Zur Ästhetik der Provokation: Kritik und Literatur nach Hugo Ball [1. Aufl.] 9783839420775

In der Proklamation ästhetischer Provokation haben die modernen Ästhetiken der Avantgarde die potenzielle Realisierung d

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German Pages 364 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
ERSTER TEIL: ZUR ÄSTHETIK KRITISCHER KOLLISSION
1. Das sich selbst ›verzehrende‹ ästhetische Subjekt
2. Der Begriff ästhetischer Kritik
a) »Nullität« und Zergliederung des Kunstwerks
b) ›Spiegel-Effekt‹, ›Zerschneidung‹ des Kunstwerks und ›kritische Haltung‹
3. Innerlichkeit und Psychologie
a) »Innerer Klang« und »innere Notwendigkeit«
b) »Psychologietheater« und »therapeutische Ästhetik«
c) ›Neue‹ Kunst
ZWEITER TEIL: KONKRETISATION DER KRITIK
1. Ästhetische Spielerfahrung
a) ›Rhetorische‹ Avantgarde
b) Literarisches ›Spielzeug‹
2. Performativität und Sprache
a) Auftritt und ›Affekt‹
b) ›Anarchismus‹ der Sprache
c) ›Mystische Introspektion‹
3. Kritische ›Praxis‹
a) Die »Waffe« der Kritik
b) »Lebensumschwungkraft«
c) »Konversion[en]«
4. Der ›Ort‹ der Kritik
Dank
Literaturverzeichnis
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Zur Ästhetik der Provokation: Kritik und Literatur nach Hugo Ball [1. Aufl.]
 9783839420775

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Oliver Ruf Zur Ästhetik der Provokation

Lettre

Oliver Ruf (Prof. Dr. phil.) lehrt Textgestaltung an der Fakultät Digitale Medien der Hochschule Furtwangen University. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind u.a. Creative Writing/Poetik, Medien- und Kulturtheorie sowie Storytelling.

Oliver Ruf

Zur Ästhetik der Provokation Kritik und Literatur nach Hugo Ball

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Photokarte, die eine Aufnahme von Hugo Balls Auftritt im kubistischen Bischofskostüm am 23. Juni 1916 im Cabaret Voltaire zeigt. Hintergrund: Schwarzweißfotografie von Unbekannt, die Marcel Jancos Gemälde »Cabaret Voltaire« (1916) abbildet. Die Rechte an der Cover-Abbildung ließen sich nicht zweifelsfrei klären. Wir bitten gegebenenfalls um Mitteilung an den Verlag. Lektorat & Satz: Oliver Ruf Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2077-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung | 9

ERSTER TEIL : ZUR ÄSTHETIK KRITISCHER KOLLISSION 1. Das sich selbst ›verzehrende‹ ästhetische Subjekt | 39 2. Der Begriff ästhetischer Kritik | 65

a) »Nullität« und Zergliederung des Kunstwerks | 73 b) ›Spiegel-Effekt‹, ›Zerschneidung‹ des Kunstwerks und ›kritische Haltung‹ | 82 3. Innerlichkeit und Psychologie | 101

a) »Innerer Klang« und »innere Notwendigkeit« | 107 b) »Psychologietheater« und »therapeutische Ästhetik« | 128 c) ›Neue‹ Kunst | 144

ZWEITER TEIL : KONKRETISATION DER KRITIK 1. Ästhetische Spielerfahrung | 169

a) ›Rhetorische‹ Avantgarde | 172 b) Literarisches ›Spielzeug‹ | 182 2. Performativität und Sprache | 201

a) Auftritt und ›Affekt‹ | 207 b) ›Anarchismus‹ der Sprache | 221 c) ›Mystische Introspektion‹ | 234 3. Kritische ›Praxis‹ | 251

a) Die »Waffe« der Kritik | 258 b) »Lebensumschwungkraft« | 273 c) »Konversion[en]« | 283 4. Der ›Ort‹ der Kritik | 301

Dank | 317 Literaturverzeichnis | 319

»Wenn du klamm bist, ergreife das Phrasenpapier.« ALFRED KERR

»Keine Phrasen und Umschweife sollen mehr gelten.« HUGO BALL

Einleitung

»Große Kritik ist denkbar nur als integrales Moment geistiger Strömungen [...].« THEODOR W. ADORNO

Auf die Möglichkeit, dass Kritik und Literatur eine ästhetische1 Formation bilden können, die es gestattet, sich zu einem Gegenstand der Kunst wie einem literarischen Text in einer Weise zu verhalten, in der es um den Prozess geht, diesen von etwas anderem zu scheiden2 und wertend zu beurteilen,3 diese ›Dinge‹ mithin gesondert hinzustellen, hat Hugo Ball in seinem »bedeutenden KonzeptTagebuch«4 Die Flucht aus der Zeit reagiert. Ausgangspunkt seiner Idee bilden

1 Diese Begriffsverwendung ist kongruent mit Rancière, Das ästhetische Unbewusste, 9. Ästhetik bezeichnet so einen Modus des Denkens, der sich anhand von Gegenständen der Kunst entfaltet und sich bemüht zu sagen, inwiefern sie Gegenstände des Denkens sind; sie ist ein spezifisches geschichtliches Regime des Denkens der Kunst, eine Idee des Denkens, der zufolge die Gegenstände der Kunst Gegenstände des Denkens sind. Nicht übersehen wird, dass der Begriff der Ästhetik auf Alexander Gottlieb Baumgartens Aesthetica ebenso zurück verweist wie auf Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft. 2 »Schließlich existiert die Kritik nur im Verhältnis zu etwas anderem als sie selbst: sie ist Instrument, Mittel zu einer Zukunft oder zu einer Wahrheit, die sie weder kennen noch sein wird, sie ist ein Blick auf einen Bereich, in dem sie als Polizei auftreten will, nicht aber ihr Gesetz durchsetzen kann.« (Foucault, Was ist Kritik?, 8.) 3 Ein erstes Indiz für diesen Umstand gibt die Wortherkunft von ›Kritik‹ aus dem lat. criticus bzw. dem griech. krínein = scheiden, trennen; entscheiden, urteilen. Zur Auslegung der Wortbedeutungen s. u.a. Bittner, »Kritik und wie es besser wäre«, bes. 134138. 4 Kling, »›Liebling, soeben ist die Maschine angekommen‹«, 218. Zum Status von Balls ›Tagebuch‹ s. u.a. auch Wenzel White, The Magic Bishop, 179-188.

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keine inhaltlichen, sondern formale Überlegungen: Während er am 13. August 1916 festhält, »bei der Sprache« müsse »die Läuterung beginnen« und die Imagination »gereinigt werden«, nicht durch Verbote, »sondern durch einen strengeren Umriß im literarischen Ausdruck«,5 heißt es zum 16. August 1916, die Sprache »als soziales Organ« könne zerstört sein, ohne dass der Gestaltungsprozess zu leiden brauche; ja es scheine, »dass die schöpferischen Kräfte sogar gewinnen.«6 Ball gibt an dieser Stelle Hinweise auf die spezifische Konzeption eines kritischen Ausdruckswillens, der seine Motivation aus der Infragestellung sprachlicher Mittel und der Wahrnehmung einer gesellschaftlichen Aufgabe zu schöpfen vermag; ins Visier genommen wird dadurch zugleich das Projekt einer Literatur, deren Vertreter, wie Ball schreibt, »das Wort um seiner selbst willen«7 pflegen, was keineswegs negativ gemeint ist. Die Kritik, sagt Ball, solle vor allem diese Literatur »ins Auge fassen und aus der Syntax aufs Ganze schließen.«8 Die »(literarische) Stilisierung der Tatsachen«, d.h. »ihre Aufnahme in eine persönliche Form«, sei wichtiger als die »interessanteste, aber formlose Konklusion der Tatsachen selbst.«9 Balls Annahme, dass ein logisch gebauter, verstandesmäßiger Satz »zuliebe des Wortes« preis gegeben werden und demnach auch auf ein Werk verzichtet werden könne, das »nur mittels Gruppierung von Sätzen in einer logisch geordneten Syntax möglich ist«,10 soll hier (vorerst) weniger interessieren als die theoretischen Implikationen seiner kritischen Ästhetik von Literatur und deren Poetik der Form.11 Diese wird fassbarer, nähert man sich jenen Gedanken, in denen Ball

5

Ball, Die Flucht aus der Zeit, 112. Ich zitiere Balls Werke nach den greifbaren, einschlägigen Ausgaben, ggf. – soweit bis zur Fertigstellung dieser Arbeit vorliegend – nach der Werkausgabe; liegt keine Ausgabe vor, erfolgt das Zitat nach dem Erstdruck.

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Ebd. Indem Ball hier zunächst ›die Sprache‹ in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt, wird damit zugleich auch auf die Auffassung von Avantgarde als ›epochales Programm literarischer Kommunikation der Moderne‹ verwiesen. S. dazu Böhringer, »Avantgarde«; Fischer, »Avantgarde«.

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Ball, Die Flucht aus der Zeit, 113.

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Ebd., 114.

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Ebd. Die Betonung der Formkategorien hat etwa auch Roland Barthes stark gemacht (vgl. etwa Pany, »Roland Barthes als Literaturkritiker«, 181, 183); Barthes’ Theorie wird – nicht nur deshalb – in der vorliegenden Arbeit an zahlreichen Stellen näher zu betrachten sein.

10 Ball, Die Flucht aus der Zeit, 101. 11 Zur Radikalisierung der »seit der Zeit um 1800 im Zentrum des ästhetischen Bewusstseins stehende[n] Überzeugung, dass über den Wert einer Dichtung nicht deren Sinn

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das ausführt, was er unter dem Kunstprodukt schlechthin und dessen Urheber an sich versteht. Einen Anhaltspunkt bietet eine Stelle in Balls Essay Der Künstler und die Zeitkrankheit, wo er eine für diesen Kontext wichtige Unterscheidung zwischen Inspiration, Stil und Persönlichkeit trifft. Ball fragt, um eine Bestimmung des ersten Begriffs, »Inspiration«, anzustoßen: Wer ist der Künstler? Wie kommt das Kunstwerk zustande? Geben dem Dichter die Götter ein oder die Dämonen? Worin ist das ›Genie‹ begründet? Worin das sogenannte ›Schaffen‹? Wer schafft und kreiert? Gott oder die Menschen? Ist die Kunst im Individuum beschlossen, in seinen Instinkten etwa, im Unbewußten, oder in einer Über- und Unterwelt? So daß, um dies vorwegzunehmen, die Kunst, wenn sie schon den letzten Wert darstellt, doch vom Produzierenden vielleicht gar nicht ausgeht, sondern der Mensch nur, wie die Scholastik sagte, die causa efficiens, keineswegs aber der Schöpfer seiner Leistung ist?12

Mit Balls Begriff der Inspiration lässt sich, wie Benjamin sagen würde, die durch die Wertung von Kunstwerken »als Gegenstände kontemplativer Versenkung«13 generierte Infragestellung einer Einheit von künstlerischer Eingebung und Produktion bezeichnen;14 er impliziert in diesem Zusammenhang eine Selbstkritik à la Nietzsche,15 die Ball im Übrigen als (Sprach-)Künstler und zugleich als Kriti-

oder thematischer Gehalt, sondern deren ›Form‹ [im Sinne Schillers] entscheidet und dass die mittels der Sprache transportierte ›Bedeutung‹ [im Sinne Moritz’] gegenüber der Kunstgestalt der sprachlichen Elemente zurückzustehen hat«, s. Brokoff, Geschichte der reinen Poesie, hier 507. 12 Ball, »Der Künstler und die Zeitkrankheit«, 103. 13 Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, 37f. 14 Der hier angedeutete und im weiteren Verlauf der vorliegenden Ausführungen noch häufiger aufzugreifende theoretische Bezug zwischen Ball und Benjamin (auch als Leser Balls) gewinnt vor dem bekannten biographischen Hintergrund beider an Evidenz. S. dazu Benjamin, »Verzeichnis der gelesenen Schriften«, 443; Scholem, Walter Benjamin, 101; dazu auch Schlichting, »Hugo Ball Chronik«, 31; Brüggemann, Walter Benjamin, 162. Dazu insgesamt ausführlicher Kambas, »Ball, Bloch und Benjamin«; Freeman, »Ernst Bloch and Hugo Ball«. 15 »Kritisch wird [Nietzsches] Vorgehen immer dadurch sein, dass [...] diese Erzählungen die bestehenden Verständnisverhältnisse des betroffenen Selbst in Bewegung bringen und erschüttern, vielleicht sogar zersetzen. Dieser Angriff auf das Selbst von sich selbst kann einem Wesen, dem es um sich selbst geht, nicht gleichgültig sein.« (Saar, Genealogie als Kritik, 156.)

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ker übt, und zwar am gesellschaftlichen Teilsystem Kunst.16 Balls Anspruch ist es, »das Selbst auch semantisch aus der aporetischen Lage zwischen (vorgeblich) immanenten Subjekt vs. transzendentem, ›anderen‹ Subjekt zu befreien«.17 Zuzustimmen ist dem Befund, dass Balls intellektuelles Engagement ohne das Prinzip der Selbstkritik nicht denkbar erscheint: »Das Selbst sei weder in den moralischen Egoismus noch in eine einsame denkende Einzelseele mit immanenten Bewusstsein ›einzuschnüren‹.«18 Den zweiten Begriff, »Stil«, fasst Ball, indem er ihn die »Einheit der Kunstleistung« nennt und in Verbindung bringt mit einem einerseits fremdbestimmten, andererseits eigengesetzlichen Geschehen, bei dem Individualität und Regelkonformität einander gegenüber stehen: Gibt es einen angeborenen Stil, oder sind alle Einzelwesen nach ihrer Seinsseite begründet in einem einheitlichen Plan und Entwurf, der ihnen die Besonderheit zuweist nach Maßgabe ihrer Möglichkeiten? Ist die Menschenseele einzigartig und unveränderlich, oder unterliegt sie einem gestaltenden Gesetz? Je nachdem die Antwort gegeben wird, gibt es einen individuellen, autonomen Stil und eine individuelle Stilmetaphysik, oder es herrschen traditionelle, gemeinsame, schulmäßige Begriffe. Der interessante Streit über Nachahmung (Nachfolge, Gehorsam) und Originalität (natürliche Eigenart, Willkür), [...] lebt hier wieder auf.19

Die Thematisierung der hier aufgeworfenen Diskussion um eine Individualität des Ästhetischen ist für Ball schließlich kurz geschlossen mit dem dritten Begriff, der »Persönlichkeit«, dessen ursprünglicher Charakteristik als Mime bzw. Nachahmer er die »magische Identifikation mit einem kreativen übermenschlichen Wesen«, das »den Menschen, der vorher nur Sinn und Materie war, im Innersten prägt und erhöht«, zur Seite stellt.20 Eine solche »magische« Identifizie-

16 S. dazu Bürger, Theorie der Avantgarde, 43. Ball zielt damit – wie die Ästhetik der historischen Avantgarde überhaupt – auf eine Überwindung der konventionellen Werkästhetik durch Überführung der »Institution Kunst« (ebd., 13) in allgemeine Prozesse sozialer Produktion. Vgl. Stöckmann, »Ästhetik«, 489. Zu Bürgers AvantgardeTheorie s. auch Lüdke (Hg.), ›Theorie der Avantgarde‹, sowie außerdem auch R. Kühn, »Überlegungen zum Thema ›Avantgarde‹ aus literaturwissenschaftlicher Sicht im Rückblick auf ein Vierteljahrhundert«. 17 Zehetner, Hugo Ball, 105. 18 Ebd. 19 Ball, »Der Künstler und die Zeitkrankheit«, 103. 20 Ebd., 104.

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rung von Kunst und Künstler verweist zum Einen auf den »Anspruch radikal ästhetischer Subjektivität auf absolute Emanzipation von der Tradition«, zum Anderen aber auch auf das »Ende des ästhetischen Subjekts« als Anfang jenes Prozesses der Selbstkritik, »der eben auf eine andere Verfasstheit von Subjektivität, auf deren Rekonstitution und ›Auferstehung‹ sich richtet.«21 Ball führt aus: Wie ist das Wort persona abzuleiten? Daß es ursprünglich das Abbild der Götter und die Maske des antiken Theaters bedeutet, gibt keine Lösung. Ist der Maskenträger aktiv mit personare oder passiv mit personari in Beziehung zu setzen? Die Maske des griechischen Theaters hatte ein Schallrohr, durch das der Schauspieler zum Publikum sprach. Der Mime, der hohe Töne von sich gibt, könnte als Persönlichkeit gelten. [...] Sehr im Gegensatz zu diesen beiden Auffassungen steht indessen eine dritte, die den Begriff der Maske auf das ganze Kleid, auf den Überwurf bezieht und an die magische Auffassung dieses Überwurfs bei den Alten erinnert (das Löwenfell des Herakles, das Seelenkleid des Gnostikers). Die Tier- oder Göttermaske prägt danach den Kern des Helden, der die höhere oder die physisch stärkere Person anzieht.22

Die zitierten Textstellen Balls führen zu einer zentralen Frage: Wenn man über Inspiration, Stil und Persönlichkeit in der angedeuteten Weise reflektiert, rückt die Suche nach einem Modell zur Evokation des Ästhetischen in den Vordergrund.23 Diesem kann nur eine Theorie genügen, die das Modell einer Haltung zur Kunst fundiert. Dabei bezeichnet das Zentrum dieses Modells, so meine Hauptthese, der Begriff der Provokation.24 Er formuliert denjenigen Zug künstle-

21 C. Schmidt, Die Apokalypse des Subjekts, 7, 9. 22 Ball, »Der Künstler und die Zeitkrankheit«, 104. 23 Vgl. Schlichting, »Anarchie und Ritual«, 57. Zur Auffassung des ›Ästhetischen‹, wie sie hier (wiederum auch in Beziehung auf Kant sowie auf, wie noch zu zeigen ist, Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung) relevant wird, s. auch Man, »Ästhetische Formalisierung«, 206: »Doch was in diesem Zusammenhang [...] ästhetisch genannt wird, ist keine selbständige Kategorie, sondern ein Prinzip der Verbindung zwischen verschiedenen Vermögen, Tätigkeiten und Formen der Erkenntnis. Was dem Ästhetischen seine Kraft und damit seinen praktischen, politischen Gehalt gibt, ist die innige Verbindung, die es mit dem Wissen und jenen epistemologischen Implikationen unterhält, die immer im Spiel sind, wenn das Ästhetische am Horizont eines Diskurses erscheint.« 24 Diese These ist in der Forschung bereits angedeutet worden (etwa in Plumpe, »Avantgarde«, 12; s. u.a. auch Delabar, »In der Karawanserei«: »Provokation ist eines der

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rischen ›Handelns‹, der angestrebt wird als Mittel, die ästhetische Immanenz zu durchbrechen:25 für Benjamin – in der Erscheinung als ›Schock‹ – ein Problem der Moderne überhaupt.26 Provokant ist demnach das Ästhetische, sofern es nicht den Charakter einer ästhetischen Norm erhält, sondern sie durchbricht. In seinen Vorlesungen über die Ästhetik beschreibt Hegel diese Situation theoretisch, da sich diese »in ihrer Bestimmtheit zu Gegensätzen, Hindernissen, Verwicklungen und Verletzungen« differenziere, »so dass sich das Gemüt durch die ergriffenen Umstände veranlasst fühlt, notwendig gegen das Störende, Hemmende, das sich seinen Zwecken und Leidenschaften entgegenstellt, zu agieren.«27 In diesem Sinne gehe die »eigentliche Aktion erst an, wenn der Gegensatz herausgetreten« sei, »den die Situation enthielt«; indem nun aber die »kollidierende Aktion eine entgegenstehende Seite« verletze, rufe sie »in dieser Differenz die gegenüberliegende angegriffene Macht gegen sich auf«, und »mit der Aktion« sei »dadurch unmittelbar die Reaktion verknüpft.«28 Im Provokationsmodell des Ästhetischen werden mithin Kunst-Produzent und -Rezipient buchstäblich herausgefordert,29 sich zu sich selbst, zum Kunstwerk wie zum ›Kunstsystem‹30 permanent zu verhalten. Das Provokationsmodell des Ästhetischen sieht in der aktiven Tat das

zentralen Momente des Dadaismus, und provozierend hat er gewirkt«); sie wurde aber noch nicht in letzter Konsequenz diskutiert. 25 Vgl. Bürger, Theorie der Avantgarde, 108. Die Kunst steht damit, so der Blickwinkel der vorliegenden Studie, zwischen Immanenz und Transzendenz und damit in einer romantischen Tradition, die sowohl für Ball als auch für die unterschiedlichen Begriffskontexte eine zentrale Stellung einnimmt, indem diese Differenz »durch ihre Dezentrierung die Vorläufigkeit aller Deutungsakte bewußt hält.« (Petersdorff, Mysterienrede, 218.) 26 Vgl. Benjamin, »Über einige Motive bei Baudelaire«, bes. 206f. Zur Unterscheidung von Avantgarde und Moderne s. u.a. Plumpe, »Avantgarde«. S. außerdem auch Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne. 27 Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, 258. 28 Ebd. 29 Vgl. die Begriffsherkunft von griech. próklesis = Herausforderung. 30 »Die moderne Selbstbeschreibungsgeschichte des Kunstsystems von der Romantik über die Avantgarde bis zur Postmoderne läßt sich unter diesem Gesichtspunkt zusammenfassen – als Variation zu einem Thema. Es geht in all diesen Fällen um die Behandlung der Vergangenheit in einem autonom gewordenen Kunstsystem.« (Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, 489.)

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Medium des Protests gegenüber der allgemeinen »proteischen Gesamtanlage«31 der Kultur, die Instanz einer kompromisslos vollzogenen Kritik in Aktion.32 Auf diese Bestimmung bezieht sich die vorliegende Untersuchung, die sich dem »die Sinnlichkeit transzendierenden Provokationsgestus«33 Balls und dessen »revolutionäre[n] Züge[n]«34 stellt, wenn im Folgenden die Formation von Kritik und Literatur analysiert werden soll. Da erstgenannte, wie sich zeigen wird, unscharf und daher schwierig zu fassen ist, bedarf es einer Erklärung des Begriffs der Kritik, der seine durch die Ausdifferenzierung von Schreibweisen und Diskursen generierten theoretischen Gefüge beschreibt und für das vorzustellende Konzept ästhetischer Provokation anschließbar ist;35 zugleich bedarf es dabei aber auch einer Erläuterung des Begriffs der Literatur, wie er ausgehend von diesen Theoremen zur Geltung gebracht werden kann. Denn die Literatur erscheint hier als ein Begriff derjenigen Erfahrung, die ihren Gehalt erst aus der Dringlichkeit einer ästhetischen Provokation im Geiste jener Kritik gewinnt. Die Analyse der Formation von Kritik und Literatur erfolgt vor einem jüngeren Befund kulturtheoretischer Forschung, der – allgemeiner – Kritik und Kunst als »Schlüsselbegriffe der Moderne« identifiziert, »die durchaus widersprüchliche Horizonte von Sinnstiftung und Wertorientierung innerhalb bürgerlichliberaler Gesellschaften anzeigen«: »Einerseits stehen sie für große Motivationsressourcen, andererseits für etwas Vages, Unsicheres und das letztlich Nicht-

31 Ball, Die Flucht aus der Zeit, 17. 32 S. dazu auch Schröer, »L’art est mort«, 127. 33 Guerra, »Giovanni Papini und Hugo Ball«, 86. 34 Döhl, »Dadaismus«, 728. 35 S. dazu auch Draxler, Gefährliche Substanzen, 27: »Was nun die Kritik betrifft, so verändert die Annahme einer, dem Gegensatz von Idealismus und Antiidealismus zugrunde liegenden, substanziellen Ordnung der Kunst vor allem ihren gesellschaftlichen Ort. Sie befindet sich nicht mehr von vornherein auf der ›richtigen‹, der Ideologie gegenüber liegenden Seite, vielmehr scheinen die ideologischen Formationen quer zu einer solch polaren Aufteilung der Welt zu stehen und auch vor ihr selbst nicht Halt zu machen. Kritik, und mit ihr die antiidealistische Tradition, muss deshalb nicht desavouiert oder gar aufgegeben werden im Sinne einer postpolitischen Genügsamkeit. Ganz im Gegenteil wäre die Kritik eher gefordert, ihren eigenen Anteil an der Herstellung und Aufrechterhaltung dieser Ordnung zu reflektieren und Perspektiven der Konfrontation zu entwickeln« – im Sinne der Provokation, wie sich hinzufügen ließe. Eine Auseinandersetzung mit Draxler bietet hierbei Kastner, »Zur Kritik der Kritik der Kunstkritik«.

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Einlösbare der eigenen Ansprüche.«36 Bereits seit dem späten 18. Jahrhundert, einem Zeitpunkt, der für die vorliegende Untersuchung immer wieder relevant werden wird, haben beide Begriffe einen »gravierenden Wandel ihres Bedeutungsspektrums im Sinne einer substanziellen Aufladung ihrer Gegenstandsbereiche erlebt, der ihnen erst die Fähigkeiten für diese besonderen modernen Aufgaben ermöglichte« – d.h. »sie haben sich zu selbst- und letztbegründeten Einheiten erhoben, und darauf aufbauend, sehr effizient ihre jeweils eigenen Milieus ausgebildet.«37 Gleiches für Kritik und Literatur herauszustellen, soll mit entsprechender theoretischer Umsicht aufgezeigt werden, gerade weil auch diese beiden ›Einheiten‹ (und ihre Milieus) ebenfalls aufeinander bezogen bleiben, in Anziehung und Abgrenzung voneinander.38 Die Formulierung des für die Bestimmung der Formation von Kritik und Literatur und ihren theoretischen Diskurs zentralen Axioms der ästhetischen Provokation führt zu einer der konstantesten Ausrichtungen von Balls Arbeit, deren Auslegung in einer ersten Variante davon ausgeht, dass es nicht zwangsläufig Balls Absicht war, im Zuge seiner künstlerischen und philosophischen Versuche ein absolutes, seinsautonomes Kunstwerk zu schaffen, und deshalb, was das literarische Kunstwerk anbelangt, auffordert, den Text von jedem Inhalt zu lösen; diese Variante sieht Balls Bestreben vielmehr gerade in der Kritik einer solchen Kunstwerkidee unter dem Postulat der Destruktion, und zwar in negativer wie aggressiver Bezogenheit auf den Zustand der Gesellschaft: Ball wollte »die Theorien«, wie es in seinem Tagebuchnotat vom 5. März 1916 heißt, »immer auf den Menschen anwenden, und sich nicht in die Ästhetik abdrängen lassen.«39 Eine zweite Variante hebt die nach- und nebeneinander zu Bezugspunkten für eine den herrschenden Tendenzen zuwiderlaufende Konzeption der europäischen Intelligenz für Balls Aktualität hervor: Sie sei kein blasses Produkt rein theoretischer Synkretismen; sie verbinde den historischen Entwurf mit gelebter Kritik.40 Beide Varianten sehen in Balls von unerwarteten Neuorientierungen41 geprägten Arbeit eine mit diesen »Sprüngen, Rissen und Widersprüchen«42 doch vereinbare Konstante: Hugo Balls Ansätze konvergieren im Prinzip der Sprach-

36 Draxler, Gefährliche Substanzen, 7. 37 Ebd., 7f. 38 Vgl. ebd., 8. 39 Ball, Die Flucht aus der Zeit, 84. 40 S. zur ersten Variante Hohendahl, »Hugo Ball«, 748; zur zweiten Schlichting, »Nachwort« [zu: Ball, Der Künstler und die Zeitkrankheit], 467. 41 Vgl. Wacker, »Einführung«, 8. 42 Meyer/Schütt, »Nachwort«, 91.

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kritik43 – allerdings in dem Verständnis, dass dabei zwischen einer Kritik an der Sprache und einer Kritik an den Sprechern im Namen dieser Sprache zu unterscheiden ist, dass Ball im Vertrauen auf die Kraft der Sprache diese auseinander nimmt, »um sie denen zu entwinden, die ihr Gewalt antun.«44 Die Bedingung dafür, in Balls Arbeit den Ausdruck von Kritik an Sprache als »Organ (Instrument) von Tun und Leiden, Hören und Sagen, Aufnehmen und Mitteilen«45 zu sehen, kann nur der Nachweis sein, dass ihre scheinbare Diskontinuität sich letztendlich auflösen lässt. Der vorliegende Versuch einer Rekonstruktion ästhetischer Provokation vermag daher eine doppelte Aufgabe zu lösen: Indem er deren Züge demonstriert, erlaubt er es zugleich, deren Schlagkraft als ›Ideologie‹ zur Geltung zu bringen. Das ist der Schlüssel zum Verständnis ihrer Bestimmung: die Einsicht in den ideologischen Vollzug kollidierender ästhetischer Integrität, wie er in Balls Schriften zum Ausdruck kommt. Die Kritik und (literarisches) Kunstwerk in eine ästhetische Formation bringende Leistung des bei Ball vorzufindenden konzeptuellen Modells soll sich zunächst auf dem Wege einer Interpretation der theoretischen Texte Balls entfalten.46 Es bedarf hierzu einer Rekonstruktion ihrer Grundgedanken im Lichte und mit Hilfe anderer theoretischer Ansätze, wobei die beste Hilfestellung hier von solchen Positionen zu erwarten ist, deren Intentionen Balls Überlegungen so nahe stehen, dass in Konfrontation mit ihnen sich die Grundideen des Provokationskonzepts genauer erläutern lassen. Diese Bedingungen erfüllen vor allem die zeitgenössischen avantgardistischen (Kunst-)Theorien, die Ball beeinflussten bzw. von ihm nachweislich rezipiert worden sind, aber auch die diesen anverwandten, nachfolgenden Theoreme der philosophischen Ästhetik47 und dabei auch insbesondere diejenige poststrukturalistischer und dekonstruktivistischer bzw. im engeren Sinne ›postmoderner‹ Provenienz.48 Dies ist eine Beziehung

43 Vgl. Kling, »›Liebling, soeben ist die Maschine angekommen‹«, 218. Diese Sprachkritik steht, wie u.a. Thomas Keith nachgewiesen hat, im Zusammenhang mit Friedrich Nietzsches »›Experimentalphilosophie« (Poetische Experimente der deutschen und russischen Avantgarde, 51). 44 Zimmermann, »Nachwort«, 482. 45 Zehetner, »Weltkrieg, Weltrepublik und Metaphysik«, 96. 46 Es geht damit nicht darum, einen ›Kunstbegriff‹ Balls aus seinem »authentischen künstlerischen Lebensverlauf« darzustellen, wie dies andernorts versucht worden ist (d.h. bei Wittemann, »Der Kunstbegriff Hugo Balls«, 127). 47 Dazu Ehrlicher, Die Kunst der Zerstörung, bes. 182. 48 Dies soll in dem Bewusstsein versucht werden, dass hier im Grunde Unversöhnliches scheinbar versöhnt werden soll, nämlich die historische Rekontextualisierung diskurs-

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»geheimer Filiationen«,49 für die sich erst die neuere Ball-Forschung interessiert50 bzw. für die sich die neueste Ball-Forschung erst seit kurzem zu interessieren beginnt,51 wobei außerdem auch der Bezug der Ball gleichsam ›umgebenden‹ bzw. der von ihm mit konstituierten52 Avantgarde-Strömungen zu Poststrukturalismus, Dekonstruktivismus und ›Postmoderne‹ bereits (wenn auch zu selten) herausgestellt worden ist.53 Es geht mir also darum, bestehende Perspek-

analytischer mit der ontologiekritischen Dekontextualisierung dekonstruktivistischer Prägung. Allerdings geht es nicht um die Aussöhnung dieser Positionen, sondern um die Erhellung derjenigen Balls mit Hilfe beider, was deren Zusammenschau und – zumindest vorsichtige – Annäherung, so die Überzeugung, unabdingbar macht. 49 Hilmes, »Einzelheiten«, 139. 50 So in Ansätzen etwa Zehetner, Hugo Ball, bes. 52, sowie auch Hilmes, »Einzelheiten«. 51 Zuletzt Borgards, »Gesetz, Improviation, Medien«; in Ansätzen auch C. Schmidt, Die Apokalypse des Subjekts, 19f., sowie auch Hoff, »Bürger, Künstler, Exorzisten«, bes. 47, 56. 52 »Hugo Ball war einer der führenden Köpfe der 1916 in Zürich begründeten DadaBewegung, und damit ein prägender Wegbereiter der künstlerischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts.« (Ebd., 34.) 53 So etwa von R. Kühn, »Überlegungen zum Thema ›Avantgarde‹ aus literaturwissenschaftlicher Sicht im Rückblick auf ein Vierteljahrhundert«, 38. Zu betonen ist hier zudem, dass insbes. die französische ›Avantgarde‹, namentlich die Gruppe Tel Quel, von Poststrukturalisten wie Dekonstruktivisten rezipiert worden ist, darunter Roland Barthes, Michel Foucault, Jacques Derrida, Gilles Deleuze und Félix Guattari, (vgl. ebd., 43; zu Tel Quel s. im Übrigen umfassend dies., Tel Quel: Selbstverständnis und Rezeption), d.h. explizit von Autoren, die für die nachfolgend dargestellte Provokationsästhetik zentral werden. Das Gleiche gilt für Referenzautoren wie Nietzsche, Freud und Lacan (s. dazu wiederum auch R. Kühn, »Überlegungen zum Thema ›Avantgarde‹ aus literaturwissenschaftlicher Sicht im Rückblick auf ein Vierteljahrhundert«, 44). S. dazu mit Blick auf nachfolgende Tendenzen innerhalb der deutschsprachigen Literaturgeschichte Betten, »Entwicklungen und Formen der deutschen Literatursprache nach 1945«, 3147; Lützeler, Spätmoderne und Postmoderne, 15, sowie insgesamt u.a. auch Barner (Hg.), Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. Zu den Austauschformen und Verhältnissetzungen der wichtigsten AvantgardeStrömungen der 1910-er Jahre im Lichte wiederum poststrukturalistischer Theorie s. Raunig, Kunst und Revolution, 19, sowie die vorliegenden Ausführungen. Zum Kritikpotential von Kunst und Philosophie in ähnlicher Beleuchtung s. auch Bürger, Das Denken des Herrn; ders., Die Tränen des Odysseus. Zum weiteren produktionsästheti-

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tiven nicht allein zuzuspitzen und handhabbar zu machen, sondern diese zugleich um unbekannte, oft auch überraschende Wendungen zu komplettieren sowie sie außerdem auf Balls Werke anzuwenden, d.h. sie zur Lektüre heranzuziehen, mit diesen literaturwissenschaftlich zu arbeiten.54 Methodisch soll über De- und Rekontextualisierungen, durch diskursanalytische Verfahren und close readings eine hier zum ersten Mal epistemologisch wie poetologisch analysierte Provokationsästhetik an Konturen gewinnen. Zu diesem Zweck werden verschiedene Material- und Kulturbestände theoretischer und künstlerischer ›Natur‹, insbesondere literarische Darstellungen untersucht, verglichen, gegen und für einander abgewogen, gegen und für einander in diskursive Stellung gebracht. In der Auseinandersetzung mit ihnen kann ein doppelter Explikationsgewinn für das Modell ästhetischer Provokation gewonnen werden. Der erste Explikationsgewinn betrifft die Erläuterung ästhetischen Provokationsgeschehens im Horizont der Moderne bzw. der Avantgarde.55 Deren Kunstwerktheorien weisen, wie zahlreich hervorgehoben worden ist, darauf hin, dass die Ästhetik nach Ball unter dem Aspekt einer Reintegration der Kunst ins Leben wieder gelesen werden muss.56 Unter dem Begriff des Lebens lässt sich im vorliegenden Kontext mit Rancière die »Entfaltung einer Kraft – biologisch, historisch, ontologisch« verstehen und zugleich das »alltägliche Leben«: »In Begriffen der Aufteilung des Sinnlichen bedeutet dies, eine bestimmte Verknotung, eine bestimmte Verteilung dieser verschiedener ›Leben‹ zu betrachten«;

schen Potential der Literaturtheorie, »die im 20. Jahrhundert ein Konzept entwickelt, das das von der [so genannten] reinen Poesie freigelegte ›Wort als solches‹ zum Ausgangspunkt einer spezifisch kunstwissenschaftlichen Analyse macht«, s. Brokoff, Geschichte der reinen Poesie, 556. Martin Saar führt im Übrigen bei seiner Untersuchung einer ›Genealogie als Kritik‹ aus, eine »ausführlichere Wirkungsgeschichte des genealogischen Verfahrens nach Nietzsche« könne »endlose Variationen und Spielarten genealogischer Topoi zutage fördern« (Saar, Genealogie als Kritik, 296), wobei dieselben Namen genannt werden, die auch im Folgenden Berücksichtigung finden werden: Benjamin, Derrida, Deleuze/Guattari, Agamben. Ball als unmittelbaren Nietzsche-Rezipienten will die vorliegende Studie in diese Reihe u.a. einordnen. 54 Es wird damit ästhetische Theorie mit ›kritischer‹ Reflexion in einen unmittelbaren Zusammenhang gesetzt. Zu diesem Verfahren s. auch Draxler, Gefährliche Substanzen, 10. 55 Dazu u.a. auch Mathy, »Die Avantgarde als Gestalt der Moderne oder: Die andauernde Wiederkehr des Neuen«. S. außerdem auch Fähnders, Avantgarde und Moderne 1890-1933, sowie zudem auch Bollenbeck, Tradition, Avantgarde, Reaktion. 56 Vgl. etwa Hilmes, »Unter falscher Flagge«, 118.

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das »Leben definiert also eine bestimmte symbolische Physiologie des sozialen Körpers.«57 Agamben führt aus: Die Griechen kannten für das, was wir mit dem Leben ausdrücken, kein Einzelwort. Sie gebrauchten zwei Begriffe, die morphologisch und semantisch verschieden sind, auch wenn man sie auf eine gemeinsame Wurzel zurückführen kann: zoé meinte die einfache Tatsache des Lebens, die allen Lebewesen gemein ist (Tieren, Menschen und Göttern), bíos dagegen bezeichnete die Form oder Art und Weise des Lebens, die einem einzelnen oder eine Gruppe eigen ist.58

Focault schließlich bezieht sich mit seiner Begriffsweise auf die Schwelle zur Moderne,59 wo man, so wiederum Agamben, das »natürliche Leben in die Mechanismen und Kalküle der Staatsmacht einzubeziehen beginnt und sich die Politik in Biopolitik verwandelt.«60 Das Eintreten der zoé in die Sphäre der pólis bilde dabei »auf jeden Fall das entscheidende Ereignis der Moderne«; wir können dieses als »Gründungsereignis der Moderne« begreifen,61 von dem aus auch die kunsttheoretischen ›Bewegungen‹ der Avantgarde und mit ihnen ebenfalls diejenigen Balls ihren Ausgangspunkt nehmen. Diese sind zwar nicht ausdrücklich, so aber doch offensichtlich als kynische Gesten angelegt – eine Zuweisung, die im Folgenden an weiteren Stellen immer wieder aufgegriffen werden wird und dies oft in einer Perspektive, die Foucault in seiner letzten Vorlesung am Collège de France rekonstruiert hat: Im einen Fall haben wir [...] eine Bestandsaufnahme des Selbst, die auf die psyche gerichtet ist und die als solche den Ort eines möglichen metaphysischen Diskurses bezeichnet. Im anderen Fall haben wir eine Bestandsaufnahme des Selbst, ein »Rechenschaftsablegen über sich selbst«, das sich auf den bios als Existenz richtet, [eine] Existenzweise, die es während dieser gesamten Existenz prüfen und auf die Probe stellen soll. Warum? Um ihr durch einen bestimmten wahren Diskurs eine bestimmte Form geben zu können. Dieser Diskurs der Bestandsaufnahme des Selbst soll die sichtbare Gestalt bestimmen, die die Menschen ihrem Leben geben sollen. Dieses Wahrsprechen ist nun nicht mit dem metaphysischen Risiko konfrontiert, die Wirklichkeit der Seele jenseits oder über den Körper hinaus zu setzen; das Wahrsprechen ist vielmehr dem Risiko und der Gefahr ausgesetzt, den Menschen zu sagen, was sie an Mut brauchen und was es sie kosten wird, um ihrem

57 Rancière, Ist Kunst widerständig?, 47. 58 Agamben, Homo sacer, 11. 59 Vgl Foucault, Der Wille zum Wissen, 171. 60 Agamben, Homo sacer, 12f. 61 Ebd., 14.

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Leben einen gewissen Stil zu verleihen. Mut zum Wahrsprechen, wenn es darum geht, die Seele zu entdecken. Ebenfalls Mut zum Wahrsprechen, wenn es darum geht, dem Leben Form und Stil zu verleihen.62

»[R]ings um das Thema des wahren Lebens, der Stilistik der Existenz, der Suche nach einer schönen Existenz in Form der Wahrheit und Praxis des Wahrsprechens« betrachtet Foucault das Beispiel des Kynismus, in dem er das »Erfordernis einer äußerst typisierten Lebensform – mit sehr charakteristischen, sehr wohlbestimmten Regeln, Bedingungen oder Modi –« sehr stark auf dem Prinzip des Wahrsprechens« aufgebaut erkennt: Der Kynismus scheint ihm eine Form der Philosophie zu sein, »in der die Lebensweise und das Wahrsprechen direkt und unmittelbar miteinander verbunden sind.«63 Die Prüfung oder Erprobung dieser Lebensweise erlaubt, so Foucault weiter, »diejenigen Dinge, die allein für das menschliche Leben notwendig sind, in ihrer Nacktheit erscheinen zu lassen bzw. das elementarste, ursprünglichste Wesen des Lebens aufzudecken«: »Im und durch sein Leben den Skandal der Wahrheit auszuüben, darin besteht der Kern des Kynismus.«64 Und dies wäre ein Anliegen, das die Theorien der Moderne bzw. der Avantgarde für die Kunst als skandalöse Existenzweise reflektiert. Foucault führt aus: Das ist die Vorstellung, die meiner Meinung nach zur Moderne gehört, daß das Leben des Künstlers in seiner wirklichen Gestalt ein gewisses Zeugnis dafür ablegen soll, was die Kunst in Wahrheit ist. Nicht nur muß das Leben des Künstlers einzigartig genug sein, damit er sein Werk schaffen kann, sondern sein Leben soll gewissermaßen eine Offenbarung der Kunst selbst in ihrer Wahrheit sein. [...] Die Kunst besitzt die Fähigkeit, der Existenz eine Form zu geben, die mit jeder anderen bricht, die Form des wahren Lebens. [...] Wenn sie die Form des wahren Lebens aufweist, ist das Leben seinerseits die Garantie dafür, daß jedes Werk, das in ihm wurzelt und aus ihm entsteht, der Dynastie und dem Reich der Kunst zugehört. Ich glaube also, daß diese Vorstellung vom Leben des Künstlers als Bedingung des Kunstwerks, als Kunstwerk selbst eine bestimmte Weise ist, unter einem anderen Blickwinkel, unter einer anderen Perspektive und natürlich auch in anderer Form jenes kynische Prinzip des Lebens als Offenbarung des skandalösen Bruchs aufzufassen, wodurch die Wahrheit ans Licht kommt, sich offenbart und Gestalt annimmt. Das ist nicht alles, es gibt noch einen weiteren Grund, weshalb die Kunst in der Moderne zum Träger des Kynismus wurde. Es handelt sich um die Vorstellung, daß die Kunst

62 Foucault, Der Mut zur Wahrheit, 211f. 63 Ebd., 217f. 64 Ebd., 226, 229.

22 | Z UR Ä STHETIK DER P ROVOKATION selbst [...] eine Beziehung in der Wirklichkeit begründen soll, die nicht mehr dem Bereich der Ausschmückung, dem Bereich der Nachahmung angehört, sondern deren Wesen es ist, das Elementare der Existenz zu entblößen, zu entlarven, freizulegen, auszugraben und gewaltsam zu ihm zurückzuführen. [Eine] Praxis der Kunst als Entblößung und Rückführung auf das Elementare der Existenz [...].65

Sloterdijk schließlich hat ein Jahr vor Foucault, also unabhängig von ihm,66 in seinem Buch Kritik der zynischen Vernunft konstatiert, dass mit »Dada« der »erste Neo-Kynismus des 20. Jahrhunderts die Bühne« betritt: Sein Stoß geht gegen alles, was sich »ernst« nimmt – sei es im Bereich der Kultur und der Künste, sei es in der Politik und im bürgerlichen Leben. Nichts anderes hat in unserem Jahrhundert den esprit de sérieux so wütend zerschlagen wie das dadaistische Geplänkel. Dada ist im Kern weder eine Kunstbewegung noch eine Antikunstbewegung, sondern eine radikale »philosophische Aktion«. Es praktiziert die Kunst einer militanten Ironie. Von der bürgerlichen »Institution Kunst« [...] nimmt Dada nur das Motiv in Anspruch [...]: das der amoralischen Ausdrucksfreiheit.« [...] Was die Dadaisten vor sich sahen, war eine Kunst vom ästhetizistischen Typ, eine Artistenkunst, die sich selbst blutig und feierlich ernst nahm, eine Ersatzreligion und ein Beschönigungsmittel der »häßlichen bürgerlich-kapitalistischen Wirklichkeit«. Die Dadaisten taten darum nichts anderes, als den philosophischen Impuls der Künste – ihren Wahrheitswillen – wiederherzustellen im Gegenschlag gegen dessen Überwucherung durch Artistik, Finesse und lebensferne Eitelkeiten.67

Die existenziell-elementare Überführung von Kunst in ›wahre‹ Lebenspraxis68 bzw., um mit Ball selbst zu sprechen, eine »Philosophie des produktiven Le-

65 Ebd., 247f. 66 Vgl. ebd., 234-236: »Was nun die Arbeiten angeht, die diese lange Geschichte des Kynismus [erfordern würden], so muß ich sagen, daß wir ein wenig mittellos dastehen. Soviel ich weiß, gibt es kaum woanders als in den deutschen Texten Bezügen zum Problem des Kynismus in seiner langen historischen Erstreckung, und zwar vor allem Schriften, die der Beziehung zwischen dem, sagen wir, modernen Kynismus (dem Kynismus im modernen europäischen Denken und der modernen Kultur) und dem antiken Kynismus gewidmet sind. [...] Das vierte Buch schließlich, das ich jedoch nicht gelesen habe, auf das man mich erst kürzlich hingewiesen hat und das letztes Jahr in Deutschland bei Suhrkamp erschien, ist von jemandem namens Sloterdijk und trägt den feierlichen Titel Kritik der zynischen Vernunft.« 67 Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 711f. 68 »Der Kynismus begnügt sich [...] nicht damit, eine bestimmte Art von Diskurs und ein Leben, das mit den in diesem Diskurs ausgesagten Prinzipien übereinstimmt, in einer

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bens«69 ist bei Ball und seinem Dadaismus zu finden, wenn er sagt: »Um den Menschen geht es, nicht um die Kunst. Wenigstens nicht in erster Linie um die Kunst«;70 ihn interessiert die »Wiedergeburt der Gesellschaft aus der Vereinigung alle artistischen Mitteln und Mächte.«71 Angesichts einer derartigen Synkretion kann die Bestimmung dieser Ästhetik als ›kritische Kollision‹ unterschiedlicher Ansätze der Ansatzpunkt sein, Balls theoretischen und auch seinen ausdrücklich literarischen Texten Lektüren auszusetzen, die nach dem Verhältnis von Kunst, Kunstwerk und Künstler fragen. Der erste durch den Rückgriff auf die avantgardistischen Theorien zu verbuchende Explikationsgewinn besteht deshalb in der Offenlegung von Balls Ästhetikbegriff und seiner Erläuterung als »permanenten Test der Kunst auf ihre Authentizität«.72 In dieser unter Rückgriff

Harmonie oder einem Einklang miteinander zu verkoppeln oder eine Entsprechung zwischen beidem herzustellen. Der Kynismus bindet die Lebensweise und die Wahrheit an einen viel strengeren und viel präziseren Modus. Er macht aus der Lebensform, die reduzierende Praxis, die dem Wahrsprechen einen Platz einräumen wird.« (Foucault, Der Mut zur Wahrheit, 227) 69 Ball, Briefe 1904-1927, 1, 318. S. weiter auch ebd.: »[...] Sie haben mir eine Anregung gegeben, die mich seither ganz besessen hält: nämlich nun, nach dem negativen, ein positives System aufzubauen. Es wird aber noch geraume Zeit dauern, bis ganz bestimmte Entwürfe zu einer ›Philosophie des produktiven Lebens‹, die mir vorschwebt, Gestalt gewinnen können. Ich möchte in diesem System etwas weitergehen, als man bisher in den Beziehungen der Individuen untereinander gekommen ist. Der Achtung und Anerkennung des Nächsten, der Liebe zum Nächsten, kann eine Ordnung der Dinge folgen, in der die gewaltige Pflege der Produktivität die Grundlage der Moral abgibt.« Der Begriff der ›Lebenspraxis‹ steht im vorliegenden Kontext in enger Beziehung zu demjenigen der ›Lebenskunst‹, deren Wiederbelebung etwa Foucault in einem Interview von 1983 befördert hat (vgl. »Zur Genealogie der Ethik«, 273). Zum Verständnis von Kunst und Lebenskunst insbes. im Dadaismus s. dabei auch Schmid, »Aus dem Leben ein Kunstwerk machen«, 189. S. außerdem auch Schmid, Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst, sowie (was Nietzsches KulturBegriff anbelangt) Saar, Genealogie als Kritik, 337: »Man könnte [diese ›Kultur‹] auch eine ›Lebensform‹ nennen, wenn man damit nicht nur die Formen meint, in denen Individuen in einem bestimmten Kontext ihr Leben führen können (d.h. nicht nur die ›Lebensweisen‹), sondern auch die Voraussetzungen und Strukturierungen, die diese Lebensweisen ermöglichen.« 70 Ball, Die Flucht aus der Zeit, 84. 71 Ebd., 17. 72 Schlichting, »Nachwort« [zu: Ball, Der Künstler und die Zeitkrankheit], 465.

