die frühere Herausgebergruppe erneut auf Jacques Riviere zurück, dem jedoch diesmal nicht nur die Redaktion, sondern darüber hinaus auch die alleinige Herausgeberschaft der NRF angetragen wurde. Von 1919 bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1925 wurde die Zeitschrift, die sich während dieser Zeit zum führenden Organ der ästhetisch-kulturellen Elite Frankreichs entwickelte, von Riviere, wenn auch in enger Absprache mit Andre* Gide und den ehemaligen Herausgebern, allein und äußerst erfolgreich geführt.10 Waren die personellen Fragen damit geklärt, so zeigten sich während der unmittelbaren Nachkriegszeit jedoch deutliche Differenzen innerhalb des früheren Herausgebergremiums hinsichtlich des politischen Kurses der neu zu etablierenden Zeitschrift. War die NRF in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg im wesentlichen ästhetisch und rein am literarischen Wert der Beiträge interessiert, so mehrten sich am Ende des Kriegs Stimmen, die - wie etwa die beiden ehemaligen Mitherausgeber Jean Schlumberger und Henri Ghoon - die Zeitschrift zukünftig stärker in den Dienst der nationalen Sache gestellt wissen wollten.11 Schlumberger und Gh6on werden in Riviere zunächst genau die richtige Person ftlr die Umsetzung ihrer literaturpolitischen Ziele vermutet haben, hatte sich der designierte Herausgeber doch 1918 durch nationalistische und antideutsche Töne deutlich zu erkennen gegeben. So waren nur wenige Tage vor Kriegsende Rivieres Erinnerungen an seine Zeit in deutscher Kriegsgefangenschaft erschienen, denen er den ebenso einfachen wie plakativen Titel L 'Allemand gegeben hatte.12 In seinen Souvenirs et reflexions d'unprisonnier de guerre, wie der Untertitel lautete, zeichnete Riviere einmal mehr das stereotype Bild von »dem Deutschen«, der seinen Mangel an wahrem Gefühl und Sensibilität durch eiserne Disziplin und bloße Willenskraft zu kompensieren suche. Denn allein der »Wille«, so Riviere, fülle »den Abgrund auf, der sich durch den Mangel an allen natürlichen Begabungen beim Deutschen« auftue,13 und da die »Seele« des »Deutschen« sogar noch »hinter derjenigen des 8

Zur Gründung und Geschichte der NRF vor 1914 vgl. die umfangreiche Studie von Angles 1978-1986; zu den Reaktionen und Vorgängen im Umfeld der Zeitschrift bei Kriegsausbruch vgl. insbesondere die Chronik ebd., III, 504ff. 9 Zu Jacques Riviere und seiner Rolle im Umfeld der NRF\g\. Lacouture 1994. 10 Ebd., 583ff. 1 ' So schreibt Jean Schlumberger bereits 1917 an Jacques Riviere, daß ihm eine Zeitschrift vorschwebe, »qui serait [...] celle de la renaissance nationale [...,] de la rosistance au germanisme [oü] la littorature ne tiendrait [...] qu'un tiers de la place« (zit. nach ebd., 598). Zu den ideologischen Auseinandersetzungen anläßlich des Wiedererscheinens der Zeitschrift siehe auch Durosay 1977. 12 Vgl. Riviere 1918. Zu Jacques Rivieres Deutschlandbild und dessen Wandlungen vgl. Richard \914b. 13 Riviere 1918, 130. 105

Tieres« zurückbleibe,14 so sei dieser weder zu wahrer Liebe noch - was Riviere während seiner Kriegsgefangenschaft besonders erstaunt hatte - zu wahrem Haß fähig: Das, worunter ich in Deutschland vielleicht am meisten gelitten habe, ist der Mangel an Haß, ich meine an spontanem, natürlichem Haß.15

Riviere hatte sich seine Kriegserinnerungen an Deutschland von der Seele geschrieben; er hatte sie gewissermaßen literarisch durchgearbeitet, um die Deutschen, wie er selbst in der Einleitung schrieb, ein für allemal loszuwerden.16 Mit seinem Buch wollte er sich »von dem Deutschen reinigen, so wie Frankreich selbst sich seit mehr als vier Jahren [...] von ihm zu reinigen« versucht habe.17 und Schlumberger werden die öffentliche Artikulation dieses Selbstreinigungsprozesses mit Wohlwollen und Interesse aufgenommen haben; andere aus dem ursprünglichen Herausgeberkreis der Zeitschrift - wie etwa Jacques Copeau - werden von den maßlosen Generalisierungen Rivieres hingegen eher irritiert, wenn nicht gar peinlich berührt gewesen sein.18 Selbst Andro Gide, die große Gestalt im Hintergrund der NRF, äußerte sich kritisch zu Rivieres Buch. Im ersten Nachkriegsheft der Zeitschrift, die im Juni 1919 auf den literarischen Markt zurückkehrte, schreibt er in einem offenen Brief an den neuen Herausgeber: Ihr Buch hat mich mit Unbehagen zurückgelassen, [...l Um die Wahrheit zu sagen, ich bin nicht einmal sicher, ob Sie immer im Recht sind.

Es bedurfte jedoch nicht erst dieses Ordnungsrufes, um Jacques Riviere von seinem furor anti-teutonicus zu heilen. Noch vor Erscheinen seines Buches, im Oktober 1918, hatte er an seine Frau geschrieben: Mein armes Buch [...], ich verabscheue es, ich kann es nicht ertragen, und wenn ich nur ein klein wenig Mut besäße, dann würde ich den Druck stoppen lassen, denn ich weiß, sobald es erschienen sein wird, werde ich es bedauern und es wird mir Gewissensbisse für mein ganzes Leben machen.20

Vielleicht war es dieses Erschrecken vor seinen eigenen Haßtiraden, das Riviere in der Folgezeit vor der politischen Indienstnahme der NRF zurückschrecken und ihn selbst zu einem überzeugten Anwalt einer pragmatischen deutsch-französischen Wiederannäherung werden ließ. Bereits das von ihm verfaßte Editorial zur ersten Nachkriegsnummer der Nouvelle Revue Frangaise läßt den gewandelten Stil Ri14

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Ebd., 57. Ebd., 46. Und, um alle Mißverständnisse auszuräumen, fügt er hinzu: »Qu'on ne pense pas que, par tout ce que je dis lä, je veuille le moins du monde introduire l'idöe de leur innocence ou privenir les esprits en leur faveur. Bien au contraire, ce qui nourrit mon indignation et mon ressentiment contre les Allemands, c'est qu'ils aient pu commettre toutes les abominations du combat avec si peu de haine au coeur« (ebd., 52). Ebd., 21 f. Ebd., 22. Vgl. dazu Lacouture 1994, 532ff. Gide 1919b, 121f. Zit. nach Lacouture 1994, 532.

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vieres deutlich erkennen. Zwar scheut er auch hier vor emphatisch nationalen Tönen nicht zurück und erklärt das französische Volk kurzerhand zur führenden Literaturnation überhaupt,21 doch habe gerade deshalb der Krieg und das Losbrechen des nationalen Hasses die Literatur in Frankreich stärker getroffen als in allen anderen Ländern. Denn der Verlust an ästhetischer Reinheit, den die nationale Indienstnahme der Literatur mit sich gebracht habe, sei in Frankreich stärker zu spüren gewesen als in Ländern mit einer minder entwickelten Literatur.22 Riviere fordert daher von den französischen Intellektuellen: Unsere Aufgabe ist es, im Rahmen unserer Mittel zum Ende dieses Zwanges, den der Krieg noch immer über den Geist ausübt und von dem er sich nur so schwer selbst befreien kann, beizutragen.23 Nicht die Politik und die nationale Selbstbehauptung sollten daher im Vordergrund der neu lancierten Zeitschrift stehen, sondern vielmehr die Rückkehr zur reinen Ästhetik und zum Wert literarischer Qualität: Wir wollen wieder eine unparteiische Zeitschrift aufbauen, eine Zeitschrift, in der weiterhin in aller Freiheit des Geistes geschaffen und geurteilt wird.24 Rivieres Plädoyer für eine demobilisation des intelligences2* bedeutet nun jedoch nicht, daß er Partei für den pazifistischen Universalismus um Romain Rolland und Henri Barbusse ergriffen hätte, sieht er doch im Internationalismus der ClarteBewegung eine gefährliche Gleichmacherei von Differenz und nationaler Eigenheit am Werk.26 Und so wendet er sich nicht nur gegen Massis' Parti de l'Intelligence, sondern ebenso gegen die von Rolland verfaßte Declaration d'independance de l'esprit, wenn er schreibt: Zunächst und im wesentlichen ist Intelligenz die Fähigkeit zu unterscheiden, das Unterschiedliche als Unterschiedliches anzuerkennen, die Fähigkeit, zwei Ideen, zwei Gegen-

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Riviere 1919a, 128. Ebd., 128. Ebd., 127. Ebd., 125. Als Schlumberger und , der Massis' oben erwähnten Aufruf Pour un parii de l 'intelligence unterschrieben hatte, im nächsten Heft der NRF ihr Unbehagen am neuen Stil des Herausgebers äußerten, erteilte Riviere den Ultranationalisten eine deutliche Absage: »Le nationalisme [...] devient une voritable Idolatrie«, so schreibt er in seiner Replik. »II consiste ä aimer et ä servir la France, non pas pour tous les biens qui sont en eile, mais comme l'unique Bien qui se puisse concevoir, comme le viritable Absolu« (Riviere 1919c, 142); vgl. dazu im einzelnen Durosay 1977 sowie Lacouture 1994,624-643. So ein Wort Albert Thibaudets in der NRF vom Januar 1920 (vgl. Thibaudet 1920); ganz ähnlich hatte Ernst Troeltsch bereits 1918 in Deutschland eine »Demobilisierung der Geister« gefordert (vgl. dazu Volkelt 1918). So schreibt Riviere im September 1919 gegen den »internationalisme intellectuel« gewandt: »[...] de ce cöto-Ia, en effet, on travaille a la suppression des limites, des difforences, par consequent on mine les rosultats du progres, c'est pourquoi, c'est seulement pourquoi je ne puis y aller« (Riviere 1919b, 138). 107

stände dort wahrzunehmen, wo Minderbegabte nur einen einzigen erkennen; ihre erste Regung ist die Unterscheidung, die Analyse.27 Diese Gabe der Unterscheidung, in der man von weitem das Echo des esprit de finesse vernehmen zu können meint, sollte fortan auch das Verhältnis Rivieres zu Deutschland prägen. Zwar zeigt er sich auch weiterhin von der Existenz unterschiedlicher Nationalcharaktere von Deutschen und Franzosen überzeugt,28 doch meint er andererseits auch unterschiedliche Tendenzen innerhalb der öffentlichen Meinung in Deutschland ausmachen zu können, die sich nicht über einen Kamm scheren ließen. Wenn Frankreich von den Veränderungen im neuen Deutschland profitieren wolle, so gelinge dies nur auf dem Weg einer Annäherung an den verständigungsorientierten Teil innerhalb der deutschen Bevölkerung: Wir werden den Rachegelüsten in Deutschland nur dann den Schwung nehmen, es wird uns nur dann gelingen, die Militaristen zu isolieren und ihren Einfluß zurückzudrängen, wenn wir durch eine Reihe geschickter Verträge dem arbeitenden Element in Deutschland (und darunter verstehe ich ebenso die großen Industriellen wie die Arbeiter und selbst einen bestimmten Teil der Intellektuellen), wenn wir es diesem Element ermöglichen, nicht mehr allzusehr an die äußere Form zu denken, die dem Reich durch den Vertrag von Versailles auferlegt worden ist.29 Riviere scheint hier ein Argument aufzugreifen, daß Andre" Gide bereits in der ersten Nachkriegsnummer der NRF zu bedenken gegeben hatte. Gide hatte damals in seinen von der Lektüre der Kriegserinnerungen Rivieres angestoßenen Reflexions sur l'Allemagne deutlich zu verstehen gegeben, daß Deutschland aus dem Konzert der europäischen Mächte nicht ausgeschlossen werden dürfe und eine deutsch-französische Zusammenarbeit langfristig wünschenswert sei.30 Allerdings, so schränkte er ein, müsse verhindert werden, daß Deutschland Frankreich erneut schaden könne, und hierzu, so Gide weiter, gebe es nur ein zuverlässiges Mittel: Deutschland, wenn auch nicht geographisch, so doch kulturell zu »teilen«.31 Denn 27 28 29

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Ebd., 139. Vgl. etwa ders. 1921. Ders. 1923b, 199. Der hier zitierte Text erschien 1923 in der Luxemburger Zeitung, die im Jahr zuvor in den Besitz des Luxemburger Stahlproduzenten Emile Mayrisch übergegangen war, der sie zu einer publizistischen Plattform des deutsch-französischen Dialogs auszubauen versuchte. Zu Rivieres Mitarbeit an diesem Unternehmen vgl. Richard 1998; zu Emile Mayrisch und seiner Frau Aline, einer Bekannten Gides, vgl. unten S. 121 f. Aber auch in der NRF machte Riviere aus seinem Eintreten für eine Entente economique (vgl. ders. 1923a) zwischen Deutschland und Frankreich keinen Hehl (vgl. ders. 1921; 1922). Vgl. Gide 1919a, 44. Vgl. dazu auch Gides Tagebuchnotiz von 1918: »II n'est pas aujourd'hui de plus funeste erreur, pour les peuples et pour les individus, que de croire que puisse se passer les uns des autres. Tout ce qui oppose les inteYSts de la France et de l'Allemagne est nofaste ä la fois pour les deux pays; bienfaisant, tout ce qui tend ä rendre ces inte"r6ts plus solidaires« (ders. 1951/1954,1, 673). »U n'importe pas de l'empecher d'exister (au contraire: il importe, et mfime pour nous, qu'elle existe), il importe de l'emp^cher de nuire, c'est-ä-dire de nous manger... Diviser l'Allemagne« (ders. 1919a,37).

