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German Pages 450 Year 2016
Mark Nowakowski Straßenmusik in Berlin
Studien zur Popularmusik
Mark Nowakowski, geb. 1978, arbeitet als wissenschaftlicher Ingenieur für erneuerbare Energien am Umweltbundesamt. Der Musikethnologe promovierte an der Freien Universität Berlin und beschäftigt sich seit 2004 theoretisch und später auch praktisch mit dem Phänomen Straßenmusik.
Mark Nowakowski
Straßenmusik in Berlin Zwischen Lebenskunst und Lebenskampf. Eine musikethnologische Feldstudie
Als Dissertation an der Freien Universität Berlin angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt Abstract | vii Zusammenfassung | ix Vorwort | xi Vorwort des Verfassers | xiii 1.
Einleitung | 1
2.
Straßenmusik im Überblick | 5 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5
Begriffsklärung | 6 Straßenmusik in Literatur und Medien | 12 Musik im öffentlichen Raum: Eine Geschichte der Straßenmusik? | 19 Der Kontext: Musik im Stadtraum Berlins | 36 Zur rechtlichen Situation von Straßenmusikern in Berlin | 46
Forschungsmethodik | 55
3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6
Theoretische Prämissen | 56 Zielsetzung und Fragestellung | 57 Annäherung an das Forschungsfeld | 60 Datenerhebung | 63 Fixierung der Daten | 74 Analyse und Interpretation der Daten | 76
Straßenmusiker in Berlin: Fallschilderungen | 81
4. 4.1 4.2
Interviews | 83 Beobachtungsberichte | 245
Straßenmusik in Berlin: Ergebnisse und Analyse | 299
5. 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 5.8 5.9
Alters- und Geschlechterverteilung | 300 Herkunft und Aufenthaltsdauer | 302 Ensemblegröße | 305 Gesang und Instrumente | 306 Stilrichtungen | 312 Repertoire | 315 Musikalische Aus- und Vorbildung | 317 Übungspraxis | 318 Motivation | 319
5.10 5.11 5.12 5.13 5.14 5.15 5.16 5.17
Einstellung zur Straßenmusik und Perspektiven | 324 Auftrittsstrategien | 335 Auftrittsorte | 348 Berlin: Ein Ort für Straßenmusik? | 356 Publikumsbeziehung, Wahrnehmung und Akzeptanz | 360 Straßenmusikszene in Berlin | 379 Straßenmusik im transkulturellen Feld | 384 Veränderungen: Straßenmusik im Wandel | 385
Schlusskadenz | 389
6. 6.1 6.2 6.3
Kernaussagen | 389 Straßenmusik: Soziokulturelle Bedeutung | 392 Ausblick | 399
Quellenverzeichnis | 401 Literatur | 401 Presseartikel | 411 Weitere Quellen | 413
Anhang | I 1 2 3 4
Straßenkunst in Berlin | I Romalied | II Merkblätter etc. | IV Diagramme und Tabellen | X
Abstract BUSKING IN BERLIN: AN ETHNOMUSICOLOGICAL STUDY
Generally known as street music or busking, spontaneous musical performances in public urban space take place all over the world. They represent an urban culture of music and performance relevant both to our everyday life and to the local cultural life. To date, no systematic research into this phenomenon has been carried out in Germany. Providing a detailed account of the various forms of musical busking and buskers found in Berlin, this study examines musicians performing in public space, in front of bars and restaurants, in underground stations, and local trains, as well as their special performance features. During fieldwork in 2010 and 2011 in Berlin, ninety-seven busking individuals and groups were surveyed, using semi-structured interviews. Another sixty-six units were registered in an observation log. The main section of this study includes (1) a descriptive presentation of the individual cases highlighting the existing diversity and (2) an extensive statistical evaluation and comparative analysis of the material. The latter yields generalized statements on biographical features, motives, performance strategies, and perspectives among musical buskers in Berlin and on local busking practice, instruments, and musical styles. The interplay between buskers and both urban space as the context of street music and the listeners is analyzed and discussed. Also processes of change and the sociocultural dimension of musical busking are considered. The results reveal a highly differentiated performing culture with specific functions within a society that allows it to be. This study contributes to the characterization of the urban musical life of Berlin as an example of a modern German city where musical busking is vividly present in the everyday life and appears in great diversity, as a cultural activity contributing to the profile of the metropolis.
Zusammenfassung
Unter dem Begriff Straßenmusik bekannte spontane musikalische Darbietungen im öffentlichen Stadtraum stellen eine globale Musik- und Auftrittskultur dar, die sowohl im Alltag der Bewohner als auch im lokalen kulturellen Leben eine Rolle spielt. In Deutschland existierten bislang keine systematischen Untersuchungen zu diesem Phänomen. Mit der vorliegenden Studie wird eine detaillierte Beschreibung der Straßenmusik in Berlin sowie ihrer Akteure, der Straßenmusiker, erstellt. Erstmals werden auch Musiker in Lokalen, in Bahnhöfen sowie in U- und S-Bahnen mit ihren spezifischen Auftrittscharakteristika ausführlich behandelt. Im Rahmen einer Feldforschung in den Jahren 2010 und 2011 wurden im Berliner Stadtgebiet siebenundneunzig Musiker und Ensembles mittels teilstandardisierter Interviews befragt, weitere sechsundsechzig durch Beobachtungsprotokolle erfasst. Den Kernteil dieser Arbeit bildet eine deskriptive Darstellung der Einzelfälle, um der großen individuellen Vielfalt gerecht zu werden. Anschließend wird das Material einer umfangreichen statistischen Auswertung und vergleichenden Analyse unterzogen. Daraus lassen sich verallgemeinernde Aussagen über biographische Merkmale, Motive, Auftrittsstrategien und Perspektiven der Straßenmusiker und über die Straßenmusikpraxis in Berlin, die vorkommenden Instrumente und Stilrichtungen treffen. Die Rolle des urbanen Raums als Kontext, in dem sich Straßenmusik abspielt, sowie des Publikums und die jeweiligen Wechselwirkungen werden ebenso diskutiert wie Wandlungsprozesse und die soziokulturelle Dimension von Straßenmusik. Die Ergebnisse zeigen, dass es sich in Berlin um eine hochdifferenzierte Auftrittskultur handelt, die über zahlreiche Anschlüsse mit der Gesellschaft verknüpft ist und in ihr diverse Funktionen erfüllt. Diese Untersuchung ist ein Beitrag zur Beschreibung des urbanen Musiklebens in Berlin als Beispiel für eine moderne deutsche Großstadt, in der Straßenmusik als kulturelles Phänomen mit starker Alltagspräsenz und großer Erscheinungsvielfalt das Profil der Stadt prägt.
Vorwort
Lieber Mark Nowakowski, da hast du ja wirklich ein umfangreiches Werk verfaßt, besonders was die Informationsfülle betrifft! Du bittest mich um ein Vorwort, aber ich wüßte eigentlich nichts, was nicht schon drin stünde in dem Buch – besonders in den Analysen! Vielleicht sollte ich einfach mal meinen persönlichen Fall schildern, weil ich als ausgesprochener Straßenmusiker schon aus der Rolle falle: Ich mache Straßenmusik schon seit 45 Jahren, also mehr als die Hälfte meines Lebens! Davor war ich auch schon professioneller Musiker: Musikstudent, Orchestergeiger, Solist, Komponist für Neue Musik – und in den 70er Jahren, zu HippieZeiten, kam der »Bruch«, und ich wurde Hippie und Straßenmusiker mit Leib und Seele. Und ließ alle die An-Nehmlichkeiten einer bürgerlichen Musikerkarriere fahren, aber eben auch die Un-Annehmlichkeiten, als da wären: Konkurrenz, Streß, Angst, Lampenfieber, Magenschmerzen, Fremdbestimmtsein usw. Allerdings bin ich nicht auf die Straße gegangen und habe statt Mozart Paloma 1 gespielt, sondern Protestsongs, die ich mir nächtelang durch den Kopf hab gehen lassen, was den Inhalt und die Wirkung betrifft. Und auf der Straße mußte ich herausfinden, wie ich diese Dinger dann möglichst erfolgreich an die Frau und den Mann bringe. Und ich konnte mein ganzes Können und Wissen einsetzen für Sachen, hinter denen ich wirklich stehe. Das war der große Unterschied zu vorher. Natürlich war's schwer: Protestsongs sind nun mal keine Ware, die gern gekauft wird in den Fußgängerzonen – weder von den Passanten noch von der Obrigkeit, aber grade das war und ist das Spannende dabei: die Leute sollen sich damit auseinandersetzen, so oder so. Ich mußte sie erstmal zum Stehen kriegen, und wie ging das: Ich hab gebrüllt statt zu singen, und die Geige hab ich geschlagen statt zu streichen – mit einem Rundbogen, im Faustgriff! (In der Zeit habe ich zwei Geigen zerlegt – Lehrgeld, aber spannend!) Gott sei Dank bin ich ja noch am liebsten Musiker, und so hab ich die Leute dann wieder versöhnt. Und sie haben zugehört, immer mehr und mehr – so wie's läuft, wenn's gut läuft! Straßenmusik ist Freisein (-wollen) und Dabeisein (-wollen), Geld ist zweitrangig, das langt sowieso nicht zum Leben – damals nicht und heute erst recht nicht. Aber sie machen es trotzdem, die Straßenmusiker, sitzen in den Parks, den Fußgängerzonen, spielen so gut, wie sie können – und manche können es richtig gut! – und haben nur ein Problem: die Kontros! Die dafür »sorgen«, daß die Fließgeschwindig1
Paloma als Metapher für Schlagermusik in Anspielung auf das Lied »La Paloma« (dt. Text: Helmut Käutner), Anm. d. Verfassers.
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keit in der Fußgängerzone stimmt! (Ich hab mir das aber nicht gefallen lassen. Dagegen habe ich rebelliert! Und das hat mir nicht geschadet, das hat genützt!) Straßenmusik kann Wunder wirken! Straßenmusik ist ein Geschenk, nur nehmen es die meisten nicht an. Macht nix, das ist die Härte, da muß man durch – sagt da der Profi. Hinterher wird's besser! In diesem Sinne wünsche ich dir für dein Buch viele interessierte und engagierte Jungs und Mädchen, die es verschlingen, von 10 bis 100! Klaus der Geiger
Vorwort des Verfassers
Bruno Nettl weist darauf hin, dass die akademische Disziplin Musikethnologie das Studium aller musikalischen Manifestationen einer Gesellschaft einschließe.2 Ausgehend von der Erkenntnis, dass urbane Musikkultur sich in vielen Aspekten von derjenigen in dörflichen und indigenen Gesellschaften unterscheidet, entwickelte sich das Feld urban ethnomusicology Hand in Hand mit urban anthropology.3 Die Geschichte der Kunstmusik vieler Städte wurde von Musikhistorikern rekonstruiert.4 Doch auch das alltägliche Phänomen Straßenmusik ist unübersehbar ein Teil urbaner Kultur5 und war dessen ungeachtet bisher in Deutschland nicht Gegenstand systematischer Untersuchungen. Diese Lücke soll mit der vorliegenden Arbeit am Beispiel Berlins anhand einer ausführlichen Feldstudie in den Jahren 2010 bis 2011 geschlossen werden. Im Frühjahr 2004 befasste ich mich im Rahmen meines Studiums der Musikethnologie zum ersten Mal näher mit dem Thema in einem Feldforschungsseminar. In meiner Magisterarbeit6 wurde Straßenmusik zum Gegenstand einer ersten Trendanalyse für die Mitte Berlins. Hierauf baut die vorliegende Studie auf und versteht sich als Beitrag zur musikethnologischen Stadtforschung. Von der deskriptiven Betrachtung der Fallbeispiele ausgehend wird untersucht, welche Stilrichtungen, Instrumente und Ensembleformen vertreten sind, wie sich die Akteure nach Alter, Geschlecht, Herkunft etc. zusammensetzen, welche musikalische Ausbildung sie genossen haben, welche Motive sie haben, in diesem Rahmen zu musizieren, welches Selbstbild sie haben, wie sich die Interaktion mit dem Publikum gestaltet und von beiden Seiten erlebt wird und ferner, welche Rolle der öffentliche Raum Berlins als Auftrittsort spielt. Ergänzt werden diese Befunde durch Betrachtungen zur kulturellen Bedeutung von Straßenmusik für Stadt und Gesellschaft und ihren Funktionen darin. Somit ergibt sich ein facettenreiches Portrait Berlins aus der Perspektive einer heterogenen Gruppe von Künstlern, die die liberale, weltoffene Wahrnehmung der Stadt durch ihr Wirken entscheidend mitprägen. Mein herzlicher Dank richtet sich in erster Linie an die zahlreichen Straßenmusikerinnen und Straßenmusiker, die sich auf ein Gespräch mit mir eingelassen und maßgeblich zur Entstehung dieser Arbeit beigetragen haben. Mit ihrer Musik und der 2 3 4 5 6
Vgl. Nettl 2005: 13. Vgl. ebd., 185. Vgl. Nettl 1978: 3 f. Vgl. Bohlman 2001: 200 ff. Nowakowski 2010.
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Schilderung ihrer individuellen Geschichten, Erfahrungen und Perspektiven haben sie die Zeit meiner Feldforschung zu einer der reichsten meines Lebens gemacht. Prof. Dr. Gert-Matthias Wegner danke ich für die Betreuung meines Forschungsvorhabens und auch Prof. Dr. Albrecht Riethmüller für die kritischen Anmerkungen und konstruktiven Diskussionen. Besonderen Dank empfinde ich gegenüber meinen Eltern, die mich auf allen Ebenen stets bedingungslos unterstützt haben. Eva Weigand hat mir insbesondere bei der Bearbeitung und Aufbereitung der Bilddateien mit großem persönlichen Einsatz beigestanden. Mark Nowakowski, Berlin im Januar 2016
1. Einleitung
Ende November 2008 gewann der durch einen Verkehrsunfall körperlich stark beeinträchtigte, arbeitslose Berufskraftfahrer und Empfänger von Hartz-IV-Unterstützung Michael Hirte die Endausscheidung der Fernsehshow Das Supertalent 2008. Dieser Überraschungserfolg machte nicht nur den 44-jährigen Mundharmonikaspieler über Nacht zum Star, sondern rückte auch ein ansonsten selten so bewusst wahrgenommenes Phänomen in die öffentliche Aufmerksamkeit: Hirte war bis dahin jahrelang in Potsdams Fußgängerzone, der Brandenburger Straße, aber auch in der zu Berlin gehörenden Spandauer Altstadt regelmäßig als Straßenmusiker aufgetreten und hatte sich auf diese Weise ein paar zusätzliche Euros erspielt – mit den gleichen Stücken, die nun Millionen Menschen rührten, mit stehenden Ovationen endeten und dem Künstler 100.000 Euro Siegprämie einbrachten. 7 Straßenmusik ist im öffentlichen Raum Berlins allgegenwärtig und findet doch zumeist am Rande der individuellen Wahrnehmung statt. Straßenmusik passiert nebenbei, wie der oben geschilderte Fall eindrücklich zeigt. Zusammen mit anderen akustischen Ereignissen wie Verkehrslärm, Lautsprecherdurchsagen oder Schrittgeräuschen, aber auch Vogelgezwitscher und Windrauschen gehört sie zum Klang der Großstadt. Sie buhlt um die Aufmerksamkeit eiliger, vom Stress getriebener Stadtbewohner und ist dabei nicht wählerisch: Ihr Publikum besteht aus Vertretern sämtlicher sozialer Schichten vom Obdachlosen bis zum Manager, aus Kleinkindern, Studenten, Arbeitnehmern und Rentnern, Touristen und Einheimischen, denen nichts gemein ist als der Begriff, mit dem sie bezeichnet werden – Passanten. Ebenso zufällig zusammengewürfelt erscheinen die Akteure selbst, die Straßenmusikerinnen und Straßenmusiker8 – vor allem, wenn man sich einmal die Zeit nimmt und genauer hinsieht: vom Anfänger bis zum alten Hasen, vom waschechten Berliner Drehorgelspieler bis zum durchreisenden Orchestermusiker, vom Autodidakten bis zum Konservatoriumsabsolventen ist alles vertreten. Straßenmusiker sind keine homogene Gruppe – und schon gar nicht in irgendeiner Weise organisiert. Vielmehr stellen sie mit ihren höchst unterschiedlichen Biographien und Mentalitäten sowie ihrer jeweiligen Herkunft, Motivation und ihrem spieltechnischen Niveau Vertreter einer komplexen und 7 8
Vgl. Grimmer 2008 und Waechter 2009. Werden im Weiteren Personenbezeichnungen aus Gründen der besseren Lesbarkeit lediglich in der männlichen oder weiblichen Form verwendet, so schließt dies das jeweils andere Geschlecht mit ein.
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vielschichtigen urbanen Musikkultur dar. Diese präsentiert sich besonders in Berlin in einer enormen Ausprägungsvielfalt. Vor allem durch die Öffnung des Eisernen Vorhangs haben sich die Rahmenbedingungen in den Städten Deutschlands als Nahtstelle zwischen Ost- und Westeuropa nachhaltig verändert. Berlin kommt dabei eine besondere Rolle zu. Die Stadt gilt als attraktiver Anziehungspunkt für Künstler und Kreative 9, Touristenmagnet10, Zentrum der Politik und Brennpunkt der Weltgeschichte. Damit einher geht ein außerordentlich breit gefächertes, schier unüberschaubar umfangreiches Kultur- und Musikangebot. Es gibt immerzu alles für jeden Geschmack auf jedem erdenklichen Qualitätsniveau. Neben dem staatlich geförderten Kulturbetrieb existiert eine Unzahl von privaten Lokalitäten, die als Plattform für die unterschiedlichsten künstlerischen Darbietungen genutzt werden. Berlin ist heutzutage – auch aufgrund seiner zentralen Lage innerhalb Europas – wieder offen für Menschen aus aller Welt. Internationalität und Vielfalt stellen in vielerlei Hinsicht eine große Chance für die Stadt dar11 und befördern im urbanen Umfeld die gegenseitige Inspiration. Straßenmusik ist ein Ausdruck und unübersehbares Aushängeschild dieser kreativen, liberalen Atmosphäre. Ihr Kennzeichen ist es, gerade nicht durch Kulturautoritäten, eine tonangebende Fachwelt oder durch Kommerz korrigiert oder normiert zu werden. Straßenmusik ist Popularmusik im Wortsinne: Musik fürs Volk, nämlich praktisch für jeden, der den öffentlichen Raum betritt, in dem sie stattfindet. Sie besitzt das Potential, das urbane Leben auf diversen Ebenen positiv zu beeinflussen. Dabei besteht durchaus Konfliktpotential: Fahrgäste in U- und S-Bahnen, Cafébesucher, Angestellte in benachbarten Geschäften oder Anwohner beschweren sich verständlicherweise über die ungebetene Beschallung. Und während einige der mobilen Musiker aus purer Lebensfreude spielen und sich an der Verwirklichung ihrer alternativen Lebensentwürfe erfreuen, befinden sich andere im ständigen Kampf ums Überleben. Für sie sind die lukrativsten Plätze, die Aufmerksamkeit des flüchtigen Publikums und schließlich das Geld für Nahrung, Drogen oder für die Familie daheim, etwa in Russland, von existentieller Bedeutung. Daneben kursieren Gerüchte um die zu den Roma gehörenden Musiker: vor allem die Kinder unter diesen würden gezwungen, auf der Straße oder in U- und S-Bahnen mit Musik Geld zu verdienen und dieses anschließend abzugeben. Hier werden immer wieder mafiose Strukturen unterstellt.12 Musikethnologen beschäftigen sich seit mehreren Jahrzehnten zunehmend mit musikalischen Phänomenen im urbanen Raum. Nachdem der Fokus lange Zeit auf indigenen, oftmals als exotisch stilisierten Kulturen in der Fremde lag, wurde der Wert der Untersuchung musikalischer Äußerungen der unterschiedlichen Gruppen auch in der modernen westlichen Welt für das Verständnis gesellschaftlicher Prozesse erkannt.
9 10 11 12
Vgl. IHK-Berlin et al. 2014: 46 ff. Im Jahr 2013 wurde – wie in den Jahren zuvor – erneut ein Besucherrekord verzeichnet, vgl. Amt für Statistik Berlin-Brandenburg 2014a. Vgl. Kleff/Seidel 2009. Vgl. Bolzen 2002, Tjong 2012, Mappes-Niediek 2013.
E INLEITUNG | 3
Zum Feld der Straßenmusik existieren im deutschsprachigen Raum aus der Nachkriegszeit vereinzelte punktuelle Betrachtungen. Bis auf die Veröffentlichungen von Waltraud Kokot et al. (2004) und Mark Nowakowski (2012) datieren die wenigen vorhandenen Quellen auf die Zeit vor der deutschen Wiedervereinigung und sind daher von historischem Wert für die Rekonstruktion der Entwicklung der Straßenmusik in Deutschland.13 In den meisten Fällen ist das Phänomen Straßenmusik Ausgangspunkt für weitergehende Fragestellungen wie z. B. nach der Nutzung und Transformation von Stadtraum etc.14 Dort, wo es um den Gegenstand an sich geht, werden oft um die zehn Musiker bzw. Gruppen exemplarisch portraitiert.15 Doch eine systematische, analytische Untersuchung der Straßenmusiker einer Stadt fehlt bislang. Weder die spontanen musikalischen Darbietungen auf den Bahnhöfen und in den Zügen des öffentlichen Nahverkehrs sowie vor und in Lokalen noch diejenigen fahrender Künstler wurden in der vorhandenen Literatur zu Straßenmusik in Deutschland in die Betrachtung einbezogen. Diese Forschungslücke soll die vorliegende Studie füllen. Das Ziel dieser Arbeit ist es, im Rahmen einer in den Jahren 2010 und 2011 erfolgten erkundenden Feldstudie die Vielfalt der in Berlin aktuell vorkommenden Erscheinungsformen möglichst umfangreich zu erschließen und dabei die verschiedenen Facetten des Phänomens Straßenmusik zu beleuchten. Es soll zum ersten Mal eine umfassende Übersicht einerseits über die in Berlin präsenten Ausprägungen dieses vielschichtigen Teils urbaner Musikkultur und andererseits über die Besonderheiten gegeben werden, die Berlin als Plattform für Straßenmusiker bietet. Dabei wird zumeist eine akteurszentrierte Perspektive eingenommen. Weil es offenbar nirgends einen greifbaren physischen Gegenstand namens Straßenmusik gibt, der Begriff Straßenmusik vielmehr eine Aktion, ein Handlungsmuster beschreibt, liegt es nahe, den Fokus bei der Erforschung dieser Erscheinung auf diejenigen zu richten, die Straßenmusik machen, auf die Musiker selbst also. Diese werden hier als Individuen wahrgenommen und vorgestellt. Eine Längsschnittanalyse mit möglichst großer Stichprobe soll einen breiten Überblick über den Forschungsgegenstand gewährleisten. Ein Anspruch auf Vollständigkeit besteht indes nicht – diese scheint aufgrund der starken Fluktuation unter den Berliner Straßenmusikern sowie der hohen Zahl von Durchreisenden nicht erreichbar. Mit dem gewählten Ansatz soll es dennoch gelingen, die in der vorhandenen Literatur aufgeworfenen Fragestellungen und Trends vertiefend zu verfolgen, darüber hinausgehende Betrachtungen anzustellen und die kulturelle Bedeutung sowie zentrale Funktionen von Straßenmusik in der Gesellschaft herauszuarbeiten. Diese Untersuchung liefert somit einen Beitrag zur Beschreibung des urbanen Musiklebens Berlins als Beispiel für eine moderne deutsche Großstadt, in der Straßenmusik als Phänomen mit starker Alltagspräsenz und großer Erscheinungsvielfalt auftritt und als kulturelle Aktivität das Profil der Stadt eindrücklich mitprägt.
13 14 15
Vgl. z. B. Fritsch 1972, Michaels 1979, Engelke 1984a, Fuchs/Stadelmann 1987, Noll 1992, Lieberwirth 1990. Vgl. z. B. Bohlman 1994, Bywater 2006, McKay 2007, Nowakowski 2012. Vgl. z. B. Fritsch 1972, Noll 1992, Kokot et al. 2004.
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Das folgende Kapitel 2 gibt in mehreren Abschnitten einen Überblick über den Forschungsgegenstand. Zunächst wird eine Definition von Straßenmusik vorgeschlagen, die dieser Arbeit zugrunde gelegt wird. Weiterhin werden die vorhandene Literatur zum Thema vorgestellt, die Geschichte und Entwicklung der Straßenmusik und ihrer Vorläufer beleuchtet, Überlegungen zum Stadtraum als Kontext für Straßenmusik angestellt und die rechtliche Situation für Straßenmusiker in Berlin beschrieben. Anschließend werden in Kapitel 3 die dieser Untersuchung zugrundeliegenden empirischen Methoden sowie die konkrete Vorgehensweise bei der Erhebung, Fixierung, Analyse und Interpretation der Daten dargestellt, was eine Reflexion der Feldforschung und eine Quellenkritik einschließt. Den zentralen Teil der Arbeit bildet die Präsentation der Ergebnisse aus der Feldforschung unter Straßenmusikern in Berlin. Diese geschieht in zwei großen Blöcken: Zuerst werden in Kapitel 4 die Straßenmusiker, die beobachtet und interviewt wurden, in kurzen Portraits einzeln vorgestellt. Auf diese Fallschilderungen folgt in Kapitel 5 die Auswertung und Diskussion der gesammelten Daten und Beobachtungen unter verschiedenen Gesichtspunkten und Fragestellungen. Kapitel 6 schließlich fasst die Kernaussagen zusammen, die sich aus der Analyse ergeben. Die soziale und kulturelle Bedeutung von Straßenmusik wird thematisiert und ein Ausblick gegeben.
2. Straßenmusik im Überblick
Musik auf Straßen und (Markt-) Plätzen, also in der Öffentlichkeit, dort wo sich das alltägliche gesellschaftliche Leben abspielt, und ohne festen Veranstaltungsrahmen, hat es vermutlich schon zu allen Zeiten und überall gegeben. Auch umherziehende Musiker gab es nicht erst seit den wandernden Rhapsoden im antiken Griechenland, sondern bereits deutlich früher z. B. im alten Mesopotamien um 3000 v. Chr.16 und noch eher wohl auf indischem und chinesischem Boden. Was in dieser Arbeit unter dem Begriff Straßenmusik verstanden und untersucht wird, wird im folgenden Abschnitt erläutert. Die Allgegenwärtigkeit von Straßenmusik und ihren Vorläufern mag einer der Gründe dafür sein, dass sie bis heute in wissenschaftlichen Veröffentlichungen wenig Beachtung fand. Straßenmusik spielt sich am Rande der Alltagswahrnehmung ab. Sie ist einfach zu offensichtlich, und was uns vertraut erscheint, wird leicht übersehen. Doch diese Vertrautheit des Heimischen ist eine Illusion, wie Hubert Knoblauch zu bedenken gibt: »Die Ethnographie der eigenen Gesellschaft bewegt sich durchaus im Rahmen des Vertrauten. Dieses Vertraute ist uns jedoch nur selten wirklich bekannt.«17 Gerade Ethnologen und nicht zuletzt Musikethnologen hatten lange Zeit die Tendenz, ihre Forschungsobjekte vor allem in der Fremde zu suchen – möglichst weit weg und exotisch – und legten den Fokus dabei zumeist auf traditionelle Kulturen im ländlichen Raum. Aber auch in anderen Disziplinen wie in der Soziologie, der Theaterwissenschaft oder der musikalischen Volkskunde taucht Straßenmusik als Forschungsgegenstand bestenfalls am Rande auf. Nirgends scheint sie sich richtig einordnen zu lassen. Ein Überblick über die Quellenlage zum Thema Straßenmusik in der einschlägigen Fachliteratur und in verschiedenen Medien wird im Anschluss an die Begriffsklärung gegeben. Es folgen ein Abschnitt zu den historischen Vorläufern dessen, was wir heute Straßenmusik nennen, und der Versuch einer Rekonstruktion der jüngeren Entwicklung vornehmlich in Deutschland und Berlin. Die Abschnitte zum Berliner Stadtraum als Kontext, in dem sich Straßenmusik abspielt, sowie zur rechtlichen Situation von Straßenmusikern insbesondere in Berlin vervollständigen diese Übersicht.
16 17
Vgl. Salmen 1983: 25 f. Knoblauch 2003: 25.
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2.1
BEGRIFFSKLÄRUNG
Was ist Straßenmusik eigentlich? Was zeichnet sie und ihre Akteure aus, und wie lässt sie sich definieren? In der dreißigbändigen Brockhaus-Enzyklopädie (21. Auflage, 2006) jedenfalls wird der Begriff Straßenmusik nicht als Stichwort geführt. Ebenso wenig ist er in den Standard-Nachschlagewerken der Musikwissenschaft MGG18, Riemann Musik Lexikon19 oder im New Grove20 verzeichnet. Immerhin im Deutschen Wörterbuch von Wahrig findet sich ein Eintrag zum Straßenmusikanten als »jmd., der sich durch Musizieren auf der Straße u. in Höfen Geld verdient«.21 Nachdem bis hier die Begriffe Straßenmusik bzw. Straßenmusiker bereits mehrfach und selbstverständlich verwendet wurden, ist für das weitere Verständnis eine genauere Klärung und Definition nötig, anhand der sich dann der Forschungsgegenstand dieser Arbeit eingrenzen lässt.
2.1.1
Straßenmusik
Straßenmusik ist eine Kategorie von Straßenkunst22, wozu unter anderem noch Straßentheater, Straßenmalerei, Straßenartistik oder Breakdance gehören, siehe auch Anhang 1. Musikalische Darbietungen überwiegen jedoch bei weitem; Mischformen kommen gelegentlich vor. Eine allgemeingültige Definition dieses Unterbegriffs scheint zunächst schwierig ob der großen Fülle von Erscheinungen, die sich darunter immer noch subsummieren lassen. Die verschiedenen Dimensionen des Phänomens zeigen sich in der bereits angesprochenen möglichen Annäherung an das Thema über unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen. Straßenmusik passt in keine Schublade, weil der Gegenstand in sich so heterogen ist, was Stile, Repertoire, Instrumente, musikalische Qualität, Motivation, Herkunft und Strukturen betrifft.23 Der Schluss
18 19 20 21 22
23
Vgl. Finscher 2007. Suchbegriffe: Straßenmusik, -er, -ant. Vgl. Eggebrecht/Gurlitt 1967. Suchbegriffe: Straßenmusik, -er, -ant. Vgl. Sadie 2001. Suchbegriffe: street music, street art, busking, busker, barrel organ. Wahrig 1997: 1188. Das englische Wort busking ist zwar ein Sammelbegriff und meint Straßenkunst im allgemeinen, doch häufig wird in erster Linie Straßenmusik darunter verstanden. Dieser Sprachgebrauch macht gleichzeitig die Abgrenzung zu anderen Formen von Straßenkunst unnötig, denn auch ein Artist wird eben selbstverständlich als busker bezeichnet, wenn er in der Öffentlichkeit auftritt, ohne gebucht zu sein – und ein musizierender Artist erst recht (oder etwa ein Duo, das aus einem Musiker und einem Artisten besteht). Im Englischen ist busking zudem nicht an einen bestimmten Ort gebunden, sondern unterstreicht vielmehr den aktiven Charakter. Die Frage, ob Musik vor Lokalen, in U-Bahnhöfen oder S-Bahnen auch zur Straßenmusik gezählt werden kann und sollte, entfällt somit, denn es handelt sich in jedem Falle um busking. Der Term street music hingegen ist weit weniger verbreitet und wird vor allem verwendet, um im Bedarfsfalle doch den street musician von anderen street performers zu unterscheiden oder aber die Örtlichkeit Straße zu unterstreichen wie etwa bei George McKay (2007), der durch die Straßen paradierende Marching Bands untersucht. Die Etymologie des Wortes to busk geht auf das italienische Verb buscare (suchen, umherwandern) zurück, vgl. Bywater 2006: 112. Vgl. Kapitel 5 in dieser Arbeit.
B EGRIFFSKLÄRUNG | 7
liegt also nahe, dass es sich bei Straßenmusik um eine eigene Kategorie handelt. Gleichzeitig scheint der Begriff zu verschwimmen. Adelaida Reyes Schramm gibt zu bedenken, dass gerade im städtischen Raum Grenzen – oft auf widersprüchliche Weise – überlappen, welche sonst musikalische Repertoires, geographische Areale, ethnische Identitäten, Institutionen usw. definieren.24 Hier sei zu fragen, auf welcher Grundlage überhaupt eine Auswahl dessen erfolge, was es zu erforschen gelte. Wenn das Studienobjekt eher ein wissenschaftliches Konstrukt als ein tatsächlich vorhandenes Gebiet darstelle, werde die Rechtfertigung seiner Auswahl an sich zu einer analytischen Herausforderung. Ist Straßenmusik demnach ein wissenschaftliches Konstrukt? Diese Frage ist sicherlich zu verneinen, denn einerseits ist Straßenmusik an sich kein wissenschaftlicher Terminus, sondern bereits seit geraumer Zeit im alltäglichen Sprachgebrauch verankert, was sich auch in der selbstverständlichen Verwendung in den Medien spiegelt.25 Es handelt sich zwar um eine an sich heterogene Erscheinung, die aber gerade durch ihre große Diversität bestimmt ist und keiner Erklärung bedarf; jeder verbindet etwas damit.26 Straßenmusik wird als Ganzes wahrgenommen, sonst gäbe es diese umfassende Bezeichnung gar nicht. Christopher Small macht darauf aufmerksam, dass Musik kein Ding sei, sondern eine Aktivität bezeichne: »something that people do.«27 Weiter stellt er fest: »The apparent thing ›music‹ is a figment, an abstraction of the action, whose reality vanishes as soon as we examine it at all closely.«28 Gleiches muss auch und besonders für Straßenmusik gelten, die weder in Werksform fixiert noch sonst irgendwie greifbar und in jedem Falle an die Aktivität der Performer gebunden ist. Helmut Rösing nennt den Begriff Straßenmusik gleichzeitig eindeutig und unpräzise. Während nämlich der Ort, wo sie stattfindet, eben die Straße, klar umrissen ist, bleiben alle anderen Dimensionen wie Musikstil oder Instrumentierung völlig offen. Es handelt sich folglich um eine ortsbezogene Musikbezeichnung, wie sie immer dann üblich ist, »wenn das Spektrum der dargebotenen Musik zwar breit, ihre Situationsbezogenheit und funktionale Einbindung in vorgegebene gesellschaftliche Strukturen aber klar eingegrenzt ist.« Das trifft z. B. auch für Hof-, Feld-, Kirchen-, Kammer-, Salon- oder Bühnenmusik zu. Dabei ist die Ortsbezeichnung Straße weitergefasst und meint, »bezogen auf die Gegenwart, vor allem die Fußgängerzonen als öffentlich zugängliche Aktions- und Kommunikationszentren urbanen Lebens. Mit einbezogen sind aber auch angrenzende öffentliche Räume wie Plätze, Parks, U-Bahn- bzw. Bahnhofseingänge sowie Gaststätten- oder Caféhausareale auf Bürgersteigen.«29 Diese Aufzählung wäre noch um die Züge des öffentlichen Personennahverkehrs zu ergänzen, in Berlin: U- und S-Bahnen. Freilich findet Straßenmusik heutzutage in der Regel nicht auf den Straßen selbst statt, sprich: auf der Fahrbahn, sondern auf Gehwegen, Plätzen usw., die für Fußgänger freigegeben sind. Früher gab es diese Unter24 25 26 27 28 29
Vgl. Reyes Schramm 1982: 1. Vgl. Abschnitt 2.2.2. Vgl. Abschnitt 5.14.3. Small 1998: 2. Ebd. Vgl. Rösing 2004: 10 f.
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scheidung nicht, oder sie war aufgrund des deutlich geringeren Verkehrsaufkommens von geringer Relevanz. Es handelt sich hier also um eine neuere Entwicklung, der die Bezeichnung des Phänomens nicht gefolgt ist. Als weitere wesentliche Kriterien für Straßenmusik werden die Live-Darbietung30, der unangekündigte und unentgeltliche Auftritt sowie die Abhängigkeit der Einnahmen von der Spendenfreudigkeit des Publikums 31 genannt. Günther Noll stellt zunächst infrage, dass professionelle und kommerziell erfolgreiche Musiker, die gelegentlich auch auf der Straße auftreten, als Straßenmusiker zu bezeichnen seien.32 An anderer Stelle schlägt er für die unentgeltlich auftretenden Missionsschwestern der Heilsarmee den Term Musik auf der Straße anstelle von Straßenmusik vor.33 Dies zeigt, dass mit Straßenmusik zumeist auch die finanzielle Bedürftigkeit bzw. das Motiv, Geld zu verdienen, in Verbindung gebracht werden, wie schon der Eintrag im Wörterbuch von Wahrig verdeutlicht. Die angeführten Merkmale wie auch der Umstand, dass Noll letztlich die beiden genannten Grenzfälle doch im Rahmen der Straßenmusik vorstellt, deuten allerdings darauf hin, dass Straßenmusik am ehesten eine Art Aufführungskultur oder -praxis bezeichnet. Bei dieser ist nicht die Motivation – etwa Geld damit zu verdienen –, sondern die Aufführungssituation als Kriterium ausschlaggebend. Dazu gehört der öffentliche Charakter des spontan zur Bühne umfunktionierten Auftrittsortes im öffentlichen Raum34 ebenso wie das unangekündigte und prinzipiell unentgeltliche Spiel vor einem nicht näher definierten, ständig wechselnden Publikum, das keiner bestimmten Gruppe oder sozialen Schicht zuzuordnen ist. Diese Kennzeichen einer Aufführungskultur außerhalb konventioneller Machtstrukturen35 ziehen sich – anders als die Verwendung bestimmter Musikstile oder -instrumente – sehr wohl durch die Geschichte der vergangenen Jahrhunderte und verbinden somit die heutige Straßenmusik mit ihren Vorläufern wie dem Bänkelgesang oder den durch die Innenhöfe der Mietskasernen ziehenden Drehorgelspielern. Eine Tradition hingegen, wie sie Noll zumindest in der Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg sieht,36 ist auch für die Vergangenheit nicht erkennbar, denn es gibt keine spezifischen Handlungsmuster oder ähnliches, das von Generation zu Generation weitergegeben würde. Oder, wie es Murray Smith ausdrückt: »It may even be that the tradition of musical busking is actually embodied in the very act of busking itself […]«37 Schließlich ist die Straßenmusi-
30 31 32 33 34
35 36 37
Vgl. ebd., 11 f. Vgl. Reich/Sell 2004: 47. Vgl. Noll 1992: 117. Vgl. ebd., 110. Dass damit nicht zwingend der Straßenraum gemeint sein muss, zeigt Susie J. Tanenbaums Feststellung: »[…] subway music is the one true example of indoor street performing.« (Tanenbaum 1995: 14) Dieses scheinbare Paradoxon lässt sich nur auflösen, wenn der Term street performing primär eine Aufführungspraxis bezeichnet und nicht als eine Ortsangabe verstanden wird. Vgl. Smith 1996: Conclusion. Vgl. Noll 1992: z. B. 101 oder 123. Smith 1996: Conclusion.
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kerszene insbesondere heute sehr schwach untereinander vernetzt.38 Eine aktive, solidarische »Kultur von unten« oder gar eine Straßenkulturbewegung, wie sie Kai Engelke zu entdecken meint,39 gab es ansatzweise und in bestimmten Kreisen vielleicht vor 30 Jahren für eine gewisse Zeit; heute ist davon jedoch nichts mehr zu spüren. Waltraud Kokot diskutiert den Begriff einer Kultur der Straße und stellt fest, dass Straßenmusiker heutzutage mehr denn je Individualisten seien, die somit in ihrem spezifischen Wissen, den Spielregeln untereinander und ihren Strategien keine kulturelle Einheit bildeten.40 Die Kenntnisse etwa über gute Standorte, geeignete Spielzeiten und über die Vor- und Nachteile verschiedener Stadtviertel, die Kokot als gemeinsamen Wissensstand dieser Kultur der Straße bezeichnet,41 betreffen wiederum in erster Linie die Aufführungspraxis. Noll sieht Straßenmusik als Teil einer hoch differenzierten musikalischen Volkskultur, als eigenständige Teilkultur gar, aber nicht als Subkultur.42 Was – außer der gemeinsamen Aufführungspraxis – diese Teilkultur allerdings einen sollte, lässt er offen. Ich verstehe somit unter Straßenmusik jede Form von Musik 43, die im öffentlichen Raum etc.44 live45, prinzipiell unentgeltlich, unangekündigt und nicht im Rahmen einer besonderen Veranstaltung dargeboten wird und dabei an ein öffentliches Publikum gerichtet ist46. Das schließt Musik aus, die bestellt oder verabredet zu Messen, Märkten, Straßenfesten, Festivals – auch Straßenmusikfestivals – und anderen derartigen Ereignissen gespielt wird wie etwa zum Karneval der Kulturen, beim Internationalen Drehorgelfestival oder der Fête de la Musique, die jährlich in Berlin stattfinden. Anlässlich solcher Veranstaltungen gelten rechtlich, ästhetisch und ethisch eigene Regeln. Auch die Beschallung durch Lautsprecher aus Geschäften (Muzak), Musik bei Werbeaktionen sowie die Begleitung politischer Demonstrationen, Kundgebungen und Protestaktionen oder religiöser Prozessionen stellen keine Straßenmusik im Sinne dieser Untersuchung dar.
38
39 40 41 42 43 44 45 46
Vgl. Kokot 2004: 39. Auch in Toronto sieht Smith ein »lack of community« unter den dortigen Straßenmusikern, vgl. Smith 1996: Conclusion. Siehe auch Abschnitt 5.15 in dieser Arbeit. Vgl. Engelke 1984d: 12. Vgl. Kokot 2004: 39 f. Vgl. ebd., 28. Vgl. Noll 1992: 123 f. Musik soll hierbei in ihrem weitesten Sinne als durch Menschen bewusst organisierte Form von Schallereignissen – tonaler oder geräuschhafter Natur – verstanden werden. Zu den weiteren Räumen neben dem öffentlichen Straßenland an sich vgl. die Aufzählung in den Abschnitten 2.4 und 2.5. Zumindest in wesentlichen Teilen live, also z. B. Live-Gesang zu Musik, die von einem Tonwiedergabegerät kommt. Es sind also beispielsweise keine Jugendlichen im Park gemeint, die innerhalb ihrer Gruppe auf der Gitarre spielen und bzw. oder dazu singen. Sobald sie sich jedoch an den Wegesrand stellen und die Passanten adressieren würden, fiele das wiederum unter meine Definition von Straßenmusik.
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2.1.2
Straßenmusiker oder -musikanten?
Mit der Definition von Straßenmusik im vorigen Abschnitt sind auch deren Akteure, die Straßenmusiker, hinreichend genau beschrieben. Hier folgen einige ergänzende Anmerkungen. Sowohl in der Literatur als auch im Sprachgebrauch finden sich die Begriffe Straßenmusiker und Straßenmusikant für solche, die Straßenmusik machen. Nach dem Wörterbuch von Wahrig ist ein Musiker jemand, der beruflich ein Musikinstrument spielt, während ein Musikant ein Spielmann oder Musiker ist, der besonders in der Tanz- und Unterhaltungsmusik tätig ist. Auch auf die tendenziell abwertende Bedeutung des zweiten Wortes wird hingewiesen.47 In Bezug auf Straßenmusik wird im alltäglichen Sprachgebrauch bisweilen zwischen bewundernswerten ausgebildeten Musikern einerseits und abschätzig betrachteten, qualitativ minderwertigen Musikanten (»Bettelmusikanten«48) auf der anderen Seite unterschieden. Engelke berichtet über den Streit zwischen echten und unechten Straßenmusikanten.49 Auffällig ist, dass in der neueren Literatur stets von Straßenmusikern die Rede ist,50 während in den älteren Arbeiten zumeist der Begriff Straßenmusikant dominiert.51 Noll benutzt 1992 beide Bezeichnungen parallel und scheinbar synonym. Dies könnte ein Hinweis auf eine generell gestiegene Akzeptanz und Wertschätzung gegenüber Menschen sein, die im öffentlichen Raum auftreten. In dieser Arbeit wird generell nicht – und schon gar nicht wertend – zwischen den beiden Begriffen unterschieden. In erster Linie wird jedoch die Bezeichnung Straßenmusiker verwendet. Straßenmusik ist nicht nur wissenschaftlich betrachtet bisher ein Randphänomen; auch manche Straßenmusiker befinden sich am Rande der Gesellschaft und der etablierten Musikszenen. Unter ihnen finden sich viele Aussteiger, die bewusst alternative Lebenswege verfolgen, daneben (Durch-) Reisende, Erwerbslose, Immigranten, Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis, Drogenabhängige, teils ohne geregeltes Leben, ohne festes Einkommen, ohne Staatszugehörigkeit etc. Das Musizieren auf der Straße schafft zwar zahlreiche Schnittpunkte mit Vertretern der verschiedensten sozialen Schichten, doch die Wechselwirkungen bleiben letztlich vernachlässigbar. Diese Marginalität ist nicht zu bewerten. Noll sieht etwa in der Benennung von Straßenmusikern als Randgruppe52 oder Außenseiter der Gesellschaft53 eine Abwertung und lehnt diese ab. Derartige pauschalisierende Bezeichnungen sind nicht nur unangebracht, sondern auch unzutreffend, denn so stimmig sie für einige Individuen sein mögen, so unpassend sind sie für den Rest der Straßenmusiker.
47 48 49 50 51 52 53
Vgl. Wahrig 1997: 884. Vgl. Noll 1992: 105. Vgl. Engelke 1984d: 13. Vgl. z. B. Kokot et al. 2004, Lorenz 2006. Vgl. z. B. Fritsch 1972, Engelke 1984a, Fuchs/Stadelmann 1987. Noll 1992: 100 und 123. Ebd., 101.
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»Was ist ihnen eigentlich gemeinsam, den Straßenmusikanten? Kann man sie als eine soziale Gruppe auffassen?«, fragt Bernhard Fuchs.54 Er kommt zu dem Schluss, dass die wenigen oberflächlichen Gemeinsamkeiten die großen Unterschiede zwischen den individuellen Persönlichkeiten, die zudem nur wenige Kontakte untereinander pflegten, nicht überwögen. Letztlich eine sie nicht viel mehr als ihre gemeinsame Bezeichnung als Straßenmusiker, sie seien »ebenso zufällig zusammengewürfelt wie ihr Publikum.«55 Nach diesen Bemerkungen fallen für mich unter den Begriff Straßenmusiker alle, die allein und bzw. oder in der Gruppe Straßenmusik nach der in Abschnitt 2.1.1 gegebenen Definition ausüben, ungeachtet ihrer Motive, gesellschaftlichen Stellung oder Herkunft. Dass diese Individuen außerdem zusätzlich in anderen, auch professionellen Kontexten musikalisch aktiv sein können, spielt hierbei keine Rolle. Ebenso unbedeutend sind die eigene Identifikation mit dieser Bezeichnung oder die Häufigkeit oder Regelmäßigkeit, mit der im öffentlichen Raum musiziert wird.56 Ich versuche damit eine möglichst weite Fassung des Forschungsgegenstandes, um der unbewussten Ausblendung bestimmter Teilbereiche vorzubeugen.57
54 55 56
57
Fuchs/Stadelmann 1987: 14. Ebd. So wäre es möglich, dass sich beispielsweise jemand selbst nicht als Straßenmusiker bezeichnen würde, der sich zum ersten Mal aus Neugierde mit seiner Gitarre in die Fußgängerzone gestellt hat und nun findet, dass er diese Erfahrung wohl nicht wiederholen wird. Und doch hat er durch seinen Auftritt das Gesamtbild der Straßenmusik um eine Facette bereichert. Gleiches gilt etwa für religiöse Gruppen wie die Hare Krishnas, die aus Glaubensgründen auf der Straße musizieren. Aus einer anderen Perspektive heraus betrachtet ist Straßenmusik letztlich das, was das Publikum sieht bzw. wahrnimmt. Es kann nicht unterscheiden, ob jemand zum ersten oder zum tausendsten Male auf der Straße steht, es kennt in der Regel nicht seine Motive oder Vorgeschichte, sondern urteilt lediglich anhand der augenblicklichen Erscheinung: Da steht ein Straßenmusiker. Bei Nadine Lorenz (2006) etwa liegt der Fokus bei der Definition von Straßenmusikern klar auf dem finanziellen Aspekt. Das Motiv, sich dadurch seinen Lebensunterhalt zu verdienen, ist bei ihr ausschlaggebend, wenn sie behauptet: »Sie alle nutzen Musik zum Lohnerwerb.« (Lorenz 2006: 5) Oder: »Es geht allein um die Tatsache, dass er [der Straßenmusiker, M.N.] Musik als Dienstleistung, welcher Qualität auch immer, von sich heraus anbietet, die entlohnt wird.« (Lorenz 2006: 11 f.) Diese Formulierung hat mit Lorenz’ Fragestellung zu tun, schränkt jedoch den Blick ein und schließt von vornherein solche Musiker aus, die aus anderen Beweggründen im öffentlichen Raum auftreten. Wenn aber nur Musiker interviewt werden, die in erster Linie aus finanziellen Motiven spielen, wird die Hypothese sehr wahrscheinlich bestätigt werden, Straßenmusiker sähen in ihrem Tun eine Erwerbstätigkeit, während andere Motive ausgeblendet werden. Diese definitionsbedingte Selektion kann somit zu falschen Schlüssen führen. Beispielsweise behauptet Lorenz, Straßenmusik sei keine Freizeitbeschäftigung (vgl. Lorenz 2006: 4), was sich anhand einer ausreichend großen Stichprobe, wie sie dieser Arbeit zugrunde liegt, leicht widerlegen lässt.
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2.2
STRASSENMUSIK IN LITERATUR UND MEDIEN
Seit einigen Jahrzehnten haben (Musik-) Ethnologen zusehends entdeckt, dass Forschungsobjekte nicht nur in Texten oder mitgebrachten (Ton-) Aufzeichnungen vorzufinden sind, der Forscher nicht erst große geographische Distanzen überwinden oder zurückliegende, ferne Zeiten aufsuchen muss. Vielmehr finden sich auch vor Ort, in der eigenen Stadt und Nachbarschaft, (musikalische) Traditionen und Gruppen, die es sich zu erforschen lohnt.58 Die Musikethnologie, besonders in den Schulen nach Erich Moritz von Hornbostel (1877-1935) und Béla Bartók (1881-1945), hat sich zunächst auf ländliche Musiktraditionen konzentriert.59 Mittlerweile ist neben traditioneller auch populäre Musik aus der ganzen Welt als Ausdruck und Produkt kultureller Vermischung ein Thema, und schließlich haben nordamerikanische und europäische Musikethnologen damit begonnen, ihre eigene Musikkultur zu betrachten. Neue Teildisziplinen wie die soziologische oder (musik-) ethnologische Stadtforschung (urban sociology bzw. ethnomusicology) haben sich dieser potentiell unbegrenzten Forschungsfelder angenommen und sind inzwischen etabliert. Gerade die urbane Musikethnologie verbindet soziokulturelle wie musikalisch orientierte Forschungsansätze.60 Überraschenderweise war Straßenmusik in Berlin wie auch in anderen deutschen Städten jedoch bisher noch nicht Gegenstand systematischer Untersuchungen, obwohl es sich doch um ein unübersehbares und überaus präsentes Phänomen im städtischen Raum handelt. Die wenigen wissenschaftlichen Quellen in der deutschsprachigen Literatur beschränken sich auf punktuelle Betrachtungen,61 und auch im Ausland sind die Arbeiten zu diesem Themenkomplex überschaubar.62 Es sind zwar diverse Untersuchungen und Studien zur Musik ethnischer63, politischer64, religiöser65 und weiterer Gruppen in Berlin und bzw. oder Deutschland bzw. anderswo, zu deren Habitus oder anderen Aspekten vorhanden. Auch das heterogene, weitläufige und vielfältige Musikleben abseits des verwalteten Kulturbetriebs von Berlin wurde bereits thematisiert.66 Dabei wurde die Straßenmusik jedoch zumeist außen vorgelassen oder bestenfalls am Rande erwähnt wie etwa bei Max Peter Baumann (1979). In dessen Sammlung Musikalische Streiflichter einer Großstadt folgt der einleitenden Bemerkung, Straßenmusiker und Liedermacher belebten allsei-
58 59 60 61 62
63 64 65 66
Frei nach Martin Baumann 1998: 7. Dort geht es um religionswissenschaftliche Forschung, doch sind die Ausführungen übertragbar. Vgl. Nettl 1978: 4. Vgl. Reyes 2007: 9 ff. Noll beklagt die fehlende »Materialbasis, um die Situation in den einzelnen Städten der Bundesrepublik z. B. beurteilen zu können«, vgl. Noll 1992: 102. Tanenbaum stellt 1995 für den englischen Sprachraum fest: »Subway music has hardly been documented, and even the street performing tradition has largely been excluded from the official history record.« (Tanenbaum 1995: 15) Z. B. Greve 2003 oder Brandeis et al. 1990. Z. B. Stroh 1984 oder Lederbauer 2009. Z. B. Prochnow 2005. Z. B. Baumann 1979 oder Heinen 2013.
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tig das Stadtbild Berlins,67 außer der Beschreibung einer einzelnen Gruppe namens Berliner Stadtmusikanten68 keine tiefergehende Betrachtung dieses Themas. Diverse unveröffentlichte (Diplom-, Magister- und andere Abschluss-) Arbeiten beschäftigen sich jeweils mit speziellen Aspekten der Straßenmusik oder bemühen das Phänomen exemplarisch zur Klärung übergeordneter Fragestellungen.69 Straßenmusik stellt keine eigene Musikgattung dar und ist keiner musikalischen Epoche zuzuordnen. Es handelt sich vielmehr um eine breitgefächerte Mischung verschiedener Stile. Die Szene ist zudem höchst heterogen: Straßenmusiker bilden keine ethnische Gruppe, sondern kommen von überall her und gehen dabei mit individuell zusammengestellten Repertoires sowie den unterschiedlichsten Motiven und spieltechnischen Voraussetzungen an einer Vielzahl verschiedener Instrumente ans Werk. Sie stehen – zumindest solange sie auf der Straße musizieren – außerhalb des offiziellen Kulturbetriebs und der etablierten Musikszene und sind weder zwingend mit diesen noch untereinander vernetzt bzw. organisiert. Somit tangiert die Untersuchung von Straßenmusik prinzipiell zwar diverse wissenschaftliche Disziplinen, lässt sich aber letztlich nirgends eindeutig zuordnen, was ein Grund für die allseitige Vernachlässigung dieses breiten Feldes sein mag. Eine mögliche weitere Erklärung für die augenscheinliche Ausblendung des Themas unter Forschern kann in der zu offensichtlichen Präsenz von Straßenmusik im Alltag liegen. In der Großstadt herrscht permanente Reizüberflutung, und so stellt etwa William G. Flanagan zu der Frage, warum urbane Soziologie sich erst verhältnismäßig spät entwickelt habe, fest: »The crowded and bustling environment itself caused people to ignore what went on around them.«70 Das gilt für Stadtbewohner im allgemeinen wie für Wissenschaftler im speziellen. Reyes Schramm schlägt in dieselbe Kerbe, wenn sie Musikethnologen der Vergangenheit für ihre ignorante Haltung gegenüber Forschungsobjekten vor der eigenen Haustür kritisiert: The attractiveness of the non-Western and the distant has too often been translated to indifference toward and even disdain for the familiar. Cities, particularly Western cities, are thought to be commonplace; there is hardly an ethnomusicologist who has not had extensive exposure to them. Hence, the jadedness that has made it easy to overlook phenomena as ubiquitous and ordinary as FPME.71
Für die Straßenmusik dürfte das gleiche gelten. Die komplexe Struktur der modernen Gesellschaften mit ihren zahlreichen Teil- und Subkulturen lässt sich zudem vom einzelnen Individuum kaum noch überblicken.
67 68 69 70 71
Vgl. Baumann 1979: 4. Vgl. Michaels 1979: 143 ff. Z. B. Rößner 1983, Lorenz 2006, Völlger 2009, Zahm 2011. Flanagan 1993: 17. Reyes Schramm 1982: 11. Die Abkürzung FPME steht für kostenlose öffentliche Musikveranstaltungen (Free and Public Musical Events) in New York City, die sie in ihrem Aufsatz beschreibt. Straßenmusik bleibt hierin unerwähnt, was aber an Reyes Schramms Beschränkung auf Veranstaltungen liegt, die über Medien angekündigt wurden.
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Noll sieht ferner in dem geringen Sozialprestige von Straßenmusikern nach dem Zweiten Weltkrieg einen möglichen Grund für die lange andauernde wissenschaftliche Missachtung, der die systematische Erforschung und Dokumentation gehemmt habe.72
2.2.1
Literaturübersicht
Im Folgenden werden die einschlägigen wissenschaftlichen und dokumentarischen Veröffentlichungen aus dem deutschen Sprachraum kurz vorgestellt und eingeordnet, die englischsprachigen erwähnt. Auffällig ist dabei, dass es kaum umfangreichere Arbeiten neueren Datums gibt, sondern dass die meisten Dokumente bereits mehrere Jahrzehnte alt sind. In Straßenmusik in Köln von Johannes Fritsch werden acht Kölner Musiker und Gruppen, die Anfang der 1970er Jahre in Kölns Innenstadt aktiv waren, unkommentiert portraitiert. Dabei kommen Fotos, narrative Interviews, Beobachtungsberichte sowie dokumentarische Zeitungsberichte zur Verwendung. Zwei Schallplatten mit Tonaufnahmen ergänzen die Darstellung.73 Das Straßenmusikbuch, 1984 von Kai Engelke herausgegeben, versteht sich in erster Linie als Handbuch für Straßenmusiker.74 Es beinhaltet Texte verschiedener Autoren sowie Lieder einiger damals aktiver Straßenmusiker und bezieht sich auf Straßenmusik in westdeutschen Städten der späten 1970er und frühen 1980er Jahre. West-Berlin wird nicht betrachtet. Es wird das Bild einer lebhaften Szene gezeichnet, deren Vertreter politisch sehr aktiv, mit hohem Anspruch und Ethos (»gewisse Verantwortung der Öffentlichkeit gegenüber«75) sowie gesellschaftskritischem Auftreten »ein bisschen Lebendigkeit in die zubetonierten Herzen der Innenstädte tragen.«76 Das Gefühl von Zusammengehörigkeit war innerhalb der beschriebenen Szene ausgeprägt, man verstand sich als Teil einer neuen »›Kultur von unten‹, als solidarische Mitglieder einer notwendigen Straßenkulturbewegung.«77 Dabei sieht Engelke die Ziele des Musizierens im öffentlichen Raum darin, das Publikum mit seiner Musik zu erfreuen, zu unterhalten, ihm Denkanstöße zu geben, Inhalte zu vermitteln.78 Er weist allerdings auch darauf hin, dass es große Unterschiede in der Qualität der Darbietungen gebe – vom musizierenden Bettler, der keine drei Akkorde auf der Gitarre sicher beherrsche, bis zum Straßenkünstler, der sein Instrument studiert habe.79
72 73 74 75 76 77 78 79
Vgl. Noll 1992: 100. Noch 1972 bezeichnet Johannes Fritsch Straßenmusiker als »Randgruppe unserer Gesellschaft«, vgl. Fritsch 1972: 8. Vgl. Fritsch 1972. Die Dokumentation wurde 2008 neu aufgelegt. Engelke 1984a. Es handelt sich um die deutlich erweiterte zweite Auflage eines gleichnamigen 1981 erschienenen Buches. Engelke 1984d: 12. Ketz/Hager 1984: 49. Engelke 1984d: 12. Vgl. ebd. Engelke 1984e: 21 f.
S TRASSENMUSIK IN L ITERATUR UND MEDIEN | 15
Wolfgang Martin Stroh beschäftigt sich in seinem Buch Leben Ja, ebenfalls 1984 veröffentlicht, in erster Linie mit der politischen Komponente von musikalischen Aktionen im öffentlichen Raum und deren Motivation, Konzeption, Aufführungspraxis und Rezeption. Er analysiert die psychologischen Beziehungen und Wirkungsweisen zwischen Musikern und Publikum sowie Missverständnisse und unterschiedliche Wahrnehmungen zwischen politisch motivierten Straßenmusikern und Passanten. 80 Die vierzehnseitige Broschüre Straßenmusik in Wien von Bernhard Fuchs und Christian Stadelmann, 1987 als Begleitheft zu einer Ausstellung erschienen, wirft in kürzester Form ein Streiflicht auf die durch Straßenmusiker bereicherte »internationale ›Weltstadt Wien‹«81 des Jahres 1986. Auf einen knappen rechtlich-historischen Überblick folgen kurze Interviewausschnitte mit Straßenmusikanten und Passanten aus der zentralen Kärntnerstraße inklusive Kürzestportraits der Interviewten. Den Abschluss bilden Gedanken zur Frage, ob man Straßenmusikanten als soziale Gruppe auffassen könne, was aufgrund der großen individuellen Unterschiede und der fehlenden Vernetzung untereinander verneint wird.82 Eine aufschlussreiche Arbeit ist der Aufsatz Straßenmusik in Köln des Volkskundlers Günther Noll von 1988.83 Hierin findet sich neben einem Abriss über die allgemeine Geschichte der Straßenmusik der Versuch, anhand von 15 exemplarischen Kurzportraits Kölner Straßenmusiker die wichtigsten »Typen« von Straßenmusikern im damaligen Stadtbild vorzustellen. Noll schlägt gleichzeitig bestimmte Kategorien zur Unterteilung von Straßenmusikern vor und gibt einen Überblick über die Probleme, die sich bei der Feldforschung auf diesem Gebiet ergeben können. Er merkt auch an, die vorgestellten Musiker stellten nur eine kleine Auswahl aus einem weitaus breiteren Spektrum an Erscheinungsformen, musikalischen Stilen und technischen Niveaus dar,84 was auf eine ähnlich differenzierte Szene schließen lässt, wie sie heute in Berlin zu finden ist. Noll erkennt in Köln eine »Straßenmusik neuen Typus’«85 im Gegensatz zu ihren historischen Vorläufern, ohne jedoch zu benennen, worin sich das spezifisch Neue zeige. Er kommt zu dem Schluss, es handele sich bei Straßenmusik aufgrund der Fülle der Erscheinungsformen um eine eigenständige Teilkultur.86 In seinem Aufsatz weist Noll auf einige ältere Arbeiten zu Musik im öffentlichen Raum hin, die hier nicht weiter betrachtet werden.87 1990 erschien Mit Daumen, Piano und ohne Geld. Als Straßenmusiker durch Deutschland von Michael W. Müller, ein Reisebericht ohne wissenschaftlichen Anspruch. Hierin beschreibt der Autor seine persönlichen Erfahrungen, die er im Sommer 1987 gesammelt hat, als er mehrere Monate lang auf seinem Elektropiano musi80 81 82 83 84 85 86 87
Vgl. Stroh 1984. Fuchs/Stadelmann 1987: 5. Vgl. ebd., 14. Noll 1992. Vgl. ebd., 123 f. Ebd., 97. Vgl. ebd., 123. Vgl. ebd., 102, dort: Fußnote 94.
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zierend durch westdeutsche Klein- und Großstädte reiste, West-Berlin exklusive. Währenddessen versuchte er als Experiment, nur von dem zu leben, was er mit seinen Auftritten auf der Straße verdienen konnte. Ausführlich schildert er die stetig wiederkehrende Angst vor den Reaktionen des (Lauf-) Publikums, die großen Unterschiede zwischen den einzelnen Städten, die zunehmende Ausrichtung seines Programms auf den Publikumsgeschmack und die vielfältigen menschlichen Kontakte, die sich sowohl in den Fußgängerzonen im unmittelbaren Zusammenhang mit seiner Musik als auch beim Reisen per Anhalter oder auf der Suche nach Nachtquartieren ergaben. Dieses Buch ist vor allem aufschlussreich, weil es den Zeitgeist und die öffentliche Atmosphäre in der Vorwende-Bundesrepublik der 1980er Jahre widerspiegelt.88 Die ebenfalls 1990 erschienene Monographie Wer eynen spielmann zv tode schlaegt … Ein mittelalterliches Zeitdokument anno 1989 von Steffen Lieberwirth schildert anhand zahlreicher Dokumente und Augenzeugenberichte den Versuch einiger Musiker, in Leipzig kurz vor der Wende trotz Verboten von offizieller Seite ein Straßenmusik-Festival zu organisieren. Das Vorhaben scheiterte jedoch, als die Staatsmacht das Treiben in der Innenstadt mit massivem Polizeiaufgebot gewaltsam beendete und es zu vielen Festnahmen und Zuführungen (Verhören) kam. Es handelt sich um das einzige mir bekannte Material zum Thema Straßenmusik in der ehemaligen DDR. An rezentem Material findet sich in erster Linie der Bericht »Die härteste Bühne der Welt...«: Straßenmusik in Hamburg aus dem Jahre 2004.89 Dieser Band ist das Ergebnis eines gemeinsamen Seminars von Ethnologen und Musikwissenschaftlern an der Universität Hamburg, in dessen Verlauf Studenten eine Feldforschung unter Hamburger Straßenmusikern durchführten. Gefragt wurde dabei unter anderem nach der Motivation der Musiker, ihrem Werdegang, ihrer musikalischen Praxis, den Tagesabläufen und Strategien. Auf einen historischen Überblick von Helmut Rösing folgt ein Beitrag von Waltraud Kokot mit Gedanken zu verschiedenen Aspekten von Straßenmusik als Kultur der Straße wie etwa zu Hamburg als Ort oder zu der engen Beziehung zwischen Musikern und Publikum. Schließlich stellen Simone Reich und Simon Sell eine qualitative, zufällig ausgewählte Stichprobe aus sieben Musikern respektive Gruppen vor, die im Hinblick auf die oben formulierten Fragestellungen eingehend portraitiert werden. Die Auswahl beschränkt sich dabei auf in Hamburg fest ansässige Straßenmusiker, während an mehreren Stellen auf die erhebliche Menge an durchreisenden Musikern hingewiesen wird sowie auf die enorm große Bandbreite an Stilen, Nationalitäten und Motiven. Es wird eine im Vergleich zu den 1980er Jahren deutlich unpolitischere, kaum untereinander vernetzte Szene beschrieben, die sich noch stärker als zuvor durch Diversität und Internationalität auszeichnet. Hamburg wird die Genehmigungspolitik betreffend als verhältnismäßig liberaler Ort präsentiert. Eine beiliegende Musik-CD enthält Live-Aufnahmen von sechs ver-
88 89
Angelika Röttig wiederholte dieses Experiment des quasi mittellosen Reisens mit ihrer Gitarre im Sommer 2007 von München aus startend im Alpenraum, vgl. Röttig 2009. Kokot et al. 2004.
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schiedenen Hamburger Straßenmusikern und -bands mit Angaben zum jeweiligen Aufnahmeort. In dem Artikel »Straßenmusik in Berlin – ein permanentes ›Weltmusikfestival‹« von 2012 gehe ich auf die Potentiale von Straßenmusik für eine transkulturelle Musikvermittlung ein.90 Außerdem sind diverse mehr oder weniger ausführliche Materialien für den Musikunterricht an Schulen zum Thema Straßenmusik erschienen, die sich unterschiedlichen Aspekten des Phänomens widmen und Vorschläge für einen lebendigen Unterricht machen.91 Aus dem englischen Sprachraum sind primär die Veröffentlichungen von Patricia J. Campbell (1981) zu Straßenkünstlern in den USA, David Cohen und Ben Greenwood (1981) zur Geschichte von Buskern in England, Paolo Prato (1984) zu Straßenmusik im New Yorker Washington Square Park, Sally Harrison-Pepper (1990) zu Street Performing am gleichen Ort sowie Susie J. Tanenbaum (1995) zur Musik in der New Yorker U-Bahn zu erwähnen.
2.2.2
Straßenmusik in den Medien
Entgegen dem verhältnismäßig geringen wissenschaftlichen Interesse wird das Thema Straßenmusik mit größerer Regelmäßigkeit in verschiedenen Medien aufgegriffen. Häufig bildet die assoziierte Verquickung des Alltäglichen mit dem Fremden, Exotischen oder gesellschaftlich Marginalen den Aufhänger. Es taucht in der Tagespresse92 oder in (Fernseh-) Magazinen93, in Rundfunk- oder Fernsehdokumentationen94 auf – zumeist im Frühling und Sommer, wenn Straßenmusik nach den Wintermonaten wieder verstärkt im Stadtbild präsent ist. Auch in neuen Medienformaten wie im Internet95 oder auf DVD96 finden sich Beiträge über Straßenmusiker.
90 91 92 93
94
95
Vgl. Nowakowski 2012. Vgl. Friedrich in Velber 1997, Schott Music 2003 und Schott Music 2012. Vgl. z. B. Seiffert/Überall 2006, Frank 2011, Haupt 2012. Vgl. z. B. Reichardt 2013. Das ZDF-Morgenmagazin vom 21.07.2009 sendete einen dreiminütigen Beitrag unter dem Titel »Mitreißende Rhythmen auf der Straße«, in dem Berliner Straßenmusiker gezeigt werden (eine fünfköpfige Band sowie eine moderne One-Man-Band mit Loop-Station). Vgl. z. B. Fichtner/Nowakowski 2004/2008: Die einstündige Radiodokumentation Straßenmusiker – die wahren Superstars ging aus einem studentischen Feldforschungsprojekt der Vergleichenden Musikwissenschaft an der Freien Universität Berlin im Sommersemester 2004 hervor und gibt einen Überblick über die Vielfalt der Berliner Szene im Frühjahr 2004. Zahlreiche in der Stadt aufgenommene Hörbeispiele werden durch Interviews mit aktiven und ehemaligen Straßenmusikern sowie Abschnitte zu Geschichte und rechtlicher Situation ergänzt. Vgl. z. B. Rechlitz et al. 2008: In der dreizehnminütigen Internetdokumentation, die von Studenten der Uni Ilmenau erstellt wurde, werden fünf ausländische Straßenmusiker in
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Der erfolgreiche irische Kinofilm Once von John Carney aus dem Jahr 2006 wurde 2008 mit einem Oscar in der Kategorie »Bester Song« ausgezeichnet und erzählt die fiktive Geschichte eines Straßenmusikers in Dublin, der eine klavierspielende tschechische Immigrantin kennenlernt, die als Blumenverkäuferin arbeitet. Beide tun sich zusammen und nehmen ein gemeinsames Album auf. Die beiden Dokumentationen Crossing the Bridge – The Sound of Istanbul (2005, Regie: Fatih Akın) sowie Benda Bilili! (2010, Regie: Renaud Barret, Florent de La Tullaye) zeigen (Straßen-) Musiker in der türkischen Metropole bzw. ein erfolgreiches Straßenmusikerprojekt in Kinshasa, in dem körperbehinderte Menschen mitspielen. Das Buch Bob, der Streuner. Die Katze, die mein Leben veränderte erzählt die als wahr bezeichnete Geschichte des Londoner Straßenmusikers James Bowen, der einen verwahrlosten Kater findet und ihn fortan zu seinen Auftritten auf der Straße mitnimmt. Die Beziehung zu dem Tier hilft Bowen bei der Drogenentwöhnung und gibt ihm Halt in seinem Leben. Das Buch wurde ein weltweiter Bestseller und ist mittlerweile in mehr als 25 Sprachen erschienen.97 Die Heftreihe Straßenmusik wendet sich an Kinder und Jugendliche, die ein Instrument spielen, bzw. an deren Instrumentallehrer. Sie enthält Repertoirevorschläge unterschiedlicher musikalischer Stilrichtungen in diversen Duo- und Triobesetzungen mit der ausdrücklichen Ermunterung, sich beim Musizieren auf der Straße auszuprobieren.98 Immer wieder finden auch Veranstaltungen statt, die – sorgfältig ausgewählte – Straßenmusiker im Rahmen von Shows, Konzerten99 oder Festivals100 präsentieren und
der Innenstadt von Frankfurt am Main mit ihrer Musik vorgestellt und zu ihren Erfahrungen in der Stadt befragt. 96 Vgl. z. B. Riis et al. 2005: Die DVD berlin analog. a snapshot of the streetmusic-scene in berlin enthält diverse Materialien: Einen knapp halbstündigen Dokumentarfilm, in dem vier Berliner Straßenmusiker begleitet und portraitiert werden, dazu 13 AudioAufnahmen von verschiedenen Straßenmusikern sowie einen Videoclip mit einem Lied der Ohrbooten, einer mittlerweile kommerziell erfolgreichen Berliner Band, die mit Straßenmusik begonnen hat. 97 Vgl. Bowen 2013 bzw. die englische Originalausgabe: A Street Cat Named Bob. How one man and his cat found hope on the streets, London 2012. 98 Vgl. z. B. Heger 2005. 99 Am 02.10.2008 fand z. B. die Große Gala der Straßenmusik im Rahmen der 1. Nacht der Deutschen Vielfalt im Haus der Kulturen der Welt in Berlin statt. In Braunschweig kamen am 16.05.2009 mehrere Dutzend Musiker zum RAK-Revival-Konzert – Straßenmusik der letzten 30 Jahre im Kulturzentrum Brunsviga zusammen. RAK steht für Rotzfreche Asphaltkultur und bezeichnet einen losen Verband aus Musikern, Schauspielern und anderen Künstlern im ehemaligen West-Deutschland aus dem Jahr 1978, der im Zusammenhang mit den großen politischen und sozialen Bewegungen jener Zeit, insbesondere mit der Anti-Atomkraft-Bewegung, gegründet wurde. 100 Städte wie Würzburg oder Linz und andere profilieren sich hierbei öffentlichkeitswirksam, z. B. StraMu Würzburg oder Internationales Straßenmusikfestival in Ludwigsburg.
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diese einer breiteren Öffentlichkeit nahebringen wollen. Das erscheint an sich paradox, da Straßenmusik einerseits bereits für jedermann unmittelbar zugänglich ist und andererseits infrage steht, ob innerhalb eines derartigen Veranstaltungsrahmens überhaupt noch von Straßenmusik gesprochen werden kann.101 Sie erfüllt in solchen Fällen oftmals bestimmte Klischeevorstellungen des Handgemachten, besonders Kreativen, auch des Exotischen. Freilich spricht – abgesehen vom begrifflichen Problem – prinzipiell nichts dagegen, Straßenmusikern Auftrittsmöglichkeiten zu geben, zumal das in den meisten Fällen in ihrem eigenen Interesse liegen dürfte. Gemessen an der durchaus vorhandenen medialen Aufmerksamkeit für Straßenmusik ist der Niederschlag in wissenschaftlichen Veröffentlichungen gering. Der Literaturüberblick zeigt, dass Straßenmusik als das vielschichtige, heterogene Phänomen, das sie nicht erst heute darstellt, bisher kaum wissenschaftlich erforscht wurde. Insbesondere die Berliner Straßenmusiklandschaft, die als besonders reichhaltig und differenziert erscheint, fand quasi keine Beachtung in der Fachliteratur. Dort, wo Straßenmusik thematisiert ist, werden oft nur wenige Künstler exemplarisch vorgestellt, die entweder willkürlich oder aber gerade wegen ihrer Kuriosität ausgewählt wurden. Eine umfassende Übersicht wird auf diese Weise nicht geschaffen, vielmehr wird an einigen Stellen eher klischeehaft das exotische Moment der Straßenmusik unterstrichen, was das Bild verzerrt und dem Phänomen als Ganzem nicht gerecht wird. Aufgrund der dürftigen Quellenlage ist diese Arbeit als erkundende Feldstudie angelegt. Es geht mir dabei vor allem darum, die individuelle Vielfalt unter Straßenmusikern in Berlin aufzuzeigen, unter anderem mit Blick auf ihre Herkunft und Motive, die vorkommenden Musikstile, Instrumente, Aufführungspraxis und Interaktion mit dem Publikum. Neben persönlichen Perspektiven und Erfahrungen der Künstler interessieren allgemein gültige Aussagen, die sich aus der aggregierten Betrachtung ableiten lassen, etwa zu Auftrittsstrategien oder der Rolle, die Straßenmusik in der lokalen Musikszene Berlins spielt. Auch wurde Musik auf den Bahnhöfen und in den Zügen des öffentlichen Personennahverkehrs, die ich ebenfalls zur Straßenmusik zähle, in Deutschland bisher überhaupt nicht beschrieben. Ähnlich verhält es sich mit fahrenden Musikern und solchen, die in den Außenbereichen vor Lokalen auftreten.
2.3
MUSIK IM ÖFFENTLICHEN RAUM: EINE GESCHICHTE DER STRASSENMUSIK ?
Für den Musikhistoriker Steffen Lieberwirth ist Straßenmusik eines der ältesten nachweisbaren Themen der Musikgeschichte überhaupt.102 Walter Salmen weist auf sehr frühe Überlieferungen von umherziehenden Musikern hin, z. B. im alten Mesopotamien (um 3000 v. Chr.), in Ägypten (2500 v. Chr.) oder in Israel (um 1000 v. Chr.), auf indischem und chinesischem Boden (bereits um 4000 v. Chr.) und schließlich in der griechischen und römischen Antike, etwa die wandernden Rhap-
In Berlin fand erst in jüngster Zeit zum ersten Mal ein privat organisiertes derartiges Festival statt, vgl. Abschnitt 5.17. 101 Vgl. Abschnitt 2.1.1. 102 Vgl. Lieberwirth 1990: 205.
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soden seit dem 6. Jahrhundert v. Chr.103 Konkrete »Belege dafür sind jedoch rar.«104 Cohen und Greenwood sehen Straßenkunst als allgemeine Begleiterscheinung von Urbanisierungsprozessen und beschreiben busking als »one of those features that tend to crop up, like usury, prostitution, crime and poverty, wherever settlements develop into cities«.105 Musik war somit schon immer ein Teil des Lebens auf der Straße bzw. im öffentlichen Raum. Bereits ab dem ausgehenden Mittelalter erfolgte allerdings eine statusmäßige Abwertung von Spielleuten »gegenüber den festangestellten und für den Hof, die Kirche, das Militär oder eine Stadt arbeitenden Musikern.«106 Damit einher ging die zunehmende Präferenz musikalischer Darbietungen in geschlossenen Räumen wie Kirchen oder eigens geschaffenen Konzertsälen und -häusern. In der Folge hat sich auch die Art, wie Musik bewertet wird, grundlegend verändert, was letztlich zu einer Geringschätzung von Straßenmusik geführt hat: »After art music moved indoors, street music has become an object of increasing scorn.«107 Dem einfachen Volk hingegen blieben zur Unterhaltung im Normalfall nur öffentliche Gastspiele zumeist fahrender Künstler, z. B. auf Märkten. Erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit haben sich mit dem Aufkommen moderner Massenmedien die Ausübung und mehr noch der Konsum von Musik endgültig von draußen vorwiegend in geschlossene Räume verlagert. Eine Geschichte der Straßenmusik lässt sich nur schwer rekonstruieren, da einerseits dieser Wortgebrauch wohl eher neueren Ursprungs und andererseits relativ wenig Literatur oder belastbares Quellenmaterial vorhanden ist. Weil sie früher nicht als Kunstform angesehen war, fand Straßenmusik in der ernsthaften Literatur kaum Erwähnung und auch unter Historikern keine Beachtung. Wenn überhaupt, existieren zumeist nur indirekte Belege, wie Sally Harrison-Pepper feststellt: »Much of the history of street performance […] is found in laws that prohibit it.«108 Zu Straßenmusik in Berlin im besonderen gibt es fast keine Quellen. Die – auch jüngere – Geschichte der Stadt unterscheidet sich deutlich von der anderer deutscher Großstädte wie etwa Köln oder München. Als jene längst prosperierende Zentren von Handel und Kultur waren, war Berlin kaum mehr als ein Dorf. Später wirkten sich zunächst die Teilung der Stadt unvorteilhaft und anschließend nach der deutschen Wiedervereinigung die zentrale Lage innerhalb Europas günstig auf die Rahmenbedingungen für Straßenmusiker aus. In den folgenden Abschnitten werden einige verwandte Phänomene und mögliche Vorläufer derjenigen Erscheinung beleuchtet, die wir heute als Straßenmusik bezeichnen. Ob sich behaupten lässt, die gegenwärtige Straßenmusik habe sich daraus in einem kontinuierlichen Prozess entwickelt, ist fragwürdig. Straßenmusik unterliegt zwangsläufig Veränderungsprozessen, eben weil sie so wenig institutionalisiert ist und es somit keine Autorität gibt, die über die Wahrung einer Tradition oder bestimmter Werte wachen könnte. Auch darf in den allermeisten Fällen bezweifelt wer103 104 105 106 107 108
Vgl. Salmen 1983: 25 f. Rösing 2004: 12. Cohen/Greenwood 1981: 11. Rösing 2004: 13. Schafer 1980: 66. Harrison-Pepper 1990: 22.
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den, dass heutige Straßenmusiker sich selbst überhaupt als moderne Vertreter einer alten Tradition sehen. Worin sollte diese von mehreren Autoren109 erkannte Tradition bestehen, welche Handlungsmuster, Überzeugungen oder Glaubensvorstellungen sollten tradiert werden? Der Umstand, dass sich jemand in der Öffentlichkeit musizierend einem zufällig anwesenden Publikum zuwendet, erscheint als kleinster gemeinsamer Nenner zu banal. Eher mag der Begriff einer lange vorhandenen Aufführungspraxis passen, die sich dadurch auszeichnet, dass es keinen offiziellen Rahmen gibt – weder in räumlicher noch in programmatischer Hinsicht – und dass stattdessen eine Umfunktionierung öffentlichen Raums zur temporären Bühne durch den oder die Künstler stattfindet. Der folgende historische Überblick beschränkt sich auf Europa und Deutschland im speziellen. Dass es große regionale Unterschiede gibt, zeigt der Blick in die Vereinigten Staaten, wo die Entwicklung der Straßenmusik und anderer Arten von Straßenkunst eng mit der Geschichte der Versklavung und Befreiung, Diskriminierung und Ausgrenzung von Menschen afrikanischen Ursprungs verknüpft ist, die zu einer eigenen Musikkultur führten. Diese wurde in Ermangelung professioneller Auftrittsmöglichkeiten auch auf den Straßen praktiziert.110 Bekannte Größen wie Louis Armstrong oder Bessie Smith begannen ihre Karriere auf der Straße, während Einwanderer aus Europa wie Deutsche, Italiener oder Iren Straßenmusik oftmals zum Überleben ausübten.111
2.3.1
Spielleute im Mittelalter
Seit dem 8. Jahrhundert ist der Begriff der Spielleute belegt,112 der im frühen Mittelalter zunächst für vielerlei Arten beruflich agierender Künstler verwendet wurde, die vornehmlich im weltlichen Rahmen auftraten: Erzähler und Sänger, Musiker, Artisten, Akrobaten, Zauberkünstler, Spaßmacher, Schauspieler, Tänzer, kurz: »alle, die den Menschen berufsmäßig Unterhaltung bieten«,113 wurden damit bezeichnet. Erst ab dem 13. Jahrhundert beschränkte sich der Gebrauch zunehmend auf fahrende Musikanten, die etwa zu Kirchweihfesten oder bei Feierlichkeiten zu Hofe auftraten. Im Grimmschen Wörterbuch ist ein Spielmann bereits einer, »der gewerbsmäßig andere durch spiel, besonders durch musik vorträge unterhält.«114 Allein diese beiden Definitionen verbieten die Gleichsetzung von Straßenmusikern oder fahrenden Musikern mit dem Begriff des Spielmanns oder der Spielleute, der sehr viel weiter greift. Vermutlich entsprächen solche, die wir heute als Straßenmusiker bezeichnen, lediglich einer Teilmenge der Spielleute. Spielleute verbreiteten nicht nur die volkssprachliche Dichtung und spielten zum Tanz auf, sondern nahmen auch vielfältige soziale Funktionen wahr. So waren sie Bindeglieder zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, vor denen sie spielten, sie verbreiteten Neuigkeiten und Gerüchte und boten Unterhaltung und Zer109 110 111 112 113 114
Z. B. Engelke 1984c: 11 oder Noll 1992: diverse Stellen. Vgl. Tanenbaum 1995: 37 ff. Vgl. ebd., 39 ff. Vgl. Noll 1992: 97. Hartung 2003: 8. Zitiert in Salmen 1983: 31.
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streuung. Neben Trink- und Liebesliedern wurden auch bissige Parodien auf die Kirche und die Obrigkeit sowie gegenwartsbezogene Streitgedichte vorgetragen. Somit ist in dieser Tradition eine Wurzel des deutschen Minnesanges zu sehen. 115 Auch galt der Spielmann lange noch als zauberkundig; ihm fiel etwa im Hochzeitszug die Rolle zu, Dämonen zu vertreiben. Im Märchen vom Rattenfänger von Hameln erscheint der Pfeifer in einer verführerischen, bedrohlichen Rolle.116 Die wenigen deutschen Großstädte und Handelszentren des Mittelalters wie etwa Köln, Leipzig oder Nürnberg, sicherlich aber nicht das damals zunächst unbedeutende Berlin, bildeten Anziehungspunkte für Spielleute und fahrendes Volk. »Die Ratsrechnungsbücher [von Leipzig, M.N.] nennen ›Sackpfeyffer, Posäuner, Zinkenpläser, Drommeter, Harfenspieler‹ und vieles andere mehr.«117 Hier fanden sie ein großes Publikum und schier unbeschränkte Möglichkeiten für Darbietungen und Verdienst vor. Neben den Höfen und öffentlichen Tanz- und Versammlungshäusern boten sich ihnen Dorf und Dorfplatz, Straße und Marktplatz, Kirche und Wirtshaus, ja selbst der Friedhof als Bühne für ihre Künste an: für Spiel und Tanz, für Gesang, Saitenspiel, Taschenspielerkünste, Akrobatik, Dressur von Tieren aller Art und für den Vortrag von Wundermären und Neuigkeiten aus aller Welt. 118 Fahrende Spielleute bildeten dabei eine äußerst heterogene Gruppe. Unter ihnen fanden sich einerseits vielseitig ausgebildete Musiker, Schausteller und Gaukler, andererseits arbeitsscheue Gauner, Kriegsversehrte, die keinerlei Rente beanspruchen konnten, sowie Bettelmusikanten und dazwischen alle möglichen Abstufungen. Sie waren je nach Ansehen hochgeehrte Gäste oder verachtete Tagediebe.119 Damit waren sie zweifellos eine während der mittelalterlichen Geschichte in allen Lebensbereichen des hierarchisch gegliederten Ständestaates tätige Gruppe, die allerdings selbst keinen Stand zu bilden vermochte.120 Es gab keine gemeinsame Herkunft, Wurzeln oder Vorfahren, auf die man die eigene Tradition hätte begründen können. Und so bröckelte nach und nach das offizielle Ansehen der Fahrenden in den Städten und an den Höfen. Ab dem 14. Jahrhundert wurden unter dem Begriff Spielleute dann in zunehmendem Maße sozial niedriger gestellte Musiker der unteren Volksschichten verstanden, die nicht kunstfertig und glücklich genug waren, vom Adel oder dem Rat einer Stadt als Fiedler oder Stadtpfeifer angestellt zu werden. Diese zeichneten sich dadurch aus, dass sie das gemeine Volk mit ihren massenwirksamen, artistisch-virtuosen und emotional ansprechenden Darbietungen direkt und ungekünstelt ansprachen. Doch die Bezahlung der Spielleute, ohne dafür etwas Greifbares zu schaffen, ihre unkontrollierbare Existenz und Vitalität außerhalb existierender 115 116 117 118
Vgl. Noll 1992: 97. Vgl. Krickeberg 1971: 37 ff. Lieberwirth 1990: 9. Vgl. Hartung 2003: 205 ff. Zur Vielfalt des Instrumentariums und zu den Betätigungsfeldern der Musikanten in der frühneuzeitlichen Volksmusik Mecklenburgs siehe auch Gehler 2011. 119 Vgl. z. B. die Rolle des Drehleierspielers in »Der Leiermann« aus Die Winterreise von Wilhelm Müller, vertont von Franz Schubert. Dieser wird als elende Gestalt beschrieben, von den Menschen des Dorfes, an dessen Rande er spielt, ignoriert bzw. ausgegrenzt, vgl. Müller 1994: 186. Siehe auch Hufschmidt 1997. 120 Vgl. Salmen 1983: 7.
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Machtstrukturen sowie Unabhängigkeit und die Freiheit umherzureisen sorgte unter Bauern, Handwerkern und Stadtbewohnern für solche Ressentiments, dass ihnen vielerorts ein ordentliches Begräbnis oder die Sterbesakramente verwehrt wurden. Gleichzeitig wurden sie wohl von vielen heimlich um diese Privilegien beneidet und dafür bewundert.121 Im Gegensatz dazu standen nun die sesshaften und in der katholischen Kirche, an den Höfen und schließlich in den Städten zunehmend ständisch organisierten Instrumentalmusiker der gehobenen Klasse. Diese wirkten durch Abwertung der fahrenden Spielleute – ab der Mitte des 18. Jahrhunderts war nur noch die Bezeichnung Musikant gebräuchlich, während die Stadtmusiker Musici hießen – als Bönhasen, Pfuscher oder Bierfiedler und deren Diffamierung als sünd- und lasterhaft sowie durch die abschätzige Bezeichnung ihrer Instrumente (z. B. Drehleier, Sackpfeife oder Hackbrett) auf deren soziale Ausgrenzung hin. Und die Städte schützten ihre sesshaften, in Zünften organisierten Musiker vor der Konkurrenz, indem fahrende Spielleute zu den Rechtlosen oder Unehrlichen gezählt wurden. Damit waren sie faktisch vogelfrei, schutzlos und folglich unter anderem gezwungen, vor den Stadttoren zu nächtigen. Auch durften sie oft nur an bestimmten dafür vorgesehenen Stellen und jedenfalls mit gebührendem Abstand zu den Kirchen auftreten und mussten sich mit deutlich niedrigeren Löhnen abfinden, wenn sie zu Hochzeiten oder Festen aufspielten. Der Popularität von fahrenden Spielleuten und Wandermusikanten beim Volk jedoch tat das keinen Abbruch, da es sich gerade am offiziell Verpönten ergötzte. 122 Wolfgang Hartung zitiert in diesem Sinne den Franzosen Edmond Faral: »Es gab immer Fahrende auf den Straßen, und das Publikum versäumte zu keiner Zeit eines der gebotenen Spektakel, gleichgültig zu welcher Zeit es stattfand, abgesehen von der Fastenzeit.«123 Somit gehörten sie auch weiterhin trotz allen gesellschaftlichen Herabsetzungen durch die Oberschichten zu den Hauptträgern der mittelalterlichen Musikkultur.124 Potentiell spielten sie gleichermaßen vor Bauern und Knechten wie vor Fürsten und Königen auf. Bis ins 16. Jahrhundert hinein war zudem oftmals das Tanzen in Wirtshäusern verboten, so dass sich das Tanzgeschehen inklusive Tanzmusik und -liedern auf die Straßen davor verlagerte. Die dargebotenen Gassenhauer oder Pflastertreter genossen eine hohe Popularität und dienten noch im angehenden 20. Jahrhundert in den Großstädten der Unterhaltung.125 Dabei handelt es sich um Sammelbegriffe für populäres Liedgut in den Großstädten, das sich durch lokale Gebundenheit, starke Resonanzbreite, rasche Ablösungsprozesse, Um- oder Neutextungen bekannter Melodien verschiedensten Ursprungs und die oft parodierende humorvolle Widerspiegelung des großstädtischen Alltagslebens auszeichnete.126
121 122 123 124 125 126
Vgl. Krickeberg 1971, der die soziale Stellung der Spielleute ausführlich behandelt. Vgl. Noll 1992: 98 f. Hartung 2003: 209. Vgl. Lieberwirth 1990: 11. Vgl. Rösing 2004: 16 f. Vgl. Richter 2004: 197 f.
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2.3.2
Von Bänkelgesang und Gassenhauern
Mit dem Aufkommen des Buchdrucks begann auch die Vermarktung des Liedes als Ware. Zur oralen Tradierung kam nun die schriftliche Dimension in Form von Zeitungsliedern, Flugblättern und ähnlichem, die von den Straßenmusikern verbreitet und verkauft wurden. Dadurch wurden nicht nur aktuelle Neuigkeiten und – wahre oder erfundene – Zeitereignisse aus anderen Orten und Städten schnell vermittelt und sodann mündlich weitergetragen, sondern auch meinungsbildende Propaganda betrieben, etwa gegen die Türken oder die Antichristen, aber auch gegen das Papsttum und die weltliche Obrigkeit. Etwa zum Anfang des 17. Jahrhunderts kam der Bänkelgesang als Medium auf Jahrmärkten und Messen in Mode. Hierbei gehörten Musikbegleitung (z. B. Drehorgel oder Violine), Gesang, das Bänkel (also die kleine Bank, auf der der Sänger stand), ein Schaubild und ein Zeigestock zusammen und dienten der Vermittlung komplexerer Sachverhalte und Geschichten, häufig schauriger Moritaten. Neben einem gewissen Aktualitätsbezug und erzieherisch-moralischen Aspekten stand primär die Unterhaltung im Vordergrund. Diese Form bestand bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges fort.127 Für das Wien des 19. Jahrhunderts beschreiben Stephan Diedrich et al. weitere Formen der damals schon zum Klangbild der Stadt gehörenden Straßenmusik: Freiluft- und Wirtshausmusikanten, die vornehmlich mit Harfe, Geige, Gitarre, Zither oder Drehleier auftraten und verallgemeinernd Harfenisten genannt wurden, waren offiziell geduldet. Die etwas derberen unter ihnen verbreiteten teils freche Trink-, Liebes- und Soldatenlieder mit lokalem Kolorit, die unter dem Typus des Sittenliedes zusammengefasst werden. Sogenannte Liederweiber verkauften zu diversen Gelegenheiten neben anderen Waren gedruckte Flugblätter mit Texten, die ein breites Themenspektrum ähnlich dem Zeitungslied und dem Bänkelgesang abdeckten; die Melodien vermittelten sie durch Vorsingen.128 Ebenfalls auf Jahrmärkten, aber ab Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend auch auf den Straßen der Großstädte sowie insbesondere in den zahlreichen Hinterhöfen der Berliner Mietshäuser verbreitet war die Drehorgel, die als eine Art handbetriebener Musikautomat keinerlei musikalischer Vorkenntnisse bedurfte. Die abwertende Bezeichnung als Leierkasten trug diesem Umstand Rechnung. Musik war in jener Zeit noch – lange bevor Rundfunk- und Fernsehprogramme die Information und Unterhaltung des Volkes übernahmen – ein gesellschaftliches Ereignis, bot Zerstreuung bei der (Haus-) Arbeit und die Gelegenheit zu einem Schwatz mit dem Nachbarn, vgl. Abbildung 1. Zum Repertoire gehörten unbedingt die populären Gassenhauer, die anders als der später aufkommende Schlager oftmals Stadtereignisse und Geschichten über Straßenfiguren und Originale, Gewerbe oder bestimmte Wohngebiete im Lokalkolorit zum Inhalt hatten.129 Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der ortsgebundene Gassenhauer nach und nach vom überregionalen und damit massenmarkttauglichen Schlager verdrängt. Auch verbreiteten sich durch die von Hof zu Hof zie-
127 Vgl. Noll 1992: 99. 128 Vgl. Diedrich et al. 2011: 318 ff. 129 Vgl. Richter 2004: 10 ff.
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henden Leierkastenmänner130 die aktuellsten Nachrichten und Gerüchte besonders eilig. Viele von ihnen sangen zusätzlich, spielten zugleich Rhythmusinstrumente wie Trommeln oder Glockenspiele oder hatten als Attraktion z. B. ein Äffchen dabei. Teils wurden – hier gibt es Parallelen zum Zeitungslied – Textblätter zum Mitsingen verkauft, und die Menge stimmte begeistert mit ein. Oftmals diente die Drehorgel auch als musikalische Untermalung für die Darbietungen von Artisten oder Akrobaten, die infolge der andauernden Wirtschaftskrise gezwungen waren, ihre Künste einem (Hinter-) Hofpublikum vorzuführen, um so ihren Lebensunterhalt zu verdienen.131
Abbildung 1: »Tanz nach der Drehorgel«, Zeichnung von Heinrich Zille132
130 Ich benutze die Bezeichnungen Drehorgel und Leierkasten synonym und wertungsfrei, da etwa unter den heutigen Mitgliedern des Vereins Internationaler Drehorgelfreunde Berlin e.V. ganz selbstverständlich sowohl Drehorgelspieler als auch Leierkastenmänner (und -frauen) zu finden sind, wie ihren Visitenkarten zu entnehmen ist. 131 Vgl. Römer 1983. 132 Quelle: Zille 1923: 9.
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Die Werkstatt Bacigalupo Söhne in der Schönhauser Allee im Prenzlauer Berg war in dieser Zeit das Zentrum des Drehorgelbaus in Berlin. Dabei gab es unter den Berliner Leierkastenmännern zwei Klassen: Die einen besaßen ihr eigenes Instrument, während die anderen sich ihr Arbeitsgerät tageweise mieten mussten. Mehrere Eckkneipen betrieben Drehorgel-Verleihe. Die fortschreitende Wirtschaftskrise verschob das Gleichgewicht mit den Jahren immer stärker in Richtung der zweiten Gruppe. Noch nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte der Leierkasten lange Zeit zum Alltag der Berliner Bevölkerung. Zuerst zogen Trümmerfrauen, Flüchtlinge und Kriegsversehrte mit ihren Instrumenten durch die Straßen, wo ihnen die Anwohner Münzen oder etwas Essbares aus den Fenstern zuwarfen, vgl. Abbildung 2. Heute dagegen ist die Drehorgel eher ein nostalgisches – und teils sündhaft teures – Liebhaberstück und nur vereinzelt als Kuriosum an touristischen Brennpunkten und auf privaten Feiern anzutreffen. Von ehemals bis zu 3000 Drehorgelspielern in den 1920er Jahren sind heute gerade noch um die 20 auf Berlins Straßen aktiv.133 Selbstverständlich gab es in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg in Berlin neben den Drehorgelspielern auch andere Straßenmusiker, die mit ihren Instrumenten durch Straßen und Hinterhöfe zogen. Arbeitslosigkeit, Kriegselend und die schlechte wirtschaftliche Lage während und nach dem Ersten Weltkrieg machten die Straßenmusik insbesondere für Nebenerwerbszwecke unentbehrlich. Darunter waren Gruppen mit Akkordeon und Geige, Zigeuner134, deren Tanzbären sich zum Trommelrhythmus bewegten, Musiker, die auf teils selbst gebauten Instrumenten spielten, und solche, die ein Grammophon mit fahrbarem Untersatz besaßen.135 Aus Mangel an Instrumenten und anderen Perspektiven taten sich Erwerbslose auch zu Gruppen von Hofsängern zusammen. Die Inhalte der Lieder »waren zumeist von einer Aura der Schwermut umgeben« und spiegelten damit auch den seelischen Zustand des Publikums und die Misere des Großstadtalltags wider.136 Heutzutage ist es selten geworden, dass Musikanten in Berlin die Wohngegenden durchkämmen, doch ganz in Vergessenheit geraten ist diese Praxis nicht. In einigen bürgerlichen Gegenden wie Wilmersdorf, Friedenau oder in Kreuzberg am Mehringdamm und in der Bergmannstraße ziehen seit einigen Jahren wieder Gruppen musizierender Roma umher. In Zeiten, in denen Rundfunk- und Fernsehprogramme sowie andere Medien schlichtweg nicht existierten oder noch lange nicht die Vorherrschaft bei der Information und Unterhaltung der Massen übernommen hatten, erfüllte Musik im öffentli133 Vgl. Fichtner/Nowakowski 2004/2008. Die Zahlen werden in einem Interview von Harry Niemuth genannt, einem Berliner Drehorgelspieler, -sammler und -verkäufer. Auch Lukas Richter spricht von geschätzten 3000 Hofmusikanten in Berlin in der Zeit zwischen den Weltkriegen, vgl. Richter 2004: 86. 134 Der Begriff Zigeuner wird hier lediglich in seinem historischen Kontext verwendet. Eine abwertende Meinung ist damit nicht verbunden. Ansonsten verwende ich in dieser Arbeit den Terminus Roma als wertfreien Oberbegriff für die heterogenen Gruppen der Roma (der Begriff Roma bezeichnet einerseits eine der drei großen europäischen Gruppen neben den Sinti und den Kalé und wird andererseits als Synonym für die Gesamtheit aller Gruppen gebraucht – womit jedoch nicht alle Gruppen einverstanden sind). Vgl. Stoffers 2011. 135 Vgl. Römer 1986. 136 Vgl. Richter 2004: 88.
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chen Raum somit eine Fülle unterschiedlicher Funktionen: Neben der Verbreitung von Neuigkeiten und aktuellem Liedgut bot sie Zerstreuung bei den täglichen Verrichtungen, war unterhaltendes Spektakel sowie zugleich ein gesellschaftliches Ereignis und für sich bereits ein Gesprächsthema. Ihre Akteure gehörten daher »zu den wichtigsten Vertretern einer Musikkultur für alle.«137 Musik im öffentlichen Raum war zudem für den allergrößten Teil der Bevölkerung die einzig zugängliche Form musikalischer Unterhaltung, weshalb die Unterscheidung zwischen Straßen- und anderer Musik entfiel – Straßenmusik war die Musik, etwas anderes gab es für die meisten nicht. Dies gilt insbesondere für die großen Städte Europas, die schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Bevölkerung Lebensbedingungen boten, die sich deutlich von denen auf dem Lande unterschieden. Julio Mendívil bemerkt: »Die Musik, die bis dahin direkt an das zeremonielle Leben der Gemeinde gebunden gewesen war, verlor ihren durch den Lebenszyklus einer Kollektivität determinierten Charakter.«138 Damit übernahm sie nun vordergründig die eher unspezifische Funktion der Unterhaltung. Gleichzeitig mit der Ausgrenzung und Reglementierung nicht sesshafter Musiker begannen bereits im Mittelalter auch die Genehmigungspflicht von Straßenmusik und die behördliche Erfassung von Wandermusikern zwecks Erhebung von Gewerbesteuern sowie die Prüfung durch Zensurorgane. Dabei wurde oftmals willkürlich verfahren, insgesamt wurden die Bestimmungen in ihrem Umfang und den einschränkenden Konsequenzen über die Jahrhunderte hinweg immer ausufernder139 und erlebten schließlich einen drastischen Höhepunkt in den 1930er Jahren zu Zeiten des Nationalsozialismus. Nun wurde mit bisher nicht gekannter Härte gegen die als jüdische Umtriebler und Zigeunergesindel verunglimpften Straßenmusiker vorgegangen.140 Sie passten nicht ins Propagandakonzept der NS-Ideologie und wurden verfolgt oder verprügelt.141 Deportation, Ghettoisierung und Mord im Vernichtungslager drohten und ließen eine Vielzahl von Musikern verstummen oder gar verschwinden. Die nationalsozialistische Diktatur stellt somit eine Zäsur dar.
2.3.3
Nachkriegszeit und 1980er Jahre in Westdeutschland
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es auch die verbliebenen Straßenmusiker, die die öffentliche Stimmung in den Städten aufhellen halfen. So ließ der damalige Oberbürgermeister von Köln, Konrad Adenauer, eine Gruppe neu einkleiden und soll sie gebeten haben: »Jungens, tut mir einen Jefallen. Jeht auf die Trümmer und bringt den Kölnern wieder Humor.«142
137 Rösing 2004: 16. 138 Mendívil 2008: 68. 139 In Köln etwa mussten Straßenmusiker, die verbotenerweise in der Innenstadt spielten, in den 1920er Jahren mit einer Strafe in Höhe von 20 Reichsmark oder drei Tagen Haft rechnen, vgl. Fritsch 1972: 61. 140 Vgl. Rösing 2004: 20 ff. 141 Vgl. Noll 1992: 100. 142 Zitiert in Bönisch 1972, abgedruckt in Fritsch 1972: 79. Vgl. außerdem Fritsch 1972: 66.
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Mit dem Beginn des deutschen Wirtschaftswunders allerdings waren Straßenmusiker eher auf Jahrmärkten und großen Volksfesten anzutreffen als in den Straßen der Wohngegenden. Die sich mit Autos füllende Straße verlor schnell ihren herkömmlichen Charakter als Lebensraum, in den zunehmend autofreundlich gestalteten Innenstädten war kein Platz mehr für Straßenmusik, während gleichzeitig der Lautstärkepegel drastisch anstieg. Erst ab den 1970er Jahren boten die mit Fußgängerzonen neugestalteten Stadtzentren eine neuartige Infrastruktur für die sich entwickelnde Szene, die zunächst vornehmlich die Musik der Liedermacher der 1960er Jahre sang.143 Smith sieht im Folkmusik-Revival der 1950er und in der Hippie-Kultur der 60er Jahre Gründe für die wachsende öffentliche Akzeptanz für Amateurmusik und das daraus resultierende Interesse an Straßenkultur sowie spontanen Kunstdarbietungen.144 Mit den kulturpolitischen Unruhen der späten 50er und 60er erlangte der Typus des Volkssängers (folksinger) neue Popularität, die junge Bewegung war in der Lage » to attract many of the new anti-conformist expectations« und führte letztlich zu einem »›return to the street‹«.145 Zunächst in den großen amerikanischen, später auch in europäischen Städten wurden die Straßen zu politischen Foren unter anderem der Anti-Kriegs-Bewegung, in denen Aktivisten ihre Ansichten durch Protestsongs und Guerillatheater oftmals gegen den Widerstand staatlicher Gewalt ausdrückten.146
Abbildung 2: Leierkastenmann zwischen Kriegstrümmern 1945 in Berlin147 143 Vgl. Rösing 2004: 19. Philip Bohlman bezeichnet Fußgängerzonen als typisch deutsches Nachkriegsphänomen, vgl. Bohlman 1994: 122. 144 Vgl. Smith 1996: 1960s: Michael Mctaggart (A.K.A. Subway Elvis). 145 Prato 1984: 153. 146 Vgl. Tanenbaum 1995: 12 und 43 f. 147 Quelle: Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz (© bpk – Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte).
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Doch nicht nur aus diesen Gründen änderten sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Voraussetzungen für Straßenmusik grundlegend, was sich fortan in ihren Inhalten und Strukturen sowie einem Wandel ihrer Funktionen für die Gesellschaft widerspiegelte. Durch die zunehmende Popularisierung der Printmedien sowie den technischen Fortschritt bei den Unterhaltungsmedien fiel in erster Linie die Funktion der Nachrichtenübermittlung fort und ließ nun Platz für neue Inhalte. Klaus der Geiger schreibt, seine Lieder hätten »meistens aktuelle Geschehnisse und deren politischgesellschaftliche Einschätzung oder auch persönliche Erfahrungen, Sehnsüchte, Erlebnisse und deren möglichst allgemeinverständliche Aufarbeitung zum Thema.«148 Es kam zu einer immer stärkeren Sättigung an Unterhaltung, auch und insbesondere musikalischer Natur, die durch Rundfunk, Fernsehen, neue Tonträger (LP, MC, CD, DVD), später auch Computer(-spiele) und letztlich das Internet sowie die begleitenden Erscheinungen (tragbare mp3-Abspielgeräte, Musikvideos auf Internetplattformen wie Youtube etc.) bedingt war. Live-Musik im allgemeinen verlor infolge dieser Mediatisierung und Privatisierung des Musikkonsums zunächst deutlich an Bedeutung.149 Musik und Unterhaltung sind heute allgegenwärtig und – bereits seit Jahrzehnten – in einem historisch betrachtet beispiellosen und dennoch ständig wachsenden Überfluss vorhanden. Dieser hat einerseits sicherlich zu einer Abstumpfung geführt, macht andererseits aber auch die live erfahrbare, quasi anfassbare Musik auf der Straße mit ihrem unmittelbaren Kontakt zwischen Künstler und Publikum zu einem besonderen Erlebnis im Alltag. Der Kontrast zur Konserve kann dabei sehr eindrücklich sein durch »den Bezug zu einer konkreten Situation, die durch den Augenblick des Hier und Jetzt geprägt ist«150, so dass Straßenmusik weiterhin ein wichtiges sozialkommunikatives Medium darstellen kann. Gleichwohl bedeuteten diese neuen Rahmenbedingungen eine notwendige Anpassung der Strategien, um beim vielfältig abgelenkten Publikum überhaupt noch Aufmerksamkeit zu erregen und sich gegen Hektik oder einfach nur den Knopf im Ohr durchzusetzen. Denn das ehemals sichere allseitige Interesse am öffentlich musizierenden Objekt war und ist nun keineswegs mehr selbstverständlich. Paolo Prato macht weiterhin darauf aufmerksam, dass Straßenmusik in vortechnischer Zeit, als es für den Großteil der Bevölkerung nur das gab, die musikalische und ästhetische Referenz darstellte. Mit Aufkommen der elektronischen Massenmedien verschob sich diese referenzgebende Funktion zu eben jenen, während Straßenmusik seitdem in den meisten Fällen die Reproduktion dessen darstellt, was alle schon kennen. Damit traten andere Funktionen in den Vordergrund, die Prato metalingual (Überprüfen und Hinterfragen des Inhaltsverständnisses), phatisch (Kontaktaufnahme) und konativ (Interaktion) nennt. Bis in die 1960er
148 Wrochem 1996: 79. 149 Für Hamburg beschreibt Florian Kleist ein Live-Musik-Clubsterben ab den späten 1960er Jahren. Aufgrund der zunehmenden Konkurrenz durch Diskotheken kam es zu einem Publikumsschwund, so dass viele von ihnen schließen mussten. Live-Musik wurde in der Folge zu einer Untergrundbewegung im Kontrast zum Diskotheken-Mainstream, kleinere Clubs konnten bestimmte stilistische Nischen wie Punk, Hardcore oder Heavy Metal abdecken, vgl. Kleist 2008: 427 ff. 150 Wrochem 1996: 25.
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Jahre verloren Straßenmusiker dadurch an musikalischer und gesellschaftlicher Relevanz.151 Allerdings profitierten Straßenmusiker auch von den neuen technischen Errungenschaften, indem sich nun etwa tragbare Kassettenrekorder, CD-Spieler oder zuletzt vermehrt die sehr kompakten mp3-Geräte zum Playbackspiel für Soloinstrumente einsetzen ließen. Dieser Trend setzt sich heutzutage in der verstärkten Nutzung von sogenannten Loop-Stations152 fort, die ein Revival der One-Man-Band ausgelöst haben. Die Verfügbarkeit von erschwinglichen und doch klanglich überzeugenden batteriebetriebenen Kofferverstärkern hat die Palette für Straßenmusiker ebenfalls signifikant erweitert, insbesondere durch die nun verbesserten Einsatzmöglichkeiten auch leiser Instrumente.153 Heutige energiesparende Geräte, die mit mikroprozessorunterstützter Transistortechnik arbeiten, kommen auf Betriebszeiten von mehr als zehn Stunden mit einem Satz Batterien bei geringem Gewicht und handlichen Maßen. Wie der Literaturüberblick gezeigt hat, existiert eine größere Zahl von Dokumenten aus den 1970er und 80er Jahren, die die Straßenmusikszene in einzelnen westdeutschen Städten behandeln. Danach ist eine Datenlücke zu bemerken, die im Prinzip bis heute klafft, abgesehen von dem Überblick über Leben und Alltag Hamburger Straßenmusiker im Jahr 2003, den Kokot et al. geben.154 Das Bild von den 1970er und 80er Jahren, das sich insbesondere bei Engelke – und nicht weniger bei Wolfgang Martin Stroh155 – zunächst aufdrängt, ist das einer in den öffentlichen Raum verlegten musikalischen Protestkultur gegen Autoritäten, Obrigkeiten, Spießbürgertum, Kernkraftnutzung, zubetonierte und entmenschlichte Stadtzentren und dergleichen mehr. Straßenmusik wird als alternative Lebensweise und -philosophie dargestellt156, und es wird ein erfolgter Wandel »vom musizierenden Bettler hin zum engagierten Asphaltbarden«157 konstatiert, der mit hohem künstlerischen Anspruch »lebendige Kultur«158 vermittelt. Straßenmusiker erscheinen als Kulturpioniere, die alte Strukturen infrage stellen und aufbrechen.159 Es wird nicht weniger als eine Straßenkulturbewegung erkannt, die sich in starker Vernetzung untereinander sowie der Organisation von Straßenmusikfestivals und Straßenmusikertreffen 151 Vgl. Prato 1984: 151 ff. 152 Eine Loop-Station ist eine technische Vorrichtung, mit deren Hilfe sich ein Musiker selbst begleiten kann, indem er sich einige Takte lang aufnimmt und die Tonspur danach in Schleife wiederholen lässt. Dazu ist die Aufzeichnung weiterer Tonspuren möglich, die sich nach und nach zu einem dichten, ostinaten Klangteppich fügen können, über den der Musiker etwa eine Melodie spielt oder improvisiert und den er je nach Zu- oder Stummschaltung von Spuren in Echtzeit variieren kann. 153 Vgl. auch Tanenbaum 1995: 152. 154 Kokot et al. 2004. 155 Vgl. Stroh 1984: 40 ff. 156 Vgl. Engelke 1984b: 7. 157 Engelke 1984e: 21. 158 Strobl 1984: 29. 159 Vgl. Engelke 1984e: 21 f.
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niederschlägt.160 Dabei wird unterschieden zwischen »›echten‹ Straßenmusikanten« und den »weniger echten« »Feierabend- oder Wochenendstraßenmusikern«.161 Die bei Engelke portraitierten und zu Worte kommenden Straßenmusiker sind denn auch fast sämtlich Vertreter der erstgenannten damals sicherlich existierenden politisch aktiven Riege. Die von Kai Michaels vorgestellte Berliner Gruppe namens Berliner Stadtmusikanten fällt ebenso in diese Kategorie politischer und zeitkritischer Straßenmusiker und -künstler.162 Bei ihr spielt der Kontakt zum Publikum eine große Rolle, dessen Aufmerksamkeit mit oftmals neuen, bissigen Texten zu bekannten Melodien erregt wird – beides Kennzeichen vieler bei Engelke gezeigter Musiker. Somit scheint es, dass die Richtung der politischen Straßenmusik auch in West-Berlin ausgeprägt war, welches bei Engelke allerdings nicht mit betrachtet wird. Der bis hierher entstandene Eindruck, der sich so gar nicht mit den Beobachtungen im heutigen Straßenbild deckt,163 wird deutlich entzerrt einerseits durch die Portraits der von Fritsch, Noll sowie Fuchs und Stadelmann vorgestellten Kölner bzw. Wiener Straßenmusiker und andererseits durch die Erfahrungen, die Müller in seinem Reisebericht schildert. Bei Noll finden zwar auch die zeitkritischen Vertreter ihren Platz,164 jedoch reihen sie sich ein in ein breitgefächertes Spektrum vom alten Mundharmonikaspieler über lateinamerikanische Ensembles bis hin zur One-Man-Band oder einer Liedsängerin mit Gitarrenbegleitung.165 Das wirft ein anderes Licht auf die Szene jener Zeit und lässt sie in der Summe weit weniger politisch und idealistisch erscheinen. Noll fasst zusammen, dass sich »in der Straßenmusik der Gegenwart [also späte 1980er Jahre, M.N.] nichtprofessionelle, semiprofessionelle und professionelle Erscheinungsformen auf den unterschiedlichsten Niveaus und in einer stilistischen Breite mischen [...]«166 – ganz ähnliche Verhältnisse also, wie wir sie heute vorfinden. Und auch Müllers Aufzeichnungen relativieren das einseitige Bild: Er selbst ist politisch völlig unmotiviert und berichtet im übrigen lediglich von vereinzelten Begegnungen mit politischen Straßenmusikerkollegen. Es ist allerdings tatsächlich anzunehmen, dass die politisch aktiven Musiker und Gruppen in der öffentlichen Wahrnehmung in jener Zeit verhältnismäßig stark präsent waren, da sie mit verschiedenen Mitteln wie z. B. Straßentheater-Inszenierungen 160 161 162 163 164
Vgl. Engelke 1984d: 12. Ebd., 13. Vgl. Michaels 1979: 143 ff. Lorenz (2006: 4) schreibt: »[Es] findet sich kein politisches Lied auf der Straße [...]«. Darunter Klaus von Wrochem aus Köln, genannt Klaus der Geiger, der früher in keiner Abhandlung über Straßenmusik fehlen durfte. Er war schon damals und ist noch heute der vermutlich bekannteste Straßenmusiker Deutschlands und ist auch nach über vierzig Jahren weiterhin aktiv. Klaus wird außer bei Noll (1992) sowohl bei Fritsch (1972) als auch bei Engelke (1984a) beschrieben. 1996 erschien mit Klaus der Geiger. Deutschlands bekanntester Straßenmusiker erzählt ein autobiographisches Buch, in dem Leben und Wirken dieser Kölner Institution ausführlich geschildert werden. Das Vorwort dazu stammt von Günter Wallraff. 2009 wurde mit Wir kennen alle das Paradies eine Sammlung seiner wichtigsten Liedtexte veröffentlicht. 165 Vgl. Noll 1992: 104 ff. 166 Ebd., 101.
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öffentlichkeitswirksam auf sich aufmerksam zu machen wussten und des Öfteren in der Lokalpresse über ihre Aktionen oder gar Beschlagnahmungen und Verhaftungen167 berichtet wurde. Was macht nun also die Straßenmusiklandschaft im Deutschland der 1980er Jahre aus? Zum einen sind da die politische Protestbewegung und das starke Sendungsbewusstsein, die trotz allem sicherlich viel deutlicher als heute ausgeprägt waren und seitdem offenbar an Bedeutung verloren haben. Aber es gibt noch weitere Merkmale. So beschreibt Müller etwa, er sei besonders erfolgreich mit deutschen Volksliedern gewesen,168 womit er sich wohl auch damals schon vom Großteil seiner Kollegen unterschied. Dies deckt sich mit Engelkes Bemerkung, dass »das deutsche Lied in der Tradition von Heine, Werth, Herwegh und Freiligrath wieder an Geltung gewonnen hat, von zahlreichen Straßenakteuren bevorzugt und vom Publikum positiv aufgenommen wird.«169 Zudem begannen sich in dieser Zeit einige wichtige Trends abzuzeichnen, die sich in den folgenden Jahren bis heute fortsetzten und eine entscheidende Veränderung und Differenzierung von Inhalten und Strukturen der Straßenmusik mit sich brachten. So waren im Vergleich zu früher viele neue Instrumente wie z. B. die Gitarre oder die Panflöte hinzugekommen, andere wie etwa die Drehleier dagegen nahezu verschwunden, die Palette war »reichhaltiger denn je«170. Und auch das Repertoire und die Musikstile waren deutlich vielfältiger und selbstverständlich dem Zeitgeist angepasst. Schließlich war die Szene zumindest in Köln und Wien zunehmend international171 und in ihrer sozialen Zusammensetzung heterogener als jemals zuvor. Diese Veränderungen meint Noll vermutlich, wenn er schreibt, dass die modernen Erscheinungsformen »mit den Traditionen der Straßenmusik nicht mehr bzw. nur noch in sehr vereinzelten Ausprägungen vergleichbar sind.«172 Besonders die zunehmende Internationalität der Straßenmusiker in den Großstädten seit dieser Zeit dürfte einen entscheidenden Unterschied zu den fahrenden Musikanten früherer Zeiten darstellen, da nun tatsächlich keinerlei gemeinsame Wurzeln mehr vorhanden waren. Sowohl bei Engelke als auch bei Müller, Noll und Fuchs und Stadelmann finden sich viele Hinweise auf eine damals noch vorhandene restriktive Politik vieler Städte und Gemeinden Straßenmusikern gegenüber mit vielerlei Vorschriften und Verboten. Auflagen waren zu erfüllen, und vor dem Auftritt mussten Genehmigungen eingeholt werden, die auch regelmäßig überprüft wurden. Der Besitz einer Reisegewerbekarte war für legale Straßenmusikanten ratsam. Der Respekt vor Polizei und Obrigkeit war stark ausgeprägt, bisweilen wurden wohl auch Platzverweise ausgesprochen oder In167 168 169 170 171
Vgl. z. B. Reisig 1972, abgedruckt in Fritsch 1972: 18. Vgl. Müller 1990: 79. Engelke 1984d: 12. Fuchs/Stadelmann 1987: 5. Noll (1992) beschreibt Musiker unter anderem aus Chile und Großbritannien, daneben die lateinamerikanischen Folkloregruppen z. B. aus Argentinien. Bei Fuchs/Stadelmann (1987) finden sich neben Einheimischen auch Vertreter aus den USA, Chile, Frankreich, Jugoslawien und Ägypten. 172 Noll 1992: 101.
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strumente beschlagnahmt, was sicherlich positiv auf die Protestlaune der politisch Aktiven eingewirkt hat. Straßenmusik zeigt sich in dieser Phase zum ersten Mal in der Geschichte als spezifisch urbanes Phänomen. Die fahrenden Spielleute früherer Zeiten traten auch auf den Markt- und Dorfplätzen kleinerer Ortschaften und Dörfer auf, die auf ihrem Weg lagen. Das bot sich allein schon an, weil sie zu Fuß gar nicht so schnell von einer größeren Stadt in die nächste gelangten und sich auch unterwegs durchschlagen mussten, wozu sie jede sich bietende Gelegenheit nutzten. Nun jedoch bildeten die nach dem Zweiten Weltkrieg neu eingerichteten Fußgängerzonen in den Stadtzentren die einzigen Plätze, die ein ausreichend großes Laufpublikum garantierten, welches im ländlichen Raum kaum zu finden war. Zudem verhinderte die Wahl der Transportmittel wie z. B. das Reisen per Anhalter oder mit der Bahn das Ansteuern wirklich kleiner Orte.
2.3.4
Straßenmusik in der DDR 173
Ende der 1980er Jahre zeichnet Lieberwirth ein düsteres Bild bezüglich der Bedingungen für Straßenmusiker in der DDR. Er vergleicht den Zustand in Leipzig vor der Wende mit dem »finsteren Mittelalter«. Das herrschende Verbot spontaner Straßenmusik wurde konsequent durchgesetzt, das innerstädtische Leben war infolgedessen »trostlos und eintönig«, »Straßenmusiker bis gestern noch schutz-, recht- und ehrlos.«174 Zwar gab es Städte wie Dresden und Halle (Saale), in denen Straßenmusik zu jener Zeit bereits geduldet wurde. »An anderen Orten ist es wiederum kaum möglich, länger als eine viertel Stunde zu spielen, ohne von der Deutschen Volkspolizei verwiesen zu werden.«175 Es drohten staatliche Repressalien wie Ordnungsstrafverfahren, Verhaftungen (auch wider den Protest ganzer Menschentrauben), Zuführungen (Verhöre), die Beschlagnahmung von Instrumenten oder andere Schikanen. Damit ging es den Musikern ähnlich wie ihren politisch aktiven Kollegen Anfang der 1980er Jahre in Westdeutschland. Unter Straßenmusikern verbreitete Instrumente in dieser Zeit waren vor allem Gitarren, Saxophone und Mundharmonikas.176 Lieberwirth berichtet von einem Straßenmusikfestival in Leipzig im Juni 1989, dem ersten seiner Art in der DDR überhaupt, das einige Künstler als Ausdruck ihrer Spielund Lebensfreude organisiert hatten. Trotz Verboten von offizieller Seite im Vorfeld fand sich zur verabredeten Zeit vormittags eine große Zahl von Musikern und Gruppen an verschiedenen Orten in der Innenstadt ein und begann zu spielen. Unter hohem Polizeiaufgebot und tumultartigen Szenen, bei denen es zu zahlreichen Verhaftungen und Zuführungen der Beteiligten wie auch unbeteiligter Bürger kam, löste der staatliche Machtapparat die Veranstaltung auf. Die Nachricht über diese unverhältnismäßigen Reaktionen der Staatsorgane sowie zahlreiche Erlebnisberichte derjeni173 Die Ausführungen in diesem Abschnitt beruhen mangels weiterer Quellen in erster Linie auf Angaben bei Lieberwirth 1990. 174 Vgl. Lieberwirth 1990: 16. 175 Ebd., 172. 176 Vgl. ebd., 19.
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gen, die teils tagelang festgehalten und mit rauhen Methoden verhört wurden, verbreiteten sich allmählich auch überregional, insbesondere in Kirchenkreisen über Gemeindeblätter. Im damaligen Kapellmeister des Leipziger Gewandhauses, Kurt Masur, fanden die Straßenmusiker einen prominenten Unterstützer, der sich fortan auch öffentlich gegen die strikten Bestimmungen aussprach.177 Die beschriebenen Ausschreitungen sieht Lieberwirth als Keimzelle der späteren Leipziger Montagsdemonstrationen, die letztlich das DDR-Regime zum Einlenken zwangen.178 Einige der Organisatoren und Teilnehmer des Festivals waren auch daran sehr aktiv beteiligt und standen mit ihren subversiven Aktionen den politischen Gruppen etwa der Rotzfrechen Asphaltkultur (RAK)179 im Westen Deutschlands nahe, die sich ebenfalls gegen gesellschaftliche Missstände engagierten. Für kurze Zeit gerieten die Straßenmusikanten wie auch die Liedermacher in die erste Reihe, lieferten sozusagen den Soundtrack zur Wende, bevor wieder andere die Politik übernahmen. »Die Revolution haben sie mit herbeigesungen und begleitet«, schreibt Stefan Gööck, bis »Hunderttausende ganz ohne Formular anstimmen konnten: ›Nieder mit der SED …‹«180
2.3.5
Neuere Entwicklungen in Berlin bis heute
West-Berlin181 nahm vor dem Fall der Mauer durch seine isolierte Lage eine Sonderstellung im Vergleich zu den anderen westdeutschen (Groß-) Städten ein: Von Westen her war der Zugang über die Transitstrecken und durch die zermürbenden Grenzkontrollen deutlich erschwert, es lag somit nicht eben auf dem Wege, wenn man als Straßenmusiker durch die Bundesrepublik zog. Man kam also nicht zufällig nach Berlin, weil man sowieso gerade in der Gegend war. Der Zugang von Osten war hingegen völlig versperrt. Infolgedessen gab es auch keine Klientel, die in Ost-WestRichtung – oder umgekehrt – durchreisen konnte. Daher bestand die Szene hier hauptsächlich aus Ortsansässigen wie Studenten oder den – damals noch häufiger anzutreffenden – alteingesessenen Leierkastenmännern. Künstler, die offensichtlich ausländischer Herkunft waren, bildeten eher die Ausnahme und sorgten schnell für Aufsehen.182
177 Kurt Masur wird zitiert, auf einer Veranstaltung gesagt zu haben: »Was ich mir zudem noch wünschte, wären bessere Möglichkeiten für unsere Studenten an den Hochschulen, denn dort bestehen momentan auch noch Bestimmungen, die das Musizieren auf der Straße verhindern.« (Lieberwirth 1990: 194) 178 Vgl. Lieberwirth 1990, 35 ff. 179 Vgl. Anmerkung 99. 180 Gööck 1990: 236 f. 181 Zur Rolle und Verbreitung von Straßenmusik in Ost-Berlin sind mir keinerlei Quellen bekannt. 182 Diese Beobachtungen teilte mir ein befreundeter Musiker mit, der seit den frühen 1980er Jahren in Berlin lebt und aktiv als Musiker, Instrumentallehrer und Hochschuldozent am städtischen Musikleben teilnimmt. Sie decken sich mit meinen eigenen Kindheitserinnerungen an Drehorgelspieler im Stadtbild, etwa auf dem Kurfürstendamm.
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Dieser Zustand änderte sich mit der politischen Wende 1989 und Deutschlands Wiedervereinigung 1990 nachhaltig. Nun war Berlin zunächst nach Westen geöffnet. Mit der zunehmenden Internationalisierung der Musikszene der Stadt, die bald wieder ihrem Renommée als kulturelles Zentrum gerecht wurde, erlebte auch die hiesige Straßenmusik eine Erneuerung, die sie andernorts längst hinter sich hatte. Die lateinamerikanischen Folkloregruppen, oftmals bis zu zehn und mehr Mann183 stark, waren insbesondere in den 1990er Jahren vor den Kaufhäusern und in den Fußgängerzonen sehr stark präsent. Mit der gleichzeitig stattfindenden verstärkten Öffnung nach Osten hin, die sich nicht zuletzt in der EU-Osterweiterung von 2004 ausdrückt, wurde Berlin aber auch für Musiker und Ensembles aus Osteuropa 184 als Wirkstätte interessant und vor allem leichter zugänglich. Auf den Straßen und U-Bahnhöfen sowie in den U- und S-Bahnen wurden sie schnell zur Normalität: Akkordeonisten, Gitarristen, Geiger, Sänger und viele andere Musiker aus Russland, der Ukraine, Weißrussland, Bulgarien oder Rumänien und, besonders seit 2004, aus Polen, dessen Grenze nur ca. 70 Kilometer von Berlins östlichem Stadtrand entfernt liegt. Philip Bohlman beobachtet in den Jahren kurz nach dem Mauerfall eine deutliche Zunahme osteuropäischer Straßenmusiker in Deutschland.185 In der Radiodokumentation von Andreas Fichtner und Mark Nowakowski von 2004 war osteuropäischen Straßenmusikern bereits ein eigener Abschnitt gewidmet, der sich unter anderem mit deren teils prekärer finanzieller und rechtlicher Situation befasst.186 Ob auch andere deutsche Städte in den letzten Jahren eine derart hohe Dichte osteuropäischer Straßenmusiker aufweisen, darf bezweifelt werden. Bereits durch seine geographische Lage fungiert Berlin als Durchgangsstation und stellt sicherlich eine Art Auffangbecken für reisende Musiker aus dem Osten dar, für die die Weiterreise innerhalb Deutschlands allein schon aus finanziellen Gründen zur Hürde wird. Erwähnt werden die »Interpreten klassischer Musik aus Osteuropa« jedenfalls auch Hamburg betreffend bei Kokot et al.187 Festzuhalten bleibt, dass sich durch die Öffnung Berlins für Besucher aus aller Welt auch die Straßenmusik der Stadt nachhaltig verändert hat. Auf New York bezogen schreibt Susie J. Tanenbaum: »Immigration is a significant factor in the proliferation of street performing […]«188 Die Liberalisierung der gesetzlich geregelten Ladenschlusszeiten in den letzten Jahren hat auch zu einer Verlängerung der täglichen Spielzeitfenster für Straßenmusiker geführt. Berlin ist bundesweit Vorreiter bei der Erweiterung der Öffnungszeiten und der Erteilung von Sondergenehmigungen für Spät- und Sonntagsöffnungen. Während Müller für die Mitte der 1980er Jahre noch beschreibt, die Innenstädte seien
183 Musikerinnen habe ich selbst nie in diesen Ensembles gesehen, auch auf Fotos in der Literatur sind stets nur Männer abgebildet, vgl. z. B. Noll 1992: 113 oder Eckhardt 1997: 6. 184 In dieser Arbeit werden geographisch vereinfachend unter Osteuropa die Länder Ostmitteleuropas, Osteuropas und Südosteuropas – ohne Griechenland – verstanden. Praktisch sind das alle Staaten östlich von Deutschland und Österreich, Fennoskandinavien ausgenommen. 185 Vgl. Bohlman 1994: 122. 186 Fichtner/Nowakowski 2004/2008. 187 Kokot et al. 2004: z. B. S. 8, Anm. 2, oder S. 63. 188 Tanenbaum 1995: 13.
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werktags ab 18 Uhr und an den Samstagnachmittagen tot,189 haben die zentralen Einkaufszentren Berlins mittlerweile von Montag bis Samstag mindestens bis 20 Uhr, zumeist sogar bis 22 Uhr geöffnet. Außerdem beleben verkaufsoffene Sonntage mehrmals im Jahr das Geschäft. Die hohe Dichte von Cafés und Restaurants lädt die Menschen zusätzlich zum Verweilen ein, so dass im Sommer bis zum späten Abend Straßenmusiker und -künstler in der Innenstadt und etwa im Mauerpark anzutreffen sind, wenn das Wetter günstig ist. Auch die Offenheit der Behörden gegenüber Straßenmusik hat in den letzten zwei Jahrzehnten eher zu- als abgenommen. Insbesondere für Berlin, aber auch für andere Städte wie Hamburg, lässt sich feststellen, wie Rösing bemerkt: »Meist gilt der Grundsatz: Solange keine Beschwerden erhoben werden oder krasse Verstöße gegen die Verordnungen vorliegen, können Straßenmusiker ungehindert ihrer Profession nachgehen.«190 Shin Nakagawa sieht in der zunehmenden Akzeptanz von Straßenmusik und Straßenmusikern durch die Gesellschaft Zeichen für einen Wandel in der Gesellschaft an sich hin zu mehr individueller Entfaltungsfreiheit.191
2.4
DER KONTEXT : MUSIK IM STADTRAUM BERLINS
Allein die Tatsache, dass der Gegenstand dieser Arbeit eine Ortsbezeichnung in sich trägt und qua Definition im öffentlichen Raum stattfindet, legt eine Auseinandersetzung mit eben diesem Raum nahe. Einerseits passiert Straßenmusik hier, andererseits wird er von ihr und ihren Akteuren im Handeln mit konstruiert. Die Lokalität von Straßenmusik kann gleichwohl nur als analytische Abstraktion konstruiert werden. Straßenmusik manifestiert sich nämlich gleichzeitig an verschiedenen Orten und lässt sich nicht als isoliertes Phänomen betrachten. Sie tritt niemals allein innerhalb eines musikalischen Feldes auf, sondern im Stadtraum immer in Beziehung zu anderen Musikformen192, mit denen sie ständig interagiert, sei es musikalisch oder außermusikalisch, mit denen sie konkurriert und auf die sie reagiert. Darüber hinaus ist sie über ihre Akteure, die Straßenmusiker, mit dem musikalischen Leben und der Musikszene der Stadt über viele persönliche wie räumliche Schnittstellen verknüpft. In einer Großstadt wie Berlin existieren die darin vorhandenen divergierenden Musikwelten nicht losgelöst voneinander, sondern stehen im ständigen Austausch miteinander. Sie »unterwerfen sich immer einer urbanen, sozialen Ordnung, die sie als Teile eines funktionierenden Ganzen wieder vereint.«193 Insofern ist die Linie, die ich bei der Betrachtung der Straßenmusik isoliert vom sonstigen (musikalischen) Leben Berlins ziehe, imaginär und dient der besseren Begrenzung des empirischen Feldes.194
189 190 191 192
Vgl. Müller 1990: 30. Rösing 2004: 24. Vgl. Nakagawa 2005: 1. Z. B. Muzak, individuelle Beschallung durch tragbare Geräte wie iPod, Beschallung von Bahnhöfen etc. 193 Vgl. Mendívil 2008: 73 f. 194 Vgl. Reyes Schramm 1982: 1.
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Musik war immer schon ein Bestandteil des Lebens im öffentlichen Raum, und andersherum betrachtet begann bereits im Hochmittelalter mit dem »auskomponierten Geschrei der Markthändler […] der lärmende Sound der Stadt in der Musik hörbar zu werden.«195 Musik und Stadtraum können sich somit gegenseitig befruchten. Sara Cohen zufolge spiegelt Musik die gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Aspekte eines bestimmten Ortes wider, in welchem sie geschaffen wird,196 wie auch schon der historische Überblick in den vorangehenden Abschnitten gezeigt hat. Der Wandel von Orten beeinflusst demnach auch Veränderungen in Musikstilen und Klängen. Bei Städten, die »Marktplätze von Nachrichten und Waren, Orte hoch verdichteter und massenhafter Kommunikation«197 sind, schwingt ihre Geschichte stets mit und ist daher in der Wahrnehmung präsent. Rolf Lindner bezeichnet die Stadt als kulturellen Resonanzboden.198 Für die urbane Musikethnologie stellt die Stadt ein Forschungsfeld dar, in welchem musikalische Phänomene wiederum Terrains bilden können, in denen »konkrete Gruppen von Subjekten sich einen Raum – sei es symbolisch, kulturell oder sozial – schaffen, um eine eigene Identität zu konstruieren.«199 Der historisch gewachsene Stadtraum ist folglich kein statisches Gebilde und wird vielmehr beständig neu erschaffen und transformiert durch die Menschen, die ihn bevölkern. Darbietungen von Straßenmusik können in diesem Raum als architektonische Werke betrachtet werden, die im Moment ihrer Aufführung Teil der Umgebung werden.200 Denn genauso wenig wie Musik etwas Fassbares darstellt, sondern erst im Handeln entsteht und erlebbar wird,201 sind Räume etwas Objektives, Gegebenes. Auch sie werden im Handeln hergestellt, »indem sich Intentionalität mit Emotionalität, Wahrnehmung und unbewusste Motive oder Vorstellungen mischen.«202 Mit dem Stadtraum selbst und den Menschen darin ändert sich über die Zeit also auch die Klangkulisse der Stadt. Urban Sound Studies haben aufgrund dieser Erkenntnis während der letzten Jahre in der ethnologischen Stadtforschung an Bedeutung gewonnen. Sie untersuchen die Urban Soundscapes, die sich in vielerlei Hinsicht von ländlichen Klanglandschaften unterscheiden.203 Nach Lindner geben »Geräusche […] die Stimmung einer Stadt wieder, oder besser: Sie geben uns Auskunft über die Stimmungslage der Menschen, die nicht nur in dieser Stadt leben, sondern diese in gewissem Sinne selber leben.«204 In diesem gelebten städtischen Raum mit seiner spezifischen Stimmung, die sich eben auch im Vorkommen und der Intensität von Straßenmusik spiegelt, mit seinen »affektiven und emotionalen Qualitäten, die sich in jedem einzelnen Element artikulieren«,205 ist Straßenmusik ein Indikator für 195 196 197 198 199 200 201 202 203 204 205
Helms/Phleps 2007b: 8. Vgl. Cohen 1995: 444. Helms/Phleps 2007b: 8. Vgl. Lindner 2012: 26. Mendívil 2008: 73. Vgl. Prato 1984: 155. Vgl. Small 1998. Löw 2001: 144. Vgl. Rösing 2000: 70. Lindner 2012: 15. Ebd.
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die Belebung des Raums durch die Menschen, die eine Stadt – stationär oder temporär – bewohnen. Für Städte geht es heute zunehmend darum, ihre Einzigartigkeit gegenüber anderen Städten zu behaupten, die sich unter anderem in ihren Klangatmosphären artikuliert.206 Auch wenn Straßenmusik oftmals aus der bewussten Wahrnehmung herausfällt und sich in die Klangkulisse ihrer Umgebung einfügt, trägt sie doch zum spezifischen Bild bestimmter Städte wie Berlin bei – akustisch wie visuell. Orte, an denen Straßenmusik verboten ist und wo dieses Verbot auch konsequent durchgesetzt wird wie z. B. das gesamte Areal um den Potsdamer Platz in Berlin 207, haben ein distinkt anderes Flair als etwa die Fußgängerzone in der Wilmersdorfer Straße, in der Straßenmusik zwar offiziell auch nicht erlaubt ist,208 aber dennoch ausgiebig stattfindet und meistens geduldet wird. Lieberwirth bezeichnet das innerstädtische Leben Leipzigs zu Zeiten der DDR, als Straßenmusik dort noch verboten war, als trostlos und eintönig.209 Straßenmusiker und andere Künstler verwandeln durch ihre Aktivitäten Orte in belebten Raum. Durch diesen transformativen Akt verändert sich temporär auch die Wahrnehmung der Stadt, die nun nicht mehr nur aus Beton und Stein besteht, sondern sich »in einen Raum des Spiels und der Freiheit verwandelt.«210 Bohlman legt am Beispiel Wiens dar, wie Straßenmusik neben anderen Musikarten die Musik Wiens mit ausmacht, den musikalischen Gesamteindruck mitbestimmt, der von der Stadt entsteht.211 Insofern gehört Straßenmusik durchaus zur Musikszene einer Stadt. Die Szene der Stadt zieht Straßenmusiker an, und Straßenmusiker prägen sowohl die Klangkulisse als auch das Flair der Stadt durch ihre Präsenz aktiv mit. Gerade die Gewöhnlichkeit solcher Phänomene wie Straßenmusik ist es auch, »which, in a sense, justifies their claim to being not merely in the city but of the city.«212 Straßenmusik findet nicht nur im Stadtraum Berlins statt, sie ist ein Teil davon und gehört zu Berlin. Müller beschreibt schon Mitte der 1980er Jahre die Atmosphäre unter den Straßenmusikern in der Großstadt Hamburg als deutlich offener und spontaner im Vergleich zu den meisten anderen deutschen Städten wie z. B. München und hebt zudem die große Anzahl an Musikern dort hervor.213 Köln und Wien gehörten – ebenso wie Berlin – nicht zu den Stationen seiner Reise, doch zeichnen die Darstellungen von Noll bzw. Fuchs und Stadelmann für diese Großstädte ein ähnlich vielfältiges Bild der dortigen Straßenmusiklandschaft. Berlin als größte Stadt Deutschlands – sowohl bezogen auf die Fläche als auch auf die Einwohnerzahl – verfügt nun insbesondere über ein derartiges liberales Flair, das auf Straßenmusiker aus aller Welt einladend wirken muss. Auf die konkreten Gründe hierfür gehe ich im Folgenden ein.
206 Vgl. ebd., 25 f. 207 Hier handelt es sich zum Großteil um Privatstraßen, und die Anlieger beschäftigen Sicherheitsdienste, die Straßenmusiker vertreiben. 208 Vgl. Abbildung 165 und Abbildung 166 in Anhang 3. 209 Vgl. Lieberwirth 1990: 16. 210 Beuth 2011: 104. 211 Vgl. Bohlman 2001: 200. 212 Vgl. Reyes Schramm 1982: 11. Hervorhebungen durch den Verfasser. 213 Vgl. Müller 1990: 60 ff.
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Ende 2013 hatte die Stadt gut 3,4 Millionen Einwohner.214 Dabei lag der Ausländeranteil in Berlin Mitte 2014 bei über 15 Prozent;215 etwa ein Viertel der hier lebenden Menschen hat einen Migrationshintergrund.216 2012 waren Menschen aus 186 Staaten in Berlin behördlich gemeldet.217 Internationalität und Vielfalt sind also durchaus kennzeichnend für Berlin. Die geographische Lage in einem auch nach Osten zunehmend offenen Deutschland und Europa ist zentral, es führen viele internationale Verkehrswege durch die Stadt. Spätestens seit Mitte der 1990er Jahre zieht Berlins Ruf als kreative, weltoffene und preiswerte Stadt viele Künstler und Kreative aus dem In- und Ausland hierher.218 Dabei sind neben dem guten Lebensstandard auch bei geringem Einkommen aufgrund vergleichsweise niedriger Mieten und Lebenshaltungskosten »das große kulturelle Angebot, die Internationalität, Offenheit und Toleranz, also die ›menschliche Vielfalt‹, die Lebendigkeit im Miteinander der Bewohner‹, die ›freie und tolerante Atmosphäre in der Stadt‹ sowie die ›Unkonventionalität‹« wichtige Standortfaktoren.219 Diese Wahrnehmung als Kulturzentrum und Kreativstadt zieht auch führende Unternehmen der Musikindustrie sowie weitere Akteure der Kreativwirtschaft an220 – und damit nicht zuletzt Straßenmusiker aus aller Welt. Auf diese Weise ist die Kultur- und Kreativwirtschaft nach wie vor ein bedeutender Wirtschaftsfaktor in der Region Berlin-Brandenburg.221 Geoff Stahl beschreibt, dass unter Montreals Musikern eine Verbindung gezogen wird zwischen dem lebhaften alternativen Kulturleben der Stadt und ihrem heruntergekommenen wirtschaftlichen Zustand.222 In Berlin ist die Situation ähnlich; trotz ihrer chronisch schlechten Finanzlage ist die Stadt ein Anziehungspunkt für Kreative und darunter auch Straßenmusiker. Berlins ehemaliger regierender Bürgermeister Klaus Wowereit hat das geflügelte Wort geprägt, das diesen Zustand marketingwirksam beschreibt: Berlin ist arm, aber sexy.223 Berlin gilt als cool und »versucht sein Image als ›Musikhauptstadt Deutschlands‹ zu pflegen.«224 Die Straßenmusik ist dabei ein wertvolles Kapital, denn sie kostet die klamme Stadt keinen Cent und wirkt doch als sofort sicht- und hörbares Aushängeschild für Toleranz, Kreativität usw. Straßenmusiker sind somit als Teil der der kreativen Klasse225 für Berlin von wirtschaftlicher Bedeutung, da sie die Stadt und damit auch den Tourismus beleben. Alenka Barber-Kersovan beschreibt das Verhältnis zwischen den Kreativen und der Stadt als symbiotisch. Diese bietet jenen »abwechslungsreiche und animierende Rahmenbedingungen, um sich entfalten zu können«, während die Kreativen »mit ihrem unkonventionellen, sich 214 215 216 217 218 219 220 221 222 223
Rund 3.422.000 Einwohner, vgl. Amt für Statistik Berlin-Brandenburg 2014c. 15,6 Prozent, vgl. Amt für Statistik Berlin-Brandenburg 2014b. Vgl. Kleff/Seidel 2009: 57. Vgl. Amt für Statistik Berlin-Brandenburg 2013. Vgl. Heinen 2013: 288 f. Vgl. IHK-Berlin et al. 2014: 47. Vgl. Heinen 2013: 24. Vgl. IHK-Berlin et al. 2014: 46. Vgl. Stahl 2007: 142. Zuerst 2003 in einem Interview mit dem Magazin Focus Money geäußert, OriginalWortlaut: »Wir sind zwar arm, aber trotzdem sexy.« (Vgl. Frey/Zwittlinger-Fritz 2003.) 224 Heinen 2013: 25. 225 Vgl. Creative Class bei Barber-Kersovan 2007: 12 f.
