Eine Römische Fürstenfamilie. Buch 3 Don Orsino: Eine Geschichte in zwei Bänden [Reprint 2020 ed.] 9783112384060, 9783112384053


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German Pages 617 [638] Year 1894

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Eine Römische Fürstenfamilie. Buch 3 Don Orsino: Eine Geschichte in zwei Bänden [Reprint 2020 ed.]
 9783112384060, 9783112384053

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Eine

Römische Fiirsteufamilie. Roman

in drei Büchern von

f. Marion Craroford.

Drittes Buch Don «rsiuo in zwei Theilen.

Berlin. Druck und Verlag von Georg Reimer.

1894.

Don O r s i n o. Eine Geschichte in

Zwei Bänden von

£. Marion Crawford.

Antorisirte Uebersetzung von

LH. Höpfuer.

Erster Band.

Berlin. Dmck und Verlag von Georg Reimer.

1894.

Erstes Kapitel. Don Orfino Saracinesca gehört der neuen Zeit an und wohnt mit seinen Eltern im heutigen Rom unter dem Dache des alten Palastes, der in Kriegs- und Friedens­ zeiten so viele hundert Saracinescas beherbergt hat, selten aber im Lause der Jahrhunderte einundzwanzig Jahre hin­ durch die Heimstätte dreier Generattonen gewesen ist. Der Romantiker mag in der Sonne liegen, ohne fich um die Tageszeit zu bekümmern, nnd fich damit zufrieden geben, die Schmetterlinge durch die blaue Lust von einer Blume zur andern flattern zu sehen. Allein der Historiker ist ein Entomologe, der fich keine Ruhe gönnen darf. Er muß die Schmetterlinge, d. h. die Thatsachen, im Rehe seines GedächtniffeS einfangen und fie mit scharfen Nadeln, das find seine Daten, aufs Papier heften. Bei weitem die Mehrzahl der Zeitgenoffen des alten Saracinesca ist todt und mit mehr oder minder Recht vergeffen. Der alte Valdarno starb vor langer Zeit auf sei­ nem Bette, umgeben von seinen Söhnen und Töchtern. Der berühmte Dandy stüherer Tage, der Herzog von Astrardente, starb zu Füßen seiner jungen Frau, ungefähr drei­ undzwanzig Jahre vor dem Beginn dieses Abschnitts der Familiengeschichte. Danach starb der alte Fürst Montevarchi eines gewaltsamen Todes von der Hand seines Bi»

6 bliothekars und hinterließ seine englische Gemahlin zwar nicht untröstlich, doch ungetröstet, seine Tochter Flavia aber vermählt mit jenem andern Giovanni Saracinesca, der noch immer den Titel Marchese San Giacinto führt, wäh­ rend seine jüngere Tochter, die schöne braunäugige Fau­ stina, einen armen Franzosen liebte, der halb Soldat und ganz und gar Künstler war. Der schwache, gutmüthige AScanio Bellegra herrscht an seines Vaters Statt als zag­ haft verschwenderischer Herr all des Reichthums, welchen die Hagern krummen Finger des Geizhalses sicherer Hut anver­ traut hatten. Auch Frangipani, dessen Sohn Faustina heirathen sollte, ist schon seit Jahren todt, und noch andere des ältern und ernstern Geschlechtes haben das große Ge­ heimniß von den Lippen des Todes erfahren. Aber andere und wichtigere Todesfälle haben stattge­ sunden, neben denen das Hinsterben eines ganzen Kreises von Edelleuten in Nichts zusammenfinkt. Ein Kaiserreich ist vergangen, und ein anderes ist unter dem Getöse eines ungeheuern Krieges entstanden, im Blutvergießen gezeugt, im Kamps geboren, im Feuer getauft. Das Frankreich, welches wir kannten, ist dahin, und die franzöfische Repu­ blik schreibt Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit in großen rothen Buchstaben über das Thor ihres Hauses, welches dennoch im Innern mit Trauerflor behängt ist. AuS dem Rest von Königen und Fürsten und Prinzchen und Herr­ schern aller Art steigt der einsame Adler des neuen Deut­ sche« Reichs empor und schwebt auf schwarzen Flügeln zwischen Himmel und Erde, nicht wieder kämpfend, doch allzeit kampfbereit, eine Vifion des bewaffneten Friedens, «in Schreckniß, ein Räthsel — vielleicht eine Warnung. Auch daS alte Rom ist todt, um nie wieder als das alte aufzuerstehen. Sein letzter Athemzug ist gethan, die

.7 Olim Augen haben sich für immer geschloffen, die Fäulniß hat ihr Werk gethan, und das große Skelett liegt bleichend auf den sieben Hügeln, halb bedeckt mit dem unregelmäßi­ gen Stuck einer modernen architectonischen Hülle. Das Re­ sultat befriedigt diejenigen, welche es herbeigeführt haben, wenn auch nicht die übrige Welt. DaS Grab des alten RomS ist die neue Hauptstadt des geeinigten Italiens. Die drei Hauptpersonen der Handlung find ebenfalls todt, — der Mann von Herz, der Mann der That und der Mann voll Geist, der gute, der tapfre und der schlaue, der Papst, der König und der Cardinal — Pius IX., Victor Emanuel II., Giacomo Antonelli. Rom hat fie alle sterben sehen. In einem schlichten Zimmer deS Vatikans, auf eine« einfachen Bett, neben dem zwei Wachskerzen im kalten Worgenlicht brannten, lag die Leiche des Mannes, den Keiner geliebt und Biele gefürchtet hatten, im violetten Gewände eines Cardinal-DiaconS. Das kluge Gesicht war auf einer Seite zusammengezogen und trug einen eigenthümlich ge­ mischten Ausdruck von Mitleid und Verachtung. Die zar­ ten magern Hände waren über der Brust gefaltet. DaS kalte Licht fiel auf die starreü Züge, das seidene Gewand und den steinernen Boden. Ein einziger Diener in schä­ biger Livree stand in der Ecke, albern lächelnd, während ihm die Thränen in den Augen standen und über die nn» rafirten Wangen liefen. Vielleicht war er betrübt, wie Dienstboten es find, wenn sonst keiner betrübt ist. Die Thür ging fast birect auf eine Treppe, und das Geräusch der Tritte von denen, welche die Steinstufen auf- und ab­ gingen, störte die Stille des Todtengemachs. Bei Nacht wurde der arme Leichnam ohne Ehrenbezeigungen in einen ganz gewöhnlichen Wagen geschoben und zu seiner letzt« Ruhestatt hinausgefahren.

8 In einer großen Halle, auf einem ungeheuern Kata­ falk, dreißig Fuß über dem Boden, lagen die sterblichen Ueberreste des biedern Königs. Tausende von Wachskerzen warfen ihr Licht aus das dunkle formlose Antlitz und die Uniform, mit welcher die mächtige Gestalt bekleidet war. Eine ungeheuere Menschenmebge drängte sich an die Schran­ ken, um sich satt zu sehen und dann fortzugehen. Hinter den Schranken hielten große Kürassiere Wache und gingen gleichgültig hin und her. Es war alles Flitterstaat; doch in großattigem Maßstabe, — durchaus unähnlich dem Manne, zu deffen Ehren das Gepränge stattsand; denn er war schlicht und brav gewesen. Als er endlich nach seiner Gruft im Pantheon getragen wurde, schritt eine Reihe kaiserlicher und königlicher Prinzen Schulter an Schulter auf der Straße vor ihm her, und sein schwarzes Lieblings­ pferd wurde hinter ihm hergeführt. In einer matterleuchteten Kapelle der Peterskirche lag der Papst in weißem Gewände, die juwelengeschmückte Tiara auf dem Haupt, das bleiche Gesicht ruhig und friedlich. Sechs Fackeln brannten neben ihm; sechs Offiziere von der Nobelgarde standen wie Statuen mit gezogenem Säbel daneben, drei zu seiner Rechten und drei zu seiner Linken. Das war alles. Die Menge schritt in einfacher Reihe vor den großen verschloffenen Gitterpforten der Ju­ lianischen Kapelle vorüber. Bei Nacht wurde er ehrfurchts­ voll von liebenden Händen in die tiefe Krypta hinabgetra­ gen. Allein ein anderes Mal, ebenfalls bei Nacht, wurde der Todte wieder ausgenommen und zum Thore hinaus­ gefahren, um außerhalb der Mauern bestattet zu werden. Da versammelte sich im nächtlichen Dunkel eine große Menge und überfiel die Heine Schaar und steinigte den Sarg deffen, der niemals Jemandem etwas zu Leide gethan

9 hatte, und stieß laute Flüche und Lästerungen aus, bis die ganze Stadt in Aufruhr war. Das war der letzte Grab­ gesang. Das alte Rom ist dahin. Aus den engen Gaffen find breite Straßen geworden, das Judenviertel ist ein ebener staubiger Bauplatz, die Fontäne am Ponte Sisto ist fort, die mächtigen Pinien der Villa Ludovifi find eine nach der andern unter der Säge und der Axt gefallen, und ein billiger, fchwachbevölkerter Stadttheil ist an der Stelle der Zaubergürten entstanden. Das Netzwerk kleiner Gaffen zwischen der Jesuitenkirche und der Engelsbrücke ist zerriffen und wird von dem riefigen Corso Vittorio Emanuele durch­ schnitten. Bauwerke, nach welchen Fremde im Schatten, Führer und Plan in der Hand, zu suchen pflegten, sind plötzlich ins grelle Licht gerückt, welches die breiten Straßen erfüllt und sich über weite Plätze ergießt. Die großartige Canxelleria steht prächtig da in der Sonne, die geschweifte Faffade des Palazzo Massimo kehrt ihre düstre Säulenhalle der größten Hauptstraße der neuen Stadt zu, der alte Arco de' Cenci (Bogen der Cenci) giebt sein ödes Gemäuer dem grellen Sonnenschein Preis, der Porticus der Octavia blickt nieder aus den Fluß. Wer in dem Rom von vor zwanzig Jahren geboren und aufgewachsen ist und nach langer Abwesenheit zurück­ kehrt, wandert wie ein Fremdling durch unbekannte Straßen, an fremden Häusern vorüber, unter einer Bevölkerung um­ her, deren Sprache seinem Ohre ungewohnt klingt. Er durchschweift die Stadt vom Lateran bis zum Tiber, vom Tiber bis zum Batican, stößt hie und da auf ein ihm früher in anderer Umgebung vertrautes Gebäude, verirrt fich beständig in nutzlosen Wüsteneien, welche die Kunst moderner Baumeister eintöniger gemacht hat als die san-

10 dige Einöde. Wo er einst in alten Tagen verweilte, um in den Fluß zu schauen oder von noch älteren längst ent­ schwundenen Zeiten zu träumen, ohne den Bettler neben ihm zu bemerken und kaum des halben Dutzends Arbeiter gewahr zu werden, welche beinahe mitten aus der Straße ihr Handwerk betrieben, — wo einst alles alt und still und melancholisch und voll uralter Erinnerungen war, — da, an eben derselben Ecke, wird er jetzt von einer lebhaf­ ten Menge gedrängt und gestoßen, von ungeheueren knar­ renden rasselnden Karren an die Mauer geschoben, von den Rädern des modernen Omnibus mit moderner Todesart bedroht, von dem Geschrei moderner Zeitungsverkäufer be­ täubt und höchst wahrscheinlich von den gewandten Fingern moderner Einwohner bestohlen. Und dennoch fühlt er, daß Rom noch immer Rom sein muß. Er steht so zu sagen außerhalb und sieht das Ganze an wie ein Schauspiel, in dem Rom selbst die Heldin und Haupttragödin ist. Er kennt die Frau; die Künstlerin sieht er zum ersten Mal und erkennt sie nicht. Außerhalb der Bühne ist sie eine ernste Frau mit dunkeln Augen und schwarzem Haar. Wie sollte er sie in ihrer seltsamen Ver­ kleidung erkennen, das Haupt mit blonden Gretchenzöpfen geschmückt, ihre olivenbraunen Wangen roth und weiß ge­ schminkt, ihre stattliche Gestalt in Gewänder gehüllt, die munter und jugendlich aussehen sollen, eigentlich aber nur mißkleidend find? Gern ginge er hinaus und wartete an der Thür des Theaters, bis die Vorstellung zu Ende ist, um die wirkliche Frau beim matten Schein der Laternen an fich vorübergehen zu lasten, wenn sie in ihren Wagen steigt, und zu sehen, wie fie wieder sie selbst wird. In Wirklichkeit wendet er der Menge den Rücken und wandert fort, unbekümmert wohin, bis er fich zufällig aus der An-

11 höhe von Sant Onofrio oder vor dem großen Springbrunen der Acqua Paola oder vielleicht auf der Promenade befindet, welche durch die ehemalige Villa Corfini auf der Höhe des Janiculus hinführt. Dann freilich ändert sich die Scene: die Schauspielerin ist fort, er hat die wahre Roma vor fich; die Hauptstadt des neuen Italiens versinkt wie ein Trugbild in die Erde, aus der sie heraufbeschworen ward, und die Hauptstadt der Welt erhebt fich wieder, unverän' dert, unveränderlich und unwandelbar vor den Augen des Wanderers. Die großen Denkmäler größerer Zeiten stehen noch majestätisch und unverrückt da; die mächtigen Wahr­ zeichen einer gewaltigen Epoche erheben fich klar und deut­ lich; Hadrians Grabmal schaut auf den gelben Strom, die wuchtige Halbkugel des Pantheons wendet ihre einzige Oeffnung dem Himmel zu, die ungeheure Kuppel des Weltendomes blickt schweigend hernieder auf die Gräber der Herren der Welt. Dann geht die Sonne unter, und der Wanderer wan­ delt durch die kühle Abendlust wieder hinab in die Stadt und findet fie minder modern, als er gedacht hatte. Er hat gefunden, was er suchte, und weiß, daß das Wahre das Falsche überdauert, daß der Stein den Stuck überleben wird, und daß der Baumeister von heute neben den Er­ bauern von Rom nur ein Erbauer von Kartenhäusern ist. So besänftigt sich sein Herz etwas oder grollt doch minder, denn es ist ihm klar geworden, wie gering im Grunde die Veränderung im Verhältniß zum ersten Ein­ druck ist. Das große Haus ist in andre Hände gefallen, und der neue Jnsaffe möblirt die Wohnung nach seinem Geschmack. Das ist alles. Er wird die Mauern nicht Nie­ derreißen, denn seine Hände find zu schwach, um fie wieder aufzubauen, selbst wenn er nicht mit andern Dingen be-

12 schäftigt und durch das unangenehme Bewußtsein der von ihm bereits begangenen Ausschreitungen bedrückt wäre. Andere Dinge sind geschehen, von denen einige vielleicht bestehen werden; einige darunter find an sich gut, während andere unbedeutend und einige entschieden schlecht find. Das große Experiment der italienischen Einheit ist noch im Stadium des Versuches, und die Welt bildet sich über das Resultat bereits ihre Meinung. Wie wenig auch die Ge­ sellschaft die zeitgenössische Geschichte beachtet, so kann fie doch gegen die Umgestaltung ihrer gewohnten Umgebung nicht gleichgiltig bleiben, und hier, ehe wir auf den Bericht individueller Thaten eingehen, mögen dem Chronisten einige Worte über gewiffe Verhältniffe gestattet sein, welche Aus­ länder nicht recht verstehen, selbst wenn fie mehrere Winter in Rom zugebracht und unter einander Bekanntschaft ge­ macht haben in der Absicht, die Römer zu kritisieren.

Unmittelbar nach der Einnahme der Stadt, im Jahre 1870, bildeten sich drei verschiedene Parteien, nämlich die Clcricalen oder Schwarzen, die Monarchisten oder Weißen, und die Republikaner oder Rothen. Alle drei hatten zweifellos schon seit längerer Zeit bestanden, allein der re­ volutionäre Wein begünstigte das Aussprechen der Wahrheit, nnd als die Gesellschaft eines Morgens erwachte, fand sie sich in drei Lager getheilt, von denen jedes sehr verschiedene Ansichten hatte. Zuerst hielt die Maste des hohen Adels zusammen und trat für die verlorene weltliche Macht des Papstes ein, während eine große Anzahl der minder ansehnlichen Fami­ lien, dem Beispiel von zwei oder drei großen Geschlechtern folgend, sich auf die Seite der Royalisten stellte. Die repu­ blikanische Gesinnung fand, wie ganz natürlich, nur wenige Anhänger in den höchsten Ständen, und diese waren, so

13 viel ich weiß, in allen Fällen junge Leute, deren Väter Schwarze oder Weiße waren, und von denen die meisten

es für gut befunden haben, seitdem ihre Ansichten in der einen oder der andern Richtung zu modifiziren. Dessen­ ungeachtet war und ist die rothe Partei ziemlich stark und dazu auserkoren, im Parlament die mächtige Rolle zu spielen, welche gewöhnlich einer festgeschloffenen dritten Partei zufällt, wenn eine vierte noch nicht vorhanden ist oder keinen politischen Einfluß hat, wie das in Rom that­ sächlich der Fall ist. Denn es giebt eine vierte Partei in Rom, die wenig politischen, aber viel sozialen Einfluß hat. Es war nicht möglich, daß Leute, die in der Vertraulichkeit eines streng abgeschloffenen Kastenwesens ausgewachsen waren, die sich untereinander Du nannten und die erblichen Bestandtheile einer noch immer feudalen Gesellschaftsordnung bildeten, auf ein Mal allen Verkehr abbrechen und sich unter einander wie Fremde behandeln sollten. Der Bruder, ein Clericaler von Geburt und Ueberzeugung, sah, daß seine eigne Schwester ihren Mann an den Hof des neuen Königs be­ gleitete. Der strenge Anhänger der alten Ordnung traf auf der Straße seinen eignen Sohn in der Uniform eines italienischen Offiziers. Zwei Freunde, welche zwanzig Jahre hindurch in guten und bösen Tagen zusammengehalten, sahen fich plötzlich durch die Kluft getrennt, welche zwischen einem römischen Cardinal und einem Senator des König­ reichs Italien liegt. Der Bruch war plötzlich und scharf, aber in vielen Fällen wurde er durch ein viertes Verhält­ niß überbrückt. Die Berührungspunkte zwischen Weiß und Schwarz wurden Grau, und eine soziale Macht, die poli­ tisch-neutral und konstitutionell gleichgültig blieb, entstand als Mittler zwischen den Zufriedenen und den Unzusriede-

14 neu. Es gab Familien, welche die alten Zustände nie ge­ liebt hatten, denen aber die neuen entschieden zuwider waren, und welche ihre Thüren den Anhängern von beiden ohne Unterschied öffneten. Es giebt eine Familie, welche grau geworden ist aus einer Art von Aberglauben, der durch unglückliche Ereigniffe veranlaßt wurde, welche son­ derbarer Weise mit jeder Annäherung seitens eines ihrer Mitglieder an die neue Ordnung der Dinge zusammen­ trafen. Es giebt eine Familie, und zwar eine der vor­ nehmsten, in welcher ein hohes erbliches Ehrenamt inner­ halb der einen Partei, welches traft der Verhältnisse noch immer ausgeübt wird, den Ausdruck aufrichtiger Sympathie für die Gegenmacht thatsächlich verwehrt. Eine andre giebt es, deren Mitglieder Vettern des einen Herrschers und persönliche Freunde des andern find. Als ein ferneres Mittel der Verschmelzung hat fich das Bestehen der zwiefachen Gesandtschaften der Groß­ mächte erwiesen, — Oesterreich, Frankreich, Spanien ent­ senden je einen Botschafter an den König von Italien und einen Vertreter von gleichem Range und gleicher Wichtig­ keit an den Papst. Selbst das protestantische Preußen hat einen Gesandten beim Heiligen Stuhl. Rußland hat seinen diplomatischen Agenten beim Vatican, und mehrere der andern kleineren Staaten unterhalten zwei verschiedene Ge­ sandtschaften. Natürlich ist es weder durchführbar noch beabfichtigt, daß diese Diplomaten niemals in freundliche Beziehungen zu einander treten sollten, obschon es ihnen strengstens untersagt ist, offizielle Einladungen an einander ergehen zu lassen. Der Berührungspunkt zwischen ihnen bildet wiederum ein graues Feld aus dem Schachbrett. Auch der Ausländer ist gewöhnlich neutral; denn selbst wenn seine politischen Ueberzeugungen nach dem andern

15

Tiberufer hinneigen, so find doch seine sozialen Neigungen aus Hofbälle gerichtet; oder wenn er ein Bewunderer ita­ lienischer Einrichtungen ist, so verleitet seine Neugier ihn doch vielleicht dazu, eine Audienz im Batican nachzusuchen, und seine unerklärliche, wenn auch erst kürzlich erwachte Vorliebe für feudale Verhältniffe treibt ihn mit den Vifitcnkarten in der Hand nach jener großen Veste des Vaticanismus, welche westlich von der Piazza Venezia und nördlich vom Capitol liegt. Während der ersten Jahre nach der großen Umwäl­ zung war die Haltung der römischen Gesellschaft auf der einen Seite — Widerspruch und Unwillen, aus der andern — Begeisterung oder vielmehr rückfichtslos kundgegebener Triumph. Die Scheidelinie war sehr scharf gezogen, denn auf beiden Seiten trug die Parteinahme den Character persönlicher Loyalität. Nach acht und einem halben Jahre verschwand das persönliche Gefühl mit dem beinahe gleich­ zeitigen Tode von Pius IX. und Victor Emanuel II. Von der Zeit ab sank der große Zwiespalt allmälig zu einer Verschiedenheit der Ansichten herab. Vielleicht darf man auch sagen, daß beide Parteien ihres gemeinsamen Feindes, der Sozialdemokratie, gewahr wurden, und zwar bald nach dem Hinscheiden des allgeliebten Königs, dessen mächtiger per­ sönlicher Einfluß für die Sache des geeinigten Königreichevon größerer Bedeutung war als alle politischen Clubs und Verbindungen in ganz Italien zusammen genommen. Er war ein gewaltiger Mann. Nur ein einziges Mal, denke ich, gab er dem Druck der allgemeinen Erregung nach, nämlich bei der Einnahme von Rom, nachdem die ftanzöfischen Truppen zurückberufen worden waren, wodurch er einen rechtsgiltigen Vertrag verletzte. Allein seine Stel­ lung war eine höchst schwierige. Er beklagte die scheinbare

16 Nothwendigkeit, und bis zuin Tage seines Todes wollte er

niemals unter dem Dache des Palastes Pius des Neunten

auf dem Quirinal schlafen, sondern hatte seine Gemächer

in einem anstoßenden Gebäude. müthig.

Er war tapfer und edel-

Seine Fehler fielen nicht der Nation zur Last,

sondern gingen lediglich ihn selbst an.

mit gleichem Recht seinem

Daffelbe Lob kann Nachfolger gespendet werden,

allein der persönliche Einfluß ist nicht mehr derselbe, ebenso wenig wie der von Leo XIII. mit dem Einfluß von PiuS IX. verglichen werden kann, obschon die ganze Welt die geistige

Ueberlegenheit und

die hohe fittliche Würde des jetzigen

Papstes anerkennt.

Wir wollen versuchen gerecht zu sein.

Die Einigung

Italiens war die Verwirklichung eines erhabenen Gedan­ kens.

Die Ausführung

des Planes

war nicht

frei von

Fehlern, und einige dieser Fehler haben beklagenswerthe, ja sogar unglückselige Folgen gehabt, welche die Beständig­

keit der neuen Ordnung der Dinge

gefährdeten.

Der

schlimmste dieser daraus hervorgegangenen Mißgriffe war die plötzliche Einführung einer höchst oberflächlichen und

mangelhaften, als Aufklärung und Erziehung bezeichneten Bildung.

Der geringste Fehler der neuen Regierung war

die Vergeudung der öffentlichen Gelder, welche in Anbe­

tracht der Mittel des Landes vielleicht in der Geschichte der Völker nicht ihresgleichen hat.

Jndeffen der erste Gedanke war groß, patriotisch, ja erhaben.

Die Männer,

welche

zuerst

das

Staatsschiff

steuerten, waren ehrenwerth, uneigennützig, aufopfernd, —

Männer

wie Minghetti, die nicht so

werden, — loyale,

bald vergeffen sein

conservative Royalisten,

deren Ideen

frei von Ueberspanntheit waren, nur daß sie etwas zu blind

an die Macht einer Constitution glaubten, um ein König-

17

reich aufzurichten, und ihren Genoffen etwas zu bereitwil­ lig ebenso reine und makellose Absichten wie ihre eigenen zutrauten. Kann man mehr für sie sagen? Sie ruhen ge­ ehrt in ihren Gräbern, ihre Thaten leben in ehrenvollem Gedächtniß; — wollte Gott, ihnen wäre eine ähnliche Ge­ neration gefolgt! Nachdem wir so viel gesagt haben, wollen wir zu deu Personen zurückkehren, welche in der Geschichte der SaracineSca eine Rolle gespielt haben. Sie find älter gewor­ den, einige mit Anmuth, andre widerwillig, einige ohne allen Anstand. Am Ende des Jahres 1887 ist der alte Leo Saracinesca noch am Leben, er steht im Alter von zweiundacht­ zig Jahren. Sein mächtiger Kopf ist etwas zwischen seine ein wenig gewölbten Schultern herabgesunken, und sein weißer Bart ist nicht mehr kurz und viereckig beschnitten, sondern wallt majestätisch aus seine breite Brust herab. Sein Gang ist langsam aber noch sicher, und wenn er un­ ter seinen runzeligen Lidern plötzlich aufblickt, flammt noch etwas von dem alten Feuer in seinen Augen. Von Natur ist er noch immer zum Widerspruch geneigt, aber er ist, wie köstlicher Wein, in den langen Jahren des Glückes und Friedens milder geworden. Als die Umwälzung in Rom vor sich ging, war er mit seiner Schwiegertochter Corona und ihren Kindern im Gebirge, in SaracineSca. Sein Sohn Giovanni, allgemein unter dem Namen Fürst von Sant' Ilario bekannt, war bis zum letzten Augenblick unter den Freiwilligen, er saß einen halben Tag zu Pferde aus dem Pincio und hörte, wie ihm die Kugeln um den Kopf pfiffen, während seine Leute von der Brustwehr des öffentlichen Gartens einzelne Schüsse auf die Landstraße »uten abfeuerten. Giovanni ist zur Zeit zweiundsinszig Crawford, Do» Orfino. I.

2

18 Jahre alt, allein wenn auch sein Haar an den Schläfen ergraut und seine Gestalt etwas breiter und gedrungener ist als früher, so ist er doch im Ganzen wenig verändert. Sein Sohn Orfino, der nächstens mündig wird, überragt ihn um eines Hauptes Länge; er ist ein stark brünetter Jüngling, noch recht schlank, doch kräftig und thätig, die Hauptperson in diesem Theil meiner Geschichte. Orfino hat drei Brüder von verschiedenem Alter, von denen der jüngste kaum zwölf Jahre alt ist. Giovanni und Corona haben keine Tochter und wünschen fast, daß einer der kräftigen Knaben ein Mädchen wäre. Allein der alte Saracinesca schüttelt lächelnd den Kopf und sagt, er wird nicht eher sterben, als bis seine vier Enkel alt genug find, um ihn auf ihren Schultern zu Grabe zu tragen. Corona ist noch immer schön, noch immer schwarz­ haarig und stattlich, obschon sie das Alter erreicht hat, über welches keine Frau hinausgeht bis nach ihrem Tode. Es sind nur wenig Furchen in ihrem edlen Gesichte, und diese wenigen sind nicht die Narben von Herzenswunden. Auch ihr Leben ist viele Jahre lang friedlich und ungestört durch große Ereignisse dahingefloffen. Allerdings hat sie eine beständige Sorge, denn der alte Fürst ist ein betagter Greis, und sie liebt ihn zärtlich. Einmal muß seine zähe Kraft unterliegen und dann wird im Hause Saracinesca große Trauer sein, und Keiner wird den Verstorbenen inniger betrauern als Corona. Auch liegt für sie ein Schatten von Bitterkeit in dem Bewußtsein, daß ihre wunderbare Schön­ heit allmälig schwindet. Ist ihr das zu verdenken? Sie ist so lange schön gewesen. Welche Frau, die ein Viertel­ jahrhundert lang die Erste gewesen ist, tritt ohne einen Seufzer von ihrem Platze zurück? Aber ihr ist viel gegeben, was ihr über diese Zeit des UebergangS hinweg hilft, und

19 sie erkennt das an, wenn sie ihren Mann und ihre vier Söhne anfieht. Auch scheint es ihr leichter alt zu werden, wenn sie von Zeit zu Zeit einen Blick aus Donna Tullia Del Ferice wirst, die ihre Jahre ohne jede Anmuth trägt und die einst so nahe daran war, Don Giovannis Frau zu werden. Donna Tullia ist dick und hat eine hochrothe Gefichtssarbe, sie ist unbehaglich lebhaft, und ihr fehlt Sicherheit im Auftreten. Ihre unangenehmen blauen Angen find nicht sanfter ge­ worden; auch hat der metallische Ton ihrer Stimme nichts an Schärfe verloren. Deffenungeachtet sollte fie fich nicht enttäuscht fühlen, denn Del Ferice ist ein angesehener Mann geworden, Abgeordneter, Financier und glücklicher Speculant, deffen Thür von Schmarotzern, deffen Tisch von Lenten belagert wird, die weiche Kleider tragen und in der Könige Palästen wohnen. Del Ferice ist die Hauptperson in den großen Baugesellschaften, welche im Jahre 1887 auf der Höhe ihrer Macht stehen. Er spielt mit Millionen, mit Meilen von liegenden Gründen, mit tausenden von Arbeitern. Er ist Director einer Bank, Präfident eines politischen Clubs, Vorfitzender von einem halben Dutzend Vereinen und Abgeordneter in der Kammer. Allein sein Gesicht ist unnatürlich bleich, seine Gestalt übermäßig cor» pulent, und sein Herz macht ihm Beschwerden. Das Ehe­ paar Del Ferice ist zu seiner großen Befriedigung kinderlos. Anastasius Gouache, der große Maler, lebt ebenfalls in Rom. Vor sechzehn Jahren hat er die einzige Liebe seines Lebens, Faustina Montevarchi, trotz des entschiede­ nen Widerstandes ihrer Familie, geheirathet. Aber die Zeiten find anders geworden. Es giebt ein neues Gesetz und Faufiinas dreimal wiederholtes Gesuch um die Ein­ willigung ihrer Mutter hat fie von der mütterlichen Au-

20 torität und

der Einmischung ihrer Brüder befreit.

Sie

und ihr Gatte hatten Anfangs einige sehr magere Jahre

durchzumachen, seitdem aber hat ihnen das Glück gelächelt. Anastasius ist hochberühmt.

nig verändert.

Sein Character hat sich we­

Mit der Liebe für eine ideale Republik im

Herzen hat er bei Mentana sein Blut für die couservative Sache vergaffen; für dieselbe Sache feuerte er am 20. Sep­ tember bei der Potta Pia seinen letzten Schutz ab.

Einen

Monat daraus kämpfte er unter dem tapfern Charette für

Frankreich, — ob für das kaiserliche, königliche oder re­

publikanische Frankreich, danach fragte er nicht; im Kampf gegen die Commune wurde er verwundet und erhielt einen Orden, weil er Gambetta gemalt hatte, darauf kehrte er

nach Rom zurück, verwünschte die Politik und heirathete das von ihm geliebte Mädchen, was im Grunde das Beste

war, was er thun konnte.

Er hat zwei Töchter im Alter

von dreizehn und fünfzehn Jahren.

Seine Tugenden find

zahlreich, allein Sparsamkeit gehört nicht dazu.

Obschon

seine Ersparniffe gering find und er auf deu Ertrag seiner Kunst angewiesen ist, bewohnt er einen Flügel eines histo­ rischen Palastes und giebt ausgezeichnete Diners.

Er be­

absichtigt sich zu beffern und ein Geizhals zn werden, wenn

seine Töchter verheirathet find. „Geiz wird der Grundton meiner zweiten Manier sein,

»ein Engel," sagt er zu seiner Frau, wenn er eben ganz

besonders verschwenderisch gewesen ist. Aber Faustina lacht leise und schlingt ihren Arm um seinen Hals, während sie zusammen sein letztes grotzes Bild

betrachten. Anastasius ist nicht stark geworden. Er ist ein Liebling der Götter, und sie verheihen ihm ewige Ju­ gend.

Er kann noch um seinen schlanken Leib deu Sol»

datenMirtel schnallen, welchen er vor zwanzig Jahren trug,

21

und es ist kaum ein weißer Faden in seinem schwarzen Haar. San Giacinto, der andere Saracinesca, welcher Faustinas ältere Schwester Flavia geheirathet hat, ist auf dem Wege, ein großes Vermögen zu erwerben, größer vielleicht als das, welches ihm einst durch den Vertrag des alten Montevarchi mit MeSchini, dem Bibliothekar und Fäl­ scher, beinahe zugesaüen wäre. Er hatte sich kaum die Mühe genommen, seine Ansichten von dem Wechsel der Regierung zu verbergen, denn er ist von Natur ein ruhiger und furchtloser Mann, und unter der neuen Ordnung trat er ohne Besinnen auf die Seite der Italiener, zur großen Genugthuung von Flavia, welche für die trauernde Partei der Schwarzen Jahre voll Langerweile voraussah. Seine beiden Söhne aus erster Ehr mit Serafina Baldi, hatte er bereits nach Rom gebracht, ein Töchterchen, was zwischen beiden stand, war in frühester Kindheit gestorben; die Knaben waren in einer Militärschule erzogen worden, und im Jahre 1887 find fie beide Offiziere in der italienischen Cavallerie, eifrige, etwas dickköpfige Patrioten, aber trotz ihres bäurischen Blutes durchaus Gentlemen. Sie find sehr groß, aber keiner von ihnen hat die Riesengestalt de» Vaters geerbt, und San Giacinto bettachtet feinen jungen Verwandten, Don Orsino, nicht ohne Reid, weil er feinen Vettern über den Kopf gewachsen ist. Aus seiner zweiten Ehe hat er einen Sohn und eine Tochter, und die That­ sache, daß er jetzt vier Kinder zu versorgen hat, spornt ihn zu größerer Thätigkeit in seinen Geschäften an. Er ge­ hörte zu den Ersten, welche einsahen, daß sich bei de« ersten Ansturm auf den Ankauf von Grund und Boden innerhalb der Stadt ein ungeheures Vermögen machen liefe; deshalb machte er all seine Besitzungen zu baare«

22 Gelde und borgte, soweit sein Credit reichte, um die ersten Abzahlungen auf die von ihm angekausten Grundstücke

leisten zu können; er setzte alles aufs Spiel mit der ruhigen Entschlossenheit und dem klaren Urtheil, welche Grundzüge seines starken Characters waren. Sein Erfolg war unge­ heuer, aber wenn er auch im ersten Augenblick tollkühn gewesen war, so sah er doch den großen Krach in nächster Zukunft drohen, und als viele noch wie wahnsinnig kauften und, ohne Rücksicht auf Verluste, Kapitalien anlegten, lagen seine Millionen sicher da in Staatspapieren oder waren zum Theil eben so sicher in soliden und einträglichen Ge­ bäuden angelegt, deren Miethszins keinen besondern Schwan­ kungen ausgesetzt ist. Er war zum Bewußtsein vom Werth des Geldes erzogen worden, folglich ließ er sich nicht leicht durch übertriebene Gerüchte fortreißen. Er weiß, daß im günstigen Augenblick kein Preis für baares Kapital zu hoch ist, aber er weiß auch, daß, wenn das gewaltige Jagen nach Erfolg beginnt, der kritische Moment im Stande der Finanzen bereits vorüber ist. Wenn er stirbt, falls eine Kraft wie die seine vom Tode überwunden werden kann, so wird er als der reichste Mann in Italien sterben und wird, was in der Finanzwelt Italiens selten ist, einen makellosen Namen hinterlassen. Noch von einer Persönlichkeit muß ich sprechen, welche in dieser Familiengeschichte eine Rolle gespielt hat. Der schwermüthige Spicca führt noch immer sein einsames Leben inmitten des gesellschaftlichen Treibens. Er kleidet sich absichtlich etwas altmodisch. Seine hohe hagere Ge­ stalt ist verhängnißvoll gebeugt, und sein leichenfahles Ge­ sicht ist ernster und strenger als je. Seit fünfzehn Jahren soll er an einem unheilbaren Uebel leiden, aber er geht noch immer überall hin, liest alles und kennt alle Menschern

23 Er muß zwischen sechzig und siebzig sein, sein genaues Alter weiß indessen Niemand. Die Rapiere, welche er einst so geschickt handhabte, hängen unbenutzt und rostig über seinem Kamin, allein sein Ruf hat die verlorne Kraft seines geschmeidigen Handgelenks überdauert, und selbst jetzt giebt es in Rom wenig tapfre Männer oder tollkühne Jünglinge, welche geneigt wären, ihn zu reizen. Er ist noch immer der große Duellant seiner Zeit; seine abgezehrten Finger könnten noch mit dem alten Griff den Säbel fassen, der lange Arm könnte vielleicht doch noch einmal schnell wie der Blitz zufahren, das trübe Auge noch einmal beim Klirren des Stahls austeuchten. Friedlich» mildthätig, wenn es Niemand sieht, ernst und sanft in seinem Wesen, gilt Graf Spicca noch immer für gefähr» lich. Aber er ist sehr vereinsamt in seinem Alter, und, um die Wahrheit zu sagen, seine Vermögensverhältniffe scheinen in den letzten Jahren sehr gelitten zu haben, so daß er jetzt selbst im heißen Sommer nur selten Rom verläßt, und es ist lange her, seit er zuletzt sechs Wochen in Paris verlebt oder eine Hand voll Gold in Monte Carlo gewagt hat. Allein sein Leben ist noch nicht zu Ende; er hat noch für sich und für Jemand anders eine Rolle zu spielen, wie sich bald deutlicher zeigen wird.

Zweites Kapitel. Orfino Saracinescas Ausbildung war beinahe vollen­ det. Sie war moderner Art, denn sein Vater hatte früh erkannt, daß es später im Leben für den jungen Mann ein Nachtheil sein würde, wenn er nicht den Studiengang durchgemacht und die Prüfungen abgelegt hätte, welche von jedem italienischen Unterthanen verlangt werden, der in

23 Er muß zwischen sechzig und siebzig sein, sein genaues Alter weiß indessen Niemand. Die Rapiere, welche er einst so geschickt handhabte, hängen unbenutzt und rostig über seinem Kamin, allein sein Ruf hat die verlorne Kraft seines geschmeidigen Handgelenks überdauert, und selbst jetzt giebt es in Rom wenig tapfre Männer oder tollkühne Jünglinge, welche geneigt wären, ihn zu reizen. Er ist noch immer der große Duellant seiner Zeit; seine abgezehrten Finger könnten noch mit dem alten Griff den Säbel fassen, der lange Arm könnte vielleicht doch noch einmal schnell wie der Blitz zufahren, das trübe Auge noch einmal beim Klirren des Stahls austeuchten. Friedlich» mildthätig, wenn es Niemand sieht, ernst und sanft in seinem Wesen, gilt Graf Spicca noch immer für gefähr» lich. Aber er ist sehr vereinsamt in seinem Alter, und, um die Wahrheit zu sagen, seine Vermögensverhältniffe scheinen in den letzten Jahren sehr gelitten zu haben, so daß er jetzt selbst im heißen Sommer nur selten Rom verläßt, und es ist lange her, seit er zuletzt sechs Wochen in Paris verlebt oder eine Hand voll Gold in Monte Carlo gewagt hat. Allein sein Leben ist noch nicht zu Ende; er hat noch für sich und für Jemand anders eine Rolle zu spielen, wie sich bald deutlicher zeigen wird.

Zweites Kapitel. Orfino Saracinescas Ausbildung war beinahe vollen­ det. Sie war moderner Art, denn sein Vater hatte früh erkannt, daß es später im Leben für den jungen Mann ein Nachtheil sein würde, wenn er nicht den Studiengang durchgemacht und die Prüfungen abgelegt hätte, welche von jedem italienischen Unterthanen verlangt werden, der in

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seinem Vaterlandc ein Amt zu bekleiden wünscht. Folglich war Orfino, obschon er keine öffentliche Schule besuchte, von Kindheit an regelmäßig zu den öffentlichen Prüfungen angemeldet worden und hatte sie alle mit großer Schwierig­ keit und mittelmäßigem Erfolg bestanden. Nach dieser Vorbereitung hatte er vier Curse auf einer englischen Uni­ versität durchgemacht, nicht in der Absicht, nach Verlauf des vorschriftsmäßigen Aufenthaltes auf der Universität einen Grad zu erwerben, sondern um sich in der englischen Sprache auszubilden, mit jungen Leuten seines Alters und Ranges, wenn auch von andrer Nationalität, umzugehen und sich die feine Politur anzueignen, welche an den menschlichen Möbeln im Tempel der Gesellschaft so hoch geschäht wird. Orfino war geistig nicht höher begabt als die meisten jungen Leute seines Alters und Standes. Wie viele von ihnen sprach er englisch vortrefflich, ftanzösisch ziemlich gut und italienisch mit römischem Accent. Er hatte etwas Deutsch gelernt und bereits viel davon vergessen; Lateinisch und Griechisch waren ihm als todte Sprachen vorgestellt worden, und er hatte nicht mehr Neigung, zu ihrer Aufer­ stehung beizutragen, als die meisten Jünglinge unsrer Zeit. Geographie hatte er nach der practischen, auf dem Continent üblichen Methode gelernt, wobei er Karten aus dem Gedächtnisse zeichnen mußte. Geschichte war ihm nicht in Parallelen, sondern so zu sagen in Tangenten gelehrt wor­ den, eine Methode, welche sonderbare Ergebniffe zur Folge hat; in der Mathematik war er gerade weit genug gekom­ men, um sich über Differential- und Integralrechnung den Kopf zu zerbrechen. Außer diesen Fächern waren eine Menge andrer Wiffenschaften, wie Physik, Chemie, Logik, Rhetorik, Ethik und Nationalökonomie, gleichsam wie in

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einem Panorama an seinem geistigen Auge vorübergeführt worden, in der Absicht, ihm eine zeitgemäße Bildung zu verleihen. Da der Unterrichtsminister verordnet hatte, daß der Name Gottes aus allen modernen Lehrbüchern auf italienischen Schulen und Universitäten getilgt werden sollte, hatte Orfino seinen Religionsunterricht zu Hause empfangen, wenigstens mit dem Vortheil, daß derselbe ein­ heitlich war. Man darf nicht glauben, daß Orfinos Eltern mit dieser Art von Ausbildung zufrieden waren. Allein es ließ sich nicht voraussehen, was für soziale und politische Umwäl­ zungen eintreten konnten, ehe der Knabe zum Mann gereist war. Weder Giovanni noch seine Frau gehörten zu den absolut Intransigenten. Sie sahen keine zwingenden Gründe dagegen ein, daß ihre Söhne sich in Zukunft an dem poli­ tischen Leben ihres Vaterlandes betheiligen sollten, obschon sie selbst es vorzogen, nicht mit der zur Zeit herrschenden Partei in Verbindung zu treten. Ueberdies erkannte Gio­ vanni Saracinesca, daß die Abschaffung des Erstgeburts­ rechtes dem erblichen Müßiggang ein Ende gemacht hatte, und daß seine Söhne zwar noch reich genug sein würden, um nichts zu thun, wenn es ihnen so beliebte, seine Enkel aber vor die Wahl zwischen Arbeit und vornehmer Dürftig­ keit gestellt sein würden, wofern es Gott gefallen sollte, das Geschlecht zu vermehren. Er konnte fteilich die eine Hälfte seines Vermögens Orfino hinterlaffen, allein das Gesetz erheischte die gleichmäßige Theilung der andern Hälfte unter alle Kinder; und da daffelbe in der zweiten Generatton geschehen würde, falls nicht eine reaktionäre Umwälzung einträte, so würden Güter und Vermögen bald in kleine Theile zustückelt werden. Denn es fiel Giovanni nicht ein, seine jünger« Söhne zur Ehelosigkeit zu ver-

26 Pflichten, noch weniger fie durch seinen Einfluß zum Ein­ tritt in den geistlichen Stand zu bestimmen; dazu hatte er zu freisinnige Ansichten. Sie versprachen eben so tüchttge Leute zu werden als diejenigen, welche im Kampfe des Lebens ihre Gegner sein würden, und fie sollten sich selbst­ ständig, unbehindert durch väterliche Autorität oder Kastenvorurtheil durchschlagen. Schon vor vielen Jahren hatte Giovanni seine An­ sichten in Bezug auf die damals bevorstehende Aenderung der Dinge ausgesprochen. Er hatte gesagt, daß er kämpfen wollte, so lange noch für etwas zu kämpfen wäre; wenn aber die Veränderung einträte, würde er sich möglichst gut darein zu schicken suchen. Jetzt hielt er Wort. Er hatte gekämpft, so weit das möglich war, und aufrichtig ge­ wünscht, seine kriegerische Laufbahn hätte ihm mehr Auf­ regung und Gelegenheit zu persönlicher Auszeichnung ge­ boten, als einen Nachmittag zu Pferde zu fitzen und sich die Kugeln über dem Kopf weg pfeifen zu laffen. Sein Soldatspielen war längst vorbei, allein er war stark, tapfer und klug, und wäre er überzeugt gewesen, daß eine zweite und radicalere Revolution guten Erfolg haben könnte, so wäre er int Stande gewesen, sich der Sache mit einer in jenen Tagen ungewöhnlichen Hingebung zu widmen. Aber ihm fehlte diese Ueberzeugung. Darum führte er ein ruhiges Leben, nahm die Gegenwart, wie fie war, verbesierte seine Güter und that seine Möglichstes, um seine Kinder so zu erziehen, daß fie Aussicht auf Er­ folg hätten, wenn je der Kampf einträte. Orfino war fein Erstgeborener, und an ihm traten die Ergebniffe moderner Erziehung unvermeidlich zuerst zu Tage. Orfino war zur Zeit noch nicht voll einundzwanzig Jahre alt, allein der wichtige Tag war nicht fern, und um ein

27 dauerndes Andenken an das Erreichen seiner Mündigkeit zu stiften, hatte der Fürst Saracinesca beschlossen, Corona ein Bild ihres ältesten Sohnes von der Hand des berühm­ ten Anastasius Gouache zu schenken. Zu diesem Zweck brachte der junge Mann jede Woche drei Vormittage in dem prachtvollen Atelier des Malers zu, ein Gemach, welches von dem kleinen Loch in der Via San Bafilio, wo er zuerst hauste, ungefähr eben so verschieden war, wie die Peterkirche von einem Kapellchen am Wege in den Abruzzen. Wer berühmte Maler des neunzehnten Jahr­ hunderts in ihrer Glorie gesehen hat, wird sich den Schau­ platz von Gouaches Thätigkeit leichter vorstellen können, als der Schreiber dieses Buches ihn schildern kann. Das Arbeitszimmer ist eine Halle mit einer dreißig Fuß hohen gewölbten Decke, der Fußboden ist von polirtem Marmor; das Licht kommt durch Nordfenster, welche in einer ziem­ lich großen Kirche nicht klein aussehen würden, durch die Thüren könnte ein zweispänniger Wagen fahren, die Ta­ peten an den Wänden könnten die Front eines modernen Hauses bedecken. Alles ist in großem Maßstabe, aus der besten Zeit, von zweifelloser Aechtheit. Drei oder vier Ori­ ginale von großen Meistern, wie Titian, Rubens und van Dyck, stehen auf ungeheueren Staffeleien im besten Licht. Einige zwanzig unvergleichliche Antiken aus Bronze und Marmor find auf prachtvollen geschnitzten Tischen oder Gestellen aus dem sechzehnten Jahrhundert aufgestellt. Die einzige in diesem Gemach vorhandene Nachbildung ist ein vorzüglicher Abguß des Hermes von Olympia. Die Tep­ piche find alle aus Schiras, Sinna, Ghordez oder dem alten Baku; keine gewöhnlichen Sachen aus Smyrna, keine unreinen Anilinproducte des russisch-asiatischen Handels stöxen die allgemeine Harmonie. Im vollen Licht hängt

28 an der Wand eine einzige seidene Decke von wundervollen Farben, berühmt in der Geschichte orientalischer Samm­ lungen, und schräg darauf ist eine einzige unschätzbare Damascenerklinge angebracht, — ein Schwert, um dessen Besitz ein Araber oder ein Tscherkefse zahllose Verbrechen begehen würde. Anastasius ist großartig in seinen Nei­ gungen und Liebhabereien. Sein Atelier und seine Woh­ nung sind sein einziges Gut, sein einziges Capital, sein ganzes Vermögen, und daraus macht er kein Geheimniß. Der bloße Gedanke eines hohen Einkommens ist ihm eben so unbehaglich, wie die Aussicht darauf fern und unsicher. Geld giebt's immer im Ueberfluß, Geld zu Faustinas Pferden und Wagen, Geld zu Gouaches feinen Diners, Geld für beider kostspielige Liebhabereien. Der Farbentopf ist die Goldgrube, der Malerpinsel ist der Spitzhammer, die Kraft hat nie versagt, die Hand bei der Arbeit nie gezittert. Eine goldne Jugend, ein goldner Strom, der bis zum rothgoldigen Sonnenuntergang sanft fortgleitet — so erscheint das Leben Faustina und Anastasius. An dem Morgen, wo diese Erzählung anhebt, stand Anastasius, Palette und Pinsel in der Hand, vor seiner Leinewand, versunken in Betrachtungen über das mensch­ liche Antlitz im Allgemeinen und das Antlitz Don OrfinoS im Besondern. „Ich kenne Ihre Eltern seit undenklichen Zeiten", sagte der Maler. „Ihr Vater ist der bräunliche Typus eines brünetten Mannes, und Ihre Mutter ist der oliven­ farbige Typus einer brünetten Frau. Sie gleichen einander eben so wenig wie ein Indianer einem Araber, aber Sie sehen Beiden ähnlich. Sind Sie braun oder olivenfarbig, mein Freund? Das ist die Frage. Ich möchte Sie zornig, verliebt oder beim Verlust im Spiel

— sehen.

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Bei so etwas kommt die rechte Farbe zum Vor­

schein." Orfino lachte und zeigte dabei ein höchst solides Ge­ biß. Er wußte aber nichts darauf zu sagen. „Ich üiöchte über Ihre Farbe ins Klare kommen",

sagte Anastasius nachdenklich. „Ich habe keinen besondern Grund, in Zorn zu ge­ rathen," versetzte Orfino, „und ich bin nicht verliebt." — «In Ihrem Alter? Ist das möglich? — „Durchaus. Aber ich will mit Ihnen Karten spielen, wenn Sie Lust haben," setzte der junge Mann hinzu. „Nein", erwiderte der Andere. „Es würde nichts helfen. Sie würden gewinnen, und wenn Sie zufällig viel gewännen, würde ich in eine greuliche Verlegenheit ge­ rathen. Allein ich wünsche, Sie möchten sich verlieben. Dann sollten Sie schon sehen, wie ich die grünen Schatten unter Ihren Augen behandeln würde." „Sie geben mir kurze Frist." „Je kürzer, desto beffer. Ich pflegte zu denken, das einzig wahre Glück des Lebens bestünde darin, in eine Klemme zu gerathen, und das einzig wahre Jntereffe, sich daraus zu befreien." „Und find Sie andrer Ansicht geworden?" „Ich? Nein. Meine Ansichten haben mich anders gemacht. Es ist merkwürdig, wie man unter günstigen Verhältnissen seine Frau lieben kann." Anastasius legte seine Pinsel hin und zündete sich eine Cigarette an. Rubens hätte eine Paar Tropfen Rhein­ wein aus einem venetianischen Glase genippt, Teniers sich eine Thonpfeife angesteckt. Dürer würde vielleicht einen Krug Nürnberger Bier getrunken, und Greuse oder Mignard ihre Schnupftabaksdose vorgenommen haben. Wir

30 wiffen nicht, was Michelangelo oder Perugino in solchen Fällen thaten, aber es ist so ziemlich klar, daß ein Mann des neunzehnten Jahrhunderts nicht denken kann, ohne zu reden, und nicht reden, ohne Cigaretten zu rauchen. Des­ halb fing Anastasius zu rauchen an, und dek junge zum Nachahmen geneigte Orsino folgte seinem Beispiel. „Sie sind ein ausnahmsweise glücklicher Mann", be­ merkte letzterer, der noch nicht alt genug war, um das Leben anders als cynisch aufzufaffen. „Meinen Sie? Ja, ich habe Glück gehabt, aber ich glaube nicht gern, daß mein Glück eine so große Ausnahme gewesen ist. Die Welt ist gut und voll glücklicher Leute. Es muß so sein, — sonst wären Fegefeuer und Hölle über­ flüssige Einrichtungen." „Sie nehmen also nicht an, daß alle Menschen sowohl gut als glücklich sind?" fragte Orsino lachend. „Gut! Was heißt das, mein Freund? Die eine Hälfte der Theologen sagt uns, wir werden glücklich sein, wenn wir gut find, und die andre Hälfte versichert uns, das einzige Mittel, gut zu sein, besteht darin, allem irdischen Glück zu entsagen. Wenn Sie mir glauben wollen, werden Sie niemals in den ungeheuern Irrthum verfallen, zwischen den beiden Methoden zu wählen. Nehmen Sie die Welt wie sie ist, und richten Sie nicht zu viele Fragen an das Schicksal! Wenn Sie glücklich sein wollen, wird sich das Glück in eigner Gestalt einstellen." Orsino schien sich im Stillen lustig zu machen; auf seinem jungen Gesicht lag ein Ausdruck verächt­ licher Ueberlegenheit. Für einen Zwanzigjährigen ist Glück ein langweiliges Wort, und Befriedigung heißt Auf­ regung. „So reden die Leute", sagte er. „Sie haben sich alles

31 selbst erkämpft, und mir rathen Sie, still zu fitzen, dis mir die reife Frucht in den Mund fallt." „Ich mußte kämpfen. Ihnen fällt alles von selbst zu, Vermögen, Rang, alles, auch eine gute Heirath. Warum

sollten Sie einen Finger reichen?" „Ein Mann kann unmöglich glücklich werden, wenn er vor seinem dreißigsten Jahr heirathet," antwortete Orsino mit Ueberzeugung. „Womit soll ich mich wohl während der nächsten zehn Jahre beschäftigen?" „Das ist wahr", versetzte Gouache nachdenklich, als ob ihm dieses Bedenken noch nicht eingefallen wäre. „Wäre ich ein Künstler, so wäre es etwas An­

deres." „O, ganz etwas Anderes!

Darin gebe ich Ihnen

Recht." Anastasius lächelte gutmüthig. „Dann hätte ich Talent — und ein Talent ist schon an und für sich eine Beschäftigung." „Ja freilich, dann hätten Sie Talent," versetzte Gouache noch immer lachend. „Nein, so meinte ich es nicht. Ich meine, wenn ein Mensch Talent hat, so treibt ihn das dazu, an etwas An­ deres als bloß an sich zu denken." »Ich glaube, in der Bemerkung liegt mehr Wahrheit, als Sie oder ich auf den ersten Blick glauben sollten," sagte der Maler in nachdenklichem Ton. „Ganz gewiß", versetzte der junge Philosoph mit mehr Begeisterung, als er im Gespräch mit einer Frau kund ge­ geben hätte. „Was ist denn Talent als der Wunsch, etwas zu schaffen, und die Kraft, es auszuführen? Das Genie ist niemals selbstsüchtig, wenn es thätig ist." „Ist das Ihr eigener Gedanke?" „Ich glaube es", sagte Orsino bescheiden. Im Stillen

32 freute er sich, daß einem Künstler von so viel Erfahrung und Ruf seine Bemerkung einen Eindruck machte. „Ich glaube kaum, daß ich Ihnen beistimme," sagte

Gouache. Orfinos Gefichtsausdruck veränderte sich ein wenig. Er war enttäuscht, sagte aber nichts. »Ich glaube, daß ein großes Genie oft unbarmherzig ist. Erinnern Sie sich, wie Beethoven einem jungen Kom­ ponisten nach der ersten Aufführung seiner Oper gratulirte? 'Ihre Oper gefällt mir, ich möchte sie componiren.' Das war ein schönes Beispiel von Selbstlosigkeit, nicht wahr? Ich sehe das Gesicht des jungen Componisten vor mir." — Anastasius lächelte. „Beethoven war nicht bei seiner Arbeit, als er diese Bemerkung machte," sagte Orfino zu seiner Verthei­ digung. „Ich bin's auch nicht", sagte Gouache und nahm seine Pinsel wieder zur Hand. „Wollen Sie wieder Ihre Stel­ lung einnehmen, — so — gedankenvoll, aber kühn; bilden Sie sich ein, Sie wären schon ein Ahnherr und betrachteten die Nachwelt von der Höhe eines edleren Zeitalters herab; verstehen Sie mich? Versuchen Sie, so auszusehen, als ob Sie bereits eingerahmt in der Saracinesca-Galerie zwischen einem Titian und einem Giorgione hingen." Orfino nahm seine frühere Stellung wieder ein und blickte Anastasius nach Kräften finster an. „Nicht einen so fürchterlich düstern Blick", meinte letzterer. „Sonst sehen Sie wirklich aus wie der Fürst, der einen Colonna bei einem Straßenkampf, ich weiß nicht vor wie viel Jahren, umbrachte. Sein Bild hängt in Ihrer Galerie. Aber ich glaube, der Fürstin würde es lieber sein, wenn — ja, so — das ist natürlicher. Sie haben

33 ihre Augen. Wie schwärmte doch alle Welt für sie vor zwanzig Jahren, — und schwärmt eigentlich noch." „Sie ist die schönste Frau von der Welt", sagte Orsino. In seiner ungekünstelten Bewunderung für seine Mutter lag etwas, das zu seinem angenommenen Wesen von Cynis­ mus und Gleichgültigkeit einen wohlthuenden Gegensatz bildete. Sein schönes Gesicht erheiterte sich etwas, und der Künstler malte rasch fort. Allein der Ausdruck hielt nicht lange an. Orsino war in dem Alter, wo die meisten jungen Leute es sich ange­ legen sein lassen, eine gewisse Manier anzunehmen, und der Ausdruck etwas verächtlichen Ernstes, den er seit kurzem angenommen hatte, war ihm schon zur Gewohnheit gewor­ den. Seit im allgemeinen alle Männer der Mode des Schnurrbartes huldigen, scheinen Jünglinge mit noch un­ vollkommenem Bartwuchse nicht recht zu wiffen, was sie mit ihrem Munde anfangen sollen. Einige pressen die Lippen mit dem Ausdruck unnatürlicher Strenge zusammen, wie man es bei stürmischem Wetter bei Passagieren an Bord bemerken kann, just bevor sie den Kampf aufgeben und sich aus der Oeffcntlichkeit zurückziehen. Andere ziehen ihren Mund herzförmig zusammen, während wiederum noch Andere die Herrschaft über ihre hängende Unterlippe ver­ lieren und sich damit begnügen, wie Idioten auszusehen, während sie den Bartwuchs abwarten, der ihnen das An­ sehen von Männern geben soll. Orsino hatte die am wenigsten anstößige Manier erwählt und einen ernsten Aus­ druck angenommen. Wenn er sich selbst vergaß, war er auffallend hübsch, und Gouache lauerte auf solche Augen­ blicke des Selbstvergessens. „Sie haben ganz recht", sagte der Franzose. „Vom klassischen Gesichtspunkt aus war und ist Ihre Mutter die Crnrvsord, Don Orsino. I.

3

34 schönste brünette Frau von der Welt. Was mich anbe­ trifft, — nun erstens find Sie Ihr Sohn, und zweitens bin ich ein Künstler und kein Kritiker. Des Malers Zunge ist sein Pinsel, und seine Worte sind Farben." „Was wollten Sie von meiner Mutter sagend?" fragte Orfino etwas neugierig. „Ach gar nichts. Nun, wenn Sie es denn hören wollen, die Fürstin verkörpert mein klassisches Ideal, aber nicht mein persönliches Ideal. Ich habe eine Andere mehr bewundert." „Donna Faustina?" fragte Orsino. „Nun ja, mein Freund. Sie ist meine Frau, wie Sie wiffen. Das macht immer einen bedeutenden Unterschied im Grade der Bewunderung aus" — „Gewöhnlich in umgekehrtem Verhältniß", bemerkte Orsino im Tone altklugen Unglaubens. Gouache hatte eben den Pinsel in den Mund gesteckt und hielt ihn zwischen den Zahnen, wie ein Pudel einen Stock, während er mit dem Daumen auf der Leinwand herumfuhr. Ein moderner Maler malt mit allem Mög­ lichen, auch mit den Fingern. Er sah erst sein Modell, dann sein Werk an und faßte den Eindruck auf, ehe er ant­ wortete. „Sie urtheilen sehr hart über die Ehe", sagte er ruhig. „Haben Sie schon einen Versuch damit gemacht?" „Noch nicht, ich will so lange wie möglich warten, ehe ich es thue. Nicht Jeder hat solch Glück wie Sie." „Es war etwas mehr als Glück bei meiner Heirath. Wir liebten uns, das ist wahr, aber es waren Schwierig­ keiten zu überwinden, — Sie haben keinen Begriff, was für Schwierigkeiten! Aber Faustina war muthig und ich steckte mir etwas Muth von ihr an. Wiffen Sie, als die

35 Kaserne Serristori in die Luft gesprengt wurde, lief sie allein hinaus, um mich zu suchen, weil sie glaubte, ich wäre vielleicht dabei ums Leben gekommen? Ich fand sie auf den Trümmern für mich betend. Es war großartig." „Ich habe davon gehört. Sie war sehr muthig." „Und ich ein armer Zouave, — und ein noch ärmerer Maler. Giebt es noch heute solche Frauen? Bah! Ich kenne keine. Wir pflegten uns in der Kirche zu treffen und ein paar Worte zu wechseln, während ihre Zofe ihr einen Stuhl holte. Ach! Die gute alte Zeit! Und dann die Trennung — die Einnahme von Rom, als die alte Fürstin ihre ganze Familie mit nach England nahm und dort verblieb, während wir für das arme Frankreich kämpften, und dann die Rückkehr, das monatelange War­ ten, die Briefchen, welche um Mitternacht aus ihrem Fenster fielen, und der große Zwist mit ihrer Familie, als wir uns das neue Gesetz zu Nutze machten. Und dann unsere Berheirathung — welch ein Anstoß für Rom! Ohne Ihre Mutter, die Fürstin, weiß ich gar nicht, was wir gemacht hätten. Sie brachte Faustina nach der Kirche und fuhr uns in ihrem eigenen Wagen auf den Bahnhof, angesichts der ganzen Gesellschaft. Man sagt, Ascanio Bellegra drehte sich während unserer Trauung an der Kirchthüre herum, hatte aber nicht den Muth hereinzukommen, aus Furcht vor seiner Mutter. Wir gingen nach Neapel und lebten von Salat und Liebe, in den ersten Jahren hatten wir nicht viel mehr. Ich war damals noch nicht beson­ ders bekannt, außer in Rom, und die römische Gesellschaft ließ sich nicht von dem Abenteurer malen, der mit einer Tochter des Hauses Montevarchi auf und davon gegangen war. Wenn wir reich gewesen wären, so würden wir uns jetzt vielleicht Haffen. Aber in jenen Tagen mußten wir 3*

36 für einander leben, denn alle waren wider uns. Ich malte, und sie führte die Wirthschaft. Englisches Blut weiß sich in der Wüste immer zu helfen. Und es war eine Wüste? Bei der Kocherei hätten einer Billardkugel die Haare zu Berge stehen können! Sie machte den Salat und beschwor den Braten dazu aus ihrem inneren Bewußtsein herauf. Ich malte ein Chaudfroid auf einen alten Teller. Es war gelungen, — die durchsichtige Gelee und die zarten Feld­ hühner darin forderten zum Zerlegen heraus. Nun, was soll ich Ihnen sagen? Es war ein Märtyrerthum. Sanct Antonius befand sich im Vergleich zu uns in beneidenswerthcr Lage. Neben uns wäre der gute Mann wie ein bloßer Humbug erschienen. Aber wir überlebten es alles. Ich sage es noch einmal, wir lebten und waren glücklich. Es ist merkwürdig, wie sehr man seine Frau lieben kann." Anastasius hatte seine Geschichte mit vielen Unter­ brechungen erzählt; beim Sprechen hatte er eifrig gemalt, denn obgleich es ihm völliger Ernst war mit allem, was er sagte, so war doch sein Hauptzweck, die Aufmerksamkeit des jungen Mannes von sich selbst abzulenken, um seinen natürlichen Ausdruck hervorzulocken. Als er eine seiner Farben ausgebraucht hatte, trat er zurück und betrachtete sein Werk. Orsino schien in Gedanken versunken. „Woran denken Sie?" fragte der Maler. „Glauben Sie, daß ich zu alt bin, um ein Künstler zu werden?" fragte der junge Mann. „Sie? Wer weiß! Aber die Zeiten sind zu alt. Es kommt auf eins heraus." „Ich verstehe Sie nicht." „Sie find in das Leben, nicht in den Beruf des Künstlers verliebt. Aber das Leben ist nicht mehr, was es war, und die Kunst auch nicht. Bah! In einigen

37 Jahren werde ich aus der Mode sein. Das weiß ich; dann werden wir zu unserer alten Lebensweise zurückkehren; ein Dachstübchen als Wohnung, Brod und Salat zu Mit­ tag. Ja natürlich, was denken Sie denn? Das braucht uns aber doch nicht daran zu verhindern, in einem Palast zu wohnen, so lange wir es können." Darauf summte Anastasius Gouache ein munteres Liedchen, während er Farben aus den Blechkapseln drückte. Orsinos Gesicht verrieth seine Verstimmung. „Ich meinte es nicht im Ernst", sagte er, „wenigstens nicht den Wunsch, Künstler zu werden. Ich that die Frage nur, um sicher zu sein, daß Sie sie gerade so beantworten würden, wie mir Fragen dieser Art immer und von allen beantwortet werden, nämlich indem man meinen Wunsch, etwas selbst für mich zu thun, entmuthigt." „Weshalb sollten Sie denn etwas thun? Sie sind so

reich!" „Das sagt Jeder. Wissen Sie, was man von reichen Leuten oder von uns, die wir einst reich sein werden, er­ wartet? Daß wir Landwirthe seien. Es ist nicht unter­ haltend." „Es wäre mein Traum — ein Idyll — normännische Kühe, ein schilfnmsäumter Fluß, ein beständiges Angelus, zum Abendessen Brod und Milch. Ich schwärme für Milch. Hie und da eine Nymphe, in Ihrem Alter ist das gestattet. Mein lieber Freund, warum wollen Sie nicht Landwirth werden?" Orsino mußte unwillkürlich lachen. „Das ist wohl eines Künstlers Idee von der Land­ wirthschaft?" „Vermuthlich eben so zutreffend wie die Idee, welche sich ein Landwirth von der Kunst macht," gab Gouache zurück.

38 „Wir sehen euch malen, aber ihr seht uns nie bei der Arbeit. Das ist der Unterschied, — aber das ist nicht die Frage. Was ich auch in Vorschlag bringe, immer bekomme ich dieselbe Antwort. Sie werden mir hoffentlich gestatten, eine Abneigung gegen die Landwirthschaft als Beruf zu haben?" „Nur um des Argumentes willen", sagte Gouache ernst. „Gut, also um des Argumentes willen. Wir wollen annehmen, daß ich im Uebrigen das bin, was ich wirklich bin, bis darauf, daß ich keine Ländereien zu erben habe, und nur eben Geld genug, um Cigaretten zu kaufen. Ich sage also: Ich möchte einen Beruf ergreifen. Laßt mich Soldat werden". Alle erheben sich dagegen wie ein Mann und lehnen fich gegen den Gedanken aus, daß ein Saracinesca im italienischen Heer dienen könnte. .Weshalb denn?' — .Bedenke doch, daß Dein Vater freiwilliger Offizier unter Pius IX. war!' Es ist komisch. Er brachte um seiner Ueberzeugungen willen einen Nach­ mittag auf dem Pincio zu und zog sich dann ins Privat­ leben zurück.' .Laßt mich in einem ausländischen Heere dienen, in Frankreich, Oesterreich oder Rußland! @8 ist mir ganz gleich.' Das Entsetzen ist größer als je. ,Du hast keinen Funken von Patriotismus! Einer fremden Macht dienen! Wie gräßlich. Und nun gar die Ruffen, das find ja lauter Ketzer!' Vielleicht find fie das. ,Jch möchte die diplomatische Laufbahn versuchen.' — ,Was? Deine Ueberzeugungen zum Opfer bringen?' Ein blindes Werkzeug in der Hand eines ränkevollen, gewiffenlosen Ministeriums werden? Das ist eines Saracinesca un­ würdig.' ,Jch will nicht mehr daran denken. Ich will Rechtsanwalt werden und ins öffentliche Leben eintreten.' „Rechtsanwalt? So? Willst Du Dich öffentlich mit den

39 Söhnen von Notaren herumzanken, Mörder und Einbrecher vertheidigen und Honorar dafür annehmen, wie die alten Kerle, welche auf der Straße unter einem grünen Regen­ schirm für die Bauern Briefe schreiben? Es wäre beinahe noch besser, Du würdest Musiker und gäbest Concerte.' — .Vielleicht Geistlicher?' meine ich. ,Bist Du nicht der Erbe und wirst Du nicht dereinst das Haupt der Familie werden? Du mußt rein verrückt sein!' — .dann gebt mir Geld und laßt mich mein Glück mit unserm Vetter San Giacento versuchen.' .Geschäfte machen? Wenn Du Geld erwirbst, so ist das eine Erniedrigung, und bei diesen neuen Gesetzen kannst Du es Dir nicht gestatten, welches zu verlieren. Ueberdies wirst Du Geschäfte genug haben, wenn Du erst Deine Güter verwalten mußt.' So werden alle meine Fragen beantwortet, und mit zwanzig Jahren werde ich dazu verurtheilt, bis an mein Lebensende Land­ wirth zu sein. Ich sage das also. ,Ein Landwirth! Was redest Du nur! Steht Dir nicht die Welt offen? Hast Du nicht eine vielseitige Bildung erhalten? Bist Du nicht reich? Wie kannst Du nur so beschränkte Ansichten haben! Komm mit hinaus auf die Villa und sieh Dir die jungen Vollblutpferde an, und nachher wollen wir ein Stündchen vor Tisch in den Club gehen. Dann ist ja heute Empfangs­ abend bei der alten Fürstin Befana, und die Herzogin della Seccatura ist ebenfalls zu Hause.' Das ist mein Leben, Herr Gouache. Da haben Sie die Frage, die Antwort und das Resultat. Geben Sie zu, daß es nicht erheiternd ist." „Im Gegentheil, es ist sehr ernst", erwiderte Gouache, welcher die abgerissene Jeremiade mit mehr Neugierde und Theilnahme angehört hatte, als er gewöhnlich kund gab. „Ich sehe keinen andern Ausweg, als daß Sie sich unver­ züglich verlieben."

40 Orfino lachte etwas bitter. „Ich bin dazu aufgelegt, das kann ich versichern",

versetzte er. „Nun, worauf warten Sie dann?" fragte Gouache und sah ihn an. „Worauf? Natürlich auf einen Gegenstand für meine Liebe. Der ist doch unter den gegebenen Verhältnissen nothwendig." „Sie werden vielleicht nicht lange zu warten brauchen, wenn Sie noch eine Viertelstunde hier bleiben wollen," sagte Anastasius lachend. — „Es kommt eine Dame, deren Bild ich male, eine interessante Frau, recht hübsch, etwas geheimnißvoll, — da ist sie; Sie können sie sich genau be­ sehen, ehe Sie sich entscheiden." Anastasius nahm Orsinos halbvollendetes Bild von der Staffelei und stellte ein anderes an seine Stelle, das schon bedeutend mehr ausgeführt war. Orsino zünvete eine Cigarette an, um sein Urtheil zu schärfen, und betrachtete die Leinwand. Das Bild war entschieden auffallend, und man fühlte, daß es sprechend ähnlich sein mußte. Gouache war sicht­ lich stolz darauf. Es stellte eine Dame augenscheinlich unter dreißig Jahren in voller Toilette auf einem hohen geschnitzten Stuhl sitzend vor, auf einem dunkeln Hinter­ grund von warmer Farbe. Ein Mantel von schwerem purpurrothen Damast mit Pelz gefüttert war über die eine der schönen Schultern geworfen, die andere freilaffend, das knappe moderne Kleid unterbrach kaum die anmuthigen Linien vom Halse bis zur weichen weißen Hand, deren spitze Finger nachlässig über die geschnitzte Armlehne des Stuhls herabhingen. Das Haar der Dame war kastanien­ braun, ihre Augen entschieden gelb. Das Gesicht war un-

41 gewöhnlich und nicht ohne Reiz, sehr blaß, mit vollem rothen Munde, zu groß für eine vollkommene Schönheit, aber gut geformt, fast zu gut, dachte Gouache. Die Nase hatte keinen bestimmten Character und war der unbedeu­ tendste Theil des Gesichtes, aber die Stirn war breit und mächtig, das Kinn weich, vorspringend nnd gerundet, die Brauen stark gewölbt und durch einen senkrechten Schatten getheilt, vielleicht die erste Andeutung einer kleinen Runzel. Orfino schien cs, als schiele das eine Auge, allein er konnte nicht sagen welches — der kleine Makel machte den Blick unruhig und doch anziehend. Im Ganzen genommen war es eines von den Gesichtern, welche dem Einen zu wenig, dem Andern zu viel sagen. Orfino that, als ob er das Bild ganz gleichgiltig be­ trachtete, in Wahrheit aber fühlte er sich seltsam davon an­ gezogen, und Gruache entging das nicht. „Sie sollten lieber gehen, mein Freund," sagte er lächelnd. „In wenig Minuten wird sie hier sein, und wenn Sie sie sehen, werden Sie sicherlich Ihr Herz an sie ver­ lieren." „Wie heißt sie?" fragte Orsino, ohne die Bemerkung zu beachten. „Donna Maria Consuelo — und dann noch etwas — eine Reihe von Namen, die auf Aragon endet. Ich nenne sie Madame d'Aragona, der Kürze halber, und sie scheint nichts dagegen zu haben." „Verheirathet? Spanierin?" „Vermuthlich", antwortete Gouache. „Wittwe, glaube ich. Sie ist weder eine Italienerin, noch eine Französin, folglich muß sie eine Spanierin sein." „Der Name besagt nichts Besonderes. Viele Leute hängen ihrem Namen .d'Aragona' an, unter anderen ge-

42 wisse Vettern von uns; sie nennen sich Aranjuez d'Aragona, der Vater meiner Mutter war aus der Familie." „Ich denke, so lautet der Name — Aranjuez. Ja, ich bin eigentlich sicher, denn Faustina meinte, sic könnte wohl mit Ihnen verwandt sein." „Es ist sonderbar. Wir haben nicht gehört, daß sie in Rom ist, und ich weiß nicht recht, wer sie ist. Ist sie schon lange hier?" „Ich kenne sie seit einem Monat, seit sie zum ersten Mal in mein Atelier kam. Sie wohnt in einem Hotel und kommt allein her, außer wenn ich das Kleid brauche, dann bringt sie ihre Kammerfrau mit, ein wunderliches Geschöpf, das nie spricht und keine bekannte Sprache zu verstehen scheint." „Es ist ein interessantes Gesicht. Haben Sie etwas dagegen, daß ich bleibe, bis sie kommt? Wir könnten am Ende wirklich verwandt fein." „Bitte, bleiben Sie auf jeden Fall; Sie können sie ja fragen. Die Verwandtschaft würde seitens ihres Mannes sein, vermuthe ich." „Das ist wahr. Daran hatte ich nicht gedacht, und Sie sagen, er ist todt?" Gouache gab keine Antwort, denn in demselben Augen­ blick hörte man den leisen, raschen und entschiedenen Schritt einer Dame auf dem Marmorboden. Sie blieb einen Augenblick mitten im Zimmer stehen, als sie sah, daß der Künstler nicht allein war. Er ging ihr entgegen und bat um Erlaubniß, Orsino vorstellen zu dürfen, und zwar that er das mit der verbindlichen Undeutlichkeit, welche es den Vorgestellten überläßt, ihre beiderseitigen Namen zu er­ rathen. Orsino sah der Dame in die Augen und bemerkte, daß

43 die Eigenthümlichkeit des Blickes wirklich vorhanden und nicht ein Fehler in Gouaches Zeichnung war. Er erkannte jeden Zug mit dem einen Blick wieder, den er auf das Ge­ sicht warf, ehe er sich verbeugte, und sah, daß das Bild wirklich vorzüglich war. An Schüchternheit litt er nicht. „Wir find wahrscheinlich verwandt, gnädige Frau," sagte er. „Die Mutter meines Vaters war eine Aranjuez dAragona." „So?" sagte die Dame mit ruhiger Gleichgültigkeit und betrachtete ihr eigenes Bild mit prüfenden Blicken. „Ich bin Orfino Saracinesca," sagte der junge Mann, indem er sie mit Bewunderung anschaute. „So?" wiederholte sie, eine Spur weniger kalt. „Ich glaube, ich habe von meinem verstorbenen Mann gehört, daß er mit Ihrer Familie verwandt war. Wie finden Sie mein Bild? Alle haben versucht, mich zu malen, und es ist mißlungen, aber meinem geschätzten Freunde, Herrn Gouache, gelingt es. Er hat meine abscheuliche Nase und meinen gräßlichen Mund mit meisterhafter Treue wiedergegeben. Nein, nein, mein lieber Herr Gouache, ich mache Ihnen ja ein Compliment. Es ist mein Ernst. Ich verlange nicht ein Portrait der Venus von Milo mit rothem Haar, noch der Minerva Medica mit gelben Augen, noch eine Medea im Pelzmantel. Ich will mich selbst gerade so wie ich bin. Und das eben machen Sie für mich. Ich habe so lange mit mir zusammen gelebt, daß ich ein kleines Andenken an die Bekanntschaft zu haben wünsche." „Sie können es sich gestatten, leichthin über das zu sprechen, was Anderen so köstlich ist," sagte Gouache galant. Madame d'Aranjuez sank auf den geschnitzten Stuhl, auf welchem Orsino gesessen hatte.

44 „Dieser gute Gouache! er ist reizend, nicht wahr?" sagte sie mit leisem Lachen. Orfino sah sie an. „Gouache hat recht", dachte er mit der seinem Alter eigenen Sicherheit. „Es würde amüsant sein, sich in fie zu verlieben."

Drittes Kapitel. Gouache interessirte sich bedeutend mehr für seine Arbeit, als dafür, was die Beiden von einander denken mochten. Er sah die Dame fest an, rückte an seiner Staffelei, stellte das Bild einige Zoll höher und besah es von neuem. Orsino beobachtete ihn aus einiger Entfer­ nung und überlegte, ob er gehen oder bleiben sollte. Viel kam auf den Charakter der Madame d'Aragona an, und von dem wußte er noch nichts. Manche Frauen fühlen sich durch Gleichgültigkeit angezogen, und Fortgehen würde eine Abneigung gegen die Fortsetzung der Bekanntschaft bedeuten. Andere, dachte er, ziehen die Sicherheit eines Mannes vor, der lieber, auch ohne eine Aufforderung, bleibt, als eine sich darbietende Gelegenheit versäumt. An­ dererseits ist eine Sitzung im Atelier nicht daffclbe als ein Zusammentreffen im Gesellschastsiaal. Der Maler hat ein hergebrachtes ausschließliches Recht auf die ungetheilte Auf­ merksamkeit seines Gegenstandes. Und selbst wenn es eine Dame ist, so genießt sie das Vorrecht, die eine Hülste ihrer Schönheit einer schlechten Beleuchtung zum Opfer zu brin­ gen, zu Gunsten der anderen, welche dem Künstler zuge­ wandt ist; der Dritte aber, wenn einer dabei ist, hat die unleidliche Gewohnheit, sich so zu setzen, daß er den am wenigsten schmeichelhaften Eindruck empfängt. Daher ist die dritte Person — oder die dritte Unbequemlichkeit, wie die Römer sagen, so sehr unbeliebt.

44 „Dieser gute Gouache! er ist reizend, nicht wahr?" sagte sie mit leisem Lachen. Orfino sah sie an. „Gouache hat recht", dachte er mit der seinem Alter eigenen Sicherheit. „Es würde amüsant sein, sich in fie zu verlieben."

Drittes Kapitel. Gouache interessirte sich bedeutend mehr für seine Arbeit, als dafür, was die Beiden von einander denken mochten. Er sah die Dame fest an, rückte an seiner Staffelei, stellte das Bild einige Zoll höher und besah es von neuem. Orsino beobachtete ihn aus einiger Entfer­ nung und überlegte, ob er gehen oder bleiben sollte. Viel kam auf den Charakter der Madame d'Aragona an, und von dem wußte er noch nichts. Manche Frauen fühlen sich durch Gleichgültigkeit angezogen, und Fortgehen würde eine Abneigung gegen die Fortsetzung der Bekanntschaft bedeuten. Andere, dachte er, ziehen die Sicherheit eines Mannes vor, der lieber, auch ohne eine Aufforderung, bleibt, als eine sich darbietende Gelegenheit versäumt. An­ dererseits ist eine Sitzung im Atelier nicht daffclbe als ein Zusammentreffen im Gesellschastsiaal. Der Maler hat ein hergebrachtes ausschließliches Recht auf die ungetheilte Auf­ merksamkeit seines Gegenstandes. Und selbst wenn es eine Dame ist, so genießt sie das Vorrecht, die eine Hülste ihrer Schönheit einer schlechten Beleuchtung zum Opfer zu brin­ gen, zu Gunsten der anderen, welche dem Künstler zuge­ wandt ist; der Dritte aber, wenn einer dabei ist, hat die unleidliche Gewohnheit, sich so zu setzen, daß er den am wenigsten schmeichelhaften Eindruck empfängt. Daher ist die dritte Person — oder die dritte Unbequemlichkeit, wie die Römer sagen, so sehr unbeliebt.

45 Orfino blieb einige Augenblicke stehen und wartete, ob einer von Beiden ihn zum Sitzen nöthigen würde. Da es nicht geschah, war er ärgerlich und beschloß zu bleiben, wenn auch nur fünf Minuten. Er setzte sich auf einen niedrigen Stuhl unter einem der hohen Fenster und be­ trachtete Madame d'Aragonas Profil. Weder fie noch Gouache sagten ein Wort. Gouache begann das Geficht auf seinem Bilde zu übermalen. Orfino fühlte, daß das Schweigen drückend wurde. Es that ihm schon leid, daß er geblieben war, denn von seinem jetzigen Standpunkt aus bemerkte er, daß die Nase der Dame allerdings der unvollkommenste Zug in ihrem Gesichte war. „Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich noch etwas bleibe?" sagte er in halb fragendem Ton. „Fragen Sie das lieber die gnädige Frau!" versetzte Gouache, munter sortmalend. Die gnädige Frau sagte nichts und schien nichts gehört zu haben. „Bin ich unbescheiden?" fragte Orfino. „Wie? Nein. Weshalb sollten Sie nicht bleiben? Nur, bitte, setzen Sie sich so, daß ich Sie sehen kann. Danke! Ich mag nicht fühlen, daß mich Jemand anschaut, ohne daß ich ihn ebenfalls ansehen kann, wenn es mir beliebt, und ich bin auf meinen Platz festgebannt. Wie kann ich wohl den Kopf umdrehen? Goouache ist sehr streng." „Sie werden gehört haben, gnädige Frau," sagte Gouache, „daß eine schöne Frau in voller Ruhe am schönsten ist." Orsino ärgerte sich, denn er hatte natürlich dieselbe Be­ merkung machen wollen; aber sie sprachen französisch, und der Franzose war ihm natürlich an Sprachgewandtheit überlegen. „Und wie ist's mit einer häßlichen Frau?" fragte Madame d'Aragona.

46 „Ihr steht Bewegung am besten — rasche Bewegung — der Thür zu", antwortete der Künstler. Orsino hatte seinen Platz gewechselt und stand hinter Gouache. „Ich wünsche, Sie setzten sich," sagte letzterer nach einer Pause. „Ich mag es nicht, daß Jemand hinter mir steht, wenn ich arbeite. Es ist eine Schwäche, aber ich kann nichts dafür. Glauben Sie an Suggestionen, gnä­ dige Frau?" „Was ist das?" fragte Madame d'Aragona. „Wenn Jemand bei der Arbeit hinter mir steht, ist's mir immer, als sähe ich alles mit seinen Augen," versetzte Gouache, ohne eigentlich ihre Frage zu beantworten. Orsino, von einem Platz zum andern getrieben, trat fort. „Und halten Sie etwas von solchem abgeschmackten Aberglauben?" fragte Madame d'Aragona mit verächtlichem Kräuseln ihrer vollen Lippen. „Monsieur de Saracinesca, wollen Sie sich nicht setzen? Sie machen mich nervös." Gouache zog seine feinen Augenbrauen unmerklich empor bei dieser seltsamen Art der Anrede, welche entweder Unkenntniß der üblichen Form oder der Persönlichkeit OrsinoS verrieth. Er trat von der Leinwand zurück und reichte ihm einen Stuhl. „Setzen Sie sich hieher, Fürst," sagte er. „Die gnä­ dige Frau kann Sie sehen, und Sie sind nicht hinter mir." Orsino nahm ohne Weiteres den dargebotenen Stuhl an. Der Gesichtsausdruck von Madame d'Aragona blieb unverändert, obwohl sie recht gut merkte, daß Gouache ihre Form der Anrede hatte verbessern wollen. Orsino ärgerte sich darüber. Was kam es denn darauf an? Es war tactlos von Gouache, dachte er, denn die Dame könnte es übelnehmen.

47 „Werden Sie den Winter in Rom zubringen, gnä­ dige Frau?" fragte er. Er war sich bewußt, daß die Frage nicht originell war, allein ihm fiel nichts Anderes ein. „Den Winter?" wiederholte Madame d'Aragona träu­ merisch. „Wer weiß? Jetzt bin ich hier, in der Hand des großen Künstlers. Das ist alles, was ich weiß. Ob ich noch nächsten Monat, nächste Woche hier sein werde, da­ weiß ich nicht. Ich habe keine Bekannten. Ich bin noch nie hier gewesen. Es ist langweilig. Ich kam zu diesem Zwecke her," setzte fie nach kurzer Pause hinzu. „Wenn derselbe erreicht ist, will ich an andere Dinge denken. Vielleicht muß ich Ihre Königlichen Hoheiten im Januar nach Aegypten begleiten. Das wäre im nächsten Monat, nicht wahr?" Es war so gänzlich unklar, wer die betreffenden König­ lichen Hoheiten sein mochten, daß Orsino Gouache fragend ansah. Allein Gouache blieb unerschütterlich. „Januar folgt auf December, gnädige Frau", ant­ wortete er. „Die Thatsache wird durch jahrhundertelange Beobachtungen bestätigt. Selbst in meiner Erfahrung hat sie sich schon siebenundvierzig Mal nach einander wieder­ holt." Orfino lachte ein wenig, und als Madame d'Aragonas Augen den seinigen begegneten, lächelten ihre rothen Lippen, ohne sich zu öffnen. „Er lacht mich immer aus", sagte fie munter. Gouache malte sehr eifrig. Das Lächeln stand ihr gut, und er fing es auf, ehe es entschwand. Allerdings ließ fie es verweilen, als verstände sie seinen Wunsch; allein da sie Orsino dabei ansah, war er angenehm be­ rührt. „Wenn Sie mir gestatten, es zu sagen, gnädige Frau,"

48 bemerkte er, „noch nie habe ich Augen gesehen wie die ihren". Er versuchte, sich in ihre Tiefen zu versenken, während er sprach. Madame d'Aragona nahm weder die Bemerkung noch den Blick übel. „Was ist denn so ungewöhnlich an meinen Augen?" fragte sie. Das Lächeln wurde etwas matter und finniger, verschwand aber nicht. „Erstens habe ich noch nie Augen von goldgelber Farbe gesehen." — „Tiger haben gelbe Augen", bemerkte Madame d'Aragona. „Meine Bekanntschaft mit diesen Thieren ist nur aus zweiter Hand, — zum mindesten oberflächlich." „Haben Sie nie einen geschossen?" „Niemals, gnädige Frau. Sie wimmeln nicht in Rom, so viel ich weiß, selbst nicht in Albano. Mein Vater hat als junger Mann einen geschossen." „Der Fürst Saracinesca?" „Sant' Ilario. Mein Großvater ist noch am Leben." „Wie herrlich! Ich bewundere starke Geschlechter." „Es ist höchst interessant", bemerkte Gouache und bohrte seinen Pinselstock in das Auge auf seinem Bilde. „Ich habe drei Generationen der Familie gemalt, und hoffe auch noch die vierte zu malen, wenn Don Orfino von seinem Eynismus geheilt und bewogen werden kann, Donna — wie ist doch der Name? zu heirathen." Er wendete sich zu dem jungen Manne. „Sie hat keinen und wird wahrscheinlich namenlos bleiben", versetzte Orsino düster. „Wir wollen sie Donna Jgnota nennen", schlug Ma­ dame d'Argona vor.

49 „Und der unbekannten Liebe einen Altar errichten", setzte Gouache hinzu. Madame d'Aragona lächelte, aber Orfino blieb ernst. „Es scheint ein unliebsames Thema zu sein, Fürst." „Höchst unliebsam, gnädige Frau", antwortete Or­ fino kurz. Darauf sah Madame Gouache an und zog die Augen­ brauen in die Höhe, als ob fie etwas fragen wollte; sie war sich dabei sehr gut bewußt, daß Orfino fie beobachtete. Der junge Mann konnte die Augen des Malers nicht sehen, und letzterer verrieth durch keine Miene, daß er die stumme Frage beantwortete. „Also ich habe Tigeraugen, sagen Sie. Sie erschrecken mich. Wie greulich — auszusehen wie ein wildes Thier!" „Es ist ein Vorurtheil", versetzte Orfino. „Die Leute sagen manchmal von einer Frau: schön wie eine Tiger­ katze!" — „Ein Gedanke!" fiel Gouache ein. „Soll ich den Damastmantel in ein Tigerfell verwandeln? Eine Tatze über die weiße Schulter hängend — Omphale — in einem modernen Salon — hier zur Rechten ein kleiner Abguß des Farnesischen Herkules auf einer Console. Das ist ent­ schieden ein Gedanke! Gestatten Sie, gnädige Frau?" „Was Sie wollen, nur verderben Sie nicht die Aehnlichkeit", versetzte Madame d'Aragona; fie lehnte sich in ihren Sessel zurück und sah unter ihren schweren, halbge­ schloffenen Lidern Don Orfino mit müdem Blick an. „Sie werden das ganze Bild verderben", sagte Orsino

erregt. Gouache lachte. „Was würde eS schaden? nuten wieder gut machen." Crawford. Den £ifinc.

I.

Ich kann es in fünf Mi­ 4

50 „In fünf Minuten!" „Nun dann in einer Stunde, wenn Sie auf Genauig­ keit der Angabe bestehen", sagte Gouache mit einem Anflug von Verstimmung. Er hatte einen Einfall, und wie die meisten Leute, denen dieses seltene Glück zu theil wird, mochte er nicht bei dessen Verwirklichung gestört werden. Er drückte bereits Massen gelblicher Farbe auf seine Palette. „Ich bin ein passives Werkzeug", sagte Madame d'Aragona. „Er thut, was ihm beliebt. Was soll man mit solchem Genie machen? Gestern ein Kleid von Worth, heute ein Tigerfell — ich zittere für morgen!" Sie lachte etwas und wendete ihr Haupt ab. „Fürchten Sie nichts", versetzte Gouache und schmierte seinen neuen Gedanken mit einem riesigen Pinsel hin. „Die Mode verändert sich — das Weib bleibt — die Schönheit ist ewig. Nichts giebt's, was nicht für eine schöne Frau kleidsam gemacht werden könnte." „Mein lieberGouache, Sie sind unleidlich. Sie sagen mir immerfort, daß ich schön bin. Sehen Sie doch meineNase an." „Za. Ich sehe sie an." „Und meinen Mund!" „Ich sehe und bewundere. Haben Sie noch mehr per­ sönliche Bemerkungen zu machen? Wie viel Krallen hat ein Tiger, Don Orsino? Rasch! Ich male das Ding!" „Eine weniger als ein Weib." Madame d'Aragona sah den jungen Mann einen Augenblick an und brach dann in ein Gelächter aus. „Das ist ein reizender Ausspruch. Er gefällt mir besser als Gouaches Schmeichelei." „Und dennoch geben Sie zu, daß das Bild Ihnen ähnlich ist", sagte Gouache.

51 „Vielleicht schmeichle ich Ihnen ebenfalls." „Ach! Daran hatte ich nicht gedacht." „Sie sollten bescheidener sein." „Ich verliere mich —" „Wohin denn?" „In Ihre Augen, gnädige Frau. Eins, zwei, drei, vier — sind Sie sicher, daß ein Tiger nur vier Krallen hat?. Wo fitzt dem Thier der Daumen — oder wie man's sonst nennt? Es sieht ungeschickt aus." „Die fünfte Zehe sitzt höher, hinter der Tatze; sie ist unter dem Fell kaum zu sehen", sagte Orfino. „Aber eine Katze hat fünf Krallen", sagte Madame d'Aragona, „und ist ein Tiger nicht eine Katze? Das Ding muß richtig sein, wenn wir's überhaupt haben wollen." „Hat eine Katze fünf Krallen?" fragte Anastasius, sich besorgt an Orsino wendend. „Freilich, aber auf dem Fell können Sie nur vier sehen." „Ich bestehe darauf, cs genau zu wissen!" rief Madame d'Aragona. „Dies ist wirklich gräßlich! Hat denn kein Mensch einen Tiger? Was ist das für ein Atelier — ohne Tiger!" „Ich bin weder Sara Bernhardt, noch der Kaiser von Siam", bemerkte Gouache lachend. Aber Madame d'Aragona war nicht zufrieden gestellt. „Sie könnten mir gewiß einen verschaffen, Fürst", sagte sie zu Orsino. „Ganz sicher, wenn Sie nur wollten! Ich werde weinen, wenn ich keinen haben kann, und das wird Ihre Schuld sein." „Wünschen Sie das Thier todt oder lebendig?" fragte

Orsino ernst und stand auf.

52 „Aha! ich wußte, Sie könnten es mir besorgen!" rief sie mit dankbarem Entzücken aus. „Todt oder lebendig, Gouache? Schnell — entscheiden Sie." „Wie es Ihnen beliebt, gnädige Frau. Wenn Sie sich für den lebendigen Tiger entscheiden, bitte ich um Er­ laubniß, erst ein paar Worte mit meiner Frau und meinen Kindern wechseln zu dürfen, während der Priester geholt wird." „Sie sind heute großartig! Also bitte, Fürst, todt, ganz todt, aber denken Sie nicht, daß ich Furcht hatte" — „Furcht? Mit einem Saracinesca und einem Gouache zu Ihrer Vertheidigung! Gnädige Frau, Sie meinen es nicht im Ernst." Orsino nahm seinen Hut. „In einer Viertelstunde bin ich wieder da", sagte er sich verbeugend und ging hinaus. Madame d'Aragona sah seiner schlanken jungen Ge­ stalt nach, bis er verschwunden war. „Es fehlt Ihrem jungen Freunde nicht an Feuer", sagte sie. „Das hat keinem Mitglied seiner Familie je gefehlt, denke ich", sagte Gouache. „Es ist ein merkwürdiges Ge­ schlecht." „Und ist er der einzige Sohn?" „O nein! Er hat drei jüngere Brüder." „Der arme Mensch! Das Vermögen ist wohl nicht groß?" „Das kann ich nicht wissen", versetzte Gouache gleich­ gültig. „Sie haben einen historischen Palast, prächtige Equipagen, — das ist alles, was Ausländer von römischen Familien zu sehen bekommen." „Aber kennen Sie sie genau?"

53 „Genau — das wäre zu viel gesagt. Ich habe ihre Bilder gemalt." Madame d'Aragona wunderte sich über seine Zurück­ haltung, denn sie wußte, daß er selbst mit einer römischen Fürstentochter verheirathet war, und schloß daraus, daß er viel von römischen Familien wissen müffe. „Glauben Sie, daß er den Tiger mitbringen wird?" fragte sie dann. „Er ist im Stande, eine ganze Menagerie von Tigern zur Ihrer Auswahl zu bringen." „Wie interessant! Ich liebe Leute, die alles wagen. Es war wirklich unverzeihlich von Ihnen, mich erst auf-en Gedanken zu bringen und mir dann ganz ruhig zu sagen, Sie hätten kein Modell." Unterdeffen war Orfino die Treppe hinuntergegangen und hatte eine Droschke gerufen. Er überlegte einen Augenblick, was er thun sollte. Zufällig war zu der Zeit gerade eine Menagerie in den Prati di Castello zu sehen, und Orsino glaubte, der Eigenthümer würde durch eine hohe Summe zu bewegen sein, sich von einem seiner Tiger zu trennen. Er dachte sich sogar, er könnte das Thier todtschießen und in der Droschke mit zurückbringen. Aber erstens hatte er keine so große Summe bei sich, und zweitens wußte er nicht, wie er sich im Augenblick so viel Geld ver­ schaffen sollte. Er war noch unmündig, und sein Taschengeld war nicht auf den Ankauf von Menagerien berechnet. Ueber« dies sagte er sich, selbst wenn seine Taschen voll Banknoten steckten, wäre der Einfall lächerlich, und fast schämte er sich seines jugendlichen Eifers. Ihm fiel es aber ein, daß nicht das Thier, sondern nur ein Tigerfell zu dem Bilde nöthig wäre, und solch ein Fell lag im Privatzimmer sei­ nes Vaters, — das Fell des von Giovanni Saracinesca

54 in seiner Jugend erbeuteten Tigers. Es war gut erhalten und ein schönes Exemplar. „Palazzo Saracinesca", sagte er zum Droschkenkutscher. Nun traf es sich, wie es sich nach dem unerforschlichen Schluß des Schicksals in solchen Fällen zu treffen pflegt, daß Sant' Ilario gerade um diese Zeit in seinem Zimmer eifrig mit Schreiben beschäftigt war. Orfino hatte gehofft, den gewünschten Gegenstand, ohne befragt zu werden und ohne Zeit zu verlieren, mitnehmen zu können, sah sich aber nun zu einer Erklärung genöthigt. Beim Eintreten seines Sohnes blickte Sant' Ilario erstpunt auf. „Nun, Orfino, ist etwas vorgefallen?" fragte er. „Nichts Besonderes, Vater. Ich möchte gern Dein Tigerfell für Gouache borgen; willst Du es mir leihen?" „Natürlich; aber wozu in aller Welt braucht es Gouache? Malt er Dich mit Fellen bekleidet, als ur­ wüchsigen Jüngling des Waldes?" „Nein — das nicht gerade. Die Sache ist die: es ist eine Dame da. Gouache möchte sie als moderne Omphale malen, mit einem Tigerfell, int Hintergrund einen Abguß des Herkules" — „Herkules trug eine Löwenhaut, nicht ein Tigerfell. Er tödtete den nemäischen Löwen." „So?" fragte Orfino gleichgültig. „Es kommt nicht darauf an; sie missen es nicht, und sie wollen einen Tiger haben. Als ich fortging, beriethen sie, ob er todt oder lebendig sein sollte. Ich dachte daran, einen in den Prati di Castello zu kaufen, aber es ist am Ende billiger, das Fell von Dir zu bringen. Darf ich es nehmen?" Sant' Ilario lachte. Orfino rollte das große Fell zusammen und ging nach der Thür.

55 „Wer ist die Dame, mein Junge?" „Ich hatte sie noch nie zuvor gesehen, — eine gewiffe Donna Maria d'Aranjuez d'Aragona. Ich denke, sie muß mit uns verwandt sein. Weißt Du etwas von ihr?" „Ich habe nie von einer solchen Person gehört. Ist das ihr eigener Name?" „Nein — es scheint, daß sie die Wittwe von irgend

Jemand ist." „Das ist ja sehr genau. Wie sieht sie aus?" „Ziemlich hübsch — gelbe Augen, rothes Haar, schielt auf einem Auge." „Was für eine entsetzliche Beschreibung! Verliebe Dich nicht in sie, Orfino." „Fürchte nichts! aber sie ist amüsant und will den Tiger haben." „Du scheinst in Eile?" bemerkte Sant' Ilario, höchst belustigt. „Natürlich. Sie warten auf mich." „Nun, dann mache, daß Du fortkommst! Laß nie­ mals eine Dame warten! Aber höre, bringe mir das Fell wieder! Ich möchte Dir lieber zwanzig lebendige Tiger in den Prati kaufen, als das alte Ding verlieren." Orfino versprach es und war bald wieder in der Droschke auf dem Wege nach Gouaches Atelier; das zu­ sammengerollte Fell lag auf seinem Schooß, der Kopf hing auf einer Seite heraus und der Schwanz auf der andern, zum höchsten Vergnügen der Leute auf der Straße. Er gratulirte sich eben, daß er beim Gespräch mit seinem Vater so wenig Zeit verloren hatte, als die hohe Gestalt einer Dame, die ihm auf dem Trottoir entgegen gegangen kam, seine Aufmerksamkeit erregte. Seine Droschke mußte dicht an ihr vorüber fahren, und seine Mutter hätte er

56 auf hundert Meter weit erkannt. Auch sie sah ihu und winkte ihm mit ihrem Sonnenschirm zu halten. „Guten Morgen, Orsino," sprach die sanfte tiefe Stimme. „Guten Morgen, Mutter," versetzte er, indem er mit dem Hut in der Hand ausstieg und ihr die Hand küßte. Als er sie ansah, konnte er nicht umhin zu denken, daß sie noch heute unendlich schöner wäre als Madame d'Aragona. Corona wieder dachte, kein Mann auf Erden könnte sich mit ihrem ältesten Sohn vergleichen, außer Gio­ vanni selbst; da hörte freilich jeder Vergleich aus. Ihre Blicke begegneten sich liebevoll, und es wäre schwer ge­ wesen zu sagen, wer von Beiden auf den andern stolzer war, der Sohn auf seine Mutter, oder die Mutter auf ihren Sohn. Indessen Orsino hatte Eile. Um allen Fragen vorzubeugen, erzählte er ihr in möglichst kurzen Worten, wohin er wollte, wozu das Tigerfell sein sollte und nannte auch den Namen der Dame, die Gouache saß. „Es ist sonderbar", sagte Corona. „Ich habe Deinen Vater nie von ihr sprechen hören." „Er hat auch noch nie etwas von ihr gehört; das sagte er mir soeben." „Ich bin beinahe neugierig genug, um in Deine Droschke zu steigen und mit Dir hinzufahren." „Bitte, thu' es, Mutter." Die Antwort klang nicht sehr begeistert. Corona sah ihn lächelnd an und schüttelte den Kopf. „Thörichter Junge! Denkst Du, ich meinte es im Ernst? Ich würde doch nur Dein Vergnügen im Atelier stören, und die Dame würde merken, daß ich gekommen wäre, um sie zu besehen. Das sind zwei guteGründe dagegen — aber der erste ist der bessere. Geh, laß sie nicht warten!"

57 „Willst Du nicht meine Droschke benutzen? Ich kann mir ja eine andere nehmen." „Nein. Ich habe keine Eile. Lebe wohl!" Corona nickte ihm mit freundlichem Lächeln zu und ging weiter; endlich war Orsino frei und konnte das Fell an seinen Bestimmungsort bringen. Als er ins Atelier trat, fand er Madame d'Aragona in die Betrachtung einer alten Gobelintapete versunken, die ihr gegenüber hing, während Gouache hoch oben in der rechten Ecke des Bildes einen kleinen Herkules zeichnete, wie er beabsichtigt hatte. Das Gespräch schien zu stocken, und Orsino fühlte sofort, daß die Atmosphäre sich während seiner Abwesenheit verändert hatte. Er rollte das Fell auseinander, und Madame d'Aragona betrachtete es mit kritischen Blicken. Sie sah sofort, daß die gelbbraunen Farbentöne ihr auf dem Bilde gut stehen würden, und ihr Ausdruck wurde lebhafter. „Es ist wirklich sehr gütig von Ihnen", sagte sie mit dankbarem Blick. „Ich muß Ihnen eine Enttäuschung bereiten", versetzte Orsino. „Mein Vater sagt, Herkules trug ein Löwenfell. Er hat ganz recht, ich besinne mich jetzt darauf." „Nun freilich!" sagte Gouache. „Wie konnten wir uns nur so irren!" Er ließ das Stückchen Kreide aus der Hand fallen und sah Madame d'Aragona an. „Was kommt es darauf an?" fragte diese. „Ein Löwe oder ein Tiger! Sicherlich, das ist doch ziemlich

gleich." „Im Grunde war es kein guter Einfall," sagte der Maler. „Sie werden in einem Damastmantel viel besser

58 aussehen. Ueberdies müßten Sie zur Löwenhaut auch die Keule haben. Denken Sie sich eine Keule in Ihrer Hand! Und Herkules müßte zu Ihren Füßen spinnen — ein Mann in schwarzem Rock und Stehkragen mit einer Spindel! Es ist ein alberner Einfall!" „Sie sollten meine Einfälle nicht schlecht und albern nennen. Es ist nicht höflich." „Ich dachte, es wäre meiner gewesen," bemerkte Gouache. „Keineswegs. Zch dachte daran ganz von selbst!" Gouache lachte ein wenig und sah Orsino an, als ob er ihn um seine Ansicht befragen wollte. „Die gnädige Frau hat recht," sagte Orsino. „Sie hat uns auf den Gedanken gebracht — durch ihre gelben Augen." „Sehen Sie, Gouache. Das sagte ich ja! Der Fürst ist meiner Ansicht. Was wollen Sie dabei machen?" „Was Sie befehlen." „Aber ich will nicht lächerlich aussehen" — „Ich sehe nicht ein" — „Und ich muß den Tiger haben" — „Ich bin bereit." „Ohne Zweifel — aber Sie müssen sich ein anderes Motiv ausdenken — mit einem Tiger dabei!" „Nichts leichter als das! Edle Römerin — Colosseum — Tiger im Begriff loszuspringen — Rose —" „Himmel! Was für eine alte Geschichte! Ueberdies habe ich nicht den Typus dazu." „Die Mysterien des Dionysos," meinte Gouache. „Thyrsusstab, Pantherfell" — „Eine Bacchantin! Pfui, Herr Gouache! und dann das Pantherfell, während wir doch nur einen Tiger haben."

59 „Indische Prinzessin — Tiger — Dschungel — Neu­ mond — tropische Vegetation!" „Sie denken nur an Motive für einen dunkeln Frauen­ typus," sagte Madame d'Aragona ungeduldig. „Thatsächlich pflegen die Frauen in Ländern, wo der Tiger umhergeht, gewöhnlich brünett zu sein." «Ich Haffe Thatsachen! Sie sind ja begeisterungs­ fähig", wendete sie sich an Orsino, „können Sie uns nicht

helfen?" „Bin ich das?" „Ja, ich bin überzeugt davon. Denken Sie sich etwas aus." Orsino fühlte sich nicht geschmeichelt. Er hätte lieber für kalt und unempfindlich gegolten. „Was kann ich sagen? Der erste Gedanke war der beste. Besorgen Sie sich statt des Tigerfells eine Löwen­ haut, und damit gut." „Mir gefällt der Damastmantel und das ursprüng­ liche Bild am besten," sagte Gouache mit Entschiedenheit. „All diese mythologischen Geschichten sind zu verwickelt, — zu pompejanisch, wie soll ich's sagen? Ueberdies ist die Anspielung nicht deutlich. Eine Herkulesstatuette auf einer Console, — das kann Jeder haben. Ja, wenn Sie zum Beispiel die Marchesa von San Giaeinto wären, — o dann würden alle darüber lachen." „Wie so denn? Was meinen Sie?" „Sie hat meinen Vetter geheirathet," sagte Orsino. „Er ist ein Riese, und es heißt, sie hat ihn gezähmt." „Ach nein! Das würde nicht paffen! Bitte, etwas Anderes!" Orsino dachte unwillkürlich an eine Sphinx, als er die mächtige Stirn, die schläfrigen gelben Augen und die

60 vollen Lippen ansah. Er fragte sich im Stillen, wie der verstorbene Aranjuez wohl gelebt haben und welches Todes er gestorben sein mochte. Dann kam er mit seinem Vorschlag heraus. „Sehr paffend", meinte Madame d'Aranjuez. „Die Sphinx in der Wüste! Rom ist für mich eine Wüste." „Es kommt uur auf Sie an" — begann Orsino. „O natürlich! Bekanntschaften machen, mich überall ein wenig sehen lassen, — das ist einfach genug. Ader es lockt mich nicht — bis man in die Maschine hineingeräth und sich wie ein Zahnrad mit den andern herum­ dreht, langweilt man sich nur, und ich reise vielleicht bald ab. Es lohnt entschieden nicht. Nicht wahr?" Sie sah Orsino an, als wollte sie ihn um Rath fragen. Er lachte. „Wie können Sie das fragen!" rief er. „Ueberlassen Sie uns nur die Mühe." „Aha! ich sagte ja, Sie wären ein Enthusiast!" Sie schüttelte den Kopf und stand auf. „Es ist Zeit für mich zu gehen. Wir haben heute Vormittag nichts gethan, und das ist allein ihre Schuld, Fürst." „Es thut mir sehr leid. — Ich werde Sie bei ihrer nächsten Sitzung nicht belästigen." O, was das betrifft" — Sie beendete ihren Satz nicht, sondern nahm das vernachlässigte Tigerfell vom Stuhl und warf es über die Schultern, so daß der grinsende Kopf auf ihrem Haare lag, während sie die Vordertatzen in ihren spitzen weißen Fingern hielt. Sie trat dicht vor Gouache hin und lächelte ihn mit geschlossenen Lippen an. „Wundervoll!" rief Gouache. „Es läßt sich nicht sagen, wo die Dame aufhört, und wo der Tiger anfängt. So erlauben Sie mir, Sie zu zeichnen!

61 „O nein! Nicht um alles in der Welt!" Sie wendete sich rasch um und ließ das Fell von ihren Schultern gleiten. „Wollen Sie nicht noch etwas bleiben? Wollen Sie mich nicht einen Versuch machen laffen?" Gouache schien enttäuscht. „Unmöglich", erwiederte sie, setzte ihren Hut auf und fing an, vor dem Spiegel ihren Schleier zu ordnen. Orsino betrachtete sie, wie sie mit erhobenen Armen in einer Stellung dastand, die fast immer anmuthig ist, selbst bei einer sonst ungraziösen Frau. Madame d'Aragona war vielleicht etwas zu klein, aber ebenmäßig ge­ baut und erschien sehr schlank, obschon die enganliegenden Aermel ihres Kleides einen wohlgerundeten Arm verriethen. Wenn man ihr Gesicht nicht sah, hätte man sie nicht unter vielen als eine auffallende Erscheinung hervorgehoben, denn sie hatte weder die Stattlichkeit von Orsinos Mutter, noch die entzückende Grazie, welche Gouaches Frau auszeichnete. Allein Niemand konnte ihr in die Augen sehen, ohne zu fühlen, daß sie durchaus keine gewöhnliche Frau war. „Ganz unmöglich", wiederholte sie, während sie die Enden ihres Schleiers einsteckte und sich dann zu den beiden Herrn wendete. „Die nächste Sitzung? Wann Sie wollen, morgen, übermorgen, — bestimmen Sie die Zeit." „Wenn es morgen sein kann, so bleibt keine Wahl," sagte Gouache, „außer wenn Sie heute wiederkommen wollten." „Also morgen; Adieu." Sie hielt ihm die Hand hin. „Auf all meinen Fingern sind Skizzen, gnädige Frau, besonders von Tigern." „Also Adieu! Denken Sie, ich hätte Ihnen die Hand geschüttelt. Gehen Sie auch schon, Fürst?"

62 Orsino hatte seinen Hut ergriffen und stand neben ihr. „Sie werden mir erlauben, Sie an Ihren Wagen zu

begleiten?" „Ich gehe zu Fuß." „Um so bester. Adieu, Monsieur Gouache."

„Weshalb sagen Sie Monsieur?" „Wie Sie wollen — Sie sind älter als ich." „Ich? Wer hat Ihnen die Fabel erzählt? Es ist nur eine Mythe. Wenn Sie sechzig Jahr alt sind, werde ich noch immer fünfundzwanzig sein." „Und ich?" fragte Madame d'Aragona, die noch jung genug war, um über das Alter zu scherzen. „So alt, wie Sie gestern waren, um keinen Tag älter." „Warum sagen Sie nicht: wie heute?" „Weil das .Heute' ein Morgen hat. Gestern hat seins." „Sie sind köstlich, mein lieber Gouache! Adieu!" Madame d'Aragona ging mit Orsino hinaus, und sie stiegen zusammen die breite Treppe hinab. Orsino war nicht sicher, ob er sich nicht zu sehr bestrebt zeigte, in Ge­ sellschaft seiner neuen Bekannten zu bleiben; als er sich aber vorstellte, wie schade es sein würde, den Gang mit ihr aufzugeben, versuchte er diese Abweichung von seiner freiwillig angenommenen kühlen Ueberlegenheit und Gleich­ gültigkeit vor sich selbst zu entschuldigen. Er sagte sich, sie wäre sehr amüsant, und er hätte auf der Welt nichts zu thun. Er hatte niemals etwas zu thun, seit seine Erziehung beendet war. Weshalb sollte er nicht Madame d'Aragona begleiten und sich mit ihr unterhalten! Es wäre doch besser, als sich im Club herumzudrehen oder zu Hause einen Roman zu lesen. Die Jagdhunde rückten an diesem Tage

63 nicht aus, sonst wäre er überhaupt gar nicht bei Gouache gewesen. Morgen aber sollten sie ausrücken, und dann würde er Madame d'Aragona nicht sehen. „Gouache ist vermuthlich ein alter Freund von Ihnen?" fragte die Dame. „Es ist ein Freand meines Vaters, ein halber Römer. Er hat eine entfernte Verwandte von mir geheirathet, Donna Faustina Montevarchi." „Ach ja, das habe ich gehört. Er ist ein Mann von

großem Genie." „Er ist ein Mann, den ich von ganzem Herzen be­ neide," sagte Orsino. „Sie beneiden Gouache? Das hätte ich nicht ge­ dacht" „Nicht? Ach, gnädige Frau, für mich ist ein Mann, der einen Beruf, eine Beschäftigung, ein Jntereffe hat, wie ein Gott." „Das gefällt mir", versetzte Madame d'Aragona. „Aber mir scheint, Ihnen steht die Wahl frei. Die Welt liegt offen vor Ihnen. Schreiben Sie Ihren Namen hinein! Es fehlt Ihnen nicht an Feuer. Brauchen Sie etwa Be­ geisterung?" „Vielleicht", sagte Orsino und sah sie dabei bedeu­ tungsvoll an. „Das ist nichts Neues," dachte sie. „Aber bei alle­ dem ist er reizend." „Man sagt," setzte sie laut hinzu, „das Genie findet überall Begeisterung." „Ach, ich bin kein Genie. Was ich verlange, ist eine Beschäftigung und ein dauerndes Interesse. Die Sache ist unmöglich, allein ich kann mich nicht darein ergeben." „Vor dreißig Jahren ist alles möglich," sagte Ma­ dame d'Aragona; sie wußte, die bloße Erwähnung eines so

64 reifen Alters würde einem solchen Jüngling schmeichel­ haft sein. „Die Hinderniffe find unüberwindlich", versetzteOrfino. „Was für Hinderniffe? Bedenken Sie, daß ich weder Rom noch die Römer kenne." „Wir sind im alten Herkommen erstarrt. Spicca sagte neulich, für uns gäbe es nur eine Hoffnung. Die Ameri­ kaner könnten noch Italien entdecken, wie wir einst Amerika entdeckt haben." Madame d'Aragona lächelte. „Wer ist Spicca?" fragte sie und warf einen müden Blick auf das Gesicht ihres Begleiters. „Spicca! Sie müssen von ihm gehört haben. Er war früher ein berühmter Duellant, jetzt ist er wegen seines Witzes berühmt. Mein Vater hat ihn sehr gern — er ist ein eigenthümlicher Mensch." „Der Erfolg wird für Sie um so ehrenvoller sein, wenn Sie eine Schranke von Herkommen und Vorurtheil zu durchbrechen haben," sagte Madame d'Aragona, indem sie ziemlich plötzlich auf den ersten Gegenstand des Ge­ sprächs zurückkam. „Sie wiffen nicht, was das bedeutet!" Orsino schüttelte ungläubig den Kopf. „Sie haben es nie versucht." „Nein. Wie sollte eine Frau in solche Lage kommen?" „Das ist es eben. Sie können mich nicht verstehen." „Das folgt noch nicht daraus. Frauen verstehen oft Männer — Männer, die sie lieben oder Haffen, — besser als die Männer selbst." „Lieben Sie mich, gnädige Frau?" fragte Orsino lächelnd. „Ich habe erst eben Ihre Bekanntschaft gemacht," ver­ setzte Madame d'Aragona lachend. „Es ist etwas zu frühe."

65 „Dann also, nach Ihrer Theorie, hasten Sie mich, wenn Sie mich verstehen." „Nun? Und dann?" Sie lachte noch immer. „Dann sollte ich verschwinden, glaube ich." „Sie verstehen die Frauen nicht. Alles ist bester als Gleichgültigkeit. Wenn Sie merken, daß Sie mißfallen, dann gehen Sie gerade nicht! Das ist eben der rechte Augenblick, um zu bleiben. Ergeben Sie sich nicht in die Abneigung! Rächen Sie sich!" „Ich will es versuchen", sagte Orsino höchlich belustigt. „An mir?" „Da Sie es mir anrathen" — „Habe ich gesagt, daß ich Sie hasse?" „Mehr oder minder." „Es war nur so, um mein Argument zu erläutern. Ich meinte es nicht im Ernst." „Sie haben keinen ernsten Character, sollt' ich meinen," sagte Orsino. „Wagen Sie es, nach der Bekanntschaft von einer Stunde über mich ein Urtheil zu fällen?" „Da Sie mich beurtheilt haben! Sie haben mir fünf Mal gesagt, ich sei ein Enthusiast." „Das ist eine Uebertreibung. Uebrigens kann man eine Wahrheit nicht ost genug sagen." „Wie Sie rasch vorgehen, gnädige Frau!" „Und Sie — Sie sagen mir ins Gesicht, daß ich keine ernste Natur bin. Es ist unerhört. Ist das die Art, wie Sie mit Ihren Landsleuten sprechen?" „Das wäre nicht wahr. Aber sie würden mir ebenso widersprechen, wie Sie es thun. Sie wünschen, für lustig gehalten zu werden." „So? Ich möchte sie gern kennen lernen." Crawsord, Tcn Drfinc.

I.

5

66 „Nichts ist leichter als das. Wollen Sie mir die Ehre vergönnen, die Sache in die Hand zu nehmen?" Sie hatten die Thür von Madame d'Aragonas Hotel erreicht. Sie stand still und sah Orsino mit eigenthüm­ lichem Blicke an. „Entschieden nicht", antwortete sie ziemlich kalt. „Es wäre zu viel von Ihnen, zu viel von der Gesellschaft — — und viel zu viel von mir verlangt. Ich danke Ihnen. Adieu!" „Darf ich Sie besuchen?" fragte Orsino. Er wußte recht gut, daß er zu weit gegangen war, und seine Stimmung klang gebührend zerknirscht. „Wir werden uns wohl irgendwo treffen", antwortete sie und ging ins Hotel.

Viertes Kapitel. Die Speculationswuth war in Rom auf ihrer Höhe. Tausende, vielleicht hunderttausende, von Personen hatten sich auf Unternehmungen eingelassen, welche bald darauf mit ihrem völligen Ruin endeten und vielen der bedeu­ tendsten Finanzinstitute des Landes erheblichen Schaden zufügten. Dennoch ist es eine berichtenswerthe Thatsache, daß das Grundprinzip, auf welchem diese Geschäfte be­ ruhten, ein rechtliches war. Das Land war Thatsache, die Gebäude waren Thatsachen; es war sogar ein gewisser Be­ trag an Capital vorhanden. Die ganze Sache läßt sich in wenigen Worten erklären. Die Bevölkerung von Rom hatte sich nach der Besitz­ nahme der Stadt durch die Italiener beträchtlich vermehrt, und die Ankömmlinge brauchten Wohnungen. Ferner war durch die theilweise Ausführung des Planes zur Verschö-

66 „Nichts ist leichter als das. Wollen Sie mir die Ehre vergönnen, die Sache in die Hand zu nehmen?" Sie hatten die Thür von Madame d'Aragonas Hotel erreicht. Sie stand still und sah Orsino mit eigenthüm­ lichem Blicke an. „Entschieden nicht", antwortete sie ziemlich kalt. „Es wäre zu viel von Ihnen, zu viel von der Gesellschaft — — und viel zu viel von mir verlangt. Ich danke Ihnen. Adieu!" „Darf ich Sie besuchen?" fragte Orsino. Er wußte recht gut, daß er zu weit gegangen war, und seine Stimmung klang gebührend zerknirscht. „Wir werden uns wohl irgendwo treffen", antwortete sie und ging ins Hotel.

Viertes Kapitel. Die Speculationswuth war in Rom auf ihrer Höhe. Tausende, vielleicht hunderttausende, von Personen hatten sich auf Unternehmungen eingelassen, welche bald darauf mit ihrem völligen Ruin endeten und vielen der bedeu­ tendsten Finanzinstitute des Landes erheblichen Schaden zufügten. Dennoch ist es eine berichtenswerthe Thatsache, daß das Grundprinzip, auf welchem diese Geschäfte be­ ruhten, ein rechtliches war. Das Land war Thatsache, die Gebäude waren Thatsachen; es war sogar ein gewisser Be­ trag an Capital vorhanden. Die ganze Sache läßt sich in wenigen Worten erklären. Die Bevölkerung von Rom hatte sich nach der Besitz­ nahme der Stadt durch die Italiener beträchtlich vermehrt, und die Ankömmlinge brauchten Wohnungen. Ferner war durch die theilweise Ausführung des Planes zur Verschö-

67 nerung der Stadt eine Anzahl von Wohnhäusern in den am dichtesten bevölkerten Stadttheilen zerstört werden, und für diese Wohnungen mußte Ersatz geschafft worden, wäh­ rend ausgedehnte Grundstücke in den verschiedensten Theilen der Stadt plötzlich unter günstigen Bedingungen käuflich wurden. Wer sich diese Gelegenheiten zu Nutze machte, ehe der allgemeine Ansturm begann, zog ungeheuern Vortheil dar­ aus, namentlich wenn er selbst etwas Betriebscapital be­ saß. Indessen war Capital nicht unerläßlich. Der Käufer konnte ein Grundstück auf Credit kaufen. Die Banken waren bereit, ihm Geld in kleinen Beträgen zu hohen Zinsen auf Wechsel vorzustrecken, womit er sein Haus oder seine Häuser erbauen konnte. Wenn das Gebäude fertig war, übernahm die Bank die erste Hypothek darauf, der Eigen­ thümer vermiethete das Haus, bezahlte die Zinsen der Hypothek aus der Miethe und steckte den Ueberschuß als reinen Gewinn ein. In den meisten Fällen verkaufte die betreffende Bank selbst das Grundstück an den Speculanten. Es ist also klar, daß das einzige Geld, welches wirk­ lich in andere Hände überging, die in kleinen Raten von der Bank selbst vorgestreckte Summe war. Als die Speculation zunahm, konnten die Banken natürlich nicht all' die kleinen Wechsel, welche sie von ver­ schiedenen Seiten empfingen, bei sich aufspeichern. Diese Wechsel wurden in Cours gesetzt und kamen bis Wien und Paris, ja sogar bis London. Der Krach trat ein, als Wien, Paris und London jenen Wechseln nicht mehr trauten und sie nach Rom zurückschickten; das geschah im ersten Falle in Folge von ein paar kleinen Bankerotten. Da die Banken sie um keinen Preis einlösen konnten und es ihnen selbst an Baargeld gebrach, konnten sie die Wechsel des 5*

68 Speculanten nicht ferner discontiren, so daß dieser halb­ fertige Häuser auf dem Halse hatte, die er weder vollenden, noch vermiethen, noch verkaufen konnte und überdies Geld auf Wechsel schuldete, welches er gehofft hatte, abtragen zu können, indem er der Bank eine Hypothek auf sein nun­ mehr entwerthetes Eigenthum gäbe. Das fand in den meisten Fällen statt, und es ist nicht nöthig, auf weitere Einzelheiten einzugehen, obschon natürlich der Zufall auf das Thema „Ruin" alle üblichen Variationen spielte. Was die Speculationsperiode in Rom von anderen ähnlichen Erscheinungen im übrigen Europa unterscheidet, ist die hervorragende Rolle, welche alte Familien von Groß­ grundbesitzern darin spielten, von denen mehrere durch wahnwitzige Unternehmungen zu Grunde gerichtet wurden, aus welche sich kein verständiger Geschäftsmann eingelassen haben würde. Dies war mehr oder weniger die Folge von neueingeführten Veränderungen in den Erbschaftsgesetzen. Vor dem Jahre 1870 stand das Gesetz des Erstgeburts­ rechtes in Rom in gleichem Ansehen wie in England und wurde mit viel größerer Strenge durchgeführt. Der Haupt­ erbe bekam alles, die andern Kinder wurden mit der nothdürstigsten Versorgung abgefunden. Der Palast, die Galerie von Gemälden und Statuen, die Ländereien, Dörfer und Schlösser gingen in ununterbrochener Folge, grundsätzlich untheilbar und thatsächlich ungetheilt, vom ältesten Sohn auf den ältesten Sohn über. Das neue Gesetz bestimmt, daß die eine Hälfte des Gesammtvermögens vom Erblasser zu gleichen Theilen unter seine Kinder getheilt werde. Die andere Hälfte kann er hinterlassen, wem er will, und hinterläßt sie in der Regel natürlich seinem ältesten Sohn.

69 Ein anderes Gesetz indessen verbietet die Veräußerung aller Kunstsammlungen,

wenn dieselben schon

sei es im Ganzen

oder getheilt,

seit einer gewissen Zeit bestanden

haben und dem Publikum täglich oder an gewissen Tagen

geöffnet waren.

Es steht z. B.

nicht in der Macht der

Borghese oder der Colonna, ein Bild oder eine Statue aus

ihrer Sammlung zu verkaufen,

noch einen solchen Kunst­

gegenstand zu versetzen. Diese Kunstwerke aber machen einen hohen Betrag bei der Abschätzung des Gesammtvermögens aus, von dem der Testator die eine Hälfte unter

seine Kinder vertheilen muß, obschon sie thatsächlich gar nichts einbringen. Es lohnt aber nicht, sie zu theilen, denn keiner der Erben dürfte sie aus der Sammlung ent­

fernen, noch sie in irgend welcher Weise verwerthen.

Die

Folge davon ist, daß nach der Theilung der Haupterbe dem Namen nach Besitzer ungeheuer werthvollen Eigenthums ist,

welches ihm in der That nichts oder fast gar nichts

einbringt.

Er sieht auch voraus,

Generation derselbe Zustand

daß in der nächsten

der Dinge in

verschärftem

Maße stattfinden muß, und daß die Lage des Hauptes der

Familie sich immer mehr verschlimmern muß,

bis irgend

eine Krisis eintritt. Solch ein Fall ist vor kurzem eingetreten. Ein ge­ wisser römischer Fürst ist bankerott geworden. Der Ver­

kauf seiner Galerie würde ohne Zweifel die Schwierigkeiten heben und ihn vermuthlich von allen Schulden befreien.

Aber weder er noch seine Gläubiger können Hand an die Bilder legen,

noch einen

Centesimo

darauf

aufnehmen.

Dieser Mann ist also zu dauernder Dürftigkeit verurtheilt, und seine Gläubiger erleiden beträchtliche Verluste, rend

er de jure und de facto

wäh­

der Besitzer von Werth­

gegenständen ist, die wohl genügen würden, all seine Ver-

70 Kindlichkeiten zu decken. Zum Glück ist er kinderlos, eine Thatsache, welche vielleicht für den Philanthropen, aber nicht für den Betroffenen selbst tröstlich ist. Es ist klar, daß die Versuchung, vertheilbares Eigenthum (wenn der Ausdruck gestattet ist) zu vermehren, sehr groß ist und die Art und Weise erklärt, in welcher manch' römischer Edelmann sich in tollkühne Speculationen gestürzt hat, ohne irgend eine der zum Erfolg nöthigen Eigenschaften zu besitzen, sondern nur eines der Erforder­ nisse, nämlich einen gewissen Betrag baaren Geldes, oder freies und umsetzbares Eigenthum. Einige haben Glück gehabt, während die meisten bei dem Versuch schwere Ver­ luste erlitten haben. Man kann nicht sagen, daß irgend einer von ihnen natürliches Talent für Geldgeschäfte be­

wiesen hat. Der Leser wolle diese trocknen Auseiandersetzungen möglichst entschuldigen. Die hier erklärten Thatsachen stehen in directer Beziehung zu unserer Geschichte, sollen aber, als bloße Thatsachen, nicht wieder erwähnt werden. Es ist bereits gesagt worden, daß Hugo bei Ferice bald nach dem Wechsel der Dinge nach Rom zurückgekehrt war und sich mit seiner Frau, Donna Tullia, daselbst nieder­ gelassen hatte; zur,Zeit, von der die Rede ist, war er tief in die zeitgemäßen Speculationen verwickelt. Einstmals war er in der Gesellschaft recht beliebt gewesen, man hatte ihn für einen harmlosen, auf seine Art nützlichen und sehr gefälligen Menschen gehalten. Allein die Nebenumstände seiner Flucht vor einigen Jahren waren bekannt geworden, und die meisten seiner früheren Bekannten hatten ihm den Rücken gewendet. Das hatte er erwartet und war dadurch weder enttäuscht, noch gedemüthigt. Er hatte während seiner Verbannung neue Freunde und Bekannte gefunden, und

71 es lag in seinem Interesse, sich an diese zn halten. Wie vielen von denen, welche während der Revolution untergeordnete und ehrlose Rollen gespielt, war es auch ihm gelungen, sich auf höchst zweifelhafter Grundlage den Ruf eines Patrioten zu erbauen, und er hatte Personen willens gefunden, in ihm einen Märtyrer zu sehen, der nur eben noch dem Tode für die gerechte Sache entgangen war und als Siegeskrone die Ehre verdient hatte, ins Parlament gewählt zu werden. Die Römer machten sich wenig daraus, was aus ihm würde. Die alten Schwarzen verdammten ohne Unterschied Victor Emanuael wie Gari­ baldi, Cavour wie Persiano, Silvio Pellico wie Del Ferice, und wünschten nichts sehnlicher, als in ihrem Hause nie mehr die verhaßten Namen aussprechen zu hören. Die Grauen, ebenfalls Römer, verurtheilten Hugo aus sittlichen Gründen und besonders weil er ein Spion gewesen war; aber die Weißen, welche keine Römer waren und gegen alle spezifisch römischen Ansichten einen besonderen Abscheu hatten, nahmen ihn nach seiner eigenen Werthschätzung an, wie die Gesellschaft gewöhnlich solche Leute aufnimmt, die in schönen Häusern wohnen, gute Diners geben und in Bezug auf Austausch der Visitenkarten alle nöthigen Rück­ sichten beobachten. Diejenigen, welche etwas Bestimmtes über das Vorleben dieses Mannes wußten, waren zum größten Theil Leute, die auch ihre eigene kleine Geschichte

hatten und nicht aus der Schule schwatzten. Die hohen Persönlichkeiten, welche ihn einst in ihrem Dienste verwendet hatten, würden in jedem Fall edelmüthig genug gewesen sein, ihn anzuerkennen; sie waren aber angenehm über­ rascht, als sie entdeckten, daß er nicht zur allgemeinen Schaar der Pensionsjäger gehörte und keine andere Be­ lohnung erwartete, als Höflichkeit von ihrer Seite und einen

72 Platz auf der Visitenliste ihrer Frauen. Und als er an Wohlstand und Bedeutung zunahm, sahen sie, daß er ihnen auch jetzt noch nützen konnte, wie es ja Bankdirectoren und Parlamentsmitglieder aus tausenderlei Weise können. So geschah es, daß der Graf und die Gräfin Del Ferice her­ vorragende Persönlichkeiten in der römischen Welt wurden. Hugo war zweifellos ein Mann von Talent. Durch seine eigenen Anstrengungen, wenn auch gewissenlos in der Wahl der Mittel, hatte er sich aus der Niedrigkeit zu einer höchst beneidenswerthen Stellung emporgeschwungen. Nur einmal in seinem Leben hatte er sich durch persönliche Feindschaft zu Unvorsichtigkeiten hinreißen lassen und hatte diese Schwäche hart büßen muffen. Wenn Donna Tullia ihn verlassen hätte, als er durch den Einfluß der Saracinesca aus Rom vertrieben wurde, so wäre er vermuthlich ganz vom Schauplätze verschwunden. Allein sie war ein seltsames Gemisch von Unbesonnenheit und Vorsicht, Glauben und Unglauben, und sie hielt sich damals durch einen Eid gebunden, den sie nicht zu brechen wagte, außerdem fesselte ein Haß gegen Giovanni Saracinesca, der fast eben so groß war wie der seine, sie an Del Ferice. Sie war ihm gefolgt und hatte ihn geheirathet; aber sie hatte sich den ungeteilten Besitz ihres Vermögens vorbehalten, während sie ihm ihr Jahreseinkommen großmüthig zur Verfügung stellte. Dafür verlangte sie eine gewisse Freiheit des Han­ delns, wenn es ihr darauf ankam. Sie wollte in der Wahl ihrer Bekannten nicht beschränkt sein, noch das Mißfallen oder Wohlgefallen, welches sie an ihnen fand, kritifiren lassen. Keineswegs war sie durchaus schlecht, und wenn sie dann und wann eine harmlose Liebhaberei hatte, ver­ langte sie von ihrem Mann, daß er sie als über allem Argwohn erhaben ansähe. Im Ganzen bewährte sich dieses

73 Abkommen sehr gut. Del Ferice war ihr unverbrüchlich treu, in Wort und That, denn er bewies in hohem Grade die unerschütterliche Beständigkeit, welche aus einem dauern­ den unabänderlichen pekuniären Interesse entspringt. Schlechte Menschen find oft klug, wenn aber ihre Klugheit einer höheren Gattung angehört, thun sie selten etwas Schlechtes. Allerdings, wenn sie dem Druck der Nothwendigkeit nach­ geben, so übersteigt ihre Bosheit die anderer Leute in dem­ selben Grade wie ihre Klugheit. Nicht bloß Redlichkeit, sondern alle Tugend insgesammt, ist die beste Politik, vor­ ausgesetzt, daß der Politiker ein so furchtbares Werkzeug des Bösen, wie die Tugend in den Händen eines grund­ schlechten Menschen ist, richtig zu handhaben versteht. Diejenigen, welche von der Bank, an welcher Del Ferice betheiligt war, pecuniären Beistand zu haben wünschten, hatten keinen bessern Freund als ihn. Sein Einfluß auf die Directoren schien eben so unbegrenzt zu sein, wie sein Wunsch, dem Anleiher zu helfen. Allein es stand nicht in seiner Macht, den Verfall einer Hypothek zu verhindern, und er war oft bis zu Thränen gerührt ge­ wesen, wenn er dem Schuldner sein Mitgefühl und fein Entsetzen über die Hartherzigkeit seiner Theilhaber aus­ sprach. Als Beweis seiner Selbstlosigkeit darf nur ange­ führt werden, daß er ost, als Privatmann, die Hypothek selbst übernommen und ausdrücklich dabei bemerkt hatte, daß er sie nicht länger als ein Jahr behalten könnte, in­ dessen hoffte, daß der Schuldner sich unterdeffen erholen würde. Wenn das geschah, so erntete er die ewige Dank­ barkeit des Betreffenden; wenn nicht, wenn die Hypothek ver­ fiel, so vergaß der Verlierende nie, daß ihm Del Ferices Güte im Augenblick der Verzweiflung eine letzte Hoffnung geboten hatte. Es war doch nicht Del Ferices Schuld,

74 daß der letztere Fall häufiger eintrat, und daß das Resul­ tat in den beiden Fällen ihm Gewinn brachte. — In seinem Verhalten gegen seinen Wahlkreis zeigte er ein großmüthiges Bestreben für das allgemeine Wohl, denn niemals schlug er den Wählern, welche sich an ihn wandten, einen billigen Wunsch ab. Es ist wahr, daß er bei manchem Anliegen so viel Zeit auf Voruntersuchungen und später auf Formalitäten verwandte, daß die Bittsteller bisweilen darüber starben oder nach der Argentinischen Republik auswanderten, ehe die Sache geordnet werden konnte, aber sie nahmen nach Süd-Amerika — oder ins Grab — den Glauben mit, daß der ehrenwerthe Del Ferice auf ihrer Seite stünde, und es gab zahlreiche Beispiele seines schnellen, entschiedenen und erfolgreichen Handelns. Er vertrat eine kleine neapolitanische Provinzialstadt und verschaffte ihr zahllose Vortheile und Wohlthaten. Die große Landstraße der Provinz wurde hindurchgeführt; alle Schnellzüge hielten auf dieser Station, obschon die Reisen­ den, denen dieser unschätzbare Vortheil zu gute kam, nicht mehr als durchschnittlich zwanzig im Monat zählten; das Städtchen besaß eine Piazza Vittorio Emanuele, einen Corso Garibaldi, eine Via Cavour, einen öffentlichen Gar­ ten, der beinahe ein Viertel Morgen groß und mit nicht weniger als fünfundzwanzig Akazien bepflanzt war, dazu mit einem Brunnenstandbild geziert, welches einen ver­ wegenen Kerl darstellte, wie er eben einen schön gearbeite­ ten Revolver auf einen unsichtbaren Unterdrücker abfeuert. Schweine durften nicht innerhalb der Stadt herumlausen, und die Uniformen der städtischen Musikanten waren nagel­ neu. Konnte die Civilisation noch mehr thun? Die Bank, zu deren Directoren Del Ferice gehörte, kaufte die Consumsteuern der Stadt bei der öffentlichen Versteigerung auf



75



und verpachtete diese nebst den Steuern verschiedener an­ derer Städte in derselben Provinz sehr Vortheilhast. So war also Del Ferice ein gemachter Mann, und es braucht kaum erst gesagt zu werden, daß er nicht nur ganz unabhängig von der Beihülfe seiner Frau, sondern sogar viel reicher war, als sie jemals gewesen. Sie bewohnten ein glänzend decorirtes freistehendes Haus im neuen Stadt­ theil. Das vergoldete Gitterthor vor dem kleinen Garten trug ihre verschlungenen Namenszüge und darüber eine be­ scheidene Grafenkrone. Donna Tullia wäre ein Wappen lieber gewesen, allein Hugo war gegen Spott empfindlich, und er wußte sehr wohl, daß in Rom eine Grafenkrone gar nichts bedeutet, während ein Wappenschild mehr auf

fich hat als in den meisten anderen Städten. Das Innere der Wohnung war etwas überladen in seiner Pracht. Donna Tullia hatte immer eine Vorliebe für roth gehabt, sowohl für die Farbe an sich, als weil ihre Gesichtsfarbe dagegen minder geröthet erschien, folglich herrschte im Salon rother Atlas vor, im Speisesaal rother Sammet, im Vorsaal rother Damast, und auf den Treppen lagen rothe Teppiche. Auch waren Vergoldungen reichlich angebracht, und Del Ferice war einer der Ersten gewesen, die in ihrem Hause electrische Beleuchtung eingeführt hatten. Alles war neu, kostspielig und spiegelblank. Die Diener trugen auffallende Livreen, und bei feierlichen Gelegenheiten erschien der Butler in Kniehosen und schwarzseidenen Strümpfen. Donna Tullias Equipage war schon von weitem zu erkennen, aber Del Fernes Kutscher und Reit­ knecht trugen dunkelgrüne Röcke mit schwarzen Aufschlägen. An dem Vormittage, welchen Orsino und Madame d'Aragona in Gouaches Atelier zugebracht hatten, trat die Gräfin Del Ferice in das Geschäftszimmer ihres Mannes,

76 um ihn in einer etwas schwierigen Angelegenheit zu Rathe zu ziehen. Er war allein, aber wie gewöhnlich eifrig be­ schäftigt. Seine Aufmerksamkeit war getheilt zwischen einem wichtigen Bankgeschäft und der Bittschrift des Bürger­ meisters der von ihm vertretenen Stadt, der ihn ersuchte, ihm zu einem Orden zu verhelfen. Der Anspruch auf eine solche Auszeichnung schien besonders auf dem unaufgefor­ dert beigebrachten Zeugniß des Bittstellers für seine eigene moralische Vortrefflichkeit zu beruhen; trotzdem bot Del Ferice all seinen Scharfsinn auf, um einen passenden Vor­ wand herauszufinden, unter dem er die Gunst erbitten könnte. Seufzend legte er die Papiere hin, als Donna Tullia eintrat. „Guten Morgen, mein Engel", sagte er süßlich, indem er auf einen neben ihm stehenden Stuhl wies — es war der Platz, welcher um diese Stunde gewöhnlich von Klienten, die Geld suchten, besetzt war. „Hast Du gut geschlafen?" Diese Frage versäumte er nie. „Nicht schlecht, nicht schlecht, Dank dem Himmel!" antwortete Donna Tullia. „Natürlich habe ich einen fürch­ terlichen Schnupfen und Kopfschmerzen, — der Kopf ist mir wie zum Zerspringen"-------„Ruhe — Ruhe bedarfst Du, meine Theuerste" — „Ach, es thut nichts. Dieser Durakoff ist ein großer Mann. Wenn er mich nicht bewogen hätte, nach Karls­ bad zu gehen, so weiß ich wirklich nicht, was aus mir ge­ worden wäre. Aber ich habe Dir etwas zu sagen. Du mußt mir helfen, Hugo. Bitte, höre mich an." Hugos fettes bleiches Gesicht zeigte schon gespannte Aufmerksamkeit. Um seine Bereitwilligkeit, sie anzuhören, noch deutlicher zu machen, legte er jetzt all' seine Papiere in ein Schubfach und wandte sich seiner Frau zu.



77



„Ich muß zum Jubiläum gehen", sagte Donna Tullia, sofort auf den Kern der Sache kommend. „Natürlich mußt Du dabei sein." „Und ich muß meinen Platz unter den römischen Damen haben." „Natürlich mußt Du das", wiederholte Del Ferice, etwas minder lebhaft. „Aha! Siehst Du wohl, das ist nicht so leicht. Du weißt das. Und doch habe ich ein eben so gutes Recht auf meinen Platz wie jede Andere — vielleicht ein besseres." „Das kaum", sagte Hugo lächelnd. „Als Du mich hcirathetest, mein Engel, gabst Du Dein Recht aus einen Platz bei den Feierlichkeiten des Vatikan auf." „Ich that nichts dergleichen! Das hab' ich nie ge­ sagt, bestimmt nicht." „Wenn Du das vielleicht dem Majorduomo klar machen könntest." „Unsinn, Hugo, Du weißt, das ist Unsinn. Ueberdies will ich nicht bitten. Du mußt mir den Platz verschaffen. Mit Deinem Einfluß vermagst Du alles." „Du könntest leicht Zutritt zu einer der diplomatischen Tribünen erhalten", bemerkte Hugo. „Das will ich nicht. Ich will meine Stellung be­ haupten. Ich bin eine römische Dame und will meinen Platz haben, und Du mußt ihn mir verschaffen." „Ich will mein Möglichstes thun. Aber ich sehe nicht recht ein, wie ich es anfangen soll. Es bedarf Zeit, Ueber« legung und großen Tact." „Mir scheint es sehr einfach. Geh zu einem der kleri­ kalen Deputirten und sage, Du brauchst ein Billet für Deine Frau" — „Nun und dann?"



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„Gieb ihm zu verstehen, daß Du für seinen nächsten Antrag stimmen wirft. Nichts kann doch einfacher sein!" Del Ferice lächelte mild über seiner Gattin Begriffe von parlamentarischer Diplomatik. „Es giebt keine klerikalen Deputirten im Parlament. Wenn es welche gäbe, so wäre die Sache möglich, und es würde für alle Klerikalen höchst interessant sein, einen Be­ richt über den Vorgang im Osservatore Romano zu lesen. Jedenfalls weiß ich nicht recht, ob es zu unserm Vortheil gereichen wird, wenn man die Frau des Abgeordneten Del Ferice mitten unter den Schwarzen sitzen sieht. Es wird einen ungünstigen Eindruck machen." „Wenn Du anfängst von Eindrücken zu reden"------Donna Tullia zuckte ihre dicken Schultern. „Nein, Liebste. Du irrst Dich. Ich will nicht davon reden, denn, wie gesagt, es ist ganz richtig, daß Du bei der Sache dabei bist. Und wenn Du hingehst, muß es in paffender Weise geschehen. Ohne Zweifel werden Leute Einladungen erhalten, die sie nicht benutzen. Vielleicht können wir uns so eine Karte verschaffen?" „Mir ist cs ganz gleich, was für ein Name auf der Karte steht, wenn ich nur aus dem richtigen Platz sitzen kann." „Gut", versetzte Del Ferice. „Ich will mein Bestes thun." „Das erwarte ich von Dir, Hugo. Ich bitte Dich nicht ost um etwas, nicht wahr? Es ist das Geringste, was Du thun kannst. Der Gedanke, eine Karte zu bekommen, die sonst nicht benutzt wird, ist gut; natürlich werden alle römischen Damen welche bekommen, und einige werden ge­ wiß krank sein." Donna Tullia ging befriedigt ab, überzeugt, daß sie

79 das Gewünschte im entscheidenden Augenblick haben würde. Sie hatte wahr gesprochen. Selten bat sie ihren Mann um etwas. Aber wenn sic es that, gab sie ihm zu ver­ stehen, daß sie es um jeden Preis haben müßte. Es war ihre Art, sich von Zeit zu Zeit geltend zu machen. Im vorliegenden Falle stand für sie nichts Besonderes auf dem Spiel, und jede andere Frau würde sich mit einem Platz auf der Tribüne der Diplomaten begnügt haben, der wahr­ scheinlich ohne Schwierigkeit zu haben war. Allein sie hatte gehört, daß diese Sitze sehr hoch sein würden, und sie wollte nicht an einem zu augenfälligen Platze fitzen. Das Licht konnte ungünstig sein, und sie wußte, daß sie leicht sehr roth wurde, wenn es heiß war. Sie war einst eine hübsche und sehr eitle Frau gewesen, aber selbst ihre Eitelkeit konnte sie nicht über das qualvolle Zeugniß ihres Spiegels hinweg täuschen. Vier bis fünf Stunden in grellem Licht, fünfzig tausend Menschen gegenüber zu sitzen, war mehr als sie mit Gleichmuth ertragen konnte. Als Del Ferice wieder allein war, kam er auf die Frage wegen des Ordens für den Bürgermeister zurück, welche ihm viel wichtiger war als der Platz für seine Frau bei der bevorstehenden Feierlichkeit. Wenn cs ihm nicht gelang, dem Menschen das Gewünschte zu verschaffen, so würde der Kerl sich vermuthlich an einen Deputirten von der Gegenpartei wenden, die begehrte Auszeichnung erhal­ ten und bei der nächsten Wahl sämmtliche Wähler der Stadt mit sich ins andere Lager führen, auf daß Del Ferice eine Niederlage erlitte. Er mußte einen triftigen Grund ausfindig machen, um ihn zu der Auszeichnung in Vorschlag bringen zu können. Hugo wußte zuerst nicht, wie er es machen sollte; endlich hatte er einen guten Ein­ fall. Er rieth seinem Correspondenten, eine Abhandlung

80 über das schnelle Wachsen des landwirthschastlichen Znteresscs unter dem gegenwärtigen Ministerium zu schreiben, und ging sogar so weit, einige Notizen über dieses Thema seinem Briefe beizufügen. Diese Notizen waren so um­ fangreich und vollständig, daß der Bürgermeister kein Wort mehr hinzuzufügen fand, nachdem er fie abgeschrieben hatte. Sie wurden auf feinem Papier mit Randverzierungen unter dem Titel: „Vorwärts, Parthenope!" gedruckt! Natür­ lich weiß Jeder, daß Parthenope Neapel, die Neapolitaner und die ganze Provinz bedeutet, weil eine Sirene dieses Namens einstmals zwischen Chiatamone und Posilippo ihr Ende gefunden hat. Der Bürgermeister bekam seinen Orden. Del Ferice wurde wiedergewählt. Ob die in der Abhand­ lung über Landwirthschast aufgestellten Behauptungen wahr wären, — das untersuchte Niemand. Es ist flar, daß ein Mann, welcher sich um eine Kleinigkeit so viel Mühe gab, nicht seine Frau im Stich lassen lassen würde, wenn sie einmal ihr Herz an so etwas Geringes wie ein Billet zum Jubiläum gehängt hatte. Nach drei Tagen war ihm das Gewünschte versprochen worden. Eine gewisse vornehme alleinstehende alte Dame lag damals gerade krank, und natürlich fiel die Einladung ihrem vertrauten Diener in die Hände, der fie für eine runde Summe dem ersten, welcher ihm ein Angebot machte, käuflich überließ; das war zufällig Graf Del Ferices Lakai. So wurde die Sache im Stillen und ohne Aufsehen abge­ macht. Ganz Rom war in Aufregung. Die Feier war auf den ersten Januar festgesetzt, und als der Tag herannahte, rückten die neugierigen Fremden zu Tausenden und Zehn­ tausenden an und nahmen die Stadt mit Sturm. Die Gasthöfe waren überfüllt. Billards wurden als möblirte

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Zimmer vermiethet, die Leute schliefen im Personenaufzug, auf Treppenabsätzen, in Portierstübchen. Die speculativen Römer selbst zogen fich auf Böden und in Keller zurück und vermietheten ihre kleinen Wohnungen. Die Leute, welche Rom am Sylvcsterabend erreichten, übernachteten in den Droschken, mit denen fie am nächsten Morgen vor Tagesanbruch nach der Peterskirche fahren wollten. Selbst an Nahrungsmitteln gebrach es, und die Hungrigen aßen, was fie bekommen konnten, während wählerische Leute ost gar nichts aßen. Natürlich war die gewöhnliche Angst vor einer revolutionären Bewegung vorhanden, von welcher die Eingeborenen wenig Aufhebens machten, die aber die Frem­ den in eine angenehme Aufregung versetzte. Kaum die Hälfte von denen, welche Zeugen der Feier zu sein hofften, sah wirklich etwas davon, obwohl die Bafilica zur Noth über achzigtausend Personen fassen kann, und die Menge bei dieser Gelegenheit bedeutend größer war als bei der Eröffnung des ökumenischen Concils im

Jahre 1869. Madame d'Aragona hatte auch beschlossen, dabei zu sein und fie sprach ihren Wunsch gegen Gouache aus. Sie hatte die volle Wahrheit gesprochen, als fie sagte, daß fie in Rom Niemanden kannte, und ebenfalls war es richtig, daß sie die Länge ihres Aufenthaltes nicht genau bestimmt hatte. Sie war zu keinem andern bestimmten Zweck her­ gekommen, als mit der Idee, ihr Bild von dem französi­ schen Künstler malen zu lassen, und wenn sie sich nicht die Mühe nahm, Bekanntschaften anzuknüpfen, so war in der Hauptstadt nichts anziehend genug, um sie zu fesseln. Sie ließ fich in der Stadt herumfahren, unter dem Vorwand, Kirchen und Galerien anzusehen; in der That aber sah fie wenig von beiden. Sie war mit ihren eigenen Gedanken Crawford, Don Orsinc.