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um dem deutschen Nationalismus den Wind aus den Segeln zu nehmen, so Gide bereits 1919, dürfe man »nicht alle Deutschen in einen Sack stecken«.32 Gerade derjenige, der dies tue und alles, was aus Deutschland komme, kurzerhand und ohne Prüfung verwerfe, trage zu dessen innerer Einheit und aggressiver Isolierung letztendlich viel mehr bei als derjenige, der sich um den verständigungsorientierten Teil der deutschen Intelligenz bemühe." Wessen es nach Gide somit bedarf, ist zunächst einmal die Gabe der Unterscheidung, d.h. jene Fähigkeit, wie Riviere später schreibt, »zwei Ideen, zwei Gegenstände dort wahrzunehmen, wo Minderbegabte nur einen einzigen erkennen«. Und gerade hierin, in der Wahrnehmung des Pluralen - auch und vor allem in Hinblick auf Deutschland -, erweise der französische Geist, so Gides Angebot an die Vertreter der nationalen Sache, schließlich auch seine Überlegenheit über den deutschen: Es scheint mir, daß es nichts gibt, was französischer und weniger deutsch ist, als das, was ich die Gabe der Unterscheidung [esprit de discrimination] nennen würde.34

Groethuysen wird sich diesen Satz zu eigen gemacht haben, als er 1920 Charles Du Bös gegenüber den französischen esprit de finesse, den Geist des »Dazwischen« und der feinen Unterscheidungen, gegen die deutschen Extreme von »Parzival« und »Stechschritt« ins Spiel brachte.35 Gide erweist sich nun selbst als Vertreter jener »Gabe der Unterscheidung«, indem er in seinen Reflexions sur l'Allemagne auf zwei große Gestalten der deutschen Geistesgeschichte zu sprechen kommt, die seiner Meinung nach weit über das Übliche des deutschen Denkens hinausweisen und deren Werk daher positive Anknüpfungspunkte für eine erneute deutsch-französische Annäherung enthalte: Goethe und Nietzsche. Vor allem ersterer wird von Gide zu einem alles überragenden Repräsentanten eines kulturellen Deutschland stilisiert, das dem Militarismus Preußens diametral entgegengesetzt sei.36 So erscheint ihm Goethe, der Bewunderer Napoleons, geradezu als »der am wenigsten Deutsche von allen Deutschen«;37 zusammen mit Nietzsche stehe er für eine Geistestradition, die Deutschland und Frankreich einander wieder näherzubringen verspreche. »Goethe und Nietzsche (und zu einem geringeren Grad viele andere)«, so Gide, »sind unsere Geiseln«;38 32 33

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Ebd., 36. Ebd., 46. Denn das, was die Deutschen am meisten von den Franzosen unterscheide, sei ihr außergewöhnlicher Einheitsdrang, ihre »extraordinaire difficulto [...] ä se dotacher du commun, de la masse, disons le mot: ä s'individualiser« (ebd., 42); ganz ähnlich heißt es bei Gide in einer undatierten Tagebuchnotiz: »Tout ce qui est Fran?ais tend ä s'individualiser; tout ce qui est Allemand ä dominer ou ä se soumettre« (ders. 1951/1954,1,674). Vgl. dazu oben S. 89. Vgl.G/Vfel919a,38. Ebd., 46. Ebd., 38. Denn Goethe und Nietzsche stehen für Gide für ein anderes, nicht militarisiertes Deutschland: »Cela n'est pas peu de chose [...] que le meilleur de la pensöe allemande s'oleve contre la Prusse qui mene PAllemagne au combat« (ebd., 36).

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mit ihnen halte Frankreich den besseren Teil Deutschlands in seiner Hand, und die Zukunft werde zeigen, ob sich das neue Deutschland ihrer würdig erweist. Die »Gabe der Unterscheidung«, der esprit de discrimination, den er zusammen mit Riviere und anderen Autoren der Nouvelle Revue Fra^aise gegen Nationalisten wie Internationalisten im eigenen Land ins Feld führt, muß nach Gide somit also nicht nur das Gespräch zwischen den Nationen, sondern bereits zuvor die Wahrnehmung der deutschen Kultur überhaupt begleiten. Denn diese ist für ihn kein homogener Block, sondern ein sauber auftrennbares Gewebe unterschiedlicher Traditionen, von denen die eine zu Geist und Dichtung führt, die andere aber zu Blut und Eisen. Mit seiner Unterscheidung zwischen »goethischem Geist« und »preußischem Militarismus« reaktualisiert Gide in der unmittelbaren Nachkriegszeit einen Topos des französischen Deutschlandbildes, der seit dem deutsch-französischen Krieg von 1870 immer wieder anzutreffen war: die Idee der Deux Allemagnes, die Unterscheidung zwischen dem Deutschland der Dichter und Denker, das Mme de Stael bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts wirkungsreich beschrieben hatte, und dem Deutschland des preußischen Militarismus, das Frankreich spätestens seit der Schlacht von Sedan schmerzhaft kennengelernt hatte.39 Ein Großteil der deutschen Intellektuellen hatte sich bereits 1914 im oben erwähnten Aufruf « die Kulturwelt! deutlich gegen diese Unterscheidung von deutscher »Kultur« und deutschem »Militarismus« gestellt;40 Andro Gide, Jacques Riviere und dem Kreis um die NRF ermöglichte diese Gegenüberstellung hingegen, nach Kriegsende erneut Kontakt mit deutschen Schriftstellern zu suchen, ohne zwischen den beiden Fronten des antideutschen Nationalismus einerseits und des pazifistisch-sozialistischen Internationalismus andererseits aufgerieben zu werden. In einem Beitrag für die Revue de Geneve, den die NRF 1923 in Auszügen erneut abdruckt, schreibt Gide: Der wahrhaft europäische Geist stellt sich der isolierenden Eitelkeit des Nationalismus entgegen; aber nicht weniger stellt er sich jener Entpersönlichung entgegen, die der Internationalismus herbeifuhren möchte. Ich habe es schon manchmal und schon seit langem gesagt: je mehr man sein eigenes Wesen ausprägt, um so mehr dient man dem allgemeinen Interesse; und das gilt für die Länder sowohl wie für die Einzelnen.41

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Vgl. dazu die klassische Darstellung der »Zwei-Deutschland-Idee« bei Digeon 1959, 160ff., sowie Leiner 1989,154-189. Was Digeon über das Aufkommen dieser Idee nach der Niederlage von 1871 schreibt, wird mit umgekehrtem Vorzeichen auch für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg gegolten haben: »Cette these rdvele une incapacito profonde ä unir synthe"tiquement difßrentes impressions [...]. Uninstaller Pimage passoe de la bonne Allemagne, ce serait oublier la guerre; öterniser Pimage de la mauvaise, ce serait au contraire se doterminer pour la Revanche« (Digeon 1959, 163). Zur Wiederaneignung dieser Idee bei Gide vgl. auch die Hinweise bei Ihring 1992, 156. Vgl. dazu oben S. 82; sowie vom Brocke 1985, 652f. Gide 1923, 25. Und in einer Fußnote zu seinen Reflexions sur l"Allemagne hatte Gide bereits 1919 erklärt: »C'est une profonde erreur de croire que Pon travaille ä la culture europoenne avec des oeuvres dönationalisdes; tout au contraire, plus particuliere est Poeuvre, plus utile eile devient dans le concert« (Gide 1919a, 46).

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l .2. »Briefe aus Deutschland« Groethuysen waren Rivieres Erinnerungen an Deutschland nicht unbekannt geblieben. Seine eigenen Überlegungen zum Charakter »des Deutschen«, dessen Aufgespreiztheit zwischen den »schwindelerregenden Tiefen des innerlichen Lebens« und dem »Automatismus vorinstallierter Reflexe«,42 waren nicht zuletzt auch in der Auseinandersetzung mit Rivieres Kriegserinnerungen entstanden. So kam Groethuysen, als er Charles Du Bös 1920 zum erstenmal seit Kriegsende in Paris wiedersah, auch auf das Buch des neuen Herausgebers der Nouvelle Revue Fra^aise zu sprechen. Über Groethuysens Ansichten zum Buch Rivieres notiert Charles Du Bös später in sein Tagebuch: Das ist ein Buch, sagt mir Groethuysen, das von einem Ende bis zum anderen von einem so packenden Rhythmus belebt wird, daß es unmöglich ist, es beiseite zu legen. Die Analyse, die Riviere hier vom Charakter des Deutschen gibt, ist wunderbar - doch vielleicht hätte er sie noch ein wenig weitertreiben sollen. Du Bös wird sich für die Ausführungen seines deutschen Freundes über das Buch von Riviere um so mehr interessiert haben, als er selbst während der Kriegsjahre mit dem Kreis um Andro Gide und der Nouvelle Revue Frangaise in engeren Kontakt getreten war.44 Als Du Bös später Gide von seinem Gespräch mit Groethuysen erzählte, bat ihn dieser um eine kurze schriftliche Notiz des Gesprächsverlaufs;45 auch Jacques Riviere, der vermutlich in den folgenden Tagen über Gide von Du Bos' deutschem Freund und dessen Ansichten über sein Buch erfahren hatte, zeigte sich sehr interessiert und vereinbarte mit Du Bös ein gemeinsames Treffen mit Groethuysen.46 Das Gespräch, das Ende April 1920 zustande kam, scheint für alle Beteiligten sehr erfreulich verlaufen zu sein, denn Du Bös schreibt einige Tage später an Groethuysen, der mittlerweile wieder nach Berlin zurückgekehrt war: Ich habe nach Ihrer Abfahrt Jacques Riviere gesehen, der den Abend, an dem er Sie kennengelernt hat [...], in bester Erinnerung hält. [...] Jacques Riviere hat mich beauftragt, Ihnen mitzuteilen, daß er sehr glucklich wäre, wenn Sie uns ein allgemeines Bild Ihrer Eindrücke über die Situation und das intellektuelle sowie literarische Leben in Deutschland zur Zeit ihrer Rückkehr zusenden würden.47

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Vgl. dazu oben S. 89. Du Bös 1981, 79 (Tagebucheintrag vom 18.4.1920). Gide und Du Bös arbeiteten 1915 gemeinsam im Foyer franco-belge, einer humanitären Einrichtung für französische und belgische Kriegsversehrte (vgl. dazu Lepape 1997, 267f.); die Bekanntschaft zwischen den beiden Schriftsteilem reichte jedoch bis in die Vorkriegszeit zurück (vgl. dazu Du Bös/Gide 1950, 9ff.). Vgl. Du Bös 1981, 79 (Tagebucheintrag vom 18.4.1920). Vgl. dazu den Brief von Ch. Du Bos an J. Riviere vom 22.4.1920 (in: Du Bos/Riviere 1990, 59f.). Ch. Du Bös an B. Groethuysen, 8.5.1920 (ebd., 247ff., hier jedoch fälschlicherweise auf 1919 datiert; vgl. dazu das Original im Nachlaß: BLJD, fonds Ch. Du Bös, Ms. 38040/1). 111

Die Veröffentlichung einer solchen literarischen Chronik in der NRF könne zwar vor Erhalt des Manuskripts nicht definitiv zugesagt werden, doch Riviere und er selbst, so Du Bös weiter, seien überzeugt, daß Groethuysen »besser als irgend jemand sonst« in der Lage sei, genau das »zu liefern, was wir suchen, und dadurch eine erste Brücke zu bauen, über die die intellektuellen Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern wieder aufgenommen werden können«.48 Du Bös bat Groethuysen, den von Riviere gewünschten Text in den folgenden Wochen fertigzustellen und zunächst an seine Pariser Adresse zu senden. Als mehrere Tage nach dem vereinbarten Termin noch nichts bei ihm vorlag und Du Bös von Alix Guillain erfahren hatte, daß sich der Abschluß des Textes noch weiter verzögern werde, schrieb er erneut an seinen Berliner Freund und drängte auf rasche Fertigstellung: Wir würden uns wünschen, das Manuskript so bald wie möglich zu erhalten, sollte es auch kürzer und weniger tiefgreifend sein, als ihre Skrupel es zulassen mögen.49 Daß es sich bei dieser drängenden Aufforderung keineswegs nur um einen freundschaftlichen Zuspruch handelte, sondern zugleich auch um die Wahrung handfester Interessen auf dem literarischen Markt, zeigt der besorgte Hinweis Du Bos' auf einen vergleichbaren Artikel, der bereits kurz zuvor im London Mercury erschienen sei:50 Sie werden verstehen [...], daß die Nouvelle Revue Frangaise lebhaft wünscht, in dieser Hinsicht nicht von einer anderen französischen Zeitschrift überholt zu werden.51 Angesichts der Tatsache, daß der deutsch-französische Kulturaustausch im Ersten Weltkrieg vollständig zusammengebrochen war,52 erscheint Du Bos' Wunsch, durch eine Wiederaufnahme der kulturellen Beziehungen mit Deutschland der NRF in dieser Hinsicht eine Vorreiterrolle zu sichern, nur allzu verständlich. In der Tat gab es im Jahr 1920 innerhalb des intellektuellen Feldes in Frankreich kaum einen Ort, von dem aus eine dauerhafte Verbindung mit deutschen Intellektuellen ge48

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Ebd. In diesem Sinne hatte Du Bös bereits zuvor Groethuysen bei Jacques Riviere eingeführt: »[...] je suis convaincu que Groethuysen que je connais depuis 15 ans, [...] qui comprend et approcie notre civilisation et notre culture comme je ne les ai vues comprises et approcioes par nul otranger, pourrait rendre d'immenses services pour purifier Patmosphere et servir de trait d'union ä ce qu'il y a de meilleur dans le monde de la pensie et de Part des deux cotos de la barriere« (Ch. Du Bos an J. Riviere, 22.4.1920, in: Du Bos/Riviere 1990, 59f.). Ch. Du Bös an B. Groethuysen, 23.7.1920 (BLJD, fonds Ch. Du Bös, Ms. 38040/3). Ebd.; der deutsch-österreichische Schriftsteller Hermann Bahr hatte im Juni-Heft der Zeitschrift London Mercury (2, 1920, 211-215), die gewissermaßen als englisches Pendant zur NRF gelten kann, einen ersten Letter from Germany veröffentlicht. Ch. Du Bös an B. Groethuysen, 23.7.1920 (BLJD, fonds Ch. Du Bös, Ms. 38040/3). Was selbstverständlich nicht heißt, daß sich Deutsche und Franzosen nicht mehr füreinander interessiert hätten. Die oben bereits angesprochene florierende Kriegspropaganda auf beiden Seiten des Rheins beweist geradezu das Gegenteil: Wie selten zuvor waren die Jahre 1914 bis 1918 eine Zeit erhöhter Wahrnehmungsbereitschaft dem jeweils anderen gegenüber, wenn auch nicht in verständigungsorientierter Absicht.

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pflegt wurde. Vielmehr waren mit den politischen auch die literarischen und wissenschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Ländern zusammengebrochen; auch der Zeitschriftenmarkt verhielt sich Deutschland gegenüber zunächst sehr reserviert.53 Die Action Francaise und die von Henri Massis geführte Revue Universelle lehnten jegliche Form von internationaler Zusammenarbeit rundum ab, aber auch die sozialistischen Intellektuellen um Clarte widmeten sich lieber dem innenpolitischen Kampf als ausgerechnet der Wiederaufnahme des deutschfranzösischen Kulturtransfers.54 Auch die traditionell einflußreichen literarischen Rundschauen wie der Mercure de France oder die Revue des Deux Mondes hielten nach dem Krieg noch lange Distanz zu deutschen Autoren.55 Als Groethuysens Artikel, den er nach Du Bos' drängender Mahnung umgehend fertiggestellt hatte, im November 1920 in der NRF unter dem schlichten Titel Lettre d'Allemagne erschien, war dies in der Geschichte des deutsch-französischen Kulturtransfers somit ein kleines Ereignis: der erste Text eines deutschen Autors seit Kriegsende in einer französischen Kulturzeitschrift von Rang. Was hat Groethuysen nun seinen französischen Lesern über die intellektuelle Lage im Nachkriegsdeutschland zu sagen? Sein erster Brief aus Deutschland, dem bis 1923 vier weitere folgen werden, beginnt zunächst mit einem nostalgischen Rückblick auf die Idee der »Innerlichkeit« während der Vorkriegszeit:56 Das Denken war eine Zuflucht, eine Art geistiger Rückzug von den Ideen des Tages [...]. Die wahren Dichter, die wahren Philosophen [...] waren jene, die nichts von Politik verstanden und zu meiden wußten, was um sie herum geschah.57 Diese glückliche Zeit des L 'art pour I'art ist für Groethuysen seit dem Krieg jedoch unwiederbringlich verloren, denn, so konstatiert er: Das geistige Deutschland durchläuft eine Krise.58 Die ältere Generation finde sich, wie Groethuysen ausführt, in den veränderten Bedingungen nicht mehr zurecht, und die Jüngeren liefen »von einem Absoluten zum anderen«, ohne dabei ihre »innere Verwirrung« wirklich verbergen zu kön53 54