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durch Toleranz, Offenheit und Kommunikationsfreudigkeit auszeichnenden Lebensstil Wesentliches zum urbanen Flair« beitragen.226 Straßenmusik bzw. Straßenmusiker inszenieren sich allerdings nicht selbst als Event oder bewusster Teil der Musikkultur Berlins. Es gibt keine Form der Organisation. Weder wird Straßenmusik beworben, noch ist sie integriert in die allgegenwärtige Selbstthematisierung und -vermarktung der Stadt227 in jedweder medialen Form und jedwedem medialen kulturellen Feld. Straßenmusiker kooperieren auch nicht direkt mit den Institutionen der Stadt oder der Bezirke. Aus dem »Kontext des Kampfes um öffentlichen und privaten städtischen Raum«228 fallen Straßenmusiker heraus – sie erscheinen im Stadtraum und spielen unbekümmert drauflos. Die tolerante Duldung durch die Behörden und der lässige Umgang mit den Vorschriften an sich sind bereits ein Statement; dass es auch ganz anders geht, zeigen Städte wie München, die die Erlaubnis zum Musizieren im öffentlichen Raum sehr restriktiv handhaben. Andere Städte haben die kulturelle und wirtschaftliche Bedeutung von Straßenmusik erkannt und unterstützen diese aktiv, z. B. durch die Veranstaltung von Festivals229. Die Förderung einer lebendigen Musik- und Kunstszene, und dazu gehören auch Straßenmusiker, oder zumindest die Duldung der letztgenannten ist im Interesse sowohl der Gesellschaft als auch jeder Großstadt. Was für die Popmusik gilt, nämlich dass sich diese »als eines der Hauptsymbole urbaner Kreativität manifestiert«,230 stimmt für Straßenmusik ebenso. Neben den allgemein günstigen Bedingungen für Kreative zeichnet sich Berlin durch weitere strukturelle Charakteristika aus, die es von den meisten anderen (Groß-) Städten im deutschsprachigen Raum unterscheiden und damit für Straßenmusiker interessant machen. Noll hebt hervor, dass Köln unter anderem deshalb über eine reich entfaltete Straßenmusik verfüge, weil die am Dom beginnende Fußgängerzone des Einkaufszentrums verkehrsgünstig und zentral sowie ferner direkt am Hauptbahnhof gelegen sei.231 Bei Fuchs und Stadelmann konzentrieren sich die Beobachtungen in Wien ebenfalls auf die als Fußgängerzone neu gestaltete, im Stadtzentrum gelegene Kärntnerstraße.232 Und besonders in Müllers Beschreibungen einer Vielzahl westdeutscher Kleinstädte und Städte mittlerer Größe wird deutlich, dass es dort charakteristischerweise jeweils einen zentralen Stadtkern mit Fußgängerzone oder Marktplatz gibt, die Stellplätze und Nischen für Straßenmusiker bieten. Dabei zeichnen sich die einzelnen Städte durch überraschend unterschiedliche Atmosphären und Stimmungen aus, die es mal mehr, mal weniger angenehm und bzw. oder lukrativ machen, dort 226 Vgl. Barber-Kersovan 2007: 13. 227 Die Marketing- und Imagekampagne »be Berlin!« der Stadt Berlin hat seit 2008 zum Ziel, Berlin regional, national und international bekannter zu machen und als besondere Stadt zum Leben und Arbeiten zu positionieren. Zielgruppen sind Berliner, Berlin-Besucher, internationale Investoren, Berliner Unternehmen, Wissenschaftseinrichtungen sowie kreative Talente, vgl. www.sei.berlin.de. 228 Heinen 2013: 44. 229 Vgl. Nowakowski 2012: 180 f. 230 Heinen 2013: 24. 231 Vgl. Noll 1992: 96. 232 Vgl. Fuchs/Stadelmann 1987: 5.
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aufzutreten. Häufig grenzen diese Einkaufszentren auch direkt an den Hauptbahnhof, so dass zumindest per Bahn neu ankommende Musiker quasi direkt aus dem Zug auf ihre Bühne treten. Dies trifft gleichfalls auf die beiden Hauptzentren der Straßenmusik in Hamburg zu: Die Fußgängerzone in der Spitalerstraße beginnt eben am Hauptbahnhof, während die Ottenser Hauptstraße nahe am Bahnhof Altona liegt.233 Kokot nennt noch einige weitere Orte in Hamburg, die gelegentlich von Straßenmusikern bespielt werden, doch konzentriere sich der größte Teil auf die beiden bahnhofsnahen Einkaufsstraßen.234 Ganz anders sieht dagegen die Lage in Berlin aus: Die in mehreren Schritten erfolgte Eingemeindung zahlreicher Vorstädte bis zum Jahr 1920 hat bis heute ihre Spuren hinterlassen. Eine beträchtliche Zahl alter Stadtkerne (z. B. Altstadt Spandau, Altstadt Köpenick), ja sogar Dorfanger (Alt-Lankwitz, Alt-Reinickendorf, AltTempelhof usw.) verteilt sich auf das gesamte Stadtgebiet. Dazu kommt der Umstand der jahrzehntelangen Teilung der Stadt durch die Berliner Mauer bis zum Jahr 1990, wodurch sich einerseits bereits zwei Einkaufs- und Tourismuszentren herausbildeten, nämlich der Kurfürstendamm über die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche am Breitscheidplatz und die Tauentzienstraße bis zum Wittenbergplatz im Westen sowie daneben die Gegend um den Alexanderplatz im Ostteil der Stadt. Andererseits kam nach der deutschen Wiedervereinigung noch ein drittes Zentrum am neugestalteten, mittig gelegenen Areal um den Potsdamer Platz hinzu.235 Der Kurfürstendamm liegt zwar in unmittelbarer Nähe zu West-Berlins ehemaligem Fernbahnhof Zoologischer Garten, doch ist dieser seit der Neueröffnung des Hauptbahnhofs 2006 zum Regionalbahnhof degradiert.236 Der Hauptbahnhof seinerseits ist dagegen zentral, aber einkaufstechnisch quasi im Niemandsland gelegen. Ost-Berlins ehemaliger Hauptbahnhof wiederum, der heutige Ostbahnhof, liegt mittlerweile weder zentral noch in der Nähe zu Einkaufsstraßen. Es zeigt sich, dass Berlin über eine Vielzahl von Zentren mit teils recht verschiedenem Charakter verfügt, von denen sich durchaus einige für Straßenmusik eignen und auch rege genutzt werden. Es gibt schlichtweg nicht das eine oder die beiden Straßenmusikzentren in Berlin. Vielmehr bietet Berlin sozusagen alles in einem, das aber gut verteilt. Hier finden sich Orte mit völlig unterschiedlicher Atmosphäre: solche, die besonders von Touristen aufgesucht werden (z. B. die Gegend um den Hackeschen Markt oder die Museumsinsel im Bezirk Mitte), und andere, an denen vornehmlich Einheimische unterwegs sind (die Fußgängerzonen in Tegel und in der Wilmersdorfer Straße oder die Schloßstraße in Steglitz). Es sind Stellen mit Einkaufspublikum vorhanden (Alexanderplatz, Kurfürstendamm), an anderen verweilen die Menschen in Cafés oder Parks (Tegeler Hafen, Mauerpark), es gibt die Szeneviertel (Oranienstraße, Kiez um die Simon-Dach-Straße) sowie bürgerliche Wohngegenden (Wilmersdorf, Friedenau). Dazu kommen rund 50 U-Bahnhöfe, für die die BVG
233 Vgl. Kokot 2004: 30 ff. 234 Nakagawa (2005) lokalisiert in der japanischen Stadt Osaka vier Stellen im Stadtkern, an denen sich Straßenmusik konzentriert. 235 Hiermit wurde freilich nur der Vorkriegszustand wiederhergestellt, als der Potsdamer Platz das pulsierende Herz Berlins war. 236 Auch an den Bahnhöfen Alexanderplatz und Potsdamer Platz halten nur Regionalzüge.
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Spielgenehmigungen erteilt, und die oft vollbesetzten U- und S-Bahnzüge des Nahverkehrs. Dieses reichliche Angebot an Auftrittsorten macht Berlin zu einem besonderen Pflaster für Straßenmusiker, denn trotz der großen Anzahl an Künstlern gibt es immer genug Ausweichmöglichkeiten, so dass Konflikte selten vorkommen. Das mag mit ein Grund für die laxe Haltung der Ordnungsämter sein, die die Musiker in den allermeisten Fällen gewähren lassen, solange keine Beschwerden von Dritten erhoben werden. Auch diesen Umstand der wohlwollenden Duldung durch die Stadtverwaltung bezeichnet Noll nachvollziehbarerweise als förderlich für die Straßenmusik in einer Stadt.237 Die große Auswahl bringt es allerdings auch mit sich, dass man in Berlin das Passende am richtigen Ort zur richtigen Zeit bringen müsse, so die in Berlin lebende türkische Musikethnologin, Komponistin und Straßenmusikerin aus Leidenschaft Fulya Özlem, sonst gehe es als Straßenmusiker nicht gut. 238 Ein weiterer nicht zu vernachlässigender Punkt, der nicht nur in den Augen von Straßenmusikern einen Standortvorteil für Berlin bedeutet, ist die gute verkehrstechnische Infrastruktur, die die Distanzen zwischen den großen Bahnhöfen und den Orten, an denen Straßenmusiker bevorzugt auftreten, ausgleicht. Der öffentliche Personennahverkehr ist sehr gut ausgebaut, so dass man auch mit sperrigem Gepäck wie Instrumenten und Verstärkern bequem an alle relevanten Spielorte gelangt, wobei nicht selten phantasievolle Transporteinrichtungen eigener Konstruktion zum Einsatz kommen. Und sollte es doch einmal zu eng werden in Berlin, so ist Potsdam mit der S-Bahn lediglich eine gute halbe Stunde weit entfernt, und wenn man es geschickt anstellt, hat man sich bis zur Ankunft dort sogar den Fahrpreis erspielt. Straßenmusik ist ein urbanes Phänomen und findet im Stadtraum statt. Gleichzeitig sei nicht zu vergessen, dass der Term Straße in Straßenmusik nicht nur eine Ortsangabe ist, sondern auch eine soziokulturelle Komponente beinhaltet: die Straße steht in der Literatur wie in der Umgangssprache unter anderem als Synonym für Armut, Kriminalität, Obdachlosigkeit und Bedürftigkeit, für Schmutz, Gefahr, Scheitern – kurz für alles, was wir aus unserer Privatsphäre heraushalten wollen. »Die Großstadtstraße als Brennpunkt und Inbegriff urbaner Alltagswirklichkeit hat seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert mannigfache Spuren in der Literatur, bildenden Kunst, Fotografie und Filmkunst und Musik hinterlassen.«239 Michael Bywater beschreibt die Straße in Anlehnung an die Konzepte von Arnold van Gennep und Victor Turner als liminalen Raum, in dem sowohl Passanten als auch Performer sich in einem liminalen Zustand nämlich des Transits befinden.240 Heutzutage sind die alltäglichen Lebensbereiche Wohnen, Arbeit und Freizeitgestaltung nicht nur nach ihren Funktionen, sondern auch räumlich voneinander getrennt. In der Stadt legt der Pendler deshalb häufig weite Strecken zwischen diesen Orten zurück, wobei die Straße, der Bahnhof, die U-Bahn etc. lediglich Mittel zum Zweck ist und oftmals als notwendiges Übel und lästiger Zeitfresser wahrgenommen wird. Marc Augé entwickelt das 237 238 239 240
Vgl. Noll 1992: 96. Vgl. Özlem 2009. Krettenauer 1997: 20. Vgl. Bywater 2006: 102 f.
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Konzept vom Nicht-Ort für solche Räume, die sich weder aus einem historischen Kontext ableiten noch individuelle Identität stiften oder soziale Relationen erzeugen.241 Stattdessen schafft der »Raum des Nicht-Ortes […] Einsamkeit und Ähnlichkeit«242 sowie das Gefühl, ständig auf der Durchreise zu sein. Zu den Nicht-Orten gehören für Augé etwa Schnellstraßen, Autobahnkreuze und Flughäfen ebenso wie die Verkehrsmittel selbst oder die großen Einkaufszentren und Fußgängerzonen.243 Zum Entstehen von anthropologischen – im Sinne von natürlich gewachsenen – Orten hingegen, so Augé, sind das Zusammenkommen und die soziale Interaktion von Individuen nötig.244 Straßenmusiker definieren mit ihren Auftritten den zweckorientierten urbanen Transitraum um, geben ihm ein Gesicht und laden zum Verweilen ein. Indem sie die Interaktion fördern, holen sie die Menschen aus ihren anonymen Parallelwelten zurück in die Realität, ins Hier und Jetzt auch von Nicht-Orten und transformieren diese somit zumindest temporär durch das gemeinsam Erlebte und den direkten Situationsbezug. Ihre Auftrittsorte müssen von ihnen gleichwohl als solche erst konstruiert bzw. umgedeutet werden, weil sie eigentlich für andere Zwecke geschaffen sind – z. B. Verkehr, Einkaufen, Arbeit – im Gegensatz zu Orten wie Konzerthallen, die in unserer Gesellschaft Musikern für gewöhnlich als Räume zum Musizieren zugewiesen werden. Der Straßenkünstler stellt also seinen Auftrittsort selbst her, nimmt sich den dazu nötigen Raum 245 und steckt diesen Claim für sich ab, wodurch er das Erscheinungsbild von Stadt und Straße verändert.246 »In these musical moments the street is less a space of social poverty, criminality or at least liminality – as formerly – than of cultural celebration and urban energy, ›suggest[ing] a vibrant cityscape […] that challenges the anonymity (and alternative noises) of public space‹.«247 Durch Straßenmusik und andere Performances im städtischen Raum entstehen in der anonymen Transitwelt Straße menschliche Orte der sozialen Interaktion und Begegnung durch die Kopräsenz von Künstlern und Publikum. Hierin sieht Katia Beuth […] eine soziale Praxis, die einen temporären anthropologischen Ort erzeugt. Indem sie [die Performer, M.N.] die Potentiale des Raumes nutzen, ihn auch entgegen seiner zweckrationalen Bestimmung verwenden, gelingt es ihnen, […] in den elektronisierten und informatisierten Riesenstädten einen Raum der Freiheit, der Phantasie und des Spiels zu schaffen, der durch die gemeinsame Erfahrung entsteht und gemeinsam erfahren werden kann.248
Im Gegensatz dazu und in Konkurrenz zur akustischen Wahrnehmung und Nutzung des Stadtraums stehen der Wandel der Hörgewohnheiten sowie der Zuordnung von 241 242 243 244 245 246 247
Vgl. Augé 1994: 92. Ebd., 121. Vgl. ebd., 44. Vgl. ebd., 130. Vgl. engl.: to take place und auch dt.: Statt finden. Vgl. Bywater 2006: 107 f. McKay 2007: 22. Ergänzung und Auslassung wurden übernommen. Der Teil in einfachen Anführungszeichen ist ein Zitat aus Connell/Gibson 2003: 193. 248 Beuth 2011: 136.
44 | S TRASSENMUSIK IM Ü BERBLICK
Bedeutungen zu bestimmten Orten. In früheren Zeiten spielte sich das Leben der Menschen viel stärker in der Öffentlichkeit ab, Unterhaltung fand man in erster Linie auf der Straße. Entertainer wie Straßenmusiker waren damals eine willkommene Abwechslung im Alltag. Und während Kunst und Unterhaltung früher zumeist an festliche bzw. sakrale Ereignisse, Zeiten und Orte gebunden waren, sind sie nun jederzeit zugänglich: in Kinos, Konzerthallen etc. und nicht zuletzt vor dem heimischen Fernsehgerät oder Multimedia-Computer ist immerzu Festival. Zugleich hat Musik im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit Orte infiltriert, denen sie früher fremd war, z. B. Fabriken, Supermärkte oder Züge.249 Im Zuge der massenmedialen Umwälzungen lassen sich zwei Phasen der Veränderungen im Musikkonsum ausmachen: Zuerst fand durch das Aufkommen von Heimgeräten wie Schallplattenspielern, Tonbandgeräten, Radio und TV eine Privatisierung der Musik statt. Der Konsum verlagerte sich vom öffentlichen Raum nach Hause,250 wo das musikalische Erlebnis nach Belieben reproduziert werden konnte. Später wurde schließlich durch die Entwicklung mobiler Geräte wie des Walkmans oder Autoradios und in jüngster Zeit durch die Verbreitung des Internets sowie portabler digitaler Wiedergabegeräte wie mp3-Spieler oder moderner Smartphones und Tablet-Computer die Privatisierung auch des öffentlichen Raums vollzogen. Der Konsum von Musik und sogar Filmen mittels Kopfhörern in der Öffentlichkeit schafft einen Raum des Privaten, sozusagen eine individuelle, portable Umgebung wie eine imaginäre Blase, von der gleichzeitig Anwesende ausgeschlossen bleiben. Unterhaltung und insbesondere das Anhören von Musik spielen sich somit heute vorrangig in der – zumindest gefühlten bzw. konstruierten – Privatsphäre ab. Dies geht mit einer starken Einschränkung der Wahrnehmung der realen akustischen Umgebung im öffentlichen Raum einher. Verschärft wird dieser Umstand durch die allgemeine Verbreitung von Smartphones und TabletComputern, die mit ihren Vernetzungs- und Unterhaltungsmöglichkeiten nahezu die komplette Aufmerksamkeit ihrer Benutzer bannen. Durch die oben beschriebene Förderung der Interaktion unter Fremden im nichtprivaten Raum wirkt Straßenmusik der Verinselung der Menschen im Straßenraum entgegen. Sie dient als Katalysator für das Entstehen von Öffentlichkeit, die einander fremden Menschen die Möglichkeit gibt, sich zu begegnen, miteinander umgehen und kommunizieren zu können.251 Im Stadtraum Berlin lassen sich vier Raumkategorien unterscheiden, in welchen Straßenmusiker bevorzugt in Erscheinung treten und die in personeller Hinsicht relativ stark voneinander abgegrenzt sind: 1. Alle Orte, die dem sogenannten öffentlichen Straßenland zuzurechnen sind, wie Straßen, Fußgängerzonen, Plätze oder Parkanlagen.252 Hier finden sich die größte Zahl der Musiker und auch das breiteste Spektrum an Instrumenten, Stilen und Herkunft. 249 250 251 252
Vgl. Prato 1984: 153. Vgl. ebd., 162. Vgl. Eckel 1996: 171. Vgl. Welz 1991 zu speziellen städtischen Orten wie der Straße als Interaktions- und Alltagsraum.
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2. Cafés und Restaurants bzw. besonders in den Sommermonaten die Gehwegflächen davor. Die Musiker, die hier tätig sind, gehen zumeist gut vorbereitet und mit Bedacht ans Werk, denn es gilt in diesem Bereich in besonderem Maße, das Publikum weder zu langweilen noch zu belästigen. So lassen sich zum einen nach dem Auftritt hohe Einnahmen und zum anderen die Duldung durch das Personal auch beim nächsten Erscheinen sicherstellen. 3. U-Bahnhöfe253 und nur vereinzelt S-Bahnhöfe sowie 4. U- und S-Bahnen254 – hier dominieren mittlerweile Musiker aus Osteuropa. Die meisten Straßenmusiker entscheiden sich in der Hauptsache für einen dieser Bereiche, besonders die Trennung zwischen ober- und unterirdisch (Kategorien 1 und 3) zeigt sich.255 Auch Kokot zitiert einen Kneipenmusiker, der von einer deutlichen Linie zwischen Straßen- und Kneipenmusik in Hamburg spricht (Kategorien 1 und 2).256 Gleichwohl dienen Bahnhöfe und Züge einigen Straßenmusikern im Winter als Refugium, wenn es im Freien zu kalt und ungemütlich wird. Ein wesentlicher Unterschied besteht zwischen Straßenmusik in Räumen der Kategorien 1 und 3 und der beiden übrigen Kategorien: Während im öffentlichen Straßenraum oder in den Bahnhöfen die Musiker fest an Ort und Stelle gebunden sind und das Publikum aus Passanten besteht, verhält es sich in Cafés oder Zügen genau andersherum – dort haben die Zuhörer Platz genommen, während die Musiker kommen und gehen. Das kann durchaus zu Spannungen führen, denn anders als auf der Straße können die Restaurant- oder Fahrgäste hier nicht einfach den Ort wechseln, falls ihnen die Musik nicht zusagt. Wer sich zum Zuhören gezwungen fühlt, kann verständlicherweise Aggressionen entwickeln, wie entsprechende Berichte in den Medien gelegentlich belegen.257 Ähnliches gilt im übrigen für die Anrainer von Orten im Stadtraum, die bei Straßenmusikern beliebt sind, etwa in Fußgängerzonen. Der Passant als – im Wortsinne – vorübergehender Zuhörer ist hier dem Anwohner oder Beschäftigten eines Geschäfts gegenüber im Vorteil. Zwischen letzteren und den Straßenmusikern bzw. dem geneigten Publikum besteht ein Interessenkonflikt. Im Umgang damit findet jede Kommune ihren eigenen Umgang: Während in München ein Stadtbeamter über die auf wenige pro Tag limitierten Spielerlaubnisse bestimmt, gelten in vielen deutschen Städten ähnliche Regelungen wie in Berlin (siehe nächster Abschnitt); bisweilen werden Alternativen diskutiert wie beispielsweise in Hannover die Einführung eines Dudeldiploms auf Antrag eines Stadtratsmitgliedes.258
253 254 255 256 257 258
Vgl. Hengartner 1994 zum Bahnhof als Ort urbanen Lebens. Vgl. Lindner 1994 zur »U-Bahn als paradigmatischer Ort« sowie Letsch 1994. Vgl. Abschnitt 5.12. Vgl. Kokot 2004: 39. Vgl. z. B. Loy/Mugnier 2012. Vgl. Christmann 2007.
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2.5
ZUR RECHTLICHEN SITUATION VON STRASSENMUSIKERN IN BERLIN
Schon seit Jahrhunderten wurde an vielen Orten versucht, Musik im öffentlichen Raum mittels Gesetzen und Verordnungen zu kontrollieren. Sie wurde von offiziellen Seiten boykottiert, behindert und verboten, so etwa im Paris der 1830er Jahre oder 1864 mit dem Street Music Act in London.259 In Berlin gibt es die im vorigen Kapitel vorgestellten unterschiedlichen Kategorien von Räumen, in denen Straßenmusiker – legal oder illegal – agieren. Die rechtlichen Bestimmungen und die Praxis bei deren Durchsetzung variieren. In den folgenden Abschnitten werden die entsprechenden Regelungen und deren praktische Relevanz für jede Raumkategorie dargestellt. Auch wird die Frage diskutiert, ob Straßenmusik eine Erwerbstätigkeit sei, für die gegebenenfalls Abgaben zu leisten wären. Am Ende dieses Teils wird ferner auf die spezielle rechtliche Situation von Ausländern eingegangen. Da die Anwendung und Auslegung der relevanten Paragraphen in den einzelnen Städten und Gemeinden Deutschlands teils sehr unterschiedlich gehandhabt werden, wird hier insbesondere die Lage in Berlin beschrieben, während einige andere Städte als Beispiele für abweichende Praxis vorgestellt werden.
2.5.1
Straßenmusik im öffentlichen Straßenland
Nach § 11 Abs. 1 des Berliner Straßengesetzes ist »jeder Gebrauch der öffentlichen Straßen, der über den Gemeingebrauch hinausgeht, [...] eine Sondernutzung und bedarf unbeschadet sonstiger Vorschriften der Erlaubnis der Straßenbaubehörde.«260 Das gilt im Prinzip auch für Straßenmusik. Weiter heißt es jedoch, diese Erlaubnis solle in der Regel erteilt werden, »wenn überwiegende öffentliche Interessen der Sondernutzung nicht entgegenstehen [...]«261 In § 5 des Landes-Immissionsschutzgesetzes Berlin steht außerdem: »Tonwiedergabegeräte und Musikinstrumente dürfen nicht in einer Lautstärke benutzt werden, durch die jemand erheblich gestört wird.«262 Damit ist der rechtliche Rahmen abgesteckt. Um in der Praxis Diskussionen und Auseinandersetzungen zwischen Straßenmusikern und Polizei bzw. Ordnungsamt zu vermeiden, gibt Berlin wie andere Städte auch ein Merkblatt zu Straßenmusik / unverstärkt heraus,263 auf dem alle wichtigen Details festgehalten sind. So gilt hier wie in den meisten Städten in Deutschland, dass die Verwendung von Verstärkern und Tonwiedergabegeräten prinzipiell untersagt und sondergenehmigungspflichtig ist. In der Praxis will man sich damit gegen die Verwendung lauter Verstärkeranlagen verwahren. Deshalb werden kleine Kofferverstärker, wie sie heutzutage z. B. für akustische Gitarren oder für Keyboards weit verbreitet sind, in Berlin 259 260 261 262 263
Vgl. McKay 2007: 22. Vgl. § 11 Abs. 1 BerlStrG. Vgl. § 11 Abs. 2 Satz 1 BerlStrG. Vgl. § 5 LImSchG Bln. Erhältlich beim Bezirksamt Mitte von Berlin, Abteilung Stadtentwicklung, Amt für Umwelt und Natur. Siehe auch Abbildung 165 in Anhang 3.
Z UR RECHTLICHEN SITUATION VON S TRASSENMUSIKERN IN B ERLIN | 47
durchweg geduldet. Gleiches gilt für gemäßigtes Trommel- und Schlagzeugspiel. Ferner sind generell folgende hier wörtlich übernommene Punkte zu beachten: 1. Es soll nur in der Zeit von 08.00 bis 13.00 und 15.00 bis 20.00 Uhr musiziert werden. 2. Die Darbietung darf nicht länger als 60 Minuten an einem Standort sein. 3. Es soll ein Abstand von 20 m zum nächsten Wohnhaus und 4. ein Abstand von 40 m zu empfindlichen Einrichtungen wie Krankenhäusern, Altenheimen oder Kirchen während des Gottesdienstes eingehalten werden. Auf bestimmten Plätzen sind zwar laut dem Merkblatt aus Lärmschutzgründen keine Darbietungen möglich: Das schließt etwa den Hackeschen Markt, den Alexanderplatz oder die Fußgängerzone in der Wilmersdorfer Straße ein, die sämtlich zu den bevorzugten Auftrittsorten für Straßenmusiker in Berlin zählen. Das Verbot wird aber einzig am Potsdamer Platz konsequent durchgesetzt, worauf der dortige private Wachschutz penibel achtet. Auch im Mauerpark soll seit Herbst 2010 das Ordnungsamt nach Anwohnerbeschwerden neuerdings Spielverbote ausgesprochen und tatsächlich durchgesetzt haben, wie mir Straßenmusiker berichteten. Offenbar machen die Bezirke ihren Ordnungsbeamten unterschiedliche Vorgaben, denn in einem Telefonat mit dem Bezirksamt von Charlottenburg-Wilmersdorf wurde mir mitgeteilt, die Höchstspieldauer an einem Ort betrage 30 Minuten, bei Blasinstrumenten wie Trompete und Posaune sei zudem nach jeweils 15 Minuten eine zehnminütige Pause einzulegen. Zumindest in der Wilmersdorfer Straße halten sich viele Straßenmusiker nach meiner Beobachtung auch daran. Faktisch schreiten Polizei und Ordnungsamt allerdings fast nur dann ein, wenn es Beschwerden von Anwohnern oder Geschäftsleuten gibt. Dann wird der Musiker zum Ortswechsel aufgefordert, und nur im äußersten Fall wird ein förmlicher Platzverweis erteilt; man ist insgesamt um einen gemäßigten Umgang miteinander und um die Vermeidung von Konflikten bemüht.264 Tatsächlich berichten auch viele von mir interviewte Straßenmusiker von positiven Erfahrungen mit der Berliner Polizei, z. B. die Musiker von → The Benka Boradovsky Bordello Band 265. Der Saxophonist → Gal berichtet sogar von einer Begebenheit, bei der ihm ein Streifenpolizist einen Becher Kaffee vorbeigebracht habe.266 Viele deutsche Städte erkennen den Wert der Straßenmusik für ihre öffentlichen Straßen und Plätze mittlerweile an. Die Stadt Frankfurt am Main beispielsweise »betrachtet Straßenmusik im Allgemeinen als kulturelle Bereicherung und insbesondere
264 In einem Zeitungsinterview entgegnet die für den Alexanderplatz und Umgebung zuständige Kontaktbereichsbeamtin der Berliner Polizei auf die Frage: Wo drücken Sie denn ein Auge zu? folgendes: »Bei den Straßenmusikern. Die dürfen ohne Genehmigung eigentlich nur eine halbe Stunde und ohne Verstärker spielen. Wir haben einen, der spielt richtig gut, da sagen wir, okay, leben und leben lassen. Das ist auch das Ziel meiner Kollegen. Sonst wäre dieser Platz ja tot.« (Vgl. Deckwerth/Bombosch 2013.) 265 Vgl. Abschnitt 4.1.13. 266 Vgl. Abschnitt 4.1.31.
48 | S TRASSENMUSIK IM Ü BERBLICK
als belebendes Element in den Fußgängerzonen.«267 In Köln, Hamburg oder Göttingen sind die Verhaltensweisen von Straßenmusikern im öffentlichen Raum ähnlich geregelt wie in Berlin.268 München hingegen hat sehr restriktive Vorschriften und geht auch heute noch strikt gegen Verstöße dagegen sowie das Spiel ohne Genehmigung vor.269 Ebenso gibt es in Köln Kontrolleure, die über die Einhaltung der Höchstspieldauer von dort 20 Minuten an einem Ort wachen und nötigenfalls sogar Bußgelder verhängen.270 Im Extremfall werden in Köln wie in München Instrumente und Verstärker beschlagnahmt, eine Praxis, die in Berlin gänzlich unbekannt ist. Berlin unterscheidet sich freilich in einem wichtigen Punkt von den meisten deutschen Städten, auch den großen: Es gibt hier reichlich Plätze, die sich für Straßenmusik eignen und über das gesamte Stadtgebiet verteilt sind, so dass restriktive Regelungen oder Kontrollen gar nicht nötig sind, weil es genug Ausweichmöglichkeiten auch für eine sehr große Anzahl von Musikern gibt. Es ist schlichtweg genug Platz für alle da, anders als in anderen Städten, in denen sich Alles in einer oder zwei zentralen Einkaufsstraßen drängt.271
2.5.2
Musik vor und in Lokalen
In diesem Abschnitt geht es nicht um Auftritte von engagierten Musikern, die in der jeweiligen Lokalität angekündigt und geplant sind. Bei Bars, Cafés, Restaurants und ähnlichen Gaststätten handelt es sich um privaten Raum. Damit unterliegen solche Orte der zugangsrechtlichen Kontrolle der Besitzer, die hier das Hausrecht ausüben und damit entscheiden können, wen sie unter welchen Bedingungen in ihre Räumlichkeiten lassen und wen nicht. Unter bestimmten Umständen ist auch die Erteilung eines Hausverbots zulässig. Mit anderen Worten: Hier ist der Straßenmusiker vom Gutdünken des Gaststättenbetreibers abhängig und fragt am besten einfach nach. Dies gilt allerdings nur in den Lokalräumen selbst. Davor befindet sich der Musiker auf öffentlichem Straßenland, auch wenn der Wirt kraft einer Sondernutzungsgenehmigung Stühle und Tische darauf aufgestellt hat. Es ist indessen offensichtlich, dass der Cafébesitzer hier freilich über eine Beschwerde bei der Polizei oder beim Ordnungsamt problemlos auf die Entfernung eines ungebetenen Straßenmusikers hinwirken kann. Letztlich ist es für die Lokalbetreiber eine Sache des Ermessens, ob sie Straßenmusiker bei sich dulden oder nicht. Dies hängt sicherlich entscheidend von der Art und Ausrichtung sowie der Kundschaft des jeweiligen Ortes ab. Es gilt abzuwägen zwischen der wünschenswerten Unterhaltung der Gäste einerseits und ihrer Belästi267 Vgl. Frankfurt (Internet). 268 Vgl. z. B. das Merkblatt für Straßenmusik und Straßentheater, erhältlich beim Bezirksamt Hamburg-Mitte, Fachamt Management des öffentlichen Raumes. Siehe auch Abbildung 164 in Anhang 3. 269 Am 13.08.2009 wurde im ZDF-Magazin hallo deutschland ein gut fünfminütiger Beitrag unter dem Titel »Straßenmusiker-Kontrolle in München« ausgestrahlt, der einen Kontrolleur der Stadt München bei der Überprüfung der amtlichen Spiellizenzen in der Innenstadt zeigt. 270 Vgl. Seiffert/Überall 2006. 271 Vgl. Abschnitt 5.12.
Z UR RECHTLICHEN SITUATION VON S TRASSENMUSIKERN IN B ERLIN | 49
gung bzw. auch der potentiellen Ruhestörung der Anwohner andererseits, welche tunlichst zu vermeiden sind. Für die Straßenmusiker bedeutet dies eine verstärkte Qualitätslese im Vergleich zum Spiel im übrigen öffentlichen Raum. Denn ein guter Unterhalter macht Stimmung unter den Besuchern und ist somit immer wieder willkommen, während eine Nervensäge sie eher vergrault und beim nächsten Mal wohl keine Spielerlaubnis mehr bekommen wird. Die Praxis zeigt dann auch eine sehr individuelle Handhabung durch die verschiedenen Cafés und Restaurants. Allerdings gibt es Gegenden wie die Bergmann- und die Oranienstraße in Kreuzberg oder die Simon-Dach-Straße im Friedrichshain, die geradezu dafür bekannt sind, dass dort permanent wechselnde, oft hochwertige musikalische Unterhaltung geboten wird. Hier verständigen sich die Straßenmusiker im Normalfall untereinander darüber, wo sie gern gesehen sind und wer wann und wo wie lange spielt. Konflikte sind dabei eher die Ausnahme. Übrigens gehören Örtlichkeiten wie Ladenpassagen oder Einkaufszentren auch zum privaten und nicht zum öffentlichen Raum, selbst wenn das in der Öffentlichkeit unter Umständen anders wahrgenommen wird. Folglich gilt hier aus rechtlicher Sicht das gleiche wie für Cafés und Restaurants. In der Regel ist das Musizieren an solchen Stellen nicht gestattet, zumal die Ladenbesitzer ihr Publikum im Zweifel lieber mit selbst ausgewählter und zum Geschäftsimage passender Musik von Tonträgern beschallen.
2.5.3
Musik auf U-Bahnhöfen
Die Berliner U-Bahn gehört zu den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG). Diese sind als Anstalt des öffentlichen Rechts rechtlich selbständig – damit gilt für die Bahnhofsanlagen prinzipiell das im vorigen Abschnitt Gesagte bezüglich des Hausrechts, das vom Betriebspersonal ausgeübt wird. Die BVG ist Teil des Verkehrsverbundes Berlin-Brandenburg (VBB), in dem die Benutzung von Verkehrsmitteln und Betriebsanlagen durch die gemeinsamen Beförderungsbedingungen und Tarifbestimmungen272 geregelt ist. In § 4 Abs. 2 Nr. 10 der Beförderungsbedingungen wird es Fahrgästen insbesondere untersagt, »Tonwiedergabegeräte, Tonrundfunkempfänger oder Musikinstrumente zu benutzen (außer bei Vorliegen einer schriftlichen Erlaubnis des jeweiligen Verkehrsunternehmens) [...]«273 Bei der BVG ist es bereits seit 1987 Tradition, Musikgenehmigungen274 für eine Auswahl geeigneter U-Bahnhöfe zu erteilen.275 Dazu findet jeweils am Mittwochmorgen von 7 bis 11 Uhr an einem speziell zu diesem Zweck eingerichteten Schalter im U-Bahnhof Rathaus Steglitz eine Vergabe statt, vgl. Abbildung 3. Unter den wartenden Musikern und Gruppen bis zu maximal drei Personen werden die U-Bahnhöfe jeweils für die gesamte folgende Kalenderwoche verteilt. Wer zuerst in der Schlange steht, hat die freie Auswahl, alle anderen müssen jeweils mit dem vorliebnehmen, was noch übrig ist. Die Künstler veranstalten häufig in eigener Verantwortung vor Schalteröffnung eine Lotterie un-
272 273 274 275
Vgl. VBB 2010. Ebd., 13. Vgl. Abbildung 168 in Anhang 3. Vgl. BVG 2010 (Internet).
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tereinander, bei der die Listenplätze ausgelost werden.276 Auf diese Weise braucht sich niemand schon um vier Uhr am Schalter anzustellen, wenn der U-Bahnhof öffnet, nur um der erste zu sein. Die Genehmigungen kosten aktuell € 7,20 pro Tag, darin ist das Beförderungsentgelt für die An- und Abfahrt mit der U-Bahn bereits enthalten.277 Nach Angaben der BVG278 sind als Instrumente insbesondere Keyboard, Gitarre, Mundharmonika, Akkordeon, Streichinstrumente von der Violine bis zum Kontrabass, Xylophon, Harfe, diverse Flöten, Melodika, Klarinette, Didgeridoo und Gesang erlaubt. Die Nutzung von Tonwiedergabegeräten ist in – nach Ermessen des Betriebspersonals – normaler Lautstärke ebenfalls gestattet. Genehmigungen für Blechblasinstrumente werden wegen der Lautstärke grundsätzlich nicht erteilt. Auch Verstärker sind prinzipiell nicht zugelassen, werden jedoch in der Praxis geduldet, solange die Lautstärke analog den Tonwiedergabegeräten im Toleranzbereich bleibt.
Abbildung 3: BVG-Schalter »Genehmigung zum Musizieren auf den U-Bahnhöfen« im U-Bahnhof Rathaus Steglitz, 29. Oktober 2014, 7 Uhr
Im Jahr 2011 waren gut 50 U-Bahnhöfe zum Musizieren zugelassen.279 Monatlich stellt die BVG nach eigenen Angaben durchschnittlich etwa 60 Lizenzen aus. Die Anzahl der ausgegebenen Genehmigungen variiert allerdings stark. Faktoren sind beispielsweise die Jahreszeit, aber auch Feiertage. Die Advents- und Weihnachtszeit ist besonders begehrt, so dass der Schalter im Dezember wegen des großen Andrangs häufig bis zum Nachmittag geöffnet bleibt. Am stärksten nachgefragt sind bei den Musikerinnen und Musikern naturgemäß Bahnhöfe mit hoher Publikumsfrequenz 276 277 278 279
Vgl. Abbildung 167 in Anhang 3. Vgl. BVG 2014 (Internet). E-Mail der BVG-Pressestelle vom 16.06.2014. Vgl. Abbildung 169 in Anhang 3.
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wie Alexanderplatz (Linien U2, U5, U8), Potsdamer Platz und Stadtmitte (U2), Schloßstraße (U9), Berliner Straße (U7, U9) oder Hallesches Tor (U1, U6). Eine Auswahl nach musikalischem Können oder anderen Kriterien wie etwa bei den Pariser, Londoner oder New Yorker Verkehrsbetrieben findet bei der BVG nicht statt.280
2.5.4
Musik auf S-Bahnhöfen
Die S-Bahn Berlin GmbH ist ein Tochterunternehmen der Deutschen Bahn AG und wie die BVG Mitglied im VBB. Damit gelten hier die gleichen Beförderungsbedingungen. Des weiteren regelt sich das Verhalten auf den S-Bahnhöfen nach der Hausordnung für Bahnhöfe der Deutschen Bahn AG. Live-Musik ist danach nur mit Genehmigung gestattet. Diese Genehmigung wird nach Prüfung lediglich für besondere Veranstaltungen in Bahnhöfen erteilt.281 Im Gegensatz zur U-Bahn gibt es hier also keine Musiklizenzen, das Spielen ist schlicht verboten und wird im Normalfall auch nicht geduldet.282 Davon gibt es nur wenige Ausnahmen. Sowohl am westlichen als auch am östlichen Ausgang des S-Bahnhofs Hackescher Markt etwa, die gleichzeitig als Fußgängerunterführungen unter dem Bahn-Viadukt dienen, trifft man häufig Musiker an den Treppen, die zum Bahnsteig hochführen. Auch im Bahnhofsgebäude des S- und Regionalbahnhofs Charlottenburg sitzen regelmäßig Musiker.
2.5.5
Fahrende Musiker: Musik in U- und S-Bahnen
Zum Musizieren in den Zügen der U- und S-Bahn in Berlin werden generell keine Genehmigungen durch die Betreiberunternehmen erteilt. Hier gilt im übrigen wie auch auf den Bahnhöfen § 4 Abs. 2 Nr. 10 der Beförderungsbedingungen des VBB. Das Musikverbot wird einerseits mit dem Ruhebedürfnis der Fahrgäste begründet, andererseits stört laute Musik die Orientierung blinder Menschen, und es muss immer gewährleistet sein, dass Ansagen verständlich bleiben. Ungeachtet des Verbots ist aber in beiden Verkehrsmitteln eine große Zahl von Musikern unterwegs. Diese steigen im Normalfall für zwei Stationen, neuerdings oftmals nur noch für einen Halt, zu und bringen zumeist in der Mitte des Wagens ein bis zwei Stücke zur Darbietung, bevor sie bei den Fahrgästen Geldspenden einsammeln. Bei Duos spielt häufig ein Musiker weiter, während der andere durch den Waggon geht und die Münzen erntet.283 Für gewöhnlich durchqueren sie so der Länge nach den ganzen Zug (sechs 280 Zum MUNY-Programm (Music Under New York) auf New Yorker U-Bahnhöfen vgl. Tanenbaum 1995: x, 5 f. und zahlreiche weitere Stellen. 281 E-Mail der Pressestelle der S-Bahn Berlin GmbH vom 02.03.2010. 282 Mobiles Personal, das in der Regel mehrere Bahnhöfe beaufsichtigt, setzt hier das Hausrecht durch. 283 Seit vielen Jahrzehnten sind bei U- und S-Bahn Waggons im Einsatz, die über drei Türen pro Seite verfügen und miteinander nicht begehbar verbunden sind. In den letzten Jahren wurden neue Baureihen eingeführt. Bei der S-Bahn sind nun je zwei Wagen durchgängig begehbar, während bei der U-Bahn gleich komplette Züge eine Einheit bilden. Diese neuen Entwicklungen wirken sich auch auf die Musiker aus, für die es dadurch schwieriger geworden ist, eine geschlossene Einheit zu bespielen.
52 | S TRASSENMUSIK IM Ü BERBLICK
bis acht Wagen zu den Hauptverkehrszeiten) mit Ausnahme des Triebwagens, in dem der Fahrer sitzt. Hier ist das Risiko einer Entdeckung zu groß. Diese Gefahr hält ansonsten offenbar nicht von der Praxis ab, zumal die möglichen Sanktionen recht begrenzt sind, solange ein gültiger Fahrausweis vorhanden ist. Faktisch werden die Musiker von den Verkehrsunternehmen gezwungenermaßen geduldet, denn einerseits gibt es zu viele Züge, andererseits zu wenig Personal, um das Hausrecht konsequent durchzusetzen. Allerdings haben die im Auftrag arbeitenden Sicherheitsdienste die Anweisung, Musikgruppen aus den Wagen zu verweisen, wenn sie diese antreffen.284 Bei notorischen Wiederholungstätern werden auch auf drei Monate bis ein Jahr befristete Betretungsverbote und als nächste Stufe unbefristete Hausverbote verhängt, die sich dann auf alle Betriebsanlagen erstrecken. Wird gegen diese verstoßen, kann dies als Hausfriedensbruch zur Anzeige gebracht werden, was in der Praxis auch vereinzelt geschieht. Bei der U-Bahn sind im Prinzip alle Strecken innerhalb des S-Bahnrings recht stark frequentiert, während bei der S-Bahn die Stadtbahn (Ost-West-Strecke) sowie die Nord-Süd-Bahn und einige Abschnitte des Rings, vor allem im Süden und Osten, besonders beliebt sind. Die ebenfalls die Stadt durchquerenden Züge des Regionalverkehrs, die sich mit ihrem großen Pendlerpublikum prinzipiell für Musiker anbieten würden, sind hingegen uninteressant für diese: Hier befinden sich regelmäßig Schaffner an Bord, die das Hausrecht durchsetzen könnten. Außerdem ist die Aufteilung der Waggons unvorteilhaft.
2.5.6
Finanzrechtliche Einordnung
Einen wichtigen Aspekt des Musizierens im öffentlichen Raum stellt das Geld dar, das die Zuhörer den Künstlern spenden. Eigentlich braucht nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 der Gewerbeordnung derjenige eine Reisegewerbekarte, der »unterhaltende Tätigkeiten als Schausteller oder nach Schaustellerart ausübt.«285 Es ist zunächst zu fragen, ob Straßenmusik, bei der das Publikum dem Musiker aus freien Stücken Geld gibt, eine Erwerbstätigkeit darstellt. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in seinem Straßenmusikanten-Urteil vom 03. April 1994 für Straßenmusik auf öffentlichen Wegen festgestellt, »dass eine Dienstleistung nur dann gegen Entgelt erbracht wird und somit steuerpflichtig ist, wenn zwischen dem Leistenden und dem Leistungsempfänger ein Rechtsverhältnis besteht, in dessen Rahmen gegenseitige Leistungen ausgetauscht werden.«286 Diesen Leistungsaustausch lehnt der EuGH jedoch wegen des fehlenden Rechtsverhältnisses oder zumindest einer Vereinbarung zwischen Straßenmusikern und ihren Zuhörern ab. Straßenmusiker und ihr Publikum erfüllen einander keine Verbindlichkeiten, weshalb von diesen auch keine Umsatzsteuer abzuführen ist. Wenn man dieser Argumentation folgt, dass die Einnahmen aus der Straßenmusik kein Entgelt darstellen, weil sie nicht als vertragliche Gegenleistung für die dargebotene Kunst betrachtet werden, so kann auch keine Erwerbstätigkeit vorliegen. Im übrigen falle Straßenmu284 Vgl. Rank 2012. 285 Vgl. § 55 Abs. 1 Nr. 2 GewO. 286 Vgl. EuGHE 1994, 743, UR 1994, 399 (400, Rz. 14), wiedergegeben in Storg 2004: 62.
Z UR RECHTLICHEN SITUATION VON S TRASSENMUSIKERN IN B ERLIN | 53
sik unter den Begriff Kunst und sei somit kein Gewerbe im Sinne der Gewerbeordnung, merkt Gerhard Claus an.287 Anders ist die Situation, wenn Straßenmusiker neben ihrer Darbietung CDs oder Sonstiges zum Verkauf anbieten. Nach § 14 GewO ist jede Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit anzeigepflichtig und bedarf einer gebührenpflichtigen Gewerbeanmeldung bei der zuständigen Behörde. Das Feilhalten von Tonträgern und anderen Artikeln erfordert also durchaus eine (Reise-) Gewerbekarte. Die Erlöse aus solchem Handel sind als Einkommen zu versteuern. Mir ist kein Fall bekannt, in dem Straßenmusiker in Berlin zur Vorlage einer Gewerbekarte aufgefordert worden wären, selbst dann nicht, wenn sie nebenbei ihre eigenen Musik-CDs verkauften, was häufig vorkommt. Auf den von der BVG zum Musizieren genehmigten U-Bahnhöfen ist darüber hinaus jeglicher Handel (außer in den dafür vorgesehenen Verkaufsständen) untersagt,288 was in der Praxis jedoch auch kaum einen Musiker davon abhält, CDs zum Verkauf anzubieten.
2.5.7
Ausländer
Menschen ausländischer Herkunft spielen wie in Abschnitt 2.3.5 beschrieben mittlerweile eine wichtige Rolle in der Straßenmusiklandschaft Berlins. Straßenmusik stellt besonders für reisende Musiker ein attraktives Instrument dar, um sich unterwegs flexibel finanziell zu versorgen. Aber auch die große Nähe zu Osteuropa führt viele Musiker vor allem über die Sommermonate in die Stadt. Für EU-Angehörige stellt das Musizieren auf der Straße in Deutschland generell kein Problem dar. Für sie gelten innerhalb der Europäischen Union neben der Personenfreizügigkeit auch die Niederlassungs-, Dienstleistungs- und Arbeitnehmerfreizügigkeit, so dass hier die gleichen Maßstäbe wie bei deutschen Staatsangehörigen anzulegen sind. Die meisten Ausländer aus Nicht-EU-Staaten verfügen lediglich über ein Besuchervisum mit der Auflage Erwerbstätigkeit untersagt. Die Missachtung einer solchen Auflage wird beim ersten Mal als Ordnungswidrigkeit gemäß § 93 Ausländergesetz (AuslG) gewertet und kann bei Wiederholung in Einzelfällen auch als Straftat gemäß § 92 AuslG angesehen werden,289 was dann eine Ausweisung und schlimmstenfalls eine Visumssperre nach sich ziehen kann. Allerdings gilt hier ebenfalls die im vorigen Abschnitt angeführte Argumentation dagegen, Straßenmusik als Erwerbstätigkeit zu betrachten.290 Anders kann es sich jedoch verhalten, falls die Musiker auch eigene Tonträger, zumeist CDs, zum Verkauf im Angebot haben, was häufig vorkommt. Letztlich ist dies aber Auslegungssache vor Ort und liegt im Ermessen der jeweiligen Polizei- bzw. Ordnungsbeamten. Im Zweifel sind Ausländer in solchen Situationen benachteiligt, da oftmals ihre Kenntnisse sowohl der deutschen 287 288 289 290
Claus 1984: 56. Vgl. außerdem § 33a Abs. 1 Satz 2 GewO. Vgl. § 4 Abs. 2 Nr. 13 der VBB-Beförderungsbedingungen (VBB 2010: 14). Vgl. §§ 92 und 93 AuslG. In goettinger stadtinfo (Internet) wird jedoch von einem Fall in Göttingen berichtet, in dem ein ukrainischer Straßenmusiker von Mitarbeitern der Finanzkontrolle Schwarzarbeit überprüft wurde – mit ungewissem Ausgang.
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Sprache als auch des deutschen Rechtssystems unzureichend sind, um sich zu behaupten. Ausländer, die sich ohne gültiges Visum illegal in Deutschland aufhalten, haben hingegen bei Entdeckung in jedem Fall mit einer Ausweisung zu rechnen. Wieviele Straßenmusiker in Berlin zu dieser Gruppe gehören, lässt sich allerdings schwer sagen – nach meiner Einschätzung ein geringer Anteil von deutlich unter zehn Prozent.
3. Forschungsmethodik
Die Literaturübersicht hat gezeigt, dass systematische Untersuchungen der Straßenmusik in Berlin bisher nicht vorliegen. Auch für andere deutsche Städte wurde das Phänomen nur oberflächlich behandelt. Daher erscheint es sinnvoll, in einem ersten Schritt eine möglichst umfassende Beschreibung des Forschungsgegenstandes zur Verfügung zu stellen, wobei das Feld gleichsam neu betreten wird. Den wissenschaftlichen Beitrag dieser Arbeit sehe ich weniger in der Offenlegung objektiver Wahrheiten als in einem transparenten und nachvollziehbaren Versuch der Erfassung und Darstellung bestimmter Aspekte. Auf dieser Grundlage lassen sich dann in Zukunft speziellere Fragestellungen in weiteren Forschungsvorhaben vertieft bearbeiten. Zur Untersuchung eines neuen Problemfeldes, das zuerst nur wenig vorstrukturiert ist, empfiehlt es sich, möglichst offene Erhebungsinstrumente einzusetzen, die wenig oder gar nicht standardisiert sind. Auf diese Weise lassen sich nach und nach die inneren Strukturen des Feldes freilegen. Dazu bietet sich ein qualitatives Forschungsinstrumentarium an, denn qualitative Forschung zeichnet sich gerade durch ein breites Methodenspektrum aus, aus dem eine dem Gegenstand angemessene Auswahl getroffen wird. Die vorliegende Untersuchung ist erkundend angelegt, sie basiert nicht auf konkreten Hypothesen, die bestätigt oder abgelehnt werden sollen. Es handelt sich um eine qualitative Feldstudie mit explorativ-deskriptivem Charakter. In der deskriptiven Forschung wird versucht, einen bestimmten Forschungsgegenstand möglichst vollständig zu beschreiben bzw. einen erschöpfenden Bericht über die Daten einer Untersuchung zu geben.291 Explorative Untersuchungen sind in solchen Bereichen angebracht, über die bisher wenig oder kein Wissen vorliegt. Dazu werden häufig qualitative, ethnographische Methoden eingesetzt.292 Im vorangegangenen Kapitel wurde ein einführender thematischer Überblick über das Feld der Straßenmusik in Deutschland und insbesondere in Berlin gegeben sowie der Forschungsgegenstand definiert. Das folgende Kapitel dient nun der Darlegung und Begründung theoretischer und praktischer Aspekte der für diese Studie gewählten wissenschaftlichen Methoden. Dazu gehören unter anderem die Eingrenzung der Fragestellung, die Annäherung an das Forschungsfeld und die Methoden der Erhe291 Vgl. Baumann 1998: 13. 292 Vgl. Knoblauch 2003: 36.
56 | F ORSCHUNGSMETHODIK
bung, Fixierung und Interpretation der gesammelten Daten sowie der Darstellung der Ergebnisse. Auch findet eine Reflexion der eigenen Haltung, Motive und der im Forschungsprozess eingenommenen Rollen des Forschers statt. Mit dieser Offenlegung des methodischen Vorgehens soll eine Transparenz und Nachvollziehbarkeit des Forschungsprozesses gewährleistet und somit der Forderung nach Objektivität in wissenschaftlichen Untersuchungen Rechnung getragen werden.
3.1
THEORETISCHE PRÄMISSEN
Musikmachen ist ein kreativer Prozess, der die psychische Identität, die kulturellen Werte sowie Aspekte der sozialen und natürlichen Umgebung des Musikers einbezieht. Dadurch lässt sich Musik in ihrem Kern als eine Form menschlichen Verhaltens analysieren und erklären. Small bemerkt: »The fundamental nature and meaning of music lie not in objects, not in musical works at all, but in action, in what people do.«293 Im Handeln wiederum wird »eine lebendige Beziehung zwischen dem Dasein, der Umwelt […] und dem Bewusstsein im erkennenden Subjekt« geschaffen.294 Um ein bestimmtes musikalisches Phänomen umfassend zu verstehen, ist es deshalb nötig, sich mit den folgenden zwei Fragen auseinanderzusetzen: Was tun sie? und Warum tun sie es gerade so?295 Ein Grundproblem in den Sozialwissenschaften ist jedoch das Verstehensproblem, welches darin besteht, dass sich der Sinn von Handlungen nicht allein durch äußere Beobachtung des Verhaltens erfassen lässt. Der Versuch, Handlungen und Bedeutungen zu verstehen, sollte auf methodisch kontrollierte Weise vollzogen werden, um wissenschaftlich genannt werden zu können. 296 Wie in der qualitativen Forschung verbreitet, wird in dieser Arbeit ein induktiver Ansatz verfolgt, indem das Material zunächst selbst zur Sprache kommen gelassen wird. Generalisierungen und Hypothesen folgen somit als Resultate der Datenauswertung und stehen erst am Ende der Untersuchung.297 Die gewonnenen Hypothesen könnten in einem nächsten Schritt wiederum einer Prüfung mit neuem Material unterzogen werden. Dieses Verfahren der Gegenstandsnahen Theoriebildung oder Grounded Theory wird bestimmt durch das Prinzip der Offenheit.298 Danach wird die theoretische Strukturierung des Forschungsgegenstandes zurückgestellt, bis sie sich durch die Forschungssubjekte herausgebildet hat. So lässt sich eine höhere Authentizität des gesammelten Materials erzielen. Denn eigene Neigungen, Ängste, Erwartungen und theoretische Annahmen des Forschers verhindern unter Umständen den Blick auf und die Offenheit für Strukturen im untersuchten Feld bzw. Subjekt, die jenseits des eigenen Erfahrungs- und Erwartungshorizonts liegen. Gerade bei der ers293 294 295 296 297
Small 1998: 8. Helle 2000: 665. Vgl. Avorgbedor 1986: 6 f. Vgl. Knoblauch 2003: 30 ff. Max Richter beschreibt diesen Prozess anschaulich: »In the processes of mapping out and attempting to schematize all of the recordings and field notes, patterns began to form in terms of correlations where events took place, who was involved, the stated and actual themes dominating proceedings, the genres that featured and when, and so on.« (Richter 2012: 25) 298 Vgl. Flick 1991b: 150 bzw. Hopf 1991: 180 f.
Z IELSETZUNG UND F RAGESTELLUNG | 57
ten Annäherung an einen Forschungsgegenstand ist es daher wichtig, fremde Strukturen oder gar Wertesysteme nicht in Form von vorgefassten Annahmen mitzubringen und dem Forschungsgegenstand überzustülpen. Das Prinzip der Offenheit bezieht sich allerdings in erster Linie auf die Formulierung von Hypothesen, während die Festlegung einer konkreten Fragestellung entscheidend für die Strukturierung der Datenerhebung ist: »Inhalt und Zielsetzung eines Interviews gehen der Methodenwahl voraus.«299
3.2
ZIELSETZUNG UND FRAGESTELLUNG
Das Ziel dieser Arbeit ist es, das Feld der Berliner Straßenmusik im Rahmen einer Explorationsstudie in seiner strukturellen und stilistischen Vielfalt möglichst umfassend und detailliert zu beschreiben. Dem stehen allerdings sowohl kapazitive als auch forschungspraktische Probleme entgegen, weshalb eine sinnvolle Eingrenzung nötig ist. Im Rahmen der Feldforschung zu dieser Studie wurde versucht, das gesamte Berliner Stadtgebiet abzudecken, indem zuerst bereits bekannte Orte aufgesucht wurden, an denen Straßenmusiker auftreten. Die dort angetroffenen Musiker wurden zu Orten befragt, an denen sie auch spielen oder gespielt haben. Dort wurden jeweils wieder Straßenmusiker befragt, so dass sich nach und nach ein Netz von relevanten Knotenpunkten offenbarte. Eine Totalerhebung war jedoch aus mehreren Gründen300 nicht möglich: Die hohe Anzahl durchreisender Straßenmusiker kann prinzipiell nur teilweise erfasst werden, zumal viele lediglich für wenige Tage in der Stadt bleiben. Auch gibt es eine Zahl von Musikern, die nur ein einziges Mal auf der Straße spielen und es bei diesem Versuch bewenden lassen. Es bleibt dem Zufall überlassen, ob diese genau dann angetroffen werden. Bei den Angesprochenen können zeitliche Gründe, Angst oder Misstrauen dem Forscher gegenüber, schlechte Erfahrungen in der Vergangenheit oder die prinzipielle Einstellung eine mangelnde Gesprächsbereitschaft begründen und somit einem Interview und bzw. oder Fotoaufnahmen im Wege stehen.301 Solcherlei Argumente spielten vor allem bei Musikern aus Osteuropa verstärkt eine Rolle, so dass diese in den Interviews nicht adäquat repräsentiert sind. 299 Kvale 1991: 429. 300 Ähnliche Gründe werden z. B. auch bei Noll (1992: 102 ff.) oder Kokot et al. (2004: 8, Anm. 2) angeführt. 301 Das Sich-Einlassen auf das Interviewgespräch setzt bei den Befragten die Bereitschaft voraus, zu reflektieren, worüber man evtl. noch nie bewusst nachgedacht hat, nämlich das eigene Handeln und die eigene z. B. finanzielle Lage oder allgemeinde Lebenssituation. Insbesondere dann, wenn die Tätigkeit als Straßenmusiker mit negativen Empfindungen assoziiert ist oder gar als erniedrigend wahrgenommen wird, kann daraus eine Verweigerungshaltung resultieren. Es ist verständlich, dass sich jemand nicht über das unbedingt notwendige Maß hinaus mit einer Beschäftigung befassen will, die für ihn eine Quelle permanenten Frusts darstellt.
58 | F ORSCHUNGSMETHODIK
Die Sprachbarriere kann ein Ausschlusskriterium für die Durchführung von Befragungen darstellen. Der Fragebogen war in deutscher, englischer und russischer Fassung vorhanden, zusätzlich lagen die zentralen Fragen zu statistischen Merkmalen auch auf rumänisch vor. Doch insbesondere bei den Roma gab es trotzdem das Problem unüberwindbarer sprachlicher Hürden. Es wurden nur Musiker befragt, die in situ angetroffen und beobachtet wurden. Häufig passierte es, dass während eines Interviews bei der Frage nach Kontakten zu weiteren Straßenmusikern auf Kollegen verwiesen wurde, denen ich noch nicht begegnet war. Diesen Kontakten wurde nicht gesondert nachgegangen. Abgesehen von diesen Einschränkungen wurde in Anwendung des in Abschnitt 3.1 beschriebenen Prinzips der Offenheit versucht, einer subjektiven Auswahl der Interviewpartner entgegenzuwirken. Dies wurde erreicht, indem während des Zeitraums der Feldforschung ausnahmslos alle Straßenmusiker angesprochen wurden, die der Definition aus Abschnitt 2.1.2 entsprachen.302 Von Juli 2010 bis September 2011 wurden im Berliner Stadtraum insgesamt 163 Musiker bzw. Musikgruppen beobachtet, woraus sich 97 Interviews ergaben. Insbesondere die Sprachbarriere führte bei den Befragungen praktisch zum Ausschluss einer kompletten Gruppe von Straßenmusikern, nämlich der Roma, die sich häufig nicht einmal gesprächsbereit zeigten. Es konnten wohl einige Interviews mit rumänischen Musikern geführt werden, doch die Roma waren für mich schlicht nicht ansprechbar. Die übrigen 66 beobachteten Musiker und Gruppen, mit denen aus den oben geschilderten Gründen kein Interview zustande kam, wurden in Form von Beobachtungsprotokollen mit allen wesentlichen Merkmalen registriert, welche sich aus der Beobachtung sowie den teilweise möglichen kurzen Gesprächen ergaben. Auf diese Weise können sie zumindest in einigen Kategorien der statistischen Auswertung mit einbezogen und kurz beschrieben werden. Aus der Grundgesamtheit aller Berliner Straßenmusiker nach der gegebenen Definition im Beobachtungszeitraum 2010/2011 wurde somit eine mehr oder weniger zufällige Stichprobe303 genommen. Die Größe der Grundgesamtheit ist nicht bekannt, da sich die Untersuchung auf einen im voraus nicht klar abgrenzbaren Personenkreis richtete. Unter Berücksichtigung meiner Präsenz im Feld sowie der Schilderungen der interviewten Straßenmusiker schätze ich allerdings, dass allein im öffentlichen Straßenland über das Jahr verteilt wenigstens 250 Musiker und Gruppen aktiv waren, dazu nochmals zumindest 150 in den anderen räumlichen Bereichen. Unter dieser Annahme kann die gesamte Stichprobe von 163 wohl als repräsentativ gelten, während das auf den Anteil der Interviews nur eingeschränkt zutrifft. Hier sind wie gesagt bestimmte Gruppen wie die Roma oder Musiker aus osteuropäischen Ländern gar nicht vertreten bzw. deutlich unterrepräsentiert. Albrecht Schneider weist darauf 302 Nettl ermahnt den forschenden Musikethnologen: »[…] we want to study not only what is excellent but also what is ordinary and even barely acceptable.« (Nettl 2005: 13) 303 Im engeren Sinne müsste für eine Zufallsstichprobe die Grundgesamtheit bekannt und eindeutig abgrenzbar und der Zugriff auf alle ihre Elemente möglich sein. Auch müsste für jedes Element die gleiche Wahrscheinlichkeit gelten, in der Stichprobe enthalten zu sein, vgl. Schneider 2008: 107.
Z IELSETZUNG UND F RAGESTELLUNG | 59
hin, dass häufig »Stichprobenumfänge von mindestens 30 ›Untersuchungseinheiten‹ (Personen, Objekte aller Art) bereits ausreichen«, um grundsätzliche statistisch begründete Aussagen treffen zu können.304 Ist der Forschungsgegenstand definiert und eingegrenzt, wird die Fragestellung interessant, die an das Feld herangetragen wird. Gerade zu Beginn der Erforschung eines neuen Feldes ist es nötig, sich auf eine Anzahl von zu untersuchenden Dimensionen festzulegen, die von der Fragestellung angesprochen werden und dieses Feld mit aufspannen. Dadurch wird das Forschungsfeld vorerst grob abgesteckt und vorstrukturiert. Diese anfängliche Auswahl wird in der Regel jedoch nicht erschöpfend sein, denn je nach Betrachtungsweise und konkreter Fragestellung werden sich andere und neue Dimensionen finden, die in den Vordergrund der Betrachtung rücken können. Es geht am Anfang darum, eine Basis zu schaffen, von der aus weitere Überlegungen angestoßen werden, die wiederum zu neuen Fragen führen können. Das zentrale Anliegen dieser Untersuchung ist es, zu erforschen, wer die Menschen sind, die in Berlin Straßenmusik machen, was sich im Rahmen dieser Aufführungspraxis abspielt und warum die Akteure so handeln, wie sie es tun. Die Dimensionen, denen diesbezüglich besondere Beachtung geschenkt werden soll, werden im Folgenden kurz erläutert: Biographische Merkmale der Musiker: Dazu gehören Angaben zur Person, Herkunft, musikalischen Ausbildung und zum Werdegang sowie zu bisherigen Erfahrungen mit Straßenmusik. Straßenmusikpraxis: Verwendete Instrumente und ggf. Besetzung, Repertoire, Musikstil, Spielorte und -zeiten, Übungspraxis bzw. Probentätigkeit. Motivation: Welche Triebfedern gibt es, auf der Straße zu musizieren? Welche Beweggründe stehen dabei im Vordergrund? Gibt es Botschaften ans Publikum? Strategien: Bevorzugte Spielplätze und -zeiten, Alleinstellungsmerkmale im Vergleich zu anderen Straßenmusikern, ggf. Deckungsbeitrag der Straßenmusik zu den Lebenshaltungskosten. Publikumsbezug: Kontaktaufnahme und Interaktion mit dem Publikum, Reaktionen aus dem Publikum, Anpassung an Publikumsvorlieben, Wechselwirkungen. Perspektiven: Individuelle Bewertung des Daseins als Straßenmusiker, musikalische Aktivität in anderen Kontexten, Zukunftspläne und Perspektiven. Welchen Stellenwert hat Straßenmusik im Leben? Struktur der Berliner Straßenmusikszene: Inwiefern existiert eine solche überhaupt? Vergleich von Erfahrungen in Berlin und anderen Orten, soziale Vernetzung unter Berliner Straßenmusikern, Zusammensetzung (Ortsansässige versus Durchreisende bzw. Gäste). Es ist offensichtlich, dass die verschiedenen Dimensionen teilweise ineinandergreifen und miteinander in Wechselwirkung stehen. Darin ist aber keine Schwäche zu sehen, sondern im Gegenteil Potential zur vielseitigen Auswertung und Interpretation der Ergebnisse. Die Forschungsperspektive, die sich aus dieser weiträumigen Betrachtung ergibt, ist die der Beschreibung eines musikalischen Handlungsraums Straßen304 Vgl. Schneider 2008: 106 f.
60 | F ORSCHUNGSMETHODIK
musik, eines sozialen Milieus und der darin ausgeführten Handlungen sozialer und musikalischer Art. Die Musik selbst ist hingegen lediglich in der verbalen Beschreibung ihres Stils, der Besetzung und Instrumentierung Ziel der Erhebung. Es wurden weder Ton- noch Videoaufnahmen getätigt, siehe dazu Abschnitt 3.4.4.
3.3
ANNÄHERUNG AN DAS FORSCHUNGSFELD
Ethnomusicologists typically enter their field because they came into contact with the music of some ›other‹ culture, and fell in love with it and determined to learn how to perform it, study the society from which it came, and figure out […] how it functions in its society and how it is created and transmitted.305
In der Feldforschung ist die direkte Konfrontation mit Situationen essentiell, in denen Musik geschaffen und aufgeführt wird, sowie mit den Menschen, die Musik schaffen, machen und konsumieren.306 Der Einstieg ins Feld bedeutet für den Forscher als »zentrales kommunikatives ›Erkenntnisinstrument‹ bei der qualitativen Forschung«307 auch die Annahme oder Zuweisung bestimmter Rollen innerhalb des Feldes und im Umgang mit den – zu befragenden oder zu beobachtenden – Subjekten darin. Von der Art dieser Rollen hängt zu einem großen Teil ab, welche Einsichten und Informationen der Forscher erhält bzw. welche Aspekte ihm verborgen oder verwehrt bleiben. Auch die Rolle der Beforschten und das Verhältnis zwischen Forscher und Subjekt bei der Datenerhebung haben erheblichen Einfluss auf die gesammelten Daten. Der Beginn der Datenerhebung fiel bei dieser Studie zeitlich mit dem Einstieg ins Feld zusammen, da es nicht nötig war, sich etwa einer geschlossenen Gemeinschaft erst anzunähern. Selbst in Berlin aufgewachsen, verfüge ich über eine sehr gute Ortskenntnis und Orientierung. Hilfreich in meinem Falle war sicherlich der Umstand, dass ich mich einerseits bereits in der Vergangenheit ausführlich mit Berliner Straßenmusikern beschäftigt und andererseits selbst Straßenmusik gemacht habe, vgl. Abbildung 4. Somit waren Berührungsängste mit dieser Szene bei mir praktisch nicht vorhanden, und die Identität als (Straßen-) Musiker war in jedem Falle ein starkes verbindendes Element.308 In mehreren Situationen fand ich mich spontan mit den beobachteten Straßenmusikern musizierend wieder. Bei meinem Einstieg ins Feld im Frühsommer 2010 war ich dennoch mit keinem der aktuell aktiven Straßenmusiker persönlich bekannt, denn die Fluktuation unter ihnen ist sehr hoch. Ein Mangel an Distanz zum Untersuchungsgegenstand wird im Wissenschaftsbetrieb oftmals kritisch betrachtet, da die Gefahr besteht, Meinungen, Vor- und Werturteile vorschnell als gesicherte Erkenntnisse darzustellen. Um dieser Gefahr zu begegnen, wurden in den vergangenen Jahrzehnten phänomenologische und hermeneutische Methoden in 305 306 307 308
Nettl 2001: 15. Vgl. Nettl 2005: 13. Flick 1991b: 154. Diese Vertrautheit mit dem Feld, wenn auch nicht mit den aktuell aktiven Straßenmusikern persönlich, war sicherlich ein wichtiger Grund, mich für das Forschungsthema zu entscheiden.
A NNÄHERUNG AN DAS F ORSCHUNGSFELD | 61
die (musik-) ethnologische Forschung integriert, welche die Subjektivität und Perspektivität des Forschers ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Siehe hierzu weitere Bemerkungen im Abschnitt zur teilnehmenden Beobachtung.
Abbildung 4: Der Autor (2. v. r.) beim Musizieren auf der Wilmersdorfer Straße in BerlinCharlottenburg im Sommer 2012309
Im ersten Moment meines Auftauchens vor Ort war ich nicht von einem interessierten Passanten zu unterscheiden, der für einige Momente verweilt und der Musik lauscht. In dieser Zeit habe ich zumeist bereits erste Fotos gemacht – nach der Vergewisserung der Zustimmung des Musikers per Blickkontakt. Gegebenenfalls wurde im anschließenden Gespräch geklärt, ob der bzw. die Musiker mit der Verwendung der Aufnahmen für diese Arbeit einverstanden waren, und angeboten, die Bilder in elektronischer Form zuzuschicken. Das hatte den Vorteil, dass die Entstehungssituation für die Bilder noch natürlich war, denn es gehört für die meisten Straßenmusiker dazu, sich von Passanten fotografieren zu lassen. Über informelle, unverbindliche Gespräche, die ich in Spielpausen begann und in denen ich mich und mein Projekt kurz vorstellte, kam es dann direkt an Ort und Stelle oder zu einem verabredeten späteren Termin zum Interview. Dabei durchlief ich im Fortschritt der Feldforschung einen Entwicklungsprozess im Hinblick sowohl auf die Kontaktaufnahme als auch auf die Interviewführung. Bei den ersten Kontakten hatte ich eine gewisse Scheu zu überwinden, wenn ich auf die Musiker zuging und mich das Gefühl überkam, sie in ihrem Fluss zu unterbrechen. Diese anfängliche Zurückhaltung legte sich jedoch schnell, denn ich sammelte fast durchweg positive Erfahrungen mit den freundlichen Reaktionen der Musiker, wenn ich sie ansprach. Die Interviewführung wurde mit der Zeit schnell routinierter, da ich immer vertrauter mit 309 Foto: Rudi Braun.
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dem Fragebogen wurde und die Ordnung der Fragen bereits nach kurzer Zeit verinnerlicht hatte. Regelmäßig nutzte ich individuell vorhandene Anknüpfungspunkte wie z. B. meine polnische Familiengeschichte, frühere Reisen in die USA oder nach Neuseeland sowie musiktechnische Details, um ins Gespräch zu kommen und eine gemeinsame Basis zu schaffen. Meine Sprachkenntnisse waren neben meinen musikalischen Fertigkeiten310 ebenfalls ein wichtiger Faktor bei der verbalen Kontaktaufnahme: neben deutsch kann ich mich flüssig auf englisch ausdrücken und beherrsche zumindest Grundlagen des Polnischen, Russischen, Französischen, Spanischen und Italienischen. Das reichte zwar nicht für Konversationen oder gar zur Interviewführung aus, erwies sich jedoch häufig genug als Türöffner. Die Haltung der Straßenmusiker zu mir war durchaus unterschiedlich. Der weitaus größte Teil stand mir und meinem Vorhaben sehr offen und interessiert gegenüber, war nicht nur auskunftsfreudig, sondern begegnete mir mit geradezu freundschaftlichem Vertrauen und in manchen Fällen großer Herzlichkeit, insbesondere, wenn man sich während der Zeit meiner Feldforschung immer wieder an verschiedenen Stellen in der Stadt über den Weg lief. Neben der spontanen Aufforderung zum Mitmusizieren waren gemeinsame Kneipenbesuche im Anschluss an die Interviews oder auch Einladungen zu Konzerten, Partys oder sogar nach Hause jedenfalls keine Seltenheit. Manche Straßenmusiker, insbesondere solche aus Osteuropa, waren dagegen misstrauisch bis ängstlich, wenn ich mich ihnen näherte, fürchteten Nachteile oder witterten gar eine Zusammenarbeit zwischen mir und der Polizei oder den Behörden. Nur in vereinzelten Fällen stieß ich auf brüske Ablehnung. Eine Sonderstellung nahmen die Roma ein: Diese waren zwar meist freundlich, ließen sich aber im Regelfall gar nicht erst auf ein Gespräch ein bzw. gaben vor, sich weder auf deutsch noch auf englisch, russisch oder rumänisch in irgendeiner Weise mit mir verständigen zu können. Fast alle interviewten Straßenmusiker sind mir mit vollem Namen und den jeweiligen Kontaktdaten bekannt. Trotzdem tauchen in dieser Arbeit nur die Vornamen bzw. die von den Musikern bevorzugten Pseudonyme auf. Da einige aus verschiedenen Anlässen Vorbehalte gegen die vollständige Nennung ihres Namens hegten, habe ich mich entschlossen, bei allen einheitlich zu verfahren, zumal die Angabe der Familiennamen keinen Erkenntnisgewinn bringt. Dort, wo auch gegen die Abbildung auf Fotos Einwände bestanden, wurden die Gesichter unkenntlich gemacht oder Bilder ausgewählt, auf denen die Musiker nicht erkennbar sind. Offenheit betreffs meiner Person und Absichten sowie eine ungetrübte Vertrauensbasis zu den Straßenmusikern waren mir als Ausdruck des Respekts von meiner Seite sehr wichtig. Im Anschluss an jedes Interview bot ich meine Kontaktdaten für Rückfragen sowie die Zusendung der fertigen Arbeit in elektronischer Form an. In der Regel beendete ich die Begegnung auf der Straße mit der symbolischen Spende einer 50-Cent-Münze, unabhängig davon, ob es zu einem Interview gekommen war oder nicht. 310 Nettl bemerkt, die meisten Musikethnologen hätten einen praktischen und bzw. oder theoretischen musikalischen Hintergrund, vgl. Nettl 2001: 15. Das trifft auf mich ebenfalls zu: Ich spiele hauptsächlich Kontrabass, Bassgitarre, Gitarre und (Body-) Percussion in verschiedenen Formationen.
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Die Rolle, die ich während meiner Forschungen im Feld einnahm, changierte also zwischen einem anonymen Teil des Publikums, einem (teilnehmenden) Beobachter, dem interessierten Forscher und Interviewer, einem guten Kumpel oder auch Ratgeber – »Sag mal, wo die besten Plätze zum Spielen sind!« – bis hin zum willkommenen Redepartner für einige einsame Seelen. Damit wurde mir neben der wissenschaftlichen auch eine soziale Rolle zuteil. Meine Identität als junger Berliner, (Promotions-) Student und (Straßen-) Musiker bot vor allem den jüngeren Straßenmusikern diverse Identifikationsflächen und machte mich einerseits zum Insider, während ich als Forscher mit meinem wissenschaftlichen Anliegen jedoch auf einer bestimmten Ebene auch Outsider und Fremdling blieb. Letzteres gilt im besonderen Maße für die Gruppen, die nicht mit mir reden wollten.
3.4
DATENERHEBUNG
Der Begriff ›Feldforschung‹ […] umschreibt jene wissenschaftliche Tätigkeit, die mit dem Gegenstand ihrer Untersuchung in direktem Kontakt steht und Ereignisse, Prozesse, Handlungen sowohl einzelner Personen wie auch ethnischer Gruppen unter dem Aspekt teilnehmender Beobachtung systematisch dokumentiert, befragt und beschreibt.311
Um dem Anspruch gerecht zu werden, die Vielfalt der Berliner Straßenmusik möglichst umfassend darzustellen, galt es, in der Methodenauswahl eine Balance zu finden zwischen dem Wunsch nach einer breiten, aussagekräftigen Datenbasis aus einer möglichst großen Zahl von Datensätzen, aus der sich bestimmte statistische Aussagen ableiten lassen, und dem Ziel, auch den Individuen gerecht zu werden und gleichzeitig meine eigenen Beobachtungen mit einfließen zu lassen. Es spielten also quantitative wie qualitative Aspekte eine Rolle. »The fieldwork combines both quantitative and qualitative measures in order to understand relationships among music, music-makers, and the urban and rural conditions shaping the music.«312 Neben der Erhebung objektiver Merkmale wie Alter, Geschlecht, Herkunft und Instrument war es an einigen Stellen gerade wichtig und gewollt, die subjektive Einschätzung der Straßenmusiker zu erfahren und somit Hinweise auf die Wirklichkeit aus der Perspektive des Handelnden zu erhalten, die dem gemeinen Passanten im Vorübergehen oder kurzen Verweilen verborgen bleibt. Bei der Anwendung qualitativer Methoden steht der persönliche Bezug des Forschers zu dem von ihm Beobachteten im Vordergrund. Der Forscher begibt sich in die Lebens- und bzw. oder Wirkungswelt seiner Objekte und sammelt dort mittels verschiedener Praktiken Informationen, Interpretationen und Daten. Qualitative Feldforschung stellt quasi eine mikroskopische Methode zur Untersuchung und ganzheitlichen Erfassung überschaubarer soziokultureller Einheiten dar. Dabei bestimmt die Beziehung zwischen Forscher und Feld die Einmaligkeit jeder Feldforschung. Bei der Feldforschung ist die Vielfalt der Erfahrungstätigkeit wichtig. Damit wird auch eine Vielfalt in den wissenschaftlichen Erhebungsmethoden nötig. Qualitative 311 Baumann 1981: 12. 312 Avorgbedor 1986: vi.
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Forschung bedient sich charakteristischerweise nicht einer Einheitsmethode, sondern eines der jeweiligen Situation und dem Gegenstand angemessen breiten Methodenspektrums. Die Perspektiven der Beteiligten sowie die Reflexivität des Forschers spielen dabei eine zentrale Rolle. Der Auswahl der in dieser Studie verwendeten Erhebungsmethoden sind die folgenden Abschnitte gewidmet. Die Phase der Feldforschung war geprägt von Besuchen und Beobachtungen vor Ort, von Interviews sowie dokumentarischer Fotografie und wurde durch die Hinzunahme weiterer Quellen ergänzt wie beispielsweise Medienberichte über einzelne Straßenmusiker oder deren Internetpräsenzen.
3.4.1
Teilnehmende Beobachtung
Neben der Gesprächsführung gehört die teilnehmende Beobachtung zu den grundlegenden Methoden der qualitativen Feldforschung. Gemeint sind das Erfassen von sinnlich wahrnehmbaren Handlungen und das damit einhergehende Sammeln von Daten zu einem wissenschaftlichen Zweck. Die teilnehmende Beobachtung ergänzt naheliegenderweise die Befragung auf der Suche nach alltäglichen Lebenszusammenhängen der Beforschten, denn »Teilnahme ohne verbalen Austausch ist ebenso undenkbar wie Gesprächsführung ohne Beobachtung des jeweiligen sozialen Kontextes.«313 Von Bronisław Malinowski (1884-1942) als bald eine der wichtigsten Methoden der Feldforschung in die Ethnologie eingeführt 314, wurde die teilnehmende Beobachtung ab Mitte des 20. Jahrhunderts durch Mantle Hood und andere auch in der Musikethnologie etabliert. Sie ermöglichte es fortan, die beobachteten musikalischen Praktiken auch in einem außermusikalischen Kontext situieren zu können und somit Musik nicht nur als Produkt, sondern auch als Prozess zu verstehen. Es gibt Situationen und Phasen, in denen in erster Linie offen im Sinne von ungerichtet, teilnehmend und unstrukturiert beobachtet wird, beispielsweise um sich dem Feld oder einem Subjekt darin anzunähern. Andererseits kann auch die gerichtete Wahrnehmung mit fokussierter, strukturierter, gezielt aktiver Beobachtung in den Vordergrund treten, wenn es darum geht, konkrete Fragestellungen zu beantworten. Somit stellt die teilnehmende Beobachtung eine flexible, methodenplurale und kontextbezogene Strategie dar. Sie setzt eine hohe Aufmerksamkeit des Forschers sowie Disziplin bei der Verschriftlichung voraus. Nach Smalls Ansatz des Musicking ist ein musikalisches Ereignis – wie zum Beispiel Straßenmusik im Falle dieser Untersuchung – als gemeinsames Produkt aller Anwesenden zu betrachten, gleich welche Rolle ihnen dabei zukommt: Von den Musikern über das Publikum bis zum Ticketverkäufer sind alle am Ergebnis beteiligt. »We begin to see a musical performance as an encounter between human beings that takes place through the medium of sounds organized in specific ways.«315 Auf die teilnehmende Beobachtung bezogen bedeutet das, dass der Forscher hierbei in ver-
313 Legewie 1991: 189. 314 Grundlegend ist sein Forschungsbericht über die Eingeborenen der zu Papua-Neuguinea gehörenden Trobriand-Inseln, vgl. Malinowski 1922. 315 Vgl. Small 1998: 10.
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schiedenen Rollen an der untersuchten Praxis teilnehmen kann und doch immer Teil davon bleibt. In meiner Funktion als Beobachter nahm ich im Zuge der Feldforschung zu dieser Studie gegenüber den beobachteten Straßenmusikern zunächst einmal die Haltung des interessierten Publikums ein, war somit Rezipient und Konsument der Darbietungen und wurde gleichzeitig als Feldforscher quasi selbst Teil des Feldes. Aspekte wie die Ausstrahlung und das Gebaren der Musiker, ihre Interaktion mit dem Publikum, aber ebenso die Stimmung unter den Zuschauern oder das Maß des erregten Aufsehens sind Ergebnisse dieser Phase und komplettieren die in den Interviews gewonnenen Angaben und Selbsteinschätzungen der Befragten. Doch auch während des Gesprächs hilft die aufmerksame Beobachtung etwa von Gesprächsatmosphäre und -verlauf bei der Beurteilung der Situationsbezogenheit und Plausibilität des Gesagten. Die Objektivität des so gewonnenen Datenmaterials wird auf diese Weise erhöht.
3.4.2
Interviews und Fragenkatalog
Um das Beobachtete verstehen zu können, »muss die Befragung auf die intentionale Ebene hinzielen«, die Motivationen des Handelns müssen herausgearbeitet werden.316 Interviews gehören zu den rekonstruktiven Verfahren der Datenerhebung, da sie den jeweils zu untersuchenden Sachverhalt in der Erhebungssituation ein zweites Mal herstellen und ihn damit rekonstruieren. Sie unterscheiden sich von interpretativen Verfahren, die sich bei der Erhebung ihrer Daten auf die akustische oder audiovisuelle Aufzeichnung von Alltagssituationen beschränken. Für die in der empirischen Forschung auftretenden Fragestellungen ist jeweils ein spezifisches, dem Forschungsgegenstand angepasstes Untersuchungsdesign zu entwerfen. In diesem Falle waren einerseits statistische Daten von Interesse und andererseits die individuellen Ansichten und Erfahrungen der befragten Musiker. Um beiden Anforderungen gerecht zu werden, bot sich als Instrument das teilstandardisierte ethnographische Interview an. Beim ethnographischen Interview sollen im Rahmen qualitativer, zumeist halbstrukturierter (oder: teilstandardisierter) Befragungen Einblicke in die Lebenswelt und den Alltag von Personen gewonnen werden. Dabei werden die Beforschten in ihrem natürlichen Umfeld bzw. Alltags-Setting beobachtet und zu Gewohnheiten und Bedürfnissen befragt. Es geht eher darum, Tatsachen aufzudecken und zu erfahren, was genau für den Interviewten wichtig ist, als um statistische Validität oder Häufigkeit. Die Methode des aktiven Zuhörens bezeichnet dabei die beständige Ermutigung des Informanten zur Wiedergabe seiner Erfahrungen, Erlebnisse usw. durch den Forscher während des Gesprächs. Jedes Interview ist neu, da es nicht standardisiert ist, so dass ein hohes Maß an situativer Aufmerksamkeit, Flexibilität, Sensibilität und Offenheit für Unerwartetes aufseiten des Forschers gefordert ist. James P. Spradley unterscheidet drei zentrale Arten von Fragen 317:
316 Vgl. Baumann 1981: 25. 317 Vgl. Spradley 1978.
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Deskriptive Fragen haben die Beschreibung routinemäßiger Handlungen zum Ziel, z. B.: Welches Repertoire verwendest du auf der Straße? Strukturelle Fragen suchen nach den Zusammenhängen innerhalb bestimmter kultureller Bereiche, etwa: Wann sagst du von dir: ›Heute habe ich gut gespielt.‹? Kontrastfragen wollen klären, was der Befragte mit den verschiedenen Begrifflichkeiten meint, die er in seiner Sprache verwendet, und wie sich diese voneinander unterscheiden, beispielsweise: Wie unterscheidet sich Straßenmusik von Musik in anderen Kontexten? Mit teilstandardisierten Interviews können quantitative wie qualitative Aspekte mittels einer Mischung entsprechender Fragen untersucht werden. Der wichtigste Unterschied zu standardisierten Befragungen auf der einen Seite ist das Fehlen von Antwortvorgaben, der offene Charakter, so dass die Interviewten sich frei artikulieren können. Trotzdem übernimmt der Forscher weiterhin die Strukturierung des Gesprächs. Dazu steht ein Gesprächsleitfaden mit vorgegebenen Fragen zur Verfügung, die in ihrer Reihenfolge flexibel zu behandeln und situationsbezogen nach eigenem Ermessen und Einschätzung durch den Forscher mit klärenden Nachfragen zu ergänzen sind. Auch können aufgrund der offenen Handhabung Gesichtspunkte durch den Befragten in die Interviewsituation eingebracht werden, die im Gesprächsleitfaden nicht berücksichtigt sind, aber im Fragekontext der Untersuchung als bedeutsam erscheinen. Gleichzeitig verbessert das Vorhandensein des Leitfadens die Vergleichbarkeit einer großen Zahl von Interviews. Auf der anderen Seite steht das narrative Interview, dessen Grundelement die von den Befragten auf eine stimulierende Eingangsfrage hin frei entwickelte Stegreiferzählung ist. Häufig wird diese Form im Zusammenhang mit lebensgeschichtlich bezogenen Fragestellungen eingesetzt. Die Wahl der Interviewart für diese Studie fiel auf die teilstandardisierte Befragung, da diese einen naheliegenden Kompromiss zwischen der Ermittlung objektiver Merkmale einerseits und subjektiver Perspektiven sowie individueller Motivationen andererseits darstellt. Die offenere Art im Gegensatz zum standardisierten Interview erlaubte es, auch zwischen den Zeilen zuzuhören und mitzuschreiben, ohne starr auf das Abarbeiten der Fragen fixiert zu sein. Dagegen erschien der Aufwand bei der Erhebung und Auswertung unstrukturierter narrativer Interviews hinsichtlich der angestrebten hohen Anzahl an Datensätzen nicht praktikabel, zumal der Erkenntnisgewinn gegenüber dem halbstrukturierten Interview fraglich ist. Für die Erhebung wurde ein Fragebogen entworfen. Bei der Konzeption und Erstellung des Leitfragenkatalogs318 waren die in Abschnitt 3.2 genannten Dimensionen von Bedeutung, aber auch die Praktikabilität im Feld. Die Fragen sollten einerseits helfen, die Sachverhalte aufzudecken, welche die unterschiedlichen Dimensionen bestimmen. Gleichzeitig sollten die Fragen möglichst offen formuliert sein, so dass sie auch die Abdeckung anderer Dimensionen zulassen oder sogar neue Aspekte zutage fördern helfen. Im Sinne der induktiven Herangehensweise nach der Methodologie der gegenstandsnahen Theoriebildung ohne vorgefasste, zu überprüfende Hypothesen sollte das Material für sich sprechen können und Freiraum zur Strukturierung des 318 Siehe Abbildung 5.
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Forschungsgegenstandes durch die Forschungssubjekte bestehen. Diesem Ansatz kann durch das Design der Fragen Rechnung getragen werden, welche die Informanten zur (Selbst-) Reflexion und zu freien, assoziativen Äußerungen anregen sollten, ohne dabei suggestiv die Antworten zu lenken oder die Befragten in Begründungsprozesse zu drängen bzw. sie unter Rechtfertigungsdruck zu setzen, z. B. durch Warum-Fragen. Die relativ freie Gesprächsführung erlaubte es, einerseits die im Leitfaden festgelegten Punkte vollständig zu berücksichtigen und andererseits frei mit der Reihenfolge und der jeweiligen inhaltlichen Breite der Antworten umzugehen. Auf eine formale Unterteilung des Fragebogens wurde ebenfalls verzichtet, um möglichst wenige Strukturen im voraus vorzugeben. Es tauchen teilweise scheinbar redundante Fragen auf (z. B. Fragen 8 und 9 nach Repertoire und Musikstil), die aber gerade durch unterschiedliche Formulierungen dazu beitragen, die individuell unterschiedlichen Assoziationen mit bestimmten Begriffen zu berücksichtigen. Dadurch sind Annäherungen an Fragestellungen aus verschiedenen Blickwinkeln möglich. Meine Fragen an die Straßenmusiker sind erkundend im Sinne einer Explorationsstudie. Die offene Form wurde gewählt, um möglichst viele verschiedene Meinungen und Ansichten einholen zu können. Mir ist bewusst, dass ich die Musiker in der Befragungssituation, zumal wenn das Interviewgespräch in situ stattfand, in einen spontanen Reflexionsprozess gedrängt habe, auf den sie nicht vorbereitet waren und den die meisten wohl auch für sich noch nie in dieser Tiefe durchlaufen hatten. Abbildung 5 zeigt die vollständige deutsche Version des Leitfragebogens. Es wurden daneben, jeweils mit Hilfe von befreundeten Muttersprachlern, eine englische und eine russische Fassung sowie eine Kurzfassung zu den wichtigsten biographischen Angaben auf rumänisch erstellt, die nach Bedarf eingesetzt wurden. Die Einleitung bildet der Fragebogenkopf, in dem Angaben enthalten sind, die die Angesprochenen über Ziel und Zweck der Befragung informieren. Im allgemeinen wurden diese Hinweise jedoch verbal im Gespräch vermittelt. Die Fragen sind in der informellen Du-Anrede gehalten, was in den meisten Fällen adäquat war, und wurden spontan entsprechend umformuliert, wenn die höfliche Anrede angebracht schien, etwa bei älteren Musikern. Die Fragen 1 bis 4 sowie 5 betreffen biographische Basisvariablen wie Alter und Herkunft. In Frage 5 wurde bewusst nicht nach dem konkreten sozialen Hintergrund gefragt, sondern nur nach der musikalischen Vorbildung. Diese lässt zwar im Einzelfall auch Rückschlüsse auf die Herkunft bzw. Familiensituation zu, doch wäre die genauere Untersuchung der Frage, aus welchen sozialen Schichten Straßenmusiker kommen, wohl eine eigene Forschungsarbeit wert. Die Unterfragen zu 4 helfen auch, die Struktur der Berliner Straßenmusiklandschaft in ihrer Zusammensetzung und den Unterschieden zu anderen Orten zu beleuchten. Die Fragen unter 7 beschäftigen sich mit den persönlichen Beweggründen, im öffentlichen Raum zu musizieren. Frage 7.2 gibt Aufschluss darüber, welche Kriterien die Musiker an eine aus ihren Augen befriedigende Darbietung anlegen und ob sich diese mit den genannten Motiven decken319. Divergenzen liefern hierbei Hinweise auf weitere Antriebe. Die Fragen 8 bis 11 sowie 17 zielen in erster Linie auf die 319 Dies könnte z. B. der Fall sein, wenn als Hauptmotiv Geldverdienen angegeben wird und die Darbietung gerade dann als gelungen betrachtet wird, wenn möglichst viel Geld verdient wurde.
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Spielpraxis auf der Straße ab, tangieren aber auch andere Dimensionen wie Strategien und Publikumsbezug. So verrät etwa die Angabe unter 8.4, es würde zu jeder Zeit genau das gespielt, was das Publikum hören wolle, etwas über die eigene Einschätzung, in diesem Falle als Dienstleister mit dem Ziel, Geld zu verdienen. Frage 12 erfordert eine kritische Selbsteinschätzung und den reflexiven Vergleich mit anderen Straßenmusikern. Die hier genannten Alleinstellungsmerkmale können Teil einer bewussten oder unbewussten Strategie sein, sich von der Konkurrenz abzusetzen. Die Fragen 13.1 und 14 können herangezogen werden, um den Stellenwert der Straßenmusik im Leben der Musiker abzuschätzen. Auch Frage 16 zeigt auf, welche Rolle die Straßenmusik für die Künstler spielt, allerdings in finanzieller Hinsicht. Die Frage nach den konkreten Erlösen aus der Straßenmusik wurde bewusst nicht in den Leitfaden aufgenommen, da sie für viele aus unterschiedlichen Gründen relativ heikel ist. Ich hatte sie jedoch stets im Hinterkopf. Und wenn es die Gesprächsatmosphäre hergab, habe ich off the record nach der Spanne pro Stunde oder Tag gefragt, doch werden diese Angaben und die Schlüsse, die sich daraus ziehen lassen, anonym behandelt. Auf das Verhältnis zum Publikum nehmen vor allem die Fragen 8.2, 8.4 sowie 19 bis 19.2 Bezug. Die vorstehenden Anmerkungen zu den einzelnen Fragen sollen die möglichen Erkenntnisse, die sich aus den Antworten darauf ableiten lassen, nur exemplarisch andeuten. In den meisten Fällen sind die Antworten vielschichtig und berühren noch eine Reihe weiterer Aspekte. Der Fragebogen ist so konzipiert, dass er bei knapper Beantwortung binnen ca. 15 Minuten durchzugehen und somit auch für die Verwendung direkt vor Ort geeignet ist. Er ist selbst dann verwertbar, wenn nicht auf alle Fragen Antworten vorhanden sind, etwa aus Gründen des Sprachverständnisses oder wegen etwaiger Vorbehalte gegen einzelne Fragen. In der Praxis rangierte die Interviewdauer zwischen zehn Minuten und knapp drei Stunden in den Extremen. Einige Bemerkungen zur Entstehungssituation der Interviews: Die Teilnahme an der Befragung war selbstverständlich freiwillig. Normalerweise sprach ich die Musiker in einer Spielpause an, erklärte mich kurz und prüfte die generelle Bereitschaft zu einer Teilnahme an der Befragung. Wenn diese gegeben war, fand das Interview entweder direkt auf der Stelle statt, oder ich schlug verschiedene Alternativen vor wie ein Treffen später am selben Tag nach Beendigung der Darbietung oder in einer längeren Spielpause, zu einem bestimmten Termin innerhalb der nächsten Tage oder den Austausch von Kontaktdaten zwecks baldiger Terminabstimmung. Dann boten sich als Orte für Interviewtermine öffentliche Plätze, Cafés oder die Wohnungen der befragten Personen an. Nur in sechs Ausnahmefällen wurden die Befragungen telefonisch bzw. per Internet videotelefonisch durchgeführt, weil sich entweder kein Termin fand oder die Straßenmusiker Berlin bereits wieder verlassen hatten. In einem Fall beantwortete mein Interviewpartner die Fragen schriftlich via E-Mail, und stellvertretend für die Gruppe → Fanfara Kalashnikov sprach ich mit deren Manager. Ich legte stets Wert auf eine ungezwungene Gesprächsatmosphäre, um die Redebereitschaft bei meinen Interviewpartnern zu unterstützen. Dazu näherte ich mich dem eigentlichen Interview in einer informellen, unverbindlichen Unterhaltung an.
D ATENERHEBUNG | 69 Hallo! Mein Name ist Mark Nowakowski, ich habe an der Freien Universität Berlin Musikethnologie studiert und schreibe meine Doktorarbeit über Straßenmusiker in Berlin. Ich möchte mit Ihrer Hilfe diesen Fragebogen ausfüllen, den ich für meine Arbeit auswerten will. Alle Daten und Angaben werden vertraulich behandelt und ohne Namensnennung nur zu wissenschaftlichen Zwecken ausgewertet. Es findet insbesondere keine Zusammenarbeit mit den Behörden oder der Polizei statt. Die Befragung richtet sich an Musiker aller Art, die in Berlin an öffentlichen Orten wie Straßen, Fußgängerzonen, Bahnstationen oder in fahrenden Zügen auftreten. Von besonderem Interesse sind für mich die jeweilige Herkunft sowie die Motivation, das Repertoire, die Auftrittsorte und -zeiten. Der Fragebogen umfasst ca. 20 Fragen. Bitte antworten Sie kurz oder – wo notwendig – auch ausführlich. Bitte keine bloßen Ja- bzw. Nein-Antworten! Haben Sie vielen Dank für Ihre Bereitschaft, mich bei meinem Projekt zu unterstützen! 1. 2. 3. 4.
Name und/oder Künstlername Alter Instrument(e) Herkunftsland und -stadt 4.1. Wenn aus dem Ausland, mit Aufenthaltsgenehmigung/Arbeitserlaubnis? 4.2. Lebst Du in Berlin, oder bist Du auf der Durchreise? 4.3. In welchen Ländern/Orten hast Du sonst gespielt? 4.4. Wie unterscheidet sich Berlin von diesen Orten? 5. Wie hast Du Deine musikalischen Fähigkeiten erworben? Spielst Du noch weitere Instrumente? 6. Welche musikalischen Vorbilder/Einflüsse hast Du? 7. Welcher ist für Dich der Hauptgrund, auf der Straße zu spielen? 7.1. Welche weiteren Gründe/Motivationen gibt es? 7.2. Wann sagst Du von Dir: Heute habe ich gut gespielt? 8. Welches Repertoire verwendest Du auf der Straße? 8.1. Spielst Du eigene Stücke oder Interpretationen/Improvisationen? 8.2. Transportierst Du eine Botschaft mit Deiner Musik? 8.3. Spiegelt Dein Repertoire Deinen eigenen Musikgeschmack wider? 8.4. Passt Du Dein Repertoire an das jeweilige Publikum/Saison/Auftrittsort etc. an? Inwiefern? 9. Wie würdest Du die Stilrichtung bezeichnen, mit der Du auf der Straße auftrittst? 10. An welchen Orten spielst Du bevorzugt? 10.1. Gibt es Orte, an denen Du prinzipiell nicht spielst? 11. Wann/wie oft spielst Du? (Jahreszeiten, Wochentage, Uhrzeiten) 12. Wie unterscheidest Du Dich von anderen (Straßen-) Musikern? Was ist das Besondere an Dir? 13. Wie lange machst Du schon Straßenmusik? 13.1. Machst Du gern Straßenmusik? 13.2. Würdest Du lieber etwas anderes machen? 13.3. Wie lange willst Du noch Straßenmusik machen? 14. Wo/mit wem/in welchen Kontexten machst Du sonst Musik? 14.1. Wie unterscheidet sich Straßenmusik von Musik in anderen Kontexten? 15. Stehst Du in Kontakt mit anderen Straßenmusikern? 16. Wovon bestreitest Du Deinen Lebensunterhalt? 17. Wann/wie oft/wie lange übst/probst Du? 18. Gibt es kommerzielle Aufnahmen von Deiner Musik? 19. Gibt es eine Interaktion zwischen Dir und dem Publikum? 19.1. Wie reagiert das Publikum, wenn die Musik gefällt? 19.2. Wie reagiert das Publikum, wenn die Musik nicht gefällt? 20. Hast Du irgendwelche negativen Erfahrungen gemacht (Polizei, Ladenbesitzer etc.)?
Abbildung 5: Leitfragebogen (deutsche Fassung)
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Während der Befragung selbst versuchte ich, meine Informanten durch aktives Zuhören sowie durch an die Situation angepasste Nach- und Zusatzfragen zum freien Reden zu ermutigen, wobei die vorgegebene Fragenabfolge oftmals in den Hintergrund rückte. Im Anschluss an die Gespräche wurden gegebenenfalls die Kontaktdaten ausgetauscht und ferner angeboten, die jeweils gemachten Fotos sowie die fertige Arbeit in elektronischer Form zuzuschicken. Nach Beendigung der Begegnung oder möglichst am selben Abend hielt ich in meinen Feldnotizen außerdem meine Eindrücke und Beobachtungen während der Darbietungen und bzw. oder Befragungen schriftlich fest. Wo es aus unterschiedlichen Gründen nicht zum Interview kam, gingen teilweise auch Informationen aus kurzen, unverbindlichen Gesprächen in meine Beobachtungsprotokolle ein.
3.4.3
Fotografie
Zur Ergänzung des in den Beobachtungen und Interviews erzeugten Textmaterials wurden die im Feld angetroffenen Straßenmusiker idealerweise in Aktion vor Ort fotografiert. Zumeist geschah dies vor der verbalen Kontaktaufnahme, als bei den Abgebildeten noch kein Bewusstsein über den dokumentarisch-wissenschaftlichen Charakter der Aufnahmen vorhanden war und sie sich dementsprechend gaben. Selbstverständlich wurde im Nachhinein die Erlaubnis zur Verwendung der Bilder eingeholt. Die hergestellten Fotografien erheben dabei weder einen künstlerischen noch einen Objektivitätsanspruch. Insbesondere leidet ein formaler Vergleich der Bilder unter den unterschiedlichen Aufnahmeperspektiven. Fotografie wird in der Ethnographie fast ausschließlich als Methode zur unterstützenden Dokumentation und Registrierung von Bekanntem verwendet und ist zumeist in einen sprachlichen Kontext eingebettet. Dabei ist im Bewusstsein zu halten, dass in der naturalistischen Illusion des fotografischen Bildes nicht einfach die Realität eingefangen ist. Vielmehr konstituiert sich in ihr eine eigene subjektive Wirklichkeit. Wie in jeder anderen Darstellungsform wird auch in der Fotografie die erlebte Realität durch den Forscher gefiltert, selektiert, strukturiert und interpretiert; die Kamera ist dabei bloß das Mittel: »Nicht die Kamera macht die Bilder, sondern der Fotograf.«320 Der Vorteil dokumentarischer Fotos ist, dass sie – auf diese Studie bezogen – einen schnellen Überblick über bestimmte Aspekte insbesondere der Aufführungssituation und -praxis erlauben, die sich ansonsten nur umständlich in Worte fassen lassen. Dazu gehören etwa der Aufbau und die Positionierung der Musiker in der räumlichen Umgebung sowie die verwendete Ausrüstung wie z. B. Verstärker oder auch seltene oder besondere Instrumente, die Kleidung der Straßenmusiker und ihre Erscheinung bzw. Selbstinszenierung oder unter Umständen auch der Kontakt bzw. Abstand zum Publikum. Gleichzeitig wird mit Hilfe fotografischer Abbildungen das im Text Beschriebene veranschaulicht.
320 Vgl. Petermann 1991: 228 ff.
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In manchen Fällen lassen sich allerdings auch aus der Auswertung des Vorgangs des Fotografierens bestimmte Erkenntnisse gewinnen und Schlüsse ziehen. So etwa, wenn sich ein Musiker von der Kamera abwendet und auf diese Weise seine Ablehnung signalisiert, aufgenommen zu werden.321 In diesem Moment wird die Fotografie zu einer Methode sozialer Interaktion, die einen dialogischen Erkenntnisgewinn durch die Beziehung zwischen Fotograf und Fotografiertem ermöglicht. 322
3.4.4
Tonaufnahmen
Bei der Untersuchung und insbesondere der deskriptiven Darstellung und Dokumentation eines musikalischen Phänomens wie der Straßenmusik einer Stadt erscheinen Tonaufnahmen auf den ersten Blick zumindest angebracht, wenn nicht unabdingbar, zumal gerade bei der Straßenmusik die akustische Erfahrung einen wichtigen Teil des Gesamterlebnisses ausmacht. Auf den zweiten Blick taucht allerdings die berechtigte Frage auf, ob auf Tonträger gebannte Straßenmusik überhaupt noch Straßenmusik sei und welchen Erkenntnisgewinn ihre Aufnahme bringe. Bei speziellen Fragestellungen mögen Tonaufnahmen wohl Aufschlüsse ermöglichen, doch in dieser Studie stehen eher die Aufführungspraxis als die Musik an sich sowie die Menschen, die Straßenmusik machen, im Vordergrund des Forschungsinteresses. Engelke plädiert in seinem Buch wider die Konservierung von Straßenmusik auf Tonträgern. Er begründet es mit der Unmöglichkeit, gerade die der Straßenmusik immanente Direktheit in Produktion und Vermittlung bzw. dem Empfangen von Musik sowie in der Honorierung des Gehörten und in der Auseinandersetzung mit den dargebotenen Inhalten wiederzugeben und darüber hinaus Aspekte wie Authentizität und Atmosphäre zu vermitteln.323 Für den musikalischen Laien, der an aufwändig produzierte und zumeist stark komprimierte Studio- und Radiomusik gewöhnt ist, drängt sich beim Anhören aufgenommener Straßenmusiker durch den Verzicht auf ausgefeilte Studiotechnik und Nachbearbeitung fast zwangsläufig der Eindruck von Flachheit in Klang und Wirkung auf. Und dies kann schnell zu falschen Rückschlüssen hinsichtlich der musikalischen und performativen Qualitäten der Musiker führen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Musik-CD, die dem Buch von Kokot et al. (2004) beiliegt und auf der Hamburger Straßenmusiker, in situ aufgenommen, zu hören sind. Straßenmusik muss live erlebt werden, um ihre »herzerfrischende«324 Wirkung zu entfalten. Dem Musiker und Experten mögen sich zwar bestimmte Aspekte insbesondere im Hinblick auf musikalisches Können und Virtuosität erschließen, doch wären diese in jedem Falle schwer objektiv zu bewerten. Der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn aufgenommener Straßenmusik ist somit zumindest zweifelhaft. Ein dokumentarischer Wert ist andererseits nicht von der Hand zu weisen.
321 Andererseits lässt sich der freundliche Blick in die Kamera mit einem Lächeln als Zustimmung und Aufmunterung zum Fotografieren interpretieren. 322 Vgl. Petermann 1991: 230. 323 Vgl. Engelke 1984f: 30 ff. 324 Ebd., 32.
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Ferner ist zumindest nicht auszuschließen, dass eine Aufnahme unter Umständen Auswirkungen auf die Aufführungssituation haben und diese verfälschen könnte. Der Aufbau der Aufnahmeausrüstung und allein schon deren Anwesenheit könnten sowohl das Spiel der Musiker als auch die Reaktionen des Publikums beeinflussen. Diese Effekte dürften gravierender sein als beim Fotografieren, das sich unauffälliger nebenbei erledigen lässt und unter Schaulustigen selbstverständlich ist. Knoblauch weist darauf hin, dass auf diese Weise schnell ein Grundprinzip der Ethnographie verletzt werde, nämlich die »Natürlichkeit« der Situationen.325 Aus den genannten Erwägungen, aber auch aus Gründen der zeitlichen, personellen und finanziellen Begrenztheit der Mittel wurde in der Feldforschungsphase zu dieser Arbeit auf Tonaufnahmen verzichtet. Es sei an dieser Stelle verwiesen auf die Musik-CD bei Kokot et al. (2004), daneben auf die DVD berlin analog326 sowie auf die Radiodokumentation Straßenmusiker – die wahren Superstars327, die ebenfalls zu dem Fazit kommt, Straßenmusik sei am besten live vor Ort zu erleben und zu genießen. Diese Medien enthalten viele Klangbeispiele, die exemplarisch eine vergleichbare personelle, stilistische und instrumentale Vielfalt widerspiegeln, wie sie im Berliner Stadtraum auch heute vorzufinden ist. Ähnliche Überlegungen gelten für Videoaufnahmen.
3.4.5
Ergänzende Daten
Zusätzlich zu den im Feld gesammelten Materialien wurden zur Erweiterung der Angaben aus den Interviews weitere Recherchen angestellt. Eine große Zahl von Straßenmusikern betreibt nämlich eigene Präsenzen im Internet, beispielsweise auf den Plattformen sozialer Netzwerke wie Facebook oder Myspace. Hier sind zum einen Informationen über die Künstler selbst oder anstehende Konzerte sowie zum anderen diverse Medien wie Musikaufnahmen und Videos von Auftritten abrufbar. So ließen sich insbesondere hinsichtlich der sonstigen musikalischen Aktivitäten Zusatzinformationen sammeln, beispielsweise über die Mitgliedschaft in Bands oder die Tätigkeit als Studiomusiker. Und in einigen Fällen, in denen keine eigenen Fotos vorhanden waren, lieferten die Seiten brauchbares Bildmaterial. Die Internetadressen der einzelnen Musiker werden in dieser Arbeit nicht genannt, um die Anonymität der Personen zu wahren. Einige Straßenmusiker schenkten mir im Anschluss an die Interviews ein Exemplar der CDs mit ihrer Musik, die sie auf der Straße verkaufen. Hier wie auch bei der Musik, die auf den Internetseiten zur Verfügung stand, ist etwa der Vergleich zum live auf der Straße Gehörten in Stil, Instrumentierung und Grad der Perfektion aufschlussreich. Vereinzelt fand ein von mir interviewter Straßenmusiker in einem Pressebericht Erwähnung. Solche Meldungen wurden gesammelt und auf zusätzliche Informationen hin geprüft. In anderen Artikeln wurde dagegen über Orte, an denen auch Stra-
325 Vgl. Knoblauch 2003: 139. 326 Riis et al. 2005. 327 Fichtner/Nowakowski 2004/2008.
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ßenmusik stattfindet, geschrieben. Diese flossen in die Beurteilung des Kontextes mit ein, den die Stadt Berlin für das hiesige Straßenmusikgeschehen darstellt. Ferner besuchte ich Veranstaltungen, die im weiteren Sinne mit Straßenmusik im Zusammenhang standen, um Kontakte zu knüpfen und Hintergrundinformationen zu sammeln. Dazu gehörte etwa das RAK-Revival-Festival in Braunschweig328, auf dem ich neben Klaus dem Geiger329 auch noch einige andere der bereits 1984 in Engelkes Straßenmusikbuch vorgestellten »Asphaltbarden« erleben konnte. Das Internationale Drehorgelfestival, das jährlich in Berlin stattfindet, war eine gute Gelegenheit, alte Berliner Originale hinter ihren oft mehrere zigtausend Euro werten Leierkästen kennenzulernen, die sie mit viel Liebe zum Detail instand halten.
3.4.6
Umfrage zu Wahrnehmung und Akzeptanz
Zur Klärung der Frage nach der Rezeption und Wahrnehmung bzw. Akzeptanz von Straßenmusik wurde außerdem eine nichtrepräsentative Voruntersuchung in Form einer Umfrage unter Berlinern, auch ehemaligen, durchgeführt, die in ihrem Alltag als Passanten mit Straßenmusikern konfrontiert sind bzw. waren. Es ging mir mehr um grobe Trends als um statistisch valide Aussagen. Daher habe ich diese Umfrage auf meinen Bekanntenkreis beschränkt. Ansonsten wäre ein hoher Aufwand nötig gewesen, um repräsentative Ergebnisse zu erzielen. Einerseits wäre bei einer Befragung der umstehenden Zuschauer eines Straßenmusikers davon auszugehen, dass diese der Straßenmusik eher aufgeschlossen gegenüber stünden. Bei den Vorbeigehenden hingegen wäre tendenziell mit einer gleichgültigen bis ablehnenden Haltung zu rechnen. Somit würde eine Publikumsbefragung je nach Künstler und Auftrittssituation sehr unterschiedliche und nicht miteinander vergleichbare Ergebnisse liefern. Die Frage Warum sind Sie stehengeblieben? etwa könnte mit Neugierde, dem Wiedererkennen einer bekannten Melodie usw. beantwortet werden. Daher fiel meine Wahl auf eine Umfrage per E-Mail unter einer Zahl von Bekannten. Dass diese Gruppe den Bevölkerungsquerschnitt nicht repräsentiert, liegt auf der Hand. Allerdings hat der Ansatz den Vorzug, dass die Antworten unabhängig von einer konkreten Straßenmusik-Situation zustande gekommen sind. Auf gut 80 verschickte Anfragen Ende Februar 2010 erhielt ich binnen weniger Tage 56 brauchbare Rückmeldungen. Das Geschlechterverhältnis dabei war in etwa ausgeglichen: es antworteten 30 weibliche und 26 männliche Teilnehmer, die eine breite Altersspanne von ca. 16 bis über 70 Jahre abdeckten. Alle Rückläufe ließen erkennen, dass die Personen Straßenmusik in Berlin erlebt haben und somit Rezipienten von Straßenmusik darstellen. Es gab niemanden, der den Begriff nicht einordnen oder auf keine persönlichen Erfahrungen zurückgreifen konnte. Meinerseits wurde darum gebeten, zwei offene Fragen knapp und stichpunktartig zu beantworten. Dazu wurde eine Definition des Begriffs Straßenmusik entsprechend derjenigen in Abschnitt 2.1.1 gegeben, um den Gegenstand der Frage möglichst klar zu machen. Die beiden Fragen lauteten:
328 Vgl. Anmerkung 99. 329 Vgl. Anmerkung 164.
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1. Was verbindest du mit Straßenmusik? 2. Wie ist deine Einstellung zu Straßenmusik? (eher neugierig/offen oder eher genervt/negativ?) Die – teils sehr differenzierten – Antworten wurden gesammelt und im Rahmen der Betrachtungen in Abschnitt 5.14.3 ausgewertet.
3.5
FIXIERUNG DER DATEN
Die erfassten Daten müssen, um im Laufe des weiteren Forschungsprozesses etwa zur Interpretation verfügbar zu sein, festgehalten werden. Die Resultate dieser Fixierung werden zum Ersatz der in der Erhebungssituation vorgefundenen psychischen oder sozialen Realität und als solcher zur Grundlage aller anschließend abgeleiteten Erkenntnisse.330 Die selektive Wahrnehmung des Forschers bei der Fixierung der Daten – gleich, welcher Art – ist dabei unvermeidbar, wie bereits die Ausführungen zur Fotografie in Abschnitt 3.4.3 gezeigt haben. Er produziert z. B. einen Text oder eine Fotografie und bringt darin die von ihm erlebte Realität in gefilterter Weise zum Ausdruck. Objektivität ist dabei ein hehres Ziel, doch in der Praxis nur in Annäherung erreichbar – und noch schwieriger nachprüfbar.
3.5.1
Feldnotizen
Seit mehreren Jahrzehnten werden Aufnahmetechniken für Ton und Bild immer handlicher, preisgünstiger und leichter verfügbar. Dadurch sind sie auch in der qualitativen Forschung mittlerweile sehr populär geworden. Früher waren die Notizen des Forschers auch bei Interviews das dominierende Aufzeichnungsverfahren. Dieses klassische Medium sollte bei Befragungen das Wesentliche der Antworten der Befragten festhalten sowie Informationen und Beobachtungen zum Verlauf des Interviews einschließen. Den Ausweg aus der offensichtlichen Selektivität bezüglich der Inhalte bei dieser Methode scheint die audio- oder audiovisuelle Aufnahme des Interviews zu bieten. Doch kann die Tatsache ihrer Aufzeichnung durchaus eine beeinflussende Wirkung auf das Verhalten und die Äußerungen der Befragten haben. Auch die Wahrung von Anonymität erscheint bei Ton- und bzw. oder Bildaufnahmen problematisch. Letztlich müssen die aufgenommenen Gespräche zur weiteren Verwertung transkribiert, also verschriftlicht werden, was sehr zeitaufwändig ist und schnell große Mengen an Text generieren kann. Denn bei diesem Verfahren erfolgt die Selektion im Gegensatz zur direkten Mitschrift erst nach der Notierung. Uwe Flick plädiert deshalb für eine Gegenstandsangemessenheit der Methoden und darin zur Sparsamkeit: Der Forscher »sollte nur so viel aufzeichnen, wie er zur Beantwortung seiner Fragestellung unbedingt braucht«, und dabei den technischen Aufwand in der Erhebungssituation an der zwingenden Notwendigkeit im Hinblick auf das theoretische Interesse orientieren. Bei Fragestellungen, für die dies ausreiche, sollte die Protokollierung von Antworten und Beobachtungen gewählt werden. 331 330 Vgl. Flick 1991b: 160. 331 Ebd., 161.
F IXIERUNG DER D ATEN | 75
Im Rahmen dieser Untersuchung wurde eine große Zahl qualitativer Interviews angestrebt, deren vollständige Transkription vor der anschließenden Auswertung weder sinnvoll noch mit vertretbarem Aufwand machbar erschien. Aus diesem Grunde waren die Leitfragen in der Praxis auf drei einseitig bedruckte DIN-A4-Seiten verteilt, so dass genug Zwischenraum für ausführliche Notizen des Forschers zu den wesentlichen Aspekten der Antworten und für wörtliche Zitate blieb. Diese Notizen wurden in erster Linie direkt während des Gesprächs gemacht und im Anschluss an die Befragung durch Beobachtungen und weitere Bemerkungen zu Inhalt und Verlauf des Interviews ergänzt. Der Fragebogen wurde also nicht von den Befragten selbst ausgefüllt, so dass diese sich auf ihre Ausführungen konzentrieren konnten. Dieses Verfahren ermöglichte es auch, sofort Nachfragen zu stellen bzw. das Auslassen einzelner Fragen zu verhindern oder zumindest nachzuvollziehen. Gleichzeitig fand theoretisch eine permanente Rückkopplung statt, da ich mich stets so positionierte, dass die Musiker sehen konnten, was ich notierte, um nötigenfalls Korrekturen zu machen. Es war für sie jederzeit möglich, Antworten zu revidieren oder streichen zu lassen. Und wenn die Interviewsprache Englisch war, habe ich auch in englisch mitgeschrieben, um die Transparenz für die Befragten zu gewährleisten. Zusammen mit den Protokollen aus der teilnehmenden Beobachtung bilden die Gesprächsprotokolle meine Feldnotizen.
3.5.2
Fotos
Die Fotos für diese Studie wurden größtenteils mit einer Digitalkamera332 in Farbe aufgenommen. Die Einstellungen waren dabei an die jeweiligen Lichtverhältnisse angepasst, außerdem kamen ein Teleobjektiv, ein Polarisationsfilter sowie ein Stativ je nach Bedarf zum Einsatz. Auf die Verwendung von Blitzlicht wurde nach Möglichkeit verzichtet. Beim Fotografieren wurde nicht auf einheitliche Bildausschnitte oder Perspektiven geachtet. Es wurde versucht, die Straßenmusiker in Aktion abzubilden und dabei auch die unmittelbare natürliche Umgebung zu zeigen. Dabei lag der Fokus jedoch klar auf den Künstlern und nicht auf dem Publikum. Stets wurden mehrere Bilder aufgenommen, um später eine Auswahl zur Verfügung zu haben. In einigen Fällen wurden die Interviewten oder Beobachteten Straßenmusiker jedoch nicht fotografiert, weil diese entweder nicht damit einverstanden oder weil die Batterien der Kamera erschöpft waren. Eine nachträgliche Bearbeitung der Bilddateien fand lediglich in der Form statt, dass teilweise die Bildausschnitte dahingehend angepasst wurden, die Musiker stärker ins Blickfeld zu rücken. In vielen Fällen wurden für den Druck die Werte für Helligkeit und Kontraste zwecks besserer Erkennbarkeit korrigiert.
3.5.3
Internetrecherche
Bei der Internetrecherche zu den einzelnen Musikern wurden die Adressen (URL) der relevanten Homepages sowie im Groben deren Inhalte protokolliert. Diese Angaben wurden der Liste mit den Kontaktdaten zugefügt, die ich im Verlauf der Feldfor332 Olympus C-3030ZOOM.
76 | F ORSCHUNGSMETHODIK
schung führte. Außerdem wurden Bilddateien digital gespeichert, falls keine eigenen Fotos der Straßenmusiker vorhanden waren.
3.6
ANALYSE UND INTERPRETATION DER DATEN
Die Beziehungen zwischen Daten und den über sie gemachten Aussagen werden in der Regel über ein Auswertungsverfahren hergestellt. Dabei gilt es ebenso wie bei der Erhebung des Datenmaterials, betreffs der Analyse bzw. Interpretation eine begründete Auswahl unter den methodischen Alternativen zu treffen. Diese hängt vor allem von der Art des vorhandenen Datenmaterials sowie von der Fragestellung ab. Im Verlauf der Auswertung wird das Beobachtete durch Kategorien geordnet. Solche ergeben sich zum einen bereits aus der Fragestellung, den sie bestimmenden Dimensionen und den konkreten Interessen des Forschers sowie zum anderen aus den Daten selbst, aus denen in einem induktiven Erkenntnisprozess auch Sachverhalte sichtbar und theoretische Zusammenhänge entwickelt werden, die vorher nicht offenbar waren. Die Kodierung stellt dabei einen zentralen Schritt dar und bezeichnet die Zuordnung des fixierten Datenmaterials zu den Kategorien bzw. ermöglicht die Generierung von Kategorien aus dem Material. Ziel der Interpretation ist es, wesentliche Deutungsmuster und Kernvariablen herauszuarbeiten.
3.6.1
Festlegung des Datenmaterials
Vor der Auswertung ist es nötig, festzulegen, welches Material konkret für die Analyse und Interpretation herangezogen wird. Für diese Arbeit wurden prinzipiell sämtliche 97 Interviewprotokolle sowie alle 163 Beobachtungsprotokolle und zusätzlich – wo vorhanden – die im Feld entstandenen Fotos verwendet. Wie die Daten konkret in den einzelnen Auswertungsschritten behandelt wurden und in die jeweiligen Darstellungen eingeflossen sind, wird in den entsprechenden Abschnitten in Kapitel 5 erläutert.
3.6.2
Interpretationsmethodik
Als Interpretationsmethode für die im Rahmen dieser Untersuchung gesammelten Daten wurde die Qualitative Inhaltsanalyse nach Philipp Mayring gewählt, die sich gut für die Auswertung größerer Materialmengen verschiedener Datensorten eignet, z. B. Beobachtungsprotokolle und Interviews. Sie erlaubt sowohl die systematische Zusammenfassung als auch eine sinnvolle Strukturierung des Stoffes sowie die Identifizierung bestimmter Trends durch die Interpretationsleistung des Forschers.333 Das Ziel von Inhaltsanalysen ist die planvolle Bearbeitung von zuvor fixiertem Material aus Kommunikationen unterschiedlicher Art. Dabei interessieren unter Umständen nicht nur verbal-inhaltliche Aspekte, sondern auch formale Gesichtspunkte, latente Sinngehalte etc. Die qualitative Inhaltsanalyse läuft schrittweise ab. Sie ist von dem Grundgedanken geleitet, die Daten frei von vorschnellen Quantifizierungen
333 Vgl. Mayring 1991: 209 ff.
A NALYSE UND I NTERPRETATION DER D ATEN | 77
auszuwerten und zu beurteilen, ohne gleichzeitig den Weg zu späteren Quantifizierungen zu verbauen. Bei der Zusammenfassenden Inhaltsanalyse wird das Material nach und nach durch die Zusammenfassung gleicher und ähnlicher Aussagen so reduziert und abstrahiert, dass die wesentlichen Inhalte und Bedeutungen erhalten bleiben, aber ein komprimierter, überschaubarer Kurztext entsteht. In diesem Schritt wird eher offen kodiert, d.h. die Kodes entstehen aus Ausdrücken der Handelnden bzw. ihrer Lebenswelt. Die Suche nach der Ordnung von Begriffen, Handlungen und Denkweisen steht im Vordergrund. Dabei ergeben sich Kategorien und Subkategorien. Der resultierende Kodierleitfaden lässt sich im nächsten Schritt auf das empirische Material anwenden: Die Strukturierende Inhaltsanalyse dient dem Herausfiltern bestimmter Aspekte aus dem Datenmaterial und dessen Einschätzung unter gewissen Kriterien oder aus der Fragestellung bzw. aus der offenen Kodierung herrührenden Kategorien. Eine weitere Untergliederung des an das Material herangetragenen Kategoriensystems ist dabei möglich. Hier werden durch selektive Kodierung Schlüssel- und Subkategorien miteinander in Bezug gesetzt. Während des Analyseprozesses zeigt sich somit auch, ob die vorher vorgeschlagenen Dimensionen in den Daten überhaupt bestätigt werden bzw. welche Dimensionen sich im Material noch spiegeln, die zuvor nicht in Betracht gezogen wurden. Die ergänzende Dokumentenanalyse 334 von im Internet verfügbarem Material umfasste die Sondierung, Analyse und Quellenkritik entlang der Leitfragen der Untersuchung.
3.6.3
Darstellung der Ergebnisse
Während sich statistische Daten oder die Ergebnisse quantitativer Analysen prägnant in Form von Verteilungen (also graphisch), Tabellen, Kennwerten etc. darstellen lassen, ist eine ähnlich bündige Präsentation der Resultate qualitativer Forschung häufig nicht möglich, ohne die ihnen eigene Komplexität zu vernachlässigen. Daher erfolgt die Darstellung der Forschungsergebnisse im Kernbereich dieser Arbeit zweistufig: Im ersten Teil werden in Kapitel 4 zusammenfassende, beschreibende Darstellungen der beobachteten Einzelfälle gegeben. Die Straßenmusiker werden zunächst individuell vorgestellt. Dabei werden wesentliche Aspekte aus den Interview- und Beobachtungsprotokollen sowie den weiteren Materialien miteinbezogen. Wo vorhanden, illustriert ein Foto die Eindrücke. Auf diese Weise wird der großen Vielfalt der Formen Rechnung getragen, ohne sich auf das vermeintlich Typische einer Handvoll exemplarischer Fälle zu beschränken, wie es bislang in der Literatur gehandhabt wurde.335 Die Fall-für-Fall-Beschreibung geschieht also nicht, um vom Einzelfall auf die Allgemeinheit der Straßenmusiker zu schließen, sondern um zu 334 Vgl. Mayring 2002: 81 f. 335 In allen bekannten Arbeiten wird lediglich ein kleiner Ausschnitt aus der jeweiligen Gesamtheit der Straßenmusiker gezeigt. Insbesondere Noll versucht ferner so etwas wie eine Typisierung, indem er jeden vorgestellten Straßenmusiker einem bestimmten Typus zuordnet, vgl. Noll 1992: 104 ff.
78 | F ORSCHUNGSMETHODIK
vermeiden, dass aufgrund einiger weniger Beispiele alle anderen Erscheinungsformen in irgendwelche Schubladen einsortiert werden. Im zweiten Auswertungsteil in Kapitel 5 werden auf der Grundlage der erhobenen Daten erst statistische Angaben zu Berliner Straßenmusikern und dem, was sie tun, gemacht. Dann folgen fallvergleichende Darstellungen und Interpretationen einzelner in der qualitativen Analyse gefundener Schlüssel- und Unterkategorien, zu denen nun durch konkrete Heranziehung und Paraphrasierung des Materials verallgemeinernde Aussagen möglich sind.
3.6.4
Gütekriterien
»Ein wesentliches Kriterium für die Güte wissenschaftlicher Untersuchungen ist, ob die Beschreibungen auf eine angebbare Weise der sozialen Welt entsprechen, auf die sie sich beziehen.«336 Im allgemeinen wird die Verlässlichkeit und Klarheit von Forschungsergebnissen anhand der Gütekriterien Objektivität, Validität und Reliabilität beurteilt. Diese sind in ihrer klassischen Bedeutung im Hinblick auf die qualitative Forschung allerdings in ihrem Nutzen umstritten und nur in beschränktem Maße übertragbar, so dass hierfür alternative Formen entwickelt wurden, mit diesen Kriterien umzugehen.337 Objektivität bezeichnet die unverzerrte, unter anderem vom Forscher unbeeinflusste, reale Beschreibung des Untersuchungsgegenstands. Generell ist Objektivität in der qualitativen Forschung schon wegen der oftmals auf subjektive Aspekte zielenden Fragestellungen zweifelhaft, doch lässt sich mittels verschiedener Strategien das methodische Vorgehen im Forschungsprozess möglichst transparent und damit für die wissenschaftliche Gemeinschaft nachvollziehbar gestalten. Zum einen ist das die Offenlegung aller wesentlichen Schritte und Entscheidungen im Verlauf der Forschung – wie sie in diesem Kapitel erfolgt – und zum anderen eine, auch selbstreflexive, Quellenkritik, die sich insbesondere auf mögliche Verzerrungen einlässt. Selbst wenn letztere bereits in den einzelnen Abschnitten dieses Kapitels immer wieder thematisiert wurde, so sollen an dieser Stelle noch einmal die wesentlichen Punkte der Quellenkritik zusammengefasst werden: Die Kontrolle des forschenden Subjekts fand statt durch die Reflexion der eigenen Rollen, Motivation, Wertevorstellungen (die Werturteilsfreiheit des Forschers bleibt wohl ein kaum erreichbares Ideal), Zu- oder Abneigungen. Hierzu sei insbesondere auf die Abschnitte 3.3, 3.4.1 und 3.4.2 verwiesen. Kritik von Kollegen und damit Vertretern der Scientific Community wurde sowohl im Datenerhebungsprozess als auch in späteren Stadien im Rahmen von Einzelgesprächen und Kolloquien eingeholt und stellt somit durch die Einbeziehung mehrerer Individuen eine gewisse Intersubjektivität her. Mögliche Verzerrungen ergaben sich bei einigen Teilnehmern, die während der Interviews unter dem Einfluss von Drogen wie Alkohol und Marihuana standen. In den drei oder vier betroffenen Fällen zogen sich die Gespräche recht stark in 336 Knoblauch 2003: 162. 337 Vgl. ebd., 163 ff.
A NALYSE UND I NTERPRETATION DER D ATEN | 79
die Länge, da die Befragten weitläufig abschweiften. Jedoch gab es keine direkten Anzeichen für unsinnige oder nicht plausible Antworten. Allgemein ist die Frage nach einer Verzerrung der Informationen aus den Interviews durch bewusst oder unbewusst falsche Angaben zu stellen. Da die Teilnahme an den Gesprächen allerdings völlig freiwillig und auf Wunsch anonym war und meine Gesprächspartner keine konkreten Vor- oder Nachteile durch das Interview oder seine Folgen zu erwarten hatten, lagen keine plausiblen strategischen Gründe vor, die Unwahrheit zu sagen. Selbst für den Fall, dass dies im einzelnen trotzdem geschehen sein sollte, fiele es zumindest bei der statistischen Auswertung aufgrund der großen Zahl an Interviews nicht so stark ins Gewicht. Zudem wurden in einigen Punkten gar keine objektiven Wahrheiten, sondern subjektive Innenperspektiven abgefragt, auf die es keine objektiven Antworten geben kann. Gerade die heikle Frage nach den konkreten Erlösen aus der Straßenmusik wurde explizit nicht gestellt, um die Betroffenen nicht in eine peinliche Situation zu bringen. Auch die soziale Herkunft wurde aus ähnlichen Gründen nicht direkt abgefragt. Anders sieht es bei der Frage aus, ob die Daten durch die Verweigerungshaltung bestimmter Gruppen tendenziell eine andere Qualität erhielten. In diesem Punkt sei vor allem auf Musiker aus Osteuropa verwiesen, die generell verschlossener reagierten und die Teilnahme an einem Interview in mehreren Fällen ablehnten. Völlig unzugänglich zeigten sich die Roma, bei denen Sprachprobleme eine Hürde darstellten und zudem durchweg keine Gesprächsbereitschaft vorhanden war. Insofern ist das bei der Auswertung zugrunde gelegte Datenmaterial nur eingeschränkt repräsentativ, da davon auszugehen ist, dass einige der Personen, die sich nicht auf ein Interview einlassen mochten, andere Ansichten vertreten bzw. Erfahrungen gemacht haben als die Menschen aus der kommunikationsbereiten Gruppe. Mithin sind alle Aussagen, die sich aus der Auswertung der Interviews ergeben, nur auf die entsprechende Stichprobe bezogen. Die Auswahl der Interviewpartner fand nicht aufgrund subjektiver Kriterien statt, da alle Straßenmusiker angesprochen wurden, denen ich im Feld begegnet bin.
Die Validität (Gültigkeit) fordert, dass eine Messung tatsächlich die Merkmale erfasst, die man zu erfassen beansprucht. Oder in anderen Worten: »Messen wir das, wovon wir glauben, daß wir es messen?«338 Im Interview gemachte Angaben und Aussagen der Befragten lassen sich teilweise nicht verifizieren, so sie sich auf die Schilderung persönlicher Erfahrungen oder auf das subjektive Empfinden beziehen. Daher sind solche Berichte für die Beurteilung ihrer Plausibilität zunächst auf innere Konsistenz zu prüfen und mit den Aussagen Anderer sowie ergänzenden Daten zu vergleichen. Dies ist in dieser Untersuchung geschehen, wobei die im Absatz zur Objektivität erwähnten Einschränkungen gelten. Es lässt sich andererseits auch argumentieren, dass subjektive Aussagen von Informanten gerade deshalb in hohem Maße valide sind, weil nach eben solchen gefragt wurde. Die Validität von Feldforschungen und qualitativem Material kann jedenfalls durch eine sogenannte Triangulation bei der Datenerhebung und -auswertung erhöht 338 Kvale 1991: 428.
80 | F ORSCHUNGSMETHODIK
werden, indem der Gegenstand durch Kombination verschiedener Datenquellen oder methodischer Herangehensweisen von mindestens zwei Seiten betrachtet wird.339 Dies kann wie in dieser Untersuchung durch Beobachtungen, Interviews, die Ermittlung von Zusatzinformationen oder auch die Erhebung quantitativer Daten erfolgen. Als kommunikative Validierung wird die Einbeziehung der Akteure in den Forschungsprozess bezeichnet. Im vorliegenden Fall wurden zumindest die Angaben aus den Interviews den Teilnehmern direkt im Gespräch rückgemeldet, so dass für die Befragten neben der Möglichkeit des Auslassens von Fragen jederzeit die Freiheit bestand, Antworten zu revidieren oder zurückzunehmen. Insgesamt ist anzunehmen, dass durch die Offenheit, mit der ich an die Befragten herangetreten bin, auch diese in ihren Antworten offen und ehrlich waren. Doch wie Daniel Avorgbedor bemerkt: »Fieldwork is a story of contradictions, successes, failures and doubts, regardless of the relationship that exists between the researcher and the researched.«340 Es ist somit selbst beim freundlichsten und auskunftsfreudigsten Informanten keine hundertprozentige Sicherheit über den Wahrheitsgehalt seiner Aussagen möglich. Die argumentative oder prozedurale Validierung besteht in der Offenlegung von Vorannahmen sowie im Einhalten bestimmter Sorgfaltsregeln im Umgang mit den Daten während des gesamten Forschungsprozesses.341 Den Vorschlägen dazu bei Knoblauch wurde in dieser Arbeit Folge geleistet. Reliabilität (Zuverlässigkeit) meint die Reproduzierbarkeit eines Messergebnisses unter gleichen Bedingungen, was unter anderem eine bestimmte Messgenauigkeit voraussetzt. Während die Subjektivität bei qualitativen Erhebungen einerseits den Grund für die Annahme einer hohen Validität bilden kann, mindert sie gleichzeitig die Reliabilität, da bereits in der Erhebungssituation so viele durch den Forscher unbeeinflussbare Faktoren eine Rolle spielen wie z. B. Stimmung, Konzentrationsgrad, Erfahrungen oder Einstellung des Teilnehmers. Auch wird eine andere Stichprobe in der Regel zu verschiedenen Resultaten führen. Die Ergebnisse qualitativer Forschung sind nicht so genau reproduzierbar wie in anderen Bereichen, da in den Lebenswissenschaften keine deterministischen Zusammenhänge ermittelbar sind – und vermutlich auch gar nicht existieren. Im Falle dieser Studie sind allerdings keine allgemeingültigen Aussagen das Ziel, sondern vielmehr die qualitative Beschreibung eines Gegenstands – der Straßenmusik in Berlin – zum Zeitpunkt seiner Untersuchung. Dieser Ansatz schließt bereits impliziert die Erwartung ein, dass jeder Versuch einer erneuten Beschreibung zu einem anderen Zeitpunkt zumindest in den Details andere Ergebnisse hervorbringen würde; denn es handelt sich bei Straßenmusik, wie der historische Überblick gezeigt hat, um ein wandelbares Phänomen.
339 Vgl. Flick 1991c. 340 Avorgbedor 1986: 52. 341 Vgl. Knoblauch 2003: 167 f.
4. Straßenmusiker in Berlin: Fallschilderungen
Es folgen als erstes Kernstück dieser Arbeit 163 Einzelfall-Darstellungen der während der Feldforschung angetroffenen Straßenmusiker und Gruppen. Auf diese Weise wird erstmals eine umfassende Beschreibung der Breite der individuellen Erscheinungsformen unter Straßenmusikern in Berlin geboten und damit die in der Einleitung und in Abschnitt 2.2 aufgezeigte Forschungslücke geschlossen. Es wird unter anderem auf Instrumente, Musikstile, verschiedene Herkunftsregionen, Motive und Strategien im Umgang mit dem Publikum eingegangen. In diese Portraits fließen die in den Beobachtungen, Interviews und Recherchen gesammelten Daten ein. Wo vorhanden, ergänzt eine Fotoabbildung den Text. Die fallübergreifende Analyse und Betrachtung der aggregierten Ergebnisse für die Straßenmusik in Berlin folgt im anschließenden Kapitel 5. Trotz meiner Bemühungen, alle Details wiederzugeben, die sich mir erschlossen haben, ist mir bewusst, dass meine Darstellung der einzelnen Künstler und Gruppen letztlich unvollständig bleiben muss; denn meine Fragen decken nur bestimmte Bereiche ab, und es wurde nicht in jedem Fall auf alle Fragen geantwortet. Dennoch ist eine Sammlung wie diese bisher einmalig in Umfang und Tiefe der Fallschilderungen, so dass sie eine Basis für weitere Untersuchungen sein kann. Die Vorstellung der Künstler erfolgt in zwei Abschnitten jeweils in alphabetischer Reihenfolge: zunächst werden in Abschnitt 4.1 die 97 Interviews ausgewertet, anschließend in Abschnitt 4.2 die 66 Beobachtungsberichte. In jeder Überschrift wird der Name bzw. Künstlername oder Pseudonym genannt, bei Ensembles in Kursivsatz der Name der Gruppe, falls vorhanden bzw. bekannt. Wo keine Angaben zum Namen vorliegen, arbeite ich mit deskriptiven Titeln. Auch das oder die Hauptinstrumente erscheinen im Titel, bei großen Ensembles stattdessen eine passende Bezeichnung wie Blaskapelle oder Rockband. Eine Kategorisierung der Musiker und Ensembles nach bestimmten Merkmalen oder Auftrittsorten erfolgt an keiner Stelle. Einer solchen typisierenden Betrachtungsweise soll durch die alphabetische Reihenfolge entgegengewirkt werden, da sie wegen der zahllosen denkbaren Kategorien nur willkürlich sein könnte. Mit Angaben zur Qualität der musikalischen Darbietung halte ich mich ebenfalls zurück, weil diese der subjektiven Wahrnehmung und Beurteilung unterliegt. So kann auch ein technisch mangelhafter Vortrag berühren, wenn er mit Gefühl und Leidenschaft dargebracht wird und den Zuhörer auf einer emotionalen Ebene erreicht. In Fällen, in
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denen das technische Niveau der Musiker offensichtlich überdurchschnittlich hoch oder niedrig ist, wird dies angemerkt. Die einzelnen Portraits werden jeweils eingeleitet durch eine kurze tabellarische Übersicht über die bei der Straßenmusik verwendeten Instrumente, ferner Alter, Herkunftsort und Angaben über die Aufenthaltsdauer der Musiker in Berlin. Bei Gruppen mit bis zu fünf Mitgliedern sind hier auch die Namen der einzelnen Personen aufgeführt. Die Angaben zu Alter und gegebenenfalls unterschiedlichen Herkunftsorten erfolgen in diesen Fällen in der gleichen Reihenfolge wie die Namensnennung. Alle Zeit- und Altersangaben beziehen sich jeweils auf den Zeitpunkt der Befragung, sofern keine absoluten Jahreszahlen genannt werden. Originalausdrücke und -formulierungen meiner Gesprächspartner stehen in Anführungszeichen und beziehen sich auf meine Feldnotizen. Bis auf Ausnahmen sind diese sprachlich nicht geglättet. Die Fotos wurden vom Verfasser aufgenommen, falls nicht anders gekennzeichnet. In den Bildunterschriften finden sich Angaben zu Ort und Datum der Aufnahme. Wenn in den Artikeln auf andere Straßenmusiker verwiesen wird, die ebenfalls in dieser Arbeit beschrieben sind, so sind diese durch einen Pfeil vor dem jeweiligen → Namen gekennzeichnet.
I NTERVIEWS | 83
4.1 4.1.1
INTERVIEWS Ada und Jonas – Geige
Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Geige 17, 17 Berlin, Deutschland zu Hause
Ada und Jonas gehen noch zur Schule. Die beiden 17-Jährigen leben jeweils bei ihren Eltern und besuchen gemeinsam ein musikbetontes Gymnasium in Berlin. Sie verfügen über langjährige Spielpraxis, spielen im Schulorchester und Jonas zusätzlich in einer Band. Beide haben seit ihrer Kindheit Instrumentalunterricht von Privatlehrern und an der Musikschule erhalten und spielen außer Violine noch Klavier, ihre Vorbilder sind bekannte Geiger wie David Garrett.
Abbildung 6: Ada und Jonas am Bebelplatz neben der Staatsoper am 29.07.2010
Straßenmusik machen die Schüler heute zum ersten Mal, und bisher macht es ihnen so viel Spaß, dass sie sich gut vorstellen können, dieses Experiment während ihrer Sommerferien zu wiederholen. Schulkameraden brachten sie auf die Idee, und so haben sich die zwei auf den Bebelplatz direkt neben der Staatsoper Unter den Linden gestellt und spielen heute Stücke von Ignaz Josef Pleyel, denn das »war grad’ da«. Einen Tag lang haben sie das Material zusammen geprobt, jetzt spielen sie es einen Tag lang. Beim nächsten Mal wollen sie mit neuen Stücken wieder so verfahren. Ihr Repertoire beherrschen die beiden genauso gut wie ihre Instrumente, und obwohl sie konzentriert spielen und daher wenig Kontakt zum Publikum aufbauen können,
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kommt ihre Musik gut an. Die Violinisten möchten gute Laune verbreiten und eine angenehme Atmosphäre schaffen, in der sich die Leute wohlfühlen. Ada und Jonas spielen in erster Linie aus Spaß und Freude an der Musik auf der Straße, auch wenn ihr einstudiertes Programm nicht unbedingt ihren eigenen Musikgeschmack trifft. Über Geldspenden, die in Adas aufgeklapptem und mit rosafarbenem Samt ausgekleideten Geigenkoffer landen, freuen sie sich ebenso wie, wenn die Leute ihretwegen zum Zuhören stehenbleiben, sich nach ihnen umdrehen oder sie ansprechen und wenn Kinder vor ihnen zur Musik tanzen.
4.1.2
Aga – Geige
Hauptinstrument: Alter: Herkunft: In Berlin:
Geige 22 Olsztyn, Polen für zwei Wochen
Die 22-jährige Studentin Aga aus dem polnischen Olsztyn, nahe der Grenze zu Litauen, ist für zwei Wochen zu Besuch bei einer Freundin in Berlin. Sie hat ihre Geige mitgebracht und sich zum Musizieren Orte gesucht, an denen viele Menschen sind. Zunächst hat sie sich in die Friedrichstraße gestellt, ich treffe sie Unter den Linden an, wo sie am Rande der relativ stark befahrenen Straße steht und mit ihrem zaghaften Spiel kaum hörbar ist. Sie wirkt zudem schüchtern und in sich gekehrt und wird von den Passanten folglich kaum wahrgenommen. Straßenmusik macht die Geigerin heute zum ersten Mal, doch unter diesen Bedingungen findet sie keinen Spaß daran. Während ihrer Ferien will sie sich damit etwas hinzuverdienen und auf diese Weise gleichzeitig Berlin kennenlernen. Zu Hause hat sie einen Studentenjob, mit dem sie sich finanziert. Sie hat sich vorgenommen, täglich zu spielen, »solange es Geld gibt«. Aber eigentlich wäre Aga lieber einfach so unterwegs und würde sich unbeschwert die Stadt ansehen. Seit elf Jahren hat sie Geigenunterricht bei einem Lehrer an der Musikschule, sie spielt auch Klavier und Gitarre. In Olsztyn hat sie eine Band, mit der sie Jazz und Blues macht. Die Situation auf der Straße findet sie unerwartet schwierig, denn »die Leute wollen gar nicht meine Musik hören«. Manche lächeln ihr dennoch aufmunternd zu. Das Repertoire der Polin besteht aus bekannten Melodien aus der Popmusik, etwa von den Beatles, Filmmusik (»Lovestory«) und klassischen Stücke, die sie bei ihrem Geigenlehrer gelernt hat. Dabei improvisiert sie viel, weil sie alles nach ihrer Erinnerung aus dem Kopf spielt.