I.

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82 beschäftigt und Anfällen von Zerstreutheit unterworfen. Die meisten Dinge kamen ihr langweilig vor, und der un­ glückliche Führer, welcher zu ihrem Begleiter bei ihren Ausflügen ausersehen war, verschwendete am ersten Tage seine Gelehrsamkeit an sie und erschöpfte später die reich­ haltige Liste von Unmöglichkeiten, welche er zu Nutz und Frommen ungebildeter Fremde zusammengestellt hatte, ohne ihr auch nur einen Ausdruck des Staunens oder das mindeste Jntereffe zu entlocken. Er war ein junger, höchst einnehmender Führer mit weißer Atlascravatte; am dritten Tage sagte er einige Verse von Stecchetti auf und war im Begriff eine Erklärung höchster Verehrung in schwung­ hafter Prosa loszulaffen, als er plötzlich durch die gelben Augen der Dame eingeschüchtert wurde und verlegen eine Reihe von Päpsten nebst Jahreszahlen ableierte. „Besorgen Sie mir eine Karte zum Jubiläum", sagte sie plötzlich. „Eine Eintrittskarte ist sehr leicht zu haben", ant­ wortete der Führer. „Ich habe sogar zufällig eine in der Tasche. Ich kaufte sie heute Morgen für zwanzig Francs, in der Idee, daß einer meiner Fremden sie mir vielleicht gern abnehmen würde. Ich verdiene nicht ein Mal einen Franc daran. Auf mein Ehrenwort." Madame d'Aragona sah das Papier an. „Das nicht", erwiderte sie. „Denken Sie, daß ich stehen würde? Ich will einen Tribünenplatz haben." Der Führer erging sich in Entschuldigungen, erklärte aber, daß er ihr nicht verschaffen könnte, was sie wünschte. „Wozu find Sie dann zu brauchen?" fragte sie. Sic war eine träge Natur, wenn sie aber zufällig ein Mal wirklich etwas wollte, so hätte selbst Donna Tullia nicht ruheloser sein können.

Sofort fuhr sie nach Gouaches

83 Atelier. Er war allein, und sie erzählte ihm, was fie haben wollte. „Zum Jubiläum, gnädige Frau? Ist es möglich, daß man fie vergeffen hat?"

„Da man nie von mir gehört hat! Ich habe nicht den geringsten Anspruch auf einen Platz." „DaS sagen Sie! Aber Ihnen ist schon ein Platz gefichert. Fürchten Sic nichts! Sie werden unter den römischen Damen fitzen." „Ich verstehe nicht recht" — „Es ist ganz einfach. Gestern dachte ich daran. Der junge Saracinesca kam und fing an, von Ihnen zu sprechen. Madame d'Aragona hat noch keinen Platzt sagte er. .Dafür muß gesorgt werden.' Und somit ist dastr ge­ sorgt." „Don Don Orfino?" „Sie würden es nicht annehmen? Nein. Don einem jungen Mann, den fie erst ein Mal gesehen haben. Aber sagen sie mir Ihre Ansicht über ihn. Gefällt er Ihnen?" „So schnell geht das nicht", sagte Madame d'Aragona. „Wie haben Sie es denn mit dem Platz gemacht?" „Ganz einfach. Es werden, wie Sie wissen, zwei Fest­ tage stattfinden. Meine Frau hat natürlich zu beiden Karten. Sie will nur ein Mal hingehen. Wenn Sie die Karte zum ersten Tage annehmen wollen, wird es sie sehr freuen." „Sie find ein Engel! Dann gehe ich also als Ihre Frau?" Sie lachte. „Jawohl. Sie find Faustina Gouache anstatt Ma­ dame d'Aragona." „Wie köstlich! Uebrigens, nennen Sie mich nicht Madame d'Aragona, es ist nicht mein Name. Ich könnte

84 Sie eben so gut Monsieur de Paris nennen, weil Sie aus Paris find.« „Ich schreibe aber nicht Anastase Gouache de Paris auf meine Karten«, antwortete Gouache lachend. Wie soll ich Sie denn nennen? Donna Maria?« „Mein Name ist Maria Consuela d'Aranjuez.« „Ein alter spanischer Name«, sagte Gouache. „Mein Mann war ein Italiener.« „Ah so! aber von spanischer Abkunft, ursprünglich aus Aragonien. So ist es.« „Jawohl. Da ich nun ein Mal hier bin, darf ich Ihnen fitzen? Sie könnten heute beinahe fertig werden." „So schnell doch nicht. Es ist Don Orfinos Stunde, aber er ist nicht gekommen, und wenn Sie so freundlich sein wollen, so bitte ich sehr« — „So, ist er unpünktlich?« „Wahrscheinlich jagt er mit den abscheulichen Hunden hinter dem armen Fuchs her. Das nennt man edlen Sport!« Gouaches Gesicht drückte sehr deutlichen Wider­ willen aus. „Der arme junge Mensch!« sagte Maria Consuela. „Er hat sonst nichts zu thun.« „Er wird sich daran gewöhnen. Sie machen es alle so. Ueberdies ist das wirklich der eigentliche Natur­ zustand des Menschen. Völliges Nichtsthun ist sein Ele­ ment. Hätte die Vorsehung den Menschen zur Arbeit be­ stimmt, so hätte sie ihn mit zwei Köpfen versehen müssen, einen für fich und einen für seinen Beruf. Ein Mensch braucht einen ganzen, ungetheilten Verstand zum Studium seiner eigenen Individualität.« „Was ist das für eine Idee!« „Vergessen nicht große Leute bekanntermaßen fich selbst,

85 vergessen sie nicht, zu essen und zu trinken und sich men­ schenwürdig anzuziehen? Das kommt davon, daß sie nicht zwei Köpfe haben. Die Vorsehung erwartet, daß ein Mensch zwei Dinge auf ein Mal thue, — z. B. eine Arie finge und zugleich eine Dampfmaschine erfinde. Dagegen empört sich die Natur. Also find Vorsehung und Natur nicht im Einklang. Was wird aus der Religion? Es ist alles Geheimniß. Glauben Sie mir, gnädige Frau, die Kunst ist leichter als die Natur, und Malen einfacher als Theologie." Maria Consuelo hörte Gouaches wunderliche Reden

lächelnd an. „Sie find entweder paradox oder irreligiös, vielleicht beides", sagte sie. „Ich irreligiös? Habe ich nicht bei Mentana ge­ fochten? Nein, gnädige Frau, ich bin ein guter Katholik." „Was heißt das?" »Ich glaube an Gott und liebe meine Frau. Ich überlasse es der Kirche meine übrigen Glaubensartikel zu bestimmen. Ich habe, wie Sie sehen, nur einen Kopf." Gouache lächelte, aber in seiner wunderlichen Erklärung lag ein Ton von Aufrichtigkeit, der seiner Zuhörerin nicht entging. „Sie gehören nicht zu dem Typus fin de siede", sagte sie. „Dieser Typus war noch nicht erfunden, als ich mich entwickelte." „Vielleicht gehören Sie eher der kommenden Zeit an, dem Zeitalter der Vereinfachung." „Im Unterschied zum Zeitalter der Mystification — auf religiösem, politischem, wissenschaftlichem und künstlexischem Gebiet," meinte Gouache. „Die Leute jener künf­

tigen Zeit werden das Räthsel der Sphinx errathen."

86 „Mein Räthsel? Sie verglichen mich neulich mit einer Sphinx." „Welleicht das Ihre, gnädige Frau. Wer weiß? Sind Sie der Frauentypus des endenden Jahrhunderts?" „Warum nicht?" fragte Maria Consuela mit träume­ rischem Blick.

Fünftes Kapitel.

Es ist etwas Großartiges um eine zahlreiche Ver­ sammlung von Geschöpfen gleicher Gattung. Der bloße Gedanke an eine ungeheuere Anzahl von Lebewesen macht einen Eindruck wie nichts Anderes. Eine geschloffene Heerde von fünfzig bis sechzig tausend Löwen würde ein überwäl­ tigender Anblick sein, neben dem eine gleiche Menge mensch­ licher Wesen in nichts versinken müßte. Eine Heerde wil­ der Rinder ist, nach meiner Ansicht, ein schönerer Anblick als ein Regiment von Reitern in voller Bewegung; denn die Reiter find zusammengesetzte Geschöpfe, halb Mann, halb Roß, während die Rinder den Vorzug der Einheit haben. Allein wir können niemals so viele Thiere einer Gattung auf einem beschränkten Raum zusammenbringen, daß sie einer großen Menschenmaffe gleich kämen, und so kommen wir natürlich genug zu dem Schluffe, daß eine Menge, welche lediglich aus Geschöpfen unserer Art besteht, die denkbar imposanteste ist. Es war am Morgen des Neujahrstages noch kaum hell geworden, als die Fürstin Sant' Ilario bereits auf einer der niedrigen Tribünen an der Rordseite des Hoch­ altars in der Peterskirche saß. Ihr Mann und ihr Sohn hatten sic hinbegleitet, und nachdem sie sie aus einen Platz gebracht hatten, von welchem sie, nach ihrer Ansicht, am

86 „Mein Räthsel? Sie verglichen mich neulich mit einer Sphinx." „Welleicht das Ihre, gnädige Frau. Wer weiß? Sind Sie der Frauentypus des endenden Jahrhunderts?" „Warum nicht?" fragte Maria Consuela mit träume­ rischem Blick.

Fünftes Kapitel.

Es ist etwas Großartiges um eine zahlreiche Ver­ sammlung von Geschöpfen gleicher Gattung. Der bloße Gedanke an eine ungeheuere Anzahl von Lebewesen macht einen Eindruck wie nichts Anderes. Eine geschloffene Heerde von fünfzig bis sechzig tausend Löwen würde ein überwäl­ tigender Anblick sein, neben dem eine gleiche Menge mensch­ licher Wesen in nichts versinken müßte. Eine Heerde wil­ der Rinder ist, nach meiner Ansicht, ein schönerer Anblick als ein Regiment von Reitern in voller Bewegung; denn die Reiter find zusammengesetzte Geschöpfe, halb Mann, halb Roß, während die Rinder den Vorzug der Einheit haben. Allein wir können niemals so viele Thiere einer Gattung auf einem beschränkten Raum zusammenbringen, daß sie einer großen Menschenmaffe gleich kämen, und so kommen wir natürlich genug zu dem Schluffe, daß eine Menge, welche lediglich aus Geschöpfen unserer Art besteht, die denkbar imposanteste ist. Es war am Morgen des Neujahrstages noch kaum hell geworden, als die Fürstin Sant' Ilario bereits auf einer der niedrigen Tribünen an der Rordseite des Hoch­ altars in der Peterskirche saß. Ihr Mann und ihr Sohn hatten sic hinbegleitet, und nachdem sie sie aus einen Platz gebracht hatten, von welchem sie, nach ihrer Ansicht, am

87 Ende der Feierlichkeit leicht hinausgelangen konnte, blieben sie in dem engen gewundenen Durchgänge zwischen den aufgestellten Schranken stehen, der von der Tribüne nach der Thür der Sakristei führte. Hier warteten sie und grüßten ihre Bekannten, sofern sie sie in dem matten in der Kirche herrschenden Dämmerlicht erkennen konnten, und beobachteten die immer wachsende Menge, wie sie außer­ halb der Schranken langsam hin und herwogte. Der alte Fürst hatte, kraft eines erblichen Ehrenamtes, Anspruch auf einen Platz in der großen Prozession dieses Tages und war also nicht bei ihnen. Orfino war zu Muthe, als ob die ganze Welt hier um ihn in der großen Kirche versammelt wäre, als ob sein Herz hörbar schlüge und er sein dumpfes Pochen verneh­ men könnte. Das ununterbrochene Geräusch, welches von der gedrängten Mäste menschlicher Wesen auSging, war an sich leise, aber von ungeheuerer Ausdehnung und beständiger Dauer, wie ein gewaltiges Flüstern, das man hätte meilen­ weit hören können. Bei Monsterconcerten hört man die wunderbare Wirkung von vier oder fünftausend leise singen­ den Stimmen; doch läßt sie sich nicht mit dem anhalten­ den Geflüster von sünfzigtausend Menschen vergleichen. Der junge Mann empfand ein wundersames Beben von Begeisterung, das ihn von Zeit zu Zeit durchfuhr und seine Phantasie anregte. Es war nur der Trieb einer starken Lebenskraft, die sich unbewußt danach sehnte, der Mittelpunkt aller Lebenskräfte um sie her zu sein. Daaber konnte er nicht verstehen. Ihm schien eine große Ge­ legenheit greifbar vorhanden, die unbenutzt vorüberging, um nimmer wiederzukehren. Er empfand ein mächtiges, kaum bezwingbares Verlangen, auf eine der Tribünen zu springen, zur ungeheuern Menge zu sprechen, alle diese

88 Männer anzufeuern, sich zu erheben und alles mit sich fortzureißen. Er lachte hörbar über sich selbst. Sant' Ilario sah seinen Sohn erstaunt an. „Was belustigt Dich?" fragte er. „Ein Traum," versetzte Orfino, noch immer lächelnd. „Wer weiß," rief er nach einer Pause aus, „was ge­ schehen würde, wenn im rechten Augenblicke der rechte Mann eine Menschenmenge wie diese erregen möchte?" „Seltsame Dinge", erwiderte Sant' Ilario. „Eine große Menge ist eine furchtbare Waffe." „Dann war mein Traum im Grunde nicht so thöricht. Heute könnte Einer ein Stück Weltgeschichte machen!" Sant' Ilario machte eine gleichgültige Geberde. „Was ist Weltgeschichte?" fragte er. „Eine Komödie, in der die Schauspieler keine geschriebnen Rollen haben, sondern aus dem Stegreif reden und handeln müssen, so gut sie können. Deshalb ist die Weltgeschichte so lang­ weilig und so voller Fehler." „Und Ueberraschungen", setzte Orsino hinzu. „Die Ueberraschungen in der Geschichte find immer unangenehm, mein Junge," antwortete Sant' Ilario. Orfino fühlte die Kälte dieser Antwort und mehr noch die Neigung seines Vaters, jeden Ausdruck von Be­ geisterung in ihm zu dämpfen. In letzter Zeit war ihm dieser erkältende Einfluß fast auf allen Seiten entgegen­ getreten, so oft er seiner Begeisterung für irgend eine Art von Thätigkeit Luft machte. Giovanni Saracinesca hatte indeffen gar nicht die Absicht, den Thatendurst seines Sohnes zu unterdrücken, und sicherlich keine Ahnung von der Wirkling, welche seine Worte oft hervorbrachten. Er wunderte sich manchmal über das plötzliche Schweigen, in das der junge Mann

89 nach solchen Gesprächen versank, aber er verstand es nicht und beachtete es im Ganzen wenig. Er erinnerte sich, daß er selbst ganz anders gewesen war, geneigt hitzig zu disputiren und oft mit seinem Vater über Kleinigkeiten zu streiten. Er selbst war in seiner Jugend eigensinnig, leidenschaftlich, manchmal unbeugsam gewesen, und sein Vater als Sechziger um nichts besser, ja er hatte sich in dieser Hinsicht selbst in seinem hohen Alter nicht wesentlich gebessert Aber Orfino stritt nicht. Er sprach seine An­ sicht aus, und wenn die Andern ihm nicht beistimmten, schwieg er. Er schien Thatkraft und hochfliegendes Streben zu haben; aber in der Unterhaltung war er leicht zum Schweigen zu bringen, und in seinem Wesen schien er zu gleichgültig, wenn nicht ost gar zu kalt. Giovanni erkannte nicht, daß Orfino im Character am meisten seiner Mutter glich, während die Berührung mit einer neuen Generation ihn der alten einigermaßen entfremdet und ihm etwas gegeben hatte, was anfangs allerdings Affectation war, sich aber allmälig mit seiner wahren Natur verquickte. Ohne Zweifel war es richtig und weise, Ideen zu be­ kämpfen, welche auf irgend eine Weise zur Revolution führen konnten. Giovanni hatte Revolutionen durchgemacht und dabei zum verlierenden Theil gehört. Allein es war nicht weise und jedenfalls nicht nöthig, das harmlose Streben des jungen Mannes, sozusagen, mit kaltem Waffer zu begießen. Aber Giovanni hatte lange Jahre auf seine Weise dahin gelebt, reich, angesehen und außerordentlich glücklich, und glaubte, daß seine Weise auch für Orfino gut genug wäre. Er hatte in seiner Jugend die meisten Dinge auf eigne Hand ausprobirt und gefunden, daß sie nicht zu feinem Glück gefühtt hatten. Orfino konnte ja,

90 wenn er Lust hatte, dieselbe Reihe von Erfahrungen durch­ machen, aber zu einem solchen Aufwand von Thatkraft war kein genügender Grund vorhanden. Je eher der Jüngling ein Mädchen liebte, das ihn als gute Frau beglücken könnte, desto eher würde er sich in das ruhige, befriedigende Leben finden, das Giovanni erst nach seinem dreißigsten Jahre zu theil geworden war. Was das Vermögen anbetraf, so waren allerdings vier Söhne vorhanden, aber da war ja das Vermögen von Giovannis Mutter, da war Coronas Vermögen, und außerdem die großen Güter der Saracinesca. Sie waren alle so ungeheuer reich, daß die Sintfluth noch in weiter Ferne sein mußte. Orsino verstand nichts von all' diesen Sachen. Er fühlte nur, daß sein Vater die Macht und scheinbar auch die Absicht hatte, alle Originalität in ihm zu ersticken, und innerlich grollte er über diese Kälte und beschloß, die­ jenigen, welche ihn mißverstanden, bei erster Gelegenheit durch irgend eine außergewöhnliche That in Erstaunen zu setzen. Eine Weile stand er da, beobachtete die Vorüber­ gehenden und blickte von Zeit zu Zeit auf die dichte Menge außerhalb der Schranken. Plötzlich bemerkte er, daß sein Vater eifrig eine Dame beobachtete, welche durch den Durch­ gang einherkam. „Da ist Donna Tullia Del Ferice!" rief Sant' Ilario erstaunt. „Ich kenne sie nur dem Ansehen nach", sagte Orsino gleichgültig. Die Gräfin sah in ihrem schwarzen Schleier und ihren schwarzen Gewändern sehr stattlich aus. In der Halb­ dunkeln Kirche verlor ihr Gesicht etwas von seiner Farbe, und sie hatte eine gemessene, würdevolle Haltung ange-

91 nommen, die ihrer umfangreichen Gestalt bester anstand als ihre natürliche rastlose Lebendigkeit. Sie hatte er­ reicht, was sie gewollt, und rauschte stolz einher, um ihren alten Platz unter den römischen Damen einzunehmen. Nie­ mand wußte, westen Karte sie beim Eintritt in die Sa­ kristei abgegeben hatte, und sie genoß den Triumph, zu zeigen, daß die Frau des Revolutionärs, des Banquiers, des Abgeordneten, doch nicht ihre Kaste verloren hatte. Sie starrte Giovanni mit ihren unangenehmen blauen Augen geradezu ins Gesicht, während sie herankam, schein­ bar mit der Absicht, ihn nicht zu erkennen. Dann aber, als sie dicht an ihm vorüberging, geruhte sie, eine leichte Neigung mit dem Kopf zu machen, gerade genug, um Sant' Ilario zum Gegengruß zu nöthigen. Es war sehr geschickt gemacht. Orfino kannte nicht alle Einzelheiten der vergan­ genen Ereigniffe, aber er wußte, daß sein Vater einst den Del Ferice in einem Duell verwundet hatte, und sah dessen Frau mit einer gewiffen Neugier an. Er hatte selten Ge­ legenheit gehabt, sie so ganz in der Nähe zu sehen. „Nun, ihretwegen werden sie sich sicherlich nicht ge­ schlagen haben," dachte er bei sich; „es muß wegen einer anderen Frau gewesen sein, wenn überhaupt eine Frau dabei im Spiel war." Einige Augenblicke darauf merkte er, daß ein paar gelbliche Augen auf ihn geheftet waren. Maria Consuelo folgte Donna Tullia auf etwa ein Dutzend Schritte. Orfino trat vor, und seine neue Bekannte reichte ihm die Hand. „Es war so freundlich von Ihnen," sagte sie. „Was, gnädige Frau?" „Gouache davon zu sagen. Ich hätte sonst kein Billet bekommen — wo soll ich fitzen?" Orfino verstand sie nicht recht, denn wenn er auch mit

92 Gouache darüber gesprochen, so hatte dieser ihm doch nicht gesagt, was er zu thun beabsichtigte. Aber es war keine Zeit mit Reden zu verlieren. Orfino führte sie an den nächsten Eingang zur Tribüne und wies auf einen Platz. „Ich war bei Ihnen," sagte er rasch, „wurde aber nicht angenommen" — „Kommen Sie wieder; ich werde zu Hause sein", sagte sie leise im Vorübergehen. Sie setzte sich auf einen leeren Platz neben Donna Tullia, und Orsino bemerkte, daß seine Mutter gerade hinter den Beiden saß. Corona hatte ihn unbewußt beob­ achtet, wie sie es oft that, und wunderte sich, daß er eine Dame führte, die sie nicht kannte. Auf den ersten Blick sah sie, daß die Dame eine Ausländerin war; als solche hätte sie, wenn sie überhaupt zugegen war, auf der Tri­ büne der Diplomaten sein sollen. Corona hatte an nichts Besonderes zu denken, und so bemühte sie sich dieses kleine Räthsel der Etikette zu lösen. Orsino ging zu seinem Vater zurück. „Wer ist sie?" fragte Sant' Ilario etwas neugierig. „Die Dame, welche das Tigerfell haben wollte, — Aranjuez — ich habe Dir von ihr erzählt." „Deine Beschreibung war nicht schmeichelhaft. Sie ist hübsch, wenn auch nicht schön." „Sagte ich denn, daß sie es nicht wäre?" fragte Orsino sichtbar gereizt, was sonst nicht seine Art war. „Ich dachte es. Du sagtest, sie hätte gelbe Augen, rothes Haar und einen schielenden Blick." Sant'Ilario lachte. „Za, vielleicht sagte ich das. Aber das Ganze macht einen harmonischen Eindruck." „Ganz entschieden. Du hättest mich vorstellen sollen."

93 Darauf entgegnete Orfino nichts, sondern versank in mißmüthiges Schweigen. Nichts wäre ihm lieber gewesen, als die Bekanntschaft zu vermitteln, aber er hatte Maria Consuelo nur einmal gesehen, wenn auch aus längere Zeit, und er erinnerte sich ihrer kurzen Antwort auf sein Aner­ bieten, ihr bei Anknüpfung von Bekanntschaften Dienste zu leisten. Maria Consuelo ahnte nicht, daß sie in der Nähe der Fürstin Sant' Ilario säße, aber sie hatte bemerkt, daß die neben ihr fitzende Dame den Herrn neben Orfino im Vor­ übergehen grüßte, und errieth aus einer gewiffen Aehnlichkeit, daß der brünette Herr in mittleren Jahren der Vater des jungen Saracinesca sein dürste. Donna Tullia hatte Corona recht gut gesehen, da fie aber seit mehr als zwanzig Jahren nicht mit einander gesprochen hatten, hielt fie es für besser, keinen Gruß zu wagen, da fie den Gegengruß nicht erzwingen konnte. So that sie, als wüßte fie nichts von der Anwesenheit ihrer alten Feindin. Donna Tullia hatte ebenfalls bemerkt, als fie beim Niedersetzen den Kops umwendete, daß Orfino eine Dame nach der Tribüne führte, und als diese sich neben fie setzte, beschloß sie, unter irgend einem Vorwand ihre Bekannt­ schaft zu machen. Der Augenblick nahte heran, wo die Prozession erscheinen sollte, und Donna Tullia besann sich, womit fie das Gespräch anknüpfen sollte, während fie ihre Nachbarin von Zeit zu Zeit von der Seite ansah. Es war leicht zu bemerken, daß ihr der Ort und die Um­ gebung gleich ftemd waren; denn die Dame betrachtete mit sichtlichem Jntereffe die gewundenen Säulen am Hoch­ altar, die großen Mosaiken in der Kuppel, die rothen Damastbehänge im Schiff der Kirche, die Schweizergarden,

die Kämmerlinge in ihrer Hostracht und all die mittel-

94 alterlich aussehenden bunten Gestalten, welche sich inner­ halb des für die Feierlichkeit abgegrenzten Raumes hinund herbewegten. „Es ist ein wunderbares Schauspiel!" sagte Donna Tullia leise auf Französisch, fast als spreche sie zu sich selbst. „Freilich wunderbar!" erwiderte Maria Consuelo, „be­ sonders für eine Fremde." „Die gnädige Frau ist also eine Fremde?" bemerkte Donna Tullia mit lieblichem Lächeln. Sie sah ihre Nebensitzerin an und erkannte erst jetzt, daß sie eine auffallende

Persönlichkeit war. „Durchaus", versetzte letztere kurz, als ob sie nicht wünschte, sich auf ein Gespräch einzulassen. „Ich dachte es mir," sagte Donna Tullia, „obschon, wenn man Sie hier auf diesem Platze unter uns Röme­ rinnen sieht" --------„Ich erhielt die Karte durch die Güte eines Bekann­ ten." Es entstand eine Pause; Donna Tullia vermuthete, Don Orfino müßte der Bekannte sein. Allein die nächsten Worte brachten sie von dieser Fährte ab. »Ich glaube, es war die Karte seiner Frau," sagte Maria Consuelo. „Sie konnte nicht kommen. Ich bin unter falschen Voraussetzungen hier." Sie lachte leichthin. Donna Tullia erging sich in Vermuthungen, konnte aber das Räthsel nicht lösen. „Sie haben einen günstigen Augenblick für Ihren ersten Besuch in Rom gewählt", sagte sie endlich. „Ja. Ich habe immer Glück. Ich glaube, von Kind­ heit an habe ich alles gesehen, was sehenswerth war."

„Sie ist eine Person von Bedeutung", dachte Donna Tullia. „Vermuthlich die Frau eines Diplomaten. Die

95 Leute sehen alles und sprechen nur von dem, was sie ge­ sehen Haden? „Dies ist ein historisches Schauspiel", sagte sie laut. „Sie werden Gelegenheit haben, die Römer in ihrem Glanz zu sehen, Colonna und Orfino neben einander einherschreitend und den alten Saracinesca in all seiner Pracht. Er ist zweiundachtzig Jahre alt." „Saracinesca?" wiederholte Maria Consuelo und heftete ihre gelben Augen aus ihre Nachbarin. „Ja, der Vater von Sant' Ilario, der Großvater des jungen Mannes, der Sie hieher führte." „Don Orsino? Ja, ich habe ihn flüchtig kennen gelernt." Corona saß dicht hinter ihnen, fie hörte den Namen ihres Sohnes. Als die beiden Damen sich dann beim Sprechen gegen einander wandten, vernahm fie deutlich, was fie sagten. Donna Tullia war sich deffen natürlich bewußt. „So?" fragte sie. „Sein Vater ist ein höchst achtungswerther Mann — vielleicht etwas zu achtungöwerth, — Sie verstehen! Was den Jungen betrifft" — Donna Tullia zuckte bedeutungsvoll die Achseln. Selbst der tadellose Del Ferice konnte ihr das nicht abgewöhnen. Coronas Antlitz verdüsterte sich. „Sie können ihn doch kaum einen Jungen nennen", bemerkte Maria Consuelo lächelnd. „Ach was; ich hätte seine Mutter sein können", ver­ setzte Donna Tullia mit einer Nichtachtung ihrer sonst so gern betonten Jugendlichkeit, wie sie fit selten zeigte. Aber Corona fing au zu verstehen, daß das Gespräch auf fie gemünzt war, und ärgerte sich mehr und mehr. Donna Tullia war einst wirklich nahe daran gewesen, Giovanni zu heirathen, und hätte also auch in dem Sinne seine Mutter sein können.

96 „Ich glaubte, Sie sprächen wegwerfend von ihm", sagte Maria Consuelo mit gewiffem Antheil. „Ich? O nein! Zm Gegentheil, Don Orfino ist ein sehr netter junger Mann, — aber er kann in seiner jetzigen Umgebung absolut nicht zur Geltung kommen. Was nützt ihm seine ganze englische Bildung, — doch Sie find eine Ausländerin, gnädige Frau, Sie können unsere römischen Verhältniffe nicht verstehen." „Wenn Sie fie mir erklären wollten, könnte ich es vielleicht", meinte die Andere. „Ach ja, wenn ich es erklären könnte! Ader ich bin selbst viel zu unwiffend — nein, unwissend ist nicht das rechte Wort, — zu vorurtheilsvoll vielleicht, um es Ihnen ganz klar zu machen. Vielleicht bin ich etwas zu liberal, und die Saracinescas sind entschieden zu konservativ. Sie halten Bildung für Fortschritt. Der arme Don Orfino!

er thut mir leid." Donna Tuüia sand keinen anderen Ausweg aus der Schwierigkeit, in welche sie sich verwickelt hatte. „Ich wußte nicht, daß er zu bedauern wäre", sagte Maria Consuelo. „O nicht im Besondern", antwortete die dicke Gräfin, immer undeutlicher werdend. „Sie find allesammt zu be­ dauern; was soll aus jungen Leuten werden, welche in in dieser Weise erzogen werden? Der Club, der Rennplatz, der Spieltisch — trinken, spielen, wetten, heißt das ein Leben führen!" „Wollen Sie damit sagen, daß Don Orfino solch ein Leben führt?" fragte Maria Consuelo gleichgültig. Wiederum zuckten Donna Tullias kräftige Schultern verächtlich. „Was hat er denn sonst zu thun?"

97 „Und sein Vater? Führte er nicht in seiner Jugend dasselbe Leben?" „Sein Vater? O der war ganz anders, — vor seiner Verheirathung, — voll Leben, thätig, originell" — „Und nach seiner Verheirathung?" „Da ist er achtungswerth geworden, höchst achtungswerth!" Das Lächeln, womit Donna Tullia diese Worte begleitete, sollte fein sein, war aber nur boshaft. Maria Consuelo, die mit ihren träumerischen Augen alles sah, entging das nicht. Corona war empört und lehnte fich auf ihren Sitz so weit wie möglich zurück, um nichts mehr zu hören. Sie konnte nicht umhin, neugierig zu sein, wer die fremde Dame sein mochte, gegen die Donna Tullia ihre Ansichten über die Familie Saracinesca so fteimüthig aussprach, und sie beschloß, nach der Feierlichkeit Don Orfino zu be­ fragen. Aber sie wünschte so wenig wie möglich mehr zu

hören. „Wenn ein verheiratheter Mann, wie Sie es nennen, achtungswerth wird", sagte Donna Tullia's Nachbarin, „so betet er entweder seine Frau an, oder er haßt sie." „Was für eine köstliche Idee!" sagte die Gräfin lachend; aber augenscheinlich erfaßte sie die Bedeutung der Worte nicht. „Sie ist dumm!" dachte Maria Consuelo. „Das dachte ich mir gleich. Ich will Don Orfino nach ihr fragen. Er wird etwas Amüsantes über sie sagen. Jeden­ falls wird es ein Gegenstand des Gespräches sein, an Stelle jenes ewigen Tigers, der mir neulich in den Sinn kam. Ich möchte wifien, ob diese Frau erwartet, daß ich mich ihr vorstelle. Das hieße eine Bekanntschaft anknüpfen. Sie hat jedenfalls etwas zu bedeuten, sonst wäre sie nicht Crawfcrd, Ton Orfino. I. 7

98 i

hier. Andrerseits scheint sie etwas gegen den einzigen Menschen zu haben, den ich außer Gouache kenne. Das könnte zu Verwicklungen führen. Wir wollen zunächst von Gouache sprechen und dann sehen, wie die Sache ab­ läuft." „Kennen Sie Herrn Gouache?" fragte sie. „Den Maler? — Ja, ich kannte ihn vor langer Zeit. Malt er Sie vielleicht?" „Ja, eben zu dem Zweck bin ich in Rom. Was für ein liebenswürdiger Mann!" „Finden Sie das? Nun, vielleicht ist er es. Er hat mich vor langer Zeit gemalt. Ich war nicht besonders zufrieden. Aber er hat Talent." Donna Tullia hatte es dem Künstler nie vergeben, daß er nicht genug Seele in das Bild legte, welches er vor Jahren von ihr als junge Wittwe malte. „Er hat einen großen Ruf", sagte Maria Consuelo, „und ich denke, mein Bild wird ihm sehr gut gelingen. Ueberdies bin ich ihm dankbar. Er und die Sitzungen in seinem Atelier bilden eine angenehme Episode in meinem hiesigen kurzen Aufenthalt." „Wirklich? Ich hätte kaum geglaubt, daß es Ihnen der Mühe lohnen würde, nach Rom zu kommen, um sich von Gouache malen zn lassen", bemerkte Donna Tullia. Aber er soll ja Talent haben." „Die Frau ist reich", dachte sie bei sich. „Frauen von Diplomaten erlauben sich in der Regel nicht solche Einfälle. Ich möchte wissen, wer sie ist!" „Großes Talent", stimmte Maria Consuelo bei, „und große Liebenswürdigkeit, nach meiner Ansicht." „Ach ja, gewiß, natürlich. Uns Römern scheint es, daß er für einen Künstler zu sehr bestrebt ist, den seinen

99 Herrn zu spielen, — und'für einen feinen Herrn zu sehr Künstler ist." Die Bemerkung stammte nicht von Donna Tullia, son­ dern war ihr als eine Aeußerung von Spicca hinterbracht worden, und Spicca hatte in der That etwas Aehnliches gesagt, doch von einem Andern. „Mir hat er nicht den Eindruck gemacht", sagte Maria Consuelo ruhig. „Sie haßt ihn auch", dachte sie, „sie scheint alle Leute zu Haffen. Das bedeutet entweder, daß sie alle kennt oder nicht Zutritt zur Gesellschaft hat." „Aber natürlich" setzte sie nach einer kleinen Pause laut hinzu, „Sie kennen ihn besser als ich." In diesem Augenblicke erhob sich ein Gesang, der das leise Flüstern in der Kirche übertönte. Einige dreißig aus­ erwählte Stimmen aus dem Chor der Peterskirche hatten den Hymnus Tu es Petrus angestimmt, als die Prozession aus dem südlichen Seitenschiff herauskam und das Haupt­ schiff dicht neben der großen Eingangspforte betrat, um von dort den ganzen Riesenraum bis zum Hochaltar zu durchziehen. Der päpstliche Chor, nur aus den Sängern der Sixtinischen Capelle bestehend, harrte schweigend hinter dem Gitter neben der Statue der h. Veronica. Lauter und lauter erscholl der Gesang, einfach und erhaben. Wer italienische Sänger in ihren besten Mo­ menten gehört hat, weiß, daß dreißig junge römische Kehlen ein Tonvolumen ausströmen können, welches dem von hun­ dert Stimmen von Sängern anderer Nationen gleichkommt. Die Stille wurde beim Heranziehen der Prozession immer tiefer. Die ungeheure dunkle Menschenmasie stand Schulter an Schulter, athemlos vor Erwartung da, jeder Einzelne em­ pfand einen Augenblick das Erbeben geheimnißvoller Span-

100 nung und Ungeduld, wie es Orsino empfunden hatte. Was nun folgte, wird allen unvergeßlich bleiben. Aus der Capelle der Pieta schritten einige vierzig Cardinäle mit ihrem Gefolge im Zuge voran. Dann traten die erb­ lichen Stützen des Heiligen Stuhls, die Häupter der Fa­ milien Colonna und Orsini in das Schiff, — zum ersten Male neben einander, soweit meines Wiffens die historische Erinnerung reicht. Unmittelbar hinter ihnen, hoch über dem Zuge und der Menge erschien der Thron, zu beiden Seiten wehten langsam die riesigen weißen Fächer von Straußenfedern (flabelli), und auf dem Throne saß der Papst, Leo XIII., der Mittelpunkt des ungeheuern Ge­ pränges. Da erhob sich plötzlich, unvorbereitet und einstimmig ein Rus, wie er in dieser gewaltigen Kirche nie zuvor gehört worden und vielleicht nie wieder gehört werden wird. „Viva il Papa-Re! Es lebe der Papst-König!" Im selben Augenblick, wie auf ein verabredetes Zeichen — was in solchem Gedränge unmöglich gewesen wäre, — in einer Sekunde, ward die dunkle Menge weiß wie Schnee. In allen Händen, über allen Häuptern, wehten und flatterten weiße Tücher. Und als der Ruf erst ein Mal angestimmt war, da übertönte er die starken Stimmen der Sänger, wie das Rollen des Donners das Tropfen des Regens nnd Heulen des Windes übertönt. Das wunderbare Antlitz, welches aus durchsichtigem Alabaster geschnitten schien, lächelte und wendete sich im Vorüberziehen nach beiden Seiten hin. Die feine gebrech­ liche Hand bewegte sich unermüdlich und segnete das Volk. Orsino Saracinesca sah und hörte, und sein junges Gesicht erblaßte, während er die Lippen fest zusammen­ preßte. Neben ihm, um einen Kopf kleiner, stand sein

101 Vater in Gedanken versunken, im Anschauen des gewaltigen Schauspiels dessen, was einst gewesen und was noch sein

könnte, wenn nicht der eine Tag historischer Ueberraschun-

gen gekommen wäre! Orsino sagte nichts, aber er sah seinen Vater an, als ob er ihn an die vor einer Stunde gesprochenen Worte erinnern wollte; und Sant' Ilario wußte,

Worten seines Sohnes Wahrheit gewesen. daten in der Kirche,

daß in diesen Es waren Sol­

nicht italienische Truppen,

Ganzen etwa ein paar Tausend.



im

Sie waren bewaffnet,

und außerdem befanden sich unter der Menge mindestens

dreißigtausend erwachsene kräftige Männer. war feurig

begeistert.

Und die Menge

Wären hundert, nein auch

zwanzig verwegene Anführer darunter gewesen,

nur

wer weiß,

was für blutige Thaten noch vor Sonnenuntergang in der

Stadt geschehen wären? raschungen

uns

die

Wer weiß, was sür neue Ueber-

Geschichte

bescheert

haben

könnte!

Dieser Gedanke muß viele in jenem Augenblick durchzuckt haben. Aber Niemand regte sich. Die kirchliche Feier blieb

eine kirchliche Feier,

nichts weiter; heiliger Friede

herrschte innerhalb der Mauern, und die Stunde der Ge­

fahr ging vorüber, um ihre Stelle unter den Erinnerungen an Gutes einzunehmen. „Die Welt ist erschöpft!" dachte Orsino. großer Thaten sind vorüber.

„Die Tage

Lasset uns essen und trinken,

denn morgen sind wir todt! — Sie haben recht, mir ihre

Philosophie beizubringen!" — Eine dumpfe düstere Schwermuth bemächtigte sich sei­

ner jungen Seele, vielleicht nur eine vorübergehende Stim­

mung, welche aber ihre Spuren in ihm zurückließ.

Denn

er stand in einem Alter, wo ein Geringes in der Waage des Characters den Ausschlag giebt,

wo

das unbedachte

102 Wort eines älteren Mannes der Hälfte eines Menschen­ lebens die Richtung zum Guten oder zum Bösen geben kann, — ein Wort, das viele Jahre lang wiederholt, an das noch oft gedacht wird. Wer erinnert sich nicht des Tages, wo ein ungeduldi­ ge- „Ich will", oder ein trotziges „Ich will nicht", dem ganzen Lauf seines Lebens eine andere Richtung gab, — sei es zum Guten oder zum Bösm, zum Gelingen oder zum Unterliegen? Wer, der im Kampfe gegen Uebermacht vorangestanden hat, kann den Blick aus Frauenaugen vergefsen, der ihm Muth gab, oder das Hohnlächeln von Manneslippen, welches ihn anspornte, von vielen harten Streichen den ersten zu thun? Die Niedergeschlagenheit, welche Orsino überkam, hielt an, wenigstens jenen Morgen. Das ungeheure Gepränge zog an ihm vorüber, die Chöre sangen, die holden Knaben­ stimmen antworteten wie Engelschöre von oben herab aus der hohen Kuppel, Weihrauchsäulen stiegen empor in das hereinströmende Sonnenlicht während der Feier des Hoch­ amtes. Wiederum wurde der Papst auf den Thron ge­ hoben und in das Mittelschiff getragen, wo inmitten feier­ licher Stille seine feine helle Greisenstimme drei Mal den Segen intonirte, sich langsam hebend und senkend, inne­ haltend und von neuem beginnend. Noch einmal brach der gewaltige Ruf los, voller und mächtiger als zuvor, während die Prozession fortzog. Dann war alles vorüber. Orsino sah und hörte alles, aber der erste Eindruck war dahin, und das Erbeben kehrte nicht wieder. „Es war ein schönes Schauspiel", sagte er zu seinem Vater, als die Jubelrufe verstummten. „Ein schönes Schauspiel? Kannst Du nichts Befferes sagcn?"

103 „Nein", antwortete Orfino, „ich kann nicht." Die Damen verließen bereits die Tribünen, und Or­ fino sah, wie sein Vater Corona den Arm bot, um sie durchs Gedränge zu führen, Ganz natürlich traten Maria Consuelo und Donna Tullia bald nach ihr heraus. Orfino bot der ersteren an, sie durch die Menge zu lootsen, und fie nahm es dankbar an. Donna Tullia ging neben ihnen. „Sie kennen mich nicht, Don Orfino", sagte fie mit huldvollem Lächeln. „Ich bitte um Verzeihung, Sie find die Gräfin Del Ferice; ich bin erst seit kurzem aus England zurück und habe noch keine Gelegenheit gehabt, mich vorstellen zu lassen." Was auch Orfino für Schwächen haben mochte, Schüchternheit gehörte entschieden nicht dazu, und während er diese verbindliche Antwort gab, sah er Donna Tullia ruhig an, als ob er fragen wollte, was in aller Welt fie durch seine Bekanntschaft zu erreichen wünschte. Er hatte während der Feierlichkeit so gestanden, daß er das Gespräch zwischen den beiden Damen nicht bemerken konnte. „Wollen Sie mich vorstellen?" sagte Maria Consuelo. „Wir haben schon mit einander gesprochen." Sie sprach leise, allein ihre Worte konnten Donna Tullia kaum entgehen. Orfino war im höchsten.Grade überrascht und keineswegs erfreut, denn er sah, daß die ältere der beiden Damen die Vorstellung durch einen ziem­ lich unfeinen Kunstgriff erzwungen hatte. Was blieb ihm aber anders übrig? — „Da Sie die Güte gehabt haben, mich zu erkennen", sagte er ziemlich steif zu Donna Tullia, „erlauben Sie mir, Sie mit Madame d'Aranjuez d'Aragona bekannt zu

machen."

104 Beide Damen verneigten sich und lächelten sich mit dem Lächeln Neuvorgestellter an. Donna Tullia fing im Stillen gleich an fich zu wundern, wie es kam, daß eine Dame mit solchem Namen nur einfach „Madame" und keinen Titel davor zu setzen habe. Indessen wurde ihre Neugier dieses Mal nicht befriedigt. „Wie sonderbar geht es doch in der Gesellschäst zu", rief fie. „Madame dÄranjuez und ich haben die ganze Zeit mit einander gesprochen wie alte Bekannte, und nun bedarf es einer Vorstellung!" Maria Consuelo fah Orfino an, als erwarte sie, daß er etwas sagen sollte; allein er schwieg. „Was sollten wir wohl ohne Förmlichkeiten an­ fangen?" bemerkte sie, um nur überhaupt irgend etwas zu sagen. Unterliessen schritten fie durch den endlosen Corridor der Sakristei nach der Piazza Marta zu. Sant' Ilario und Corona gingen nicht weit vor ihnen. Bei einer Bie­ gung im Corridor sah Corona sich um. „Da ist Orfino im Gespräch mit Donna Tullia!" ries sie höchst erstaunt. „Und er hat der andern Dame den Arm gegeben, die neben ihr auf der Tribüne saß!" „Was thut's?" fragte Sant'Ilario gleichgültig. „Die andere ist übrigens jene Madame Aranjuez, von der er uns erzählt hat." „Ist sie eine Verwandte von der Familie Deiner Mutter, Giovanni?" „Nicht daß ich wüßte. Sie hat vielleicht einen von den jungem Söhnen geheirathet, von dem ich nie etwas gehört habe." „Es scheint Dir ganz gleichgültig zu sein, mit wem Orfino verkehrt," sagte Corona in vorwurfsvollem Ton.

105 „Orfino ist erwachsen, liebe Corona.

Das mußt Du

nicht vergeffen." „Ja — ich glaube es selbst", versetzte Corona mit leisem Seufzer. „Aber Du wirst ihn sicherlich nicht zum Umgang mit der Del Ferice ermuthigen." „Ich glaube, es würde viel Ermuthiguug dazu ge­ hören, um ihn dazu zu bringen," sagte Sant' Ilario lachend. „Er hat einen beffern Geschmack." Draußen herrschte allgemeines Gewühl. Die Leute warteten auf ihre Wagen, und da die meisten sich unter einander genau kannten, sprachen alle durcheinander. Donna Tullia grüßte da- und dorthin; Maria Consuelo bemerkte indeffen, daß ihre Grüße kalt erwidert wurden. Orfino und die beiden Damen standen ein wenig abseits von der Menge. In dem Augenblick fuhr der Wagen der Saracinescas vor. „Wer ist diese prachtvolle Erscheinung?" fragte Maria Consuelo, als Corona einstieg. „Meine Mutter", sagte Orsino. „Jetzt steigt mein Vater ein." „Dort kommt mein Wagen! Bitte helfen Sie mir!" Ein schlichter gemietheter Brougham fuhr vor. Orsino hoffte, daß Madame d'Aranjuez ihm einen Platz darin anbieten würde. Allein er irrte. „Ich fürchte, mein Wagen ist noch meilenweit fort!" sagte Donna Tullia. „Adieu, ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mich besuchen wollten."

Sie reichte ihr die Hand. „Darf ich Sie nicht nach Hause fahren?" fragte Maria Consuelo. „Wir haben gerade Platz; es ist doch besser, als hier zu warten." Donna Tullia zögerte einen Augenblick, dann nahm

106 sie es zu Orfinos großem Aerger an. Er half den beiden Damen in den Wagen und machte den Schlag zu. „Kommen Sie bald!" sagte Maria Consuelo nnd reichte ihm durch's Fenster die Hand. Er war im Begriff sich zu ärgern, allein der Blick, welcher die Einladung begleitete, verfehlte nicht seine Wirkung. „Er ist noch sehr jung", dachte Maria Consuelo, als

fie fortfnhr. „Sie kann recht unterhaltend sein. Es lohnt!" dachte Orfino, als er am nächsten Wagen vorüberging und auf den kleinen Platz hinaustrat. Er war im Gedränge noch nicht weit gekommen, als Jemand seinen Arm berührte. Es war Spicca, der elender und angegriffener denn je aussah. „Wollen Sie in einer Droschke nach Hause?" fragte er. „Dann können wir zusammen fahren." Sie gelangten endlich aus dem Platze heraus, selbst kaum wiffend, wie es ihnen gelungen war. Spicca schien sowohl aufgeregt als müde zu sein und stützte sich auf Orfinos Arm. „Heute ist eine Gelegenheit unbenutzt vorübergegan­ gen", sagte letzterer, als fie unter der Säulenhalle standen. Er erwartete bestimmt eine bittere Antwort von dem schnei­ digen alten Herrn. „Warum haben Sie sie denn nicht ergriffen?" fragte Spicca. „Erwarten Sie, daß alte Leute wie ich aufstehen sollen und nach einer Republik oder Restauration oder Monarchie — oder welche der sieben Plagen Aegyptens ihr euch sonst wünscht, schreien soll? Ich habe kaum Athem genug, um eine Droschke zu rufen, geschweige denn ein Königreich zu Boden zu heulen."

107 „Ich möchte wohl wissen, was geschehen wäre, wenn ich, oder sonst Jemand, es versucht hatte." „Sie häten die Nacht mit einigen gleichgefinnten Seelen im Gefängniß verbracht. Das wäre im Grunde noch bester gewesen, als der alten Donna TuÜia und ihrer jungen Freundin den Hof zu machen." Orfino lachte. „Sie haben gute Augen", sagte er. „Sie auch, Orfino; machen Sie Gebrauch davon. Sie werden sonderbare Dinge erblicken, wenn Sie Hinschauen, wo Sie heute Morgen hinsahen. Wissen Sie, was für ein Ort diese Welt ist?" „Ein langweiliger. Das habe ich schon herausge­ funden." „Sie irren. Es ist eine Hölle! — Möchten Sie jene Droschke anrufen?" Orfino starrte seinen Gefährten einen Augenblick an. Dann rief er den vorüberfahrenden Wagen.

Sechstes Kapitel. Orfino hatte es nicht so eilig damit gehabt, Madame d'Aranjuez wiederzusehen, als sich vielleicht erwarten ließ. Während der zehn Tage, welche zwischen der Sitzung in Gouaches Atelier und dem ersten Januar vergangen waren, hatte er nur einen Versuch gemacht, sie zu Hause zu finden, und der war fehlgeschlagen. Er war ihr nicht ein­ mal auf der Straße begegnet und sich keines unüberwind­ lichen Wunsches, sie um jeden Preis sehen zu müssen, be­ wußt gewesen. Allein er hatte ihre Existenz nicht vergeffen, wie er die einer gänzlich gleichgültigen Person sicherlich in dieser Zeit vergeffen haben würde. Im Gegentheil, er haste ost

107 „Ich möchte wohl wissen, was geschehen wäre, wenn ich, oder sonst Jemand, es versucht hatte." „Sie häten die Nacht mit einigen gleichgefinnten Seelen im Gefängniß verbracht. Das wäre im Grunde noch bester gewesen, als der alten Donna TuÜia und ihrer jungen Freundin den Hof zu machen." Orfino lachte. „Sie haben gute Augen", sagte er. „Sie auch, Orfino; machen Sie Gebrauch davon. Sie werden sonderbare Dinge erblicken, wenn Sie Hinschauen, wo Sie heute Morgen hinsahen. Wissen Sie, was für ein Ort diese Welt ist?" „Ein langweiliger. Das habe ich schon herausge­ funden." „Sie irren. Es ist eine Hölle! — Möchten Sie jene Droschke anrufen?" Orfino starrte seinen Gefährten einen Augenblick an. Dann rief er den vorüberfahrenden Wagen.

Sechstes Kapitel. Orfino hatte es nicht so eilig damit gehabt, Madame d'Aranjuez wiederzusehen, als sich vielleicht erwarten ließ. Während der zehn Tage, welche zwischen der Sitzung in Gouaches Atelier und dem ersten Januar vergangen waren, hatte er nur einen Versuch gemacht, sie zu Hause zu finden, und der war fehlgeschlagen. Er war ihr nicht ein­ mal auf der Straße begegnet und sich keines unüberwind­ lichen Wunsches, sie um jeden Preis sehen zu müssen, be­ wußt gewesen. Allein er hatte ihre Existenz nicht vergeffen, wie er die einer gänzlich gleichgültigen Person sicherlich in dieser Zeit vergeffen haben würde. Im Gegentheil, er haste ost

108 an sie gedacht und allerlei Vermuthungen über fie ange­ stellt; besonders wunderte er sich darüber, weshalb er fich nicht mehr Mühe gäbe, fie wiederzusehen, da er fich doch in Gedanken so viel mit ihr beschäftigte. Er wußte nicht, weshalb er eigentlich zauderte, denn er hätte es fich nicht eingestanden, daß er in Gefahr stünde, fich ernstlich zu verlieben. Er war zu jung, um eine solche Möglichkeit zuzugeben, und über eine solche Schwäche war der Character, den er bewunderte und annehmen wollte, weit erhaben. Um ihm gerecht zu werden: er war wirklich nicht von der Art, sich auf den ersten Blick zu verlieben. Leute, die fähig sind, fich ein Doppelwesen aufzuerlegen, sind das selten, denn die zweite Natur, welche sie auf Grundlage der ersten auferbauen, ist niemals ganz er­ künstelt. Die Neigung zu einer gewisien Art des Denkens und Benehmens ist in der That vorhanden und durch ihre Bewunderung für beides hinlänglich erwiesen. Sehr schüch­ terne Leute z. B. bewundern immer sehr sicher auftretende, und bei ihren Versuchen, sie nachzuahmen, entfalten sie ge­ legentlich eine überraschende kaltblütige Anmaßung. Timo­ theus Spitzmaus blickt im Stillen zu Don Juan als zu seinem Ideal auf, und nach einem verfehlten halben Leben übertrifft er sein Vorbild zum Entsetzen seiner Freunde. Dionysos verfteidet sich als Herkules, und der Fuchs spielt mitunter die Rolle des Heiligen nicht übel. Kurz, Orsino Saracinesca war zu enthusiastisch, um völlig kalt zu sein, und zu überlegt, um durch und durch Enthusiast zu sein. Er sah die Dinge je nach seiner Stimmung in verschiede­ nem Lichte an, und da er unbefriedigt war, versuchte er, eine Stimmung beständig durch die andere zu beherrschen. Bei einer gemeinen Natur führt solch Doppelwesen ost zur Unwahrheit; bei einer edlen häufig zum Unglücklichsühlen.

109 Dann wird aus der Affectation ein gewiffes Streben, und das Mißlingen, Andere zu täuschen, wird über dem Jammer mißlungener Selbsttäuschung vergessen. Die wenigen Worte, welche Orfino am Morgen der großen Kirchenfeier mit Maria Consuelo gewechselt hatte,

erinnerten ihn lebhaft an die angenehme Stunde, die er vor zehn Tagen mit ihr verlebt hatte, und er beschloß, sie sobald als möglich aufzusuchen. Er war mit sich unzu­ frieden und folglich auch mit allen, die er kannte; mit Vergnügen sah er der Unterhaltung mit einer anziehenden Frau entgegen, die keine vorgefaßte Meinung von ihm haben und ihn folglich nach seinem eigenen Werth schätzen konnte. Auch war er begierig, etwas Bestimmteres über fie in Erfahrung zu bringen. Sie hatte etwas Geheimniß­ volles, und das gefiel ihm. Sie hatte zugegeben, daß ihr verstorbener Mann von einer Verwandtschaft mit den Saracinescas gesprochen habe, aber er konnte nicht herausbe­ kommen, was es für einen Zusammenhang mit dieser Verwandtschaft hätte. Auch schien Spicca's höchst seltsame Bemerkung sich gewiffermaßen auf fie zu beziehen; in welcher Weise freilich, konnte Orfino nicht verstehen, er erinnerte sich aber, daß sie ihm gesagt, sie hätte schon von Spicca gehört. Ihr Mann war ohne Zweifel ein Italiener von spanischer Abkunft gewesen, aber fie hatte zu ihrer eigenen Nationalität keinen Schlüffe! gegeben, und ttotz ihres Namens, Maria Consuelo, sah sie durchaus nicht spanisch aus. Da in Rom sie Niemand kannte, war es unmöglich, Auskunft über sie zu erhalten. All' das war sehr interessant. Spät am Nachmittag des zweiten Januars ging also Orfino seinen Besuch machen und wurde in ein kleines Wohnzimmer im zweiten Stock des Hotels geführt. Der

HO Diener schloß hinter ihm die Thür, und Orfino befand sich allein. Eine Lampe mit einem hübschen Schirm brannte auf dem Tisch und daneben stand eine häßliche blaue Glas­ vase mit einigen Blumen, ganz gewöhnliche Rosen, aber frisch und duftig. Ein paar neue Bücher in gelbem Papierumschlag lagen auf der garstigen Plüschtischdecke, und daneben bemerke Orsino ein prachtvolles Papiermesser von ciselirtem Silber mit einem großen Monogramm aus Brillanten und Rubinen. Dieser Gegenstand bildete einen sonderbaren Gegensatz zu der sonstigen Umgebung und funkelte im Licht. Ein Lehnstuhl war an den Tisch ge­ rückt, ein greuliches Ding mit nagelneuem gelben Atlas bezogen. Ein kleines rothes Lederkifsen, wie man es wohl auf Reisen braucht, hing über der Rücklehne, es war in der Mitte eingedrückt, als ob Jemand vor kurzem den Kopf daran gelehnt hätte. Orsino bemerke all' diese Einzelheiten, während er auf Madame d'Aragona wartete, und sie waren für ihn nicht ohne Interesse, denn jede erzählte eine Geschichte, und die Geschichten standen mit einander im Widerspruch. Das Zimmer war nicht mit jenen zahllosen Kleinigkeiten angefüllt, welche die meisten Damen eine Stunde nach ihrer Ankunft in einem Hotel um sich ausbreiten. Und doch mußte Madame d'Aragona mindestens seit einem Monat in Rom sein. Das Zimmer roch weder nach Par­ füm noch nach Cigaretten, sondern nach den Rosen, was besser war, und etwas nach der Lampe, was bedeutend schlimmer war. Die einzigen Befitzthümer der Dame schienen drei Bücher, ein Reisekiffen und ein etwas zu elegantes Papiermeffer zu sein, und diese wenigen Gegenstände waren ganz neu. Er sah die Bücher an, sie waren erst kürzlich erschienen und nur eins ausgeschnitten. Das Kiffen hätte

111 am selben Tage gekauft sein können.

hatte

Kein Hauch

die polirte Schneide des silbernen Messers getrübt.

Eine Thür ging leise auf, und Orfino richtete sich auf, den schweren bunten Vorhang zurückschob.

als Jemand

Eine kleine dunkle Frau in mittleren Jahren mit nieder­ geschlagenen

Augen

und

kohlschwarzem Haar

trat einen

Schritt näher. „Die Signora wird gleich

italienisch

so leise,

vernehmen. schwunden,

In

kommen",

sagte sie auf

als fürchte sie ihre eigne Stimme zu

einem Augenblick war sie

eben so geräuschlos

wie sie

wieder ver­

gekommen war.

Dies war augenscheinlich die schweigsame Zofe, von der Gouache

gesprochen hatte.

denn sie hatte den

Ihre wenigen Worte hatten

daß sie aus Norditalien stammte,

Orsino kund gethan,

unverkennbaren Accent der Piemon­

tesen, deren eigentliche Sprache nur ihnen selbst verständ­ lich ist. Orsino machte sich darauf gefaßt, eine Weile zu warten, und meinte, die Botschaft könnte kaum ohne besondere Ab­

sicht gesandt worden sein.

Minute,

ehe

Allein es verging kaum eine

Maria Consuelo selbst erschien.

In

dem

matten Lampenlicht sah ihre weiße Haut sehr blaß und ihr

kastanienbraunes Haar fast roth aus.

Sie trug eines jener

unbeschreiblichen Gewänder, welches wir „Theekleid"

(tea-

gown) zu nennen belieben, und Orsino, der gerade so gut gelernt hatte, Kleider zu beurtheilen, wie er die lateinische

Grammatik gelernt,

und

sah, daß das Theekleid gut war und

die Spitzen ächt.

besonderen Eindruck.

Die Farben machten ihm

keinen

In der That waren sie dunkel und

bestanden aus einer Schattirung von Olivengrün.

Maria Consuelo sah ihren Besuch an und reichte ihm

die Hand, sagte aber nichts.

Sie lächelte nicht ein Mal,

112 und Orsino glaubte

schon,

er hätte einen ungünstigen

Augenblick für seinen Besuch gewählt.

„Es war sehr freundlich,

daß Sie mir erlaubten zu

kommen", sagte er und wartete, daß sie fich setzte. Noch immer sagte fie nichts.

Sie rückte das rothe

Lederkiffen behutsam an die ihr bequemste Stelle,

den Lampenschirm ein wenig,

drehte

wodurch die Richtung des

Lichtes natürlich nicht im mindesten verändert wurde, schob

eines der Bücher etwas weiter auf den Tisch und setzte sich endlich aus den Lehnstuhl.

Orfino setzte fich neben fie und

hielt seinen Hut auf dem Schooß.

Er wußte nicht recht,

ob fie seine Worte gehört hatte, oder ob sie etwa zu den

Leuten gehörte, die sehr schüchtern find, wenn kein Dritter dabei ist.

„Ich denke, es war sehr gut von Ihnen zu kommen" sagte fie endlich, als fie sich behaglich hingesetzt hatte.

„Ich wünsche, das Gute wäre immer so leicht",

ant­

wortete Orfino rasch. „Ist es Ihr Ehrgeiz, gut zu sein?"

fragte Maria

Consuelo lächelnd. „Es sollte so sein.

Doch das ist kein Beruf."

„Also glauben Sie nicht an Heilige?" „Nicht eher als bis fie kanonifirt und zu Glaubensartikeln

erhobenfind,—fallsSie nicht eineHeiligefind, gnädigeFrau."

„Ich habe daran gedacht, Maria Consuelo ruhig.

es zu versuchen", versetzte

„Heiligkeit ist ein Beruf,

selbst

in der Gesellschaft, was Sie auch dagegen sagen mögen.

Es hat seine Reize!" „Nicht gleich denen auf der andern Seite. Das giebt Jeder zu. Die Mehrheit stimmt entschieden für die Sünde,

und wenn wir an moderne Einrichtungen glauben sollen, müssen wir glauben, daß die Mehrheit recht hat."

113 „Dann hat ein Held immer Unrecht, denn er ist das begeisterte Einzelwesen, welches stets bereit ist, der Uebermacht entgegen zu treten, und wenn ihm Keiner wider­ spricht, ist er sehr unglücklich. Es giebt indeffen Helden" — „Wo?" fragte Orfino. „Die Helden, von denen die Leute reden, reiten auf Bronzerofsen, auf unzugänglichen Piedestalen. Wenn die Glocke zum Aufstand ruft, werden sie alle heruntergeworfen und neue an ihre Stelle gesetzt — ebenfalls von den besten Künstlern —, und die alten werden zu Kanonenkugeln umgegoffen, um die von ihnen aufgebrachten Ideen in Stücke zu schlagen. Das heißt Geschichte." „Sie haben eine heitere und ermuthigende Ansicht von der Weltgeschichte, Don Orfino." „Die Welt ist für uns geschaffen, und wir muffen sie nehmen, wie sie ist. Aber wir dürfen sie kritisiren. Das ist nicht wider die Abmachung." „Gegen den contrat social ? Wollen Sie mit mir über Jean Jacques sprechen?" „Haben Sie ihn gelesen?" „Keine Frau, die sich selbst achtet", — hub Maria Consuela an, das berühmte Vorwort citirend. »Ich sehe, Sie haben ihn gelesen", sagte Orsino lachend, „ich nicht!" „Ich auch nicht." „Zu Orfinos Ueberraschung erröthete Madame d'Aranjuez. Er hätte nicht sagen können, weshalb er sich darüber freute, noch weshalb ihr Wechseln der Farbe ihm so uner­ wartet kam. „Da wir von Geschichte sprechen", sagte er nach einer Keinen Pause, „warum dankten Sie mir gestern dafür, daß ich Ihnen eine Eintrittskarte besorgt hätte?" Cr^wford. Don Orsino.

I.

tz

114 „Hatten Sie nicht mit Gouache darüber gesprochen?" „Ich hatte ihm etwas davon gesagt, ich weiß nicht mehr recht was. Hatte er die Sache besorgt?" „Natürlich, ich hatte den Platz seiner Frau. Sie konnte nicht hingehen. Mögen Sie es nicht, daß man Ihnen für eine Gefälligkeit dankt? Sind Sie so be­ scheiden?" „Nicht im Geringsten, allein ich hasse Mißverständ­ nisse, obschon ich, ganz wie andere Leute, gern bereit bin, so viel Anerkennung wie möglich für das anzunehmen, was ich nicht gethan habe. Als ich gestern sah, daß Sie die Del Ferice kannten, dachte ich, sie hätte sich vielleicht darum bemüht." „Weshalb hassen Sie sie so?" fragte Maria Consuela. „Ich hasse sie nicht. Sie ist für mich nicht vorhan­ den — das ist alles." „Weshalb ist sie nicht vorhanden, wie Sie es nennen? Sie ist eine sehr gutmüthige Person. Sagen Sie mir die Wahrheit! Keiner kann sie leiden — ich sah das an der Art, wie sie gegrüßt wurde, während wir warteten. Warum denn? Es muß doch ein Grund dafür vorhanden sein. Ist sie — nicht ganz correct?" Orfino lachte. „Nein. Das ist der Punkt, bei dem das Vorhanden­ sein eher anfängt als aufhört." „Wie cynisch Sie sind! Das gefällt mir nicht. Er­ zählen Sie mir von Madame Del Ferice!" „Nun gut. Also erstens ist sie eine Verwandte von mir." „Im Ernst?" „Im Ernst. Das giebt mir natürlich ein Recht, das

ganze Wörterbuch von Schmähungen gegen sie in Anwen­ dung zu bringen."

115 „Natürlich. Werden Sie das thun?" „Nein. Sie würden mich cynisch nennen. Ich mag nicht, daß Sie schlecht von mir sprechen, gnädige Frau." „So? Ich dachte, das gefiele den Männern," sagte Maria Consuela ernst. „Man hört nicht gern unangenehme Wahrheiten." „Also ist es Wahrheit? Nun weiter. Sie haben vergeffen, worüber wir sprachen." „Durchaus nicht. Donna Tuüia, meine Cousine im zweiten, dritten oder vierten Grade, war einst mit einem gewiffen Mayer verheirathet." „Und verließ ihn? Wie intereffant!" „Nein, gnädige Frau. Er verließ sie — ganz plötz­ lich, glaube ich — und ging in eine andere Welt. Eine beffere oder eine schlechtere? Wer kann das sagen? Im Hinblick auf sein vergangenes Leben — schlechter, scheint mir; aber im Hinblick darauf, daß er Donna Tullia nicht mitzunehmen brauchte, entschieden besser." „Sie hassen Sie entschieden. Darauf heirathete sie

Del Ferice?" „Darauf heirathete sie Del Ferice, — noch

ehe ich

geboren wurde. Sie ist fabelhaft alt. Mayer hinterließ ihr ein großes Vermögen zu freier Verfügung. Del Ferice war ein unmöglicher Mensch. Mein Vater hätte ihn ein­ mal in einem Duell beinahe getödtet — ebenfalls vor meiner Geburt. Ich habe nie recht erfahren können, um was cs sich dabei handelte. Del Ferice war ein Spion; in den alten Zeiten, wo Spione in Rom ihren Unterhalt fanden" — „Aha! nun sehe ich die ganze Geschichte!" rief Maria Consuela. „DelFerice ist weiß und Sie find schwarz. Natürlich Haffen Sie sich. Mehr brauchen Sie mir nicht zu sagen." 8*

116 „Wie nehmen Sie das als erwiesen an?" „Ist es nicht ganz klar? Sprechen Sie mir nicht von Zuneigung und Abneigung, wenn Ihre abscheulichen Par­ teien etwas damit zu thun haben! Wenn ich überdies für eine der beiden Seiten Sympathie hätte, so wäre es für die Weißen. Aber die ganze Geschichte ist abgeschmackt, verwickelt, mittelalterlich, feudal, — alles, was Sie wollen, nur nicht vernünftig. Ihre Unduldsamkeit ist — unerträg­ lich. Votre tolerance est — intolerable.“ „Wahre Duldsamkeit sollte alles dulden, selbst Unduld­ samkeit," versetzte Orfino schneidig. „Das klingt wie ein Sprachkunststück." „In un piatto poco cupo poco pepe pisto cape“ — lachte Maria Consuela. La tolerable tolerance tolere la tolerable tolerance intolerablement — „Können Sie Italienisch?" fragte Orsino, überrascht durch ihr geläufiges Aussprechen des schwierigen Sprüchwortes, das sie angeführt hatte. „Weshalb sprechen wir dann eine fremde Sprache?" „Ich kann eigentlich nicht italienisch sprechen. Ich habe eine italienische Kammerfrau, die französisch spricht; von ihr habe ich das Sprüchwort gelernt." „Sonderbar — Ihre Kammerfrau ist eine Piemon­ tesin, und Sie haben eine gute Aussprache." „Wirklich? Das freut mich. Aber sagen Sie mir nun, ist es nicht lächerlich, daß Sie jene Leute so hassen, bloß weil es Weiße find? Sie können nicht leugnen, daß Sie es thun!" „Alles im Leben ist lächerlich, wenn man es vom entgegengesetzten Standpuntt anfieht. Wahnsinnige finden das größte Vergnügen daran, vernünftige Leute zu beob­ achten."

117 „Ah so! Natürlich sind Sie die Vernünftigen", bemerfte Maria Gonfuda. „Natürlich." „Was wird dann aus mir? Ich bin vermuthlich gar nicht vorhanden? Sie werden doch nicht so unhöflich sein, mich zu den Wahnsinnigen zu zählen?" „Sicherlich nicht. Sie werden sich natürlich zu den Schwarzen gesellen." „Um eben so unzufrieden zu sein wie Sie?" „Unzufrieden?" „Ja freilich. Befinden Sie sich nicht in völligem Widerspruch mit Ihrer Umgebung? Werden Sie nicht auf Schritt und Tritt durch ein Netzwerk alter Ueberlieferungen behindert, welche für Ihren Verstand keine Bedeutung haben, Ihnen aber aufgelegt sind, wie einem Pferde das Geschirr, und darin werden Sie täglich in Ihrem kleinen Kreise von langweiligen Vergnügungen oder Zerstreuungen Herum­ getrieben! Haffen Sie nicht den Corso wie ein Omnibus­ pferd ihn haßt? Sind Ihnen nicht die Gesichter all der Leute zuwider, welche Sie mit Erfolg daran hindern, Ihren eigenen Verstand, Ihre eigene Kraft, Ihr eigenes Herz zu gebrauchen? Man sieht es Ihnen an. Sie sind zu jung, um lebensmüde zu sein. Nein, nein, ich werde Sie nicht einen Knaben nennen, obschon ich älter bin als Sie, Don Orsino. Siewerden genugLeute innrer Umgebung finden, die Sie so nennen, — weil Sic noch nicht so gänzlich gezähmt und abgehetzt sind wie jene andern, — aus keinem andern Grunde. Sie sind ein Mann. Ich weiß nicht, wie alt Sie sind, aber Sie sprechen nicht, wie Jünglinge es in der Regel thun. Sie sind ein Mann, — seien Sie es ganz, seien Sie unabhängig, ge­ brauchen Sie Ihre Hände zu etwas Befferm, als anderer Leute Häuser mit Schmutz zu bewerfen, bloß weil sie neu sind!"

118 Orsino blickte sie verwundert an. Das war sicherlich nicht die Art von Unterhaltung, welche er erwartet hatte, als er das Zimmer betrat. „Sie wundem sich, daß ich so spreche," sagte sie nach einer kurzen Pause. „Sie find ein Saracinesca, und ich bin eine Fremde, heute hier und morgen fort, die Sie vielleicht niemals Wiedersehen werden. Es ist lustig, nicht wahr? Warum lachen Sie denn nicht?" Maria Consuela lächelte, und wie gewöhnlich schlossen sich ihre vollen rothen Lippen, sobald sie ausgesprochen hatte, eine Gewohnheit, die ihrem Lächeln etwas Eigen­ thümliches, halb Geheimnißvolles und Abgeschlossenes gab. „Ich finde dabei nichts zu lachen", versetzte Orfino. „Lachte der mythologische Mensch, dessen Namen ich vergeffen habe, als die Sphinx ihm ihr Räthsel aufgab?" „Das ist nun das dritte Mal in diesen Tagen, daß Sie oder Gouache mich mit der Sphynx verglichen haben. Allmälig hört es auf, originell zu sein." „Es fiel mir nicht ein, originell sein zu wollen. Ich war zu sehr dabei interesfirt. Ihr Räthsel ist die Frage meines Lebens." „Hier hört der Vergleich auf. Ich kann Sie nicht verschlingen, wenn Sie mein Räthsel nicht errathen oder meinen Rath nicht annehmen. Ich bin nicht gesonnen, so weit zu gehen." „War es ein Rath? Es klang mehr wie eine Frage." „Ich mag Niemanden fragen, wenn ich nicht sicher bin, eine Antwort zu erhalten. Außerdem mag ich mich nicht auslachen lassen." — „Was hat das mit der Sache zu thun? Wie können Sie sich etwas so Unmögliches nur denken?" „Im Grunde, — ist es vielleicht thörichter zu sagen:

119 ,Jch rathe Ihnen, dies und das zu thun', als zu fragen: .Warum thun Sie dies und das?' Rath ist stets unangenehm und der Rathgeber immer mehr oder minder lächer­ lich. Rath trägt seine Strafe in sich." „Ist das nicht cynisch?^ fragte Orfino. „Nein. Weshalb? Was ist das Schlimmste, das Sie Ihrem sozialen Feinde anthun können? Bewegen Sie ihn, Ihnen Rath zu ertheilen, befolgen Sie ihn — es schlägt

natürlich schlecht aus — dann sagen Sie: ,Jch dachte mir gleich, daß es so kommen würde, allein da Sie mir dazu riethen, so mochte ich doch nicht' — und so weiter! Das ist einfach und immer wirkungsvoll. Versuchen Sie es!" „Nicht um die Welt!" „Ich meinte nichtmitmir", sagteMariaConsuela lachend. „Nein, ich fürchte, es find noch andere Gründe vor­ handen, die es mir unmöglich machen werden, mir selbst einen Beruf zu schaffen," sagte Orfino nachdenklich. Maria Consuela sah ihm an, daß er die Sache ernst nahm, wie fie es sich schon gedacht hatte. Also ließ sie das Thema fürs erste fallen, um darauf zurückzukommen, falls das Gespräch stocken sollte. „Morgen werde ich Madame Del geriet besuchen", sagte fie, um auf etwas Anderes zu kommen. „Halten Sie das für nöthig?" „Wenn ich es wünsche! Zch habe nicht Ihre Gründe, fie zu meiden." „Ich habe Sie neulich beleidigt, gnädige Frau, nicht wahr? Sie erinnern sich — als ich Ihnen meine Dienste in Bezug aus die Gesellschaft anbot." „Nein — Sie haben mich belustigt", sagte Maria Con­ suela unverfroren und gab acht, wie er diese Abfertigung aufnehmen würde.

120 Allein trotz seiner Jugend war Orsino ihr an Selbst­ beherrschung gewachsen. „Das freut mich", sagte er, ohne die geringste Ver­ stimmung zu verrathen. „Ich fürchtete, es hätte Sie ge­

ärgert." Maria Consuela lächelte wieder, und ihre Kälte ver­ schwand. Die Antwort gefiel ihr und erregte ihr Jntereffe für Orsino in höherem Grade als fünfzig witzige Bemerkungen es gethan hätten; sie beschloß die Frage noch weiter zu ver­ folgen. „Ich will offen sein", sagte sie. „Das ist immer das Beste", antwortete Orsino und erwartete, daß etwas höchst Verwickeltes herauskommen würde. Sein Unglauben an dergleichen Redensarten war zwar anfangs erkünstelt gewesen, wurde aber immer tiefer. „Ja, ich will ganz offen sein", wiederholte sie. „Sie wünschen nicht, daß ich die Del Ferice und ihren Kreis kennen lerne, sondern daß ich Bekanntschaft mit Leuten mache, die Ihnen gefallen." „Das ist klar." „Weshalb soll ich nicht thun, was ich will?" Sie versuchte augenscheinlich, ihn zu einer thörichten Antwort zu verleiten, und er wurde desto vorsichtiger. „Es wäre sehr sonderbar, wenn Sie es nicht thäten," antwortete Orsino ohne Besinnen. „Warum das?" „Weil es Ihnen vollkommen frei steht, Ihre eigene Wahl zu treffen." „Und wenn Sie meine Wahl nicht billigen?" fragte sie. „Was soll ich darauf sagen, gnädige Frau. Meine Bekannten und ich werden dabei verlieren, nicht Sie." Orsino hatte seine Ruhe bewundernswerth bewahrt; er

121 ließ seinen Lippen kein übereiltes Wort entschlüpfen, noch eine Spur von Aerger auf seinem Gesicht erscheinen. Und doch hatte sie ihn in beinahe unhöflicher Weise gereizt. Sie schwieg einige Secunden; Orsino beobachtete unter­ dessen ihr Gesicht, das sie von ihm und der Lampe etwas abwendete. Eigentlich wunderte er sich, weshalb sie nicht in Bezug auf sich selbst etwas mittheilsamer wäre, und hätte gern gewußt, ob ihr Schweigen darüber auf dem Be­ wußtsein einer vollkommen gesicherten Stellung in der Welt beruhte, oder etwa auf der Thatsache, daß sie etwas zu verbergen hätte; bei diesem Gedanken gratulirte er sich, daß er nicht genöthigt worden, seiner ersten Absicht zu folgen und Madame d'Aranjuez mit seiner Mutter bekannt zu machen. Diese Ungewißheit gab der Bekanntschaft einen gewiffen Reiz. Er kannte schon genug von der Welt, um sicher zu sein, daß Maria Consuela in der Sphäre geboren und erzogen war, zu welcher es die Vorsehung gefallen hat, die gesellschaftlich Auserwählten zu berufen. Allein diese Auserwählten thun mitunter sonderbare Dinge und lassen sich dann nachher in fremden Städten nieder, wo ihre Thaten eine Zeit lang wenigstens verborgen bleiben. Nicht als ob es Orsino besonders darauf angekommen wäre, was diese Ausländerin für eine Vergangenheit gehabt haben mochte! Aber seine Mutter würde großes Gewicht darauf legen, wenn Orsino wünschen sollte, die geheimnißvolle Dame bei ihr einzuführen, und würde der Sache auf den Grund gehen, ehe sie sie in den Palast Saracinesca ein­ lüde. Donna Tullia dagegen hatte sich auf eigne Hand auf die Bekanntschaft eingelassen und augenscheinlich ange­ nommen, wenn Don Orsino Madame d'Aranjuez kannte, müffe diese in sozialer Hinsicht tadellos sein. Orsino be­ lustigte es, sich in Gedanken die Wuth der dicken Gräfin

122 vorzustellen, wenn es herauskäme, daß sie sich in diesem Punkt geirrt hätte. „Auch ich werde dabei verlieren", sagte Maria Consuela in verändertem Ton, „wenn ich eine schlechte Wahl treffe. Aber ich kann nicht zurück. Ich habe fie in meinem Wagen nach Hause gefahren. Sie schien Gefallen an mir zu finden" — sie lachte ein wenig. Orfino lächelte, als wolle er sagen, daß ihn das nicht Wunder nähme. „Und fie sagte, sie wollte mich auffuchen. Als Fremde mußte ich darauf bestehen, ihr den ersten Besuch zu machen, und ich bestimmte den Tag — oder vielmehr fie that das. Ich werde morgen hingehen." „Morgen? Dienstag ist ihr Empfangstag. Sie wer­ den all' ihre Bekannten bei ihr finden." „Wollen Sie damit sagen, daß die Leute in Rom noch Empfangstage haben?" Das schien Maria Consuela nicht zu gefallen. „Einige, — nur wenige. Die meisten ziehen es vor, an einem Abend in der Woche zu Hause zu sein." „Was für Leute find Frau Del Ferices Bekannte?" „Vortreffliche Leute." „Weshalb find so vorsichtig?" „Weil Sie'nächstens dazu gehören werden, gnädige

Frau." „So? Nun ich will aber nicht eine neue Reihe von Fragen beginnen. Sie find zu schlau; ich würde von ihnen nie eine unumwundene Antwort herausbekommen." „Nicht auf diese Weise", antwortete Orfino mit einer Offenheit, über welche die Dame lächelte. „Wie denn sonst?" „Ich denke, das müßten fie recht gut wiffen", versetzte

123 er ernst und heftete seine jungen schwarzen Augen mit einem Ausdruck auf sie, bei dem sie die ihrigen halb schloß„Ich glaube, Sie würden einen guten Schauspieler abgeben", sagte sie leise. „Unter der Bedingung, daß ich in den Zwischenacten aufrichtig sein könnte." „Das klingt gut; vielleicht etwas doppelsinnig. Ihre Aufrichtigkeit könnte oder könnte auch nicht dieselbe Richtung nehmen, wie die von . Ihnen gespielte Rollen." „Das würde nur auf Sie ankommen, gnädige Frau." Dieses Mal machte Maria Consuela ihre Augen weit auf, anstatt sie zu schließen. „Es fehlt Ihnen nicht — wie soll ich sagen? — an einer gewissen Sicherheit. Sie verlieren nicht Ihre Zeit!" Sie lachte fröhlich, und Orfino stimmte mit ein. „Wir sind jetzt im Zwischenact", sagte er. „Morgen geht der Vorhang auf, und Sie gehen ins feindliche Lager." „Kommen Sie mit!" „In Ihrem Wagen? Mit Wonne!" „Nein. Sie wissen, daß ich das nicht meine. Kom­ men Sie mit ins feindliche Lager! Es wird sehr amü­ sant sein." Orsino schüttelte den Kopf. „Lieber sterben — womöglich zu Ihren Füßen, — gnädige Frau." „Fürchten Sie sich vor einem Besuch bei der Gräsin Del Fericc?" „Mehr wie vor dem Tode!" „Wie können Sie das sagen?" „Der Zustand im künftigen Leben ist ungewiß, da könnte es für mich noch Hoffnung geben. Ueber das, was

124 geschehen würde,

wenn ich Madame Del Ferice besuchte,

kann kein Zweifel sein."

«Ist Ihr Vater so streng gegen Sie?" fragte Maria Consuela nicht ohne Hohn.

„Ach! gnädige Frau, ich bin nicht empfindlich gegen

Spott", versetzte Orsino ungerührt.

„Ich gebe zu, daß das

ein Mangel in meinem Character ist." Maria Consuela hatte gehofft, eineu schwachen Punkt herauszufinden, und hatte sich geirrt, obschon es deren viele

in der Rechnung des Zünglings gab.

wenig,

Sie ärgerte sich ein

erstens über ihren Mangel an Urtheil, und dann

auch weil es ihr Vergnügen gemacht haben würde, Orsino

in

ihm so gänzlich fremden Element,

einem

wie Donna

Tullias Kreis, zu sehen.

„Und giebt es nichts, was Sie bewegen könnte, hin­ zugehen?" fragte sie.

„Bis jetzt — nichts", antwortete Orsino kalt.

„Bis

jetzt



aber in der Zukunft alle

denkbaren

Möglichkeiten?"

„Zch werde zweifellos hingehen.

Nur das Unvorher­

gesehene geschieht unvermeidlich."

„Das denke ich auch."

„Natürlich. beweisen, lachend,

Ich will die Wahrheit des Sprüchworts

indem ich mich Ihnen empfehle",

indem er aufstand.

dessen zu der Ueberzeugung gekommen sein,

mals gehen würde.

sagte Orsino

„Denn Sie müssen unter­ daß ich nie­

Das Unvorhergesehene geschieht.

Ich

gehe." Maria Consuela hätte es gern gesehen, wenn er noch länger geblieben wäre;

sie,

denn er amüsirte und interessirte

und sie sah dem langen

nicht mit Vergnügen entgegen.

einsamen Abend

im Hotel

125 „Ich bin gewöhnlich um diese Stunde zu Hause", sagte sie, indem sie ihm die Hand reichte. „Also — Sie erlauben mir? — Besten Dank! Guten Abend, gnädige Frau." Ihre Augen begegneten sich einen Augenblick, und dann verließ Orsino das Zimmer. Als er unter der Thür des Hotels seine Cigarette anzündete, sagte er sich, daß er diese Stunde nicht verloren hätte, und empfand die innere Befriedigung, welche jeder junge Mann fühlt, wenn er sich sagt, daß er sich allein in Gegenwart einer Dame von seiner besten Seite gezeigt hat. Jugend ohne Eitelkeit ist im Grunde nur verfrühtes Alter. „Sie ist entschieden mehr als hübsch;" sagte er sich, indem er kritisiren wollte, während er doch schon überzeugt war. „Ihr Mund ist fabelhaft, aber gut geformt, und alles Uebrige ist vollkommen, — nein, die Nase ist unbe­ deutend, eines der gelben Augen schielt ein wenig. Das find nicht Vollkommenheiten. Aber was schadet es? Das Ganze ist reizend, wie auch das Einzelne sein mag. Ich wünsche, sie ginge nicht morgen zum Thee zu der gräßlichen dicken Person." Dieser Art waren die Bemerkungen, welche Don Orsino bei sich machte, indeffen enthielten sie nicht alles, was er fühlte, denn sie nahmen keine Notiz von der außerordent­ lichen Befriedigung darüber, daß er zu Maria Consuela gut gesprochen hatte, und diese überwog in dem Augenblick

eigentlich jedes andere Gefühl. Er war zur Genüge an Beachtung gewöhnt, obschon er nur während der Winter­ ferien in den letzten beiden Jahren etwas von den Ver­ gnügungen der Gesellschaft gekostet hatte. Nicht umsonst war er die beste Partie auf dem römischen Heirathsmarkt; auch war er sich seiner Vorzüge in dieser Hinsicht voll-

126 kommen bewußt. Er schätzte seinen Werth als heirathssähiger junger Mann in der scharfsichtigen, geschäftsmäßigen Weise, welche der heutigen jungen Generation eigen ist, und irrte sich nicht in seiner Schätzung. Ihm wurde es auf Schritt und Tritt hinlänglich klar gemacht, daß er nur zu fordern hatte, um zu empfangen. Allein er hatte nicht im mindesten die Absicht, sich mit einundzwanzig Jahren zu verheirathen, wie es einige seiner Schulkameraden thaten, und er war verständig genug, vorauszusehen, daß seine Eigenschaft als wünschenswerther Schwiegersohn ihm bald mehr Verdruß als Vergnügen bereiten würde. Madame dÄranjuez wußte ohne Zweifel, daß sie ihn nicht heirathen konnte, selbst wenn sie es gewollt hätte. Sie war mehrere Jahre älter als er, — diese Thatsache gestand er halb widerwillig ein, — sie war Wittwe und schien keine besondere Stellung in der Gesellschaft einzu­ nehmen. Das waren vortreffliche Gründe gegen eine Heirath, aber eben so vortreffliche Gründe, um sich darüber zu freuen, daß er einen günstigen Eindruck auf sie gemacht hatte. Er ging rasch durch das Straßengewühl und warf ge­ legentlich einen Blick auf die Vorübergehenden und auf die glänzend erleuchteten Ladenfenster. Er ging an der Thür des Clubs vorüber, wo er schon wegen seines ge­ wagten Spiels bekannt war, und vergaß ganz, daß eine Menge junger Leute wahrscheinlich eine Stunde vor dem

Essen am Spieltisch zubrachten, eine Thatsache, die er schwerlich vergessen hätte, wenn er nicht mit ungewöhnlich angenehmen Gedanken beschäftigt gewesen wäre. Es be­ durfte nicht der Aufregung des Baccarat, noch der An­ regung durch Cognac und Sodawaffer, denn sein Gehirn war schon genügend aufgeregt und angeregt, obwohl er sich

127 dessen nicht so recht bewußt war. Es wurde ihm erst klar, als er plötzlich vor dem Aufgang zum Capital auf dem düstern Platze Ara Coeli stand und sich verwundert fragte, was in aller Welt ihn so weit vom Wege abgebracht hatte. „Was bin ich für ein Narr!" rief er ungeduldig, als er sich umdrehte und in der Richtung nach Hause weiter­ ging. „Und dennoch sagte sie mir, ich würde einen guten Schauspieler abgeben. Es heißt aber, ein Schauspieler sollte sich nie von seiner Rolle sortreißen taffen." Abends war er bei Tische abwechselnd gesprächig und dann wieder sehr schweigsam. „Wo bist Du heute gewesen, Orsino?" fragte sein Vater und sah ihn forschend an. „Ich war eine halbe Stunde bei Madame d'Aranjuez, und dann ging ich spazieren," antwortete Orsino mit ab­ sichtlicher Gleichgültigkeit. „Wie ist sie?" fragte Corona. „Gescheut — wenigstens für Rom." Es lag eine eigenthümliche Schärfe in der Antwort. Der alte Saracinesca blickte mit seinen scharfen Augen aus, ohne den Kopf zu erheben, und starrte seinen Enkel an. Er war von seinem hohen Alter etwas gebeugt. „Der Junge ist verliebt!" ries er plötzlich aus, und ein noch immer volltönendes schallendes Gelächter folgte diesen Worten. Orsino gewann seine Fassung wieder und lächelte gleichmüthig. Corona blieb die übrige Zeit bei Tische in Gedanken versunken.

128 Siebentes Kapitel. Das Jugendleben der Fürstin Sant' Ilario war durch die großen Characterbildner, Schmerz und Glück, stark be­ einflußt worden. Sie hatte schmerzlich gelitten, fie hatte ihre Prüfungen mit seltenem Muth ertragen, und ihr Lohn, wenn man es so nennen kann, war sehr groß gewesen. Sie hatte die Welt gesehen und gründlich kennen gelernt, und diese Kenntniß war ihr im friedlichen Wohlergehen späterer Jahre nicht verloren gegangen. Mit unvergleich­ licher Schönheit begabt und mit einer starken leidenschaft­ lichen Natur, die sich unter einem merkwürdig kalten und ruhigen Aeußern verbarg, war sie vor vielen Gefahren durch die seltenste aller gewöhnlichen Eigenschaften, ge­ funden Menschenverstand, bewahrt worden. Sie hatte nie für geistreich gegolten, ihre Unterhaltung war nie beson­ ders glänzend gewesen, wegen ihrer Vorurtheile inbetreff ihrer Lecture hatte man sie sogar für altmodisch erklärt. In kritischen Augenblicken aber hatte ihr Urtheil sic selten im Stich gelassen. Nur einmal erinnerte sic sich ein großes Versehen gemacht zu haben, dessen plötzliche, ganz uner­ wartete Folgen beinahe ihr Lebensglück zerstört hätten. Allein in diesem Falle hatte fie sich von ihrem Herzen leiten losten; der Ruf eines unschuldigen Mädchens hatte auf dem Spiel gestanden, und sie hatte vorschnell eine Verant­ wortlichkeit auf sich genommen, die selbst für die Liebe zu schwer zu tragen war. Jene Zeiten waren längst vorüber; zwanzig Jahre lagen zwischen Corona, der Mutter von vier stattlichen Söhnen, und der Corona, die ihr Alles aufs Spiel gesetzt hatte, um die arme kleine Flavia Montevarchi zu retten. Allein auch sie wußte wohl, daß ein solch' beständiges

129 wolkenloses Glück nicht eine ganze Lebenszeit währen konnte, und hatte sich, eigentlich bei dem Gedanken lachend, dazu gebracht, an die Zeit zu denken, wo Orsino kein Knabe mehr sein und der Welt voll Haß und Liebe entgegentreten würde, durch welche die meisten hindurch müssen, und die jeder Mann kennen lernen muß, um in der That ein Mann zu werden. Leute, deren Leben voll von romantischen Ereigniffen ist, find nach meiner Anficht nicht immer Personen von romantischem Temperament. Romantik kommt, wie Macht, ungerufen, und die am meisten danach suchen, finden fie oft am wenigsten. Und der Grund ist einfach genug. Ein gemüthvoller Mensch wählt nicht immer in seiner Umgebung nach Zuneigung, von der sein Herz fich nähren kann, eben so wenig wie ein starker Mann fich dazu getrieben fühlt, jede Last aufzuheben, die er sieht, oder mit Jedem zu kämpfen, der ihm in den Weg kommt. Die Leute, welche von Andern romantisch genannt werden, find sich deffen selten bewußt. Sie find gewöhnlich viel zu sehr mit dem einen großen Gedanken beschäftigt, welcher ihre besten und tapfersten, wie ihre unbedeutendsten Handlungen ihnen selbst ganz alltäglich erscheinen läßt. Corona del Carmine, die fich in frühester Jugend heldenmüthig selbst zum Opfer gebracht, um ihren Vater zu retten, und die einige Jahre später ein unschätzbares Glück aufs Spiel gesetzt hatte, um ein thörichtes Mädchen zu schützen, war sich in ihrem ganzen Leben keiner einzigen romantischen Regung bewußt ge­ wesen. Sie war von Natur seelenstark und hingebend, doch ohne Phantasie, und folgte auch in weltlichen Ange­ legenheiten meistens dem Zuge ihres Herzens. Zu ihrer eignen Ueberraschung fand fie, daß sie jetzt in ihren Träumen für Orsinos Zukunft anfing romantisch Gramsotb, Don Orsino. I. 9

130 i

zu werden. Alle möglichen Ideen, über die sie in ihrer Jugend gelacht haben würde, fuhren ihr durch den Kopf. Sie sann sich für ihren ältesten Sohn ein Leben aus, welches, wie sie wohl wußte, sich nicht verwirklichen ließ; aber es hatte für sie einen neuen und eigenartigen Reiz. Sie plante für ihn das allerhöchste Glück und zwar von einer Art, die seine mehr modernen Neigungen kaum befriedigt haben dürfte. Sie dachte sich ein Mädchen von unbeschreiblicher Schönheit, zu unerreichbarer Vollkommen­ heit ausgebildet, mit unvergleichlicher Fürsorge in einem idealen Heim behütet. Dieses Phantasiegebilde, und keine Andere, sollte Orsino vom ersten Ersehen bis an sein Lebensende lieben und sie, trotz aller Hindernisse, wie sie selbst den unvergleichlichen Giovanni hätten schrecken können, für sich gewinnen. Dieses strahlende Geschöpf sollte na­ türlich auch Orsino mit mehr engelgleicher als menschlicher Zuneigung lieben, doch nicht zu schnell, nicht leichtsinnig, damit Orsino sie nicht zu leicht erringen, sondern sie nach Verdienst schätzen sollte. Dann sah sie die beiden Verlobten neben einander auf schattigem Rasen und mondbeglänzter Terrasse wandeln, in so vollkommen schöner Vertrautheit, wie sie ihnen unter den in ihren Gesellschaftskreisen ob­ waltenden Verhältnissen sicherlich nie beschieden sein konnte. Aber darauf kam es wenig an. Das Werben, das Errin­ gen des herrlichen Mädchens, die Ehe mit ihr — das sollte der Inhalt von Orsinos Leben sein, und fünzig bis sechzigJahre idyllischen Glückes der Lohn ihrer gegenseitigen innigen Liebe. Hatte sie selbst nicht zwanzig solcher Jahre verlebt? Weshalb sollte denn nicht auch alles Uebrige möglich sein? Diese Träume kamen und schwanden, und sie war zu vernünftig, um nicht darüber zu lachen. So war Gio-

131 vannis Jugend nicht gewesen, noch auch die andrer Männer, die ihm nach ihrer Ansicht auch nur im Geringsten ähnlich waren. Giovanni war weit umhergeschweift, hatte viel gesehen und gewiß mehr als einer flüchtigen Leidenschaft nachgegeben, ehe er dreißig Jahr alt geworden und Corona geliebt hatte. Giovanni würde sie auslachen, wenn sie ihm ihren Traum von dem jungen schönen heiligen Paar erzählte; und sein Lachen würde aufrichtiger klingen als das ihre. Dennoch verfolgten sie diese Träume, wie sie so manche liebende Mutter verfolgt haben, seit Althäa den Feuerbrand aus den Flammen riß, an dem Meleagers Leben hing, und die Funken daran erstickte und ihn unter ihren theuersten Schätzen verbarg. Im greüen Licht des Tages, angesichts wirklicher That­ sachen, mögen solche Dinge thöricht erscheinen. Der Ge­ danke ist darum nicht minder edel. Der Traum von reiner Liebe, das Gebild eines makellosen Jünglings und eines unschuldigen Mädchens, die Herrlichkeit ungebrochner Treue, von Mann und Weib in heiligem Ehestand bewahrt, der Stolz eines fleckenlosen Namens und Geschlechtes, — all' diese Dinge sind darum nicht minder erhaben, weil in der Kraft einer großen Sünde eine Erhabenheit ist, die unserer Theilnahme näher liegen kann, da Sündigen unserer Schwäche näher liegt. Als der alte Saracinesca unter seinen buschigen Augen­ brauen ausschaute und lachte und sagte, sein Enkel sei ver­ liebt, dachte er sich eben so wenig dabei, als wenn er ge­ sagt hätte, Orsino sproßte der Bart, oder Giovannis Bart finge an zu ergrauen. Aber Coronas schöne Luftschlösser bekamen einen Stoß, und obwohl sie sich bemühte, sie wieder aufzubauen, verloren sie doch von Stund' an ihre Wirklichkeit für sie. Die einfache Thatsache, daß mit ein9*

132 i

undzwanzig Jahren der Knabe ein Mann ist, wenn auch noch ein sehr junger, wurde ihr plötzlich klar; und zugleich trat ihr eine andere, ihren Idealen noch feindlichere That­ sache entgegen, nämlich daß ein Mann durch keinen per­ sönlichen Einfluß davor behütet werden kann, sich zu ver­ lieben, wie, wann und wo er will. Das wußte sie recht gut, und die Vermuthung, seine erste jugendliche Leiden­ schaft könnte Madame d'Aranjuez gelten, war keineswegs tröstlich. Corona nahm sofort an der Dame einen Antheil, den sie zuvor nicht empfunden hatte, und der nicht durch­ aus freundlich war. Erstens schien es ihr nöthig, etwas Bestimmtes über Maria Consuela in Erfahrung zu bringen,, und es war nichts Leichtes. Sie theilte ihrem Mann diesen Wunsch mit, als sie Abends allein waren. „Ich weiß gar nichts von ihr", sagte Giovanni, „und kenne auch Keinen, der etwas von ihr weiß. Es ist ja im Grunde auch ganz unwichtig." „Wenn er sich aber ernstlich in diese Frau verliebt." „Wir wollen ihn eine Reise um die Welt machen lassen. Das kurirt in seinem Alter alles. Wenn er zurück­ kommt, wird Madame d'Aranjuez in das unbekannte Chaos zurückgesunken sein, aus dem Orsino sie heraus­ beschworen hat." „Sie sieht mir nicht danach aus, als ob sie im richtigen Augenblick verschwinden würde," sagte Corona zweifelnd. Giovanni fühlte sich in diesem Augenblick körperlich und geistig so recht behaglich. Es war spät. Der alte Fürst hatte sich in seine Gemächer zurückgezogen; die Kinder waren im Bett und Orsino vermuthlich in einer Gesellschaft oder im Club. Sant' Ilario genoß die Freude,

133 eine Stunde allein in Gesellschaft seiner Frau zuzu­ bringen. Sie saßen in Coronas altem Boudoir, einem Zimmer, an das sich für Beide viele Erinnerungen knüpften. Er wollte sich nicht aufregen lassen und erwiderte nichts auf die Be­ merkung seiner Frau. Darauf wiederholte sie dieselbe in anderer Form. „Frauen, wie die, verschwinden nicht, wenn man sie los sein möchte," sagte sie. „Was bringt Dich auf den Gedanken?" sagte Gio­ vanni mit der unerschütterlichen Ruhe eines Mannes, der keine Luft hat, einen unangenehmen Gedanken in sich auf­ zunehmen. „Ich weiß es", sagte Corona, stützte ihr Kinn aus die Hand und sah ins Feuer. Giovanni ergab sich bedingungslos. „Du hast wahrscheinlich recht, liebe Frau. Du hast immer recht in Bezug auf andere Leute." „Nun — dann mußt Du doch die Wichtigkeit meiner Worte einsehen", sagte Corona, ihren Sieg verfolgend. „Natürlich, selbstverständlich," antwortete Giovanni und blickte mit einem Auge durch die ausgestreckten Finger nach dem Feuer. „Aber so wach doch auf!" rief Corona, ergriff seine Hand und zog sie an sich. „Orsino macht wahrscheinlich in diesem Augenblick der Madame d'Aranjuez den Hof." „Dann will ich seinem Beispiel folgen und Dir den Hof machen, Geliebte. Ich könnte nichts Besseres thun, das weißt Du, und Du Pflegtest zu sagen, ich verstände es sehr gut." Corona lachte mit ihrer sanften tiefen Stimme. „Orsino ist wie Du. Das macht mir Angst. Er

134 wird nur zu gut den Hof machen. Nimm es ernst, Gio­ vanni, bedenke, was ich sage." „Dann wollen wir die Frage aus sich beruhen lasten, aus dem einfachen Grunde, da nichts dabei zu thun ist. Wir können diese gute Dame nicht aus Rom ausweisen und Orfino nicht in sein Zimmer einschließen. Einem Jungen sagen, er solle seine Neigung nicht einer gewiffen Richtung zuwenden, heißt Ladung in eine Flinte stopfen und dann erwarten, daß sie nicht auf demselben Wege herauskomme. Je fester man sie einpfropft, desto lauter ist der Knall — das ist alles. Ermuthige ihn, und ihm wird die Geschichte vielleicht langweilig. Lege ihm Hinderniste in den Weg, und er wird unbequem heroisch." „Ich glaube, das ist wahr," sagte Corona. „Dann bringe aber wenigstens heraus, wer die Frau ist!" setzte sie nach einer Pause hinzu. „Ich will's versuchen", sagte Giovanni. „Ich will so­ gar so weit gehen, täglich eine Stunde im Club zuzu­ bringen, wenn das etwas helfen kann, und Du weißt, wie mir der Club zuwider ist. Aber wenn irgend etwas über sie bekannt ist, so würde es dort sein." Giovanni hielt Wort und verwendete in den nächsten Tagen mehr Energie auf feine Erkundigungen nach Ma­ dame d'Aranjuez, als er seit langer Zeit irgend einer An­ gelegenheit, die mit der Gesellschaft in Verbindung stand, zugewendet hatte. Es vorging fast eine Woche, ehe seine Bemühungen Erfolg hatten. Eines Nachmittags war er zu früher Stunde im Club und las die Zeitung, nur drei oder vier andere waren außer ihm zugegen, unter ihnen Frangipani und Montevarchi, der früher unter dem Namen Ascanio Bellegra bekannt gewesen war. Ferner war ein junger Ausländer

135 da, ein Diplomat, der, wie Sant' Ilario, die Zeitung las, vermuthlich um Stoff zu einem Gespräch bei seinem nächsten Besuch zu finden. Plötzlich stieß Giovanni auf die Schilderung eines Diners und Empfangsabends bei Del Ferices. Der Ar­ tikel war in dem üblichen blühenden Stil geschrieben, mit großmüthiger Freigebigkeit in Verleihung von Titeln an unbekannte Personen. „Der Mittelpunkt des Ganzen*, sagte der Berichterstatter, „war eine wunderschöne spanische Prinzessin, Donna Maria Consuela d'A—z d'A—a, in deren räthselhasten Augen sich das göttliche Feuer tausend­ facher Triumphe wiederspiegelte und die aufs reizendste in olivengrünem Damast gekleidet." — — „SD! das ist's also?" ries Sant' Ilario laut und in dem eigenthümlichen Ton eines Zeitungslesers, der etwas Interessantes entdeckt hat. „Was denn?" fragten Frangipani und Montevarchi in einem Athem. Der junge Diplomat schaute mit fra­ gendem Blick auf. Sant' Ilario las den Absatz laut vor. Alle drei hörten zu, als ob das Geschick von Königreichen von den darin berichteten Thatsachen abhinge. „Recht nach den Zeitungen!" rief Frangipani. „Ver­ muthlich giebt es gar keine solche Person. Giebt es eine, Ascanio?" Montevarchi war immer ein unbedeutender Mensch gewesen; es hieß, er steckte jetzt tief in Bauspeculationen, wie sie an der Tagesordnung waren. Auf einerlei aber war er mit Recht stolz; er war eine anerkannte Autorität auf dem Gebiete der Genealogie. Das war seine Leiden­ schaft, und Niemand bestritt seine Kenntniß oder seine Entscheidung darin. Er streichelte seinen blonden Bart,

136 sah aus dem Fenster, zwinkerte ein paar Mal mit seinen blauen Augen und gab dann seinen Spruch ab. „Es giebt solch eine Person nicht", sagte er ernst. „Bitte um Verzeihung, Fürst", sagte der junge Diplo­ mat. „Ich habe sie kennen gelernt. Sie existirt." „Mein lieber Freund", antwortete Montevarchi, „ich bezweifle nicht das Vorhandensein der Dame als solche, und es würde mir sicherlich nicht einfallen, Ihnen zu widersprechen, selbst wenn ich den geringsten Grund dazu hätte, was, wie ich sofort sagen will, nicht der Fall ist. Auch möchte ich, wenn sie eine gute Bekannte von Ihnen ist, nichts weiter über die Sache sagen. Aber ich habe mich etwas für Genealogie interefsirt und besitze eine be­ scheidene Bibliothek — nur etwa zweitausend Bände —, welche lediglich aus Werken über diesen Gegenstand besteht, ich habe sie alle durchgelesen und einige sorgfältig mit An­ merkungen versehen. Ich brauche wohl nicht erst zu sagen, daß sie alle zu Ihrer Verfügung stehen, falls Sie Nach­ forschungen anstellen wollen." Montevarchi hatte viel von der Art und Weise seines ermordeten Vaters an sich, nicht aber die geistige Kraft des alten Herrn. Der junge Botschaftssecretär war etwas entsetzt bei dem Gedanken, zweitausend Bände zu durch­ forschen, um Madame d'Aranjuez' Identität festzustellen. „Ich meine ja nur, daß ich mit der Dame zusammen­ gewesen bin", sagte der junge Mann. „Sie haben natürlich recht. Ich habe keine Idee, wer sie eigentlich sein mag. Ich habe sonderbare Geschichten von ihr gehört." „So?" fragte Sant' Ilario mit erneutem Interesse. „Ja, sehr sonderbare." Er hielt inne und sah sich um, um sich zu vergewiffern, daß sonst Niemand im Zim-

137 wer wäre. „Zwei verschiedene Geschichten werden von ihr erzählt. Die erste lautet so: Sie ist eine südamerikanische Primadonna, die nur wenige Monate, erst in Rio de Ja­ neiro und dann in Buenos Ayres, gesungen hat. Ein Italiener, der dorthin ausgewandert war und ein Vermögen gemacht hatte, heirathete fie von der Bühne weg. Auf der Ueberfahrt nach Europa fiel er leider über Bord, und fie erbte all sein Geld. Es heißt, fie allein war Zeugin des Vorfalles. Der Mann hieß Aragno; sie verdrehte den Namen und machte Aranjuez daraus, dann veränderte fie ihn nochmals und entdeckte, er müsse Aragona geschrieben werden. Das ist die erste Geschichte. Sie klingt jeden­ falls gut." „Sehr gut", sagte Sant' Ilario lachend. „Ein höchst interessantes Blatt in der Genealogie, wenn sie Jemand heirathen sollte", sagte Montevarchi und merkte sich all' die Thatsachen. „Wie lautet die andere Geschichte?" fragte Frangipani. „Die andere Geschichte ist viel weniger klar und genau. Danach wäre sie die Tochter einer gewifien königlichen Person und einer polnischen Gräfin. In solchen Geschichten kommt immer eine polnische Gräfin vor! Sie ist gar nicht verheirathet gewesen. Der königliche Vater ließ sie in einem Kioster.erziehen und hat sie jetzt mit einem schönen, von ihm selbst erfundenen Namen in die weite Welt hinausgesandt, reichlich mit Geld versehen und auch mit Documenten, welche sich auf ihre Verbindung mit dem imaginären Aran­ juez beziehen, und durch eine Art Leibgarde von Dienern und Duennen beschützt, welche niemals öffentlich erscheinen. Sie soll natürlich eine große Partie machen und ist nach Rom gekommen, um diesen Plan auszuführen." „Auch dies ist eine hübsche Geschichte."

138 „Noch interessanter als die andere", sagte Montevarchi. „Diese Streiflichter der Genealogie, diese Nebenkreise könig­ licher Geschlechter, wenn ich sie so nennen darf, haben für den Forscher ein tiefes Interesse. Ich will mir eine Notiz darüber machen." „Natürlich bürge ich nicht dafür, daß an den beiden Geschichten ein wahres Wort sei", bemerkte der junge Diplomat. „Die erste erscheint mir minder unwahrschein­ lich als die zweite. Ich habe sie gesehen und mit ihr ge­ sprochen, und sie ist sicherlich nicht weniger als fünfund­ zwanzig Jahre alt. Sie kann sogar älter fein. Jedenfalls ist sie zu alt, um erst eben aus dem Kloster Herausgelaffen zu sein." „Vielleicht hat man sie schon seit einigen Jahren frei herumlaufen lassen", bemerkte Saut' Ilario, indem er von ihr wie von einem gefährlichen wilden Thiere sprach. „Dann würden wir von ihr gehört haben", wendete der Andere ein. „Sie ist eine Persönlichkeit, die sich be­ merkbar macht und überall auffällt." „Also neigen Sie zu dem Glauben, daß sie den Signor Aragno in der Gegend des Aequators ruhig ins Waffer fallen ließ?" „Die wahre Geschichte mag von den beiden, die ich Ihnen erzählt habe, ganz verschieden fein." „Und sie ist eine Freundin der armen alten Donna Tullia!" rief Montevarchi in bedauerndem Ton. „Das thut mir leid. Um ihrer Geschichte willen wäre ich bei­ nahe so weit gegangen, ihre Bekanntschaft zu machen." „„Wie die Del Ferice toben würde, wenn sie hörte, daß Sie sie die arme alte Donna Tullia.nennen!" bemerkte Frangipani. „Ich besinne mich, wie sie auf unserm Ball tanzte, als ich mündig wurde!"

139 „Das ist lange her, Filippo!" sagte Montevarchi nach­ denklich, „sehr lange her! Wir waren alle ein Mal jung, Filippo — aber Donna Tullia gehört jetzt wirklich nur in einen Glaskasten in einem naturhistorischen Museum." Die Bemerkung war nicht neu und schon längere Zeit im Umlauf. Aber die drei Männer lachten doch darüber, und Montevarchi freute sich über ihren Beifall. Er und Frangipani geriethen in ein Gespräch und Sant' Ilario nahm wieder seine Zeitung zur Hand. Als der junge Diplomat die seine hinlegte und fortging, folgte Giovanni ihm, und sie verließen zusammen den Club. „Haben Sie Grund zu glauben, daß mit dieser Ma­ dame d'Aranjuez nicht alles in Ordnung ist?" fragte Sant' Ilario. „Nein. Solche Geschichten find gewöhnlich erfunden. Sie ist nicht bei Hofe vorgestellt worden, — doch das hat hier nichts zu bedeuten. Und ihre Nationalität wird an­ gezweifelt, — doch Keiner hat sie direct darum befragt." „Darf ich Sie fragen, wer Ihnen jene Geschichten erzählt hat?" Das Gesicht des jungen Mannes wurde plötzlich völlig ausdruckslos. „Das habe ich wirklich ganz vergeffen", sagte er. „Es wurde so im Allgemeinen über sie gesprochen." Sant' Ilario dachte sich mit Recht, daß der junge Mann die Geschichten von einer Dame gehört hätte und wahrscheinlich von einer, sür die er sich besonders interessirte. Discretion ist so selten, daß der Grund dafür leicht zu errathen ist. Giovanni verabschiedete sich von dem jungen Manne und ging in entgegengesetzter Richtung weiter; er sann über einen diplomatischen Kunstgriff nach, der eigentlich seiner Natur ganz fremd war. Er nahm

140 sich vor, den jungen Mann in der Gesellschaft zu beob­ achten, um herauszubekommen, wer die betreffende Dame sein könnte. Jedem Andern als ihm wäre es klar gewesen, daß er bei seinem jetzigen Verfahren nichts besonders Wiffenswerthes herausbekommen konnte. „Gouache", sagte er, als er eine Viertelstunde später das Atelier das Künstlers betrat, „kennen Sie Madame d'Aranjuez?" „Das ist alles, was ich von ihr kenne", antwortete Gouache, indem er auf Maria Consuelas Bild wies, welches in einem antiken Rahmen vollendet vor ihm auf der Staffelei stand. Er hatte eben noch daran gebessert, als Giovanni kam. „Das ist alles, und selbst das kenne ich nicht gründlich. Ich wünsche, es wäre der Fall. Sie ist ein außerordentliches Sujet!" Sant' Ilario betrachtete schweigend das Bild. „Sind ihre Augen wirklich so wie diese?" fragte er endlich. „Viel schöner." „Und ihr Mund?" „Viel größer", antwortete Gouache lächelnd. „Sie ist schlecht!" sagte Giovanni mit Ueberzeugung und dachte an den Signor Aragno. „Frauen sind nie schlecht", bemerkte Gouache mit nach­ denklicher Miene. „Manche sind minder engelhaft als andre. Sie brauchen das nur allen zu sagen, um sich von der Thatsache zu überzeugen." „Höchst wahrscheinlich. Was ist diese Person? Eine Französin, Spanierin — Südamerikanerin?" „Ich habe keine Ahnung. Jedenfalls ist sie keine Französin." „Verzeihen Sie mir eine Frage: kennt sie ihre Frau?"

141 Gouache sah seinen Gast rasch an. „Nein." Gouache war ein äußerst gutmüthiger Mensch und that, vielleicht aus besondern Gründen, sein Bestes, um durch diese eine Sylbe nichts weiter auszudrücken, als eine Verneinung der Thatsache. Allein seine Bemühung war nicht ganz erfolgreich. Vielleicht lag in seinem Ton ein kaum merklicher Anflug von Ueberraschung, der Giovanni nicht entging. Andrerseits war es Gouache vollkommen klar, daß Sant' Ilario sich Orsinos wegen für die Ange­ legenheit interessirte. „Ich kann Niemand ausfindig machen, der etwas Be­ stimmtes von ihr weiß", sagte Giovanni nach einer Pause. „Haben Sie es schon mit Spicca versucht?" fragte der Künstler, indem er sein Werk kritisch betrachtete. „Nein. Warum gerade Spicca?" „Er weiß immer alles", antwortete Gouache unbestimmt. „Uebrigens meinen Sie nicht, Saracinesca, daß hier über dem linken Auge etwas mehr Licht sein könnte?" „Wie soll ich das missen?" Sie sollten's wissen. Was hilft's, wenn man so recht unter der Nase von Original-Porträts aufgewachsen ist, alle von den besten Meistern gemalt und zweifellos von Ihren Vorfahren mit bedeutenden Kosten erworben, — wenn man so etwas dann doch nicht weiß?" Giovanni lachte. „Mein lieber alter Freund", sagte er gut gelaunt. „Kennen Sie uns fast fünfundzwanzig Jahre und haben noch nicht entdeckt, daß es unser besonderes Vorrecht ist, ungestraft unwissend zu sein?" Nun war die Reihe zu lachen an Gouache. „Sie machen nicht oft scharfe Bemerkungen — aber, wenn Sie es thun!" —

142 Giovanni verließ bald darauf das Atelier, um Spicca auszusuchen. Es war nicht leicht, den peripatetischen Cyniker an einem Winternachmittag aufzufinden, aber Gouaches Bemerkung schien ihm etwas zu bedeuten, und Sant' Ilario sah in der Ferne einen Hoffnungsschimmer. Er kannte Spiccas Gewohnheiten genau und wußte, daß er gegen Sonnenuntergang ficherlich in einem der vielen Häuser, wo er genau bekannt war, einsprechen und ein Stündchen bei einer Taffe Thee verbringen würde. Die Schwierigkeit lag darin, gerade das Haus zu treffen, welches fich Spicca an diesem Nachmittag auserkoren hatte. Giovanni machte die Runde und fragte bei all' seinen Bekannten den Portier, ob Spicca da wäre. Endlich war das Glück ihm hold. Spicca trank seinen Thee bei der Marchesa di San Giacinto. Giovanni blieb einen Augenblick vor dem Thorweg des Palastes stehen, in welchem San Giacinto seit vielen Jahren eine große Wohnung zur Miethe inne hatte. Wegen der Verschiedenheit ihrer politischen Ansichten sahen fich die Vettern in den letzten Jahren nicht häufig, und Giovanni hatte keinen Grund, Flavia einen Besuch zu machen, zumal die förmlichen Neujahrsbesuche erst vor kurzem ausgetauscht worden waren. Da indeffen San Gia­ cinto jetzt in Fragen, die fich auf Grundbesitz in der Stadt bezogen, eine der ersten Autoritäten war, fiel es ihm ein, daß er so thun könnte, als ob er Flavias Mann zu sprechen wünschte, und das zum Borwand nehmen, nöthigenfalls lange zu bleiben, um auf ihn zu warten. Er fand Flavia allein mit Spicca, zwischen ihnen stand ein kleiner Theetisch. Die Luft war dick voll Ciga­ rettenrauch, der an den orientalischen Vorhängen haftete und in Wölkchen um die schönen Palmen und seltenen Ge-

143

wüchse schwebte. In San Giacintos Hause war alles groß, bequem and nicht prunkend. Kein Stuhl war zu sehen, der nicht seine Riesengestalt hätte tragen können. San Giacinto wußte ganz genau zu beurtheilen, was wirklich gut war. Wenn er für ein Pferd doppelt so viel zahlte wie Montevarchi, so erwies sich bald, daß das Pferd vier­ mal so viel leisten könnte. Wenn er bei einer Versteige­ rung ein Bild kaufte, so stellte es sich heraus, daß es von einem großen Meister war, und andere Leute wundetten sich hinterher, weshalb sie nicht den Muth gehabt, noch ein paar hunderte Franken mehr zu bieten. Ihm schlug nie­ mals etwas fehl, indessen kein Erfolg erschütterte seine gründliche Vorsicht. Niemand wußte, wie reich er war; wer ihn aber genau kannte, wußte recht gut, daß er der Welt auch nicht die Hälfte seines Vermögens verrathen würde. Er war ein Riese in allen Dingen, und was er vermochte, hatte er bewiesen, als er im ersten Jahre seiner Ehe Flavia gezähmt hatte. Sie war zuerst stolz auf ihn gewesen; dann nach einer Zeit, in der sie eines andern Mannes vermuthlich überdrüssig geworden wäre, entdeckte sie, daß sie ihn in einer Weise fürchtete, wie sie ganz ent­ schieden den Teufel nicht fürchtete. Dennoch hatte er ihr in seinem Leben nie ein hartes Wort gesagt. Es lag für sie etwas ganz Ueberwältigendes in seiner ungeheuren Kraft, die er selten und nie ohne guten Grund in Anwen­ dung brachte; allein sie war auch in ihrer Ruhe immer vorhanden, wie der Umriß eines riesigen Monuments, das sich in einem stillen See spiegelt. Dann entdeckte sie zu ihrer großen Ueberraschung, daß er sie wirklich liebte, was sie nicht erwartet hatte, und nach drei Jahren mertte er, daß sie ihn liebte, was noch erstaunlicher war. Wie ge­ wöhnlich hatte sich seine Anlage gut bewährt.

144 Zur Zeit, von der die Rede ist, war Flavia eine ver­ nünftige Frau von ungefähr vierzig Jahren, die noch viel von ihrem blonden, hübschen Aussehen bewahrt hatte, welches bei ihr die wahre Schönheit ersetzte, und noch immer durch ihre ungewöhnlich glänzenden Augen auffiel. Sie war der Typus von Frauen, die ein hohes Alter er­ reichen. Sie hatte Sant'Jlario nicht erwartet und sah ihn mit fra­ gendem Blick an, als sie ihm die Hand reichte. Es hätte ihm ganz ähnlich gesehen zu sagen, er wollte eigentlich ihren Mann und nicht sie besuchen, denn Personen gegenüber, die er nicht eben gern mochte, hatte er keinen Tact. Es giebt solche Leute. „Willst Du mir eine Tasse Thee geben, Flavia?" fragte er, als er sich setzte, nachdem er Spicca die Hand ge­ reicht hatte. „Hast Du endlich auch gehört, daß der Thee bei Deiner Cousine gut ist?" fragte Spicca, der sich über Giovannis Kommen wunderte. „Ich fürchte, er ist kalt," sagte Flavia und guckte in die Theekanne, als ob sie dadurch den Wärmegrad entdecken könnte. „Das schadet nichts", versetzte Giovanni zerstreut. Er überlegte, wie er das Gespräch auf Madame d'Aranjuez bringen könnte. „Du gehörst zu den Schluckern", bemertte Spicca, in­ dem er sich eine frische Cigarette anzündete. „Du schluckst etwas herunter, gleichviel was, und bist zufrieden." „Es ist das Einfachste, dann wird man nie ent­ täuscht." „Schade, daß man" die Leute nicht auch so herunter­ schlucken kann!" sagte Flavia lachend.

145 „Die meisten thun's", bemerkte Spicca boshaft. „Warst Du am ersten Tage des Jubiläums in der Peterskirche?" fragte Giovanni Flavia. „Jawohl, — Du sprachst übrigens mit mir!" „Ja freilich. Weißt Du auch, ich sah die treffliche Donna Tullia dort. Wessen Karte mag sie wohl gehabt

haben?" „Sie hatte die Karte der Fürstin Befana," ant­ wortete Spicca, der alles wußte. „Die alte Dame lag eben im Sterben — sie liegt am Anfang der Saison immer im Sterben — früher geschah es aus Oekonomie, jetzt ist es ihr zur Gewohnheit geworden, und so kaufte Del Ferice ihrem Diener ihre Karte für seine Frau ab." „Wer war die Dame neben ihr?" fragte Giovanni, entzückt über seine eigene Schlauheit. „Das solltest Du doch wiffen!" rief Flavia. „Wir alle sahen, wie Orfino sie hinausführte. Das ist die berühmte, die unvergleichliche Madame d'Aranjuez, die schönste aller spanischen Prinzessinnen — nach der heutigen Zeitung. Du wirst wohl den Bericht über die Gesellschaft bei Del Ferices gelesen haben. Sie ist eben so wenig spanisch wie Alexander der Große. Nicht wahr, Spicca?" „Nein, sie ist keine Spanierin", versetzte dieser. „Was ist sie denn in aller Welt?" fragte Giovanni ungeduldig. „Äie soll ich das wissen? Natürlich für Dich ist es

sehr unangenehm." Dies waren Flavias Worte. „Unangenehm? Wie das?" „Nun, natürlich wegen Orsinos. Alle sagen, daß er ihr huldigt." „Ich wünsche, es möchten sich alle um ihre eignen Ange­ legenheften bekümmern," sagte Giovanni scharf. „Weil ein liian'7erb, Ten Srfine. l. 10

146 junger

Mensch

eine

Fremde

in

lernt" ------------„O, also in einem Atelier?

einem

Atelier kennen

Das wußte ich noch

nicht." „Ja, bei Gouache, — ich dachte, Deine Schwester hätte Dir das erzählen können," sagte Giovanni, mehr und mehr gereizt und doch nicht geneigt, von seinem Thema ab­ zukommen, damit ihm nicht etwa eine werthvolle Auskunft

entginge. „Weil Orsino zufällig ihre Bekanntschaft machte, muß es gleich heißen, er sei in sie verliebt." Flavia lachte. „Mein lieber Giovanni", antwortete sie. „Wir wollen offen reden. Als Mädchen pflegte ich nie und unter keinen Umständen die Wahrheit zu sprechen, aber Giovanni — mein Giovanni, konnte das nicht leiden. Weißt Du, was er that? Für jede kleine Lüge entzog er mir hundert Franken von meinem Taschengelde und lachte mich dazu noch aus. Nach dem ersten Vierteljahr hatte ich wirklich kein Paar Schuhe mehr, und all meine Handschuhe waren zweimal gewaschen. Er verwahrte all die Geldbußen in einem besondern Taschenbuch, — wenn Du wüßtest, wie ich mich bemühte, es zu stehlen! Aber es gelang nicht. Darauf besserte ich mich natürlich. Es blieb mir nichts andres übrig, entweder das oder in Lumpen gehen! Denk' Dir das! Und weißt Du, ich habe mich jetzt ganz daran gewöhnt, die Wahrheit zu sprechen. Es ist überdies so originell, daß ich förmlich damit prunke." Flavia schwieg, lachte ein wenig und paffte ihre Cigarette. „Du kommst nicht oft mich besuchen, Giovanni," sagte sie, „und weil Du einmal hier bist, werde ich Dir über

147 Deinen Besuch die Wahrheit sagen. Du bist außer Dir vor Empörung über Orsinos neue Schwärmerei und möchtest alles über diese Madame d'Aranjuez heraus­ bekommen. Also kommst Du her, weil wir zu den Weißen gehören; Du hast gelesen, daß sie in der Gesellschaft bei Del Ferices gewesen ist, Du weißt, daß wir diese kennen, — und das Uebrige spielt die Orgel, wie wir sagen, wenn das Hochamt zu Ende ist. Ist das wahr oder nicht?" „Annähernd", sagte Giovanni, unwillkürlich lächelnd. „Kürzt Dir Corona Dein Taschengeld, wenn Du flun­ kerst?" fragte Flavia. „Nein? Nun, warum sagst Du denn, es ist nur annähernd wahr?" „Ich habe meine Gründe. Und kannst Du mir wirk­ lich nichts sagen?" „Gar nichts. Ich glaube, Spicca weiß alles über sie; aber er will nicht sagen, was er weiß." Spicca gab hieraus keine Antwort, und Giovanni be­ schloß zu bleiben, bis er ginge. Es war nicht leicht für ihn, denn er gehörte nicht zu den Leuten, welche bei jeder Gelegenheit die Zeit verplaudern können. Allein er gab sich redlich Mühe, und endlich stand Spicca von seinem niedrigen Lehnstuhl auf. Sie gingen zusammen hinaus und blieben, wie verabredet, auf dem glänzend erleuchteten Treppenabsatz des ersten Stockes stehen. „Im Ernst, Spicca," sagte Giovanni. „Ich fürchte, Lrsino verliebt sich in diese hübsche Fremde. Wenn Du mir etwas über sie sagen kannst, bitte, thu es!" Spicca starrte die Wand an, besann sich einen Augen­ blick und sah dann seinem Gefährten gerade ins Auge. „Hast Du irgend einen bestimmten Grund, um anzu­ nehmen, daß gerade ich etwas von dieser Dame weiß?" fragte er. io*

148 „Nein — nur den, daß Du alles weißt." „Das ist eine Fabel." Spicca wendete sich von ihm ab und fing an die Treppe hinunterzugehen. Giovanni folgte und legte ihm die Hand auf den Arm. „Du willst mir nicht diesen Dienst erweisen?" fragte

er dringend. Wieder stand Spicca still und sah ihn an. „Wir sind sehr alte Freunde, Giovanni," sagte er langsam. „Ich bin älter als Du, aber wir haben oft zu einander gestanden — auf schlüpferigem Stellen als diese Marmortreppe. Laß uns jetzt nicht streiten, alter Freund! Wenn ich Dir sage, daß meine Allwiffenheit nur in der Einbildung der Leute eristirt, bei denen ich Thee trinke, so glaube mir, und wenn Du mir, um alter Zeiten willen, einen Gefallen thun willst, so hilf nicht die Nachricht ver­ breiten, daß ich alles weiß." Der schwermüthige Spicca war noch nie auf den Ge­ danken gekommen, von alter Freundschaft und gegenseitigen Verpflichtungen zu sprechen. Giovanni konnte sich in der That nicht erinnern, ihn je so sprechen gehört zu haben wie jetzt eben. Es war völlig klar, daß er etwas Be­ stimmtes über Maria Consuelo wußte, und wahrscheinlich hatte er nicht die Absicht, Giovanni in dieser Hinsicht zu täuschen. Aber Spicca kannte auch seinen Mann und wußte, daß seine Bitte, Giovanni möge schweigen, nicht vergeblich sein würde. „Es ist gut", sagte Sant' Ilario. Sie wechselten noch einige gleichgültige Worte, ehe sie sich trennten; dann ging Giovanni langsam nach Hause und dachte über die Dinge nach, welche er an diesem Tage erfahren hatte.

149 Achtes Kapitel. Während Giovanni sich fruchtlos bemühte, Erkundi­ gungen über Maria Consuelo einzuziehen, hatte diese sich in den Kreis der Gesellschaft hineinbegeben, in welchem die Gräfin Del Ferice ein wichtiges und einflußreiches Mit­ glied war. Der Zufall, und wahrscheinlich nur der Zu­ fall, hatte fie zu dieser Bekanntschaft geführt, denn sicher­ lich konnte man nicht sagen, daß fie sich Donna Tullia aufgedrängt oder auch nur das Entgegenkommen der letzten besonders bereitwillig ausgenommen hatte. Das Anerbieten, sie in ihrem Wagen mitzunehmen, war unter den obwalten­ den Umständen nur natürlich, und es hatte Donna Tnllia frei gestanden, es anzunehmen oder abzulehnen. Obschon fie geringen Grund hatte, sich für eine geborne Diplomatin zu halten, hatte die Gräfin immer an kleinlichen Ränen und Pläneschmieden Freude gefunden. Jetzt sah sie die Möglichkeit vor sich, Orsinos Angehörige zu ärgern, indem sie den Gegenstand seiner Verehrung in ihr Haus zog. Sie hatte keinen besondern Grund anzunehmen, daß der junge Mann wirklich ernstlich in Madame d'Aranjuez verliebt wäre, aber ihr weiblicher Jnstinct, welcher ihr diplomatisches Talent an Schärfe bei weitem übertraf, sagte ihr, daß Orsino der interessanten Fremden keinesfalls gleich­ gültig wäre. Sie folgerte ganz naiv, daß Orsino ärgern dasselbe wäre wie seine Angehörigen zu ärgern, und dachte, sie könnte dem jungen Mann kaum etwas Unangenehmeres anthun, als Madame d'Aranjuez in die Gesellschaftskreise zu ziehen, von denen jeder Saracinesca durch eine unübersteigliche Schranke getrennt wor. Und Orsino nahm das gerade so übel, wie sie er­ wartet hatte; seine Familie dagegen war zuerst eher ge-

150 — neigt, Donna Tullia als einen guten Engel anzusehen, der die Versucherin im rechten Augenblick in unerreichbare Ferne entrückt hatte. Es war unglaublich, daß Orfino etwas so Ungeheuerliches thun könnte, wie Del Ferices Haus be­ treten oder in Del Ferices Kreis Eintritt zu suchen, und folglich war es ein Trost, daß Madame Aranjuez sich ent­ schlossen hatte, solches zu thun und neulich in olivengrünem Damast in der Gesellschaft bei Del Ferices erschienen war. Der olivengrüne Damast würde nun sicherlich nicht in den Kreisen der genauen Bekannten von SaracineScas er­ scheinen. Wie alle Uebrigen las auch Orsino den Tagesbericht über die römische Gesellschaft in der Zeitung, und bis er Maria Consuelos Namen unter den Gästen der Del Ferices sah, konnte er nicht glauben, daß sie den unwiderruflichen, von ihm so gefürchteten Schritt wirklich gethan hätte. Er hatte noch einen unbestimmten Plan gehegt, sie und seine Mutter zusammenzubringen, und sah nun mit einem Blick, daß von einer solchen Begegnung keine Rede mehr sein konnte. Das war der erste harte Schlag, den seine Eitel­ keit je erlitten, und er wunderte sich darüber, daß es ihn so sehr ärgerte. Maria Consuelo hätte sich wohl einmal mit Donna Tullia zusammen sehen lassen und einmal an ihrem Empfangstag zu ihr gehen können. Das war schon schlimm genug, hätte sich aber später durch Tact und Ent­ schiedenheit in ihrem Benehmen wieder ausgleichen lassen. Aber nachdem eine Dame einmal öffentlich in der Zeitung gestanden hatte, wie jetzt Madame d'Aranjuez, war keine Rettung mehr möglich. Lrsino war empört. Er war nach seinem ersten Besuche noch einmal bei ihr gewesen, und sie hatte ihm nichts von dieser Einladung gesagt, obwohl Donna Tullias Name erwähnt worden war. Er nahm es

151 ihr übel, daß sie ihm verschwiegen hatte, sie würde zu dem Diner gehen, obschon er kein Recht hatte, von ihren Ab­ sichten in Kenntniß gesetzt zu werden. Kaum hatte er diese Entdeckung gemacht, so beschloß er, seinen Aerger an ihr auszulaffen, er warf die Zeitung hin und ging sofort nach ihrem Hotel. Maria Consuelo war zu Hause, und er wurde sofort in das kleine Wohnzimmer geführt. Zu seiner unbeschreib­ lichen Entrüstung fand er Del Ferice selbst in lebhaftem Gespräche mit Madame d'Aranjuez in einem Lehnstuhl neben dem kleinen Tische fitzend. Die Lage war höchst peinlich. Orfino hoffte, Del Ferice würde gleich fortgehen und so der Nothwendigkeit einer Vorstellung vorbeugen. Das fiel Hugo aber gar nicht ein. Er stand allerdings auf, nahm aber nicht seinen Hut vom Tische, sondern sah lächelnd zu, wie Orsino und Maria Consuelo fich die Hand

schüttelten. „Erlauben Sie, daß ich die Herren bekannt mache," sagte sie mit empörender Ruhe und nannte die beiden Namen. Hugo streckte ruhig seine Hand aus, und Orfino mußte fie saften; er that es möglichst kalt. Hugo hatte unge­ wöhnlichen Tact und machte niemals auf Jemanden einen unangenehmen Eindruck, wenn er es irgend vermeiden konnte. Maria Consuelo schien alles ganz selbstverständlich zu finden, und Orfinos Erscheinen brachte sie nicht im mindesten aus der Fassung. Beide Herren setzten sich und sahen sie an, als ob sie erwarteten, daß sie ein passendes Gesprächsthema angeben würde. „Wir sprachen über die Veränderungen in Rom", sagte sie. „Graf Del Ferice nimmt lebhaften Antheil an allem, was vorgeht, und setzte mir eben einige der

152 Schwierigkeiten auseinander, mit denen er zu käm­ pfen hat." „Don Orfino kennt fie eben so gut wie ich, obwohl wir über die Art, ihnen zu begegnen, vielleicht verschiedener Ansicht sind," sagte Del Ferice. „Ja", erwiderte Orfino, kälter als nöthig, „Sie spielen die handelnde, wir die unthätige Rolle." „In gewiffem Sinne ja," versetzte der andere, völlig ungerührt. „Sie haben die Lage treffend bezeichnet, und unsere Rolle ist bei weitem schwieriger und undankbarer zu spielen. O — ich will nicht alles vertheidigen, was wir gethan haben! Ich vertheidige nur, was wir zu thun beabsichtigen. Veränderungen jeder Art sind dem Mann von Geschmack widerwärtig, wenn fie nicht durch die Zeit herbeigeführt werden, und das ist eine Verschönerin, die uns nicht zu Gebote steht. Wir sind halb Vandalen und halb Amerikaner, und wir haben schreckliche Eile." Maria Consuelo lachte, und Orsinos Gesicht sah um einen Schatten weniger düster aus. Er hatte erwartet, in Del Ferice den anmaßenden, selbstgenügsamen Apostel der Neuzeit zu finden, für den er allgemein galt. „Hätten Sie sich nicht etwas mehr Zeit lassen können?" fragte Orsino. »Ich sehe nicht ein wie, — überdies reißt die Zeit uns mit sich fort. So lange Rom die Hauptstadt einer Idee war, hatte nichts Eile. Als es aber die Hauptstadt eines modernen Königreiches wurde, da fiel es modernen Thatsachen zum Opfer — und die sind nicht schön. Das Höchste, was wir zu thun hoffen können, ist die Strömung zu lenken, vielleicht ungeschickt genug. Wir können sie nicht aufhalten. Nur orientalischer Despotismus vermöchte das. Wir können die Leute nicht daran hindern, dem Een-

153 trum zuzuströmen, und wo eine Bevölkerung ist, muß sie auch Wohnungen haben." „Das ist klar", sagte Madame d'Aranjuez. „Es scheint mir, ohne die alte Stadt zu zerstören, hätte man eine neue daneben erbauen können", meinte Orfino. „Ohne Zweifel. Und das haben wir ja factisch ge­ than. Ich sage ,wir', denn Sie sagten erst .Sie'. Aber ich denke, Sie werden zugeben, daß, was persönliche Bethä­ tigung anbetrifft, die Römer von Rom einen eben so thä­ tigen Antheil am Erbauen häßlicher Häuser nehmen wie die italienischen Römer. Die Zerstörung der Villa Ludovifi zum Beispiel wurde dem Eigenthümer nicht durch die Staatsregierung, sondern durch die verrückte städtische Ver­ waltung abgezwungen, und diejenigen, welche die Bau­ grundstücke übernommen haben, find größtentheils römische Fürsten von altem Stamm." Hierauf ließ sich nichts antworten; Orfino sah es ein, die Thatsache trug indessen nicht zur Verbefferung seiner Stimmung bei. Es war schon unangenehm genug, zu einem Gespräch mit Del Ferice gezwungen zu sein, schlimmer aber noch, ihm beistimmen zu müffen. Orfino starrte düster vor sich hin und schwieg, in der Hoffnung, das Gespräch würde ein Ende haben. Allein Del Ferice hatte nur einen unangenehmen Eindruck hervorgebracht, um ihn zu ver­ wischen und damit die Lage erträglicher zu machen, denn

es war eine der schwierigsten, in der er sich seit lange be­ funden hatte. „Ich wiederhole," sagte er mit freundlichem Lächeln, „daß es hoffnungslos ist, alles zu vertheidigen, was in unseren Tagen thatsächlich in Rom geschieht. Einige Ihrer Bekannten und viele von den meinigen bauen Häuser, welche selbst Alter und Verfall nie verschönern

154 nern kann. Der einzige zu vertheidigende Theil der An­ gelegenheit ist die politische Umwälzung, welche die Noth­ wendigkeit des Bauens überhaupt hervorgerufen hat, und über diesen Punkt, denke ich, können wir uns vereinbaren, verschiedener Ansicht zu sein. Meinen Sie nicht, Don Orsino?" „Auf jeden Fall", antwortete der junge Mann; ihm leuchtete der Vorschlag als gerecht und angemesien ein. „Und was das Uebrige anbetrisft, so stehen für Ihre Freunde wie für die meinigen — so viel ich weiß, für Ihre eigene Familie und jedenfalls für mich, — ungeheure Jntereffen auf dem Spiel. Wir dürfen wenigstens die Hoffnung theilen, daß keiner von uns zu Grunde gerichtet werde." „Gewiß, obschon wir mit der Sache nichts zu thun haben. Weder mein Vater noch mein Großvater haben sich auf derartige Speculationen eingelassen." „Das ist schade", sagte Del Ferice nachdenklich. „Weshalb schade?" „Einerseits sind meine Neigungen ganz niedrig commerziell", antwortete Del Ferice mit unbefangenem Lachen. „Wie groß auch ein Vermögen sein mag, es läßt sich ver­ doppeln und verdreifachen. Sie müssen bedenken, daß ich Banquier bin, wenigstens in der That, wenn auch nicht gerade dem Namen nach, und die Gelegenheit ist vergäng­ lich. Um so mehr ist es zu bedauern, daß Sie, Don Orsino, der so viel Einfluß ausüben könnte, wie er nur wollte, es Leuten überlassen, die Ihnen, meiner Ansicht nach, sehr unähnlich sind, die Architectur in Rom so zu verhunzen und dem Scheußlichen zum Siege zu ver­ helfen." Orsino gab keine Antwort auf diese Bemerkung, ob-



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wohl der darin liegende Sinn ihm durchaus nicht mißfiel. Maria Consuelo sah ihn an. „Warum halten Sie sich zurück und lassen die Dinge immer schlimmer werden, während Sie doch thatsächlich Gutes wirken könnten, wenn Sie sich an den Geschäften des Tages betheiligten?" fragte sie. „Ich könnte mich nicht daran betheiligen, gnädige Frau, selbst wenn ich es wollte," antwortete Orfino. „Weshalb nicht?" „Weil ich keine hundert Franken zu meiner Verfügung habe; das ist der einfachste und beste Grund." Del Ferice lachte ungläubig. „Der älteste Sohn der Familie Saracinesca würde darin thatsächlich kein Hinderniß finden", sagte er, indem er seinen Hut nahm und aufstand, um fortzugehen. „Ueber« dies, was zu diesen Geschäften gehört, ist nicht so sehr baares Geld als Muth, Entschloffenheit und richtiges Ur­ theil. Eine reiche Firma von Bauunternehmern macht jetzt große Geschäfte, und die Leute begannen mit einem Capital von dreitausend Franken — so viel wie Sie an einem Abend beim Spiel verlieren könnten, ohne den Ver­ lust besonders zu empfinden, obschon Sie sagen, daß Sie kein Geld zur Verfügung haben." „Zst das möglich?" fragte Orsino mit gewissem In­ teresse. „Es ist eine Thatsache. Es waren drei Leute, ein Tabakshändler, ein Zimmermann und ein Maurer, und jeder hatte tausend Franken Ersparnisse. Sie übernahmen in voriger Woche einen Contraet für anderthalb Millonen, bei dem sie zwanzig Procent gewinnen werden. Aber sie besaßen die erforderlichen Eigenheiten — Kühnheit verbun­ den mit Vorsicht. So glückte es ihnen."

156 „Und was wäre geschehen, wenn es ihnen mißglückt

wäre?" „Dann hätten sie ihre dreitausend Franken verloren. Mehr hatten sie nicht zu verlieren, und bei ihren Ge­ schäften ging alles durchaus redlich zu. Guten Abend, gnädige Frau; es findet heute bei mir eine Privatver­ sammlung von Bankdirectoren statt. Guten Abend, Don Orsino." Er ging fort und ließ einen keineswegs unangenehmen Eindruck zurück. Sein Aeußeres nahm gegen ihn ein, dachte Orsino. Sein fahles bleiches Gesicht und seine trüben Augen sahen nicht schön aus. Aber er hatte in einer schwierigen Lage Tact bewiesen, und in ihm war eine ruhige Energie, eine zielbewußte Sicherheit, die einem jungen Manne gefallen mußte, dem sein eigner Müßiggang zuwider war. Orsinos Stimmung hatte sich gebessert. Er war nicht mehr so ärgerlich, als er zu sein beabsichtigt hatte, und er erkannte mildernde Umstände, wo er zuerst nur einen ab­ sichtlichen Mißgriff gesehen hatte. Er setzte sich nieder. „Gestehen Sie, daß er nicht ein so unerträglicher Mensch ist, wie Sie dachten," sagte Maria Consuelo lachend. „Nein, das ist er nicht. Ich hatte ihn mir ganz an­ ders gedacht. Dennoch wünschte ich — man hat freilich nicht das geringste Recht zu wünschen, was man wünscht" — Er blieb mitten im Satz stecken. „Daß ich nicht in die Gesellschaft bei seiner Frau ge­ gangen wäre, wollen Sie sagen? Aber mein lieber Don Orsino, weshalb sollte ich angenehme Dinge ausschlagen, wenn sie sich mir darbieten?" „War es so angenehm?"

157 „Nun freilich! Ein vorzügliches Diner — ein halb Dutzend gescheute Männer, alle voll Jntereffe für die Tages­ fragen, alle bemüht, sie mir, als einer Fremden, zu er­ klären. Abends etwa hundert Personen, die sich alle eben so gut zu amüfiren schienen wie ich. Weshalb sollte ich all' das ausschlagen? Bloß weil mein erster Bekannter in Rom, das ist Gouache, so gleichgültig ist, und weil Sie, mein zweiter, ein entschiedener Clericaler find? Das ist nicht vernünftig." „Ich mache keinen Anspruch darauf, vernünftig zu sein," sagte Orfino. „Gefühllose Leute rühmen fich, ver­ nünftig zu sein." „Also find Sie ein Mann von Gefühl?" Maria Consuelo schien fich darüber zu belustigen. „Ich mache keinen Anspruch darauf, ein Mann von Geist zu sein, gnädige Frau." „Sie lasten fich nicht leicht fangen." „DelFerice auch nicht." „Weshalb sprechen Sie von ihm?" „Die Gelegenheit ist günstig, gnädige Frau. Da er eben fortgegangen ist, wiffen wir, daß er nicht gleich wie­ derkommen wird." „Sie können manchmal sehr sarkastisch sein", sagte Maria Consuelo. „Aber ich glaube nicht, daß Sie so bitter sind, wie Sie scheinen möchten. Ich glaube nicht einmal, daß Sie Del Ferice wirklich so unangenehm ge­ funden haben, wie Sie jetzt thun. Was er sagte, interessirte Sie augenscheinlich." „Etwas Jntereffantes ist nicht immer angenehm. Für den Verurtheilten hat z. B. bei seiner Hinrichtung die Guillotine das höchste Jntereffe." „Ihre Beispiele sind überraschend. Ich sah einmal,

158 ganz durch Zufall, eine Hinrichtung, und möchte lieber nicht daran denken. Aber Sie können doch Del Ferice kaum mit einer Guillotine vergleichen." „Er ist eben so geräuschlos, scharf und sicher," sagte Orsino treffend. „Man kann auch zu geistreich sein", sagte Maria Consuelo ohne zu lächeln. „Ist Del Ferice in dem Falle?" „Nein, wohl aber Sie. Sie machen schneidende Be­ merkungen, bloß weil sie Ihnen eben einfallen, obschon Sie es sicherlich nicht immer so meinen. Das ist eine schlechte Angewohnheit." „Weil man sich dadurch Feinde macht, gnädige Frau?" Orsino ärgerte sich über die Zurechtweisung. „Das ist der wenigst gute von guten Gründen." „Was denn?" „Es wird Andere davon zurückhalten, Sie zu lieben," sagte Maria Consuelo ernst. „Das habe ich noch nie gehört." — „Nicht? Es ist dennoch wahr." „In dem Falle will ich mich sofort bessern", sagte Orsino, indem er versuchte, ihren Blicken zu begegnen. Allein sie sah fort. „Sie denken, ich will Ihnen eine Predigt halten," entgegnete sie. „Dazu habe ich kein Recht, und wenn ich es hätte, würde ich sicherlich keinen Gebrauch davon machen. Aber ich habe etwas von der Welt gesehen. Frauen lieben selten einen Mann, der gegen Andere, außer gegen sich selbst, bitter ist. Wenn er über andere Frauen harte Dinge sagt, so glaubt die eine, zu der er spricht, daß er zu der nächsten, die ihm in den Wurf kommt, noch viel schlimmere von ihr sagen wird; wenn er Männer, die sie kennt, her-

159 unterreifet, so gefällt ihr das noch weniger, denn es ist ein Angriff auf ihr Urtheil, ihren Geschmack, vielleicht auf eine keimende Neigung für den Angegriffenen. Man sollte nie auf Kosten eines Andern witzig sein, aufeer gegen sein eigenes Geschlecht." Sie lachte ein wenig. „Was für ein schrecklicher Schlufe!" „So? Er ist richtig." „Also um die Neigung einer Frau zu gewinnen, tnufe man ihre Bekannten loben. Das ist originell!" „Das habe ich nicht gesagt." „Nicht? Dann habe ich Sie mifeverstanden. Wie fängt man es denn am besten an?" „O, das ist sehr einfach!" Maria Consuelo lachte. „Sagen Sie ihr, dafe Sie sie lieben, und sagen Sie ihr das immer wieder, dann werden Sie ihr am Ende sicher­ lich gefallen." „Gnädige Frau" — Orsino hielt inne und faltete die Hände mit flehender Geberde. „Was denn?" „Ach nichts! Ich wollte nur eben anfangen. Es kam mir, wie Sie sagen, so einfach vor." Beide lachten, und ihre Blicke begegneten sich einen Augenblick. „Del Ferice interessirt mich sehr", sagte Maria Con­ suelo, plötzlich auf den ersten Gegenstand ihres Gespräches zurückkommend. „Er gehört zu den Leuten, denen die Ver­ antwortung für vieles, was jetzt geschieht, zugeschoben wer­ den wird. Nicht wahr? Er hat grofeen Einfluß?" „Das habe ich immer gehört." Es war Orsino nicht lieb, dafe er genöthigt wurde, wieder von Del Ferice zu sprechen. „Finden Sie das, was er in Bezug auf Sie sagte, so ganz abgeschmackt?"

160 „Abgeschmackt, nein, unausführbar vielleicht. Sie meinen doch seine Andeutung, daß ich mich auf kleine Speculationen einlasfen sollte? Aufrichtig gesagt, ich hatte keine Ahnung, daß man derartige Unternehmungen mit so geringem Kapital beginnen könnte. Es scheint unglaub­ lich. Ich denke, Del Ferice muß übertrieben haben. Sie wißen ja, wie obenhin Banquiers von ein paar Tausenden mehr oder weniger sprechen. Unter einer Million hat nichts für sie etwas zu bedeuten. Dreitausend oder dreißigtausend gilt ihnen für ziemlich dasselbe." „Vermuthlich. Und warum sollten Sie denn eigent­ lich etwas aufs Spiel setzen? Ich vermuthe, es ist ein­ facher, Karten zu spielen, wenn auch minder amüsant. Ich dachte nur daran, wie leicht es für Sie sein müßte, eine ernste Beschäftigung zu finden, wenn Sie es wirklich wollten." Lrsino schwieg einen Augenblick und schien sich die Sache zu überlegen. „Würden Sie mir rathen, mich auf ein solches Ge­ schäft ohne Vorwissen meines Vaters einzulafien?" fragte er darauf. „Wie kann ich Ihnen rathen? Ihr Vater würde Sie doch thun lassen, was Sie wollten. Es ist nichts Unehren­ haftes dabei. Das Vorurtheil gegen Geschäfte ist altmodisch, und wenn Sie sich nicht davon los machen, werden es Ihre Kinder thun." Orsino sah Maria Consuelo nachdenklich an. Sie drückte ihre Ansichten mitunter mit einer sonderbar männ­ lichen Unverfrorenheit aus, die einen eigenthümlichen Ein­ druck auf den jungen Mann machte. Er fühlte dabei etwas in sich, was er für eine Schwäche hielt, deren er sich schämen sollte.