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Vgl. dazu grundlegend Schroeder-Gudehus 1966; dies. 1993; Richard 1987. Die Gruppe um Romain Rolland, die sich von Barbusses Hinwendung zur kommunistischen Parteipolitik zunehmend distanzierte, verfügte zu dieser Zeit noch nicht über ein eigenes Sprachrohr. Das sollte sich erst 1923 mit der Gründung der Zeitschrift Europe ändern, die in mancherlei Hinsicht als internationalistisch-pazifistisches Konkurrenzunternehmen zur NRF angesehen werden kann (vgl. dazu Racine 1993; dies./Trebitsch 1997). Zwar informierten auch andere Zeitschriften zu dieser Zeit bereits wieder über deutschsprachige Literatur, doch dauerte es noch Jahre, bevor sie Beiträge deutscher Autoren abdruckten. Zeitschriften, die später für Beiträge von deutscher Seite sehr offen waren wie etwa die Cahiers du Sud oder Europe, bestanden 1920 noch nicht (vgl. dazu die Hinweise bei Richard 1984,90). Vgl. hierzu auch Große Kracht 2001. Groethuysen 1920, 171. Ebd., 172. 113

nen.59 Die Ursache dieser geistigen Orientierungskrise sieht Groethuysen nun aber nicht wie so viele seiner deutschen Zeitgenossen in Revolution und Republik, sondern einzig und allein im Krieg und seiner anhaltenden Macht über die Köpfe: Es ist der Krieg, der in Seele und Geist fortlebt. [...] Der Geist scheint noch nicht recht demobilisiert zu sein.60 Groethuysen überträgt somit gewissermaßen Rivieres Kritik am französischen Nachkriegsnationalismus auf deutsche Verhältnisse. Aber auch Gide kann sich mit seinen Reflexions sur l'Allemagne durch Groethuysens Betrachtungen über Deutschland bestätigt sehen. Denn das »große Opfer des Krieges«, so meint auch dieser in Hinblick aufsein Heimatland feststellen zu können, sei »das Individuum«:61 das Besondere, das Nuancierte, das Ich, das die literarische Produktion jenseits des Rheins kaum mehr beschäftige.62 An seine Stelle sei mit dem Krieg vielmehr die große Masse getreten, das Kollektiv und die großen schicksalhaften Menschheitsfragen.63 Dies zeige sich besonders deutlich am Erfolg eines Werkes wie Der Untergang des Abendlandes von Oswald Spengler, das wie kaum ein anderes die Untergangsstimmung im Nachkriegsdeutschland zum Ausdruck bringe.64 Für Groethuysen ist Spenglers universalhistorisches Untergangsepos jedoch nur ein Symptom dafür, wie wenig sich die öffentliche Meinung in Deutschland von den Kategorien des Kriegs und der militärischen Massenbewegungen befreit habe. Denn Spengler, so Groethuysen, sei nahezu wie ein Kriegsgeneral davon besessen, »die Völker zu manövrieren, die Individuen nur nach Einheiten zu zählen«.65 Noch deutlicher wird Groethuysen in einer weiteren Lettre d'Allemagne, die einige Monate später, im April 1921, in der NRF erscheint. Spengler, so Groethuysen hier, sei nur mehr ein reiner »Systemmensch«: Er belasse den Ideen nicht mehr ihr Eigenrecht, er »beherrscht, er befehligt sie«;66 seine Vorstellungen seien nicht mehr (wie bei Kant) von einem »Ich denke« begleitet, sondern einzig und allein vom Imperativ des »Ich 59 60 61 62 63

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Ebd. Ebd., 179f. Ebd., 184. Ebd. »Avant perdu le sens de ce qui est individuel et particulier, leur vue ais6ment embrassera les temps et les peuples« (ebd. 179). Und als Beispiel nennt Groethuysen Rudolf Pannwitz und den Marburger Philosophen Paul Natorp: »Est-ce l'ablme plein d'horreur, estce ä des hauteurs inconnues jusqu'ici ä Phumanito? se demande M. Natorp (Deutscher Weltberuj). De m6me M. Pannwitz (Die Krisis der europäischen Kultur) s'interroge pour savoir si c'est la grandeur qui nous attend, ou le pricipice« (ebd., 178). »Lorsque je rentrai en Allemagne, et que je revis les intellectuels que je connaissais d'avant la guerre, le nom qui revenait sans cesse dans leur conversation otait celui de M. Spengler. H y a une de vous demander si vous avez lu un livre, qui oquivaut ä vous dire que dans le cas - tout ä fait invraisemblable d'ailleurs, - oü vous ne l'auriez pas lu, vous ignorez ä peu pres tout. C'est ainsi que je fus questionne" au sujet du livre de M. Spengler: Der Untergang des Abendlandes«, (ebd., 173). Ebd., 179. Ders. 1921b, 190.

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befehle«.67 An die Stelle der skeptischen Attitüde kritischer Philosophie trete bei Spengler so schließlich die Megalomanie eines deutschen Schreibtischgenerals; das historische Denken verzerre sich dabei zu einem, wie Groethuysen formuliert, »Morbus Spengler«.68 Die mangelnde »Demobilisierung des Geistes«, die Groethuysen bei Spengler wie bei kaum einem zweiten meint ausmachen zu können, zeigt sich seiner Meinung nach jedoch auch, wenngleich vermindert, bei anderen deutschen Intellektuellen in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Davon zeugen die weiteren Briefe aus Deutschland, die Groethuysen bis 1923 in der NRF veröffentlicht.69 In ihnen allen herrscht ein prinzipiell skeptischer Ton vor, mit dem Groethuysen Talent und Geist zwar anzuerkennen vermag, gleichwohl aber die literarische Qualität in Deutschland durch die unverarbeiteten Kriegserfahrungen gefährdet sieht. So kritisiert er in seiner zweiten Lettre d'Attemagne, einer Besprechung von Werfels Magischer Trilogie: Der Spiegelmensch, die 1921 in Leipzig eine fulminante Uraufführung erlebte und von vielen als eine Art Nachkriegs-faws/ empfunden wurde, daß ihr Autor im Gegensatz zu Goethe dem Menschen nur noch einen Ausweg anbiete: sein individuelles Ich auszulöschen.70 Der Mensch, so interpretiert Groethuysen Werfels expressionistisches Lehrstück, finde bei diesem nur zum Glück, indem er seine individuellen Sehnsüchte und Lebensansprüche, die sich in der Gestalt des »Spiegelmenschen« zu Wort meldeten, hinter sich zurücklasse und sich dem »glückseligen Frieden des Nirvana« übergebe.71 Der Autor des Faust habe demgegenüber am Wert der persönlichen Menschenseele festgehalten und im Urvertrauen auf die Selbstverwirklichung des Individuums dieses schließlich einer Synthese von Besonderem und Allgemeinem, von Ich und Welt, für fähig gehalten: Mensch zu sein, heißt, ganz und gar man selbst zu sein, so lehrte Goethe. Es gibt keine Menschheit außerhalb des richtig verstandenen Individuums.72 Zwar kannten auch Goethe und die »Dichter der Vorkriegszeit« den Dualismus von innerem Sinnanspruch und äußerer Wirklichkeit des Ichs,73 doch lebten damals beide Lebensbereiche noch in literarischer Harmonie zusammen.74 Dies, so Groet67

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»Kant dit quelque part que tout est procöde" et dotermino dans sa forme, par le >JepenseJ'ordonne< qui forme V a priori de sa pensoe; et puisque c'est un philosophe qui pense, il commande l'univers« (ebd., 197). Ebd., 198. Vgl. ders. 1921a; 1921b; 1922a; 1923b. Auch nach 1923 veröffentlicht Groethuysen kontinuierlich und rege in der NRF, doch verzichtet er von nun an auf eine eigene Rubrik. Bereits 1921 war von ihm - außerhalb der Lettres d'Allemagne - in der NRF eine kürzere Rezension von Schriften von Hugo von Hofmannsthal, Kasimir Edschmid und Oskar Loerke erschienen (vgl. ders. 1921c). Ders. 1921 a; »M. Werfel nous enseigne qu'il faut d6truire son moi« (ebd., 227). Ebd., 232. Ebd., 223. Ebd., 228. Ebd., 230. 115

huysen, änderte sich jedoch, als die Dichter begannen, ihr inneres Ich für Leiden - wie etwa jene des Krieges - verantwortlich zu machen, für die es selbst keine Verantwortung trug.75 In diesem Moment, so Groethuysen, begann die Revolte des Expressionismus, der Kampf gegen das Ich und die Seele, ein Kampf, der nur noch einen Ausweg kannte: die Ekstase und den Wahnsinn.76 Auf dem Feld der Literatur herrscht nach Groethuysen somit zumindest in Teilen der gleiche Zustand vor, den er am Beispiel Spenglers bereits zuvor für das Gebiet der Kulturkritik meinte ausmachen zu können: ein Denken in Frontstellungen, das sich selbst nur mehr in der Bezwingung eines wie auch immer gearteten Feindes - seien es ganze Völker und Kulturen, sei es das innere literarische Ich zu erleben glaubt. Gegenüber den mehr oder minder bewußten Versuchen, die Kriegserfahrungen literarisch produktiv zu verarbeiten, verweist Groethuysen bereits in seiner ersten Lettre d'Allemagne einmal mehr auf Goethe, der seiner Meinung nach der Ansicht stets entgegengetreten sei, [...] daß ein Krieg, und sei es ein Weltkrieg, einen wohltuenden Einfluß auf den Geist ausüben könne. [...] Goethe, wenn er in der heutigen Zeit lebte, hätte, so vermute ich, keinen Grund, sein Urteil zu modifizieren.77

Mit seinen beständigen Verweisen auf Goethe als literarische Bewertungsinstanz78 scheint Groethuysen der Idee der Deux Allemagnes zu folgen, so wie Gide sie in der ersten Nachkriegsnummer der NRF reformuliert hatte. Goethe und Nietzsche, so hatte Gide bekanntlich geschrieben, seien die beiden deutschen Kultur»Geiseln« Frankreichs, deren sich das neue Deutschland erst einmal würdig zu erweisen habe.79 Der in seinem Heimatland nach dem Krieg neu aufkeimenden Goethe- und Nietzsche-Begeisterung stand Groethuysen gleichwohl skeptisch gegenüber. Vor allem der ehrfurchtsvolle Genie- und Heroenkult um die beiden Dichter und Denker, wie ihn beispielsweise die George-Schüler Friedrich Gundolf und Ernst Bertram in ihren einflußreichen Büchern Goethe (1916) und Nietzsche. Versuch einer Mythologie (1918) zelebrierten, lag ihm fern. So wendet sich Groethuysen in einer seiner Lettres d'Allemagne insbesondere gegen den Versuch Bertrams, die historische Gestalt Nietzsches in nationalpädagogischer Absicht zum

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An Margarete Susman schreibt Groethuysen bereits Ende März 1919: »Nun kam der Krieg und hat den Menschen - speziell den Deutschen - Erlebnisse aufgezwungen [...]. Die Seele sucht Antworten aufprägen, die die Seele nicht stellte« (B. Groethuysen an M. Susman, 31.3.1919; Kopie, Privatbesitz). »Mais tout changea quand les poetes, pour se mettre au diapason des 6v6nements, voulurent crier au monde leurs souffrances et leurs rovoltes. II s'aper9urent alors avec dipit, que leurs sentiments et leurs gestes n'otaient plus tout a fait a eux, et qu'ils ne savaient plus pleurer leurs propres larmes. [...] Ils dociderent de se rovolter. Mais comment se dibarrasser de leur compagnon devenu leur maitre? II n'y a que Pextase et la folie [...]« (Groethuysen 1921 a, 230); vgl. dazu auch der ders. 1921c. Ders. 1920, 180. Vgl. dazu auch ders. 1923b, 159. Vgl. oben S. 109; vgl. dazu auch Foucart 1997, 203.

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Mythos des Urdeutschen überhaupt zu stilisieren.80 In Bertrams Versuch einer Mythologie avancierte Nietzsche zur Chiffre eines vermeintlich deutschen Wesens, das sich jeglicher Definition und Begrenzung entziehe, da es sich immer schon in beständiger Bewegung, in ruhelosem Werden und im Erreichen neuer Ziele befinde.81 Gegen die von Bertram betriebene nationale Engftlhrung verweist Groethuysen nachdrücklich auf die große Nietzsche-Arbeit Charles Andlers, der minutiös die europäischen Einflüsse auf das Werk Nietzsches nachzeichne und dabei zeige, wieviel der geistige Vater des »Übermenschen« der Lektüre der französischen Moralisten von Montaigne bis Stendhal verdanke.82 Wenn Deutschland überhaupt etwas von Nietzsche lernen könne, so Groethuysens Fazit, dann sicherlich nicht die Selbstisolierung, sondern ganz im Gegenteil, die Öffnung hin zum Kosmopolitischen und Übernationalen: Der Deutsche soll mehr sein als ein Deutscher, hat Nietzsche irgendwo gesagt. War es nicht dieses, was ihn sagen ließ, der Deutsche sei der Mensch des Werdens? Hat jemand sein Vaterland jemals mehr geliebt, als Nietzsche es tat?83 Ebenso deutlich wie gegen die deutsche Rückforderung des französischen Unterpfandes wendet sich Groethuysen gegen die Glorifizierung Nietzsches zum Heros von Kraft und Gewalt. Gegen das Bild vom »Apostel des Werdens«, zu dem Nietzsche bei Bertram stilisiert werde,84 errichtet er sein ganz persönliches Bild von Nietzsche als einem vor allem tragisch-sensiblen Denker: >»Ich bin der erste tragische Philosophd'6tre Allemands pour devenir Berlinoisichange de vues»Je regarde tous les peuples de l'Europe avec la meme impartiality que les diffirents peuples de Pile de Madagascan« (ders. 1927a, XIII). 181

sich wandelnden »Lebenserfahrung« in jenen Teilen der Bevölkerung, die aus der ererbten religiösen »Einheitskultur« hinauszudrängen beginnen: Die Prediger verstehen [...] nicht. Sie sind voller Entsetzen, wenn sie sehen, wie diese Bürger in voller Gewissensruhe mit ihnen diskutieren, als wären sie sich keiner Sünde bewußt und könnten dem Tage des Gerichts ohne jede Besorgnis entgegensehen.64

Die zweifelnden Anfragen, die die Gläubigen an die Priester und Theologen ihrer Zeit richten, werden von diesen selbst somit bereits als Anzeichen eines tiefgreifenden Glaubensschwundes gewertet: Sie »streiten mit Gott«, so drückt es Massillon aus; sie stellen Fragen; sie verlangen Rechenschaft. Es sind die Fragenden, Suchenden. Sie vermögen nicht mehr ruhig dem zuzuhören, was man sie lehrt. Sie unterbrechen gewissermaßen die Prediger nach jedem Satze und stellen endlose Fragen.65

Der Anbruch der modernen Welt erweist sich für Groethuysen damit wie zuvor bei Troeltsch als ein Aufbrechen der kirchlich-autoritären »Einheitskultur« des Mittelalters und als Durchsetzung einer diskursiven »Reflexionskultur«, in der die Vertreter der neuen bürgerlich-innerweltlichen »Welt- und Lebensanschauung« sich in endlosen Diskussionen mit den Vertretern des alten kirchlichen Weltbildes auseinandersetzen und sich so die Artikulation ihrer eigenen Interessen und Bedürfhisse zunehmend erarbeiten. Man habe den Eindruck, so Groethuysen, »einer langen, stets weiter geführten Diskussion beizuwohnen, in der der Bürger und der Geistliche sich miteinander messen«.66 Der Mensch, so faßt Groethuysen in der Einleitung zum zweiten Band zusammen, sei dabei »ein anderer geworden«,67 aus dem mittelalterlichen Christenmenschen beginne sich die moderne Subjektivität herauszuschälen: Das tritt immer wieder im Laufe der langen Diskussionen der Geistlichen mit den gebildeten Laien hervor. Grundsätzlich mögen beiderseits die Argumente die gleichen geblieben sein. Aber der Mensch, der hier mit den Geistlichen diskutiert, ist nicht mehr der gleiche. Im Laufe dieser fortgesetzten Diskussionen haben sich grundsätzliche Änderungen in dem Bewußtsein des Bürgertums vollzogen. Der Bürger hat mit der Zeit Erfah64 65

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Ders. 1927b, 64. Ebd., 29. Neben einer großen Anzahl populärer Predigtsammlungen - darunter bspw. das mehrbändige Werk eines gewissen Roguis mit dem barocken Titel La voix du Pasteur. Discours familiers d'un cure a ses paroissiens pour tous les dimanches de l'annee (1766-1773) oder die Instructions courtes et familieres pour tous les Dimanches et les principales Fetes de l 'annee, enfaveur des Pauvres et particulierement des gens de la Campagne (1723) eines Joseph Lambert -, die Groethuysen mit der theologischen »Hochliteratur« der damaligen Zeit (Bossuet, Fonelon, Massillon u.a.) über Kreuz liest, benutzt er außerdem, wenn auch nur vereinzelt, unveröffentlichte Bittschriften und Visitationsprotokolle sowie, vor allem im zweiten Band, in dem er die Entstehung einer bürgerlich-profanen Wirtschaftsethik in Auseinandersetzung mit den kirchlichen Autoritäten nachzeichnet, bürgerliche Moral- und Wirtschaftstraktate (vgl. dazu die ausführlichen Anhänge in den beiden Bänden der deutschen Ausgabe). Groethuysen 1930a, 215. Ebd., 13.