4.1.3
Akira – Kontrabass
Hauptinstrument: Alter: Herkunft: In Berlin:
Kontrabass, verstärkt 55 Sapporo, Japan seit 11 Jahren
Akira wurde 1955 in Sapporo in Japan geboren. Nach seinem Kontrabassstudium in Japan und am Bostoner Berklee College of Music lebte er von 1985 bis 1998 in New York. Schon kurz nach seiner Ankunft dort begann er neben seinen Auftritten in
I NTERVIEWS | 85
Clubs Straßenmusik im Rahmen des MUNY-Programms342 zu machen. In dieser Zeit spielte der Bassist in verschiedenen Jazzformationen fast aller Stilrichtungen sowie in Salsabands. Doch besonders stark hat ihn die New Yorker Free-Jazz-Szene beeinflusst, vor allem die Mitgliedschaft in der Band von Cecil Taylor, einem der stilprägenden Musiker dieser Richtung. Auch mit William Parker oder Denis Charles spielte er, und mit dem afroamerikanischen Violinisten Billy Bang verbindet ihn noch heute eine intensive musikalische Beziehung. Er hat ihn auf zahlreichen Konzerten und Tourneen auch in Deutschland begleitet. Seit 1998 lebt Akira mit einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung als freischaffender Musiker in Berlin und ist mittlerweile in der hiesigen Jazzszene etabliert. Auf vielen Alben verschiedener Musiker und Bands ist er zumeist am Kontrabass zu hören. Er ist außerdem als Cellist aktiv und beherrscht daneben Gitarre und Keyboard. Bis zu acht Stunden täglich verbringt der 54-Jährige mit Üben auf seinen Instrumenten. Überdies hat er einen Hocker für Kontrabassspieler selbst entwickelt und sich diesen patentieren lassen. Bisher hat sich allerdings kein Hersteller dafür gefunden. Straßenmusik stellt weiterhin einen Teil seines Einkommens dar, ansonsten spielt er bei Clubkonzerten oder tourt mit anderen Musikern und Bands, mit denen er durch vielerlei Projekte verbunden ist. Manchmal macht dem Japaner die Straßenmusik Spaß, er kann sie genießen, wenn das Wetter schön ist oder er mit guten Musikern unterwegs ist. Doch er sagt auch: »I wouldn’t busk if I hadn’t to.« Sie ist ihm vordergründig ein Mittel zum Zweck, nämlich »to pay the rent«. Akira sagt: »Inside I am more creative, I can bring my own pieces«, und: »On the street I’m just the entertainer, I switch my mentality to making money.« Gegen die Ignoranz der Leute in der Öffentlichkeit brauche man ein dickes Fell, fügt er an. »Ignorance happens all the time.« Je nachdem, mit welchem der zahlreichen Musiker, die er kennt, der Kontrabassist gerade Straßenmusik macht – und er spielt immer mit mindestens einem Partner – variiert auch der Musikstil. Zumeist sind es Jazz- und Latinstandards, Bossa Nova oder Klassiker der Popmusik, zu denen selbstverständlich auch dezent improvisiert wird. Zu frei darf es jedoch nicht werden, schon gar nicht Richtung Free Jazz, denn das »funktioniert gar nicht!« Akira sagt von sich: »Ich spiele alle Musikstile.« Und das muss auf der Straße nicht unbedingt seinem persönlichen Geschmack entsprechen: »I make sure that I make enough money.« Dabei achten er und seine Partner auf das Publikum und fragen sich, was gut ankommen könnte. In direkte Interaktion tritt er jedoch nicht mit seinen Zuhörern: »Mostly I don’t do too much, just play.« Manchmal kommen die Leute zu den Musikern und beginnen ein Gespräch oder fragen nach CDs. Die Orte, an denen er in Berlin Straßenmusik macht, liegen in der Innenstadt. Man trifft ihn vor dem S-Bahnhof Hackescher Markt, am Gendarmenmarkt, am Breitscheidplatz vor der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche oder im Tiergarten am Parklokal Schleusenkrug – eher im Freien, denn drinnen in den U-Bahnhöfen findet er es bedrückend. Im Sommer ist Akira zwei- bis dreimal in der Woche mit seinen 342 Die New Yorker Verkehrsbetriebe vergeben Lizenzen zum Musizieren an ausgewiesenen Stellen auf Bahnhöfen im U-Bahnnetz der Stadt. Dazu gibt es einen jährlichen Vorspielwettbewerb, bei dem die Musiker von einer Jury nach bestimmten Qualitätskriterien ausgewählt werden. Das Programm heißt MUNY – Music Under New York, vgl. Tanenbaum 1995: x, 5 f. und zahlreiche weitere Stellen.
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Kollegen unterwegs und spielt dann bis zu fünf Stunden am Tag. »Good music and good money« sind seine Kriterien für einen gelungenen busk. Als ich ihn mit dem polnischen Saxophonisten → Kazik zusammen musizierend am Gendarmenmarkt treffe, bespielt das Duo dort mit Jazzstandards die Cafés und Restaurants am Platz. Akiras Bass ist verstärkt, er hat einen Trolley dabei, auf dem sich eine Verstärkerbox und eine Autobatterie zur Stromversorgung befinden und an den er seine große Instrumententasche gelehnt hat. Beide tragen ein weißes Hemd, Kazik eine Weste darüber und Akira ein gestreiftes Sakko und eine Mütze. Vor ihnen auf dem Pflaster liegt aufgeklappt Kaziks Saxophonkoffer, in dem sich neben den Spenden der Passanten CDs von Projekten der beiden befinden. Nach jeweils einigen Stücken geht Akira mit seiner Mütze bei den Cafébesuchern sammeln, während Kazik weiter auf dem Saxophon improvisiert. Dann gehen sie hinüber zum nächsten Lokal.
Abbildung 7: Akira (l.) mit → Kazik auf dem Gendarmenmarkt am 09.09.2010
Im Vergleich zu New York findet es der Bassist in Berlin leichter, das Publikum zu erreichen. Dort seien die Leute stark an sehr gute Musik auf den Straßen und in den U-Bahnen gewöhnt, sagt er, während man hier als fähiger Musiker auffalle. Potsdam, wo er auch ab und zu Straßenmusik macht, kommt ihm im Gegensatz zu Berlin sehr familiär vor. Dort fällt es ihm leicht, Leute kennenzulernen, er fühlt sich auf der Straße als Musiker willkommener und erhält etwas mehr Geldspenden.
I NTERVIEWS | 87
4.1.4
Alejandro – Gitarre, Gesang
Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Klassische Gitarre, Gesang (spanisch) 27 Venezuela seit einem Jahr
Wenn Alejandro in die U- oder S-Bahn steigt, spielt er den Menschen seine selbstgeschriebenen Lieder vor und singt auf spanisch dazu. Zumindest anfänglich ging es ihm in erster Linie darum, als er im Frühjahr begonnen hat, Straßenmusik zu machen. Spaß macht es ihm auf jeden Fall, doch mittlerweile ist ihm das Geld, das er damit verdient, die Hauptsache. Er nimmt Drogen und hat dadurch hohe Ausgaben. Der junge Venezolaner wohnt mit seiner deutschen Freundin zusammen, die für die Miete und anderen Lebenshaltungskosten aufkommt. Seit Ende letzten Jahres lebt er in Berlin und will mit seinem Touristenvisum für mindestens zwei Jahre bleiben – und so lange auch weiter Straßenmusik machen. In seiner Heimat hat er verschiedene Bands und Musikprojekte, in denen er aktiv war und mit denen er auch Studioaufnahmen gemacht hat. Vorwiegend spielt er in den Zügen auf der Stadtbahn oder der U-Bahnlinien U2 und U7 innerhalb des S-Bahnrings. Auf der Straße oder – ohne Genehmigung – auf U-Bahnhöfen tritt er nur gelegentlich auf. Um seinen Drogenbedarf zu decken, ist der 27-Jährige nahezu täglich mit seiner klassischen Gitarre unterwegs, oft nachmittags zwischen 12 und 16 Uhr, manchmal auch abends von 20 bis 23 Uhr. Dann steigt er für zwei Stationen zu, singt Kurzversionen von zwei oder drei seiner Lieder, bedankt sich bei den Fahrgästen und sammelt schließlich in einem Pappbecher Spenden ein. Es ist schon vorgekommen, dass ihm dabei Einzelpersonen ganze 20- oder 50-Euroscheine zugesteckt haben. Beim Singen blickt Alejandro offen umher, sucht Augenkontakt, lächelt Einzelne an. Er bezeichnet sich als sehr empfindsamen Mann mit einer guten Verbindung zu den Leuten: »The way I feel in a moment is influenced by the people around.« Und danach entscheidet er sich spontan für die Stücke, die er spielt, damit sie für ihn zur Situation und zu den Menschen passen. Sein Repertoire an eigenen Indie-Rock- und -Popsongs ist groß, und ihm ist daran gelegen, nicht mit der Musik irgendwelcher anderer Leute aufzutreten. Die Reaktionen der Menschen auf seine Lieder sind ihm wichtig. Oft bedanken sich welche mit Handschlag bei ihm, machen positive Bemerkungen oder geben ihm ihre Visitenkarten. Der Gitarrist sagt: »You feel it if people love or hate you, you just know it.« Wenn ihm jemand nicht wohlgesonnen ist, hört er Kommentare wie: Du kannst gar nicht spielen. Auch von den Sicherheitsdiensten der S-Bahn und BVG wurde er wiederholt der Züge verwiesen. Insgesamt kommen ihm die Menschen in Berlin aber sehr freundlich und aufgeschlossen für Straßenmusik vor. Er findet sie wertschätzend und ehrlich in ihren Reaktionen. Allerdings sind ihm die musizierenden Roma als sehr aggressiv aufgefallen. Er berichtet, sie würden einfach zu spielen beginnen und ihn übertönen, wenn sie zustiegen, hätten ihn schon angespuckt und aus dem Wagen geschubst. Alejandro übt sporadisch zu Hause, vor allem, wenn er an neuen Songs arbeitet. Er hat sich nicht nur das Spielen auf der Gitarre, sondern auch auf E-Bass, Keyboard und Schlagzeug weitgehend selbst beigebracht. Sein Vater ist ebenfalls Musiker, so dass er schon früh im familiären Umfeld entsprechend inspiriert wurde. Sein Stil ist beeinflusst von Argentinischen Popbands, Nirvana und dem Argentinier Charly
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García, der die Rockmusik Argentiniens entscheidend geprägt hat. Für den jungen Mann ist die Straßenmusik eine Gelegenheit, in direkten Kontakt mit seinem Publikum zu treten, während er es auf der Bühne eher als distanziert wahrnimmt. Auf der Straße ist er allein mit den Leuten und genießt die andere Atmosphäre und Energie, die er in diesem Kontext spürt. Eine Zeitlang ist er manchmal mit einem Rapper zusammen aufgetreten, bisweilen mit → Kimanistar. Die Straßenmusiker aus Osteuropa, die er getroffen hat, beschreibt er als unfreundlicher und »sehr unentspannt«.
Abbildung 8: Alejandro auf der Stadtbahn am 23.08.2011
4.1.5
Alex – Gitarre
Hauptinstrument: Alter: Herkunft: In Berlin:
Westerngitarre, verstärkt 28 Brighton, Großbritannien seit drei Wochen
Alex sitzt mit seiner Westerngitarre und dem winzigen Verstärker am liebsten auf den Fußgängerbrücken über die Spree in Mitte (Friedrichsbrücke, Monbijoubrücke, Pergamonsteg). Hier gibt es wenig Verkehrslärm und genug Passanten. Seit drei Wochen ist der Brite in Berlin und möchte gerne so lange wie möglich bleiben. Mit Straßenmusik hat er vor ungefähr drei Jahren in seiner Heimatstadt Brighton begonnen und findet die Verhältnisse in Berlin ähnlich wegen des hohen Touristenauf-
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kommens. Er braucht das Geld »just to get by«, für Essen, Zigaretten, die Miete – und spielt deshalb fast täglich für mehrere Stunden in der Stadt. Gleichzeitig ist Straßenmusik für ihn eine gute Technik, mehr Spielpraxis vor Publikum zu sammeln. Es mache auch mehr Spaß, als allein zu Hause zu spielen, sagt er. In seiner hat er auch in Bars und Clubs oder am Strand Konzerte gegeben. Doch in Berlin ist er noch am Ankommen, hat bisher wenig Kontakt zu anderen (Straßen-) Musikern. Langfristig möchte er auch hier mehr »Gigs« spielen, eigene Lieder einem Live-Publikum vorstellen. Wenn er Straßenmusik macht, dann improvisiert er meistens über Folk-, Blues- oder Country-Patterns – manchmal sitzt er bis zu einer halben Stunde an einem Stück und vergisst dabei die Welt um sich herum. Alex genießt diese Freiheit der Straße, einfach herumzuspielen (»fiddle around for a while«) »without doing your homework«. Er achtet auf die Menschen, die vorbeigehen oder stehenbleiben, und bezieht das, was er von seiner Umgebung wahrnimmt, spontan in seine Musik mit ein. Und er freut sich, wenn es ihm gelingt, »to add a piece of music to a nice scenery«. Dabei hält sich Alex in der Interaktion mit seinem Publikum zurück, wird gerne unsichtbar und erlebt sich selbst als anonymen Teil der Umwelt. An der Straßenmusik gefällt ihm, dass er auf diese Weise auch die Menschen erreicht, die ansonsten nicht zu Live-Konzerten in Clubs oder Bars gehen würden. Über tanzende Kinder freut er sich besonders.
Abbildung 9: Alex auf der Friedrichsbrücke am 25.07.2010
Das Gitarrespielen hat sich Alex im Elternhause von seinen zwei älteren Brüdern abgeschaut und autodidaktisch weiterentwickelt. Dabei nennt er Musiker wie John Martyn, Bob Dylan, David Crosby und Joni Mitchell als wesentliche Einflüsse auf seinen Stil. Er übt sporadisch für sich selbst, dann aber »a couple of hours at a time«.
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4.1.6
Amadou und Peter – Djembé, Gesang
Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Djembé, Gesang (diola) 33, 32 Senegal und Berlin seit fünf Jahren bzw. schon immer
Der Senegalese Amadou lebt seit fünf Jahren in Berlin und hat sich hier mit einer Trommelschule selbständig gemacht, an der er traditionelle Rhythmen, Tänze und Lieder aus seiner Heimat unterrichtet. In seiner Familie wurde Musik gemacht, das Spielen auf der Djembé und anderen Trommeln und Perkussionsinstrumenten hat er von seinem Großvater gelernt. Weitere Trommelmeister und Reggaemusik waren wichtige Einflüsse für ihn. Peter ist einer von Amadous Schülern, vorher hat er schon Schlagzeug gespielt. Der arbeitsuchende Berliner, der zurzeit von Hartz-IV lebt, ist heute zum ersten Mal dabei, wenn sein Lehrer Straßenmusik macht. Dieser schätzt »schon lange« die spontanen, freien Auftritte in kleiner Besetzung vor wechselndem Publikum und lädt gerne seine Schüler dazu ein wegen der guten Übung. Außerdem bringt es »viel Spaß und ein bisschen Geld«. Feste Zeiten hat er dabei nicht, geht der Straßenmusik eher unregelmäßig nach. Amadou hat sich mit seiner Trommel auch schon während eines Litauenaufenthaltes in Vilnius an der Straßenmusik probiert, meint aber, in Berlin sei die Aufmerksamkeit der Leute größer, außerdem hätten die Menschen mehr Geld. Ansonsten musiziert er viel mit anderen Afrikanern, die er hier kennt, und hat eine westafrikanische Percussionband, mit der er Konzerte gibt oder zu diversen Gelegenheiten wie Festen und privaten Feiern auftritt. Die beiden Trommler haben sich mit ihren Djembés auf die steinernen Bänke auf dem Alexanderplatz gesetzt und genießen durchgängig die Aufmerksamkeit einiger Zuhörer. Amadous blaue Trommeltasche liegt für Geldspenden geöffnet neben ihnen. Sie spielen die originalen Rhythmen aus Casamance, einer Region im Südsenegal, aus der Amadous Familie stammt. Über feste Patterns improvisieren sie abwechselnd furiose Soli oder singen traditionelle Lieder, dazwischen lockern immer wieder gemeinsame Breaks den Spielfluss auf. Amadou bewegt sich beim Djembéspielen geschmeidig und scheint zu tanzen, obwohl er sitzt, während Peter zwar auch akkurat trommelt, dabei aber konzentriert wirkt. Das ungleiche Duo weckt mit seinem Spiel bei vielen Passanten Neugierde und erntet interessierte Blicke, die es freundlich erwidert. Peter und Amadou strahlen die Freude aus, die sie beim Trommeln empfinden, lachen sich dabei an. Sie sehen es gern, wenn die Menschen zu tanzen beginnen, vor allem Kinder kennen dabei noch keine Hemmungen und lassen sich instinktiv von den Rhythmen bewegen. Es ist den Musikern ein Anliegen, ihrem Publikum »das Irdische, Handgemachte« dieser Musik nahezubringen, die gestressten Stadtbewohner »zurück auf die Erde« zu holen und sie die Rhythmen »mehr mit dem Körper« erleben zu lassen. Eigentlich seien die »Leute immer gut drauf«, resümiert Amadou, es gebe »viel Resonanz«. Seine Erfahrungen mit Ladenbesitzern oder der Polizei sind durchweg positiv. Mit seiner traditionellen afrikanischen Percussion sucht er sich Plätze mit vielen Menschen aus, war früher oft im Mauerpark, und bemüht sich gleichzeitig darum, nicht dort zu spielen, wo die Menschen Erholung suchen.
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Abbildung 10: Amadou und Peter auf dem Alexanderplatz am 06.08.2010
4.1.7
Anatoli und Anatoli – Akkordeon, Domra, Gesang
Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Anatoli: Knopfakkordeon, Domra (dreisaitig), Gesang (russisch, deutsch, französisch); Anatoli: Knopfakkordeon 61, 61 Woronesch, Russland seit 17 Jahren bzw. jedes Jahr im Sommer
Anatoli und Anatoli kennen sich noch aus der Zeit, in der sie gemeinsam in ihrer Heimat Woronesch Musik studiert und dann 20 Jahre lang im philharmonischen Orchester der Stadt gespielt haben. Damals kamen sie auf Konzertreisen durch viele Länder Osteuropas und sogar nach China, Indien, Japan und Kuba. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion konnten sie auf diese Weise jedoch kein Geld mehr verdienen, feste Anstellungen für Orchestermusiker sind seitdem rar. Anatoli, der in Abbildung 11 Domra343 spielt, ging deshalb nach Berlin, lebt seit 17 Jahren hier und macht Straßenmusik. Zu Hause hat er seine Familie und Kinder, die er ungefähr alle vier bis fünf Monate für jeweils zwei Wochen besuchen fährt. Straßenmusik in Berlin ist für ihn eine Möglichkeit, seine Familie daheim zu versorgen, und außer gelegentlichen Auftritten bei privaten Feiern seine einzige Verdienstquelle. Der Russe hat ein Arbeitsvisum für Deutschland. Sein Freund, der auf dem Foto Akkordeon spielt, kommt seit Jahren regelmäßig während der Sommermonate mit einem Touristenvisum nach Berlin, um ebenfalls dringend benötigtes Geld zum Lebensunterhalt für sich und seine Familie dazuzuverdienen.
343 Die Domra ist eine in der russischen Musik gespielte Laute mit drei oder vier Saiten, die als Vorläufer der Balalaika gilt.
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Bis vor zwei Jahren hat der Akkordeonist und Domraspieler Anatoli noch mit einem größeren Ensemble auf den U- und S-Bahnhöfen russische Volksmusik dargeboten. Inzwischen spielt er meistens alleine oder wie heute mit seinem Freund im Duett und immer mit Genehmigung vorwiegend auf den U-Bahnhöfen Hallesches Tor, Friedrichstraße, Alexanderplatz, Stadtmitte oder Potsdamer Platz. Je nachdem, wie lukrativ die Bahnhöfe sind, die er bei der mittwochmorgendlichen Lizenzvergabe der BVG ergattern kann, weicht der Musiker bei schönem Wetter auch gerne auf die Fußgängerzonen der Altstadt Spandau und der Wilmersdorfer Straße aus und tritt dort unter freiem Himmel auf. Zwischen Kurfürstendamm, Kaiser-WilhelmGedächtniskirche und Tauentzienstraße sei es hingegen mittlerweile schwierig geworden, findet er, weil man dort schnell vom Ordnungsamt oder der Polizei vertrieben werde. Anatoli hat bereits in vielen Städten Europas Straßenmusik gemacht und schätzt an Berlin in erster Linie den gut ausgebauten öffentlichen Personennahverkehr. An vier bis fünf Tagen pro Woche musiziert er hier jeweils sechs bis acht Stunden lang öffentlich – je nachdem, wie die Lottoziehung für ihn ausfalle, scherzt er. Wenn bei der Straßenmusik genug Geld reinkomme, sei das ok. Selbstverständlich würde er lieber wieder in großen Konzertsälen und Theaterhäusern auftreten so wie früher, doch der Russe ist realistisch genug zu erkennen, dass es dazu auf absehbare Zeit wohl nicht kommen wird. »Solange wie nötig, besser aber nicht mehr lange« wird er daher weiter Straßenmusik machen. Was er dabei spielt, ist ihm einerlei, denn er ist der Auffassung: »Alle Musik ist schön.« Bis vor zwei Jahren hat Anatoli mit seinem damaligen Ensemble ab und zu abends Konzerte gegeben, heute sitzt er bisweilen mit Freunden zusammen und musiziert mit ihnen im privaten Kreis. Er kennt viele Straßenmusiker in Berlin, vor allem Russen. Zu üben braucht er nicht, das passiert »täglich auf der Straße«. Das Duo hat sich am U-Bahnhof Friedrichstraße (Linie U6) in der Nähe eines Ausgangs niedergelassen. Anatoli, der ständig in Berlin lebt, sitzt auf einem Klapphocker und wechselt nach Belieben zwischen seinem Akkordeon und der Domra, deren Koffer er als Fußstütze nutzt. Sein Freund sitzt auf seinem Akkordeonkoffer daneben. Vor ihnen steht eine Reisetasche, in der sie die Geldspenden der Passanten sammeln. Das Spiel der zwei 61-Jährigen hat eine Leichtigkeit, und sie haben stets ein Lächeln auf den Lippen, während sie russische Volkslieder, klassische Stücke, deutsche und französische Chansons, Märsche sowie andere bekannte Melodien spielen und singen. Entweder spielen beide Akkordeon, wozu der Domraspieler manchmal singt. Oder er übernimmt mit flinken Fingern die Melodiestimme auf dem Saiteninstrument, während sein Genosse sich um die Begleitung kümmert. Insbesondere der Domraspieler sorgt für gute Laune, macht Witze und versucht die Passanten zum Applaus zu animieren. Um Aufmerksamkeit zu erregen, ruft er zu Beginn der Stücke zwischendrein, woher sie stammen oder von wem sie sind. Mich fragt er, welche Lieder ich mir wünsche. Und tatsächlich gelingt es den beiden immer wieder, Einzelne zum Stehenbleiben zu bewegen. Vor allem ältere Menschen wissen das große Repertoire zu schätzen, bedanken sich und werfen Münzen auf die Tasche. Probleme gibt es nur selten entweder mit Betrunkenen oder mit den Roma, die in den letzten Jahren aggressiv in den U-Bahnen mit kaum beherrschten Musikinstrumenten betteln gehen und damit die Leute verärgern. Sich selbst findet Anatoli nicht besonders, er sagt: »Alle Musikanten sind schön.«
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Abbildung 11: Anatoli und Anatoli am U-Bahnhof Friedrichstraße am 19.08.2011
4.1.8
Andrea – Akkordeon
Hauptinstrument: Alter: Herkunft: In Berlin:
Akkordeon 27 Eisenach, Deutschland lebend
Andrea steht im Durchgang zwischen den U-Bahn-Linien 1 und 7 am Bahnhof Möckernbrücke und spielt auf ihrem Akkordeon osteuropäische, französische sowie Klezmermusik – Lieder, die sie selbst mag und die sie teils von ihren Vorbildern kennt: den französischen Akkordeonisten Lydie Auvray und Jean Pacalet. Sie spielt auswendig, was ihr gerade in den Sinn kommt. Ein Stück neben ihr liegt die Akkordeontasche auf dem Boden, darauf befindet sich eine selbstgebastelte Pappschachtel mit einem Schlitz als Spendenbox. Die Menschen kommen schwallweise an ihr vorbei, wenn sie von einer U-Bahnlinie in die andere umsteigen. Obwohl wenige sich die Zeit nehmen, stehenzubleiben, geben einige etwas Geld in die Kiste oder machen nette Bemerkungen im Vorübergehen. Andrea sucht und erwidert Augenkontakt und hat eine freundliche, offene Ausstrahlung, die die Leute anspricht. Sie ist sich bewusst, dass sie die einzige Akkordeonistin unter ihren männlichen StraßenmusikerKollegen und bei weitem »nicht so professionell wie die Russen« ist, doch darin liegt auch ihr Charme. Sie spielt verhältnismäßig leise, unaufdringlich. Und ohne Berührungsängste oder Sprachschwierigkeiten tritt sie im Gegensatz zu vielen Osteuropäern gerne in Kontakt mit den Passanten. Andere Straßenmusiker kennt sie nur vom Sehen – man grüßt sich. Die Studentin aus Eisenach lebt in Berlin und betreibt die Straßenmusik als »Nebenjob« und zum Spaß. Sie kann dabei ihr Repertoire üben und Routine im Spielen vor Publikum sammeln. Gerne würde sie auch noch mehr beim Spielen improvisie-
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ren. Außerdem gibt sie Nachhilfeunterricht und finanziert sich so ihr Studium. Sie spielt in einem Akkordeonorchester an der Musikschule mit und tritt gelegentlich im kleinen Kreis mit einer Freundin als Duo auf. Seit ihrem siebten Lebensjahr hatte die junge Frau Klavierunterricht an der Musikschule. Straßenmusik macht die 27-Jährige seit ungefähr einem Jahr und genießt die gute Laune, die sie dabei bekommt, und das positive Feedback ihrer Zuhörer. Diese möchte sie mit ihrer Musik einladen, innezuhalten, »sich nicht so zu hetzen und zu stressen«, sondern einfach zu lächeln. Sie kann sich vorstellen, immer weiter Straßenmusik zu machen, »aber lieber zum Spaß«, also ohne den inneren Druck, damit substantiell zum eigenen Lebensunterhalt beitragen zu müssen. Andrea übt etwa eine Stunde am Tag und bespielt ganzjährig an zwei bis drei Tagen pro Woche für jeweils zwei bis drei Stunden Orte wie den SBahnhof Hackescher Markt oder diverse U-Bahnstationen. Genehmigungen besorgt sie sich nicht dafür. Unter freiem Himmel spielt sie nicht, das hat für sie nicht so gut funktioniert – vom Klang und den Einnahmen her betrachtet. Im Gegensatz zu Auftritten im konzertanten Rahmen sieht die Akkordeonistin in der Straßenmusik eine »unfreiwillige Beschallung der Zuhörer« – wodurch sie allerdings »sehr viel breiter gefächerte Reaktionen« erfährt, was sie als bereichernd erlebt.
Abbildung 12: Andrea am U-Bahnhof Möckernbrücke am 19.08.2011
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4.1.9
Armin – Gitarre, Mundharmonika, Gesang
Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Westerngitarre, Mundharmonika, Gesang (englisch); unverstärkt 34 Graz, Österreich seit über zehn Jahren
Armin zieht ganzjährig an etwa vier Tagen pro Woche durch die Kneipen und Cafés in den Szenevierteln in Kreuzberg (Maybachufer, Graefe-, Oranien- und Dieffenbachstraße), im Friedrichshain (Warschauer und Simon-Dach-Straße) und im Prenzlauer Berg (Oderberger Straße). U- und S-Bahnhöfe wären ihm zu laut und zu unruhig. Normalerweise ab dem frühen Abend von 18 bis 22 Uhr, sonntags auch schon nachmittags tritt er mit Country-, Folk- und Rock’n’Roll-Songs von Johnny Cash und andern Liedermachern sowie Tejano Music344 auf. Aus einem aktiven Repertoire von gut zehn Stücken wählt er pro Lokal vier aus, die seiner Stimmung am besten entsprechen oder sich für das jeweilige Café eignen. An ruhigen Orten etwa spielt er ruhigere Lieder. Der 34-Jährige begleitet sich selbst auf seiner Westerngitarre, während er mit seiner rauhen, tiefen Stimme singt oder Soli auf seiner Mundharmonika spielt, die in einem Gestell vor seinem Gesicht befestigt ist. Dabei bewegt er sich zur Musik, nimmt aber bewusst keinen direkten Kontakt zu seinen Zuhörern auf, denn er will nicht stören. Sein Anliegen ist es, eine »nette Atmosphäre« zu verbreiten und das Essen zu begleiten. Wenn es ihm darüber hinaus gelingt, die Menschen mit seiner Musik emotional zu berühren und zu bewegen, ist der Gitarrist zufrieden. Dann lässt er sich gerne auf Gespräche und Nachfragen ein, während er nach seiner Darbietung mit dem Hut herumgeht und Geld einsammelt. Dabei hat er neben Applaus schon Einladungen zu einem Essen oder Bier erhalten, Leute haben ihm Portraitzeichnungen geschenkt, die sie von ihm angefertigt hatten, oder er wird nach seiner Telefonnummer gefragt, weil ihn jemand für eine private Feier buchen will. Seit zwölf Jahren macht der Grazer Straßenmusik – etwa ebenso lange, wie er in Berlin lebt. Abgesehen von seinem Hauptmotiv, dem Geldverdienen, nennt er den »Spaß an der Sache und der Musik« als Antrieb. Daneben hat er mehrere weitere Bandprojekte, mit denen er auch Studioaufnahmen gemacht hat, gibt gelegentlich Gitarrenunterricht und produziert außerdem Soundtracks für Filme. Etwa eine Stunde am Tag übt er zu Hause auf seinen Instrumenten. Im Sommer macht die Straßenmusik bis zu 90 Prozent seines Einkommens aus, im Winter immer noch etwa die Hälfte. Und obwohl Armin Freude daran findet, will er »nicht mehr allzu lang« damit weitermachen. Stattdessen versucht er, mehr Auftritte mit seinen anderen Projekten zu organisieren und als Produzent erfolgreicher zu werden. Er ist musikalischer Autodidakt, spielt neben Gitarre und Mundharmonika noch Schlagzeug und E-Bass. Zu seinen Vorbildern gehören Nick Cave, Jim Morrison, Tom Waits, Eddie Van Halen, Neil Young und Jimi Hendrix.
344 Tejano Music oder auch Tex-Mex bezeichnet einen Musikstil aus dem Genre CountryMusik. Er ist insbesondere im Südwesten der USA und in Texas vertreten und hat sich aus der traditionellen mexikanischen Volksmusik unter dem Einfluss von Blues und Rock’n’Roll entwickelt.
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Abbildung 13: Armin in der Dieffenbachstraße am 21.08.2011
Straßenmusik stellt für Armin eine Herausforderung dar, denn »man ist gezwungen, selbst einen Rahmen und eine Bühne zu schaffen«. Er sagt: »Ich bin der Gast und komme zu den Leuten in die Kneipe«, und fühlt sich abhängig vom Urteil der Cafébesucher und Kellner. Spätestens beim Geldeinsammeln erhält er von jedem einzelnen ein direktes Feedback, das von Anerkennung über Ignoranz und »So-tun-alsob-sie-mich-nicht-sehen« bis zu unwirschen Bemerkungen und Beleidigungen reicht. Er vergleicht das mit einem permanenten Einstellungsgespräch. Zwar kommt es selten vor, dass ihn die Bedienung eines Lokals tatsächlich wegschickt, doch die ständige Verpflichtung zu Rücksichtnahme und Höflichkeit gibt dem Gitarristen ein Gefühl von Unsicherheit und Nacktheit und beschränkt ihn in seiner Flexibilität. Er empfindet bei dieser Art aufzutreten »nicht so viel Freiheit wie auf der Bühne«. Den Umgang mit anderen Straßenmusikern beschreibt er als kollegial und freundlich – bis auf die Roma, die sich oft respektlos verhalten und schlechte Manieren haben. Mit → Rainer ist er befreundet und lebt mit ihm in Wohngemeinschaft. Außer in Berlin hat Armin in Barcelona Straßenmusik gemacht. Das Publikum findet er ähnlich, doch die Straßenmusiker in der Hauptstadt Kataloniens sind nach seiner Erfahrung »mafiös organisiert«. In Berlin hat er beobachtet, dass es heute viel mehr Lärmbeschwerden gibt als noch vor zehn Jahren und dass sich die Zusammensetzung der Menschen in den Szenekiezen deutlich verändert hat.
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4.1.10 Arnaldo – Gitarre Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Klassische Gitarre (korpuslos, elektrisch) und Gesang (portugiesisch, italienisch, spanisch, englisch), verstärkt 32 Apulien, Italien seit einem Jahr
Mit Straßenmusik hat Arnaldo begonnen, als er als 18-Jähriger per Interrail durch Europa gereist ist. Seit einem Jahr wohnt der Italiener in Berlin und macht eigentlich die meiste Zeit über Musik. Er tritt solo auf, hat außerdem eine Band, mit der er Konzerte gibt, spielt auf Studioaufnahmen. Straßenmusik ist unter seinen verschiedenen musikalischen Aktivitäten nur eine Geldquelle für ihn. Er sagt: »I enjoy playing, not especially busking«, macht sich keinen Druck damit und will so weitermachen »possibly as long as it’s fun«. Das Musizieren im öffentlichen Raum ist für den 32Jährigen reizvoll, weil es spontan stattfindet, sich Jamsessions mit Kollegen wie Fremden ergeben und das Publikum nicht nur aus einer Auswahl von Leuten besteht. »The approach is to bring something better to the people«, sagt Arnaldo. Er ist zufrieden, wenn er sich dabei verbunden fühlt – mit sich selbst, den Menschen und der Situation. Ansonsten will er bei der Straßenmusik Spaß haben, viele Leute treffen und in Kontakt mit ihnen treten, um letztlich das Leben so zu erleben, wie es ist. Nur während des Sommers geht der Gitarrist an den Wochenenden, manchmal auch öfter, jeweils für ein paar Stunden raus zum Musizieren, am liebsten in den Mauerpark oder auf Märkte wie am Maybachufer oder Boxhagener Platz. Dann spielt und singt er brasilianische Musik, italienische, spanische und lateinamerikanische Volksmusik und erkundet »the jazzy side of those styles«. Latin Jazz und afrikanisch verwurzelte Musik haben ihn stark geprägt, seit er im Alter von neun Jahren auf eigene Faust mit dem Gitarrenspielen begonnen hat. Eine formale musikalische Erziehung hat er nicht genossen. Außerdem spielt er Percussion und singt. Der Autodidakt lernt nur die Lieder, die er selbst gern mag, und streut vereinzelt eigene Stücke zwischen die Improvisationen über World Folk Music. Da ihm mit seiner eigenen Sammlung von Leadsheets auf dem Notenständer vor ihm ein großes Repertoire zur Verfügung steht, kann er lange Zeit spielen und unterdessen die Zeit vergessen, »easily four hours without a break«. Und er freut sich, wenn er die schönen Gefühle, die er dabei hat, mit den Leuten teilen kann. Ich treffe Arnaldo in verschiedenen Konstellationen an den unterschiedlichen Orten in der Stadt – mal im Duo mit einer Sängerin, wie in Abbildung 14 zu sehen, mal im Trio mit einem weiteren Gitarristen, vgl. Abbildung 159. Stets spielt er auf seiner auffälligen klassischen E-Gitarre, die lediglich aus einem mit Nylonsaiten bespannten Hals und einem korpusförmig gebogenen Draht mit blauer Schaumstoffummantelung besteht. Der Italiener hat zumeist zwei Mikrofone für sich und seine Mitmusiker dabei und verwendet eine kompakte Verstärkerbox, die von einer Autobatterie gespeist wird. Seine Gitarrentasche liegt auf dem Boden, darauf seine Demo-CDs, die er verkauft, sowie Visitenkarten und die Münzen, die ihm die Leute im Vorbeigehen spenden. Einige bleiben für einen Moment stehen, spenden Applaus oder stellen zwischendurch Fragen. Ansonsten beschränkt sich Arnaldo in der Kommunikation mit seinem Publikum auf gelegentlichen Blickkontakt. Ansagen macht er nicht vor den Songs.
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Abbildung 14: Arnaldo mit Begleitung im Mauerpark am 10.08.2010
4.1.11 Ashley, Benjamin, Taylor – Spontane Jamsession Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Ashley: Westerngitarre; Benjamin: Melodika; Taylor: Westerngitarre, Gesang (englisch); unverstärkt 25, 28, 22 Ashley und Taylor: Chicago, USA; Benjamin: Berlin, Deutschland Ashley und Taylor: seit zwei Wochen; Benjamin: zu Hause
Ashley und Taylor kommen aus Chicago und sind zusammen auf Reisen. Sie machen Straßenmusik, um Geld für Essen zu sammeln und um reisen zu können »without hurting anybody«. Für sie ist der öffentliche Raum »the best environment for playing songs«, weil sie auf diese Weise »immediate feedback« bekommen. Nachdem sie bereits in Miami, Athen, Budapest und Prag Straßenmusik gemacht haben, sind die beiden vor etwa zwei Wochen in Berlin angekommen. Hier, hat das Paar festgestellt, ist es anders als an anderen Orten leichter, alleine Geld zu verdienen als im Duo.345 Auch gibt es unter Straßenmusikern in Berlin keinen Kampf um die besten Plätze, wie sie es in Athen erlebt haben. Taylor hat bereits vor vier Jahren damit begonnen, Straßenmusik zu machen, Ashley erst dieses Jahr, seit sie zusammen unterwegs sind. Die Lieder, die sie spielen, hat Taylor geschrieben, der aus Langeweile auf Reisen mit dem Gitarrenspiel begonnen hat und außerdem noch Saxophon spielt. Ashley hat das, was sie kann, von ihrem Freund gelernt. Als Einflüsse auf seine Musik nennt 345 Abbildung 15 zeigt Ashley am Tag nach dem Interview allein in der Oranienburger Straße. Dort sitzt sie auf dem Absatz eines Hauseingangs, spielt einfache Akkordfolgen auf ihrer Westerngitarre und nimmt nur wenig Kontakt zu den Vorübergehenden auf. Vor ihr auf dem Gehweg liegt ihre schwarze Mütze, in der nur wenige Münzen landen.
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Taylor neben Tom Waits »Blues, beer, drinking, weird experiences«. Straßenmusik machen die zwei jungen Leute gern, und solange sie weiter reisen, wollen sie auch dabei bleiben. Jeden Tag »all day« sind sie damit beschäftigt und brauchen nicht zusätzlich zu üben. Gleichzeitig sagen sie, sie würden derzeit mehr hungern als davon leben zu können. Ihren Musikstil nennen sie Dumb Folk und haben in Berlin die Oranienburger Straße, den Platz vor dem S-Bahnhof Hackescher Markt und die Museumsinsel als Spielstätten für sich entdeckt. Längerfristig wollen sie ihre Songs im Studio aufnehmen. Sie sagen über sich: »We don’t call ourselves buskers or musicians. We’re somewhere in the middle.« Ashley und Taylor freuen sich nicht nur, wenn die Leute auf der Straße sich zum Zuhören hinsetzen oder sie ansprechen, sondern genießen besonders spontane Jamsessions. »People are invited to come up and grab an instrument«, sagt Taylor. Auf diese Weise hat sich auch Benjamin mit seiner Melodika zu ihnen gesellt. Als ich die drei Musiker am frühen Abend treffe, sitzen sie auf der Monbijoubrücke vor dem Bodemuseum auf dem Pflaster und probieren improvisierend aus, was zu dritt funktioniert. Dabei sind sie sehr aufeinander konzentriert und nehmen daher nur wenig Kontakt zu den Passanten auf, von denen wiederum kaum jemand Interesse zeigt oder stehenbleibt.
Abbildung 15: Ashley in der Oranienburger Straße am 20.09.2010
Benjamin kommt aus Berlin und hat erst vor einer Woche damit begonnen, Straßenmusik zu machen. Der 28-jährige Student bessert sich damit seine BAföG-Förderung auf, sieht darin aber in erster Linie einen seelischen Ausgleich. Für ihn, behauptet er, stehe das Geld nicht an erster Stelle. Er will »die Leute nicht drücken«. Andererseits sagt er, Straßenmusik mache ihm insgesamt keine Freude, weil er sich von dem Geld abhängig fühle, das ihm die Leute gäben. Das setzt ihn unter Stress.
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Am liebsten spielt Benjamin am Wochenende im Mauerpark, aber auch sonst im Moment täglich bis zu fünf Stunden an verschiedenen Orten in der Innenstadt – es sind Semesterferien. Entweder improvisiert er allein oder schließt sich spontan anderen Musikern wie jetzt Ashley und Taylor an. Der Berliner ist in seiner Familie »mit Musik aufgewachsen« und spielt neben Tasteninstrumenten auch Schlagzeug und Percussion. Vor allem Schwarze Musik hat ihn beeinflusst. Wenn bei der Improvisation oder beim Jammen auf der Straße gute Musik herauskommt, das Wetter gut ist, er »keine schrägen Blicke« erntet und ein paar Spenden einsammeln kann, sich ihm die Menschen unbefangen nähern, ihn anlächeln, sich zu ihm setzen oder ihm ein Bier ausgeben, ist Benjamin zufrieden. Für ihn handelt es sich immer um eine ernstzunehmende Bühnensituation – egal, wieviele Leute ihm zuhören. Wie lange er noch Straßenmusik machen wird, weiß er nicht. Langfristig würde er jedoch gerne selbst noch mehr Musik produzieren, auf Jamsessions spielen und auch Clubkonzerte mit einer Band geben.
4.1.12 Atze Wellblech – Geige, Kontrabass, Gesang Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Pawoł (Paul): fünfsaitige Geige, Gesang (deutsch); Hans: Kontrabass, Gesang (deutsch) 31, 34 Bautzen und Berlin, Deutschland lebend bzw. immer wieder zu Besuch
Atze Wellblech besteht seit etwa drei Jahren aus Hans am selbstgebauten Kontrabass und Paul an der fünfsaitigen Violine. Beide singen und spielen auf der Straße stets unverstärkt. Während Hans Berliner ist, heißt Paul eigentlich Pawoł und kommt aus Bautzen, wo es eine sorbische Minderheit gibt, der er angehört. Das Gespräch fand ohne Hans statt, so dass hier im Wesentlichen Pauls Ansichten wiedergegeben sind. Die beiden Musiker nennen ihren Stilmix »von Rock bis Reggea, von Folk bis zu bluesigen und jazzigen Sachen« Anti-Folk. Ihr etwa zwei- bis dreistündiges Programm besteht zu ca. zwei Dritteln aus eigenen Liedern. Ein Drittel sind Coverversionen von Folk- und Punksongs, die sie aber auch häufig mit eigenen Texten kombinieren. Improvisierte Teile und Lieder gehören ebenfalls zu den Auftritten des Duos. Atze Wellblech ist für sie selbst »eigentlich ein bescheuerter Name, aber uns ist kein besserer eingefallen«. Paul hat eine musikbetonte Schule besucht, im Alter von sieben Jahren zum ersten Mal Geigenunterricht erhalten und seine Fähigkeiten später autodidaktisch weiterentwickelt. Er spielt auch Schlagzeug und Gitarre, aber nach eigener Aussage »eher dilettantisch«. Musikalische Inspiration fand und findet er bei Jazzgeigern und deutschen Punkrockbands wie den Inchtabokatables oder den Goldenen Zitronen. Der 31-Jährige hat mit zwölf Jahren »zu Wendezeiten« begonnen, Straßenmusik zu machen, will damit auf jeden Fall fortfahren, »solange es Spaß macht«, und war schon an zahlreichen Orten unter anderem in Deutschland, der Schweiz und Israel aktiv. Im Vergleich, meint er, gebe es in Berlin weniger Geld, große Konkurrenz und wenig Fußgängerzonen, dafür viele Kneipen. Und in Potsdam nimmt das Duo regelmäßig deutlich mehr Geld ein als hier.
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Abbildung 16: Atze Wellblech in der Wilmersdorfer Straße am 17.02.2014
Sowohl Pawoł als auch Hans sind sozial und politisch sehr engagiert. Ihre bissigwitzigen Texte handeln von sozialer Ungerechtigkeit und Kämpfen, etwa in der Hausbesetzerszene, von Bauarbeitern, die nicht bezahlt werden, dem Widerstand gegen Nazis und ähnlichen Themen. Regelmäßig spielen sie aus Überzeugung auf Events, die sich z. B. gegen die aktuelle Wirtschaftsordnung, die Politik des Berliner Senats, der Bundesregierung oder anderer Staaten oder bestimmte Polizeieinsätze richten, und nehmen an entsprechenden Aktionen teil. Damit steht das Duo durchaus in der Tradition der RAK-Bewegung346 der 1980er Jahre. Mit Klaus dem Geiger 347 sind Atze Wellblech schon mehrfach gemeinsam zu Protestveranstaltungen und anderen Gelegenheiten aufgetreten. Die beiden machen in erster Linie dann Straßenmusik, wenn sie Geld brauchen. Jeden Sommer finanzieren sie sich damit außerdem eine kleine Tour durch Deutschland, Polen oder andere Regionen. In Berlin spielen sie, wann immer es das Wetter erlaubt (bisweilen ab Februar), alle ein bis zwei Wochen für drei oder vier Stunden an Orten wie der Wilmersdorfer Straße und im Sommer auch abends in den Kiezkneipen Kreuzbergs vom Maybachufer bis zur Oranienstraße. Dabei kann es durchaus sehr spät werden, wenn es gut läuft oder sich spontane längere Jamsessions ergeben. Die Brandenburger Straße in Potsdam besuchen die Musiker ebenfalls gerne. Doch nicht nur die Hauptstadt Brandenburgs ist lukrativ für sie. Auch die Kneipentouren in Berlin beschreibt Paul, was die Einnahmen betrifft, als viel effektiver als Auftritte etwa in Fußgängerzonen. Da sie prinzipiell nicht um (behördliche) Erlaubnis bitten, kommt Musik auf den U-Bahnhöfen Berlins für die Streicher nicht infrage.
346 Vgl. Anmerkung 99. 347 Vgl. Anmerkung 164.
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Und fahrende Züge meiden sie, weil sich die Leute dort nicht entscheiden können, ob sie zuhören wollen oder nicht. Paul finanziert seinen Lebensunterhalt teilweise durch Arbeitslosengeld und zum anderen Teil mit Musik. Neben Atze Wellblech hat er noch weitere Bands und Projekte, tritt solo unter dem Namen Geigerzähler auf oder ist als Studiomusiker gefragt. Neben dem monetären Aspekt ist es »die Erfahrung der Straße an sich«, die ihn zur Straßenmusik motiviert. »Die Leute wollen dich zuerst mal gar nicht hören«, sagt er. »Du musst als Niemand bestehen. Dann merkst du, welche Kraft deine Musik wirklich hat!« Und: »Straßenmusik ist geil, wenn sich ein fester Kreis um dich bildet.« Dann entsteht auch auf der Straße eine Art Bühnensituation. Einerseits zeichnen sich gelungene Straßenauftritte für den Geiger dadurch aus, dass »spieltechnisch plötzlich alles klappt«. Und zum anderen durch eine starke Bühnenpräsenz, »wenn ich es schaffe, die Bühne zu sein«, und die Leute stehenbleiben und die Zeit vergessen. Der Sorbe fügt an: »Wenn ich auf Geld aus bin, kommt wenig.«
Abbildung 17: Atze Wellblech bei einem Konzert, Hans mit selbstgebautem Kontrabass348
Atze Wellblech spielen nach eigenen Angaben häufiger auf der Straße, als dass sie proben. Die öffentlichen Auftritte dienen ihnen nicht nur als Forum, um aktuelle CDs oder anstehende Konzerte zu bewerben. Sie nutzen diesen Auftrittsrahmen auch, um ihr Programm weiterzuentwickeln, ihre Bühnenshow zu üben und Routine in der Kommunikation mit dem Publikum sowie bei der Improvisation zu gewinnen. Die Darbietungen des Duos sind sehr speziell – sowohl auf der Straße als auch auf Konzerten. Das liegt neben dem ausgelassenen, oft exaltierten Auftreten der Musiker auch an der ungewöhnlichen Instrumentierung mit Hans’ selbstgebautem Kontrabass und Pauls fünfsaitiger Violine. Diese setzt der Geiger sowohl als Melodie- als auch 348 Quelle: Pauls Privatarchiv.
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als Harmonie- und Rhythmusinstrument ein. Ferner spielen die Texte bei dem Duo eine wichtige Rolle. Diese sind zumeist gesellschaftskritisch, dabei gewitzt bis ironisch und prangern soziale wie politische und wirtschaftliche Missstände mit klaren Worten an. Die Interaktion mit dem Publikum ist ein integraler Bestandteil der Darbietungen. Hans und Paul machen Songs mit teils improvisierten Texten über die Passanten, die somit direkt in die Performance eingebunden werden, oder besingen die Szenerie und nehmen dabei Bezug auf das momentane Geschehen. Auf der Straße passen sie insofern auf, »dass sich keiner verarscht fühlt«. Meist fangen sie mit den Sachen an, die funktionieren, und sehen dann weiter: was sind das für Leute? Danach wählen spontan inhaltlich und textlich passende Stücke aus. Oftmals erklärt einer dem anderen kurz einen neuen Song, »und dann spielen wir den ein paarmal«. »Da schleift sich das auch ein. Klingt halt jedes Mal ein bisschen anders. Soll es auch.« In dem meisten Fällen gelingt es den Musikern, innerhalb kurzer Zeit das Interesse zahlreicher Passanten auf sich zu lenken, viele bleiben länger stehen oder suchen sich einen Platz zum Sitzen. Vor den beiden liegt Pauls geöffneter Geigenkasten, in dem sich Spenden sammeln und CDs sowie Flyer ausliegen. Wirklich unangenehme Erfahrungen sind selten, zumeist wird die Band nur weggeschickt. Paul kritisiert die Regelung, die Straßenmusiker zwingt, alle 30 Minuten den Standort zu wechseln. Er findet sie »schlecht, weil man so lange braucht, um sich einzuspielen«.
4.1.13 The Benka Boradovsky Bordello Band – Balkanpunk Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Ben: Akkordeon, Klarinette, Gesang (englisch mit künstlichem osteuropäischen Akzent, verstärkt); Haley: Schlagzeug; Phil: elektrische Gitarre; Shawn: elektrische Bassgitarre 27, 25, 32, 27 Auckland, Neuseeland für sechs Monate
Mit ihrem exaltierten Auftritt zieht The Benka Boradovsky Bordello Band viel Aufmerksamkeit auf sich. Vor allem Frontmann Ben, der mal Akkordeon, mal Klarinette spielt, geht in seinen Ansagen auf das Publikum ein, fragt auch mal nach einem Bier oder Zigaretten, tanzt und scherzt mit den Leuten. Seine langen Roten Haare und der Vollbart sind schon auffällig. Dazu schneidet der 27-Jährige Grimassen und tritt zumeist mit freiem Oberkörper auf. Englisch ist die Muttersprache des Neuseeländers, doch in den Songs der Band singt er mit gekünsteltem osteuropäischem Akzent und betont rauher Stimme. Die vier spielen eine schrille Mischung aus Balkanfolk, Punk, Cabaret und Swingmusik, die sie »Drunken Thieves’ Music« nennen. Ihr Repertoire umfasst ca. zwei Stunden Material aus traditionellen irischen, russischen und südosteuropäischen Stücken, Eigenkompositionen sowie Coverversionen, die sie in ihrem eigenen Stil interpretieren. Titel wie »The Dance of Death« laden das Publikum mit schnellen Tempi und treibenden, offbeat-betonten Rhythmen zum Mittanzen ein. Als wesentliche Einflüsse auf ihre Musik geben die Neuseeländer »Taraf de Haïdouks, Tom Waits, vodka, beer, sex, and drugs« an. Ben hat Musik studiert. Haley hatte als Teenager vier Jahre lang Klavierunterricht, hat vor kurzem auf Schlagzeug umgesattelt und auch dafür einige Stunden genommen. Shawn und Phil sind Autodidakten.
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Sowohl auf der Friedrichsbrücke (mindestens 25 Zuhörer) und noch mehr im Mauerpark, wo ich sie einige Wochen später wiedertreffe, finden die Neuseeländer ein begeistertes, tanzfreudiges Publikum, das gerne Geld in Bens aufgeklapptes Klarinettenköfferchen spendet. Die CDs, die die Band anbietet, sind regelmäßig schnell ausverkauft, die Flyer, die auf anstehende Clubkonzerte hinweisen, vergriffen. Ben steht normalerweise etwas im Vordergrund und hat ein Mikrofon im Stativ vor sich, das er aber nur für seinen Gesang verwendet. Er hat sichtlich Spaß, den Kontakt zum Publikum zu halten, indem er es durch seine wilden Bewegungen zum Tanzen animiert und mit zweideutigen Ansagen amüsiert. Haley spielt draußen eine Sparversion ihres Schlagzeugs, die nur aus der Bass-Drum und einem Becken besteht. Die SnareDrum ersetzt sie durch Schläge mit den Sticks auf den Metallrand der Bass-Drum und auf Shawns Verstärkerbox, die neben ihr steht. Der Bassist und der Gitarrist umrahmen die Band seitlich. Die Band ist zufrieden, wenn es auf der Straße »good money, a good crowd, good fun« gibt und »everybody’s having a good time«. Die Interaktion mit dem Publikum ist ein wichtiger Bestandteil ihrer Show: Wenn die Musiker merken, dass die Leute zum Tanzen aufgelegt sind, werden die Stücke, die sie spielen, schneller. Ist dagegen eine Atempause nötig, spielen sie langsamer und ruhiger. Ihre simple Botschaft an die Leute lautet: »Have fun, get laid!« Straßenmusik macht das Ensemble, um nicht zu verhungern (also des Geldes wegen), um Werbung für sich und seine Auftritte zu machen und um Leute kennenzulernen, woraus sich häufig neue Gelegenheiten für Konzerte ergeben. Außerdem entfällt auf diese Weise die Notwendigkeit für Bandproben, die sonst einmal pro Woche stattfinden. Die vier Neuseeländer sind mit EU-Arbeitsvisa in Berlin und wollen ein halbes Jahr lang durch Europa touren, wobei sie sich in der Stadt zusammen eine billige Wohnung gemietet haben, die sie als Basis nutzen. Sie sind überrascht, dass es ihnen gelingt, hier von den Einnahmen aus der Straßenmusik, von Konzerten und CDVerkäufen zu leben. Sie sagen, in ihrer Heimat wäre das nicht möglich. Dort machen sie alle noch in weiteren Projekten Musik und finanzieren so ihren Lebensunterhalt. Mit Straßenmusik haben Ben, Haley, Phil und Shawn erst vor einer Woche begonnen und wollen weitermachen »until we leave«. Sie spielen an vier Tagen in der Woche bis zu »three busks a day« und kommen auf eine tägliche Spielzeit von drei bis vier Stunden. Bei dieser disziplinierten Herangehensweise hänge der Spaß an der Straßenmusik durchaus vom Wetter und ihrer Laune ab, geben sie zu. Auf U-Bahnhöfen wollen sie nicht musizieren, weil es ihnen dort zu dunkel, zu kompliziert und zu teuer ist.349 Als ich die Gruppe im Mauerpark treffe, hat sie bereits Kontakte zu anderen Straßenmusikern geknüpft, etwa zu → Mr. Paul oder → Elizabeth, die sich mit ihrer Geige manchmal zu ihnen gesellt und auch schon auf Konzerten der Band mitgespielt hat. Generell ist The Benka Boradovsky Bordello Band sehr offen für spontane Beiträge anderer Musiker. Auch unangenehme Erfahrungen haben die Neuseeländer bereits gesammelt, etwa am Pariser Platz, wo ein Drehorgelspieler sie aggressiv vertrieben hat, oder wenn sie abends zu lange gespielt haben. Die Berliner Polizei hingegen beschreiben sie als sehr freundlich. Straßenmusik stellt für das Quartett eine Herausforderung dar, weil die Leute sich nicht zum Bleiben oder Zuhören verpflichtet fühlen und man ein spontanes Publikum 349 Anm. d. Verfassers: In der Besetzung würden sie vermutlich auch keine Spielgenehmigung erhalten, vgl. Abschnitt 2.5.3.
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für sich gewinnen muss. Anders ist das auf Konzerten, wo die Leute extra kommen, um die Musik zu erleben. Glücklicherweise halten die Musiker aus Auckland neben ihrem verschrobenen Stil gleich mehrere Trümpfe in der Hand, die sie auszeichnen: »Haley is pretty and Ben takes his shirt off.«
Abbildung 18: The Benka Boradovsky Bordello Band auf der Friedrichsbrücke am 24.07.2010
4.1.14 Bernd – Gitarre, Gesang Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Klassische Gitarre und Gesang (deutsch, englisch) 46 Bremen, Deutschland seit 1988
Bernd ist in einem musikalischen Haushalt in Bremen aufgewachsen. Seine Mutter hat als Klavierlehrerin gearbeitet, er selbst hatte jahrelang Klavierunterricht und hat im Kirchenchor gesungen. Seit seiner Kindheit liebt er klassische Musik und insbesondere Johann Sebastian Bach. Später hörte er viel Rock’n’Roll und amerikanische Musik auf Radio AFN und entdeckte schließlich Jazz und Free-Jazz für sich. Zuletzt haben ihn deutsche Liedermacher wie Bodo Wartke stark beeinflusst. Wenn er irgendwo ein Klavier sieht, muss er sich einfach dransetzen. Mit 18 Jahren fing er an, sich selbst Gitarre beizubringen. Einige Jahre später, 1988, verließ er dann seine Heimat und ging zum Studieren nach Berlin. Bald darauf fing er an, Heroin zu konsumieren. Um das Geld dafür zu verdienen, begann er um 2003, auf U-Bahnhöfen Musik mit seiner Gitarre zu machen. Anfangs verdiente er dort zwischen fünf und zehn Euro die Stunde. Doch mit der Wirtschaftskrise sanken seine Einnahmen auf weniger als die Hälfte, so dass er sich entschloss, fortan in der U-Bahn zu spielen, wo sich schneller Geld machen lässt. Ab 2009 war er zumeist abends auf der Linie U1 zwischen Gleisdreieck und Warschauer Straße unterwegs. Doch nach einigen unan-
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genehmen Erfahrungen mit dem Sicherheitspersonal der BVG und einer empfindlichen Strafe wegen Hausfriedensbruchs ist er mittlerweile auf die S-Bahn umgestiegen. Hier sei das Personal sehr viel netter, stellt er fest – bis auf eine bestimmte Gruppe von etwa zwölf Kontrolleuren, die sich ausschließlich auf Musiker, Bettler und Zeitungsverkäufer konzentrierten und keinen Spaß verstünden. Seine bevorzugten Strecken sind der östliche S-Bahnring zwischen Tempelhof und Wedding sowie die Linie S1 zwischen Schöneberg und Zehlendorf. Dieser Abschnitt ist »finanziell sehr lohnenswert« und deshalb stark von anderen Musikern frequentiert. Gleichzeitig wird hier viel kontrolliert, was die Gefahr erhöht, erwischt zu werden. Aus diesem Grunde musiziert er auch nicht auf der Stadtbahn. Außerdem meidet er Tunnelstrecken wie die Nord-Süd-Bahn zwischen Nordbahnhof und Yorckstraße, weil er gegen die hohe Lautstärke dort nicht ansingen kann und will. Das war ein weiterer Grund für ihn, auf Auftritte in der U-Bahn zu verzichten.
Abbildung 19: Bernd auf dem östlichen S-Bahnring am 17.09.2011
Der 46-Jährige hat eine klassische Gitarre, mit der er seinen Gesang begleitet. Sein Repertoire ist »relativ einzigartig«: es umfasst etwa 100 Stücke und würde für mindestens drei Stunden ausreichen. Darunter sind zahlreiche Klassiker aus der Popmusikgeschichte wie Stücke von Frank Sinatra, Madonna, ABBA oder George Michael. Doch Bernd setzt zunehmend auf deutschsprachige Musik, weil er damit mehr Geld einnimmt. Und er sagt: »Ich würde nie die abgekauten Nummern spielen, die die anderen alle machen.« Stattdessen hat er sich auf witzige Texte spezialisiert, mit denen er gute Laune verbreiten und die Leute zum Schmunzeln bringen kann. Viele moderne deutsche Liedermacher wie Götz Widmann, Funny van Dannen, Max Raabe, Bodo Wartke oder Dota Kehr stehen auf seinem Programm neben Gruppen wie Norbert und die Feiglinge, Monsters of Liedermaching, Die Ärzte, Ton Steine Scherben oder Die Sterne und Schlagern, z. B. von Udo Jürgens. Normalerweise übt er nicht zu
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Hause. Nur, wenn er etwa einmal im Monat ein neues Lied lernt, braucht er drei bis vier Tage, bis er Text und Akkorde auswendig kann. Obwohl Bernd privat auch ganz andere Musik hört, spielt er in der S-Bahn nur Stücke, die er persönlich mag. Dabei achtet er auf sein Publikum und passt sein Programm spontan dem Alter der Fahrgäste an, spielt passende Songs zu Weihnachten oder im Frühjahr. Normalerweise wählt er fünf bis sechs Lieder für einen Tag aus und wechselt täglich eines davon aus. Obwohl Bernd in erster Linie des Geldes wegen spielt, um seinen Heroinkonsum zu finanzieren, macht er gerne Musik in der S-Bahn. Er sagt: »Es ist das erste in meinem Leben, bei dem ich so etwas wie Befriedigung erlebe. Das habe ich bei keiner anderen Art von Arbeit so erfahren, dass mich das so befreit, entspannt und glücklich macht.« Außerdem möchte er die Aufmerksamkeit der Menschen in der Öffentlichkeit auf »Handgemachtes« lenken. Bei Bedarf ist der Sänger »an 365 Tagen im Jahr« unterwegs, pausiert allerdings auch für Wochen, falls genug Geld vorhanden ist. An Werktagen spielt er regelmäßig morgens zwischen sieben und zehn Uhr, weil er um diese Zeit »doppelt so viel wie am Rest des Tages« verdient. Die Berufstätigen geben nach seiner Erfahrung eher mal ein Zwei-Euro-Stück als eine Zwanzig-Cent-Münze. Meist legt er am Nachmittag zwischen 13 und 17 Uhr noch eine zweite Schicht ein, bis er genug Geld für seine tägliche Heroinration beisammen hat. Am Wochenende lohnt es sich für ihn, zwischen 10 und 15 Uhr Musik zu machen. Er achtet darauf, dass die Züge nicht zu voll und nicht zu leer sind. Dann steigt er für zwei bis drei Stationen in der Mitte eines Waggons zu und beginnt einfach mit einem Lied. Normalerweise spielt er zwei Lieder und beendet seine Darbietung mit den Worten: Ich hoff’, es hat Ihnen gefallen, bevor er mit einem Pappbecher zwischen den Fahrgästen hin und her geht und Spenden einsammelt. Sonst gibt es wenig direkte Interaktion zwischen ihm und seinen Zuhörern. Manche kennen ihn bereits und haben Liederwünsche, die Bernd gern erfüllt. Wenn ein Lied gut ankommt, schiebt er eins mit ähnlichem Humor nach. Und besonders freut er sich über Kinder, die mit einer Münze in der Hand freudestrahlend zu ihm kommen. Etwa einmal am Tag passiert es, dass er einen Applaus bekommt, das findet er »richtig geil«. Lob und positive Rückmeldungen zu seiner Songauswahl hört er öfter. Er sagt: »Wenn erstmal einer anfängt, etwas zu geben, dann geben viele.« Tut jedoch ein einzelner seinen Missmut kund, stöhnt zum Beispiel schon auf, wenn Bernd einsteigt, hat das einen schlechten Einfluss auf den halben Wagen. Dann weiß er schon, dass sich sein Auftritt nicht lohnen wird. Auch gemeine Äußerungen hört er bisweilen, etwa Hau ab, oder ich schneid’ dir die Saiten durch! oder Einen Euro, wenn du aufhörst zu spielen. Dann hört er auch auf, weil er die Leute nicht belästigen mag. Der gebürtige Bremer will solange weiter Musik in der S-Bahn machen, wie es geht – und wie er nötig hat, um seine Heroinabhängigkeit zu befriedigen. Er lebt von Hartz-IV-Unterstützung und den Spenden, die er in der S-Bahn erhält. Gerne würde er als Jazzpianist Musik machen – »nicht lieber, aber zusätzlich«, wie er betont. Sessions und spontane Jams hat er schon oft besucht, vor allem im Volkspark Hasenheide. Derzeitig musiziert er allerdings nur in ser S-Bahn. Engere Kontakte zu anderen Musikern dort unterhält er nicht; man grüßt sich beim Sehen oder wechselt ein paar Worte miteinander. Die Roma findet er ärgerlich, weil viele von ihnen aggressiv seien und dazu nicht spielen könnten. Er weiß aber auch von guten Musikern unter ihnen zu berichten.
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4.1.15 Bruno – Geige Hauptinstrument: Alter: Herkunft: In Berlin:
Geige 28 Bogotá, Kolumbien seit zwei Jahren
Bruno hat im Alter von zehn Jahren begonnen, Violine zu spielen, und hat schließlich in Moskau ein Instrumentalstudium absolviert. Außerdem spielt er Klavier und Bratsche. Neben klassischer Musik im allgemeinen nennt er »große Solisten der Gegenwart und Vergangenheit« sowie »große deutsche Orchester der Gegenwart als seine Vorbilder. In Moskau hat er mit 16 auch zum ersten Mal Straßenmusik gemacht und sich seitdem auf diese Weise vor allem auf Reisen in Polen, Deutschland und Österreich Geld verdient. Seit zwei Jahren hält sich der Kolumbianer mit einem Studentenvisum in Berlin auf, gibt hier Geigenstunden, arbeitet im Herbst und Winter als Aushilfe in einem Orchester und macht sommers Straßenmusik. Auch hierbei spielt er zu »100 Prozent Klassik«: beispielsweise das Ave Maria, Werke von Schubert oder die Vier Jahreszeiten von Vivaldi. Der Geiger hat ein Programm von ca. 30 bis 40 Minuten Dauer, das er anschließend wiederholt. Er übt zwar täglich auf seinem Instrument, aber nicht gesondert für die Straße. »Die schwierigen Sachen« spielt er zu anderen Gelegenheiten. Von Juli bis September geht Bruno mittwochs bis samstags für je drei bis vier Stunden nachmittags nach draußen, im Oktober und November nur freitags und samstags für jeweils zwei Stunden. Im Herbst wählt er tendenziell etwas fröhlichere Stücke, ansonsten variiert er sein Programm nicht wesentlich. Er findet an Berlin schwierig, dass es hier anders als in den meisten anderen Städten kein klar abgegrenztes Altstadtzentrum gibt, das sich besonders gut für klassische Musik eignet. Am liebsten steht er deshalb mit seiner Violine beim Stadtbahnviadukt am Monbijoupark, weil er dort bei Bedarf Regenschutz in der Fußgängerunterführung findet und es ein Ort ist, an dem die Leute zuhören können. Außerdem ist die Akustik im Tunnel gut. Vor ihm liegt dann sein mit rotem Samt ausgeschlagener Geigenkoffer, der sich zumeist rege mit Geldspenden füllt. Besonders junge Leute ignorieren den klassischen Musiker zwar und gehen einfach vorbei, doch ansonsten erntet er viel Dank und Anerkennung von Passanten, die stehenbleiben, ihn beobachten, zuhören und sich offensichtlich über die professionell vorgetragene Musik freuen. Der junge Mann erwidert gerne mit verschmitztem Lächeln die Blicke (besonders bei hübschen Frauen) und unterhält sich zwischendurch mit den Menschen. Auf Ansagen verzichtet er und sagt über seine Darbietungen: »Ich spiele nichts Überflüssiges. Jeder Ton kommt aus vollem Herzen.« Wenn er auf der Straße musiziert, will er seine Zuhörer erfreuen, glücklich machen und Reaktionen bei ihnen hervorrufen. »Musik ist das Brot der Seele des Menschen«, sagt Bruno und will ihnen mitgeben: »Das Leben ist schön trotz aller Probleme.« Auch »Geld zum Leben« und Spielerfahrung sind Motive, die er nennt. Wenn viele Leute stehenbleiben und zuhören, erfüllt ihn das. Und er sagt: »Ich muss mich selber wohlfühlen, sonst höre ich auf.« Wenn er es nötig hat, spielt der Violinist sein Programm gern auf der Straße, »aber danach will ich nichts davon hören.« Langfristig würde er lieber von Kammer- und Orchestermusik leben können und hofft, dass er bis zum nächsten Sommer eine feste Stelle bei einem Ensemble findet. Denn aufgrund der äußeren Rahmenbedingungen, der Akustik usw. ist die Qualität bei der Kammermusik in seinen Augen höher, obwohl
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es technisch wenig Unterschiede gibt, »wenn man Straßenmusik richtig macht«. Hier wie dort müsse man immer 100 Prozent geben, meint Bruno. Gleichwohl liege die Herausforderung auf der Straße darin, die Leute anzuziehen und zu fesseln. Der Lohn für die Mühen ist dann die Gewissheit: »Es ist nur meine Leistung, wenn sie stehenbleiben!«
4.1.16 Camilo – Gitarre, Gesang Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Westerngitarre, Gesang (deutsch); unverstärkt 25 Berlin, Deutschland geboren
Camilos Vater ist Kubaner, doch der 25-Jährige selbst ist in Berlin geboren und aufgewachsen. Hier macht er bereits seit zehn Jahren Musik, hat sich mittlerweile vom Rap und Hip-Hop in Richtung Singer-Songwriter entwickelt. Er spielt Gitarre, Klavier und arrangiert Stücke am Computer. Musikalisch ist er »komplett Autodidakt«. Zu seinen Vorbildern gehören Musiker wie Tim Neuhaus, Bernhard Eder, Clueso, Peter Gabriel, Peter Fox oder die Berliner Band Seeed.
Abbildung 20: Camilo vor einem Café in der Bergmannstraße am 22.08.2011
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Vor sieben Monaten hat der junge Mann angefangen, Straßenmusik zu machen, bislang unverstärkt mit seiner Westerngitarre und sechs selbstgeschriebenen Songs auf deutsch. Seine Stücke sind einfach strukturiert und eingängig, die Texte bieten viel Identifikationspotential, da sie vom Leben geschrieben sind, wie er sagt. Ein eigenes, selbst produziertes Album mit acht Liedern verkauft er auch, die Erlöse daraus machen etwa zehn Prozent seiner Einnahmen aus. Camilo lebt von dem Geld, das ihm die Leute spenden, sowie von Hartz-IV-Unterstützung. Gleichzeitig spart er seine Einnahmen aus der Straßenmusik in und vor den Bars und Cafés rund um die Bergmannstraße, um sich bald einen tragbaren Verstärker zu kaufen. Ansonsten sieht er die Straßenmusik als ein Spaßprojekt für sich, das er aus Liebe und Leidenschaft am Musizieren betreibt. Der Halbkubaner will sich eine »Fanbase aufbauen, solange das Wetter noch gut ist«, und spielt dafür an öffentlichen Plätzen mit hohem Menschenaufkommen, beispielsweise am Alexanderplatz oder im Mauerpark. Auf Musik in der U- oder S-Bahn hat er hingegen keine Lust. Er unterhält in Berlin keinen Kontakt zu anderen Straßenmusikern. In Hamburg, wo er auch schon öffentlich aufgetreten ist, hat der Singer-Songwriter beobachtet, dass die Leute mehr Geld haben als in Berlin. Weil die Stadt an der Elbe nicht so überlaufen mit Musikern sei, sagt er, freuten sich die Menschen dort mehr, während die Berliner auf ihn tendenziell einen der Straßenmusik überdrüssigen Eindruck machen. Daneben gibt er Konzerte als Solokünstler mit einer Loop-Station, eine Band befindet sich im Aufbau. Am liebsten hätte Camilo jeden Tag gebuchte Auftritte und will weiter Straßenmusik machen, »bis ich erfolgreich bin – aber auch dann noch gerne«. Manchmal findet er es allerdings schwierig: wenn ihn die Leute nerven und undankbar sind, ist er frustriert. Dabei bezeichnet er sich selbst als dreist, direkt und ehrlich. Während seiner Darbietungen geht er auf die Zuhörer zu und sucht in den Pausen den Austausch im Gespräch. Gleichzeitig sagt der Gitarrist, er könne schwer einschätzen, ob seine Musik den Menschen gefalle. Nur in Einzelfällen erntet er komische Blicke oder trifft auf Ignoranz. Positives Feedback, Applaus und freundliche Ansprache geben ihm jedenfalls Auftrieb. »Wenn ich gut gespielt habe, das Gefühl habe, ich habe alles gegeben und hinterher verschwitzt aufs Fahrrad steige«, ist Camilo zufrieden mit sich. Mittlerweile braucht er seine Eigenkompositionen auch nicht mehr zu Hause üben, »weil die Songs sitzen«. Trotzdem geht er vor jedem Straßenmusik-Auftritt alles noch einmal kurz durch. Nach Lust, Laune und Bedarf zieht er zumeist in den Abendstunden ab 18 oder 19 Uhr durch Cafés und Kneipen in Kreuzberg, etwa in der Bergmannstraße oder im Dieffenbach- und Graefestraßenkiez. Konflikte vermeidet er, indem er immer zuerst bei der Bedienung nachfragt, ob er spielen dürfe. Der Umstand, dass er direkt zu seinem Publikum hingeht, »ob sie wollen oder nicht«, unterscheidet die Straßenmusik in seinen Augen von der Konzertsituation. Gebuchte Auftritte findet der Musiker lockerer, »weil die Leute wegen mir kommen«, womit seiner Ansicht nach allerdings auch ein höherer Anspruch an die Darbietung verbunden ist. Camilo ist überzeugt von dem, was er tut: »Ich mache Musik, weil ich es liebe, und freue mich, wenn sich die Leute mit meiner Musik identifizieren.« Er möchte ihnen zeigen: »Ich bin frei und ziehe mein Ding durch«, weswegen er sich auch nicht an sein Publikum anpassen mag. Dass er mit Eigenkompositionen, zumal mit deutschen Texten auftritt, zeichnet ihn in seinen Augen unter Straßenmusikern aus. »Ich bin ’ne geile Sau!« konstatiert er selbstbewusst. Und: »Ich glaube, ich kriege viel
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Geld zusammen, weil es bei mir nicht die Hauptsache ist und ich das mache, was ich liebe.«
4.1.17 Changa – Gitarre, Gesang Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Westerngitarre und Gesang (englisch), verstärkt 36 Zimbabwe seit einem Jahr
Changa sagt, Straßenmusik verlange vom Performer mehr Kraft, weil man nicht eingeladen sei und die Leute einen nicht erwarteten – »it has to be a piece of cake«, um Aufmerksamkeit zu erregen. Seit drei Jahren macht er Musik auf der Straße und war anfangs noch eingeschüchtert, wenn ihn die Menschen dabei anstarrten. Dann machte er sich viele Gedanken darüber, was die Leute über ihn dachten. Das war in Amsterdam, wo er damals wohnte und das Geld dringend zum Überleben benötigte. Auch heute lebt er vom busking, ist seit einem Jahr in Berlin und genießt mittlerweile das Spielen und die Zustimmung des Publikums so sehr, dass er beides vermisst, wenn er mal eine Pause macht. Derzeit arbeitet er mit seiner Band an einem eigenen Album und will Straßenmusik mindestens so lange weitermachen, »until I sell 1000 copies of my CD«. In seiner Heimat Zimbabwe war Changa als Toningenieur tätig und würde auch in Berlin gerne in einem Musikstudio arbeiten. Außer Gitarre spielt er auch Keyboard, Schlagzeug und Percussioninstrumente. Auf der Straße tritt er mit einem authentischen Reggae-Programm auf, das eigene Songs ebenso wie Bob-Marley-Covers und eigene Versionen von Popsongs etwa von Take That umfasst. Er hat viele Lovesongs im Reperoire, und so lautet auch seine Botschaft als Musiker: »Love is the key.« Sein Stil zeichnet ihn in seinen Augen unter den Berliner Straßenmusikern aus, obwohl er meint: »Every busker’s unique.« Bis auf gelegentliche Gespräche steht er nicht in engerem Kontakt mit seinen hiesigen Kollegen. An Berlin schätzt der Afrikaner aus Zimbabwe, dass man hier relativ unbehelligt auch mit Verstärker Straßenmusik machen könne, ohne eine Lizenz zu brauchen. Die Regel, nach 30 Minuten weiterzuziehen, findet er sinnvoll. Am liebsten spielt Changa in der Schönhauser Allee im Prenzlauer Berg, weil dort nicht so viele Touristen unterwegs sind und die Einheimischen seine Musik besser zu schätzen wissen. Je nach Laune des Publikums wählt er spontan passende Lieder aus seinem Programm aus oder variiert das Tempo, um der Stimmung gerecht zu werden. An mindestens vier Tagen pro Woche macht er Straßenmusik: am Wochenende sowie jeweils an zwei weiteren Tagen. Er übt dafür nur selten, wenn er etwas Neues ausprobieren will. Heute abend hat er seine Gitarre, seinen Batterieverstärker und das Mikrofon samt Stativ in einem Handwagen zum Platz vor dem S-Bahnhof Hackescher Markt transportiert und sich vor einem Café plaziert. Die Passanten bleiben gerne stehen und lassen sich von der guten Laune des Sängers anstecken, auch die Gaststättenbesucher sind von seiner Musik angetan, manche singen sogar mit, was Changa wiederum sichtlich freut. Am Ende der Performance geht er mit seinem Hut zwischen den Tischen umher und sammelt eine beträchtliche Menge Geld ein.
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Abbildung 21: Changa vor dem S-Bahnhof Hackescher Markt am 29.07.2010
4.1.18 Christian – Tenorsaxophon, Loop-Station Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Tenorsaxophon und Loop-Station, verstärkt 24 Luzern, Schweiz für einige Tage auf der Durchreise
Christian ist mit seinem Tenorsaxophon unterwegs. Auf dem Alexanderplatz hat er an einem Notenständer vor sich ein Mikrofon aufgehängt, das mit einer Loop-Station verbunden ist. Diese liegt am Boden und verfügt über diverse Fußtaster, die eine pedale Bedienung während des Musizierens ermöglichen. Ein Autoradio als Verstärker und ein Dreikanal-Lautsprecher, die von einer Autobatterie gespeist werden, komplettieren die Ausrüstung. Das Saxophon an sich ist eigentlich laut genug und bräuchte keine Verstärkung. Doch mit der Loop-Station nimmt sich der Schweizer selbst auf, lässt die Aufnahmen in Schleife laufen und spielt immer weitere Stimmen ein. Wenn er eine vollständige Begleitung beisammen hat, beginnt er darüber eigene oder bekannte Themen zu spielen oder zu improvisieren. Vor ihm auf dem Pflaster liegt seine aufgeklappte Saxophontasche, in der sich Spenden der zahlreichen Zuhörer sammeln. Sein Stilmix zwischen Funk und Jazz kommt gut bei den Leuten an, die zum Zuhören stehenbleiben, sich in die Nähe setzen oder ihn in den Pausen zwischen den Stücken interessiert ansprechen. Fragen beantwortet Christian gerne, und auch
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während er spielt, erwidert er die Blicke. Viel mehr Interaktion mit dem Publikum findet nicht statt, »auf der Straße viel weniger als auf einer Bühne«. Auf Ansagen verzichtet er zumeist und passt auch seine Musik nicht bewusst an die Situation an. Er sagt: »Ich habe bis jetzt vor allem auf Reisen zur Straßenmusik gefunden und habe Spaß daran, meine Sachen am Publikum auszuprobieren, nicht umgekehrt.«
Abbildung 22: Christian mit Saxophon und Loop-Station in Griechenland350
Der 24-Jährige befindet sich nur für ein paar Tage auf der Durchreise in Berlin. Er war gerade in Osteuropa und hat in Städten in Polen (Krakau, Warschau, Danzig), Moldawien und der Ukraine gespielt. In den nicht zur EU gehörenden Ländern wie schon auf früheren Reisen im Kosovo und in Albanien hat sich der Saxophonist jedoch nicht an belebte Straßen in den großen Städten gestellt, da er in diesen »viel ärmeren Ländern den Menschen das letzte Geld nicht nehmen wollte«. Es wäre ihm »einfach nicht wohl gewesen, in diesen Ländern um Geld zu spielen«. Sein nächstes Ziel ist Griechenland. Auch in der Schweiz hat er schon in Luzern, Neuchâtel, Biel und Olten Straßenmusik gemacht. Im Vergleich stellt er fest, dass sich in Berlin sehr einfach Kontakte zu anderen Straßenmusikern ergäben und die Stadt über eine Vielzahl verschiedener Plätze und Straßen verfüge, die sich für Straßenmusik eigneten. »Der Verdienst ist wesentlich besser als im Osten, allerdings schlechter als in der Schweiz«, sagt Christian. Wie in anderen größeren Städten reagieren die Menschen größtenteils offen und sprechen ihn häufig »in positiver Absicht« an. Gleichzeitig spürt er in Berlin »die Anonymität der Großstadt« viel deutlicher als in der Schweiz. Da er die Städte unterwegs kaum kennt, lässt er sich von Ortskundigen gute Plätze empfehlen. In Berlin hat der Schweizer neben dem Alexanderplatz am Kurfürstendamm, auf dem Platz vor dem S-Bahnhof Hackescher Markt, am Maybachufer sowie 350 Quelle: Christians Privatarchiv.
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in der Bergmannstraße gespielt – »also Orte, bei denen es Leute hat und bei denen es sich doch etwas verdienen ließ«. Zur Straßenmusik ist Christian vor zwei Jahren gekommen. Fast ausschließlich auf Reisen wählt er diese Auftrittsform und »phasenweise mit Freunden auf Schweizer Straßen, um ein bisschen Erfahrungen zu sammeln«. Es geht ihm dabei nicht ums Geldverdienen: »Wenn ich lieber etwas anderes mache, mache ich eben etwas anderes.« Das Spielen und Experimentieren vor Publikum steht für ihn an erster Stelle, daneben bedeutet ihm Straßenmusik, »Spaß zu haben, interessante Leute zu treffen, zu schwatzen, spielen, spielen, spielen und sich dadurch ein Mittagessen und ein Bier zu verdienen!« »Außerdem ist es optimal, um auf Reisen Land und Leute kennenzulernen.« Der Saxophonist freut sich, wenn sich die gute Laune und Ausgelassenheit, die er selbst beim Musizieren empfindet, auf die Leute übertragen, er viel angesprochen wird »und das Geld nebst Essen für einen guten Ausgang am Abend reicht«. Zu Hause in Luzern arbeitet der studierte Agronom als Wirtschaftsberater und Berufsschullehrer und macht Musik als Hobby für sich (»Wenn ich spiele, dann selten unter 90 Minuten.«) und in einer Band, mit der er auch schon Demo-CDs aufgenommen hat: »Ich spiel’ sicher lieber mit einem Gitarristen und Drummer als mit der Loop-Station, die zwar ein super Spielzeug ist, dich aber in deinen Möglichkeiten auch ziemlich einschränkt.« Die Musik, die er mit der Loop-Station draußen produziert, ist deshalb naturgemäß simpler aufgebaut, als wenn er mit der Band spielt. Auch traut er sich beim Improvisieren im Probenraum wildere Experimente zu, weil es dort niemandem gefallen muss. Christian spielt neben Tenor- und Altsaxophon auch etwas Klavier und Schlagzeug, hat mehr als sechs Jahre lang die Musikschule besucht und später in verschiedenen Bands gespielt. Er würde gerne wieder wöchentlichen Unterricht an der Jazzschule Luzern nehmen. Sein Musikstil ist vom Funk, Blues und Jazz geprägt, als Vorbilder nennt er Saxophonisten wie Maceo Parker und Paul Desmond sowie Herbie Hancock und Bands wie Radiohead oder Portishead.
4.1.19 Claudio – Gitarre Hauptinstrument: Alter: Herkunft: In Berlin:
Westerngitarre, verstärkt 27 Buenos Aires, Argentinien seit drei Jahren
Claudios Ziel ist es, alleine oder als Duo mit Percussionbegleitung in Clubs aufzutreten. Vor einer Woche hat er angefangen, mit seiner Westerngitarre und einem winzigen batteriebetriebenen Marshall-Verstärker auf U-Bahnhöfen zu musizieren. Die Stationen Stadtmitte (Linien U2 und U6), Kurfürstendamm (U1, U9) sowie der S-Bahnhof Hackescher Markt gehören zu seinen bevorzugten Orten, um seine Lieblingsmusik, den Blues, »in die Welt« zu bringen. Bisher macht er gerne Straßenmusik, und im Moment ist das für den jungen Mann »gerade der richtige Schritt«. Er möchte weitermachen, »solange wie es geht«. In der kurzen Zeit hat er noch keine Bekanntschaft mit anderen Straßenmusikern gemacht.
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Abbildung 23: Claudio am U-Bahnhof Stadtmitte am 19.08.2011
Claudio kommt aus Buenos Aires, hat aber deutsche Vorfahren und einen deutschen Reisepass. Seit drei Jahren wohnt der Argentinier in Berlin und lebte bisher von Jobs im Call Center oder in der Eisdiele. Nun trägt auch die Straßenmusik zu seinem Lebensunterhalt bei. Er spielt täglich drei bis vier Stunden lang nachmittags ab 14 oder 15 Uhr auf den Bahnhöfen Rock- und Bluesmusik: eigene Stücke und Songs von den Beatles, Led Zeppelin oder Leo Kottke. Doch eigentlich improvisiert der Gitarrist hauptsächlich über die Akkordschemata der verschiedenen Lieder. Sein Miniverstärker liefert ihm durch die leichte Verzerrung den richtigen Sound dazu. Obwohl er nicht größer als eine Bierflasche ist, erfüllt er den langen Gang zwischen den Bahnsteigen am U-Bahnhof Stadtmitte gut vernehmbar mit Claudios Gitarrenblues. Der Musiker lehnt an der Wand und spielt in sich versunken, während die Menschenströme an ihm vorüberziehen. Nur selten nimmt er Blickkontakt auf. Wenn Leute stehenbleiben, ihm positives Feedback geben oder Anerkennung zeigen, ist er zufrieden. Gerne lässt er sich auf gelegentliche Gespräche über seinen Stil auf der Gitarre oder den kleinen Marshall-Amp ein. Geld ist dem 27-Jährigen indessen bei der Straßenmusik nebensächlich, seine Gitarrentasche liegt geöffnet seitlich von ihm auf dem Boden und dient als Sammelgefäß für die Spenden der Passanten. Hauptsächlich geht es Claudio darum, zu üben, besser zu werden und Grenzen auszuloten. Der Rahmen in der Öffentlichkeit zwingt ihn, beim Üben nicht einfach aufzuhören, sondern weiterzumachen und beim Improvisieren die Form zu halten. Gleichzeitig genießt er die
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freie Zeiteinteilung und sieht mehr Gelegenheit zum Improvisieren als auf der Bühne. Zu Hause singt er auch zur Gitarre, doch seine Auftritte auf den Bahnhöfen nutzt er, um seine Spieltechnik auf der Gitarre zu verfeinern. Der Argentinier verwendet offene Stimmungen und – passend zum Stil – viel Bottleneck Sliding. Er hat im Alter von 13 Jahren begonnen, sein Instrument autodidaktisch zu erlernen. Dabei hat ihn vor allem der Blues beeinflusst, aber auch die Beatles, Pink Floyd oder Ry Cooder.
4.1.20 Cristea Nica – Cimbalom Hauptinstrument: Alter: Herkunft: In Berlin:
Cimbalom (Hackbrett) 70 Bukarest, Rumänien seit mehreren Jahren
Cristea Nica stammt aus einem Vorort von Bukarest und spricht kein Wort Deutsch oder Englisch. Der 70-jährige Rom lebt bereits seit einigen Jahren mit seinen Kindern und mehreren weiteren Roma-Musikern aus Rumänien in einem Haus in Neukölln. Er hat früher im rumänischen Fernsehorchester gespielt und ist Mitglied der Musikervereinigung seines Heimatlandes. In Berlin macht er an verschiedenen Orten in Neukölln und Kreuzberg regelmäßig Straßenmusik, etwa am Maybachufer oder im Bergmannstraßenkiez. Dann spielt er traditionelle Stücke, aber auch bekannte Melodien aus der Popmusik auf seinem alten Cimbalom, das er meisterhaft beherrscht und immer wieder nach Gehör nachstimmt.
Abbildung 24: Cristea Nica vor einem Café in der Bergmannstraße am 11.09.2011
Das Cimbalom ist eine Form des Hackbretts, die im Pannonischen Raum verbreitet ist und mit Klöppeln geschlagen wird. Mit dem ungewöhnlichen Instrument erregt er viel Aufmerksamkeit, man merkt ihm seinen Stolz darüber und den Spaß am Spiel
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sowie an der Kommunikation mit seinem Publikum an. Der Musiker blickt die Menschen immer wieder an, lacht verschmitzt und freut sich über Beifall. Bei seinen Auftritten ist er stets elegant gekleidet, trägt Hemd und Hut, dazu oft Anzug und Krawatte. Alle 15 bis 20 Minuten zieht er um und baut sein Saiteninstrument vor einem anderen Lokal auf. Das Cimbalom steht vor Cristea Nica auf einem Keyboardständer, davor auf dem Pflaster liegt eine Kunststoffschüssel, mit der er in den Spielpausen im jeweiligen Café die Runde macht, bevor er weitergeht. Er besitzt mehrere Exemplare unterschiedlicher Größe, die er tageweise abwechselnd einsetzt.
4.1.21 Drehorgel-Lothar Hauptinstrument: Alter: Herkunft: In Berlin:
Drehorgel 73 Berlin, Deutschland »jeboren«
Lothar steht mit seinem Leierkasten abwechselnd an verschiedenen Stellen in Reinickendorf: vor dem Rathaus, in dem sich das Standesamt befindet, am KurtSchumacher-Platz vor dem Einkaufszentrum, vor der Markthalle in der Residenzstraße oder in der Fußgängerzone in Tegel. Dreimal pro Woche ist er für je zwei Stunden unterwegs. Da er sich nicht auf das Musizieren konzentrieren braucht und auch nicht singt, hat der kommunikative 73-Jährige freie Kapazitäten zur Kontaktaufnahme mit den Passanten. Viele alte Bekannte, besonders ältere Menschen, freuen sich, ihn zu sehen, und kommen gerne auf ein Gespräch bei ihm vorbei, während sie ihre Einkäufe erledigen. Lothar unterhält sich mit ihnen, macht Witze und verbreitet gute Laune. Mit seinem lässigen Berliner Akzent sagt er: »Ick rede manchma’ mehr als ick spiele, speziell inner Residenzstraße.« Während des Interviews in der Tegeler Fußgängerzone kommt eine Dame ungefähr seines Alters zu ihm, wirft eine Münze in den Zylinder, der auf der Drehorgel steht, und beginnt von einer Begebenheit mit ihren Enkeln zu berichten. Nach einigen Minuten beendet sie den Plausch und zieht weiter. Negative Reaktionen auf seine Präsenz kennt Lothar überhaupt nicht – weder mit Passanten noch mit der Polizei oder Ladenbesitzern hatte er bisher irgendwelche Probleme. Eigentlich macht ihm seine Tätigkeit immer Spaß. Seit er vor gut sieben Jahren in Rente ging, macht der Berliner mit seinem Leierkasten, einem alten Erbstück, Straßenmusik zum Zeitvertreib. Er lebt allein und bleibt auf diese Weise in Kontakt mit vielen Leuten. Außerdem verdient er sich so ein Zubrot zu seiner Rente. Lothar will weitermachen »solange wie et jeht« und antwortet lachend auf die Frage, ob er gerne Straßenmusik mache: »Ja, kann man sagen. Bei Regen krieg’ ick Entzugserscheinungen!« Er besitzt Lochbandrollen mit insgesamt 270 Altberliner-, Seemanns- und Weihnachtsliedern, alten Schlagern und Gassenhauern. Zusammengenommen ergibt das ein Repertoire von mindestens fünf Stunden, aus dem der Drehorgelspieler je nach Saison und Publikum wählen kann. Zum Teil trifft der Inhalt der Rollen seinen eigenen Musikgeschmack, »aba nich allet.« Der Rentner inszeniert sich mit seinen »Altberliner Klamotten«, der schlagfertigen Berliner Schnauze und dem traditionsreichen Instrument erfolgreich als »Berliner Original«. Als solches wird er auch für Auftritte bei Geburtstagen, Hochzeiten, Festen oder in Altersheimen gebucht, die er zusätzlich
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zur Straßenmusik absolviert. Auf seiner Visitenkarte wirbt er für sich als »Der Mann für alle festlichen Anlässe«. Er ist Mitglied im Verein der Internationalen Drehorgelfreunde Berlin e.V. und steht darüber in Kontakt mit zahlreichen weiteren Leierkastenfrauen und -männern. Beim einmal jährlich stattfindenden Internationalen Drehorgelfest an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche ist er regelmäßig dabei.
4.1.22 Drunks and Kids – Gitarre, Gesang Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Mick (†): Westerngitarre, Gesang (englisch); Magnus: Resonatorgitarre mit Stahlkorpus (Steel Guitar); unverstärkt 35, 27 London, Großbritannien; Kopenhagen, Dänemark seit zwei Jahren
Der Londoner Mick und Magnus aus Kopenhagen trafen sich im Frühjahr bei einem Konzert verschiedener amerikanischer Musikgruppen. Beide leben seit etwa zwei Jahren in Berlin und sind gerade dabei, auch eine Band zu gründen. Zu zweit haben sie angefangen, Lieder zu schreiben und in kleinen Clubs und Bars aufzutreten. Oft treffen sie sich und arbeiten an neuen Songideen. Während Magnus schon vor zwei Jahren in Kopenhagen begonnen hat, Straßenmusik zu machen, hat Mick erst damit angefangen, seit die zwei zusammen spielen. Sie verdienen sich so neben den Konzerten den Hauptteil zu ihrem Lebensunterhalt: »We have a ruthless dedication to get money out of our audience.« Gleichzeitig lernen sie auf diesem Wege neue Leute und potentielle Mitmusiker kennen, üben, proben ihr Material und testen neue Songs am Publikum aus. Sie spielen selbstgeschriebene Lieder und nur auf Anfrage Coverversionen. Das Repertoire der zwei umfasst etwa 25 Stücke, von denen sie acht bis zehn auf ihren Touren durch Cafés und Kneipen nutzen. Obwohl die Songs fest arrangiert sind, klingen sie jedes Mal ein wenig anders. Seinen Musikstil verortet das Duo zwischen Old Folk, Rock’n’Roll, Country und nennt ihn Pub Rock. Vorbilder für die gemeinsamen Lieder sind Musiker wie Johnny Cash und Bill Callahan sowie Bands wie Townslands End oder Silver Juice. An zwei bis drei Tagen pro Woche ziehen die Männer durch die Lokale in den Szenekiezen im Friedrichshain (Warschauer und Simon-Dach-Straße), im Prenzlauer Berg und in Kreuzberg. »We look for places where we would like to go ourselves«, sagen sie. Denn dort treffen sie am ehesten auf ein Publikum, das für ihre Art von Musik empfänglich ist. Die ideale Spielzeit beginnt für sie gegen Mittag und endet um 20 Uhr, doch oft sind sie auch in den Abendstunden aktiv. Jetzt im Sommer spielen sie fast nur in den Außenbereichen der Bars auf den Gehwegen, im Winter wollen sie dann drinnen auftreten. Drei Lieder bietet das Duo pro Café dar. Zuvor begrüßt es die Gäste mit einigen Worten und stellt sich kurz vor. Mick singt mit seiner tiefen, rauhen Stimme und spielt dazu eine Akkordbegleitung auf der Westerngitarre, während Magnus auf seiner Resonatorgitarre Themen und Melodien zupft. Das Instrument mit dem blanken Metallkorpus ist auffällig und setzt sich auch ohne Verstärkung gut gegen den Straßenlärm durch. In ruhiger Umgebung greifen Drunks and Kids deshalb durchaus auf gezupfte Begleitungen zurück, während sie in verkehrsreicheren Lagen lautere und schnellere Nummern bevorzugen. Beim Spielen suchen sie den Augenkontakt mit ihren Zuhörern,
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und am Ende geht Magnus zwischen den Tischen umher und sammelt die Spenden ein. Sie sagen, busking sei großartig, um ein guter Performer zu werden. Man gewöhne sich dabei an Auftritte vor Publikum. Allerdings müsse man erst die Aufmerksamkeit der Leute gewinnen, die nicht wie in der Konzertsituation automatisch da sei: »You perform against environmental distraction.« Und anders als beim konzertanten Auftritt wählen sie ihr Repertoire für die Straßenmusik gezielt aus, um möglichst viel Geld einzunehmen. Am liebsten würden Mick und Magnus auf der Bühne genug zum Leben verdienen, »still busking is great, great fun« – »it’s the best job in the world«. Allerdings bezeichnen sie Straßenmusik auch als »emotional roller coaster« mit »ups and downs«. Gleichgültigkeit und Ignoranz der Menschen oder Ablehnung kann für sie frustrierend sein. Dagegen sind positive Reaktionen des Publikums wie Applaus, Zehn-Euro-Scheine oder Fragen nach Informationen und CDs eine wohltuende Bestätigung, ebenso wie »the feeling that we did our best and kept the focus«. Beide wollen weiter Straßenmusik machen, solange es Spaß macht, »for the rest of our lives«. Zumindest für Mick hat sich dieser Wunsch erfüllt: er ist Anfang 2013 verstorben.
4.1.23 Elizabeth – Geige, Operngesang Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Geige und Operngesang 23 New York City, USA für ein Jahr au pair
Normalerweise zieht Elizabeth abends stundenlang durch die Cafés in der Bergmannstraße, vom Südstern bis zum Landwehrkanal, im Gräfestraßenkiez oder in Mitte. Während des Sommers macht sie das an bis zu sechs Tagen pro Woche »all night long«, um ihre Miete bezahlen zu können. Sie spielt dann so lange, bis sie mindestens 50 Euro an Geldspenden beisammen hat. Wenn es draußen zu kalt wird, geht sie nur noch an drei Abenden in der Woche für jeweils etwa zwei Stunden auf Tour. Auf Bahnhöfen hat die Musikerin indessen wegen der beengten Atmosphäre dort keine Lust aufzutreten. Ihr Repertoire besteht aus klassischen Stücken für Geige oder Gesang von Bach, Beethoven, Fritz Kreisler und anderen Komponisten und umfasst Material für ca. 90 Minuten. Wenn sie singt, dann a cappella. Und je nach Situation stimmt sie auch spontan Lieder an, z. B. wenn Cafégäste Geburtstag haben, zu Weihnachten oder wenn sich jemand einen Urlaubshit wünscht. Kinder mag sie besonders und weiß diese mit schnelleren Nummern zu begeistern. Bisweilen ergeben sich dann neue Auftrittsmöglichkeiten, wenn sie für private Feierlichkeiten gebucht wird. Oftmals kleidet sich Elizabeth mit zu ihrem Programm passendem Chic und sagt über sich: »I try to be professional, dress up, make it a performance.« Der Kontakt zum Publikum ist ihr wichtig. Über Applaus oder die Rufe nach Zugaben freut sie sich und möchte den Menschen zeigen: »I’m giving them a treat.« Wenn man gut sei, sagt sie, sei »busking a confidence builder«. Gleichzeitig fühlt sie sich dabei nicht wie eine Künstlerin: »Busking is a two-edged thing. You get appreciation but lack professional feeling. You feel like a beggar, you’re still on the street.« Das trifft vor allem in den seltenen Fällen zu, wenn sie unfreundliche Äußerungen hört oder Betrunkene
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anfangen zu grölen. Und doch sagt die Geigerin und Sängerin von sich: »I love what I’m doing, it’s fun.« Mit der Polizei hat sie bisher keine schlechten Erfahrungen gemacht, doch naturgemäß kommt es vor, dass sie von Gaststättenbetreibern gebeten wird, weiterzuziehen. Obwohl das sehr ermüdend sein kann, macht sie gern Straßenmusik, und freut sich, dass sie davon in Berlin halbwegs leben kann. In New York, wo sie herkommt, wäre das nicht so einfach möglich, meint sie und findet die Leute in Berlin entspannt und offen. Elizabeth verdient sich außerdem als Babysitterin sowie mit Geigen- und Gesangsstunden etwas hinzu. Zwischen einer und fünf Stunden am Tag übt sie.
Abbildung 25: Elizabeth (l.) mit → The Benka Boradovsky Bordello Band auf der Friedrichsbrücke am 25.07.2010
Die US-Amerikanerin ist mit einem Künstlervisum für ein Kalenderjahr in Berlin und hat zuerst als Au-pair-Mädchen in einer Familie gearbeitet. Seit sie vier Jahre alt war, bekam die heute 23-Jährige private Geigen- und Gesangsstunden. Ihr Talent wurde an ihrer Schule weiter gefördert, und schließlich hat sie Operngesang studiert und darin ihren Bachelor-Grad erhalten. Im Mai hat sie mit Straßenmusik begonnen und will damit weitermachen, solange sie noch in Berlin ist. Wenn sie zurück in die USA geht, möchte Elizabeth am liebsten als Sängerin an die Oper. In ihrer musikalischen Entwicklung haben sie besonders ihre Lehrer und das Hören klassischer Musik geprägt sowie zuletzt der Kontakt zu → The Benka Boradovsky Bordello Band, die sie in Berlin bei der Straßenmusik kennengelernt hat. Auch mit anderen Straßenmusikern wie → Leigh oder dem Gitarristen Rashidi Graffiti hat sie Bekanntschaft gemacht. Doch insbesondere mit der Gruppe aus Neuseeland verbindet die Violinistin eine Freundschaft, nachdem sie mit dieser mehrfach spontan in Mitte oder im Mauerpark musiziert hat. Sie findet deren Stil inspirierend, hatte viel Spaß beim gemeinsamen Ausprobieren und hat mit ihrem Instrument mittlerweile als inoffizielles
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Bandmitglied mehrere Konzerte mitgespielt. An den Einnahmen sowohl aus der Straßenmusik als auch bei den Konzerten wurde sie selbstverständlich beteiligt.
4.1.24 Everbrass – Blaskapelle Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Igor: Trompete; Sergej: Basstuba, Schellenring; Alexej: Posaune; unverstärkt 35, 36, 27 Charkiw (Igor) und Kiew, Ukraine für einige Tage
Everbrass ist eigentlich ein Quartett mit Waldhorn, doch auf dieser kleinen Deutschlandtour sind sie nur zu dritt: Der Trompeter Igor, Alexej an der Posaune und Sergej, der mit der einen Hand Basstuba spielt und mit der anderen eine einfache rhythmische Begleitung mit dem Schellenring, kennen sich von einem gemeinsamen Aufenthalt in Südkorea. Dort hatten sie zwischen 2004 und 2008 in Seoul zuerst ein Engagement in einer Bigband, dann in einem Pops Orchestra351. Zuvor haben sie in der Ukraine an Konservatorien ihre Instrumente studiert – Igor in Charkiw, die beiden anderen in Kiew – und anschließend in verschiedenen Staatsorchestern der Ukraine gespielt. Igor hat auch als Dozent an einer Hochschule gearbeitet. Mittlerweile leben die drei Musiker im polnischen Szczecin (Stettin) und sind fest an der Oper engagiert. Jeder von ihnen spielt noch in weiteren Projekten verschiedener Stilrichtungen zwischen klassischer Musik und Jazz. Sie sind nun schon zum fünften Mal gemeinsam in der Sommerpause unterwegs durch Deutschland, um mit Straßenmusik ihr Gehalt aufzubessern. Igor sagt, von dem Geld, das sie zu Hause als Orchestermusiker und Musiklehrer verdienten, könnten sie nicht leben. Zu den Stationen ihrer Reise gehören neben Berlin Städte wie Frankfurt am Main, Dresden, Leipzig und Lübeck. Während Alexej und Sergej schon seit etwa 15 Jahren Straßenmusik machen, ist Igor erst im dritten Jahr dabei. Er sagt, er hasse die Straßenmusik und würde lieber auf anderem Wege genug Geld verdienen. Im Gegensatz zu den anderen beiden, die Freude daran haben, will er nur solange damit weitermachen, wie er das Geld unbedingt braucht. Auch zum Knüpfen von Kontakten sind die Auftritte in der Öffentlichkeit nützlich, weil sich so viele spontane Engagements für Feierlichkeiten und andere Anlässe für die Gruppe ergeben. Sie lässt sich außerdem von eine Schweriner Künstleragentur für Hochzeiten, Jubiläen und ähnliche Gelegenheiten vermitteln. In Berlin tritt die Band mit ihren eigenen ausgefeilten Bläser-Arrangements bekannter Melodien aus Jazz, Klassik, Pop- und Folkmusik an Orten mit viel Laufpublikum auf wie am S-Bahnhof Hackescher Markt, am Berliner Dom oder in der Fußgängerzone in der Wilmersdorfer Straße. Ihre Publikumsansprache ist offensiv, witzige Ansagen auf englisch flankieren die einzelnen Stücke. Am Zwirngraben vor dem S-Bahnhof Hackescher Markt stehen die Blechbläser nebeneinander vor einem Biergarten. Auf die Passanten, die hinter ihnen entlang laufen, kommt es ihnen nicht an. Während nach jeweils vier bis fünf Stücken einer der drei mit einer Mütze Spenden bei den Gästen sammeln geht und CDs anbietet, spielen die übrigen beiden weiter. 351 Ein Pops Orchestra ist ein Orchester, das neben bekannten klassischen Werken Arrangements populärer Musik und Unterhaltungsmelodien aufführt. Solche Ensembles existieren häufig neben den symphonischen oder philharmonischen Orchestern in größeren Städten.
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Wenn sie im Sommer gemeinsam unterwegs sind, machen sie täglich zwei bis vier Stunden lang Straßenmusik. Igor sagt über das Repertoire von Everbrass: »I don’t like this kind of music.«
Abbildung 26: Everbrass vor dem S-Bahnhof Hackescher Markt am 03.08.2010
4.1.25 Fanfara Kalashnikov – Balkan-Brass-Blaskapelle Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Basstuba, Baritonhorn (2x), Trompete (2x), Schlagzeug 23-35 Iaşi, Rumänien seit vier Jahren
Für die Gruppe Fanfara Kalashnikov ist es kein Problem, sich auch ohne Verstärkung gegen Verkehrslärm durchzusetzen. Deshalb kann sie problemlos an belebten Einkaufsstraßen wie der Schloßstraße in Steglitz oder am Kurfürstendamm auftreten. Doch meistens ist sie in Mitte vor dem S-Bahnhof Hackescher Markt oder am Alexanderplatz in Bahnhofsnähe anzutreffen. Die Band steht in der Tradition rumänischer und serbischer Brass-Bands, die oft zu Hochzeiten, Dorffesten und anderen Feierlichkeiten auftreten, zu denen viel getanzt wird. Ursprünglich sind diese Fanfaras genannten Formationen aus türkischen Militärkapellen hervorgegangen. Außerhalb des Balkans wurde dieser Musikstil besonders durch die Filme des serbischen Regisseurs Emir Kusturica populär, zu denen Künstler wie Goran Bregović und Boban Marković die Soundtracks beisteuerten. Seit den 1990er Jahren fand diese Musik auch durch Bands wie Fanfara Kalashnikov zunehmend Eingang in die westliche Popkultur und inspirierte die globale Musikszene. Charakteristisch sind extrem hohe Tempi von teilweise mehr als 200 Schlägen pro Minute, Off-Beat-betontes Spiel sowie die flinken Trompetenläufe.
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Fanfara Kalashnikov wurde im Jahr 2000 von mehreren rumänischen Musikern aus der Stadt Iaşi gegründet, die sich vom Musikmachen und -unterricht in einem Jugendzentrum kannten, darunter auch → Pedro. Noch aus dieser Zeit stammt die erste CD, die sie als Jahrgangsbeste der Musikausbildung des Jugendzentrums aufnehmen durften. Sie spielen auch heute auf sehr hohem technischen Niveau mit großer Präzision. Einige von ihnen sind Roma, alle haben schon von Kindheit an in ihren Familien musiziert. Der Name der Band ist von Goran Bregovićs Lied Kalašnjikov aus dem Kusturica-Film Underground inspiriert. Weil in Rumänien die Konkurrenz ähnlicher Kapellen zu groß war, zogen 2006 fünf der Bandmitglieder nach Berlin und machten hier zunächst Straßenmusik. Sie bilden auch heute noch den Kern der Gruppe, die in wechselnder Besetzung aus knapp zehn Musikern besteht, welche nicht mehr alle aus Rumänien stammen. Mit dabei sind ein Basstubist, zwei Baritonhornisten, mindestens zwei Trompeter, ein Saxophonist, der auch manchmal singt, sowie ein Schlagzeuger. Bei gebuchten Live-Auftritten kommen häufig noch zusätzliche Sänger, ein Gitarrist und eine Tänzerin sowie nach Bedarf weitere Musiker hinzu. Kurz nach ihrer Ankunft in Berlin wurde die Band von ihrem jetzigen Manager Clemens entdeckt, dem es seitdem gelungen ist, den Bekanntheitsgrad des Ensembles durch geschicktes Lancieren und die Zusammenarbeit mit etablierten Künstlern bei Live-Auftritten und Studioaufnahmen enorm zu steigern. Mittlerweile touren die Musiker europaweit und treten auf verschiedenen Festivals, im Fernsehen und Radio auf. Das Gespräch, das diesem Artikel zugrunde liegt, habe ich mit Clemens stellvertretend für die Band geführt. Trotz den zahlreichen Engagements und »recht üppigen Gagen« fehlt es den trinkfesten Musikern immer wieder akut an Geld, dann machen sie einfach Straßenmusik. Clemens erzählt, einerseits bräuchten sie die zusätzlichen Einnahmen zum Leben, weil sie ihre Gagen oftmals sofort versaufen würden. Andererseits sei die Straßenmusik für sie »wie eine Sucht«, weil sich für sie auf diese Weise so einfach mit dem Geld verdienen ließe, was sie sowieso am besten könnten. Allerdings läuft es heute nicht mehr so gut wie zu Beginn, als die Gruppe auf der Straße noch bis zu 90 Euro pro Kopf während eines Auftrittes erlösen konnte. Inzwischen sind es oft nur noch 20. Auch erregt die Formation in anderen Städten wie Hamburg mehr Aufmerksamkeit, weil sie dort noch nicht so bekannt ist wie in Berlin. Hier gibt es zudem viel Konkurrenz, und das Ordnungsamt ist schnell mit Platzverweisen zur Stelle. Wegen der Lautstärke gab es wiederholt Beschwerden, die Polizei ist sogar schon im Mannschaftswagen angerückt. Durchschnittlich einmal in der Woche ist es soweit, dann machen die Rumänen ca. zwei bis drei Stunden lang Straßenmusik, bis genug Spenden beisammen sind. Im November und Dezember, wenn weniger Auftritte bei Festivals und dergleichen zu verzeichnen sind, musizieren sie bis zu fünfmal wöchentlich auf der Straße. Obwohl ihr Lebensmittelpunkt inzwischen in Berlin liegt, haben einige von ihnen noch Frau und Kinder in Rumänien. Da sie sowieso nur für jeweils drei Monate in die Bundesrepublik einreisen dürfen, sind regelmäßige Aufenthalte zu Hause unvermeidlich. Vor allem nach Neujahr verbringen dann manche den Winter in der Heimat mit Familie und Freunden. Mehrere sind allerdings mittlerweile in Deutschland verheiratet und haben damit einen komfortableren Aufenthaltsstatus. Die meisten Bandmitglieder haben nebenbei noch weitere musikalische Projekte. Zur Straßenmusik entschließen sie sich spontan, es kommt mit, wer gerade da ist und Zeit hat. Mal sind sie nur
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zu viert, und als ich sie am Alexanderplatz antreffe, sind sechs Musiker dabei. Sie bieten professionell ganz unterschiedliche Stücke aus den verschiedensten Genres dar, die im Stile der traditionellen rumänischen Hochzeitsmusik arrangiert sind. Bekannte Rock-, Pop-, Funk-, Reggae- und Jazzsongs sind darunter, Themen aus der Film- und elektronischen Musik, auch traditionelle Stücke und populäre Balkanmelodien, in die unter anderem Elemente von Ska, Flamenco, Raggamuffin und sibirischem Schamanengesang integriert werden. Auf ihren Konzerten verwendet die Band ein völlig anderes Repertoire, das je nach Kontext individuell zusammengestellt und arrangiert wird. Die Arrangements machen die Musiker selbst »aus dem Bauch heraus«, notiert wird dabei nichts. Auch live wird prinzipiell ohne Noten gespielt. Sie haben ein Gefühl für ihre Musik und die passenden Bläsersätze. Einer kontinuierlichen Probenarbeit bedarf es daher nicht, schon gar nicht für die Straßenmusik. Es wird sich nach Bedarf zusammengesetzt, arrangiert und geübt. Stets bildet sich in der Öffentlichkeit eine Menschentraube um die Gruppe, die Leute sind neugierig ob der teils bekannten Melodien im ungewohnten Klanggewand. Wen die treibenden Rhythmen nicht zum Tanzen animieren, der wippt unwillkürlich zumindest mit dem Fuß oder anderen Körperteilen mit. Es regnet Münzen in den aufgeklappten Instrumentenkoffer vor der Band, in dem diverse CDs zum Verkauf angeboten werden. Viele nehmen sich gerne ein solches Andenken mit nach Hause. Straßenmusik ist eine werbewirksame Aktivität für das Ensemble, oft ergeben sich hieraus lukrative zusätzliche Engagements. Dabei interagieren die Musiker eigentlich kaum mit dem Publikum. Einerseits liege das an der Sprachbarriere, sagt Clemens, andererseits an der Einstellung. Denn Animation durch die Künstler gehört traditionell nicht zum Programm bei den Hochzeiten etc. in ihrer Heimat. »Die Musik per se ist das Wichtigste.«
Abbildung 27: Fanfara Kalashnikov am Bahnhof Alexanderplatz am 28.07.2010
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4.1.26 Felicitas – Harfe Hauptinstrument: Alter: Herkunft: In Berlin:
Böhmische Harfe 19 Berlin, Deutschland aktuell seit drei Monaten
Felicitas ist in Berlin und im Allgäu aufgewachsen und lebt nach diversen Reisen momentan seit etwa drei Monaten wieder in der Stadt. Sie war unter anderem in Spanien, Holland, Frankreich und Deutschland und hat vor sieben Monaten begonnen, unterwegs Straßenmusik auf ihrer Böhmischen Harfe zu machen.
Abbildung 28: Felicitas auf der Museumsinsel neben der Friedrichsbrücke am 26.07.2010
Früher hatte sie fünf Jahre lang Harfenunterricht bei einem Privatlehrer in Berlin, spielt außerdem Gitarre, Klavier sowie irische Harfe. Ein begonnenes Harfenstudium in Hannover will sie vorerst nicht weiter verfolgen, denn die Straßenmusik ist zu ihrer neuen Lebenseinstellung geworden. Das und die Freiheit beim Herumtrampen findet sie »supergeil« und will gerne weitermachen, »solange es Spaß macht und sich coole Projekte daraus ergeben«. Es bereitet ihr Freude, spontan mit Menschen ins Gespräch zu kommen, beim Spielen die Leute zu beobachten und dabei auch noch Geld zu bekommen und Spaß zu haben. Gleichzeitig sieht sie darin eine gute Übung, vor Publikum aufzutreten. Ansonsten übt sie nur unregelmäßig. Die persönlichen
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Begegnungen – auch mit anderen Musikern – sind ihr wichtig, sie sucht den Blickkontakt und den Austausch. Wenn sie mit ihrer Harfe am Wegesrand sitzt, ihre bunte Mütze geöffnet vor ihr liegt, bleiben die Leute gerne stehen, machen positive Bemerkungen oder fragen sie über sich und ihr Instrument aus. Bis auf eine Begebenheit mit einem Akkordeon spielenden Roma-Jungen, der sie aggressiv von der Friedrichsbrücke vertrieben hat, hat sie in Berlin keine negativen Erfahrungen gemacht. Felicitas spielt eine Mischung eigener Stücke, irischer Folkmusik und alter Musik und in jedem Fall »nur das, was mir Spaß macht«, und wonach ihr im Moment ist. Sie richtet sich dabei nicht nach dem Publikum oder anderen äußeren Gegebenheiten, mag sich nicht anpassen, sondern »ihr Ding« machen. Sie will die Leute einladen, stehenzubleiben und vom Alltag abzuschalten, und ihnen vermitteln: »Das Leben ist geil und findet jetzt statt!« Am liebsten spielt sie »an romantischen Orten, an die die Harfe passt«, wie Brücken, aber auch auf Burgen und Mittelalterfestivals. Kleinere Dörfer oder befahrene Straßen dagegen meidet sie. Da sie außerdem auf Festen, Feiern, Mittelaltermärkten oder mit musikalischen Beiträgen zu Theater- und Filmprojekten Geld verdient und Kindergeld von ihren Eltern erhält, kann sie es sich leisten, Straßenmusik unregelmäßig, »nach Lust und Laune« zu machen. Die Besonderheit von Straßenmusik erkennt die junge Frau darin, dass die Menschen ohne Erwartungshaltung zu ihr kommen und dann positiv überrascht sind. Es sei »Musik für jeden«, sagt sie, und biete viel Freiheit sowohl für die Musiker als auch für die Zuhörer.
4.1.27 The Folks – Gitarre, Gesang, E-Bass Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Maurice: Elektrische Bassgitarre; Leon: Westerngitarre und Gesang (englisch), verstärkt 19, 20 Berlin und Darmstadt, Deutschland geboren bzw. seit einem Jahr wohnhaft
Die beiden Studenten Maurice und Leon machen Musik als Hobby. Sie spielen gemeinsam in einer Band und haben jeweils noch weitere musikalische Projekte. Seit sich Leon mit Gesang und Gitarre vor zwei Jahren seine Reise durch Europa über Straßenmusik finanziert hat, nutzt er diese Praxis, um sich einen wichtigen Zuschuss zum Leben dazuzuverdienen. Der Darmstädter ist Autodidakt an der Gitarre. Maurice kommt aus Berlin, hat zunächst selbst begonnen, E-Bass zu spielen, und später Stunden genommen. Mit seinem Instrument macht er sporadisch bei Leons Auftritten auf der Straße mit, manchmal auch weitere Bandmitglieder. Die zwei haben sich vor einem großen Kaufhaus am Alexanderplatz sitzend niedergelassen – Leon auf einem Klapphocker, Maurice auf seinem batteriebetriebenen Mini-Bassverstärker. Vor Leon steht ein Mikrofonstativ, er nutzt ebenfalls einen kleinen Amp, um Gesang und Gitarre zu verstärken. Auf der Gitarrentasche vor den beiden liegen mehrere CDs ihrer Band zum Verkauf. Bisweilen bleiben Leute stehen, vor allem Jugendliche, denen die Mischung aus Folk und Soft Grunge mit englischen Texten gefällt. Im Idealfall ergibt sich eine Art »Dominoeffekt«, wenn sich die ersten hinsetzen und dadurch immer mehr Zuhörer anziehen. Die beiden Musiker spielen sehr routiniert eigene Songs, darunter auch immer wieder neue, unfertige Nummern,
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die sie dann teilweise improvisieren. Gleichzeitig testen sie die Reaktionen des Publikums darauf. Den direkten Publikumskontakt suchen sie beim Musizieren nicht, lassen sich aber in den Spielpausen gerne auf Gespräche und Nachfragen ein. Einmal wurden sie von der Polizei gebeten, wieder einzupacken. Leon sagt, in Berlin sei Straßenmusik nichts Besonderes, die Menschen seien daran gewöhnt und tendenziell davon genervt. Es lohne sich trotzdem, denn »die Masse macht’s«, und als »jüngere Band, die ihr Zeug promotet«, kämen sie gut an. Am liebsten spielen sie in der Neuen Promenade vor dem S-Bahnhof Hackescher Markt wegen der Atmosphäre dort. Feste Zeiten haben sie nicht, auf der Straße musizieren sie unregelmäßig. Im Gegensatz zu Konzerten ist Straßenmusik eine Herausforderung für die Band, weil es »keine Möglichkeit [gibt], Fehler zu verschleiern.« Auch müssten die Songs gut sein, da man in diesem Setting nicht mit gutem Sound gewinnen könne. Das »Feeling« beim Spielen auf der Straße und die Werbung für ihre Band sind ihr Hauptanliegen, und sie freuen sich außerdem, »wenn’s groovt, Spaß macht, viel Geld« gibt.
Abbildung 29: The Folks am Alexanderplatz am 28.07.2010
4.1.28 Fulya – Gitarre, Gesang Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Klassische Gitarre mit Stahlsaiten, Gesang (türkisch, spanisch, englisch), verstärkt 33 Istanbul, Türkei seit fünf Monaten
Fulya hatte einen Plattenvertrag in ihrer Heimat Istanbul. Doch das fertig aufgenommene und produzierte Studioalbum wurde dann doch nicht von der Firma veröffentlicht, so dass die Musikerin es nun selbst vertreibt – auf ihren Konzerten oder wenn
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sie Straßenmusik macht. Damit hat sie vor knapp zehn Jahren begonnen, war viel in Irland unterwegs, in Schottland, England, Spanien, Australien. Auch in Bremen und Frankfurt am Main hat sie gespielt. Seit fünf Monaten ist sie mit einem Studentenvisum in Berlin und findet die Atmosphäre hier als Straßenmusikerin ungewöhnlich liberal. Die Türkin sagt: »You can play more what you like and do whatever you want as long as you are good.« Woanders erwartet das Publikum im Gegensatz zu Berlin eher bekannte Stücke. Den Schlüssel zum Erfolg beim busking in Berlin sieht sie darin, authentisch aufzutreten, das zu tun, was man liebt, und sich mit Bedacht das passende Publikum zu suchen: »It also matters hugely that what you do and where you do it are in harmony with each other.« Das Reisen hat sie stark beeinflusst, unterwegs hat Fulya viel irische Musik gemacht. Die andere Richtung, die sie geprägt hat, ist klassische türkische Musik. Ab dem Alter von sieben Jahren hat sie Mandoline, ein Jahr später Geige zu spielen begonnen und immer in Chören gesungen. Später hatte sie Bands und hat mit 26 Jahren angefangen, sich das Gitarrenspielen selbst beizubringen. In Spanien hat sie außerdem gelernt, mit Kastagnetten umzugehen. Die 33-Jährige macht gerne Straßenmusik und will damit fortfahren »as long as I can«. Vor allem empfindet sie es als befreiend, ohne gebucht zu sein und größeren Planungsaufwand spontan aufzutreten und direktes Feedback zu ihrer Darbietung von den Leuten zu erhalten. Außerdem erinnert es sie stetig an ihre Talente, daran, wer sie ist, und bietet ihr einen Raum zum Üben ihrer Stücke. Über das Geld, das ihr die Leute spenden, freut sie sich ebenfalls. Wenn sie viel verdient, CDs verkauft, große Aufmerksamkeit auf sich zieht und interessante Menschen durch ihre Musik kennenlernt, befriedigt sie das. Bei der Straßenmusik verschwimmt für sie die Grenze zwischen Künstler und Publikum, es herrscht mehr Gleichheit, und sie begegnet den Menschen auf Augenhöhe. Trotzdem gibt Fulya gerne auch Konzerte mit Band oder allein. Sie kennt viele Straßenmusiker und -künstler in der Stadt und fühlt sich ihnen dadurch verbunden, dass sie alle gemeinsam zeigen, »that another world is possible, scattered around Berlin making it a more beautiful city«. Gerne würde sie draußen noch mehr zusammen mit anderen Musikern oder einer kleinen Band auftreten. Fulya setzt sich mit ihrer Gitarre gerne in die Wilmersdorfer Straße, weil sie dort sehr positive Erfahrungen mit den Menschen gemacht hat. Allerdings geht dort auch das Ordnungsamt regelmäßig auf Streife, so dass es mit Verstärker schwierig ist. Ansonsten ist sie häufig an der Admiralbrücke oder am Türkischen Markt am Maybachufer anzutreffen, wo sie ihre Landsleute mit ihrem teils türkischen Gesang verdutzt: »Nobody is used to hearing Turkish music on the street. So, sometimes, it can be totally shocking for a Turkish Berliner to hear a song in her native language sung by someone who comes from Istanbul.« Die Sängerin reagiert mit ihrer Musik auf die Situationen, in denen sie sich findet, und auf die Menschen. Allerdings spielt sie eher introvertiert und freut sich, wenn Leute sie ansprechen, ihr Blumen oder Früchte schenken, sie zu Partys einladen oder ihr Auftrittsmöglichkeiten anbieten. Bei unserem ersten Treffen sitzt Fulya am Rande des Sonntagsmarktes am Boxhagener Platz mit ihrer klassischen Gitarre auf einem klappbaren Campingstuhl. Vor ihr steht ein Mikrofonstativ, ein kleiner Verstärker für Gesang und Gitarre befindet sich daneben. Auf dem Gehsteig liegt die Gitarrentasche, daran lehnen Fulyas CDs. Viele Neugierige lauschen ihren Liedern, spenden Geld und Applaus. Die Künstlerin hat kein festes Programm, sondern spielt, was ihr gerade in den Sinn kommt. Ihre
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Lieder haben vornehmlich spanische und türkische Texte, die englischsprachigen singt sie zurzeit nicht mehr so oft. Außerdem spielt sie eigene Bearbeitungen klassischer türkischer Musik von Komponisten wie Hacı Arif Bey oder Dede Efendi, die vor allem von älteren in Berlin lebenden Türken oftmals mit ungläubigem Erstaunen wiedererkannt werden. Sie nennt ihren Stil »organic music« und sieht sich in der Singer-Songwriter- und Folkmusiktradition. Von Frühjahr bis Herbst macht Fulya ein- bis dreimal in der Woche Straßenmusik, jeweils für etwa zwei Stunden. Davon kann sie während der warmen Monate leben. Im Winter jobbt sie. Wenn sie zu Hause übt, dann nicht extra für die Straßenmusik oder für Auftritte, sondern für sich selbst. Manchmal passiert das täglich, dann wieder zwei Wochen lang gar nicht. Dass sie ihren eigenen Gesangsstil gefunden hat und nur selbstkomponierte bzw. sehr spezifische Musik spielt, zeichnet die Künstlerin in ihren eigenen Augen aus. Damit kommt sie ihrem Anspruch an Authentizität entgegen: »I express myself with my music.«
Abbildung 30: Fulya am Boxhagener Platz am 15.08.2010
4.1.29 Gabriel S. Moses – Gitarre, Gesang Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Westerngitarre, Gesang (englisch), verstärkt 27 Maccabim, Israel seit neun Monaten
Gabriel hat den kleinen Verstärker laut aufgedreht, mit dem er seine mit Aufklebern bedeckte Westerngitarre und das Mikrofon verstärkt. Der junge Mann im Hawaiihemd steht am Rande des Teils der Schwedter Straße, der als Fußweg durch den Mauerpark führt. Vor ihm steht das Mikrofonstativ, seitlich davon liegen im Staub die Gitarrentasche und darauf neben wenigen Münzen einige CDs seiner zwei Mu-
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sikprojekte in Berlin. Das spontane, englischsprachige Programm des Gitarristen und Sängers besteht aus Country-, Punk- und Rockmusik sowie Stand-up-Comedy. Er mischt hauptsächlich eigene Songs mit einigen Coverversionen (»for comedy reasons«) zu Sets von 20, 30 oder 60 Minuten Länge zusammen. Damit will er die Leute zum Lachen bringen und sie gleichzeitig aus ihrer Konsumentenrolle herausholen und mit einbeziehen. Gabriel spricht die Passanten direkt an, von denen nur wenige Interesse an seiner Performance zeigen, kommentiert, was er sieht und liebt es, Überraschungsmomente auszunutzen. »Sometimes I ask the audience what they want – and do the opposite.« Für den Israeli mit italienischer Staatsbürgerschaft sind die Auftritte im Mauerpark eine gute Übung seiner Auftrittspraxis als Stand-upComedian und machen ihm außerdem Spaß. Das Geld, das er damit einnimmt, nennt er als Hauptmotiv: »It’s easy money.« Wenn er am Tag auf mehr als 50 Euro kommt, ist er sehr zufrieden mit sich. Der 27-Jährige ist vor neun Monaten nach Berlin gekommen und hat im Mai begonnen, sein Programm regelmäßig sonntags im Mauerpark darzubieten. Für ihn macht es keinen Unterschied, wo und in welchem Kontext er auftritt: »Anywhere could be a stage. It may work or not.« Und sollte es nicht mit dem MTV-Award oder der Welttournee klappen, merkt er augenzwinkernd an, wolle er weiter Straßenmusik machen, solange das Wetter mitspiele. Obwohl er dieses Format noch an keinem anderen Ort ausprobiert hat, kommt dem Entertainer Berlin sehr offen vor, die Leute »accept everything as it is«, und er hat hier im Mauerpark das Gefühl eines »eternal Sunday«. Gleichzeitig findet er die große Stadt »a bit robotical«.
Abbildung 31: Gabriel S. Moses im Mauerpark am 08.08.2010
Gabriel hat selbst angefangen, sich das Gitarrenspielen beizubringen, und später einige Stunden genommen. Gesungen hat er schon sein ganzes Leben lang. Er verdient seinen Lebensunterhalt mit Musik, als Graphikdesigner und mit Kochen. Der Musi-
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ker gehört wie → Gahd zu einer Clique junger Israelis, die in Berlin spartenübergreifende Kunstprojekte kreieren und sich obendrein durch den Verkauf von selbstgemachtem vegetarischen Essen und Kuchen finanzieren, welche sie im Mauerpark feilbieten.
4.1.30 Gahd – Sprechgesang, Megaphon Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Sprechgesang (englisch), Megaphon 25 Tel Aviv, Israel seit vier Monaten
Gahds Straßenperformance als Musik zu bezeichnen, ist sicherlich grenzwertig. Der Israeli aus Tel Aviv ist seit vier Monaten mit einem Arbeitsvisum in Berlin, das ein Jahr lang gültig ist.
Abbildung 32: Gahd im Mauerpark am 15.08.2010
Vor ihm steht auf einem alten Pappkarton eine Metallschale, in der CDs seines Performance-Projektes liegen und nur wenige Spenden landen. Er steht mit einem Megaphon am Rande der Schwedter Straße im Mauerpark und spricht, schreit und singt die Passanten auf englisch an oder macht z. B. Tiergeräusche nach. Mehr als ein Warm-Up für seine Stimme benötigt er nicht zur Vorbereitung auf seine Show. Sein
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Programm ist frei improvisiert, er äfft die Vorbeigehenden nach, versucht sich auf deren Stimmung einzulassen, Späße zu machen und damit zu arbeiten, was er sieht und aufschnappt. Dabei ist er nicht respektlos oder herabwürdigend. »I try to connect all the time«, sagt er und freut sich »when I see that people understand what I’m doing, when they have fun«. Kaum jemand bleibt jedoch stehen, viele sind irritiert von der direkten Ansprache, und vereinzelt bekommt er verärgerte Antworten oder Kommentare. Vor einem Monat hat er angefangen, vor allem sonntags im Mauerpark aufzutreten, und will damit fortfahren »until it’s not worth it financially«. Er sieht in seiner Street Performance neben einer Einnahmequelle eine gute Übung für die Interaktion mit dem Publikum und sammelt Auftrittserfahrung mit seiner Stand-up-Show. Seinen Stil nennt der Israeli Anti-Freestyle und sagt: »My act is something between a crazy street bum and Daft Punk.« Auf seiner Visitenkarte bezeichnet er sich als »Boogie Terror Phantom«. Die Frage, ob er eine Botschaft an sein Publikum habe, beantwortet Gahd augenzwinkernd: »Drink a lot of water, do stretches, start singing while talking.« Was ihn von anderen Straßenmusikern unterscheidet? »I’m the funniest. I come from the future. I am neo-dada. Call it PP: personal performance.« Der 25-Jährige unterhält Kontakt zu anderen Straßenmusikern im Mauerpark wie → Onyx Ashanti und besonders zu → Gabriel S. Moses, mit dem er nicht nur gemeinsam auftritt, sondern auch in einer größeren Clique Essen und Kuchen macht und verkauft. Er verdient Geld als DJ, mit Aufnahmen und Shows. Er hat zwei Bands und macht mit seinem Laptop-Computer elektronische Musik. Doch die Auftrittskultur auf der Straße hält Gahd für ein zeitloses Phänomen: »There always was and always will be buskers. Street performance is the most basic.«
4.1.31 Gal – Tenorsaxophon Hauptinstrument: Alter: Herkunft: In Berlin:
Tenorsaxophon 20 Tel Aviv, Israel seit zwei Monaten zum Studium in Berlin
Gal steht in der Abenddämmerung auf der Monbijoubrücke und improvisiert auf seinem Saxophon über die Harmonien mehr oder weniger bekannter Jazzstandards. Einige der Stücke, die er spielt, sind von ihm selbst, auch israelische und klassische irakische Lieder gehören zu seinem Repertoire. Er steht dicht am Brückengeländer, hinter ihm lehnt sein Fahrrad an der steinernen Balustrade, und vor ihm liegt seine Mütze auf dem Boden für Spenden bereit. Beim Spielen ist er ganz in sich versunken, Kontakt zu Passanten oder Zuhörern nimmt er nicht auf. Der 20 Jahre alte Israeli sagt von sich selbst: »I usually don’t respond to anything, do my thing, don’t look at people too much.« Seine Musik findet dennoch ihr Publikum unter den Flaneuren an diesem lauen Sommerabend, Leute setzen sich auf den Bordstein gegenüber oder auf die steinernen Bänke auf der Brücke und lauschen den sanften Klängen. Oft gibt es Applaus für sein gefühlvolles, behutsames Spiel – und das, obwohl er »not too familiar stuff« spielt. Er lässt sich von der Atmosphäre inspirieren, sagt: »I just play what feels in the right place.« Wenn er selbst das Gefühl hat, gut zu spielen, ist der Saxophonist zufrieden. Er will sich niemandem aufdrängen, würde niemals in der U- oder
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S-Bahn oder auf Bahnhöfen musizieren, »places where I would bother people«. Am liebsten auf den Fußgängerbrücken der Museumsinsel, am Kottbusser Damm oder an der Admiralbrücke in Kreuzberg macht er »music for everyone. They can decide to go away, stay, pay, not pay.«
Abbildung 33: Gal auf der Monbijoubrücke am 30.07.2010
Vor zwei Monaten ist Gal nach Berlin gekommen, um hier nach den Sommerferien ein Instrumentalstudium an einer der Musikhochschulen aufzunehmen. Seit zehn Jahren spielt er Gitarre, außerdem Klarinette und Klavier, war auf einer Musikschule und hatte Privatunterricht. Als Einflüsse auf seine Musik nennt er Charlie Parker, Jazz und »people I met«. Eigentlich, sagt er, sei er die ganze Zeit für sich am Üben, gelegentlich spiele er mit verschiedenen anderen Musikern zusammen, wenn es sich ergebe. Mit anderen Straßenmusikern steht er nicht in Kontakt. Der Saxophonist hat vor drei bis vier Jahren in Tel Aviv mit Straßenmusik begonnen und schätzt die Ungezwungenheit für sich selbst und die Zuhörer, die er dabei erlebt. Berlin ist ihm bisher angenehmer als seine Heimat, weil die Menschen hier freigiebiger und freundlicher sind und seiner Musik mehr Wertschätzung entgegenbringen. Er berichtet sogar von einer Begebenheit, bei der ihm ein Streifenpolizist von sich aus einen Becher Kaffee gebracht habe. »A couple of times a week« ist Gal unterwegs. Er lebt von dem Geld, das ihm die Leute spenden, daneben von Saxophonunterricht und Ersparnissen. Außerdem trifft er beim Musizieren auf der Straße interessante Menschen und hat im Freien die Möglichkeit, laut zu üben, was mit seinem Instrument zu Hause nur bedingt möglich ist.
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4.1.32 Garchsurmach – Cello, Bratsche, Geige Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Barbara: Bratsche; Piotr: Cello; Piotr: Geige 25, 23, 24 Danzig, Polen seit vier Wochen
Im Fußgängerdurchgang zwischen Alexanderplatz und Karl-Liebknecht-Straße erklingen klassische »Standards and Highlights«, dazwischen auch argentinische Tangos oder bekannte Filmmusik. Piotr und Piotr an Cello und Violine und Barbara an der Viola sitzen auf Klapphockern in der beleuchteten Passage, die sie wegen ihrer Akustik und der hohen Zahl von Passanten schätzen. Zu dritt bilden sie einen Halbkreis, vor sich haben sie jeweils einen Notenständer. Sie haben sich am Rande eines zwei Stufen hohen Absatzes aufgebaut wie auf einer kleinen Bühne, und davor liegt die aufgeklappte Cellotasche. Es gelingt ihnen mit ihrer Musik immer wieder, Passanten zum Stehenbleiben zu bewegen, manche setzen sich sogar für einige Minuten hin und lauschen den bekannten Melodien. Die drei jungen Leute aus Danzig haben ihre Instrumente an der Universität studiert und verdienen ihren Lebensunterhalt nun als professionelle Musiker in Polen. Sie sind Mitglieder in Orchestern und jeweils noch in weiteren musikalischen Projekten. Im Sommer sind sie während der Orchesterpause gerne als Straßenmusiker in europäischen Großstädten wie London, Paris oder Hamburg unterwegs und bessern auf diese Weise ihr Einkommen aus. Gleichzeitig genießen sie es, so ihren Urlaub zu verbringen und dabei auch noch Spaß zu haben. In dieser Konstellation spielen Barbara, Piotr und Piotr dieses Jahr zum ersten Mal zusammen (der Name der Gruppe ist aus ihren Nachnamen zusammengesetzt); dennoch hat eine einzige gemeinsame Probe von vier Stunden ausgereicht, um das Repertoire zu erarbeiten. Man merkt ihrem Spiel an, dass sie Profis sind. Und auch als Straßenmusiker sind alle drei schon lange dabei: der Cellist seit elf Jahren am längsten, der Violinist seit neun und Barbara seit acht Jahren. Sie stehen in Kontakt mit einer Reihe weiterer Musiker, die sich jeden Sommer zu reisenden StraßenmusikEnsembles zusammentun. Bereits seit vier Wochen sind Garchsurmach in Berlin und spielen täglich nachmittags zwischen vier und sechs Stunden ihr Programm, das etwa 20 Nummern von insgesamt 90 Minuten Dauer umfasst. Von diesen gehören durchaus nicht alle zu ihren Lieblingsstücken, manche haben sie einfach schon zu oft gespielt. Doch sie gehen gut, und die Zuhörer freuen sich, wenn sie die Melodien wiedererkennen. Die Musiker hingegen genießen es, wenn sich eine Menschenmenge ansammelt, wenn sich vor allem abends eine schöne Atmosphäre ergibt oder wenn Kinder zu tanzen anfangen. Das Trio bekommt viele Komplimente für seine Darbietung, neben Geld auch manchmal Früchte, Bier oder Süßigkeiten. Und manchmal lachen und applaudieren die Menschen nicht nur, sondern sind sogar zu Tränen gerührt. Als unangenehm empfinden die Polen lärmende Betrunkene oder Romakinder, die mehrfach versucht haben, Geld aus der Instrumententasche zu stehlen. Ab und zu werden sie von Ladenbesitzern gebeten, weiterzuziehen. Das Repertoire für die Straße müsse viel eingängiger und »catchy« sein als für den Konzertsaal, sagen die drei. Die Herausforderung sei es hier, selbst eine Konzertatmosphäre zu kreieren, und man müsse mehr angeben und sich zu Schau stellen als
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im großen Orchester, in dem der einzelne Musiker zumeist in der Masse verschwinde.
Abbildung 34: Garchsurmach am Alexanderplatz am 28.07.2010
4.1.33 Gemeinde Jesu Christi in Berlin – Straßenchor mit Gitarre Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
größtenteils einstimmiger Chorgesang (diverse Sprachen) mit Gitarrenbegleitung (Westerngitarre); unverstärkt ca. 20-40 verschiedene Länder aus aller Welt seit zehn Jahren
Die acht Frauen und vier Männer im Alter zwischen 20 und 40 Jahren stehen im Kreis vor dem Bahnhofsgebäude am Alexanderplatz und singen Lieder mit christlichen Texten in verschiedenen Sprachen, die sie mit dem Chor geübt haben. Jeder hält eine Mappe mit den kopierten Texten der aktuellen Stücke vor sich in den Händen. Wer kann, improvisiert zweite Stimmen zu den Melodien. Eine Teilnehmerin begleitet die Singenden an der Westerngitarre. In der Kreismitte haben sie ihre Rucksäcke und Taschen abgelegt, auf einem Rollkoffer liegen weitere Liedermappen bereit, falls Leute spontan mitsingen möchten. Ein Gefäß für Spenden gibt es nicht. Der Chor gehört zur Berliner Ecclesia-Gemeinde, einer evangelikalen Freikirche. Deren junge Sektion wendet sich vor allem an den Berliner Universitäten an Studenten aus aller Welt mit oder ohne christlichen Hintergrund und lädt sie zum Bibelstudium und weiteren Aktivitäten in der Gemeinde Jesu Christi in Berlin ein. Zwischen den Liedern sprechen die Sängerinnen und Sänger neugierige Umstehende und Passanten an, verteilen Flyer mit Informationen zu Bibelkreistreffen und Gottesdiensten und laden die Menschen zum Mitsingen ein. Jeder ist willkommen, doch faktisch zeigt kaum je-
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mand Interesse. Viele Leute sind irritiert ob der direkten Ansprache und gehen schnell weiter. Der Chor existiert seit etwa zehn Jahren und tritt regelmäßig »dort, wo viele junge Menschen sind«, auf wie z. B. am Alexanderplatz, in der Friedrichstraße, vor der Mensa, in Parks oder vor Bahnhöfen. Zwischen 300 und 400 christliche Lieder »in allen Sprachen« stehen als Repertoire zur Verfügung, von denen je nach aktueller Zusammensetzung der Gruppe jeweils einige in den zwei- bis dreistündigen wöchentlichen Proben gemeinsam gesungen werden. Momentan sind Mitglieder unter anderem aus Deutschland, Russland, Korea, China, Peru und Nigeria dabei. Vorgestern hat der Chor drei Stunden lang auf der Friedrichstraße gesungen. Ein- bis zweimal pro Woche treten die jungen Leute auf, zu Semesterbeginn auch bis zu viermal.
Abbildung 35: Der Chor der Gemeinde Jesu Christi in Berlin am Bahnhof Alexanderplatz am 11.09.2010
Das Interview mit Chang352 findet einige Wochen nach der Begegnung am Alexanderplatz statt. Seit zwei Jahren engagiert er sich im Chor und organisiert die Proben, ohne ihm jedoch vorzustehen. Er ist der Meinung: »Gott selber leitet diesen Chor.« Der 37-Jährige kommt aus Südkorea und hat Operngesang studiert. Bevor er vor einigen Jahren von seiner Kirche nach Berlin gesandt wurde, hat er in seiner Heimat und später in Moskau als Sänger am Theater gearbeitet. Hier hat er nach eigenem Bekunden weder Arbeit noch Geld, doch »Unterstützung kommt von Gott«. Mehrfach fragt er mich während des Gesprächs, ob ich Christ sei, und bekräftigt seine Einladung an mich, auch mal beim Bibelkreis vorbeizuschauen. Die Auftritte auf der Straße machen ihm »nicht immer Spaß, aber meistens schon«. Vor allem am Anfang sei es oft schwierig, sich auf die Atmosphäre einzulassen und mit den vielen kriti352 Siehe Abbildung 35, ganz links.
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schen Blicken umzugehen, sagt Chang. Er berichtet von aggressiven Diskussionen und nicht nur verbalen Angriffen auf die Gruppe, von vielen negativen Gedanken und schlechter Energie. »Viele Christen sind gegen uns«, sagt er. Manche Leute riefen sogar die Polizei. Wenn sich neben der Mensa oder Bibliothek jemand gestört fühlt, wechseln die Sänger gerne den Ort: »Wir wollen nicht streiten.« Trotz allem will der Koreaner mit der Straßenmusik weitermachen – »für immer, wo auch immer« – und versucht, jeden Tag ein neues Lied zu lernen. Denn eigentlich transportiert der Chor über die Straßenmusik die Liebe und das Evangelium, will damit Gott dienen, ihn loben und preisen. Die Botschaft der jungen Christen ist die Erlösung, das Himmelreich. Sie wollen mit ihrem Programm möglichst viele einheimische Menschen ansprechen, sie einladen und letztlich erretten. Geld oder Ruhm ist ihnen einerlei: »Wir singen nicht für Geld, wir heucheln nicht. Wir singen wirklich von der Liebe.«
4.1.34 Ginger Brown – Rock, Psychedelic, Blues Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Joe: Schlagzeug; Laurence: Keyboard und Gesang (englisch); Matthew: elektrische Gitarre; verstärkt 28, 27, 30 Wellington, Neuseeland für einige Monate
Die drei Musiker von Ginger Brown spielen selbstbewusst vor einem großen Publikum im Mauerpark. Sie bezeichnen sich selbst als Rock’n’Roll-, Psychedelic-, Dixieund Bluesband und haben ein Repertoire aus ca. 20 eigenen Songs, mit denen sie ihre Zuhörer begeistern. Die Menschen sind gutgelaunt, sitzen auf den steinernen Bänken vor der Gruppe und klatschen mit, einige bewegen sich zur Musik oder tanzen gar. Die Reihenfolge der Lieder, das dynamische Level oder die Länge der improvisierten Soli passt die Band intuitiv an die Stimmung und Atmosphäre während ihrer Darbietung an. Ansonsten findet wenig Blickkontakt oder Interaktion mit den Anwesenden statt. Laurence, 27, der sonst auf der Bühne mehrere Keyboards und eine HammondOrgel verwendet, steht als Frontmann und Sänger in der Mitte, vor sich sein Instrument sowie ein Mikrofon am Stativ. Links daneben sitzt Joe, 28, am Schlagzeug, das er auf einer Decke aufgebaut hat, damit die Trommeln nicht verrutschen. Er ist der einzige aus der Band, der im Freien keine Verstärkung benötigt. Zwischen Laurence und Joe steht der 30-jährige E-Gitarrist Matthew, auf dem Boden befinden sich mehrere Effektgeräte wie Verzerrer, Flanger oder Wah-Wah, die er über Fußschalter bedient. Zwischen Musikern und Publikum liegt die geöffnete Gitarrentasche, darin landen Geldspenden und liegen mehrere Studio-CDs der Band zum Verkauf. Die Gruppe arbeitet mit einer kleinen Verstärkerbox, die zusammen mit dem Keyboard von zwei Autobatterien mit Strom versorgt wird. Diese sind in einem gelben Schubkarren untergebracht, der hinter der Band steht. Die Besetzung mit Keyboard und ohne Bass ist für eine Rockband ungewöhnlich, auch auf der Straße. Die Band ist in Neuseelands Hauptstadt Wellington beheimatet und verbringt einige Monate in Berlin. Ihre Mitglieder verfügen über Arbeitsvisa und haben sich erst vor zwei Wochen entschlossen, Straßenmusik zu machen. Bisher treten sie bis auf Weiteres gerne ein- bis zweimal pro Woche an öffentlichen Plätzen in Berlin auf,
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wobei sie Orte meiden, an denen sie Anwohner oder Erholungssuchende stören könnten (»quiet parks, near houses/apartments«). Trotzdem wurden sie am Alexanderplatz schon von der Polizei aufgefordert, einzupacken. Und auch in München haben sie unangenehme Erfahrungen mit der Stadtverwaltung gemacht. Hier in Berlin seien die Leute freier und freundlicher als anderswo, sagen Ginger Brown. Gleichzeitig macht die Stadt einen »dirty and poor« Eindruck auf sie. Die Musiker haben zahlreiche Vorbilder wie Robert Johnson, Jimi Hendrix, Eric Clapton, Tom Waits, James Brown oder die Bands Faith No More und Rage Against The Machine. Von diesen haben sie sich viel für ihr Spiel abgeschaut, außerdem von verschiedenen Lehrern und Freunden gelernt. Straßenmusik machen sie in erster Linie, um ihre Musik und sich als Band bekannter zu machen, um ihre Show für Konzerte zu üben, musikalisch zu wachsen und auch »to make a little money«. Außerdem spielen sie in Clubs, Bars und auf Partys und würden gerne noch mehr vor zahlendem Publikum auftreten. Die Situation bei der Straßenmusik unterscheide sich davon durch ein »lack of formal setting«, sagt Matthew. Man könne »no bullshit« abliefern, womit er meint, dass die Möglichkeit zum Einsatz künstlicher Effekte hierbei beschränkt ist. Ginger Brown proben zweimal wöchentlich zusammen. Die Musiker leben von Auftritten und Musikunterricht.
