Zwei Weihetage meines Lebens: Eine Abschieds- und eine Antrittspredigt [Reprint 2021 ed.] 9783112492543, 9783112492536


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Zwei Weihetage meines Lebens: Eine Abschieds- und eine Antrittspredigt [Reprint 2021 ed.]
 9783112492543, 9783112492536

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Eine Abschieds- und eine Antrittspredigt

von

Wilhelm Bahnsen, Generalsuperintcndcut, Oberkonsisrvrialrat und Oberpfarrer zu Coburg.

Verlag

von

Hermann

Pete r s.

Inhaber: Paul Leist, Hofbuchhändler Sr. Majestät des Kaisers und Königs.

Aöschiedspredigt, gehalten am 23. Juni 1895

;u St.

Philippus Apostel in Herlin.

Gnade sei mit uns und Friede von Gott, unserm Vater und den: Herrn ^)esu Lhristo.

Amen!

5. Mos. 34, 1-9.

Es mag Euch wunderbarerscheinen, daß ich heute, wo ich von Euch Abschied nehmen soll, mir dieses Texteswort erwählt habe. Es redet vom Tode des Mannes, der Israel aus Aegypten geführt und durch die Wüste geleitet hat vierzig Jahre lang. Es redet davon, wie die Kinder Israels um ihn getrauert dreißig Tage. Es kann mir aber doch nicht in den Sinn kommen, mich mit einem Helden, wie Moses, zu vergleichen, und ich darf mir doch heute nicht als Ziel setzen wollen. Eure Thränen wach zu rufen. Auch hoffe ich doch zu Gott, daß er mir noch Zeit zum Schaffen und Arbeiten geben wird, bevor er für immer den Mund mir schließt und in der Erde Schooß mich bettet. Und dennoch liegt in dem Texte etwas, was ihn in diesen Tagen einen besonderen Wiederhall finden ließ in meinem Herzen. Es ist der gewaltige Ernst, der über demselben ausgebreitet liegt. Je näher dieser Tag heranrückte, desto ernster wurden auch die Gedanken, die meine Seele bewegten. Als zuerst die Aussicht sich mir bot, in einen anderen Gau unseres deutschen Volkes zu ziehen, in ein Land, wo die Berge stolz gen Himmel weisen und die herrliche Natur mit ihrer Pracht unwillkürlich den Menschen zum Preise des großen Schöpfers stimmt, als diese Aussicht sich mir bot zu einer Zeit, wo oftmals Verzagtheit meiner Seele sich bemächtigte, da war das erste Gefühl, das mich erfüllte, — das gestehe ich offen — das der innern Befriedigung. Die Kämpfe, die gegenwärtig unsere Kirche und die der Hauptstadt zumal durch-

4 zucken, haben allmälig eine Gestalt gewonnen, daß sie jeden ernsten Christen mit Widerwillen erfüllen. Nicht daß gekämpft wird, ist das Traurige, — Kampf muß sein, und ohne Kampf kein Leben — aber die Art und Weise, wie gekämpft wird, ist das, was mit Schmerz erfüllen muß. Dies unheilvolle Verquicken politischer Gegensätze mit den kirchlichen, welches nur nutzlosen Hader in die friedlichen Hallen des Heiligthums trägt, anstatt zu einer wirklichen Klärung zu führen; dies ewige Verdächtigen der Person eines Gegners anstatt eines ehrlichen Kampfes um Grundsätze und um die Wahrheit; dies ewige Sichvordrängen von Persönlichkeiten, deren ganze Vergangenheit sie wahrlich nicht berechtigt, in den vordersten Reihen der Kämpfer zu stehen — das ist ein Krebs­ schaden, an dem schließlich alles kirchliche Leben zu Grunde gehen kann, wenn nicht endlich die Beffergesinnten sich ermannen, das Geschwür aus dem Körper zu entfernen. Die traurige Thatsache aber, daß es dazu an Freudigkeit fehlt, läßt heute Vieler Hände erlahmen, die einst freudig mitgearbeitet haben, und so, m. Fr. — das gestehe ich offen — erging es auch mir, und darum zunächst in meinem Herzen jene innere Befriedigung. Je näher aber dieser Tag kam, je mehr Liebe aus so manchem gesprochenen oder geschriebenen Wort treuer Gemeindeglieder und Zuhörer mir ent­ gegengebracht ward, je mehr ich mir klar machte, welchen Gefahren das Werk ausgesetzt wird, das ich betrieben und auf dem der Segen Gottes in so reichem Maße gelegen, desto mehr fragte ich mich, ob ich auch gehen dürfte. Und glaubt es mir, der Abschied von lieben Konfirmanden, die ich in andere Hände geben muß, von dem lieben Kollegen, mit dem ich in stetem Ein­ klang über sieben Jahre gearbeitet, von dem andern, der vor ihm mit mir gearbeitet und heute gekommen, um mit uns Abschied zu feiern, von den treuen Männern des Gemeindekirchenraths und der Gemeindevertretung, deren Liebe ich in so reichem Maße ge­ nossen, von den Kirchenbeamten, von diesem trauten Gotteshaus, das erst in diesen Tagen durch einen freundlichen Geschenkgeber einen schönen Schmuck erhalten, der Abschied von Euch Allen wird mir nicht leicht, und wenn es heute heißt, es muß geschieden sein, ach, da wird es mir schwer, die stille Thräne zu unterdrücken, die in meine Augen sich drängt. Nicht wahr? Ihr versteht es, daß es da zu einem Text mit Macht mich hinzog, durch den so gewaltiger Ernst hindurch geht, wie durch den verlesenen. Dazu kommt, daß der Abschied eines Großen auf dem Gebiete des Reiches Gottes,

5 wie Moses es war, immerhin doch vorbildlich bleibt für Jeden, der im Reiche Gottes, wenn auch nur in untergeordneter Stellung, an seiner Gemeinde hat arbeiten dürfen. Und so soll denn auf Grund unseres Textes dies heute unser Thema sein: Mose's Abschied von seinem Volk ein Wegweiser für mich heute, wo ich von Euch Abschied nehmen soll. Er giebt mir Antwort auf die Fragen: 1. warum wir mit einander pilgerten? 2^ wie wir mit einander pilgerten? 3. wie wir von einander scheiden wollen?