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rungen gesammelt, sein Leben nach neuen Gesichtspunkten geordnet, Umwertungen vollzogen, die in seinem ganzen Verhalten den Geistlichen gegenüber in Erscheinung treten. Groethuysen schreibt seine Entstehungsgeschichte des modernen bürgerlichen Geistes in Frankreich somit letztendlich als eine Geschichte der Diskussion und der Konkurrenz zweier »Weltanschauungen«, der alten religiös-kirchlichen und der neuen innerweltlich-bürgerlichen. Er wendet sich damit bewußt gegen ein Modell von »Kulturgeschichte«, das sich allein für das Zuständliche, Typische einer Epoche interessiert und nach dem - oberhalb aller Konflikte und Widersprüche angesiedelten - Gemeinsamen eines »Kulturzeitalters« fragt:69 Das geschichtliche Werden entgeht uns dabei meistens: wir dringen nicht in die Intimität des geschichtlichen Prozesses ein. Wir treiben »Kulturgeschichte«, aber nicht eigentlich Ideengeschichte. Es fehlt das Element der Diskussion, der Entgegensetzungen, der geistigen Bewegung [...].70 Genau diesem Element aber, dem Widerstreit der Meinungen und dem Kampf um diskursive Anerkennung, gilt Groethuysens Interesse in seinen Studien zur Entstehung der modernen Welt. Er plädiert damit für ein Modell von »Ideengeschichte«, das den ewigen Monolog eines sich in der Geschichte entfaltenden Welt- oder Volksgeistes durch den Dialog und die Diskussion der verschiedenen Gruppen und Schichten untereinander ersetzt. Denn, wie Groethuysen Jahre später schreiben wird: »Alles Denken ist ein Dialog«.71 l .2. Das Bürgertum als »diskutierende Klasse« Der »Bürger«, der moderne Mensch, ist für Groethuysen »im Leben der Kirche eine bisher unbekannte Erscheinung: der Laie, der Fragen aufwirft, über Dogmen diskutiert, diese annimmt, jene verwirft, sich seine eigene Ansicht über die Religion machen will. Die Kirche kann diesen neuen Laienstand nicht anerkennen«.72 Denn für die Kirche ist der Glaube eine vorgegebene Offenbarung, die unhinterfragt vom Gläubigen hingenommen werden muß. »Sie aber, Monsieur«, so zitiert Groethuysen aus der Predigtsammlung des Pfarrers von Gap, einer kleinen Gemeinde am Rande der französischen Alpen, »wollen alles besser wissen und räsonnieren in einem fort über die Religion und ihre Mysterien«.73 Welche Fragen der »Bürger« im einzelnen auch stellen mag, allein die Tatsache, daß »er überhaupt 68 69

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Ebd. Zur Tradition einer solchen »statischen« Kulturgeschichte in Deutschland im Anschluß an Wilhelm Heinrich Riehl, Jacob Burckhardt oder Karl Lamprecht vgl. Haas 1994 (besonders: 374ff.) sowie die Hinweise bei Schleier 1997 und Hübinger 1997b. Groethuysen 1927b, 12. So Groethuysen 1945 im Rundfunkprogramm von France culture (B. Groethuysen, »Graines de drame« (Maison de Radio France, Paris, Bibliotheque dramatique centrale, R. 471); zit. nach Böhringer 1978, 173; vgl. dazu unten S. 291ff.). Groethuysen 1927b, 31. Ebd. 183

Fragen stellt, von sich aus Fragen stellt«, ist, so Groethuysen, »für die Kirchenordnung gefährlich«,74 zeigen die Anfragen doch das zur Mündigkeit erwachende Bewußtsein des modernen Menschen. Theodor W. Adorno hat insofern ganz recht, wenn er 1932 in einer Besprechung der Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung Groethuysens Buch als eine Geschichte der »Verwandlung des erstarkenden Bürgertums in die diskutierende Klasse« bezeichnet.75 Adorno nimmt hier einen Topos der zeitgenössischen politischen Sprache auf, der bereits zehn Jahre zuvor von Carl Schmitt in seiner 1922 erschienenen Schrift Politische Theologie zur Abwehr des liberal-demokratischen Diskurses der frühen Weimarer Republik geprägt worden war. So bezeichnet Schmitt in seiner bis heute einflußreichen Schrift im Anschluß an den katholisch-traditionalistischen spanischen Kulturkritiker Donoso Cortös das liberale Bürgertum des 19. Jahrhunderts bekanntlich als eine »diskutierende KlassenatürlichLes origines de l'Esprit bourgeois en Frances Nous reproduisons le manuscrit qui date de 1910 environ, tel qu'il 1'a laisso« (ders. 1947d, 389, Anm. 1). Groethuysen hat demnach sein Rousseau-Manuskript also bereits vor dem Ersten Weltkrieg begonnen, doch wird er an seinem Text später immer wieder weitergearbeitet haben, wodurch sich die vielen Wiederholungen und die im Grunde recht zusammenhanglose Abfolge der einzelnen Kapitel in dem von Alix Guillain edierten Band erklären. Daß Groethuysen seinen Rousseau als Fortsetzung der Entstehung der bürgerlichen Weltund Lebensanschauung geplant hatte, scheinen einige Textstellen nahezulegen, die verstreut Eingang in den Band gefunden haben; so etwa folgende Bemerkung zu Beginn eines Kapitels: »Pour bien comprendre l'attitude religieuse de Rousseau, rappelons ce que nous avons dit sur Emancipation de l'esprit moderne« (ders. 1949a, 341); oder: »L'homme du XVIII'siecle n'est pas un etre sans religion. C'est un 6tre dont la religiosite" s'est profondoment modified. [...] II ne discute plus sur des questions dogmatiques, il ne fait plus le theOlogien [...]«(ebd., 378). 202 So Groethuysen bereits in seiner frühen Vorlesung von 1907 (ders. 1956a, 102). 204

diesem Zusammenhang auch von einem »inneren Konflikt«203 - seien schließlich Rousseaus typische dialektische Konstruktionen von »Gesellschaft« und »Naturzustand«, von bourgeois und citoyen entsprungen.204 Die antagonistischen Konstruktionen, um die Rousseaus Werk kreise, zeigten somit »die Unvereinbarkeit der verschiedenen Werte«205, die in der Formierung des »normativen Einheitstypus« des französischen Bürgertums miteinander rangen und in Übereinstimmung gebracht werden mußten. In literarisch sublimierter Weise spielte sich damit in Rousseaus Persönlichkeit viele Jahre vor 1789 das große Drama der Revolution ab: Dieser Genfer ist der erste Franzose der neuen Zeit. In seiner Lebensweise, in seiner Art, die Gesellschaft zu bekämpfen, hat er eine individuelle Revolution durchgemacht, die der großen Revolution voranging.206

Die Darstellung der Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich von ihren Anfängen in den zunächst zögerlichen, dann zunehmend heftigeren Debatten zwischen den gebildeten Laien und den Vertretern der kirchlichen Autorität bis hin zu Voltaires Religionskritik und Rousseaus Traum vom »neuen Menschen« blieb ein unvollendetes Projekt. Gleichwohl zeigen die beiden erschienenen Bände sowie die späteren Studien zur Fortsetzung die innere Kohärenz des geplanten Werks, das die Formierung des modernen Subjekts am Beispiel der französischen Geistesgeschichte nachzeichnen sollte. In der historischen Sicht Groethuysens war der »moderne« Mensch weder das illegitime Kind einer klerikalen oder höfischen Kultur noch das Mündel geschulter Philosophen und Aufklärer. Der »Bürger«, der »normative Einheitstypus« der Neuzeit, stand vielmehr selbst am Ursprung seiner Geschichte, und zwar genau in dem Moment, an dem er zögernd begann, mit Zweifeln und Fragen seine »Lebenserfahrung« autonom zu reflektieren und gegen das Interpretationsmonopol der kirchlichen Autorität zu behaupten. Aus dem mittelalterlichen Sünder schälte sich so immer mehr der »natürliche Mensch« des späten 18. Jahrhunderts heraus, der die Welt nach den Bedürfhissen seines Lebens einzurichten begann.

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Ders. 1949a, 164,255. Vgl. dazu im einzelnen die Ausführungen in dem Kapitel Dualite d'ideals chez Rousseau (ebd., 141-169) sowie die Einleitung zu der von Groethuysen kurz vor seinem Tod herausgegebenen Neuauflage von Les reveries dupromeneur solitaire (ders. 1946a). 205 »Ses >paradoxes< otablissent plutöt l'incompatibilitö de difforentes valeurs qu'ils ne nient l'une ou l'autre d'entre elles. [...] Incompatibiliti de valeurs, voilä le fond de la pensöe de Rousseau« (ders. 1949a, 389ff.). 206 Ebd., 255. 204

205

2.

Philosophische Anthropologie und historische Hermeneutik

2. l. »Mythos« und »Dialog« Mitte der zwanziger Jahre, noch bevor der erste Band der Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung erschienen war, erhielt Groethuysen das Angebot, an dem von dem Münchner Philosophen Manfred Schröter und seinem damals in Dresden lehrenden Kollegen Alfred Baeumler herausgegebenen Handbuch der Philosophie mitzuarbeiten.207 Für Groethuysen, der bis dahin neben seiner 1904 veröffentlichten Dissertation keine weitere größere Publikation aufzuweisen hatte, mag das geplante Handbuch eine willkommene Gelegenheit geboten haben, im Feld far deutschen Universitätsphilosophie auf sich aufmerksam zu machen, zumal auch andere Vertreter der Dilthey-Schule wie Georg Misch, Herman Nohl und Erich Rothacker ihre Mitarbeit zugesagt hatten.208 Die Herausgeber hatten Groethuysens Mitarbeit für den dritten Band des Handbuches vorgesehen, das verschiedene Beiträge aus dem Themenbereich »Mensch und Charakter«, wie der Untertitel hieß, gruppieren sollte. Aus einem Brief Manfred Schröters an Groethuysen von Anfang September 1924 geht hervor, daß Groethuysen mit dem ursprünglichen Themenvorschlag einer philosophischen »Charakterologie« im Anschluß an Diltheys Typologie der Weltanschauungen jedoch nicht sehr zufrieden war.209 Statt dessen schlug er für die Vorankündigung seines Beitrags den Titel »Hermeneutik (Phil. Anthrop.)« vor, den die Herausgeber zunächst auch akzeptiert zu haben scheinen.210 So heißt es in dem erwähnten Brief Schröters an Groethuysen: Aus den Worten Ihres Schreibens: »Was ich zur Darstellung bringen möchte, wären etwa die Prinzipien einer Hermeneutik und eine kurze Darstellung der Auffassung des Lebens und des Menschen«, sowie aus Ihrer Bemerkung, dass Ihnen die Typologie Diltheys unwesentlicher erscheine gegenüber seiner »Auffassung des menschlichen] Lebens« u. s. »Erkenntnis d. praktischen] Bedeut[ung] d. Versteh [ens]«, dürfen wir wohl mit Recht annehmen, dass Ihr Beitrag (wie es für uns am willkommensten und wertvollsten ist) die Hermeneutik in den Mittelpunkt rücken, das Typologische u. mehr 207

Das Handbuch, das zwischen 1927 und 1934 in mehreren Lieferungen erschien, umfaßt insgesamt vier thematische Bände: Die Grunddisziplinen (Bd. I), Natur/Geist/Gott (Bd. II), Mensch und Charakter (Bd. III), Staat und Geschichte (Bd. IV) (vgl. Baeumler/Schröter 1927-1934). 208 Vgl. dazu das Mitarbeiterverzeichnis im 1927 zuerst erschienenen Bd. II. Groethuysen, der vermutlich weitere Verzögerungen für sein seit langem geplantes Buch über die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich befürchtete, hatte allerdings »längere Zeit geschwankt«, bevor er dem Verlag seine Zusage mitteilte (B. Groethuysen an O. Groethuysen, 30.3.1924; Nl. O. Groethuysen, Familienbesitz). 209 M. Schröter an B. Groethuysen, 1.9.1924 (Durchschlag, Universitäts- und Landesbibliothek, Bonn, Nl. E. Rothacker I). 210 »Ich schrieb Ihnen vor einiger Zeit, dass wir aus Gründen des logischen Aufbaus Ihren Beitrag dem III. Band des Handbuchs einordnen möchten unter dem aus Ihrem Schreiben entnommenen Titel: Hermeneutik (Phil. Anthrop.)« (ebd.). 206

noch das Charakterologische in den Hintergrund treten lassen (bezw. übergehen?) wird.211

Schröter wollte es daher auch bei dem Obertitel »Hermeneutik« belassen, den Untertitel »Philosophische Anthropologie« jedoch dem Beitrag Groethuysens nicht hinzufügen, sondern das »Charakterologische« im eigentlichen Sinne, das er offenbar im Begriff der Anthropologie mitschwingen hörte, einem anderen Beitrag zum Handbuch vorbehalten.212 Als Groethuysens gut zweihundert Seiten umfassender Beitrag schließlich als einundzwanzigste Lieferung des Handbuchs der Philosophie 1931 erschien, hatte sich der Titel jedoch erneut geändert, und aus dem vormaligen Untertitel war nunmehr der Haupttitel geworden: Philosophische Anthropologie.™ Wie es zu dieser erneuten Titeländerung kam, ist ungeklärt, da von einem weiteren Briefwechsel zwischen den Herausgebern und Groethuysen nichts bekannt ist. Die neue Titelwahl zeigt jedoch an, daß Groethuysen sich im Horizont einer zeitgenössischen Debatte bewegte, die über die bloße Organisation eines philosophischen Kompendiums weit hinausging. Groethuysen scheint sich der Aktualität seines Themas, der Philosophischen Anthropologie, dabei durchaus bewußt gewesen zu sein. So erwähnte er Ende 1929 Andre" Gide gegenüber, »daß man in Deutschland stets anhand eines Wortes gelebt« habe: Während seiner Jugend, so führte er aus, »war es die Seele, dann war es das Leben, dann das Wesen und heute ist es der Mensch«.214 In der Tat war Ende der zwanziger Jahre die Frage nach dem Menschen, die philosophische Anthropologie, zu einer Art intellektueller Modeströmung in Deutschland geworden, die gewissermaßen die Weltanschauungsfrage der »Lebensphilosophie« aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg beerbte.215 Als Grün211