Abbildung 36: Ginger Brown im Mauerpark am 15.08.2010
4.1.35 Hare Krishnas – Harinam Sankirtan Hauptinstrumente: Alter und Herkunft:
Vorsänger (mit Megaphon oder Mikrofon), Nachsänger (Chor), Harmonium, Mridangas, Karatalas gemischt
Die Hare-Krishna-Gemeinde in Berlin ist Teil der Internationalen Gesellschaft für Krishna-Bewusstsein (ISKCON, International Society for Krishna Consciousness).
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Ihr Tempel liegt in Hohenschönhausen, nachdem er sich bis vor wenigen Jahren noch in einem Hinterhof in der Schönhauser Allee befand. Hier leben die Ordensmitglieder, halten Gottesdienste ab und veranstalten Feste, an denen weitere Gemeindemitglieder mitwirken und zu denen Außenstehende willkommen sind. Das gemeinsame ekstatische Singen von Bhajans, traditionellen Mantras auf Sanskrit, wird als Hauptform des Gottesdienstes betrachtet und ist Teil des täglichen Lebens vieler Tausend Ordensmitglieder weltweit. Das sogenannte Mahamantra (Großes Mantra) ist das bekannteste und wichtigste. Es ist seit Jahrtausenden in den Upanishaden353 überliefert. Die Formel Hare Krishna, Hare Krishna Krishna, Krishna, Hare, Hare Hare Rama, Hare Rama Rama Rama, Hare Hare
wird dabei in vorgeschriebener Anzahl wiederholt. Es handelt sich um die Anrufung zweier Erscheinungsformen einer der wichtigsten Hindu-Gottheiten Vishnu: Krishna und Rama. Zahlreiche weitere Mantras gehören ebenfalls zum Repertoire der Sankirtan genannten religiösen Gesänge. Das Harinam ist ebenfalls Teil einer alten Tradition, bei der die Anhänger Krishnas öffentlich die heiligen Namen Gottes singen, damit alle, die zuhören, von der spirituellen Klangschwingung profitieren können. Sonntags und mittwochs gegen 14 Uhr für jeweils drei bis vier Stunden sind die Berliner Gemeinde- und Ordensmitglieder unterwegs an belebten Orten, um dort ein Harinam Sankirtan abzuhalten. Alexanderplatz, Kurfürstendamm, der Platz vor dem S-Bahnhof Hackescher Markt, Friedrichstraße, Schönhauser Allee sowie weitere Orte wie Parks, »wo viele Menschen sind«, sind ihre Ziele. Die Gesänge oder Chantings sind dabei die gleichen wie im Tempel. In einer Gruppe von bis zu 20 oder 30 Menschen ziehen die Hare Krishnas durch die Straßen, singen und tanzen währenddessen und bieten neben selbstgemachten vegetarischen Süßspeisen auch Bücher, Zeitschriften und CDs gegen Spenden an. Das gottgeweihte Essen wird Prasadam genannt, gilt als heilig und soll beim Verzehr auch Ungläubige von allen Sünden befreien. Der öffentliche Sankirtan gleicht in Aufbau und Repertoire der Praxis im Tempel: auf Einstiegs- folgen Hauptmantras. Dabei gibt es einen Vorsänger mit Mega- oder Mikrofon, der jeweils eine Phrase auf Sanskrit anstimmt, welche im Anschluss von allen wiederholt wird. Wird ein Mikrofon verwendet, trägt in der Regel einer der anderen Sänger eine Verstärkerbox. Der Gesang wird von charakteristischen indischen Musikinstrumenten begleitet: Normalerweise gibt es ein Harmonium, dazu spielen mehrere Leute Karatalas (Handzimbeln). Und auf ungefähr zehn Teilnehmer kommt eine Mridangam, eine Doppelkonustrommel mit zwei Fellen, die umgehängt wird. Bisweilen wird die Mridangam durch eine Djembé ersetzt. Auch beim Harinam sind Außenstehende stets eingeladen, mitzusingen, Fragen zu stellen oder den Gottesdienst im Tempel zu besuchen.
353 Die Upanishaden sind eine Sammlung philosophischer Schriften des Hinduismus und Bestandteil des Veda.
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Abbildung 37: Hare-Krishna-Anhänger 2007 beim Harinam Sankirtan in der Leipziger Innenstadt354
Ich führte ein Gespräch mit Tamohara, einem österreichischen Ordensmitglied. Der 24-Jährige hat mit seiner Einweihung einen der spirituellen Tradition entsprechenden Ordensnamen angenommen. Er lebt seit vier Jahren im Berliner Tempel und war zuvor bei Gruppen in Holland, Belgien, England, Indien und ganz Deutschland. Solange ist er auch beim Harinam Sankirtan aktiv und spielt entweder Mridangam, die er seit drei Jahren bei einem Lehrer lernt, oder Karatalas, wenn er als Nachsänger teilnimmt. Dabei sieht er sich in einer jahrhundertelangen Schülernachfolge. Außerdem spielt er Gitarre. Als Mönch hat er kein eigenes Einkommen, sondern wird von der Gemeinde unterstützt. Tamohara meint, das Harinam mache ihm Spaß, und sieht es als Friedensmeditation. »Wir wollen damit Gott erfreuen und zufriedenstellen und folgen einer langen Tradition«, sagt er. In den Veden wird für die heutige Zeit, welche durch Streit und Heuchelei geprägt ist, das Singen des Mahamantras als bester Weg zur Erlösung beschrieben. Außerdem sollen dessen Schwingungen die Erde von der materiellen Befleckung reinigen und eine missionarische Wirkung entfalten. Der Mönch sagt, die Mantras bewegten unterbewusst die Seele und stimmten die Menschen positiv. Und draußen erreiche man damit auch andere Leute. Viele singen oder tanzen auf der Straße spontan mit, setzen sich in die Nähe, kaufen Bücher oder wollen in den Tempel kommen. Neugierige stellen Fragen wie Wer seid ihr? oder Warum macht ihr das hier? und Macht ihr das öfter? Auch die Ordens- und Gemeindemitglieder gehen 354 Quelle: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Harinam.JPG#mediaviewer/Datei: Harinam.JPG, »Harinam« von Vaishnava108 – Eigenes Werk. Lizenziert unter Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 über Wikimedia Commons, URL: http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/legalcode – abgerufen am 02.08.2014.
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von sich aus auf Fremde zu und laden diese ein. Manchmal werden sie von Passanten als Sekte beschimpft. Wirklich aggressive Reaktion gibt es hingegen selten. Tamohara empfindet die Gottesdienste im Freien als »oftmals sehr lebendig«. Zwar sei es nicht so intim und vertraulich wie im Tempel, sagt er, dafür werde es umso lebhafter, umso mehr Leute dabei seien. Er beschreibt das Chanting als energiegeladen, nicht statisch. Die Musiker nehmen beim Spielen und Singen die eigene Stimmung und die der Umgebung auf. Wenn jemand mittanzt, können sie beispielsweise das Tempo steigern. Oder es wird spontan ein gemeinsames Schutzgebet gesprochen, falls sich eine »brenzlige Situation« ergibt. Proben für das Sankirtan finden nicht statt – »learning by doing« lautet die Devise.
4.1.36 Horst – Mundharmonika Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Mundharmonika, dazu tragbares Radio 53 Schwerin, Deutschland seit 22 Jahren (1988)
Vor dem U-Bahnhof Nollendorfplatz ist Horst weder zu übersehen noch zu überhören. In der linken Hand hält er ein laut aufgedrehtes tragbares Radiogerät, das er sich direkt ans Ohr presst. Mit der rechten spielt er Mundharmonika dazu. Sein Spiel ist kraftvoll und lässt weder tonale noch rhythmische Struktur oder einen direkten Bezug zur Musik aus seinem Radio erkennen. Er wirkt völlig versunken in seine Beschäftigung und tanzt wild dazu auf dem Pflaster. Manchmal hüpft er auf die Zuschauer zu, die ihm dann erschrocken ausweichen. Der 53-Jährige trägt viel zu lange Jeans, die schon seit geraumer Zeit nicht mehr gewaschen wurden, schwarze Lederschuhe und eine braune Lederweste. Eine Art Cowboyhut liegt offen für Spenden vor ihm auf dem Boden. Seine Habe steht in drei Kunststofftragetaschen neben ihm, eine feste Wohnung hat er nicht. Die Menschen bleiben fasziniert von Horsts Erscheinung stehen, manche werfen Münzen in seinen Hut, einige machen Fotos. Im Gespräch wirkt er überschwänglich und aufgeschlossen, ist um lustige Sprüche nicht verlegen; gleichzeitig ist er für konkrete Informationen schwer zugänglich, weil er unter Alkoholeinfluss steht. Er macht in Berlin seit etwa einem Jahr Straßenmusik, war früher über 20 Jahre Bauarbeiter und hat während eines mehrjährigen Aufenthaltes in Schweden die Mundharmonika für sich entdeckt. Auf der Internetplattform Youtube sind von Passanten aufgenommene Videos zu sehen, die Horst in Stockholm beim Musizieren auf der Straße zeigen und bereits Anfang 2006 eingestellt wurden. Täglich spielt er auf dem Nollendorfplatz bis zu 10 Stunden lang seine Musik – mit Pausen, versteht sich. Er lebt von der Straßenmusik und vom Betteln, braucht das Geld für »Alkohol, Zigaretten, Essen und zum Überleben«. Die paar Euro, die er am Tag einnimmt, reichen ihm dazu aus. Nach der Stilrichtung seiner Musik gefragt, antwortet Horst: »Hard Rock, Rock’n’Roll, Klassik – zum Playback.« Die Musik aus seinem Radio dient ihm dabei als spontane Inspiration, er improvisiert frei dazu.
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Abbildung 38: Horst auf der Mittelinsel am U-Bahnhof Nollendorfplatz am 16.07.2010
Über Gesellschaft freut er sich und teilt den Ort, den er für sich eingenommen hat, gerne mit Bekannten und Freunden. Manchmal gibt es Streit, dann verscheucht er sie wieder. Und ab und zu kommt die Polizei und vertreibt ihn selbst vom Nollendorfplatz. Doch am nächsten Tag kommt er einfach zurück.
4.1.37 Huiñaumanta – Panflöten-Duo Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Panflöten in verschiedenen Größen, diverse Flöten, Charango, Percussion, Gesang (Phantasiesprache) zu Playback; verstärkt 43, ca. 45 Cotahuasi, Peru seit ca. 15 Jahren
Neben einem Kaufhaus in der Fußgängerzone in der Spandauer Altstadt stehen Nilton und Carlos. Beide haben Kostüme an, die im Stil die Kleidung nordamerikanischer Indianer nachahmen. Dazu gehören Lederjacken und -hosen sowie Gewänder mit vielen Fransen und auffälliger Kopfschmuck aus Federn und Fellen. Ferner tragen sie eine farbige Gesichtsbemalung. Nilton und Carlos sind beide über 40 Jahre alt und kommen aus Peru. Vor 15 Jahren verließen sie ihre Heimat und begannen mit einem der damals in Deutschland und ganz Europa weit verbreiteten Panflöten-
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Ensembles, die aus bis zu 15 Musikern bestanden, vor allem in Fußgängerzonen und vor Warenhäusern zu spielen. Mittlerweile sind die meisten ihrer ehemaligen Kollegen entweder zurück in der Heimat oder haben in Deutschland Fuß gefasst. Sie selbst sind inzwischen deutsche Staatsbürger, haben hier geheiratet und Familien gegründet.
Abbildung 39: Huiñaumanta in der Spandauer Altstadt am 14.08.2010
In den ersten Jahren stand noch traditionelle Folklore aus Süd- und Mittelamerika und insbesondere den Anden mit entsprechenden peruanischen Trachten auf dem Programm. Heutzutage spielt das Duo zu einem sphärischen, selbst im Studio aufgenommenen Playback Pan- und andere Flöten in verschiedenen Größen, Charango sowie diverse Perkussionsinstrumente wie Chimes, Becken und Schellenrasseln aus Nussschalen. Das Playback gibt vor allem den harmonischen Rahmen vor durch Klangflächen und Rhythmische Charango- und Gitarrenbegleitung. Neben und hinter den Musikern befinden sich Instrumentenkoffer, aus denen sie sich bedienen. Gelegentlich singen sie auch Silben einer Phantasiesprache, die an schamanische Gesänge erinnert. Alle Instrumente werden über den Musikern stehende Mikrofone abgenommen, verstärkt und durch klangliche Effekte wie Echo und Hall hervorgehoben. Eine professionelle PA-Anlage mit Mischer, Verstärker und Boxen, die vor ihnen stehen, beschallt die Fußgängerzone. Zwischen den Instrumentalthemen führen die Männer rhythmische Tanzschritte aus. An einem der Mikrofonstative hängt ein federngeschmückter Traumfänger355, am Boden liegt eine Handtrommel auf dem Pflas355 Traumfänger sind Kultobjekte, die in einigen indigenen Völkern Nordamerikas verbreitet waren. Nach dem Glauben der Ojibwe sollen die netzartigen Gebilde den Schlaf verbessern, indem sie schlechte Träume abfangen. Heute handelt es sich um ein weitverbreitetes Accessoire in vielen Schlafzimmern auf der ganzen Welt.
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ter, auf der Flyer und Visitenkarten ausliegen. Mit etwas Abstand vor ihnen steht auf einem Keyboardständer ein geöffneter Koffer mit eigenen Studio-CDs, die sie unter dem Bandnamen Huiñaumanta verkaufen. Die Aufnahmen sind wie die Playbacks teilweise an die spirituell-meditative Popmusik von Oliver Shanti angelehnt. Nilton sagt, nach der Andenfolklore habe es eine Phase mit eher internationalen Melodien auf der Panflöte gegeben. Heute spielt das Duo im neuen Look »Musik aus den Amerikas«, »peruanische Musik zu nordamerikanischen Rhythmen«, die die Seele der Menschen ansprechen soll. Sie sehen sich auch als Botschafter ihrer Herkunftsregion und wollen »die Menschen in Europa auf uns aufmerksam machen«. Um die 20 Lieder haben Huiñaumanta im Programm, darunter wenige Eigenkompositionen. Je nach Jahreszeit ist ihre Stückeauswahl im Winter »ein bisschen gechillter«, im Sommer hingegen bewegter. Im Prinzip gefällt Nilton die eigene Musik, und doch ist sie für ihn ein Kompromiss mit Blick darauf, was die Leute vermeintlich hören wollen. »Was stört, sind die Wiederholungen«, sagt er. Die Peruaner machen gerne Straßenmusik, es macht ihnen Spaß, »wenn sich die Leute freuen«, »wenn du an die Leute richtig rangekommen bist«. Solange es noch geht, wollen sie weitermachen, doch Nilton bemerkt augenzwinkernd: »Ich schaffe das nicht mehr lange.« Er und Carols sind gut aufeinander eingespielt und brauchen dafür keine Proben, »das geht einfach so zusammen«. Aufgrund des direkteren Kontaktes zum Publikum betrachten sie Straßenmusik als gutes Training für Musiker und finden es »unglaublich, wenn Kinder anfangen zu tanzen«. Dafür ist es hingegen nötig, die Aufmerksamkeit aktiv zu erregen: »Wenn wir spielen, dann ist die mystische Atmosphäre unsere Geheimwaffe, mit der wir den Energiefluss und -kreislauf in Gang setzen. Mit schlechter Laune geht’s nicht. Dann lieber eine Pause machen.« Allerdings gibt es auch Leute, die dafür kein Verständnis haben und sich im Vorbeigehen demonstrativ die Ohren zuhalten. Und Betrunkene stören bisweilen die Darbietung. Der Umgang mit Kollegen auf der Straße ist hingegen freundschaftlich. In den Sommermonaten machen Nilton und Carlos ein- bis zweimal pro Woche Straßenmusik. Dann spielen sie an einem Ort fünf Sets à dreißig Minuten mit Pausen dazwischen. Beschwerden gibt es selten und wenn, dann zeigen sich die Musiker kompromissbereit. Einmal mussten sie 600 Euro Strafe bezahlen, weil sie auf einem S-Bahnhof gespielt haben. Seitdem machen sie um die Bahnhöfe einen Bogen und würden auch nicht in U- und S-Bahnen spielen. Nilton sagt: »Die Russen haben das Monopol auf die Bahnhöfe.« Vor allem tritt das Duo in Mitte am Brandenburger Tor oder auf dem Alexanderplatz auf, daneben an anderen Orten wie in der Altstadt Spandau. Früher mit den großen Panflötenensembles standen sie oft an der KaiserWilhelm-Gedächtniskirche zwischen Kurfürstendamm und Tauentzienstraße oder vor den großen Kaufhäusern in den verschiedenen Bezirken. Beide, Nilton und Carlos, haben bereits als Kinder in ihren Familien begonnen, die heimischen Musikinstrumente und Rhythmen zu erlernen, das war »ganz normal«. Nilton betrachtet den Gitarristen Paco de Lucía sowie verschiedene Flötenspieler aus Bolivien als wichtige musikalische Einflüsse. Er meint, ohne Musik könne er nicht leben, und nutzt deshalb alle Möglichkeiten zum Musizieren. Tagsüber passt er auf sein Kind auf, während seine Freundin arbeiten geht. Seinen Teil zum gemeinsamen Lebensunterhalt verdient der 43-Jährige als Studiomusiker, auf Straßenfesten oder privaten Feiern. Die Straßenmusik spielt dabei mittlerweile keine Hauptrolle mehr, sie dient eher der Werbung und dazu Kontakte zu knüpfen. Die auf der Straße
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verkauften CDs machen heute etwa zwei Drittel der Erlöse aus, während dieses Verhältnis in früheren Jahren eher umgekehrt war. Von dem, was er in Deutschland verdient, schickt Nilton auch heute noch einen Teil an seine Verwandten in Peru, um sie zu unterstützen, er sagt: »Ich bin privilegiert.« Die besten Erfahrungen mit Straßenmusik haben Huiñaumanta während der Sommermonate in Skandinavien gemacht. Nilton beschreibt die Menschen dort als aufmerksamer und dankbarer als in Deutschland. Die liberale Atmosphäre in Berlin sieht er nicht nur positiv, da hier aufgrund fehlender eindeutiger und teils von Bezirk zu Bezirk verschiedener Regelungen keine Rechtssicherheit für Straßenmusiker besteht. Die fehlende Genehmigungspraxis führt in seinen Augen zu Polizeiwillkür, was er auf die Dauer als anstrengend empfindet. Das Gespräch fand nur mit Nilton statt und gibt insbesondere seine Perspektive wieder.
4.1.38 Ilja – Gitarre, Geige, Gesang Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Klassische Gitarre, Geige, Balalaika, Gesang (deutsch, russisch, ukrainisch) 25 Berlin, Deutschland zu Hause
Ilja hat sich auf den zwei Absatzstufen der Fußgängerpassage zwischen Alexanderplatz und Karl-Liebknecht-Straße niedergelassen, er wirkt ein wenig ungepflegt. Sein Hund döst neben ihm. Zu seinen nackten Füßen steht eine kleine Plastikschüssel für Spenden. Doch er erregt nur wenig Aufmerksamkeit mit seiner zarten, behutsamen Musik, wirkt dabei in sich versunken und nimmt wenig Kontakt auf. Er sagt, er sollte mehr in Interaktion treten, dann würde es auch besser laufen mit der Musik, aber er sei schüchtern und »kein Entertainer« und dazu sehr stimmungsabhängig: »Mal kack’ ich die Leute an, meistens spiele ich zur Beruhigung und Entspannung.« Je nach Laune nimmt er seine Geige oder die Gitarre zur Hand, singt manchmal dazu. Die Balalaika hat der junge Mann, der in der ukrainischen Stadt Dnjepropetrowsk geboren und in Berlin aufgewachsen ist, im Anhänger seines Fahrrades gelassen, das ein paar Meter abseits steht. Er improvisiert ohne Ziel drauflos, »das, was gerade kommt«, flicht zwischendurch das eine oder andere eigene Lied ein und freut sich am Ende, »wenn’s mir selber gefallen hat, wenn ich Spaß hatte«. Einen konkreten Stil erkennt er nicht bei sich selbst, sagt, er spiele »alte und moderne volkstümliche Musik«, die gleichzeitig einzigartig sei, weil er improvisiere und nicht die typischen bekannten Melodien bemühe. Musizieren hat Ilja in seiner Familie gelernt, zu Hause bei seinen Eltern war das selbstverständlich. Er spielt außerdem noch Kontrabass. Als musikalische Vorbilder gibt er Sergej Prokofjew, türkische Volksmusik und die Band Radiohead an. Er macht seit zwei Jahren Straßenmusik, mehrmals die Woche für ein bis drei Stunden am Tag, und will damit weitermachen »solange wie nötig«. Gerne sitzt er auf dem Platz vor dem S-Bahnhof Hackescher Markt oder am Alexanderplatz – an Orten, an denen viele Menschen vorbeikommen. Der Musiker meidet bewusst Plätze, wo die Leute sitzen, weil er niemanden stören will. Manche fühlen sich trotzdem belästigt,
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auch Ladenbesitzer haben sich schon beschwert, doch in den meisten Fällen erntet Ilja Lob und Anerkennung, oder jemand fragt interessiert nach. Er findet die Situation im öffentlichen Raum »härter, weil die Leute nicht richtig zuhören und wahrnehmen«. Das strengt ihn an. Der 25-Jährige macht Straßenmusik, um Geld zu verdienen und um des Musizierens willen. Er übt täglich, sooft wie möglich, und würde auch gerne mehr auftreten, doch er hat keinen Raum zum (Konzerte) Spielen. Manchmal trifft er sich mit einer Improband oder macht mit seiner Frau russische Volksmusik. Weitere Beiträge zu seinem Lebensunterhalt liefern seine Mitwirkung bei in Theaterproduktionen als Schauspieler oder Musiker, daneben Jobs als Reinigungskraft sowie die finanzielle Unterstützung seiner Eltern.
Abbildung 40: Ilja am Alexanderplatz am 06.08.2010
4.1.39 Inga und Alex – Gitarre Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Inga: Halbresonanzgitarre; Alex: elektrische Gitarre; verstärkt 26, 53 Rostock, Deutschland, und Russland Inga seit zweieinhalb Jahren, Alex schon sehr viel länger
Wenn Inga und Alex zusammen Musik machen, fällt ihr sehr enges Zusammenspiel auf. Oft stehen die beiden dicht bei- und voreinander, manchmal berühren sich die Griffbretter ihrer Gitarren fast. Man merkt ihnen ihre große Verbundenheit an, sie suchen immer wieder Blickkontakt zueinander und wirken in ihre Musik versunken. Gleichzeitig wollen sie sich bei niemandem anbiedern, verlieren daher nicht viele Worte zwischen den Stücken, sondern »stehen einfach da und spielen«. Zurzeit tun sie das täglich außer montags jeweils drei bis vier Stunden lang, am liebsten auf dem Alexanderplatz, auf dem Platz vor dem S-Bahnhof Hackescher Markt, vor dem
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Brandenburger Tor und am Wochenende auf dem Trödelmarkt am Boxhagener Platz oder im Mauerpark. Mit ihren beiden elektrischen Gitarren und den selbstgebauten Rucksack-Lautsprechern inklusive Verstärker und Stromquelle sind die zwei höchst flexibel. In Abbildung 41 sieht man, wie die Kabel in den Rucksäcken am Boden verschwinden. Vor ihnen auf dem Pflaster liegt Ingas Gitarrentasche, in der sie Spenden sammeln und CDs zum Verkauf anbieten. Hauptsächlich spielt das Duo Jazz- und Swingmusik, doch auch irische Lieder, Bebop, Blues oder harte Rocksongs mit verzerrtem Gitarrenklang gehören zum Repertoire. Etwa drei Stunden umfasst das Programm von Inga und Alex und wird beständig durch neue Lieblingsstücke der beiden erweitert. Inga übernimmt dabei mit ihrer Jazzgitarre den Rhythmuspart, gibt Tempo und Harmonien an. Alex spielt die Themen, doch eigentlich improvisiert er die meiste Zeit über, spielt wilde Soli. Inga beschreibt die Musik als sehr energetisch und explosiv. Vor dreieinhalb Jahren hat sie sich dem Russen Alexej angeschlossen, solange machen sie Straßenmusik zusammen. Während der 53-Jährige bereits als Teenager damit begonnen hat, war diese Praxis für seine 26-jährige Partnerin neu. Er spielt neben Gitarre auch sehr versiert verschiedene weitere Saiten-, Tasten- und Blasinstrumente, hat bereits in seiner Kindheit in Russland mit der Musik begonnen. Inga hatte ab einem Alter von acht Jahren an der Musikschule Unterricht in klassischer Gitarre. Vor drei Jahren hat sie dann unter Alexejs Einfluss begonnen, sich mit Jazz zu beschäftigen und sich selbst Jazzgitarre beizubringen. Außerdem lernt sie E-Bass und Klavier spielen. Die Rostockerin ist ehrgeizig und übt im Durchschnitt fünf Stunden am Tag, um immer besser zu werden. Ihre Vorbilder sind »alle großen Jazzer«, von denen sie versucht, sich das Wichtigste abzuhören. Außerdem ist sie damit beschäftigt, ihr Studium der Politikwissenschaften in ihrer Heimatstadt zu beenden. In Berlin lebt sie seit zweieinhalb Jahren, Alex hingegen schon deutlich länger. Die beiden haben bereits in Irland Straßenmusik gemacht, wo sie viele irische Lieder spielen gelernt haben, die sie heute immer noch gerne verwenden. Auch in anderen deutschen Städten wie Warnemünde, Görlitz oder Cottbus haben sie gespielt, doch im Vergleich dazu finden sie Berlin viel internationaler. Während Straßenmusiker in Irland Tradition hätten und geschätzt würden, sagt Inga, werde man in Deutschland generell eher als Bettler betrachtet, wenn man Straßenmusik mache. Generell spielen sie, worauf sie gerade Lust haben, und diese Freiheit ist es auch, die ihnen an der Straßenmusik besonders gefällt. Reagiert das Publikum positiv auf etwas, bleibt das Duo aber auch schon einmal länger beim gleichen Stil. Oft bleiben Leute länger stehen, fotografieren oder filmen, und manche fangen sogar an zu tanzen – vor allem Kinder. Andere schimpfen hingegen oder drohen gar mit der Polizei. Vor allem Anwohner fühlen sich schnell belästigt. Ihren Lebensunterhalt bestreiten Alex und Inga von Musik und derzeit hauptsächlich Straßenmusik. Die dabei verkauften CDs mit Aufnahmen ihrer Musik können bis zur Hälfte der Tageseinnahmen ausmachen. Hin und wieder treten die beiden mit anderen Musikern zusammen in klassischer Bandbesetzung mit zwei Gitarren, Bass und Schlagzeug in kleineren Berliner Clubs auf und machen Hardrock, gerne auch mit neuen Kontakten, die sich beim Musizieren auf der Straße ergeben haben. Überhaupt schätzen die beiden Gitarristen den Austausch und Wissenstransfer mit anderen Straßenmusikern und sind jederzeit offen für eine spontane Jamsession. Inga würde sich zusätzlich über ein festes Engagement als professionelle Musikerin freuen. Sie könn-
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te sich vorstellen, zweimal pro Woche in einem Restaurant zu spielen, wünscht sich »irgendetwas Fixes«, um sich finanziell sicherer zu fühlen. Straßenmusik würde sie dennoch weiterhin machen, weil diese »so ein ganz eigenes Flair« von Freiheit und Spaß hat. Man kann »je nach Lust und Laune« spielen, und »jeden Tag passiert etwas«, »Abenteuer eben«. Dazu kommen die vielen, teils für Auftritte und Engagements nützlichen Kontakte, die sich auf der Straße ergeben. Doch im Moment ist das Geldverdienen noch die Hauptsache dabei. Wenn es sich finanziell gelohnt hat, aber auch wenn sich das Duo beim Spielen »musikalisch trifft und gut zusammen spielt«, gehen die beiden zufrieden nach Hause. Inga sagt: »Es ist besser mit als ohne Musik zu leben.«
Abbildung 41: Inga und Alex auf dem Pariser Platz am 31.07.2010
4.1.40 Jacek – Schlagzeug Hauptinstrument: Alter: Herkunft: In Berlin:
Schlagzeug 45 Warschau, Polen temporär (pendelt)
Jacek hat die Straßenmusik vor 15 Jahren in seiner Heimatstadt Warschau für sich entdeckt. Doch seit fünf Jahren kommt er im Sommer regelmäßig nach Berlin, um hier mit befreundeten polnischen Musikern in wechselnder Besetzung vor den Cafés
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am Platz vor dem S-Bahnhof Hackescher Markt, am Gendarmenmarkt oder auch am Wannsee zu musizieren. Die Clique, aus der sich dabei je nach Verfügbarkeit spontane Formationen ergeben, umfasst etwa 20 Musiker, darunter → Kazik und Jaceks Mitmusiker des → polnischen Jazztrios. Sie spielen gewöhnlich jeweils sieben bis zehn Jazzstandards und machen dann eine Pause. Dem Genre entsprechend zeichnen sich die Darbietungen durch abwechselnde Improvisationen aller Beteiligten über die bekannten Harmonien aus. Mit seinem unaufdringlichen und präzisen Schlagzeugstil ist Jacek unter ihnen beliebt. Er kommt mit einer Snare-Drum, einer Hi-Hat und einem Becken aus. Seinen Lebensunterhalt verdient er mit Musik, lebt aber nicht ausschließlich von der Straßenmusik. Sie ist vor allem im Sommer eine Möglichkeit für ihn, Urlaub von zu Hause zu machen und dabei noch auf angenehme Weise gutes Geld zu verdienen. Auch in anderen europäischen Städten wie Nizza hat er schon gespielt, doch: »Berlin is the best.« In Warschau hat er zwei feste Bands, mit denen er Tanzmusik für Hochzeitsfeiern und dergleichen macht bzw. Jazzkonzerte gibt. Die Straßenmusik macht ihm Spaß, weil dabei mehr Freiraum zur Improvisation besteht. Andererseits gibt es weniger Sicherheit, als wenn man ein festes Engagement hat. Am liebsten würde der Schlagzeuger daher eine professionelle Jazzband gründen und nur noch in Clubs etc. auftreten.
Abbildung 42: Jacek in einer Spielpause vor dem S-Bahnhof Hackescher Markt am 18.07.2010
Als Kind und Jugendlicher hat Jacek die Musikschule besucht und acht Jahre lang Klavierunterricht erhalten. Das Schlagzeugspiel hat er sich später hauptsächlich selbst beigebracht und sich dabei besonders von der Musik von Jazzgrößen wie Miles Davis, Charlie Parker, Sunny Rollins und Herbie Hancock beeinflussen lassen. Er übt täglich und probt mit seinen Projekten in Polen drei- bis viermal pro Woche. Wenn er in Berlin ist, macht er bei passablem Wetter jeden Tag nachmittags Straßenmusik, wobei er die Freitage und Samstage besonders mag, weil dann am meisten Menschen
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draußen unterwegs sind. Die will er mit seiner Musik unterhalten. Für ein jüngeres Publikum spielt er bewegtere Stücke, während ältere Menschen stärker auf langsame Nummern ansprechen. Jacek sucht den Kontakt zum Publikum, weil es dann mehr Geld gibt. Andere Formen der Anerkennung, die er erfährt, sind Applaus, Gespräche oder die Einladung, auf Feiern zu spielen. Probleme mit der Polizei hatte er bisher nicht.
4.1.41 Jannis – Mundharmonika Hauptinstrument: Alter: Herkunft: In Berlin:
Mundharmonika, verstärkt 32 Patras, Griechenland seit vier Jahren
Wenn Jannis einen U-Bahn-Waggon betritt und seine Mundharmonika ansetzt, halten viele Fahrgäste irritiert inne, weil sie den Klang nicht gleich lokalisieren und zuordnen können. Das Instrument ist hinter Jannis’ Händen nur zu erahnen, und durch den Halleffekt und den Verstärker, der sich in seinem Rucksack befindet, wird die Sinneswahrnehmung zusätzlich verwirrt. Dann jedoch ist ihm die Aufmerksamkeit zunächst sicher. Der Sound der Blues Harp ist rar in der U-Bahn, und Jannis spielt weniger aufdringlich als gefühlvoll, zuweilen fast zerbrechlich. Das kommt gut an. »Ich rede nicht, fange einfach an zu spielen.« Der Grieche arbeitet mit verschiedenen Durund Moll-Instrumenten, die »völlig unterschiedliche« Atmosphären erzeugen, und einer dezenten Verstärkung über ein kleines Mikrofon, das er zwischen den Fingern vor die Mundharmonika hält. Er beobachtet die Menschen genau und passt seine Darbietung intuitiv an Alter und Stimmung der Fahrgäste sowie an die Uhrzeit an. Bei Bedarf wechselt er das Instrument, wenn er merkt, dass der Stil oder die Skala nicht passt und er die Leute nicht erreicht. Er improvisiert über vier bis fünf unterschiedliche harmonische Patterns, die er stetig variiert, und baut manchmal spontan passende musikalische Zitate ein. Er nennt sein Spiel experimentell und bezeichnet seinen Stil als »Techno auf der Mundharmonika«. Während er improvisiert, wechselt er häufiger die Position, um mehr Menschen zu erreichen, nimmt aktiv Augenkontakt mit seinen Zuhörern auf und interagiert über Blicke mit ihnen. Er sucht sich bewusst Wagen aus, die weder zu voll noch zu leer sind, und bleibt für jeweils zwei bis drei Stationen. Seine Darbietung beschließt er mit einem herzlichen »Dankeschön!«, bevor er in seiner Schirmmütze Spenden bei den Fahrgästen einsammelt und sich für jede einzelne bedankt. Während er spielt, lächeln ihn viele Menschen an, wenn er an ihnen vorbeikommt, machen sie ihm Komplimente, stellen Fragen nach dem versteckten Verstärker. Und manche Frauen flirten ihn auch an. Abweisende Reaktionen sind hingegen sehr selten. In solchen Einzelfällen reagiert er meist mit Sarkasmus, er spricht fließend deutsch. Die BVG hat ihm gegenüber schon mehrfach Betretungsverbote für ihre Anlagen ausgesprochen, die auf ein Jahr begrenzt sind; auch eine Anzeige gab es inzwischen. Die Mitarbeiter machten bei solchen Gelegenheiten immer wieder beleidigende, auch fremdenfeindliche Äußerungen, berichtet er. Und kommt trotzdem wieder.
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Abbildung 43: Jannis in der U-Bahnlinie U8 am 16.07.2011
Am liebsten ist er auf der U-Bahnlinie U8 zwischen Kottbusser Tor und Alexanderplatz unterwegs, nach eigenen Angaben zu etwa 70 Prozent. Ein Fünftel der Zeit verbringt er auf der Linie U1, fünf Prozent auf anderen Linien und weitere fünf Prozent bei spontanen Jams auf der Straße. Oftmals spielt er über längere Phasen gar nicht oder nur sporadisch in der U-Bahn, dann wieder eine Weile lang an fünf bis sechs Tagen pro Woche. Dann ist er für jeweils drei bis fünf Stunden unterwegs, macht allerdings viele ausgedehnte Pausen, so dass er effektiv nur zwischen 45 Minuten und zweieinhalb Stunden lang spielt. Am liebsten tritt er abends ab 22 Uhr oder gerne auch morgens vor zehn Uhr auf. Dann ist wenig Konkurrenz auf den Beinen, und die Leute sind entspannt. Zur Rushhour von 15 bis 17 Uhr spielt er prinzipiell nie in der U-Bahn. Jannis kommt aus Patras in Griechenland und lebt seit 2007 in Berlin. In seiner Heimat war er als DJ aktiv, hat über dreitausend Musik-CDs zu Hause. Er sagt von sich: »Ich bin ein Forscher.« Auch für Theaterproduktionen hat er schon Musik komponiert. Manchmal geht er zu Jamsessions. In seiner Kindheit hatte er Keyboardunterricht, hat als Jugendlicher Jazzklavier gelernt und mit 19 Jahren am Strand begonnen, auf der Blues Harp zu üben, um seine Fertigkeiten daraufhin autodidaktisch weiterzuentwickeln. Mittlerweile fordert ihn das Instrument jedoch nicht mehr: »Ich finde das langweilig, nicht kreativ genug.« Und ihm missfällt der metallische Klang. Zu Hause hat er noch diverse weitere Instrumente, an denen er sich ausprobiert: eine Gitarre, einen E-Bass, ein cajón. Mit Straßenmusik hat Jannis vor drei Jahren begonnen und steht ihr ambivalent gegenüber: manchmal macht er das »unglaublich gern«, manchmal ist er genervt davon. Er würde lieber in Kneipen und Cafés auftreten, mit Bands Konzerte geben und mehr komponieren. Deswegen will er weiter Straßenmusik machen, »solange, bis ich’s nicht mehr brauche, danach vielleicht als Extra«. Im Moment machen die Spenden, die er erhält, etwa die Hälfte seines Einkommens aus
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– neben Hartz-IV-Unterstützung, gelegentlichen Nebenjobs und einer durch das JobCenter vermittelten Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung. Geld ist für ihn die hauptsächliche Triebfeder zum Musizieren in der U-Bahn. Doch auch die Bestätigung, die er dabei erfährt, ist ihm wichtig. Und phasenweise ist er froh über die Beschäftigung, darüber, unter Leuten zu sein. Dann bietet ihm die Straßenmusik einen zeitweiligen Ersatz für menschliche Gesellschaft. Zu einigen seiner Kollegen unterhält der Grieche freundschaftlichen Kontakt, etwa zu → Kevin und → Michel. Er nutzt die Wartezeiten auf den Bahnhöfen zum Üben. Zu Hause zu proben nimmt er sich immer wieder vor, tut es dann aber nie. Dass sein Publikum in der U-Bahn »gefangen« ist und nicht nach Belieben gehen kann, beschäftigt ihn. Und die völlige Ausdruckslosigkeit vieler Menschen ist ihm unheimlich – vor allem, wenn sie ihm ohne jede erkennbare Regung Geld in die Mütze werfen.
4.1.42 Jaron – Hang Hauptinstrument: Alter: Herkunft: In Berlin:
Hang 23 Kleve, Deutschland seit einer Woche (auf der Durchreise)
Jaron fällt nicht nur optisch durch seine langen verfilzten Zöpfe und seinen dichten Bart auf, sondern auch und vor allem mit seinem Instrument, dem Hang, das auf seinem Schoß liegt. Dabei handelt es sich um ein linsenförmiges Schlaginstrument, das aus zwei miteinander verklebten Schalen aus gehärtetem Stahlblech besteht und in seiner Formgebung an ein Ufo erinnert. Auf der oberen Halbschale befinden sich die Tonfelder, die mit Fingern und Händen angeschlagen werden, woher auch der Name rührt: Hang ist Berndeutsch für Hand. Das Hang wurde im Jahr 2000 von zwei Instrumentenbauern aus der Schweiz entwickelt, die sich zuvor auf die Herstellung von Steel Pans356 spezialisiert hatten. Der Klang erinnert auch an eine Steel Pan, ist jedoch deutlich sanfter und klanglich differenzierter. Hangspiel kann sehr intuitiv sein und meditativ wirken. Hanghang, so der Plural, werden weiterhin exklusiv in der Schweiz hergestellt und kosten mittlerweile gut 2000 Euro, während sie in den ersten Jahren für deutlich unter 500 Euro erhältlich waren. Jaron sitzt auf einem Klapphocker am Kupfergraben neben dem Zeughaus, direkt an der Ecke Unter den Linden. Vor ihm liegt die eine Hälfte der Hangtasche wie eine große Schale als Spenden-Sammelgefäß, während die andere seitlich von ihm als Display für seine CD dient. Allein schon der Klang seines Hang, aber auch die geschmeidig anmutende Spielweise des Musikers und nicht zuletzt das ungewöhnliche Äußere des Instruments erregen bei den Passanten stete Aufmerksamkeit. Immer wieder verweilen ganze Gruppen, vor allem, wenn sie gerade eine Bootsrundfahrt
356 Die Steel Pan, auch Steel Drum, wurde in den 1930er Jahren auf Trinidad erfunden. Nachdem den Einheimischen von den britischen Kolonialherren das Trommeln auf afrikanischen Schlaginstrumenten verboten worden war, entstanden die ersten Steel Pans aus ausrangierten Ölfässern, in deren konkav gewölbten Boden Tonfelder für verschiedene Tonhöhen eingearbeitet wurden. Die Steel Pan wird mit Schlegeln gespielt und ist heute Trinidads Nationalinstrument.
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hinter sich haben und neben Jaron die Treppe vom Kupfergraben hochkommen. Viele bleiben für die Dauer eines ganzen Stücks stehen oder setzen sich auf die steinerne Bank nebenan – immerhin bis zu zehn Minuten – und genießen das ungewohnte Klangerlebnis. Entsprechend üppig fallen die Geldspenden aus, wenn die Zuhörer nicht gleich die Musik-CD zu 10 Euro mitnehmen, die der Hangspieler im Angebot hat. Während des Spiels wirkt Jaron sehr in seine Musik versunken, doch in den Spielpausen blickt er offen in die Runde und wird von vielen Leuten auf sein Instrument hin angesprochen und nach Informationen darüber gefragt, die er bereitwillig erteilt.
Abbildung 44: Jaron am Kupfergraben, Ecke Unter den Linden, am 25.07.2010
Der 23-Jährige aus Kleve in Nordrhein-Westfalen spielt eine Vielzahl von Instrumenten: vom Schlagzeug über Trommeln und Percussion bis zum Didgeridoo »eigentlich alles außer Streichinstrumenten«. Als Kind war er auf einer Musikschule und hatte dort Schlagzeugunterricht, doch das meiste andere hat er sich im Laufe der Zeit selbst beigebracht, so auch das Spiel auf dem Hang. Seinen Stil nennt er »Neue Weltmusik« und meint, er lasse sich musikalisch von allem beeinflussen, was er höre. Doch letztlich gebe sein Herz den Grundschlag an. In Berlin ist er diesmal nur für eine Woche auf der Durchreise; er hat bereits in Kanada und fast überall in Europa auf der Straße musiziert. In Berlin, sagt er, sei die Zahl der Touristen sehr hoch, es herrsche unter den Straßenmusikern auch ein härterer Wettbewerb als anderswo, die Musiker seien »eher eigenbrötlerisch«. Hier gibt es weniger Kontakt zu Einheimischen, anderen Straßenmusikern und auch keine richtige Fußgängerzone. Dabei ist Jaron eigentlich sehr kontaktfreudig, spielt gerne auch spontan mit anderen Musikern zusammen. Vor allem unter Hamburger Straßenmusikern hat er einige Freunde, während sich das in Berlin seltener ergebe. Er spielt in Berlin gerne am Kupfergraben, aber noch lieber etwas weiter in Richtung Bode-
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museum am Büchermarkt, wo der Verkehrslärm nicht so stark ist. Dagegen meidet er Orte, an denen er das Gefühl hat, sich aufzudrängen, oder wo es viele »Penner« gibt. Prinzipiell tritt er zu jeder Tageszeit auf der Straße auf, aber besonders gerne am Wochenende ab 11 oder 12 Uhr. Dann spielt er mit Pausen den ganzen Nachmittag lang. In westdeutschen Kleinstädten findet er es hingegen abends am gemütlichsten. Jaron fing nach seinem Zivildienst vor drei Jahren auf Korsika mit der Straßenmusik an und lebt mittlerweile ausschließlich davon. Dabei steht das Geldverdienen für ihn überhaupt nicht an erster Stelle – es kommt »einfach automatisch«, denn er liebt die Musik, die er macht. Und das, was er tut, erfüllt ihn mit Freude, weil man für ein Konzert auf der Straße nichts organisieren muss, »weil es einfach so geht«. Er reist zum Beispiel per Anhalter herum, lernt eine Menge Menschen kennen, bei denen er oftmals auch für einige Tage wohnen kann, und hat somit an vielen Orten Freunde, auf die er auch wieder zurückkommen kann. Das bedeutet für ihn Lebensqualität. Auf der Straße spielt der junge Mann, der trotz Eignung keine Lust auf ein reguläres Musikstudium hatte, ausschließlich Eigenkompositionen, wobei er zumeist über feste Grundpatterns improvisiert und sich von der Atmosphäre und Energie des jeweiligen Ortes inspirieren lässt. Das kann stundenlang so gehen, wenn er beim Spielen in einen »Flow« gerät und innerlich zur Ruhe kommt. Gelingt es ihm, über seiner Musik »aufzuhören zu reden und zu denken und einfach im Moment zu sein«, dann ist nicht nur er selbst glücklich, sondern dieser Status des Innehaltens überträgt sich auch auf seine Zuhörer. Dann gibt es die besten Reaktionen – von kleinen Gesten wie einem Lächeln im Vorübergehen oder dem hochgestreckten Daumen über Applaus und Neugierde bis zu Geldspenden oder Einladungen reichen die Formen der Anerkennung, die er in solchen Situationen erfährt. Dagegen mag er es nicht, wenn es vom Publikum aus zu Grenzüberschreitungen kommt, wenn etwa plötzlich jemand von hinter ihm anfängt, auf dem Instrument mitzuspielen oder ihn »volltextet«. Das reißt ihn aus seiner Meditation. Vor allem in Hamburg und Kleve hat Jaron Musiker und Bands, mit denen er auch auf Konzerten spielt, er ist für alle möglichen Projekte offen. In Zukunft will er gerne noch mehr Auftritte organisieren, denn es ist für ihn ein anderes Gefühl, »wenn die Leute extra für dich kommen«, als vor einem fluktuierenden Publikum zu spielen. Und auch die Menschen würden Musik eher wertschätzen, für die sie Eintritt bezahlt hätten. Ein großer Unterschied zur Konzertsituation sei ferner, dass auf der Straße keine Zeit sei, um Spannung aufzubauen, man müsse »ständig auf 100 Prozent spielen«. Außerdem sei das Musizieren auf der Straße wetterabhängig, sagt er, was ihn aber auf absehbare Zeit nicht von der Straßenmusik abhalten werde.
4.1.43 Jaroslaw – Blockflöte Hauptinstrument: Alter: Herkunft: In Berlin:
Blockflöte 28 Wrocław (Breslau), Polen seit einer Woche
Jaroslaw würde am liebsten als Lichtgestalter am Theater arbeiten. Doch nun macht er schon seit zehn Jahren Straßenmusik, um Geld zu verdienen, und lebt hauptsäch-
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lich davon. Dazu spielt er täglich bis zu sechs Stunden. Zumeist macht es ihm Freude, auch wenn er in diesem Kontext nicht gerade seinen eigenen Musikgeschmack ausleben kann. Er sagt: »Buskers play what people want to hear, ’cause otherwise nobody will pay for it.« Der Pole spielt Klavier, Klarinette und Schlagzeug. Im Moment steht er allerdings mit seiner Blockflöte auf der Eisernen Brücke über den Kupfergraben in der Bodestraße und lehnt an der steinernen Balustrade. Flink spielt er bekannte Melodien aus Barock und Klassik, z. B. von Bach und Vivaldi, aus dem Jazzbereich (Entertainer) und Filmmusik (der Pate). Er wählt jeweils Stücke, die zum Alter des Publikums passen. Davon ausgehend improvisiert er und baut die vertrauten Themen immer wieder ein – wegen des Wiedererkennungswertes. Er lässt die Melodien spielerisch ineinander übergehen und nimmt viel Blickkontakt mit dem verhältnismäßig spärlichen Laufpublikum an diesem Ort auf. Nur wenige bleiben stehen, um für einige Momente dem Spiel des Flöters zu lauschen. Für jede Spende, die in seiner Mütze vor ihm auf dem Gehweg landet, bedankt sich der 26-Jährige mit einem freundlichen Nicken oder einem Danke, wenn es gerade passt. Er freut sich über positive Reaktionen und Bestätigung vom Publikum. Besonders in Polen kommt es immer wieder vor, dass die Leute sexuelle Anspielungen auf sein Flötenspiel machen; das kennt er von anderswo nicht. Jaroslaw sucht sich bewusst solche Flecken mit wenig Verkehrslärm wie die Fußgängerbrücken auf der Museumsinsel oder den Pariser Platz und meidet Stellen »where there are too many people, too big squares«.
Abbildung 45: Jaroslaw auf der Eisernen Brücke über den Kupfergraben am 13.08.2010
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Der junge Mann hat in seiner Heimat Breslau und in vielen weiteren Städten Straßenmusik gemacht, darunter Prag, München, Kopenhagen, Malmö und Ulm. Dadurch kennt er überall Straßenmusiker, mit denen er Kontakt hält. In Berlin ist er diesmal seit einer Woche und findet die Stadt und besonders die Polizei hier freundlich, alles in allem ein »ok place to play«, der sich durch seine vielen verschiedenen straßenmusiktauglichen Stellen auszeichnet.
4.1.44 Jeanette und Malte – Gitarre, Gesang Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Jeanette: Westerngitarre, Gesang (englisch); Malte: Halbresonanzgitarre, Begleitgesang; verstärkt 29, 29 Berlin und Ulm, Deutschland geboren bzw. seit dem Studium
Jeanette und Malte sind eigentlich beide eigenständige Musiker mit eigenen Bands und Projekten. Malte hat auf Jeanettes letztem Studio-Album die Gitarren eingespielt und beherrscht daher ihr Programm, auf das sie beim heutigen Auftritt im Mauerpark neben einigen Stücken von Malte hauptsächlich zurückgreifen. Die beiden 29Jährigen haben sich am Parkeingang an der Bernauer Straße aufgestellt, jeder mit Gitarre, Mikrofon (am Stativ) und Verstärkerbox. Sie wollen Werbung für Jeanettes Album machen, CDs verkaufen und »Publikum fangen«. Vor ihnen auf dem Straßenpflaster liegt eine Gitarrentasche für Geldspenden, und darauf steht jeweils eine Kiste mit Jeanettes CD und dem Album von Maltes aktuellem Bandprojekt. Beide CDs zusammen gibt es zum Sonderpreis. Daneben liegt eine Liste für Jeanettes E-Mail-Newsletter, in die sich Interessierte eintragen können. Zu Maltes Füßen liegt eine Setliste. Aus den ca. 25 Stücken, die Jeanette sonst live mit ihrer Band spielt, wählen sie jeweils so viele aus, dass es für 20 bis 30 Minuten reicht. Drei bis vier solcher Sets spielen sie an einem Tag. In der warmen Jahreszeit gehen sie zusammen oder Jeanette solo ein- bis zweimal pro Woche im Mauerpark oder in der Wilmersdorfer Straße Straßenmusik machen; das ist im Sommer eine willkommene zusätzliche Einnahmequelle. Der Musikstil des Duos enthält Elemente aus Folk-, Pop- und Jazzmusik sowie aus der Singer-Songwriter-Tradition. Malte und Jeanette sind zufrieden, wenn sie das Gefühl haben, »den Leuten gefällt’s«, wenn sich ihre CDs verkaufen und sie Anerkennung für ihre Musik bekommen. Ansagen zwischen den einzelnen Stücken gibt es nicht und auch sonst wenig Interaktion mit den Passanten, von denen beständig einige auch mal für die Dauer ganzer Songs verweilen. Die zwei wirken bei ihrer Darbietung professionell, sind schon seit vielen Jahren bühnenerprobt und machen »erst diesen Sommer intensiver« Straßenmusik, früher nur vereinzelt mal. Daran gefällt ihnen, dass es keinen Druck gibt »perfekt funktionieren zu müssen« wie während eines Konzerts oder im Studio. Das Gefühl, auf der Straße zu spielen, ist ein anderes, denn »die Leute sind nicht zum Zuhören gezwungen«. Gleichzeitig freuen sie sich natürlich über »volle Konzertsäle«. In der S- oder UBahn oder auf Bahnhöfen würden sie aus verschiedenen Gründen nicht auftreten. Während die Berlinerin sich das Gitarrenspielen als Jugendliche selbst erarbeitet und weitere Impulse aus dem örtlichen Jugendzentrum oder von musikalischen Vorbildern wie Ani DiFranco bekommen hat, ist Malte studierter Jazzgitarrist, der zum
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Studium aus der Nähe von Ulm nach Berlin gekommen und dann geblieben ist. Er verdient sein Geld als Musikproduzent, Arrangeur, Komponist und Mitglied in Showbands. Jeanette hingegen macht heute selbst Musikarbeit mit Jugendlichen und nimmt Jobs als Licht- und Tontechnikerin an.
Abbildung 46: Jeanette und Malte im Mauerpark am 08.08.2010
4.1.45 Joe – Bearpit Karaoke Hauptinstrument: Alter: Herkunft: In Berlin:
Karaoke-Anlage 36 Dublin, Irland seit sechs Jahren
Joe selbst macht eigentlich keine Straßenmusik – er bietet aber die Infrastruktur, über die alle, die sich trauen, für einige Minuten zu so etwas wie Straßenmusikern werden können. Denn Joe baut seit dem Frühjahr 2009 an fast jedem Sonntag zwischen März und September seine Karaoke-Anlage auf der Bühne des Amphitheaters im Mauerpark auf. Auch auf dem Alexanderplatz, am Brandenburger Tor und zu einem Straßenfest an der Siegessäule war er schon, doch der Mauerpark ist für sein Projekt dauerhaft am besten geeignet. Hauptsächlich arbeitet der Ire als Fahrradkurier in der Stadt. Deshalb besitzt er ein Lastenfahrrad, auf dem er die komplette Ausrüstung transportiert. Das Rad steht unter einem Sonnenschirm in der Mitte der zur Schwedter Straße hin offenen Parkbühne. Hier befindet sich neben einigen Getränkekisten und den Autobatterien zur Stromversorgung das Herzstück der Karaoke-Anlage: ein Laptop-Computer, auf dem mehrere Tausend Songs aus der Rock-, Pop- und Jazzgeschichte gespeichert sind – jeweils ohne Gesangsspur. Denn dieser Part wird von mutigen Freiwilligen übernommen. Die Aufnahmen werden mit der über ein Mikrofon live gesungenen Stimme gemischt und von zwei riesigen hölzernen Lautsprecherbo-
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xen mit hoher Lautstärke in Richtung Publikum wiedergegeben. Die Show beginnt normalerweise gegen 14 Uhr und dauert vier bis fünf Stunden. Schätzungsweise bis zu 1500 Menschen sammeln sich sonntags bei gutem Wetter auf den steinernen Stufen des Amphitheaters und hinter der Bühne auf der Schwedter Straße. Joe nennt sie eine »very supportive crowd«, die jubelnd mit den Sängern mitgeht, die Refrains mitsingt und tosenden Applaus spendet. »Sometimes they really go crazy«, sagt er anerkennend.
Abbildung 47: Joes Bearpit Karaoke (Joe hockend) im Mauerpark am 15.08.2010
Er selbst übernimmt während der Show, die er Bearpit Karaoke nennt, die Rolle des Moderators, stellt die Leute kurz vor, die bei ihm auftreten. Dann drückt er den Sängern das Mikrofon in die Hand, startet die Musik und überlässt ihnen die Bühne. Dabei bleibt er stets in ihrem Blickfeld, falls nötig feuert er sie an oder gibt Tipps. Der Karaoke-Fan will jeden ermuntern, es einmal auszuprobieren. Gerne singt er auch selbst mal einen Song, macht zwischendurch Werbung für sich und die Sponsoren und mahnt am Ende alle, ihren Abfall mitzunehmen. Wer immer den Drang verspürt – sei es als Mutprobe oder aus Passion – reicht Joe einen handgeschriebenen Zettel mit seinem Wunschlied. Die Zettel werden der Reihe nach abgearbeitet. Falls das gewünschte Stück nicht in der umfangreichen Sammlung enthalten sein sollte, schlägt der Ire Alternativen vor oder versucht, den Song bis zur nächsten Woche zu besorgen. Es gibt auch Stammgäste wie den 58-jährigen Detlef, der jede Woche auftaucht und seine eigene Version des Klassikers »My Way« von Frank Sinatra inbrünstig darbietet. Unter dem Beifall der Menge singt er den deutschen Text von Hermann Prey mit einigen Änderungen, denn sein Anliegen ist es, die Menschen zum Glauben an Jesus zu bekehren. Früher hat Joe eine Zeitlang selbst Straßenmusik gemacht, weiß also, wie es ist, vor einem zufälligen Publikum in der Öffentlichkeit aufzutreten. Seit sechs Jahren
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lebt er in Berlin. Sein Karaoke-Projekt hat der 36-Jährige aus Neugierde gestartet, wie die Leute auf ein solches Angebot reagieren würden, »to have a good time« und um der Sache Willen, »for its own sake«. Er sieht darin einen Versuch »to get strangers to do something unexpected«. Geld verdient er mit der wöchentlichen Aktion nicht direkt, er sammelt weder für sich noch für die Menschen, die bei ihm auftreten, Spenden. Doch an seinem Cargobike hängt zur Tribüne hin ein Transparent, das nicht nur auf die Sponsoren der Musikanlage und des Rades hinweist, sondern auch darauf, dass man ihn samt Anlage für Veranstaltungen buchen kann. Auf Partys und Hochzeiten ist Joe ein gerngesehener Gast, auch für die Lange Nacht der Museen oder große Weihnachtsfeiern wurde er schon engagiert. Dass das Konzept des Animateurs aufgeht, zeigen nicht nur die immensen Besucherzahlen, sondern auch das Interesse von Journalisten und Fernsehteams, die Zeitungsartikel und Beiträge über die Bearpit-Karaoke-Show veröffentlichen. Diese Publicity ist dem Veranstalter natürlich willkommen. Mittlerweile wird das Open-Air-Event sogar in einigen Reiseführern erwähnt. Gleichzeitig gibt es aus verschiedenen bürokratischen Gründen zunehmend Vorbehalte des Ordnungsamtes dagegen.
4.1.46 Joe – Gitarre Hauptinstrument: Alter: Herkunft: In Berlin:
Westerngitarre, verstärkt 28 Colorado, USA seit sechs Jahren
»Joe […] ist so eine Art Gott auf der akustischen Gitarre«, schrieb die taz Berlin in einem Veranstaltungstipp in ihrer Online-Ausgabe am 26.05.2011.357 Der 28-Jährige hat vor acht Jahren angefangen, sich selbst das Gitarrenspielen beizubringen, und sich dabei eine ganz eigene Spieltechnik erarbeitet. Sein Stil ist geprägt durch die Nutzung perkussiver Effekte, die er mit beiden Händen auf verschiedenen Teilen des Korpus sowie auf den Saiten erzeugt. Mittels Techniken wie Slapping, Tapping, Hammering-On oder Pulling-Off erzielt er ungewohnte und überraschende Klänge. Die vielen Flageolett-Töne, die dabei entstehen, geben seiner Musik einen sphärischen, leichten Charakter. Oft gebraucht der Gitarrist beide Hände direkt zur Tonerzeugung auf dem Griffbrett.358 In vielen seiner rein instrumentalen Kompositionen verwendet er alternative und offene Saitenstimmungen. Außerdem spielt er Saxophon. Musikalische Vorbilder für ihn waren Musiker wie John Coltrane, Charles Mingus, Michael Hedges und B. B. King. Seine Spieltechnik macht eine Verstärkung nötig, und so hat Joe einen Reisetrolley dabei, auf den eine Verstärkerbox gebunden ist, die von einer im Koffer befindlichen Autobatterie mit Strom versorgt wird. Auf diese Weise ist er mit seiner Ausrüstung mobil. Als ich den Musiker sonntags am Boxhagener Platz antreffe, steht ein handgeschriebenes Schild vor ihm und weist auf die danebenstehende CD hin. Seine geöffnete Gitarrentasche liegt auf dem Gehweg als Spendengefäß. Mit seiner Musik
357 Vgl. taz 2011. 358 Vgl. Abbildung 48.
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findet er viele interessierte Zuhörer unter den Besuchern des Trödelmarktes, an dessen Rand er steht.
Abbildung 48: Joe am Boxhagener Platz am 15.08.2010
Der US-Amerikaner aus Colorado wohnt seit sechs Jahren in Berlin und lebt von Konzerten solo und mit seiner Band sowie anderen musikalischen Tätigkeiten und arbeitet als Tontechniker. Zusätzlich macht er gerne Straßenmusik, weil das Geld derzeit nicht ausreicht. Von Mai bis September spielt er an drei Abenden pro Woche für jeweils zwei bis drei Stunden im Freien, solange es noch hell ist. Er hat dieses Jahr damit begonnen und will nur weitermachen, bis er es finanziell nicht mehr nötig hat. Am liebsten spielt Joe auf der Admiralbrücke, vor den Cafés und Restaurants an den Ufern des Landwehrkanals in »Kreuzkölln« (der Kanal trennt Kreuzberg von Neukölln), also am Plan-, Fraenkel-, Paul-Lincke- und Maybachufer, sowie gelegentlich sonntagmittags am Boxhagener Platz. Unten in den U-Bahnhöfen oder in Zügen hat er keine Lust zu musizieren. Insgesamt kann er auf ein Repertoire von ca. zwölf selbstgeschriebenen Stücken oder eineinhalb Stunden Dauer zurückgreifen. Wenn der Gitarrist von Café zu Café zieht, spielt er jeweils drei bis vier seiner Kompositionen und zieht dann weiter. Dabei wählt er für die Lokale ruhigere Lieder, während er an Orten mit stärker fluktuierendem Publikum auch bewegtere Sachen spielt. Seinen avantgardistischen Stil nennt er Post Folk und hebt sich nach eigenem Ermessen durch anspruchsvolle Stücke und sein eher technisches Gitarrenspiel von anderen
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Straßenmusikern ab. Das Publikum, dem er bei der Straßenmusik begegnet, stellt für den Amerikaner eine größere Herausforderung dar als das auf Konzerten: »Die Leute sind nicht unbedingt da, um dich zu sehen. Du musst sie überzeugen.« Er sucht beim Spielen den Blickkontakt und führt gerne kurze Gespräche mit Interessierten, die ihn ansprechen. Viele Zuhörer kommentieren seine ungewöhnliche Spielweise und kaufen seine CDs, die er anbietet. Diese zusätzlichen Einnahmen machen einen wesentlichen Teil von Joes Einnahmen beim Musizieren auf der Straße aus. Neben einer lohnenden Geldquelle stellt Straßenmusik für ihn eine gute Möglichkeit zum Üben dar. Ansonsten probt er ca. viermal wöchentlich jeweils vier Stunden lang zu Hause. Auch die positiven Reaktionen des Publikums motivieren ihn.
4.1.47 Johanna – Gitarre, Gesang Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Westerngitarre und Gesang (deutsch), verstärkt 28 Reutlingen, Deutschland seit 2006
Für Johanna ist der Mauerpark ein »freier, geschützter Raum« zum Musizieren. Sie nennt ihn »ein Paradies«. Die 28-Jährige hat bereits im Alter von ungefähr 14 Jahren begonnen, Straßenmusik zu machen, war dann lange Zeit gar nicht aktiv und ist es »jetzt sehr sporadisch«. Auch in ihrer Heimatstadt Reutlingen, in Zürich, Tübingen und Bonn hat sie schon auf der Straße musiziert. Seit 2006 lebt sie in Berlin. Wenn sie hier rausgeht, dann nur in den Mauerpark, weil das »ein toller Platz ist, eine Spielwiese«, schwärmt die junge Frau. »Gutes Wetter, Lust und Laune« nennt sie als Motive. Außerdem will sie mit Auftritten dort ihren Bekanntheitsgrad steigern. Diesen Sommer war sie allerdings nur einmal für eine gute Stunde dort. Beim zweiten Mal kamen Mitarbeiter des Ordnungsamtes und haben sie zum Aufhören genötigt. »Ich bin eigentlich keine Straßenmusikerin, lebe nicht davon«, sagt Johanna – und schiebt nach: »Zum Glück!« Sie macht gerne Straßenmusik zum Spaß, aber »ich möchte das nicht jeden Tag machen«. Die Gitarristin und Sängerin lebt vom Musikmachen, tourt allein oder mit Band durch Deutschland oder komponiert Musik für Theaterstücke. Ihre zweite Solo-CD ist in Arbeit. Sie hatte weder Gesangs- noch Gitarrenunterricht, hat sich alles im Wesentlichen selbst beigebracht. Später hat sie an der Popakademie in Mannheim Popmusikdesign studiert. Einflussreich war für sie die Musik der Beatles, von Nirvana, »alles, was rhythmisch ist« wie Motown, aber auch Klassik und nicht zuletzt deutsche Künstler wie Peter Fox und Udo Lindenberg. Johanna hat einen eigenen Stil mit Elementen aus Rock, Rhythmus, deutschem Liedgut und deutscher Popmusik entwickelt und käme weder auf der Straße noch auf der Bühne auf die Idee, Musik zu machen, die ihr selbst keine Freude bereitet. Im Mauerpark kann sie gut für ihre Bühnenshow üben, (neue) Sachen ausprobieren. In diesem Rahmen, sagt sie, müsse sie die Leute erstmal rankriegen: »Das befruchtet sich gegenseitig.« Gleichzeitig ist die Musikerin entspannter als auf der Bühne, weil sie die Auftritte auf der Straße eher als Freizeitbeschäftigung sieht. Sie ist zufrieden mit sich, »wenn die Konzentration da ist, ich sauber spiele und das Publikum aufmerksam ist«. Aus ihrem etwa eineinhalbstündigen Programm aus durchweg eigenen Kompositionen wählt sie spontan »Sachen, auf die ich gerade Bock
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habe«. Sie hat sich auf der Wiese zwischen Schwedter Straße und dem Flohmarkt aufgebaut: ein Mikrofonstativ, an dessen Fuß einige CDs lehnen, und ein cajón, auf dem ein Verstärker für Gesang und Gitarre steht. Ihr Gitarrenkabel ist lang genug, so dass sie sich auch weiter vom Mikrofon wegbewegen und den freien Raum vor sich nutzen kann, um die Distanz zu ihren Zuhörern zu verringern. Johanna ist nicht der Typ Sängerin, der regungslos seine Texte ins Mikrofon flüstert. Sie schreit auch mal, möchte die Leute gerne zum Tanzen bewegen und will »was Rohes, Wildes in den Menschen wecken, dass sie den Stock in ihrem Hintern vergessen.« Dabei arbeitet sie bewusst mit Kontrasten, um ihr Publikum zu überraschen, beispielsweise mit leisen und lauten Passagen oder rhythmischen Stücken. Es gibt Mitmachparts in den Songs, und zwischen den Liedern spricht sie die Zuhörer direkt an. »So bewege ich die Menschen, erreiche sie. Das Publikum hat einen Anspruch darauf, überrascht zu werden.« Wenn sich die Leute freuen, mitsingen, »ausflippen«, tanzen und mehr wollen, weiß die Gitarristin, dass ihr Konzept aufgeht. Bisweilen ärgert sie sich über »Verrückte und Besoffene – die sind auf der Straße immer sofort da«.
Abbildung 49: Johanna im Mauerpark am 10.08.2010
Im Mauerpark findet sich rasch eine größere Menschenmenge, die Johannas Liedern lauscht. Die meisten Leute setzen sich ins Gras, applaudieren und lassen sich zum Mitsingen animieren. Zwischen den Stücken kaufen manche eine CD. Einen Hut oder Gitarrenkoffer für Spenden gibt es nicht. Johanna macht Straßenmusik nicht, um damit Geld zu verdienen.
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4.1.48 Jordan – Altsaxophon Hauptinstrument: Alter: Herkunft: In Berlin:
Altsaxophon 38 Bacău, Rumänien für zwei Monate
Jordan sitzt mit seinem Saxophon auf einer Parkbank zwischen Neptunbrunnen und Marienkirche, mit etwas Abstand liegt der aufgeklappte Instrumentenkoffer vor ihm auf dem Pflaster. Ab und zu wirft einer der wenigen Passanten eine Münze hinein, während der Rumäne die Themen bekannter Jazzstandards spielt und über die Harmonien improvisiert. Er nickt dann zum Dank und lächelt. Er kommt vom klassischen Jazz. In seiner Heimatstadt Bacău hat Jordan eine feste Band, mit der er zu verschiedenen Anlässen wie Hochzeiten auftritt. Über den Sommer ist er für zwei Monate in Berlin und macht Straßenmusik, weil er das Geld gut gebrauchen kann, das ihm die Leute spenden. Er betrachtet das als Arbeit und spielt täglich bis zu acht Stunden mit Unterbrechungen an verschiedenen Orten in der Innenstadt, z. B. auf dem Platz vor dem S-Bahnhof Hackescher Markt oder an der Warschauer Straße, oder er zieht etwa im Simon-Dach-Kiez von Café zu Café. Manchmal nimmt er statt des Saxophons sein Akkordeon mit.
Abbildung 50: Jordan zwischen Neptunbrunnen und St.-Marien-Kirche am 07.08.2010
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4.1.49 Keko – E-Gitarre, Mundharmonika, Gesang Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Elektrische Gitarre, Mundharmonika, Gesang (georgisch und russisch, unverstärkt) 26 Georgien seit zwei Monaten
Der junge Mann aus Georgien schlendert mit seiner E-Gitarre und einem kleinen batteriebetriebenen Verstärker im Rucksack durch die Innenstadt: über den Platz vor dem S-Bahnhof Hackescher Markt oder den Alexanderplatz und bleibt hier und da für eine Weile stehen. Er singt Rock- und Popsongs aus seiner Heimat und spielt dazu Gitarre und Mundharmonika, auch zwei eigene Lieder hat er im Programm. Keko wirkt freundlich, blickt den Menschen in die Augen und lächelt sie warmherzig an. Hält ihm jemand eine Münze hin, nimmt er sie mit der Hand und bedankt sich. Auch im Gespräch überwindet er die Sprachbarriere mit umso mehr Herzlichkeit. Seit zwei Monaten ist er in der Stadt, lebt bei Freunden oder campiert wild im Park und hat vor vier Wochen angefangen, seine Gitarre mitzunehmen, wenn er tagsüber und abends durch die Straßen streift. Vor zehn Jahren hat Keko zu spielen begonnen, ist Autodidakt. Er hat sie immer dabei, an zwei bis drei Tagen pro Woche ist er unterwegs und genießt es »just to be outside«. Warum er draußen Musik macht? »I love life, I love all people, everybody is my friend. I make music from my heart as a present to people. I want to give good feelings to people.« Und man glaubt es ihm. Nach seiner Botschaft an die Menschen gefragt, antwortet der Georgier: »Don’t forget God, think about God, believe.« Keko hat in Deutschland Asyl beantragt und würde gern in Berlin bleiben.
4.1.50 Kevin – Gitarre, Gesang Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Westerngitarre und Gesang (deutsch, englisch, französisch), unverstärkt 29 Berlin, Deutschland geboren
Wenn Kevin mit seiner Westerngitarre einen U-Bahnwagen betritt, schaut er sich kurz um und wirft einen »sehr genauen Blick ins Publikum, bevor ich zu spielen beginne«. Sind viele Touristen anwesend, spielt er »nichts Deutsches«. Er hat gelernt, den Musikgeschmack der Leute ad hoc abzuschätzen, zu »gucken, was geht«. »Jede Uhrzeit hat ihr spezielles Publikum«, stellt er fest. Zwischen zehn und fünfzehn Stücke umfasst sein aktives Repertoire, davon verwendet der Sänger und Gitarrist etwa sechs bis sieben an einem Tag. Es beinhaltet ungefähr im Verhältnis »50 zu 50 bekannte Sachen von Oasis oder den Beatles und unbekannte Sachen«. Bei letzteren handelt es sich um individuelle, »sehr eigene Coverversionen« von Punksongs, die er »auf akustisch interpretiert«. Größtenteils spiegelt Kevins Auswahl seinen eigenen Musikgeschmack wider, er sagt: »Ich finde meine Adaptionen geil«, zumal diese in seiner Darbietung oft sehr eingängig sind. Auch deutsche und französische Lieder hat er im Programm, letztere kommen vor allem bei Arabern gut an. Er legt großen Wert darauf, dass seine Gitarre stets gut gestimmt ist, wenn er auftritt. Sie hängt an einem
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Hanfseil um seine Schulter und ist am ganzen Korpus mit Aufklebern bedeckt. Der Musiker hat eine kräftige, sonore Stimme, mit der er schnell die Aufmerksamkeit der Fahrgäste auf sich zieht. Blickkontakt scheut er nicht, er bindet die Menschen in seine Performance ein, regt sie zum Mitmachen an: »Ich versuche, dass die Leute im Idealfall mitsingen, nehme die Impulse der Leute auf, mache Witze«, sagt er. Häufig funktioniert das, vor allem bei jüngeren Zuhörern. Wenn es gut läuft, singt oder klatscht der halbe Waggon die Refrains mit. »Der Maßstab für mich ist, wenn ich einen Applaus am Abend bekomme.« Auch »wenn die Leute mitgehen« oder ihm Komplimente machen, freut ihn das – und »wenn das eigene finanzielle Ziel ohne großen Aufwand übertroffen wird«. Kevin bleibt normalerweise für zwei Stationen, bevor er den Waggon wechselt, doch oft spielt er auch spontan Zugaben, so dass es schon einmal vier Stationen werden. Am Ende bedankt er sich, wünscht einen guten Abend und geht mit seiner Schirmmütze im Wagen die meist üppig fließenden Spenden sammeln. Negative Reaktionen erfährt er »eigentlich nur von Besoffenen oder Krawallmachern«. Allerdings ist der Künstler ständig auf der Hut vor dem Sicherheitspersonal auf den Bahnhöfen und in den Zügen. Dieses erlebt er regelmäßig als sehr unfreundlich, von Hausverboten bis zu Anzeigen ist ihm alles widerfahren. Dabei sagt er: »Die Polizei ist eigentlich immer okay drauf, die sind nie unfreundlich.« Gut versteht er sich hingegen mit dem Reinigungspersonal am Endbahnhof Warschauer Straße. Die Beschäftigten dort warnen ihn bisweilen vor den Sicherheitsleuten oder stecken ihm Tabakpäckchen zu, die Fahrgäste liegengelassen haben. Unter den Zugführern gebe es sowohl sehr aufgeschlossene als auch unfreundliche, berichtet er. »Zu 90 Prozent« ist Kevin auf der U-Bahnlinie U1 zwischen den Stationen Warschauer Straße und Nollendorfplatz unterwegs. »In der U-Bahn ist es am lukrativsten«, sagt er. Deshalb spielt er auch sonst nirgends mehr. Während eines Besuchs in Hamburg hat er mal auf der Reeperbahn Straßenmusik gemacht; dort gab es »nur Feierpublikum«, was »extrem lukrativ« war. Seit sechs Jahren spielt er in den Berliner U-Bahnen, meistens zwischen 17 und 20 Uhr, häufig auch später. Die Rushhour findet er doof, und an den Wochenenden ist es ihm abends oft zu voll, dann ist es ihm unangenehm zu spielen. Bis vor kurzem brauchte der junge Mann regelmäßig Geld, um seine Heroinsucht zu befriedigen. Dann war er fast täglich ca. drei Stunden unterwegs, allerdings »mit viel Herumtrödeln«. Doch seit einigen Wochen nimmt er an einem staatlichen Programm teil, bei dem er das Heroin unter ärztlicher Kontrolle erhält, so dass sich der Druck für ihn gelöst hat, Straßenmusik zu machen. Folglich spielt er zurzeit eher sporadisch und »nach Lust und Laune« in der U-Bahn. Es ist für ihn das Hauptmotiv, »Geld anders verdienen zu können als andere Menschen, nicht im Hamsterrad mitlaufen zu müssen und trotzdem Geld zu haben«. »Das ist Arbeit, die mir Spaß macht. Doch an manchen Tagen muss ich mich selbst an den Haaren in die U-Bahn ziehen.« Auch die »Rückmeldung und Bestätigung für das eigene Wirken« sind ihm wichtig und »so viel wie möglich Leute zu erreichen, die ich sonst nicht erreiche«. Der 29-jährige Berliner hat in der siebten Klasse die Grundlagen des Gitarrenspiels in einer Schul-AG gelernt und hat seine Fertigkeiten anschließend autodidaktisch weiterentwickelt. Daneben spielt er auch »etwas Klavier und E-Bass«. Der Musiklehrer aus der AG hat bei ihm bleibende Eindrücke hinterlassen, ansonsten sieht er sich beeinflusst von der Singer-Songwriter-Kultur und vom Punkrock. Sein Dasein
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als Straßenmusiker gefällt ihm, auch wenn er gerne einmal wieder in einer Band spielen würde, wie er sagt. Doch Straßenmusik will Kevin immer machen, »zumindest nebenbei«. Denn: »Die Gitarre ist mein Geldautomat zum Umhängen.« Im Gegensatz zu den Bands, in denen er früher gespielt hat, muss er bei der Straßenmusik keine Rücksicht auf Mitmusiker nehmen. Dafür fühlt es sich für ihn manchmal mehr nach Arbeit bzw. Broterwerb an als nach einem Hobby. Er übt nicht regelmäßig, sondern dann, wenn er ein neues Lied lernt oder arrangiert und zumeist eigentlich nur »on stage« in der U-Bahn, »bis es sitzt und klappt«. Bis vor eineinhalb Jahren hat er nur von der Straßenmusik gelebt, seitdem bezieht Kevin zusätzlich Hartz-IVUnterstützung. Gegenwärtig wohnt er bei → Jannis zur Untermiete. Zu anderen Straßenmusikern unterhält er eher sporadische Kontakte.
Abbildung 51: Kevin in der U-Bahnlinie U1 am 04.09.2011
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4.1.51 Kimanistar – Gitarre, Mundharmonika, Gesang Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Westerngitarre, Mundharmonika, Gesang (englisch), unverstärkt 38 New York City, USA seit drei Jahren
Auf der Stadtbahn zwischen Alexanderplatz und Friedrichstraße steigt Kimanistar mit seiner Westerngitarre zu. Manchmal nutzt der Afro-Amerikaner mit den langen schwarzen Dreadlocks (Filzlocken) zusätzlich eine Mundharmonika, die mit einem Schultergestell vor seinem Mund befestigt ist. Heute singt er seine Lieder nur zur Gitarrenbegleitung. Nachdem er ein Stück dargebracht und die Geldspenden der Fahrgäste mit der bloßen Hand eingesammelt hat, wechselt er alle ein bis zwei Stationen den Waggon oder den Zug. Der Musiker ist in erster Linie auf der Stadtbahn und in der Ringbahn unterwegs. Bis vor kurzem hat er dort vor allem Coverversionen bekannter Reggaesongs von Bob Marley gespielt, doch in letzter Zeit auf Eigenkompositionen umgestellt, von denen er einige in petto hat. Dazwischen wird viel improvisiert. Ihm ist es wichtig, authentisch zu wirken, »that I am me, that I tell my story which nobody else knows«. Seinen Stil bezeichnet der New Yorker als Afro Folk. Er liebt seine eigenen Stücke, in denen es um seine Geschichte, seine Perspektive und Meinung geht. Dadurch findet er nun auch wieder mehr Freude an der Straßenmusik, weil er sich nicht mehr dem Publikumsgeschmack anpasst. Dennoch sagt er: »Lately, I’ve been feeling to do something better. I wanna be famous and rich.« Und er hat das Gefühl: »I’m not growing anymore by doing that. I wanna move to another level as soon as possible.« Dazu unternimmt Kimanistar bereits ganz konkrete Schritte, hat ein Logo für sich entworfen, das er auf T-Shirts drucken lässt, ist dabei, eine CD aufzunehmen und arbeitet an seiner Internetpräsenz. Er denkt und handelt sehr unternehmerisch und zielgerichtet und sieht darin einen wesentlichen Unterschied zwischen Amerikanern und Deutschen. Letztere würden viel zu stark zweifeln und zu lange zögern, ehe sie etwas auf die Beine brächten, sagt er, während Amerikaner neue Ideen tendenziell mit großem Elan zügig umsetzten. Der Künstler hatte in der Vergangenheit bereits eine Band in Berlin, findet es aber schwierig, mit deutschen Musikern zusammenzuspielen, weil diese nicht das richtige »feeling« für seine Musik mitbringen. Bisher hat er daher des öfteren Solokonzerte in kleineren Berliner Clubs gegeben, doch sieht er darin momentan keine geeignete Möglichkeit, um aufzusteigen und bekannter zu werden. Das Gute an solchen Auftritten ist zwar, dass er vorher weiß, dass er bezahlt wird. Gleichzeitig erlebt er dabei aber nicht dieselbe Freiheit wie bei der Straßenmusik, das zu spielen, worauf er gerade Lust hat. Der gebürtige Amerikaner hat in seiner Heimatstadt New York bereits 1998 mit Straßenmusik begonnen sich durchzuschlagen. Seit drei Jahren lebt er mit einem Besuchervisum in Berlin, das er regelmäßig verlängert, und finanziert sich seinen Lebensunterhalt nach wie vor hauptsächlich durch die Straßenmusik und gelegentliche Clubauftritte. Auch in Frankfurt am Main hat er es schon probiert, sieht aber keine wesentlichen Unterschiede zwischen den drei Städten, was die Straßenmusik betrifft. Allerdings ist er aus New York nicht an einen derart rauhen Umgangston gewöhnt, wie er ihm speziell in Berlin entgegenschlägt. Die Leute hier reagierten generell viel eher gereizt und aggressiv, stellt er fest. Gelegentlich wird er auch rassistisch be-
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schimpft oder angeschrien. Doch die weitaus meisten Reaktionen der Fahrgäste auf den Sänger und Gitarristen sind positiv: sie klatschen, spenden und sprechen ihn freundlich auf seine Musik an. Und auch mit der Polizei oder dem Sicherheitspersonal der S-Bahn hatte er bisher keine ernsthaften Probleme. Zu anderen Musikern aus der S-Bahn hält er keinen Kontakt, kennt gleichwohl einige weitere Gitarristen sowie einen russischen Akkordeonisten namens Dmitri flüchtig.
Abbildung 52: Kimanistar in der S-Bahn359
Musik sollte Spaß machen, meint Kimanistar. Das gilt für sein Publikum wie für ihn selbst. Umso mehr, wenn man wie er das ganze Jahr über an sechs Tagen in der Woche für jeweils zwei bis fünf Stunden damit unterwegs ist – da kann er sich keine schlechte Laune und Unlust leisten. Deshalb bringt er sich vor seinen Auftritten zuerst bewusst selbst in die richtige Stimmung, um anschließend auf die Fahrgäste als Künstler überzeugend zu wirken. Überhaupt betrachtet er das Publikum als Teil seiner Performance, weshalb es auch unabdingbar ist, dieses in die Show mit einzubeziehen. Der Amerikaner sagt: »Art is communication, not expression«, und schlägt die Saiten seiner Gitarre extra hart an, damit die Leute ihn ansehen, und dazu singt er »really loud«. Seit 21 Jahren spielt er Gitarre, hatte anfangs einige Stunden und auch etwas Gesangsunterricht. Den Rest hat er sich selbst beigebracht, »learning by doing«, er hat sich vieles bei seinen Vorbildern wie Bob Marley, den Beatles, Tracy Chapman, Bob Dylan, Stevie Wonder, Jimi Hendrix, Sly Stone oder Ben Harper abgeschaut und hat dann beim Musizieren auf der Straße an seinen Fertigkeiten gearbeitet. Zusätzlich spielt er mittlerweile Keyboard und Bassgitarre. Auch heute übt der Künstler nicht zu Hause, sondern betrachtet vielmehr die Straßenmusik selbst als die beste Schule auch für die Bühne. Meistens bereitet es ihm Spaß, in der S-Bahn zu spielen. Nach einer Darbietung zu wissen, dass er sein Bestes gegeben und sich mit sich selbst und seiner Musik verbunden hat, hinterlässt bei ihm ein gutes Gefühl. 359 Quelle: Kimanistars Privatarchiv.
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Kimanistar heißt mit Vornamen eigentlich Ishmael Kimani. Für seinen Künstlernamen hat er seinen zweiten Vornamen einfach um das erweitert, was er gerne sein will: ein Star – reich und berühmt.
4.1.52 Konrad – E-Bass Hauptinstrument: Alter: Herkunft: In Berlin:
Elektrische Bassgitarre, verzerrt 52 Salzgitter, Deutschland seit zehn Jahren
Konrad sagt, er mache Straßenmusik vor allem, um sich kennenzulernen und zu spüren. Und er will dabei seine verpasste Jugend nachholen. Der Mann im Jeanslook trägt eine blickdichte Sonnenbrille und eine Art Cowboyhut mit an den Seiten hochgerollter Krempe. Im Schatten der Bäume spielt er auf seinem E-Bass eine Art Rock’n’Roll-Pattern, das jedoch weder rhythmisch noch harmonisch klar ist und monoton wirkt. Mit regloser Mine steht er beim Spielen fast bewegungslos da, es findet keine Interaktion zwischen ihm und den wenigen Passanten statt. Kaum jemand beachtet ihn, auf seiner Gitarrentasche bleiben die drei Münzen liegen, die er dort selbst hingelegt hat. Dabei sucht Konrad über die Straßenmusik Kontakt, will »Menschen kennenlernen, raus aus der Einsamkeit«. Darauf, dass etwa seine Sonnenbrille in diesem Zusammenhang hinderlich sein könnte, ist er bisher noch gar nicht gekommen. Im Interview zeigt er sich sehr offen und freut sich über das Gespräch. Vor zehn Jahren ist der 52-Jährige von Salzgitter nach Berlin gekommen und findet die Stadt immer noch »unpersönlich«. E-Bass und Mundharmonika hat er sich selbst beigebracht und übt täglich mindestens eine Stunde darauf. Vorbilder sieht er in den Musikern, die beim Woodstock-Festival 1969 aufgetreten sind. Er hat »früher mal mit Saufkumpanen« gelegentlich Musik gemacht, sonst hat er keine Erfahrungen im Zusammenspiel mit anderen. Straßenmusik macht Konrad seit zwei Jahren gern und will damit fortfahren, »solange ich kann«. Bisher hatte er dabei »eigentlich immer« Spaß, es war für ihn »bisher noch nie richtig scheiße«. Sein Traum ist es, »einmal ein Stadion zu rocken!« Ab und zu ergeben sich für ihn spontane Jamsessions mit anderen Straßenmusikern. Konrad lebt von Arbeitslosengeld, weniger von Straßenmusik, weil er dabei zu wenig Spenden erhält. Er mutmaßt, das Equipment auf der Straße sei allgemein schlechter als auf der Bühne, weil Straßenmusiker tendenziell arm seien. Er spielt in den Sommermonaten an bis zu vier Tagen pro Woche für jeweils zwei bis drei Stunden am Nachmittag im Freien. Meistens steht er in der Nähe des Alexanderplatzes abseits des Neptunbrunnens. Direkt vor der Marienkirche hat es mal Beschwerden gegeben, dort spielt er seitdem nicht mehr. Und vereinzelt haben ihm Passanten vorgeworfen: »Du spielst immer das gleiche!« Doch sonst erhält er zu »99,8 Prozent positives Feedback«, wenn die Leute grinsen, winken oder »mitwuppen«. Der Bassist benutzt eine Mini-Gitarren-Verstärkerbox und hat den integrierten Verzerrer-Effekt eingeschaltet, was beim Bassspielen ungewöhnlich ist. Seinen Stil verortet er zwischen Boogie-Woogie, Blues und Rock’n’Roll. Den Cowboyhut sieht er als sein Markenzeichen, ebenso, dass er keinen Reggae spielt wie so viele andere Straßenmusiker. Seine Musik ist »komplett improvisiert« und wird weder an die Zuhörer noch an den Ort angepasst: »Nein, ich mache nur mein Ding.«
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Abbildung 53: Konrad zwischen Neptunbrunnen und St.-Marien-Kirche am 16.07.2010
4.1.53 Konstantin – Gitarre Hauptinstrument: Alter: Herkunft: In Berlin:
Klassische Gitarre 53 Charkiw, Ukraine seit zehn Jahren
Konstantin sitzt auf einem Klapphocker stets etwas abseits der Tische, an denen die Besucher der Lokale sitzen, vor denen er spielt. Er möchte nicht aufdringlich wirken. Dabei hat der 53-jährige klassisch ausgebildete Gitarrist einiges zu bieten: Der gebürtige Ukrainer studierte sein Instrument zuerst an der Leningrader Musikhochschule und später am Konservatorium in Lwiw (Lemberg). Unterdessen begann er, seine eigene innovative Spieltechnik zu entwickeln, die es ihm durch die Zuhilfenahme des Daumens der linken Hand auf dem Griffbrett ermöglicht, ein deutlich erweitertes Repertoire für die klassische Gitarre zu erschließen. Er hat sich auf die Literatur Johann Sebastian Bachs spezialisiert und unter anderem das Wohltemperierte Klavier auf die Gitarre übertragen. Der Musiker ist in zahlreichen berühmten Konzertsälen nicht nur in Russland, sondern auch in Finnland, Österreich und der Schweiz aufgetreten, und es gibt viele Schallplatten- und CD-Aufnahmen, an denen er mitgewirkt hat. Auch heute gibt er Konzerte solo und im philharmonischen Rahmen, verfolgt diverse Projekte mit anderen Musikern. Musikalisch betrachtet macht die Straßenmusik
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für ihn keinen Unterschied zu Auftritten im konzertanten Kontext. Allerdings macht er sehr gern Straßenmusik, weil er darin mehr Freiheit findet, mit neuen Arrangements, offenen Stimmungen und anderen kreativen Einfällen zu experimentieren. Und sie bietet ihm neben einer verlässlichen Einnahmequelle Raum zum Proben seiner Stücke. Mindestens zwei bis drei Stunden am Tag übt Konstantin zusätzlich zu Hause. Mittags und in den Abendstunden sucht er dann fast täglich Cafés auf, in und vor denen er den Gästen seine Bach-Arrangements, russische, italienische, spanische, brasilianische Gitarrenstücke und Eigenkompositionen darbietet. Dazu verwendet er verschiedene Gitarren, die teils extra für ihn angefertigt wurden, sowie eigene Stimmungen. Sein Repertoire ist zwar klassisch geprägt, doch finden sich darin durchaus auch Stücke aus Jazz, Swing und Bossa Nova, die er gerne mag. Die bevorzugten Gegenden des Musikers sind die Kieze in Schöneberg zwischen Crelle-, Akazien und Goltzstraße und Winterfeldtplatz sowie in Kreuzberg zwischen Südstern, Körtestraße, Dieffenbachstraße und Paul-Lincke-Ufer. Auch in anderen Städten in Deutschland, Spanien, Frankreich, der Schweiz und sogar Marokko hat er Straßenmusik gemacht und lobt Berlin ob seiner Toleranz und der großen Zahl von Cafés, die seinen Ansprüchen sehr entgegenkommt. Er meidet hingegen U-Bahnhöfe, große Plätze oder die Szenekieze im Friedrichshain und im Prenzlauer Berg – dort ist es ihm zu unruhig für seine Musik. Im Prinzip spielt er bei einer Tour das gleiche Programm wieder und wieder, geht aber auch auf die örtlichen Gegebenheiten ein. Vor spanischen Lokalen etwa wählt er entsprechend Werke spanischer Komponisten oder Flamenco-Stücke.
Abbildung 54: Konstantin in der Crellestraße am 17.08.2011
Konstantin wohnt seit etwa zehn Jahren in Berlin und hat ein Arbeitsvisum. Er lebt von dem Geld, das er beim Musizieren auf der Straße und bei anderen Gelegenheiten verdient. Mit Straßenmusik hat er bereits während eines früheren Berlinaufenthaltes
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1997 begonnen. Der Gitarrist steht zwar im lockeren Kontakt mit vielen anderen Straßenmusikern, vor allem in Kreuzberg, unterhält aber keine engeren Beziehungen etwa zu anderen russischen Musikern. Beim Spielen wirkt er entspannt und professionell. Zwischen den Stücken oder anschließend beim Einsammeln der Spenden lässt er sich gerne auf Gespräche ein oder geht auf Nachfragen ein. Er spricht fließend deutsch. Ansonsten nimmt der Ukrainer keinen Kontakt zu den Cafébesuchern auf, weil er sich nicht in den Vordergrund spielen mag. Die Leute wiederum wissen seine unaufdringliche Art zu schätzen und honorieren Konstantins Auftritte mit üppigen Spenden. Nur vereinzelt hat er negative Erfahrungen mit unfreundlichen Bedienungen gemacht, die ihn schlecht behandelt oder weggeschickt haben.
4.1.54 Lama Gelek – Buddhistisches Friedensgebet Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Buddhistisches Friedensgebet, dazu Rahmentrommel 47 Lhasa, Tibet seit 14 Jahren
Der Tibeter Tschaglung Tulku Ngawang Gelek lebte als Mönch und Lama in einem buddhistischen Kloster im indischen Exil, bis er sich in eine reisende Deutsche verliebte. Um sie zu heiraten und mit ihr nach Europa zu gehen, nahm er sein Mönchsgelübde zurück. Er hat eine Tochter mit der Frau und durch die Heirat die deutsche Staatsbürgerschaft erlangt. Es gibt einen preisgekrönten Dokumentarfilm über seine Lebensgeschichte.360 Seit 14 Jahren lebt Lama Gelek in Berlin, und ebenso lange geht er hier auf die Straße, um sein traditionelles buddhistisches Friedensgebet mit den Menschen zu teilen. Die ersten Jahre saß er an der Gedächtniskirche, doch seit elf Jahren ist er regelmäßig in der Fußgängerzone in der Wilmersdorfer Straße anzutreffen. Während er früher täglich auf der Straße war, geht er nun einer festen Arbeit nach und betreibt das Friedensgebet quasi als »Hobby« weiter, normalerweise samstags von 12 bis 18 Uhr. Die Spenden, die in seiner metallenen Opferschale landen, leitet er von jeher an Hilfeprojekte weiter. Daneben ist Ngawang Gelek als Musiker in diversen Projekten aktiv, gibt Konzerte in unterschiedlicher Besetzung, macht Aufnahmen und geht auf Tourneen. Teils tritt er solo auf, teils mit Begleitung. Er spielt unter anderem traditionelle tibetische Instrumente wie die damyan, eine Halslaute, und beherrscht die Kunst des Obertongesangs. Der Tibeter mit deutschem Pass sitzt stets vor der Karstadt-Filiale an der Ecke Pestalozzistraße auf seinem Klappstuhl. Seine in Rot und Orange gehaltene Kleidung erinnert in Stil und Farbe an die traditionelle Tracht buddhistischer Mönche. Vor ihm steht eine einfache Rahmentrommel, die am Metallgestell eines Einkaufstrolleys befestigt ist. Mit einem Schlegel in der rechten Hand schlägt er die Trommel, und in der linken hält er die ebenfalls für buddhistische Mönche typische Mala, eine Gebetskette mit 108 Perlen. Dazu spricht er das Friedensgebet in einer Art Sprechgesang. Er selbst würde das, was er tut, nicht als Straßenmusik bezeichnen. Er betet. Zum »Repertoire« des ehemaligen Mönchs gehört außerdem noch das persönliche Gespräch, das er mit den Passanten sucht. Er ist nicht aufdringlich, er wartet, bis er an-
360 Jenseits von Tibet, Buch und Regie: Solveig Klaßen. Deutschland 2000.
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gesprochen wird. Und das geschieht häufig, während der Lama betet und die Menschen dabei freundlich und verschmitzt anblickt. Wenn jemand zu ihm kommt und ihn anspricht, unterbricht er sein Gebet zur Begrüßung oder für eine Unterhaltung. Die Anwohner kennen Gelek, und er kennt sie. Viele suchen ihn regelmäßig zu einem kurzen Gespräch auf, kommen mit ihren Problemen zu ihm. Er heitert sie auf, macht Späße, lacht herzlich mit ihnen und hilft, ihren Blick von der Vergangenheit zu lösen, damit sie in die Zukunft blicken können. Ein Ende dieser Tätigkeit kann er sich nicht vorstellen361, dazu bereitet sie ihm zu viel Freude: »Ganz viele Leute lieben mich, und ich liebe diese Menschen. Es ist schön, diese schönen Menschen zu sehen«, sagt er und lächelt dabei.
Abbildung 55: Lama Gelek vor der Karstadt-Filiale in der Wilmersdorfer Straße am 31.07.2010
4.1.55 Leigh – Gitarre, Mundharmonika Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Westerngitarre (12-saitig), Mundharmonika 33 Manchester, Großbritannien seit vier Jahren
Leigh kommt aus einer musikalischen Familie in Manchester und hat sich weitgehend selbst das Klavier-, E-Bass- und Gitarrenspielen beigebracht. Auf der Gitarre hat er seine ganz eigene Technik entwickelt, zu der unter anderem das Spielen mit beiden Händen auf dem Griffbrett und die vielseitige Nutzung von Flageoletttönen gehört. Seit er vor vier Jahren nach Berlin gezogen ist, hat der Engländer auch mit dem Songschreiben begonnen – und mit der Straßenmusik: »I just couldn’t stand not 361 Anm. d. Verfassers: Auch im Sommer 2015 sah ich Lama Gelek weiterhin regelmäßig in der Wilmersdorfer Straße beim Gebet.
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playing in Berlin.« Auf die Frage, wer oder was seine Musik beeinflusst habe, antwortet er: »People who did things no one ever did before; pure vibes and core elements; big things that come from a root.« Für ihn ist Straßenmusik in erster Linie ein Vehikel zum Üben und »testing out my stuff on people«. »I practice in public. That’s the reason why I enjoy it. You have to practice every day.« Das Geld, das ihm die Leute dabei spenden, sieht der Gitarrist als Nebenprodukt, als ein Hilfsmittel zum Überleben: »People pay me to practice.« Dabei ist ihm seine Integrität als Künstler essentiell wichtig: »I play for the music, not for the money.« Er ist auch schon an verschiedenen Orten in Kroatien, England, Schottland und in den USA im öffentlichen Raum aufgetreten und resümiert: »The people in Berlin have an understanding for basic needs. They are very giving, more than the British or Americans. People here have a good ear for quality and they are not embarrassed to give.« Er sieht bei den Berlinern ein gesundes Verhältnis zum Geld. Wovon er seinen Lebensunterhalt bestreitet? »I play. It’s only survival, though.« Gelegentlich gibt er Gitarren- oder Englischstunden und wirkt in einer unabhängigen Theatergruppe mit. Wenn Leigh Straßenmusik macht, dann sucht er sich mit seiner 12-saitigen Westerngitarre ruhige Orte, an denen er keine Verstärkung benötigt und eine entspannte Atmosphäre vorfindet. Gerne ist er in Charlottenburg rund um die Bleibtreustraße oder in Kreuzberg am Chamisso- und Marheinekeplatz unterwegs – »not where the others play«. Gleichwohl meidet er die U-Bahn und andere laute Plätze, »where the staff sees me as a beggar«, denn der Krach dort zerstört ihm die Performance. Er nimmt vor Cafés und Restaurants Platz und bleibt dort jeweils ein bis zwei Stunden lang sitzen, bevor er weiterzieht. Wenn es das Wetter erlaubt, macht der 33-Jährige auf diese Weise täglich sechs bis zwölf Stunden Musik. Der Rahmen ist ihm dabei unwichtig, er sagt: »I play all my life in any situation. Busking is just the way to play every day. I enjoy playing my instrument. Busking is just the word for playing on the street. I enjoy playing for people, giving them an atmosphere.« Mit seiner Gitarre und manchmal zusätzlich mit einer Mundharmonika, die dann an einem Gestell vor seinem Gesicht befestigt ist, spielt der Künstler ausschließlich Eigenkompositionen, »all improvised within a structure; I never play the same twice«. Anderer Leute Musik wiederzugeben findet er langweilig, baut allerdings gerne Zitate etwa von Jimi Hendrix in seine Stücke ein. Er steht der Straßenmusik neutral gegenüber und meint: »For everything there’s a time. It’s not only my decision. The rest will come in time.« Wie lange er noch weitermachen will? »Not forever ’cause the body finds it hard. I just do it as I do it. I choose to play where I can reach more people.« Während er spielt, wirkt der Gitarrist völlig in sich gekehrt und in seine Musik versunken. Er sagt über sich selbst: »I’m just here and play. There’s zero visible but constant silent interaction. I provide an atmosphere and talk to people afterwards.« Und tatsächlich kreiert er durch sein filigranes Spiel und die vielen Obertöne und feinen Schwebungen der 12-saitigen Gitarre einen leichten Klangteppich, der eine erholsame Stimmung verbreitet. Er möchte den Menschen mit seiner Musik inneren Frieden und Entspannung schenken und »heal people from the pain of the day«. Dazu lässt er sich bei jeder einzelnen Note voll und ganz auf den Moment ein, »if I’m aware enough«, und verändert in konstantem Fluss die Dynamik seines Spiels. Es wäre ihm unmöglich, etwas zu spielen, was nicht seinem akuten Gemütszustand entspringt und seiner Verbindung mit sich selbst und dem Außen entspricht: »It’s about what my ears find harmonic. It’s my vision of harmony on this planet.« Seinen Mu-
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sikstil nennt er Symphonic Blues, wobei auch Blues für ihn weniger eine musikalische Struktur darstellt als vielmehr ein Gefühl. Auf der Straße, sagt Leigh, sei es seine Aufgabe, die Leute für seine Musik zu öffnen, »to make them care«, während sie zu einem Konzert bereits offen erschienen. Die geringe Aufmerksamkeit und das große Maß an Ablenkung in den Cafés erhöht seine Konzentration und hilft ihm, sich auf seine Musik zu fokussieren. Im Gegenzug erfährt von den Menschen »everything from veneration to ignorance«. Manche seien neidisch, bedauert er: »They think you’re a lazy bum, think you’re a beggar. They want to see me so and don’t want to recognise me as an artist.« Andere Straßenmusiker kennt Leigh nur vom Sehen, er nennt es »impersonal relationships«, weil er es schwierig findet, mit Leuten Musik zu machen, die das Geld unbedingt brauchen. Sein Gitarrenkoffer befindet sich mehr hinter als vor ihm, wenn er spielt. Die Spenden, die reichlich darin landen, sind Nebensache. Dem Künstler ist es wichtiger, dass die Leute bei ihm sind und er sich mit seiner musikalischen Äußerung angenommen fühlt: »It makes me feel good to perform. I’m satisfied if I feel I played well.« Vollkommen fühlt sich seine Musik für ihn hingegen nie an: »It never is. I would go out there if I had the perfect piece of music.«
Abbildung 56: Leigh vor einem Café am Marheinekeplatz am 22.08.2011
4.1.56 Leo und Nico – Schlagzeug, E-Gitarre Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Leo: Schlagzeug; Nico: elektrische Gitarre 16, 17 Berlin, Deutschland zu Hause
Leo und Nico stehen seit gestern gemeinsam musizierend auf der Straße, jeder für sich blickt aber auf ca. zwei Jahre Straßenmusikerfahrung zurück. Leo spielt Schlag-
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zeug und beschränkt sich auf der Straße auf eine Snare-Drum und ein Stand-Tom. Nico spielt auf seiner elektrischen Gitarre und nutzt dabei einen batteriebetriebenen Kleinverstärker. Sie haben sich am Rande des Gehwegs vor der Mauer des Bahnviadukts plaziert. Ein auffällig silbrig-glitzernder Hut steht vor ihnen für Spenden bereit. Der Ort hat verhältnismäßig wenig Laufpublikum, doch das stört Leo und Nico nicht. Ab und zu bleibt jemand stehen, und manchmal ergibt sich zwischen den Stücken ein interessantes Gespräch. Die beiden jungen Berliner haben fünf Eigenkompositionen einstudiert, die sie auf diesem Wege einem breiteren Publikum vorstellen wollen. Raum für Improvisation bleibt dabei immer. Ihren Stil nennen sie »Alternative Indie/Pop«. Sie legen Wert darauf, sich mit ihrer Musik »keineswegs« an das jeweilige Publikum anzupassen, sondern am Eigenen festzuhalten und damit »gegen den Strom« zu schwimmen. Dabei treibt sie ihre Liebe zur Musik an sowie das Bedürfnis nach Kontakt zum Publikum. Dieses wollen sie gerne zum Nachdenken anregen und ihm eine »Befreiung aus dem Alltagstrott« bieten. Sie gehen mit einem guten »Bauchgefühl« nach Hause, wenn sich viel Kontakt etwa in Gesprächen oder Flirts ergeben hat und sie mit ihrer Musik auf Zuspruch und Anerkennung gestoßen sind.
Abbildung 57: Leo und Nico unter dem Bahn-Viadukt am S-Bhf. Hackescher Markt am 18.07.2010
Nico und Leo haben früher die Musikschule besucht und orientieren sich musikalisch an Musikern wie Tom York oder der »Hamburger Schule« mit Bands wie Tocotronic oder Tomte. Jeder der beiden hat eine eigene Band, und obwohl sie sehr gerne Straßenmusik machen, würden sie sich über »Clubgigs« und offizielle Konzerte und Veranstaltungen freuen. Straßenmusik zeichnet sich in ihren Augen durch mehr Lampenfieber durch den direkteren Publikumskontakt sowie größere Spontaneität aus, als sie die Konzertsituation erlaubt. Mit anderen Straßenmusikern stehen sie nicht in Kontakt. Sie leben noch bei ihren Eltern, Leo bessert sich sein Taschengeld
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außerdem durch Schlagzeugunterricht auf. Zusammen proben sie nur sporadisch, jeder für sich übt aber bis zu zwei Stunden am Tag auf seinem Instrument. Straßenmusik machen beide, wenn es ihnen in den Sinn kommt und sie Freizeit haben, vor allem während der Schulferien. Leo hat auch schon in Warschau im Freien musiziert, mag Berlin aber lieber, weil hier die Aufmerksamkeit und Offenheit der Passanten größer ist und es auch mehr Anerkennung und damit Geld gibt.
4.1.57 Les Jacky Parmentier – Blaskapelle Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Schlagzeug (2x), Trompete (3x), Posaune (3x), Tuba (3x), Sousaphon, Gesang (englisch, französisch) 21-24 Versailles, Frankreich für eine Woche
Großes Aufsehen erregt eine zwölfköpfige Blaskapelle, die in einheitlicher Bekleidung aus weißen Oberteilen und größtenteils hellgrünen kurzen Hosen bzw. Röcken auf der Fläche zwischen dem Bahnhof Alexanderplatz und dem Fernsehturm an der Gontard-, Ecke Rathausstraße auftritt. Eine große Menschenmenge verfolgt das Spektakel. Besonders der Frontmann Sebastian, der mit seinem weiß lackierten Sousaphon den Takt angibt, zwischen Musikern und Publikum hin und her stapft und die Umstehenden dabei auch noch mit witzigen Gesten und Einwürfen zum Mitsingen, Klatschen und Tanzen animiert, trägt wesentlich zur guten Stimmung bei. Die Besetzung ist üppig: Neben dem Sousaphon sorgen je drei Trompeten, Posaunen und Tuben, dazu eine Basstrommel und ein Schlagzeug aus Snare-Drum und zwei Becken für einen nicht unerheblichen Lautstärkepegel. Vor der Gruppe, die sich im Halbkreis um die Schlagzeugerin aufgestellt hat, liegt ein geöffneter Posaunenkoffer, in dem ein Tennisschläger liegt und der sich schnell mit Münzen und Geldscheinen füllt. Die Bläser, vor allem die Posaunisten, bewegen sich stark im Rhythmus der Musik. Bisweilen setzen einzelne von den Bläsergruppen oder auch alle zusammen passagenweise aus und singen dann zur reinen Schlagzeugbegleitung die Refrains oder Schlüssel-Textstellen zu den selbst arrangierten Rock- und Popsongs wie »Another Brick in The Wall« von Pink Floyd oder »Mambo No. 5« von Lou Bega. Auch Filmmusik wie das »Pink Panther Theme« aus der gleichnamigen Reihe gehört zum Programm. Bei Les Jacky Parmentier handelt es sich um eine traditionelle Fanfare, wie es sie in Frankreich an zahlreichen Hochschulen gibt. Diese Studenten-Blaskapellen werden jahrgangsweise gegründet und musizieren zu Hochschulfeierlichkeiten, aber auch bei vielen anderen Gelegenheiten. Die Mitglieder lernen oftmals erst für die Fanfare ihre Instrumente spielen. Auch bei Les Jacky Parmentier hat nur etwa die Hälfte der Beteiligten schon vorher selbst Musik gemacht. Die Studenten im Alter zwischen 21 und 24 Jahren besuchen die Architekturhochschule in Versailles und verbringen ihre Sommerferien gemeinsam reisend. In Berlin ist die Gruppe für eine Woche zu Besuch und tritt täglich etwa zwei Stunden lang öffentlich auf. Der gemeinsame Spaß und die Publikumserfahrung stehen dabei an erster Stelle, außerdem erspielen die Zwölf sich so einen Teil ihrer Reise- und Verpflegungskosten. Sie haben in Berlin schon unterschiedliche Orte ausprobiert wie den Mauerpark oder die
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Gegend am Hackeschen Markt, sind in Kreuzberg vom Oranien-, über Heinrich- und Spreewaldplatz zum Görlitzer Park gezogen und wurden lediglich am Alexanderplatz freundlich vom Ordnungsamt aufgefordert, weiterzugehen. In Paris seien die Sitten rauher, berichtet der Posaunist David. Dort komme es häufiger vor, dass Leute die Polizei riefen. Im Vergleich findet er es in Berlin einfacher, Straßenmusik zu machen, weil hier die Toleranz sowohl bei der Polizei als auch in der Bevölkerung höher ist als daheim. Außerdem hat er beobachtet, dass das Berliner Publikum gemischter ist, aus jungen wie alten Menschen, Punks wie Familien besteht. Die Formation existiert bereits seit drei Jahren und macht besonders an den Wochenenden und in den Ferien Straßenmusik, zumeist in Paris. Von dem Geld, das sie einnehmen, gönnen sie sich nach den Proben ein gemeinsames Essen, veranstalten Partys oder investieren in neue Instrumente. Das Musizieren und die Show stellen dabei einen willkommenen Kontrast zum Studium dar. Geprobt wird in der Regel einmal wöchentlich, bei Auftritten wird generell ohne Noten auswendig gespielt. Das etwa einstündige Repertoire besteht aus ca. 12 Stücken, die nicht jedem der Mitglieder gefallen müssen. Die Auswahl erfolgt per Mehrheitsentscheid, zwei bis drei musikalisch Versierte übernehmen dann die Arrangements. Den Stil bezeichnet David als Fanfare Brass Pop. Die musikalische Referenz bilden andere Fanfares aus Paris, mit denen das Ensemble in Kontakt steht und gelegentlich zusammen musiziert. Außerdem gibt es ein gemeinsames Projekt mit einer Sambagruppe. Die Studenten sind untereinander befreundet, Musik ist nicht das einzige, was sie verbindet. Und sie benötigen das Geld nicht, das sie mit der Straßenmusik einnehmen. Vielmehr freuen sie sich über positive Publikumsreaktionen wie Applaus oder tanzende Menschen und wenn das Zusammenspiel und die Show gut klappen. Sie wollen den Leuten zeigen: »Zusammen kann man viel Spaß haben!«
Abbildung 58: Les Jacky Parmentier vor dem Bahnhof Alexanderplatz, Gontardstraße, Ecke Rathausstraße, am 04.08.2010
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4.1.58 Lucky You – Gitarre, Percussion, Gesang Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Axel: Westerngitarre, Gesang (englisch), Percussion; Robert: klassische Gitarre, Gesang (englisch); verstärkt 30, 29 Magdeburg und Berlin, Deutschland seit acht Jahren bzw. geboren
Lucky You hießen bis vor kurzem noch Bato Novo362. Unter ihrem alten Namen arrangierten sie Lieder der Beatles neu im Stil des Bossa Nova. Jetzt hat das Duo auf Eigenkompositionen umgesattelt, die sich stilistisch allerdings weiterhin zwischen Akustischem Folk und Bossa Nova bewegen. Die jungen Männer sind an ihren Instrumenten flexibel. Zumeist spielt Axel die Akkordbegleitung auf der Westerngitarre, während Robert an der klassischen Gitarre z. B. eine Bassstimme oder melodiöse Fill-Ins beisteuert. Oder Robert übernimmt die Harmonien und Axel eine rhythmische Begleitung auf Percussioninstrumenten wie Schellenring oder Shaker-Ei. Den Gesang teilen sich beide, singen viel zweistimmig oder erzeugen durch Versatz Echoeffekte. Ihre Lieder haben etwas Leichtes an sich, sie wollen damit gute Laune verbreiten. Straßenmusik machen sie seit 2005 zusammen, waren damit schon auf Reisen in Lissabon und Barcelona und verwenden dabei nach wie vor auch die alten Beatles-Nummern. Aus dem insgesamt etwa zwei Stunden umfassenden Repertoire wählen sie spontan »nach Gefühl, was geht«. Das sind dann in erster Linie doch wieder die Coverversionen, wohl wegen des Wiedererkennungswertes, während die neuen, eigenen Stücke nicht so gut beim Publikum ankommen. Diesen Sommer haben sie es nur zweimal für je zwei bis drei Stunden nachmittags und am frühen Abend in den Mauerpark geschafft (und es »mindestens zwanzigmal vorgehabt«). Sonst haben sie Auftritte in Cafés und Bars, Axel spielt Schlagzeug in einer Band, und Robert singt im Chor. An der Straßenmusik schätzen sie das direkte Feedback. Sie können dabei neue Songs und Arrangements ausprobieren, und es macht ihnen einfach »Spaß, auf der Straße zu spielen« – vor allem, wenn es ihnen gelingt, über einen längeren Zeitraum eine größere Anzahl von Menschen zu halten. Dabei forcieren sie die Interaktion mit ihrem Publikum nicht, spielen ihre Songs hintereinander weg und nutzen die Pausen dazwischen nicht für Ansagen oder direkte Ansprache. Sie sehen es als Herausforderung an, die Aufmerksamkeit der Leute zu gewinnen und zu halten und sich außerdem gut hörbar zu machen. Sie sitzen nebeneinander auf der steinernen Stufe am Bordstein der Schwedter Straße im Mauerpark. Beide Gitarren verfügen über Tonabnehmer und sowohl vor Robert als auch vor Axel steht ein Mikrofonstativ. Die vier Klangquellen sind mit einem Mischpult verbunden, das an eine batteriebetriebene Verstärkerbox angeschlossen ist, die vor den beiden steht. Neben Axel steht der aufgeklappte Koffer seiner Gitarre, darin liegen zwei CDs des alten und des neuen Duos zum Verkauf aus. Einige Leute bleiben stehen oder setzen sich in die Nähe, um zuzuhören. Manche betrachten die CDs aus der Nähe oder kaufen eine. Axel und Robert sind entspannt, sie »brauchen das Geld nicht«. Axel arbeitet nach seinem Studium als freier Redakteur, während Robert noch studiert und sich durch entsprechende Jobs finanziert.
362 Portugiesisch, in etwa: Neuer Beat (in Anlehnung an den Begriff Bossa Nova).
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Abbildung 59: Lucky You im Mauerpark am 15.08.2010
Das Duo trifft sich einmal pro Woche, um an neuen Liedern und Arrangements zu arbeiten. Für die Straßenmusik sind keine gesonderten Proben nötig. Und jeder der beiden versucht darüber hinaus für sich täglich auf der Gitarre zu üben. Axel ist vor acht Jahren zum Studium aus Magdeburg nach Berlin gezogen, hatte früher vier Jahre lang Gitarrenunterricht und lernt seitdem autodidaktisch weiter. Außerdem spielt er Klavier, Mundharmonika, Schlagzeug und E-Bass. Robert hingegen ist Berliner und hatte mal zwei Jahre lang Gitarrenstunden. Neben den Beatles nennen die beiden Simon & Garfunkel sowie die Kings of Convenience als musikalische Einflüsse.
4.1.59 Michał – Gitarre, Gesang Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Westerngitarre und Gesang (englisch), verstärkt 25 Krakau, Polen seit zwei Tagen, auf der Durchreise
Michał hat in Polen Jazzgitarre studiert und lebt nun von der Musik, die er im Soloprogramm und mit seiner Band auf Konzerten in Clubs und auf Festivals macht. Blues und Folkmusik waren wichtige Einflüsse für ihn. Straßenmusik ist in erster Linie ein praktischer Weg für den Gitarristen, beim Reisen Geld zu verdienen. Begonnen hat er damit vor fünf Jahren in Lyon und will gern damit weitermachen »as long as it’s fun«. Nebenbei kann er sich so erstmal in der Musikszene eines Ortes umschauen und Kontakte knüpfen, über die sich Konzerte organisieren lassen. Berlin ist gerade nur ein Zwischenstopp für ihn auf der Reise nach Brüssel. Nachdem er von einem Ladenbesitzer vom Platz vor dem S-Bahnhof Hackescher Markt vertrieben wurde, hat er nun auf dem Alexanderplatz einen Mikrofonständer aufgebaut, hinter dem er mit seiner Gitarre steht. Hinter ihm liegt auf seinem Rucksack ein batteriebe-
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triebener Verstärker, vor ihm steht sein aufgeklappter Gitarrenkoffer als Spendengefäß. Seine Solo-CD liegt darin aus und wird für 10 Euro zum Kauf angeboten. Immer wieder bleiben Menschen stehen oder setzen sich vor Michał auf das Pflaster, um seiner Mischung aus Bluesstandards und eigenen Stücken zu lauschen. Etwa zwei Stunden umfasst sein Repertoire aus den Richtungen Blues, Folk, Rock und SingerSongwriter, und je nachdem, wie es gerade läuft, wählt er daraus spontan Lieder aus. Hier in Berlin beschränkt er sich auf Songs mit englischen Texten, diejenigen auf polnisch lässt er weg. Zwischen eineinhalb und zwei Stunden spielt er täglich und sieht die individuelle Art seiner Songs als Pluspunkt bei der Herausforderung, etwas bieten zu müssen, um überhaupt die Aufmerksamkeit der Passanten zu erregen – anders als in einer Konzertsituation. Wenn ihm das gelingt, freut er sich über die Reaktionen der Leute und die finanzielle Anerkennung in seinem Gitarrenkoffer.
Abbildung 60: Michał auf dem Alexanderplatz am 05.08.2010
4.1.60 Michel – Gitarre, Gesang Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Westerngitarre und Gesang (englisch) 44 Lüdenscheid, Deutschland seit 1993
Michel (französisch ausgesprochen) hat vor elf Jahren angefangen, Straßenmusik zu machen – als seine damalige Partnerin und er sich einen Hund angeschafft haben und das zusätzliche Geld fürs Futter brauchten. Die Beziehung ist mittlerweile beendet, doch die beiden teilen sich sozusagen das Sorgerecht für das Tier – es lebt wochenweise abwechselnd bei Michel und seiner Ex-Freundin. Auch Straßenmusik machen die zwei manchmal noch gemeinsam. Meistens ist der 44-Jährige allerdings alleine auf der U-Bahnlinie U1 zwischen Warschauer Straße und Wittenbergplatz unterwegs,
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seltener auf der U2. Das Geld, das er dabei einnimmt, hilft ihm, seine finanzielle Lage zu verbessern. Wenn gegen Mitte des Monats seine Grundsicherungsrente aufgebraucht ist, geht er von Montag bis Samstag Musik machen. Regelmäßig kommt er auf etwa zweieinhalb Wochen pro Monat, den Rest der Zeit nimmt er sich frei. Mit etwa 90 Minuten am Tag kommt Michel über die Runden. Die beste Tageszeit zum Geldverdienen ist für ihn werktags zwischen neun und halb elf, wenn die Berufstätigen unterwegs sind. Oder er spielt mittags von 11 bis 12:30 Uhr, an Samstagen generell erst ab 12 Uhr. Wenn am Wochenende, freitags und samstags, vermehrt Touristen in der Stadt sind, nimmt er bis zu doppelt so viel ein wie an anderen Tagen. Abends mag er dann trotzdem nicht auftreten, weil ihm dann zu viele Betrunkene in den Zügen sind, vor denen er nicht gerne spielt. Wenn er einen U-Bahnwagen betritt, blickt sich der Sänger und Gitarrist kurz um: wie alt sind die Fahrgäste, sind da mehr Frauen oder Männer? Dann wählt er spontan eins von etwa fünf aktiven Stücken aus seinem ca. 20 Songs zählenden Repertoire aus. »Radiogängig« müssen sie sein und »mit Wiedererkennungswert«. Er spielt »etwas schwermütige« Pop-Balladen, alles Lieder, die ihm selbst gefallen: »Es muss mir selber Spaß machen«, sagt der Musiker. Am besten geht das Lied »Mad World« von der Band Tears for Fears. Sonst hat er Lieder von David Bowie, den Red Hot Chili Peppers, Depeche Mode oder Placebo im Programm. Und den etwas rockigeren Blues von Johnny Cash kann er nur vor jüngerem Publikum bringen. Er meint: »Ich versuche, auf meine Art zu spielen und so authentisch zu sein, dass es den Leuten gefällt.« Darin sieht er einen »Gegenentwurf zum Einheitsgedudel« vieler anderer Straßenmusiker, vor allem der Roma. Zwischen drei Stationen singt Michel zur Begleitung auf seiner Westerngitarre ein Lied und sagt anschließend stets den Titel und Originalinterpreten an, bevor er mit einem Pappbecher durch den Waggon geht und Spenden einsammelt. Die finanzielle Anerkennung ist ihm wichtig. »Dafür«, sagt er, »versuche ich immer das Beste zu geben.« Normalerweise beginnt er im letzten Wagen und arbeitet sich dann sukzessive durch den ganzen Zug nach vorne durch. Michel berichtet, das sei bis vor wenigen Jahren unter den Musikern in der UBahn so üblich gewesen, da man sich auf diese Weise nicht gegenseitig in die Quere komme. Daran hätten sich früher alle gehalten, auch Ausländer. Damals gab es klare Regeln untereinander, »so dass keiner dem anderen auf den Fuß getreten ist«. Wenn man sich getroffen habe, habe man zusammen geraucht und sich über die neuesten Erfahrungen ausgetauscht. Doch seit neuerdings Roma-Musiker die Züge »überschwemmen«, ist der alte Geist verflogen: »Mit den Zigeunern gibt es keine Interaktion. Die steigen einfach irgendwo ein, auch wenn schon einer im Wagen steht – nach dem Motto: Ich nehm’ dir den Wagen weg und fertig.« Diese Rücksichtslosigkeit findet der Gitarrist ärgerlich – auch, dass aufgrund teils »grottenschlechter Performances« jener die Fahrgäste zunehmend mit Ablehnung auf ihn und seine Bekannten reagieren. Die Sitten sind in seiner Wahrnehmung rauher geworden. Er beobachtet zudem einen schleichenden Verdrängungsprozess »seit der Zigeunerflut«. Viele seiner alten Kollegen, die vorher jahrelang in den U-Bahnen aktiv waren und sich dem ungeschriebenen Verhaltenskodex verpflichtet fühlten, sind nicht mehr da. Zu denen, die noch geblieben sind, gehören → Jannis und → Bernd sowie seine ExFreundin, mit der er ab und zu musiziert. Mit den Roma sei es dagegen schwierig auszukommen: »Sie brechen alle Regeln und werden gleichzeitig aggressiv, wenn man das dann selbst macht.«
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Abbildung 61: Michel in der U-Bahnlinie U1 am 23.08.2011
Michel kommt aus Lüdenscheid und lebt seit 1993 in Berlin. Schlagzeug, Gitarre und Keyboard hat er sich im Laufe der Zeit selbst beigebracht. Früher hat er in vielen Bands vor allem Schlagzeug gespielt, später elektronische Musik gemacht. Im Augenblick ist die U-Bahn sein einziges musikalisches Betätigungsfeld, und damit ist er zufrieden: »Das gibt mir finanzielle Sicherheit und hält mich in Berlin«, sagt er. Seine musikalischen Wurzeln sieht der Gitarrist unter anderem im Punk und New Wave, bei Bands wie Joy Division und Musikern wie Jimi Hendrix. Er übt nur sporadisch, wenn er ein neues Stück in sein Repertoire aufnimmt. Eine besondere Herausforderung für sich als Straßenmusiker sieht er darin, dass die Leute anders als in der Konzertsituation in der U-Bahn unvorbereitet sind: »Die muss ich erst auf meine Seite ziehen.« Das klappt für ihn am besten »durch sauber Spielen und einen gepflegten Auftritt«. Dafür gibt Michel sich Mühe mit seiner Frisur und kleidet sich meistens dezent in Schwarz. »Ich spiele mein Stück, danach nehme ich Kontakt auf.« Dann freut er sich über lächelnde Gesichter und andere positive Reaktionen. Leute, die schlechte Stimmung machen und sich beispielsweise demonstrativ die Ohren zuhalten oder zu pöbeln beginnen, begegnen ihm selten. Allerdings löse ein solches Verhalten bei den anderen Fahrgästen tendenziell Solidarität mit dem Musiker aus, berichtet Michel. Und das könne sich in größerer Spendenbereitschaft niederschlagen.
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4.1.61 Minsk Acapella – A-cappella-Männerchor Hauptinstrument: Alter: Herkunft: In Berlin:
Chorgesang a cappella (russisch, weißrussisch) 28-34 Minsk, Weißrussland auf der Durchreise
Die sieben Männer kennen sich von der staatlichen Musikakademie in Minsk. Sie sind allesamt studierte Chordirigenten und verdienen ihren Lebensunterhalt mit Konzerten oder Gottesdienstgestaltungen und als Musiker in verschiedenen Projekten. Auf Konzertreisen durch Deutschland und Europa machen sie seit drei Jahren stets auch Straßenmusik, weil ihnen das Singen Spaß macht und sie gern auf diese Weise ihre Freizeit verbringen, »solange die Leute gut drauf« sind und sie von der Polizei unbehelligt bleiben. Geld ist dabei auch ein Faktor, aber nachrangig. Die Sänger wollen den Menschen Freude bringen. Trotzdem sagen sie, dass es befriedigend für sie ist, »wenn jeder von uns 100 Euro verdient«.
Abbildung 62: Minsk Acapella in der Wilmersdorfer Straße am 31.07.2010
Minsk Acapella treten zu siebt, manchmal auch zu acht in Manier eines DonkosakenChores mit eigenen Bearbeitungen hauptsächlich traditioneller russischer und weißrussischer Volkslieder wie Kalinka auf. Es handelt sich um professionell und phantasievoll gesetzte, teils sehr expressive Chorarrangements, bei denen das Publikum durch Mitklatschen eingebunden und mit gezielten Überraschungseffekten unterhalten wird. Die Musiker sagen, für die Situation auf der Straße müsse es »lustiger, energetischer sein und Stimmung machen« als bei Konzerten. Sie verwenden Tempovariationen, um die Atmosphäre zu beeinflussen; oft enden die Stücke mit einem sehr schnellen Teil. Dazwischen treten einzelne Sänger verschiedener Stimmlagen hervor und übernehmen die Melodiestimme. Die lebendige Art und beeindruckend
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stimmgewaltige Darbietung der Weißrussen begeistert auch die Passanten in der Wilmersdorfer Straße, wo sie während ihres zweitägigen Zwischenstopps in Berlin auftreten. Sie haben sich im Halbkreis vor einer Schaufensterwand aufgestellt, einer der Sänger dirigiert gleichzeitig dezent das Tempo. Der kleine Kunststoffkorb vor ihnen füllt sich rasch mit Münzen und Scheinen, und auch die CD des Chors verkauft sich gut. Wegen der Regeln in Berlin beschränkt das Ensemble seinen Auftritt auf jeweils 30 Minuten. So können sie an verschiedenen Stellen der Fußgängerzone insgesamt viermal ihr Programm darbringen. Wenn das Wetter gut ist und kein Konzert ansteht, tun sie das unterwegs täglich. Dabei sucht sich die Gruppe Orte, an denen sie kein lauter Verkehrslärm stört. Als ausgebildete Musiker müssen sie zwischendurch auch nicht mehr proben, »das geht schon von selber«. Auf die Frage nach dem Unterschied zu anderen Straßenmusikern antworten sie selbstbewusst: »Wir sind zu acht und können alle singen.«
4.1.62 Mitsuhiro – E-Gitarre Hauptinstrument: Alter: Herkunft: In Berlin:
Halbresonanzgitarre, verstärkt 28 Miura, Japan für ein Jahr
Letzten Sommer hat Mitsuhiro in Dublin zum ersten Mal Straßenmusik gemacht. Der Japaner befindet sich gerade auf einem längeren Europaaufenthalt und ist seit Januar für ein Jahr in Berlin. Auch in Warschau hat er draußen musiziert. Im Vergleich zu Berlin brächten einem die Leute als Straßenmusiker in Irland mehr Respekt entgegen, sagt er, was sich auch in den Einnahmen widerspiegle. Mit der japanischen Kultur sei Straßenmusik hingegen nicht gut vereinbar, dort seien die Menschen aus Ehrgefühl weniger bereit, in der Öffentlichkeit Geld zu spenden. Der 28-Jährige hat im Alter von ungefähr 14 Jahren angefangen, selbständig das Gitarrenspiel zu erlernen und hatte zwischenzeitlich einige wenige Unterrichtsstunden. Viel einflussreicher waren für ihn Freunde, von denen er sich die Technik abgeschaut hat, sowie neben einigen japanischen Bands solche wie Primal Scream, Blur und Yo la Tengo. Er spielt außerdem E-Bass. In Berlin lebt Mitsuhiro von seinen Ersparnissen und von der Straßenmusik, ab und zu gibt er überdies Gitarrenstunden. Obwohl es ihm Spaß macht, will er nach seiner Heimkehr in Japan nicht weiter Straßenmusik machen, sondern nur, solange er noch in Europa unterwegs ist. Zu Hause hatte er immer Bands, mit denen er auch Studioalben aufgenommen hat. Nach solcherlei musikalischer Betätigung steht ihm eigentlich der Sinn. Auch hier in Berlin hat der Gitarrist mit Bekannten eine Rockband gegründet, doch sind sie bisher noch nicht zusammen aufgetreten. Manchmal nimmt er an Open-Mic-Jamsessions teil. Meistens sitzt er mit seiner Halbresonanzgitarre in U-Bahnhöfen am Alexanderplatz (Linien U2, U5, U8), an der Friedrich- oder Französischen Straße (U6), am SBahnhof Hackescher Markt (Stadtbahn) oder auf dem Alexanderplatz und im Mauerpark. Der Musiker meidet Orte, an denen zu viele Betrunkene sind, weil er von solchen häufiger gestört wurde. Vor ihm liegt als Spendengefäß sein aufgeklappter Gitarrenkoffer, darin oder davor steht eine sehr kompakte batteriebetriebene Verstär-
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kerbox. Er spielt »bluesy and jazzy instrumental improvisations« und gelegentlich auf Anfrage bestimmte Songs. Er verfügt über viele eigene Lieder, doch die behält er seinen Bandprojekten vor. Der junge Mann sagt über seine Straßenmusik: »It’s not my favourite style.« Eigentlich bevorzugt er Alternative und Indie-Rock. Ganzjährig macht er an vier bis fünf Tagen pro Woche jeweils eine bis zwei Stunden lang Straßenmusik in den Abendstunden zwischen 18 und 22 Uhr. Dabei wirkt er sehr in sein Spiel versunken und nimmt kaum Blickkontakt mit den Passanten auf. Von diesen bleiben nur vereinzelt welche für einige Momente stehen oder werfen eine Münze in den Gitarrenkoffer. Manchmal kommt es allerdings auch vor, dass Leute zu tanzen beginnen, freundliche Bemerkungen machen oder ihm sogar ein Bier vorbeibringen. Das genießt der Gitarrist. Selten beschwert sich jemand über die Lautstärke. Straßenmusik ist für den Japaner in erster Linie eine Geldquelle. Ferner nutzt er die Gelegenheit, um Leute zu treffen, interessante Gespräche zu führen, Kontakte zu anderen Musikern zu knüpfen und Spielpraxis vor Publikum zu sammeln. Andere Berliner Straßenmusiker hat er bisher nicht kennengelernt. Auf seiner Gitarre klebt ein Sticker der japanischen Anti-Kernkraft-Bewegung.
Abbildung 63: Mitsuhiro am S-Bahnhof Hackescher Markt am 20.08.2011
4.1.63 Mr. Paul – Synthesizer und Sampler Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Synthesizer, Sampler, Loop-Station; verstärkt 26 Auckland, Neuseeland seit Mai für sechs Monate
Mr. Paul, wie er sich nennt, hat in seiner Heimatstadt Auckland in Neuseeland Jazzschlagzeug studiert und in diversen Projekten Auftrittserfahrung als Trommler gesammelt. Im Moment hat er ein Aufenthaltsvisum für die EU, das ein Jahr lang gültig
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ist. Im Mai ist Paul in Berlin angekommen und will insgesamt sechs Monate in der Stadt bleiben. Er arbeitet au pair als »Nanny« in einer Familie. Vor vier Wochen hat er damit begonnen, Straßenmusik zu machen, um dadurch an weitere Auftrittsmöglichkeiten zu gelangen, Kontakte zu knüpfen und sich etwas Geld hinzu zu verdienen. Außerdem will der Neuseeländer auf diese Weise Bühnenerfahrung auf seinem aktuellen Experimentierfeld sammeln, der elektronischen Musik. Mittelfristig würde er sich über mehr bezahlte Auftritte und Zusammenarbeit mit anderen Künstlern freuen. Zumindest diesen und gerne auch nächsten Sommer will er aber weiter auf der Straße spielen. Vor allem im Mauerpark fühlt er sich wohl und hat hier bereits mit → Onyx Ashanti und anderen zusammen gejammt, von gemeinsamen Konzerten in Neuseeland kennt er außerdem die → Benka Boradovsky Bordello Band. »Places where peolpe cannot escape«, meidet Mr. Paul.
Abbildung 64: Mr. Paul mit spontaner Mitsängerin im Mauerpark am 08.08.2010
Der Elektromusiker hat sich mit seiner umfangreichen, teils selbstgebastelten Ausrüstung am Wegesrand vor den steinernen Stufen zur Wiese aufgebaut: Auf einem Bügelbrett sind ein Synthesizer, ein Sampler mit Loop-Funktion sowie ein kleiner Mischer montiert. Darunter auf dem Boden befindet sich ein Fußschalter, mit dem Paul den Sampler und verschiedene digitale Klangeffekte sowie weitere Funktionen ansteuern kann, während er mit den Händen auf der Klaviatur des Synthesizers spielt oder andere Elemente bedient. Der Mischer ist mit einer Verstärkerendstufe verbunden, die auf einer voluminösen Bassbox befestigt ist, die wiederum auf einem selbstgebauten Karren steht. An diesem sind zwei weitere Boxen für die mittleren und hohen Frequenzen angebracht. Auf der Rückseite befinden sich ein Transformator und die Autobatterie, die das Soundsystem für ein bis zwei Stunden mit Strom versorgt. Außerdem stehen am Mischer ein Mikrofon und weitere analoge Eingänge zur Verfügung, falls wie auf dem Foto jemand spontan zu den Klangmontagen des Neusee-
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länders beitragen möchte. Mr. Paul ist nämlich selbst noch am Experimentieren und damit beschäftigt, über die Improvisation ein Set zu entwickeln, mit dem er später auftreten kann. Deswegen freut er sich über inspirierende Beiträge von anderen Musikern, die er ausdrücklich zur regen Beteiligung einlädt. Er nennt das, was er macht, Do-it-yourself-Elektro und ist der Ansicht, dass er sich durch seinen Stil und die elektronischen Instrumente von der Masse der Straßenmusiker abhebt. Mit seinem elektronischen Sound und den wuchtigen Bässen findet der 26-Jährige immer wieder Anklang unter den Passanten, die sich auch für seine Gerätschaften interessieren. Es ist eine Herausforderung für ihn, dass die Leute vorbeilaufen und es kein festes Publikum gibt. Daher freut er sich über eine gute »crowd response« und Zustimmung in Form von lächelnden, klatschenden Menschen. Da er im Moment noch intensiv mit dem Inhalt seiner Performance beschäftigt ist, interagiert er nicht so mit den Zuhörern, wie er eigentlich möchte, sagt aber: »There’ll be more later on.« Anfangs war er einmal pro Woche draußen, mittlerweile spielt Paul an bis zu drei Tagen, jeweils solange die Batterie hält. Zusätzlich übt er etwa vier bis fünf Stunden am Tag mit seinem Equipment oder bastelt daran herum.
4.1.64 Naji – Tenorsaxophon Hauptinstrument: Alter: Herkunft: In Berlin:
Tenorsaxophon 50 Abadan, Iran seit 25 Jahren
Naji sucht sich Orte, »wo die Energie ist«, z. B. am Kanzleramt, auf der Museumsinsel oder am Monbijoupark, und schwingt sich darauf und auf die Menschen ein. Am liebsten spielt der gebürtige Iraner »dort, wo deutsche Geschichte ist«. Er sitzt oder steht auf einer Decke, nimmt über seine Musik Kontakt zu den Passanten auf, schaut den Leuten in die Augen, lächelt, beginnt Gespräche oder trinkt einen Kaffee mit denjenigen, die sich die Zeit dazu nehmen. In der U-Bahn oder auf Bahnhöfen mag der Saxophonist nicht spielen, dort regiert seiner Ansicht nach der Kapitalismus. Auch Stellen mit vielen Touristen frequentiert er weniger und spielt »lieber dort, wo die Menschen leben, wo sie mich kennen«. Er will mit seiner Musik »die Menschen aufwecken«, sie einladen auch Musik zu machen und rauszugehen anstatt herumzusitzen und Bier zu trinken. Geld ist ihm unwichtig, er sagt: »Ich will nichts verdienen.« Stattdessen möchte er Brücken zwischen verschiedenen Kulturen schlagen, Harmonie stiften und dadurch »die Menschen besser verstehen«. »Harmonie ist stärker als Materie«, lautet seine Botschaft. Es erfüllt ihn, »wenn die Leute im Vorbeigehen zu tanzen anfangen« oder andere positive Reaktionen zeigen. Abgesehen von Berlin hat Naji in vielen weiteren europäischen Städten Straßenmusik gemacht. Hier, sagt er, seien die Leute zwar tendenziell asozial und hielten Straßenmusiker für Bettler, dennoch sei es in Deutschland der beste Ort zum Spielen. Außer unter Künstlern herrsche in der Stadt ein sehr schlechter Umgang der Menschen miteinander. Er erzählt, wie er durch die Musik einen Rechtsradikalen bekehrt habe und wie sich die Menschen freier fühlten, wenn sie ihn spielen hörten. Allerdings sind »Deutsche sehr verschlossen, wollen sich nicht so öffnen«, weiß der Saxophonist zu berichten. Er reagiert mit freundlichen Worten, wenn ihm jemand aggressiv begegnet, z. B. sagt:
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Geh doch arbeiten! Für das Ordnungsamt indessen hat er kein Verständnis: »Die wollen ihre Uniform auf andere Menschen ausüben«, sagt er, »und haben nur das Gesetz vor Augen, nicht die Menschen.«
Abbildung 65: Naji beim Interview am 26.11.2010
Vor 25 Jahren kam der 50-Jährige aus Abadan im Iran nach Berlin und hat mittlerweile die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Der studierte Mediziner hat keine feste Arbeit, war schon als bildender Künstler aktiv und arbeitet besonders gern mit Kindern. Er lebt hauptsächlich von der Straßenmusik, die er seit 17 Jahren praktiziert. Vor zwölf Jahren fing er an, sich das Saxophonspielen beizubringen, vorher hat er auf Percussioninstrumenten musiziert. Momentan lernt er außerdem Gitarrenspielen. Die Musik ist ihm so wichtig geworden, dass er immer spielt, wenn es geht. Seine musikalischen Einflüsse sind vielfältig und reichen von Ali Akbar Khan über Jazzmusiker wie Miles Davis, Charlie Parker, John Coltrane oder B. B. King bis zu den Scorpions. Naji nimmt Jazzstandards wie »Take Five« von Paul Desmond und »You Are My Sunshine« oder Bluesschemata als Ausgangsmaterial für seine Improvisationen, spielt langsamere Bluesstücke, wenn ältere Leute vorbeikommen, und modernere Themen oder Liebeslieder für junge Menschen. Wenn das Wetter gut ist, macht er bei Temperaturen über 10°C jeden Tag für mindestens eine Stunde Musik im Freien. Der Saxophonist sagt: »Die Leute kennen mich, ich bekomme von ihnen auch Essen usw.« Auf die Frage Machst du gerne Straßenmusik? antwortet er: »Oh,
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ja! Denn das ist die Realität.« Und fügt an, er wolle damit weitermachen, »solange ich noch lebe«. Naji kennt viele von den anderen Straßenmusikern und lässt sich gerne auf spontane Jamsessions ein. Für ihn ist Musik auf der Straße freier als auf der Bühne: »Du spielst nur für dich und die Bewegung der Menschen, es gibt keine (Zeit-) Beschränkung.« Gleichzeitig hält er es draußen für viel schwieriger als in der Konzertsituation, sich zwischen den zahlreichen Menschen und Geräuschquellen durchzusetzen. Die Bühne bietet in dieser Hinsicht einen komfortablen Rahmen. Manchmal wird der Musiker eingeladen, zu Lesungen zu improvisieren oder auf Ausstellungseröffnungen und privaten Feiern zu spielen. Er sagt, er hätte gerne eine Band, die ihn versteht, und würde sich über die Gelegenheit zu Aufnahmen freuen.
4.1.65 Nezabudki (НЕЗАБЫВАЙМЕНЯ) – Gitarre, Cello, Gesang Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Dmitri: Cello; Alexej: Westerngitarre, Gesang (russisch); unverstärkt 36, 47 Dmitri: Kasachstan; Alexej: Moskau, Russland seit 14 bzw. 20 Jahren
Am frühen Abend haben Alex und Dmitri sich vor ein Café am Marheinekeplatz gesetzt. Wie immer haben sie vorher bei der Bedienung gefragt, sie möchten nicht stören. Dmitri hat mit seinem Cello auf einem der Außenbereichsstühle Platz genommen, Alexej sitzt mit seiner Westerngitarre auf einem Barhocker daneben. Sie machen russische Musik, aber »keine Covers, keine Volksmusik«, »nicht so stereotypisch«, sondern spielen ausschließlich Eigenkompositionen von Alex »von Klassik bis Punk«. Stilistisch ordnet er seine Songs zwischen Rockmusik und Balladen ein – mit klassischen Einflüssen. Er singt zur Gitarre, während Dmitri sowohl Melodiestimmen und improvisierte Soli als auch rhythmische Patterns und Bassstimmen auf dem Cello spielt, gestrichen wie gezupft. Das Duo wendet sich ausschließlich an die Cafébesucher. Während es spielt, liegt kein Spendengefäß vor ihm. Pro Lokal bieten die Musiker zwei Lieder dar, dann geht Alexej herum, sammelt Geldspenden und verkauft eine CD mit selbstgeschriebenen Liedern, die die eigentlich vierköpfige Band namens Nezabudki bei einem Moskauer Plattenlabel aufgenommen hat. Die Leute applaudieren den beiden und zeigen sich interessiert. Oft werden sie gefragt, in welcher Sprache sie singen. Eigentlich haben sie zwischen acht und zehn Stücken im aktiven Repertoire, aus denen sie je nach Publikum ein paar auswählen. Alex sagt: »Ich sehe die Leute und weiß, was ich spielen muss.« Sitzen mehr ältere Leute in einem Restaurant, sind leise Lieder an der Reihe, »russische Romanzen«. In einer Punkerkneipe hingegen können sie richtig »reinhauen« und schnelle Rocksongs spielen. Sie sind da flexibel, beobachten, wie die Zuhörer reagieren und passen sich dementsprechend an. Zumeist findet das Duo positiven Anklang. Applaus, meint der Gitarrist, sei die beste Bezahlung – viel besser als Geld! Manchmal werden sie zu privaten Feiern eingeladen. Die vereinzelten negativen Reaktionen lässt er nicht an sich heran, nimmt sie nicht persönlich. Er berichtet: »Manche Barkeeper halten uns für Bettler und unterbrechen uns einfach. Dann spiele ich in diesen Cafés nicht mehr.« Die ganze Band trifft sich einmal in der Woche zur Probe und tritt gelegentlich mit Alexejs Eigenkompositionen in Clubs wie dem legendären Kaffee Burger in Mit-
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te auf, wo der Journalist und Autor Wladimir Kaminer, selbst Migrant, die sehr erfolgreiche regelmäßige Tanzveranstaltung namens Russendisko etabliert hat. Für sich zu Hause übt Alex nicht weiter, denn für ihn stellt die Straßenmusik die beste Übung dar. Außerdem stellt er fest: »Draußen Musik machen ist lustiger als drinnen.« Auch wenn für das Duo »ehrlicher Applaus und ein gutes Spielgefühl« wichtig sind, geht es den beiden Musikern hauptsächlich darum, mit der Straßenmusik Geld zu verdienen. Alex lebt derzeit davon und von Hartz-IV. Eigentlich ist er ausgebildeter Bauingenieur, doch hat er keine Lust auf einen Bürojob. Stattdessen hat er vor drei Jahren angefangen, Straßenmusik zu machen. Meistens bereitet ihm das Freude, nur wenn es schlechte Publikumsreaktionen gibt, kann es auch frustrierend für ihn sein. Da es dem Songschreiber wichtig ist, mit seiner eigenen Musik aufzutreten, sieht er momentan jedoch keine Alternative dazu. In Clubs lässt sich zu wenig Geld verdienen, es gibt in Deutschland keinen Markt für seine Lieder mit russischen Texten, und außerdem sagt er: »Das Business gefällt mir nicht.« Es sei voller Regeln und keine saubere Welt, findet der Gitarrist. Straßenmusik dagegen bietet ihm mehr Freiheit, hierbei ist »alles echter, selbstgemachter«, es gibt nur akustische Instrumente und keine Effekte. Auch sieht er darin aus technischer und psychologischer Sicht eine gute Schule für die Flexibilität, weil man sich ständig auf neue Leute und Situationen einstellen muss. Früher ist Alexej mit Coverversionen bekannter Lieder aufgetreten, doch das hat ihm nicht so viel Freude bereitet, wie seine eigene Musik zu spielen. Mittlerweile kennt er sehr viele Straßenmusiker, mit denen er sich gut versteht: »Ich grüße sie alle.« Wie lange er bei dieser Auftrittsform bleiben wird, weiß er noch nicht: »Ich denke nicht an übermorgen, weiß nicht, was dann ist.«
Abbildung 66: Nezabudki vor einem Café am Marheinekeplatz am 22.08.2011
Die beiden Musiker sind schon seit vielen Jahren in Deutschland: der 36-jährige Kasache Dmitri kam vor 14 Jahren und hat mittlerweile einen deutschen Pass. Alexej,
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der aus Moskau stammt, lebt seit 20 Jahren mit einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis in Berlin. Schon als 14-Jähriger begann er, sich mit Rockmusik, Jazz und Klassik zu beschäftigen, und hatte als junger Mann einige Jahre lang Gitarrenunterricht in einem Jazzstudio. Der heute 47-Jährige spielt außerdem E-Bass, Schlagzeug und Keyboard. Seine musikalische Entwicklung wurde beeinflusst von Musikern wie Leonard Cohen und Nick Cave, Alternative und Indie-Rock sowie Bands wie The Doors, Pink Floyd, Aquarium (russisch: Аквариум) oder Kino (russisch: Кино). Im Vergleich zu anderen deutschen Städten wie Hamburg und München bezeichnet Alex Berlin als sehr internationale Stadt und findet, hier sei alles lockerer als anderswo. Die besten Erfahrungen mit Straßenmusik hat er in Hamburg und Berlin gemacht. Am liebsten spielt das Duo in und vor Lokalen in der Charlottenburger Schloßstraße und im angrenzenden Kiez um den Klausenerplatz, in Schöneberg in der Goltz- und Akazienstraße sowie in den verschiedenen Kiezen Kreuzbergs (Bergmannstraße, Dieffenbachstraße, Graefestraße, Maybachufer usw.). Zehlendorf meiden die Männer, seit sie in Dahlem »70 Prozent negative Antworten in den Cafés« erhalten haben, wenn sie um Spielerlaubnis baten. Normalerweise sind Alex und Dmitri in den Abendstunden zwischen 19 und 22 Uhr unterwegs – im Sommer mehr als im Winter, wenn sie nur drinnen spielen können. Alexej sagt, er gehe bei gutem Wetter und wenn er Geld brauche: »Ich will Spaß haben und keine Routine.« Der Bandname Nezabudki (russisch: Незабывайменя) bedeutet auf deutsch Vergißmeinnicht.