161 „Es ist nichts Unehrenhaftes in der Theorie," sagte er, „und die Praxis hängt von dem Individuum ab." Maria Consuelo lachte. „Sie sehen, wenn Sie wollen, können Sie ein Mora­ list sein," sagte sie. In diesem Augenblick übten ihre gelben Augen eine wundersame Anziehungskraft aus. „Ihnen zu gefallen, gnädige Frau, könnte ich viel Besseres — oder viel Schlimmeres thun." Er sprach nicht ganz im Ernst und scherzte doch auch nicht, sein Gesicht war ernster als seine Stimme. Maria Consuelos Hand lag auf dem Tisch neben dem silbernen Papiermeffer. Die weißen spitzen Finger sahen verlockend aus, und er hätte sie gern berührt. Er streckte die Hand aus. Wenn sie die ihrige nicht zurückzog, wollte er die seinige daraus legen. That sie es aber, so wollte er das Papiermesser in die Hand nehmen. Er hatte sich mit letzterem zu begnügen. Sie zog die Hand nicht fort, als ob sie seine Absicht erriethe, sondern erhob sie ruhig und stellte den Lampenschirm etwas anders. „Ich möchte lieber nicht für Ihre Wahl verantwortlich [ein", sagte sie ruhig. „Und doch haben Sie mir keine freigelassen", sagte er mit plötzlicher Kühnheit. „Wie das?" Er hält das Papiermesser in die Höhe und lacht. „Ich verstehe Sie nicht", sagte sie und that erstaunt. „Ich wollte Sie um Erlaubniß bitten, Ihre Hand rehmen zu dürfen." „So? Weshalb denn? Da!" Sie hielt ihm unbe-

angcn die Hand hin. Er nahm die zarten Finger .ra:rfcrt, Tcn Orsiuo.

I.

in die seine und be11

162 trachtete sie einen Angenblick.

Dann drückte er sie an die

Lippen. „Das war nicht in der Erlaubniß einbegriffen", sagte sie lächelnd und zog die Hand zurück. „Nun sollten Sie sofort gehen." „Warum denn?" „Weil diese kleine Förmlichkeit nur am Anfang oder am Ende eines Besuches stattfinden kann." „Ich bin ja eben erst gekommen." „Ach! wie lang ist mir die Zeit vorgckommen! Zch dachte, Sie wären schon eine halbe Stunde hier." „Mich dünkt es nur eine Minute", verletzte Lrfino schlagfertig. „Und Sie wollen nicht gehen?" In dem diese Worte begleitenden Blick lag nichts von entschiedener Entlassung. „Nein, höchstens will ich mich im Abschiednehmen

üben." „Ich denke nicht", sagte Maria Consuelo mit plötz­ licher Kälte. „Sie sind etwas zu — wie soll ich sagen — zu unternehmend, Fürst. Sie sollten von dieser Gabe lieber da Gebrauch machen, wo sie eine Empfehlung ist — zum Beispiel im Geschäft!" „Sie sind sehr streng, gnädige Frau," erwiderte Orsino, der es für klüger hielt, den Demüthigen zu spielen, obschon er ein Dutzend scharfe Antworten auf der Zunge hatte. Maria Consuelo schwieg einige Augenblicke. Ihr Kopf lehnte an dem kleinen rothen Lederkissen, welches die blen­ dende Weiße ihrer Haut erhöhte und ihrem kastanienbraunen Haar einen tieferen Farbenton gab. Sie schaute den Be­ hang über der Thür an. Orsino betrachtete sie in schwei-

163 gender Bewunderung. In diesem Augenblick war sie schön, denn man vergaß die Unregelmäßigkeit ihrer Züge über dem Glanz ihrer Farben und der Anmuth ihrer Stellung. Zuerst war ihr Antlitz ernst. Allmälig flog ein Lächeln darüber hin, es begann in den tiefliegenden Augen und spielte endlich um den üppigen rothen Mund. Darauf sprach fie, aber noch immer nach oben blickend, ohne ihn anzusehen. „Was würden Sie von mir denken, wenn ich nicht ein wenig streng wäre?" fragte sie. „Ich bin eine Frau, die ganz allein wohnt — reist, sollte ich sagen, hier fremd und auch für Sie kaum mehr als eine Fremde. Was würden Sie denken, wenn ich nicht ein wenig streng wäre, frage ich? Was für Schlüsse würden Sie ziehen, wenn ich Ihnen erlaubte, meine Hand zu fassen, so oft es Ihnen beliebte, und alles zu sagen, was Ihnen Ihre Einbildungs­ kraft — Ihre sehr lebhafte Einbildungskraft eingiebt?" „Ich würde Sie für die anbetungswürdigste Frau

halten-------„Aber ich geize durchaus nicht nach der Ehre, von Ihnen für die anbetungswürdigste Frau gehalten zu wer­ den, Fürst Orsino." „Nein, natürlich nicht. Man schätzt das nie, was man mühelos erreicht." „Sie sind nicht still zur Ruhe zu bringen!" rief Maria Consuelo, unwillkürlich lachend. „Und das gefällt Ihnen nicht?

Ich will die Sanft-

muth selbst sein — ein wahres Lämmchen." „Zu munter — paßt nicht zu Ihrem Wesen!"

„Ein Stein" — „Ich kann Geologie nicht leiden." „Also ein Schooshündchen; wählen Sie, gnädige Frau. ii»

164 / Das ganze Thierreich steht Ihnen zur Verfügung. Als Adam den Thieren Namen gab, hätte er einen Löwen einen Schooshund nennen können, um die Afrikaner zu beruhigen. Aber es fehlte ihm an Phantasie, er nannte die Katze eine Katze.« „Jedenfalls hat das den Vorzug der Einfachheit." „Da Ihnen seine Methode zusagt, können Sie mich Kain und Abel nennen," meinte Orsino. „Bin ich demüthig genug? Kann Unterwürfigkeit noch weiter gehen?« „Beides wäre eine Schmeichelei, — denn Abel war gut, und Kain interessant." „Und ich bin keins von beiden. Sie geben mir eine neue Gelegenheit, meine tiefe Demuth kund zu thun. Ich danke Ihnen aufrichtig. Sie sind gnädiger, als ich ge­ hofft." „Sie sind ganz wie eine Fran, Don Orsino, Sie ver­ suchen immer, das letzte Wort zu behalten." „Ich hoffe immer, das letzte Wort soll das beste sein; aber ich nehme die Kritik oder den Tadel mit meiner ge­ wohnten Dankbarkeit hin." „Ich bitte Sie nur zu beachten, daß, wenn ich Ihnen das letzte Wort gönnte, für mich das Gespräch ein Ende haben und ich mich Ihnen empfehlen müßte. Und wie ge­ sagt, ich möchte noch nicht gehen."„Sie geben mir ein Mittel an die Hand, Sie zum Gehen zu bewegen," versetzte Maria Consuelo lächelnd. „Ich kann schweigen, wenn Sie es nicht wollen." „Es würde nichts helfen. Wenn Sie mich nicht unter­ brechen, werde ich beredt werden" — „Wie schrecklich! Bitte, nur ja nicht!" „Sehen Sie! Ich habe Sie in meiner Macht! Sie können mich nicht loswerden."

165 „Dann würde ich mich an Ihre Großmuth wenden." „Das ist etwas Anderes, gnädige Frau", sagte Orsino und griff nach seinem Hut. „Ich sagte ja nur, ich würde" — Maria Consuelo machte eine Bewegung, um ihn zurückzuhalten. Aber er war klug genug, um einzusehen, daß das Ge­ spräch sein natürliches Ende erreicht hatte, und eine innere Stimme sagte ihm, daß er lieber nicht zu lange bleiben sollte. So that er, als ob er ihre Handbewegung nicht bemerkte und stand auf, um sich zu verabschieden. „Sie kennen mich noch nicht!" sagte er. „Mich auf die Möglichkeit einer großmüthigen Handlung Hinweisen, sichert ihre sofortige Ausführung. Wann darf ich auf das Glück hoffen, Sie wiederzusehen, gnädige Frau?" „Sie brauchen nicht so ungeheuer förmlich zu sein. Sie wissen, ich bin um diese Stunde immer zu Hause." Orsino war über diese Antwort betroffen. Es lag ein gereizter Ton darin, den er sicherlich nicht erwartet hatte, und der ihm sehr schmeichelte. Sie wandte ihr Gesicht ab, während sie ihm die Hand reichte und mit der andern ein Buch auf dem Tische zurechtschob, als ob sie anfangen wollte zu lesen, noch ehe er aus dem Zimmer wäre. Er hatte sich durchaus nicht sicher gefühlt, daß ihr seine Ge­ sellschaft angenehm fei, und nicht erwartet, daß sie sich so weit vergessen würde, um ihre Neigung durch Ungeduld zu verrathen. Mit Recht oder Unrecht hatte er sie für eine Frau gehalten, die jedes Wort, jede Bewegung vorher über­ legte und einer solchen Unvorsichtigkeit, wie einer unüber­ legten Gefühlsäußerung, ganz unfähig wäre. Sehr junge Leute sind heutzutage stets geneigt, sehr verwickelte Charactere vorauszusetzen, wo sie gar nicht vor­ handen sind, während sie sie oft ganz übersehen, wo sie

166 doch wirklich eine Rolle spielen. Die Leidenschaft für Ana­

lyse entdeckt

anscheinend neue Elemente in den Motiven

der Menschen und

verzehrt sich oft selbst in der Anstren­

gung, das zu zersetzen, was gar nicht zusammengesetzt ist.

Am

meisten

Jungen und

geneigt zum Analyfiren sind vielleicht

die

die Alten, welche der Zeit beziehungsweise

voraus oder hinter ihr zurück sind,

und folglich nicht fo

vertraut mit ihr, wie diejenigen, welche thatsächlich Geschichte

machen, sei sie politisch oder sozial, ethisch oder unsittlich, dramatisch oder komisch.

Unter den Romanschriftstellern englischer Zunge herrscht die Sitte, ihre eigene Individualität hinter dem majestäti­

schen

oder bedeutungslosen „wir" verschwinden zu lassen,

oder

des Autors Ansichten

über die Menschheit den von

ihm erfundenen Personen in

den Mund zu legen.

Die

großen französischen Novellisten sind offner, denn sie sagen

kühn „ich", und haben den Muth für ihre Meinungen ein­

zustehen.

Ihr Verdienst

selten für die Menschheit

weil

ihre Ansichten

im Allgemeinen,

noch für ihre

ist

größer,

Leser im Besonderen schmeichelhaft zu sein pflegen.

Ohne

zwischen den Romanen der beiden Länder einen Vergleich

anstellen zu wollen, kann man sagen, daß die Tendenz der Methode in beiden Fällen dieselbe,

und zwar eine Folge

der großen Vorliebe für Analyse ist, sehr zum Schaden des und modernen Roman. romantischen,

oft

des

dramatischen Elementes

im

Das Ergebniß mag oder mag nicht

ein Band moderner sozialer Geschichte zur Belehrung des heutigen und des zukünftigen Geschlechtes werden.

Wenn

nicht, so fehlt eins der Hauptverdienste, das er für sich in

Anspruch nimmt; wenn es der Fall ist, so müsien wir die etwas sonderbare Deduktion zulassen, daß die politische Ge­ schichte unserer Zeit alle Romantik und Tragik,

die dem

167 Schicksal zu Gebote steht, in fich ausgenommen hat, sodaß für das Privatleben der handelnden Personen und ihrer zahlreichen Verwandten fast nichts davon übrig geblieben ist. Was auch davon wahr sein mag, so viel ist gewiß, daß diese Neigung zu genauer Analyse in unsrer Zeit einen ungeheuern Einfluß ausübt; und da doch Keiner behaupten wird, daß die Mehrzahl der jungen Leute aus der Gesell­ schaft, welche die Motive ihrer Zeitgenoffen analyfiren, durchweg geschickte moralische Analytiker find, werden wir zu dem Schluffe gezwungen, daß sie ihre Ergebniffe häufig ihrer Einbildungskraft verdanken, und nicht selten sogar auch dem Stoff, welchen sie verarbeiten. Aus den Miß­ erfolgen dieser phantastischen Alchemie mag dereinst eine wirkliche Chemie hervorgehen, aber die gegenwärtige Gene­ ration wird die Entdeckung des Steines der Weisen kaum erleben, obwohl das Suchen danach, mittelbar, Gold ein­ bringt — nämlich durch vieles Romanschreiben. Wenn dieses überhaupt zu den Künsten gehört, so ist es noch nicht an der Zeit, das Wort eines großen Mannes zu vergessen: „Es ist die Aufgabe aller Kunst, angenehme Vorstellungen zu schaffen und zu nähren." Orsino Saracinesca war von der Wirkung des analy­ tischen Bacillus eben so wenig frei, wie andere Leute seines Alters. Er gefiel fich darin, seinen eigenen Character für complicirter zu halten, als er wirklich war, und kaum hatte er Maria Consuelos Bekanntschaft gemacht, so begann er auch ihre kleinsten Handlungen einem so verworrenen Ge­ webe von Motiven zuzuschreiben, daß es überhaupt alles Handeln vernichtet haben müßte, wenn es wirklich in ihrem Hirn vorhanden gewesen wäre. Die Möglichkeit, daß ein starker und viel geprüfter Character, ob gut oder schlecht, sehr einfach sein könnte, entging ihm und selbst ein zu-

168 fälliges, unbefangenes Wort oder eine zwanglose Bewegung überzeugte ihn nicht davon, daß er auf falscher Fährte war. Um die Wahrheit zu gestehen, er war noch sehr unerfahren. Seine Besuche bei Maria Consuelo gingen unter leichten Gesprächen hin. Er versuchte, sie zu unterhalten, und das gelang ihm ziemlich gut, während er sich zu gleicher Zeit in endlosen und fruchtlosen Vermuthungen über ihr früheres Leben, ihre gegenwärtigen Pläne und ihre Gefühle gegen ihn erging. Er hätte sie gern dazu gebracht, über sich selbst zu sprechen, allein er wußte nicht, wie er das an­ fangen sollte. Es gehörte nicht zu seinem System, an ge­ heimnißvolle Persönlichkeiten zu glauben; allein wenn er über die Sache nachdachte, wunderte er sich über die Un­ durchdringlichkeit der Schranken, welche ihn von aller Kunde über ihr Leben abschnitt. Bald hörte er die Geschichten von ihr, welche leichtfertig im Club weiter erzählt wurden; er hörte sie ohne besonderen Antheil, obwohl er sich die Mühe nahm, auf eigene Verantwortung hin die Wahrheit derselben zu bestreiten. Darüber erstaunten seine Bekann­ ten und daraus entstand das Gerede, daß er in Madame d'Aranjuez verliebt sei. Die leidigste Folge dieses Gerüch­ tes war, daß jede Dame mit der er in Gesellschaften sprach, ihn mit Fragen überhäufte, die er nur in ganz unbe­ stimmter Weise beantworten konnte. Bei seiner Unwifsenhcit that er sein Möglichstes, um sich eine Geschichte für Maria Confuelo auszudenken, allein es kam nichts Befrie­ digendes dabei heraus. Er setzte seine Besuche bei ihr fort und nahm sich jedesmal vor, eine Frage zu wagen, welche sie entweder direct beantworten oder auf die sie jede Antwort versagen mußte. Allein er hatte dabei nicht seiner angebornen Ab­

neigung gegen Unhöflichkeit Rechnung getragen, noch dem

169 Wachsen einer Zuneigung, die er nicht vorhergesehen hatte, als er kaltsinnig beschloß, ihr den Hof zu machen, weil es sich lohnen würde, wie Gouache ihm scherzend gesagt hatte. Er gefiel sich indeffen sehr in seiner eingebildeten Kälte. Er liebte sie sicherlich nicht, aber er wußte doch, daß er die bei ihr verbrachten halben Stunden nur ungern auf­ geben würde. Sie ernstlich beleidigen würde so viel be­ deuten, als einen Theil seines täglichen Vergnügens ver­ scherzen, den er nicht entbehren mochte. Von Zeit zu Zeit wagte er eine leichtfertige, halb scherzhafte Erklärung, die manche Frau für Ernst genom­ men haben würde. Aber Maria Consuelo wies solche Avancen mit Lachen oder mit einer Antwort zurück, in der sich ruhige Würde mit freundlicher Zurückweisung tactvoll verband. „Wenn sie nicht gut ist," sagte er sich endlich, „so muß sie ungeheuer ftug sein. Eins von beiden!"

Neuntes Kapitel.

Orsinos cinundzwanzigster Geburtstag fiel in die zweite Hälfte des Januar, wo die römische Saison auf ihrem Höhepunkte stand; da aber sein Mündigwerden dem jungen Manne keinen solchen plötzlichen Wechsel der gesellschaftlichen Stellung brachte, wie er sonst im Leben vaterloser Söhne epochemachend eintritt, so betrachtete man den Vorfall als eine Familienangelegenheit und beabsichtigte nicht, ihn ge­ sellschaftlich besonders zu feiern. Noch dazu fiel er auf den Tag der Woche, den die Montevarchi sich für ihr allwöchent­ liches Tänzchen reservirt hatten, und dem durfte man nicht in's Gehege kommen. Jedoch bestand der alte Fürst Saracinesca darauf, daß etwa zwanzig alte Freunde zu Tisch gebeten werden sollten, um auf das Wohl seines ältesten Enkels mit anzustoßen, und so geschah cs denn.

169 Wachsen einer Zuneigung, die er nicht vorhergesehen hatte, als er kaltsinnig beschloß, ihr den Hof zu machen, weil es sich lohnen würde, wie Gouache ihm scherzend gesagt hatte. Er gefiel sich indeffen sehr in seiner eingebildeten Kälte. Er liebte sie sicherlich nicht, aber er wußte doch, daß er die bei ihr verbrachten halben Stunden nur ungern auf­ geben würde. Sie ernstlich beleidigen würde so viel be­ deuten, als einen Theil seines täglichen Vergnügens ver­ scherzen, den er nicht entbehren mochte. Von Zeit zu Zeit wagte er eine leichtfertige, halb scherzhafte Erklärung, die manche Frau für Ernst genom­ men haben würde. Aber Maria Consuelo wies solche Avancen mit Lachen oder mit einer Antwort zurück, in der sich ruhige Würde mit freundlicher Zurückweisung tactvoll verband. „Wenn sie nicht gut ist," sagte er sich endlich, „so muß sie ungeheuer ftug sein. Eins von beiden!"

Neuntes Kapitel.

Orsinos cinundzwanzigster Geburtstag fiel in die zweite Hälfte des Januar, wo die römische Saison auf ihrem Höhepunkte stand; da aber sein Mündigwerden dem jungen Manne keinen solchen plötzlichen Wechsel der gesellschaftlichen Stellung brachte, wie er sonst im Leben vaterloser Söhne epochemachend eintritt, so betrachtete man den Vorfall als eine Familienangelegenheit und beabsichtigte nicht, ihn ge­ sellschaftlich besonders zu feiern. Noch dazu fiel er auf den Tag der Woche, den die Montevarchi sich für ihr allwöchent­ liches Tänzchen reservirt hatten, und dem durfte man nicht in's Gehege kommen. Jedoch bestand der alte Fürst Saracinesca darauf, daß etwa zwanzig alte Freunde zu Tisch gebeten werden sollten, um auf das Wohl seines ältesten Enkels mit anzustoßen, und so geschah cs denn.

170 Stets blickte Orsino auf dieses» Zechgelage als auf eines der langweiligsten zurück, denen er je beigewohnt hatte. Die geladenen Freunde waren buchstäblich alt, und ihre Unterhaltung war nicht glänzend. Jeder richtete bei der Begrüßung einige beglückwünschende Sätze moralischen Inhalts an ihn, in abgerundete Perioden gekleidet, die an Ciceros pompöseste Sentenzen erinnerten. Jeder trank am Ende des Mahles seine Gesundheit aufs Specielle in einem winzigen Schlückchen alten Vino santos, und jeder machte Corona ein steifes Compliment wegen ihres jugendlichen Aussehens. Die Männer waren fast alle spanische Gran­ den erster Klasse und hatten in rührender Uebereinstimmung sämmtlich ihre Ordensbänder angelegt, was der Versamm­ lung ein imposantes Aussehen gab; leider aber waren mehrere von ihnen schläfrig veranlagt und nickten nach dem Essen ein wenig, was nicht dazu beitrug, die hervorge­ brachte Wirkung noch länger dauern zu lassen. Orsino kamen ihre Geschichten und Witzchen sehr langathmig und witzlos vor, und sogar der alte Fürst schien sich von der steifen Feierlichkeit des Vorgangs bedrückt zu fühlen und lachte selten. Corona mit heiterer Laune that ihr Mög­ lichstes, um ein Gespräch in Gang zu bringen, und gelegentlich flammte auch an ihrem Ende der Tafel ein Schimmer von lebhafterem Wesen auf; Sant' Ilario aber

war zum Sterben langweilig und sprach von nichts als Alterthumskunde und dem Verhör der Cenci, selbst inner­ lich verwundert, weßhalb er so außerordentlich trockene Gegenstände wählte. Was Orsino anbetrifst, so schenkten ihm die beiden alten Fürstinnen, zwischen denen er saßsehr wenig Beachtung und plauderten über ihn hinweg von den Eigenschaften ihrer jeweiligen Beichtväter und Ge­ wissensräthe. Er fragte sie mit boshafter Schalkheit, ob sic je

171 ins Theater gingen, worauf sie sehr kühl erwiderten, daß sie sich in ihre Logen setzten, wenn das Stück nicht auf dem

Index stände und kein Ballet darin vorkäme. Nun merkte Orsino, weßhaib er sie nie in der Oper sah, und sank wieder in sein Schweigen zurück. Der Kellermeister, ein Sohn des sagenhaften Pasquale früherer Tage, that sein Bestes, um den jüngsten seiner Herren mit einer großen Mannigfaltigkeit von Weinen fröhlich zu stimmen; doch Orsino wollte sich weder durch sehr herben Champagner noch durch sehr abgelagerten Rothwein trösten lasten. Er gelobte aber bittere Rache und schwur, bei den Montevarchis bis drei Uhr Morgens tanzen und die Nacht mit einem gewaltigen Baccarat im Club beschließen zu wollen, und zwar fing er an, diese Pläne auszuführen, sobald es sich irgend thun ließ. Rechtzeitig schieden die Gäste, feierlich ihre Segens­ wünsche erneuernd, und das Haus Saracinesca war sich selbst überlassen. Der alte Fürst stand vor dem Feuer in dem Staatsempfangszimmer, rieb sich die Hände und schüt­ telte den Kopf. Giovanni und Corona saßen einander gegenüber am Herde, sahen einander an und hätten bei­ nahe gelacht. Orsino war damit beschäftigt, ein Stück historischer Tapetenweberei, um das er sich sonst nie be­ kümmert hatte, auf's eingehendste zu studiren. Das Schweigen dauerte einige Zeit. Dann erhob der alte Saracinesca das Haupt und gab seinen Empfindun­ gen mit seiner ganzen früheren Energie Ausdruck. „Was für eine Bildergalerie!" rief er aus. „Ich hätte nicht geglaubt, daß ich's erleben würde, in meinem eigenen Hause mit einer Gesellschaft gestrandeter Gallionbilder zu speisen, die man in Reihen um meinen Tisch ge­ setzt hätte! Die Malerei ist ganz verwaschen, und die Ge-

172 Hirne sind ganz verbraucht, und nichts ist übrig, als ein rissiger alter Holzblock mit einem Ordensbande um den Hals. Du, Giovanni, wirst ihnen in einigen Jahren ganz ähnlich sein, denn Du wirst mir ganz ähnlich sein — wir alle bekommen mit siebzigJahren dieses Aussehen, und wenn wir ein DutzendJahre längerleben, so geschieht dies, weil dieVorsehung uns den Jüngeren als abschreckendes Beispiel hinstellen will." „Hoffentlich nennst Du Dich doch nicht selber ein Gallionbild", sagte Giovanni. „Sie, die jetzt nach Hause fahren, nennen mich in diesem selben Augenblicke mit schlimmeren Namen. .Dieser Methusalem-alte Saracinesca, wie kann er die Stirne haben, noch weiter zu leben?' So sprechen sie. ,Es gehörte sich doch, daß einer stürbe, wenn ihn die anderen gründlich satt haben, nicht aber, daß er mit bei Tische sitzt, um wie ein Todtenkopf auf Enkel und Urenkel herabzugrinsen!' So sprechen sie, Giovanni. Ich kenne einige von diesen Stein­ bildern seit sechzig und mehr Jahren, seit sie Babies waren und ich von Orsinos Alter. Denkt ihr etwa, ich wiffe nicht, wie sie sprechen? Du hältst mich immer für einen vertrauensseligen, guten, alten Burschen, Giovanni. Dann aber hast Du die menschliche Natur nie verstanden." Giovanni lachte und Corona lächelte, Orsino aber drehte sich um, um das seltene Vergnügen zu genießen, den alten Herrn in einem Anfälle leidenschaftlicher Erregung sich auf­ richten zu sehen. „Wenn Du stets zu vertrauensselig warst, so kam dies daher, daß Du zu gut warst," sagte Giovanni liebevoll. „Sa, gut und vertrauensselig, das ist's. Ihr wäret immer mit mir einig, wenn es sich um meine eigenen Fehler handelte. Nicht wahr, Corona? Kannst Du nicht gegen diesen Deinen unverschämten Gatten für mich auftreten?

173 Er schmäht mich immer, als wenn ich sein Eigenthum oder sein Gast wäre. Orfino, mein Junge, geh' weg — wir zanken uns hier alle wie eine Horde Wölfe, und Du sollst vor Deinen Eltern nicht die Achtung verlieren. Dein eigener Vater giebt mir Schimpfnamen"--------„Ich sagte, Du seiest zu gut," bemerkte Giovanni. „Ja, gut und vertrauensselig! Wenn Du noch etwas Schlimmeres ausfindig machen kannst, so sprich es aus, — gebe der Himmel, daß Du so lange lebst, daß Du auch einmal jenen nichtsnutzigen Orfino Dich gut und vertrauens­ selig nennen hörst, wenn Du zweiundachtzig Jahre alt bist. Und Corona lacht mich aus. Es ist nicht zum Aushalten. Du warst doch sonst ein gutes Mädchen, Corona — Du bist aber so stolz, daß Du vier Söhne hast, daß man un­ möglich länger mit Dir sprechen kann. Es ist schade, daß ihr sie nicht besser erzogen habt. Sieh den Orfino an! Er lacht auch!" „Aber sicher nicht über Dich, Großpapa," beeilte sich der junge Mann zu sagen. „Dann mußt Du über Deinen Vater oder über Deine Mutter lachen, oder über beide, da sonst Niemand hier ist, über den Du lachen könntest. Du braust spitzige Reden für Deine abscheuliche Zunge; ich weiß es, ich kann es Deinen Augen ansehen. Das ist die Art, wie Du Deine Kinder erzogen hast, Giovanni. Ich gratulire bestens. Bei meinem Worte, ich gratulire Dir von ganzem Herzen! Nicht als ob ich je etwas Besseres erwartet hätte. Du hast Dir ja selber das Gehirn leer gemacht mit wunderlichen fremden Ideen auf Deinen Reisen — um so größer meine Thorheit, daß ich Dich in der Welt herumlaufen ließ, als Du jung warst. Ich hätte Dich in Saracisnesca bei Brod

und Wasser einsperren sollen, bis Du von der Welt so viel

174 verstandest, daß Du Nutzen daraus ziehen konntest. Ich wünschte, ich hätte das gethan." Niemand von den Dreien konnte umhin, über diese außerordentliche Rede zu lachen. Orsino gewann zuerst seinen Ernst zurück, mit Hülfe der historischen Gobelins. Der alte Herr nahm hiervon Notiz. „Komm her, Orsino, mein Junge," sagte er. „Ich wünsche, mit Dir zu sprechen." Orsino kam vor. Der alte Fürst legte ihm eine Hand auf die Schulter und blickte auf, Orsino in's Gesicht. „Du bist heute einundzwanzig Jahre alt", sagte er, „und wir zanken uns alle, zu Ehren des Ereignisses. Du solltest Dich geschmeichelt fühlen, daß wir uns so viel Mühe geben, Dir den Abend möglichst angenehm verfließen zu lassen; Du besitzest aber wahrscheinlich nicht genug Unter­ scheidungsvermögen, um zu erkennen, was Dein Vergnügen uns kostet." Sein grauer Bart zitterte ein wenig, seine runzligen Züge kniffen sich noch mehr zusammen, und dann leuchtete ein breites, gutmüthiges Lächeln auf dem uralten Ge­ sichte auf. „Wir sind zänkisches Volk", fuhr er in seinem zärt­ lichsten und herzlichsten Tone fort. „Als Giovanni und ich jung waren — Du weißt, wir waren zusammen jung — zankten wir uns jeden Tag, so regelmäßig, wie wir aßen und tranken. Ich glaube, es war sehr gut für uns. Wir schlossen gewöhnlich vor dem Schlafengehen Frieden — um mit klarem Bewußtsein wieder anzufangen. Alles diente uns als Ausgangspunkt — das Wetter, die Suppe, die Farbe eines Pferdes." „Ihr müßt ja ein außerordentlich lebhaftes Leben ge­ führt haben", bemerkte Orsino, höchlich belustigt.

175 „Für uns war es sehr gut, Orfino; für Dich aber wird es nicht paffen. Du bist Deinem Vater nicht so ähn­ lich, wie er in Deinem Alter mir war. Wir kämpften mit denselben Waffen, das würdet ihr beide nicht thun, wenn ihr überhaupt kämpfen wolltet. Wir fochten zu unserem Vergnügen, und behielten die Knöpfe auf den Rapieren. Du besitzest weder mein wahrhaft engelhaftes Temperament, noch Deines Vaters eisige Kälte — er lacht schon wieder — macht nichts, er weiß doch, daß es wahr ist. Du hast eine teuflische Zunge. Streite nicht zum Vergnügen mit Deinem Vater, Orsino. Seine Ruhe wird Dich erbosen, wie mich, Du wirst aber nicht im rechten Augenblicke lachen, wie ich mein Leben lang gethan habe. Du wirst Groll gegen ihn hegen, und verdrießlich und beständig übel­ launig werden. Und sprich nicht alle die Bosheiten aus, an die Du denkst, weil Du mit Deinem Charakter in ernst­ liche Verlegenheiten kommen kannst. Wenn Du wirklich allen Grund hast, zornig zu sein, so ist es besser, Du schlägst, als Du sprichst, und in solchen Fällen rathe ich Dir sehr, Du schlägst zuerst. Jetzt geh' und amüsire Dich, denn von unserer Gesellschaft mußt Du genug gehabt haben. Ich gedenke nicht, Dir irgend einen anderen Rath bei Deinem Mündigwerden zu geben." Darauf sachte er wieder und stieß seinen Enkel weg,

augenscheinlich hocherfreut über die Vorlesung, die er ihm gehalten hatte. Orsino hatte es eilig, die Erlaubniß zu benützen, und war bald im Ballsaale der Montevarchi, bestens bestrebt, das traurige, ihm zu Ehren gegebeneFestmahl zu vergessen, dem er soeben beigewohnt hatte. Jedoch gelang ihm das nicht ganz. Er hatte viele Monate lang diesem Tage entgegengesehen, als einem Tag der Freude und der Befreiung, und er war schmerzlich enttäuscht worden. Es

176 lag etwas Unheilverkündendes, so dachte er, in der entsetz­ lichen Stumpfheit der eingeladenen Gäste, denn sie hatten ihm Glück gewünscht zum Eintritt in ein Leben, das dem ihren genau glich. Und je genauer es dem ihren gleichen würde, um so geachteter würde er selbst sein, wenn er ihr hohes Alter erreichte. Die Zukunft, die sich ihm da er­ schloß, war nicht fröhlich. Er sollte vierzig, fünfzig, ja vielleicht sechzig Jahre in demselben Kreise von Ueberliefe­ rungen leben, verstrickt in dasselbe Netz von Vorurtheilen. Er hatte vielleicht einen kleinen Roman, wie ihn sein Vater vor ihm gehabt hatte; darüber hinaus aber lag nichts mehr. Sein Vater schien völlig mit seinem ruhigen, von keinem Luftzuge gekräuselten Dasein zufrieden und weit davon entfernt, irgend eine Aenderung zu wünschen. Das feudale Wesen desselben war in Wirklichkeit noch thatsäch­ lich vorhanden, obgleich der Theorie nach abgeschafft; und der alte Fürst war ein so großer Feudalherr wie je einer, dessen Interessen seinem mutmaßlichen Erben im dritten Grade in ihrer Beschränktheit fast zunftartig, in ihren Einzelheiten fast schmutzig und in ihrer Gesammtheit wenig anziehend erschienen. Was war Orsino z. B. der Bauer von Aquaviva? Doch Sant' Ilario und der alte Saracinesca interessirten sich lebhaft für dessen Thun und Lassen und für das Thun und Lassen von vier oder fünf Hundert seiner Art, die sie bei Namen kannten und von denen sie wie von Besitztümern sprachen, etwa so, wie sie von Büchern in ihrer Bibliothek gesprochen hätten. Zinsen von Bauern einzusammeln und sich persönlich zu vergewissern, ob ihre Häuser der Ausbesserung bedurften, war keine her­ vorragende Laufbahn. Orsino dachte mit Neid an San Giacintos zwei Söhne, die in der italienischen Armee ein Leben führten, das ihm verhältnißmäßig thätig und ange-

177 regt zu sein schien, und die die Aussicht hatten, sich durch ihr eigenes Verdienst auszuzeichnen. Er dachte an San Giacinto, an seine ruhelose Thatkraft und die hervorragende Stellung, die er sich schuf. San Giacinto war ebenso gut ein Saracinesca, wie Orsino, denselben Namen tragend und von der Welt im Großen und Ganzen vielleicht nicht weni­ ger geachtet, als die Uebrigen, wenn er auch seine Hände mit finanziellen Unternehmungen besudelt hatte. Sogar Del Ferices Stellung wäre über alle Kritik erhaben ge­ wesen, wären nicht in seinem früheren Leben gewisse Sachen vorgekommen, die aber mit seiner gegenwärtigen Beschäfti­ gung nicht unmittelbar in Zusammenhang standen. Und als ob es an diesen Beispielen noch nicht genügt hätte, so gab es, nach Orsinos sicherer Kenntniß, ein halbes Dutzend Männer von seines Vaters Range, die gerade jetzt in die Börsenunternehmungen des Tages tief verwickelt waren. Montevarchi war einer von ihnen, und weder er noch die anderen suchten ihr Thun und Treiben geheim zu halten. „Sicherlich", dachte Orsino, „habe ich einen ebenso guten Kopf, wie irgend einer von ihnen, mit Ausnahme, vielleicht, von San Giacinto." Und er wurde immer unzufriedener mit seinem Loose, und immer zorniger über sich selbst, daß er sich so an Händen und Füßen gebunden unterwarf und auf dem Altar des Feudalsystems opfern ließ. An diesem Tage hatte ihn alles enttäuscht und gereizt; die Langweiligkeit des Fest­ mahls, der Anblick des friedlichen Glückes seiner Eltern, der Rath, den sein Großvater ihm gegeben hatte — der ja an sich gut, aber zum mindesten kläglich ungenügend war. Schnell näherte er sich jenem geistigen Zustande, in dem junge Leute das Unerwartetste thun, lediglich um des Ver­ gnügens willen, ihre Angehörigen zu überraschen. Crawsord, Ton Orsino.

I.

12

178 Er wurde des Balles müde, weil Frau von Aranjuez nicht da war. Er sehnte sich danach, mit ihr zu tanzen, und wünschte, es stünde ihm frei, in den Häusern zu ver­ kehren, in die sie eingeladen wurde. Bis jetzt aber sah sie nur die Weißen und hatte auch nicht mit einer einzigen Grauen Familie Bekanntschaft gemacht, trotz seines stürmi­ schen Drängens. Er konnte nicht sagen, ob sie irgend einen bestimmten Grund habe, so zu wählen, oder ob es bis jetzt das Ergebniß des Zufalls gewesen sei; er entdeckte aber, daß er sich verletzt fühlte, wohin auch immer er ging, weil sie nicht zugegen war. Als an diesem besonderen Abende die Zeit des Soupers gekommen war, trat er einer Ver­ schwörung gewisser erlesener Geister bei, die Gesellschaft zu verlassen und'sich im Club und bei den Karten seßhaft zu machen. Der Anblick der Spieltische belebte ihn wieder, und er that einen tiefen Athemzug, als er sich mit einer Cigarette im Munde und einem Glase Wein neben sich hinsetzte. Es sah so aus, als ob der Tag schließlich anfinge. Orsino war ebenso wenig ein geborener Spieler, als er zum tüchtigen Trinker veranlagt war. Er liebte die Er­ regung in jeder Gestalt, und da er körperlich so gestellt war, daß er sie besser als die meisten Männer ertragen konnte, so ergriff er sie gierig, in welcher Form auch immer sie sich ihm bot. Er spielte weder, noch trank er täglich; wenn er aber das eine oder das andere that, so war er geneigt, mehr zu spielen, als andere Leute und heftiger zu trinken. Doch war seine Einsicht nicht hervorragend, und auch sein Kopf nicht stärker, als die Köpfe seiner Genossen. Große Spieler trinken nicht, und große Trinker find keine guten Spieler, obgleich sie manchmal in der Bezechtheit wunderbares Glück haben.

179 Es ist zwecklos, den ungeheueren Einfluß zu leugnen, den Branntwein und Glücksspiele auf die jetzt lebenden Menschen ausüben; auch bringt es wenig Nutzen, solche Vorgänge zu beschreiben, wie sie sich jede Nacht in vielen Clubs über ganz Europa hin abspielen. Allerdings ließe sich etwas erreichen, wenn wir den Ursachen nachspüren könnten, welche das Spiel zum speciellen Laster unserer Generation gemacht haben; denn diese Entdeckung könnte uns ein Mittel zeigen, einen heilsamen Einfluß auf die nächste auszuüben. Ich glaube aber nicht, daß dies mög­ lich ist. Ohne Zweifel find die Zeiten, in dem Maße, als die Civilisation sie gleichförmiger gestaltet hat, immer lang­ weiliger geworden; ich glaube aber nicht, daß der Gemein­ platz recht hat, das Laster sei ein Kind der Trägheit. Der wirklich träge Mensch ist ein armseliges Geschöpf, zu star­ ken Sünden unfähig. Weit öfter ist es der Mann von hervorragender Begabung, dessen geistige Kraft überarbeitet ist, und deffen Nerven durch übermäßige geistige Thätigkeit über das Durchschnittsmaß angespannt sind, der sich, um Ruhe zu finden, lasterhaften Aufregungen zuwendet, wie ein stumpfer Mensch einschläft. Männer, deren Leben unter den Wechselfällen, Ueberraschnngen und Enttäuschungen des Geldmarktes verläuft, sind sicherlich weniger träge als Land­ edelleute; der vielbeschäftigte Advocat hat weniger Zeit übrig, als der an Begabung gleichstehende Collegiat; der geschickte Mechaniker arbeitet im Durchschnitte des ganzen Jahres unendlich angestrengter, als der ländliche Tage­ löhner; das Leben eines Seemanns auf einem gewöhnlichen Kauffahrteischiffe ist ein Leben voller Ruhe, Behaglichkeit und Sicherheit im Vergleiche zu dem eines Steinkohlen­ gräbers. Nun kann es kaum zweifelhaft sein, wer von den beiden in jedem der beigebrachten Beispiele seine Erholung 12*

180 in harmloser oder bösartiger Aufregung sucht, wer in Schlaf. Der Börsenspeculant, der Advokat, der Mecha­ niker, der Bergmann, und so in jedem anderen Falle immer die Männer, deren geistige Fähigkeiten auf's schärfste an­ gespannt werden, find die, welche in ihren Mußestunden starke Erregungen suchen, und um so mehr geneigt sind, eine solche Muße auf Kosten der Ruhe des Körpers aus­ zudehnen. Man kann den Einwurf erheben, daß sich das schlimmste Laster in den höchsten Klaffen derGesellschaft findet, d. h. unter Männern, die keine feste Beschäftigung haben. Ich antworte darauf, daß dies erstens keine bekannte That­ sache, sondern nur Gegenstand der Annahme ist; und daß zweitens ein solcher Schluß hauptsächlich aus dem Um­ stande gezogen wird, weil die üblen Thaten derartiger Per­ sönlichkeiten, wenn sie bekannt werden, von denen auf's schärfste gegeißelt werden, deren Geißeln am schwersten ins Gewicht fällt, nämlich von den Standesgenoffen der be­ troffenen Sünder, ebenso wie von Romanschriftstellern, deren Ansichten beachteiiswerth sein mögen oder nicht. Auf einen

Zola, den Historiker der Rougon-Macquart-Familie, kom­ men hundert Männer, die es wie Zola machen möchten, Kritiker höherer Ordnung, weniger unangenehm auf pein­ liche Genauigkeit in Einzelheiten erpicht, aber doch ebenso unbarmherzig in der Tendenz. Selbst wenn aber der Be­ weis gegen die Gesellschaft geführt werden könnte, was ja möglich ist, so glaube ich doch nicht, daß sie deshalb träge genannt werden darf, weil viele von denen, die sie bilden, keine feste Beschäftigung haben. Der Tag der Gesellschaft ist lang. Sie würde das Achtstundensystem, welches die Arbeitervereinigungen verlangen, nicht annehmen. Nicht selten arbeitet sie zwölf, vierzehn und sogar sech­ zehn Stunden in einem Striche mit Hochdruck. Die geistige

181 Anstrengung, wenn auch nicht die höchste ihrer Art, ist un­ vergleichlich stärker, als die, welche zum Erfolge in vielen einträglichen Gewerben oder Fertigkeiten erforderlich ist. Die allgemeine Abwesenheit eines bestimmten Zieles reibt die Fähigkeiten in der scharfen Verfolgung von Einzelhei­ ten wund, und verleiht winzigen Kleinigkeiten eine Wich­ tigkeit, die bei jeder Wendung und Drehung die von den Nerven getragene Verantwortlichkeit überbürdet. Faule Leute find in Empfangszimmern nicht beliebt und noch weniger an der häuslichen Tafel. Man erwäge auch, daß der Durchschnittsmensch der höheren Gesellschaft, und auch viele Frauen, täglich ein Maß körperlicher Ermüdung aus­ halten müssen, das dem vielleicht gleich ist, welches viele Handwerker und Gewerbetreibende zu ertragen haben, und viel größer, als das in den studirten Berufsarten erforder­ liche, und noch dazu unter weit weniger günstigen Bedin­ gungen. Man rufe fich alle diese Punkte ins Gedächtniß zurück. Man rechne zusammen: die körperliche Anstren­ gung, die geistige Thätigkeit, die nervöse Anspannung. Man nehme die Summe und stelle sie der gegenüber, die durch ein ähnliches Verfahren aus anderen Lebensbedin­ gungen gewonnen ist. Ich denke, das Urtheil kann nicht sehr zweifelhaft sein. Die aufgewandte Kraft ist, wenn man will, vergeudet, sie ist aber riesig groß, und mehr als genügend, um zu beweisen, daß diejenigen, welche sie täg­ lich aufwenden, keineswegs träge sind. Außerdem läßt fich keine der unvermeidlichen äußeren und sichtbaren Wirkun­ gen der Trägheit an den gewöhnlichen Männern oder Frauen der hohen Gesellschaft wahrnehmen. Im Gegentheil zeigen die meisten von ihnen die besonderen und unverkennbaren Zeichen physischer Erschöpfung, deren oberstes die Blut­ leere im Gehirn ist. Sie find überhetzt und über-

182 arbeitet;

in

der Sprache

des Sports

find

fie

„abge­

trieben". Männer, wie Orsino Saracinesca, find in dem Alter, in dem er stand, nicht lasterhaft, wenn fie es auch später werden können. Das Laster fängt dann an, wenn die Rei­ zung aufhört, eine Sache des Geschmacks zu sein, und sich in ein Bedürfniß wandelt. Orfino spielte ein Hazardspiel, weil es ihn belustigte, wenn keine andere Belustigung zu haben war; und er trank, während er spielte, weil dies das Vergnügen noch vergnüglicher erscheinen ließ. Er war viel zu jung, gesund und stark, um ein unwidersteh­ liches Verlangen nach etwas Unnatürlichem zu empfinden. Bei der vorliegenden Gelegenheit kümmerte er sich zu­ erst sehr wenig darum, ob er gewann oder verlor, und wie das einem Manne in solcher Stimmung oft geschieht, ge­ wann er im Laufe der ersten Stunde eine ansehnliche Summe. Der Anblick der Banknoten vor ihm stärkte einen Gedanken, der ihm seit kurzem mehr als einmal durch den Kopf gefahren war, und die starken Getränke, denen er reichlich zusprach, verdichteten ihn Plötzlich zu einem festen Vorsatze. Allerdings gebot er nicht über eine Geldsumme, die mit dem stolzen Namen Kapital hätte belegt werden können, doch hatte er gewöhnlich genug in der Tasche, um sich am Spiele betheiligen zu können, und heute Nacht hatte er eher mehr als sonst. Es fiel ihm ein, daß er, wenn er durch fortgesetztes Glück einige Tausende gewinnen könnte, mehr als genug haben würde, um sein Glück in den Bguspeculationen zu versuchen, von denen Del Ferice ge­ sprochen hatte. Der Plan nahm greifbare Gestalt an und verlieh seinem Spiele sofort ein leidenschaftliches Interesse. Gewöhnlich hatte Orsino kein festes System und über­ ließ alles dem Zufalle; kaum aber hatte er sich vorgenom-

183 men, daß er gewinnen müsse, so dachte er sich rasch ein bestimmtes Verfahren aus und fing an, sorgfältiger zu spielen. Natürlich verlor er, und als er seinen Banknoten­ haufen zusammenschmelzen sah, füllte er sein Glas immer häufiger. Gegen zwei Uhr hatte er nur noch fünfhundert Franken übrig, sein Gesicht war todtenblaß, die Lichter blendeten ihn und seine Hände fuhren unsicher hin und her. Er hielt augenblicklich die Bank, und wußte, daß, wenn er auf die Karte verlor, er Geld borgen mußte, was er nicht gern thun wollte. Er gab sich selber eine Piquefünf und warf einen raschen Seitenblick nach den Einsätzen. Sie waren recht beträchtlich. Ein letztes Gefühl der Vorsicht warnte ihn, noch eine Karte zu nehmen. Die Tafel schlug eine Sechs um, und er verlor. „Leihen Sie mir etwas Geld, Filippo", sagte er zu seinem nächsten Nachbarn, der ihm sofort eine Anzahl Bank­ noten hinzühlte. Orsino bezahlte mit dem Gelde, und die Bank ging weiter. Er leerte sein Glas und zündete sich eine Ciga­ rette an. Bei feder folgenden Vorhand setzte er eine kleine Summe und verlor sie, bis die Bank wieder zu ihm kam. Noch einmal hielt er eine Fünf. Die anderen sahen, daß er im Verlieren war, und setzten alles auf, was sie konn­ ten. Orsino zögerte. Mit Recht bemerkte jemand, daß er wahrscheinlich wieder eine Fünf in der Hand habe. Die Lichter verschwammen undeutlich vor seinen Augen, und fast willenlos zog er noch eine Karte. Es war eine Vier. Orsino lachte nervös, als er die Banknoten einsammelte und das, was er geborgt hatte, zurnckzahlte. An das, was sich nachher zutrug, konnte er sich nicht mehr deutlich erinnern. Die Gesichter der Karten wurden

184 immer verschwommener und die Lichter immer greller. Er spielte blind darauf los und gewann fast ununterbrochen; bis die anderen Herren nach einander verschwanden, indem jeder so viel verloren hatte, als er bei einer Sitzung auf's Spiel setzen konnte. Um vier Uhr Morgens fuhr Orsino in einer Droschke nach Hause, mit ungefähr fünfzehntausend Franken in den Taschen. Die Herren, mit denen er ge­ spielt hatte, waren meistens junge Burschen wie er selber, mit einer begrenzten Rate von Taschengeld, so daß sein Gewinn unter diesen Umständen höchst ansehnlich war. Die Nachtluft kühlte ihm den Kopf, und er lachte sich fröhlich zu, als er durch die menschenleeren Straßen fuhr. Seine Hand zitterte jetzt nicht mehr und die Gaslampen tanzten ihm nicht mehr unangenehm vor den Augen hin und her. Er hatte aber die Stufe der Aufregung erreicht, wo eine fixe Idee das Gehirn in Beschlag nimmt; und wäre es möglich gewesen, so wäre er ohne Zweifel so wie er war, im Gesellschastsanzuge, mit seinem Gewinne in der Tasche, hingegangen und hätte Del Ferice oder San Giacinto oder sonst jemanden, der ihm dazn verhelfen konnte, sein Geld auf einen Bauantheil zu wagen, aufgeweckt. Widerstrebend ergab er sich in die Nothwendigkeit zu Bett zu gehen, und schlief, wie man eben mit einundzwanzig Jahren schläft, bis nahezu elf Uhr am nächsten Morgen. Während er sich anzog, rief er sich die Vorfälle der vergangenen Nacht in's Gedächtniß zurück und war er­ staunt, daß seine Idee noch immer so fest war wie je. Er zählte das Geld. Es war fünfmal so viel, als Del Ferices Zimmermann, Tabakshändler und Maurer insgesammt hatten zusammenschaben können. Also hatte er, nach seiner sehr einfachen Berechnung, fünfmal so viel Aussicht auf Erfolg wie sie. Und sie waren erfolgreich gewesen. Sein

185 Plan bezauberte ihn, und der Ausblick auf eine beständige anregende Beschäftigung erfüllte ihn mit einem Entzücken, das seinem Character alle Ehre machte. Er wollte beschäf­ tigt sein, und das Zauberwort „Geschäft" erklang vor seinen Ohren. Es war ohne Zweifel ein Spähen nach Gewinn, eine Speculation; er aber sah es nicht als eine Form des Glückspiels an; hätte er dies gethan, so würde er ihm nicht an zwei Tagen nacheinander seine Aufmerk­ samkeit gewidmet haben. In seinen Augen war es etwas viel Besseres. Für ihn bedeutete es: Etwas thun, Jemand sein, einen Platz ausfüllen und von dem endlos langweili­ gen Wege abschweifen, der vor ihm lag und der in die Perspective eines nichtssagenden Greisenalters auslief. Er hatte nicht die geringste Vorstellung davon, was es für ein Geschäft sei, mit dem er sich zu beschäftigen be­ gehrte. Er war völlig unkundig des Verfahrens, wie man mit Geld umgeht, und er wußte ebenso wenig, was ein Wechsel auf drei Monate bedeutete, wie er den Bau der Taschenuhr, die er bei sich trug, hätte erklären können. Von den Grundprincipien des Bauens wußte er womög­ lich noch weniger, auch hatte er keine Ahnung, ob der Bau­ grund in der Stadt einen Franken oder tausend Franken per Ouadratfuß werth sei. Er sagte sich aber, daß derlei Dinge bloße Einzelheiten seien, und daß er alles, was er von ihnen brauchte, in vierzehn Tagen lernen könne. Muth und gutes Urtheil, hatte Del Ferice gesagt, seien die Haupt­ erfordernisse für den Erfolg. Muth besaß er, auch hielt er sich für kühl, und bis er für sich selbst urtheilen konnte, wollte er sich des Urtheils anderer bedienen. Er wußte sehr wohl, was sein Vater über den ganzen Plan denken würde, hatte aber nicht die Absicht, sein Vor­ haben zu verheimlichen. Seit gestern war er mündig, und

186 war daher sein eigener Herr, soweit sich seine eigenen ge­ ringen Hülfsmittel erstreckten. Sein Vater hatte nicht die Macht, ihn zu hindern, sich auf irgend ein ehrenvolles Unternehmen einzulaffen, wenn er sich auch mit Recht wei­ gern konnte, die Verantwottung für die Folgen zu über­ nehmen. Schlimmstenfalls, dachte Orsino, konnten diese Folgen darin bestehen, daß er das Geld verlor, welches er in Händen hatte. Da er Nichts weiter aufs Spiel zu setzen hatte, so hatte er auch Nichts weiter zu verlieren. In diesem Lichte betrachten die meisten unerfahrenen Leute die ge­ schäftliche Speculation. Orsino ging daher zu seinem Vater und entfaltete seinen Plan, ohne Del Ferice zu erwähnen. Sant'Ilario hörte ziemlich ungeduldig zu und lachte, als Orsino ge­ endet hatte. Er hatte nicht die Absicht, unfreundlich zu sein, und wenn er sich die Wirkung hätte träumen laffen, die sein Benehmen hervorbringen würde, so wäre er vor­ sichtiger gewesen. Er verstand aber seinen Sohn nicht, wie er selber von seinem eigenen Vater verstanden worden wäre. „Das ist ja alles Unsinn, mein Junge", antwortete er. „Es ist bloß eine vorübergehende Phantasie. Was verstehst Du von kaufmännischem Geschäfte oder von Baukunst oder von hundert anderen Dingen, die Du völlig verstehen müßtest, ehe Du etwas Derartiges, wie das, was Du hier vorschlägst, versuchen dürftest?" Orsino schwieg und sah zum Fenster hinaus, obgleich er augenscheinlich zuhörte. „Du sagst, Du brauchst eine Beschäftigung? Das ist keine. Als Banquier hast Du eine Beschäftigung, und als Baumeister hast Du eine Laufbahn, was wir aber in Rom Geschäfte nennen, ist weder das eine noch das andere.

187 Wenn Du ein Banquier werden willst, mußt Du auf eine Bank gehen und Jahre lang Schreiberdienste verrichten. Wenn Du beabsichtigst, die Baukunst als einen Beruf zu ergreifen, so mußt Du allerwenigstens vier oder fünf Jahre auf ihr Studium verwenden." „Das hat San Giäcinto nicht gethan", bemerkte

Orsino kalt. „San Giäcinto hat einen sehr viel befferen Kopf auf den Schultern, als Du oder ich, oder so ziemlich jeder andere Mann in Rom. Er hat es verstanden, anderer Leute Talente zu benützen, und er besaß eine weit prak­ tischere Erziehung, als ich sie Dir hätte geben mögen. Wäre er nicht einer der ehrlichsten Menschen, die es giebt, so wäre sicherlich einer der größten Schurken aus ihm ge­ worden." „Ich kann nicht einsehen, was das damit zu thun hat", sagte Orsino. „Nicht viel, muß ich gestehen. Sein Jugendleben aber war Anlaß, daß er die Menschen verstand, wie wir beide, Du und ich, sie nicht verstehen können, und, für diesen Zweck auch nicht zu verstehen brauchen." „Hast Du etwas gegen mein Vorhaben einzuwenden?" „Ich thue nichts Dergleichen. Wenn ich etwas gegen ein Vorhaben einzuwenden habe, so hindere ich es durch freundliche Worte oder Gewalt. Ich bin nicht geneigt, offenen Krieg mit Dir, Orsino, anzufangen, und ich möchte Dich schließlich auch nicht überwinden. Ich will vollstän­ dig unparteiisch bleiben. Ich will Nichts mit diesem Ge­ schäfte zu thun haben. Wenn ich daran glaubte, möchte ich Dir alles Kapital geben, das Du brauchen könntest; ich werde aber nicht Dein Jahrgeld vermindern, um Dich zu hindern, Dein Geld wegznwerfen. Wenn Du für Deine

188 Vergnügungen oder Liebhabereien mehr Geld brauchst, so sage es; ich liebe es nicht, kleine Ausgaben zusammenzu­ rechnen, und ich habe Dich auch nicht zum Pfennigfuchser erzogen. Spiele nicht mehr Hazard, als unumgänglich noth­ wendig ist; wenn Du aber verlierst und borgen mußt, so borge von mir; wenn ich denke, daß Du zu weit gehst, werde ich es Dir sagen. Bei Deinem jetzigen Vorhaben aber rechne auf keinerlei Hülfe von mir. Du wirst keine erhalten. Wenn Du Dich in einer kaufmännischen Ver­ legenheit befindest, so sieh selber zu, wie Du herauskommst. Wenn Du besseren Rath brauchst, als ich Dir geben kann, so geh zu San Giacinto. Er wird Dir sagen, welche An­ sicht ein Mann der Praxis von dem Falle hat." „Auf alle Fälle sprichst Du frei und offen", sagte Lrsino, indem er sich vom Fenster wegwandte und seinem Vater ins Gesicht sah. „Das thun die Meisten von uns in diesem Hause", antwortete Sant' Ilario. „Dadurch wird es Dir um so schwerer werden, mit den Schurken zu verkehren, die sich Geschäftsleute nennen." „Ich will es doch versuchen, Vater," sagte der junge Mann. „Ich will zu San Giacinto gehen, wie Du mir das uahelegst, und ihn nach seiner Meinung fragen. Sucht er mich aber zu entmuthigen, so will ich trotzdem doch mein Glück versuchen. Ich kann dieses Leben nicht länger führen. Ich brauche eine Beschäftigung, und ich will mir eine schaffen. „Nicht eine Beschäftigung brauchst Du, Orfino, sondern ein anderes Reizmittel. Weiter ist es Nichts. Wenn Du eine Beschäftigung brauchst, so studire, lerne etwas, sieh' mal selbst zu, was Arbeit heißt. Oder gehe nach Saracinesca und baue Häuser für die Bauern; jedenfalls wirst

189 Du dort keinen Schaden anrichten. Geh' und entwässere jenen Landstrich in der Lombardei; ich kann Nichts damit an­ sangen und möchte ihn womöglich verkaufen. Das aber ist es nicht, was Du willst. Du willst ein Reizmittel für die Morgenstunden. Sehr gut. Du wirst wahrscheinlich mehr daran finden, als Dir lieb ist. Versuche es; das ist alles, was ich zu sagen habe." Wie viele sehr gerechte Männer, konnte Giovanni, wenn er durchaus überzeugt war, daß er recht habe, einen bestimmten Fall mit empörender Unbilligkeit behandeln. Orsino stand einen Augenblick still, und schritt dann, ohne noch ein Wort zu sagen, auf die Thür zu. Sein Vater rief ihn zurück. „Was giebt's?" fragte Orsino kalt. Sant' Ilario streckte ihm mit freundlichem Blicke die Hand hin. „Ich will nicht, daß Du denkst, ich sei zornig, mein Junge. Deshalb wird zwischen uns keine Feindschaft sein?" „Durchaus keine", sagte.der junge Mann, wenn auch nicht gerade sehr munter, während er seines Vaters Hand ergriff und schüttelte. „Wie ich sehe, bist Du ja nicht böse. Du verstehst mich bloß nicht." Er schritt hinaus, enttäuschter von dem Ergebniß der Unterredung, als er erwartet hatte, trotzdem er keineswegs darauf gerechnet hatte, irgendwelche Ermuthigung zu er­ halten. Er hatte sehr wohl gewußt, wie seines Vaters Ansichten waren, hatte aber nicht vorausgesehen, daß der Ausdruck derselben ihn so sehr reizen würde. Sein Ent­ schluß wurde um so fester; von nun an wollte er sich durch Nichts mehr hindern lassen. Jedoch war er willig und be­ reit, San Giacintos Rath zu hören, und so ging er, un-

190 mittelbar nachdem er Sant' Ilarios Arbeitszimmer verlassen hatte, nach des . letzteren Hause. Was Giovanni betrifft, so hatte er das dunkle Gefühl, daß er einen Fehler begangen habe, obgleich er ihn nicht zugeben wollte. Er war ein tüchtiger Reiter und fand bei längerem Nachdenken, daß er einem widerspenstigen Füllen gegenüber ein ganz anderes Verfahren beobachtet haben würde. Wenige Männer aber sind weise genug einzusehen, daß man nur ein allgemein gültiges Princip in der Aus­ übung sittlicher oder physischer Kraft befolgen darf; und anstatt in Thätigkeiten, die ihnen geläufig sind, Vorbilder zu suchen, als ein Mittel, die nicht geläufigen zu stände zu bringen, versuchen sie, bei jeder Wendung neue Theorien der Steuerung zu entdecken, und lassen sich durch ihren eigenen Wunsch, das Ende schnell zu erreichen, von der geraden Linie weiter und weiter ablenken. „Jedenfalls", dachte Sant'Ilario, „wird des Burschen neues Steckenpferd ihn an Orte führen, wo er jenes Weib wahrscheinlich nicht antreffen wird." Und mit dieser unhöflichen Betrachtung über Frau d'Aranjuez tröstete er sich. Er hielt es nicht für nöthig, Corona von Orfinos Absichten Mittheilung zu machen, weil er einfach nicht glaubte, daß sie zu etwas Ernstem führen würden, und es für überflüssig hielt, sie unnützer­ weise mit Ausblicken auf künftige Verdrießlichkeiten zu quälen. Wenn Orfino mit ihr darüber sprechen wollte, so stand ihm das frei.

Zehntes Kapitel.

Orsino ging geradeswegs nach San Giacintos Hause und sand ihn in dem Zimmer, das er als Arbeitszimmer

190 mittelbar nachdem er Sant' Ilarios Arbeitszimmer verlassen hatte, nach des . letzteren Hause. Was Giovanni betrifft, so hatte er das dunkle Gefühl, daß er einen Fehler begangen habe, obgleich er ihn nicht zugeben wollte. Er war ein tüchtiger Reiter und fand bei längerem Nachdenken, daß er einem widerspenstigen Füllen gegenüber ein ganz anderes Verfahren beobachtet haben würde. Wenige Männer aber sind weise genug einzusehen, daß man nur ein allgemein gültiges Princip in der Aus­ übung sittlicher oder physischer Kraft befolgen darf; und anstatt in Thätigkeiten, die ihnen geläufig sind, Vorbilder zu suchen, als ein Mittel, die nicht geläufigen zu stände zu bringen, versuchen sie, bei jeder Wendung neue Theorien der Steuerung zu entdecken, und lassen sich durch ihren eigenen Wunsch, das Ende schnell zu erreichen, von der geraden Linie weiter und weiter ablenken. „Jedenfalls", dachte Sant'Ilario, „wird des Burschen neues Steckenpferd ihn an Orte führen, wo er jenes Weib wahrscheinlich nicht antreffen wird." Und mit dieser unhöflichen Betrachtung über Frau d'Aranjuez tröstete er sich. Er hielt es nicht für nöthig, Corona von Orfinos Absichten Mittheilung zu machen, weil er einfach nicht glaubte, daß sie zu etwas Ernstem führen würden, und es für überflüssig hielt, sie unnützer­ weise mit Ausblicken auf künftige Verdrießlichkeiten zu quälen. Wenn Orfino mit ihr darüber sprechen wollte, so stand ihm das frei.

Zehntes Kapitel.

Orsino ging geradeswegs nach San Giacintos Hause und sand ihn in dem Zimmer, das er als Arbeitszimmer

191 benützte, und in welchem er die vielen Personen empfing, die er oft genöthigt war, in Geschäftsanqelegenheiten zu empfangen. Der Hüne war allein und saß hinter einem breiten polirtcn Tische, mit Schreiben beschäftigt. Mit Er­ staunen sah Orfino die ungemein sorgfältige Ordnung, die überall herrschte. Papiere waren in Bündel von genau gleicher Form zusammengebunden, und diese lagen in zwei Reihen von mathematischer Genauigkeit. Das dicke Tinten­ faß stand gerade in der Mitte der beiden Reihen, und das Falzbein, ein Federhalterständer und ein Radirmeffer lagen Seite an Seite dem Tintenfaffe gegenüber. An den Wän­ den entlang liefen niedrige Bücherregale von schwerfälliger und strenger Form, angefüllt hauptsächlich mit Documenten, die zierlich in Bände zusammengebunden und auf dem Rücken in San Giacintos klarer Handschrift numerirt und bezeichnet waren. Der einzige Gegenstand von Schönheit in dem Zimmer war ein lebensgroßes Bildniß Flavias, von einem großen Künstler, welches über dem Kamin hing. Die strenge Symmetrie des Ganzen wurde noch eindrucks­ voller durch die Größe der Gegenstände — der Tisch war umfangreicher, als gewöhnliche Tische, die Lehnstühle waren tiefer, breiter und niedriger, als sonst, das Tintenfaß war größer, sogar der Federhalter in San Giacintos Fingern war länger und dicker, als irgend einer, den Orfino je ge­ sehen hatte, und doch fühlte dieser, daß in dem allen nichts Affectirtes war. Der Mann, dem diese Dinge gehörten, und der sie täglich in Gebrauch nahm, war selber nach einem großartigeren Maßstabe geschaffen, als andere Menschen. Obgleich er älter als Sant' Ilario und, thatsächlich, nicht mehr weit von den Sechzigen entfernt war, hätte San Giacinto leicht für jünger als fünfzig gehalten wer-

192 den können. Es gab kaum ein graues Fädchen in seinem kurzen, dichten, schwarzen Haare, und er war noch ebenso mager und kräftig und fast ebenso thätig, als er dreißig Jahre früher gewesen war. Die breiten Züge waren viel­ leicht etwas knochiger, und die Augen lagen etwas tiefer, als dies früher der Fall gewesen war, jedoch liehen diese Veränderungen dem Gesichte eher ein Ansehen von Würde, als von Alter. Er erhob sich, um Orsino zu begrüßen, und ließ ihn dann neben dem Tische Platz nehmen. Der junge Mann empfand plötzlich ein unerklärliches Gefühl des Untergeord­ netseins und schwankte, wie er ansangen sollte. „Ich vermuthe, Sie wünschen meinen Rath in einer Angelegenheit zu hören?" sagte San Giacinto ruhig. „Ja, ich möchte Sie um Ihren Rath betreffs einer Geschäftsangelegenheit bitten, wenn Sie ihn mir geben wollen." „Sehr gern. Um was handelt es sich?" Orsino schwieg einen Augenblick und sah starr auf die Wand. Er war sich bewußt, daß die sehr kleine Summe, über die er verfügen konnte, in den Augen eines solchen Mannes noch kleiner erscheinen mußte, aber das war es nicht, was ihn störte. Er fühlte sich von San Giacintos Persönlichkeit bedrückt, und schickte sich an, zu sprechen, als ob er ein Student wäre, der sich einer mündlichen Prüfung unterzog. AIs er endlich sprach, stellte er seinen Fall kurz und bündig dar. Er sei mündig und sehe einem müßigen Leben mit Schaudern entgegen. Alle Laufbahnen seien ihm verschlossen. Er habe fünfzehntausend Franken in der Tasche. Ob ihm San Giacinto dazu behülflich sein könne, eine Beschäftigung zu finden, indem er die Summe in einer Bauspeculation anlegte? Genüge

193 die Summe für den Anfang? — Dies waren die Fragen. San Giacinto lachte nicht, wie Sant' Ilario gethan hatte. Er hörte sehr aufmerksam bis zu Ende zu, bot dann Orsino bedächtig eine Cigarre an, und zündete sich dann selbst eine an, ehe er seine Antwort hören ließ. „Sie richten dieselbe Frage an mich, die mir sehr oft gestellt wird," sagte er endlich. „Ich wünschte, ich könnte Ihnen eine Ermuthigung zu Theil werden lassen. Aber das kann ich nicht." Orsinos Gesicht zog sich in die Länge, denn die Ant­ wort war bündig. Er zog sich ein wenig in seinem Stuhle zurück, sagte aber Nichts. „Das ist meine Antwort", fuhr Giacinto nachdenklich fort, „wenn aber einer zu einem anderen ,Nein' sagt, so braucht der Gegenstand noch nicht erschöpft zu sein. Zm Gegentheil kann ich Sie in einem Falle, wie dieser, nicht gehen lassen, ohne Ihnen meine Gründe anzugeben. Es liegt mir Nichts daran, dem Publicum meine Ansichten mitzutheilen; wie sie aber einmal sind, passen Sie für die­ selben. Die Zeit ist vorüber. Deßhalb rathe ich Ihnen, sich in keiner Weise auf derartige Speculationen einzulassen. Das ist der triftigste aller Gründe." „Sie selbst aber sind doch noch in diese Geschäfte ver­ wickelt", entgegnete Orsino. „Nicht so tief, wie Sie meinen. Ich habe fast Alles verkauft, was ich nicht für positiv sicher halte, und verkaufe das Wenige, was ich noch habe, so schnell ich kann. Bei der Speculation giebt es nur zwei wichtige Augenblicke, — den des Kaufens und den des Verkaufens. Meiner Ansicht nach ist jetzt die Zeit zum Verkaufen, und ich glaube nicht, daß die Zeit zum Kaufen ohne eine Krisis wieder eintreten wird." Crawsord, Do» Orsino. I. 13

194 „Es ist doch aber Alles in so blühender Ver­ fassung -------- " „Ja, ohne Zweifel, — heute. Aber Niemand kann sagen, in welcher Lage das Geschäft nächste Woche, ja, schon morgen sein wird." „Da ist doch Del Ferice-------- " „Ja wohl, und ein halbes Schock wie er", antwortete San Giacinto, ruhig auf Orsino blickend. „Del Ferice ist Banquier, und ich bin Speculant, wie Sie werden möch­ ten. Seine Stellung ist von der unsrigen verschieden. Lassen wir ihn lieber aus dem Spiele, und sehen wir die Sache logisch an. Sie wünschen zu speculiren------- " „Entschuldigen Sie", unterbrach ihn Orsino, „ich wünsche zu versuchen, was ich im Geschäfte leisten kann." „Sie wünschen, auf eine oder die andere Art Geld auf's Spiel zu setzen. Sie wünschen also das eine oder mehrere von drei Dingen — Geld um seiner selbst willen, Aufregung oder Beschäftigung. Ich kann kaum annehmen, daß Sie Geld nöthig haben. Das können wir streichen. Aufregung ist kein berechtigtes Ziel, und Sie können das aus andere Weise mit weniger Gefahr erreichen. Demnach wünschen Sie Beschäftigung." „Gerade das sagte ich ja gleich zu Anfang", bemerkte Orsino mit einem leichten Anfluge von Gereiztheit. „Ja wohl. Ich liebe es aber, meine Schlüsse auf dem mir eigenen Wege zu erreichen. Sie sind also ein junger Mann, der eine Beschäftigung sucht. Das Speculiren, — und was Sie vorhaben, ist Nichts weiter als dies, — ist ebenso wenig eine Beschäftigung, als das Lotteriespielen, und noch viel weniger als das Baccaratspielen. Hier sind Sie wenigstens selber für Ihre Fehler verantwortlich, und in anständiger Gesellschaft sind Sie vor den Machenschaften

195 unehrlicher Leute sicher.

Das würde weniger ausmachen,

wenn die Gewinnaussichten zu Ihren Gunsten lägen, wie

das etwa vor einem Jahre hätte sein können, und für mich

von Anfang an der Fall war.

Jetzt liegen sie gegen Sie,

weil es zu spät ist, und sie liegen ebenso gegen mich. Ich

möchte im gegenwärtigen Augenblicke ebenso gern ein Stück

Land auf Credit kaufen, Ersten Besten,

wie ich die ganze Summe dem

der mir auf der Straße begegnete,

baar

schenken möchte." „Doch ist da Montevarchi, der noch immer kauft-------- "

„Montevarchi ist das Papier nicht werth, auf dem er seinen Namen unterzeichnet," sagte San Giacinto ruhig. Orsino konnte

einen Ausruf der Ueberraschung und

der Ungläubigkeit nicht unterdrücken. das sagen,

„Sie können ihm

wenn's Ihnen Spaß macht,"

Hüne mit völligem Gleichmuth.

dem wieder sagen wollen,

antwortete

der

„Wenn Sie irgend jeman­

was ich gesagt habe,

so sagen

Sie es ihm, bitte, zuerst wieder, weiter verlange ich nichts.

Er wird es Ihnen nicht glauben.

Aber in sechs Monaten

wird er es, denke ich, wissen, so gut wie ich es jetzt weiß.

Er hätte sein Vermögen verdoppeln können, war aber und

ist des Geschäfts völlig unkundig. nug,

wenn er alles,

in Grundstücken anlegte,

würden.

und daß die Erträge sicher sein

Er hat vierzig Millionen

Grundstücke,

Er glaubte, es sei ge­

worauf er die Hände legen konnte,

von denen er glaubt,

angelegt,

und

besitzt

daß sie sechzig werth

sind, die aber in sechs Monaten auch nicht zehn einbringen werden, und jene verbleibenden zehn Millionen hat er auf

allerhand Schuldscheine und Hypotheken,

verschiedene Arten,

aus ein Dutzend

die er selber schon vergessen hat,

auf

sein ererbtes Familieneigenthum ausgenommen." „Ich sehe nicht ein, wie das möglich ist!" riefOrsino aus. 13*

196 i

„Ich bin ein einfacher Mann, Orsino, und ich bin Ihr Vetter. Sie müssen es für ausgemacht annehmen, daß ich Recht habe. Vergessen Sie nicht, daß ich in dem härtesten Kampfe um's Dasein herangebildet worden bin, von dem Sie sich gar keine Vorstellung machen können. Als ich in Ihrem Alter stand, war ich practischer Geschäftsmann und hatte mir selber das Nöthige beigebracht, und das Ganze hielt sich in so bescheidenen Grenzen, daß ein Versehen um

hundert Franken einen Unterschied machte, der über Gewinn oder Verlust entschied. Ich liebe den Kleinkram nicht, bin aber mein Leben lang, durch die Umstände gezwungen, ein Mann des Kleinkrams gewesen. Wer erfolgreich als Ge­ schäftsmann sein will, muß den Kleinkram genau kennen. Es ist langweilige Arbeit, und wenn Sie es versuchen wollen, müssen Sie von vorne anfangen. Wenigstens soll­ ten Sie es thun. Es liegt ein ungeheures Geschäft vor Ihnen, mit hervorragenden Kapazitäten. An Ihrer Stelle würde ich "nehmen, was Ihnen als Ihr natürliches Loos von Hause aus zugefallen ist." „Was ist das?" „Die Landwirthschast. Im Parlament nennen sie es Bodencultnr, weil sie nicht wissen, was die Landwirthschaft bedeutet. Die Männer, welche denken, daß Italien ohne Landwirthe leben kann, sind Narren. Wir sind ebenso wenig ein Jndustrievolk, wie wir ein H^ndelsvolk sind. Der beste Dictator für uns wäre ein practischer Landwirth, ein Pflüger, wie Cincinnatus. Niemand, der nicht ver­ sucht hat, Weizen auf einer italienischen Berglehne zu bauen, kennt die großen Schwierigkeiten oder die großen Möglich­ keiten unseres Landes. Wissen Sie, daß wir, so schlecht auch unser Landbau ist, und so albern unser System der Bodenbesteuerung ist, doch, wenn auch nur in geringem

197 Maße, Getreide exportiren? Der Anfang ist da. Nehmen Sie meinen Rath an; feien Sie ein Landwirth. Bewirthfchaften Sie eines der großen Güter, die Sie in Ihrer Familie haben, fünf oder sechs Jahre lang. Sie werden dem Acker in der Zeit keinen großen Nutzen bringen, aber Sie werden lernen, was Acker wirklich bedeutet. Dann gehen Sie in's Parlament und erzählen Sie den Leuten Thatsachen. Da haben Sie eine Beschäftigung, und noch dazu eine Laufbahn, was sich von der Speculation in Bau­ grundstücken, groß oder klein, nicht sagen läßt. Wenn Sie baar Geld übrig haben, so legen Sie es in Staatspapieren an, bis Sie eine günstige Gelegenheit haben, etwas zu kaufen, was des Behaltens werth ist." Orsino ging enttäuscht und gelangweilt weg. Was San Giacinto vom Landbau sagte, erschien ihm sehr abge­ schmackt. Sich ein halb Dutzend Jahre lang auf dem Lande zu begraben, um die Wechselwirthschaft und die Grundsätze der Bodenentwässerung zu lernen, stellte sich nicht als eine anziehende Laufbahn dar. Wenn San Giacinto den Land­ bau für das Hauptgewerbe der Zukunft ansah, warum machte er nicht selber einen Versuch damit? Orsino ver­ abschiedete diese Idee ziemlich entrüstet, und sein Entschluß, sein Glück zu versuchen, wurde durch den Widerstand, dem er begegnete, nur um so stärker. Außerdem hatte er von San Giacinto eine ganz andere Sprache erwartet, dessen nüchterne Ansicht mit Orsinos begeistertem Drängen in schreiendem Widerspruche stand. Er befand sich aber jetzt in einer schwierigen Lage. Er kannte nicht einmal die ersten Schritte, die zu thun waren, und wußte Niemanden, an den er sich um Belehrung wen­ den konnte. Da war allerdings Fürst Montevarchi, der aber, wenn er auch San Giacintos Schwager war, nach

198 des letzteren Bericht in Verlegenheit gerathen zu sein schien. Er verstand es nicht, wie San Giacinto es zugeben konnte, daß der Bruder seiner Frau sich zu Grunde richtete, ohne ihm eine hülfreiche Hand zu leihen; aber San Giacinto gehörte nicht zu den Leuten, die man mit zudringlichen Fragen belästigt, und Orfino hatte gehört, daß die beiden Männer nicht aus dem besten Fuße ständen. Möglicher­ weise war guter Rath angeboten und abgelehnt worden. Solche Sachen enden gewöhnlich mit einem Bruche der Freundschaft. Wie dem auch sein mochte, Orfino wollte nicht zu Montevarchi gehen. Er wanderte ziellos in den Straßen herum, und das Geld schien ihm in der Tasche zu brennen, obgleich er es sorgfältig an einem sicheren Platze zu Hause untergebracht hatte. Immer wieder kam ihm Del Ferices Geschichte von dem Zimmermanne und seinen beiden Genossen in den Sinn. Er wunderte sich, wie sie es mochten angefangen haben, einen Anfang zu machen, und er wünschte, er könnte Del Ferice selber fragen. Zn die Wohnung des Mannes konnte er nicht gehen, möglicherweise aber konnte er ihn bei Maria Consuelo treffen. Er war überrascht, zu finden, daß er sie in seiner Angst, ein Geschäftsmann zu werden, fast ver­ gessen hatte. Es war noch zu früh, um vorzusprechen, und um die Zeit todt zu schlagen, ging er nach Hause, holte sich ein Pferd aus den Ställen, und ritt ein paar Stunden in's Freie. Um halb sechs trat er in das wohlbekannte Wohn­ zimmer im Hotel. Frau von Aranjuez war allein und schnitt soeben mit dem juwelenbesetzten Messer, welches immer noch der einzige sichtbare Gegenstand dieser Art in dem Zimmer war, ein neues Buch auf. Sie lächelte, als Orsino eintrat, und legte den Band beiseite, als er sich an seinem gewöhnlichen Platze niederließ.

199 „Ich dachte, Sie kämen heute nicht," sagte sie. „Weßhalb?" „Sonst kommen Sie immer nm fünf, heute ist es halb sechs." Orfino sah nach der Uhr. „Achten Sie denn darauf, ob ich komme oder nicht?" fragte er. Maria Consuelo warf einen flüchtigen Blick auf sein Gesicht und lachte. „Was haben Sie denn heute gethan?" fragte sie. „Das ist viel interessanter." „Wirklich? Ich fürchte, nein. Ich habe mir jene un­ angenehmen Dinge angehört, welche die Leute, die sie sagen, Wahrheiten nennen. Ich habe mir zwei Vorlesungen an­ gehört, die mir zu meinem besonderen Wohle von zwei sehr geistreichen Männern gehalten worden sind. Es scheint mir, so oft ich einen guten Entschluß fasse, machen sich ge­ fühlvolle Leute eine Pflicht daraus, mir nachzuweisen, daß ich ein Narr bin." „Sie find in übler Laune. Berichten Sie mir Alles getreulich." „Soll ich Sie mit meinen Schmerzen quälen? Nein. Kommt Del Ferice heute Nachmittag?" „Wie kann ich das wissen? Er kommt nicht oft." „Ich glaubte, er käme fast jeden Tag," sagte Orfino finster. Er war wieder in seiner Erwartung getäuscht; aber Maria Consuelo verstand nicht, um was es sich handelte. Sie beugte sich in ihrem niedrigen Sitze vor, das Kinn auf eine Hand gestützt und die rothbraunen Augen fest auf Orsino gerichtet. „Sagen Sie mir, lieber Freund — sind Sie unglücklich? Kann ich irgend Etwas thun? Wollen Sic mir's nicht sagen?"



200 —

Es war nicht leicht, der Aufforderung zu widerstehen. Wenn die beiden auch kürzlich innige Freunde geworden waren, so hatte doch bisher immer etwas Kaltes und Zu­ rückhaltendes hinter Marias äußerlich freundlichem Wesen gelegen. Heute schien sie plötzlich willens, eine andere zu sein. Ihre bequeme, anmuthige Haltung, ihre weiche Stimme voll verheißungsvoller Theilnahme, vor allem der Blick in ihren wunderbaren Augen enthüllten eine Seite ihres Charatters, die Orfino nicht vermuthet hatte, und die ihn in einer Weise ergriff und fortriß, die er nicht Hütte beschrei­ ben können. Ohne Zögern erzählte er ihr seine Geschichte von An­ fang bis zu Ende, einfach ohne erläuternden Zusatz und ohne eine der verletzenden Redensarten, die ihm bei den meisten Gelegenheiten so leicht auf die Zunge kamen. Sir hörte sehr nachdenklich bis zu Ende zu. „Diese Sachen find keine Unglücksfälle", sagte fie; „sie können aber sehr leicht der Anfang des Unglücks sein. Un­ glücklich sein ist schlimmer als jedes Unglück. Was für ein Recht hat Ihr Vater, über Sie zu lachen? Weil er nie nöthig hatte, Etwas für sich zu thun, so hält er es für albern, daß sein Sohn das müßige Leben verschmäht, das für ihn in Bereitschaft gehalten wird. Es ist weder ver­ ständig, noch liebevoll!" „Und doch glaubt er wahrscheinlich beides zu sein", sagte Orfino bitter. „Oh, selbstverständlich! Die Leute glauben immer, die Seele der Wahrheit und das Spiegelbild der Nächsten­ liebe zu sein! Namentlich, wo es sich um ihre eigenen

Kinder handelt." Marin Consuelo fügte die letzten Worte mit tieferem Gefühle hinzu, als durch ihr Mitgefühl für Orfinos

201 Schmerzen gerechtfertigt zu sein schien. Der Augenblick war vielleicht geeignet, eine entscheidende Frage betreffs ihrer selbst zu thun; ihre Antwort hätte vielleicht Licht auf ihre räthselhafte Vergangenheit geworfen. Orfino war aber zu sehr mit seinen eigenen Schmerzen beschäftigt, als daß er daran hätte denken können, und die Gelegenheit schlüpfte vorüber und ging verloren. „Sie wiffen jetzt, warum ich Del Ferice zu sehen wünsche," sagte er. „Ich kann nicht nach seinem Hause gehen. Meine einzige Möglichkeit, mit ihm zu sprechen, ist hier." „Und das führt Sie hierher? Das ist ja sehr schmei­ chelhaft für mich!" „Seien Sie nicht ungerecht! Wir alle hoffen, unsere Freunde im Himmel wieder zu treffen." „Sehr niedlich! Ich verzeihe Ihnen. Aber ich fürchte, Sie werden Del Ferice nicht treffen. Ich glaube nicht, daß er das Abgeordnetenhaus schon verlaffen hat. Es sollte heute Nachmittag eine Debatte stattfinden, bei der er zu sprechen hatte." „Hält er Reden?" »Sehr gute; ich habe ihn gehört." „Ich bin nie im Abgeordnetenhause gewesen", bemerkte Orfino. „Sie sind nicht sehr patriotisch. Sie könnten dorthin gehen und nach Del Ferice fragen. So könnten Sie ihn sehen, ohne in sein Haus zu treten und Ihre Würde bloßzustellen." „Warum lachen Sie?" „Weil mir das Alles so albern vorkommt. Sie wiffen, daß Sie völlig frei find, ihn zu besuchen, wann und wo Sie wollen. Es giebt Nichts, was Sie hindern könnte.

202 Er ist unter allen der einzige Mann, besten Rath Sie nöthig haben. Er hat eine unbescholtene Stellung in der Welt, — ohne Zweifel hat er sonderbare Sachen gemacht, das haben aber Dutzende von Leuten gethan, die Sie kennen — sein jetziger Ruf ist ausgezeichnet, sage ich. Weil er aber vor einigen zwanzig Jahren, als Sie noch ein Kind waren, die eine Meinung festhielt, und Ihr Vater die andere, so ist es Ihnen untersagt, seine Schwelle zu überschreiten! Wenn Sie ihm hier die Hand geben können, so können Sie es auch in seinem eignen Hause thun. Ist das nicht wahr?" „Theoretisch, ja; aber nicht in Praxis. Sie sehen es selbst. Sie, gnädige Frau, haben die eine Seite gewählt, die vorhin als die erste bezeichnet wurde, und alle Leute auf der anderen Seite misten das. Als Ausländerin sind Sie an keine von beiden Seiten gebunden, und Sie können mit Jedem zu seiner Zeit, wenn's Ihnen beliebt, verkehren. Die Gesellschaft ist nicht so vorurtheilsvoll, dagegen Ein­ spruch zu erheben. Da Sie aber mit den Del Ferice in einer sehr unauffälligen Weise anfangen, so dürfte es lange für Sie dauern, z. B. die Montevarchi kennen zu lernen." „Wer hat Ihnen denn gesagt, daß ich eine Auslän­ derin bin?" fragte Maria Eonsuelo ziemlich barsch. „Sie selbst-------- " „Das ist ja eine zuverlässige Autorität!" sie lachte. „Ich erinnere mich nicht — ach! weil ich nicht italienisch spreche? Das meinen Sie? Man kann seine eigene Sprache verlernen, oder, was auf dasselbe herauskommt, man kann sie nie gelernt haben." „Sie Sind also eine Italienerin, gnädige Frau?" fragte Lrsino, überrascht, daß sie die Unterhaltung so ge­ radeswegs auf einen Punkt hinführte, von dem er ange-

203 nommen hatte, daß er sich nur durch eine Reihe tactvoller Annäherungsversuche erreichen lassen würde. „Wer weiß? Ich jedenfalls nicht. Mein Vater war ein Italiener. Beruht darauf die nationale Zugehörig­ keit?" „Ja wohl. Die Frau aber nimmt, glaube ich, die Nationalität des Gatten an", sagte Orsino, begierig mehr zu hören. „Ach, ja, — der arme Aranjuez!" Ihre Stimme nahm plötzlich jenen schläfrigen Klang an, den Orsino schon mehr als einmal gehört hatte. Ihre Augenlider fünfen ein wenig herunter, sie öffnete und schloß ihre Hand langsam wie im Einschlafen, spreizte die Finger aus und sah sie sich an. Orsino aber war es nicht zufrieden, die Unterhaltung bis auf diesen Punkt heruntersinken zu lassen; so stellte er denn nach einer momentanen Pause eine entscheidende Frage. „War Herr von Aranjuez auch ein Italiener?" fragte er. „Was liegt daran?" fragte sie in dem gleichen, schleppend trägen Tone. „Doch da Sie es wissen wollen, ja, er war ein Italiener, der arme Mann." Orsino fühlte sich immer verwirrter. Daß der Name in Italien nicht vorkam, war für ihn so gut wie sicher. Er dachte an die Geschichte von dem Signor Aragno, der in der Südsee über Bord gefallen war, und dann nahm er plötzlich wahr, daß er nichts Dergleichen glauben konnte. Maria Consuelo ihrerseits verrietb auch nicht die Spur von Erregung bei Erwähnung ihres verstorbenen Gemahls. Sie schien völlig in die Betrachtung ihrer Hände versun­ ken. Orsino hatte wegen seiner Neugierde keinen Verweis erhalten, und hätte gern noch eine Frage gestellt, wenn er gewußt hätte, welche Form er ihr geben sollte. Es folgte

204 ein unbeholfenes Schweigen. Maria Consuelo erhob lang­ sam die Augen und sah Orsino nachdenklich in's Gesicht. »Ich sehe," sagte sie endlich, „Sie sind neugierig. Ich weiß nicht, ob Sie irgend ein Recht dazu haben — haben Sie eins?" „Ich wünschte, ich hätte eins!" rief Orsino gedanken­ los aus. Wieder sah sie ihn einige Augenblicke schweigend an. „Ich kenne Sie noch nicht lange genug", sagte sie. „Und wenn ich auch schon länger mit Ihnen bekannt wäre, würde es doch vielleicht nicht anders sein. Sind auch andere Leute neugierig? Spricht man von mir?" „Die Leute, die ich kenne, thun das; aber sie kennen Sie nicht. Sie lesen Ihren Namen in den Blättern, als eine schöne spanische Fürstin. Doch bemerkt ein Jeder, daß es keinen spanischen Edelmann Ihres Namens giebt. Na­ türlich ist man neugierig. Man erfindet Geschichten über Sie, die ich bestreite. Wenn ich mehr wüßte, würde mir das leichter sein." „Warum machen Sie sich die Mühe, solche Sachen zu bestreiten?" Als sie die Frage stellte, änderte sich ihr Wesen. Sie lehnte sich wieder nach vorn, und ihre Gefichtszüge schmolzen in wundervoller Weichheit, als sie ihn dabei anblickte. „Können Sie das nicht ahnen?" fragte er. Er empfand eine ganz ungewohnte Erregung, die durchaus nicht in Einklang stand mit dem von ihm erson­ nenen Character, den er sich selbst ausgewählt hatte und im Allgemeinen mit bemerkenswerthem Erfolge durchführte. In Maria Consuelo steckten zwei ganz verschiedene Naturen. Die eine zeigte sich, wenn sie zurückgelehnt in ihrem Stuhle saß, lachend oder seinem Gerede träge zuhörend, oder die

205 schwachen Huldigungen seiner Verehrung zurückweisend, die nicht einmal völlig ernst gemeint waren. Dann war fie hübsch, anziehend, weiblich unmuthig, vielleicht ein wenig gekünstelt, und Orsino hatte das Gefühl, daß es ihm völlig freistehe, fie ganz nach Belieben gern zu haben oder nicht, daß es ihm augenblicklich aber bester gefalle, fie gern zu haben. Heute aber war fie ein ganz anderes Weib, wie fie fich vorbeugte, wie ihre rothbraunen Augen mit jedem Augenblicke dunkler und geheimnißvoller wurden, ihr kasta­ nienbraunes Haar wunderbare Schatten auf ihre brette, bleiche Stirn warf, ihre Lippen sich nicht, wie sonst gewöhn­ lich, schloffen, sondern leicht offen standen, so daß ihr duftiger Hauch gerade die Luft bewegte, die Orsino athmete. Ihre Gestchtszüge waren vielleicht nicht ganz regelmäßig. Doch darauf kam es nicht an. Für den Augenblick war fie schön, und von einer Schönheit, wie fie Orfino nie gesehen hatte, und die einen plötzlichen und überwältigenden Ein­ druck auf ihn hervorbrachte. „Misten Sie denn nicht?" fragte'er wiederum, und seine Stimme zitterte wider sein Erwarten. „Ich danke Ihnen", sagte fie leise, und berührte seine Hand beinahe liebkosend. Als er fie aber hätte fassen wollen, zog fie ihre Hand sofort zurück, und war nun wieder die Frau, die er täglich sah, sorglos, gleichgültig, hübsch. „Warum ändern Sie sich so schnell?" fragte er mit leiser Stimme, fich zu ihr beugend. „Warum reißen Sie Ihre Hand weg? Fürchten Sie fich vor mir?" „Warum sollte ich mich fürchten? Sind Sie so ge­ fährlich?" „Das sind Sie. Sie können, so viel ich weiß, verhängnißvoll werden."

206 „Wie thöricht!" rief sie aus, ihn mit einem schnellen Seitenblicke streifend. „Sie find jetzt wieder Frau von Aranjuez", ant­ wortete er. „Wir thäten besser, von etwas Anderem zu

sprechen." „Was meinen Sie damit?" „Noch vor einem Augenblicke waren Sie Consuelo", sagte er kühn. „Habe ich Ihnen irgend ein Anrecht gegeben, dies zu sagen?" „Za, ein wenig." „Das thut mir leid. Ich will in Zukunft vorsichtiger sein. Ich habe sicherlich keine Vorstellung, warum Sie überhaupt an mich denken sollten, außer wenn Sie mit mir sprechen, und dann wünsche ich nicht, mit meinem Vor­ namen angeredet zu werden. In meinen Gedanken, das versichere ich Ihnen, sind Sie nie etwas anderes, als Se. Excellenz, Prinz Orsino Saracinesca, mit so vielen Titeln hinterdrein, als Ihnen zukommen mögen." „Ich habe keine", sagte Orsino. Ihre Sprache reizte ihn stark, und der Sinnenwahn, der einige Augenblicke früher so mächtig gewesen war, ver­ schwand' fast ganz. „So rathen Sie mir also, Del Ferice auf Monte Citorio aufzusuchen?" bemerkte er. „Wenn es Ihnen beliebt", sagte sie lachend. „Ihre Absicht, wenn Sie den Gegenstand unseres Gesprächs wech­ seln wollen, läßt sich nicht mißverstehen." „Sie haben es deutlich genug hervortreten lassen, daß Ihnen der andere Gegenstand unangenehm war." „Das war nicht meine Absicht." „Dann, in des Himmels Namen, was war denn Zhre

207 Absicht, gnädige Frau?" fragte er, in äußerster Qual plötz­ lich den Kopf verlierend.

Maria Consuelo zog überrascht die Augenbrauen in die Höhe. „Warum find Sie so zornig?" fragte sie.

„Wissen

Sie, daß es unhöflich ist, so zu sprechen?" „Ich kann's nicht ändern.

Was habe ich denn heute

verbrochen, daß Sie mich so martern, wie Sie es thun?"

„Wie, ich?

Ich, Sie martern?

Mein lieber Freund,

Sie sind ganz wahnsinnig." „Das weiß ich.

Sie machen mich dazu."

„Wollen Sie mir freundlichst sagen, wieso? Was habe

ich gethan? Was habe ich gesagt? Ihr Römer seid sicher­

lich ein wunderliches Volk. fallen.

Es ist unmöglich, Euch zu ge­

Wenn Einer lacht, werdet Ihr tragisch; und wenn

Einer ernst ist, so werdet Ihr lustig.

Ich wünschte,

ich

verstünde Euch besser."

„Sie werden es mir schließlich noch unmöglich machen, mich selbst zu verstehen", sagte Orfino.

„Sie sagen, ich

sei veränderlich; was find denn Sie?" „Heute so ziemlich dieselbe, wie gestern", sagte Maria „Und ich glaube nicht, daß ich morgen

Consuelo ruhig.

sehr anders sein werde." „Wenigstens will ich die günstige Gelegenheit benützen,

zu finden, daß Sie sich irren," sagte Orsino, plötzlich sich

erhebend und vor ihr stehend. „Wollen Sie fort?"

fragte sie, als ob sie überrascht

wäre.

„Da ich Ihnen ja doch nicht gefallen kann." „Da Sie es nicht wollen." „Ich weiß nicht, wie ich's machen soll."

„Seien Sie Sie selber, derselbe, der Sie immer find. Heute stellen Sie sich, als ob Sie ein anderer wären."

208 „Ich glaube, es ist umgekehrt," antwortete Orfino, mit mehr Wahrheit, als er sich thatsächlich selber eingestand. „Dann ziehe ich das gezwungene Wesen der Wirklich­ keit vor." „Wie Ihnen beliebt, gnädige Frau, guten Abend." Er durchschritt das Zimmer, um hinaus zu gehen. Sie ries ihn zurück. „Don Orfino!" Er drehte sich scharf um. „Gnädige Frau?" Da sie sah, daß er sich nicht rührte, so stand sie auf und ging zu ihm hin. Er blickte hernieder auf ihr Ge­ sicht, und sah, daß es wieder verändert war. „Sind Sie wirklich böse?" fragte sie. Es lag etwas Mädchenhaftes in der Art, wie sie die Frage aussprach, und, einen Augenblick lang, in ihrem ganzen Wesen. Orfino konnte nicht umhin, zu lächeln. Er sagte aber Nichts. „Nein, Sie sind nicht böse," fuhr sie fort. „Ich kann es sehen. Wiffen Sie, daß ich mich sehr freue? Es war thöricht von mir, Sie zu reizen. Werden Sie mir vergeben? dieses eine Mal?" „Wenn Sie mich das nächste Mal vorher warnen wollen." Er fand, daß er ihr in die Angen sah. „Was hat das Warnen für einen Nutzen?" fragte sie. Sie standen sehr nahe bei einander, und es herrschte einen Augenblick lang Schweigen. Plötzlich vergaß Orsino Alles, beugte sich nieder, schloß sie in seine Arme und küßte sie immer und immer wieder. Es war roh, ungestüm und sinnlos, er konnte aber nicht anders. Maria Consuelo stieß einen kurzen, scharfen Schrei aus, vielleicht mehr aus Ueberraschung, als aus Entsetzen. Zu Orfinos höchster Verwunderung und Beschämung sand

209 ihre Stimme sofortigen Widerhall in einer anderen, und zwar gehörte diese dem dunklen und gewöhnlich schweig­ samen Mädchen, das er ein- oder zweimal gesehen hatte. Diese Person kam in's Zimmer gelaufen, erschreckt durch den Schrei, den sie gehört hatte. „Die gnädige Frau fühlte sich einer Ohnmacht nahe, während sie über das Zimmer schritt, und wollte eben hin­ fallen, als ich sie auffing," sagte Orsino mit einer kühlen Ruhe, die ihm alle Ehre machte. Und in der That schloß Maria Consuelo die Augen, als er sie in den nächsten Stuhl sinken ließ. Das Mädchen fiel neben seiner Herrin auf die Kniee und fing an, ihre Hände warm zu reiben. „Die arme Signora!" rief sie aus. „Man sollte sie nie allein lassen ’ Seit der arme Signore gestorben ist, ist sie nie wieder so geworden, wie sie früher war. Es wäre besser, Sie verließen uns, Herr. Ich will sie zu Bett brin­ gen, wenn sie wieder zu sich kommt. Es kommt oft vor — seien Sie, bitte, ohne Sorge." Orsino hob seinen Hut auf und verließ das Zimmer. „Oh, es kommt oft vor, wirklich?" sagte er zu sich, als er die Thür leise hinter sich zumachte und den langen Gang des Hotels hinunterschritt. Er war über seine eigene Kühnheit mehr entsetzt, als er sich gestehen mochte. Er hatte nicht geglaubt, daß Auf­ tritte solcher Art so plötzlich, und gewissermaßen ohne feste Absicht des Hauptbetheiligteu, zu Stande kommen könnten. Er erinnerte sich, daß er sehr wüthend auf Frau von Aran­ juez gewesen war, daß sie ein halbes Dutzend Worte ge­ sprochen und er den unwiderstehlichen Trieb gefühlt habe, sie zu küssen. Das hatte er gethan, und nun dachte er mit beträchtlicher Angst an ihr nächstes Zusammentreffen, (ir Jivr crt-, Den Orünc. I. 14

210 Sie hatte laut aufgekreischt, was ein Zeichen war, daß sie sich durch seine Kühnheit tief verletzt fühlte. Er war zweifel­

haft,

ob sie ihn

Das Beste,

wieder empfangen würde.

dachte er,

was er thun könne,

sei, einen sehr demüthigen

Entschuldigungsbrief an sie zu schreiben, worin er sein Be­

nehmen, so gut es irgend ging, erklärte.

Dies stimmte

nicht gerade sehr gut mit seinen Grundsätzen überein, doch

hatte er sie schon

letzt.

durch seine übertriebene Hastigkeit ver­

Ihre Augen waren sicherlich äußerst herausfordernd

gewesen, und der Ausdruck auf ihren Lippen ganz unwider­

stehlich.

Unter allen Umständen aber hätte er den Anfang

damit machen müssen,

daß er einen Kuß auf ihre Hand

drückte, die sie sicher nicht zurückgezogen hätte; dann hätte

er den Arm um sie legen und ihr Haupt an seine Schulter ziehen können. action

Dies war das Geplänkel

des Küssens,

das man

in

der Haupt­

ohne Zweifel

mit vollem

Recht beobachtete, und er hatte es frevelhaft vernachlässigt.

Er war abscheulich roh gewesen und bedurfte der Entschul­

digung.

Trotz alledem aber hätte er die Erinnerung an

diesen Augenblick nicht für alle Erinnerungen seines Lebens — und er hatte es gut im Gedächtniß — hergeden mögen. Als er die Straße entlang schritt, empfand er eine wilde

Fröhlichkeit, wie er sie nie vorher kennen gelernt hatte.

Er

gestand sich fröhlich zu, daß er Maria Consuelo liebe, und stieß entschlossen den Gedanken von sich, daß seine knaben­

hafte Eitelkeit sich an einem eilig erhaschten Kusse gütlich gethan habe. Was auch immer die wahre Natur seines Entzückens sein mochte, es war für den Augenblick so aufrichtig, daß

er sogar vergaß, sich eine Cigarette anzuzünden, um über die Umstände nachzudenken.

Indem er so den Corso hinabeilte,

kam er an den

211 Colonnaplatz, wo der Schimmer des elektrischen Lichtes ihn wieder einigermaßen zu sich brachte. „Große Rede des ehrenwerthen Del Ferice!" gellte ihm ein Zeitungsjunge in die Ohren. „Ministerkrifis! schrecklicher Mord eines Specereiwaarenhändlers!" Orfino wandte sich mechanisch nach rechts, in der Rich­ tung des Abgeordnetenhauses. Wahrscheinlich war Del Fcrice nach Hause gegangen, da seine Rede ja schon ge­ druckt war. Das Schicksal aber hatte es anders angeord­ net. Del Ferice hatte seine Druckbogen auf der Stelle corrigirt und sich noch ein Weilchen aufgehalten, um mit seinen Freunden zu plaudern, ehe er nach Hause ging. Nicht als ob viel darauf angekommen wäre, denn Orfino hätte ihn ebenso gut am folgenden Tage aufsuchen können. Sein Einspänner stand dem großen Eingänge gegenüber, und er selbst schüttelte einem hochgewachsenen Manne unter dem Lichte der Lampen die Hand. Orsino trat an ihn heran. „Könnten Sie eine Viertelstunde für mich erübrigen?" fragte der junge Mann mit einer durch die Aufregung zu­ sammengeschnürten Stimme. Er fühlte, baß er nun end­ lich auf seine große Unternehmung lossegelte. Del Ferice blickte etwas erstaunt auf. Er hatte Grund, die zänkische Gemüthsart der Familie Saracinesca zu fürchten, und wunderte sich, was Orsino wolle. „Gewiß, gewiß, Don Orsino," antwortete er, mit einem besonders schmeichelhaften Lächeln. „Sollen wir fahren oder wenigstens in meinem Wagen sitzen? Ich bin von meinen heutigen Anstrengungen etwas müde." Der hoch­ gewachsene Mann verbeugte sich und trollte davon, indem er das Ende einer unangezündctcn Cigarre abbiß. „Es ist eine Geschästsangclegenheit", sagte Orsino, ehe 14*

212 er in den Wagen einstieg. „Können Sie mir behülflich sein, mein Glück — in sehr geringem Umfange — in einer der Bauunternehmungen zu versuchen, an deren Spitze Sie stehen?" „Natürlich kann ich es, und will ich es", antwortete Del Ferice mit immer wachsendem Erstaunen. „Nach Ihnen, mein lieber Don Orsino, nach Ihnen", sagte er noch einmal, indem er den jungen Mann in den Ein­ spänner hineindrängte. „Ruhige Straßen, bis ich Sie halten lasse," sagte er zu dem Bedienten, als er selbst einstieg.

Elftes Kapitel. Del Ferice war über die Maßen erstaunt über Orsinos Gesuch, und machte sich nicht etwa einer tief verbrecheri­ schen Absicht schuldig, als er ihm so bereitwillig beipflichtete. Sein eigener Charakter drängte ihn stets dazu, Nichts ab­ zuschlagen, was von ihm verlangt wurde, obgleich seine Versprechungen nicht immer in Erfüllung gingen. Es ist offenbar nicht Dasselbe, ob Jemand sich bereit erklärt, denen zu helfen, die um Hülfe bitten, oder ob er versichert, di Macht zu besitzen, ihnen beizustehen, wenn die Zeit dazu gekommen sein sollte. Im gegenwärtigen Falle faßte er nicht einmal einen bestimmten Entschluß, welchen von zwei Wegen er schließlich verfolgen wollte. Orsino kam zu ihm mit einer kleinen Summe baaren Geldes in der Hand. Es lag in Del Feriees Macht, ihn diese Summe, und noch

sehr viel mehr, verlieren zu lassen, wodurch er dem Jungen endlosen Aerger mit seiner Familie verursacht hätte; ober der Banquier konnte, wenn er dazu Lust hatte, ihm zu einem sehr beträchtlichen Erfolge verhelfen. Sein wahrhaft hervorragendes Talent für die Staatsklugheit machte ihn

212 er in den Wagen einstieg. „Können Sie mir behülflich sein, mein Glück — in sehr geringem Umfange — in einer der Bauunternehmungen zu versuchen, an deren Spitze Sie stehen?" „Natürlich kann ich es, und will ich es", antwortete Del Ferice mit immer wachsendem Erstaunen. „Nach Ihnen, mein lieber Don Orsino, nach Ihnen", sagte er noch einmal, indem er den jungen Mann in den Ein­ spänner hineindrängte. „Ruhige Straßen, bis ich Sie halten lasse," sagte er zu dem Bedienten, als er selbst einstieg.

Elftes Kapitel. Del Ferice war über die Maßen erstaunt über Orsinos Gesuch, und machte sich nicht etwa einer tief verbrecheri­ schen Absicht schuldig, als er ihm so bereitwillig beipflichtete. Sein eigener Charakter drängte ihn stets dazu, Nichts ab­ zuschlagen, was von ihm verlangt wurde, obgleich seine Versprechungen nicht immer in Erfüllung gingen. Es ist offenbar nicht Dasselbe, ob Jemand sich bereit erklärt, denen zu helfen, die um Hülfe bitten, oder ob er versichert, di Macht zu besitzen, ihnen beizustehen, wenn die Zeit dazu gekommen sein sollte. Im gegenwärtigen Falle faßte er nicht einmal einen bestimmten Entschluß, welchen von zwei Wegen er schließlich verfolgen wollte. Orsino kam zu ihm mit einer kleinen Summe baaren Geldes in der Hand. Es lag in Del Feriees Macht, ihn diese Summe, und noch

sehr viel mehr, verlieren zu lassen, wodurch er dem Jungen endlosen Aerger mit seiner Familie verursacht hätte; ober der Banquier konnte, wenn er dazu Lust hatte, ihm zu einem sehr beträchtlichen Erfolge verhelfen. Sein wahrhaft hervorragendes Talent für die Staatsklugheit machte ihn

213 geneigt, den letzteren Plan zu wählen; er war aber viel zu vorsichtig, um eine hastige Entscheidung zu treffen. Der Einspänner rollte weiter durch ruhige und schlecht erleuchtete Straßen, und Del Ferice lehnte sich in seine Wagenecke zurück, ohne überhaupt auf Orfinos Gerede zu hören, obgleich er gelegentlich eine oder zwei höfliche, ob­ gleich völlig unverständliche Silben hervorstieß, die alles Mögliche den Ansichten seines Wagengenoffen Angenehme bedeuten konnten. Die Sachlage war leicht genug zu ver­ stehen, und er hatte sie in einem Augenblicke erfaßt. Was Orfino sagen konnte, war völlig unwesentlich, die Folgen aber irgend welches Eingreifens auf Del Ferices Seite konnten ernst und langwierig sein. Orfino trug die vielen Gründe vor, die ihn zu dem Wunsche veranlaßten, geschäftlich thätig zu sein, wie er sie im Laufe dieses Tages und im Laufe der vergangenen Wochen schon mehr als einmal vorgetragen hatte, nnd als er geendet, wiederholte er seine erste Frage: „Können Sie mir helfen, mein Glück zu versuchen?" Del Ferice erwachte mit der ihm eigenthümlichen Be­ reitwilligkeit aus seiner Träumerei und vergegenwärtigte sich, daß er etwas sagen müsse. Seine Stimme war nie kräftig gewesen, und er lehnte sich aus seiner.Wagenecke hervor, um dicht an Orsinos Ohr zu sprechen. „Ich bin entzückt von allem, was Sie sagen," begann er, „und brauche Ihnen kaum zu wiederholen, daß Ihnen meine Dienste völlig zur Verfügung stehen. Die einzige Frage ist nur, wie sollen wir anfangen? Die Summe, von der Sie sprechen, ist sicherlich nicht groß; doch kommt es darauf nicht an. Sie würden nicht viel Schwierigkeiten haben, ebensoviel Hunderte von Tausenden aufzubringen, als Sie Tausende haben, wenn Geld nöthig wäre. In Ge-

214 schäften dieser Art aber braucht man thatsächlich das baare Geld nur auf Stempelabgaben und auf die Arbeitslöhne, und die Banken schießen das, was für den letzteren Zweck nöthig ist, in kleinen Summen auf Handwechsel vor, die durch ein allgemeines Unterpfand gewährleistet find. Wenn Sie die Stempelabgaben bezahlt haben, können Sie in den Club gehen und den Ueberschuß Ihres Kapitals nach Be­ lieben in Baccarat verlieren. Der Verlust in dieser Rich­ tung wird Ihren Credit als Unternehmer in keiner Weise berühren. Das Alles ist sehr einfach. Jedoch wünschen Sie, nicht im Kartenspiele, sondern im Geschäfte Erfolge zu erzielen. Da sitzt die Schwierigkeit." Del Ferice machte eine Pause. „Das ist mir nicht ganz klar", bemerkte Orfino. „Nein, — nein", erwiderte Del Ferice nachdenklich. „Nein, es ist wirklich nicht so ganz klar. Ich wünschte, ich könnte es klarer machen. Die Speculation bedeutet nur dann ein Glücksspiel, wenn der Speculant ein Spieler ist. Natürlich giebt es auch erfolgreiche Spieler in der Welt, aber nicht viele. Ich las neulich irgendwo, daß das Ge­ schäft die Kunst sei, anderer Leute Geld zu handhaben. Die Bemerkung ist nicht besonders richtig. Das Geschäft ist die Kunst, einen Werth zu schaffen, wo vorher keiner vorhanden'war. Das ist es, was Sie zu thun wünschen. Ich kann mir nicht denken, daß ein Saracinesca daran Vergnügen finden könnte, Geld, das ihm nicht gehört, für fich Zinsen tragen zu lassen." „Nein, gewiß nicht!" rief Orfino aus, „das ist Wucher." „Nicht genau so, aber es ist Bankgeschäft; und Bank­ geschäft ist allerdings Wucher innerhalb gesetzlicher Grenzen. Darum handelt es fich hier aber nicht. Das Verfahren ist

210 äußerst einfach. Ich verkaufe Ihnen ein Stück Land unter der stillschweigenden Voraussetzung, daß Sie darauf bauen wollen, und statt der Bezahlung geben Sie mir eine Hy­ pothek. Ich leihe Ihnen von Monat zu Monat Geld in kleinen Summen zu niedrigen Zinsen, um Baumaterial und Arbeit zu bezahlen. Sie sind nur in einem Punkte verantwortlich; das Geld soll für den festgesetzten Zweck verwendet werden. Wenn das Gebäude fertig ist, so ver­ kaufen Sie es. Wenn Sie es für baar Geld verkaufen, so zahlen Sie die Hypothek ab und empfangen die Differenz. Wenn Sie es mit der Hypothek verkaufen, so wird der Käufer der Hypothekinhaber und zahlt Ihnen nur die Diffe­ renz, die Ihnen so oder so bleibt. Das ist der ganze Vor­ gang von Anfang bis zu Ende." „Wie wunderbar einfach." „Es ist beinahe kindlich einfach", antwortete DelFerice ernst. „In jedem Falle aber bieten sich zwei Schwierig­ keiten, und ich halte es für meine Pflicht, Ihnen zu sagen, daß es sehr ernste sind!" „Worin bestehen die?" „Sie müssen es verstehen, in dem richtigen Stadttheile zu kaufen, und Sie muffen einen sachverständigen Beistand haben. Diese zwei Bedingungen sind unerläßlich." „Was für eine Art Beistand?" fragte Orsino. „Einen praktischen Mann. Womöglich einen Architek­ ten, der dann statt fester Bezahlung einen gewissen Antheil an dem Geschäftsgewinne erhält. „Ist es sehr schwer, eine derartige Persönlichkeit aus­ findig zu machen?" „Leicht ist es nicht." „Glauben Sie, daß Sie mir dabei helfen können?" „Ich weiß nicht. Wenn ich das thue, nehme ich eine

216 große Verantwortung auf mich. Das scheinen Sie sich nicht recht klar zu machen, Don Orfino." Del Ferice lachte ein wenig in seiner ruhigen Weise, Orfino aber schwieg. Es war das erste Mal, daß der Banquier ihn an den ungeheuren Unterschied in ihrer ge­ sellschaftlichen und politischen Stellung erinnerte. „Ich glaube nicht, daß es sehr weise von mir sein würde, wenn ich Ihnen in so ein Geschäft wie dieses hinein­ helfen wollte," sagte Del Ferice vorsichtig. „Ich spreche ganz egoistisch und um meiner selbst willen. Der Erfolg ist nie sicher, und ich hätte den größten Schaden, wenn Sie scheiterten." Er fing an, seinen Entschluß zu faffen. „Warum?" fragte Orsino. Sein angeborener Edelmuth bäumte sich auf. Jedenfalls wollte er Del Ferice keinen Schaden zufügen, wenn er's irgend vermeiden konnte, und auch nicht zugeben, daß Jener sich dieser Gefahr aus­ setzte. „Wenn Sie scheitern," antwortete der Andere, „wird ganz Rom sagen, daß ich Ihren Mißerfolg absichtlich zu Wege gebracht habe. Sie wissen doch, wie die Leute schwätzen. Aus Tausenden wird man Millionen machen, und mich wird man anklagen, den Bankerott Ihrer Fa­ milie angezettelt zu haben, weil Ihr Vater mich einst, vor bald fünfundzwanzig Jahren, im Zweikampfe verwun­ det hat." „Wie albern!" „Nein, nein, — es ist nicht albern. Ich fürchte, ich stehe in dem Rufe, rachsüchtig zu sein. Nun, nun, — es ist geschmacklos, von sich selber zu sprechen. Vielleicht kann ich tüchtig Haffen, ich habe aber immer das Gefühl gehabt, daß ich den Frieden dem Kriege vorzog, und nun fange

217 ich auch noch an, alt zu werden. Ich bin nicht mehr, was ich einst war, Don Orfino, und liebe das Zanken nicht. Ich möchte aber nicht zugeben, daß die Leute Unverschämt­ heiten von mir sagten, und wenn Sie Unglück hätten und Geld verlören, so würde ich von Ihren Freunden geschmäht

und vielleicht von meinen eigenen getadelt werden. Sehen Sie? Ja; ich bin egoistisch; ich gebe es zu. Sie muffen mir diese Schwäche verzeihen. Ich liebe den Frieden." „Das ist sehr natürlich", sagte Orfino, „und ich bin nicht berechtigt, Sie auch nur der geringsten Gefahr einer Unbequemlichkeit auszusehen. Warum brauche ich denn aber schließlich anch vor dem Publicum aufzutreten?" Del Ferice lächelte im Dunkeln. „Richtig", antwortete er. „Sie könnten so zu sagen eine namenlose Firma grün­ den, und die Urkunden würden ein Geheimniß unter uns: Ihnen, mir und dem Rechtsanwalt, sein. Natürlich giebt es mancherlei Wege, so eine Sache ruhig zu betreiben." Daß das Geheimniß sich nur so lange aufrecht erhal­ ten ließ, als Orfino guten Erfolg hatte, fügte er nicht hinzu. Es wäre schade gewesen, eine so glühende Begeiste­ rung durch den kalten Strahl zu dämpfen. „Dann wollen wir das thun, wenn Sie mir zeigen wollen, wie es sich machen läßt. Mein Ehrgeiz besteht nicht darin, meinen Namen auf einem Thürschilde zu sehen, son­ dern eine wirkliche Beschäftigung zu haben." „Ich verstehe, ich verstehe", sagte Del Ferice nachdenk­ lich. „Ich muß Sie aber bitten, mir bis morgen Zeit zu lassen, die Sache reiflich zu erwägen. Ein bischen Nach­ denken ist nöthig." „Wo kann ich Sie treffen, um Ihren Entscheid zu hören?" Del Ferice schwieg einen Augenblick. „Ich glaube,

218 ich traf

gen

Sie neulich Nachmittags

bei Frau von Aran­

Wir könnten es so einrichten, daß wir uns

juez.

da

treffen

und

zusammen weggehen.

eine bestimmte Zeit festsetzen?

Wollen

mor­

wir

Würde Ihnen das recht

sein?" „Gewiß", erwiderte Orfino eifrig. Der Gedanke, Maria Consuelo allein gegenüberzutre­

ten,

war in seiner gegenwärtigen Gemüthsverfassung sehr

störend.

Er fühlte, daß er in seinen Beziehungen zu ihr

das Gleichgewicht verloren habe und, um es

wiederzuge­

winnen, sie in Gegenwart einer dritten Person, und sei es auch nur auf eine Viertelstunde, sehen müsse. Dann würde

es leichter sein, den früheren Verkehr wieder aufzunehmen und zu sagen, was immer er zu sagen für gut befinden würde.

Wenn sie sich von ihm beleidigt fühlte, würde sie

es jedenfalls in Del Ferices Anwesenheit nicht in bemerk­

barer Weise hervortreten lassen.

Orsinos Dasein, dachte er,

wurde zum ersten Male verwickelt,

dem unbestimmten Gefühle

und wenn er auch an

bevorstehender Schwierigkeiten

einen gewissen Genuß hatte, so brauchte er so viele Gelegen­

heiten wie möglich, um die Lage kritisch zu betrachten und über jeden neuen Zug nachzudenken.

Nicht gar weit von seiner eigenen Heimstätte stieg er

aus Del Ferices Wagen,

und nach einigen Worten sehr

aufrichtigen Dankes ging er langsam hinweg.

Er fand es

sehr schwer, seine Gedanken in logischer Folge zu ordnen, obwohl

er verschiedene Arten der Selbstzergliederung an­

wandte und sich immer wieder sagte,

er habe ein großes

Glück erlebt und stehe wahrscheinlich auf der Schwelle eines

großen Erfolges. aber nicht viel.

Diese beiden Erwägungen halfen

ihm

Das Glück war von der Art platzender

Feuerwerkskörper gewesen, und der Erfolg in der Geschäfts-

219 angelegenheit war mehr als unsicher und jedenfalls erst in ferner Zukunft zu erwarten. Er war sehr ruhelos und verlangte krampfhaft nach dem unmittelbaren Genusse weiterer Aufregungen, was ihn sicherlich veranlaßt hätte, an diesem Abende in den Club zu gehen, hätte ihn nicht die Furcht, sein kleines und kost­ bares Kapital zu verlieren, davon abgeschreckt. Er dachte an Alles, was kommen konnte, und beschloß, lieber vorsich­ tig, ja, wenn nöthig, sogar schmutzig zu sein, als die Ge­ legenheit, den großen Streich zu wagen, aus den Händen zu lassen. Außerdem würde er am nächsten Tage eine kläg­ liche Figur spielen, wenn er genöthigt wäre, Del Ferice zu gestehen, daß er seine fünfzehntausend Francs verloren habe und augenblicklich völlig mittellos sei. Demnach schloß

er sich schon früh in sein Zimmer ein, und rauchte einsam, bis er schläfrig wurde, wobei er die verschiedenen Ereignisse des Tages Revue passiven ließ, oder es doch wenigstens versuchte; denn sein Sinn kehrte beständig zu dem einen Hauptereignisse von allen, zu dem unverantwortlichen Aus­ bruche der Leidenschaft zurück, durch den er vielleicht Maria Consuelo beleidigt hatte, daß sie ihm nie mehr verzieh. Bei all' seinem zur Schau getragenen Cynismus hatte er noch nicht gelernt, daß die Sünde nur deßhalb so leicht ist, weil sie überall ermuthigt wird. Sogar wenn er diese un­ leugbare Thatsache gekannt hätte, so hätte ihm diese Kennt­ niß im Wesentlichen nicht geholfen. Während des nächsten Tages vergingen die Stunden sehr langsam, und auch als die festgesetzte Zeit gekommen war, ließ Orsino noch eine Viertelstunde vorbei gehen, ehe er das Hotel betrat und nach dem kleinen Wohnzimmer hinaufstieg, in welchem Maria Consuelo ihre Besuche empfing. Er glaubte, sicher sein zu dürfen, daß Del Ferice

220 bereits vor ihm da sei; er war aber zu stolz, um auf des letzteren Ankunst zu warten oder sich beim Pförtner zu er­ kundigen, ob Maria Consuelo allein sei oder nicht. Es schien in jeder Weise einfacher, etwas spät zu erscheinen. Del Ferice aber war ein vielbeschäftigter Mann und nicht immer pünktlich, sodaß Orsino, zu seiner nicht gerin­ gen Verwirrung, Maria Consuelo trotz seiner Vorsichtsmaß­ regel allein sand. Er war so überrascht, daß er zum ersten Male in seinem Leben unbeholfen wurde; auch fühlte er, wie ihm das Blut in's Gesicht stieg, so dunkel es auch schon war. „Wollen Sie mir vergeben?" fragte er beinahe furcht­ sam, während er ihr die Hand hinstreckte. Maria Consuelos braunrothe Augen sahen ihn neu­ gierig an. Dann lächelte sie plötzlich. „Mein liebes Kind", sagte sie, „Sie sollten solche Sachen nicht machen! Es ist sehr thöricht; wissen Sie!" Die Antwort war so unerwartet und, wie Orsino zuerst glaubte, so über die Maßen demüthigend, daß er blaß wurde und sich ein wenig zurückzog. Aber Maria Consuelo gab auf sein Benehmen nicht acht und machte es sich in ihrem gewohnten Stuhle bequem. „Haben Sie gestern Abend noch Del Ferice getroffen?" fragte sie, indem sie ohne das geringste Zaudern den Gegen­ stand des Gesprächs wechselte. „Ja", antwortete Orsino. Fast noch ehe das Wort ausgesprochen war, klopfte es an die Thür, und Del Ferice erschien. Orsinos Gesicht hellte sich auf, als ob ihm etwas Angenehmes widerfahren fei, und Maria Consuelo beobachtete diesen Vorgang. Natür­ lich schloß sie daraus, daß die beiden Männer die Verab­ redung getroffen hätten, sich in ihrem Wohnzimmer zu

221 treffen, und sie ärgerte sich über die Pünktlichkeit, die die Herren nach ihrer Annahme bewiesen hatten, indem sie fast gleichzeitig kamen, namentlich, wenn sie bedachte, was an dem vorangehenden Tage vorgefallen war. Sie bemerkte die Herzlichkeit, mit welcher sie einander grüßten, und war völlig überzeugt, daß sie Recht habe. Andererseits durste sie Del Ferice durchaus nicht kühl begegnen, damit er nicht etwa zu der Annahme käme, sie sei verdrießlich darüber, daß sie durch ihn in ihrer Unterhaltung gestört würde. Die Situation war ihr widerwärtig, doch half sie sich so gut wie möglich darüber hinweg und fing an, mit Del Ferice über die Rede zu sprechen, die er am Abende vor­ her gehalten hatte. Er hatte gut gesprochen, und es war leicht für sie, zu gleicher Zeit gerecht zu sein und zu schmeicheln. „Es muß eine unendliche Befriedigung gewähren, wenn einer so sprechen kann, wie Sie," sagte Orfino, in dem Wunsche, wenigstens etwas Angenehmes zu sagen. Del Ferice nahm das Compliment mit einer Geberde, als ob er Abbitte leisten wollte, entgegen. „Zu sprechen, wie es einige meiner Collegen können, — ja, — das muß eine große Befriedigung sein. Doch Frau von Aranjuez übertreibt. Außerdem halte ich nur dann Reden, wenn ich aufgefordert werde, es zu thun. Auch werden Reden in neun Fällen unter zehn nutzlos vergeudet. Sie find, wenn ich so sagen darf, die Musik bei dem politischen Balle. Manchmal wollen die Gäste tanzen und manchmal wollen sie nicht, die Musikanten aber müssen versuchen und sich dem Geschmacke der eingeladenen Großen anpaffen. Das Tanzen selber ist die Hauptsache." „Thaten, nicht Worte", sagte bedeutungsvoll Maria Consuelo, Orsino, der zufällig zu ihr hinübcrsah, mit einem flüchtigen Blicke streifend.

222 „Das ist ein

recht schöner Wahlspruch",

sagte er

düster. „Thaten können eine Erklärung nöthig machen, nach­ dem sie geschehen sind," bemerkte Del Ferice, indem er unbewußt eine so directe Anspielung auf jüngst vergangene Ereignisse machte, daß Orsino ihn scharf ansah und Maria Consuelo lächelte. „Das ist richtig", sagte sie. „Und wenn Sie Jemanden brauchen, der Ihnen helfen soll, so ist es nothwendig, Ihren Zweck vorher auseinander zu setzen," bemerkte Del Ferice. „Das kommt so oft in der Politik vor, und in anderen Lebenslagen ebensosehr. Wenn mir ein Mann Geld ohne meine Zustimmung weg­ nimmt, so stiehlt er; wenn ich aber meine Zustimmung dazu gebe, daß er es nimmt, so wird das Geschäft ein Geschenk oder ein Darlehen. Eine despotische Regierung stiehlt, eine constitutionelle borgt oder empfängt freiwillige Opfer. Die Thatsache, daß der Despot für einen Theil dessen, was er stiehlt, Zins zahlt, erhebt ihn zu der Stel­ lung des großherzigen Räubers, der seinen Opfern gerade Geld genug läßt, um sie nach der nächsten Stadt zu be­ fördern. Möglicherweise ist es schließlich nur ein Wortspiel von Begriffsbestimmungen, und der Unterschied ist vielleicht nicht so groß, wie er beim ersten Blicke scheint, dann aber ist alle Sittlichkeit nur der Schatten, der auf die eine oder die andere Seite einer Begriffsbestimmung fällt." „Sicherlich ist das nicht Ihr politisches Glaubens­ bekenntniß!" sagte Maria Consuelo. „Gewiß nicht, gnädige Frau, gewiß nicht," entgegnete Del Ferice in höflichem Widerspruch. „Es ist überhaupt kein Glaubensbekenntniß, sondern nur eine sehr armselige Erläuterung der Art und Weise, in der die meisten er-

223 erfahrenen Leute auf die gegenwärtigen Ereignisse blicken. Die Idee, an welche wir glauben, ist sehr verschieden von den Ergebnissen, die sie zur Folge gehabt hat; sie ist viel höher und viel bester. Die Ergebnisse aber find auch nicht alle schlecht. Unglücklicherweise liegen die schlechten auf der Oberfläche, und die guten, welche dauernd bleiben, muffen an Orten gesucht werden, wo der ehrliche Sonnenschein die Schatten der Vorzeit.noch nicht zerstreut hat." Maria Consuelo lächelte schwach und das leichte Schielen in ihren Augen trat mehr als gewöhnlich hervor, als ob ihre Aufmerksamkeit auf der Wanderschaft wäre. Orfino sagte Nichts und wunderte sich, warum Del Ferice noch weiter spräche. Dieser in der That gestattete sich vorwärts zu eilen, weil keiner von seinen beiden Zuhörern geneigt schien, eine Bemerkung zu machen, die der Unterhaltung eine andere Wendung hätte geben können, und er sing an, ztz argwöhnen, daß sich Etwas vor seiner Ankunft zugetra­ gen habe, was ihren Gleichmuth gestört habe. Sofort begann er, von Leuten statt von Ideen zu sprechen, da er nicht die Absicht hatte, sich von Frau von Aranjuez für einen langweiligen Menschen halten zn lassen; denn der, welcher thöricht genug ist, in Gegenwart von mehr als einem Zuhörer von etwas Anderem als von seinen Mitmenschen zu sprechen, ist in Gefahr, unter die Quäl­ geister gerechnet zu werden.

Eine halbe Stunde verging recht schnell, nachdem die gemeinsame Saite angeschlagen worden war, und Del Fe­ rice und Orsino wechselten verstohlene Blicke des Einver­ ständnisses, da sie die Absicht hatten, ihrer Verabredung gemäß, zusammen wegzugehen. Del Ferice erhob sich zu­ erst, und Orsino griff nach seinem Hute. Zu seiner Ueber« raschung und Bestürzung gab ihm Maria Consuelo ein

224 rasches und gebieterisches Zeichen zu bleiben. Del Ferices schläfrige, blaue Augen sahen das Meiste, was sich im Um­ kreise ihres Sehvermögens zutrug, und weder die Geberde, noch der Blick, der sie begleitete, entging ihm. Orsinos Lage war außerordentlich widerwärtig. Er hatte Del Ferice eine gewiffe Ungelegenheit bereitet, in der Voraussetzung, daß sie zusammen weggehen würden, und wollte ihn nicht beleidigen, indem er seiner Verpflichtung nicht nachkam. Andererseits war es nahezu unmöglich, Maria Consuelo den Gehorsam zu verweigern; und Del Ferice die Schwierigkeit seiner Lage auseinanderzusetzen, stand völlig außer Frage. Er wünschte beinahe, der letztere

möchte das Signal gesehen und verstanden haben. Del Ferice aber that Nichts, was darauf hindeutete, und ergriff Maria Consuelos ihm gebotene Hand, um sich zu verab­ schieden. Orsino gerieth in Verzweiflung und stand neben den Beiden mit dem Hut in der Hand. Del Ferice machte eine Wendung, um auch ihm die Hand zu reichen. „Vielleicht aber gehen Sie auch?" sagte er mit scharfer Betonung. Orsino warf einen raschen Blick auf Maria Consuelo,

als ob er sie um Erlaubniß anflehte, Abschied nehmen zu dürfen; ihr Gesicht aber war undurchdringlich, ruhig und gleichgültig. Del Ferice wußte ganz genau, was sich da abspielte; er fand aber einen Ausweg, während Orsino zauderte. Wenn dieser gewußt hätte, wie vollständig er während des ganzen kleinen Auftritts in Del Ferices Macht war, so würde er damals und an dieser Stelle seine finanziellen Pläne zu Gunsten der Maria Consuelo über Bord ge­ worfen haben. Aber Del Ferices ruhige, freundliche Art ließ keinen Gedanken an despotisches Wesen aufkommcn,

225 und er ließ Orfinos Verlegenheit nicht länger als fünf Secunden dauern. „Ich habe einen kleinen Vorschlag zu machen", sagte der fette Graf, sich wieder zu Maria Consuelo wendend. „Meine Frau und ich sind heute Abend allein. Wollen Sie nicht, gnädige Frau, kommen und bei uns speisen, und Sie, Don Orsino, wollen Sie nicht auch kommen? Wir werden gerade ein Quartett bilden, wenn Sie beide kommen wollen." „Ich komme sehr gern!" rief Maria Consuelo ohne Zaudern aus. „Ich werde mich sehr freuen!" antwortete Orsino mit einer Munterkeit, die ihn selbst überraschte. „Um acht also", sagte Del Ferice, ihm nochmals die Hand gebend, und in einem Augenblicke war er fort. Orsino war zu verwirrt und zu entzückt, aus seiner schwierigen Lage so leicht entronnen zu sein, um sich die Wichtigkeit des Schrittes zu überlegen, den er thun wollte, indem er Del Ferices Haus betrat; oder sich zu fragen, warum dieser die Einladung so geschickt auf ihn ausgedehnt habe. Er setzte sich mit einem Seufzer der Erleichterung aus seinen Stuhl nieder. „Sie haben sich für immer dloßgestellt", sagte Maria Consuelo mit verächtlichem Lachen. „Sie, der Schwärzeste der Schwarzen, sollen von nun an unter die Bekannten Graf Del Ferices und der Donna Tullia gezählt werden." „Was macht das für einen Unterschied? Außerdem hätte ich nicht anders handeln können." „Sie hätten das Diner ablehnen können." „Das hätte ich unmöglich thun können. Es anzuneh­ men war der einzige Weg, um aus einer großen Schwie­ rigkeit herauszukommen." (S ran? fort, Ten Orsine. I.

15

226 „Was für einer Schwierigkeit?"

fragte Maria Con-

fuelo unbarmherzig. Orfino schwieg, sich wundernd, wie er, ohne sie zu beleidigen, eine Erklärung geben sollte, die er doch geben

mußte. „Sie sollten solche Dinge nicht machen", sagte sie plötz­ lich. „Ich werde Ihnen nicht immer verzeihen." Ein Lichtblitz, der in der That wenig Neigung zum Verzeihen versprach, flammte in ihren Augen auf. „Was für Dinge?" fragte Orsino. „Stellen Sie sich nicht, «tts ob Sie mich für so ein­ fältig hielten," sagte sie in gereiztem Tone. „Sie und Del Ferice kommen fast im selben Augenblicke hierher. Als er geht, zeigen Sie die äußerste Angst, auch zu gehen. Natürlich haben Sie sich verabredet, sich hier zu treffen. Das ist augenscheinlich. Sie hätten die Stufen des Hotels als Zusammenkunftsort wählen können, statt mein Wohn­ zimmer." Langsam rötheten sich ihre Wangen. Sie war schön, wenn sie in Wuth gerieth. „Wenn ich hätte ahnen können, daß es Sie verletzen könnte--------" „Ist das überraschend? Haben Sie vergessen, was sich gestern zugetragen hat? Sie sollten auf Ihren Knieen liegen und mich um Verzeihung dafür bitten; und statt dessen machen Sie Ihren heutigen Besuch zu einer Verab­ redung, um sich mit einem Geschäftsmanne zu treffen. Sie haben sehr sonderbare Ideen von dem, was man einer Frau schuldig ist." „Del Ferice hatte es vorgeschlagen", sagte Orsino, „und ich habe den Vorschlag angenommen." „Was ist Del Ferice für mich, daß ich mich zum Opfer

227 seiner Vorschläge, wie Sie es nennen, soll machen lassen?

Außerdem weiß er Nichts von Ihrer gestrigen Thorheit und hat kein Recht, sie zu argwöhnen."

„Ich kann Ihnen nicht sagen, wie leid es mir thut."

„Und doch sollten Sie es mir sagen,

wenn Sie er­

warten, daß ich Ihnen dies Alles verzeihen soll. Sie können

es nicht? Dann seien Sie so gut und thun Sie das einzig Vernünftige, was noch in Ihrer Macht steht, und verlassen

Sie mich so schnell als möglich."

„Verzeihen Sie mir nur noch dies Mal!" bat Orsino in schwerer Bedrängniß, ohne aber ein einziges Wort zu finden, um seinem Gefühle der Demüthigung Ausdruck zu geben.

„Sie find nicht beredt", sagte fie verächtlich. „Sie thäten

am besten, wenn Sie gingen. Abend nicht zu dem Essen.

sehen.

Und kommen Sie auch heute Ich möchte Sie lieber nicht

Sie können leicht eine Entschuldigung vorbringen."

Orsino kam plötzlich wieder zu sich.

„Ich will jetzt

nicht weggehen, und ich will das Essen heute Abend nicht

aufgeben," sagte er ruhig. „Zch kann Sie zu beiden Sachen nicht zwingen, aber

ich kann Sie verlassen", sagte Maria Consuelo,

Bewegung,

als ob sie im Begriff sei,

mit einer

von ihrem Stuhle

aufzustehen.

„Das werden Sie nicht thun", antwortete Orsino.

In wirklicher oder scheinbarer Ueberraschung über seine Hartnäckigkeit zog sie die Augenbrauen in die Höhe.

scheinen

„Sie

ja Ihrer selbst sehr sicher zu sein", sagte sie.

„Meiner seien Sic nicht so sicher." „Ich bin sicher, daß ich Sie liebe. Nebensache."

Alles Andere ist

Er beugte sich vor und ergriff ihre Hand, so

schnell, daß sie keine Zeit hatte, ihn zu hindern.

suchte, fie zurückzuziehen, doch hielt er sic fest. 15*

Sie ver­

228 „Lassen Sie mich los!" rief sie. „Ich rufe das Mäd­ chen, wenn Sie mich nicht loslaffen!" „Rufen Sie, wenn Sie wollen, ganz Rom, damit es sehe, wie ich Sie um Verzeihung bitte. Consuelo, seien Sie nicht so hart und grausam. Wenn Sie nur wüßten, wie ich Sie liebe, so würde es Ihnen leid um mich thun, Sie würden sehen, wie ich mich Haffe, wie ich mich verachte um all dieser-------- " „Sie könnten etwas mehr Gefühl zeigen", sagte sie, mit einer nochmaligen Anstrengung, ihre Hand frei zu be­ kommen, worauf sie den Kampf aufgab. Orfino hätte gern gewußt, ob er wirklich in sie ver­ liebt sei oder nicht. Es war eigenthümlich, daß die Worte, die er suchte, ihm nicht über die Lippen wollten, auch hatte er die Empfindung, daß seine Sprache nicht denselben Wärmegrad, so zu sagen, hatte, wie seine Handlungen. Es war Etwas in Maria Consuelos Wesen, das ihn unange­ nehm störte, etwa wie ein kalter Luftstrom, der unerwartet durch ein warmes Zimmer streicht. Noch immer hielt er ihre Hand und war bemüht, sich zur Höhe der Situation emporzuarbeiten. „Consuelo!" rief er in flehendem Tone. „Schicke mich nicht weg! Sieh, wie ich leide — es ist so leicht für dich, zu sagen, daß Du verzeihst!" Sie sah ihn einen Augenblick an, und ihre Augen­ lider sanken plötzlich nieder. „Wollen Sie mich loslaffen, wenn ich Ihnen verzeihe?" fragte sie mit leiser Stimme. „3a." „So verzeihe ich Ihnen denn. Nun? Halten Sie noch immer meine Hand?" „3a." Er beugte sich vor und versuchte, sie an sich zu ziehen,

229 wahrend er ihr in die Augen sah. Sie gab ein wenig nach, und ihre Gesichter kamen einander etwas näher, und noch etwas näher. Da auf einmal brannte ein tiefes Roth auf ihren Wangen, sie wandte den Kopf ab und zog sich schnell zurück. „Nicht um alle Welt!" rief sie in einem Tone, der Orfinos Ohre neu war. Er versuchte, ihre Hand wieder zu ergreifen, sie aber wollte sie nicht hergeben. „Nein, nein! Gehen Sie — Ihnen ist nicht zu trauen!" rief sie, ihm ausweichend. „Warum find Sie so unfreundlich?" fragte er, fast

leidenschaftlich. „Ich bin für diesen Tag freundlich gewesen", ant­ wortete sie. „Bitte, gehen Sie; halten Sie sich nicht länger auf; ich könnte es bereuen." „Mein Bleiben?" „Nein, — meine Freundlichkeit. Und kommen Sie die nächste Zeit nicht wieder. Ich möchte Sie lieber bei Del Ferice sehen, als hier." Orsino war völlig außer Stande, ihr Benehmen zu verstehen, und ein älterer und erfahrenerer Mann hätte bei­ nahe eben so rathlos sein können, wie er. Ein langes Schweigen folgte, während besten er ganz still dasaß, und sie beständig aus den Deckel eines Buches blickte, das auf dem Tische lag. „Bitte, gehen Sie!" sagte sie schließlich mit einer Stimme, die nicht unfreundlich war. Orsino erhob sich von seinem Sitze und schickte sich an, ihr zu gehorchen, allerdings mit Widerstreben und dem Gefühle, daß er mit sich und aller Welt zerfallen sei. „Wollen Sie mir nicht wenigstens sagen, weßhalb Sie mich wegschicken?" fragte er.

230 „Weil

ich allein zu sein wünsche", antwortete sie.

„Leben Sie wohl." Sie sah nicht auf, als er das Zimmer verließ, und als er weg war, rührte sie sich nicht von ihrem Platze, sondern saß, wie sie vorher gesessen hatte, den gelben Um­ schlag des Romans auf dem Tische anstarrend. Orfino ging in sehr ungeordneter Gemüthsverfafsung nach Hause, und wunderte sich, daß die erleuchteten Straßen viel weniger strahlend und fröhlich aussahen, als am Abende vorher, und auch seine eigenen Aussichten für die nächste Zukunft bei weitem nicht ein so freundliches Gesicht zeigten. Er war zornig auf sich selber, daß er so thöricht gewesen war, den Besuch bei Maria Consuelo zu einer bloßen Verabredung mit Del Ferice zu gestalten, und er war über die Maßen erstaunt, sich plötzlich in geselligen

Verkehr mit dem letzteren verwickelt zu sehen, wo er doch nur in Geschäftsbeziehungen zu ihm hatte treten wollen. Jedoch kam es ihm keineswegs so vor, als habe ihn Del Ferice irgendwie verleitet, die Einladung anzunehmen. Del Ferice hatte ihn aus einer sehr widerwärtigen Lage ge­ rettet. Deßhalb? Weil er die Geberde gesehen hatte, die ihm Maria Consuelo gemacht hatte; er hatte sie verstanden und wünschte, Orsino anderswo Gelegenheit zu geben, seinen Plan ausführlich zu besprechen. Wenn aber Del Ferice das rasche Zeichen gesehen hatte, so hatte er es wahrschein­ lich in einer für Frau von Aranjuez wenig ehrenvollen Weise gedeutet. Das war eine ernste Sache, obwohl es sicherlich nicht Orsinos Schuld war, wenn sie sich selbst bloßstellte. Sie hätte ihn gehen lassen können, ohne ihn zu fragen, und da eine Auseinandersetzung irgend welcher Art nicht zu umgehen war, so hätte sie es bis zum nächsten Tage aufschieben können, sie von ihm zu fordern. Er

231 zürnte über das, was sie gethan hatte, und doch hatte er ihr innerhalb der letzten Viertelstunde eine Liebeserklärung gemacht. Er war sich ferner bewußt, daß die besagte Er­ klärung an Geist und Beredsamkeit völlig Mangel litt. Wahrscheinlich liebte er sie überhaupt nicht, und mit einem Anlaufe, seine geliebte Gleichgültigkeit zurückzugewinnen, versuchte er, über sich selbst zu lachen. Die Anstrengung hatte aber keinen Erfolg, und er fühlte Etwas wie einen Schmerz, als er feststellte, daß da Nichts zu lachen war. Er erinnerte sich an ihre Augen und an ihr Gesicht und die Töne ihrer Stimme, und er hatte die Vorstellung, daß, wenn er jetzt zurückkehrcn und sie wieder sehen könnte, er in einem Athem Dinge sagen könnte, die eine Bildsäule zu Küsten rühren würden. Die Sätze selber quollen ihm auf die Lippen und er wiederholte sie sich, während er so dahinschritt. Am allerräthselhaftesten war Maria Consuelos eigenes Benehmen gewesen. Es sah ans, als sei ihr Hauptwunsch gewesen, ihn sobald als möglich loszuwerden. Sie war heute viel schwerer beleidigt über ihn gewesen, wirklich viel tiefer beleidigt, als gestern, obgleich seiner Unerfahrenheit die Ursache weit weniger angemessen erschien. Es war augenscheinlich, dachte er, daß sie seine Taktlosigkeit nicht wirklich verziehen habe, sondern nur gezwungen und der Noth gehorchend eine widerstrebende Verzeihung ertheilt habe, lediglich weil sie nicht wünschte, ihre Bekanntschaft mit ihm abzubrechen. Andererseits hatte sie ihm gestattet, immer und immer wieder zu sagen, daß er sie liebe, und hatte ihm auch nicht verboten, sie bei ihrem Vornamen zu nennen. Er hatte schon immer gehört, daß es schwer sei, Frauen zu verstehen, und fing an, es zu glauben. Es gab nur

232 eine Annahme, die er noch nicht in Betracht gezogen hatte. Eine schwache Möglichkeit lag vor, daß sie ihn schon liebte, er konnte sich aber nur langsam dazu entschließen, dies zu glauben, da seine Eitelkeit nach einer anderen Richtung lag. Aber wenn sie ihn liebte, waren die Dinge nicht klarer. Wie wollte man es unter dieser Voraussetzung er­ klären, daß sie ihn so jählings und mit so offenbarer Ab­ sichtlichkeit wegschickte? Wenn sie ihn liebte, würde sie selbstverständlich, so kalkulirte er, so lange als möglich mit ihm zusammenzubleiben wünschen. Sie hatte ihn nur so lange bei sich zu behalten gewünscht, daß sie ihm sagen konnte, wie zornig sie sei. Auch darüber ärgerte er sich wieder; denn er war in der Verfaffung, sich über die meisten Dinge zu ärgern. Alles war außerordentlich verwickelt, und Orsino fing an, zu denken, daß die Verwickelung weniger anziehend sei, als er einige Stunden vorher erwartet hatte. Doch hatte er nur wenig Zeit, Betrachtungen anzustellen, da er ja Maria Consuelo und Del Ferice beim Diner treffen sollte. Er hatte das Gefühl, als sollte der bevorstehende Abend gewiffermaßen über seine Zukunft entscheiden, und in der That war derselbe dazu bestimmt, einen großen Einfluß auf sein Leben auszuüben, wie ein jeder, der nicht von den qualvollen Aufregungen bestürmt wurde, die ihn umlager­ ten, leicht hätte voraussehen können. Ehe er das Haus verließ, entschuldigte er sich bei seiner Mutter, indem er angab, er sei unerwartet ausgefordert worden, mit einigen Freunden zu speisen. Zur festgesetzten Stunde zog er an Del Ferices Thür die Klingel.

233 Zwölftes Kapitel.

Orsino blickte sich mit einiger Neugierde um, als . er Del Ferices Wohpung betrat. Er hatte nie erwartet, sich als Gast der Donna Tullia und ihres Gatten zu finden, und als er der starken Gräfin Hand ergriff, war er ge­ neigt, zu wünschen, die ganze Sache möchte sich als ein Traum ausweisen. Vergebens sagte er sich immer wieder,

daß er kein Knabe mehr sei, sondern ein erwachsener Mann, in den Augen des Gesetzes alt genug, um für seine Hand­ lungen selber verantwortlich zu fein, und auch thatsächlich alt genug,' um selber zur Erreichung seiner Zwecke die Schritte zu thun, die er beliebte. Jedoch fand er in dieser Erwägung keinen Trost; er konnte sich nicht von der Idee losmachen, daß er in eine ganz kindische Falle gegangen fei. Es wäre allerdings sehr leicht gewesen, Del FericeS Einladung abzulehnen, und ihm binnen einer Stunde einen kurzen Brief zu schreiben, worin er ohne genaue Angaben erklärte, daß außer seiner Macht liegende Umstände ihn nöthigten, um eine andere Zusammenkunft zur Besprechung der Geschäftsangelegenheiten zu bitten. Jetzt aber war es zu spät. Er tauschte einige gleichgültige Bemerkungen mit Donna Tullia aus, während DelFerice wohlwollend lächelnd zuschaute, und alle drei warteten auf Frau von Aranjuez. Fünf Minuten waren kaum verstrichen, als sie kam, und ihr Erscheinen zerstreute sofort Orfinos Aerger über seine eigene Unbesonnenheit. Er hatte sie nie vorher im Abendkostüm gesehen, und Kenntniß gewinnen lönnen, wie vortheilhaft das Vertauschen der gewöhnlichen Kleidung oder der unvermeidlichen Kaffeevisitentoilette mit einem Diner­ kleide wirken würde. Sie war sicherlich nicht überputzt, dem sie trug schwarz ohne Farben, und ihr einziger

234 Schmuck war eine einfache Schnur von schönen Perlen, die Donna Tullia für falsch ansah, Orfino aber für echt hielt. Möglicherweise verstand er sogar von Perlen mehr, als die Gräfin, denn seine Mutter besaß viele und trug fie oft, wäh­ rend Donna Tullia Diamanten und Rubinen vorzog. Seine Augen aber weilten nicht auf dem Halsbande, denn Maria Consuelos ganze Erscheinung machte einen eigenthümlichen Eindruck auf ihn. Sie hatte etwas Leuchtendes und sogar Blendendes an fich, was er nicht erwartet hatte, und jetzt verstand er zum ersten Male, daß die Sprache der Zei­ tungsartikel keine so grobe Schmeichelei war, wie er ge­ glaubt hatte. Trotz der großen für den Künstler maß­ gebenden Fehler in der Gesichtsbildung, die auch einem Beobachter von gewöhnlichem Geschmacke nicht lange ent­ gehen konnten, war es klar, daß Maria Consuelo stets eine blendende und alles um sich sammelnde Erscheinung in jeder geselligen Vereinigung, groß oder klein, sein mußte. Es hatte Augenblicke in Orsinos Verkehr mit ihr gegeben, wo er sie für thatsächlich schön gehalten hatte; wie sie jetzt aussah, schien einer dieser Augenblicke permanent geworden zu sein. Als er an das dachte, was er den Tag vorher gewagt hatte, fühlte sich seine Eitelkeit befriedigt und seine Seelenruhe wieder hergestellt. Mit einem Gefühle des Stolzes, welches von Zartgefühl sehr wenig an sich hatte und auch durchaus nicht gut begründet war, betrachtete er fie, als sie vor ihm, auf Del Ferices Arm gestützt, in das Eßzimmer schritt. „Schön' — nicht wahr? Ich sehe, Sie denken es," flüsterte ihm Donna Tullia in's Ohr. Die Gräfin behandelte ihn ohne weiteres wie einen alten Bekannten, was ihm die Lage behaglich machte, wäh­ rend es doch sein Gewißen beängstigte.