I. Unser Text weist uns hin auf Moses, den Knecht des Herrn, wie er auf der Spitze des Berges Nebo steht. Gott zeigt ihm von ferne das Land Kanaan von Norden nach Süden, von Osten nach Westen. Diesem Lande sein Volk entgegenzuführen, aus dem fernen Knechtshause Aegyptens es zu erlösen, es zu geleiten durch die Wüste, zu ihm zu reden von dem heiligen Willen Gottes, von den Donnern des Gesetzes, aber auch vom Balsam der göttlichen Gnade — das war die Aufgabe gewesen, die sein Gott ihm ge­ stellt hatte. Und wenn wir heute hier die Frage aufwerfen, warum wir fast siebzehn Jahre mit einander gewandert, so sage ich

mir auch: Gen Kanaan — nicht das irdische, sondern das droben ist gemeint — sollte ich Euch weisen. Von jener höheren Welt sollte ich immer von Neuem zu Euch reden. Daß Gott mir in stillen Stunden des eigenen Lebens gleichsam von ferne jenes Kanaan gezeigt, daß er — mit andern Worten — mich Erfahrungen

machen ließ von seiner Liebe, von seiner unendlichen Herrlichkeit, die er in Christo Jesu uns erschloffen, daß ich sagen konnte: „Ich glaube, darum rede ich" (2. Kor. 4, 13) und: „Wir können es

ja nicht lasten, daß wir nicht reden sollten, was wir gesehen und gehöret haben" (Ap. Gesch. 4, 20) — das gab mir immer neue Kraft und neuen Muth dazu. Und auf der andern Seite sah ich ja vor mir die Menschenkinder, die durch die Wüste des Lebens wanderten — die Hitze der Wüste drohte, sie ermattet zu Boden zu werfen, die Dürre der Wüste, sie dem Verschmachten nahezu­ bringen, der Sand der Wüste, sie zu begraben. Wüstenpfade sind eben die Wege auf dieser Erde! wo drängte das wohl mehr uns sich auf, als in einer großen Stadt, wie die unsrige es ist?

6 Draußen auf den Gassen wohl ewiges Rennen und Jagen; da, wo man lärmt, nichts Anderes, als Freuden und Genüsse, als ewig lachende Menschenkinder; aber im Hintergründe, im stillen Kämmerlein, wieviel Seufzer, wieviel Entbehrungen, wieviel Noth und Elend! Rede zu dieser Gemeinde wie Er, der die Müh­ seligen und Beladenen an sich lockte, wie Er, der sein Volk ansah und vom Jammer erfaßt ward, weil sie waren wie die Schaafe, die keinen Hirten haben! das war die Aufgabe, die mir gestellt war. Und sie stand mir vor Augen, so oft ich diese Kanzel betrat, so oft ich hier am Altar das Mahl der Versöhnung austheilte, so oft ich am Taufstein Kinder in die Gemeinschaft unserer Kirche aufnahm und Eltern und Pathen an ihre Pflichten erinnerte, so oft ich meine Konfirmanden um mich schaarte und sie hinein­ zuführen suchte in die Geheimnisse unserer christlichen Religion, so oft ich am Traualtar die geschlossene Ehe segnete, so oft ich Trauernde begleitete auf ihrem Gang zum Friedhof, so oft Rath­ lose und Verzagte bittend an mich sich wandten, so oft die Pflicht mich rief an Krankenbetten und an Sterbelager. Wenn es so gewiß eine schöne Aufgabe war, die Gott, der Herr, mir gestellt — wie sollten nicht Mühselige und Beladene gern denen folgen, die Balsam träufeln möchten in ihre Wunden? — so war es auch eine schwierige Aufgabe, eine Aufgabe, die auf viel Widerstand stoßen mußte. Derselbe Moses, der sein Volk durch die Wüste nach Kanaan zu führen berufen war, der mußte ja zuvor es aus­ führen aus dem Knechtshause Aegyptens. Und wehe dem Diener des göttlichen Wortes, der übersieht, daß auch ihm die Aufgabe zugefallen, auszuführen aus einem Knechtshause, aus dem der menschlichen Sünde! Stätten, wo man seufzt nach Hülfe — Du findest sie zu Tausenden. O eile, um zu helfen, aber vergiß auch nicht, wie viel Elend die Folge ist der eigenen Schuld, wie ein Zusammenhang besteht zwischen dem menschlichen Leid, über welches ein nie endendes Seufzen durch die Geschichte der Menschheit klingt, und der menschlichen Sünde! Und siehe, darum gilt es auch, wo es sein muß, zu strafen und zu warnen. Auch ich durfte darum nicht schweigen von den Höhlen des Lasters, deren es leider auch im Umkreise unserer Gemeinde genug gab und giebt, nicht schweigen von Unglauben und Aberglauben, die an allen Enden sich breit machen, nicht schweigen von den wilden Dämonen des Hasses, die in unserer Hauptstadt so manches Saatkorn des göttlichen Wortes vernichten.