4.1.66 Nina – Klassischer Gesang Hauptinstrument: Alter: Herkunft: In Berlin:
Klassischer Sologesang (Sopran) zu Piano-Playback 39 Georgien auf der Durchreise
Der Auftritt der Sängerin ist minimalistisch: Sie spielt kein Instrument und steht frei vor der Glasfassade des Kaufhauses. Hinter ihr befindet sich lediglich eine Einkaufstasche, in der ein Tonwiedergabegerät verborgen ist, das ihr die Pianobegleitung für ihre Darbietung liefert. Mit etwas Abstand vor ihr auf dem Pflaster steht ein flaches Körbchen für Spenden, in dem auch eine CD mit Aufnahmen von ihr liegt. Ninas Stimmvolumen trotzt den ansonsten ungünstigen akustischen Bedingungen der Fußgängerzone, und sie blickt ausdrucksvoll in die Gesichter. Die Leute bleiben stehen und lauschen gebannt den teils bekannten Melodien und Arien. 30 Minuten umfasst das Programm, das sie auf der Straße singt, darunter Interpretationen klassischer italienischer und russischer Stücke neben einigen russischen Volkskiedern. Sie wählt aus, was ihr selbst gefällt. Die Sopranistin hat eine professionelle Gesangsausbildung von insgesamt 17 Jahren hinter sich, beherrscht außerdem Klavier und Akkordeon. Als Einflüsse auf ihre Musik nennt sie neben Freddy Mercury Maria Callas. In Berlin ist sie gemeinsam mit den Sängern von → Minsk Acapella nur auf der Durchreise zu Konzerten in Luxemburg. Sie hat ein Arbeitsvisum für die EU. Die Georgierin hat ein festes Engagement an der Philharmonie in Minsk und arbeitet mit diversen Musikern, Dirigenten und Chören zusammen. Straßenmusik betreibt sie seit zwei Jahren als Hobby nebenbei,
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wenn sie auf Reisen Zeit findet, hauptsächlich in Deutschland. Sie sucht sich stets einen Platz im Stadtzentrum und tritt mit ihrem Set dreimal am Tag auf. Auch in Spanien, Italien, der Schweiz und Polen war sie schon. Berlin findet die 39-Jährige wundervoll, weil die Menschen hier sehr offen und interessiert auf ihre Darbietungen reagieren. Sie liebt das Singen auf der Straße wie im Konzertsaal und freut sich über die Anerkennung in Form von Applaus, Geld und Komplimenten. Mit beidem will sie fortfahren, »solange es Spaß macht«.
Abbildung 67: Nina in der Wilmersdorfer Straße am 31.07.2010
4.1.67 Not Called Jinx – Gitarren, Gesang, Cajón Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Adrian: Westerngitarre, Begleitgesang; Irzan: Westerngitarre, Kilian: Gesang (englisch); Vincent: cajón; unverstärkt 19-21 Berlin, Deutschland zu Hause
Die vier jungen Männer nennen ihren Musikstil Alternative Rock und Straßenpop. Sie sind größtenteils Autodidakten, nur Vincent hatte früher Schlagzeugunterricht. Ihre Vorbilder sind moderne amerikanische Rockbands. Sie sind routiniert, Straßenmusik ist seit etwa drei Jahren ein Hobby für sie. Mit den Spenden füllen sie ihre Bandkasse und finanzieren sich auf diese Weise Studioaufnahmen oder ihre Ausstat-
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tung. Ihre drei EPs haben sie auch auf der Straße stets dabei und bieten sie mit Erfolg zum Kauf an. Sie würden sich freuen, wenn sie mit ihrer Musik richtig Geld verdienen könnten und wollen solange weiter auf der Straße musizieren, »bis es mit der normalen Band abgeht«. Die normale Band probt zweimal wöchentlich in gleicher Besetzung, dann allerdings verstärkt und mit Schlagzeug anstatt cajón, Irzan am E-Bass und Tommy (der heute nicht dabei ist) an der zweiten Gitarre. Straßenmusik ist für sie »echter, direkt, ohne Verstärkung, roher, dafür anstrengender« als z. B. Konzerte. Not Called Jinx haben in beiden Kontexten bereits in zahlreichen Städten quer durch Deutschland gespielt, etwa in Nürnberg, Lüneburg, Hamburg, Düsseldorf, Erlangen oder Kassel. Die Auftritte in den Fußgängerzonen nutzen sie häufig zur Werbung für abendliche Konzerte und um sich bekannter zu machen. Berlin ist aus ihrer Sicht nur »mittelmäßig für Straßenmusik« geeignet, da es hier keine zentrale Einkaufsstraße gibt, in der sich das Leben der Stadt konzentriert. Dafür ist hier das Verhältnis zur Polizei sehr entspannt. Die Wilmersdorfer Straße mit vielen Familien und Einheimischen kommt ihren Bedürfnissen noch am ehesten entgegen. Hier treten sie etwa einmal pro Woche samstags auf, jetzt in den Sommerferien sogar täglich bis zu drei Stunden. Sie haben ein festes Set mit acht eigenen englischsprachigen Songs und zwei Coverversionen. In der Adventszeit nehmen sie auch Weihnachtslieder ins Programm auf. Die Band will mit ihrer Show die Leute unterhalten und gute Stimmung verbreiten und freut sich, wenn die Publikumsresonanz so groß ist, dass die »Einkaufsstraße verstopft«.
Abbildung 68: Not Called Jinx in der Wilmersdorfer Straße am 31.07.2010
Schnell sammelt sich auch heute eine größere Menschenmenge vor der Bühne, die die jungen Männer mit einer Gitarrentasche und einem Blumentopf abgesteckt haben. Kilian nimmt seine Aufgabe als Frontmann ernst und bewegt sich viel beim Singen, richtet witzige Ansagen ans Publikum und animiert zum Tanzen und Mitsingen.
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Auch der Rest der Band wirkt durchgängig präsent, blickt und lächelt in die Menge. Adrian steuert geschmackvolle zweite Gesangsstimmen bei. Der Klang der Band ist voll und harmonisch, die Musik mitreißend, und das Publikum beteiligt sich rege an den eingängigen Refrains. Kinder beginnen zu tanzen und haben Spaß daran, Münzen in die Gitarrentasche zu werfen, während Kilian mit Worten und Gesten spontan auf die Situationen eingeht. Die CDs verkaufen sich gut, und zwischen den Songs gibt es Applaus und viele begeisterte Kommentare. Negative Reaktionen auf die Musik der Band sind selten. Es kommt vor, dass Leute schimpfen oder sie beleidigen, z. B. »Scheißmusik!« rufen, oder die Polizei holen. Und am Kurfürstendamm haben sie mit aufdringlichen bettelnden Roma schlechte Erfahrungen gemacht, die versuchten, Geld zu stehlen. Der Kontakt zu anderen Straßenmusikern ist freundlich, aber pragmatisch: »Man kennt sich, grüßt sich, spricht sich ab.« Die vier Studenten finanzieren sich über ihre Eltern, Studentenjobs und Förderung nach BAföG.
4.1.68 Onyx Ashanti – Wind Controller, Laptop Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Elektronischer Blaswandler (wind controller), Laptop-Computer; verstärkt 39 Mississippi, USA seit eineinhalb Jahren
Onyx Ashanti hat nichts weniger vor, als ganze Klanguniversen zu erschaffen und zu entdecken sowie die Zukunft aktiv mitzugestalten. Der in Mississippi geborene USAmerikaner hat schon zu Schulzeiten Querflöte und Saxophon spielen gelernt und wurde stark von Bands wie Funkadelic beeinflusst. Den größten Teil der 1990er Jahre verbrachte er mit Straßenmusik in Städten wie San Francisco, Los Angeles, Atlanta und New York. Dann ging er nach London und mischte dort die Clubszene mit seiner experimentellen Musik auf. Während dieser Zeit spielte er unter anderem auch auf mehreren Stücken des Studio-Albums »Kish Kash« mit, mit dem das Duo Basement Jaxx 2005 einen Grammy Award gewann. Nach kurzen Zwischenstationen in Schweden und Dänemark kam Onyx Anfang 2009 zunächst mit einem Touristenvisum nach Berlin, von wo aus er seitdem künstlerisch aktiv ist. Er sagt: »Berlin is much, much more laid back. It’s good for doing artistic stuff.« Seit Jahren experimentiert er mit elektronischer Musik und den Möglichkeiten, den ganzen Körper über Sensoren und Steuerelemente in den musikalischen Schaffensprozess einzubeziehen. Seinen völlig frei improvisierten Musikstil hat er Beatjazz getauft. Wesentliche Elemente dieser Richtung sind für ihn das Live-Looping363, Jazzimprovisation und die Klanggestaltung mittels Gesten. Straßenmusik macht Onyx heutzutage in erster Linie für sich selbst. Früher hat er seine Performance stärker auf das Publikum ausgerichtet, doch mittlerweile sucht er sich »places where I can play for myself«, z. B. an schattigen Stellen am Wegesrand im Mauerpark. Im Sommer macht er drei- bis viermal pro Woche Straßenmusik, er sagt: »I try to play long to conquer boredom.« Zusätzlich übt der 39-Jährige mehrere 363 Also die Verwendung einer Loop-Station bzw. einer Software auf seinem LaptopComputer, die die gleiche Funktion erfüllt.
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Stunden am Tag zu Hause auf seinem Equipment, testet neue Effekte und entwickelt seine elektronischen Gerätschaften weiter. Straßenmusik ist für ihn ein Teil zum Lebensunterhalt, vor allem durch die CD-Verkäufe. Doch vor allem gibt sie ihm Gelegenheit, den Umgang mit seinem beständig evolvierenden Klangsystem auszuprobieren und zu trainieren, »’cause it’s all improvised«. Nach all den Jahren liebt er Straßenmusik immer noch, denn: »It gives me freedom to go different directions, do what I want, try out things.« Es gibt dem Amerikaner am Ende des Tages Befriedigung »when the ideas in my head have come out«. Seine Erkenntnis, dass alle Dinge im ganz Kleinen miteinander zusammenhängen, was er quantenmechanische Sichtweise nennt, will er in seiner Musik transportieren. Der Klanggestalter hat sich auf den steinernen Stufen am Rande der Schwedter Straße im Mauerpark auf einer Decke niedergelassen. Er trägt ein Headset, über das er seinem System per Stimme Befehle erteilen bzw. rhythmische oder melodische Motive einsingen kann. Am auffälligsten an seiner Performance ist jedoch der elektronische Blaswandler (wind controller), den er in den Händen hält. Dieses Instrument, das von der äußeren Form her an eine Klarinette erinnert, tastet über spezielle Sensoren den Anblasluftstrom und über klappenähnlich angeordnete Schalter die Griffkombinationen des Spielers ab. Die daraus erzeugten elektronischen Signale werden in MIDI-Daten umgewandelt und dann in einen internen Synthesizer oder ein externes Soundmodul eingespeist, wo die eigentliche Klangerzeugung geschieht. Onyx Ashanti hat sein Instrument darüber hinaus mit Bewegungs- und Lagesensoren modifiziert und damit seine Möglichkeiten der Einflussnahme auf die Tongenerierung durch Körperbewegungen erweitert. Headset und Wind Controller sind mit einem kleinen Mischpult verbunden, welches weitere Klangmodulationen erlaubt. Das nächste Glied der Signalkette ist Onyx’ Laptop-Computer, der aufgeklappt vor ihm steht und als Loop-Station und externes Soundmodul fungiert. Die resultierende Klangmontage wird schließlich durch einen hochwertigen Batterieverstärker mit Box hörbar. Zwischen dem Musiker und seinem Publikum stehen auf dem Weg vor ihm sein Klappfahrrad mit Anhänger und davor eine rote Tasche mit CDs und einem erklärenden Text zu Onyx’ Person, Musik und Konzept. Manchmal gibt er einen festen Preis für seine CDs vor, an anderen Tagen lädt er potentielle Käufer ein: »Pay what you want for my CD!« Dafür, dass Onyx beim Spielen ganz in sich versunken wirkt und durch seine Sonnenbrille hindurch auch keinen direkten Kontakt mit dem Publikum aufnimmt, ist das Interesse der Passanten an der Art, wie er Klänge produziert, groß. Er sagt von sich selbst: »I need to interact more but I’m not good at that.« Trotzdem sind ständig mehrere Leute in seiner Umgebung, die zuhören, sich zu den elektronischen Beats bewegen, Geld spenden, CDs kaufen, ihre Impressionen in Onyx’ Gästebuch festhalten oder das Gespräch mit ihm suchen. Wird er angesprochen, ist er sehr aufgeschlossen, spricht über seine Mission und tauscht sich mit den Menschen aus. Er findet es »important not to appear magical«, und sagt: »I want to make stuff that people can see is not a trick.« Der Musiker spielt weiterhin in Clubs und an anderen Orten »where it’s intimate«, »anywhere where I can push Beatjazz« und hat viele verschiedene Projekte. Seinen Lebensunterhalt verdient er mit Musik auf Konzerten, im Studio und auf der Straße. Auch hierbei freut er sich über jeden künstlerischen Austausch, der sich spon-
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tan mit anderen Straßenmusikern wie → Gahd, → Mr. Paul oder → Rupert’s Kitchen Orchestra ergibt.
Abbildung 69: Onyx Ashanti im Mauerpark am 15.08.2010
4.1.69 Orgelmanne – Drehorgel Hauptinstrument: Alter: Herkunft: In Berlin:
Drehorgel 52 Berlin, Deutschland geboren
Manfred ist 52 Jahre alt, in Berlin geboren und aufgewachsen. Vor zehn Jahren hat er sich einen Kindheitstraum erfüllt und sich sein »Schmuckstück« gekauft, eine alte Stüber-Drehorgel. Seitdem steht er wenn er Zeit hat bei gutem Wetter ganzjährig fünf bis acht Stunden am Tag an unterschiedlichen Orten in der Stadt, die er aber nicht verraten mag: »Betriebsgeheimnis«, sagt er. Ende Juli treffe ich ihn auf dem Gendarmenmarkt, im Dezember dreht er die Kurbel seines Leierkastens auf dem Weihnachtsmarkt am Opernpalais Unter den Linden. Manchmal fährt er mit seiner Orgel im Sommer an die Ostsee nach Warnemünde und spielt dort auf der Seepromenade. Ein Plüschaffe ist sein ständiger Begleiter. 364 Mit einer Hornhupe macht er bisweilen scherzhaft auf sich aufmerksam. Stilecht mit Hemd, Weste, Mütze und Fliege – bis364 Anm. d. Verfassers: Ich erinnere mich, dass in den 1980er Jahren noch Leierkastenmänner mit echten Kapuzineräffchen auf dem Kurfürstendamm standen. Die Tiere waren eine zusätzliche Attraktion und hatten in noch früheren Zeiten die Aufgabe, Münzen bei den Umstehenden bzw. in den Höfen der Mietshäuser die herabgeworfenen Geldstücke einzusammeln. Diese traditionelle Praxis ist mittlerweile aus Tierschutzgründen nicht mehr zulässig.
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weilen auch mit Frack und Zylinderhut – gibt Manfred das Berliner Original und schlüpft in die Rolle von Orgelmanne. Das gefällt den Touristen besonders an einem geschichtsträchtigen Platz wie dem Gendarmenmarkt so gut, dass sie begeistert Fotos von ihm machen, die sie ihm im Anschluss manchmal zuschicken. Die Leute kommen oft von selbst auf ihn zu, werfen Münzen in den auf dem Leierkasten befestigten Hut und beginnen ein Gespräch. Fragen sie nach CDs, muss er passen. Aufnahmen sind problematisch wegen der Rechte an den Stücken und der GEMA. Wenn die Menschen zufrieden sind, wenn er ihnen mit seiner Musik etwas Freude schenken und gleichzeitig eine alte Tradition nahebringen konnte, ist der Leierkastenmann glücklich. Er spielt »mit Herz«, weil er auch selbst gerne Drehorgelmusik hört, denn sie weckt – nicht nur bei ihm – »alte Erinnerungen an die Kindheit«. Gerne lässt er Kinder wie Erwachsene für ein Foto selbst Hand an die Kurbel legen. Er kann aber auch von skurrilen Begegnungen berichten, bei denen ihn Leute angeschrien, »Beweisfotos für die Polizei« von ihm gemacht oder mit Dingen nach ihm geworfen haben.
Abbildung 70: Orgelmanne auf dem Gendarmenmarkt am 31.07.2010
Zum breiten Repertoire des Berliners gehören alte Gassenhauer und Pflastertreter genauso wie Altberliner Lieder oder Bearbeitungen klassischer Stücke. Stets führt Orgelmanne mehrere Notenbandrollen mit sich, auf denen die Stücke thematisch angeordnet sind, um auch einmal auf Publikumswünsche eingehen zu können. Wenn er zur Adventszeit auf den Berliner Christkindlmärkten spielt, stehen selbstverständlich, der Saison angemessen Weihnachtslieder auf dem Programm. Nur Frost kann ihn vom Spielen abhalten, denn bei zu niedrigen Temperaturen kann das teure Instrument Schaden nehmen. Gespielt wird »da, wo Leute sind«, aber nur dort, wo es gestattet ist, also nicht auf Bahnhofsgelände, vor Friedhöfen oder in der unmittelbaren Nähe von Kirchen, in denen gerade ein Gottesdienst stattfindet.
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Geld verdient Manfred indes »mit Arbeit« und nicht auf der Straße, er will jedoch keine näheren Angaben machen. Es ist der Spaß an seinem Hobby, der den Leierkastenmann bereits seit zehn Jahren so regelmäßig ins Freie lockt, obwohl er anfügt, man müsse »dafür ganz schön ’n Ding weghaben«. Er will jedenfalls weitermachen, »solange wie ick durchhalte«. Auch die Kontaktpflege ist wichtig, denn unterwegs auf Berliner Plätzen wird Orgelmanne oft für Auftritte auf privaten Feiern, Hochzeiten und dergleichen gebucht, was einen willkommenen Zusatzverdienst für ihn darstellt. Er schätzt daran besonders die feste Bezahlung, sonst sieht er keine Unterschiede zum Spiel auf der Straße. Der Kontakt zu anderen Straßenmusikern hält sich dagegen in Grenzen und beschränkt sich hauptsächlich auf die Absprachen wie etwa am Gendarmenmarkt, um sich nicht gegenseitig in die Quere zu kommen. Die Mitgliedschaft im Verein der Internationalen Drehorgelfreunde Berlin e.V. ist Ehrensache, allein schon, um etwa zum alljährlich am Breitscheidplatz stattfindenden Internationalen Drehorgelfestival eingeladen zu werden.
4.1.70 Paloma – Klarinette Hauptinstrument: Alter: Herkunft: In Berlin:
Klarinette 24 Buenos Aires, Argentinien seit Mai für ein Jahr
Die Argentinierin Paloma spricht zwar kein Deutsch, besitzt aber einen deutschen Pass, weil ihre jüdischen Vorfahren vor den Nationalsozialisten geflüchtet und nach Argentinien ausgewandert sind. Seit Mai ist sie für ein Jahr in Berlin, um das Land und die Stadt ihrer Ahnen kennenzulernen. Sie hat als Kind schon angefangen, Saxophon zu spielen, und hat später fünf Jahre lang Klarinettenstunden an der Musikschule genommen. Zu Hause in Buenos Aires spielt die 24-Jährige in einem Klezmertrio und wirkt außerdem in verschiedenen Projekten mit. In Berlin hat sie indessen noch keinen musikalischen Anschluss gefunden, aber schon kurz nach ihrer Ankunft damit begonnen, täglich für zwei bis vier Stunden Straßenmusik zu machen. Ihr etwa zweieinhalbstündiges Repertoire besteht größtenteils aus Klezmerstücken, von denen sie viele auch mit ihrer Band spielt. Für die junge Frau ist das eine gute Möglichkeit, ihre Reise und ihren Aufenthalt in Berlin zu finanzieren. Bisher klappt das auch ganz gut, doch aktuell sucht sie zusätzlich über das Jobcenter nach einer Beschäftigung. Solange sie hier ist, hat sie vor weiter Straßenmusik zu machen. »It’s just for now, not forever«, sagt Paloma und will eigentlich lieber drinnen vor festem Publikum auftreten. Auf der Bühne sei das Energielevel ein anderes, stellt sie fest. Beim Musizieren auf der Straße hingegen falle die Konzentration niedriger aus, es fühlt sich für sie mehr an wie bei einer Probe. Die Klarinettistin übt etwa zwei Stunden täglich auf ihrem Instrument. Am liebsten steht sie auf der Monbijoubrücke vor dem Bodemuseum, beim Bahnviadukt am Monbijoupark oder am Denkmal für die ermordeten Juden Europas neben dem Brandenburger Tor. Dabei hat sie bereits Bekanntschaft mit dem israelischen Saxophonisten → Gal gemacht. Vor ihr liegt stets der geöffnete Klarinettenkoffer, in dem sie Spenden sammelt. Beim Spielen blickt Paloma die Passanten an, zwinkert dem einen oder anderen zu und lächelt, so gut es mit der Klarinette geht. Sie
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liebt die Musik, die sie spielt, und hat sich bewusst dagegen entschieden, ihr Repertoire dem vermeintlichen Geschmack des Publikums anzupassen. Vielmehr genießt sie die unmittelbare Rückmeldung im direkten Kontakt mit den Passanten. Das kann z. B. die Anerkennung in Form von Geld oder freundlichen Worten und Blicken sein oder auch die Neugier von Leuten, die zu ihr kommen und Fragen stellen. Doch die junge Frau erzwingt den Kontakt nicht, sondern ist offen für das, was sich etwa aus einem Blickwechsel von selbst ergibt. Lediglich am Holocaust-Mahnmal ist sie mit ihrer Musik in einem Fall auf Ablehnung gestoßen. Letztlich misst sie den Erfolg ihrer Darbietung an ihrer Tagesform und fügt an: »A good performance yields significantly more money.«
4.1.71 Pedro – Altsaxophon Hauptinstrument: Alter: Herkunft: In Berlin:
Altsaxophon 53 Iaşi, Rumänien seit 11 Jahren
Pedro sitzt auf seinem Klapphocker auf dem Gehweg am Kurfürstendamm, Ecke Uhlandstraße, und spielt Standards aus Jazz und Bossa Nova wie »Take Five« von Paul Desmond oder »Garota de Ipanema« von Antônio Carlos Jobim. Rumänische Folklore gehört ebenfalls zu seinem Repertoire, all das stets durch Improvisationen bereichert. Jazz- und Balkanmusik nennt er auch als seine bedeutendsten musikalischen Einflüsse. Als Jugendlicher hat er die Musikschule besucht und seitdem »viel gespielt«. Straßenmusik macht der Rumäne bereits seit acht Jahren vor allem in Berlin, wo er seit 11 Jahren mit Aufenthaltsgenehmigung lebt. Er hat allerdings auch in Stuttgart, Potsdam und anderen deutschen Städten gespielt. Vor allem im Westen merke man, dass die Menschen mehr Arbeit und Geld hätten als in Berlin, sagt er. Zurzeit leistet die Straßenmusik einen substantiellen Beitrag zu Pedros Lebensunterhalt, spätestens wenn er »kein Brot und Zigaretten« mehr zu Hause hat, geht er zum Spielen nach draußen. Er spielt fast täglich, oft zwei Stunden am Vormittag und nochmal zwei bis drei Stunden nachmittags. Besondere Vorlieben seine Spielorte betreffend hat er nicht: er spielt »überall«, am Zoologischen Garten, in Steglitz, am Hermannplatz, in Kreuzberg. Dabei komme am Ku’damm Jazz besser an, während er in Kreuzberg stärker auf rumänische Stücke sowie arabische Tonskalen zurückgreife, erzählt er. Der 53-Jährige macht gern Straßenmusik und wählt auch sein Repertoire nach seinen eigenen Vorlieben aus. Zwei- bis dreimal pro Woche übt er für einige Stunden, auch für seine eigene Jazzband sowie für die Gruppe → Fanfara Kalashnikov, mit der er bisweilen zusammen spielt. Mit ihnen, aber auch früher schon in Rumänien hat er Musik im Studio aufgenommen. Pedros Spiel ist von Leichtigkeit geprägt und zeigt seine langjährige Verbundenheit mit seinem Instrument. Gleichzeitig drängt er sich trotz der potentiellen Lautstärke seines Instruments nicht auf. Durch seine Sonnenbrille hindurch nimmt er wenig Kontakt zu den Passanten auf, die ihrerseits wenig Notiz von ihm nehmen. Das Publikum in Berlin sei schwer, sagt er, weil die Leute eben wenig Geld hätten. Die Berliner liebten Jazz, und es ergäben sich viele Gespräche, auch sei er schon vor der
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Polizei in Schutz genommen worden oder in Situationen, in denen er mit Ausländerfeindlichkeit konfrontiert war.
Abbildung 71: Pedro am Kurfürstendamm, Ecke Uhlandstraße, am 16.07.2010
4.1.72 Peerkin – Gitarre, Gesang, Melodika Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Floor: Westerngitarre, Begleitgesang; Lean: Gesang (englisch, niederländisch, deutsch), Melodika, Percussion; verstärkt 18, 20 Arnheim, Niederlande für eine Woche
Das Duo Peerkin besteht aus den Schwestern Floor und Lean. Die beiden jungen Frauen aus Arnheim singen, oft zweistimmig, eigene Lieder und Coverversionen bekannter Rock- und Popsongs, z. B. »Gimme Shelter« oder »The Bare Necessities«. Die meisten ihrer Songs sind auf englisch, doch auch Niederländisch und Deutsch haben sie im Programm. Frank Zappa, die Rolling Stones, David Bowie und Bob Dylan nenne sie als ihre musikalischen Einflüsse. Während Floor dazu Gitarre spielt, singt Lean und begleitet die Musik mit kleinen Percussioninstrumenten wie einem Schellenring oder auf der Melodika und spielt auch mal ein Solo auf der Kazoo. Auf dem Alexanderplatz finden sie mit der guten Laune, die sie ausstrahlen, und ihrer
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freundlichen, kontaktfreudigen Art ein breites Publikum, das sich um sie versammelt. Zwischen den Stücken sprechen sie die Zuhörer an, und auch sonst suchen sie den Blickkontakt oder animieren zum Mitsingen. Ein befreundeter Berliner Straßenmusiker hat ihnen für die eine Woche, die sie in Berlin verbringen, seinen Verstärker und ein Mikrofon ausgeliehen, normalerweise spielen sie unverstärkt. Straßenmusik machen Peerkin erst seit zwei Wochen, täglich drei bis fünf Sets à ca. 30 Minuten. Die beiden Studentinnen finanzieren sich damit ihre Reise durch Deutschland; in Hamburg, Stade und München waren sie schon. Zu Hause leben sie von staatlicher Studentenförderung und werden außerdem finanziell von ihren Eltern unterstützt. Floor und Lean spielen auch sonst im Duo zusammen. Straßenmusik verschafft ihnen Auftrittserfahrung, engen Publikumskontakt und ist für sie gleichzeitig öffentliche Probe. Nach ihren Sommerferien wollen sie zu Hause mehr Konzerte geben. Während geplante Auftritte für sie eine konzentriertere Atmosphäre sowohl ihrerseits als auch beim Publikum erfordern, schätzen sie an der Straßenmusik den Raum und die Notwendigkeit für mehr Improvisation, Offenheit und das direktere Eingehen auf Publikumsreaktionen. Sie fühlen sich in die Situation ein, und wenn die Stimmung gut ist, dann spielen sie »mehr Partysongs«. Ihren Erfolg messen sie an den positiven Reaktionen der Leute, wenn sich diese hinsetzen oder wiederkommen und zwischen den Liedern auf ein kurzes Gespräch zu ihnen kommen. Dabei wollen sie mit ihren lebhaften Songs einladen, sich frei zu fühlen, das Leben und die Musik zu genießen. Floor und Lean haben gemeinsam die Waldorfschule besucht, spielen außerdem Klavier und haben in ihrer Familie sowie an der Musikschule das Musizieren gelernt.
4.1.73 Peter – Mundharmonika Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Blues Harp (Mundharmonika), verstärkt 62 Berlin, Deutschland geboren
Peter ist mittlerweile zu 80 Prozent taub und kann sich keine Musik mehr anhören. Deshalb macht er selbst Musik auf seiner Mundharmonika – um der Musik und des Spaßes willen und nicht des Geldes wegen. Auf diese Feststellung legt er Wert. Der Frührentner hat noch einen Job als Hausmeister, so dass er die Einnahmen aus der Straßenmusik nicht wirklich benötigt. Früher hat er als Zeichner und Graphiker gearbeitet. Auch damals schon hat er nebenbei auf Berliner U-Bahnhöfen musiziert und berichtet von Zeiten, in denen leicht 100 D-Mark pro Stunde zu verdienen waren, zur Weihnachtszeit sogar bis zu tausend Mark an einem Nachmittag. Das ist heute anders, doch wie gesagt für Peter nicht erheblich. Seit er 1989 angefangen hat, sich das Spielen auf der Mundharmonika beizubringen, macht er Straßenmusik. Früher lautete seine Botschaft an die Menschen: Man kann auch fröhlich sein ohne Geld. Heute will er nichts mehr vermitteln, nur noch Musik machen. Meist geht er gerne spielen, doch manchmal hat er keine Lust – und geht trotzdem, weil er weiß: »Die kommt dann immer dabei.« Er möchte nichts anderes tun, schon gar nicht aufhören, sondern weitermachen, »solange wie der Körper durchhält«. Straßenmusik bedeutet für den 62Jährigen Freiheit, er sagt: »Echte Straßenmusiker machen ihr Ding, spielen frei. Die
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studierten Russen machen keine Straßenmusik, die spielen ohne Seele.« Man grüßt sich trotzdem, wenn man sich begegnet.
Abbildung 72: Peter am U-Bahnhof Hallesches Tor am 19.08.2011
Der gebürtige Berliner tritt nur auf U-Bahnhöfen auf, vor allem am Mierendorffplatz (Linie U7), Potsdamer Platz (U2) oder am Halleschen Tor (U1, U6). Stationen wie die Eisenacher Straße (U7), »wo die Russen sitzen«, meidet er, und auf der Straße ist es ihm zu laut. Donnerstags und samstags geht der Mundharmonikaspieler mit seinem vollgepackten Einkaufstrolley los und musiziert für jeweils drei bis vier Stunden an einer seiner bevorzugten Stellen. Seine Bühne baut er sich selbst zusammen: Er nimmt auf einem Klapphocker Platz, der auf einer gefalteten Decke steht. Vor ihm befindet sich ein Notenständer mit seinem Repertoire – wobei er das meiste sowieso auswendig spielt: Irish Folk Tunes, Scottish und American Folk, aber auch deutsche Schlager und eigene Bluessongs, die er allesamt als Ausgangsmaterial für Improvisationen verwendet. Peter sagt: »Ich mache die andere irische Musik, authentisch und keine Covers.« Am Notenständer hängt eine Bodhrán, die traditionelle irische Rahmentrommel, mit dem Aufdruck des Logos seines früheren Irish-Folk-Duos Anam Cara (irisch, wörtlich in etwa: Seelenverwandter). Davor auf dem Boden sitzt sein Maskottchen, ein Teddybär, vor einer Plastikschüssel, die als Spendengefäß dient. Der Musiker benutzt beim Spielen ein Mikrofon, das er mit seinem Instrument in der Hand hält, und eine kleine Verstärkerbox, die unter einem Tuch an seiner Seite steht. »Ich spiele mit geschlossenen Augen für mich«, sagt er, und »immer, was ich will«. Doch natürlich freut er sich über die vielen Gespräche, die sich mit seinen Zuhörern ergeben, und über berührte, bewegte, ja sogar euphorische Reaktionen auf seine Musik. Wenn ihm andererseits Verachtung und Ignoranz entgegenschlagen und es viele Störungen gibt, findet er das »doof«. Er beobachtet, dass die Leute tendenziell aggressiver sind als früher. Beschimpfungen und sogar tätliche Angriffe hat er schon
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erlebt oder dass ihn jemand angespuckt hat. Mit der BVG oder der Polizei hingegen hat Peter normalerweise keine Probleme, da er sich stets eine Genehmigung besorgt und diese gut sichtbar am Notenständer befestigt. Er hat auch in Hamburg und Flensburg sowie längere Zeit in Irland Straßenmusik gemacht. Die Berliner empfindet er als intolerant gegenüber Straßenmusikern, woanders wurde er nie angebrüllt oder derart kühl ignoriert wie hier. Während seiner Zeit in Irland hat er auch auf dem Hurdy Gurdy (Drehleier) spielen gelernt. Doch das setzt der Berliner mittlerweile nur noch selten auf den U-Bahnstationen ein – zu wertvoll ist ihm das alte Instrument, das er besitzt. Zu seinen wichtigen Einflüssen gehören neben Irish Folk auch Blues, Country sowie keltische und gälische Musik. Er weiß auf Nachfrage viel über die Hintergründe der Musik und der einzelnen Stücke zu erzählen, die er spielt. Früher hat er mit diversen Bands und Ensembles Musik gemacht, viel in Irland selbst und später mit befreundeten Iren auf den U-Bahnhöfen. Heute tritt Peter immer noch allein oder im Duo auf kleinen Bühnen, in Irish Pubs und dergleichen auf. Er übt sporadisch, irgendwie doch jeden Tag nebenbei, z. B. vor dem Fernseher, und arbeitet daran, eine Solo-CD mit seiner Musik aufzunehmen – trotz aller Probleme mit seinem schlechter werdenden Gehör.
4.1.74 Philipp – Straßenspektakel Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Percussion (cajón etc.), Beatbox, (Sprech-) Gesang (deutsch, verstärkt) zu Zirkusperformance 26 Bayern seit eineinhalb Jahren
Die rasante Show des Duos zieht ein großes Publikum an, das sich im großen Kreis um die beiden Künstler schart und begeistert sowohl Beifall als auch Geld spendet. Philipp und sein Compagnon Cesar aus Chile bringen gemeinsam ein »Straßenspektakel« auf die imaginäre Manege im Mauerpark: Während Cesar artistische und clowneske Nummern aufführt und damit die Leute zum Lachen bringt, übernimmt der Bayer, der seit eineinhalb Jahren in Berlin lebt, die musikalische Untermalung. Dieser Bericht beschreibt vor allem Philipps Perspektive, weil sich mit Cesar kein Gespräch ergeben hat. Die beiden haben ein »festes Zirkusprogramm« mit drei Teilen vorbereitet, das 30 bis 45 Minuten lang ist. Geprobt wird »nach Bedarf«. Diese Routine nehmen sie als »Basis für Improvisation – alles ist möglich«. Cesars Aktionen sind stark raumgreifend. Er bewegt sich unter anderem auf einem winzigen Fahrrad sowie auf einem hohen Einrad und verwendet zahlreiche Requisiten, so dass er mit einem Funkmikrofon am Headset arbeitet. Philipp dagegen sitzt am Rande auf einem cajón. Hinter ihm auf dem Boden befinden sich ein kleines Mischpult, ein Miniverstärker und zwei handliche Lautsprecher, die in verschiedene Richtungen zeigen. Der Musiker hat sich eine Rassel ums rechte Knie gebunden und diverse weitere Percussion-Instrumente griffbereit, darunter Schellenring und Eselsgebiss. Auch eine Mundharmonika und eine einfache Holzflöte befinden sich in seinem Fundus. Vor ihm im Stativ hängt ein Mikrofon, das er für seine Moderation und Ansagen nutzt, vor allem jedoch für witzige Gesangseinlagen, Rap und Beatboxing während der einzelnen Nummern. Er
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spielt außerdem Djembé und Gitarre. Die Instrumente hat er sich alle selbst beigebracht, durch »learning by doing« und in zahlreichen Jamsessions. Dabei hat er sich vieles von »Kollegen, die man von überall her trifft«, abgeschaut. Das meiste, was der Multiinstrumentalist in seinen Performances spielt, beruht auf eigenen Ideen oder ist frei improvisiert. Er geht dabei bewusst sowohl auf die Location als auch auf die Leute ein.
Abbildung 73: Philipp und Cesar im Mauerpark am 08.08.2010
Als Straßenmusiker war er bereits in Neuseeland, Frankreich, Wien und Regensburg aktiv und sagt, es sei »überall schwieriger als in Berlin«. Hier sei man sehr frei, vor allem, weil man ohne Lizenzen auftreten könne. Seit er in der Stadt ist, macht er regelmäßig drei- bis fünfmal pro Woche Straßenperformances – ob allein oder mit Partnern wie Cesar oder mit anderen Musikern. Er tut sich gerne spontan mit Straßenmusikern zusammen, und vor allem in Berlin fällt ihm das wegen der großen Auswahl und der straßenmusikfreundlichen Atmosphäre leicht. Straßenmusik ist für Philipp in erster Linie eine Geldquelle, aber auch eine wichtige Bühnenschule: Hier muss er vor Publikum bestehen und die Kunst der Improvisation beherrschen. Wenn die Leute »abgehen« und er sie zur Teilnahme animieren kann und außerdem die »Kohle passt«, ist er zufrieden mit sich. Die Interaktion mit den Zuschauern sieht der 26-Jährige als seine Hauptaufgabe neben der musikalischen Gestaltung des Programms. Er will erreichen, dass die Menschen den Moment bewusst erleben und Spaß haben. In seiner Moderation legt er deshalb großen Wert darauf, sie mit einzubeziehen, zum Mitmachen, -klatschen, -tanzen und -singen zu bringen. Als ausgebildeter Ergotherapeut ist der Bayer an die Arbeit mit Menschen gewöhnt und kennt viele Tricks, um ihr Verhalten zu beeinflussen. Wirklich unangenehme Erfahrungen hat er deswegen bisher auch nicht gemacht, denn er ist der Auffassung: »Mit Reden und Kommunikation kommt man weiter.«
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Der kontaktfreudige junge Mann will am liebsten noch länger in Berlin bleiben. Er musiziert in diversen Bands und Projekten, bei Varietéveranstaltungen oder auf Straßenfestivals. Seinen Lebensunterhalt verdient er als Ergotherapeut und Musiker, z. B. wenn er für Festivals gebucht wird. Straßenmusik ist für ihn finanziell zwar ein wichtiger Faktor, »aber nicht lebenswichtig«. Er sieht sie als eine »wunderbare Ergänzung zu allem anderen« und geht ihr meistens gerne nach. Besonders das Überraschungsmoment und die Unmittelbarkeit schätzt Philipp an der Straßenmusik. Nicht nur für ihn selbst, auch für die Leute seien die Begegnungen dabei ungeplant, sagt er, sie bräuchten »nur die Augen aufmachen«.
4.1.75 Rainer – Gitarre, Gesang Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Westerngitarre, Gesang (französisch, englisch, italienisch, spanisch); unverstärkt 40 Hessen (»vom Land«), Deutschland seit zehn Jahren
Mit seinen Auftritten vor und in Cafés möchte Rainer den Gästen einen schönen Abend bereiten. Er tritt bewusst nicht in den Vordergrund, sondern verhält sich unaufdringlich und spielt so, dass jeder sich entscheiden kann, ob er zuhören oder sich weiter unterhalten möchte. Auch sein Genremix hebt ihn durchaus von vielen anderen Straßenmusikern ab: der Gitarrist tritt mit französischen Chansons, vor allem von Jacques Brel, amerikanischer Swingmusik, italienischen und spanischen Liedern auf, aber auch mit englischsprachigen Singer-Songwriter-Stücken von Tracy Chapman, Bob Dylan oder Jimi Hendrix. »Ich spiele nur Lieder, die ich mal toll fand oder mag«, sagt er. Seine ebenfalls vorhandenen Eigenkompositionen bringt er als Straßenmusiker nur sehr selten zu Gehör. Er benutzt sie eher, während er sich vor jeder Tour zu Hause eine halbe Stunde lang warmspielt. Anschließend zieht er mit seiner Westerngitarre durch Cafés und Kneipen in verschiedenen Stadtteilen Berlins. Im Sommer bevorzugt Rainer die Gegend um den Savignyplatz in Charlottenburg. Dort findet er ein »ganz anderes Publikum als in Kreuzberg« vor, das deutlich spendabler ist als anderswo. Außerdem sei er in dieser Lage der einzige Deutsche Straßenmusiker unter lauter Roma, berichtet er. Ansonsten tritt er in der Crelle-, Akazien- und Goltzstraße in Schöneberg auf oder in Kreuzberg im Graefestraßenkiez, am Ufer des Landwehrkanals oder in den Kiezen rund um die Oranien- und Wrangelstraße. Im Prenzlauer Berg ist ihm das Publikum tendenziell zu jung, und in Mitte findet er immer weniger Möglichkeiten zum Musizieren. Der Sänger und Gitarrist hat sich für die Strategie entschieden, in Lokalen aufzutreten, nachdem er auch andere Alternativen wie U-Bahnhöfe ausprobiert oder sich an einen festen Ort auf die Straße gestellt hat. Doch dort hatte er den Eindruck, er könne seine Qualitäten nicht richtig entfalten. Ganzjährig macht er sich viermal pro Woche auf den Weg und spielt werktags in den Abendstunden zwischen 18 und 22 Uhr, am Wochenende etwas früher von 14 bis 20 Uhr. Vor bzw. in jedem Café bringt Rainer mindestens drei Stücke zu Gehör, manchmal auch vier oder fünf. Die jeweilige Songauswahl passt er oft individuell den Orten an und versucht, ein einigermaßen schlüssiges Set zusammenzustellen. An manchen Tagen zieht er allerdings mit dem gleichen Programm von Bar zu Bar. Er
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sagt: »Ich versuche, mit der Musik auf die Leute einzugehen. Mein Ziel ist, selbst in die Musik reinzukommen, dann kann ich auch den Leuten Musik geben.« Bis vor etwa einem Jahr hat er beim Spielen zur besseren Konzentration stets die Augen geschlossen. Mittlerweile lässt er sie geöffnet, schaut sich die Menschen und ihre Reaktionen auf seine Musik an und erwidert Blickkontakt. Ansagen macht er jedoch nicht, um nicht zu viel Aufmerksamkeit zu binden. Die Gäste wissen seine Rücksichtnahme und Zurückhaltung durchaus zu schätzen und nehmen die Darbietung des Musikers freundlich auf. Über Anerkennung in Form von Geld, Applaus und ausgesprochenem Dank freut er sich wiederum. Freilich erlebt er auch pikierte Reaktionen oder hört Sprüche wie: Sie habe ich nicht bestellt. In manchen Fällen lässt ihn die Bedienung nicht spielen, weil sie befürchtet, er würde ihr das Trinkgeld wegnehmen.
Abbildung 74: Rainer in der Graefestraße am 16.08.2011
Der Hesse, der »vom Land« kommt, lebt mit Unterbrechungen bereits seit 1999 in Berlin, zurzeit in Wohngemeinschaft mit → Armin. Im Alter von zehn Jahren hat er Keyboard gelernt und auf der Heimorgel Volksmusik gespielt. Dann hat er sich die Gitarre seiner Schwester genommen, weil er da einen größeren Einfluss auf die Tonerzeugung hatte, und hat sich das Instrument größtenteils autodidaktisch beigebracht. Später hat der heute Vierzigjährige drei Jahre lang eine Schauspielschule besucht, wo er gelernt hat, professionell mit seiner Stimme umzugehen, was ihm auch bei der Straßenmusik von Nutzen ist. Während ihn schon immer die Musik Jacques Brels und diverser Singer-Songwriter begleitet hatte, hat er in der letzten Zeit die Swingmusik für sich entdeckt, seitdem er einmal einen anderen Straßenmusiker in einem Café gesehen hatte und das auch machen wollte. 2002 hat er ein Jahr lang zweimal pro Woche Straßenmusik in Berlin gemacht und dann erst 2007 wieder angefangen, als er »unbedingt irgendeinen Job« brauchte. Früher waren es auch die spezielle Ausdrucksform und das andere Lebensgefühl, die er damit verband. Heute
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betrachtet Rainer die Sache nüchterner und sieht sich im Zwiespalt: Einerseits gibt er zu, mittlerweile allein des Geldes wegen Straßenmusik zu machen, und andererseits hält er es eigentlich nicht für sinnvoll, vor einem Publikum aufzutreten, das nicht wegen der Musik da ist. Es ist eine Mühsal für ihn, bei seinen Auftritten jedes Mal selbst erst die Bühnenatmosphäre schaffen zu müssen, um dann doch nur im Hintergrund zu bleiben. Deshalb findet er auch immer weniger Freude an dieser Betätigung und »möchte weg davon«. Denn ursprünglich hatte sich der Gitarrist vorgenommen, drei Jahre lang als »Gesellenzeit« Straßenmusik zu machen, bis er sich als Musiker etabliert haben würde. Gerne würde er mehr tagsüber arbeiten und Musik eigentlich lieber auf der Bühne machen. Mit seiner Freundin hat er ein Chanson-Programm, das sie abendfüllend ausbauen wollen. Auch verschiedene weitere Projekte wie einen Jacques-Brel-Abend sowie »mehr eigene Sachen« plant er. Wenn es anderweitig gut laufe, sagt Rainer, könne er sich auch gut vorstellen, im entspannten Zustand und ohne Druck sommers ein- bis zweimal in der Woche Straßenmusik zu machen. Doch im Moment trägt die Straßenmusik etwa 50 bis 60 Prozent zu seinem Lebensunterhalt bei und ist daher unverzichtbar. Eigentlich ist er Landwirtschaftsmeister, gleichwohl ist er gegenwärtig auf Hartz-IV-Unterstützung angewiesen und arbeitet bisweilen als Messebauer. Vor diesem Hintergrund stellt er fest: »Es ist eine tolle Erfahrung, dass ich mit etwas, wo ich keine formale Ausbildung habe, so gut und zuverlässig Geld verdienen kann! Toll!« Und er ist dankbar, »dass es finanziell so super läuft«. In der Zwischenzeit hat Rainer auch in anderen Städten wie Frankfurt am Main, Barcelona, Marseille und 2009 zwei Wochen lang in Paris in der Öffentlichkeit musiziert. An Berlin findet er die große Zahl von Orten einzigartig, die sich für Straßenmusik eignen. In Frankfurt gibt es überhaupt viel weniger Kneipen, in Paris funktionieren die Auftritte dafür weniger spontan, dort setzt man eher auf feste Engagements. Und Barcelona kommt ihm im Rückblick sehr restriktiv vor: dort kann es nach seiner Erfahrung passieren, dass die Instrumente konfisziert werden und man sie gegen eine Gebühr von 150 Euro auslösen muss.
4.1.76 Re’em – E-Harfe, Gesang Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Elektrische Harfe (verstärkt), Gesang (ohne Text) 31 Hildesheim, Deutschland seit 2007 fest
Re’em ist das hebräische Wort für Einhorn. Außerdem ergibt es in der Transliteration rückwärts gelesen das Wort Meer. Mareike mag Wortspiele. Sie nennt sich auch Nroh Niesad, rückwärts gelesen: das Einhorn. Beim Musizieren ist die junge Frau aus Hildesheim ebenfalls sehr experimentierfreudig. Sie tritt mit einer elektrischen Harfe auf, die mit einem Effektgerät verbunden ist, das diverse Klangmodulationen erlaubt. Dabei zupft sie die Saiten nicht nur, sondern verwendet verschiedene Anspieltechniken, zum Beispiel mit einem Bogen. Dazu singt sie langgezogene Töne ohne Text, die den sphärischen Charakter ihrer Musik verstärken. Die 31-Jährige findet sich »sehr beatfrei«, weil sie ohne Loop-Station, Basslinie und zumeist ohne Mitmusiker spielt. Ihre Stilrichtung kann sie »momentan noch nicht einordnen« und
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kommt auf »elektronische Avantgarde«. Ob ihre Musik ihren eigenen Musikgeschmack treffe? »Ja, mit Lücken«, antwortet Mareike. »Ich versuche, aus mir selbst etwas zu kreieren, was ich noch nicht kenne.« Sie spielt eigene Stücke, kein fixes Set, hat verschiedene Grundthemen, die sie oft als Ausgangspunkt für Improvisationen nutzt. Dabei arbeitet sie »konzeptuell an den Ort und die Situation angepasst«, will keine Erwartungen und Klischees bedienen, sondern damit spielen. Die Harfenistin bezieht die Leute mit ein, sucht den Blickkontakt, reagiert auf Kinder, die zu ihr kommen. »Sobald die Musik läuft, kann ich mich auf die Leute konzentrieren.« Manche kommen immer wieder, andere lächeln sie verträumt an, wenn sie sich zu ihr gesetzt haben, bedanken sich, und manche haben schon zu weinen begonnen oder bringen ihr Geschenke. Negative Erfahrungen mit der Polizei hat sie eher in Paris als in Berlin gemacht. Auch in Rostock und Hildesheim hat Re’em auf der Straße gespielt. Sie stellt fest: »Straßenmusik hilft, die jeweilige Stadt, den Organismus dahinter zu verstehen.« Berlin, wo sie seit zwei Jahren fest lebt, ist für sie ein »Paralleluniversum«. Sie findet, nirgends habe sie so viele unterschiedliche Leute getroffen wie hier. Die Stadt hat kein Zentrum, »jeder Punkt in Berlin ist magisch, viel stärker als woanders«. Hier hat sie das Gefühl, »alles ist möglich«, und nimmt die Verbindung mit den Menschen stärker wahr als anderswo.
Abbildung 75: Re’em im Mauerpark am 15.08.2010
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Mareike legt Wert auf die Feststellung, dass sie völlig drogenfrei lebt. Schon als Kind hatte sie Klavierunterricht und seit dem Besuch der Realschule auch Gesangsstunden. Harfe zu spielen war einer ihrer Kindheitsträume, den sie sich 2004 mit dem Kauf ihrer blauen elektrischen Harfe erfüllt hat. Seitdem entwickelt sie ihre Fertigkeiten autodidaktisch und lässt sich etwa von der Bretonischen Harfenistin Kristen Noguès inspirieren oder von Musikerinnen wie Anne Clark und Lisa Gerrard. Am 14. Juni 2008 hat Re’em schließlich zum ersten Mal Straßenmusik gemacht. Sie erkennt darin »eine großartige Bühne aus Sicht des freien Willens«, weil sie sich dabei »völlig ungebunden« fühlt: »Du kannst dein Ding machen.« Es ist ihr außerdem ein Anliegen, ihre Musik nach außen zu tragen und die Harfe als Instrument öffentlich zu repräsentieren: »Die Harfe ist kein Drama, keine Utopie.« Schließlich trägt Straßenmusik zu Mareikes Lebensunterhalt bei, und sie möchte den Menschen vermitteln: »Du kannst dich mit dem, was du liebst, ernähren, davon leben!« HartzIV-Unterstützung und andere musikalische Projekte sind ihre weiteren Einkommensquellen. Straßenmusik macht sie gerne, »solange es immer wieder Spaß macht«, und will zukünftig den Schwerpunkt stärker auf Konzerte solo oder mit anderen Musikern legen. Dabei versucht sie »möglichst breitgefächert zu arbeiten«, es »muss zwischenmenschlich passen«. Draußen ist sie für spontane Jamsessions offen, es ergeben sich auch immer wieder Kollaborationen, aber tendenziell eher mit Straßenkünstlern wie Akrobaten usw. als mit Musikern. Die Harfenistin spielt gerne auf der Oberbaumbrücke zwischen Friedrichshain und Kreuzberg oder am S-Bahn-Ausgang auf der Warschauer Brücke, am Boxhagener Platz, auf dem Platz vor dem S-Bahnhof Hackescher Markt oder in der Sackgasse der Sonntagstraße am Bahnhof Ostkreuz. Dagegen meidet sie »Yuppie-Orte« wie den Potsdamer Platz oder den Platz vor dem Kaufhaus des Westens (KaDeWe) am Wittenbergplatz. Sie probt nur zu Hause, »wenn ich Lust dazu habe oder alleine spielen will, also eher sporadisch oder vor Konzerten«. Ansonsten geht sie im Schnitt jeden zweiten Tag Straßenmusik machen, beginnt mittags und spielt an ca. drei bis fünf Orten bis nach Mitternacht, wenn die Temperaturen angenehm sind. Ich treffe Mareike sonntagnachmittags im Mauerpark an. Sie hat sich auf einer steinernen Stufe am Rand der Schwedter Straße ein bequemes Lager aus Decken hergerichtet, direkt neben → Onyx Asahnti, mit dem sie auch schon zusammen gejammt hat. Ihre blaue Harfe, die im Sonnenlicht schillert und (wie Re’em selbst) mit diversem Schmuck verziert ist, zieht die Blicke der Passanten auf sich. Neben ihr steht ein Mikrofonstativ, das sie heute nicht benutzt, die kleine Verstärkerbox ist mit rotem Plüschstoff überzogen. Vor sich am Straßenrand hat sie auf einem orangefarbenen Stoffschal einen Hut für Spenden sowie CDs mit selbstgestalteten und -gemalten Covern – jedes ein Unikat – liebevoll drapiert. Ein handgeschriebenes Schild nennt ihren Künstlernamen Re’em und den Preis für die Tonträger. 365 Die CD-ROMs enthalten selbst aufgenommene Musik, Bilder und Texte sowie Live-Mitschnitte von ihr. Studioaufnahmen sind in Planung. Viele Passanten bleiben stehen und lassen die Harfenklänge auf sich wirken oder beschauen sich die kleinen Kunstwerke zu Mareikes Füßen. Ein junger Mann mit einer kleinen Djembé (siehe Abschnitt 4.2.59) setzt sich spontan neben sie, als sie gerade ihre Harfe stimmt, und beginnt zu spielen. Sobald sie fertig ist, gibt er Ruhe und hört einfach zu. 365 Vgl. Abbildung 137 in Abschnitt 4.2.59.
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4.1.77 Rhythms of Resistance – Samba-Percussion Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Bandleader mit Caixa (Snare-Drum) und Trillerpfeife, Caixa, Agogô, Repinique (2x), Surdo (2x hoch, 1x tief) 21-25 Warschau, Polen auf der Durchreise
Rhythms of Resistance ist ein weltweites Netzwerk von über dreißig unabhängigen politisch aktiven Samba-Trommelgruppen, das im Jahr 2000 von Großbritannien ausgehend gegründet wurde. Nach eigener Darstellung sehen sich die Bands in der Tradition der Afro-Block-Gruppen, die in den 1970er Jahren in den Armenvierteln Brasiliens als Widerstandsbewegung gegen die Unterdrückung in der Militärdiktatur entstanden und sich teils auch heute noch für Freiheit, Menschenrechte und Chancengleichheit einsetzen und gegen Rassismus und soziale Ungerechtigkeit kämpfen. Die Gruppierungen im Netzwerk von Rhythms of Resistance kämpfen explizit gegen soziale und ökologische Ungerechtigkeit. 366 Auf der Internetseite des Netzwerks stehen diverse Trommelrhythmen und Breaks sowie Tänze notiert sowie die Einzelstimmen als Klangdateien zum Anhören zum Download zur Verfügung. Die Handzeichen für den mestre, den Bandleader, der das Ensemble dirigiert, sind ebenfalls vorgegeben. Durch das weltweit einheitliche Repertoire wird es den autonomen baterias (Samba-Trommelgruppen) möglich, sich bei Großveranstaltungen wie Demonstrationen oder anderen gemeinsamen Aktionen spontan zu größeren Gefügen zusammenzuschließen und damit ihre Wirkung zu vervielfachen.
Abbildung 76: Rhythms of Resistance auf dem Alexanderplatz am 06.08.2010
366 Vgl. Rhythms of Resistance 2014 (Internet).
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Auf dem Alexanderplatz findet an diesem Freitagnachmittag weder eine politische Demonstration noch eine andere Veranstaltung statt. Die Warschauer Ortsgruppe von Rhythms of Resistance ist auf der Durchreise für zwei Tage in Berlin und hat sich entschlossen, in der Stadt ihre Rhythmen öffentlich zu proben. Etwa fünfzehn Minuten lang spielen sie auf dem Platz und sammeln Spenden bei den Umstehenden ein, von denen sich rasch eine kleinere Menge um die Band sammelt. Dabei gibt es weder erläuternde Ansagen noch Flyer, die die Gruppe vorstellen. Der mestre, ein junger Mann mit freiem Oberkörper, gibt mittels Handsignalen und Trillerpfeife Takt und Tempo an und spielt ansonsten auf einer caixa mit, der brasilianischen Variante der Snare-Drum. Dabei ist er der Band zugewandt, dem Publikum weht demonstrativ die Tibet-Flagge entgegen, die er sich um den Hals gebunden und auf den Rücken geworfen hat. Der Rest der bateria steht im Halbkreis: sechs junge Frauen, von denen noch eine auf einer caixa spielt und eine die Doppelglocke agogô. Je zwei trommeln mit Schlegeln auf repiniques und hohen surdos. Ein Mann spielt die tiefe Basstrommel surdo. Der Bandleader gibt vor allem den Frauen an den repiniques immer wieder Raum für solistische Improvisationen, während die übrigen den Rhythmus halten. Acht von neun Mitgliedern der Warschauer Einheit sind heute dabei und formieren sich anschließend zu einem kleinen Zug, dem der mestre vorangeht – rückwärts, um den Blickkontakt zu den Spielern halten zu können. Einige Minuten lang laufen sie so über das Areal, bevor sie sich in gemütlichem Tempo unter den Bahnbrücken hindurch am Platz vor dem Roten Rathaus vorbei in Richtung Berliner Dom auf den Weg machen. Unterwegs bleiben sie stets in Bewegung und nehmen keinen weiteren Kontakt zu den Menschen auf, an denen sie vorbeikommen. Am Dom angekommen, beenden sie ihren Auftritt mit einem weiteren Stück vor wenig Publikum auf den Treppenstufen vor dem Eingang und packen schließlich ihre Sachen zusammen. Auch daheim in Warschau trommeln die jungen Leute bei Bedarf auf der Straße, wenn sie Geld für neue Instrumente oder gemeinsame Aktionsreisen brauchen. Ihre wöchentlichen Proben stehen allen Interessierten jederzeit offen. Entscheidungen werden gemeinschaftlich getroffen, wobei jede Stimme gleichwertig ist, egal, ob die Person zum ersten Mal an einem Treffen teilnimmt oder schon länger dabei ist.
4.1.78 Rin Tin Tin – Mundharmonika, Gesang Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Mundharmonika, Gesang (deutsch, englisch) 77 Berlin, Deutschland geboren
Rin Tin Tin spielt schon seit vielen Jahren mit seiner Mundharmonika auf UBahnhöfen wie am Kurfürstendamm (Linie U9) oder Stadtmitte (U2, U6). Zur Weihnachtszeit steht er manchmal in der Steglitzer Schloßstraße vor C&A oder Karstadt. Auf S-Bahnhöfen oder Weihnachtsmärkten tritt er hingegen nicht auf. Früher hat der gebürtige Berliner in der Buchhaltung eines Unternehmens gearbeitet, doch aufgrund einer Erkrankung ist er nahezu erblindet und wurde 1990 zum Frührentner. Weil das Geld für sich und seine Frau nicht zum Leben reichte, begann er, auf U-Bahnhöfen christliche Lieder und amerikanische Folklore wie »Oh, Susanna« zu singen, die er teils noch aus seiner Schulzeit kannte. Jemand hat ihm irgendwann eine Mundhar-
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monika geschenkt, die er autodidaktisch zu spielen gelernt hat und heute hauptsächlich einsetzt. Er sagt, er spiele intuitiv und brauche nicht zu üben. Straßenmusik macht ihm auch Freude, er findet seine Auftritte sehr individuell und persönlich. Eine Alternative, seine kleine Rente aufzubessern, sieht Rin Tin Tin, wie er sich nennt, indessen nicht, er meint: »Ich kann nichts anderes«, und will weitermachen, solange es geht: »Das liegt in Gottes Hand.« Ansonsten singt er eigentlich nur zum Gottesdienst seiner freikirchlichen Glaubensgemeinschaft. Auch mit seiner Straßenmusik möchte er den Glauben an Gott verbreiten. Zwei- bis dreimal in der Woche steht der Rentner bis zu sechs Stunden lang auf den U-Bahnhöfen, vor allem nachmittags zur Feierabend-Rush-Hour. Sonntags spielt er nicht. Er stellt sich an Punkte, an denen viele Menschen vorbeiströmen, z. B. in den Gang, der am U-Bahnhof Stadtmitte die Bahnsteige der Linien U2 und U6 miteinander verbindet. Manchmal steht er auch direkt am Bahnsteig, obwohl das nicht erlaubt ist. Doch eine Lizenz besorgt er sich ohnehin nicht. Ab und zu wird er von der Aufsicht höflich gebeten, den Platz zu wechseln.
Abbildung 77: Rin Tin Tin am U-Bahnhof Stadtmitte am 01.09.2011
Überhaupt weiß der Mundharmonikaspieler nur von sehr freundlichen Reaktionen auf seine Präsenz zu berichten. Wenn ihn die Leute mit netten Worten und kleinen Geldspenden bedenken, entgegnet er stets: Gott segne Sie. Viel mehr Interaktion mit den Passanten erfolgt nicht, da Blickkontakt nicht infrage kommt. Gelegentlich ergibt sich ein Gespräch mit Passanten. Um Kraft zu sparen, lehnt der 77-Jährige an der Wand. Mit der einen Hand spielt er Mundharmonika, wobei die Melodien der Lieder nicht erkennbar sind. Es wirkt vielmehr, als würde er ohne System in sein Instrument blasen. Zudem hat er Schwierigkeiten, sich gegen den Umgebungslärm durchzusetzen, die Menschen eilen an ihm vorbei. In der anderen Hand hält Rin Tin Tin seine Schirmmütze, in der nur ab und zu eine Münze landet. Er hat keine guten Erfahrungen damit gemacht, die Mütze auf den Boden zu legen, weil sie ihm dann schon ge-
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stohlen wurde oder Jugendliche sich daraus bedienten. Neben ihm an der Wand lehnt sein Blindenstock, daneben steht eine Kunststofftragetasche mit etwas Verpflegung, die ihm seine Frau vorbereitet hat.
4.1.79 Robert – Gitarre, Gesang Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Westerngitarre und Gesang (deutsch, englisch), unverstärkt 27 Kassel, Deutschland seit sieben Jahren
Robert steht mit seiner Westerngitarre am Platz vor dem S-Bahnhof Hackescher Markt und singt »die größten Hits der 70er, 80er und 90er«367, Gitarrenpop und Singer-Songwriter-Musik auf englisch und deutsch. Hinter ihm liegen zur Inspiration zwei Bände mit Texten und Akkorden zu Liedern ebensolcher Art. Er hat sich Stücke ausgewählt, die ihm selbst gefallen. Und doch wirkt der Auftritt des 27-Jährigen introvertiert und wenig ambitioniert. Ansagen macht er nicht und nimmt auch sonst wenig Kontakt zu den Passanten auf, die sich unbeeindruckt zeigen. Ohne Mikrofon und Verstärkung fällt es ihm schwer, sich gegen den Verkehrslärm durchzusetzen. Die Gitarrentasche, die vor ihm auf dem Pflaster liegt, bleibt weitgehend leer. Eine der beiden Münzen darin stammt von zwei Freunden, die sich in der Nähe aufhalten und ihn bei seinem Experiment unterstützen. Im Gespräch einige Wochen später sagt Robert, dass es für ihn bisher bei diesem einen Versuch geblieben sei, Straßenmusik zu machen. Er sieht sich selbst auch gar nicht als Straßenmusiker, spielt eigentlich Gitarre in einer Band, die deutsche Rockmusik macht. Musikalische Vorbilder für sich sieht er in Klaus Lage, Marius MüllerWesternhagen, Herbert Grönemeyer und schwedischen Rockbands. Er lebt von den Unterhaltszahlungen seiner Eltern und Studentenjobs. Doch Geldmangel hat den Studenten auf die Idee gebracht, sich als Straßenmusiker zu versuchen, und außerdem wollte er austesten, ob sein Stimmvolumen für die Straße ausreicht. Er hat sich damit keinen Druck gemacht, sich nicht »ausgeliefert« und sich zugestanden, jederzeit wieder zu gehen. Nervenkitzel oder Lampenfieber hat der Gitarrist dabei nicht empfunden. Die Erfahrungen, die er während seiner drei jeweils etwa halbstündigen Auftritte am Alexanderplatz, im Nikolaiviertel und auf dem Platz vor dem S-Bahnhof Hackescher Markt gesammelt hat, waren freilich so ernüchternd, dass er eigentlich nicht wieder Straßenmusik machen will. Dennoch schließt Robert nicht aus, dass ihn im nächsten Sommer akute Geldnot zu einem erneuten Versuch treiben könnte. Eine klassische Gesangsausbildung wäre auf jeden Fall von Vorteil gewesen, resümiert der Autodidakt, der ursprünglich aus Kassel stammt und vor sieben Jahren zum Studium nach Berlin gezogen ist. Dabei hat er sich schon bewusst verkehrsberuhigte Orte gesucht. Und beim nächsten Mal würde er sich die Stücke gezielter mit Blick auf sein Publikum aussuchen, z. B. modernere Lieder für Orte, an denen mehr junge Menschen unterwegs sind.
367 So ähnlich klangen bis vor einigen Jahren die Slogans diverser populärer Radiosender.
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Abbildung 78: Robert vor dem S-Bahnhof Hackescher Markt am 25.09.2010
4.1.80 Rupert’s Kitchen Orchestra – Funk, Soul, Ska Hauptinstrumente:
Alter: Herkunft: In Berlin:
Andreas: Schlagzeug, Percussion; Chrispy Chris: Altsaxophon und Gesang (deutsch, unverstärkt); Conny: elektrische Bassgitarre; Felix: elektrische Gitarre; Gido: Halbresonanzgitarre, verstärkt 30-35 Berlin, Deutschland zu Hause
Die Berliner Band Rupert’s Kitchen Orchestra macht Funk-, Soul- und Skamusik mit zumeist deutschen Texten. Alle Songs sind Eigenkompositionen. Straßenmusik ist für die fünf Musiker seit zwei Jahren ein wesentliches Betätigungsfeld. Auf Konzerten und Festivals spielen sie auch in größerer Besetzung, doch wenn die Hallen zu groß werden, finden sie es schnell unpersönlich. Stattdessen gehen sie in den Mauerpark oder an andere »touristische Orte, wo die ganze Welt vorbeiläuft«, und erfreuen sich daran, »wenn die Leute abgehen, Spaß haben, mitgehen«. Ihre Botschaft lautet: »Seid fröhlich, mach euch locker, hier ist Party!« Diese Haltung versuchen sie auch in ihren Songtexten und ihrer Show zum Ausdruck zu bringen. Insbesondere Frontmann Chrispy Chris versteht es, das Publikum in die lebhafte Bühnenperformance mit einzubinden. Er macht witzige Ansagen, geht beim Saxophonspielen und Singen
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auf die Menge zu, mischt sich unter die Leute, tanzt mit ihnen oder wirft sich während eines Solos auf den Boden und wälzt sich wild im Staub. Gekonnt lenkt er mit Gesten und Bewegungen die Aufmerksamkeit auf die anderen Bandmitglieder, wenn diese die Stimmführung übernehmen oder solieren. Die zahlreichen Zuhörer an diesem Sonntagnachmittag im Mauerpark sind begeistert von so viel Einsatz. Sie singen und tanzen mit, klatschen und schreien. Rupert’s Kitchen Orchestra haben sich abseits des Weges positioniert zwischen ein paar jungen Bäumen, vor voll besetzten Steinbänken. Hinter den drei Gitarristen, die jeweils mit einem Verstärker verkabelt sind, sitzt der Schlagzeuger. Davor bewegt sich kabellos frei der Saxophonist und Sänger. Während der gesungenen Passagen spielt der Rest der Band so leise, dass die Texte auch ohne Mikrofon verständlich sind. Das Saxophon hingegen hat selbst bei höheren Pegeln keine Probleme, sich durchzusetzen. Der aufgeklappte Saxophonkoffer, der zwischen Band und Zuhörern liegt, füllt sich rege mit Spenden, während die CD-Vorräte darin schwinden. Daneben liegt eine Liste aus, in die sich diejenigen eintragen können, die per E-Mail über Konzerte, CD-Veröffentlichungen etc. informiert werden wollen. Sollte sich einmal jemand gestört fühlen, was vereinzelt vorkommt, wenn die Band im Freien musiziert, bemüht sie sich stets darum, alles »humorvoll« zu regeln.
Abbildung 79: Rupert’s Kitchen Orchestra im Mauerpark am 08.08.2010
Im Sommer macht die Gruppe zwei- bis dreimal wöchentlich Straßenmusik, »solange wie es ohne Handschuhe geht«. Im Interview sagt Chris: »Straßenmusik geht immer. Man erreicht auch Leute, die vielleicht nicht zum Konzert kommen würden, alle Altersklassen.« Das Hauptmotiv der Band, im öffentlichen Raum aufzutreten, ist »die freie Atmosphäre draußen«. Außerdem erschließen sie sich dabei stets neues Publikum und können direkt Werbung für Konzerte und andere Events machen, an denen sie beteiligt sind. Ein Set dauert ca. eine Stunde und wird in der Länge je nach Publi-
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kumsfluktuation angepasst. Proben finden zweimal pro Woche statt, doch insbesondere für das Freiluftprogramm »sitzen die Songs«. Fast alle Mitglieder sind Autodidakten mit ganz verschiedenen Einflüssen und verbessern sich stetig durch »Spielen, Spielen, Spielen«. Sie leben von musikalischen Tätigkeiten und auch von der Straßenmusik. Außer in Berlin haben Rupert’s Kitchen Orchestra in Hamburg und Landshut auf der Straße gespielt und beobachten, dass das eigentlich als liberal geltende Berlin »langsam straßenmusikfeindlicher« wird, »Hamburg noch stärker« vor allem »wegen des Papierkrams« dort.
4.1.81 Sagax Furor – Mittelalterband Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Dudelsack (3x), Cister, Davul, Djembé, Gesang (deutsch) 20-30 (alle männlich) Magdeburg, Deutschland auf Tagesausflug
Die sechs Musiker der Gruppe Sagax Furor befinden sich auf einem Tagesausflug von Magdeburg nach Berlin. Ihre Stilrichtung bezeichnen sie als »akustische Mittelalterparty« mit Elementen aus keltischer und Folkmusik. Mit ihren Instrumenten und der Show, die sie neben dem Bahnhof Alexanderplatz liefern, ziehen sie schnell eine große Menge von mindestens hundert Menschen an, die fasziniert das Spiel verfolgen. Drei Dudelsäcke, Zister, Davul und Djembé sind ein seltenes Ensemble auf Berlins Straßen und Plätzen – sowohl den Musikstil als auch die Gruppengröße betreffend. Der Frontmann, einer der Dudelsackspieler, ist eine »Rampensau«, es ist Teil des Programms, dass er das Publikum zum Klatschen, Mitsingen, Bewegen und Tanzen animiert. Derbe Witze, Ansagen und Liedtexte gehören dazu, es werden traditionelle und eigene Lieder teils mehrstimmig dargebracht, Hauptsache »laut und schnell«. Die Band versucht, das Publikum aus der Reserve zu locken, was ihr nach eigener Einschätzung und im Vergleich zu anderen Städten wie Dresden oder Hamburg trotz der großen Menschenmenge in Berlin schwerfällt. Normalerweise treten Sagax Furor auf Mittelaltermärkten und dergleichen auf. Straßenmusik machen sie seit drei Jahren immer wieder gern, aber nur ein- bis zweimal jährlich im Sommer, weil die Instrumente recht empfindlich sind. Dieser Kontext ist für sie entspannter, weil die Leute ohne Erwartungshaltung kommen und sie als Mittelaltergruppe ohne den Rahmen eines Festivals stärker herausstechen. In erster Linie treten sie »aus Spaß an der Freude« auf. Über das Geld, das dabei für sie herausspringt, freuen sie sich, weil sie sich davon Bier kaufen können. Und außerdem kann die Band auf der Straße unbefangen neue Stücke für ihr Programm ausprobieren und die Reaktionen des Publikums testen. »Wenn die Leute gut mitmachen, wir und die Spaß haben«, ist das Ziel erreicht. Nach einer knappen halben Stunde Spielzeit haben sie sich weit mehr als das Geld für das Benzin erspielt. Die jungen Männer sind zwischen 20 und 30 Jahren alt und haben sich ihre Instrumente sämtlich autodidaktisch beigebracht, »learning by doing«. Einige von ihnen leben von der Musik, spielen noch in anderen Bands oder treten mit einem Soloprogramm auf. Für den Rest handelt es sich um ein Hobby, das neben dem Beruf betrieben wird und nicht wesentlich zum Lebensunterhalt beiträgt. Früher hat die
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Gruppe intensiver geprobt, doch versuchen sie sich regelmäßig zumindest am Wochenende zu treffen, um z. B. an Studioaufnahmen zu arbeiten.
Abbildung 80: Sagax Furor vor dem Bahnhof Alexanderplatz, Gontardstraße, Ecke Rathausstraße, am 28.07.2010
4.1.82 Sarah – Blockflöte, Gesang Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Blockflöte, Gesang (deutsch, englisch, schottisch, irisch, französisch) 26 Indiana, USA seit einem Jahr
Sarah ist eine fast feenhafte Erscheinung mit ihrer schlanken Figur, den ins Haar geflochtenen Blumen, ihrer Blockflöte, den Melodien aus einer anderen Zeit und dem Kelch aus Metall, der vor ihr auf dem Boden steht. Der von Efeu umrankte gusseiserne Zaun hinter ihr verstärkt den zauberhaften Charakter ihres Auftritts. Dabei wirkt sie nicht in sich gekehrt, sondern blickt die Passanten unumwunden und freundlich an. Vor allem Kinder und Alte zieht sie in ihren Bann. Ihren Stil bezeichnet die junge Frau aus Indiana als »Old and Early Music, folk singing« und Keltisch. Erst gestern hat sie damit begonnen, Straßenmusik zu machen, und findet Freude daran. Sie will weitermachen, »solange es warm ist«. Zwei Stunden lang stand sie am Vortag an verschiedenen Stellen in der Spandauer Altstadt, heute war es eine Stunde. Sie mag die Atmosphäre dort, die ihrer Meinung nach zu der Musik passt, die sie macht. Außerdem will sie »nicht nur für Touristen spielen«. Sarah hat in den USA Gesang und Klavier studiert, spielt außerdem etwas Gitarre und zeigt besonderes Interesse an Volksliedern, Alter Musik und »Musik für die Leute«. Abwechselnd spielt sie auf ihrer Blockflöte und singt ohne Begleitung alte Lieder und Volkslieder auf
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deutsch, englisch, schottisch, irisch und französisch. Sie versucht, auf diese Weise in Kontakt mit den Leuten zu treten und geht dabei auf die Passanten ein, stimmt etwa Kinderlieder an, wenn Familien vorbeikommen. Ihre Motivation ist es, Volksliedgut zu verbreiten und »Musik nicht nur für Konzertsäle«, sondern für jeden zu machen – »für alle, die nicht in Konzerte kommen«. Und sie wehrt sich dagegen, dass die Leute glauben, im Konzert auf der Bühne gute Musik zu hören und gleichzeitig denken, auf der Straße gäbe es »no real musicians – that is not true!«
Abbildung 81: Sarah in der Spandauer Altstadt am 14.08.2010
»Wenn die Menschen und Kinder sich freuen, wenn ich Interesse errege«, sagt Sarah, gibt ihr das ein gutes Gefühl. Die Musikerin freut sich über die, die bleiben und zuhören, nicht einfach vorbeilaufen, über Lächeln und Applaus. Und sie will den Leuten mitgeben: »Singt eure eigenen Lieder!« Sie schaut ihren Zuhörern in die Augen und fragt im Anschluss an ein Lied nach, ob die Leute es kennen. Das ist ihr alles viel wichtiger als die paar Münzen, die in ihrem Metallkelch landen. »Ich will nicht nur für Geld spielen«, sagt sie. »Ich will in Kontakt mit den Leuten treten, auf Alte Musik aufmerksam machen.« Neben ihrem Spendengefäß liegt ein handgeschriebener Zettel in Form eines Briefumschlages, auf dem Sarah die Leser einlädt, ihr Lieder beizubringen. Der Amerikanerin ist am Austausch gelegen, und auf die Frage, wieviel sie übt, antwortet sie: »Ich lerne mehr als zu proben.« Mit dem Heraussuchen
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neuer Texte und Lieder verbringt sie zwei bis drei Stunden am Tag, um ihr Repertoire zu erweitern. Die 26-Jährige hat deutsche Vorfahren und beherrscht die Sprache gut. Seit einem knappen Jahr ist sie mit einem unbefristeten Visum in Berlin, um hier neue Lieder zu lernen und sich im Land ihrer Ahnen inspirieren zu lassen. Sie lebt von Jobs als Englischlehrerin, unterrichtet Musiktheorie und gibt Konzerte. Mit verschiedenen Projekten macht sie klassische und Alte Musik. Dabei ist auch Raum für ihre eigenen Kompositionen, die sie nicht auf der Straße spielt.
4.1.83 Seanín – Mandoline, Gesang Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Mandoline, elektrische Mandoline (verstärkt), Gesang (englisch, irisch) 36 Manchester, Großbritannien seit drei Jahren immer wieder zeitweise
Seanín macht schon sein halbes Leben lang Straßenmusik. Heute ist er 36 Jahre alt, begonnen hat er mit 18 Jahren in seiner Heimat England. In dieser langen Zeit hat er an vielen Orten gespielt: in Irland, New York, London, Paris, Prag und zahlreichen kleineren Städten in Europa. Seit drei Jahren kommt der Mandolinenspieler immer wieder nach Berlin, weil er es als besonders straßenmusikfreundlich wahrnimmt. Er findet die Stadt sehr liberal, hier hat er deutlich weniger Probleme und Ärger mit der Polizei oder Ladenbesitzern als anderswo. Früher, sagt er, sei er idealistischer gewesen, doch heute sei Straßenmusik für ihn in der Hauptsache ein Mittel, um Geld zu verdienen und seine Rechnungen zu bezahlen. Vor allem im Winter sei diese Tätigkeit kein reines Vergnügen, und er meint: »I would stop tomorrow if I could.« Lieber würde er mehr Konzerte an richtigen Auftrittsorten geben – mit seiner Band oder anderen Musikern – und dabei seine eigenen Lieder spielen. Denn die Straßenmusik bietet ihm im Gegensatz zu gebuchten Konzerten keine finanzielle Sicherheit. Andererseits schätzt er an ihr ihre Spontaneität und die Eigenschaft, sich jederzeit an ihre Umgebung anpassen zu können. Der Halb-Ire ist in seinem Elternhaus mit traditioneller irischer Musik aufgewachsen, es wurde viel gesungen. Sein Vater hat ihm einige Gitarrengriffe und die Grundlagen des Mandolinenspiels gezeigt, den Rest hat sich Seanín selbst beigebracht. Auch »Gipsy and any kind of folk music« haben seinen Stil beeinflusst. Beim busking spielt und singt er ausschließlich traditionelle irische Lieder und »some Gipsy tunes« – das komme sehr gut bei den Leuten an, sagt er. Je nach Alter des Publikums variiert er das Tempo: schneller für die Jüngeren, langsamer für die Älteren. Wenn ihm langweilig wird, beginnt er manchmal zu improvisieren. Er selbst liebt heute eher klassische Musik wie die von Johann Sebastian Bach. Oft spielt er in spontanen Formationen mit anderen Straßenmusikern wie → Sebastian, dann wird zusammen improvisiert. Der Musiker nimmt während seiner Stücke wenig direkten Kontakt auf, doch blickt er den Menschen stets freundlich entgegen, die ihm zuhören, sich niederlassen oder zu seiner virtuos gespielten Musik zu tanzen beginnen. Wenn sich ein Gespräch ergibt, freut er sich, doch am schönsten findet er es, wenn Kinder zu ihm kommen und tanzen. Die bevorzugten Auftrittsorte des Briten sind neben dem
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Platz vor dem S-Bahnhof Hackescher Markt die Friedrichsbrücke und die Monbijoubrücke am Bodemuseum. Das Umschlagfoto zeigt ihn dort mit seiner elektrischen Mandoline und dem dazugehörigen Batterieverstärker. Diesen stellt er so ein, dass er unverstärkt dazu singen kann. Geldspenden sammelt er in seiner offenen Mandolinentasche, die vor ihm liegt. Seanín lebt von täglich drei bis vier Stunden Straßenmusik sowie dem Geld, das er mit seinen Auftritten in zahlreichen Berliner Örtlichkeiten wie dem Café Zapata oder in den diversen Irish Pubs verdient. Und selbst, wenn es einmal eng werden sollte, kommt es für ihn nicht in Frage, im öffentlichen Nahverkehr Musik zu machen, denn das ist ihm »too close to begging«.
Abbildung 82: Seanín mit Mandoline vor dem S-Bahnhof Hackescher Markt am 29.07.2010
4.1.84 Sebastian – Djembé, »Tridgeridoo« Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Djembé, aus Abflussrohren selbst zusammengebautes, dreiendiges Didgeridoo (»Tridgeridoo«), Mundharmonika, Percussion 32 Toulouse, Frankreich seit zwei Sommern (im Winter in wärmeren Ländern)
Sebastian spielt in Berlin an zentralen Orten und am liebsten auf dem Platz vor dem S-Bahnhof Hackescher Markt, weil man dort im Sommer selbst bei Dunkelheit noch
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musizieren kann und das Publikum sehr gemischt ist. Mit seinen Instrumenten erreicht er dabei einen beachtlichen Schallpegel: Der 32-jährige Franzose aus Toulouse spielt auf einem dreiendigen, selbststehenden Didgeridoo, das er sich aus handelsüblichen grauen Abflussrohren selbst zusammengebaut hat und das er »Tridgeridoo« nennt. Zeitgleich begleitet er sich selbst auf der Djembé, auf der er sitzt, und mittels einer mit Glöckchen besetzten Fußschelle, die er sich um den rechten Knöchel gebunden hat. Bei manchen seiner Stücke spielt er Mundharmonika anstatt Didgeridoo oder setzt zusätzlich seine Stimme ein. Die Aufmerksamkeit der Leute ist ihm mit seinen Instrumenten und seinem selbstbewussten Auftreten gewiss, und er fordert sie aktiv zum Mitmachen und zum Tanzen auf, freut sich, wenn sich weitere Musiker zu ihm gesellen und beginnt dann spontane Jamsessions. Abends begleitet der Multiinstrumentalist auch Straßenshows von Akrobaten oder Feuerkünstlern. Sebastian genießt es, Menschen zu begegnen, hundert Leute zu seiner Musik tanzen zu sehen, sie mit seinen treibenden Rhythmen in Ekstase zu bringen. Die Herausforderung bei der Straßenmusik ist es für ihn, sich das Publikum aus dem Passantenstrom selbst aufzubauen, die Leute durch seine Performance zu fesseln und sie zu überraschen. Draußen auf der Straße zu musizieren ist für ihn zur Lebenseinstellung geworden, er kann und mag sich nicht mehr vorstellen, je etwas anderes zu machen und will mit seiner Darbietung auch den anderen Menschen mitgeben: »Dance, live, be happy in the streets!« Er tritt jeden Tag und jede Nacht auf, sooft er kann, lässt sich in seinem Spiel von der Stimmung des Publikums und der Atmosphäre des jeweiligen Ortes inspirieren und baut die Eindrücke, die er auf seinen Reisen gewinnt, in seine Musik ein. Auf der Straße bietet er nur eigene Stücke dar, über die er allein oder mit spontanen Mitmusikern, z. B. → Seanín, improvisiert.
Abbildung 83: Sebastian vor dem S-Bahnhof Hackescher Markt am 29.07.2010
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Seinen eigenwilligen Stil nennt der Franzose »Drum & Bass acoustique«. Dabei hat er sich nicht nur sein Hauptinstrument selbst gebaut, sondern sich auch alle Instrumente selbst beigebracht, darunter außerdem Gitarre, Saxophon und weitere. Mit 12 Jahren hat er schon einmal in seinem Heimatort Straßenmusik gemacht, doch so richtig begonnen hat er damit vor fünf Jahren in Brasilien. Seitdem ist er noch in Frankreich, in Amsterdam und anderen europäischen Städten aufgetreten. Seit letztem Sommer hat er Berlin für sich entdeckt, das er besonders wegen der liberalen Atmosphäre schätzt: »You can play as long as you want and where you want.« Beschwerden gebe es trotzdem jede Nacht, sagt er, oft komme die Polizei. Doch während er in Amsterdam auch schon mal verhaftet worden sei, seien die Beamten in Berlin stets sehr umgänglich. Die Winter verbringt Sebastian lieber in wärmeren Regionen in Südeuropa oder Südamerika. Er lebt von der Straßenmusik, den Erlösen aus den Audio-CDs und der Video-DVD, die er anbietet, sowie von den Einnahmen durch gebuchte Auftritte auf Festivals, Feiern oder privaten Partys. Selbst seine Reisen kann er auf diese Weise finanzieren. Dabei sieht er seine Instrumente an sich als Alleinstellungsmerkmal, aber auch die Tatsachen, dass er live mehrere Instrumente zugleich spielt und sein eigenes Ding macht (»make my own thing«).
4.1.85 Segal – Akkordeon Hauptinstrument: Alter: Herkunft: In Berlin:
Akkordeon 33 Botoșani, Rumänien immer wieder für je drei bis vier Monate
Der Akkordeonist sitzt mit seinem großen Instrument auf einem Klapphocker zwischen den Schaufenstern des Kulturkaufhauses Dussmann in der Friedrichstraße. Hier gibt es ein hohes Passantenaufkommen. Trotzdem findet Segal wenig Publikum. Er wirkt beim Spielen in sich gekehrt und nimmt keinen Kontakt zu den Vorbeigehenden auf. Zu seinen Füßen auf dem Gehweg steht eine weiße Kunststoffdose, die spärlich mit Münzen gefüllt ist. Das Repertoire des Rumänen ist groß und besteht aus Tangos, Walzern, Chansons und weiteren bekannten Melodien. Akkordeon hat er zu Hause spielen gelernt, er kommt aus einer Musikantenfamilie, in der unter anderem sein Vater, sein Großvater und Onkel Musik gemacht haben. In seiner Heimat tritt der 33-Jährige auf Festen, Hochzeiten und zu anderen Gelegenheiten als bezahlter Musiker auf. Segal lebt in der Stadt Botoșani und kommt seit zwei Jahren jeweils für drei bis vier Monate während des Sommers nach Berlin, um hier mit Straßenmusik Geld für sich und seine Familie zu verdienen. Davon und von seinen weiteren musikalischen Engagements lebt er. Wenn er da ist, sitzt er täglich für fünf bis sechs Stunden an Orten wie hier in der Friedrichstraße, in der Fußgängerzone in der Altstadt Spandau oder am Alexanderplatz. In U-Bahnen oder auf Bahnhöfen spielt er nicht. Vor allem in Spandau macht er positive Erfahrungen, weil ihn dort schon viele Leute kennen und stehenbleiben oder ihn grüßen. In Berlin steht er mit Straßenmusiker-Kollegen aus Rumänien, Russland und Bulgarien in Kontakt.
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Abbildung 84: Segal in der Friedrichstraße vor dem Kulturkaufhaus Dussmann am 10.09.2010
4.1.86 Space Commander Hotch – Outdoor Performer Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Loop-Station, digitale Effekte, Harmonizer, Sprache, Gesang (englisch); verstärkt 49 Alberta, Kanada seit zwei Jahren
Während sich der Kanadier David durchaus als busker oder street performer versteht, ließe sich darüber streiten, ob im Deutschen die Bezeichnung Straßenmusiker für ihn überhaupt zutreffend ist.368 Mit Sicherheit ist er ein musikalischer Straßenkünstler. In der Rolle seines Alter Ego ist David als Space Commander Hotch in Kreuzberg unterwegs und zieht mit seiner Ausrüstung durch die verschiedenen Kieze. Normalerweise bietet er seine Show an menschenreichen Orten wie auf dem Platz vor dem SBahnhof Hackescher Markt, am Alexanderplatz, Potsdamer Platz oder an der Admiralbrücke dar. Früher war er auch in U- und S-Bahnen tätig. Doch gerade probiert er seine neueste Idee aus: »Get out and push your stuff around!« Auf das Gestänge eines Kleinkinder-Buggys hat er sein Gepäck geschnallt, das aus Lautsprecherboxen, Verstärker, Batterie, Mischpult und diversen digitalen Effektgeräten wie LoopStation und Harmonizer369 besteht. Außerdem sind eine Sonnenblume und als Spendengefäß ein Zylinderhut daran befestigt. David führt verschiedene Requisiten wie Papppfeile mit sich und verstärkt seine Stimme über ein Funkmikrofon, das ihm Bewegungsfreiheit gestattet. Zwischendurch spielt er immer wieder welche von seinen 368 Zur Begriffsproblematik im Deutschen und Englischen vgl. Anmerkung 22. 369 Ein Harmonizer ist ein rückgekoppelter Pitch-Shifter, mit dem sich aus einem Eingangssignal vielschichtige Mehrklänge erzeugen lassen.
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selbstproduzierten Loops mit elektronischer Musik ein, singt und rappt dazu spontane Texte, die auf die Passanten, Zuschauer, die räumliche Umgebung oder die aktuelle Situation im allgemeinen bezogen sind. Mit den digitalen Effekten moduliert der 49Jährige seine Stimme, verändert die Tonhöhe oder fügt mittels Harmonizer einen ganzen Chor hinzu. Die intensive Einbeziehung des Publikums ist bei seiner Performance essentiell: »The audience is part of the show.« Space Commander Hotch spricht die Umstehenden direkt an, geht auf sie zu und holt Einzelne auf die imaginäre Bühne oder erlaubt sich einen Scherz mit ahnungslosen Passanten. Er will die Menschen zum Mitmachen animieren, dazu, aus sich herauszukommen und den Spaß an der Sache und den skurrilen Situationen, die er provoziert, gemeinsam mit ihm zu genießen. Die Leute sollen erfahren: »Participating is positive.« Dabei probiert er ständig neue Ideen aus und irritiert die Zuschauer mit abrupten Wechseln zwischen Showeinlagen und verrückten Aktionen. »Occasionally they ask me to stop but I don’t.« Der Künstler sagt von sich: »I am undefinable. No pattern that stays constant for too long. I keep it unique and original, switch between lunacy and normality.« Um die Aufmerksamkeit des jeweiligen Publikums zu gewinnen, passt er sich gekonnt an die Anwesenden an. Er weiß genau, wann ein schneller oder ein gemächlicher Beginn angezeigt ist und wie er die Überraschungsmomente dosieren muss, um seine Zuschauer bei Laune zu halten. Wenn er eine gute Verbindung mit den Leuten hinbekommt, ist David zufrieden mit seiner Leistung. Probleme mit der Polizei oder anderen kennt er nicht: »I maintain a positive relationship with my environment.«
Abbildung 85: Space Commander Hotch auf der Admiralbrücke am 21.08.2011
Der Kanadier hat 1977 aus einer Notlage heraus begonnen, in der Öffentlichkeit aufzutreten. Als ihm auf dem Flughafen sein gesamtes Geld gestohlen wurde, sah er sich gezwungen, all sein Talent und das, was er während seiner Schauspielausbildung gelernt hatte, spontan zusammenzukratzen und daraus eine Stegreif-Performance zu
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machen. Nach diesem erfolgreichen Schlüsselerlebnis begann er, eigene Shows zu konzipieren, und hat sich weltweit als Straßen- und Outdoor-Künstler betätigt. Alles, was er von nun an brauchte oder was ihm wichtig erschien, hat sich David selbst beigebracht, darunter auch diverse Musikinstrumente wie Gitarre, E-Bass und Ukulele. Er war in mehr als 40 Ländern mit Auftritten solo oder im Ensemble zu sehen und hat an unzähligen Projekten der verschiedensten Genres mitgewirkt. Unter anderem war er an Film- und Theaterproduktionen, Festivals und Workshops als Autor, Regisseur, künstlerischer Direktor, Produzent, Organisator, Event-Manager, Dozent und selbstverständlich als Performer beteiligt. Während seiner langjährigen Karriere hat das Multitalent zahlreiche Preise für seine Auftritte und Shows gewonnen und sich ein globales Netzwerk aus mehr als tausend Outdoor-Künstlern aufgebaut. Aktuell arbeitet er an einem Buch über seine Perspektive auf die Kunstform des Straßentheaters. Schlüsselelemente all seines Wirkens sind stets die interdisziplinäre Verquickung verschiedener Kunst- und Darstellungsformen und -techniken sowie die menschliche Interaktion. Vor zwei Jahren hat David sich mit einer befristeten Aufenthaltserlaubnis in Berlin niedergelassen und hier eine eigene Schule und Bühne gegründet, wo er Kurse und Workshops zu Improvisationstheater anbietet. Er ist auch weiterhin international an diversen Theatern als Produzent, Lehrer oder Projektdesigner aktiv oder tritt mit neuen Showprogrammen auf. Früher hat er zeitweilig zu 75 bis 100 Prozent von der Straßenkunst gelebt, diesen Sommer in Berlin macht sie neben seiner Dozententätigkeit und anderen Auftritten etwa die Hälfte seiner Einnahmen aus. »Whenever the spirit moves me«, macht sich Space Commander Hotch auf den Weg in die Stadt und experimentiert mit neuen kreativen Einfällen. Im Vergleich stellt der Kanadier fest: »Busking in Berlin is not an easy task.« Zum einen, sagt er, sei die Stadt so voller unterschiedlicher Reize, dass man ein sehr außergewöhnliches Programm bieten müsse, um sich davon abzuheben. Dazu kommt, dass Berlin kein einheitliches Zentrum hat, an dem man die Leute erreichen kann. Die Menschendichte ist somit an den einzelnen Orten geringer, was Circle Shows wie seinen nicht dienlich ist, die davon leben, dass sich schnell ein großer Kreis von Zuschauern bildet. Deshalb testet er nun sein mobiles Konzept aus. Gleichzeitig hält er Berlin für einen sehr kreativen Platz, an dem viel Neues entsteht: »I like restoration places. Music’s got to tell a story.« Zwar würde David aktuell gerne mehr auf Bühnen und im Theater auftreten, weil sich in diesem Rahmen aufgrund der technischen Möglichkeiten mehr und bessere Effekte realisieren lassen. Doch die Frage, ob er jemals mit der Straßenkunst aufhören will, stellt er sich gar nicht: »It’s my life!« Er liebt die Unmittelbarkeit, die er dabei erlebt, und die Freiheit, die er auf diese Weise erlangt: »Street performing makes me free from the restraints of the system. I take the money that I need.« Und er nimmt gerne die Herausforderungen der Straße an, zu denen für ihn der konstante Wandel der Umstände sowie ein enormes Maß an Flexibilität und spontaner Anpassungsfähigkeit gehören.
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4.1.87 Stephan – Gitarre, Gesang Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Westerngitarre und Gesang (v. a. auf deutsch), verstärkt 43 Berlin, Deutschland zu Hause
»Wenn ich Bock habe, das Wetter, die Laune und die Zeit stimmen« – das sind für Stephan gute Gründe, um mit seiner Westerngitarre nach draußen zu gehen und Straßenmusik zu machen. Ein- bis zweimal die Woche für jeweils ein bis zwei Stunden fährt er in die Altstadt Spandau, die Wilmersdorfer Straße, ans Brandenburger Tor, zum Platz vor dem S-Bahnhof Hackescher Markt, nach Steglitz in die Schloßstraße oder nach Tegel, wo er sich in die Fußgängerzone in der Altstadt oder an den Hafen setzt. All diese Orte unterscheiden sich in ihrer Atmosphäre für ihn: während das Publikum in Spandau und Tegel älter ist und mehr Verständnis für seine Musik zeigt, geht es in der Wilmersdorfer Straße verhältnismäßig hektisch zu, und in Mitte gibt es fast nur Touristen. Der Gitarrist hat ein mehrstündiges Programm aus ca. 60 bis 80 Songs, darunter etwa fünf Eigenkompositionen und ansonsten größtenteils Coverversionen deutscher Balladen und Liedermacher wie Reinhard Mey und Annett Louisan oder Countrynummern von Truckstop. Ihm kommt es besonders auf »gute Texte« an, mit denen er sich identifizieren kann. Stephan möchte, dass die Leute über die Inhalte der Lieder nachdenken, die sich etwa gegen den Krieg wenden oder für mehr Liebe untereinander werben. Seine Auswahl passt er der Stimmung an, spielt z. B. bestimmte Lieder, wenn Kinder vorbeikommen. Aber: »Ich kann keine Weihnachtslieder!« schränkt der Berliner ein. Er hat beobachtet, dass die Spendenfreudigkeit des Publikums vom jeweiligen Ort, den Menschen dort und vor allem vom Wetter abhängig ist. Stephan sitzt beim Musizieren auf einem Klapphocker, vor sich das Mikrofonstativ und einen Notenständer mit einer dicken Mappe, in der sein gesammeltes Repertoire ist. Seine Gitarrentasche liegt geöffnet auf dem Boden für die teils reichlichen Spenden. Oft wird er nach CDs gefragt, und weil er bisher passen musste, sind Aufnahmen gerade in Arbeit. Auf einem umgebauten Einkaufstrolley, den er zum Transport seiner Ausrüstung benutzt, steht eine batteriebetriebene Verstärkerbox. Der Sänger bringt sich regelmäßig einen eigenen Sonnenschirm mit, der es ihm ermöglicht, auch bei sehr gutem Wetter mehrere Stunden ohne Sonnenbrand zu spielen. Er versucht, den Kontakt zu seinem Publikum herzustellen, kommentiert die Lieder in seinen Ansagen, tauscht Blicke aus. »Ich gehe ja raus, um Spaß zu verbreiten«, sagt der Musiker. Gleichzeitig will er sich niemandem aufdrängen und spielt aus diesem Grunde nicht vor Cafés etc. oder auf Bahnhöfen. Einmal wurde er allerdings von einer Ladenbesitzerin aufgefordert, zu gehen. Der 43-Jährige hat diesen Sommer damit begonnen, Straßenmusik zu machen, und ist sich bewusst, dass er mit der Art Musik, die er macht, »ein Unikat« ist. Wie lange er damit weitermachen will, weiß er noch nicht und sagt: »Ich hab’ doch grad’ erst angefangen…« Gegenwärtig lebt Stephan von Arbeitslosengeld, war vorher selbständig mit einer Tank- und Motorinnenreinigung. Das Geld, das ihm die Leute spenden, ist für ihn ein »netter Nebeneffekt«, doch vor allem der Spaß an der Musik und die Freude daran, anderen Menschen eine Freude zu bereiten, locken ihn ins Freie. Es erfüllt ihn, wenn Passanten länger stehenbleiben, sich die Zeit nehmen, ihm
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zuzuhören, und »wenn Menschlichkeit passiert«. Es ist schon vorgekommen, dass sich Zuhörer für ein bis zwei Stunden zu ihm gesetzt haben. Während zu Konzerten die Leute kommen, »weil sie dich kennen«, liegt der Reiz bei der Straßenmusik für ihn darin, »neuen Leuten was zu zeigen, sie zu fesseln«. Kontakt zu anderen Straßenmusikern pflegt der Gitarrist nicht, kennt »ein bis zwei vielleicht«, die er nur sporadisch trifft. Immer wieder wird er für Auftritte auf Feiern, in Altenheimen usw. gebucht. Gerne würde er darüber hinaus in einer Band spielen, »aber niemand will deutsche Sachen machen«. Der Autodidakt hat 1985 mit dem Gitarrenspielen begonnen und sagt von sich, ansonsten spiele er nichts weiter aktiv, habe aber ein Gefühl für Musikinstrumente. Wenn er ein Lied einmal gelernt hat, braucht er es nicht mehr proben. Nur neue Stücke übt er solange, bis sie sitzen.
Abbildung 86: Stephan in der Altstadt Spandau370
4.1.88 Suchy – Tenorsaxophon Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Tenorsaxophon, Klarinette, Percussion 46 ursprünglich Erfurt, seit 15 Jahren hauptsächlich in Spanien, nahe Sevilla für drei Tage zu Besuch
Suchy bewegt sich am frühen Abend mit seinem Tenorsaxophon frei über die Brunnenanlage vor dem Fernsehturm. Der Mann mit dem auffälligen Dutt aus Dreadlocks (Filzlocken) schlendert beim Spielen zwischen den Becken und Fontänen hindurch und lässt sich bei seinen Improvisationen vom Wasser inspirieren. Es gibt kein Spen370 Quelle: Stephans Privatarchiv.
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dengefäß, das ihn an eine bestimmte Stelle binden würde. Und obwohl er auf diese Weise wenig direktes Publikum findet, bleibt er nicht für sich, sondern nimmt immer wieder Kontakt zu den Umstehenden und Vorbeigehenden in seinem Blickfeld auf, tritt auf subtile Weise in Interaktion mit ihnen. Später im Gespräch sagt der Musiker: »Ich nehme das auf, was ich sehe, und spiele damit.« Für ihn ist Straßenmusik eine »Improvisation mit Allem«. Zum Beispiel fasst er spontan den Laufrhythmus der Passanten als Grundtempo für seine Musik auf. Dann bereitet es ihm Freude zu beobachten, wie die Leute stehenbleiben, ihren Schritt verlangsamen, zurückkommen oder unbewusst nach Gründen suchen, um im Hörbereich seines Instruments zu bleiben. Es gefällt ihm, draußen im Gegensatz zur Konzertsituation auf ein unvorbereitetes Publikum ohne Erwartungshaltung zu treffen. Seine Musik betrachtet er dann als eine Gabe, als Geschenk ohne Verpflichtung zur Gegenleistung. Der Saxophonist sucht sich stets Plätze, »wo ich die Leute nicht nerve« und die nicht kommerziell vereinnahmt sind. Gerne spielt er am Alexanderplatz »wegen der Symbolbedeutung« und an anderen menschenreichen Stellen. Ein großes Touristenaufkommen ist ihm eher unliebsam. Unangenehm wird es für ihn nur mit Betrunkenen oder unfreundlichen Bettlern, die in ihm einen Konkurrenten sehen.
Abbildung 87: Suchy im Gespräch mit einem Bekannten vor dem Fernsehturm am 07.09.2010
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Suchy trägt orangefarbene Kleidung, die Farbe der Sannyasins371. Der gelernte Zimmermann, Clown und Animateur ist für drei Tage zu Besuch bei Freunden in Berlin, kommt ursprünglich aus Erfurt und lebt seit 15 Jahren hauptsächlich in der Nähe von Sevilla. Schon vor 16 Jahren begann er damit, Straßenmusik zu machen und hat immer wieder Freude daran. Er tut das, »weil ich will!«, »um die Leute zu erreichen«, Menschen zu treffen und Kontakt mit der Stadt selbst aufzunehmen. Wenn der 46Jährige während des Spielens Augenblicke der Begegnung erlebt und »positive Energie von den Leuten zurückkommt«, freut er sich. Er will seinen Zuhörern vermitteln: »Versucht’s einfach mal! Kommt mal raus! Vertraut in die Liebe!« und möchte »die Leute mit einem positiven Schock aus’m Alltag rausholen«. Gern lässt er sich auch auf längere Gespräche ein. Dabei kennt er keine Berührungsängste etwa mit Obdachlosen, denen er sich in ihrer Ungebundenheit verbunden fühlt. Geld spielt für den Saxophonisten bei der Straßenmusik keine Rolle. Seinen Lebensunterhalt verdient er mit seinen anderen Berufen, am Theater und als Studiomusiker. Er sagt von sich selbst: »Ich mache eh, was mir Spaß macht.« Einen festen Rhythmus hat er beim Musizieren auf der Straße nicht: »Ich kann’s mir leisten, dann auf der Straße zu spielen, wenn ich Lust dazu habe«, sagt Suchy und lacht. In Spanien hat er je eine Jazz- und eine Reggaeband sowie eine Sambagruppe und wohnt in einer Musiker-WG, in der alle auch Straßenmusik machen. Hier in Berlin kennt er keine weiteren Straßenmusiker. Er hat schon an vielen Orten in Spanien, Portugal, Marokko, Frankreich und Deutschland Straßenmusik gemacht und schätzt an Berlin die »positive Grundeinstellung«, selbst bei der Polizei. Gleichzeitig ist Berlin für den Wahl-Spanier eine sehr schnelle, laute Stadt, und er findet es schwierig, hier geeignete Plätze zum Musizieren zu finden. Auf seinen Instrumenten ist er Autodidakt, spielt auch »etwas Gitarre und alles mögliche«. Als musikalische Einflüsse nennt er John Coltrane, Fela Kuti, Herman van Veen und Konstantin Wecker. Bei seinen Improvisationen auf der Straße nimmt Suchy Jazzstandards, Klezmer- und Volkslieder und auch gerne deutsches Liedgut, das er verjazzt, als Ausgangspunkte und folgt ansonsten seinem Instinkt und seiner Intuition. Zu üben braucht er nicht, denn: »Jedes Musizieren ist Probe. Alles ist Spiel und kommt von Herzen.« Er sieht als Unterschied zwischen sich und den meisten anderen Straßenmusikern, dass er »aus der Clown-Ecke« kommt: »Ich benutze Musik als Mittel, um Freude zu erzeugen.«
4.1.89 Sven – Gitarre, Gesang Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Westerngitarre und Gesang (englisch), verstärkt keine Angabe (ca. 33) Hamburg, Deutschland für zwei Wochen
Auf dem Alexanderplatz tritt Sven erfolgreich vor großem Publikum auf, mit dem er ausgiebig kommuniziert, das er in seinen Ansagen direkt anspricht und während der
371 Im Hinduismus sind Sannyasins Menschen, deren Lebensart von der spirituellen Suche bestimmt ist. Sannyasins tragen traditionell orangefarbene Gewänder, die sie als solche kennzeichnen.
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Songs zum Mitsingen animiert. Man merkt ihm seine Spielfreude an. Auch nach acht Jahren macht der Gitarrist noch gerne Straßenmusik und möchte »nicht unbedingt« etwas anderes tun. Für Spontanjams ist er immer zu haben. Daneben macht er Jazz mit befreundeten Musikern, spielt in einer Band und wirkt in unterschiedlichen Projekten mit. Doch Straßenmusik »macht Spaß«, und »man weiß, was man wert ist«.
Abbildung 88: Sven mit Gitarre und Mikrofon372
Er mag die Herausforderung daran: »Es muss was neues sein, die Leute ansprechen und stark animiert sein.« Und um die Menschen anzusprechen, brauche man ein eigenes Konzept, sagt der Hamburger. Svens Konzept besteht darin, das Publikum aktiv in seine Show mit einzubeziehen und in der Auswahl der Stücke, die er spielt. Sein etwa zwei Stunden umfassendes Repertoire umfasst eigene Interpretationen internationaler Rock- und Popsongs wie »Hallelujah« (Leonard Cohen), »I Want You Back« (The Jackson Five) oder »Wonderwall« (Oasis). Diejenigen Lieder, die gewöhnlich besonders gut laufen, benutzt er, um die Passanten für sich zu gewinnen. Er »möchte den Moment mit den Leuten teilen, gute Laune machen« und ihnen mitgeben: »Das Leben macht Spaß!« Daran, dass sie »gut drauf« sind, applaudieren, schreien, mitsingen oder ihm »BHs zuwerfen«, merkt er, dass sein Konzept aufgeht. Viel Ausrüstung braucht er nicht: Neben seiner Gitarre verwendet Sven ein Mikrofon 372 Quelle: www.myspace.com/svenandguitar – abgerufen am 01.08.2014.
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im Stativ, das vor ihm steht, und einen kleinen Verstärker für beides. Der Rest ist Show. Zwischen ihm und dem Publikum liegt sein aufgeklappter Gitarrenkoffer, in dem sich Spenden sammeln und seine CD zum Verkauf ausliegt. In Berlin ist der Hamburger diesmal für zwei Wochen und findet, dass die Stadt im Vergleich mit anderen Orten viel Platz für Straßenmusiker bietet. Das macht es allerdings auch schwieriger, die »Leute zusammenzukriegen«. Und gleichzeitig ist ihm hier mit einer guten Show die Aufmerksamkeit sicher. Er hat unter anderem schon in Hamburg, Düsseldorf, Wiesbaden, Paris und Straßburg Straßenmusik gemacht. Im Sommer steht er vier- bis siebenmal pro Woche nachmittags für jeweils zwei Stunden im Freien und sucht sich Stellen wie den Alexanderplatz, an denen viele Leute unterwegs sind. Im Winter macht Sven keine Straßenmusik, auf Bahnhöfen oder in Zügen will er auch nicht spielen. Er gibt außerdem noch Gitarrenunterricht und lebt ansonsten von der Straßenmusik. Die CDs, die er dabei verkauft, stellen einen wichtigen Teil seiner Einnahmen dar. Er übt bis zu drei Stunden am Tag. Früher hatte er privaten Gitarrenunterricht und hat später das Konservatorium besucht. Als prägende musikalische Einflüsse nennt er Jeff Buckley und Jazzmusik.
4.1.90 Thomas und Cedric – Gitarre Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Klassische Gitarre 23, 29 Toulouse, Frankreich seit zehn Tagen
Thomas, 23, und Cedric, 29 Jahre alt, sitzen auf einer Parkbank in Sichtweite des Neptunbrunnens und spielen auf ihren unverstärkten klassischen Gitarren improvisierte Swing- und Jazzmusik. Jeweils einer von beiden übernimmt die rhythmische und harmonische Begleitung, während der andere darüber Themen spielt oder soliert. Es wirkt eher wie eine spontane Jamsession, denn die zwei Franzosen sind hauptsächlich mit sich beschäftigt und werden auch von den verhältnismäßig wenigen Passanten an diesem Ort wenig beachtet. Die Gitarrentasche auf dem Boden vor ihnen weist darauf hin, dass Geldspenden willkommen sind. Früher haben die Freunde zusammen in einer Band gespielt. Beide sind Autodidakten, die Musik Django Reinhardts war einflussreich für sie. Thomas spielt außerdem Bassgitarre. Die zwei sind erst seit zehn Tagen in Berlin und machen in ihrem Sommerurlaub Straßenmusik zum Spaß. Zum ersten Mal haben sie vor drei Jahren in Stockholm auf die gleiche Weise ihre Urlaubskasse aufgebessert. Von dem Geld, das ihnen die Leute spenden, kaufen sie sich etwas zu Essen, Zigaretten und Bier. Zu Hause haben sie Arbeit, von der sie leben können. Zwei bis drei Stunden pro Tag setzen sie sich entspannt mit ihren Gitarren an den Alexanderplatz oder – heute zum ersten Mal – an den Neptunbrunnen. Thomas und Cedric genießen ihre eigene Spielfreude, wollen den Menschen mit ihrer Musik eine Freude machen und freuen sich über positive Reaktionen der Passanten, die Fotos machen, tanzen oder ein Gespräch beginnen.
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Abbildung 89: Thomas und Cedric zwischen Neptunbrunnen und St.-Marien-Kirche am 06.08.2010
4.1.91 Tibor – Handpan Hauptinstrument: Alter: Herkunft: In Berlin:
Handpan 40 Budapest, Ungarn seit einigen Jahren
Eigentlich ist Tibor E-Bassist, hat früher in diversen Bands gespielt und auch Studioaufnahmen gemacht. Doch seit kurzer Zeit hat er die Handpan373 als neues Musikinstrument für sich entdeckt und probiert sie seit drei Wochen auf der Straße aus. Letztes Jahr hat er schon einmal als Bassist mit einer Band Straßenmusik gemacht, doch mit der Handpan ist es etwas anderes. Es geht ihm dabei nicht ums Geld, sondern er will so viel wie möglich üben. Und draußen macht ihm das ungleich mehr Spaß »than at home where it’s boring«. Der 40-Jährige mag die Entspannung und meditative Atmosphäre, die die Handpan verbreitet, und findet es »inspiring by itself«. Wenn er Zuhörer hat, verweilen diese meistens in Stille, denn »people feel the relaxed meditation kind of thing«. Tatsächlich wirkt Tibor beim Spielen in sich versunken und sucht keinen Kontakt zu den wenigen Menschen, die stehenbleiben. Er steht in der Bodestraße auf der Eisernen Brücke über den Kupfergraben, wo es verhältnismäßig wenig Laufpublikum gibt. Auch um den Hackeschen Markt herum und beim Bahnviadukt spielt er gern, nicht jedoch direkt auf der Museumsinsel – wegen der Roma dort, die er als aggressiv und störend empfindet: »One Gipsy came along and started playing right next to me.« 373 Vgl. den Artikel zu → Jaron, Abschnitt 4.1.41. Das Instrument, auf dem Tibor spielt, ist allerdings kein Schweizer Original.
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Mittlerweile hat sich der Handpanspieler über die Improvisation ein Programm aus eigenen Stücken von gut 20 Minuten Dauer erarbeitet, das er auf die gleiche Weise stetig weiterentwickelt. Zwei- bis dreimal pro Woche macht er für jeweils zwei bis drei Stunden Straßenmusik mit seiner Handpan, entweder tagsüber oder abends, wenn er die Feuershows auf dem Platz vor dem S-Bahnhof Hackescher Markt musikalisch begleitet. Ansonsten übt er nicht. Straßenmusik eignet sich seiner Ansicht nach gut für den Start, um Erfahrung mit dem Publikum zu sammeln und andere Musiker kennenzulernen. Tibor hat auf diesem Wege schon viele Bekanntschaften geschlossen und sogar Freunde gefunden. Er hat »no idea, no plans«, wie lange er noch Straßenmusik machen wird. Im Winter will er sich jedenfalls eine neue Band suchen und dort nicht nur Bass spielen. Der Ungar aus Budapest lebt seit mehreren Jahren in Berlin und verdient seinen Lebensunterhalt durch den Verkauf von mit verschiedenen Motiven bedruckten T-Shirts auf Märkten. Auch dabei begleitet ihn seine Handpan neuerdings immer häufiger und hilft ihm, Aufmerksamkeit auf sich und seine Waren zu lenken.
4.1.92 Victor – Gitarre, Gesang Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Klassische Gitarre, Gesang (spanisch); unverstärkt 64 Lima, Peru seit 21 Jahren
Victor zieht auf der Bergmannstraße, im Kiez um die Dieffenbachstraße, an der Admiralbrücke, in Steglitz, zwischen Simon-Dach- und Kopernikusstraße oder in der Gegend um den Kollwitzplatz von Café zu Café. Sein Repertoire besteht aus spanischsprachiger Musik – romantische, bekannte Lieder, dazu etwas Folklore, die er mit der Gitarre begleitet. Diese müssen nicht unbedingt seinem persönlichen Musikgeschmack entsprechen, er richtet sich vor allem nach den Vorlieben des Publikums. Pro Lokal stimmt er drei bis vier Stücke an, spielt sie aber nicht ganz durch, sondern lässt sie jeweils etwa nach der Hälfte enden. Der Peruaner lebt seit 21 Jahren in Berlin und hat die deutsche Staatsbürgerschaft. Aus Lima ging er zum Studium der Zahnmedizin nach Bulgarien, doch wegen eines Unfalls konnte er seinen Abschluss nicht machen und ließ sich als Zahntechniker in der DDR nieder. Während des Studiums hat er von einem Kommilitonen etwas Gitarre gelernt und fortan seine Fertigkeiten autodidaktisch weiterentwickelt. Besonders spanische Musik hat ihn beeinflusst. Schon kurz nach der Wende begann der heute 64-Jährige, in Berlin Straßenmusik zu machen. Vor etwa zehn Jahren hat er diese Freizeitbeschäftigung intensiviert, um ein Sportprojekt auf Kuba finanziell zu unterstützen. Er besorgt die Ausrüstung für die Fußballmannschaft eines kleinen Dorfes. Zunächst verwendete er alle Einnahmen aus der Straßenmusik für dieses Projekt, doch vor eineinhalb Jahren zwang ihn eine Operation, seinen Beruf als Zahntechniker niederzulegen. Seitdem lebt Victor von Arbeitslosengeld und wartet auf die Rente.
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Abbildung 90: Victor vor einem Café in der Bergmannstraße am 23.08.2011
Etwa ein Viertel der Spenden, die er sammelt, zwackt er nun zur Selbstfinanzierung ab, der Rest geht weiterhin nach Kuba. Er steht in Berlin in Kontakt mit einigen Musikern aus Lateinamerika, mit denen er manchmal auf Partys oder kleinen Konzerten gemeinsam auftritt. Dann spielt er neben Gitarre auch Percussion. An der Straßenmusik reizt ihn der direkte Kontakt zum Publikum, er empfindet die Barrierefreiheit dabei als Vorteil in der Kommunikation, weil er unmittelbare Rückmeldungen erhält, auf die Menschen reagieren und sie auf seine Seite ziehen kann. Der Gitarrist sagt, er mache sehr gerne Straßenmusik, die guten Erfahrungen überwiegen bei ihm. Er genießt das vielfältige positive Feedback und die Bestätigung, die er erfährt, sowie die Begegnungen und Gespräche mit vielen verschiedenen Menschen. Das möchte er auskosten, »solange wie ich kann«. Er hat für sich analysiert, warum er an manchen Tagen mehr, an anderen weniger Geld einnimmt. Dabei hat er als wesentliche Faktoren die Akzeptanz bei seinen Zuhörern, die Resonanz auf seine Musik und den Kontakt zu den Leuten identifiziert. Der Erfolg des Tages hänge für ihn vom Publikum ab, erklärt Victor. Seinerseits sorgt er für ein professionelles Auftreten, ist stets gut gekleidet, damit er nicht für einen Bettler gehalten wird, und stimmt regelmäßig seine Gitarre nach. Er achtet auf Details, beginnt etwa mit einigen Gitarrentönen, bevor er lossingt, um die Aufmerksamkeit der Leute zu wecken. Dann wirft er zwischendurch Phrasen auf spanisch ein, er bewegt sich beim Spielen viel, blickt die Menschen an und nimmt zwischen den Stücken Kontakt auf. Seine positive Ausstrahlung
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ist ihm wichtig. Er sagt: »Ich bin kein Meister meines Instruments, aber ich habe Spaß, mache eine gute Show und beziehe die Menschen mit ein.« Wenn seine Zuhörer mitgehen, lachen und die Texte mitsingen, kann es passieren, dass der kontaktfreudige Peruaner sich vergisst und deutlich länger spielt als geplant. Und falls sein Repertoire einmal erschöpft ist, erfindet er einfach spontan neue Texte zu den Melodien. Er hat ein Gespür für die Stimmung des Publikums, spielt beispielsweise ältere Lieder für ältere Lokalgäste, weil sie diese eher wiedererkennen. Um die Leute für sich zu gewinnen, sagt er, seien die ersten drei Lieder wichtig! Wenn er im Anschluss an seine Darbietungen Spenden unter den Cafébesuchern einsammelt, drücken viele ihre Freude über seine Musik aus, probieren ihre Spanischkenntnisse an ihm aus oder verwickeln ihn in ein Gespräch. Und Victor ist froh, wenn er als Nebeneffekt die lateinamerikanische Kultur und Kommunikationsfreude verbreiten und die Menschen dafür sensibilisieren kann. Jetzt im Sommer tritt er nur auf den Gehwegen vor den Cafés auf, im Winter spielt er in den Lokalen. Am Wochenende ist der Musiker von Donnerstag bis Sonntag zwischen 19 und 21 Uhr für etwa zwei Stunden pro Abend unterwegs. Nur manchmal übt er zu Hause, bevor er etwa nach einer längeren Pause wieder mit der Straßenmusik beginnt. Während er nur in seltenen Einzelfällen in Restaurants ablehnende Reaktionen von Gästen erfahren hat, berichtet er, neuerdings gäbe es gehäuft Probleme mit den Kellnern, wenn er zu spielen beginne, ohne vorher gefragt zu haben.
4.1.93 Wall Street Monks – Popband Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Mark: Westerngitarre, verstärkt; Rami: Congas; Vincent: klassische Gitarre und Gesang (englisch), verstärkt 24, 27, 24 Frankfurt am Main, Deutschland seit drei Tagen
Die Wall Street Monks aus Frankfurt am Main sind über das Wochenende in der Stadt, bevor sie ihre kleine Tournee in Hannover und Hamburg fortsetzen. Seit letztem Sommer machen sie in der warmen Jahreszeit Straßenmusik (damals noch ohne Mark) und wollen dieses Jahr in unregelmäßigen Abständen zu dritt in verschiedenen Städten spielen, »bis wir berühmt sind«. In Berlin probiert die Band verschiedene Orte zum Musizieren auf der Straße aus: vier Sets à 45 Minuten mit je acht bis neun eigenen Songs spielen die drei pro Tag und sind heute auf der Museumsinsel unterwegs (siehe Foto). Zwei Tage später treffe ich sie vormittags am Trödelmarkt auf dem Boxhagener Platz im Friedrichshain wieder. Sie sind gerne im Freien, auf UBahn-Stationen haben sie keine Lust zu spielen. Im Vergleich zu Frankfurt finden sie Berlin für Straßenmusik weniger attraktiv: Zum einen gibt es dort nicht so viele Straßenmusiker und damit weniger Konkurrenz als hier. Zum anderen läuft es am Main besser, weil sowohl die geeigneten Plätze als auch die Passanten dort in der zentralen Fußgängerzone stärker gebündelt sind als in Berlin, wo sich alles über die gesamte Innenstadt verteilt. Zu Hause haben sie auch Kontakte zu anderen Straßenmusikern. Die drei jungen Männer machen meistens gern Straßenmusik, obwohl es auch mal enttäuschend sein kann. Sie sagen, wenn die Passanten auf der Straße stehenblieben,
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sei das beachtenswert, denn »im Konzert sind die Leute eh da«. Dafür müsse man draußen »was Besonderes, Extravagantes bringen, um die Leute zu catchen«. Ramis Congaset sehen sie etwa als Alleinstellungsmerkmal und ungewöhnliche Attraktion. Und Frontmann Vincent spricht das Publikum während seiner Ansagen direkt an. Zwischen den englischsprachigen Songs redet er viel, erzählt Anekdoten und macht Witze, um den Kontakt herzustellen. Der 24-Jährige hatte lange Zeit Gesangsunterricht und singt auch am Theater und in Musicalproduktionen. Außerdem kann er Klavier spielen. Rami, 27, hat neben den Wall Street Monks noch eine Salsaband und spielt in einem Percussionensemble. Er hat seit fünf Jahren Congaunterricht. Mark, 24, hingegen ist sowohl an der Gitarre als auch an E-Bass und Trompete Autodidakt und erst seit gestern bei der Straßenmusik dabei. Obwohl die Einnahmen aus der musikalischen Tätigkeit steigen, leben die drei von ihrem Einkommen als Erzieher bzw. von der BAföG-Förderung. Die Gruppe probt ein- bis zweimal pro Woche zusammen und hat auch schon eine Demo-CD aufgenommen. Ihre Stilrichtung nennen die Musiker Drift Pop und mögen sich nicht auf gemeinsame Vorbilder und Einflüsse festlegen, dazu sind ihre Geschmäcker zu verschieden. Mit ihrem Bandnamen wollen sie augenzwinkernd an die Unbeständigkeit des Daseins und die Vergänglichkeit der Dinge erinnern.
Abbildung 91: Die Wall Street Monks auf der Friedrichsbrücke am 13.08.2010
Die Wall Street Monks machen Straßenmusik, um auszuprobieren, wie ihre Musik bei unterschiedlichem Publikum ankommt, auch des Geldes wegen und schließlich »just for fun«. Die Spielfreude merkt man ihnen auf der Friedrichsbrücke an, sie nehmen stets Kontakt auf zu den Vorbeigehenden und denjenigen, die stehenbleiben. Etwa zehn Leute haben sich stehend und sitzend vor der Band versammelt. Rami sitzt mit seinen Congas am Brückengeländer, links und rechts vor ihm stehen Mark und Vincent mit ihren Gitarren, vor dem Sänger befindet sich noch ein Stativ mit
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Mikrofon. Beide Gitarristen benutzen kompakte Batterieverstärker. Vor der Band liegt Marks Gitarrentasche offen für Spenden.
4.1.94 Wayra – Panflöten, Percussion, Playback Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Panflöten in verschiedenen Größen, »indianische Flöten aus Nord- und Südamerika«, Percussion, Gesang (Phantasiesprache) zu Playback; verstärkt Antonio: 35, Rachel: 22 Lima, Peru seit 1996 (Antonio)
Das Gespräch fand lediglich mit Antonio ohne Rachel statt und gibt seine Sicht auf die Dinge wieder. Antonio lebt seit 1996 mit Aufenthaltsgenehmigung in Berlin, nachdem der Peruaner vorher bereits mehrere Jahre lang mit diversen Panflötenensembles durch ganz Europa getourt ist. Mit diesen hat er hauptsächlich Straßenmusik gemacht. Seit 2005 ist er mit seinem eigenen Projekt Wayra selbständig und verdient seinen Lebensunterhalt durch den Verkauf von CDs (auch beim Musizieren auf der Straße), mit Musikproduktionen sowie gebuchten Auftritten bei Feiern, Straßenfesten und ähnlichem. Seine Zielklientel sieht er dabei in Menschen ab 40 Jahren aufwärts, die sich für seine »indianische Musik« interessieren. Am Eingang zum Mauerpark, an der Ecke Bernauer Straße, gibt es am Wochenende viel Laufpublikum, doch nur wenige Leute verweilen länger – scheinbar ist der Altersdurchschnitt zu niedrig. Der 35-Jährige kennt viele Straßenmusiker in Berlin. Hier am Mauerpark tritt Antonio in wechselnder Besetzung auf, heute mit der 22-jährigen Rachel. Dabei kommt eine hochwertige PA-Anlage zum Einsatz: Verstärker und Mischpult, Subwoofer plus zwei Boxen. Diese wird von mehreren Autobatterien mit Strom versorgt. Der Musiker ist stolz auf sein »gutes Equipment« und darauf, dass er nicht so viele Effekte verwendet wie vergleichbare Gruppen. Mehrere Freunde von Antonio sitzen entspannt auf einem Liegestuhl im Hintergrund und haben ein Auge auf die Technik. Sie kommen und gehen und scheinen den freien Sonntag zu genießen. In den Pausen ruhen sich auch die Musiker dort aus, unterhalten sich innig und essen Snacks mit den anderen. Antonio und Rachel spielen Themen und Improvisationen auf den unterschiedlichsten Flöten, darunter riesige Panflöten wie auf dem Foto, zu einem sphärischen Playback, das durch Vogelgezwitscher und andere Tierstimmen sowie flächige Synthesizer-Klänge und monotone Trommelrhythmen gekennzeichnet ist. Mit der indigenen Musik der Andenvölker hat dieser Stil wenig gemein. Der langhaarige Peruaner hat einen ganzen Instrumentenkoffer voller unterschiedlicher Flöten dabei, der neben ihm auf einem Keyboardständer steht und aus dem er sich bedient. Dazu kommen diverse Percussioninstrumente wie Splash-Becken, Chimes, Schellenringe, Rasseln usw. An manchen Stellen singen er und bzw. oder Rachel Silben einer Phantasiesprache. Vor beiden steht jeweils ein Stativ mit einem (Rachel) bzw. zwei Mikrofonen (Antonio). Die Mikrofonkanäle sind mit einem breiten Halleffekt belegt, was den sphärischen Eindruck noch verstärkt. Etwas vor dem Duo liegt ein Weidenkorb für Spenden auf dem Boden, neben ihnen ist ein Koffer aufgeständert, in dem sich verschiedene CDs mit »indianischer Musik« von Wayra befinden. Die Cover be-
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inhalten stilisierte Darstellungen aus der Mythologie nordamerikanischer Indianervölker. Am Koffer befestigt ist ein Traumfänger374, der mit Lederfransen und Federn geschmückt ist. Bei der Musik, mit der Antonio auftritt, handelt es sich nach eigenen Angaben um »traditionelle indianische Musik« und Eigenkompositionen, wobei die Playbacks nicht selbstproduziert sind. Er will dem Publikum mit seiner Musik die »Möglichkeit zur Reise nach innen«, zur »Meditation« geben. Etwa 25 verschiedene Lieder stehen ihm zur Auswahl, die er auf Sets zu je 30 Minuten verteilt. Ein paar Stunden pro Woche übt und feilt der Peruaner an seinem Programm, wozu auch die Auftritte auf der Straße beitragen. Im Sommer macht er wöchentlich bis zu viermal draußen Straßenmusik, im Durchschnitt drei, maximal fünf bis sechs Stunden am Tag. In Zügen oder auf Bahnhöfen zu spielen kommt für ihn nicht infrage. Gern lässt er sich auf Gespräche mit seinen Zuhörern ein und berichtet von positiven Reaktionen auf seine Musik wie Sprachlosigkeit, Gänsehaut und tiefer Berührtheit. Andererseits meckern auch manche, werfen ihm vor: »Ihr seid gar keine richtigen Indianer!«, oder Betrunkene »machen Stress«. Auch von der Polizei wird er »manchmal einfach schikaniert« und zum Einpacken gezwungen.
Abbildung 92: Wayra vor dem Mauerpark, Ecke Bernauer Straße, am 15.08.2010
Antonio hat bereits als Teenager begonnen, Gitarre und verschiedene Blasinstrumente zu lernen. In seiner Familie wurde viel musiziert, und den Rest hat er sich selbst beigebracht. Musikalisch beeinflusst hat ihn damals die Rockmusik der 1970er Jahre mit Bands wie Led Zeppelin und Deep Purple. Er würde auch heute am liebsten Rockmusik machen, mehr auf der Bühne stehen und mittelfristig als Toningenieur arbeiten. Er hat neben Wayra verschiedene kleinere Projekte oder spielt auf Jamsessions, aber »nichts Konkretes«. Mit der Straßenmusik will er jedenfalls nicht so bald aufhören, weil er sich darin noch weiterentwickeln mag. Musikmachen sieht der 374 Vgl. Anmerkung 355.
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gelernte Barkeeper als seine »Lebenserfüllung« – und diesen profanen Grund nennt er neben dem CD-Verkauf auch als Hauptmotiv für die Straßenmusik. Er schätzt die Ungebundenheit daran: »Du hast keinen Chef, kannst dein Ding machen.« Gleichzeitig hat Straßenmusik für ihn einen Makel: »Die Leute denken, du bist ein Loser, kannst nichts.«
4.1.95 Westcostars – Brassband Funk Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Pierre: Schlagzeug; François: Posaune; Nicola: Baritonsaxophon; Julien: elektrische Gitarre 25, 26, 27, 30 Rennes, Frankreich für sechs Tage zu Besuch
François, Julien und Nicola sind für eine knappe Woche zu Besuch in Berlin bei ihrem Freund Pierre, der seit einem Jahr in der Stadt lebt. Sie spielen oder spielten in ihrer Heimat Rennes zusammen in der Band Westcostars und genießen es nun, wieder gemeinsam Musik zu machen. Die Westcostars haben 2004 als klassische Fanfare begonnen, wie es sie traditionell an vielen Hochschulen in Frankreich gibt. 375 Straßenmusik gehörte für sie immer zur Praxis, und auch jetzt wollen die vier jungen Männer einfach »have fun together and play on the street«. Während ihres Berlinbesuchs treten sie täglich jeweils für etwa zwei Stunden an verschiedenen Orten auf. Mittlerweile sind die ehemaligen Ingenieursstudenten in Beschäftigung oder promovieren. Das Geld, das ihnen die Leute am Boxhagener Platz oder im Mauerpark spenden, ist ihnen deshalb nicht so wichtig, aber immerhin »a nice bonus«. Wenn sie den Zuhörern mit ihrer Musik ein Lächeln entlocken können, Kinder zu tanzen beginnen und sie die Verbindung untereinander über die Musik spüren, bedeutet ihnen das viel mehr. Die Straße ist für die Franzosen »the perfect place to play«, denn jede Gelegenheit zu spielen ist in ihren Augen gut. Sie können sich nicht vorstellen, jemals mit der Straßenmusik aufzuhören. Zu Hause in Rennes bzw. Nantes, wo die Westcostars auch häufig auftreten, sind sie zu neunt in der Band. Die Atmosphäre in Berlin loben sie, weil die Leute länger stehenbleiben als daheim, aufmerksam zuhören und sich viele Gespräche ergeben. Die Verbindung zum Publikum sei hier intensiver, sagt Pierre. Nur in Einzelfällen kommt es vor, dass sie jemand auffordert, aufzuhören. Einige Standbesitzer am Boxhagener Platz haben sich über die Lautstärke beschwert. Deswegen ist das Quartett auf die Mitte des Platzes ausgewichen. Hier stehen sie nebeneinander: der Autodidakt Julien mit seiner elektrischen Gitarre und einer tragbaren Verstärkerbox, daneben Pierre, vor dem eine Bass-Drum steht, die er mit dem Fuß bedient. An einem über seinen Schultern liegenden Metallgestell sind eine Snare-Drum sowie zwei Becken befestigt, die er mit Sticks spielt. Die Bläsersektion besteht aus François an der Posaune und Nicola am Baritonsaxophon. Außer Julien hatten alle früher Instrumentalunterricht von Privatlehrern und bzw. oder an der Musikschule. Ihr Vorbild als Band ist die kommerziell erfolgreiche Youngblood Brass Band aus New York. Wie diese und viele andere Fanfares machen die Westcostars Brassband Funk. Bald soll ihr erstes Album auf CD erscheinen. Sie haben acht oder neun Stücke im Programm, mit denen sie etwa 50 Minuten füllen kön375 Vgl. den Artikel zu Les Jacky Parmentier, Abschnitt 4.1.57.
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nen. Darunter sind sowohl Eigenkompositionen als auch gecoverte Songs. Häufig improvisieren sie über die harmonische Struktur eines Liedes. Zu Hause proben sie einmal wöchentlich, doch hier in Berlin sind sie zu viert einfach so auf die Straße gegangen. Sie genießen es, zu wissen: »In the street the people stop for you. You are meant.« In diesem Kontext können sie Menschen mit ihrer Musik erreichen, die sonst keine Notiz davon nehmen würden. Insofern ist Straßenmusik auch immer ein guter Test, wie die eigene Musik beim Publikum ankommt. Und sie kommt gut an. Die Band versucht, beim Spielen etwas Show zu machen, die Musiker bewegen sich beispielsweise gleichartig im Takt, machen Schritte in dieselbe Richtung usw. Neben dieser Art von Choreographie machen Nicola und Pierre Ansagen und sprechen das Publikum direkt an. Mit ihrer rhythmischen Musik gelingt es den vier Männern, einen beachtlichen Kreis von Zuhörern um sich zu scharen, von denen einige zu tanzen beginnen. François sagt allerdings: »More interaction would be good.« Ob sie sich mit ihrem Repertoire identifizieren können? »Of course! We could not play anything we don’t like.«
Abbildung 93: Die Westcostars am Boxhagener Platz am 15.08.2010
4.1.96 What a Mess – Gitarre, Cajón, Gesang Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Felix: Westerngitarre, Begleitgesang; Alex: cajón, Gesang (englisch, spanisch); Nico: Gesang (englisch); unverstärkt 23, 22, 21 Berlin und München (Alex), Deutschland zu Hause
Felix, Alexander und Nico kennen sich aus ihrem gemeinsamen Freundeskreis und haben What a Mess Anfang des Jahres extra als Straßenmusik-Projekt gegründet. Jeder der drei hat noch mindestens zwei weitere Bands nebenbei, mit denen sie Heavy
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Metal, Hardcore, Reggae und Punkrock machen. Diese Richtungen nennen sie neben Independent Rock- und Popmusik als ihre wesentlichen musikalischen Einflüsse. Alle sind Autodidakten an ihren Instrumenten. Alex spielt cajón, sonst Schlagzeug, Nico singt nicht nur, sondern spielt auch Gitarre, Felix neben Gitarre Schlagzeug und E-Bass. Während Felix und Nico Berliner sind und in diesem Frühjahr über What a Mess mit der Straßenmusik angefangen haben, hat Alex, der aus Bayern kommt, schon viel Erfahrung mit dieser Kunstform. Er spielt auch noch in einer weiteren Band, die mit Coverversionen von Beatles-Liedern überwiegend auf der Straße auftritt. Das Konzept von What a Mess ist es, »kreative Coverversionen« von Rock- und Popsongs »mit Wiedererkennungswert« im eigenen Stil zu präsentieren – »alles das, was uns im Radio ziemlich auf die Nerven geht«. Die Band gibt sich Mühe beim Arrangieren, baut »lustige Breaks«, mehrstimmigen Gesang und andere Ideen ein und stellt Medleys aus mehreren Stücken zusammen. Ihr Repertoire umfasst Material für etwa 90 Minuten. Wenn sie neue Arrangements erarbeiten, treffen sich Alex, Nico und Felix dafür an zwei bis drei Tagen für jeweils mehrere Stunden, ansonsten sind keine weiteren gemeinsamen Proben nötig. Sie »wollen gute Laune bringen« und eine Spaßband sein. Dazu gehört es für sie einerseits, ihre spontane Stückeauswahl nach dem Alter des Publikums auszurichten, z. B. verstärkt ältere Lieder bzw. Rockoder Popsongs zu spielen. Andererseits ist auch die direkte Einbeziehung und Ansprache der Zuhörer bei den Ansagen ein wichtiger Bestandteil der Show. Der ausgesprochene Dank für den Applaus gehört ebenso dazu wie spontane Scherze und Reaktionen auf Einwürfe. In der überwiegenden Zahl der Fälle sind die Publikumsreaktionen freundlich, sogar ein Polizist hat schon einmal Kleingeld gegeben. Ursprünglich war die Idee, in U- und S-Bahnen zu spielen. Doch nach anfänglichen schlechten Erfahrungen mit unfreundlichen Mitarbeitern der Sicherheitsdienste hat die Gruppe einen Strategiewechsel vollzogen. Nun bespielen die drei Musiker nur noch Cafés, etwa in der Bergmannstraße, auf dem Platz vor dem S-Bahnhof Hackescher Markt oder von der Akazienstraße über die Goltzstraße bis zum Winterfeldtplatz in Schöneberg. Die letztgenannte Route bezeichnen sie als ihren Geheimtipp. In den Sommermonaten treffen sie sich ungefähr zweimal wöchentlich »nach Lust und Laune« zur Straßenmusik, normalerweise dienstags, donnerstags und bzw. oder am Wochenende. Zwischen 13 und 17 oder 18 und 22 Uhr zieht das Trio dann von Café zu Café. Vor jedem Lokal spielt es ein Medley und dazu ein bis zwei weitere Songs, insgesamt etwa sieben bis zehn Minuten lang. Normalerweise sitzt Alex auf dem cajón mittig, Nico und Felix positionieren sich seitlich neben ihm. Vor den dreien liegt ein Hut für Spenden von Passanten. Doch ihre Hauptklientel sind die Cafébesucher. Während Sänger Nico im Anschluss an die Darbietung mit dem Hut zwischen den Gästen umhergeht und Spenden einsammelt, improvisieren die beiden anderen weiter. Wenn es kälter wird, geht What a Mess in die straßenmusikalische Winterpause, um in dieser Zeit mehr Konzerte zu geben. Die jungen Männer nennen zwar auch Spaß an der Musik als Motiv, ferner die Gelegenheit, aufzutreten und Spielpraxis zu sammeln, sowie Werbung für die Band – Straßenmusik als »Visitenkarte«. Doch in erster Linie handelt es sich für die drei Musiker bei What a Mess um ein Projekt zum Geldverdienen. Während die Einnahmen für den Auszubildenden Felix und den BAföG beziehenden Studenten Nico ein »gutes Taschengeld« darstellen, lebt Alex hauptsächlich von der Straßenmusik. Wenn »genug Kleingeld im Hut« landet, sie »sauber gespielt und gesungen« und eine
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»hohe Musikqualität« abgeliefert haben, dann sind sie nach einem Auftrittstag zufrieden. Ihr Stil, den sie Akustischen Pop nennen, trifft zwar »absolut nicht« ihren eigenen Musikgeschmack, doch trotzdem macht ihnen die Straßenmusik Spaß. Sie finden die Musik bei dieser Auftrittsform wegen der Restriktionen, keine Verstärkung oder sonstigen technischen Hilfsmittel zu verwenden, roher und ehrlicher als in der Konzertsituation. Ein weiterer wesentlicher Unterschied: »Man kann sich das Publikum nicht aussuchen.« Solange es geht und Lust und Laune weiterhin vorhanden sind, wollen die drei das Projekt What a Mess fortführen.
Abbildung 94: What a Mess vor einem Café in der Bergmannstraße am 22.08.2011
4.1.97 Zoreslaw – Akkordeon Hauptinstrument: Alter: Herkunft: In Berlin:
Knopfakkordeon 31 Donezk, Ukraine für zwei Wochen (zum wiederholten Male)
Auf einem Hocker in der Wilmersdorfer Straße sitzt Zoreslaw mit seinem großen Knopfakkordeon und spielt eindrucksvoll Bearbeitungen bekannter Orchester- und Orgelwerke oder Stücke für Klavier, etwa von Vivaldi oder Bach. Er ist dabei konzentriert und blickt die Passanten nicht an. Vor ihm auf dem Pflaster steht seine Akkordeontasche, darauf liegen zwei CDs mit eigenen Aufnahmen, die er zum Verkauf anbietet. Die virtuose Darbietung bewegt beständig Passanten zum Stehenbleiben, oft bekommt er zwischen den Stücken Applaus und Komplimente. Der Ukrainer hat am Konservatorium Akkordeon und Klavier studiert und arbeitet in seiner Heimat als Musiklehrer. Vereinzelt gibt er Konzerte. Mit Straßenmusik hat er vor neun Jahren angefangen, sie trägt einen wesentlichen Teil zu seinem Lebensunterhalt bei. Immer wieder reist er mit einem Touristenvisum (also ohne
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Arbeitserlaubnis) für jeweils einige Wochen nach Berlin oder in andere Städte in Deutschland, Österreich oder der Schweiz. In Berlin hätten die Leute zwar nicht soviel Geld, sagt Zoreslaw, doch dafür sei hier die Atmosphäre für Straßenmusiker toleranter, und es gebe weniger Regeln und Probleme mit der Polizei als anderswo. Er spielt des Geldes wegen und hat eigentlich wenig Freude an der Straßenmusik, lieber würde er Konzerte als Pianist geben. Mit einem Basssänger, einem Violinisten und einem zweiten Akkordeonisten zusammen tritt er manchmal auf, auch auf privaten Feiern. Zum Leben reicht das jedoch nicht, und so spielt er täglich sechs bis neun Stunden lang vor allem auf U-Bahnhöfen, wenn er in der Stadt ist. Die nötigen Lizenzen besorgt er sich mittwochs bei der BVG, samstags setzt er sich bei gutem Wetter in die Fußgängerzone in der Wilmersdorfer Straße. Dabei trifft er mit befreundeten Musikern wie → Oleg Absprachen, vor allem wegen der Spielfolge auf den Bahnhöfen und damit man sich in der Wilmersdorfer Straße nicht gegenseitig Konkurrenz macht. Manchmal treten sie dann auch als Akkordeonduo oder gar -trio auf. Das Hauptprogramm des Akkordeonisten umfasst ca. 15 Werke und ist etwa 90 Minuten lang. Er will seine Interpretationen »der Klassik angemessen spielen, nichts Modernes reinbringen«. Sein Anspruch ist es, auf der Straße genauso gut wie auf der Bühne zu spielen, die Qualität der Darbietung ist ihm wichtig. Drei Monate übt er, bis er ein neues Orgelwerk technisch beherrscht. Noten braucht Zoreslaw nicht, er spielt alle Stücke auswendig. Sein Repertoire wählt er je etwa zur Hälfte nach seinem eigenen Geschmack aus, die andere Hälfte ist das, »was die Leute hören wollen«.
Abbildung 95: Zoreslaw in der Wilmersdorfer Straße am 31.07.2010
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4.2
BEOBACHTUNGSBERICHTE
Es folgen die 66 Beobachtungsberichte zu Musikern und Gruppen, mit denen sich aus unterschiedlichen Gründen kein Interview ergeben hat.
4.2.1
Breakdancer auf dem Alexanderplatz – Schlagzeug
Hauptinstrument: Alter: Herkunft:
Schlagzeug zu Breakdance-Performance ca. 20 Deutschland
Der Schlagzeuger unterstützt mit funky Grooves eine Gruppe von sechs Breakdancern, die auf dem Alexanderplatz ihre kunstvollen Moves vorführen. Dabei ist die Musik Nebensache, während die athletischen Tänzer im Vordergrund stehen und große Aufmerksamkeit mit ihrer Darbietung erregen. Bis zu 100 Menschen sammeln sich um den Battle, eine übliche Auftrittsform, bei der einzelne Tänzer in abwechselnder Reihenfolge gegeneinander antreten, um ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Unter dem Applaus der Zuschauer feuern sich die jungen Männer gegenseitig an, während der Schlagzeuger im Hintergrund vor einer Fensterwand sitzend das Geschehen begleitet. Sein Drumkit beschränkt sich aufs Wesentliche: Es besteht aus Bass- und Snare-Drum, Hi-Hat, einem Crash-Becken und einer Cow-Bell. Zwischen den einzelnen Breakdancern reduziert der etwa 20-Jährige seine Begleitung und spielt umso lebhafter, je wilder die Moves werden. Nach einer Weile gehen einige der Tänzer zwischen den Umstehenden umher und sammeln in Schirmmützen Spenden, während der Rest weitertanzt.
Abbildung 96: Breakdancer auf dem Alexanderplatz am 25.09.2010
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4.2.2
Bulgare in der U-Bahn – Geige
Hauptinstrument: Alter: Herkunft:
Geige zu Playback (Music Minus One) von mp3-Player ca. 25 Bulgarien
Wenn der junge Bulgare in einen U-Bahnwagen einsteigt, greift er zunächst an den tragbaren mp3-Player, der an einem Band an seinem Hals hängt, und schaltet ihn ein.
Abbildung 97: Bulgarischer Geiger in der U-Bahnlinie U7 am 22.08.2011
Das Gerät ist über ein Kabel mit einem Lautsprecher im Rucksack des Mannes verbunden, aus dem nun als Playback eine Play-Along-Aufnahme der Andalusischen Kadenz in Swingrhythmus und -besetzung erklingt, wie sie in dem Lied »Hit the Road Jack« von Percy Mayfield vorkommt. Dann nimmt der Violinist seine Geige zur Hand und stimmt über die Harmonien die Melodie von »Hit the Road Jack« an, die er mit vielen improvisierten bluestypischen Verzierungen gekonnt und verspielt ausschmückt. Dabei wirkt der Mittzwanziger freundlich und zurückhaltend. Nach einer guten Minute beendet er seine Darbietung, schaltet das Abspielgerät wieder aus und bedankt sich kurz, bevor er mit einem Pappbecher durch die Sitzreihen geht. Die
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Leute an diesem Montagvormittag sind beschwingt von der Musik und spenden dem Geiger einige Münzen.376
4.2.3
Bulgarischer Popmusiker in der U-Bahn – Gitarre, Gesang
Hauptinstrumente: Alter: Herkunft:
Halbe klassische Gitarre, Gesang (bulgarisch) ca. 22 Bulgarien
Am U-Bahnhhof Yorckstraße steigt gegen 18 Uhr ein junger Mann Anfang zwanzig in den Zug der Linie U7. Er ist Bulgare und singt Popsongs aus seiner Heimat. Dazu begleitet er sich auf einer halben klassischen Gitarre, die sich in erster Linie gut transportieren und bei Bedarf auch schnell in der Tasche verstecken lässt, die der Spieler umgehängt hat. Mit seiner lockeren, freundlichen Art und den durch das Bulgarisch ungewohnt klingenden Liedern kommt der Gitarrist gut bei den Leuten an und erregt im positiven Sinne Aufmerksamkeit. Er spielt ein bis zwei Stücke über zwei bis drei Stationen hinweg und geht dann mit seiner Mütze Spenden sammeln, bevor er den Waggon wechselt.