235

„Sehr schön", antwortete er mit ernstem Kopfnicken. „Und so geheimnißvoll", flüsterte die Gräfin wieder, gerade als fie die Thür des Speisesaals erreichten. „Sie ist sehr bezaubernd — nehmen Sie fich in acht!" fie klopfte ihm vertraulich mit dem Fächer auf den Arm und lachte, als er fie an ihrem Sitze verließ. „Worüber lacht Ihr beiden denn?" fragte Del Ferice, wohlgefällig lächelnd, als er die sechs Austern überschaute, die er auf seinem Teller vorfand, und erwog, welche davon bis zuletzt als der krönende Leckerbiffen übrig gelaffen werden sollte. Er war ein Freund guter Küche, und liebte namentlich Austern sehr als Einleitung zum Festmahle. „Worüber wir lachten? Wie neugierig Du bist, Ugo! Du willst immer alle meine kleinen Geheimniffe heraus­ finden. Consuelo, meine Theure, essen Sie gern Austern, oder essen Sie sie nicht gern? Das ist die Frage. Sie essen fie gern, ich weiß es; etwas Citrone und ein sehr kleines Spitzchen Paprika; ich liebe Paprika, ja ich bete sogar den Cayenne an!" Orsino warf einen flüchtigen Blick auf Frau von Aran­ juez: denn er war überrascht, daß Donna Tullia fie bei ihrem Vornamen anredete. Er hatte nicht gewußt, daß die beiden Frauen die erste Station der intimeren Freundschaft erreicht hatten. Maria Consuelo lächelte ziemlich unbestimmt, als sie den Rath in der Form von Citronensaft und Pfeffer an­ nahm. Del Ferice konnte seinen Austerngenuß nicht durch Worte unterbrechen, und Orsino wartete auf eine günstige Gelegenheit, etwas Witziges zu sagen. „Ich habe kürzlich eine sehr hohe Meinung von den alten Römern bekommen", sagte Donna Tullia, sich zu ihm wendend. „Wissen Sie, weßhalb?"

236 Orfino bekannte seine Unwissenheit. „Ugo erzählt mir, daß man bei einer kürzlich statt­ gehabten Ausgrabung zwanzig Wagenladungen von Austemschalen hinter einem Hause entdeckt hat. Stellen Sie sich vor! Zwanzig Wagenladungen auf ein einziges Haus! WaS für eine Familie muß da gelebt haben! In der That, die Römer waren ein großes Volk!" Orsino dachte, Donna Tullia selber könne in zukünf­

tigen Zeitaltern für eine Heldin gelten, vorausgesetzt, daß die Schalen ihrer Opfer an einem sicheren Orte zusammen aufgestapelt würden. Er lachte höflich und hoffte, die Unterhaltung möchte sich nicht auf Archäologie wenden, die nicht gerade seine Force war. „Ich bin begierig, wie lange es dauern wird, bis das moderne Rom ausgegraben wird und der Fremdling der Zukunft einen Franken bezahlt, um die Ruinen des jetzigen Parlamentsgebäudcs zu besichtigen?" warf Maria Consuelo ein, die bis jetzt noch Nichts gesagt hatte. „Bei der gegenwärtigen Gangart der Fortschritte sollte ich meinen, ungefähr zwei Jahre würden genügen," ant­ wortete Donna Tullia. „Aber Ugo sagt, wir seien ein großes Volk. Fragen Sie ihn." „Ach, mein Engel, von diesen Sachen verstehst Du Nichts", sagte Del Ferice. „Es giebt keine Entwickelung ohne gleichzeitigen Verfall der unnützen Theile. Die Schlange wirft ihre alte Haut ab, ehe sie mit einer neuen erscheint. Und ohne einen gelegentlichen großen Krach kann kein Ge­ schäft gemacht werden. Ununterbrochen schönes Wetter endet schließlich in todter Ruhe. Warum nehmen Sie ein so düsteres Aussehen an, gnädige Frau?" „Man sollte nie von Sachen sprechen; nur Personen sind unterhaltend," sagte Donna Tullia, ehe Frau von

237 Aranjuez antworten konnte. „Wen haben Sie heute ge­ sehen, Consuelo? Und Sie, Don Orfino? Und Du, Ugo? Sollen wir immer und ewig von Austern und Geschäft und Schlangen sprechen? Seid so gut und sagt mir alle, was ein Jeder zu Euch gesagt hat. Es muß doch etwas Neues geben. Natürlich ist der arme Carantoni wieder im Be­ griffe, sich zu verheirathen, und Fürstin Befana liegt wieder, wie gewöhnlich, im Sterben, und dieselben lieben alten Leute sind mit einander auf und davon gegangen, und lauter solche Sachen. Natürlich wünschte ich, die Sachen wären nicht immer gerade im Begriffe zu geschehen. Man möchte gern einmal hören, was am Tage nach den Ereigniffen, die nie zu Ende gehen, gesagt wird. Es würde ein Roman sein." Donna Tullia liebte Lärm und Unterhaltung und vor

allem Klatschgeschichten, und fühlte sich heute nicht recht behaglich. Die Nachricht, daß Orfino zum Diner kommen sollte, hatte ihr den Athem verschlagen. Ugo hatte ihr ge­ rathen, natürlich zu sein, und sie that nun ihr Bestes, um seinen Rath zu befolgen. „Was mich anbetrifft," sagte er, „so bin ich den ganzen Tag mit Geschäften geplagt gewesen und habe nur eine halbe Stunde angenehm verbracht. Ich war so glücklich, Frau von Aranjuez zu Hause zu finden, das genügte aber, um mich für viele Opfer zu entschädigen." „Ich kann nichts Besseres thun, als Daffelbe zu sagen," bemerkte Orfino, wenn auch mit weit weniger Wahrheit. „Ich glaube, ich habe einen neuen Roman durchgelesen, kann mich aber des Titels nicht erinnern und habe den Inhalt vergeffen." „Wie geistreich!" rief Maria Consuelo mit einiger Verachtung aus.

239 „Ausgezeichnet!" lachte Donna Tnllia. „Etwas klassisch;

ich setzte Ihnen aber auch scharf zu. leicht fangen.

sprechen,"

Sie lassen sich nicht

Da wir gerade von gewandten Männern

fügte sie mit noch einem inhaltreichen Seiten­

blicke auf Orsino hinzu, „ich habe heute Ihren Freund ge­ troffen, Consuelo."

„Meinen Freund?

Wer ist das?"

„Spicca natürlich. Wen hätte ich sonst meinen können?

Wir lachen sie immer aus," sagte sie, sich zu Orsino wen­ dend, „weil sie ihn so sehr haßt.

hat nie mit ihm gesprochen.

Sie kennt ihn nicht und

Es ist sein leichenhaftes Ge­

sicht, was sie in Furcht setzt.

So Etwas läßt sich ja ver­

stehen, — wir vom alten Rom sind seit der Sündfluth an ihn gewöhnt.

Ein Fremder aber entsetzt sich, wenn er ihn

zum ersten Male sieht.

Consuelo fürchtet sich thatsächlich,

ihm auf der Straße zu begegegnen.

er veran­

Sie sagt,

laßt sie, allerhand schauderhaftes Zeug zu träumen."

„Es ist ganz wahr", sagte Maria Consuelo, mit einer leichten Bewegung

ihrer

schönen

Schultern.

„Es giebt

Leute, die man lieber nicht sehen möchte, lediglich weil sie nicht gut anzusehen siud.

Er ist Einer von ihnen,

und

wenn ich ihn kommen sehe, wende ich mich weg." „Ich weiß es; ich habe es ihm heute gesagt", fuhr Donna Tuüia fröhlich fort.

„Wir sind alte Freunde, treffen

uns aber Heuzutage nicht oft.

Denkt euch so Etwas!

Es

war in jenem kleinen Antiquitätenladen auf Monte Brianzo — dem ersten links, wenn man auf ihn zu geht; er hat gute Sachen — ich sah ein Restchen Stickerei im Fenster, das

meine Phantasie fesselte; so ließ ich den Wagen halten und ging hinein.

Wer war drin? Vater Spicca, mit Hut und

allem, und einem Aussehen, wie Vater Chronos. Er feilschte

um Etwas, — ein

elendes altes

Stückchen Messing —

238 „Es ist die einzige Art, Romane zu lesen," antwortete „denn es läßt sie Ihnen stets neu bleiben, und

Orsino,

ein und derselbe kann so auf mehrere Wochen vorhalten." „Ich habe sagen hören, daß man den Mann fürchten sollte, der sich nur mit einem Buche beschäftigt," bemerkte

Maria Consuelo, ihn anblickend.

„Mr mein Theil bin ich mehr geneigt, die Frau, die viele Bücher liest, zu fürchten."

„Lesen Sie viel, meine liebe Maria Consuelo?" fragte Donna Tullia lachend.

„Immerfort."

„Und fürchtet sich Don Orsino vor Ihnen?" „Zum Sterben", antwortete Orsino.

„Frau von Aran­

juez weiß Alles." „Ist sie also blau?" fragte Donna Tullia. „Was soll ich sagen, gnädige Frau?" forschte Orsino, „Ist es eine Schmeichelei

sich an Maria Consuelo wendend.

für Sie, wenn man Sie mit dem Himmel Italiens vergleicht?" „Wegen der Bläue?"

„Nein, — wegen der strahlenden Helligkeit und Hei­ terkeit." „Danke.

Das ist hübsch.

Ich nehme es an."

„Haben Sie nicht auch Etwas für mich?" fragte Donna Tullia mit einladendem Lächeln. Die beiden Anderen blickten auf Orsino, gespannt dar­ aus,

was er auf ein so direktes Gesuch um Schmeichelei

zur Antwort geben werde.

„Juno ist noch immer Minervas Genossin," sagte er,

auf die Mythologie zurückgreifend, wobei es ihm allerdings ausfiel, daß Del Ferice mit seinem fetten, weißen Gesichte und den schläfrigen Augen einen armseligen Jupiter spielen

würde.

240 feilschte, meine Theure!

um einige Nickel!

Es kann ja

Einer arm sein, aber schmutzig zu sein hat Keiner das Recht. Ich dachte, er wollte dem Antiquar das

elende Fell ab­

schinden." „Antiquare sind im Allgemeinen sehr wohl im Stande,

selber für sich zu sorgen," bemerkte Orfino ungläubig. „Oh, gewiß; es sieht aber so schlecht aus, wissen Sie.

Weiter will ich Nichts sagen. mit dem Gezänke auf,

Als er mich sah, hörte er

und wir plauderten ein

während ich meine Stickerei einwickeln liefe.

Ihnen nach

dem Essen zeigen.

bischen,

Ich will sie

Es ist sechzehntes Jahr­

hundert, sagt Ugo, — ein Stück von einem Mefegewande — ausgesucht schöne Blumen auf burgunderrothem Atlas,

ein vollkommenes Juwel, so selten jetzt, wo alles nachgeahmt

wird. wollte.

Doch ist das nicht der Punkt, von dem ich sprechen

Das war Spicca;

ich vergesse meine Geschichte.

Er sagte die üblichen Sachen,

hört habe,

wissen Sie, — dafe er ge­

ich sei dies Jahr sehr lustig ;

aber auch gut zu bekommen, und so weiter.

es scheine mir

Und ich fragte

ihn, warum er mich nie besuche, und als Lockspeise erzählte ich ihm von unserer großen Schönheit, — das

sind Sie,

Consuelo; bitte also, machen Sie ein freundliches Gesicht,

statt die Stirne zu runzeln — und ich sagte zu ihm, dafe unsere Schönheit ihn müfete sprechen hören, weil sein Ge­ sicht ihr solchen Schrecken eingejagt hätte, dafe sie jedesmal

davonliefe, wenn sie ihn auf der Strafee auf sich zukommen sähe.

Sie sehen, wenn ihm Jemand wegen seines geist­

reichen Wesens schmeichelt, nimmt er es nicht so übel, wenn

er häßlich genannt wird, — oder ich dachte es wenigstens nicht, bis heute. Zu meiner Bestürzung aber schien er zornig, und fragte mich fast grob, ob es wahr sei, dafe die

Gräfin von Aranjuez —

so bezeichnete er Sie,

meine

241 Theure — es wirklich versuche, ihn auf der Straße zu ver­ meiden. Da lachte ich und sagte, ich machte ja nur Scherz, und er fing wieder an, um das kleine Messi nggestelle zu schachern, und ich ging weg. Als ich seine Stimme zum letzten Male hörte, bestand er auf fünfundfiebenzig Centi­ mes, und der Antiquar grinste ihn an und verlangte an­ derthalb Franken. Ich möchte missen, wer schließlich den Sieg davon getragen hat. Ich will ihn das nächste Mal fragen, wenn ich ihn sehe." DelFerice unterstützte seine Frau, indem er über ihre Ge­ schichte lachte; doch kam es ihm nicht recht von Herzen. Er hatte aus früheren Tagen unliebsame Erinnerungen an Spicca, und sein Name rief Ereigniffe wieder wach, die Ugo gern vergeffen hätte. Orsino lächelte höflich, ärgerte fich aber über die Art, wie Donna Tullia von seines Vaters altem Freunde sprach. Was Maria Consuelo anbetrifft, so war fie etwas blaß und sah ermüdet aus. Die Gräfin aber war nicht zu hemmen, denn sie fürchtete, Orsino möchte weggehen und sie für langweilig halten. „Natürlich haben wir Alle Spicca aufrichtig lieb", sagte sie. „Jedermann liebt ihn." „Ich meinestheils thue es", sagte Orsino mit Nach­ druck. „Ich habe eine hohe Achtung vor ihm um seiner selbst willen; auch ist er einer der ältesten Freunde meines Vaters." Maria Consuelo sah sehr plötzlich zu ihm hin, als ob fie durch das, was er sagte, überrascht sei. Sie erinnerte fich nicht, je gehört zu haben, daß er des schwermüthigen altm Duellanten Erwähnung gethan hätte. Es sah aus, als wollte sie Etwas sagen, fie änderte aber ihre Absicht. „Ja", sagte Ugo, dem Gegenstände eine andere Wendurg gebend, „er ist einer von dem alten Stamme, der jetzt

242 ausstirbt. Was für Charaktere es in jenen Zeiten gab, und wie die, welche noch am Leben find, sich geändert haben! Kannst Du Dich erinnern, Tullia? Aber natür­ lich kannst Du es nicht, mein Engel; es war lange vor Deiner Zeit." Ein bei Ugo besonders beliebtes Verfahren, seiner Frau zu gefallen, bestand darin, daß er verficherte, sie sei zu jung, sich an Leute zu erinnern, die thatsächlich noch nach dem Tode ihres ersten Gatten eine Rolle gespielt hatten. Es schmeichelte ihr stets. „Ich erinnere mich an sie Alle", fuhr er fort. „Den alten Montevarchi und Frangipani und den armen Casalverde, — und ein Dutzend andere." Er war nahe daran gewesen, auch den alten Astrardente zu erwähnen, hielt aber an sich. „Dann waren da die Jungen, die jetzt im mittleren Alter stehen," fuhr er fort, „wie Valdarno und der Monte­ varchi, den Du kennst, so verschieden von ihren früheren Persönlichkeiten, wie Du Dir wohl denken kannst. Auch die Gesellschaft war eine andere." Del Ferice sprach nachdenklich und langsam, als ob er gewünscht hätte, es möchte ihn Jemand unterbrechen oder den Gegenstand aufnehmen; denn er fühlte, daß seiner Frau lange Geschichte von Spicca und dem Antiquar kein Erfolg gewesen war, und sein Taktgefühl sagte ihm, daß Spicca am besten nicht wieder erwähnt würde, da er ein Freund Orsinos war, und da sein Name einen nieder­ drückenden Einfluß auf Maria Consuelo auszuüben schien. Orsino kam ihm zu Hülfe und fing an, von modernen focialen Typen zu sprechen, in einer Weise, welche erkennen ließ, daß er nicht so tief im Vorurtheil überlieferter Ideen befangen war, wie Del Ferice erwartet hatte. Die äugen-

243 blickliche Kühle verschwand ziemlich schnell, und als daS Essen endete, war Donna Tullia überzeugt, daß es erfolg­ reich gewesen sei. Sie kehrten alle nach dem Empfangs­ zimmer zurück, und hierauf führte Del Ferice, ohne eine weitere Bemerkung zu machen, Orfino hinweg, um mit ihm in einem entfcrntliegenden Zimmer zu rauchen. „Wir können wieder rauchen, wenn wir zurückgehen," sagte er. „Meine Frau legt kein Gewicht darauf, und Frau von Aranjuez hat es gern. Es ist aber eine Ent­ schuldigung, um kurze Zeit unter uns allein zu sein, und außerdem verlangt mein Arzt von mir, daß ich mich nach dem Effen eine Viertelstunde niederlege. Sie werden mich doch entschuldigen?" Del Ferice streckte sich aus einem ledernen Divan aus, und Orfino setzte sich in einen tiefen Armstuhl. „Es that mir so leid, daß ich heute nicht mit Ihnen fortkommen konnte," sagte Orfino. „Die Sache war die, Frau von Aranjuez wünschte eine gewiffe Auskunft, und ich war gerade im Begriffe zu erklären, daß ich noch etwas länger bleiben wollte, als Sie uns beide zum Effen ein­ luden. Sie muffen mich für sehr vergeßlich gehalten haben." „Durchaus nicht, durchaus nicht," antwortete Del Ferice. „Ich war in der That völlig der Ansicht, daß Sie mit mir kommen würden, als mir plötzlich der Gedanke kam, daß dies hier ein viel angenehmerer Ort zum Plau­ dern sein würde. Zch kann mir nicht denken, warum ich nicht vorher darauf gekommen war, aber ich habe so vie­ lerlei Sachen im Kopfe." Es ließ sich nicht viel für die Wahrhaftigkeit beider Angaben sagen, welche die beiden Männer einander zu machen beliebten, Orsino aber hatte den kleinen Vortheil, 16»

244 dem Buchstaben, wenn auch nicht dem Geiste der Wahrheit etwas näher zu sein. Jedoch war ein Jeder mit dem Takt­ gefühle des anderen zufrieden. „Sie wünschen also, Don Orsino," fuhr Del Ferice nach kurzer Paufe fort, „eine kleine geschäftliche Unterneh­ mung zu versuchen? Ja? Sehr gut. Sie haben, wie Sie mir gestern sagten, eine Geldsumme, die für den Anfang reichlich genannt werden kann. Sie besitzen den nöthigen Muth und Verstand. Sie hrauchen jedoch einen praktischen Beistand, und es ist unumgänglich nothwendig, daß der für das erste Wagniß gewählte Angriffspunkt einer sei, der raschen Erfolg verspricht. Ist es so?" „Ganz genau." „Sehr gut, sehr gut. Ich glaube, ich kann Ihnen sowohl das Grundstück, wie auch den Geschäftsgenoffen an­ bieten und den Erfolg beinahe sicher verbürgen, wenn Sie sich von mir wollen leiten lassen." „Ich bin zu Ihnen um Rath gekommen", sagte Orsino, „und will ihn dankbar befolgen. Was den Erfolg des Unterneh­ mens anbetrifft, so will ich dieVerantwortlichkeitübernehmen." „Ja, das ist besser. Schließlich ist Alles in solchen Sachen unsicher, und es würde Ihnen nicht angenehm sein, wenn Sie das Gefühl hätten, mir verpflichtet zu fein. An­ dererseits, wie ich Ihnen bereits sagte, bin ich selbstsüchtig und vorsichtig. Bei der Verhandlung möchte ich lieber nicht mit auftreten." Wenn in diesem Augenblicke irgend ein Zweifel an Del Ferices ehrlicher Absicht Orsino durch den Kopf fuhr, so wurde er völlig durch die Thatsache ausgewogen, daß er selber die bestimmte Absicht hatte, sich nicht öffentlich mit dem Banquier zu verbünden. „Ich stimme ganz mit Ihnen überein", sagte er.

245 „Sehr wohl. Nun zum Geschäfte. Wissen Sie, daß es manchmal vortheilhafter ist, einen halbvollendeten Bau zu übernehmen, als einen neuen anzusangen? Oft sogar, versichere ich Ihnen; denn die Erträgnisse gehen rascher ein, und Sie bekommen einen beträchtlichen Theil zum halben Preise. Nun ist der Mann, den ich Ihnen empfehle, ein praktischer Architekt, der für einen Bäcker ein Miethshaus in einem der neuen Stadttheile baute. Der Bäcker stirbt, das Haus ist unvollendet, die Erben wünschen, es zu verkaufen — es sind mehr als zwölf vorhanden — und die Arbeit ist einstweilen eingestellt. Mein Rath ist fol­ gender. Kanfen Sie dieses Haus, associiren Sie sich mit dem beschäftigungslosen Architekten, indem Sie ihm einen Theil des Geschäftsgewinnes bewilligen, bauen Sie das Haus zu Ende, und verkaufen Sie es, sobald es bewohn­ bar ist. In sechs Monaten werden Sie eine hübsche Ein­ nahme haben." „Das klingt sehr verlockend", antwortete Orsino; „es würde aber mehr Kapital erfordern, als ich habe." „Durchaus nicht, durchaus nicht. Es handelt, sich lediglich darum, eine Hypothek zu übernehmen und Stempel­ gebühr zu zahlen." „Und wie steht es mit der Differenz in baarem Gelde, die an die gegenwärtigen Besitzer ausgezahlt werden muß?" „Ich sehe, Sie fangen schon an, die Geschäftsprin­ cipien zu verstehen," sagte Del Ferice mit ermuthigendem Lächeln. „In diesem Falle aber sind die Eigenthümer froh, wenn Sie es unter irgend welchen Bedingungen, bei denen sie Nichts verlieren, los werden können; denn sie haben eine Heidenangst, dadurch ruinirt zu werden, wie dies wahrscheinlich der Fall sein wird, wenn sie es in Hän­ den behalten."

246 „Deßhalb soll ich dann ohne Verlust bleiben, wenn ich es nehme?" „Das eben ist der Unterschied. Die Erben find eine Menge unerfahrener Leute aus den unteren Ständen, die von diesen Sachen Nichts verstehen. Wenn sie den Versuch machen wollten, die Sache weiterzuführcn, so würden sie sich bald in die größten Schwierigkeiten verstrickt sehen. Jene würden untersinken, wo Sie höchst wahrscheinlich schwimmen werden." Orfino schwieg einen Augenblick. Es lag, seinem Bedünken nach, etwas Verächtliches darin, sich an dem zu be­ reichern, was eines armseligen Bäckers Erben verlieren sollten. „Es scheint mir", sagte er sofort, „daß ich im Falle günstigen Erfolges den gegenwärtigen Eigenthümern einen Theil des erzielten Nutzens abgeben müßte." Nicht ein Muskel in Del Ferices Gesichte bewegte sich, doch blickten seine matten Augen neugierig auf Orsinos junges Gesicht. „So Etwas kommt bei Geschäften gewöhn­ lich nicht vor", sagte er ruhig, nach kurzer Pause. „Der Regel nach ist es so, daß Leute, die sich mit Geschäften befassen, dies in der Hoffnung reich zu werden thun; ich kann mir aber sehr wohl denken, daß da, wo das Geschäft, wie in Ihrem Falle, ein bloßer Zeitvertreib ist, ein Mann von hochherziger Gesinnung den Ertrag der Wohlthätigkeit widmen mag." „Mir kommt es mehr wie Gerechtigkeit, als wie Wohl­ thätigkeit vor," bemerkte Orsino. „Nennen Sie es, wie Sie wollen; haben Sie aber erst Erfolg, und erwägen Sie nachher, wie Sie den Ertrag Ihres Erfolges verwenden wollen. Das geht mich nichts an. Die Bäcker-Erben, glaube ich, verdienen es nicht be­ sonders.

Thatsächlich sagt man, sie hätten seinen Tod be-

247 schleunigt, in der Hoffnung, seinen Reichthum zu erben, und find nun enttäuscht, daß fie Nichts erreicht haben. Wenn Sie als Menschenfreund zu wirken wünschen, so könnten Sie warten, bis Sie eine größere Summe zusam­ mengebracht haben, und sie dann einer Schule oder einem Krankenhause zuwenden." „Das ist wahr", sagte Orsino. „Inzwischen aber muß man anfangen." „Wir können morgen ansangen, wenn es Ihnen recht ist. Sie werden mich Mittags auf der Bank finden. Ich will den Baumeister und den Rechtsanwalt holen lassen, und in zweimal vierundzwanzig Stunden können wir Alles erledigen. Ehe die Woche noch zu Ende ist, können Sie an der Arbeit sein." „Schon so bald?" „Gewiß; und noch eher, wenn wir die Sachen ein wenig eilig betreiben." „Dann also so schnell als möglich. Und ich will mor­ gen zwölf Uhr auf die Bank gehen. Tausend Dank für all Ihre freundlichen Bemühungen, mein lieber Graf." „Es ist mir ein Vergnügen; ich versichere es Ihnen." Orfino fand so viel Gefallen an Del Fericcs rascher und geschäftsmäßiger Art, die Sachen zu regeln, daß er anfing, ihn als ein nachahmenswerthes Vorbild anzusehen, soweit es sich um die Fertigkeit der Ausführung handelte. Es war wunderlich genug, daß einer seines Namens etwas wie Bewunderung für Ugo empfand; Freundschaft aber und Haß sind nur die entgegengesetzten Schwingepunkte, an denen das gesellschaftliche Pendel anhält, ehe es wieder zurückschwingt; und wer ein hohes Alter erreicht, kann viele Schwingungen erleben. Die beiden Männer gingen nach dem Empfangszim-

248 mer zurück, wo Donna Tullia und Maria Consuelo die verwickelten Ansichten des allmächtigen Damenschneiders er­ örterten. Orsino wußte, daß er wenig Aussicht habe, ein Wort allein mit Frau von Aranjuez zu sprechen, und be­ schränkte sich auf den wiederholten Versuch, zur allgemeinen Unterhaltung beizutragen. Zum Glück war die Zeit, die man auf diese Weise überstehen mußte, nicht allzulang, da alle Vier Verabredungen für den Abend hatten. Maria Consuelo stand um halb elf aus, Orsino aber beschloß, noch fünf Minuten zu warten, oder wenigstens sich den Anschein zu geben, als beabsichtigte er dies. Jedoch reichte ihm Donna Tullia die Hand hin, als erwarte sie, daß er gleich­ zeitig mit Frau von Aranjuez sich verabschieden wolle. Sie wollte auf einen Ball gehen und brauchte wenigstens eine Stunde, um ihre großartige Erscheinung bis auf den Höhe­ punkt der Tanzbarkeit emporzuschrauben. Die Folge war, daß Orsino sich dabei fand, Maria Consuelo beim Einsteigen in den bescheidenen Miethswagen behülflich zu sein, der sie am Thore erwartete. Er hoffte, sie würde ihm für eine kurze Strecke einen Platz im Wagen anbieten, sah sich aber enttäuscht. „Darf ich morgen kommen?" fragte er, als er die Wagenthür zumachte. Die Nacht war nicht kalt, und das Fenster war unten. „Bitte, sagen Sie dem Kutscher, er soll mich nach der Via Nazionale fahren," sagte sie rasch. „Welche Nummer?" „Darauf kommt's nicht an, er kennt sie, — ich habe sie vergeßen. Gute Nacht." Sie versuchte, das Fenster hochzuziehen, aber Orsino hielt die Hand darauf. „Darf ich morgen kommen?" fragte er wieder.

249 „Nein." „Sind Sie noch böse auf mich?" „Nein." „Warum aso-------- " „Lassen Sie mich das Fenster zumachen.

Nehmen Sie

Ihre Hand weg." Ihre Stimme klang sehr gebieterisch in der Dunkel­ heit. Orsino ließ seinen Halt am Fensterrahmen los, und die Scheibe fuhr sofort mit raffelndem Geräusche an ihren Platz. Es war offenbar Nichts mehr zu sagen. „Via Nazionale! Die Dame sagt, Sie kennen das Haus," rief er dem Roffelenker zu. Der Mann machte ein erstauntes Gesicht, zuckte die Schultern nach der Art der Miethsstallkutscher, und fuhr langsam in der angegebenen Richtung davon. Orsino stand und blickte dem Wagen nach, und einige Sekunden später sah er, daß der Mann die Zügel anzog und sich zum Vor­ derfenster herabbeugte, als frage er, wohin er fahren solle. Orsino war es so, als höre er Maria Consuelos Stimme die Frage beantworten, er konnte aber nicht unterscheiden, was sie sagte, und aus einmal fuhr der Einspänner in der­ selben Richtung weiter. Er war neugierig, wohin sie führe, und der Gedanke, ihr zu folgen, bot sich von selbst dar; er ließ ihn aber so­ fort wieder fahren, theils weil er ihm verächtlich vorkam, theils vielleicht, weil er zu Fuß war und keine Droschke in Rufweite vorbeikam. Orsino war völlig irre. Während des Essens hatte sie sich mit ihrer gewöhnlichen Herzlichkeit benommen, so­ bald sie aber allein waren, sprach und handelte sie, wie sic am Nachmittage gethan hatte. Orsino wandte sich weg und schritt quer über den menschenleeren Platz. Aber er

250 war sehr beunruhigt, denn er empfand ein Gefühl der De­ müthigung und Enttäuschung, das ihm ganz neu war. So jung er auch war, war er doch schon gewöhnt, einen Grad von Achtung zu finden, der von dem, welchen Maria Consuelo zu gewähren für gut hielt, sehr verschieden war, und es war ficherlich das erste Mal in seinem Leben, daß ihm eine Thür — und wäre es auch nur eine Wagenthür — ohne Weiteres vor der Nase zugeschlagen wurde. Was eine unverzeihliche Beleidigung gewesen wäre, wenn es von einem Manne ausging, war wenigstens eine schlechte Behandlung, wenn es von einer Frau kam. Als Orfino so weiter wan­ derte, erhob sich sein Zorn, und er wunderte sich, warum er nicht sofort zornig gewesen war. „Sehr gut", sagte er zu sich. „Sie sagt, sie wünscht mich nicht. Ich will sie beim Worte nehmen und will sie überhaupt nicht mehr besuchen. Wir werden ja sehen, was geschieht. Sie wird kennen lernen, daß ich kein Kind bin, wie sie heute so freundlich war, mich zu nennen, und daß ich nicht die Gewohnheit habe, mir Wagenfenster vor der Nase Hochziehen zu lassen. Ich habe weit ernstere Geschäfte zu besorgen, als Frau von Aranjuez den Hof zu machen." Je mehr er über die Sachlage nachdachte, desto zor­ niger wurde er, und als er die Thür des Clubhauses er­ reichte, war er in einer Stimmung, daß er sich mit Allem und Jedem hätte zanken mögen. Glücklicherweise war der Platz, da es noch so früh war, ausschließlich im Besitze eines halben Dutzends alter Herrn, deren Unterhaltung seinen Gedanken eine andere Richtung gab, obgleich sie das gerade Gegentheil von erbaulich war. Im Verlaufe der Geschichten, die sie erzählten, und der beträchtlichen Anzahl von Cigaretten, die er rauchte, während er ihnen zuhörte, war er gegen Mitternacht beinahe wieder in seine gewohnte

251 Gernüthsverfafsung zurückversetzt, als vier oder fünf von seinen Kameraden hereingeschoffen kamen und ein Baccarat vorfchlugen. Nach seinen neulichen Erfolgen konnte er es nicht gut ablehnen, zu spielen; so setzte er sich denn ziem­ lich ungern mit den Uebrigen hin. Wunderbar genug ver­ lor er nicht, obgleich er nur wenig gewann. „Glücklich im Spiel, unglücklich in der Liebe," lachte einer der jungen Leute sorglos. „Was meinen Sie damit?" fragte Orsino, sich scharf nach dem Redner umdrehend. „Ich, meinen? Nichts", antwortete der letztere höchst überrascht. „Was ist denn mit Ihnen los, Orfino? Darf man denn nicht ein gewöhnliches Sprichwort citiren?" „Oh, — wenn Sie nichts meinten, so wollen wir weiterspielen," antwortete Orfino finster. Als er die Karten wieder aufnahm, hörte er einen Seufzer hinter sich, und sich umdrehend, sah er Spicca an seiner Schulter stehen. Er war entsetzt über das Gesicht des schwermüthigen Grafen, obgleich er ihm fast täglich zu begegnen pflegte. Die hageren, leichenhaften Gefichtszüge, die eingesunkenen, kummerzerfressenen Augen standen in einem fast schauerlichen Gegensatze zu der Frische und Fröh­ lichkeit von Orsinos Gefährten, und das strahlende Licht in dem Zimmer ließ die Todesblässe des Mannes noch stärker hervortreten. „Wollen Sie spielen, Graf?" fragte Orfino, indem er Platz für ihn machte. „Nein, danke bestens. Ich spiele heutzutage nie", ant­ wortete Spicca ruhig. Er drehte sich um und verließ das Zimmer. Bei all seiner scheinbaren Schwäche war sein Schritt noch fest, ob­ gleich langsamer als in der früheren Zeit.

252 „Er seufzte so, weil wir uns nicht zankten," sagte der Mann, dessen Sprichwortscitation Orfino so geärgert hatte. „Ich bin bereit und gern erbötig, mich heut Nacht mit Jedermann zu zanken," antwortete Orsino. „Wir wollen Baccarat spielen, das ist weit besser." Spicca verließ den Club allein und wanderte langsam heimwärts nach seiner kleinen Wohnung in der Via della Croce. Einige ersterbende Kohlen glimmten noch in dem kleinen Kamine, der sein Wohnzimmer erwärmte; er schürte sie langsam zusammen, nahm ein Stück Holz aus dem Weidenkorbe, zögerte einen Augenblick, und legte es dann wieder in den Korb zurück, anstatt es zu verbrennen. Die Nacht war nicht kalt, und Holz war sehr theuer. Er setzte sich unter dem Lichte der alten Lampe nieder, die auf dem Kaminsimse stand und holte lange und tief Athem. Sofort aber die Hand in die Tasche seines Ueberrockes steckend, um sein Cigarettentäschchen zu suchen, zog er etwas Anderes heraus, was er beinahe vergeffen hatte, etwas Kleines, eingewickelt in grobes Papier. Er packte es auf und betrachtete das kleine Gestell von ciselirtem Messing, bei dessen Kaufe ihn Donna Tullia am Nachmittage ge­ troffen hatte, indem er es immer wieder gedankenlos hin und her drehte, als ob er an sonst Etwas dächte. Dann wühlte er wieder in seinen Taschen und fand eine Photographie, die er auch im Laufe des Tages gekauft hatte; die Photographie von Gouaches neuestem Porträt, die er auf dem Wege des Schmuggels und mit einiger Schwierigkeit von dem Photographen erlangt hatte. Ohne Zaudern ergriff Spicca ein Taschenmeffer und fing an, mit jener außerordentlichen Schärfe und Sauber­ keit, die ihn kennzeichnete, wenn er irgend ein scharfes In­ strument gebrauchte, den Kopf herauszuschnciden. Der Kopf

253 paßte gerade in den Rahmen. Er befestigte ihn mit einigen Tropfen Siegellack und verbrannte sorgfältig den Rest des Bildes in der glühenden Asche. Das Gesicht Maria Consuelos lächelte ihm im Lam­ penlichte zu, wie er es hin und her wandte, um die beste Ansicht davon zu gewinnen. Dann hing er es an einen Nagel über dem Kaminsims gerade unter einem Paare ge­ kreuzter Nappiere. „Dieser Gouache ist ein sehr geschickter Bursche", sagte er laut. „Er und die gütige Natur haben zusammen ein gutes Bildniß hergestellt." Er setzte sich wieder hin, und es dauerte lange, ehe er sich entschloß, die Lampe wegzunehmen und zu Bette zu gehen.

Dreizehntes Kapitel. Del Ferice hielt sein Wort und ordnete die Sachen für Orfino mit einer Schnelligkeit und Geschicklichkeit, die dessen aufrichtige Bewunderung erregten. Die Sache war wirklich nicht sehr verwickelt, obgleich sie eine Verkaufs­ urkunde, die Übertragung einer Hypothek und einen Geseüschastsvertrag zwischen Orfino Saracinesca und dem Baumeister Andrea Contini, unter der Firma „Andrea Contini und Compagnie", erforderlich machte, sowie einen Kontrakt zwischen dieser Firma einerseits und der Bank, bei welcher Del Ferice Direktor war, andererseits; wobei die beiden Compagnons es übernahmen, den Bau des halbvollendeten Hauses weiterzuführen, und die Bank sich verpflichtete, kleine Summen bis zu einem gewissen Betrage für laufende Ausgaben an Materialien und Arbeitslöhnen vorzuschießen. Orsino unterzeichnete Alles, was von ihm

253 paßte gerade in den Rahmen. Er befestigte ihn mit einigen Tropfen Siegellack und verbrannte sorgfältig den Rest des Bildes in der glühenden Asche. Das Gesicht Maria Consuelos lächelte ihm im Lam­ penlichte zu, wie er es hin und her wandte, um die beste Ansicht davon zu gewinnen. Dann hing er es an einen Nagel über dem Kaminsims gerade unter einem Paare ge­ kreuzter Nappiere. „Dieser Gouache ist ein sehr geschickter Bursche", sagte er laut. „Er und die gütige Natur haben zusammen ein gutes Bildniß hergestellt." Er setzte sich wieder hin, und es dauerte lange, ehe er sich entschloß, die Lampe wegzunehmen und zu Bette zu gehen.

Dreizehntes Kapitel. Del Ferice hielt sein Wort und ordnete die Sachen für Orfino mit einer Schnelligkeit und Geschicklichkeit, die dessen aufrichtige Bewunderung erregten. Die Sache war wirklich nicht sehr verwickelt, obgleich sie eine Verkaufs­ urkunde, die Übertragung einer Hypothek und einen Geseüschastsvertrag zwischen Orfino Saracinesca und dem Baumeister Andrea Contini, unter der Firma „Andrea Contini und Compagnie", erforderlich machte, sowie einen Kontrakt zwischen dieser Firma einerseits und der Bank, bei welcher Del Ferice Direktor war, andererseits; wobei die beiden Compagnons es übernahmen, den Bau des halbvollendeten Hauses weiterzuführen, und die Bank sich verpflichtete, kleine Summen bis zu einem gewissen Betrage für laufende Ausgaben an Materialien und Arbeitslöhnen vorzuschießen. Orsino unterzeichnete Alles, was von ihm

254 verlangt wurde, nachdem er die Schriftstücke durchgelesen hatte, und Andrea Contini folgte seinem Beispiele. Der Architekt war ein hochgewachsener Mann mit glänzenden blauen Augen, einem dunklen, etwas zottigen Barte, kurzgeschorenem Haare, einer vorspringenden, knochi­ gen Stirn, und großen, grob geformten, dünnen Ohren, die ihm wunderlich am Kopfe saßen. Er trug gewöhnlich einen dunklen Ueberzieher, dessen Kragen meistens ans der einen Seite hochgeschlagen war, und auf der anderen nicht. Nach dem Aussehen seiner starken Schuhe zu urtheilen, hatte er stets vorher große Strecken schlechten Weges zurückge'.egt, und wenn es im Laufe der Woche geregnet hatte, waren seine Hosen gewöhnlich bis zu einer beträchtlichen Höhe oberhalb der Fersen mit Straßenschmutz bespritzt. Ge­ wöhnlich trug er eine ausgegangene Cigarre zwischen den Zähnen, an deren dünnem, schwarzen Ende er unruhig herumkaute. Orsino war der Meinung, er möchte etwa achtundzwanzig Jahre alt sein, und war mit seiner Er­ scheinung nicht völlig unzufrieden. Er war durchaus nicht so, wie die überwiegende Mehrzahl seiner Stan desgenoffen, die, in Rom wenigstens, meistens eine peinlich affettirt patente Kleidung und ein ungemein feines Benehmen zur Schau tragen. Was immer für Fehler sich später bei Con­ tini herausstellen mochten, so glaubte Orsino nicht, daß sie sich in der Richtung von Trägheit und Eitelkeit zeigen würden. Wie weit er in seinem Urtheile Recht hatte, wird binnen Kurzem sichtbar werden; er aber hielt seinen Com­ pagnon für begabt, freimüthig, begeisterungsfähig und gleichgültig gegen äußere Formen. Der Baumeister seinerseits überschaute Orsino mit einer Art theilnehmender Neugierde, die der letztere für un­ angenehm vertraulich gehalten haben würde, wenn er sie

255 verstanden hätte. Contini hatte nie vorher mit einer höheren Persönlichkeit als Del Ferice gesprochen, und er studirte den jungen Edelmann, als ob er ein Wesen aus einer an­ deren Welt wäre. Er war einige Zeit unschlüssig, wie er ihn anreden sollte, und entschied sich schließlich dafür, ihn „Herr Fürst" zu nennen. Orfino schien damit ganz zu­ frieden, und der Baumeister hatte eine innere Freude, wenn der junge Mann „Herr Contini" sagte, statt bloß Contini. Es war ganz klar, daß ihn Del Ferice schon mit allen Einzelheiten der Sachlage bekannt gemacht hatte, denn er schien alle Urkunden mit einem Blicke zu verstehen, indem er die wichtigen Klauseln mit unfehlbarem Scharfsinne her­ aussuchte und prüfte und mit dem Finger auf die Stelle hinwies, wo Orsino seinen Namen unterzeichnen sollte. Als die Zusammenkunft zu Ende war, schüttelte Orsino Del Ferice die Hand und dankte ihm warm für seine Freund­ lichkeit, worauf er und sein Compagnon zusammen hinaus gingen. Sie standen einige Sekunden lang Seite an Seite auf dem Pflaster, Jeder gespannt, was der Andere sagen würde. „Wir thäten vielleicht am besten, Herr Fürst, wir gingen hin, und sähen uns das Haus mal an", bemerkte Contini inmitten einer erfolglosen Anstrengung, seinen Ci­ garrenstummel anzuzünden. „Das meine ich auch", antwortete Orfino, da sich nicht leugnen ließ, daß er nun, wo er das Grundstück ein­ mal erworben hatte, wohl daran that, sich darum zu küm­ mern, wie es aussah. „Sie sehen, ich habe meinem Rath­ geber in der Angelegenheit völliges Vertrauen geschenkt, und ich schäme mich, sagen zu muffen, daß ich nicht weiß, wo das Haus steht." Andrea Contini sah ihn neugierig an.

256 „Dies ist das erste Mal, Herr Fürst, daß Sie Etwas mit Geschäften dieser Art zu thun haben?" bemerkte er. „Sie sind in gute Hände gerathen." „Die Ihrigen?" fragte Orsino etwas steif. „Nein. Ich meine, daß Graf Del Ferice in dieser Angelegenheit ein guter Rathgeber ist." „Ich hoffe es." „Ich bin deffen gewiß", sagte Contini mit Ueberzeu­ gung. Es würde mich sehr überraschen, wenn es uns fehl schlüge, durch den heute abgeschlossenen Kontrakt einen guten Nutzen zu erzielen." „Es giebt überall Glück und Unglück", antwortete Orsino, indem er eine vorüberfahrende Droschke heran­ winkte. Die beiden Männer wechselten wenige Worte, während sie in der dem Kutscher von Contini angegebenen Richtung nach dem neuen Stadtviertel hinfuhren. Der Wagen ge­ langte in eine Art breiter Gaffe, den Entwurf einer zukünf­ tigen Straße, holperig überdeckt mit ungewalztem Schotter von geklopften Steinen, während der für das Pflaster vor­ behaltene Raum ein unebener Pfad von sestgetreteuer brau­ ner Erde war. Hier und da erhoben sich große, einzeln stehende Häuser aus der Wildniß, meistens mit Gerüsten bedeckt und von Arbeitern wimmelnd, aber häßlich, wo sie so weit beendet waren, daß man sie in der ganzen Verein­ samung ihrer sechs Stockwerke hohen Nacktheit sehen konnte. Ein scharfer Geruch von Kalk, nasser Erde und feuchtem Mauerwerk wurde durch den Sciroccowind Orsino in die Nase geblasen. Contini ließ die Droschke vor einem nicht sehr verheißungsvoll aussehenden öden Aufbau von Stan­ gen, Brettern und zerfetztem Mattenwerk halten. „Dies ist unser Haus", sagte er, indem er ausstieg

257 und sofort wieder einen vergeblichen Versuch machte, seine Cigarre in Brand zu setzen. „Darf ich Ihnen eine Cigarette anbieten?" sagte Orfino, indem er ihm sein Täschchen hinhielt. Contini faßte an den Hut, machte ungeschickt eine kleine Verbeugung und nahm eine von den Cigaretten, die er sofort in seine Ueberziehertasche beförderte. „Wenn Sie erlauben, will ich sie später rauchen", sagte er. „Ich bin mit meiner Cigarre noch nicht zu Ende." Orsino stand auf dem schlüpfrigen Boden und be­ trachtete seinen Kauf. Auf einmal sank ihm das Herz und er fühlte einen tiefen Widerwillen gegen Alles, was inner­ halb des Bereiches seines Sehvermögens lag. Er wurde sich plötzlich seiner eigenen, völligen und hoffnungslosen Unwissenheit in Allem, was theoretisch oder praktisch mit dem Bauen verknüpft war, bewußt. Der Anblick der steifen, winkligen Gerüste, drapiert mit zerrissenen Strohmatten, die phantastisch im Südostwinde hin und her klappten, das scheinbare Fehlen von Allem, was wie ein wirkliches Haus aussah, hinter ihnen; die Grashälmchen, die üppig um den Fuß jedes Brettes sproßten, und die Haufen brauner Pozzolanoerde bedeckten, die zur Mörtelversertigung herge­ richtet waren, sogar die Einzelheit eines zerbrochenen höl­ zernen Lehmkübels vor der mit Brettern versetzten Ein­ gangsthür, — alle diese Dinge trugen gleichzeitig dazu bei, seinen Schrecken zu vergrößern und ihn mit einem bit­ teren Gefühle unvermeidlichen Mißerfolges zu erfüllen. Er sand Nichts zu sagen, wie er da mit den Händen in den Taschen stand und auf die allgemeine Trümmerhaftigkeit hinstarrte; er gewann aber zum ersten Male ein Verständ­ niß dafür, warum Frauen wegen Enttäuschung weinen. Crawford, Don Orsino. I. 17

258 Und noch dazu war dieses Trümmerfeld sein eigener spe­ cieller Besitz, durch Kauf erworben, und er konnte es nicht

loswerden. Während dessen stand Andrea Contini neben ihm und prüfte die Gerüste mit seinen glänzenden braunen Augen, in keiner Weise durch den Anblick aus der Fasiung ge­ bracht. „Sollen wir hineingehen?" fragte er endlich. „Sehen unvollendete Häuser immer so aus, wie dieses?" forschte Orsino in hoffnungslosem Tone, ohne den Vorschlag seines Gefährten zu beachten. „Nicht immer", erwiderte Contini fröhlich. „Das hängt von dem Maße von Arbeit ab, die schon gemacht worden ist, und von anderen Dingen. Manchmal sinken die Grundmauern, und die Gebäude stürzen zusammen." „Sind Sie sicher, daß hier Nichts dergleichen vorgefallen ist?" fragte Orsino mit wachsender Angst. „Ich bin mehrmals hier gewesen, um nachzusehen, seit der Bäcker starb, und habe noch keine Risse bemerken kön­ nen," antwortete der Baumeister, dessen ruhige Gelassenheit fast zur Wuth reizen konnte. „Ich nehme an, Sie verstehen diese Sachen, Herr Contini?" Contini lachte und fühlte in seinen Taschen herum nach einer zerknitterten Papierschachtel mit Wachslichtern. „Es ist mein Gewerbe", antwortete er, „und außerdem habe ich das Haus von Grund auf gebaut. Wenn Sie herein kommen wollen, Herr Fürst, so will ich Ihnen zei­ gen, wie solide die Arbeit gemacht ist." Er nahm einen Schlüssel aus der Tasche und stieß ihn in ein Loch in der Bretterwand, die sich nun als eine rohe Thür auswies und knarrend auf rostigen Angeln

259 öffnete. Orfino folgte ihm schweigend. Dem unerfahrenen Auge des jungen Mannes erschien das Innere des Gebäu­ des sogar noch niederdrückender, als die Außenseite. Es roch wie ein Grabgewölbe, und ein trübes graues Licht drang von den behängten Gerüsten draußen in die vier­ eckigen Oeffnungen, gerade ausreichend, um Einem zu hel­ fen, seinen Weg durch die Haufen von Bauschutt zu finden, die den ungepflasterten Boden bedeckten. Contini setzte rasch und genau die Anordnung der Zimmer auseinander, indem er die eine Kellerhöhle vertraulich als Speisezimmer und eine andere als „eheliches Schlafgemach", wie er es ausdrückte, bezeichnete, und sich über die Leichtigkeit der Verbindung unter den einzelnen Zimmern, die er sorgfäl­ tig geplant hatte, ausführlicher aussprach. Orsino lauschte schweigend und folgte geduldig seinem Führer von einer Stelle zur anderen, in dunkle Durchgänge und wieder her­ aus, und hinauf auf Treppen, die noch durch kein Geländer geschützt waren, bis sie auf einer Art platter Terrasse auf­ tauchten, die von niedrigen Wänden durchzogen war, was thatsächlich noch ein Stockwerk war, über dem wieder ein Stock und ein Mansardengelaß noch gebaut werden sollten, um das Haus zu vervollständigen. Orsino sah sich finster um, zündete eine Cigarette an und setzte sich auf ein Stück­ chen Mauerwerk. „Mir sieht es ganz wie ein Reinfall aus", bemerkte er. „Ich vermuthe aber, daß Etwas darin steckt." „Nächsten Monat wird es nicht wie ein Reinfall aus­ sehen", sagte Contini sorglos. „Ein weiteres Stockwerk ist bald gebaut, und dann die Mansarde, und dann, wenn's Ihnen beliebt, ein gothisches Dach und ein Thürmchen an einer Ecke. Das lockt immer die Käufer zuerst an, und anständige Miether nachher."

260 „Ein Thürmchen wollen wir jedenfalls haben", ant­ wortete Orfino, als ob ihm sein Schneider den Vorschlag gemacht hätte, einen extra Knopf auf seinen Rockärmel zu setzen. „Wie aber in aller Welt sollen wir anfangen? Mir sieht Alles so aus, als wollte es in Stücke zerfallen." „Das überlassen Sie Alles mir, Herr Fürst. Wir wollen morgen anfangen. Ich habe einen guten Aufseher, und Arbeiter sind in Fülle zu haben. Wir haben Mate­ rial wenigstens für eine Woche, das schon bezahlt ist, außer einigen Wagenladungen Kalk. Kommen Sie in zehn Tagen wieder, und Sie werden Etwas sehen, was des Ansehens werth ist." »In zehn Tagen? Und was soll ich inzwischen an­ fangen?" fragte Orsino, der sich einbildete, er habe eine Beschäftigung gefunden. Andrea Contini sah ihn einigermaßen erstaunt an, da er nicht im Geringsten verstand, was er meinte. „Ich meine, soll ich gar Nichts mit der Arbeit zu thun haben?" fragte Orsino. „Oh, — wenn Sie wollen, können Sie alle Tage kommen, Herr Fürst, wenn Ihnen das Spaß macht, ob­ gleich Ihr Beistand, da Sie kein praktischer Architekt find, nicht eher erforderlich ist, als bis Geschmacksfragen zu er­ wägen find, wie das gothische Dach zum Beispiel. Es find aber natürlich Rechnungen zu führen, und von Woche zu Woche das Geschäft mit der Bank, Büreauarbeit ver­ schiedener Art. Das wird natürlich Ihr Gebiet, wie die praktische Oberaufsicht über den Bau das Meinige ist; Sie werden es aber natürlich dem Rentmeister des Herrn Fürsten von Sant' Ilario überlassen, der ein Geschäfts­ mann ist!" „Das werde ich nicht thun!" ries Orfino aus. „Ich will

261 die Arbeit selber machen. Ich will lernen, wie sie gemacht wird. Ich brauche Beschäftigung." „Was für ein außerordentlicher Wunsch!" Andrea Contini riß in ungeheucheltem Erstaunen die Augen weit auf. „Wirklich? Sie arbeiten. Warum soll ich es nicht auch?" „Ich muß, und Sie haben es nicht nöthig, Herr Fürst", bemerkte der Baumeister. „Wenn Sie es aber durchaus wollen, dann thäten Sie am besten, sich einen Schreiber zu halten, um Ihnen zunächst die Einzelheiten auseinanderzusehen." „Verstehen Sie sie nicht? Können Sie mich nicht unterweisen?" fragte Orsino, unzufrieden mit der Idee, eine dritte Person anzustellen. „Oh ja, ich bin selbst Schreiber gewesen. Es wäre zu viel Ehre für mich, aber, — thatsächlich, meine freie Zeit ist so knapp-------- " Er zögerte und schien keine Neigung zu haben, sich deutlicher zu erklären. „Was fangen Sie mit Ihrer knappen freien Zeit an?" fragte Orsino, der eine Liebesgeschichte vermuthete. „Die Sache liegt so: Ich spiele in einem Theater die zweite Geige, und gebe Mandoline-Stunden, und manchmal mache ich Abschreibearbeit für meinen Onkel, der Sekretär im Schatzamte ist. Er ist alt, sehen Sie, und seine Augen find nicht mehr so gut, wie früher." Orfino fing an, zu denken, daß sein Compagnon eine sehr wunderliche Persönlichkeit sei. Er konnte nicht umhin, über die Aufzählung der Nebenbeschäftigungen seines Bau­ meisters zu lächeln. „Sie lieben also sehr die Musik?" fragte er.

262 „Ei — ja — wie Einer kann, der kein Talent hat; — ein bischen aus Noth. Um ein Baumeister zu sein, muß man HLvscr zu bauen haben. Der Bäcker, sehen Sie, starb un­ erwartet. Man muß doch irgendwie zu leben haben." „Und könnten Sie nicht, — wie soll ich sagen? Möch­ ten Sie nicht geneigt sein, mir Stunden in der Buchfüh­ rung zu geben, statt daß Sie irgend jemandem Anderen das Mandolinespiel lehren?" „Ihnen würde Nichts daran liegen, selber Mandoline zu lernen, Herr Fürst? Es ist ein sehr hübsches Instru­ ment, namentlich für Landpartien, aber auch für nächtliche Ständchen." Orfino lachte. Er konnte sich nicht in der Eigenschaft als Lautenschläger denken. „Ich habe für Musik abfolut kein Ohr", antwortete er. „Ich möchte lieber Etwa- vom Geschäfte lernen." „Das ist weniger amüsant", sagte Andrea Contini mit Bedauern. „Ich stehe Ihnen aber zu Diensten. Ich will nach dem Comptoir kommen, wenn die Arbeit vorbei ist, und dann wollen wir zusammen die Rechnungen machen. Auf diesem Wege werden Sie sehr schnell lernen." „Besten Dank. Ich glaube, wir müssen ein Comptoir haben. Ist es nicht nothwendig?" „Unentbehrlich; eine Stube, eine Dachkammer — irgend ein Raum. Ein Wohnplatz, ein gesetzliches Domizil, sozu­ sagen." „Wo wohnen Sie, Herr Contini? Würde nicht Ihre Wohnung dafür gehen?" „Ich fürchte, nein, Herr Fürst. Augenblicklich wenig­ sten- nicht. Ich wohne nicht sehr schön, und die Treppen find schlecht beleuchtet." „Warum also nicht hier?" fragte Orfino, der plötzlich

263 verzweifelt praktisch wurde, da er einen unerklärliche« Widerwillen dagegen empfand, ein Comptoir in der Stadt zu miethen. „Wir würden keine Miethe zahlen", sagte Contini. „ES ist ein Gedanke. Die Mauern im Erdgeschosse find trocken, und wir brauchen nur einen Fußboden, und Be­ wurf an die Wände, und Thüren und Fenster, und Tape­ zieren und etwas Mobiliar, um eines der Zimmer ganz wohnlich zu machen. ES ist ein Gedanke, ohne Zweifel. Außerdem würde es dem Hause ein bewohntes Ansehen geben, was auch einen gewissen Werth hat." „Wie lange wird das Alles dauern? Einen Monat oder zwei?" „Etwa acht Tage. Es wird freilich noch etwas frisch sein; wenn Sie aber nicht Neigung zu Gliederreißen haben, Herr Fürst, so können wir es versuchen." „Ich neige nscht zu Gliederreißen", lachte Orfino, der Gefallen daran fand, sein Comptoir gleich am Platze und augenscheinlich inmitten einer Wildniß zu haben. „Und ich setze voraus, Sie verstehen wirklich das Baugewerbe, Herr Contini, trotz der zweiten Geige, die Sie spielen." In dieser höchst skizzenhaften Art wurde die Firma Andrea Contini und Compagnie errichtet und einquartirt, wobei fie selber noch, theoretisch wie praktisch, in einem höchst schattenhaften Zustande war, wenn ihr auch vom Schicksale bestimmt war, in der Geschäftswelt eine hervor­ ragendere Rolle zu spielen, als ein Jeder von den beiden jungen Compagnons vermuthete. Orfino entdeckte bald, daß sein Geschästsgenoffe ein geschickter und energischer Mann war, und seine Stimmung hob sich immer mehr, so wie die Arbeit anfing, Fortschritte zu machen. Contini war rastlos, unermüdlich, und gut begabt, ein Charakter,

264 wie ihn Orsino in seiner beschränkten Welt- und Menschen­ kenntniß noch nicht kennen gelernt hatte. Der Mann schien sein Geschäft bis in die kleinsten Einzelheiten zu verstehen, und konnte den Arbeitern viel besser, als der Aufseher oder Maurerpolier, zeigen, wie der Mörtel richtig einzumischcn, oder wie einem Gerüste an der schwachen Stelle die rich­ tige Tragfähigkeit zu geben sei. In den Büchern schien er unfehlbar zu sein, und außerdem besaß er eine solche Fähig­ keit, die Sachen klar und scharf auseinanderzusetzen, daß Orsino thatsächlich von ihm in einigen Wochen das lernte, wozu er bei einem anderen Lehrer ein halbes Jahr ge­ braucht hätte. Sobald die anfängliche Furcht vor einem Mißerfolge vorüber war, entdeckte Orsino, daß er sich glück­ licher fühlte, als im Laufe seines ganzen Lebens vorher. Was er that, war allerdings für den Fortschritt der Comp­ toirarbeit nicht sehr förderlich, und hinderte Contini eher, als daß es ihm half, da er genöthigt Par, Alles langsam und mitunter zweimal zu machen, um seinem Schüler das nöthige Verständniß beizubringen; Orsino aber hatte einen Hellen und praktischen Verstand, und vergaß nicht, was er einmal gelernt hatte. Eine wunderliche Art Freundschaft erwuchs zwischen den beiden Männern, die sich unter ge­ wöhnlichen Umständen nie begegnet oder auch nur von Angesicht bekannt geworden wären. Der Eine hatte er­ wartet, in seinem Geschäftsgenossen einen anmaßenden und unwissenden Patrizier vorzufinden; der Andere hatte vor­ ausgesetzt, daß sich sein Compagnon als ein plebejischer, schmutziger, halbgebildeter Baumensch ausweisen würde. Beide aber waren gleichmäßig überrascht, als sie ein Jeder die Wahrheit über den Anderen entdeckten. Obgleich Orsino von Natur verschwiegen war, gab er sich keine besondere Mühe, sein Gehen und Kommen geheim

265 zu halten; da ihn aber seine Beschäftigung abseits von der gewöhnlichen Runde seiner müßigen Freunde führte, so dauerte es lange Zeit, ehe Einer von ihnen entdeckte, daß er mit praktischen Geschäften zu thun hatte. Bei sich zu Hause wurde er nicht ausgesragt, und sagte er auch Nichts. Die Saracinesca galten für excentrisch; Niemand aber mischte sich in ihre Angelegenheiten, oder wagte es, ihnen Rathschläge anzubieten. Wenn es ihnen beliebte, ihrem Erben völlige Freiheit des Handelns zu gestatten, lediglich weil er seinen einundzwanzigsten Geburtstag hinter sich hatte, so war das ihre Sache, und sein Ruin kam auf ihren Kopf. Niemand hatte Lust, sich eine grobe Antwort vom alten Fürsten oder eine beißende Erwiderung von Sant' Ilario zu holen, für den fraglichen Genuß, dem Einen oder Anderen mitzutheilen, daß Orfino sich ruiniren werde. Die einzige Person, welche wirklich wüßte, was Orfino vor hatte, und die das Recht hätte beanspruchen können, mit seinen Angehörigen über sein Thun und Trei­ ben zu sprechen, war San Giacinto, und er hielt den Mund, da er selber eine Fülle wichtiger Sachen zu erledigen hatte, und die Gabe, andere Leute sich selbst zu überlassen, in be­ sonders hohem Maße besaß. Sant' Ilario spähte nie seinem Sohne nach, wie viele seiner Zeitgenossen an seiner Stelle gethan haben würden. Er zog es vor, ihn seinen eigenen Ideen zu überlassen, so lange diese kein großes Unheil anrichteten. Er sah, daß Orfino weniger ruhelos war, als früher; daß er weniger oft in den Club ging, und daß er des Morgens früher aufstand, als sonst seine Gewohnheit war, und er war ganz zufrieden. Jedoch war nicht zu erwarten, daß Orsino die Worte der Maria Consuelo buchstäblich verstehen und gänzlich auf-

266 hören sollte, sie zu besuchen. Wenn er nicht wirklich in sie verliebt war, so interesfirte er sich so stark für ste, daß er die halbe Stunde, die er täglich in ihrer Gesellschaft zuzu­ bringen gepflegt hatte, schmerzlich entbehrte. Drei verschiedene Male ging er zur gewohnten Stunde nach ihrem Hotel, und jedesmal wurde ihm von dem Por­ tier gesagt, daß sie zu Hause sei; jedesmal aber auch kehrte der Hoteldiener, den er mit seiner Karte hinaufschickte, mit der vom Dienstmädchen überkommenen Botschaft zurück, daß Frau von Aranjuez sich angegriffen fühle und Nie­ manden empfange. Orfinos Stolz duldete weder, daß er noch einen Versuch machte, noch daß er einen um Aufklä­ rung bittenden Brief schrieb. Nur einmal, als er allein spazieren ging, fuhr sie an ihm vorbei und erwiderte seine Verbeugung ruhig und ungezwungen, als ob Nichts vor­ gefallen wäre. Er bildete sich ein, sie sei blässer als ge­ wöhnlich , und eS lägen Schatten unter ihren Augen, die er früher nicht bemerkt hatte. Möglicherweise, dachte er, war sie wirttich nicht völlig gesund, und die durch ihr Dienstmädchen vorgebrachten Entschuldigungen waren nicht ganz erfunden. Er empfand wohl, daß sein Herz etwas schneller schlug, als er die Hinterseite des Einspänners in der Entfernung verschwinden sah; er fühlte aber nicht ein unwiderstehliches Verlangen, noch einen und zwar ernsteren Versuch zu machen, sie zu sehen. Er versuchte, seine wirk­ lichen Gefühle genau zu durchforschen, und es kam ihm so vor, als ob er eine Zusammenkunft mit ihr mehr fürchtete als wünschte, und als ob er ein gewisses Gefühl der De­ müthigung empfände, über das er sich keine Rechenschaft geben konnte. Mitten in dieser Selbstprüfung ging ihm die Cigarette aus, und er seufzte. Diese Gefühlsäußerung machte einen auftegenden Eindruck auf ihn; er versuchte,

267 sich zu erinnern, ob er schon je in feinem Leben geseufzt habe; wenn es aber der Fall gewesen war, so konnte er sich auf die näheren Umstände nicht mehr besinnen. Er versuchte, sich mit der albernen Annahme zu trösten, daß er schläfrig sei, und daß der tief heraufgeholte Athemzug nichts weiter, als ein unterdrücktes Gähnen gewesen sei. Dann schritt er weiter, vor sich hinstarrend in den pur­ purnen Sonnenglanz, der die tiefe Straße gerade jetzt, wo die Sonne unterging, erfüllte; und eine unbestimmte Trau­ rigkeit und Sehnsucht kamen über ihn, die in seinem Ver­ zeichnisse gestatteter Gemüthsbewegungen nicht mit erwähnt waren, und die ebenso weit von der kalten Spottlust ent­ fernt waren, die er an Anderen bewunderte Und selber zur Schau trug, wie sie über die Grenzen seines kritisch zer­ gliedernden Vermögens hinausgingen. Es giebt ein Lebensalter, — nicht immer läßt es sich genau umgrenzen — in dem die wirklich männliche Natur nach der Gesellschaft mit der weiblichen, in der einen ober anderen Gestalt, wie nach einer Daseinsbedingung verlangt, und unter der Gesellschaft mit dem weiblichen Geschlechte versteht Niemand lediglich den täglich und stündlich statt­ findenden geselligen Verkehr, der in dem Austausche eines und desselben Vorraths von Bemerkungen ein halb Dutzend­ mal des Tages mit ebenso vielen Vertreterinnen des zarten Geschlechts besteht, die für das sorglose Auge des gewöhn­ lichen Mannes sich eher im Anzuge, als im Gesichte und Denken von einander unterscheiden. Es giebt hervorragend männliche Männer, d. h. furchtlose, starke, ehrenhafte und thätige Männer, denen der übliche Fünfuhrthee so viel Zer­ streuung gewährt und so viel weibliches Mitgefühl zu Theil werden läßt, als fie bedürfen; die ihre nächsten Freunde unter Männern wählen, nicht unter Frauen; und die in

268 vorgerücktem Alter sterben, ohne je mehr, als ihnen bequem war, verliebt gewesen zu sein, — und Derer ist das Him­ melreich. Der männische Mann kann ebenso tapfer, ebenso stark und ebenso peinlich gerecht in seinem ganzen Wesen sein; andererseits aber kann er schwach, feige und ein Be­ trüger sein, und es kann ihm begegnen, daß er den Theil der Sünder erbt, wie auch immer seine sittlichen Charakter­ züge sein mögen, gut oder schlecht. Orsino war sicher nicht unmännlich; aber er war auch in hervorragendem Maße männisch, und er fing an, in Folge des Verlustes des Verkehrs mit Maria Consuelo in einer Weise zu leiden, die ihn selbst überraschte. Seine Bekanntschaft mit ihr, um der Sache einen milden Namen zu geben, war das Erste der Art gewesen, was er genossen hatte, und cs stand in zu starkem Gegensatze zu den un­ reifen Erfahrungen seiner unerprobten Jugend, als daß er es nicht hätte sehr hoch schätzen und sehr schmerzlich ver­ missen sollen. Er konnte sich stellen, als lache er darüber, und sich immer wieder vorreden, seine Egeria sei eine sehr oberflächliche Person gewesen, glühend vor Aufregung beim Lesen des täglichen Romans, und möglicherweise nicht ein­ mal weltklug; darum entbehrte er sie doch nicht weniger. Etwas Entgegenkommen im Gefühle und viel Geduld beim Zuhören ist sehr wirksam, um eine Frau von geringen Gaben sogar einem Manne von außergewöhnlichem Talent unentbehrlich zu machen, namentlich wenn er glaubt, in seiner gewöhnlichen Umgebung nicht verstanden zu werden. Das Mitempfinden gilt für Verstand und Einsicht, und die Geduld für Zustimmung und Ermnthigung; eine Be­ rührung der Hand ist Freundschaft; eine Thräne, ein Seufzer ist Hingabe, die auf der Bühne steht, mit einem kleinen Amor im Arme, der bei dem ersten Verdachte einesKuffes flügge wird.

269 Orfino bildete sich nicht ein, daß er das, was die Welt an Glück zu geben vermag, bereits erschöpft habe. Das Zeitalter des Byronschen Weltschmerzes, wie man ihn zu nennen pflegte, ist vorüber. Möglicherweise giebt es in unserer Zeit ernstere und zahlreichere Trauerspiele, als zu Beginn des Jahrhunderts; auf jeden Fall scheinen die, welche stattfinden, ein neues Element des Schreckens aus jenen unbestimmbaren, mechanischen, prosaischen, falschwiffenschaftlichen Bedingungen zu ziehen, die unser Leben so verschieden von dem unserer Väter gestalten. Heutzutage ist Alles schrecklich plötzlich und beunruhigend schnell. Lie­ bende lieben fich telegraphisch quer durch ganz Europa, und dichterische Gerechtigkeit kommt in weniger als acht­ undvierzig Stunden durch den Orient-Expreß-Zug. Ehe­ scheidung ist unser Präcifionsgewehr, und jedes Pack Kar­ ten auf dem Spieltische kann ein Gift destilliren, das ver­ derblicher wirkt, als das der Borgia. Die Einheiten der Zeit und des Ortes werden durch Telegraphendraht und Eisenbahnschiene in einer Weise aufrecht erhalten, die die Herzen der alten französischen Tragiker in Entzücken ver­ setzt haben würde. Vielleicht sind die Menschen weniger geneigt, in ihrem eigenen Leben dramatische Situationen zu suchen, seit sie Mittel ausfindig gemacht haben, den Schlußakt schneller, plötzlicher und unvermeidlicher zu machen. Jedenfalls lieben wir alle das Trauerspiel weniger und das Lustspiel mehr, als unsere Väter thaten, was, denke ich, zeigt, daß wir trauriger und vielleicht weiser find, als sie. Wie dem auch sein mag, Orfino war ebenso wenig geneigt, sich selbst für unglücklich zu halten, wie irgend einen von seinen ihm näher stehenden Kameraden; ob­ gleich er ganz bereit war, zu glauben, daß er die meisten Räthsel des Lebens, und besonders das Herz des Weibes

270 verstehe. Er fuhr fort, seine gesellschaftlichen Beziehungen aufrecht zu erhalten, weil sie neu für ihn waren; und wenn er nicht gerade die Art von seelischer Uebereinstimmung 7and, nach der er fich im Geheimen sehnte, so fand er doch wenigstens sehr viel Achtung, etwas Schmeichelei und einen gewisten Betrag von Vergnügen. Wenn er aber zeitweilig fich nicht amüfirte, oder mit der Arbeit, die er mit so großer Begeisterung unternommen hatte, ernstlich beschäf­ tigt war, dann fühlte er fich einsam und vermißte Maria Consuelo mehr als je. Während dieser Zeit hatte fie eine Stellung in der Gesellschaft angenommen, von der fie fich unmöglich wieder zurückziehen konnte, und er gab für immer die Hoffnung auf, fie in seinem eigenen Kreise zu sehen. Sie schien sogar die Häuser der Grauen zu ver­ meiden, wo fie sich auf neutralem Boden hätten treffen können, und Orsino sah, daß seine einzige Aussicht, sie in der großen Welt wiederzufinden, darin lag, daß er häufig und offen in Del Ferices Hause verkehrte. Er hatte natür­ lich bei Donna Tullia nach dem Diner den üblichen Be­ such gemacht, er war aber nicht darauf vorbereitet, mehr zu thun, und Del geriet schien es auch nicht zu erwarten. Drei oder vier Wochen, nachdem er in das Com­ pagniegeschäft mit Andrea Contini eingetreten war, fand sich Orsino eines Abends mit seiner Mutter allein. Corona saß in ihrem Lieblingszimmer am Feuer, mit einem Buche in der Hand, und Orsino stand, fich wärmend, an einer Seite des Kamins, in die Flammen starrend und gelegent­ lich einen flüchtigen Blick auf das ruhige, dunkle Gesicht seiner Mutter werfend. Er überlegte hin und her, ob er zu Hause bleiben sollte oder nicht. Corona empfand, daß er fie von Zeit zu Zeit ansah, und ließ ihren Roman aus ihr Knie niederfinken.

271 „Wirst Du ausgehen, Orfino?" fragte sie. „Ich weiß eigentlich nicht", antwortete er. „Es ist nichts Besonderes zu thun, und für's Theater ist's zu spät.« „Dann bleibe bei mir. Wir wollen plaudern.« Sie blickte ihn liebevoll an und deutete auf einen niedrigen Stuhl neben ihr. Er drehte denselben auf, bis er ihr Gesicht beim Sprechen sehen konnte, und setzte sich dann nieder. „Wovon wollen wir denn plaudern, Mama?" fragte er lächelnd. „Von Dir selbst, wenn's Dir recht ist, mein Lieber. Das heißt, wenn Du Etwas hast, was Du weißt, so möchte ich es gern hören. Ich bin nicht neugierig, nicht wahr, Orfino? Ich richte nie Fragen an Dich über Dich selbst." „Nein, wirklich nicht. Du quälst mich nie mit Fragen über diesen Gegenstand, und auch Papa thut es nicht. Möchtest Du wirklich gern wissen, .was ich betreibe?« „Wenn Du willst, so erzähle mir." „Ich bin dabei, ein Haus zu bauen«, sagte Orsino, sie anblickend, um die Wirkung der Ankündigung zu sehen. „Ein Haus?" wiederholte Corona voll Erstaunen. „Wo? Weiß denn Papa davon?" „Er sagte, es käme ihm nicht darauf an, was ich thäte.« Orfino sprach ziemlich bitter. „Das klingt nicht nach ihm, mein Lieber. Erzähle mir Alles, wie es ist. Hast Du mit ihm gezankt, oder habt Ihr harte Worte gebraucht?" Orsino erzählte seine Geschichte schnell und bündig, und mit einer Offenheit, wie er sie vielleicht sonst Nieman­ dem in der Welt gezeigt haben würde, denn er verbarg

272 nicht einmal seine Beziehungen zu Del Ferice. Corona hörte aufmerksam zu, und ihre tiefen Augen sagten ihm deutlich genug, wie lebhaften Antheil sie nahm. Seiner­ seits fand er ein unerwartetes Vergnügen daran, ihr die Geschichte zu erzählen, und er wunderte sich, warum es ihm nie in den Sinn gekommen sei, daß seine Mutter an seinen Plänen und Bestrebungen wahrscheinlich lebhaften Antheil nehmen würde. Als er geendet hatte, wartete er auf ihr erstes Wort mit fast derselben ängstlichen Span­ nung, mit der er auf den Meinungsausdruck von Maria Consuelo gewartet haben würde. Corona sprach nicht gleich. Sie sah ihm in die Augen, lächelte, strich ihm sanft über seine magere, braune Hand, und lächelte wieder, ehe sie sprach. „Mir gefällt es", sagte sie schließlich. „Es gefällt mir, daß Du unabhängig und entschlossen bist. Du hättest vielleicht einen besseren Mann als Del Ferice zum Rath­ geber wählen können. Er hat einst Etwas gethan — nun, es kommt Nichts daraus, an! Es ist schon lange her und hat uns keinen Schaden gethan." „Was hat er gethan, liebe Mutter? Ich weiß, Papa hat ihn in einem Duell verwundet, ehe Ihr heirathetet-------- " „Das war es nicht. Ich möchte Dir lieber Nichts davon erzählen; es kann nichts Gutes dabei herauskommen, und schließlich hat es mit der vorliegenden Sache Nichts zu thun. Er wird nicht so thöricht sein, Dir jetzt einen Schaden zuzufügen. Ich kenne ihn sehr genau. Er ist viel zu gewandt dazu." „Gewiß ist er gewandt", sagte Orfino. Er wußte, daß es ganz unnütz sein würde, seine Mutter nach dem, was sie gesagt hatte, noch weiter zu fragen. „Es freut

273 mich, daß Du nicht denkst, ich hätte einen Fehler began­ gen, indem ich in dieses Geschäft eintrat." „Nein. Ich glaube nicht, daß Du einen Fehler be­ gangen hast, und ebenso wenig glaube ich, daß es Dein Vater dafür halten wird, wenn er Alles darüber weiß." „Er hätte nicht so eisig entmuthigend zu sein brau­ chen", bemerkte Orsino. „Er ist ein Mann, mein Lieber, und ich bin eine Frau. Das ist der Unterschied. War San Giacinto ermuthigender, als er? Nein. Sie haben dieselben Ansich­ ten, und San Giacinto besitzt außerdem eine ungeheure Erfahrung. Und doch haben sie beide Unrecht. Du magst Erfolg haben, oder Mißerfolg; ich hoffe, Du wirst Erfolg haben, aber ich kümmere mich nicht sehr um den Ausgang. Das Princip ist es, was ich liebe, die Idee, die Unab­ hängigkeit der Sache. Da ich alt werde, so denke ich jetzt mehr, als ich zu thun pflegte, wie ich jung war." „Wie kannst Du von Altwerden sprechen!" rief Orsino unwillig aus. „Ich denke mehr", sagte Corona noch einmal, ohne auf ihn zu achten. „Einer meiner Gedanken ist der, daß unser altes so eingeschränktes Leben ein Fehler für uns war, und daß cs eine Sünde für Dich sein würde, es auf­ recht zu erhalten. In jenen Tagen war es der Brauch der Welt, still zu stehen, und wir standen an ihrer Spitze oder glaubten, es zu thun. Jetzt aber bewegt sie sich, und Du mußt Dich mit ihr bewegen, sonst wirst Du nicht nur Deinen Platz aufgeben muffen, sondern überhaupt ganz hinten zurück bleiben." „Ich hatte keine Idee, daß Du so modern wärest, theuerste Mutter," lachte Orsino. Er fühlte sich plötzlich sehr glücklich und im besten Einvernehmen mit sich selber. Crawford, Don Orsino. I. 18

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„Modern! Nein, ich glaube nicht, daß weder Dein Vater, noch ich das je sein könnten. Wenn Du unser Leben durchlebt hättest, so würdest Du sehen, wie unmög­ lich das ist. Das Aeußerste, was ich zu thun hoffen kann, ist, daß ich Dich und Deine Brüder, wie Ihr zu Männern aufwachset, verstehe. Wer ich hasse das Einmischen und ich hasse die Neugierde; das eine ruft den Widerstand her­ vor, und das andere die Unehrenhaftigkeit; und wenn die anderen Knaben sich auch so verschwiegen erweisen, wie Du, Orsino, so werde ich nicht immer wissen, wann sie mich brauchen. Du kannst Dir nicht vorstellen, wie viel Du von mir weg gewesen bist, seit Du ein Knabe warst, noch wie schweigsam Du geworden bist, seitdem Du zu Hause bist." „Bin ich das, Mutter? Ich hatte nie die Absicht, es zu sein." „Ich weiß es, Liebling, und ich verlange auch nicht, daß Du immer vertraulich gegen mich bist. Es ist nichts Gutes für einen jungen Mann. Du bist stark; und je mehr Du Dich auf Dich selbst verlässest, desto stärker wirst Du werden. Wenn Du aber zärtliches Mitempfinden nöthig hast, wenn das je der Fall ist, so erinnere Dich, daß ich mein ganzes Herz für Dich voll davon habe; dann wenig­ stens komm zu mir. Niemand kann Dir geben, was ich Dir geben kann, lieber Sohn." Orsino war gerührt und'drückte ihre Hand, die er mehr als einmal küßte. Er wußte nicht, ob sie in ihren letzten Worten irgend eine Anspielung auf Maria Consuelo beabsichtigt habe, oder ob sie überhaupt sein freundschaft­ liches Verhältniß zu der Letzteren gewahr geworden sei. Er stellte aber diese Frage weder an sie, noch an sich selbst. Für den Augenblick fühlte er, daß einem Mangel in seiner

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Natur Genüge geleistet worden sei, und er wunderte sich wiederum, warum er nie daran gedacht habe, sich seiner Mutter anzuvertrauen. Sie plauderten von seinen Plänen, bis es spät war; und von der Zeit an waren sie öfter zusammen, als vor­ her, indem Jedes täglich stolzer auf das Andere wurde, ob­ gleich vielleicht Orsino bessere Gründe hatte, auf seine Mutter stolz zu sein, als Corona hätte finden können; denn die Liebe der Mutter zum Sohne ist umfassender und nicht weniger blind, als die Leidenschaft des Weibes für den Mann.

Vierzehntes Kapitel.

Die kurze römische Saison rückte rasch ihrem frühen Ende entgegen, das am Aschermittwoch eintritt, worauf sie ringt und kämpft, ihr Haupt gegenüber dem drückenden Uebergewichte einer streng beobachteten Fastenzeit emporzu­ halten, um nach Ostern nur krampfartig wieder aufzuleben, und am ersten warmen Tage eines natürlichen Todes zu sterben. In jenem Jahre fiel noch dazu der verhängnißvolle Tag auf den 15. Februar, und fortschrittliche Geister sprachen von der Möglichkeit, die beweglichen Feste und Fasten der Kirche auf einen passenderen Theil des Kalen­ ders zu verlegen. Man könne ja Ostern z. B. in den Juni fallen lassen; dann brauche die Gesellschaft sich von der un­ vermeidlichen und drohend bevorstehenden Rückkehr zu Sack und Asche erst in Kenntniß setzen zu lassen, nachdem sie gute drei oder sogar vier Monate lang das genossen habe, was ein hervorragender Amerikaner bezeichnet als „Flitter­ gold, Lumpenfähnchen, Lügen und Sünde". Rom war in jenem Jahre sehr lustig, um für die 18*

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Natur Genüge geleistet worden sei, und er wunderte sich wiederum, warum er nie daran gedacht habe, sich seiner Mutter anzuvertrauen. Sie plauderten von seinen Plänen, bis es spät war; und von der Zeit an waren sie öfter zusammen, als vor­ her, indem Jedes täglich stolzer auf das Andere wurde, ob­ gleich vielleicht Orsino bessere Gründe hatte, auf seine Mutter stolz zu sein, als Corona hätte finden können; denn die Liebe der Mutter zum Sohne ist umfassender und nicht weniger blind, als die Leidenschaft des Weibes für den Mann.

Vierzehntes Kapitel.

Die kurze römische Saison rückte rasch ihrem frühen Ende entgegen, das am Aschermittwoch eintritt, worauf sie ringt und kämpft, ihr Haupt gegenüber dem drückenden Uebergewichte einer streng beobachteten Fastenzeit emporzu­ halten, um nach Ostern nur krampfartig wieder aufzuleben, und am ersten warmen Tage eines natürlichen Todes zu sterben. In jenem Jahre fiel noch dazu der verhängnißvolle Tag auf den 15. Februar, und fortschrittliche Geister sprachen von der Möglichkeit, die beweglichen Feste und Fasten der Kirche auf einen passenderen Theil des Kalen­ ders zu verlegen. Man könne ja Ostern z. B. in den Juni fallen lassen; dann brauche die Gesellschaft sich von der un­ vermeidlichen und drohend bevorstehenden Rückkehr zu Sack und Asche erst in Kenntniß setzen zu lassen, nachdem sie gute drei oder sogar vier Monate lang das genossen habe, was ein hervorragender Amerikaner bezeichnet als „Flitter­ gold, Lumpenfähnchen, Lügen und Sünde". Rom war in jenem Jahre sehr lustig, um für die 18*

276 kurze Dauer seiner Spielzeit Ersatz zu haben. Alles war erfolgreich und Jedermann war reich. Von Millionen sprach man leichtsinniger, als man vor einigen Jahren von Tau­ senden gesprochen hatte, und geringschätziger, als man zwölf Monate später von Hunderten sprach. Wie der von Eitel­ keit aufgeblasene Frosch blähte sich der Franken zum Bersten auf, in der Hoffnung, für den Louisd'or gehalten zu wer­ den, und hatte auch für den Augenblick Erfolg, sogar über seine eigenen Erwartungen hinaus. Niemand ging zu Fuß, obgleich das Pferdefleisch enorm theuer war, und der Lohn eines guten Kutschers erhob sich genau auf den doppelten Betrag des Gehalts eines Regierungsbeamten. Männer, die, ein halbes Jahr vorher, mit Mulden voll Ziegeln oder Mörtel beladen, an Leitern hochgeklettert waren, verwandel­ ten sich jetzt in blühende Unternehmer zweiten Ranges und fuhren in schneidigen Pony-Wägelchen herum, aussehend wie das Bild italienischer Wohlhäbigkeit, sich erfreuend an der oberflächlichsten aller Verpflichtungen, und die schwär­ zesten und längsten aller schwarzen langen Cigarren rau­ chend. Zwanzig Stunden lang von den vierundzwanzig des Gesammttages erbrausten die Thore der Stadt vom Handelsverkehre. Aus allen Theilen des Landes strömten die Arbeiter herein, das Bündel in der Hand und die Werkzeuge auf der Schulter, um an der unermeßlichen Arbeit theilzunehmen und ihren Antheil an dem Lohne zu verdienen, der so freigebig ausgetheilt wurde. Ein gewisser Mann, der viel Selbstvertrauen hatte, stand auf und sagte, Rom werde eine der größten Hauptstädte, und er schmatzte mit den Lippen und sagte, er habe es gethan, und die Triple-Alliance sei eine Gans, die viele goldene Eier legen werde. Die glaubensvollen Bullen (die Hauffepartei) brüll­ ten Alles vor sich nieder, Widerstand, Einwendungen und

277 finanzmännische Erfahrung; und die besiegten Bären (die Baiffepartei) überwinterten an verborgenen Orten, an ihren Tatzen saugend und sich wundernd, was — beim Großen und beim Kleinen Bären! — sich demnächst ereignen würde. Hervorragende Männer schrieben in der hervorragendsten Sprache Flugblätter, um zu beweisen, daß der Reichthum ein Kindchen sei, das künstlich ausgeheckt und mit der Flasche großgezogen werden könne. Jeder unverhcirathete junge Mann, der eine Braut finden konnte, heirathete sie auf der Stelle; die, welche keine finden konnten, folgten dem Rathe eines berühmten Dichters, und da sie es so über die Maßen ängstlich hatten, sich zu beweiben, nahmen sie die Weiber anderer Leute. Jedermann bekam einen Orden. Es regnete thatsächlich Orden und es hagelte Großkreuze, und eine hübsche Menge Komthurbänder wur­ den dasür ausgehaspelt, daß die Leute der Hälfte der Be­ völkerung den Strick um den Hals gelegt hatten. Man machte den mehrmals wiederkehrenden Versuch, den ver­ storbenen Karneval im Corso wieder in's Leben zu rufen, und der noch nicht beerdigte Leichnam der alten Fröhlich­ keit wurde wieder aus dem Sarge genommen und bemalt und prächtig angekleidet und auf Pfähle gestützt auf seinem Throne aufgepflanzt, um ein noch nach dem Tode wirken­ des Schreckbild für seine Feinde zu sein, wie der todte Cid. Die gute Gesellschaft tanzte wahnsinnig, und that alles Das, was sie nicht hätte thun sollen, und fügte noch einiges Reue hinzu, in unbewußter Nachahmung des Picus von Mirandola. Sogar jene verhältnißmäßig wenigen Familien, die, vie Saracinesca, es stolz verschmäht hatten, in dem wir»elnven Strudel der Geschäfte Herumzuplanschern, lehnten S keineswegs ab, nach der Musik des Erfolges zu tanzen,

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die die Stadt mit so bezaubernden Klängen erfüllte. Die Fürstin Befana stand mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit von ihrem Sterbebette auf und ging so weit, ihren Palast an zwei Abenden in zwei Wochen hintereinander zu öffnen, zur innigen Freude ihrer vergnügten und jugendfeurigen Erben, die ernstlich hofften, daß die Aufregung sie schließ­ lich und diesmal endgültig und ohne Auferstehung tobten möchte. Die Hoffnung ging aber nicht in Erfüllung. Sie stirbt noch immer periodisch im Winter und blüht im Früh­ ling mit den Mohnblumen wieder auf, wodurch sie eine beständige und erbauliche Illustration der Jahreswechsel, oder, wie einige sagen, der Unsterblichkeitslehre liefert. Bei einer dieser denkwürdigen Gelegenheiten schritt sie mit dem hochbetagten Fürsten Saracinesca eine Quadrille ab, worauf Sant' Ilario seinen Arm um Coronas Taille gleiten ließ und mit ihr die ganze Länge des Ballsaals hinauf und hinunter durchwalzte, inmitten der Beifallsbezeugungen seiner Zeitgenossen und ihrer Sprößlinge. Wenn Orsino eine Frau gehabt hätte, so wäre er ihrem Beispiele gefolgt. So wie die Sache lag, blickte er ziemlich düster nach einem schweigsamen und hochgeborenen Fräulein hin, mit dem er verurtheilt war, in späterer Stunde den Kotillon zu tanzen. So ging Alles lustig weiter, bis der Aschermittwoch die gesellschaftliche Flamme plötzlich und unwiderruflich aus­ löschte. Und noch immer konnte Orsino Maria Consuelo nirgends treffen, und noch immer zögerte er, noch einmal den Versuch zu machen, sie zu Hause aufzusuchen. Er fing an, sich neugierig zu wundern, ob er sie überhaupt Wieder­ sehen würde, und als die Tage Vorüberflossen, hätte er bei­ nahe gewünscht, Donna Tullia möchte ihm eine Einladungs­ karte schicken für ihre Fastenabende, bei denen Maria Con­ suelo, wie er aus den Zeitungen erfuhr, regelmäßig zugegen

279 war. Nach jener ersten Einladung zum Diner hatte er erwartet, daß Del Ferices Frau einen Versuch machen würde, ihn in ihren Kreis zu ziehen; auch hätte sie es wahrscheinlich gethan, wäre sie ihrem eigenen Instinkte ge­ folgt, statt sich der höheren Weisheit aus dem Munde ihres Gemahls zu unterwerfen. Orsino wartete vergebens und wußte nicht, ob er sich über den Mangel an Achtung ärgern sollte, den man ihm bezeigte, oder ob er das seine Takt­ gefühl bewundern sollte, welches annahm, er würde nie wünschen, in den Del Ferice-Kreis einzutreten. Es ist muthmaßlich klar, daß Orsino nicht in Frau von Aranjuez verliebt war, und er selber erkannte die That­ sache mit einem Gefühle der Enttäuschung an. Er war entsetzt über seine eigene Kälte und über die Gleichgültig­ keit, mit der er sich dem unterworfen hatte, was sich zur Höhe einer völlig jähen Eutlasfung ausgewachsen hatte. Er ging sogar so weit, zu glauben, Maria Consuelo habe ihn absichtlich zurückgestoßen, in der Hoffnung, eine aufrichtigere Leidenschaft in ihm zu entflammen. In diesem Falle, so dachte er, habe sie sich außerordentlich getäuscht. Er fühlte Neugierde, sie noch einmal zu sehen, ehe sie Rom verließe; mehr aber war es nicht. Ein neues und alles verzehren­ des Interesse hatte Besitz von ihm ergriffen und ließ An­ fangs in seiner Natur wenig Raum für Anderes übrig. Seine Tage vergingen im emsigen Studium von Ziffern und Plänen, nur durch gelegentliche kurze, aber aufhei­ ternde, Unterhaltungen mit Andrea Contini unterbrochen. Die Abende verbrachte er gewöhnlich inmitten einer Ge­ sellschaft von Leuten, die Maria Consuelo höchstens vom Sehen kannten und schon lange aufgehört hatten, ihn nach ihr zu fragen. Auch hatte er neuerdings feine täglichen Besuche bei ihr immer weniger vermißt, bis er sie über-

280 Haupt kaum noch vermißte, oder auch nur an die Möglich­ keit dachte, sie zu erneuern. Er lachte bei dem Gedanken, daß seine Mutter die Stellung einer Frau eingenommen habe, die er zu lieben angefangen hatte, und doch empfand er, daß es so war, obgleich er sich selbst die Frage stellte, wie lange ein solcher Zustand der Dinge dauern könnte. Corona war viel zu weise, um seine Angelegenheiten mit seinem Vater zu erörtern. Ihr Sohn war ihr zu ähnlich, als daß sie ihn hätte mißverstehen können, und wenn sie auch die ganze Sache als vollkommen harmlos und als einen wohlberechtigten Stoff zu allgemeiner Unterhaltung ansah, so hatte sie doch auch volles Verständniß dafür, daß Orfino, nachdem er einmal von Sant' Ilario abgewiesen worden war, in seiner Unternehmung völlig erfolgreich sein müsse, ehe er sie seinem Vater gegenüber wieder zur Sprache brachte. Und ihr Gefühl stimmte so stark mit dem ihres Sohnes überein, daß sein Werk allmählich ein zwingendes Interesse für sie gewann, und sie lieber viel geopfert hätte, als daß sie es hätte scheitern sehen. Trotzdem aber tadelte sie Giovanni nicht wegen der entmuthigenden Ansicht, die er ausgesprochen hatte, als ihn Orsino um Rath fragte. Giovanni war die Leidenschaft ihres Lebens und war un­ fehlbar in seinen Beweggründen, wenn auch sein Urtheil in technischen Sachen, um die er sich nicht kümmerte, manch­ mal fehlerhaft sein mochte. Ihre Liebe aber zu ihrem Sohne war so groß und aufrichtig in der ihr eigenen Art, und ihr Stolz auf ihn war derartig, daß sie seinen glück­ lichen Erfolg zur Bedingung ihres eigenen künftigen Glückes machte. Corona hatte sicherlich wenig Grund, sich über ihr Loos während der vergangenen zwanzig Jahre zu beklagen; so glatt und vollkommen es ihr aber auch vorgekommen

281 war, so fing fie doch jetzt an, zu erkennen, daß Quellen der Sorge und der Befriedigung vor ihr lagen, die ihre bitteren oder süßen Fluthen bisher noch nicht in den statt­ lichen Strom ihres gereisten Lebens ergossen hatten. Das neue Jntereffe, welches Orfino für sie geschaffen hatte, über­ wucherte immer mehr, und sie hütete es und pflegte es und sehnte sich danach, es zu größeren Maßverhältnissen an­ wachsen zu sehen. Die Lage war wenigstens in einer Hin­ sicht sonderbar. Orfino arbeitete und seine Mutter half ihm bei der Arbeit, in der Hoffnung auf einen finanziellen Erfolg, den Keines von ihnen brauchte oder begehrte. Mög­ licherweise machte die Gewißheit, daß der Mißerfolg keine ernstlichen Folgen nach sich ziehen könne, das Spiel um so belustigender, wenn auch weniger aufregend. „Wenn ich verliere", sagte Orsino zu ihr, „so kann ich nur die wenigen Tausende verlieren, die ich angelegt habe. Wenn ich gewinne, werde ich Dir eine Schnur Perlen zum Andenken schenken." „Wenn Du verlierst, mein lieber Junge," antwortete Corona, „so muß das daher kommen, daß Du für den An­ fang nicht genug Mittel hattest. Ich will Dir so viel geben, wie Du brauchst, und wir wollen noch einmal an­ fangen." Sie lachten beide glücklich. Was auch immer sich er­ eignen mochte, die Dinge mußten doch schließlich gut ab­ laufen. Orsino arbeitete sehr fleißig, und Corona war sehr reich an eigenem Vermögen und konnte in jeder be­ liebigen Höhe, die sie für nothwendig hielt, hülfreiche Hand leisten. Sie hätte thatsächlich statt der Bank eintreten und ihm alles Geld, das er brauchte, vorschießen können; es schien aber überflüssig, an den bestehenden Anordnungen zu ändern.

282 Während der Fastenzeit hatte der Neubau einen wich­ tigen Punkt in feinem Dasein erreicht. Andrea Contini hatte das gothische Dach und das Thürmchen fertig ge­ macht, das ihm in seinem ersten Traumbilde erschienen war, gegen das aber der verstorbene Bäcker Einwendungen wegen der Kosten erhoben hatte. Die Maurer waren fast alle fort, und eine andere Gesellschaft von Arbeitern wirth­ schaftete mit feineren Werkzeugen herum, Kranzleisten modellirend und den schneeweißen Stuck auflegend. Drinnen vollführten die Tischler und Zimmerleute ein unaufhörliches Gehämmere. Eines Tages kam Andrea Contini nach einem Besich­ tigungsrundgange in's Comptoir geschritten, mit einer ganzen Cigarre, unangezündet und völlig unverletzt, zwi­ schen den Zähnen. Orsiuo merkte aus diesem Umstande wohl, daß etwas ungewöhnlich Glückliches sich zugetragen habe oder sich zutragen wolle, und stand von seinen Büchern auf, sobald er das Schön-Wetter-Signal erkannte. „Wir können das Haus verkaufen, wann immer wir Lust haben," sagte der Baumeister, während seine glänzen­ den braunen Augen vor Befriedigung funkelten. „Jetzt schon!" rief Orfino aus, der, wenn auch gleich­ falls über die Aussicht auf so schnellen Erfolg höchst er­ freut, doch in seinem Herzen die feuchten Wände und den beständigen Lärm der Arbeit bedauerte, die er so lieb ge­ wonnen hatte. „Schon jetzt — jawohl. Dazu niuß Einer Glück haben, wie wir! Der Graf hat einen Mann in einer Droschke herausgeschickt, um mittheilen zu lassen, daß ein Bekannter von ihm heute zwischen Zwölf und Eins herauskommen und das Gebäude in der Absicht zu kaufen besichtigen werde. Je rascher wir uns nach einem frischen Unterneh-

283 men umsehen, desto besser. Was meinen Sie dazu, Don Orsino?" „Es ist Alles Ihr Werk, Contini. Ohne Sie stände ich noch immer draußen und sähe zu, wie die Strohmatten im Winde flatterten, wie ich an jenem unvergeßlichen ersten Tage that." „Ich kann mir denken, daß ein Haus ohne Baumeister nicht gebaut werden kann," antwortete Contini lachend, „und es ist mir immer klar gewesen, daß es ohne baubedürstige Häuser auch keine Baumeister geben kann. Was aber allen Sonderruhm für mich betrifft, so weise ich die Belastung mit Unwillen zurück. Die Sache mit dem Thürmchen nehme ich aus, was augenscheinlich das ist, was den Käufer angelockt hat. Der Ansicht bin ich immer gewesen. Sie hätten nimmer an ein Thürmchen gedacht, nicht wahr, Don Orsino?" „Gewiß nicht, und auch an vieles Andere nicht", ant­ wortete Orsino lachend. „Es thut mir aber leid, den Platz zu »erlassen. Er ist mir förmlich in's Herz ge­ wachsen." „Was kann man thun? Es ist nun einmal so der Lauf der Welt — ,Ein frohes Gedenken der Lieb', die einst war'," sang Contini mit der dünnen, aber ausdrucksvollen Fistelstimme, die das natürliche Erbtheil der Männer zu sein scheint, die auf besaiteten Instrumenten spielen. Er brach mitten in einem Takte ab und lachte aus lauter Freude über sein eigenes Glück. Rechtzeitig kam der Käufer, sah und kaufte thatsäch­ lich. Er war eine etwas zweifelhafte Persönlichkeit mit einer beunruhigenden Nase, sprach nur wenige Worte, aber prüfte Alles mit der Miene überlegenen Verständnisses. Er sah scharf auf Orsino, schien aber keine Ahnung zu

284 haben, wer er sei, und richtete alle seine Fragen an Contini. Nachdem er in den Kauf eingewilligt hatte, fragte er, ob Andrea Contini und Compagnie noch andere Häuser derselben Beschaffenheit im Bau hätten, und, wenn dies der Fall, wo sie gelegen seien, wobei er nebenher bemerkte, daß ihm das Verfahren der Firma gut gefalle. Er machte sich dann noch eine oder zwei kleine Verbesserungen aus, verabredete eine Zusammenkunft mit den Notaren am fol­ genden Tage, und ging mit einem ziemlich unhöflichen Kopfnicken gegen die beiden Compagnons davon. Der Name, den er zurückließ, war der eines wohlbekannten Geld­ mannes aus dem Süden, und Contini war geneigt, zu glauben, er habe ihn schon vorher gesehen, wußte es aber nicht sicher. Innerhalb einer Woche war das Geschäft abgeschlossen, der Käufer übernahm die Hypothek, wie Orsino und Con­ tini seinerzeit gethan hatten, und zahlte die Differenz in baarem Gelde an die Bank aus, die die auf Handwechsel entnommene» Beträge abzog, ehe sie den beiden jungen Männern den Rest aushändigte. Auch der Käufer hielt noch einen kleinen Theil des Kaufgeldes zurück, der bei der Besitzergreifung, wenn das Haus vollständig fertig sein würde, gezahlt werden sollte. Andrea Contini und Orsino hatten eine stattliche Summe Geldes zu Stande gebracht. „Es frägt sich nun, was sollen wir zunächst anfangen?" sagte Orsino nachdenklich. „Wir thun am besten, uns nach etwas Aussichtsvollem umzusehen," sagte sein Compagnon. „Eine Eckparzelle in diesem selben Stadtviertel. Eckhäuser sind interessanter zu bauen, und die Leute wohnen lieber in ihnen, weil sie zwei oder drei Straßen gleichzeitig übersehen können. Außerdem

285 ist eine Ecke stets ein guter Platz für ein Thürmchen. Wir wollen einen Spaziergang machen; rauchend und bummelnd werden wir Etwas finden." „Vor einem Jahre, ohne Zweifel", antwortete Orsino, der anfing, weltlich weise zu werden. „Vor einem Jahre wäre das recht gut gewesen. Hören Sie mir aber einmal zu. Jenes Haus gegenüber dem unseren ist schon längere Zeit fertig, jedoch hat es Niemand gekauft. Was ist der Grund?" „Es hat Nordfront und nicht Südfront, wie das unserige, und es hat kein gothisches Dach." „Mein lieber Contini, ich will nicht sagen, daß uns das gothische Dach nicht sehr geholfen hat; es kann uns aber nicht allein geholfen haben. Wie steht's denn mit jenen beiden Häusern am Ende des nächsten Blocks? Bal­ kons, Travertin-Säulen, pompöse Thüren und Fenster, freie Räume für Wasserdruck-Aufzüge und alles Uebrige. Aber Niemand kauft. Auch sind sie trocken und fast schon bewohnbar, und alle Tischlerarbeit ist aus Harztanne. Es giebt einen Grund für ihren Mangel an Glück." „Und welcher soll das sein?" fragte Contini, die Augen aufreibend. „Das Grundstück, auf dem sie gebaut sind, war nicht in den Händen von Del Ferices Bank, und das Geld, mit dem sie gebaut wurden, ist nicht von Del Ferices Bank vorgeschossen worden, und Del Ferices Bank hat kein In­ teresse daran, die Häuser selbst zu verkaufen. Deßhalb find sie noch nicht verkauft." „Es giebt doch aber sicherlich noch andere Banken in Rom, sowie Privatpersonen-------- " „Nein, ich glaube nicht, daß es welche giebt," sagte Orsino mit Ueberzeugung. „Mein Vetter von San Gia-

286 cinto glaubt, daß die Tage des Verkaufens vorüber find, und ich meine, er hat Recht, außer bezüglich Del Fcrices, der schlauer ist, als irgend Einer von u«S. Wir thäten bester, uns nicht zu täuschen, Contini. Del Ferice hat unser Haus für uns verkauft, und wenn wir nicht zu ihm halten, werden wir nicht so leicht ein zweites verkaufen. Seine Bank hat eine ganze Menge halbfertig gestellter Häuser auf den Armen liegen, gesichert durch Hypotheken, die werthlos find, bis die Häuser bewohnbar sind. Del Ferice braucht uns, um diese Häuser für ihn fertig zu stellen, um ihren Werth wieder herein zu bekommen. Wenn wir das thun, so werden wir mit Nutzen arbeiten. Wenn wir aber Etwas auf eigene Rechnung versuchen, so wird es uns fehl schlagen. Habe ich Recht oder nicht?" „Was kann ich sagen? Jedenfalls stehen Sie auf der sicheren Seite. Warum hat aber der Graf diese ganze Arbeit nicht einer alt-etablierten Firma aus seinem Be­ kanntenkreise übertragen?" „Weil er Niemandem so trauen kann, wie er uns trauen kann, und das weiß er." „Natürlich schulde ich dem Grafen sehr viel für seine Freundlichkeit, mich bei Ihnen eingeführt zu haben. Er wußte genau, wie es mit mir stand, ehe der Bäcker starb, und nachher wartete ich eines Abends vor dem Parlaments­ hause auf ihn und fragte ihn, ob er Nichts für mich zu thun finden könnte, er aber machte mir nicht viel Muth. Ich sah Sie mit ihm sprechen und in seinen Wagen ein­ steigen — waren Sie es nicht?" „Ja, das war ich", antwortete Orfino, der fich nun an den großen Mann im Ueberrocke erinnerte, der an dem Abende, wo er selbst Del Ferice zum ersten Male gesucht hatte, im Nebel verschwunden war. „Ja, und Sie sehen,

287 wir find ihm Beide gewissermaßen verpflichtet, was noch eia Grund mehr ist, seinen Rath anzunehmcn." „Verpflichtungen demüthigen", rief Covtini ungeduldig aus. „Es ist uns gelungen, unser Kapital zu vergrößern, — Ihr Kapital, Don Orfivo — nun wollen wir für uns selbst losschlagen." „Ich denke, meine Gründe find gut", sagte Orfino ruhig, „llnd was die Verpflichtungen an betrifft, so wollen wir uns erinnern, daß wir Geschästslente find." Es gcht hieraus hervor, daß der niedrig geborene Andrea Contini und der hohe und mächtige Don Orfino Saracrnesoa nicht sehr weit davon entfernt waren, die Plätze, so weit das Borurthell in Betracht kam, zn lauschen. Con­ lini nahm die Thatsache wahr und lächelte. „Schließlich", sagte er, „wenn Sie die Lage acceptiren, so sollte ich fie auch acceptiren." „Es ist eine Geschüstsangelegenheit", sagte Orfino, sein Beweismittel wieder aufnehmend. „Von Verpflichtung kann nicht die Rede sein, wo Geld auf gute Sicherheit ge­ borgt und ein reichlicher Zins regelmäßig gezahlt wird." Es war klar, daß Orfino kaufmännische Anlagen ent­ wickelte. Sein Großvater wäre auf der Stelle vor Wuth gestorben, wenn er den kühlen Aeußernngen des jungen Burschen hätte zuhören können. Contini aber war nicht zufrieden, und wollte seine Stellnng nicht so leicht auf­ geben. „Für Sie, Don Orfino, ist das ganz schön", sagte er, vergeblich bemüht, seine Cigarre in Brand zu setzen. „Sie brauchen das Geld nicht so wie ich, Sie nehmen es von Del Ferice, weil es Ihnen Spaß macht, das zu thun, nicht weil Sie gezwungen find, es auzunehmen. Das ist der Unterschied. Der Graf weiß das auch, und weiß, daß

288 er nicht eine Gunst erweist, sondern eine empfängt. Sie erweisen ihm eine Ehre, indem Sie sich von ihm das Geld borgen. Mich aber legt er unter eine Verpflichtung, indem er es darleiht." „Wir müssen doch irgendwo Geld herbekommen", ant­ wortete Orsino gleichgültig. „Wenn nicht von Del Ferice, dann von irgend einer anderen Bank. Und was die Ver­ pflichtung anbetrifft, wie Sie es nennen, so ist er nicht selber die Bank, und die Bank leiht ihr Geld nicht, um mich zu amüsiren, oder um Sie, mein Freund, zu demü­ thigen. Wenn Sie aber auf Ihrer Meinung bestehen, so werde ich sagen, daß die Anständigkeit nicht bloß auf der einen Seite liegt. Wenn Del Ferice uns unterstützt, so geschieht es, weil wir seinen Interessen dienen. Wenn er uns einen guten Dienst geleistet hat, so ist das ein Grund, daß auch wir ihm einen leisten und lieber seine Häuser, als die anderer Leute bauen sollten. Sie sprechen davon, daß ich ihm eine Gunst erweise. Wo wird er wieder einen Andrea Contini und Compagnie finden, um werthloscn Besitz für ihn wcrthvoll zu machen? In diesem Sinne verdienen Sie und ich seine Dankbarkeit, durch den sehr einfachen Vorgang, daß wir peinlich ehrlich sind. Ich fühle mich nicht im Geringsten gedemüthigt, versichere ich Ihnen." „Ich kann's nicht ändern", erwiderte Contini, wild in seine Cigarre beißend. „Ich habe ein Herz, und es ist edles Blut, das darin schlägt. Wissen Sie, daß in meinen Adern Blut von Cola di Rienzi rollt?" „Nein. Das haben Sie mir nie gesagt", antwortete Orsino, von dessen Vorfahren einer an der Ermordung des Tribunen betheiligt gewesen war, eine Thatsache, auf die er im gegenwärtigen Moment lieber nicht hindeuten wollte.

289 „Und das Blut Cola di Rienzis erglüht vor Scham über eine Verpflichtung!" rief Contini, in einer Aufregung, die schwerlich durch die Umstände gerechtfertigt wurde. „Es ist demüthigend, es ist gemein, sich zu dem Werkzeuge eines Del Ferice herabwürdigen zu lassen. Wir wissen Alle, wer und was Del Ferice gewesen ist und wie er zu dem Titel Graf gekommen ist, und wie er sein Vermögen erworben hat, — ein Spion, ein Ränkeschmied! War's für eine gute Sache? Vielleicht war ich damals noch nicht geboren, und Sie auch nicht, Herr Fürst, und wir wissen nicht, wie die Welt damals aussah, als es eine ganz andere Welt war. Das ist aber kein Grund, um einem Spion zu dienen!" „Beruhigen Sie sich, mein Freund. Wir stehen nicht in Del Ferices Diensten." „Lieber sterben als das! Lieber ihn sofort todtschlagen und ein paar Jahre lang auf die Galeeren gehen! Lieber die Fiedel spielen, oder Lumpen sammeln, oder auf den Straßen betteln, als das, Herr Fürst. Man muß Achtung vor sich selbst haben. Sie sehen es selber. Man muß ein Mann sein, und wie ein Mann empfinden. Diese Sachen muß man hier fühlen, Herr Fürst, hier im Herzen!" Contini schlug sich mit geballter Faust auf die Brust und biß in seinem Zorne seine Cigarre ganz durch. Dann ergriff er plötzlich seinen Hut und stürzte aus dem Zimmer. Orsino war über den Wuthausbruch weniger erstaunt, als man hätte erwarten können, und legte dem dramati­ schen Zorne seines Partners kein besonderes Gewicht bei. Er zündete aber eine Cigarette an und dachte sorgfältig über die Lage nach, bemüht herauszufinden, ob wirklich irgend ein Grund für Continis erste Bemerkungen vor­ liege. Er war sich völlig darüber klar, daß er als Orsino Saracinesca sich lieber mit Freuden die Kehle abschneiden, Crawford, Don Orsino. I. 19

290 als von Ugo Del Ferice ein Goldstück borgen würde. Als Andrea Contini und Compagnon aber war er ein Anderer, und dann war Del Ferice auch nicht Graf Del Ferice, oder der Hochgeborene Herr Del Ferice, sondern einfach ein Bankdirektor, mit dem er in Geschäftsverbindung stand. Wenn der Vortheil Andrea Contini und Compagnons mit dem der Bank zusammenfiel, so lag absolut kein Grund vor, um die sowohl freundschaftlichen, wie auch vortheilhafteu Beziehungen lediglich deßhalb abzubrechen, weil ein Mitglied der Firma den Anspruch erhob, von Cola di Rienzi abzustammen, einer längst verstorbenen Persönlich' keit, für die Orsino nicht die geringste Theilnahme empfand. Andrea Contini konnte, in Anbetracht feiner gesellschaft­ lichen Beziehungen, mit seinem Hutmacher z. B. aus freund­ schaftlichem Fuße stehen, oder er konnte persönliche Gründe haben, ihn zu verabscheuen. In keinem Falle konnte der Umstand, daß er von jenem Menschen einen Hut kaufte, als eine Verpflichtung angesehen werden, die von der einen oder anderen Partei gewährt oder empfangen worden sei. Dies war ganz klar, und Orsino war befriedigt. „Geschäft ist Geschäft", sagte er zu sich, „und wenn Einer persönliche Rücksichten in eine Geldoperation hinein­ trägt, so wird er schlecht bei dem Handel fahren." Andrea Contini war augenscheinlich derselben Meinung, denn als er nach Verlauf einer Stunde wieder in das Zimmer trat, war seine Erregung völlig verschwunden. „Wenn wir nun wieder einen Kaufvertrag von dem Grafen übernehmen," sagte er, „so liegt doch wohl kein Grund vor, weßhalb wir nicht einen größeren nehmen soll­ ten, falls er zu haben ist? Wir könnten jetzt, wo Sie ein so guter Buchhalter geworden sind, drei bis vier Gebäude gleichzeitig betreiben."

291 „Ich bin ganz Ihrer Ansicht", antwortete Orsino, rasch entschlossen,

auf das,

was vorher vorgefaüen war,

nicht

mehr Bezug zu nehmen.

„Es frägt sich nur,

ob wir Kapital genug zu einem

Uferrande haben." „Das überlasfen Sie mir." Orsino beschloß, seine Mutter um Rath zu fragen, zu deren Urtheil er ein Vertrauen fühlte, das er sich nicht er­ klären konnte, das aber nicht übel angebracht war. Die Sache war einfach genug. Corona verstand ihn völlig, ob­

gleich die Art, wie sie sein Geschäft begriff, eine mehr als beschränkte war, und sie that in Wahrheits nichts weiter, als daß sie seine eigene besonnene und nüchterne Ansicht bestärkte, wenn sie zufällig einmal mit einem Hange zur Begeisterung, der ihn für den Augenblick blendete, in Streit

gerieth.

Das ruhige Antreiben der eigenen besseren Ein­

sicht eines Mannes

zu seinen halb erwogenen, aber ost halsstarrigen Trieben ist einer der besten und liebevollsten Dienste, die eine verständige Frau einem Manne, den sie

lieb hat, er sei Gatte, Sohn oder Bruder,

erweisen kann.

Viele Frauen haben kein anderes Geheimniß, und wenn

es

gut angewendet und gut bewahrt wird,

so wird es

wenige geben, die werthvoller wären. Laßt aber den gott­ losen Menschen nicht entdecken, daß es bei ihm angewendet wird.

Er wird sich viel mehr beleidigt fühlen,

sich von

seiner eigenen Vernunft geleitet zu sehen, als wenn er zum sinnlosen Sklaven der wildesten Laune eines närrischen wäre. Sein bestes Theil aus ihm zu seinem eigenen Nutzen auslesen und in Thätig­ keit setzen heißt, seinen freien Willen mit Füßen tre­ ten. Ihn aber baarfuß nach Jericho schicken, um eine vertrocknete Blume zu suchen, das heißt, einen Aufruf Weibes gemacht worden

292 an sein Herz richten. Der Mensch ist ein vernunftbegabtes Geschöpf. Wie sich erwarten ließ, strahlte Corona vor Glück über Orfinos ersten Erfolg, und verbrachte alle Zeit, über die er während seiner eigenen Freistunden verfügen konnte, damit, mit ihm über die Vergangenheit und Zukunft zu plaudern. Er bedurfte keines Ansporns, um in demselben Tempo weiterzuarbeiten, freute sich aber über ihre Fröhlich­ keit und war entzückt über ihre Ermuthigung. „Contini wünscht, einen großen Kontrakt zu überneh­ men," sagte er nach der zuletzt beschriebenen Zusammen­ kunft zu ihr. „Ich stimme ihm in gewisser Hinsicht zu. Wir könnten sicherlich ein größeres Geschäft in Händen haben." „Ohne Zweifel", antwortete Corona nachdenklich, denn sie sah, daß in ihres Sohnes Geiste irgend ein Widerspruch gegen diesen Plan sich regte. „Ich habe sehr viel gelernt," fuhr er fort, „auch haben wir viel mehr Kapital, als wir damals hatten. Außer­ dem bin ich überzeugt, daß Du mir einige Tausend leihen würdest, wenn wir sie brauchen sollten; nicht wahr, Mama?" „Gewiß, mein Liebling. Ihr sollt nicht durch Geld­ mangel behindert sein." „Und es ist dann auch möglich, daß wir in kurzer Zeit ein gewiffes Vermögen zusammenbringen. Das würde ja eine große Genugthuung sein. Es kann aber auch------- ." Er hielte inne. „Was kann denn?" fragte Corona lächelnd. „Es kann aber auch ganz anders kommen. Wenn ich auch diesmal Erfolg gehabt habe, so bin ich doch jetzt viel mehr geneigt, zu glauben, daß San Giacinto Recht hatte,

293 als damals, ehe ich überhaupt anfing. Diese ganze Be­ wegung ruht nicht aus einer zuverläsfigen Grundlage." Ein Finanzmann, der dreißig Jahre in seinem Fache thätig gewesen war, hätte die Aussage nicht eindrucksvoller machen können, und Orfino war fich bewußt, daß er einen altklugen Ton anschlug. Im nächsten Augenblicke lachte er. „Das ist ein Börsenausdruck, Mama," fuhr er fort; „aber er bedeutet Etwas. Es ist nicht Alles so, wie es sein sollte. Wenn die Nachfrage so groß wäre, wie eS die Leute behaupten, so würden nicht ein halb Dutzend Häuser, und beffere Häuser als das unserige, in unserer Straße unverkauft dastehen. Deßhalb fürchte ich mich vor einem großen Abschluffe. Ich verliere vielleicht mein ganzes Geld und Einiges von Dir noch dazu." „Es hätte nicht viel zu sagen, wenn Du dies thätest," antwortete Corona. „Du wirst Dich aber durch Dein eigenes Urtheil leiten lassen, das viel besser ist, als meines. Man muß natürlich Etwas auf's Spiel setzen; doch ist es unnütz, fich in Gefahr zu begeben." „Nichtsdestoweniger wäre mir ein großes Wagniß ein unendlicher Genuß." „Es liegt kein Grund vor, mein Lieber, weßhalb Dn den nicht einmal kosten solltest, wenn der günstige Augen­ blick dazu kommt. Ich vermuthe, daß einige Monate dar­ über entscheiden werden, ob eine Krise kommen soll oder nicht. Inzwischen könntest Du etwas Mäßiges überneh­ men, weder so klein, wie das vorige, noch so groß, wie Du gerne möchtest. Du wirft mehr Erfahrung erwerben, weniger auf's Spiel setzen, und auf einen Krach, falls er kommt, beffer vorbereitet sein, oder auch daraus, aus allem Günstigen Vortheil zu ziehen, wenn das Geschäft wieder sicherer wird."

294 Orfiuo schwieg einen Augenblick. „Du bist sehr ver­ ständig, Mama!" sagte er. „Ich will Deinen Rath an­ nehmen." Corona hatte es in der That so verständig gemacht, wie sie konnte. Die einzige schadhafte Stelle in ihrer Er­ örterung war die Behauptung, daß einige Monate über das Schicksal der in Rom unternommenen Geschäfte ent­ scheiden würden. Wenn es möglich wäre, eine Krise auch nur auf einige Monate vorauSzusagen, so wäre die Speculation ein weniger heikles Geschäft, als sie ist. Orsino und seine Mutter hätten vielleicht noch länger und mit befferem Erfolge geplaudert; sie wurden aber durch den Eintritt eines Dieners unterbrochen, der ein Schreiben brachte. Corona streckte unwillkürlich die Hand aus, um es in Empfang zu nehmen. „Für Don Orsino", sagte der Mann, vor diesem stehen bleibend. Orsino nahm den Brief, sah ihn an und drehte ihn herum. „Ich glaube, er kommt von Frau von Aranjuez", bemerkte er ohne Erregung. „Darf ich ihn lesen?" „Auf Antwort wird nicht gewartet, Excellenz," sagte der Diener, deffen Neugierde befriedigt war. „Selbstverständlich lies ihn", sagte Corona, ihn an­ blickend. Sie war überrascht, daß Frau von Aranjuez an ihn schrieb, noch erstaunter aber war sie über die Gleichgültig­ keit, mit der er die Sendung aufmachte. Sie hatte sich eingebildet, daß er in Maria Consuelo mehr ober minder verliebt sei. „Ich glaube, es ist umgekehrt," dachte sie. „Die Frau wünscht, ihn zu heirathen. Das hätte ich mir denken können."



295



Orfino las das Schreiben und stieß es in's Feuer, ohne irgend eine Mittheilung zu machen. „Ich will Deinen Rath annehmen, Mama," sagte er, in der vorigen Unterhaltung fortfahrend, als wenn Nichts weiter geschehen wäre. Der Gegenstand schien aber erschöpft zu sein, und es dauerte nicht lange, so entschuldigte sich Orfino bei seiner Mutter und ging hinaus. Ende des ersten Bandes.

Erstes Kapitel. Es stand Nichts in dem von Orfino verbrannten Briefe, was er nicht seiner Mutter hätte zeigen können, zumal er ihr den Namen der Schreiberin schon mitgetheilt hatte. Er enthielt die einfache Angabe, daß Maria Consuelo im Begriffe stehe, Rom zu verlassen, und drückte die Hoffnung aus, daß sie Orfino vor ihrer Abreise sehen möchte, da fie eine kleine Bitte in Gestalt eines Auftrages an ihn zu richten habe. Sie hoffte, er würde ihr verzeihen, daß fie ihn in so viel Ungelegenhcit brächte. Wenn er auch keine Erregung verrieth, indem er die wenigen Zeilen las, so war er doch wirklich ärgerlich über fie und wünschte, es möchte ihn Etwas daran verhindern, der Aufforderung Folge zu leisten. Maria Consuelo hatte die Bekanntschaft mit ihm dem Wesen nach fallen gelaffen, und hatte fich wiederholt und in sehr ausgesprochener Weise geweigert, ihn zu empfangen. Und jetzt, im letzten Augen­ blicke, wo sie Etwas von ihm brauchte, beliebte es ihr, ihn durch eine dirette Einladung wieder zu fich zu rufen. Es ließ fich Nichts weiter thun, als nachzugeben; und es war für Orfino bezeichnend, daß er, nachdem er fich einmal der Nothwendigkeit unterworfen hatte, den unvermeid­ lichen Augenblick nicht hinausschob, sondern sofort zu ihr hinging.

6 Die Tage waren jetzt länger, als sie während der Zeit gewesen waren, wo er sie täglich besucht hatte, und als Orfino in das kleine Wohnzimmer eintrat, stand die Lampe noch nicht auf dem Tische. Maria Consuelo stand am Fenster und sah auf die Straße hinaus; ihre rechte Hand ruhte auf der Scheibe, während ihre Finger leise aber un­ geduldig darauf herumtrommelten. Sie drehte sich schnell um, als er eintrat; das Licht aber war hinter ihr, und er konnte ihr Gesicht kaum sehen. Sie kam aus ihn zu und hielt ihm die Hand hin. „Es ist sehr freundlich von Ihnen, daß Sie so schnell gekommen find," sagte sie, indem sie ihren alten gewohnten Platz am Tische einnahm. Nichts war verändert, außer daß die zwei oder drei neuen Bücher an ihrem Ellbogen nicht dieselben waren, die zwei Monate früher dort gelegen hatten. In einem von ihnen steckte das silberne Papiermesser mit dem juwelen­ besetzten Griffe, das Orsino nie vermißt hatte. Er fragte sich erstaunt, ob irgend welche Gründe dafür vorhanden seien, daß diese Einzelheiten stets unveränderlich dieselben waren. „Natürlich bin ich gekommen," sagte er. „Und da ich heute Zeit hatte, so bin ich sofort gekommen." Er sprach ziemlich kalt, da er noch immer über ihr früheres Benehmen ärgerlich war und erwartete, sie würde sogleich sagen, was sie von ihm wünschte. Er wollte dann versprechen, den Auftrag, welcher Art er auch sein mochte, auszuführen, und nach einem Gespräche von zehn Minuten wollte er sich verabschieden. Es trat eine kurze Pause ein, während deren er sie betrachtete. Sie schien nicht ganz wohl zu sein. Ihr Gesicht war blaß und ihre Augen waren tief umrändert. Sogar ihr kastanienbraunes Haar hatte

7 Etwas von seinem Glanze verloren. Jedoch sah sie nicht älter aus, als vorher, eine Thatsache, welche bewies, daß sie sogar jünger war, als Orfino sich eingebildet hatte. Abgesehen von dem müden und leidenden Ausdrucke in ihrem Gesichte, hatte sich Maria Consuelo weniger als Orfino während des Winters verändett, und sie erfaßte diese Thatsache mit einem Blicke. Ein fester Vorsatz, harte Arbeit, die beständige Anspannung der Thatkraft und dcS Willens, und nachher auch das fast vollständige Aufgeben des Hazardspiels und des starken Trinkens hatten sich in Orsinos Gesicht und Wesen ausgeprägt, wie sich ein gym­ nastischer Cursus auf einem faulen Athleten ausprägt. Die kühnen schwarzen Augen hatten einen ruhigeren Glanz, die gut gezeichneten Gefichtszüge hatten Kraft und Ruhe ge­ wonnen, die magere Wange war fester und sah derber aus. Sogar in der Figur hatte sich Orfino verbesiert, obgleich sich die Veränderung nicht so genau bestimmen ließ. So jung er auch noch war, kam doch schon Etwas von gereister männlicher Kraft über seine Jugendlichkeit. „Sie müssen mich für sehr — grob gehalten haben," sagte Maria Consuelo, das Schweigen brechend und mit einem leichten Zögern sprechend, das Orfino nie vorher be­ merkt hatte. „Es kommt mir nicht zu, mich zu beklagen, gnädige Frau," antwortete er. „Sie hatten vollkommen Recht-------- * Er hielt inne, denn es widerstrebte ihm, einzuräumm, daß sie zu ihrem Benehmen gegen ihn berechtigt ge­ wesen sei. „Danke bestens," sagte sie, mit einem Versuche zu lachen. „Es macht Einem Vergnügen, wenn man hie und da großmüthige Leute findet. Ich wünsche aber nicht, daß Sie glauben, daß ich launenhaft war. Das ist Alles."

8 „Das glaube ich sicher nicht. Sie waren sehr consequent. Ich habe dreimal hier vorgesprochen, und habe

immer dieselbe Antwort bekommen." Es kam ihm vor, als hörte er sie seufzen; sie versuchte aber wieder zu lachen. „Ich bin nicht phantafievoll," antwortete sie, „das haben Sie, glaube ich, schon lange herausgefunden. Sie haben viel mehr Phantasie, als ich." „Das ist möglich, gnädige Frau; Sie haben aber nicht dafür Sorge getragen, Ihre Phantasie zu entwickeln." „Was meinen Sie damit?" „Was liegt daran? Erinnern Sie sich noch, was Sie sagten, als ich Ihnen nach dem Effen bei Del Ferice an Ihrem Wagenfenster gute Nacht wünschte? Sie sagten, Sie seien nicht zornig auf mich. Ich war thöricht genug, mir einzubilden, daß Sie es ernst meinten. Ich kam wieder und wieder, Sie wollten mich aber nicht sehen. Sie ermuthigten meine Selbsttäuschung nicht." „Weßhalb ich Sie nicht habe empfangen wollen? Wie können Sie missen, was mir zugestoßen ist? Wie können Sie über mein Leben urtheilen? Nach Ihrem eigenen? Das ist sehr verschieden." „Za, wahrhaftig!" rief Orsino fast ungeduldig aus. „Ich weiß, was Sie sagen wollen. Natürlich wird es für mich schmeichelhaft sein. Der einzelnstehende junge Mann ist dem guten Rufe gefährlich. Die ausländische Dame reist allein. Darin kann man den Stoff zu einem Vaude­ ville finden!" „Wenn Sie ungerecht sein müssen, so seien Sie wenig­ stens nicht roh," sagte Maria Consuelo mit leiser Stimme, und sie wandte ihr Gesicht von ihm weg. „Ich bin offenbar in die Welt gesetzt, um Sie zu be-

9 leidigen, gnädige Frau. Wollen Sie mir glauben, daß mir das leid thut, obgleich ich meine Schuld nur dunkel begreife? Was habe ich gesagt? Daß es weise von Ihnen war, meine Besuche aufhören zu lassen, weil Sie hier allein find, und ich jung, unverheirathet und unglücklicherweise in meiner Vaterstadt eine ziemlich bekannte Persönlichkeit bin. Es ist roh, anzudeuten, daß ein junges und schönes Weib ein Recht darauf hat, fich nicht bloßstellen zu laffen? Können wir nicht eine halbe Stunde lang frei und ohne Rückhalt plaudern, wie wir früher geplaudert haben, und dann Adieu sagen und als gute Freunde scheiden, bis Sie wieder nach Rom kommen?" „Ich wünschte, wir könnten es!" In der Art, wie fie das aussprach, lag ein Ton von Aufrichtigkeit, der Orfino gut gefiel. „Dann machen Sie den Anfang, indem Sie mir alle meine Sünden vergeben und fie in Vergeffenheit finken laffen, den Mangel an Takt, die Unerfahrenheit der Jugend, oder einen von Haus aus schwachen Intellekt. Aber nennen Sie mich nicht gleich bei so geringer Herausforderung roh." „Wir werden uns lange Zeit nicht verstehen," ant­ wortete Maria Consuelo nachdenklich. „Deßhalb nicht?" „Weil, wie ich Ihnen schon sagte, der Unterschied in unserer Lebensführung zu groß ist. Antworten Sie mir nicht, wie Sie vorhin thaten; denn ich habe Recht. Ich habe den Anfang gemacht, indem ich sagte, daß ich grob gewesen bin. Wenn das nicht genügt, so will ich noch mehr sagen; ich will Sie sogar bitten, mir zu vergeben; kann ich noch mehr thun?" Sie sprach so ernst, daß Orfino überrascht und beinahe gerührt war. Ihr jetziges Benehmen war sogar noch un-

10 verständlicher, als es ihre wiederholten Weigerungen, ihn vorzulassen, gewesen waren. „Sie haben schon viel zu viel gethan," sagte er ernst. „Mir kommt es zu, Sie für Vieles, was ich gethan und gesagt habe, um Verzeihung zu bitten. Ich wünschte nur, ich verstünde Sie besser." „Mir ist es lieb, daß das nicht der Fall ist," er­ widerte Maria Consuelo, mit einem Seufzer, der diesmal nicht mißzuverstehen war. „Es giebt eine Traurigkeit, die man besser thut, nicht zu verstehen," fügte sie leise hinzu. „Wenn man nicht behülflich sein kann, sie Hinwegzu­ treiben." Auch er sprach sanft, indem seine Stimme sich zum Tonfalle und Klange der ihrigen hinziehen liefe. „Das können Sie nicht; und selbst wenn Sie es könn­ ten, würden Sie es nicht wollen." „Wer weife?" Der Zauber, den er früher in ihrer Gegenwart so leb­ haft empfunden, in letzter Zeit aber so völlig vergessen hatte, fing wieder an, auf ihn zu wirken, und er unter­ warf sich ihm mit einem Gefühle des Behagens, auf das er nicht gefaßt gewesen war. Obgleich die Dämmerung Fortschritte machte, hatten sich doch seine Augen an die Dunkelheit in dem Zimmer gewöhnt, und er sah jede Ver­ änderung in ihrem ausdrucksvollen, blassen Gesichte. Sie lehnte mit halbgeschlossenen Augen in ihrem Stuhle zurück. »Ich glaube gern, dafe Sie wollten, wenn Sie nur wüßten, wie," sagte sie sofort. „Wissen Sie nicht, dafe ich wollte?" Sie warf rasch einen flüchtigen Blick auf ihn, und dann, statt zu antworten, erhob sie sich von ihrem Sitze und rief durch eine der Thüren ihrem Mädchen zu, sie solle die Lampe bringen. Dann setzte sie sich wieder hin, da

11 sie aber Beide wußten, wie leicht sie unterbrochen werden konnten, so sprach Keines von ihnen. Maria Consuelos Finger spielten mit dem silbernen Mcsier,

zogen es

aus

dem Buche heraus, in dem es steckte, und stießen es wieder hinein.

Endlich nahm sie es auf und sah sich das juwelen­

besetzte Monogramm aus dem Griffe genau an.

Das Mädchen trat ein, setzte die mit einem Lichtschirme

versehene Lampe auf den Tisch, raschen scharfen Blick zu. Blick als auffällig

war sie draußen,

und warf Orfino einen

Er konnte nicht umhin,

zu bemerken.

den

In einem Augenblicke

und die Thür schloß sich hinter ihr.

Maria Consuelo blickte

sich

seitwärts über ihre Schulter

nach der Thür um, ob zu sehen, ob sie nicht etwa bloß an­

gelehnt sei. „Es ist eine ganz seltsame Person,

dieses ältliche

Dienstmädchen von mir,” sagte sie. „Das sollte man nach ihrem Gesichte denken.”

„Ja wohl.

Sie sah Sie an, als sie vorbeiging, und

ich sah, daß Sie den Blick bemerkt haben.

Beschützerin.

Ich bin nie ohne sie gereist,

Sie ist meine

und sie wacht

über mich, wie eine Katze über eine Maus wacht.” Das schwache Lachen, welches diese Worte begleitete,

verrieth keine besondere Befriedigung, und der finstere Zug

des Gest'chls der Belästigung entging Orsino nicht. „Ich vermuthe, sie gehört zu den Leuten, deren Launen

man sich unterwirft, weil man ohne sie nicht leben kann,”

bemerkte er. „Ja, so ist es — es ist genau so,” wiederholte Maria Consuelo.

„Und sie hängt außerordentlich an mir”, fügte

sie nach einem Augenblicke des Zauderns hinzu. „Ich glaube nicht, daß sie mich je verlassen wird. an einander geschmiedet.”

Wir find thatsächlich

12 Sie lachte wieder, als amüsiere sie sich über die Art, wie sie ihr Verhältniß zu ihrem Dienstmädchen bezeichnet hatte, und zog zwei- oder dreimal das Papiermeffer durch die Hand. Orfinos Augen wurden durch den funkelnden Glanz der Juwelen seltsam geblendet. „Ich möchte wohl gern die Geschichte dieses Meffers kennen lernen," sagte er fast gedankenlos. Maria Consuelo fuhr aus und sah ihn an, noch bläsier als zuvor. „Deßhalb?" fragte sie rasch. „Ich sehe es stets auf dem Tische in Ihrer Hand", antwortete Orfino. „Es ist auf's Engste mit Ihnen ver­ knüpft; wenn ich an Sie denke, denke ich auch an das Messer. Ich bilde mir immer ein, daß es eine Ge­ schichte hat." „Sie haben Recht. Es wurde mir von einer Person

gegeben, die mich liebte." „Ich sehe — ich war zudringlich." „Nein, Sie sehen nicht, mein Freund. Wenn Sie sähen, — so würden Sie viele Dinge verstehen, und viel­ leicht ist es besser, daß Sie sie nicht kennen." „Ihre Traurigkeit? Würde ich auch die verstehen?" „Nein; die nicht." Eine flüchtige Rothe stieg in ihrem Gesichte auf, und sie streckte die Hand, um mit einer Bewegung, die ihm schon längst genau bekannt war, den Lampenschirm gerade zu rücken. „Wir werden uns schließlich doch wieder mißverstehen", fuhr sie in härterem Tone fort. „Vielleicht wird die Schuld an mir liegen. Ich wünschte, Sie wüßten viel mehr von mir, als es der Fall ist, aber ohne daß ich Ihnen die ganze Geschichte erzählen müßte. Das ist aber unmöglich.

13 Hier das Papiermeffer z. B. könnte die Sache besser vor­ tragen, als ich, denn es hat die Leute Dinge sehen lassen, die ich nicht gesehen habe." „Nachdem es das Ihre geworden war?" „Ja wohl. Nachdem es das meine geworden war." „Sie belieben, geheimnißvoll zu sein," sagte Orfino lächelnd. „Oh, nein! Das beliebe ich durchaus nicht," ant­ wortete sie, ihr Gesicht wieder wegwendend. „Und am wenigsten Ihnen gegenüber, mein Freund." „Warum mir gegenüber ant wenigsten?" „Weil Sie immer sofort mißverstehen. Sie können nicht dafür. Ich tadle Sie deßwegen nicht." „Wenn Sie mich Ihren Freund sein ließen, wie Sie mich nennen, so wäre es für uns Beide besser." Er sprach in einer Weise, wie er sicher nicht zu sprechen beabsichtigt hatte, als er in das Zimmer eintrat, und mit einem Gefühle, das ihn weit mehr überraschte, als seine Zuhörerin. Maria Consuelo drehte sich scharf nach ihm um. „Haben Sie wie ein Freund an mir gehandelt?" fragte sie. „Ich habe es versucht," antwortete er, mit mehr Geistesgegenwart, als Wahrheit. Ihre rothbraunen Augen flammten plötzlich auf. „Das ist nicht wahr! Seien Sie ehrlich! Wie haben Sie gehandelt? Wie haben Sie mit mir gesprochen? Schämen Sie sich, zu antworten?" Orsino fuhr mit dem Kopfe ziemlich hochmüthig in die Höhe und begegnete ihrem Blicke, sich wundernd, ob jemals vorher ein Mann in eine so seltsame Lage gezwängt wor­ den sei. Obgleich aber ihre Augen funkelten, so war doch ihr Blick weder kalt noch mißtrauisch.

14 „Sie kennen die Antwort", sagte er. „Ich habe ge­ sprochen und gehandelt, als ob ich Sie liebte, gnädige Frau; seit Sie mich aber so überaus bündig entlassen

haben, sehe ich nicht ein, warum Sie von mir wünschen, daß ich es sagen soll." „Und Sie, Don Orfino, find Sie jemals von einer Fran geliebt worden, ernstlich geliebt worden?" „Das ist eine sehr seltsame Frage, gnädige Frau." „Ich bin verschwiegen. Sie können fie ruhig beant­ worten." „Daran zweifle ich nicht." „Aber Sie wollen nicht? wirklich nicht? — Das ist Ihr Recht. Es würde aber freundlich von Ihnen sein, wenn Sie mir sagen wollten, hat je ein Weib Sie zärtlich geliebt?" Orfino lachte fast wider seinen Willen. Er besaß nicht viel falschen Stolz. „Es ist demüthigend für mich, gnädige Frau. Da Sie aber die Frage stellen und eine bündige Antwort verlangen, so will ich Ihnen meine Beichte ablegen: Ich bin nie geliebt worden; Sie wollen aber als mildernden Umstand berücksichtigen, daß ich noch jung bin. Ich gebe noch nicht alle Hoffnung auf." „Nein; das brauchen Sie auch nicht," sagte Maria Consuelo mit leiser Stimme, und wieder rückte sic an dem Lampenschirme. Obgleich Orsino durchaus nicht albern war, so hätte er doch blind sein müssen, wenn er inzwischen nicht gesehen hätte, daß Frau von Aranjuez ihr Bestes that, ihn zu ver­ anlassen, noch einmal so zu sprechen, wie er früher zu ihr gesprochen hatte, und ihm eine Liebeserklärung abzuzwin­ gen. Er erkannte es thatsächlich und wunderte sich; wenn er aber auch mitunter ihren Zauber auf sich wirken fühlte,

15 so war er doch entschlossen, daß Nichts ihn dahin bringen

sollte,

auch mir so weit nachzugeben,

als sie schon mehr

als einmal während der Zusammenkunft gethan hatte; sie hatte ihn früher einmal in eine thörichte Lage gebracht,

und er wollte sich nicht der Gefahr aussetzen, wiederum, in ihren Augen oder seinen

werden.

eigenen,

lächerlich gemacht zu

Er konnte nicht entdecken, welche Absicht sie habe,

rüdem sie ihn wieder zu sich zurückzuführen suchte, schrieb

es aber ihrer Eitelkeit zu.

Vielleicht bedauerte sie, ihn so

rasch zurückgestoßen zu haben; vielleicht auch hatte sie sich

eingebildet,

er würde noch fernere und entschlossenere An­

strengungen machen, sie zu sehen.

Vielleicht auch wünschte

sie wirklich, ihn um einen Dienst zu bitten, und wollte sich

vorher vergewissern, daß sie sich völlig auf ihn verlassen könne, indem sie ihm ein Geständniß seiner Ergebenheit

vorher abdrängte. Es war klar, daß der Eine von ihnen Beiden den Charakter oder die Gesinnung des Anderen mißverstanden hatte, wenn es

auch

unmöglich war, zu

sagen, wer von ihnen der Betrogene sei. Das Schweigen,

welches folgte,

und drohte, unschicklich zu werden.

dauerte einige Zeit,

Maria Consuelo konnte

nicht, oder wollte nicht sprechen, und Orsino wußte nicht,

was er sagen sollte.

Er dachte daran, sich zu erkundigen,

was es für ein Auftrag sein möchte, mit dem sie ihn ge­ mäß ihrem Schreiben hatte betrauen wollen. Er brauchte aber nur einen Augenblick nachzudenken, um sich zu sagen,

daß die Frage taktlos sein würde.

Wenn sie die Idee als

eine Entschuldigung, ihn zu sehen, erfunden hatte, so hieß

es ihr, wie Kartenspieler sagen, die Hand binden, er sie erwähnte; und er hatte nicht die Absicht,

wenn

dies zu

thun. Sogar wenn sie thatsächlich ihn um Etwas zu bitten hatte, so hatte er kein Recht, den Gegenstand des Ge-

16 Er besann sich auf eine

sprächs so plötzlich zu wechseln.

bessere Frage. „Sie haben mir geschrieben,

sagte er ruhig.

Sie wollten weggehen,"

„Sie kommen doch aber nächsten Winter

zurück, nicht wahr, gnädige Frau?" „Ich weiß nicht,"

Dann

antwortete sie schwankend.

fuhr sie ein wenig zusammen, als ob sie jetzt erst seine Worte verstünde, und rief aus: „Was sage ich denn da! Natürlich werde ich wieder hierher kommen." „Haben Sie auch, wie jene verrückten Engländer, bei

Mondlicht aus der Fontana Trevi getrunken?" fragte er

lächelnd. „Das ist nicht nöthig.

Ich weiß, daß ich wieder hier­

her kommen werde, — wenn ich am Leben bleibe." „Wie Sie das sagen! Sie sind so stark wie ich — —." „Vielleicht sogar stärker.

Aber — wer weiß?

Die

Schwachen halten es manchmal am längsten aus." Orsino dachte, sie werde sehr sentimental; als er sie

aber ansah,

frappierte ihn wieder der Ausdruck des Lei­

dens in ihren Augen.

Alle Schwäche, die sie fühlte, war

dort sichtbar; aber Nichts zeigte sich in der vollen festen

kleinen Hand, in der kräftigen leichten Haltung des Haup­ tes, in dem sanstgerötheten, halb von dem Haare verdeckten

Ohre, was auf eine ihrer glänzenden Gesundheit drohende Gefahr hingedeutet hätte.

„Wir wollen es also als ausgemacht annehmen, daß Sie

wieder zu uns zurückkommen werden," sagte Orsino fröhlich. „Sehr wohl, wir wollen es als ausgemacht annehmen. Und was dann?"

Die Frage war so Plötzlich und geradezu, daß Orsino

glanbte, werden.

es müsse eine klare Antwort

darauf

gegeben

17 „Was dann?" wiederholte er, nach einem Augenblicke des Zögerns. „Ich vermuthe, Sie werden wieder in diesen selben Zimmern wohnen, und mit Ihrer Erlaubniß wird Sie ein gewisser Orsino Saracinesca von Zeit zu Zeit be­ suchen, und wird ungezogen sein, und wird wegen seiner Sünden in die Verbannung geschickt werden. Und Frau von Aranjuez wird sehr viel zu Frau Del Ferice und zu anderen ultraradicalen Häusern gehen, was besagten Orsino hindern wird, sie in Gesellschaft zu treffen. Auch wird sie schöner sein als je, und die Zeitungen werden Beschreibun­ gen bringen von einer gewissen Anzahl von Kleidern, die sie aus Paris oder Wien oder London, oder irgend einer anderen großen Hauptstadt, die die auserwählte Residenz ihrer großen Schneiderin sein mag, mitbringen wird. Und die Welt wird sich auch sonst im Laufe von acht Monaten nicht sehr wesentlich verändern." Orsino lachte muthwillig, nicht über seine eigene Rede, die er unter dem Drucke der Nothwendigkeit ziemlich plump zusammengebaut hatte, sondern in der Hoffnung, sie würde auch lachen und anfangen, sorgloser zu plaudern. Aber Maria Consuelo war augenscheinlich zu Nichts geneigt, als zu der ernsthaftesten Betrachtung der vergangenen, gegen­ wärtigen und zukünftigen Welt. ,,Ja," sagte sie mit Nachdruck. „Ich darf sagen, daß Sie Recht haben. Man kommt, man zeigt seine Kleider, und man geht wieder weg, — und das ist Alles. Es würde ganz Dasselbe sein, wenn man nicht käme. Es ist ein großer Irrthum, wenn man denkt, man sei Jemandem nöthig. Nur Dinge sind nöthig, — Nahrung, Geld und Etwas zum Plaudern." „Sie könnten die Freunde zu der Liste hinzufügen," sagte Orsino, der Angst hatte, er möchte wieder roh geCrnwiord, Don Orsino. II. 2

18 nannt werden, wenn er nicht einen milden Einwand gegen eine so vernichtende Behauptung vorbrächte. „Die Freunde gehören mit unter die Rubrik ,Etwas zum Plaudern'," antwortete Maria Consuelo. „Das ist ja eine ermuthigende Ansicht." „Wie alle Ansichten, die man durch Erfahrung er­ wirbt." „Sie werden immer bitterer." „Wird die Welt süßer, wenn man älter wird?" „Weder Sie, noch ich, haben lange genug gelebt, um das zu wissen," antwortete Orsino. „Erlebnisse machen ein Leben lang, nicht Jahre." „So lange sie kein Zeichen des Alters hinterlassen, was liegt daran?" „Um diese Sorte von Schmeichelei kümmere ich mich nicht." „Weil es überhaupt keine Schmeichelei ist. Sie kennen die Wahrheit zu gut. Ich bin nicht geistreich genug, um Ihnen zu schmeicheln, gnädige Frau. Der Vollkommen­ heit wird nicht geschmeichelt, wenn sie vollkommen genannt wird." „Jedenfalls ist es unmöglich, besser zu übertreiben, als Sie das können," antwortete Maria Consuelo, die end­ lich über das erdrückende Compliment lachte. „Wo haben Sie das gelernt?" „Zu Ihren Füßen, gnädige Frau. Die Betrachtung großer Meisterwerke erweitert das Begriffsvermögen und vertieft die Kraft des Ausdrucks." „Und ich bin ein Meisterwerk — wovon? Der Kunst, der Laune, der Consequenz?" „Der Natur," antwortete Orsino rasch. Wiederum lachte Maria Consuelo ein wenig, bloß über

19 die Schnelligkeit der Antwort. Orfino war sehr mit sich zufrieden, denn er glaubte, er führe sie schnell hinweg von dem gefährlichen Boden, auf den fie ihn gewaltsam zu zwingen versucht hatte. Ihre nächsten Worte aber zeigten ihm, daß ihm das noch nicht gelungen war. „Wer wird mich während all dieser Monate lachen machen?" rief sie etwas traurig aus. Orfino dachte, fie sei eigenthümlich hartnäckig, und wunderte sich, was sie zunächst sagen würde. „Du lieber Gott, gnädige Frau," sagte er, „wenn Sie so gütig find, über meinen armen Witz zu lachen, so wer­ den Sie nicht weit zu suchen haben, um Jemanden zu finden, der Sie noch besser amüsieren kann!" Er verstand es, wenn es ihm beliebte, einen völlig einfältigen Ausdruck anzulegen, und als ihn Maria Consuelo ansah, um sich zu vergewiffern, ob er im Ernste spräche, oder nicht, führte sein Gesicht sie irre. „Sie find zu bescheiden," sagte fie. „Halten Sie das für einen Fehler? Soll ich mich etwas mehr auf Sicherheit im Benehmen legen?" fragte er sehr unschuldig. „Heute nicht. Ihr erster Versuch könnte Sie zum Uebermaß verleiten." „Das ist durchaus nicht zu befürchten, gnädige Frau," antwortete er mit einigem Nachdrucke. Sie erröthete ein wenig, und ihre geschlossenen Lippen lächelten in einer Weise, die er schon oft vorher bemerkt hatte. Er beglückwünschte sich zu diesen Zeichen des heran­ nahenden Ungewitters, die ihm ein Entrinnen aus seiner schwierigen Lage in Aussicht stellten. Plötzlich von ihr Ab­ schied nehmen, hieß, das Feld räumen, und das wollte er nicht thun. Sie hatte beschlossen, ihn zu einer Ergeben2*

20 heitserklärung zu zwingen, und er war ebenso entschlossen, ihr nicht den Willen zu thun. Er hatte versucht, sie mit leichtfertigem Gerede von ihrer Spur abzubringen, und es war erfolglos gewesen. Er wollte nun etwas Anderes ver­ suchen und sie statt dessen reizen, ohne sich aber den Vor­ wurf der Grobheit zuzuziehen. Deßhalb sie einen solchen Angriff aus ihn machte, ging über sein Begriffsvermögen; er ärgerte sich aber darüber und war fest entschlossen, weder zu fliehen, noch nachzugeben. Wenn er auch nur den hundertsten Theil so cynisch gewesen wäre, wie er sich gern selber einbildete, so würde er ganz anders gehandelt haben. Er war aber jung genug, um sich über seine da­ malige Entlassung tief verletzt zu fühlen, obgleich er es kaum wußte, und fast instinktmäßig Rache für das ihm zugefügte Unrecht zu suchen. Das wurde ihm aber nicht leicht. Er hatte es nicht für möglich gehalten, daß solch' eine Frau, wie Maria Consuelo, ihren Stolz so weit vergessen würde, daß sie um eine Liebeserklärung bettelte. „Vermuthlich werden Sie das von Gouache gemalte Bild mitnehmen?" bemerkte er, indem er den Gegenstand des Gespräches so direkt wechselte, daß es, wie er glaubte, ihren Aerger vermehren mußte. „Was veranlaßt Sie zu dieser Annahme?" fragte sie ziemlich trocken. „Ich hielt es für eine ganz natürliche Frage." „Ich kann mir nicht denken, was ich damit ansangen soll. Ich werde es bei ihm lassen." „Natürlich wollen Sie ihn dadurch veranlassen, es auf den Pariser Salon zu schicken?" „Wenn es ihm beliebt. Sie scheinen an dem Schick­ sale des Gemäldes lebhaften Antheil zu nehmen."

21 „Ja, ein wenig. Ich wundere mich, warum Sie es nicht hier haben, da es doch schon lange fertig ist." „Statt jenes häßlichen Spiegels, nicht wahr? Es würde dann weniger Abwechselung sein. Ich würde mich immer in demselben Kostüme sehen." „Nein — an der Wand gegenüber. Sie könnten dann die Wahrheit mit der Dichtung vergleichen." „Zum Vortheile von Gouaches Dichtung, möchten Sie sagen. Vor kurzer Zeit noch waren Sie höflicher." „Sie bilden sich mehr Grobheit ein, als ich auch nur ersinnen kann." „Das will viel sagen. Warum änderten Sie gerade jetzt den Gesprächsgegcnstand?" „Weil ich sah, daß Sie sich über Etwas ärgerten. Außerdem sprachen wir über mich selbst, wenn ich mich recht erinnere." „Haben Sie nie gehört, daß ein Mann mit einer Frau immer über sich selbst oder über sie selber sprechen sollte?" „Nein, das habe ich noch nie gehört. Sollen wir also von Ihnen sprechen, gnädige Frau?" „Liegt Ihnen denn Etwas daran, von mir zu sprechen?" fragte Maria Consuelo. „Wieder ein direkter Angriff," dachte Orfino. „Ich möchte Sie lieber von sich selbst sprechen hören," antwortete er ohne das geringste Zögern. „Wenn ich Ihnen mittheilen wollte, was ich im gegen­ wärtigen Augenblicke über mich selbst denke, so würde Sie das sehr überraschen." „Angenehm oder unangenehm?" „Ich weiß nicht. Sind Sie eitel?" „Wie ein Pfau!" erwiderte Orfino rasch.