Ebd. »Für die Inhaltsgliederung [...] möchten wir es nach neuerer Ueberlegung bei diesem trefflichen Obertitel allein (ohne Nebentitel) belassen.« Und bezüglich der »Charakterologie [...], die wir Ihnen anfangs ja als Titel vorschlugen«, fügt Schröter hinzu: »[...] wir möchten Sie darum fragen, ob eine eigene kurze Darstellung derselben auch von anderem Verfasser neben bezw. nach Ihrem Beitrag angängig wäre [...]« (ebd.). 213 Vgl. Groethuysen 1931a. Der Separatdruck trägt übrigens fälschlicherweise das Erscheinungsdatum 1928; zu diesem Zeitpunkt waren jedoch zentrale Passagen der Abhandlung noch gar nicht fertiggestellt, wie aus zwei Briefen Groethuysens an Margarete Susman vom 27.9. und 3.12.1930 hervorgeht (DL, Nl. M. Susman, A: 32). Auch sind die von Groethuysen durchgesehenen Korrekturbögen erst Ende 1930 an den Verlag gegangen, wie er in einem Brief an seine Mutter vom 29.12.1930 mitteilt (Nl. O. Groethuysen, Familienbesitz). 214 Zit. nach van Rysselberghe 1973-1977, H, 62. Gide, der zu dieser Zeit gerade an seinem Prosadrama (Edipe arbeitete, soll darauf geantwortet haben: »C'est curieux, cette rencontre [...]: le mot Homme, qui correspond ä Mensch, c'est justement le mot que P(Edipe auquel je travaille rdpondra au sphinx« (ebd., 62). Vielleicht erinnerte sich Gide an dieses Gespräch, als er sein Drama Groethuysen später widmete (vgl. dazu ebd., 116, 640). 215 Vgl. dazu oben S. 53ff. 212

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dungsschrift der anthropologischen Richtung der zeitgenössischen deutschen Philosophie galt damals für viele Max Schelers 1928 veröffentlichte Schrift Die Stellung des Menschen im Kosmos, in der Scheler gleich zu Beginn mit welthistorischem Pathos die Bedeutung der philosophischen Anthropologie für die geistige Situation der Zeit herausstellte: Ich darf mit Befriedigung feststellen, daß die Probleme einer Philosophischen Anthropologie heute geradezu in den Mittelpunkt aller philosophischen Problematik in Deutschland getreten sind [...]. In dem Augenblick, da der Mensch sich eingestanden hat, daß er weniger als je ein strenges Wissen habe von dem, was er sei, und ihn keine Möglichkeit der Antwort auf diese Frage mehr schreckt, scheint auch der neue Mut der Wahrhaftigkeit in ihn eingekehrt zu sein, diese Wesensfrage [...] in neuer Weise aufzuwerfen und [...] eine neue Form seines Selbstbewußtseins und seiner Selbstanschauung zu entwickeln.

Wie die Einsicht in die Relativität philosophischer Systeme die Intellektuellen des späten Kaiserreichs nicht daran gehindert hatte, in immer neuen Anläufen weiterhin nach vermeintlich letztgültigen Weltanschauungslehren zu suchen, schreckt auch Scheler nicht davor zurück, trotz aller skeptischen Vorbehalte die Frage nach dem »Wesen« des Menschen erneut zu stellen. Ein Vergleich mit den niedrigen Lebensformen der Pflanze und des Tieres läßt ihn dabei zu dem Schluß gelangen, der Mensch sei vor allem durch seine, wie Scheler sagt, »exisientielle Entbundenheit vom Organischem™ definiert: Der Mensch als >»geistiges< Wesen ist [...] nicht mehr trieb- und umweltgebunden, sondern >umweltfrei< und, wie wir es nennen wollen, >weltoffenNeinAsket des Lebens^, der ewige Protestant gegen alle bloße Wirklichkeit«.220 Diese »Weltoffenheit«, die Fähigkeit des Menschen zum »Nein« gegenüber seiner unmittelbaren Umgebung, bestimmt den Menschen für Scheler somit vor allem als ein grenzüberschreitendes Wesen: Auf alle Fälle ist der Mensch [...] der ewige »Faust«, die bestia cupidissima rerum novarum, nie sich beruhigend mit der ihn umringenden Wirklichkeit, immer begierig, die Schranken seines Jetzt-Hier-So-seins zu durchbrechen, immer strebend, die Wirklichkeit, die ihn umgibt, zu transzendieren [...].221

In der Bestimmung des Menschen als »weltoffenes« und grenzüberschreitendes Lebewesen trifft sich Schelers philosophische Anthropologie mit derjenigen Helmuth Plessners, der im gleichen Jahr, in dem Scheler seine Abhandlung über Die 216

Scheler, M. 1928,6. Ebd., 38. 218 Ebd. 219 Ebd., 52. 220 Ebd., 55. 221 Ebd., 56. 217

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Stellung des Menschen im Kosmos publizierte, sein frühes Hauptwerk Die Stufen des Organischen und der Mensch veröffentlichte.222 Ähnlich wie Scheler sieht auch Plessner den Menschen im Vergleich mit anderen Lebewesen vor allem durch seine »exzentrische Positionalität« gekennzeichnet. Denn während das Tier an seine natürliche Umwelt gebunden bleibe, sei der Mensch, auch wenn er als körperliches Wesen die natürliche Zentrierung nicht durchbrechen könne, als geistiges doch zugleich bereits »aus ihr heraus, exzentrisch«.223 Die Grenze, die das Leben umgebe, werde vom Menschen somit immer schon intentional überschritten: Als Ich [...] steht der Mensch nicht mehr im Hier-Jetzt, sondern »hinter« ihm, hinter sich selbst, ortlos, im Nichts, geht er im Nichts auf [...]. Er ist in seine Grenze gesetzt und deshalb über sie hinaus [...].224

Bereits vor Scheler und Plessner hatte Karl Jaspers in seiner erstmals 1919 veröffentlichten Psychologie der Weltanschauungen, der eigentlichen Initialschrift der deutschen Existenzphilosophie, ganz ähnlich auf die Bedeutung solcher Grenzerfahrungen für die Selbstbesinnung des Menschen aufmerksam gemacht. So erfahre der Mensch gerade in den »Grenzsituationen« des Lebens wie Kampf, Leid und Tod, daß »in seinem Leben nichts Festes da ist, kein unbezweifelbares Absolutes, kein Halt, der jeder Erfahrung und jedem Denken standhielte«.225 Was hier zunächst als Begrenzung des menschlichen Lebens für jeden einzelnen erfahrbar werde, erweist sich für Jaspers jedoch zugleich als Ausgangspunkt einer Wesensbestimmung des Menschen überhaupt. Denn erst in der Erfahrung der Grenze, im »Wagnis des Lebens«, wie Jaspers sagt, werde »die empirische Existenz relativiert und dadurch ein absolutes, zeitloses Selbst der Idee nach ergriffen«.226 Im Anschluß an Jaspers' Theorie der »Grenzerfahrungen« wird Martin Heidegger dann schließlich 1927, ein Jahr vor dem Erscheinen der anthropologischen Schriften von Scheler und Plessner, das menschliche »Dasein« in Sein und Zeit als ein »Vorlaufen in den Tod« begreifen.227 Die existentiale Analytik dieses »Vorlaufens« mache dabei »offenbar«, wie Heidegger sich ausdrückt, »daß dieses Seiende in die Unbestimmtheit seiner >Grenzsituation< geworfen ist, zu der entschlossen, das Dasein sein eigentliches Ganzseinkönnen gewinnt«.228 Der Mensch versteht seine Existenz demnach erst, wenn er sich zur Voraussicht entschließt, einmal nicht mehr zu sein; die Frage nach dem menschlichen Leben beantwortet Heidegger so mit Hinweis auf den Tod. Wie groß die Unterschiede zwischen den hier erwähnten Vordenkern der philosophischen Anthropologie im Deutschland der späten zwanziger Jahre im einzel-

222

Vgl Plessner Ebd., 292. 224 Ebd. 223 225

226 227

Jaspers 1919, 229.

Ebd., 414. Vgl. Heidegger 1927, 305. 228 Ebd., 308; zu Jaspers vgl. ebd., 249, 301 (jeweils Anm. 1). 209

nen auch immer gewesen sein mögen,229 ihnen allen gemein war die dezidierte Abkehr von einer rein ideengeschichtlichen Beantwortung der Frage nach der conditio humana. Nicht in der Geschichte, nicht im Prozeß der geistesgeschichtlichen Reflexion des Menschen über sich selbst meinten sie Aufschluß über das »Wesen« des Menschen erhalten zu können, sondern vielmehr in der phänomenologischen Beschreibung seines historisch unwandelbaren Seins, sei es nun durch die Analyse seines »natürlichen Weltbegriffs« (Heidegger)230 oder durch den Vergleich seiner »Natur« mit derjenigen anderer Lebewesen (Scheler, Plessner).231 Diese »Wende zur Natur« bzw. zur Ontologie innerhalb der deutschen anthropologischen Debatte erweist sich so zugleich als eine Abkehr von der Geschichte, der eine Auskunft über die innere Verfaßtheit des Menschen nicht mehr zugetraut wird.232 Die philosophische Anthropologie Schelers und Plessners, aber auch die Existentialphilosophie Jaspers' und Heideggers brechen damit trotz aller Referenzen an die »Lebensphilosophie« Wilhelm Diltheys233 mit dessen entschiedenem Diktum, das Bernhard Groethuysen seiner Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung vorangestellt hatte: »Der Mensch erkennt sich nur in der Geschichte, nie durch Introspektion.«234 Groethuysen knüpft demgegenüber in seiner Philosophischen Anthropologie von 1931 dezidiert an das geistesgeschichtliche Vermächtnis seines Lehrers an, der in Fortführung der Einleitung in die Geisteswissenschaften in seinen philosophiegeschichtlichen Abhandlungen der 1890er Jahre an einer Geschichte der anthropologischen Selbstbesinnung des Menschen gearbeitet hatte.235 So gibt es weder für Dilthey noch für Groethuysen eine ahistorische »Natur« des Menschen, denn der »Typus Mensch«, so hatte schon Dilthey gesagt, zerschmelze »in dem Prozeß

229

Gerade Plessner, der in der zeitgenössischen Rezeption häufig als ein Schüler Schelers wahrgenommen wurde, bemühte sich bereits im Vorwort zur Erstauflage seiner Schrift um eine Abgrenzung von Scheler und Heidegger (vgl. Plessner 1928, V), wobei letzterer sich bereits selbst von Scheler sowie überhaupt von der philosophischen Anthropologie seiner Zeit distanziert hatte (vgl. Heidegger 1927, 45fF.). 230 Heidegger 1927, 50ff. 231 Vgl. Scheler, M. 1928, l Iff.; Plessner 1928, 185ff. 232 Siehe dazu die bekannte These von Odo Marquard, der die »Wende zur Natur« innerhalb der anthropologischen Philosophie mit einer »Resignation der Geschichtsphilosophie« (Marquard 1965, 138) einhergehen sieht: »[...] die Geschichte scheint [...] derart aussichtslos, daß einzig noch die radikale Nichtgeschichte, die Natur, als solider oder wenigstens praktikabler Bezugspunkt übrig bleibt; so ist die [...] Konjunktur der philosophischen Anthropologie und ihres Namens vor allem der Ausdruck für eine Krise des Vertrauens in die Geschichte und ihre Philosophie« (ebd., 135). 233 Vgl. etwa Plessner 1928, 19ff.; Heidegger 1927, 397ff. 234 Dilthey 1910, 279; Groethuysen 1927b, 7. 235 Vgl. dazu die Studien, die Dilthey zwischen 1891 und 1904 im Archivför Geschichte der Philosophie veröffentlicht hatte und die von Georg Misch im zweiten Band der Gesammelten Schriften unter dem Titel Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation zusammengetragen wurden (Dilthey 1914).

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der Geschichte«,236 was von diesem übrigbleibe, seien nur die Fragmente seines geistigen Schaffens, die der »Lebensphilosoph« lediglich sammeln und interpretieren könne.237 Anthropologie ist für Dilthey daher nur als historische Hermeneutik, als die Geschichte der Selbstauslegung des Menschen, möglich, nicht aber als zeitlose Ontologie; »Philosophie, historisch angesehen, ist«, wie Dilthey sagt, »das sich entwickelnde Bewußtsein über das, was der Mensch denkend, bildend und handelnd tut«.238 An dieses Vermächtnis schließt nun Groethuysen an, wenn er zu Beginn seiner Philosophischen Anthropologie schreibt: Philosophische Anthropologie ist Selbstbesinnung, ein immer erneuter Versuch des Menschen, sich selbst zu fassen. [...] Alle die verschiedenen Äußerungen, in denen der Mensch sein Leben deutet, gehören irgendwie dazu. Gelegentliche Bemerkungen, wie man sie in Briefen liest oder in Gesprächen hört, haben hier ihre Stelle, ebenso wie die Maximen des Weisen oder die ausgebildete Lebensauffassung, wie sie in einer Autobiographie oder in einem Dichterwerk zum Ausdruck gelangt.

Anthropologische Reflexion ist für Groethuysen daher auch nicht das Vorrecht wissenschaftlich geschulter Experten, seien sie Phänomenologen, Biologen, »Daseinsanalytiker« oder Psychologen, sondern eine Grundtatsache des menschlichen Lebens überhaupt. Groethuysen bezeichnet die philosophische Anthropologie daher auch als »die eigentlich menschliche Philosophie«:240 Jeder Mensch ist in gewissem Sinne Lebensphilosoph. Er macht sich Gedanken über das Leben; er sucht irgendwie das Ergebnis, seine Lebenserfahrungen, festzustellen. Alle diese Äußerungen können ihre Bedeutung haben, mögen sie auch noch so wenig den strengen Denkanforderungen entsprechen.241

Aufgabe einer philosophischen Anthropologie im Sinne Groethuysens kann daher auch nicht die Statuierung einer letztgültigen Wesensbestimmung des Menschen sein, sondern nur die hermeneutische Anstrengung, in den vielen verschiedenen historischen Ausdrucksgestalten die alte und doch immer wieder neue »Frage« zu entdecken, »die der Mensch an sich selbst richtet«.242 Der Anthropologe wird damit für Groethuysen letztlich zu einem Interpreten der Interpretationen, die der Mensch im Laufe seiner Geschichte von sich selbst zum Ausdruck gebracht hat. Diese Kopplung von anthropologischer Aufgabenstellung und historischer Hermeneutik läßt verstehen, weshalb Groethuysen bei der Wahl des Titels für seinen Beitrag

236

So Dilthey in einer nachgelassenen Notiz, die Groethuysen im gleichen Jahr, in dem auch seine Philosophische Anthropologie erschien, im achten Band der Gesammelten Schriften Diltheys erstmals veröffentlichte (Dilthey 1931b, 6). 237 Vgl. dazu oben S. 42. 238 Dilthey 1931b, 38. 239 Groethuysen 1931 a, 3. Und Groethuysen zitiert wiederum Dilthey als seinen einzigen zeitgenössischen Gewährsmann: »Es handelt sich hier um eine >Literatur von fast grenzenlosem Umfang< (vgl. Dilthey Werke, Bd. VII, S. 239)« (ebd., 4). 240 Ebd., 3. 241 Ebd. 242 Ebd., 7. 211

zum Handbuch der Philosophie zwischen »Hermeneutik« und »Philosophische Anthropologie« geschwankt hatte, denn beides fällt für ihn zusammen: Anthropologie umfaßt alle [...] Gebiete, soweit in ihnen die menschliche Selbstbesinnung zum Ausdruck gelangt, ebenso wie den ganzen Umfang dieser wechselnden Lebensäußerungen, in denen der Mensch sein Leben, sich selbst und sein Schicksal deutet. In alledem den Gang der menschlichen Selbstbesinnung wiederzufinden, wäre die eigentliche Aufgabe der philosophischen Anthropologie.