7 II.

Wie natürlich ist es, -aß angesichts der hohen Aufgabe, die mir gestellt war, heute die ernste Frage sich mir auf die Seele legt, ob und wieweit ich dieselbe erfüllt habe. Ich müßte kein Gewisien haben, wenn sie mir nicht käme. Daß Ketten der Sünde unzerrisien blieben, daß viel Elend nicht gelindert ward, daß mein Wort in manches Haus nicht dringen konnte — wer wollte dies leugnen? Wir Diener vom Wort sollen ausführen aus dem Knechtshause, aber wer unter uns kann es verhüten, wenn das Auge immer wieder zurückblickt nach den Fleischtöpfen der Welt? Wir sollen wohl entgegenführen dem himmlischen Kanaan, aber Keiner von uns kann hineinführen. Dazu kam, daß ich einst in diese Gemeinde von etwa 15 000 Seelen, hineingestellt ward ohne die Erfahrung eines im großstädtischen Leben bewanderten Mannes, daß ich Jahre lang ohne die Unterstützung eines ordinirten Kollegen war, daß unsere großstädtischen Verhältnisse einen ewigen Wechsel der Be­ wohner bedingen, und wir Prediger genöthigt sind, Beziehungen zu Familien zu pflegen, auch wenn sie längst wieder aus der Ge­ meinde fortgezogen sind. M. Fr., ich bin gar weit davon entfernt, zu leugnen, daß Manches hätte geschehen müssen, was unterblieb, daß Manches hätte unterlassen werden können, was geschah, daß Manches hätte anders gemacht werden können, als es gemacht wurde. Als Moses auf der Höhe des Nebo stand und den Blick auf's nahe Kanaan richtete, ach, da wußte er wohl, weshalb er nicht hineinziehen durfte — er gedachte vergangener Schuld. Und wenn so ein Großer im Reiche Gottes sich anklagen mußte, wie dürfte ich mich in fleischlicher Sicherheit wiegen? Dennoch darf ich heute von Euch Abschied nehmen mit dem Bewußtsein, daß die fast 17 Jahre meiner hiesigen Wirksamkeit Jahre heißer Arbeit gewesen, darf auch hinsichtlich mancher Vorwürfe, die man in bös­ williger Absicht wider mich erhoben, getrost mit dem Apostel sprechen: „Es ist mir ein Geringes, daß ich von Euch ge­ richtet werde oder von einem menschlichen Tage." (1 Kor. 4,3.) Wer kraft seines Amtes Sünde Sünde nennen muß, der kann sich nicht wundern, wenn der wilde Haß der sündigen Menschenbrust sich wider ihn richtet. Aus's himmlische Kanaan hinzuweisen, ist mein Bestreben gewesen; ich habe es gethan nach bestem Wissen und Gewiffen, nach der Art, wie mein Gott es mir gab, die Geheimnisse unserer christlichen Religion aufzufasien; ich habe es gethan in der evan-

8 gelischen Freiheit, die mein und der Gemeinde heiliges Recht ist. Habe ich hier und da geirrt — und ich bezweifle es nicht — so vertraue ich auf den gnädigen Richter im Himmel, der keinen Staubgebornen irrthumslos geschaffen, der nicht niehr von einem Haushalter fordert, denn daß er treu erfunden werde, der keinen andern Menschen zum Richter meines Glaubens gesetzt und den vor seinen Richterstuhl ziehen wird, der unbefugt zum Richter über den Glauben eines Anderen sich aufwirft. Habe ich hier oder da Jemandem weh gethan, so bitte ich, verzeiht mir! Und sollte heute hier einer unter Euch weilen, der sich anklagen müßte, weil er mir Unrecht gethan, an mir soll's nicht fehlen; ich sage: „Es soll vergessen und vergeben sein." Doch, m. Fr., wozu uns so nur an dunkle Punkte in den Jahren unseres Zusammenlebens erinnern lassen? Als Moses einst auf der Höhe des Rebo stand, da hat sein Auge gewiß nicht nur gen Kanaan geschaut. Auch rückwärts ging sein Blick. Dort lag zu seinen Füßen das Land, wo sein Volk ihm so oft sein Thun mit Undank gelohnt, wo es so oft wider ihn sich erhoben, wo er heiße Kämpfe zu bestehen gehabt, wo es wider Jehova gemurrt, wo es dem goldenen Kalbe gedient. Aber da lag auch zu seinen Füßen eine weite, weite Strecke, die da redete von viel frohen Stunden, von viel Erfahrungen göttlicher Barmherzigkeit und Güte. In weiter Ferne lag Aegypten, wo der Knabe, schon dem Verderben geweiht, durch des Pharao Tochter gerettet worden, wo später der Mann in mitternächtlicher Stunde sein Volk mit starker Hand hatte ausführen dürfen. Da ward der Silberstreifen des Meeres sichtbar, durch welches der Herr ihn einst hatte hindurch­ ziehen lassen, während der Aegypter Heere in den Fluthen umge­ kommen waren. Da lag in der Ferne Midian, wo er im Hause Jethro's geweilt und Bande der Liebe geknüpft für's ganze Leben. Wahrlich, wenn auch mein Blick heute zurückgeht auf vergangene Tage, so weilt er nicht minder bei viel erfahrener Liebe und Güte. Das Haus, das ich binnen Kurzem verlassen muß, war die Stätte meines ersten häuslichen Glücks am eigenen Heerde, die Stätte, da ich im Kreise der Meinen viel Segen empfangen durste. Dieses kleine Gotteshaus, bis vor 11 Jahren noch viel unscheinbarer, als heute, erhielt von da ab die freundliche Gestalt, die es heute noch bietet, und war der traute Sammelplatz so vieler treuer Seelen, die sich von weit und breit hier zusammen­ fanden. In der großen Schaar, die sich hier heute versammelt

9 hat, erinnert mich so manches Antlitz an Bande der Freundschaft, die sich im Laufe der Jahre geschloffen. Nehme ich hinzu, wie Gottes Wort, das ich in Schwachheit hier verkündet, doch mit Nichten immer leer zurückgekommen, o, dann will ich rühmen die Güte und Barmherzigkeit Gottes, der mich gesegnet hat über Wissen und Verstehen, ohne alle mein Verdienst und Würdigkeit, und will mit dem Psalmisten rufen: „Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen! Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß nicht, was er dir Gutes gethan hat" (Ps. 103, 1 u. 2).