22 „Ach, — dann würde Sie das, was ich denke, nicht interessieren." „Warum nicht?" „Weil es Sie verletzen würde, wenn es nicht schmeichel­ haft ist, und, wenn es schmeichelhaft ist, Sie enttäuschen würde, indem es hinter Ihrem Ideale von sich selber weit zurückbleiben würde." „Doch muß ich gestehen, daß ich gern wiffen möchte, was Sie von mir denken, obgleich ich noch lieber hören möchte, was Sie von sich selbst denken." „Unter einer Bedingung will ich es Ihnen sagen." „Welche ist das?" „Daß Sie mir Ihr Wort geben, mir nachher Ihre eigene Meinung über mich mittheilen zu wollen." „Die Eigenschaftswörter stehen bereit, gnädige Frau. Ich gebe Ihnen mein Wort darauf." „Sie geben es so leicht hin! Wie kann ich Ihnen glauben?" „Es ist so leicht, es in solchem Falle zu geben, wo Einer nichts Unangenehmes zu sagen hat!" „So halten Sie mich also für angenehm?" „In hervorragendem Maße!" „Und für bezaubernd?" „Vollkommen!" „Und für schön?" „Wie können Sie daran zweifeln?" „Und in jeder anderen Hinsicht genau gleich allen Frauen in der guten Gesellschaft, denen Sie an jedem Tage Ihres Lebens dieselben Gemeinplätze wiederholen?" Die Finte war geschickt geschlagen worden, und der Stoß war plötzlich, gerade in's Herz und uner­ wartet.

23 „Gnädige Frau!" rief Orfino aus, in dem abbitten­ den Tone eines völlig überraschten Mannes. „Sie sehen, — Sie wissen Nichts zu sagen!" Sie lachte etwas bitter. „Sie halten zu viel für zugestanden," sagte er, wieder zu sich kommend. „Weil ich mit Ihnen Punkt für Punkt übereinstimme, so nehmen Sie an, ich stimmte auch im Schlußsätze mit Ihnen überein. Sie warten nicht einmal, bis ich antworte, und erklären mir, ich sei schachmatt, wo ich noch zwölf Züge zur Auswahl habe. Außerdem haben Sie die Bedingungen geradezu überschritten. Sie haben vor dem Zeichen zum Schießen Feuer abgegeben, und der Spruch des Unparteiischen würde gegen Sie aussallen. Sie haben hunderterlei der Uebereinkunst zuwider gethan, und mich klagen Sie an, ich sei matt und lahm in meiner Ver­ theidigung. Darin steckt nicht viel Gerechtigkeit. Sie geben das Versprechen, Sie wollten mir ein Geheimniß mittheilen, wmn ich Ihnen meinerseits eines erzählen wollte. Dann aber, ohne Ihrerseits ein Wort zu sagen, steinigen Sie mich mit raschen Fragen und rufen .Sieg! Sieg!', weil ich Einspruch thue. Sie fingen an, ehe ich auch

nur--------" „Um Himmels willen, hören Sie auf!" schrie Maria Consuelo, eine Rede unterbrechend, die eine halbe Stunde weiter zu gehen drohte. „Sie reden von Schauspiel, Zwei­ kampf und zu Tode Steinigen, in einem Satze — ich bin völlig wirre! Sie werfen alle meine Gedanken über den Haufen!" „Wenn man erwägt, wie Sie die meinigen in Ver­ wirrung gebracht haben, so ist das nur eine gerechte Rache. Und da wir Beide zugeben, daß wir jenes Gleichgewicht gestört haben, auf dem allein die Möglichkeit eines gedeih-

24 lichen Gesprächs beruht, so denke ich, ich kann nichts An­ genehmeres, — verzeihen Sie, ich meine, nichts weniger Unangenehmes — thun, als Ihnen eine angenehme Reise zu wünschen, was ich von ganzem Herzen thue, gnädige

Frau." Darauf stand Orsino auf und ergriff seinen Hut. „Setzen Sie sich hin. Gehen Sie noch nicht," sagte Maria Consuelo, einen Schatten bläffer werdend; sie sprach mit augenscheinlicher Anstrengung. „Ach — wahrhaftig!" rief Orsino aus. „Wir haben ja den kleinen Auftrag vergessen, von dem Sie in Ihrem Briefe sprachen. Ich stehe Ihnen völlig zu Diensten." Maria Consuelo blickte ihn rasch an, und ihre Lippen zitterten. „Darum brauchen Sie sich nicht zu sorgen," sagte sie schwankend. „Ich will Sie nicht belästigen. Ich will aber nicht, daß Sie so weggehen,' wie — wie Sie eben gehen wollten. Mir ist es, als hätten wir unö ge­ zankt. Vielleicht haben wir das auch gethan. Wir wollen aber sagen, wir seien gute Freunde, — wenn wir es nur sagen." Orsino war gerührt und verwirrt. Ihr Gesicht war sehr weiß und ihre Hand zitterte deutlich, wie sie sie ihm hiuhielt. Er umschloß sie ohne Zögern mit der seinen. „Wenn Ihnen an meiner Freundschaft gelegen ist, so sollen Sie keinen besseren Freund auf der Welt haben, als mich," sagte er einfach und natürlich. „Ich danke Ihnen, — leben Sie wohl. Ich reise morgen ab." Die Worte klangen fast wie gebrochen, als verlöre sie die Herrschaft über ihre Stimme. Wie er die Thür hinter sich zumachte, drang der Ton eines wilden und leiden­ schaftlichen Schluchzens durch die Thürfüllung bis zu ihm

25 durch. Er stand still, lauschend und zögernd. Die Wahr­ heit, die einem älteren oder eitleren Manne längst klar ge­ worden wäre, flammte Plötzlich vor ihm auf. Sie liebte ihn sehr, und er kümmerte sich nicht mehr um sie. Das war der Grund, weßhalb sie sich so sonderbar benommen hatte, indem sie ihren Stolz und ihre Frauenwürde in die Winde warf, in dem verzweifelten Bestreben, auch nur ein freundliches und theilnahmvolles Wort von ihm zu erlan­ gen, — von ihm, der erst noch vor zwei Monaten so viele Worte der Liebe in ihre Ohren geträufelt hatte, und um dessen willen sie heute beinahe Thränen vergossen hatte, um ihm auch nur die bloße Anerkennung des freundschaftlichen Verhältnisses abzuringen. In das Zimmer zurückgehen, wäre Wahnsinn gewesen; da er sie nicht liebte, wäre es beinahe eine Beschimpfung gewesen. Er ließ den Kopf auf die Brust sinken und ging langsam den Korridor hinab. Er war nicht weit gegangen, als ihm eine kleine, dunkle Figur entgegentrat, die ihn am Weitergehen hinderte. Er erkannte Maria Consuelos ält­ liches Dienstmädchen. „Ich bitte Sie um Verzeihung, Herr Fürst," sagte das kleine, schwarzäugige Frauenzimmer. „Sie werden mir erlauben, einige Worte zu sprechen? Ich danke Ihnen, Excellenz. Es handelt sich um meine Herrin hier drinnen, die man meiner Aufsicht anvertraut hat." „Die man Ihrer Aufsicht anvertraut hat?" fragte Orsino, der sie nicht verstand. „Ja wohl, — ganz genau. Natürlich bin ich hier nur ihr Dienstmädchen. Sie begreifen das. Aber ich habe Vollmacht über sie, wenn sie es auch nicht weiß. Die arme Signora hat während der letzten paar Jahre schreckliche Aufregungen gehabt, und zeitweise, — verstehen Sie? —

26 ist sie etwas — ja — hier." Sie klopfte sich auf die Stirn. „Jetzt geht es ihr besser. In meiner Stellung aber halte ich es manchmal für weiser, einen Freund von ihr im strengsten Vertrauen zu warnen. Es erspart Einem manchmal unnütze Verwickelungen, und die Doktoren, die wir zuletzt in Paris um Rath gefragt haben, haben es mir befohlen. Sie werden mir sicherlich verzeihen, Excellenz." Orfino starrte das Weib einige Sekunden lang in kraffem Erstaunen an. Sie lächelte in einer friedlichen, selbstbewußten Weise. „Sie wollen sagen, Frau von Aranjuez sei — geistig gestört, und Sie seien ihre Wärterin? Ich muß gestehen, das ist etwas schwer zu glauben." „Möchten Sie meine Zeugnisse sehen, Herr Fürst? Oder die schriftlichen Verhaltungsmaßregeln der Doktoren? Ich bin gewiß, daß Sie schweigen werden." „Ich bin nicht berechtigt, mir Etwas der Art anzu­ sehen," antwortete Orfino kalt. „Natürlich, wenn Sie unter Vorschrift handeln, habe ich Nichts damit zu schaffen." Er wäre seines Weges gegangen; sie aber zog plötzlich ein kleines Stück Briefpapier hervor, zierlich zusammen­ gefaltet, und bot es ihm dar. „Ich dachte, es wäre Ihnen vielleicht lieb, zu missen, wo wir bis zu unserer Rückkehr find," sagte sie, fortwährend sehr leise sprechend. „Hier ist die Adrefie." Orfino zuckte ungeduldig mit den Achseln. Er war schon im Begriffe, die Belehrung zurückzuweisen, die er sich nicht einmal die Mühe genommen hatte, von Maria Consuelo selbst zu erbitten. Er änderte aber seinen Sinn und fühlte in der Tasche nach Etwas, um es dem Mädchen zu geben. Es schien der leichteste und einfachste Weg, sie loszuwerden. Die einzige Banknote, die er hatte, war

27 zufällig eine von größerem Werthe, als nöthig gewesen wäre. „Tausend Dank, Excellenz!" flüsterte das Mädchen, ganz überwältigt von dem, was sie für einen beabfichtigten Beweis von Großmuth hielt. Orfino verließ das Hotel, so schnell er konnte. „Für unwahrscheinliche Lebenslagen empfehle man mich dem neunzehnten Jahrhundert und der Gesellschaft, in der wir leben!" sagte er zu sich selber, als er in die Straße hinein­ tauchte.

Zweites Kapitel. Es dauerte lange, ehe Orfino Maria Consuelo wiedersah, aber die Umstände seines letzten Zusammentreffens mit ihr kamen ihm während der folgenden Monate beständig wieder in den Sinn. Es ist eine der Haupteigenthümlich­ keiten Roms, daß es während des Winters eine der am meisten im Mittelpunkte des geselligen Verkehrs gelegenen Städte Europas zu sein scheint, während es in den Som­ mermonaten von der übrigen civilifierten Welt unendlich fern zu liegen scheint. Nachdem es die Beute des unaus­ sprechlichen Fremden während seiner Schießzeit gewesen ist, wird es plötzlich, und bleibt es ungefähr fünf Monate hin­ durch, das glückliche Jagdrevier des schweigenden Flohes, der summenden Fliege und der unvermerkt sich cinschleichenden Muskito. Die Straßen find allerdings noch voller Menschen, und man kann lange Reihen von Kutschen gegen Sonnenuntergang in der Villa Borghese und auf dem engen Korso sehen. Rom und die Römer scheiden nicht so leicht von einander, wie London und die Londoner Gesell­ schaft. Der Mai kommt, — im Süden der König unter

27 zufällig eine von größerem Werthe, als nöthig gewesen wäre. „Tausend Dank, Excellenz!" flüsterte das Mädchen, ganz überwältigt von dem, was sie für einen beabfichtigten Beweis von Großmuth hielt. Orfino verließ das Hotel, so schnell er konnte. „Für unwahrscheinliche Lebenslagen empfehle man mich dem neunzehnten Jahrhundert und der Gesellschaft, in der wir leben!" sagte er zu sich selber, als er in die Straße hinein­ tauchte.

Zweites Kapitel. Es dauerte lange, ehe Orfino Maria Consuelo wiedersah, aber die Umstände seines letzten Zusammentreffens mit ihr kamen ihm während der folgenden Monate beständig wieder in den Sinn. Es ist eine der Haupteigenthümlich­ keiten Roms, daß es während des Winters eine der am meisten im Mittelpunkte des geselligen Verkehrs gelegenen Städte Europas zu sein scheint, während es in den Som­ mermonaten von der übrigen civilifierten Welt unendlich fern zu liegen scheint. Nachdem es die Beute des unaus­ sprechlichen Fremden während seiner Schießzeit gewesen ist, wird es plötzlich, und bleibt es ungefähr fünf Monate hin­ durch, das glückliche Jagdrevier des schweigenden Flohes, der summenden Fliege und der unvermerkt sich cinschleichenden Muskito. Die Straßen find allerdings noch voller Menschen, und man kann lange Reihen von Kutschen gegen Sonnenuntergang in der Villa Borghese und auf dem engen Korso sehen. Rom und die Römer scheiden nicht so leicht von einander, wie London und die Londoner Gesell­ schaft. Der Mai kommt, — im Süden der König unter

28 den Monaten. Der Juni folgt, und das südliche Blut er­ freut sich im ersten starken Sonnenscheine. Der Juli schleppt sich mühsam zu den Thoren herein, schwitzend unter dem wolkenlosen Himmel, schwerfällig, schleppfüßig, bedrückt von dem glühenden Athem des Hundssterns. Noch immer find die Nächte kühl. Noch immer fegt gegen Sonnenuntergang die erfrischende Brise vom Meere her, und füllt die Straßen. Dann werden hinter dicht geschloffenen Jalousieen die Glas­ fenster geöffnet, und die müde Hand läßt endlich den Fächer finken. Dann kleiden sich Männer und Frauen in die Ge­ wänder der Civilisation, und brechen hervor in Wagen, zu Fuß und in Pferdebahnen, gemäß den Abstufungen der gesellschaftlichen Bedeutung, die dafür sorgen, daß in alten Ländern der Mittelstand für den unschätzbaren Schatz einer Achtbarkeit büßen muß, die ein wenig höher steht, als die Pferdebahn und finanziell der Droschke nicht ganz gleich kommt. Dann zieht sich bei der magischen Berührung des Westwindes die Hausflicge in ihr specielles Inferno zurück, gleichviel wo das sein mag; die Muskito und die Mücke lassen in ihrer dunklen und blutigen Arbeit eine Pause ein­ treten, um frische und blutdürstigere Thaten zu erwägen, und sogar der fröhliche und muthwillige Floh wird des ewigen Aufpaffens müde und legt sein schweres Haupt nieder, um ein mühsam verdientes Schläfchen zu er­ schnappen. Der Juli schleppt sich weiter, und der schreck­ liche August betritt die brennenden Straßen, selbst den Staub auf dem Pflaster bleichend, und die breite Cam­ pagna mit feurigen Strahlen der Hitze geißelnd. Dann röthet sich der weißglühende Himmel des Abends, wenn es kühl wird, wie es das weißglühende Eisen thut, wenn es aus dem Schmelzofen genommen wird. Dann endlich flüch­ ten alle die, die entwischen können, um ihres Lebens willen

29 aus der verdammten Stadt auf die Hügel, während die, welche der Folterqual der Sonne und dem Gisthauche der Lust Stand halten müssen, in schweren Leiden erbleichen, ihr Schicksal mit halberloschener Stimme verfluchen, und dann verdrossen, schwach und unverantwortlich werden, wie überarbeitete Galeerensklaven, gleichgültig gegen Alles, gegen Arbeit, Ruhe, Prügel, Nahrung, Schlaf, und die Hoffnung auf Erlösung. Der Himmel verdunkelt sich plötz­ lich; es steckt Etwas wie Grauen in der erstickenden Luft. Die Leute reden nicht viel mit einander, und wenn fie es thun, zanken fie fich leicht und schlagen einander manchmal ohne Warnung todt. Das Plätschern der Brunnen hat einen dumpfen Klang, wie das Ausströmen von geschmol­ zenem Blei. Mit ihren Hufen schlagen die Pferde bei hellem Tageslichte fichtbare Funken aus den grauen Pflaster­ steinen. Viele Häuser find geschloffen, und man hat die Vorstellung, es müsse in jedem von ihnen ein Todter liegen, den Niemand begraben wolle. Zur Mittagszeit machen einige große Regentropfen auf dem Pflaster schwarze Flecke wie von Tinte, und draußen ist ein empörender, schweflig­ brenzlicher Geruch. Am späten Nachmittage fallen wieder Tropfen. Ein böser Wind kommt in heißen Stößen aus allen Himmelsgegenden gleichzeitig; dann ein tiefes Brüllen wie ein Erdbeben, und sofort darauf ein Getöse, das die überreizten Nerven durcheinander rüttelt; wiederum große, plätschernde Tropfen, ein scharfes, kurzes Aufblitzen, — und dann Krach auf Krach, Sündfluth über Sündfluth, und das Schlimmste ist vorüber. Der Sommer hat die erste tödtliche Wunde empfangen; sein Sterben aber ist noch verhängnißvoller, als sein Leben. Die Mittagshitze ist grim­ mig und saugt die Feuchtigkeit des Regens aus, und gleich­ zeitig auch den stinkenden Staub. Das Fiebergespenst er-

30 hebt sich in der feuchten, kühlen Nacht weit draußen in der Campagna, und stiehlt sich heran bis an die Mauern der Stadt, und über sie hin und unter ihnen durch und in die Häuser hinein. Wenn noch irgend welche Leute in Rom geblieben find, die es irgend wie möglich machen können, sich von dannen zu heben, so warten sie nicht lange damit. Bis zu diesem Augenblicke hatte man nur Leiden auszu­ halten gehabt; jetzt aber geräth man in die Gefahr von Schlimmerem. Jetzt wird die Stadt thatsächlich eine Wüste, bewohnt von Geistern mit todtenbleichen Gesichtern. Wenn es ein Cholerajahr ist, rasseln jetzt die Leichenwagen die ganze Nacht hindurch die Straßen entlang zum St. LorenzoThore, und die Arbeiter zählen ihre Masten, wenn sie ihnen in der Morgendämmerung entgegen gefahren kommen. Der schlimmen Tage aber giebt's nicht viele, wenn es nur Regen genug giebt; denn etwas Regen ist schlimmer, als gar keiner. Die Nächte verlängern sich, und der September bläst mit milder Kraft die Gistnebel hinweg. Körper und Seele leben wieder auf, sowie die ersten Trauben in ihren weinlaubbedeckten Körben an den Straßenecken erscheinen. Der reiche Oktober kommt heran, der Monat, in dem die Kleinbürger von Rom ihre Frauen und Kinder nach den neuen Städten mitnehmen, nach Marino, Frascati, Albano und Aricia, um frische Früchte zu essen und neuen Most zu trinken, mit Liedersingen und Gelächter, und kleinen Schmerzen und großen Freuden, an die man sich ein ganzes Jahr lang erinnert. Der erste klare Dauerwind aus dem Norden schüttelt die sterbenden Blätter herab und hellt die blaue Luft auf. Die braune Campagna wird wieder grün, und das Herz des armen lahmen Droschkenpferdes hebt sich in die Höhe. Der riesige Pförtner des Palastes legt seinen linnenen Rock und seine Pfeife bei Seite und öffnet weit

31 die großen Thore; denn die Herrschaft kommt zurück, von ihren Schlöffcrn und Landsitzen, von der See und von den Bergen, von Norden und Süden, von dem Zauberufer von Sorrento, und von fernen französischen Badeorten, einige mit jungen Frauen oder Männern, andere mit rosigen römischen Babies, die zum ersten Male ihren triumphieren­ den Einzug in Rom halten, und andere wiederum kehren gefährtenlos in das Heim zurück, das sie mit lieben Ge­ fährten verlaffen hatten. Die große und verwickelte Ma­ schinerie des gesellschaftlichen Lebens wird in Ordnung ge­ bracht und für den Winter wieder in Stand gesetzt; die verloren gegangenen oder beschädigten Stücke in dem Trieb­ werke werden sorgfältig durch neue ersetzt, die Dasselbe oder Besieres leisten werden, die Verbindungen und Ueberführungen werden geschmiert, der Pfiff der ersten Einladung wird gehört, zuerst schnaubt es und knarrt es ein Weilchen, und dann fangen die großen Räder an, sich langsam herum­ zudrehen, regelmäßig und feierlich wie immer, während alle die kleinen Räder so schnell als möglich laufen und bei dem Versuche, die hurtige Eile beständig beizubehalten, ihre Achsen in Brand sehen, und schließlich zusammengeklemmt und aufgefangen und zerschmettert werden, wie es kleinen Rädern sicher geschieht, wenn sie den Versuch machen, es den großen gleich zu thun. Wenn aber nicht einem der allergrößten Räder Etwas zustößt, so bleibt die Maschine bis zum Ende der Saison nicht mehr stehen, wo sie wieder zur Reparatur in Stücke zerlegt wird. Das ist die kurze Geschichte eines Jahres in Rom, dessen Hauptpunkte denen seines Vorgängers und seines Nachfolgers außerordentlich ähnlich sind. Das äußere Ge­ rüst ist daffelbe, aber der Ausputz ändert sich langsam, sicher, und vielleicht nicht zum Vortheile, indem die jüngere

32 Generation sich an die Stelle der älteren drängt, indem neue Bekanntschaften den Platz alter Freunde einnehmen, indem Gesichter, die uns fremd find, andere Gesichter ver­ decken, die wir geliebt haben. Orfino Saracinesca wußte, daß er in seiner neuen Eigenschaft als Unternehmer und Geschäftsmann entweder den größten Theil des Sommers in der Stadt zubringen, oder seine Angelegenheiten den Händen Andrea Continis überlassen müsse. Letzteres Verfahren war ihm zuwider, theils weil er noch immer den lebhaften Antheil eines An­ fängers an seinem ersten Erfolge verspürte, und theils auch, weil er einen bösen Argwohn hegte, Contini möchte, während des heißen Wetters sich selbst überlaffen, sich ver­ sucht fühlen, mehr Zeit der Musik, als dem Baugewerbe zu widmen. Auch wurde das Geschäft jetzt in viel größerem Umfange als früher betrieben, obgleich Orsino den Rath seiner Mutter befolgt hatte, und nicht gleich soweit ge­ gangen war, als er hätte gehen können. Es bedurfte all seiner eigenen rastlosen Thatkraft, aller praktischen Talente Continis, und vielleicht eines größeren Theils von Del Ferices günstigem Einfluffe, als sie Beide vermutheten, um das Geschäft fernerhin auf dem Wege zum Erfolge zu halten. Im Juli machten sich Orsinos Angehörige bereit, hin­ auf nach Saracinesca zu gehen. Der alte Fürst erklärte zu Jedermanns Erstaunen seine Absicht, nach England zu reisen, und lehnte es barsch ab, sich von irgend Einem aus der Familie begleiten zu laßen. Er wolle, sagte er, einige alte Freunde ausfindig machen, und sehne sich nach dem Genuffe, ein paar Monate in Frieden hinzubringen, was zu Hause wegen Giovannis schändlicher Gemüthsart und Orfinos wahnsinniger Vorliebe für's Geschäft völlig unmög-

33 lich sei. Er umarmte sie also Alle sehr liebevoll, gestattete sich ein herzliches Lachen, und reifte in einem besonderen Wagen mit seinen eigenen Dienern ab. Giovanni war dagegen, daß Orsino während der

großen Hitze in Rom bliebe. Bis jetzt hatte sich Orsino noch in keine Auseinandersetzung mit seinem Bater ein­ gelassen, jedoch verstand der Letztere recht gut, daß das Geschäft besser ausgeschlagen war, als man erwartet hatte, und fing an, um seines Sohnes willen an seinem ferneren guten Fortgänge Antheil zu nehmen. Er sah, wie sich der Knabe durch ein Verfahren, das er, von seinem persön­ lichen Gesichtspunkte aus, natürlich für das denkbar schlech­ teste gehalten hätte, zum Manne entwickelte. An dem Ergebniffe aber ließ sich Nichts aussetzen. Die geistige Ueber« legenheit des Orsino vom Juli über den Orsino vom vergangenen Januar war nicht zu bestreiten. Welches Ge­ fühl auch Giovanni empfinden mochte, wenn er die immer zunehmende Veränderung betrachtete, es war nicht das der Angst oder der Enttäuschung. Jedoch hatte er das wohl­ begründete Vorurtheil eines Römers gegen einen Aufent­ halt in der Stadt während des Augusts und Septembers.' Seine Einwendungen veranlaßten einen kleinen Wortwechsel, an dem Corona theilnahm. Orsino sprach ausführlich über die Nothwendigkeit, persönlich die Ausführung seiner Kontrakte zu überwachen; Giovanni ließ cinflicßen, er würde sicher einen zuverlässigen Mann finden, der ihn vertreten könne. Corona war für einen vermittelnden Ausweg. Es würde für Orsino. sagte sic, leicht sein, wöchentlich zwei oder drei Tage in Rom zuzubringen, und die übrige Zeit bei seinen Eltern auf dem Lande. Sie hatten alle Drei ihrer eigenen Ansicht nach völlig Recht; und alle Drei wußten es. Ueberdies *' ta irf crt. Ten Sviinc II. 3

34 waren sie alle Drei sehr hartnäckige Leute. Die Folge war, daß Orsino, der gewiffermatzen die Sache in Händen hatte, da die beiden Anderen bemüht waren, ihn zur Aenderung seines Sinnes zu veranlassen, die Oberhand in der Be­ weisführung erlangte und seinen ersten Sieg in offener Feldschlacht gewann. Nicht als ob eine offene Feindselig­ keit vorgekommen wäre, oder als ob Einer von ihnen heftig oder laut gesprochen hätte. Keiner von ihnen war wie der alte Saracinesca, dessen Streiche beim Wortgefechte heftig, völlig unerwartet und feurig wie er selber waren. Sie sprachen mit scheinbarer Ruhe einen ganzen langen Som­ mernachmittag hindurch, und die Besiegten zogen sich mit ziemlich gutem Anstande zurück, Orsino als Herrn des Schlachtfeldes zurücklaffend. Bei dieser Gelegenheit aber entwickelte sich zum ersten Male in Giovanni Saracinesca die Ansicht, daß sein Sohn ein ebenbürtiger Gegner für ihn sei, und daß es in Zukunst weise sein werde, vorher die Aussichten auf den Erfolg festzustellen, ehe er sich wieder dem Risiko einer schimpflichen Niederlage aussetzte. Giovanni und seine Frau fuhren zusammen aus und plauderten über die Angelegenheit, während die Wagen die großen Prachtstraßen der Billa Borghese entlangfegte. „ES läßt sich nicht leugnen, daß Orsino heranwächst, — ja, schon herangewachsen ist," sagte Giovanni, einen flüchtigen Blick auf Coronas ruhiges, dunkles Gesicht werfend. Sie lächelte mit einem gewissen Stolze, als sie die Worte hörte. „Ja wohl", antwortete sie; „er ist ein Mann. Es ist falsch, ihn noch länger als Knaben zu be­ handeln." „Glaubst Du, daß es diese plötzliche Begeisterung für's Geschäft ist, die ihn so verändert hat?"

35 „Natürlich, — was sollte es sonst fein?" „Frau von Aranjuez, zum Beispiel," deutete Giovanni leise an. „Ich glaube nicht, daß sie jemals den geringsten Ein­ fluß auf ihn hatte. Die Liebelei scheint eines natürlichen Todes gestorben zu sein. Ich muß gestehen, ich hatte

immer die Hoffnung, sie möchte in dieser Weise ihr Ende finden, und bin recht froh, daß sie es gefunden hat. Auch freue ich mich sehr, daß Orsino so guten Erfolg hat. Weißt Du was, Theurer? Ich freue mich, weil Du es nicht für möglich hieltest, daß es so kommen würde." „Nein; das hielt ich allerdings nicht für möglich. Und jetzt, wo ich anfange, es zu verstehen, gefällt es ihm nicht, mit mir über seine Angelegenheiten zu sprechen. Doch glaube ich, das ist nur natürlich. Sage mir, hat er wirk­ lich Geld gemacht? Oder hast Du ihm Geld zum Ver­ lieren gegeben, damit er sich Erfahrung kaufen kann?" „Er hat seinen Erfolg ohne alle Beihilfe erreicht," sagte Corona stolz. „Ich wollte ihm Alles geben, was er brauchte; er braucht aber Nichts. Er ist ungeheuer ge­ schickt und ungeheuer energisch. Wie sollte es ihm fehlen?" „Du scheinst unseren Erstgeborenen zu bewundern, meine Theure," bemerkte Giovanni lächelnd. „Offen gestanden, ja! Ich hege keinen Zweifel, daß er allerhand Sachen macht, die er nicht machen sollte, und von denen ich Nichts weiß. Das hast Du in seinem Alter auch gemacht, und wenn er so wird, wie Du, will ich ganz zufrieden sein. Ich möchte nicht gern einen jüngferlichzimperlichen Sohn haben mit schneeweißen Händen und zarter Gesühlsseligkeit, und mit heuchlerischem Zurschautragen übertriebener Sittlichkeit. Ich glaube, ich wäre fähig, einen solchen Burschen zum Bösen zu verleiten, 3»

36 wen» er nur dadurch männlich werden möchte, — obgleich ich sehr wohl weiß, daß es eine große Sünde sein würde." „Ohne Zweifel," sagte Giovanni. „Jedoch wird uns Orsino nicht in eine solche Lage bringen, meine Theure. Erinnerst Du Dich an jenen kleinen Vorfall, voriges Jahr, in England? Es streifte sehr nahe an einen Skandal. Doch muß man bedenken, daß sich die Engländer leicht in Versuchung führen lassen und hinterdrein leicht Skandal darüber machen. Orsino wird sich in der Richtung heuch­ lerischer Moralität nicht irren. Darum handelt es sich aber nicht. Ich möchte durch Dich erfahren, da er mir ja kein Vertrauen beweist, wie weit er thatsächlich Er­ folg hat." Corona gab ihrem Gatten einen demerkenswerth klaren Bericht über Orsinos Angelegenheiten, ohne Uebertreibung, soweit die Thatsachen in Betracht kamen, aber nicht ohne einen höchst günstigen Kommentar. Sie machte keinen Versuch, ihren Triumph zu verbergen, und trug kein Be­ denken, Giovanni zu erklären, er hätte von Anfang an den Jüngling ermuthigen und unterstützen sollen. Giovanni hörte mit lebhaftester Theilnahme zu uud ertrug ihre liebevollen Vorwürfe mit Gleichmuth. Er fühlte in seinem Herzen, daß er richtig gehandelt habe, und war eigentlich immer »och der Ansicht, daß die Dinge in Wirk­ lichkeit nicht ganz so waren, wie sie zu sein schienen. Es lag Etwas in Orsinos sofort eintretendem Erfolge gegen­ über offenbar schweren Unglückschancen, was sein Urtheil störte. Er besaß allerdings keine persönliche Erfahrung betreffs der Bauspekulationen in der inneren Stadt, sowie bezüglich des gegenwärtig üblichen Verfahrens bei Finanz­ geschäften im Allgemeinen, und er hatte neuerdings von Fällen gehört, wo es Leuten über ihre eigenen wildesten

37 Erwartungen hinaus geglückt war. Es lag vielleicht kein Grund vor, weßhalb Orfino, trotz seiner außerordentlichen Jugend, nicht eben so gut oder sogar besser, wie andere Leute, vorwärts kommen sollte. Andrea Contini war wahr­ scheinlich ein Mann von hervorragendem Talente, wohl fähig, das ganze Geschäft allein zu leiten, wenn ihm andere Umstände günstig gewesen wären; und im Ganzen lag Nichts vor, das bewiesen hätte, daß die beiden jungen Männer von der Bank mehr als den ihnen zukommenden Antheil an Beistand oder Aushülfe erhalten hätten. Gio­ vanni aber wußte sehr wohl, daß Del Fcrice die einfluß­ reichste Persönlichkeit in der fraglichen Bank war, und die bloße Andeutung seines Namens verlieh der ganzen Ange­ legenheit eine verdächtige Eigenschaft, die Orfinos Vater störte. Trotz aller vernünftigen Erwägungen schwebte um den Fall ein Duft von unnatürlich gutem Glücke, den er nicht leiden mochte, und er kannte Del Ferices gewundenen Charakter zur Genüge, um seinen Absichten zu mißtrauen. Er hätte es lieber gesehen, wenn sein Sohn durch Ugo Geld verloren hätte, als daß Orsino Jenem auch nur den ge­ ringsten Dank schuldete. Die Thatsache, daß er mehr als zwanzig Jahre lang mit dem Manne nicht gesprochen hatte, konnte sein Vertrauen zu ihm nicht vergrößern. Während dieser Zeit hatte sich Del Ferice zu einer sehr wichtigen Persönlichkeit entwickelt, die viel mehr Macht als früher besaß, Schaden zuzufügen; und es war nicht anzunehmen, daß er alte Wunden vergeffen oder alle Hoffnung, sie zu rächen, aufgegeben haben sollte. Del Ferice war dieser Art von Vergeßlichkeit nicht sehr zugänglich. Als Corona zu sprechen aufgehört hatte, schwieg Gio­ vanni einige Augenblicke lang. „Ist es nicht glänzend?" fragte Corona voller Be-

38 geisterung. „Warum sagst Du gar Nichts dazu? Man könnte denken, Du seiest nicht zufrieden." „Im Gegentheil. So weit es sich um Orsino han­ delt, bin ich entzückt. Aber Del Ferice traue ich nicht." „Del Ferice ist viel zu schlau, um Orsino zu Grunde zu richten," antwortete Corona. „Ganz gewiß. Und das ist es gerade, was mich stört. Das ist es, was mich fühlen läßt, daß Orsino, wenn er auch tüchtig gearbeitet und einen ganz außergewöhnlichen Verstand bewiesen hat, doch nicht in gleicher Weise Erfolg gehabt hätte, wenn er sein Geschäft mit einer anderen Bank gemacht hätte. Del Ferice hat ihm geholfen. Möglicher­ weise weiß das Orsino, wie wir es wissen; sicherlich aber weiß er nicht, welche Rolle Del Ferice in unserem Leben gespielt hat, Corona. Wenn er das wüßte, würde er seine Hülfe nicht annehmen." Nun war Corona an der Reihe, zu schweigen, und ihr Gesicht nahm einen enttäuschten Ausdruck an. Sie er­ innerte sich au einen gewissen Nachmittag im Gebirge, wo sie Giovanni dringend gebeten hatte, Del Ferice entwischen zu lassen, und Giovanni hatte widerstrebend nachgegeben und hatte dem Flüchtlinge einen Führer gegeben, um ihn bis an die Grenze zu bringen. Sie fragte sich unsicher, ob die hochherzige Regung jenes Tages schließlich dazu be­ stimmt sein solle, böse Frucht zu tragen. „Orsino weiß von dem Allen Nichts," sagte sie endlich. „Wir bewahrten das Geheimniß von Del Ferices Entkommen sehr sorgfäl­ tig, — denn in jenen Tagen hatte man gute Gründe, sorg­ fältig zu sein. Orsino weiß nur, daß Du einst einen Zwei­ kampf mit dem Manne ausgefochten und ihn verwundet hast." „Ich glaube, es wird Zeit, daß er mehr erfährt." „Was kann es nützen, wenn man ihm diese alten Ge-

39 schichten erzählt?" fragte Corona.

„Und schließlich glaube

ich nicht einmal, daß Del Ferice so viel gethan hat.

Wenn

Du Orsinos Arbeit Tag für Tag und Woche für Woche

hättest verfolgen können, wie ich es gethan habe, so würdest Du sehen, wie viel thatsächlich seiner Thatkraft zu verdan­ ken ist.

Jeder andere Banquier würde eben so viel gethan

haben, wie Del Ferice. Außerdem lag es in seinem eigenen Vortheile--------- "

„Das ist das Störende," unterbrach sie Giovanni. ist schlimm genug, daß er Orsino geholfen hat.

„Es

Es ist viel

schlimmer, daß er ihm so geholfen hat, daß er Nutzen aus

Wenn jede andere Bank, wie Du sagst, eben so

ihm zog.

viel thun würde, dann laß ihn doch zu einer anderen Bank gehen. Sollte er im gegenwärtigen Augenblicke Del Ferice Geld schuldig sein, so wollen wir es für ihn bezahlen."

„Du vergissest, daß er die Gebäude, an denen er jetzt

baut, von Del Ferice auf Hypothek gekauft hat." Giovanni lachte ein wenig. „Wo hast Du es gelernt, von Hypotheken und Kontrakten und allerhand Geschäften

zu sprechen!" Einwand.

rief er aus.

„Was Du aber sagst, ist kein

Wir können, denke ich,

diese Hypotheken ab­

zahlen und selber das Risiko übernehmen."

„Natürlich könnten wir das thun," antwortete Corona nachdenklich.

„Ich glaube aber thatsächlich, Du übertreibst

die ganze Angelegenheit.

So wie jetzt

die Verhältnisse

liegen, ist Del Ferice nicht ein Mann, sondern ein Ban­ quier.

Sein persönlicher Charakter und

seine früheren

Thaten kommen bei der Sache nicht mit in Betracht."

„Meiner Ansicht nach

doch,"

sagte Giovanni,

noch

immer ungläubig. „Jedenfalls wollen wir uns jetzt keine Sorgen machen, Theurer," sagte Corona mit ernstem Tone. „Der gegen-

40 wärtige Kontrakt mag ausgeführt und beendet werden, und

dann sprich mit Orsino,

Was Del Ferice auch

ehe er einen neuen abschließt.

immer dabei

gethan haben mag,

Du kannst selber sehen, daß Orsino sich in einer Weise ent­

wickelt, die wir nicht erwartet hatten, und ein ernster, ener­ gischer Mann wird.

Tritt ihm nun nicht in seine Beete

was gut ist, nicht am Wachsen. Es würde Dir eben so leid thun, wie mir. Wenn er diese

und hindere das,

Bauten zu Ende geführt hat, wird er Erfahrung

genug

besitzen, um eine neue Ausfahrt zu unternehmen."

„Mir ist der Gedanke, von Del Ferice eine Gunst zu empfangen, eben so verhaßt, wie der, ihn zu verpflichten. Ich denke, ich werde selber zu ihm gehen."

„Zu Del Ferice?"

Corona fuhr in die Höhe und sah

sich, wie sie da saß, nach Giovanni um.

Sie sah plötzlich

im Geiste neue Beunruhigungen aufsteigen.

„Ja; warum nicht? Ich will zu ihm gehen und ihm sagen,

daß ich unseres Sohnes Geschäfte mit ihm lieber

beenden möchte, da unsere früheren Beziehungen zu einan­ der nicht derartig waren, daß sie Geschäftsunternehmungen zu gegenseitigem Nutzen zwischen irgend einem Mitgliede

unserer Familie und Ugo Del Ferice paffend

oder

auch

nur statthaft erscheinen lassen könnten."

„Um des Himmels willen, Giovanni, thue das nicht." „Und warum nicht?"

Er war ganz überrascht, sie so

traurig zu sehen. „Um meinetwillen, also, — streite nicht mit Del Ferice.

Damals, in jenen längstvergangenen Tagen, war es etwas Anderes.

Jetzt könnte ich es nicht ertragen--------- "

Sie

hielt inne, und ihre Unterlippe zitterte ein wenig.

„Also liebst Du mich mehr, Corona?"

als Du damals thatest,

41 „So viel mehr; ich kann es Dir gar nicht sagen." Sie berührte seine Hand mit der ihrigen, und ihre dunklen Augen waren etwas verschleiert, als sie den seinigen begegneten. Beide schwiegen einen Augenblick. „Ich habe nicht die Absicht, mit Del Ferice zu strei­ ten," sagte Giovanni freundlich. Sein Gesicht war, wäh­ rend er sprach, einen Schatten blässer geworden. Die Macht ihrer Hand und Stimme, ihn umrustimmen, war in all den Jahren friedlichen Glückes, die so schnell dahin ge­ rauscht waren, nicht geringer geworden. „So Etwas habe ich nicht im Sinne," sagte er noch einmal. „Aber ich habe Folgendes im Sinne. Ich will nicht, daß man sagen kann, Del Ferice habe für Orsino ein Vermögen zu Stande gebracht, oder auch, Orsino habe für Del Ferices Vortheil gearbeitet. Ich sehe keinen anderen Weg, als daß ich mich selbst in's Mittel lege. Ich kann es thun, ohne den Ver­ dacht eines Streites hervorzurufen." „Es wird ein großer Fehler sein, Giovanni. Warte, bis ein neuer Kontrakt vorliegt." „Ich will es mir überlegen, ehe ich etwas Entschei­ dendes thue." Corona wußte wohl, daß sie kein größeres Zugeständniß erlangen würde, als dieses. Der Ehrenpunkt war in Giovannis empfindlichem Herzen berührt worden, und sein Charakter war hartnäckig und entschlossen, wo seine alten Vorurtheile in Frage kamen. Sie liebte ihn innig, und gerade diese Hartnäckigkeit von ihm gefiel ihr. Sie hatte aber die Vorstellung, daß irgend eine Störung drohend bevcrstand. Sie verstand auch ihres Sohnes Natur und fürchtete, er werde sich gezwungen sehen, sich seinem Vater zu widersetzen. Der Gedanke kam ihr, sie könne selbst als Mittels-

42 Person auftreten. Sie konnte sicherlich von Orsino Zuge­ ständnisse erlangen, die Giovanni nicht hoffen konnte, durch Gewalt oder List zu erpressen. Aber die Weisheit ihres eigenen Vorschlags in der Angelegenheit schien unangreif­ bar. Man würde das augenblicklich in Händen befindliche Geschäft ruhig seinen natürlichen Lauf nehmen lassen, ehe irgend Etwas geschähe, um die Beziehungen zwischen Orsino und Del Ferice abzubrechen. Am Abende fand sie eine günstige Gelegenheit, mit Orsino unter vier Augen zu sprechen. Sie wiederholte ihm die Einzelheiten der Unterhaltung, die sie mit Giovanni im Laufe des Nachmittags gehabt hatte. „Liebe Mutter," antwortete Orsino, „ich traue Del Ferice durchaus nicht mehr, als Du und Papa ihm trauen. Ihr sprecht von Sachen, die er vor Jahren begangen hat; Ihr sagt mir aber nicht, was das für Sachen waren. So­ weit mein Verständniß reicht, geschah Alles, ehe Ihr heirathetet. Mein Vater und er stritten sich um Etwas, und ich vermuthe, daß es sich um eine Dame handelte. Wo­ fern nicht Du die in Rede stehende Dame warst, und wo­ fern nicht das, was er gethan hat, den Charakter einer Beleidigung für Dich an sich trug, kann ich nicht einsehen, wieso mich die Sache angeht. Sie haben mit einander gefochten, und damit hatte die Sache ein Ende, wie das bei Ehrenhändeln der Fall ist. Wenn es Dich anging, so sage mir das, und ich will morgen früh mit Del Ferice brechen." Corona schwieg, denn Orsinos Rede war sehr deutlich, und wenn sie überhaupt antwortete, so mußte sie die Wahr­ heit antworten. Da gab es kein Entrinnen. Und die Wahrheit zu sagen war sehr schwer. Zu jener Zeit war sie noch die Frau des alten Astrardente gewesen, und Del

43 Ferices Verbrechen hatte darin bestanden, sichtlich

in

dem

daß er sich ab­

Gewächshanse des Palastes Frangipani

verborgen hatte, um zu belauschen, was Giovanni Sara-

cinesca zu

der Frau eines Anderen sagen wollte.

Die

Thatsache, daß sie in jener denkwürdigen Nacht einer sehr großen Versuchung tapfer widerstanden hatte, hatte mit der Schwierigkeit des gegenwärtigen Falles durchaus Nichts zu

schaffen.

Eher fragte sie sich, ob Del Ferices Horchen dem

Orstno, um seine eigenen Worte zu gebrauchen,

als eine

Beleidigung für sie erscheinen würde, und sie hegte keinen

Zweifel,

daß es so sein würde.

bewußt,

daß es ihr schwer werden würde,

Gleichzeitig war sie sich

ihrem Sohne

auseinanderzusetzen, warum Del Ferice die Vermuthung hegte, es würde Etwas zu ihr gesagt werden, was des Horchens werth wäre,

in Anbetracht,

daß sie ja zu jener

Zeit den Namen eines anderen Mannes trug, der damals noch

Wie hätte Orsino Alles

am Leben war.

verstehen

können, was vorausgegangen war? Selbst jetzt noch glaubte sie in aller Bescheidenheit, wenn sie auch wußte, daß sie

gut gehandelt hatte,

sie hätte viel besser handeln können.

Wie würde ihr Sohn über sie urtheilen?

Sie schwieg,

wartend, daß er wieder sprechen möchte.

„Das würde der einzige denkbare Grund sein, halb

ich

mit Del Ferice brechen könnte,"

„Wir haben nur geschäftliche Beziehungen,

Haus gehe ich nicht. gen.

sagte Orsino. und in sein

Ich bin ein einziges Mal hingegan­

Damals sah ich keinen Grund,

es Euch

und seitdem bin ich nicht wieder da gewesen.

Anfang

weß-

der ganzen Angelegenheit.

sind wir lediglich nur Bekannte.

ich vorhin gesagt habe:

zu sagen, Es war zu

Außerhalb der Bank

Ich wiederhole aber, was

Wenn er je Etwas gethan hat,

was es unehrenhaft für mich macht, auch nur gewöhnliche

44 Geschäftsdienste von ihm anzunehmen, so laß es mich misten. Ich habe einigermaßen ein Recht darauf, die Wahrheit zu hören." Corona zauderte und legte den Fall noch einmal ihrem Gewißen zur Prüfung vor, wobei sie versuchte, sich in ihres Sohnes Lage zu versetzen. Es war schwer, einen Abschluß zu finden. Es bestand kein Zweifel, daß sie, als sie die Wahrheit lange nach dem Ereignisse kennen gelernt hatte, das Gefühl hatte, daß sie beleidigt und mit vollem Rechte gerächt worden sei. Wenn sie jetzt Nichts sagte, so würde Orsino Etwas vermuthen und sicherlich zu seinem Bater gehen, von dem er eine Anschauung über den Fall bekom­ men würde, die sich nicht gerade durch Mäßigung aus­ zeichnen würde. Auch würde Giovanni das, was gefolgt war, mit allen Einzelheiten erzählen: wie Del Ferice den Versuch gemacht hatte, der Heirath, als sie endlich möglich war, hindernd in den Weg zu treten, und alles Uebrige, was sonst noch vorgekommen war. Gleichzeitig empfand sie, daß sie, soweit ihre persönliche Empfindlichkeit in Frage kam, nicht das Geringste gegen die Fortdauer eines bloßen Geschäftsverkehrs zwischen Orsino und Del Ferice einzu­ wenden habe. Sie war versöhnlicher als Giovanni. „Ich will Dir das genau erzählen, mein lieber Zunge," sagte sie endlich. „Jener alte Streit betraf mich und Nie­ manden sonst. Dein Vater empfindet ihn stärker, als ich, weil er für mich kämpfte und nicht für sich selbst. Du hast Vertrauen zu mir, Orsino; Du weißt, daß ich Dich lieber todt sehen möchte, als daß Du etwas Unehrenhaftes thätest. Da hast Du vollkommen Recht. Nun frage mich nicht weiter, und geh' auch nicht deßwegen zu Deinem Vater. Del Ferice hat Dir nur Geld gefchästlich vorge­ streckt, auf gute Sicherheit und zu hohem Zins. So weit

45 ich den mit in Betracht kommenden Ehrenpunkt beurtheilen kann, braucht das, was sich vor langen Zeiten ereignete, Dich nicht zu hindern, das zu thun, was Du jetzt thust. Wenn Du den gegenwärtigen Kontrakt zu Ende geführt hast, kannst Du es möglicherweise für klüger halten, Dich an eine andere Bank zu wenden oder auf eigene Rechnung mit meinem Gelde zu arbeiten." Corona glaubte, sie habe den besten Ausweg aus der Schwierigkeit gefunden, und Orsino sah zuftiedengestellt aus, denn er nickte nachdenklich mit dem Kopfe und sagte Nichts. Der Tag war völlig mit Hin- und Herreden über seinen Entschluß, in der Stadt zu bleiben, ausgefüllt wor­ den, und er war des ewigen Fragens und Antwortens müde. Er kannte seine Mutter genau und war geneigt, ihren Rath für jetzt anzunehmen. Sie ihrerseits erzählte Giovanni, was sie gethan hatte, und er war damit einver­ standen, sich die Sache noch etwas länger mit anzusehen, ehe er sich ins Mittel legte. Schon die Idee einer ge­ schäftlichen Beziehung zu Del Ferice war ihm höchst wider­ wärtig; er fürchtete aber, es möchte mehr hinter dem An­ scheine der geschäftlichen Unparteilichkeit stecken, als er oder Orsino selbst beurtheilen könnten. Je mehr Orsino Erfolg

hatte, desto unzufriedener war sein Bater, und sein Ver­ dacht war nicht unbegründet. Er wußte durch San Giacinto, daß ein guter Erfolg im Baugeschäfte kaum noch vorkam, und wußte auch, daß aller Fleiß und alle That­ kraft Orsinos nicht genügt haben würden, seiner Uner­ fahrenheit das Gegengewicht zu halte». Auch Andrea Contini war von Del Ferice empfohlen worden, und war muchmaßlich Del Ferices Mann. Am folgenden Tage fuhren Giovanni und Corona mit den drei jüngeren Söhnen hinauf nach Saracinesca, Orsino

46 zu seiner großen Genugthuung in dem mächtigen Pataste allein zurücklassend. Er war sehr mit sich zufrieden, namentlich deßhalb, weil er seinen Willen durchgeseht hatte. In seinem Alter und mit seiner Körperbeschaffenheit war ihm die Hitze äußerst gleichgültig, und mit Entzücken sah er einem Sommer voll ununterbrochener Arbeit in der nicht unwillkommenen Gesellschaft Andrea Continis entgegen. Was die Arbeit selbst betrifft, so übte sie, seit er sie besser verstand, eine förmliche Zauberwirkung auf ihn aus. Die Liebe zum Bauen, die Leidenschaft für Stein und Ziegel und Mörtel, ist manchen Naturen angeboren, und kann zu einer Manie werden, die von wirklichem Wahnsinne nicht mehr weit entfernt ist. Orsino fing an, sich ernstlich zu fragen, ob es für ihn schon zu spät sei, die Baukunst als Beruf zu studieren, und inzwischen lernte er in Praxi von Andrea Contini mehr, als er auf irgend einer polytechnischen Hochschule Europas in der doppelten Zeit hätte lernen können. Er gewann Contini selber immer lieber, wie die Tage

vorüberzogen. Bisher war er sehr geneigt gewesen, seine eigenen Landsleute von seiner Stellung aus zu beurtheilen. Nun fing er an, zu sehen, daß er von der wirklichen, von fremdem Blute unbeeinflußt gebliebenen Italienernatur wenig oder Nichts gewußt hatte. Dieses Studium fesselte ihn und gefiel ihm. Nur eine unangenehme Erinnerung störte gelegentlich seinen Seelenfrieden. Wenn er an sein letztes Zusammentreffen mit Maria Consuelo dachte, so haßte er sich wegen der Rolle, die er gespielt hatte, obgleich er von seinen einmal angenommenen Grundsätzen aus dirchaus nicht im Stande war, für die Strenge seiner Sclbstverurtheilung Rechenschaft abzulegen.

47 Drittes Kapitel.

Natürlich führte Orfino ein einförmiges Leben, ob­ gleich feine Beschäftigung ihn völlig in Anspruch nahm. Sehr früh am Morgen war er mit Contini auf dem Bau; dann verbrachte er die heißen Stunden des Tages im Comptoir, welches, wie früher, in einem der unvollendeten Häuser eingerichtet war. Gegen Abend ging er in die Stadt hinunter nach Hause, erfrischte sich nach seinem langen Tagewerke, und lief dann oder fuhr bis halb Neun, wo er zum Abendbrod im Garten eines großen Restaurants am Corso ging. Hier traf er einige Bekannte, die, wie er, Gründe hatten, noch in der Stadt zu bleiben, nachdem ihre Familien verreist waren. Er setzte sich immer an das­ selbe Tischchen, an dem kaum Platz für zwei Personen war; denn er wollte lieber allein sein und forderte selten einen vorübergehenden Freund auf, sich bei ihm hinzusetzen. An einem heißen Abende zu Anfang August hatte er gerade seinen Platz eingenommen, und überlegte, ob er hungrig genug sei, um Etwas zu essen, oder ob es be­ quemer wäre, ein Glas Eiscaffee zu trinken und wegzu­ gehen, als er einen schmächtigen Schatten bemerkte, der durch das funkelnde elektrische Licht quer über das weiße Tischtuch geworfen wurde. Er blickte auf und sah Spicca da stehen, der offenbar nicht wußte, wo er Platz nehmen sollte, da das Lokal voller als gewöhnlich war. Orsino hatte den schwermüthigen Greis lieb, und bot ihm einen Platz an seinem Tische an. Spicca zögerte einen Augenblick und nahm dann die Einladung an. Er legte seinen Hut auf einen Stuhl neben sich, und lehnte sich augenscheinlich erschöpft an Geist oder Körper, vielleicht auch an beiden, in seinem Stuhle zurück.

48 „Ich bin Ihnen sehr verbunden, mein lieber Orsino," sagte er.

„Einer ungewöhnlich großen Anzahl von Leuten

muß man aus dem Wege gehen; gerade ebenso Vielen, als ich kenne, wahrhaftig, außer Ihnen."

„Es freut mich, daß Sie nicht auch mir aus dem Wege zu gehen wünschen," bemerkte Orsino, um doch auch Etwas zu sagen.

„Sie sind ein geringeres Uebel,

demnach wähle ich

Sie, um das größere zu vermeiden," antwortete Spicca. Der Blick aber in seinen eingesunkenen Augen war,

während er sprach, nicht unfreundlich. Er berührte leicht die große umflochtene Chiantiflasche,

die in ihrer schwingenden plattierten Wiege inmitten des

Tisches hing, und füllte zwei Gläser.

„Da Alles, was gut ist, zerstört worden ist, so wollen

wir," sagte er, „auf das geringste der Uebel trinken, mit anderen Worten, auf uns gegenseitig."

„Auf die Abwesenheit der Freunde," antwortete Orsino, den Wein mit den Lippen berührend. Spicca leerte langsam sein Glas, und sah ihn dann an.

„Der Toast gefällt mir," sagte er, „auf die Abwesen­ heit der Freunde.

„Jedenfalls haben Sie doch von Adam

und Eva im Paradiesgarten gehört.

Lehrt man jetzt noch

das liebe alte Märchen in den modernen Schulen?

Aber Sie haben es gehört, — schön.

Nein.

Sie werden sich er­

innern, daß, wenn die Beiden nicht der Schlange gestattet hätten, sich bei ihnen anzuvettern, unter dem Vorwande freundlicher Theilnahme an ihrer geistigen Entwicklung, so

würden Adam und Eva noch immer dabei sein, Namen für die engelhaften kleinen wilden Thiere zu erfinden, die

zu gesittet waren, um sie zu verspeisen.

immer

im

Paradiese

sein.

Außerdem

Sie würden noch

würden

Orsino

49 Saracinescä und John Nepomucene Spicca nicht in täg­ licher Gefahr sein, sich in dieser gemeinen Garküche zu ver­ giften. Kurzer Hand Hinauswerfen aus Eden war die erste Folge der Freundschaft, und die Ergebnisse find dem heutigen Tage ähnlich. Was für ein widerliches Futter sollen wir heut Abend verschlingen? Haben Sie die Karte schon angesehen?" Orfino lachte ein wenig. Er sah voraus, daß Spicca an diesem besonderen Abende kein langweiliger Gesellschafter sein werde. Wahrscheinlich war ihm während des Tages etwas ungemein Unangenehmes zugestoßen. Nach langem trübfinnigen Zögern bestellte er Etwas, was er für eßbar hielt, und Orfino folgte seinem Beispiele. „Sind Ihre Angehörigen alle fort?" fragte Spicca nach einer Pause. „Ja. Ich bin allein hier." „Und was in aller Welt fesselt Sie hier? Warum bleiben Sie hier? Ich will nicht zudringlich sein und litt nie an Neugierde. Die Fälle geistiger Verirrung werden aber mit jedem Tage häufiger, und als alter Freund Ihres Vaters kann ich Anzeichen des Wahnsinns bei Ihnen nicht stillschweigend übersehen. Ein wirklich vernünftiger Mensch vermeidet Rom im August." „Es fällt mir auf, daß ich zu Ihnen Dasselbe sagen könnte," antwortete Orfino. „Ich werde durch Geschäfte hier festgehalten. SieaberhabennichteinmaldieseEntschuldigung." „Woher wissen Sie das?" fragte Spicca bissig. „Das Geschäft hat zwei Hauptelemente: das Credit und das Debet. Das Eine bedeutet die Abwesenheit des Anderen. Ich überlasse es Ihrem lebhaften Verstände, zu bestimmen, welches von beiden im August Rom bedeutet, und welches Trouville oder St. Moritz bedeutet." lrrawford, Don Orsino. II.

4

50 Ich hatte es nicht von diesem Gesichtspunkte aus auf­ gefaßt." „Nein? Wirklich nicht? Ich denke beständig daran." „Es giebt noch andere Aufenthaltsorte, die näher liegen, als St. Moritz," wandte . Orsino ein„Warum gehen Sie nicht nach Sorrent?" „Ich hatte einst einen solchen Aufenthaltsort; aber meine Freunde haben ihn ausfindig gemacht. Trotzdem könnte ich dorthin gehen. Es ist besser, die Freundschaft geistig zu erleiden, als das Fieber körperlich. Ich habe aber einen Grund, um gerade jetzt hier zu bleiben, und zwar einen sehr triftigen." „Darf man, ohne zudringlich zu sein-------- ?" „Nein; gewiß nicht, ohne sehr zudringlich zu sein. Trinken Sie noch Etwas. Wenn der Rausch die Seligkeit ist, so ist es Thorheit, nüchtern zu sein, wie das Sprich­ wort sagt. Ich kann nicht trunken werden, aber Sie wer­ den es vielleicht, und das wird fast eben so belustigend sein. Der Hauptzweck beim Weintrinken ist der, daß der Eine vertraulich wird, worüber der Andere lachen kann; der Eine hat ganz denselben Genuß davon, wie der An­ dere." „Zch möchte lieber der Andere sein," sagte Orsino lachend. „Es ist in allen Fällen im Leben besser, der Andere zu sein," bemerkte Spicca nachdenklich, obgleich es der Be­ merkung an Schärfe fehlte. „Sie meinen den Leidenden und nicht den Wirkenden, nehme ich an?" „Nein, ich meine den Zuschauer. Der Zuschauer ist eine wohlgenährte, gleichgültige Persönlichkeit, die über das Schauspiel lacht und dann zum Abendeffen nach Hause

51 geht — verwünscht sei er und seine Art! Er ist der Gräuel der Verwüstung in einer Parterre-Loge, der zufieht, während bessere Männer als er sich gegenseitig die Hälse abschneiden. Er ist ein fetter Mann mit röthlicher Gesichtsfarbe und kleinen Augen, und wenn er die Mühen und Sorgen anderer Leute lange genug beobachtet hat, zieht er sich in sein behagliches Gewölbe in der Familien­ gruft auf dem Campo Varano zurück, die mit farbigen Ziegeln verziert, mit einem modernen Altarbilde verschö­ nert und mit einer Büste von ihm selber, einem Meister­ werke eines tüchtigen Bildhauers, geschmückt ist. Selbst im Tode ist er noch immer der Zuschauer, indem er durch das Fenster seines Heiligthums grinsend auf die langen Reihen namenloser Gräber draußen herniederschaut. Noch immer, sogar im Marmor noch, ist er glücklich und selbst« zufrieden. So ein Mann zu sein, ist des Lebens werth." „So ein Leben ist nicht sehr aufregend," bemerkte Orfino. „Nein. Das ist aber gerade das Schöne daran. Sehen Sie mich an. Mir ist es nie gelungen, solchen wohlhaben­ den, durch und durch würdigen Schurken nachzuahmen. Ich habe zu spät angefangen. Laffen Sie sich warnen, Orsino. Sie sind noch jung; werden Sie fett und sehen Sie dem Laufe der Welt zu; dann werden Sie glücklich sterben. Alle Lebensweisheit beruht darin. Mehlhaltige Nahrung, Geld und eine Frau. Das ist das Recept. Da Sie Geld haben, können Sie sich die Hafergrütze und die Zuneigung einer Frau kaufen. Verlieren Sie keine Zeit, sondern machen Sie schleunigst die Anlage." „Ich hörte Sie nie früher für die Ehe plädieren. Sie scheinen seit Kurzem Ihre Meinung geändert zu haben."

52 „Nicht im Geringsten. Ich unterscheide zwischen 93er« heirathetsein und Eine-Frau-nehmen; das ist Alles." „Eine recht feine Unterscheidung." „Der einzige Unterschied zwischen einem Gefangenen und seinem Kerkermeister ist der, daß sie sich auf verschiedenen Seiten derselben Mauer befinden. Gießen Sie sich etwas voller. Wir wollen auf den Mann der Außenseite trinken." „Mögen Sie nie die Innenseite kennen lernen," sagte Orfino. Spicca trank sein Glas aus und blickte ihn an, als er es wieder hinsetzte. „Mögen Sie nie erfahren, was es heißt, drinnen gewesen zu sein," sagte er. „Sie sprechen, als hätten Sie einige Erfahrung." „Ja, die habe ich; durch einen Bekannten von mir." „Das ist der angenehmsteWeg, Erfahrungen zu sammeln." „Ja wohl," antwortete Spicca mit gräßlichem Lächeln. „Vielleicht kann ich Ihnen einmal die Geschichte er­ zählen. Sie können daraus lernen. Sie endete ziemlich dramatisch, — insofern dabei überhaupt von Enden die Rede sein kann. Aber wir wollen nicht gerade jetzt davon sprechen. Hier kommt wieder ein Teller Gift! Nennen Sie das einen Fisch, Checco? Ach ja, ich sehe jetzt, daß Sie Recht haben; die Thatsache wird auf große Entfernung fichtbar. Nehmen Sic ihn weg. Wir sind alle sterblich, Checco, wir haben es aber nicht gern, so heftig daran er­ innert zu werden. Geben Sie mir eine Tomate und ein wenig Essig." „Und die Vögel, gnädiger Herr? Wollen Sie die nicht mehr?" „Die Vögel? Ja freilich; ich hatte sie ganz vergessen. Und noch eine Flasche Wein, Checco."

53 „Diese ist noch nicht leer, gnädiger Herr," bemerkte der Kellner, die binsenbedeckte Flasche hochhebend und ein wenig schüttelnd. Spicca goß schweigend beide Gläser noch einmal voll und überreichte ihm die leere Flasche. Er schien sehr durstig zu sein. Den Augenblick darauf bekam er seine Vögel. Sie erwiesen sich als eßbar; denn Wachteln find den ganzen Sommer hindurch in Italien zu Haden, und er fing an, schweigend zu essen. Orfino beobachtete ihn mit einer gewiffen Neugierde, erstaunt fich fragend, ob die Menge Wein, die er trank, nicht doch schließlich eine Wirkung hervor­ bringen würde. Bis jetzt jedoch war keine sichtbar; sein leichenhastes Gesicht war so blaß und ruhig, wie je, und seine eingesunkenen Augen hatten ihren gewöhnlichen Aus­ druck. „Und was macht Ihr Geschäft für Fortschritte, Orfino?" fragte er nach langem Schweigen. Orfino antwortete ihm ziemlich bereitwillig und gab ihm einen Bericht über sein Thun und Treiben. Er gerieth einigermaßen in Begeisterung, als er sein gegenwär­ tiges vielbeschäftigtes Leben mit seiner früheren Trägheit verglich. „Mir gefällt die Art, wie Sie es thaten, trotz aller Welt Abrathen," sagte Spicca freundlich. „Ein Mann, der durch den Papierreifen römischen Vorurtheils, ohne zu stolpern, hindurchspringen kann, muß gewandt sein und gute Beine haben. So hat Ihnen also Niemand ein Wort der Ermuthigung gesagt?" „Im Anfang nur eine einzige Person. Zch glaube, Sie kennen sie — Frau von Aranjuez. Ich pflegte sie ge­ rade damals öfters zu besuchen." „Frau von Aranjuez?" Spicca blickte scharf in die

54 Höhe und hielt sein Glas in der Hand, ohne es zum Munde zu führen. „Kennen Sie die Dame?" „Sehr genau sogar," antwortete der Greis, ehe er trank. „Sagen Sie mir, Orfino," fuhr er fort, als er den Trunk beendet hatte, „find Sie in jene Dame verliebt?" Orfino war durch die rückfichtslose Offenheit der Frage überrascht, jedoch zeigte er es nicht. „Nicht im Geringsten," antwortete er kühl. „Warum benahmen Sie sich dann aber so, als ob Sie es wären?" fragte Spicca, ihn mit einem durchbohrenden Blicke musternd. „Wollen Sie etwa sagen, daß Sie mich den ganzen Winter über beobachtet haben?" forschte Orfino, seine schwarzen Augenbrauen ziemlich zornig zusammenziehend. „Die Umstände machten es unvermeidlich, daß ich um Ihre Besuche wußte. Es gab eine Zeit, wo Sie sie täg­ lich sahen." „Ich weiß nicht, was das für Umstände, wie Sie es nennen, waren," antwortete Orfino. „Ich liebe es aber nicht, beobachtet zu werde», wäre es auch von meines Vaters alten Freunden.'' „Zügeln Sie Ihre Gereizheit, Orsino," sagte Spicca ruhig. „Das Streiten ist immer lächerlich, wofern nicht Jemand dabei getödtet wird, und dann ist es unschicklich. Wenn Sie die Natur meiner Bekanntschaft mit Maria Consuelo — ich meine, mit Frau von Aranjuez — verstünden, so würden Sie sehen, daß ich nicht unkundig Ihrer Be­ wegungen bleiben konnte, so wenig ich auch die Absicht hatte, den Spion gegen Sie zu spielen." „Ihre Bekanntschaft muß eine sehr nahe sein," be­ merkte Orsino, noch keineswegs zufriedengestellt.

55 „So nahe, daß sie mich berechtigt hat, sehr wunder­ liche Sachen auf Rechnung der Dame zu thun. Sie wer­ den mich, denke ich, nicht im Verdachte haben, daß ich an den Angelegenheiten anderer Leute überflüssigen und zu­ dringlichen Antheil nehme. Meine eigenen genügen mir vollständig. Zufällig find dieselben mit den Handlungen der Frau von Aranjuez auf's Engste verbunden, und waren das schon seit einer Reihe von Jahren. Die Thatsache, daß ich nicht wünsche, daß diese Verbindung bekannt wird, macht es für mich nicht leichter, zu handeln, wenn ich ge­ nöthigt bin, überhaupt einmal zu handeln. Es war keine müßige Frage, die ich an Sie richtete, als ich Sie fragte, ob Sie die Dame liebten." »Ich gestehe, daß ich die Lage überhaupt nicht ver­ stehe," sagte Orfino. „Nein. ES ist auch nicht leicht, sie zu verstehen, wenn ich Ihnen nicht den Schlüffe! dazu gebe. Und doch wissen Sie schon mehr davon, als irgend Jemand in Rom. Ich werde Ihnen sehr dankbar sein, wenn Sie mir noch einmal sagen wollen, was Sie wissen." „Sie können mir trauen," antwortete Orsino, der aus Spiccas Wesen erkannte, daß die Angelegenheit sehr ernst war. „Ich danke Ihnen. Ich sehe, daß Sie von der Vor­ stellung geheilt sind, ich hätte zu meinem eigenen Vergnü­ gen nichtswürdig den Spion gegen Sie gespielt." Orsino schwieg. Er dachte an das, was sich nach seinem Abschiede von Maria Consuelo zugetragen hatte. Tas geheimnißvolle Dienstmädchen, das sich als Maria Consuelos Wärterin oder Aufseherin bezeichnete, hatte viel­ leicht die Wahrheit gesprochen. Es war möglich, daß Spicca einer von den Aufsehern war, die einer unbekannten Person

56 gegenüber die Verantwortung für die Sicherheit der wahn­ sinnigen Dame trugen, und daß er demgemäß jeden Tag durch das Dienstmädchen von

dem Kommen und Gehen

der Besucher und von anderen weniger wichtigen Ereig­ nissen in Kenntniß gesetzt wurde. Andererseits schien es

sonderbar, daß es Maria Consuelo völlig freistehen sollte, überallhin zu gehen, wohin sie beliebte. Man konnte doch vernünftigerweise nicht annehmen,

daß sie einen Aufseher

in jeder größeren Stadt Europas habe.

Ze mehr er an

diese Unwahrscheinlichkeit dachte, desto weniger verstand er den wirklichen Sachverhalt. „Ich nehme an, ich darf nicht hoffen,

daß Sie mir

mehr mittheilen werden," sagte er.

»Ich sehe nicht ein, weßhalb ich das thun sollte," ant­ wortete Spicca,

wiederum trinkend.

„Ich habe eine zu­

dringliche Frage an Sie gestellt und habe Ihnen eine Er­ die Sie so freundlich waren,

an­

zunehmen.

Wir wollen nicht mehr darüber sprechen.

Es

ist besser,

man vermeidet unangenehme Gesprächsgegen­

klärung dafür gegeben,

stände." „Ich möchte Frau von Aranjuez nicht einen unange­

nehmen Gesprächsgegenstand nennen," bemerkte Orsino. „Warum haben Sie dann so plötzlich aufgehört, sie zu

besuchen?" fragte Spicca. „Aus dem besten aller Gründe.

Weil sie sich wieder­

holt weigerte, mich zu empfangen."

Er war jetzt weniger

geneigt, sich beleidigt zu fühlen, als fünf Minuten vorher.

„Ich sehe,

daß Ihre Kenntniß der Dinge keine vollstän­

dige war."

„Nein. Das habe ich nicht gewußt. Sie muß einen guten Grund gehabt haben, um Sie nicht zu empfangen." „Möglicherweise."

57 „Sie können aber nicht ahnen, was das für ein Grund war?" „Ja und nein. Es hängt von ihrem Charakter ab, den ich nicht beanspruchen kann, völlig zu verstehen." „Ich verstehe ihn gut genug. Ich kann mir denken, was vorgefallen ist. Sie haben ihr den Hof gemacht, und eines schönen Tages, als sie sah, daß Sie den Kopf ver­ loren, hat sie ruhig ihrem Dienstmädchen den Auftrag ge­ geben, Ihnen zu sagen, sie sei nicht zu Hause, wenn Sie vorsprächen. Ist es nicht so?" „Möglicherweise. Sie sagen ja, daß Sie sie genau kennen, dann wissen Sie ja, ob sie so handeln würde, oder nicht." „Ich sollte es woht wissen. Ich glaube, sie würde so gehandelt haben. Sie ist nicht wie andere Frauen, sie hat nicht dasselbe Blut." „Wer ist sie?" fragte Orsino, mit einer plötzlichen Hoffnung, er würde die Wahrheit erfahren können. „Eine Frau, ein gut Theil besser als die Uebrigen; dazu eine Wittwe, die Wittwe eines Mannes, der, Gott sei Dank, nie ihr Gatte gewesen ist." Langsam füllte und leerte Spieca seinen Becher zum zehnten Male. „Das Uebrige ist ein Geheimniß," fügte er hinzu, als er ausgetrunken hatte. Die tiefen, eingesunkenen Augen starrten in Orsinos Augen mit einem Ausdrucke voll unerklärlichen Grauens, so daß der junge Mann auf den Gedanken kommen mußte, die reichlichen Trankspenden fingen an, eine Wirkung auf den widerstandsfähigen alten Kopf hervorzubringen. Spieca saß, nachdem er gesprochen hatte, einige Minuten ganz still da und lehnte sich dann mit einem tiefen Seufzer in sei­ nem Rohrstuhle zurück. Auch Orsino seufzte, gewissermaßen

58 aus unbewußtem Mitgefühl; denn selbst wenn man Spiccas natürliche Schwermuth mit in Anschlag brachte, war das Geheimniß offenbar ein sehr unangenehmes. Er versuchte, der Unterhaltung eine andere Wendung zu geben, allerdings nicht ohne die Hoffnung, es unversehens wieder auf die Frage zurückzubringen, an der ihm besonders gelegen war. „Und so haben Sie wirklich die Absicht, den ganzen Sommer hier zu bleiben?," bemerkte er, indem er sich eine Cigarette anzündete und auf die Leute, die an einem Tische hinter Spicca saßen, Zeinen Blick warf. Spicca gab zunächst keine Antwort, und als er es that, hatte seine Erwiderung mit Orsinos fragender Be­ merkung Nichts zu thun. „Die Dinge, die wir in unserem Leden gethan haben, werden wir nie los," sagte er träu­ merisch. „Wenn ein Mann Samen sät auf einem Acker­ felde, so werden einige von den Körnern von Vögeln aufge­ pickt, und einige keimen nie. Wir sind viel vollkommener organisiert, als das Erdreich. Die Handlungen, die wir in unsere Seelen säen, schlagen alle Wurzeln, unvermeid­ lich und schicksalsschwer; und sie wachsen alle, früher oder später, zur Reife heran." Orsino starrte ihn einen Augenblick an. „Sie sind heute Abend in philosophischer Stimmung," sagte er. „Wir sind nur der Logik Bauern," fuhr Spicca fort, ohne die Bemerkung zu beachten. „Oder, wenn Ihnen das besser gefällt, so sind wir des Teufels Schachfiguren in seiner Partie gegen Gott. Wir sind dazu geschaffen, uns ein Jeder in seiner eigenen Weise zu bewegen. Der Eine mit kurzen, unregelmäßigen Schritten in jeder Rich­ tung; der Andere in langen, geraden Linien zwischen dem Ausgangspunkte und dem Zuchthause; der Eine steht, still, wie der König im Schachspiele, und bewegt sich nie, wenn

59 er nicht dazu getrieben wird; der Andere springt ungleichmätzig, wie das Rößlein. Es macht keinen Unterschied. Wir nehmen eine gewiffe Anzahl anderer Figuren weg, und dann werden wir selber weggenommen, immer von dem Widersacher, und bei Seite"aus dem Spiele herausgestoßen. Dann aber ist es leicht, das Gleichniß völlig durchzuführen, weil das Spiel selber von den Leuten, die es erfunden haben, auf die Thatsachen des Lebens gegründet wor­ den ist." „Ohne Zweifel," sagte Orsino, besten Theilnahme nicht sehr angeregt war. „Jawohl. Sie brauchen nur den einzelnen Figuren die Namen von Männern und Frauen, die Sie kennen, zu geben, und die Gesellschaft als die Bauern zu bezeichnen, so werden Sie sehen, wie sehr das Schachspiel dem wirk­ lichen Leben ähnlich sein kann. Der König und die Königin auf beiden Seiten find ein verheirathetes Paar. Natürlich ist das Hauptstreben jeder Königin, den anderen König zu bekommen, und alle ihre Freunde helfen ihr — Springer, Läufer, Thürme und die ganze Bauerngesellschaft. Sehr ähnlich dem wirklichen Leben? Nicht wahr? Warten Sie, bis Sie verheirathet sind/' Spicca lächelte grimmig und trank wieder einmal. „Darin wenigstens haben Sie keine persönliche Erfah­ rung," warf Orsino ein. Aber Spicca lächelte nur wieder und gewährte keine Antwort. „Kommt Frau von Aranjuez nächsten Winter wieder hierher?" fragte der junge Mann. „Frau von Aranjuez wird wahrscheinlich wieder hier­ her kommen, da sie völlige Freiheit hat, sich nach ihrem Geichmacke zu richten," antwortete Spicca mit Nachdruck.

60 „Hoffentlich ist sie jetzt außer Gefahr," sagte Orsino ruhig. Er hatte sich zu einem kühneren Angriffe entschlossen, als er bis jetzt unternommen hatte. „In was für einer Gefahr ist sie jetzt?" fragte Spicca gelassen. „Das müssen Sie doch sicher wissen." „Ich verstehe Sie nicht. Sprechen Sie klar und offen, wenn Sie es ernst meinen." „Ehe sie abreiste, sprach ich noch einmal bei ihr vor. Als ich herauskam, traf mich ihr Dienstmädchen auf dem Hotelkorridor und theilte mir mit, daß Frau von Aranjuez nicht ganz bei gesundem Verstände sei, und daß sie, das Mädchen, in Wahrheit ihre Wärterin oder Pflegerin oder wie Sie es immer nennen wollen, sei." Spicca lachte herbe. Niemand konnte sich erinnern, ihn vielmals lachen gehört zu haben. „Oh, das hat sie gesagt, wahrhaftig?" Es schien ihm großen Spaß zu machen. „Jawohl," fügte er sofort hinzu, „ich denke, Frau von Aranjuez wird noch vor Weihnachten außer aller Ge­ fahr sein." Orsino war verwirrter, als je. Er war fast sicher, daß Spicca die Behauptung des Dienstmädchens nicht als ernst ansah, und in diesem Falle war es, wenn er freund­ schaftliche Theilnahme für Maria Consuelo hegte, unglaub­ lich, daß ihm Etwas Spaß zu machen schien, was auf Seiten einer Dienstperson, zu der man Vertrauen hegte, zum mindesten ein sehr gefährlicher Streich der Tücke war. „So ist also an jenes Weibes Angabe nichts Wahres?" fragte er. „Frau von Aranjuez schien mir völlig bei Verstände, als ich sie das letzte Mal sah," antwortete Spicca gleich­ gültig.

61 „Welches denkbare Interesse konnte denn aber das Mädchen daran haben, die Lüge zu erfinden?" „Ach, welches Interesse? Das ist eine ganz andere Sache, wie Sie sagen. Vielleicht ist es nicht ihr eigenes Interesse gewesen." „Sie glauben, daß Frau von Aranjuez sie so instruiert habe?" „Nicht nothwendigerweise. Irgend sonst Jemand hat die Idee vielleicht ausgeheckt, die der eigenen Zustimmung der Dame unterlag." „Und sie sollte ihre Zustimmung gegeben haben? Das glaube ich nicht." „Mein lieber Orsino, die Welt ist voll von solchen scheinbar unwahrscheinliche» Dingen, daß es immer über­ eilt ist, irgend Etwas beim ersten Hören nicht zu glauben. Es ist thatsächlich viel weniger störend, Alles, was Einem gesagt wird, ohne Frage anzunehmen." „Natürlich, wenn Sie mir positiv sagen, daß sie für wahnsinnig gehalten werden will,-------- " „Ich sage nie etwas positiv, namentlich nicht, wenn es sich um eine Frau handelt, und am allerwenigsten in Bezug aus die in Rede stehende Dame, die ohne Zweifel überspannt ist." Statt sich zu langweilen, fühlte Orsino, wie seine Neugierde wuchs, und that ein vorschnelles Gelübde, um jeden Preis die Wahrheit ausfindig zu machen. Es war unbegreiflich, so dachte er, daß Spicca seine geistigen Fähig­ keiten noch immer völlig in der Gewalt haben sollte, in Anbetracht dessen, was er getrunken hatte. Die zweite Karaffe wurde bereits leicht, und Orsino selber hatte nicht mehr als zwei oder drei Gläser getrunken. Nun hält eine Chiantikaraffe nie weniger als zwei Quart. Ueberdies war

62 Spicca im Allgemeinen ein sehr mäßiger Mann. Es war sicher anzunehmen, daß er den betäubenden Wirkungen des Weines nicht mehr lange würde Widerstand leisten können, und dann würde er wahrscheinlich mittheilsam werden. Aber Orfino hatte sich in seinem Manne verrechnet. Spiccas Nerven, überreizt durch irgend eine unbekannte Störung in seinen Angelegenheiten, befanden sich in jenem Zustande, in welchem weit stärkere Reizmittel, als Toskaner-Wein, wenig oder gar keine Wirkung auf das Gehirn ausüben. Orfino sah ihn an, und überlegte staunend, wie sich schon Viele staunend überlegt hatten, was für eine Art Leben der Mann außerhalb und jenseits der gesellschaft­ lichen Stellung, die ein Jeder sehen konnte, geführt haben mochte. Wenige Männer waren so gefürchtet worden, wie der berüchtigte Duellant, der mit den besten Schlägern in Europa gespielt hatte, wie die Katze mit der Maus. Und doch hatte er ebensoviel Achtung eingeflößt, wie Furcht. Ueber seinen Streitigkeiten hatte jene Art von Verhängniß geschwebt, die ihn vor dem Vorwurfe rettete, sie gesucht zu haben. Er war nie ein Spieler gewesen, wie bekannte Duellanten sonst sind. Er hatte sich nie aus persönlicher Abneigung oder Vorurtheil geweigert, für einen Anderen als Sekundant einzutreten. Niemand, Hoch oder Niedrig, Arm oder Reich, hatte sich je in einer vernünftig guten Sache vergebens an seine Hülfe gewandt. Was er aus Güte und Freundlichkeit gethan hatte, kam nach vielen Jahren zufällig an's Licht. Die meisten Leute aber waren der Meinung, er haste die Menschheit mit jener Art hoch­ herzigen Abscheus, der sich nie dazu herabläßt, einen nie­ drigen Vortheil anzunehmen. Bei seinen Zweikämpfen hatte er stets die äußerste Rücksicht auf seinen Gegner und die äußerste Gleichgültigkeit gegenüber seinem eigenen Vor-

63 theile bewiesen, wenn die Bedingungen festgesetzt worden waren. Vor Allem hatte er nie einen Mann durch Zufall getödtet. Das ist ein Verbrechen, welches die Gesellschaft nicht verleiht. Andererseits hatte er aber auch nie gefehlt, wenn er zu todten beabsichtigte. Seine Sprache war oft bitter, aber nie gehässig, und da er Nichts zu fürchten hatte, so war er ein sehr wahrhafter Mensch. Jedoch war er auch zurückhaltend und verschwiegen, und Niemand konnte sich rühmen, die Geschichte zu kennen, von der Alle ein­ stimmig sagten, daß sie einen so tiefen Einfluß auf sein Leben ausgeübt habe. Oft war er lange Zeiträume hin­ durch von Rom fern gewesen, und man hörte von ihm, daß er in mehr als einer europäischen Hauptstadt sich auf­ gehalten habe. Man hatte immer von ihm angenommen, daß er reich fei, jedoch war es seinen Freunden im Laufe der letzten drei Jahre klar geworden, daß er Nichts hatte. Das war im Allgemeinen Alles, was von John Nepomucene Grafen Spicca bekannt war, in der Gesellschaft, in der er mehr als die Hälfte seines Lebens zugebracht hatte. Während Orsino das blaffe und schwermüthige Gesicht vor ihm beobachtete, verglich er sich mit seinem Gefährten und fragte sich neugierig, ob irgend eine denkbare Reihe von Ereignissen ihn im gleichen Lebensalter in so einen Mann verwandeln könnte. Jedoch bewunderte und achtete er Spicca. Wie ein Knabe beneidete er den großen Duellan­ ten um seinen Ruhm, seine nie fehlende Geschicklichkeit, seine nie bebenden Nerven; er beneidete ihn sogar um die Furcht, die er denen einflößte, welche er nicht leiden mochte. Er dachte jetzt vielleicht weniger hoch von seinen Aus­ sprüchen, als damals, wo er in das Alter kam, sie zu ver­ stehen. Das jugendliche Zurschautragen des Cynismus hatte gut zu der aus dem Herzen quellenden Bitterkeit des

64 Greises gepaßt; aber der Stolz der Heranwachsenden Mann­ heit war geneigt, kindische Dinge bei Seite zu schieben, und hatte noch nicht derartig gelitten, daß er für wirkliches Leiden Verständniß gehabt hätte. Sechs Monate hatten einen Wandel in Orfino bewirkt, und in gewissem Sinne war es ein Wandel zum Befferen. Er war so glücklich gewesen, gleich beim ersten Versuche Erfolg zu haben, und seine vorübergehende Leidenschaft für Maria Consuelo hatte eigentlich weiter keine Spur in ihm zurückgelafsen, als ein gewiffes verwundertes Bedauern, daß sie nicht stärker ge­ wesen war, und die Erinnerung an ihr trauriges Gesicht beim Scheiden und an das Schluchzen, das er belauscht hatte. Obgleich er diesen keine andere Deutung, als die richtige, beilegen konnte, so dachte er doch im Laufe der dahinschwindenden Monate immer weniger daran, daß diese Thränen für ihn vergaffen worden waren. Daß Maria Consuelo oft in seinen Gedanken vorkam, war kein Beweis, daß er sie noch im Geringsten liebte. Es waren so viele wunderliche Umstände mit ihrer Be­ kanntschaft verknüpft gewesen, daß sie jedes gewöhnlichen Menschen Theilnahme wachgerufen hätten. Und gerade jetzt hatten Spiccas seltsame Andeutungen und halb aus­ gesprochene Vertraulichkeiten eine fast unerträgliche Neu­ gierde in seinem Zuhörer erregt. Spicca aber schien nicht geneigt, sie noch ferner zu befriedigen. Wenigstens waren ein oder zwei Puntte klargestellt. Maria Consuelo war nicht geistig gestört, wie das Dienst­ mädchen behauptet hatte. Ihre Ehe mit dem verstorbenen Aranjuez war nur dem Namen nach eine Ehe gewesen, wenn sie sich überhaupt bis zu dieser Stufe erhoben hatte. Schließlich war es klar, daß sie in einer sehr nahen Be­ ziehung zu Spicca stand, und daß weder sie, noch er

65 wünschte, daß diese Thatsache bekannt würde. Allem An­ scheine nach hatten sie es während des vergangenen Win­ ters sorgfältig vermieden, sich zu treffen, und Niemand in der römischen Gesellschaft wurde es gewahr, daß sie auch nur bekannt mit einander seien. Orfino erinnerte sich an mehr als eine Gelegenheit, wo Eines von ihnen in Gegen­ wart des Anderen erwähnt worden war. Er hatte ein gutes Gedächtniß, und er erinnerte sich, daß ein kaum merklicher Wechsel in dem Benehmen oder der Unterhal­ tung des Einen stattgefunden hatte, wenn es den Namen des Anderen hörte. Es schien ihm sogar, daß Maria Consuelo in solchen Augenblicken einen Anflug von Verdruß gezeigt habe, während Spicca eine schwache Andeutung einer Erregung, die mehr der Ungeduld glich, hatte merken laffen. Wenn das richtig war, so bewies es, baß Spicca der Maria Consuelo freundlicher gesinnt war, als sie ihm. Allerdings hatte Spicca an diesem besonderen Abende etwas bitter von ihr gesprochen; aber Spicca war immer bitter. Seine letzte Bemerkung hatte besagt, daß sie excentrisch sei. Nach langem Schweigen, während dessen Orfino gehofft hatte, sein Freund würde noch Etwas sagen, griff er diesen Punkt auf. „Ich wünschte, ich wüßte, was Sie unter excen­ trisch verstehen," sagte er. „Ich hatte den Vorzug, Frau von Aranjuez häufig zu sehen, und ich habe Nichts von excentrischem Wesen an ihr wahrnehmen können." „Ach, Sie sind vielleicht kein Beobachter. Oder, wie Sie andeuten, meinen wir vielleicht nicht Dasselbe." „Deßhalb möchte ich gern Ihre Begriffsbestimmung hören," bemerkte Orsino. „Die Welt ist ganz toll auf Begriffsbestimmungen," antwortete Spicca. „Es ist seliger zu definieren, als sich definieren zu lassen. Es ist etwas Erfreuliches, zu seinem Crawsord, Do» Orsino. II. 5

66 Feinde zu sagen: ,Herr, Sie sind ein Schurke'. Wenn aber Ihr Feind Daffelbe zu Ihnen sagt, dann todten Sie ihn ohne Zaubern oder Bedauern, was, wie ich glaube, ein Beweis ist, daß Sie mit seiner Definition von Ihnen nicht zufrieden find. Sie sehen, eine Definition ist schließlich eine Sache des Geschmacks. Da nun unser Geschmack viel­ leicht nicht übcreinstimmt, so möchte ich heute Abend lieber keine Definition geben. Ich glaube, ich bin mit dieser Karaffe fertig. Wir wollen unsern Kaffee trinken. Den können wir im Voraus definieren, da wir durch tägliche Erfahrung wissen, wie verteufelt schlecht er ist." Orsino sah, daß Spicca die Absicht hatte, die Unter­ haltung nach einer anderen Richtung abzulenken. „Darf ich eine ernste Frage an Sie richten?" fragte er, sich vorwärts beugend. „Mit ei» wenig Offenherzigkeit können Sie sogar ein Dutzend Fragen, und alle von gleichem Ernste, an mich richten, mein lieber Orfino. Ich kann aber nicht ver­ sprechen, daß ich sie alle zusammen oder jede besonders be­ antworten werde. Wie Sie wissen, bin ich nicht all­ wissend." „Meine Frage lautet so. Ich habe allerdings kein Recht, sie zu stellen. Das weiß ich. Sind Sie mit Frau vou Aranjuez nahe verwandt?" Spicca sah ihn neugierig an. „Würde Ihnen die Be­ lehrung irgend wie von Nutzen sein?" fragte er. „Würde ich Ihnen einen Dienst erweisen, indem ich Ihnen sagte: Ja, wir sind, oder nein, wir sind nicht verwandt?" „Offen gestanden, nein," antwortete Orsino, den scharf musternden Blick aushaltcnd, ohne zu zucken. „Dann sehe ich keinen Grund, weßhalb ich Ihnen die Wahrheit sagen soll," erwiderte Spicca ruhig. „Ich will

67 Ihnen aber ein Stück allgemeiner Belehrung zukommen lassen. Wenn jener Dame durch irgend welchen Mann, wer es auch sei, ein Leid zugefügt wird, so werde ich ihn ganz sicher todten, selbst wenn ich auf den Kampfplatz ge­ fahren werden müßte." Der Ton, in dem die Drohung ausgesprochen wurde, war nicht mißzuverstehen. Spicca redete mit innerster Ueberzeugung, obgleich auch nicht eine Sylbe lauter als die anderen gesprochen wurde. In seinem Munde hatten die Worte eine furchtbare Kraft und sagten Orfino von des Mannes wahrer Natur mehr, als er in Jahren davon kennen ge­ lernt hatte. Es war nicht leicht, einen Eindruck auf Orsino zu machen, und er war sicherlich nicht furchtsam, weder geistig noch körperlich: überdies stand er in der ersten Blüthe des Lebens und war im Gebrauche der Waffen nicht weniger erfahren, als andere Männer. Aber er fühlte in jenem Augenblicke, daß er unendlich lieber ein Regiment Artillerie als Einzelner angreifen möchte, als dazu auf­ gerufen zu werden, mit dem leicheuhaften, alten Invaliden, der da auf der anderen Seite des Tisches saß, die Degen zu kreuzen. „Es steht nicht in meiner Macht, Frau von Aranjuez irgend einen Schaden zuzufügen," antwortete er stol; genug; „auch sollten Sie wissen, daß ich, auch wenn ich dazu im Stande wäre, es unmöglich beabsichtigen könnte. Deßhalb hat Ihre Drohung für mich keine Be­ deutung." „Sehr gut, Orfino. Ihr Vater würde auch so geant­ wortet haben; Sie sind überzeugt von dem, was Sie sagen. Wenn ich noch jung wäre, würden wir, glaube ich, gute Freunde sein. Zum Glück für Sie beträgt der Unterschied in unseren Lebensaltern vierzig Jahre, so daß Sie der Ausbürdnng einer solchen Last, wie es meine Freundschaft

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sein würde, entgehen. Sie müssen es übel genug vermerkt haben, daß Sie meine Gesellschaft haben geduldig ertragen müssen." „Sprechen Sie doch nicht so," antwortete Orsino. „Die Welt ist doch nicht lauter Essig." „Nun, nun — Sie werden es schon seinerzeit heraus­ finden, was die Welt ist. Und vielleicht werden Sie noch viele andere Dinge herausfinden, die Sie zu wissen wün­ schen. Ich muß jetzt fort, denn ich habe Briefe zu schreiben.

Checco! Meine Rechnung." Fünf Minuten später trennten sie sich.

Viertes Kapitel.

Wenn sich auch Orsinos Charakter unter den neuen Umständen, die er für sich geschaffen hatte, schnell ent­ wickelte, so war er doch nicht alt genug, um gegen vor­ übergehende Eindrücke beständig auf der Hut zu sein; noch weniger ließ es sich erwarten, daß er durch die Erfahrung hätte gegen sie abgehärtet sein sollen, wie es andere Männer von Natur aus sind. Seine Unterredung mit Spicca und dessen Benehmen während derselben brachte eine entschiedene Wirkung auf den Gang seiner Gedanken hervor, und zu seinem Erstaunen fand er, daß er jetzt öfter und ernstlicher an Maria Consuelo dachte, als während der Monate, die ihrer Abreise von Rom gefolgt waren. Spiccas Worte hatten indirekt auf seinen Geist gewirkt. Vieles, was der Greis gesagt hatte, war darauf berechnet, Orsinos Neu­ gierde wachzurufen; jedoch war Orsino von Natur nicht neugierig, und wenn er auch fühlte, daß es sehr anziehend sein würde, Maria Consuelos Geschichte kennen zu lernen, so bestand doch das Hauptergebniß der halb vertraulichen

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sein würde, entgehen. Sie müssen es übel genug vermerkt haben, daß Sie meine Gesellschaft haben geduldig ertragen müssen." „Sprechen Sie doch nicht so," antwortete Orsino. „Die Welt ist doch nicht lauter Essig." „Nun, nun — Sie werden es schon seinerzeit heraus­ finden, was die Welt ist. Und vielleicht werden Sie noch viele andere Dinge herausfinden, die Sie zu wissen wün­ schen. Ich muß jetzt fort, denn ich habe Briefe zu schreiben.

Checco! Meine Rechnung." Fünf Minuten später trennten sie sich.

Viertes Kapitel.

Wenn sich auch Orsinos Charakter unter den neuen Umständen, die er für sich geschaffen hatte, schnell ent­ wickelte, so war er doch nicht alt genug, um gegen vor­ übergehende Eindrücke beständig auf der Hut zu sein; noch weniger ließ es sich erwarten, daß er durch die Erfahrung hätte gegen sie abgehärtet sein sollen, wie es andere Männer von Natur aus sind. Seine Unterredung mit Spicca und dessen Benehmen während derselben brachte eine entschiedene Wirkung auf den Gang seiner Gedanken hervor, und zu seinem Erstaunen fand er, daß er jetzt öfter und ernstlicher an Maria Consuelo dachte, als während der Monate, die ihrer Abreise von Rom gefolgt waren. Spiccas Worte hatten indirekt auf seinen Geist gewirkt. Vieles, was der Greis gesagt hatte, war darauf berechnet, Orsinos Neu­ gierde wachzurufen; jedoch war Orsino von Natur nicht neugierig, und wenn er auch fühlte, daß es sehr anziehend sein würde, Maria Consuelos Geschichte kennen zu lernen, so bestand doch das Hauptergebniß der halb vertraulichen

69 Aeußerungen des Grafen darin, daß sie die Dame selber ihm sehr lebhaft in's Gedächtniß zurückriefen. Anfänglich erstreckte sich seine Erinnerung lediglich auf die endlosen Einzelheiten seiner Bekanntschaft mit ihr, die das Haupt­ moment der ersten Saison gebildet hatte, welche er un­ unterbrochen in Rom und der römischen Gesellschaft zuge­ bracht hatte. Er war überrascht über die außerordentliche Genauigkeit der herausbeschworenen Bilder, und fand Ver­ gnügen daran, wenn er allein und unbeschäftigt war, sie heraufzuzaubern. Die Vorgänge selber waren vielleicht nicht alle erfreulich gewesen; jedoch war auch nicht einer darunter, an den er sich nicht mit einer gewissen angeneh­ men Aufregung erinnert hätte. Einige von ihnen hatten etwas Trauriges an sich, und mehr als einmal war das Traurige mit etwas Demüthigendem gemischt. Jedoch ließ sich auch die Demüthigung leicht ertragen. Wenn er es auch nicht klar ausdachte, so war es ihm doch ganz un­ möglich, an Maria Consuelo zu denken, ohne bei dem Ge­ danken eine vorübergehende Empfindung von Glück zu fühlen; denn das Glück kann mit der Traurigkeit leben, wenn es das Größere der Beiden ist. Er empfand kein Verlangen, diese Erregungen genauer zu prüfen. Es kam ihm thatsächlich nicht in den Sinn, daß sie der Prüfung wenh seien. Sein Verstand war mehr mit seiner Arbeit beschäftigt, und sein Sinn und Grübeln über Maria Con­ suelo füllte hauptsächlich seine Mußestunden aus. Die Tage vergingen anfänglich schnell; dann aber, als der September kam, schienen sie länger zu werden, statt kürzer. Orsino fing an, zu wünschen, der Winter möchte kommen, damit er die Frau Wiedersehen könnte, an die er beständig dachte. Mehr als ein Mal hatte er den Gedan­ ken, an sie zu schreiben; denn er hatte die Adresse in den

70 Händen, die ihm das Dienstmädchen gegeben hatte, eine Adresse in Paris, die gar Nichts besagte, eine bloße Haus­ nummer mit dem Namen der Straße. Er war gespannt, ob sie ihm antworten würde, und als er die selbstbefriedi­ gende Ueberzeugung erreicht hatte, daß sie es thun würde, schrieb er endlich einen Brief, wie ihn jede beliebige Person an eine andere hätte schreiben können. Er erzählte ihr von dem Wetter, von der Langweiligkeit Roms, von seiner Hoff­ nung, sie möchte früh, im Anfänge der Saison, zurück­ kehren, und von seinen eigenen täglichen Beschäftigungen. Es war eine einfach ausgedrückte, natürliche, und durch­ aus nicht sentimentale Epistel, sehr unähnlich der eines Mannes, der auch nur im Geringsten in seinen Gegen­ korrespondenten verliebt ist, und doch fühlte Orsino beim Schreiben eine seltsame Empfindung von Vergnügen, und als er ihn mit eigener Hand in den Kasten steckte, empfand er zu seiner Ueberraschung ein plötzliches krampfartig zucken­ des Glücksgefühl. Auch als er den Brief weggeschickt hatte, vergaß er ihn nicht, wie man sonst die gleichgültigen Briefe vergißt, die man genöthigt ist, aus Höflichkeit zu schreiben. Er hoffte auf eine Antwort. Selbst wenn sie in Paris wäre, (und es war nicht wahrscheinlich, daß sie zu Beginn des Septembers in der Stadt war), konnte man kaum erwar­ ten, daß sie umgehend antworten würde. Orsino berechnete die Zeit, welche nöthig war, um einen Brief von Paris bis zu dem entferntesten Theile des von Reisenden besuch­ ten Europas zu befördern, gestattete ihr drei Tage für die Antwort, nnd weitere drei Tage dafür, daß ihr Brief ihn erreichte. Die Zwischenzeit verfloß, aber es kam Nichts. Darauf fühlte er sich beleidigt nnd schließlich wurde er ängstlich. Entweder war Maria Consuelo Etwas zuge-

71 stoßen, oder er hatte sie unabsichtlich durch das, was er geschrieben hatte, irgendwie verletzt. Er besaß keine Ab­ schrift von dem Briefe und konnte sich auch nicht eines ein­ zigen Satzes erinnern, der ihr Mißfallen hätte erregen können; jedoch fürchtete er, es möchte sich Etwas hinein­ geschlichen haben, was sie mißverstehen konnte. Dieser Ge­ danke war aber doch zu albern, als daß er ihn lange hätte sesthalten können, und die Ueberzeugung wurde immer stärker in ihm, daß sie krank oder in irgend einer großen Unruhe sein müsse. Er war ganz bestürzt über seine eigene Aengstlichkeit. Drei Wochen waren vergangen, seit er geschrieben hatte, und noch hatte ihn kein Wort der Erwiderung er­ reicht. Da suchte er Spicca auf und fragte ihn kühn, ob Maria Consuelo Etwas zugestoßen sei, indem er gleichzeitig erläuternd hinzufügte, daß er an sie geschrieben und keine Antwort bekommen habe. Spicca sah ihn einen Augenblick neugierig an. „Ihr ist Nichts zugestoßen, soviel ich weiß," sagte er fast unmittelbar darauf. „Ich habe sie heute früh gesehen." „Heute früh!" Orsino war fast sprachlos vor Ueber« raschung. „Jawohl. Sie ist hier und sieht sich nach einer Woh­ nung um, wo sie Den Winter zubringen könnte." „Wo wohnt sie?" Spicca nannte das Hotel, indem er hinzufügte, daß Orsino sie während der heißen Stunden des Nachmittags wahrscheinlich zu Hause antreffen werde. »Ist sie schon lange hier?" fragte der junge Mann. „Seit drei Tagen." „Ich will sofort hingehen und ffe besuchen. Vielleicht kann ich ihr helfen, eine Wohnung zu finden."

72 „Das würde sehr freundlich von Ihnen sein," bemerkte Spicca, ihn ziemlich nachdenklich betrachtend. Am folgenden Nachmittage stellte sich Orfino im Hotel ein und fragte nach Frau von Aranjuez. Sie empfing ihn in einem Zimmer, das von dem, welches sie während des letzten Winters zu ihrem Wohnzimmer gemacht hatte, nicht sehr verschieden war. Wie immer, waren ein oder zwei neue Bücher und das geheimnißvolle silberne Papiermesser die einzigen ihr selbst gehörigen Gegenstände, die man sehen konnte. Jedoch achtete Orfino kaum auf diese That­ sache; denn sie war schon im Zimmer, als er eintrat, und seine Augen trafen sofort die ihrigen. Es kam ihm vor, als sehe sie nicht so kräftig aus, wie ftüher; jedoch war die Hitze groß und konnte leicht als Ursache ihrer Bläffe gelten. Ihre Augen waren tiefer und die rothbraune Farbe derselben erschien dunkler. Ihre Hand war kalt. Sie lächelte matt, als sie Orfino entgegentrat, sagte aber Nichts und setzte sich in einiger Entfernung von den Fenstern nieder. „Ich habe erst gestern Abend gehört, daß Sie in Rom sind," sagte er. „Und Sie find sofort gekommen und haben mich be­ sucht. Besten Dank. Wie haben Sie es herausgefunden?" „Spicca hat es mir gesagt. Ich hatte ihn um Nach­ richten von Ihnen gefragt." „Warum gerade ihn?" erkundigte fich Maria Consuelo mit einiger Neugierde. „Weil ich glaubte, er wiffe es vielleicht," antwortete Orfino, leicht über die Frage hinweggleitend. Er wünschte nicht, daß Maria Consuelo auch nur eine Ahnung davon habe, daß Spicca mit ihm von ihr gesprochen habe. „Der Grund,

73 weßhalb ich mich um Sie geängstigt habe, war, daß ich einen Brief an Sie geschrieben hatte. Ich schrieb vor einigen Wochen an Ihre Adreffe in Paris und bekam keine Antwort." „Sie haben geschrieben?" Maria Consuelo schien überrascht. „Ich bin nicht in Paris gewesen. Wer hat Ihnen die Adreffe gegeben? Wie lautete sie?" Orsino nannte die Straße und die Hausnummer. „Ich habe einmal, vor zwei Jahren, kurze Zeit dort gewohnt. Wer gab Ihnen die Adreffe? Graf Spicca?" „Nein." Orsino zauderte, mehr zu sagen. Er wollte nicht gern zugeben, daß er die Adreffe von Maria ConsueloS Dienst­ mädchen erhalten habe; auch würde es unglaublich er­ scheinen, daß ihm die Person unaufgefordert die Belehrung sollte haben zu Theil wLrden lassen. Gleichzeitig stimmte die Thatsache, daß die Adreffe unter allen Umständen eine falsche und unbrauchbare war, zu der aus freien Stücken erfolgten Angabe des Mädchens bezüglich der Geistesgestörtheit ihrer Herrin. „Warum wollen Sie es mir nicht sagen?" fragte Maria Consuelo. „Die Antwort schließt eine Frage in sich, die mich Nichts angeht. Die Adreffe ist mir offenbar gegeben wor­ den, um mich zu täuschen. Die Person, die sie mir ge­ geben hat, hat auch den Versuch gemacht, mich in einer viel wichtigeren Angelegenheit zu hintergehen. Wir wollen nicht mehr davon sprechen. Natürlich haben Sie den Brief nicht bekommen?" „Selbstverständlich nicht." Es folgte ein kurzes Schweigen, das Orsino als ziem­ lich ungeschickt empfand. Maria Consuelo sah ihn plötzlich an. „Hat es Ihnen mein Mädchen gesagt?" fragte sie.

74 „Za, — da Sie mich danach fragen. Sie trat mir nach meinem letzten Besuche bei Ihnen im Korridor ent­ gegen und drängte mir die Adreffe auf." „Ich habe mir's wohl gedacht," sagte Maria Consuelo. „Sie haben sie schon vorher im Verdachte gehabt?" „Worin bestand die andere Täuschung?" „Das ist eine ernstere Sache. Die Person ist Ihre mit Vertrauen behandelte Dienerin. Wenigstens müssen Sie ihr getraut haben, als Sie sie nahmen-------- " „Das folgt nicht nothwendig daraus. Was hat sie Ihnen weiszumachcn versucht?" „Es fällt mir schwer, es Ihnen zu sagen. So weit ich mir eine Vorstellung machen kann, ist sie vielleicht so unterwiesen worden; vielleicht auch haben Sie sie selber unterwiesen. Man stolpert manchmal im Leben über merk­ würdige Dinge." „Sie haben sich selbst einmal meinen Freund genannt, Don Orsino." „Wenn Sie mir das gestatten wollen, will ich mich noch immer so nennen." „Dann im Namen der Freundschaft, sagen Sie mir, was die Person gesagt hat!" Maria Consuelo sprach plötz­ lich sehr energisch, indem sie seinen Arm rasch mit einer unbewußten Handbewegung berührte. „Werden Sie mir denn Glauben schenken?" „Sind Sie gewöhnt, Zweifeln zu begegnen, daß Sie danach fragen?" „Nein. Diese Sache aber ist sehr sonderbar." „Lassen Sie mich nicht lange warten — es verletzt mich!" „Die Person trat mir in den Weg, als ich weggehen wollte. Ach hatte nie mit ihr gesprochen. Sie wußte meinen

75 Namen. Sie sagte mir, Sie seien — wie soll ich mich aus­ drücken? — geistig gestört." Maria Consuelo fuhr in die Höhe und wurde sehr blaß. „Sie hat Ihnen gesagt, ich sei verrückt?" Ihre

Stimme sank zum Flüstern herab. „Das ist es, was sie sagte." Orfino beobachtete sie genau. Offenbar glaubte sie ihm. Dann sank sie mit einem erstickten Schrei des Grauens in ihren Stuhl zurück und bedeckte ihre Augen mit den Händen. „Und Sie haben das glauben können!" rief sie aus. „Sie haben es wirklich glauben können — Sie!" Der Schrei kam ihr aus dem Herzen, und würde Orsino gezeigt haben, welches Gewicht sie noch immer seiner guten Meinung beilegte, wäre seine Aufmerksamkeit nicht zu tief und zu plötzlich für die Hauptfrage in Anspruch genommen worden, als daß er Einzelheiten hätte beachten können. „Sie machte die Angabe sehr klar und deutlich," sagte er. „Was kann sie mit der Lüge bezweckt haben?" „Was sie bezweckt hat? Ja, ,— wenn ich das wüßte---------" Maria Consuelo erhob sich und durchschritt das Zim­ mer, das Haupt gesenkt und die Hände nervös zusammen­ ballend und auseinanderspreizend. Orsino stand neben dem leeren Kamin und beobachtete sie. „Natürlich werden Sie die Person wegschicken?" sagte er in fragendem Tone. Sie jedoch schüttelte den Kopf und ihre Angst schien zu wachsen. „Ist es möglich, daß Sie sich so Etwas wollen von einem Dienstboten gefallen lassen?" fragte er voll Er­ staunen.

76 ,,Jch habe mir schon viel gefallen lassen," antwortete sie mit leiser Stimme. „Das Unvermeidliche, natürlich. Ein Mädchen aber zu behalten, das Sie jeden Augenblick wegjagen kön­ nen, ---------" „Ja, — kann ich es denn?" Sie blieb stehen und sah ihn an. ,,OH, wenn ich es nur könnte — — wenn Sie wüßten, wie ich die Person hasse---------" „Dann aber-------- " „Ja?" „Wollen Sie mir etwa sagen, daß Sie gewiffermaßen in ihrer Macht find, so daß Sie gebunden sind, sie immer zu behalten?" Maria Consuelo zögerte einen Augenblick. „Sind Sie in ihrer Gewalt?" fragte Orsino zum zweiten Male. Der Gedanke war ihm widerwärtig, und seine schwarzen Augenbrauen zogen sich ziemlich zornig zu­ sammen. „Nein, nicht direkt. Sie ist mir aufgedrängt." „Durch die Umstände?" „Nochmals nein; durch eine Person, welche die Macht hat, mir Vieles aufzudrängen. Aber so Etwas! Oh, dieses ist fast zu viel! Verrückt genannt zu werden!" „Dann unterwerfen Sie sich ihm doch nicht." Orsino sprach entschieden, mit einer Art gebietender Festigkeit, die ihn selbst überraschte. Er war über die ihm so plötzlich enthüllte Lage, unbestimmt wie sie war, höchst erstaunt, und richtig zornig. Er sah, daß er an ein großes Leiden rührte, und seine angeborene Energie gebot ihm, es mit fester Hand anzugreifen, und womöglich auszu­ rotten. Einige Minuten lang sprach Maria Consuelo nicht,

77 sondern fuhr fort, augenscheinlich in großer Augst, das Zimmer abzuschreiten. Dann blieb sie vor ihm stehen. „Für Sie ist es leicht zu sagen: .Unterwerfen Sie sich nichts wo Sie die Sachlage nicht verstehen," sagte sie. „Wenn Sie wüßten, wie ich lebe, so würden Sie diese Sache anders ansehen. Ich muß mich unterwerfen; ich kaun nicht anders." „Wenn Sie mir nur etwas mehr mittheilen möchten, so könnte ich Ihnen vielleicht helfen," antwortete Orfino. „Sie?" Sie wartete einen Augenblick. „Ich glaube, Sie würden es thun, wenn Sie könnten," fügte sie nach­ denklich hinzu. „Sie wiffeu, daß ich es thun würde. Vielleicht kann ich es, gewissermaßen, in Unwissenheit thun, wenn Sie mich leiten wollen." Ein plötzlicher Lichtstrahl glühte in Maria Consuttos Augen auf und erstarb ebenso schnell, wie er gekommen war. „Was könnten Sie denn schließlich thun?" fragte sie mit verändertem Tone, als ob sie irgendwie enttäuscht wäre. „Was könnten Sie thun, was nicht auch Andere ebenso gut thun würden, wenn sie könnten, und mit besserem Rechte?" „Wie kann ich es wissen, wenn Sie es mir nicht sagen?" „Ja, wenn ich es Ihnen sagen könnte." Sie ging und setzte sich auf ihren früheren Platz, und Orsino nahm einen Stuhl neben ihr. Er hatte erwartet, er würde die Bekanntschaft in einer ganz anderen Weise wieder auffrischen, er würde eine halbe Stunde bei Maria Consuelo damit hinbringen, daß er von Wohnungen spräche, von der Hitze, und von den Orten, die sie besucht hatte. Statt deffen hatten die Umstände ihr Gespräch zu einem

78 sehr intimen gemacht, an dem beide den lebhaftesten An­ theil nahmen. Orsino fand, daß er Vieles vergeft'en hatte, was ihm jetzt wnnderbar gut gefiel, wo es ihm wieder vor die Augen trat. Am meisten, so schien es, hatte er vergeffen, daß eine unaufgeklärte geistige Uebereinstimmung ihn zu ihr und sie zu ihm hinzog. Er wunderte sich über die Kraft derselben und fand es schwer verständlich, wie jenes letzte Zusammentreffen im Frühling hatte stattfinden können. „Ist es irgendwie möglich, Ihnen zu helfen, ohne daß ich Ihr Geheimniß weiß?" fragte er mit leiser Stimme. „Nein. Aber ich danke Ihnen für die freundliche Ab­ sicht." »Ist ganz sicher keine Möglichkeit? ganz sicher?" „Ganz sicher." „Darf ich Etwas sagen, was mir eben in den Sinn kommt?" „Sagen Sie, was Sie wollen." „Es ist ein Komplott gegen Sie. Sie scheinen davon zu wissen. Haben Sie nie daran gedacht, Ihrerseits ein Komplott zu bilden?" „Ich habe Niemanden, der mir hilft." „Sie haben mich, wenn Sie meine Hülfe annehmen wollen. Und Sie haben Spieea. Sie könnten es bester treffen. Wir beide zusammen könnten Etwas ausrichten." Bei Spiccas Namen war Maria Consuelo in die Höhe gefahren. Sie schien an jenem Tage sehr nervös zu sein. „Wiffen Sie, was Sie da sagen?" fragte sie nach kurzem Nachdenken. „Nichts wenigstens, was Sie beleidigen könnte." „Nein, das nicht. Sie machen aber den Vorschlag, daß ich mich mit dem Manne verbünden soll, den ich Grund habe, vor allen Anderen zu hassen."

79 „Sie Haffen Spicca?" Orfino fiel aus einer Verwun­ derung in die andere. „Ob ich ihn Haffe, oder nicht, ist eine andere Frage. Ich sollte es aber thun." „Er jedenfalls haßt Sie nicht." „Ich weiß, daß er es nicht thut. Das macht es für mich nicht leichter. Ich könnte seine Hülfe nicht annehmen." „Das Alles ist so geheimnißvoll, daß ich nicht weiß, was ich sagen soll," sagte Orfino, in Gedanken versunken. „Die Thatsache bleibt bestehen, und fie ist schlimm genug. Sie brauchen nothwendig Hülfe. Sie sind in der Macht eines Dienstboten, der zu Ihren Freunden sagt, daß Sie geistig gestört seien, und Ihren Freunden falsche Adreffen aufdrängt, die mir völlig unklar find." „Auch mir, obgleich ich Etwas ahnen kann." „Es wird immer schlimmer. Sie können nicht einmal die Beweggründe jener Person mit Sicherheit feststellen, obgleich Sie Denjenigen oder Diejenigen, von denen fie Ihnen aufgezwungen ist, sehr genau kennen. Sie selber können sie nicht loswerden, und einem Anderen wollen Sie nicht gestatten, Ihnen zu helfen." „Nicht dem Grafen Spicca." „Uud doch bin ich sicher, daß er viel für Sie thun würde. Können Sie mir nicht wenigstens sagen, warum Sie ihn hassen oder Haffen sollten?" Maria Consuelo zauderte und sah einen Augenblick Orsino in die Augen. „Kann ich Ihnen trauen?" fragte sie. „Unbedingt." „Er hat meinen Gemahl getödtet." Orsino ließ einen leisen Ausruf des Entsetzens hören. In dem tiefen Schweigen, welches folgte, hörte er, wie Maria Consuelo ein oder zweimal den Athem scharf durch

80 die zusammengebifsenen Zähne zog, als ob sie einen großen Schmerz empfände. „Ich wünsche nicht, daß es bekannt wird," sagte sie sofort, mit veränderter Stimme. „Ich weiß nicht, weßhalb ich es Ihnen gesagt habe." „Sie können mir trauen." „Das muß ich — da ich gesprochen habe." In der Ueberraschung, die durch die aufregende Mit­ theilung verursacht wurde, fühlte Orfino plötzlich, daß seine Fähigkeit, Mitgefühl zu empfinden, zu mächtiger Ausdeh­ nung herangewachsen war. Wäre er ein Weib gewesen, so hätten ihm die Thränen in den Augen gestanden. Da er war, was er war, so fühlte er fie in seinem Herzen. Es war klar, daß sie de» Todten sehr innig geliebt hatte. Im Lichte dieser augenscheinlichen Thatsache gesehen, ließ sich ihr Betragen gegen Orfino im Laufe des Winters und ganz besonders bei ihrem letzten Zusammentreffen schwer erklären. Lange Zeit sprach wieder Keines von ihnen. Orsino hatte in der That zunächst Nichts zu sagen, denn Nichts, was er sagen konnte, wäre, so wie die Sache aussah, von irgend welchem Nutzen gewesen. Er hatte erfahren, daß in Maria Consuelos Leben Etwas, was einem Trauerspiele gleich sah, vorgekommen sei, und nun sah es aus, als lerne er die erste Lektion der Freundschaft, in der das Mitgefühl gelehrt wird. Das war keine Gelegenheit, um nichtssagende Redensarten zu machen, um sein Bedauern über ihren Ver­ lust auszudrückcn, und die Sprache, deren er bedurfte, um seine Empfindungen auszudrücken, war seinen Lippen nicht geläufig. Daher schwieg er; sein jugendliches Gesicht aber war ernst und gedankenvoll, und seine Augen suchten von Zeit zu Zeit die ihrigen, als versuche er, ihre Wünsche zu entdecken und vorwegzunehmen. Endlich warf fie rasch

81 einen flüchtigen Blick auf ihn, sah dann zur Erde und redete ihn schließlich an. „Sie werden es mich nicht be­ reuen laffen, daß ich Ihnen Dies gesagt habe, nicht wahr?" fragte sie. „Nein; das verspreche ich Ihnen." Soweit Orsino die Worte verstehen konnte, bedeuteten sie sehr wenig. Er war in der Regel nicht sehr mittheil­ sam, und würde gewiß nicht Jemandem wiedersagen, was er gehört hatte, so daß sich das Versprechen leicht geben und leicht halten ließ. Wenn er es nicht brach, so konnte er keinen weiteren Grund erkennen, weßhalb sie ihr Ver­ trauen zu ihm hätte bedauern sollen. Um sie jedoch noch mehr zu beruhigen, hielt er es für das Beste, das, was er gesagt hatte, noch einmal mit anderen Worten zu wieder­ holen. „Sie können ganz sicher sein," sagte er, „daß Alles, was Sie mir mitzutheilen belieben, bei mir in sicherer Ob­ hut steht. Und auch dessen können Sie sicher sein, daß, wenn es in meiner Macht steht, Ihnen einen Dienst irgend welcher Art zu leisten, Sie mich zur Hülfe bereit finden werden." „Ich danke Ihnen," antwortete sie, ihn ernst anblickend. „Mag die Angelegenheit wichtig oder unbedeutend sein," fügte er hinzu, ihren Augen begegnend. Vielleicht erwartete sie, mehr Neugierde aus seiner Seite zu finden, und bildete sich ein, er würde einige weitere Fragen thun. Er verstand die Bedeutung ihres Blickes nicht. „Ich glaube Ihnen," sagte sie endlich. „Ich habe einen Freund zu sehr nöthig, um gegen Sie Bedenken zu hegen." „Sic haben einen gefunden." „Ich weiß nicht. Ich bin nicht sicher. Es find noch r a iv rc rb, Ten Trfinc.

II.

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82 andere Dinge-------- " sie hielt plötzlich inne und blickte hinweg. „Was für andere Dinge?" Aber Maria Consuelo antwortete nicht. Orfino wußte, daß sie an Alles dachte, was einst zwischen ihnen vorge­ fallen war. Er hätte gern gewußt, ob sie, wenn er den Anfang dazu machte, ihn so bedrängen würde, wie sie bei ihrem letzten Beisammensein gethan hatte. Wenn sie es thäte, so hätte er gern gewußt, was er dazu sagen würde, Er war damals sehr kalt gewesen, viel kälter, als er jetzt war. Er fühlte sich jetzt zu ihr hingezogen, wie in den ersten Tagen ihrer Bekanntschaft. Er fühlte, daß er nahe daran sei, sie zu verstehen, daß er aber noch immer auf Etwas wartete, was ihm helfen sollte, jenen Standpunkt zu erreichen. „Was für andere Dinge?" fragte er, seine Frage noch einmal aussprechend. „Sind Sie der Ansicht, es seien Gründe vorhanden, die mich hindern könnten, Ihnen ein aufrichtiger Freund zu sein?" „Ich fürchte, es giebt welche. Ich weiß nicht. „Ich glaube, Sie irren sich, gnädige Frau. Wollen Sie einige von diesen Gründen, oder auch nur einen, nennen?" Maria Consuelo antwortete nicht sogleich. Sie warf einen Blick auf ihn, sah zur Erde nieder, und dann trafen sich ihre Augen wieder. „Glauben Sie, daß Sie so ein Mann sind, wie eine Frau ihn sich zum Freunde wählt?" fragte sie endlich mit schwachem Lächeln. „Ich habe über die Angelegenheit nicht nachge­ dacht -------- " „Das hätten Sie aber thun sollen, ehe Sie Ihre Freundschaft anboten." „Weßhalb? Wenn ich aufrichtiges Mitgefühl für Ihre

83 unangenehme Lage empfinde, wenn ich Ihnen —" er zau­ derte und wog seine Worte vorsichtig ab, „persönlich zuge­ than bin, warum soll ich Ihnen nicht helfen können? Ich bin ehrlich und in vollem Ernst. Darf ich das von mir behaupten?" „Ich glaube, ja." „Dann kann ich nicht einsehen, warum ich nicht die Art Mann sein soll, den eine Frau als Freund annehmen könnte, wenn ein Befferer nicht zur Stelle ist." „Und Sie glauben an Freundschaft, Don Orfino?" fragte Maria Consuelo ruhig. „Ich habe sagen hören, daß es heutzutage nicht weise sei, an irgend Etwas nicht zu glauben," antwortete Orsino. „So ist es. — Und das Wort .Freund' hat so einen hübschen Klang!" sie lachte, zum ersten Male, seitdem er das Zimmer betreten hatte. „Dann find Sie die Ungläubige, gnädige Frau. Ist das nicht ein Zeichen, daß Sie überhaupt keinen Freund nöthig haben, und daß Ihre Fragen gar nicht ernst ge­ meint find?" „Vielleicht. Wer weiß?" „Wiffen Sie es denn selber?" „Nein." Wieder lachte sie etwas und wurde dann Plötzlich ernst. „Ich habe nie eine Frau gekannt, die einen Freund dringender nöthig gehabt hätte, als Sie," sagte Orsino. „Ich verstehe Ihre Lage nicht im Mindesten. Das Wenige, was Sie mir mitgetheilt haben, macht es klar genug, daß in Ihrem Leben ungewöhnliche Umstände geherrscht haben, und noch immer herrschen. Einen davon sehe ich deutlich. Jene Person, die Sie Ihr Dienstmädchen nennen, ist Ihnen gegen Ihren Willen aufgezwungen, um Sie zu bewachen, 6»

84 und hat das Vorrecht, Lügen über Sie zu erzählen, die Ihnen großen Schaden zufügen können. Ich frage nicht, warum Sie genöthigt find, ihre Anwesenheit zu dulden, ich sehe aber, daß Sie es müssen, und kann mir denken, daß es Ihnen verhaßt ist. Würde es ein Akt der Freund­ schaft sein, Sie von ihr zu befreien, oder nicht?" „Gegenwärtig würde es nicht ein Akt der Freundschaft sein," antwortete Maria Consuelo nachdenklich. „Das ist sehr seltsam. Wollen Sie damit sagen, daß Sie fich freiwillig unterwerfen?"-------„Die Person ist eine mir auferlegte Bedingung. Ich kann Ihnen nicht mehr sagen." „Und kein Freund, keine freundliche Hülfe kann ver­ muthlich die Bedingung ändern?" „Das habe ich nicht gesagt. Solche Hülfe aber geht über Ihre Macht, Don Orsino," fügte sie hinzu, sich ziem­ lich plötzlich nach ihm umwendend. „Davon wollen wir nicht mehr sprechen. Glauben Sie mir, es kann Nichts geschehen. Sie sind manchmal sonderbar mit mir verfahren; ich glaube aber wirklich, Sie würden mir helfen, wenn Sie könnten. Dies möge der Zustand unserer Bekanntschaft sein. Sie sind willig, und ich glaube, daß Sie es sind. Das soll unser Bündnißvertrag sein, und Nichts weiter. Vielleicht aber können Sie mir in einer anderen, weniger wichtigen Weise behülflich sein. Ich brauche eine Wohnung irgend welcher Art für den Winter, denn ich bin es müde, in Hotels herumzukampieren. Sie, der Sie Ihre Vater­ stadt so gut kennen, können mir Jemanden nennen, der mir die Sache besorgt." „Den kenne ich ganz genau," jagte Orsino eilfertig. „Wollen Sie mir die Adrest'e aufschreiben?" „Das ist nicht nöthig. Ich spreche von mir selbst."

85 „Ich darf Ihnen nicht so viel Mühe machen," pro­ testierte Maria Consuelo. Jedoch nahm sie nach einigem Zögern an. Eine Zeit lang erörterten sie die etwaigen Vorzüge der verschiedenen Viertel der Stadt, Beide viel­ leicht froh, einen fast gleichgültigen Gesprächsgegenstand gefunden zu haben, und Beide verhältnißmäßig glücklich, wieder einmal mit einander zusammen zu sein. Das Ge­ spräch bildete einen jener ruhevollen Zwischenakte, die so nothwendig und oft so schwer herbeizuführen sind, zwischen zwei Leuten, deren Gedanken sich um ein starkes, gemein­ sames Interesse drehen, und die es schwierig finden, ein halbes Dutzend Worte auszutauschen, ohne zu dem Alles verzehrenden Hauptgegenstande zurückgeführt zu werden. Was gesprochen worden war, hatte auf Orfino eine entschiedene Wirkung ausgeübt. Er war hergekommen in der Erwartung, die Bekanntschaft auf einem neuen Fuße wieder aufzunehmen, es waren aber noch nicht zehn Mi­ nuten verstrichen, so fand er sich von Maria Consuelos Persönlichkeit so lebhaft angezogen, wie nur je, und von ihrem Leben weit mehr, als je zuvor. Während er mehr oder minder gleichgültig über die Aussichten sprach, eine passende Wohnung für den Winter sicher zu stellen, lauschte Orsino mit einem seltsamen Gefühle des Entzückens auf jeden Laut der Stimme seiner Gefährtin und beobachtete jeden wechselnden Ausdruck ihres Aufsehen erregenden Gesichls. Es wunderte ihn, ob er nicht doch vielleicht dazu bestimmt sein möchte, sie so aufrichtig zu lieben, wie er sie schon in kindischer, launischer Weise, wie sie ihm jetzt nicht mehr zu Gesicht gestanden haben würde, geliebt hatte. Für jetzt aber war er sicher, baß er sie nicht liebe, und daß er Nichts weiter wünsche, als daß sie Theilnahme für ihn, und er Theilnahme für sie empfände. Dies waren die

86 Worte, deren er sich bediente, und er erläuterte sie seinem eigenen Verständnisie nicht gerade sehr bestimmt und ein­ gehend. Jedoch war er sich bewußt, daß sie jetzt mehr be­ deuteten, als früher. Daffelbe aber galt von fast Allem, was in sein Leben eintrat, weßhalb er dieser Thatsache kein besonderes Gewicht beimaß. Er war in Allem viel ernster, als damals, wo er Maria Consuelo zuerst begegnet war; er war jetzt fähig, tiefer zu empfinden, fester zu beschließen, und in allen Sachen entschiedener zu handeln, und wenn er es sich auch nicht selber sagte, so bemerkte er doch darum die Veränderung nicht weniger. „Wollen wir eine Verabredung für morgen treffen?" fragte er, nachdem sie einige Zeit geplaudert hatten. „Ja — aber es ist da eine Sache, nach der ich Sie hatte fragen wollen------- " „Was ist das?" forschte Orsino, da er sah, daß sie zauderte. Ein schwaches Roth stieg in ihren Wangen auf, sie sah ihm aber gerade in die Augen, mit einer Art Furcht­ losigkeit, als ob sie einer Gefahr in's Auge sähe. „Sagen Sie mir," sprach sie, „wird es nicht hier in Rom, wo Alles bekannt wird und Jedermann so viel schwatzt, für auffällig angesehen werden, daß Sie und ich zusammen herumfahren und uns nach einem Hause für mich umsehen? Bitte, sagen Sie mir die Wahrheit." ,sWas können die Leute sagen?" fragte Orsino. ,.Vielerlei. Werden sie es sagen?" „Wenn sie es thun, kann ich sie zum Schweigen bringen." „Das bedeutet, daß sie reden werden; nicht wahr? Würde Ihnen das lieb sein?" Ihr Gesicht war plötzlich ganz verändert, und ihr Blick drückte Zweifel und Angst aus. Orsino sah es und fühlte,

87 daß sie ihn auf sein Ehrgefühl prüfte, und daß ihr Zweifel, welcher Art er auch sein mochte, mit ihrem Vertrauen zu ihm Nichts zu thun hatte. Ein halbes Jahr früher würde er nicht gezögert haben, ihr zu beweisen, daß ihre Befürch­ tungen grundlos seien, jedoch hatte er das Gefühl, daß sie ein halbes Jahr früher seinen Auseinandersetzungen viel­ leicht nicht nachgegeben haben würde. Dieses Gefühl war instinktiv, sein Instinkt aber irrte sich nicht. „Sie haben, glaube ich, Recht," sagte er langsam. „Wir sollten es lieber nicht machen. Ich werde meinen Baumeister mit Ihnen schicken." In seinem Tone lag so viel Bedauern, daß man er­ kennen konnte, er brachte ein beträchtliches Opfer. Etwas Zartheit bedeutet mehr, wenn sie von einem starken Manne kommt, als wenn sie der natürliche Ausdruck eines über­ feinerten und etwas weibischen Charakters ist. Und Orsino wuchs sich rasch zu einer Stärke aus, deren andere Leute wohl gewahr wurden. Maria Consuelo war zufrieden, ob­ gleich auch sie vielleicht den vorgeschlagenen Plan ungern aufgab. „Schließlich," sagte sie gedankenlos, „können Sie ja kommen und mich hier sehen, wenn —" Sie hielt inne und erröthete wieder, diesmal noch tiefer, jedoch wandte sie ihr Gesicht hinweg, und in dem Dämmerlichte war der Wechsel der Farbe kaum bemerkbar. „Sie wollten sagen: ,Wenn Ihnen daran liegt, mich zu sehen'," sagte Orsino. „Es freut mich, daß Sie es nicht gesagt haben. Es wäre nicht freundlich gewesen." „Ja wohl — das wollte ich sagen," antwortete sie ruhig. „Ich will es aber nicht." „Ich danke Ihnen." „Warum danken Sie mir?" „Weil Sie mich nicht verletzt haben."

88 „Glauben Sie, daß ich Sie mit Willen in irgend einer Weise verletzen möchte?" „Ich möchte es lieber nicht glauben. Früher einmal haben Sic es gethan." Die Worte glitten ihm von den Lippen, fast ehe er Zeit hatte, sich klar zu werden, was sie bedeuteten. Er dachte an die Nacht, wo sie das Droschkenfenster hochge­ zogen und ihn auf dem Pflaster stehen gelassen hatte, und an ihre wiederholten Weigerungen, ihn nachher vorzulassen. Es schien schon lange her, und die Verletzung war that­ sächlich nicht so scharf gewesen, wie er jetzt, wo er nach dem urtheilte, was er jetzt fühlte, sich einbildete, daß sie hätte sein müssen. Sie warf ihm einen schnellen Blick zu, als sei sie begierig, zu hören, was er zunächst sagen würde. „Ich habe nie die Absicht gehabt, unfreundlich zu sein," sagte sie. „Ich habe mich oft gefragt, ob Sie Dasselbe von sich sagen könnten." Nun war Orsino an der Reihe, die Farbe zu wechseln. Er war jung genug dazu, und das Blut stieg ihm lang­ sam in die dunklen Wangen. Er dachte wieder an ihr letztes Zusammentreffen und an das, was er gehört hatte, als sie an jenem Tage die Thür hinter ihm schloß. Viel­ leicht würde er diesem Gedanken Ausdruck gegeben haben, aber Maria Consuelo ärgerte sich über das, was sie gesagt hatte, auch schämte sie sich ein wenig über ihre Schwäche, wozu sie in der That einigen Grund hatte, und so fetjrte sie sofort zu einem früheren Punkte der Unterhaltung zu­ rück, der von dem, was zuletzt gesagt worden war, nicht allzuweit ablag. „Sie sehen," sagte sie, „ich hatte Recht, Sie zu fragen, ob die Leute schwatzen. Und ich bin Ihnen dankbar dafür, daß Sie mir die Wahrheit gesagt haben. Es ist ein erster Beweis von Freundschaft, von etwas

89 Besserem, als unsere alten Beziehungen waren. Wollen Sie morgen Ihren Baumeister herschicken, da Sie ja so freundlich sind, mir seine Hülfe anzubieten?" Nachdem man die Stunde der Zusammenkunft fest­ gesetzt hatte, erhob sich Orsino, um sich zu verabschieden. „Darf ich morgen kommen?" fragte er. „Die Leute wer­ den darüber nicht schwatzen," fügte er lächelnd hinzu. „Sie können nach mir fragen. Ich bin vielleicht aus­ wärts. Wenn ich zu Hause bin, werde ich mich freue», Sie zu sehen." Sie sprach kalt, und Orsino sah, daß sie über seine Schulter hinweg blickte. Er wandte sich um und sah in­ stinktiv, daß die Thür offen stand, und daß Spicca gerade draußen stand, hereinblickte, und augenscheinlich auf ein Wort von Maria Consuelo wartete, ehe er eintrat.

Fünftes Kapitel. Da Orsino durchaus keinen Grund hatte, Spicca aus dem Wege zu gehen, so wartete er natürlich einen Augen­ blick, statt das Zimmer sofort zu verlassen. Mit einer neuen Theilnahme blickte er den Greis an, als dieser weiter vorwärts kam. Nie hatte er gesehen, und wahrscheinlich sollte er auch nie wieder sehen, daß ein Mann die Hand einer Frau ergriff, deren Gatten er in's Grab gebracht hatte. Er stand etwas zurück, und Spicca ging an ihm vorbei, als er auf Maria Consuelo zuschritt. Orsino beob­

achtete die Gesichter der Beiden. Frau von Aranjuez streckte mechanisch und mit offen­ barem Widerstreben ihre Hand hin, und Orsino vermuthete, daß sie sie nicht gegeben haben würde, wenn nicht gerade er zugegen gewesen wäre. Der Ausdruck in ihrem Gesichte

89 Besserem, als unsere alten Beziehungen waren. Wollen Sie morgen Ihren Baumeister herschicken, da Sie ja so freundlich sind, mir seine Hülfe anzubieten?" Nachdem man die Stunde der Zusammenkunft fest­ gesetzt hatte, erhob sich Orsino, um sich zu verabschieden. „Darf ich morgen kommen?" fragte er. „Die Leute wer­ den darüber nicht schwatzen," fügte er lächelnd hinzu. „Sie können nach mir fragen. Ich bin vielleicht aus­ wärts. Wenn ich zu Hause bin, werde ich mich freue», Sie zu sehen." Sie sprach kalt, und Orsino sah, daß sie über seine Schulter hinweg blickte. Er wandte sich um und sah in­ stinktiv, daß die Thür offen stand, und daß Spicca gerade draußen stand, hereinblickte, und augenscheinlich auf ein Wort von Maria Consuelo wartete, ehe er eintrat.

Fünftes Kapitel. Da Orsino durchaus keinen Grund hatte, Spicca aus dem Wege zu gehen, so wartete er natürlich einen Augen­ blick, statt das Zimmer sofort zu verlassen. Mit einer neuen Theilnahme blickte er den Greis an, als dieser weiter vorwärts kam. Nie hatte er gesehen, und wahrscheinlich sollte er auch nie wieder sehen, daß ein Mann die Hand einer Frau ergriff, deren Gatten er in's Grab gebracht hatte. Er stand etwas zurück, und Spicca ging an ihm vorbei, als er auf Maria Consuelo zuschritt. Orsino beob­

achtete die Gesichter der Beiden. Frau von Aranjuez streckte mechanisch und mit offen­ barem Widerstreben ihre Hand hin, und Orsino vermuthete, daß sie sie nicht gegeben haben würde, wenn nicht gerade er zugegen gewesen wäre. Der Ausdruck in ihrem Gesichte

90 wurde rasch ein ganz anderer, als er während ihres Allein­ seins gewesen war, indem es sich sehr schnell derartig ver­ härtete, daß es Orsino an eine gewiße Maske der Medusa erinnerte, die einst einen tiefen Eindruck auf seine Phan­ tasie gemacht hatte. Ihre Augen waren starr, und die Sterne wurden klein, während die eigenthümliche goldgelbe Farbe der Regenbogenhaut unangenehm aufleuchtete. Sie neigte ihren Kopf nicht, als sie schweigend ihre Hand hin­ streckte. Auch Spicca schien für den Augenblick verändert; er war ebenso blaß und dünn, wie je, aber sein Gesichtsaus­ druck wurde merkwürdig sanft; gewisse Linien, die zu seinem gewöhnlich bitteren und spöttisch zweifelnden Ausdrucke bei­ trugen, verschwanden, während andere sichtbar wurden, die sein Aussehen völlig veränderten. Er verbeugte sich mit tieferer Ergebenheit, als er anderen Frauen gegenüber zur Schau trug, und Orsino bildete sich ein, er würde Maria Consuelos Hand gern einen Augenblick länger gehalten haben, wenn sie sie nicht sofort zurückgezogen hätte, sobald sie die feintgc berührt hatte. Wenn Orsino nicht schon gewußt hätte, daß Spicca sie oft besuchte, so wäre er, in Anbetracht dessen, was sie über den Mann gesagt hatte, höchst erstaunt über des Grafen Besuch gewesen. So, wie es lag, wunderte er sich, welche Macht Spicca besäße, daß er sie zwang, ihn zu empfangen; und er wunderte sich vergebens. Der Schluß, der sich ihm aufzwang, war, daß Spicca die Person sei, die Maria Consuelo das Dienstmädchen aufzwinge. An­ dererseits aber war ihr Benehmen gegen ihn nicht das einer Person, die durch Umstände gezwungen ist, sich dem lau­ nischen Gebote eines Anderen zu unterwerfen. Wenn man nach dem Aussehen der Beiden urtheilte, so schien es wahr-

91 scheinlicher, daß die Macht auf der anderen Seite lag, und gelegentlich erbarmungslos ausgeübt werden mochte. „Ich hoffe, ich störe Ihre Pläne nicht," sagte Spicca mit einem Tone, der fast demüthig und seiner gewöhnlichen Stimme sehr unähnlich war. „Wollten Sie zusammen aus­

gehen?" Er schüttelte Orfino die Hand, vermied aber dabei, wie es dem jungen Manne vorkam, ihm in's Auge zu sehen. „Nein," erwiderte Maria Consuelo rasch, „ich wollte nicht ausgehen." „Ich bin gerade im Begriffe, wegzugehen," sagte Orfino als Erklärung, und er that, als wollte er sich verabschieden. „Gehen Sie noch nicht," sagte Maria Consuelo. Ihr Blick machte die Worte zum Befehle. Spicca schielte von dem Einen zum Anderen mit einer Art unterwürfigen Einspruchs, und dann setzten fich alle Drei hin. Orfino wunderte fich, welche Rolle man von ihm erwartete, daß er in dem Terzett spielen sollte, und trotz des Jntereffes, das die Lage für ihn hatte, wünschte er sich hinweg. Maria Consuelo fing an, in sorglosem Tone zu plau­ dern, der ihn an das erste Zusammentreffen mit ihr in Gouaches Atelier erinnerte. Sie theilte Spicca mit, daß Oriino ihr seinen Baumeister als Führer auf ihrer Woh­ nungssuche versprochen habe. „Was für eine Art Mensch ist er?" forschte Spicca, augenscheinlich nur zu dem Zwecke, das Gespräch weiterzu­ führen. „Contini ist ein Geschäftsmann," antwortete Orsino. „Em wunderlicher Bursche voller Begabung, und ein musi­ kalisches Genie. Beim ersten Anblicke würde man nichts

92 Besonderes erwarten; er wird aber Alles besorgen, was Frau von Aranjuez nöthig hat." „Sonst würden Sie ihn wahrscheinlich nicht empfohlen haben," sagte Spicca. „Gewiß nicht," erwiderte Orsino ihn anblickend. „Sie müssen nämlich wissen, gnädige Frau," sagte Spicca, „daß Don Orsino ein ausgezeichneter Beurtheiler von Männern ist." Er betonte das letzte Wort in einer Weise, die ganz überflüssig erschien. Maria Consuelo hatte ihren Gleichmuth wiedergewonnen und lachte sorglos. „Wie Sie das sagen!" rief sie aus. „Zst es eine Warnung?" „Gegen was?" fragte Orsino. „Wahrscheinlich gegen Sie," sagte sie. „Graf Spicca liebt es, unbestimmte Winke auszustreuen; ich will ihm aber die Ehre anthun, zu sagen, daß sie gewöhnlich Etwas bedeuten." Sie fügte die letzten Worte ziemlich höhnisch hinzu. Ein schmerzlicher Zug glitt über des Greises Gesicht. Er sagte aber Nichts, obwohl es sonst nicht seine Art war, eine derartige Herausforderung ruhig auf sich sitzen zu lassen. Ohne den Grund seiner Erregung auch nur im Mindesten zu verstehen, that es doch Orsino leid um ihn. „Unter Männern legt man Gewicht darauf, Graf SpiccaS Meinung für sich zu haben," sagte er ruhig. Maria Consuelo sah ihn etwas überrascht an. Was er sagte, klang wie ein Verweis, und ihre Augen verriethen ihren Aerger. „Wie lieblich sich das anhört, wenn ein Mann den anderen vertheidigt!" lachte sie. „Ich glaube, Gras Spicca hat Vertheidigung nicht sehr nöthig," erwiderte Orsino, ohne seinen Ton zu ändern. „Er selber kann am besten darüber urtheilen."

93 Spicca erhob seine müden Augen zu den ihrigen und sah sie erst einen Augenblick an, ehe er antwortete. „Ja wohl," sagte er, „ich glaube, ich bin der beste Richter. Ich bin aber nicht daran gewöhnt, daß Jemand meine Verthei­ digung übernimmt, am wenigsten Ihnen gegenüber, gnä­ dige Frau. Die Empfindung ist mir ganz neu." Orfino fühlte sich sehr überflüssig. Er war Spicca aufrichtiger zugethan, als er selbst wußte, und wenn er auch zur selben Zeit nicht weit davon entfernt war, in Maria Consuelo ganz richtig verliebt zu sein, so mißfiel ihm doch der Ton, in dem sie zu dem alten Manne sprach, und der viel mehr ausdrückte, als ihre Worte; und er konnte nicht umhin, für seinen Freund Partei zu nehmen. Andererseits genügte die häßliche Thatsache, daß Spicca den Tod des Herrn von Aranjuez herbeigeführt hatte, sehr reichlich, um Maria Consuelos Haß gegen ihn zu rechtfer­ tigen. Hinter dem Allen steckte offenbar ein sehr triftiger Grund, weßhalb Spicca sie besuchte, und es bestand zwischen ihnen eine Verbindlichkeit, die es ihr unmöglich machte, seine Besuche abzulehnen. Auch war es klar, daß er trotz ihres Hasses eine Art starker Zuneigung zu ihr empfand. In ihrer Gegenwart tpar er seinem alltäglichen Selbst sehr unähnliche Wiederum machte Orsino eine Bewegung und sah sie an, als bäte er sie um Erlaubniß, weggehen zu dürfen. Sie aber verweigerte es mit einer gebieterischen Geberde und einem ärgerlichen Blicke. Sie wünschte offenbar nicht, mit dem Greise allein gelassen zu werden. Ohne diesem Letzteren noch ferner irgend welche Aufmerksamkeit zu wid­ men, fing sie an, mit Orsino zu plaudern. Sie gab sich gar keine Mühe, ihre Gefühle zu verbergen, und Orsino gewann allmählich den Eindruck, daß Spicca nach einer

94 Viertelstunde gegangen sein würde, wenn er nicht entweder eine Art von Recht besessen hätte, zu bleiben, oder wenn er nicht bei seinem Bleiben einen wichtigen Gegenstand im Auge gehabt hätte. „Ich vermuthe, in dieser Zeit des Jahres ist in Rom Nichts zu thun," sagte sie. Orsino entgegnete ihr, daß wirklich absolut Nichts zu thun sei. Nicht ein Theater sei offen, nicht ein Freund sei in der Stadt. Rom sei eine Wildniß. Rom sei ein Amphitheater an einem Tage, wo keine Vorstellung statt­ finde, wo die Löwen schliefen, die Gladiatoren tränken, und die Märtyrer keine Beschäftigung hätten. Er versuchte, etwas Erheiterndes zu sagen, und fand es schwer. Spicca war sehr geduldig, aber augenscheinlich ent­ schlossen, Orsino zu überdauern. Von Zeit zu Zeit machte er eine Bemerkung, der Maria Consuelo dann sehr wenig Aufmerksamkeit schenkte, wenn sie sie überhaupt beachtete. Orsino konnte sich nicht entschließen, ob er gehen oder bleiben sollte. Das letztere Verfahren würde Maria Con­ suelo zweifellos mißfallen, während er durch sein Bleiben Spicca offenbar ärgerte und ihm vielleicht sogar Schmerz bereitete. Es war eine heikle Frage, und während er ver­ suchte, das Gespräch weiterzuführen, erwog er die Gründe für und wider in seinem Herzen. Seltsamerweise entschied er sich für Spicca. Die Entscheidung war gewissermaßen ein Gradmesser für die Wärme seines Gefühls für Frau von Aranjuez. Wenn er vollständig in sie verliebt gewesen wäre, würde er geblieben sein. Wenn er gewünscht hätte, ihr Liebe zu ihm beizubringen, so würde er ebenfalls ge­ blieben sein. So wie die Sache lag, ging seine Freund­ schaft für den alten Grafen anderen Erwägungen vor. Gleichzeitig hoffte er, die Sache so zu führen, daß er sich

95 nicht Maria Consuelos Mißvergnügen zuzöge. Jedoch sand er das schwerer, als er erwartet hatte. Nachdem er seinen Entschluß gefaßt hatte, fuhr er noch drei oder vier Minuten fort, zu plaudern, und dann brachte er seine Entschuldigung vor. „Ich muß thatsächlich fort," sagte er ruhig. „Ich habe noch vor Abend eine Unmasse Sachen zu erledigen, und muß auch Contini sehen, um ihm Zeit zu geben, sich ein Verzeichniß von Wohnungen zusammenzustellen, die er Ihnen morgen zeigen kann." Er ergriff seinen Hut und stand auf. Er war auf Maria Consuelos Antwort nicht vorbereitet. „Ich habe Sie gebeten, zu bleiben," sagte sie kalt und sehr bestimmt. Spicca gestattete seinem Gesichte auch nicht die ge­ ringste Veränderung. „Es thut mir leid, gnädige Frau, aber es giebt eine Menge Gründe, die mich zwingen, Ihnen ungehorsam zu sein." Maria Consuelo biß sich auf die Lippe und ihre Augen glühten zornig. Sie warf einen Blick auf Spicca, als ob sie hoffte, daß er mit Orsino weggehen würde. Er aber rührte sich nicht. Es wurde immer klarer, daß er berech­ tigt war, zu bleiben, wenn es ihm beliebte. Orsino machte bereits seine Verbeugung vor ihr. Statt ihm die Hand zu geben, stand sie schnell auf und begleitete ihn zur Thür. Er machte sie auf und sie standen zusammen auf der Schwelle. „Ist dies der Weg, wie Sie mir helfen?" fragte sie ziemlich heftig, obwohl im Flüstertöne. „Warum empfangen Sie ihn überhaupt?" fragte er, statt zu antworten. „Weil ich ihn nicht zurückweisen kann." „Sie könnten ihn aber wegfchicken?" Sie zauderte und sah ihm in die Augen. „Soll ich?"