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auf avantgardistische Theorien gewonnenen Bestimmung einer Ästhetik der Provokation kann unter Verwendung der Überlegungen Balls ein Beschreibungsmodell ihrer über den konkreten Diskurskontext hinausweisenden Bedeutung entworfen werden. Eine Erhellung der Problematik, die Balls Ästhetik aufwirft, wie nämlich Kritik und Literatur durch eine Erläuterung des Provokationskonzeptes zusammen zu denken sind, kann jedoch mit den genannten Mitteln allein nicht erreicht werden. Eine Reflexion, die das Prinzip der maximalen ästhetischen Provokation nach Ball thematisch befragt, verlangt zudem eine Analyse der Weisen, an denen sich Balls Kritik-Praxis selbst als Literatur, mithin als ästhetische Schreibweise konkretisiert. Bei meinem Rückgriff auf die gleichsam produktive Kraft theoretischer Reflexion, welche die ästhetische Provokation vorzunehmen weiß, soll somit zugleich deutlich werden, wie theoretische Fragen im Möglichkeitshorizont literaturwissenschaftlichen Verstehens als Gegenstände einer Erkenntnis philologischen Anspruchs zu thematisieren sind. Methodisch geht es nicht allein darum, die Theorie einer feststehenden diskursiven Praxis wie der Kritik anzustreben, sondern die Analyse auf die Formation von Kritik und Literatur hin zu erweitern, »und zwar einerseits als eines Spezialfalls innerhalb der Öffentlichkeit konstituierenden Netzwerks von wechselseitigen Beziehungen zwischen Praktiken, Diskursen und Institutionen, wie es für die Moderne bestimmend geworden ist«,73 und andererseits als besonderes Spannungsverhältnis, an dem die Chancen und die Widersprüchlichkeiten dieser Theorie und Praxis verhandelt werden können.74 In dieser Lesart theoretischer wie ästhetischer Texte wird eine zweite Explikationslücke geschlossen, die Balls Werk insgesamt betrifft: Balls kritische Publizistik, angesichts der dieser als »Meister« des »literarisch-publizistischen Formenbereichs«75 zu entdecken ist, blieb bislang über weite Strecken ein wissenschaftliches Desiderat. Die Analyse wenn auch nicht aller,76 aber doch der bedeutendsten Texte dieses »wichtigen« und »kaum bekannten« Teils seines Gesamtwerks, genauer: der »essayistischen, publizistischen, nicht-fiktionalen Prosa

73 Draxler, Gefährliche Substanzen, 11. 74 Vgl. ebd. 75 Schaub, »Art. 3242«, 477. 76 Ich konzentriere mich auf die ästhetischen und theoretischen Schriften sowie auf die Richtung weisenden literarischen Arbeiten Balls; bewusst ausgeblendet werden die meisten seiner kleineren journalistischen Arbeiten, die er für die (Tages-)Presse verfasst hat (insbesondere für die Freie Zeitung) und die denn auch eher das je aktuelle Tagesgeschehen betreffen als das hier relevante Ballsche Gedankenwerk.

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der kleinen Form«,77 verspricht einen Explikationsgewinn in der Bestimmung der ästhetischen Provokation durch eine Dialektik des Kritischen. Balls ästhetisch-theoretische Publizistik belegt, dass, so sehr diese Biographie auch für manche Interpreten eine »Abwendung von der Kunst« bedeutet, »ihr fundamentaler Subtext« ästhetisch bleibt;78 sie weist dabei darauf hin, dass das provozierende Potential des Ästhetischen schließlich auch als explizit politische Herausforderung gedacht werden kann. Aus einem Hermetismus erwachsen hier politische Konsequenzen; durch die divergierenden Ansprüche von Subjekt und Gesellschaft entsteht diese Ästhetik:79 »Hugo Ball hat das Ästhetische überschritten ins Politische.«80 In seinem ›wertvollen‹81 Buch Zur Kritik der deutschen Intelligenz zeigt Ball mithin in umfassenderem Umfang, wie Bloch sagt, die »geheimen Causalitäten des blasphemischen Staates an sich«82, aber auch, dass in Extremsituationen einer Gesellschaft, wie sie Kriegszeiten sind, sich auch ›Kultur‹ und Kunst nicht ihrer moralischen Verantwortung entziehen können. Auch an anderer Stelle, auf die noch an mehreren Stellen zurück zu kommen sein wird, hebt Ball darauf ab, dass gesellschaftliche Verantwortlichkeit ein ästhetisches Prinzip zu sein hat. Er schreibt: Der Kampf, den die junge Literatur in Deutschland heute zu führen hat, geht um die Bildung einer oppositionellen Partei. Opposition gegen die hier wie in keinem Lande allmächtige Bourgeoisie; Opposition gegen den krassen Materialismus in Leben, Kunst, Politik, Presse; Opposition gegen die offizielle Oppositionspartei [...]: das sind die Aufgaben, die sich die junge Literatur von heute mehr und mehr zu Bewusstsein bringt.83

In dieser Konstruktion einer Korrekturfunktion, die eine ›junge Literatur‹ in ›Leben, Kunst, Politik, Presse‹ nach Ball vorzunehmen hat, wird zugleich deutlich, wie »große Kritik«, um eine Formulierung Adornos zu verwenden, »ihre Kraft aus gesellschaftlichen Tendenzen ziehen« kann.84 Adorno gibt jedoch zu Bedenken, dass es jener »angesichts eines zugleich desorganisierten und epigonalen

77 Schaub, »Art. 324«, 477. 78 C. Schmidt, Die Apokalypse des Subjekts, 7. 79 Dazu auch Philipp, Dadaismus, 160. Dazu außerdem grundlegend mit Blick auf den Surrealismus Bohrer, Die gefährdete Phantasie oder Surrealismus und Terror, 85. 80 Deny, »Gegenwelten«, 135. 81 Vgl. Sternheim, »Die zwölf wertvollsten Bücher«, 175f. 82 Bloch, »Zur Kritik der deutschen Intelligenz«, 53. 83 Ball, »Die junge Literatur in Deutschland«, 32. 84 Adorno, »Zur Krisis der Literaturkritik«, 358.

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Bewußtseinsstandes« an der »objektiven Möglichkeit des Ansatzes« fehle; der, wie es heißt, »Mangel an Authentizität«, der Hinweis auf das »Ausgehöhlte«, an dem speziell literarische Produkte leiden könnten, die »Ahnung von der Gleichgültigkeit dessen«, was »unter dem Namen Kultur« betrieben werde, ließen jenen Ernst nicht aufkommen, dessen die Kritik bedürfe. Adorno führt aus: Nur der Literaturkritiker würde seiner Aufgabe noch gerecht, der über diese Aufgabe hinausginge und etwas von der Erschütterung in seinen Gedanken registrierte, die dem Boden widerfuhr, auf dem er sich bewegt. Das könnte aber nur gelingen, wenn er zugleich in voller Freiheit und Verantwortlichkeit, ohne alle Rücksicht auf öffentliche Geltung und Machtkonstellationen und zugleich mit der genauesten artistisch-technischen Erfahrung sich in die Gegenstände versenkte, die ihm vorkommen, und den Anspruch aufs Absolute, der noch dem erbärmlichsten Kunstwerk verzerrt innewohnt, so schwer nähme, als wäre es das, wofür es sich gibt.85

Das Provokationsmodell des Ästhetischen versucht, die mit der Formation von Kritik und Literatur einhergehende – auch Ball würde wohl sagen – ›Versenkung‹ in die ihnen vorkommenden Gegenstände der ästhetischen Diskurse den Vollzug ›artistisch-technischer Erfahrung‹ einzuschreiben und als Fluchtpunkt einer Erkenntnis generellen Anspruchs zu formulieren.86 Dabei vertritt es, verkürzt gesagt, die Auffassung, die Kunst sei selbst die Instanz der Kritik. Ein Blick auf die Reichweite der radikalisierten, provozierenden Ästhetik, die, wie ich meine, Ball wie kaum ein anderer gesehen hat, weist bis in die Gegenwart und zeigt, dass ihr eigentliches Potential weder als ihre Implikation noch als von ihr ablösbarer Gehalt, sondern nur als Wirkung beschrieben werden kann. Provokant ist die Kunst dann, wenn sie die Niederreißung scheinbar etablierter ästhetischer Grenzen, ihre Überwindung oder Zersetzung dazu nutzt, eine Krise für die ästhetischen Diskurse zu sein. Die alte avantgardistische These der Reorgani-

85 Ebd. 86 Diese ›Versenkung‹ lässt sich auf die künstlerischen Diskurse und Institutionen insgesamt übertragen, die so »das Feld der Kunstpraktiken gewissermaßen ›unschuldig‹ durchkämmen, systematisieren und selektieren« und dadurch mit Reaktionen konfrontiert werden, »die unmittelbar die eigene Arbeit betreffen und herausfordern und auf die sie reagieren müssen, was wiederum nur weitere Reaktionen hervorruft«: »Damit ist eine Dynamik in Gang gesetzt, die das Substanzielle stets auf neue Ziele verschiebt.« (Draxler, Gefährliche Substanzen, 20; s. dazu auch insgesamt Bürger, Zur Kritik der idealistischen Ästhetik.) Um diese Dynamik geht es bei der Analyse ästhetischer Provokation.

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sation der Lebenspraxis durch die Kunst,87 wie sie im Besonderen auch bei Ball festzustellen ist, etabliert diese Krise als ästhetische Kategorie.88 Dies umreißt ein Verständnis von ästhetischer Provokation, das die Radikalität als ästhetisch vollzogenes und bewirktes Programm präsentiert, ein Hinweis, den wiederum Benjamin nicht zufällig für die Kritik unterstreicht.89 Eine derart für Kunstwerktheorie und strukturellen Aufbau eines Kunstwerks wie eines literarischen Textes sensibilisierte Lektüre gestattet einen Blick auf die Leitlinien zwischen verschiedenen Theorien und erlaubt gleichermaßen die Beziehung von Kritik und Literatur zur Dimension der Praxis klären zu helfen. Ich gehe dabei davon aus, dass im ›System‹ von Hugo Balls Werken die Idee des Provokationsmodells bemerkenswert zu Tage tritt. Ich werde diese Gedanken im Folgenden verteidigen, indem ich – in Konzentration auf Balls kritische Publizistik, aber auch mit genauen Blicken auf seine Bücher sowie mit Lektüren seiner genuin literarischen Werke – eine Lesart dieser Gedanken entwickle, die die ästhetische Formation von Kritik und Literatur in eine aufzulösende Spannung bringt: Die Verbindung von Kritik und Literatur ist eine Verbindung, die – das sei vorweg genommen – den Charakter der Kongenialität nicht nur voraussetzt, sondern verabsolutiert.90 Die Beschreibung und Diskussion dieser Verbindung erfolgt in zwei größeren Teilen, wobei die hier vorgenommene Gruppierung im Besonderen auch dazu dient, Akzente in der Besprechung zu setzen und die Argumentationslinien zusammen zu führen. Dazu werde ich so vorgehen, dass ich zunächst zeige, wie Ball auf literarische Weise die Fiktion eines ›Dichter-Kritikers‹ ausphantasiert (Kap. 1.1), mit deren Hilfe die ästhetische Provokation an grundlegenden Konturen gewinnt, um im Anschluss vorzuführen, wie ästhetische Kritik und kritische Ästhetik in historischen Theorien zusammen gedacht worden sind (Kap. 1.2), auch, weil die Wechselwirkungen zwischen den unterschiedlichen Formen von Kritik bisher wenig untersucht sind.91 Sodann werde ich zeigen, wie Ball eine Theorie ästhetischer Provokation (›innerlich‹, ›psychologisch‹, ›neu‹) sowohl

87 Vgl. ders., Theorie der Avantgarde, 80. 88 S. dazu wiederum auch die Ausführungen, die Saar zu Nietzsches genealogischer Methode macht; hervorgehoben wird hier etwa, wie sehr eine solche Genealogie ein »intern historisches Unternehmen ist, das auf eine durch historisierende Gedankenexperimente angestoßene Krise des Selbstverständnisses zielt oder diese Krise sogar herbeizuführen versucht.« (Saar, Genealogie als Kritik, 142.) 89 Vgl. Benjamin, »Programm der literarischen Kritik«. 90 Dazu auch Hinck, Germanistik als Literaturkritik, bes. 12. 91 Vgl. Draxler, Gefährliche Substanzen, 122.

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begreift wie literarisch imaginiert (Kap. 1.3), und wie sich dies, so zeige ich dann, in seiner eigenen kritischen Arbeit (›rhetorisch‹ und ›spielerisch‹ wie ›performativ‹, ›anarchistisch‹ und ›mystisch‹) konkretisiert (Kap. 2.1, 2.2), d.h. wie diese letztlich eine Praxis der Kritik inszeniert (Kap. 2.3), die sich als zentral für den Vollzug der Kritik erweisen wird, dass Balls Texte mithin der Logik der Kritik folgen. Davon ausgehend können Perspektiven für den ›Ort‹ der Kritik entwickelt werden (Kap. 2.4), für den zu überlegen ist, welchen besonderen Platz im universalen ästhetischen Gefüge die Verbindung von Kritik und Literatur einnimmt. Ob die Voraussetzungen der avantgardistischen Ästhetik – das Zusammendenken von ästhetischer Innovation und politischer Veränderung –, wie von Balls Ästhetik demonstriert, in die avancierte Kritik schlechthin eingegangen sind,92 ist also eine Frage, die zum Abschluss zur Diskussion stehen wird. Insgesamt geht es mir darum, Ball nicht allein speziell als Theoretiker des Dadaismus zu lesen, der dessen Philosophie entwickelt hat,93 sondern ihn als großen ästhetischen Theoretiker schlechthin zu verstehen, als einen »der ›charakteristischen Repräsentanten der Modernde‹«,94 als einen »Dichter«95 (L. Harig) und »›Denker‹« (W. Pape),96 als einen, wie Ball selbst sagt, »Philosophen von heute«, der »in Büchern und selbst in Menschen wie in Referaten« zu lesen vermag, »nach denen er sein Urteil richtet und seine Entscheidungen trifft«: Er kann die Menschen nur noch selten um ihrer selbst willen gelten lassen. Er ist in einemfort aufs Unliebsamste genötigt, sie als eine Semiotik zu betrachten, das eigene Ich nicht ausgenommen. Wo nicht das Menschenbild zu einer gegründeten Würde erhoben wird, ist ein harmlos geselliges Leben nicht denkbar. Einer wird den andern enttäuschen, einer vom andern beunruhigt sein.97

92

Dazu auch Hohendahl, »Einleitung«, 8.

93

Ders., »Hugo Ball«, 746. Zur Haltung Balls gegenüber Dada und den Dadaisten s. auch Verf., »›Dada ist die Weltseele, Dada ist der Clou‹«.

94

Schmidt-Bergmann, Die Anfänge der literarischen Avantgarde in Deutschland, 270.

95

Harig, »Einladung zum Spiel«, 115.

96

Pape, »Vorwort«, VI.

97

Ball, »Gedanken von Hugo Ball«, 605. S. dazu aber auch Balls ironisierende Bemerkung gegenüber Pater Beda Ludwig: »Wenn ich zum Philosophieren geboren wäre – ich bin es gewiss nicht, es wird nur meine Einbildung sein – wenn ich es aber wäre, dann würde ich den Ehrgeiz haben, in der eigenen Umkehr die Tradition zu bekehren. Das ist mein Problem, mein Leben, mein Leiden. [...] Verstehen Sie,

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Dieses bekannte Prädikat des Theoretikers, Dichters, ›Denkers‹ und Philosophen Balls soll somit fundiert und um neue Zuschreibungen ergänzt werden, ohne zu vergessen, dass in dessen »Kopf«, wie Michael Braun schreibt, »viele Widersprüche« hausen, dass Ball den »wohl eigensinnigste[n] und rätselhafteste[n] Protagonist[en] der avantgardistischen Intelligenz nach 1914« darstellt, der sich »geistigen Zerreißproben« ausgesetzt hat, »die sich nicht beruhigen ließen«98 und den im Ganzen ein »vielstrahliges Denken«99 prägt – Ball gilt als intellektueller »Außenseiter«100 par excellence. Er war als solcher, wie es Marcel ReichRanicki formuliert, ›unruhig‹ und ›wandlungsfähig‹ zugleich. 101 Mit seinem ›philosophischen Extremismus‹,102 mit seinen »radikalen Kehrtwenden« hat Hugo Ball – so ein für die vorliegende Arbeit programmatisches Postulat – »Freunde wie Feinde provoziert.«103 Und Ball, der nach eigenen Angaben wie durch eine »seltsame Führung und Fügung [...] überall in den Brenntpunkt der Interessen« gelangt ist (»am Theater, in der Kunst, in der Philosophie, in der Politik«),104 sowie sein Werk und dessen derart divergente Werkphasen, in denen

lieber Pater, daß es mir schwerfällt, auf die Philosophie zu verzichten [...]?« (Briefe 1904-1927, II, 263.) 98

Braun, »Das Rätsel Hugo Ball«, 5.

99

Ders., »Katholizität und Anarchie: Hugo Balls Passionen«, 76. S. dazu auch Deny, »Gegenwelten«, 130: »Man möchte nicht glauben, dass die Werke, die uns Hugo Ball hinterlassen hat, tatsächlich aus einer Feder stammen, aus einem Leben, aus einem Geist. So disparat sind sie, aus so vollkommen anderen Welten kommt das her. Hugo Ball treibt, was er beginnt, hemmungslos ins Extrem [...].«

100

Guerra, »Giovani Papini und Hugo Ball«, 101.

101

Vgl. die Antwort von Marcel Reich-Ranicki auf die Frage »Was war der Dichter Hugo Ball für ein Mann? Ein guter Dichter? Ein schlauer Literaturbetriebsbewohner? En Scharlatan?«: »Ball, geboren 1886 und gestorben 1927, war ein unruhiger und wandlungsfähiger Dramatiker, Essayist und auch Erzähler. Dass er ein Scharlatan war oder ein ›schlauer Literaturbetriebsbewohner‹, ist in der einen wie in der anderen Hinsicht absurd.« (»Fragen Sie Reich-Ranicki«, 23.)

102 103

Vgl. Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt. Braun, »Das Rätsel Hugo Ball«, 5. S. auch Zimmermann, »Von Dada zu Dionysius Areopagita«.

104

Ball, Briefe 1904-1927, II, 263. S. dazu auch die Verortung von Erdmute Wenzel White: »HUGO BALL WAS IMMENSELY ERUDITE. Enigmatic poet and thinker. He thrived on arcane and difficult texts. He immersed himself in monastic writing, revolutionary tracts, and constitutional law. [...] His itinerary took him into theater, art, cabaret, politics, and religion. He was interested in all cultures, with emphasis

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»all das« sich, so Ball, »in Extrakten« versammelt, wurden aus diesem Blickwinkel insbesondere seitens der Literaturwissenschaft kaum bzw., so muss der zitierte Befund präzisiert werden, noch nie eingehend wahrgenommen.105 Hugo Ball schließlich auch als oft unterschätzten und zu Unrecht vergessenen Autor ins Licht zu setzen, ist mithin ebenfalls ein Anliegen der vorliegenden Studie, denn dieser hat es sich nicht nur zur Pflicht gesetzt, sich, wie August Hofmann erinnert, »rasch auf die Höhe der modernen Literatur hinaufzuarbeiten«;106 er ist als produzierender und philosophierender Schriftsteller selbst zu eben jener zu zählen; Ball ist als Typus des »Künstler-Philosophen« vorzustellen, eines Typus, der sich »[a]uf halben Wege zwischen Anspannung und Sensibilität, zwischen Begriff und Intuition« durch die »besondere Fähigkeit« auszeichnet, »neue Lebensmöglichkeiten zu erfinden, die sich von den durch Gewohnheit und Konvention gebotenenen deutlich abheben«: »Existenz eines neuen Stils, Ausdruck eines neuen Typus« – [s]o wie der Künstler-Philosoph erfindet, so experimentiert

on unknown and forgotten authors. Ball was also a superb writer [...]. Ball was a daring individualist, at odds with society and unwilling to compromise [...].« (The Magic Bishop, 1.) 105

Vgl. Braun, »Das Rätsel Hugo Ball«, 6. Zum Stand der Ball-Forschung s. Teubner, Hugo Ball. Eine Bibliographie, sowie die Nachträge hierzu in: Hugo-Ball-Almanach 17 (1993), 161-187; 20 (1996), 187-241; 26/27 (2002/2003), 121-208; 30 (2006), 128-205; N.F. 2 (2011), 138-178. S. außerdem die grundsätzliche Beobachtung von Hans Burkhard Schlichting zur Ball-Rezeption: »Hugo Ball hat in Deutschland mit keinem seiner Bücher eine kontinuierliche Wirkung gehabt. Wie bei kaum einem anderen Autor der expressionistischen Generation war ihre Aufnahme von den Einschnitten und lastenden Kontinuitäten der deutschen Zeitgeschichte behindert und von kulturellen Tabus betroffen. Dies gilt nicht erst für Balls postume Wirkung über das Jahr 1933 hinaus, sondern bereits für die unmittelbaren Zeitgenossen. So bedurfte es der nationalsozialistischen Bücherverbrennungen nicht mehr, um den Großteil seiner publizistischen Arbeit vergessen zu machen. [...] Nicht sein kritisches Werk, sondern sein praktischer Anteil an den künstlerischen Avantgardebewegungen war es, der die internationale Neuentdeckung Balls nach 1945 begründete.« (»Nachwort« [zu: Ball, Der Künstler und die Zeitkrankheit]«, 452.) S. außerdem u.a. wiederum auch Wenzel White, The Magic Bishop, 1: »Since the value of his work has not been critically determined, it remains largely invisible.«

106

Hofmann, »Erinnerungen an Hugo Ball«, 90. Andererseits stellt Ball fest: »Ich kann keine Romane mehr lesen.« (Die Flucht aus der Zeit, 194.) Zu Balls Umgang mit Literatur, d.h. zu Ball als privaten wie öffentlichen Bibliotheksbenutzer s. Wieland, »Lebenssammlung statt Gesamtausgabe«, 110.

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er auch und entdeckt, indem er etwas wagt.«107 Hermann Hesse schreibt über seinen »Freund« Ball: In der Zucht deines Denkens, in der Strenge deines sprachlichen Verantwortungsgefühls, im unablässigen Dienst am Worte, im bewußten Kampf gegen die Neigung der Epoche zur Fahrlässigkeit und Verantwortungslosigkeit im Denken und im Reden, bist du uns manche Jahre hindurch ein Beispiel gewesen, das uns in mancher Stunde der Not tröstlich angespornt, in mancher Stunde der Schwäche mahnend erinnert hat. Es war in deiner Nähe unmöglich, mit einer flachen Alltagsgeistigkeit oder mit einer virtuosen Berufsgeistigkeit vorliebzunehmen. Im Gespräch mit dir ging es stets um das Ganze, niemand war mehr als du ein Feind alles gewissenlosen Schwatzens. Wie waren wir dir dankbar für den heißen, rücksichtslosen Wahrheitsdrang deiner Zeitkritik! [...] Dies alles bleibt. Deine Schriften werden einmal zu den besten deutschen Büchern unsrer Zeit gezählt werden.108

Der »Revolte ohne positives Ideal«109 stellt Ball in seiner »Philosophie des Produktiven«110 dabei nicht allein die reine Subjektivität bei Seite, sondern, wie ich ausführen möchte, eine theoretisch ausgeführte ›Beunruhigung‹, in der in ostinater Weise gerade die ›Waffen‹ einer näher zu bestimmenden ›genialen‹ wie ›irrsinnigen‹ Idee von Kritik und Literatur im Horizont ästhetischer Provokation entwickelt sind. Mit Bezug auf Cesare Lombrosos Schrift Genie und Irrsinn schreibt Ball, der sich im Übrigen selbst »nicht für einen Verrückten« gehalten hat (»Ich habe wache Augen; ich kann sehr nüchtern sein«):111 Die neuen Theorien, die wir aufstellten, streifen in ihrer Konsequenz bedenklich diese Sphäre. Die Kindlichkeit, die ich meine, grenzt an das Infantile, an die Demenz, an die Paranoia. Sie kommt aus dem Glauben an eine Ur-Erinnerung, an eine bis zur Unkenntlich-

107

Onfray, Der Philosoph als Hund, 81.

108

Hesse, »Nachruf an Hugo Ball«, 246. Ball hat in seinem unveröffentlichten Tagebuch jene Bücher, die allein sich zu lesen lohnt, »Klassiker und Pfadfinder« genannt (Eintrag v. 21. März 1924; zit. nach Wacker, »Nachwort« [zu: Ball, Byzantinisches Christentum], 579.)

109

Hohendahl, »Hugo Ball«, 746. Hohendahl führt weiterhin aus, dass der Protest des Künstlers gegen die Zeit nicht mehr, wie noch im Expressionismus, impliziert hat, dass sich dieser ausgenommen weiß: »Ball will den Künstler und das Kunstwerk dem objektiven Prozeß der Entfremdung anheimgeben, um diesen dadurch wenigstens zu enthüllen.« (747)

110

Zehetner, Hugo Ball, 113.

111

Ball, Briefe 1904-1927, II, 263.

32 | Z UR Ä STHETIK DER P ROVOKATION keit verdrängte und verschüttete Welt, die in der Kunst durch den hemmungslosen Enthusiasmus, im Irrenhaus aber durch eine Erkrankung befreit wird. Die Revolutionäre, die ich meine, sind eher dort, als in der heutigen mechanisierten Literatur und Politik zu suchen. Im unbedacht Infantilen, im Irrsinn, wo die Hemmungen zerstört sind, treten die von der Logik und vom Apparatus unberührten, unerreichten Ur-Schichten hervor, eine Welt mit eigenen Gesetzen und eigener Figur, die neue Rätsel und Aufgaben stellt, ebenso wie ein neuentdeckter Weltteil. Im Menschen selbst liegen die Hebel, diese unsere verbrauchte Welt aus den Angeln zu heben.112

Die Frage, wie sich die Welt ›aus den Angeln‹ heben lässt – künstlerisch, theoretisch, kritisch –, ist der Leitsatz der im Folgenden diskutierten Ästhetik.113 »L’art pour l’art ist eine ästhetische Monomanie«, heißt es bei Ball, »[d]der Künstler muß die Idee haben, die Welt zu erlösen durch Rausch und Brand oder er ist sinnlos.«114 Ich versuche damit, Balls zerrissene »theoretische und publizistische Provokation«115 in eins zu bringen und so auch einer ›Herausforderung‹ gerecht zu werden, die die »Kritik als kulturelle Praxis« denkt, in der »Wert- und Kategoriefragen zum entscheidenden Scharnier« werden, mithin seine »potenziellen Sprechpositionen zwischen hegemonialen und subalternen Sprechpositionen ebenso wie zwischen politischen und ästhetischen Ansprüchen zu verorten.«116 Mit diesem Ziel korrespondiert, was Urs Allemann seinerseits für Hugo Ball in ein provozierendes poetisches Bild gesetzt hat. Allemann dichtet für Ball: mit der sonde stach man Sie tief in Ihre seite. den schreibestummel haben Sie ganz zerbissen. da lag Ihr mund auf ausgestreckten händen das tönende holz unterm kinn. wnr heult wnr pfaucht.

112

Ders., Die Flucht aus der Zeit, 110.

113

Zur Fundierung der These vom »Ende der Kunst«, an dessen Ende »kein Ende« sondern »ein anderer Anfang« steht, nämlich »die Entdeckung des Endes der Kunst als ein Diskurs der Moderne« (»Diese doppelte Dimension des Endes der Kunst als inneräshetisches Theorem einerseits und als externer Schauplatz seiner Entdeckung als Diskurs andererseits ist das Anliegen der jeweiligen Rekonstruktion des Endes der Kunst von Hegel bis Heidegger«), s. Geulen, Das Ende der Kunst, hier 29.

114

Ball, »Aphorismen«, 363.

115

Zehetner, Hugo Ball, 166.

116

Draxler, Gefährliche Substanzen, 31.

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Sie schwein stehn segnend auf dem marmorsockel. das wollen wir auf einem gemahlten penny beclownen. 3 quentlin klotzpulfer, 3-einsamkeit. mit teppichklopfern gesangvereine getötet: »dies ist ein offener skandal, mama.« o popo gross, o papa gras. Manch ungewitter ging verdriess. ein stein hält eine rede die leier eingestemmt in die zerstückten hüften. Man wird nicht von granaten nur zerrissen. [...]117

Und Paul Auster schreibt über Ball, dieser war: ein Kind seiner Zeit, und sein Leben scheint die Leidenschaften und Widersprüche der europäischen Gesellschaft im ersten Viertel dieses Jahrhunderts in ungewöhnlich hohem Ausmaß zu verkörpern. Leser der Werke Nietzsches; Inspizient und Bühnenautor für das expressionistische Theater; linker Journalist; Varietépianist; Dichter; Romancier; Autor von Werken über Bakunin, die deutschen Intellektuellen, das Frühchristentum und die Schriften von Hermann Hesse; Konvertit zum Katholizismus: zum einen oder anderen Zeitpunkt ist er mit nahezu allen politischen und künstlerischen Strömungen seiner Zeit in Berührung gekommen. Und doch waren Balls Einstellungen und Interessen trotz seiner vielfältigen Aktivitäten sein Leben lang bemerkenswert konsistent, und letztlich kann man seine gesamte Laufbahn als ein planvolles, ja fieberhaftes Streben, sein Dasein auf eine fundamentale Wahrheit, eine einzige, absolute Realität zu gründen, betrachten.118

117

U. Allemann, »das haben sie gewaltet / eine verhornung«, 144.

118

Auster, »Hugo Balls Tagebücher«, 34. S. außerdem auch Meyer/Schütt, »Nachwort«, 91: »Tatsächlich gibt es kaum ein geistiges, später geistliches Abenteuer, in das er sich nicht gestürzt hat: Dissertant über Nietzsche, Schauspielschüler bei Max Reinhardt, erfolgloser Stückeschreiber, Kriegsfreiwilliger, Vollzeit-Bohemien und erklärter ›Negationist‹, Emigrant, Kriegsgegner, Anarchist, Dadaist, republikanischer Journalist, gnostisch ausgerichteter Mystiker, bekennender Katholik, erster Hesse-Biograph, Exorzismusforscher und bettelarmer Eremit [...].« Zum autobiographischen Schreiben Balls s. zudem Verf., »Zur Herausforderung des Ästhetischen«.

Erster Teil: Zur Ästhetik kritischer Kollission

»Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, dem sich alles unterwerfen muß.« IMMANUEL KANT

»Kritik ist der Diskurs über einen Diskurs.« ROLAND BARTHES

1 Das sich selbst ›verzehrende‹ ästhetische Subjekt

»Zu sagen ist nichts mehr.« HUGO BALL

Die schon in der Rede von einer Ästhetik der Provokation angedeutete radikale Intentionalität des ästhetischen Subjekts als unaufhörliches Streben nach künstlerischer Autonomie impliziert das Bild eines unbeendbaren ästhetischen Destruktionsprozesses, der zu zwei alternativen ästhetischen Verfahrensweisen in Beziehung steht: Auf der einen Seite entspricht es einem improvisierend verfahrenden Willen zur künstlerischen Befreiung, der die Identifizierbarkeit der relevanten Mittel des ästhetischen Subjekts als ›destruktive Gebärden‹ voraussetzt und auf dieser Grundlage die Konstruktion eines offenen Systems neuer künstlerischer Signifikanten als Grammatik loser Verknüpfungen in Aussicht stellt.1 Zugleich steht die Einsicht in die angestrebte Loslösung der ästhetischen Signifikanten auch in Verbindung zu einer unvermittelten Entfesselung der materialen Bestimmungen ästhetischer Objekte, die etwa in der Forderung zum Ausdruck kommt, nicht nur die Grenzen im Kunstwerk, sondern die Grenze des Kunstwerks in materieller Hinsicht zu überwinden.2 Beide, der Wille zur Freiheit der künstlerischen Mittel wie die unvermittelte Entfesselung des künstlerischen Materials, sind Formen dessen, das Ball als »Zerstörung« der eigenen »harten inneren Kontur« beschreibt.3 Sie verweisen auf das, was das ästhetische Subjekt von anderen unterscheidet: dass es das, was es erschaffen will, nur erschafft, indem es »sich selbst« als »ursprünglichstes« Material auffasst; dass es nur durch

1 Vgl. Korte, Die Dadaisten, 52. 2 Diesen Gedanken hat etwa Kurt Schwitters für seine ›Merz‹-Ästhetik des Öfteren ausgeführt (vgl. ders., »Merz«, 76f.). Dazu näher Verf., »Aporetik des Übergangs«. 3 Ball, Die Flucht aus der Zeit, 122.

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»Selbsterziehung« und »Abwehr« ästhetisch erschafft.4 Gegenüber dieser ›Selbsterziehung‹ des ästhetischen Subjekts zwischen den beiden Polen der Wahl freier künstlerischer Mittel und der Materialbefreiung ist die ästhetische Provokation angesiedelt; sie ist, kurz gesagt, deren prozessualer Vollzug. Den Blick auf den selbsterzieherischen Prozess des ästhetischen Subjekts zu lenken, bedeutet jedoch mehr, als nur seine Struktur rekonstruierend darzulegen. Der Sinn ästhetischer Provokation lässt sich nur hinreichend erfassen, wenn sie als Wechsel ästhetischer ›Aggregatzustände‹ verstanden wird, die sich mal als nicht bedeutungstragende Signifikanten, mal als Mischungen des künstlerischen Materials darbieten und bei all dem darauf abzielen, den Sinn ›der Zeit‹ zu erfassen. Auf diese Vorstellung hat Ball in der These hingewiesen, die Kunst sei nicht Selbstzweck, aber sie biete »eine Gelegenheit zur Zeitkritik und zum wahrhaften Zeitempfinden, Dinge, die doch Voraussetzung eines belangvollen, eines typischen Stiles sind.« Ball schreibt: Dieser letztere erscheint uns keineswegs als eine so einfache Sache, wie man gemeinhin zu glauben geneigt ist. Was besagt ein schönes harmonisches Gedicht, wenn es niemand liest, weil es im Zeitempfinden gar keine Resonanz finden kann? Und was besagt ein Roman, der von Bildungswegen zwar gelesen wird, der aber weit davon entfernt ist, die Bildung auch zu bewegen?5

Gegenüber den beiden genannten ästhetischen Verfahrensweisen ist also nur diejenige auf der Höhe ihres Gegenstandes, die, wie es bei Ball heißt, Resonanz im Zeitempfinden finden kann und so sich der definitiven Entscheidung zwischen den beiden Alternativen enthält.6 Erklären lässt sich dieses Dilemma des ästhetischen Subjekts, indem es auf das »vergrabene Gesicht dieser Zeit« bezogen wird: auf ihren »Grund und Wesen«, auf die »Möglichkeit ihres Ergriffenseins«, ihre »Erweckung«; die Kunst sei dazu »nur ein Anlaß, eine Methode.«7 Dass der Freiheitsdrang im Künstler und die ›Befreiung‹ der Kunst für das ästhetische Subjekt demzufolge aus seiner Zeitbezogenheit resultieren, ist ein Effekt der prozessualen ›Selbstzerrüttung‹ im Sinne Balls. Dessen ästhetischer Vollzugsmodus ist im Provokationsmodell des Ästhetischen immer mit enthalten. Ball schreibt, die »vollendete Skepsis« ermögliche »auch die vollendete Freiheit«:

4 Ebd., 120. 5 Ebd., 88f. 6 Vgl. ebd., 89. 7 Ebd.

1.1 D AS SICH SELBST › VERZEHRENDE ‹ ÄSTHETISCHE S UBJEKT

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Wenn über den inneren Umriß eines Gegenstandes nichts Bestimmtes mehr geglaubt werden kann, muß oder darf, – dann ist er seinem Gegenüber ausgeliefert und es kommt nur darauf an, ob die Neuordnung der Elemente, die der Künstler [...] damit vornimmt, sich die Anerkennung zu erringen vermag. Diese Anerkennung ist gleichbedeutend mit der Tatsache, daß es dem Interpreten gelungen ist, die Welt um ein neues Phänomen zu bereichern. Man kann fast sagen, daß, wenn der Glaube an ein Ding oder an eine Sache fällt, dieses Ding und diese Sache ins Chaos zurückkehren, Freigut werden. Vielleicht aber ist das resolut und mit allen Kräften erwirkte Chaos und also die vollendete Entziehung des Glaubens notwendig, ehe ein gründlicher Neuaufbau auf veränderter Glaubensbasis erfolgen kann. Das Elementare, Dämonische springt dann zunächst hervor; die alten Namen und Worte fallen. Denn der Glaube ist das Maß der Dinge, vermittels des Wortes und der Benennung.8

Der damit behauptete Begründungszusammenhang zwischen ›vollendeter Freiheit‹ des Künstlers, ›Neuordnung‹ der künstlerischen ›Elemente‹ und dem ›resolut und mit allen Kräften erwirkte[n] Chaos‹ der Kunst führt bei Ball nun zum Gedanken des ›Phantastischen‹ im Bild des ›Dämonischen‹.9 Balls Behauptung, die Kunst seiner Zeit habe es »in ihrer Phantastik, die von der vollendeten Skepsis herrührt«, mit »dem Dämon zu tun«: »sie selber« sei »dämonisch«,10 verweist (nach Zehetner) auf die »konzeptuelle Fassung des Problems des Empirischen« schlechthin; die »volle empirische Realität des Menschen (Gesellschaft, Politik, Technik, Wirtschaft, Kultur) und der Natur« setze Ball »stets in Bezug zur Dämonologie«.11 Eine solche ›dämonische Kunst‹ weist dabei schon allein in begriffshistorischer Hinsicht darauf hin, dass stets ein Versuch ästhetischer Pro-

8

Ebd., 90. Zu dieser Stelle s. auch Hillach, »›Das Wort als ein Gottwesen von unentrinnbarer Wirkung‹«, 241f., bes. 242: »Schon an der Formulierung dessen, was ›vollendete Freiheit‹ sein könne, nämlich der Durchgang durch die kritische Reflexion und als deren Resultat die ›vollendete Skepsis‹, wird die Nähe zur frühen Romantik deutlich. Was die Reflexion notwendigerweise auflöst, sind kollektiv verbürgte Glaubensgehalte. Sie bestimmen auch das, was man den ›inneren Umriß eines Gegenstandes‹ nennen kann, sein unter allen denkbaren Hinsichten sich durchhaltender Bedeutungskern, das, wozu der Gegenstand ›eigentlich‹ da ist. Der ›Glaube an ein Ding oder eine Sache‹ ist in diesem Sinne ihre Evidenz. Es bedarf erst einer fundamentalen Entsicherung des Weltbildes, um die beliebige Verwendbarkeit und Interpretierbarkeit der gegenständlichen Welt auch nur in den Blick zu rücken.«

9

S. dazu wiederum auch Verf, »Zur Herausforderung des Ästhetischen«.

10 Ball, Die Flucht aus der Zeit, 90f. 11 Zehetner, Hugo Ball, 93.

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vokation ein Erwirken von Chaos ist.12 Jeder Gegenstand, auf den sich das ästhetische Subjekt im Prozess seiner Selbstzerrüttung stürzt, wird darin immer schon als neu zu ordnend wahrgenommen, ohne diese Ordnung bereits absehen zu können. Ästhetische Provokation kann deshalb niemals geradewegs vorhanden sein, sondern nur stetig produziert werden, genauso wie die im nächsten Kapitel begrifflich zu erklärende Kritik als Theorie nicht nur von außen auf Praxis und Produktion blickt, sondern immer auch selbst »produziert«: »die Kritik steht nicht außerhalb der Verhältnisse, sondern bezieht darin eine spezifische Position.«13 Das ist zugleich eine erste Formel für das vorzustellende Provokationsmodell: Ästhetische Provokation ist Herstellung prozessualer Kunst als befreites Selbst und befreites Material, und zwar allein dadurch, dass sich das ästhetische Subjekt im Sinne Nietzsches selbst neu erzieht.14 Ästhetisch provozierend sinkt der Künstler gleichsam – in sich – zu Bestimmungen desjenigen Materials herab, aus dem er die ästhetischen Objekte zu bilden versucht. Der ästhetische Modus dieser Bildung ist tatsächlich selbstdestruktiv oder selbstsubversiv: Die befreiten künstlerischen Mittel und das entfesselte Material bewirken, wenn sie zum Zweck der ästhetischen Provokation vollzogen werden, die Sehnsucht nach einer neuen Existenzform; die ästhetische Selbstdestruktion oder Selbstsubversion entspricht dem Wunsch nach einem neuen ›Ich‹.15

12 S. dazu u.a. Frey-Anthes, Unheilsmächte und Schutzgenien, Antiwesen und Grenzgänger, 5: »Das Dämonische wird also dadurch erfahren, dass es in die Ordnung und Sicherheit der erklärbaren Welt eindringt.« 13 Draxler, Gefährliche Substanzen, 120. 14 S. dazu näher Saar, Genealogie als Kritik, 99-103. 15 S. dazu auch Forster, Die Fülle des Nichts, 61-69, bes. 61: »Ein Leben am Rande der Gesellschaft [...] zu führen und eine ex-zentrische Position einzunehmen, kommt – aus der Perspektive der zentripetal orientierten Gesellschaft – einer Missachtung der üblichen Umgangsformen und einer Selbsterhöhung des aus der Norm ausbrechenden Subjekts gleich. Diesen Vorwurf nehmen die dadaistischen Exzentriker geradezu bereitwillig hin. Sie verabschieden sich von der konformen Masse, dem main stream und dessen Ideale, um nicht nur neue Wege zu gehen, sondern um sich diese erst einmal zu bahnen. Dabei spielt es keine Rolle, in welche Richtung diese Wege führen und welcher Art sie sind. Nicht das Ziel und die Weise des exzentrischen Daseins sind von Bedeutung, allein der Impuls, die ausgetretenen Bahnen des Althergebrachten zu verlassen und sich abseits zu schlagen, ist ausschlaggebend. Der Exzentriker lässt dabei all das bewusst hinter sich, was ihn von außen her eine Orientierungshilfe sein könnte. Die Herausforderung seiner Lebensführung liegt nun darin, in allem, was er

1.1 D AS SICH SELBST › VERZEHRENDE ‹ ÄSTHETISCHE S UBJEKT

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Ich will die Frage nach diesem neuen ›Ich‹ des künstlerischen Subjekts mittels prozessualer Signifikantenbildung neuer künstlerischer Mittel und Materialien vor der Folie einer ›dämonischen Kunst‹ als Erstes an einem literarischen Beispiel veranschaulichen, in dem sich die ästhetische Provokation auf einer fiktiven und sehr elementaren Ebene zeigt und das Balls Gedanke des ›Phantastischen‹ im Bild des ›Dämonischen‹ bereits im Titel anzeigt: anhand seines Romans Tenderenda der Phantast, der als ein »Schlüsselroman«16 des literarischen Dadaismus aufgefasst worden ist,17 als eine Fiktion, in der Ball »in thematischer und formaler Hinsicht seine Auseinandersetzungen mit den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der künstlerischen Existenz in der Moderne«18 dokumentiert und destilliert. Balls Text erläutert meine oben formulierte, erste These und macht jene Implikationen ästhetischer Provokation, die er als »zeit- und lebensgeschichtliches Gegenereignis«, als »avant- und aprèsgardistischer Entwicklungs- und Künstlerroman« auslöst,19 dem aber auch selbst »eine besondere Qualität der Provokation«20 eignet, zu einem Verfahren, das symptomatisch die insbesondere ontologischen Konstellationen,21 um die sich Balls Ästhetik dreht, versinnbildlicht. Ich orientiere mich bei der Lektüre von Balls Roman im Folgenden am entsprechenden Kapitel in Christoph Schmidts großer Studie zur Apokalypse des Subjekts, da dieser Textzugang den vorliegenden Zusammenhang entscheidend erhellt.22 Deren Ergebnissen stelle ich meine eigenen Interpretamente bei Seite. Die Rekonstruktion der Lektüren von Schmidt bieten also die Möglichkeit, erste Parameter der Provokationsästhetik genau zu benennen

tut, denkt und fühlt, auf sich gestellt zu sein. [...] Das Ich wird folglich zur primären Instanz der Lebensgestaltung.« 16 Faul, »Nachwort« [zu: Ball, Zinnoberzack, Zeter und Mordio], 140. 17 Die Forschung hat längst widerlegt, Balls Text sei nur eine Stilkopie von Carl Einsteins Avantgarde-Roman Bebuquin oder die Dilettanten des Wunders. S. dazu etwa Kramer, »›Wundersüchtig‹«. 18 Rechner-Zimmermann, Die Flucht in die Sprache, 7. 19 Meyer/Schütt, »Nachwort«, 88. 20 Wenzel White, »So nie gehörte Töne«, 59. 21 S. dazu auch Freeman, »Ernst Bloch and Hugo Ball«. 22 Zur Interpretation des Romans s. außerdem insgesamt Rechner-Zimmermann, Die Flucht in die Sprache. Weitere, ältere Textzugänge finden sich u.a. bei Wild, Hugo Ball; Baumann, »Hugo Balls erzählende Prosa«; Knüfermann, »Hugo Ball«; Hohendahl, »A surrealistic novel«; Prawer, »Dada dances«; Backa, Poetische Sprache und Sprachreflexionen bei Hugo Ball. S. zudem auch Rechner-Zimmermann, »Dadaistische Satanismen«, sowie Wenzel White, The Magic Bishop, 139-176.

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und diesen meine eigene Lesart des Romans beizufügen. So lassen sich drei Fälle unterscheiden: 1. Provokation des ›Daseins‹ des ästhetischen Subjekts durch radikale Skepsis gegenüber allem Bestehenden: Im ersten Kapitel des ›Phantastenromans‹ (Der Aufstieg des Sehers) wird eine Welt des Zerfalls und der Zerstörung in absurd-makabren Szenenbildern als »avantgardistisches Spektakel« entfaltet, in dem sich, so Schmidt, nie ausmachen lässt, »ob die phantastischen Bilder und Eingebungen der Einbildungskraft tatsächlich schon für einen anderen Seinsstatus verbürgen, oder ob sie, reine Täuschungen einer Fata Morgana, die Hinfälligkeit des kreatürlichen Seins nur dekorieren.«23 Hier wird radikale SeinsSkepsis zum poetischen Prinzip;24 und es ist dieser skeptische Standpunkt gegenüber dem ›Dasein‹, der der Erzählung gleich zu Beginn ein Atmosphäre verleiht, die für die Figuren biblisch-prophetische bis hin zu apokalyptischen Erwartungen hervorzurufen vermag; gebetsartig konnotiert (»Siehe, er saß vor Atlanten und Zirkeln und kündete Weisheit der oberen Sphären«; »Befreie, o benedeie / Du Unbekannte / Tritt herfür!«),25 schildert Ball eine Szene, in der eine »Warnung ausgegeben ward, besagend, daß, wer die Glockenräder und Lumpentürme besichtige oder betrete und ohne Ermächtigung abgefasst würde, bei lebendige Leibe solle des Todes sein.«26 Mit starker inhaltlicher Anspielung an Friedrich Nietzsche,27 d.h. genauer: an das von diesem geschilderte ›Auftreten‹ Zarahthustras,28 tritt in Balls Roman die Figur eines Sehers auf, der auf dem Marktplatz einer imaginären Stadt die moderne Welt »als Inferno«29 ausruft: »[...] Wahrlich ich sage euch: meine Demut gehet nicht euch an, sondern GOTT. Jeder suchet ein Glück, für das er nicht ausreicht. Keiner hat Feinde, so viele er haben kann. Eine Schimäre ist der Mensch, ein Wunder, ein göttliches Ungefähr, voll Tücke und Zwielist. Eines Tages kannt ich mich selbst nicht mehr aus Neugier und Argwohn. Siehe, da kehrte ich um und hielt Einkehr. Siehe, da brannte die Kerze und tropfte auf meinen eigenen Schädel. Meine erste Erkenntnis aber war: klein und groß, das ist Aberwitz. Groß und klein, das ist Relativismus. Siehe, da schnellt mein Finger hervor und verbrannte sich an

23 C. Schmidt, Die Apokalypse des Subjekts, 98f. 24 Vgl. ebd., 99. 25 Ball, Tenderenda der Phantast, 8. 26 Ebd. 27 Dazu genauer Philipp, Dadaismus, 147f. 28 Vgl. Nietzsche, Werke in drei Bänden, 2, 285. 29 Hohendahl, »Hugo Ball«, 749.

1.1 D AS SICH SELBST › VERZEHRENDE ‹ ÄSTHETISCHE S UBJEKT

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der Sonne. Siehe, da ritzte der Finger der Turmuhr den Boden auf der Straße auf. Ihr aber glaubet zu fühlen und werdet gefühlt. [...] Wahrlich, kein Ding ist so, wie es aussieht. Sondern es ist besessen von einem Lebgeist und Kobold, der steht still, alslang man ihn anschaut. So man ihn aber entlarvet, verändert er sich und wird ungeheuer. Jahrelang trug ich die Last der Dinge, die ihre Befreiung wollten. Bis ich erkannte und sah ihre Dimension. [...]«30

Der anthropologische Vorbehalt des Sehers, den die erzählte Welt in ihrer surrealen31 Erscheinung kontrastiert (im »fünfte[n] Stockwerk des viertes Gebäudes« etwa »ragte Lünettes rosaseidenes Bein aus dem Fenster«, auf dem »saßen zwei geflügelte Wesen, die saugten Blut«32), unterstützt die zwar erwartungsvolle, doch auch bedrohliche und gleichsam aufkochende ›Stimmung‹; dass sich zuvor »händeringend die Bitt- und Kaffeeprozessionen der Künstlerschaft und der Gelehrten« mit »Klappern und Dudelsäcken« bewegten, gibt einen ersten Hinweis auf das hier von Ball literarisch verhandelte Thema. Denn man kann, wie Schmidt, in der ›Dimension‹ der ›Last der Dinge‹, ›die ihre Befreiung wollten‹, das Resultat der ›befreiten‹ ästhetischen Subjektivität lesen, die sich zwangsläufig aus der »Krise des modernen Ingeniums, Genies und Subjekts«33 ergibt. Balls Text zeigt in der Fiktion die Theorie einer prozessualen Selbstbefreiung, die als Ergebnis von ›Neugier‹ und ›Argwohn‹, von Innovationslust und Skepsis fungiert; die »Krise des Ichs bzw. der modernen Subjektivität« ist auf dieser Ebene »Funktion einer Doppelbewegung von radikaler Skepsis und Kritik an allem Gegebenen, Tradierten und Vorgegebenem einerseits und einer permanenten Innovation der Seinsgrundlagen andererseits.«34 Ball beharrt nicht zuletzt als Dadaist auf dieser Subjektivität als Daseinsform – Iris Forster weist darauf hin, wie eine solch »extreme Betonung des Subjekts« auch bei anderen ›Dadaisten‹ »zu einer weiteren Ausdifferenzierung des Ich« führt.35 Schmidt fällt zu Recht die Ent-

30 Ball, Tenderenda der Phantast, 9. 31 S. dazu auch Philipp, Dadaismus, 159. 32 Ball, Tenderenda der Phantast, 9. 33 C. Schmidt, Die Apokalypse des Subjekts, 103. 34 Ebd., 104. 35 Forster, Die Fülle des Nichts, 64. Nicht nur das Einzelwesen im Gegensatz zur Welt des Nicht-Ich und insbesondere der gesamten Menschheit, sondern das Ich in seinem wesenhaften Unterschied zu anderen subjektiven Seinswesen trete hier verstärkt in den Mittelpunkt; das, was das Subjekt zum Individuum und zur Person mache, scheine gerade die Steigerung des subjektiven Denkens in der historischen Moderne zu sein (vgl. ebd.).