III. Frage ich nach dem Allen nun am Schluß: Wie wollen wir von einander Abschied nehmen? so ist die erste Antwort schon gegeben: Mit Dank gegen Gott. Aber mit dem rechten Dank verbindet sich allemal auch das rechte Vertrauen. Wohl legen sich mir ja heute Fragen auf die Seele, wie diese: Wie wird sich das Ge­ meindeleben gestalten, wenn ich von dannen ziehe? Wo werden sie bleiben, die aus dem Getümmel der großen Stadt allsonntäglich sich hier zusammenfanden? Von ihrer Manchem ist mir's ja be­ kannt, daß sie durch die gemeinsame Anbetung Gottes sich zu ein­ ander hingezogen fühlten. Wird diese Schaar zusammen bleiben, oder auseinander gehen, der Eine hierhin, der Andere dorthin? Wird das Werk, das mir gelungen, soweit es überhaupt hier in Berlin gelingen kann, bestehen bleiben, daß in der Gemeinde Männer verschiedenster Richtung in Frieden mit einander leben und arbeiten? Als Moses von hinnen schied, da war es ihm vergönnt, sein Werk noch einem Anderen anzuvertrauen — Josua, der Sohn Nun's, war dazu erkoren; und Moses selbst durfte die Hände auf ihn legen. Moses selbst wußte, daß jener Mann er­ füllt war mit dem Geist der Weisheit. M. Fr., wer nach mir hier meine Stelle einnehmen wird — ich weiß es nicht; aber warum soll ich sorgen? Nur zweierlei will ich thun. Ich will bitten zu Gott, daß er den Geist der Weisheit ihm gebe, und ich will die Gemeinde bittend mahnen, daß sie ihm mit Vertrauen entgegenkomme. Ihr, die Ihr Kummer und Sorge auf Eurem Herzen traget, vertraut Euch ihm an, wie Ihr es bei mir gethan habt; Ihr, denen dieses Gotteshaus lieb und theuer war, schaart Euch auch um ihn, daß er in seiner Weise Euch Gottes Wort hier verkünde — alles Neue ist uns zunächst fremd, und an alles

10 Fremde müssen wir uns erst gewöhnen, aber vergeßt nicht, wie gerade ich Euch so oft daran erinnert, daß die menschlichen Formen, in denen das Evangelium gepredigt wird, wechseln, das alte Evangelium selbst aber ewig jung bleibt, und daß es nicht sowohl ankommt auf die menschliche Form, in die sich das Evangelium kleidet, als darauf, daß alle Zeit Christus gepredigt werde. Gewiß, m. Fr., wird der Abschied nie leicht, und wenn ich mir sage, daß ich heute zum letzten Mal an dieser Stätte zu Euch rede, heute zum letzten Male von den Stufen jenes Altars über Euch den Segen sprechen soll, wenn andererseits mein Blick sich richtet auf das neue, verantwortungsreiche Amt, welches meiner in der Ferne wartet — o, dann kann es nicht ausbleiben, daß Wehmuth, daß das Gefühl menschlicher Ohnmacht sich meiner bemächtigt. Ich weiß es auch von Euch, daß Manche mit den Thränen kämpfen, und die Thräne darf ja sein, sie ist ja geweiht durch die Thränen, die einst der Erlöser selbst geweint. Eure Thränen sind mir ein Zeugniß, daß ich Euch nicht gleichgültig war, Eure Thränen geben mir Muth zu der Bitte, mich in gutem Andenken zu behalten, Muth aber vor Allem zu der andern, das, was ich Euch verkündigt habe, zu bewahren in einem feinen, guten Herzen. Aber wenn diese Abschiedsstunde vorbei ist, dann laßt uns es weiter machen, wie Israel in unserem Text: Es weint um Moses seine Zeit, aber dann geht es fröhlich seine Straße weiter, wissend, es gehe der längst verheißenen Heimath, Kanaan, dem Lande der Verheißung zu. Unsere Wege werden in Zukunft ja getrennte sein und doch — o, das sei unser Aller Hoffnung — führen sie der einen Heimath zu. Mit einem letzten Lebewohl befehle ich Euch Gott und seiner Gnade, verbinde ich die Bitte: Betet für mich und meine weiteren Wege, verknüpfe ich die Hoffnung, daß nicht geschieden ist auf immer, daß, wenn hienieden ein Wiedersehen uns versagt sein sollte, wir droben uns sicher wieder schauen werden im ewigen Vaterhaus. Man spricht vom Scheidewege Und grüßt sich einmal noch, Und geht auf gleichem Stege In gleicher Richtung doch. Amen!

11

-

Antrittspredigt, gehalten am 7. Juli 1895 in der St. Worihkirche gu Eoburg.

Gnade sei mit uns und Friede von Gott, dem Herrn 3cfu Christo.

unserm Vater,

und

Amen!