Groethuysen stellt sich dieser Aufgabe, indem er für seinen Beitrag zum Handbuch der Philosophie den »Gang der menschlichen Selbstbesinnung« von Platon bis Montaigne auf gut zweihundert Seiten gedrängt darzustellen versucht.244 Ausgangspunkt seiner hermeneutischen Rekonstruktionsarbeit bildet dabei die Einsicht, daß »Selbstbesinnung zweierlei bedeuten« kann, »je nachdem der Mensch sich an das Erlebte hält und sich selbst zur Darstellung bringen will, oder ihm das Leben und er sich selbst zum Erkenntnisproblem wird, je nachdem er die Frage vom Leben oder von der Erkenntnis aus stellt«.245 Genau hierin, im Widerstreit von »Leben« und »Erkennen«, von subjektiver Lebenserfahrung und objektivem Erkenntnisanspruch, sieht Groethuysen die Dynamik der anthropologischen Selbstbesinnung begründet, die zu immer neuen Formen der Artikulation menschlicher Erfahrung führe: In dieser Divergenz der Einstellungen liegt nun selbst das Moment, das zu immer neuen Versuchen menschlicher Selbstbesinnung führt, die Dialektik der philosophischen Anthropologie, die wiederum nur ein Ausdruck von etwas im tiefsten Sinne Menschlichem ist: des Widerspruchs zwischen Leben und Erkennen.246

Sowohl die Reflexion der persönlichen »Lebenserfahrung« als auch das metaphysische Bedürfnis, zu einer letzten Erkenntnis des menschlichen Lebens vorzudringen, gehören für Groethuysen somit zum Gegenstandsbereich einer jeden philosophischen Anthropologie. Erst aus ihrem Widerstreit, ihrer Dialektik, ergebe sich jener geistesgeschichtliche Prozeß, in dem der Mensch zum Bewußtsein seiner selbst gelange. Der »Widerspruch zwischen Leben und Erkennen« ist für Groethuysen somit selbst Teil der conditio humana, er ist »etwas im tiefsten Sinne Menschliches«, das zusammengehört und nicht auseinandergerissen werden kann. Groethuysen wendet sich somit sowohl gegen eine einseitig rationalistische Einengung des Menschen auf seine bloße Vernunftbegabung als auch gegen die ebenso einseitige Reduzierung auf seine rein vitalen Kräfte. Was den Menschen eigentlich ausmacht, ist für Groethuysen wiederum ein »Dazwischen«, die oszillierende Selbstbefragung zwischen Erkennen und Erleben, zwischen Geist und Seele. 243

Ebd. Er schreibt damit gewissermaßen die Vorgeschichte zu den im zweiten Band der Gesammelten Schriften Diltheys zusammengetragenen Studien, die dort beginnen, wo Groethuysen seine Untersuchung aufhören läßt, nämlich bei der Weltanschauung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert (vgl. Dilthey 1914). 245 Groethuysen 1931 a, 3. 246 Ebd., 6. 244

212

Der Widerstreit zwischen der Reflexion der persönlichen »Lebenserfahrung« einerseits und der Suche nach dem gattungsspezifischen »Wesen« des Menschen andererseits präge, so Groethuysen, bereits bei Platon die anthropologische Betrachtung. So sei die »Philosophie Platons [...] vor allem eine ständig fortgesetzte Selbstbesinnung des Philosophen«, in der allgemeine Erkenntnisse, Wesensbestimmungen und Gattungsaussagen immer wieder an die konkrete Person des Philosophen zurückgebunden würden.247 Bei Platon erscheine das Denken daher auch niemals losgelöst vom Menschen und seiner Lebenserfahrung, sondern erhalte stets eine personale Note: Platon denkt in lebendigen Figuren. Er kann sich keine Philosophie, keine Welt- und Lebensanschauung ohne den dazugehörigen, ohne den entsprechenden Menschen denken. Darin liegt eines der Momente der Macht der platonischen Philosophie. Der Philosoph ist immer gegenwärtig. Der erlebende, denkende, sprechende Mensch ist stets da und redet wieder zu anderen Menschen. [...] Die Figur lebt ihr Eigenleben; sie geht nicht auf in etwas Überpersönliches. Nicht der Mensch zunächst, sondern dieser Mensch: Sokrates.248 In der Figur des Sokrates liegt für Groethuysen daher auch der Ausgangspunkt aller philosophischen Anthropologie im engeren Sinne. So zeige sich bereits bei diesem das »ganz ursprüngliche Verhältnis von Philosoph und Philosophie«,249 von Leben und Erkennen: Die Figur des Sokrates ist bei Platon nicht ein Darstellungsmittel; sie führt in das Zentrum selbst der platonischen Einstellung. Der Mensch philosophiert; vom Menschen aus wird gesprochen. Dabei braucht diese Einstellung gar nicht wieder begründet zu werden. Sie ist etwas Ursprüngliches, wie das eben in der Anlage des platonischen Dialogs selbst zum Ausdruck gelangt.250 Ebensowenig wie Platons Sokrates-Figur für Groethuysen ein bloßes Darstellungsmittel ist, ist es für ihn die Form des sokratischen Dialogs. Im Gegenteil: Die dialogische Struktur der Argumentation ist seiner Meinung nach konstitutiv für die Entfaltung der platonisch-sokratischen Anthropologie: Der platonische Dialog [...] ist der Ausdruck selbst der platonischen Philosophie, des platonischen Philosophierens, eines immer von neuem einsetzenden Philosophierens, eines immer von neuem beginnenden Aufstiegs, der von einer philosophischen Problemsstellung [sie!] ausgeht, nicht zu einem bestimmten als solchem festzuhaltenden

247

Ebd., 13. Ebd., 8. 249 Ebd., 9. 250 Ebd., 8. Denn Sokrates, so führt Groethuysen aus, »ist nicht aus einer Philosophie, aus einer philosophischen Idee abzuleiten, eine Art Personifizierung oder Symbol der Philosophie, sondern der Mensch, der sichtbare Mensch, der philosophiert, [...] ein Mensch, dem man begegnet, den man in der Darstellung sichtbar macht, der zu anderen Menschen spricht und dessen besondere Lebensschicksale stets mit anklingen« (ebd., 9); vgl. dazu auch ders. 1937a. 248

213

Ergebnis führt, das man zusammen mit anderen Ergebnissen in systematischer Form zur Darstellung bringen könnte.251

In der Philosophie des Sokrates stelle jeder Dialog vielmehr »ein philosophisches Abenteuer dar«, wie Groethuysen vermutlich nicht ohne Reminiszenz an seinen Lehrer Georg Simmel schreibt.252 Jeder einzelne Dialog sei bei ihm »eine zeitlich begrenzte Episode in einer langen, nie zum Abschluß gelangenden philosophischen Wanderschaft«:253 Philosophisch leben bedeutet philosophierend leben. Es handelt sich nicht um ein ein für allemal zu erreichendes Endziel, sondern um ein fortwährendes Denken, um ein immer von vorne Beginnen, um ein Durchlaufen der verschiedenen Stadien des Erkennens, um ein immer von neuem ansetzendes Sichannähern, um ein Sicheinleben in die Philosophie, um ein Einheimischwerden, um eine das ganze Leben durchziehende Sehnsucht [...].254

Als Abenteurer des Geistes, als Philosoph auf Wanderschaft erweist sich Sokrates in der Lesart Groethuysens somit als der Prototyp jener philosophischen Kultur, der er selbst im Berliner Westend um 1905 ein erstes Mal begegnet war.255 Ohne Simmel ausdrücklich beim Namen zu nennen, lesen sich Groethuysens Ausführungen über Sokrates wie ein Nachruf auf seinen 1918 verstorbenen Lehrer, von dem er sich nach dem Krieg zunächst bestürzt abgewandt hatte, dem er nun jedoch in der Gestalt des griechischen Philosophen ein bleibendes Denkmal setzte.256 Die platonische Philosophie geht nach Groethuysen allerdings in der SokratesGestalt nicht völlig auf. Neben den Abenteurer des Dialogs trete vielmehr der Gesetzgeber der Politeia, denn Platon, so Groethuysen, sei ebenso »ursprünglich Politiker; er will wirken«.257 Die Philosophie und damit auch die Anthropologie erschöpfe sich bei Platon somit nicht in der schwebenden Attitüde der Selbstbesinnung, ihr zur Seite geselle sich vielmehr die Ontologie seiner Staatslehre, denn 251 252

Ders. 1931a,9f. Ebd., 10. 253 Ebd. 254 gkd,

255

|4

Vgl. dazu oben S. 65. Vgl. dazu oben S. 86ff. Daß Groethuysen seine persönliche Enttäuschung über Simmels Kriegsschriften zur Zeit der Ausarbeitung der Philosophischen Anthropologie mehr oder weniger verwunden haben mag, legt ein Brief an Margarete Susman nahe, in dem Groethuysen, wenn auch mit leichter Ironie, über Simmel schreibt: »Er sah so vieles und war so klug. Zunächst war er vielleicht nur klug, und das lieben Sie an ihm nicht. Ein kluger Mensch erfreut sich an sich selbst. Wie sollte er auch nicht? Aber sein Weg war: die Klugheit. Die blinde Klugheit zunächst. Er war übrigens nicht der Einzige. Es gab manche kluge Menschen in seiner Generation. Max Weber z.B. Auch gibt es Menschen, die überhaupt klug ja sein müssen: nennen wir sie Juristen. So mag denn Simmel ein Jurist gewesen sein. Er hatte aber ein ganz unjuristisches Staunen, und je älter er wurde, desto besser lernte er es, sich zu verwundern. Das ist das Schöne an seinem Leben. Am Ende das große Staunen« (B. Groethuysen an M. Susman, 27.9.1930; DL, Nl. M. Susman 32). 251 Ders. 193 la, 11. 256

214

Platon »will wirken und gestalten. Er will herrschen. Die Philosophen sollen Könige sein.«258 Für die anthropologische Fragestellung ergibt sich nach Groethuysen damit aber eine folgenreiche »Bedeutungsverschiebung«:259 So ist [...] die anthropologische Einstellung des philosophischen Gesetzgebers eine andere als die des Philosophen des philosophischen Lebens. Ihm ist die Seele nicht mehr etwas philosophisch unmittelbar Erfahrbares, sondern etwas Gattungsartiges, etwas Abzuleitendes, dessen Natur er zu bestimmen sucht [...].260

Die Fixierung auf die unmittelbare Lebenserfahrung, die Groethuysen in der Sokrates-Gestalt am Werke sah, schlägt somit um in eine am Modell der Naturerkenntnis orientierte Gattungsanthropologie. An die Stelle der Reflexion des eigenen Lebens trete so das Erkennen der »Natur« des Menschen. Platon nehme daher in seiner politischen Philosophie den Menschen kaum mehr als Gesprächspartner wahr, sondern lediglich als einen analysierbaren Gegenstand neben anderen: Er betrachtet den Menschen von außen als eine gegebene, in ihren Grundzügen feststellbare Lebenseinheit, als psychophysischen Tatbestand. Für ihn ist der Mensch eine generelle Gegebenheit; er zerlegt das Menschliche.261

Die dialogische Struktur der sokratischen Anthropologie wende sich damit, wie Groethuysen sagt, schließlich in eine mythologische, die das Wesen des Menschen nicht mehr im zwischenmenschlichen Gespräch hervorzuholen versuche, sondern kosmologisch deduziere. Dies zeige sich insbesondere am Mythos des Timaios, mit dessen Erzählung über die Erschaffung der Natur und des Menschen Platon dem politischen Gesetzgeber das nötige Maß an Menschenkenntnis zur Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung an die Hand geben wolle:262 So handelt es sich im Timaios im letzten Grunde um einen politischen Mythos. [...] Der Mythos des Timaios ist keine Deutung eines platonisch-sokratischen Eigenerlebnisses. Es handelt sich nicht mehr um den Menschen, [...] wie er das philosophische Seelenerlebnis von sich aus darstellt, [...] sondern um den Menschen, wie er für den Gesetzgeber erscheint, [...] um das psychophysische Lebewesen Mensch [...].263

Der »Mythos« erhalte damit aber, so Groethuysen weiter, letztendlich »den Primat gegenüber dem Menschen«, der nun vom Weltganzen her verstanden werde und der nicht mehr selbst die Welt von seiner persönlichen Lebenserfahrung her deute.264 In diese mythologische Anthropologie lasse sich die Sokrates-Figur nun 258

Ebd., 22. Ebd., 28. 260 Ebd., 27. 261 Ebd., 29. 262 Denn der Gesetzgeber habe ein »Menschenkenner« zu sein, »nicht ein anthropologisch gewandter Philosoph, der die Frage des Menschen selbst stellt« (ebd., 34). 263 Ebd., 28. 264 Ebd., 76. »Der Mythos wird dann nicht mehr vom Menschen aus gesehen, sondern der Mensch vom Mythos. Losgelöst vom menschlichen Erlebnis, als dessen Interpretation er sich darstellte, wird der Mythos immer mehr zu etwas rein metaphysisch Spekulati259

215

allerdings nicht mehr integrieren, »ohne daß diese Figur selbst zerstört würde«.265 Die Philosophie Platons ende daher letztlich mit einer folgenreichen Aufspreizung der anthropologischen Fragestellung: Einmal stellt er das Problem des Menschen von der Seele aus, von der philosophischen Seelenerfahrung aus, zum anderen vom Staate, von den Zielen des Gesetzgebers aus,266

Dieser »Konflikt des Philosophen und Politikers«267 innerhalb der anthropologischen Einstellung der platonischen Philosophie differenziert sich nun nach Groethuysen in der weiteren Philosophiegeschichte immer weiter aus. Der »mythische« Motivzusammenhang, in dem der Mensch primär in seiner Gattung als psychophysisches »Naturwesen« in den Blick gerate, führe dabei von Aristoteles268 über die »römisch-griechische Lebensphilosophie« (Seneca, Cicero, Marc Aurel)269 bis hin zur politischen Anthropologie Machiavellis270 und zur magisch-medizinischen Menschenkunde eines Paracelsus:271 Damit bereitet sich dann eine anthropologische Richtung vor, für die die Kenntnis des Menschen sich von vornherein als eine Wissenschaft darstellt, die nur innerhalb eines allgemeinen wissenschaftlichen Systems ihre Stelle finden kann. Erkenne den Menschen bedeutet dann: erkenne die Natur; der Mensch ist eines der Naturwesen innerhalb des Naturzusammenhangs, und es gilt nun in ihm die Auswirkungen des Naturhaften zu erkennen.272