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sprechung von »Skepsis [= Argwohn]« und notwendiger, »totaler Innovation [= Neugier]« auf, »in der das Ich sich selbst und die Welt aus dem Nichts erzeugen muß.«36 Damit ist ein weiterer Grundzug ästhetischer Provokation frei gelegt: »Die Befreiung von den Determinationen durch die signifizierende Sprache löst das Ich aus seinen [Daseins-]Relationen und Bindungen, um es als ursprüngliches Ich sich selbst zugänglich zu machen«, eine »reine Selbstpräsenz« zu konstituieren; doch ist diese ›reine Selbstpräsenz‹ des Ichs, »in der es sich von jeder äußeren Bestimmung emanzipiert zu haben glaubt«, wiederum »nichts andere als der Augenblick einer totalen Krise«, da es jetzt »völlig bestimmungslos und selbstlos geworden ist.«37 Die Worte des Sehers, der Mensch sei eine ›Schimäre‹, deuten mithin nach Schmidt den Horizont an, in dem sich das Ich vorfinde; als Ich jenseits jeder Determination habe es zwei Möglichkeiten: Entweder müsse die Freiheit des absoluten Subjekts/Genies von jeder Determination in eine totale Ohnmacht sich verkehren, da es jede konkrete Realität nur wieder als Begrenzung und Negation der eigenen unendlichen Freiheit begreifen muss – oder es begebe sich wieder in die Realität, um diese immer von Neuem zu zerstören.38 Beide Möglichkeiten rufen eine Vorstellung von ›Dämonie‹ im Sinne von ›Besessenheit‹ auf. Indem alles Seiende nach Befreiung drängt, enthüllt es den ›dämonischen‹ Abgrund des Seins: »Die Besessenheit auf die Selbstbefreiung, in der sich das Ich durch die Reihe seiner Selbstnegationen hindurch von sich selbst zu emanzipieren und zu verabsolutieren sucht, enthüllt auch noch in dieser radikalen Verfehlung«39 die Dimension ästhetischer Provokation. Allerdings bleibt die Rede des Sehers nicht ohne Reaktion; so wie Ball wiederum als Dadaist die Konfrontation mit seinem Publikum sucht, auch, um diesem »neue Formen der Daseinsgestaltung«40 offen zu legen, zeigt sich der »Pöbel«, der seinerseits als Publikum des Sehers fungiert, »erschrocken, schüttelte aber, da ihn das Schauspiel befremdete, ungläubi-

36 C. Schmidt, Die Apokalypse des Subjekts, 104. 37 Ebd. 38 Ebd., 104f. 39 Ebd., 105. 40 Forster, Die Fülle des Nichts, 66; s. auch ebd., 67: »Das Publikum als Gesprächspartner der Dadaisten muss also in einen Dialog treten, der in den Konfrontationen mit den Künstlern eine ständige Bereitschaft zur Überprüfung der eigenen Position verlangt. Es muss mit der Spielgemeinschaft der Exzentriker im Spiel bleiben. Dabei geht es nicht um die Verständigung über ein gemeinsames Ziel, sondern um die gegenseitige Bereicherung individueller Daseinskonzeptionen im Aufeinanderprallen unterschiedlicher Ichformen.«

1.1 D AS SICH SELBST › VERZEHRENDE ‹ ÄSTHETISCHE S UBJEKT

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gen Mißbehahens den Kopf« und »schwenkte aus Leibeskräften die Salztrompeten und mitgebrachten Papierlaternen«.41 Daraufhin zersprengt im Roman der Seher als eine »Verkündigung vom Ende aller Verkündigung« in letzter Konsequenz »mit einem Wunderspiegel die Konturen der Welt, um sein nihilistisches Werk der (Selbst)Zerstörung zu vollenden und damit den ›apokalyptischen Umriß der Epoche‹ noch schärfer hervortreten zu lassen«:42 In der Tat zog der Seher, bestürzt und entmutigt, den Vergrößerungsspiegel aus der Tasche. Einen Spiegel beiläufig vom Umfange einer russischen Schaukel, wie sie auf Jahrmärkten zu sehen sind. Außerordentlich fein geschliffen das Glas, silbern gefaßt und an langem Holzstiele zierlich befestigt. Er hielt diesen Spiegel in tragischer Pose hoch über sich, stob plötzlich empor, zersprengte den Spiegel, die Trümmer klirrten, und er entschwand in die gelben Meere des Abends. Der Seher hielt diesen Spiegel in tragischer Pose hoch über sich, stob plötzlich empor, zersprengte den Spiegel, die Trümmer klirrten und er entschwand in die gelben Meere des Abends. Die Glasscherben des zerbrochenen Wunderspiegels aber zerschnitten die Häuser und zerschnitten die Menschen, das Vieh, die Seiltänzerinnen, die Fördergruben und alle Ungläubigen, so dass sich die Zahl der Verschnittenen mehrte von Tag zu Tag.43

Der »euphorische Flug« des sich selbst befreienden ästhetischen Subjekts in den Himmel als »Zerstörung der es begrenzenden Realität«44 gipfelt in der Feststellung der Vermehrung der Verschnittenen: Die Aneinanderreihung von ›Häusern‹, ›Menschen‹, ›Vieh‹, ›Seiltänzerinnen‹, ›Fördergruben‹ und ›Ungläubigen‹ aktualisiert das moderne ästhetische Stilprinzip der Zerstückelung der Welt45 und verweist auf das Provokationsmodell der Kunst, das einen Untergang, aber auch eine ›Wiedergeburt‹ des ästhetischen Subjekts propagiert, wofür die radikale Skepsis in der skizzierten Weise konstituierend erscheint. Ball schreibt, die »Kunst in ihrer Phantastik« verdanke sich der »vollendeten Skepsis« und folglich »münden die Künstler, soweit sie Skeptiker sind, in den Strom der phantas-

41 Ball, Tenderenda der Phantast, 10. 42 C. Schmidt, Die Apokalypse des Subjekts, 105. 43 Ball, Tenderenda der Phantast, 10. 44 C. Schmidt, Die Apokalypse des Subjekts, 106. 45 Vgl. ebd., 107. Zu deren Relevanz bei Ball s. auch Brokoff, Geschichte der reinen Poesie, 515.

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tischen Zeit«; sie »gehören dem Untergang, sind seine Emissäre und Blutsverwandte, wie sehr sie sich gegensätzlich gebärden mögen.«46 2. Provokation des ›Daseins‹ als Dichter durch (romantische) Durchbrechung der Grenzziehung zwischen Realität und Phantasie: Im zweiten Kapitel (Das Karusselpferd Johann) steht eine »phantastische Dichtergemeinde« im Zentrum, deren Mitglieder das semiotisch codifizierte und in Anlehnung an die berühmte dadaistischen Metapher des ›Steckenpferdes‹,47 das hier in ironischer Brechung als »Karusselpferd Johann« benannt wird, ins Bild gesetzte Signum avantgardistischer Kunstpraxis »in Sicherheit« bringen wollen.48 Diese Textpassage bietet damit die Beschreibung einer zweifachen Fluchtbewegung; die erste gilt dem zu sichernden, symbolischen ästhetischen Objekt, die zweite der damit zwangsläufig auch in Sicherheit zu bringenden ästhetischen Subjekte. Der Fluchtpunkt, auf den die Bewegung zuläuft, ist dabei eine Art Sackgasse, von der es im Text heißt, hier habe »die Welt ein Ende«: »›[...]Hier ist eine Wand. Hier geht es nicht weiter.‹ In der Tat gab es da eine Wand. Die stieg senkrecht zum Himmel.«49 Das die beiden Bewegungen abrupt Stoppende ist ein Hindernis, das die Endlichkeit des ›Daseins‹ in der Wirklichkeit anzeigt, die aber im Text sogleich überwunden werden kann, indem Dichter und Symbol-Pferd beginnen, in der Luft zu schweben.50 Man könnte in Anlehnung an Schmidt sagen: Im Flug über das letzte Hindernis zur Überwindung der Realität geraten die Dichter in eine andere, eine phantastische Welt, konkret: in die »lybische Wüste«51 (eine Reminiszenz »vielleicht auf Paul Klees und August Mackes Exkursion nach Tunesien«,52 wie ja überhaupt das ›Steckenpferd‹ die picturas des ›Blauen Reiters‹ aufruft), »um sich dort vollends zu verwirren«; sie überschreiten dazu eine Grenze, deren Überschreitung53 als erzählerisches Prinzip einer »permanenten enharmo-

46 Ball, Die Flucht aus der Zeit, 108. Vgl. dazu auch C. Schmidt, Die Apokalypse des Subjekts, 107. 47 »Dada heisst im Rumänischen Ja, Ja, im Französischen Hotto- oder Steckenpferd. Für Deutsche ist es ein Signum alberner Naivität und zeugungsfroher Verbundenheit mit dem Kinderwagen.« (Ball, Die Flucht aus der Zeit, 95) Zum ›Namensmythos‹ von ›Dada‹ s. u.a auch Raimund Meyer, »›Dada ist gross, Dada ist schön‹«, 25-27, 69. 48 Ball, Tenderenda der Phantast, 11. 49 Ebd., 13. 50 Vgl. ebd. 51 Ebd., 14. 52 C. Schmidt, Die Apokalypse des Subjekts, 109. 53 Zum Begriff der Überschreitung s. insbes. auch Bataille, Die Erotik, 266f.: »Die Überschreitung zur Grundlage der Philosophie zu machen (das ist das Unterfangen

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nischen Verwechselung zwischen Realität und Phantasie« identifizierbar ist, die zum Einen »das romantische Prinzip der progressiven Ironie bzw. der Ästhetisierung und Poetisierung der Welt imitiert«, zum Anderen »dieses scheinbar harmlose Spiel mit den Grenzen der Kunst gerade als dämonische Gefahr erkennbar macht.«54 Dieses Wechselspiel scheint dadurch möglich geworden, dass die Phantasie der »frei schwebenden ästhetischen Existenzen« jenen »den Rückzug aus jeder Verantwortung für die kritisierte Welt offenhält.«55 Sie existieren am Ende nur noch in der Phantasie; sie sind buchstäblich deren Produkte und der Sinn ihrer ›Existenz‹ liegt allein in deren Rettung vor der (realen) Welt: »[...], sprach Jopp, ›das ist ja die glatte Robinsonade.‹ ›Mumpitz‹, sprach Stiselhäher, ›er ist eine Fiktion. Das hat dieser Benjamin angerichtet. Er denkt sich das aus, und wir haben zu leiden darunter ...‹ Sehr geehrter Herr Feuerschein! Ihr konföderiertes Naturburschentum, Ihre Latwergfarbe, das imponiert uns nicht. Noch ihre entliehene Kinodramatik! Aber ein Wort zur Aufklärung: Wir sind Phantasten. Wir glauben nicht mehr an die Intelligenz. Wir haben uns auf den Weg gemacht, um dieses Tier, dem unsere ganze Verehrung gilt, vor dem Mob zu retten.‹«56

Den Umstand, dass die Dichter auf ihrer Flucht die Grenzen des realen Daseins übersteigen, bestärkt der Hinweis, dass dem Karussellpferd das »Symbol des sterilisierten Phantastenclubs Blaue Tulpe« eingeschrieben ist – ein erneuter Hinweis auf die romantische Aufladung der Textstelle; in der Anspielung auf Novalis’57 Blaue Blume manifestiert sich das »romantische Ursymbol« für die die

meines Denkens), heißt, die Sprache durch eine schweigende Kontemplation ersetzen. Es ist die Kontemplation des Seins auf dem Gipfel des Seins. Die Sprache ist keineswegs verschwunden. Wäre der Gipfel zugänglich, wenn der Diskurs nicht die Zugänge erschlossen hätte? Aber die Sprache, die sie beschreibt, hat im entscheidenden Augenblick keinen Sinn mehr, wenn die Überschreitung selbst, als Bewegung, an die Stelle der diskursiven Darstellung der Überschreitung tritt.« Dazu u.a. näher Verf., »Ökonomie der Vergeudung«. S. außerdem auch die Beiträge in Hetzel/Wiechens (Hg.), George Bataille. 54 C. Schmidt, Die Apokalypse des Subjekts, 109f. 55 Ebd., 110. 56 Ball, Tenderenda der Phantast, 14. 57 Das Verhältnis Balls zu Novalis hat Erdmute Wenzel White herausgearbeitet; von ihr werden etwa auch die Zusammenhänge zwischen Novalis’ Heinrich von Ofterdingen und Balls Tenderenda der Phantast plausibel herausgestellt: »›Heinrich von Ofterdingen‹ und ›Tenderenda der Phantast‹ sind von der gleichen Atmosphäre der Verzaube-

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Wirklichkeit derart überwindende »poetisch-metaphysische Phantasie.«58 Jedoch ist dieses Symbol, worauf Schmidt ausdrücklich hinweist, »sterilisiert«:59 »die Blume hat, um im Bild zu bleiben, ihre Fruchtbarkeit eingebüßt. Die poetische Grenzüberschreitung der Realität verweist sich immer wieder als Flucht vor der Realität und endet im Niemandsland: als eine Verirrung in der Wüste, wo blaue Blumen und Tulpen vertrocknen müssen.«60 Der Übergang von der Wirklichkeit zur Phantasie vollzieht sich in der ja in losen Bilderfolgen erzählten Handlung von Balls hier zur Exemplifikation der Verfahren ästhetischer Provokation dienendem Roman schließlich durch die Einschaltung eines poetischen Initiationsprozesses, einer ›Geburt‹. Mit diesem Begriff wird der Aspekt des schöpferischen Befreiungsaktes wieder ins Spiel gebracht, der, nachdem er in den oben skizzierten und mit Schmidt gedeuteten Romankapiteln bereits immer wieder implizit präsent gewesen ist, in dieser Phase der Handlung im Mittelpunkt steht: »Die Geburt des Dadaismus. MulcheMulche, die Quintessenz der Phantastik, gebiert den jungen Herrn Fötus, hoch oben in jenem Bereich, der von Musik, Tanz, Torheit und göttlicher Familiarität umgeben, sich klärlich genug vom Gegenteil abhebt.«61 Die fiktiv in Szene gesetzte ›Geburtsstunde‹ der dadaistischen ›Avantgarde‹62-Bewegung macht erneut

rung getragen, beide stellen den inneren Bildungsweg des Dichters dar. Nicht um lyrische Gefühle geht es, sondern um Wahrung des Bezirks der Sprache; [beide] sind [von] dem kühnen Versuch [bestimmt], der Dichtung die starke Einwirkung in das Leben zurückzuerstatten.« (»Hugo Ball und Novalis«, 313f.) 58 C. Schmidt, Die Apokalypse des Subjekts, 110. 59 Ball, Tenderenda der Phantast, 14. 60 C. Schmidt, Die Apokalypse des Subjekts, 110. 61 Ball, Tenderenda der Phantast, 27. 62 Kurz zum Begriff der Avantgarde: Avantgarden sind die »Augen des Heeres« (Clausewitz, Vom Kriege, 294), sie sind das, was vor dem sich bewegenden Heere aufklärt (vgl. Plumpe, »Avantgarde, 8). Gehören sie damit vor dem Hintergrund der militärtheoretischen Begriffsherkunft zum räumlichen Orientierungsrahmen des Gefechtsfeldes – darin »positionierte sich die aus hochmobilen Einheiten rekrutierte Avantgarde ganz vorn, um ihrer Funktion des Aufklärens (feindlicher Absichten), der Bereinigung des Terrains oder hinhaltender Scharmützel gerecht werden zu können« (ebd.) –, so ist die Frage nach einer Theorie der Avantgarde notwendiger Bestandteil kunsttheoretischer Überlegungen (vgl. Bürger, Theorie der Avantgarde, 7). Avantgarden gehören zu dem, was Carl Schmitt als den »Vortrupp des Weltgeistes« (Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 71) bezeichnet hat, und sie sind daher eine genuin ästhetische Kategorie, eine art social, für die die Künstler an der Spitze der

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die Durchbrechung der »Grenzziehung zwischen Realität und Phantasie in einem Akt romantischer Ironie« sowie damit die »die Realität negierende Phantasie als Komplement der Vernichtung, die der sogenannte Realitätssinn vollstreckt«, transparent.63 Die dabei auftretende Figur Musikon versinnbildlicht, da sie »aufgebaut« ist »ganz aus Passacaglien und Fugen«, einen Künstler, der »nach der Auflösung der Alltagssprache in eine reine asemantische Phonetik, die ihrerseits das romantische Ideal der reinen nur noch klingenden/musikalischen Poesie realisiert, selbst nur noch aus Musik besteht.«64 Die Musik ist »– seit den Versuchen

Gesellschaft stehen (vgl. Fischer, »Avantgarde«, 45f.) – s. dazu wie für den vorliegenden Kontext auch die Beobachtung von Felicitas von Lovenberg, dass der Kritiker »sich immer an der Spitze« orintiere (»Das Selbstverständnis des Literaturkritikers«, 30). Wenn man Avantgarden nun so aus einer Perspektive betrachtet, die eine Entdifferenzierung von Kunst und Leben hervorhebt, d.h. die Kunst, wie Georg Simmel sagen würde, mit ihnen ›aus dem Rahmen‹ fallen lassen möchte (vgl. Vom Wesen der Moderne, 251-261), kommen diese hinsichtlich der Destabilisierung von Kunst- und Gesellschaftsordnungen in den Blick. Diese Perspektive thematisiert Weisen von ›Rahmenattacken‹ (vgl. Plumpe, »Avantgarde«, 10): »Avantgardist zu sein heißt daher auch, eine alteuropäische Rhetorik zu reaktivieren, die in ihren performativen Akten ›große‹ Symboliken der Gewalt ausstreut und metaphorisch in die feindlichen Linien einbrechen lässt« (Stöckmann, »Avantgarde und juristischer Diskurs«, 38). S. dazu insgesamt auch Beyme, Das Zeitalter der Avantgarden; Hardt (Hg.); Literarische Avantgarden; Fähnders/Berg (Hg.), Metzler Lexikon Avantgarde; Umathum, »Avantgarde«; Barck, »Avantgarde«; sowie kritisch auch R. Kühn, »Überlegungen zum Thema ›Avantgarde‹ aus literaturwissenschaftlicher Sicht im Rückblick auf ein Vierteljahrhundert«, 46: »[...] der Avantgarde-Begriff [ist] grundsätzlich offenzuhalten [...]. Das heißt erstens historisch offen, um der weiteren Praxis nicht vorzugreifen, zweitens aber inhaltlich offen, um der Komplexität des Phänomens Rechnung zu tragen.« S. zudem Jäger, »Die Avantgarde als Ausdifferenzierung des bürgerlichen Literatursystems«; Clausen/Singelmann, »Avantgarde heute?«; Spielmann, »Der Scheintod der Avantgarde«; Hirdina, »Avantgarde – ein Begriff der Literaturgeschichte?«. Dieter Mersch entziffert die Geschichte der Avantgarde »aus der Figur eines Dreiecks«: »Konstruktivismus, Dadaismus und Surrealismus bilden die drei Seiten einer Konstellation, auf die sich sämtliche nachfolgenden Projekte beriefen und aus denen sie ihre spezifische Kraft und Dynamik bezogen.« (Ereignis und Aura, 251.) 63 Vgl. C. Schmidt, Die Apokalypse des Subjekts, 110. 64 Ebd., 111. Zur Diskussion der musikalischen Implikationen von Balls Roman s. Wenzel White, »So nie gehörte Töne«, 99-101. Zum weiterreichenden Kontext zwischen dadaistischer Literatur und Musik im Anschluss an Ball bzw. auch die Post- oder Neo-

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von Novalis bis Dada, eine absolute Poesie zu begründen, also eine reine, nicht mehr bedeutende Sprache zu dichten, die selbst nur noch Klang und Musik, die Alltagssprache(n) überwunden hätte – das Urmodell für eine von allem Ballast des Empirischen befreiten Kunst«;65 die Selbstbestimmung und Autonomie des Künstlers und Genies vollendet sich im Namen absoluter Selbstbefreiung und damit im Geiste eines Grundzuges ästhetischer Provokation. Hinzuweisen ist mithin darauf, dass das Volk sich unter dem Balkon des Grand Hotels versammelt, um die Niederkunft Mulche-Mulches abzuwenden, und zwar um dadurch das Neue, Innovative, ›Fruchtbare‹ nicht aufkommen zu lassen: »Da machte sich alles rachitische Volk der Umgebung auf, die Geburt zu verhindern, die dem verödeten Lande drohte mit Fruchtbarkeit.«66 Die Erzählung von der Geburt absolut neuer, radikaler Kunst ist in ihrem Ablauf also zwischen zwei Ereignisse gestellt: Die Geburt ästhetischer Experimente fordert das Volk als Publikum heraus, das Volk respektive Publikum zeigt sich erneut entsetzt und protestiert gegen die als Skandal aufgefasste Geburt. Wird dieser Protest als Erstes noch im selben ›Medium‹ dieser Geburt versucht, d.h. mit – im weitesten Sinne – ästhetischen Mitteln (»Und sie zernierten die Gärten, stellten die Wachen aus und beschossen mit Filmkanonen die Plattform«),67 schlägt er schnell um: in ›rohe‹ Gewalt.68 Doch der Protest, die versuchte Erstürmung der Kunstgeburt, kann diese nicht verhindern.69 Diese kommt dabei, wie Ball im Romankapitel Der Untergang des Machetanz schildert, nur auf Kosten eines niedergehenden, regelrecht zersplitternden Zeitalters zu Stande; die neu gebildeten ästhetischen Kreationen sind in eine Prozessualität hineingezogen, die ein Ende des ästhetisch Bestehenden verlangt. Weil dadurch dem künstlerischen Schaffensakt die Aufgabe zugeschrieben ist, sich auf Destabilisierungen ihrer ästhetischen Umgebung zu richten, unterbricht dieser das Geschehen vorliegender Kunst und zeichnet in Abgrenzung zu ihr neue künstlerische Etappen als sein Resultat aus. Sinnbildlich zeigt Ball am »traurigen Ende«, am »Ruin« der Figur Machetanz,70 wie die Entfaltung künstlerischer Innovation mit dem Zerfall zuvor dominierender Systeme eins ist:

Avantgarde ist einschlägig Lentz, Lautpoesie/Lautmusik nach 1945. S. außerdem auch Verf., »›dada mm’ dada‹«. 65 C. Schmidt, Die Apokalypse des Subjekts, 112. 66 Ball, Tenderenda der Phantast, 28. 67 Ebd., 29. 68 Vgl. ebd. 69 Vgl. ebd., 30f. 70 Ebd., 16.

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Da spürte Machetanz plötzlichen einen Druck an den Schläfen. Die Produktionsströme, die seinen Körper gewärmt und gewickelt hatten, starben ab und hingen wie lange Safrantapeten von seinem Leib. Ein Wind bog ihm Hände und Füße um. Sein Rücken, ein kreischendes Drehgewinde, stob als Spirale zum Himmel. [...] Übelkeit überkam Machetanz. Ein Würgen am falschen Gott. Er rannte mit hochgeschwungenen Armen, stürzte und fiel aufs Gesicht. Eine Stimme schrie aus seinem Rücken. Er schloß die Augen und fühlte sich in drei mächtigen Sätzen über die Stadt geschnellt. Saugrohre schlürften die Kraft der mystischen Behälter. [...] Diesen Turbulenzen, Detonationen und Radiumfeldern ist er nicht gewachsen. »Quantität ist alles«, schreit er, »Syphilis ist eine schwere Geschlechtskrankheit.« Er nimmt ein Salzsäurebad, um seinen gefiederten Leib loszuwerden. Übrig bleiben: ein Hühnerauge, eine goldene Brille, ein künstlich Gebiß und ein Amulett. Und die Seele: eine Ellipse.71

Der Zusammenhang vom Absterben der ›Produktionsströme‹, der Auflösung72 des ›Leibes‹ und dem ›Übrigbleiben‹ nicht-körperlicher Dinge, der hier entfaltet wird, verweist auf das Problem der Kunst, die die von ihr hervor gebrachten Objekte nicht nur über ihre eigenen Füße stolpern, sondern bei diesem Stolpern am Boden zerspringen sieht. Deshalb sagt Machetanz auch: »Originalität ist ein Luftblasenkatarrh. Schmerzlich und unwahrscheinlich«;73 deshalb stirbt er. In Die Flucht aus der Zeit erklärt Ball dazu: Heute las ich zum erstenmal »Untergang des Machetanz«, ein Prosastück, in dem ich eine von allen Schrecken und Furchtbarkeiten untergrabene Existenz darstelle; einen Dichter, der an unerklärlichen und unübersehbaren Tiefen erkrankend, in Nervenkrämpfen und Pa-

71 Ebd., 16, 18. 72 S. dazu auch Brokoff, Geschichte der reinen Poesie, bes. 516: »Von der geschilderten Auflösung sind in erster Linie nicht die Dinge selbst betroffen, sondern das Individuum, das diese Dinge wahrnimmt. Dessen Hand und dessen Auge haben die Macht verloren, zu greifen und zu sehen. Als Reaktion auf diesen Machtverlust bleibt dem Individuum nur eine bestimmte Form der Bewusstheit und der Gefasstheit übrig. Diese gleichermaßen mentale wie emotionale Disposition wird von Ball bezeichnenderweise nicht auf der Seite einer Sinn verbürgenden und Identität sichernden Wahrheit verortet, sondern auf der Seite von ›Irrtum‹ und ›Lüge‹. Es gibt keinen Ausweg aus der verfahrenen Situation, der für sich noch Wahrheit beanspruchen könnte. Das Individuum ist dem geistigen Zustand der Zeit, der nicht nur zum Schwinden des metaphysischen Sinns, sondern auch zu seiner eigenen Entmachtung geführt hat, unentrinnbar ausgeliefert [...].« 73 Ball, Tenderenda der Phantast, 18.

54 | 1. Z UR Ä STHETIK KRITISCHER K OLLISSION ralyse zerfällt. Eine hellsüchtige Überempfindlichkeit ist der verfängliche Ausgangspunkt. Er kann sich den Eindrücken weder entziehen, noch sie bändigen. Er erliegt den unterirdischen Gewalten.74

Dass dann im Kapitel Grand Hotel Metaphysik die als Volk versammelten Schreckensfiguren jenen Ausgeburten der Phantasie gleichen, die aus Mulche Mulches Leib kriechen, lässt auf den Zusammenfall von Poesie und Realität im Modus desselben zerstörerischen Antriebs schließen: »Die Poesie [...] ist nichts anderes als dieselbe Technik der Destruktion und Konstruktion von Welt, allerdings ohne erkennbaren Zweck«, und der Künstler als Genie »der leer laufende Erfindungsgeist, der sich einbildet, mit seinen Phantasiekonstruktionen eine Gegenwelt zur technologisch-militärischen Welt der Zerstörung entworfen zu haben.«75 Nach der radikalen ästhetischen Befreiung im Akt ästhetischer Provokation gibt es, keine Ordnung und Hierarchie mehr, der Himmel ist in die Welt eingebrochen, die Erde im Himmel versunken. Das Prinzip der semantischen Kombination überschlägt sich in der vollendeten Befreiung der Bilder, die sich jeder metaphorischen Kontrolle durch den Poeten zuletzt entziehen. Die Bilder werden unter dem athmosphärischen Druck der nun entfesselten Subjektivität wie von einem Hurricane durcheinandergewirbelt. Es herrscht der absolute semantische Ausnahmezustand, der die Welt tatsächlich in den höllischchaotischen Zustand noch vor der Schöpfung versetzt.76

3. Provokation der ästhetischen Subjektivität ›an sich‹ durch Selbstverzehrung des ästhetischen Subjekts: Das Kapitel Bulbos Gebet und der gebratene Dichter gibt einen Einblick in die Verfahren der Kritik, der sich die Ästhetik der Provokation verpflichtet sieht – das allerdings wiederum in einer übersteigerten, grotesken, surrealen Erzählung. Im Angesicht des Todes sinkt Bulbo auf die Knie, wirft die Arme zum Himmel und ›schreit‹ sein Gebet, das jedoch ohne Erfolg, denn »[d]a quoll aus Bulbos Mund ein schwarzer Ast, der Tod. Und man warf ihn in der Gespenster Mitte. Und der Tod exerzierte und tanzte auf ihm«, während »der Herr« diesem eine »Ästhetik sinnlicher Assoziationen, die an Ideen anknüpfen« zuweist, um ihn am Ende zu opfern:77 »Da überließ ihnen der Herr den gebratenen Dichter. Die Gespenster aber hockten sich nieder im Kreis, ent-

74 Ders., Die Flucht aus der Zeit, 87. 75 C. Schmidt, Die Apokalypse des Subjekts, 113f. 76 Ebd., 114. 77 Ball, Tenderenda der Phantast, 35.

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keimten ihn, pellten die Kruste ab und den Federflaum und verspeisten ihn.«78 Der Szene ist die Strategie der endgültigen Destruktion des Dichters eingeschrieben, die allerdings auch mit dem Motiv der Selbsterlösung, der Askese kurz geschlossen wird, wenn es in Bulbos Gebet heißt: »ich könnte mich ja in einer anderen Zeit aufhalten. Was nützte es mir, o Herr? Siehe, ich bewurzele mich bewußt in diesem Volke. Als Hungerkünstler nähre ich mich von Askese.«79 In dieser Selbstdisziplin und »Technik des Selbst«, die Ball im Übrigen später als »Technik der wahren Selbstbefreiung« entwickelt und ausarbeitet,80 wird ein Prozess der »Selbstentleerung« und »Selbstbeschränkung« aufgerufen, der die ästhetische »Selbstermächtigung« und zugleich den asketischen Rückzug aus dem Subjekt anzeigt.81 Beide »treffen sich im Augenblick des zu Ende geführten ästhetischen Position«, in einer Position also, »in der das Genie sich im Namen seiner radikalen Kritik an allen Instanzen der Tradition selbst als eine solche traditionelle Instanz durchschaut und im Namen der reinen Schönheit selbst zurücknimmt«: »Es ist der Augenblick, wo das Genie sich selbst als absolute Instanz des Werkes inthronisiert und eine creatio ex nihilio vollstrecken muss, potenziell der Augenblick der Einsicht in die wahre Ohnmacht und Schwäche, der Einsicht in die eigene Kreatürlichkeit.«82 Im Roman heißt es: Da überließ ihnen der Herr den gebratenen Dichter. Die Gespenster aber hockten sich nieder im Kreis, entkeimten ihn, pellten die Kruste ab und den Federflaum und verspeisten ihn. [...] Und der Gespenster jüngstes hielt ihm die Totenrede: »Dieser war ein Psychofakt«, begann die Rede, »kein Mensch. Hermaphrodit vom Kopf bis zur Sohle. Spitz stachen die geistigen Schultern durch die Achselstücke seines Cutaway. Sein Kopf eine Wunderzwiebel der Geistigkeit. Blind beherrscht vom Drange, sich bruchlos zu bekennen, war sein Beginn, sein Ende und Anfang von solch jungfräulicher, völlig kompromißloser Seelensauberkeit, daß wir Nachwachsenden den Zweifel an der Pflicht zu revolutionär sittlichkeitsbildender Mutterschaft unserem annoch kraftlosen Streben nach einem Kosmos von Flugwillen und Erdüberwinderschaft als ein zwar unerläßliches, aber süßes Problem binnentragisch einzuordnen nicht umhin können. Herrliches

78 Ebd., 36. 79 Ebd., 35. 80 C. Schmidt, Die Apokalypse des Subjekts, 118. 81 Ebd. 82 Ebd., 119.

56 | 1. Z UR Ä STHETIK KRITISCHER K OLLISSION liegt hier verschüttet in einem Wust unvergorener, abstrakt verbliebener Rednerei. Subjektivistische Ekstatik vermochte nicht immer theatralischem Selbstzweck sich zu entheben.83

Der Dichter als derart »ewiger Rebell« gegen die Tradition wird am Schluss also verspeist; es wird derjenige getötet, der prophetisch die Kritik an den vorgefundenen Verhältnissen formuliert und »die Notwendigkeit der Veränderung immerhin anzeigt«.84 Das gesellschaftlich bedingte Martyrium des Künstlers, das Ball u.a. auch in seinem Essay Der Künstler und die Zeitkrankheit erklärt (s. Kap. 1.3), hat allerdings eine doppelte Stoßrichtung: Zum Einen erträgt die Gesellschaft ganz offensichtlich seine Existenz nicht und will ihn daher »zum Schweigen bringen«, ihn sogar verspeisen; »zum Anderen verzehrt er sich selbst in der ständigen Kritik an der Gesellschaft«: »Der Dichter, indem er die Macht der Negation dieser Welt konsequent zu Ende führt, gelangt an den Punkt, an dem die Logik der Negation ihn zur Negation seiner Selbst, zu einer Zurücknahme also der hinter der Macht der Negation wirksamen Subjektivität zwingt.«85 Wie Schmidt richtig resümmiert, wird so das ästhetische Subjekt, »das sich im Namen von Freiheit und Schönheit zuletzt selbst verzehrt«, in der Fiktion von Balls Roman zum »Modell einer erzählerischen Logik des Verschwindens«,86 wodurch sich letztendlich die Erzählung als Kunstform und Repräsentanz des ästhetischen Objekts selbst vernichtet, indem sie den Prozess des Verzehrens auf alles, was sich auf der Szene befindet, anwendet: Und sie verspeisten ihn; den Leichenredner aber verspeisten sie ebenfalls. Und die Teller verspeisten sie. Und die Gabeln verspeisten sie. Und den Tanzplatz ebenfalls. Oh, wie gut war es, daß der Herr sich der Szene vorher enthoben hatte. Sie hätten auch ihn verspeist.87

Mit der (Selbst-)Verzehrung des Dichter-Kritiker-Subjekts geht im Bild der asketischen Kehre der Rückzug aus der Kunst als Abkehr von der ›dämonischen‹ Phantasie sowie die Einkehr in sich selbst einher, welche die Abkehr von der Subjektivität, die Abkehr vom ›Ich‹ als Zielpunkt hat. Dieser Zielpunkt deutet darauf hin, dass in Balls Ästhetik das (dichterische wie kritische) Genie immer weniger einem angeborenen Talent zuzuordnen ist (s. Kap. 1.2). Das Erreichen des Zielpunkts hat aber eine Voraussetzung, die die Frage betrifft, ob das Sub-

83 Ball, Tenderenda der Phantast, 36f. 84 C. Schmidt, Die Apokalypse des Subjekts, 120. 85 Ebd., 120f. 86 Ebd., 122. S. auch Bürger, Das Verschwinden des Subjekts. 87 Ball, Tenderenda der Phantast, 37.

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jekt willkürlich oder rechtmäßig der ›Verzehrung‹ anheim fällt. Eine mögliche Antwort findet sich im Romankapitel Satanopolis: Ein Journalist war entkommen. In grauer Gestalt überschattete er die Weideplätze von Satanopolis. Man beschloß, gegen ihn zu Felde zu ziehen. Das Revolutionstribunal versammelte sich. Man zog gegen ihn zu Felde, der sich in grauer Gestalt tummelte auf den Weideplätzen von Satanopolis.88

Nun ist die Szene – abseits ihres zeitgeschichtlichen und biographischen Gehalts89 – bestimmten Restriktionen der Gerichtsbarkeit unterworfen, die nach der Verhaftung des Subjekts in einem buchstäblich dämonischen Prozess münden: In der Tat [...] ward [er] vor den Richter gestellt. Jämmerlich war er anzusehen. Das Gesicht geschwärzt von Kohlenruß und die Hände besudelt von Tintendreck. [...] Und man machte ihm den Prozeß: In grauer Gestalt ruiniert zu haben die Weideplätze der Mystiker. Durch mancherlei Unfug Aufsehen erregt zu haben. Aber der Teufel machte sich zu seinem Anwalt und verteidigte ihn.90

Die Implikationen, die ein solcher Prozess an einem ›Journalisten‹, der zugleich als ästhetisches Subjekt in Erscheinung tritt, aufruft, enden in dessen Verurteilung, die seine Selbstverzehrung beschließt – allerdings handelt es sich hier um die Verzehrung des ästhetisch Produzierten, die gerichtlich beschlossen wird: »Und er ward verurteilt, sein knopfig Selbstgedrehtes aufzuessen.«91 An dieser Stelle ist an ein Paradigma zu erinnern, das innerhalb der historischen Avantgarde persistent spürbar ist, vor allem im Hinblick auf jene Strömungen, an denen Ball beteiligt war oder von denen er geprägt worden ist, also (wie an verschiedenen Stellen nochmals deutlicher werden wird) in Hinsicht auf Expressionismus, Futurismus und Dada: der juristische Diskurs. Denn wenn die moderne Gesellschaft versuchsweise als diskursive Topografie gedacht werden kann, bildet das Rechtssystem einen zur Gesellschaft sich ebenso metaphorisch wie metonymisch verhaltenen ›Ort‹, an dem die avantgardistische Revolte ihren aggressiven Eintritt in die Gesellschaft aus der Perspektive ihres feindlichen ›Außen‹ beschreiben kann.92

88 Ebd., 22. 89 S. dazu Verf., »Fightclub«, 195-201. 90 Ball, Tenderenda der Phantast, 24f. 91 Ebd., 25. 92 Stöckmann, »Avantgarde und juristischer Diskurs«, 38.

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Tatsächlich erhält die juristische Dimension, die Balls Roman an dieser Stelle aufwirft, für das Modell ästhetischer Provokation an Gewicht, wirft man vor dieser Folie einen näheren Blick auf die Etymologie des darin mitgedachten Begriffs der Provokation. Dieser ist denn auch ursprünglich ein juristischer Terminus, der als Próklesis etwa die Erklärungen oder Aufforderungen bezeichnet, die vor dem eigentlichen Prozess gegeben werden und damit den Stoff für die gerichtliche Argumentation feststellen.93 In rhetorischer Hinsicht ist darunter nicht zufällig zudem eine Redeform zu verstehen, durch die der Redner seinen Gegner zum Streitpunkt der Auseinandersetzung herausfordert; als Terminus der Neuzeit ist Provokation im Sinne von Herausforderung zunächst wiederum ein Rechtswort, dann ein Begriff im Raum des Politischen, wo er der Hervorrufung von sprachlichen Handlungen (Beleidigung, Angriff, Unterstellung, Herausforderung, Bedrohung etc.) oder nonverbalen Taten (Aufstand, Rebellion) dient.94 Konstitutiv für dieses Verständnis von Provokation sind dabei appellative, agitatorische, propagandistische, subversive oder affektive Strukturen bzw. unerwartete, unangepasste, rebellische, norm- und tabuverletzende Texte oder Aussagen; mit dem Begriff der Provokation werden hier spezifische Ansichten und Positionen akzentuiert, die sich von tradierten Mustern, gültigen Ansichten, Lehrmeinungen oder üblichen Verhaltenserwartungen unterscheiden.95 Diese Muster, Ansichten, Lehrmeinungen und Verhaltenserwartungen sind in Tenderenda der Phantast der, um im Vokabular des Romans zu sprechen, ›Verwesung‹ überlassen; der »Dichterklub«, der das Geschehen zu überleben scheint und auch für dessen Überlieferung verantwortlich zeichnet, ist daher »eifrig damit beschäftigt, die Verwesung zu registrieren und die phantastische Wirklichkeit zweckmäßig abzuschwächen.«96 Es überlebt zudem Laurentius Tenderenda, der »Kirchenpoet«, wodurch Ball bereits hier den Entwurf einer Poesie und Literatur der Zukunft andeutet, die er in seinem Spätwerk ausführlich fundiert (s. Kap. 2.3b). Im Roman schreibt Ball: »Hätte ich ein Notizbuch zur Hand, oder böte sich sonst eine Occasion, so würde ich aufschreiben, was mir mehr einfällt. Die ganze Zeit fällt mir ja ein. Es ist ein großer Einfall und Hinfall, den ich mit hinfälliger Einfalt festhalten möchte.«97 Dann endet Balls Fiktion vom Ende und

93 Vgl. Wils, »Provocatio«, 382. 94 Vgl. ebd., 381. 95 Vgl. ebd. Dazu u.a. Honsza, Prowokacje literackie. S. aus anderer Perspektive und daher eingeschränkt u.a. auch Linde/Rapp (Hg.), Provokation und Tradition; K. Schmidt, Kunstzitat und Provokation im 20. Jahrhundert. 96 Ball, Tenderenda der Phantast, 45. 97 Ebd., 60.

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gleichzeitigem Anfang der Kunst in einem »astrale[n] Märchen«, in einem poetischen Paradies, in dem es eine »Fabelwiese« gibt, »auf der der Buchstabenbaum einhergeht«.98 In der Zusammenschau mit den drei Fällen, von denen Balls Phantastenroman erzählt, also, wie unter Rückgriff auf Schmidt dargestellt, erstens Provokation des ›Daseins‹ des ästhetischen Subjekts durch radikale Skepsis gegenüber allem Bestehenden, zweitens Provokation des ›Daseins‹ als Dichter durch (romantische) Durchbrechung der Grenzziehung zwischen Realität und Phantasie sowie drittens Provokation der ästhetischen Subjektivität ›an sich‹ durch Selbstverzehrung des ästhetischen Subjekts, lässt sich nun eine erste Bestimmung ästhetischer Provokation versuchen. Sie verbindet die Initiation der Erschütterung und finalen Zerstörung von bestehenden Kommunikationsweisen der und über die Kunst mit derjenigen des Selbstverständnisses als Künstler, um sowohl dem ästhetischen Gegenstand wie dem ästhetischen Subjekt eine neue Signifikantenstruktur einzuprägen, ohne die beide in dieser Perspektive keine Daseinsberechtigung mehr hätten. Die ästhetische Provokation beginnt naturgemäß mit der Bestimmung einzelner Elemente des zu Erschütternden und Zerstörenden. Grundlage dieser primären Bestimmungen sind Diagnosen des Bestehenden. Die Akte dieser Identifikation sind jedoch nicht auf bloß vereinzelte Elemente beschränkt, sondern überdies Weisen des Zusammenfassens, des Herstellens von Bezügen: zwischen Traditionen des Denkens, Sprechens, Formens etc. Ebenso sind sie gleichermaßen ein Erkennen von ›eigenen‹ Spuren in den vorliegenden Traditionen. All diese erkennenden Identifikationen sind Einsatzpunkte ästhetischer Provokation, die sie aber noch nicht realisieren. So ist von ästhetischer Provokation erst dann zu sprechen, wenn die Ordnung bloßen Erkennens des zu Erschütternden und Zerstörenden überschritten und das Erkannte zum Material gemacht wird, den Appell zur Erschütterung und Zerstörung zu formulieren. Damit stellt sich die Frage nach dem ›Medium‹, mittels dem die Akte identifizierenden Erkennens in provokative sprachliche Handlungen oder nonverbale Taten münden, die letztendlich zur ›vollendeten Freiheit‹ des Künstlers wie zur ›Neuordnung‹ der künstlerischen ›Elemente‹ auffordern; die Voraussetzungen der ästhetischen Provokation verlangen nach einem ›Ort‹, an dem sich der Appell zur Erschütterung und Zerstörung des Erkannten im besten Fall vollziehen lässt. Im nachfolgenden Kapitel möchte ich diesen ›Ort‹, der bereits des Öfteren genannt und thematisiert worden ist, zunächst einmal eingehender beschreiben, bevor dieser dann nach weiterreichenden Analysen zuletzt, d.h. zum Abschluss dieser Arbeit kulturtheoretisch identifiziert werden soll: die Kritik. Sie ist dabei

98 Ebd., 63.

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auch vor dem Hintergrund ihrer Rückführung auf eine »menschliche Entität (über alle objektspezifische Pluralität kritischen Denkens, Redens und Handelns hinweg)« zu sehen, die zunächst die »Erfüllung der Subjektfunktion« garantiere, und zwar durch die »Vernunft«.99 Die Annahme einer kritischen Anlage im Menschen lasse, so Gürses, für die Aufklärung mithin die »Subjektfrage (als Frage!) gar nicht erst aufkommen«: »Da es vernunftbegabte Wesen gibt, die sich von der selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien können/wollen«, gibt es Kritik, der sich vernunftbegabte Menschen zum Zweck der Befreiung von ihrer bedienten Unmündigkeit bedienen; sie besteht, so gesehen, in der »Ausgrabung und (Wieder-)Aneignung einer immer schon vorhandenen Vernunftfunktion, die bloß verschüttet worden war.«100 In dem Moment allerdings, in dem man vom Bild des Vernunft-Subjekts abrückt, gerate die behauptete Union von Kritik und Subjekt, ›verkörpert‹ durch Vernunft, ins Schwanken.101 Es komme zur »Dezentrierung«102 (St. Hall) des Subjekts; es komme zu »Subjektkrisen«.103 Von einer solchen erzählt Balls Phantastenroman, indem er die diese Krise auslösende, weil nach dem ›Wesen‹ des Subjekts fragende Kritik am Ende in der geschilderten Selbstverzehrung münden lässt, einer Selbstverzehrung, in der eine bestimmte Kritik eingeschrieben ist: die ästhetische Kritik.104 Diese ›verkörpert‹

99

Gürses, »Kein Kommentar«, 182.

100

Ebd.

101

Vgl. ebd., 183. Damit ist ein Begriff genannt, der im Folgenden häufiger Verwendung finden muss und der sich, so Stefan Nowotny, »immer wieder mit dem der Kritik verbindet«: die »Krise.« (»Die fremde Erde des Wissens«, 242.)

102

Hall, »Die Frage der kulturellen Identität«, 193.

103

Gürses, »Kein Kommentar«, 183.

104

S. dazu auch Schalk/Weber, »Kritik, Literaturkritik«, 1288f., wo es heißt, der Begriff der »ästhetischen K.« besage, dass die Frage, »in welchem Verhältnis die Theorien der speziellen Künste zu der in der Philosophie ausgesagten Bestimmung des Ästhetischen stehen«, als eine »Frage der K.« aufgenommen werde, mit der diese sich »von der Ästhetik, der Kunstliebhaberei und der älteren Gattungspoetik« unterscheide: »K. tritt dabei in ein Verhältnis der Parallelität zur ästhetischen Produktion, insofern sich das Genie über alle ›Grenzscheidungen der K. hinwegzusetzen vermag‹, weil es ›die Probe aller Regeln in sich‹ hat, andererseits der Kritiker aber mit den aus der Bestimmung der Kunst gewonnenen Regeln der Produktion vorauszugehen vermag.« Auf diese Begriffskonzeption komme ich in Kap. 1.2 ausführlich zurück, auch in der zu hinterfragenden Hinsicht, dass »›[ä]stehtische K.‹« besagt, dass die Kritik »Funktionen übernimmt, die sich daraus ergeben, daß der Kunst als dem von der Ästhetik beanspruchten Organon der philosophische Begriff selbst

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Balls ›Journalist‹ im Roman; Ball stellt sich dadurch vor, wie das eigene Leben verändert werden kann, dass die Welt nicht dieselbe sein kann.105 Eine solche ›Verkörperung‹ der Kritik vollzieht sich im Angriff auf das eigene Ich; die »Befreiung vom Ich« wäre so ein »Hauptziel der Kritik«.106 Die Bestimmung der ästhetischen Provokation versuche ich im folgenden Kapitel im Nachvollzug des Prozesses ästhetischer Kritik, in dem sie sich konstituiert, zu gewinnen. Die Einsicht in die Konstituierung ästhetischer Provokation in Prozessen ästhetischer Kritik ermöglicht den Nachvollzug der Formation von Kritik und Literatur, wie sie Balls im Anschluss zu untersuchende kritische Schriften nahe legen. Im Kapitel Der Verwesungsdirigent aus Balls Phantastenroman ist die ästhetische Provokation im ›Ort‹ der Kritik schließlich in ein treffendes Bild gesetzt. Über deren Protagonisten heißt es symptomatisch: Grob, ungeschlacht und herausfordernd sind sie. Es paßt ihnen nicht, daß sie schuften sollen. Sie wollen den Platz an der Sonne. Gib ihnen einen Groschen für ihre Kollekte und einen Groschen für jenen dort, der das Klagelied bläst auf der Speiseröhre. Scheuch sie heraus, Serpent, aus ihren Löchern [...] und laß uns weitergehen. Da ist nicht zu helfen. Wahrlich, es könnte bei einiger Überreizung ihres Gemütes der Fall eintreten, daß sie mit Drohungen kommen, die Plempe uns an den Magen zu setzen, weil wir nicht Anstalten machen, ihre Erlebnisse aufzukaufen. Bei Gott, ein verwegener Menschenschlag!107

Kurz gesagt: Zur Verfügung steht die ästhetische Kritik, welche die ästhetische Provokation vollbringt, als ›Medium‹ der ›Verwegenheit‹ und der ›Drohung‹.

nicht zur Verfügung« stehe; das einzelne Kunstwerk ist so auf die Kritik »angewiesen, um als jene Schönheit und Vollkommenheit bewußt zu werden, die die Ästhetik von ihm aussagt.« (Ebd., 1289) 105

S. dazu – unabhängig von Ball – auch Garcés, »Die Kritik verkörpern«, 161.

106

Ebd., 163.

107

Ball, Tenderenda der Phantast, 49.