Ruth. 1,16 u. 17. Ihr kennt, liebe christliche Gemeinde, die Erzählung, welcher die Worte unseres Textes entnommen sind. Einst, in den Zeiten einer Hungersnoth, zog Elimelech von Bethlehem mit seinem Weibe Naemi und seinen zwei Söhnen aus in der Moabiter Land. Dort in der Fremde verheiratheten sich die Söhne. Binnen kurzem räumte der Tod in der Familie auf. Elimelech und seine Söhne starben, so daß Naemi mit ihren beiden Schwiegertöchtern allein zurückblieb. Naemi will heimkehren in ihr Vaterland, und ihre beiden Schwiegertöchter wollen sie be­ gleiten. Naemi räth ihnen ab, und die eine läßt sich auch be­ reden, aber die andere, die Ruth, spricht die denkwürdigen Worte, die ich Euch verlesen habe. Es sind dies Worte, die mit Vor­ liebe verwendet werden als Trautext, wenn ein junges Paar den Bund der heiligen Ehe geschloffen; und wenn ich sie mir für unsere heutige Betrachtung ausgewählt habe, so ist es deshalb geschehen, weil heute auch hier an heiliger Stätte ein Bund ge­ schloffen werden soll, wahrlich, ein Bund, so heilig wie der der Ehe, ein Bund zwischen Euch und mir — gebe Gott, daß er nie gebrochen oder gelockert würde, sei es, weil von außen her etwas in unsere Mitte hineingetragen würde, sei es, weil wir uns nicht an einander gewöhnen und in einander fügen könnten. Aber schon die Worte der Ruth mit ihrem „Dein Gott ist mein Gott" erinnern an dasjenige, was die Grundlage jedes Bundes der Menschen unter einander sein muß — er muß ruhen auf

12 religiösem Grunde, muß ruhen auf dem Bunde der Seele mit Gott. So oft wir darum an heiliger Stätte einen Ehebund segnen, pflegen wir an diese Nothwendigkeit zu erinnern — darum die Aufforderung zum Dank gegen Gott, die Erinnerung an Ihn, der die Gelübde vernimmt, die von Menschenlippen ge­ sprochen werden, die Mahnung, im neugegründeten Haus nach dem Grundsatz zu handeln: Ich und mein Haus, wir wollen dem Herrn dienen. Aber auch wir, m. Fr., die wir heute einen Bund für das Leben mit einander schließen, wollen nicht vergeffen, auf welcher Grundlage auch dieser Bund nur gedeihen kann. Die Worte der Ruth sollen uns darum ein Wegweiser sein; und daher dies heute unser Thema: Die Worte der Ruth der Inhalt unserer Gelübde bei dem zwiefachen Bunde, den wir heute schließen. Sie mögen der Grundsatz sein 1. nachdem wir mit einander zu arbeiten haben, und 2. auch der Grundsatz, mit dem wir hintreten vor den, dem unser ganzes Leben gehören soll. I.

Ich rede von denen, mit denen zusammen ich zu arbeiten habe. Theure Gemeinde, das seid Ihr vor Allem, Ihr, zu deren Prediger ich bestimmt bin. Euch rufe ich heute zu: „Wo Du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden." Hoffe ich doch, daß mit dem heutigen Tage ein Band zwischen uns sich knüpft, das erst gelöst werden wird, wenn Gott, der Herr, mir Feierabend gebietet — auf Eurem Friedhof draußen, wo Ihr Eure Lieben bettet, N hoffe ich dereinst dann auch einmal meine letzte Ruhestätte zu finden. Komme ich doch nicht zu Euch als Jüng­ ling, der die ganze Welt noch vor sich offen sieht, sondern als Mann, der in ein Amt eintritt, dem er die letzte Kraft seines Lebens widmen möchte. Habe ich doch schon zweimal und zuletzt vor vierzehn Tagen erst erfahren, wie schwer es wird, von einer Gemeinde wieder Abschied zu nehmen. Treten wir aber so, wenn Gott will, in einen Bund, der nicht eher geschieden werden soll, bis Gott, der Herr, ihn scheidet durch den Tod, dann ist eins allerdings unerläßliche Vorbedingung, nämlich, daß wir heute ein­ ander geloben: „Wo Du hingehst, da gehe ich auch hin, und wo

13 Du bleibst, da bleibe ich auch." Für mich bedeutet dies das Ge­ lübde, daß ich die Wege, die Gott die Gemeinde als solche, und jede einzelne Seele in ihr führen wird, zu den meinigen machen will, oder mit anderen Worten, daß die Geschicke der Gemeinde wie der Einzelnen mir am Herzen liegen sollen. Ich will mit Euch mich freuen und mit Euch trauern. Ich will mit Euch berathen und mit Euch handeln, wenn es das Wohl der Gemeinde gilt. Ich will Eure Kinder auf betendem Herzen tragen und durch Unter­ weisung und Ermahnung zum Herrn führen, will Eure Ehen segnen und in den Häusern, so oft es gewünscht wird, ein Be­ rather und ein Seelsorger sein, will von der Kanzel das Wort Gottes verkünden, je nachdem es Noth ist, und am Altar das Mahl der Versöhnung austheilen denen, die danach verlangen. Ich will Eure Thränen zu trocknen suchen, wenn Ihr leidet, und will an den Gräbern Eurer Lieben Euch zur Seite stehen, wenn Ihr von ihnen Abschied nehmt. Aber auch an Euch richte ich die Bitte: Laßt von dem Geist, welcher in den Worten der Ruth einen Aus­ druck gefunden, heute etwas Eure Seelen beherrschen! Nicht als ob es mir in den Sinn käme, irgend etwas ausüben zu wollen von dem, was man mit dem Worte „hierarchische Bevormundung" zu bezeichnen pflegt — „weidet die Heerde Christi", so lesen wir im 1. Pelrusbriefe (Kap. 5, 3), „nicht als die über das Volk herrschen, sondern werdet Vorbilder der Heerde". Nicht als ob ich daran dächte, Unterwürfigkeit zu beanspruchen unter jedes Wort, das ich spreche, oder unbedingte Zustimmung zu dem, was ich denke und wie ich rede über die Geheimnisse der Ewigkeit, von denen wir ja doch alle nur nach schwachen Kräften ein Bild in uns tragen. — Wir sind ja evangelische Christen; wir wissen ja, daß eigenes Prüfen unser heiliges protestantisches Recht ist, wir wissen, daß der Erlöser keinem Erdenkinde die eine volle Wahrheit in den Schooß gegeben, sondern daß er Allen die heilige Pflicht auferlegt hat, nach ihr zu suchen, und ihnen dazu seinen heiligen Geist verheißen, daß er sie in alle Wahrheit leite (Joh. 16, 13). Aber was wäre mein heiliges Amt, wenn ich überall auf grund­ sätzlichen Widerspruch stieße, wenn das Vertrauen der Gemeinde mir von vornherein untergraben würde? Unabhängig vom poli­ tischen oder kirchlichen Standpunkt der Einzelnen, deren Vertrauen mir je länger desto mehr zu erwerben, die besseren Elemente aus allen Kreisen heranzuziehen zu einem heiligen Kampfe wider alles Widergöttliche unserer Tage, das Auflodern wilden Parteihasses