4.2.4
Bulgarisches Trio in der Simon-Dach-Straße
Hauptinstrumente: Alter: Herkunft:
Akkordeon; klassische Gitarre; Schellenring; Gesang (englisch) ca. 35, ca. 30, ca. 27 Bulgarien
Die drei Bulgaren ziehen im Kiez um die Simon-Dach-Straße abends von Café zu Café und spielen mit Akkordeon und klassischer Gitarre Swingstandards. Dazu singen die beiden Instrumentalisten teils zweistimmig auf englisch. Der dritte Mann begleitet die Musik rhythmisch mit einem Schellenring. Gutgelaunt stellt sich das Trio an den Rand des Gehwegs vor die Lokale, die Musiker strahlen Spielfreude aus. Nach kurzer Zeit macht sich der Perkussionist auf, zwischen den Cafébesuchern umherzugehen und in einem Pappbecher Spenden einzusammeln, während die beiden anderen weiterspielen. Ein paar Münzen kommen zusammen, und nach nur ein paar Minuten ist die Gruppe bereits weitergezogen.
376 Vgl. die Bemerkungen in Abschnitt 5.17 zur aktuellen Entwicklung bei der Verwendung portabler Playbackanlagen.
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Abbildung 98: Bulgarisches Trio in der Simon-Dach-Straße am 19.08.2011
4.2.5
Cello mit Loop-Station am James-Simon-Park
Hauptinstrumente: Alter:
Cello mit Loop-Station (verstärkt) ca. 36
Im James-Simon-Park am der Alten Nationalgalerie gegenüberliegenden Spreeufer sitzt abends ein Cellist auf einem Klappstuhl, über dessen Lehne seine Kleider hängen und hinter dem sein Cellokoffer liegt. Sein Instrument ist untenherum bis zur Höhe des Steges mit einem roten Samttuch umwickelt. Am Steg ist ein Tonabnehmer befestigt, der über ein Kabel mit einer Loop-Station und einem batteriebetriebenen Miniverstärker verbunden ist. Der Musiker, etwa Mitte dreißig, spielt experimentelle Improvisationen, wobei er sich selbst per Looping begleitet, und verwendet einen langen Nachhalleffekt. Seine Darbietung ist gekonnt und niveauvoll, wirkt in ihrer Art und durch den Hall sphärisch und meditativ und untermalt unaufdringlich die abendliche Stimmung am Wasser. Der Cellist selbst scheint beim Spielen in sich versunken und nimmt fast keinen Kontakt zu den Passanten auf. Diese schenken ihrerseits dem Musiker wenig Aufmerksamkeit. Ein Gefäß für Geldspenden ist nicht vorhanden.
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Abbildung 99: Cellist mit Loop-Station am James-Simon-Park am 01.08.2010
4.2.6
Deutsch-amerikanisches Duo – Autoharp, Geige, Gesang
Hauptinstrumente: Alter: Herkunft:
Autoharp (verstärkt), Gesang (englisch); Geige ca. 65, ca. 16 Deutschland, USA
An einer Wegkreuzung im Tiergarten, nahe der unteren Schleusenbrücke am Landwehrkanal, macht ein ungewöhnliches Duo Musik: der etwa 65-jährige Mann fällt allein schon mit seinem kuriosen Instrument auf, einer Autoharp. Dabei handelt es sich um ein leicht erlernbares zitherähnliches Musikinstrument, dessen Saiten der Deutsche mit einem Plektrum anschlägt. Mit der linken Hand bedient er die Klaviatur, die über ein System von Filzpuffern je Taste die Saiten eines Akkordes freigibt. Dazu singt er amerikanische Countrysongs. Die Autoharp verfügt über einen Tonabnehmer und einen Kabelausgang und ist darüber an eine tragbare Verstärkerbox angeschlossen, die neben dem Mann auf einer Sackkarre steht. Er selbst sitzt auf einem Klapphocker. Zu seiner anderen Seite steht sein Partner, der vielleicht 16 Jahre alt ist, aus den USA kommt und auf der Geige improvisiert. Beide spielen technisch auf hohem Niveau und ziehen mit ihrer Musik das Interesse vieler Passanten auf sich. Ihr Auftreten ist sehr freundlich und offen, sie treten in Blickkontakt mit den Menschen, lächeln und haben sichtlich Spaß beim Musizieren. Vor dem Jungen liegt ein abgegriffener Geigenkasten aus Leder, vor dem Älteren eine Holzschale auf dem Boden, in die viele Leute Spenden geben.
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Abbildung 100: Duo mit Autoharp, Gesang und Geige im Tiergarten am 31.07.2010
4.2.7
Djembés for Sale am Mauerpark
Hauptinstrumente: Alter: Herkunft:
Djembés ca. 30 vermutlich West-Afrika
Einige Meter neben dem Eingang zum Flohmarkt am Mauerpark haben diverse junge Leute nachmittags am Rande des Gehwegs zwischen Bernauer Straße und den Stufen zum Park Decken mit Waren ausgebreitet. Ein etwa 30-jähriger Mann, der vermutlich aus West-Afrika stammt, hockt auf einer Djembé und trommelt gekonnt typische Rhythmen und Soli. Dabei schaut er freundlich und offen in den Strom der Passanten. Neben ihm befindet sich ein weiteres Exemplar, vor ihm auf dem Boden liegt ein Zettel mit der Aufschrift For Sale. Auch eine Stoffmütze für Geldspenden ist vorhanden. Doch in der Hauptsache spielt er, um Werbung für seine Trommeln zu machen. Interessenten lädt er ein, es selbst auf einer der Djembés zu probieren, leitet sie an und gibt Tipps. Er ist kommunikativ und lässt sich gerne auf Fragen und Gespräche ein.
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Abbildung 101: Djembés for Sale mit Kaufinteressenten am Mauerpark am 08.08.2010
4.2.8
Funk-Duo – E-Gitarre, E-Bass, Schlagzeug, Gesang
Hauptinstrumente: Alter: Herkunft:
Elektrische Gitarre, Gesang (englisch); elektrische Bassgitarre, Schlagzeug; verstärkt ca. 35, ca. 30 Deutschland, USA
In Verbindung mit einem gemeinsamen Familienpicknick machen ein Deutscher und ein US-Amerikaner am frühen Abend zu zweit Funkmusik auf der Wiese im Mauerpark. Zwischen den beiden läuft der Sohn des Gitarristen umher, neben ihnen liegen Decken auf dem Boden. Der etwa 35-jährige Gitarrist mit den wasserstoffblondierten Haaren steht barfuß im Gras und spielt auf einer schwarzen E-Gitarre. Vor ihm befindet sich ein Mikrofon im Stativ, er singt auf englisch. Daneben am Schlagzeug sitzt der ca. 30-jährige Amerikaner und bedient mit den Füßen die Pedale von Hi-Hat und Bass-Drum, während er gleichzeitig auf dem E-Bass funky Linien in Slap-andPop-Technik spielt. Die Gitarre ist mit einem kleinen tragbaren Vorverstärker verbunden und wird zusammen mit Bass und Gesang von einer großen Combo verstärkt. Eine Autobatterie versorgt über einen Transformator die Technik mit Strom. Der Auftritt wirkt überzeugend, die beiden Männer haben offensichtlich Spaß und sind in ihre Musik vertieft, vermutlich Eigenkompositionen. Geld scheint bei ihrer Darbietung keine Rolle zu spielen, da die Musiker weder Spenden einsammeln gehen noch über ein Sammelgefäß dafür verfügen. Immer wieder nehmen Leute auf der Wiese vor ihnen Platz, hören eine Weile lang zu und spenden Applaus zwischen den Stücken. Doch das Duo nimmt weder über Blicke noch mit Ansagen Kontakt zu seinen Zuhörern auf.
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Abbildung 102: Funk-Duo im Mauerpark am 15.08.2010
4.2.9
Gitarre und Schlagzeug am Brandenburger Tor
Hauptinstrumente: Alter:
Klassische Gitarre (verstärkt), Gesang (englisch); Schlagzeug, cajón ca. 28, ca. 26
Auf dem Pariser Platz am Brandenburger Tor sitzen vor einem Blumenbeet zwei junge Männer im Alter zwischen 25 und 30 Jahren und spielen eigene Arrangements bekannter Hits aus der Popmusikgeschichte. Der Sänger begleitet sich selbst auf einer klassischen Gitarre mit ausgefeiltem Akkordspiel bzw. soliert. Vor ihm, der auf einer Bank Platz genommen hat, steht ein Notenständer mit einem offenbar selbst zusammengestellten Textbuch, das er allerdings kaum benötigt. Sein Compagnon am Schlagzeug sitzt neben ihm auf einem cajón und spielt mit Besen auf einer SnareDrum und einer Hi-Hat, wenn er nicht das cajón selbst zum Trommeln benutzt. Stellenweise unterstützt er den Gesang mit zweiten Stimmen. Beide beherrschen ihre Instrumente sehr sicher und sind gut aufeinander eingespielt. Ein Gefäß, in dem sie Geldspenden sammeln, haben die zwei Musiker nicht. Stattdessen ist auf einer Sackkarre seitlich vor ihnen über dem Gitarrenverstärker ein Sortiment von CDs aufgebaut, die zum Preis von fünf Euro pro Stück angeboten werden. Drei verschiedene Alben mit jeweils zehn bis fünfzehn eigenen Aufnahmen von Hits aus den 1960er, 70er und 80er Jahren stehen zur Wahl. Aus diesem Repertoire bedient sich das Duo auch bei der Straßenmusik. Der gesamte Auftritt und die Aufmachung wirken professionell und dabei ein wenig distanziert, weil die Musiker zwar einen freundlichen Eindruck machen, dabei aber wenig Kontakt zu den Passanten suchen – weder mit Blicken noch mit Ansagen zwischen den Stücken. Dennoch finden sich immer wieder Interessierte, die zum Zu-
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hören stehenbleiben, sich neben den Gitarristen auf die Bank setzen oder in den CDs stöbern.
Abbildung 103: Gitarre und Schlagzeug am Brandenburger Tor am 01.08.2010
4.2.10 Gitarrist mit Loop-Station auf der Oberbaumbrücke Hauptinstrumente: Alter: Herkunft:
Elektrische Gitarre, Loop-Station, Gesang (Beatbox, Töne); verstärkt ca. 38 Berlin, Deutschland
Auf der Oberbaumbrücke unter dem U-Bahn-Viadukt hat sich am Abend eine moderne One-Man-Band aufgebaut. Der Mann, Ende dreißig, trägt ein HeadsetMikrofon und spielt E-Gitarre. Beides ist über eine Loop-Station, die er mit den Füßen bedient, mit einer tragbaren Verstärkerbox verbunden. Virtuos baut der Gitarrist zuerst mit seiner Stimme beatboxend einen komplexen Rhythmus auf, auf dem er dann mit diversen sphärischen Klängen seiner E-Gitarre aufsetzt. Anschließend ergänzt er gesungene Sequenzen – Silben und Töne ohne Text. Es ergeben sich stimmungsvolle Stücke, die sich über 15 bis 20 Minuten erstrecken, mit ruhigen und lebhaften Phasen. Der Musiker wirkt in seine Klangwelten versunken und nimmt wenig Kontakt mit seinen Zuhörern auf. Auf der Oberbaumbrücke gibt es auch an diesem lauen Sonntagabend genügend Laufpublikum zwischen Kreuzberg und Friedrichshain, so dass immer wieder Interessierte stehenbleiben. Bisweilen bildet sich ein kleiner Kreis, und es landen einige Münzen in der offenen Gitarrentasche, die vor ihm auf dem Boden liegt.
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Abbildung 104: Gitarrist mit Loop-Station auf der Oberbaumbrücke am 23.08.2011
4.2.11 The Illegal Boys – Reggae und Folk’n’Roll Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Dymitr: Banjo, Gesang (englisch, polnisch); Marcin: Gesang, Percussion; Marcin: Kontrabass; Kuba: cajón, Percussion 25-35 Bydgoszcz, Polen für zwei Wochen zum Straßenmusikmachen
Die vierköpfige Band The Illegal Boys besteigt meistens Züge der U-Bahnlinie U1 zwischen Warschauer Straße und Nollendorfplatz. Seit einigen Tagen ist sie in Berlin, um Musik auf der Straße und in der U-Bahn zu machen. Die Besetzung mit Banjo, Kontrabass, Percussion und mindestens zweistimmigem Gesang ist in den Bahnen ungewöhnlich und aufsehenerregend und sorgt überdies für gute Stimmung. Dymitr und Marcin, die beiden Sänger, haben sich vor mehreren Jahren beim Musizieren in der Berliner U-Bahn kennengelernt und sind schon länger als Duo aufgetreten, bevor sie vor kurzem die Band gegründet haben. Mit Vorliebe sind die Polen aus der Stadt Bydgoszcz abends an den Wochenenden unterwegs, wenn die Waggons voll sind mit Menschen in Feierlaune. Dann kommt ihre Mischung aus Reggae und Folk’n’Roll, wie sie es nennen, besonders gut bei den Leuten an. Sie spielen Coverversionen bekannter internationaler, aber auch polnischer Lieder, die sie selbst ihren stilistischen Vorstellungen entsprechend arrangieren. Viele Zuhörer sind begeistert davon und
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klatschen mit, spenden gerne Applaus und Geld, wenn Marcin mit seinem Hut herumgeht, während die anderen weiterspielen.
Abbildung 105: The Illegal Boys in der U-Bahn 2012377
In ihrer Heimatstadt leben die befreundeten Musiker Haus an Haus und betreiben gemeinsam ein Aufnahmestudio.
4.2.12 Jazz- und Funk-Duo am Alexanderplatz Hauptinstrumente: Alter: Herkunft:
Tenorsaxophon; Schlagzeug ca. 27 Deutschland, Russland
Unter der Bahnbrücke zwischen Alexanderplatz und Rathausstraße improvisieren ein deutscher Tenorsaxophonist und ein russischer Schlagzeuger gekonnt jazzige und funkige Grooves und erregen damit einige Aufmerksamkeit. Zahlreiche Passanten bleiben zum Zuhören stehen und wippen eine Weile mit den Füßen mit. In der SnareDrum-Tasche, die vor dem Duo liegt, landen viele Münzen. Die Musiker halten beim Spielen Kontakt miteinander, nach den einzelnen Stücken blicken sie freundlich ins Publikum und warten den Applaus ab. Verstärkung brauchen die beiden mit ihren In377 Quelle: Privatarchiv von Marcin.
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strumenten auch in der relativ unruhigen Umgebung nicht. Der Schlagzeuger sitzt auf einem Hocker und beschränkt sich in seiner Ausstattung auf die Basisvariante aus Hi-Hat, Snare- und Bass-Drum, die er auf einem Teppich aufgebaut hat. Der Saxophonist spielt danebenstehend. Hinter den Musikern am Brückenpfeiler stehen diverse Instrumententaschen und -koffer sowie eine Sackkarre zum Transport.
Abbildung 106: Jazz- und Funk-Duo am Alexanderplatz am 25.09.2010
Als das Duo von einer Anwohnerin auf die Lautstärke seiner Darbietung angesprochen wird, reagieren die zwei Männer freundlich und entschließen sich, an einen anderen Ort umzuziehen. Als ich mich im Gespräch vorstelle, sind beide zunächst aufgeschlossen, doch möchte der Russe kein Interview geben.
4.2.13 Kazik – Tenorsaxophon Hauptinstrument: Alter: Herkunft:
Tenorsaxophon ca. 55 Warschau, Polen
Kazimierz kommt aus Warschau und beherrscht nicht nur sein Instrument, das Tenorsaxophon, sehr gut, sondern spielt daneben noch Gitarre und Bassgitarre. Er gehört zum Kreis von Musikern um → Jacek und das → polnische Jazztrio und ist allen hier unter seinem Kosenamen Kazik bekannt. Abbildung 7 zeigt ihn während eines Auftritts mit → Akira am Gendarmenmarkt. Auch vor den Cafés am S-Bahnhof Hackescher Markt ist er häufig aktiv. Die ersten Male, die ich ihn treffe, verhält sich der etwa 55-Jährige abweisend, später taut er etwas auf. Trotzdem möchte Kazik kein Interview geben und auch keine Fotos von sich aufnehmen lassen, denn er ist frustriert von seinem Dasein als Straßenmusiker und mag nicht darüber reden. Lieber würde der Saxophonist Konzerte geben und dafür bezahlt werden.
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4.2.14 Lena – Gitarre, Gesang Hauptinstrumente: Alter: Herkunft:
Klassische Gitarre, Gesang (russisch) ca. 32 Russland
Gegen 22 Uhr singt Lena russische Volksweisen und begleitet sich auf einer klassischen Gitarre mit Akkordspiel. Sie ist ganz in Schwarz gekleidet und hat es nicht eilig, spielt etwa acht Lieder, von denen jedes von den Zuhörern einen kleinen Applaus erntet. Die Russin steht im Außenbereich eines Cafés in der Rykestraße und hält die Augen während ihres Vortrags die meiste Zeit über geschlossen. Ihr Gesang ist unaufdringlich, und doch legt sie viel Gefühl in ihre Stimme. Nach ihrem berührenden Auftritt bedankt sie sich kurz und sammelt eine gute Menge Geld bei den Gästen des Lokals ein. Es ist ihr letzter Auftritt heute abend.
Abbildung 107: Lena in der Rykestraße am 20.08.2011
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4.2.15 Mario – Sopransaxophon Hauptinstrument: Alter: Herkunft:
Sopransaxophon ca. 28 Brasilien
Der Brasilianer ist seit einigen Monaten in Berlin und macht gerne Straßenmusik am Hermannplatz und auf dem Platz vor dem S-Bahnhof Hackescher Markt, wo ich ihn am frühen Abend antreffe. Auf seinem Sopransaxophon spielt Mario bekannte JazzStandards und improvisiert über die harmonischen Strukturen. Er hat sich zwischen den Cafés am Fußgängerweg in der Neuen Promenade positioniert und seinen geöffneten Instrumentenkoffer vor sich gelegt. Die Vorübergehenden blickt er freundlich an und zwinkert manchen zu. Zwar erweckt seine Darbietung wenig Interesse. Wegen des starken Menschenstroms landen dennoch immer wieder Münzen in seinem Koffer.
4.2.16 Matthias – Keyboard Hauptinstrument: Alter: Herkunft: In Berlin:
Keyboard, verstärkt ca. 55 Berlin, Deutschland zu Hause
Abbildung 108: Matthias auf dem Alexanderplatz am 08.09.2010
Matthias sitzt am späten Nachmittag auf dem steinernen Rand des Brunnens der Völkerfreundschaft auf dem Alexanderplatz und ist völlig in seine Improvisation auf dem Keyboard versunken, das aufgeständert vor ihm steht. Neben ihm auf dem Boden steht ein batteriebetriebener Mini-Verstärker. Seine Musik klingt experimentell, er probiert unterschiedliche Klangfarben aus und hält sich weder an harmonische
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noch an rhythmische Gepflogenheiten. Gleichzeitig zeigt der etwa 55-Jährige viel Gefühl beim Spielen, die Tonfolgen sind nicht willkürlich, und er scheint zu wissen, was er tut. Sein Spiel ist nuanciert und stimmungsvoll. Er wirkt introvertiert, schaut beim Musizieren nicht auf und auch zwischen seinen Improvisationen nur kurz um sich. Publikum hat er nicht, scheint es aber auch gar nicht zu suchen. Matthias hat weder ein Gefäß für Spenden, noch schert er sich um das, was um ihn herum geschieht. Als ich ihn anspreche, reagiert der Berliner anfangs sehr freundlich, wobei er etwas fahrig wirkt. Als ich jedoch versuche, mich zu erklären, beginnt er einen Monolog: »Das soll ja alles Spaß machen, man kann doch nicht über Musik reden, was soll denn das? Ist doch absurd, Musik soll doch Spaß machen, also nee, darüber reden...« »Du willst also kein Gespräch?« hake ich nach. Seine Antwort lautet: »Nee.«
4.2.17 Mirielle und Raphael – Jazzgesang, Gitarre Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Mirielle: Gesang (englisch); Raphael: Westerngitarre ca. 20, ca. 22 Berlin, Deutschland zu Hause
Abbildung 109: Mirielle und Raphael auf der Stadtbahn am 20.08.2011
Wenn Mirielle und Raphael in die S-Bahn auf der Stadtbahn einsteigen, verbreiten sie gute Laune. Das Duo spielt Jazz- und Bluesstandards. Sonst machen die beiden zusammen Musik in einer Band und daneben jeder für sich noch mit anderen Projekten. Mirielle ist mit ihrer Gesangsausbildung gut bei Stimme und kann sich auch ohne Verstärkung problemlos gegen den Geräuschpegel in der S-Bahn durchsetzen, während Raphael sie auf der Westerngitarre mit niveauvoll jazzigem Akkordspiel begleitet. Sie strahlt die Leute an, und man nimmt den beiden die Freude ab, die sie
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selbst dabei haben, Stücke aus ihrem Bühnenprogramm in diesem Rahmen zu üben und damit noch ein paar Euro zu verdienen. Allerdings handelt es sich um eine eher einmalige Aktion der zwei an diesem Nachmittag – aus Neugierde, wie sie ankommen, und zum Spaß. Mit seiner musikalisch durchaus überdurchschnittlichen und nicht alltäglichen Darbietung erntet das Duo große Aufmerksamkeit, und während Mirielle nach jeweils zwei Stücken mit einem Pappbecher Spenden einsammeln geht, spielt Raphael weiter und hält so den Spannungsbogen. Nach zwei Stationen steigen sie in den nächsten Waggon um.
4.2.18 Mundharmonika mit Loop-Station im Mauerpark Hauptinstrumente: Alter: Herkunft:
Chromatische Oktavbass-Mundharmonika mit Loop-Station und Effektgeräten ca. 28 USA
Abbildung 110: Harp-Spieler und → Onyx Ashanti im Mauerpark am 15.08.2010
Am späten Nachmittag hat sich ein Mundharmonikaspieler zu seinem Bekannten → Onyx Ashanti im Mauerpark gesellt und improvisiert virtuos und experimentell mit diesem im Duett. Die ungewöhnlich große Oktavbass-Mundharmonika hat einen beträchtlichen Tonumfang, und der etwa 28-jährige US-Amerikaner erweitert das Klangspektrum mit diversen Effektgeräten. Ferner generiert er mittels einer LoopStation verschiedene Tonspuren. Dazu nimmt er über ein kleines Mikrofon, das er in der Hand hält, das Instrument ab und verstärkt letztlich das Signal über eine kleine tragbare Verstärkerbox. Die beiden Musiker haben sichtlich Spaß daran, ihre Klangsphären miteinander zu verschmelzen und gemeinsam zu improvisieren. Der Mundharmonikaspieler hat kein eigenes Gefäß zum Spendensammeln, augenscheinlich
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musiziert er just for fun. Dabei wirkt er sehr aufmerksam und blickt freundlich ins interessierte Publikum, wenn er nicht mit seinen Effektgeräten beschäftigt ist.
4.2.19 Nick – Gitarre, Gesang Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Westerngitarre, Gesang (englisch) ca. 50 Dublin, Irland seit mehr als 20 Jahren
Wenn Nick einen U- oder S-Bahnwagen betritt, macht er zunächst mit einem Scherz auf sich aufmerksam, der auf die jeweilige Situation bezogen ist. Der Ire aus Dublin ist seit über 20 Jahren in Berlin und spricht gut deutsch. Er macht Musik in U- und SBahnen, vor allem auf der S-Bahnlinie S1 zwischen Nordbahnhof und Rathaus Steglitz, auf der Stadtbahn und in den U-Bahnlinien U1, U2 und U7 innerhalb des SBahnrings. Oft ist er betrunken – oder tut zumindest so. Seine Gitarre ist selten gestimmt, und er singt schief, mit tief brummender Stimme britische und irische Popsongs und Evergreens. Dabei blickt der etwa 50-Jährige die Leute unumwunden an und kommentiert regelmäßig, was er sieht: ausdruckslose Gesichter, dass jemand demonstrativ wegschaut oder ihn anstarrt. Er reagiert auf die Leute, provoziert Reaktionen, erschreckt und irritiert diejenigen, die sich in ihre tragbare audiovisuelle Welt zurückziehen oder nicht mit selbstbewussten Straßenmusikern rechnen. Damit überschreitet er durchaus Grenzen, die normalerweise zwischen Musikern und Fahrgästen bestehen. Gleichzeitig gelingt es ihm mit seinem frechen Humor immer wieder, Menschen zum Schmunzeln zu bringen. Macht jemand ohne zu fragen ein Foto oder nimmt mit dem Mobiltelefon ein Video auf, kann Nick auch ungemütlich werden und die betreffende Person anpöbeln oder das Aufnahmegerät unsanft beiseiteschieben. Geld nimmt er wenig ein, wenn er nach oftmals abgebrochenen Songs mit seinem Pappbecher durch die Sitzreihen geht. Auch dabei spart er nicht mit ironischen bis zynischen Bemerkungen gegenüber denjenigen, die kein Geld geben. Im kurzen Gespräch demonstriert der Ire ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein, hält sich nicht nur für einen besonderen, sondern für den einflussreichsten Straßenmusiker Berlins. Dabei zählt er auf, welche Prominenten er schon getroffen hat.
4.2.20 Nick – Gitarre, Gesang, Percussion Hauptinstrumente: Alter: Herkunft:
Westerngitarre, Gesang (englisch), Schütteleier; verstärkt ca. 23 Slowenien
Nick kommt aus Slowenien und sitzt nachmittags am U-Bahnhof Stadtmitte in einer Nische des Verbindungsgangs zwischen den Bahnsteigen der Linien U2 und U6. Eine Genehmigung der BVG zum Musizieren hat er nicht. Der junge Mann, ca. 23 Jahre alt, spielt selbstgeschriebene Popmusik mit einer halbakustischen Westerngitarre und singt dazu auf englisch über ein Headset-Mikrofon. Zusätzlich hat er sich Socken über die Schuhe gezogen und damit jeweils einen Egg-Shaker am Spann seiner Füße befestigt. Auf diese Weise erzeugt er mit seinen im Takt mitwippenden Füßen eine rhythmische Begleitung. Der Musiker sitzt auf einem Klapphocker, neben ihm steht
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ein tragbarer Batterieverstärker für Gesang und Gitarre und vor ihm eine kleine offene Pappschachtel für Spenden. Einige Leute werfen im Vorbeigehen Münzen hinein, doch die Aufmerksamkeit für den Slowenen hält sich in Grenzen. Es bleibt niemand stehen, und Nick wirkt in seine Musik vertieft.
Abbildung 111: Nick am U-Bahnhof Stadtmitte am 23.08.2011
4.2.21 Oleg – Akkordeon Hauptinstrument: Alter: Herkunft: In Berlin:
Knopfakkordeon ca. 30 Ukraine immer wieder für mehrere Wochen
Oleg sitzt am frühen Abend mit seinem Freund → Zoreslaw auf mitgebrachten Schemeln vor dem leeren Schaufenster eines unvermieteten Ladens in der Fußgängerzone in der Wilmersdorfer Straße. Die beiden Ukrainer sind sehr konzentriert, während sie im Duett klassische Orgelwerke und andere anspruchsvolle Stücke auf ihren großen Knopfakkordeons spielen. Ihre Virtuosität und Synchronizität sind dabei beachtlich. Damit ernten sie neben einigen Spenden auch immer wieder etwas Applaus. Leute kommen in den Pausen zwischen den Stücken zu ihnen und stellen Fragen. Manche kaufen eine der CDs, die vor den beiden Männern auf einer Akkordeontasche liegen.
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Abbildung 112: Oleg (l.) und → Zoreslaw in der Wilmersdorfer Straße am 31.07.2010
Wie Zoreslaw ist auch Oleg Absolvent eines ukrainischen Konservatoriums und kommt mehrmals im Jahr für einige Wochen und Monate nach Berlin und in andere deutsche Städte, um mit Straßenmusik Geld zu verdienen.
4.2.22 Omer – E-Gitarre Hauptinstrument: Alter: Herkunft: In Berlin:
Elektrische Gitarre ca. 27 Tel Aviv, Israel seit zweieinhalb Jahren
Am Rand des Mauerparks an der Bernauer Straße, nahe dem Eingang zum Flohmarkt, sitzt Omer auf dem Bordstein. Der junge Mann, Mitte zwanzig, fällt auf mit seinen zahlreichen Piercings und Tätowierungen, der grellroten Hose, den grünen Schuhen und dem nietenbesetzten Filzhut. Er spielt E-Gitarre, experimentelle Improvisationen mit verzerrtem Sound über einen knallroten batteriebetriebenen Miniverstärker, den ein Konterfei ziert. Seit zweieinhalb Jahren ist der Israeli aus Tel Aviv mit seiner Band The Genetik Mistake in Berlin, die er als seine Familie bezeichnet und mit der er in Wohngemeinschaft zusammenlebt. Auch mit ihr tritt er gelegentlich sonntags im Mauerpark auf, sie machen »wild psychedelic rock music«. Heute ist Omer allein. Vor ihm im Sand liegt seine Gitarrentasche, darauf zwei Demo-CDs seiner Band. Neben ihm steht eine Flasche Bier. Er hat eine freundliche Ausstrahlung, wirkt gleichzeitig in seine Musik vertieft und bekommt weder viel Aufmerksamkeit noch Spenden von den Passanten.
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Abbildung 113: Omer im Mauerpark am 15.08.2010
4.2.23 Onda Vaga – Argentinische Popmusik Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Nacho: klassische Gitarre; Marcelo: Cuatro; Germán: Posaune; Marcos: Trompete, Percussion; Tomás: cajón; mehrstimmiger Gesang (spanisch); unverstärkt ca. 25 Buenos Aires, Argentinien für einige Tage
Onda Vaga heißt soviel wie Faule Welle. Die Band wurde 2007 während eines Urlaubs an einem Strand in Uruguay gegründet und ist in Argentinien inzwischen eine landesweit erfolgreiche Gruppe mit zahlreichen Konzerten vor Tausenden von Menschen. Gerade sind die fünf jungen Männer mitten dabei, durch etwa zwanzig europäische Städte zu reisen, wo sie neben einigen Konzerten in kleineren Sälen und Bars hauptsächlich als Straßenmusiker auftreten. Die Mittzwanziger haben Spaß am Draußenspielen, wollen ihren Bekanntheitsgrad steigern und CDs verkaufen. Mit ihrer fröhlichen Musik, der hingebungsvollen, gleichzeitig professionellen Darbietung und offensichtlichen Spielfreude gewinnen sie am frühen Abend auch im Mauerpark schnell eine größere Menschenmenge für sich, die sich auf der Schwedter Straße um das Quintett schart. Die Band hat sich am Wegesrand positioniert, davor einen geöffneten Gitarrenkoffer, in dem sie CDs ihres Debutalbums Fuerte y Caliente präsentiert. Ihr mehrstimmiger Gesang ist auch dann ansprechend, wenn man kein Spanisch versteht. Die Begleitung besteht aus klassischer Gitarre, Cuatro378, cajón 378 Das Cuatro ähnelt in Größe und Stimmung der Ukulele. Es handelt sich um eine kleine viersaitige Gitarre, die im Norden Südamerikas verbreitet ist, vor allem in Venezuela und Kolumbien. Typischerweise wird das Cuatro mit schnellen Schlägen rhythmisch gespielt.
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und Percussion, dazu kommen Posaune und Trompete, alles unverstärkt. In ihren Liedern verbinden Onda Vaga Elemente traditionell lateinamerikanischer Rhythmen und Musikstile wie Rumba und Cumbia mit Reggae, Folk- und Rockmusik und viel guter Laune, die sich auf das Publikum überträgt. Begeisterter Applaus und viele verkaufte CDs sind die Folge.
Abbildung 114: Onda Vaga im Mauerpark am 12.09.2010
4.2.24 Oskar – Kunststoffeimer Hauptinstrument: Alter: Herkunft: In Berlin:
Holzsticks auf leerem Kunststoffeimer aus dem Baumarkt 19 Bytom, Polen zu Besuch bei Freunden
Gegen 22 Uhr sitzt Oskar noch auf dem Breitscheidplatz neben dem als Wasserklops bekannten Weltkugelbrunnen vor dem Europacenter. Der 19-jährige Pole aus Bytom in Schlesien trommelt mit freiem Oberkörper solo mit Drumsticks auf einem leeren Farbeimer aus dem Baumarkt und macht damit lautstark auf sich aufmerksam. Einen weiteren Eimer nutzt er als Hocker, ein dritter steht mit etwas Abstand vor ihm und dient als Gefäß für Spenden. Die lebhaften Trommelwirbel und schnellen Rhythmen des Jungen ziehen mehrere Passanten in ihren Bann, die vor ihm stehenbleiben oder sich in die Nähe setzen. Oskar nimmt Blickkontakt auf, soviel eben möglich ist. Zu Hause spielt der Pole schon seit vielen Jahren mit seinen zwei Brüdern in einer Hardrockband. Zurzeit besucht er für ein paar Tage Freunde in Berlin und bessert sich mit Straßenmusik seine Urlaubskasse auf.
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Abbildung 115: Oskar am Breitscheidplatz am 23.08.2011
4.2.25 Pit und Susana – E-Gitarre, Keyboard Hauptinstrumente: Alter: Herkunft:
Pit: Elektrische Gitarre; Susana: Keyboard; verstärkt ca. 45, ca. 28 Deutschland, Spanien
Am Rande des Fußgängerweges am Zoologischen Garten zwischen Hertzallee und dem Gartenufer am Landwehrkanal machen der etwa 45-jährige Pit, der ursprünglich aus Bayern kommt und in Berlin lebt, und die knapp 30-jährige Spanierin Susana Rockmusik. Er spielt E-Gitarre mit Verzerrer und anderen Effekten, sie nutzt diverse Klänge ihres Keyboards. Ein tragbarer Batterieverstärker verschafft den beiden Instrumenten Gehör. Ihr Psychedelic Rock beinhaltet Songs, die die beiden jeweils selbst geschrieben haben, und viele Improvisationen. Zwar liegt Pits Gitarrentasche geöffnet vor dem Duo, doch sagt er, es gehe ihnen eher um die Präsentation der eigenen Musik als ums Geldverdienen. Die beiden wirken beim Spielen in ihre experimentellen Klangwelten versunken, tragen Sonnenbrillen und nehmen keinen direkten Kontakt zu den Passanten auf. So ernten sie kaum Aufmerksamkeit.
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4.2.26 Pole am Gendarmenmarkt – Akkordeon Hauptinstrument: Alter: Herkunft:
Akkordeon ca. 40 Polen
Der ca. 40-jährige Akkordeonist tritt regelmäßig am Gendarmenmarkt sowie vor den Cafés am S-Bahnhof Hackescher Markt gemeinsam mit anderen Musikern aus der Gruppe um → Jacek und → Kazik auf. Heute spielt er mit dem polnischen Jazzgitarristen (→ Abschnitt 4.2.27) niveauvollen Jazz. Bei den Standards wechseln sich die beiden mit der harmonischen Begleitung und den Themen oder Soli untereinander ab bzw. improvisieren zweite Stimmen dazu. Das Zusammenspiel der beiden wirkt unbeschwert und verspielt, und während der eine nach jeweils einigen Stücken Spenden bei den Lokalbesuchern sammeln geht, musiziert der andere weiter. Der Pole am Akkordeon reagiert wie schon zuvor sein Kollege abweisend. Aufgrund schlechter Erfahrungen bei Interviews lehnt er sowohl ein Gespräch als auch die Aufnahme von Fotos ab.
4.2.27 Pole am Gendarmenmarkt – Gitarre Hauptinstrument: Alter: Herkunft:
Halbakustische klassische Gitarre, verstärkt ca. 40 Polen
Abbildung 116: Polnischer Jazzgitarrist am Gendarmenmarkt am 07.08.2010
Der etwa 40-Jährige sitzt lässig auf der tragbaren Verstärkerbox, die auf einer Sackkarre befestigt ist. Einen Meter neben ihm liegt die Tasche seiner halbakustischen Gitarre, in der einige Münzen von Passanten landen. Doch eigentlich spielt der Pole für die Gäste der Cafés und Restaurants am Gendarmenmarkt, unter denen er umhergeht
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und mit seiner Schirmmütze Spenden einsammelt, bevor er zum nächsten Lokal zieht. Er bringt niveau- und geschmackvoll Jazzstandards dar, spielt zunächst die Themen und improvisiert sodann über die harmonischen Strukturen. Seine gefällige, unaufdringliche Musik kommt beim Publikum gut an. Der Gitarrist tritt regelmäßig nachmittags und am frühen Abend am Gendarmenmarkt sowie vor den Cafés am SBahnhof Hackescher Markt auf und gehört zur Musikerclique um → Jacek, → Kazik und das → polnische Jazztrio. Er berichtet von schlechten Erfahrungen und »Verarschungen« bei früheren Interviews und ist deshalb nicht weiter gesprächsbereit.
4.2.28 Pole am Hackeschen Markt – Altsaxophon Hauptinstrument: Alter: Herkunft:
Altsaxophon, Playback (Music Minus One) ca. 60 Polen
Vor dem Café Dante am Zwirngraben vor dem S-Bahnhof Hackescher Markt sitzt am frühen Abend der ältere Herr auf einem Klapphocker, vor sich einen Notenständer. Neben ihm steht ein Ständer für sein Altsaxophon, hinter ihm auf einer Sackkarre eine Verstärkerbox mit einem portablen CD-Spieler. Der etwa 60-jährige Pole spielt zu Play-Along-Aufnahmen Jazzstandards nach Noten, die Darbietung wirkt solide. Allerdings improvisiert er nicht, wie es für die Musikrichtung typisch wäre. Nach jeweils etwa fünfzehn Minuten macht er eine Runde unter den Gästen im Außenbereich des Cafés und sammelt in einem zerknitterten Pappbecher einige Münzen, die ihm die Leute spenden. Während der Musiker spielt, hängt der Becher am Saxophonständer; Passanten sind offenbar nicht sein Zielpublikum.
Abbildung 117: Polnischer Saxophonist am Hackeschen Markt am 06.08.2010
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4.2.29 Polin am Bebelplatz – Geige Hauptinstrument: Alter: Herkunft: In Berlin:
Geige ca. 23 Stettin, Polen über die Sommerferien
Auf dem Bebelplatz, neben der Staatsoper Unter den Linden, spielt die junge Polin am frühen Abend virtuos und ohne Begleitung auf ihrer Violine. Die etwa 23-Jährige kommt aus Stettin, wo sie Geige an der Musikhochschule studiert hat. Nun macht sie während ihrer Sommerferien in Berlin Straßenmusik. Vor ihr steht ein Notenständer mit bekannten klassischen Stücken. Davor liegt der aufgeklappte Geigenkasten, in den immer wieder Passanten klingende Münzen werfen. Der pittoreske Standort ist gut zum Geldverdienen geeignet. Allerdings bleibt kaum jemand länger stehen als zur Aufnahme eines Fotos nötig – die meisten Passanten hier sind Touristen. Die Kulisse stimmt zwar: klassische Musik vor dem Opernbau. Doch das Spiel der Frau wirkt lust- und ausdruckslos. Die durchaus anspruchsvollen Stücke werden fehlerfrei dargeboten und entbehren gleichzeitig des Flairs von etwas Besonderem. Blickkontakt nimmt sie nicht auf.
4.2.30 Polin am Gendarmenmarkt – Jazzgesang Hauptinstrument: Alter: Herkunft:
Jazzgesang (englisch), verstärkt ca. 40 Polen
Die ca. 40-jährige Sängerin interpretiert mit wechselnden Begleitmusikern Jazzstandards. Sie verwendet eine tragbare Verstärkerbox, die neben ihr steht, sowie ein Mikrofon, das sie in der Hand hält. Dabei dosiert sie Stimme, Gestus und Lautstärke stets so dezent, dass sie sich den Lokalbesuchern nicht aufdrängt. Sie kommt aus Polen und gehört zum Kreis von Jazzmusikern um → Jacek und → Kazik. Als ich sie antreffe, tritt sie gerade mit dem polnischen Gitarristen (→ Abschnitt 4.2.27) und Akkordeonisten (→ Abschnitt 4.2.26) vor den Restaurants und Cafés am Gendarmenmarkt auf. Wie diese zeigt auch sie keine Gesprächsbereitschaft und gibt mir zu verstehen, dass Fotos unerwünscht sind.
4.2.31 Polnisches Jazztrio – E-Gitarre, Schlagzeug, Gesang Hauptinstrumente: Alter: Herkunft:
Elektrische Gitarre; Schlagzeug (→ Jacek); Gesang (englisch); verstärkt ca. 40, 45, ca. 25 Polen
Eine der wandelbaren Jazzformationen, mit denen → Jacek auf dem Platz vor dem SBahnhof Hackescher Markt und an anderen Orten zusammenspielt, ist das Trio mit dem E-Gitarristen und der Sängerin, die stets ganz in Weiß gekleidet auftritt. Alle drei gehören zu einer Gruppe von ca. 20 vorwiegend polnischen Musikern, darunter → Kazik und → Akira, die sich je nach Verfügbarkeit zusammentun. Die Sängerin, ungefähr Mitte 20, lässt sich regelmäßig von wechselnden Instrumentalisten beglei-
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ten, wenn sie vor dem Restaurant mit Biergarten am Zwirngraben vor dem S-Bahnhof Hackescher Markt singt. Ihr Repertoire besteht aus englischsprachigen Jazz- und Bluesstandards, die sie routiniert und mit ausdrucksloser Mine darbietet. Ihre Stimme klingt ausgebildet und technisch einwandfrei, doch wirkt die Frau in ihrer ganzen Erscheinung unnahbar und etwas steril. Es gibt von ihrer Seite keinerlei Animation, auch wenig direkten (Blick-) Kontakt zwischen ihr und den Cafégästen, die sie ansingt. Sie liefert die Hintergrundmusik.
Abbildung 118: Polnisches Jazztrio vor dem S-Bahnhof Hackescher Markt am 27.07.2010
Zwischen Gesangs- und E-Gitarrenverstärker sitzt der ca. 40-jährige Gitarrist auf einem Stuhl und hat mit seinem Instrument sowohl die Harmonie- als auch die Rhythmusfunktion übernommen, solange Schlagzeuger Jacek eine Pause macht. Gekonnt und musikalisch dezent zurückgenommen begleitet er die Sängerin, ohne dabei aufzuschauen und sichtbaren Kontakt zu ihr oder dem Publikum zu halten. Die Stücke sind gefällig und im Ablauf größtenteils ähnlich aufgebaut: Die Gitarre hat eine begleitende Rolle, solange die Sängerin mit Strophen und Refrain beschäftigt ist. In der Songmitte findet entweder ein Gitarren- oder Gesangssolo statt, bevor der Refrain nochmals wiederholt wird. Nach etwa einer halben Stunde beenden die Musiker das Set, sie geht mit einem kleinen Weidenkorb zwischen den Tischen und Stühlen des Biergartens und der unmittelbar angrenzenden Cafés umher und sammelt von den Besuchern deren Obolus ein, während die Rhythmusgruppe noch ein paar Takte weiterspielt.
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4.2.32 Rapper im Mauerpark – Beatbox und Loop-Station Hauptinstrumente: Alter: Herkunft:
Beatbox, Gesang, Rap (deutsch und englisch), Loop-Station; verstärkt ca. 25, ca. 23 Deutschland, Tschechien
Ungefähr in der Mitte des Mauerparks, unweit des Amphitheaters, haben zwei junge Männer im Alter zwischen 20 und 25 Jahren am frühen Abend eine sehr große Menge von vermutlich mehr als 200 Menschen um sich versammelt. Die beiden, ein Deutscher und ein Tscheche, rappen auf deutsch und englisch. Außerdem sind sie virtuose Beatboxer und ahmen mit der Stimme neben zahlreichen Schlagzeug- und Percussionklängen verschiedene weitere Musikinstrumente nach. Mittels einer LoopStation nehmen sie die eingesungenen Rhythmen, Basslinien, Gitarrenriffs etc. auf und verschmelzen sie zu einem dichten Klangteppich, über den sie ihren Sprechgesang legen. Dabei verblüffen sie das begeisterte Publikum mit immer wieder neuen Sounds und witzigen, spontanen musikalischen Wendungen oder Texten oder animieren die Umstehenden zum Mitmachen. Auch untereinander interagieren die Rapper ständig miteinander, machen Scherze und stacheln sich gegenseitig an. Die Show scheint frei improvisiert zu sein. Gelächter und Applaus wechseln sich ab, und es entwickelt sich ein regelrechter Wettbewerb zwischen den Zuschauern des Duos und den Leuten, die im Amphitheater nebenan die Bearpit-Karaoke-Veranstaltung von → Joe verfolgen. Die beiden Menschenmengen versuchen sich abwechselnd mit Beifall und Jubel zu überbieten.
Abbildung 119: Rapper im Mauerpark am 12.09.2010
Die Ausrüstung des Duos ist dabei minimal: Jeder hält ein Mikrofon in der Hand, der Tscheche bedient die Loop-Station, und es gibt einen tragbaren Verstärker. Freunde
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der zwei machen Fotos und Videoaufnahmen und gehen mit Mützen durch die Reihen des Menschenauflaufs, wo sie beträchtliche Mengen an Spenden einsammeln.
4.2.33 Rockband im Mauerpark Hauptinstrumente: Alter: Herkunft:
Elektrische Gitarre, Gesang (englisch); elektrische Bassgitarre; Schlagzeug ca. 25 Deutschland
Die dreiköpfige Band beginnt erst nach Sonnenuntergang mit ihrem Konzert im Mauerpark. Harte Rockmusik, eigene Songs mit englischen Texten, steht auf dem Programm – und dazu eine ungewöhnliche Lichtshow. Zahlreiche Leuchtelemente in verschiedenen Farben sind an den teilweise selbstgebauten Verstärkern, Boxen und Mikrofonständern sowie am Schlagzeug angebracht. Die bis zu einen Meter fünfzig hohen Lautsprechertürme sind auf Sackkarren und Lastenradanhängern befestigt. Auch das Schlagzeug ist anscheinend fahrbar, da mit Rädern bestückt. Und selbst die E-Gitarre des Sängers wirkt selbstgebaut. Allein diese Aufmachung sorgt schon für einen sehr individualistischen Eindruck. Der Gitarrist spielt größtenteils verzerrt und nutzt darüber hinaus weitere Klangeffekte. Auch der E-Bassist, der stellenweise zweite Stimmen singt, verfügt über diverse Effektpedale. Trotz der auffälligen Erscheinung erfreut sich die Gruppe nur mäßiger Aufmerksamkeit bei den abendlichen Parkbesuchern. Zu den wenigen Umstehenden nehmen die jungen Männer Mitte zwanzig kaum Kontakt auf, sondern spielen ihr Programm durch. Auch auf Geldspenden scheinen sie nicht aus zu sein, denn ein Sammelgefäß ist nicht zu sehen.
Abbildung 120: Rockband im Mauerpark am 12.09.2010 nach Sonnenuntergang
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4.2.34 Romaband am Görlitzer Bahnhof Hauptinstrumente: Alter: Herkunft:
Akkordeon; Geige; klassische Gitarre; Darbuka ca. 16, ca. 14, ca. 21, ca. 16 Roma
Das Quartett aus vier jungen Roma im Alter zwischen vielleicht 14 Jahren und Anfang zwanzig zieht abends musizierend durch die Straßen um die U-Bahnstation Görlitzer Bahnhof, vom Lausitzer zum Spreewaldplatz, dann über die Wiener Straße in Richtung Oranienstraße. Vor Cafés und Bars macht es halt und verweilt für einige Minuten. Die vier Jungen spielen unterdessen in einem fort die gleichen Harmonien und Melodien in einer Endlosschleife und ohne Änderungen in der Dynamik. Geige und Akkordeon wechseln sich improvisiert mit der Melodiestimme ab oder spielen zusammen. Die klassische Gitarre begleitet mit Akkorden, und die Darbuka gibt den Rhythmus an. Nach einer Weile geht der Gitarrist, scheinbar der Älteste in der Gruppe, bei den Gästen des jeweiligen Lokals in einem Pappbecher Spenden sammeln, während der Rest der Band weiterspielt. Wenn er damit fertig ist, stößt er wieder zu den anderen, und sie setzen sich zu viert in Bewegung.
Abbildung 121: Romaband am Görlitzer Bahnhof am 04.09.2011
4.2.35 Romaband an der Admiralbrücke Hauptinstrumente: Alter: Herkunft:
Akkordeon; Akkordeon; Schellenring ca. 53, ca. 53, ca. 58, ca. 58 Roma
Die Gruppe von vier Roma zieht am Abend durch die Lokale im Dreieck zwischen Planufer, Dieffenbach- und Graefestraße. Dabei spielen sie immerzu eine flotte Melodie im 2/2-Takt, die weder Anfang noch Ende hat und an einen Tango erinnert. Alle
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sind vermutlich über fünfzig Jahre alt. Zwei Männer spielen auf Akkordeons abwechselnd oder zusammen die Melodie und eine dazu passende harmonische Begleitung. Ein weiterer schlägt mit der Hand einen Schellenring. Zusammen mit einer Frau, die kein Instrument spielt, sammelt er Spenden bei den Gästen im großzügigen Außenbereich des italienischen Restaurants Il Casolare, direkt an der Admiralbrücke. Die Gruppe tritt freundlich auf, lächelt den Leuten zu und bewegt sich sehr langsam musizierend zwischen den Tischen hindurch. Die Frau hält ihre bloße Hand hin, der Perkussionist sammelt in einem Pappbecher die spärlichen Spenden ein. Dann ziehen die vier weiter zum nächsten Lokal.
4.2.36 Romajungs in der Kastanienallee – Melodika, Schellenring Hauptinstrumente: Alter: Herkunft:
Melodika; kleiner Schellenring ca. 12, ca. 10 Roma
In der Kastanienallee tauchen gegen 21 Uhr die beiden Jungs vor Cafés auf und machen Musik, bis sie anschließend einige Münzen bei den Gästen einsammeln oder vom Personal weggeschickt werden. Die beiden sind Roma: Der Ältere, vielleicht zwölf Jahre alt, spielt Melodiefetzen ohne Zusammenhang auf der Melodika. Der Jüngere ist höchstens zehn Jahre alt. Er tanzt lustig zu den unvollständigen Melodien und schüttelt dazu ohne erkennbaren rhythmischen Bezug den kleinen Schellenring, den er in der Hand hält. Beide scheinen zu improvisieren. Sie gehen von Tisch zu Tisch zu den Leuten, und nach ein paar Takten hält der Jüngere seine Hand für Spenden auf. Kaum jemand gibt etwas.
Abbildung 122: Zwei Romajungs in der Kastanienallee am 20.08.2011
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4.2.37 Rom auf dem Alexanderplatz – Akkordeon Hauptinstrument: Alter: Herkunft:
Akkordeon ca. 65 Roma
Der ältere Herr sitzt auf dem Alexanderplatz vor dem großen Schaufenster eines Kaufhauses auf einem Klapphocker und spielt Akkordeon. Er ist vielleicht 65 Jahre alt, gut frisiert, trägt Hemd, Anzug und Krawatte. Auf seinem großen elfenbeinfarbenen Instrument bietet er bekannte und typische Melodien dar, darunter Tangos, Chansons, Filmmusik – nicht virtuos, aber solide. Der Menschenstrom schiebt sich an ihm vorüber, und nur vereinzelt landet eine Münze in der kleinen Pappschachtel, die vor ihm auf dem Pflaster liegt. Er blickt entspannt und freundlich in Richtung der Leute. Als ein Bekannter von ihm vorbeikommt, beginnen die beiden ein Gespräch, der Akkordeonspieler packt seine Sachen zusammen, zündet sich eine Zigarette an und geht lachend und scherzend mit seinem Freund.
Abbildung 123: Rom am Alexanderplatz am 11.09.2010
4.2.38 Rom auf der Friedrichsbrücke – Akkordeon Hauptinstrument: Alter: Herkunft:
Kinderakkordeon ca. 12 Roma
Nachmittags sitzt der vielleicht zwölfjährige Junge auf der Friedrichsbrücke und musiziert auf einem Kinderakkordeon. Er spielt das Romalied.379 Zur Melodie, die manchmal klappt und manchmal nicht, drückt er mit der linken Hand scheinbar will379 Vgl. Anhang 2.
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kürlich die wenigen Bassknöpfe – die Begleitung passt weder rhythmisch noch harmonisch. Vor ihm steht ein leerer zerknitterter Pappbecher. Die Passanten schenken dem Kind kaum Beachtung, auch wenn es sie mit wachen Augen anblickt. Nach seinem Äußeren und der Musik zu urteilen handelt es sich um einen Rom.
4.2.39 Rom auf der Schloßbrücke – Melodika Hauptinstrument: Alter: Herkunft:
Melodika ca. 12 Roma
Abbildung 124: Rom auf der Schloßbrücke am 28.07.2010
Der Junge mit der Melodika steht an einem Pfeiler auf der Schloßbrücke, die über den Kupfergraben führt. Vielleicht 12 Jahre ist er alt und gehört vermutlich zu den Roma. Er spielt direkt gegen den Verkehrslärm an das Romalied,380 jene Melodie ohne Anfang und Ende, die sich ständig wiederholt. Ab und zu trifft er eine falsche Taste und spielt unbeirrt weiter. Überhaupt spielt er nur Melodiefetzen, bricht unvermittelt ab, wenn der Strom der Vorübergehenden kurzzeitig abebbt, und setzt sogleich wieder ein, sobald sich jemand nähert. Von den zahlreichen Passanten wird er kaum beachtet, nur selten wirft ihm jemand eine Münze in den kleinen Weidenkorb, der 380 Vgl. Anhang 2.
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vor ihm auf dem Gehweg steht. Trotzdem blickt er verschmitzt drein und lächelt freundlich. Deutsch oder Englisch spricht er nicht, oder er will mich nicht verstehen. Als ich drei Stunden später wieder an der Stelle vorbeikomme, steht er immer noch da, mit demselben Lied. Lediglich die Straßenseite hat er gewechselt.
4.2.40 Rom im Lustgarten – Akkordeon Hauptinstrument: Alter: Herkunft:
Kinderakkordeon ca. 10 Roma
Abbildung 125: Rom im Lustgarten am 28.07.2010
Vor dem Jungen steht eine leere Blechdose, in der einmal geröstete Erdnüsse waren, als Spendengefäß. Am späten Nachmittag sitzt der etwa Zehnjährige am Rande des Lustgartens lässig auf einem Klapphocker an den Zaun des Alten Museums gelehnt. Er macht einen gelangweilten Eindruck und beginnt nur auf seinem Kinderakkordeon zu musizieren, wenn einer der wenigen Passanten an dieser Stelle sich nähert. Dann lächelt er und sucht mit wachen Augen Blickkontakt. Doch sonst hört er einfach auf zu spielen, bricht unvermittelt ab, wenn niemand in der Nähe ist. Überhaupt spielt er nur Melodiefetzen des Romaliedes,381 nichts Vollständiges. Dazu drückt er mit der 381 Vgl. Anhang 2.
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linken Hand stets den gleichen Bassknopf. Während ich ihn beobachte, wirft niemand Geld in seine Spendendose.
4.2.41 Romni am Monbijoupark – Akkordeon Hauptinstrument: Alter: Herkunft:
Akkordeon ca. 60 Roma
Die ältere Frau von vielleicht 60 Jahren sitzt meistens am Fußgängertunnel zwischen Monbijou- und James-Simon-Park, manchmal auch auf der Friedrichsbrücke auf einem Klapphocker und spielt stundenlang das Romalied,382 eine achttaktige Melodie, die sich ständig wiederholt. Mit der rechten Hand spielt sie auf der Klaviatur ihres Akkordeons die Melodie, mit der linken eine harmonisch scheinbar willkürliche, jedenfalls unpassende Begleitung, die allerdings den 6/8-Rhythmus stützt. Ihre Kleidung wirkt bäuerlich. Sie blickt gütig drein und lächelt oder lacht stets freundlich, wenn sich jemand nähert, worin sie sich deutlich von vielen anderen musizierenden Roma unterscheidet. Auf diese Weise vermittelt die Frau den Passanten das Gefühl, sie freue sich, sie zu sehen. Und obwohl ihre musikalischen Fertigkeiten begrenzt sind, spenden ihr viele im Vorübergehen ein paar Münzen in die Pappschachtel, die vor ihr auf dem Boden liegt – auch dies im Gegensatz zu den meisten anderen Roma, die ich beobachtet habe und von denen sich die Leute tendenziell genervt zeigten.
4.2.42 Romni vor der Staatsoper – Akkordeon Hauptinstrument: Alter: Herkunft:
Kinderakkordeon ca. 16 Roma
Die junge Frau von etwa 16 Jahren sitzt nachmittags bis zum frühen Abend stundenlang auf einem Klapphocker direkt vor dem zur Straße gelegenen Treppenaufgang zur Staatsoper Unter den Linden. Sie spielt auf einem Kinderakkordeon in einer endlosen Schleife das Romalied, vgl. Anhang 2. Dabei nutzt sie lediglich die rechte Hand für die sich immer wiederholende achttaktige Melodie – ohne Bassbegleitung mit der linken. Unterdessen blickt und lächelt sie die Passanten freundlich an. Vor ihr auf dem Pflaster steht ein Pappbecher, in dem nur selten eine Münze landet. Ihre äußere Erscheinung sowie die Musik, die sie macht, deuten auf eine Zugehörigkeit zu den Roma hin.
382 Vgl. Anhang 2.
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4.2.43 Rom Unter den Linden – Akkordeon Hauptinstrument: Alter: Herkunft:
Akkordeon ca. 55 Rumänien
Der etwa 55-jährige Rom aus Rumänien zieht Unter den Linden von Lokal zu Lokal. Auf seinem Akkordeon spielt er in dezenter Lautstärke das Romalied, ein melodisches Thema, das sich stets nach einigen Takten wiederholt, vgl. Anhang 2. Seine Bassbegleitung passt rhythmisch und harmonisch dazu, was sonst nicht immer der Fall ist. Er positioniert sich jeweils fast am Straßenrand, so dass der Gehweg zwischen ihm und dem Außenbereich der Cafés liegt. Auf diese Weise steht er zwar niemandem im Wege, wird allerdings vom Straßenlärm fast übertönt, so dass er auch von den Passanten nahezu unbeachtet bleibt. Beim Spielen lächelt der Mann freundlich, doch mehr Interaktion findet nicht statt. Während seiner Darbietung bleibt die Schirmmütze leer, die vor ihm auf dem Boden liegt. Nach einigen Minuten sammelt er, ohne aufdringlich zu werden, bei den draußen sitzenden Cafébesuchern einige wenige Münzen in seiner Mütze ein und zieht ein paar Schritte weiter zum nächsten Lokal. Dort wird der Akkordeonist vom Personal gleich wieder weggeschickt, noch bevor er über die ersten Takte der immer gleichen Melodie hinausgekommen ist. Dann probiert er sein Glück auf der anderen Straßenseite.
Abbildung 126: Rom mit Akkordeon Unter den Linden am 25.07.2010
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4.2.44 Rumäne am Alexanderplatz – Altsaxophon Hauptinstrument: Alter: Herkunft:
Altsaxophon ca. 45 Rumänien
Am Rande des Alexanderplatzes steht der ca. 45-Jährige. Er sagt, er käme aus Rumänien, möglicherweise ist er ein Rom. Auf seinem Altsaxophon interpretiert er gängige Jazzstandards und improvisiert über die harmonischen Strukturen. Vermutlich gehört er zum Kreis um die Musiker der Gruppe → Fanfara Kalashnikov. Obwohl er sehr solide spielt, wird der Mann von den Passanten nur wenig beachtet. Von sich aus tritt er nicht in irgendwelche Interaktion mit den Leuten, seine Sonnenbrille verhindert Blickkontakt.
4.2.45 Rumäne am Kollwitzplatz – Akkordeon Hauptinstrument: Alter: Herkunft:
Akkordeon ca. 40 Rumänien
Abbildung 127: Rumäne am Kollwitzplatz am 20.08.2011
Am späten Samstagabend spielt ein ca. 40-jähriger Rumäne auf seinem großen Akkordeon Tangos und andere bekannte Melodien vor den Cafés am Kollwitzplatz und
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in der Knaackstraße. Er trägt einen weiten Anzug und sein Hemd über der Hose. Während er musiziert, steht der Mann mit etwas Abstand vor dem Lokal und geht nach einigen Minuten wortlos mit einem Pappbecher zwischen den Tischen umher, an denen die Lokalbesucher sitzen. Trotz der soliden Darbietung spendet kaum jemand etwas, weil nur wenige Minuten zuvor das → Rumänische Trio mit einem ähnlichen Repertoire am selben Ort aufgetreten ist.
4.2.46 Rumäne in der Bergmannstraße – Akkordeon Hauptinstrument: Alter: Herkunft:
Akkordeon ca. 53 Rumänien
Gegen 22 Uhr spielt der gut fünfzigjährige Rumäne vor den Lokalen in der Bergmannstraße auf seinem Akkordeon bekannte Melodien wie Tangos und russische Volkslieder. Seine Darbietung wirkt solide, vielleicht etwas zaghaft, er trägt Hemd, Weste und Hut. Vom Rand des Gehwegs aus, wo er steht, nimmt er keinen Kontakt mit den Cafébesuchern auf, die an den Außentischen sitzen, und bleibt damit unscheinbar. Etwa drei bis fünf Minuten dauern seine Auftritte jeweils, bevor er zwischen den Tischen umhergeht und in seinem Hut nur wenige Münzen einsammelt.
Abbildung 128: Rumänischer Akkordeonist in der Bergmannstraße am 18.08.2011
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4.2.47 Rumäne Unter den Linden – Akkordeon Hauptinstrument: Alter: Herkunft:
Akkordeon ca. 60 Rumänien
Der rumänische Musiker trägt Anzug und Hemd und hat seine geölten schwarzen Haare elegant nach hinten gelegt. Auf seinem großen Akkordeon spielt er am frühen Abend abgeschlossene Stücke – bekannte Melodien, darunter Tangos, Chansons und Filmmusik, solide dargebracht. Dabei sucht er nacheinander die Cafés und Restaurants Unter den Linden auf, wo er vor den Tischen in den Außenbereichen auf und ab schlendert. Er hat keine Probleme, sich gegen den Verkehrslärm durchzusetzen, und wirkt dennoch nicht aufdringlich mit seiner Lautstärke. Nach jeweils einigen Minuten beendet er seinen Auftritt und sammelt in einem schwarzen Stoffsäckchen Spenden bei den Gästen, bevor er weiterzieht.
4.2.48 Rumänische Kapelle im Bayerischen Viertel Hauptinstrumente: Alter: Herkunft:
Akkordeon; Akkordeon; Trompete; Schellenring ca. 55, ca. 58, ca. 32, ca. 27 Bacău, Rumänien
Abbildung 129: Rumänische Kapelle in der Helmstedter Straße am 07.10.2010
Die rumänische Kapelle besteht aus vier Musikern: zwei ältere Männer Ende fünfzig spielen auf alten Hohner-Akkordeons, ein jüngerer Mann von gut dreißig Jahren auf der Trompete, anscheinend ist er der Sohn des einen Akkordeonisten. Die Frau des Trompeters begleitet das Ensemble rhythmisch mit einem Schellenring. Außerdem sammelt sie in einem Pappbecher die Münzen ein, die ihnen die Anwohner der bürgerlichen Viertel in Wilmersdorf oder Friedenau von den Balkons oder aus den Fens-
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tern auf die Straße werfen. So ziehen sie durch die verschiedenen Wohngegenden und spielen zwar technisch solide, aber eintönig und ohne Dynamik immerzu die gleichen Melodien. Die Trompete ist weithin zu hören und kündigt die Band an. Allerdings ist die Resonanz gering, aus manchem Fenster ist auch verärgertes Schimpfen zu hören. Da ich unvorbereitet bin, als ich das Quartett antreffe, habe ich keinen Fragebogen auf rumänisch dabei, und so scheitert die Kommunikation mit den sehr freundlichen Musikern an der Sprachbarriere. Sie scheinen jedenfalls stolz auf das zu sein, was sie tun.
4.2.49 Rumänisches Duo am Lausitzer Platz Hauptinstrumente: Alter: Herkunft:
Akkordeon; Tamburin, Gesang (russisch, rumänisch) ca. 45 Rumänien
Die zwei Rumänen gehen abends am Lausitzer Platz von Lokal zu Lokal und stellen sich mit etwas Abstand vor die Tische in den Außenbereichen. Beide sind etwa Mitte vierzig, einer spielt Akkordeon, der andere die rhythmische Begleitung auf einem Tamburin. Ihr Repertoire umfasst eingängige Melodien, darunter Polkas, Tangos und russische Volkslieder wie »Kalinka«. Der Tamburinspieler singt in manchen Liedern auf russisch bzw. rumänisch. Die Darbietung ist solide, die Männer lächeln viel unterdessen und suchen aktiv den Kontakt zu den Cafégästen. Nach drei bis vier Stücken hören sie auf zu spielen und gehen von Tisch zu Tisch. Dabei machen sie rege auf sich aufmerksam und sprechen vor allem Kinder direkt an. Sie sammeln einige Münzen ein, wobei das Tamburin als Spendengefäß fungiert.
Abbildung 130: Rumänisches Duo am Lausitzer Platz am 18.08.2011
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4.2.50 Rumänisches Trio am Kollwitzplatz Hauptinstrumente: Alter: Herkunft:
Akkordeon; Geige; Schellenring ca. 22, ca. 25, ca. 20 Rumänien
Abbildung 131: Rumänisches Trio am Kollwitzplatz am 20.08.2011
Die drei jungen Rumänen ziehen am Samstagabend kurz vor zehn durch die Straßen um den Kollwitzplatz und spielen neben Tangos und anderem typischen Material bekannte Melodien wie »Dorogoi dlinnoyu« (»Дорогой длинною«, im Westen bekannt die Interpretation von Mary Hopkin unter dem Titel »Those Were the Days«). Ab und zu werfen sie Ausrufe wie Hej! dazwischen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Der Violinist ist Mitte zwanzig, der Akkordeonspieler wirkt etwas jünger, und der Perkussionist am Schellenring ist vielleicht zwanzig Jahre alt. Das Trio macht einen gutgelaunten Eindruck und bringt jeweils zwei bis drei Stücke auf dem Gehweg vor den Außenbereichen der Cafés dar. Zum Ende hin geht der Jüngste mit einem zerknitterten Pappbecher zwischen den Lokalgästen umher und sammelt ein paar Münzen als Spenden ein, während die zwei anderen weiterspielen.
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4.2.51 Russe am Schloßplatz – Altsaxophon Hauptinstrument: Alter: Herkunft:
Altsaxophon ca. 45 Russland
Der Mann von ungefähr 45 Jahren kommt aus Russland und spielt am frühen Abend Unter den Linden auf der Höhe Schloßplatz Jazzstandards auf seinem Altsaxophon. Er beginnt stets mit dem Thema, improvisiert daraufhin eine Weile und wiederholt schließlich das Thema. Obwohl sein Instrument eigentlich laut ist, vermag er sich nicht gegen den starken Verkehrslärm an dieser Stelle durchzusetzen. Und so nimmt kaum jemand von den zahlreichen Passanten Notiz von ihm, die Saxophontasche vor ihm auf dem Boden bleibt weitgehend leer. Als ich ihn anspreche, reagiert der Russe zunächst freundlich, mag aber nicht weiter mit mir sprechen, als ich ihm den Fragebogen zeige.
4.2.52 Russe auf dem Gendarmenmarkt – Sopransaxophon Hauptinstrument: Alter: Herkunft:
Sopransaxophon, Playback (Music Minus One) ca. 30 Russland
Abbildung 132: Russischer Saxophonist auf dem Gendarmenmarkt am 29.07.2010
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Im Rucksack des Musikers befindet sich ein Tonwiedergabegerät mit Play-AlongAufnahmen bekannter Jazzstandards, zu denen der Sopransaxophonist die Themen spielt und versiert improvisiert. Vor ihm auf dem Pflaster des Gendarmenmarktes liegt sein Instrumentenkoffer, auf dem eine kubische, mit Notenpapier beklebte Spendenbox steht. Einige Passanten entrichten einen kleinen Obolus im Vorbeigehen. Von Leuten, die ihn fotografieren wollen, wendet er sich allerdings konsequent ab. In dem kurzen Gespräch, das sich ergibt, erscheint er zutiefst verdrossen über sein Dasein als Straßenmusiker. Der junge Mann hat keine Lust, immer das gleiche vor dem Konzerthaus zu spielen, sondern würde lieber darin auftreten und professionell Konzerte geben. Weil er so frustriert von seiner Tätigkeit ist, mag er sich auch nicht auf ein Interview einlassen – der Saxophonist hat eine Abneigung dagegen, über den Quell seiner Unzufriedenheit auch noch zu sprechen. Er hat außerdem bereits schlechte Erfahrungen gemacht, etwa mit der Polizei, die ihm Ärger bereitet hat, als er eines Abends um fünf nach zehn noch musiziert hat. Der etwa dreißigjährige Russe ist sehr regelmäßig nachmittags und abends am Gendarmenmarkt und hat auch schon in Schweden und England Straßenmusik gemacht.
4.2.53 Russe in der U-Bahn – Gitarre, Gesang Hauptinstrumente: Alter: Herkunft:
Westerngitarre, Gesang (englisch) ca. 23 Russland
Der junge Mann singt am Nachmittag bekannte Popsongs und Lieder der Beatles in der U-Bahnlinie U6 auf der Höhe des Bahnhofs Friedrichstraße. Als er einsteigt, holt er seine Westerngitarre mit einer geschmeidigen Bewegung aus der Tasche auf seinem Rücken und beginnt zu spielen. Er ist Anfang zwanzig und begleitet sich selbst mit Akkorden. Eigentlich macht der Russe einen gutgelaunten Eindruck, blickt beim Singen freundlich um sich und liefert eine musikalisch überzeugende Darbietung ab. Doch seine Interpretationen wirken uninspiriert, so dass er wenig Resonanz erfährt, als er sich nach ein bis zwei Liedern kurz bedankt, die Gitarre wieder in der Tasche verschwinden lässt und durch den Wagen geht, um in einem Stoffsäckchen ein paar Münzspenden einzusammeln. Nach jeweils zwei Stationen steigt der Musiker in den nächsten Waggon um.
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Abbildung 133: Russe in der U-Bahnlinie U6 am 23.08.2011
4.2.54 Russin auf der Friedrichsbrücke – Akkordeon, Gesang Hauptinstrumente: Alter: Herkunft:
Akkordeon, Gesang (russisch) ca. 40 Russland
Gegen 22 Uhr sitzt eine Frau mit ihrem Akkordeon auf einem Klapphocker auf der Friedrichsbrücke. Sie spielt gekonnt und ausdrucksstark russische Volkslieder und singt teilweise mit kräftiger Stimme dazu. Vor ihr liegt der offene Koffer ihres Instruments. Die Passanten an diesem lauen Sommerabend spenden gerne, ein Pärchen beginnt gar im Vorübergehen einen Tanz. Obwohl die Musikerin gut deutsch spricht, möchte sie sich auf ein Interview oder Fotos nicht einlassen, weil sie Angst um ihre Tochter hat, die mit ihr in Berlin lebt. Als ich ihr die russische Version des Fragebogens zeige und sie sich den Kopftext durchgelesen hat, antwortet sie: »Nein, ohne mich!« Ich treffe sie während meiner Feldforschung noch mehrere Male an verschiedenen Stellen in Mitte wieder, doch sie ändert ihre Meinung nicht.
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4.2.55 Russin in der U-Bahn – Geige Hauptinstrument: Alter: Herkunft:
Geige ca. 23 Russland
Die junge Russin von vielleicht 23 Jahren wirkt unscheinbar und schüchtern. Wortlos steigt sie auf der U-Bahnlinie U6 innerhalb des S-Bahnrings für jeweils zwei Stationen zu und beginnt, solo die Melodie eines Tangos zu spielen. Anschließend geht sie durch den U-Bahn-Wagen und sammelt in einem Pappbecher Spenden. Von Waggon zu Waggon variieren die Stücke, doch handelt es sich immer um Tangos. Um die Mittagszeit erfährt sie kaum Resonanz auf ihre zurückhaltende Darbietung.
Abbildung 134: Russische Violinistin in der U-Bahnlinie U6 am 23.08.2011
4.2.56 Russisches Jazzduo – Gitarre, Altsaxophon Hauptinstrumente: Alter: Herkunft:
Westerngitarre; Altsaxophon ca. 32, ca. 27 Russland
Am U-Bahnhof Spittelmarkt steigt nachmittags ein Duo in den Zug der Linie U2 ein. Es handelt sich um zwei Männer um die dreißig Jahre, von denen der eine Altsaxophon spielt und sich vom anderen auf einer Westerngitarre begleiten lässt. Sie kom-
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men aus Russland und bringen ein Medley aus Evergreens der Popmusik dar, das aus Michael Jacksons »Heal the World« sowie »Let it Be« und »Yesterday« von den Beatles besteht. Der Saxophonist spielt jeweils das Thema und baut gefühlvoll zahlreiche saxophontypische Ausschmückungen ein. Der Sound der beiden ist angenehm, sie verbreiten gute Laune und enden mit einem ausgelassenen Schluss, der vom Melodieinstrument abermals reichlich verziert wird. Die verspielte Performance kommt gut bei den Fahrgästen an, und das Duo sammelt verhältnismäßig viel Geld ein, als beide von der Mitteltür aus jeweils eine Hälfte des Waggons abgehen. Nach zwei Stationen steigen sie in den nächsten Wagen um.
Abbildung 135: Russisches Jazzduo in der U-Bahnlinie U2 am 22.08.2011
4.2.57 Russlanddeutscher am Gendarmenmarkt – Akkordeon Hauptinstrument: Alter: Herkunft: In Berlin:
Akkordeon ca. 65 Russland seit fünf Jahren
Ganz am Rande des Gendarmenmarktes, in einer Nische am Gebäude des Konzerthauses fast versteckt, sitzt der ältere Herr von vielleicht 65 Jahren. Er spielt bekannte und typische Akkordeonmelodien wie Tangos, Film- und Unterhaltungsmusik sowie einige russische Volkslieder – nicht virtuos, aber solide. Vor ihm liegt eine Stoffmütze auf dem Pflaster, doch an dieser Stelle gibt es kaum Passanten, und der Mann hat sich so unauffällig plaziert, dass ihm niemand Beachtung schenkt. Er ist Russlanddeutscher, spricht recht gut deutsch und lebt seit etwa fünf Jahren in Berlin. In dem kurzen Gespräch mit mir sagt er, er halte sich selbst als Straßenmusiker für eher uninteressant, und möchte lieber nicht über sich reden.
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4.2.58 Spielleute am Hackeschen Markt – Dudelsack, Djembé, Davul Hauptinstrumente: Alter: Herkunft:
Dudelsack; Djembé; Davul ca. 27, ca. 27, ca. 32 Deutschland
Am frühen Abend begleiten die drei Spielleute vor einer Litfaßsäule auf dem Hackeschen Markt die Feuerkünstlerin. Während sie die Fackeln schwenkend übers Pflaster tanzt, spielt der Mann in der Mitte auf seinem Dudelsack Melodien, wie sie häufig auf Mittelaltermärkten zu hören sind. Dort tritt das Quartett normalerweise in wechselnder Besetzung auf. Die beiden Trommler sorgen für den Rhythmus, der etwas ältere an der Davul spielt den Beat und animiert die Umstehenden mit Ausrufen. Der jüngere spielt auf einer hoch gestimmten, länglichen Djembé treibende Rhythmen mit gelegentlichen Variationen. Vor dem Ensemble liegt auf dem Boden ein Messingteller für Spenden auf einem orangefarbenen Tuch drapiert.
Abbildung 136: Spielleute auf dem Hackeschen Markt am 06.08.2010
4.2.59 Spontane Trommelsession im Mauerpark – Djembé Hauptinstrument: Alter:
Djembé ca. 32
Während Mareike (→ Re’em) im Mauerpark ihre Harfe stimmt, setzt sich ein junger Mann, vielleicht Anfang dreißig, mit seiner Djembé neben sie auf die Steinstufe am Wegesrand. Er beginnt spontan zu trommeln, einen einfachen Rhythmus, der wenig Erfahrung erkennen lässt. Doch der Mann strahlt Freude aus, blickt fröhlich um sich und sucht Blickkontakt mit den Vorübergehenden. So geht das einige Minuten lang,
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bis Mareike fertig ist und wieder zu spielen beginnt. Da gibt der Trommler augenblicklich Ruhe, bleibt sitzen und folgt dem Spiel der Harfenistin.
Abbildung 137: Djembéspieler und → Re’em am 15.08.2010
4.2.60 Tanga Elektra – Geige, Percussion, Loop-Station Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
David: Geige, Gesang (englisch), Loop-Station; Elias: Percussion; verstärkt ca. 25, ca. 23 Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland lebend
David und Elias sind Brüder. Sie machen schon seit vielen Jahren gemeinsam Musik und sind mittlerweile aus ihrer Heimat in Mecklenburg-Vorpommern nach Berlin gezogen, wo sie von den Auftritten ihres Duos Tanga Elektra in Clubs und anderen Lokalitäten leben. Ein Teil ihres Einkommens kommt aus der Straßenmusik. Ich treffe die beiden im Mauerpark, wo sie ihre Ausrüstung an den steinernen Stufen am Rande der Schwedter Straße aufgebaut haben. David, etwa Mitte zwanzig, spielt Geige, singt und verwendet eine Loop-Station. Die obere Hälfte seines Instruments ist mit goldfarbenem Blech beschlagen, das in der Sonne glänzt. Er verwendet verschiedene Anspieltechniken, streicht, zupft, schlägt Akkorde an. An seiner Violine ist ein Tonabnehmer angebracht, daneben ein Mikrofon, das seine Stimme abnimmt. Mit den Füßen bedient David die Loop-Station und verschiedene weitere Effektpedale. Sein jüngerer Bruder Elias spielt diverse Percussioninstrumente. Im Park verwendet er einen Gitarrenkoffer als Bass-Drum, dazu eine Mini-Snare. Beide spielt er mit Schlegeln. Außerdem benutzt er einen Schellenring und eine kleine Caxixi, eine brasilianische Bastrassel. Das Duo hat zwei Verstärkerboxen, für jeden eine. Elias nutzt seine als Sitzgelegenheit. Vor sich haben die Musiker den Geigenkasten geöffnet und mit
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einem roten Tuch ausgelegt, auf dem CDs und Flyer für die nächsten Konzerte drapiert sind. Daye und Eli verwenden in ihrem sehr eigenen, unkonventionellen Stil Elemente aus Neo-Soul, Elektro, Funk und Tango. Ihre Musik ist experimentell, teils improvisiert, und live klingt dasselbe Lied jedes Mal anders. Gemeinsam entwickeln sie komplexe, musikalisch abgerundete Stücke. Beim Spielen im Mauerpark wirken die Brüder größtenteils in ihre Klangwelt versunken und nehmen kaum Kontakt zu den Passanten auf, von denen ihnen nur mäßige Aufmerksamkeit zuteil wird. Doch immer wieder bleiben einzelne stehen oder schauen sich interessiert die CDs und Flyer an.
Abbildung 138: Tanga Elektra im Mauerpark am 12.09.2010
4.2.61 Trommeltrio im Lustgarten – Djembés Hauptinstrumente: Alter:
Drei Djembés ca. 16-17
Die drei Jugendlichen knien auf ihren Djembés hockend vor dem Springbrunnen im Lustgarten mit Blick in Richtung Altes Museum. Sie trommeln monoton, ohne Variationen oder Improvisationen einen gemeinsamen Rhythmus, der sich mit dem Rauschen des Wassers vermischt. Dabei wirken sie distanziert. Bis auf ihre Arme und Hände verharren sie fast regungslos. Der Junge in der Mitte spielt den größten Teil der Zeit über mit gesenktem Haupt, das er ein wenig hin und her wiegt, so dass die langen blonden Haare über der Trommel schwingen. Sein rechter Nachbar trägt eine Sonnenbrille, beim anderen fallen die Haare so ins Gesicht, dass Blickkontakt zum Publikum nicht möglich ist. Auch untereinander scheint es zwischen den dreien keine Interaktion zu geben. Vor ihnen auf dem Pflaster liegt ein brauner Lederhut, in dem sie Spenden sammeln, doch der wird ebenso wie das Trio relativ wenig beachtet.
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Abbildung 139: Djembétrio im Lustgarten am 07.08.2010
4.2.62 Tschechisches Trio – Volksmusik Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Geige; Bratsche; Kontrabass; mehrstimmiger Gesang (tschechisch) ca. 28, ca. 30, ca. 26 Tschechien für zwei Wochen
Am Fuße der Treppen des östlichen Ausgangs am S-Bahnhof Hackescher Markt musiziert abends ein tschechisches Streichertrio. Im Programm haben der Geiger, der Bratschist und der Kontrabassist traditionelle Volks- und Trinklieder aus ihrer Heimat, die sie für ihre Besetzung arrangiert haben. Petr, der Violinist, singt die Hauptstimmen, die beiden anderen Musiker ergänzen zweite und dritte Gesangsstimmen, und stellenweise singen alle drei a cappella. Sie tragen einheitliche Kleidung, die aus dunklen Schuhen und Hosen sowie weißen Hemden mit aufgestickten Blumenmustern besteht. Vor ihnen liegt der aufgeklappte Bratschenkasten für Geldspenden offen, darin ein Plüschäffchen. Die Musiker verbeugen sich jedes Mal, wenn eine Münze in den Koffer fällt, lächeln viel ins Publikum und halten auch untereinander beim Spielen innigen Kontakt. Mit ihren heiteren Weisen erfüllen die Männer den Durchgang unter dem Bahnviadukt. Ihre Darbietung bewegt sich auf hohem künstlerischen Niveau, der Auftritt wirkt professionell. Und gleichzeitig stecken sie mit ihrer
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guten Laune und Spielfreude die Passanten an, viele bleiben kurz stehen, sind gerührt und spenden gerne Geld und Applaus. Das Trio hat zwei Wochen in Berlin verbracht, währenddessen viel Straßenmusik gemacht und verlässt die Stadt in den nächsten Tagen wieder gen Heimat.
Abbildung 140: Tschechisches Trio am S-Bahnhof Hackescher Markt am 23.08.2011
4.2.63 Ukrainer am U-Bahnhof Stadtmitte – Akkordeon Hauptinstrument: Alter: Herkunft:
Knopfakkordeon ca. 32 Ukraine
Am U-Bahnhof Stadtmitte tritt der Akkordeonist mit Orgelwerken von Johann Sebastian Bach und anderen Bearbeitungen klassischer Musik auf. Er ist hochkonzentriert, spielt er doch die anspruchsvollen Stücke auswendig. Dadurch ergibt sich für den Ukrainer allerdings wenig Gelegenheit, etwa Blickkontakt mit den Passanten aufzunehmen. Er hat sich auf einen Schemel in die Ecke des Absatzes der Treppe zwischen den beiden Bahnsteigebenen gesetzt. Dies ist die Stelle, für die die BVG an diesem U-Bahnhof Spiellizenzen erteilt. Eine solche hat der Mann Anfang dreißig sich auch besorgt. Für das Foto räumt er freilich die CDs weg, die auf seiner Akkordeontasche neben ihm liegen, denn der Verkauf von Tonträgern ist auch mit Musikgenehmigung nicht erlaubt. Nur wenige der zahlreichen Passanten schenken dem virtuosen Akkordeonisten Beachtung oder werfen zumindest Münzen in seine Tasche.
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Abbildung 141: Ukrainischer Akkordeonist am U-Bahnhof Stadtmitte am 18.08.2011
4.2.64 Ukrainerin auf dem Gendarmenmarkt – Bratsche Hauptinstrument: Alter: Herkunft: In Berlin:
Bratsche ca. 35 Ukraine während der Sommerpause ihres Orchesters
Die Bratschistin im schwarzen Abendkleid ist eine elegante und sehr stilechte Erscheinung. Am Denkmal vor dem Konzerthaus am Gendarmenmarkt bringt sie virtuos und ohne Begleitung klassische Stücke für Violine oder Bratsche dar. Noten braucht sie dabei nicht. Sie ist ausgebildete Orchestermusikerin und spielt in der Ukraine, wo sie herkommt, in einem großen Ensemble. Die Sommerpause nutzt sie, etwa 35 Jahre alt, um in Berlin Straßenmusik zu machen – wegen des guten Verdienstes. Ihr Monatsgehalt zu Hause ist nicht annähernd so hoch wie die Einnahmen, die sie auf der Straße in Berlin innerhalb von vier Wochen erzielt. Diesen Umstand empfindet sie als demütigend und frustrierend und möchte sich deshalb nicht auf ein Interview einlassen. Vor der Ukrainerin auf dem Pflaster liegt aufgeklappt ihr mit Samt ausgekleideter Bratschenkasten, in dem nicht nur Geldspenden landen, sondern auch Musik-CDs mit Aufnahmen von ihr liegen, die sie verkauft. Die zahlreichen Touristen an diesem Ort spenden ihr gerne Münzen und nach den Stücken auch einen kleinen Applaus,
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bevor sie in jedem Falle ein Foto machen. Die Musikerin verbeugt sich zwar jeweils zum Beifall, nimmt ansonsten aber wenig Blickkontakt mit den Umstehenden auf und spielt mit hoher Konzentration. Da es am Gendarmenmarkt einen relativ starken Andrang von Straßenmusikern gibt, die dort auftreten wollen, einigen sie sich untereinander auf eine Reihenfolge in Abschnitten von je einer Stunde. Es ist immer gleichzeitig Raum für mindestens zwei Musiker bzw. Gruppen, die an unterschiedlichen Stellen auf dem weitläufigen Platz auftreten können. Deshalb wechselt die Bratschistin zwischen hier und dem Gelände vor dem S-Bahnhof Hackescher Markt, wo klassische Musik auch gut ankommt. Doch im Gegensatz zu dort gibt es am Gendarmenmarkt weder S- noch Straßenbahnen und auch sonst kaum Verkehrslärm, was für ihre Darbietung von Vorteil ist.
Abbildung 142: Ukrainische Bratschistin auf dem Gendarmenmarkt am 28.07.2010
4.2.65 Ukrainisches Akkordeontrio am U-Bahnhof Stadtmitte Hauptinstrumente: Alter: Herkunft:
Drei Knopfakkordeons ca. 32, ca. 32, ca. 35 Ukraine
Die drei Akkordeonisten aus der Ukraine sitzen an der in der Spielgenehmigung der BVG ausgewiesenen Stelle am U-Bahnhof Stadtmitte zwischen den beiden Bahnsteigebenen. Zu zweit oder zu dritt spielen sie mit großer Kunstfertigkeit Arrange-
B EOBACHTUNGSBERICHTE | 297
ments klassischer Werke für Orgel oder Orchester von Johann Sebastian Bach und anderen Komponisten. Insbesondere zu dritt erreichen sie ein beachtliches Klangvolumen, mit dem sie weithin hörbar sind. Ihre erstaunliche Synchronizität fordert eine hohe Konzentration von den Musikern, so dass wenig Kapazität für Publikumskontakt bleibt. Auch in den Spielpausen während der Duette wirken die einzelnen Akkordeonisten eher introvertiert.
Abbildung 143: Ukrainisches Akkordeontrio am U-Bahnhof Stadtmitte am 22.08.2011
Vor ihnen liegt eine Akkordeontasche, auf der sich diverse CDs mit Aufnahmen unterschiedlicher Projekte der drei Ukrainer befinden. Auch einige Münzen, die Passanten gespendet haben, sind dabei. Doch viel Aufmerksamkeit wird dem Trio trotz seiner Virtuosität an dieser Stelle nicht zuteil.
4.2.66 Yaw – Djembés, Gesang Hauptinstrumente: Alter: Herkunft: In Berlin:
Zwei Djembés, Gesang (westafrikanische Sprache) 34 Sekondi-Takoradi, Ghana seit 1995
Yaw spielt auf zwei Djembés gleichzeitig, die er zwischen seinen Beinen hält. Der West-Afrikaner sitzt nachmittags auf einem mitgebrachten Hocker unter der Bahnbrücke zwischen Alexanderplatz und Rathausstraße. Er trägt stilisierte Kleidung, die an traditionelle Trachten aus seiner Heimat Ghana erinnert – inklusive einer auffälligen Kopfbedeckung mit roten Quasten und einem buschigen Scheitel. Manchmal spielt er virtuose Soli, sonst singt er zu den Trommelrhythmen Lieder, die er aus seinem Ursprungsland kennt. Dabei wirkt der ganze Körper des 34-Jährigen, als würde er tanzen, er blickt stets fröhlich um sich und nimmt viel Blickkontakt mit den Um-
298 | S TRASSENMUSIKER IN B ERLIN : F ALLSCHILDERUNGEN
stehenden und Vorbeigehenden auf. Verbal animiert er die Leute zum Mitmachen und Tanzen, worauf sich vor allem Kinder einlassen. Diese lässt der Musiker bereitwillig seine Trommeln ausprobieren und unterbricht dafür sein Spiel. Auf Fragen Antwortet er gerne und herzlich. Vor ihm liegt eine geöffnete Trommeltasche, in der sich viele gespendete Münzen sammeln.
Abbildung 144: Yaw am Bahnhof Alexanderplatz am 07.08.2010
Yaw sagt, er mache regelmäßig Straßenmusik, um Geld zu verdienen und Kontakte zu knüpfen. Außerdem gibt der seit 1995 in Berlin lebende Afrikaner Trommel- und Tanzkurse und verkauft auf Märkten Kleidung, Accessoires, Masken und Musikinstrumente, die von seiner Familie und Freunden in Ghana hergestellt werden.
5. Straßenmusik in Berlin: Ergebnisse und Analyse
Das folgende Kapitel präsentiert die mit Mitteln der deskriptiven Statistik aggregierten Ergebnisse aus der Befragung und Beobachtung von Straßenmusikern in Berlin im Zeitraum von Juli 2010 bis September 2011 und analysiert diese. Die Dimensionen sind dabei im Wesentlichen durch den in Abschnitt 3.4.2 vorgestellten Fragebogen vorgegeben, vgl. Abbildung 5. Es wurden 97 Interviews mit Solokünstlern und Gruppen geführt. Weitere 66 Musiker und Ensembles wurden durch Beobachtungsberichte erfasst. Insgesamt schließt die Stichprobe 291 Individuen ein, darunter 95 Solokünstler und 59 Gruppen in der Größe von zwei bis zwölf Personen. Da nicht alle Befragungsteilnehmer jede Frage beantwortet haben, variiert die Stichprobengröße für die verschiedenen Fragestellungen. Teilweise liegt auch nur ein Wert für ein ganzes Ensemble vor. Insbesondere die qualitativen Kategorien beinhalten nur die Angaben der Interviewten, so dass sich hier die Stichprobengröße zumeist auf die Zahl der Interviews beschränkt. Die Größe n der jeweils relevanten Stichprobe ist angegeben. Zu bestimmten Gruppen wie Osteuropäern und speziell Roma bestand eingeschränkter bzw. kein Zugang über Interviews, vgl. Abschnitt 3.3. Daher ist zu beachten, dass die aus den Interviews abgeleiteten Aussagen diese Gruppen nicht bzw. nicht angemessen repräsentieren. Es ist zu vermuten, dass ihre Einbeziehung zumindest in manchen Fällen andere Tendenzen ergeben würde.383 In die Abschnitte, in denen die Rolle des Publikums bzw. Fragen der Wahrnehmung und Akzeptanz von Straßenmusik behandelt werden, fließen weiterhin Erkenntnisse aus der in Abschnitt 3.4.6 erwähnten ergänzenden Umfrage mit ein. Wo es sich anbietet, werden Beispiele zu den Ausführungen genannt. Ein Pfeil vor dem jeweiligen → Namen verweist jeweils auf die ausführlichen Musiker- und Ensembleportraits in Kapitel 4, die individuelle Informationen liefern und Schlüsse im Einzelfall erlauben.
383 Die Betrachtungen zum Anteil der Straßenmusiker, die CDs verkaufen, in Abschnitt 5.11.3 geben einen Hinweis auf die möglichen Diskrepanzen. Hier liegen sowohl für die Interview- als auch für die Gesamtstichprobe verlässliche Zahlen vor, so dass sich die Unterschiede im Vergleich zeigen.
300 | S TRASSENMUSIK IN B ERLIN: E RGEBNISSE UND ANALYSE
5.1
ALTERS - UND GESCHLECHTERVERTEILUNG
Zunächst interessierte das Alter der befragten und beobachteten Künstler. In den Interviews wurden fast immer präzise Altersangaben gemacht. In den übrigen Fällen sowie bei den meisten beobachteten Musikern ist das Alter geschätzt. In Tabelle 1 und Abbildung 170384 sind daher die Angaben für die Interviews und für die geschätzten Beobachtungswerte gesondert ausgewiesen. Sechs Straßenmusiker in dieser Erhebung sind unter 15 Jahren alt, die jüngsten unter ihnen sind Kinder im Alter um die zehn Jahre. In dieser Altersgruppe sind ausschließlich männliche Roma vertreten. Unter den Unterzwanzigjährigen befinden sich mehrere Schüler- und Studentenbands wie → Leo und Nico, → The Folks oder → Not Called Jinx, aber auch weiterhin Roma wie die → Romni vor der Staatsoper oder die → Romaband am Görlitzer Bahnhof. Der mit knapp drei Vierteln größte Teil der Straßenmusiker in Berlin, 73,2 Prozent, ist zwischen 20 und 39 Jahren alt. Hier finden sich neben Studenten diverse weitere Gruppen. In der Gesamtbevölkerung Deutschlands liegt der Anteil dieser Altersgruppe bei lediglich 22,6 Prozent.385 Nur knapp 20 Prozent befinden sich im Alter von über 40 Jahren. Drei Musiker sind zwischen 65 und 69 Jahren alt und weitere drei über 70. → Rin Tin Tin ist mit 77 Jahren der älteste unter ihnen. Dazwischen sind alle Altersstufen vertreten. Tabelle 1: Altersverteilung unter 291 Straßenmusikern Alter
Interviews Beobachtung gesamt Prozent kum. %
unter 15
0
6
6
2,1
2,1
15-19
9
7
16
5,5
7,6
20-24
45
13
58
19,9
27,5
25-29
52
30
82
28,2
55,7
30-34
32
17
49
16,8
72,5
35-39
17
7
24
8,2
80,8
40-44
5
6
11
3,8
84,5
45-49
7
6
13
4,5
89,0
50-54
8
4
12
4,1
93,1
55-59
0
7
7
2,4
95,5
60-64
4
3
7
2,4
97,9
65-69
0
3
3
1,0
99,0
über 70
3
0
3
1,0
100,0
Summe
182
109
291
100
–
384 Siehe Anhang 4. 385 Stichtag: 31.12.2011. Quelle: Destatis 2014.
A LTERS- UND G ESCHLECHTERVERTEILUNG | 301
Auffällig ist die starke Ungleichverteilung zwischen den Geschlechtern386: Von 291 beobachteten Straßenmusikern sind 238 männlich und 53 weiblich. Das entspricht einem Frauenanteil von gut 18 Prozent.387 Mehr als vier Fünftel der Straßenmusiker in Berlin sind also männlich. Wenn man die Altersverteilung unter Straßenmusikerinnen in Tabelle 2 bzw. Abbildung 171 betrachtet, zeigt sich, dass Frauen zudem innerhalb einer deutlich kürzeren Altersspanne aktiv sind. Während diese bei Männern zwischen ca. 10 und 77 Jahren liegt und 67 Jahre umfasst, sind Frauen im Wesentlichen im Alter zwischen 16 und etwa 40 Jahren als Straßenmusikerinnen aktiv, was einem Range von nur 24 Jahren entspricht. Die → Romni am Monbijoupark ist mit über 60 Jahren die einzige weibliche Vertreterin in dieser Altersgruppe. Der Anteil der 20- bis 39-Jährigen liegt unter Frauen mit fast 86,5 Prozent erheblich höher als in der Gesamtstichprobe. Bei den männlichen Straßenmusikern beträgt der Anteil in dieser Gruppe lediglich gut 70 Prozent.388 Betrachtet man die kumulierten Prozentangaben, so zeigt sich, dass 94,2 Prozent der Frauen jünger als 40 Jahre sind. Dies trifft nur auf 77,8 Prozent der Männer zu. Tabelle 2: Altersverteilung unter 52 Straßenmusikerinnen Alter
Interviews Beobachtung gesamt Prozent kum. %
unter 15
0
0
0
0
0
15-19
3
1
4
7,7
7,7
20-24
17
3
20
38,5
46,2
25-29
12
3
15
28,8
75,0
30-34
5
1
6
11,5
86,5
35-39
3
1
4
7,7
94,2
40-44
0
2
2
3,8
98,1
45-49
0
0
0
0
98,1
50-54
0
0
0
0
98,1
55-59
0
0
0
0
98,1
60-64
0
1
1
1,9
100,0
65-69
0
0
0
0
100,0
über 70
0
0
0
0
100,0
Summe
40
12
52
100
–
386 Die Angaben zur geschlechtlichen Zugehörigkeit wurden nicht abgefragt, sondern beruhen auf den Beobachtungen des Verfassers. Nach dem offenbaren biologischen Geschlecht fand eine Einteilung in männlich und weiblich statt. Weitergehende GenderAspekte wurden nicht berücksichtigt und spielen dem Anschein nach auch keine Rolle bei den erfassten Personen. 387 Vgl. Abbildung 172 in Anhang 4. 388 Vgl. Tabelle 31 in Anhang 4.
302 | S TRASSENMUSIK IN B ERLIN: E RGEBNISSE UND ANALYSE
Geschlechterdifferenzen sind auch für andere Bereiche der Musikwelt charakteristisch. Die Gesellschaft hat Frauen lange Zeit den Zugang zu Instrumenten und den Machtstrukturen im Musikgeschäft verwehrt. Komponisten, Dirigenten, bedeutende Musiker usw. waren in der Geschichte zum überwiegenden Teil männlich. In der Popmusik setzt sich dieser Trend fort: Auch, wenn es zahlreiche erfolgreiche Interpretinnen gibt, sind doch die Songschreiber, Produzenten, Toningenieure, Studiomusiker etc. zumeist Männer. Fahrende Musiker waren in der Vergangenheit ebenfalls in der deutlichen Mehrheit männlich, wie Simon Frith feststellt.389 Er weist darauf hin, dass Frauen traditionell stärker an ihre Familie und an den Haushalt gebunden waren, während das freie Künstlerleben ohne häusliche Pflichten Männern vorbehalten blieb. George McKay bezeichnet öffentliche Straßen als »space of masculine play and display«.390 Dieser Ausdruck von Kultur, Macht und Privilegien spiegelt sich auch in jüngerer Zeit noch in den Texten populärer Musik wider, wie John Connell und Chris Gibson ausführen.391 Möglicherweise handelt es sich also bei der männlichen Dominanz unter Straßenmusikern um ein kulturelles Relikt. Es ist denkbar, dass sich dieses Phänomen mit der Zeit verändern wird. 392
5.2
HERKUNFT UND AUFENTHALTSDAUER
In Abbildung 145 ist die Herkunft nach Regionen graphisch dargestellt. Von 272 Straßenmusikern, deren Herkunft im Rahmen dieser Untersuchung ermittelt werden konnte, stammen insgesamt 76 aus Deutschland, was einem Anteil von 27,9 Prozent entspricht. Aus Berlin selbst kommen 37 Musiker (13,6 %). Nach Nationalitäten differenziert bilden Deutsche damit die Mehrheit unter Straßenmusikern in Berlin.
Berlin; 37; 14%
Sonstige; 47; 17%
Restl. Deutschland; 39; 14%
Sonst. Europa; 35; 13%
Osteuropa; 114; 42%
Abbildung 145: Herkunft von Straßenmusikern in Berlin (n=272). Osteuropäer dominieren. 389 390 391 392
Vgl. Frith 1981: 86. Vgl. McKay 2007: 22. Vgl. Connell/Gibson 2003: 211. Bei Fritsch (1972) werden nur Männer als »die charakteristischsten Vertreter« für Kölner Straßenmusiker vorgestellt (ebd., 8). Noll (1992) erwähnt auch Frauen.
H ERKUNFT UND A UFENTHALTSDAUER | 303
Die größte Gruppe der in Berlin anzutreffenden Straßenmusiker stellen Osteuropäer393 dar. Ihr Anteil beträgt zusammengenommen 41,9 Prozent der Gesamtmenge. Ein knappes Viertel davon sind Polen, die 10,3 Prozent der Stichprobe ausmachen. Rumänien ist mit 8,5 Prozent das am zweithäufigsten vertretene Herkunftsland in Osteuropa. Darüber hinaus wurden 17 musizierende Roma angetroffen (6,3 %), deren Herkunft nicht konkret zu ermitteln war. Viele der in Berlin ansässigen Roma stammen mutmaßlich aus Gebieten in Osteuropa. Vor allem die jüngsten unter ihnen, um die 10 Jahre alt, sind möglicherweise in Deutschland oder Berlin geboren. Da dies jedoch im Einzelfall nicht feststellbar war, werden die Roma hier vereinfachend als eine Gruppe betrachtet und Osteuropa zugeordnet. Aus Russland kommen 15 Musiker (5,5 %), aus der Ukraine zehn (3,7 %). Kasachstan wird auch Osteuropa zugerechnet, obwohl es geographisch zum größten Teil zu Asien gehört. Es wird deutlich, dass Berlin für Straßenmusiker aus osteuropäischen Ländern ein attraktiver Ort ist: Die polnische Grenze liegt nur gute 70 Kilometer vom östlichen Stadtrand entfernt und ist mittlerweile als EU-Binnengrenze leicht passierbar, was erklärt, dass Polen nach Deutschen die am zweithäufigsten vertretene Bevölkerungsgruppe unter Berliner Straßenmusikern darstellen. Aus weiteren europäischen Ländern wurden insgesamt 35 Künstler angetroffen, was 12,9 Prozent entspricht. Den größten Teil machen hier mit 19 Individuen (7,0 %) Franzosen aus, wobei das zwölfköpfige Ensemble → Les Jacky Parmentier diesen hohen Wert maßgeblich beeinflusst. Weiterhin sind unter anderem vier Briten (1,5 %) und jeweils zwei Iren, Italiener und Niederländer vertreten. 394 Die Türkei wird auch zu Europa gerechnet, obwohl sie geographisch größtenteils zu Asien gehört. Von dort kam eine Straßenmusikerin. 47 Straßenmusiker (17,3 %) in der Stichprobe kommen nicht aus Europa. Von den außereuropäischen Ländern sind die USA mit zehn Musikern (3,7 %) am häufigsten vertreten. Ferner wurden unter anderem acht Neuseeländer (2,9 %), sieben Argentinier (2,6 %), fünf Peruaner (1,8 %) sowie vier Israeli (1,5 %) angetroffen.395 Der Anteil von Lateinamerikanern beläuft sich auf 5,5 Prozent, Asiaten 396 sind zu 1,8 Prozent und Afrikaner zu 1,5 Prozent vertreten. Verglichen mit ihrem Anteil an der Berliner Bevölkerung sind bestimmte Nationalitäten unter Straßenmusikern deutlich über- bzw. unterrepräsentiert. 2012 lag der Anteil der hier lebenden Türken bei 2,9 Prozent397 und sogar zwischen fünf und sechs Prozent, wenn man alle Einwohner mit einem türkischen Migrationshintergrund betrachtet398. Doch wurde lediglich eine türkische Straßenmusikerin, → Fulya, ange393 Siehe Tabelle 32 und Tabelle 33 in Anhang 4. Dort sind alle Herkunftsländer einzeln aufgeführt. In dieser Arbeit werden geographisch vereinfachend unter Osteuropa die Länder Ostmitteleuropas, Osteuropas und Südosteuropas – ohne Griechenland – verstanden. Praktisch sind das alle Staaten östlich von Deutschland und Österreich, Fennoskandinavien ausgenommen. 394 Vgl. Tabelle 32 in Anhang 4. 395 Vgl. Tabelle 33 in Anhang 4. 396 Ohne Türkei und Kasachstan. 397 Vgl. Amt für Statistik Berlin-Brandenburg 2013, ebenso für die nachfolgenden Werte für Polen und Rumänen. 398 Vgl. ebd. und Greve/Orhan 2008: 12 f.
304 | S TRASSENMUSIK IN B ERLIN: E RGEBNISSE UND ANALYSE
troffen, was einem Anteil von 0,37 Prozent aller Straßenmusiker aus der Stichprobe entspricht. Fulya war zudem nur zu Gast in der Stadt. Türkischstämmige Berliner oder Deutsche kommen in der Stichprobe nicht vor. Über die Ursachen dafür kann nur spekuliert werden: Einerseits gab es bis vor wenigen Jahren praktisch keine Straßenmusiker in der Türkei, und auch heute treten sie fast ausschließlich in Istanbul auf.399 Andererseits befinden sich Menschen mit Migrationshintergrund häufig in einem polaren Spannungsfeld zwischen starker Traditionsbetonung und völliger Assimilation. Traditionell ist Musik unter Türken und Muslimen vor allem an rituelle Kontexte wie Hochzeiten und Begräbnisse gebunden; bei Bühnenaufführungen sind Kunst- und zeremonielle Musik üblich und dem Prestige der Musiker zuträglich.400 Straßenmusik erscheint vor diesem Hintergrund für traditionsbewusste türkische Mitbürger in Berlin nicht als naheliegende Option – genauso wenig wie für Menschen, die um Anpassung an die Mehrheitskultur bemüht sind, denn die Ausübung von Straßenmusik ist auch unter Deutschen sicherlich nicht die Norm. Selbst hier geborene türkischstämmige Berliner stehen häufig noch unter einem starken Einfluss ihrer Eltern und Großeltern und ziehen Straßenmusik daher möglicherweise für sich nicht in Betracht. Nach Martin Greve hören »grob gesagt [...] türkische Migrantenjugendliche eben mehr oder weniger die gleiche Musik wie ihre Eltern«.401 Dorit Klebe bemerkt: »Die türkischen Jugendlichen hören in ihrer Freizeit nicht nur weniger Musik als z. B. gleichaltrige Deutsche; das immer noch sehr stark ausgeprägte Eingebettetsein in ihren familiären Kontext gestattet ihnen auch viel weniger Freiräume für die Gestaltung einer eigenen Jugend(musik)kultur.«402 Polen hingegen stellen in Berlin einen Anteil von 1,35 Prozent an der Bevölkerung, aber unter den hiesigen Straßenmusikern 10,3 Prozent. Nur 0,25 Prozent Rumänen leben in Berlin, stellen jedoch 8,5 Prozent der Straßenmusiker in der Stadt. Auch für andere osteuropäische Länder wie Russland, die Ukraine oder Bulgarien sieht das Verhältnis ähnlich aus. Die Disproportionen für diese Gruppen kommen zustande, weil die meisten der osteuropäischen Straßenmusiker nicht permanent in Berlin leben, sondern nur zeitweise, teils regelmäßig die Stadt besuchen. Daher sind sie hier im Regelfall auch nicht behördlich gemeldet. Es zeigt sich, dass Berliner und Deutsche unter den Straßenmusikern in Berlin nur eine bzw. zwei unter mehreren Herkunftsgruppen darstellen und jedenfalls nicht nach allen Maßstäben die größte. Osteuropäer sind in etwa genauso häufig vertreten wie Musiker aus dem gesamten Rest Europas einschließlich Deutschland. Immerhin mehr als jeder sechste Straßenmusiker stammt aus Ländern außerhalb Europas.
399 Diese Information gab mir der Musikethnologe Martin Greve in einer E-Mail vom 12.01.2015. 400 Diese Informationen teilte mir die Musikethnologin und Turkologin Dorit Klebe in einem Telefonat am 07.01.2015 mit. Martin Greve bestätigt per E-Mail vom 12.01.2015, türkische Musiker spielten »entweder für Kunst oder für Geld (etwa in Restaurants oder zu Hochzeiten)«, aber nicht ohne Engagement auf der Straße, weil das als Betteln betrachtet werde und schlechtes Ansehen genieße. 401 Greve 2000: 190. 402 Klebe 2007: 139.
E NSEMBLEGRÖSSE | 305
Das Bild ändert sich allerdings, wenn man die Aufenthaltsdauer der Menschen in Berlin betrachtet, wie Abbildung 146 verdeutlicht. Wenn man davon ausgeht, dass jemand, der mehr als einen Monat in der Stadt verweilt, hier – zumindest temporär – lebt, dann lässt sich folgern, dass mit einem Anteil von 56,9 Prozent die Mehrheit der Straßenmusiker in Berlin ortsansässig ist. 43,1 Prozent hingegen sind kürzer als einen Monat in der Stadt. Diese Angaben beruhen zum größten Teil auf den in den Interviews gesammelten Antworten auf Frage 4.2: Lebst du in Berlin, oder bist du auf der Durchreise?403 Insgesamt erscheint Straßenmusik als attraktive Option sowohl für einige in Berlin lebende Musiker als auch für solche von außerhalb, die entweder extra zu diesem Zweck hierher kommen oder für die Berlin eine Station auf Reisen darstellt. 15 Künstler (7,7 %) gaben außerdem an, dass sie immer wieder für mehrere Wochen oder Monate nach Berlin kommen, um hier Straßenmusik zu praktizieren. Zu dieser Gruppe gehören ausschließlich Osteuropäer, darunter → Jacek (Polen), → Zoreslaw (Ukraine) und → Segal (Rumänien). 40
36
34
Häufigkeit (n=195)
35 30 25
23
22
20 15
10
16 9
21
14 6
7
7
5 0
Aufenthaltsdauer in Berlin
Abbildung 146: Aufenthaltsdauer in Berlin. Die Mehrheit der Straßenmusiker ist ortsansässig.
Die große Zahl von Durchreisenden verdeutlicht die hohe Fluktuation unter Straßenmusikern in Berlin. Und auch unter den hier wohnhaften sind stets einige, die diese Auftrittsform nur ein einziges oder wenige Male ausprobieren und dann wieder sein lassen. Somit variieren sowohl die Menge als auch die konkrete Zusammensetzung der tatsächlich aktiven Musiker ständig.
5.3
ENSEMBLEGRÖSSE
Insgesamt wurden 154 Einheiten beobachtet, darunter 95 Solokünstler und 59 Ensembles. Diese Zahl weicht von der Menge der in Kapitel 4 beschriebenen Einzelfälle ab, da einige der Musiker dort in mehreren Formationen mitwirken, so etwa → Kazik, der unter anderem mit → Akira und → Jacek zusammen auftritt, aber separat vorgestellt wird. 403 Vgl. Leitfragebogen, Abbildung 5.
306 | S TRASSENMUSIK IN B ERLIN: E RGEBNISSE UND ANALYSE
In Abbildung 147 sind die Häufigkeiten der verschiedenen Ensemblegrößen ab zwei Personen dargestellt. Nachdem Einzelmusiker mit 61,7 Prozent die deutliche Mehrheit der betrachteten Einheiten bilden, sind unter den Gruppen die 30 Duos mit Abstand am zahlreichsten. Trios kommen nicht halb so oft vor. Acht von 59 Formationen (13,6 % bzw. 5,2 % aller 154 Einheiten) bestehen aus fünf oder mehr Personen. Zwei sind sogar jeweils zwölfköpfig, nämlich → Les Jacky Parmentier und der Chor der → Gemeinde Jesu Christi in Berlin. Die → Hare Krishnas fließen in diese Betrachtung nicht mit ein, da die Teilnehmerzahl hier je nach Anlass stark variiert. 35 30
Häufigkeit (n=59)
30 25 20 14
15 10
7
5
2
2
1
1
0
0
0
5
6
7
8
9
10
11
2
0 2
3
4
12
Ensemblegröße [Personen]
Abbildung 147: Ensemblegröße. Duos überwiegen bei weitem. Die 95 Solokünstler bilden allerdings die größte Gruppe.
Betrachtet man die absolute Zahl der Individuen in den Einheiten, verschiebt sich das Bild. Mit etwa 33 Prozent spielt nur ein Drittel der Straßenmusiker in Berlin allein, während zwei Drittel gemeinsam mit anderen Musikern auftreten. Einzelmusiker sind dennoch die größte Personengruppe, wenn man nach der Ensembleform differenziert.404
5.4
GESANG UND INSTRUMENTE
Die in Berlin aktiven Straßenmusiker verwenden eine Fülle verschiedener Musikinstrumente, darunter sowohl weltweit gebräuchliche klassische wie moderne als auch traditionelle aus unterschiedlichen Kulturkreisen. Zusätzlich wird in vielen Fällen gesungen – hier findet sich ein großer Reichtum an Sprachen. In diesem Abschnitt wird die Vielfalt der während meiner Feldforschung und darüber hinaus vorgefundenen Instrumente und Sprachen in der Straßenmusik Berlins dargestellt. Um Verzerrungen durch große Gruppen zu vermeiden, in denen ein oder mehrere Instrumente mehrfach vertreten sind, wird bei Ensembles jedes vorkommende Instrument bzw. Gesang nur
404 Vgl. Abbildung 173 in Anhang 4.
G ESANG UND I NSTRUMENTE | 307
einfach gewertet.405 Unterschiedliche Ausführungen wie z. B. klassische und Westerngitarre werden wiederum als zwei verschiedene Instrumente gezählt. Der Kontrabass taucht sowohl bei den Streich- als auch bei den Zupfinstrumenten auf, da er lediglich in einem Fall gestrichen und sonst nur oder vorwiegend gezupft wurde.406
5.4.1
Gesang
In 73 von 154 Einheiten wird gesungen. Das entspricht einem Anteil von 47,4 Prozent. In der Regel wird Gesang instrumental begleitet. Doch acht Musiker und Gruppen treten teilweise oder allein mit a cappella Darbietungen auf: → Elizabeth, → Gahd, → Rin Tin Tin, → Sarah, → Space Commander Hotch und → Minsk Acapella. → Nina arbeitet mit dezenter Playbackbegleitung, die → Rapper im Mauerpark mit Loop-Stations. Chorgesang kommt in der Stichprobe viermal vor: bei → Minsk Acapella, der → Gemeinde Jesu Christi in Berlin, den → Hare Krishnas sowie → Les Jacky Parmentier. Klassischer Operngesang wird von → Elizabeth und → Nina praktiziert. Deutsch: 13 Englisch: 44 Französisch: 5
Irisch: 2 Italienisch: 2 Russisch: 8 Gesang: 73
Spanisch: 7 sonstige osteuropäische Sprachen: 7 sonstige westeuropäische Sprachen: 3 asiatische Sprachen: 3 westafrikanische Sprachen: 2 Phantasiesprache/Töne: 4 Beatbox/Rap: 4
Abbildung 148: Gesungene Sprachen. Englisch kommt am häufigsten vor.407
405 Bei der französischen Blaskapelle → Les Jacky Parmentier kommen beispielsweise jeweils drei Posaunen, Trompeten und Tuben zum Einsatz. 406 Vgl. Abbildung 150. 407 Siehe Tabelle 34 in Anhang 4 für die sonstigen Sprachen.
308 | S TRASSENMUSIK IN B ERLIN: E RGEBNISSE UND ANALYSE
Abbildung 148 zeigt die dabei vorkommenden Sprachen und gibt jeweils deren Häufigkeiten an.408 Insgesamt wurden 22 verschiedene Sprachen beobachtet, die meisten davon jeweils nur einmal. In vielen Fällen gehören mehrere Sprachen zum Repertoire, z. B. bei → Fulya, die auf türkisch, spanisch und englisch singt. Englisch ist die mit Abstand am häufigsten genutzte Sprache und wird von 44 Einheiten (60,3 % derjenigen, bei denen Gesang vorkommt) verwendet. Dies ist damit zu erklären, dass das Repertoire der Straßenmusiker oftmals bekannte Titel aus der größtenteils englischsprachigen Rock- und Popmusik beinhaltet. Deutsche Texte kommen bei 13 Einheiten (17,8 %) vor. Auf russisch wird achtmal (11,0 %), auf spanisch siebenmal (9,6 %), auf französisch fünfmal (6,8 %) gesungen. Weitere Sprachen kommen nur vereinzelt vor und werden teils aggregiert dargestellt. Tabelle 34 in Anhang 4 gibt detailliert Auskunft über die sonstigen Sprachen. Vor allem englisch-, aber auch anderssprachige Lieder werden bei weitem nicht nur von Muttersprachlern gesungen. Bei Spanisch ist zu bedenken, dass es sich zwar um eine westeuropäische Sprache handelt, diese jedoch zum überwiegenden Teil von Süd- und Mittelamerikanern gesprochen wird. Teils beruht die Aufnahme von Liedern in bestimmten Sprachen ins Repertoire auf bewussten Entscheidungen der Künstler. So sagt z. B. → Kevin von sich, dass er Songs mit französischen Texten gezielt einsetze, wenn Araber oder französische Touristen zugegen seien. → Bernd hingegen setzt zunehmend auf deutschsprachige Musik, weil er damit nach eigener Aussage die Leute besser erreicht und in der Folge mehr Geld einnimmt. Manche Musiker gebrauchen zwar ihre Stimme, jedoch ohne dabei Texte im herkömmlichen Sinne zu artikulieren. Künstler wie Mareike (→ Re’em) oder die Gruppen → Wayra und → Huiñaumanta verwenden Töne oder Phantasiesprachen. Beim Beatboxing werden mit dem Mund, der Nase und dem Rachen Schlagzeug- und Percussionsounds sowie weitere Klänge imitiert und rhythmisch eingesetzt. Diese Technik nutzen z. B. → Philipp, die → Rapper im Mauerpark oder der → Gitarrist auf der Oberbaumbrücke.
5.4.2
Instrumente
Abbildung 149 und Abbildung 150 fassen die in der Stichprobe vorgefundene Mannigfaltigkeit der Musikinstrumente zusammen. Dabei wurde der Übersichtlichkeit halber die grobe Klassifikation nach der Art der Benutzung durch den Spieler vorgenommen. Demzufolge wird zwischen Blas-, Schlag-, Streich-, Tasten-, Zupf- und sonstigen Instrumenten unterschieden. Wo es nötig und sinnvoll erschien, wurden weitere Unterklassen gebildet wie bei den Holzbläsern oder den Gitarren. Zunächst zeigt sich, dass alle Instrumentenklassen zahlreich vertreten sind. Zupfinstrumente stellen mit 88-maligem Auftreten die mit Abstand größte Gruppe dar, Streich- und sonstige Instrumente bilden mit jeweils 22 Sichtungen den Schluss. Das in der Straßenmusik weitaus verbreitetste Instrument ist die Gitarre in verschiedenen Ausführungen. Selbst die hierin häufigste Form, die Westerngitarre, allein kommt mit 33-mal öfter vor als jeder andere Instrumententyp. Durch die Bespannung mit Stahlsaiten setzt sie sich deutlich besser als die klassische Gitarre mit 408 Vgl. auch Abbildung 174 in Anhang 4.
G ESANG UND I NSTRUMENTE | 309
Nylonsaiten (17-mal vertreten) gegen Straßenlärm und andere Instrumente durch. Elektrische und Halbresonanzgitarren werden zusammengenommen von 17 Musikern und Gruppen verwendet und sind durch die obligatorische Verstärkung ebenfalls gut für das Musizieren im öffentlichen Raum geeignet. Des weiteren kommen neun Bassinstrumente vor: drei Kontrabässe und sechs elektrische Bassgitarren. Das Akkordeon ist mit 26 Stück das zweitpopulärste Instrument, wobei die Pianovariante mit 21 zu 5 gegenüber dem Knopfakkordeon deutlich überwiegt. Letzteres wird ausschließlich von Ukrainern und Russen gespielt, während Pianoakkordeons vor allem bei Rumänen und Roma verbreitet sind. Überhaupt werden Akkordeons fast durchweg von Osteuropäern (inklusive Roma) verwendet. Die einzigen Ausnahmen hiervon bilden innerhalb der untersuchten Stichprobe → Andrea und → The Benka Boradovsky Bordello Band, die wiederum beide vor allem osteuropäisch inspirierte Musik spielen. Sopransaxophon: 2 Altsaxophon: 7 Saxophon: 16
Tenorsaxophon: 6 Baritonsaxophon: 1
Klarinette: 3 Blockflöte: 2 Holzbläser: 25 Blasinstrumente: 53
Mundharmonika: 10
Flöte: 6
Panflöte: 2
Sonstige: 2 Trompete: 5 Baritonhorn: 1
Blechbläser: 14
Posaune: 4 Tuba: 3
Dudelsack: 2
Sousaphon: 1
Didgeridoo: 1 Wind Controller: 1
Drumset: 16 Cajón: 6 Schlaginstrumente: 58
Handtrommeln: 12 Percussion: 22 Hang/Handpan: 2
Abbildung 149: Blas- und Schlaginstrumente
Holzblasinstrumente bilden mit 25 Vertretern die nächstgrößte Gruppe. Hier ist das Saxophon mit 16 Instrumenten dominierend, darunter sieben Alt- und sechs Tenorsaxophone. Unter den Blechbläsern (14-mal) kommt die Trompete mit fünf Sichtungen am häufigsten vor. Mundharmonikas werden von zehn Musikern gespielt, die übrigens allesamt solo auftreten.
310 | S TRASSENMUSIK IN B ERLIN: E RGEBNISSE UND ANALYSE
Nach den Zupfinstrumenten bilden die Schlaginstrumente zahlenmäßig die zweitwichtigste Instrumentenklasse. Sie werden von 58 Künstlern und Ensembles benutzt. Hierbei kommt Handpercussioninstrumenten wie Schellenringen und Rasseln die größte Bedeutung zu (22-mal), daneben sind 16-mal ein Schlagzeug, zwölfmal Handtrommeln und sechsmal Cajónes im Einsatz. Unter den Handtrommeln überwiegt die Djembé mit 8 von 12 deutlich. Wie beim Cajón handelt es sich hierbei um ein kompaktes Instrument, mit dem man sich auch in lauter Umgebung ohne Mühe Gehör zu verschaffen vermag. Unter den Streichinstrumenten ist die Geige mit 15 Verwendungen vorherrschend. Geige: 15 Bratsche: 3 Streichinstrumente: 22
Cello: 3 Kontrabass: 1 Pianoakkordeon: 21 Akkordeon: 26 Knopfakkordeon: 5 Melodika: 4
Tasteninstrumente: 34 Keyboard: 3 Harmonium: 1
klassische Gitarre: 17 Westerngitarre: 33 Halbresonanzgitarre: 4
Gitarre: 68
elektrische Gitarre: 13 Steel Guitar: 1
Zupfinstrumente: 88
Bass: 9 Harfe: 2
Kontrabass: 3 elektrische Bassgitarre: 6
Sonstige: 9
Loop-Station: 9 Synthesizer/Sampler: 3
Sonstige: 22
Drehorgel: 2 Playback: 7 Karaoke-Anlage: 1
Abbildung 150: Streich-, Tasten-, Zupf- und sonstige Instrumente. Die Gitarre ist das bei weitem verbreitetste Musikinstrument in der Straßenmusik.
G ESANG UND I NSTRUMENTE | 311
Sonstige Instrumente umfassen elektronische (Karaoke-Anlage, Synthesizer/ Sampler) und mechanische (Drehorgel) Musikautomaten verschiedener Art sowie Playback-Vorrichtungen (siebenmal) und Loop-Stations (neunmal). Wenn man berücksichtigt, dass Loop-Stations und Synthesizer bzw. Sampler oft gemeinsam benutzt werden, so kommen elektronische Klangerzeuger zum Zeitpunkt der Feldforschung bei mindestens sechs Prozent der untersuchten Straßenmusikformationen vor. Tendenziell ist hier von einer weiteren Zunahme auszugehen, auch weil die Preise für die die technischen Komponenten stetig fallen. Unter den Zupfinstrumenten findet sich die größte Anzahl traditioneller Instrumente wie Balalaika und Domra (Russland), Cimbalom (Rumänien), Cister (Westeuropa), Banjo (Nordamerika) Charango (Andenraum) oder Cuatro (Südamerika). Der Vorrat an Musikinstrumenten, die sich bei der Straßenmusik einsetzen lassen, scheint unerschöpflich zu sein. Zu weiteren Instrumenten bzw. Besetzungen, die mir außerhalb meiner Recherchen in Berlin aufgefallen sind, gehören unter anderem: ein Rapper mit Ghettoblaster in der U-Bahn, eine Balkan-Laute Gusla (gestrichen), ein Solo-Schlagzeuger, auf Eimern und Fässern spielende Trommler, eine verstärkte indische Langhalslaute Sitar, mehrmals Solo-Kontrabassisten, eine Drehleier, eine Steel Pan, ein Klavier auf Rollen409, ein Sänger mit Ukulele, ein SoloDudelsackspieler, die vietnamesische Maultrommel Đàn môi (von Händlern zur Werbung gespielt, um Instrumente zu verkaufen), ein Marimbaphon, zwei Kinder, die Weihnachtslieder auf der Blockflöte vortrugen, eine vierzehnköpfige Band, die nur auf Kinderinstrumenten wie Glockenspielen, Ukulelen, Kinderschlagzeug, Melodikas und Blockflöten musizierte, zwei junge Frauen, die zweistimmig a cappella deutsche Weihnachtslieder sangen, eine Musikerin, die mit einem Tablet-Computer und Verstärker Sitar- und andere Klänge produzierte, sowie Keyboardspieler auf UBahnhöfen. Die Analyse zeigt, dass sich unter Straßenmusikern zunächst solche Instrumente größerer Beliebtheit erfreuen, die sich vielseitig je nach Bedarf als Melodie- und bzw. oder Harmonieinstrumente und sogar rhythmisch einsetzen lassen. Dies trifft sowohl auf die Gitarre als auch auf das Akkordeon zu, die beide im Vergleich etwa zum Klavier gut transportabel und dazu robust sind. Traditionell unter Straßenmusikern verbreitete Instrumente wie Drehorgel, Drehleier, Harfe oder Flöten spielen dagegen kaum noch eine Rolle. Ein zweites wichtiges Kriterium ist die Lautstärke und damit Durchsetzungsfähigkeit gegenüber den verschiedenen Geräuschquellen im öffentlichen Raum wie z. B. Verkehrslärm. Das erklärt insbesondere die Beliebtheit von Saxophonen, Blechblas- und Schlaginstrumenten. Allerdings werden die Vorteile lauter Instrumente durch die gute Verfügbarkeit von handlichen Verstärkern relativiert. Sie bilden eine wichtige Grundlage für den heutzutage zu beobachtenden Instrumentenreichtum in der Straßenmusik.
409 Helmut spielt seit mehr als 20 Jahren vor allem im Bezirk Kreuzberg auf der Straße Klavier, vgl. Hombach 2013. Während meiner Feldforschung bin ich ihm nicht begegnet.
312 | S TRASSENMUSIK IN B ERLIN: E RGEBNISSE UND ANALYSE
5.4.3
Verstärkung
Verstärker haben mittlerweile aus den in Abschnitt 2.3.3 genannten Gründen eine weite Verbreitung erfahren und werden zur Amplifikation sowohl von Gesang als auch von elektrischen und akustischen Instrumenten aller Art verwendet. Von 165 Künstlern und Gruppen nutzen 57 solche Anlagen.410 Das entspricht einem Anteil von 34,5 Prozent. Knapp zwei Drittel spielen also unverstärkt. In den meisten Fällen handelt es sich bei den Geräten um Kleinstverstärker, wie sie etwa in Abbildung 9, Abbildung 57, Abbildung 91 oder Abbildung 99 zu sehen sind. Einige Musiker wie → Mr. Paul und → Akira haben sich selbst leistungsstärkere Systeme zusammengebaut411, und → Joe (Bearpit Karaoke) sowie die Gruppen → Huiñaumanta und → Wayra verwenden professionelle PA-Anlagen412. Andere wie → Kimanistar nehmen hingegen die Herausforderung an, auch in lauter Umgebung wie in der S-Bahn unverstärkt zu bestehen. Er sagt: »I strum my guitar hard to get people to look at me. And I sing really loud.«
5.5
STILRICHTUNGEN
Straßenmusik stellt keine Musikgattung dar; es handelt sich vielmehr um eine weltweit vor allem in größeren Städten verbreitete Aufführungskultur bzw. -praxis, wie ich in Abschnitt 2.1.1 dargelegt habe. Abbildung 151 zeigt die musikalischen Stilrichtungen, die von den in der Stichprobe enthaltenen Straßenmusikern in Berlin gespielt werden.413 Die Werte basieren einerseits auf den in den Interviews vor allem zu den Fragen 8 und 9 gemachten Angaben und andererseits auf Einschätzungen des Verfassers diejenigen Künstler betreffend, mit denen sich kein Gespräch ergab. Die aus den Interviews und den Beobachtungen gewonnenen Werte sind daher separat ausgewiesen. Es waren Mehrfachnennungen möglich. Unter Sonstige finden sich unter anderem die Richtungen Rap, Soul, Ska/Reggae, Drum and Bass sowie Elektro. Es wird die große stilistische Bandbreite deutlich, die in der Straßenmusik zu finden ist. Neben vielen weiteren Richtungen kommen darin besonders häufig Volksund traditionelle Musik aus verschiedenen Ländern und Kulturkreisen, Rock, Pop, Jazz, Folk, Country, Rock’n’Roll und klassische Musik vor. Oftmals setzt sich das Repertoire eines Künstlers oder Ensembles aus Stücken verschiedener Stilrichtungen zusammen. Auffällig ist der mit 8,5 Prozent der Nennungen relativ hohe Anteil frei improvisierter Musik bzw. eigener Stile, auf die aus Sicht der Musiker keine der gängigen Bezeichnungen zutrifft. Das zeigt, wie intensiv Straßenmusik von einigen als offener, kreativer Raum und Experimentierfeld genutzt wird und dass sie beileibe nicht auf die Wiedergabe oder Interpretation von Bekanntem beschränkt ist. Neues, Spontanes und Avantgardistisches gehören scheinbar ebenso selbstverständlich dazu wie etablierte Stile. Diese Beobachtung wird unterstrichen durch die Antworten, die manche in den Interviews auf Frage 14.1 gaben (Wie unterscheidet sich Straßenmusik von
410 411 412 413
Vgl. Abbildung 175 in Anhang 4. Vgl. Abbildung 7 und Abbildung 64. Vgl. Abbildung 47, Abbildung 39 und Abbildung 92. Vgl. auch Tabelle 35 in Anhang 4.
S TILRICHTUNGEN | 313
Musik in anderen Kontexten?): in sechs von 146 Nennungen wird hervorgehoben, dass es bei der Straßenmusik mehr Freiheit gebe, zu improvisieren und experimentieren bzw. auszuprobieren. Elf Befragte finden Straßenmusik freier, spontaner oder improvisierter, und acht schätzen daran die Ungezwungenheit bzw. Freiheit, das eigene Ding zu machen.414 Insgesamt 15-mal wurde zudem die Kategorie Ausprobieren; Antesten; Experimentieren; direktes Feedback als Motiv genannt, Straßenmusik zu machen.415 Improvisation; eigener Stil Pop Rock Alternative; Independent Punk Jazz Blues Swing; Boogie Latin; Bossa Nova Funk Interviews
Folk; Country; Rock'n'Roll Liedermacher; Singer-Songwriter; Chanson
Beobachtung
traditionelle/Volksmusik Weltmusik
Klassik Alte Musik Tango; Walzer Filmmusik christl./spirituelle Musik; Gebet Romalied u.ä. Sonstige Häufigkeit (n=165) 0
5
10
15
20
25
30
Abbildung 151: Stilrichtungen. Traditionelle Musik, Pop und Jazz sind vorherrschend.
Der stilistischen Vielfalt entsprechend sind auch die Besetzungen in den verschiedenen Ensembles. Neben typischen Bandbesetzungen wie Gitarre-Bass-SchlagzeugGesang (z. B. die → Rockband im Mauerpark) kommen zahlreiche Varianten vor (vgl. z. B. → The Benka Boradovsky Bordello Band, → Ginger Brown, → Onda Vaga, → Polnisches Jazztrio). Klassische oder traditionelle Streichertrios (→ Garchsurmach oder → Tschechisches Trio) sind ebenso vertreten wie Blaskapellen (→ Everbrass, → Les Jacky Parmentier) und Chöre (→ Minsk Acapella, → Gemeinde Jesu Christi in Berlin) oder Trommelgruppen (→ Rhythms of Resistance, → Amadou und Peter). Wie viele der anderen Aspekte auch sind die in der Straßenmusik vorkommenden Stilrichtungen einem steten Wandel unterworfen. So waren beispielsweise lateinamerikanische Gruppen in den 1980er und 90er Jahren zunächst in westdeutschen und 414 Vgl. auch Tabelle 11 in Abschnitt 5.10.2 zur Frage, wie sich Straßenmusik von Musik in anderen Kontexten unterscheidet. 415 Vgl. Abschnitt 5.9 zur Motivation.
314 | S TRASSENMUSIK IN B ERLIN: E RGEBNISSE UND ANALYSE
-europäischen Innenstädten, ab der deutschen Wiedervereinigung auch in Berlin weit verbreitet, ja geradezu omnipräsent vor großen Kaufhäusern und in den Fußgängerzonen.416 Bohlman beobachtet Anfang der 90er Jahre in deutschen Städten: »the Andean pan-pipe ensembles are everywhere«.417 Andenfolklore wurde zunächst in den 1950er Jahren zunehmend in Paris und Frankreich populär. Diverse Ensembles aus Südamerika waren zeitweise sehr erfolgreich, insbesondere unter Linken, Anhängern Che Guevaras und Anti-Amerikanisten.418 Von hier aus ging vermutlich eine Sogwirkung auf Musiker aus der Region aus, die anschließend zahlreich nach Frankreich und in andere europäische Länder kamen, um der Armut – und teilweise den Militärdiktaturen – in ihrer Heimat zu entrinnen. Ohne Manager und folglich ohne Engagements jedoch blieb ihnen ersatzweise die Straße als Auftrittsort. Ihr Stil war zunächst geprägt von häufig instrumentaler Musik, die auf traditionellen Instrumenten wie Gitarre, Charango und Cuatro, vor allem aber den charakteristischen Flöten und Panflöten, und in typischen Trachten in Gruppen von teils mehr als zehn Mann vorgetragen wurde. Die Musik selbst beruhte zwar auf Elementen aus der Andenregion, entsprach aber in den Details und Arrangements keiner konkreten Musikkultur und war somit eine Adaption an europäische Hörgewohnheiten und -erwartungen. Mit dieser Art der folkloristischen Inszenierung waren die Bands zunächst sehr erfolgreich, wie Bohlman in einer Bildunterschrift festhält: »Andean panpipe ensemble, performing songs of political protest in Spanish and attracting the largest crowd of all the street musicians.«419 Es scheint sich um ein nicht auf Europa beschränktes Phänomen zu handeln, da auch Tanenbaum Anfang der 1990er Jahre von zahlreichen lateinamerikanischen Gruppen in New York berichtet. Sie spricht sogar von einer »Andean street performing tradition in cities around the world«.420 Seitdem fand ein allmählicher Wandel statt, den ich aus eigener Beobachtung in Berlin wiedergebe. Erst wurden zunehmend Verstärkeranlagen verwendet, dann die traditionellen Trachten durch stilisierte Kostüme nach Art nordamerikanischer Indianer ausgetauscht – inklusive Lederfransen und prächtigem Kopfschmuck aus Vogelfedern. Schließlich dünnten die verbliebenen Formationen immer stärker aus, die fehlenden Musiker wurden durch Playbacktechnik und aufwendige Klangeffekte ersetzt. Und auch die Musik selbst veränderte sich im Laufe der Zeit. Nilton, Teil des Duos → Huiñaumanta, fasst den Prozess so zusammen: »Anfangs Andenfolklore, später mehr internationale Melodien auf Panflöte, dann Oliver-Shanti-Musik in neuen Klamotten und heute peruanische Musik mit nordamerikanischen Rhythmen«. Fakt ist, dass von den einst zahlreich vorhandenen Bands mittlerweile fast alle von den Straßen verschwunden sind. Viele der Musiker sind entweder zurück in ihre Heimat gegangen oder haben in Deutschland Arbeit gefunden und Familien gegründet, ohne dass weiterhin neue Landsleute nachgeströmt wären. Die verbliebenen Gruppen wie → Huiñaumanta und → Wayra verwenden zwar noch einige der charakteristischen Instrumente, vor allem 416 Noll beschreibt Ende der 1980er Jahre mehrere Formationen in Köln, vgl. Noll 1992: 113 f. Bei Fritsch (1972) ist hingegen noch keine Rede davon. 417 Bohlman 1994: 121. 418 Vgl. Rios 2008. Zur Geschichte und Kultur der Musiker aus den Anden in ihren Heimatländern siehe auch Tanenbaum 1995: 34 ff. 419 Bohlman 2001: 199. 420 Vgl. Tanenbaum 1995: 37.
R EPERTOIRE | 315
diverse Flöten, und traditionelle Themen. Die Performance jedoch hat sich seit den Anfängen in wesentlichen Aspekten wie Musikstil, Kleidung, Besetzung und technischem Aufwand grundlegend verändert.
5.6
REPERTOIRE
Das Auftrittsrepertoire, das die Künstler bei der Straßenmusik verwenden, reicht von einzelnen Stücken, die ständig wiederholt werden, bis zu mehrstündigen Programmen. Viele Roma z. B. spielen eine Melodie oder willkürliche Aneinanderreihung verschiedener Themen in stundenlanger Endlosschleife.421 Andere wie → Bernd, → Konstantin oder → Stephan können auf einen Materialvorrat aus mehreren Dutzend eigener und bzw. oder interpretierter Stücke zurückgreifen, der es ihnen erlauben würde, sich über lange Zeiträume nicht zu wiederholen. Dazwischen kommen alle möglichen Abstufungen vor. Wieder andere spielen prinzipiell nie zweimal das gleiche, weil sie immerzu improvisieren sowie → Suchy oder → Tibor. Grundsätzlich stellen Wiederholungen bei der Straßenmusik wegen der meist starken Fluktuation des Publikums – bzw. in Bahnen und Cafés auch der Musiker selbst – kein Problem dar. Konzerterfahrung kann in diesem Kontext zunächst verwirrend sein, wenn man es gewöhnt ist, vor einem festen Publikum das eigene Programm genau einmal von Anfang bis Ende durchzuspielen. In der Öffentlichkeit fällt es dagegen kaum jemandem auf, wenn man dieselben drei Lieder fünfmal hintereinander spielt. Straßenmusik eignet sich daher aus Sicht vieler Künstler gut zum Üben von neuen Stücken und der Bühnenperformance.422 Beispielsweise berichtet → Kevin, er übe eigentlich nur »on stage« in der U-Bahn, »bis es sitzt und klappt«. Das Nachsehen haben in solchen Fällen gegebenenfalls Anrainer oder Beschäftigte in den Läden der Fußgängerzonen, die anders als die Passanten ortsgebunden sind. Viele Straßenmusiker legen sich auf eine Stilrichtung fest wie → Pedro (Jazz) oder → Garchsurmach (Klassik), manche spielen unterschiedliche Musikstile, so etwa → Fulya oder → Jaroslaw. Und während es die einen mit Stolz erfüllt, nur Eigenkompositionen vorzutragen, beispielsweise → Kimanistar und → Camilo, entscheiden sich Künstler wie → Akira, → Mitsuhiro oder → Seanín aus unterschiedlichen Gründen bewusst dagegen, bei der Straßenmusik selbstgeschriebene Stücke zu spielen, selbst wenn solche vorhanden sind. Die Strategie bei der Auswahl des Repertoires kann, grob gesagt, in einer Konzentration auf dem Publikum vermeintlich Bekanntes und Vertrautes liegen. Dieses Konzept verfolgen nicht nur klassische Musiker wie das Trio → Garchsurmach oder → Oleg, sondern auch → Robert oder das → polnische Jazztrio. Auf der anderen Seite steht die Entscheidung für individuell geprägte, ungewöhnliche Musik, manchmal gepaart mit exaltiertem Auftreten wie bei → The Benka Boradovsky Bordello Band oder exotischen Kostümen, etwa bei → Yaw. Zwischen diesen beiden Extremen liegen viele Varianten. So legt → Kevin Wert auf »sehr eigene Coverversionen« sowie »die unbekannten Stücke dazwischen«. Und → Gal mischt Jazzstandards mit Eigenkompositionen, israelischen Liedern und klassischer Musik aus dem irakischen Raum. 421 Vgl. Anhang 2. 422 Vgl. Abschnitt 5.9 zur Motivation.
316 | S TRASSENMUSIK IN B ERLIN: E RGEBNISSE UND ANALYSE
In Abbildung 152 sind die Angaben zu Frage 8.1 aus den Interviews und meine Beobachtungen zusammengefasst.423 Es zeigt sich, dass eine deutliche Mehrheit der Straßenmusiker von 55,6 Prozent bei ihren Darbietungen im Wesentlichen auf fremdes Material zurückgreift und dieses in mehr oder weniger freier Form interpretiert. Darin enthalten können improvisierte Teile sein, wie sie etwa bei Jazzstandards üblich sind, wenn über die harmonische Form soliert wird. In 19,1 Prozent der Fälle werden hingegen nur Eigenkompositionen gespielt, und bei 13,6 Prozent setzt sich das Programm aus selbstgeschriebenen Stücken und Interpretationen zusammen. Bei weiteren 11,7 Prozent der Künstler besteht das Repertoire ausschließlich aus improvisierter Musik. Addiert man die letzten drei Kategorien, so zeigt sich, dass 44,4 Prozent nur oder teilweise eigenes Material verwenden. Rechnet man zusammen, wieviele Musiker und Gruppen mit interpretierter Musik auftreten, kommt man auf 69,1 Prozent. Originelle musikalische Äußerungen sind somit ein wesentlicher Bestandteil von Straßenmusik. 100 90
Häufigkeit (n=162)
80 70
48
60 50 Beobachtung
40
Interviews
30 20 10
8 42 22
23
9 10
0 Interpretation Interpretation (+Impro) + Originale (+Impro)
Originale (+Impro)
nur Impro
Abbildung 152: Auftrittsrepertoire. Die meisten Straßenmusiker interpretieren Musik.
Auffällig ist, dass unter den 65 osteuropäischen Musikern und Ensembles in der Stichprobe lediglich sieben sind, in deren Repertoire Eigenkompositionen vorkommen. Das entspricht 10,8 Prozent und ist ein signifikant kleinerer Anteil als in der Gesamtstichprobe. Zudem lebt die Mehrheit der betreffenden Musiker bereits seit vielen Jahren in Berlin und ist hier mittlerweile heimisch geworden, nämlich → Ingas Partner Alex, → Konstantin, das Duo → Nezabudki und → Tibor. Dagegen sind → Keko, → Michał und der Slowene → Nick nur für kurze Zeit in der Stadt. Mithin setzen Künstler aus Osteuropa in ihren Programmen vorwiegend auf Bekanntes und beim Publikum Bewährtes wie sämtliche ukrainische Akkordeonisten, die polnischen Jazzformationen, → Aga oder → Garchsurmach. Eigenwilligkeit nicht nur in der Auswahl des Repertoires, sondern auch die Musikstile und das Auftreten betreffend findet sich hingegen dementsprechend gehäuft unter deutschen, sonstigen 423 Vgl. auch Tabelle 36 in Anhang 4.
M USIKALISCHE AUS - UND V ORBILDUNG | 317
europäischen und außereuropäischen Straßenmusikern und Bands, vgl. beispielsweise → The Benka Boradovsky Bordello Band, → Onyx Ashanti, → Rupert’s Kitchen Orchestra oder die → Westcostars. Noten werden nur vereinzelt und vor allem von Interpreten klassischer Musik wie → Ada und Jonas oder → Garchsurmach benötigt. In den allermeisten Fällen beherrschen die Musiker ihr Repertoire auswendig. Das trifft beeindruckenderweise selbst auf die ukrainischen Akkordeonisten wie → Zoreslaw oder → Oleg zu, die ganze Orchesterwerke auf ihren Instrumenten zu Gehör bringen. Und → Bernd behauptet von sich, sein Repertoire umfasse um die 100 Songs. Wenige wie → Stephan, → Robert oder der Saxophonist am Hackeschen Markt (→ 4.2.28) behelfen sich mit Textbüchern bzw. eigenen Sammlungen und Leadsheets, die die Akkordschemata beinhalten und im Jazz üblich sind. Zu diesem Aspekt ist zu bemerken, dass die Abhängigkeit von Notenmaterial Auftritte im öffentlichen Raum verkompliziert: Zum einen müssen zusätzlich zu Instrumenten, Hockern und anderen Ausrüstungsgegenständen Notenständer transportiert, auf- und abgebaut werden, was bei häufigen Platzwechseln umständlich ist, wie sie mancherorts obligatorisch sind. Zum anderen kann es etwa bei Wind Probleme mit der Stabilität geben, besonders beim Umblättern. Und schließlich behindert das Notenlesen den Blickkontakt sowie die direkte Interaktion mit dem Publikum, die aber vielen Straßenmusikern wichtig ist.