»Die Kritik hat nicht die Prämisse eines Denkens zu sein, das abschließend erklärt: Und das gilt es jetzt zu tun.« MICHEL FOUCAULT

»Aber Kritiker [...] müssen Paradigmen haben und nicht Vorläufer. [...] Ein Kritiker ist stark, wenn seine Lektüre auf ähnliche Weise andere Lektüren provoziert.« HARALD BLOOM

2 Der Begriff ästhetischer Kritik

»Damit kommen wir zu einer weiteren Voraussetzung. Es ist die, daß die Kritik bereits an der Herstellung des Kunstwerks Anteil habe [...].« ALBRECHT FABRI

Die ursprüngliche Grundthese der Kritik1 an ästhetischen Phänomenen, speziell an ästhetischen Texten und generell an kunstvollen Repräsentationen von ›Kultur‹ besteht in einer zu diskutierenden Gleichung: Die »skeptische Hinterfragung der großen Erzählungen des Mythos« sei eine »programmatisch vom Logos geleitete, ostentativ rationalistische und geradezu wissenschaftliche Philosophie«.2 Man könnte auch sagen: Kritik sei Rangbestimmung der Kunst.3 So vermag Kunstwerke in ihrer Autonomie, der Eigenlogik ihrer Darstellung und Erfahrung, nur zu kritisieren, wer sie dadurch herausfordernd bewertet gegenüber all jenem, das beansprucht, in ähnlicher Weise Kunst zu sein. Die Besonderheit der Kritik besteht in ihrer Bewertungs-Methodik als ›kritisches Sprechen‹ über einen ästhetischen Gegenstand, das dann stattfindet, »wenn es seine Kriterien unablässig selbst erzeugt und wieder aufhebt und seine Stringenz jeweils aus sich heraus erweist, ohne auf ihr als etwas Allgemeinen zu bestehen.«4 Die Erläuterung der

1 Der hier verwendete Ausdrucksbegriff der Kunstwerkauslegung geht zurück auf Simon, Histoire critique du Vieux Testament. S. dazu u.a. auch Hazard, La Crise de la Conscience Européenne 1680-1715, 165. Der Terminus ›Kritik‹ wird also, wie dies auch Benjamin tut, in erster Linie als Kunstkritik aufgefasst und weniger als erkenntnistheoretische Methode oder philosophischen Standpunkt (vgl. Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, 13). 2 Vgl. Bogner, »Die Formationsphase der deutschsprachigen Literaturkritik«, 14. 3 Vgl. Melchinger, Keine Maßstäbe?, 88. 4 Vormweg, »Kriterien der Literaturkritik«, 81.

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Kritik in Funktionen wie selektiv, deskriptiv, interpretativ bzw. diskursiv, evaluativ5 ist dabei eine Möglichkeit der begrifflichen Annäherung; die Fokussierung eines »Konzepts der Kritik als Reproduktion der Originalproduktion«6 eine andere, durch die sich deren Selektions-, Vermittlungs- und Urteilsfunktion verändert: »Die Wertfrage ist a priori beantwortet, nur das Problem der Urteilskriterien und Wertungsmaßstäbe bleibt.«7 Bestimmungen dieser Art sind erhellend für eine Begriffsbestimmung der Kritik im Hinblick auf das Modell ästhetischer Provokation.8 Was sich ihnen als zu diskutierende Grundgleichung entnehmen lässt, wird im Blick auf die historiographische Modellierung des hier maßgeblichen Kritik-Begriffs zur Aufgabe, wesentliche Orientierungsmarken zu finden. Erfassen lassen sich diese auf dem Weg einer Prüfung der theoretisch vorgeschlagenen Erläuterungen im Bezug auf

5 Vgl. Albrecht, Literaturkritik, 64. 6 Gebhardt, »Literarische Kritik«, 1091. 7 Albrecht, Literaturkritik, 112. 8 Ich gehe dabei in keiner Weise davon aus, dass es den Begriff der Kritik, auf den sich beispielsweise die Philosophie, die Ästhetik oder die Literaturtheorie verpflichten ließen, gibt. Vgl. dazu etwa auch Schalk/Weber, »Kritik, Literaturkritik«, 1284, 1285: »Die verschiedenen Spielarten der K. verteilen sich auf alle Gebiete, auf Philosophie und Religion, Literatur und Kunst. [...] Die Spielarten der K. sind seit der Romantik kaum übersehbar. Neben der romantischen, historischen, positivistischen, marxistischen K., gibt es die immanente, ästhetische, strukturalistische K., die nouvelle critique, den New Criticism, die kritische Theorie, den kritischen Rationalismus: ›K.‹ bleibt ein Schlüsselwort auch im 20. Jh.« S. auch Jaeggi/Wesche, »Einführung: Was ist Kritik?«, 9f. Die dort angerissene Unterscheidung von Kritikbegriffen in Kritik der Aufklärung, historische, emanzipatorische und philosophische Kritik versucht meine Argumentation im Folgenden mit jenem der ästhetischen Kritik zu komplettieren. Vorweg gesagt, geht es mir mit Benjamin darum, den Terminus ›kritisch‹ hin zum und nach dem romantischen Verständnis von »objektiv produktiv schöpferisch aus Besonnenheit« darzustellen: »Kritisch sein hieß die Erhebung des Denkens über alle Bindungen so weit treiben, dass gleichsam zauberisch aus der Einsicht in das Falsche der Bindungen die Erkenntnis der Wahrheit sich schwang.« (Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, 55.) Zu den verschiedenen Formen der Kritik s. auch Walzer, Kritik und Gemeinsinn, bes. 11-79; Iser, Empörung und Fortschritt, bes. Kap. 1; zur Wortherkunft s. auch Bormann u.a., »Kritik«, 1249. Zur Geschichte des Begriffs in zugespitzter Form s. wiederum auch Schalk/Weber, »Kritik, Literaturkritik«, 1285-1292, und zur Differenzierung eines genaologischen Kritik-Projekts im Anschluss an Nietzsche und Foucault s. Saar, Genealogie als Kritik.

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die in ihrer unterstellten Ganzheit zu erfassenden Betrachtungsweise ästhetischer Werke. Blickt man mit dieser Stoßrichtung auf die geschichtliche Entwicklung der Kritik der Kunst, verstanden als Aktivität eines neuen Verständnisses ebenso des Grundes wie des Prozesses jener Beschreibung und Begründung, die zu einem Urteil über das Schöne oder Hässliche, das Vollkommene oder Verfehlte eines Kunstwerkes führt,9 zeigt sich, dass ihre Trennung zur Kunst bzw. Literatur keineswegs immer eindeutig war.10 So lassen sich als Erstes in unterschiedlichen Graden der Expliziertheit mindestens zwei Verständnisse von Kritik ausmachen, die deren Potenzierung hin zu einer eigenen künstlerischen Schöpfungskraft unterstellen. Das erste dieser beiden Verständnisse hebt die Kritik auf die Ranghöhe ihres Gegenstandes und identifiziert ihre grundlegenden Maßstäbe und Kriterien mit tradierten – poetologischen – Regeln. Das zweite Verständnis tendiert dahin, nicht nach allgemein gültigen Regeln, sondern von der Wirkung des einzelnen Kunstwerkes her zu urteilen. Kann das erste Verständnis von Kritik das regelpoetische genannt werden (A), so das zweite das wirkungspoetische (B).11 Beide haben mit Deutlichkeit Spuren in der Theorieentwicklung des Kritik-Begriffs hinterlassen. Bezeichnet dabei das regelpoetische Verständnis ein Erbe der Hochaufklärung, so ist das wirkungspoetische dessen diskursives Erbe. Beide entwerfen in ihrer Gegensätzlichkeit komplementäre Brennpunkte aufklärerischer Kritik-Kategorien. Ad A) Die Regelnormiertheit der Kunst, zumal literarischer Kunstwerke, deren Begründung aus den Prinzipien der Vernunft sowie aus unumstrittenen Auffassungen einer klassizistischen Tradition, die sich auf die Antike beruft, er-

9

Vgl. C. Menke, »Die ästhetische Kritik des Urteils«, 141. Kritik ist damit auch juridisch konnotiert; ein kritisches Urteil fordert in diesem Verständnis Unterscheidungsfähigkeit und Urteilsvermögen (vgl. Röttgers, »Kritik«, 652).

10 Wiederum mit Benjamin unterscheide ich in der vorliegenden Arbeit primär nicht immer eindeutig zwischen den Ausdrücken ›Kunst‹ und ›Literatur‹; vielmehr wird unter dem Ausdruck ›Kunst‹ stets die ›Literatur‹ bzw. unter dem Ausdruck ›Kunstwerk‹ die einzelne Dichtung verstanden (vgl. Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, 14). Gründe hierfür liegen zum Einen im starken Bezug meiner Überlegungen zur Kunsttheorie der Frühromantik, innerhalb der etwa Friedrich Schlegel, wenn er von Kunst spricht, vor allem die Dichtung oder ›Poesie‹ denkt, was, so wiederum auch Benjamin, einen »grundsätzlichen Mangel in der romantischen Theorie« darstellt (ebd.). Zum Anderen ist die Äquivalenz der Ausdrücke ›Kunst‹, ›Literatur‹, ›Kunstwerk‹ und ›Dichtung‹ auch für Ball signifikant, was naturgemäß in gleicher Weise auf einen theoretischen ›Mangel‹ hindeutet. 11 Vgl. C. Menke, »Die ästhetische Kritik des Urteils«, 101f.

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folgt,12 impliziert die Installierung einer Instanz der Kritik, welche die Regelkonformität der Kunstwerke zu überwachen sucht: In der deutschen Hochaufklärung sind es die ›Kunstrichter‹, deren Aufmerksamkeit einem »guten Geschmack« zu gelten hat, welcher auf »Regeln der Kunst«, aus »Vernunft und Natur hergeleitet«, beruhen soll.13 Diese Zitate aus Johann Christoph Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst bringen einen Kritik-Begriff zur Geltung, dem mit der Kategorie des ›guten Geschmacks‹ ein allgemeines Instrumentarium zur Verfügung steht, das unter dem Gebot der Vernunft und der Nachahmung der Natur steht: Der Geschmack ist »der von der Schönheit eines Dinges nach der bloßen Empfindung richtig urtheilende Verstand, in Sachen, davon man kein deutliches und gründliches Erkenntniß hat«.14 Die Verstandeskontrolle dominiert die Sinneseindrücke, die durch die ›Schönheit‹ von Kunstwerken erregt werden; jede Sensualität bleibt bei Gottsched der begrifflichen Kontrolle untergeordnet:15 Ich rechne zuförderst den Geschmack zum Verstande; weil ich ihn zu keiner andern Gemüthskraft bringen kann. Weder der Witz noch die Einbildungskraft, noch das Gedächtnis, noch die Vernunft, können einigen Anspruch darauf machen. Die Sinne aber haben auch gar kein Recht dazu, man müßte denn einen sechsten Sinn, oder den Sensum communem, davon machen wollen; der aber nichts anders ist, als der Verstand.16

Nach dieser Auffassung ist der ›Geschmack‹ der Kritik »eine Geschicklichkeit, von der Schönheit eines Gedichtes, Gedankens oder Ausdruckes recht zu urtheilen, die man größtenteils nur klar empfunden, aber nach den Regeln selbst nicht geprüfet hat«17. Die durch die Kritik vorangetriebene Gleichsetzung von ›schöner‹ mit regelkonformer Kunst geschieht im Horizont einer möglichen Identität von Kritiker und Künstler. Als »Kunstrichter«, heißt es in Gottscheds acht Punkte umfassenden Regel-Programm, sollte man »selbst eine Einsicht in die beurtheilten Sachen, ja dieselbe auch in ihrem Urtheile zeigen; oder wohl gar schon sonst ihrer Verdienste wegen darinnen bekannt seyn.«18

12 Vgl. Baasner, »Literaturkritik in der Zeit der Aufklärung«, 28. 13 Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst, 95. 14 Ebd., 123. 15 Vgl. Baasner, »Literaturkritik in der Zeit der Aufklärung«, 29. 16 Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst, 125. 17 Ebd. 18 Gottsched, »Über die Kunstrichter«, 136. S. dazu auch G. Ball, Moralische Küsse; Gühne, Gottscheds Literaturkritik in den »Vernünftigen Tadlerinnen«.

1.2 D ER B EGRIFF ÄSTHETISCHER K RITIK

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Ad B) Demgegenüber tendiert das wirkungspoetische Verständnis von Kritik dahin, an die Stelle der Bewahrung rationalistischer Regelpoetik deren Funktionsmöglichkeit als Vermittlerin zwischen Kritik-Produktion und -Rezeption zu setzen. Die Information und Befähigung eines aus Gelehrten und Kennern wie auch aus interessierten Laien bestehenden Publikums, sich selbst denkend mitzuteilen, was nach ihrer Auffassung die Kritik verspricht, bewahrt die eigenen Gedanken und Wertungen des Kritikers vor den Augen der Leser bei gleichzeitiger Anregung eines öffentlichen Meinungsaustausches; die Kommunikation durch Kritik und das heißt: die Intensivierung diskursiver Kritik lässt den Kritiker ins Gespräch mit seinem Publikum treten und zugleich dessen Lenkung betreiben, indem er es hinleitet zu den gewünschten Einsichten und Einschätzungen, die er vorzeichnet, aber nicht festschreibt.19 Denkt das wirkungspoetische Verständnis die Kritik in der Perspektive ihrer möglichen Diskursivität, so kann sie sich in neu gestalteten Kritik-Formen abseits von theoretischer Poetik und praktischer Rezension entfalten (etwa in Gestalt fiktionaler Freundes-Briefe, wie sie Moses Mendelssohn, Friedrich Nicolai und Gotthold Ephraim Lessing zwischen 1759 und 1765 in der Wochenschrift Briefe, die neueste Literatur betreffend demonstrieren).20 Das Problem, das sich bei diesem Verständnis für die Kritik und ihre Begriffsbestimmung ergibt, betrifft die objektivierende Begründung von Urteilskriterien und Wertungsmaßstäben, die im Einklang mit ihrer Wirkungsästhetik steht. Vor allem Lessing löst es, indem er bei der Beurteilung eines Werkes von Vergleichen mit anderen, beispielhaften Werken ausgeht, da der Kunstrichter »nicht blos« empfinde, »daß ihm etwas nicht gefällt«, sondern »auch noch sein denn« hinzufüge.21 Messen lässt sich die Qualität eines Kunstwerkes demnach daran, ob ihm eine Erfassung einer bestimmten Gattung gelingt – für Lessing eine Frage, die sich am Günstigsten an Literaturformen wie dem Drama erproben lässt: In seiner Hamburgischen Dramaturgie ist mithin der Grundsatz zu finden, jedes Drama müsse Wirkungen haben, die ihm vermöge der Gattung zukommen; Werke der Antike dienen bei Lessing als zwar nicht strikt normative, dann aber doch gültig gebliebene Vorbilder, deren zeitgemäße Bearbeitung er dem ›Genie‹

19 Vgl. Albrecht, Literaturkritik, 102. 20 Vgl. ebd. S. dazu auch ders., »Kritik, Polemik und Ästhetik im Zeichen der Gelehrsamkeit«. 21 Lessing, »Der Recensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt«, 193. S. dazu auch Berghahn, »›Zermalmende Beredsamkeit‹«; Steinmetz, »Der Kritiker Lessing«.

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des Dichters zuschreibt:22 Das Genie, so Lessing, gibt und sucht sich selbst die Regeln bzw. Arbeitsgrundsätze; das Genie darf »höherer Absichten wegen« das »Lehrbuch« vergessen.23 Für die Zuschreibungen des Kritikers bedeutet dies: Ist er nicht mehr angehalten, allgemein gültige ästhetische Regeln zusammen zu stellen und zu überwachen, sondern die für sein Urteil gültigen Regeln aus dem kritisierten Werk selbst herzuleiten,24 lässt sich zwischen Kunstrichter und Genie nur insofern unterscheiden, dass nicht jeder Kunstrichter ein Genie, aber jedes Genie ein geborener Kunstrichter sein muss.25 Lessing schreibt, jedes Genie habe »die Probe aller Regeln in sich«; es begreife und behalte und befolge nur die, »die ihm seine Empfindung in Worten ausdrücken.«26 Der Wert von Kritik formiert sich für Lessing auf dem Weg ihrer analytischen Funktionalität im Bezug auf die Aufgabe, die sie erfüllen soll: nämlich ein neues Kunstwerk überhaupt erst zu ermöglichen. Lessing führt aus, nicht jeder, »der den Pinsel in die Hand nimmt und Farben verquistet«, sei ein Maler: Die ältesten von jenen Versuchen sind in den Jahren hingeschrieben, in welchen man Lust und Leichtigkeit so gern für Genie hält. Was in den neueren Erträgliches ist, davon bin ich mir sehr bewusst, daß ich es einzig und allein der Kritik zu verdanken habe. Ich fühle die lebendige Quelle nicht in mir, die durch eigene Kraft sich emporarbeitet, durch eigene Kraft in so reichen, so frischen, so reinen Strahlen aufschießt: ich muß alles durch Druckwerk und Röhren aus mir herauspressen. Ich würde so arm, so kalt, so kurzsichtig sein, wenn ich nicht einigermaßen gelernt hätte, fremde Schätze bescheiden zu borgen, an fremdem Feuer mich zu wärmen und durch die Gläser der Kunst mein Auge zu stärken. Ich bin daher immer beschämt oder verdrüßlich geworden, wenn ich zum Nachteil der Kritik etwas las oder hörte. Sie soll das Genie ersticken: und ich schmeichelte mir, etwas von ihr zu erhalten, was dem Genie sehr nahe kömmt. Ich bin ein Lahmer, den eine Schmähschrift auf die Krücke unmöglich erbauen kann.27

22 Vgl. Albrecht, Literaturkritik, 103. 23 Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 251. 24 Vgl. Neuhaus, Literaturkritik, 44. 25 Zur weiterführenden historischen Entwicklung der Genie-Idee s. auch J. Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945. 26 Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 483. 27 Ebd., 505f.

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Inwiefern handelt es sich nun bei diesen beiden Auffassungen von Kritik um Vorbereitungen einer Ästhetik, die ihren Anspruch auf Provokation proklamiert? Blickt man mit dieser Frage erneut auf die historische Begriffsentwicklung, so ist ihre Antwort in Johann Gottfried Herders Rede Ueber die neuere Deutsche Literatur zumindest ansatzweise zu finden. Hier sind beide Kritik-Konzeptionen präsent, ja, ihre Verknüpfung bildet sogar ihren Ausgangspunkt. Herders Versuch ihrer Verbindung beruht jedoch zugleich auf einer impliziten Diskussion beider Positionen. Diese Diskussion ist jedoch nicht so verfasst, dass sich ihr unmittelbar Hinweise auf eine Kontur ästhetischer Provokation entnehmen ließen. Herders Kritik-Ideal gilt einer Methode des Nachfühlens, der gefühlsintensiven Annäherung an ein Kunstwerk, um es dann erkenntnismäßig zu durchdringen und beurteilen zu können; der Kern dieses Ideals ist die Auffassung des Kritikers als »verstehenden Deuter des Kunstwerks«.28 Herder betrachtet die Kritik als eine Kunst der Beurteilung, bei der man sich, um ein Kunstwerk zu verstehen und auszulegen, »ja in den Geist« seines Schöpfers, »seines Publikums, seiner Nation und wenigstens in den Geist dieses einen Stückes« hineinzuversetzen habe.29 Daraus geht neben der sensualistischen zugleich eine historisch relativierende Kunstbetrachtung hervor, die im Geiste des Sturm und Drang es ablehnt, sich auf besondere formale Qualifikationen als Kunstrichter zu berufen, die ihn berechtigen, Geschmacksurteile zu erlassen, sondern sich auf das eigene ästhetische Empfinden, in der Einschätzung kultureller Kontexte wie im poetologischen Wahrheitsanspruch gegenüber einem zu besprechenden Werk, konzentriert.30 Es nimmt nicht Wunder, dass zu dieser Zeit die herausragenden Kritiker in der Mehrzahl selbst auch als Künstler und das heißt hier: als Schriftsteller tätig sind; betrieben wird damit gleichsam die Infizierung der Kunst mit kritischer Erkenntnis im Namen eines Motivs, das aufgrund genieästhetischer Positionen ein ästhetisches Feld möglich macht, in dem im freien Nachvollzug die Werke ihre sinnlich vermittelte Gestalt selbst ordnen.31 Das Verhältnis der Auffassung von Kritik und ästhetischem Ausdruckswillen folgt der Annahme, dass man, wie Heinrich Wilhelm von Gerstenberg schreibt, »in den schönen Wissen-

28 Berghahn, »Von der klassizistischen zur klassischen Literaturkritik«, 55. 29 Herder, »Fragmente zu einer Archäologie des Morgenlandes «, 34. S. dazu auch Kathan, Herders Literaturkritik. 30 Vgl. Baasner, »Literaturkritik in der Zeit des Sturm und Drang«, 38f. 31 Vgl. ebd., 38f.

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schaften ohne Uebung und Nachdenken einen reinen, gesunden, natürlichen und unverderbten Geschmack haben könne«.32 Das macht die Beantwortung der aufgeworfenen Frage nach dem Begriff der Kritik für eine Ästhetik der Provokation umso dringlicher. Handelt es sich bei den bislang rekapitulierten Begriffsannäherungen aus Positionen des 18. Jahrhunderts womöglich um eine bloß aporetische Verknüpfung ihrer jeweils entgegengesetzten Bestimmungen oder deutet sich in ihr ein Verständnis von Kritik an, das ihrer komplementären Defizienz entkommt? Damit ist gefragt, ob die Begriffsbestimmung der Kritik in ihrer historischen Perspektive auf eine Grundkonstellation zuläuft, die Bedingungen umreißt, denen ein Modell ästhetischer Provokation mindestens genügen muss. Stellt man die Frage so, dann bezeichnen die Motive, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts als Auffassungen von Kritik ins Feld geführt worden sind, zugleich die Grundbausteine eines KritikKonzeptes, das sich als Schöpfungsidee eines Kunstwerks auf der Folie vorgeschalteter Kunstannahmen verstehen lässt; sie lässt sich zugleich als Exposition derjenigen Grundbedingungen auffassen, denen auch und gerade ein Kunstwerk zu genügen hat. Der so angedeutete Begriff der Kritik wird in diesem zweiten Kapitel genauer erläutert. Es ist dazu jedoch unerlässlich, sich von vornherein klar zu machen, worin das Ergebnis einer solchen Erläuterung allein bestehen kann: Ihr Ziel ist es, aus dieser Begriffsbestimmung wiederum Hinweise auf die Grundzüge der ästhetischen Provokation zu gewinnen. Diese Begriffsbestimmung dient somit der Sicherung einiger Grundbedingungen, denen dann auch eine am Konzept der Provokation orientierte Ästhetik genügen muss. Sie erstellt darin ein Programm unter Bedingungen künstlerischer Produktion. Dem entspricht, dass die Bestimmungen, die bereits ins Feld geführt worden sind, auf einen bereits angedeuteten, altbekannten Fluchtpunkt zulaufen: sie sind – in positiver wie negativer Tendenz 33 – Vorläufer frühromantischer Themen. In seiner Dissertation zum Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik34 schreibt Benjamin:

32 Gerstenberg (Hg.), Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur, 478. 33 Dazu etwa Kerschbaumer, »Die Kunst der Literaturkritik«. Mit Blick auf Ball s. insbes. Christen, »Endlose Revolte«, 94. 34 Dazu umfassend Steiner, Die Geburt der Kritik aus dem Geiste der Kunst. S. dazu außerdem, aber mit anderer Fragerichtung Witte, Walter Benjamin – Der Intellektuelle als Kritiker; Menninghaus, »Walter Benjamins romantische Idee des Kunstwerks und seiner Kritik«; Porombka, »Dem Gegenstand Gedanken zuführen«.

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Von allen philosophischen und ästhetischen Fachausdrücken dürften die Worte Kritik und kritisch in den Schriften der Frühromantiker leicht die häufigsten sein. »Du schaffst eine Kritik«, schreibt Novalis im Jahre 1796 seinem Freunde, als er ihm das höchste Lob zuteil werden lassen will, und zwei Jahre später spricht Schlegel es mit Selbstbewußtsein aus, daß er »aus den Tiefen der Kritik« begonnen habe. »Höherer Kritizismus« ist den Freunden eine geläufige Bezeichnung für all ihre theoretischen Bestrebungen.35

Um diesen Fluchtpunkt näher zu charakterisieren, ist es nötig, in zwei Schritten vorzugehen. Ich möchte zunächst den Kritikbegriff der Frühromantik diskutieren, dem ich entsprechende Programme der Moderne bei Seite stelle, um dann nach für die Provokationsthematik bedeutenden kunstphilosophischen Argumentationssträngen zu fragen. Das vorliegende Kapitel dient dabei auch zur Darstellung und Diskussion des Forschungsstandes zum Begriff ästhetischer Kritik, für den die wichtigsten Studien Berücksichtigung finden sollen.

a) »Nullität« und Zergliederung des Kunstwerks An der Präsenz frühromantischer Themen für den Kritik-Begriff zu erinnern, ist nicht überflüssig. Gerade die treffendsten Charakterisierungen von Kritik geschehen im Namen frühromantischer Einsichten,36 die sich in einem zwiespältigen Verhältnis vor allem zur ›Aufklärungsbewegung‹ befinden, das von der strikten Ablehnung verflachter Spätaufklärung bis zur produktiven Rezeption exponierter Aufklärer reicht. Das ist für viele Formulierungen und Theoreme insbesondere der Frühromantik unbestreitbar. In einem Verfahren ›destillierender‹ Lektüre37 können verschiedene Schichten in theoretischen Texten der Rom-

35 Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, 55. 36 Diese Linie lässt sich bis in die jüngste Gegenwart verfolgen. Dazu Kerschbaumer, »Romantische Literaturkritik bei Heine, Hofmannsthal, Kerr und einigen Kritikern der Gegenwart«. S. auch Fetz, »Von ästhetischen Kramläden zum Kartell der Langeweile«. 37 Darunter ist ein Lektüreverfahren zu verstehen, um die verschiedenen in einem theoretischen Text enthaltenen, gleichsam ineinander löslichen Thesen voneinander zu trennen. Die Voraussetzung für die Anwendung des Verfahrens ist die unterschiedliche Zusammensetzung der Bestandteile des jeweiligen Theorems. Eine, jedoch nicht ausreichende, Bedingung hierfür sind unterschiedliche positionelle ›Siedepunkte‹ der zu trennenden theoretischen Komponenten. Berücksichtigung finden müssen dabei

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antik und auch darüber hinaus voneinander gelöst werden, an denen sich zeigt, dass der Begriff der Kritik im Namen autonomer Dichtung und ›heiliger‹ Transzendentalpoesie noch einmal um eine Stufe aufgewertet wird,38 dass Kritik sich nicht im Beurteilen erschöpfen, sondern bedeutende Kunstwerke in einem universellen kritischen Akt vollenden und gleichzeitig neue, ›universelle Dichtung‹39 befördern soll und dass damit frühere Überlegungen zu einer kooperativen Gleichrangigkeit von Künstler und Kritiker fortgedacht werden,40 hin zu der Konsequenz, kritische und künstlerische Werke neben- und miteinander vorzustellen.41 Die Sicherung dieses Kritik-Begriffs kann mit einem Zitat aus Friedrich Schlegels 117. Lyceumsfragment beginnen.42 Darin wiederholt Schlegel die Auffassung, Poesie könne »nur durch Poesie« kritisiert werden, ja spitzt dies in einer bis dahin unbekannten Weise zu. Eine weit verbreitete Losung Schlegels lautet deshalb: Ein Kunsturteil, welches nicht selbst ein Kunstwerk sei – »entweder im Stoff, als Darstellung des notwendigen Eindrucks in seinem Werden, oder durch seine schöne Form, und einen im Geist der alten römischen Satire liberalen Ton« – habe »gar kein Bürgerrecht im Reiche der Kunst«.43 In der Betonung der grundlegenden Bedeutung der Kunsthaftigkeit weiß sich diese Vorstellung von Kritik in Übereinstimmung mit dem Einsatz ästhetizistischer Praxis: Die frühromantischen Programmformeln ästhetizistischer Élévation rufen jene ›Esoterisierung‹ von Kunstproduktion und -rezeption auf, auf die die kunstphilosophischen Debatten des frühen 19. Jahrhunderts vor allem in der Frage nach einem »umfassenden Ästhetisierungsprozess«, »der Dichtung, literarische Theorie und Kritik

selbstverständlich stets die Ergebnisse entsprechend einschlägiger Forschungsliteratur zum jeweiligen Theorem. 38 S. dazu auch Weber, Friedrich Schlegels »Transzendentalpoesie«. 39 Die Avantgarde steht ja, wie sich schon gezeigt hat, allgemein in der Bahn des »romantischen [...] Traumes von universaler Poesie.« (Zehetner, Hugo Ball, 12.) Vgl. auch die Position Tristan Tzaras (»Versuch über die Lage der Poesie«). 40 Etwa ist festzustellen, dass »Literatur, Literaturgeschichte, Literaturtheorie und Literaturkritik« schon um 1200 »(noch) nicht voneinander ausdifferenziert« sind (FritschRößler, »Gottfried von Straßburg: Der Literaturexkurs im Tristan«, 90). 41 Vgl. Albrecht, Literaturkritik, 111. 42 Zu Friedrich Schlegels Literaturkritik s. u.a. Dierkes, Literaturgeschichte als Kritik; Michael, Ästhetische Hermeneutik und frühromantische Kritik. 43 F. Schlegel, »Lyceums-Fragmente«, 162.

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zusammenschließt«,44 d.h. nach den Parallelen zwischen künstlerischer Produktion, kritischer Praxis und theoretischer Reflexion gestoßen sind.45 Ihre geradezu radikale Beantwortung findet ihren programmatischen Ausdruck in Friedrichs Schlegels Formulierung, Kritik habe ein »Organ« der Kunst zu sein, »also eine Kritik, die nicht bloß aufklärend und erhaltend, sondern die selbst produzierend wäre, wenigstens indirekt durch Lenkung, Anordnung, Erregung«46, die »nicht so wohl der Kommentar einer schon vorhandenen, vollendeten, verblühten, sondern vielmehr das Organon einer noch zu vollendenden, zu bildenden, ja anzufangenden Literatur wäre.«47 In den Vollendungsprozess der Kunst aktiv einbezogen wird die Kritik. Denn »erst die immer nur approximativ mögliche Vervollständigung des in jedem echten Kunstwerk entelechisch angelegten unendlichen Reflexionskontinuums durch den Kritiker vollendet das Kunstwerk auch als Werk.«48 Dessen ›Geist‹, von dem schon bei Herder die Rede ist, widmet sich die Kritik und »sucht ihn in seiner unterstellten Ganzheit zu erfassen«;49 sie potenziert in ihrer Betrachtung die Strukturen des Kunstwerks und nimmt eine eigene schöpferische Ebene ein.50 Ihre Aufgabe ist ein konstruktiv mitwirkender Beitrag innerhalb des ›Systems‹ Kunst: Die Kritik liefert hier nicht einfach Kriterien und Maßstäbe zur Beurteilung der ›Praxis‹, sondern sie vollendet erst das Kunstwerk und wird dabei selbst praktisch und substanziell. Das substanzielle Prestige, das die neue Kunst erheischt, tritt hier bereits als Überschreitung ihrer selbst ins Kritische zu Tage. Damit artikuliert sich dieses Kritische selbst als ästhetische Kategorie und gleichzeitig als prozessuale. Denn auch wenn das Werk auf Ab-

44 Urban, Kunst der Kritik, 236. 45 Vgl. Schulte-Sasse, »Der Begriff der Literaturkritik in der Romantik«, 76. 46 F. Schlegel, »Lessings Gedanken und Meinungen«, 82. 47 Ebd. 48 Schulte-Sasse, »Der Begriff der Literaturkritik in der Romantik«, 80. 49 Baasner, »Literaturkritik in der Zeit der Romantik«, 53. Damit erinnert dieser KritikBegriff auch an Johann Christoph Greilings Theorie der Recensionen, die den Versuch unternimmt, Kantische Maximen auf die Praxis der Kritik anzuwenden und in der es u.a. heißt, in der »philosophischen Bedeutung« müsse »recensiren« meinen, »den Geist eines Buches (Principien) nach Vernunft-Grundsätzen prüfen« (»Einige vorläufige Gedanken zu einer Theorie der Recensionen«, 121f.). 50 Vgl. Baasner, »Literaturkritik in der Zeit der Romantik«, 53.

76 | 1. Z UR Ä STHETIK KRITISCHER K OLLISSION schluss zielt, so kann gerade die substanziell aufgeladene Kritik niemals abgeschlossen sein, ihr Impuls schießt systematisch über die angepeilte Erfüllung hinaus.51

Dass eine solche Genialisierung der Kritik von der theoretischen Überzeugung ihrer höchsten Priorität ausgeht, heißt: sie ist der terminus technicus eines tatsächlich ästhetischen Befreiungsakts. In ihm verbindet sich die Frage nach der Kunsthaftigkeit von Kritik mit der nach der zumindest momenthaften Befreiung von repressiven, entfremdenden Denkzwängen, um »dadurch ein kritisches Potential zu schaffen, das Voraussetzung jedes Eingriffs in soziale Wirklichkeit ist.«52 Dieser frühromantische Begriff von Kunstkritik ist sozial determiniert durch die funktionale Verselbständigung bzw. Ausdifferenzierung des Ästhetischen, eines funktional autonomen Bereichs ›Kunst‹, wie sie bereits in Kants Formel vom interessenlosen Wohlgefallen am Schönen zum Ausdruck kommt.53 Die funktionale Ausdifferenzierung von Kunst, die Regelpoetiken obsolet werden lässt, macht gleichzeitig eine Vereinheitlichung des Kunstbegriffs notwendig und mit diesem auch eine Theorie des Ästhetischen, auf die Kritik sich nunmehr statt auf Regeln zu beziehen hat: »Reflektiert ästhetische Philosophie den Status des Besonderen und Individuellen [...], so reflektiert Kritik dieses Besondere nicht allgemein, sondern als Wahrheit der Einzelwerke, bleibt dabei aber stets auf die Ästhetik bezogen, ohne daß dieser Bezug ihr helfen kann, ihr Verfahren zu systematisieren«, da Kunst als »Repräsentation des Besonderen [...] keiner systematisierbaren Kritik zugänglich ist.«54 Friedrich Schlegel führt aus: Kritische Methode ist aber eigentlich gar keine Methode, oder anders gesagt, zur Kritik bedarf es keiner Methode, das Geschäft der Kritik kann in jeder Methode abgetan werden; es kommt dabei nur auf das Genie des Scharfsinns [...] an, auf Eigenschaften, die nicht in dem Gesetz und der Methode, sondern in den Individuen liegen.55

Folgt man zunächst dieser grob skizzierten frühromantischen Auffassung von Kritik, dann ist die Frage nach deren Begriff mehr als nur die nach regelgeleiteten Aspekten eines Reagierens auf Kunstwerke; sie ist vielmehr mit der Frage

51 Draxler, Gefährliche Substanzen, 28. So radikalisieren Friedrich Schlegel und Novalis den »transzendentalen Kritizismus Kants in einem Sinn, der über das Frühwerk Walter Benjamins bis hin zum Poststrukturalismus und zur Dekonstruktion fortwirkt.« (Ebd.) Diese These Draxlers wird sich im Folgenden näher erweisen. 52 Baasner, »Literaturkritik in der Zeit der Romantik«, 86. 53 Dazu Kant, Kritik der Urteilskraft, 80f. 54 Schulte-Sasse, »Der Begriff der Literaturkritik in der Romantik«, 98. 55 F. Schlegel, »Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern«, 313.

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nach ihrer Produktionsästhetik verbunden, die Ausdruck der Individualität des Kritikers ist und über deren ästhetische Kontemplation jeder Einzelne dieses gesellschaftliche Prinzip der Individualität auch rezeptionsästhetisch in sich selbst stärken kann. Bis in ihre Bestimmung hinein wirkt deshalb frühromantische Kritik als »konstitutives Mittel einer allererst zu verwirklichenden Kunst, die nicht mehr Werk, sondern Reflexion im Medium der Werke ist.«56 Indem Kritik so Kunst wieder in Lebenspraxis überführen soll, kann die Frühromantik auch mit Blick auf den Begriff der Kritik als erste avantgardistische Kunstbewegung bezeichnet werden.57 Indem Kritik so aber auch als Teil des gesamtgesellschaftlich ästhetischen Programms bestimmt wird, avanciert nicht das künstlerische Einzelwerk, sondern Kritik zur »wichtigsten Aktivität im Bereich der Kunst«: »Die Kommunikation über Kunst ist in den Augen der Frühromantiker die einzige Praxis, die sich dem Verdinglichungszusammenhang der Gesellschaft zu entziehen vermag.«58 Wer dabei die in einem Kunstwerk repräsentierten Normen und Werte in offener, nicht-endender Diskussion favorisieren oder zurückweisen, seine Schlussfolgerungen aber bestenfalls aufgrund einer inneren Überzeugungskraft seiner Argumentation rechtfertigen kann, entspricht präzis dem erkenntnistheoretischen Modell, das Kants Begriff von Kritik eingeschrieben ist: einer Kritik, »welche alle Entscheidungen aus den Grundregeln ihrer eigenen Einsetzung hernimmt, deren Ansehen keiner bezweifeln kann, verschafft uns die Ruhe eines gesetzlichen Zustandes, in welchem wir unsere Streitigkeit nicht anders führen sollen, als durch den Prozeß.«59 Programmatiken kritischer Kunstrezeption, in der »das Einzelwerk zum Ausgangspunkt unendlicher Reflexionen« wird, sind in den theoretischen Schriften der Frühromantiker unübersehbar; die Identität von Kunst, die sie zu akzeptieren scheinen, ist eine Identität »als Anlass, Inzitament, Vehikel, Anfang, elastischem Punkt dieses Prozesses.«60 Wenn das Wesen der Kunst für die Frühromantik aber im Akt unendlicher Reflexion liegt, fungiert Kritik darin als Aktivierung der inneren Unendlichkeit eines Kunstwerkes. In diesem Gedanken der

56 Schulte-Sasse, »Der Begriff der Literaturkritik in der Romantik«, 102. 57 S. dazu erneut Bürger, Theorie der Avantgarde, 80. Zur auch die vorliegende Arbeit leitenden Prämisse, Ball als einen »Nachfahre[n] der Frühromantik« zu klassifizieren, s. Brokoff, Geschichte der reinen Poesie, hier 525, sowie auch Schmitz-Emans, Die Sprache der modernen Dichtung, 132-173. 58 Schulte-Sasse, »Der Begriff der Literaturkritik in der Romantik«, 104. 59 Kant, Kritik der reinen Vernunft, 687f. 60 Schulte-Sasse, »Der Begriff der Literaturkritik in der Romantik«, 106.

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interpretatorischen Unausschöpflichkeit ästhetischer Reflexion ist ein weiterer Begriff Kants präsent, nämlich jener der »ästhetischen Idee«, unter der er diejenige Vorstellung der Einbildungskraft versteht, »die viel zu denken veranlasst, ohne daß ihr doch irgendein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann.«61 In einer Kurzbestimmung unterwirft August Wilhelm Schlegel die Eigenbedeutsamkeit von Kritik den funktionalen Erfordernissen einer Kunst als logisch-instrumentelles Denken aufhebendes Reflexionskontinuum: Freilich hat es viele gegeben, die sich für Kritiker ausgaben und weitläufige Kunstbeurteilungen schrieben und die doch hiezu nicht imstande waren. Das sind besonders diejenigen, die vorzugsweise oder gar ausschließend auf die sogenannte Korrektheit gehen. Man kann diesem Worte zwar einen gültigeren Sinn unterlegen; sie meinen aber damit eine Vollkommenheit der einzelnen Teile des Kunstwerks, und zwar bis in die kleinsten hinein, die ohne Beziehung auf das Ganze stattfinden soll. Man könnte dies die atomistische Kritik nennen (nach Analogie der atomistischen Physik), indem sie ein Kunstwerk wie ein Mosaik, wie eine mühsame Zusammenfügung toter Partikelchen betrachtet, da doch jedes, welches den Namen verdient, organischer Natur ist, worin das Einzelne nur vermittelst des Ganzen existiert.62

Darin zeigt sich, dass im frühromantischen Verständnis die Kunst, welche im Akt der Kritik aktiviert ist, mit dem Begriff des Lebendigen bzw. Organischen zusammen gedacht wird: als aus bloßer Potentialität in Leben überführte »progressive Universalpoesie«, die »frei von allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte« schwebt und diese Reflexion immer wieder potenziert und »wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln« vervielfacht.63 Kunst als Kritik wird wertvoll, wenn sie, so Heinz-Dieter Weber, im Dienste der Offenheit und Unabschließbarkeit der Progression sich darauf beschränkt, zum Selbstdenken zu veranlassen, so dass folglich die Forderungen nach einem schein-progressiven Reflexionskontinuum in einer Weise erfüllt sein können, dass ein Anlass zu produktiver Neuschöpfung nicht mehr besteht.64 Der oben genannte Zusammenhang des ästhetischen Präsentationsmodus progressiver Universalpoesie wirft die Frage nach der Möglichkeit einer gleichzeitigen Geschlossenheit und Unendlichkeit von Kunst auf, die Novalis etwa

61 Kant, Kritik der Urteilskraft, 167f. 62 A. W. Schlegel, »Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst«, 626f. 63 F. Schlegel, »Athenäums-Fragmente«, 182f. 64 Vgl. Weber, Über eine Theorie der Literaturkritik, 55.

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denkt, wenn er schreibt: »Schlechthin ruhig erscheint, was in Rücksicht der Außenwelt schlechthin unbeweglich ist. So mannichfach es sich auch verändern mag, so bleibt es doch in Beziehung auf die Außenwelt immer in Ruhe.« 65 Es fragt sich aber, ob die Grenze zur Außenwelt hin einem Kunstwerk seiner inneren begrifflichen ›Unerschöpflichkeit‹66 zum Trotz nicht einen bestimmten ideologischen Bereich zuweist; »ob die alle begriffliche Bestimmtheit aufhebende Fluktuation ästhetischer Reflexion nicht immer innerhalb eines bestimmten und bestimmbaren ideologischen Bereiches stattfindet und somit auch die Schwebe der Reflexion, von der Friedrich Schlegel spricht, zwar nicht in einzelnen Begriffen stillgelegt werden kann, aber dennoch ideologisch spezifisch ist.«67 Solche Verschiebungen in der Auffassung von Kunst lassen sich im frühromantischen Abrücken vom Konzept des geschlossenen Kunstwerks ebenso beobachten wie in der tendenziellen Befreiung der ästhetischen Reflexionen des Kritikers von den Beschränkungen des inneren Gefüges eines Kunstwerkes. Beides zeigt eine Nähe zu praktizierten Positionen der Avantgarde – wie schon ansatzweise ausgeführt wurde und noch näher zu zeigen ist: speziell von Hugo Ball –, führt aber auch allgemein historisch hin zum Beginn des 20. Jahrhunderts, als der Kritiker zunehmend als ›Vorhut‹ einer avancierten ästhetischen Tendenz auftritt, bei welcher der Kritik wiederum selbst Kunstcharakter aufgeprägt ist. Reinhart Kossellek betrachtet die Kritik gar als eine urtümliche Avantgarde; die Kritiker sind für ihn »die Avantgarde des Fortschritts, der zur Revolution wird.«68 Eine genauere Betrachtung schließlich zeigt, dass die Plausibilität, die eine als Kunstwerk definierte Kritik beanspruchen kann, ihre Funktion als Vermittlerin zwischen ästhetischem Werk und Publikum ablegt und die Absicht, die ästhetische Produktion anderer zu fördern, in gleicher Weise verabschiedet. Kritik ist nun vorrangig eine der klassischen Gattungstriade gleichberechtigte Kunstgattung, wie sie die Vorrede von Alfred Kerrs69 Die Welt im Drama proklamiert: »Fortan ist zu sagen: Dichtung zerfällt in Epik, Lyrik, Dramatik und Kritik.«70 Diese Proklamation garantiert der Kritik eine Prioritätsstellung: »Sie ist in dieser

65 Novalis, Schriften, III, 461. 66 Vgl. ebd., 664. 67 Schulte-Sasse, »Der Begriff der Literaturkritik in der Romantik«, 109. 68 Kossellek, Kritik und Krise, 100. 69 Kerr setzt sich ja bereits in seiner Dissertation mit der Romantik auseinander (vgl. ders., Godwi), vornehmlich mit dem Frühwerk Brentanos, aber auch mit dem Athenäum und mit frühen Schriften von Novalis. 70 Kerr, Die Welt im Drama, VI.

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Welt das Oberste: wenn sie auch Kunst ist.«71 Die Privilegierung der Kritikkunst basiert wiederum auf einer eigenen Auffassung des Kunstwerks und somit auch des Künstlers (s. Kap. 2.3), dessen Züge eines schöpferischen Heroismus und kreativer Irrationalität für die Kritik in Anspruch genommen werden.72 Durch diese Ästhetisierungsstrategie wird der Kritiker auf die Stufe eines »Super-Künstlers«73 erhoben. So wie die Kunst im Zeichen von Vitalismus und Lebensreform der ›Lebenssteigerung‹ des Rezipienten dient (s. Kap. 2.2), betrifft Kritik einen genuin ästhetischen Bereich, weil, wie Kerr prononciert feststellt, eine »anständige Rezension bisweilen die Aussicht hat, länger zu leben, als ein Schmierenstück.«74 In der Zergliederung des ›Innersten‹ eines Kunstwerkes reproduziert sich der Kern der »Gehirnkonstruktion«75 des Künstlers. Unmittelbar einleuchtend ist dies als Hinweis auf den »wahren Kritiker« (A. Kerr) als »ein Gestalter«, ein »Konstruktor von Konstruktoren«.76 Die Tätigkeit des Kritikers berücksichtigt und unterstreicht zwar eine Differenz der Kunst gegenüber Kritik, identifiziert sie aber dennoch mit einem ästhetischem Akt, durch den die »Grenze zwischen den Gattungen durch die Gemeinsamkeit der gestalterischen Elemente auf universalpoetische Weise«77 verschwimmt. Hier schwingt ein Diktum Friedrich Schlegels zum wiederholten Male nach.78 Der Begriff der Kritik liegt in der Bestimmung als eine »große Arbeit« und ein genuin »schöpferisches Werk«.79 Es ist genau diese Auffassung von Kritik, die festschreibt, dass nur die Kritik Wert zugeschrieben erhält, die »in sich ein Kunstwerk gibt.«80 Diese Bestimmung der Kritik, welche die Subjektivtät des Kritikers ins Metaphysische steigert und die ästhetischen Objekte an den Rand drängt, um jenen »selbst als Prominenz zu produzieren«,81 genügt den Verfahren frühromantischer Divinatorik der Kunst, die auf der anderen Seite ihre Funktion darin sieht, auf die theoretische Diversifikation als gesellschaftliches Bildungsideal hinzuweisen, auf die »Fähigkeit, die Idee oder das Ganze und hinwiederum die des Gan-

71 Ebd. 72 Vgl. Berman, »Literaturkritik zwischen Reichsgründung und 1933«, 227. 73 Pfohlmann, »Literaturkritik in der literarischen Moderne«, 100. 74 Kerr, Das neue Drama, X. 75 Ebd. 76 Ebd. 77 Kerschbaumer, »Romantische Literaturkritik«, 258. 78 Vgl. F. Schlegel, »Athenäums-Fragmente«, 182. 79 Kerr, Das neue Drama, X. 80 Ebd., XI. 81 Berman, »Literaturkritik zwischen Reichsgründung und 1933«, 229f.

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zen auf die Theile aufzufassen«.82 Trifft dies zu, so stellt sich noch deutlicher die Frage, im Namen welcher These die Betonung dieses Ideals geschieht. Der Verdacht liegt nahe, dass die Befreiung des Kritikers von dem inneren Gefüge des Kunstwerks an eine Kunstrezeption gebunden ist, die es notwendig macht, »von allen Einzelheiten abstrahieren zu können, das Allgemeine schwebend zu fassen, eine Masse zu überschauen und das Ganze festzuhalten, selbst dem Verborgensten nachzulauschen und das Entlegenste zu verbinden.«83 Eine Möglichkeit, eine solche Kritik durchzuführen, bestünde nach Friedrich Schlegel darin, das, »was wir anbeten«, »in Gedanken« vernichten zu können, »sonst fehlt uns, was wir auch für andre Fähigkeiten haben, der Sinn für das Weltall.«84 Jochen SchulteSasse führt aus, »[g]edankliche Vernichtung des Angebeteten«, »d.h. des Schönen«, sei »nötig, weil die Befreiung von der ›Schrift‹ der Gesellschaft nicht innerhalb der semantisch-ideologischen Grenzen eines Einzelwerks, sondern nur im alle möglichen Positionen umfassenden Denken der ›Unendlichkeit‹ oder des ›Weltalls‹ erfolgen« könne.85 Diesen Weg der gedanklichen Vernichtung verlangt die Distanz zur »Nullität« eines Kunstwerkes mittels Annihilation, wobei man sich des Beweises jener »nicht überheben« darf.86 Entgegen Benjamins Einschätzung, das Moment der Selbstvernichtung, die mögliche Negation in der Reflexion könne nicht ins Gewicht fallen gegenüber dem durch und durch Positiven der Erhöhung des Bewußtseins im Reflektierenden, ist (nach Schulte-Sasse) »die hier gemeinte Negation Voraussetzung der Erhöhung des Kritikers im Akt der Reflexion«: Die gedankliche Vernichtung des Schönen habe nichts mit kritischer Negation eines missglückten Werkes zu tun und sei durchaus kompatibel mit der grundsätzlichen Positivität romantischer Kritik, da die gedankliche Vernichtung eine ›aufhebende‹ Vernichtung im dialektischen Sinne meine, ein alle konkretspezifischen Positionen, alle in der unendlichen Reihe der Wirklichkeit nur mög-

82 Schelling, Philosophie der Kunst, 5. 83 F. Schlegel, »Charakteristik des ›Wilhelm Meister‹«, 581. S. auch dort weiter: »Wir müssen uns über unsre eigne Liebe erheben und, was wir anbeten, in Gedanken vernichten können, sonst fehlt uns, was wir auch für andre Fähigkeiten haben, der Sinn für das Weltall.« 84 Ebd. 85 Schulte-Sasse, »Der Begriff der Literaturkritik in der Romantik«, 111. Zu diesem Gedanken aus der Sicht gegenwärtiger literaturkritischer Praxis s. auch Strigl, »Das Glück der Kritik in vierzehn Thesen«, 51: »Der Kritiker vernichtet, selten und mit Genuß. Weil eben das ohnehin nicht (mehr) möglich ist: Bücher vernichten.« 86 F. Schlegel, »Eisenfeile«, 411.