14 wo möglich zu verhüten ober, wenn er dennoch sich zeigte, min­ destens einzudämmen, damit unsere theure evangelische Kirche nicht aufhöre, eine „Stadt auf dem Berge" zu sein, damit sie einige, was draußen im Leben aus einander zu gehen und wider einander sich zu wenden droht — das soll mein Streben sein. Fast siebzehn Jahre lang hatte mich der Ewige in der deutschen Hauptstadt auf einen schwierigen Posten gestellt. Wie dort die kirchlichen Verhältniffe sich gestaltet haben, das hat mich von Jahr zu Jahr immer mehr die Nothwendigkeit erkennen lassen: Höher, als alle Sonderinteressen des Einzelnen und der einzelnen Par­ teien, höher, als alle menschlichen Formen, in welche sich das Christenthum bei den Einzelnen kleidet, muß der Gedanke an die Gemeinschaft aller derer stehen, die Christi Jünger, die evangelischprotestantische Christen sein wollen. Wer da meint, das sei un­ möglich, der vergißt, daß der Apostel sagt: „Seid fleißig zu halten die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens. Ein Leib und Ein Geist, wie Ihr auch berufen seid auf einerlei Hoffnung Eures Berufs. Ein Herr, Ein Glaube, Eine Taufe, Ein Gott und Vater unser aller, der da ist über Euch alle und durch Euch alle und in Euch allen" (Eph. 4, 3—6); der vergißt, daß das Christenthum nicht Zustimmung zu irgend welchen menschlichen Formeln ist, sondern Leben, Leben in Christo, Leben in Gott; der läuft Gefahr, über dem ewigen Sichgeltendmachen nach außen die Hauptsache zu vergessen, die Arbeit am eigenen Herzen; der mag in seinem Wahne meinen zu bauen, aber was er treibt, ist Zerstörung. Ja, ich spreche es offen aus: Gelingt es nicht, die wilden Dämonen zu bannen, die heute weit und breit in unserem deutschen Vaterlande am Marke unserer theuren evangelischen Kirche zehren, gelingt es vor Allem nicht, die schmutzigen Mittel, vor denen Tausende in den Kämpfen der Gegenwart nicht zurückschrecken, als unwürdige Waffen im Geisteskampf zu beseitigen, so läuft unsere theure Kirche Gefahr, rettungslos zu Grunde zu gehen. Darum, m. Fr., Ihr Alle, die Ihr Christi Jünger sein wollt, laßt uns heute die Hände uns reichen und zu einander sprechen: „Wo Du hingehst, da gehe ich auch hin, und wo Du bleibst, da bleibe ich auch" — und dieser friedlichen Landeskirche wird erspart bleiben, was in anderen Theilen Deutschlands unsere evangelische Kirche zerfleischt. Zu dieser unserer Arbeit des Friedens erbitte ich mir vor Allem die Hülfe meines himmlischen Vaters, danach den gnädigen Schutz meines neuen Landesherrn, den Beistand der hohen Be-

15 Hörden in Staat und Stadt, die Mitwirkung der theuren Kollegen im Amt. Bei Erwähnung der letzteren aber schweift mein Blick von dieser Stadt und aus diesem Gotteshause, meiner nächsten Werkstatt, hin auf das Land ringsumher und auf die Brüder im Amt, denen ich von jetzt ab vorgesetzt werden soll. Als ein Un­ bekannter trete ich ihnen nahe, und ich verstehe es, wenn nicht alle Herzen freudig schlagen, wo sie an der Stelle eines Mannes, den sie Alle geliebt, besten ehrwürdiges Haupt ihnen Achtung gebot, jetzt mich, den Unbekannten, sehen, jünger an Jahren als mancher unter ihnen. O, daß ich ihnen Allen heute zurufen könnte, daß mir wahrlich nichts ferner liegt, denn als ein Neuerer mit roher Hand umzugestalten, was altgewohnt und altbewährt ist, daß ich dankbar sein will für jeden Rath und Wink, den die reifere Er­ fahrung mir entgegenbringt! Die älteren Brüder sollen in mir einen Mann finden, der das greise Haar achtet; den gleichalterigen möchte ich vor Allem ein Freund werden und den jiingeren ein steter Berather. Schlagt ein in einen Bund, bei dem wir sprechen: „Wo Du hingehst, da gehe ich auch hin, und wo Du bleibst, da bleibe ich auch." Nicht als ob wir immer einerlei Meinung sein könnten — laste sich Jeder leiten von seiner Ueberzeugung; spreche er offen aus, was er meint und wünscht; sage er es auch dem Andern ehrlich, wenn ihm an diesem etwas nicht gefällt, und werde er nicht bitter, wenn der Andere es ähnlich macht. Aber hüten wir uns davor, daß wir selbst da, wo wir je länger desto mehr unsere Fehler kennen lernen, sofort den Stab über einander brechen — wir sind ja Alle sündige Menschen, wir bedürfen Alle der Nachsicht und Gnade — hüten wir uns beim Geltendmachen unserer Meinungen vor Wegen, die uns nicht ziemen, um dererwillen unser heiliges Amt nur verlästert würde. Sagen wir ohne Menschenfurcht und Menschengefälligkeit, was wir meinen, aber verschmähen wir das erbärmliche Mittel abfälligen Geredes hinter dem Rücken oder der feigen anonymen Verdächtigung. Wo immer der Sinn herrscht, der in den Worten unseres Textes einen Aus­ druck gefunden, da werden wir vor solchen Wegen bewahrt bleiben. Sie sind ein Zeugniß der Liebe, die Alles verträgt, Alles glaubet, Alles hoffet, Alles duldet. Heute von uns gesprochen, würden sie Zeugniß davon ablegen, daß wir das, was uns verbindet und uns verbinden soll, höher stellen, als uns selbst, und daß wir nichts inniger wünschen, denn um der heiligen Sache willen, die wir vertreten, uns jederzeit in die Zucht des Geistes zu nehmen.