96 „Wenn Sie wünschen, allein zu sein, und wenn Sie es können. Die Sache geht mich Nichts an." Sie drehte sich schnell herum, ließ Orsino in der Thür stehen, und trat dicht an Spicca heran. Er war aufge­ standen, als sie aufstand, und stand beobachtend auf der anderen Seite des Zimmers. „Ich habe heftiges Kopfweh," sagte sie kalt. „Sie werden mir verzeihen, wenn ich Sie bitte, mit Don Orsino zu gehen." „Die Aufforderung einer Dame, ihr Haus zu verlaffen, ist, gnädige Frau, die einzige, die ein Mann nicht ablehnen kann," sagte Spicca würdig. Er verbeugte sich und folgte Orsino zum Zimmer hinaus, die Thür hinter sich schließend. Auf Orsino hatte der Borfall einen sehr widerwärtigen Eindruck hervorge­ bracht. Hätte er nicht den schlimmsten Theil des Geheim­ nisses gekannt, und demgemäß verstanden, weich' guten Grund Maria Consuelo hatte, um ein Alleinsein mit Spicca nicht zu wünschen, so würde ihn ihre Rücksichtslosigkeit empört und für immer zurückgestoßen haben. Denn kein anderes Wort konnte ihr Benehmen gegen den Grafen an­ gemessen ausdrücken. Selbst wenn er wußte, was Jener gethan hatte, so wünschte er doch, sie hätte ihre Laune besser beherrscht, und es that ihm mehr als je um Spicca leid. Es fiel ihm auch nicht ein einziges Mal ein, daß Dieser den Herrn von Aranjuez vielleicht absichtlich herausgefor­ dert und vorsätzlich getödtet habe. Er hatte ein unbe­ stimmtes Gefühl, daß Spicca einigermaßen die beleidigte Partei sei und von allem Anfänge, wie auch die seltsame Geschichte beschaffen sein mochte, in dieser Stellung gewesen sein muffe. Als die Beiden zusammen die Stufen hin­ unterschritten, sah Orsino verstohlen auf seines Gefährten bleiche, verzerrte Gesichtszüge, und war sicher, daß der Mann

97 Mitleid verdiene. Es war fast ein weiblicher Instinkt, viel zu zart für solch eine abgehärtete Natur, und vielleicht abhängig von jenem plötzlichen Aufbrechen seines mensch­ lichen Mitgefühls, welches durch sein Zusammentreffen mit Maria Consuelo bewirkt worden war. Ich glaube nach augenscheinlichen Ergebniffen, daß in solchen Fällen, wenn auch des Weibes Charakter sich durch den innigen Verkehr mit dem des Mannes bilden mag, doch der Eindruck auf den Mann im Ganzen augenblicklich tiefer ist, wenn des Weibes zartere Triebe sich in irgend einer Weise in seinem Herzen wiederspiegeln. Jedoch erholte sich Spicca schnell. Er nahm sein Etui heraus und bot Orsino eine Cigarette an. „So haben Sie denn Ihre Bekanntschaft erneuert," sagte er ruhig. „Ja wohl, unter ziemlich merkwürdigen Umständen," antwortete Orfino. „Ich habe das Gefühl, als ob ich mich bei Ihnen, Herr Gras, entschuldigen müßte, und sehe doch nicht, weßhalb ich mich entschuldigen soll. Ich habe mehr als einmal versucht, wegzugehen." „Es ist gar nicht möglich, mein Freund, daß Sie sich bei mir wegen der Eigenthümlichkeiten der Frau von Aran­ juez entschuldigen. Außerdem räume ich ein, daß sie ein Recht hat, mich zu behandeln, wie eS ihr beliebt. Das hindert mich doch nicht, sie jeden Tag zu besuchen." „Sie muffen starke Gründe haben, daß Sie eine solche Behandlung ertragen." „Die habe ich," antwortete Spicca nachdenklich und traurig. „Sehr starke Gründe. Ich will Ihnen einen von denen mittheilen, die mich heute hinführten. Ich wünschte, Sie Beide zusammen zu sehen." Orsino blieb plötzlich stehen, wie die Italiener das zu thun pflegen, und sah Spicca an. Er war heißblütig, (Sr a ir r crb, Den £iünc. II. 7

98 wenn er gereizt wurde, und hätte das Wort, wenn es von irgend einem anderen Manne gekommen wäre, vielleicht sehr übel ausgenommen. Jedoch sprach er ruhig. „Warum wünschten Sie, uns zusammen zu sehen?" fragte er. „Weil ich närrisch genug bin, mir manchmal zu den­ ken, daß Sie für einander paffen und sich vielleicht lieben könnten." Nichts wahrscheinlich, was Spicca hätte sagen können, hätte Orsino mehr überraschen können, als eine solche ein­ fache Aussage. Erwürbe sofort argwöhnisch; aber Spiccas Blick war der eines Mannes, der es ernst meinte. „Ich glaube nicht, daß ich Sie verstehe," antwortete Orsino. „Ich denke aber, Sie berühren einen Gegenstand, von dem wir lieber nicht reden." „Der Ansicht bin ich nicht," entgegnete Spicca ohne alle Erregung. „Dann wollen wir zugeben, daß wir verschiedener An­ sicht find," sagte Orsino etwas heftiger. „Das können wir nicht thun. Ich bin in der Lage, daß ich Sie dahin bringen kann, mit mir übereinzustimmen; und ich will es thun. Ich bin für das Glück der Dame verantwortlich. Ich bin vor Gott und den Menschen verantwortlich." Es lag Etwas in den Worten, was auf Orsino einen tiefen Eindruck machte. Nie vorher hatte er gehört, daß Spicca einen Ausdruck gebrauchte, der sich der feierlichen Sprache annäherte. Er kannte wenigstens einen Theil des Sinnes seiner Worte, welcher zeigte, daß Spicca Gewiffensbiffe darüber empfand, daß er Herrn von Aran­ juez getödtet hatte, und er wußte, daß der alte Mann meinte, was er sagte, und daß er es aus vollem Herzen meinte.

99 „Verstehen Sie mich jetzt?" sagte Spicca, langsam den Rauch seiner Cigarette einziehend. „Nicht ganz. Wenn Sie das Glück der Frau von Aranjuez wünschen, warum wünschen Sie dann, daß wir uns in einander verlieben sollen? Es wundert mich, daß ---------" er hielt inne. „Weil ich wünsche, daß Sie sie heirathen möchten." „Sie heirathen!" Orfino hatte daran nicht gedacht, und seine Worte drückten eine Ueberraschung aus, die nicht dazu angethan war, Spicca zu gefallen. Des Greises müde Augen wurden Plötzlich scharf und wild, und Orfino konnte ihrem Blicke kaum begegnen. Spiccas nervige Finger ergriffen den festen Arm des jungen Mannes und umschloffen ihn mit überraschender Kraft. „Ich möchte Ihnen rathen, an diese Möglichkeit vorher zu denken, ehe Sie irgend welche weitere Besuche machen," sagte er, wobei seine schwache Stimme fich plötzlich klärte. „Wir haben vor einigen Wochen zusammen geplaudert. Er­ innern Sie fich, was ich sagte, daß ich jedem Manne thun würde, durch den Leid über sie kommt? Ja wohl, Sie erinnern fich ziemlich deutlich. Ich weiß, was Sie damals antworteten, und ich kann wohl sagen, daß Sie es auch meinten. Aber auch ich meinte es ernst." „Ich glaube, Sie drohen mir, Graf Spicca," sagte Orfino, langsam erröthend, aber dem Blicke des Anderen mit vor Nichts zurückschreckender Kälte begegnend. „Nein, das thue ich nicht. Ich will Sie aber auch nicht mit mir streiten lassen, Orfino. Ich habe ein Recht darauf, wo sie betheiligt ist, Ihnen dies zu sagen, ein Recht, von dem Sie sich Nichts träumen lassen. Um das können Sie nicht streiten." Orfino antwortete nicht sogleich. Er sah, daß Spicca 7*

100 in vollem Ernste war, und war überrascht, daß sein Wesen jetzt weniger ruhig und gesammelt war, als bei Gelegen­ heit ihrer früheren Unterredung, wo der Graf so viel Wein getrunken hatte, daß er den meisten Männern heftig in den Kopf gestiegen sein würde. Er bezweifelte die Angabe, die Spicca machte, nicht im Mindesten. Sie stimmte genau mit dem überein, was Maria Consuelo selber von ihm ge­ sagt hatte. Und diese Angabe gab sicherlich der Lage ein anderes Ansehen. Orsino räumte sich selbst ein, daß er nie vorher daran gedacht hatte, Frau von Aranjuez zu heirathen. Er hatte nicht einmal die Folgen in Erwägnng gezogen, die es haben mußte, wenn er sie liebte und sie ihrerseits seine Gefühle erwiderte. In dem Augenblicke, wo er an eine möglicherweise stattfindende Heirath, als das Ergebniß solcher gegenseitigen Zuneigung dachte, wurde er sich der ungeheuren Schwierigkeiten bewußt, die einer solchen Verbindung im Wege standen, und sein erster Antrieb war der, es überhaupt aufzugeben, sie fernerhin zu besuchen. Was Spicca sagte, war gleichzeitig vernünftig und unver­ nünftig. Der Gemahl der Dame war todt, und sie er­ wartete ohne Zweifel, wieder zu heirathen. Orsino hatte kein Recht, Anderen im Wege zu stehen, die sich vielleicht als Bewerber vorstellten. Es war aber geradezu unglaub­ lich, daß Spicca von Orfino erwarten sollte, so wie er Rom und die lfiömer kannte, daß er selber sie heirathen würde. Die Beiden wären eine Weile im Schatten stehen ge­ blieben. Orsino fing wieder an, vorwärts zu schreiten, ehe er sprach. Es störte ihn Etwas in seinen eigenen Er­ wägungen. Der Gedanke gefiel ihm nicht, daß zwischen Maria Consuelo und ihm eine unübersteigliche gesellschaft­ liche Schranke vorhanden sein sollte. Da er jedoch bezüg­ lich ihrer Herkunft und ihres früheren Lebens in völliger

101 Unkenntniß schwebte, so brachten sich die Geschichten, die über sie in Umlauf gesetzt worden waren, mit unangeneh­ mer Deutlichkeit in Erinnerung. Nichts, was Spicca ge­ sagt hatte, als sie zusammen speisten, hatte die Sache irgendwie klarer gemacht, obgleich die sichere Thatsache, daß der verstorbene Aranjuez durch Spiccas Mitwirkung zu Tode gekommen war, dem schlimmsten, wenn auch am wenigsten glaubwürdigen Punkte in den Erzählungen, die von den Klatschbasen zu Anfang des vergangenen Winters immer wieder vorgetragen worden waren, hinreichend wider­ sprach. Alles Uebrige gehörte vollständig in den Bereich des Unbekannten. Jedoch sprach Spicca ernstlich von der Möglichkeit einer Ehe, und war sogar so weit gegangen, den Wunsch auszusprechen, sie möchte zu Stande ge­ bracht werden. Endlich ergriff, Orfino das Wort. „Sie sagen, Sie hätten das Recht, zu sagen, was Sie gesagt haben," fing er an. „In diesem Falle glaube ich, daß ich das Recht habe, eine Frage zu stellen, die Sie beant­ worten müßten. Sie sprechen davon, daß ich Frau von Aranjuez heirathen sollte. Dann sollten Sie mir aber auch sagen, ob das möglich ist." „Möglich!" rief Spicca fast zornig. „Was wollen Sie damit sagen?" „Ich will Folgendes sagen. Sie kennen uns Alle, wie Sie mich kennen. Sie kennen die ungeheuren Vorurtheile, in denen wir auferzogen werden. Sie wissen ganz genau, daß, wenn ich auch bereit bin, über einige derselben zu lachen, es doch andere giebt, über die ich nicht lache. Und doch weigerten Sie sich, mir mitzutheilen, wer Frau von Aranjuez sei, als ich Sie neulich danach fragte. Ich kenne nicht einmal Ihres Vaters Namen, noch viel weniger den Ihrer Mutter------- "

102 „Nein," antwortete Spicca. „Das ist völlig wahr, und ich sehe keine Nothwendigkeit, Ihnen von dem einen oder anderen Mittheilung zu machen. Jedoch haben Sie, wie Sie sagen, ein gewiffes Recht darauf, danach zu fra­ gen. Ich will Ihnen das ausführlich mittheilen. In den Umständen ihrer Geburt liegt Nichts, was Sie hindern könnte, in eine geachtete Familie zu heirathen. Genügt Ihnen das?" Orfino sah, daß er, mochte es ihm genügen oder nicht, für den Augenblick keine weitere Belehrung erlangen würde. Er mochte Spiccas Angabe glauben oder nicht, wie ihm beliebte, das jedenfalls wußte er sicher, daß der alte Duellant bei allen Eigenthümlichkeiten seines schwermüthigen Charafters sich doch nie die Mühe machen würde, eine Lüge zu erfinden, und noch immer so bereit war, wie nur je, seine Worte aufrecht zu erhalten. Bei dieser Gelegenheit hätte Niemand an ihm zweifeln können; denn es lag ein unge­ wöhnlicher Klang aufrichtigen Gefühls in dem, was er sagte. Orfino konnte nicht umhin, sich verwundert zu fra­ gen, worin das Band zwischen jenem und Frau von Aran­ juez bestehen möge; denn es hatte offenbar die Macht, zu bewirken, daß sich Spicca ohne Klage einer Behandlung unterwarf, die etwas schlimmer war, als gewöhnliche Un­ freundlichkeit, und daß er andererseits bei allen Gelegen­ heiten den Namen und den Charakter der Frau, die ihn so unsanft behandelte, mit Nachdruck vertheidigte. Orsino dachte, es müsse ein sehr enges Band sein. Spicca han­ delte völlig wie ein Mann, der sehr aufrichtig und ganz hoffnungslos liebt. Es lag etwas außerordentlich Trau­ riges in dem Gedanken, daß er in seinem Alter wirthschaftlich ruiniert, wie er es war, und vor der Zeit ge­ altert, Maria Consuelo vielleicht liebte. Der Gegensatz

103 zwischen ihnen war so groß, daß es hätte wunderlich sein müßen, wenn es nicht rührend gewesen wäre. Zwischen den beiden Männern fiel an jenem Tage, ehe fie sich trennten, nur noch wenig vor. Dem Grafen Spicca kam Orfino gleichgültig vor, und die Schweigsam­ keit des älteren Mannes nach seinem plötzlichen Gefühls­ ausbruche konnte nicht dazu dienen, das Zusammensein zu verlängern. Orfino ging und suchte Contini auf, und setzte ihm auseinander, was man von ihm wünschte. Er sollte ein kurzes Verzeichniß von begehrenswerthen vermiethbaren Wohnungen aufstellen, und am folgenden Tage Frau von Aranjuez begleiten, um fie zu befichtigen. Contini war entzückt und machte sich sofort an die Arbeit. Vielleicht hoffte er insgeheim, die Dame möchte sich dazu bestimmen laffen, in einem der neuen Häuser zu miethen; jedoch hatte dieser Gedanke mit seiner befriedigten Stimmung Nichts zu thun. Er sollte mehrere Stunden in der alleinigen Gesellschaft einer Dame zubringen, einer ächten Dame, die noch dazu jung und schön war. Er laS die kleine Morgenzeitung zu fleißig, als daß er nicht den Namen der Frau von Aranjuez hätte bemerken und über die Beschreibungen, die im vergangenen Jahre bei so vielen Gelegenheiten von den Berichterstattern über fie gebracht worden waren, hätte grübelnd nachsinnen sollen. Er war zu jung und zu sehr richtiger Italiener, um nicht das Glück zu schätzen, das ihm jetzt in den Schoß fiel, und so ver­ sprach er sich einen Vormittag ungetrübten Genusses. Er war gespannt, ob es möglich sein würde, die Dame durch übermäßige Ermüdung und Durst dahin zu bringen, ein Glas Eiswaffer bei Nazzari anzunehmen, und er entwarf seine Wohnungsliste in einer Weise, daß er fie zu einer

104 Stunde, wo dieser Vorschlag am angenehmsten und natür­ lichsten erscheinen konnte, in die Nähe der Piazza da Spagna brachte. Orfino verblieb während des heißen Septembermorgens im Comptoir, und beschäftigte sich mit den endlosen Einzel­ heiten, deren er jetzt Meister war; von Zeit zu Zeit dachte er auch an Maria Consuelo. Er beabsichtigte, sie am Nach­ mittage zu besuchen, und wie Contini, plante auch er, was er thun und sagen wollte. Seine Pläne waren aber sämt­ lich unbefriedigend, und einmal fand er sich dabei, wie er die kahle Wand gegenüber seinem Tische in einem Zustande träger Versunkenheit anstarrte, der ihm schon lange fremd geworden war. Bald nach zwölf Uhr kam Contini zurück, heiß und strahlend. Maria Cousuelo hatte das Glas Eiswaffer aller­ dings abgelehnt, aber ihr bezauberndes Wesen hatte den Baumeister reichlich für seine Enttäuschung entschädigt. Orsino fragte, ob sie sich für eine Wohnung entschieden habe. „Sie hat die Zimmer im Palazzo Barberini genom­ men," antwortete Contini. „Ich vermuthe, sie wird im Herbste ihre Familie hierher kommen lassen." „Ihre Familie? Die hat sie nicht. Sie steht allein da." „Allein in einer solchen Wohnung! Wie reich sie sein muß!" Contini fand irgendwo einen Cigarrenstummel und setzte ihn nachdenklich in Brand. „Ich weiß nicht, ob sie reich ist oder nicht," sagte Orfino. „Daran habe ich nie gedacht." Er fing wieder an, seine Bücher zu bearbeiten, wäh­ rend sich Contini hinsetzte und sich mit einem Bündel Papiere Lust zufächelte. „Sie bewundert Sie ganz außer­ ordentlich, Don Orfino," sagte er nach einer Pause.

105 Orfino blickte scharf auf. „Was wollen Sie damit sagen?" fragte er. „Ich will damit sagen, daß sie von Nichts weiter sprach, als von Ihnen, und tu der schmeichelhaftesten Weise." Bei dem wunderlich engen Freundschaftsverhältniß, das zwischen den beiden Männern erwachsen war, erschien es nicht sonderbar, daß Orfino über Aussprüche lächelte, die ihm keinen Spaß gemacht haben würden, wenn fie von irgend einem Anderen gekommen wären, als dem armen Baumeister. „Was hat fie gesagt?" fragte er mit müßiger Neugierde. „Sie sagte, es sei wunderbar, wenn man bedenke, was Sie gethan hätten. Sie seien der einzige von allen römi­ schen Fürsten, der Charakter und Thatkraft genug besäße, um die alten Vorurtheile über Bord zu werfen und sich eine Beschäftigung zu schaffen. Dies sei um so anerkennenswerther, weil Sie es aus moralischen Gründen und nicht aus Bedürfniß oder Liebe zum Gelde gethan hätten. Und so hat fie noch sehr Vieles der Art gesagt." „Oho!" stieß Orfino hervor, indem er die Wand gegen­ über ansah. „Es ist schade, daß fie Wittwe ist," bemerkte Contini. „Wieso?" „Sie würde fj eine schöne Fürstin abgeben." „Sie find wohl verrückt, Contini!" rief Orfino aus, halb belustigt und halb gereizt. „Reden Sie nicht solchen Unsinn." „Nun gut; seien Sie mir nicht böse," antwortete der Baumeister, ein wenig geknickt. „Ich bin nicht Sie, wiffen Sie, und mein Kopf ist nicht der Ihrige, — auch nicht mein Name, und — mein Herz." Contini seufzte, blies seine Cigarre an und hob einige

106 in die Höhe. Er war bereits etwas verliebt in Maria Confuelo, und der Gedanke, daß irgend ein Mann sie heirathen könnte, wenn er wollte, es aber nicht wolle,

Papiere

war ihm ganz unfaßbar. Der Tag schritt weiter.

Orsino beendete seine Arbeit

so vollständig, als ob er ein bezahlter Schreiber gewesen wäre, brachte Alles in Ordnung und ging weg.

Nachmittage besuchte er Maria Consuelo.

Spät am

Er wußte, daß

sie um diese Zeit gewöhnlich bereits aus zu sein pflegte,

und glaubte, er überlasse in der Sache, ob er sie zu Hause treffen werde, Etwas dem Schicksale, obgleich ein Instinkt, von dem er sich keine Rechenschaft 'ablegen mochte, ihm

sagte, daß sie nach den Strapazen des Vormittags wahr­ scheinlich zu Hause bleiben würde.

„Heute werden wir nicht von Graf Spicca

gestört

werden," sagte sie, als er sich neben ihr hingesetzt hatte.

Trotz dessen, was er wußte, erregte der harte Ton ihrer Stimme in Orsino wieder jenes Gefühl des Mitleids für den alten Mann,

hatte.

das er am Tage vorher empfunden fragte er, „daß,

„Scheint es Ihnen nicht auch,"

wenn Sie ihn überhaupt bei sich vorlaffen, Sie doch wenig­

stens Etwas von Ihrem Hasse gegen ihn verbergen könnten?" „Weßhalb sollte ich das thun? Haben Sic vergessen, was ich Ihnen gestern gesagt habe?"

„Es möchte schwer sein, das zu vergessen, obgleich Sie mir keine Einzelheiten mitgetheilt haben.

Man kann sich

aber nicht leicht vorstellen, wie Sie ihn überhaupt empfan­ gen können, wenn er Ihren Gatten absichtlich im Duell ge-

tödtet hat." „Es ist unmöglich, den Fall klarer darzustellen!" rief

Maria Consuelo aus.

„Beleidige ich Sie?"

107 „Nein, nicht direkt." „Verzeihen Sie mir, wenn ich es thue. Wenn Spicca, wie ich vermuthe, die unfreiwillige Ursache Ihres großen

Verlustes war, so ist er sehr zu bemitleiden. . Ich weiß nicht, ob er nicht fast ebenso viel Mitleid verdient, wie Sie." selbst wenn

das

„Denken Sie daran, wie schwer er leiden muß. ist Ihnen in aller Ergebenheit zugethan.

Er

„Wie können Sie so Etwas sagen, Uebrige wahr wäre?"

sagt,

„Das weiß ich. Sie haben mir das früher schon ge­ und ich habe Ihnen dieselbe Antwort gegeben. Ich

brauche weder sein Zugethansein noch seine Ergebenheit."

„Dann lehnen Sie es doch ab, ihn zu sehen."

„Das kann ich nicht."

„Wir kommen immer wieder auf denselben Punkt zu­ rück," sagte Orsino.

„Und das wird stets der Fall fein, wenn Sie über diesen Gegenstand plaudern. Es giebt keinen anderen Ausgang. Die Dinge sind, wie sie sind, und ich kann sie nicht ändern." „Wissen Sie wohl," sagte Orsino,

Heimlichthun schaft ist?"

„daß all dieses

ein sehr ernstes Hinderniß für die Freund­

Maria Consuelo schwieg einen Augenblick. „Ist es so?" fragte sie alsdann.

„Haben Sie schon immer diese Ansicht

gehabt?"

Die Frage war schwer zu beantworten.

„Sie sind

mir immer geheimnißvoll erschienen," erwiderte Orsino. „Vielleicht übt das eine große Anziehungskraft aus. Statt aber die Wahrheit über Sie zu erfahren, finde ich, daß es

immer mehr Geheimnisse in Ihrem Leben giebt, nicht wissen darf."

die ich

108 „Warum sollten Sie sie wissen?" „Weil-------- " Orfino hielt fast mit einem Ruck inne. Er ärgerte sich über die Worte, die seinen Lippen so nahe gewesen w.aren; denn er war im Begriff gewesen, zu sagen: „Weil ich Sie liebe;" und doch war er auf's Tiefste über­

zeugt, daß er sie nicht liebte. Es war ihm ganz unmög­ lich, zu verstehen, warum sich ihm die Worte so bereitwillig zum Aussprechen anboten. War es denkbar, so fragte er sich, daß Maria Consuelo versuchte, ihn die Worte sagen zu lassen, und daß ihr Wille durch ihre Frage direkt auf seinen Geist wirkte? Er wies den Gedanken, sowie er in ihm aufstieg, mit Verachtung zurück, nicht nur wegen seiner Albernheit, sondern auch deßhalb, weil er eine Seite seines inneren Empfindens verletzte. „Was wollten Sic eben sagen?" fragte Frau von Aran­ juez fast sorglos. „Etwas, was am besten ungesagt bleibt," antwortete er. „Dann ist es mir lieb, daß Sie es nicht gesagt haben." Sie sprach ruhig und ungekünstelt. Es bedurfte keiner großen Sehergabe auf ihrer Seite, um zu ahnen, wie die Worte Hütten lauten können. Selbst aber, wenn sie gewünscht hätte, daß sie ausgesprochen würden, hätte sie sie nicht so leichthin gesprochen haben mögen, denn sie hatte schon früher einmal seine Liebesbetheuerungen gehört, wo sie sehr wenig bedeutet hatten. Orfino gab plötzlich dem Gespräche eine andere Wen­ dung, als ob er seiner nicht ganz sicher wäre. Er fragte sie nach dem Ergebniß ihres Suchens am Vormittage. Sie antwortete, daß sie beschloffen habe, die Wohnung im Pa­ lazzo Barberini zu nehmen. „Ich glaube, es ist da sehr viel Raum vorhanden," bemerkte Orfino gleichgültig.

109 „Ja wohl," antwortete sie in demselben Tone. „Ich habe die Abficht, diesen Winter Gesellschaften zu geben. Es wird aber sehr mühsam sein, eine solche Wildniß aus­ zumöblieren." „Danach scheint es, daß Sie die Abficht haben, sich für mehrere Jahre in Rom niederzulaffen?" Sein Gesicht drückte eine Befriedigung aus, deren er sich selbst kaum be­ wußt war. Maria Consuclo bemerkte es. „Das scheint Ihnen zu gefallen," sagte sie. „Wie könnte es anders sein?" fragte er dagegen. Dann schwieg er. Alle seine eigenen Worte schienen ihm zu viel oder zu wenig zu bedeuten; er wünschte, sie möchte irgend einen Unterhaltungsgegenstand wählen und plau­ dern, damit er zuhören könnte. Aber auch sie war unge­ wöhnlich schweigsam. Er kürzte seinen Besuch sehr plötzlich ab und verließ sie mit den Worten, er hoffe sie gewöhnlich zu jener Stunde zu Hause anzutreffen, wobei er völlig vergaß, daß sie natürlich in der Zeit der Abendkühle gewöhnlich aus sein würde. Er wanderte langsam in der Dämmerung heimwärts, und erinnerte sich erst ungefähr gegen neun Uhr daran, zu seinem einsamen Diner zu gehen. Er war mit sich nicht zufrieden, und doch empfand er eine stille und unge­ suchte Freude über Etwas, was er fühlte, und gegen das er nicht unempfindlich gewesen wäre, wenn man dies seiner Wahl anheimgestellt hätte. Seine alte Theilnahme für Maria Consuelo lebte wieder auf, und wandelte sich doch in etwas ganz Anderes, als was sie früher gewesen war. Jetzt stellte er sich selbst gegenüber kühn in Abrede, daß er verliebt sei, und zwang sich zu philosophischen Spe­ kulationen betreffs der Möglichkeiten der Freundschaft. In

110 seinem jungen System galt es als albern, anzunehmen, daß ein Mann sich zum zweiten Male in dieselbe Frau

verlieben könnte. Er spottete über sich, über diesen Ge­ danken und über seine eigene Thorheit, wobei er doch die ganze Zeit über ein bis zur Gewißheit steigendes Bewußt­ sein von etwas sehr Reellem und Ernstem hatte, das sich keinesfalls verlachen, übersehen, oder verachten ließ.

Sechstes Kapitel.

Es war vorauszusehen, daß Orsino und Maria Consuelo sich jetzt häufiger und zwangloser als je zuvor sehen

würden. Abgesehen von der starken gegenseitigen Anziehung, die sie näher und näher an einander heranführte, gab es eine Menge neuer Umstände, die Orsinos Hilfe seiner Freundin säst unentbehrlich machten. Die Einzelheiten ihrer Einrichtung in der Wohnung, die sie gewählt hatte,

waren zahlreich;

es gab Vieles,

woran gedacht werden

mußte, und unendliche Massen von Gegenständen mußten

gekauft werden, von denen jeder einzelne gutes Urtheil und

Geschmack bei der Auswahl verlangte.

Hätten die Beiden

vernünftige Entschuldigungen nöthig gehabt, um sich recht oft zu treffen, so lagen sie ihnen sehr bequem zur Hand.

Aber Keines

von ihnen Beiden gab sich einer Selbsttäu­

schung hin, und Keines war beflissen, jene besondere Form der Nachsicht gegen sich selber zur Schau zu tragen,

die

stets gute Gründe findet, um das zu thun, was ihr stets

Orsino drängte thatsächlich seine Dienste nie auf, und hütete sich wohl, sich nicht zu oft mit Maria Consuelo beliebt.

den wenigen Bekannten, die in der Stadt waren, öffentlich zu zeigen.

Auch bat Frau von Aranjuez wirklich nicht bei

jeder Gelegenheit um seine Hilfe, wie sie auch andererseits

110 seinem jungen System galt es als albern, anzunehmen, daß ein Mann sich zum zweiten Male in dieselbe Frau

verlieben könnte. Er spottete über sich, über diesen Ge­ danken und über seine eigene Thorheit, wobei er doch die ganze Zeit über ein bis zur Gewißheit steigendes Bewußt­ sein von etwas sehr Reellem und Ernstem hatte, das sich keinesfalls verlachen, übersehen, oder verachten ließ.

Sechstes Kapitel.

Es war vorauszusehen, daß Orsino und Maria Consuelo sich jetzt häufiger und zwangloser als je zuvor sehen

würden. Abgesehen von der starken gegenseitigen Anziehung, die sie näher und näher an einander heranführte, gab es eine Menge neuer Umstände, die Orsinos Hilfe seiner Freundin säst unentbehrlich machten. Die Einzelheiten ihrer Einrichtung in der Wohnung, die sie gewählt hatte,

waren zahlreich;

es gab Vieles,

woran gedacht werden

mußte, und unendliche Massen von Gegenständen mußten

gekauft werden, von denen jeder einzelne gutes Urtheil und

Geschmack bei der Auswahl verlangte.

Hätten die Beiden

vernünftige Entschuldigungen nöthig gehabt, um sich recht oft zu treffen, so lagen sie ihnen sehr bequem zur Hand.

Aber Keines

von ihnen Beiden gab sich einer Selbsttäu­

schung hin, und Keines war beflissen, jene besondere Form der Nachsicht gegen sich selber zur Schau zu tragen,

die

stets gute Gründe findet, um das zu thun, was ihr stets

Orsino drängte thatsächlich seine Dienste nie auf, und hütete sich wohl, sich nicht zu oft mit Maria Consuelo beliebt.

den wenigen Bekannten, die in der Stadt waren, öffentlich zu zeigen.

Auch bat Frau von Aranjuez wirklich nicht bei

jeder Gelegenheit um seine Hilfe, wie sie auch andererseits

111 durchaus keine Schwierigkeiten machte, sie anzunehmen. Es herrschte ein stillschweigendes Einverständniß zwischen ihnen, welches einerseits mit aller Nothwendigkeit, Entschuldigun­ gen erfinden zu müssen, kurzen Prozeß machte, andererseits dem Vorgeben, man fürchte, Orsino unbequem zu fallen, ein Ende machte. Jedoch wurden die Gesprächsstoffe, von denen Beide wußten, daß sie gefährlich seien, eine Zeit lang infolge unausgesprochener gegenseitiger Uebereinstim­ mung gemieden, wofür Maria Consuelo dankbarer war, als für alle Mühe, die sich Orsino um ihretwillen gegeben hatte. Sie bildete sich vielleicht ein, daß er das vorliegende Verhältniß einsürallemal acceptiert habe, und die glückliche Stimmung, in welche seine Gesellschaft sie versetzte, war zu stark, als daß sie hätte fragen mögen, ob sein korrektes Verhalten lange dauern würde oder nicht. Es war eine regelwidrige Beziehung, die sie an einan­ der knüpfte, wie sie an einem gewissen Punkte im Laufe der Entwickelung einer Leidenschaft öfters vorkommt, am häufigsten, wenn keine Hindernisse vorhanden sind, wo dann die Neigung langsam und regelmäßig wächst. Es war eine Entwickelungsphase, während deren eine neue Art der Vertrautheit zu entstehen begann, die ebenso weit von dem halb ernsthaften, halb scherzenden Verkehre früherer Tage entfernt war, wie sie von dem abschließenden höchsten Glücke abstand, dem alle Liebenden mit gleichem Vertrauen ent­ gegensetzen, wenn ihm auch nur Wenige nahe^ommen, und

die Zahl Derer, die es je völlig erreichen, noch geringer ist. Aeußerlich war es eine Art freimüthiger Kamerad­ schaft, die auf beiden Seiten sehr Vieles für selbstverständ­ lich ansah, weil sie einer genaueren Prüfung geflissentlich aus dem Wege ging, ein Verhältniß, wobei Jedes von ihnen Alles verstand, was das Andere sagte, während

112 i

Keines ganz wußte, was dem Anderen im Herzen ruhte, ein Zustand, in dem Beide eine Zeit lang mit Vergnügen weilten, als ob sie es vorzögen, lieber ein sicheres, wenn auch unvollkommenes Glück länger zu genießen, als auch nur einen Augenblick davon um der Hoffnung willen, eine lebenslange Freude zu gewinnen, auf's Spiel zu sehen. Es war eine Zeit, während deren die bloße Freundschaft eine künstlich vollendete Schönheit erreichte, wie eine Sommer­ frucht, die im Winter unter Glas gewachsen ist, und die unter völlig unnatürlichen Bedingungen eine Entwickelung erreicht, die selbst da, wo die nicht vom Menschen unter­ stützte Natur äußerst gütig ist, fast unmöglich sein würde. Vielleicht wußten Beide, daß es so nicht ewig weitergehen konnte, aber Keines wollte es gehemmt sehen, Keines dachte gern an den Augenblick, wo es entweder anfangen mußte, allmählich hinzuwelken, oder plötzlich sich in einem gewal­ tigeren und gefährlicheren Wachsthume verzehren mußte. Zu jener Zeit konnten sie ganz fließend über die Natur des Menschenherzens und die Dauerhaftigkeit der großen Leidenschaften sprechen. Sie nahmen die Räthsel der Welt zu Gesprächsstoffen und erörterten sie zwischen dem Aus­ wählen eines Teppichs und dem Ankäufe eines Tisches. Jeden Augenblick waren sie bereit, sich vom tiefsinnigsten philosophischen Gespräche zur Erwägung der unbedeutendsten Einzelheit zu wenden, mit dem Bewußtsein, daß sie den Faden ihres Gespräches sofort wieder aufnehmen konnten. Sie konnten den Hauptsatz vom Nebensätze und die zuge­ hörige Folge von beiden trennen durch eine lebhafte Er­ örterung betreffs der Haltbarkeit eines Stoffes oder der Zweckmäßigkeit eines Möbelstücks, und jedesmal kamen sie mit erneuter und erfrischter Theilnahme zu der Betrachtung von Gesprächsstoffen zurück, die nur um ein Geringes

113 weniger ernst waren, als die Auferstehung der Todten oder das Leben in der zukünftigen Welt. Daß ihre Schlußfol­ gerungen nicht immer logisch richtig oder auch nur völlig vernünftig waren, hat mit der Sache selbst nicht viel zu schaffen. Im Gegentheil, die Entdeckung einer brüchigen Stelle in ihrem grübelnden Schließen und Urtheilen war selbst ein Anlaß, bei ihrem nächsten Zusammentreffen die Frage noch einmal aufzunehmen. Zuerst drehte sich ihre Unterhaltung um allgemeine Dinge, mit Einschluß des Ruhmes, den sie für sich selbst wünschen konnten, der Unsterblichkeit der Seele, und der wichtigsten Grundsätze der Baukunst. Orsino war oft höchst erstaunt, sich sprechend, und, wie er meinte, gut sprechend zu finden über Gegenstände, von denen er bisher mit gutem Rechte geglaubt hatte, daß er Nichts davon verstünde. Manchmal fielen sie aus die Literatur und erörterten den modernen Roman mit dem scharfen Beigeschmäcke junger Leute, welche die zukünftigen Geheimnisse ihres eigenen Lebens ans den lebendigen Beschreibungen des Lebens an­ derer Leute zu lernen suchen. Ihre Kenntniß des modernen Romans war nicht so beschränkt, wie ihre Bekanntschaft mit vielen anderen Gegenständen, die, wenn auch nützlicher, doch weniger unterhaltend waren, und sie bearbeiteten diese Ader mit lebhafter Energie und gegenseitiger Befriedigung. Dann kam, wie immer, der wichtige Zug- Sie fingen an, von Liebe zn sprechen, das Interesse hörte auf, objektiv oder irgendwie stellvertretend zu sein, und übertrug sich direkt auf sie selber. Diese Schritte lassen sich, glaube ich, niemals als Sta­ tionen in der Charakterentwickelung des Mannes oder der Frau ansehen. Sie sind Phasen in dem wechselseitigen Verkehre des Mannes und der Frau. Geschickte Leute Crnwford, Don Orsino.

II.

8

114 kennen sie wohl und wissen, wie sie sie nach ihrem Be­ lieben hervorbringen können. Der Abschluß mag Liebe sein oder nicht; ein Abschluß irgend einer Art aber ist unver­ meidlich. Je nach den betheiligten Persönlichkeiten, je nach den Umständen, je nach der Menge der zur Verfügung stehenden Zeit, kann der Fortschritt von allgemeinen Ge­ sprächsgegenständen, mit mehr oder weniger aufrichtiger Beziehung der Schlußfolgerungen auf sich selber, eine Stunde, einen Monat, oder ein Jahr in Anspruch nehmen. Die Liebe ist der einzige Gesprächsgegenstand, der schließ­ lich die, welche nicht zu alt sind, um von ihr zu sprechen, anzieht — und Derer, welche der Ansicht find, daß sie ein solches Alter erreicht haben, giebt es Wenige. In dem Falle Orfinos und Maria Consuelos machte Keines von den Beiden irgend eine Anstrengung, um die Sache zu einem bestimmten, abschließenden Ergebnisse hin­ zuführen; denn Beide fühlten eine wahre Furcht davor, jenen Punkt zu erreichen, an den man sich stets nachher erinnert, als den letzten Augenblick kaum noch aufrecht er­ haltener Freundschaft, und den ersten einer stärkeren Empfin­ dung, die nur zu oft weniger glücklich ansschlägt. Orsino war unerfahren, aber Maria Eonsuclo war sich des Fort­ schreitens in einer festgesetzten Richtung wohl bewußt. Ob sie sich nun entschlossen haben mochte oder nicht, sie ver­ suchte, so geschickt sie konnte, die Vorwärtsbewegung zu ver­ zögern; denn sie fühlte sich in dem gegenwärtigen Zustande sehr glücklich und fürchtete wahrscheinlich die erste Aufstörung ihrer eigenen glühend leidenschaftlichen Natur.

Was Orsino anbetrifft, so war seine Unerfahrenheit thatsächlich nur relativ. Er hatte den dringenden Wunsch, zu glauben, er sei nur ihr Freund, und behauptete seinem eigenen Gewissen gegenüber, daß die Häufigkeit, mit der

115 die Worte „ich liebe Sie" sich einstellten, unerklärlich sei. Der Wunsch, sie auszusprechen, war weder ein beständiger Antrieb , besten er sich stets bewußt war, noch eine plötz­ liche starke Erregung gleich einer sittlichen Versuchung, die sich vorher durch einige Herzschläge angekündigt hätte, ehe fie ihre volle Kraft erreichte. Die Worte kamen ihm so ungezwungen und unerwartet auf die Lippen, daß er sich oft wunderte, wie er sich davor bewahrte, sie auszusprechen. Er konnte unmöglich vorhersehen, wann fie verlangen wür­ den, ausgesprochen zu werden. Schließlich fing er an, sich einzubilden, daß sie ohne einen vernünftigen Grund und ohne einen Wunsch seinerseits, sie auszusprechen, in seinem Geiste erklängen, wie Einem manchmal eine vollständig gleichgültige Melodie Tage lang in den Ohren klingt, so­ daß man fie nicht loswerden kann. Maria Consuelo hatte nicht die Absicht gehabt, den September und Oktober vollständig in Rom zuzubringen. Sie hatte angenommen, es würde genügen, wenn fie sich eine Wohnung aussuchte und irgend Jemandem den Auf­ trag gäbe, sie nach ihrem Geschmacke zu möblieren; nach­ her könnte sie an die See gehen, bis die Hitze vorüber wäre, und brauchte nur von Zeit zu Zeit, wie es die Ge­ legenheit erforderte, zur Stadt zu kommen. Sie schien aber ihren Sinn geändert zu haben. Sie deutete nicht einmal die Möglichkeit zu verreisen an. Gewöhnlich sah sie Orsino am Nachmittage. Es wurde ihm nicht schwer, sich frei zu machen, um sie, so oft er nützlich sein konnte, zu besuchen, doch nahm natürlich sein eigenes Geschäft den ganzen vorderen Theil des Tages in Anspruch. In der Regel sprach er demnach zwischen halb Fünf und Fünf bei ihr vor, und sobald eS kühl genug war, gingen sie zusammen nach dem Palazzo Barberini, 8*

116 um zu sehen, welche Fortschritte die Tapezierer machten, und um Geschmacksangelegenheiten in Erwägung zu ziehen. An den heißen September-Nachmittagen saß und wanderte es sich angenehm in den großen, halb möblierten Zimmern, mit den mächtigen Fenstern und ihrer Aussicht auf das hübsche Gärtchen vor dem Palaste. Nicht ost war das Paar ganz allein, und wäre es auch nur aus eine Viertelstunde gewesen, da die Wohnung voller Handwerker war, welche kamen und gingen, durchliefen und wieder zurückliefen, wie es ihre Beschäftigung eben nöthig machte, sich oft nach Be­ fehlen erkundigten und wahrscheinlich mehr Beaufsichtigung bedurften, als Maria Consuelo ihnen zu Theil werden ließ. An einem gewissen Abende spät im September waren die Beiden in dem großen Empfangszimmer bei einander. Maria Consuelo war müde und lehnte sich tief in einen Armstuhl zurück, die Hände über dem Knie gefaltet und Orsino beobachtend, wie er den Teppich langsam abschritt, immer und immer wieder in seinem kurzen Gange an ihr vorüber, das Gesicht beständig ihr zugekehrt. Es war außergewöhnlich heiß. Die Luft war gewitterschwül, und wenn es auch schon über fünf Uhr war, so waren die Fenster doch noch immer fest geschlossen, um die Hitze nicht hereinzulaffen. Ein klares, mildes Licht erfüllte das Zim­ mer, nicht zurückgestrahlt von einem glühenden Pflaster, sondern von grünem Rasen und plätscherndem Waffer. Sie hatten von einem Kaminstücke gesprochen, welches Maria Consuelo in der Halle aufgestellt zu sehen wünschte. In seiner Ausführung erinnerte das, was sie gern haben wollte, an Heinrich II. von Frankreich, Diana von Poitiers, und die Dauerhaftigkeit der Zuneigungen. Der Uebergang von Kaminen zu wahrer Liebe war mit verhältnißmäßiger Leichtigkeit von Statten gegangen, das Ergebniß täglicher

117 Uebung und Erfahrung. Es verdient zum Nutzen der Jugend hervorgehoben zu werden, daß das Meublement gerade aus diesem Grunde ein ausgezeichneter Unterhal­ tungsgegenstand ist, weil Nichts einfacher ist, als in drei Minuten von einem Tische auf eine Kulturepoche, von einer Kulturepoche auf eine geschichtliche Persönlichkeit, und von dieser Persönlichkeit auf seine oder ihre Liebesgeschichte über» zugehcn. Ein junger Mann würde gut daran thun, das Leben irgend eines bekannten Liebhabers oder einer be­ rühmten und unglücklichen Schönheit mit jedem beliebigen Verfahren der Holzschnitzerei und Polsterarbeit in Be­ ziehung setzen zu können. Es steht stets anständig aus. Wenn er aber die nothwendigen Vorkenntniffe nicht befitzt, muß er zu einer Kriegslist seine Zuflucht nehmen. „Was für ein bequemer Stuhl!" sagt er, indem er feinen Hut auf die Diele niederlegt und sich hinsetzt. „Haben Sie bequeme Stühle gern?" „Selbstverständlich. Stellen Sie fich bloß vor, was für ein Leben man in den Tagen der steifen Holzstühle führte, wo Jeder ein Kiffen mit fich herumschleppen mußte. Sie kennen doch das Dingsda-------- zwölftes Jahrhundert, Francesca da Rimini, und alles Weitere." „Die arme Francesca!" Wenn sie nicht sagt- „Die arme Francesca!", was sie aber doch wahrscheinlich thun wird, so kann man es selber sagen, nach kurzer Pause, sehr gefühlvoll und mit einem anderen Stimmtone. Der eine Kuß, der zwei Leben kostete, macht die Geschichte besonders Vortheilhaft. Und dann ist das Eis gebrochen. Wenn Paolo und Francesca nicht ge­ mordet worden wären, würden sie einander für immer ge­ liebt haben? Da Niemand weiß, was sie gethan haben würden, so kann man behaupten, sie würden treu gewesen

118 sein, oder nicht, je nach dem eigenen Geschmacke, Laune oder persönlichen Absichten. Dann kann man von dem Ehemanne sprechen, deffen zu schnelles Verfahren so wesent­ lich dazu beitrug, die Geschichte so kurz zu gestalten. Wenn man für eifersüchtig gelten will, so sagt man: er hatte ganz Recht; wünscht man aber, edelmüthig zu erscheinen, so sagt man mit gleicher Ueberzeugung : er hatte völlig Un­ recht. Und so weiter. Man gelange so schnell als möglich zu Allgemeinheiten, um sie auf den eigenen Fall nutzbrin­

gend anzuwenden. Orsino und Maria Consuelo waren die arglosen Opfer des Meublements, da Keines von ihnen mit dem Verfahren bekannt war, das wir hier soeben zur Belehrung der Un­ schuldigen auseinandergesetzt haben. Sie fielen in ihre eigene Falle und wunderten sich, wie sie in so unglaublich kurzer Zeit von Kaminstücken hatten zu Herzen gelangen können. „Es ist ganz gut möglich, zweimal zu lieben," hatte Orsino soeben gesagt. „Das hängt davon ab, was Sie unter Liebe verstehen," antwortete Maria Consuelo, ihn mit halbgeschlossenen Augen prüfend musternd. Orsino lachte. „Was ich unter Liebe verstehe? Ver­ muthlich Daffelbe, was die anderen Leute darunter ver­ stehen — oder etwas mehr," fügte er hinzu, und der leichte Wechsel in seiner Stimme gefiel ihr. „Glauben Sie, daß irgend welche Zwei Daffelbe da­ mit meinen, wenn sie von Liebe sprechen?" fragte sie. „Wir Beide könnten es," antwortete er, seinen gleich­ gültigen Ton wieder annehmend. „Schließlich haben wir während des letzten Monats so viel zusammen geplaudert, daß wir einander verstehen sollten."

119 „Ja wohl," sagte Maria Consuelo. „Und ich glaube, wir thun es auch," fügte sie nachdenklich hinzu. „Warum sollten wir also von demselben Gegenstände verschieden denken? Ich will aber nicht den Versuch machen, die zu Liebe definieren. Sie läßt sich nicht leicht defi­ nieren, und ich bin nicht geschickt genug dazu." Er lachte wieder. „Es giebt viele Krankheiten, die ich nicht definieren kann; ich weiß aber, daß man sie zweimal haben kann." „Es giebt auch andere, die man nur einmal haben kann, — namentlich gefährliche." „Das weiß ich. Jedoch hat das Nichts mit der Streit­ frage zu thun." „Ich glaube das aber doch, falls dies überhaupt eine Streitfrage ist." „Nein. Die Liebe ist gar nicht, wie eine Krankheit; sie ist ganz das Gegentheil. Sie ist eine Genesung von einem unnatürlichen Zustande, dem des Nichtliebens. Man kann mehr als einmal in diesen Zustand verfallen und da­ von genesen." „Was für ein Sophismus!" „Warum nennen Sie es so? Glauben Sie, daß das Nichtlieben der Normalzustand der Menschheit sei?" Maria Consuelo schwieg, ihn noch immer beobachtend. „Sie haben Nichts zu sagen," fuhr er fort, stehen bleibend und sich vor sie hinstellend. „Es läßt sich Nichts sagen. Ein Mann oder eine Frau, die nicht lieben, find in einem abnormen Zustande. Wenn er oder sie sich ver­ liebt, so ist das Genesung. Man kann genesen, so lange das Herz genug Lebenskraft besitzt. Räumen Sie das ein, denn Sie können nicht anders. Das beweist, daß jede normal beschaffene Person wenigstens zweimal lieben kann." „Und doch liegt darin eine Idee von Treulosigkeit,"

120 sagte Maria Consuelo nachdenklich. „Oder wenn es nicht treulos ist, so ist es wankelmüthig. Es ist Einem selber nicht ganz Dasielbe, zweimal zu lieben. Man hat weniger Achtung vor sich selber." „Das kann ich nicht glauben." „Wir Alle sollten es glauben. Nehmen Sie einen Fall als Beispiel. Eine Frau liebt einen Mann von ganzem Herzen, so weit, daß sie sehr viel für ihn opfert. Er liebt sie in derselben Weise. Trotz des stärksten Widerstandes kommen sie überein, sich zu heirathen. Gerade an dem Hochzeitstage wird er ihr entrissen, — für immer, — voll Liebe gegen sie, wie er sie stets geliebt hatte und stets ge­ liebt haben würde, wenn er am Leben geblieben wäre. Was würde solch' eine Frau empfinden, wenn sie sich dabei ertappte, daß sie um eines anderen Mannes willen eine solche Liebe, wie die geschilderte, in zwei oder drei Jahren vergäße? Was ist Ihre Ansicht, würde Sie mehr oder weniger Achtung vor sich selbst haben? Glauben Sie, daß sie das Recht haben würde, sich ein treues Weib zu

nennen?" Orfino schwieg einen Augenblick, da er sah, daß sie mit ihrem Beispiele sich selbst meinte. Jedoch hatte sie ihm nur gesagt, daß ihr Gatte getödtet worden sei, Spicca aber hatte einst von ihr gesagt, daß sie mit einem Manne verheirathet gewesen sei, der nie ihr Gatte war. „Eine Erinnerung ist Etwas, und das thatsächliche Leben ist ganz etwas Anderes," sagte Orsino schließlich, seine Wanderung wieder aufnehmend. „Und treu sein kann unmöglich bedeuten, treulos sein," antwortete Maria Consuelo mit leiser Stimme. Sie stand auf und ging zu einem der Fenster. Sie mußte wohl wünschen, ihr Gesicht zu verbergen, denn die

121 äußeren Jaloufieen und die Fensterflügel waren geschloffen, und sie konnte Nichts sehen, als das grüne Licht, das auf das gestrichene Holz fiel. Orfino trat an ihre Seite. „Soll ich das Fenster aufmachen?" fragte er mit ge­ preßter Stimme. „Nein, noch nicht. Ich dachte, ich könnte hinaus­ sehen." Noch immer stand fie auf derselben Stelle, indem ihr Gesicht die Scheibe beinahe berührte, die zarte weiße Hand auf dem Glase ruhte, und die Finger sich ruhelos hin und her bewegten. „Sie meinten jetzt eben sich selbst," sagte Orsino zaghaft. Sie sprach weder, noch bewegte fie sich; ihr Gesicht aber wurde blaß. Dann kam es ihm vor, als bewege sich ihr Kops kaum merklich und neige sich ein ganz klein wenig. Er lehnte sich etwas zu ihr hinüber, sich aus das mar­ morne Fenstersims stützend. „Und Sie meinten noch Etwas-------- " fing er wieder an zu sprechen. Dann hielt er plötzlich inne. Sein Herz klopfte heftig und das heiße Blut pochte ihm in den Schläfen; seine Lippen preßten sich fest aus

einander und sein Athmen war hörbar. Maria Consuelo wandte das Haupt, warf ihm rasch einen flüchtigen Blick zu, und sah sofort wieder zurück auf das glatte Glas vor ihr und auf das grüne Licht an den Jaloufieen draußen. Er hatte es kaum wahrgenommen, daß sie sich bewegt hatte. Bei der Liebe, wie bei einem Seesturme, wird die Lage in einigen Augenblicken sehr ernst. „Sie meinten, Sie könnten noch-------- " Wieder hielt er inne. Die Worte wollten sich nicht einstellen. Er bildete sich ein, sie wolle nicht sprechen. Sie konnte

122 aber nicht, ebenso wenig, wie sie in diesem Augenblicke hätte seine Seite verlaffen können. Die Luft war sehr schwül, trotzdem das Zimmer kühl und geschloffen war. Plötzlich verdunkelte sich das grüne Licht auf den Jaloufieen. Dann ließ ein ferner Donnerschlag seinen Wieder­ hall langsam über die Stadt dahinrollen. Noch immer trat Keines von ihnen vom Fenster zurück. „Wenn Sie könnten — —" Orfinos Stimme war leise und sanft, es lag etwas seltsam Ueberangestrengtes in ihrer nervösen Beschaffenheit. Jetzt war es kein Zaudern mehr, das ihn innehalten ließ. „Könnten Sie mich lieben?" fragte er. Er glaubte, er spräche laut. Als er aber gesprochen hatte, wußte er, daß er die Worte nur geflüstert hatte. Sein Gesicht war farblos. Er hörte einen kurzen scharfen Athem, der wie Keuchen klang. Die kleine weiße Hand fiel vom Fenster hinunter und packte die seine mit plötzlicher heftiger Kraft. Keines von Beiden sprach. Wieder ein Donnerschlag, der näher und lauter die Lust erschüt­ terte. Dann hörte Orsino wieder den keuchenden Athem, und die weiße Hand fuhr nervös nach dem Fenstergriffe. Orsino öffnete den Flügel und warf die Jalousieen zurück. Es erfolgte ein heftiges Aufblitzen, ein stärkerer Donner und ein erstickender Windstoß. Maria Consuelo lehnte sich weit hinaus und sah in die Höhe; einige dicke Regentropfen fingen an, zu fallen. Der Sturm brach los und der kalte Regen strömte wüthend nieder, wobei er die beiden weißen Gesichter am Fenster besprühte. Maria Consuelo zog sich etwas zurück und Orsino lehnte sich an den offenen Flügel und sah sie an. Es war, als ob der bloße Druck ihrer Hände die Fähigkeit zu sprechen für einige Zeit vernichtet habe.

123 Wochenlang hatten sie täglich viele Stunden lang zu­ sammen geplaudert. Das konnten sie nicht voraussehen, daß im großen Augenblicke ihnen Nichts mehr zu sagen übrig bleiben würde. Der Regen fiel in Strömen, und der ungestüme Wind erhob sich und peitschte mit brüllender Kraft die Vorderfront des großen Palastes, um einen Augenblick später in dem beständigen Rauschen des Waffers sehr plötzlich zu versinken, wieder aufspringend ohne jedes Vorzeichen, steigend und fallend, fallend und steigend wie ein mächtiger, schluchzender Athem. Der Wind und der Regen schienen das Sprechen übernommen zu haben für die Beiden, die ihnen lauschten. Orfino betrachtete Maria Consuelos Gesicht, nicht um es zu durchforschen, noch um sich zu überzeugen, ob es schön sei oder nicht, oder um zu versuchen, die Gedanken zu lesen, die halb ausgedrückt darauf standen — er dachte thatsächlich überhaupt an gar Nichts, sondern liebte es nur völlig und in jedem Theile um der Frau selber willen, der es angehörte, und so, wie er sich nie hätte träumen lassen, daß er irgend Jemanden oder irgend Etwas würde lieben können. Endlich drehte sich Maria Consuelo sehr langsam um und sah ihm in die Augen. Die leidenschaftliche Traurig­ keit schwand hinweg aus ihren Gesichtszügen, die schwache Farbe stieg wieder in die Wangen, die vollen Lippen preß­ ten sich nicht mehr krampfhaft aufeinander, das Lächeln, welches nun eintrat, war voll einer Glückseligkeit, die fast göttlich erschien. „Ich kann nicht anders," sagte sie. „Kann ich es denn?" „Wirklich?" Ihre Hand ruhte aus der marmornen Tragleiste. Orfino

124 legte die seine darauf, und beide Hände zitterten ein wenig. Sie verstand mehr, als irgend welche Worte ihr hätten sagen können. • „Auf wie lange?" fragte sie. „Auf unser ganzes jetziges und unser ganzes zukünf­ tiges Leben." Er erhob ihre Hand zu feinen Lippen, indem er den Kopf senkte, dann zog er sie vom Fenster weg, und sie wanderten langsam in dem großen Zimmer auf und ab. „Es ist sehr seltsam," sagte sie unmittelbar darauf, mit leiser Stimme. „Daß ich Dich liebe?" „Ja. Wo waren wir vor einer Stunde? Was ist aus jener alten Zeit geworden, die noch vor einer Stunde vorhanden war?" „Die habe ich vergeffen, Theure; die lag in dem an­ deren Leben." „In dem anderen Leben! Jawohl — wie unglücklich war ich — dort, an jenem Fenster, vor hundert Jahren!" Sie lachte milde, und Orsino sah lächelnd auf sie her­ nieder. „Bist Du jetzt glücklich?" „Frage mich nicht, — wie könnte ich es Dir beschrei­ ben?" „Sage es Dir leise im Herzen, Geliebte; ich werde es auf Deinem lieben Antlitz lesen." „Sage ich es denn nicht?" Dann schwiegen sie wieder, Seite an Seite dahin­ schreitend, während ihre Arme in einander verschlungen sich gegenseitig drückten. In Orsino begann es dämmernd zu tagen, daß ein großer Umschwung in seinem Leben eingetreten sei, und er dachte an die Folgen besten, was er jetzt that. Daß er

125 glücklich fei, hatte er nicht gesagt; jedoch hatte er es in dem ersten Augenblicke stärker empfunden, als sie. Die Zukunst aber, das fühlte er, würde der Gegenwart nicht gleich fein, und könne auch nicht eine beständige Fortsetzung derselben sein. Orfino war durchaus nicht romantisch ver­ anlagt, und bei jeder Angelegenheit pflegte sich die prak­ tische Seite der Dinge seinem Geiste stets sehr bald vor­ zustellen. Das gehörte so zu seiner Natur und hin­ derte ihn keineswegs, tief zu empfinden und aufrichtig zu lieben. Aber es kürzte die Augenblicke seines Glücks­ gefühls ab. „Weißt Du, was dies für Dich und mich bedeutet?" fragte er nach einiger Zeit. Maria Consuelo fuhr ein wenig zusammen und blickte zu ihm auf. „Daran wollen wir morgen denken — morgen," sagte fie. Ihre Stimme zitterte ein wenig. „Ist es so hart, daran zu denken?" fragte Orfino, welcher fürchtete, er möchte ihr mißfallen haben. „Sehr hart," antwortete sie mit leiser Stimme. „Für mich nicht. Warum sollte es hart sein? Wenn irgend Etwas das Heute noch vollkommener machen kann, so ist es der Gedanke, daß das Morgen noch bester sein wird, und der nächste Tag wieder noch mehr, und so weiter, jeder Tag bester, als sein Vorgänger. Maria Consuelo schüttelte den Kopf. „Sprich nicht davon," sagte sie. „Wirst Du mich morgen nicht Der leuchtende Ausdruck in seinem wie wenig ernsthaft er die Frage sich rasch zu ihm um. „Hegst Du selber Zweifel, daß

lieben?" fragte Orsino. Gesichte ließ erkennen, stellte; sie aber drehte Du an mir zweifelst?"

126 Es lag ein Klang des Schreckens in den Worten, der ihn beunruhigte, als er sie hörte. „Geliebte, nein — wie kannst Du glauben, daß ich so Etwas meinte?" „Dann sage es auch nicht." Sie zitterte etwas und ließ den Kopf herabhängen. „Nein, ich will es auch nicht. Aber, — Theure, — weißt Du, wo wir sind?" „Wo wir sind?" wiederholte sie, verständnißlos. „Ja, wo wir sind. Dies hier hat dies Jahr Deine Wohnung sein sollen." „Hat sein sollen?" Ihr Gesicht nahm ein erschrecktes Aussehen an. „Das wird es jetzt nicht sein. Dein Heim ist nicht in diesem Hause." Wieder schüttelte sic den Kopf und wandte das Gesicht weg. „Es muß hier sein," sagte sie. Orsino wurde durch diese Antwort unbeschreiblich über­ rascht. „Entweder weißt Du nicht, was Du sagst, oder Du meinst es nicht so, Theure," sagte er. „Oder Du willst mich nicht verstehen." „Ich verstehe Dich ganz gut." Orsino nöthigte sie, stehen zu bleiben, ergriff ihre bei­ den Hände und sah ihr tief in die Augen. „Du wirst mich heirathen," sagte er. „Ich kann Dich nicht heirathen," antwortete sie. Ihr Gesicht wurde noch bläffer, als es vorher gewesen war, wo sie am Fenster gestanden hatten, und so voll Schmerz und Traurigkeit, daß es Orsino in's Herz schnitt, es anzusehen. Die Worte aber, die sie mit ihren klaren, scharf umgrenzten Tönen sprach, trafen ihn unversehens wie ein Schlag. Er wußte, daß sie ihn liebte, denn ihre Liebe

127 lag in jedem Blicke und in jeder Geberde, ohne daß sie irgendwie versuchte, sie zu verbergen. Er war überzeugt, daß sie eine gute Frau sei. Er wußte sicher, daß ihr Ge­ mahl todt sei. Er konnte nicht begreifen und wurde plötz­ lich zornig. Ein älterer Mann würde Schlimmeres gethan haben, und so auch Einer, dem die Sache weniger ernst gewesen wäre. „Du mußt mir einen Grund anführen können — und zwar einen triftigen," sagte er gewichtig. „Den habe ich." Sie wendete sich wieder langsam um und fing an, allein auf und ab zu gehen. Er folgte ihr. „Du mußt ihn mir mittheilen," sagte er. „Ihn mittheilen? Ja, ich will ihn Dir mittheilen. Es ist ein feierliches Versprechen vor Gott, einem Manne geleistet, der in meinen Armen starb, — meinem Gatten. Möchtest Du, daß ich ein solches Gelübde bräche?" „Ja." Orsino holte tief Athem. Der Einwand sah unbedeutend genug aus, gegenüber der Mühe, die es ihm gekostet hatte, ehe derselbe zur Aussprache gekommen war. „Solche Versprechungen sind nicht bindend," fuhr er nach kurzer Pause fort. „So ein Versprechen wird hastig und übereilt gegeben, ohne daß man an die Folgen denkt. Du hast kein Recht, es zu halten." „Kein Recht? Orsino, was sagst Du da? Bleibt nicht ein Eid ein Eid, gleichviel unter welchen Umständen er geleistet wird? Wird nicht ein Gelübde zehnmal hei­ liger, wenn der, für den es gethan wurde, aus dem Leben geschieden ist? Giebt es irgend einen Unterschied zwischen meinem Versprechen und dem, welches von einer Frau, die die Welt aufgiebt, vor dem Altare dargebracht wird? Würde ich, wenn ich das meine bräche, irgendwie besser fein, als die Nonne, die das ihre gebrochen hat?"

128 „Du kannst das unmöglich ernst meinen!" rief Orfino mit tiefer Stimme aus. Maria Consuelo antwortete nicht. Sie ging zum Fenster und blickte auf den sprühenden Regen. Orfino blieb sieben, wo er stand, und sah ihr nach. Plötzlich kam sie zurück und stellte sich vor ihn hin. „Wir müssen dies ungeschehen machen," sagte sie. „Was willst Du damit sagen?" Er verstand sie aber ganz gut. „Du weißt es. Wir dürfen einander nicht lieben. Wir müssen es noch heute ungeschehen machen und ver­ gessen." „Wenn Du so leichthin von Vergessen sprechen kannst, so hast Du wenig zum Erinnern," antwortete Orsino fast rauh. „Du hast kein Recht, das zu sagen." „Ich habe das Recht eines Mannes, der Dich liebt." „Das Recht, ungerecht zu sein?" „Zch bin nicht ungerecht." Sein Ton wurde wieder milder. „Ich weiß, was es bedeutet, wenn ich sage, ich liebe Dich; diese Liebe ist mein Leben. Ich habe es schon längst gewußt. Es hat mir wochenlang auf den Lippen geschwebt, es auszusprechen; und da es jetzt ausgesprochen ist, so kann es nicht wieder rückgängig gemacht werden. Noch vor einem Augenblicke hast Du mich aufgefordert, nicht an Dir zu zweifeln. Das thue ich auch nicht. Und jetzt sagst Du, wir dürfen einander nicht lieben, als ob wir überhaupt wählen könnten-------- und weßhalb? Weil Du einst ein übereiltes Versprechen gegeben hast.---------" „Pst!" unterbrach ihn Maria Consuelo. „Du darfst

nicht-------- " „Ich muß und will.

Du hast ein Versprechen ge-

129 geben, als ob Du in einem solchen Augenblicke ein Recht gehabt hättest, über Dein ganzes Leben zu verfügen, — von meinem will ich gar nicht reden — als ob Du hättest missen können, was die Welt für Dich im Schoße barg, und auf dies Alles hättest im Voraus verzichten können. Ich sage Dir, Du hattest kein Recht, einen solchen Eid zu leisten, And ein Gelübde, das Einer darbringt, ohne die Berechtigung, es darbringen zu dürfen, ist überhaupt kein Gelübde-------- " „Es ist eins, es ist eins! ich kann es nicht brechen!" „Du wirst es thun, wenn Du mich liebst. Du sagst aber, wir sollen vergessen. Vergessen? Das ist leicht ge­ sagt. Wie sollen wir es aber machen?" „Ich will weggehen---------" „Wenn Du das Herz hast, wegzugehen, dann gehe. Ich aber werde Dir folgen. Die Welt ist sehr klein, wie man sagt; es wird mir nicht schwer werden, Dich zu finden, wo Du auch sein magst." „Wenn ich Dich bitte, wenn ich es als die einzige Güte, den einzigen Att der Freundschaft, den einzigen Be­ weis Deiner Liebe fordere, so wirst Du nicht kommen, — Du wirst das nicht thun-------- " „Ich werde es thun, und sollte es Deine Seele kosten und die meine." „Orsino! Das ist nicht Deine wahre Meinung; Du flehst, wie unglücklich ich bin; wie ich mich bemühe, recht zu handeln, und wie schwer es ist." „Ich sehe, daß Du darauf aus bist, unser Beider Leben zu Grunde zu richten. Ich will das nicht zulaffen. Außer­ dem hast Du selbst nicht die Abficht." Maria Consuelo sah ihm in die Augen, wobei ihre eigenen tief und dunkel wurden. Dann, als fühlte fie Crawsord, Don Orsino. II. 9

130 ihren Widerstand erlahmen, wandte sie sich weg und setzte sich auf einem Stuhle nieder, der abseits von den übrigen stand. Orfino folgte ihr und versuchte, ihre Hand zu er­ greifen, wobei er sich bückte, um ihrem zur Erde gerich­ teten Blicke zu begegnen. „Du meinst es nicht so, Consuelo," sagte er mit Nachdruck. „Du meinst auch nicht ein Hundertstel von dem, was Du sagst." Sie zog ihre Finger aus den seinigen heraus und drehte ihren Kopf seitwärts gegen die Rücklehne des Stuhles, so daß sie ihn nicht sehen konnte. Er beugte sich noch immer über sic und flüsterte ihr in's Ohr. „Du kannst nicht weggehen, Du wirst nicht den Versuch machen, zu vergessen, — denn weder Du noch ich sind wir dazu be­ rechtigt oder fähig, koste es, was es wolle. Du wirst nicht zerstören, was uns so werthvoll ist. Du möchtest es nicht einmal, selbst wenn Du es könntest. Sieh mich an, Ge­ liebte; wende Dich nicht weg. Laß es mich Alles in Deinen Augen lesen, die ganze Wahrheit davon und jedes Wortes, welches ich spreche." Noch immer wandte sie ihr Gesicht von ihm ab. Sie athmete aber schnell mit weitgeöffneten Lippen und ihre bleichen Wangen rötheten sich langsam. „Es mutz sütz sein, so geliebt zu werden, wie ich Dich liebe, Theure," sagte er, sich noch tiefer und näher zu ihr herabbiegend. „Es mutz ein Glück sein, zu wissen, daß Du so geliebt wirst. Bringt Dir Dein Leben so viel Freude, daß Du dies verachten kannst? Meines enthält keine ohne Dich, und nie kann es eine für mich geben, wenn wir nicht immer zusammen sind, — immer, Du Theure, immer, immer." Sie bewegte sich ein wenig und die tief herabgesun­ kenen Augenlider hoben sich fast unmerklich. „Führe mich

131 nicht in Versuchung, Theurer," sagte sie mit schwacher Stimme, „laß mich weggehen, laß mich weggehen." Orfinos dunkles Gesicht war jetzt dicht an dem ihrigen, und sie konnte seine glänzenden Augen sehen. Einmal ver­ suchte sie wegzublicken, und konnte es nicht. Noch einmal versuchte sie es, indem sie ihren Kopf von dem Kissen des Stuhles erhob. Sein Arm aber hatte ihren Hals umfaßt, und ihre Wange ruhte auf seiner Schulter. „Geh, Geliebte," sagte er sanft, sie noch dichter an sich drückend. „Gehe, — wir wollen uns nicht lieben. Es ist so leicht, sich nicht zu lieben." Sie blickte wieder mit einem plötzlichen Schauer hinaus in seine Augen, und Beide wurden sehr blaß. Zehn Sekun­ den lang rührte sich Keines oder sprach ein Wort. Dann trafen sich ihre Lippen.

Siebentes Kapitel.

Als Orsino in jener Nacht allein war, richtete er mehr als eine Frage an sich, deren Beantwortung ihm nicht leicht wurde. Allerdings konnte er die Beziehung, in der er jetzt zu Maria Consuelo stand, genau bestimmen; denn wenn sie sich auch bis zum Schlüsse geweigert hatte, die Worte einer bestimmten Zusage auszusprechen, so hegte er doch keinen Zweifel mehr, daß sie die Absicht habe, seine Frau zu werden, und daß ihre Gewiffensbedenken für immer überwunden seien. Dies war unleugbar der wichtigste Punkt an der ganzen Angelegenheit, so weit seine eigene Bestiedigung in Betracht kam; es waren aber noch andere von der schwersten Bedeutung in Betracht zu nehmen und aufzuklären, ehe er auch nur die Wahrscheinlichkeit zukünftigen Glücks einer wägenden Prüfung unterziehen konnte. 9*

131 nicht in Versuchung, Theurer," sagte sie mit schwacher Stimme, „laß mich weggehen, laß mich weggehen." Orfinos dunkles Gesicht war jetzt dicht an dem ihrigen, und sie konnte seine glänzenden Augen sehen. Einmal ver­ suchte sie wegzublicken, und konnte es nicht. Noch einmal versuchte sie es, indem sie ihren Kopf von dem Kissen des Stuhles erhob. Sein Arm aber hatte ihren Hals umfaßt, und ihre Wange ruhte auf seiner Schulter. „Geh, Geliebte," sagte er sanft, sie noch dichter an sich drückend. „Gehe, — wir wollen uns nicht lieben. Es ist so leicht, sich nicht zu lieben." Sie blickte wieder mit einem plötzlichen Schauer hinaus in seine Augen, und Beide wurden sehr blaß. Zehn Sekun­ den lang rührte sich Keines oder sprach ein Wort. Dann trafen sich ihre Lippen.

Siebentes Kapitel.

Als Orsino in jener Nacht allein war, richtete er mehr als eine Frage an sich, deren Beantwortung ihm nicht leicht wurde. Allerdings konnte er die Beziehung, in der er jetzt zu Maria Consuelo stand, genau bestimmen; denn wenn sie sich auch bis zum Schlüsse geweigert hatte, die Worte einer bestimmten Zusage auszusprechen, so hegte er doch keinen Zweifel mehr, daß sie die Absicht habe, seine Frau zu werden, und daß ihre Gewiffensbedenken für immer überwunden seien. Dies war unleugbar der wichtigste Punkt an der ganzen Angelegenheit, so weit seine eigene Bestiedigung in Betracht kam; es waren aber noch andere von der schwersten Bedeutung in Betracht zu nehmen und aufzuklären, ehe er auch nur die Wahrscheinlichkeit zukünftigen Glücks einer wägenden Prüfung unterziehen konnte. 9*

132 Bei der jetzigen Gelegenheit hatte er nicht den Äopf verloren, wie er es früher gethan hatte, wo seine Leiden­ schaft eher alles andere als aufrichtig gewesen war. Er war sich vollständig bewußt, daß Maria Consuelo jetzt die Hauptperson in seinem Leben war, und daß, früher oder später, der Augenblick unweigerlich habe kommen müssen, wo er gezwungen war, ihr das zu sagen, was er ihr an diesem Tage gesagt hatte. Er hatte nicht einem plötzlichen Triebe nachgegeben, sondern einem stetigen und beständig wachsenden Drucke, dem er auf keine Weise mehr hatte entgehen können/ und den er auch nicht zu vereiteln gesucht hatte. Er war nicht in einer jener Launen überquellender und halb unvernünftiger Geister, wie ihn solche mehr als einmal während des Winters angewandelt hatten, wenn er eine Stunde lang in ihrer Gesellschaft gewesen war und etwas ungewöhnlich Unvorsichtiges gesagt oder gethan hatte. Im Gegentheil war er geneigt, der ganzen Lage nüchtern in's Gesicht zu sehen und den Zweifel zu hegen, ob sich nicht die Liebe, die ihn beherrschte, als eine Quelle des Unglücks sowohl für Maria Consuelo, wie für ihn selber, ausweisen möchte. Zur selben Zeit war er überzeugt, daß es nutzlos sein würde, gegen diese Herrschaft anzukämpfen; denn er wußte, daß er jetzt völlig aufrichtig war. Die Schwierigkeiten aber, die angetroffen und über­ wunden werden mußten, waren zahlreich und groß. Er hätte sich mit fast jeder Frau in der guten Gesellschaft, mochte sie Wittwe oder Jungfrau sein, verloben können, ohne den hundertsten Theil des Widerstandes zu befürchten, dem er jetzt sicherlich begegnen mußte. Ueber das Vorurtheil, das seine Eltern gegen ihn ausreizen würde, war er nicht einmal von vornherein erbittert, denn er räumte ein, daß es überhaupt kaum ein Vornrtheil sei, und sicher-

133 lich keines, das ihnen oder ihrem Stande speciell eigen­ thümlich war. Schwerlich hätte man irgendwo eine Familie, die Etwas auf sich hielt, gleichviel wie bescheiden sie auch sein mochte, finden können, die eine Wahl, wie er sie ge­ troffen hatte, ohne Frage acceptiert hätte. Maria Consuelo war eine von jenen Personen, von denen die Welt gern mit Unglimpf spricht, da sie weiß, daß es nicht leicht sein wird, Vertheidiger für sie zu finden. Allerdings liebt die Welt die zu ihr Gehörigen und behandelt sie mit Achtung, namentlich, wenn es sich um vorübergehende Thorheiten handelt; und nachdem es der Gesellschaft klar geworden war, daß Orsino in Maria Consuelos Zauberbande gefallen sei, hatte er keine unangenehmen Bemerkungen mehr über ihre Herkunft oder die Umstände ihrer Verwittwung gehört. Er erinnerte sich aber an das, was vorher darüber geredet worden war, wo er selber gleichgültig genug zugehört hatte; und er vermuthete, daß böswillige Leute sie eine Aben­ teurerin oder etwas wenig Besseres nannten. Wenn irgend Etwas den Schmerz, welchen diese aus eigener Anschauung stammende Kenntniß ihn verursachte, noch hätte vergrößern können, so war es die Thatsache, daß er außer seinem eigenen unbedingten Glauben an sie, und den wenigen Worten, die Spicca geruht hatte, fallen zu lassen, keinen Beweis dafür in Händen hatte, daß sie das Recht besitze, mit den besten Familien in eine Reihe zu treten. Spicca wurde noch immer für so gefährlich gehalten, daß die Leute zögerten, ihm offen zu widersprechen; seine bloße Versiche­ rung aber, dachte Orsino, war doch, wenn sie auch schein­ bar angenommen werden mochte, nicht gewichtig genug, um in die Herzen von Leuten, die kein Interesse daran hatten, sich überzeugen zu lassen, die Ueberzeugung hineinzutragen. Es war nur zu klar, daß, wenn nicht Maria Consuelo,

134 oder Spicca, oder Beide geneigt waren, die seltsame Ge­ schichte in ihrer Vollständigkeit mitzutheilen, es nicht Be­ weise genug gab, um auch die gutwilligste Person von ihrem Rechte auf die sociale Stellung, die sie einnahm, zu überzeugen, nachdem diese einmal in Frage gestellt worden war. Nach Orsinos Ansicht bewies schon die Thatsache, daß sie überhaupt in Frage gestellt worden war, zur Ge­ nüge, daß sie ihrerseits eine Sorglosigkeit hatte walten lassen, die nur aus dem sicheren Gefühle hervorgehen konnte, daß sie jenes Recht unbestreitbar besitze. Es wäre ihr ohne Zweifel möglich gewesen, sich von Anfang an mit Etwas in der Art einer Bürgschaft für ihre Identität zu versehen. Sie hätte sicherlich durch irgend einen Freund von ihr, der anderswo lebte, das Mittel finden können, die Bekannt­ schaft irgend einer Persönlichkeit der großen Gesellschaft zu machen, die für sie Gewähr geleistet hätte, und das rück­ sichtslos gehässige Geschwätz über sie zum Schweigen ge­ bracht hätte, welches die Runde gemacht hatte, als sie zu­ erst auftrat. Sie aber war völlig gleichgültig erschienen. Sie wies Orsinos dringendes Anerbieten zurück, sie in Be­ ziehungen zu seiner Mutter zu bringen, deren Einfluß ge­ nügt haben würde, um auch einen viel zweifelhafteren Ruf» als den Maria Consuelos, wieder gerade zu richten, und sie hatte sich fast muthwillig in eine Art vertrauter Freund­ schaft mit der Gräfin Del Ferice gestürzt. Wie aber Orsino an diese Sachen dachte, sah er, wie hinfällig solche Beweismittel seinen Angehörigen erscheinen mußten, und wie läppisch ungenügend sie waren, seinen eigenen Geisteszustand zu verbessern, da er ja selber nicht überzeugt zu werden brauchte, sondern nach Mitteln suchte, um die Anderen zu überzeugen. Ein Punkt allein ge­ währte ihm etwas Hoffnung. Unter den bestehenden Ge»

135



setzen würde die nicht zu umgehende standesamtliche Ehe­ schließung das Beibringen von Urkunden nöthig machen, die die ganze Geschichte mit einem Schlage in Helles Licht setzen mußten. Andererseits konnte diese Handlung OrsinoS Stellung seinem Vater und seiner Mutter gegenüber durch­ aus nicht leichter machen, bis die Papiere thatsächlich vor­ gelegt wurden. Man kann sich in Rom nicht leicht heim­ lich verheirathen, da dort die Gesetze die Veröffentlichung des Aufgebots durch Anschlag an die Thüren des Kapitols verlangen, wobei der Name Orfino Saracinesca sich nicht leicht übersehen ließ. Orfino wußte natürlich sehr wohl, daß er die Zustimmung seiner Eltern zu seiner Ehe nicht nöthig hatte; er war aber nicht derartig erzogen worden, daß er ihre Genehmigung für überflüssig gehalten hätte. Er war ihnen Beiden aufrichtig zugethan, namentlich aber seiner Mutter, die bei seinen Anstrengungen, selber Etwas zu leisten, seine standhafte Freundin gewesen war, und auf die er selbstverständlich, wenn auch nicht wegen thätiger Hilfe, so doch wegen mitfühlender Theilnahme, rechnete. Wie sicher er auch sein mochte, daß das Ergebniß schließ­ lich seine Verheirathung sein werde, so war ihm doch der Gedanke, sich in direktem Widersprüche zu den Wünschen seiner Mutter zu verheirathen, so widerwärtig, daß er sür ihn fast eine unübersteigbare Schranke bildete. Er konnte allerdings, und würde auch wahrscheinlich, seine Verlobung eine Zeit lang geheim halten, aber lediglich in der Absicht, das Beweismaterial zu Gunsten derselben so vorzubereiten, daß er sie seinen Eltern unmittelbar bei der ersten Ankün­ digung des Ereigniffes annehmbar machte. Wenn er Maria Consuelo dahin bringen konnte, die Sache von seinem Standpunkte aus anzusehen, so warf sie möglicherweise ihre hartnäckige Verschwiegenheit bei Seite

136 und stattete ihn mit der Belehrung aus, deren er so drin­ gend bedurfte. Jedoch war es jedenfalls eine sehr heikle Sache, sie zu jenem Standpunkte zu bringen, da sie ja über ihre zweideutige Stellung nicht aufgeklärt werden durste. Er konnte nicht zu ihr hingehen und ihr sagen, daß es zur Veröffentlichung ihrer Verlobung nöthig sei, daß sie sage, wer und was sie wirklich sei. Das Höchste, was er thun konnte, war, ihr genau anzugeben, welche Papiere für ihre Verheirathung nöthig seien, und sie dahin zu bringen, daß sie diese Papiere sobald als möglich be­ schaffte, oder, wenn sie bereits in ihrem Besitze waren, ihm sofort aushändigte. Um aber auch nur Dieses von ihr zu fordern, mußten die Sachen weiter getrieben werden, als sie bisher gegangen waren. Er hatte sich ihr bestimmt verpfändet, und glaubte fest, daß auch sie sich ihm für ver­ bunden hielt. Darüber hinaus aber war nichts Abschließen­ des geschehen. Sie waren durch den Eintritt von Arbeitern unter­ brochen worden, die nach Aufträgen fragen kamen, und ihm war es vorgekommen, als ob Maria Consuelo ängstlich bemüht gewesen sei, die Männer so lange wie möglich dazu­ behalten. Daß ein derartiger Auftritt nicht sofort, nach­ dem er abgebrochen worden war, wieder aufgeführt werden konnte, war klar genug; aber Orsino bildete sich ein, daß sie auch nicht den Wunsch gehabt habe, eine Erneuerung deffelben zu versuchen. Er hatte sie in der Abenddämme­ rung nach Hause gebracht, und sie hatte es abgelehnt, ihn mit sich in das Hotel eintreten zu lasten. Sie sagte, sie wünsche, allein zu fein, und er mußte froh sein, daß er die Befriedigung haben durste, ihr die Hand zu drücken und ihr in die Augen zu blicken, was Beides viel sagte, und doch nicht halb so viel, als er zu hören und zu wiffen verlangte.

137 Natürlich würde er sie am folgenden Tage zur ge­ wöhnlichen Stunde besuchen, und er nahm sich vor, deut­ lich und kräftig zu sprechen. Sie konnte nicht von ihm ver­ langen, einen solchen Zustand der Ungewißheit noch länger «uszudehnen. In Anbetracht der vielen Stufen, die er

hatte steigen müssen, um den Punkt zu erreichen, wo er an jenem regnerischen Nachmittage angelangt war, ließ sich, glaubte er, kaum annehmen, daß sie sich noch Zeit, um sich zu entschließen, ausbitten würde. Wenigstens würde sie doch einer vorläufigen Uebereinkunst bezüglich einer gemein­ sam zu beobachtenden Verhaltungslinie ihre Zustimmung nicht versagen. So unwahrscheinlich aber auch der entgegengesetzte Fall erschien, so ließ ihn Orfino doch nicht außer Acht. Sein Geist machte dieselbe Entwicklung durch, wie sein Charakter, und nahm die Gewohnheit an, Schwierigkeiten vorauszusehen, um ihnen zuvorzukommen. Sollte Maria Consuelo plötzlich zu ihrem ersten Standpunkte zurückkehren und erklären, daß das ihrem sterbenden Gemahle gegebene Versprechen noch immer bindende Kraft besitze, so beschloß Orfino, daß er zu Spicca als letztem Auskunstsmittel gehen wollte. Welcher Art auch das Band sein mochte, das sie an einander knüpfte, das jedenfalls war klar, daß Spicca eine Art Macht über Maria Consuelo besaß, und daß er mit allen Umständen ihres früheren Lebens genügend be­ kannt war, um vorzüglich befähigt zu sein, Orfino für die Zukunft guten Rath zu ertheilen. Am folgenden Morgen ging er mit geringer Arbeits­ lust nach seinem Comptoir. Vielleicht wäre es gerechter, zu sagen, daß er den Wunsch fühlte, seiner gewöhnlichen Beschäftigung nachzugehen, während er doch empfand, daß fein Geist durch die Ereigniffe des vorangehenden Nach-

138 mittags zu sehr gestört sei, als daß er sich auf die Einzel­ heiten von Plänen und Rechnungen concentrieren könne. Er ertappte sich dabei, daß er allerhand Irrthümer der Vergeßlichkeit beging, die bei ihm ganz ungewöhnlich waren. Ziffern schienen ihren Werth und Zeichnungen ihre Bedeu­ tung verloren zu haben. Mit äußerster Entschlossenheit hielt er sich an die Arbeit, da er nicht glauben wollte, daß sein Verstand und sein Nervensystem derartig gestört sein könnten, daß sie ihn unfähig machten, eine ernste Arbeit vorzunehmen. Das Ergebniß aber war kläglich gegenüber der aufgewendeten Mühe. Auch Andrea Contini war, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit, geneigt, die Dinge von einem verdüsterten Standpunkte aus zu betrachten. Ein Gerücht verbreitete sich des Inhalts, daß ein gewisser großer Unternehmer am Rande des Bankerotts stehe, ein Mann, den man bisher als jenseits der Gefahr schwerer Verluste stehend betrachtet hatte. Mehr als ein kleiner Bankbruch war seit kurzem vorgekommen; aber Niemand hatte solchen Unfällen viel Aufmerksamkeit beigemessen, da sie gewöhnlich lieber per­ sönlichen Ursachen, als einer herannahenden Umkehr in der Hochfluth der Spekulation zugeschrieben wurden. Contini aber zog vor, zu glauben, daß eine Krise nicht mehr fern sei. Er besaß in hohem Maße jene Art Vorsicht, die an einem Unterbefehlshaber werthvoller ist, als an einem Höchstkommandierenden. Orsino war wenig geneigt, für jetzt seines Architetten Verzagtheit zu theilen. „Ihnen thut ein Luftwechsel noth," sagte er, indem er einen Haufen Papiere bei Seite schob und sich eine Ci­ garette anzündete. „Sie sollten auf einige Tage hinunter nach Porto d'Anzio gehen. Sie sind zu lange in der Hitze gewesen."

139 „Nicht länger, als Sie, Don Drftno," antwortete Contini von seinem eigenen Tische aus. „Sie find niedergedrückt und schwermüthig. Sie haben härter gearbeitet, als ich. Sie sollten wirklich auf einen oder zwei Tage aus der Stadt gehen." „Ich fühle kein Bedürfniß danach." Contini beugte sich wieder über seinen Tisch und es folgte ein kurzes Schweigen. Orsinos Geist kehrte sofort zu Maria Consuelo zurück. Er fühlte ein heftiges Ver­ langen, das Comptoir auf der Stelle zu verlaffen und zu ihr hinzugehen. Es lag kein Grund vor, weßhalb er sie nicht am Vormittage besuchen sollte, wenn es ihm beliebte. Schlimmstenfalls weigerte sie sich vielleicht, ihn zu empfan­ gen. Er dachte eben daran, wie sie aussehen würde, und wunderte sich, ob sie lächeln oder ihm mit ernsten, halb mit Bedauern erfüllten Augen entgegentreten würde, als Continis Stimme wiederum in seine Gedankenreihen herein­ brach. „Sie glauben, ich sei verzagt, weil ich zu lange in der Hitze gearbeitet habe," sagte der junge Mann, indem er aufstand und den Raum vor Orfino abzuschreiten be­ gann. „Nein; so ein Mann bin ich nicht. Ich bin nie müde. Ich kann immer weiter gehen. Aber die Geschäfte in Rom werden nicht immer weiter gehen. Das will ich Ihnen sagen, Don Orfino. Es liegt eine gewiße Unruhe in der Luft. Ich wünschte, wir hätten Alles verkauft und könnten warten. Das würde viel besser sein." „Das Alles ist sehr unbestimmt, Contini." „Mir ist es völlig klar. Die Geschäfte gehen immer schlechter. Es läßt sich nicht bezweifeln, daß Ronco fal­ liert hat." „Nun gut, und wenn's so ist? Wir find doch nicht

140 Ronco. Er war in alle möglichen anderen Spekulationen verwickelt. Wäre er fest bei Grundstück und Häuserbau ge­ blieben, so wäre er noch so gesund wie je." „Vielleicht noch einen Monat länger. Wissen Sie, warum er zu Grunde gegangen ist?" „Durch seine eigene Schuld, wie es ja stets der Fall ist. Er war hitzig." „Nicht hitziger, als wir. Ich glaube, das Spiel ist aus. Ronco ist bankerott, weil die Bank, mit der er arbeitet, diese Woche keine Wechsel mehr discontieren kann." „Und warum?" „Weil die ausländischen Banken von all' dem Papier, was jetzt in der Luft herumfliegt, Nichts mehr nehmen wollen. Jene kleinen Bankerotts im Sommer haben ihre Wirkung hervorgebracht. Einiges von dem Papier war in Paris und einiges in Wien. Es wies sich als werthlos aus, und die Ausländer haben einen Schrecken bekommen. Im besten Falle ist Alles ein Unterschleif oder etwas dem sehr Aehnliches." „Was wollen Sie damit sagen?" „Sagen Sie mir die Wahrheit, Don Orsino, — haben Sie auch nur einen Centime von all' diesen Millionen zu Gesicht bekommen, mit denen Jeder um sich wirft? Glauben Sie, daß sie wirklich vorhanden sind? Nein. Es ist Alles Papier, Papier und noch einmal Papier. Es steckt kein Baargeld im Geschäfte." „Es ist aber Land da und es sind Häuser da, die die Millionen dem Wesen nach darstellen." „Dem Wesen nach! Ja wohl, so lange der Zauber dauert. Hernach werden sie Nichts darstellen." „Sie schwatzen Unsinn, Contini. Die Preise können heruntergehen, und einige Personen erleiden vielleicht Ver-

141 lüfte; Sie können aber thatsächlich vorhandenen Besitz nicht für immer vernichten.

„Sein Werth kann auf zehn oder zwanzig Jahre zer­

stört sein, was in Wirklichkeit dasselbe ist, als ob die Leute überhaupt kein Eigenthum haben.

Nehmen Sie den Häuser-

complex, an dem wir bauen. Er stellt eine große Summe vor. Nehmen Sie an, in den nächsten sechs Monaten treten ein halb Dutzend Bankerotts ein, wie der des Ronco,

und die Panik beginnt. Wir könnten dann die Häuser weder verkaufen, noch vermiethen. Was würden sie uns Einen Fehlschlag, wie der Fehlschlag Wissen Sie, wo die Millionen wirklich stecken? Sie sollten es besser wissen, als die meisten Leute.

vorstellen?

Nichts.

aller Anderen.

Sie stecken in Casa Saracinesca und in einigen anderen großen Häusern, die nicht in all' diesen Geschäften herum­

gemanscht haben,

und vielleicht stecken sie in den Taschen

einiger geschickter Männer, die bei Zeiten ans dem Allen herausgekommen sind. Sicherlich stecken sie nicht in der Firma Andrea Contini und Compagnie, die jedenfalls ban­

kerott sein wird, ehe der Winter vorbei ist." Contini biß wild in seine Cigarre, stieß die Hände in die Taschen und sah zum Fenster hinaus, wobei er Orsino den Rücken zukehrte. Dieser beobachtete seinen Compagnon

ganz erstaunt, da er nicht einsehen konnte, weßhalb seine üblen Weissagungen einen so plötzlichen und heftigen Aus­

druck fanden. „Meiner Ansicht nach übertreiben Sie gar sehr," sagte Orsino. „Mit solchem Geschäft, wie unserem, ist stets ein Wagniß verbunden. Es fällt mir aber auf, daß das Wagniß größer war, als wir weniger Kapital hatten."

„Kapital!" rief der Architekt verächtlich aus und ohne „Können wir heute einen Check —

sich herumzudrehen.

142 einen einfachen, schmucklosen Check und nicht eine Tratte — auf hundert tausend Franks ziehen? Oder werden wir ihn morgen ziehen können? Kapital? Wir haben einen An­ theil Ziegel und Mörtel in unserem Besitz, die nach unserem Geschmack mehr oder weniger symmetrisch zusammengestellt und in praxi noch nicht bezahlt find. Wenn wir es mög­ lich machen, das bei Zeiten zu verkaufen, so werden wir die Differenz zwischen dem, was uns bezahlt wird, und dem, was wir schuldig sind, bekommen. Das ist unser Kapital. Es ist zum Mindesten problematisch. Wenn wir weniger herausbekommen, als wir schuldig sind, sind wir bankerott." Plötzlich kam er, als er zu sprechen aufhörte, an Orsinos Tisch zurück und sein Gesicht zeigte, daß er that­ sächlich ganz verstört war. Orsino sah ihn einige Sekun­ den lang fest an. „Es ist nicht bloß Roncos Bankerott, was Sie in Furcht seht, Contini. Es muß etwas An­ deres sein." „Anderes derselben Art. Es kommt genug vor, was Einen in Furcht setzen kann." „Nein, etwas ganz Anderes. Sie haben mit Jeman­ dem gesprochen." „Mit Del Ferices vertrautestem Buchhalter. Za vohl, es ist ganz wahr. Ich war gestern Abend mit ihm zu­ sammen." „Und was sagte er? Vermuthlich das, was Sic mir soeben mitgetheilt haben." „Etwas viel Unangenehmeres; Etwas, was Sie lieber nicht hören möchten." „Ich wünsche, es zu hören." „Sie sollten es, als eine Thatsache." „Fahren Sie fort."

143 „Wir find vollständig in Del Ferices Händen." „Wir find in den Händen seiner Bank." „Was ist da für ein Unterschied? Für alle Abfichten und Zwecke ist er unsere Bank. Der Beweis liegt darin, daß wir, wenn er nicht gewesen wäre, schon Bankerott ge­ macht haben würden." Orfino blickte scharf auf. „Seien Sie deutlich, Gon« tini. Sagen Sie, was Sie meinen." „Ich meine Folgendes. Vor vier Wochen hätte die Bank auch nicht für hundert Franks von unserem Papiere discontiert. Del Ferice hat Alles genommen und das Geld aus seiner Privatrechnung vorgeschoffen." „Sind Sie besten sicher?" Orfino stellte die Frage mit leiser Stimme und zusammengezogenen Augenbrauen. „Man kann schwerlich eine beffere Gewähr haben, als des Buchhalters eigenes Zeugniß." „Und er sagte Ihnen das ganz deutlich, nicht wahr?" „Höchst deutlich." „Er muß einen Zweck dabei im Auge gehabt haben, indem er ein derartiges Vertrauen verrieth," sagte Orfino. ,,Es ist nicht wahrscheinlich, daß ein solcher Mann Ihnen oder mir leichthin ein Geheimniß erzählen sollte, das doch offenbar hatte bewahrt werden sollen." Er sprach ziemlich ruhig, aber der Ton seiner Stimme war verändert und verrieth, wie stark er durch die Nach­ richt erregt wurde. Contini fing wieder an, auf und ab zu gehen, gab aber keine Antwort auf diese Bemerkung. „Wie viel schulden wir der Bank?" fragte Orfino plötzlich. „Zn Bausch und Bogen ungefähr sechshundertausend." „Wie viel von dieser Summe glauben Sie, daß Del Ferice aus sich genommen hat?"

144 „Ungefähr ein Viertel, glaube ich, nach dem, was nur der Buchhalter gesagt hat." Es folgte ein langes Schweigen, während dessen Orsino den Versuch machte, die Lage unter allen nur denkbaren Gesichtspunkten zu betrachten. Es war klar, daß Del Ferice nicht wünschte, daß Andrea Contini und Compagnie fallier­ ten, und sich ernsten Unbequemlichkeiten aussetzte, um die Katastrophe abzuwenden. Ob er bei seinem Thun den Wunsch hegte, Orsino in seiner Gewalt zu haben, oder ob er lediglich wünschte, dem Vorwurfe zu entgehen, er habe den Sohn seines alten Feindes aus Haß zu Grunde ge­ richtet, war schwer zu entscheiden. Orsino ging ziemlich schnell über diese Frage hinweg. So weit irgend ein Ge­ fühl der Demüthigung in Betracht kam, so wußte er sehr wohl, daß seine Mutter bereit und im Stande sein würde, alle seine Verbindlichkeiten bei der kürzesten Mittheilung abzuzahlen. Was Orsino am tiefsten empfand, war bittere Enttäuschung und ein außerordentlicher Ekel über seine eigene Thorheit. Es schien ihm, daß man sein Spiel mit ihm getrieben und ihn in den Glauben hineingeschmeichelt habe, er sei ein ernsthafter Geschäftsmann, während er die ganze Zeit von unsichtbaren Händen vorwärtsgestoßen und gestützt worden war. Nichts lag vor, was beweisen konnte, daß Del Ferice ihn nicht von allem Anfänge an auf diese Weise getäuscht habe, und in der That, wenn er an seine kleinen Anfänge zu Beginn des Jahres dachte, und sich den Umfang vergegenwärtigte, den das Geschäft jetzt an­ nahm, so konnte er nicht umhin, zu glauben, daß Del Ferice die Grundlage für alle seine scheinbaren Erfolge gewesen sei, und daß seine eigenen ernsten und rastlosen Bemühungen thatsächlich nur wenig mit der Entwickelung seiner Angelegenheiten zu thun gehabt

145 hatten. Seine Eitelkeit litt furchtbar unter dem ersten Stoße. Er war bitter enttäuscht. Im Laufe der vorangehen­ den Monate hatte er angefangen, sich unabhängig und selbstständig zu fühlen, und er hatte die Aussicht gehabt, seinem Vater in naher Zukunft mitzutheilen, daß er für sich allein und ohne jede fremde Hülse ein Vermögen ge­ schaffen habe. Er hatte sich an jedes Wort kalter Entmuthigung erinnert, das er sich gerade im Anfänge hatte anhören müssen, und er hatte sich sicher gefühlt, daß er jedem dieser Worte einen Erfolg würde entgegensetzen können. Er wußte, daß er nicht faul gewesen war, und er hatte sich eingebildet, daß jede Stunde der Arbeit ihr dauerndes Ergebniß hervorgebracht und ihm etwas mehr aufzuweisen hinterlassen habe. Er hatte gesehen, wie der Stolz seiner Mutter auf ihn täglich mit seinen scheinbaren Erfolgen wuchs, und er hatte das Vertrauen gehegt, er werde beweisen können, daß sie bei weitem nicht stolz genug gewesen sei. Dies Alles war in einem Augenblick dahin. Er sah, oder glaubte zu sehen, Nichts, als eine Reihe von Fehlschlägen, die von einem Manne, den sein Vater ver­ achtete und haßte, und den er selber als Mann nicht achtete, zu scheinbaren Triumphen aufwattiert und aufgeblasen wor­ den waren. Die Enttäuschung war eine vollständige. Zuerst schien es ihm, als lasse sich Nichts weiter thun, als sofort nach Saracinesca zu reisen, und seinen Eltern die Wahrheit mitzutheilen. Was die Geldlage betraf, so war, in Anbetracht des Wohlstandes der Familie, die Lage nicht gerade sehr beunruhigend. Er würde von seinem Vater eine genügende Summe borgen, um sich mit Del Ferice auseinander zu setzen, und die unvollendeten Ge­ bäude für das, was sie eben brächten, verkaufen. Vielleicht Crnwford, Don Orsino. II. 10

146 /

konnte er sogar seinen Vater veranlassen, ihm bei der Be­ endigung seiner Arbeit beizustehen. Wegen der Geschäfts­ frage also brauchte er sich nicht zu beunruhigen. Was Contini anbetrifft, so sollte er durch die Abwickelung Nichts verlieren, und ohne Zweifel ließ sich für ihn beständige Beschäftigung auf einem der Güter finden, wenn es ihm beliebte, sie anzunehmen. Er dachte nun aber an die Aus­ sprache mit seinem Vater, und seine Eitelkeit schrak davor zurück. Ein anderer Plan bot sich ihm dar. Es erschien im Ganzen leichter, seine Abhängigkeit von Del Ferice zu ertragen, als sich für geschlagen zu erklären. Es lag nichts Unehrenhaftes, wenigstens Nichts, was so hätte genannt werden können, darin, daß er einen finanziellen Ausgleich von einem Manne annahm, dessen Geschäft es war, gegen Sicherheit Geld auszuleihen. Wenn es Del Ferice beliebte, Summen vorzustrecken, die seine Bank nicht vorstrecken wollte, so that er es aus guten Gründen persönlicher Art und gewiß nicht in der Absicht, sie schließlich zu verlieren. Im Falle des Mißerfolges würde Del Ferice die Gebäude für die Schuld annehmen, und würde sie sicherlich in diesem Falle bedeutend billiger bekommen, als sie wirklich werth waren. Orsino würde nicht schlimmer daran sein, als da­ mals, wo er angefangen hatte; er würde freimüthig ein­ gestehen, daß, wenn er auch Nichts verloren habe, er aller­ dings kein Vermögen zu Stande gebracht habe, und die Sache würde damit zu Ende sein. Ein solcher Ausgang würde sehr viel leichter zu ertragen sein, als die Demüthi­ gung, im gegenwärtigen Augenblicke einzugestehen, daß er in Del Ferices Gewalt sei und ohne Del Ferices persön­ liche Hülfe bankerott sein würde. Und wiederum sagte er sich noch einmal, daß Del Ferice nicht der Mann sei, der Geld wegwürfe, ohne die Hoffnung zu haben, es mit Zinsen

147 zurückzubekommen. Auch war es unbegreiflich, daß ihn Ugo so weit gefördert habm sollte, lediglich um der Eitel­ keit eines jungen Mannes zu schmeicheln. Er hatte die Absicht, ihn auszunützen, oder ans seinem Bankerott peku­ niären Nutzen zu ziehen. In beiden Fällen würde Orsino der von ihm Geleimte sein und ihm gegenüber keine Ver­ pflichtung haben. Im Vergleiche zu der Nothwendigkeit, den gegenwärtigen Stand seiner Angelegenheiten seinem Vater einzugestehen, war die Aussicht, von Del Ferice zu einem Werkzeuge gemacht worden zu sein, immer noch er­ träglich, wenn auch nicht gerade verlockend. „Was könnten wir am besten thun, Contini?" fragte er schließlich. „Es läßt sich, glaube ich, Nichts weiter thun, als vor­ wärts gehen, bis wir zu Grunde gerichtet sind," antwortete der Baumeister. „Sogar wenn wir das Geld dazu hätten, würden wir Nichts dabei gewinnen, daß wir alle unsere Wechsel, so wie sie fällig werden, einlösen, statt sie zu pro­ longieren." „Wenn aber die Bank sie nicht länger discontieren will---------" „Del Ferice wird es im Namen der Bank thun. Wenn er nahe am Bankerott ist, werden wir Bankerott machen, und er wird durch unseren Verlust gewinnen." „Glauben Sie, daß er dies zu thun beabsichtigt?" Contini sah Orsino überrascht an. „Natürlich. Was haben Sie denn sonst erwartet? Sie glauben doch nicht, daß er die Absicht habe, uns mit jenen Papieren ein Ge­ schenk zu machen, oder sie in alle Ewigkeit sestzuhalten, bis wir einen guten Verkauf zu Stande bringen können. „Und schließlich wird er die sämtlichen Papiere selbst in Besitz bekommen." io*

148 „Selbstverständlich. So wie die alten Wechsel fällig werden, prolongieren wir sie thatsächlich bei ihm und nicht bei der Bank. Er weiß, was er vorhat. Wahrscheinlich hat er irgend einen Plan, den ganzen Komplex an die Regierung zu verkaufen oder an eine Stiftung, und ist seines Nutzens im voraus sicher. Unser Bankerott wird ihm einen Nutzen von fünfundzwanzig bis dreißig Prozent ge­ währen." Orsino wurde durch seines Compagnons trübe Ansicht seltsam gestärkt. Für ihn war jedes Wort ein Beweis, daß er von jeder persönlichen Verpflichtung gegen Del Ferice frei sei und den Beistand desselben ohne alle Gewissens­ skrupel annehmen durfte. Er erinnerte sich nicht gern daran, daß ein Mann von Ugos feinem Verstände etwas Wich­ tigeres im Auge haben könnte, als einen Profit von einigen hunderttausend Franken, wenn die Summe sich thatsächlich so hoch belaufen sollte. Orsinos Stirn glättete sich und sein Gesichtsausdruck wurde ein anderer. „Der Gedanke scheint Ihnen zu gefallen," bemerkte Contini ziemlich gereizt. „Ich möchte lieber von Del Ferice ruiniert, als zum Erfolge befördert werden." „Der Ruin hat für Sie nicht viel zu sagen, Don Orsino. Er besagt das Erben eines kolossalen Vermögens, eine Prinzessin zur Frau, und die Wahl zwischen zwei oder drei Palästen, um darin zu wohnen." „Das ist die eine Art der Auffassung," antwortete Orsino fast lachend. „Was Sie selbst betrifft, mein Freund, so sehe ich nicht, daß Ihre Aussichten so sehr schlecht seien. Glauben Sie etwa, ich werde Sie im Stiche lassen, nach­ dem ich Sie in diese Patsche gebracht und nachdem ich ge­ lernt habe, Sie lieb zu haben und Ihr Talent zu schätzen?

149 Da sind Sie sehr im Irrthum. Wir haben Dieses zu­ sammen versucht und sind zusammen gescheitert, wie Sie aber ganz richtig bemerken, bin ich durch das Scheitern nicht im Geringsten ruiniert. Wissen Sie, was eintreten wird? Mein Vater wird zu mir sagen, daß ich nun, wo ich eine gewisse Erfahrung erworben habe, auf eines unserer Güter gehen und die Gebäude in besseren Stand bringen soll. Dann wollen wir Beide zusammen hingehen." Contini lächelte plötzlich und seine glänzenden Augen funkelten. Er war Orsino tiefinnerlich ergeben und hielt den Verlust seiner Compagnonschaft im Falle einer Liqui­ dation vielleicht für nichts Geringeres, als die Zerstörung seiner materiellen Hoffnungen. „Wenn das sein könnte, so würde ich Nichts danach fragen, was aus dem Geschäfte hier werden möchte," sagte er schlicht und einfach. „Wie lange denken Sie, daß wir uns noch halten können?" fragte Orsino nach kurzer Pause. „Wenn das Geschäft schlimmer wird, was wahrschein­ lich eintritt, so können wir uns bis zum ersten Wechsel halten, der fällig wird, nachdem die Thüren und Fenster eingesetzt sind." „Das ist wenigstens genau." „Es wird uns wahrscheinlich bis in den Januar, viel­ leicht sogar bis in den Februar gelangen lassen." „Angenommen aber, Del Ferice selber geräth zwischen jetzt und dann in Verlegenheiten. Was wird geschehen, wenn er nicht mehr discontieren kann?" „Dann werden wir etwas früher Bankerott machen. Aber davor brauchen Sie sich nicht zu fürchten. Del Feriee weiß, was er vorhat, bester als wir, besser als sein im Vertrauen stehender Buchhalter, viel besser, als die meisten Geschäftsleute in Rom. Wenn er zusammenbricht, so

150 bricht

er absichtlich und im

geeigneten Augenblicke zu­

sammen." „Und glauben Sie nicht, daß es auch nur eine ent­ fernte Möglichkeit giebt, daß das Geschäft sich bessert, so daß überhaupt Niemand zusammenbrechen wird?" „Nein," antwortete Contini nachdenklich. „Das glaube ich nicht. Es ist ein papierner Bau und wird in die Brüche gehen." „Warum haben Sie das nicht schon vorher gesagt? Sie muffen diese Ansicht doch schon lange haben." „Ich glaubte nicht, daß Ronco stürzen könnte. Ein solcher Unfall öffnet Einem die Augen." Orfino hatte sich beinahe entschlossen, die Sachen weiter gchen zu lassen, er fand es aber doch einigermaßen schwierig, thatsächlich einen Entschluß zu fassen. Trotz Continis Ver­ sicherungen konnte er den Gedanken nicht loswerden, daß er Del Feriee verpflichtet sei. Einmal wenigstens dachte er daran, geradeswegs zu Ugo zu gehen, und ihn um eine klare Auseinandersetzung der ganzen Angelegenheit zu er­ suchen. Ugo aber war, wie er wußte, nicht in der Stadt, und die Unmöglichkeit, sofort hinzugehen, machte es un­ wahrscheinlich, daß Orsino überhaupt hingehen würde. Es wäre auch kein besonders weiser Zug gewesen; denn Del Ferice konnte die Geschichte leicht ableugnen, da ja die Papiere sämtlich im Namen der Bank liefen, und die un­ vorsichtige Schwatzhaftigkeit des Buchhalters würde er wahr­ scheinlich an dem Unglücklichen heimgesucht haben. Während des langen Schweigens, welches folgte, glitt Orsino wieder in seine frühere Verzagtheit zurück. Mochte er nun seinen Bankerott eingestehen oder nicht, so hatte er doch schließlich unleugbar Schiffbruch gelitten und war von Anfang an ein Spielzeug in den Händen eines Anderen

151 gewesen, und das gestand er sich selber, ohne den Versuch zu machen, seine Eitelkeit zu schonen; und seine Selbstver­ achtung war groß und schmerzlich. Die Thatsache, daß .er sich während seines Experiments vom Knaben zum Manne ausgewachsen hatte, machte es nicht leichter, solche Wunden zu ertragen, die, wenn sie wirklich vorhanden sind, von den Starken schmerzlicher empfunden werden, als von den Schwachen. Wie der Tag sich weiter schleppte, wuchs die Sehn­ sucht, Maria Consuelo zu sehen, derartig in ihm, daß er das Gefühl hatte, als habe er nie vorher so lebhaft ge­ wünscht, bei ihr zu sein, wie er es jetzt wünschte. Er hatte nicht die Absicht, ihr seine Unruhe mitzutheilen, aber er bedurfte der Versicherung einer stets bereiten Theilnahme, die er so oft in ihren Augen gelesen hatte, und die dort stets für ihn vorhanden war, wenn er sie verlangte. Wo Liebe ist, da ist Vertrauen, mag es zum Ausdrucke kommen oder nicht, und wo Vertrauen ist, und sei es auch noch so gebrechlich, da ist Trost für viele Leiden des Körpers, des Geistes und der Seele.

Achtes Kapitel. Orsino fühlte sich plötzlich erleichtert, als er Nachmit­ tags sein Comptoir verlassen hatte. Continis düstere Stim­ mung wirkte ansteckend, und so lange Orsino mit ihm zu­ sammen war, war es unmöglich, die geschäftliche Ansicht des Architekten nicht zu theilen. Sobald er jedoch allein war, sahen die Dinge nicht so schlimm aus. Thatsächlich war es dem jungen Manne fast unmöglich, in einem ein­ zigen Augenblicke alle seine Illusionen betreffs seines eigenen Erfolges auszugeben, und sich für den Narren seiner eigenen

151 gewesen, und das gestand er sich selber, ohne den Versuch zu machen, seine Eitelkeit zu schonen; und seine Selbstver­ achtung war groß und schmerzlich. Die Thatsache, daß .er sich während seines Experiments vom Knaben zum Manne ausgewachsen hatte, machte es nicht leichter, solche Wunden zu ertragen, die, wenn sie wirklich vorhanden sind, von den Starken schmerzlicher empfunden werden, als von den Schwachen. Wie der Tag sich weiter schleppte, wuchs die Sehn­ sucht, Maria Consuelo zu sehen, derartig in ihm, daß er das Gefühl hatte, als habe er nie vorher so lebhaft ge­ wünscht, bei ihr zu sein, wie er es jetzt wünschte. Er hatte nicht die Absicht, ihr seine Unruhe mitzutheilen, aber er bedurfte der Versicherung einer stets bereiten Theilnahme, die er so oft in ihren Augen gelesen hatte, und die dort stets für ihn vorhanden war, wenn er sie verlangte. Wo Liebe ist, da ist Vertrauen, mag es zum Ausdrucke kommen oder nicht, und wo Vertrauen ist, und sei es auch noch so gebrechlich, da ist Trost für viele Leiden des Körpers, des Geistes und der Seele.

Achtes Kapitel. Orsino fühlte sich plötzlich erleichtert, als er Nachmit­ tags sein Comptoir verlassen hatte. Continis düstere Stim­ mung wirkte ansteckend, und so lange Orsino mit ihm zu­ sammen war, war es unmöglich, die geschäftliche Ansicht des Architekten nicht zu theilen. Sobald er jedoch allein war, sahen die Dinge nicht so schlimm aus. Thatsächlich war es dem jungen Manne fast unmöglich, in einem ein­ zigen Augenblicke alle seine Illusionen betreffs seines eigenen Erfolges auszugeben, und sich für den Narren seiner eigenen

152 blinden Eitelkeit zu halten, anstatt sich als den Sieger in dem Kampfe um Unabhängigkeit des Denkens und Han­ delns anzusehen. Die Thatsachen, die Contini anführte, konnte er nicht leugnen. Er mußte zugeben, daß er augen­ scheinlich in Del Ferices Macht war, wenn er nicht die Hülfe seiner Angehörigen anrief. Er war gezwungen, an­ zuerkennen, daß er einen großen Fehlgriff gethan habe. Er konnte aber durchaus nicht sich selber mißtrauen und bildete sich ein, daß er doch schließlich, mit einem billigen Antheile von gutem Glück, sich als ein ebenbürtiger Gegner für Ugo auf des Finanzmannes eigenem Gebiete ausweisen möchte. Er hatte gelernt, in seine eigenen Kräfte und sein Urtheil Vertrauen zu setzen, und als er von dem Comptoir hinweg wanderte, stärkte sich mit jedem Augenblicke sein Entschluß, mit solchen Hilfsmitteln, wie sie ihm zur Ver­ fügung stehen möchten, den Kampf so lange weiter zu führen, als irgend eine Möglichkeit bliebe, thätig zu sein. Auch fühlte er, daß von seinem Erfolge mehr abhing, als die bloße Befriedigung seiner Eitelkeit. Wenn er stürzte, konnte er ebensowohl Maria Consuelo, als seine Selbst­ achtung verlieren. Er hatte jene Empfindung, die fich häufig genug bei jungen Männern findet, wenn fie sehr heftig verliebt sind, daß man Erfolg haben muß, um hinwiederum geliebt zu werden, und daß ein einziger Fehlschlag die Stätigkeit einer Leidenschaft in Gefahr bringt, die, wenn sie ehrlich ist, mit Fehlschlag oder Erfolg Nichts zu schaffen hat. In Orsinos Alter und bei seiner Gemüthsart fällt es Einem schwer, zu glauben, daß das Mitleid mit der Liebe näher verwandt sei, als die Bewunderung. Allmählich befestigte sich die Ueberzeugung, daß er sich ohne Hülfe seinen Weg erkämpfen könne, und seine Stim­ mung hob sich, als er sich den dichter bevölkerten Theilen

153 der Stadt auf seinem Wege nach dem Hotel, wo Maria Consuelo Aufenthalt genommen hatte, näherte. Nicht ein­ mal das gellende Geschrei der Zeitungsjungen machte aus ihn Eindruck, die den Bankerott des großen Bauunterneh­ mers Ronco verkündeten, und in zweiter Auflage einen vollständigen Bericht über den Bankbruch ausboten. Es fuhr ihm durch den Sinn, daß vielleicht binnen Kurzem dieselben ehernen Stimmen die Nachricht ausbrüllen könn­ ten, daß Andrea Contini und Compagnon zu Schaden ge­ kommen seien. Der Gedanke lieh aber der augenblicklichen Lage einen Beigeschmack von Gefahr, den Orsino nicht un­ angenehm fand. Je größer die Schwierigkeit, desto größer sein Verdienst, wenn er sie überwand, und um so größer also auch die Bewunderung, die er von der Frau, welche er liebte, einernten würde. Seine Lage war sicherlich eine seltsame, und viele Menschen würden nicht die Art von Aufregung empfunden haben, die er empfand. Die finan­ zielle Seite der Frage war ihm, der fich durch das große Vermögen seiner Familie gedeckt wußte und glaubte, daß sein schließlicher Verlust nur die kleine Summe ausmachen könne, mit der er seine geschäftlichen Operationen ange­ fangen hatte, merkwürdig gleichgültig. Das moralische Risiko aber erschien enorm, und wuchs noch an Bedeutung, je mehr er daran dachte. Er fand Maria Consuelo bleich und müde ausfehend. Augenscheinlich hatte sie nicht die Absicht, an diesem Tage auszugehen, denn sie trug einen Schlafrock und hatte sich auf einer Chaiselongue mit Büchern und Blumen neben sich eingerichtet, als ob sie die Absicht habe, sich nicht weg­ zubewegen. Jedoch las sie nicht. Orsino wurde durch die Traurigkeit in ihrem Gesichte schmerzlich betroffen. Sie sah ihm fest in die Augen, als sie ihm die Hand



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reichte, und er sich neben ihr niedersetzte.

„Ich bin froh,

daß Du da bist," sagte sie endlich mit leiser Stimme. „Ich habe den ganzen Tag über gehofft, Du würdest zeitig kommen." „Ich wäre schon heute früh gekommen, wenn ich es gewagt hätte," antwortete Orsino. Sie blickte ihn wieder an und lächelte schwach. „Ich habe Dir sehr viel mitzutheilen," begann sie. Dann zögerte sie, als sei sie unsicher, wo sie anfangen solle. „Und ich---------" Orsino versuchte, ihre Hand zu er­ greifen, aber sie zog sie zurück. „Ja wohl; aber sage es nicht. Wenigstens nicht jetzt." „Warum nicht, Geliebte? Darf ich nicht sagen, wie ich Dich liebe? Was. hast Du, Theure? Du bist heute so traurig. Ist Dir Etwas zugestoßen?" Seine Stimme wurde sanft und zärtlich, als er, zu ihrem Ohre sich niederbeugend, sprach. Sie stieß ihn freund­ lich zurück. „Du weißt, was geschehen ist," antwortete sie. „Es ist kein Wunder, wenn ich traurig bin." „Ich verstehe Dich nicht, Theure. Sage mir, was Dir fehlt." „Ich habe Dir gestern zu viel gesagt-------- " „Zu viel?" „Bei weitem zu viel." „Willst Du es etwa widerrufen?" „Wie wäre das möglich?" Sie wandte ihr Gesicht hinweg und ihre Finger spielten nervös mit ihren Spitzen. „Nein, wahrhaftig! Keines von uns Beiden kann solche Worte widerrufen," sagte Orsino. „Aber ich verstehe Dich noch nicht, mein Liebling. Du mußt mir sagen, was Du heute im Sinne hast."

155 „Du weißt es Alles. Nur weil Du nicht verstehen willst---------" Orsinos Gesichtsausdruck änderte sich und seine Stimme nahm einen anderen Ton an, als er sprach. „Treibst Du Dein Spiel mit mir, Consuelo?" fragte er ernst. Sie fuhr leicht in die Höhe und wurde noch blässer, als vorher. „Du bist nicht freundlich," sagte sie. „Ich leide ohnehin schon stark. Mach' es nicht noch härter." „Auch ich leide. Du willst mir zu verstehen geben, daß Du bedauerst, was sich gestern zugetragen hat, und daß Du Deine Worte zurückzunehmen wünschest, und magst Du mich nun lieben oder nicht, so willst Du so thun und scheinen, als liebtest Du mich nicht, und auch ich soll mich benehmen, als ob Nichts vorgefallen sei. Glaubst Du, daß das leicht ist? Und glaubst Du, ich litte nicht schon bei dem bloßen Gedanken daran?" „Da es sein muß-------- " „Es giebt kein ,Muß'," antwortete Orsino energisch. „Du möchtest Dein Leben und das meine zu Grunde rich­ ten um des bloßen Schattens einer Erinnerung willen, die Du beliebst, für ein bindendes Versprechen zu halten. Ich will nicht zugeben, daß Du das thust." „Du willst nicht?" Sie sah ihn schnell mit einem Blicke an, der Widerstand androhte. „Nein, ich will nicht," wiederholte er. „Es steht zu viel für uns auf dem Spiele. Du sollst nicht Alles für uns Beide verlieren." „Du hast Unrecht, Theurer," sagte sie mit plötzlicher Sanftheit. „Wenn Du mich liebst, so solltest Du mir glauben und mir trauen. Ich kann Dir Nichts geben als Unglückseligkeit---------" „Du hast mir die einzige Glückseligkeit gegeben, die

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ich je kennen gelernt habe; und Du verlangst von mir, daß ich glauben sott, Du könntest mich auf irgend eine Art, außer dadurch, daß Du mich nicht liebst, unglücklich machen! Consuelo, mein Liebling, bist Du von Sinnen?" „Nein, durchaus nicht. Ich wünschte, ich wäre es. Wenn ich wahnsinnig wäre, würde ich---------" „Was?" „Es kommt nicht darauf an. Ich will es nicht ein­ mal sagen. Nein, versuche nicht, meine Hand zu ergreifen, denn ich will sie Dir nicht geben. Höre zu, Orsino, sei vernünftig; höre mir zu-------- " „Ich will versuchen, zuzuhören." Aber Maria Consuelo sprach nicht sogleich. Vielleicht versuchte sie einstweilen, ihre Gedanken zu sammeln. „Was hast Du zu sagen, Theuerste?" fragte Orsino endlich. „Ich will versuchen, es zu verstehen." „Du mußt es verstehen. Ich will es Dir ganz klar machen, und dann wirst Du es so ansehen, wie ich." „Und was dann?" „Dann müssen wir scheiden," sagte sie mit leiser Stimme. Orsino sagte Nichts, sondern schüttelte nur ungläubig den Kopf. „Jawohl," wiederholte Maria Consuelo, „wir dürfen nach Diesem einander nie Wiedersehen. Ich bin an Allem Schuld gewesen. Ich werde Rom verlassen, und nicht wieder hierher zurückkommen. Es wird für Dich so am besten sein, und für mich will ich es zum Besten machen." „Du sprichst sehr leicht vom Scheiden." „Wirklich? Jedes Wort ist ein Dolchstich. Sehe ich aus, als ob ich gleichgültig wäre?" Orsino warf einen raschen Blick aus ihr bleiches Ge-

157 sicht und ihre in Thränen schwimmenden Augen. „Nein Geliebte," sagte er sanft. „Dann nenne mich nicht herzlos. Ich habe mehr Herz, als Du glaubst, und es ist im Begriffe, zu brechen. Und sage nicht, daß ich Dich nicht liebe. Ich liebe Dich inniger, als Du weißt; inniger, als Du je wieder geliebt werden wirst, wenn Du älter und — vielleicht — glück­ licher bist. Ja, ich weiß, was Du sagen willst. Nun, Ge­ liebter, — auch Du liebst mich. Ja, ich weiß es. Wir wollen heute keine unfreundlichen Worte und keine Zweifel zwischen uns aufkommen lassen. Ich glaube, es ist unser letzter Tag, den wir gemeinsam verleben." „Um Gottes willen, Consuelo-------- " „Wir werden sehen. Nun laß mich sprechen — wenn ich kann. Es giebt drei Gründe, warum wir nicht heirathen sollten. Ich habe die ganze vorige Nacht und den ganzen heutigen Tag an sie gedacht, und ich kenne sie. Der erste ist mein feierliches Gelübde dem sterbenden Manne gegenüber, der mich so innig liebte und der Nichts weiter verlangte, als Dies, — dessen Weib ich nie war, dessen Namen ich aber trage. Halte mich für wahnsinnig, für abergläubisch, wofür Du willst, ich kann jenes Versprechen nicht brechen. Es war fast ein Eid, nicht zu lieben, und wenn es das war, so habe ich ihn gebrochen. Das Uebrige aber kann ich halten, und ich will es. Der nächste Grund ist der, daß ich älter bin, als Du. Ich könnte das ver­ gessen, ich habe es auch schon mehr als ein Mal vergessen; die Zeit aber wird bald kommen, wo Du Dich daran er­ innern wirst." Orsino machte eine zornige Geberde und hätte gern gesprochen; sie aber hielt ihn zurück. „Darüber wollen wir hinweggehen, da wir ja Beide

158 noch jung sind. Der dritte Grund ist schwerer auszu­ sprechen, und keine Macht auf Erden kann ihn durch Er­ klärungen aus dem Wege räumen. Ich bin Dir nicht eben­ bürtig, Orsino,-------- " Der junge Mann unterbrach sie jetzt und zwar heftig. „Wagst Du es, zu glauben, daß ich mich darum kümmere, welcher Art Deine Herkunft sein mag?" fragte er. „Es giebt aber Leute, die sich darum kümmern, selbst wenn Du es nicht thust, Geliebter," antwortete sie ruhig. „Und was geht ihr Sichkümmern Dich oder mich an?" „Es ist keine so kleine Sache, wie Du glaubst. Ich spreche nicht von einem bloßen Unterschiede im Range; es ist schlimmer, als dies. Ich weiß wirklich nicht, wer ich bin. Verstehst Du? Ich weiß nicht, wer meine Mutter war, noch ob sie am Leben, oder todt ist, und ehe ich heirathete, trug ich nicht meines Vaters Namen." „Du kennst aber Deinen Vater; Du kennst doch wenig­ stens seinen Namen?" „Ja.» „Wer ist es?" Orsino konnte kaum die Worte der Frage aussprechen. „Graf Spicca." Maria Consuelo sprach ruhig, ihre Finger aber zitter­ ten nervös, und sie beobachtete Orsinos Gesicht in augen­ scheinlicher Gewiffensnoth und Angst. Was Orsino betrifft, so war er fast betäubt vor Bestürzung. „Spicca! Spicca Dein Vater!" wiederholte er undeutlich. In all' seinem vielen Grübeln und Spüren betreffs des Bandes, welches zwischen Maria Consuelo und dem alten Duellanten vor­ handen sein mochte, hatte er an dieses nie gedacht. „So hast Du es also nie vermuthet?" fragte Maria Consuelo.

159 „Wie sollte ich es? Und Dein eigener Vater tödtete Deinen Gatten! Gütiger Himmel, was für eine Ge­ schichte!" „Jetzt weißt Du es. Nun siehst Du selber, wie un­ möglich es ist, daß ich Dich heirathe." In seiner Erregung war Orsino aufgesprungen und schritt im Zimmer auf und ab. Ihre letzten Worte hörte er kaum, auch sagte er Nichts zur Erwiderung daraus. Maria Consuelo lag ganz still aus der Chaiselongue, die Hände dicht zusammengepreßt, sodaß sie sich gegenseitig quetschten. „Nun siehst Du es Alles," sagte sie noch einmal. Dies­ mal wurde seine Aufmerksamkeit erregt und er blieb vor ihr stehen. „Ja- Ich sehe, was Du im Sinne hast. Ich sehe es aber nicht so an, wie Du es anfiehst. Ich sehe nicht, daß irgend eins von diesen Dingen, die Du mir mitgetheilt hast, unsere Ehe nothwendig hindern muß." Maria Consuelo machte keine Bewegung, aber ihr Ge­ sichtsausdruck änderte sich. Langsam stahl sich das Roth in ihre Wangen und verweilte da, die Trauer nicht ver­ treibend, aber aufhellend. „Und möchtest Du den Muth haben, trotz Deiner Familie und der guten Gesellschaft, mich zu heirathen, eine thatsächlich namenlose Frau, älter als Du selber-------- " „Ich möchte es nicht nur, sondern ich will es," ant­ wortete Orsino. „Du kannst es nicht; aber ich danke Dir, Theurer," sagte Maria Consuelo. Er stand dicht neben ihr. Sie nahm seine Hand und berührte sie zärtlich mit ihren Lippen. Er fuhr auf und zog sie zurück, denn nie hatte ein weibliches Wesen seine

160 Hand geküßt. „Das darfst Du nicht thun!" rief er in­ stinktiv aus. „Und warum nicht, wenn es mir beliebt?" fragte sie, die Augenbrauen mit einem kleinen zärtlichen Lachen in die Höhe ziehend. „Ich bin nicht gut genug, um Dir die Hand zu süssen, Liebling; noch weniger, um sie mir von Dir küffen zu lassen. Es macht Nichts — wir sprachen soeben — wo standen wir doch?" „Du sagtest soeben-------- " Er aber unterbrach sie: „Was kommt darauf an, wenn ich Dich so liebe und Du mich liebst?" fragte er leidenschaftlich. Er kniete neben ihr nieder, während sie auf der Chaise­ longue lag, und ergriff ihre Hände, die er fest hielt und mit denen er sie an sich heranzog. Sie leistete Wider­ stand und wandte das Gesicht hinweg. „Nein, nein! Es kommt zu viel darauf an; laß mich gehen; es macht es nur um so schlimmer!" „Was macht es schlimmer?" „Das Scheiden-------- " „Wir wollen nicht scheiden. Ich will Dich nicht gehen lassen!" Noch immer aber rang sie mit ihren Händen, und er, aus Furcht, er möchte dieselben mit seinem festen Griffe verletzen, ließ sie mit einer zögernden Berührung sich ent­ gleiten. „Steh' auf," sagte sie. „Setz' Dich hierher, neben mich, — etwas weiter weg, dorthin. So können wir besser plaudern." „Ich kann überhaupt nicht plaudern-------- " „Ohne meine Hände zu halten?" „Warum sollte ich denn nicht?"

161 „Weil ich Dich bitte. Sei so gut, mein Lieber,-------- " Sie zog sich auf der Chaiselongue zurück, richtete fich ein wenig auf, und wandte ihm ihr Gesicht zu. Als seine Augen die ihren trafen, lehnte er fich wieder schnell nach vorn, als wollte er seinen Sih verlaffen. Sie aber hielt ihn durch einen gebieterischen Blick und eine Handbcwegung zurück. Es war unverständig von ihm gewesen, und er hatte kein Recht, fich zu ärgern; Etwas aber in ihrem Benehmen wirkte erkältend auf ihn und schmerzte ihn in einer Weise, die er nicht hätte erklären können. Als er sprach, klang der Ton seiner Stimme ein wenig verändert. „Die Dinge, die Du mir gesagt hast, beeinfluffen mich nicht im Ge­ ringsten," sagte er mit mehr Ruhe, als er bisher gezeigt hatte. „Was Du für den wichtigsten Grund hältst, ist für mich überhaupt kein Grund. Du bist Graf Spiccas Toch­ ter. Er ist ein alter Freund meines Vaters; nicht daß es darauf sehr wesentlich ankommt; es kann aber Alles leichter machen. Ich will heute zu ihm hingehen, und ihm sagen, daß ich Dich zu heirathen wünsche-------- " „Das wirst Du nicht thun!" rief Maria Consuelo in bestürztem Tone aus. „Ja, das werde ich. Warum nicht? Weißt Du, was er einst zu mir gesagt hat? Er sagte mir, er wünsche, wir möchten Gefallen an einander finden, weil wir, so drückte er fich aus, so gut für einander paffen würden." „Hat er das wirklich gesagt?" fragte Maria Consuelo

mit Nachdruck. „Das oder etwas Aehnliches. Wundert Dich das? Was mich wundert, ist, daß ich nie die Verwandtschaft zwischen Euch geahnt habe. Nun ist Dein Vater ein sehr ehrenwerther Mann; was er sagte, bedeutete Etwas, und als er es sagte, war er der Ansicht, daß unsere BerheiCrawford, Don Orsino. II. 11

162 rathung ihm und einem Jeden natürlich erscheinen würde. Ich will hingehen und mit ihm sprechen. So viel betreffs Deines Hauptgrundes. Was den zweiten Grund anbelangt, den Du anführtest, so ist der ganz thöricht. Wir sind gleichalterig in jeder Richtung." „Ich bin nicht ganz dreiundzwanzig Jahre alt." „Und ich nicht ganz zweiundzwanzig. Ist das ein Unterschied? So viel hierüber. Nimm den dritten, den Du zuerst stelltest. Kannst Du im Ernste glauben, daß irgend ein verständiges Wesen Dich durch so ein Ver­ sprechen für gebunden erachten würde? Vermeinst Du zu sagen, daß ein junges Mädchen, — und mehr warst Du damals nicht — ein Recht hat, ihr Leben aus übertriebe­ nem Gefühle wegzuwerfen, indem sie ein derartiges Ver­ sprechen abgiebt? Und an wen? An einen Mann, der nicht ihr Gatte ist, und es nie sein kann, weil er im Sterben liegt. An einen Mann, der ihr nicht gerade gleichgültig ist; an einen Mann-------- " Maria Consuelo richtete sich auf und blickte Orsino voll ins Gesicht. Ihre Wangen waren außerordentlich bleich, und ihre Augen waren plötzlich dunkel und glühten. „Don Orsino, Sie haben kein Recht, in dieser Weise zu mir zu sprechen. Ich habe ihn geliebt; Niemand weiß, wie sehr ich ihn geliebt habe!" Der Ton und der Blick ließen sich nicht mißverstehen. Wiederum fühlte Orsino, und diesmal stärker, die Kühle und das Schmerzgefühl, das er vorher empfunden hatte. Einen Augenblick lang schwieg er. Maria Consuelo blickte ihn noch eine Sekunde lang an und ließ dann ihr Haupt auf das Kiffen zurückfinken. Der Ausdruck aber, den ihr Ge­ sicht angenommen hatte, änderte sich nicht sogleich. „Vergieb mir," sagte Orsino nach einer Pause. „Ich

163 hatte nicht völlig verstanden. Dies würde der einzige denk­ bare Grund sein, der unsere Heirath unmöglich machen würde. Wenn Du ihn so sehr geliebt hast, — wenn Du ihn in einer Weise geliebt hast, die Dich hindert, mich so zu lieben, wie ich Dich liebe, — nun, dann magst Du ja schließlich Recht haben." Während des Schweigens, welches nun folgte, wandte er sein Gesicht hinweg und sah starr auf das Fenster. Er hatte ziemlich ruhig gesprochen, und sonderbarerweise war sein Ausdruck kühl und nachdenklich. Es ist für eine Frau nicht immer leicht, einen Mann zu verstehen; -denn die Männer lernen früh verbergen, was sie verletzt; geben sich aber, wenn sie ehrlich sind, wenig Mühe, ihre Glückselig­ keit zu verhüllen. Ein Mann verräth sich öfter durch einen freudigen Blick, als durch einen Ausdruck der Enttäuschung. Man hatte es schon längst für männlich angesehen, den Schmerz schweigend zu ertragen, ehe es Mode wurde, sich gegen die Freude gleichgültig zu stellen. Orfinos Wesen mißfiel Maria Cousuelo. Es war zu ruhig und kalt, und sie glaubte, er lasse sich die Sache weniger zu Herzen gehen, als er thatsächlich that. „Du sagst gar Nichts," bemerkte er schließlich. „Was soll ich sagen? Du sprichst von Etwas, das mich hindert, Dich so zu lieben, wie Du mich liebst. Wie kann ich sagen, wie sehr Du mich liebst?" „Siehst Du eS nicht? Fühlst Du es nicht?" Orfinos Ton wurde wieder warm, als er sich zu ihr herumdrehte; er hatte aber das Gefühl, daß ihn das eine Anstrengung kostete. So tief er sie auch liebte, stand cs ihm doch ge­ rade in diesem Augenblicke nicht ganz natürlich an, eine leidenschaftliche Sprache zu führen; er wußte aber,, daß sie es erwartete, und that sein Bestes. Sie war ent» 11*

164

täuscht. „Nicht immer," antwortete sie mit einem leichten Seufzer. „Du glaubst nicht immer, daß ich Dich liebe?" „Das habe ich nicht gesagt. Ich bin nicht immer sicher, daß Du mich so viel liebst, wie Du zu thun glaubst; die Einbildungskraft spielt dabei eine große Rolle." „Das wußte ich nicht." „Ja, mitunter. Es ist sicher so." „Und wie soll ich beweisen, daß Du Unrecht hast, und ich Recht habe?" „Wie sollte ich das wissen? Vielleicht lehrt es die Zeit." „Die Zeit ist für mich zu langsam. Es muß irgend ein anderes Mittel geben." „So mache es also ausfindig," sagte Maria Consuelo mit ziemlich traurigem Lächeln. „Das will ich." Er meinte wirklich, was er sagte; aber die Schwierig­ keit der Aufgabe setzte ihn in Verlegenheit, und es lag nicht genug Ueberzeugung in seiner Stimme. Er dachte mehr an den Gegenstand selber, als an das, was er sagte. Maria Consuelo fächelte sich langsam und sah starr auf die Wand. „Wenn Du so viel Zweifel hegst," sagte Orsino schließ­ lich, so bin ich wohl auch berechtigt, ein wenig zu zweifeln. Wenn Du mich richtig liebtest, so würdest Du versprechen, mich zu heirathen. Das thust Du nicht." Es trat eine kurze Pause ein. Schließlich machte Mana Consuelo ihren Fächer zu, sah denselben an und sprach: „Du sagst, mein Grund sei nicht stichhaltig. Muß ich denn Alles noch einmal durchgehen? Mir erscheint er als stichhaltig. Ist es für Dich unglaublich, daß eine Frau.

165 zwei Mal lieben sollte?

Solche Dinge haben sich auch

sonst schon ereignet. Dir ist es unglaublich, daß eine Frau, die den Einen liebt, das Andenken eines Anderen und ein feierliches Versprechen, das sie jenem Anderen gegeben hat,

achten sollte?

Ich würde mich selbst weniger achten, wenn

ich es nicht thäte. Daß Alles meine Schuld ist, will ich zugeben, wenn Du es verlangst; daß ich Dich nie hätte

bei mir empfangen sollen, wie ich es that, räume ich voll­ ständig ein;

daß ich gestern schwach war,

daß ich

auch

heute schwach bin, daß ich morgen schwach sein würde, wenn

ich dies so weiter gehen taffe, thut mir leid. Du kannst Etwas von dem Tadel auf Dich nehmen, wenn Du hoch­ herzig oder eitel genug bist.

Du hast Dich sehr bemüht,

Dir meine Liebe zu gewinnen, und es ist Dir gelungen; denn ich liebe Dich sehr.

Um so übler für mich.

Es muß

jetzt ein Ende haben."

,,Du denkst nicht an mich, wenn Du das sagt."

„Vielleicht denke ich mehr an Dich, als Du weißt oder als Du verstehen willst.

brich mich nicht!

Ich bin älter als Du — unter­

Ich bin älter; denn in manchen Sachen

ist eine Frau stets älter, als ein Mann.

Ich weiß, was

geschehen wird, was sicherlich beizeiten geschehen wird, wenn

wir nicht scheiden.

Du wirst eifersüchtig aus einen Schatten

werden, und ich werde nie im Stande sein, Dir zu sagen, daß mir dieser selbe Schatten nicht theuer ist.

Du wirst

so weit kommen, daß Du das hassest, was ich geliebt habe und noch immer liebe, obgleich es mich nicht hindert, auch Dich zu lieben------„Aber weniger stark," sagte Orsino ziemlich barsch. „Wenigstens würdest Du das glauben, und dieser Glaube würde stets zwischen uns stehen." „Wenn Du mich ebenso liebtest, wie Du Jenen ge-

166 liebt hast, so würdest Du nicht zögern. Du würdest mich ebenso lebend heirathen, wie Du Jenen todt geheirathet hast." „Wenn kein anderer Grund dagegen spräche---------"

Sie hielt inne. „Es giebt keinen anderen Grund," sagte Orfino hart­

näckig. Maria Consuelo schüttelte den Kopf, sagte aber Nichts, und es folgte ein langes Schweigen. Orsino saß still da, sie beobachtend und sich wundernd, was sich in ihrem Geiste wohl abspielen möge. Es schien ihm, und vielleicht mit Recht, daß, wenn sie es wirklich ernst meinte und ihn von ganzem Herzen liebte, die Gründe, die sie angab, um die Scheidung zu motivieren, durchaus nicht genügten. Er hatte nicht einmal viel Vertrauen zu ihrer gegenwärtigen Hartnäckigkeit, und er glaubte nicht, daß sie thatsächlich auf und davon gehen würde. Es war unglaublich, daß irgend eine Frau so launenhaft sein konnte, wie sie zu sein be­ liebte. Ihre Ruhe, oder was ihm wie ihre Ruhe aussah, machte es sogar, wie er glaubte, noch weniger wahrschein­ lich, daß sie die Absicht habe, von ihm zu scheiden. Der Gedanke allein aber genügte schon, um ihn ernstlich zu be­ unruhigen. Er hatte einen schweren Stoß mit äußerer Fassung, aber nicht ohne innere Verletzung erlitten, worauf ganz natürlich Etwas wie ein zorniger Groll folgte. Wie er die Lage ansah, hatte ihn Maria Consuelo von allem Anfänge an abwechselnd angezogen und enttäuscht; sie hatte ihr Vergnügen daran gefunden, ihn zu zwingen, seine Liebe auszusprechen, nur um ihn im nächsten Augenblicke oder am nächsten Tage mit der Gewißheit, daß sie ihn nicht aufrichtig liebte, wieder abzukühlen. Gerade damals hätte er vorgezogen, die Gedanken über sie, die ihm durch den Sinn zogen, nicht in Worte umzusetzen. Sie würden einen

167 Mangel an Glauben an ihren Charakter ausgedrückt haben, den er thatsächlich nicht empfand, und eine Ansicht über sein eigenes Urtheil, die er lieber nicht acceptiert haben würde. Er ging sogar in seinem Zorne so weit, sich vorzu­ stellen, was eintreten würde, wenn er plötzlich aufstünde, um zu gehen. Sie würde ihr bekanntes trauriges Gesicht annehmen und ihm kalt die Hand reichen. Sodann würde sie ihn gerade in dem Augenblicke, wo er die Thür er­ reichte, zurückrufen, lediglich zu dem Zwecke, ihn noch ein­ mal wegzuschicken. Am folgenden Tage würde er finden, daß sie die Stadt überhaupt nicht verlassen habe, oder höch­ stens, daß sie auf einen oder zwei Tage nach Florenz ge­ gangen sei, um den Arbeitern Gelegenheit zu geben, die Ausmöblierung ihrer Wohnung recht ungestört zu vollenden. Dann würde fie wieder zurückkommen und mit ihm ge­ rade so verkehren, als ob Nichts zwischen ihnen vorgefallen wäre. Die Vorempfindung war so peinlich, daß er wünschte, es so bald als möglich überstanden und hinter sich zu haben, und er sah sie nur noch einmal an, ehe er sich von seinem Sitze erhob. Er konnte kaum glauben, daß sie dieselbe Frau sei, die am Nachmittage vorher mit ihm am Fenster gestanden und das Gewitter beobachtet hatte. Er bemerkte, daß sie blaß war, doch saß sie nicht nach dem Lichte zu, und der Ausdruck ihres Gesichtes war nicht deutlich sichtbar. Im Ganzen stellte er sich vor, daß ihr Blick ein gleichgültiger sei. Ihre Hände lagen müßig auf ihrem Fächer, und durch die Senkung ihrer Augenlider sah es aus, als sähe fie nach ihnen hin. Die vollen, gekrümm­ ten Lippen waren geschlossen, aber nicht eingezogen, wie bei Schmerz, oder schmollend hervorstehend, wie bei Aerger.

168 Sie machte den Eindruck, wunderbar ruhig zu sein. Nach­ dem er noch einen Augenblick gezaudert hatte, stellte sich Orsino auf die Füße. Er hatte sich entschloffen, was er sagen wollte, denn es war wenig genug, und doch zitterte seine Stimme ein wenig. „Adieu, gnädige Frau." Maria Consuelo fuhr leicht zusammen und blickte auf, als wolle sie sehen, ob er wirklich in diesem Augenblicke zu gehen beabsichtigte. Sie hatte keine Vorstellung, daß er thatsächlich die Absicht hatte, sie beim Worte zu nehmen und in diesem Augenblicke und an dieser Stelle zu schei­ den. Sie erwog nicht, wie richtig es war, daß sie viel älter war, als er; auch hatte sie nie geglaubt, daß er so energisch sei, wie er mitunter aussah. „Geh noch nicht," sagte sie instinktmäßig. „Da Du doch sagst, daß wir scheiden müssen," er hielt inne, als wollte er es ihr überlassen, den Satz in Gedanken zu vollenden. Ein Ausdruck des Schreckens glitt schnell über Maria Consuelos Gesicht. Sie that, als hätte sie seine Hand er­ greifen wollen, zog dann ihre eigene zurück und biß sich auf die Lippe, nicht zornig, sondern als ob sie Etwas unter Aufsicht behalten wollte. „Da Du auf unserem Scheiden bestehst," sagte Orsino nach kurzem, gespanntem Schweigen, „so ist es bester, daß wir es auf einmal überwinden." Trotz aller seiner Be­ mühungen war seine Stimme noch immer unsicher. „Ich habe nicht — nein — ja, es ist so bester." „Dann Adieu, gnädige Frau." Es war ihr unmöglich, Alles zu verstehen, was ihm während der Zeit, wo er neben ihr gesessen hatte, nachdem das vorhergegangene Gespräch beendigt, durch den Sinn

169 gegangen war. Sein jäh abgebrochenes Wesen und feine Kälte waren unbegreiflich. „Adieu denn, Orfino." Einen Augenblick ruhten ihre Augen auf den fälligen. Es war der traurige Blick, den er vorausgesehen hatte, und jetzt streckte fie ihre Hand aus. Sicherlich, dachte er, würde fie ihn, wenn sie ihn liebte, nicht so leicht gehen taffen. Er faßte ihre Finger und würde fie an seine Lippen gezogen haben, als fie sich plötzlich um die seinigen schloffen, nicht mit dem leidenschaftlichen, verliebten Drucke von gestern, sondern fest und ruhig, als ob ihnen gehorcht wer­ den müsse, und ihn wieder zu seinem Sitze neben ihr zurücksührten. Er setzte sich hin. „Adieu denn, Orfino," wiederholte fie, ihren Griff noch nicht loslaffend. „Adieu, Theurer, da es einmal Adieu sein muß; aber nicht ein Adieu, wie Du es auSsprachst. Du sollst nicht eher weggehen, als bis Du es anders sagen kannst." Sie ließ ihn jetzt los und änderte ihre eigene Haltung. Ihre Füße glitten auf den Boden herunter und mit dem Ellbogen stützte sie sich auf den Kopftheil der Chaiselongue, die Wange auf die Hand gelehnt. Sie war ihm jetzt näher, als vorher, und ihre Augen begegneten sich, als fie sich gegenseitig gerade in's Gesicht sahen. Sie hatte sicherlich ihre Stellung nicht mit einem Hintergedanken an ihre eigene Erscheinung gewählt; als aber Orfino ihr in's Ge­ sicht sah, erblickte er wieder deutlich alle die Schönheiten, die er so lange bewundert hatte, die leidenschaftlichen Augen, den vollen, festen Mund, die breite Stirn, die leuchtend weiße Haut, — lauter einzelne Schönheiten für sich, wenn sie auch, in ihrem Falle, nicht zusammen die wirkliche Schönheit ausmachten. Und hinter und über diesen und

170 durch fie alle hindurch empfand er den Reiz, der ihn bezau­ berte, gleichsam sich unter allen Männern an ihn speciell wendend, wie er sich an keinen Anderen wenden konnte. Er war noch immer zornig, aus seinem Naturell und bei­ nahe sogar aus seiner Leidenschaft herausgeschleudert, und doch fühlte er nichtsdestoweniger, daß ihn Maria Consuelo, wenn es ihr beliebte, so lange festhalten konnte, als auch nur ein Schatten von Neigung zu ihr in ihm blieb, und vielleicht noch länger. Als sie sprach, wußte er, was sie sagen wollte, und er unterbrach sie nicht, noch machte er den Versuch, zu antworten. „Ich habe Alles, was ich heute gesagt habe, auch wirk­ lich so gemeint," fuhr sie fort. „Glaube nicht, daß es mir leicht wird, noch mehr zu sagen. Ich möchte Alles, was ich zu verschenken habe, dahingeben, um den gestrigen Tag ungeschehen zu machen; denn gestern war mein großer Fehltritt. Ich bin nur ein schwaches Weib, und Du wirst mir vergeben. Ich thue, was ich jetzt thue, um Deinet­ willen; Gott weiß, daß es nicht um meinetwillen geschieht. Gott weiß, wie schwer es für mich ist, von Dir zu schei­ den. Ich spreche in vollem Ernst, wie Du siehst. Glaubst Du mir jetzt?" Ihre Stimme war fest, die Thränen aber quollen be­ reits über. „Ja, Theure, ich glaube Dir," antwortete Orsino sanft. Weiberthränen sind ein treffliches Lösemittel für die üble Laune der Männer. „Daß dies das Richtige und Beste ist, dieses Schei­ den, wirst Du früher oder später so einsehen, wie ich es jetzt einsehe. Du glaubst doch aber wirklich, daß ich Dich liebe, innig, zärtlich, sehr — nun, gleichviel wie — Du glaubst es doch — ? —"

171 „Ich glaube es---------" „Dann sage ,Adieu, Consuelo', — und küsse mich ein­ mal, um dessen willen, was hätte sein können." Orfino stand halb auf, beugte sich nieder und küßte sie aus die Wange. „Adieu, Consuelo," sagte er, ihr die Worte fast in's Ohr flüsternd. In seinem Herzen glaubte er nicht, daß sie es wirklich so meinte. Er erwartete noch immer, daß sie ihn wieder zurückrufen würde. „Es ist Adieu, Theurer — glaube es — er­ innere Dich daran!" Ihre Stimme zitterte jetzt ein wenig. „Adieu, Consuelo," wiederholte er. Mit einem verliebten Blicke, der kein Adieu bedeutete, zog er sich zurück, und ging zur Thür. Er legte die Hand auf den Griff und wartete. Sie sprach kein Wort. Dann blickte er sie wieder an. Ihr Haupt war auf ein Kiffen hinuntergesunken, und ihre Augen waren halb geschloffen. Er wartete noch eine Sekunde, nnd ein scharfer Schmerz durchbohrte ihn. Vielleicht meinte sie es doch ernst. In einem Augenblicke hatte er das Zimmer wieder durchkreuzt und lag neben ihr auf den Knieen, indem er versuchte, ihre Hände zu ergreifen. „Consuelo, — Liebling, — Du meinst es doch nicht wirklich so! Du kannst doch nicht, Du wirst doch nicht--------- " Er bedeckte ihre Hände mit Küssen und preßte sie an sein Herz. Einige Augenblicke lang machte sie keine Be­ wegung, aber ihre Augenlider bebten. Dann sprang sie auf die Füße, stieß ihn, wie er mit ihr aufstand, heftig zurück, und wandte ihr Gesicht von ihm ab. „Geh, geh!" schrie sie wild. „Geh, — laß mich nie Dich wiedersehen, nie, nie!"

172 Ehe er sie aushalten konnte, war sie mit einem Ruck an ihm vorbeigeschofsen, wie eine Schwalbe im Fluge, und hatte das Zimmer verlassen.

Neuntes Kapitel. Orfinos geistiger Zustand war nicht beneidenswerth, als er das Hotel verließ. Es ist leichter, ein Leiden zu ertragen, wenn man alle seine Ursachen deutlich versteht und genau unterscheidet, wie viel davon unvermeidlich ist, und wie viel sich wegschasfen oder mildern läßt. Im gegen­ wärtigen Falle enthielt die Lage Vieles, was er nicht im Stande war, zu zerlegen oder zu begreifen. Noch immer besaß er die Neigung, in den Handlungen der Anderen so­ wohl, wie in seinen eigenen den Beweggründen nachzu­ spuren; aber durch das geschäftliche Leben, das er nun viele Monate lang geführt hatte, war die Schärfe der künstlichen Logik abgestumpft worden, an der er früher so viel Freude hatte, während es seinen praktischen Verstand gewaltig ge­ schärft hatte. Die künstliche Zerlegung ergänzt aus der Einbildungskraft die in den Thatsachen fehlenden Einzel­ heiten, aber der gesunde Menschenverstand braucht etwas Greifbareres, um daran zu arbeiten. Orsino empfand, daß ihm der Hauptumstand, der Maria Consuelos Benehmen bestimmt hatte, entgangen sei; und vergeblich versuchte er nun, ihn zu entdecken. Er verwarf die Annahme, sie habe aus Laune so ge­ handelt, daß sie es gestern für möglich gehalten habe, ihn zu heirathen, während ein Wechsel der Stimmung ihre Verheirathung habe heute als ganz undenkbar erscheinen lassen. Sie war vielleicht ebenso launenhaft, wie die meisten Frauen, aber hierfür doch nicht genug. Außerdem war sie

172 Ehe er sie aushalten konnte, war sie mit einem Ruck an ihm vorbeigeschofsen, wie eine Schwalbe im Fluge, und hatte das Zimmer verlassen.