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lichen Identitäten in sich einschließendes und zwischen diesen fluktuierendes Denken diese Positionen in der Schwebe halte und dadurch einen angereicherten, weil in sich komplexen gegen naiv-positionelles Denken feienden Nullpunkt schaffe, von dem aus freies Denken, Denken ohne immer schon erfolgte soziale Einschreibungen, möglich sein solle.87

b) ›Spiegel-Effekt‹, ›Zerschneidung‹ des Kunstwerks und ›kritische Haltung‹ Es zeigt sich, dass es zur Begriffsbestimmung von Kritik für das Modell ästhetischer Provokation nicht ausreicht, Kritik im frühromantischen Sinn als einseitige Betonung der Problematisierung von Verstehensleistung oder Relativierung eigener Urteile aufzufassen und in das Modell einer Kritikkunstlehre einzutragen.88 Entscheidend ist vielmehr, worauf die frühromantische gedankliche Vernichtungsleistung der Kritik sich richtet. Auch hier führt eine genauere ›destillierende‹ Lektüre zu einem differenzierteren Bild als dem zunächst skizzierten. Wenn der Begriff der Kritik vor der Folie seiner auf die Theoreme der Frühromantik zulaufenden begrifflichen Genese sich im Prozess gedanklicher Vernichtung zuspitzt, erweist sich ein interner Bezug des Kritikbegriffs zu solchen unter dem Titel ›Dekonstruktion‹ versammelten und vor allem von Jacques Derrida sowie Paul de Man geprägten philosophischen Konzeptionen.89 Es stellt sich somit die Frage: Enthält der für die ästhetische Provokation grundlegende Begriff der Kritik also eine Einsicht, die sich in den Kontext des Problems einrücken lässt, das »durch das Verhältnis der Dekonstruktion zur Dimension ästhetischer Erfahrung und Darstellung bezeichnet wird?«90 Eine zentrale These der Dekonstruktion besagt, dass die Idealität, die ein Diskurs realisieren muss, um sinnvoll zu sein, in Diskursen aufgrund ihres differentiellen Spiels strukturell unverwirklichbar ist: sie ist »zum Unendlichen hin

87 Vgl. Schulte-Sasse, »Der Begriff der Literaturkritik in der Romantik«, 111. 88 Dazu Kerschbaumer, »Romantische Literaturkritik«, 240. 89 Zur Beobachtung, dass sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts solche Kritiker, die sich in einer wie auch immer gearteten (früh)romantischen Tradition sehen, auch offen von dekonstruktivistischen Überlegungen beeinflusst sind, s. Thomason, »Deconstruction«, 315. S. außerdem auch Man, »Der Widerstand gegen die Theorie«, bes. 87. 90 Menke-Eggers, »›Deconstruction and Criticism‹ – Zweideutigkeiten eines Programms«, 351.

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unendlich verschoben.«91 Es ist dieser unendliche Aufschub der »zugleich unverwirklichbaren wie unverzichtbaren Idealität des Sinns«,92 den Derrida als différance bezeichnet: als die »Differenz zwischen Idealität und Nicht-Idealität«,93 die sich in jedem sinnhaften Diskurs, ihn von innen her zersetzend, öffne.94 Die Bedeutung der Kritik im Horizont der Dekonstruktion beginnt sich von seiner Einbindung in das dekonstruktive Spiel vor allem sprachlicher Differenzen zu klären,95 wenn man berücksichtigt, dass es das Verhältnis von differentiellem Spiel und Bedeutung ist, wie es insbesondere die ästhetischen Texte der Avantgarde ausprägen, welches eine Abstraktion von den sie bildenden ästhetischen Prozessen impliziert.96 Derrida übernimmt dabei von den ästhetischen Avantgarden u.a. ihre Auffassung, »der ästhetische Prozeß leiste eine Subversion von Bedeutungen«;97 dieser ist aber zugleich auch der Einsatzpunkt eines KritikBegriffs, der sich selbst ausdrücklich als ›dekonstruktiv‹ versteht und der durch Paul de Mans Essay The Rhetoric of Blindness: Jacques Derrida’s Reading of Rousseau markiert ist. De Man erläutert darin »die Logik des literaturkritischen Diskurses in seinem Verhältnis der Artikulation zum Prozeß ästhetischer Erfahrung bzw. ›literarischer Lektüre‹«:98 Vornehmlich literaturkritische Texte gewinnen, so Christoph Menke-Eggers, nach de Man eine Einsicht in die spezifische Logik der ästhetischen Texte nur, indem sie ihre Aussagen einer negativen Bewegung unterwerfen, die sich in ihrem Gehalt nicht selbst wieder aussagen lasse.99 Das literarische Spiel von gleichwohl theoretischen Texten unterläuft deren eigene Bedeutung, wenn sie sich als – textuell spielerische – Analyse gegenläufiger Möglichkeitsbedingungen von Bedeutung auffassen lässt.100 »Dekonstruktion«, schreibt de Man, »ist nichts, was wir dem Text hinzu[fügen]« – Der-

91

Derrida, Die Stimme und das Phänomen, 160.

92

Menke-Eggers, »›Deconstruction and Criticism‹«, 352.

93

Derrida, Die Stimme und das Phänomen, 159.

94

Vgl. ebd., 352.

95

S. dazu auch Derrida, Die Schrift und die Differenz, 395.

96

Vgl. Menke-Eggers, »›Deconstruction and Criticism‹«, 354.

97

Ebd., 354.

98

Ebd., 355. S. dazu auch Verf., »Akt des Schreibens, Struktur der Sprache, Literatur-

99

Vgl. Menke-Eggers, »›Deconstruction and Criticism‹«, 355.

›Betrachtung‹«. 100

Vgl. dazu Derrida, Grammatologie, 280f., mit Man, Critical Writings 1953-1978, 217.

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rida würde sagen: was in einer Lektüre ›produziert‹ wird –, »sondern sie ist es, die den Text allererst konstituiert.«101 De Mans Konzept einer Dekonstruktion in und durch den literarischen Text selbst setzt einen speziellen Begriff von Literatur bzw. eine »Theorie der ›Literarizität‹« voraus, die beide zentralen Überzeugungen des Konzepts der »›Ästhetizität‹« entgegen gesetzt sind; Literarizität ist »nicht bestimmt durch das vertrauende Wissen um die Einbildung der Bedeutung in das sinnlich erfahrbare Material«, sondern durch das »negative Wissen« um das »autonome Potential der Sprache«, das ihre Bedeutungen »unablässig unterläuft, statt sie verkörpernd zu fundieren«: »Das erfahrend vollzogene Spiel der literarischen Sprache, ohne das Bedeutungen sich nicht bilden können, ist zugleich so verfasst, daß sie sich in ihm nicht bilden können.«102 Der Sinn des Umgangs mit ästhetischen Werken wie einem literarischen Text besteht so verstanden darin, den Möglichkeitsraum literarischer ›Interpretation‹ interpretativ zu durchmessen,103 eine Interpretation von ›Interpretation‹104 zu sichern. Wahrheitsanspruch und Legitimität der Interpretation liegen nach de Man darin, die kognitiven Strukturen des interpretatorischen Prozesses105 und dadurch zugleich die Natur des genuin kritischen Diskurses zu klären,106 der einen ersten Text, d.i. das literarische Werk, betrifft. Es lässt sich eine bedeutsame Frage für den Begriff von Literatur bei de Man ausmachen, die den Begriff der Kritik für die ästhetische Provokation erhellt: es ist diejenige nach einer immanenten Erkenntnis der Literatur, die sich für ihn ausschließlich im Modus des Lesens vollzieht. Kritik, der sekundäre Text, ist für de Man eine Metapher für diesen Modus, der allerdings nie jemals überprüft oder verifiziert werden kann.107 Wenn aber das Lesen der kontrollierenden Bebachtung nicht zugänglich sein soll, wie kann dann die Kritik vom Vorwurf der Beliebigkeit befreit werden? »Was sichert die Autorität einer Lektüre?«108 In de Mans Logik kann dies nur der erste Text, das (literarische) Kunstwerk selbst sein.109

101

Ders., »Semiologie und Rhetorik«, 48.

102

Menke-Eggers, »›Deconstruction and Criticism‹«, 356f.

103

Vgl. Man, Blindness and Insight, 2. Aufl., xi.

104

S. dazu auch S. J. Schmidt, »Interpretation Today – Introductory Remarks«, 71.

105

Vgl. Man, Blindness and Insight, 135.

106

Vgl. ebd., S. 289.

107

Vgl. ders., Blindness and Insight, 2. Aufl., xi.

108

Ellrich/Wegmann, »Theorie als Verteidigung der Literatur?«, 472.

109

Vgl. Man, Blindness and Insight, 109.

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Der Status des literarischen Werks erschließt sich »weder eindeutig auf der Seite einer phänomenologischen Gegenständlichkeit noch andererseits nur als reines Konstrukt eines lesenden Subjekts«: »das Werk existiert im Modus der (schriftlich fixierten) Lektüre, und steht sowohl für das, was gelesen wird, als auch für den Lesevorgang selbst.«110 Wie aber kann der Zusammenhang zwischen Vollzug und Reflexion, zwischen Werk- und Rezeptionsästhetik gedacht werden? Eine Antwort ist nur möglich, falls »Aussagen über das Literarische, über die Literatur als Literatur«111 gemacht werden. Eine Begriffsbestimmung von Kritik zur Grundlegung des Modells ästhetischer Provokation muss sich demnach der Problematik einer expliziten Definition des Literarischen stellen, gerade weil dessen theoretische Bestimmung auf die Behauptung perspektiviert sind, diese sei durch eine immanente Verbindung mit dem künstlerischen, literarischen Werk gekennzeichnet. Ausgangspunkt kann die Einheit der Differenz von einem ersten und einem sekundären Text sein. Das Problem führt zu einer Stelle in de Mans Überlegungen, an der er, und im Anschluss an ihn Derrida, die immanent dekonstruktive Bewegung literarischer Texte und ihrer Lektüre als einen selbstreflexiven Spiegel-Effekt begründet.112 In dieser Selbstreflexivität113 literarischer Texte werden die strukturelle Verfasstheit von Texten und die ›tiefste‹ Einsicht in diese Struktur miteinander verbunden: Literarische Texte tauchen, so wiederum Menke-Eggers, alle Bedeutungen, die sie hervorbringen und die in einer Lektüre verstehend erfasst werden sollen, »wieder in den Prozeß ihrer Bildung durch sprachliche Mittel ein, der diese Bedeutungen, als ihr Resultat, zugleich unendlich übersteigt.«114 Dies zu artikulieren ist die literaturkritische Rede, die de Man meint, wenn er die »eigentümliche Gegenläufigkeit«115 von ›Einsicht‹ und ›Blindheit‹ beschreibt.116 Kurz gesagt: Kritik – im Verständnis der Dekonstruktion – entspringt einer negativen, vernichtenden Lektürebewegung; sie bringt den produktiven Lektüreprozess einer sich lesend vollzogenen literarischen Selbstreflexion zum Ausdruck,117 in dem die Spannung zwischen dem ausgemessen wird, was ein literarischer Text

110

Ellrich/Wegmann, »Theorie als Verteidigung der Literatur?«, 472.

111

Ebd.

112

Vgl. Man, Blindness and Insight, 17; Derrida, »The Law of Genre«, 211.

113

S. dazu auch Gasché, »Deconstruction as Criticism«; Gearhart, »Philosophy before Literature«.

114

Menke-Eggers, »›Deconstruction and Criticism‹«, 357.

115

Ebd.

116

Vgl. Man, Blindness and Insight, 103.

117

Vgl. Menke-Eggers, »›Deconstruction and Criticism‹«, 358.

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»predigt«, und dem, was er »praktiziert«, zwischen seiner »Bedeutung« und seinen »sprachlichen Mustern«, seinem »Spiel der Sprache«, seinen ›Strategien‹.118 Kritik demonstriert ein dekonstruktivistisches ›Lesen‹, das in den Texten das aufweist, was diese ›wegschreiben‹.119 Ein solches produktives Moment der Kritik mittels des Spreizschrittes zwischen ästhetischer ›Predigt‹ und ›Praxis‹ konnotiert Aussagen, deren Aufgaben in dreierlei Hinsicht diversifiziert werden können: sie bestehen (1.) darin, »Erfahrungen mit Kunstwerken auszudrücken oder zu ihnen anzuleiten«; (2.) dienen sie dazu, die ästhetischen Gegenstände festzustellen und (3.) erproben sie den an Kunstwerken gewonnenen »ästhetischen Blick an Phänomenen, die der Welt dieses Textes nicht zugehören«: sie verlängern die »Linien eines ästhetischen Erfahrungsprozesses« über die Grenzen des Kunstwerkes (vor allem eines literarischen Textes) hinaus.120 Die Kritik ist so mehr als nur der Ausdruck einer immanent-ästhetischen Dekonstruktion und ihrer Erfahrung, wenn sie sie auf Elemente nicht-ästhetischer Wirklichkeit ausweitet, auf die sie in einem Kunstwerk wie einem Text und seiner Lektüre nicht bezogen ist. Sie »verlängert die dekonstruktive Bewegung des ästhetischen Werkes in Felder, die außerhalb seiner Grenzen liegen.«121 Die Kritik »steht zur ästhetischen Erfahrung nicht nur im Verhältnis der vertiefenden – intensiven – Erschließung, sondern auch dem der ausgedehnten – extensiven – Erprobung ihres Vollzugs«122 . Für den literarischen Text heißt dies, ihn, mit Menke-Eggers bildhaft gesprochen, nicht nur als »ein sich drehendes Kaleidoskop« zu betrachten, auf dessen divergierende Positionen sie hinweist, sondern ihn auch als »ein Prisma« zu verwenden, »durch das sie auf die nichtliterarische Wirklichkeit blickt«,123 in der sie, wie Roland Barthes schreibt, die Aufgabe habe, »die Welt so zu sehen, wie sie sich durch ein literarisches Bewusstsein hindurch bildet«, »periodisch die Aktualität als das Material eines geheimen Werkes zu betrachten«, »sich an dem ungewissen und dunklen Augenblick zu situieren, wo der Bericht von einem realen Ereignis vom literarischen

118

Vgl. Man, »Semiologie und Rhetorik«, 45, 57; ders., »Tropen (Rilke)«, 70, 82.

119

Vgl. B. Menke, »Dekonstruktion – Lektüre«.

120

Menke-Eggers, »›Deconstruction and Criticism‹«, 363.

121

Ebd. S. dazu auch Culler, Framing the Sign, 11.

122

Ebd., 364.

123

Ebd.

1.2 D ER B EGRIFF ÄSTHETISCHER K RITIK

| 87

Sinn ergriffen wird.«124 Vor der Folie dieser Aufgabenstellung wird verständlich, wie der Begriff von Kritik die Funktion erfüllen kann, die gedankliche Vernichtungsleistung im ästhetischen Vollzugsgeschehen überhaupt erst zu gewährleisten. Dieser Vollzug ist das, worauf nun Barthes zielt, wenn er »jeglichen aktiven Umgang mit einem literarischen Werk, jedes Auffinden und Aussprechen seiner Bedeutungen also, der Kritik«125 zuweist;126 die Kritik entschlüssele, so Eberhard Lämmert, die Bedeutungen, entdecke ihre Terme, vor allem den verborgenen Term, das Bedeutete;127 die Kritik behandele jedoch nicht die Bedeutungen, sondern bringe sie hervor: »Sie verleiht der reinen lesenden Rede eine Sprache und der mythischen Sprache, aus der das Werk besteht [...], eine Rede (unter anderen).«128 Sie konkretisiert auf neue Weise den »mythischen Bestand« (E. Lämmert), der dem Kunstwerk eingeschrieben ist – ein Postulat, das Ball gefallen hätte (s. Kap. 2.2b): »Ihr Ertrag ist die Neuformulierung dieses Bestandes, und um ihn zu gewinnen, muß der kritische Diskurs mit dem Text zwar ›richtig‹, d.h. unter Ausleuchtung seiner sprachlichen Struktur, umgehen, er muss jedoch durchaus nicht die einzige Wahrheit formulieren, die dem Text abzuheben ist.«129 Barthes schreibt: Die Beziehung der Kritik zum Werk ist die einer Bedeutung zu einer Form. Der Kritiker kann nicht den Anspruch erheben, das Werk zu ›übersetzen‹, insbesondere nicht in größere Klarheit, denn nichts ist klarer als das Werk. Was er tun kann, ist eine bestimmte Bedeutung ›zeugen‹, indem er sie von einer Form, die das Werk ist, ableitet. [...] Der Kritiker verdoppelt die Bedeutungen, er läßt über der ersten Sprache des Werkes eine zweite Sprache schweben, das heißt ein Netz aus Zeichen. Es handelt sich im Grunde um eine Art Anamorphose, die natürlich, da einerseits das Werk sich nie für eine reine Widerspiegelung eignet [...] und andererseits die Anamorphose selbst eine kontrollierte Umwandlung

124

Barthes, »Literatur oder Geschichte«, 131. Barthes situiert die Kritik in diesem Fall im Kontext einer Zeitschrift bzw. genauer: einer literarischen Zeitschrift und das heißt hier explizit von Tel Quel (vgl. ebd., 129-131).

125

Lämmert, »Literaturkritik – Praxis der Literaturwissenschaft?«, 133.

126

S. dazu Barthes, »Kritik und Wahrheit«, 221. S. zum Thema insbes. auch Pany, »Roland Barthes als Literaturkritiker«, sowie u.a. auch Bürger, »Roland Barthes, Schriftsteller«, 96f.

127

Vgl. ebd., 83.

128

Ebd., 121.

129

Lämmert, »Literaturkritik – Praxis der Literaturwissenschaft?«, 133f.

88 | 1. Z UR Ä STHETIK KRITISCHER K OLLISSION ist, optischen Notwendigkeiten unterliegt: das, was es widerspiegelt, muß es umwandeln [...]130 .

An anderer Stelle heißt es, die Kritik sei etwas anderes, als im Namen ›wahrer‹ Prinzipien richtig zu sprechen; Gesetze der literarischen Schöpfung, wenn sie denn existieren, könnten auch für den Kritiker gelten und so müsse jede Kritik in ihrem Diskurs einen implizierten Diskurs über sich selbst entfalten: Jede Kritik sei Kritik des Werkes und Kritiker ihrer selbst.131 Der Gegenstand der Kritik ist mithin für Barthes nicht »die Welt«, von der »der Schriftsteller« spricht, er ist der Diskurs, und zwar der Diskurs eines anderen: »die Kritik ist der Diskurs über einen Diskurs.«132 Die Leistung der Kritik ist nach Barthes nicht die prozessuale Ausbildung jener Urteilsqualität, welche die ›traditionelle‹ Kritik noch vertritt; die ›wirkliche‹ Kritik »an den Institutionen und Schreibweisen« besteht nicht darin, zu urteilen, »sondern darin, sie zu unterscheiden, sie voneinander zu trennen, sie zu verdoppeln.«133 Dadurch wird der Schreibweise134 eine doppelte Funktion eingeprägt. Die doppelte Bestimmung der Schreibweise in eine poetische und eine kritische Qualität »wird ausgetauscht und verschmilzt in eine«; durch eine »ergänzende Bewegung« wird der Kritiker zum Schriftsteller:135 »Es kommt [auch hier] zu einer Verschmelzung von literarischer und kritischer Sprache, die [ja] auf frühromantische Traditionslinien zurückblicken kann.«136 In Der Kritiker als Künstler schreibt denn auch Oscar Wilde: Der Kritiker nimmt gegenüber dem Kunstwerk, das er kritisiert, dieselbe Stellung ein wie der Künstler zur sichtbaren Welt der Formen und Farben oder der unsichtbaren Welt der Leidenschaften und Ideen. Der Kritiker bedarf zur Vollendung seiner Kunst nicht einmal des kostbarsten Materials. [...] Was bedeutet einem so schöpferischen Künstler, wie es der Kritiker ist, der Gegenstand? Nicht mehr und nicht weniger, als er dem Romancier und dem Maler bedeutet. Wie sie, kann er seine Motive überall finden. Die Behandlung allein ist das Entscheidende. [...] Ja, ich möchte die Kritik eine Schöpfung in der Schöpfung

130

Vgl. Barthes, »Kritik und Wahrheit«, 221.

131

Vgl. ebd., 119.

132

Ebd., 120.

133

Ebd., 186.

134

S. dazu ebd., 15-69, bes. 15-21. In Kap. 2.4 wird auf den Begriff der ›Schreibweise‹ nach Barthes nochmals näher zurück zu kommen sein.

135

Ebd., 209.

136

Brune, Roland Barthes, 111.

1.2 D ER B EGRIFF ÄSTHETISCHER K RITIK

| 89

nennen. [...] Mehr noch, ich möchte behaupten, daß die Kritik, indem sie die reinste Form des persönlichen Eindrucks darstellt, auf ihre Weise schöpferischer als eine Schöpfung ist, da sie sich am wenigsten auf einen außerhalb ihrer selbst liegenden Maßstab bezieht und in der Tat ihre eigene Ursache ist, und [...] in sich selbst und für sich selbst ihr Ziel hat.137

Als Akt des Schreibens und der Schreibweise ist die Kritik ästhetische Fusion: sie transgrediert, wie es Barthes ins Bild setzt, den »verbrauchten Mythos« vom »erhabenen Schöpfer und dem bescheidenen Diener«, der ihr nun nicht mehr anhaftet, indem bei dieser ›Durchquerung der Schreibweise‹ die Vereinigung von Schriftsteller und Kritiker »angesichts ein und desselben Objektes, der Sprache, und in ein und derselben Arbeitsbedingung« anwesend ist.138 Man kann (mit Barthes) sagen, dass »der Kritiker einem Objekt gegenüber tritt, das nicht das Werk sondern seine eigene Redeweise ist«, und indem er diese zu der des Schriftstellers bzw. des Künstlers hinzufügt, macht er aus dem Objekt, »um sich in ihm auszudrücken«, »nicht das Prädikat seiner eigenen Person«, sondern »reproduziert das Zeichen der Werke selbst«, so dass Kritik und Werke gleichsam »ihre Stimmen vereinen«.139 Wenn man, wie Barthes, davon ausgeht, dass sich Kritik im Akt des Schreibens und der Schreibweise ästhetisch realisiert, dann existiert Kritik auch nur im Akt des Schreibens und der Schreibweise. Was heißt aber kritisches Schreiben in diesem Fall? Barthes antwortet auf diese Frage, indem er ausführt, auch wenn man den Kritiker als einen Leser definiere, der schreibe, bedeute dies, dass ein solcher Leser auf seinem Weg einem »furchterregenden Vermittler« begegne: »der Schreibweise«; und schreiben heiße hier, »auf eine bestimmte Weise die Welt (das Buch) [zu] zerspalten und wieder zusammen[zu]setzen«.140 Barthes führt aus: Man braucht nicht erst etwas von sich selbst hinzufügen, um einen Text zu ›deformieren‹, es genügt ihn zu zitieren, das heißt, ihn zu zerschneiden: unverzüglich entsteht ein neues Intelligibles. Dieses Intelligible mag akzeptiert werden oder nicht, es ist darum nicht minder konstituiert. Der Kritiker [...] tradiert [...] eine Materie der Vergangenheit [...], und andererseits verteilt er die Elemente des Werkes neu und verleiht ihm so eine bestimmte Verständlichkeit [...].141

137

Wilde, »Der Kritiker als Künstler«, 480f.

138

Barthes, »Kritik und Wahrheit«, 210.

139

Ebd., 225f.

140

Ebd., 229.

141

Ebd., 229f.

90 | 1. Z UR Ä STHETIK KRITISCHER K OLLISSION

Kritik als ›Zerschneidung‹ eines Kunstwerkes zu bestimmen, heißt, sie als Erfassen einer Neuverteilung (der zerschnittenen Elemente) zu betrachten. Ein solches Erfassen als Neuverteilung kann auch die Differenzierung oder Kontamination eines Kunstwerkes genannt werden. Indem die Kritik die Aporien eines Kunstwerkes markiert, teilt sie (sich), sie trennt, differenziert (sich), bricht; ästhetische Kritik bedeutet so Teilung durch Trennung.142 Darauf bezieht sich die noch näher zu explizierende ästhetische Provokation: Provozierend ist die Kritik darin, dass sie die Möglichkeit des zerschneidenden und neu zu verteilenden Erfassens eines Kunstwerkes exponiert. Dies ist im Übrigen ein Gedanke, der wiederum auch bei Benjamin anzutreffen ist, wenn dieser thematisiert, »die Desorganisation und Dissoziation des Werkes durch analytische Zergliederung bis zu dem Punkt voranzutreiben, an dem aus der Konfiguration der zertrümmerten Fragmente ein neuer philosophischer Begriff der Sache«143 entwächst. Die Aufgabe des Kritikers besteht nach Benjamin darin, das Bewusstsein für eine solche Destruktion zu schärfen, die »Dekomposition fortzuführen«144 und das kritisierte ästhetische Objekt durch ein »Verfahren des Abmontierens«145 in »eine andere Gestalt der Erkenntnis zu überführen.«146 Fragt man nun danach, wie die in diesem Sinne bestimmte Kritik ihren Gegenstand erfährt, so wird man von Michel Foucault in Was ist Kritik?147 letztendlich auf einen Grundzug von Unternehmung oder Aktivität verwiesen, vom dem bereits anfangs die Rede war:

142

Vgl. Kruschkova, »Das Aussetzen der Kritik«, 152.

143

Kaulen, »›Die Aufgabe des Kritikers‹«, 324f.

144

Ebd., 326. Kritisch zu Benjamins Position ist u.a. Greiner, »Sackgasse«, sowie insbes. Schreiber, »Widerspruch mit Schlegel«, bes. 46.

145

Benjamin, »Die Aufgabe des Kritikers«, 174.

146

Kaulen, »›Die Aufgabe des Kritikers‹«, 326.

147

Foucault bringt darin, so Alex Demirovic, insgesamt dreierlei zur Sprache: »1) Die Kritik hat ihre Grundlage verloren, weil sie auf eine bestimmte Weise mit der Geschichte verbunden war – dies wirft die Frage auf, was die Kritik ist. 2) Das Redegenre der Kritik wird nicht aufgegeben, vielmehr gibt es einen Willen zur Kritik, der von uns verlangt, von vorn anzufangen und weiterzumachen. [...]. 3) Wenn die Kritik ihre Stütze in der Wirklichkeit verloren hat, wir aber den Willen und die Leidenschaft zur Kritik verspüren, dann bedarf sie einer neuen Begründung.« (»Kritik und Wahrheit«, 86; s. dazu auch ders., Hg., Kritik und Materialität). Ich verstehe die vorliegende Arbeit auch als Versuch, zur Erhellung dieses letztgenannten Problems beizutragen.

1.2 D ER B EGRIFF ÄSTHETISCHER K RITIK

| 91

eine bestimmte Art zu denken, zu sagen, zu handeln auch, ein bestimmtes Verhältnis zu dem, was existiert, zu dem, was man weiß, zu dem, was man macht, ein Verhältnis zur Gesellschaft, zur Kultur, ein Verhältnis zu den anderen auch – etwas, was man die Haltung der Kritik nennen könnte.148

Die ästhetische Provokation gilt dieser Haltung der Kritik und richtet sich historisch, wie Foucault vorschlägt, zunächst auf die christliche Pastoral bzw. die christliche Kirche, insofern sie eine spezifisch pastorale Aktivität entfaltet, die auf der Idee fußt, dass jedes Individuum unabhängig von seinem Alter, von seiner Stellung sein ganzes Leben hindurch und bis ins Detail seiner Aktionen hinein regiert werden müsse und sich regieren lassen müsse: daß es sich zu seinem Heil lenken lassen müsse und zwar von jemanden, mit dem es in einem umfassenden und zugleich peniblen Gehorsamsverhältnis verbunden sei.149

Seinen Begriff kritischer Haltung führt Foucault also durch einen Gedanken ein, den er aus der Beobachtung dieser Operation der Lenkung zum Heil in einem Gehorsamsverhältnis mit jemanden gewinnt – eine Lenkung, die sich für ihn als eine »reflektierte Technik entpuppt, die allgemeine Regeln, besondere Erkenntnisse, Vorschriften und Methoden für Untersuchungen, Geständnisse, Gespräche usw. enthält.«150 Der »Regierungskunst« schreibt Foucault somit eine religiöse Herkunft zu; er demonstriert aber weiterhin, wie eine »Explosion« dieser »Menschenregierungskunst« festgestellt werden kann, die über jene Herkunft hinausgeht, indem sie sich laisiert und in der zivilen Gesellschaft ausbreitet, vervielfältigt.151 Und wenn man diese Bewegung der Regierbarmachung der Gesellschaft und der Individuen wie Foucault historisch einschätzt und einordnet, wird einsichtig, was dieser die kritische Haltung nennt: Als Gegenstück zu den Regierungskünsten, gleichzeitig ihre Partnerin und ihre Widersacherin, als Weise ihnen zu mißtrauen, sie abzulehnen, sie zu begrenzen und sie auf ihr Maß zurückzuführen, sie zu transformieren, ihnen zu entwischen oder sie immerhin zu verschieben zu suchen, als Posten zu ihrer Hinhaltung und doch auch als Linie der Entfaltung der Regierungskünste [...] eine Kulturform [...], eine Denkungsart [...]: die Kunst

148

Foucault, Was ist Kritik?, 8.

149

Ebd., 9f.

150

Ebd., 9.

151

Ebd., 10f.

92 | 1. Z UR Ä STHETIK KRITISCHER K OLLISSION nicht regiert zu werden bzw. die Kunst nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert zu werden.152

Als eine Definition der Kritik schlägt Foucault mithin vor: »die Kunst nicht dermaßen regiert zu werden.«153 Die von ihm anschließend versuchte Fixierung einiger historischer Anhaltspunkte der sogenannten kritischen Haltung ist damit, wie so oft bei Foucault, an die Frage nach Macht bzw., wie Noël Mouloud in unmittelbarer Reaktion auf dessen Ausführungen sagt, an die »Verweigerung der Macht oder die Verweigerung der zwingenden Regel, die zu einer allgemeinen Haltung, zur kritischen Haltung führt«,154 gebunden.155 Foucaults Bemerkungen sind gleichzeitig aber auch Hinweise auf die für den vorliegenden Zusammenhang relevanten Implikationen jener kritischen Haltung gegenüber ästhetischen Erscheinungen zu entnehmen.156 Foucault nennt drei Anhaltspunkte, die ihm relevant erscheinen: Die Kritik sei historisch gesehen biblisch (1. Anhaltspunkt), außerdem wesentlich juridisch (2. Anhaltspunkt) und gehe darüber hinaus vom Problem der Gewissheit gegenüber der Autorität aus (3. Anhaltspunkt).157 Ad 1.) Die Kritik sei biblisch, heißt, dass der Wille, nicht dermaßen regiert zu werden, von dem Foucault spricht, darüber läuft, dass sie zur Heiligen Schrift ein anderes Verhältnis sucht als dasjenige, das mit der Lehre von Gott verbunden ist. Kritik heißt hier, zu fragen, »was in der Schrift authentisch ist, was in der Schrift tatsächlich geschrieben worden ist, welche Art von Wahrheit von der Schrift gesagt wird, wie man den Zugang zu dieser Wahrheit der Schrift in der Schrift und vielleicht trotz des Geschriebenen findet.«158

152

Ebd., 12.

153

Ebd.

154

Ebd., 42.

155

Zu Verbindung von Kunst, Macht und Kritik s. auch Draxler, Gefährliche Substanzen; ders., »Der Habitus des Kritischen«; Kastner, »Zur Kritik der Kritik der Kunstkritik«. S. außerdem auch die Fragen, die Oliver Vogel einleitend zum Schwerpunkt ›Thesen zur Literaturkritik‹ der Neuen Rundschau stellt (»Editorial«, 5).

156

Foucaults Verhältnis zur Kunst bzw. zu den Künsten beleuchtet Gente (Hg.), Foucault und die Künste. S. aus den darin enthaltenen Beiträgen u.a. insbes. Raulff, »Der Souverän des Sichtbaren«, sowie, was Foucaults Verhältnis zur Literatur anbelangt, Klawitter, »Von der Ontologie der Sprache zur Diskursanalyse moderner Literatur«. Dazu außerdem ders., Die »fiebernde« Bibliothek; Geisenhanslüke, Foucault und die Literatur; Hengst, Ansätze zu einer Archäologie der Literatur.

157

Vgl. Foucault, Was ist Kritik?, 13f.

158

Ebd., 13.

1.2 D ER B EGRIFF ÄSTHETISCHER K RITIK

| 93

Ad 2.) Die Kritik sei juridisch, meint, nicht dermaßen regiert werden wollen und steht auch dafür, diese Gesetze nicht mehr annehmen zu wollen, weil sie eine wesenhafte Ungerechtigkeit bergen; Kritik meint hier, dem Souverän bzw. der Regierung und dem von ihr verlangten Gehorsam »universale und unverjährbare Rechte entgegen[zu]setzen, denen sich jedwede Regierung [...] unterwerfen muß.«159 Ad 3.) Die Kritik gehe vom Problem der Gewissheit gegenüber der Autorität aus, bedeutet schließlich auch: »nicht als wahr annehmen, was eine Autorität als wahr ansagt, oder jedenfalls nicht etwas als wahr annehmen, weil eine Autorität es als wahr vorschreibt. Es heißt: etwas nur annehmen, wenn man die Gründe es anzunehmen selber für gut befindet.«160 In Foucaults Theorie der Haltung der Kritik liegt damit zugleich der Anknüpfungspunkt für die Erläuterung des Verhältnisses zwischen Kritik und ästhetischer Provokation. Es geht um den Zugang zur ›Wahrheit‹ des Kunstwerkes (= ›biblische‹ Kritik) als auch darum, der Souveränität über die Kunst die Souveränität der Kunst entgegen zu stellen (= ›juridische‹ Kritik), und zudem, wie Judith Butler sagt, um die Eröffnung einer neuen Praxis von Werten aufgrund der Suspension des Urteils161 (= Kritik der ›Gewissheit gegenüber der Autorität‹). Die Theorie der Haltung der Kritik will nicht bewerten, ob ihre Gegenstände »gut oder schlecht, hoch oder niedrig geschätzt sind«, sondern sucht das »System der Bewertung selbst« heraus zu arbeiten.162 Dabei geht es auch um das Band, das die Frage der Kritik mit jener der Politik bzw. des Politischen verknüpft. So heißt es in einer der letzten Vorlesungen Foucaults, den Diskursen des Regierens liege als ein Leitfaden die politische Dramatik des wahren Diskurses zugrunde, die er in einem Dreischritt entwickelt: Der griechischen Antike entspringe die Dramatik des ›Beraters‹, wenn der parrhesiastische Berater an der Seite des Fürsten, manchmal auch risikoreich, gegen diesen das Wort ergreift; in der Dramatik des ›Ministers‹ nehme ab dem 16. Jahrhundert die Kunst des Regierens Gestalt an und entwickele spezifische Techniken, die eng verbunden seien mit der Staatsräson und dem Wissen über den Staat; und schließlich entstehe die Dramatik des ›Kritikers‹ und des kritischen Diskurses in jener politischen Ordnung, deren Entfaltung Foucault im 18. Jahrhundert ansiedelt.163 Hier wird u.a.

159

Ebd., 13f.

160

Ebd., S. 14.

161

Vgl. Butler, »Was ist Kritik?«, 222.

162

Ebd., 225.

163

Foucault, Das Wahrsprechen des Anderen, 39f. S. dazu u.a. Mennel/Nowotny/ Raunig, »Vorwort«, 7.

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deutlich, dass der Begriff der Kritik eine spezifische europäische Geschichte hat, mit der sich die Auseinandersetzung lohnt, und dass jener sich in dieser Geschichte, wie ich zu skizzieren versucht habe, mit spezifischen Themenfeldern und Konflikten verknüpft, die auch im Kontext einer sich entwickelnden, ›offenen‹ Kunstwerktheorie zu lesen sind, zumal damit der ›Ort‹ der Kritik – statt ihn zu vereindeutigen – (nochmals in Foucaults Worten) offen zu halten ist »für neue und andere Gegenstände, neue und andere Kämpfe, neue und andere Stimmen, neue und andere Zusammensetzungen dessen, was ›Kritik‹ heißen kann.«164 Ein Ergebnis meines Versuchs, angeleitet durch historisch-theoretische Positionen über eine Begriffsbestimmung der Kritik zu orientieren, wie sie für die ästhetische Provokation an Signifikanz gewinnt, lautet somit: Der Begriff ästhetischer Kritik bezeichnet das Grundgesetz des prozessualen Verfahrens einer Kunstwerkermöglichung und Kunstwerkdurchdringung, einer radikalen Reflexion im Medium des Kunstwerks hin zu dessen gedanklichen Vernichtung, ja bezeichnet selbst eine ›Super-Kunst‹, aus deren Modus des selbstreflexiven Spiegel-Effekts das Zerschneiden und neu Zusammensetzen einzelner Kunstwerkelemente und schließlich die ›kritische Haltung‹ entsteht. Diese Auffassung von Kritik ist vereinbar mit der Grundkonstellation ästhetischer Provokation, die sich Balls Beobachtungen zur Registrierung einer ästhetischen ›Leistung‹ nach ihrer künstlerischen Qualität entnehmen lässt: ein Kunsturteil überhaupt wichtig zu nehmen, indem es von zunächst ästhetischen Gesichtspunkten ausgeht, wodurch »es allgemach gleichgültig« wird, »ob es sich dabei um das Werk eines berufsmäßigen Artisten oder um dasjenige eines Geschichtsschreibers, Philosophen oder Theologen, also eines Gelehrten handelt.«165 Das macht es für Ball notwendig, die »Erscheinungen« der Kunst »nach einem strengeren Maßstab« zu kontrollieren, »als er seit langem in Anwendung war«: »Die Gestalt eines Arguments, nicht seine Fülle entscheidet«, schreibt Ball; der Wert einer künstlerischen Leistung ergebe sich »aus ihrer bis in die kleinsten Teilformen strahlenden Lichtspiegelung.«166 Es hat sich gezeigt, dass dies nur auf dem Wege einer Bestimmung des ästhetischen Provokationsprozesses, wie ihn der Begriff der Kritik vorbereitet, möglich ist.

164

Ebd., 10.

165

Ball, »Der Künstler und die Zeitkrankheit«, 104f.

166

Ebd., 105.

1.2 D ER B EGRIFF ÄSTHETISCHER K RITIK

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Fasst man diese im Rückgriff auf die dargestellte theoretische Genealogie des Begriffs der Kritik erreichten Klärungen zusammen,167 muss zweierlei gesagt werden. Erstens: Es handelt sich hier, wiederum mit Foucault gesprochen, darum, »die Erscheinungsbedingungen einer Singularität in vielfältigem bestimmenden Elementen ausfindig zu machen und sie nicht als deren Produkt sondern als deren Effekt erscheinen zu lassen«168 . Dabei geht diese Genealogie nicht als Schließung vor, weil das Netz der Beziehungen, die eine Singularität als Effekt einsichtig machen sollen, nicht eine einzige Ebene bildet. Es handelt sich um Beziehungen, die sich immer wieder voneinander loshaken. Die Logik der Interaktionen, die sich zwischen Individuen abspielen, kann einerseits die Regeln, die Besonderheit und die singulären Effekte eines bestimmten Niveaus wahren und doch zugleich mit den anderen Elementen eines anderen Interaktionsniveaus zusammenspielen – dergestalt, daß keine dieser Interaktionen als vorrangig oder absolut totalisierend erscheint. Jede kann in ein Spiel eintreten, das über sie hinausgeht; und umgekehrt kann sich jede, wie lokal beschränkt sie auch sein mag, auf eine andere auswirken, zu der sie gehört oder von der sie umgeben wird. Es handelt sich also, schematisch ausgedrückt, um eine immerwährende Beweglichkeit, um eine wesenhafte Zerbrechlichkeit: um eine Verstrickung zwischen Prozesserhaltung und Prozeßumformung.169

Zweitens: Das o.g. Motiv des Konzepts ästhetischer Provokation, die ›Gestalt eines Arguments‹ zur Wertbestimmung der Kunstleistung zu betonen, kann jedoch nicht so verstanden werden, Kritik lediglich auf die Bemängelung eines verbesserungswürdigen Zustandes (= negativer Fokus) oder kreativen Entwurf alternativer Optionen (= positiver Fokus) zu reduzieren – denn dann regrediert sie oberflächlich auf die Thematisierung von Kunst als Gegenstand von Kritik. Sie kann vielmehr in ihrer Autonomie nur dadurch bewahrt werden, dass sie selbst »in die

167

S. dazu auch Saar, Genealogie als Kritik, bes. 9: »Genealogische Kritik steht für eine radikale Analyse, die die historischen Wurzeln eines Werts, einer Institution oder einer Praxis freilegt und das Wissen um die Gewordenheit eines Objekts gegen dieses richtet, um es durch den Hinweis auf seinen Ursprung zu kompromottieren und zu deligitimieren.«

168

Foucault, Was ist Kritik?, 37.

169

Ebd., 38f. Zur Diskussion einer insbes. genealogischen Kritik, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, s. Visker, Michel Foucault; Honneth, »Rekonstruktive Gesellschaftskritik unter genealogischem Vorbehalt«, sowie Saar, Genealogie als Kritik, bes. S. 293-346.

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Materie hinein«170 geht, mithin Strategien und Taktiken wählt, eigene Verfahren und Vollzüge bedenkt und gestaltet, und es ist dieses ›Hineingehen‹ in die Materie (des Kunstwerkes), das eben auch kritische Haltung als ästhetische Gestaltung heißt. Zieht man so ein erstes Resümee aus der bisherigen Diskussion des Kritikbegriffs, so können zugleich die nächsten Schritte der Explikation der ästhetischen Provokation angegeben werden. Es hat sich gezeigt, dass eine ›destillierende‹, mit entsprechenden Forschungsergebnissen ihrerseits produktiv ›arbeitende‹ Lektüre von theoretischen Texten seit dem 18. Jahrhundert einen Begriff der Kritik so verstehen kann, dass er mit elementaren Grundbedingungen ästhetischer Provokation, die die Ästhetiken der historischen Avantgarde, vor allem Ball’scher Provenienz, formulieren, vereinbar ist. Der Begriff der Kritik lässt sich als Vorschlag zur Explikation des ästhetischen Provokationsprozesses deuten, aus dem Kritik als Kunstwerk entsteht, indem diese in jenes ›hineingeht‹. Kritik »reißt«, wie sich äquivalent zu Deleuze formulieren ließe, das Kunstwerk aus seinen »gewohnten Bahnen heraus« und lässt es »delirieren«.171 Kritik bedeutet aber immer auch »gleichzeitig Dissoziation wie Assoziation«: »Sie unterscheidet, trennt und distanziert sich; und sie verbindet, setzt in Beziehung, stellt Zusammenhänge her« – »[s]ie ist, anders gesagt, eine Dissoziation aus der Assoziation und eine Assoziation aus der Dissoziation.«172 Die so im Anschluss an einige Modelle angedeutete Kontur der Kritik erlaubt, ihre Strukturformel – und damit zugleich die Schritte ihrer Explikation in den nächsten Kapiteln – anzugeben: Ästhetische Provokation beschreibt ästhetische Erfahrung als Kritik am und zugleich als Kunstwerk; sie ist die Subversion der in ihr gleichsam versuchten Geburt des Künstlers aus dem Geiste der Kritik. Dies soll unter Rückgriff auf ästhetische Theoreme der Avantgarde durch eine weiterreichende Klärung gezeigt werden. Die programmatische Formulierung des Begriffs der Kritik, die ihre Potenziale schärfen sollte,173 hat sich als Konsequenz aus einer bestimmten Lesart von Positionen der Aufklärung, teilweise des Sturm und Drangs, vornehmlich der (Früh-)Romantik und der Moderne, ferner solchen der Philosophie des 20. Jahrhunderts ergeben. Wie immer man die Bedeutung einer Kritik als Kunstform

170

Huber u.a., »Wenn die Kritik verdeckt ermittelt«, 9.

171

Deleuze, Kritik und Klinik, 9.

172

Jaeggi/Wesche, »Einführung: Was ist Kritik?«, 8.

173

So gefordert in Draxler, Gefährliche Substanzen, 121.

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veranschlagen mag,174 bedeutsam ist auch die Wahrnehmung, dass dies als Voraussetzung eine relativ hoch entwickelte ›Kultur‹ der Kritik prägt wie kennzeichnet. Was etwa Hugo von Hofmannsthal allgemein für den Kritiker bemerkt, gilt auf besondere Weise für die Aufgabe des Kritikers in und nach der »partikularisierten Welt der Moderne«, nämlich »mit seinen Sprechweisen nicht nur auf den Zustand der Gegenwart zu reagieren, sondern auch auf das bereits entfernte Ideal zu verweisen«,175 da jedes »Vollkommene«, das man so zu sagen auf dem Wege liegen sieht, ein »verirrtes Bruchstück aus einer harmonischen, fremden Welt« darstellt, aus dem »durch eine große Anstrengung der Phantasie für einen Augenblick eine Vision dieser fremden Welt« hervorzurufen ist: »wer das kann und dieser großen Anspannung und Verdichtung der reproduzierenden Phantasie fähig ist, wird ein großer Kritiker sein.«176 Ich habe vorgeschlagen, in der Genese des Kritikbegriffs eine Linie zu sehen. Ihre Pointe zeigt diese Auslegung jedoch nur, wenn sie auf jenes Modell bezogen wird, auf das sie hinausläuft: eben die ästhetische Provokation, wie sie die historische Avantgarde mit Hugo Ball als deren Theoretiker, als Entwickler dadaistischer Philosophie propagiert.177 Die Explikation des Begriffs der Kritik muss deshalb in eine Explikation des Provokationsmodells münden. Allein dadurch wird klar, dass sich diese immer auf den eingangs genannten Versuch einer Formation von Kritik und Kunst respektive Kritik und Literatur bezieht.

174

Helmut Böttiger sieht diese etwa in den »Chancen«, die »im Stil, in der Irritation« liegen (»›Das Publikum‹ gibt es nicht«, 9), womit er in ideengeschichtlicher Nähe zu Ball argumentiert; Roman Bucheli spricht etwa da vom Gelingen der Kritik, »wo die Hybris des Urteils auf Augenhöhe mit der Ausgesetztheit der Kunst steht« (»[Kritik ist ein parasitäres Gewerbe]«, 10); Meike Feßmann benennt die »Kunst des Kritikers in nuce« darin, »ein Kunstwerk so [zu] analysieren, dass er ihm etwas hinzufügt, das er komplettiert« (»[Der Kritiker ist ein Leser, der seine Lektüre reflektiert]«, 13); Herles postuliert pauschal: »Der Kritiker ist selbst ein Künstler, nur von anderer, subtilerer, hintergründigerer Art als der gewöhnliche Schriftsteller. [...] Der Kritikkünstler ahnt, dass ihn der Leser nicht braucht. Aber tief im Inneren weiß er, dass die Literatur nicht ohne ihn auskommt.« (»[Nach dem ersten Lesen]«, 18.) Müller erklärt dagegen: »Der Kritiker begreife, was er tut, als Kunst, aber nicht sich selbst als Künstler« (»[Der Kritiker sei einsam]«, 37. Eine andere Stoßrichtung als die, Kritik als Kunstform wahrzunehmen, verfolgt Neuhaus, »Dichter als Kritiker«.

175

Kerschbaumer, »Romantische Literaturkritik«, 254.

176

Hofmannsthal, Werke in Einzelbänden, VIII, 195.

177

Vgl. Hohendahl, »Hugo Ball«, 746.

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Die Beschreibung ästhetischer Provokation aus dem Begriff der Kritik darf nicht die Aufgabe vergessen machen, deren Erfüllung ein solches Vorhaben erwartet: Zum Einen die Erläuterung einer Ästhetik der Provokation, die sich in der Reflexion auf die kritische ›Vernichtung‹ des Kunstwerks einstellt. Zum Zweiten die Darstellung der, wie schon des Öfteren angedeutet, u.a. auch ›mystischen‹ Bestandteile einer ästhetischen Provokationstheorie. Diese Leistungen sind bei Ball augenfällig: Die ästhetische Provokation ist dann auch das Erlebnis eines Objekts jenseits des eigenen Geistes, der Sprache und der Rationalität; die Freisetzung ästhetischer Provokation erfolgt in der reflexiven Zurückbeugung auf das, was Ball als Transgression hin zum Übernatürlichen beschreibt, als »Absonderung«, »Verlassen«, »Sichentziehen der Zeit«, »ohne das Leben, die Schönheit, das Unergründliche aufzugeben.«178

178

Ball, Die Flucht aus der Zeit, 116.

»Ein Bild von dem, was Kritik ist: Pflanzen aus dem Garten der Kunst in die fremde Erde des Wissens versetzen, um die kleinen Veränderungen der Form, die da an ihnen in Erscheinung treten, aufmerksam zu erfassen.« WALTER BENJAMIN

»Kein Wort fließt dem Kritiker leichter und öfter aus der Feder als das Wort Einfluß, und unter allen vagen Vorstellungen, die die Phantom-Rüstung der Ästhetiker ausmachen, läßt sich keine vagere Vorstellung finden.« PAUL VALÉRY

3 Innerlichkeit und Psychologie

»Kritik muss in der Sprache der Artisten reden.« WALTER BENJAMIN

Die Bemerkungen der beiden vorangegangenen Kapitel haben Hinweise auf das Modell einer Ästhetik der Provokation gegeben, für die ›Transformationen‹ ästhetischer Subjektivität an Gewicht gewinnen, wenn Rezeptions- und Produktionsseite der Kunst bewusst vertauscht werden, indem »Zuschauer durch gezielt verabreichte Schocks zu ihren Handlungen provoziert«1 werden. In seinem Manifest Das Varietétheater macht Filippo Marinetti zum Beispiel dazu folgende Vorschläge: Man muß die Überraschung und die Notwendigkeit zu handeln unter die Zuschauer des Parketts, der Logen und der Galerie tragen. Hier nur ein paar Vorschläge: auf ein paar Sessel wird Leim geschmiert, damit die Zuschauer – Herr oder Dame – kleben bleiben und so die allgemeine Heiterkeit erregen [...]. Ein und derselbe Platz wird an zehn Personen verkauft, was Gedrängel, Gezänk und Streit zur Folge hat. – Damen und Herren, von denen man weiß, daß sie leicht verrückt, reizbar oder exzentrisch sind, erhalten kostenlose Plätze, damit sie mit obszönen Gesten, Kneifen der Damen oder anderem Unfug Durcheinander verursachen. Die Sessel werden mit Juck-, Niespulver usw. bestreut.2

Ersichtlich ist, dass es hier um ein künstlerisches Spektakel handelt, »bei dem die Zuschauer allein durch die Kraft des Schocks, die Stärke der Provokation in Akteure verwandelt«3 werden, dass dergestalt eine Situation entsteht, in der die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, Betrachter und Betrachtetem, Zu-

1 Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, 16. 2 Marinetti, Der Futurismus, 175f. S. dazu auch Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, 16. 3 Ebd.