Die Anthropologie konstituiere sich somit - zu Beginn der Neuzeit - als eine »Wissenschaft, für die das individuelle Erlebnis des die Frage stellenden Individuums nicht weiter in Betracht« komme.273 Gegenüber dieser mythologisch-naturwissenschaftlichen Richtung habe sich der von der Sokrates-Gestalt ererbte dialogische Motivzusammenhang der anthropologischen Selbstbefragung des Menschen, wie Groethuysen meint, eher im dichterisch-religiösen Bereich weiter ausgebildet. So erscheint in der Spätantike Augustinus für Groethuysen als der eigentliche Erbe des Sokrates,274 doch habe sich bei Augustinus das sokratische Gespräch gewissermaßen in das Innere der religiösen Selbstbesinnung zurückgezogen. Das dialogisch-dialektische Prinzip der Befragung der eigenen »Lebenserfahrung« bleibe dabei jedoch erhalten: Das augustinische religiöse Erlebnis ist seinem Wesen nach dialektisch: die entgegengesetzten Motive ringen miteinander und bedingen sich zugleich gegenseitig. Eines kann vem, in dem der Mensch seine Eigenbedeutung und die bestimmten Umrisse seiner Gestalt verliert« (ebd., 75). 265 Ebd., 32. 266 Ebd., 29. 267 Ebd., 31. 268 Vgl. ebd., 31,41fr. 269 Vgl. ebd., 57ff. 270 Vgl. ebd., 13Iff., 138. 271 Vgl. ebd., 159ff. 272 Ebd., 139. 273 Ebd., 141. 274 Vgl. ebd., 31. 216

ohne das andere nicht sein. Eines besteht nur in Funktion zum anderen. Jedes setzt sein Gegenteil voraus. So entsteht diese Anschauung einer inneren Dramatik des Menschen, die für Augustins anthropologische Auffassungsweise grundlegend ist.275 Erst in der »Zwiesprache« mit Gott gelange der Mensch bei Augustinus zu seinem eigentlichen Ich-Bewußtsein; erst im verinnerlichten Gespräch zwischen Ich und Du, zwischen Ich und Seele lerne der Mensch sich selbst und seine »Lebenserfahrung« verstehen.276 Der Mensch erlebe sich bei Augustinus somit als ein zutiefst widersprüchliches, dialogisches Wesen, das seinen letzten Sinn nur in der Auseinandersetzung mit sich selbst erfahren könne: Nicht mehr der Kosmos, sondern der Mensch ist das große Problem. [...] Bei Augustinus ist der Mensch aus dem Kosmos, wie er der antiken Weltanschauung zugrunde lag, herausgelöst. Der Mensch überwindet die Welt. Die Heilsfrage des Menschen kann von der Welt aus nicht beantwortet werden [...].277 Das religiöse Selbstgespräch, dessen lange Geschichte von Augustinus bis zu Luther reiche,278 finde nun zu Beginn der Neuzeit seine Fortsetzung im inneren Dialog des Dichters, des »humanistischen Menschen«, wie Groethuysen ihn nennt.279 Denn der sich selbst befragende Dichter, der erstmals mit Petrarca die Bühne der philosophischen Anthropologie betrete, [...] bringt zur Darstellung, was in seiner Seele vorging. Er spricht als Mensch zum Menschen: das war es, was ich fühlte, das war es, was ich erlebte [...]. Ich fand es in meiner Seele vor; ich erlebte es als Mensch.280 Die »Deutung des menschlichen Lebens« verschiebe sich damit, wie Groethuysen ausführt, »von der Heilsgeschichte auf das seelische Erlebnis, von Gott auf den Menschen«.281 Bei Erasmus und Montaigne, mit deren Darstellung Groethuysen seinen Gang durch die Geschichte der philosophischen Selbstbetrachtung des europäischen Menschen beschließt, komme diese innerweltlich-humane Selbstbesinnung schließlich zu einem ersten Höhepunkt, der zugleich den Beginn der neuzeitlichen Literatur markiere: Es ist so, als sei der Mensch nach langen kosmischen Wanderungen wieder bei sich eingekehrt. Er hat seine Heimat wiedergefunden; er sieht sich von anderen Menschen umgeben; er teilt ihnen seine Erfahrungen mit und sie erzählen aus ihrem Leben. Er ist ein Mensch unter Menschen.282

275 276

Ebd., 82. Vgl. ebd., 97f; siehe dazu auch Groethuysens Einleitung zur Ausgabe von Augustinus' Soliloquia in der von Charles du Bös herausgegebenen Reihe Berits intimes (ders. 1927d). 277 Ders. 1931a,90f. 278 Vgl. ebd., 172, 178ff. 279 Ebd., 18Iff. 280 Ebd., 100. 281 Ebd. 282 Ebd., 183. 217

Der sokratische Dialog, der sich bei Augustinus in die private Sphäre des religiösen Erlebnisses zurückgezogen habe, kehre so bei Erasmus wieder in das zwischenmenschliche Gespräch zurück: In dem anthropologischen Weltbilde des Erasmus ist stets auch der Andere gegenwärtig, kommen immer die Vielen zu Worte. Sie haben alle ihre Eigenart. [...] Es gibt keinen Menschen, der nicht hier seine Stelle hätte; jeder ist menschlich. [...] Keiner kann mehr sein als Mensch. Jedem kommt es zu, sich als einen dieser unzähligen Menschen zu fühlen, das gemeinsam Menschliche sich zu Bewußtsein zu bringen. Seinen höchsten Ausdruck finde diese plurale, dialogische Weltsicht, wie Groethuysen meint, schließlich in den Schriften Montaignes.284 So habe sich bei diesem die mythologische Hybris einer umfassenden Welterklärung verflüchtigt und dem staunenden Respekt vor dem Unbekannten der Welt und des eigenen Lebens den Platz überlassen. Was bei Montaigne auf den ersten Blick als bloße Skepsis erscheine, erweise sich bei genauerem Hinsehen als eine tiefe Weisheit, die auch nach dem »Untergang des Absoluten« nichts von ihrem anthropologischen Potential eingebüßt habe: Sein Leben wird ihm zur Frage, auf die nur das Leben selbst Antwort geben kann. Seine Weisheit ist ein Tasten am Leben, ein Erproben von Möglichkeiten am Erlebten selbst, ein Sichzurechtfinden in der Besinnung auf das, was er jeweils erlebt. Nichts Endgültiges läßt sich da festlegen; sondern es handelt sich auch hier darum, immer von neuem Möglichkeiten zu erwägen und von da aus das Leben zu gestalten.285 Groethuysens Ausführungen über Montaigne lesen sich somit wie eine Art Anleitung zur philosophischen Anthropologie in nach-metaphysischer Zeit. Denn bereits Montaigne habe den Traum einer letztgültigen Erfassung der Welt ausgeträumt; an die Stelle der spekulativen Illusion trete bei ihm daher erneut die staunende Aufmerksamkeit angesichts der Vielfalt der menschlichen Lebensäußerungen: Erkenne dich selbst, das bedeutet hier: lerne zu schauen, was du erlebst - ohne es zu begreifen - und wisse zu leben. Auch das menschliche Leben ist nur ein Teil dieses unbekannten Universums, in dem alles möglich und nichts gewiß ist.286 Die Anthropologie Montaignes wird für Groethuysen damit zum eigentlichen Ursprungsort des esprit de finesse, der sich aller vorschnellen Generalisierungen enthalte.287 In der Lesart Groethuysens erscheint Montaigne als ein früher Denker des »Dazwischen«, der in seinen Essais - bekanntlich ist Montaigne der erste, der diesen Ausdruck programmatisch als Titelwort führt - »ein Zwischenreich zwischen Wissen und Nicht-Wissen« als anthropologische Sinnregion auftue:288 283

Ebd. 182f.; vgl. dazu auch die kurze Besprechung einiger Neuerscheinungen über Erasmus, die Groethuysen 1935 in der Nouvelle Revue Franqaise veröffentlicht (ders. 1935c). 284 Vgl. ders. 193 la, 194ff.; ders. 1929b. 285 Ders. 1931a,199. 286 Ebd., 200. 287 Vgl. dazu oben S. 87ff. 288 Groethuysen 1931 a, 200. 218

Der Mensch lebt in dieser Welt grenzenloser Mannigfaltigkeit, ein Schauender, ein Ahnender, ein Abenteurer, der immer auf Ungeahntes, Nichtgeschautes ausgeht.289 Ähnlich wie bereits der sokratische Dialog bei Platon erscheint die Kunst des Essays bei Montaigne somit schließlich als die angemessene literarische Gestalt eben jener philosophischen Kultur, die Groethuysen bei seinem Lehrer Georg Simmel bewundert hatte.290 Zugleich trägt die Philosophie Montaignes filr Groethuysen aber auch Züge, die auf die hermeneutische »Lebensphilosophie« Diltheys hinweisen. Denn wenn es »keine Gewißheit für den Philosophen geben kann, so gibt es auch nichts, was schlechthin abzulehnen wäre. Nichts ist für Montaigne abgetan; in allem, was Menschen jemals ersannen, sieht er Möglichkeiten«.291 Mit Montaigne beginnt für Groethuysen daher auch die Transformation der Philosophie in Geistesgeschichte, denn wenn der letzte Sinn nicht erkannt werden könne, bleibe nur die Schau und Sammlung der vielen Einzelmanifestationen des menschlichen Geistes: Nicht vom Ich aus kann der Mensch sein Leben begreifen, sondern nur vom Leben, von der Abfolge der Erlebnisse aus kann er verstehen, wer er ist, doch niemals vollständig und fest umrissen. Zugleich vergleicht er sein Leben mit anderen Lebensläufen und gelangt so zum Bewußtsein dessen, was innerhalb der Grenzen menschlicher Bedingtheit möglich ist, erwägt Lebensmöglichkeiten innerhalb der Mannigfaltigkeit menschlicher Gestaltungen. Überall sucht er dabei das Menschliche im Menschen wiederzufinden. Er sucht es in der Geschichte; er entdeckt es in den Meinungen der Philosophen: Menschen sprechen zu Menschen, und was sie auch sagen, kann immer nur etwas Menschliches sein.292 Groethuysen formuliert hier, in seiner Darstellung der anthropologischen Einstellung Montaignes, das Programm einer historischen Selbstbesinnung des Menschen, das als Alternative zur ontologischen Anthropologie der späten zwanziger Jahre erscheint: Der Mensch erkennt sich nicht durch phänomenologische Wesensschau, sondern nur - wie Dilthey gesagt hatte - in der Geschichte, deren Auskünfte jedoch stets relativ, fragmentarisch und widersprüchlich bleiben. Groethuysen meint dieses Programm, das den esprit de finesse und die philosophische Kultur Simmels mit dem geistesgeschichtlichen Ansatz Diltheys verbindet, bei Montaigne vorformuliert zu sehen. Mit seiner Philosophischen Anthropologie schreibt er somit ganz ähnlich wie mit seiner Introduction ä la pensee philosophique allemande depuis Nietzsche von 1926293 eine Vorgeschichte zu seiner eigenen akademischen Sozialisation. Groethuysens Werk ist demnach selbst Ausdruck jener Selbstbesinnung, die er zur Aufgabe einer jeden philosophischen Anthropologie erklärt hatte. Es zeugt einmal mehr von seinem Verlangen, die Geistesgeschichte auf Traditionen hin zu befragen, die seiner eigenen philosophischen Existenz nach dem »Untergang des Absoluten« Halt zu geben versprechen. 289 Ebd. 290 Vgl. oben 291

S. 65. Groethuysen 1931 a, 200. 292 Ebd., 197. 293 Vgl. oben S. 161 ff. 219

2.2. »Geltung« und »Meinung« Auch die Philosophische Anthropologie war auf ihre Art ein unabgeschlossenes Werk. Zwar plante Groethuysen niemals eine Fortsetzung seines Beitrags zum Handbuch der Philosophie, doch allein schon die äußere Gestalt seiner gut zweihundert Seiten umfassenden Schrift läßt erkennen, daß er weit mehr mitzuteilen gehabt hätte, als letztendlich gedruckt wurde. Die gedrängte Form der Anmerkungen, ihr zum Teil stichwortartiger Stil sowie der von Groethuysen ausdrücklich erwähnte Verzicht auf ganze Kapitel zeigen an,294 daß seine Studien zur Geschichte der philosophischen Selbstbesinnung des Menschen von der Antike bis zur Renaissance den Rahmen eines Handbuchbeitrages weit überschritten.295 Einiges von dem, was in der Philosophischen Anthropologie keinen Platz mehr fand, veröffentlichte er an anderer Stelle, so etwa ein Kapitel über das anthropologische Denken bei Carolus Bovillus, das in seinem Beitrag zum Handbuch zu einem zweiseitigen Anhang zusammengekürzt worden war.296 Groethuysens Interesse an der Geschichte der menschlichen Selbstbesinnung hält auch nach der Veröffentlichung seiner Philosophischen Anthropologie an. Viele seiner geistesgeschichtlichen, aber auch literaturkritischen Essays der dreißiger Jahre zeigen eine besondere Aufmerksamkeit für Fragen der menschlichen Selbstthematisierung. So kreisen etwa seine Beiträge über Jean Bodin und Pierre Bayle für die von Andrd Malraux bei Gallimard herausgegebene französische Literaturgeschichte Tableau de la litterature franc.aise um die Frage nach dem menschlichen Selbstverständnis, das in den Schriften dieser Autoren erscheint.297 Das anthropologische Interesse prägt Groethuysens literaturgeschichtliche bzw. literaturkritische Essays derart deutlich, daß diese zuweilen die Gestalt einer regelrechten »literarischen Anthropologie« annehmen.298 Denn Literatur und Dichtung, so hatte Groethuysen am Ende seiner Philosophischen Anthropologie geschrieben, beerben in der Neuzeit das anthropologische Selbstgespräch, das in der griechischen Antike im sokratischen Dialog zum Ausdruck gekommen war, sich dann bei Augustinus in die Innerlichkeit des religiösen Erlebnisses zurückgezogen hatte, bevor es bei Montaigne in Gestalt des Essays wieder in die literarische Welt getreten war: Das, was man als Anthropologie bezeichnen kann, ist gewissermaßen aufgeteilt in verschiedene Gebiete geistigen Lebens. Die Dichtung übernimmt es, das menschliche Le294 295

Groethuysen 1931 a, 147; vgl. auch ebd., 203. In der Tat findet sich unter den insgesamt siebenundzwanzig Beiträgen des Handbuches neben Groethuysens Text nur ein weiterer, der den Umfang von zweihundert Seiten übersteigt. 296 Ebd., 145ff.; vgl. dazu ders. 193 Ib; 1940. Aufgrund des begrenzten Seitenumfangs wird Groethuysen vermutlich auch auf ein Kapitel zu Meister Eckhart verzichtet haben, mit dem er sich bereits seit längerer Zeit beschäftigte und über dessen mystischanthropologisches Selbstgespräch er bereits 1925 in der Zeitschrift Commerce einen kürzeren Essay veröffentlicht hatte (vgl. ders. 1925c, 148ff.). 297 Vg[. ders. 1937b; 1939c. 298 Vgl. dazu 220

ben in seiner Wandelbarkeit zur Darstellung zu bringen, das Menschliche in der Vielfältigkeit seiner Gestaltungen dem Menschen zu vergegenwärtigen. [...] Aufgabe der Wissenschaft ist es dagegen, den Menschen als so bestimmtes Wesen in seinen gattungsmäßig zu fassenden Eigenschaften zu erkennen. Es sind dies die verschiedenen Gesichtspunkte, von denen aus der Mensch sich selbst erscheint.299