5.7
MUSIKALISCHE AUS- UND VORBILDUNG
In Tabelle 3 sind die Antworten von 136 Künstlern auf die Interviewfrage Wie hast du deine musikalischen Fähigkeiten erworben? zusammengefasst (Frage 5). 50 Prozent derjenigen, die Angaben machten, sind teilweise oder gänzlich Autodidakten auf den Instrumenten, die sie bei der Straßenmusik spielen. Manche davon hatten irgendwann einmal ein paar Unterrichtsstunden oder haben sich das Wichtigste von jemandem erklären lassen, bevor sie auf eigene Faust weitergemacht haben. Dazu gehört → Jannis, der mit 19 Jahren am Strand begonnen hat, auf der Blues Harp zu üben, um seine Fertigkeiten daraufhin autodidaktisch weiterzuentwickeln. Ein knappes Viertel (24,3 %) hingegen kann ein abgeschlossenes Instrumentalstudium an einer Hochschule oder am Konservatorium vorweisen, z. B. → Nina, → Sven oder die Musiker von → Everbrass. Ebenfalls ein Viertel gibt an, Instrumentalunterricht an der Musikschule oder von privaten Lehrern erhalten zu haben. Mehrfachnennungen waren möglich. Als weitere wichtige Faktoren für den Erwerb musikalischer Fertigkeiten erscheinen das familiäre Umfeld (z. B. bei → Ilja) und die allgemeinbildende Schule (z. B. → Kevin). Während die einen bereits im Kindesalter in den Genuss musikalischer Erziehung kamen, fanden andere wie → Naji oder der Gitarrist → Joe erst viel später den Weg zur Musik bzw. zu ihrem Instrument. Einige der Studierten haben ihre Ausbildung in der ehemaligen Sowjetunion erhalten und anschließend in einem der zahlreichen staatlichen Orchester gespielt, was oftmals auch internationale Konzertreisen mit sich brachte. Als viele der Ensembles nach dem Zerfall der UdSSR aufgelöst wurden, fanden Künstler wie → Anatoli oder → Konstantin keine Anstellung mehr und entdeckten notgedrungen die Straßenmusik für sich. Anatoli versorgt sich und seine Familie in Woronesch bereits seit 17 Jahren, indem er in Berlin Straßenmusik macht. Und selbst solche, die zu Hause als Orches-
318 | S TRASSENMUSIK IN B ERLIN: E RGEBNISSE UND ANALYSE
termusiker arbeiten wie die Bratschistin aus der Ukraine (→ 4.2.64), können in Berlin etwa während der Sommerpause mit Straßenmusik deutlich mehr Geld einnehmen, als sie daheim verdienen. 84 von 134 Künstlern gaben im Interview zu Frage 5 außerdem an, dass sie neben ihren bei der Straßenmusik genutzten noch weitere Instrumente mehr oder weniger gut spielen. Das entspricht einem Anteil von 62,7 Prozent. Tabelle 3: Angaben zur musikalischen Aus- und Vorbildung (n=136) Wie hast du deine musikalischen Fähigkeiten erworben? Familie
Häufigkeit Prozent (n) 15
11,0
Schule
7
5,1
Instrumentalunterricht (privat; Musikschule)
34
25,0
Musik-/Instrumentalstudium (Hochschule; Konservatorium)
33
24,3
autodidaktisch
68
50,0
Übung; »learning by doing«
21
15,4
Sonstiges
1
0,7
179
131,6
Summe
In dieser Studie wurde der Erfolg, den die Künstler mit der Straßenmusik haben, nicht gemessen. Daher lassen sich keine quantifizierbaren Aussagen über einen etwaigen Zusammenhang mit dem Grad der musikalischen Ausbildung – oder anderen Kriterien – treffen. Nach den Erfahrungen meiner Beobachtungen zu urteilen können allerdings sowohl studierte Musiker als auch Autodidakten hohe Spendenerlöse erzielen bzw. positive Reaktionen hervorrufen – oder auch nicht. Jedenfalls sind scheinbar andere Faktoren entscheidend für die Publikumswirkung. Einige Hinweise darauf liefert die Umfrage zu Wahrnehmung und Akzeptanz von Straßenmusik, deren Ergebnisse in Abschnitt 5.14.3 diskutiert werden.
5.8
ÜBUNGSPRAXIS
Frage 17 nach der Übungspraxis war wie auch viele der anderen Fragen bewusst offen gestellt, so dass die Befragten bei ihren Antworten teilweise unterschiedliche Aspekte im Blick hatten: So bezogen die einen ihre Angaben auf die individuelle Übungspraxis, andere auf die Probentätigkeit des ganzen Ensembles bzw. der Band. Dadurch sind nicht alle in Tabelle 4 zusammengefassten Kategorien und Werte miteinander vergleichbar. Es ging eher darum, festzustellen, welchen Stellenwert das Üben und Proben unter Straßenmusikern überhaupt hat. Insgesamt wurden von 89 Künstlern und Gruppen Angaben zu der Frage gemacht, mehrfache Antworten waren möglich. Von vielen, die noch in anderen Zusammenhängen Musik machen, gab es differenzierte Antworten je nach Kontext. 14,6 Prozent der Befragten behaupten, Proben eigens für die Auftritte auf der Straße seien bei ihnen nicht nötig. Vielmehr übten bzw. probten sie auch sonst genug oder nach Bedarf, wenn etwa Konzerte anstünden. So sagen etwa die Sänger von → Minsk Acapella, als ausgebildete Musiker müssten sie zwischendurch nicht mehr proben, das gehe schon von selbst. Auch das
M OTIVATION | 319
Trio → Garchsurmach benötigte nur einen einzigen gemeinsamen Termin, um sich auf sein Straßenmusik-Repertoire zu verständigen, das technisch keine Herausforderung für die Berufsmusiker darstellt. Gut 30 Prozent der interviewten Straßenmusiker geben an, täglich zu üben. Unter diesen 27 sind 6, die von sich sagen, sie würden nicht gesondert üben, weil sie eigentlich sowieso ständig Musik machten, z. B. → Arnaldo (»I play most of the time.«), → Gal (»all the time«) oder → Naji (»Ich spiele immer, wenn es geht. Täglich.«). Weitere 17 Prozent üben bzw. proben mindestens einmal pro Woche. Andere hingegen nehmen sich nur unregelmäßig nach Bedarf oder Lust und Laune die Zeit dafür (14,6 %), und manche (7,9 %) wie → Bernd eher selten, z. B. wenn sie neue Stücke lernen oder arrangieren. 12,4 Prozent üben nie – teils aus den oben genannten Gründen. Und für fast jeden Fünften (19,1 %) stellt die Straßenmusik selbst den Raum zum Üben und Proben dar. Drei Musiker geben an, sich nur direkt vor ihren Darbietungen warmzuspielen. Tabelle 4: Übungspraxis unter Straßenmusikern (n=89) Wann/wie oft/wie lange übst/probst du?
Häufigkeit Prozent (n)
täglich
27
30,3
ein- bis mehrfach pro Woche
15
16,9
unregelmäßig; nach Bedarf
13
14,6
selten; nur, wenn ich neue Stücke lerne/übe
7
7,9
nie
11
12,4
bei der Straßenmusik
17
19,1
nur vor der Straßenmusik zum Aufwärmen
3
3,4
für die Straßenmusik nur einmalig
1
1,1
abwechselnd einen Tag proben, einen Tag spielen
1
1,1
nicht extra für die Straßenmusik bzw. nur für Auftritte/Konzerte
13
14,6
Summe
108
121,3
Aus den in Tabelle 4 dargestellten Befragungsergebnissen lässt sich folgern, dass viele Straßenmusiker diese Form der Darbietung künstlerisch ernst nehmen und bereit sind, Arbeit und Zeit in ihre Auftritte zu investieren, um die eigenen oder äußeren Qualitätsansprüche zu befriedigen. → Zoreslaw etwa berichtet, er benötige bis zu drei Monate, um sich ein neues Orgelwerk auf dem Akkordeon zu erarbeiten und damit sein Repertoire zu erweitern.
5.9
MOTIVATION
Nachdem die vorigen Abschnitte erste Antworten darauf geben, wer Straßenmusiker sind und was sie tun, ist die nächste zentrale Frage dieser Untersuchung, warum sie tun, was sie tun. Welche Motivation haben Künstler, in einem urbanen Raum aufzutreten, der nicht für ihre Darbietungen geschaffen wurde – anders als etwa ein Konzertsaal? In früherer Zeit stellte sich diese Frage nicht, da im allgemeinen keine ande-
320 | S TRASSENMUSIK IN B ERLIN: E RGEBNISSE UND ANALYSE
ren Orte zur Verfügung standen und musikalische Darbietungen im Freien selbstverständlich waren. Was Hans Brandeis bei der Untersuchung der internationalen Musikszene in Berlin bemerkt, gilt sicherlich auch für die hier vorgestellten Straßenmusiker: »Das Musizieren hat für jeden Musiker eine andere Bedeutung, wobei die Unterschiede in den Motivationen der Musiker und Musikgruppen zu unterschiedlichen musikalischen Verhaltensweisen führen.«424 Die Motive, im Rahmen von Straßenmusik im öffentlichen Raum aufzutreten, und damit die Bedeutung, die die Künstler ihrem Tun geben und beimessen, variieren stark. Unter den Leitfragen für die Interviews zielten zwei direkt auf die Motivation: zum einen Frage 7, die nach dem Hauptgrund fragt, im öffentlichen Raum zu musizieren. Auf diese Frage antworteten 95 von 98 Interviewten425. Hinzu kommen zwei Angaben, die sich aus meinen Beobachtungsprotokollen ergeben: Der Afrikaner, der am Mauerpark Djembés verkauft (→ 4.2.7), spielt auf diesen, um sie zu bewerben. Sein Motiv ist folglich der Verkauf von Instrumenten. Und → Pit und Susana sagen von sich, Geld spiele für sie keine Rolle, es gehe ihnen vielmehr um die Präsentation ihrer eigenen Musik. Obwohl nach dem Hauptgrund gefragt war, haben viele der Befragten an dieser Stelle mehrere Angaben gemacht. Es ist davon auszugehen, dass die Künstler hier die ihnen individuell am wichtigsten erscheinenden Motive genannt haben. Frage 7.1 diente dazu, weitere Triebfedern zu ermitteln, die hinter der Tätigkeit als Straßenmusiker stehen. In 77 von 98 Fällen wurden solche ergänzenden Angaben gemacht. Auch hier wurden häufig mehrere Punkte genannt. Die in der Befragung genannten Motive sind in Tabelle 5 dargestellt. Es ist jeweils angegeben, wie häufig jede Kategorie unter den Haupt- und weiteren Motiven vorkommt. Die prozentualen Werte beziehen sich auf die entsprechende Anzahl n 1=97 bzw. n2=77 derjenigen, die geantwortet haben. In der letzten Spalte werden die Häufigkeiten aus den vorigen Spalten addiert. Das Geld, das bei der Straßenmusik eingenommen werden kann, bzw. die Erwirtschaftung des Lebensunterhalts stellt für Straßenmusiker erwartungsgemäß die bei weitem wichtigste Kategorie sowohl unter den Hauptgründen (52,6 %) als auch unter den weiteren Motiven (28,6 %) dar. Dazu kommen insgesamt sechs Künstler bzw. Gruppen, die Straßenmusik lediglich zur Finanzierung auf Reisen machen und ansonsten nicht auf das Geld angewiesen sind, z. B. → Les Jacky Parmentier oder → Peerkin. Insgesamt viermal wird der Verkauf von CDs oder Instrumenten als Motiv genannt. Dahinter kann allerdings neben dem Gelderwerb auch die Motivation stehen, den eigenen Bekanntheitsgrad zu steigern und die eigene Musik zu verbreiten wie bei → Jeanette und Malte, die sagen, sie wollten »Publikum fangen« und CDs verkaufen.
424 Brandeis 1990: 114. 425 Das Trio aus → Ashley, Benjamin und Taylor wurde separat nach Ashley und Taylor einerseits und Benjamin andererseits ausgewertet, da die beiden Amerikaner gemeinsam auf Reisen sind und der Berliner sich lediglich zu einer spontanen Jamsession zu ihnen gesellt hat.
M OTIVATION | 321 Tabelle 5: Motive für Straßenmusik (n1=97, n2=77) Hauptmotive
% (n1)
weitere Motive
% (n2)
gesamt
Geld; Lebensunterhalt; Arbeit
51
52,6
22
28,6
73
Geld auf Reisen verdienen
3
3,1
3
3,9
6
Spenden für einen guten Zweck sammeln
1
1,0
0
0,0
1
Motive für Straßenmusik
Verkauf von CDs/Instrumenten
3
3,1
1
1,3
4
Spaß; Freude
14
14,4
13
16,9
27
Freude an/Liebe zu Musik/Leben/Musizieren
7
7,2
6
7,8
13
Freude am Draußensein; Spaß auf der Straße; freie Atmosphäre draußen
6
6,2
1
1,3
7
Lebenseinstellung/-gefühl; Feeling; Flair
4
4,1
4
5,2
8
5
5,2
4
5,2
9
4
4,1
2
2,6
6
Musikmachen; Auftreten
6
6,2
2
2,6
8
Hobby; Ausgleich; Zeitvertreib; Urlaub
4
4,1
5
6,5
9
7
7,2
4
5,2
11
5
5,2
16
20,8
21
1
1,0
5
6,5
6
9
9,3
6
7,8
15
9
9,3
16
20,8
25
Anerkennung; (Selbst-) Bestätigung
0
0,0
3
3,9
3
Werbung/Promotion für sich/Auftritte
4
4,1
6
7,8
10
Auftritte/Konzerte organisieren
1
1,0
3
3,9
4
bestimmte Musik/Instrumente verbreiten
1
1,0
1
1,3
2
Ort/Land/Leute kennenlernen; Kontakt mit der Stadt
0
0,0
3
3,9
3
Evangelium verbreiten; Gottesdienst; Mission
2
2,1
1
1,3
3
politische Demonstration
0
0,0
1
1,3
1
147
151,5
128
166,2
275
Rahmenbedingungen von Straßenmusik (einfach; unorganisiert; ungebunden; spontan; frei) Spaß an/Bedürfnis nach Präsentation der eigenen Musik
Menschen erreichen/beschenken/aufwecken/unterhalten Leute treffen/kennenlernen; Kontakt mit Menschen/Publikum Selbsterfahrung/-verwirklichung/-vertrauen Ausprobieren; Antesten; Experimentieren; direktes Feedback Auftrittserfahrung/-praxis; Performance üben; Probe
Summe
Gleichzeitig zeigt sich, dass wirtschaftliche Gründe für fast die Hälfte der Befragten zumindest nicht die Hauptrolle spielen, wenn sie Straßenmusik machen. Geldspenden werden dann oftmals als willkommener Nebeneffekt betrachtet wie etwa von → Fulya, → Leigh oder → Stephan. In 18 Fällen, was immerhin 18,4 Prozent der Befragten entspricht, wurden Geld und der Verkauf von CDs oder Instrumenten bei der Frage nach den Motiven überhaupt nicht angegeben. Dazu gehören die → Gemeinde Jesu Christi in Berlin, → Johanna, → Keko, → Leo und Nico, → Lucky You und → Sebastian. Auch wenn diese Zahlen nur für die Menge der In-
322 | S TRASSENMUSIK IN B ERLIN: E RGEBNISSE UND ANALYSE
terviewten repräsentativ sind, wird deutlich, dass die Aussage, Straßenmusik sei unbedingt eine Form des Gelderwerbs, nicht zutreffend ist. Eine Vielzahl weiterer Motive ideeller Art kann in solchen Fällen im Vordergrund stehen oder gleichrangig sein. Der Anteil derjenigen, für die Geld bei der Straßenmusik keine Rolle spielt, dürfte freilich innerhalb der Gruppen weitaus niedriger sein, zu denen bei der Befragung kein oder nur schlechter Zugang bestand, etwa unter Osteuropäern und Roma. Betrachtet man die Gesamtzahlen in der letzten Spalte von Tabelle 5, so lassen sich neben den wirtschaftlichen Motiven vier weitere wichtige Komplexe unter den Kategorien erkennen, die jedoch nicht überall klar voneinander abgrenzbar sind. Der erste beschreibt den Spaß und die Freude, welche die Befragten beim Musizieren im allgemeinen und speziell im öffentlichen Raum empfinden. Das schließt den Ausdruck von Lebensfreude in der Musik ebenso ein wie die besonderen Rahmenbedingungen, die Auftritte als Straßenmusiker bieten, unter anderem nämlich ein höheres Maß an Freiheit, Ungebundenheit, Spontaneität und Einfachheit die Organisation betreffend. Auch die Bezeichnung von Straßenmusik als Lebensgefühl oder -einstellung bzw. das Gefühl (Feeling) oder Flair, das damit verbunden wird, ist hier gemeint. Ein zweiter Komplex ist die zwischenmenschliche Kontaktaufnahme. Diese kann entweder mit dem Ziel erfolgen, aktiv auf die Leute zuzugehen, sie über das eigene Handeln mit der eigenen Musik zu erreichen und in ihrem Alltag zu beschenken oder schlicht zu unterhalten. Oder sie ist von der Motivation geleitet, mit Menschen in einen Austauschprozess zu treten, Begegnungen zu machen und neue Bekanntschaften zu schließen sowie einen unverstellten Zugang zum Publikum zu finden. Auch das explizite Bedürfnis, über die Musik die Stadt und die Menschen darin besser kennenzulernen, spielt hier eine Rolle, etwa bei → Aga oder → Christian. Im dritten Komplex finden sich schließlich Motive wie das Ausprobieren und Antesten des eigenen musikalischen Materials bzw. der Performance am Publikum sowie das damit verbundene direkte Feedback, daneben die Möglichkeit zum Experimentieren und zur musikalischen Weiterentwicklung. Das Sammeln von Auftrittserfahrung und -praxis, das öffentliche Proben und Einüben der eigenen Performance stellt eins der zentralen Motive dar. Auch die Selbsterfahrung und -verwirklichung sowie der stärkende Einfluss auf das Selbstvertrauen gehören zu diesem Bereich. Viertens schließlich nennt ein Teil der Musiker Werbung bzw. Promotion für sich und anstehende Konzerte als Motiv – oder überhaupt erst die Organisation von Auftrittsgelegeneiten über bei der Straßenmusik geknüpfte Kontakte zu anderen Musikern bzw. zu Veranstaltern von Konzerten und Partys, Clubbesitzern usw. Und manchen wie → Sarah oder Mareike (→ Re’em) geht es auch darum, einer bestimmten Musikrichtung oder ihrem Instrument, z. B. der Harfe, in der öffentlichen Wahrnehmung mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen. Daneben erscheinen diverse weitere Aspekte, die die Befragten als Antriebe zur Straßenmusik anführen. Für die einen ist es eine Form des Zeitvertreibs, die ihnen Ausgleich verschafft. Anderen ist die Anerkennung und Bestätigung wichtig, die sie in der Öffentlichkeit durch ihr Publikum erfahren. Wieder andere wollen einfach nur Musik machen oder auftreten und sehen im öffentlichen Raum die nächstliegende Gelegenheit dazu. Künstler wie David (→ Space Commander Hotch) oder → Joe (Bearpit Karaoke) stellen bei ihren Shows die Interaktion mit dem Publikum in den Mittelpunkt. → Victor leitet einen großen Teil der Spenden, die er einsammelt, an
M OTIVATION | 323
ein Sportprojekt auf Kuba weiter. Religiöse Motive stehen naturgemäß bei den → Hare Krishnas und der → Gemeinde Jesu Christi in Berlin im Vordergrund. Der politische Protest hingegen spielt scheinbar keine Rolle in der heutigen Straßenmusik. Ein derartiges Motiv wird lediglich ein einziges Mal von der Gruppe → Rhythms of Resistance genannt – als weiteres neben dem Hauptmotiv, Geld für neue Instrumente zu sammeln. Die große Zahl individueller Motive zeigt in aller Klarheit, dass Straßenmusik nicht monokausal zu begründen ist und die Vielfalt der Motive dafür ebenso charakteristisch ist wie die Zahl der unterschiedlichen Musikstile, Instrumente und Repertoires. Wenn man die prozentuale Verteilung der verschiedenen Kategorien zwischen den Haupt- und den weiteren Motiven betrachtet, so fällt auf, dass die Aspekte des zwischenmenschlichen Austauschs, aber auch der Selbsterfahrung und -verwirklichung sowie des Sammelns von Auftrittspraxis jeweils signifikant häufiger unter den weiteren als unter den Hauptmotiven genannt werden. Das lässt darauf schließen, dass es sich hierbei für viele um willkommene Neben- und Mitnahmeeffekte bei der Straßenmusik handelt, während andere Motive ausschlaggebend sind. Zusätzliche Hinweise auf weitere Motive bzw. auf Aspekte, die den Künstlern bei der Straßenmusik Befriedigung schenken, gab Frage 7.2 (Wann sagst du von dir: Heute habe ich gut gespielt?). In 80 von 97 Fällen wurden hierzu teils mehrfache Angaben gemacht. Tabelle 6 fasst die wesentlichen Gesichtspunkte zusammen, die hier genannt wurden. Es zeigt sich, dass viele Straßenmusiker besonders die Interaktion mit ihrem Publikum bzw. die Teilnahme und den Zuspruch der Menschen als befriedigend empfinden; außerdem spielt das positive Gefühl zur bzw. die Qualität der eigenen musikalischen Darbietung eine wichtige Rolle. Diese Befunde unterstreichen einerseits das zuvor festgestellte Gewicht der zwischenmenschlichen Komponente und der direkten Verbindung zum Publikum für die Straßenmusiker und andererseits den Aspekt des kreativen Prozesses und der Selbstverwirklichung in der öffentlichen Auftrittssituation. Bei der Auswertung der Antworten auf Frage 7.2 war auffällig, dass nicht-finanzielle Aspekte bei der individuellen Bewertung des Auftrittserfolgs verhältnismäßig häufig angeführt wurden und folglich von zentraler Bedeutung sind. Hohe Einnahmen wurden dagegen explizit nur 23-mal genannt. Tabelle 6: Motivierende Aspekte, die zu Frage 7.2 genannt wurden (n=80) Wann sagst du von dir: Heute habe ich gut gespielt?
Häufigkeit
gute Stimmung; positive Reaktionen; Zuspruch; Anerkennung; Teilnahme; Leute gehen ab
41
Menschenmenge sammelt sich; viele Leute
8
gute Begegnungen und Kontakte
9
Bauchgefühl; gutes Gefühl; Verbindung zu sich/Mitmusikern; im Fluss/Groove; Fokus gehalten
27
selbst Spaß/gute Laune gehabt
8
hohe Einnahmen
23
Summe
116
324 | S TRASSENMUSIK IN B ERLIN: E RGEBNISSE UND ANALYSE
Mit Frage 8.2 wurden die Botschaften thematisiert, die Straßenmusiker entweder direkt oder implizit mit ihrer Musik oder ihren Auftritten vermitteln wollen.426 Hieraus ergeben sich weitere Aspekte, die bei manchen Künstlern als innere Triebfedern auf die Motivation wirken können, Straßenmusik zu machen. Zunächst zeigt sich das offenbar starke Bedürfnis, Spaß, Freude, gute Laune und Musik in die Welt zu bringen, Freiheit und Lebenslust vorzuleben und andere damit anzustecken. Einige scheinen Befriedigung daraus zu ziehen, ihre Mitmenschen an ihrer kreativen Erfahrung teilhaben zu lassen, und laden sie ein, für einen Moment aus dem Alltag auszusteigen und in der hektischen urbanen Umgebung zur Ruhe zu kommen. Auch der Wunsch, bestimmte Traditionen, Musikstile, -instrumente oder -kulturen in der Öffentlichkeit bekannter zu machen, ist verbreitet. Das Motiv der Selbstverwirklichung durch Straßenmusik als Lebenseinstellung spiegelt sich wider in dem Anliegen, anderen Menschen zu zeigen, dass es möglich ist, von der Straßenmusik bzw. von dem, was man liebt, zu leben. Die Antworten auf die Fragen 7.2 und 8.2 erweitern das Feld der Faktoren, die die Motivation beeinflussen können, Straßenmusik zu machen. Sie zeigen auch, wie vielschichtig die Motive gelagert sind.
5.10 EINSTELLUNG ZUR STRASSENMUSIK UND PERSPEKTIVEN Welche Haltung haben die interviewten Straßenmusiker dem gegenüber, was sie tun, und welche Perspektiven verbinden sie damit für sich und ihr musikalisches Wirken? Diesen Fragen wird im folgenden Abschnitt nachgegangen.
5.10.1 Einstellung zur Straßenmusik Zunächst wurde mit Punkt 13 des Leitfragebogens geklärt, wie lange die Straßenmusiker diese Auftrittspraxis bereits verfolgen. Die Ergebnisse sind in Tabelle 7 und Abbildung 176427 zusammengefasst. 102 Individuen bzw. Gruppen antworteten auf die Frage Wie lange machst du schon Straßenmusik? Von diesen ist ein verhältnismäßig kleiner Anteil von fünf Musikern (4,9 %) ganz frisch seit heute oder gestern dabei, z. B. → Robert und → Sarah. Insgesamt 14 (13,7 %) machen höchstens einen Monat Straßenmusik und fast ein Drittel (31,4 %) seit maximal einem Jahr. Mit 31 Künstlern (30,4 %) praktiziert ein weiteres knappes Drittel seit ein bis fünf Jahren Straßenmusik. Das gute letzte Drittel (38,2 %) schließlich ist mindestens fünf Jahre dabei, davon 26 Musiker (25,5 %) länger als zehn und von diesen wiederum fünf (4,9 %) länger als 20 Jahre wie etwa → Akira, → Peter oder → Ingas Partner Alex. Es zeigt sich, dass die Zahl der langjährigen Straßenmusiker in der Stichprobe die der Neulinge bei weitem übersteigt. Ein erheblicher Anteil verbringt mehrere bis viele Lebensjahre als Straßenmusiker. Offenbar ist die Attraktivität der Tätigkeit – aus unterschiedlichen Gründen – hoch genug, um die Leute daran zu binden. Zwar ist die Rolle als Straßenmusiker selten die einzige musikalische und soziale Identität der Betreffenden, wie die Betrachtungen zu musikalischer Aktivität in anderen Kontexten 426 Siehe Tabelle 24 in Abschnitt 5.14.1. 427 Siehe Anhang 4.
E INSTELLUNG ZUR S TRASSENMUSIK UND P ERSPEKTIVEN | 325
und zum Lebensunterhalt zeigen.428 Doch scheint sich nach einer Weile bei vielen Musikern eine gewisse Selbstverständlichkeit einzustellen, mit der sie dieser Praxis nachgehen. Tabelle 7: Wie lange machst du schon Straßenmusik? (n=102) Straßenmusik mache ich seit...
Häufigkeit Prozent kum. %
heute/gestern/einziges Mal
5
4,9
4,9
bis zu einer Woche
3
2,9
7,8
bis zu einem Monat
6
5,9
13,7
bis zu einem halben Jahr
11
10,8
24,5
bis zu einem Jahr
7
6,9
31,4
bis zu fünf Jahren
31
30,4
61,8
bis zu zehn Jahren
13
12,7
74,5
über zehn Jahren*
26
25,5
100,0
Summe
102
100
–
5
4,9
*: davon seit mehr als 20 Jahren
Auf Frage 13.1: Machst du gern Straßenmusik? gaben 95 Musiker bzw. Gruppen Rückmeldung.429 76 oder vier Fünftel von ihnen antworteten mit Ja. Weitere 14 (14,7 %) machten Einschränkungen wie meistens oder manchmal bzw. nannten konkrete Umstände wie unangenehme Witterung, unter denen sie ungern Straßenmusik machen (würden). Nur fünf (5,3 %) verneinten die Frage, darunter → Aga, → Zoreslaw und → Robert, der die Konsequenz aus seinem eintägigen Versuch ziehen und nicht wieder auf der Straße auftreten wollte. Mit einem Anteil von knapp 95 Prozent zeigen folglich fast alle befragten Straßenmusiker eine grundsätzlich positive Einstellung zu ihrer Betätigung. Bei denen, die von sich sagen, sie machten ungern oder nur mit Einschränkungen gern Straßenmusik, ist in fast allen Fällen Geld das zentrale Motiv. Das trifft neben den drei oben Genannten z. B. noch auf → Akira, → Jannis, → Rainer, → Seanín und Igor aus der Blaskapelle → Everbrass zu. Seanín bekennt: »I would stop tomorrow if I could.« Für diese Künstler ist Straßenmusik offenbar eine reine Erwerbsquelle – und eine ungeliebte dazu. Klaus der Geiger stellt in diesem Sinne fest: »Ja, wenn das [die Straßenmusik, M.N.] Arbeit wird, wird es schrecklich, aber solang’s keine ist, ist es sehr schön.«430
428 Vgl. Tabelle 10 und Abbildung 154. 429 Siehe Abbildung 153 bzw. Tabelle 37 in Anhang 4. 430 Wrochem 1996: 94.
326 | S TRASSENMUSIK IN B ERLIN: E RGEBNISSE UND ANALYSE
Machst du gern Straßenmusik?
(n=95)
5; 5%
14; 15%
76; 80% Ja Ja mit Vorbehalt/ Einschränkungen Nein
Abbildung 153: Die überwiegende Mehrheit hat eine positive Einstellung zur Straßenmusik.
Obwohl die meisten Straßenmusiker gern Straßenmusik machen, sind nicht alle von ihnen wunschlos zufrieden mit ihrer Situation. Frage 13.2: Würdest du lieber etwas anderes machen? bejahten im Interview 42 Personen bzw. Gruppen, deren Antworten in Tabelle 8 zusammengefasst sind. Der Rest verneinte die Frage entweder oder machte keine Angaben. Manche wie der Gitarrist → Joe, → Johanna oder das Duo → Lucky You antworteten auch im Sinne von: Nein, weil ich/wir das sowieso schon mache/n. Und → Suchy meint: »Ich mache eh, was mir Spaß macht.« Als zentrales Bedürfnis zeigt sich mit 29 Nennungen (69 %) die Ausweitung des musikalischen Handlungsfeldes auf (mehr) Auftritte vor geschlossenem Publikum bzw. die Professionalisierung der eigenen musikalischen Tätigkeit in Form von Konzerten und festen Engagements. Während die hohe Fluktuation unter den Zuhörern von vielen direkt oder indirekt als die große Herausforderung bei der Straßenmusik betrachtet wird, erhöhen verbindliche Anstellungen wie jede geregelte Arbeit das Gefühl finanzieller Sicherheit und Stetigkeit im Leben, welche Straßenmusik nach Ansicht einiger nicht bietet.431 Sechs Individuen (14,3 %) würden gerne mehr oder überhaupt zusammen mit anderen in einer Band oder ähnlichen Projekten spielen, darunter → Naji und → Stephan. Gleichzeitig sagt Stephan, dass er das nur zusätzlich zur Straßenmusik machen wolle. Dreimal (7,1 %) wurde explizit der Wunsch nach mehr Geld bzw. höheren Einnahmen genannt, wobei vermutlich auch mehr Auftritte im professionellen Rahmen für einige implizit mit einem höheren planbaren Einkommen konnotiert sind. Je zwei Personen (4,8 %) würden gern auf andere Weise bzw. in ihrem erlernten Beruf Geld verdienen und mehr Spaß bzw. Zeit für andere Aktivitäten haben.
431 Vgl. Tabelle 11 sowie die Ausführungen zur Frage, inwiefern sich Straßenmusik aus Sicht der Akteure von Auftritten in anderen musikalischen Kontexten unterscheide.
E INSTELLUNG ZUR S TRASSENMUSIK UND P ERSPEKTIVEN | 327 Tabelle 8: Würdest du lieber etwas anderes machen? (42 positive Antworten, Rest: Nein oder k. A.) Würdest du lieber etwas anderes machen?
Häufigkeit Prozent
(mehr) professionelle Auftritte/Konzerte/Engagements
29
69,0
eine Band haben; mit anderen Musik machen
6
14,3
mehr Geld/Verdienst
3
7,1
in anderem/erlerntem Beruf arbeiten
2
4,8
mehr Spaß; Zeit für anderes
2
4,8
Summe
42
100
Die relativ geringe Zahl positiver Antworten auf die Frage lässt darauf schließen, dass die Mehrheit zufrieden mit ihrem Dasein als Straßenmusiker ist, was sich mit den bisherigen Ergebnissen in diesem Abschnitt deckt. Auch sprechen die in Tabelle 8 genannten Punkte nicht prinzipiell gegen die weitere Ausübung von Straßenmusik, was manche im Gespräch explizierten. → Bernd, der in der S-Bahn Gitarre spielt und dazu singt, stellt beispielsweise fest, er würde zwar nicht lieber, aber gerne zusätzlich als Jazzpianist auftreten. Und auch Mick und Magnus von → Drunks and Kids sagen, mehr Geld auf der Bühne zu verdienen wäre freilich wünschenswert, »still busking is great, great fun.« Folglich überrascht es nicht, dass die Mehrheit der 71 Personen, die sich zu Frage 13.3: Wie lange willst du noch Straßenmusik machen? äußerten, derzeit kein konkretes Ende absehen kann oder mag. Die Antworten sind in Tabelle 9 wiedergegeben. In der am häufigsten genannten Kategorie wurden 28-mal Aussagen getroffen wie: solange es Spaß macht, geht, sich richtig anfühlt oder Zeit ist. Das entspricht 39,4 Prozent der Antworten. Neun Befragungsteilnehmer (12,7 %) gaben an, sie wollten für immer bzw. solange ich lebe weitermachen, weitere sieben (9,9 %) solange, bis sich Erfolg einstellen würde. Zwölf meiner Interviewpartner (16,9 %) hingegen sagten, sie beabsichtigten ihre Tätigkeit als Straßenmusiker lediglich fortzusetzen, bis sie es – vor allem finanziell – nicht mehr nötig hätten bzw. drückten die Hoffnung aus, nicht länger als ein weiteres Jahr dabeizubleiben. → Bruno etwa antwortete: »hoffentlich nur bis nächsten Sommer«. Fünf Künstler (7 %) knüpften die Aktivität als Straßenmusiker explizit an die Dauer ihres Aufenthalts in Berlin bzw. an ihren Status als Reisende, darunter → Elizabeth und → Mitsuhiro. Somit bewerten die meisten der Befragten für sich die Aussicht, weiterhin Straßenmusik zu machen, tendenziell positiv, während nur ein kleiner Teil ein baldiges Ende dieser Tätigkeit wünscht oder erwartet. Wie für alle Interviewfragen gilt auch hier, dass sich für die Gruppen, zu denen kein Zugang bestand, ein anderes Bild ergeben könnte. Die Antworten auf die Fragen 13 432 und 13.3 zeigen, dass es sowohl Menschen gibt, die Straßenmusik nur vorübergehend ausüben, als auch solche, die darin eine langfristige Tätigkeit finden.
432 Vgl. Tabelle 7.
328 | S TRASSENMUSIK IN B ERLIN: E RGEBNISSE UND ANALYSE Tabelle 9: Wie lange willst du noch Straßenmusik machen? (71 Angaben, Rest: Weiß nicht oder k. A.) Wie lange willst du noch Straßenmusik machen?
Häufigkeit Prozent
solange es Spaß macht/geht/sich richtig anfühlt/Zeit ist
28
39,4
für immer; solange ich lebe
9
12,7
immer wieder mal
8
11,3
solange es sich finanziell lohnt
2
2,8
bis ich/wir erfolgreich bin/sind
7
9,9
solange ich/wir in Berlin/auf Reisen bin/sind
5
7,0
solange wie (finanziell) nötig; noch ein Jahr lang
12
16,9
Summe
71
100
5.10.2 Musik in anderen Kontexten Größtenteils sind Straßenmusiker noch anderweitig musikalisch aktiv. 99 Personen und Gruppen antworteten auf die Frage, in welchen Kontexten sie sonst Musik machten (Frage 14). Davon machten 18 zum Zeitpunkt der Befragung nur Straßenmusik, z. B. → Konrad und → Michel. Hingegen waren 81 und damit mehr als vier Fünftel in verschiedenen weiteren Funktionen als Musiker tätig, Mehrfachangaben waren möglich. Die Ergebnisse sind in Tabelle 10 zusammengetragen. Die meisten wirken in Bands, Orchestern und anderen Ensembleformen mit (35 Nennungen), treten mit ihrer eigenen Musik zu diversen Gelegenheiten auf (30 Nennungen) oder sind in verschiedenen Projekten aktiv (20 Nennungen), darunter Theaterproduktionen, Werbung etc. Manche produzieren in heimischen oder professionellen Aufnahmestudios ihre eigene Musik oder arbeiten als Aufnahmeleiter (7 Nennungen). Elf Personen bzw. Gruppen bezeichneten sich als professionelle Musiker. Drei nannten auf Frage 14 hin Gesangs- oder Instrumentalunterricht als weitere musikalische Betätigung. Allerdings wurde auf die Frage nach der Deckung des Lebensunterhalts zwölfmal Musikunterricht genannt, der offenbar nicht bei allen unter die Kategorie Musikmachen fällt.433 Nachdem sich in Abschnitt 5.2 feststellen ließ, dass die Mehrheit der in Berlin aktiven Straßenmusiker längere Zeit in der Stadt verweilt, ist anzunehmen, dass sich vielfältige Wechselwirkungen mit der hiesigen Musikszene ergeben. Selbst wenn das Bild unter den Gruppen, zu denen kein Zugang in Form von Interviews bestand, möglicherweise anders aussieht, lässt sich aus den oben dargestellten Verhältnissen folgern, dass viele der als Straßenmusiker tätigen Künstler Straßenmusik als ein kreatives bzw. musikalisches Betätigungsfeld unter anderen betrachten. Die Erfahrungen aus der Straßenmusik wie das Ausprobieren von eigenem Material oder von Performance-Elementen in ungezwungener Umgebung, das Sammeln von Auftrittspraxis oder der direkte Kontakt zum Publikum sind erwünscht, wie sich in den Motiven zeigt, und werden über vielfältige Schnittstellen in die Musikszene eingekoppelt. Umgekehrt erfolgt ebenfalls eine Inspiration, indem die Musiker die im Rahmen an433 Vgl. Abbildung 154 und in Anhang 4 Tabelle 38.
E INSTELLUNG ZUR S TRASSENMUSIK UND P ERSPEKTIVEN | 329
derer musikalischer Aktivitäten gesammelten Kenntnisse und Fertigkeiten in die Straßenmusik mit einbringen. → Johanna fasst diese Wechselwirkungen in ihrer Antwort auf Frage 14.1 wie folgt zusammen: »Ich kann gut üben für die Bühne, Sachen ausprobieren. Das befruchtet sich gegenseitig. Auf der Straße ist es entspannter, weil das eher eine Freizeitbeschäftigung für mich ist.« Tabelle 10: Musikalische Aktivitäten von Straßenmusikern in anderen Kontexten (n=99) Wo/mit wem/in welchen Kontexten machst du sonst Musik?
Häufigkeit Prozent Prozent (n)
Mitwirkung in Ensemble/-s/Orchester/-n/(eigener/n) Band/-s
35
28,2
35,4
diverse (Musik-) Projekte
20
16,1
20,2
mache/produziere meine eigene/selbst Musik
7
5,6
7,1
gelegentliche Auftritte/Konzerte/Gigs
30
24,2
30,3
arbeite als professioneller Musiker
11
8,9
11,1
Musikunterricht*
3
2,4
3,0
aktuell nur Straßenmusik
18
14,5
18,2
Summe
124
100
125,3
*: Vgl. Abbildung 154 und Tabelle 38.
Der Befund, dass viele Straßenmusiker auch in anderen Zusammenhängen musikalisch aktiv sind, lässt sich auch andersherum formulieren: Offenbar stellt Straßenmusik für eine nicht zu vernachlässigende Zahl von Musikern mit den verschiedensten Hintergründen eine Auftrittsoption dar, die sie aus unterschiedlichen Veranlassungen434 je nach individuellem Bedarf für sich und ihre Ziele nutzen. Während manche in erster Linie auf die Geldspenden angewiesen sind, die sie als Anerkennung für ihre Darbietungen erhalten, gehören für andere die Freiheit und Zwanglosigkeit, die sie hierin finden, zum Lebensgefühl, die Identifikation als Straßenmusiker mit ihren Implikationen wird zur Lebenseinstellung wie bei → Felicitas. Zwischen diesen Extremen gibt es viele Nuancen. Die bei der Mehrheit unter den Künstlern vorgefundene positive Einstellung zum Dasein als Straßenmusiker zeigt, dass dieses zumindest als eine unter anderen musikalischen Identitäten als selbstverständlicher Teil der eigenen Person betrachtet wird. Straßenmusik als Lebensgefühl ist allerdings nichts Neues. Nuna, einer der Drei Rabaue, in den 1970er Jahren Kölns dienstälteste aktive Straßenmusiker und seinerzeit stadtbekannt, fasst seine Einstellung zur Straßenmusik so zusammen: »Wenn ein Philosoph wüßte, wüßte, wie interessant der Beruf eines Straßensängers wär, hätt er kein Philosoph studiert, dann wär er Straßensänger geworden.«435 Und Jupp, einer seiner beiden Gefährten, sagt: »[…] wenn wir nochmal zu wählen hätten, wir würden das gleiche wieder tun. Ne. Weil et so schön war.«436 Zu der Frage, inwiefern und worin sich Straßenmusik von Musik in anderen Kontexten unterscheide (Frage 14.1), äußerten sich in den Interviews 82 Künstler und Grup434 Vgl. Abschnitt 5.9. 435 Zitiert in Fritsch 1972: 67. 436 Zitiert in Fritsch 1972: 70.
330 | S TRASSENMUSIK IN B ERLIN: E RGEBNISSE UND ANALYSE
pen. Während sechs von diesen für sich keine Unterschiede erkennen bzw. angeben, in jeder Situation mit gleichem Einsatz zu spielen, identifizieren 76 teils mehrere bezeichnende Wesensmerkmale, was einem Anteil von 92,7 Prozent entspricht. Diese sind in Tabelle 11 dargestellt. Zu einigen Aspekten werden widersprüchliche Angaben gemacht, die mit den individuellen Erfahrungen zusammenhängen. So wird viermal gesagt, Straßenmusik biete keine bzw. weniger (finanzielle) Sicherheit, weil es sich um kein festes, planbares Engagement handele. Gleichzeitig erhöht Straßenmusik für zwei Befragte das Sicherheitsgefühl, weil sie darin eine verlässliche Einnahmequelle für sich sehen. Für drei erfordert die unruhige öffentliche Umgebung eine höhere Konzentration, siebenmal wird der Auftrittszustand als anstrengender, härter, schwerer beschrieben. Andererseits heben elf meiner Gesprächspartner die größere Freiheit, Spontaneität und Improvisiertheit von Straßenmusik hervor, sechs sagen, es sei weniger Konzentration als auf der Bühne nötig und sie verspürten geringeren Perfektionsdruck und Stress als in der Konzertsituation. Insgesamt 17,1 Prozent der Antworten thematisieren die größere Freiheit in der Straßenmusik, zu improvisieren, zu experimentieren und sich ohne äußere Zwänge künstlerisch zu entfalten.437 Dieses spontane Moment drückt sich beispielsweise in ungeplanten Jamsessions aus.438 Um Authentizität geht es, wenn Straßenmusik neunmal als echter, direkter, unmittelbarer bezeichnet bzw. die Transparenz ohne technische Tricks betont wird (6,2 %). Als zentrales Charakteristikum der Straßenmusik aus Musikersicht erscheint mit 20 Nennungen (13,7 %) die Herausforderung, die Aufmerksamkeit der Leute erst gewinnen bzw. die Bühne und Atmosphäre für die eigene Darbietung selbst schaffen zu müssen.439 Das hängt mit dem fluktuierenden Publikum zusammen (6 Nennungen, 4,1 %), das anders als in der Konzertsituation nicht extra mit dem Ziel anwesend ist, den oder die jeweiligen Künstler live zu erleben (15 Nennungen, 10,3 %). Gleichzeitig wirkt es entspannend auf manche Musiker, dass ihnen das Publikum aus den genannten Gründen ohne Erwartungshaltung begegnet (5 Nennungen, 3,4 %). Und so ungezwungen, wie sich die Situation für die Akteure darstellt, ist sie auch für ihre Zuhörer, die frei in ihrer Entscheidung sind zu kommen, zu bleiben, weiterzugehen, Geld zu geben oder nicht (5 Nennungen). Dies trifft freilich auf die Fahrgäste in U- oder S-Bahnen genauso wenig zu wie auf Cafébesucher, die der ungebetenen Beschallung nicht ausweichen können, wie vier Musiker (2,7 %) zu bedenken geben, die selbst an solchen Orten spielen. Zusammengenommen wird zwölfmal unterstrichen, Straßenmusik biete mehr Raum für Interaktivität, direkte Rückmeldung und damit Begegnung mit dem Publikum auf Augenhöhe bzw. mit weniger Distanz. Gleichzeitig erreicht man Menschen, mit denen sich sonst kein Kontakt ergeben würde, was Straßenmusik zu einem kulturellen Angebot für alle macht (je 3 Nennungen, 2,1 %). Viermal wurde eine geringere Wertschätzung bemängelt, die Straßenmusikern im Gegensatz zu Musikern im konzertanten 437 »Ich bin frei und ziehe mein Ding durch«, sagt z. B. → Camilo. Und → Peter stellt fest: »Echte Straßenmusiker machen ihr Ding, spielen frei.« → Kimanistar bilanziert: »With gigs you know you get paid but there’s less freedom.« 438 Vgl. → Ashley, Benjamin und Taylor, → Seanín und → Sebastian sowie die → spontane Trommelsession im Mauerpark. 439 »You have to get yourself in the mood to perform«, sagt etwa → Kimanistar. »I have to convince people that I am a performer.«
E INSTELLUNG ZUR S TRASSENMUSIK UND P ERSPEKTIVEN | 331
Rahmen entgegengebracht werde. Mit Blick auf die Musik selbst wurde sechsmal angemerkt, diese müsse simpler, eingängiger, gefälliger sein als für ein Bühnenpublikum. Tabelle 11: Faktoren, die Straßenmusik von Musik in anderen Kontexten unterscheiden (n=82) Häufigkeit
Prozent
keine/weniger (finanzielle) Sicherheit
4
2,7
Gibt Sicherheit, weil es immer geht.
2
1,4
mehr Freiheit zu improvisieren und experimentieren/auszuprobieren
6
4,1
freier; spontaner; improvisierter
11
7,5
Ungezwungenheit; Freiheit, das eigene Ding zu machen
8
5,5
Weniger Perfektionsdruck/-stress/Konzentration als auf der Bühne
6
4,1
Erfordert höhere Konzentration.
3
2,1
Anstrengender; härter; schwerer
7
4,8
weniger Wertschätzung als Musiker im konzertanten Rahmen
4
2,7
echter; direkter; unmittelbarer; mehr Transparenz (keine technischen Tricks)
9
6,2
muss simpler/eingängiger/gefälliger sein
6
4,1
Man muss die Aufmerksamkeit der Leute erst gewinnen bzw. die Bühne/Atmosphäre selbst schaffen.
20
13,7
interaktiver; direktes Feedback
9
6,2
Man erreicht Leute/Publikum, die man sonst nicht mit (der eigenen Musik) erreichen würde.
3
2,1
Wie unterscheidet sich Straßenmusik von Musik in anderen Kontexten?
fluktuierendes Publikum
6
4,1
Das Publikum ist nicht deinetwegen da.
15
10,3
Das Publikum ist ohne Erwartungshaltung.
5
3,4
Das Publikum hat Entscheidungsfreiheit zu kommen/gehen/spenden/nicht spenden.
5
3,4
Musik für jeden/alle
3
2,1
Begegnung mit dem Publikum auf Augenhöhe/mit weniger Distanz
3
2,1
wetterabhängig
1
0,7
Musiker in U-Bahnen/Lokalen: Die Leute können nicht weg/ haben keine Entscheidungsfreiheit.
4
2,7
Ich sehe keine Unterschiede/spiele immer gleich/gebe immer alles.
6
4,1
146
100
Summe
Die vielschichtigen Antworten auf Frage 14.1 zeichnen insgesamt ein sehr differenziertes Bild von der Straßenmusik aus Sicht der Handelnden. Sie zeigen, dass sich die meisten von ihnen der Merkmale wohl bewusst sind, die diese Art aufzutreten auszeichnen. Und es kann davon ausgegangen werden, dass diese wahrgenommenen Unterschiede zum Musizieren in anderen Kontexten die Entscheidung beeinflussen, Straßenmusik zu machen, was sich auch in den in Abschnitt 5.9 vorgestellten Motiven widerspiegelt. Viele davon sind positiv konnotiert und werden als Vorzüge be-
332 | S TRASSENMUSIK IN B ERLIN: E RGEBNISSE UND ANALYSE
trachtet wie das Gefühl von mehr Unabhängigkeit und Spontaneität oder die intensivere Interaktion mit dem Publikum. Andere erscheinen tendenziell nachteilig, etwa der erhöhte Grad an Konzentration und Anstrengung oder die fehlende künstlerische Wertschätzung für Straßenmusiker. Ein großer Teil wird nicht eindeutig bewertet, sondern eher als Herausforderung beschrieben wie die Notwendigkeit, die Aufmerksamkeit der Leute zu gewinnen, und die starke Fluktuation unter den Zuhörern. Diese Herausforderungen anzunehmen, stellt jedoch eine gute Bühnenschule dar, denn wer sich unter solchen Umständen behauptet, ist für viele Konzertsituationen gut vorbereitet.
5.10.3 Finanzielle Aspekte Finanzielle Aspekte werden von einem großen Teil der interviewten Straßenmusiker als wesentliche Motive für ihre öffentlichen Darbietungen genannt. Wie hoch der Verdienst aus der Straßenmusik im einzelnen ausfällt, wurde nicht über die Leitfragen erfasst, wie ich in Abschnitt 3.4.2 dargelegt habe. Allerdings machten 26 Musiker und 11 Gruppen off the record Angaben, die ich zusicherte so auszuwerten, dass keine Rückschlüsse auf Personen möglich wären. Deshalb tauchen auch keine Werte in den Fallschilderungen in Kapitel 4 auf. Die Spanne für Solokünstler liegt in den meisten Fällen zwischen drei und 40 Euro pro Stunde, inklusive CD-Verkäufen bei bis zu 50 Euro. Eine Person nannte für sich einen Bereich zwischen 60 und 150 Euro pro Stunde. Dies sind Beträge, wie sie sonst nur von größeren Gruppen erreicht werden. Solche nehmen Spenden in Höhe von maximal 200 Euro pro Stunde ein, die sich allerdings relativieren, wenn sie durch die Zahl der Ensemblemitglieder geteilt werden. Unter Vernachlässigung des einen Extremwertes ergibt sich für Einzelmusiker ein mittlerer Wert von etwa 15,50 Euro pro Stunde; wird er berücksichtigt, erhöht sich der Durchschnitt auf über 19 Euro. Zu Gruppen liegen vergleichsweise wenige Angaben vor, die aber für verschiedene Gruppengrößen zumeist zu einem Ergebnis von um die 12 Euro pro Person und Stunde führen. Jedoch sind auch über 30 Euro pro Person und Stunde möglich. Die ermittelten Summen zeigen, dass Straßenmusik für einige eine einträgliche Geldquelle darstellen kann, während andere sich mit unter 5 Euro in der Stunde begnügen müssen. In jedem Falle ist zu bedenken, dass es sich um Spenden handelt, die nicht versteuert werden. Die Höhe des Verdienstes ist stark abhängig von unterschiedlichen Faktoren und kann nicht nur von Künstler zu Künstler variieren, sondern ebenfalls von Auftritt zu Auftritt. Vor allem in den U- und S-Bahnen spielen die Tageszeiten und Wochentage eine wichtige Rolle.440 Als weitere Einflüsse werden das Wetter (z. B. → Stephan) und die Jahreszeit, der Ort und damit in Verbindung das jeweilige Publikum441 genannt sowie die eigene innere Verfassung, die sich auf 440 → Bernd erklärt, er würde während des morgendlichen Berufsverkehrs zwischen 7 und 10 Uhr pro Stunde doppelt so viel verdienen wie am Rest des Tages, weil die Berufstätigen insgesamt mehr Geld gäben und eher mal eine Zwei-Euro-Münze spendeten. Aus → Michels Erfahrung heraus sind die Wochenenden am lukrativsten, wenn viele Touristen unterwegs sind. 441 → Changa sagt, die Einheimischen an der Schönhauser Allee im Prenzlauer Berg würden ihm und seiner Musik mehr Wertschätzung entgegenbringen als die Touristen in Mitte.
E INSTELLUNG ZUR S TRASSENMUSIK UND P ERSPEKTIVEN | 333
die Ausstrahlung, Performance und Fähigkeit zur Kontaktaufnahme und Interaktion mit den Menschen auswirkt.442 Und schließlich kann manchmal eine hohe Einzelspende von z. B. 20 oder 50 Euro das Ergebnis einer ganzen Session maßgeblich bestimmen, wie → Alejandro berichtet und ich aus persönlicher Erfahrung zu bestätigen weiß. Auch längerfristige wirtschaftliche Entwicklungen scheinen sich auf die Spendenbereitschaft der Menschen auszuwirken. So gibt → Peter an, in den Jahren nach dem Fall der Berliner Mauer habe er oft noch bis zu 100 DM pro Stunde erhalten und sich zu Spitzenzeiten vor Weihnachten sogar 1000 DM an einem Nachmittag erspielen können. Die Musiker der Gruppe → Fanfara Kalashnikov hätten vor wenigen Jahren noch viermal soviel bei der Straßenmusik eingenommen wie heute, erklärt ihr Manager. Und → Bernd sagt, er habe 2009 begonnen in U- und S-Bahnen zu spielen, nachdem er im Zuge der Wirtschaftskrise auf U-Bahnhöfen nur noch zwei bis drei Euro in der Stunde verdient habe. Gerade für Künstler aus Osteuropa, in denen das Lohnniveau oft deutlich unter dem in Deutschland liegt, sind die hier mit Straßenmusik zu erzielenden Einkünfte attraktiv. So teilte die ukrainische Bratschistin (→ 4.2.64) im informellen Gespräch frustriert mit, zu Hause verdiene sie selbst als Mitglied eines großen Ensembles weniger als in Berlin auf der Straße. Bei den Musikern, die zusätzlich zur künstlerischen Darbietung auf der Straße eigene Musik-CDs feilbieten,443 machen die Erlöse daraus oftmals einen wesentlichen Teil der Gesamteinnahmen aus. Beispielsweise sagen → Inga und Alex, bei ihnen kämen bis zu 50 Prozent der Einnahmen bei der Straßenmusik aus dem CD-Verkauf. Die Musiker des Duos → Huiñaumanta beziffern das Verhältnis zwischen Verkaufserträgen und Spenden sogar auf 60 zu 40 Prozent, während es früher eher bei 40 zu 60 gelegen habe. Bei → Camilo hingegen liegt der Anteil nur bei einem Zehntel. Vereinzelt kommt es vor, dass Künstler sich ausschließlich auf den Verkauf von Tonträgern konzentrieren wie beispielsweise das Duo aus → Gitarre und Schlagzeug am Brandenburger Tor. Diese beiden verzichten auf ein Spendengefäß. Stattdessen haben sie einen Ständer mit drei verschiedenen CDs mit Coverversionen bekannter Popmusik vor sich auf dem Gehweg plaziert. Auch → Jeanette und Malte geben als Hauptmotiv neben Promotion den Verkauf von CDs an. Auf die Frage, wovon sie ihren Lebensunterhalt bestreiten (Frage 16), antworteten 99 Musiker und Gruppen. Viele machten mehrere Angaben dazu. Doch 55 und damit der größte Teil von ihnen nannten Straßenmusik als zumindest einen Beitrag zu ihren → Fulya und die Band → Not Called Jinx berichten mit der gleichen Begründung von ähnlichen Erfahrungen in der Wilmersdorfer Straße in Charlottenburg. Und auch → Rainer gibt an, er könne in der Gegend um den Savignyplatz in Charlottenburg wegen des ganz anderen Publikums dort viel mehr Geld verdienen als etwa in Kreuzberg. 442 Beispielsweise sorgt → Victor bewusst für einen professionellen Auftritt und guten Kontakt zu seinen Zuhörern, indem er stets gut gekleidet und mit gestimmter Gitarre spielt und erst zu singen beginnt, wenn er sich der Aufmerksamkeit der Leute sicher ist. Nilton von → Huiñaumanta sagt: »Mit schlechter Laune geht’s nicht. Dann lieber eine Pause machen.« 443 Vgl. Abschnitt 5.11.3.
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Lebenshaltungskosten. Einige finanzieren sich ausschließlich oder zum überwiegenden Teil über Straßenmusik, darunter → Anatoli, → Jaron, → Kimanistar, → Sebastian und Alex von → What a Mess. Auf andere wie → Fulya trifft das nur in der warmen Jahreszeit zu. Gleichzeitig lässt sich feststellen, dass für 44,4 Prozent der befragten Straßenmusiker Straßenmusik offenbar keinen wesentlichen Teil ihres Einkommens darstellt. Dieser Befund deckt sich mit dem Ergebnis aus der Frage nach den Motiven für öffentliche Musikdarbietungen. Abbildung 154 gibt die Antworthäufigkeiten zu Frage 16 wieder. 444 Musik in anderen Kontexten wurde mit 38-mal am zweithäufigsten als Antwort angeführt, Musikunterricht zwölfmal genannt. 31 Personen arbeiten in anderen Berufen oder jobben, darunter befinden sich unter anderem Erzieher, Verkäufer, Ingenieure, Ton- und Studiotechniker, Theaterproduzenten und Hausmeister. Einige haben sich zugunsten der (Straßen-) Musik bewusst gegen die Karriere in ihren erlernten Berufen entschieden, etwa → Rainer, der früher Landwirtschaftsmeister war, der Bauingenieur Alexej von → Nezabudki oder → Naji, der Medizin studiert hat. 14 der interviewten Straßenmusiker leben von Hartz-IV-Unterstützung und bzw. oder sind arbeitsuchend. Ebenso viele werden von ihrem Partner oder ihren Eltern finanziert, erhalten Kindergeld oder BAföG-Förderung. Weitere Beiträge zu den jeweiligen Lebenshaltungskosten kommen aus Renten, staatlicher Grundsicherung, Ersparnissen, vom Betteln und aus der Gemeinde bzw. »von Gott«445.
Straßenmusik
55
Musik in anderen Kontexten
38
Musikunterricht
12
andere Berufe/Jobs*
31
Hartz IV/arbeitsuchend
14
Partner/Eltern/Kindergeld/BAföG
14
Rente/Grundsicherung Ersparnisse Betteln Gott/Gemeinde Häufigkeit (n=99) 0
4 2 1 2 10
20
30
40
50
60
*: darunter Erzieher, Verkäufer, Ingenieure, Tontechniker, Studiotechniker, Theaterproduzenten, Hausmeister
Abbildung 154: Lebensunterhalt. Wesentliche Beiträge kommen aus musikalischen Aktivitäten.
Somit erscheinen musikbezogene Tätigkeiten als die wichtigste Geldquelle für Straßenmusiker. Dies überrascht nicht, wenn man die große Anzahl von vielseitig aktiven Musikern unter ihnen betrachtet.446 Straßenmusik selbst stellt dabei die am häufigsten genannte musikalische Tätigkeit dar. 444 Siehe auch Tabelle 38 in Anhang 4. 445 Vgl. die Angaben von Chang, der den Chor der → Gemeinde Jesu Christi in Berlin leitet. 446 Vgl. Tabelle 10.
A UFTRITTSSTRATEGIEN | 335
5.11 AUFTRITTSSTRATEGIEN Straßenmusiker verfolgen – teils bewusst, teils unbewusst und abhängig von ihren Motiven – unterschiedliche Strategien, um ihre Ziele bzw. das Publikum zu erreichen. Diese schlagen sich in der Art und Weise nieder, wie, wann und wo sie auftreten. Einige der Fragen, die diesen Bereich tangieren wie die Wahl des Musikstils und -repertoires, wurden bereits behandelt. Andere wie die nach der Beziehung zu ihren Zuhörern oder der Vernetzung der Künstler untereinander werden weiter unten diskutiert. Gleichzeitig sei an dieser Stelle angemerkt, dass es auch Straßenmusiker gibt, die offenkundig keinerlei Strategie verfolgen, weil ihnen die Resonanz anderer Menschen einerlei ist und sie draußen allein für sich spielen, z. B. → Matthias.
5.11.1 Raumkategorien Bei den meisten Künstlern, die sich entschließen Straßenmusik zu machen, scheint die Entscheidung für eine der in den Abschnitten 2.4 und 2.5 vorgestellten Raumkategorien grundlegend zu sein. Aufschluss darüber geben zum einen die Antworten der Interviewten auf die Fragen 10: An welchen Orten spielst du bevorzugt? und 10.1: Gibt es Orte, an denen du prinzipiell nicht spielst? Ergänzt werden diese durch Angaben an anderen Stellen sowie Beobachtungen. Zu den Gründen für die Wahl bestimmter Orte und Raumkategorien siehe auch Abschnitt 5.12, insbesondere Tabelle 19. Wie in Tabelle 12 bzw. Abbildung 177 in Anhang 4 dargestellt, zeigt sich, dass – unabhängig von der absoluten Häufigkeit in den einzelnen Raumkategorien – über 90 Prozent der Straßenmusiker in Berlin ausschließlich oder bevorzugt in lediglich einer von ihnen auftreten. 101 von 164 Künstlern und Gruppen oder 61,6 Prozent und damit der größte Teil der Musiker wählen Plätze im öffentlichen Straßenland als Auftrittsort. 26 Einheiten (15,9 %) ziehen nur durch Lokale. Weitere 14 Musiker und Bands (8,5 %) präferieren U- und S-Bahnen als Spielort. Und siebenmal (4,3 %) sind Bahnhöfe die alleinige Raumkategorie. Tabelle 12: Auftrittshäufigkeit von Straßenmusikern nach Raumkategorien (n=164) Raumkategorie
Häufigkeit Prozent
Straße
101
61,6
Straße u. Cafés
10
6,1
Straße u. Bahnhöfe
5
3,0
Straße u. Bahnen
1
0,6
Cafés; Restaurants
26
15,9
Bahnhöfe
7
4,3
U-/S-Bahnen
14
8,5
Summe
164
100
nur in einer Kategorie
148
90,2
in zwei Kategorien
16
9,8
336 | S TRASSENMUSIK IN B ERLIN: E RGEBNISSE UND ANALYSE
Nur knapp zehn Prozent bewegen sich in zwei Kategorien. Am größten ist hier mit zehn Musikern und Bands (6,1 %) die Gruppe derjenigen, die sowohl auf der Straße als auch vor bzw. in Cafés und Restaurants auftreten. Fünfmal (3,0 %) kommt die Kombination aus Straße und Bahnhöfen vor, und lediglich die → Illegal Boys sind sowohl auf der Straße als auch in U-Bahnen unterwegs. Es wurden keine Künstler angetroffen, die in mehr als zwei Kategorien bzw. in anderen als den genannten Verknüpfungen aktiv waren. Berücksichtigt man die Querverbindungen, so machen sogar 71,3 Prozent der beobachteten Straßenmusiker auf Straßen, Plätzen, in Parks etc. Musik. 22 Prozent treten in und vor wechselnden Lokalen auf, und 7,3 Prozent auf Bahnhöfen. Von mehreren Personen wurde bemerkt, auf den U-Bahnhöfen seien Musiker aus Russland und anderen ehemaligen Sowjetrepubliken vorherrschend. So stellt → Peter fest, Russen seien auf den Bahnhöfen dominierend, Nilton von → Huiñaumanta sagt: »Die Russen haben das Monopol auf die Bahnhöfe.« Und → Andrea ist sich bewusst, dass sie die einzige Frau unter lauter Akkordeonspielern ist und dabei »nicht so professionell wie die Russen«. Dies deckt sich mit meinen Beobachtungen: Sowohl 2011 als auch 2014 standen mehrheitlich Osteuropäer am BVG-Schalter für Musikgenehmigungen für die U-Bahnhöfe, tauschten sich in der Schlange lebhaft aus und nutzten die Wartezeit für Absprachen.447 Osteuropäer machen zwar auf den Bahnhöfen sicherlich – wie auch in den anderen Raumkategorien – den größten Teil der Musiker aus. Allerdings spielen viele andere wie → Mitsuhiro oder → Claudio einfach ohne Genehmigung, so dass sich die Zahlen letztlich relativieren. Eine über diese grobe Betrachtung hinausgehende unverzerrte Zuordnung der bevorzugten Raumkategorie zur Herkunft oder weiteren Merkmalen ist nicht möglich. Das liegt vor allem daran, dass osteuropäische Musiker in den Interviews unterrepräsentiert sind. Die Zahlen in Tabelle 12 sollten hingegen verlässlich sein. Denn ich hätte den Musikern, die ich aufgrund meiner Beobachtungen einer bestimmten Raumkategorie zugeordnet habe, während meiner Feldforschung auch in Räumen der anderen Kategorien begegnen müssen, wären sie dort ebenfalls aktiv gewesen. Jede Raumkategorie stellt bestimmte Anforderungen an die Künstler und hat gleichzeitig spezifische Vorzüge, woraus sich auch angepasste Auftrittsstrategien ergeben. Auf der Straße sowie auf Bahnhöfen sind die Musiker vergleichsweise stationär. Während die Spielgenehmigungen für die U-Bahnhöfe jeweils für die Zeit von 6 bis 22 Uhr erteilt werden, kann es im Freien je nach Lage nötig sein, öfter den Standort zu wechseln. Prinzipiell bleibt aber genügend Zeit für einen selbstgestalteten Bühnenraum. Doch von dieser Option wird wenig Gebrauch gemacht. Requisiten oder Accessoirs kommen nur vereinzelt zum Einsatz, etwa bei → Not Called Jinx, die einen Blumentopf neben die Gitarrentasche stellen, oder → Les Jacky Parmentier, die in weitgehend einheitlicher weiß-grüner Kleidung auftreten. → Stephan hat seinen eigenen Sonnenschirm dabei, → Orgelmanne, die ukrainische Bratschistin (→ 4.2.64) oder das → Tschechische Trio fallen jeweils durch ihre stilechte Kleidung auf. Und sowohl → Yaw als auch → Huiñaumanta treten in aufwändiger Verkleidung, teils mit Gesichtsbemalung auf. Bei → Philipp und seinem Partner Cesar 447 Vgl. Abbildung 167 in Anhang 3.
A UFTRITTSSTRATEGIEN | 337
oder → Space Commander Hotch, deren Performance auch theatralische Elemente enthält, kommen diverse Gegenstände unterstützend zum Einsatz. In den allermeisten Fällen beschränkt sich die Markierung der Auftrittsfläche aber lediglich auf den oder die Musiker selbst, gegebenenfalls das eigene Equipment bzw. Gepäck und ein Sammelgefäß für Spenden. Häufig werden derartige Gegenstände dennoch bewusst oder unbewusst so plaziert, dass sich ein definierter Bereich für den oder die Musiker erkennen lässt. → Jaron nutzt beispielsweise die beiden Schalen seiner Instrumententasche, einen neben ihm befindlichen Poller und die Wand hinter sich, um seine Bühne abzugrenzen. Das Publikum auf der Straße und auf Bahnhöfen besteht größtenteils aus Passanten, aber unter Umständen auch aus Anwohnern und Angestellten in Geschäften. Besonders mit den letztgenannten Gruppen kann es zu Konflikten kommen, wenn sich diese durch die Dauerbeschallung gestört fühlen, die manchmal durch viele Wiederholungen geprägt ist. Zu den Regelungen zur Vermeidung solcher Spannungen sowie zu dauerhaften Konfliktherden siehe die Ausführungen in den Abschnitten 2.5 und 5.13. Die Ortsfestigkeit trifft indessen nicht auf solche Gruppen wie die → Rumänische Kapelle im Bayerischen Viertel zu, die wie in früheren Zeiten üblich448 musizierend durch Wohngegenden ziehen, unter anderem in Kreuzberg, Wilmersdorf, Friedenau und Prenzlauer Berg. Künstler, die selbst beweglich sind, also von Lokal zu Lokal gehen oder ständig die U- und S-Bahnwaggons wechseln, musizieren unter ganz anderen Voraussetzungen als solche, die länger an einem Ort bleiben. Hier ist nicht bzw. in den Zügen nicht nur das Publikum im stetigen Fluss, sondern auch die Musiker selbst. Straßenmusik funktioniert in den meisten Fällen dann am reibungslosesten, wenn zumindest eine Seite nur flüchtig verweilt. Schließlich kommt das musikalische Angebot ungefragt. Somit ist es für die Musiker eine Frage der richtigen Balance, einerseits die geneigten Zuhörer mit der eigenen Performance zufriedenzustellen und gleichzeitig die Geduld derjenigen nicht zu arg zu strapazieren, die darüber weniger erfreut sind. Um dieser Herausforderung gerecht zu werden und außerdem die Fluktuation so hoch zu halten, dass sich die gewünschten Einnahmen einstellen, beschränken viele die Dauer ihrer Auftritte. Lange Zeit war es üblich, auf den U- und S-Bahnstrecken zwischen drei Halten ein bis zwei Stücke unterzubringen. Mittlerweile ist es vor allem unter Roma verbreitet, nur eine Station pro Waggon mitzufahren. Gleichzeitig gibt es Künstler wie → Kevin, der seine Auftritte auch gerne um einen oder zwei Halte verlängert, wenn seine Musik gut bei den Leuten ankommt. Vor oder in Cafés und Restaurants wird in der Regel zwischen fünf und zwanzig Minuten lang musiziert. In diesem Zeitraum werden zwischen zwei und sechs Stücke dargebracht.449 Es gibt allerdings Fälle wie → Leigh, der oft länger als eine Stunde vor dem gleichen Lokal verbringt. Auch → Jacek spielt mit seinen wechselnden Ensembles längere Sets z. B. am Hackeschen Markt, wo es sowohl Cafés als auch Passanten gibt. Auffällig ist, dass von allen interviewten Musikern, die in U- und S-Bahnen oder – bis auf → Leigh – vornehmlich in und vor Lokalen auftreten, Geld unter den Hauptmotiven (Frage 7) genannt wird. Unter denjenigen, die im Freien spielen, ist 448 Vgl. Abschnitt 2.3.2. 449 Vgl. z. B. → Rainer, → Victor, → Drunks and Kids, → What a Mess.
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der Anteil derer entsprechend höher, denen Geld weniger oder nicht wichtig ist. Scheinbar wählen also Künstler, die prioritär die Maximierung des Verhältnisses zwischen Einnahmen und Auftrittsdauer verfolgen, solche Settings, in denen sie über die Geschwindigkeit der eigenen Fortbewegung selbst die Menge des Publikums beeinflussen können, vor dem sie ihre Musik darbringen. Diese Beobachtung wird z. B. von → Kevin bestätigt, der nur in der U-Bahn spielt, weil es dort für ihn am lukrativsten ist.
5.11.2 Auftrittsdauer und -häufigkeit Die Häufigkeit und die jeweilige Dauer der Auftritte von Straßenmusikern hängen individuell von den Motiven sowie von Faktoren wie der momentanen Stimmung, dem Wetter, anderen Tätigkeiten oder der akuten finanziellen Lage ab. Diejenigen, die auf die Geldspenden angewiesen sind, agieren regelmäßiger und disziplinierter als solche, die darin eine reine Freizeitbeschäftigung oder Abwechslung zur sonstigen musikalischen Tätigkeit sehen. So ist → Bernd, der seinen Heroinkonsum von dem Geld finanziert, täglich bereits ab 7 Uhr morgens während des Berufsverkehrs in der S-Bahn unterwegs und folgt dabei einem strikten Zeitplan. → Jaron und → Kimanistar leben hauptsächlich von der Straßenmusik und spielen daher sooft es nötig ist. Bei Kimanistar sind das jeweils zwei bis fünf Stunden an mindestens sechs Tagen pro Woche. → Jordan macht bis zu acht Stunden täglich Straßenmusik, → Zoreslaw spielt zwischen sechs und neun Stunden lang, → Horst sogar maximal zehn. Auf der anderen Seite sagt → Johanna Ende 2010, sie sei den gesamten Sommer über lediglich zweimal zum Musikmachen im Mauerpark gewesen; beim zweiten Mal sei sie allerdings vom Ordnungsamt zum Aufhören aufgefordert worden. Und auch → Lucky You resümieren, sie hätten im Sommer faktisch zweimal draußen Musik gemacht, obwohl sie es sich mindestens zwanzigmal vorgenommen hätten. Solche Künstler beenden oftmals ihre Auftritte, wenn sie ihr Bühnenprogramm einmal durchgespielt – oder keine Lust mehr – haben. → Gal macht »a couple of times a week« Straßenmusik, wenn es ihm in den Sinn kommt, und Elizabeth hört einfach auf, sobald sie 50 Euro an einem Abend zusammen hat. Die bevorzugten Tageszeiten variieren ebenfalls von Fall zu Fall und sind in den Einzelfallschilderungen in Kapitel 4 nachzulesen. Am ehesten ist bei denjenigen Musikern eine Regelmäßigkeit zu erkennen, die sich auf Lokale spezialisiert haben: diese sind vornehmlich ab dem späten Nachmittag oder frühen Abend bis nachts tätig, z. B. → Armin (18-22 Uhr) oder das Duo → Nezabudki (19-22 Uhr). → Rainer, der genug von der Straßenmusik hat, sagt, er möchte lieber wieder »mehr tagsüber arbeiten«. Ab 22 Uhr sind mit Rücksicht auf die Anwohner zumeist keine Auftritte draußen mehr möglich. Die anderen Raumkategorien lassen dagegen alle Freiheiten bei der Wahl der Auftrittszeiten, solange sich niemand beschwert. Frage 11 in den Interviews lautete: Wann/wie oft spielst du? (Jahreszeiten, Wochentage, Uhrzeiten). Darauf antworteten 95 der Musiker und Gruppen, teilweise mehrfach. Die Frage war wie andere auch bewusst offen gestellt. Daher resultieren Angaben zu unterschiedlichen Aspekten, die nicht unbedingt miteinander vergleichbar
A UFTRITTSSTRATEGIEN | 339
sind. In Tabelle 13 sind verschiedene Antworten zum Aspekt der Auftrittshäufigkeit zusammengefasst. Tabelle 13: Wann und wie oft machst du Straßenmusik? (n=95) Wann und wie oft machst du Straßenmusik?
Häufigkeit Prozent (n)
täglich (6-7 Tage pro Woche)
30
31,6
3-5 Tage pro Woche
28
29,5
1-2 Tage pro Woche; nur am Wochenende
16
16,8
unregelmäßig nach Lust/Laune/Bedarf/Gefühl
8
8,4
sporadisch; selten
6
6,3
in Ferien/Urlaub/Freizeit
6
6,3
nur Sommer/warme Jahreszeit/bei gutem Wetter
21
22,1
Summe
115
121,1
Mit 30-mal am häufigsten wurde eine tägliche Auftrittspraxis an sechs bis sieben Tagen pro Woche angegeben. Fast ebenso viele Künstler, 28, machen an drei bis fünf Tagen Straßenmusik, und 16 nur an ein oder zwei Tagen bzw. am Wochenende. Neben denjenigen, die ganz oder halbwegs regelmäßig Straßenmusik machen, gibt es viele weitere, die unregelmäßig (6 Nennungen), sporadisch (6) oder nur während Ferien, Urlaub und Freizeit Aktivität zeigen (6). Diese Häufigkeiten sind freilich eine Momentaufnahme zum Zeitpunkt der jeweiligen Befragung. Die Angabe täglich kann somit unter Umständen nur auf die Sommermonate bezogen sein.450 21 Künstler nennen explizit derartige Einschränkungen, wobei nicht gefolgert werden kann, der Rest würde ganzjährig Straßenmusik machen. Straßenmusik in Berlin ist zwar kein reines Sommerphänomen, aber dennoch durchaus saisonalen Schwankungen unterworfen. In 11 Fällen wird ausdrücklich eine ganzjährige Auftrittspraxis angegeben. Darunter befinden sich vor allem die in Innenräumen, also neben U-Bahnhöfen auch in Nahverkehrszügen und Lokalen tätigen Musiker wie → Anatoli, → Armin oder → Kimanistar. Denn hier bieten sich wetterund temperaturunabhängige Spielgelegenheiten.451 Aber auch in den Fußgängerzonen, auf Weihnachtsmärkten etc. finden Straßenmusiker während der kalten Jahreszeit ein Publikum, etwa der Leierkastenmann → Orgelmanne und die Gruppe → Fanfara Kalashnikov. Die rumänische Blaskapelle rückt nach Auskunft ihres Managers im November und Dezember sogar verstärkt zur Straßenmusik aus, weil dann weniger gebuchte Auftritte anstehen und sie im Advent mehr Spenden einsammeln kann bei gleichzeitig schwächerer Konkurrenz im Freien. Zum Jahresbeginn besuchen die Musiker dann mit gefüllten Taschen ihre Familien daheim in Rumänien. 450 Beispielsweise erklärt → Naji, er würde bei Temperaturen ab +10 °C aufwärts bei schönem Wetter täglich draußen musizieren. 451 Ich habe selbst erfahren, dass man bei Saiteninstrumenten wie Gitarren oder Kontrabässen bei niedrigen Temperaturen draußen zuhören kann, wie sie sich beim Spielen verstimmen – zumindest solange die Instrumente sich nicht vollständig akklimatisiert haben.
340 | S TRASSENMUSIK IN B ERLIN: E RGEBNISSE UND ANALYSE
Wenn es ihnen zu kalt wird, verabschieden sich andere wie die Band → What a Mess die Straßenmusik betreffend in die Winterpause, die sie z. B. für mehr Konzerte nutzen. Bis auf → Orgelmanne geben alle auch im Winter tätigen Straßenmusiker zu Frage 7 Geld als zumindest eines ihrer Hauptmotive an. Die Vermutung liegt nahe, dass die meisten der hauptsächlich aus Spaß an der Sache und anderen ideellen Motiven tätigen Straßenmusiker auf ihr Hobby verzichten, wenn es ihnen draußen zu ungemütlich wird – eine Option, die denjenigen nicht zur Wahl steht, die auf die Geldspenden angewiesen sind. Allerdings wäre noch einmal genauer zu untersuchen, wie die Jahreszeiten tatsächlich mit den Motiven der Straßenmusiker korrelieren.
5.11.3 Aufnahmen und Tonträger Die heimische Produktion bzw. Vervielfältigung von Tonträgern ist seit der ubiquitären Verfügbarkeit des Personal Computers und entsprechender Software mit geringem technischen und finanziellen Aufwand möglich. Auch viele Straßenmusiker machen sich diesen Fortschritt zunutze und bieten Interessierten zumeist CDs mit eigenen Musikstücken oder Interpretationen zum Verkauf an. Von 93 befragten Musikern und Ensembles gaben 58 und damit fast zwei Drittel (62,4 %) während des Interviews zu Frage 18 an, über Demo-, Live- oder professionelle Aufnahmen ihrer Musik zu verfügen, vgl. Abbildung 155 bzw. Tabelle 39 in Anhang 4.
Aufnahmen (inkl. Demos) (n=93)
58; 62% 35; 38% Ja Nein
Abbildung 155: Die meisten Straßenmusiker verfügen über eigene Musikaufnahmen.
Allerdings verkauften nur 29 der 93 Befragten (entsprechend 31,3 %) und damit etwa die Hälfte derer, die über Aufnahmen verfügten, Tonträger bei der Ausübung von Straßenmusik. Der Anteil fällt deutlich geringer aus, wenn man die gesamte Stichprobe von 164 Bands und Musikern betrachtet: von diesen boten 37 CDs an, was 22,6 Prozent entspricht. Hier wirkt sich unter anderem der größere Anteil von Roma und Rumänen an den Beobachtungsberichten aus, die in keinem Fall diese zusätzli-
A UFTRITTSSTRATEGIEN | 341
che Einnahmequelle nutzten. Der Tonträgerverkauf ist vor allem unter den 124 ortsfest Agierenden draußen und auf den Bahnhöfen452 gängige Praxis: dabei liegt der Anteil mit 29,8 Prozent deutlich höher als in der Gesamtstichprobe. Für die beweglichen Künstler in Zügen und Lokalen hingegen erscheint der Handel mit CDs aus logistischen und zeitlichen Gründen nicht praktikabel und kommt fast nicht vor. Bei → Camilo machen die CD-Erlöse nur ca. 10 Prozent seiner Einnahmen aus, bei anderen wie → Inga und Alex oder → Huiñaumanta immerhin bis zu 50 Prozent und mehr. Wie in Abschnitt 2.5.6 dargelegt wurde, wäre aus juristischer Sicht eigentlich ein Gewerbeschein erforderlich, um legal Waren wie Tonträger verkaufen zu dürfen. In den U-Bahnhöfen und Nahverkehrszügen ist jeglicher Handel durch die VBBBeförderungsbedingungen prinzipiell untersagt. Diese Regelungen werden allerdings von den meisten betreffenden Straßenmusikern ignoriert.
5.11.4 Internetpräsenz Neue Mittel und Wege der medialen Präsenz eröffnen auch das Internet und hier insbesondere die sozialen Netzwerke. Eine eigene Homepage oder ein aussagekräftiges Profil auf einem Online-Portal, z. B. mit Künstlerinformationen, Fotos, Ton- und Videoaufnahmen sowie Konzerthinweisen und der Möglichkeit, mit den Künstlern in Kontakt zu treten, ist eine heutzutage von zahlreichen Musikern aller Stilrichtungen und Professionalitätsgrade genutzte Form der interaktiven Kommunikation mit dem Publikum. Diese zumeist kostenlosen Angebote erfreuen sich auch unter Straßenmusikern großer Beliebtheit, die in den meisten Fällen noch in anderen musikalischen Projekten wie Bands aktiv sind, wie aus Tabelle 10 ersichtlich ist. Sie dienen als virtuelle Visitenkarten, über die Interessierte sich näher informieren oder bei Bedarf in Kontakt mit den Künstlern treten können. Eine Internetpräsenz bietet Straßen- wie sonstigen Musikern somit verschiedene Vorteile und verschafft ihnen unter Umständen einen Wettbewerbsvorteil gegenüber Kollegen, die darauf verzichten. Folglich überrascht es nicht, dass mit annähernd zwei Dritteln (62,5 %) eine deutliche Mehrheit von 60 der 96 Befragten zum Zeitpunkt der Erhebung entweder eine eigene Homepage betrieb oder ein Profil in einem sozialen Netzwerk pflegte, vgl. Abbildung 156 bzw. Tabelle 40 in Anhang 4.453 Hinweise darauf fanden sich entweder auf den Hüllen der ausliegenden CDs, auf Visitenkarten oder auf extra Infozetteln, die von den Musikern ausgelegt wurden. Zur Zeit der Feldforschung war Myspace das unter Musikern am weitesten verbreitete Netzwerk-Portal (www.myspace.com). Inzwischen hat sich die Politik des Anbieters geändert, so dass die Attraktivität stark nachgelassen hat und die meisten der damaligen Myspace-Profile entweder verwaist sind oder nicht mehr existieren. Allerdings hat eine erneute Recherche im Sommer 2014 ergeben, dass viele der 2010 und 2011 bei Myspace präsenten Musiker und Bands mittlerweile Profile bei den heute üblichen Portalen wie Facebook oder Soundcloud unterhalten 452 Vgl. Tabelle 12. 453 Die Internetpräsenz war nicht Teil des Leitfragenkatalogs. Angaben dazu wurden aber stets off the record erhoben und in vielen Fällen durch eigene Recherchen ergänzt.
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(www.facebook.com bzw. www.soundcloud.com). Auch der Videodienst Youtube ist beliebt (www.youtube.com). Hier hochgeladene Videos werden häufig über Links mit den Angeboten auf den anderen Kanälen verknüpft.
Internetpräsenz (n=96)
60; 62% 36; 38% Ja
Nein
Abbildung 156: Die Mehrheit der Straßenmusiker betreibt eine eigene Internetpräsenz (z. B. eigene Homepage, Myspace- oder Facebook-Profil etc.)
Bis auf wenige Ausnahmen stimmen die Personen und Gruppen, die über eigene Musikaufnahmen verfügen, mit denen überein, die im Internet präsent sind. Das ist plausibel, da Aufnahmen einen wichtigen Baustein in den Online-Profilen der Künstler darstellen. Weiterhin zeigt diese Korrelation, dass auch diejenigen, die ihre Aufnahmen nicht bei der Straßenmusik kommerziell verwerten, durchaus einen medialen Nutzen daraus ziehen können.
5.11.5 Alleinstellungsmerkmale Aufschluss über die jeweiligen eigenen Besonderheiten und Alleinstellungsmerkmale und damit teils Attribute von strategischer Bedeutung aus der Perspektive der befragten Straßenmusiker geben die Antworten auf Frage 12: Wie unterscheidest du dich von anderen (Straßen-) Musikern? Was ist das Besondere an Dir? Hier bestand Gelegenheit zur Reflexion über Charakteristika, die in der Selbstwahrnehmung der Künstler dazu geeignet sind, das eigene Handeln und Wirken von dem anderer Straßenmusiker abzugrenzen. Die erfassten Begriffe erlauben allerdings keine Aussage darüber, welche der Strategien in der Praxis tatsächlich erfolgreich sind, zumal dies stets von weiteren Faktoren abhängt. Im Interview äußerten sich 78 Personen und Gruppen teilweise zu mehreren Aspekten, 20 machten keine Angaben. Die Antworten sind in Tabelle 14 zusammengefasst und lassen sich grob z. B. in die vier folgenden Kategorien einteilen.
A UFTRITTSSTRATEGIEN | 343 Tabelle 14: Besonderheiten und Alleinstellungsmerkmale (n=78) Wie unterscheidest du dich von anderen (Straßen-) Musikern? Was ist das Besondere an Dir?
Häufigkeit
Authentizität; keine Anpassung; mache mein Ding; künstlerische Integrität
9
Spiele nur Originale/eigene Arrangements
13
Improvisation
2
Spiele um der Musik willen/für die Musik/versinke darin
3
Geld ist nebensächlich/unwichtig
12
Instrumentierung; Instrumente; Besetzung*
20
Gruppengröße
4
Musikstil°
19
Musikauswahl; Repertoire
4
Texte sind wichtig
1
Spieltechnik; Auftrittsstil; Performance
19
Spiele mit gestimmter Gitarre
1
persönliche Ausstrahlung/Art^
9
Interaktivität; Kontaktaufnahme
9
Requisite; Aufmachung
3
Lautstärke; Durchhaltevermögen
2
Professionelle/ausgebildete/studierte Musiker
6
Bin kein professioneller Musiker
2
Sehe mich selbst nicht als echten Straßenmusiker
3
Herkunft; Sprache
4
Alter; Geschlecht
2
Tradition (Leierkasten; → Hare Krishnas)
2
Wir sind auch sonst untereinander befreundet.
2
Bin völlig drogenfrei
1
Bringe den Menschen Freude
1
Jeder Straßenkünstler ist einzigartig. / Alle sind schön.
2
keine Angabe; weiß nicht
20
Summe
175
*: Hang, Harfe, Tridgeridoo, Djembés, Geige, Congas, selbstgebauter Kontrabass, fünfsaitige Geige, Blaskapelle, Panflöten, Mundharmonika, Brassband, Cello, 2 Gitarren/Steel Guitar °: Reggae, Irish Folk, Mittelalter, funky, Alte Musik, Freestyle, Balkan-Punk, kein Reggae!, dt. Liedermacher, alle Stile, energetisch/explosiv, Jazz/Swing, indianische Musik, Country, Genremix, authentischer Irish Folk, Klassik ^: Humor, lustig, Berliner Original, mit Herz, Verbundenheit/enges Zusammenspiel, seriös, unaufdringlich, gepflegt
344 | S TRASSENMUSIK IN B ERLIN: E RGEBNISSE UND ANALYSE
Die erste Kategorie umfasst das Authentische, Originale und Nichtkommerzielle. Neun Musiker legen Wert darauf, dass sie sich nicht anpassen, sondern ihr Ding machen, authentisch sind oder sich ihre künstlerische Integrität bewahren. Insgesamt 15 Künstler heben ihre selbstgeschriebenen oder -arrangierten bzw. improvisierten Stücke hervor. Wiederum 15 sagen, Geld sei für sie nebensächlich oder nicht wichtig bzw. sie spielen um der Musik willen. Die türkische Musikethnologin → Fulya Özlem zieht in einem Online-Artikel den Schluss, dass in Berlin die Selbsttreue und die individuelle Erscheinung der Schlüssel zum Erfolg in der Straßenmusik seien. Ihrer Erfahrung nach wird das authentische, aufrichtige Auftreten am meisten gewürdigt: »[…] appearing exactly the way you are is the key to succeeding on Berlin’s streets.«454 Und → Kimanistars Antwort auf die Interviewfrage lautete: »That I am me. I tell my story which nobody else knows.« In der zweiten Kategorie geht es um das, was die Straßenmusiker tun: 20 Nennungen beziehen sich auf die verwendeten Instrumente oder die Besetzung, die Details sind unterhalb von Tabelle 14 wiedergegeben. Hinzu kommen vier Ensembles, die ihre Gruppengröße als bemerkenswert einschätzen. Zusammen 23-mal werden der eigene Musikstil und das Repertoire betont. Die dritte Kategorie betrifft die Frage, wie die Straßenmusiker ihre Darbietungen gestalten. In 19 Fällen wird die individuelle Spieltechnik, der Auftrittsstil oder die Performance als wesentlich erachtet, neunmal die persönliche Ausstrahlung bzw. Art. Noch einmal neun der Befragten stellen ihre Interaktion und Kontaktaufnahme mit dem Publikum heraus. Details wie Requisiten, die individuelle Aufmachung oder die gestimmte Gitarre kommen viermal vor. Aspekte, die die Identifikation der Musiker betreffen, bilden die vierte Kategorie: Drei sehen sich selbst gar nicht als echte Straßenmusiker. Sechs Künstler und Ensembles unterstreichen, dass es sich bei ihnen um professionelle, ausgebildete bzw. studierte Musiker handele. Andererseits finden zwei gerade das Gegenteil an sich erwähnenswert. Für vier Musiker ist ihre Herkunft und bzw. oder Sprache ein besonderes Merkmal, zweimal werden Alter und Geschlecht genannt. Der Gitarrist → Changa findet zusammenfassende Worte für die Vielfalt der Eigenheiten unter Straßenmusikern. Er sagt: »Every busker is unique.« Und auch → Anatoli findet nichts Besonderes an sich, denn: »Alle Musikanten sind schön«. Die in Tabelle 14 aufgeführten von den Straßenmusikern selbst hervorgehobenen Eigenschaften können in erster Linie als Potentiale betrachtet werden. Sie stellen ein individuell unterschiedlich ausgeprägtes Reservoir an Möglichkeiten dar, das von manchen gezielt genutzt wird und von anderen nicht, um das Gelingen der eigenen Performance und ihre Resonanz beim Publikum positiv zu beeinflussen. Ein Beispiel für die konzeptuelle Kombination verschiedener solcher Elemente ist die Inszenierung des Fremden und Exotischen, wie sie insbesondere von dem aus zwei Peruanern bestehenden Duo → Huiñaumanta und dem Ghanaer → Yaw betrieben wird, aber auch von Ben, dem exaltierten Frontmann von → The Benka Boradovsky Bordello Band. Zur musikalischen Performance an sich kommt hier jeweils eine aufwändige Verkleidung, die an bestimmte indigene Kulturen angelehnt ist, bzw. bei dem Neuseeländer Ben sein antrainierter, leicht übertrieben wirkender osteuropäischer Ak454 Özlem 2009.
A UFTRITTSSTRATEGIEN | 345
zent. In Yaws Fall mag seine Aufmachung noch insofern authentisch sein, als dass er folkloristische Elemente seiner Herkunftsregion verwendet und mit entsprechender Musik kombiniert. Und doch handelt es sich dabei um eine simulierte Eigenheit für andere, nämlich sein Publikum. Es ist davon auszugehen, dass sich der in Berlin lebende Musiker in seinem Alltag unauffällig kleidet. Auch lässt etwa der für die Hose verwendete bemalte Jeansstoff eine gewisse Freiheit in der Nachempfindung traditioneller Muster vermuten. Bei Carlos und Nilton hingegen, die beide aus Peru stammen und früher in Anden-Ensembles süd- und mittelamerikanische Folklore spielten, hat die Kostümierung weder mit der Herkunft der beiden noch mit der Musik zu tun, die sie machen. Die Selbstinszenierung als nordamerikanische Indianer über derart stilisierte Kleidung und Gesichtsbemalung steht nicht nur im Kontrast zu den traditionellen peruanischen Trachten, die sie früher trugen, sondern auch zu dem Leben, das sie seit vielen Jahren in Deutschland führen. Die Musik wiederum ist eine Mischung aus Elementen des New Age und verschiedener Kulturen.455 In den drei beschriebenen Fällen werden nicht-musikalische Mittel bemüht, um ein exotisches Ambiente zu erzeugen und größeres Aufsehen zu erregen.
5.11.6 Anpassung Ich möchte diesen Abschnitt mit einem persönlichen Erlebnis einleiten, das ich am Rande meiner Feldforschung hatte: Der U-Bahnhof Warschauer Straße ist ein Kopfbahnhof, das heißt die Züge bleiben nach ihrer Ankunft einige Minuten lang mit geöffneten Türen stehen, bevor sie wieder zurückfahren. Dort stieg ich in einen Wagen ein und setzte mich. Ein Akkordeonspieler wahrscheinlich südosteuropäischer Herkunft war ebenfalls anwesend und improvisierte auf seinem Instrument leise und in sich versunken über Motive und Themen, die ich intuitiv dem Balkanraum zuordnen würde. Die Musik berührte mich, weil sie authentisch wirkte; der Mann schien selbst Freude daran zu haben. In dem Moment, in dem das Warnsignal erklang und sich die Türen schlossen, unterbrach er jäh sein Spiel, positionierte sich in der Mitte des Waggons, blickte auf – und begann mit einer der abgenutzten Melodien, die ich schon so oft in der U-Bahn gehört hatte. Offenbar befand er sich jetzt – im Gegensatz zu vorher – in einer Art Arbeitsmodus und hatte ein bestimmtes Konzept davon im Kopf, welche Musik die Leute vermeintlich hören wollten. Obwohl der Akkordeonist technisch einwandfrei spielte, war jeder Charme auf der Stelle verflogen. Die bewusste Anpassung der Darbietung an das Publikum oder andere Gegebenheiten ist eine weitere Strategie, die viele Straßenmusiker verfolgen. 55,1 Prozent der Befragten gaben auf Frage 8.4 hin an, sich innerhalb bestimmter Grenzen mit ihrem Repertoire auf die aktuelle Situation einzustellen, vgl. Tabelle 15. Variationsparameter sind hauptsächlich, was gespielt wird und wie es interpretiert wird. Von den 40, die nicht mit Ja antworteten, verneinten 11 die Frage ausdrücklich. Als Begründung führt beispielsweise → Onyx Ashanti an, er spiele vornehmlich für sich selbst. → Konrad sagt: »Ich mache nur mein Ding.« Und auch → Peter pocht auf seine Autonomie: »Ich spiele immer, was ich will.« In diesen Fällen deutet sich an, dass
455 Vgl. auch den Exkurs zu lateinamerikanischen Gruppen am Ende von Abschnitt 5.5.
346 | S TRASSENMUSIK IN B ERLIN: E RGEBNISSE UND ANALYSE
Anpassung zumindest für einige negativ besetzt ist und den eigenen Wertvorstellungen von künstlerischer Integrität zuwiderläuft. Tabelle 15: Passt du dein Repertoire an die jeweilige Situation an? (n=89) Anpassung?
Häufigkeit Prozent
Ja
49
55,1
Nein*
40
44,9
Summe
89
100
*: davon ausdrücklich Nein:
11
12,3
Tabelle 16 gibt die von den Künstlern geäußerten Aspekte wieder, welche sie dazu veranlassen, Veränderungen vorzunehmen. Die wichtigste Rolle spielen dabei spontane Reaktionen auf das Publikum, die Stimmung und Atmosphäre in der jeweiligen Auftrittssituation. Die örtlichen Gegebenheiten und die räumliche Umgebung bzw. das Geschehen im näheren Umfeld können ebenso wie das Alter bzw. Geschlecht der Zuhörer die Darbietung beeinflussen. Einige Musiker passen ihr Programm den Jahres- und Festzeiten an, und drei wählen unterschiedliche Stücke aus, je nachdem, in welchem Stadtteil sie spielen – was wiederum mit dem Publikum dort zusammenhängt. Tabelle 16: Aspekte, die bei der Anpassung des Repertoires eine Rolle spielen Welche Aspekte spielen bei der Anpassung des Repertoires eine Rolle?
Häufigkeit
spontane Reaktion auf/Interaktion mit Publikum/Stimmung/Atmosphäre
25
örtliche/räumliche Umgebung/Geschehen
13
Alter; (Geschlecht)
13
Jahreszeit; Saison
8
Stadtteil
3
Summe
62
Allerdings legen die Antworten der interviewten Musiker eine differenzierte Betrachtung nahe, denn die Anpassung des Repertoires ist von unterschiedlichen Motiven geleitet. Die einen handeln strategisch, um die Spendenbereitschaft des Publikums positiv zu beeinflussen. Für die anderen ist die improvisatorische Einbeziehung des Umfeldes, also der Menschen, der Umgebung und der Stimmung, in den musikalischen Schaffensprozess wesentlich. Hier wird Anpassung als Mittel der Kontaktaufnahme und Kommunikation aufgefasst mit dem Ziel einer gemeinsamen ästhetischen Erfahrung. Anpassung hat somit verschiedene Bedeutungen und Hintergründe für die Künstler. Folgende Beispiele, bei denen Geld als wichtiges Motiv angegeben wird, sind exemplarisch für die erste Gruppe, wobei zu beachten ist, dass auch weitere Motive von Belang sein können: → Pedro spielt Jazz, wenn er am Kurfürstendamm auftritt, und verwendet in Kreuzberg mehr türkische und arabische Skalen. → Jacek und sei-
A UFTRITTSSTRATEGIEN | 347
ne Ensembles variieren nach dem Alter der Zuhörer: beschwingtere Musik für die jüngeren, langsamere Stücke für die älteren. Die Band → Not Called Jinx spielt sommers »mehr fröhliche Lieder« und zur Adventszeit vermehrt Stücke mit Weihnachtsbezug. → Ginger Brown gehen während ihrer Auftritte über die Reihenfolge ihrer Stücke, die Dynamik oder die Länge der Improvisationen auf ihr Publikum ein. Auch → The Benka Boradovsky Bordello Band spielen schneller, wenn die Leute tanzen – und insbesondere Frontmann Ben tanzt dann gerne mit. Paul, der Geiger bei → Atze Wellblech, fragt sich stets: »Was passt für dieses Publikum?«, und beginnt »mit den Sachen, die funktionieren«. Anhand der Reaktionen der Leute wählt er spontan Lieder mit inhaltlich passenden Texten aus. In der U-Bahn geht → Kevin ähnlich vor: »Ich werfe einen sehr genauen Blick ins Publikum, bevor ich zu spielen beginne. Jede Uhrzeit hat ihr spezielles Publikum.« Er versucht, den Musikgeschmack der Menschen einzuschätzen und spielt etwa für Touristen keine Lieder mit deutschen Texten. In der zweiten Gruppe findet sich unter anderem → Alex, der von sich behauptet: »I add music to the scenery. I react to the audience, to what I see.« Auch → Peerkin sagen, sie würden sich in die Atmosphäre einfühlen und bei guter Stimmung »mehr Partysongs« spielen. Und → Sebastian bezieht »different feelings and moods« in seine Darbietung mit ein. Im Winter verzichtet er wegen der Kälte auf seine Trommel. → Leigh reagiert »always, at all times«, folgt mit der Dynamik permanent seiner Wahrnehmung und bemerkt: »Every note I adapt if I’m aware enough.« Bei → Suchy funktioniert ebenfalls alles »intuitiv und instinktiv«, da er ausschließlich improvisiert. Auch → Gal agiert aus dem Moment heraus: »I just play what feels in the right place.« Die Amerikaner → Ashley und Taylor sagen: »The songs are growing out of the moment. They develop differently depending on the environment.« → Sarah versucht eine Verbindung zu den Menschen zu bekommen, indem sie z. B. Kinderlieder spielt, wenn Familien mit Kindern an ihr vorbeigehen. Auch → Gahd äußert: »I try to connect all the time.« Und Mareike (→ Re’em) erklärt: »Ich arbeite konzeptuell an den Ort und die Situation angepasst. Ich bediene nicht, sondern arbeite und spiele damit.« Manche Straßenkünstler spielen hingegen bewusst mit den Erwartungen des Publikums. So sagt → Gabriel über sich: »I sometimes ask the audience what they want and do the opposite.« Und → Johanna erläutert: »Ich suche den Kontrast zum Publikum. So bewege ich die Menschen, erreiche sie. Das Publikum hat einen Anspruch darauf, überrascht zu werden.« Der Befund, dass nicht alle, die sich mit ihrem Repertoire auf ihre Zuhörer einstellen, dies rein aus Gründen der Gewinnsteigerung tun, wird gestützt durch die Ergebnisse zu Frage 8.3: Spiegelt dein Repertoire deinen eigenen Musikgeschmack wider? Hierauf antworteten 73 von 89 Interviewten und damit die Mehrheit mit Ja (82 %), vgl. Tabelle 17. Neunmal wurde die Frage verneint (10,1 %), siebenmal (7,9 %) wurden Einschränkungen gemacht, etwa von → Akira, der sagt: »Not necessarily. I make sure to make enough money.« Dieses Resultat zeigt, dass sich Straßenmusiker im allgemeinen gut mit der von ihnen gespielten Musik identifizieren und diese durchaus nicht allein nach Gesichtspunkten der Publikumswirksamkeit auswählen. Die meisten berücksichtigen dabei ihre persönlichen Vorlieben. Fast alle, die nur mit Einschränkung bejaht bzw. mit
348 | S TRASSENMUSIK IN B ERLIN: E RGEBNISSE UND ANALYSE
Nein geantwortet haben, nennen gleichzeitig Geld als Haupt- oder weiteres Motiv, etwa → Mitsuhiro, → Victor oder die Bands → Everbrass und → What a Mess. Ein Teil davon stimmt mit denjenigen überein, die auch angeben, prinzipiell oder teilweise ungern Straßenmusik zu machen, darunter → Akira, → Jannis, → Seanín und → Zoreslaw. Hier scheint das Repertoire primär aufgrund strategischer Überlegungen festgelegt zu werden, während individuelle Belange in den Hintergrund treten. Tabelle 17: Spiegelt dein Repertoire deinen eigenen Musikgeschmack wider? (n=89) Repertoire=Geschmack? Häufigkeit Prozent Ja
73
82,0
Teils, teils
7
7,9
Nein
9
10,1
Summe
89
100
5.12 AUFTRITTSORTE Für einige Straßenmusiker stellt auch die Wahl des bzw. der konkreten Auftrittsorte im Stadtgebiet eine strategische Entscheidung dar – z. B. aus Gründen der Verdienstmöglichkeiten oder anderer verschieden gelagerter persönlicher Präferenzen. Dabei werden bestimmte Orte bevorzugt, andere gemieden. Ein weiteres Ergebnis aus der Befragung (insbesondere Frage 10) zusammen mit meinen Beobachtungen ist die alphabetische Auflistung von 59 Stätten, an denen in Berlin Straßenmusik stattfindet, in Tabelle 18. Diese bilden ein Netz, das vor allem die Innenstadt mit dem S-Bahnring als Grenze dicht durchzieht, sich aber nicht darauf beschränkt, wie Abbildung 157 visualisiert. Immerhin 8 von 59 erfassten Stellen (13,6 %) sind in den äußeren Stadtbereichen zu finden. Die Ballungsgebiete liegen hauptsächlich in den Bezirken Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg. Auch Charlottenburg-Wilmersdorf und Pankow bieten jeweils einige Auftrittsorte. Die Zahlen an den Markierungen korrespondieren mit der Numerierung in Tabelle 18. Diese enthält überdies neben dem jeweiligen Stadtteil zu den meisten Lokalitäten zusätzliche Angaben, die einerseits die von Straßenmusikern genutzten Stellen genauer eingrenzen und andererseits gegebenenfalls Informationen über zeitliche Besonderheiten geben. Mit einem Stern sind solche Plätze gekennzeichnet, an denen es über einen längeren Zeitraum wiederholt zu Konflikten zwischen Straßenmusikern und Anrainern gekommen ist, vgl. auch Abschnitt 5.13. Unterhalb der durchnumerierten Aufzählung wird zusammenfassend sowohl auf die hier nicht differenzierten anderen Raumkategorien als auch auf die saisongebundenen Weihnachtsmärkte und auf die Fußgängerzone in der Brandenburger Straße in Potsdam hingewiesen, die von einigen in Berlin tätigen Straßenmusikern ebenfalls gerne aufgesucht wird. Die beiden Darstellungen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, zumal sich die Attraktivität bestimmter Orte in Abhängigkeit von der der Zeit verändern kann. Passantenströme, Fahrgastaufkommen und die Besucherzahlen in Cafés und Restaurants variieren je nach Tageszeit. Draußen spielt überdies das aktuelle Wetter
A UFTRITTSORTE | 349
eine wichtige Rolle. Kurzfristig können beispielsweise Baustellen, Umleitungen, Großveranstaltungen und ähnliche Ereignisse bestimmte Orte für die Ausübung von Straßenmusik ungeeignet machen oder im Gegenteil temporär für günstige Umstände sorgen. Über den Jahresrhythmus hinweg betrachtet schwankt die Beliebtheit ganzer Raumkategorien. Plätze im Freien werden im Sommer stark von Straßenmusikern frequentiert, im Winter dagegen von den meisten gemieden. 456 Das Gegenteil trifft bedingt auf die innen gelegenen Spielgelegenheiten zu. Nach Angaben der BVG steigt die Zahl der ausgegebenen Lizenzen für das Spielen auf U-Bahnhöfen im Winter und besonders zur Adventszeit stark an. 457 Während der warmen Monate werden vor allem die Außenbereiche von Lokalen bespielt, winters verlagert sich dort praktisch der gesamte Betrieb inklusive spontaner musikalischer Darbietungen nach drinnen. Einige der in Gaststätten aktiven Künstler machen dann allerdings Winterpause wie die Band → What a Mess. Auf einer größeren Zeitskala spielen Prozesse der Stadtentwicklung eine Rolle. Vor wenigen Jahren noch war etwa der Zug aus Kurfürstendamm, Breitscheidplatz und Tauentzienstraße bei Straßenmusikern in Berlin sehr beliebt. Doch seit die City West nur noch eines unter mehreren Hauptgeschäftszentren in Berlin ist, hat sich auch der Wirkbereich von Straßenmusikern in Richtung der geographischen Mitte der wiedervereinten Stadt verschoben. Die in einigen Stadtteilen wie Prenzlauer Berg und Friedrichshain stattfindende Gentrifizierung kann sich auf die Akzeptanz von Straßenmusik unter den Bewohnern auswirken.458 Tabelle 18: Auftrittsorte von Straßenmusikern in Berlin (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) Nr.
Ort
Stadtteil
zusätzliche Angaben
1
Admiralbrücke*
Kreuzberg
–
2
Akazienstraße
Schöneberg
3
Alexanderplatz
Mitte
4
Alt-Köpenick
Köpenick
5
Altstadt Spandau
Spandau
6
Alt-Tegel
Reinickendorf
7 8 9 10 11 12
Am Kupfergraben Bahnhof Friedrichstraße Bebelplatz Bergmannstraße Boxhagener Platz* Brandenburger Tor
Mitte
über Goltzstr. u. Winterfeldtpl. bis Nollendorfpl.; v. a. Lokale auch unter Bahnviadukt über Rathausstr. u. Rathausstr., Ecke Gontardstr. Fußgängerbereich inkl. Grünstr. Fußgängerzone, v. a. Carl-Schurz-Str., Markt, Mönchstr. Fußgängerzone inkl. Gorkistr. bis Hafen (Greenwichpromenade) inkl. Am Zeughaus bis Unter den Linden; v. a. wochenends zum Antik- und Buchmarkt
Mitte
Fußgängerbrücke zw. S-Bahnsteig u. Schiffbauerdamm
Mitte
zw. Staatsoper u. Kronprinzenpalais
Kreuzberg
zw. Mehringdamm u. Marheinekeplatz, auch Kiez wie Chamissoplatz; v. a. Lokale
Friedrichshain
sonntags zum Trödelmarkt
Mitte
insb. Pariser Platz
456 Vgl. die Ausführungen in Abschnitt 5.11.2. 457 Vgl. Abschnitt 2.5.3. 458 Vgl. Gröschner 2012.
350 | S TRASSENMUSIK IN B ERLIN: E RGEBNISSE UND ANALYSE Nr.
Ort
Stadtteil
zusätzliche Angaben
13
Breitscheidplatz
Charlottenburg
um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, vor dem Weltkugelbrunnen (Wasserklops)
14
Bundeskanzleramt
Tiergarten
Platz zw. Bundeskanzleramt u. Paul-Löbe-Haus
15
Crellestraße
Schöneberg
v. a. Lokale
16
East Side Gallery
Friedrichshain
Mühlenstraße
17
Friedrichstraße
Mitte
insb. zw. Bhf. u. Kulturkaufhaus Dussmann
Mitte
–
18 19 20 21
Gendarmenmarkt Görlitzer Bahnhof Graefestraßenkiez Hackescher Markt
Kreuzberg Kreuzberg Mitte
Lausitzer Platz, Spreewaldplatz, Wiener Str., Görlitzer Park, Görlitzer Str.; v. a. Lokale zw. Planufer u. Urbanstr. inkl. Böckhstr., Dieffenbachstr., Grimmstr.; v. a. Lokale insb. Neue Promenade, Am Zwirngraben, östl. u. westl. Treppenaufgang zur S-Bahn
22
Hasenheide
Kreuzberg
Volkspark
23
Hermannplatz
Kreuzberg
–
24
HolocaustMahnmal
Mitte
zw. Ebertstr. u. Cora-Berliner-Str.
25
Kastanienallee
Prenzlauer Berg
26
Kollwitzplatz
Prenzlauer Berg
Kurfürstendamm Kurt-Schumacher-Platz
Wilmersdorf, Charlottenburg
inkl. umgebender Kiez mit Oderberger Str., Schwedter Str., Zionskirchplatz; v. a. Lokale inkl. Kiez mit Kollwitzstr., Knaackstr., Rykestr. etc.; v. a. Lokale insb. zw. Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche u. Uhlandstr.
Reinickendorf
vor dem Einkaufszentrum
29
Mauerpark*
Prenzlauer Berg
v. a. wochenends u. während des Flohmarkts sonntags
30
Maybachufer
Neukölln
31
Monbijoupark
Mitte
32
Museumsinsel
Mitte
33
Neptunbrunnen
Mitte
insb. Verbindungsweg zur Karl-Liebknecht-Str.
34
Nikolaiviertel
Mitte
–
35
Nollendorfplatz
Schöneberg
vor dem südl. Eingang zum U-Bhf.
Oberbaumbrücke Oranienburger Straße
Friedrichshain, Kreuzberg
–
Mitte
auch Auguststr. u. Linienstr.; v. a. Lokale
38
Oranienstraße
Kreuzberg
v. a. Lokale am Heinrichpl. u. Oranienpl.
39
Philharmonie
Tiergarten
i. d. R. nur abends nach Konzerten vor dem Ausgang
40
Planufer
Kreuzberg
v. a. Lokale
41
Mitte, Potsdamer Platz Tiergarten
–
42
Residenzstraße
vor der Markthalle
27 28
36 37
Reinickendorf
Wochenmarkt freitags, Stoffmarkt samstags, Flohmarkt sonntags; auch Lokale zw. Kottbusser Brücke u. Pannierstr. insb. Spreepromenade und Fußgängertunnel zum James-Simon-Park unter Bahnviadukt insb. Lustgarten, Kolonnaden v. d. Alten Nationalgalerie, Schloßplatz, Spreebrücken: Friedrichs-, Monbijou- u. Eiserne Brücke
A UFTRITTSORTE | 351 Nr.
Ort
Stadtteil
43
Savignyplatz
Charlottenburg
44
Schlesisches Tor Kreuzberg
45
Schloßstraße
Charlottenburg
46
Schloßstraße
Steglitz
47 48
Schönhauser Allee Simon-DachStraßen-Kiez
Prenzlauer Berg Friedrichshain
zusätzliche Angaben auch Umgebung wie Knesebeckstr., Schlüterstr. u. Bleibtreustr.; v. a. Lokale um den U-Bahnhof und unter dem Viadukt; v. a. wochenends abends v. a. Lokale im Klausenerplatzkiez zw. Schloßstr. u. Sophie-Charlotten-Str. zw. Friedrich-Wilhelm-Platz u. Rathaus Steglitz Mittelstreifen am U-Bhf. unter Hochbahnviadukt, vor Einkaufszentrum, Durchgang zur S-Bahn v. a. Lokale im Bereich zw. Revaler Str. u. Boxhagener Str.
49
Sonntagstraße
Friedrichshain
Sackgasse am Bahnhof Ostkreuz
50
Südstern
Kreuzberg
v. a. Lokale entlang Körtestr. bis einschließlich Grimmstr.
51
Tauentzienstraße
Schöneberg, Charlottenburg
–
52
Tiergarten
Tiergarten
v. a. entlang dem Bahnviadukt zw. Hardenbergplatz u. Tiergartenufer am Landwehrkanal
53
Treptower Park
Treptow
v. a. zw. S-Bhf. u. Anlegestelle Fahrgastschifffahrt
54
Unter den Linden
Mitte
Mittelstreifen u. Lokale
55
Wannsee
Zehlendorf
v. a. Lokale am See
Friedrichshain
von der Stralauer Allee über U-Bhf. Warschauer Str. bis zur Revaler Str., v. a. abends/nachts/wochenends
Charlottenburg
Fußgängerzone
Kreuzberg
v. a. Lokale zw. Görlitzer Str. u. Schlesische Str.
Zehlendorf
entlang Teltower Damm bis S-Bhf. Zehlendorf
56 57 58 59
Warschauer Brücke Wilmersdorfer Straße Wrangelstraßenkiez Zehlendorf Eiche
u. a. Kreuzberg, Prenzlauer Berg, Friedrichshain, Wilmersdorf, Schöneberg, Friedenau z. B. Schloss Charlottenburg, Rotes Rathaus, Schloßplatz, Gendarmenmarkt, Gedächtniskirche; zur Adventszeit
Wohngegenden Weihnachtsmärkte U-Bahnhöfe
ca. 50 U-Bahnhöfe, vgl. Abschnitt 2.5.3
S-Bahnhöfe
z. B. Charlottenburg, Hackescher Markt, vgl. Abschnitt 2.5.4
U- und SBahnen Potsdam: Brandenburger Straße
v. a. innerhalb des S-Bahn-Rings inkl. Ringbahn Fußgängerzone
*: Problemstellen mit wiederholten Konflikten, vgl. Abschnitt 5.13
352 | S TRASSENMUSIK IN B ERLIN: E RGEBNISSE UND ANALYSE
Abbildung 157: Orte, an denen in Berlin Straßenmusik stattfindet, sind über das gesamte Stadtgebiet verteilt.459
Entsprechend den beschriebenen Abhängigkeiten sind manche der aufgeführten Örtlichkeiten regelmäßig stark von Straßenmusikern frequentiert wie der Mauerpark, die Wilmersdorfer Straße, der Alexanderplatz und die Museumsinsel. Während sich die einen fast ununterbrochen großer Beliebtheit erfreuen, so etwa der Hackesche Markt, gibt es auch solche, die die Straßenmusik betreffend nur zu gewissen Zeiten zum Leben erwachen: der Boxhagener Platz zum sonntäglichen Trödelmarkt, die Warschauer Brücke abends und nachts an den Wochenenden, wenn die Nachtschwärmer zu Tausenden unterwegs sind, und die Ausgehkieze wie die Simon-Dach-Straße oder 459 Kartenmaterial: Maximilian Dörrbecker, Wikimedia Commons, lizenziert unter Creative Commons-Lizenz by-sa-2. 5, URL: http://creativecommons. org/licenses/by-sa/2. 5/legalco de. Bearbeitet von Mark Nowakowski.
A UFTRITTSORTE | 353
der Kollwitzplatz tendenziell in den Abendstunden, wenn die Lokale gut besucht sind. Andere Orte hingegen werden nur sporadisch bespielt wie die Residenzstraße oder gelten als Geheimtipp wie die Akazienstraße und die Ausflugslokale am Wannsee. Auffällig ist, dass an vielen der besonders begehrten – und in der Praxis auch genutzten – Stellen in Berlin Straßenmusik offiziell nicht gestattet ist, vgl. Abbildung 165 in Anhang 3. Prinzipiell eignen sich neben den erfassten noch viele weitere Plätze in Berlin für Straßenmusik – und werden auch dafür genutzt. So wurde mir etwa im Nachgang meiner Feldstudie von einem Musiker berichtet, der regelmäßig vor dem Einkaufszentrum am S- und U-Bahnhof Frankfurter Allee auftreten soll. Winfried Völlger beschreibt, dass bevorzugte Stellen für Straßenmusik zumeist einen Kompromiss aus den drei wichtigsten Kriterien für gute Positionen darstellten. Diese seien ein hohes Passantenaufkommen, Freiheit von rechtlichen Einschränkungen sowie gute akustische Randbedingungen.460 Im Rahmen der Feldforschung, die der vorliegenden Arbeit zugrunde liegt, wurden die interviewten Straßenmusiker nicht explizit nach den Kriterien für ihre Standortwahl gefragt. Dennoch gaben 37 Musiker und Gruppen vor allem auf die Fragen 10 und 10.1 spontan teils mehrere Begründungen für ihre Präferenz bzw. Ablehnung bestimmter Orte oder Raumkategorien an, die in Tabelle 19 zusammengefasst sind. Dabei werden ganz unterschiedliche Aspekte berührt. Die absolute Häufigkeit der Nennungen erscheint in diesem Falle nachrangig, da davon auszugehen ist, dass viele Personen, die ihre Angaben nicht begründet haben, und ebenso solche, die nicht an der Befragung teilgenommen haben, dem einen oder anderen Punkt zustimmen würden. Meine Beobachtungen stützen diese Annahme. So bevorzugt explizit nur die Band → Rupert’s Kitchen Orchestra touristische Orte. Um solche handelt es sich aber eindeutig bei den meisten der stark von Straßenmusikern frequentierten Stellen zumindest im Bezirk Mitte. Der Gendarmenmarkt, der Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor und die Museumsinsel gehören ohne Frage zu den touristischen Brennpunkten Berlins. Auch der Mauerpark oder der Simon-Dach-Straßen-Kiez werden in jedem seriösen Reiseführer erwähnt. Mehrere Musiker gaben andererseits an, gezielt Orte aufzusuchen, an denen primär Einheimische unterwegs sind. Aus diesem Grund bevorzugt etwa → Changa die Schönhauser Allee, denn »locals appreciate more«. → Stephan ist gerne in der Altstadt Spandau oder in Alt-Tegel, weil das ältere Publikum dort ihm und seiner Musik mehr Sympathie entgegenbringt. Auch → Segal freut sich, wenn in Spandau die Leute stehenbleiben und ihn grüßen, weil sie ihn kennen. Das höhere Aufkommen von Familien mit Kindern nennen → Not Called Jinx als einen Grund, in der Wilmersdorfer Straße aufzutreten. Die Treffpunkte der Partyszene bilden eine dritte Gruppe, die explizit nur von → Sebastian als tags und nachts aktive Orte benannt werden, sich aber offensichtlich bei mehr Musikern großer Beliebtheit erfreuen. Dazu gehören nicht nur der Mauerpark oder die Admiralbrücke, sondern insbesondere auch die Warschauer Brücke sowie die Szenekieze in Kreuzberg, Friedrichshain und Prenzlauer Berg. Diese Kategorien von Orten mit unterschiedlichem Publikum bieten Raum für verschiedene Strategien, da jedes Publikum tendenziell andere Präferenzen hat und 460 Vgl. Völlger 2009: 5 f. (Kapitel 4: Vorzügliche Positionen).
354 | S TRASSENMUSIK IN B ERLIN: E RGEBNISSE UND ANALYSE
somit auf bestimmte Eigenschaften besser anspricht als auf andere. Touristen am Gendarmenmarkt freuen sich evtl. über ein Foto mit einem stilecht gekleideten Berliner Leierkastenmann wie → Orgelmanne im historischen Ambiente. Ältere Menschen, zumal einheimische, haben hingegen mehr Verständnis für deutsche Texte, wie sie → Stephan im Repertoire hat. Und junge Leute auf dem Weg in den Nachtclub – oder auf dem Heimweg – schätzen möglicherweise → Sebastians ungewöhnliche Performance auf seinem Tridgeridoo. Tabelle 19: Begründungen für die Präferenz bzw. Ablehnung bestimmter Orte und Raumkategorien (n=37) Begründungen für bestimmte Ortswahl
Häufigkeit
Ich/wir bevorzuge/n Orte mit vielen Passanten/Leuten
9
Fußgängerzonen; Orte mit vielen Einheimischen/ Familien und Kindern/wenig Touristen
6
touristische Orte
1
Orte mit gemischtem Publikum
1
tags und nachts aktive Orte
1
ruhige/nicht zu laute Orte
5
Orte mit Geschichte/Symbolbedeutung
3
romantische Orte
1
Orte mit guter Akustik
1
vor Witterung geschützte Orte
1
Ich/wir meide/n Yuppie-Orte; Orte des Kommerz/Kapitalismus
3
Orte mit zu vielen Menschen; zu große Plätze
2
Orte, an denen ich andere störe/mich aufdränge
5
Orte, an denen die Leute nicht entkommen können
2
U- und S-Bahnen (zu nah am Betteln)
1
U-Bahnhöfe (Lizenz zu kompliziert/teuer)
2
Orte, an denen man eine Spielerlaubnis braucht
1
Innenräume (deprimierend)
1
Tunnelstrecken in S- u. U-Bahn (für Sänger schwierig)
3
Orte mit vielen Betrunkenen (stören)
2
Orte, an denen Roma sind (sind aggressiv)
1
Summe
52
In Tabelle 19 spiegeln sich zahlreiche, teils gegensätzliche individuelle Belange wider. Während manche Straßenmusiker Orte mit vielen Passanten bzw. Leuten bevorzugen, suchen sich andere gerade solche Stellen aus, die eher ruhig und nicht zu laut
A UFTRITTSORTE | 355
sind. Die einen wie → Minsk Acapella treten gerne in Fußgängerzonen auf, → Naji oder → Suchy meiden genau diese Orte des Kommerz und Kapitalismus. → Felicitas sucht sich romantische Plätze, an denen sie sich mit ihrer Harfe passend wähnt. Das Streichertrio → Garchsurmach legt Wert auf gute Akustik und → Bruno mit seiner Geige auf Schutz vor Witterung. Betrunkene werden von → Jaron und → Mitsuhiro als Grund angeführt, den Spielort zu wechseln, weil diese häufig als störend oder übergriffig erlebt werden. Im Kontext anderer Fragen äußerten weitere wie → Anatoli und → Stephan ihren Unmut über diese Gruppe. Und → Tibor meidet nach schlechten Erfahrungen Gegenden wie die Museumsinsel, in denen viele Roma spielen.461 Diejenigen, die in den Zügen der S- und U-Bahn auch singen, beschränken sich dabei auf oberirdische Streckenabschnitte, weil die Geräuschentwicklung in den Tunneln stellenweise groß ist. Das trifft auf → Bernd, → Kevin und → Michel zu. Für → Jannis, der für seine Mundharmonika einen kleinen Verstärker im Rucksack mit sich trägt, gilt diese Einschränkung nicht. Einige der genannten Begründungen schließen praktisch bestimmte Raumkategorien ausdrücklich oder indirekt aus. → Seanín ist das Musizieren im öffentlichen Personennahverkehr zu nahe am Betteln, die Mitglieder von → The Benka Boradovsky Bordello Band sagen, die Formalitäten für die Musikgenehmigungen in den UBahnhöfen seien ihnen zu kompliziert und außerdem seien sie nicht willens, für die Erlaubnis zu bezahlen. Auch → Atze Wellblech meiden prinzipiell Orte, an denen man eine Spielerlaubnis braucht. Der Kontrabassist → Akira findet es deprimierend, drinnen Musik zu machen, und meidet dementsprechend Bahnhöfe und Züge. Musiker wie → Jaron, der sich niemandem aufdrängen will, halten sich prinzipiell fern von Stellen, an denen die Gefahr hoch ist, dass sie andere stören könnten, so auch → Ilja, → Stephan und die Band → Ginger Brown. → Gal sagt, es kämen für ihn keine Orte in Betracht »where I would bother people«. Damit und mit »places where peolpe cannot escape«, wie es → Mr. Paul ausdrückt, sind insbesondere Lokale sowie U- und S-Bahnen gemeint. Während meiner Feldforschung fiel mir auf, dass sich an bestimmten Stellen kaum osteuropäische Straßenmusiker finden. Dazu gehören der Mauerpark, der Boxhagener Platz und die Warschauer Brücke, also Plätze mit tendenziell jungem oder alternativ eingestelltem Publikum. Stattdessen ist hier der Anteil solcher Musiker und Gruppen deutlich höher, die mit einem individuell gestalteten Programm aus eigenen Stücken und Improvisationen auftreten. Dieses beobachtete Muster hängt möglicherweise mit der verstärkten Ausrichtung auf eher konservative Repertoires unter Osteuropäern zusammen, auf die in Abschnitt 5.6 hingewiesen wurde. An den genannten Orten erfahren hingegen ungewöhnliche Darbietungen eine besondere Wertschätzung. Der vorgefundene und in diesem Abschnitt dokumentierte Reichtum an Spielstätten für Straßenmusik innerhalb des Berliner Stadtgebiets kann sicherlich als außerordentlich gelten. Es gibt hier nicht nur ausreichend Platz für die große Menge in Berlin aktiver Straßenmusiker. Durch die Vielfalt an Lokalitäten mit ganz unterschied461 Vgl. Abschnitt 5.13, Tabelle 23.
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lich Eigenschaften und charakteristischen Merkmalen bieten sich außerdem Nischen für fast alle individuellen Bedürfnisse und Vorlieben.
5.13 BERLIN : EIN ORT FÜR STRASSENMUSIK ? In Hannover, Freiburg, Paris, New York oder Osaka findet ebenfalls Straßenmusik statt. Bestimmte Charakteristika Berlins, die dieses Feld tangieren, wurden bereits an anderer Stelle herausgearbeitet, vgl. z. B. die Abschnitte 2.4, 2.5 und 5.12. Doch was zeichnet Berlin aus der Perspektive von Straßenmusikern vor anderen Städten als Ort für Straßenmusik aus? Welche Merkmale machen die deutsche Hauptstadt interessant – oder unattraktiv? Die Antworten auf die Interviewfrage 4.4 geben hier genaueren Aufschluss. Aus den Angaben, die die Künstler zu Frage 4.3 (In welchen Ländern/Orten hast du sonst gespielt?) machten, ließ sich zunächst ableiten, dass 68 von 95 Interviewten oder 71,6 Prozent bereits über Erfahrung mit Straßenmusik an Orten außerhalb Berlins verfügen. 27 haben noch nirgendwo sonst Straßenmusik gemacht, vgl. Tabelle 20. Tabelle 20: Anzahl Berliner Straßenmusiker, die schon an anderen Orten Straßenmusik gemacht haben (n=95) Woanders gespielt? Häufigkeit Prozent Ja
68
71,6
Nein
27
28,4
Summe
95
100
Von denen, die sich auch außerhalb betätigt hatten, waren zehn der Ansicht, Berlin unterscheide sich nicht wesentlich von den anderen Orten, an denen sie öffentlich musiziert hatten. 52 Musiker machten insgesamt 100 Angaben zu den Unterschieden, die sie wahrnehmen. Diese sind in Tabelle 21 zusammengefasst. Neben der Häufigkeit der Antworten in den einzelnen Kategorien ist jeweils angegeben, ob die genannten Merkmale eher positiv (+) oder negativ (-) bewertet werden. Es liegt auf der Hand, dass die Erfahrungen von zahlreichen Faktoren beeinflusst sind, etwa von den Plätzen, die die Künstler in Berlin zum Musizieren aufsuchen. Wer z. B. nur auf der Museumsinsel gespielt hat, ist mit großer Wahrscheinlichkeit vielen Touristen begegnet. An anderen Orten wie der Wilmersdorfer Straße könnte sich dieser Eindruck hingegen relativieren. Auch, wo sonst schon gespielt wurde, ist von Belang: Musiker, die in Polen Straßenmusik gemacht haben, verdienen in Berlin tendenziell mehr Geld damit. Wer in Süddeutschland oder der Schweiz war, für den gilt das Gegenteil. So erklären sich die teils widersprüchlichen Aussagen. Die positiven Eigenschaften Berlins überwiegen mit 70 zu 30 Nennungen. Die Straßenmusiker berichten, dass sie hier mehr Geld und Anerkennung erhielten und ihnen die Menschen viel Aufmerksamkeit und Interesse entgegenbrächten (zusammen 13 Nennungen). Dass es viel gemischtes Publikum mit vielen Touristen gibt, fiel sechs Musikern angenehm auf. Ebenfalls sechs heben die zahlreichen für Straßenmusik geeigneten Orte in Berlin hervor, vgl. Abschnitt 5.12. Die Stadt wird insgesamt
B ERLIN: E IN O RT FÜR S TRASSENMUSIK ? | 357
als international (3), offen (5), liberal und tolerant (8) wahrgenommen. Als straßenmusikfreundlich, wundervoll, magisch, kreativ wird sie 12-mal charakterisiert. Allerdings sind die Musiker der Band → Rupert’s Kitchen Orchestra der Ansicht, dass Berlin – ähnlich wie Hamburg – »langsam straßenmusikfeindlicher« wird. Auch → Armin sagt, im Zuge der Gentrifizierung habe sich in den letzten zehn Jahren sein Publikum verändert, und es gebe mittlerweile deutlich mehr Lärmbeschwerden als früher. Noch finden jedoch acht Künstler und Gruppen die Atmosphäre entspannt (8), und besonders der Mauerpark wurde als freies, geschütztes Paradies bezeichnet, in dem ewig Sonntag sei. Die vorgenannten Attribute drücken sich neben allgemein wenig Ärger und einem freundlichen Umgang der Polizei mit Straßenmusikern (5) in der Unkompliziertheit aus, mit der man in Berlin – größtenteils ohne extra Genehmigung – Straßenmusik machen kann (5). Den letztgenannten Punkt sieht dagegen Nilton von → Huiñaumanta nicht nur positiv, denn das Fehlen eindeutiger Regelungen ebnet seiner Erfahrung nach auch den Weg für willkürliche Entscheidungen von Polizei und Ordnungsämtern. Tabelle 21: Wie unterscheidet sich Berlin die Straßenmusik betreffend von anderen Orten? (n=52) Wie unterscheidet sich Berlin von anderen Orten?
Häufigkeit Bewertung
mehr Geld als anderswo
4
+
viel Aufmerksamkeit; Interesse; Anerkennung
9
+
viel/gemischtes Publikum/Touristen
6
+
international
3
+
offen
5
+
liberal; tolerant
8
+
freundliche Polizei; wenig Ärger
5
+
Unkompliziertheit; Spielen ohne Genehmigung
5
+/-
8
+
12
+
viele geeignete Orte
6
+
wenig Geld/Anerkennung
5
-
Leute genervt/gereizt/schwer zu animieren
6
-
viel Wettbewerb/Konkurrenz
5
-
anonym; laut und schnell; robotisch
5
-
arm; dreckig
2
-
keine zentrale Einkaufsstraße; wenig Fußgängerzonen
6
-
entspannt; laid back; »eternal Sunday«; Paralleluniversum; Mauerpark frei, geschützt, Paradies viel Straßenmusik; kreativ; leichter als anderswo; freundlich; viele Cafés
Summe
100
Summe +
70
Summe -
30
358 | S TRASSENMUSIK IN B ERLIN: E RGEBNISSE UND ANALYSE
Fünf Künstler haben andernorts mehr Geld und Anerkennung geerntet als in Berlin. Sowohl → Akira als auch → Atze Wellblech berichten von besseren Verdiensten in Potsdam. Sechs halten das Berliner Publikum für schwierig, weil sie die Leute als genervt, gereizt bzw. schwer zu animieren erleben. → Kimanistar sagt, hier herrsche ein rauherer Umgangston als in New York, die Berliner würden schneller ausfallend. Doch → Naji relativiert: Er findet zwar, die Menschen hier hätten ein schlechtes Bild von Straßenmusikern, doch insgesamt sei Berlin in Deutschland »die Nummer Eins«. Weitere fünf spüren in der Stadt einen höheren Wettbewerbs- oder Konkurrenzdruck als anderswo. Fünfmal wird die Atmosphäre in Berlin als anonym, laut und schnell bzw. robotisch beschrieben. Zwei bezeichnen die Stadt als arm und dreckig. Und sechs Musiker bzw. Gruppen bemängeln, dass es hier keine zentrale Einkaufsstraße bzw. überhaupt wenig Fußgängerzonen gebe. Zu Frage 20 gaben 38 von 87 Straßenmusikern und Ensembles an, sie hätten in Berlin bereits unangenehme Erfahrungen mit Behördenmitarbeitern, Ladenbesitzern, Anwohnern und anderen Gruppen gemacht, vgl. Tabelle 22. Das entspricht einem Anteil von 43,7 Prozent derjenigen, die geantwortet haben. Tabelle 22: Hast du irgendwelche negativen Erfahrungen gemacht? (n=87) Negative Erfahrungen? Häufigkeit Prozent Ja
38
43,7
Nein
49
56,3
Summe
87
100
In Tabelle 23 sind diejenigen Gruppen angegeben, mit denen Straßenmusiker in Berlin negative Erfahrungen verbinden. Mit 12-mal am häufigsten wurden Probleme mit Anwohnern und Ladenbesitzern bzw. Bedienpersonal in Gaststätten genannt. In elf Fällen kam es zum Einschreiten der Polizei. Gleichzeitig heben insgesamt neun Künstler unter Frage 20 oder an anderer Stelle ausdrücklich ihre guten Erfahrungen mit der Berliner Polizei und den Vertretern der Ordnungsämter hervor, die zumeist besonnen und freundlich reagieren. Die Band → What a Mess berichtet, sie hätte sogar schon einmal Kleingeld von einem Streifenpolizisten bekommen. Und → Gal wurde beim Spielen von Polizisten mit einem heißen Kaffee versorgt. Übereinstimmend sagen fast alle in Nahverkehrszügen tätigen Musiker, dass sie vor allem Probleme mit den Sicherheitsdiensten in den U- und S-Bahnen hätten (4 Nennungen). → Bernd, → Jannis und → Kevin sprechen von einem mitunter unfreundlichen Ton bis hin zu beleidigenden Äußerungen und Schikanen – abgesehen von Betretungsund Hausverboten sowie Anzeigen. Die Polizei wird auch von diesen Musikern als meist höflich und korrekt wahrgenommen. Mit Betrunkenen und Bettlern haben neun der Befragten schlechte Erfahrungen gemacht, weil diese oft die Darbietungen stören oder sich aggressiv verhalten. Drei Musiker waren schon mit Ausländerfeindlichkeit konfrontiert. Auffällig ist, dass sieben Künstler von sich aus musizierende Roma und damit andere Straßenmusiker als problematisch schildern. Während es allgemein – auch aufgrund des großen Platzangebotes – wenig Wettbewerb und Konkurrenz unter Ber-
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liner Straßenmusikern gibt, werden die Roma vermehrt als unfaire Akteure betrachtet. → Michel spricht von einer »Zigeunerflut« in den letzten Jahren, durch die zunehmend andere Musiker aus den U-Bahnen verdrängt würden. Mit ihnen sei es schwer zu kommunizieren, da sie rücksichtslos nach dem Motto handelten: »Ich nehm’ dir den Wagen weg und fertig.« → Alejandro berichtet von Romamusikern in der S-Bahn, die aggressiv auftraten, direkt neben ihm zu spielen begannen, ihn bespuckten und im Bahnhof aus dem Wagen schubsten. Auch → Armin bezeichnet diese Gruppe als »oft respektlos, mit schlechten Manieren«. Die Harfenistin → Felicitas wurde von einem Jungen mit Akkordeon rabiat von der Friedrichsbrücke vertrieben. Dem Streichertrio → Garchsurmach wurde von Romajungs Geld aus ihrem Spendengefäß gestohlen. Und → Tibor meidet mittlerweile die Museumsinsel, nachdem es z. B. vorkam, dass, während er spielte, ein Rom sich dreist neben ihn stellte und anfing ihn mit seinem Akkordeon zu übertönen, bis er aufgab. Tabelle 23: Gruppen, mit denen Straßenmusiker in Berlin negative Erfahrungen gemacht haben In Berlin negative Erfahrungen mit
Häufigkeit
Anwohner; Ladenbesitzer
12
Polizei; Ordnungsamt
11
Sicherheitsdienst BVG/S-Bahn
4
Betrunkene; Penner; Bettler
9
Roma
7
Ausländerfeindlichkeit
3
Positive Erfahrungen m. Polizei/OA
9
Ihre Angaben zu Frage 20 ergänzten viele im Interview durch die Bemerkung, es handele sich bei den negativen Erlebnissen um Einzelfälle oder eigentlich seltene Ereignisse. Oft sind die Erfahrungen nicht wirklich schlecht und beschränken sich auf die Bitte, den Ort zu wechseln. Situativ auftretende Probleme werden meist kommunikativ im Dialog geregelt. Die Musiker der Band → Rupert’s Kitchen Orchestra sagen beispielsweise, sie hätten nie Probleme, denn: »Mit Reden kommt man weiter.« Allerdings berichten → Naji und die Gruppen → Huiñaumanta und → Wayra auch von wiederholten Schikanen der Polizei und des Ordnungsamtes. Und einige Straßenmusiker geraten regelmäßig mit anderen Gruppen wie Anwohnern und Lokalbesitzern in Konflikt, weil sie bestimmte Orte und Zeiten bevorzugen oder besonders laut sind wie → Sebastian (»almost every night«) und die Blaskapelle → Fanfara Kalashnikov. An einigen Stellen der Stadt, die besonders von Straßenmusikern frequentiert sind, kommt es immer wieder zu Konflikten vor allem mit Anwohnern, die sich von der Musik und den im Sommer teils bis tief in die Nacht feiernden Menschenmassen gestört fühlen. Dazu gehören die Admiralbrücke in Kreuzberg, der Mauerpark zwischen den Stadtteilen Prenzlauer Berg und Wedding sowie der Boxhagener Platz, wenn dort der regelmäßige sonntägliche Trödelmarkt stattfindet. Die Beschwerden richten sich dabei nicht gegen Straßenmusiker im speziellen, sondern gegen die Dauer und
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Lautstärke der spontanen Versammlungen und den Müll, der oft achtlos von den Teilnehmern zurückgelassen wird. Die Polizei wendet in diesen Fällen eine Strategie der Deeskalation an und setzt unter anderem Konfliktschlichter ein.462 Im Mauerpark wurden eine Weile lang, insbesondere in den Jahren 2011 und 2012, vermehrt Verbote und Platzverweise ausgesprochen, doch scheint sich die Lage dort seither wieder entspannt zu haben. Insgesamt zeichnet sich aus Sicht der Straßenmusiker ein positives Bild von Berlin. Es werden viele Eigenschaften mit der Stadt in Verbindung gebracht, die sie auch für andere Künstler und Kreative zu einem attraktiven Anziehungspunkt machen. Dazu gehören Internationalität, Offenheit und Toleranz, menschliche Vielfalt, die Lebendigkeit im Miteinander der Bewohner und die liberale, entspannte Atmosphäre. 463 Die Unkompliziertheit, mit der es für Straßenmusiker möglich ist, im öffentlichen Raum Berlins aufzutreten, sowie die große Zahl dazu geeigneter Stellen werden ebenfalls hervorgehoben. Auch die positiven Erfahrungen mit dem hiesigen Publikum überwiegen, vgl. Abschnitt 5.14.2. Obwohl es ferner keine zentrale Einkaufsstraße gibt und typische Nachteile großer Städte wie Anonymität und Hektik genannt werden, kann Berlin somit als ein Ort gelten, der in der Summe Vorzüge für Straßenmusiker bietet und ein interessantes Ziel für sie darstellt.
5.14 PUBLIKUMSBEZIEHUNG , WAHRNEHMUNG UND AKZEPTANZ Johann Wolfgang von Goethe stellte einst fest: »Der Witz setzt immer ein Publikum voraus. Darum kann man den Witz auch nicht bei sich behalten. Für sich allein ist man nicht witzig.«464 Analog dazu formuliert David Lederbauer: »Musik existiert nur dann, wenn sie von jemandem gehört wird, ansonsten ist sie substanzlos.«465 Das trifft auf Straßenmusik genauso, wenn nicht im besonderen zu. Musik ist kein fassbares Ding, sondern eine Aktivität, etwas, das Menschen tun und an dem Menschen teilnehmen.466 In der sozialen Interaktion erhält die Handlung, das Musikmachen, Bedeutung und Sinn. Somit ist das Publikum ein wesentlicher Bestandteil des öffentlichen Ereignisses Straßenmusik und neben den bisher betrachteten Aspekten ebenfalls von Interesse, will man ein umfassendes Verständnis für diese Auftrittskultur entwickeln. Viele der in Abschnitt 5.9 genannten Motive von Straßenmusikern hängen direkt oder indirekt mit dem Vorhandensein von Rezipienten für ihre Darbietungen zusammen.467 Die bisher identifizierten Auftrittsstrategien ergeben nur in Wechselwirkung mit Zuhörern Sinn. Das Publikum von Rock-, Pop- und Jazzmusik bzw. klassischen Konzerten ist bereits verschiedentlich ausführlich erforscht worden.468 Die Untersuchung der Beziehung zwischen Straßenmusikern und ihren Zuhörern wäre ein eigenes Unterfangen. 462 463 464 465 466 467 468
Vgl. Bebber 2010. Vgl. IHK 2014: 47. Goethe 1889: 240. Lederbauer 2009: 31. Vgl. Small 1998: 8 ff. Vgl. Tabelle 5 und Tabelle 6. Vgl. Dammann 2008: 383, Schneider 2008: 104 oder Dollase et al. 1986.
P UBLIKUMSBEZIEHUNG , WAHRNEHMUNG UND A KZEPTANZ | 361
In solchem Rahmen könnte die differenzierte Betrachtung der Rezeption und Wahrnehmung unter verschiedenen Gruppen wie Anwohnern, Geschäftsleuten Stehenbleibenden und Vorbeilaufenden weitere Hinweise auf die Relevanz dieser Kunstform für das kulturelle und gesellschaftliche Leben liefern. Die vorliegende Arbeit kann diesen Komplex nur oberflächlich streifen und gegebenenfalls als Basis für eine spätere Vertiefung dienen. Laut Gerhard Schulze ist ein Publikum »jedes Personenkollektiv […], das durch den gleichzeitigen Konsum eines bestimmten Erlebnisangebots abgegrenzt ist.«469 Bedingt durch ihren öffentlichen Charakter ist eine solche Differenzierung bei der Straßenmusik problematisch. Es bestehen deutliche Unterschiede zwischen dem – aus allen am Schauplatz vorbeikommenden Passanten bestehenden – potentiellen Publikum und dem tatsächlichen Publikum, also denjenigen aus der Menge, die sich entschließen, der Darbietung für einen Moment oder länger beizuwohnen. Die Grenze zwischen beiden Gruppen ist fließend, die Zusammensetzung des tatsächlichen Publikums fluktuiert stark. In Zügen und Lokalen können sich die Beweglichkeit betreffend die Rollen ins Gegenteil verkehren: Hier sind es die Musiker, die kommen und gehen, während die Zuhörer verhältnismäßig statisch bleiben. Das berührt deren Entscheidungsfreiheit für oder wider den Musikkonsum. Bei ihrer Fortbewegung im urbanen Raum sind Menschen einer Vielzahl von Reizen aus unterschiedlichsten Quellen ausgesetzt. Hans-Jürgen Hohm schreibt über den Fußgänger: Da er sich normalerweise in einem relativ langsamen Tempo fortbewegt, können Akteure anderer Funktionssysteme und die von deren zentralen Organisationen Exkludierten diesen öffentlichen Sozialraum zur Anknüpfung unterschiedlichster Kommunikationsofferten nutzen. Dies gilt für den Straßenverkauf, die Straßencafes, für Straßenmusik und Theater, das Betteln der Wohnungslosen, die Straßenprostitution, […] Der Fußgänger wird hier also […] kommunikativ adressiert und umworben. 470
Straßenmusiker bringen sich selbst über ihr Handeln ins öffentliche Leben ein. Gleichzeitig integrieren sie ihre Umgebung in ihr Tun und gehen mit unerwarteten Störungen oder Unterbrechungen improvisierend um – im krassen Kontrast zur Konzertsituation, in der die ungeteilte Aufmerksamkeit der Zuhörer den Künstlern sicher ist. Bei der street performance kommt dem Publikum daher eine deutlich aktivere Rolle im Geschehen zu als während eines Konzertes. Erst durch die Anwesenheit sowohl der Musiker als auch des Publikums entsteht die Bühne, und durch das direkte Feedback erhalten die Künstler Anregungen, ihre Darstellung zu optimieren.471 »Die Straße wird somit zu einem multifunktional genutzten öffentlichen Sozialraum, der sich nicht mehr allein auf die Verkehrskommunikation und ihre Orientierung an der motorisierten Transportfunktion reduzieren lässt.«472 469 470 471 472
Schulze 1992: 460. Hohm 1997: 11. Vgl. Tabelle 11 in Abschnitt 5.10.2. Hohm 1997: 10.
362 | S TRASSENMUSIK IN B ERLIN: E RGEBNISSE UND ANALYSE
Bei der Untersuchung der Beziehung zwischen Straßenmusikern und ihrem Publikum lassen sich verschiedene Perspektiven einnehmen, die in den folgenden Abschnitten betrachtet werden: Zunächst wird die von den Künstlern selbst ausgehende Kommunikation und Interaktion mit ihren potentiellen und tatsächlichen Zuhörern thematisiert. Anschließend richtet sich der Blick auf die direkten Reaktionen des Publikums auf die Darbietungen der Straßenmusiker, die letztere in ihrer täglichen Praxis erfahren. Es folgen Antworten aus der Sicht des Publikums auf Fragen der Wahrnehmung und Akzeptanz von Straßenmusik. Schließlich wird am Kriterium der Authentizität der Zusammenhang zwischen der inneren Einstellung der Künstler zu ihrem Handeln und dem Ergebnis in Form der Wirkung auf ihre Zuhörer diskutiert.
5.14.1 Musikerseitige Interaktion In erster Linie und unvermeidlich treten Straßenmusiker mit ihrem Publikum über ihr Medium, die Musik, in Kontakt. Die Art, wie sie sich dabei darstellen, sowie die Wahl des Repertoires und Musikstils sind geeignet, bestimmte Gruppen stärker anzusprechen als andere. Solche Merkmale werden zumindest von einigen strategisch eingesetzt, wie die vorstehenden Abschnitte gezeigt haben, vgl. insbesondere Tabelle 14. Darüber hinaus beantworteten 57 Musiker und Gruppen die Frage Transportierst du eine Botschaft mit deiner Musik? (Frage 8.2 im Leitfragenkatalog) positiv und äußerten sich zu den Inhalten, die sie über ihre Musik vermitteln wollen. Diese Antworten sind in Tabelle 24 zusammengefasst. Mehrfachnennungen waren möglich. In 41 Fällen wurde die Frage verneint, oder es wurden keine Angaben gemacht. 473 Damit zeigt mehr als die Hälfte der Interviewten (58,2 %) ein Interesse daran, über das Musikmachen selbst bzw. die gewählte Auftrittsform im öffentlichen Raum mit potentiellen und tatsächlichen Zuhörern zu kommunizieren. In der Mehrheit handelt es sich bei den genannten Botschaften um nonverbale Äußerungen der Lebenslust der Künstler und die Einladung an andere, sich davon anstecken zu lassen und sich von äußeren Zwängen zu befreien. Dazu gehört es, das Leben zu genießen, Musik zu machen, zu tanzen und Emotionen zuzulassen. Beispielsweise sagt → Johanna: »Ich möchte gerne zum Tanzen bewegen, was Rohes, Wildes in den Menschen wecken, dass sie den Stock in ihrem Hintern vergessen.« Viele wollen über ihr Handeln Freude und Musik in die Welt bringen, die Leute an Liebe, Vollständigkeit und Harmonie erinnern und ihnen einen Raum zum Abschalten vom Alltag, zum Zur-Ruhe-Kommen und zum bewussten Erleben des Moments anbieten. Anderen liegt die Verbreitung bestimmter Musik, Kultur, Instrumente oder Traditionen am Herzen wie → Victor, der seinem Publikum mit spanischsprachigen Liedern Latinokultur nahebringen möchte. Einige wollen zur Selbstverwirklichung ermutigen und demonstrieren, dass es möglich ist, mit dem Geld zu verdienen, was man liebt, in diesem Falle mit Straßenmusik. Neben der → Gemeinde Jesu Christi in Berlin sagt auch → Rin Tin Tin, er wolle den Glauben an Gott verbreiten. Und 473 Vgl. Tabelle 41 in Anhang 4.