16 II.

M. Fr., wo immer man in der Kirche die streitenden Parteien, die verschieden gearteten Menschen zur Einigkeit auf­ fordert, da begegnet man wohl dem Einwand, Wasser und Feuer, Christus und Belial, Bekennen und Verleugnen seien doch so ge­ waltige Gegensätze, daß hier eine Einigung nicht möglich sei. Diese Sätze sind berechtigt, nur daß bei Anwendung derselben menschliche Kurzsichtigkeit so oft die Hände im Spiele hat, uns unser Ziel verrückt und uns die Klarheit des Auges trübt. Der Mensch sieht so oft ein Verleugnen Christi, wo man im letzten Grunde nur des Meisters Ehre sucht, wo man Irrthümer zerstreut wissen will, die der Verherrlichung seines Namens nur hinderlich sind, und sieht ein Bekennen nur da, wo die Lippen Worte machen, während das beste Bekennen Jesu das Bekenntniß der That und des Lebens ist — wie oft fand ich dies letztere gerade da, wo die Lippen nicht viel sprachen und das menschliche Auge auf den ersten Blick von christlicher Liebe nichts zu entdecken vermochte! Doch, daß ich nicht mißverstanden werde, will ich die Worte der Ruth vor Allem gesprochen haben vor Ihm, dessen Namen wir tragen. Was wirst Du predigen? was in den Mittelpunkt Deiner Ver­ kündigung stellen? so fragt Ihr mich wohl heute. Ich kenne darauf nur die Antwort der Schrift: „Wir predigen nicht uns selbst, sondern Jesum Christ, daß er sei der Herr, wir aber Eure Knechte um Jesu willen" (2. Kor. 4, 5) oder die andere: „Wir predigen den gekreuzigten Christus, den Juden ein Aergerniß und den Griechen eine Thorheit" (1. Kor. 1, 23). Ihr fragt mich weiter: Was ist aber das Ziel, das Du dabei im Auge hast? und ich antworte Euch: O daß wir alle einmüthig sprechen lernten vor unserm Erlöser: „Rede mir nicht darein, daß ich Dich verlassen soll und von Dir umkehren; wo Du hingehst, da will ich auch hingehen; wo Du bleibst, da bleibe ich auch; Dein Volk ist mein Volk, und Dein Gott ist mein Gott; wo Du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden." „Wo Du hingehst, da will ich auch hingehen!" so heißt es zu­ nächst. Welches sind denn nun aber die Wege, auf denen der Heiland uns vorangegangen und auf denen wir ihm folgen sollen? Sind es die Wege zu Geld und Gut, zu Ehre und Ansehen bei den Menschen? — wahrlich, er wanderte sie nicht. Sind es nur die Wege in die Wüste, da er nachdachte über seine göttliche

17 Sendung, die Wege in die Einsamkeit, da er von der Welt sich abschloß, um im Gebet nur mit seinem Vater im Himmel zu ver­ kehren? Gewiß, auch diese Wege sollen wir gehen — denn der

Mensch soll sich stille Stunden offen halten zum Verkehr mit seinem Gott, zur Prüfung seines eigenen Lebens — aber sie allein sind's nicht, an die wir zu denken haben, wenn wir sprechen: „Wo Du hingehst, da geh' ich auch hin, und wo Du bleibst, da bleibe ich auch." Die Wege, auf denen der Heiland uns voran­ gegangen, auf denen wir ihm folgen sollen, sind die Wege wahrhaft sittlichen Strebens, nicht die Wege der Weltflucht, sondern die der Weltverklärung, sind die Wege der Liebe, der Liebe zu Gott und zu den Mitmenschen. Wahrlich, dabei geht es dem Menschen wohl oftmals ähnlich wie der Ruth. Die wußte, als sie der Naemi folgte, es würden nicht immer leichte Wege sein, die gen Bethlehem führten — sie führten auch durch rauhe und wüste Gegenden. Die Wege, auf denen wir dem Heiland folgen sollen, sind auch nicht immer leicht; sie sind nicht selten so schwer, daß der Mensch vor ihnen ausruft: Unbegreiflich! unerforschlich! Aber ist er anders ein Christ, so geht er sie dennoch wohlgemut, weil er von seinem Heiland gelernt hat zu sprechen: „Vater, nicht mein, sondern Dein Wille geschehe." Und daß es also um uns stehen möge, das ist das Ziel, das ich im Auge habe. „Dein Volk ist mein Volk!" spricht die Ruth weiter in unserem Text, und wir wiffen, an welches Volk sie denkt — an Israel. Daß wir auch so sprächen vor unserem Heiland — das habe ich weiter als Ziel vor Augen. Sein Volk ist nicht beschränkt auf das Volk, dem einst Naemi angehörte. Sein Volk soll jedes Volk sein. Zu seinem Volk hat er auch unser deutsches Volk sich er­ koren. Aus der Geschichte lernend, wie Gott, der Herr, zu Großem einst unser Volk erkoren — ich erinnere an die herrliche Zeit der Reformation, an die Heldenkämpfe der Freiheitskriege, an die großen Tage vor 25 Jahren, deren Gedächtniß wir in den nächsten Monaten feiern werden — mögen wir tief es uns einprägen, daß Gott, der Herr, hohe Kulturaufgaben gerade unserem Volk gesetzt hat, daß jeder Einzelne in demselben, groß oder klein, berufen ist, an denselben mitzuarbeiten, daß ein Jeder von unserem Volk zum Kinde Gottes berufen ist und zum Erben der Ewigkeit. Sicherlich können wir es danach nur verurtheilen, wenn heute ein Bestreben immer mehr um sich greift, unserem Volk seine hohen Ausgaben zu entrücken, den Siegeszug der Wissenschaft zu hemmen.