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schauer und Darsteller, aber auch zwischen der Zeichenhaftigkeit der künstlerischen Elemente relationell in Frage gestellt und wenn nicht absolut, dann doch aber prinzipiell verabschiedet sind. Für eine Ästhetik der Provokation bleibt die Trennung von Subjekt und Objekt nicht fundamental erhalten: Der Künstler als Subjekt schafft das Kunstwerk zwangsläufig nicht als ein von ihm ablösbares, fixier- und tradierbares Artefakt, dem unabhängig von seinem Schöpfer eine eigene Existenz zukommt, sondern immer im Gedanken an eine zu gestaltende Wirkung seiner schöpferischen Idee im Hinblick auf einen Rezipienten, der dadurch erst das Kunstwerk zum Objekt ästhetischer Wahrnehmung und Interpretation macht. Diese Bestimmungen umreißt das Bild ästhetischer Provokation, das neben ästhetischem Subjekt und Objekt eine dritte Figur anordnet, die Anteile von beidem trägt und doch eine Eigenständigkeit beweist. Es ist diese Figur, die dem künstlerischen Geschehen eine Richtung verleiht, indem sie nichts anderes als den Vollzug der Provokation freisetzt. Ball erkennt sie in einem seiner frühesten Texte in der Figur des Regisseurs. Er schreibt: Dass der Regisseur neben dem Verfasser des Stückes und dem darstellenden Schauspieler ein eigenes Kunstwerk schafft und inwiefern er es schafft, dass er nicht mehr und nicht weniger ist als der Dritte im Bunde, wo es sich darum handelt, ein Dichtwerk vor das Rampenlicht zu rücken, das alles sind Fragen, die der Allgemeinheit noch immer nicht so geläufig sind, als die künstlerischen Absichten eines Theaters es wohl in jedem Falle wünschenswert erscheinen lassen.4

Ball unternimmt hier den Versuch, einmal den Umkreis der Leistung des Regisseurs »in ein paar kurzen Sätzen abzustecken«, »zu zeigen, worin gerade das künstlerische Moment der Regie besteht«, »wo eigentlich die Kunst der Regie beginnt und worin sie ihre Aufgabe findet.«5 Seine Bemerkungen geben darüber hinaus den Ausgangspunkt vor, von dem aus sich Gegenstand und Weise ästhetischer Provokation entfalten.6 Ball beginnt mit einer Abgrenzung des Regisseurs zur Figur des Arrangeurs, der hinter einer Szene stehe, die Herstellung der Dekorationen überwache, den Darstellern die Stellungen gebe, die Tragweite des gesprochenen Wortes abmes-

4 Ball, »Regie und Regisseur«, 1. 5 Ebd. 6 S. dazu auch die Etappen, die Cornelius Zehetner zur Kategorisierung der Entwicklung und Entwicklung von Balls ›Idee(n)‹ aufstellt: »a) die ästhetische Idee: Schauspiel; b) die moralische Idee der Kritik; c) die Idee des ›produktiven Lebens‹; die Idee der Erfahrung: operative Pathologie (Dämonologie).« (Hugo Ball, 16.)

1.3 I NNERLICHKEIT UND P SYCHOLOGIE

| 103

se, die Gesten reguliere und die memorierten Rollen abhöre – für ihn eine Vorarbeit und Voraussetzung der eigentlichen Kunstbetätigung der Regie; die Arbeit des Regisseurs nennt er hingegen das »Herausarbeiten der einzelnen Rollen im Sinne des Dichters bis zur höchsten sinnenfältigen Wirkung«: Das Abstimmen der einzelnen darstellerischen Bewegungen, Stimmen und Gesten aufeinander. Das Fixieren des Tempos und der Dynamik einer Aufführung, einer Szene eines Aktes. Die Verbildlichung aller schauspielerischen Möglichkeiten eines Werks. Nicht zuletzt die negative Arbeit: Die Verhütung von allerhand Trivialitäten, Härten und Geschmackswidrigkeiten, die der Requisitenbetrieb, das Handwerkspersonal, die Statisterie und ähnliche Obstakel einzuschleppen drohen. Der Regisseur steht da als der Gesamtschauspieler einer Vorstellung. Das Material seiner Darstellung ist der gesamte Bühnenapparat, der er zu durchgeistigen und zu beleben hat.7

Die Formulierung von der völligen ›Durchgeistigung‹ und ›Belebung‹ des ›gesamten Bühnenapparates‹ ist bei Ball eine spezielle Auslegung des auf gänzliche Aktivierung des Kunst-›Raums‹ gerichteten Grundzugs ästhetischer Provokation. Im Vordergrund steht bei ihm der Ermöglichung »scheinbarer Unmöglichkeiten«,8 d.h. bei Werken »von einer Schwierigkeit«, »von einem Fanatismus des Gedankens, von einer Mystik im Aufbau, von einer so grandiosen Rücksichtslosigkeit im Vortrag moralischer Bravaden, dass jegliches Bemühen um die Bühnenform verlorene Liebesmüh zu werden scheint«, aber auch bei Werken, »die doch in der Hand des starken Regisseurs nun ihre ganze feierliche Dämonie, die ganze lapidare Einfalt ihrer Tiefe, den Marionettenschritt ihrer zarten Groteskheit offenbaren müssen«, sowie bei Werken, »die jedem vorhandenen Bühnenapparat Trotz zu bieten scheinen«, »für die die Mittel einer Durchschnittsbühne nicht mehr möglich sind«.9 Man sieht, worauf das geht: Eine Ästhetik der Provokation, wie sie mit Hilfe von Balls ästhetischen Schriften im kontrastierenden Abgleich mit ihr anverwandten Theorien und Theoremen vorzustellen ist, orientiert sich an einer Hybris der Regie und wird in ihrer Struktur den oben entworfenen Bestimmungen »künstlerischer Leistung«10 gegenüber gestellt. Die »Kunst des Regisseurs« nennt Ball eine Art der Darstellung, die erstens ein »Dichterwerk« frei sich entfalten lasse und doch ihm »seinen Stempel« aufzudrücken wisse, und mit der zweitens den »Erwartungen« des Publikums ent-

7

Ball, »Regie und Regisseur«, 2.

8

Ebd., 3.

9

Ebd., 2f.

10 Ebd., 2.

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gegen zu kommen sei – hier finde der Regisseur »seine Kunst und die grosse Möglichkeit, seelische Erschütterungen zu bewirken von der Harmonie und der Eigenart des Gesamtapparats aus.«11 Balls Figur des Regisseurs erweist sich als geeignet, um die identifizierenden Züge ästhetischer Provokation begrifflich zu konzentrieren. Sie situiert die ästhetische Provokation auf dem Theater, das für Ball – zumindest zu Beginn seines künstlerischen Denkens – »alles« war (»das Leben, die Menschen, die Liebe, die Moral«)12 und das etwa auch für Boris Arvatov wiederum eine Auflösung der Kunst in Lebenspraxis bedeutet.13 Mit dem Begriff des ›Theaters‹ lässt sich für Ball ein großer Teil ästhetischer wie nicht-ästhetischer Wahrnehmung fassen.14 Dies gilt insbesondere für ein so elementares Phänomen wie die Auseinandersetzung mit der konkret phänomenologisch wahrgenommenen Gegenwart, in der im Falle Balls die Intentionalitäten des Provokativen notwendig enthalten ist. Wenn er schreibt, die »Zeit aber war wütend darauf aus, alles besondere, Individuelle aufzuspüren und als Hindernis zu beseitigen« wertet er sie als eine »destruktive, entwertende, schändende Zeit«: »Unerhörter Auf- und Abbau der im Spiel befindlichen Kräfte.«15 Es heißt weiter: Es war eine Epoche des ›Interessanten‹ und des Klatsches. Eine psychologische Epoche, und als solche domestikenhaft. Man stand und lauschte an den Türpfosten der Natur. Noch die sublimsten Geheimnisse wurden beschnüffelt und angedrungen. Eindringen, Sicheinfühlen hieß die Parole. Es war eine kriechende und verkrochene Zeit, wie ja die Psychologie als oberster Maßstab immer das Merkmal allzumenschlicher Generationen sein wird. Nicht als ob es ohne sie ginge; aber es sollte über sie hinausgehen. Denn nicht die ›Wahrheit‹ ist ausschlaggebend, sondern der Sinn und der Zweck der Wahrheit. Wo gäbe es einen Psychologen, der sich bei einer Wahrheit beruhigen könnte? Er kennt hundert verschiedene Wahrheiten, und eine ist ihm so wahr wie die andere.16

Dem aus der Figur des Regisseurs sich ableitende Bedeutung des Begriffs des ›Theaters‹ für eine Ästhetik der Provokation ist somit ein Vorstellung zur Seite

11 Ebd., 3. 12 Ball, Die Flucht aus der Zeit, 13. 13 Vgl. Arvatov, »Theater als Produktion«, bes. 90. Dazu u.a. näher Mende, Musik und Kunst in der sowjetischen Revolutionskultur, 127. 14 Zu Balls ›Theater‹ s. ausführlich Bähr, Die Funktion des Theaters im Leben Hugo Balls, 63-79. 15 Ball, Die Flucht aus der Zeit, 16. 16 Ebd.

1.3 I NNERLICHKEIT UND P SYCHOLOGIE

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zu stellen, wie sie sich für Ball aus dem ›Eindringen‹, d.h. dem ›Sicheinfühlen‹ in die Zeit ergibt. Einem derart um den Aspekt der ›Psychologie‹ erweiterten Begriff des Theaters lässt sich demnach mit einem Mechanismus nähern, den Theodor Lipps angeregt durch Friedrich Theodor Vischer in die ästhetische Diskussion eingeführt hat.17 Lipps Frage, wie das im Kunstwerk dargestellte Psychische für den Rezipierenden sich darstelle, ist Balls Ästhetik nicht unähnlich, ist es doch nach Lipps die eigenartige Funktion der ›Einfühlung‹, die er als nicht weiter zurückführbare Tatsache betrachtet, das nur aus eigenem Erleben und Fühlen bekannte Ich zu objektivieren: Die fremden ›Iche‹ erscheinen so (nach Anette Naumann) als die Reproduktionen des eigenen Ichs, das seine Gefühle in den fremden Körper einfühle: Lipps vertrete die These, dass in jedem ästhetischen Objekt das sinnliche Symbol eines seelischen Inhalts sei und aufgrund dessen überhaupt ästhetischen Wert besitze; in der ästhetischen Wahrnehmung erkenne er die Auffassung seelischer Inhalte, ›seelischer Lebensbetätigungen‹, mithin innere Aktivitäten, in dessen Tun emotionale Auslebung stattfinde, wobei die hervor gerufenen Gefühle dabei die in den Gegenständen und im Gegenüber erlebte eigene Persönlichkeit seien – ein modifiziertes eigenes Ich.18 Daher finden aufgrund optischer Wahrnehmungen laufend kinästhetische Nachahmungsbewegungen statt: »Ich fühle mich [...] in einem Wahrgenommenen strebend nach Bewegung. Die Tatsache bezeichnen wir wiederum mit dem Namen ›Einfühlung‹. In dieser besteht zugleich das ästhetische Verständnis des optisch Wahrgenommenen.«19 Der innere Nachvollzug tatsächlicher kinästhetische Bewegungen, wie die eines Schauspielers auf der Bühne, finde als innere Willenshandlung statt, die sich im Nachvollzug als seelisches Erlebnis äußere.20 Und an Balls Ästhetik lässt sich vor diesem Hintergrund zeigen, »dass die anthropofugale, technophile und a-humanistische Bewegung [der Avantgarde] durchaus nach Innen umschlagen und sich mit der spiritistischen und eher menschenfreundlich argumentierenden Abstraktionstendenz der Moderne verbinden konnte.«21 Das Geschehen ästhetischer Provokation bedarf somit einer Formulierung ihrer Grundstrukturen in den Begriffen des ›Theaters‹ wie der ›Psychologie‹, die zu einer Reihe von Balls frühen, kritischen Schriften führen. Diese sollen im Folgenden nicht nur als Leitfaden dienen, sondern ausführlicher diskutiert werden.

17 Vgl. Lipps, Ästhetik – Psychologie des Schönen und der Kunst, 1. 18 Vgl. Naumann, Raimer Jochims, 58. 19 Lipps, Ästhetik – Psychologie des Schönen und der Kunst, 121. 20 Vgl. Naumann, Raimer Jochims, 58. 21 Ehrlicher, »Entleerte Innenräume«, 82.

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Ich werde also die Auseinandersetzung mit den ästhetischen Theorien und Theoremen, welche die Formation von Kritik und Kunst, zumal von Kritik und Literatur um provokative Praktiken und Postulate bei und nach Ball kennzeichnet, nach einzelnen Dreh- und Angelpunkten ausrichten, wie sie in ihren zentralen Begriffen gegeben sind. Dabei habe ich nicht die Absicht, eine Übersicht aller für die Provokationskunst relevanter Themen und Bereiche zu geben. Stattdessen habe ich vier solcher Dreh- und Angelpunkte ausgesucht, in denen mir die für den vorliegenden Kontext zwingenden philosophischen, ästhetischen und literaturtheoretischen Probleme konzentriert erscheinen, nämlich denjenigen von ›innerem Klang‹ und ›innerer Notwendigkeit‹ im Sinne Kandinskys (1.3a), von ›Psychologietheater‹ und ›therapeutischer Ästhetik‹ im Sinne Balls (1.3b) sowie – im zweiten Teil der Arbeit – sowohl von avantgardistischer ›Rhetorik‹ und literarischem ›Spielzeug‹ (2.1) als auch von ›Performativität‹ und ›Anarchismus‹ der Sprache (2.2). Von ihrer Gruppierung bzw. der Ausrichtung der hinter diesen Begriffen sich jeweils abzeichnenden und über sie hinausweisenden Problematiken her, so hoffe ich, wird der diskursive Radius deutlich werden, in dem sich eine Ästhetik der Provokation ausgehend von Hugo Ball abspielt und die somit mittels der in sowohl impliziter wie expliziter Reaktion auf sie hervorgebrachten Begriffe an Gestalt gewinnt. Für das folgende Kapitel dienen mir Dietmar Kammlers Anmerkungen zum Material-, Künstler- und Werkbegriff bei Wassily Kandinsky und Hugo Ball,22 die maßgeblichen Parallelen zwischen beiden aufzeigen, als Referenz, auf deren Basis ich die entsprechenden, auf sie rekurrierenden theoretischen Konturen der Provokationsästhetik entwickeln will. Ich betrachte also neben der mich hier vornehmlich theoretisch interessierenden Beziehung zwischen Kandinsky und Ball auch eine der früheren, Weg weisenden, jedoch seither leider wenn überhaupt nur punktuell rezipierten Arbeiten der BallForschung, der ich durch meine Rezeption und Kommentierung, mithin durch deren ›Anwendung‹ für die Provokationsästhetik wieder neues Gewicht zu verleihen versuche. Es geht mir damit auch hier darum, die »Interpreation neu [zu] interpretieren« (J. Derrida).23

22 Vgl. Kammler, »Die Auflösung der Wirklichkeit«. 23 Derrida, »Qual Quelle«, 323.

1.3 I NNERLICHKEIT UND P SYCHOLOGIE

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a) »Innerer Klang« und »innere Notwendigkeit« Die Prozessualität des ästhetischen Provokationsvollzugs besteht, mit Kandinsky gesagt, in der »organischen Entwicklung«, dem »organischen Weiterwachsen« der Kunst, innerhalb derer die weiteren »weniger präzisen und weniger materiellen Gedanken« den neuen Ästen eines Baumes vergleichbar sind, die »neue Löcher in die Luft bohren«: »Es ist ein Verzweigen des ursprünglichen Baumstammes, in dem ›alles beginnt‹.«24 Zur Erläuterung dieser These bieten sich als Ausgangspunkt die Bestimmungen an, die Kandinsky zur Beschreibung des Gegenstandes des Geistigen in der Kunst vorgeschlagen hat; Kammler beginnt mit ihnen auch seinerseits die Aufarbeitung von Kandinskys kunsttheoretischer Reflexion.25 Der Gegenstand der ästhetischen Provokation ist demnach die Negation der Möglichkeit einer Wiederbelebung vergangener Kunstprinzipien (Kandinsky schreibt: »So bringt jede Kulturperiode eine eigene Kunst zustande, die nicht mehr wiederholt werden kann. Eine Bestrebung, vergangene Kunstprinzipien zu beleben, kann höchstens Kunstwerke zur Folge haben, die einem totgeborenenen Kinde gleichen«)26 wie auch einer Kunst, welche »die Atmosphäre der Zeit bloß abbildend wiederholt«:27 Eine derartige Kunst kann nur das künstlerisch wiederholen, was schon die gegenwärtige Atmosphäre klar erfüllt. Diese Kunst, die keine Potenzen der Zukunft in sich birgt, die also nur das Kind der Zeit ist und nie zur Mutter der Zukunft heranwachsen wird, ist eine

24 Kandinsky, »Rückblicke«, 46. Mit diesem Bild korreliert der Einfluss biologischorganologischer Vorstellungen auf die Lebensphilosophie und Kunst des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts (vgl. Kemper, Vom Expressionismus zum Dadaismus, 85). 25 Vgl. Kammler, »Die Auflösung der Wirklichkeit«, 19. 26 »Wir können z.B. unmöglich wie alte Griechen fühlen und innerlich leben. So können auch die Anstrengungen, z.B. in der Plastik die griechischen Prinzipien anzuwenden, nur den griechischen ähnliche Formen schaffen, wobei das Werk seelenlos bleibt für alle Zeiten. Eine derartige Nachahmung gleicht den Nachahmungen der Affen.« (Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, 21.) Umgekehrt erklärt sich, so Gabriele Guerra, »Aus der Negation heraus der Dada-Geist als Geist der bloßen Provokation.« (»Giovanni Papini und Hugo Ball«, 98.) S. dazu auch allgemeiner Schärf, »Die Spur der Verneinung«. 27 Kammler, »Die Auflösung der Wirklichkeit«, 19.

108 | 1. Z UR Ä STHETIK KRITISCHER K OLLISSION kastrierte Kunst. Sie ist von kurzer Dauer und stirbt moralisch in dem Augenblicke, wo die sie gebildet habende Atmosphäre sich ändert.28

Es ist das Lebendige, das Wachsende und ›Organische‹ der Kunst, die den Künstler zum Einsatz von Provokationsverfahren schon fast zwangsläufig verführt; diese Verführbarkeit der Kunst ist ihr immanent, will sie nicht diese Eigenschaft, ihren Charakter als ›Schöpfung‹ verlieren. Eine Kunst, die des weiteren Wachstums fähig sein soll, steht für Kandinsky nach Kammler an eben der Stelle, an der sie bildende Funktion leistet:29 Sie weckt Gefühle, die »jetzt namenlos« und »mit unseren Worten nicht zu fassen sind«,30 ist nicht bloße Zurückbeugung jeweiliger Gegenwart. Bedingung dieser Kunst ist ihre »weckende prophetische Kraft, die weit und tief wirken kann«.31 Diese in der Schöpfung der Kunst anzuwendenden Regeln sind konstitutive Regeln. Ihre Festlegungen dessen, als was etwas Kunst sei, treffen sie, wie Kammler identifiziert, in der Dimension von »Werkschöpfung« als »Weltschöpfung«,32 als einen produktiven Schaffensakt des Künstlers, während die »Theorie« gleichsam »die Laterne« sei, »die die kristallisierenden Formen des Gestern und des vor dem Gestern Liegenden« beleuchte:33 Unter dieser Perspektive ist der hier vorfindbare theosophische Sprachgestus eine bereits relativierte Hilfskonstruktion, die – sofern sie nun als Theorie auftritt – dem Kunstwerken nachgeordnet ist, um das Unformulierbare der Kunst ›irgendwie‹ auszusprechen; Kandinsky weist damit der ›Sprache der Kunst‹ ihre Eigenständigkeit und ihren Rang zu.34

Kandinsky schreibt: »Es kann keine Theorie dieses Prinzips für den weiteren im Reiche des Nichtmateriellen liegenden Weg geben. Es kann sich materiell nicht kristallisieren das, was materiell noch nicht existiert.«35 Dieses Problem lässt sich durch einen Abgleich der Positionen Kandinskys mit denjenigen Balls genauer betrachten, zumal Ball abseits seiner persönlichen Beziehung zu diesem an

28 Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, 26. 29 Kammler, »Die Auflösung der Wirklichkeit«, 19. 30 Ebd., 23. 31 Ebd., 26. 32 Kandinsky, »Rückblicke«, 41. S. auch ebd.: »Jedes Werk entsteht technisch so, wie der Kosmos entstand [...].« 33 Ders., Über das Geistige in der Kunst, 39. S. dazu Kammler, »Die Auflösung der Wirklichkeit«, 20. 34 Ebd., 20f. 35 Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, 39.

1.3 I NNERLICHKEIT UND P SYCHOLOGIE

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vielen Stellen und auch anhand eines eigenen Vortrags auf jene eingeht. Dabei ist mit Kammler grundsätzlich zu wiederholen, dass Kandinsky für Hugo Ball ein ausgesprochen avantgardistischer Künstler ist.36 Ball schreibt: München beherbergte damals einen Künstler, der dieser Stadt vor allen andern deutschen Städten durch seine pure Anwesenheit einen Vorrang der Modernität verlieh: Wassilij Kandinsky. Man mag diese Einschätzung übertrieben finden, damals empfand ich es so. Was könnte einer Stadt auch Schöneres und Besseres begegnen, als einen Mann zu beherbergen, dessen Leistungen lebendige Direktiven der edelsten Art sind? Als ich Kandinsky kennenlernte, hatte er eben »Das Geistige in der Kunst« und mit Franz Marc zusammen den »Blauen Reiter« veröffentlicht, zwei programmatische Bücher, mit denen er den später so entarteten Expressionismus begründete. Die Vielfalt und Innigkeit seiner Interessen war erstaunlich; mehr noch war es die Höhe und Feinheit seiner ästhetischen Konzeption. Was ihn beschäftigt, war die Wiedergeburt der Gesellschaft aus der Vereinigung aller artistischen Mittel und Mächte. Keine Kunstgattung hatte er versucht, ohne ganz neue Wege zu gehen, unbekümmert um Hohn und Gelächter. Wort, Farbe und Ton waren in seltener Eintracht in ihm lebendig und er verstand es, noch das Verblüffende stets plausibel und ganz natürlich erscheinen zu lassen. Sein letztes Ziel aber war es, Kunstwerke nicht nur zu schaffen, sondern die Kunst als solche zu repräsentieren. Sein Ziel war, in jeder einzelnen Äußerung exemplarisch zu sein, die Konvention zu durchbrechen und zu erweisen, die Welt sei noch immer so jung wie am ersten Tag. Es konnte nicht ausbleiben, daß wir einander begegneten, und ich bedauere noch heute, daß uns der Krieg auseinanderführte, kaum wir uns eben zu einem Projekte besonderer Art zusammenfanden.37

Angesichts dieser Entwicklung, dieser Empfindung und Begeisterung hat es für Ball den Anschein, »als sei die Philosophie an die Künstler übergegangen als gingen von ihnen die neuen Impulse aus«, als »seien sie die Propheten der Wiedergeburt.«38 In Erwartung eines theoretischen Rahmens, in dem er seine »im Spiel« sich befindenden Kräfte auf- und abbauen kann, entpuppt sich für ihn Kandinsky (und mit diesem auch Picasso) nicht als »Maler«, sondern als »Priester«, nicht als »Handwerker«, sondern als »Schöpfer neuer Welten, neuer Para-

36 Vgl. Kammler, »Die Auflösung der Wirklichkeit«, 21. Zur Bedeutung von Kandinsky für Ball s. auch Melzer, Latest rage the big drum, bes. 20-25; Brokoff, Geschichte der reinen Poesie, 542; dort wird Kandinsky als »eine der entscheidenden Bezugspunkte von Ball – und das in künstlerischer wie in kunsttheoretischer Hinsicht« bezeichnet. 37 Ball, Die Flucht aus der Zeit, 17f. 38 Ebd., 16.

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diese«39 – das ›mystische Prinzip‹, das im Folgenden noch stark an Relevanz gewinnen wird, ist in dieser Zuschreibung bereits begrifflich enthalten. Karl Döhmann schreibt zur ›Theorie des Dadaismus‹: Der Dadaismus ist die später, sogar eigentlich die verspätete Erkenntnis eines Zeitalters inbetreff der eigenen Bedeutung. [...] Ohne daß er sich darauf irgend etwas Besonderes zugute täte oder anders als mit parodischer Pedanterie etwa eine Religion machte, ist die analytische Funktion des Dadaismus, mit den längst zu einem ragenden Wahnsystem schreckhaft erstarrten Grundvorstellungen einer Welt radikal aufzuräumen, sie auf Null zu reduzieren, sie aufzulösen in das in jenen Phänomenen bereits wieder zu ahnenden, weil noch latenden, apeiron der Indifferenz, es münden zu lassen in jenes mare tenebrarum unübersehbarer Sinnlosigkeit, die in anschaulicher Metaphorik nur durch abstruseste Absurditäten und letzthinnigen Irrsinn darstellbar ist. Es ist der unentrinnbare Dadatropismus in der Zeittendenz, der hier seinen Ausdruck findet.40

In einem Tagebuchnotat, das Ball kurz nach Eröffnung der Galerie Dada angibt, heißt es, die Kunst könne »vor dem bestehenden Weltbild keinen Respekt haben, ohne auf sich selbst zu verzichten«; die Kunst erweitere die Welt, »indem sie die bis dahin bekannten und wirksamen Aspekte« negiere und neue an ihre Stelle setze.41 Dies sei die »Macht der modernen Ästhetik«; man könne »nicht Künstler sein und an die Geschichte glauben.«42 Diese allgemeinen Bestimmungen der Kunst, so die These, formulieren die Grundkonstellation der Kunsttheorie wie des ästhetischen Schaffens Balls, zumal für diesen Kandinskys Bedeutung, wie er in seinem Vortrag über diesen betont, in der Gleichzeitig der »praktischen und theoretischen Initiative«43 lag, worauf auch Kammler im Speziellen hinweist.44

39 Ebd. 40 Daimonides, »Zur Theorie des Dadaismus«, 59f. 41 Ball, Die Flucht aus der Zeit, 147f. 42 Ebd., 48. 43 Ball, »Kandinsky«, 45. Zu Balls Kandinsky-Vortrag erstmalig näher Mößer, »Hugo Balls Vortrag über Wassily Kandinsky in der Galerie Dada in Zürich am 7.4.1917«. Zum Verhältnis von Ball zu Kandinsky s. u.a. auch Schlichting, »Anarchie und Ritual«, 65: »Ball hatte Kandinsky kennengelernt, als dessen Schriften Über das Geistige in der Kunst und die programmatische Anthologie Der Blaue Reiter vorlagen. Und tatsächlich war Kandinskys Einfluß auf Ball von Beginn an stark theoretisch geprägt, – auch wenn der Anlaß der ersten Münchener Zusammenarbeit ins Feld der lokalen Kulturpolitik gehört, aber schon dabei ging es beiden um die Durchsetzung einer neu-

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In dieser enthalten ist dabei auch jene ›practische Idee‹,45 von der Novalis gegenüber Friedrich Schlegel spricht, d.h. jene »eine große höchstwichtige Idee«,46 die eine »verändernde«47 ist und nur dann erfasst werden kann, wenn sie, so Wenzel White, »schöpferisch nachvollzogen wird«: Dies treffe mithin Hugo Ball »im Zentrum seines schöpferischen Denkens.«48 Der Gegenstand der Kunst ist nun für Kandinsky unaufhebbar mit der Eigenständigkeit des Materials der Künste sowie mit der selbständigen künstlerischen Verarbeitung und Gestaltung des Materials verbunden;49 beide haben ein Strukturprinzip, das Kandinsky bekanntermaßen die »innere Notwendigkeit«50 nennt und das ihm dazu dient, die Kunst im autonomen Werk zu verorten.51 Bildungsgründe hierfür sind explizit drei »mystische« Notwendigkeiten: (1.) Das durch den Künstler als Schöpfer zum Ausdruck zu bringende ihm Eigene; (2.) das durch den Künstler als »Kind seiner Epoche« zum Ausdruck zu bringende dieser Epoche Eigene; und (3.) das durch den Künstler als »Diener der Kunst« zum Ausdruck zu bringende der Kunst im Allgemeinen Eigene.52 Wer Kunst schafft, hat demnach eine dreifache Aufgabe, nämlich (ad 1.) sich selbst auf den Grund zu gehen, das eigene Selbst zu finden, (ad 2.) eine künstlerische Epoche, innerhalb derer er sich bewegt, zu erkennen und sich zu ihr nicht allein zu verhalten, sondern diese mit auszubilden; sowie (ad 3.) aus der Kunst in einem selbst und der Kunst der eigenen Epoche auf die Kunst an sich zu schließen, an deren Ausbildung von Grund auf sich zu beteiligen, sie allgemein mit zu gestalten. In diesem Dreischritt sind Ideen des Provokationsmodells der Kunst bereits in ihren Grundzügen entwickelt. Bei Kandinsky findet im Prinzip der ›inneren Notwen-

en Theaterkonzeption. Eine Zusammenarbeit, die 1914 den Plan einer Anthologie zur zeitgenössischen Theateravantgarde Gestalt annehmen ließ, für die die beiden Herausgeber nicht Geringeres im Sinn hatten, als ein Bühnen-Pendant zur Anthologie Der Blaue Reiter zu schaffen. Der Kriegsausbruch vereitelte deren Realisierung, für die Kandinsky sich bereits auf die Reise zu möglichen russischen Beiträgern begeben hatte.« 44 Vgl. Kammler, »Die Auflösung der Wirklichkeit«, 22. 45 Vgl. Novalis, Schriften, II, 514. 46 Ebd., 513. 47 Ebd., 413. 48 Wenzel White, »Hugo Ball und Novalis«, 303. 49 Vgl. Kammler, »Die Auflösung der Wirklichkeit«, 22. 50 Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, 78. 51 S. dazu etwa auch Forster, Die Fülle des Nichts, 63. 52 Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, 80.

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digkeit‹ »die subjektive Freiheit des kreativen Menschen gegenüber der Naturnotwendigkeit ihren eigenständigen, objektiven Ausdruck.«53 Wie lassen sich aus Kandinskys Theorem Grundlagen einer Ästhetik der Provokation nach Hugo Ball entwickeln? Und welche Erkenntnisse geben sie im Hinblick auf Balls literarisches Werk? Ich möchte diese Fragen durch eine Lektüre von einem provokationsästhetisch signifikanten Text Balls erhellen und diese mit Hilfe des Vergleichs Kammlers in Bezug zu Kandinsky bringen. Ein Krippenspiel. Bruitistisch hat Ball, so Emmy Ball-Hennings, als ein »bruitistische[s] Konzert« komponiert, wobei er »Musikinstrumente, Schalmeien, kleine, eigens abgetönte Glocken, Kindernklappern« sorgsam ausgesucht und zum Teil auch selbst hergestellt habe; seine »Darstellung« – »hinter weißem Vorhang« aufgeführt – habe »einen besonders starken Eindruck« hinterlassen.54 Ball erzähle darin, so Erdmute Wenzel White, in sieben Episoden eine »unüblich populär geratene Weihnachtsgeschichte«: »Den Ausklang bildet die Kreuzigung Christi. Statt von einer verklärten Welt kündet dieses Krippenspiel vom Tod.«55 Abseits einer komparatistischen Sicht auf diesen Text56 erkenne ich in diesem einerseits eine Präsenz der Auflösung künstlerischer ›Materie‹ und andererseits, wie sehr darin die Reflexion auf die rein künstlerischen Mittel, auf das der jeweiligen Kunst doch eigene Material gelenkt wird – ganz im Sinne Kandinskys. So treten die einzelnen Figuren (es sind dies neben Maria, Josef, Christus, den Hirten und den drei Königen etwa auch der Wind, die heilige Nacht, der Stern, der Engel, ein Lichtapparat, Esel und Öchslein usw.) im ersten Teil des Stücks ausschließlich in ihrer ursprünglichen Lautgestalt auf, etwa so: DER WIND: f f f f f f f f f fff f ffff t t TON DER HEILIGEN NACHT: hmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmm DIE HIRTEN: He hollah, he hollal, he hollal. Nebelhörner. Okarina – – – – crescendo. (Steigen auf einen Berg) Peitschenknallen, Rufe. DER WIND: f f f f f f f f f f f ffffffffffffffffffffffffffffffff t. [...] OECHSLEIN: mu mu muh muh muhm muh muh muh muh muh muh muh (Stampfen, Strohgeräusch, Kettenrasseln, Stossen, Käuen)

53 Kammler, »Die Auflösung der Wirklichkeit«, 23. 54 Ball-Hennings, Ruf und Echo, 63. 55 Wenzel White, »So nie gehörte Töne«, 70. S. dazu auch dies., The Magic Bishop, 87100. 56 Dazu dies., »So nie gehörte Töne«, 70-79, sowie erneut Verf., »›dada mm’ dada‹«.

1.3 I NNERLICHKEIT UND P SYCHOLOGIE

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SCHAF: bäh, bäh, bäh, bäh, bäh, bäh, bäh, bäh JOSEF UND MARIA (betend): ramba ramba rmba rmba rmba – m-bara, m-bara, m-bara, bara- ramba bamba, bamba, rambababababa [...]57

Ball setzt das Grundgesetz ästhetischer Provokation in Szene, das ein unaufhebbares Zugleich von Auflösung und Bedenken der künstlerischen ›Materie‹ bedeutet. Beides findet nach Kandinsky seinen Zusammenschluss im genannten Dreischritt der ›mystischen Notwendigkeiten‹, durch die die Materie als eine mögliche Form der Auffassung des Menschen zugehörig anerkannt werden kann, wodurch der Mensch »seinen Blick von der Äußerlichkeit« ab- »und sich selbst« zuwende.58 Dies ist der Moment, in dem für Kandinsky die »für einzig fest gehaltenen Stützen des Materiellen« fallen; auf das »seelenlos-materielle Leben des 19. Jahrhunderts« folgt ein »Aufbauen des seelisch-geistigen Lebens des 20. Jahrhunderts«,59 das Kandinsky zu erleben meint: »Die eindeutig bestimmten Gegenstände der den Menschen umgebenden Welt werden für den Künstler aus ihren materialischen Zweckbezügen gelöst und – nun für die künstlerische Darstellung neu verfügbar – in Wirkungszusammenhänge gestellt.«60

57 Ball, »Krippenspiel«, 199. 58 Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, 43. S. auch ebd., 43f.: »Die Literatur, Musik und Kunst sind die ersten empfindlichsten Gebiete, wo sich diese geistige Wendung bemerkbar macht in realer Form. Diese Gebiete spiegeln das düstere Bild der Gegenwart sofort ab, sie erraten das Große, was erst als ein kleines Pünktchen nur von wenigen bemerkt wird und für die große Menge nicht existiert. Sie spiegeln die große Finsternis, die erst kaum angedeutet hervortritt. Sie verfinstern sich selbst und verdüstern sich. Andererseits wenden sie sich ab von dem seelenberaubten Inhalt des gegenwärtigen Lebens und wenden sich zu Stoffen und Umgebungen, die freie Hand lassen dem nichtmateriellen Streben und Suchen der dürstenden Seele.« 59 »Der innere Inhalt des Werkes kann entweder einem oder dem anderen von zwei Vorgängen gehören, die heute (ob nur heute? oder heute nur besonders sichtbar?) alle Nebenbewegungen in sich auflösen. Diese zwei Vorgänge sind: 1. Das Zersetzen des seelenlos-materiellen Lebens des 19. Jahrhunderts, d.h. das Fallen der für einzig fest gehaltenen Stützen des Materiellen, das Zerfallen und Sichauflösen der einzelnen Teile. 2. Das Aufbauen des seelisch-geistigen Lebens des 20. Jahrhunderts, welches wir miterleben und welches sich schon jetzt in starken, ausdrucksvollen und bestimmten Formen manifestiert und verkörpert.« (Ders./Marc, Hg., Der Blaue Reiter, 181.) 60 Kammler, »Die Auflösung der Wirklichkeit«, 24.

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Das »reine Material«61 sei das von einer konventionellen oder traditionellen Umschließung befreite Wirkpotential, die von »einer begrenzten Äußerlichkeit erlöste ›innere Natur‹ der Dinge.«62 Diese wird in Balls Krippenspiel in der Möglichkeit ihrer Darstellbarkeit als Text ausgewiesen, das bedeutet hier: in ihrer graphemischen Entsprechung. So tritt der Stern auf, indem es heißt: »Zcke, zcke, zcke, zzccke, zzzzzcke, zzzzzzzzcccccccke zcke psch, zcke ptsch, zcke ptsch, zcke ptsch.«63 Außerdem lautet einmal die Regieanweisung, nachdem eine Kerze den zuvor verdunkelten Saal erleuchten soll, seien die Orchestermitglieder zu sehen: »Sie haben schwarze Tücher umschlungen, so dass ihre Gestalt verschwindet. Sie sitzen ausserdem mit dem Rücken gegen das Publikum.«64 Der Verzicht auf Schauspieler, an deren Stelle Musiker treten, die allerdings in ihrer ›verschwindenden Gestalt‹ körperlos erscheinen sollen, lenkt die Aufmerksamkeit auf das ›reine Material‹ des Textes, dessen Wirkung im Vordergrund steht: VII. Die Prophezeihung. Plötzliche Hammerschläge. Nageln. Rattern. Klappern. Zurufe der Knechte: He hollah! He hollah ! he hollah ! Zymbeln, Pfeifen, Johlen, Volksmenge Bellen. Die Pharisäer: Rabata, rabata, rabata, rabata, sallada, salada, sallada, sallada, sallada, sallada, sallada, rabata bumm, rabata bum, rabata bumm, rabata bumm Lichtapparat rot Die heiligen drei Könige: oh oho oh oh oh oh oh oh oh oh oh oh (sehr schmerzlich) Esel und Oechslein (sehr schmerzlich): Muh, iahh, muhhhhh, iahhhhh, muhhh, Lamm: bähhhhhhh. Bähhhhhhhhh. bähhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh! Klagelaute der Maria: Ahhhhhhhhh, ahhhhhhhhhh, ahhhhhhhhhhhhhhhhhh ! Glocken und Glöckchen: Bim bam bum, bim bam, bum, bim bam, bum. Gong gong. Nageln: - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - Und er ward gekreuziget Da floss viel warmes Blut.65

61 Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, 47. S. auch ebd., 46f.: »Und das Wort, welches also zwei Bedeutungen hat – die erste direkte und zweite innere –, ist das [...] Material, [...] durch welches sie zur Seele spricht.« 62 Kammler, »Die Auflösung der Wirklichkeit«, 24f. 63 Ball, »Krippenspiel«, 199. 64 Ebd., 201. 65 Ebd., 201f.

1.3 I NNERLICHKEIT UND P SYCHOLOGIE

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Balls Text entfaltet, so Eckhard Faul, »seine Wirkung fast ausschließlich an der jedermann bekannten biblischen Vorlage.«66 Der Text bricht mit dieser und erschüttert dadurch regelrecht das Publikum,67 zumal der Bruitismus ›das Leben selbst‹ wiederzuspiegeln hat.68 Ball schreibt, das »Concerte Bruitiste« habe »in seiner leisen Schlichtheit überraschend und zart« gewirkt: »Die Ironien hatten die Luft gereinigt. Niemand wagte zu lachen. In einem Kabarett und gerade in diesem hätte man das kaum erwartet. Wir begrüßten das Kind, in der Kunst und im Leben.«69 Balls Krippenspiel ist daher für sich genommen vor allem auch eines: »eine Provokation«,70 wenn auch eine infantile. Für die Frage nach den Bedingungen ästhetischer Provokation steht so im Vordergrund, dass der Verzicht auf die materiellen äußerlichen Mittel nach Kandinsky zu einem Rückgriff auf »innere Mittel« führt, für die die Einbüßung ihrer »Kraft und Wirkung«71 nicht so leicht erscheint, da mit ihnen kein konventionelles oder traditionelles Schema der Anschauung, keine schematisierte Ansicht korreliert.72 Im Spektrum der Kunst erfüllt für Kandinsky zunächst die Musik diese Forderung, da diese sich ohnehin fast immer nicht auf eine vorgegebene Wirklichkeit beschränkt: Analog der Sprache der Musik prägt Kandinsky das Theorem des gemeinsamen ›Klangs‹ der Worte und Farben bzw., »um die Differenz zur bereits definierten, zweckgebundenen Materialität der Worte und Farben sicherzustellen«,73 des »inneren Klangs« derselben: »Das Wort ist ein inne-

66 Faul, »Nachwort« [zu: Ball, Dramen], 329. 67 »Angeblich wagte niemand zu lachen [...].« (Ebd.) 68 Vgl. ebd., 330. 69 Ball, Die Flucht aus der Zeit, 97. 70 Faul, »Nachwort« [zu: H. Ball: Dramen], 332. 71 Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, 46. 72 »Also die Form kann angenehm, unangenehm wirken, schön, unschön, harmonisch, disharmonisch, geschickt, ungeschickt, fein, grob usw. usw. erscheinen, und doch muß sie wegen den für positiv gehaltenen Eigenschaften noch als negativ empfundenen Qualitäten angenommen oder verworfen werden. Alle diese Begeriffe sind vollkommen relativ, was man in der unendlichen Wechselreihe der schon dagewesenen Formen auf den ersten Blick beobachtet. Und ebenso relativ ist also die Form selbst. So ist die Form auch zu schätzen und aufzufassen. Man muß sich so zu einem Werk stellen, daß auf die Seele die Form wirkt. Und durch die Form der Inhalt (Geist, innerer Klang). Sonst erhebt man das Relative zum Absoluten.« (Ders./Marc, Hg., Der Blaue Reiter, 140, 142) 73 Kammler, »Die Auflösung der Wirklichkeit«, 26.

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rer Klang.«74 Diese Überlegung thematisiert Balls Krippenspiel auf dramatischer Ebene; es ist in dieser Lesart die Bühne, die Kandinskys Theorie realisiert, konsequenter Weise auch dadurch, dass das Kunstwerk sich an »musikalischen Grenzen bewegt«: Verschiedenste stilistische Konventionen werden hier zu Bestandteilen moderner Musik. Balls tonales Denken zeigt sich im freien Einsatz der Ton- und Geräuschsprache sowie in der schöpferischen Funktion von Stilelementen, deren Erscheinung deutliche Umwandlung erfährt. Immer neue Kreuzungen der Energieformen vermitteln einen ungewohnt ästhetischen Reiz. Sie reichen in ihrer eigentümlichen Durchdringung von kargen Farben zum schwelgerischen Klang, von der fließenden crescendo-decrescendo Tonreihe zur verbliebenen Unebenheit eines kantigen staccato Akkordes. Der Künstler arbeitet mit deutlich wahrnehmbaren Konventionen unterschiedlicher Bereiche, um sie von diesen Konventionen zu entbinden und mit ihnen eine persönliche Akustik und Optik zu gestalten.75

Diese Akustik und Optik der Kunstmittel zeigen dann das ›Wort‹ als das, wie Kandinsky sagt, »reine Material der Dichtung und der Literatur, das Material, welches nur diese Kunst anwenden kann.«76 Der ›innere Klang‹ ermöglicht erst das ›reine Material‹, hier: in einer »Dynamik« des Wortes, die motiviert ist durch dessen »synästhetisches Potential«, das damit aus der »materialistischen Verknüpfung« heraus gelöst ist, »in welcher es vornehmlich als unbewegtes Abbild einer ausgelegten, pragmatisch orientierten Wirklichkeit fungiert.«77 Dadurch werden die beiden Dimensionen der Sprache, Signifikat oder Bedeutung und Signifikant oder Bedeutungsträger, zusammen denkbar, und zwar in einer Weise, die – das sei an dieser Stelle als Exkurs eingeschoben – etwa auch mit erneutem Blick auf Derridas Begriff der Schrift sowie dessen Auseinandersetzung mit Austins Sprechakttheorie an Relevanz gewinnt. Derrida argumen-

74 Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, 45. Hinzuweisen ist hier wiederum auf die biologisch-animistische ›Aufladung‹ der Kunst bzw. speziell der Dichtung im Umfeld Kandinskys: »Im Wort-Organ als der – wie man damals glaubte – kleinsten syntaktischen und semantischen Einheit der Sprache war – so wie in der Zelle oder im Atom im Bereich von Biologie und Physik – der eigentliche Lebensnerv – hier der Sprache – erfassbar, ihre gleichsam schöpferische Spiritualität, die der Dichter durch Intuition und Inspiration in ihrer Geistigkeit zu entfalten hat.« (Kemper, Vom Expressionismus zum Dadaismus, 91.) 75 Wenzel White, »So nie gehörte Töne«, 75. 76 Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, 47. 77 Kammler, »Die Auflösung der Wirklichkeit«, 27.

1.3 I NNERLICHKEIT UND P SYCHOLOGIE

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tiert, dass es kein sprachliches Zeichen gibt, das der Schrift vorausginge; die Sprache sei anfänglich Schrift in einem Sinne, »der sich fortschreitend enthüllen wird.«78 Und die Schrift sei eine Art allgemeiner Kommunikation, die eine »Repräsentation als idealen Inhalt (was man Sinn nennt)« übermittelt, eine Kommunikation, »die innerhalb einer Gattung eine relative Spezifität« beinhalte, deren wesentliches Prädikat als »Abwesenheit« mit zwei Hypothesen bestimmt ist: 1. da jedes Zeichen, sowohl in der »Sprache des Agierens« als auch in der artikulierten Sprache [...], eine gewisse [...] Anwesenheit voraussetzt, muß die Abwesenheit, will man dem geschriebenen Zeichen irgendwelche Spezifität zusprechen, dem Bereich der Schrift eigentümlich sein; 2. wenn das Prädikat, das somit als charakteristisch für die der Schrift eigene Abwesenheit anerkannt wird, zufällig auf jede Art von Zeichen und Kommunikation zutrifft, würde sich daraus eine allgemeine Verschiebung ergeben: die Schrift wäre nicht mehr eine Art der Kommunikation, und all jene Begriffe, unter deren Allgemeinheit die Schrift subsummiert wurde (der Begriff selbst als Sinn, Idee oder Erfassen des Sinns oder der Idee, der Begriff der Kommunikation, des Zeichens und so weiter), würden sich als unkritisch erweisen, als ungeschickt gebildet oder vielmehr für den Zweck bestimmt, die Autorität und die Macht eines gewissen historische[n] Diskurses zu sichern.79

Ausgehend von der Überlegung der Hervortretung eines schriftlichen Zeichens in Abwesenheit des Empfängers kann Derrida der Struktur der Schrift eine Voraussetzung zuweisen; »›schriftliche Kommunikation‹« muss nach Derrida, »lesbar bleiben, damit sie als Schrift funktioniert«, auch wenn der bestimmte Empfänger verschwunden sein sollte: Sie muß in völliger Abwesenheit des Empfängers oder der empirisch feststellbaren Gesamtheit von Empfängern wiederholbar – »iterierbar« – sein. Diese Iterierbarkeit – (iter, »von neuem«, kommt von itara, anders im Sanskrit [...]) strukturiert das Zeichen der Schrift selbst, welcher Typ es im übrigen auch immer sein mag [...]. Eine Schrift, die nicht über den Tod des Empfängers hinaus aus strukturell lesbar – iterierbar – ist, wäre keine Schrift.80

Dabei gelte für den Sender/Produzenten, den Schreibenden dasselbe, was für den Empfänger, den Lesenden gelte; geschriebener Text löst sich, so gesehen, ab von seinem Autor:

78 Derrida, Grammatologie, 66. 79 Ders., »Signatur Ereignis Kontext«, 332. 80 Ebd., 333.

118 | 1. Z UR Ä STHETIK KRITISCHER K OLLISSION Schreiben heißt, ein Zeichen (marque) produzieren, das eine Art ihrerseits nun produzierende Maschine konstituiert, die durch mein zukünftiges Verschwinden prinzipiell nicht daran gehindert wird, zu funktionieren und sich lesen und nachschreiben zu lassen. [...] Damit ein Geschriebendes ein Geschriebenes sei, muß es weiterhin »wirken« und lesbar sein, selbst wenn der sogenannte Autor des Geschriebenen nicht länger einsteht für das, was er geschrieben hat, was er gezeichnet zu haben scheint, sei es, daß er vorläufig abwesend ist, daß er tot ist, oder, allgemein, daß er, was scheinbar »in seinem Namen« geschrieben wurde, nicht mit seiner ganzen augenblicklichen und gegenwärtigen Intention oder Aufmerksamkeit, mit der Fülle seines Meinens unterstützt.81

Ein schriftliches Zeichen sei also ein Zeichen, das bestehen bleibe, das sich nicht in der Gegenwart seiner Einschreibung erschöpfe und die Gelegenheit zu einer Iteration biete (»auch in Abwesenheit des empirisch festlegbaren Subjekts, das es in einem gegebenen Kontext hervorgebracht oder produziert hat, und über seine Anwesenheit hinaus«).82 Zugleich enthalte ein sprachliches Zeichen aber auch die »Kraft eines Bruches mit seinem Kontext« in dem Verständnis der »Gesamtheit von Abwesenheiten, die das Moment seiner Einschreibung organisieren«: Aufgrund der Iterierbarkeit könne ein »schriftliches Syntagma aus der Verkettung, in der es gegeben oder eingefaßt ist, immer herauslösen, ohne daß ihm dabei alle Möglichkeiten des Funktionierens, wenn nicht eben alle Möglichkeiten von ›Kommunikation‹, verloren gehen«.83 Dies ist nun wiederum eine Überlegung, die es möglich macht, den Text als ein Gebilde zu denken, das wie ein Werkzeug handhabbar wird, das in andere Kontexte, in »andere Ketten« eingeschrieben werden kann, anderen Kontexten oder ›Ketten‹, wie Derrida sagt, »aufgepfropft« werden kann.84 Der Begriff des ›Kontextes‹ ist für Derrida ein doppelter, denn er unterscheidet den »realen« von demjenigen des »semiotischen oder internen« Kontextes,85 der für den vorliegenden Zusammenhang entscheidend ist. Dieser umfasst den Kontext des sprachlichen Zeichens, des Signifikanten, in seiner Relation zu anderen Signifikanten und theoretisch zu seinem Signifikat.

81 Ebd., 334. 82 Ebd., 335. 83 Ebd. 84 Ebd. S. dazu auch Wirth, »Aufpfropfung als Figur des Wissens in der Kultur- und Mediengeschichte«, 114f. 85 Derrida, »Signatur Ereignis Kontext«, 335.