Neuntes Kapitel. Orfinos geistiger Zustand war nicht beneidenswerth, als er das Hotel verließ. Es ist leichter, ein Leiden zu ertragen, wenn man alle seine Ursachen deutlich versteht und genau unterscheidet, wie viel davon unvermeidlich ist, und wie viel sich wegschasfen oder mildern läßt. Im gegen­ wärtigen Falle enthielt die Lage Vieles, was er nicht im Stande war, zu zerlegen oder zu begreifen. Noch immer besaß er die Neigung, in den Handlungen der Anderen so­ wohl, wie in seinen eigenen den Beweggründen nachzu­ spuren; aber durch das geschäftliche Leben, das er nun viele Monate lang geführt hatte, war die Schärfe der künstlichen Logik abgestumpft worden, an der er früher so viel Freude hatte, während es seinen praktischen Verstand gewaltig ge­ schärft hatte. Die künstliche Zerlegung ergänzt aus der Einbildungskraft die in den Thatsachen fehlenden Einzel­ heiten, aber der gesunde Menschenverstand braucht etwas Greifbareres, um daran zu arbeiten. Orsino empfand, daß ihm der Hauptumstand, der Maria Consuelos Benehmen bestimmt hatte, entgangen sei; und vergeblich versuchte er nun, ihn zu entdecken. Er verwarf die Annahme, sie habe aus Laune so ge­ handelt, daß sie es gestern für möglich gehalten habe, ihn zu heirathen, während ein Wechsel der Stimmung ihre Verheirathung habe heute als ganz undenkbar erscheinen lassen. Sie war vielleicht ebenso launenhaft, wie die meisten Frauen, aber hierfür doch nicht genug. Außerdem war sie

173 thatsächlich konsequent gewesen. Nicht einmal gestern hatte fie sich auch nur einen Augenblick lang in ihrem Entschlüsse, Orfinos Weib nicht zu werden, erschüttern lasten. Der heutige Tag hatte also den gestrigen bestätigt. Wie stark auch Orfino noch immer an ihrer Absicht gezweifelt haben mochte, als er zum letzten Male neben sie getreten war, so waren doch ihr damaliges Benehmen und ihre letzten Worte durchaus nicht mißzuverstehen gewesen. Sie beabsichtigte, Rom sofort zu verlaffen. Die Gründe jedoch, die fie ihm für ihr Benehmen an­ gegeben hatte, genügten in seinen Augen nicht. Der Unter­ schied im Alter war so gering, daß er ruhig übersehen wer­ den konnte. Ihr Versprechen gegenüber dem sterbenden Aranjuez war, so dachte er, eine Verpflichtung, an der fest­ zuhalten kein vernünftiger Mensch von ihr erwarten konnte. Was die Frage ihrer Geburt betraf, so verließ er sich auf jene Rede Spiccas, an die er sich so deutlich erinnerte. Vielleicht hatte Spicca die Worte nur gedankenlos so hin­ gesprochen und geglaubt, Orfino würde nie und unter keinen irgend denkbaren Umständen ernstlich die Absicht haben, Maria Consuelo zu heirathen. Spicca aber war nicht ein Mann, der oft sorglos schwatzte, und was er sagte, be­ deutete im Allgemeinen gerade so viel, als es zu bedeuten schien. Es war ohne Zweifel wahr, daß Maria Consuelo den Namen ihrer Mutter nicht wußte. Nichtsdestoweniger war es sehr gut möglich, daß ihre Mutter Spiccas Frau ge­ wesen war. Von Spiccas Leben sagte man, es sei voll sonderbarer Ereigniste gewesen, die nicht allgemein bekannt waren. Wenn sich aber auch seine Tochter, und zweifellos that fie es, für ein namenloses Kind und als solches für nicht ge­ eignet zur Lebensgefährtin des Erben der Saracinesca halten

174 mochte, so konnte doch Orfino nicht einsehen, warum fic so hartnäckig auf einem so plötzlichen, so schmerzlichen und so frühen Abschiede bestanden haben mochte. Sie wußte es gestern eben so gut und hatte es die ganze Zeit über ge­ wußt. Wenn sie nun eine solche Festigkeit des Charakters besaß, warum ließ sie dann die Sachen so weit gehen, wo sie doch zu einer früheren Zeit den Gang der Ereignisse hätte leicht unterbrechen können? Daß sie ihn vielleicht so sehr liebte, daß sie von ihrer Leidenschaft fortgerissen wurde, bis sie sich auf dem Punkte befand, ihm einen Schaden anzuthun, indem sie ihn heirathete, und daß ihre Liebe stark genug sei, sie dahin zu bringen, sich im entscheiden­ den Augenblicke selbst zu opfern, wollte er nicht zugeben. Obgleich er sie sehr liebte, hielt er sie in keiner Weise für heroisch. Im Gegentheil sagte er sich, daß, wenn sie auf­ richtig wäre und ihre Liebe der seinigen völlig gleich wäre, sie kein Hinderniß ihr entgegenstehen lassen würde. Für ihn mußte die Feuerprobe der Liebe ihre bis zum Aeußersten gehende Sorglosigkeit sein. Er konnte nicht glauben, daß es noch eine bessere Probe geben könne und wirklich giebt: die unablässige Vorsorge für den Gegenstand der Liebe, und die feste Entschlossenheit, diesen Gegenstand vor aller Gefahr in der Gegenwart und vor allen Leiden in der Zu­ kunft zu beschützen, es koste, was es wolle. Vielleicht ist es nicht leicht, zu glauben, daß die Sorg­ losigkeit eine Offenbarung des zweiten Grades der Leiden­ schaft sei, während der höchste sich im schmerzlichen Opfer kund thut. Jedoch erforderte die kühnste That des Ritterthums nie auch nur die Hälfte der Tapferkeit, die von manchem Märtyrer am Feuerpfahle bewiesen wurde, und wenn der Muth ein Maßstab der wahren Leidenschaft ist, so ist die Leidenschaft, welche lebenslangem Leiden Trotz

175 bietet, um ihren Gegenstand vor Unheil oder Erniedrigung zu bewahren, größer, als jene Leidenschaft, die ihren Gegen­ stand, um ihn besitzen zu können, in Gefahr und die Mög­ lichkeit des Unterganges zerrt. Es ist möglich, daß dies Alles unrichtig ist, und daß die Handlungsweise dieser beiden angenommenen Individuen, von denen das Eine sich opfert, das Andere den Geliebten in Gefahr bringt, von dem Mischungsverhältniffe der thierischen, geistigen und sittlichen Elemente in Jedem von ihnen abhängt. Trotz moderner Forschungen wiffen wir nicht viel von den Ur­ sachen dessen, was wir fühlen; wenn wir aber die wahre Sachlage deutlich erkennen können, täuscht uns das Herz selten derartig, daß wir der weniger tapferen von zwei Handlungen den größeren Ruhm zuerkennen. Wir sehen aber oft die wahre Sachlage nicht so, wie sie ist. Wir wiffen wenig von dem Leben der Anderen, sind aber ge­ neigt, zu glauben, daß andere Leute das unserige sehr genau kennen, einschließlich der guten Thaten, wenn wir welche vollbracht haben; und wir erwarten für dieselben ein volles Maß der Anerkennung und die äußerste Bewilligung von christlicher Liebe für unsere Sünden. Mit anderen Worten: wir wünschen, daß unser Mitmensch eine fast göttliche Macht des Verzeihens mit einer fast schmarotzerhaften Fähigkeit zu schmeicheln verbinden soll. Das ist der Grund, weßhalb wir mit unseren Bekannten nicht leicht zufrieden find, und weßhalb unsere Freunde sich nicht immer als wahr­ haftige Leute ausweisen. Wir verlangen zu viel für den niedrigen Preis, den wir bieten, und wenn wir aus der Forderung bestehen, bekommen wir eine Imitation. Orfino liebte Maria Consuelo von ganzem Herzen, so sehr ein junger Mann von wenig mehr als einundzwanzig Jahren das erste weibliche Wesen, dem er ernstlich zuge-

176 lhan ist, lieben kann. Vielleicht lag in der Leidenschaft nichts Heroisches, Nichts, was schließlich zu großen Ergeb­ nissen führen konnte. Und doch war es eine starke Liebe, mit einem starken Zusatze von aufopfernder Ergebenheit und einiger schlummernder Heftigkeit. Wenn er Maria Consuelo nicht heirathete, so war es nicht wahrscheinlich, daß er noch einmal in genau derselben Weise wieder lieben würde. Seine nächste Liebe war wahrscheinlich entweder weit besser oder weit schlechter, weit edler oder weit gemeiner — vielleicht in jedem Falle etwas weniger menschlich. Er wanderte langsam von dem Hotel weg, nicht achtend auf die Leute auf der Straße und ohne an die Richtung zu denken, die er einschlug. Sein Gehirn war in Aufruhr, und seine Gedanken schienen sich wirbelnd um einen Mittel­ punkt zu wälzen, auf den sie sich auch nicht für die Dauer einer Sekunde concentrieren konnten. Das Einzige, was er mit Sicherheit wußte, war, daß sich Maria Consuelo ihm plötzlich und völlig entzogen habe, wobei er mit einem Gefühle der Vereinsamung zurückblieb, wie er es nie vor­ her gekannt hatte. Er war in beträchtlicher Unruhe wegen seiner Geschäftsangelegenheiten zu ihr gegangen, in der sicheren Hoffnung, bei ihr Theilnahme und vielleicht guten Rath zu finden. Nun kam er zurück, wie Manche von einem schweren Unglücksfalle zurückkommen, scheinbar viel­ leicht unbeschädigt, aber zeitweise jedes Gefühls, des Gefichts, des Gehörs, der Empfindung, beraubt. Er war nicht sicher, daß er wach sei, und seine verworrenen Ge­ danken kamen durch den gleichen, unabänderlichen Kreislauf immer wieder auf denselben Punkt zurück, den er das erste Mal erreicht hatte: — wenn Maria Consuelo ihn wirklich liebte, so würde sie nicht derartige Hinderniffe, wie die,

177 von denen sie sprach, der Bereinigung mit ihm im Wege stehen lasten. Eine Zeit lang war sich Orfino auch nicht des ge­ ringsten Antriebs zum Handeln bewußt. Allmählich jedoch bekundete sich seine wahre Natur, und er erinnerte sich, daß er ihr vor kurzer Zeit gesagt habe, wenn fie auf und davon ginge, würde er ihr folgen; die Welt sei klein, und er würde fie wieder finden. Es würde ohne Zweifel ein Leichtes sein, fie zu begleiten, wenn fie Rom verließe. Die Stunde ihrer beabsichtigten Abreise konnte er ohne Schwie­ rigkeit feststellen, und schon Das würde ihm die Richtung andeuten, die fie gewählt habe. Fände fie dann, daß fie ihm nicht entronnen sei, so würde fie wahrscheinlich den Versuch aufgeben und zurück kommen, ihre Laune würde fich ändern, und seine eigene Beredsamkeit würde das Uebrige schon besorgen. Er blieb auf seinem Wege stehen, sah nach der Uhr und blickte um fich. Er befand fich in einiger Entfernung von dem Hotel, und es wurde dunkel, denn die Tage waren schon kurz. Wenn Maria Consuelo wirklich die Adficht hatte, Rom über Hals und Kopf zu verlaffen, so konnte fie mit dem Abendzuge nach Paris fahren, und in diesem Falle würden die Leute im Hotel von ihrer beabfichttgten Abreise in Kenntniß gesetzt sein. Orfino gab die Möglichkeit ihres wirklichen Weg­ ganges nur zu, während er in seinem Herzen glaubte, fie würde da bleiben. Er ging langsam denselben Weg wieder zurück, und es war fieben Uhr, als er den Por­ tier des Hotels fragte, mit welchem Zuge Frau von Aranjuez abführe. Der Portier wußte nicht, ob die Dame nach Norden oder nach Süden fahren würde, jedoch rief er einen anderen Mann herbei, der seinerseits Crawford, Den Orfino. II. 12

178

einen Dritten snchen ging, der für einige Zeit ver­ schwand. „Es ist sicher, daß Fran von Aranjuez noch heute Abend verreist?" fragte Orsino, wobei den Versuch machte, gleichgültig auszusehen. „Ganz sicher; ihre Zimmer werden morgen frei sein." Orsino wandte sich weg und schritt langsam auf dem Marmorpflaster zwischen den hochstämmigen Gewächsen auf und ab, indem er auf die Rückkehr des Boten wartete. „Frau von Aranjuez fährt neun Uhr fünfundvierzig ab," sagte der Mann, plötzlich wieder auftauchend. Orsino zögerte einen Augenblick, und faßte dann seinen Entschluß. „Fragen Sie die gnädige Frau, ob sie -mich auf einen Augenblick empfangen will," sagte er, eine Visitenkarte herausziehend. Der Diener verschwand, und wieder schritt Orsino, jetzt blaß und sehr nervös, vorwärts und rückwärts. Sie fuhr thatsächlich, und zwar nach Norden, — wahrscheinlich nach Paris. „Die gnädige Frau bedauert unendlich, daß sie den Herrn Fürsten nicht empfangen kann," sagte der Mann im schwarzen Anzuge, plötzlich dicht neben Orsio auftauchend. „Sie trifft soeben ihre Vorbereitungen für die Reise." „Zeigen Sie mir einen Raum, wo ich Etwas schreiben kann," sagte Orsino, der auf diese Antwort gefaßt ge­ wesen war. Man führte ihn in das Lesezimmer, und was zum Schreiben nöthig war, wurde vor ihn hingesetzt. Er schrieb in aller Eile, ohne Anrede und Unterschrift, einige Worte an Maria Consuelo. „Ich will Dich nicht ohne mich reifen lassen. Wenn

179 Du mich nicht vorlassen willst, so werde ich in dem Zuge

sein, und ich werde Dich nicht verlassen, wohin Du auch gehst.

Es ist mein voller Ernst."

Er sah den Bogen Briefpapier an und wunderte sich,

daß

er Nichts weiter zu schreiben wußte.

Aber er hatte

Alles gesagt, was er im Sinne hatte, und nachdem er das

kleine Schriftstück gesiegelt hatte,

schickte er es mit dem Ersuchen um sofortige Antwort zu Maria Consuelo hinauf.

Gerade in diesem Augenblicke ertönte die Hotelglocke zum Diner. Das Lesezimmer war völlig leer. Er wartete fünf Minuten, dann zehn, und drehte nervös die Zeitungen und

Revuen auf dem langen Tische hin und her, völlig unfähig, auch nur die gedruckten Titel zu lesen. Er klingelte und fragte, ob keine Antwort auf seinen Brief erfolgt sei.

Mann war derselbe, den er vorher geschickt hatte.

Der

Er sagte

aus, der Brief sei an der Thür von dem Dienstmädchen in Empfang genommen worden,

und dieses habe gesagt,

Frau von Aranjuez würde klingeln, fertig wäre.

wenn ihre Antwort

Orstno entließ den Diener und wartete wie­

derum. Es fuhr ihm durch den Sinn, daß das Dienst­ mädchen aus eigenen Gründen den Brief vielleicht in die

Tasche gesteckt habe und Nichts davon sage. Schon war er fast entschlossen, die Treppe hinaufzugehen und kühn in das Wohnzimmer einzudringen, als die ihm gegenüber­ liegende Thür sich öffnete, und Maria Consuelo selber er­

schien. Sie trug ein schwarzes, eng anschließendes Reisekostüm,

aber keinen Hut.

Ihr Gesicht war ganz farblos und sah

womöglich durch den Gegensatz zu ihrem glänzenden kasta­

nienbraunen Haare noch

unnatürlicher bleich aus. Sie machte die Thür hinter sich zu und stand still, Orsino im

glühenden Glanze der elektrischenLichter fest in's Auge blickend. 12*

180 „Ich war nicht der Ansicht, Sie noch einmal zu sehen," sagte sie langsam. „Sie haben mich dazu gezwungen." Orfino trat einen Schritt vorwärts und versuchte, ihre Hand zu ergreifen: aber sie zog sie zurück. Die unbedeu­ tende, oft in der Richtung ihres Blickes wahrzunehmende Unsicherheit war völlig verschwunden, und ihre Augen be­ gegneten denen Orfinos dirett und furchtlos. „Jawohl," antwortete er. „Ich habe Dich dazu ge­ zwungen. Ich weiß es, und wenn ich es gethan habe, kannst Du es mir nicht zum Vorwurfe machen. Ich will Dich nicht verlaffen. Ich gehe mit Dir, wohin Du auch gehen magst." Im Vergleich zu der großen Erregung, die er fühlte, sprach er ruhig, und es lag eine feste Sicherheit in seinen Motten und in feinem Tone, die erkennen ließ, wie ernst es ihm um's Herz war. Maria Consuelo glaubte beinahe, daß sie ihn durch die bloße Kraft des Willens beherrschen könne, und wollte diesen Gedanken auch jetzt noch nicht auf­ geben. „Sie werden nicht mit mir reisen, Sie werden es nicht einmal versuchen," sagte sie. Es wäre in diesem Augenblicke schwer gewesen, aus ihrem Gesichte zu errathen, daß sie ihn liebte. Es war blaß, und der Ausdruck deffelben war beinahe hart. Sie hielt den Kopf hoch, als ob sie auf ihn herniederblickte, obgleich er sie um Haupteslänge überragte. „Du verstehst mich nicht," sagte er ruhig. „Wenn ich sage, daß ich mit Dir reisen will, so bedeutet das, daß ich reisen will." „Ist das eine Kraftprobe?" fragte sie nach einer kleinen Pause. „Wenn es das ist, so weiß ich Nichts davon. Es

181 kostet mich keine Anstrengung, zu reisen — es würde mich eine große kosten, zurückzubleiben — eine zu große." Er stand ganz still vor ihr und sah ihr beständig in die Augen. Es trat ein kurzes Schweigen ein; dann senkte sie plötzlich den Blick, bewegte sich und wandte sich weg, indem sie anfing, langsam auf und ab zu gehen. Das Zimmer war groß, und er durchmaß den Raum neben ihr, auf ihr gesenktes Haupt herabblickend. „Wollen Sie bleiben, wenn ich Sie darum bitte?" Die Frage erfolgte in einem tieferen und sanfteren Tone, als sie ihn vorher angewandt hatte. „Ich will mit Dir reisen," antwortete Orfino, so fest wie je. „Wollen Sie Nichts um meiner Bitte willen thun?" „Ich will Alles außer Diesem thun." „Das ist aber Alles, um was ich bitte." „Du bittest aber um das Unmögliche." „Es giebt viele Gründe, weßhalb Sie nicht mit mir kommen sollten. Haben Sie an diese alle gedacht?" „Nein." „Sie sollten es aber. Sie sollten, ohne daß es Ihnen erst von mir gesagt wird, wiffen, daß Sie mir ein großes Unrecht und eine große Beleidigung zusügen würden, wenn Sie mir folgten. Sie sollten wiffen, was die Welt darüber sagen wird. Erinnern Sie sich, daß ich allein dastehe." „Ich will Dich heirathen." „Ich habe Ihnen gesagt, daß dies unmöglich ist — nein, antworten Sie mir nicht! Ich will das Alles nicht noch einmal durchsprechen. Ich verreise heute Abend. Da­ ist die Hauptsache — das Einzige, was Sie angeht. Natür­ lich können Sie, wenn Ihnen das beliebt, in denselben Zug einsteigen und mich bis an's Ende der Welt ver-

182 folgen. Ich kann Sie nicht daran hindern. Ich dachte, ich könnte es, aber ich habe mich geirrt. Ich stehe allein da. Erinnern Sie sich daran, Orsino. Sie wissen so gut, wie ich, was man darüber sagen wird — »nd die That­ sache wird sicher bekannt werden." „Die Leute werden sagen, daß ich Dir nachlaufe-------- " „Sie werden sagen, daß wir zusammen auf und davon gegangen sind, denn Jedermann wird einen Grund haben, das zu sagen. Glauben Sie denn, daß Niemand unser — intimes Verhältniß während des letzten Monats bemerkt hat?" „Warum sagst Du nicht, unsere Liebe?" „Weil ich hoffe, daß Niemand davon Etwas weiß nun, wenn sie es wisse» — Orsino sei gütig! laß mich allein reisen — als Mann von Ehre, thu' mir nicht einen Schimpf an, indem Du Rom mit mir verlässest, oder in­ dem Du mir nachfolgst, wenn ich fort bin!" Sie hielt inne und schaute mit flehendem Blicke hin­ auf in sein Gesicht. Die Wahrheit zu sagen, hatte Orsino nicht vorausgesehen, daß sie an seine Ehre appellieren könnte, indem sie die ihrem Rufe drohende Gefahr in's Treffen führte. Er biß sich auf die Lippen und vermied es, ihren Augen zu begegnen. Es war schwer, nachzugeben, und so schnell nachzugeben, wie es ihm vorkam. „Wie lange willst Du wegbleibe»?" fragte er mit ge­ preßter Stimme. „Ich werde überhaupt nicht wiederkommen." Er wunderte sich über die Festigkeit ihres Tones und ihres Wesens. Was auch immer der wirkliche Grund ihres Entschlusses sein mochte, der Entschluß selber hatte Festig­ keit gewonnen, seit sie vor wenig mehr als einer Stunde von einander Abschied genommen hatten. Plötzlich wuchs wieder der Glaube in ihm aus, daß sie ihn nicht liebe.

183 „Warum verreisest Du denn überhaupt?" fragte er abgebrochen. „Wenn Du mich überhaupt liebtest, so würdest Du bleiben." Sie holte scharf Athem und preßte die Hände nervös zusammen. „Ich würde bleiben, wenn ich Dich weniger liebte. Ich habe Dir aber schon gesagt — ich will es nicht noch einmal Alles durchgehen. Das muß ein Ende haben — dieses Adieusagen! Es ist leichter, es mit einem Schlage zu beenden." „Leichter für Dich---------" „Du weißt nicht, was Du sagst. Du wirst es eines Tages wiffen. Wenn Du Dieses ertragen kannst, — ich kann es nicht." „Dann bleibe — wenn Du mich liebst, wie Du ja behauptest." „Wie ich behaupte!" Ihre Augen wurden sehr ernst und traurig, als fie stehen blieb und ihn wiederum ansah. Dann reichte ste ihm beide Hände hin. „Jetzt reise ich. Adieu." Das Blut kehrte in Orfinos Gesicht zurück. Er hatte den Eindruck, daß er den Wendepunkt seines Lebens er­ reicht habe, und es war sein Instinkt, hart gegen sein Schicksal anzukämpfen. Mit einer schnellen Bewegung preßte er fie in seine Arme, hob fie vom Boden empor und drückte fie eng an sich. „Du sollst nicht reisen!" Er küßte fie leidenschaftlich immer und immer wieder, während sie kämpfte, sich frei zu machen, indem fie mit ihren kleinen, weißen Händen seine Arme preßte und ver­ suchte, ihr Gesicht von ihm wegzuwenden.

184 „Warum ringst Du so? Es ist nutzlos." Er sprach in sehr sanften, tiefen Tönen, dicht an ihrem Ohre. Sie schüttelte verzweifelt den Kopf und that noch immer ihr Bestes, um ihm zu entschlüpfen, obgleich sie ebensogut den Versuch hätte machen können, eiserne Klammern mit ihren Fingern zu zerbrechen. „Es ist nutzlos," wiederholte er, sie noch fester an fich preffend. „Laß mich los!" schrie fie, indem sie eine heftige An­ strengung machte, die ebenso ftuchtlos blieb, wie die an­ deren. „Nein!" Dann war fie ganz still, überzeugt, daß sie ihm gegen­ über kein Glück habe. „Ist es mannhaft, brutal zu sein, weil Du stark bist?" fragte fie. „Du thust mir weh." Orfinos Arm wurde schlaff, und er ließ fie los. Sie holte tief Athem und that einen Schritt rückwärts auf die Thür zu. „Adieu," sagte fie noch einmal. Diesmal aber streckte fie ihm die Hand nicht hin, obgleich fie ihm lange und fest in's Gesicht sah. Orfino machte eine Bewegung, als hätte er fie wieder fassen wollen. Sie fuhr zurück und streckte hinter fich die Hand nach der Klinke aus. Er aber berührte sie nicht. Sie öffnete leise die Thür, sah ihn noch einmal an, und ging hinaus. Als er zur Besinnung kam, daß fie fort sei, sprang er ihr nach und rief fie bei Namen. „Consuelo!" Einige Leute gingen in dem breiten Korridor hin und her. Sie starrten Orfino an, er aber beachtete fie nicht,

185 als er vorbeischoß. Maria Consuelo war nicht da, und er sah sofort ein, daß es unmöglich fein würde, sie noch weiter zu suchen. Einen Augenblick stand er still, trat dann wieder in das Lesezimmer ein, holte sich seinen Hut, und verließ das Hotel, ohne sich umzusehen. Allerhand wilde Gedanken und Pläne blitzten ihm durch das Gehirn, einer immer alberner und unausführ­ barer, als der andere. Er dachte daran, zurückzugehen und das Dienstmädchen Maria Consuelos aufzusuchen — er konnte sie mit Geld bestechen, die Abreise ihrer Herrin zu hindern. Er dachte daran, dem Lokomotivführer des Zuges eine enorme Summe anzubieten, damit er seiner Maschine irgend einen Schaden zufügte, ehe er die erste Station außerhalb Roms erreichte. Er dachte daran, Maria Con­ suelos Wagen auf ihrem Wege zum Zuge auszuhalten und sie mit Gewalt in seines Vaters Haus zu schaffen. Wenn sie auf solche Weise bloßgestellt wäre, würde fir beinahe gezwungen sein, ihn zu heirathen. Später wunderte er fich über die Stumpsfinnigkeit seiner eigenen Erfindungen an jenem Abende, augenblicklich aber erschien Nichts unmöglich. Da fiel ihm Spicca ein. Vielleicht besaß der Greis doch einige Gewalt über seine Tochter, und konnte, wenn er wollte, ihre Flucht verhindern. Es waren fast noch zwei Stunden übrig, ehe der Zug abfuhr. Wenn das Schlimmste zum Schlimmen kam, konnte Orfino immer noch in der letzten Minute den Bahnhof erreichen und Rom mit ihr verlassen. Er stieg in eine vorüberfahrende Droschke und fuhr nach Spiccas Wohnung. Der Graf war zu Hause; beim Lichte einer kleinen Lampe schrieb er einen Brief. Als Orfino eintrat, blickte er verwundert auf, dann erhob er fich und bot ihm einen Stuhl an.

186 „Was hat sich zugetragen, mein Freund?" fragte er, neugierig auf des jungen Mannes Gesicht blickend. „Alles Mögliche," antwortete Orsino. „Ich liebe Frau von Aranjuez, sie liebt mich, sie weigert sich durchaus, mich zu heirathen, und reist um drei Viertel auf Zehn nach Paris ab. Ich weiß, daß sie Ihre Tochter ist, und wünsche, daß Sie sie am Wegfahren hindern. Das ist Alles, glaube ich." Spiccas leichenhaftes Gesicht änderte sich nicht, aber die hohlen Augen wurden glänzend und hefteten ihren Glanz auf einen in der Phantasie vorhandenen Punkt in ungeheurer Entfernung, und die dünne Hand, die am Rande des Tisches lag, schloß sich langsam fest um das vorliegende Holz. Einige Augenblicke lang sagte er Nichts; als er aber sprach, erschien er völlig ruhig. „Wenn sie Ihnen mitgetheilt hat, daß sie meine Tochter ist," sagte er, „so nehme ich an, daß sie Ihnen auch das klebrige gesagt hat. Ist dem so?" Orsino wünschte mit Ungeduld, Spicca möchte irgend eine unmittelbare Thätigkeit entwickeln, konnte aber nicht leugnen, daß der Graf ein Recht habe, die Frage zu stellen. „Sie hat mir mitgetheilt, daß sie den Namen ihrer Mutter nicht kennt, und daß Sie ihren Gatten getödtet haben." „Diese beiden Angaben sind jedenfalls vollkommen richtig. Ist das Alles, was Sie wissen? „Alles? Ja — alles Wichtige. Es ist aber keine Zeit zu verlieren. Niemand als Sie kann sie hindern, heute Abend Rom zu verlassen. Sie müssen mir schnell helfen." Spicca blickte Orsino ernst an und schüttelte den Kops. Das Licht, das eine Sekunde lang in seinen Augen geglüht

187 hatte, war erloschen, und er wieder derselbe schwermüthige, gleichgültige alte Mann, der er stets war. „Ich kann sie nicht aufhalten," sagte er verdrossen. „Aber Sie können es — Sie werden es, Sie müssen es!"

rief Orsino, eine Hand auf den dünnen Arm des „Sie darf nicht fort--------- "

Greises legend.

„Schließlich ist das aber doch besser für sie. Nutzen hat es für sie, zu bleiben?

Sie können sie nicht heirathen." „Ich kann sie nicht heirathen?

Welchen

Sie hat völlig Recht. Warum nicht?

Es

ist noch nicht lange her, da sagten Sie mir sehr deutlich, Sie wünschten, ich möchte sie heirathen. Sie haben Ihre Ansicht, scheint mir, sehr plötzlich geändert, und ich möchte

wohl wissen, weßhalb.

Erinnern Sie sich an Alles,

was

Sie zu mir gesagt haben?"

„Jawohl, und es war damals ebenso ernst gemeint,

Ich that aber Unrecht, indem ich Ihnen mittheilte, was ich zu der Zeit dachte." wie jetzt.

„Zu der Zeit?

Wie können sich die Verhältniffe so

plötzlich geändert haben?"

»Ich

sage nicht,

daß die Verhältnisse sich geändert

haben. Ich habe es gethan. Das ist das Ausschlaggebende. Ich erinnere mich an die Gelegenheit unserer Unterhaltung sehr genau.

Frau von Aranjuez war recht schroff gegen

mich gewesen, und wir Beide gingen zusammen weg. Ich verzieh ihr ziemlich leicht; denn ich sah, daß sie unglücklich war — dann kam

mir der Gedanke in den Sinn,

ganz anders ihr Leben sein könnte, verheirathet wäre.

wie

wenn sie mit Ihnen

Auch wünschte ich, Ihnen eine Andeu­

tung davon zukommen zu lassen, und es fiel mir nicht auf,

daß Sie je ernstlich an eine solche Ehe denken würden." „Ich glaube, Sie sind in gewissem Sinne verantwort-

188 lich für die gegenwärtige Lage," antwortete Orsino. „Das ist der Grund, weßhalb ich zu Ihnen um Hilfe komme." Spicca wandte sich ziemlich plötzlich zu dem jungen Manne herum. „Da gehen Sie zu weit," sagte er. „Wollen Sie mir etwa sagen, daß Sie die Dame zur Ehe umworben haben, weil ich Ihnen den Gedanken nahe gelegt habe?" „Nein aber-------- " „Dann bin ich überhaupt nicht verantwortlich. Außer­ dem hätten Sie mich ja wieder um Rath fragen können, wenn es Ihnen so beliebt hätte. Ich bin nicht von der Stadt weg gewesen. Ich wünsche aufrichtig, die Sache wäre möglich — ja, das ist ganz etwas Anderes. Sie ist aber nicht möglich. Wenn Frau von Aranjuez sie von ihrem Standpunkte aus für unmöglich hält, so giebt es tausend Gründe, weßhalb ich sie noch weit vollständiger als außer Frage gestellt ansehe. Was das betrifft, daß ich sie hindern soll, Rom zu verlassen, so könnte ich, selbst wenn ich es versuchen wollte, das doch nicht thun." „Dann will ich mit ihr reisen," sagte Orsino zornig. Spicca blickte ihn einige Augenblicke schweigend an. Orsino stand auf und schickte sich an, zu gehen. „Sie lassen mir keine Wahl," sagte er, als ob Spicca Einspruch gethan hätte. „Weil ich sie nicht aufhalten kann und will? Ist das ein Grund für Sie, ihren guten Ruf bloßzustellen, wie Sie das im Sinne haben?" „Es ist der beste aller Gründe. Sie wird mich dann aus Nothwendigkeit heirathen." Auch Spicca stand auf, mit mehr Lebhaftigkeit, als sie sonst seine Bewegungen kennzeichnete. Er stand vor dem leeren Kamine und beobachtete den jungen Mann genau.

189 „Es ist kein guter Grund," sagte er sofort in ruhigem Tone. „Sie find nicht der Mann dazu, so Etwas zu machen. Dazu find Sie zu ehrenhaft." „Ich sehe nichts Unehrenhaftes darin, wenn ich dem Weibe Nachfolge, das ich liebe." „Das hängt von der Art ad, wie Sie ihr nachfolgen. Wenn Sie heute Abend ruhig nach Hause gehen und an Ihren Herrn Vater schreiben, daß Sie beschloffen haben auf einige Tage nach Paris zu gehen und morgen abreisen wollen, wenn Sie Ihre Anordnungen treffen, wie ein ver­ nunftbegabtes Wesen, und wegreisen, wie ein Mann, der seinen gesunden Menschenverstand bei einander hat, so habe ich Nichts bei der Sache zu sagen-------- " „Ich will nicht annehmen — —" unterbrach ihn Orfino, den Greis etwas trotzig in's Auge fastend. „Sehr wohl. Wir wollen noch nicht streiten. Dieses Vergnügen wollen wir uns für den Augenblick »ersparen, wo Sie aufhören, mich zu verstehen. Dieses Verfahren, ihr nachzureisen, würde schon schlecht genug sein; aber Nie­ mand hätte ein Recht, Ihnen in den Weg zu treten." „So, wie es ist, hat Niemand ein Recht, mir in den

Weg zu treten." „Ich bitte Sie um Verzeihung. Die augenblicklichen Umstände liegen anders. In dem ersten Falle würde man sagen, Sie seien in Frau von Aranjuez verliebt und liefen ihr nach, um Ihre Werbung dringlicher zu machen — von welcher Beschaffenheit dieselbe auch sein möge. Im zweiten Falle wird alle Welt behaupten, Sie Beide hätten, ohne die Abficht zu heirathen, einfach den Plan gefaßt, zusam­ men auf und davon zu gehen. Das schließt ihre Einwilli­ gung in sich untz Sie haben kein Recht, irgend Einen das darunter suchen zu lasten. Ich sage, es ist nicht ehrenhaft,

190 die Leute glauben zu lassen, daß eine Dame Ihretwegen ihren guten Ruf auf's Spiel setzt und vielleicht völlig opfert, während sie in Wirklichkeit Ihnen zu entfliehen sucht. Habe ich Recht oder nicht?" „Auf alle Fälle sind Sie geistreich. Sie sprechen, als ob das gesamte Weltall in einer halben Stunde wissen würde, daß ich in demselben Zuge mit Frau von Aranjuez nach Paris gefahren sei. Das ist albern!" „So? Meinen Sie? Ich meine es nicht. Eine halbe Stunde ist vielleicht zu wenig, aber ein halber Tag genügt. Sie sind nicht ein unbedeutender Sohn eines unbekannten römischen Bürgersmannes, und auch Frau von Aranjuez ist keine Person, die unbeachtet vorbeikommt. Zeitungs­ berichterstatter passen aus Leute, wie Sie sind, aus, um Stoff zu Artikeln zu gewinnen, die das Neueste bringen; und von Aussehen sind Sie vollkommen gut bekannt. Ab­ gesehen davon, glauben Sie denn, daß Ihre Diener nicht den Dienern Ihrer Freunde von Ihrer plötzlichen Abreise erzählen werden, oder daß Frau von Aranjuez' Weggang nicht wird bemerkt werden? Sie sollten Rom doch besser kennen. Ich frage Sie noch einmal: Habe ich Recht oder nicht?" „Was für einen Unterschied kann das ausmachen, wenn wir uns sofort trauen lassen?" „Sie wird sich nie mit Ihnen trauen lassen. Davon bin ich überzeugt." „Wie können Sie das wissen? Hat sie mit Ihnen da­ von gesprochen?" „Ich bin der Letzte, zu dem sie kommen würde." „Ihr eigener Vater-------- " „Mit Einschränkungen. Außerdem hatte ich das Un­ glück, sie ihres auserwählten Lebensgefährten zu berauben,

191 und zwar in einem entscheidenden Augenblicke.

Das hat

sie nicht vergessen." „Nein, das hat sie nicht,"

antwortete Orsino finster.

Die Erinnerung

war ein

an

Aranjuez

wunder Punkt.

„Warum haben Sie ihn todtgestochen?" fragte er plötzlich.

„Weil er ein Abenteurer war,

ein Lügner und

ein

Dieb — drei ausgezeichnete Gründe, um, wenn man kann, jeden Beliebigen zu todten.

Außerdem schlug er sie ein­

mal — mit jenem silbernen Papiermesser, auf dessen Be­ nützung sie so erpicht ist — und ich sah es aus einiger Entfernung.

Da habe ich ihn todtgestochen.

Unglücklicher­

weise war ich sehr zornig und machte einen kleinen Fehler, so daß

er noch zwölf Stunden lebte, und sie hatte Zeit, und ihn zu heirathen. Sie

einen Priester zu bekommen

behauptet beständig,

daß er sie im Spiele schlug,

durch

Zufall, indem er ihr Etwas vom Fechten beibringen wollte.

Ich war im Nebenzimmer, und die Thür stand offen — mir gefiel diese Art Spiel nicht. Und sie glaubt noch

immer, daß er das Mutterbild aller Tugenden gewesen sei. Er war ein hübscher Teufel — Ihnen etwas ähnlich, aber

Ich bin froh, daß ich ihn

kleiner, mit einem bösen Auge. todtgestochen habe."

Spicca hatte, während er sprach, Orsino beständig an­ gesehen.

Als er aufhörte, fing er an, mit einem gewissen

Reste seiner

alten Energie in

dem kleinen Zimmer aus

und abzugehen. Orsino raffte sich auf. Fast hatte er seine eigene Lage über dem Interesse vergessen, mit dem er dem kurzen Berichte des Grafen zugehört hatte.

„So viel über Aranjuez," sagte Spicca.

Nichts mehr von ihm hören.

„Wir wollen

Was jenen Ihren verrückten

Plan anbetrifft, so sind Sie hoffentlich überzeugt und geben

ihn auf.

Gehen Sie nach Hause und fassen Sie am Morgen

192 einen Beschlnß. Ich für mein Theil sage Ihnen, es ist nntzlos. Sie wird Sie nicht heirathen. Daher lasten Sie sie in Ruhe und thun Sie Nichts, was ihr Schaden zu­ fügen kann." „Ich bin aber nicht überzeugt," antwortete Orfino eigensinnig. „Dann find Sie nicht Ihres Vaters Sohn. Kein Saracinesca, den ich je kennen gelernt habe, würde das thun, was Sie zu thun im Sinne haben — würde den guten Rus einer Frau leichtfertig trüben — noch dazu einer Frau, die ihn liebt — und deren einziger Fehler ist, daß sie ihn nicht heirathen kann." „Daß sie es nicht will." „Daß sie es nicht kann." „Geben Sie mir Ihr Wort, daß sie es nicht kann?" „Sie ist gesetzlich frei, zu heirathen, wen es ihr be­ liebt, mit oder ohne meine Einwilligung." „Das ist Alles, was ich missen will. Auf das Uebrige kommt es mir nicht an--------- " „Das Uebrige macht aber sehr viel aus. Ich bitte Sie, Alles in Erwägung zu ziehen, was ich gesagt habe; Sie werden es sicher thun — ganz sicher. Es liegen sehr gute Gründe vor, um weder Ihnen noch irgend Jemandem alle Einzelheiten zu erzählen, die ich von dieser Geschichte weiß — so gute, daß ich mich lieber der ganzen Länge eines Streites mit Ihnen unterziehen, als sie alle angeben möchte. Ich bin ein alter Mann, Orfino, und was von Leben übrig ist, bedeutet nicht viel für mich. Ich will es dem Zwecke opfern, daß ich Sie hindere, diese Thür zu öffnen, falls Sie mir nicht vorher sagen, daß Sie den Ge­ danken aufgeben, Rom zu verlaffen." Während er sprach, stellte er sich vor die geschloffene

193 Thür und sah dem jungen Manne in's Gesicht. Er war alt, abgemagert, körperlich zu Grunde gerichtet, und seine Hände waren leer. Orfino stand in der ersten Jugend, hochgewachsen, mager, rüstig und sehr stark, dabei kein Feigling. Dazu befand er sich in einer häßlichen Stim­ mung und war geneigt, bei einer viel geringeren Heraus­ forderung, als er sie empfangen hatte, heftig zu werden. Jedoch imponierte ihm Spicca trotz alledem; denn er sah, daß es Jener ernst meinte. Orfino war nie später im Stande, fich das, was ihm in diesem Augenblicke durch den Sinn ging, wieder in's Gedächtniß zurückzurufen. Er war körperlich betrachtet fähig, Spicca bei Seite zu schleu­ dern und die Thür zu öffnen, ohne Jenen auch nur zu verletzen. Er glaubte nicht, daß der alte Mann, selbst in diesem Falle, auf der Genugthuung durch die Waffen be­ standen haben würde, noch hätte er fich gefürchtet, ihm mit der Waffe in der Hand entgegenzutreten, wenn ein Duell erforderlich gewesen wäre. Er wußte, daß das, was ihn von einem Akte der Gewaltthätigkeit zurückhielt, weder Furcht noch Achtung vor seines Gegners Schwäche und hohem Alter war. Jedoch war er völlig unfähig, den Ein­ fluß zu bestimmen, der schließlich seinen Entschluß nieder­ brach. Aller Wahrscheinlichkeit nach war es nur die Wir­ kung des Beweisgrundes, den Spicca wirksam gemacht hatte, und den Maria Consuelo selber beim ersten Beispiele an­ gewendet hatte, und außerdem von Spiccas ruhiger, uner­ schrockener Persönlichkeit. Die Krisis währte nicht lange. Die beiden Männer sahen einander zehn Sekunden lang in's Gesicht, und dann wandte fich Orsino mit ungeduldigem Achselzucken ab. „Nun gut," sagte er. „Ich will nicht mit ihr reisen." Crawford, Den Orfino.

II.

13

194 „Es ist so am besten," antwortete Spicca, indem er die Thür verließ und zu seinem Sitze zurückkehrte. „Ich vermuthe, sie wird Sie wissen lassen, wo sie ist; nicht wahr?" fragte Orsino. „Jawohl, sie wird an mich schreiben." „Also gute Nacht." „Gute Nacht." Ohne ihm die Hand zu gebe», und fast ohne dem alten Manne einen Blick zuzuwerfen, verließ Orsino das Zimmer.

Zehntes Kapitel.

Langsam wanderte Orsino nach Hause, wobei er ver­ suchte, seine Gedanken zu sammeln und bezüglich der Zu­ kunft einen bestimmten Entschluß zu erreichen. Das Ge­ fühl des Fehlschlagens und der Enttäuschung drückte ihn nieder, auch fühlte er sich geneigt, sich wegen seiner Schwäche, daß er so leicht nachgegeben hatte, zu verachten. Maria Consuelo hatte er völlig und für immer verloren, und wenn er sie nicht durch eigene Schuld verloren hatte, so hatte er doch wenigstens das, was wie eine letzte Möglich­ keit erschien, sie zurückzugewinnen, muthlos fahren gelassen. Während er so über Alles, was geschehen war, nachdachte, versuchte er, einen Punkt in der Vergangenheit festzusteüen, an dem er hätte anders handeln können, und von dem aus eine andere Reihe von aufeinanderfolgenden Ergebnissen ihren Ausgangspunkt hätte nehmen können. Das war aber nicht leicht. Die Ereignisse waren mit einer gewiffen un­ vermeidlichen Logik auf einander gefolgt, die nur deßhalb unverständig aussah, weil er das Vorhandensein von That­ sachen vorausgesetzt hatte, die über seine sichere Kenntniß

194 „Es ist so am besten," antwortete Spicca, indem er die Thür verließ und zu seinem Sitze zurückkehrte. „Ich vermuthe, sie wird Sie wissen lassen, wo sie ist; nicht wahr?" fragte Orsino. „Jawohl, sie wird an mich schreiben." „Also gute Nacht." „Gute Nacht." Ohne ihm die Hand zu gebe», und fast ohne dem alten Manne einen Blick zuzuwerfen, verließ Orsino das Zimmer.

Zehntes Kapitel.

Langsam wanderte Orsino nach Hause, wobei er ver­ suchte, seine Gedanken zu sammeln und bezüglich der Zu­ kunft einen bestimmten Entschluß zu erreichen. Das Ge­ fühl des Fehlschlagens und der Enttäuschung drückte ihn nieder, auch fühlte er sich geneigt, sich wegen seiner Schwäche, daß er so leicht nachgegeben hatte, zu verachten. Maria Consuelo hatte er völlig und für immer verloren, und wenn er sie nicht durch eigene Schuld verloren hatte, so hatte er doch wenigstens das, was wie eine letzte Möglich­ keit erschien, sie zurückzugewinnen, muthlos fahren gelassen. Während er so über Alles, was geschehen war, nachdachte, versuchte er, einen Punkt in der Vergangenheit festzusteüen, an dem er hätte anders handeln können, und von dem aus eine andere Reihe von aufeinanderfolgenden Ergebnissen ihren Ausgangspunkt hätte nehmen können. Das war aber nicht leicht. Die Ereignisse waren mit einer gewiffen un­ vermeidlichen Logik auf einander gefolgt, die nur deßhalb unverständig aussah, weil er das Vorhandensein von That­ sachen vorausgesetzt hatte, die über seine sichere Kenntniß

195 Hinauslagen. Sein Hauptfehler war, daß er zu Spicca gegangen war; aber Nichts hatte unter den Umständen natürlicher sein können, als daß er sich an Maria Consuelos Vater wandte; Nichts unerwarteter, als dessen entschiedene Weigerung, ihm zu helfen. Daß das von Spicca sowohl, wie von Maria Consuelo beigebrachte Argument Gewicht habe, konnte er nicht leugnen; aber es blieb ihm unmög­ lich, einzusehen, weßhalb die Heirath so völlig unmöglich sein sollte, wie dies Beide erklärten. Es mußte hinter den äußerlich sichtbaren Umständen viel mehr stecken, als er ahnen konnte. Er versuchte, sich mit der Versicherung zu trösten, daß er Rom am nächsten Tage verlassen könne, und daß Spicca sich nicht weigern werde, ihm Maria Consuelos Adresse in Paris anzugeben. Der Trost aber, den er aus diesem Ge­ danken zog, war gering. Er sand sich voller Verwunderung über die Unbekümmertheit, die die Frau, die er liebte, an den Tag gelegt hatte, indem sie ihm entrann. Sein prak­ tischer italienischer Sinn konnte kaum begreifen, wie sie alle ihre Pläne in einem Augenblicke hatte ändern können,

indem sie ihre halb möblierte Wohnung im Stiche ließ, ohne die Arbeitsleute auch nur mit einem Worte zu ver­ ständigen; indem sie ihre Absicht, den Winter in Rom zu verleben, über den Haufen warf, als ob sie nicht schon viele Tausende für die Herrichtung ihrer Wohnung veraus­ gabt hätte; und indem sie wahrscheinlich aus und davon ging, ohne auch nur einen Vertreter zurückzulasfen, um ihre Rechnungen zu begleichen. Es erscheint vielleicht selt­ sam, daß ein so verliebter Mann wie Orsino in einem solchen Augenblicke an derartige Einzelheiten dachte. Mög­ licherweise sah er sie eher als Beweise an, daß sie die Ab­ sicht habe, doch schließlich wiederzukommen; jedenfalls aber 13*

196 dachte er sehr ernst an sie und berechnete sogar die Summe, die sie im Bausch und Bogen opfern würde, wenn sie aus­ wärts bliebe. Ueber das Alles hinaus fühlte er die gräßliche Ver­ einsamung, die ein Mann nur dann fühlen kann, wenn er plötzlich und endgültig von dem Weibe getrennt wird, das er innig liebt, und der keine andere Empfindung gleicht, deren das Menschenherz fähig ist. Mehr als einmal, bis zum letzten noch möglichen Augenblicke, gerieth er in die Versuchung, nach der Sta­ tion zu fahren und doch schließlich noch mit Maria Consuelo abzureisen; er wollte aber das Versprechen, das er Spicca gegeben hatte, nicht brechen, gleichviel wie schwach es auch von ihm gewesen war, daß er es gegeben hatte. Als er sein Heim erreichte, wurde er zu seiner großen Ueberraschung in Kenntniß gesetzt, daß San Giacinto auf ihn warte, um ihn zu sprechen. Er konnte sich nicht er­ innern, daß sein Vetter ihn je zuvor mit einem Besuche beehrt habe, und wunderte sich, was ihn jetzt, gerade zu der Stunde, wo die meisten Leute beim äbenbbi'ot saßen, hatte herführen und zum Warten veranlassen können. Der Riese las gerade die Abendzeitung, dabei unter­ stützt von einer besonders starken Cigarre. „Es ist mir lieb, daß Sie nach Hause gekommen find," sagte er, indem er aufstand und die ausgeftreckte Hand des jungen Mannes ergriff. „Ich hätte gewartet, bis Sie kamen." „Hat fich Etwas zugetragen?" fragte Orsino nervös. Es fuhr ihm durch den Sinn, San Giacinto könne der Ueberbringer einer schlechten Nachricht von seinen Ange­ hörigen sein, und der ernste Ausdruck auf dem stark mar­ kierten Gesichte kam dieser Annahme zu Hilfe.

197 „Es trägt sich sehr viel zu. Der Krach hat ange­ fangen. Sie müssen in weniger als drei Tagen aus Ihrem Geschäfte heraus, wenn es irgend möglich ist." Orfino that zuerst einen tiefen Athemzug der Erleich­ terung, und wurde dann seinerseits ernst, da er erwog, daß, wenn die Lage nicht sehr bedenklich wäre, ein Mann wie San Giacinto sich nicht der Unannehmlichkeit des Kommens unterzogen haben würde. San Giacinto war nicht sehr geneigt, ungebeten Rath zu ertheilen, noch weni­ ger, sich in die'Angelegenheiten Anderer einzumischen.

„Ich verstehe," sagte Orsino. „Sie glauben, daß Alles in Trümmer geht. Ich sehe es." Der starke Herr sah seinen Vetter mit einem Aus­ drucke an, der dem Mitleide nicht ganz unähnlich war. „Wenn ich nur vermuthete, oder glaubte — wie Sie es nannten — daß ein Geschäftszusammenbruch stattfinden möchte, dann würde ich mir nicht die Mühe gemacht haben, Sie zu warnen. Der Krach hat thatsächlich angefangen. Wenn Sie sich retten können, so thun Sie das sofort." „Ich denke, es wird gehen," antwortete der junge Mann tapfer. Er sah aber keineswegs ein Mittel, wie seine Rettung ausgeführt werden könnte. „Können Sie mir etwas ausführlicher mittheilen, wie es mit der Sache steht? Haben heute noch mehr Bankerotte stattgefunden?" „Mein Schwager Montevarchi steht auf dem Punkte, die Zahlungen einzustellen," sagte San Giacinto ruhig. „Montevarchi!" Orsino verbarg sein Erstaunen nicht. „Ja; sprechen Sie nicht davon. Und er ist, soweit ich Ihre Angelegenheiten beurtheilen kann, genau in der­ selben Lage, wie Sie selber, obgleich er natürlich mit zehn­ mal größeren Summen gewirthschaftet hat. Er wird enorme

198 Opfer bringen, und wird, vermuthe ich, schließlich Alles be­ zahlen. Aber er wird völlig zu Grunde gerichtet werden. Auch er hat mit Del Ferices Bank gearbeitet." „Und die Bank weigert sich, noch irgend Etwas von

seinem Papiere zu discontieren?" „Genau so; seit heute Nachmittag." „Dann wird sie sich morgen weigern, das meinige zu discontieren." „Haben Sie morgen Accepte fällig?" „Ja — nicht viel, aber doch genug, üm Verwirrung anzurichten. Auch ist morgen Sonnabend, und wir müssen Geld für die Arbeiter haben." „Haben Sie nicht einmal dazu genug in Reserve?" „Vielleicht doch. Ich weiß es nicht genau. Außerdem, wenn sich die Bank weigert, zu erneuern, kann ich keinen Check ausstellen. „Es thut mir leid um Sie. Wenn ich gestern ge­ wußt hätte, wie nahe das Ende sei, hätte ich Sie ge­ warnt." „Danke bestens. Ich bin Ihnen auch so dankbar. Können Sie mir irgend einen Rath geben?" Orfino hatte eine verschwommene Vorstellung, daß sein reicher Vetter ihm großmüthig den Vorschlag machen würde, ihm aus allen seinen Schwierigkeiten herauszuhelfen. Er war nicht ganz sicher, ob er sich würde dahin bringen können, solchen Beistand anzunehmen, aber er war ziemlich sicher darauf gefaßt, daß er angeboten werden würde. Hierin jedoch hatte er sich völlig getäuscht. San Giacinto hatte nicht die geringste Absicht, irgend etwas Substan­ tielleres, als seine Meinung, anzubieten. In Anbetracht dessen, daß die Verbindlichkeiten des Bruders seiner Frau sich aus etwa fünfundzwanzig Millionen beliefen, war das

199 nicht überraschend. Der Riese biß in seine Cigarre und faltete seine langen Arme über der mächtigen Brust, wäh­ rend er sich in dem Armseffel zurücklehnte, der unter seinem Gewichte knackte. „Sie haben sich während dieser Zeit im Geschäfte ver­ sucht, Orfino," sagte er, „und misten so gut, wie ich, was dabei zu thun ist. Es stehen Ihnen drei Arten des Ver­ fahrens offen. Sie können fallieren. Die Sache ist ein­ fach genug. Die Bank wird Ihre Gebäude für das an fich nehmen, was sie in einigen Monaten am Tage des Rechnungsabschlustes, werth sein werden. Es wird ein großer Fehlbetrag vorhanden sein, den Ihr Vater für Sie bezahlen und von dem bei seinem Tode Ihnen zustehenden Erbschaftsantheil abziehen wird. Das ist der eine Plan, und scheint mir der beste. Er ist vollkommen ehrenhaft, und Sie tragen dabei den Verlust. Zweitens können Sie morgen zu Ihrem Vater reisen und ihn bitten, Ihnen Geld zu leihen, damit Sie Ihre Accepte einlösen und die Arbeit sortsetzen können, bis die Häuser fertig find und verkauft werden können. Sie werden schließlich für ein Viertel ihres Werthes abgehen, wenn Sie fie überhaupt im Lause des Jahres verkaufen können, und Sie werden, genau wie in dem anderen Falle, in Ihres Vaters Schuld sein. Sie würden die öffentliche Blamage eines Bankerotts vermei­ den, aber es würde Sie mehr kosten, weil die Häuser, wenn fie fertig find, nicht viel mehr wetth sein werden, als jetzt." „Und der dritte Plan — was ist's mit dem?" forschte Orfino. „Der dritte Weg ist folgender. Sie können zu Del Ferice gehen, und wenn Sie ein geschickter Diplomat find, so überreden Sie ihn, daß es in seinem Nutzen liegt, Sie

200 nicht fallieren zu lasten. Ich glaube nicht, daß Sie Erfolg haben werden; aber Sie können es ja versuchen. Wenn er einwilligt, so geschieht es deßhalb, weil er darauf rechnet, daß Ihr Vater schließlich bezahlen wird; es ist aber frag­ lich, ob Del Ferices Bank augenblicklich überhaupt noch in der Lage ist, baares Geld herauszulaffen. Das Geld wird sehr knapp werden, wie man sagt." Orfino rauchte schweigend weiter, während er über die Lage nachdachte. San Giacinto stand auf. „Jedenfalls find Sie gewarnt," sagte er. „Sie wer­ den morgen im allgemeinen Aussehen der Dinge einen er­ heblichen Wechsel zum Schlechteren finden." „Ich bin Ihnen dankbar für die Warnung," ant­ wortete Orfino. „Ich nehme an, ich kann Sie immer finden, wenn ich Ihren Rath nöthig habe— und Sic wer­ den mir rathen?" „Sie sind für meinen Rath, so wie er eben ist, stets willkommen, mein lieber Junge. Was mich aber betrifft, so fahre ich heute Abend in Geschäften nach Neapel, und komme möglicherweise vor ein bis zwei Tagen nicht zurück. Wenn Sie in ernstliche Verlegenheit gerathen, ehe ich wieder zurück bin, so sollten Sie sofort zu Ihrem Baler gehen. Er versteht Nichts vom Geschäft, und ist so verständig ge­ wesen, sich davon fern zu halten. Die Folge ist, daß er so reich ist wie je, und er würde lieber sehr viel opfern, als daß er Ihren Namen in den öffentlichen Skandal eines Bankerotts hinabgezerrt sähe. Gute Nacht und viel Glück." Darauf schüttelte der Titane Orfinos Hand in seiner mächtigen Tatze und ging weg. Thatsächlich ging er hin­ unter, um eine von Montevarchis größten Besitzungen in der Absicht zu besichtigen, sie in der bevorstehenden Sturm-

201 fluth zu kaufen; es würde aber nicht seinem Charakter ent­ sprochen haben, Orfino oder sonst Jemandem, selbst seiner Frau und seinem Rechtsanwälte auch nur das Geringste über seine Abfichten mitzutheilen. Lrfino war seinen eigenen Entwürfen und Erwägungen überlassen. Ein Diener kam herein und fragte an, ob er zu Hause zu speisen wünsche, und er bestellte statt einer Mahlzeit starken Kaffee. Er stand noch in dem Alter, wo ein Mann in einer künstlichen Erregung der Nerven einen Ausweg aus seinen Schwierigkeiten zu finden glaubt. Er hatte in der That genug, was ihn störte; denn eS sah aus, als sei alles mögliche Unglück gleichzeitig über ihn hereingebrochen. Er hatte an demselben Tage die tiefste Wunde in seinem Herzen empfangen und den herbsten Schlag für seine Eitelkeit, den er für möglich halten konnte. Maria Consuelo war weg, und der Zusammenbruch seines Geschäftes war scheinbar unvermeidlich. Als er den Ver­ such machte, die drei Pläne zu befichtigen, die ihm San Giacinto an die Hand gegeben hatte, fand er plötzlich, daß er an die Frau dachte, die er liebte, und Pläne machte, wie er ihr folgen wollte; sobald er sich aber in seiner Phantasie an ihre Seite versetzt hatte, und zu hoffen an­ fing, daß er sie zurückgewinnen könne, wurde er weggeriffen und wieder untergetaucht in den Strudel des Geschäfts zu Hause, wobei er mit unerhörten Schwierigkeiten kämpfte und bei jedem Streiche tiefer sank. Hundertmal stand er von seinem Stuhle auf und durch­ maß ungeduldig das Zimmer, und hundertmal warf er sich wieder auf den Stuhl, von der Hoffnungslosigkeit der Lage überwältigt. Gelegentlich fand er einen kleinen Trost in der Erwägung, daß die Nacht nicht ewig dauern könne. Wenn der Tag käme, würde er genöthigt sein, in der einen

202 oder anderen Art zu handeln, auch würde er seinen Com­ pagnon, Contini, um Rath fragen müssen. Dann endlich würde sein Geist fähig sein, eine Zeitlang eine zusammen­ hängende Gedankenreihe zu verfolgen, und er würde auf die Art eine gewiffe Ruhe finden. Allmählich jedoch und lange ehe der Tag graute, ge­ wann der herrschende Einfluß die Oberhand über den weniger starken, und er dachte nur noch an Maria Consuelo. Die ganze Nacht fuhr fie auf der Eisenbahn, wie fie vielleicht auch den ganzen nächsten Tag hindurch und die zweite darauf folgende Nacht fahren würde. Denn fie war stark, und nachdem fie fich einmal zu der Reise entschlofien hatte, würde fie höchst wahrscheinlich, ohne unter­ wegs zu rasten, dieselbe bis zum Ende durchführen. Er wunderte fich, ob auch fie alle diese Stunden durchmachen möchte, an das zurückdenkend, was fie hinter fich gelassen hatte, oder ob fie ihre Augen geschlossen und den Frieden des Schlafes gefunden haben möchte, nach dem er fich ver­ geblich sehnte. Er dachte an ihr von der düsteren Lampe des Eisenbahnwaggons milde beleuchtetes Gesicht, und bildete sich ein, er könnte es thatsächlich sehen mit den zarten Schatten, dem gedämpften Reichthum der Farbe, dem ruhigen Blicke der Trauer. Als das Bild sich ihm ver­ dunkelte, rief er es durch eine starke Anstrengung wieder zurück, obgleich er wußte, daß er jedesmal, wo es vor seinen Augen aufstieg, denselben heftig stechenden Schmerz empfinden mußte, dem wieder dieselbe traurige Woge hoff­ nungslosen Elends folgte, die, seit er von ihr geschieden war, schon viele Male in seinem Herzen auf- und abgefluthet war. Endlich riß er fich auf, sah um fich, als ob er an einem fremden Orte wäre, zündete ein Licht an, und begab

203 sich nach seinem eigenen Quartier. Es war sehr spät und er war mehr müde, als er wußte; denn trotz aller seiner Mühsale schlief er ein und erwachte erst, als die Helle Sonne in das Zimmer strömte. Es klopfte Jemand an die Thür, und ein Diener meldete, daß Herr Contini da sei und Don Orfino zu sehen wünsche. Das Gesicht des Mannes drückte eine Art unter­ würfigen Erstaunens aus, als er sah, daß Orfino sich für die Nacht nicht entkleidet und auf dem Divan geschlafen hatte. Er fing an, sich mit den Toilettegegenständen zu beschäftigen, als erwartete er, Orfino möchte seiner äußeren Erscheinung einige Aufmerksamkeit widmen. Dieser aber hatte es ängstlich, Contini sofort zu sehen, und ließ ihn holen. Der Architekt war augenscheinlich in großer Unruhe. Er war so blaß, als sei er eben von einer langen Krank­ heit wieder aufgestanden, und schien während der Nacht völlig mager geworden zu sein. Er sprach in leisem, er­ regtem Tone. Der Hauptsache nach theilte er Orfino mit, was Giacinto am Abende vorher gesagt hatte. Die Dinge sahen allerdings sehr schwarz aus, und Del Ferices Bank hatte sich geweigert, irgend welche Papiere des Fürsten Montevarchi noch länger zu discontieren. „Und wir muffen heute Geld haben," schloß Contini seine Rede. Als er aufgehört hatte, zu sprechen, verschwand seine Erregung, und er sank in die äußerste Niedergeschlagenheit zurück. Orfino verharrte einige Zeit in Schweigen und zündete sich dann eine Cigarette an. „Sie brauchen nicht so kleinmüthig zu sein, Con­ tini," sagte er schließlich. „Ich werde nicht die geringste

204 Schwierigkeit haben, Geld zu bekommen — das missen Sie. Was ich am meisten empfinde, ist der moralische Ban­ kerott." „Was geht mich der moralische Bankerott an?" fragte Contini düster. „Es läßt sich sehr schön sagen, man würde Geld bekommen. Die Bank wird ihre Schubladen schließen, wie eine stählerne Mausefalle, und heute ist Sonnabend, und da muffen die Arbeiter und Andere bezahlt werden, und verschiedene Wechsel find auch noch fällig. Natürlich kann Ihnen Ihre Familie Millionen geben — mit der Zeit. Wir aber brauchen heute baar Geld. Da sitzt der Haken." „Ich nehme an, der Staatstelegraph ist nicht deßhalb zerstört, weil Fürst Montevarchi seine Accepte nicht be­ gleichen sonnn," bemerkte Orsino. „Und ich bilde mir ein, daß unser Hauswart hier in dem Hause genug baares Geld für unsere Bedürfnisse hat, und nicht zögern wird, es mir auszuhändigen, wenn er ein Telegramm von meinem Vater erhält, das ihm befiehlt, dies zu thun. Ob er genug hat, um die Wechsel einzulösen, weiß ich nicht; da es aber heute Sonnabend ist, so haben wir morgen den ganzen Tag Zeit, um uns zu arrangieren. Ich könnte sogar nach Saracinesca hinausfahren, und Montag früh, wenn die Bank aufmacht, wieder zurück sein." „Sie scheinen einen hoffnungsvollen Standpunkt ein­ zunehmen." „Ich habe nicht die geringste Hoffnung, das Geschäft zu retten. Aber die Frage wegen des bereitstehenden Gel­ des bringt mich an fich noch nicht in Verwirrung." Dies war ohne Zweifel wahr; es war aber auch ebenso unleugbar, daß Orfino jetzt auf den möglicherweise eintre­ tenden Bankerott mit mehr Gleichmuth blickte, als am

205 vorangehenden Abende. Andererseits fühlte er den ganzen Schmerz über seine plötzliche Trennung von Maria Consuelo sogar noch schärfer, als vorher. Wenn ein Mann von verschiedenen Arten von Unglück gleichzeitig bestürmt wird, so genügen im Allgemeinen vierundzwanzig Stunden, um das kleine vom großen zu sondern und ihm deutlich zu zeigen, welches das größte von allen ist. „Was werden wir heute Morgen anfangen?" forschte Contini. „Sie stellen die Frage, als ob sie einen Picknick Vor­ schlägen wollten," antwortete Orsino. „Ich kann nicht ein­ sehen, weßhalb dieser Morgen von anderen Morgen so ver­ schieden sein soll." „Wir müssen die Arbeiten sofort zum Stehen bringen —" „Deßhalb? Auf alle Fälle wollen wir Nichts ändern, bis wir den wirklichen Zustand des Geschäfts ausfindig machen. Das Erste, was geschehen muß, ist, daß, wie ge­ wöhnlich Sonnabends, auf die Bank gegangen wird. Dann werden wir genau erfahren, was zu thun ist." Contini schüttelte düster den Kopf und ging hinweg, um in einem anderen Zimmer zu warten, während Orfino fich ankleidete. Eine Stunde später waren fie aus der Bank. Contini wurde blässer, als je. Der Oberbuchhalter würde fie natürlich in Kenntniß setzen, daß keine Wechsel mehr diskontiert würden, und daß fie die, welche bereits unterwegs seien, einlösen müßten, wenn fie fällig würden. Auch würde er ihnen sagen, daß die Kreditbilanz ihres laufenden Contos ihnen erst dann zur Verfügung gestellt werden würde, wenn ihre Accepte beglichen wären. Auch Orfino würde es wahrscheinlich endlich glauben, daß die Lage ernst sei, obgleich er jetzt die Dinge mit so souveräner Verachtung und Gleichgültigkeit betrachtete.

206 Sie warteten eine Zeit lang. Mehrere Männer waren in eine ernste Unterhaltung vertieft, und ihre Gesichter ver­ riethen deutlich genug, daß sie in Unruhe waren. Der Oberbuchhalter stand bei ihnen und gab Orfino durch ein Zeichen zu verstehen, daß sie bald gehen würden. Orfino beobachtete ihn. Bon Zeit zu Zeit schüttelte er den Kopf und machte Geberden, welche seine völlige Unfähigkeit, Etwas für sie zu thun, erkennen ließen. Continis Muth sank immer tiefer. „Ich will sofort nach Del Ferice fragen," sagte Orfino. Er suchte sich demgemäß einen von den Männern aus, die die Livree der Bank trugen, und sagte ihm, er möchte seine Karte zu dem Grafen hintragen. „Der Herr Comthur kommt heute Morgen nicht," ant­ worte der Mann geheimnißvoll. Orfino ging zu dem Oberbuchhalter zurück und unter­ brach die Unterhaltung desselben mit den Anderen. Er er­ kundigte sich, ob es wahr sei, daß Del Ferice nicht käme. „Es ist nicht wahrscheinlich," antwortete der Buch­ halter mit ernstem Gesichte. „Man sagt, die gnädige Frau Gräfin wird den Tag vielleicht nicht überleben." „Ist Donna Tullia krank?" fragte Orfino in beträcht­ lichem Erstaunen. „Sie ist gestern früh von Neapel zurückgekehrt und wurde am Nachmittage krank — es soll Schlagfluß sein," fügte er mit leiser Stimme hinzu. „Wenn Sie sich ge­ dulden wollen, Herr Fürst, so stehe ich in fünf Minuten zu Ihrer Verfügung." Orfino mußte damit zufrieden sein und setzte sich wieder neben Contini nieder. Er theilte ihm die Neuigkeit von Del Fcrices Gemahlin mit.

207 „Das wird die Sachen noch schlimmer machen," sagte Contini. „Verbessern wird es sie nicht," antwortete Orfino gleichgültig. „In Anbetracht des Standes der Angelegen­ heiten möchte ich Del Ferice gern sehen, ehe er mit irgend Einem von den Anderen spricht." „Jene Leute da find alle in Beziehungen zum Fürsten Montevarchi," bemerkte Contini, indem er die Gruppe, deren Mittelpunkt der Oberbuchhalter war, genau ansah. „Sie können an ihren Gesichtern sehen, was sie von dem Geschäfte denken. Der kleine, grauhaarige Mann ist der Rentmeister — der dicke ist der Baumeister. Die Anderen find Unternehmer. Man sagt, es handle sich um nicht weniger als dreißig Millionen." Orfino sagte Nichts. Er dachte an Maria Consuelo und wünschte, er könne noch diesen Abend von Rom weg­ reisen, während er doch einräumte, daß so Etwas platter­ dings unmöglich war. Inzwischen drückten die Gesten des Oberbuchhalters seinen Gesprächsgenoffen gegenüber immer mehr die gänzliche Hilflosigkeit aus. Zuletzt gingen sie in einem Haufen hinaus. „Und jetzt stehe ich Ihnen zu Diensten, Herr Fürst," fagte der ernste Geschäftsmann, indem er an Orfino und Contini herantrat. „Der gewöhnliche Vorschuß, vermuth­ lich? Wir wollen nur rasch die Rechnungen durchlefen und die neuen herausnehmen. Das wird nicht zehn Minuten dauern. Das gewöhnliche Baargeld, vermuthlich, Herr Fürst? Jawohl, heute ist Sonnabend und Sie haben Ihre Leute zu bezahlen. Ganz wie gewöhnlich, ganz wie gewöhnlich. Wollen Sie in mein Comptoir kom­ men?" Orfino blickte Contini an und Contini blickte Orfino an,

208 indem er die Rücklehnc eines Stuhls ergriff, um sich darauf zu stützen. „So liegt also keine Schwierigkeit wegen des Discontierens vor?" stammelte Contini, indem er sein jetzt plötz­ lich von Blut übergossenes Gesicht nach dem Buchhalter herumdrehte. „Durchaus keine," antwortete dieser mit einem Aus­ drucke wirklicher oder gut gespielter Ueberraschung. „Ich habe die gewöhnlichen Instruktionen erhalten, Andrea Con­ tini und Compagnon alles Geld, was sie nöthig haben, zukommen zu laffen." Er drehte sich herum und ging ihnen nach seinem Privatbureau voraus. Contini schritt schwankend einher. Orfino zeigte kein Erstaunen, aber seine schwarzen Augen wurden etwas Heller, als er an seine nächste Zusammen­ kunft mit San Giacinto dachte. Er schrieb bereitwillig sein gutes Glück dem nach seiner Annahme wohlbekannten Gedeihen der Firma zu, und er stieg in seiner eigenen Achtung. Er vergaß ganz, daß Contini, der jetzt den Kopf verloren, erst gestern die Zukunft klar vorausgesehen hatte, indem er sagte, Del Ferice würde die beiden Compagnons nicht bankerott werden laffen, ehe sie nicht die letzte Thür und das letzte Fenster im letzten ihrer Häuser ordnungs­ mäßig geliefert hätten. Damals hatte diese Behauptung als richtig Eindruck auf ihn gemacht. Contini war der Erste, sie wieder in's Gedächtniß zurückzurufen. „Es wird so kommen, wie ich sagte," fing er an, als sie nach Verlaffen der Bank in einer Droschke nach ihrem Comptoir fuhren. „Er wird uns so lange leben laffen, bis wir des Verspeisens werth sind." „Wir wollen die Sachen noch vorher auf einer festeren Grundlage neu aufbauen," antwortete Orsino zuversichtlich.

209 „Die arme alte DonnaTullia! Wer hätte gedacht, daß sie ster­ ben könnte! Ich will dort halten lassen und mich erkundigen." Er ließ die Droschke vor dem vergoldeten Thore des einzeln stehenden Hauses halten. Als er hinaus blickte, sah er, daß die Läden geschlossen waren. Der Pförtner kam

zum Gitterthor heran, zeigte aber durchaus nicht die Ab­ sicht, zu öffnen. „Die gnädige Frau Gräfin ist tobt," antwortete er feierlich auf Orfinos Frage. „Heute Morgen?" „Vor zwei Stunden." Orfinos Gesicht wurde tiefernst, als er seine Beileids­ karte zurückließ und sich abwandte. Er hätte kaum eine Person namhaft machen können, die ihm gleichgültiger war, als die arme Donna Tullia, er konnte aber nicht umhin, ein eigenthümliches Bedauern bei dem Gedanken zu empfin­ den, daß sie nun doch schließlich dahingegangen sei mit all ihrer lärmenden Eitelkeit, ihrer ruhelosen Sucht, sich überall einzumengen, und ihrem beständigen Geschwätz. Sie war eigentlich nicht alt gewesen, obwohl er sie so nannte, und immer noch hatte es so ausgesehen, als sei ein Uebermaß von Lebenskraft in ihr vorhanden. Noch viele Jahre raffeln­ den, unnützen, gesellschaftlichen Lebens hatten vor ihr ge­ legen. Und morgen sollte sie ihre letzte Fahrt durch Rom machen — hinaus durch das Sankt-Lorenzo-Thor nach dem Campo Varano, um dort vielleicht viele Saisons hindurch auf den blaffen und halb kränklichen Ugo zu warten, von dem ein Jeder Jahre lang gesagt hatte, daß er mit der Herzkrankheit, die ihn bedrohte, nicht mehr zwölf Monate lang würde leben können. Neuerdings hatten die Leute sogar angefangen, scherzend von Donna Tullias drittem Gemahl zu sprechen. Arme Donna Tullia! Crawfcrd, Den Orsinc. 11. 14

210 Orfino fuhr mit Contini nach seinem Comptoir und zwängte sich durch den gewöhnlichen Kreislauf der Arbeit. Gelegentlich wurde er von einer wahnsinnigen Sehnsucht bestürmt, Rom sofort zu verlaffen; er widersetzte sich dem aber und wollte nicht nachgeben. Obgleich seine Angelegen­ heiten über alles Erwarten gut gegangen waren, so machte es doch die gegenwärtige Krisis unmöglich, sein Geschäft im Stiche zu lassen, wenn er es nicht ganz und gar los­ werden konnte. Und dies faßte er ernsthaft in's Auge. Er wußte jedoch, oder glaubte, zu wiffen, daß Contini ohne ihn ruiniert sein würde. Sein eigener Name war das, was dem Papiere seinen Werth gab und Del Ferice dazu bestimmte, die Geldvorschüffe fortzusetzen. Die Zeit war vorüber, wo Contini gern seines Compagnons Antheil an dem Unternehmen übernommen und sogar versucht haben würde, Kapitalien aufzubringen, um ihn zu kaufen. Sich jetzt zurückzuziehen, war nur dann möglich, wenn er für die endgültige Berichtigung des Ganzen Fürsorge treffen konnte, und dies war nur möglich, indem er sich an seinen Vater oder an seine Mutter wandte, mit anderen Worten, indem er sich für völlig in dem Unabhängigkeitskampfe be­ siegt erklärte. Der Tag nahm endlich ein Ende und nach ihm kam die Trägheit des Sonntags. Eine Art verdroffener Gleich­ gültigkeit kam über Orsino, ohne Zweifel die Rückwirkung nach all' der Aufregung, die er durchgemacht hatte. Es schien ihm, daß Maria Consuelo ihn nie geliebt habe, und daß es schließlich bester sei, daß sie fort war. Allerdings sehnte er sich nach den alten Tagen zurück; als sie ihm aber jetzt in seinem Sinnen und Grübeln erschien, wünschte er sie nicht zurück. Er hatte kein Verlangen danach, den ungewiffen Kampf um eine Liebe zu erneuern, die sie am

211 Ende ableugnete; und diese Stimmung zeigte ohne Zweifel,

daß seine eigene Leidenschaft weniger heftig war, selber geglaubt hatte.

als er

Wenn ein Mann mit seinem ganzen

Wesen ungetheilt liebt, so ist er nicht geeignet, sich Tren­

nungen zu unterwerfen,

ohne eine starke Anstrengung zu

machen, sich mit der Frau, die ihm zu entschlüpfen ver­ sucht, durch Gewalt, Ueberredung oder List wieder zu ver­ einigen.

Orfino war sich bewußt,

daß er zuerst die Nei­

gung gefühlt hatte, einen solchen Versuch zu machen, und

sogar stärker gefühlt hatte, als er es äußerlich gezeigt hatte; er war sich aber auch besten bewußt, daß der Zwischen­ raum von zwei Tagen genügt hatte, um den Wunsch, Maria Eonsuelo zu folgen, derarttg abzuschwächen, daß er es jetzt kaum verstehen konnte,

daß er ihn überhaupt hatte hegen

können. Unbefriedigte Leidenschaft verbraucht sich sehr bald. Der höhere Theil der Liebe kann in solchen Fällen weiter­

dauern,

und thut es auch oft,

und die leidenschaftlichen

Triebe können nach langem Rasten so wild und so gefähr­

lich, wie je, sich wieder erheben.

Es geschieht in der That

selten, daß zwei nicht zum Ziele gelangte Liebende, die sich nach dem Willen des Einen oder Anderen von ihnen ge­

trennt haben, sich wieder begegnen können, ohne das Be­ wußtsein zu haben,

daß die versuchsweise stattgefundene

Scheidung Gefühle hat erkalten lasten, die ihnen einst ganz vertraut waren, ihnen

und Selbsttäuschungen zerstött hat, die In älteren Zeiten

einst mehr als theuer waren.

liebten sich Männer und Frauen vielleicht anders, als jetzt.

In jenen Tagen herrschte mehr Vereinsamung,

denn was man die Gesellschaft nennt,

als jetzt,

war noch nicht er­

funden, und infolge des vielen Alleinlebens waren die Leute im Allgemeinen mehr zur Traurigkeit geneigt.

Die Schwer14«

212 Muth ist eine große Verfestigen»! der Treue bei der Liebe. Zudem hatte zu jener Zeit der moderne Kampf um's Da­ sein noch nicht begonnen,

die Männer hatten der Regel

nach wenig Anderes, was sie anzog, als Liebe und Krieg,

und die Frauen hatten überhaupt keine anderen Jntereffen, als die Liebe.

Wir Modernen würden wahnsinnig werden,

wenn wir plötzlich gezwungen würden,

das im zwölften und dreizehnten Jahrhundert von Rittern und Edelfrauen geführte Leben zu führen. Der eintönige Kreislauf einer

solchen Existenz

in Friedenszeiten würde uns blödsinnig

machen; die Greuel jener alten Kriegführung würde Viele

von uns rasend machen.

Es ist aber möglich, daß Jüng­

linge und Mädchen sich treuer liebten

und länger auf

einander warteten, als sie heutzutage können oder wollen.

Es ist fraglich, ob Bayard eine einzige Seite einer modernen Liebesgeschichte verstanden haben würde; Tankred hätte es jedenfalls nicht gethan; aber Cäsar würde unser Leben und

das, was uns anzieht und fesselt,

ohne Anstrengung ver­

standen haben,

und Catull hätte uns beschreiben können,

wie wir sind;

denn eine hohe Kulturstufe ist einer an­

wo dieselben Menschenrasien in Betracht kommen,

deren,

sehr ähnlich. In

den Tagen,

die auf Maria Consuelos Abreise

folgten, kam Orfino auf einen Standpunkt der Gleichgül­ tigkeit, der ihn überraschte.

Er erinnerte sich, daß, als sie

im Frühjahr weggereist war,

er sie kaum vermißt hatte,

und daß er seine eigene Kälte nicht für sonderbar gehalten

hatte, seit er sicher war, daß er sie damals nicht geliebt habe.

Daß er sie aber jetzt, während ihres letzten Aufent­

halts in Rom, geliebt habe, wußte er ganz sicher, und er

würde sich

selber verachtet haben,

wenn er nicht hätte

glauben können, daß er sie noch immer liebe.

Jedoch war

213 er, wenn auch nicht gerade ftoh,

daß sie ihn verlassen

hatte, so doch wenigstens eigenthümlich zufrieden,

allein gelassen war, ihn

daß er

und der alte Hang zur Analyse ließ

den Versuch machen,

sich selber zu ergründen.

Der

Versuch war natürlich fruchtlos; er gab aber seinen Ge­ danken Beschäftigung.

Auf der Straße traf er Spieca und ging ihm

dem Wege.

aus

Er bildete sich ein, der Greis müsse ihn ver­

achten, weil er keinen Widerstand geleistet habe und nicht sofort Maria Consuelo

gefolgt sei.

Die Annahme war

albern und die Schlußfolgerung hinfällig; er konnte aber dem Gedanken nicht entrinnen, und das ärgerte ihn.

Er

schämte sich wahrscheinlich, daß er nicht rücksichtslos gehan­

delt habe, wie ein von

einer herrischen Leidenschaft be­

herrschter Mann hätte thun sollen, und doch war er inner­ lich ftoh, daß es ihm nicht gestattet worden war, dem ersten

Antriebe zu folgen.

Die Tage folgten einander, und eine Woche verstrich

und brachte den Sonnabend wieder und die Nothwendig­

keit,

der Bank einen Besuch

abzustatten.

Das Geschäft

war sehr flau geworden, seit bekannt geworden war, Montevarchi ruiniert sei.

daß

Bis jetzt hatte er die Zahlung

nicht eingestellt, und wenn auch die Bank den Diskont ver­

weigerte, so hatte er es doch möglich gemacht, das Geld zu finden, mit dem er seinen Verpflichtungen begegnete. Wahr­

scheinlich wollte er, wie San Giacinto vorhergesagt hatte, Alles bezahlen, und dann allerdings ein sehr armer Mann bleiben.

Obgleich aber viele Personen dies wußten, wurde

das Vertrauen nicht wieder hergestellt.

Del Ferice erklärte,

daß er Montevarchi für zahlungsfähig halte, wie er Jeden, mit dem

seine Bank in Geschäftsverbindung stehe, für

zahlungsfähig bis zum äußersten Centime halte; er könne

214 aber Niemandem, wer es auch sei, unter gleichviel was für

Bedingungen, noch weiter Geld leihen, weil weder er, noch die Bank welches zu verleihen hätten. Ein Jeder, sagte er, habe sich ehrlich benommen, und er nehme sich vor, die

Ehrlichkeit eines Jeden durch das freie Eingeftändniß seines

völligen Mangels an Baargeld in den Schatten zu stellen. Er sei, sagte er, tief betrübt, überwältigt von den Leiden

seiner Freunde und Kunden, bereit, sein Haus, sein Silber­ zeug und, nach der römischen Redensart, selbst seine Stiefel

zu verkaufen, um einem Jeden gerecht zu werden; er misse

aber, daß die Nachfrage bei weitem über jede Hilfe, die er leisten könnte, gleichviel unter welchen persönlichen Opfern, hinausgehe; und

da es

Jeden zu helfen,

so

demnach unmöglich sei,

würde es ungerecht sein,

einem

einigen

Wenigen zu helfen, wo sie es doch Alle gleichmäßig ver­

dienten. In der Zwischenzeit eröffnete er das Testament seiner verstorbenen Gattin, die ihm ungefähr vier und eine halbe

Million Franken bedingungslos hinterließ, und noch eine halbe Million,

die zu

lichen Zwecke nach

irgend einem wohlthätigen öffent­

Ugos Auswahl bestimmt war,

zum

Besten der Ruhe des unruhigen Geistes der Donna Tullia. Es braucht nicht erst gesagt zu werden, daß der trauernde Gatte das Vermächtniß dazu bestimmte, prächtig zur Ver­ schönerung der Stadt zu dienen, die durch ihn im Parla­

mente vertreten wurde.

Ein Theil der Verschönerung würde

in einer Bildsäule Del Ferices selber bestehen — die ihn

vielleicht darstellte,

wie er im Gewände eines Kapuziner­

mönches aus Rom entwischt war, aber unter Hinzufügung eines Armeerevolvers, um zu zeigen, daß er für die Ein­ heit Italiens gekämpft habe, wenn auch Niemand sagen konnte, wo und wann dies geschehen sei.

Es ist aber be°

215 merkenswerth, daß, während er seine völlige Unfähigkeit betheuerte, irgend Jemandes Wechsel zu discontieren, Andrea Contini und Compagnon ihre Accepte, wenn sie fällig waren, regelmäßig erneuerten, und für jeden beliebigen Betrag von baar Geld, den sie nöthig hatten, neue unter­ zeichneten. Die Aushülfe ward von einem Gesuche be­ gleitet, daß sie nicht erwähnt werden möchte. Orfino empfing das Geld ziemlich gleichgültig, da er sich bewußt war, daß er im Falle einer Störung drei große Vermögen zur Rückendeckung habe. Contini aber wurde immer ner­ vöser, je mehr die Zeit weiterschritt und die Summen auf dem Papiere an Größe wuchsen, und die Aussichten, über die Gebäude zu verfügen, in dem geschäftlichen Stillstände, der bereits eingetreten war, auf ein Nichts zusammenge­ schwunden zu sein schienen.

Elftes Kapitel. Zu dieser Zeit empfing GrafSpicca einen Brief von Maria Consuelo, aus Nizza geschrieben und mit einer Post­ marke versehen, die jünger war, als das Datum, das an der Spitze der Seite stand; eine Thatsache, welche bewies, daß die Schreiberin entweder eine ungewöhnlich lange Zeit zur Abfaffung nöthig gehabt, oder die Sendung mehrere Tage zurückgehalten hatte, ehe sie ihn schließlich absandte. „Mein Vater. — Ich schreibe Ihnen, um Sie von gewiffen Dingen in Kenntniß zu setzen, die in neuerer Zeit stattgefunden haben, und deren Kenntniß für Sie von Wichtigkeit ist, und über die ich berechtigt sein würde, eine Auseinandersetzung zu verlangen, wenn es mir beliebte, sie zu fordern. Nachdem Sie der Urheber meines Lebens ge­ wesen sind, haben Sie sich auch zum Urheber all' meines

215 merkenswerth, daß, während er seine völlige Unfähigkeit betheuerte, irgend Jemandes Wechsel zu discontieren, Andrea Contini und Compagnon ihre Accepte, wenn sie fällig waren, regelmäßig erneuerten, und für jeden beliebigen Betrag von baar Geld, den sie nöthig hatten, neue unter­ zeichneten. Die Aushülfe ward von einem Gesuche be­ gleitet, daß sie nicht erwähnt werden möchte. Orfino empfing das Geld ziemlich gleichgültig, da er sich bewußt war, daß er im Falle einer Störung drei große Vermögen zur Rückendeckung habe. Contini aber wurde immer ner­ vöser, je mehr die Zeit weiterschritt und die Summen auf dem Papiere an Größe wuchsen, und die Aussichten, über die Gebäude zu verfügen, in dem geschäftlichen Stillstände, der bereits eingetreten war, auf ein Nichts zusammenge­ schwunden zu sein schienen.

Elftes Kapitel. Zu dieser Zeit empfing GrafSpicca einen Brief von Maria Consuelo, aus Nizza geschrieben und mit einer Post­ marke versehen, die jünger war, als das Datum, das an der Spitze der Seite stand; eine Thatsache, welche bewies, daß die Schreiberin entweder eine ungewöhnlich lange Zeit zur Abfaffung nöthig gehabt, oder die Sendung mehrere Tage zurückgehalten hatte, ehe sie ihn schließlich absandte. „Mein Vater. — Ich schreibe Ihnen, um Sie von gewiffen Dingen in Kenntniß zu setzen, die in neuerer Zeit stattgefunden haben, und deren Kenntniß für Sie von Wichtigkeit ist, und über die ich berechtigt sein würde, eine Auseinandersetzung zu verlangen, wenn es mir beliebte, sie zu fordern. Nachdem Sie der Urheber meines Lebens ge­ wesen sind, haben Sie sich auch zum Urheber all' meines

216 Unglücks und all' meiner Unruhe gemacht. Ich habe die Ursache Ihres heftigen Haffes gegen mich nie verstanden, aber ich habe seine Folgen verspürt, sogar wenn ich sehr weit von Ihnen weg war; und Sie wiffen es, daß ich ihn von ganzem Herzen erwidere. Außerdem habe ich den festen Entschluß gefaßt, mich nicht länger von Ihnen zum Opfer Ihrer Grausamkeit machen zu laffen. Das erkläre ich Ihnen ganz frei und offen. Dies ist eine Kriegserklä­ rung, und ich will sofort danach handeln. „Sie wiffen ohne Zweifel, daß Don Orfino Saracinesca lange Zeit zu meinen intimsten Freunden gehört hat. Ich will die Frage nicht erörtern, ob ich wohl daran that, ihn zu so intimem Verkehre zuzulaffen oder nicht. Dies wenigstens geht Sie Nichts an. Selbst wenn man Ihnen die Macht einräumt, in anderen Beziehungen die vollständigste Tyrannei über mich auszuüben, so bin ich doch und war ich stets frei, mir selber meine Bekannt­ schaften auszuwählen, und ich bin im Stande, mich besser zu vertheidigen, als die meisten Frauen, und so gut, wie irgend Eine. Auch will ich gerecht sein. Ich habe nicht die Abficht, Ihnen die Folgen deffen, was ich thue, zum Vorwurfe zu machen. Ich will Sie aber nicht schonen, wo die Wirkungen Ihres Verfahrens gegen mich in Betracht kommen. „Don Orfino machte mir im vergangenen Frühjahre den Hof. Ich liebte ihn von allem Anfang an. Ich kann Ihr grausames Lachen hören und Ihr verächtlich spottendes Gesicht sehen, während ich das schreibe. Die Mittheilung ist aber nothwendig, und ich kann Ihre Verachtung er­ tragen, weil dies die letzte Gelegenheit zu solcher Belusti­ gung ist, die ich Ihnen bieten werde, und weil ich ver­ meine, daß Sie theuer dafür bezahlen sollen. Ich liebte

217 Don Orfino, und liebe ihn noch immer.

Sie, natürlich,

haben nie geliebt. Jedoch haben Sie gehaßt, und vielleicht kann

die eine Leidenschaft

sein.

In meinem Falle, kann ich Ihnen versichern, ist es

so;

der Maßstab

die

für

andere

denn je mehr ich liebe, um so mehr lerne ich, Sie

Haffen. „Letzten Donnerstag bat mich Orfino,

sein Weib zu

seit geraumer Zeit,

Ich wußte bereits

werden.

daß er

mich liebe, und war überzeugt, daß er binnen kurzem da­

von

sprechen würde.

Der Tag war zuerst schwül,

dann gab es ein Gewitter.

und ich verlor den Kopf. liebe.

Ich gestand ihm,

Das geht Sie Nichts an.

auch mit,

und

Meine Nerven waren schlaff, daß ich ihn

Ich theilte ihm

jedoch

daß ich meinem verstorbenen Gatten ein feier­

liches Gelübde gethan habe, und ich hatte noch die Kraft, zu sagen, daß ich nicht wieder heirathen wollte.

Ich beab­

sichtigte, Zeit zu gewinnen; ich sehnte mich danach, allein zu sein; ich wußte, daß ich nachgeben würde; ich wollte

Gott sei Dank; ich war

aber nicht blindlings nachgeben.

stark.

hierin.

Hierin bin ich wie Sie, zum Glück aber auch nur Sie fragen mich, weßhalb ich auch nur an Nach­

geben gedacht habe.

Ich antworte,

daß ich Don Orfino

inniger liebe, als ich den Mann liebte, den Sie gemordet haben.

Darin liegt nichts Demüthigendes, und ich mache Ich liebe ihn inniger, und

das Geständniß ohne Rückhalt.

hätte daher,

da es so

brechen

ihn

und

heirathen

möglich gewesen wäre.

wiffen.

menschlich

ist,

mögen,

mein Versprechen

wenn

die Heirath

Das ist sie aber nicht, wie Sie

Es ist etwas Anderes,

sich zu dem Priester zu

wenden, während er neben einem sterbenden Manne steht,

und zu sagen:

gieb uns

.Erkläre uns für Mann und Weib, und

um dieses Mannes Ruhe willen einen Segen'.

218 Der Priester wußte, daß wir Beide frei waren, und nahm die Verantwortung auf sich, da er nebenbei auch wußte, daß der Vorgang thatsächlich keine Folgen nach sich ziehen konnte, wie er sich auch in der Theorie ausweisen mochte. Ganz etwas Anderes aber ist es, mit Don Orfino Saracinesca, im Angesichte eines starken Widerstandes, gesetzlich verheirathet zu sein. An jenem Abende aber fuhr ich nach Hause in dem Glauben, daß es geschehen könne, und daß der Widerstand verschwinden würde. Ich glaubte es, weil ich liebte. Ich liebe noch immer; was ich aber in jener Nacht lernte, hat meinen Glauben an ein unmögliches Glück getödtet. „Ich brauche Ihnen nicht Alles zu erzählen, was zwischen mir und Lucrezia Ferris vorfiel. Wie sie Kennt­ niß von dem, was sich zugetragen, erlangt hatte, kann ich nicht sagen. Sie muß uns in die Wohnung gefolgt sein, die ich ausmöbliere, und muß behorcht haben, was wir sprachen, oder genug gesehen haben, um sich zu überzeugen. Sie ist eine Spionin. Ich vermuthe, daß dies der Grund ist, weßhalb sie mir aufgebürdet ist und stets gewesen ist, so lange ich mich erinnern kann — seit ich geboren wurde, wie sie sagt. Ich fand sie wartend, um mich, wie gewöhn­ lich, anzukleiden, und, wie gewöhnlich, sprach ich nicht mit ihr. Sie sprach zuerst. ,Sie werden Don Orfino Saracinesca nicht heirathen', sagte sie, mich mit ihren schlechten Augen fest anblickend. Ich hätte sie schlagen können, wollte es aber nicht thun. Ich fragte sie, was sie meine. Sie sagte mir darauf, daß sie wiffe, was ich triebe, und fragte mich, ob ich davon Kenntniß habe, daß ich Dokumente nöthig habe, um in Rom — und wäre es mit einem Bettler — verheirathet zu werden; und ob ich voraussetzte, daß die Saracinesca geneigt sein würden, den Mangel an

219 derartigen Papieren zu übersehen, oder aus eigener Macht­ vollkommenheit ein Gesetz erlassen könnten, das die Noth­ wendigkeit derselben abschaffte; oder schließlich, ob sie solche Zeugniffe über meine Herkunft, wie sie sie beibringen könnte, annehmen würden. Sie zeigte mir ein Bündel Papiere. Sie hätte mir, sagte sie, nichts Befferes anzubieten; das aber, was sie habe, stelle sie mir gern zur Verfügung. Ich nahm die Papiere. Ich war auf einen Stoß vorbereitet, aber nicht auf den Hieb, den ich empfing. „Sie wiffen, was ich gelesen habe. Das Zeugniß über meine Geburt als die Tochter der Lucrezia Ferris, unverheirathet, von Graf Spicca, der das Kind als das seine anerkannte — und das Zeugniß über Ihre Verheirathung mit Lucrezia Ferris, — ziemlich sonderbarerweise auf vier­ zehn Tage nach meiner Geburt datiert — und ferner ein Dokument, das mich als Ihrer Beider gesetzliche Tochter legitimiert. Alle diese Dokumente stammen aus Monte Carlo. Sie werden begreifen, warum ich in Nizza bin. Jawohl — fie find Alle echt, ein Jedes von ihnen ist echt, wie ich keine Schwierigkeit gehabt habe, festzustellen. So bin ich die Tochter der Lucrezia Ferris, unehelich geboren, und nachher zu einer Art von Legitimität weißgewaschen. Und Lucrezia Ferris ist gesetzlich die Gräfin Spicca. Lucrezia Ferris, das feige spionierende Weib, die mein Leben mehr als zur Hälfte unter ihrer Kontrolle hat, der verlogene, diebische Dienstbote, — fie bestiehlt mich bei jeder Gelegenheit — das gemeine, halb italienische Ge­ schöpf, — sie ist meine Mutter, fie ist jenes strahlende Wesen, von dem Sie mitunter mit Thränen in den Augen sprechen; sie ist jener Engel, an den ich Sie erinnere; fie ist jener süße Einfluß, der vor dreiund­ zwanzig Jahren Ihr einsames Leben auf kurze Zeit sänf-

220 tigte und aufheiterte! Sie hat sich seitdem seltsam ver­ ändert! „Und dies ist das Geheimniß meiner Geburt, das Sie vor mir verborgen gehalten haben, und das zu ent­ hüllen jeden Augenblick in der Macht meiner verworfenen Mutter stand. Sie können die Thatsache, wie ich annehme, nicht leugnen, namentlich seitdem ich mir die Mühe gemacht habe, die Aktenfascikel nachzusehen und jedes einzelne Do­ kument als richtig zu konstatieren. „Ich gab sie ihr alle zurück; denn ich werde sie nie brauchen. Das Frauenzimmer — ich meine meine Mutter — hatte ganz Recht. Ich werde Don Orfino Saracinesca nicht heirathen. Sie haben mich mein ganzes Leben lang belogen. Sie haben mir stets gesagt, daß meine Mutter todt sei, und daß ich mich meiner Geburt nicht zu schämen brauchte, obgleich Sie sie geheim gehalten zu sehen wünsch­ ten. In so weit habe ich Ihnen gehorcht. In dieser Hin­ sicht, aber auch nur in dieser, will ich fortfahren, Ihren Wünschen gemäß zu handeln. Ich fühle mich nicht dazu berufen, der Welt und meiner Bekanntschaft öffentlich zu verkünden, daß ich die Tochter meines eigenen Dienst­ mädchens bin, und daß Sie so gütig waren, Ihre schätzenswerthe Maitreffe nach meiner Geburt zu heirathen, um auf mich das zu übertragen, was Ihr mit dem stolzen Namen legitimer Geburt schmückt. Nein. Das ist nicht nothwen­ dig. Wenn es Sie verletzen könnte, daß man es veröffent­ lichte, so würde ich es in der öffentlichsten Weise, die ich ausfindig machen könnte, thun. Es ist aber Thorheit, an­ zunehmen, daß Sie durch einen so einfachen Vorgang dazu gebracht werden könnten, Schmerz zu empfinden. „Wiffen Sie auch, mein Vater, daß Sie von allem Anfänge an mein ganzes Leben zu Grunde gerichtet haben?

221 Da Sie so schlecht find, müssen Sie Verstand haben und unterscheiden können, was Sie gethan haben, selbst wenn Sie es nur aus reiner Liebe zum Bösen gethan haben. Sie gaben vor, gütig gegen mich zu sein, bis ich alt genug war, um alle die Qual zu fühlen, die Sie in Hülle und Fülle für mich bereit hatten. Aber selbst dann noch, nach­ dem Sie fich der Mühe unterzogen hatten, meine Mutter zu heirathen, warum gaben Sie mir einen anderen Namen? War das nöthig? Vermuthlich wohl. Ich verstand da­ mals nicht, weßhalb meine älteren Gespielinnen im Kloster mich von der Seite ansahen, noch weßhalb die Nonnen manchmal zusammen flüsterten und mich ansahen. Sie wußten vielleicht, daß kein solcher Name, wie der meine, vorhanden war. Da ich doch Ihre Tochter war, weßhalb habe ich nicht Ihren Namen getragen, als ich noch ein kleines Mädchen war? Sie schämten fich, es bekannt wer­ den zu laffen, daß Sie verheirathet seien, in Anbetracht der Sorte Weib, die Sie genommen hatten; und Sie be­ fanden fich in einer schwierigen Lage. Wenn Sie mich als Ihre Tochter in Oesterreich anerkannt hätten, so hätten Ihre Freunde in Rom mein Vorhandensein bald heraus­ gefunden — und das Vorhandensein Ihres Weibes. In jenen Tagen waren Sie sehr vorsichtig, scheinen aber in neuerer Zeit sorglos geworden zu sein; sonst hätten Sie nicht diese Papiere in der Obhut der Gräfin Spicca, meines Dienstmädchens — und meiner Mutter, gelassen. Ich habe mir sagen laffen, daß sehr schlechte Menschen bald ihre zweite Kindheit erreichen und närrisch handeln. Das ist ganz wahr. „Dann später, als Sie sahen, daß ich liebte und wiedergeliebt wurde, und glücklich werden sollte, traten Sie zwischen meine Liebe und mich. Sie erschienen in Ihrem

222 eigenen Charakter als Lügner, Verleumder und Verräther. Ich liebte einen Mann, der tapfer, ehrenhaft, treu war — vielleicht sorglos, und wild, wie es solche Männer zu sein pflegen, — aber hingebend und aufrichtig. Sie traten zwischen uns. Sie sagten zu mir, er sei falsch und feige, ein Abenteurer schlimmster Art. Weil ich es nicht glauben wollte und ihn trotz Ihrer hätte heirathen wollen, stachen Sie ihn todt. War es feige von ihm, dem hervorragendsten Schwerttämpfer in Europa entgegenzutreten? Sie, die Männer, die es sahen, haben mir erzählt, daß er sich vor Ihnen nicht fürchtete, und daß er mit Ihnen kämpfte, wie ein Löwe, der er in Wirklchkeit auch war. Und auch die Herausforderung! Er hat mich nie geschlagen. Er zeigte mir nur, was er mit einem Ausdrucke beim Fechten sagen wolle — das silberne Messer, das er dabei in der Hand hielt, berührte leicht meine Wange, weil ich erregt war und eine Bewegung machte. Sie hatten aber die Absicht, ihn zu tobten, und beliebten zu sagen, er habe mich ge­ schlagen. Hotten Sie je ein barsches Wott von seinen Lippen während jener Monate des Wattens? Als Sie Ihr Werk gethan hatten, entflohen Sie — wie ein Mörder, der Sie damals waren und noch heute find. Aber ich ent­ wischte der Frau, die da sagt, daß sie meine Mutter sei — und es wirklich ist — und ging zu ihm und fand ihn noch lebend und heirathete ihn. Sie pflegten mir zu sagen, er sei ein Abenteurer und nicht viel besser, als ein Bettler. Jedoch hat er mir ein großes Vermögen hinterlasien. Es ist um so wichtiger, daß er für mich gesorgt hat, da es Ihnen ja gelungen ist, den größten Theil Ihres Geldes zu verspielen — ohne Zweifel, um ganz sicher zu sein, daß ich es nicht etwa bei Ihrem Tode zum Nießbrauche be­ komme. Nicht als ob Sie sterben wollten — Männer

223 Ihrer

Art

überleben

ihre

Opfer,

weil

sie

dieselben

tödten. „Und jetzt, als Sie sahen — denn Sie haben es that­ sächlich gesehen — als Sie sahen und wußten,

daß wir

Beide, Orfino Saracinesca und ich, einander liebten, haben Sie mein Leben zum zweiten Male zerbrochen. Sie hätten zu Anfang so leicht zu ihm gehen oder zu mir kommen

können, und reinen Wein einschenken.

Sie wußten,

daß

ich Ihnen das, was Sie mir bereits angethan hatten, nie

Also konnte etwas mehr die Sache nicht

verzeihen würde. schlimmer machen.

Sie wußten, daß Ihnen Don Orsino

als Freund für die Warnung gedankt haben würde.

Statt

deffen — ich lehne es ab, Ihnen auch nur ein Wort von Ihrem Gefasele zu glauben — lassen Sie jenes Weib um

mich herumspionieren, bis der große Augenblick gekommen ist, Sie geben ihr die Waffe in die Hand, und heißen fie zuschlagen, wenn der Hieb am empfindlichsten treffen wird.

Sic find kein Mensch.

Sie find der Satan.

zweimal von dem Manne,

Ich schied

Er wollte mich

den ich liebe.

nicht gehen lasten und kam zurück und versuchte, mich zu

halten — ich weiß nicht, wie ich ihm entronnen bin. stand mir bei.

Er ist so tapfer und edel,

Gott

daß er mich

nicht aufgegeben haben würde, selbst wenn er jene verfluch­ ten Papiere in den Händen gehabt und die ganze Wahr­

heit gewußt hätte.

Er würde um meinetwillen einen Flecken

auf seinen stolzen Namen und Schande über sein Haus

gebracht haben.

Er ist

nicht wie Sie.

hohes

Ich

bin

zweimal von ihm geschieden; ich weiß Alles, was ich im

Leiden aushalten kann, und ich haste Sie für jedes specielle

Leiden, es mag groß oder klein sein. „Ich habe meine Mutter aus meinem Dienste ent­

lasten.

Wie das in Rom Ringen würde!

Ich habe ihr so

224 viel Geld gegeben, als sie erwarten kann, und bin sie los geworden. Sie sagte, sie wolle nicht gehen, sie wolle an Sie schreiben, und viele andere Sachen. Ich sagte ihr, daß ich, wenn sie zu bleiben versuchte, auf die Polizei gehen und nachweisen würde, daß sie meine Mutter sei; ich würde, wenn das Gesetz es erforderte, für sie sorgen, und sie mit Hülfe deffelben Gesetzes mit Gewalt aus mei­ nem Hause entfernen lassen. Ich bin mündig, verheirathet, unabhängig, und kann nicht gezwungen werden, meine Mutter entweder als Dienstboten oder als Besucher bei mir aufzunehmen. Ich vermuthe, sie hat ein Anrecht dar­ auf, unter Ihrem Dache ein Unterkommen zu finden. Ich hoffe, fie wird daraus Nutzen ziehen, wie ich es ihr auch angerathen habe. Sie nahm das Geld und ging weg, mit Verwünschungen gegen mich. Ich glaube, wenn fie in meinem ganzen Leben die geringste Zuneigung für mich hätte — selbst zuletzt noch, als fie sich für meine Mutter erklärte, wenn sie da einen Funken mütterlichen Gefühls, zärtlicher Neigung oder überhaupt von etwas Menschlichem gezeigt hätte, ich hätte fie angenommen und bei mir ge­ duldet, das halb bäuerische Weib, was fie ist, die Spionin, die fie gewesen ist, die Betrügerin und Diebin. Sie stand aber vor mir mit der vollkommensten Gleichgültigkeit, und beobachtete meine Ueberraschung mit den bösen Augen, die fie hat. Ich wundere mich, warum ich ihre Gegenwart so lange ertragen habe. Ich glaube, es ist mir nie in den Sinn gekommen, daß ich fie, wenn es mir beliebte, trotz Ihrer loswerden könnte. Gelegentlich will ich noch mit­ theilen, daß ich nach einem Rechtsanwälte geschickt habe, als ich fie bezahlte, und mir eine rechtmäßige Quittung habe aussteüen lassen, unterzeichnet mit ihrem rechtmäßigen Namen, Lucrezia Spicca, geborene Ferris. Das Dokument

2 25 ment entbindet mich formell aller weiteren Ansprüche. Ich hoffe, Sie werden einsehen, daß Sie keine Macht irgend welcher Art mehr haben, sie mir wieder aufzuhalsen, ob­ gleich ich gestehe, daß ich Ihren nächsten Vorstoß mit Spannung erwarte. Ich nehme an, daß Sic mit mir noch nicht fertig sind und noch einige Mittel, mich zu quälen, im Hinterhalte haben.

Satanas ist selten lange

träge. „Und jetzt bin ich fertig. Wenn Sie nicht der Schuft wären, der Sie sind, so würde ich von Ihnen erwarten, daß Sie zu dem Manne hingingen, dessen Glückseligkeit ich in Gefahr gebracht, vielleicht sogar zerstört habe. Ich würde von Ihnen erwarten, daß Sie Don Orsino Saracinesca genug von der Wahrheit mittheilten, um ihm meine Handlungsweise verständlich zu machen. Ich kenne Sie aber viel zu gut, um mir einzubilden, daß Sie freiwillig einen der vielen Dornen, die Sie in mein Leben gepflanzt haben, daraus entfernen möchten. Ich will selber an Don Orsino schreiben. Ich glaube, Sie brauchen um ihn nicht besorgt zu sein — es thut mir leid, daß Sie es nicht brauchen. Ich werde ihm aber nicht mehr mittheilen, als nothwendig ist. Sie werden sich hoffentlich erinnern, daß eine solche Verschwiegenbeit, wie ich sie vielleicht zeige, nicht aus Rücksicht auf Sie gezeigt wird, sondern aus Vorsicht für meine eigene Wohlfahrt. Unglücklicherweise besitze ich kein Mittel, um Sie daran zu hindern, mir zu schreiben; Sie können aber sicher sein, daß Ihre Briefe nie werden geöffnet werden, so daß Sie sich die Mühe, sie abzufaffen, ebensogut sparen können. „Maria Consuelo von Aranjuez." Spieca empfing diesen Brief früh am Morgen, und noch zu Mittag saß er in seinem Stuhle und hielt ihn in (?' ra irf erb, Ton Oinne. II. 15

226 -er Hand. Sein Gesicht war völlig weiß, sein Kopf hing vorn über auf die Brust hinunter, feine dünnen Finger waren auf dem dünnen Papier erstarrt. Nur das kaum merkbare Steigen und Sinken der Brust zeigte, daß er noch athmete. Die Glocken hatten schon zwölf geschlagen, als sein alter Diener in das Zimmer eintrat, ein dünnes, vertrock­ netes, graues und geräuschloses Wesen, wie der Geist eines Windspiels. Er stand einen Augenblick still vor seinem Herrn, in der Erwartung, daß dieser austchauen würde; dann beugte er sich ängstlich über ihn und befühlte seine Hände. Spicca erhob langsam seine eingesunkenen Augen. „Es wird vorüber gehen, Santi, — es wird vorüber gehen," sagte er schwach. Dann fing er an, die Briefbogen langsam und mit Schwierigkeit, aber sehr genau, zusammenzufalten, wie es Männer von außerordentlicher Geschicklichkeit in den Händen mit allen Sachen zu thun pflegen. Santi sah ihn zweifel­ haft an und holte dann ein Glas und eine Flasche Herzstärknng aus einem geschnitzten Wandschranke in der Ecke. Spicca trank den Liqueur langsam aus und setzte das Glas sicher auf den Tisch. „Schlechte Nachrichten, Herr Graf?" fragte der Diener ängstlich und in einer Weise, welche sofort die herzlichen Beziehungen verrieth, die zwischen den Beiden herrschten. „Sehr schlechte Nachrichten," antwortete Spicca traurig und den Kopf schüttelnd. Santi seufzte, stellte die Herzstärkung wieder in den Schranken und nahm das Glas auf, als ob er im Begriffe wäre, das Zimmer zu verlassen. Er zauderte aber noch immer in der Nähe des Tisches und warf unruhige Blicke

227 auf seinen Herrn, als ob er Etwas zu sagen hätte, sich aber nicht recht getraute, anzufangen. „Was giedt's, Santi?" fragte der Graf. „Ich bitte Sie um Verzeihung, Herr Graf — Sie haben schlechte Nachrichten bekommen — wenn Sie mir erlauben wollen, zu sprechen: es giebt einige kleine Erspar­ nisse, die noch eingeführt werden könnten, ohne Sie zu sehr zu belästigen. Verzeihen Sie mir die Freiheit, Herr Graf." „Ich weiß, ich weiß. Aber diesmal handelt es sich nicht um Geld. Ich wünschte, es wäre so." Santis Gefichtsausdruck verlor sofort viel von seiner Angst. Er hatte seines Herrn gefallenes Glück getheilt und wußte besser, als Jener, was er mit noch einigen kleinen Ersparniffen, wie er sie nannte, sagen wollte. „Gott sei gelobt, Herr Graf!" sagte er feierlich. „Darf ich das Frühstück austragen?" „Ich habe keinen Appetit, Santi. Geh und iß selber." „Nicht ein kleines Bißchen?" Santi sprach mit lieb­ kosender Stimme. „Ich habe etwas gemischtes Gebratenes zurechtgemacht mit geröstetem Brod, wie Sie es gern haben, Herr Graf. Und der Salat ist heute gut — Schinken und Feigen sind auch im Hause. Lassen Sie mich nur erst decken, — wenn Sie es vor sich sehen, werden Sie essen — und gerade ein Ei mit einem Glase Rothwein einge­ schlagen, zu Anfang, — das wird den Magen in die rechte Verfaffung bringen." Spicca schüttelte wieder den Kops; Santi aber schentte der Ablehnung keine Aufmerksamkeit und ging hin und her,

mit den Vorbereitungen zu der Mahlzeit beschäftigt. Als sie fertig dastand, ließ sich der Greis überreden und aß ein wenig. Er war in Wittlichkeit stärker, als er aussah, 15»

228 und eine außerordentliche in den Nerven beruhende Energie schlummerte noch immer unter einem Aussehen von Schwäche, das fast bis zum gänzlichen Verfalle ging. Die geringe Menge Nahrung, die er zu sich nahm, genügte, um das Gleichgewicht wieder herzustellen, und als er vom Tische aufstand, war er äußerlich beinahe wieder der Alte. Wenn ein Mann Jahre lang großen moralischen Schmerz gelitten hat, so erträgt er einen neuen Stoß, und selbst den schlimmsten, leichter, als Jemand, der inmitten eines fried­ lichen und seit langem zur Gewohnheit gewordenen Glücks einen harten Stoß erhält. Der Seele kann es beigebracht werden, Qual zu ertragen, wie die großen Selbstpeiniger früherer Jahrhunderte ihre Leiber lehrten, das Geißeln zu ertragen. Das Verfahren ist schmerzlich, aber abhärtend. „Ich fühle mich besser, Santi," sagte Spicca. „Dein Frühstück hat mir gut gethan. Du bist ein vortrefflicher Arzt." Er wandte sich weg und nahm seine Brieftasche heraus, die nicht aüzureichlich ausgestattet war. Er fand darin einen Zehnfrankenschein. Dann sah er sich um und sprach in freundlichem, gütigem Tone: „Santi — dieses Leid hat Nichts mit Geld zu thun. Sicherlich hast Du ein neues Paar Schuhe nöthig. Glaubst Du, daß zehn Franken genügen?" Santi verbeugte sich respektvoll und nahm das Geld. „Tausend Dank, Herr Graf," sagte er.

Santi war ein sonderbarer Mensch, aus dem Inneren der Abruzzen. Er steckte den Schein in die Tasche; in der folgenden Nacht aber, als er seinen Herrn entkleidet hatte und die Sachen auf dem Nachttische in Ordnung brachte, sanden die zehn Franken ihren Weg in die schwarze Brief­ tasche zurück. Spicca zählte nie und erfuhr es nie.

229 Er schrieb nicht an Maria Consuelo, denn er wußte sehr wohl, daß sie in ihrer gegenwärtigen Gemüthsverfafsung ohne Zweifel seinen Dries uneröffnet verbrennen würde, wie sie in Aussicht gestellt hatte. Spät am Tage ging er aus, machte einen Spaziergang von einer Stunde, trat in den

Klub ein und las die Zeitungen, und zuletzt begab er sich nach dem Restaurant, wo Orsino speiste, wenn seine Leute außerhalb der Stadt waren. Rechtzeitig erschien Orsino, blaß und übellaunig aus­ sehend. Er erblickte Spicca und schritt sofort aus den Tisch zu, wo dieser saß. „Ich habe einen Brief bekommen," sagte der junge Mann. „Zch muß mit Ihnen sprechen. Wenn Sie Nichts dagegen haben, wollen wir zusammen speisen." „Gewiß, sehr gern. Es ist Nichts so gut geeignet, üble Laune zu befördern, wie ein vollständig schlechtes Effen." Orsino warf dem alten Manne in augenblicklicher Ueberraschung einen Seitenblick zu. Er kannte aber seine Weise ziemlich genau, und war mit der chronischen Bitter­ keit seiner Sprache wohl vertraut. „Sie vermuthen wahrscheinlich, wer an mich ge­ schrieben hat," begann Orsino von Neuem. „Vielleicht war es natürlich, daß sie Etwas zu sagen hatte; aber was sie thatsächlich sagt, ist mehr, als ich zu hören er­ wartete." Spiccas Augen wurden weniger schläfrig, und er wandte seinem Gefährten einen fragenden Blick zu. „Wenn ich Zhnen sage, daß Frau von Aranjuez mir in diesem Briese die wahre Geschichte ihrer Herkunft an­ vertraut hat, so habe ich wahrscheinlich genug gesagt," fuhr der junge Mann fort.

230 „Sie haben zu viel oder zu wenig gesagt/' antwortete Spicca in einem fast gleichgültigen Tone. „Wieso?" „Wenn Sie mir nicht genau sagen, was sie Ihnen mitgetheilt hat, oder mir den Brief zeigen, so kann ich unmöglich über die Wahrheit des Gesagten urtheilen." Orfino hob zornig den Kopf in die Höhe. „Wollen Sie etwa sagen, Sie zweifelten daran, daß Frau von Aranjuez die Wahrheit spricht?" fragte er. „Beruhigen Sie sich. Was auch immer Frau von Aranjuez an Sie geschrieben hat, hält sie für wahr. Aber sie kann selber getäuscht worden sein." „Trotz Dokumenten — öffentlichen Registern-------- " „Ah! Dann hat Sie Ihnen über diese Zeugnisse Mit­ theilung gemacht?" „Jawohl — und noch sehr viel mehr, was Sie an­ geht." „Ganz richtig. Noch sehr viel mehr. Ich weiß Alles betreffs der Register, wie Sie sich ja leicht denken können, da Sie sehen, daß dieselben zwei etwas wichtige Akte in meinem eigenen Leben betreffen, und daß ich sehr sorgfäl­ tig darauf hielt, daß diese Akte genau gebucht würden, so daß die Möglichkeit des Ableugnens ausgeschlossen war — so daß die Möglichkeit des Ableugnens ausgeschlossen war —" wiederholte er sehr langsam und nachdrucksvoll. „Verstehen Sie das?" „Einer vernünftigen Person würde es nicht in den Sinn kommen, an solchem Beweismittel zu zweifeln," ant­ wortete Orsino ziemlich verächtlich. „Nein, ich glaube auch nicht. Da Sie also nicht zu zu mir kommen, um Bestätigung für das zu finden, was bereits unleugbar ist, so kann ich nicht begreifen, warum

231 Sie überhaupt in dieser Angelegenheit zu mir kommen; es müßte denn wegen anderer Dinge sein, die Frau von Aran­ juez an Sie geschrieben hat, und über die Sie mich bis jetzt in Unkenntniß gehalten haben." Spicca sprach in einer formellen Art und in kaltem Stimmton, indem er seine gebeugte Figur etwas in die Höhe richtete. Ein Kellner trat an den Tisch, und beide Männer bestellten ihr Essen. Die Unterbrechung begünstigte eher die Entwickelung einer feindseligen Stimmung zwischen ihnen. „Ich will meine Gründe anseinandersetzen, weßhalb ich hierher komme, um Sie zu treffen," sagte Orsino, als fie wieder allein waren. „So weit es mich betrifft, ist eine Auseinandersetzung unnöthig. Ich bin zufrieden, es nicht zu verstehen. Ueber« dies ist das hier ein öffentlicher Platz, an dem wir uns vorher zufällig getroffen und zusammen gespeist haben." „Ich kam nicht zufällig hierher," antwortete Orsino. „Auch kam ich nicht, um Erklärungen zu geben, sondern um eine zu verlangen." „Ah?" Spicca sah ihm kühl in die Augen. „Jawohl. Ich wünsche zu wissen, warum Sie Ihre Tochter ihr ganzes Leben lang gehaßt haben, warum Sie sie in jeder Weise verfolgen, warum Sie-------- " „Wollen Sie gefälligst innehalten?" Des alten Mannes Stimme wurde plötzlich klar und schneidend, und Orsino brach mitten in seinem Satze ab. Es folgte eine augenblickliche Pause. „Ich ersuchte Sie, im Sprechen inne zu halten," fing Spicca wieder an, „weil Sie unbewußt Behauptungen auf­ stellten, die thatsächlich absolut keine Begründung haben. Beachten Sie, was ich sage: unbewußt. Sie sind völlig

232 im Irrthum.

hasse Frau von Aranjuez

Ich

nicht.

Ich

liebe sie von ganzem Herzen und von ganzer Seele. verfolge

sie weder in jeder Weise,

Ich einer

noch in irgend

Ihr Glück ist im Gegentheil der einzige Zweck des

Weise.

bißchen Lebens, was ich noch zu leben habe, und ich habe außer

diesem Leben

ihr

nur noch wenig zu geben.

Ich

spreche im vollsten Ernste, Orsino."

„Das sehe ich.

Das macht aber das, was Sie sagen,

um so überraschender." „Das thut es ohne Zweifel.

Frau von Aranjuez hat

soeben an Sie geschrieben, und Sie haben ihren Brief in

der Tasche.

In diesem Briefe hat sie Ihnen eine Menge

Thatsachen aus ihrem eigenen Leben mitgetheilt, so wie sie

dieselben ansieht, und Sie sehen dieselben ebenso an, wie sie es thut.

Das ist ganz natürlich.

Für Jene und für Sie

scheine ich ein Ungeheuer des Bösen zu sein,

liche Berkörperung ein Teufel.

der Grausamkeit,

eine scheuß­

einem Worte:

mit

Hat sie mich in ihrem Briefe einen Teufel ge­

nannt?" „Allerdings."

„Genau so. mich

Sie hat auch an mich

in Kenntniß gesetzt,

geschrieben

daß ich Satanas

sei.

und

Dabei

findet eine Sicherheit im Behaupten und ein völliges Außer­

achtlassen aller Wahrscheinlichkeit statt, die nicht ohne einen gewissen Reiz

sind.

Nichtsdestoweniger bin

ich Spicca,

und nicht Beelzebub, trotz ihrer Versicherungen des Gegen­ theils.

Sie sehen,

wie Ansichten verschieden sein können.

Sie wissen viel von ihrem Leben, von meinem aber wissen Sie Nichts,

und es ist

auch

nicht meine Absicht,

Etwas über mich selbst mitzuthcilen. Folgendes sagen:

Ihnen

Jedoch will ich Ihnen

Wenn ich Etwas thun könnte,

Sachlage zu bessern, so würde ich es thun.

um die

Wenn ich es

233 Ihnen möglich machen könnte, Frau von Aranjuez zu heirathen — indem Sie find, wer Sie sind, und eingezäunt, wie Sie es sind, so möchte ich es gern. Wenn ich Ihnen alles Uebrige von der Wahrheit, was sie nicht weiß, und wovon sie nicht einmal träumt, mittheilen könnte, so würde ich es thun. Zch bin durch ein sehr feierliches Gelübde, die Sache geheim zu halten, gebunden — durch Etwas, was thatsächlich mehr als ein Versprechen ist. Wenn ich ihr aber nützen könnte, indem ich Eide bräche, Vertrauen verriethe und die tiefsten Verbindlichkeiten, die einen Mann binden können, mit Füßen träte, so würde ich es thun. Aber dieser Nutzen kann nicht mehr geschaffen werden. Das ist Alles, was ich Ihnen mittheilen kann." „Es ist wenig genug. Sie könnten und Sie können Frau von Aranjuez die ganze Wahrheit, wie Sie es nennen, sagen. Ich möchte Ihnen rathen, das zu thun, statt ihr Leben an jedem Wendepunkte zu verbittern." „Zch habe Sie nicht um Ihren Rath gebeten, Orsino. Daß sie unglücklich ist, weiß ich. Daß sie mich haßt, ist klar. Wenn sie mich weniger haßte, würde sie darum doch nicht glücklicher sein, da sich sonst Nichts ändern würde. Sie braucht ja nicht an mich zu denken, wenn ihr der Gegenstand unangenehm ist. Zn jeder anderen Hinsicht ist sie völlig frei. Sie ist jung, reich und ungehindert, zu gehen, wohin es ihr beliebt, und zu thun, was ihr ge­ fällt. So lange ich am Leben bin, werde ich über ihr wachen-------- " „Und jede Aussicht auf Glück zerstören, die sich etwa bietet," warf Orsino ein. „Zch habe Ihnen neulich Abends eine Vorstellung von dem Glücke gegeben, das sie mit dem verstorbenen Aran­ juez hätte genießen können. Wenn ich mich betreffs deffen,

234 was ich ihn thun sah, geirrt haben sollte — und ich gebe die Möglichkeit eines Irrthums zu — so hatte ich trotzdem völlig Recht, sie von diesem Manne zu befreien. Für den Irrthum, wenn wir es so nennen wollen, habe ich in einer Weise gebüßt, von der Sie sich Nichts träumen lassen, und sie auch nicht. Der gestiftete Nutzen bleibt, denn Aranjuez liegt im Grabe." „Sie sprechen von geheimem Büßen — es ist mir nie ausgefallen, daß Sie von Gewiffensbissen zu leiden hätten." „Mir auch nicht," antwortete Spicca trocken. „Was wollen Sie also damit sagen?" „Sie stellen Fragen an mich, und ich habe Ihnen schon vorhin gesagt, daß ich Ihnen Nichts über mich selbst mittheilen will. Sie werden mich zu großem Danke ver­ pflichten, indem Sie mich nicht drängen." „Soll das wieder eine Drohung gegen mich sein?" „Ich thue Nichts Dergleichen. Ich drohe nie Jeman­ dem. Ich könnte Sie, alt und verfallen, wie ich aussehe, ebenso leicht todten, wie ich Aranjuez gelobtet habe, und ich würde völlig gleichgültig gegen den Schimpf sein, einen so jungen Mann zu tobten — obgleich ich glaube, baß viele Leute, wenn sie uns Zwei so sehen, annehmen mögen, ber Vortheil sei eher auf Ihrer Seite, als auf ber meinigen. Heutzutage aber lernen bie jungen Leute nicht, mit den Waffen umzugehen. Geschweige, baß Sie gewaltthätig Hanb an mich legen könnten, werben Sie es ganz unmöglich finben, mich zu provocieren. Ich bin fast alt genug, um Ihr Großvater zu sein, unb verstehe Sie sehr gut. Sie lieben Frau von Aranjuez. Sie weiß, baß eine Heirath mit Ihnen einen solchen Zwist mit Ihrer Familie herbei­ führen würde, baß Ihr Leben babei halb zu Grunde

235 gehen würde, und sie besitzt den seltenen Muth, Ihnen das frei Herauszusagen und Ihre Werbung zurückzuweisen.

Sie glauben von mir, ich könne Etwas thun, um Ihnen zu helfen, und find Feuer und Flamme gegen mich, weil ich machtlos bin, und voller Wuth, weil ich mich dem widersetze, daß Sie gegen ihren Willen Rom in demselben Zuge mit ihr verlassen. Heute sind Sie noch wüthender, weil Sie ihren Glauben, ich sei ein Ungeheuer der Un­ billigkeit, angenommen haben. Bemerken Sie wohl: abge­ sehen davon, daß ich Sie neulich an einer sehr großen Thorheit hinderte, habe ich mich nie eingemengt. Auch jetzt menge ich mich nicht ein. Wie ich Ihnen damals sagte: folgen Sie ihr, wenn es Ihnen Spaß macht; über­ reden Sie sie, Sie zu heirathen, wenn Sie das im Stande find; zanken Sie sich mit Ihrer ganzen Familie, wenn es Ihnen so beliebt. Mir kommt Nichts darauf an. Ver­ öffentlichen Sie das Aufgebot Ihrer Heirath an den Thüren des Kapitols und erklären Sie der ganzen Welt, daß Frau von Aranjuez, die künftige Fürstin Saracinesca, die Tochter Graf Spiccas ist, und Lucrezias Ferris, seines legitimen Weibes. Man wird etwas schwatzen, aber mich wird das nicht verletzen. Früher haben die Leute ihre ehelichen Ver­ hältnisse ihr ganzes Leben hindurch geheim gehalten. Es kommt mir nicht darauf an, was Sie thun, noch was der ganze Stamm der Saraeinesca thun mag, vorausgesetzt, daß Keiner von ihnen der Maria Consuelo Leid anthut oder nutzlosen Schmerz über sie bringt. Wenn das irgend Welche von Ihnen thun, so werde ich Sie tobten. Das wenigstens ist eine Drohung, wenn's beliebt. Gute Nacht." Darauf stand Spicea plötzlich von seinem Sitze auf, ließ sein Essen halb aufgezehrt stehen, und ging hinweg.

•236 Zwölftes Kapitel.

Orsino verließ Rom schließlich doch nicht. Es war thatsächlich nicht die Nothwendigkeit, ans sein Geschäft Acht zu haben, was ihn daran hinderte; denn er hätte sich ganz sicher zu fast feder Zeit vor Neujahr auf eine oder zwei Wochen wegbegeben können, ohne sich einer besonderen Ge­ fahr auszusetzen. Von Zeit zu Zeit, in beständig größer werdenden Zwischenräumen, fühlte er sich stark versucht, Maria Consuelo in Paris aufzusuchen, wo sie sich schließ­ lich entschlossen hatte, den Herbst und den Winter zuzu­ bringen; der Antrieb aber ermangelte stets des Maßes von Stärke, das ihn zu einem Entschlüsse gemacht haben würde. Wenn er an sein vieles Zögern und Schwanken dachte, konnte er sich selbst nicht begreifen und sank in seiner eigenen Achtung, so daß er allmählich schweigsamer und schwermüthiger von Charakter wurde, als ursprünglich in seiner Natur gelegen hatte. Er hatte viel Zeit zum Nachdenken und brütete be­ ständig über der Lage, in welcher er sich befand. Es schien fraglich, ob er Maria Consuelo liebe oder nicht, da er eine so offenbare Gleichgültigkeit gegen ihre Abwesenheit ent­ faltete. In Wirklichkeit zweifelte er auch daran, ob er von ihr geliebt würde, und die eine Ungewißheit war völlig ebenso groß, wie die andere. Er ging Alles, was sich zugetragen hatte, noch einmal durch. Die Stellung war nie eine leichte gewesen, und der Brief, welchen Maria Consuelo nach ihrer Abreise an ihn geschrieben hatte, machte sie nicht leichter. Er enthielt die Enthüllungen betreffs ihrer Geburt, zugleich mit zahl­ reichen Beziehungen auf Spiccas fortgesetzte Grausamkeit, reichlich unterstützt durch Anführung von Thatsachen. Ferner

237 hatte sie Orsino klar und deutlich mitgetheilt, daß sie ihn nie und unter keinen Umständen heirathen würde, wobei sie erklärte, daß, wenn er ihr nachfolgte, sie ihn nicht ein­ mal vorlaffen würde. Sie wolle sein Leben nicht zu Grunde richten und ihn in einen lebenslangen Streit mit seiner Familie versenken, sagte sie; auch fügte sie hinzu, sie wolle sich sicherlich nicht einer derartigen Behandlung aussetzen, wie sie sie ohne Zweifel von Seiten der Saracinesca er­ halten würde, wenn sie Orsino ohne Einwilligung seiner Angehörigen heirathete. Nicht leicht glaubt ein Mann, daß er dessen, was er am meisten wünscht, lediglich um seines eigenen Nutzens und Wohlergehens willen beraubt werde, und der letzte an­ geführte Satz verwundete Orsino tief. Er hielt sich für fähig und bereit, um Maria Consuelos willen sich dem Miß­ vergnügen aller seiner Leute auszusehen, und er sagte sich in seinem Herzen, daß sie, wenn sie ihn liebte, bereit sein würde, ebensoviel zu ertragen, wie er. Auch die Sprache, die sie führte, war kalt und beinahe verletzend. Orsino machte es nicht, wie Spicca, sondern beant­ wortete diesen Brief. Er schrieb in einer beweisführenden Art, indem er die besten Gründe, die er finden konnte, gegenüber denen, welche sie ansührte, in's Feld rücken ließ, und ihr schließlich den Vorwurf machte, sie sei nicht Willens, für ihn auch nur den zehnten Theil dessen zu dulden, was er für sie aushalten würde. Er kündigte ihr aber auch seine Absicht an, binnen Kurzem mit ihr zusammen zu kommen, und drückte die Gewißheit aus, daß sie ihn empfangen würde. Hierauf gab Maria Consuelo eine Zeit lang keine Antwort. Als sie endlich schrieb, geschah cs, um ihm mitzutheilen, daß sie ihre Entscheidung sehr sorgfältig erwogen

238 habe, und keinen triftigen Grund sehen könne, sie zu ändern. Orsino schien ihr Ton fremder und kälter, als je. Die Thatsache, daß die Seiten des Briefes hier und da befleckt waren, und daß die Schrift unsicher war, war wahrschein­ lich auf ihre Unachtsamkeit zurückzusühren. Er brütete über seinem Unglücke, dachte mehr als einmal daran, eine verzweifelte Anstrengung zu machen, um ihre Liebe zurück­ zugewinnen, und blieb in Rom. Nach einem langen Zwischenräume schrieb er wieder an sie. Diesmal brachte er eine Epistel hervor, die unter den obwaltenden Umstän­ den beinahe hätte lächerlich erscheinen können. Sie war voll gleichgültigen Altweiberklatsches über die Gesellschaft; sie enthielt einige boshaft spottende Bemerkungen über seinen eigenen herannahenden Bankerott, mit einigen recht jugendlich cynischen Bemerkungen über die Unbeständigkeit der Dinge im Allgemeinen und die Hohlheit aller beliebigen Bestrebungen. Eine Antwort erhielt er nicht, und mit Recht be­ reute er den leichtfertigen Ton, den er angeschlagen hatte. Er wäre außerordentlich überrascht gewesen, wenn ihm Jemand mitgetheilt hätte, daß dieser letzte Brief dazu bestimmt war, eine größere Wirkung aus sein Leben hervorzubringen, als alle, die er vorher geschrieben hatte. In der Zwischenzeit schrieb sein Vater, der von den wachsenden Sorgen in der Geschäftswelt gehört hatte, einen Brief voller Warnungen an ihn, dem er wenig Aufmerk­ samkeit widmete. Auch seiner Mutter Briefe verriethen ihre Angst, drückten aber noch Etwas aus, was sich in seines Vaters Briefen nicht fand, nämlich das grenzenloseste Vertrauen auf seine Macht, sich ehrenvoll aus allen Schwie­ rigkeiten herauszuwinden, zugleich mit der Versicherung,

239 daß, wenn das Schlimmste zum Schlimmen käme, sie stets bereit sei, ihm zu helfen. Plötzlich und ohne vorhergehende Anzeige kehrte der alte Saracinesca von seinen Wanderungen zurück. Er hatte sich die Mühe gegeben, zwei oder drei Monate lang die Familie durch seinen Sekretär von seinen Bewegungen in Kenntniß zu halten, und hatte ihnen dann zeitweise ge­ stattet, ihn aus dem Gesichte zu verlieren, wodurch er ihnen allerdings beträchtliche Angst verursachte, obgleich ein ge­ legentlicher Abschnitt in einer Zeitung ihnen von Zeit zu Zeit wieder Muth einflößte. Dann, an einem gewissen Novembernachmittage, erschien er allein und in einer Droschke, als habe er eine Landpartie gemacht. „Nun, mein Junge, bist Du schon ruiniert?" fragte er, in Orsinos Zimmer ohne anzuklopfen hereinstürmend. Der junge Mann fuhr von seinem Sitze in die Höhe und ergriff die rauhe Hand des alten Herrn mit einem Ausrufe der Ueberraschung. „Jawohl — Du kannst mich wohl anschauen," lachte der Fürst. „Ich bin zehn Jahre jünger geworden. Und Du?" Er stieß seinen Enkel in's Lichte und durchforschte ungestüm sein Gesicht. „Und Du bist zehn Jahre älter geworden," schloß er mit unzufriedenem Tone. „Ich weiß es nicht," antwortete Orsino mit einem Versuche, zu lachen. „Du hast irgend ein Unglück gehabt. Ich weiß es, ich sehe es Dir an." Er ließ den Arm des jungen Burschen fallen, schüttelte den Kopf, und fing an, im Zimmer herumzuwandern. Dann kam er auf einmal wieder zurück und sah unter seinen buschigen Augenbrauen hervor, hinauf, Orsino in's Gesicht. „Heraus damit, ich will es wissen!" sagte er rauh,

240 aber nicht unfreundlich. „Hast Du Geld verloren? Bist Du krank? Bist Du verliebt?" Wenn die Fragen von seinem Vater gestellt worden wären, so hätte sich Orfino sicherlich über die erste und letzte, vielleicht aber auch über alle drei, geärgert. In des alten Fürsten Natur aber lag etwas Wärmeres und Mensch­ licheres, was sich an seine eigene Natur wandte. Sant' Ilario war, und war es stets gewesen, äußerlich kalt, etwas gemessen in seiner Rede, nicht nach außen hervortretend, ein Mann, der sich nicht leicht, außer durch Liebe, zu einem lebhaften Ausdrucke oder zu wirklicher Theilnahme anregen ließ, der aber unter diesem Einflüsse sehr weit gehen konnte. Und wenn auch Orsino in einigen Punkten mehr seiner Mutter, als seinem Vater ähnlich war, so war er doch auch dem Letzteren nicht unähnlich, mit einem größeren Maße von Ehrgeiz, mit einem kleineren von wirklichem Stolze. Es war wahrscheinlich das letztere Merkmal, was ihm die Nothwendigkeit der menschlichen Theilnahme in einer Weife fühlbar machte, die sein Vater nie empfunden hatte und nie hätte verstehen können, und dadurch wurde er dichter an seine Mutter und an seinen Großvater heran­ gezogen, als an Sant' Ilario. Der alte Saracinesca vermeinte offenbar eine Antwort zu erhalten, wie er da stand, Orsino in die Augen blickend. „Seit Du verreist bist, hat sich sehr viel zugetragen," sagte Orsino, beinahe wünschend, er könnte Alles erzählen. „Erstens ist das Geschäft in sehr schlechtem Zustande, und ich bin voller Sorge." „Eine schmutzige Arbeit, das Geschäft," brummte Saracinesca. „Ich habe Dir das immer gesagt. Dann hast Du also Geld verloren, Du junger Dummkopf! Das habe ich mir gleich gedacht. Glaubtest Du, Du seiest

241 irgend besser, als Montevarchi? Jedenfalls hoffe ich, daß Du Deinen Namen nicht mit in den Handel verwickelt hast. Was, um des Himmels willen, hat Dich dahin ge­ bracht, Deine Hand auf solchen Unflath legen? Sag mal — wie viel bist Du schuldig? Wir wollen Dich völlig

reinwaschen und Du sollst morgen lossegeln und um die Welt herumreisen." „Ich habe aber augenblicklich gar kein Geld nöthig —" „Dann, zum Teufel, was hast Du denn nöthig?" „Einen besseren Geschäftsgang und die sichere Aus­ sicht, daß ich nicht schließlich bankerott werde." „Wenn das Geld nicht eine Sicherheit ist, daß Du nicht bankerott wirst, so möchte ich gern hören, was dann Sicherheit sein soll. Das ist Alles Unsinn. Sage mir die Wahrheit, mein Junge — Du bist verliebt. Das ist des Pudels Kern." Orfino zuckte die Achseln. „Ich bin einmal verliebt gewesen," antwortete er. „3ft sie jung? Alt? Kann man sie Heimchen? Oder ist sie schon verheirathct? Heraus damit, sage ich!" „Ich möchte lieber vom Geschäfte sprechen. Ich glaube, es ist jetzt Alles aus." „Ganz wie Dein Vater. Immer voller Geheimnisse! Als ob ich nicht Alles darüber wüßte? Du bist in jene Frau von Aranjuez verliebt." Orfino erblaßte ein wenig. „Bitte, nenne sie nicht .jene' Frau von Aranjuez," sagte er ernst. „Ei, was? Bist Du so empfindlich ihretwegen?" „Ja wohl." „Wirklich? Sehr gut — das gefällt mir. Wie steht's mit ihr?" (Stares erb, Den Orsinc.

II.

16

242 „Was ist das für eine Frage?" „Ich meine — ist sie gleichgültig, kalt, in jemanden Anderen verliebt?" „Nicht, daß ich wüßte. Sie hat sich geweigert, mich zu heirathen, und ist von Rom weggezogen; das ist Alles." „Sich geweigert, Dich zu heirathen!" schrie der alte Saracinesca in grenzenlosem Erstaunen. „Mein lieber Junge, Du mußt nicht ganz bei Verstände sein! Die Sache ist unmöglich. Du bist die beste Partie in Rom. Frau von Aranjuez, Dir einen Korb geben — absolut unglaublich; auch nicht einen Augenblick zu glauben. Du träumst wohl. Eine Wittwe — ohne viel Vermögen — die Hinterbliebene eines sonderbaren Abenteurers — eine Frau, die sich nach einem Vermögen umfieht, eine Frau-------- " „Halt!" schrie Lrsino wild. „LH ja — ich vergaß. Du bist empfindlich. Nun, nun, ich wollte Nichts gegen sie gesagt haben, außer daß sie wahnsinnig sein muß, wenn das, was Du mir sagst, wahr ist. Aber ich bin froh darüber, mein Junge, sehr froh. Sie ist keine Partie für Dich, Orsino. Ich bekenne offen, mir wäre es lieb, Du heirathetest sofort. Ich möchte gern meine Urenkel sehen — aber nicht Frau von Aranjuez. Noch dazu eine Wittwe!" „Mein Vater hat auch eine Wittwe geheirathet." „Wenn Du eine Wittwe findest, wie Deine Mutter, und zehn Jahr jünger, als Du selber bist, dann heirathe sie, wenn Du kannst. Aber nicht Frau von Aranjuez — die mehrere Jahre älter ist, als Du." „Einige Jahre." „Weiter Nichts? Das ist schon zu viel. Und wer ist Frau von Aranjuez? Jedermann hatte vorigen Winter

243 diese Frage auf den Lippen. Vermuthlich hatte sie doch wohl einen Namen, ehe sie heirathete, und da Du den Versuch gemacht hast, sie zu Deinem Weibe zu machen, so mußt Du Alles, was sie angeht, wissen. Wer war sie?" Orfino zauderte. „Siehst Du," schrie der alte Fürst. „Es ist nicht Alles in Ordnung. Es liegt ein Geheimniß vor — es ist

Etwas faul an ihrer Familie, oder an der Art, wie sie in die Welt gekommen ist. Sie weiß sehr wohl, daß wir sie nie unter uns aufnehmen möchten, und hat das Alles vor Dir verborgen-------- " „Sie hat es nicht verborgen. Sie hat mir die blanke Wahrheit gesagt. Aber ich werde es Dir nicht noch einmal

erzählen." tzEin um so stärkerer Beweis, daß nicht Alles in Ord­ nung ist. Du bist fein heraus, mein Junge, außerordent­ lich fein heraus. Ich gratuliere Dir bestens." „Ich möchte, Du gratuliertest mir lieber nicht." „Ganz, wie es Dir beliebt. Es thut mir leid um Dich, wenn Du unglücklich bist. Mach' den Versuch und vergiß Alles. Wie geht es Deiner Mutter?" Zu jeder anderen Zeit hätte Orsino über das plötzliche Abspringen gelacht. „Völlig gut, wie ich glaube. Ich habe sie den ganzen Sommer nicht gesehen," antwortete er ernst. „Den ganzen Sommer bist Du nicht in Saracinesca gewesen! Kein Wunder, daß Du schlecht aussiehst! Tele­ graphiere ihnen, daß ich zurückgekommen bin; wir wollen die Famlie so rasch wie möglich zusammenbekommen. Glaubst Du, ich beabsichtige, ein halbes Jahr in Deiner alleinigen Gesellschaft hinzubringen, namentlich wenn Du 16*

244 den ganzen Tag weg bist und in diesem elenden Comptoir steckst? Mach' rasch — telegraphiere sofort." „Sehr gern. Aber bitte, erzähle meinem Vater oder meiner Mutter absolut Nichts von dem, was ich Dir mit­ getheilt habe. Das ist das Einzige, um das ich bitte." „Bin ich ein Papagei? Ich spreche nie mit ihnen über Deine Angelegenheiten." „Danke. Ich bin wirklich dankbar." „Dem Himmel, dafür, daß Dein Großvater nicht ein Papagei ist! Ohne Zweifel hast Du allen Grund dazu. Und steh' mal her, Orstno-------- " Der alte Mann ergriff Orsinos Arm und hielt ihn fest, in leiserem Tone sprechend. „Mach Dich nicht zum Esel, mein Junge — nament­ lich im Geschäft. Wenn Du es aber thust — und Du wirst es wahrscheinlich, weißt Du — dann komme direkt zu mir, ohne mit sonst Jemandem zu sprechen. Ich will sehen, was sich geräuschlos thun läßt. Da — nimm das und vergiß alle Deine Sorgen, und bekomm etwas mehr Farbe in Deine Backen." „Du bist zu gut gegen mich," sagte Orstno, nach des alten Fürsten Hand greifend. Endlich einmal war er wirk­ lich gerührt. „Unsinn — geh' und schicke sofort das Telegramm ab. Ich wünsche nicht, daß man mich eine Woche lang auf den Anblick meiner Familie warten läßt." Mit einem tiefen, gutmüthigen Lachen stieß er Orstno zur gegenüberliegenden Thür hinaus und ging hinweg nach seinem eigenen Quartier. Rechtzeitig kehrte die Familie aus Saracinesca zurück, und der düstere alte Palast erwachte zu neuem Leben. Corona und ihr Gemahl waren Beide über den Wechsel in

245 Orsinos Aussehen betroffen,

das in der That in starkem

Gegensatze zu ihrem eigenen stand, erfrischt und gekräftigt, wie sie es waren,

durch die scharfe Bergluft,

das fort­

währende Leben im Freien, die vielfachen Beschäftigungen

von Leuten, die tiefen Antheil an der Wohlfahrt derer neh­

men, welche sie rings umgeben, und sich im höchsten Maße ihrer eigenen Macht bewußt sind,

auf dem ihnen eigenen

Wege gute Wirkungen hervorzubringen.

AIs sie alle zurück­

kamen, fühlte Orsino selber, wie abgehetzt und abgenutzt er im Vergleiche zu ihnen war. Ehe zwölf Stunden vergangen waren, fand er sich mit seiner Mutter allein.

Es klingt sonderbar, und war doch

so, daß er der vertraulichen Besprechung mit ihr nicht mit

Vergnügen entgegen gesehen hatte.

Das Band mitfühlen­

der Theilnahme, welches die Beiden während des Frühlings so eng verknüpft hatte, schien gelockert,

und Orsino hätte

womöglich die Erneuerung der intimen Gespräche, die doch, wie er wußte,

unvermeidlich war,

noch hinausgeschoben.

Das aber ließ sich nicht thun.

Es wäre nicht schwer, Gründe zu finden, weßhalb er seine Mutter zu vermeiden wünschte.

Früher hatte sein

tägliches Gespräch von Erfolg, von Hoffnung, von immer

wachsendem Vertrauen gehandelt.

Jetzt hatte er von nichts

als von Gefahr und Angst um die Zukunft; auch hegte er den Verdacht, seine Mutter würde

Anderem zu sprechen,

es stark mißbilligen, daß er sich durch Del Ferices persön­ lichen Einfluß und vielleicht sogar durch seine persönliche Hülfe über Wasser halten ließ.

Es war schwer, den täg­

lichen Verkehr auf einer Grundlage der Dinge zu eröffnen, die von der, welche damals,

als sie zuletzt zusammen ge­

sprochen hatten, fest und sicher erschienen war, so sehr ab­ stach.

Auch hatte er gelernt, seine eigenen Sorgen tapfer

246

/ zu ertragen, und es lag in dem Gedanken, jetzt Mitgefühl für sie zu fordern, Etwas, was ihm wie Schwäche aussah. Er wäre lieber allein geblieben. Tief auch war das Bewußtsein alles deffen, was seit der Abreise seiner Mutter zwischen ihm und Maria Consuelo vorgefallen war. Wieder ein Leiden, wieder ein Un­ glück, und zwar ein ganz anderes, das sich besser schwei­ gend ertragen ließ, als unter Fragen selbst der liebreichsten Art. Sein Großvater hatte in der That beide Wahrheiten geahnt und hatte sie beide sofort getadelt, aber da lag der Fall ganz anders. Er wußte, daß der alte Herr sich nie wieder auf das beziehen würde, was er in Erfahrung ge­ bracht hatte, und er schätzte das großmüthige Anerbieten der Hülfe, von dem er nie Gebrauch machen wollte, das aber in einer Art erfolgte, bei der er vielleicht sogar einen noch liebreicher angebotenen Beistand nicht schätzen konnte, um den er durch ein Bekenntniß seines eigenen Bankerottes hätte bitten müssen. Andererseits war er unfähig, die Thatsachen auf irgend eine Weise so zu verdrehen, daß er seine Mutter hätte glauben machen können, er sei erfolgreicher, als er wirklich war. Vielleicht lag nichts Unehrliches in der Behauptung, er hege noch Hoffnung, wo er thatsächlich kaum noch hoffte; er hätte aber die Lage des Geschäftes nicht anders darstellen können, als es thatsächlich stand. Die Unterhaltung dauerte lange, und Coronas dunkles Gesicht wurde ernst, wenn auch nicht gerade kleinmüthig, als er ihr einen Punkt nach dem anderen auseinandersetzte, wobei er besondere Sorgfalt darauf verwandte, Alles, was sich auf seine Beziehungen zu Del Ferice bezog, ausführ­ lich zu beleuchten. Es war höchst wichtig, daß seine Mutter verstünde, in welcher Lage er war, und daß Del Ferices

247 fortgesetzte Geldvorschüsse nicht in dem Lichte einer persön­ lichen Gunst zu betrachten seien, sondern als eine Speku­

lation, bei der Ugo wahrscheinlich den Löwenantheil davon­ tragen würde.

Orsino wußte, wie empfindlich seine Mutter

in diesem Punkte sein würde, und fürchtete den Augenblick, wo sie anfangen würde, zu denken, daß er Verpflichtungen

über sich nähme, die über die eigentlichen Grenzen des Ge­ schäftes hinausgingen.

auf ihrem niedrigen Sitze zurück

Corona lehnte sich

und

beschattete in tiefem Nachdenken

Augenblick lang mit der einen Hand.

ihre Augen

einen

Aengstlich wartete

Orsino, was sie sagen würde.

„Mein Theurer,"

sagte sie schließlich, „Du stellst die

Sache sehr klar dar,

und ich verstehe Dich vollkommen.

Trotzdem scheint es mir, daß Deine Stellung, wenn man erwägt, wer Du bist, und was Del Ferice ist, keine sehr würdige ist.

Bist Du nicht selbst dieser Ansicht?"

Sie hatte den Schwer­ wohin er erwartet hatte, und

Orsino erröthete ein wenig.

punkt nicht dahin verlegt,

ihre Worte klagten ihn an. „Als

ich

in das Geschäft eintrat, steckte ich meine antwortete er mit erzwungenem

Würde in die Tasche,"

Lachen.