Während Groethuysen es nun der philosophischen Anthropologie der Phänomenologen und Verhaltensforscher überläßt, die »gattungsmäßig zu fassenden Eigenschaften« des Menschen zu erforschen, bemüht er sich selbst in seinen Studien zur literarischen Anthropologie der Moderne, in den Werken der Dichtung den Gang der menschlichen Selbstbesinnung wiederzufinden. Denn »jeder Roman«, so schreibt Groethuysen später einmal, »ist ein innerer Dialog«.300 So beerbt Rousseau für Groethuysen zum Beispiel das religiöse Selbstgespräch des Augustinus: Das Werk Jean-Jacques Rousseaus ist die Geschichte seiner Seele, einer Seele, die in der Angst zu sterben, ohne gelebt zu haben, ihr wahres Leben sucht.301

Gerade dies, die innere Unruhe und das beständige Getriebenwerden von der eigenen »Lebenserfahrung«, macht für Groethuysen die anhaltende Aktualität Rousseaus aus und läßt ihn zeitgemäßer erscheinen als die Utopie des gelungenen Lebens, die Goethe repräsentiert: Nichts ist gegensätzlicher als die Art, wie Rousseau und Goethe jeweils ihr Leben betrachten. Rousseau fragt sich ständig, was nicht war und hätte sein müssen. [...] Goethe versucht hingegen, zu verstehen, was war und sein mußte. Sein Leben, das war er, er selbst in seiner Entwicklung, der Ausdruck seines Ichs im Laufe der Zeit.302

Während sich Rousseau in seinen autobiographischen Schriften immer wieder von neuem mit den »Rätseln des Lebens« konfrontiert sah, schien Goethe mit diesen ein für allemal seinen Frieden geschlossen zu haben. So erscheine das Leben in Goethes Schriften dermaßen vollständig ausgebildet und doch zugleich so selbstgenügsam, daß die anthropologische Frage nach dem Wesen des Menschen den Verehrern Goethes endgültig beantwortet schien, denn »nach der Lektüre Goethes zweifelten sie nicht mehr. Das war das Leben, das ganze Leben, das nun seine Rechtfertigung gefunden hatte, so schien es ihnen«.303 Für Groethuysen drohte damit jedoch die Gefahr, daß die Selbstbesinnung des Menschen erneut in den »Mythos« umschlage: Wir haben das Leben Goethes, den Mythos von Goethe, den profanen Mythos des Lebens. [...] Da war Goethes Leben, was brauchte es mehr? In diesem Leben, das ihnen

299

300

Groethuysen 1931 a, 207.

Ders. 1938a, 123. 301 Ders. 1946a, 7. 302 So Groethuysen bereits 1922 in seiner Auseinandersetzung mit dem Goethe-Buch Gundolfs (den. 1922a, 132; vgl. dazu oben S. 118). 303 Ders. 1932b, 75. 221

allen Obdach bot, erkannte jeder sein eigenes Leben, denn es schien keine Grenzen zu kennen. Es war das Leben aller Leben, so umfassend war es.304 Doch der »Mythos« des harmonischen Lebens bei Goethe war für Groethuysen letztendlich nur ein trügerischer Trost, der hundert Jahre später bereits erschöpft war. Denn in den Romanen Kafkas, aber auch bei Andro Malraux und Pierre Jean Jouve dränge sich, so der Tenor der Literaturkritiken, die Groethuysen in den zwanziger und dreißiger Jahren in der Nouvelle Revue Franfaise zeitgenössischen Autoren widmete, die Erfahrung der Sinnlosigkeit des Lebens, des Absurden der eigenen »Lebenserfahrung«, erneut in den Vordergrund des literarischen Ausdrucks.305 So schildere Malraux, dessen Roman Les Conquerants Groethuysen 1929 in der NRF besprach, den Aufstand seiner Protagonisten gegenüber einer als sinnlos empfundenen Geschichte,306 während Jouve, den Groethuysen erneut mit Augustinus in Verbindung setzt, in seinen Gedichten der Fremdheitserfahrung des Menschen angesichts seiner Leiblichkeit poetisch Ausdruck verleihe.307 Am deutlichsten werde der Widerstreit des Menschen mit seinem eigenen Leben jedoch in den Werken Franz Kafkas, um dessen Verbreitung in Frankreich Groethuysen sich, wie wir oben gesehen haben, besonders bemüht hatte.308 Denn wie bei kaum einem anderen modernen Autor erscheine bei Kafka der Mensch als ein sich selbst problematisches Wesen, das auf die Frage nach dem Sinn seines Lebens keine Antwort mehr zu finden wisse. Die eigene Lebensgeschichte, die bei Goethe die unterschiedlichsten »Lebenserfahrungen« noch zu einem harmonischen Verlauf zusammenzubinden imstande war, habe sich bei Kafka vollends fragmentiert und den Menschen von seinem eigenen Leben hoffnungslos entzweit: Bist du einmal aus deinem Schweigen herausgetreten, so hast du deine Einsamkeit aufgegeben. Du führst einen Dialog. Und einen Dialog führen, heißt aufhören, einer zu sein. Von nun an bist du in Gesellschaft deiner selbst. [...] Und doch kann niemand in Gegenwart seiner selbst leben. Niemand kann den eigenen Blick aushaken.309 Was den Lesern Goethes noch als ein gelungenes Leben erschienen sein mag, werde in der Welt Kafkas zur Vorstellung eines alptraumartigen Zustands, aus dem es kein Entrinnen mehr gebe: 304 305

Ebd., 74f.

Vgl. den. 1929d; 1929e; 1933a; 1938b; 1946c. 306 Denn obwohl es sich bei Malraux' Buch um einen historischen Roman handle, so Groethuysen in seiner Rezension, gehe es in diesem doch gerade nicht um die Geschichte, sondern um den Vorrang des Menschen vor dem historischen Lauf der Dinge, »ce qui pre"cise"ment semble renverser l'ordre des choses en rendant la primauto ä Phomme en face de l'histoire« (ders. 1929d, 234). 307 »Chez Jouve, l'äme docouvre I'abime de son corps, le microcosme de sä nature corporelle. Comme chez Paracelse, eile porte en eile un monde. Et devant ce monde, eile est saisie de frayeur. Elle se sait 6tre ce qu'elle ne saurait jamais possider. Elle ne peut que le vivre sans jamais le voir du dehors. Aussi a-t-elle le sentiment de sä mortalite"« (ders. 1929e, 213). Der Hinweis auf Augustinus findet sich ebd., 212. 308 Vgl. dazu oben S. 133ff. 309 Groethuysen 1946c, 111. 222

Wir sind Reisende, die mitten in einem Tunnel aufwachen. Sie sehen die Lichter nicht mehr, die den Eingang des Tunnels beleuchten, und nur von Zeit zu Zeit sehen sie die Lichter am Tunnelausgang, die so ungewiß flackern, daß sie alle Augenblicke verschwinden.310 Die Erinnerung an das eigene Leben halte daher auch nicht mehr wie bei Goethe die Erfahrung von Sinn bereit, sondern führe zur bloßen Akkumulation von sich wiederholenden und immer gleichen Erlebnissen der eigenen Absurdität: Nichts ist so ungeheuerlich wie unsere Erinnerung, die uns die Vergangenheit wieder vor Augen stellt und alles, was Leben war, auf einen schäbigen Augenblick zusammendrängt - die unsere Existenz so klein macht, daß sie da vor uns steht, ein simples Präsens.1" In den Romanen Kafkas äußere sich damit gewissermaßen literarisch, was bereits in den Schriften Kierkegaards angeklungen und in der modernen Existenzphilosophie zum reflektierten Ausdruck gelangt sei: Die Reduzierung des Lebens auf die Erfahrung bloßer Existenz. Bei Kierkegaard und seinen Nachfolgern, so Groethuysen, werde das augustinische Motiv des Erlebens, des vivo, so schließlich gegen die Idee des bloßen Seins, des sum, eingetauscht und der Augenblick der »Grenzsituation« gegen die Dauer der gelebten Zeit.312 Mit seinen verstreuten Essays zur modernen Literatur, die stets um die Selbsterfahrung des Menschen kreisen und untereinander - wie die immer wiederkehrenden Verweise auf Rousseau und Augustinus zeigen - intertextuell verwoben sind, bewegt Groethuysen sich gewissermaßen auf den Nebenpfaden der anthropologischen Theoriebildung seiner Zeit, die den Menschen von philosophischer Warte aus als ein »weltoffenes«, »exzentrisches« oder »grenzüberschreitendes« Wesen zu begreifen versuchte. Groethuysen scheint die deutsche anthropologische Debatte von Frankreich aus dennoch durchaus aufmerksam beobachtet zu haben. Davon zeugt u.a. seine Rezensionstätigkeit, in der er sich, wenn auch häufig nur in Anspielungen und Nebensätzen, mit Scheler, Heidegger und Jaspers kritisch auseinandersetzte. Scheler brachte er dabei sogar ein gewisses Maß an Sympathie entgegen, obwohl er auch dessen Anthropologie letztendlich nur als eine mythische bezeichnen konnte.313 Groethuysens gelegentliche Äußerungen zu Jaspers und 310

Ebd., 107. 'Ebd., 113. 312 »Le sum de Kierkegaard se substitue au vivo de saint Augustin. Sum, et non: vivo. Le >Je suis< recherche l'instant, la waleur infinie de l'instantatome d'e"temit6< que repre"sente l'instant pour l'individu qui se sait exister. Celui qui a le souci infini de son existence, est en face du temps. H n'a pas de passo ä lui; il n'a pas son temps, le temps d'une vie. Toute sä vie est en instants, et tous les instants ne sont qu'un seul instant, l'instant de son existence«, so Groethuysen 1938 in einer Rezension der Etudes kierkegaardiennes von Jean Wahl (ders. 1938c, 138). 313 Im Jahr 1933 erschien bei Gallimardeine Übersetzung von Schelers Das Ressentiment im Aufbau der Moralen. Groethuysen, der als Lektor des Verlages vermutlich an der Übersetzung beteiligt war, zeigte sie zusammen mit einer kurzen Besprechung des ersten Bandes der nachgelassenen Schriften Schelers in der NRF an (ders. 1935b). Bereits 1928 hatte er an gleicher Stelle auf Scheler, den er spätestens 1924 in Pontigny persön31

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Heidegger fallen demgegenüber schon deutlich kritischer aus: So kommt er 1934 in einem kürzeren Beitrag für die NRF über Perspectives de philosophic moderne unter anderem auch auf die Protagonisten der deutschen Existenzphilosophie zu sprechen, deren Originalität er als Historiker der anthropologischen Ideenbildung allerdings nicht allzu hoch bewertet.314 Denn Jaspers und Heidegger, so Groethuysen, der hier einer Einschätzung Jean Wahls folgt,315 hätten lediglich ein einzelnes anthropologisches Motiv, das bereits bei Kierkegaard aufzufinden sei, philosophisch generalisiert. Doch was bei diesem ein rein persönliches Gefühl, die Reflexion des eigenen Lebens im Medium religiöser Sprache gewesen sei, hätten die deutschen Existenzphilosophen von der konkreten Person gelöst und ins Allgemeine gesteigert. Damit hätten sie letztendlich aber nur einen einzigen Aspekt der Lebenswirklichkeit des Menschen erfaßt, während sie andere bewußt ausgeklammert hätten: Sie [= Heidegger und Jaspers, K.G.K.] herrschen frei über Gefühle, die andere vor ihnen erlebt haben. Und diese Freiheit ist wesentlich für ihre Philosophie. So bedienen sie sich nach ihrem Wunsch des einen oder anderen Gefühls, das sie aus dem christlichen Erfahrungsbestand auswählen, zum Nachteil anderer, die sie nicht aufnehmen.316

Deutlicher noch als in diesem kurzen Text fällt Groethuysens Kritik am existentialphilosophischen Sprachspiel in einer Besprechung aus, die er 1929 in der Deutschen Literaturzeitung der von Heidegger betreuten Habilitationsschrift Karl Löwiths gewidmet hatte.317 Ohne Löwiths gedankliche Leistung im ganzen herabsetzen zu wollen, beklagt Groethuysen an dessen Werk gleichwohl den Mangel an geistesgeschichtlicher Fundierung und kritisiert dessen vorschnelle Kompensation durch gewagte Etymologien und freie Begriffsassoziationen:

lieh kennengelernt hatte (vgl. oben S. 157), einen Nachruf veröffentlicht, in dem er Schelers Beitrag zur Phänomenologie und Anthropologie, wenn auch mit einer gewissen Ironie, durchaus würdigte (ders. 1928): »C'e"tait une forte et puissante personnalite" et qui se rendait bien compte du cöte" problimatique de la vie. Seulement, en disciple de Platon, il devait plutöt 6tre amene" &. '&. faire sä confession. Aussi nous aurait-il donni, s'il avait ve"cu plus longtemps, le mythe de l'homme, en nous faisant Phistoire de cet etre faible et toujours vaincu qui, recherchant les idoes, bätit un monde oü Iui-m6me ne saurait demeurer que juste le temps d'y jeter un coup d'oeil« (ders. 1928, 170). 314 Vgl.How can any decent scholar stand it when his Jewish colleagues are abused! When

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an. Auch Groethuysens langjähriger Mentor, der Romanist Eduard Wechssler, begrüßte die neuen Verhältnisse in Deutschland und stellte seinem neuesten Buch sogar ein Zitat des »Führers« voran.40 Neben Wechssler, der für Groethuysens Ernennung zum außerordentlichen Professor gesorgt und an dessen Festschrift Groethuysen mitgewirkt hatte,41 war auch dessen Schüler Paul Hartig, einer der beiden Herausgeber des Handbuchs der Frankreichkunde, in dem Groethuysen seinen Aufsatz über die Französische Gesellschaft publiziert hatte,42 den Nationalsozialisten entgegengekommen,43 ebenso wie Peter Richard Rohden, der Groethuysens Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung sehr positiv besprochen hatte und in dessen Reihe Demokratie und Partei Groethuysens Abhandlung über Die Dialektik der Demokratie erschienen war.44 Leider liegen keine autobiographischen Zeugnisse vor, wie Groethuysen den intellektuellen Erdrutsch nach rechts innerhalb seines akademischen Milieus in Deutschland erlebt hat. Die Ereignisse der Jahre 1932 bis 1934 werden ihm jedoch deutlich genug gezeigt haben, daß er seine intellektuelle Heimat in Deutschland verloren hatte. Wann genau die Entscheidung, seine Lehrtätigkeit in Berlin aufzugeben, gefallen ist und welche konkreten Anlässe letztendlich ausschlaggebend waren, liegt allerdings im dunkeln. Auf jeden Fall hat Groethuysen, der im Sommer 1933 noch einmal kurz nach Deutschland zurückkehrte,45 ab 1933 in Berlin nicht mehr unterrichtet.46 Allerdings scheint er niemals ein formelles Rücktrittsgesuch bei der Universitätsleitung eingereicht zu haben, und sein Verhalten wird man daher zunächst als passiv und abwartend beschreiben müssen. Seine Tätigkeit als Mitarbeiter der Leibniz-Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften1'1 bot ihm dabei einen guten Entschuldigungsgrund, um seine Abwesenheit von Berlin unter Hinweis auf auswärtige Leibniz-Nachforschungen rechtfertigen zu können, ohne damit

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Mrs. Baumgardt is attacked I don't have to argue that she has so often been a most gracious hostess to me. To rush to her defence, it is enough to know that she is attacked