18 den Trieb zu Gott zu untergraben durch eine materialistische Welt­ anschauung auf der einen und den Aberglauben auf der anderen Seite, wilden Haß zu säen zwischen Besitzenden und Dürftigen, zwischen den verschiedenen Confessionen, so daß schließlich nichts Heiliges mehr heilig bleibt und das Zusammenleben der Menschen sich auflösen muß in einen Kampf Aller gegen Alle. Vielmehr hieße das unser Volk als ein Volk unseres Erlösers betrachten, wenn wir alle eigene Kraft, wenn wir Hab und Gut in den Dienst des Vaterlandes stellten, wenn wir alles Gute, Wahre, Schöne in unserm Volke pflegten. „Dein Gott ist mein Gott!" — o daß wir alle, je länger desto mehr auch so vor unserm Heiland sprächen! das ist mein Ziel. Und wer ist denn dieser Gott? Nicht der heidnischen Götter einer — er spricht: Ich bin der Herr, Dein Gott; Du sollst nicht andere Götter haben neben mir. Nicht der Gott, wie ihn Israel sich dachte — Unser Vater! so lehrt uns Jesus selbst ihn anrufen. Als der Vater, der auch den verlorenen Sohn wieder in seine Arme schließt, wenn er nur reuig heimkehrt aus der Fremde, so steht er vor uns. Kein Opfer aus Menschenhand fordert er, sondern er läßt die Seinen fröhlich rühmen: Wir werden gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, so durch Jesum Christum geschehen ist. Ich höre wohl Manchen sagen: Ich habe diesen Gott! und doch möchte ich ihm warnend zurufen: Ueberschätz' Dich nicht! Nur der kann vor dem Heiland sprechen: „Dein Gott ist mein Gott," der sein ganzes Leben ihm geweiht, der da sagen kann wie der Heiland: „Ich und der Vater sind eins." Es ist also wahrlich keine kleine Aufgabe, die ich uns stelle mit der Aufforderung: Laßt uns sprechen vor dem Heiland: „Dein Gott ist mein Gott." „Wo Du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werdenso heißt es endlich noch in unserm Text. Daß wir so endlich auch vor unserm Heiland sprechen möchten! das ist mein Ziel. Nicht wahr? eine wunderbare Zumuthung, daß wir also vor Jesu zu sprechen lernen sollen? Nicht auf das Feld der Ehren, wo der Mann im Kampfe stirbt für Vaterland und Volk, nicht in ein stilles Kämmerlein, wo der Sterbende, umstanden von den Seinen, seinen letzten Odem aushaucht, werden wir bei diesem Wort ge­ wiesen. Gen Golgatha lenkt sich unser Blick, zur Schädelstätte, da der Sohn Gottes am Kreuz verblutet, da die Welt ihn verspottet und die eigenen Jünger geflohen sind. Und dennoch sprechen wir: Wohl dem, der vor seinem Heiland ausrufen kann: „Wo Du stirbst.

19 da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden." Steh' sinnend unter dem Kreuz, steh' sinnend am Felsengrab des Joseph! und von jenem her klingt's an Dein Ohr: „Vater, ich befehle meinen Geist in Deine Hände", aus diesem vernimmst Du die Osterbotschaft: „Was suchet Ihr den Lebenden bei den Todten?" Was aber könnte wohl mehr unser Wunsch sein, als dereinst unsern Geist auszu­ hauchen in Gottes Vaterhände, als in's Grab einst zu sinken mit der seligen Hoffnung, daß die Todten leben, daß sie nicht zu suchen sind im Grabe, sondern droben im Vaterhaus? Damit wißt ihr, m. Fr., welches Ziel mir vor Augen steht, wenn ich sage, daß ich in Eurer Mitte Christum predigen will. Ob es Euch so erscheint, daß wir daraufhin uns einander anver­ trauen könnten? Mir will's so scheinen. Darum laßt uns, vor Jesum hintretend, mit einander sprechen:

Die wir uns allhier beisammen finden, Schlagen unsre Hände ein, Uns auf Deine Marter zu verbinden, Dir auf ewig treu zu sein. Und zum Zeichen, daß dies Lobgetöne Deinem Herzen angenehm und schöne, Sage Amen und zugleich: „Friede, Fricde sei mit Euch!" Amen.

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Hosbuchhändler Sr. Majestät des Kaisers und Königs, Hrrlin W. Eljarlottrnstr. 61.

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