1.3 I NNERLICHKEIT UND P SYCHOLOGIE

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Den, mit Derrida gesagt, »totalen Kontext«,86 den Austin als bestimmbar und bedeutend für die Interpretation einer sprachlichen Äußerung klassifizieren dürfte und der dann auch Raum und Zeit einer Äußerung ebenso umfasst wie die bewusste Anwesenheit des Sprechers und seiner Intentionen, wäre aus dieser Sicht strukturell nicht bestimmbar und für die Lesbarkeit des Zeichens nicht unbedingt notwendig. Derrida schreibt: »Es gehört zum Zeichen, schlechterdings lesbar zu sein« – »selbst wenn der Augenblick seiner Produktion unwiederbringlich verloren ist« und »selbst wenn ich nicht weiß, was sein angeblicher AutorSchreiber in dem Augenblick, da er es schrieb, das heißt es seiner Führungslosigkeit überließ, bewußt und mit Absicht hat sagen wollen.«87 Der hier entscheidende Kontext ist ein Kontext der Bewegung; das Signifikat ist beweglich und bewegt sich in seiner relativen Bedeutung zu anderen Signifikaten, in ihrer Differenz, während die letztliche Bindung an ein Signifikat geschwächt ist. Die Einheit der bezeichnenden Form konstituiere sich wesentlich durch ihre Iterierbarkeit, »durch die Möglichkeit, nicht allein in Abwesenheit ihres ›Referenten‹ wiederholt zu werden« wie auch in »Abwesenheit eines bestimmten Bezeichneten oder der augenblicklichen Bedeutungsintention wie auch jeder gegenwärtigen Kommunikationsintention.«88 Dies impliziert zugleich die Kraft des Zeichens, mit seinem Kontext zu brechen, da man aufgrund seiner Iterabilität ein schriftliches Syntagma immer aus einer Verkettung herauslösen und in andere Ketten einschreiben oder eben diesen ›aufpfropfen‹ kann. Das schriftliche Zeichen ist dann führungslos und von seinem Ursprung abgeschnitten. Die Möglichkeit zu einer solchen Abgeschnittenheit und Übriggebliebenheit aber ist die strukturelle Bedingung zum Funktionieren sprachlicher Zeichen schlechthin. Die Möglichkeit, dass jede Äußerung zitiert werden kann, ist die innere und positive Möglichkeitsbedingung von Sprache überhaupt – ein Befund, der nicht zufällig an Kandinsky anzuschließen ist. Denn dieser überlässt das konventionelle Wort seiner Eigenständigkeit und inneren Eigendynamik, die, wie Derrida sagen würde, von seinem Ursprung abgeschnitten und übrig geblieben ist, worin Kandinsky und mit ihm Ball die eigentliche Attraktivität für den Künstler erblickt. Das konventionelle, eigenständige und eigendynamische, das abgeschnittene und übrig gebliebene Wort stellt nicht bloß namenhaft dar, sondern beabsichtigt, wie Ball sagt, über die ›Natur des Wortes‹, eine »kühne Purifikation der Sprache«,89 Vorstellungen erst zu er-

86 Ebd., 341. 87 Ebd., 335. 88 Ebd., 336. 89 Ball, »Kandinsky«, 703.

120 | 1. Z UR Ä STHETIK KRITISCHER K OLLISSION

zeugen.90 Kandinsky greift, das sei nicht unerwähnt, auf einen ursprünglich romantischen Gedanken zurück, der die »Eigenrealität«91 (S. Vietta) der Sprache als »Bedingung für ihre erzeugende Kraft und Wirkung anerkennt.«92 Es wird die Aufspürung der wirkenden Natur des Wortes durch dessen Klang-Werdung, seine Erklingung, versucht, die ›Anwendung‹ des Wortes:93 Das Wort ist ein innerer Klang. Dieser innere Klang entspringt teilweise (vielleicht hauptsächlich) dem Gegenstand, welchem das Wort zum Namen hat. Wenn aber der Gegenstand nicht selbst gesehen wird, sondern nur sein Name gehört wird, so entsteht im Kopfe des Höres die abstrakte Vorstellung, der dematerialisierte Gegenstand, welcher im »Herzen« eine Vibration sofort hervorruft. So ist der grüne, gelbe, rote Baum auf der Wiese nur ein materieller Fall, eine zufällige materialisierte Form des Baumes, welchen wir in uns fühlen, wenn wir das Wort Baum hören. Geschickte Anwendung (nach dichterischem Gefühl) eines Wortes, eine innerlich nötige Wiederholung desselben zweimal, dreimal, mehrere Male nacheinander kann nicht nur zum Wachsen des inneren Klanges führen, sondern noch andere nicht geahnte geistige Eigenschaften des Wortes zutage bringen. Schließlich bei öfterer Wiederholung des Wortes (beliebtes Spiel der Jugend, welches später vergessen wird) verliert es den äußeren Sinn der Benennung. Ebenso wird sogar der abstrakt gewordene Sinn des bezeichneten Gegenstandes vergessen und nur der reine Klang des Wortes entblößt. Diesen »reinen« Klang hören wir vielleicht unbewußt auch im Zusammenklange mit dem realen oder später abstrakt gewordenen Gegenstande. Im letzten Falle aber tritt dieser reine Klang in den Vordergrund und übt einen direkten Druck auf die Seele aus. Die Seele kommt zu einer gegenstandslosen Vibration, die noch komplizierter, ich möchte sagen »übersinnlicher« ist als eine Seelenerschütterung von einer Glocke, einer klingenden Saite, einem gefallenen Brette usw. Hier öffnen sich große Möglichkeiten für die Zukunftsliteratur.94

In der zitierten Passage kommt jene ›Reinigung des Materials‹ zum Ausdruck, die sich Kandinsky als Wirkungsmöglichkeiten des Wortes verspricht; für ihn habe, so Kammler, das Wort eine »äußerliche, praktisch-zweckmäßige Gerichtetheit, und zwar dann, wenn es einem Gegenstand als Name dient.«95 Funktional gesehen nehme der ›innere Klang‹, der als ›Mitschwingung‹ – auch gefühlter-

90 Vgl. Kammler, »Die Auflösung der Wirklichkeit«, 28. 91 Vietta, Sprache und Sprachreflexion in der modernen Lyrik, 36. 92 Ebd., 29. S. auch Novalis, Schriften, II, 672. 93 Vgl. Kammler, »Die Auflösung der Wirklichkeit«, 29. 94 Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, 45f. 95 Kammler, »Die Auflösung der Wirklichkeit«, 31.

1.3 I NNERLICHKEIT UND P SYCHOLOGIE

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maßen – eine starke Präsenz aufweise, eine relationale Bezüglichkeit zu seiner Referenz ein (hier: zum Gegenstand der außersprachlichen Welt).96 Ein Wegfall der Präsenz des Gegenstandes verlasse die Ebene der direkten Bedeutung des Wortes, und man gelange zu einer inneren Bedeutung: Der Klang des bloßen Namens evoziere eine abstrakte Vorstellung, eine geistige Bewegung eines rezeptiven Bewusstseins, das den Gegenstand dematerialisiert verinnerliche.97 Die grundlegende Wirkung jener ›Vergeistigung‹ des materialen Gegenstandes sei eine Verschiebung gegenüber derjenigen des realen Gegenstandes in seinem funktionalen Zusammenhang.98 Nun stellt sich, so Kammler weiter, die Wirkung als Affektion unmittelbar dar, »da sie eine von den Zwängen des Erkennens und Handelns gelöste Subjektivität als produktive Kraft des Menschen freisetzt.« Und: »Die Wirkung ist aber auch vermittelt, insofern die ›dematerialisierte‹ Vorstellung sich als kontingente Form des ›Fühlens‹ zu einem materialen Fall verdichten lässt, der noch eine zwanglose Referenz aufweist [...].«99 Es ist genau dieses Bild von ›Innerlichkeit‹ des ästhetischen Materials, die sich eine Ästhetik der Provokation zu nutze macht:100 Der ästhetische Gegenstand des Wortes impliziert von vornherein eine Dimension von Wirkung als Affektion, als produktive Anweisung, als Handlungsanweisung, um die »nicht geahnten geistigen Eigenschaften des Wortes zutage zu bringen.«101 Kandinsky weise daher auf die »innerlich nötige Wiederholung« hin,102 um den »äußeren Sinn der Benennung« zu verlieren und den »reinen Klang« entblößen zu können: »Das Wiederholen derselben Klänge, die Aufhäufung derselben verdichtet die geistige Atmosphäre, die notwendig ist zum Reifen der Gefühle (auch der feinsten Substanz), so wie zum Reigen verschiedener Früchte die verdichtete Atmosphäre eines Treibhauses notwendig, eine absolute Bedingung zum Reifen ist.«103

96

Vgl. ebd.

97

Vgl. ebd.

98

Vgl. ebd.

99

Ebd., 31f.

100

S. dazu auch Scheffer, »Aufbruch und Provokation«.

101

D. Kammler, »Die Auflösung der Wirklichkeit«, 32.

102

Zur Bedeutung des Wiederholens für die intendierte ›Entleerung‹ des Wortes von alltagssprachlicher Bedeutung bzw. ›Entformelung‹ s. Kemper, Vom Expressionismus zum Dadaismus, bes. Kap. 1.9. Eine entsprechende Kontextualisierung für einen weiteren avantgardistischen Künstler bietet zudem wiederum Scheffer, Anfänge experimenteller Literatur; ders., »Als die Wörter laufen lernten«.

103

»Ein leises Beispiel davon ist der einzelne Mensch, auf welchen Wiederholung von Handlungen, Gedanken, Gefühlen einen schließlich gewaltigen Eindruck macht,

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Erst dieser ›reine Klang‹ ermögliche direkte, unmittelbare Wirkung; er sei nicht mehr an einen durch das Wort referierten Gegenstand gebunden; die ästhetische ›Vibration‹ ist »gegenstandslos«: »Der ›reine Klang‹ ist unvergleichlich, denn er verweist auf keinen Gegenstand mehr« und »steht als Funktion für die ›reine Wirkung‹«, weshalb sich hier »große Möglichkeiten für die Zukunftsliteratur« eröffnen104 – eine Literatur, die Ball in Analogie zu Kandinsky einfordert wie realisiert. Claire Goll bestätigt diese These, wenn sie schreibt, Ball habe sich das vorgenommen, was Kandinsky »mit Farben getan hat: das Menschenbild, die Objekt- oder Landschaftsbeschreibung gewissermaßen auszuleeren.«105 Ball verwirkliche diesen »Traum mit seinen phonetischen Gedichten«, die, so Goll, das »literarische Gegenstück der Kleckse und Linien« seien.106 Es ist notwendig, mit Kammler noch etwas näher auf die klanglichen Bedeutungsebenen des Wortes nach Kandinsky einzugehen, da sich Balls Ästhetik unmittelbar nach diesen richtet. Für Kandinsky hat das Wort, wie Kammler ausführt, drei wirkende Klangbedeutungen: eine »reale« (materialische) mit faktischer Referenz; eine »abstrakte« (dematerialisierende) mit schwebender Referenz und eine »reine« (nicht-materialische), die jeglicher Referenz entbehrt, wobei er den »abstrakten« und den »reinen« Klang als ›innere‹ Bedeutung oder Wirkung zusammenfasst; eine Stelle aus Der Blaue Reiter, die auch Kammler z.T. zitiert, gibt darüber näheren Aufschluss: Wenn der Leser irgendeinen Buchstaben dieser Zeilen mit ungewohnten Augen anschaut, d.h. nicht als ein gewohntes Zeichen eines Teiles eines Wortes, sondern erst als Ding, so sieht er in diesem Buchstaben außer der praktisch-zweckmäßig vom Menschen geschaffenen abtsrakten Form, die eine ständige Bezeichnung eines bestimmten Lautes ist, noch eine körperliche Form, die ganz selbständig einen bestimmten äußeren und inneren Ein-

wenn er auch fähig ist, die einzelnen Handlungen usw. intensiv aufzusaugen, wie ein ziemlich dichter Stoff die ersten Regentropfen.« (Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, 106.) 104

Kammler, »Die Auflösung der Wirklichkeit«, 32f.

105

Goll, Ich verzeihe keinem, 54.

106

Ebd. Auch über Ball hinaus hat die Forschung herausgestellt, wie sehr Kandinskys kunsttheoretische wie -praktische Positionen in Verbindung mit der ›Wortkunst‹ zu Beginn des 20. Jahrhunderts stehen; Rudolf Blümers Dichtung Angolaina wurde beispielsweise als vollkommene Wortklangentsprechung zur absoluten Malerei bzw. explizit zum Werk Kandinskys aufgefasst (vgl. Brinkmann, »Zur Wortkunst des Sturm-Kreises«).

1.3 I NNERLICHKEIT UND P SYCHOLOGIE

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druck macht, d.h. unabhängig von der eben erwähnten abstrakten Form. In diesem Sinne besteht der Buchstabe: 1. aus der Hauptform = Gesamterscheinung, die, sehr grob bezeichnet, »lustig«, »traurig«, »strebend«, »sinkend«, »trotzig«, »protzig« usw. usw. erscheint; 2. besteht der Buchstabe aus einzelnen, so oder anders gebogenen Linien, die auch jedes Mal einen bestimmten inneren Eindruck machen, d.h. ebenso »lustig«, »traurig« usw. sind. Wenn der Leser diese zwei Elemente des Buchstabens gefühlt hat, so entsteht in ihm sofort das Gefühl, welches dieser Buchstabe als Wesen mit innerem Leben verursacht. Man soll hier nicht mit der Erwiderung kommen, daß dieser Buchstabe auf einen Menschen so, auf den andern anders wirkt. Das ist nebensächlich und verständlich. Im allgemeinen gesagt, wirkt jedes Wesen auf verschiedenen Menschen so oder anders. Wir sehen nur, daß der Buchstabe aus zwei Elementen besteht, die schließlich einen Klang ausdrücken. [...] Hier offenbaren sich die Gesetze der Konstruktion. Für uns ist augenblicklich nur eins wichtig: der Buchstabe wirkt. Und, wie gesagt, ist diese Wirkung doppelt: 1. der Buchstabe wirkt als ein zweckmäßiges Zeichen; 2. er wirkt erst als Form und später als innerer Klang dieser Form selbständig und vollkommen abhängig. Es ist uns wichtig, daß diese zwei Wirkungen in keinem gegenseitigen Zusammenhang sind, und während die erste Wirkung eine äußere ist, hat die zweite einen inneren Sinn. Der Schluß, den wir daraus ziehen, ist der, daß die äußere Wirkung eine andere sein kann als die innere, die durch den inneren Klang verursacht wird, was eins der mächtigsten und tiefsten Ausdrucksmittel in jeder Komposition ist.107

Der Buchstabe wirke als ein zweckmäßiges Zeichen in einem praktischen Zusammenhang eindeutig, d.h. ›real‹; als angeschaute Form wirke er kontingent, d.h. ›abstrakt‹ auf den Betrachter, während er später als ›innerer Klang‹ der Form ›rein‹, d.h. unabhängig, autonom wirke.108 Die Aufgabe künstlerischer Produktion ist damit formuliert: Auf diese möglichen Wirkungen aufmerksam zu machen, obliegt dem ästhetischen Subjekt, damit es die Korrespondenzen zwischen Zeichen und Bezeichnetem zu durchbrechen vermag, da in dieser Sicht die Einheit von Zeichen und Bezeichnetem literarische Kommunikation zu literarischem Konsum verkürzt, zu »in uniform geprägte Akte vereinzelter Rezeption«: »Die Möglichkeit reiner, nicht gegenstandsbezogener Selbsttätigkeit dürfte darin äußerst gering sein, da, mit Kandinskys Worten, das ›Geistige‹ sich nicht mehr in der Kunst befindet«; stattdessen beherrscht, so gesehen, ›seelenlose‹, »immer

107

Kandinsky/Marc (Hg.), Der Blaue Reiter, 157-159.

108

Vgl. Kammler, »Die Auflösung der Wirklichkeit«, 35.

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schneller beschleunigende mechanische Reproduktion das Kunstgeschehen.«109 Benjamin wiederum bringt diesen Gedanken auf den Punkt, wenn er schreibt: Die Reproduktionstechnik, so ließe sich allgemein formulieren, löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab. Indem sie die Reproduktion vervielfältigt, setzt sie an die Stelle seines einmaligen Vorkommens sein massenweises. Und indem sie der Reproduktion erlaubt, dem Aufnehmenden in seiner jeweiligen Situation entgegenzukommen, aktualisiert sie das Reproduzierte. Diese beiden Prozesse führen zu einer gewaltigen Erschütterung des Tradierten – einer Erschütterung der Tradition [...].110

Damit spielt Benjamin auf genau diejenige Beobachtung an, die bereits öfters durchgeschienen ist: In der, mit Benjamin gesprochen, ›Erschütterung der Tradition‹ ist der Einsatzort bezeichnet, an dem sich vom Ursprung ästhetischer Provokation sprechen lässt. Ästhetische Provokation ›verharrt‹ aber nicht in alleiniger Feststellung dieser Erschütterung, sondern entfaltet sich erst im Vollzug des Prozesses, in dem die (künstlerische) Tradition so erschüttert wird, dass (künstlerisch) nutzbare Modi der Wirkung des Materials der Künste, die einer schematischen Erfahrungskonstitution entgegenstehen, nutzbar werden. Die reinste Form der Wirkung ist mithin für Kandinsky »selbst ungegenständlich, doch ist sie dazu bestimmt, Gegenständlichkeit – sei sie ›abstrakt‹ oder ›real‹ – (verändernd) zu erzeugen«.111 Künstlerisch intendiert ist die Darstellung der reinen Form der Wirkung selbst, wodurch Kunst die Bedingungen von Sinnkonstitution zu ihrem Gegenstand macht. Dann »›erklärt‹ sich das Werk eben nicht mehr kraft der vom Werk gestifteten Repräsentation eines Gesamtbewusstseins« und »auch nicht mehr aus der Bildung eines – das Gesamtbewusstsein zu ersetzen vermögenden – ›Kunstverstandes‹ heraus, der an die ›Stelle des lebendigen Werkes‹ das ›tote Wort‹ setzt, wodurch jedes ›Verstehen‹ und ›Erleben‹ des Werkes verhindert wird«,112 in dem Sinn, dass »›Verstehen‹« »Heranbildung des Zuschauers auf den Standpunkt des Künstlers« sei.113 Diese Kunst greift die »Bedingungen sinnhafter Gegenstandskonstitution« auf und legt »in ihr – kraft künstlerischer Reflexion auf das Material – die Bedingungen für mögliche Wirkungen« frei: »Solchermaßen entstandene und verstandene Kunst eröffnet in

109

Ebd.

110

Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«,

111

Kammler, »Die Auflösung der Wirklichkeit«, 36f.

112

Ebd., 37.

113

Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, 26.

13f.

1.3 I NNERLICHKEIT UND P SYCHOLOGIE

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bewusster Weise die Möglichkeit, Gewohntes anders wahr- und aufzunehmen bevor die konkrete, gestaltete Form des Kunstwerks die Möglichkeiten in dem Werk in angemessene Bahnen lenkt« – das Kunstwerk »kann sich so nur prozesshaft entfalten und wird erst durch die konstitutive Leistung eines rezipierenden Bewusstseins zur Realität.«114 Diese Einsicht in die Bildung ästhetischer Provokation aus der Verbindung der Erschütterung der Tradition und die durch Freilegung des künstlerischen Materials intendierte Wirkungsabsicht ist jedoch allein noch unzureichend, um die These von der ›organischen Entwicklung‹ der Kunst in der Prozessualität des ästhetischen Provokationsvollzugs zu begründen. ›Organisch‹ entwickelt sie sich nur deshalb, weil sie nicht einen stringenten Prozess zu leisten hat, sondern weil sie keine Höhe- und Schlusspunkte hat, weil sie sich – um ein eindringliches Bild von Deleuze/Guattari aufzugreifen – auf verschiedenen ›Plateaus‹ vollzieht, bei denen jedes Element mit anderen »durch äußerst feine unterirdische Stränge verbunden werden kann [...].«115 Darin offenbart sich die ›organische Entwicklung‹ der Kunst im Prozess der Provokation: als Verknüpfung, in Verbindung mit anderen Gefügen, als Rhizom.116 Deleuze/Guattari führen aus: Anders als zentrierte (auch polyzentrische) Systeme mit hierarchischer Kommunikation und feststehenden Beziehungen, ist das Rhizom ein azentrisches, nicht hierarchisches und asignifikantes System ohne General. Es hat kein organisierendes Gedächtnis und keinen zentralen Automaten und wird einzig und allein durch eine Zirkulation von Zuständen definiert.117

Ästhetische Provokation, die auf das ›reine Material‹ der Kunst abzielt, auf dessen in Wirkungsbezügen stehenden Materialcharakter, wird als Rhizom generiert – azentrisch, unhierarchisch, ›ohne General‹. Es ist die Freiheit der künstlerischen Formung, die sich nur dem Prinzip der ›inneren Notwendigkeit‹ verpflichtet fühlt, aber keinem Kanon der Kunstproduktion mehr unterworfen ist, die eine solche Rhizomatik erfordert. Wenn Kandinsky sagt, der Künstler dürfe »jede

114

Kammler, »Die Auflösung der Wirklichkeit«, 38.

115

Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, 37.

116

Deleuze’ Verhältnis zur Kunst und zu den Künsten beleuchtet Gente/Weibel (Hg.), Deleuze und die Künste. Aus den dortigen Beiträgen seien hervor gehoben Bellour, »Das Bild des Denkens«; Schmidgen, »Begriffszeichnungen«; Steinweg, »Das Unendliche retten«.

117

Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, 36.

126 | 1. Z UR Ä STHETIK KRITISCHER K OLLISSION

Form zum Ausdruck brauchen«,118 da alles erlaubt sei119 – wenn er feststellt, der Künstler habe die »volle unbeschränkte Freiheit« »in der Wahl seiner Mittel«,120 dann ist dies die Voraussetzung für die theoretische Fundierung einer sich rhizomartig realisierenden Ästhetik der Provokation; und wenn dann der Künstler im Material der Kunst ein Wirkungspotential entdeckt, das er aber zunächst nicht zur freien Entfaltung bringen kann, so wird er das Material zuerst eigenständig ›reinigen‹ und formen, um den äußeren Hemmnissen reflexiv zu entsprechen und gegen diese dann provokativ anzugehen. Ich möchte, bevor der theoretische Bogen zu Balls ästhetischen Schriften vor dem Hintergrund der Ausführungen Kandinskys näher geschlagen werden kann, an dieser Stelle noch kurz mit Kammler auf die Möglichkeiten der Reinigung des künstlerischen Materials eingehen, die Kandinsky anhand der Sprache bzw. der Auflösung des Wortes exemplifiziert, da dies eine geeignete Schnittstelle darstellt, um zu Ball schließlich überzuleiten. So setzt Kandinsky in Der Gelbe Klang ›die Buchstaben‹ zu »einem eigenständigen Lautausdruck zusammen«; seine »Regieanweisung« besagt,121 dass eine »angsterfüllte Tenorstimme« ertönen soll, »die vollkommen undeutliche Worte sehr schnell schreit [...].«122 Kandinsky schreibt auch, so identifiziert Kammler, von einem »Chor ohne Worte« oder vom »Singen ohne Worte«123 – Ball unterstreicht denn auch rückblickend, Kandinsky habe als Erster den abstrakten Lautausdruck gefunden, der nur aus harmonisierten Vokalen und Konsonanten besteht.124 Die Konstruktion eines ›abstrakten Lautausdrucks‹ steht bei Kandinsky im Kontext seiner Konzeption des ›Monumentalkunstwerks‹ im Gegensatz zur Idee des ›Gesamtkunstwerks‹ im Sinne Richard Wagners:125 »Kandinsky beklagt an Wagner die Veräußerlichung der einzig zur Steigerung eines Gesamtausdrucks herangezogenen künstlerischen Mittel, die ›wechselnde Unterordnung‹ eines

118

Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, 83.

119

»Und so genügt es, wenn man sagt: alles ist erlaubt.« (Ders./Marc, Hg., Der Blaue Reiter, 145.)

120

Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, 133. S. auch ebd.: »Diese Notwendigkeit ist das Recht auf unbeschränkte Freiheit, die sofort zum Verbrechen wird, wenn sie nicht auf derselben beruht.«

121

Kammler, »Die Auflösung der Wirklichkeit«, 42.

122

Kandinsky/Marc, Der Blaue Reiter (Hg.), 223.

123

Ebd., 216.

124

Vgl. Ball, »Kandinsky«, 53. S. hierzu wiederum auch Kammler, »Die Auflösung

125

Vgl. ebd., 43. S. dazu auch Pörtner, »Expressionismus und Theater«, 194f.

der Wirklichkeit«, 42.

1.3 I NNERLICHKEIT UND P SYCHOLOGIE

| 127

künstlerischen Mittels unter ein anderes, was den ihnen eigenen ›immanenten Kunstgesetzen‹ [(H. Ball)] zuwider läuft.«126 Ball sieht eher ein Gegeneinander der einzelnen Künste, eine symphonische Komposition [...], in der die einzelnen auf ihr Wesentliches zurückgeführten Künste als Elementarformen nur die Noten abgeben zu einer Konstruktion oder Komposition auf der Bühne, die jede der einzelnen Künste als selbständiges Darstellungsmaterial gelten läßt und aus der Mischung dieses gereinigten Materials ein neues Kunstwerk, das Monumentalkunstwerk der Zukunft schafft.127

Kammler schließt daraus zu Recht, dass für Ball »innerhalb des aus Elementarformen bestehenden ›Monumentalkunstwerks‹« auch »die menschliche Stimme als Material ›rein‹ erklingen« soll:128 Der »Klang der menschlichen Stimme« wird »rein angewendet, d.h. ohne Verdunkelung desselben durch das Wort, durch den Sinn des Wortes.«129 Es gehe Kandinsky um die »Darstellung des reinen, unverstellten menschlichen Klang-Körpers, um den Wert der Stimme«, weshalb er einen ›abstrakten‹ Lautausdruck komponiere; der ›reine Klang‹ der menschlichen Stimme sei für ihn ein »purifiziertes künstlerisches Mittel im Verbund der reizvollen Kombinationsmöglichkeiten mit anderen ›reinen‹ künstlerischen Mitteln, wie Ton, Farbe und Tanz im ›monumentalen‹ Kunstwerk.«130

126

Kammler, »Die Auflösung der Wirklichkeit«, 43.

127

Ebd.

128

Ebd., 44.

129

Kandinsky/Marc (Hg.), Der Blaue Reiter, 208.

130

Kammler, »Die Auflösung der Wirklichkeit«, 44f. S. dazu auch Philipp, Dadaismus, 64: »Will man Kandinsky verstehen, so muß man das, was er zum inneren Klang sagt, in Zusammenhang mit seiner Kunstauffassung sehen, die er für die Malerei entwickelt. Auch dort geht es um die Reduktion einer materiellen Ausprägung im Sinne einer Darstellung der Dinge, also um eine wenigstens partielle ›Vernichtung des Materiellen‹, damit aber um eine Hervorhebung der spezifischen Mittel der Malerei: der Linie und der Farbe. Das führt zwangsläufig zu einer Abstraktion von der Wirklichkeit, wie wir sie alle durch unsere empirische Erfahrung kennen und mit anderen teilen können.«

128 | 1. Z UR Ä STHETIK KRITISCHER K OLLISSION

b) »Psychologietheater« und »therapeutische Ästhetik« Zuzustimmen ist der These, dass Balls ästhetische Philosophie nicht ohne diejenige Kandinskys zu denken ist.131 Ball kann sich »direkt auf Kandinsky – als dessen Nachfolger, nicht als dessen Nachahmer – beziehen«; er vermag, »auf die von Kandinsky gewonnenen Einsichten über die Wirkungsmöglichkeiten des sprachlichen Materials« zurückzugreifen, und kann »sich als Künstler aus einer kanonisch geregelten Kunstproduktion entbunden fühlen.«132 Der Künstler entrinne so dem Prinzip der Nachahmung einer äußeren Natur, die auf der Ebene des sprachlichen Materials dem sich gleich bleibenden rein funktionalen Wortgebrauch, der Wort-›Hülse‹ entspreche;133 er sei eminent dadurch bestimmt, dass er sich nicht mehr nachahmend verhalte, sondern produktiv, ein, wie Ball schreibt, ›Schöpfer neuer Welten‹ sei, weil er Wirkungspotential des Materials freilege und ungebunden für die gestaltende künstlerische Arbeit zu nutzen in der Lage sei.134 Ball erklärt entsprechend: »Producere heißt herausführen, ins Dasein rufen. Es müssen nicht Bücher sein. Man kann auch Künstler produzieren. Erst wo die Dinge sich erschöpfen, beginnt die Wirklichkeit.«135 Ist das entstehende »wahre Kunstwerk«136 erst »einmal losgelöst vom Künstler«, hat es den »Status eines autonomen Werkes«;137 es führt, wie Kandinsky sagt, »ein selbständiges Leben, wird zur Persönlichkeit, zu einem selbständigen, geistig atmenden Subjekt, welches auch ein materiell reales Leben führt, welches ein Wesen ist.«138 Wie sieht eines solches ›Leben‹ der Kunst aus? Hinter dieser Frage verbirgt sich wiederholt die Frage nach dem ›organischen Werden‹ derselben. Gemäß einer organischen Auffassung des Kunstwerks werden die »einzelnen Teile« nach

131

Dazu auch Finger, Das Gesamtkunstwerk der Moderne, 67.

132

Kammler, »Die Auflösung der Wirklichkeit«, 45.

133

Vgl. ebd.

134

Vgl. ebd., 46.

135

Ball, Die Flucht aus der Zeit, 82.

136

Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, 132.

137

Kammler, »Die Auflösung der Wirklichkeit«, 46.

138

»Es ist also nicht eine gleichgültig und zufällig entstandene Erscheinung, die auch gleichgültig in dem geistigen Leben weilt [...]. Es lebt, wirkt und ist an der Schöpfung der besprochenen geistigen Atmosphäre tätig.« (Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, 132.)

1.3 I NNERLICHKEIT UND P SYCHOLOGIE

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Kandinsky nur »durch das Ganze lebendig«,139 »weshalb kein Teil fehlen darf.«140 Das autonome Werk besitze »weiterschaffende, aktive Kräfte«,141 da es zu seiner Vollendung der »Mitwirkung« eines Rezipienten bedürfe, der den dem Kunstwerk eigenen »freien Raum, welcher das Werk vom letzten Grade des Ausdrucks«142 trenne, mit seiner geistigen Tätigkeit ausfülle; das Ganze des Werkes sei mithin im Werk selbst nur schematisch erreicht; trotz der immanent organisch angelegten Konstruktion des Kunstwerkes, realisiere sich seine zuvor nur ideell bestehende Autonomie erst in der äußersten Abhängigkeit von einem rezipierendem Bewusstsein: »Erst in der Realisierung von Möglichkeiten durch einen Rezipienten ist das Werk wirklich autonom. [...] Ein rezipierendes Bewusstsein wird so mit der ungebundenen Aktivität eines anderen – künstlerischen – Bewusstseins konfrontiert und in seiner Bewusstseinshaltung bewegt.«143 Damit sind durch Nachvollzug und Kommentierung der Studie Kammlers die Grundzüge jenes Teils der ästhetischen Theorie Kandinskys skizziert, die Balls Ästhetik prägen. In Abwandlung einer Position Kammlers gesagt: Hugo Ball kann für die Konstruktion respektive ›Erfindung‹ seiner avantgardistischen Theorie an Kandinsky anschließen, »der als theoretisierender Künstler Ball bedeutende Hinweise für die eigene selbständige künstlerische Tätigkeit gibt.«144 Kandinskys »Verzicht auf die Darstellung des materialen Gegenstandes wird erst durch die umformende ›Reinigung‹ des Materials möglich«, die für Ball Grundlage seiner Ästhetik ist: Das künstlerische Material erscheint hier nicht als sinnlich wahrnehmbares Objekt, »sondern als Funktion, als in nicht-materiellen Wirkungsbezügen sich befindendes Potential, das der synthetischen Leistung eines (ästhetische) Erfahrung konstituierenden Subjektes bedarf, weil es von allen praktisch-zweckmäßigen Bezügen befreit ist.«145 Ball schreibt: Wenn über den inneren Umriß eines Gegenstandes nichts Bestimmtes mehr geglaubt werden kann, muß oder darf, – dann ist er seinem Gegenüber ausgeliefert und es kommt nur darauf an, ob die Neuordnung der Elemente, die der Künstler, der Gelehrte oder Theologe damit vornimmt, sich die Anerkennung zu erringen vermag. Diese Anerkennung ist

139

Ders., »Malerei als reine Kunst«, 98.

140

Kammler, »Die Auflösung der Wirklichkeit«, 46.

141

Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, 132.

142

Ders./Marc (Hg.), Der Blaue Reiter, 192.

143

Kammler, »Die Auflösung der Wirklichkeit«, 47f.

144

Ebd., 50.

145

Ebd., 50f.

130 | 1. Z UR Ä STHETIK KRITISCHER K OLLISSION gleichbedeutend mit der Tatsache, daß es dem Interpreten gelungen ist, die Welt um ein neues Phänomen zu bereichern. Man kann fast sagen, daß, wenn der Glaube an ein Ding oder an eine Sache fällt, dieses Ding und diese Sache ins Chaos zurückkehren, Freigut werden.146

Wirft man mit der Einsicht der theoretischen Verbundenheit zwischen Ball und Kandinsky einen Blick auf Balls Vortrag über Kandinsky, finden sich Anhaltspunkte zum Beleg. Hier zeigt sich, dass für Ball im Anschluss an Kandinsky ein Zusammenbruch von Welt und Zeit stattgefunden hat. Entworfen wird das Bild einer zerstörten, haltlosen Existenz, die dem Künstler Anlass zur Innerlichkeit oder besser: zur Verinnerlichung gibt. Der einleitende Teil des Vortrags zeichnet, in Stil und Duktus Balls Phantastenroman nicht unähnlich, die Ausgangslage, für die theoretische und praktische ästhetische Konsequenzen notwendig erscheinen. »Gott ist tot«, schreibt Ball, »[e]ine Welt brach zusammen«: Ich bin Dynamit. Die Weltgeschichte bricht in zwei Teile. Es gibt eine Zeit vor mir. Und eine Zeit nach mir. [...] Eine Zeit bricht zusammen. Eine tausendjährige Kultur bricht zusammen. Es gibt keine Pfeiler und Stützen, keine Fundamente mehr, die nicht zersprengt worden wären. [...]. Es gibt keine Perspektive mehr in der moralischen Welt. Oben ist unten, unten ist oben. Umwertung aller Werte fand statt. [...] Der Sinn der Welt schwand. Die Zweckmäßigkeit der Welt in Hinsicht auf ein sie zusammenhaltendes höchstes Wesen schwand. Chaos brach hervor. Tumult brach hervor. Die Welt zeigte sich als ein blindes Über- und Gegeneinander entfesselter Kräfte. Der Mensch verlor sein himmlisches Gesicht, wurde Materie, Zufall, Konglomerat, Tier, Wahnsinnsprodukt abrupt und unzulänglich zuckender Gedanken. [...] Das Resultat war eine Anarchie der befreiten Dämonen und Naturmächte. [...] Eine Welt abstrakter Dämonen verschlang die Einzeläußerung, [...] verschlang den Privatausdruck, raubte den Namen der Einzeldinge, zerstörte das Ich und schwenkte Meere von ineinandergestürzten Gefühlen gegeneinander.147

Ball kommt nicht umhin, festzuhalten, die »Künstler in dieser Zeit« seien »nach innen« gerichtet; ihr Leben sei ein »Kampf mit dem Irrsinn«; sie seien »zerrissen, zerstückt, zerhackt«, falls es ihnen nicht glücke, »für einen Moment in ihrem Werke das Gleichgewicht, die Balance, die Notwendigkeit und Harmonie zu finden.«148 Die Künstler dieser Zeit erscheinen Ball als »der Welt gegenüber Asketen ihrer Geistigkeit«; sie führen ein »tief verschollenes Dasein«; sie seien »Vorläufer, Propheten einer neuen Zeit«:

146

Ball, Die Flucht aus der Zeit, 90.

147

Ders., »Kandinsky«, 41f.

148

Ebd., 43.

1.3 I NNERLICHKEIT UND P SYCHOLOGIE

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Ihre Werke tönen in einer nur erst ihnen bekannten Sprache. Sie stehen im Gegensatz zur Gesellschaft wie die Ketzer des Mittelalters. Ihre Werke philosophieren, politisieren, prophezeien zugleich. Sie sind Vorläufer einer ganzen Epoche, einer neuen Gesamtkultur. Man versteht sie schwer und nur dann, wenn man die innere Basis ändert, wenn man bereit ist, zu brechen mit der Tradition eines Jahrtausends. Man versteht sie nicht, wenn man an Gott glaubt statt an das Chaos. Die Künstler in dieser Zeit wenden sich gegen sich selbst und gegen die Kunst. Auch die letzte, bisher unerschüttertste Basis wird ihnen Problem. Wie können sie noch nützlich sein, oder versöhnlich, oder beschreibend oder entgegenkommend? Sie lösen sich ab von der Erscheinungswelt, in der sie nur Zufall, Unordnung, Disharmonie wahrnehmen.149

Prototyp des Künstlers dieser Zeit ist für Ball (neben Picasso) Kandinsky; seinen Namen assoziiert er mit »Befreiung, Trost, Erlösung und Beruhigung«; er sieht ihn als einen der »ganz großen Erneuerer, Läuterer des Lebens« und – bezeichnender Weise – als »Kritiker seines Werkes und seiner Epoche«, für den der Begriff der Freiheitsbegriff im anarchistischen Sinne zentral ist, nur dass er ihn »ganz spirituell auf die Ästhetik anwendet«.150 Für die Anwendung des Freiheitsbegriffs auf die Ästhetik haben Kandinsky wie Ball nicht allein theoretisch, sondern auch real gearbeitet; gemeinsam haben sie sich für eine Erneuerung des ›Münchener Künstlertheaters‹ engagiert, deren Konzeption Ball in einer Reihe kleinerer Schriften aufgreift und diskutiert. Mit ihnen lassen sich die in diesem Kapitel vorgestellten ›Elemente‹ ästhetischer Provokation, die sich in Momenten der ›Innerlichkeit‹ konzentrieren, noch einmal zusammenbringen, hier: mit Blick auf eine Theorie des Theaters im Lichte der ›Psychologie‹. Im entsprechend betitelten Beitrag Das Psychologietheater hält Ball denn auch fest, was er in der zu Beginn dieses Kapitels zitierten Passage aus Die Flucht aus der Zeit wiederholt, dass »alle Psychologie ein Sicheinfühlen in die fremde Existenz, ins Objekt, in den Gegenstand« voraussetze; um etwas »Psychologisches«, »etwas über die Seele einer Sache, eines Menschen, eines Unternehmens aussagen zu können«, bedürfe es einer »Fähigkeit des Sicheinfühlens, des Besitzergreifens, des Sichselbstverlassens«.151 In Das Münchener Künstlertheater. Eine prinzipielle Beleuchtung zeigt Ball dann, welche künstleri-

149

Ebd., 43f.

150

Ebd., 45. Dada wird denn auch oft als ›ästhetischer Anarchismus‹ bezeichnet, was zu hinterfragen ist (vgl. Kap. 1.3c; s. dazu auch Berg, Avantgarde und Anarchismus, 8). Zum Zusammenhang von Balls Werk und dem Anarchismus s. auch Kaltenbrunner, »Anarchie und Gnade«; Sheppard, »Dada and Politics«.

151

Ball, »Das Psychologietheater«, 19f.

132 | 1. Z UR Ä STHETIK KRITISCHER K OLLISSION

schen Konsequenzen daraus – in diesem Fall: für die Bühne – zu ziehen wären (s. Kap. 2.3). Neben den konkreten »neuen Vorschlägen« dieser »Reform«, die für den Gegenstand dieser Studie vernachlässigt werden können, ist vielmehr von besonderem Interesse, dass Ball postuliert, »es sollte etwas produktiv Neues versucht werden, nicht mehr eine Reform, sondern ein Bruch mit der Tradition«:152 Was gedacht war, war ein »Theater der Neuen Kunst«, wenn man will: Des Expressionismus. Hervorragende Vertreter neuer malerischer und theatralischer Ideen sahen neue Ziele von umstürzlerischer Bedeutung. Es handelte sich nicht mehr um eine Reform der Dekoration und des Bühnenraums, sondern um Neuschöpfung. Es handelte sich überhaupt nicht mehr um »Dekoration« und »Bühnenbild«. Sondern um eine neue Form des ganzen dramatisch-szenischen, des theatralischen Ausdrucks. Es handelte sich darum, ein Repertoire aufzustellen, das zugleich in die Zukunft und in die Vergangenheit wies, Stücke zu finden, die nicht nur »Dramen« wären, sondern den Geburtsgrund alles dramatischen Lebens darstellten und sich so aus der Wurzel heraus zugleich in Tanz, Farbe, Mimus, Musik und Wort entlüden.153

In Wedekind als Schauspieler heißt es: »Wir suchen im Theater [...] Personagen: Neue Körper. Neue Seelen.«154 Ball will ein »neues Stück Mensch wahrnehmen, eine terra nova incognita«; er will – im Theater– »neue Beine. Neue Hüften. Neue Köpfe. Neue Struktur Leibes und der Seele.«155 Die Destruktion und Erneuerung im Sinne Kandinskys, die im ›theoretischen‹ Ball früh angelegt ist, führt letztendlich zum »Drang«, zum »Desórdre« in der »Hoffnung auf das Neue, das aus der um seinetwillen notwendigen Zerstörung hervorgehen« soll.156 Das in diesem Kapitel gedeutete Theorem der ›Innerlichkeit‹ und ›Verinnerlichung‹ der ästhetischen Provokation soll ausgehend von Balls ›Psychologietheater‹ im Folgenden anhand eines bereits angesprochenen Textes überprüft werden, in sich dem die angesprochenen Verbindungslinien bei Ball und Kandinsky implizit berühren. Balls Essay Der Künstler und die Zeitkrankheit ist vor allem im Kontext des Kandinsky-Vortrags zu lesen, zumal Ball mit beiden Texten ein grundsätzliches Bekenntnis zur modernen Kunst liefert, das er also im Früh- wie

152

Ders., »Das Münchener Künstlertheater«, 359, 361.

153

Ebd., 362. Unter den Stücken, die gespielt werden sollten, nennt Ball gerade auch Kandinskys Der gelbe Klang (vgl. ebd.).

154

Ball, »Wedekind als Schauspieler«, 15.

155

Ebd.

156

Kemper, Vom Expressionismus zum Dadaismus, 93.

1.3 I NNERLICHKEIT UND P SYCHOLOGIE

| 133

im Spätwerk nicht widerruft, sondern in der Kritik vertiefend expliziert: »Im einen wie im anderen wird die Moderne als universelle Krisis verstanden, auf die die für ihn relevanten Teile der modernen Kunst bereits eine kritische Antwort sind.«157 In einem Brief vom 26. August 1926 führt Ball gegenüber Carl Muth zu seinem Aufsatz aus, dieser behandele die Analyse der Kunst- und der Künstlerpsyche. Das Thema führt mitten in die ästhetischen und kulturkritischen Diskussionen (Neurose, Primitivismus, Magie, Gestaltung etc.). Ich zeige, wie die neuere Psychologie und Therapie nur den Konflikt zwischen Soma und Psyche, nicht aber die Heilmöglichkeiten durch das Pneuma und die Leiden infolge einer Verdrängung des Pneumatischen sieht. Das Facit wird sein, dass der Künstler unserer Zeit (als der psychologische Typus kat exochen) das Pneuma [...] als Formprinzip wieder finden muss, um der Zeitkrankheit gewachsen zu sein und dem Begriff der Dauer (Unsterblichkeit) gerecht zu werden.158

Die »Neuordnung der Elemente«, von denen bereits die Rede war und die nach Ball »der Künstler« deshalb vorzunehmen habe, soll einen »gründlichen Neuaufbau« auf der Basis des »resolut und mit allen Kräften erwirkte[n] Chaos« erwirken.159 In wiederum romantischer Tradition sowie in der des GenieGedankens erscheint ›Chaos‹ als produktive künstlerisch-produktive Kraft, als »schöpferischer Urgrund, aus dem originär Neues erwachsen kann.«160 Als »Angehöriger einer Generation von Artistenrebellen gegen die Zumutungen der technologisch hochgerüsteten Moderne, die ihre Sinnelemente gerade als weltgeschichtliches Vernichtungsspektakel inszeniert«,161 geht es Ball letztendlich darum, eine »ganz neue Art des Philosophen-Künstlers« im Sinne Nietzsches zu imaginieren, »der ein Kunstwerk hinein in die Lücke stellt mit ästhetischem Wert.«162 Balls Ästhetik konzentriert sich auch daher um »Letztbegründung der

157

Schlichting, »Anarchie und Ritual«, 66.

158

Ball, Briefe 1904-1927, II, 351f. S. dazu auch Hoellen, »Hugo Ball und die Psychoanalyse«, bes. 247f.: »Was Ball allerdings konkret unter dem Pneuma versteht, bleibt unklar und ist in diesem Artikel auch nicht näher ausgeführt.«

159

Ball, Die Flucht aus der Zeit, 90.

160

Hillach, »›Das Wort als ein Gottwesen von unentrinnbarer Wirkung‹«, 243. Zum Bestreben einer vitalistisch-zyklischen Lebens- und Kunstauffassung im Sinne Alfred Schulers, wonach Zerstörung und Chaos in ihrer Todbedeutung zugleich ein treibendes Moment der Geschichte sind, s. auch näher Plumpe, Alfred Schuler, 99f.

161

Hillach, »›Das Wort als ein Gottwesen von unentrinnbarer Wirkung‹«, 244.

162

Ball, »Nietzsche in Basel«, 90.

134 | 1. Z UR Ä STHETIK KRITISCHER K OLLISSION

Kunst und des Künstlertums«,163 wie er es in Der Künstler und die Zeitkrankheit versucht. Ball beschreibt hier ein Diagnose- und Therapieinstrumentarium, für das die ästhetische Kritik mit ihren Beurteilungs- und Wertungs-, mit ihren Dekonstruktions- und Neuschöpfungsrealisierungen relevant wird.164 Ball schreibt: Mit wachsender Aufmerksamkeit registriert man eine Leistung nach ihrer künstlerischen Qualität. Soweit ein Urteil überhaupt wichtig wird, geht es zunächst von ästhetischen Gesichtspunkten aus, und es wird allgemach gleichgültig, ob es sich dabei um das Werk eines berufsmäßigen Artisten oder um dasjenige eines Geschichtsschreibers, Philosophen oder Theologen, also eines Gelehrten handelt. Die Kunst der eigentlichen Künstler aber erhält mehr und mehr den Charakter der ästhetischen Norm; sie wird zur absoluten Kunst, zur Hieroglyphe, das heißt zu einem Zeichen, in dem Religion, Philosophie und Zeitgeschichte in unauflösbare Einheit verbunden sind.165

Die von Ball behauptete Absolutheitssetzung der Kunst im Geiste der Kritik lässt sich verdeutlichen, wenn man seinen Begriff von ›künstlerischer Leistung‹ als Titel für Aussagen über ästhetische Wirkungen versteht: Der Mechanismus unserer Zeit macht es zum Gebot, die Erscheinungen nach einem strengeren Maßstab zu kontrollieren, als er seit langem in Anwendung war. Die Gestalt eines Arguments, nicht seine Fülle entscheidet. Der Wert einer Leistung ergibt sich aus ihrer bis in die kleinsten Teilformen strahlenden Lichtspiegelung.166

Eben dies evoziert jedoch für Ball jene ›Zeitkrankheit‹,167 von der er im Titel seines Textes spricht und zu deren »Symptomen«, so Ansgar Hillach, an »vor-

163

Hillach, »›Das Wort als ein Gottwesen von unentrinnbarer Wirkung‹«, 245.

164

Zum Zusammenhang zwischen ästhetischer und therapeutischer Theorie wiederum in der parrhesiastischen Fluchtlinie der antiken Kyniker s. Niehues-Pröbsting, Der Kynismus des Diogenes und der Begriff des Zynismus, 351, mit Bezug auf den zynischen Witz bes. außerdem 354.

165

Ball, »Der Künstler und die Zeitkrankheit«, 104f.

166

Ebd., 105.

167

S. dazu auch Hülsbusch, »Zu Hugo Ball, Byzantinisches Christentum«, 38f.: »Ball kannte [...] die Krankheiten seiner Zeit und seines Jahrhunderts und wußte, sie aufzuzeichnen in ein Raster, das mit grellen, auffälligen Farben konturiert war. Und da er auf der Landkarte dieses Jahrhunderts nicht nur die reinen Quellen, die kleinen Rinnsale und die großen Flußläufe kannte, sondern sich auch die unterirdischen Abwasserkanäle markiert hatte, konnte er auch sinnvoll nach der Ursache von Leiden fragen, die in der mangelnden Hygiene der Zeit aufzuspüren sind. Die Krank-

1.3 I NNERLICHKEIT UND P SYCHOLOGIE

| 135

derster Stelle« die »Unfähigkeit« gehört, »Persönlichkeit auszubilden, bzw. die Verhinderung dieser elementaren Aufgabe der Selbstbestimmung des Menschen, die er in Rücksicht auf einem in ihm angelegten Formgedanken einzulösen hat.«168 Rancière identifiziert ganz ähnlich für die Erfindung der Psychoanalyse, wie aus »dem Denken eine Frage der Krankheit und aus der Krankheit eine Frage des Denkens« gemacht wird und wie »dieser Zusammenhang der Dinge des Denkens und der Dinge der Krankheit« mit dem »neuen Denkregime von Kunstproduktionen« zusammenhängt.169 Der Künstler, der die »Formbildnerei zu seiner Lebensaufgabe« macht, »arbeitet auf der Basis eines Formwillens, den er allerdings an sich selbst nicht mehr realisieren kann, weil die künstlerische Aufgabenstellung sich zur Anonymität verschoben hat«:170 die Größen von Kunstproduzent und -rezipient werden unklar; »der Künstler selbst hat keine Chance mehr, über sein rezensiertes Werk hinaus Interesse zu erwecken.«171 »Wie kommt es nun, daß zu solch hoher Einschätzung der Kunst im schroffsten Gegensatze die Geltung der Person des Künstlers steht?«, fragt Ball und erklärt, dass »[f]rühere, begeisterte Zeiten« die »Schätzung des Werkes auf die hervorbringende Person« übertragen haben und »geneigt« waren, »darüber sogar das Werk zu vergessen.«172 In der Gegenwart erkennt Ball dagegen eine umgekehrte Tendenz: »Die Biographien und Briefsammlungen verlieren ihren harmlosen Charakter und ihren romanhaften Wert; sie nehmen an Bedeutung und Interesse ab, gerade wo es sich um überragende Persönlichkeiten handelt«, wodurch es ihm scheint, daß dem Künstler nur noch die Anonymität verbleibt. Daß er vorzieht, auf private Beziehungen zu seinen Empfängern zu verzichten. Daß er den daher rührenden Qualen vor-

heiten seines Jahrhunderts wußte er zu diagnostizieren und zu benennen, weil er sich das Vokabular der allgemeinen Menschenkrankheiten nicht nur aus Weltanschauung, sondern auch wohl nach schmerzhafter Selbstanschauung vertraut gemacht hatte. [...] Wie sollten einem leidensfähigen Menschen voller Erbarmen und Mitleid nicht Aufschrei und Protest erlaubt sein, Übertreibungen sogar, nicht nur in der Lautstärke. Sie kommen aus seiner therapeutischen Leidenschaft und aus der tiefen Besorgnis, schlimme Wunden zu sterilisieren und Heilsalbe aufzutragen.« 168

Hillach, »›Das Wort als ein Gottwesen von unentrinnbarer Wirkung‹«, 250.