P UBLIKUMSBEZIEHUNG , WAHRNEHMUNG UND A KZEPTANZ | 363
→ Kekos Botschaft lautet: »Don’t forget God. Think about God. Believe.« Politische Äußerungen stellen die Ausnahme dar: → Akiras Anliegen »Support the musicians!« kann im weiteren Sinne als solche gedeutet werden. In ihren Texten thematisieren → Atze Wellblech »viel Politisches«. Das Duo singt etwa von sozialen Kämpfen und Bauarbeitern, die nicht bezahlt werden. Für die polnische Gruppe → Rhythms of Resistance ist Straßenmusik eine Protestform unter anderem gegen Tierversuche, politische Systeme und Unterdrückung. Der Karaoke-Veranstalter → Joe hingegen hat Werbung in eigener Sache im Sinn. Seine implizite Botschaft lautet: »People can book me.« Die hier formulierten, ansonsten unausgesprochenen Botschaften ans Publikum decken sich in vielen Fällen mit den in Tabelle 5 wiedergegebenen Motiven bzw. ergänzen diese. Es zeigt sich, dass für zahlreiche Straßenmusiker eine ideelle Komponente in ihrem Handeln liegt, auch wenn teils andere, etwa finanzielle Motive vordergründig sind. Ob derlei Informationen die Zuhörer im konkreten Fall erreichen, kann im Rahmen dieser Studie nicht geklärt werden. Allerdings legen die in Tabelle 28 zusammengefassten Ergebnisse meiner Umfrage zur Wahrnehmung und Akzeptanz von Straßenmusik nahe, dass zumindest in der Summe bestimmte Qualitäten wie Inspiration, Berührung, Freiheit, gute Laune, Lebensfreude, Spontaneität sowie kulturelle und stilistische Vielfalt beim Publikum ankommen. Tabelle 24: Botschaften, die Straßenmusiker über ihre Musik vermitteln wollen (n=57) Welche Botschaften transportieren Straßenmusiker mit ihrer Musik?
Häufigkeit
Habt Spaß! / Genießt das Leben (jetzt)! / Das Leben ist schön/macht Spaß.
12
Freude/gute Laune schenken/bringen
7
Macht Musik! / Tanzt! / Seid frei! / Körpererfahrung; Emotionen; Wildheit
11
Musik in die Welt bringen; Musik ist schön.
4
Bestimmte Musik/Kultur/Instrumente/Tradition verbreiten*
9
Zeigen: Es ist mögl., mit SM/dem, was man liebt, Geld zu verdienen./Selbstverwirklichung
5
Unterstützt Musiker!
2
Abschalten vom Alltag; zur Ruhe kommen; im Moment sein
8
Liebe; Vollständigkeit; Harmonie; Zusammenhang der Dinge im Kleinen
6
Glaube an Gott/Erlösung
3
Protestform; Politisches; Anti-Krieg
3
Werbung
2
Summe
72
*: klassische/indianische/handgemachte/Blues Musik, Harfe, Drehorgeltradition, russische Texte, Latinokultur
Neben der mittelbaren Kommunikation beeinflusst die von den Künstlern ausgehende bzw. initiierte Interaktion mit ihren Zuhörern die Beziehung zwischen beiden substantiell. Das ist zumindest einigen Straßenmusikern bewusst. So sieht beispielsweise → Philipp in der Interaktion mit dem Publikum neben der Percussionbegleitung für
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seinen Partner seine Hauptaufgabe. Er animiert die Umstehenden zum Mitklatschen, -machen, -tanzen und -singen. → Jacek findet Interaktion wichtig, weil die Leute dann mehr Geld spenden. Auch → Victor weiß: »Der Erfolg des Tages hängt vom Publikum ab«, weshalb er sorgsam darauf achtet, die Aufmerksamkeit der Lokalbesucher zu gewinnen. → Changa sagt: »Talking opens people up.« Für David (→ Space Commander Hotch) ist im Rahmen seiner Performance »intense involvement« selbstverständlich, denn: »The audience is part of the show.« Und → Kimanistar ist der Auffassung: »Art is communication, not expression. One part of your performance should include the audience.« Zu Frage 19 nach der Interaktion zwischen den Straßenmusikern und ihrem Publikum äußerten sich 94 Künstler und Gruppen, vier machten keine Angaben. Mehrfachnennungen waren möglich. Die am häufigsten genannten Formen betreffen Basiskomponenten der zwischenmenschlichen Kommunikation wie Gespräche, Blickkontakt und freundliche Gesten oder den direkten Dank für Spenden und Applaus, vgl. Tabelle 25. Der 73-jährige → Drehorgel-Lothar stellt fest: »Ich rede manchmal mehr als ich spiele.« Ansagen und die direkte Ansprache der Leute sowie vielfältige Techniken der Animation werden als Mittel zur Einbeziehung der Anwesenden in die Performance eingesetzt. Dabei schließen Ansprache und Animation fast immer Ansagen mit ein, alle drei umfassen stets auch Blickkontakt und die Offenheit für Konversationen. Für die Mittelalterband → Sagax Furor etwa ist die Animation der Umstehenden zum Mitsingen und Tanzen Teil des Programms und Aufgabe des Frontmanns, den sie eine »Rampensau« nennen. Für manche gehört es dazu, sich beim Spielen auf die Menschen und die Stimmung einzulassen und darauf zu reagieren. → Suchy sagt: »Ich nehme das auf, was ich sehe, und spiele damit.« Beispielsweise improvisiert er auf seinem Saxophon über den Laufrhythmus der Passanten. Einige Künstler setzen auf eine bewusste Programmgestaltung, indem sie etwa ruhige und rhythmische Stücke in bestimmter Weise miteinander kombinieren. Drei Musiker gaben an, sie würden daran arbeiten, mehr von sich aus mit dem Publikum zu interagieren, darunter → Ilja, der von sich sagt, er sei schüchtern und kein Entertainer, und wenn es manchmal nicht klappe, dann sei es »scheiße«. Acht Künstler und die Blaskapelle → Fanfara Kalashnikov treten nicht aktiv in Kontakt mit ihren Zuhörern. → Onyx Ashanti sagt z. B.: »I need to but I’m not good at that.« Der Saxophonist → Gal meint: »I usually don’t respond to anything, do my thing, don’t look at people much.« Und → Fulya bezeichnet sich als introvertiert, ist aber dennoch offen für Gespräche. Während sich manche wie → Claudio, der sagt, er spiele mit geschlossenen Augen für sich, gegen aktive Kommunikation entscheiden, berichtet → Rainer, er habe bis vor einem Jahr zur besseren Konzentration stets mit geschlossenen Augen gespielt. Heute schaue er sich dagegen die Leute und deren Reaktionen an und suche Blickkontakt.
P UBLIKUMSBEZIEHUNG , WAHRNEHMUNG UND A KZEPTANZ | 365 Tabelle 25: Formen der musikerseitigen Interaktion mit dem Publikum (n=94) Formen der Interaktion zwischen Künstlern und Publikum Häufigkeit Gespräche; Konversation
39
Blickkontakt; Lächeln
24
Dank für Spenden/Applaus
5
Ansagen
12
direkte Ansprache; Animation*
31
(sich) auf Menschen/Stimmung einlassen/reagieren
13
bewusste Programmgestaltung (z. B. Liedfolge)
3
Informationen/Flyer verteilen
2
Ich arbeite an besserer/mehr Interaktion.
3
keine Interaktion
9
Summe
141
*: u. a. mitsingen/-klatschen/-tanzen; bewegen; Witze/Gags; Einladung mitzuspielen/-machen
Die bewusste Interaktion mit dem Publikum stellt für Straßenmusiker ein wichtiges Moment dar, um im öffentlichen Raum die zunächst diffuse Aufmerksamkeit der Passanten, die ganz anderes im Sinn haben, auf sich zu lenken. Auf diese Weise lassen sich Unbeteiligte zeitweilig ins Geschehen einbeziehen. Und von den meisten wird dieses Moment – in unterschiedlicher Ausprägung und abhängig vom individuellen Temperament – zum eigenen Vorteil genutzt. Am Beispiel von → Gal zeigt sich jedoch, dass es auch anders geht: Sein kontaktarmes Verhalten tut den zahlreichen positiven Reaktionen der Passanten auf seine Musik keinen Abbruch. Er wählt Orte wie die Monbijoubrücke, an denen die Ablenkung durch andere Reize nur gering ist, und passt sich mit seinem Spiel der Atmosphäre dieser Orte an: »I just play what feels in the right place.« Diese demütige Zurückhaltung, gepaart mit einem niveauvollen musikalischen Angebot, wird geschätzt und honoriert.
5.14.2 Publikumsreaktionen Straßenmusikern stehen, wie die Betrachtungen im vorigen Abschnitt gezeigt haben, unterschiedliche Kommunikationswege zur Verfügung, um mit ihrem Publikum direkt oder indirekt in Kontakt zu treten und dieses für sich zu interessieren. In dem öffentlichen Raum, in dem sie stattfindet, ist Straßenmusik ein partizipatives Phänomen und zeichnet sich durch einen unmittelbaren Austausch zwischen den Künstlern und ihren Zuhörern aus. Die vielfältigen Reaktionen auf die Darbietungen der Künstler reichen von begeisterter Teilnahme bis zu wüsten Beschimpfungen und sogar tätlichen Angriffen. Unter den in Tabelle 6 zusammengefassten Aspekten, die Straßenmusikern Befriedigung in ihrem Handeln geben, stellen Zuspruch, Anerkennung, Teilnahme und andere positive Rückmeldungen aus dem Publikum die am häufigsten genannte Kategorie dar. Die Gelegenheit zum direkten Publikumskontakt sowie zum Kennenlernen von
366 | S TRASSENMUSIK IN B ERLIN: E RGEBNISSE UND ANALYSE
Menschen wird zudem häufig als Motiv für Straßenmusik genannt, vgl. Tabelle 5. Dies sind Hinweise auf die Relevanz der zuhörerseitigen Reaktionen auf das musikalische Angebot für die Künstler. Zu Frage 19.1 im Interview (Wie reagiert das Publikum, wenn die Musik gefällt?) machten 89 der Befragten insgesamt 223 Angaben, die in Tabelle 26 dargestellt sind – deutlich mehr übrigens als zu Frage 19.2 nach den negativen Reaktionen, siehe Tabelle 27. In die Auswertung wurden teilweise auch Äußerungen einbezogen, die zu Frage 19 gemacht wurden, weil es hier Überschneidungen gab. Tabelle 26: Formen positiver Publikumsreaktionen (n=89) Positive Publikumsreaktionen
Häufigkeit
Applaus; Beifall
35
freundliche Worte; Dank; Lob; Komplimente; Anerkennung
33
finanzielle u. a. materielle Anerkennung (z. B. Essen, Bier, Kaffee etc.)
29
Interesse; Neugier; Nachfragen; Gespräche
26
Mittanzen/-singen/-machen*
25
Gesten (Daumen hoch; winken; lächeln; lachen)
22
Leute bleiben stehen/hören zu/setzen sich/sind aufmerksam.
21
emotionale Reaktionen (rufen; schreien; weinen; Rührung; Gänsehaut)
9
Einladung zu Auftritten; Kontaktanfragen
8
kaufen/fragen nach CDs
7
Flirten
5
Leute machen Fotos/Videos.
3
Summe
223
*: Kinder explizit genannt
11
Die Antworten zeigen, dass die Reaktionen, die von den Musikern als positiv wahrgenommen werden, über die bloße Anerkennung in Form etwa von Beifall, Komplimenten, Dank, freundlichen Gesten, Geldspenden und ähnlichem hinausgehen: Passanten demonstrieren ihre Aufmerksamkeit, indem sie stehenbleiben oder sich setzen und lauschen. Einige zeigen Emotionen, rufen und schreien oder sind gerührt und weinen sogar. Und in vielen Fällen nehmen die Zuhörer interaktiv am musikalischen Ereignis teil, indem sie z. B. mittanzen oder -singen. Dabei spielen Kinder eine wichtige Rolle, die sich häufig freier fühlen als Erwachsene, sich in der Öffentlichkeit zur Musik zu bewegen. In dieser Kategorie werden Kinder elfmal explizit erwähnt, etwa von → Seanín, der sagt: »Children are the best.« Gelegentlich kommt es zu Menschenansammlungen von einigen Dutzend Leuten, die sich um Straßenmusiker scharen und deren Darbietung verfolgen. Solche Mengen treten vor allem zu bestimmten Zeiten an Orten auf, die stark von jungen Menschen frequentiert sind, wie sonntags
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im Mauerpark oder abends bzw. nachts auf der Warschauer Brücke. 474 Zahlreiche Straßenmusiker werden aus Interesse und Neugier angesprochen, so dass es in Gesprächen zum gegenseitigen Austausch kommt. 475 Daraus ergeben sich manchmal Einladungen zu Auftritten im privaten Rahmen oder Buchungen für Veranstaltungen und Konzerte. Die Leute fragen nach CDs bzw. kaufen welche, machen Fotos oder Videos. Ab und zu wird geflirtet. Die von den Künstlern angegebenen positiven Publikumsreaktionen korrelieren in vielen Punkten mit den musikerseitigen Formen der Interaktion. Kategorien wie freundliche Gesten und Gespräche kommen naturgemäß auf beiden Seiten vor, die aktive Teilnahme des Publikums kann mit der gelungenen Animation durch die Darbietenden zusammenhängen. Die Partizipation birgt das Potential zur temporären Aufhebung der Rollenverhältnisse: Wenn das Publikum mitmacht, kann die klare Trennung zwischen Produzenten, also Straßenmusikern, und Rezipienten oder Konsumenten, also den sonstigen Anwesenden, verschwimmen. Musiker wie → Sebastian, → Mr. Paul oder → Ashley und Taylor laden ihre Zuhörer explizit ein »to join in«, »to grab an instrument and play with us« – und damit zumindest für einen Moment die Seite zu wechseln und die Erfahrung des gemeinsamen öffentlichen Musizierens zu teilen. Die → spontane Trommelsession im Mauerpark ist ein Beispiel für diese Art der offenen Interaktion. Die sonntägliche Karaoke-Veranstaltung von → Joe im Mauerpark treibt das Prinzip auf die Spitze: Der Kanadier beschränkt sich von vornherein darauf, die technische Infrastruktur für Menschen bereitzustellen, die sich trauen, vor einem spontanen Publikum aufzutreten und zum Playback zu singen. Straßenmusiker, die sich auf solche Formen der Interaktion einlassen bzw. diese initiieren, bieten jedermann ein öffentliches Forum für ungezwungene, ungeplante musikalische Äußerungen – mit der jederzeitigen Option, die aktive Rolle wieder zu verlassen. Die Zahl derjenigen, die im Interview Angaben zu negativen Publikumsreaktionen machten, liegt mit n=54 deutlich niedriger als bei den positiven Reaktionen. Zudem zeigt sich in Tabelle 27 eine kleinere Bandbreite bei den Antwortkategorien. Wenn überhaupt negative Reaktionen angeführt wurden, dann in vielen Fällen mit dem ergänzenden Hinweis, dass solche nur selten oder vereinzelt aufträten. Am häufigsten werden unfreundliche Worte bis hin zu Beschimpfungen und Beleidigungen oder Gesten wie das demonstrative Zuhalten der Ohren im Vorübergehen erwähnt. Von einigen wird indifferentes Verhalten wie das Vorbeigehen ohne zu verweilen oder Geld zu spenden bzw. eine ignorante Haltung der künstlerischen Darbietung gegenüber als negative Reaktion interpretiert. Manche Leute fühlen sich 474 Andeutungsweise sind derartige Aufläufe in Abbildung 73 und Abbildung 119 zu erkennen. Allerdings wurden auch diese Bilder wie alle Fotos in der vorliegenden Arbeit mit Fokus auf die Künstler und nicht aufs Publikum aufgenommen. Abi Wallenstein, ein seit 1986 in Hamburg aktiver Straßenmusiker, beschreibt die Entwicklung seit damals: »Und wenn zehn stehen bleiben heutzutage, dann, was sehr, sehr selten ist, dann können es auch zwanzig werden. Früher gab es fast immer regelmäßig eine Traube von Menschen, die da rumstanden.« Vgl. Kokot et al. 2004: 69. 475 → Naji berichtet von wiederholten spontanen Begegnungen, die jeweils bei einem gemeinsamen Kaffee vertieft wurden.
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gestört und äußern dies. Andere rufen die Polizei oder drohen damit. Vier Straßenmusiker berichten von tätlichen Angriffen, etwa → Victor, der in einem Restaurant von einer Zitrone getroffen wurde, → Orgelmanne, nach dem auch schon mit Gegenständen geworfen wurde, oder → Peter, der unter anderem bespuckt wurde. Der Rumäne → Pedro und der Amerikaner → Kimanistar haben fremdenfeindliche Verunglimpfungen erlebt. Letzterer stellt generell fest, die Leute in Berlin reagierten aggressiver als in seiner Heimatstadt New York und: »Rudeness in New York is not as common.« Tabelle 27: Negative Reaktionen des Publikums (n=54) Negative Reaktionen des Publikums
Häufigkeit
unfreundliche Worte/Gesten (Ohren zuhalten); Beschimpfungen
23
Ignorieren; Vorbeigehen; kein Geld
12
fühlen sich gestört; »Leiser!«; »Zu laut!«
9
Polizei rufen bzw. damit drohen
4
tätliche Angriffe
4
rassistische/ausländerfeindliche Bemerkungen/Beschimpfungen
2
Summe
54
5.14.3 Wahrnehmung und Akzeptanz Die veränderte Art der technischen Erzeugung, Speicherung und Verbreitung von Musik hat Veränderungen des Konsum- und Freizeitverhaltens und damit der Rezeption von Musik zur Folge. Mit dem Aufkommen digitaler Speichermedien wie CD und DVD sowie kompakter Dateiformate wie mp3 hat sich Musikgenuss von einem ehemals stationären zum ambulanten Phänomen gewandelt: Über entsprechende portable Abspielgeräte hat heutzutage jeder überall Zugriff auf seine individuell zusammengestellte Lieblingsmusik – zu Hause, im Büro und vor allem zum Zeitvertreib unterwegs auf der Straße zu Fuß, auf dem Fahrrad oder im Auto, in Bus und Bahn oder im Einkaufszentrum. Das Internet dient als unerschöpfliches Reservoir für den Download von Musikdateien sowie als Tauschbörse. Schneider stellt fest: »Da Popund Rockmusik inzwischen ubiquitär verbreitet, überall zu hören und sicherlich weder schwierig zu beschaffen noch sonst mit Merkmalen des Singulären, Ungewöhnlichen oder gar des Avantgardistischen bzw. des Außenseitertums verbunden […] sind, ist zunächst ein kultureller Bedeutungsverlust anzunehmen […]« Durch das Überangebot »verliert [Popmusik] freilich nicht nur nach Kriterien der Wahrnehmung und ästhetischen Aneignung an Attraktion, sondern auch an ideeller und materieller Wertschätzung.«476 Der enorme Zuwachs bei der Zahl der Nutzer wie auch in der Nutzungsfrequenz und -intensität elektronischer Medien, zuletzt vor allem des Internets, stellt inzwischen eine ernstzunehmende Konkurrenz für solche bis Ende der 1980er Jahre besonders beliebten Freizeitbeschäftigungen wie Konzertbesuche in
476 Schneider 2008: 57.
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Hallen, Clubs und Kneipen dar.477 In der Untersuchung von Schneider et al. zeigt sich, dass vor allem der Aufwand an Geld, Zeit und Energie heute Menschen davon abhält, häufiger Konzerte zu besuchen. »Die als negativ empfundenen Aspekte […] müssen vor dem Hintergrund der heute praktisch ubiquitären Verfügbarkeit von Popund Rockmusik mit Hilfe der technischen Medien betrachtet werden.«478 In diesem Punkt bietet Straßenmusik Vorteile: Sie ist einfach da, kostet nicht zwingend etwas, und es reicht aus, innezuhalten, um dabeizusein.479 Gleichwohl ist es auch für Straßenmusiker eine Herausforderung, sich gegen technische Geräte durchzusetzen, welche Musik nach Wunsch liefern, die auch dann bleibt, wenn man sich weiter fortbewegt. Das Verhältnis der Menschen zur Live-Erfahrung hat sich ebenfalls mit der Zeit verändert. Einerseits ist mittlerweile alles live zu haben: Berichterstattung im Fernsehen aus den entlegensten Winkeln der Erde, kostenlose Internettelefonie, OnlineVideokonferenzen, die Möglichkeiten des interaktiven Musizierens und Komponierens via Internet bis hin zu modernen Mobilfunkgeräten, die einen ständigen Zugriff auf Internetinhalte ermöglichen. Gleichzeitig stellt es in der heutigen Gesellschaft für die meisten Menschen den Ausnahmefall dar, dass man Musik tatsächlich live erlebt. Theodore Gracyk schreibt: »Recording technology is our dominant mode of musical reception.«480 Jedoch stellt Florian Kleist fest: »Bei einem live-Konzert findet zwischen Produzent und Rezipienten, also Musiker und Publikum, eine direktere Kommunikation statt als […] in der Rezeption der Reproduktionen.«481 Live-Musik hat somit einen qualitativen Wert, indem sie eine synästhetische Erfahrung ermöglicht, die sich nicht vollständig konservieren lässt. In diesem Sinne urteilt auch Walter Benjamin: »Der gesamte Bereich der Echtheit entzieht sich der technischen – und natürlich nicht nur der technischen – Reproduzierbarkeit.«482 Straßenmusik bietet für das Publikum das inzwischen seltene Erlebnis einer LivePerformance und für die Künstler zugleich eine unmittelbare Bühnenerfahrung. Dabei ist sie sehr ursprünglich, kommt ohne oder nur mit minimaler Tontechnik aus und bildet somit einen faszinierenden Kontrast zur Popularmusik, die heutzutage im allgemeinen »erst bei der Rezeption, sei es auf dem häuslichen Bildschirm oder CDPlayer, eine konkrete Verortung erfährt.«483 Bei der Produktion im Studio findet keine Performance statt, vielmehr werden Collagen aus Fragmenten unterschiedlicher Darbietungen erstellt, während – nicht nur – im Fernsehen oft sogar mit Vollplayback gearbeitet wird. Es ist allgemein bekannt, dass in der heutigen Musikproduktion – auch bei sogenannter Live-Musik – »die manuelle Beherrschung eines Instruments, Spieltechnik, Fingerfertigkeit, stimmlicher Ausdruck oder andere an den eigenen Körper gebundene Fähigkeiten und Fertigkeiten nur noch eine geringe, in etlichen
477 Vgl. ebd., 202 ff. 478 Ebd., 144. 479 Tanenbaum (1995: 12) zitiert in diesem Sinne eine Passantin: »I don’t have to dress up and go to Carnegie Hall. I get it right here.« 480 Gracyk 1997: 139. 481 Kleist 2008: 483. 482 Benjamin 1980: 476. 483 Mendívil 2008: 70.
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Fällen überhaupt keine nennenswerte Rolle mehr spielen.«484 Durch PlaybackPraktiken der technischen Übertragungsmedien, vor allem der TV-Sender, ist der Begriff live selbst »aufgeweicht oder gar desavouriert.«485 Davon hebt sich Straßenmusik offensichtlich ab: Hierbei gibt es keine Nebelmaschine oder anderen Effekte, die vom Playback ablenken. Der Zuhörer kann davon ausgehen, dass das, was er erlebt, ungeschönt und ungefiltert die wahre Kunstfertigkeit der Musiker wiedergibt. Doch das Durchschnittspublikum ist heute an die klangliche Perfektion professionell produzierter Musik gewöhnt, die über moderne Datenträger und Medien nach Belieben digital und scheinbar verlustfrei übertragbar ist. Selbst Live-Musik ist üblicherweise von Tontechnikern aufwändig aufbereitet – falls sie überhaupt noch live gespielt ist. Solche Zustände sind in der Geschichte beispiellos. Diese Allgegenwärtigkeit produzierter Musik stellt nicht nur »ein Erschwernis für alle wirklich live auf der Bühne spielenden bzw. singenden MusikerInnen«,486 sondern auch für Straßenmusiker dar. Die einleitenden Betrachtungen zu diesem Abschnitt machen deutlich, dass Straßenmusik sich einerseits gegen zahlreiche Widrigkeiten behaupten muss, die dem technischen Fortschritt geschuldet sind. Andererseits bietet sie als öffentliches Live-Event bestimmte Erfahrungen, zu denen heute im Alltag sonst wenig Zugang besteht. Die im vorangegangenen Abschnitt dargestellten Publikumsreaktionen zeigen, dass es verschiedene Einstellungen zur Straßenmusik bzw. zu spontanen Darbietungen im öffentlichen Raum gibt, die sich individuell unterscheiden und zusätzlich von der jeweiligen Situation abhängig sind. Um Hinweise auf Antworten auf die Fragen zu erhalten, wie Straßenmusik von Nichtstraßenmusikern wahrgenommen und akzeptiert wird, wurde ergänzend zur Feldstudie eine nichtrepräsentative Befragung per E-Mail durchgeführt, deren Methodik in Abschnitt 3.4.6 beschrieben ist. Es gab 56 verwertbare Rückmeldungen. Die Umfrage fand im Februar und März 2010 statt. Saisonal bedingt liegt daher der Fokus vieler Äußerungen auf Musik in U- und S-Bahnen sowie auf U-Bahnhöfen. In den einzelnen Antworten war teilweise eine weitaus größere Bandbreite zu verzeichnen, als die hier wiedergegebenen aggregierenden Kategorien repräsentieren können. Tabelle 28 fasst die Antworten auf die erste der beiden offenen Fragen zusammen, die lautete: Was verbindest du mit Straßenmusik? Die 56 Umfrageteilnehmer machten daraufhin insgesamt 188 Angaben, die ganz unterschiedliche Bereiche betreffen. Neben den Häufigkeiten zu den Antwortkategorien ist, wo sinnvoll, angegeben, ob die Kategorie tendenziell als positiv (+) oder negativ (-) bewertet wird. Die größte Zahl der Nennungen (27) entfällt auf Aspekte, die die Bereicherung, positive Veränderung und Belebung öffentlicher Orte, der Stadt, aber auch des Alltags durch Straßenmusik beschreiben. Weitere 13 Nennungen betreffen das distinkte Flair, die Kultur und die Stimmungen, die damit in Verbindung gebracht werden. Bestimmte Orte, Räume, Musikinstrumente, Stile oder Musiker bzw. Jahreszeiten wur484 Schneider 2008: 31. 485 Ebd. Zu den Auswirkungen der Mediatisierung auf den Live-Musik-Sektor vgl. ebd., 202 ff. 486 Ebd., 34.
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den 29-mal angeführt. Übrigens fanden unter Instrumente/Musikstile/Musiker viermal Panflöten und Andenfolklore-Ensembles explizit Erwähnung, obwohl diese zum Zeitpunkt der Umfrage 2010 bereits kaum noch im Stadtbild in Erscheinung traten. Jeweils in etwa gleich viele Teilnehmer bringen Straßenmusik mit guter Musik oder hochklassigen Künstlern und Darbietungen (19-mal) bzw. schlechten, minderwertigen, berechnenden oder ärgerlichen Vorstellungen (17-mal) in Zusammenhang. Zehn denken an Geldverdienen und Arbeit, 16 an Armut, Bettelei und soziale Not. Ansonsten wurden durchweg positive Aspekte genannt: Spielfreude, Vergnügen und gute Laune (9-mal), Berührung und Inspiration (11-mal), das spontane Moment (5-mal), die musikalische, stilistische und kulturelle Vielfalt, die Straßenmusik mit sich bringt (9-mal), das Lebensgefühl (6-mal) und die Freiheit (11-mal), die damit verbunden werden. Jeweils drei Personen gaben an, Straßenmusik wecke bei ihnen Neugierde bzw. die Motivation, selbst zu musizieren. Tabelle 28: Umfrage, Teil 1: Assoziationen von Nichtstraßenmusikern mit Straßenmusik (n=56) Was verbindest du mit Straßenmusik?
Häufigkeit Bewertung
Bereicherung/positive Veränderung/Belebung öffentlicher Orte/ des Alltags/der Stadt; gute Atmosphäre
27
+
Flair; Kultur; bestimmte Stimmungen
13
+
bestimmte Orte/Plätze (Stadt; Berlin; U-/S-Bahn)
10
bestimmte Instrumente/Musikstile/Musiker
13
Sommer; Adventszeit
6
gute/hochklassige Musik/Künstler/Darbietung
19
+
schlechte/minderwertige/berechnende/ärgerliche Darbietung
17
-
Geld verdienen; Arbeit
10
Armut; Betteln; soziale Not
16
-
(Spiel-) Freude; Vergnügen; gute Laune
9
+
Berührung; Inspiration
11
+
Überraschung; Spontaneität
5
+
musikalische/stilistische/kulturelle Vielfalt
9
+
Lebensgefühl/-freude/-kunst
6
+
Freiheit; Reisen
11
+
Neugier
3
+
Motivation zum Selbstmusizieren
3
+
Summe
188
Summe +
116
Summe -
33
Es fällt auf, dass sich viele der Antwortkategorien mit den Befunden aus der Feldstudie decken. Übereinstimmungen sind vor allem mit den Motiven und den charakteristischen Merkmalen der Straßenmusik festzustellen, die Straßenmusiker angegeben
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haben, z. B. Geldverdienen oder Freiheit, Spontaneität, Lebensgefühl, Spielfreude und gegenseitige Inspiration mit dem Publikum. 487 Ferner erwähnenswert erscheint die große Überzahl positiver Konnotationen, die die Befragten mit Straßenmusik haben: 61,7 Prozent. Nur 17,6 Prozent der Nennungen betreffen negative Aspekte. Dieses Ergebnis spiegelt sich ebenfalls in den Antworten auf den zweiten Teil der Umfrage wider, vgl. Tabelle 29. Die Frage lautete hier: Wie ist deine Einstellung zu Straßenmusik? Darauf antwortete mit 28 Nennungen genau die Hälfte der Teilnehmer, sie stünden Straßenmusik im großen und ganzen positiv, offen oder aufgeschlossen gegenüber. Die andere knappe Hälfte, 26 Personen, differenzierte ihre Angaben nach Kriterien wie der Qualität der Darbietung oder dem Verhalten der Straßenmusiker und betrachtet Straßenmusik je nachdem positiv bzw. negativ. Beachtlich ist die Tatsache, dass niemand nur genervt von Straßenmusik ist bzw. sie prinzipiell negativ betrachtet. Drei der Befragten erwähnten außerdem ihr Mitleid, das sie mit einigen Straßenmusikern empfinden. Tabelle 29: Umfrage, Teil 2: Einstellung von Nichtstraßenmusikern zu Straßenmusik (n=56) Wie ist deine Einstellung zu Straßenmusik?
Häufigkeit
eher/größtenteils/meistens/uneingeschränkt positiv/offen/aufgeschlossen
28
positiv bis negativ – je nachdem/differenzierte Äußerung
26
nur genervt/negativ
0
keine Angabe
2
Summe
56
mitleidig (zusätzlich genannt)
3
Die Antworten gehen in vielen Fällen über eine eindimensionale Festlegung hinaus und differenzieren sehr genau zwischen Darbietungen, die als gut oder hochklassig empfunden werden, und solchen, die aus verschiedenen Gründen Ärger bewirken. Eine Teilnehmerin schreibt beispielsweise, sie fühle sich in U- und S-Bahnen vorwiegend genervt, weil sie dort oft selbst am Musikhören sei und die Darbietungen zu kurz und oft qualitativ minderwertig seien. Auf Straßen, Plätzen und Bahnhöfen hingegen würden »meist schöne Sachen gespielt«, und die Künstler dort empfindet sie als nicht so aufdringlich wie in den Zügen. Ein anderer Teilnehmer differenziert: »Wenn mit Lust und Freude dargeboten – was man immer weniger erlebt – ist es eine Labung im Alltagsgeschiebe. In der vollbesetzten, dampfenden U-Bahn empfinde ich die – oft sehr hingezimmerten – Etüden zunehmend als Belästigung.« Und eine weitere Antwort lautet: »Ich bin meistens schon eher neugierig und find’s cool, wobei’s natürlich auf die Musik und die Fähigkeiten der Musiker ankommt und aufs Setting. Wenn man irgendwo essen geht und schleimige Akkordeonspieler sich genau neben den Tisch stellen, empfinde ich das schon mal als störend.« In Tabelle 30 sind die Gründe für Verärgerung über und Ablehnung von Straßenmusik-Darbietungen zusammengefasst, die im Rahmen meiner Umfrage angegeben wurden. Schlechte Qualität der Musik und Lieblosigkeit beim Vortrag wurden 487 Vgl. insbesondere Tabelle 5 und Tabelle 11.
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20-mal und damit am häufigsten genannt. Wenn offensichtlich ist, dass den Künstlern die Geldspenden wichtiger sind als die Musik, die sie spielen, provozieren sie ebenfalls Ablehnung (9 Nennungen). Auch Aufdringlichkeit (9) und störendes Verhalten (8) sowie die ständige Wiederholung der gleichen Stücke (3) erzeugen Unmut. Schließlich werden Situationen als unangenehm empfunden, in denen die Befragten keine Wahl haben, sich der Darbietung zu entziehen, und sich entsprechend ausgeliefert fühlen (7 Nennungen). Tabelle 30: Umfrage: Gründe für Ärger über bzw. Ablehnung von Straßenmusik-Darbietungen Gründe für Ärger/Ablehnung
Häufigkeit
schlechte Qualität/Musik; Lieblosigkeit
20
wenn Geld offensichtlich wichtiger als Musik ist (»mehr Geschäft als Leidenschaft«)
9
Aufdringlichkeit
9
Störung
8
Ausweglosigkeit; Wahllosigkeit
7
ständige Wiederholung; immer das gleiche
3
explizite Nennung von U- und/oder S-Bahn
13
Die negativen Aspekte sind vielfach mit Auftritten von Musikern in Nahverkehrszügen, teils auch in Lokalen verknüpft. Insgesamt 13-mal wurden U- und S-Bahnen explizit im Zusammenhang mit Ärger und Ablehnung erwähnt wie in den ersten beiden der oben angeführten Beispiele. In den meisten Fällen – so auch in den Beispielen – bezogen sich die Äußerungen nicht oder nicht nur auf die Umgebungsumstände in den Zügen, sondern auch oder zuerst auf die Qualität der Darbietungen dort bzw. das Verhalten der Musiker in dieser Raumkategorie. Diese selektive Ablehnung von Musik in S- und U-Bahnen – und teilweise auch in Lokalen – wird bestätigt von einer nichtrepräsentativen Online-Umfrage, die die Berliner Tageszeitung Der Tagesspiegel begleitend zu einem am 12.10.2012 veröffentlichten Artikel startete, vgl. Abbildung 158. Darin wurde gefragt: Berliner U-Bahn Musiker kennt jeder. Was halten Sie von den akustischen Wegbegleitern? Drei Antwortmöglichkeiten waren vorgegeben. Mit Stand vom 26.06.2013 waren 5.903 Stimmen abgegeben worden. 16 Prozent davon entfielen auf die erste Antwortmöglichkeit: Wenn mir die Musik gefällt, gebe ich gerne ein paar Euro. 9 Prozent der Teilnehmer sprachen sich für mehr Kontrollen und die Vergabe fester Lizenzen aus. Die deutliche Mehrheit von 75 Prozent jedoch wählte die dritte Antwort: Ich fühle mich gestört und wäre dafür, die Musiker aus den Bahnen zu verbannen. In dem dazugehörigen Artikel488 wird ein Sprecher des Berliner Fahrgastverbands IGEB e.V. zitiert, der drastische Worte wählt: »Was in den Zügen passiert, ist hart am Rande der Nötigung. Die Musiker müssen raus aus den Zügen.« BVG und S-Bahn sollten gemeinsam eine Kampagne starten, um die »Bettelindustrie« der osteuropäischen Zuwanderer in den Griff zu bekommen. Und ein Security-Mitarbeiter der S-Bahn meint: »Die treten aggressiv auf, das hat schon Hütchenspieler-Potenzial.« 488 Loy/Mugnier 2012.
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Abbildung 158: Ergebnis einer Online-Umfrage des Tagesspiegels zu U-Bahn-Musikern vom 12.10.2012, Umfragestand vom 26.06.2013489
Aus einem Telefonat mit der Pressestelle der BVG ging ebenfalls hervor, dass interne Fahrgastbefragungen eine tendenziell ablehnende Haltung gegenüber den Musikern in den Zügen ergeben hätten. Zu den Umfragedaten bestand kein Zugang. Insgesamt zeigt sich, dass Straßenmusik von den Befragten überwiegend positiv und in vielen Fällen als Bereicherung des eigenen Alltags wie des Stadtraums wahrgenommen wird. Die Umstände und damit in erster Linie die Raumkategorie sind dabei allerdings von entscheidender Bedeutung: In U- und S-Bahnen sowie in Lokalen, also dort, wo sich das Publikum seine Rolle als Zuhörer nicht aussuchen kann, sich zuerst zum Zuhören genötigt sieht und anschließend oft noch zum Spenden gedrängt fühlt, erzeugt öffentlich dargebotene Musik häufiger Spannungen bis hin zu Aggressionen als anderswo.490 Dies trifft ebenfalls auf besonders stark von Straßenmusikern frequentierte Orte im öffentlichen Straßenland wie die Kreuzberger Admiralbrücke oder den Boxhagener Platz im Friedrichshain zu, an denen sich gelegentlich Konflikte mit Anrainern ergeben, vgl. Abschnitt 5.13 und Tabelle 18. Der Umstand, dass alle Teilnehmer meiner Umfrage etwas mit Straßenmusik verbinden konnten, offenbart, dass es sich um eine im Alltag der Menschen, die in Berlin leben, präsente Erscheinung und mitnichten um ein wissenschaftliches Konstrukt handelt. Es gab keine Rückläufe, in denen jemand den Begriff nicht kannte oder dem Phänomen keine eigene Erfahrung zuordnen konnte. Gleichzeitig sind zahl-
489 Quelle: http://www.tagesspiegel.de/berlin/fahrgastverband-kein-pardon-fuer-fahrendemusikanten/7249644.html – Screenshot vom 26.06.2013. 490 Vgl. z. B. Onken 2012. Hier wird von einer Auseinandersetzung zwischen Musikern und einem Fahrgast berichtet, die derart eskalierte, dass letzterer durch eine Attacke mit einer Trompete zwei Zähne verlor – wobei das Instrument zu Bruch ging.
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reiche Emotionen diverser Art damit verknüpft: Straßenmusik sorgt ebenso für gute Atmosphäre, Vergnügen, Inspiration und Überraschung wie für Mitleid und Ärger. Dabei ist zu beachten, dass die Rezeption ein und derselben musikalischen Äußerung – egal, ob live oder konserviert – bei verschiedenen Individuen die unterschiedlichsten Reaktionen hervorrufen kann: von Freude und Entzücken bis zu Empörung und Abscheu. Im zweiten Falle ist sie nichts als lästiger Lärm. Schon immer gab es Menschen, die sich von musikalischen Darbietungen im öffentlichen Raum gestört fühlten, wie Heinrich Rollers Humoristische Erinnerungen aus dem alten Berlin zeigen491: Dort wird der »schreiende und plärrende Leierkasten« beklagt, der sich aufdränge, dabei besonders das »Schreiende und Blökende seiner Musik«. Auch der Dudelsack »mit seinem monotonen Gewimmer und Gesumse« sowie das »Gezirp und Gewimmer« alter Harfenisten und Harfenistinnen finden wenig Anklang beim Autor. Die zuweilen ärgerlichen Straßenmusiker, denen sich die Obrigkeit zu allen Zeiten widersetzt hat und die sich dennoch stets Freiheiten herausnehmen, um die mancher sie wohl beneidet, üben zugleich von jeher eine Faszination auf viele aus. Ein Teilnehmer meiner Umfrage schrieb: »Straßenmusik zieht mich magisch an, […] hat etwas von Freiheit und öffentlicher kultureller Teilhabe.« Die – jedenfalls von Außenstehenden oft wahrgenommene – Marginalität von Straßenmusikern, nämlich außerhalb konventioneller Ordnungs- und Machtstrukturen zu leben und musikalisch zu wirken, mag diese unterschwellige Attraktivität noch schüren. Auch in meiner E-Mail-Umfrage waren ein heiteres Lebensgefühl und Freiheit Attribute, die der Straßenmusik häufig zugeschrieben wurden. Einer der Befragten bekannte: »Ich würde auch gern ein Vagabund sein, der durch die Welt zieht und die Menschen glücklich macht.« Bei solchen Bildern handelt es sich zumindest teilweise um Klischees und eine Romantisierung dieser Auftrittskultur.492 Und sie zeigen, dass Straßenmusik in den Augen vieler ideelle Komponenten beinhaltet, die bei der Bewertung von Darbietungen in diesem Rahmen eine wichtige Rolle spielen.
5.14.4 Innere Haltung und Wirkung Das Beispiel des Mundharmonikaspielers Michael Hirte in der Einleitung zeigt, dass die gleiche musikalische Äußerung nicht nur individuell, sondern auch situationsbedingt für verschiedene Reaktionen beim Publikum sorgen kann. Es stellt sich die Frage, inwieweit der durchschnittliche Rezipient von Straßenmusik eigentlich in der Lage ist, die künstlerische Qualität musikalischer Darbietungen zu beurteilen. Dazu wurde in Washington ein aufschlussreiches Experiment durchgeführt493: Man ließ den weltweit gefeierten Starviolinisten Joshua Bell in unauffälliger Aufmachung mit 491 Vgl. Roller 1884: 20 ff. 492 Die Ergebnisse meiner Feldforschung bestätigen einige von ihnen, haben aber auch gezeigt, dass die meisten Straßenmusiker noch in anderen Kontexten musikalisch aktiv sind und viele von ihnen über diverse weitere Einnahmequellen verfügen, also durchaus ins gesellschaftliche und kulturelle Leben eingebunden sind, vgl. Tabelle 10 und Abbildung 154. Für eine große Zahl steht das Geld im Vordergrund, das sie dabei verdienen und von dem sie leben müssen, was eine weniger romantische Realität ist, vgl. Tabelle 5. 493 Vgl. Weingarten 2007.
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seiner mehrere Millionen Dollar werten Stradivari-Geige auf einem innerstädtischen U-Bahnhof als Straßenmusiker auftreten. Innerhalb von knapp 45 Minuten kamen mehr als 1000 Menschen an ihm vorbei, von denen 27 Geld in seinen Geigenkasten warfen. Nur sieben blieben stehen, um zeitweilig zuzuhören, und eine Person erkannte den Meister. Gute 32 Dollar sammelten sich im Instrumentenkoffer. Eine mögliche Schlussfolgerung aus diesem Resultat ist, dass sich für die überwiegende Mehrheit der Passanten die musikalische Qualität von Bells Darbietung nicht erschlossen hat – entweder, weil sie sie nicht erkannten oder weil sie für sie schlicht keine Bedeutung hatte. Das Ergebnis meiner Umfrage unter Rezipienten von Straßenmusik zeigt, dass die musikalische Qualität bei der Würdigung eines Vortrags ein Faktor sein kann, aber nicht muss. Die Bewertung erfolgt häufig nach anderen, individuellen Maßstäben. Ein Beispiel, an dem das deutlich wird, ist der Ire → Nick. Dessen Auftritte in Berliner U- und S-Bahnen sind frech, ironisch und herausfordernd. In einem Artikel der Online-Ausgabe des Tagesspiegels wird er als »Der nervigste Musiker auf der S-Bahnlinie S1« bezeichnet.494 In der an den Artikel anschließenden Diskussion im Leserforum pflichten einige der Kommentierenden, die Nick aus den Zügen kennen, dem Autor bei. Gleichzeitig wird der Musiker von anderen in Schutz genommen und als wohltuend humorvoll, charmant, selbstbewusst, musikalisch und authentisch charakterisiert. Es gibt Hinweise darauf, dass die innere Einstellung der Straßenmusiker zum eigenen Handeln einen Einfluss nicht nur auf das äußere Ergebnis hat, sondern auch auf die Wirkung. Damit hängen sowohl die musikerseitige Interaktion mit dem Publikum als auch die Reaktionen der Zuhörer zusammen. In Abschnitt 5.11.5 hat sich gezeigt, dass vielen Straßenmusikern Aspekte der Authentizität an sich selbst und ihrer Performance wichtig erscheinen, vgl. Tabelle 14. Bestimmte Äußerungen erlauben den Schluss, dass solche Faktoren sich auch positiv auf den Erfolg auswirken. Obwohl etwa → Jaron von der Straßenmusik lebt, steht das Geld dabei für ihn nicht im Vordergrund. Er sagt, es käme automatisch. Und je mehr er beim Spielen »im Flow« und ganz im Moment sei, also aufhöre zu reden und zu denken, desto besser übertrage sich dieser Zustand auf seine Zuhörer. Dann, sagt er, kämen die besten Reaktionen auf seine Musik. → Camilo reflektiert im gleichen Sinne: »Ich glaube, ich kriege viel Geld zusammen, weil es bei mir nicht die Hauptsache ist und ich das mache, was ich liebe.« Und Pawoł, der Violinist von → Atze Wellblech, erkennt: »Wenn ich auf Geld aus bin, kommt wenig.« Auch Nilton, der Teil des Duos → Huiñaumanta ist, findet: »Mit schlechter Laune geht’s nicht. Dann lieber eine Pause machen.« Für die Person, welche im Interview die mit Abstand höchsten stündlichen Spendeneinnahmen angegeben hat, ist Geld ein »netter Nebeneffekt« bei der Straßenmusik. Ihre zentralen Antriebe sind Spaß an der Musik und die »Freude, wenn die Leute Freude haben«, sie ist glücklich, »wenn Zwischenmenschlichkeit passiert«. Diejenigen, die gern Straßenmusik machen, verknüpfen häufig auch ideelle Werte damit. Auf der anderen Seite hat sich gezeigt, dass Geld das Hauptmotiv fast all derer ist, die ungern oder nur mit Einschränkungen gern Straßenmusik machen, vgl. Abschnitt 5.10.1. Das trifft ebenso auf diejenigen zu, die aus strategischen Erwägungen heraus Musik spielen, die sie selbst nicht mögen, vgl. Abschnitt 5.11.6. Das Handeln eines Individuums und die damit verbundenen Emotionen stehen in 494 Vgl. Lehmann 2013.
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Wechselwirkung miteinander: Handeln kann bestimmte Emotionen bedingen, die sich wiederum auf das Handeln auswirken. 495 Die oben beschriebenen Beobachtungen deuten eine Korrelation zwischen einer positiven Haltung dem eigenen Handeln gegenüber und der Zufriedenheit an, die man daraus für sich ziehen kann. Wer sich hingegen genötigt sieht, mit der eigenen Kunst Geld verdienen zu müssen, und regelmäßig in einem Rahmen auftritt, der ihm eigentlich nicht behagt, büßt in der Eigenwahrnehmung seine Autonomie ein. Ärger und Frust können die Folge sein – und das Verhalten und damit die Darbietung der Musiker entsprechend beeinflussen. Die Äußerungen der Rezipienten von Straßenmusik geben nun Aufschluss über die Wirkung, die die innere Einstellung der Künstler bei der Straßenmusik entfaltet. Einige der in Tabelle 30 aufgeführten Gründe für Ärger über bzw. die Ablehnung von Straßenmusik-Darbietungen unterstreichen, dass solche tendenziell dann als schlecht bzw. unerfreulich beurteilt werden, wenn es den Künstlern an musikalischer Glaubwürdigkeit mangelt. Das kann sich in Lieblosigkeit beim Vortrag und Aufdringlichkeit beim Spendensammeln zeigen oder darin, dass die Musiker den Eindruck vermitteln, das Geld sei ihnen wichtiger als die Musik. Bei 19 von 56 Umfrageteilnehmern (33,9 %) finden sich Bemerkungen, die in dieser Hinsicht differenzieren. Einer der Befragten beispielsweise unterscheidet »Geldbraucher (verkniffenes Gesicht) oder Aus-Freude-Spieler (Glänzen in den Augen) – letztere haben’s leichter und kommen besser an«. Eine Teilnehmerin bemerkt: »Ich mag Straßenmusik sehr, insbesondere, wenn ich merke, dass es den Musikern selbst Spaß macht und dass sie nicht nur wegen des Geldes spielen.« Ein weiterer schreibt: »Mich ärgert schlechte Laune, die teilweise übertragen wird.« Oder anders ausgedrückt: »Je mehr Spaß die Leute selber dran haben, desto besser!« Und eine Meinung lautet: »Meine Einstellung ist neugierig und offen – aber nur dann, wenn es ernsthaft ist und die Absicht nicht ist, etwas zu dudeln um Geld abzukassieren, dann ist es nervig und negativ. […] Es muss Ehrlichkeit und Künstlerisches und Passion und Hingabe dahinterstecken, dann bin ich dabei!« Small beschreibt diese Beziehung zwischen der Haltung, die Musiker zu ihrem Tun einnehmen, und dem Ergebnis allgemein so: »[…] meaning and beauty are created whenever any performer approaches it [the performance, M.N.] with love and with all the skill and care that he or she can bring to it.«496 In der Sozial- und Kommunikationspsychologie wird davon ausgegangen, dass wesentliche Anteile der zwischenmenschlichen Kommunikation sowohl auf Senderals auch auf Empfängerseite unbewusst ablaufen.497 Das Phänomen der emotionalen Ansteckung beschreibt einen »Prozess der unwillkürlichen Imitation des emotionalen Ausdrucksverhaltens einer anderen Person, wobei das imitierte Ausdrucksverhalten in einem zweiten Schritt die entsprechende Emotion induziert.«498 Dabei spielen primär nonverbale Komponenten wie Mimik, Gestik, Körperhaltung und -bewegung 495 496 497 498
Vgl. Rothermund/Eder 2009: 676 ff. Small 1998: 7. Vgl. Traut-Mattausch/Frey 2006: 536 oder Werth/Mayer 2008: 130 ff. Neumann 2006: 510. Schon die bloße Beobachtung einer lächelnden Person löst kongruentes Verhalten im Beobachter aus, vgl. Neumann 2006: 511. Ich habe einige RomaMusiker in der U-Bahn beobachtet, die sich am Ende ihrer Darbietung selbst applaudieren – und es damit regelmäßig schaffen, auch andere zum Klatschen zu animieren.
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oder die Art und Dauer des Blickkontakts eine Rolle. Abi Wallenstein, stadtbekannter Hamburger Straßenmusiker, weiß: »Augenkontakt ist wichtig. Dass man zeigt, dass man Freude an der Musik hat.«499 Glaubwürdigkeit und Sympathie werden als Faktoren genannt, die die Resonanz auf eine Botschaft erhöhen. 500 Es erscheint somit schlüssig, dass sich die aus der inneren Haltung der Künstler zur Straßenmusik resultierenden Gefühle den Zuhörern mitteilen und bei diesen entsprechende Reaktionen auslösen. Nach der Interdependenztheorie können Ergebnisse sowohl vom eigenen als auch vom Verhalten eines Interaktionspartners – hier das Publikum – bestimmt sein.501 Im Idealfall ergibt sich eine wechselseitige positive Rückkopplung zwischen Produzenten und Rezipienten: Wer gerne Straßenmusik macht und auch nach außen so wirkt, weckt beim Publikum tendenziell mehr positive Gefühle und Resonanz, die wiederum befriedigend auf den oder die Musiker rückwirken. Klaus der Geiger berichtet aus seiner Erfahrung: Aber gesungen habe ich trotzdem, und es war phantastisch, wie gut die Lieder bei den Leuten ankamen. Stark wie das Feedback, das wir dadurch empfingen, war auch unsere Musik. Auf der Straße sind die Leute freier, so daß es ihnen hin und wieder auch mal glückt, zuzuhören, und zwar offen, und daraufhin sind auch wir frei genug, ›offen‹ zu spielen. Das passiert natürlich nicht immer, aber wenn es geschieht, dann sind das die Glücksmomente im Straßenmusikerdasein.502
Andererseits ist es wahrscheinlich, dass jemand, der sich gegen seinen Willen und seine innere Überzeugung aus finanzieller Not als Straßenmusiker betätigt, sowohl Verdrossenheit als auch Bedürftigkeit ausstrahlt. Wenn sich dieser Unmut überträgt, können ablehnende Gefühle bei den Zuhörern aufkommen, die sich in ignorantem oder verärgertem Verhalten niederschlagen, welches letztlich negativ auf den Künstler zurückfällt. Der Frust derjenigen, die ein Interview ausschlugen, weil sie mit ihrem Dasein als Straßenmusiker so unzufrieden waren, scheint das zu bestätigen.503 Dies sind freilich hypothetisch konstruierte Extreme, zwischen denen in der Realität sicherlich unzählige Nuancen existieren. Es bleibt festzuhalten, dass die Authentizität der Künstler im Sinne von Selbsttreue nicht nur auf die Musiker selbst, sondern auch auf ihre Performance und die Wirkung auf das Publikum einen positiven Einfluss ausübt.
499 Kokot et al. 2004: 70. Die Psychologinnen Lioba Werth und Jennifer Mayer stellen fest: »Wer Blickkontakt hält, wird insgesamt positiver beurteilt […]«, z. B. als glaubwürdiger eingeschätzt, vgl. Werth/Mayer 2008: 131. 500 Vgl. Werth/Mayer 2008: 240 f. 501 Vgl. Athenstaedt et al. 2006: 480. 502 Wrochem 1996: 146 f. 503 Vgl. den russischen Saxophonisten (→ 4.2.52) sowie die bratschespielende Ukrainerin (→ 4.2.64).
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5.15 STRASSENMUSIKSZENE IN BERLIN In dieser Arbeit war bisher an mehreren Stellen von der Berliner Straßenmusikszene die Rede. Der Begriff Szene wurde dabei im umgangssprachlichen Sinne für einen »Bereich, in dem etwas gilt, in dem sich etwas abspielt«504 und zusammenfassend für die heterogene Gesamtheit der Straßenmusiker in Berlin gebraucht. Ob im engeren Sinne eine Szene unter Berliner Straßenmusikern existiert, wird im Folgenden diskutiert. Dazu gehört auch die Frage, was im wissenschaftlichen Diskurs eigentlich darunter verstanden wird. Frage 15 in den Straßenmusikerinterviews lautete: Stehst du in Kontakt mit anderen Straßenmusikern? Die Antworten zeigen, dass es kein übergreifendes Netzwerk gibt, das alle oder auch nur einen wesentlichen Teil der in Berlin auftretenden Straßenmusiker untereinander verbindet. Genauso wenig gibt es eine Organisation, die als Anlaufstelle fungiert oder Straßenmusiker und deren Interessen vertritt. Straßenmusik ist vielmehr durch ihre Spontaneität gekennzeichnet: Bei gutem Wetter ist die Stadt voll, bei Regen oder Kälte spielt kaum jemand im Freien. David (→ Space Commander Hotch) sagt, er gehe für eine Performance raus »whenever the spirit moves me«. Auch die Internetpräsenzen der Musiker und Bands lassen keine Vernetzung erkennen. Manche stehen im lockeren Austausch mit anderen, »wen man halt so trifft« (→ Jaron), doch in den meisten Fällen gehen die Kontakte nicht viel weiter, als es → Not Called Jinx ausdrücken: »Man kennt sich, grüßt sich, spricht sich ab.« So laufen sich beispielsweise → Elizabeth und → Leigh manchmal über den Weg, weil sie beide oft in den Lokalen im Bergmannstraßenkiez Musik machen. Größtenteils wird der Umgang miteinander als kollegial beschrieben und beschränkt sich auf freundliches Grüßen oder Smalltalk bei zufälligen Begegnungen. Die Kontakte sind einerseits sporadisch, lassen jedoch bei entsprechend offener Einstellung Raum für ungeplante Jamsessions wie etwa zwischen → Ashley, Benjamin und Taylor. Auch → Sebastian spielt häufig mit anderen, z. B. mit → Seanín, oder begleitet Artisten musikalisch. → Philipp spricht von viel spontaner Zusammenarbeit und den zahlreichen Möglichkeiten, die sich dazu in Berlin bieten würden. Vereinzelt gibt es engere Beziehungen wie zwischen Pedro und der Gruppe → Fanfara Kalashnikov, mit der er früher zusammengespielt hat. Die Musiker von → Wayra und → Huiñaumanta kennen viele derjenigen, die früher in den großen lateinamerikanischen Ensembles mitgewirkt haben. → Jannis und → Kevin bzw. → Armin und → Rainer wohnen jeweils in einer Wohngemeinschaft. Daneben beinhalten die individuellen Netzwerke oft noch weitere Straßenmusiker. → Arnaldo trifft sich etwa spontan mit Musikerkollegen zu Jamsessions im Freien, vgl. Abbildung 159. Das Duo → Atze Wellblech steht mit ebenfalls politisch aktiven Musikern nicht nur aus Berlin in Verbindung, darunter Vertreter der Rotzfrechen Asphaltkultur505. Pawoł und Hans jammen wie → Inga und Alex gerne und viel mit anderen Straßenmusikern. Den Austausch und Wissenstransfer dabei empfindet Inga als wertvoll. Die beiden Leierkastenmänner → Drehorgel-Lothar und → Orgelmanne sind Mitglieder im Verein der Internationalen Drehorgelfreunde Berlin e.V., von dessen etwa 250 Mitgliedern inzwischen nur 504 Wahrig 1997: 1206. 505 Vgl. Anmerkung 99.
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wenige auch Straßenmusik machen. Und David (→ Space Commander Hotch) kennt aus seiner langjährigen internationalen Erfahrung weltweit über 1000 Straßenkünstler.
Abbildung 159: → Arnaldo (r.) im Trio im Mauerpark am 21.09.2010
Darüber hinaus existieren einige Cliquen, bei denen die Herkunft, die Raumkategorie und bzw. oder die Stilrichtung eine Rolle spielen. Der Schlagzeuger → Jacek ist Teil eines Netzwerks aus etwa 20 weiteren Jazzmusikern. Diese stammen vorwiegend aus Polen und umfassen neben → Kazik und den → Polen am Gendarmenmarkt (Akkordeon, Gitarre, Gesang) auch den japanischen Kontrabassisten → Akira. Viele der Künstler kommen jeweils für einige Wochen oder Monate wegen der Straßenmusik nach Berlin. Je nach Verfügbarkeit bilden sie flexibel Ensembles wie das → Polnische Jazztrio, die an mehreren bevorzugten Orten wie dem Gendarmenmarkt und dem Hackeschen Markt mit Jazzstandards auftreten. Zwischen den klassischen Akkordeonisten aus der Ukraine besteht ebenfalls enger Kontakt. Sie sprechen sich untereinander ab oder tun sich zu Duos und Trios zusammen wie → Oleg und → Zoreslaw oder die drei → Ukrainer am U-Bahnhof Stadtmitte. Unter einigen Musikern aus ehemaligen Sowjetrepubliken besteht ein eher loser Zusammenhalt, der vor allem das Schlangestehen vor dem BVG-Schalter für die Spielgenehmigungen in den U-Bahnhöfen zu einem geselligen Treffen am Mittwochmorgen macht. → Anatoli sagt etwa, er kenne viele andere Russen, die er dort regelmäßig sehe. Der rumänische Akkordeonist → Segal spielt zwar nicht auf U-Bahnhöfen, unterhält aber auch Kontakt zu Kollegen aus Rumänien, Russland und Bulgarien. → Michel steht im lockeren Kontakt mit → Bernd, → Jannis und → Kevin sowie seiner ehemaligen Partnerin, mit der er manchmal gemeinsam in der U-Bahn musi-
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ziert. Er berichtet, bis vor einigen Jahren habe es einen Kern von mehreren Musikern unterschiedlicher Herkunft gegeben, die in den U-Bahnen gespielt und sich dabei an bestimmte Regeln gehalten hätten, »so dass keiner dem anderen auf die Füße trat«. Seit der Zigeunerflut, wie er es nennt, habe jedoch ein Verdrängungsprozess durch die Roma begonnen, die in großer Zahl, rücksichtslos bis aggressiv und ohne jede Kommunikationsbereitschaft aufträten. Schließlich fiel im Sommer 2010 eine Gruppe junger Israelis auf, von denen einige im Mauerpark als Straßenkünstler in Erscheinung traten, die dort aber auch selbstgebackenen Kuchen und Eintrittskarten für Wohnzimmer-Dinner verkauften. Dazu gehörten → Gabriel, → Gahd und → Omer. Ob und gegebenenfalls wie die in den verschiedenen Raumkategorien zahlreich vertretenen Roma miteinander verbunden sind, konnte im Rahmen dieser Feldstudie nicht geklärt werden. Lediglich von → Cristea Nica ist bekannt, dass er noch mit anderen rumänischen Roma-Musikern in einem Haus zusammenlebt. Trotz einigen Cliquen und individuellen Bekanntschaften zeigt sich insgesamt eine schwache bzw. größtenteils gar keine Vernetzung unter den in Berlin tätigen Straßenmusikern. Selbst unter denjenigen, die längerfristig oder regelmäßig hier sind oder schon sehr lange Straßenmusik machen, ist der Zusammenhalt kaum ausgeprägt. Die meisten sind Individualisten. Zudem steht die hohe Fluktuation der Ausbildung von Netzwerken entgegen. Über 40 Prozent der Künstler sind kürzer als einen Monat in der Stadt, vgl. Abschnitt 5.2. Sie könnten sich allenfalls einer weltweiten Straßenmusiker-Community zugehörig fühlen, doch gibt es darauf zunächst keine Hinweise. Auch deutschlandweit existieren keine institutionellen Zusammenschlüsse von Straßenmusikern. Lieberwirth bemerkt, fahrende Musiker seien nie ständisch organisiert gewesen: »[…] hat er [der Spielmann, M.N.] sich doch selbst niemals einem Stand zugehörig gefühlt oder gar einer geschlossenen Gruppe, der ein eindeutiger Standort hätte zugeschrieben werden können.«506 Einzig das von einer Privatperson betriebene Forum Straßenmusik bietet eine überregionale Kommunikationsplattform sowie Möglichkeiten zur Vernetzung, die jedoch scheinbar nur von wenigen Teilnehmern angenommen werden. Zu Berlin im speziellen finden sich dort keine Informationen. 507 Es wäre die Frage näher zu untersuchen, ob und inwieweit Straßenmusiker solche Internetangebote überhaupt kennen bzw. für sich nutzen. In den Interviews wurden weder unter Frage 6 noch an anderer Stelle Straßenmusiker oder Künstler, die früher als Straßenmusiker tätig waren, als musikalische Einflüsse oder Vorbilder genannt. → Philipp sagt zwar, »Kollegen, die man trifft, von überall her« hätten ihn inspiriert, und für → Les Jacky Parmentier stellen andere Pariser Fanfares die Referenz dar. Als Leierkastenmann sieht sich → Orgelmanne in einer alten Tradition, und auch die Praxis des öffentlichen Harinam bei den → Hare Krishnas ist über lange Zeit überliefert. Doch es deutet nichts darauf hin, dass sich heutige Straßenmusiker in Berlin selbst als Nachfolger in einer bestimmten Straßen506 Lieberwirth 1990: 11. 507 Vgl. www.forum-strassenmusik.de – abgerufen am 30.07.2014. Die Adresse www .strassen musik.de gehört hingegen zu einer Künstlervermittlungsagentur.
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musik-Tradition betrachten. Die beobachtete Internationalität unter ihnen ist sicherlich ein Grund dafür: es gibt faktisch keine gemeinsamen Wurzeln. Stattdessen existieren zahlreiche individuelle Anknüpfungspunkte über Musikstile und die unterschiedlichen kulturellen Einflüsse. Das verbindende Element der Aufführungspraxis scheint nicht erkannt bzw. nicht als relevant erachtet zu werden. Obwohl die Voraussetzungen wegen der langen Isolationsphase West-Berlins zur Zeit der Berliner Mauer günstig erscheinen, fehlen hier, anders als in manchen anderen deutschen Großstädten, lokale Identifikationsfiguren für Straßenmusiker, die verbindungstiftend wirken könnten: In Köln waren das über Jahrzehnte hinweg die Drei Rabaue, die bei Fritsch portraitiert sind.508 Klaus der Geiger hat weit über die Stadtgrenzen Kölns hinaus das Bild des politisch aktiven Straßenmusikers geprägt und durch seine integrative Art in den vergangenen Jahrzehnten viele junge Künstler angesprochen und inspiriert. Für Hamburg nimmt der Bluesgitarrist und Sänger Abi Wallenstein diese Rolle ein. Er tritt ebenso wie Klaus von Wrochem regelmäßig auch mit anderen Straßenmusikern in seiner Stadt auf und ist für einige dort ein Vorbild.509 In Leipzig ist der Saxophonist und ehemalige Buchautor Winfried Völlger seit Jahren als Straßenmusiker bekannt. Keiner derjenigen Künstler, die schon seit mehr als zehn Jahren in Berlin auftreten wie → Anatoli, → Naji, → Peter, → Victor oder KlavierHelmut510, hat hier ein derartiges Ansehen erlangt oder wurde in den Interviews als Vorbild oder Kontakt genannt. Auch in Berlin haben allerdings einige namhafte Künstler früher auf der Straße musiziert. Die Kelly Family, die in den 1980er und frühen 1990er Jahren unter anderem im Westteil der Stadt aktiv war, füllte später große Konzerthallen in ganz Europa. Die Berliner Band Ohrbooten sowie die Liedermacherin und ehemalige »Kleingeldprinzessin«511 Dota Kehr haben ihre Karrieren als Straßenmusiker begonnen, werden jedoch nicht mehr als solche wahrgenommen; denn anders als Klaus von Wrochem oder Abi Wallenstein treten sie inzwischen nicht mehr in diesem Rahmen auf. Außerdem sind diese deutschen Künstler im Ausland, aus dem ein Großteil der Berliner Straßenmusiker kommt, unbekannt. Allein → Bernd, der auf deutsche Liedermacher spezialisiert ist, hat einige Lieder von Dota Kehr in seinem Repertoire. Lässt sich nach der bis hier beschriebenen Lage von einer Straßenmusikerszene in Berlin sprechen? Kendra Stepputat definiert Szenen »als ein loses Netzwerk von Personen im urbanen Raum, die auf informellem Wege, auf Grundlage eines gemeinsamen Interesses und in Kenntnis spezieller Regeln, miteinander verbunden sind.«512 Für Alexa Färber zeichnen sie sich dadurch aus, »politisch motivierten, gegenkulturellen Lebensstilen und -entwürfen Ausdruck zu verschaffen.«513 Und Ronald Hitzler und Arne Niederbacher unterscheiden zwischen Organisationseliten, den Gestaltern
508 509 510 511 512 513
Vgl. Fritsch 1972: 59 ff. Vgl. Kokot et al. 2004: 58. Vgl. Anmerkung 409. So lautet der Titel ihres ersten Albums aus dem Jahr 2003. Vgl. Stepputat 2012: 173. Färber 2005: 16.
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und Leitern einer Szene, und normalen Szenegängern, also den teilnehmenden Mitgliedern.514 Diese Charakterisierungen von Szenen scheinen für die vorgefundenen Verbindungen unter Straßenmusikern nicht zutreffend: Zu divers sind die empirisch ermittelten Motive, als dass man von einem gemeinsamen Interesse oder gar einer gerichteten Gegenkultur sprechen könnte. Es existieren offenbar keine für alle geltenden speziellen Regeln im Umgang miteinander, mit anderen oder Berlin betreffend. Ebenso wenig lassen sich unter Straßenmusikern dominierende Individuen oder Gruppen ausmachen, die mit ihrem Handeln einen Einfluss auf andere hätten. Ferner gibt es keine typischen Treffpunkte, die zum Austausch oder zu einer Manifestation oder Reproduktion eines subjektiven Zugehörigkeitsgefühls der Mitglieder dienen.515 Entscheidend scheint jedoch die fehlende Vernetzung der Straßenmusiker untereinander zu sein: Diese verfolgen in erster Linie individuelle Ziele, machen ihr Ding und würden das vermutlich auch tun, wenn es keine anderen Straßenmusiker gäbe. Es bringt ihnen in den meisten Fällen keinen Vorteil, einander zu kennen und Kontakt zu halten. Manfred Stock und Philipp Mühlberg heben des weiteren hervor: »Für die Öffentlichkeit geltende Regeln des Umgangs, die die Wahrung der Distanz zum unbekannten Gegenüber festschreiben […], sind in der Szene außer Kraft gesetzt. Man kann komplikationslos jeden ansprechen, ohne mit Peinlichkeiten rechnen zu müssen.«516 Dazu ist zu bemerken, dass allgemein unter Musikern ein unkomplizierter Umgang üblich ist, der aber unter Straßenmusikern nicht in besonderem Maße ausgeprägt ist. Stepputat weist darauf hin, dass sowohl in der Umgangssprache als auch im wissenschaftlichen Diskurs die Begriffe Szene und Subkultur oft synonym verwendet werden.517 Letzterer beschreibt häufig etwas »versteckt, unter der Oberfläche Existierendes, nicht jedem Zugängliches«518 und wird in den meisten Fällen als Bezeichnung für Jugendkulturen oder Studien solcher gebraucht.519 Christina Heinen bemerkt, Subkulturen leisteten Widerstand gegen die Mehrheitskultur, im Falle der Musik also auch gegen den etablierten Musikbetrieb, und würden im kulturwissenschaftlichen Diskurs als Verweigerungskulturen stilisiert.520 Bei Straßenmusik handelt es sich, wie die Altersstruktur zeigt, nicht speziell um eine Jugendkultur.521 Sie ist – sowohl auf Produzenten- als auch auf Rezipientenseite – prinzipiell jedermann zugänglich. Und obwohl viele der interviewten Straßenmusiker Unterschiede zu Praktiken im Musikbusiness erkennen, vgl. Tabelle 11, und sich diesem gegenüber vereinzelt auch kritisch äußern wie Alexej von den → Nezabudki, ist keine gemeinsame Verweigerungshaltung zu erkennen. Vielmehr sind zahlreiche Straßenmusiker auch in anderen 514 515 516 517 518 519 520 521
Vgl. Hitzler/Niederbacher 2010: 22 ff. Vgl. ebd., 19 f. Stock/Mühlberg 1990: 240 ff. Vgl. Stepputat 2012: 172. Ebd., 171. Vgl. Huq 2006: 9 f. Vgl. Heinen 2013: 35 f. Vgl. Abschnitt 5.1.
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Kontexten musikalisch aktiv, vgl. Tabelle 10, bzw. wünschen sich eine stärkere Einbindung in den professionellen Musikbetrieb, vgl. Tabelle 8. Der Begriff Subkultur erscheint mithin nicht passend, um das Feld der Straßenmusik zu beschreiben. Von außen betrachtet mögen Straßenmusiker als Gruppe oder Szene erscheinen. Doch faktisch sind sie – zumindest in Berlin – untereinander kaum vernetzt. Was sie eint, ist ihre – aus individuellen Gründen getroffene – Entscheidung für eine bestimmte Auftrittspraxis, nämlich die Straßenmusik. Somit bleibt festzuhalten, dass Straßenmusiker in Berlin weder eine Subkultur darstellen noch eine definierbare Szene bilden. Die wenigen vorhandenen Netzwerke mit unterschiedlichen Graden an Verbindlichkeit haben eher den Charakter von Cliquen, die untereinander nicht in Kontakt stehen. Andererseits gibt es zahlreiche Verknüpfungen mit der lokalen Musikszene, da die meisten Straßenmusiker auch in weiteren Kontexten musikalisch aktiv sind bzw. als Neuankömmlinge diesen Kontakt suchen. Straßenmusiker unterhalten also durchaus Beziehungen zu anderen Musikern, doch müssen das nicht unbedingt Straßenmusiker sein.
5.16 STRASSENMUSIK IM TRANSKULTURELLEN FELD Heute ist der Anteil Nicht-Einheimischer unter Berliner Straßenmusikern hoch, die Fluktuation stark. Wie der historische Überblick zeigt, erfuhr die Straßenmusik in Deutschland bzw. Berlin häufig dann Veränderungen und erhielt Impulse, wenn sich neue Migrations- und Reisewege auftaten. Ereignisse und Prozesse wie die Ankunft zahlreicher Musiker aus Lateinamerika zunächst in Frankreich, die deutsche Wiedervereinigung oder die Osterweiterung der EU ebneten Straßenmusikern aus anderen Regionen den Weg nach Berlin. Nicht zuletzt die zunehmende Globalisierung, die mit wachsenden Möglichkeiten der Mobilität und Kommunikation einhergeht, bringt heute Musiker und Gruppen aus vielen, mitunter entfernten Teilen der Welt nach Deutschland. Mit ihnen wird auch die Straßenmusik internationaler und vielfältiger.522 Hier zeigt sich, wie Adelaida Reyes es ausdrückt, »migration’s power to reshape musical life«.523 Prozesse der Vernetzung und eine transkulturelle Prägung der Individuen über mehrfache kulturelle Anschlüsse sind wesentliche Merkmale der gesellschaftlichen Realität auch in Deutschland und insbesondere in Berlin. Die (trans-) kulturelle Diversität moderner Großstädte schlägt sich nicht zuletzt im Musikangebot nieder. Als eine prinzipiell jedem Interessierten offenstehende Auftrittsform bietet Straßenmusik, obwohl als Phänomen an einem Ort, in diesem Falle Berlin, auftretend, Raum für von verschiedensten kulturellen Einflüssen geprägte Stilrichtungen, Instrumente, Lebensformen und -entwürfe. Sie lässt sich weder einem bestimmten Stadtteil noch einer Bevölkerungsgruppe zuordnen. Es handelt sich dabei sicherlich nicht um typi522 In der Dokumentation der Straßenmusik in Köln von Fritsch aus dem Jahr 1972 werden bis auf einen japanischen Konservatoriumsstudenten nur einheimische Straßenmusiker als »die charakteristischsten Vertreter« (Fritsch 1972: 8) präsentiert. Auch im Vorwort werden außer einem Bremer Drehorgelspieler keine weiteren Musiker von außerhalb erwähnt, vgl. ebd., 7 f. 523 Reyes 2012: 14.
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sche Musik aus Berlin – und doch ist sie als Auftrittskultur, deren Gegenwart den Klang der Stadt in charakteristischer Weise beeinflusst, eine für Berlin typische Musikpraxis und in der hiesigen Ausprägung, Zusammensetzung und Konzentration einzigartig. Straßenmusik zeigt sich damit als Ausdruck einer zunehmend transkulturell verfassten Gesellschaft, die horizontal wie vertikal stark differenziert, ethnisch heterogen und durch Mischungen und Durchdringungen gekennzeichnet ist.524 Der öffentliche Raum in dieser Umgebung wird gerne als Experimentierfeld für Neues und für ungewöhnliche Kooperationen genutzt. Das russisch-deutsche → Jazz- und Funk-Duo am Alexanderplatz, → Philipp und sein Compagnon Cesar oder die klassische Violinistin → Elizabeth, die mit den neuseeländischen BalkanPunkern → The Benka Boradovsky Bordello Band musiziert, sind Beispiele dafür. Straßenmusik wird zum Schmelztiegel, in dem Avantgardistisches neben Bekanntem und Klassischem existiert, die elektrische Harfe mit Loop-Station neben der Drehorgel, auf deren Lochbändern sich Berliner Gassenhauer befinden. Nicht alle, aber viele Straßenmusiker suchen den Kontakt zu anderen Menschen und Musikern an verschiedenen Orten. Somit wirken sie als transkulturelle Akteure, indem sie ihre kosmopolitische Seite mit ihrer jeweiligen lokalen Zugehörigkeit und den entsprechenden kulturellen Anknüpfungspunkten verbinden und diese Kombinationen transportieren. In Berlin sind die Aussichten auf Akzeptanz groß, denn hier treffen sie auf ein Publikum, das – selbst zum großen Teil aus kulturellen Mischlingen525 bestehend – offen für Neues und Ungewohntes ist.
5.17 VERÄNDERUNGEN : STRASSENMUSIK IM WANDEL Schon der historische Rückblick hat gezeigt, dass Straßenmusik ein wandelbares Phänomen ist, das mit den Moden der Zeit geht und sich unter anderem den sozialen Gegebenheiten und politischen Rahmenbedingungen anpasst. Auch die Ergebnisse der dieser Arbeit zugrundeliegenden Feldforschung aus den Jahren 2010 und 2011 offenbaren bereits Veränderungen gegenüber den aus den 1970er und 1980er Jahren vorliegenden Beschreibungen. Diese wurden im Wesentlichen in Kapitel 2.3 dargestellt und umfassen verschiedene miteinander zusammenhängende Bereiche, darunter: die regulatorischen und politischen Rahmenbedingungen wie die Offenheit der Behörden gegenüber Straßenmusik oder veränderte Ladenöffnungszeiten in den Innenstädten, die Zusammensetzung der Musiker selbst nach Herkunft, Instrumenten, Stilen etc., auch beeinflusst vom technischen Fortschritt in Form kompakter Verstärkeranlagen und ähnlichem, die Hör- und Konsumgewohnheiten und -vorlieben in der Bevölkerung, also beim Publikum. 524 Vgl. Welsch 1997. 525 Auch jemand, der in Deutschland aufgewachsen ist, kann bedingt durch seine Erziehung, seinen Freundeskreis, längere Auslandsaufenthalte, seinen Lebenspartner, die Vorliebe für eine Sprache oder ein bestimmtes Musikinstrument usw. unterschiedliche kulturelle Prägungen in sich vereinen.
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Während bei Fritsch 1972 etwa noch zahlreiche Drehorgelspieler vorgestellt werden, bemerken bereits Simone Reich und Simon Sell 2004, solche seien »heute nur noch selten zu sehen«.526 Unter den 163 Straßenmusikern und Ensembles der aktuellen Stichprobe sind nur zwei Leierkastenmänner: → Drehorgel-Lothar und → Orgelmanne. Auch die lateinamerikanischen Folkloregruppen sind inzwischen stark dezimiert und in die Jahre gekommen. Sowohl Noll als auch Bohlman beschreiben Ende der 1980er bzw. Anfang der 90er Jahre ihr zahlreiches Auftreten in deutschen Innenstädten.527 Bei Kokot et al. tauchen sie bereits nicht mehr auf. Die wenigen von ihnen, die in Berlin noch existieren, z. B. → Huiñaumanta und → Wayra, haben sich stilistisch in eine neue Richtung entwickelt, vgl. den Exkurs in Abschnitt 5.5. Dafür machen osteuropäische Künstler mittlerweile die Mehrheit der Straßenmusiker in Berlin aus. Unter ihnen sind verschiedene Varianten des Akkordeons die dominierende Instrumentengruppe. Roma treten in den letzten Jahren ebenfalls verstärkt auf und verdrängen durch ihr teils aggressives, unkommunikatives Gebaren andere Gruppen. Das Cajón als kompaktes und vielseitiges Schlaginstrument ist erst in den letzten Jahren in Europa populär geworden und hat sich vor allem unter Bands, die auf der Straße auftreten, verbreitet. Zum ersten Mal ist es bei Reich und Sell als Straßenmusikinstrument in Deutschland dokumentiert.528 Das Aufkommen elektronischer Klangerzeuger und -bearbeiter wie Loop-Stations, Synthesizer etc. in der Straßenmusik wird in der vorliegenden Arbeit für Deutschland erstmals beschrieben. Stroh macht 1984 noch die Straße als Ort der politischen Meinungsbildung aus,529 doch Abi Wallenstein, der seit 1986 in Hamburg Straßenmusik macht, stellt 2004 fest: »Die politische Musik, die war davor. Als ich dazu kam, gab es weniger gesellschaftskritische Musik. Das war eher so Pop und Country, Tanz, KabarettGeschichten und Pantomime.«530 Vereinzelt gehört heute zwar politischer Protest zu den Motiven wie bei der Gruppe → Rhythms of Resistance oder taucht in den Texten auf wie bei dem Duo → Atze Wellblech, doch nennen bezeichnenderweise beide Ensembles Geld als ihr Hauptmotiv. Ein Grund für die abnehmende Bedeutung von Straßenmusik als Protestkultur mag die deeskalierende Wirkung der immer weniger restriktiven Haltung der Ordnungsbehörden sein, die Klaus der Geiger beschreibt: »Deswegen steht und fällt meine Straßenmusik mit dem Engagiertsein, weswegen es auch relativ einfach für mich war, gute Straßenmusik zu machen, solange Polizei und Ordnungsamt mich jagten.«531 Zudem haben sich mit dem Aufkommen neuer Medien wie dem Internet andere Kanäle aufgetan und neue Formen des Protests entwickelt, die vor allem über soziale Netzwerke deutlich effektiver sind als die Verbreitung politischer Botschaften über die Straßenmusik. Auch Straßenmusiker nutzen neue Medien für sich und unterhalten in vielen Fällen eine Internetpräsenz in Form einer eigenen Homepage oder eines Profils auf den 526 527 528 529 530 531
Reich/Sell 2004: 50. Vgl. Noll 1992: 113 f. und Bohlman 1994. Vgl. Reich/Sell 2004: 43 ff. Vgl. Stroh 1984: 40 ff. »Interview mit Abi Wallenstein« in Kokot et al. 2004: 60. Wrochem 1996: 80.
V ERÄNDERUNGEN : STRASSENMUSIK IM WANDEL | 387
Plattformen sozialer Netzwerke. Solche haben die Möglichkeiten der medialen Präsenz und Selbstdarstellung von Straßenmusikern deutlich erweitert. Gleichzeitig macht es die fortschreitende Mediatisierung der Privatsphäre den Straßenmusikern zunehmend schwer, sich gegenüber dem maßgeschneiderten Unterhaltungs- und Informationsangebot von portablen Musikabspiel- und internetfähigen Geräten wie Smartphones und Tablet-Computern zu behaupten. → Michel erklärt, unter dem Einfluss neuer Medien habe sich die Zeit deutlich verlängert, die er brauche, um in der U-Bahn das gleiche Geld einzunehmen wie früher. Das Ende meiner Feldforschung im Herbst 2011 ändert nichts am steten Wandlungsprozess der Straßenmusik in Berlin und anderswo. Offensichtliche Veränderungen seitdem zeigen sich an unterschiedlichen Stellen: Bei U- und S-Bahn werden zunehmend durchgehend begehbare Züge bzw. Doppelwagen eingesetzt, die es Musikern erschweren, jeweils einen klar abgegrenzten Bereich zu bespielen. Vor allem unter Osteuropäern und Roma in den Zügen ist ein Trend dazu zu beobachten, nach dem Zusteigen nur noch bis zum nächsten Halt zu spielen und nicht wie bisher üblich bis zur übernächsten Station. In den U- und S-Bahnen sind heute mehrere Osteuropäer unterwegs, die eine Playbackanlage aus mp3-Player und portabler Verstärkerbox verwenden, die zumeist auf einem Einkaufstrolley montiert ist. Dazu wird z. B. Trompete, Saxophon oder Akkordeon gespielt und bzw. oder gesungen. Meist treten sie zu zweit auf. Während diese Variante 2010 noch ganz neu war und durchaus positive Publikumsreaktionen ausgelöst hat (vgl. → Bulgare in der U-Bahn), ist sie inzwischen professionalisiert. Die Leute bleiben gleichgültig oder sind genervt, zumal seit Jahren die gleichen Melodien ertönen: »Hit the Road, Jack« zur Andalusischen Kadenz in Endlosschleife oder die Gospel-Songs »When the Saints Go Marching In« und »Oh, Happy Day«, zur Weihnachtszeit auch »Jingle Bells«.532 Loop-Stations und andere elektronische Effektgeräte und Klangerzeuger befinden sich weiterhin auf dem Vormarsch. Im Sommer 2014 fiel mir erstmals eine Straßenmusikerin auf, die allein mit einem Tablet-Computer (iPad) und Verstärker Klänge produzierte. Es ist anzunehmen, dass der Anteil der Straßenmusiker, die eine eigene Internetpräsenz unterhalten, tendenziell noch gestiegen ist, da soziale Netzwerke heute weiter verbreitet sind als zur Zeit der Erhebung. Unter Musikern im allgemeinen wurde Myspace als vor einigen Jahren noch vorherrschendes soziales Netzwerk im Internet durch die Plattformen anderer Anbieter wie Facebook, Soundcloud und Youtube abgelöst. Auch viele der in dieser Arbeit portraitierten Straßenmusiker haben ihre Aktivitäten entsprechend verlagert. Die allgemein intensive Nutzung sozialer Netzwerke in Verbindung mit der weiten Verbreitung mobiler internetfähiger Geräte wie Smartphones hat Implikationen für ein in Abschnitt 2.1.1 genanntes wesentliches Merkmal von Straßenmusik, nämlich die unangekündigte Aufführung: Heute ist es Musikern und Bands 532 Vgl. Birnbach/Schapira 2013.
388 | S TRASSENMUSIK IN B ERLIN: E RGEBNISSE UND ANALYSE
z. B. über Facebook möglich, extrem kurzfristige Ankündigungen für Auftritte – auch im Rahmen von Straßenmusik – bis hin zu Live-Streamings einem großen Personenkreis quasi in Echtzeit zur Verfügung zu stellen. Auf diese Weise steigt die Wahrscheinlichkeit, sich auch bei spontanen Darbietungen in der Öffentlichkeit durch die Anwesenheit von Bekannten unterstützen zu lassen, was Auswirkungen auf die Aufführungssituation haben kann. Smartphones mit hochwertigen eingebauten Kameras und mobilem Internetzugang erlauben es sowohl Passanten als auch den Künstlern selbst, Fotos oder Videos zu machen und diese auch noch unmittelbar online zu stellen. Die Gelegenheit, per Smartphone-App direkt über Online-Plattformen wie itunes Musik der eben live erlebten Künstler zu kaufen oder sich über soziale Netzwerke mit den Musikern zu verbinden und sich über deren Aktivitäten zu informieren, eröffnet neue Wege des Selbstmarketings auch für Straßenmusiker. Die Initiative Berlin Street Music versucht seit 2015 ein Forum für Straßenmusiker in Berlin zu etablieren, das einerseits Informationen etwa über die gesetzlichen Bestimmungen in der Stadt bereithält und andererseits das Networking und die Verständigung zwischen Künstlern, Veranstaltern, Spielorten, der Öffentlichkeit wie auch der Stadtverwaltung fördern möchte und sich daneben politisch für die Rechte von Straßenmusikern sowie die Akzeptanz von Straßenmusik einsetzt.533 Es ist nicht bekannt, wie dieses Angebot von den verschiedenen Akteuren angenommen wird. Seit 2015 hat auch Berlin ein – privat organisiertes und gesponsertes – Straßenmusikfestival: Am 28. und 29. August fanden die East Side Music Days am östlichen Spreeufer zwischen Postbahnhof und Oberbaumbrücke statt; ein Areal, auf dem auch sonst bisweilen Straßenmusiker anzutreffen sind. Nach Angaben der Veranstalter traten dort über 150 Künstler und Bands bei freiem Eintritt auf der Straße und auf Bühnen vor mehr als 20.000 Zuschauern auf.534 Die beteiligten Musiker mussten sich im Vorfeld bewerben und wurden auf Grundlage einer Jury-Entscheidung eingeladen. Bereits 2014 gab es ein ähnliches Format unter dem Titel First We Take The Streets, das sich allerdings noch nicht explizit als Straßenmusikfestival verstand und aus dem die East Side Music Days hervorgegangen sind. Nicht zuletzt sind mittlerweile nur noch einige derjenigen Straßenmusiker in Berlin aktiv, die ich 2010 und 2011 angetroffen habe – es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, vgl. Abschnitt 5.2. Dafür sind neue aufgetaucht und mit ihnen neue Musikstile, Instrumente und Auftrittsformen.
Diese Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie gibt bestimmte Aspekte wieder, die mir im Nachgang meiner Feldforschung aufgefallen sind – und wird in Kürze bereits durch weitere Entwicklungen überholt sein. Nettl weist auf Wiederholungsstudien als Mittel hin, um Veränderungsprozesse zu untersuchen.535
533 Vgl. www.berlinstreetmusic.com – abgerufen am 30.09.2015. 534 Vgl. www.eastsidemusicdays.com – abgerufen am 30.09.2015. 535 Vgl. Nettl 2005: 138.
6. Schlusskadenz
Mit der vorliegenden Arbeit wird eine detaillierte Beschreibung der Straßenmusik zur Verfügung gestellt, die in Berlin stattfindet. Erstmals wurden auch Musiker in Lokalen, auf U-Bahnhöfen sowie in U- und S-Bahnen mit ihren spezifischen Auftrittscharakteristika eingehend untersucht. Auf eine Gegenstandsdefinition folgten die Vorstellung und Einordnung einschlägiger Literatur sowie ein historischer Überblick über verwandte Phänomene in der Vergangenheit und die Entwicklung der heute präsenten Straßenmusik. Überlegungen zum Stadtraum, in dem Straßenmusik stattfindet, und zur rechtlichen Situation ergänzen die Betrachtungen. Den Kern der Untersuchung bildet eine umfangreiche Feldstudie, die in den Jahren 2010 und 2011 im Berliner Stadtgebiet stattfand. Zunächst wurde das methodische Vorgehen geschildert. Im Anschluss wurden anhand einer breiten Stichprobe zahlreiche Einzelfälle dargestellt und einer statistischen Auswertung und vergleichenden Analyse unterzogen. In diesem abschließenden Kapitel werden die Kernaussagen zusammengefasst, die sich aus der Analyse ergeben. Darauf und auf den Überlegungen in Kapitel 2 aufbauend folgen eine Darstellung der soziokulturellen Dimension von Straßenmusik sowie ein Ausblick.
6.1
KERNAUSSAGEN
Die Ergebnisse der Feldforschung unter Straßenmusikern in Berlin zeigen: Straßenmusiker sind in der Mehrzahl männlichen Geschlechts. In der untersuchten Stichprobe liegt der Männeranteil bei 82 Prozent. Die Altersspanne reicht von ca. 10 bis 77 Jahren. Fast drei Viertel (73,2 %) sind zwischen 20 und 39 Jahren alt. Unter Frauen liegt dieser Anteil mit 86,5 Prozent noch höher. Deutschland ist mit knapp 28 Prozent unter Berliner Straßenmusikern das am häufigsten vertretene Herkunftsland. Osteuropäer bilden mit einem Anteil von insgesamt 42 Prozent die größte Gruppe. Mit einem Anteil von 56,9 Prozent sind die meisten der Straßenmusiker in Berlin ortsansässig, das heißt länger als einen Monat in der Stadt. Gleichzeitig ist die Fluktuation hoch, denn 43,1 Prozent bleiben maximal einen Monat in der Stadt.
390 | S CHLUSSKADENZ
Solisten sind unter Straßenmusikern am häufigsten. Sie machen 61,7 Prozent der beobachteten Einheiten aus. Duos sind die verbreitetste Ensembleform. Gesang ist ein zentrales Element und kommt bei knapp der Hälfte (47,4 %) aller Künstler und Ensembles vor. Englisch ist die mit Abstand am häufigsten gesungene Sprache. Deutsch, Russisch und Spanisch kommen ebenfalls in nennenswertem Umfang vor. Straßenmusiker verwenden eine große Bandbreite an Instrumenten aller Klassen. Preiswerte, kompakte Verstärkertechnik begünstigt dabei leise und elektrische Instrumente. Etwa ein Drittel (34,5 %) spielt mit Verstärkung. Die Gitarre in zahlreichen Varianten ist das gebräuchlichste Instrument in der Straßenmusik. Weitere häufig vorkommende Instrumente sind Akkordeon, Saxophon, Schlagzeug und Violine. Traditionelle Instrumente der Straßenmusik wie Drehleier, Drehorgel, Flöten oder Harfe spielen kaum noch eine Rolle. Straßenmusik vereint eine große stilistische Vielfalt. Am wichtigsten sind traditionelle und Volksmusik, Folk-, Country-, Pop-, Rock-, Jazz- und klassische Musik. Eigenartige Stile und improvisierte Musik kommen ebenfalls in wesentlichem Umfange vor. Die meisten Straßenmusiker greifen in ihrem Repertoire auf Interpretationen zurück. Doch auch Eigenkompositionen und improvisierte Musik spielen eine wichtige Rolle. Unter Straßenmusikern finden sich alle möglichen Niveaustufen vom Anfänger bis zum Konservatoriumsabsolventen oder professionellen Studiomusiker. Der größte Teil der Künstler bezeichnet sich als Autodidakten. Geld und andere wirtschaftliche Interessen sind für Straßenmusiker die zentralen Motive. Für fast jeden fünften (18,4 %) spielt monetäre Anerkennung hingegen gar keine Rolle. Ideelle Aspekte sind unter den Motiven für Straßenmusik zahlreich vertreten. Die wichtigsten sind: Spaß und Freude an Straßenmusik, Zwischenmenschliche Kontakte und Begegnung, Musikalische Weiterentwicklung durch öffentliches Ausprobieren, Üben und Proben sowie Promotion bzw. Werbung in eigener Sache. Straßenmusiker haben größtenteils eine positive Einstellung zu ihrer Tätigkeit. Nur 5,3 Prozent machen ungern Straßenmusik. Viele Straßenmusiker gehen der Straßenmusik über lange Zeiträume hinweg nach. Zwei Drittel machen länger als ein Jahr Straßenmusik, die Hälfte davon mindestens fünf Jahre. Die hohe Fluktuation unter Straßenmusikern ist auch durch das Drittel bedingt, das maximal ein Jahr lang dabei bleibt. Der größte Teil der Straßenmusiker in Berlin (81,8 %) ist zusätzlich in anderen Kontexten musikalisch aktiv; 11,1 Prozent der Interviewten arbeiten als professionelle Musiker. Viele der Nichtprofessionellen würden ihr Handlungsfeld gerne auf professionelle Engagements ausweiten. Straßenmusik ist über zahlreiche Schnittstellen eng mit dem lokalen Musikleben Berlins verknüpft und steht über die Musiker im steten Austausch damit. Diverse Merkmale unterscheiden in den Augen von Straßenmusikern Straßenmusik von Musik in anderen Zusammenhängen:
K ERNAUSSAGEN | 391
Freiheit und Unabhängigkeit, die Herausforderung, die Aufmerksamkeit des Publikums erst zu gewinnen und die Bühne im öffentlichen Raum selbst zu kreieren, das besondere Verhältnis zum Publikum, das nicht der Künstler wegen da ist und zudem fluktuiert. Straßenmusik leistet einen wichtigen Beitrag zum Lebensunterhalt vieler Straßenmusiker (55,6 %). Einige leben vollständig davon. Musik in anderen Kontexten sowie andere Berufe sind weitere bedeutsame Einkommensquellen. Die allermeisten Straßenmusiker (90,2 %) treten nur oder bevorzugt in einer der Raumkategorien öffentliches Straßenland, vor und in Lokalen, auf U-Bahnhöfen und in U- und S-Bahnen auf. Straßenmusik wird von einigen täglich praktiziert, von anderen nur sporadisch oder im Urlaub. Straßenmusiker nutzen neue Medien wie digitale Tonträger und das Internet, um sich zu präsentieren, für sich zu werben und Kontakt zu ihrem Publikum zu halten. Viele Straßenmusiker passen ihr Repertoire und bzw. oder ihre Spielweise situationsbezogen an das Publikum an. Während es manchen dabei um Gewinnmaximierung geht, steht für andere die Intensivierung der Interaktion und gemeinsamen ästhetischen Erfahrung mit ihren Zuhörern im Vordergrund. Die meisten Straßenmusiker treten bewusst und befinden sich stetig in Kontakt mit ihrem Publikum und beziehen interaktive Elemente in ihre Darbietungen mit ein. Die Wahrnehmung von Straßenmusik ist ebenso wie die Reaktionen darauf überwiegend positiv. Straßenmusik wird unter anderem als Bereicherung des Alltags und Belebung öffentlicher Orte geschätzt. Oft aber wird sie auch als ärgerlich und störend empfunden. Dies betrifft insbesondere Situationen, in denen sich der Zuhörer nicht frei dafür oder dagegen entscheiden kann, der Darbietung beizuwohnen, oder in denen Musiker aufdringlich um Spenden bitten. Vor allem musikalische Auftritte in U- und S-Bahnen stellen aus den oben genannten Gründen für viele Fahrgäste eine Zumutung dar. Berechnende und lieblose Darbietungen, die »mehr Geschäft als Leidenschaft« erkennen lassen, werden besonders gering geschätzt. Straßenmusiker in Berlin bilden keine Szene im engeren Sinne. Die meisten sind Individualisten. Es existieren weder ein Netzwerk noch eine Organisation, die auch nur einen wesentlichen Teil der Künstler repräsentieren. Straßenmusiker sind transkulturelle Akteure in einem gesellschaftlichen Umfeld, das stark differenziert, ethnisch heterogen und durch Mischungen und Durchdringungen gekennzeichnet ist. Berlin verfügt über eine außerordentliche Fülle an Orten, die sich für Straßenmusik eignen und auch dazu genutzt werden – teils legal und teils illegal. Berlin vereint darüber hinaus zahlreiche Eigenschaften in sich, die die Stadt für Straßenmusiker und andere Kreative attraktiv machen. Dazu gehören Internationalität, Offenheit, Toleranz sowie die freie, entspannte Atmosphäre, die sich unter anderem in der liberalen Haltung der Behörden gegenüber der Straßenmusik zeigt.
392 | S CHLUSSKADENZ
Die vorstehenden verallgemeinernden Aussagen können nicht davon ablenken, dass die Gesamtheit der Straßenmusiker eine heterogene Menge darstellt. Nicht nur zwischen den einzelnen Individuen existieren Unterschiede. Die Künstler selbst können kontextabhängig mehrere Identitäten besitzen: Manche sind nicht nur Straßenmusiker, sondern gleichzeitig Studio- und bzw. oder Konzertmusiker, Unterhalter usw. oder gehen völlig anderen Beschäftigungen nach. Es gibt weder den typischen Straßenmusiker noch das eine Motiv oder die Auftrittsstrategie. Diese Vielfalt und Verschiedenheit unter den Künstlern mit unterschiedlichsten Hintergründen, die große Bandbreite an Stilrichtungen sowie der Reichtum an Sprachen und Musikinstrumenten – auch traditionellen – sind an sich bedeutungsvoll und charakterisieren das Phänomen Straßenmusik entscheidend. Straßenmusik ist nicht per se eine Form des Bettelns oder lässt sich auf den Gelderwerb als alleinige Triebfeder reduzieren. Sie stellt vielmehr für zahlreiche Musiker eine künstlerische Ausdrucksform und Auftrittskultur dar, die aus diversen Motiven heraus neben Konzerten und anderen Arten der musikalischen Betätigung bewusst und ohne Not gewählt wird. Als Kriterium ist somit die Aufführungssituation ausschlaggebend – und nicht die Motivation. Trotz den teils hinderlichen Veränderungen im öffentlichen Raum wie auch in den Gewohnheiten der Menschen bezüglich des Konsums von Musik zeigen die Ergebnisse dieser Arbeit, dass Straßenmusik nicht nur nicht aus dem Stadtbild verschwunden ist, sondern in Berlin höchst lebendig und facettenreich in Erscheinung tritt.
6.2
STRASSENMUSIK : SOZIOKULTURELLE BEDEUTUNG
Straßenmusik ist – nicht nur in Berlin – ein Bestandteil des urbanen Lebens, des kulturellen Betriebs und als Auftrittspraxis ein ernstzunehmender Teil des lokalen Musikgeschehens. Gleichzeitig ist sie im Alltag der Bewohner der Stadt präsent und erfüllt unterschiedliche Funktionen in diesen Bereichen. Ihre bislang häufig unterschätzte soziale wie kulturelle Bedeutung ist subtil und vielfältig und hat sich, wie die Geschichte zeigt, im Laufe der Zeit mehrfach gewandelt, während der performative Akt an sich im Wesentlichen gleich geblieben ist.536 Früher spielten Musiker im öffentlichen Raum eine wichtige Rolle bei der Verbreitung von Nachrichten wie von populärer Musik, sorgten für Unterhaltung und gute Laune, übten gleichzeitig Gesellschaftskritik, übernahmen rituelle Aufgaben oder sangen Loblieder für ihre Gönner, vgl. Kapitel 2.3. Ein Großteil dieser Funktionen wird mittlerweile durch andere Medien ausgefüllt oder ist heute obsolet. Nach wie vor bilden Straßenmusik und Straßenmusiker eine kulturelle Ressource, indem sie heutzutage mehr denn je eine große Bandbreite an Musikstilen, -repertoires, -instrumenten, Sprachen, (trans-) kulturellen Hintergründen usw. öffentlich repräsentieren. Als solche ist Straßenmusik im Stadtraum sichtbar und für jedermann unbeschränkt zugänglich. Bohlman bemerkt: »It is precisely in street music, moreover, 536 Mendívil (2008: 90) bemerkt: »Rituale können performativ für eine breite Zeitspanne im Wesentlichen gleich bleiben und trotzdem neue Bedeutungen generieren.«
S TRASSENMUSIK : S OZIOKULTURELLE BEDEUTUNG | 393
that the constructed distinctions between folk, popular, and élite music come undone, for it is a music that singles out no one audience, but rather invites all to listen.«537 Doch darüber hinaus bringt sie sich ungefragt und ohne weiteres Zutun in den Alltag der Menschen ein – und zwar an Orten, die dafür weder gemacht noch offiziell designiert sind. Es handelt sich bei Straßenmusik um ein weitestgehend zwangloses kulturelles Angebot, frei von zeitlichen wie räumlichen Restriktionen: Sie lädt ein zum spontanen Verweilen, es existieren weder Termindruck noch andere Dringlichkeiten wie die rechtzeitige Besorgung der Tickets. Man kommt stets rechtzeitig und kann wieder gehen, wenn man genug hat – ohne sich wegen des entrichteten Eintritts Gedanken zu machen. Der Einlass wird nicht verwehrt, wenn man nicht schon vor Beginn der Aufführung da war, man muss sich nicht einmal extra zum Aufführungsort begeben. Es gibt weder eine Kleiderordnung noch findet über den Preis eine Selektion des Publikums statt – eher schon durch Vorurteile gegenüber Straßenmusikern. Die Bedingungslosigkeit, mit der Straßenmusik konsumiert werden kann und darf, trägt weiter zur Entspannung bei: Man muss nichts kaufen, unterschreiben oder tun und ist frei, unbeschwert zu genießen und bei Gefallen anzuerkennen. Straßenmusik ist eine informelle Musikpraxis, die sich mit ihrer Umwelt verbindet, ein Teil von ihr ist und unfokussiert wahrgenommen wird bzw. werden darf, während die formelle Musikpraxis die Umgebung vorgibt und uneingeschränkte Aufmerksamkeit einfordert.538 Vom Charakter her ist diese Aufführungskultur schon immer demokratisch und unelitär gewesen, denn sowohl auf Produzenten- als auch auf Konsumentenseite steht sie prinzipiell allen Interessierten offen. Lukas Richter hebt diesbezüglich die historische Rolle des Leierkastenmannes hervor: »In der Tat diente das Spiel der Drehorgel gerade um die Jahrhundertwende zum Ersatz für die unterdrückten Kunstbedürfnisse der proletarischen und kleinbürgerlichen Schichten, denen ein Konzertbesuch versagt war.«539 Dieser spendete »den vom Schicksal benachteiligten Mietskasernenbewohnern so viel Freude […] jedem nach seinem Verlangen«.540 Indem Straßenmusiker sich den Raum für ihre Auftritte einfach nehmen, erinnern sie daran, dass die Welt eine Bühne ist, auf der jeder das Recht hat aufzutreten, sich in der künstlerischen Äußerung zu versuchen und sich frei zu entfalten. Es braucht dazu weder einen Plattenvertrag noch ein Millionenpublikum oder ein Musikstudium. Somit bildet Straßenmusik – auch in ihrer Unabhängigkeit von kulturellen oder sonstigen normierenden Autoritäten – einen Kontrast zu der Welt des Kommerzes und der modernen leistungs- und gewinnorientierten Gesellschaft, vor deren Kulisse sie sich in Fußgängerzonen und Einkaufspassagen abspielt: Ohne vollmundige Werbeversprechen und ungekünstelt weckt sie das Bewusstsein der Konsumenten – auch Touristen können Stadtkonsumenten sein – für nichtkommerzielle kulturelle Ereignisse. Jenseits gebündelter Konsumlust gilt es hier kein Produkt zu verkaufen, sondern innezuhalten und in Kontakt miteinander zu treten.
537 538 539 540
Bohlman 1994: 125. Vgl. Prato 1984: 152 f. Richter 2004: 86. Ebd., 85 f.
394 | S CHLUSSKADENZ
Straßenmusik ist ein sozialkommunikatives Medium. In einer zunehmend virtuellen Welt stellt sie den Bezug zur konkreten Situation, zum Hier und Jetzt, her. Sie ermöglicht das heutzutage für die meisten Menschen so selten gewordene musikalische Live-Erlebnis in großer Direktheit, quasi Musik zum Anfassen. Wie Live-Musik im allgemeinen steht auch Straßenmusik mit ihrem Angebot unmittelbarer sinnlicher Erfahrungen dem Trend zur Mediatisierung aller Lebensbereiche entgegen. Konzerte bieten, indem man die Künstler singend, spielend und kommunikativ mit dem Publikum interagierend erlebt, eine Qualität, die das zunehmend »verdigitalisierte Leben«541 sonst vermissen lässt. Sie stellen, so Kleist, angesichts der Omnipräsenz und 542 -verfügbarkeit digitaler Musik einerseits ein »Relikt des ›Analogzeitalters‹« dar. Andererseits: »Die Authentizität der live-Situation vermochte jedoch bisher noch keine der Reproduktionsmöglichkeiten zu ersetzen […]«543 In seiner Erhebung fragt Lars Dammann unter anderem nach Gründen, die gegen den Besuch von Konzerten sprechen. Auffallend ist, dass die vier am häufigsten genannten Argumente, nämlich hohe Eintrittspreise, schlechte Luft, hohe Lautstärke sowie dichte Menschenmengen, sämtlich prinzipiell nicht auf Straßenmusik zutreffen – weitere wie schlechte Bands oder schlechter Sound hingegen unter Umständen schon.544 Gleichzeitig bietet Straßenmusik vieles von dem, was jungen Menschen an Live-Musik wichtig ist, insbesondere das echte, direkte, authentische Live-Erleben von Musik.545 Bei Dammann werden neben »Das besondere Live-Erlebnis, ›Echtheit‹« auch die »Atmosphäre/Stimmung bei Konzerten« sowie »Bands mit eigenen Augen sehen« oder »Musiker hautnah erleben« relativ häufig als Gründe für Konzertbesuche genannt.546 Das zeigt, dass es ein Bedürfnis nach einer ungefilterten, transparenten Darbietung ohne Tricks und Spezialeffekte gibt, wie sie für Straßenmusik charakteristisch ist, die – »handgemacht […] und frisch zubereitet«547 – einer gewissen Do-It-YourselfÄsthetik548 nicht entbehrt. Doch Straßenmusik geht über die bloße Live-Erfahrung hinaus: Viele der in dieser Arbeit beschriebenen Straßenmusiker beziehen bewusst das Publikum in ihre Darbietungen mit ein. Sie machen es zu einem Teil des Live-Events und Straßenmusik zu einem partizipativen Ereignis und Erlebnis, das das Potential hat, die Menschen in ihrer Alltagsroutine zu überraschen und zu berühren. Hier besteht für das Publikum die Gelegenheit, in unmittelbaren Austausch mit den Künstlern zu treten und Wertschätzung individuell und direkt auszudrücken, ohne dabei in der anonymen Masse zu verschwinden. Und dieser Austausch findet statt: Viele Musiker berichten von den zahlreichen Zuhörern, die in den Spielpausen das Gespräch suchen, interessierte Fragen zu Musik, Instrumenten, Herkunft usw. stellen. Auf diese Weise bringt Straßenmusik Künstler und Publikum zusammen und hat dadurch eine wichtige sozialkommunikative Funktion. Small bemerkt, wie sehr heutige Konzertsäle – ebenso 541 542 543 544 545 546 547 548
Schneider 2008: 188. Kleist 2008: 395. Ebd., 424. Vgl. Dammann 2008: 364, Tabelle 8.11. Vgl. Kleist 2008: 487, Tabelle 16.28. Vgl. Dammann 2008: 360 f. Vgl. Völlger 2009: 1 (Kapitel 1: Vorspiel und Einführung). Vgl. z. B. McKay 1998 oder Bailey 2012.
S TRASSENMUSIK : S OZIOKULTURELLE BEDEUTUNG | 395
wie Theater, Sportarenen etc. – aufgrund ihrer Architektur dafür konstruiert sind, jede aktive Teilnahme des Publikums, jede Verbindung und Interaktion zwischen Aufführenden und Rezipienten zu unterbinden und beide Gruppen räumlich strikt voneinander zu trennen.549 Bei der Straßenmusik ist gerade das Gegenteil der Fall: Die Künstler konstruieren in der Interaktion mit ihren Zuhörern einen Raum für die unmittelbare Begegnung auf Augenhöhe. Die Grenze zum Publikum fehlt hier, es gibt weder eine abgehobene Bühne noch einen Backstage-Bereich, stattdessen ist Kommunikation in beiden Richtungen sehr viel direkter möglich. Häufig laden die Musiker zum spontanen Mitmachen ein, lassen z. B. Kinder ihre Instrumente ausprobieren oder animieren zum Tanz. Somit können sie eine wichtige Funktion bei der Vermittlung von Musikkultur im Alltag übernehmen.550 Straßenmusik gibt gleichzeitig innerhalb des Publikums Gelegenheit, sich über soziale Unterschiede hinweg zu verständigen, mittels des gemeinsam erlebten kulturellen Ereignisses miteinander in Kontakt zu treten und ins Gespräch zu kommen. Tanenbaum erkennt in der Musik auf New Yorker U-Bahnhöfen »[…] many forms of social interaction and cross-cultural exchange among musicians, between musicians and audience members, and among audience members.«551 Die öffentliche Darbietung auch ungewöhnlicher Stile, Repertoires und Instrumente im Rahmen von Straßenmusik erfolgt unangemeldet. Die Passanten, die zum Großteil an das konventionelle, dem Massengeschmack angepasste Musikprogramm in den Medien gewöhnt sind, werden dabei ungefragt mit Musik und Künstlern konfrontiert, die sie sich von sich aus nicht anhören würden und zu denen sie zunächst keinen Bezug haben. Sie werden dadurch daran erinnert, dass jenseits ihres eigenen kulturellen und musikalischen Horizontes noch eine Vielfalt musikalischer Formen vorhanden ist. Im Idealfall wird die nähere Beschäftigung mit dem Erlebten und damit eine Erweiterung des individuellen Horizonts angeregt. Durch ihre kulturelle – und soziale – Diversität, mit der sich Straßenmusik nicht hinter Türen und Mauern in Konzertsälen verbirgt und sich dort einem exklusiven Publikum vorbehält, fördert sie somit die ästhetische Offenheit der Menschen sowie ihre ethische Flexibilität. Das Fremde, Ungewohnte, Andere wird auf diese Weise nicht als Bedrohung erlebt, sondern als kulturelle Bereicherung.552 In der modernen Stadt transformiert Straßenmusik den urbanen Raum durch ihren öffentlichen und interaktiven Charakter in verschiedener Hinsicht. Sie hält von der Norm abweichendes Verhalten, unvorhergesehene Wahrnehmungen und nicht geplante Begegnungen im Alltag bereit und schafft dadurch Bezugspunkte in abstrakten Räumen. Die zunächst statisch scheinenden architektonischen, landschaftlichen, 549 Vgl. Small 1998: 27, 42. 550 Klaus der Geiger: »Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich kenne beide Situationen, die Bühnensituation, aber eben auch die Situation, wenn vor mir oder um mich herum auf gleicher Höhe mit mir Menschen stehen, manchmal Hunderte, denen ich was sing’ oder geig’, und bei denen es so ankommt, wie’s bei mir rauskommt. Ich bin davon überzeugt, daß diese Situation künstlerisch und menschlich ungleich befriedigender für alle Beteiligten ist.« (Wrochem 1996: 156) 551 Tanenbaum 1995: x. 552 Vgl. Schmidt-Salomon 2014: 218.
396 | S CHLUSSKADENZ
dinglichen Gegebenheiten von Nicht-Orten wie Straßen, Fußgängerzonen, Bahnhöfen, Bahnstrecken, Zügen etc. erfahren durch soziale, individuelle und emotionale Besetzungen eine dynamische Belebung. Straßenmusiker deuten mit ihren Darbietungen den zweckorientierten urbanen Transitraum für sich und andere um, indem sie sich ihre Auftrittsorte nicht nur nehmen, sondern sie im Handeln und in der Interaktion als solche erst konstruieren. Sie geben ihnen mit ihrer Präsenz ein Gesicht und laden dort zum bewussten Verweilen und Durchbrechen der Alltagsroutine ein, wo man sonst nur notgedrungen Zeit verbringt, z. B. beim Warten auf die nächste S-Bahn. Auf diese Weise macht Straßenmusik Nicht-Orte temporär zu Orten, an denen Leben und Kommunikation stattfinden – wodurch sich unter anderem das individuelle Sicherheitsempfinden an solcherart beseelten Plätzen erhöht: »Je unterschiedlicher ein Ort genutzt wird, umso sicherer und einladender wirkt er, weil die soziale Kontrolle größer ist und es die verschiedensten Menschen gibt, die im Notfall helfen könnten.«553 Die Konstruktion von Nicht-Orten im urbanen Raum wird heutzutage von vielen Menschen noch individuell zugespitzt durch die tragbare Privatsphäre in Form von Smartphones, Tablet-Computern und ähnlichen portablen Multimediageräten. Man schottet sich über Kopfhörer und den starr auf die Displays gerichteten Blick von der Außenwelt ab, agiert auch an Nicht-Orten wie in der U-Bahn in seinem – virtuellen – sozialen Netzwerk oder bearbeitet die berufliche E-Mail-Korrespondenz. Nicht-Orte werden dadurch noch anonymer, interaktionsärmer und stärker auf ihre primäre Funktion reduziert: den Transit zwischen A und B. Durch die oben beschriebene Förderung der Interaktion unter Fremden wirkt Straßenmusik der Verinselung der Menschen im nicht-privaten Raum entgegen. Sie dient als Katalysator für das Entstehen von Öffentlichkeit, die einander unbekannten Menschen die Möglichkeit gibt, sich zu begegnen, miteinander umzugehen und zu kommunizieren. Viele Straßenmusiker ziehen mit ihrer Musik von Ort zu Ort, von Land zu Land oder sogar von Kontinent zu Kontinent und tragen auf diese Weise zum kulturellen Austausch und zur Befruchtung der lokalen Musikszenen untereinander bei. Sie suchen häufig den Anschluss an den städtischen Musikbetrieb und speisen ihren Erfahrungsschatz über zahlreiche Schnittstellen dort ein. Straßenmusik kann dabei einerseits als Türöffner und Einstieg für die Künstler relevant sein und neue Kontakte erschließen helfen. Auf der anderen Seite verbreitet sich über sie der kreative Output aus anderen Kontexten unter den Leuten, denn viele Künstler nutzen Straßenmusik als Plattform zum Ausprobieren, als Rahmen für öffentliche Proben sowie als Werbemedium für sich und eigene Konzerte. Während in den meisten Fällen die Musik selbst im Vordergrund der Darbietung steht, gibt es auch Fälle, in denen andere performative Ausdrucksformen wie Straßentheater, Artistik oder Kleinkunst durch Straßenmusik unterstützt und ergänzt werden. Als Auftrittspraxis ist Straßenmusik ein Teil des musikalischen und kulturellen Lebens einer Stadt wie Berlin. Die örtliche kreative Szene zieht Straßenmusiker an, die wiederum sowohl die Klangkulisse als auch das Flair der Stadt durch ihre Präsenz aktiv mitprägen und dadurch die Attraktivität für andere Kreative erhöhen. Straßenmusik findet nicht nur inmitten der Gesellschaft, sondern auch mit starkem Bezug zur 553 Keller 2016.
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lokalen Musikszene statt – und steht somit weder am Rande der einen noch der anderen. Straßenmusik hat – unabhängig von ihrem konkreten Inhalt – stets eine politische Komponente: Die Duldung des spontanen Musizierens in der Öffentlichkeit und der unkontrollierten Meinungsäußerung vor einem öffentlichen Publikum zeugt von einer liberalen Atmosphäre. In autoritären Systemen kann Straßenmusik durch ihre bloße Ausübung als Mittel politischer Auseinandersetzung wirken, wie das Beispiel der ehemaligen DDR zeigt: »Die grundsätzliche und allgegenwärtige Furcht der Partei, es könne jemand seine eigene Meinung artikulieren, ließ jeden weiteren Gedanken an unkontrollierbare Auftritte als geradezu aussichtslos erscheinen.«554 Die Möglichkeit für Straßenmusiker, in der Öffentlichkeit unbehelligt aufzutreten, sich künstlerisch zu entfalten sowie gegebenenfalls ihre (politische) Meinung offen kundzutun, reflektiert das Freiheitsgefühl in der Gesellschaft. Sie ist eine alltägliche subtile Erinnerung daran, dass jeder diese Freiheit besitzt und nach seiner Façon in Anspruch nehmen darf. »Auf die Spitze getrieben kann man sagen, dass Musik dann politisch ist, wenn sie vom ›bürgerlichen Normalzustand‹ abweicht.«555 Die zunehmende gesellschaftliche und politische Akzeptanz und Toleranz solcher Normabweichungen wie Straßenmusik ist ein Zeichen für einen sozialen Wandel hin zu einer gesteigerten Wertschätzung individueller Entfaltungsfreiheit. Straßenmusik hat in der Geschichte wiederholt als Ventil politischer Forderungen sowie als subversive Protestform gegen herrschende Strukturen und Systeme gewirkt, die die persönliche Freiheit und das Mitbestimmungsrecht des Einzelnen einschränkten. Wie die von Lieberwirth zusammengetragenen Ereignisse in Ostdeutschland eindrücklich zeigen, können Straßenmusiker Katalysatoren politischer Ereignisse, Vorreiter und Vorboten revolutionärer Veränderungen sein.556 Max Richter stellt fest: »[M]usic as a cultural form anticipates, rather than merely reflects social change.«557 Auch in West-Deutschland haben politisch motivierte Straßenmusiker wie die Mitglieder der Rotzfrechen Asphaltkultur über Jahre hinweg – ihrer Zeit oft weit voraus – die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für Themen wie den Ausstieg aus der Kernkraftnutzung, soziale Ungerechtigkeit, lebens- und menschenfreundlichere Gestaltung der Innenstädte, unredliche Machenschaften in der Wirtschaft etc. mit großem persönlichen Engagement, unter Inkaufnahme von Repressalien vorangetrieben. Vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Probleme wie sozialer Spaltung, Einkommensarmut und Exklusion558 erscheint es verwunderlich, dass sich ein Niederschlag politischer Themen in der Straßenmusik wie in den 1970er und 80er Jahren heutzutage nur vereinzelt beobachten lässt. Die vielerorts zunehmend entspannte Haltung der Ordnungsbehörden mag dämpfend auf die Protestlaune von Straßenmusikern eingewirkt haben. Möglicherweise hat darüber hinaus eine Verlagerung des politischen Protests auf neue Kanäle wie das Internet und dort insbesondere 554 555 556 557 558
Lieberwirth 1990: 239. Lederbauer 2009: 62. Vgl. Lieberwirth 1990. Richter 2012: 34. Vgl. Bäcker et al. 2008.
398 | S CHLUSSKADENZ
die sozialen Netzwerke stattgefunden, die eine deutlich schnellere, effizientere, effektivere Vernetzung und die Verbreitung von Botschaften ermöglichen. Aufgrund ihrer hohen Verfügbarkeit in großen Städten und als lebendiger Teil der urbanen Alltagskulisse und -kultur bietet Straßenmusik vielfältige Potentiale in einer lebensweltlich orientierten Musikvermittlung559. Lerngruppen, also Schüler oder Studierende, können heute, insbesondere in den Städten, infolge von Migrationsprozessen sehr heterogen in ihrer Zusammensetzung und den kulturellen Anknüpfungspunkten sein. Sie spiegeln damit die zunehmend transkulturelle Verfassung der Gesellschaft wider, die Wolfgang Welsch diagnostiziert. 560 Genauso heterogen sind die individuellen musikalischen Lebenswelten. Die Einbettung des Lebensweltbezuges in die Musikpädagogik ist eine Reaktion auf diesen Pluralismus.561 »Musik ist für Heranwachsende ein wichtiges Mittel der Identifikation und Persönlichkeitsentwicklung.«562 Damit dient sie häufig durch die Konstruktion von Gegensätzen auch der Abgrenzung von anderen. Straßenmusik kann hier eine integrierende Funktion haben, da sie sich weder einer Musikkultur noch einem bestimmten Stil zuordnen lässt, sondern als transkulturelles Phänomen verschiedenste Einflüsse in sich vereint. Es können etwa der Umgang der Musiker mit diversen kulturellen Bezügen wie auch die bewusste Inszenierung von Anderssein und Exotismus thematisiert werden. Darüber lässt sich – gegebenenfalls in fächerübergreifenden Projekten – die »Reflexion der eigenen kulturellen Einflüsse und Identitäten sowie deren alltäglicher Konstruktionsprozesse« und die »Beschäftigung mit dem eigenen Abgrenzungsverhalten gegenüber bestimmten Gruppen« anregen. 563 Die Auseinandersetzung mit Straßenmusik und Straßenmusikern im Unterrichtsrahmen kann ein Bewusstsein für die Vielfalt von Motiven für musikalische Handlungen wecken und gleichzeitig durch die Konfrontation mit alternativen Lebensentwürfen, aber auch mit Armut, die Anerkennung der Existenz unterschiedlichster Identitätsformen bei anderen Menschen fördern. Darüber hinaus bietet Straßenmusik besonders für Kinder einen lebens- und umweltbezogenen Anschauungsunterricht, wie Musik auf diversen Instrumenten eigentlich gemacht wird. Auch für alle anderen ist sie eine stete Erinnerung daran, nachdem heute die praktische Ausübung von Musik weniger denn je notwendiger Bestandteil des Musikhörens ist. Der pädagogische Effekt von im Alltag erlebbarer Live-Musik liegt in der Bewusstmachung des ästhetischen Kontrastes von Live-Musik »zu ›Musikkonserven‹ und überhaupt zu medial transportierter Musik« 564, der im Unterricht thematisiert und in instrumentalpraktischen Einheiten erfahren werden kann. Die Möglichkeit des gemeinsamen Musizierens im offenen straßenmusikalischen Rahmen kann außerdem eine reizvolle Alternative zur klassischen Schulaufführung darstellen.
559 Vgl. Hartogh 2000. Zahlreiche konkrete Anregungen finden sich u. a. in Friedrich in Velber 1997, Schott Music 2003 und Schott Music 2012. 560 Vgl. Welsch 1997. 561 Vgl. Schneider 1993: 7. 562 Lederbauer 2009: 19. 563 Vgl. Nowakowski 2012: 178 ff. 564 Schneider 2008: 219.
A USBLICK | 399
Eine ausgeprägte Straßenmusik stellt letztlich ein wertvolles Kapital für Städte wie Berlin dar, die nicht nur dafür bekannt sind, sondern auch davon leben, dass sie ein Ort für Kreative sind. Straßenmusiker als Teil der kreativen Klasse tragen wesentlich zu dieser Wahrnehmung bei und sind augenscheinlicher Ausdruck einer toleranten, weltoffenen und lebensbejahenden Haltung in der Bevölkerung wie auch bei den Autoritäten. Damit sind sie von wirtschaftlicher Bedeutung, da sie zunächst den öffentlichen Raum beleben und gleichsam als Aushängeschild auf die florierende Musikund Kulturszene solcher Orte hinweisen. Folglich erhöht ihr zahlreiches Vorhandensein die Attraktivität der Stadt sowohl für Touristen als auch für andere Kreative und dadurch indirekt für Firmen der Kreativ- und Musikwirtschaft. Straßenmusik bietet Städten eine Möglichkeit, sich nach außen öffentlichkeitswirksam zu profilieren und kostet diese gleichzeitig nichts. Denn als nicht organisiertes Phänomen braucht sie keine finanziellen Zuwendungen und muss auch nicht beworben werden. Vielmehr wirkt sie durch ihr bloßes Vorhandensein und ihren kommunikativen Charakter selbst als Werbung für eine offene, tolerante, kreative Stadt. Die Möglichkeiten zur direkten Förderung von Straßenmusik sind zwar begrenzt. Doch die wohlwollende Duldung inklusive straßenmusikerfreundlicher Regelungen oder auch die Schaffung von Plattformen wie Straßenmusik-Festivals können wichtige Faktoren sein, die sich für die Stadt, ihr öffentliches kulturelles Leben und ihren Ruf in der Kreativwirtschaft, unter Kreativen und Touristen auszahlen. Im Idealfall ergibt sich zwischen Stadt und Straßenmusik ein symbiotisches Verhältnis, in dem die Stadt animierende Rahmenbedingungen schafft und Straßenmusiker mit ihrem unkonventionellen, kommunikativen Lebensstil zum spezifisch urbanen Flair beitragen.
6.3
AUSBLICK
Straßenmusik ist zwar ein traditionell in unserer Kultur vorhandenes Phänomen, doch folgt sie keiner Tradition – weder in ihrer Praxis, noch in Repertoire, Genres und Formen bzw. Ausbildung, Herkunft, Art oder Erscheinung der Musiker. Sie passt sich der Zeit an, folgt dem Stand der Technik, musikalischen Moden usw., ist an verschiedenen Orten – abhängig von den lokalen Gegebenheiten – unterschiedlich ausgeprägt. Straßenmusik wandelt sich mit ihrem Kontext, spiegelt die aktuellen gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten direkt oder indirekt wider – und ist damit immer modern.565 Damit sind auch ihre soziokulturellen Funktionen keine feste Größe, sondern entwickeln sich stetig mit ihrem Umfeld, wie der Blick auf die Geschichte zeigt. In Zukunft mögen sich zwar die konkreten Ausprägungen und Funktionen von Straßenmusik ändern, ihre kulturelle Bedeutung und Relevanz jedoch bleiben. Vor diesem Hintergrund verstehe ich diese Monographie als Momentaufnahme der Straßenmusik in Berlin und nicht als feststehendes Endresultat. Die Wiederholung von Studien kann aufschlussreiche Einblicke in Wandlungsprozesse geben. Auch der Vergleich mit anderen Städten kann interessante Erkenntnisse zur lokalen Ausprägung bestimmter Stile etc. liefern, bedürfte aber der systematischen Erstellung weiterer aktueller Datensätze.
565 Vgl. Bohlman 1994: 123.
400 | S CHLUSSKADENZ
Die eingangs aufgezeigten Forschungslücken konnten mit dieser Studie durch die Bereitstellung und Auswertung umfangreicher empirischer Daten weitgehend geschlossen werden. Die Ausübung spontaner Musik und deren Akteure sowohl im öffentlichen Straßenland Berlins als auch auf den Bahnhöfen und in den Zügen des öffentlichen Nahverkehrs sowie vor und in Lokalen wurden systematisch analysiert. Durch die Wahl einer primär akteurszentrierten Perspektive wurde der individuellen Vielfalt unter Straßenmusikern in Berlin Rechnung getragen. Auf diese Weise wird ein Beitrag zur Beschreibung des urbanen Musiklebens in Berlin als Beispiel für eine moderne deutsche Großstadt geleistet, der als Basis für weitergehende Betrachtungen dienen kann. Einige Aspekte konnten im Rahmen dieser Arbeit nicht untersucht bzw. geklärt werden, etwa die Motive und Einstellung zur Straßenmusik oder die musikalische Vorbildung der zahlreichen Roma unter Berlins Straßenmusikern, von denen manche offensichtlich – und vor allem hörbar – ihr Instrument überhaupt nicht beherrschen. Mangelnde Kooperationsbereitschaft hat hier die Erhebung behindert. Häufig wird dieser Gruppe eine mafiaartige Vernetzung unterstellt,566 der ebenfalls nicht nachgegangen wurde. Auch Künstler aus Osteuropa sind in dieser Studie tendenziell unterrepräsentiert, da viele von ihnen nicht zu einem Interview bereit waren. Straßenmusik aus der Perspektive des Publikums und damit Fragen der Wahrnehmung und Akzeptanz wurden nur oberflächlich behandelt. Eine systematische Untersuchung verschiedener Aspekte der Beziehung zwischen Straßenmusikern und ihren – freiwilligen wie unfreiwilligen – Zuhörern sowie der Rezeption etwa nach Anwohnern, Geschäftsleuten, Stehenbleibenden und Vorbeigehenden differenziert könnte weitere Impulse zur Einordnung des Phänomens geben. Ferner wurden hier nur die nicht-institutionalisierten Auftritte von Straßenmusikern betrachtet. Die in anderen Städten in Deutschland sowie international stattfindenden Straßenmusik-Festivals bieten trotz der gleichen Bezeichnung einen völlig anderen Rahmen für Künstler als Auftritte im urbanen Alltag. Unterschiede in der Präsentation und Rezeption von Straßenmusik im Kontext von Festivals im Gegensatz zu Auftritten im städtischen Alltag wären eine interessante Fragestellung für weitergehende Untersuchungen.
566 Vgl. Bolzen 2002, Tjong 2012, Mappes-Niediek 2013.
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W EITERE QUELLEN | 415
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Anhang
1 STRASSENKUNST IN BERLIN An einigen Stellen in der Stadt wie in den Fußgängerzonen in der Wilmersdorfer Straße oder auf dem Alexanderplatz, auf dem Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor oder im und am Mauerpark finden regelmäßig auch andere Formen von Straßenkunst statt. Sowohl Malerei, siehe Abbildung 160, als auch diverse Darstellungsformen wie Puppentheater, Clownnummern, Artistik oder Illusionstricks wie in Abbildung 161 zu sehen kommen dabei vor. Hinzu kommen punktuelle Performances verschiedener Künstler und Gruppen.
Abbildung 160: Straßenmalerei auf dem Pariser Platz, 2010567
Gleichwohl stellen diese Varianten gemessen an der Zahl der musikalischen Darbietungen Ausnahmen dar. Vieles, was sich an der Straßenmusik untersuchen und dazu
567 Foto: Lotte Freitag.
II | ANHANG
feststellen lässt, trifft sicherlich auch auf andere Kunstformen zu. So gibt es hierbei z. B. verschiedene Motive, die das Handeln leiten: Der Malerin des dreidimensionalen Kreidebildes in Abbildung 160 ging es nach eigener Aussage darum, in ihrer Freizeit Straßenkunst zu machen und die Reaktionen der Leute darauf zu beobachten. Bei Jongleuren, die an großen Kreuzungen während der Rotphasen vor den wartenden Autofahrern auftreten, oder der in Abbildung 161 zu sehenden Gruppe dürften hingegen finanzielle Beweggründe die Hauptrolle spielen, wie die drei großen Pappbecher für Spenden vermuten lassen. Mischformen, die auch musikalische Elemente integrieren, wurden in Kapitel 4 beschrieben, z. B. das Clownduo → Philipp und Cesar, → Space Commander Hotch, der mit theatralischen Mitteln arbeitet, und die → Breakdancer auf dem Alexanderplatz mit ihrer live Schlagzeugbegleitung.
Abbildung 161: Illusionstrick einer rumänischen Gruppe auf der Wilmersdorfer Straße am 22.04.2014
2 ROMALIED Ein bestimmtes Thema im 6/8-Rhythmus habe ich auf der Straße immer wieder – und nur – bei auf dem Akkordeon oder der Melodika musizierenden Roma gehört und nenne es deshalb das Romalied. Es ist mir nicht nur in Berlin begegnet, sondern unter anderem in Köln und sogar Athen. Dabei handelt es sich um eine Melodie, die über vier Takte hinweg eine aufsteigende Bewegung macht, danach tendenziell wieder abwärts läuft und sich normalerweise nach acht Takten wiederholt. Häufig wird sie ohne Abwechslung in endloser Schleife gespielt. Das Romalied wird auf unterschiedliche Arten dargeboten, offenbar je nach den individuellen Fähigkeiten der Musiker und Musikerinnen. Mal kommt es ganz ohne Bassbegleitung, andere Male mit einer harmonisch unpassenden Begleitung, die zumindest den 6/8-Rhythmus der Melodie unterstützt. Und manchmal passen weder Rhythmus noch Harmonie der Begleitung.
R OMALIED | III
Dann wieder gibt es Fälle, in denen Melodie und Begleitung gut harmonieren. Bisweilen wird das Thema in längere Sequenzen neben weiteren Themen und Motiven eingebaut, die scheinbar frei und wahllos aneinandergereiht werden. Charakteristischerweise hat das Lied weder einen erkennbaren formalen Aufbau noch einen distinkten Anfang oder ein Ende, sondern läuft in seiner Beliebigkeit so lange weiter, wie es dem Musiker einfällt. Zwischen den beschriebenen Varianten habe ich während meiner Feldforschung diverse Abstufungen beobachtet. Im Folgenden sind zwei Versionen des Themas notiert, die sich bis auf die letzten zwei Takte stark ähneln. Die erste ist auf der Begleit-CD zu Schott Music (2012) enthalten.568 Hier ist lediglich die Melodie ohne Begleitung zu hören. Das Thema taucht in der kurzen Sequenz nur einmal auf und ist von anderen Motiven umgeben. Der 6/8-Takt ist wegen der fehlenden Begleitung nicht eindeutig erkennbar. Die zweite Variante habe ich im Sommer 2012 auf der Fußgängerbrücke aufgenommen, die am Bahnhof Friedrichstraße vom Stadtbahnsteig über die Spree zum Schiffbauerdamm führt. Dort saß eine Akkordeonspielerin, die mindestens 20 Minuten lang über eine ostinate Bassbegleitung verschiedene melodische Motive und Themen ohne erkennbaren Zusammenhang hintereinander weg spielte, darunter auch das in Abbildung 163 notierte Thema, das sie jeweils ein- oder mehrmals wiederholte. Die Begleitung gab mit Bassakkorden – ausschließlich A-Moll – auf den Zählzeiten 2, 3, 5 und 6 den 6/8-Takt deutlich an.
Abbildung 162: Romalied wie auf Begleit-CD zu Schott Music (2012), Titel Nr. 3, Spielzeit 00:07 bis 00:21
Abbildung 163: Romalied wie im Sommer 2012 am Bahnhof Friedrichstraße von einer Akkordeonistin gehört
568 Titel Nr. 3: »Persilia – rumänische Akkordeonspielerin (Straßenaufnahme)«, Spielzeit 00:07 bis 00:21. Vgl. Abbildung 162.
IV | ANHANG
3 MERKBLÄTTER ETC .
Abbildung 164: Merkblatt für Straßenmusik und Straßentheater der Stadt Hamburg569
569 Quelle: http://www.hamburg.de/Dibis/form/merkbl/Merkblatt_Strassenmusik_in_Ham burg-Mitte_PDF_42%20KB_1%20Seite_barrierefrei.pdf – abgerufen am 01.08.2015.
M ERKBLÄTTER ETC . | V
Abbildung 165: Merkblatt zur Straßenmusik des Bezirksamtes Mitte von Berlin
VI | ANHANG
Abbildung 166: Antwort des Bezirksamtes Charlottenburg-Wilmersdorf auf die Anfrage eines Anrainers der Fußgängerzone in der Wilmersdorfer Straße aus dem Jahr 2012
Das in Abbildung 166 gezeigte Schriftstück wurde mir von einem Anwohner präsentiert, als ich mit meiner Band Straßenmusik in der Fußgängerzone in der Wilmersdorfer Straße machte. Daran war die Bitte geknüpft, an anderer Stelle weiterzuspielen.
M ERKBLÄTTER ETC . | VII
Abbildung 167: Liste mit dem Lotterie-Ergebnis um die Reihenfolge am Schalter für Musikgenehmigungen vom 19.11.2014
Die Liste für die Lotterie um die Reihenfolge am Schalter für Musikgenehmigungen der BVG wurde am 19.11.2014 von → Peter erstellt, dessen Nachname hier unkenntlich gemacht wurde. Rechts neben den Namen ist die ausgeloste Reihenfolge für die Lizenzvergabe notiert. Die ausgerissene rechte obere Ecke wurde zur Herstellung der Lose verwendet. Auffällig ist die Überzahl polnischer, russischer und ukrainischer Namen.
VIII | ANHANG
Abbildung 168: Musikgenehmigung der BVG zum Auftritt mit Kontrabass auf dem U-Bahnhof Güntzelstraße (Linie U9) am 24.11.2014, ausgestellt am 19.11.2014
M ERKBLÄTTER ETC . | IX
Abbildung 169: BVG-Liste der zugelassenen U-Bahnhöfe für Musikgenehmigungen, Stand: 10/2010
Die Liste der zugelassenen U-Bahnhöfe für Musikgenehmigungen in Abbildung 169 zeigt die vergebenen Lizenzen für die 32. Kalenderwoche vom 08.08. bis 14.08.2011. Markiert sind die besonders nachgefragten Bahnhöfe, die auch im Sommer schnell besetzt sind. Es wird deutlich, dass sich die Auslastung in der warmen Jahreszeit in Grenzen hält. Eine Nachfrage im Sommer 2014 hat ergeben, dass vier der Bahnhöfe seit Ende 2012 nicht mehr vergeben werden: Friedrichstraße (Linie U6), Kurfürstendamm (U1, U9), Spichernstraße (U3, U9) und Walther-Schreiber-Platz (U9).
X | A NHANG
4 DIAGRAMME UND TABELLEN 90
Häufigkeit (n=291)
80 70
60 50 40 30
Beobachtung
20
Interviews
10
0 Alter in Jahren
Abbildung 170: Altersverteilung. Der größte Teil der Straßenmusiker ist zwischen 20 und 39 Jahren alt. 90 Anzahl Frauen (n=52)
80
70 60 50 40 30
Beobachtung
20
Interviews
10 0 Alter in Jahren
Abbildung 171: Altersverteilung unter Straßenmusikerinnen. Frauen sind innerhalb einer geringen Altersspanne als Straßenmusiker aktiv.
D IAGRAMME UND TABELLEN | XI
Geschlecht (n=291) 53; 18%
männlich
weiblich
238; 82%
Abbildung 172: Geschlechterverteilung. Straßenmusiker sind überwiegend männlich. Tabelle 31: Altersverteilung unter 239 Straßenmusikern (nur Männer) Alter
Häufigkeit Prozent kum. %
unter 15
6
2,5
2,5
15-19
12
5,0
7,5
20-24
38
15,9
23,4
25-29
67
28,0
51,5
30-34
43
18,0
69,5
35-39
20
8,4
77,8
40-44
9
3,8
81,6
45-49
13
5,4
87,0
50-54
12
5,0
92,1
55-59
7
2,9
95,0
60-64
6
2,5
97,5
65-69
3
1,3
98,7
über 70
3
1,3
100,0
Summe
239
100
–
XII | A NHANG Tabelle 32: Herkunft nach Ländern – Europa ohne Deutschland Land (Osteuropa)
Häufigkeit
Prozent
28
10,3
23
Roma
Land (Sonst. Europa)
Häufigkeit
Prozent
Frankreich
19
7,0
8,5
Großbritannien
4
1,5
17
6,3
Irland
2
0,7
Russland
15
5,5
Italien
2
0,7
Ukraine
10
3,7
Niederlande
2
0,7
Weißrussland
7
2,6
Dänemark
1
0,4
Bulgarien
5
1,8
Griechenland
1
0,4
Tschechien
4
1,5
Österreich
1
0,4
Georgien
2
0,7
Schweiz
1
0,4
Kasachstan
1
0,4
Spanien
1
0,4
Slowenien
1
0,4
Türkei
1
0,4
Ungarn
1
0,4
Summe
114
41,9
Summe
35
12,9
Polen Rumänien 570
570 Roma bilden keine geschlossene Größe, und die verschiedenen Bevölkerungsgruppen sind in diversen europäischen Ländern beheimatet. Daher werden sie hier unter dem Oberbegriff geführt.
D IAGRAMME UND TABELLEN | XIII Tabelle 33: Herkunft nach Ländern – Außereuropäisch Land (Sonstige) Häufigkeit Prozent USA
10
3,7
Neuseeland
8
2,9
Argentinien
7
2,6
Peru
5
1,8
Israel
4
1,5
Japan
2
0,7
Brasilien
1
0,4
Ghana
1
0,4
Iran
1
0,4
Kanada
1
0,4
Kolumbien
1
0,4
Senegal
1
0,4
Südkorea
1
0,4
Tibet
1
0,4
1
0,4
West-Afrika
1
0,4
Zimbabwe
1
0,4
Summe
47
17,3
Venezuela 571
571 Keine genauere Angabe, da Vermutung des Verfassers (siehe → Djembés for Sale am Mauerpark).
Anzahl Individuen (n=286)
XIV | A NHANG 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0
95
60 42 28
24 10
12
7
8 0
0
0
Ensembleform
Abbildung 173: Anzahl der Individuen pro Ensembleform. Einzelmusiker bilden die größte Personengruppe unter den Ensembleformen.
Deutsch
13
Englisch
44
Französisch
5
Irisch
2
Italienisch
2
Russisch
8
Spanisch
7
sonst. osteurop.
7
sonst. westeurop.
3
asiatisch
3
westafrikan.
2
Phantasiesprache/Töne
4
Beatbox/Rap
4
Häufigkeit (n=73)
0
10
20
30
40
Abbildung 174: Gesungene Sprachen. Englisch kommt am häufigsten vor.572
572 Vgl. Tabelle 34 für die sonstigen Sprachen.
50
D IAGRAMME UND TABELLEN | XV Tabelle 34: Sonstige gesungene Sprachen573 Sprachen
Häufigkeit
Sprachen
sonstige osteuropäische
Häufigkeit
sonstige westeuropäische
Bulgarisch
1
Niederländisch
1
Georgisch
1
Portugiesisch
1
Polnisch
1
Schottisch
1
Rumänisch
1
Tschechisch
1
Sanskrit
1
Ukrainisch
1
Tibetisch
1
Weißrussisch
1
Türkisch
1
westafrikanische
2
asiatische
Verstärkung (n=165)
108; 65% 57; 35% Ja Nein
Abbildung 175: Verstärkung. Zwei Drittel der Straßenmusiker spielen unverstärkt.
573 In Ergänzung zu Abbildung 148 und Abbildung 174.
XVI | A NHANG Tabelle 35: Stilrichtungen in der Berliner Straßenmusik (n=165) Stilrichtung
Interviews Beobachtung gesamt Prozent
Improvisation; Eigener Stil
15
5
20
8,5
Pop
16
7
23
9,8
Rock
11
3
14
6,0
Alternative; Independent
3
0
3
1,3
Punk
3
0
3
1,3
Jazz
13
8
21
8,9
Blues
5
2
7
3,0
Swing; Boogie
6
1
7
3,0
Latin; Bossa Nova
4
0
4
1,7
Funk
3
1
4
1,7
Folk; Country; Rock’n’Roll
16
4
20
8,5
Liedermacher; Singer-Songwriter; Chanson
11
1
12
5,1
traditionelle/Volksmusik
18
9
27
11,5
Weltmusik
3
0
3
1,3
Klassik
11
5
16
6,8
Alte Musik
3
1
4
1,7
Tango; Walzer
3
9
12
5,1
Filmmusik
3
3
6
2,6
christl./spirituelle Musik; Gebet
5
0
5
2,1
0
10
10
4,3
8
6
14
6,0
160
75
235
100
574
Romalied
u. ä.
Sonstige* Summe
*: darunter Rap, Soul, Ska/Reggae, Drum and Bass, Elektro
Tabelle 36: Auftrittsrepertoire. Die meisten Straßenmusiker interpretieren Musik. Auftrittsrepertoire
Interviews Beobachtung gesamt Prozent
Interpretation (+ Impro)
42
48
90
55,6
Interpretation + Originale (+ Impro)
22
0
22
13,6
Originale (+ Impro)
23
8
31
19,1
nur Improvisation
10
9
19
11,7
Summe
97
65
162
100
574 Vgl. Anhang 2.
D IAGRAMME UND TABELLEN | XVII
Straßenmusikpraxis
(n=102)
14; 14% 26; 25%
18; 18%
13; 13%
< 1 Monat < 1 Jahr < 5 Jahre < 10 Jahre > 10 Jahre
31; 30%
Abbildung 176: Dauer der Straßenmusikpraxis. Zwei Drittel machen seit mehr als einem Jahr Straßenmusik. Tabelle 37: Einstellung der Künstler zur Straßenmusik (n=95) Machst du gern Straßenmusik?
Häufigkeit
Prozent
Ja
76
80,0
Ja mit Einschränkungen/Vorbehalt*
14
14,7
Nein
5
5,3
Summe
95
100
*: meistens/manchmal ja; unter bestimmten Umständen nicht
Tabelle 38: Beiträge zur Lebenshaltung unter Berliner Straßenmusikern (n=99) Wovon bestreitest du deinen Lebensunterhalt?
Häufigkeit Prozent (n)
Straßenmusik
55
55,6
Musik in anderen Kontexten (z. B. Konzerte, Profimusiker)
38
38,4
Musikunterricht
12
12,1
andere Berufe/Jobs*
31
31,3
Hartz IV; arbeitsuchend
14
14,1
Partner; Eltern; Kindergeld; BAföG
14
14,1
Rente; Grundsicherung
4
4,0
Ersparnisse
2
2,0
Betteln
1
1,0
Gott; Gemeinde Summe
2
2,0
173
174,7
*: Erzieher, Verkäufer, Ingenieure, Tontechniker, Studiotechniker, Theaterproduzenten, Hausmeister etc.
XVIII | A NHANG 120 101
Häufigkeit (n=164)
100 80 60 40
26
20
10
5
14
7
1
0 Straße
Straße u. Straße u. Straße u. Bahnhöfe Bahnen Cafés Bhf. Bahnen
Cafés
Abbildung 177: Raumkategorien. Straßenmusiker entscheiden sich mehrheitlich für Auftritte in einer Raumkategorie. Tabelle 39: Aufnahmen (inkl. Demos) (n=93) Aufnahmen vorhanden? Häufigkeit Prozent Ja
58
62,4
Nein
35
37,6
Summe
93
100
Tabelle 40: Internetpräsenz (n=96) (z. B. eigene Homepage, Myspace- oder Facebook-Profil etc.) Internetpräsenz Häufigkeit Prozent Ja
60
62,5
Nein
36
37,5
Summe
96
100
Tabelle 41: Transportierst du eine Botschaft mit deiner Musik? (n=98) Botschaft? Häufigkeit Prozent Ja
57
58,2
Nein/k.A.
41
41,8
Summe
98
100
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