„Im Geschäfte

kann im

besten Falle nicht viel

davon die Rede sein."

Die

schwarzen

Augen

seiner

Mutter schienen

noch

dunkler zu melden, und die zarten Nasenflügel zitterten ein wenig. „Wenn das wahr ist, so wünschte ich, Du hättest Dich

nie in diese Sachen eingelassen," sagte sie stolz.

Frühjahr aber sprachst Du nicht so, ganz anders gezeigt.

„Voriges

und hast mir Alles

Du ließest mich im Gegentheil fühlen,

daß Du, indem Du selber Etwas leistetest, indem Du Dich

248 fähig zeigtest, Etwas zu Stande zu bringen, indem Du Deine Unabhängigkeit behauptetest, Dich achtungswerther machtest — und ich habe Dir dementsprechend Achtung ge­ zollt.„Ganz recht," antwortete Orsino, nach dem alten Be­ weismittel schnappend. „Das gerade wünschte ich zu thun. Mas ich vor einem Augenblicke sagte, war nur allgemein gemeint. Das Geschäft bedeutet, glaube ich, ein Ringen nach Geld, und das ist an sich nicht würdevoll. Es ist aber auch nicht unehrenhaft. Schließlich mögen die Mittel das Ziel rechtfertigen." „Diesen Ausspruch hasse ich!" rief Eorona stolz aus. „Ach wünschte, Du wärest die ganze Sache los." „Ich auch, von ganzem Herzen!" Es folgte ein kurzes Schweigen. „Wenn ich dies Alles vor einem Vierteljahre gewußt hätte," fing Corona wieder an, „dann hätte ich das Geld genommen und es Dir gegeben, damit Du Dich selber freimachen konntest. Ich glaubte, Du seiest erfolgreich, und habe alle Gelder, die ich zusammenbringen konnte, darauf verwendet, das Eigenthum der Montevarchi zwischen unserem Lande und Affile zu kaufen, und auf jenem mir gehörigen tiefliegenden Lande, wo die Bevölkerung so viel vom Fieber gelitten hat, Eukalyptus-Bäume anzupflanzen. Wenn ich nicht borge, habe ich Nichts in Händen. Warum hast Du mir nicht im Sommer die Wahrheit gesagt, Orsino? Warum hast Du mich glauben lassen, daß es Dir fortwährend gut gehe, wo Du auf dem Punkte standest und stehst, Bankerott zu machen? Es ist zu schlecht-------- " Sie brach plötzlich ab und schlug die Hände über dem Knie zusammen.

249 „Das Geschäft ist erst seit Kurzem so schlecht gegan­ gen," sagte Orfino. „Es war von allem Anfang an völlig verkehrt!

hätte Dir nie sollen Muth zusprechen.

Ich

Dein Vater hatte

Recht, wie immer — und jetzt wirst Du es ihm sagen." Orfino aber weigerte sich, zu seinem Pater zu gehen,

außer in

der äußersten Noth.

Er stellte

seiner Mutter

vor, daß es bester und würdiger sei (da ja Corona auf dem Punkte der Würdigkeit bestünde), den Kampf so lange

allein zu führen, handen sei.

als irgend eine Aussicht auf Sieg vor­

Seine Mutter

andererseits bestand

daß er sich sofort und um jeden Preis

darauf,

frei machen sollte.

Einige Monate früher hätte er sie leicht überreden können, daß er Recht habe; sie schien aber sich geändert zu Haden,

seit er von ihr Abschied genommen hatte,

und er bildete

daß seines Vaters Einfluß bei ihr wirksam ge­

sich ein,

wesen sei.

Dies empfand er sehr schmerzlich.

Auch muß

man sich erinnern, daß er die Besprechung mit einem vor­ gefaßten Vorurtheile begonnen hatte,

in der Erwartung,

daß sie zum Unheile ausschlagen wurde, so daß er um so

mehr bereit war, die Sachen eine ungünstige Wendung an­ nehmen zu lasten.

Das Ergebniß war nicht ein entschiedener Bruch in seinen Beziehungen zu seiner Mutter, sondern ein Zustand,

der mehr

können.

reizte,

als

ein

offener Zwiespalt hätte thun

Von jener Zeit an raubte ihm Corona den Muth

und hörte nie auf,

ihm den Rath zu geben,

er solle zu

seinem Vater gehen und freimüthig um so viel Geld bitten, daß

er sich völlig klarmachen könne.

Orfino seinerseits

weigerte sich hartnäckig, sich an irgend Jemanden um Hilfe zu wenden, so lange Del Ferice fortführe, ihm Geld vorzu­ schießen.

250 In jenen Monaten, welche nun folgten, gab es that­ sächlich nur Wenige, die nicht in der allgemeinen finanziellen Ueberschwemmung Schaden litten. Alles, was Contini und Andere, die älter und weiser waren, als er, vorhergesagt hatten, trat ein, und noch ein gut Theil mehr. Sogar auf das beste Papier verweigerten die Banken den Discont, indem sie ganz richtig sagten, daß sie in so einer Zeit genöthigt seien, ihre Kapitalien in Reserve zu halten. Die Arbeiten stockten fast überall. Es war unmöglich, Geld auszubringen. Tausende über Tausende von Arbei­ tern, die während der vergangenen zwei oder drei Jahre aus großen Entfernungen herzugeströmt waren, wurden plötzlich aus der Arbeit herausgeworfen, irrten ohne einen Pfennig Geld auf den Straßen herum, und waren großentheils auch noch mit Frauen und Kindern belastet. Es fanden eine oder zwei kleine Revolten statt und viel Zu­ sammenrottung, im Ganzen aber benahmen sich die armen Maurer sehr gut. Die Regierung und die Stadtverwal­ tung thaten, was sie konnten — was eben Regierungen und Stadtverwaltungen thun können, wenn sie bei jeder Drehung des Weges durch die verwickeltste und unüber­ legteste Verwaltungsmaschine, die je in einem Lande aus­ geheckt wurde, gehindert werden. Die verhungernden Ar­ beiter wurden sehr langsam und allmählich zur Stadt hin­ ausgeschafft, und zurückgeschickt, um in ihren Heimathsorten ungesehen zu verhungern. Die Auswanderung war nach allen Richtungen enorm. Die traurigen Trümmer jener neuen Stadt, die hatte gebaut werden sollen und nie die Vollendung erreichte, sind überall sichtbar. Sieben Stock hohe Häuser, einen Monat vor der Vollendung im Stiche gelassen, steigen un­ bewohnt und unbewohnbar aus einem üppigen Geranke

251 von Unkraut empor, inmitten von Schutthaufen; und starren nieder auf die breiten, öden Straßen, wo das kräftige Gras sich seinen Weg durch die losen Steine des nicht gewalzten Straßenschotters gebahnt hat. Zwischen schweren, niedrigen Mauern, die die Erdgeschosse von Palästen hatten sein sollen, spielen einige zerlumpte Kinder in der Sonne, ein magerer Esel frißt die Disteln ab, oder, wenn einige bewohnte Woh­ nungen in der Nähe liegen, so baut sich ein Weinverkäufer eine Bude aus Stroh und Kastanienzweigen und verschänkt ein giftiges, saures Getränk an die, welche es kaufen wollen. Aber das ist nur in den warmen Monaten so. Die Winter­ stürme blasen die elende Bude zu Stücken und vermehren die Verwüstung. Weiter weg steigen plötzlich stattliche Fronten auf, durch deren Fenster der blaue Himmel schim­ mert, während auf ihren nackten Steinen und Ziegeln das grüne Moos wächst. Die Barberini der Zukunft, wenn ein derartiges Geschlecht aufkommen sollte, werden nicht nöthig haben, das Kolosseum zu plündern, um das Stein­ material für ihre Paläste zu brechen. Wenn, wie es in der alten Schandschrift heißt, die Barberini thaten, was die Barbaren nicht thaten, wie viel schlimmer als Bar­ baren haben es die modernen Kulturmenschen gemacht! Die Noth war sehr groß in den ersten Monaten von 1889. Die Befriedigung, die viele der neuen Männer über den Untergang großer alter Familien gefühlt haben wür­ den, wurde durch ihre eigene finanzielle Zerstörung wirk­ sam in Schach gehalten. Fürsten, Banquiers, Unterneh­ mer und Maurerpoliere gingen gemeinsam in dem allge­ meinen Bankerotte unter. Ugo Del Ferice blieb am Leben, und mit ihm Andrea Contini und Kompagnie, und ohne Zweifel andere kleine Firmen, die er um seiner eigenen Endzwecke willen beschützte. San Giacinto, ruhig und

252 scharf- und weitsichtig wie ein Adler, überschaute das Chaos von der Höhe seines großartigen Vermögens, unbewegt und unbeweglich, auf die niedrigste Ebbe der Fluth wartend.

Die Saracinesca schauten zu, etwas behindert durch den plötzlichen Rückgang in Renten und anderen Quellen ihres Einkommens, aber noch immer den Ereignisien überlegen, insgeheim allerdings um Orfinos Angelegenheiten sehr be­ sorgt und täglich in Erwartung, er möchte zusammen­ brechen. Und Orsino selber hatte sich geändert, wie es ja auch nicht anders sein konnte. Er lernte scheinen, was er nicht war, und die, welche diese Lektion gelernt haben, wiffen, welchen Einfluß sie aus den wahren Menschen ausübt, den Niemand, als er selber, beurtheilen kann. So lange auch nur eine Person in seinem Leben gestanden hatte, mit der er in vollkommener Eintracht und Zuneigung leben konnte, hatte er sich um sein äußeres Verhalten wenig Kummer gemacht. So lange er das Gefühl gehabt hatte, daß, es mochte kommen was da wollte, seine Mutter auf seiner Seite stand, hatte er es nicht der Mühe für werth gehal­ ten, nicht einem Jeden gegenüber natürlich zu sein, ganz nach Stimmung und Laune. Er hatte ohne Zweifel Un­ recht, wenn er sich einbildete, Corona habe ihn verlassen. Er hatte aber schon einen Verlust an Maria Consuelo er­ litten, der zu der Zeit der denkbar größte zu sein schien, und die Qual, die er damals gelitten hatte, in Verbin­ dung mit der tiefen, wenn auch nicht eingestandenen Wunde seiner Eitelkeit, hatte die vorgefaßte Meinung in ihm er­ zeugt, daß er dazu bestimmt sei, keinen Freund zu haben. Die Folge war, daß ein sehr geringfügiger Bruch in dem vollkommenen Einverständniffe, das so lange zwischen ihm und seiner Mutter bestanden, ernste Wirkungen hervor-

253 brachte. Er fühlte jetzt, daß er völlig allein sei, und wie die meisten vereinsamten Männer von tüchtigem Charakter nahm er die Gewohnheit an, seine Sorgen ganz für sich zu behalten, während er denen gegenüber, die ihn um­ gaben, eine fast unnatürlich ruhige und gleichmäßige Art annahm. Im Ganzen fand er, daß sein Leben, wenn er es nach diesem Grundsätze führte, leichter sei. Er fand, daß er sorgsamer in seinen Handlungen war, seit er eine Rolle zu spielen hatte, und daß seine Meinung mehr Ge­ wicht besaß, seit er sie vorsichtiger ausdrückte und wechseln­ den Strömungen der Laune und Stimmung weniger zu­ gänglich zu sein schien. Der Wechsel in seinem Charakter war vielleicht mehr scheinbar, als wirklich, wie Charakter­ wechsel gewöhnlich find, wenn sie sich nicht auf dem Wege logischer Entwicklung vollziehen; aber der beständige Ge­ danke an das äußere Erscheinen wirkt schließlich auf die innere Natur, und Vieles, was anfänglich nur äußerlich angenommen ist, wird zunächst eine Gewohnheit und nimmt schließlich die Stellung eines inneren Antriebes an. Orfino wurde gewahr, daß das, was ihn hauptsächlich beschäftigte, mit dem identisch war, was die Gedanken seiner Mutter ausschließlich in Anspruch nahm. Er wünschte, sich von dem Geschäfte frei zu machen, in das er so tief verstrickt war, und das noch immer, trotz des allgemeinen Zusammenbruchs, so sonderbar blühte. Hier aber endete die Gemeinsamkeit der Ideen. Er wünschte, sich auf seine eigene Art zu befreien, ohne sich der Demüthigung zu unterziehen, seinen Vater um Hülse anzugehen. Auch hatte Sant' Ilario inzwischen Zweifel in Betreff seines eigenen Urtheils bekommen. Es war ihm unbegreiflich, daß Del Ferice fortwährend Geld verlieren könne, um Orsino zu verpflichten; wenn er ihn aber hätte zu Grunde richten

254 wollen, so hätte er das in den vergangenen Monaten hun­ dertmal mit Leichtigkeit thun können.

Vielleicht, so sagte er zu sich, besaß Orsino doch ein überraschendes Genie für

Geschäftsangelegenheiten und hatte den Sturm trotz fürch­ terlicher Schwierigkeiten ausgehalten.

Orsino sah diesen

Glauben in seines Vaters Geiste wachsen, und die Gewiß­ heit,

daß derselbe dort vorhanden war, machte ihn nicht

geneigt, den Kampf aufzugeben und sich für geschlagen zu

erklären. Die Saracinesca waren eine von den sehr

zahlreichen römischen Familien,

wenig

in denen es traditionell

ist, daß die Eltern sich nicht in die Thätigkeit von bereits

großjährigen Kindern einmischen. Die Folge davon war, daß, wenn auch alle Drei, der alte Fürst, Giovanni und seine Frau beträchtliche Angst empfanden, sie doch Nichts

thaten, um Orsinos Thätigkeit zu hindern, abgesehen von einer gelegentlich wiederholten Warnung, er solle vorsichtig

sein.

Daß ihnen seine Beschäftigung widerwärtig war,

verhehlten sie nicht; er aber begegnete derartigen Ausdrücken ihrer Meinung mit vollkommenem Gleichmuth und äußer­

lich guter Laune; sogar als seine Mutter, einst seine stand­ hafte Verbündete,

Geschäft aufgeben

ihm offen den Rath gab,

er solle das

und ein Jahr lang reisen.

urtheil war sicherlich nicht unnatürlich,

Ihr Vor-

und war gestärkt

worden durch das Studium der wenig schmackhaften Einzel­ heiten,

die im Lause

des Jahres bei jedem neuen Ban­

kerott von den Zeitungen veröffentlicht wurden.

den

aber jetzt Orsino stets als Denselben,

Sie fan­

immer ruhig,

gut gelaunt und fest in seinen Plänen. Andrea Contini war in seiner Berechnung des Da­

tums, wann die letzte Thür und das letzte Fenster in dem letzten der Häuser, welche er und Orsino zu bauen unter-

255 angebracht werden würden,

hatten,

nommcn

genau gewesen.

Grund für den Aufschub gelten.

im April des

nicht sehr

Die Verwirrung im Geschäfte konnte als Jedenfalls war es spät

folgenden Jahres,

ehe die Arbeit beendet

Da ging Orsino zu Del Ferice.

war.

„Natürlich," sagte er, die äußere Ruhe bewahrend, die bei ihm jetzt zur Gewohnheit geworden war, nicht erwarten,

was ich der Bank

„kann ich

schulde, zu bezahlen,

wenn ich nicht einen Verkauf dieser Gebäude bewerkstelligen Sie haben

kann.

das die ganze Zeit über

ebenso gut

gewußt, wie ich. Die Frage ist, können sie verkauft werden?" „Haben Sie denn keinen Bewerber?"

Del Ferice sah

ernst und etwas überrascht aus.

„Nein.

Wir haben kein Anerbieten erhalten."

„Sie schulden der Bank eine sehr große Summe auf die Gebäude, Don Orsino."

„Die durch Hypotheken auf sie sichergestellt ist," ant­ wortete der junge Mann ruhig,

aber auf einen Sturm

gefaßt. „Ganz richtig.

Durch Hypotheken sicher gestellt. Wenn

aber die Bank innerhalb der nächsten wenigen Monate die Hypotheken für verfallen erklären sollte, und wenn die Ge­

bäude

dann

den sichergestellten Betrag sind Contini

nicht

und Compagnie

für

ergeben

die

sollten,

Differenz

haftbar."

„Das weiß ich." „Und der Markt ist sehr schlecht,

Don Orsino, und

zeigt keine Zeichen der Besserung."

„Andererseits

sind die Häuser vollständig fertig und

bewohnbar und können sofort vermiethet werden." „Gewiß sind sie fertig.

Sie müssen wissen,

daß die

Bank aus zwei Gründen sortgefahren hat, die nothwendigen

256 Erstens,

Summen vorzuschießen.

weil eine kostspielige,

aber bewohnbare, Wohnung besser ist, als eine billige ohne

Zweitens, weil wir bei unserem Geschäfte mit An­

Dach.

drea Contini und Compagnie mit der einzigen wirklich ehr­ lichen und sparsam wirthschaftenden Firma in Rom Ge­

schäfte gemacht haben."

sagte aber Nichts.

Orsino lächelte unbestimmt,

Er

hatte nicht viel Vertrauen zu Del Ferices Schmeichelei.

„Das aber,"

fuhr der Letztere fort,

„entbindet uns

nicht von der Nothwendigkeit, das, was uns — ich meine

die Bank — geschuldet wird,

entweder in Geld,

etwas Gleichwerthiges umzusetzen,

oder in

oder in

etwas Gleich-

werthiges umzusetzen," wiederholte er, nachdenklich ein dickes silbernes Bleististfutteral unter seiner fetten weißen Hand

auf dem Tische hin und her rollend. „Gewiß,"

stimmte Orsino

bei.

„Unglücklicherweise

scheint es im gegenwärtigen Moment nichts Gleichwerthiges für baares Geld zu geben."

„Nein — nein — vielleicht nicht,"

sagte Ugo,

sich

augenscheinlich immer mehr in seine eigenen Gedanken ver­ senkend.

„Und doch,"

fügte er nach einer kurzen Pause

hinzu, „läßt sich die Sache vielleicht ausgleichend einrichten. Die Häuser besitzen sicherlich besondere Vorzüge vor einem

großen Theile der elenden Machwerke, die auf den Markt geworfen werden.

gut.

das besser, als ich. züge,

Die Lage ist

gut und die Arbeit ist

Ihre Arbeit ist sehr gut, Don Orsino.

Sie wissen

Ja wohl, — die Häuser haben Vor­

ich räume es ein.

Die Bank hat sehr viel wüstes

Mauerwerk auf dem Halse, Don Orsino — mehr, als ich mir gern in Gedanken vorstelle." „Zum Unglück, wiederum, ist die Zeit, derartiges Be-

sitzthum zu verbessern, vorüber."

257 .„Verbessern kommt nie zu spät', sagt das

wort," versetzte Del Ferice lächelnd.

schlag zu machen.

Sprich­

„Ich habe einen Vor­

Ich will es deutlich feststellen.

Es ge­

schieht nicht zu unserem gegenseitigen Nutzen; ich denke aber,

Keiner von uns Beiden wird dabei so viel verlieren, als wir aus anderen Wegen verlieren würden.

Es ist einfach

Folgendes. Wir wollen uns für quitt erklären.

eine kleine laufende Rechnung

Wir haben

der Bank, und Sie

bei

muffen die Kredit-Bilanz — es ist,

wie ich finde,

nicht

viel, ungefähr fünfunddreißig Tausend — opfern." „Das war hauptsächlich der Gewinn von dem ersten Kontrakt," bemerkte Orfino.

„Ganz richtig.

Ich will behülflich sein, den Verlust

der Bank damit zu decken.

Ich will behülflich sein, weil,

wenn ich sage, wir wollen uns für quitt erklären, ich meine, Sie sollen einen Gegenwerth für ihre Häuser erhalten — natürlich

Bank

nur

nominell

einen nominellen Gegenwerth,

als

Bezahlung

nimmt." „Das ist nicht sehr klar,"

stehe Sie nicht." „Nein," lachte Del Ferice.

nicht ist.

der

welchen die

Hypotheken

sagte Orfino.

zurück­

„Ich ver­

„Ich gebe zu, daß es das

Ich habe eher meine eigene Ansicht von dem

Handel dargestellt, als die praktische Seite.

Ich will mich

aber so kommentieren, daß ein Irrthum nicht möglich ist.

Die Bank nimmt die Häuser und Ihren Kassaüberschuß

und streicht dafür die Hypotheken. Sie sind dann von aller Schuld und Verpflichtung auf den

alten Kontrakt erlöst.

Die Bank stellt aber eine Bedingung, welche von Wichtig­ keit ist.

Sie müssen von der Bank, natürlich auf Hypo­

thek, gewisse nicht fertig gewordene Gebäude kaufen, die sie

jetzt in Besitz hat, und Sie — Andrea Contini und ComCrawford, Don Orfino. II.

17

258 i

pagnie — müssen einen Kontrakt übernehmen, sie inner­ halb einer gegebenen Zeit fertigzustellen, indem die Bank Ihnen, wie früher, Geld auf Handwechsel vorschießt, die durch später und in Reihe ansgestellte Hypotheken sicher­ gestellt werden." Orsino schwieg. Er sah, daß, wenn er annahm, Del Ferice die Arbeit eines ganzen Jahres und darüber in Empfang nahm, ohne denen, die die Arbeit gethan hatten, auch nur den geringsten Nutzen zuzugestehen, wobei er auch noch die Vortheile eines erfolgreich ausgeführten bevor­ stehenden Vertrages einheimste und es als ausgemacht an­ sah, daß die vorhandenen Hypotheken nur gerade den Werth der Gebäude deckten. Wenn Del Ferice, wie es wahrschein­ lich der Fall war, die Mittel besaß, die Häuser entweder zu vermiethen oder zu verkaufen, so stand er vor einem enormen Nutzen. Auch sah Orsino, daß er, wenn er jetzt annahm, aller Wahrscheinlichkeit nach bei einer künftigen Gelegenheit gezwungen sein würde, ähnliche Bedingungen anzunehmen, und daß er Andrea Contini und sich selber dazu verpflichten würde, für Nichts und wieder Nichts, und vielleicht Jahre lang, zu arbeiten, und zwar angestrengt zu arbeiten. Er sah aber auch, daß die einzige Gegenwahl ein

Hülferuf an seinen Vater oder der Bankerott war, was schließlich Dasselbe bedeutete. Del Ferice fing wieder an, zu sprechen. „Ob Sie einwilligen, ob Sie ein Verfallen der Hypotheken vorziehen, wir werden Beide verlieren. Bei letzterem Verfahren aber würden wir mehr verlieren. Im Interesse der Bank hege ich das sichere Vertrauen, daß Sie meinen Vorschlag annehmen werden. Sie sehen, wie frei und offen ich darüber spreche. Im Interesse der Bank. Dann aber brauche ich

259 Sie wohl nicht erst daran zu erinnern, daß es kaum billig sein würde, uns schwere Verluste erleiden zu lassen, wo Sie uns den Verlust relativ erleichtern können, in Anbe­ tracht des Benehmens, das die Bank Ihnen gegenüber, und ausschließlich Ihnen gegenüber, während des ganzen Jahres beobachtet hat." „Ich will Ihnen morgen eine Antwort geben," sagte Orsino. Er dachte an den armen Contini, der es hart finden würde, daß er ein ganzes Jahr hindurch für Nichts ge­ arbeitet haben sollte. Dann aber würde es Orsino leicht sein, Contini aus seinen privaten Hülfsmitteln eine Summe Geldes zukommen zu lassen. Alles Andere war besser, als den Kamps aufzugeben und sich an seinen Vater zu wenden.

Dreizehntes Kapitel. Orsino war völlig freundlos. Wie weit die Umstände zu diesem Ergebniß beigetragen hatten, und wie weit er selbst für seinen einsamen Zustand zu tadeln war, mögen die beurtheilen, die seiner Geschichte bis zu diesem Punkte gefolgt sind. Sein Großvater allerdings hatte ihm Hülse angeboten und in einer Weise, die sie annehmbar gemacht hätte, wenn er gefühlt hätte, daß er sie überhaupt anneh­ men könne. Der alte Fürst aber verstand das Geschäft und die Lage nicht im Mindesten. Ueberdies sieht sich ein junger Bursch von zwei oder dreiundzwanzig Jahren nicht nach einem Freunde in der Gestalt eines Mannes um, der sechzig Jahre älter ist, als er selbst. Während er die gleichförmigsten guten Beziehungen zu seinen Angehörigen aufrecht erhielt, fühlte sich Orsino doch von Vater und 17*

259 Sie wohl nicht erst daran zu erinnern, daß es kaum billig sein würde, uns schwere Verluste erleiden zu lassen, wo Sie uns den Verlust relativ erleichtern können, in Anbe­ tracht des Benehmens, das die Bank Ihnen gegenüber, und ausschließlich Ihnen gegenüber, während des ganzen Jahres beobachtet hat." „Ich will Ihnen morgen eine Antwort geben," sagte Orsino. Er dachte an den armen Contini, der es hart finden würde, daß er ein ganzes Jahr hindurch für Nichts ge­ arbeitet haben sollte. Dann aber würde es Orsino leicht sein, Contini aus seinen privaten Hülfsmitteln eine Summe Geldes zukommen zu lassen. Alles Andere war besser, als den Kamps aufzugeben und sich an seinen Vater zu wenden.

Dreizehntes Kapitel. Orsino war völlig freundlos. Wie weit die Umstände zu diesem Ergebniß beigetragen hatten, und wie weit er selbst für seinen einsamen Zustand zu tadeln war, mögen die beurtheilen, die seiner Geschichte bis zu diesem Punkte gefolgt sind. Sein Großvater allerdings hatte ihm Hülse angeboten und in einer Weise, die sie annehmbar gemacht hätte, wenn er gefühlt hätte, daß er sie überhaupt anneh­ men könne. Der alte Fürst aber verstand das Geschäft und die Lage nicht im Mindesten. Ueberdies sieht sich ein junger Bursch von zwei oder dreiundzwanzig Jahren nicht nach einem Freunde in der Gestalt eines Mannes um, der sechzig Jahre älter ist, als er selbst. Während er die gleichförmigsten guten Beziehungen zu seinen Angehörigen aufrecht erhielt, fühlte sich Orsino doch von Vater und 17*

260 Mutter entfremdet. Seine Brüder waren zu jung und auch gewöhnlich von Hause weg, in Schule oder Kolleg, und Schwestern hatte er nicht. Jenseits der Mauern des Palazzo Saracinesca war San Giacinto der einzige Mann, den er gern um Rath gefragt haben würde; aber San Giacinto war unter allen Menschen derjenige, der am wenigsten zur vertrauten Freundschaft mit seinen Nächsten neigte, und, wie Orsino erwog, mürbe er wahrscheinlich doch nur den Rath wiederholen, deu er schon gegeben hatte, wenn er überhaupt einen Rath bewilligte. Er dachte an alle seine Bekannten und kam zu dem Schluffe, daß er thatsächlich mit Andrea Contini in freund­ schaftlicherer Weise verkehrte, als mit irgend einem Manne aus seiner eigenen Gesellschaftsklasse. Jedoch würde er Anstand genommen haben, den Baumeister seinen Freund zu nennen, da es ihm nicht möglich gewesen wäre, bezüg­ lich irgend einer Einzelheit in seinem eigenen Privatleben Vertrauen auf ihn zu setzen. Zu einer Zeit, wo die meisten jungen Leute Freund­ schaften schließen, war Orsino am Knüpfen derartiger Bande durch die zwei Hauptbestrebungen, die sein ganzes Dasein aufzehrten, seine Neigung und darauf folgende Liebe zu Maria Consuelo, und das Geschäft, an dem er so beständig gearbeitet hatte, gehindert worden. Maria Consuelo, auf die er vertraut hatte, wie er früher oft gethan hatte, war ihm verloren, und bei dem gegenwärtigen wichtigen und kritischen Zeitpunkte stand er völlig allein. Er fühlte, daß er für Del Ferice kein ebenbürtiger Gegner sei. Der scharfsinnige Banquier nützte ihn zu seinen eigenen Zwecken in einer Weise aus, die weder Orsino noch Contini je geargwöhnt hatten. Es war nicht anzu­ nehmen, daß Ugo von allem Anfänge an den Vortheil vor-

261 ausgesehen habe, den er von der Firma ernten würde, die er geschaffen hatte und die so vollständig von ihm abhing. Orsino hätte sich als Nichtswisser oder als Tölpel aus­ weisen können. Contini hätte sich faul und sogar unehr­ lich zeigen können. Statt dessen aber war der Versuch glänzend geglückt, und Ugo fand sich im Besitze eines Werk­ zeuges, das gleichsam genau für seinen Zweck eingerichtet war, der darin bestand, daß er werthlosen Grundbesitz mit möglichst geringen Kosten, ja thatsächlich zum niedrigsten Selbstkostenpreise werthvoll machte. Er hatte sich einen Baumeister erster Klasse und einen Rechnungsführer vor­ züglichster Art gesichert, Beides Männer von fleckenloser Unbescholtenheit, Beide jung, thatkräftig und ungemein fleißig. Er bezahlte Nichts für ihre Dienste und beaufsich­ tigte ihren Kostenaufwand mit der größten Genauigkeit. Es war klar, daß er sein Aeußerstes thun würde, um eine für ihn selber so ungeheuer vortheilhafte Anordnung auf­ recht zu erhalten. Wenn Orsino hätte genau feststellen können, wie Vortheilhaft es war, so hätte er Del Ferice zwingen können, den Gewinn mit ihm zu theilen, und er hätte das um Continis willen, wenn auch nicht um seiner selbst willen, gethan. Er hegte wirklich den Verdacht, daß Ugo in jedem Falle, wo es sich darum handelte, ein Haus zu verkaufen oder zu vcrmiethen, seiner Sache schon vorher sicher war; jedoch konnte er die Thatsache nicht beweisen. Ugo überließ seinem vertrauten Buchhalter nicht Alles, und die Geheimnisse, die er bei sich bewahrte, waren gut bewahrt. Orsino fragte Contini, wie es sich nicht vermeiden ließ, um seinen Rath, ehe er Del Ferices letztes Anerbieten annahm. Der Baumeister gerieft) in eine tragikomische Wuth, biß mehrmals seine Cigarre durch, knirschte mit den

262 i

Zähnen, trank mehrere Gläser kaltes Wasser, sprach von dem Blute Cola di Rienzis, gelobte Del Ferice Rache, und unterwarf sich schließlich. Die Unterzeichnung des neuen Kontraktes bestimmte Orsinos Lebenslauf aus noch ein Jahr. Es überrascht uns, in dem Leben Anderer zu sehen, wie Perioden einförmiger Ruhe auf Zeiten des Sturmes und der Gefahr folgen. In unserem eigenen Leben setzen sie uns, wenn überhaupt, nicht so sehr in Erstaunen. Orsino fuhr fort, tüchtig zu arbeiten, regelmäßig zu leben und alles Das zu thun, was ihm unter den obwaltenden Umständen zu thun zu­ stand, und erntete den Ruf, ein musterhafter junger Mann zu sein, eine Thatsache, die ihn ein- oder zweimal, wo sie ihm zu Ohren kam, höchlich überraschte. Als er jedoch darüber nachdachte, sah er, daß er wirklich nicht wie andere junge Leute war, und daß seine Führung in den Augen Derer, die ihn umgaben, zweifellos eine ganz abnorm gute war. Sein Großvater fing an, ihn fast wie etwas Unnatürliches anzusehen, und deutete Giovanni mehr als einmal an, daß der Junge, wie er ihn noch immer nannte, sich doch wie andere Jungen benehmen sollte. „Er ist San Giacinto ähnlicher, als irgend Einem vyn uns," sagte Giovanni nachdenklich. „Er ist jenem Zweige nachgeartet." „Wenn das der Fall ist, so hätte er Schlimmeres thun können. Ich habe San Giacinto gern. Du aber urtheilst immer oberflächlich, Giovanni — das hast Du stets gethan. Und das Schlimmste dabei ist, daß Du immer mit Deinen eigenen Urtheilen sehr wohl zufrieden bist." „Das ist möglich. Sicherlich habe ich die Anderer nicht angenommen."

263 „Und das Ergebniß ist, daß Du allmählich anfängst, zur Auster zu werden — Orsino hat auch schon angefan­ gen, zur Auster zu werden, und die anderen Jungen wer­ den seinem Beispiele folgen — eine richtige Austernbank! Geh und nimm Orsino an der Kehle und schüttle ihn------- " „Es thut mir leid, aber ich muß gestehen, daß ich einer solchen Heldenthat physisch nicht gewachsen bin," sagte Gio­ vanni lachend. „Ich würde es sein!" rief der alte Fürst aus, indem er seine harte Hand zur Faust ballte und auf den Tisch aufschlug, während seine hellen Augen flammten. „Geh hin und schüttle ihn, und sage ihm, er soll sein schmutziges Baugeschäft aufgeben — bringe es dahin, daß er es aufgiebt, kaufe ihn heraus, stecke ihm eine Menge Geld in die Taschen und schicke ihn weg, um sich zu belustigen. Du und Corona habt einen Naseweis aus ihm gemacht, und das Geschäft macht eine Auster aus ihm, und er wird ein hoffnungslos Blödsinniger sein, ehe Ihr es merkt! Rühre ihn auf, schüttle ihn, setze ihn in Bewegung! Ich hasse Deinen Hauseinrichtungsfritzen — der immer an der rechten Stelle steht und stets bereit ist, einem Anderen das Auf­ sitzen zu gestatten!" „Wenn Du ihn überreden kannst, die Sachen aufzu­ geben, so habe ich Nichts dagegen einzuwenden." „Ihn überreden! Ich habe nie einen Mann gekannt, der des Anredens werth war, den man zu irgend Etwas hätte überreden können, was er nicht mochte. Zwinge ihn — das ist der richtige Weg." „Da er sich aber gut aufführt und beschäftigt ist — das ist besser, als all' das Leben, das jene jungen Burschen führen." „Streite nicht mit mir, Giovanni; ich hasse es. Außer?

264 i

dem ist der von Dir angeführte Grund gar Nichts werth. Habe ich meine Jugend über Rechnungen und in Gesell­ schaft eines Baumeisters verbracht? Goß ich mir Wasser in den Wein und saß aufrecht wie ein kleiner Musterknabe an meines Papas Tische und verbrachte die Abende damit, daß ich meiner Mama den Fächer nachtrug? Unsinn! Und doch wurde dies Alles zu meiner Zeit erwartet, und noch ganz anders erwartet, als es heutzutage erwartet wird. Sieh Dich selber an. Du bist schlecht genug — ich meine, langweilig genug. Hast Du die schönsten Tage Deines Lebens mit Ziegelzählen und Mörtelmessen vergeudet?" „Du sagst, Du hassest das Streiten, und doch streitest Du. Orsino aber soll sich, wie ich es auch gethan habe, in seiner eigenen Weise zu Gefallen leben. Ich will mich sicher nicht einmischen." „Weil Du weißt, daß Du bei ihm Nichts ausrichten kannst," schleuderte der alte Saracinesca verächtlich zurück. Giovanni lachte. Zwanzig Jahre früher hätte er seine gute Laune zwecklos verloren. Aber zwanzig Jahre eines glatten, ruhigen Daseins hatten ihn verändert. „Du bist nicht der Mann, der Du einst warst," brummte sein Vater. „Nein. Ich bin zu glücklich, und zu lange glücklich gewesen, um dem, was ich mit dreißig Jahren war, noch sehr ähnlich zu sein." „Und vermeinst Du etwa zu sagen, ich sei nicht glück­ lich, und sei nicht auch glücklich gewesen, und vermeinte nicht, noch glücklich zu sein, und wünschte nicht, ein Jeder möchte glücklich sein, so lange diese alte Maschine sich nicht auflöst? Was für Unsinn Du schwatzest, meine Junge. Geh und mach' Deiner Frau den Hof. Das ist noch das Einzige, wozu Du taugst!"

265 Erörterungen dieser Art waren nicht selten, führten aber natürlich zu Nichts. Als Thatsache ist anzuführen, daß Sant' Ilario völlig Recht hatte, wenn er ein Da­ zwischentreten für nutzlos hielt. Es wäre unmöglich ge­ wesen. Er war ebenso wenig im Stande, Orsinos Ent­ schluß zu ändern, als er körperlich stark genug war, ihn zu schütteln. Nicht als ob Sant' Ilario körperlich oder sittlich schwach gewesen wäre, oder es je war. Aber sein Sohn war ihm über den Kopf gewachsen. Zwölf Monate gingen dahin. Während dieser Zeit arbeitete der junge Mann, wie er vorher gearbeitet hatte, regelmäßig und unermüdlich. Sein Zweck war aber jetzt, sich frei zu machen, und er hoffte nicht mehr, sich ein Ver­ mögen zu schaffen oder irgend Etwas über die pünktliche Ausführung des Kontraktes, den er in Händen hatte, hinaus zu thun, entschlossen, es womöglich zu vermeiden, noch einen zu übernehmen. Mit einer Kühlheit und Selbstverleugnung, die über seine Jahre hinausging, scharrte er systematisch das Taschengeld zusammen, welches ihm sein Vater bewilligt hatte, um eine kleine Summe Geldes für den armen Contini zusammenzubringen. Er machte überall Ersparnisse, weigerte sich, in Gesellschaft zu gehen, und brachte seine Abende mit Lesen hin. Seine angenommene Art stand ihm gut, er konnte aber nicht mehr, als einen beschränkten Betrag des täglichen Gesprächs in der Familie ertragen. Da er eher witzig, als fröhlich, war, wenn man überhaupt von ihm sagen konnte, daß er eines von beiden war, so fand er sich, wenn er durch die eintönige Unterhaltung Anderer ermüdet wurde, leichter geneigt, bitter zu werden, als unter­ haltend. Er wußte, daß er diesen Fehler an sich hatte, und übte Selbstzucht, indem er sich zur Einsamkeit und zu Büchern flüchtete, wenn er sich nicht länger Zügel anlegen konnte.

266 Ob er nun Maria Consuelo noch liebte, oder nicht, es war klar, daß er gegenwärtig nicht geneigt war, sonst Jemanden zu lieben. Die ziemlich harmlose Verschwendung und Wildheit der zwei oder drei Jahre, die er in England zugebracht hatte, konnte nicht als Grund für eine solche Periode der Kälte in Betracht kommen, wie sie auf seine Trennung von Maria Consuelo folgte. Er hatte die Ge­ nüsse des Lebens keineswegs bis auf die Hefe ausgekostet, und von seiner Fähigkeit, zu genießen, konnte man nicht einmal sagen, daß sie ihren Höhepunkt erreicht gehabt hätte. Er vermied aber die Gesellschaft weiblicher Wesen sogar noch beharrlicher, als er dem Club und dem Spieltische aus dem Wege ging. Mehr als ein Jahr war vergangen, seit er von Maria Consuelo gehört hatte. Von Zeit zu Zeit traf er Spieea, der jetzt aussah, als hätte er nicht einen Tag mehr zu leben, aber Keiner von Beiden erwähnte vergangene Er­ eignisse. Die Römer hatten ein wenig über den plötzlichen Wechsel in ihren Plänen gesprochen, denn es war bekannt geworden, daß sie angefangen hatte, für den Winter des vergangenen Jahres eine große Wohnung zu möblieren, und dann ganz unberechenbar ihre Absicht geändert und den Platz in den Händen eines Agenten zum Wiedervermiethen gelassen hatte. Die Leute sagten, sie habe ihr Vermögen verloren. Dann war sie in dem allgemeinen Unglücke vergessen worden, und Niemand hatte sich seitdem die Mühe genommen, sich ihrer zu erinnern. Sogar Gouache, der einst so begeistert an ihrem Bilde gearbeitet hatte, schien nicht zu wissen oder sich nicht darum zu küm­ mern, was aus ihr geworden sei. Nur einmal, und ganz zufällig, bekam Orsino sichere Auskunft über ihren Aufent­ halt. Eines Abends nahm er ein Journal der englischen

267 Gesellschaft in die Hand und blickte träge über die einzelnen Abschnitte. Der Name Maria Consuelo fesselte seine Auf­ merksamkeit. Eine gewisse sehr hochstehende und einfluß­ reiche alte Dame königlicher Abkunft war im Begriffe, während des Winters in Aegypten zu reisen. „Ihre König­ liche Hoheit," sagte das Blatt, „wird von der ,Gräfin Aranjuez von Aragona' begleitet sein." Orsinos Hand zit­ terte ein wenig, als er das Blatt bei Seite legte, und er war blaß, als er einige Augenblicke später aufstand und nach seinem eigenen Zimmer ging. Er konnte nicht um­ hin, sich zu wundern, warum Maria Consuelo mit einem Titel ausgestattet war, aus den sie gewiß einen rechtlichen Anspruch hatte, dessen sie sich aber nie vorher bedient hatte, und noch mehr sogar wunderte er sich, warum sie in Aegyp­ ten mit einer alten Prinzessin reiste, von der man allge­ mein sagte, daß sie eher alles andere als eine angenehme Gefährtin sei; auch wurde von ihr berichtet, daß sie ganz taub sei. Im Ganzen aber dachte er wenig an die Mit­ theilung selber. Es war der Anblick von Maria Consuelos Namen, der Eindruck auf ihn gemacht hatte, und mehrere Tage hindurch war er ganz verwandelt. Jedoch verblich die Wirkung in kurzer Zeit, und wie sonst folgte er dem Rundgange seines einförmigen Lebens. In den ersten Tagen des März im Jahre 1890 saß er eines Abends vor dem Diner einsam in seinem Zimmer. Der große Kontrakt, den er übernommen hatte, war fast beendet, und er wußte, daß er binnen zwei Monaten in derselben schwierigen Lage stehen würde, aus der cs ihm früher so hervorragend schlecht gelungen war, sich heraus­ zuhelfen. Daß er und Contini die Bedingungen des Kon­ trakts mit peinlicher und gewissenhafter Pünktlichkeit aus­ geführt hatten, besserte die Lage nicht. Daß sie die kräf-

268

i

tigsten Anstrengungen gemacht hatten, um Käufer für das Besitzthum zu finden, wie sie wohl zu thun berechtigt waren, und keinen Erfolg erzielt hatten, machte die Lage hoff­ nungslos oder doch fast so schlimm, wie hoffnungslos. Ob es ihnen gefallen mochte oder nicht, Del Ferice hatte die überwiegende Masse ihrer Accepte so angeordnet, daß sie um die Zeit fällig wurden, wo die Arbeit beendet sein würde. Zu denselben oder annähernd gleichen Bedingungen an eine andere Bank zu verpfänden kam gar nicht in Frage, so daß sie keine Hoffnung hatten, das Besitzthum in Händen zu behalten, um es zu verpachten. Selbst wenn Orstno einen Augenblick lang einen solchen Akt der Untreue, daß er die Arbeit absichtlich verzögert hätte, um eine Er­ neuerung der Wechsel heranszuschlagen, hätte in's Auge fassen können, so hätte doch ein solches Verfahren nicht zu einer thatsächlichen Besserung der Lage führen können. Das Besitzthum war unverkäuflich und Del Ferice wußte das, und hatte keine Absicht, es zu verkaufen. Er beabsichtigte, es für sich zu behalten und zu vermiethen, um eine be­ ständig fließende Quelle der Einnahmen zu haben. Es würde ihm am Ende auch nicht die Hälfte seines wirklichen Werthes gekostet haben, und war ein ungemein guter Besitz. Orsino sah, wie hoffnungslos es war, Widerstand zu versuchen, wenn er sich nicht bescheiden wollte, an seine Angehörigen den Ruf um Hülfe zu richten, und dies war er, wie schon damals, entschlossen, nicht zu thun. Er dachte soeben über sein Sklavenleben nach, als ihm ein Diener einen Brief brachte. Er stieß ihn bei Seite, ohne ihn anzusehen, dabei aber glitt er zufällig vom Tische und fiel auf den Fußboden. Als er ihn aufhob, wurde seine Aufmerksamkeit durch die Handschrift und den Post­ stempel gefesselt. Der Stempel war ägyptisch, und die

— . 269 Handschrift war die der Maria Consuelo. Er fuhr in die Höhe, riß den Umschlag auseinander, und zog einen viele Seiten langen, auf dünnes Papier geschriebenen Brief heraus. Anfänglich fand er es schwer, den Schriftzügen zu folgen, und sein Herz schlug so heftig, daß es ihn ärgerte. Er stand auf, schritt das Zimmer in seiner ganzen Länge ab und wieder zurück, setzte sich dann auf einen an­ deren Stuhl dicht bei der Lampe, und las den Brief stand­ haft von Anfang bis zu Ende. „Mein theurer Freund, — Vielleicht überrascht es Sie, wenn Sie nach so langer Zeit Etwas von mir hören. Ich habe Ihren letzten Brief erhalten. Wie lange ist Das her? Zwölf, vierzehn, fünfzehn Monate! Ich weiß es nicht. Es ist ebenso gut, es zu vergessen; denn ich wenigstens möchte mich lieber nicht an Das erinnern, was Sie an mich ge­ schrieben haben. Und jetzt schreibe ich — weßhalb? Ein­ fach weil ich den Trieb verspüre, es zu thun. Das ist der beste von allen Gründen. Ich wünsche, Etwas von Ihnen zu hören, und das ist selbstsüchtig; und ich wünsche auch, Etwas über Sie zu hören, und das ist es nicht. Arbeiten Sie noch immer an jenem Geschäfte, an dem Sie so lebhaften Antheil nahmen? Oder haben Sie es auf­ gegeben und find zu dem Lebeu zurückgekehrt, das Sie da­ mals so innig haßten? Ich möchte es gern wissen. Er­ innern Sie sich noch, wie zornig ich vor langer Zeit war, weil Sie Ihre Zustimmung dazu gegeben hatten, sich mit Del Ferice in meinem Empfangszimmer zu treffen? Ich hatte sehr Anrecht, denn das Zusammentreffen hat zu vielen

guten Ergebnissen geführt. Ich denke gern daran, daß Sie nicht ganz so sind, wie all' die jungen Leute ihres Staubes, die ihr Leben mit Nichtsthun hinbringen — und auch das nicht einmal mit Anstand und Würde thun

270 Ich glaube, Sie gebrauchten selbst einmal diese

können.

Sie haben aber den Beweis ge­

Worte von sich selber.

liefert, daß Sie, wenn Sie wollten, ein ganz anderes Leben führen konnten. Ich hoffe, Sie führen es noch

immer. „So ist denn die arme Donna Tnllia todt — und ist schon anderthalb Jahre todt!

Als ich die Nachricht erhielt,

an Del Ferice einen langen Brief geschrieben.

habe ich

Er hat mir geantwortet.

Er ist nicht so schlecht, wie Sie

zu glauben pflegten — denn er war schrecklich betrübt über

seinen Verlust — ich konnte Das sehr wohl aus Dem er­

sehen, was er schrieb, obwohl seine Ausdrücke nichts Ueber«

triebenes oder Verzweifeltes enthielten. lich keine bloßen Redensarten.

Brief aufgehoben,

Es waren thatsäch­

Ich wünschte, ich hätte den

um ihn an Sie zu schicken; ich hebe

aber nie Briefe auf.

Die arme Donna Tullia!

mir Rom ohne sie gar nicht vorstellen.

Ich kann

Es würde sicher­

lich für mich nicht derselbe Platz sein; denn wo es sich um mich handelte,

war sie stets gütig und freundlich besorgt,

gleichviel wie sie gegen Andere gewesen sein mag. „Ein Wiederhall erreicht mich von Zeit zu Zeit in verschiedenen Theilen der Welt, wo ich gerade reise, und es

scheint,

als habe sich Rom in mancher Hinsicht geändert.

Der Zusammenbruch Krach kam.

soll furchtbar gewesen sein,

Wie ich vermuthe,

Geschäft aufgegeben,

als der

haben Sie damals

das

wie es ja auch ganz natürlich war,

da es keine Arbeit mehr zu leisten gab.

Es würde mich

aber freuen, zu hören, daß Ihnen in dem finanziellen Un­ gewitter kein Schade zugestoßen ist.

Ich gestehe, ich habe

kürzlich eine unverantwortliche Angst Ihretwegen verspürt.

Vielleicht schreibe ich Ihnen deßhalb und hoffe auf sofortige Antwort.

Ich habe Ahnungen

und Vorbedeutungen

und

271 alle derartige Warnungen stets als etwas äußerst Falsches und Albernes angesehen, und ich glaube eigentlich auch nicht, daß etwas Trauriges für Sie eingetreten ist oder augenblicklich eintritt. Es ist aber unser weibliches Vor­ recht, wankelmüthig zu sein, und wir würden noch wankelmüthiger sein, wenn wir keinen Gebrauch davon machen wollten. Außerdem habe ich schon früher mehr als einmal dieselbe unbestimmte Angst um Sie empfunden, und habe doch nicht geschrieben. Vielleicht würde ich selbst jetzt nicht an Sie schreiben, wenn ich nicht sehr viel mehr Zeit zu meiner Verfügung hätte, als ich nützlich unterzubringen weiß. Wer weiß, ob nicht doch Etwas vorliegt? Wenn Sie viel zu thun haben, so schreiben Sie ein paar Worte auf einer Postkarte, bloß um mir mitzutheilen, daß Nichts weiter vorliegt. Hier in Aegypten können wir uns nicht vorstellen, was die Zeit bedeutet, und gewiß nicht, daß sie je gleichbedeutend mit Geld sein kann. „Es ist ein träges Leben, für mich vielleicht weniger träge, als für die, welche um mich sind, jedoch auch für mich nicht überreich an Beschäftigungen. Das Klima nimmt alle Zeit in Anspruch, die nicht thatsächlich mit Essen, Schlafen und Besichtigung von Ruinen hingebracht wird. Es ist, glaube ich, billig, daß ich Ihnen Etwas über mich mittheile, da ich Sie ja um Nachrichten über Sie ersuche. Ich will Ihnen erzählen, was ich kann. „Ich reise mit einer alten Dame, als ihre Gesell­ schafterin, — nicht eigentlich aus Neigung und eigentlich noch nicht aus Pflicht. Ist das zu geheimnißvoll? Können Sie sich mich als Gesellschafterin und allgemeine Spaß­ macherin für eine alte Dame — die über siebenzig Jahre alt ist, vorstellen? Nein; ich glaube, das können Sie nicht. Und ich bin auch nicht aus Noth bei ihr; denn ich habe

272 keine Verluste erlitten. Im Gegentheil, seit ich eine ge­ wisse Person entlassen habe — nennen wir sie eine Auf­ wartefrau — scheint es mir, daß mein Einkommen sich verdoppelt hat. Die Aufwartefrau hat, nebenbei gesagt, ein Hotel am Comersee eröffnet. Vielleicht können Sie, der Sie ein so gewiegter Geschäftsmann sind, einen ge­ wissen Zusammenhang zwischen diesen einfachen Thatsachen erblicken. Ich war nie tüchtig im Verwalten von Geldern, noch sah ich überhaupt ein, was ihm für eine Bedeutung zukommt. Es scheint, daß ich nicht alle Familieneigen­ schaften geerbt habe. „Aber ich kehre nach Aegypten zurück, an den Nil, zu dieser Dahabie, an deren Bord es den Schicksalsgöttinnen gefallen hat, für jetzt mein Dasein einzurichten. Ich werde nicht Gesellschafterin genannt, sondern Diensthabende Dame, was nur ein anderer Ausdruck für dieselbe Sache sein würde, wenn ich nicht der Prinzessin, alt und taub, wie sie ist, wirklich sehr zugethan wäre. Und das will sehr viel sagen. Niemand weiß, was Taubheit bedeutet, der nicht laut einer tauben Person vorgelesen hat, was ich jeden Tag thue. Ich glaube nicht, daß ich Ihnen je von ihr erzählt habe. Ich kenne sie, seit ich am Leben bin, immer, seit ich als kleines Mädchen in einem Wiener Kloster war. Sie pflegte hinzukommen und mich zu be­ suchen, und mir gute Sachen mitzubringen — und Gebet­ bücher — ich erinnere mich besonders lebhaft an eine Büchse mit kandierten Früchten, die, wie sie sagte, aus Kiew kam. Ich habe nie wieder so Etwas gegessen. Ich möchte wohl wissen, wie viele aufrichtige Zuneigungen zwischen jungen und alten Leuten ihr Vorhandensein ur­ sprünglich einem Konditor verdanken mögen! „Als ich Rom verließ, traf ich sie in Nizza wieder.

273 Sie war dort mit dem Prinzen, der in einer jämmerlichen Verfassung war und bald nachher starb. Er war nie so für mich eingenommen, wie sie es war. Nach seinem Tode bat sie mich, bei ihr zu bleiben, so lange ich wollte. Ich glaube nicht, daß ich sie, so lange sie lebt, wieder verlassen werde. Sie behandelt mich, wie ihr eigenes Kind — oder vielmehr, wie ihr Enkelkind, und außerdem paßt mir das Leben bei ihr sehr gut. Ich bin thatsächlich völlig unab­ hängig, und doch stehe ich völlig unter Schutz. Das Experi­ ment, drei Jahre lang allein zu leben, werde ich nicht wiederholen, bis ich viel älter bin. „Es ist eine ziemlich seltsame Freundschaft. Meine Prinzessin weiß Alles über mich — Alles, was Sie wissen. Ich habe es ihr eines Tages erzählt, und sie schien durch­ aus nicht überrascht. Ich glaubte, da ich bei ihr leben sollte, und da sie stets so gütig gegen mich gewesen war, so sei ich ihr die Wahrheit über mich schuldig. Sie sagt, ich erinnerte sie an ihre Tochter, die arme junge Prinzessin Marie, die vor sehr vielen Jahren gestorben ist. Auch in Nizza, wie ihr Vater; das arme Mädchen. Sie war erst neunzehn Jahre alt, und man sagt, sie sei sehr schön ge­ wesen. Wie ich vermuthe, bildet sich die gute, liebe, alte Dame ein, sie sehe auch jetzt noch eine gewisse Aehnlichkeit zwischen uns, obgleich ich soviel älter bin, als ihre Tochter war, als sie starb. Da liegt der Ursprung unserer Freund­ schaft — das Alltägliche, und das Schicksalsschwere — Conditorwaare und der Tod — eine Büchse mit candierten Früchten und ein unersetzlicher Verlust! Wenn es keine Kontraste gäbe, was würde die Welt dann sein? Ganz das Eine oder das Andere, nehme ich an. Ganz Tod, oder ganz Kiewer Süßigkeiten. „Ich vermuthe, daß Sie wissen, wie das Leben in Crarvford, Don Orsino. II. 18

274 Aegypten aussieht. Wenn Sie es auch nicht selbst versucht haben, so haben es doch Ihre Freunde, und können es Ihnen beschreiben. Ich will jedenfalls Ihrer Freund­ schaft meine Eindrücke nicht aufbürden. Es würde einen ziemlich strengen Geschmack haben — vielleicht würde Ihr Geschmack es nicht ertragen, und das würde mir leid thun. „Wissen Sie Etwas? Mir macht es Freude, zu den­ ken, daß ich einen Freund an Ihnen habe. Ich erinnere mich mit Freude an die Zeit, wo Sie von allen Ihren Plänen mit mir zu plaudern pflegten — die liebe alte Zeit! Ich möchte mich lieber an das erinnern, als an Vieles, was nachher kam. Sie haben mir für Alles, was ich gethan habe, verziehen, und sind jetzt froh, daß ich es gethan habe. Ja, ich kann mir Ihr Lächeln vorsteüen. Sie können sich, Prinz Saracinesca, Prinz Sant' Ilario, Herzog von Dingsda, Herr von Wieesauchheißenmag, Fürst des Heiligen Römischen Reiches, Grande von Spanien Erster Klasse, Malteser-Ritter und Erblicher Herr von irgend Etwas beim Heiligen Stuhle — kurz, die fürchterliche Per­ sönlichkeit, die Sie einst sein werden — Sie können sich eigentlich nicht als Schwiegersohn der Signora Lucrezia Ferris, Eigenthümerin eines Touristenhotels am Comersee, vorstellen! Gestehen Sie, daß diese Idee eine Albernheit war! Was mich anbetrifft, so will ich gestehen, daß ich sehr Unrecht hatte. Hätte ich die ganze Wahrheit an jenem Nach­ mittage gewußt, — erinnern Sie sich an das Gewitter? — ich würde Ihnen Vieles erspart haben, und ich würde auch mir — nun — Einiges erspart haben. Wir haben aber Besseres zu thun, als Schatten nachzulaufen. Viel­ leicht ist es ebenso gut, an solche nicht einmal zu den­ ken. Es ist jetzt Alles vorüber. Was auch immer Sie

275 von dem Allen denken mögen, vergeben Sie Ihrer alten Freundin Maria Consuelo von A." Orsino las den langen Brief zu Ende, und saß dann eine Weile da und sann über den Inhalt nach. Zwei Punkte darin machten besonders auf ihn Eindruck. Erstens war das nicht der Brief einer Frau, welche einen Mann, dem sie den Laufpaß gegeben hatte, zurückzurufen wünschte. Es lag keine, oder beinahe keine Empfindsamkeit darin. Sie erklärte sich für befriedigt, wenn auch nicht für glück­ lich in dem Leben, das sie jetzt führte, und in einem Satze stellte sie ihm die enorme Albernheit der Heirath, die er im Sinne gehabt hatte, deutlich vor die Augen. Er hatte sich mehr als ein Mal geschämt, daß er weiter keine direkte Anstrengung gemacht hatte, sie zurückzugewinnen. Jetzt wurde er sich plötzlich des großen Einflusses bewußt, den ihr erster Bries, der die Feststellung ihrer Verwandtschafts­ verhältnisse enthielt, thatsächlich auf ihn ausgeübt hatte. Seltsam genug versöhnte ihn das, was sie jetzt schrieb, ge­ wissermaßen mit sich selber. Es war doch schließlich so am besten gewesen. Daß er sie noch liebe, empfand er mit aller Gewiß­ heit, als er die Seiten, die sie geschrieben hatte, in der Hand hielt, und in seinen Fingern das alte Prickeln fühlte, das er so genau kannte, und das alte, rasche Schlagen des Herzens. Jedoch erkannte er freudig — vielleicht zu freudig — an, daß er wohl daran gethan habe, sie gehen zu lassen. Dann kam der zweite Eindruck. „Ich erinnere mich gern an die Zeit, wo Sie mit mir von allen Ihren Plänen zu plaudern pflegten." Die Worte klangen in seinen Ohren wieder und riefen köstliche Visionen der Vergangenheit 18*

276 wach, süße, an ihrer Seite verbrachte Stunden, währmd deren sie mit einem Gefühle, das wärmer war, als Geduld oder Neugierde, dem Ausströmen seiner jungen Hoffnungen und Bestrebungen lauschte. Sie wenigstens hatte ihn ver­ standen und ermuthigt und mit ihrer Theilnahme gestärkt. Und wenn damals, weßhalb nicht auch jetzt? Weßhalb sollte fie ihn jetzt, wo er einen Freund am meisten nöthig hatte, nicht verstehen, und ihm jetzt, wo er Theilnahme am meisten bedurfte, nicht Theilnahme spenden? Allerdings war sie in Aegypten und er in Rom. Was kam aber dar­ auf an? Wenn fie an ihn schreiben konnte, so konnte auch er an fie schreiben, und fie konnte ihm wieder ant­ worten. Nie hatte Jemand so mit ihm gefühlt, wie fie es gethan hatte. Er zauderte nicht lange. An jenem selben Abende, nach dem Diner, zog er sich auf sein Zimmer zurück und schrieb an fie. Es fiel ihm anfangs etwas schwer; so wie aber die Tinte zu fließen anfing, drückte er sich bester und klarer aus. Mit einer eigenthümlichen Art von Vorsicht, die seit kurzem bei ihm hochgewachsen war, versuchte er, seinen Brief eine Form annehmen zu lasten, die dem ihrigen so ähnlich als möglich war. „Meine theure Freundin," — schrieb er — „Wenn die Leute stets ihren inneren Trieben nachgeben wollten, wie Sie gethan haben, indem Sie an mich schrieben, so würde es mehr gute Kameradschaft und weniger Verein­ samung in der Welt geben. Es möchte nicht leicht für mich sein, Ihnen auszudrücken, ein wie großes Vergnügen Sie mir gemacht haben. Möglicherweise vergleiche ich es später mit Ihrem eigenen guten Gedächtniß für die candierten Früchte aus Kiew! Für jetzt ist es mir nicht mög­ lich, einen passenden Vergleich dafür zu finden.

277 „Sie richten viele Fragen an mich. Ich nehme mir vor, sie alle zu beantworten. Werden Sie so viel Geduld besitzen, Alles zu lesen, was ich schreibe? Ich hoffe es, um jener Zeit willen, wo ich mit Ihnen von allen meinen Plänen zu plaudern pflegte — und deren Sie sich, wie Sie sagen, noch gern erinnern. Auch liegt noch ein an­ derer Grund vor. Ich habe mich nie in meinem Leben so einsam gefühlt, wie ich mich jetzt fühle, noch so bedürftig eines Freundes — nicht eines hülfreichen Freundes, son­ dern eines solchen, mit dem ich etwas frei uud offen sprechen kann. Ich bin sehr viel allein. Eine Art Ent­ fremdung ist zwischen meiner Mutter und mir empor­ gewachsen, und sie tritt nicht mehr, wie sie es einst that, bei Allem, was ich zu thun wünsche, aus meine Seite. „Ich will ganz offen sein. Ich will Ihnen alle meine Sorgen bekannt geben, weil es keinen anderen Menschen aus der Welt giebt, dem ich sic bekannt geben könnte — und weil ich weiß, daß sie Ihnen keinen Kummer machen werden. Sie werden ein wenig freundschaftliches Mitgefühl empfinden, und das wird genügen. Aber Sie werden keinen Schmerz fühlen. Am Ende darf ich sagen, daß ich über­ treibe, und daß an der Sache nichts so furchtbar Schmerz­ liches ist, daß es solche Wirkung auf Sie hervorbringen müßte. Der Fall ist aber doch, wie Sie sehen werden, recht ernst. Er umringelt wie eine Schlange mein Leben für vielleicht viele Jahre der Zukunft. „Ich bin vollständig in Del Ferices Gewalt. Vor einem Jahre hatte ich die Möglichkeit, mich frei zu machen. Ich hätte zu meinem Großvater gehen und ihn bitten können, eine Summe Geldes zu hinterlegen, die groß genug war, um mich zu befreien, oder ich hätte Del Ferices neues Anerbieten ablehnen und zulassen können, daß ich für ban-

278 kerott erklärt wurde. Meine abscheuliche Eitelkeit stand im Wege und hinderte mich, einem von beiden Plänen zu folgen. In weniger als zwei Monaten werde ich wieder in derselben Lage sein. Die Umstände aber haben sich ge­ ändert. Die Summe Geldes ist so beträchtlich, daß ich meine ganze Familie mit ihren drei Vermögen nicht gern bitten möchte, sie durch ihre Beiträge aufzubringen. Das Geschäft ist riesengroß. Ich habe einen Betrieb wie eine richtige Bank, und Contini — Sie erinnern sich doch noch an Contini? — hat mehrere Baumeister zur Seite. Außer­ dem stehen wir allein. Es ist keine andere Firma dieser Art übrig geblieben, und unser Bankerott würde einen sehr unangenehmen Eindruck machen. So lange ich aber Del Ferices Sklave bleibe, werden wir nicht stürzen. Wissen Sie, daß diese große und erfolgreiche Firma systematisch weitergeführt wird ohne einen Centime Nutzen für die beiden Inhaber, und mit der unaufhörlichen Drohung eines schmählichen Bankerotts, die dazu verwandt wird, um mich vorwärts zu peitschen? Können Sie sich vorstellen, daß, wenn ich meine Wahl träfe, ein Jeder glauben würde, oder daß mein Tyrann einen Jeden würde glauben lassen, daß Orsino Saracinesca Jahre lang — nächstens zwei ein halbes Jahr lang — dem Ugo Del Ferice wie eine Art leibeigener Knecht gedient hat? Ich bin in einer sehr wenig beneidenswerthen Lage. Ich bin fest überzeugt, daß mich Del Ferice zuerst für seine eigenen Zwecke ansnützte — das heißt, um für ihn Geld zu schaffen. Die enorme Höhe der Summen, die durch meine Hände gehen, macht mich sicher, daß ihm jetzt der Rücken durch ein mächtiges Syndikat gedeckt wird, wahrscheinlich von ausländischen Banquiers, die bei dem römischen Krach Geld verloren haben, und nun eine Möglichkeit sehen, es durch Del Ferices

279 Vermittelung zurückzugewinnen. Es handelt sich um Mil­ lionen. Sie können sich Das nicht vorstellen? Wollen Sie den Versuch machen, meine Auseinandersetzung zu lesen?" Und nun faßte Orsino sein Verhältniß zu Del Ferice in einer klaren und kurzgefaßten Darstellung zusammen, die wir hier nicht zu wiederholen brauchen. Auf Maria Consuelos Seite war kein besonderes Geschäftstalent nöthig, um zu verstehen, daß er an Händen und Füßen gebun­ den war. „Von drei Dingen muß eines eintreten," fuhr Orsino fort, „ich muß das Vermögen meiner Familie verkrüppeln, vielleicht sogar völlig ruinieren, oder ich muß einen skanda­ lösen Bankerott durchmachen, oder ich muß fortfahren, während der besten Jahre meines Lebens Ugo Del Ferices Sklave zu sein. Mein einziger Trost ist, daß ich nicht be­ zahlt werde. Ich spreche nicht von dem armen Contini. Er macht sich allerdings einen Ruf, und Del Ferice giebt ihm Etwas, was ich vermehre, so gut ich kann. Wenn man unsere beiderseitige Lage betrachtet, so ist er Der­ jenige, welcher von uns Beiden das größere Opfer bringt, der arme Bursche — und durch meine Schuld. Wenn ich nur vor achtzehn Monaten den Muth gehabt hätte, meine Eitelkeit aus dem Spiele zu lassen, so hätte ich ihn sowohl wie mich selbst retten können. Ich glaubte, ich sei Del Ferice gewachsen — ich war es aber nie und werde es nie sein. Ich bin einigermaßen in Verzweiflung. „Das ist mein Leben, theure Freundin. Da Sie mich ja nicht völlig vergessen haben, so schreiben Sie mir ein Wort von jener guten, alten Sympathie, von der ich so lange gelebt habe. Sie ist vielleicht bald Alles, wovon ich zu leben habe. Wenn Del Ferice so geschmacklos sein

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sollte, der Donna Tullia nach dem Sankt-Lorenzo-Kirchhofe nachzufolgen, so könnte Nichts mich retten. Ich würde nicht länger die Wahl haben, zum Austausche für die Sicherheit vor dem Bankerotte mir selber gegenüber, und dem wirthschaftlichen Zusammenbruche — oder etwas dem sehr Aehnlichen — meinem Vater gegenüber, sein Sklave zu bleiben. „Ueber das Alles aber wollen wir nicht mehr plau­ dern. Wäre nicht Ihr freundlicher Brief gekommen, so hätte Niemand, außer Contini, je Etwas von dieser ganzen Geschichte erfahren. In Ihrem ruhigen ägyptischen Leben — danken Sie Gott, Theure, daß Ihr Leben ruhig ist! muß meine Geschichte klingen, wie ein Bruchstück aus einem widerwärtigen Traume. Eines sagen Sie mir nicht. Sind Sie ebenso glücklich, wie voller Seelenfrieden? Ich möchte es gern wissen. Ich bin es nicht. „Bitte, schreiben Sie mir wieder, wenn Sie Zeit haben — und Neigung. Wenn irgend Etwas für Sie in Rom zu thun ist — irgend eine Kleinigkeit, oder auch etwas Großes — so gebieten Sie über Ihren alten Frennd, Orsino Saracinesca."

Vierzehntes Kapitel. Orsino schickte seinen Brief mit einem eigenthümlichen Gefühle der Erleichterung ab. Er fühlte, daß er nun wieder in Verbindung mit der Menschheit stand, da er einige von den Sorgen, die ihn drückten, hatte aussprechen und mittheilen können. Sicherlich hatte er keinen Grund, hoffnungsvoller als vorher zu sein, und thatsächlich wurde die Lage von Tag zu Tag ernster; sein Herz aber war

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sollte, der Donna Tullia nach dem Sankt-Lorenzo-Kirchhofe nachzufolgen, so könnte Nichts mich retten. Ich würde nicht länger die Wahl haben, zum Austausche für die Sicherheit vor dem Bankerotte mir selber gegenüber, und dem wirthschaftlichen Zusammenbruche — oder etwas dem sehr Aehnlichen — meinem Vater gegenüber, sein Sklave zu bleiben. „Ueber das Alles aber wollen wir nicht mehr plau­ dern. Wäre nicht Ihr freundlicher Brief gekommen, so hätte Niemand, außer Contini, je Etwas von dieser ganzen Geschichte erfahren. In Ihrem ruhigen ägyptischen Leben — danken Sie Gott, Theure, daß Ihr Leben ruhig ist! muß meine Geschichte klingen, wie ein Bruchstück aus einem widerwärtigen Traume. Eines sagen Sie mir nicht. Sind Sie ebenso glücklich, wie voller Seelenfrieden? Ich möchte es gern wissen. Ich bin es nicht. „Bitte, schreiben Sie mir wieder, wenn Sie Zeit haben — und Neigung. Wenn irgend Etwas für Sie in Rom zu thun ist — irgend eine Kleinigkeit, oder auch etwas Großes — so gebieten Sie über Ihren alten Frennd, Orsino Saracinesca."

Vierzehntes Kapitel. Orsino schickte seinen Brief mit einem eigenthümlichen Gefühle der Erleichterung ab. Er fühlte, daß er nun wieder in Verbindung mit der Menschheit stand, da er einige von den Sorgen, die ihn drückten, hatte aussprechen und mittheilen können. Sicherlich hatte er keinen Grund, hoffnungsvoller als vorher zu sein, und thatsächlich wurde die Lage von Tag zu Tag ernster; sein Herz aber war

281 leichter und er sah fröhlicher in die Zukunft, fast gegen sein eigenes besseres Urtheil. Er hatte nicht erwartet, bald eine Antwort von Maria Eonsuelo zu erhalten, und war überrascht, als eine binnen zehn Tagen vom Datum seines Schreibens kam. Dieser Brief war kurz, hastig geschrieben und sorglos stylisiert, es lag aber in jeder Zeile desselben ein schriller Klang der Angst um ihn, den er nicht mißdeuten konnte. Sie drückte nicht nur die innigste Theilnahme für ihn aus und ver­ sicherte ihm, daß Alles, was er thue, noch immer ihr leb­ haftestes Jnteresfe besitze, sondern sie bestand auch darauf, fo oft als möglich von dem Stande seiner Angelegenheiten unterrichtet zu werden. Er habe, sagte sie, von drei Mög­ lichkeiten gesprochen. Ob es nicht irgendwo eine vierte gebe? Könne es nicht oft einen Ausweg aus der ver­ zweifeltsten Lage geben, von dem Niemand sich Etwas habe träumen lassen? Könnte sie ihm nicht behülflich sein, zu entdecken, wo er in diesem Falle liege? Könnten sie nicht an einander schreiben und ihn zusammen ausfindig machen? Orsino blickte unruhig auf die Zeilen, und das Blut stieg ihm in die Schläfe. Meinte sie wirklich, was sie sagte, oder mehr, oder weniger? Er war überarbeitet und nervös überreizt, und sie hatte gedankenlos geschrieben, als wäge sie ihre Worte nicht, sondern folge nur einem An­ triebe, für den sie nicht die Zeit hatte, den richtigen Aus­ druck zu finden. Sie konnte sich nicht einbilden, daß er materielle Hülfe von ihr annehmen würde — noch weniger, daß er einwilligen würde, sie wegen des Vermögens, das ihn retten könnte, zu heirathen. Er wurde sehr zornig, dann wieder wurde er kalt, und dann, als er die Worte noch einmal durchlas, sah er, daß er kein Recht hatte,

282 ihnen irgendwie eine derartige Bedeutung beizulegen. Dann schoß es ihm durch den Sinn, daß er, selbst wenn sie, durch irgendwelche Möglichkeit, die Absicht gehabt hätte, einen derartigen Gedanken anzuregen, durchaus kein Recht haben würde, darüber zu grollen. Frauen, so überlegte er es sich, betrachteten solche Sachen nicht so, wie Männer zu thun Pflegen. Sie hatte sich geweigert, ihn zu heirathen, als er im Glücke stand. Wenn sie jetzt andeutete, daß sie ihn heirathen wolle, um ihn vor dem Untergange zu retten, so konnte er nicht umhin, anzuerkennen, daß sie die Auf­ opferung bis nahe an ihre äußerste Grenze trieb. Die Worte selber aber wollten eine solche Auslegung nicht zulasten. Er that der Sprache geradezu Gewalt an, wenn er diesen Sinn hineinlegte. „Und doch beabsichtigt sie Etwas," sagte er zu sich selber. „Etwas, was ich nicht verstehen kann." Er schrieb wiederum, wobei er den Ton seines ersten Briefes sorgfältiger aufrecht erhielt, als sie ihrerseits ge­ than hatte, obgleich er die wärmsten Ausdrücke herzlichen Dankes nicht sparte für die Theilnahme, die sie so bereit­ willig gespendet hatte. Es gebe aber keinen vierten Weg, sagte er. Eines von den drei Dingen, die er ihr auseinan­ dergesetzt habe, müsse eintreten. Es gebe keine Hoffnung, und er habe sich darein ergeben, sein Sklavendascin fort­ zusetzen, bis Del Fcrices Tod den großen Umschwung in seinem Leben hervorbringen würde. Nicht, als ob Del Ferice, fügte er hinzu, irgendwie in Gefahr sei, zu sterben, trotz des allgemeinen Geredes von seiner schlechten Gesund­ heit. Solche Männer überdauerten oft stärkere Leute, wie ja Ugo auch die Donna Tullia überlebt habe. Auch nicht, als ob sein Tod die Sachen, wie sie augenblicklich lägen, verbeffern würde. Das habe er vorher auseinandergesetzt.

283 Wenn der Graf jetzt stürbe, so seien neunundneunzig Mög­ lichkeiten von hundert dafür, daß er selber zu Grunde gehen würde. Für den Augenblick würde sich Nichts ereignen. In wenig mehr als einem Monate — höchstens in sechs Wochen — würde ihm eine neue Uebereinkunft aufgezwun­ gen werde», die ihn vielleicht auf Jahre hinaus binden würde. Del Ferice habe schon mit ihm von einem großen öffentlichen Unternehmen gesprochen, von dem zum Min­ desten die Hälfte des Kontraktes mit Leichtigkeit von seiner Bank sicher erworben und unter ihre Aufsicht bekommen werden könnte. Er habe hinzugefügt, daß dies für Andrea Contini und Compagnie eine günstige Gelegenheit werden könne, in Uebereinstimmung mit der Bank thätig zu sein. Was das bedeute, wisse Orsino. Es sei in der That un­ möglich, die Bedeutung, welche klar genug sei, nicht zu ver­ stehen. Der vierte Plan könne nur darin bestehen, daß man vorläufig einen Käufer für Gebäude fände, über die so nicht verfügt werden könne, weil sie für einen beson­ deren Zweck gebaut seien, und nur von denen gekauft wer­ den könnten, die sie bestellt hätten, nämlich Personen, welche Del Ferice so in der Gewalt habe, daß er ihr Er­ scheinen, wenn er wolle, hintanhalten, und Orsino in jedem Augenblicke nach Vollendung der Arbeit zum Bankerott treiben könne. Zum Beispiel sei eines von den Gebäuden augenscheinlich für eine Fabrik bestimmt, und wahrschein­ lich für eine Zündhölzchenfabrik. Als Del Ferice das Er­ suchen stellte, Contini und Compagnie sollten Etwas er­ bauen, worüber er sich schon vorgenommen habe, zu ver­ fügen, habe er so nebenbei bemerkt, es gebe in Rom keine Zündhölzchenfabriken, und vielleicht möchte Jemand gern eine kaufen. Wenn er weniger verzweifelt gewesen wäre, hätte er gern viel auf's Spiel gesetzt, um diese zarte Un-

284 Verschämtheit zu ahnden. Wie es nun einmal liege, habe er seinem Tyrannen in's Gesicht gelacht, und zwar bitter genug, was jedoch eine Form der Beleidigung sei, gegen die Ugo höchst unempfindlich sei. Diese und viele andere Einzelheiten schrieb Orsino an Maria Consuelo, indem er sein Vertrauen mit der Sicher­ heit eines Mannes ausströmte, der Nichts verlangt, als freundschaftliche Theilnahme, und gewiß ist, sie in über­ reichem Maße zu finden. Er wartete nicht mehr auf ihre Antworten, als der Augenblick, wo die Briefe fich kreuzen mußten, herankam, sondern schrieb frei und offen von Tag zu Tage, je nachdem er Neigung dazu fühlte. Es gab Weniges, was er ihr nicht inden zwölf oder fünfzehn Briesen mittheilte, die er im Lause des Monats abfaßte. Wie viele zurückhaltende Männer, die nie eine Feder in die Hand genommen haben, außer wenn es sich um ge­ wöhnliche Korrespondenz handelte, oder um die alltägliche Arbeit eines Genauigkeit erfordernden Geschäfts, die aber plötzlich anfangen, die Geschichte ihres täglichen Lebens als Lektüre für eine Vertrauensperson zu schreiben, hatte Orsino das Gefühl, als habe er ein neues Mittel entdeckt, sich auszudrücken, und überließ sich willig dem verhältnißmäßig großen Vergnügen völligen Vertrauens. Auch stellte er, wie alle solche Männer, den Hauptfehler seines Charakters in seinen langen, tagebuchartigen Briefen unbewußt bloß. Dieser Fehler war seine Eitelkeit. Hätte er einen großen Erfolg zu beschreiben gehabt, so hätte er sie besser ver­ bergen können, und würde es auch gethan haben; indem er von seinen eigenen nach einander folgenden Irrthümern und Enttäuschungen schrieb, zeigte er durch den unmäßigen Tadel, den er auf sich häufte, wie tief diese seine Eitelkeit verletzt worden war. Es ist möglich, daß Maria Consuelo

285 dies entdeckte. Sie aber gab sich nicht viel mit Zerglie­ dern ab, und während sie äußerlich viel kälter aussah, als Orsino, schien sie viel mehr als er geneigt zu sein, uner­ warteten Antrieben nachzugeben, wenn sie ihren Einfluß fühlte. Und Orsino hatte keine Vorstellung davon, daß er die Fehler seiner sittlichen Beschaffenheit möglicherweise vor Augen bloß stellte, die schärfer waren, als die seinigen. Er schrieb daher beständig mit äußerstem Freimuthe, und in den Augenblicken, wo er beim Schreiben saß, ge­ noß er eine schwache Selbsttäuschung vermehrter Sicherheit, als ob er die Ereignisse der Zukunft dadurch verzögerte, daß er die der Vergangenheit eingehend beschrieb. Wie­ derum antwortete ihm Maria Consuelö mehr als einmal, und stets in derselben Tonart, indem sie augenscheinlich ihr Bestes that, um ihm Hoffnung einzuflößen und ihn mit fich selber zu versöhnen. Wie sehr er auch, sagte sie, seinen eigenen Mangel an Vorsicht verurtheilen möge, so sei doch kein Mann, der nach seinem besten Urtheile sein Bestes thue und ehrenhaft handle, für den Ausgang zu tadeln, wenn er auch den Ruin von Tausenden herbeiführen möge. Dies war ihr Hauptbeweisgrund, und es tröstete ihn und schien ihm einen kleinen Theil der Verantwortlichkeit abzu­ nehmen, die so schwer auf seinen Schultern lastete, eine Bürde, die jetzt so schwer geworden war, daß die geringste Erleichterung derselben ihn sich verhältnißmäßig frei fühlen ließ, bis wieder der Aufruf an ihn erging, Thatsachen die Stirn zu bieten und mit Wirklichkeiten zu kämpfen. Die Ereignisse wollten sich aber nicht verzögern lassen, und Orsinos eigene gute Eigenschaften trugen dazu bei, sie zu beschleunigen, da sie ja stets seit dem guten Erfolge seines ersten Versuchs der Hauptsache nach die Ursache seiner üblen Lage gewesen waren, indem sie ihn zu einem

286 so werthvollen Sklaven machten, daß man Alles auf's Spiel setzte, um ihn am Entrinnen zu hindern. Das System, nach dem das Geschäft betrieben wurde, war bewundernswerth. Es war von Anfang an gut gewesen, und Orfino hatte es bis zu einem Grade verbeffert, der in Rom höchst ungewöhnlich war. Die Kunst der Buchfüh­ rung hatte er in kurzer Zeit bemeistert, und er hatte sich zu einer Genauigkeit im Einzelnen und einer Schnelligkeit rasch fertiger Nachweisung gezwungen, die manchen alten gewerbsmäßigen Buchhalter überrascht haben würde. Man muß sich allerdings daran erinnern, daß er von allem An­ fänge an wenig Anderes zu thun gefunden hatte. Die fachmännische Arbeit war immer in Continis Händen ge­ wesen, und Del Ferices Vorsorge hatte sie Beide der Noth­ wendigkeit entledigt, sich auf finanzielle Verhandlungen einzulassen, welche Zeit, diplomatischen Takt und eine Ge­ schicklichkeit höherer Art verlangten. Die Folge war, daß Orsino die Gesamtheit seiner großen Thatkraft und seines angeborenen Ordnungssinnes der Führung'der Bücher ge­ widmet hatte, mit dem Ergebnisse, daß, wenn ein Kontrakt ausgeführt worden war, fast gar keine Rechenmeisterarbeit mehr zu thun war. Auch waren Andrea Contini und Compagnie nominell Niemandem für ihre Buchführung ver­ antwortlich; in praxi, und unter dem Vorwande werth­ voller Dienste, die er leisten würde, schickte Del Ferice von Zeit zu Zeit einen Rechnungsrevisor, um Einblick zu neh­ men in den Stand der Angelegenheiten, ein Vorgehen, über das sich Contini bitter ärgerte, während Orsino er­ klärte, er stehe der Einmischung vollkommen gleichgültig gegenüber, da sie ja Nichts zu verbergen hätten. Wären die Bücher schlecht geführt gewesen, so wäre die schließliche Abwickelung jedes Kontraktes um eine oder zwei Wochen

287 verzögert worden. Je tiefer aber Orfino sich verstrickte, um so schärfer fühlte er den Werth, und schließlich die unbedingte Nothwendigkeit der kleinlichsten Genauigkeit. Wenn das Schlimmste zum Schlimmeren kam, und er ge­ zwungen sein sollte, zu fallieren, durch Del Ferices plötz­ lichen Tod, oder aus irgend einem anderen Grunde, so hing vielleicht sein Ruf als ehrlicher Mann von dieser selben Genauigkeit im Einzelnen ab, durch die er im Stande sein würde, nachzuweisen, daß er inmitten großer Unternehmun­ gen, und während ihm täglich sehr große Summen Geldes durch die Finger liefen, nie auch nur den kleinsten Antheil an dem von der Bank verschlungenen Gewinne empfangen habe. Er führte sogar eine besondere Rechnung über das, was er von der Apanage ausgab, die er von seinem Vater erhielt, damit er, wenn er dazu aufgefordert würde, nach­ weisen könnte, einen wie großen Theil dieser Apanage er regelmäßig an den armen Contini gezahlt habe, als Ent­ schädigung für die unglückliche Stellung, in welcher sich der Letztere befand. Wenn ihn der Bankerott erwartete, so würde sein Fehlschlag, wenn die Thatsachen gehörig be­ kannt gemacht würden, als einer der ehrenvollsten im Re­ gister rechnen, obgleich er Gefallen daran fand, auf eine solche Möglichkeit als eine sichere Quelle des Skandals und möglichst großer Schande zu blicken. Unwillkürlich gab ihm sein eigener entschlossener Fleiß in der Buchführung etwas mehr Vertrauen. In seiner großen Angst wurde ihm wenigstens die schreckliche Unge­ wißheit erspart, die ein Mann empfindet, der seine eigene finanzielle Lage in einem gegebenen kritischen Augenblicke nicht genau kennt. Auch seine mühsam erworbene äußere Ruhe leistete ihm gute Dienste. Sogar San Giacinto, der die finanzielle Welt kannte, wie wenige Männer sie

288 kannten, beobachtete seinen jungen Vetter mit Neugierde und nicht ohne ein gewisses Mitgefühl und eine, allerdings sehr geringe, Bewunderung. Das Gesicht des jungen Mannes wurde streng und nachdenklich, wie sein eigenes, mager, ernst und hart. San Giacinto erinnerte sich an jenen Abend vor anderthalb Jahren, wo er Orsino vor der kommenden Gefahr gewarnt hatte, und beinahe war'er mit sich selbst unzufrieden, daß er nicht einen Schritt gethan hatte, den er für überflüssig gehalten hatte. Es war San Giacintos Grundsatz, nie etwas Ueberflüssiges zu thun, weil eine nutzlose Thätigkeit einen Verlust an Zeit und demzufolge einen Verlust an Vortheil gegenüber dem augenblicklichen Gegner bedeutete. Unter anderen Umstän­ den würde San Giacinto einen guten, möglicherweise sogar einen großen General abgegeben haben; sein seltsames Leben hatte ihn zu einem Finanzmanne gemacht von einem sonderbaren Typus, der von dem der Männer, mit denen er zu verkehren hatte, völlig verschieden war. Er suchte nie einen Vortheil durch eine Täuschung zu gewinnen, er gewann aber Alles durch überlegene Voraussicht, uner­ schütterliche Kaltblütigkeit, beispiellose Schnelligkeit im Han­ deln, und einen unter allen Umständen unerschrockenen Muth. Es bedarf höherer Eigenschaften, um ein guter Mensch zu sein, aber keiner anderen, um Einen erfolgreich zu machen. Orsino besaß Etwas von derselben Schnellig­ keit und viel von ähnlicher Kaltblütigkeit und Beherztheit; ihm fehlte aber die Voraussicht. Es war Eitelkeit, aller­ dings von der verzeihlichsten Art, aber doch Eitelkeit, was ihn dazu verleitet hatte, das gefahrvolle Schiff seiner Unter­ nehmung zu besteigen — nicht in dem festen Entschlüsse, zu vollenden um des Vollendens willen, noch weniger in dem direkten Wunsche nach Wohlstand als letztem Endziel,

289 sondern in dem fast kindischen Sehnen und Trachten, seinen eigenen Angehörigen zu zeigen, daß mehr in ihm stecke, als sie vermuthet hätten. Die Gabe der Voraussicht wird durch das Vorhandensein von Eitelkeit gewöhnlich abge­ schwächt; wenn aber die Eitelkeit ihren Platz einnimmt, so kann das Ergebniß ebenso wahrscheinlich ein Fehlschlag sein, wie nicht, und hängt fast ausschließlich vom Glücke allein ab. Die Krisis in Orsinos Leben stand dicht bevor, und was hier schließlich von seiner Lage zu jener Zeit gesagt worden ist, erschien nothwendig als eine Zusammenfassung der Folgen, die ihm ein mehr als zweijähriger Zeitraum voll unablässiger Arbeit eingetragen hatte, während dessen er sich in Geschäfte von ungeheurer Wichtigkeit in einem Alter verwickelt hatte, wo die meisten jungen Leute ihre Zeit vielleicht vortheilhafter und sicherlich angenehmer auf solche Vergnügungen und Bestrebungen verschwenden, wie sie die freundliche Mutter Gesellschaft für ihre halbflüggen Nesthäkchen in Bereitschaft hält. An dem Tage vor seiner schließlichen Besprechung mit Del Ferice schrieb Orsino einen länglichen Brief an Maria Consuelo. Da sie ihn erst lange nachher erhielt, ist es unnöthig, hier irgend einen Bericht über seinen Inhalt zu geben. Es war einige Zeit verflossen, seit er zum letzten Male von ihr gehört hatte, und er war nicht sicher, ob sie noch in Aegypten sei, oder nicht. Trotzdem schrieb er an sie, wobei er viel eingebildeten Nutzen und wenig wirklichen Vortheil aus der letzten klaren Darstellung der ihn um­ gebenden Schwierigkeiten zog. Im Laufe der Zeit war ihm das Schreiben an sie zur Gewohnheit geworden, und er nahm ganz von selbst seine Zuflucht dazu, wenn er von Arbeit und Sorge übermüdet war. 19 Crawford, Don Orsino. II.

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An diesem selben Tage hatte er auch mehrere Stunden damit hingebracht, daß er die Lage mit Contini besprach. Der Baumeister war, seltsam genug, mit seiner Stellung jetzt besser ausgesöhnt, als früher. Er wenigstens empfing eine gewisse baare Vergütigung. Er wenigstens liebte sein Gewerbe und hatte seine Freude daran, große Massen von Ziegeln und Steinen zu verarbeiten. Auch machte er sich rasch einen guten Ruf und einen besonderen Namen, und wenn die Geschäftslage sich besserte, hinderte ihn Nichts, in andere Unternehmungen neben der, an der er sich so tief betheiligt fand, einzutreten. Als Mitglied der Firma, konnte er sich nicht freimachen. Als Baumeister aber konnte er sein eigenes Baubüreau haben und für Jeden bauen, der ihn zu beschäftigen Lust hatte. Was ihn selbst betraf, sagte er, so möchte er vielleicht mit mehr Vortheil bei weniger wichtigen Bauten verwandt werden; das aber sei nicht möglich, denn das Geschäft ginge zu schlecht. Die großen Werke, mit denen ihn Del Ferice beständig beschäf­ tige, hätten den unberechenbaren Vortheil, ihn fortwährend als Baumeister vor die Augen des Publikums zu bringen und seinen Namen, der der Name der Firma sei, allen Geschäftsleuten unaufhörlich in's Gedächtniß zu rufen. Er sei Orsino auf's Tiefste verpstichtet für die hochherzige Hilfe, die er ihm gewährt habe, als der thatsächliche Ge­ winn mit dem äußeren Anschein von Wohlergehen in so schreiendem Widersprüche stand. Er werde die Rückzahlung des so vorgeschossenen Geldes stets als eine Ehrenschuld betrachten, und er hoffe, noch lange genug zu leben, um sie auszulöjchen. Er stimme mit Orsino in dem Wunsche, freier und unabhängiger zu sein, überein, er erinnere ihn aber daran, daß er, als der Tag der Befreiung kam, die verhältnißmäßig kurze Lehrzeit nicht bedauern wollte,

291 während deren er eine so große Meisterschaft im Geschäfte erworben habe. Das Geschäft, sagte er, sei von Anfang an Orsinos Ehrgeiz gewesen, und Geschäft habe er reich­ lich, wenn auch nicht mit Nutzen. Für seinen Theil sei er zufrieden. Orsino fühlte, daß sein Compagnon nicht getadelt werden konnte, und er fühlte ferner, daß er Contini einen schweren Schaden und ein großes Unrecht zufügen würde, wenn er ihn in einen Bankerott verwickelte. Er sehnte sich aber nach der Zeit zurück, wo ihre Interessen übereinge­ stimmt hatten und sie gemeinsam und aus vollem Herzen Del Ferice verflucht hatten. Es war Nichts weiter zu thun, als sich zu unterwerfen. Er wußte sehr wohl, was seiner wartete. Am folgenden Morgen ging er, der Verabredung ge­ mäß, mit schwerem Herzen nach der Bank, um Del Ferice anzutreffen. Dieser hatte es stets vorgezogen, wenn ein neuer Kontrakt zu besprechen war, Orsino ohne Contini bei sich zu sehen. Als persönlicher Bekannter verhandelte er mit Orsino auf dem Standpunkte gesellschaftlicher Gleich­ heit, und das Gleichgewicht äußerlich angenehmer Be­ ziehungen wäre gestört worden, wenn ein gesellschaftlich Tieserstehender zugegen gewesen wäre. Außerdem kannte Del Ferice die Saracinesca-Leute ziemlich genau, und wenn er auch nicht so furchtsam war, wie manche Leute annah­ men, so hatte er doch vor einem plötzlichen Ausbruche des erblichen Temperaments eine gewisse Angst; wenn eine solche Offenbarung thatsächlich einmal stattfände, so würde es angenehmer sein, daß keine Zeugen dabei wären. Orsino war überrascht, als er hörte, daß Ugo außer­ halb der Stadt sei. Da er eine Verabredung getroffen hatte, so hätte er wenigstens ein Wort über seine Abreise 19*

292 nach dem Palaste Saracinesca schicken sollen. Allerdings hatte er eine Botschaft für Orsino zurückgelassen, die auch richtig abgeliefert wurde, des Inhalts, daß er in vierund­ zwanzig Stunden zurückkehren würde und ihn ersuche, die Zusammenkunft auf den folgenden Nachmittag zu ver­ schieben. In Orsinos Stimmung war dies keineswegs er­ freulich. Der junge Mann fühlte thatsächlich nicht viel Ungewißheit; denn er wußte, wie es sich abspielen würde, und daß ihm ein neuer Kontrakt aufgepackt werden würde. Er fand es aber hart, jetzt mit Gleichmuth zu warten, wo er sich zum Schlimmsten entschlossen hatte, und er grollte über Del Ferices Rücksichtslosigkeit, daß er ihm nicht eine höfliche Nachricht von seiner beabsichtigten Reise hatte zu­ kommen lassen. Der Tag verging schließlich irgendwie, und gegen Abend erhielt Orsino ein Telegramm von Ugo, voller Ent­ schuldigungen, aber mit der Bitte, die Zusammenkunft noch zwei Tage aufzuschieben. Die Depesche war aus Neapel, wohin Del Ferice oft Geschäftsreisen machte. Es war fast unerträglich und mußte doch ertragen werden. Orsino verbrachte seine Zeit, indem er in den weniger belebten Theilen der inneren Stadt Herumstrich, mit dem Versuche beschäftigt, neue Pläne für die Zukunft zu entwerfen, die für ihn doch schon geplant war, indem er sich möglichst bemühte, eine bestimmte Linie des Den­ kens immer weiter zu verfolgen, sei es auch nur, um seine eigene Aufmerksamkeit zu zerstreuen. Er war nicht einmal im Stande, an Maria Consuelo zu schreiben, denn er fühlte, daß er in seinem letzten langen Briefe Alles gesagt habe, was dort gesagt werden konnte. Am Morgen des vierten Tages ging er wieder zur Bank. Del Ferice war da und begrüßte ihn herzlich, wo-

293 bei er seine Ausdrücke beständig mit Entschuldigungen wegen seiner Abwesenheit durchflocht. „Sie werden mir gew.iß vergeben," sagte er, „obgleich ich Sie in eine sehr große Unannehmlichkeit gebracht habe. Der Fall war dringend, und ich konnte ihn nicht in den Händen anderer Leute lassen. Natürlich hätten Sie das Geschäft mit einem anderen der Direktoren abmachen können, ich glaube aber — ja, ich weiß — daß Sie es vorziehen, nur mich in diesen Angelegenheiten zu sehen. Wir haben jetzt so lange zusammen gearbeitet, daß wir uns beim halben Worte verstehen. Es thut mir wahr­ haftig sehr leid, daß ich Sie so lange habe warten lassen!" „Es hat Nichts zu sagen," antwortete Orsino kühl. „Bitte, sprechen wir nicht mehr darüber." „Nichts zu sagen — nein — vielleicht nicht. Das heißt, da Sie dadurch nicht verlieren konnten, so hatte es vom Geldstandpunkte aus Nichts zu sagen. Wenn ich aber eine Verpflichtung eingegangen bin, so halte ich sie gern. Im Geschäftsleben hängt so viel davon ab, daß kleine Ver­ pflichtungen gehalten' werden — und dieselben haben in den gesellschaftlichen Beziehungen vielleicht ganz dieselbe Wichtigkeit. Jedoch, da Sie so freundlich sind, wollen wir nicht mehr davon sprechen. Ich habe meine Entschuldi­ gungen vorgebracht, und Sie haben sie angenommen. Das mag die Sache beenden. Nun zum Geschäft, Don Orsino, — zum Geschäft!" Orsino kam es vor, als sei Del Ferices Wesen nicht ganz natürlich. Gewöhnlich war er ruhiger. Seine ziem­ lich wässerigen blauen Augen sahen gewöhnlich nicht so völlig wach aus, seine fetten weißen Hände waren im All­ gemeinen nicht so lebhaft in ihren Gebärden. Gleichzeitig schien er kräftiger und mit sich und dem Leben zufriedener,

294 als gewöhnlich. Orsino fragte sich erstaunt, was vorgefallen sein möge. Er hatte vielleicht während der drei Tage, die er in Neapel zugebracht hatte, einen sehr erfolgreichen Streich in seinen Angelegenheiten geführt. „So wollen wir nun einen Blick in Ihre Kontrakte werfen, Don Orsino," sagte er. „Oder sehen Sie viel­ mehr sich den Stand der Rechnungen an, wenn Sie dies zu thun wünschen; denn ich habe ihn schon geprüft." „Ich bin mit den Einzelheiten genügend bekannt," antwortete der junge Mann. „Ich brauche mir nicht Alles einzeln anzusehen. Wie Sie sehen, sind die Bücher ge­ richtlich geprüft worden. Das Einzige, was noch zu thun ist, besteht darin, daß ich das Werk Ihnen aushändige, da es dem Kontrakte gemäß ausgeführt ist. Sie erinnern sich ohne Zweifel an diesen mündlichen Theil des Kontrakts. Sie empfangen die Gebäude, wie sie jetzt stehen, und unsere Kreditkasse, wenn eine vorhanden ist, als völlige Bezahlung aller Verpflichtungen Andrea Continis und Compagnie gegen die Bank — fällige Wechselaccepte, Debetbilanz, und Hypo­ theken auf Grundstücken und Häusern — und wir sind wieder quitt, indem meine Firma aller Verpflichtung ledig ist." Del Ferices Gesichtsausdruck änderte sich ein wenig und wurde ernster. „Ohne Zweifel," antwortete er, „gab es ein still­ schweigendes Einverständniß in diesem Sinne. Ja — ja — ich erinnere mich. Thatsächlich war es nicht völlig still­ schweigend. Ein Wort ist darüber gesagt worden, und ein Wort ist so gut, wie ein Kontrakt. Sehr gut, Don Orsino — sehr gut. Da Sie es wünschen, wollen wir uns wieder als quitt bezeichnen. Diese Art Geschäft ist für die Bank nicht sehr Vortheilhaft — nicht sehr Vortheilhaft — aber es ist kein wirklicher Verlust."

295 „Für uns ist es nicht Vortheilhast," bemerkte Orsino. „Wenn Sie Nichts mehr davon wünschen, so wünschen auch wir Nichts mehr davon." „Wirklich?" Del Ferice blickte ihn ziemlich neugierig an, als wünsche er, Orsino möchte noch mehr sagen. Dieser be­ gegnete seinem forschenden Blicke mit Festigkeit, in der Erwartung, von der Beschaffenheit des nächsten Kontraktes, der ihm aufgezwungen werden sollte, in Kenntniß gesetzt zu werden. „So ziehen Sie es wirklich vor, diese Operationen — wenn ich sie so nennen darf — nicht weiter sortzusetzen," sagte Del Ferice nachdenklich. „Ich muß gestehen, ich finde es sonderbar, daß Sie das thun. Ich erinnere mich, daß Sie den lebhaften Wunsch hegten, an Geschästsunternehmungen theilzunehmen, ein Mitwirkender in den fesselnden Bethätigungen der Gegenwart, mit einem Worte: eine finanzielle Persönlichkeit zu sein. Ihr Wunsch ist Ihnen erfüllt worden, Don Orsino, Ihre Firma spielt in Rom eine wichtige Rolle. Erinnern Sie sich an unsere erste Zusammenkunft auf den Stufen des Monte Citorio? Sie fragten mich, ob ich Ihnen behülflich sein könnte und wollte, um in das Geschäft einzutreten. Ich gab das Versprechen, daß ich es thun wollte, und ich habe mein Wort gehalten. Die in diesen Papieren hier namhaft gemachten Summen beweisen, daß ich Alles gethan habe, was ich versprach. Sie sagten mir, daß Sie fünfzehn tausend Franken zur Verfügung hätten. Von diesem kleinen Anfänge aus habe ich Sie gelehrt, mit Millionen umzuspringen. Aber trotz­ dem scheinen Sie für das Geschäft wenig Neigung zu haben, Don Orsino. Sie scheinen thatsächlich keine Nei­ gung dafür zu haben, obgleich ich gestehen muß, daß Sie

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ein sehr beachtenswertes Talent besitzen.

Es ist höchst

sonderbar."

„Wirklich?" fragte Orsino mit einem Anfluge von Verachtung. „Vielleicht erinnern Sie sich daran, daß mein Geschäft trotz dessen, was Sie mein Talent nennen, und trotz dessen, was ich als harte Arbeit kennen gelernt habe, nicht vortheilhaft gewesen ist."

Del Ferice lächelte sanft. „Das ist etwas ganz Anderes," antwortete er. „Wenn Sie mich gefragt hätten, ob Sie in dieser Zeit ein Ver­ mögen zu Stande bringen könnten, so würde ich Ihnen gesagt haben, daß das ohne enormes Grundvermögen völlig unmöglich sei. Völlig unmöglich. Lassen Sie sich das ge­ fälligst gesagt sein. Negativ aber haben Sie Nutzen ge­ habt, weil Andere falliert haben, — Hunderte von Firmen und Unternehmern — während Sie nur die lumpigen fünf­ zehn Tausend, mit denen Sie anfingen, verloren, und da­ für große Kenntniß und Erfahrung erworben haben. Im Ganzen also haben Sie gewonnen. Wenn man eine Rech­ nung ausrechnet, so nimmt man nur das erbärmliche Debet und Credit und vergleicht sie; — wenn man aber den Werth einer Firma abschätzt, so sollte man ihren Ruf be­ trachten und die Kundschaft, die sie sich geschaffen hat. Der Name Andrea Contini und Compagnie hat einen mächtigen Klang in Rom. Das ist das Ergebniß Ihrer Arbeit, und es ist kein Verlust." Orsino sagte gar Nichts, sondern lehnte sich in seinem Stuhle zurück und starrte düster die Wand an. Er war gespannt darauf, wann Del Ferice zu dem eigentlichen Hauptpunkte kommen und ansangen würde, von dem neuen Kontrakte zu sprechen.

297 „Sie scheinen nicht mit mir übereinzustimmen?" be­ merkte Ugo in beleidigtem Tone. „Nicht ganz, muß ich gestehen," erwiderte der junge Mann mit verächtlichem Lachen. „Nun, nun — es kommt Nichts daraus an — es hat gar keine Wichtigkeit — es zieht durchaus keine Konse­ quenzen nach sich," sagte Del Ferice, der geneigt zu sein schien, sich zu wiederholen und seine Sätze zu dehnen, als wünsche er, Zeit zu gewinnen. „Nur Dies, Don Orsino. Ich möchte Sie daran erinnern, daß Sie gerade erfolgreich ein Stück Arbeit ausgeführt haben, welches bei der gegen­ wärtigen gedrückten Lage keine andere Firma in Rom ohne Fehlschlag hätte zu Ende führen können. Mir will es scheinen, daß Sie allen Grund haben, sich Glück zu wün­ schen. Natürlich war es mir unmöglich, auf den Gedanken zu kommen, daß Sie sich eigentlich um einen großen Nutzen — um baares Geld gekümmert haben-------- " „Das thue ich nicht," unterbrach ihn Orsino mit mehr Hitze, als er bis jetzt gezeigt hatte. „In diesem Falle aber sollten Sie doch mehr als be­ friedigt sein," wendete Ugo sanft ein. Orsino wurde schließlich ungeduldig und redete frei von der Leber weg. „Ich kann nicht mit einer völlig abhängigen Stellung zufrieden sein, der ich auf keinem anderen Wege, als durch Bankerott, entrinnen kann. Sie wissen, daß ich völlig in Ihrer Gewalt bin. Sie wissen ganz genau, daß Sie jetzt, während Sie mit mir plaudern, darüber nachdenken, wie Sie Ihre gewöhnlichen Bedingungen machen sollen, ehe wir uns, wie Sie es ausdrücken, für quitt erklären. Sie beabsichtigen, mir wieder ein Stück Arbeit aufzuhalsen, das wahrscheinlich noch größer sein wird, als die früheren, und

298 das ich unter denselben Bedingungen, wie früher, werde übernehmen müssen, weil es in Ihrer Macht steht, mich sofort zu ruinieren, wenn ich es nicht annehme. Und dieser Zustand der Dinge kann Jahre lang so weiter gehen. Das ist die beneidenswerthe Stellung von Andrea Contini und Compagnie." Del Ferice nahm eine Miene voll beleidigter Würde an. „Wenn Sie irgend Etwas der Art denken, so be­ urtheilen Sie mich völlig falsch," sagte er. „Ich kann nicht einsehen, warum ich anders urtheilen sollte," gab Orsino zurück. „Es ist genau das, was bei der letzten Gelegenheit stattfand, und was auch jetzt wieder stattfinden wird---------" „Ich glaube nicht," sagte Del Ferice sehr ruhig, und ihn fest in's Auge fassend. Orsino war etwas beunruhigt durch diese Worte, sein Gesicht aber verrieth Nichts. Es war ihm klar, daß Ugo etwas Neues vorzuschlagen habe, und es war nicht leicht, die Beschaffenheit des in Aussicht stehenden Vorschlags zu errathen. „Wollen Sie sich freundlichst erklären?" fragte er. „Mein lieber Don Orsino, da ist Nichts zu erklären," erwiderte Del Ferice, der wieder sehr sanft wurde. „Ich verstehe nicht." „Wirklich nicht? Es ist sehr einfach. Sie haben die Gebäude beendigt. Die Bank wird sie übernehmen und die Rechnung als abgeschlossen ansehen. Sie haben selber die Lage in den genauesten Ausdrücken festgestellt. Ich sehe nicht ein, warum Sie annehmen sollten, daß die Bank Ihnen irgend Etwas aufzulegen wünsche, was Sie nicht geneigt sind, anzunehmen. Ich sehe wahrhaftig nicht ein, warum Sie irgend Etwas der Art denken sollten."

299 In dem tödtlichen Schweigen, welches folgte, konnte Orsino sein eigenes Herz laut pochen hören. Er fragte sich erstaunt, ob er richtig gehört habe. Er wunderte sich, ob Das nicht irgend ein neuer Kunstgriff auf Del Ferices Seite sei, durch den er schließlich noch vollständiger unter die Herrschaft des Banquiers gerathen müsse. Ohne Zweifel hatte Ugo die Absicht, das, was er soeben gesagt hatte, durch Hinzufügung einer Klausel zu modifizieren. Orsino wartete auf Das, was folgen sollte. „Soll ich annehmen, daß Dies Ihren Wünschen nicht zusagt?" fragte Ugo sofort darauf. „Im Gegentheil, es würde mir vollständig zusagen," antwortete Orsino, tnbeflt er seine Stimme mit einiger Schwierigkeit zwang, ruhig zu bleiben. „In diesem Falle braucht Nichts weiter gesagt zu werden," bemerkte Del Ferice. „Die Bank wird Ihnen eine formale Quittung ausstellen — ich glaube wahrhaftig, der Notar ist in diesem Augenblicke hier- Es freut mich sehr, daß ich Ihren Ansichten, Don Orsino, entgegenkom­ men kann. Wirklich, es freut mich sehr. Es ist stets er­ freulich, zu finden, daß nach einer langen und einiger­ maßen verwickelten Geschäftsverbindung freundschaftliche Be­ ziehungen aufrecht erhalten worden sind. Die Bank ist es Ihnen sicherlich schuldig-------- " „Ich bin völlig Willens, dies der Bank schuldig zu sein," antwortete Orsino mit bereitwilligem Lächeln. Er war fast außer sich vor Freude. „Sie sind sehr gütig, versichere ich Ihnen," sagte Del Ferice mit großer Höflichkeit. Er zog an einer Glocke und sein Geheimsekretär erschien. „Streichen Sie diese Wechsel durch," sagte er, indem er dem Manne ein kleines Bündel Rechnungen übergab. „Geben Sie dem Notar Anweisung,

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einen Kaufvertrag aufzusetzen, welcher aü' dieses Besitzthum, wie es schon früher geschehen ist, überträgt-------- " er zögerte. „Ich will ihn in zehn Minuten selber sprechen," fügte er hinzu. „Es wird einfacher sein. Die Rechnung des Andrea Contini ist ausgeglichen und abgeschlossen. Stellen Sie eine vorläufige Empfangsbescheinigung für alle Ansprüche, welcher Art sie auch sein mögen, aus, und bringen Sie sie mir her." Der Buchhalter sah einen Augenblick starr vor sich hin, als glaubte er, Del Ferice sei wahnsinnig geworden. Dann ging er hinaus. „Es thut mir leid, daß ich Sie verliere, Don Orsino," sagte Del Ferice, indem er sein'dickes silbernes Bleistift­ futteral nachdenklich auf dem Tische hin und her rollte. „Alle gesetzlich erforderlichen Papiere werden morgen Nach­ mittag bereit liegen." „Bitte, drücken Sie den Direktoren meinen besten Dank dafür aus, daß sie das Geschäft so rasch erledigen," antwortete Orsino. „Ich glaube doch schließlich, daß ich kein großes Talent für Geschäftsangelegenheiten habe." „Im Gegentheil, im Gegentheil," protestierte Ugo. „Ich habe gegen diese Behauptung sehr viel einzuwenden." Und er pries Orsinos Gaben fast ohne sich Zeit zum Athemholeu zu gönnen, bis der Buchhalter mit der vor­ läufigen Quittung zurückkam. Del Ferice unterzeichnete sie und händigte sie Orsino lächelnd ein. „Dies war unnöthig," sagte der junge Mann. „Ich hätte bis morgen warten können." „Eine Gewissenssache, lieber Don Orsino — und Nichts weiter."

301 Fünfzehntes Kapitel.

Endlich war Orsino frei. Die ganze Sache war ihm unbegreiflich und fast geheimnißvoll, was ihn veranlaßte, nachdem er schließlich seine gesetzmäßige Freilassung erhal­ ten hatte, seine Zeit damit hinzubringen, daß er die Be­ weggründe zu Del Ferices Benehmen zu entdecken suchte. Die einfachste Erklärung schien die zu sein, daß Ugo von dem letzten Kontrakte nicht so viel Nutzen eingeheimst habe, als er erwartet hatte, obgleich derselbe groß genug gewesen war, um ihn zu rechtfertigen, wenn er seine unbefugte Ge­ schäftsverbindung mit Contini und Compagnie aufrecht er­ hielt; und daß er demnach einen neuen und unvortheilhaften Wechsel im Geschäfte befürchtet habe, der alle wei­ teren Spekulationen dieser Art gefährlich machte. Eine Zeit lang glaubte Orsino, daß dies der Fall gewesen sei; die Ereignisse aber bewiesen, daß er sich geirrt hatte. Er löste seine Partnerschaft mit Contini auf, aber Andrea Contini und Compagnie fuhren fort, weiter zu existieren. Der neue Geschäftsgenosse war keine geringere Persönlich­ keit, als Del Ferice selber, der in der Firma beständig durch den vertrauten Buchhalter vertreten wurde, der in dieser Erzählung bereits mehr als einmal erwähnt worden ist, und der ein Freund Continis war. Was für Bedin­ gungen Contini für sich selbst ausmachte, erfuhr Orsino nie; es ist aber sicher, daß der Baumeister von jener Zeit an gut vorwärts kam und noch immer blüht. Im Spätfrühling jenes Jahres 1890 wurde die römische Gesellschaft durch die Nachricht von einer höchst unerwar­ teten Heirath gewaltig überrascht. Die Verlobung war sorgfältig geheim gehalten worden, das Aufgebot war in Palermo öffentlich angeschlagen worden, dort hatten auch

302 die bürgerlichen und kirchlichen Feierlichkeiten stattgefunden, und das glückliche Paar hatte schon Paris erreicht, ehe Eines von ihnen daran dachte, seine Freunde in Kenntniß zu setzen, und ehe irgend eine Notiz über das Ereigniß in den Blättern erschien. Selbst dann noch fühlte sich die Gesellschaft durch den lakonischen Styl gekränkt, indem die Nachricht mitgetheilt wurde. In der That ließ die Angabe an Einfachheit und Ge­ drungenheit des Styls Nichts zu wünschen übrig. Graf Del Ferice hatte Maria Consuelo von Aranjuez von Aragona geheirathet. Nur zwei Personen empfingen die Mittheilung einige Tage früher, als fie allgemein bekannt gemacht wurde. Einer war Orsino und der Andere war Spicca. Die Briefe waren charakteristisch und mögen der Wiedergabe werth sein. „Mein Vater," — schrieb Maria Consuelo, „ich bin mit Graf Del Ferice verheirathet, mit dem Du, wie ich denke, bekannt bist. Es liegt kein Anlaß vor, weßhalb ich mich irgendwie auf eine Erörterung der Gründe, die mich dazu gebracht haben, diesen Schritt zu thun, einlassen sollte. Es giebt deren genug, die Jedermann deutlich sehen kann. Meines Gemahls gegenwärtige Stellung und große Wohl­ habenheit machten ihn, wie man so sagt, zu einer guten Partie, und mein Vermögen stellt mich über den Verdacht, als hätte ich ihn um seines Geldes willen geheirathet. Wenn seine Herkunft ursprünglich nicht zu den höchsten ge­ hört hat, so war sie doch wenigstens so gut, wie meine, und die Gesellschaft wird sagen, daß die Ehe in allen ihren Umständen eine recht paffende ist. Sie können sich denken, daß ich nicht getraut werden konnte, ohne meinen Gemahl und die städtischen Behörden von meiner Abstammung in

303 Kenntniß zu setzen, indem ich ihnen Abschriften der in Nizza befindlichen Urkunden vorlegte. Gras Del Ferice war so freundlich, eine kleine Eigenthümlichkeit in dem Verhältnisse zwischen den Daten meiner Geburt und Ihrer Verheirathung zu übersetzen. Wir wollen daher nicht mehr über den Gegenstand sprechen. Der Zweck dieses Briefes ist, Sie wissen zu lassen, daß diese Thatsachen, wie es nicht zu umgehen war, mehreren Personen mitgetheilt worden sind. Ich erwarte von Ihnen keinen Glückwunsch. Jedoch wünsche ich mir selber von ganzem Herz Glück. Inner­ halb zweier Jahre habe ich mich von meiner würdigen Frau Mutter befreit, ich habe mich außerhalb Ihrer Macht, mir zu schaden, gestellt, und bin dem entgangen, einen Mann, den ich liebte, dadurch zu Grunde zu richten, daß ich ihn heirathete. Ich habe die Grundlagen zum Frieden, wenn auch nicht zum Glücke, gelegt. „Die Prinzessin ist sehr leidend, hofft aber, die Nor­ mandie zu erreichen, ehe der Sommer beginnt. Mein Ge­ mahl wird gezwungen sein, oft in Rom zu weilen, wird aber, da ich die Prinzessin jetzt nicht verlassen kann, von Zeit zu Zeit zu mir kommen. Jedoch versucht sie, unter ihren Bekannten eine andere dienstthuende Dame auszu­ wählen — und um so eher, als sie mit meiner Verhei­ rathung unzufrieden ist. Ist dies für Sie eine Be­ friedigung? Den Winter erwarte ich, in Rom zuzu­ bringen. „Maria Consuelo Del Ferice." Dies war der Brief, durch welchen Maria Consuelo dem Vater, den sie so aufrichtig haßte, ihre Verheirathung anzeigte. Bezüglich der Grausamkeit der Sprache und des Ausdrucks ließ er sich nicht mit dem vergleichen, den sie ihm nach dem Scheiden von Orsino geschrieben hatte. Hätte

304 fie aber gewußt, welchen Eindruck die Nachricht, die sie jetzt übermittelte, auf den alten Mann machen würde, der sie entgegennehmen sollte, so hätte ihr Herz sich doch viel­ leicht ein wenig ihm gegenüber besänftigt, trotz alles Dessen, was sie erlitten hatte. Ganz anders lauteten die Zeilen, die Orsino zur selben Zeit von ihr empfing. „Mein theurer Freund, — Wenn Sie diesen Brief lesen, den ich am Vorabende meiner Verheirathung schreibe, den ich aber erst nach Ablauf einiger Tage abschicken werde, so müssen Sie sich mich als Frau des Ugo Del Ferice vor­ stellen. Heute Abend bin ich noch Maria Consuelo. Ich habe Ihnen Etwas zu sagen, und Sie müssen es geduldig lesen, denn ich werde es nie wieder sagen — und schließ­ lich wird es auch nicht viel sein. Ist es recht von mir, es zu sagen? Ich weiß es nicht. Bis morgen habe ich noch Zeit, die Heirath abzulehnen. Daher bin ich noch immer ein selbständiges Wesen und berechtigt, selbständig zu denken. Nach dem morgigen Tage wird das an­ ders sein. „Ich wünschte, Theurer, ich könnte Ihnen die ganze Wahrheit sagen. Vielleicht würden Sie sich nicht schämen, die Tochter der Lucrezia Ferris geliebt zu haben. Ich kann Ihnen aber nicht Alles sagen. Es giebt Gründe, weßhalb Sie es lieber nicht wissen möchten. Folgendes aber will ich Ihnen mittheilen, denn einmal muß ich es sagen. Ich liebe Sie sehr innig. Ich habe Sie schon längst geliebt; ich habe Sie geliebt, als ich Sie in Rom ließ; ich habe Sie immer seitdem geliebt, und ich fürchte, daß ich Sie lieben werde, bis ich sterbe. „Es ist nicht närrisch von mir, die Worte niederzu­ schreiben, obgleich es vielleicht unrecht ist. Wenn ich Sie liebe, so geschieht es, weil ich Sie kenne. Wir werden uns

305 binnen kurzem sehen, und uns dann möglicherweise hun­ dertmal sehen, und öfter, denn ich soll in Rom leben. Ich weiß, daß Sie völlig so sein werden, wie Sie sein sollen, sonst würde ich nicht in dem Augenblicke, wo ich im Be­ griffe bin, eine unübersteigliche Schranke zwischen uns durch meinen eigenen freien Willen zu errichten, so sprechen, wie ich nie vorher gesprochen habe. Wenn Sie mich je geliebt haben — und Sie haben es gethan — so werden Sie die Schranke in Thaten und Worten und sogar in Ge­ danken achten. Sie werden sich nur darau erinnern, daß ich Sie am Tage vor meiner Verheirathung von ganzem Herzen geliebt habe. Sie werden sogar vergessen, daran zu denken, daß ich Sie vielleicht noch morgen liebe und am Tage danach noch zärtlich an Sie denke. „Jetzt sind Sie frei, mein Lieber, und können Ihr wirkliches Leben anfangen. Wieso ich das weiß? Del Ferice hat mir gesagt, daß er Sie losgelassen hat — denn wir sprechen mitunter von Ihnen. Er hat mir sogar eine Ab­ schrift von der gesetzmäßig vollzogenen Freilassungs-Urkunde gezeigt, die er zufällig unter den Papieren fand, die er mitgebracht hatte. Vielleicht ein Zufall. Oder vielleicht weiß er, daß ich Sie geliebt habe. Ich sorge mich nicht darum — ich hatte damals das Recht dazu. „So sind Sie also ganz frei. Es ist für mich ein lieber Gedanke, daß Sie ungeschädigt, jung, mit unbefleck­ tem Namen und reinen Händen aus allen ihren Sorgen herausgekommen sind. Es freut mich, daß Sie den Brief beantwortet haben, den ich aus Aegypten an Sie schrieb, und daß Sie mir Alles mitgetheilt und auch nachher so oft geschrieben haben. Ich konnte Nichts weiter thun, als Ihnen mein Mitgefühl spenden — und das habe ich ganz und bis zum Aeußersten gespendet. Sie werden es Crnwford, Don Orsino.

II.

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306 nicht mehr nöthig haben. Sie sind jetzt, Gott sei Dank, frei! „Wenn Sie an mich denken, so wünschen Sie mir Seelenfrieden, Theurer — ich verlange Nichts, das dem Glücke näher käme, als dies. Ihnen aber wünsche ich viele Dinge, von denen schon das geringste Sie glücklich machen sollte. Am allermeisten wünsche ich, daß Sie einst gut und wahr lieben und die Wirklichkeit dessen gewinnen mögen, wovon Sie früher einmal den Schatten in Händen zu halten glaubten. Kann ich mehr sagen, als dies? Das kann kein liebendes Weib. „Und nun lebe wohl — lebe wohl, Du Liebe meines ganzen Lebens, lebe wohl, theurer, theurer Orsino — ich glaube, dies ist das härteste Lebewohl von allen — wo wir uns so bald wieder treffen sollen. Ich kann nicht mehr schreiben. Noch einmal, das letzte — das allerletzte Mal, für immer und immer — ich liebe Dich. „Maria Consuelo." Eine seltsame Empfindung kam über Orsino, als er diesen Brief las. Anfänglich war er nicht im Stande, weit über die Thatsache hinauszudenken, daß Maria Consuelo wirklich mit Del Ferice verheirathet sei — eine Partie, die von allen nur denkbaren die unerwartetste war. Er fühlte aber, daß hinter den Thatsachen mehr steckte, als er greifen konnte, beinahe mehr, als er zu ahnen wagte. Ein geheimnißvoller Schauer erfüllte feinen Geist, als er die Zeilen las und wieder las. Ein Zweifel an der Aufrich­ tigkeit dessen, was sie sagte, war unmöglich. Viel mehr zweifelte er an dem Weiterleben seiner eigenen Liebe. Sie konnte absolut keinen Grund haben, so zu schreiben, wie sie «s that, am Vorabende ihrer Verheirathung, keinen an­ deren Grund, als das unwiderstehliche Verlangen, ihr

307 ganzes Herz nur ein einziges Mal und zum allerletzten Male auszuschütten. Wieder und immer wieder las er die Stellen durch, die ihn als sonderbar stutzig machten. Dann flammte die Wahrheit vor ihm auf. Maria Consuelo hatte sich verkauft, um ihn aus seinen Schwierigkeiten zu be­ freien, um ihn vor der furchtbaren Wahl zu retten, ent­ weder sein Leben als Del Ferices Sklave zu vergeuden, oder seine Familie zu Grunde zu richten. Mit einem halberstickten Ausrufe, halb Fluch, halb Stöhnen des Schmerzes, warf sich Orsino auf den Divan und vergrub sein Gesicht in den Händen. Es ist freund­ licher, ihn dort eine Zeit lang allein zu lassen. Der arme Spicca brach unter diesem letzten Schlage zusammen. Vergebens holte der alte Santi die Herzstär­ kung aus dem Wandschranke in der Ecke, und that sein Bestes, um seinen Herrn zu seinem natürlichen Wesen zu­ rückzubringen. Vergebens raffte sich Spicca auf, zwang sich, zu essen, ging aus, ging eine Stunde spazieren, die Füße hinter sich herschleppend, und machte den Versuch, einige Worte mit seinen Freunden im Klub auszutauschen. Er schien seine Todeswunde empfangen zu haben. Sein Haupt sank immer tiefer aus die Brust, seine lange, abge­ magerte Figur beugte sich immer mehr und mehr zusam­ men, die dünnen Hände wurden täglich farbloser, und das todtenblaffe Gesicht nahm täglich eine tödtlichere Bläffe an. Die Tage gingen dahin und die Wochen, und es war An­ fang Juni. Er machte keinen Versuch mehr, auszugehen. Santi bemühte sich, ihn dahin zu bringen, auf der Via Appia in einer Droschke etwas Luft zu schöpfen. Es würde gut angelegtes Geld sein, sagte er, sich vertheidigend, daß er zu einer solchen Verschwendung rieth. Spicca schüttelte den Kopf und blieb in seinem Stuhle am offenen Fenster 20*

308 fitzen. Dann, an einem gewissen Morgen, fühlte er sich noch schwächer und hatte nicht die Kraft, aus seinem Bette aufzustehen. An jenem selben Morgen kam ein Telegramm. Er sah es sich an, wie es Santi ihm hinhielt, als verstünde er kaum, was er thun sollte. Dann öffnete er es. Seine Finger zitterten auch dann nicht einmal. Die eiserne Kraft des alten Schwertkämpen war noch ungebrochen. „Ventnor — Rom. Graf Spicca. Die Prinzessin ist todt. Endlich weiß ich die Wahrheit. Gott vergebe mir und segne Sie. Ich komme sofort zu Ihnen. — Maria Consuelo." Spicca las die wenigen Worte, die auf den weißen Streifen gedruckt waren, der auf das gelbe Papier geklebt war. Dann fielen seine Hände am Körper hinab, und er schloß die Augen. Santi glaubte, es sei das Ende, und sank in Thränen ausbrechend am Bette nieder. Eine halbe Stunde verstrich; dann erhob Spicca den Kopf und machte eine Geberde mit der Hand. „Sei kein Narr, Santi, ich bin noch nicht todt," sagte er mit freundlicher Ungeduld. „Steh auf und schicke nach Don Orsino Saracinesca, falls er noch in Rom ist." Santi verließ das Zimmer, indem er sich die Augen trocknete und unzusammenhängende Ausrufe der Ueberraschung, gemischt mit einem sonderbaren Kreuzfeuer von Lobpreisungen und Gebeten ausstieß, die an die Heiligen gerichtet waren, und von Verwünschungen gegen sich selber, wegen seiner eigenen Dummheit. Noch vor Mittag erschien Orsino. Er war hager und blaß und San Giacinto ähnlicher als je. Es lag eine entschlossene Härte in seinem Gesichte, die nie wieder dauernd verschwinden sollte. Ueber Spiccas Aussehen aber wurde

309 er von Grauen erfaßt. Er hatte keine Vorstellung, daß ein schon so leichenhaft aussehender Mann sich noch so verändern konnte, wie sich der alte Mann verändert hatte. Spicca schien fast nur noch ein grauer Schatten, der ledig­ lich aus dem weißen Bette ruhte. Er legte das Telegramm Orsino in die Hand. Der junge Mann las es zwei Mal durch und sein Gesicht drückte sein Erstaunen aus. Spicca lächelte schwach, während er ihn so beobachtete. „Was bedeutet das?" fragte Orsino. „Von welcher Wahrheit spricht sie? Sie haßte Sie, und jetzt auf einmal liebt sie Sie. Das verstehe ich nicht." „Wie könnten Sie es auch?" Der Greis sprach mit klarer, dünner Stimme, die seiner eigenen sehr unähnlich klang. „Sie können es nicht verstehen. Ehe ich aber sterbe, will ich es Ihnen mittheilen." „Reden Sie nicht von Sterben"-------„Nein. Es ist nicht nöthig. Ich denke genug daran, und Sie branchen überhaupt nicht daran zu denken. Ich habe Ihnen nicht viel zu erzählen, aber eine kleine Wahr­ heit pflegt manchmal viele Falschheiten zu zerstören. Sie erinnern sich an die Geschichte von der Lucrezia Ferris? Maria Consuelo hat sie Ihnen geschrieben." „Ob ich mich daran erinnern! Könnte ich sie je ver­ gessen?" „Sie können sie ebenso gut vergessen. Es ist kein wahres Wort daran. Lucrezia Ferris ist nicht ihre Mutter." „Nicht ihre Mutter!" „Nein. Ich wundere mich nur, wie Sie je haben glauben können, daß eine Piemonteser Amme die Mutter der Maria Consuelo habe sein können; auch bin ich nicht Maria Consuelos Vater. Das wird Sie vielleicht nicht so sehr überraschen. Sie ähnelt mir nicht, Gott sei Dank."

310 „Was ist sie denn? Wer ist sie?" fragte Orsino un­ geduldig. „Um Ihnen das mitzutheilen, muß ich Ihnen die ganze Geschichte erzählen. Als ich jung war — sehr lange, ehe Sie geboren wurden, machte ich große Reisen, und wurde gut ausgenommen. Ich war reich und aus guter Familie. An einem gewissen Fürstenhofe in Europa — ich war eine Zeit lang in der Diplomatie thätig — liebte ich eine Dame, die ich nicht hätte heirathen können, selbst wenn sie frei gewesen wäre. Ihre Stellung war hoch über der meinigen. Auch war sie beträchtlich älter, als ich, und widmete mir sehr wenig Aufmerksamkeit, wie ich gestehen muß. Ich aber liebte sie. Sie ist jetzt gerade gestorben. Sie war jene Prinzessin, die in diesem Telegramme er­ wähnt ist. Verstehen Sie? Hören Sie mich? Meine Stimme ist schwach." „Vollkommen. Bitte, sprechen Sie weiter." „Maria Consuelo ist ihre Enkelin — die Enkelin des einzigen Weibes, das ich je geliebt habe. Verstehen Sie auch das. Es trug sich auf folgende Weise zu. Meine Prinzessin hatte nur eine einzige Tochter, die Prinzessin Marie, ein reines Kind, als ich sie zum ersten Male sah — erst vierzehn Jahre alt. Wir waren alle in Nizza, in einem Winter vor vielen Jahren — etwa vier Jahre, nach­ dem ich die Prinzessin zum ersten Male getroffen hatte. Ich reiste hin, um sie zu sehen, und sie war stets gütig gegen mich, obgleich sie mich nicht liebte. Vielleicht auch bin ich vor der Zeit nützlich gewesen. Die Leute haben sich immer vor mir gefürchtet, weil ich den Degen führen konnte. Es ist viele Jahre her, und die Prinzessin Marie war achtzehn Jahre alt. Das arme Kind!"

311 Spicca hielt einen Augenblick inne und fuhr sich mit feiner durchscheinenden Hand über die Augen. „Ich glaube, ich verstehe," sagte Orsino. „Nein, das thun Sie nicht," antwortete Spicea mit unerwarteter Schärfe. „Sie werden es nicht eher ver­ stehen, als bis ich Ihnen Alles mitgetheilt habe. Die Prinzessin Marie wurde krank, oder behanptete wenigstens, krank zu werden, während wir in Nizza waren. Sie konnte die Wahrheit aber nicht lange verbergen — wenigstens nicht vor ihrer Mutter. Sie hatte bereits ein kleines piemontesisches Mädchen, das kaum älter war, als sie selber — eine gewisse Luerezia Ferris — in ihr Vertrauen ge­ zogen, und erlaubte keiner anderen Frau, ihr nahe zu kommen. Dann erzählte sie ihrer Mutter die Wahrheit. Sie liebte einen Mann ihres eigenen Ranges, und nicht viel älter, als sie — thatsächlich noch nicht mündig. Un­ glücklicherweise war eine Heirath, wie es bei solchen Lenten vorkommt, diplomatisch unmöglich. Er war nicht von ihrer Nationalität, nnd die Beziehungen zwischen den beiden Völ­ kern waren gespannte. Nichtsdestoweniger aber hatte sie ihn doch geheirathet, heimlich und, wie sich später heraus­ stellte, ohne alle gesetzlich vorgeschriebenen Formalitäten. Es ist fraglich, ob die Ehe selbst dann als gültig hätte nachgewiesen werden können; denn sie war katholisch und er nicht, und ein katholischer Priester hatte sie getraut, ohne die erforderliche Ermächtigung oder den unumgäng­ lichen Dispens eingeholt zu haben. Sie meinten es aber Beide ernst; Beide waren jung und thöricht. Der Gatte — • sein Name thut Nichts zur Sache — war zu der Zeit, wo wir in Nizza waren, sehr weit weg und konnte unmöglich zu ihr kommen. Sie war nahe daran, Mutter zu werden, und wandte sich in ihrer Noth mit

312 einem vollen Geständnisse der Wahrheit an ihre eigene Mutter." „Ich sehe," sagte Orsino. „Und Sie adoptierten------- " „Sie sehen noch Nichts. Die Prinzessin wandte sich um Rath an mich. Die Lage war von allen Gesichtspunkten aus betrachtet eine ungemein heikle. Die Ehe offen in diesem Augenblicke zu erklären, hätte außerordentliche Ver­ wickelungen hervorgerufen; denn die Länder, denen die beiden jungen Leute angehörten, standen am Rande eines Krieges, der nur durch das ungewöhnliche Genie eines einzigen Mannes verzögert wurde. Sie zu verheimlichen, schien ebenso gefährlich, vielleicht noch gefährlicher. Der Ruf der Prinzessin Marie stand auf dem Spiele — der Ruf eines jungen Mädchens, wie man doch von ihr vor­ aussetzte, vergessen Sie das nicht. Verschiedene Pläne boten sich dar. Ich kann nicht sagen, was gethan worden wäre, denn das Schicksal entschied die Angelegenheit — tragisch, wie es das Schicksal liebt. Der junge Gemahl wurde todt­ geschossen, während er an einer Schießübung theilnahm — wenigstens wurde es so festgestellt. Ich habe immer ge­ glaubt, daß er sich selber erschossen hat. Es war Alles sehr geheimnißvoü. Wir konnten die Nachricht nicht vor der Prinzessin Marie verbergen. In jener Nacht wurde Maria Consuelo geboren. Am nächsten Tage starb ihre Mutter. Der Stoß hatte sie getödtet. Das Geheimniß war jetzt der alten Prinzessin, mir, der Lucrezia Ferris, und dem französischen Doktor bekannt — einem Manne von großer Geschicklichkeit und Verschwiegenheit. Maria Eonsuelo war das namenlose Waisenkind, einer nicht an­ erkannten Ehe — einer Ehe, welche sicherlich nicht gesetz­ mäßig war, und welche die Kirche Bedenken tragen mußte, zu bestätigen. Wiederum sahen wir, daß die diplomatischen

313 und anderweitigen Verwickelungen, welche entstehen wür­ den, wenn die Heirath öffentlich bekannt gemacht worden wäre, ganz enorm sein würden. Der Prinz selber war noch nicht in Nizza und hatte keine Ahnung von der wahren Ursache des plötzlichen Todes seiner Tochter. Er sollte aber in achtundvierzig Stunden ankommen, und es war nothwendig, sich für irgend ein Verfahren zu entschei­ den. ' Wir konnten uns aus den Doktor und auf uns Beide — die Prinzessin und mich — verlassen. Lucrezia Ferris schien ein verständiges, ruhiges Mädchen zu sein, und sicherlich erwies sie sich lange Zeit als verschwiegen. Die Prinzessin war von Kummer betäubt und vor Angst außer sich. Erinnern Sie sich daran, daß ich sie liebte — das erklärt, was ich that. Ich brachte den Plan in Vorschlag, welcher ausgeführt wurde, und mit dem Sie bekannt sind. Ich nahm das Kind an mich, erklärte es für das meinige und heirathete Lucrezia. Die einzigen betreffs Maria Consuelos vorhandenen gesetzlichen Dokumente beweisen, daß sie meine Tochter ist. Der Priester, der die arme Prin­ zessin Marie getraut hatte, konnte nie wieder ausfindig gemacht werden. Vielleicht entsetzt über das, was er ge­ than hatte, verschwand er — wahrscheinlich als Mönch in einem österreichischen Kloster. Ich habe Jahre lang nach ihm gefahndet. Lucrezia Ferris war aus zwei Gründen verschwiegen. Sie erhielt eine große Summe Geldes und später einen reichlichen Lohn, und noch später wird es sichtbar, daß sie sich auf Maria Consuelos Kosten noch fernerhin bereichert hat. Habsucht war ihr Hauptfehler, und daran hielten wir sie. Zweitens jedoch wußte sie sehr wohl, und weiß es noch heute, daß ihr Niemand ihre Ge­ schichte glauben würde, wenn sie die Wahrheit sagte. Die Beweise sprechen sämtlich positiv und rechtskräftig für Maria

314 Consuelos untergeschobene Elternschaft, und es findet sich auch nicht die Spur eines Beweises zu Gunsten der Wahr­ heit. Jetzt kennen Sie die Geschichte. Ich bin froh, daß ich sie Ihnen noch habe erzählen können. Jetzt will ich ruhen, denn ich bin sehr müde. Falls ich morgen noch am Leben sein sollte, so kommen Sie her und besuchen Sie mich — leben Sie wohl, falls Sie mich nicht mehr an­ treffen sollten." Orsino drückte die welke Hand und ging schweigend hinaus, durch des sterbenden Mannes Worte und Blicke heftiger ergriffen, als er sich eingestehen mochte. Es war eine schmerzliche Geschichte gutgemeinter Irrthümer, dachte er, und erläuterte Vieles, was er nicht verstanden hatte. Wenn er es mit dem verknüpfte, was er außerdem wußte, so erhielt er die ganze Geschichte von Spiccas geheimniß­ vollem, gebrochenem Leben, zugleich mit derAufhellung einiger Punkte in seinem eigenen, die ihm bisher nie klar gewesen waren. Der alte cynische Spötter von einem Duellanten war schließlich ein Mann von Herz gewesen und hatte seine ganze Existenz geopfert, um ein Geheimniß für eine Frau zu bewahren, die er liebte, während sie sich nicht um ihn kümmerte. Das war Alles. Sie war todt und er lag im Sterben. Das Geheimniß war schon halb in der Vergan­ genheit begraben. Wenn es jetzt bekannt gemacht würde, würde Niemand es glauben. Am folgenden Tage kehrte Orsino zurück. Er hatte mehrmals um Auskunft geschickt und die Antwort bekom­ men, daß Spicca noch immer dahin schmachtete. Er sah ihn wieder; der Greis aber schien sehr schwach und sprach während der Stunde, die Orsino bei ihm zubrachte, nur einige Worte. Der Doktor hatte gesagt, er könne möglicherweise noch am Leben bleiben, jedoch sei die Hoffnung nur schwach!

315 Und wiederum am nächsten Tage ging Orsino den­ selben Weg. Er fuhr zurück, als er in das Zimmer ein­ trat. Ein alten Franziskaner, ein Minoritenbruder, saß neben dem Bette und sprach in leisen Tönen. Orsino that, als wollte er sich zurückziehen; aber Spicca gab ihm einen schwachen Wink zu bleiben, und der Mönch stand auf. „Adieu," flüsterte Spicca, indem er ihm mit seinen eingesunkenen Augen nachsah. Orsino ließ den Franziskaner hinaus. An der äußeren Thür wandte sich der Letztere mit einem seltsamen Blicke zu Orsino und legte ihm die Hand auf den Arm. „Wer sind Sie, mein Sohn?" fragte er. „Orsino Saracinesca." „Ein Freund von ihm?" „Ja." „Er hat schreckliche Dinge in seinem langen Leben ge­ than. Aber er hat auch edle Dinge gethan und hat viel, und stillschweigend, gelitten. Er hat die Ruhe verdient, und Gott wird ihm vergeben. Der Mönch beugte das Haupt und schritt hinaus. Orsino trat wieder in das Zimmer und nahm den leeren Stuhl neben dem Bette ein. Er berührte Spiccas Hand beinahe zärtlich, aber dieser zog sie mit einer gewissen An­ strengung zurück. Er hatte Mitgefühl nie leiden mögen und mochte es am wenigsten leiden, wenn ein Anderer es am meisten nöthig gehabt hätte. Eine geraume Zeit hin­ durch sprach Keiner von den Beiden. Die bleiche Hand lag friedlich auf dem Kissen, der lange schattenhafte Leib war in einen Schlafrock von dunklem Wollenftoffe gehüllt. „Glauben Sie, daß sie heute kommen wird?" fragte schließlich der Greis.

316 „Vielleicht kommt sie noch heute — ich hoffe es", ant­ wortete Orsino. Eine lange Pause folgte. „Auch ich hoffe es," flüsterte Spicca. „Ich habe nicht mehr viel Kraft übrig. Ich kann nicht mehr lange warten." Wieder trat Schweigen ein. Orsino wußte, daß hier­ bei Nichts zu sagen sei, Nichts wenigstens, was er hätte sagen können, um die letzten Stunden des einsamen Lebens aufzuheitern. Spicca aber schien zufrieden, daß er da saß. „Geben Sie mir jene Photographie," sagte er plötz­ lich, eine Viertelstunde später. Orsino sah sich um, konnte aber nicht sehen, was Spicca wünschte. „Die ihrige," sagte die schwache Stimme, „im nächsten Zimmer." Es war die Photographie in dem kleinen, ciselierten Rahmen; demselben Rahmen, der einst die Verachtung der Donna Tullia hervorgerufen hatte. Orsino brachte sie schnell von ihrem Platze auf dem Kaminsimse, und hielt sie seinem Freunde vor die Augen. Spicca starrte sie lange schweigend an. „Nehmen Sie sie weg," sagte er endlich. „Sie ist ihr nicht ähnlich." Orsino stellte sie beiseite und setzte sich wieder hin. Sofort wandte sich Spicca auf dem Kissen ein wenig herum und sah ihn an. „Erinnern Sie sich noch daran, daß ich einst ge­ sagt habe, ich wünschte, Sie möchten sie heirathen?" fragte er. „Jawohl."

317 Jetzt verstehen Sie es?

„Es war ganz wahr.

Ich

hätte es Ihnen damals nicht sagen können." Jetzt verstehe ich Alles."

„Jawohl.

„Es thut mir aber leid, daß ich es gesagt habe." „Weßhalb?" „Vielleicht hat es Sie beeinflußt und Ihre Lebens­ kraft geschädigt. Es thut mir leid. Sie müssen mir ver­ geben."

„Um des Himmels willen, quälen Sie sich nicht um sagte Orsino ernst. „Da ist Nichts

solche Kleinigkeiten,"

zu vergeben."

„Ich danke Ihnen." Orsino sah ihn an, friedlichen

Ausgang

in Grübeln versunken über den

dieses

seltsamen Lebens,

und

mit

Staunen sinnend, mit was für einer Art Herz und Seele dieser Mann gelebt haben mochte.

Mit dem Scharfblicke,

der bei sterbenden Personen manchmal vorkommt, verstand es Spicca, obgleich es lange dauerte, ehe er wieder sprach. Es lag ein schwacher Anklang an seine alte Manier in seinen Worten.

„Ich bin ein fürchterliches Beispiel, Orsino," sagte er,

mit einem geisterhaften Lächeln.

„Ahmen Sie mir nicht

Opfern Sie nicht um der Liebe eines Weibes willen

nach.

Ihr Leben.

Erproben und

schätzen Sie Opfer bei An­

deren." Das Lächeln starb wieder dahin. „Und doch bin ich froh, daß ich es gethan habe," fügte er einen Augenblick später hinzu. „Vielleicht war

Alles nur ein Irrthum — ich aber habe mein Bestes ge­ than." „Das

haben Sie in der That gethan,"

Orsino mit Würde.

antwortete

318 Er meinte wirklich, was er sagte, wenn er auch das Gefühl hatte, daß thatsächlich Alles, wie Spicca andeutete, ein Irrthum gewesen sei. Das junge Gesicht war sehr nachdenklich. Spicca wußte wenig davon, wie tief sein letzter Cynismus den Mann neben ihm verletzt hatte, für dessen Freiheit und Sicherheit die Frau, an die Spicca beständig dachte, so unendlich viel geopfert hatte. Er würde sterben, ohne das zu wissen. Die Thür öffnete sich leise, und der leichte Fußtritt einer Frau glitt über die Schwelle. Maria Consuelo kam schweigend und schnell mit ausgestreckten Händen herein, die des sterbenden Mannes Hände fast noch eher umklam­ mert hatten, als Orsino sich bewußt wurde, daß sie es selber war. Sie fiel neben dem Bette auf die Kniee nieder und preßte die kraftlosen kalten Finger an ihre Stirn. Spicca fuhr auf und erhob für einen Augenblick seinen Kopf von dem Kissen. Er fiel fast sofort wieder zurück. Ein Glanz höchsten Glückes leuchtete über den im Sterben verzerrten Gesichtszügen auf, dem ein Ausdruck des Schmerzes folgte. „Warum hast Du ihn geheirathet?" fragte er in so lauten Tönen, daß Orsino in die Höhe fuhr und Maria Consuelo mit thränenüberströmten Augen aufblickte. Sie antwortete nicht, sondern versuchte, ihn zu be­ schwichtigen, indem sie aufstand, seine Hand liebkoste, und die Kissen glatt strich. „Sage mir, weßhalb Du ihn geheirathet hast!" schrie er wieder. „Ich bin im Begriffe, zu sterben — ich muß es wissen!" Sie beugte sich sehr tief hinab und flüsterte ihm Etwas in's Ohr. Er schüttelte ungeduldig den Kopf.

319 Wieder flüsterte sie, diesmal deutlicher, und indem sie einen flehenden Blick auf Orsino warf, der aber zu. ver­ wirrt war, um sie zu verstehen. „Lauter!" keuchte der sterbende Mann, indem er rang, sich aufrecht hinzusetzen. „Lauter! Oh mein Gott! Ich werde sterben, ohne daß ich Dich höre — ohne daß ich weiß-------- " Es wäre unmenschlich gewesen, die scheidende Seele noch länger zu martern. Da brachte Maria Consuelo ihr letztes Opfer, Sie sprach in ruhigen, klaren Tönen. „Ich habe geheirathet, um den Mann zu retten, den ich liebte." Spiccas Gesichtsausdruck änderte sich. Volle zwanzig Sekunden lang blieben seine eingesunkenen Augen festge­ heftet und starrten in die ihrigen. Dann fing zum letzten Male das Licht an, in ihnen aufzuleuchten, scharf wie ein Blitz. „Gott sei Dir gnädig! Gott vergelte es Dir!" rief er aus. Der schattenhafte Körper erzitterte in seiner ganzen Länge, lag still, erzitterte dann wieder, sprang dann plötz­ lich mit einem Satze auf, und Spicca stand aufrecht auf dem Boden, und schloß Maria Consuelo in seine Arme. Ganz plötzlich kam Farbe in sein Gesicht, und in seinem Blicke wurde das Feuer immer Heller. „Oh, mein Liebling! Ich habe Dich so geliebt!" rief er. Er hob sie beinahe vom Boden empor, als er die Lippen leidenschaftlich auf ihre Stirn preßte. Seine langen dünnen Hände wurden plötzlich schlaff, und das Licht in seinen Augen brach, wie wenn ein Spiegel durch einen Schlag zertrümmert wird. Einen Augenblick lang, der ein

320 Menschenalter zu sein schien, stand er, schon todt, noch aufrecht, und fiel dann in seiner ganzen Länge mit weit ausgestreckten Armen quer über das Bett.

Man hörte ein kurzes, scharfes Schluchzen, und dann füllte ein Laut leidenschaftlichen Weinens das schweigende

Zimmer. Kräftig und zart legte Orsino seinen todten Freund auf das Lager, wie er ihn vor kaum zwei Minuten lebend hingelegt hatte.

Er kreuzte

die -Hände über der

Brust und schloß leise die starren Augen.

Er hätte Maria

Consuelo ihn nicht können sehen lassen, wie er hingefallen

war, als fie zunächst aufblickte.

Etwas später standen sie Seite an Seite und starrten

Wie

in langem Schweigen das ruhige, todte Gesicht an.

lange sie gestanden haben mochten, wußten sie nie; denn ihre Herzen waren sehr voll. Die Sonne ging unter, und

das Dämmerlicht des Abends füllte das Zimmer. „Hat er, ehe er starb, mit Ihnen — von mir ge­ sprochen?" fragte Maria Consuelo mit leiser Stimme.

„Jawohl. Er hat mir Alles mitgetheilt." Maria Consuelo trat vor, beugte sich über das Gesicht,

drückte einen Kuß auf die weiße Stirn, ihr das Zeichen des Kreuzes.

und machte über

Dann wandte sie sich um

und nahm Orsinos Hand in die ihrige. „Ich habe es nicht vermeiden können, daß Sie hör­ ten, was ich sagte, Orsino. Er lag im Sterben, sehen

Sie.

Jetzt wissen Sie Alles." Orsinos Finger preßten voll Verzweiflung die ihrigen.

Einen Augenblick lang kamen

konnte

er nicht sprechen.

Dann

die im Todeskampfe gestöhnten Worte mit großer

Anstrengung, rauh, aber aus dem Herzen klingend: „Und ich kann Ihnen Nichts geben!"

Er bedeckte das Gesicht mit den Händen und wandte sich weg.

321 „Schenken Sie mir Ihre Freundschaft, Theurer — Ihre Liebe habe ich nie besessen," sagte sie. Es dauerte lange, ehe sie wieder mit einander sprachen. Dies ist, was bis zur Gegenwart über das Leben des jungen Orsino Saracinesca bekannt geworden ist. Maria Consuelo, Gräfin Del Ferice, hatte Recht. Sie hatte nie seine Liebe so besessen, wie er die ihrige. Vielleicht wohnt die Macht der Liebe ihm nicht in gleichem Maße bei. Schließlich ist er San Giacinto ähnlicher, als irgend einem anderen Mitgliede der Familie; vielleicht ist er kalt und hart von Natur. Die Dinge aber, die ich beschrieben habe, haben einen Mann aus ihm gemacht in einem Lebensalter, wo viele Männer noch Knaben sind, und haben ihn gelehrt, was Viele überhaupt nie lernen, daß in der Welt mehr wahre Hingabe zu finden ist, als die meisten Leute zugeben wollen. Vielleicht macht er eines Tages von sich reden. Vielleicht auch fällt er eines Tages der großen Leidenschaft zum Opfer. Vielleicht auch liebt er nie und zeichnet sich auch nie stärker aus, als sein Vater es gethan hat. Das Eine kann eintreten oder das Andere, höchst wahrscheinlich aber nicht Beides. Die allergrößte Leidenschaft verträgt sich selten mit dem allergrößten Erfolge, außer bei außer­ ordentlich guten oder ebenso schlechten Charakteren. Und Orsino Saracinesca ist in keiner Richtung außerordentlich. Sein Charakter hat sich durch die ungewöhnlichen Umstände gebildet, in die er schon sehr jung gerieth, und nicht durch einen Vorgang, wie eine Selbstentwicklung, von der wir im Leben großer Männer hören. Aus einem etwas thö­ richten und erkünstelt cynischen Jüngling ist er zu einem entschieden harten und kühl besonnenen Manne geworden. Er läßt sich sehr viel in Gesellschaft sehen, spricht aber im Crawford, Don Orsino. II.

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Ganzen nur wenig. Wenn sich späterhin in seinem Leben etwas Berichtenswerthes zutragen sollte, so mag es eine andere Hand als die meine für zukünftige Leser nieder­ schreiben. Wenn Jemandem daran liegt, zu fragen, weßhalb ich es der Mühe für werth gehalten habe, seine Jugendjahre so eingehend zu schildern, so antworte ich, daß der Jüng­ ling der Uebergangsperiode mich anzieht und feffelt. Viel­ leicht stehe ich damit allein da. Orsino Saracinesca ist, glaube ich, ein schönes Musterstück seiner Gesellschaftsklasse in seinem Alter. Ich habe mein Bestes gethan, um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.