169

Rancière, Das ästhetische Unbewußte, 20.

170

Hillach, »›Das Wort als ein Gottwesen von unentrinnbarer Wirkung‹«, 250.

171

Ebd.

172

Ball, »Der Künstler und die Zeitkrankheit«, 107.

136 | 1. Z UR Ä STHETIK KRITISCHER K OLLISSION beugt, indem er die Übertragung des Interesses von seiner Privatperson auf sein Werk durch ein entschlossenes Harakiri erzwingt.173

Der Künstler hat, allgemeiner gesagt, die Verbindung zur Gesellschaft verloren oder besser: es gibt keine Gesellschaft mehr, die sich für diesen Künstler interessiert: Gerade desjenigen Werk, der Wort, Farbe oder Ton nicht nur dekorativ gebraucht, sondern sich mit seinem Gegenstande identifiziert; für den also die Aufnahme seines Werkes eine Aufnahme oder Ablehnung seiner Person bedeutet; gerade das Werk des Künstlers, der seine Zeit befruchten könnte; der nach ihrem vergrabenen Gesichte sucht: gerade dieses Werk begegnet dem wirtschaftlichen Boykott, der ängstlichen Schablone, dem Mißverständnis, der vollkommenen Hilflosigkeit.174

Das Problem, das sich Ball erschließt, betrifft dabei nicht zuletzt auch den ›Kanal‹, das ›Medium‹, eine Vermittlungsinstanz zwischen Künstler und Gesellschaft, die Kritik: Die getrennt marschierenden Truppen, der neuen Formung und der neuen Theorie, sie haben sich noch nicht gefunden. Nur erst die Vorposten berühren sich. Zwischen der Direktive, zwischen den aufräumenden Bemühungen und dem neuen Werk steht der ganze alte Apparat, der in seiner Weise zwar ebenfalls von ›Sachwerten‹ ausgeht, nicht aber von solchen des Stils, sondern von solchen des Stoffs und des privaten Details. Fast die gesamte akademische Betrachtung urteilt noch in diesem Sinne und beweist damit ihre materielle Gebundenheit, wie sehr immer sie mit abstrakten Erörterungen und mit dogmatischen Postulaten den Nachweis ihrer Geistigkeit zu erbringen hofft.175

Es geht Ball um den Verlust des ›gesellschaftlichen Handelns‹ des Künstlers, vermittelt über kulturelle ›Kanäle‹ wie denjenigen der Kritik und der durch sie erst künstlerisch ›lebbaren‹ Provokation, die bestimmte subversive, die Institution ›alter‹ Kunst attackierende Botschaften in die Gesellschaft weiterleitet.176 Bevor Ball jedoch die Instrumente der Diagnose und Therapie des Künstlers im Zeichen der Kritik genauer bezeichnen kann, muss er die ›Krankheit‹, die er meint, näher bestimmen. »Fragt man die Künstler, woran sie leiden«, schreibt Ball,

173

Ebd.

174

Ebd., 107f.

175

Ebd., 108.

176

Dazu näher Stahl, »Boheme in München und Berlin«, 13.

1.3 I NNERLICHKEIT UND P SYCHOLOGIE

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so kann man immer wieder dasselbe hören. Sie haben keine Beziehung mehr zur Wirklichkeit. Das Band, das sie in früheren Zeiten mit der Gesellschaft einigte, ist zerrissen. Es ist keine Tragfähigkeit, kein Anknüpfungspunkt mehr vorhanden. Es finden sich, soweit überhaupt von einer distinguierenden Umgebung die Rede sein kann, kaum zwei Menschen mehr, die noch dasselbe glauben und lieben.177

Es ist eine enorme »Katastrophe«, die Ball sieht, wenn er eine Verschiebung der gesellschaftlichen Schichten identifiziert, die gerade auch nicht vor dem Künstler halt zu machen scheint: nicht vor dem Bildner oder Maler, die sich einem abstrakten oder imaginären Raum gegenüber finden, und auch nicht vor dem Dichter, der sich »einer abstrakten und imaginierten Gesellschaft ausgeliefert findet«: Für wen soll einer seine Bilder malen? Für den Händler? Und wem gibt der sie weiter? Bleiben sie Schecks und Börsenwerte, und gehen sie als solche in unendlichem Kreislauf durch die Welt, oder werden sie schließlich irgendwo einmal aufgehängt, geschätzt und geliebt? Von wem dann? Wer wird es bis dahin sein? Der Bauer, der Bürger oder der Prolet? Zum Künstler gehört es wesentlich, daß er den Empfänger kennt und dessen Glauben, dessen Liebe, dessen Hoffnung in die Form mit einbezieht. Im Auswiegen des beiderseitigen Anteils beruht vielleicht das Geheimnis der Form. Wie nun, wenn der Künstler auf die Realität verzichten muß, wie er bereits auf seine Person verzichtet hat? Vermutlich erwirbt er sich daraus eine weitere Belastung seiner Melancholie.178

Ursächlich für diese Belastung ist ihm eine verlorene »tragfähige Wirklichkeitsschicht« aus »Risse[n] und Sprünge[n]«, ein brüchiger ideologischer Überbau, der neue ungefüge Gesellschaftsschichten hervor brechen lässt, die wenig Sinn haben für »Kunst und Finesse«, für »Distanz und Geschmack«, für »eine den errungenen Besitz verteidigende Lebensart.«179 Ball sieht das Dilemma des Künstlers »angesichts dieser Lage in einer neuerlichen romantischen Zerrissenheit zwischen Intellekt und Vision, Abstraktion und Phantastik, da der Glaube an einen normsetzenden Logos ausfällt.«180 Der Künstler fühlt sich, wie Ball formuliert, zwischen zwei auseinander strebenden Motiven torturiert: »zwischen einem traditionellen Erbe von Sitte, Schulung, Stil und Adel, und einem ringsum widerlich flutenden Triebleben, dem er bald mit einer Überbetonung des Ideals, bald

177

Ball, »Der Künstler und die Zeitkrankheit«, 108.

178

Ebd., 109.

179

Ebd., 109f.

180

Hillach, »›Das Wort als ein Gottwesen von unentrinnbarer Wirkung‹«, 250f.

138 | 1. Z UR Ä STHETIK KRITISCHER K OLLISSION

mit einer Besinnung auf seine eigenen höhnischen Triebe zu antworten genügt ist.«181 Nun ist die Folge »auf der Seite des Künstlers ein psychischer Zwiespalt, der die Gefahr der Neurose in sich birgt, auf der Seite der Kunst eine ästhetische entfesselte Bilderflut, die sich romantisch auflädt mit Überwindungs- und Befreiungsphantasien«;182 es ist ein Zwiespalt der überlieferten Vorstellungen und der libidinösen Energie, für den im psychopathologischen Verständnis Begriffe wie Zwangsneurose, Hysterie, depressiver Irrsinn oder Dementia praecox Ball adäquat zur Beschreibung des von ihm diskutierten Krankheitsbildes sind.183 Dieses ist, wird der Blick auf die Avantgarde an sich gerichtet, auch dem Bruch mit der Immanenz der Lebensverhältnisse geschuldet, dem Bruch mit dem ›Inneren‹ und ›Eigenen‹.184 Es ist also eine ausdrücklich psychologische Perspektive, die es Ball erlaubt, die ›große Zeitkrankheit‹, von der er schreibt, nicht durch Umgehen und Beschönigen zu überwinden, sondern dadurch die Krankheit selbst zum Gegenstand der Darstellung zu machen.185 Die Verbindung von Kunst, psychoanalytisch geprägter Therapeutik und integralen Lebenskünsten ist bei Ball nicht nur im Spätwerk, sondern, wie hier deutlich wird, auffallend gehäuft angelegt – vom Kandinsky-Vortrag von 1917 bis zu Der Künstler und die Zeitkrankheit von

181

Ball, »Der Künstler und die Zeitkrankheit«, 110.

182

Hillach, »›Das Wort als ein Gottwesen von unentrinnbarer Wirkung‹«, 251.

183

Ball, »Der Künstler und die Zeitkrankheit«, 110. Den Modus derartiger IchStörungen bei künstlerischen Prozessen – vornehmlich im Bereich der modernen oder abstrakten Kunst – erklären Varianten der Ich-Theorie, gerade auch im Sinne Freuds: »Eine Ich-Entfremdung setzt dann ein, wenn die ›Ich-Grenze‹ nicht mehr mit Libido besetzt ist; andererseits verwischt eine zu starke Hinwendung zur Außenwelt die Grenzen, es kommt zur Distanzlosigkeit, deren Ausdruck bei Überspielung der Ich-Grenze die Ekstase ist.« (Philipp, Dadaismus, 79) S. dazu etwa auch Freud, Gesammelte Werke, XII.

184

Dazu im Fall einer ›gesunden‹ Avantgarde Draxler, Gefährliche Substanzen, 48: »Avantgarde, soll sie als regulative Idee künstlerischer Praxis weiter nützlich sein, muss sich auch als Selbstkritik an ihrer eigenen Geschichte verstehen, ohne Ausblick auf ein Außen und Anderes. Es geht darum, sich der Immanenz der Lebensverhältnisse zu stellen, um ein Anerkennen, Wahrnehmen und Thematisieren von Differenzen im Inneren und Eigenen.«

185

Vgl. Schlichting, »Nachwort« [zu: H. Ball, Der Künstler und die Zeitkrankheit], 464.

1.3 I NNERLICHKEIT UND P SYCHOLOGIE

| 139

1926. In Die Flucht aus der Zeit heißt es entsprechend, die Psychoanalyse lege eine wichtige Frage nahe: [S]ind Vater und Mutter die Urbilder –, und nicht die Symmetrien? Die abstrakte Kunst –: wird sie mehr bringen als eine Wiederbelebung des Ornamentalen und einen neuen Zugang dazu? Kandinskys dekorative Kurven –: sind sie vielleicht nur gemalte Teppiche (auf denen man sitzen sollte, und wir hängen sie an die Wand)? Wir neigen dazu, das Gewissen nur noch für die Leistung, für das Werk zu haben, das Leben aber und die Person als inkurabel auf sich beruhen zu lassen. Das aber hieße den Künstler selbst zur Dekoration, zum Ornament zu erniedrigen. Die Menschen dürfen nicht weniger wert sein als ihre Werke. Man muß die Künstler beim Wort, das heißt bei ihren veräußerten Symmetrien nehmen. Es geht vielleicht gar nicht um die Kunst, sondern um das inkorrupte Bild.186

Der »Test der Kunst auf ihre Authentizität«,187 der in dieser Passage sowohl als Anspruch von wie als Forderung an die Kunst und den Künstler zu Tage tritt, macht vor der subjektiven ›Seele‹ nicht halt; diese sieht sich situiert in eine aggressive Feindseligkeit, vor der das bedrohte Bewusstsein sich in geradezu wilden Sprüngen des Denkens und des bildlichen Assoziierens flüchtet.188 Dabei führt der Status des Künstlers als »Hüter der illusionären und generösen Denkart zur Blague, zur Pose, zur blutigen Paradoxie«, wodurch ein »Wüten beginnt wider die eigene suspekte Natur«: »Man sucht sich in Einklang zu setzen mit einer Triebwelt, deren Hässlichkeit ausgekostet und exaltiert wird, wie vorher der Traum und die Seligkeit.«189 Die provokante Geste, die Ball der Kunst und dem Künstler zuschreibt, entspringt aus einer als Signatur dieses Zeitalters begriffenen Neurose, an deren Ursprung er die Verdrängung eines unbewältigten Konflikts zwischen Triebansprüchen und normativen, illusionär gewordenen Vorstellungen sieht:190 »Die Nichtzulassung eines Triebwunsches durch das Bewußt-

186

Ball, Die Flucht aus der Zeit, 164f.

187

Schlichting, »Nachwort« [zu: H. Ball, Der Künstler und die Zeitkrankheit], 465.

188

Vgl. ebd., 466.

189

Ball, »Der Künstler und die Zeitkrankheit«, 112

190

Linda Nochlin stellt heraus, dass Avantgarde nicht als projektierte und projektive Aufhebung einer Entfremdung, sondern als deren Ausdruck erscheinen kann; JeanPaul Sartres Begriff der ›objektiven Neurose des bürgerlichen Künstlers‹ spielt hier ebenfalls eine Rolle (vgl. The Politcs of Vision). Dazu auch Draxler, Gefährliche Substanzen, u.a. 145: »Auch scheinen [in Sartres neurotischer Negation] Ästhetizismus und Avantgarde auf vielen Wegen miteinander verknüpft, ja gewissermaßen

140 | 1. Z UR Ä STHETIK KRITISCHER K OLLISSION

sein, das seine modifizierte Annahme und schließlich seine Integration in das Selbstbild gewährleisten könnte, ist der neurotisierende Tatbestand, der zu Ersatzbildungen führt wie eben einer phantasmatischen Kunst.«191 Aus der Neurose entspringt die ›Geburt‹ intervenierender, künstlerischer Provokation. Draxler führt, ohne Ball zu erwähnen, entsprechend aus: Diese Neurose erlaubt erst den distanzierten Blick auf das »moderne Leben«, auf die sich rasch verändernde Gesellschaft ohne ihr noch gestaltend anzugehören [...]. Was bleibt, ist einerseits ein möglichst genaues Beobachten dieser Veränderungen in seinen politischen, medialen, technischen Momenten und in seinen sozialen Ausdrucksformen zwischen Mode und Spektakel, und andererseits ein wenig zu Ärger zu machen: ästhetische Schocks auszulösen anstatt politisch zu protestieren [...]. Tatsächlich scheint der Künstler hier plötzlich außen zu stehen, und mit seinen Blicken und Aktionen in die Gesellschaft einzugreifen. Die Geburt der ›Intervention‹ lässt die Gesellschaft als eine ›Innere‹ erscheinen. [...] Vielleicht ist dieses Außerhalb-der-Gesellschaft-Stehen ein letzter projektiver Fluchtpunkt, mehr ein metaphorischer als ein wirklich sozialer Ort, an dem sich das Moment von Entfremdung, von der eigenen Klasse verstoßen zu sein ohne in der anderen anzukommen, wie Sartre sagt, am besten aushalten lässt.192

Die von Ball behauptete Neurose, für die »ein allgemeines Ideal« in »Scherben gegangen zu sein« scheint – »ein hohes, selbstloses, zärtliches Ideal« (»je weniger dies empfunden und bewußt wird, desto schwerer gestaltet sich die Neurose«) –,193 kann, ihrer alltagsweltlichen Präsens entkleidet, vor allem den Sonderstatus des künstlerischen Menschen in der Gesellschaft herausstellen, der »als

lässt sich Sartres Befund sogar als Beginn der Avantgarde im Ästhetizismus lesen, gegen den sie sich dann später selber wendet. Das legt nahe, Avantgarde weniger als politisches Instrument anzusehen, das kraft der in ihr geschehenden ›Selbstkritik‹ die bürgerliche Gesellschaft aushebelt, sondern als ein akutes Repräsentationsproblem von in politisch vielfach widersprüchlichen Situationen verfangenen Subjekten. Gerade als symptomhafte Lösungen dieses Problems erscheinen avantgardistische Kunstwerke, in ihren kruden und undifferenzierten Rhetoriken zwischen Formalismus und Gewalt, in ihre oft schwer erträglichen Triumphalismus ebenso wie in ihren kompromisslosen Ästhetiken bis heute interessant, bilden sich doch gerade in diesen Widersprüchlichkeiten die Bedingungen moderner Subjektivierung in besonderer Weise ab.« 191

Hillach, »›Das Wort als ein Gottwesen von unentrinnbarer Wirkung‹«, 251.

192

Draxler, Gefährliche Substanzen, 49.

193

Ball, »Der Künstler und die Zeitkrankheit«, 112.

1.3 I NNERLICHKEIT UND P SYCHOLOGIE

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Medium« nur »früher und komplizierter« von ihr betroffen ist als der »›Normale‹«:194 Auf die strengere Beobachtung seiner selbst und der Umwelt verwiesen, ist er empfindsamer und rascher bereit, die Dinge auf sich zu beziehen. Aber es ist ihm ein Palliativ geblieben: er verfügt über die Kraft, seine Erlebnisse abzustoßen. Er scheint die Richtung zu geben, Modekrankheiten einzuführen, und ist doch nur sensibelster und darum erster Empfänger und Künder von Schicksalen, deren Lenkung durchaus nicht bei ihm liegt.195

Die kolossale Verunsicherung, die dem Sensorium des Künstlers als Ersten ins Bewusstsein drängt, ist eine begriffliche; der Begriff der Realität ist es, den Ball als erschüttert klassifiziert und der nach Ersatz verlangt, nach »Stütze, Klarheit, Beruhigung«: »Zwischen scheu verschwiegenen, weltfremden Erwartungen und einem rücksichtslos und erschreckend vorhandenen Trieb, der sich trotz aller Verdrängung zur Geltung bringt«196 – zwischen diesen beiden Extremen schwankt, nach Ball, das Leben. Und es ist eben diese Schwankung, die es Ball erlaubt, eine eigene ›tiefenpsychologische‹ bzw. psychopathologisch geleitete ästhetische Theorie in Anlehnung an wie Abgrenzung zu ihm bekannten Theoremen zu konkretisieren.197 ›Therapie‹ – als ästhetische Kategorie – meint hier

194

Ebd.

195

Ebd., 113.

196

Ebd.

197

Er nennt namentlich Freud, Adler, Rank, Ferenczi (vgl. ebd., 115). Freud diskutiert Ball dabei ausführlicher (u.a. ebd., 129); er tut dies ebenso mit Jung (vgl. ebd., 129131) und etwa auch mit Adler (vgl. ebd., 131). Dazu ausführlich Hoellen, »Hugo Ball und die Psychoanalyse«. Neben der Schrift Der Künstler und die Zeitkrankheit diskutiert Hoellen auch Balls Aufsatz Die religiöse Konversion, in der sich Ball »mit einigem Recht gegen die Gleichsetzung Konvertit = psychisch Kranker« wende und auch hier »eine kritische Verarbeitung psychoanalytischer Positionen« vornehme (ebd., 228). Gleichwohl sei bei Ball gerade in seinen Spätwerken »kritische Sympathie für die Lehren Freuds und besonders Jungs« (ebd., 229) nachweisbar – Ball wurde insbesondere durch Hermann Hesse zu einem tieferen Verständnis der Psychoanalyse angeregt: Dieser erklärt, wie sehr Ball einer Psychologie und Psychotherapie auf der Spur war, deren Methoden er in Parallele zu Seelenheilkunden, namentlich zur Psychoanalyse, gesetzt habe: »Wir haben in allen den Jahren im Grunde über nichts anderes gesprochen, über nichts anderes diskutiert, und gestritten als über die Frage: Wo ist der Punkt, von welchem aus diese ganze Hölle von Krieg, Korruption, Entseelung zu überblicken und zu überwinden ist? Wo kann man

142 | 1. Z UR Ä STHETIK KRITISCHER K OLLISSION

die Methode der Analyse, die im Spannungsfeld von ›Unbewusstem‹ und ›Bewusstem‹ Anwendung findet.198 Dazu erklärt Ball: Die Methode des zeitgenössischen Therapeuten ist bekannt und oftmals dargestellt. Von der Annahme ausgehend, daß unbearbeitete, aber zur Einheit drängende Teilkräfte der Psyche vom Ich des Patienten abgelehnt und in ein hypothetisches ›Unbewusstes‹ verdrängt wurden, zielt die Kunst des Arztes darauf ab, die verurteilten Triebregungen aufzuspüren und sie bewußt zu machen. Dies geschieht, indem ihnen der Analysator zunächst zum Bilde (Traum, Symbol) und dann zum bindenden Worte verhilft.199

Seelische Heilung kann nur durch die Öffnung zur Sprache geschehen.200 Der die Zeitkrankheit des (künstlerischen und ›normalen‹) Menschen therapeutische Weg führt zu einem Verfahren der Hervorbringung ästhetischer Produkte (Bilder, Symbole, Worte). Wie aber kann die Energie, die sich im Kranken entlädt, gelenkt und in Richtung einer Heilung gelenkt werden? »Die Beruhigung und endliche Heilung erfolgt«, erklärt Ball, »durch die Herstellung einer vorher gespaltenen Einheit«: Das Wesentlich dabei ist, daß das Gewissen des Leidenden, sein Ideal, sein Ich, seine überkommenen Anschauungen von Erlaubt und Unerlaubt, von Schönheit, Sitte und Recht gewöhnt werden, Tatsachen anzuerkennen, die vor der ärztlichen Behandlung als für ihren

anknüpfen, um auf Erden wieder etwas wie Geist, etwas wie Würde, etwas wie Sinn und Schönheit zu ermöglichen? Diese Frage war uns gemeinsam. Die Wege, auf denen wir Antwort suchten, führten uns weit auseinander. Unter diesem Aspekt sprachen wir an unsern Tessiner Kaminfeuern nächtelang über die Zeiterscheinungen, über die Psychoanalyse, über die neuen Versuche in der Kunst [...]« (Hesse, »Vorwort«, 11f.) Es geht mir an dieser Stelle nicht darum, nachzuweisen, welche ›Elemente‹ psychoanalytischer Theorie Ball im Einzelnen nutzt, oder darum, die ›Richtigkeit‹ seiner ›Interpretation‹ zu überprüfen; vielmehr sollen diese Hinweise die begrifflichen Eckpunkte stützen, die eine Ästhetik der Provokation umrahmen. S. dazu auch Kap. 2.3b. 198

Die Begriffe des ›Unbewussten‹ bzw. des ›Unterbewussten‹ sind zentrale Vorstellungen in Balls Theatertheorie sowie in seinen Theorien der literarischen Produktion: »Das Bewußtmachen des Verdrängten und seiner Bilder ist ihm ganz im Sinne der psychoanalytischen Erkenntnis Voraussetzung für eine Therapie des einzelnen, dessen Psyche – wie Ball meint – von den krankmachenden Bildern der Zeit in Bann gehalten werde [...].« (Rechner-Zimmermann, Die Flucht in die Sprache, 72.)

199

Ball, »Der Künstler und die Zeitkrankheit«, 116.

200

Vgl. Hillach, »›Das Wort als ein Gottwesen von unentrinnbarer Wirkung‹«, 251.

1.3 I NNERLICHKEIT UND P SYCHOLOGIE

| 143

Träger unannehmnbare phantastische Zumutungen abgelehnt und ins Unbewusste verwiesen waren.201

Ball glaubt an eine »substanziell verstandene seelische Einheit, auf die alle erwachenden Teilkräfte der Psyche apriori orientiert sind, um das Persönlichkeitsideal im Sinne einer transzendenten Formidee zu erfüllen«; driften die hierbei aufgeladenen Kräfte ›seelisch‹ auseinander, »so ist eine neurotische Störung der natürlichen und geistigen Entwicklungsrichtung gegeben«.202 Die Therapie schreibt Ball nun jedoch nicht allein dem Arzt zu, sondern dem »neueren Künstler« selbst, da für ihn die Kunsttheorien der Beschwörung innerer Konflikte dienen: »Die unbekannt drohende Macht soll entladen und gefesselt, die getrennten seelischen Vermögen sollen gesammelt und in einem neuen Weltbilde vorgestellt werden.«203 Mit dem Berufstherapeuten verglichen, soll der Maler die verdrängten Vorstellungen wachrufen und in Symbole bannen; und ebenso soll der Dichter, kraft seiner Intuition und seines Wortschatzes, seiner Verfügungs-›Macht‹ über die Sprache, die Besetzungen der libidinösen Irrwege aufstören und dingfest machen:204 [U]m zusammenzufassen: die Kunst unserer Zeit ist therapeutisch bemüht, den Konflikt zwischen Dämon und Ich zu lösen. Sie treibt zu diesem Zwecke eine Analyse ihrer Stilmittel, die an die magischen Experimente der Alchimie ergemahnt. Sie sucht eine Synthese, die die sublimsten Errungenschaften einer Überkultur und die verborgensten Leiden der inneren Nacht in ihre Form einbezieht. Niemals ist eine Epoche dem Künstler günsti-

201

Ball, »Der Künstler und die Zeitkrankheit«, 116.

202

Hillach, »›Das Wort als ein Gottwesen von unentrinnbarer Wirkung‹«, 251.

203

Ball, »Der Künstler und die Zeitkrankheit«, 116.

204

Vgl. ebd., 116f. Zum Komplex in sozialphilosophischem Verständnis s. u.a. auch Saar, »Macht und Kritik«, 568, 570: »Entscheidend ist nun allerdings die Tatsache, dass das Verhältnis zwischen gesellschaftlicher und politischer Ordnung und Individuum nicht als harmonische oder organische Passage, sondern als Bruch und Entscheidung modelliert wird, als Prozess mit Kosten für das Individuum. [...] Denn seit Beginn des sozialphilosophischen Fragens und erst recht seit seiner Radikalisierung in den Philosophien des 19. Jahrhunderts hat das Moment von Negativität oder die Nichtübereinstimmung von Individuum und sozialer Ordnung einen eindeutigen Namen: ›Macht‹. Das Verhältnis zwischen sozialer und politischer Ordnung und Individuum wird von Beginn an auf unterschiedliche Weise, aber immer als Machtverhältnis verstanden, weshalb sich die kritische Intention der Sozialphilosophie ganz einfach reformulieren lässt: Sie ist Kritik der Macht.«

144 | 1. Z UR Ä STHETIK KRITISCHER K OLLISSION ger gewesen, was die Notwendigkeit und den direkten, praktischen, den sanitären Nutzen seiner Kunst betrifft. Niemals aber war der Künstler auch so grausam in sein eigenes Selbst zurückverwiesen.205

c) ›Neue‹ Kunst Ich möchte diese Zurückweisung des Künstlers in sein eigenes Selbst, die bereits bei der Lektüre von Balls Phantastenroman herausgestellt werden konnte (s. Kap. 1.1), kurz erneut mit Lektüren von literarischen, d.h. dramatischen Werken Balls verdeutlichen, auch, um darzulegen, dass die literarische Umsetzung von Balls Forderungen sehr wohl mit seiner Theorie Schritt halten kann.206 Der Künstler (und Protagonist) in Balls Tragikomödie Die Nase des Michelangelo »leidet«, wie Ball über die Komödie als Gattung schreibt, »an seiner Zeit«; und der Komödiendichter erweist sich dabei als solcher, der »immer kritisch beanlagt« ist: Alle Komik entsteht aus der humanen Beleuchtung verbildeter Gegenstände. Der Komödiendichter empfindet das Leben zweifach: als Utopie und als Wirklichkeit, als Hintergrund und als Figur. Der Abstand zwischen beiden erscheint ihm als Zerrbild, und um so mehr, je mehr er auf Seiten des Ideals steht. Ein solcher Dichter ist immer kritisch beanlagt. Er leidet an seiner Zeit und Umgebung. Seine gleichwohl versöhnliche Einstellung zur Gestalt und zum Leben ergibt die Komik. Den Abstand vom Ideal deutlich zu machen, ohne über das Korrektiv zu verfügen, ist gar nicht möglich.207

Der Künstler erkennt sich nur mehr als ein »wiederkäuer / Des eignen Selbst und der Vergangenheit.«208 In Die Nase des Michaelangelo geht es, auch darin muss einer Forschungsmeinung widersprochen werden,209 um die Reflexion über die eigene Position als Künstler, um die ›Künstlerpersönlichkeit‹, die gegenüber einer »alte[n], verstaubte[n] und steril gewordnene[n] Kunst und ihren Betrieb«

205

Ball, »Der Künstler und die Zeitkrankheit«, 117.

206

S. dazu umgekehrt Faul, »Nachwort« [zu: H. Ball, Dramen], 306: »Die praktische Umsetzung von Balls Forderungen kann allerdings nicht mit der Theorie Schritt halten: In seinem eigenen literarischen Schaffen hat Ball kaum etwas davon realisiert [...].«

207

Ball, Die Flucht aus der Zeit, 92.

208

Ders., »Die Nase des Michelangelo«, 105.

209

Formuliert wiederum in Faul, »Nachwort« [zu H. Ball, Dramen], 318.

1.3 I NNERLICHKEIT UND P SYCHOLOGIE

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ansteht, um durch »das Zerstören des Herkömmlichen, der Konvention, [...] Raum zu schaffen für eine neue Kunsttätigkeit«.210 Bevor auf diejenige Lesart von Balls Drama näher eingegangen werden soll, die für die Ästhetik der Provokation interessiert, ist darauf hinzuweisen, dass dieser darin damit ebenfalls die Denkfigur wie die Denkstrategie des Kynismus bzw. besser: eines ›Protokynismus‹211 inszeniert. In Die Nase des Michelangelo sieht sich der Titelheld Michelangelo nach langen Jahren künstlerischen Tuns und Ruhms seinem einstigen Rivalen Torrigiano gegenüber, der ihm als Jugendlicher die Nase eingeschlagen hatte. Michaelangelo ›leidet‹ wiederum auch als erwachsener Mann unter dem Vorfall. Er klagt: [...] Der mir diese Nase einst zum Klumpen schlug. Ihr könnt Die Narbe des entstellten Gliedes heut noch sehn, Doch zu verächtlich ist mir solche Huldigung, Ein Zeichen aus Barbarenland?212

Der aggressive Akt erläutert die Enttäuschung über den Verlust der Anerkennung als Künstler, indem er gegenüber dem Prozess rein künstlerischer Auseinandersetzung dem Exzess impulsiver Gewalt den Vorzug gibt. Die Folge dieser Gewalt ist dabei enorm; Torrigiano wird aus der Gemeinschaft von Kunst und auch Gesellschaft ausgeschlossen; er wird zum Geächteten und in Tradition des ›alten‹ römischen Rechts in Bann gesetzt: Da ist ein Mann, der nur ein Nasenbein zerschlug, Der dafür in den Tod gehöhnt wird und der doch, Ihr selber sagts, berufen war, gekrönt zu werden. Ein Mann, der als ein Knabe einen Knaben schlug Im Hain des Medici Magnificio, weil er Den Spott auf eine Kunst nicht länger duldete, Die schlechter war als Eure, doch auch fleißiger, Und der dafür wie an das Scheunentor der Kauz, An Eures Ruhmes Wand genagelt werden soll.213

210

Oberholzer, Das Michelangelo-Bild in der deutschen Literatur, 86.

211

Vgl. Niehues-Pröbsting, Der Kynismus des Diogenes und der Begriff des Zynismus,

212

Ball, »Die Nase des Michelangelo«, 107.

213

Ebd.

12.

146 | 1. Z UR Ä STHETIK KRITISCHER K OLLISSION

Die Erläuterung der Figur des In-Bann-Setzens, die Ball am Beispiel von Torrigiano demonstriert und mit der Diskussion um Künstlerschaft kurzschließt, gibt aufschlussreiche Hinweise für die Provokationsästhetik wie für das (hier früh in Szene gesetzte) Programm einer Läuterungsfunktion der Kunst durch Mechanismen der Ausschließung; deren nähere Betrachtung erlaubt mithin ebenfalls ein näheres Verständnis von Balls Drama. Dazu ist es zunächst notwendig, Begriff und Schema der ›Ausnahme‹ einer kurzen Klärung zu unterziehen, d.h. jene ›Ausnahmebeziehung‹ zu beschreiben, durch die – so zumindest Giorgio Agamben in einem bekannten Theorem – der oder das Ausschließende Bezug zum Ausgeschlossenen nimmt, der insofern eingeschlossen vermöge und durch sein Ausgeschlossensein ist, mithin den nicht unstrittigen Begriff der »einschließenden Ausschließung«214 im Sinne Agambens zumindest ansatzweise zu skizzieren, um damit Balls Drama zu lesen.215 Der Begriff ›einschließende Ausschließung‹ steht im Zusammenhang mit demjenigen der ›Logik der Ausnahme‹, die Agambens politische Grundbegriffe (Souveränität, Ausnahmezustand, Biopolitik, Lager)216 erklären soll; sie bildet eine Paradoxie: Durch die »Logik der Ausnahme« versucht Agamben, mit dem Problem der Paradoxie produktiv umzugehen. Die Ausnahme bezeichnet er als eine Beziehungsform. Es ist von einer Ausnahmebeziehung die Rede. Die Ausnahmebeziehung ist die äußerste Form der Beziehung, in der das Ausgeschlossene durch sein Ausgeschlossensein eingeschlossen wird. Die Ausnahme ist mehr als nur »ausgeschlossen«. Agamben versteht sie im lateini-

214

Agamben, Homo sacer, 31. Auch mit Bezug auf andere Lektüren literarischer Texte ist Agambens Theorie gerade aufgrund des ihrerseits immanenten provokativen Gehalts Gewinn bringend. S. dazu etwa Bergengruen/Borgards, »Bann der Gewalt«; dies. (Hg.), Bann der Gewalt. Zur kulturwissenschaftlichen Relevanz Agambens siehe u.a. auch Mein, »Giorgio Agamben«. Zur Diskussion Agambens s. etwa Kiesow, »Ius Sacrum: Girgio Agamben und das nackte Recht«; Sarasin, »Agamben – oder doch Foucault?«; Staff, »Niemandsland«.

215

Zu einem Zusammenhang zwischen Balls und Agambens Denken insbesondere mit Blick auf die Figur des homo sacer s. ansatzweise auch Hoff, »Bürger, Künstler, Exorzisten«, 57. S. zu den folgenden Überlegungen Verf., »›Mechanism[en] der Ausnahme«, sowie ders., »Abseits der Norm«.

216

S. dazu u.a. auch Schwarte (Hg.), Auszug aus dem Lager. S. außerdem auch Lemke, »Rechtssubjekt oder Biomasse?«. Vgl. auch Nikolopoulou, »Towards an Archeology of Biopolitics«.

1.3 I NNERLICHKEIT UND P SYCHOLOGIE

| 147

schen Wortsinn excaptum- excapere, herausgenommen. Die Ausnahme zeigt sich als »einschließende Ausschließung« [...].217

Agambens Versuche zum Phänomen der Ausnahme aus seiner »Homo-SacerSerie«218 bzw. aus seinem »Homo-Sacer-Projekt«219 konstituieren nun eine Art Narrativ, als dessen »Protagonist« jener »homo sacer« erscheint, ein ›Protagonist‹, »der getötet werden kann, aber nicht geopfert werden darf«, eine, wie Agamben ausführt, »obskure Figur des archaischen römischen Rechts, in der das menschliche Leben einzig in der Form ihrer Ausschließung in die Ordnung eingeschlossen wird«.220 Eine herausragende Stellung nimmt darin ein weiteres Paradox ein, d.h. dasjenige der Souveränität, das sich darin ausdrücke, dass der Souverän zugleich außerhalb und innerhalb der Rechtsordnung stehe.221 Den Befund dieser Position fasst Agamben als »Struktur der Ausnahme«222 auf und versucht, jene mit Carl Schmitt zu fundieren. Schmitt führt in einer längeren Passage in seiner Politischen Theologie aus: Die Ausnahme ist das nicht Subsumierbare; sie entzieht sich der generellen Fassung, aber gleichzeitig offenbart sie ein spezifisch-juristisches Formelement, die Dezision, in absoluter Reinheit. In seiner absoluten Reinheit ist der Ausnahmefall dann eingetreten, wenn erst die Situation geschaffen werden muß, in der Rechtssätze gelten können. Jede generelle Norm verlangt eine normale Gestaltung der Lebensverhältnisse, auf welche sie tatbestandsmäßig Anwendung finden soll und die sie ihrer normativen Regelung unterwirft. Die Norm braucht ein homogenes Medium. Diese faktische Normalität ist nicht bloß eine ›äußere Voraussetzung‹, die der Jurist ignorieren kann; sie gehört vielmehr zu ihrer immanenten Geltung. Es gibt keine Norm, die auf ein Chaos anwendbar wäre. Die Ordnung muß hergestellt sein, damit die Rechtsordnung einen Sinn hat. Es muß eine normale Situation geschaffen werden, und souverän ist derjenige, der definitiv darüber entscheidet, ob dieser normale Zustand tatsächlich herrscht. Alles Recht ist ›Situationsrecht‹. Der Souverän schafft und garantiert die Situation als Ganzes in ihrer Totalität. Er hat das Monopol dieser letzten Entscheidung. Darin liegt das Wesen der staatlichen Souveränität, die also richtigerweise nicht als Zwangs- oder Herrschaftsmonopol, sondern als Entscheidungsmo-

217

Madung, Politik und Gewalt, 24.

218

Geulen, Giorgio Agamben zur Einführung, 15.

219

Ebd.

220

Agamben, Homo sacer, 18f. Vgl. dazu auch Deubner-Mankowsky, »Homo sacer, das bloße Leben und das Lager«. S. auch Thomä, »Der Herrenlose«.

221

S. dazu auch Rasch, »A completely New Politics, or, Excluding the Political?«.

222

Agamben, Homo sacer, 25.

148 | 1. Z UR Ä STHETIK KRITISCHER K OLLISSION nopol juristisch zu definieren ist, wobei das Wort ›Entscheidung‹ in dem noch weiter zu entwickelnden allgemeinen Sinne gebraucht wird. Der Ausnahmefall offenbart das Wesen der staatlichen Autorität am klarsten. Hier sondert sich die Entscheidung von der Rechtsnorm, und (um es paradox zu formulieren) die Autorität beweist, dass sie, um Recht zu schaffen, nicht Recht zu haben braucht. [...] Die Ausnahme ist interessanter als der Normalfall. Das Normale beweist nichts, die Ausnahme beweist alles; sie bestätigt nicht nur die Regel, die Regel lebt überhaupt nur von der Ausnahme. [...] Ein protestantischer Theologe [d.i. Sören Kiergegaard], der bewiesen hat, welcher vitalen Interessen die theologische Reflexion auch im 19. Jahrhundert fähig sein kann, hat es gesagt: ›Die Ausnahme erklärt das Allgemeine und sich selbst.‹ Und wenn man das Allgemeine richtig studieren will, braucht man sich nur nach einer wirklichen Ausnahme umzusehen. Sie legt alles viel deutlicher an den Tag als das Allgemeine selbst. Auf die Länge wird man des ewigen Geredes vom Allgemeinen überdrüssig; es gibt Ausnahmen. Kann man sie nicht erklären, so kann man auch das Allgemeine nicht erklären. Gewöhnlich merkt man die Schwierigkeit nicht, weil man das Allgemeine nicht einmal mit Leidenschaft, sondern mit einer bequemen Oberflächlichkeit denkt. Die Ausnahme denkt das Allgemeine mit energischer Leidenschaft.223

Agamben denkt in einem Analogieschluss und durch einen nicht unproblematischen Rückgriff sowohl auf Deleuze/Guattari224 als auch auf Maurice Blanchot225 die Ausnahme als »eine Art Ausschließung«, als »Einzelfall, der aus der generellen Norm ausgeschlossen ist.« 226 Was die Ausnahme kennzeichne, sei der Umstand, dass das, was ausgeschlossen werde, nicht völlig ohne Beziehung zur Norm sei; sie bleibe im Gegenteil mit ihr in der Form der Aufhebung verbunden.227 Hier werde das, was draußen sei, nicht einfach mittels eines Verbots oder einer Internierung eingeschlossen; es sei nicht die Ausnahme, die sich der Regel entziehe, sondern es sei die Regel, die, indem sie sich aufhebt, der Ausnahme stattgebe.228 Und das Besondere der Situation, die im Zustand der Ausnahme geschaffen werde, bestehe darin, dass sie weder als faktische noch als rechtliche Situation bestimmt werden könne, sondern dazwischen eine »paradoxe Schwelle

223

Schmitt, Politische Theologie, 19-21. S. dazu auch Scholz, »Jenseits des Liberalismus«.

224

Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, 494.

225

Blanchot, L’entretien infini, 292.

226

Agamben, Homo sacer, 27.

227

Vgl. ebd.

228

Vgl. ebd., 28.

1.3 I NNERLICHKEIT UND P SYCHOLOGIE

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der Ununterscheidbarkeit«229 errichte, eine Zone »zwischen Außen und Innen, Ausschließung und Einschließung«,230 wo »Leben und Recht, Außen und Innen verschwimmen.«231 Agambens Reflexionen zur Ausnahme eröffnen eine Strategie, die, von Textlektüren ausgehend, zu diesen zurückführt, die also auch auf ästhetische Texte anwendbar ist, nicht nur, weil Agamben an vielen Stellen literarische Verweise232 zur Fundierung der ›Ausnahmebeziehung‹ anführt, jener äußersten Form der Beziehung, die »etwas einzig durch seine Ausschließung einschließt«233 und die »eine Beziehung des Banns«234 bedeutet. Die Terminologie der ›Ausnahme‹ zeigt darüber hinaus fiktionale Strategien an, Strategien, wie sie Ball in Die Nase des Michelangelo benutzt, um insbesondere den mimetischen Charakter der Kunst im Bild der zerschlagenen Künstlernase ad absurdum zu führen.235 Ein Vorwurf Michelangelos an Torrogiano zielt daher darauf ab, sich als Person nicht mehr blicken lassen zu können: Dir ward die Kunst versagt. Mir säuerte das Leben. Du warst geflohn: verflucht dreimal das Tageslicht, Der Spiegel, der mein Bild mir zeigt, der Diener und Der Freund, der sich die Türe nicht verrammeln läßt! Ich komme mit den Hunden in Konflikt, weil ich Des Nachts nur meine Hütte noch verlasse und Wie sie den hellen Mond anbelle.236

229

Ebd.

230

Ebd., 38. S. dazu auch B. Menke, »Die Zonen der Ausnahme«.

231

Agamben, Homo sacer, 39.

232

Etwa zu Hölderlin oder Pindar. Vgl. Agamben, Homo sacer, 43f.

233

Ebd., 28.

234

Ebd., 39.

235

Für Christoph Schmidt liegt Balls »wahre Aktualität« explizit im Denken einer solchen Ausnahmesituation: »[Hugo Ball] denkt das Problem der Subjektivität aus ihrer ästhetischen Ausnahmesituation, um es von hieraus in seiner radikalsten Intention auf Freiheit, und d.h. gerade auch: in ihrem Leiden zu enthüllen. [...] Freiheit als Selbstkritik ist die Einsicht in die eigene Schuld; sie muß sich die Einsicht in die eigene Schuld zutrauen, um die Freiheit ihrerseits zu befreien.« (Die Apokalypse des Subjekts, 25.)

236

Ball, »Die Nase des Michelangelo«, 109.

150 | 1. Z UR Ä STHETIK KRITISCHER K OLLISSION

Während Michelangelo bei der Konfrontation mit dem einstigen Widersacher als ›erwachsener‹ und ja berühmter Künstler (nach 30 Jahren)237 schnell erkennt, welches Un-Recht diesem widerfahren ist,238 fungiert sein ›Anhänger‹ Cellini als sein alter ego, das skeptisch bleibt gegenüber dieser Art von Begnadigung, die Michelangelo auch vor dem Souverän (vor dem Papst wie vor dem Volk) zu erwirken sucht. Nicht zufällig fordert Michelangelo, vor dem Papst zu knien und vor seiner Kunst aufrecht zu stehn.239 Vor Gericht wird Torrigiano jedoch gleichwohl mit einer Anklage konfrontiert, für die die Kunst keine unwesentliche Rolle spielt. Proklamiert der Papst zunächst Was ist doch eine Nase? Lasst uns sehn! Zwar blies Der Schöpfer uns durch die Organ die Seele ein, Und seitdem fährt der Odem auf dem Nasenweg, Wenn er die Lebensgeister füttert, aus und ein. Das zeugt fürwahr von ganz besondrer Auszeichnung. Ein Knorpel aber bleibt ein Knoten. So auch hier. Ein Sündenfall im kleinen ward es mit de Nase[,]240

benennt er Torrigianos Verbannung daraufhin als »lächerlich« und will ihn in all seinem »Mann- und Bürgerrecht« von »Staats wegen« restituieren.241 Dass dies noch nicht das endgültige Urteil sein kann, da die ›Stimme‹ des Volkes vor dem päpstlichen Souverän noch nicht Gehör gefunden hat, darauf weist Michelangelo an dieser Stelle hin: Dies Wort hat hier Niemand erwartet. Der selbst, dens zunächst angeht, War schon aufs Gegenteil gefaßt. Und ich gesteh, Daß ich’s auch fürchtete. Doch wär er nun verdammt,

237

Vgl. ebd., 124.

238

»Mensch bleibt Mensch. / Die Hand weg vom Ixionsrade! Keiner hemmts! / Das ist der Kehraus zu dem Fastnachtsstück von Leben, / In dem ich Narr sein sollt und keinen Spaß verstand! / Doch kann ich selbst den Mann nicht mehr zerschmettern, soll / Er auch von der Zelotenschar, die draußen paßt / Auf ihn, nicht abgeschlachtet werden. Nein, dann sei / Er auch befestigt wieder wie er’s war [...]. / Zu spät ists nie. Geht Same, der auf Felsen fiel, / Doch nach Jahrzehnten noch mit grünem Ausschlag auf!« (Ebd., 111)

239

Vgl. ebd., 115.

240

Ebd., 126f.

241

Ebd., 128.

1.3 I NNERLICHKEIT UND P SYCHOLOGIE

| 151

Ich hätte, eh mans ihm bestätigt, protestiert, Wie ich dagegen protestiere, daß man ihm Jetzt ohne Rücksicht auf den anhängenden Streit Den Bann erläßt, bevor Cellini hier erschien. Pietro Torrigiano hat mein Wort darauf, Daß ich mit allen Kräften für ihn wirke, doch Es stellt sich grade das als übereilt heraus, Daß ich es gab, und hatte nicht das Recht dazu, Weil er im Künstler auch das Volk beleidigte. Drum ehe Ihr dem Florentiner Euer Wort Bestätigt durch den Handschlag und durch Vorführung, Hört an, was doch die Stadt, die sich so aufgeregt Gebahrt, durch eines Mannes Mund, dem sie vertraut, Gen Torigiano vorbringt, wenn ich selbst mich für Ihn in die Schanze schlage.242

Geläutert durch diese Lektion in politischer Philosophie kommt es im Vierten Akt zum Höhepunkt des Dramas, indem eine rechtliche Verhandlung stattfindet und Cellini die Punkte der Anklage vehement vertritt: Fürs Erste hat besagter Torrigiano sich Als Rohling an dem Künstler Michelangelo Buonarotti, den der Papst aus eigenem Verkehre kennt, vergangen, und fürs Zweite hat Er ein Marienbild in Spanien geschändet. Er wird sich schwerlich unterfangen, seine Schuld Mir abzuleugnen.243

Zum Vorwurf der zerschlagenen Nase hinzu kommt der Vorwurf des Bildersturms,244 den Cellini unter Zeugen als »Gotteslästerung« hervobringt: »In Spanien / Hat er ein Marmorbild Mariens, an der Wand / Zerschmissen, daß die Stücke sprühten, und verrucht / Die Stücke noch zu Staub zertreten«.245 Demgegenüber erklärt Torrigiano, der die Tat eingesteht, die Kunstwerkzerstörung als Ausdruck seiner ›verletzten‹ Künstlerehre: »Es bedarf der Zeugen nicht ! / Ich habs getan, doch wars mein eigen Werk. Man bot / Mir einen Schandpreis, weil

242

Ebd.

243

Ebd., 136.

244

Zum Kontext des Bildersturm im Hinblick auf avantgardistische Praktiken s. Schröer, »L’art est mort«.

245

Ball, »Die Nase des Michelangelo«, 137.

152 | 1. Z UR Ä STHETIK KRITISCHER K OLLISSION

ich Flüchtling war, und ich / Zerschlugs.«246 Die Frage, die Ball hier zur Diskussion stellt, ist die Frage nach dem Wert künstlerischer Leistung – der ›Schandpreis‹ wäre somit wiederum Ausdruck des Verlusts des ›Kontakts‹ zwischen Künstler und Gesellschaft – und der dem Kunstwerk in seiner Abbildfunktion womöglich inne wohnenden ›göttlichen‹ Konnotierung. Während Michelangelo Torrigiano zustimmt (»Ich kanns bestätigen. Auch hätt ich’s selbst / Getan«), fragt der Papst nach der Bewertung der Tat als »Ketzerei«.247 Cellini stellt mithin auch den ersten Vorwurf, die Zerschlagung von Michelangelos Nasenbein, in den Zusammenhang einer Gotteslästerung: Der Papst ist, denke ich Der Stellvertreter Gottes; sein Gesetz die Kirche, Die Sitte uns und Recht bedeutet, Ordnung und Vernunft. [...] Wer leugnet, daß eine Kunst, die längst Der Papst in seinen Dienst gestellt hat, unfehlbar Auch dessen würdig war, somit ihr Schöpfer aber Als eine heilige Person dastand?248

Ist der Künstler – sei er ein Knabe, mithin noch nicht künstlerisch ›erwachsen‹, d.h. qua Geburt, qua Begabung und damit als ›Genie‹ heilig? Ist daher jede ›Tat‹ gegen die ›Person‹ des Künstlers ein Aufbegehren gegen göttliche Ordnung? Und wird jeder, der gegen diese Ordnung durch die Tat gegen den Künstler von deren weltlicher Entsprechung, der Gesellschaft, ausgeschlossen und also aus dieser verbannt? Ja, verdient in dieser Logik der derart beschuldigte Täter den Tod? Balls Torrigiano befindet sich wie Agambens Homo sacer in einem Zustand der Ausnahme, auf einer Schwelle der Ununterscheidbarkeit zwischen Außen und Innen; Leben und Recht verschwimmen in Balls Drama in aller Undeutlichkeit: Am Ende erweist sich der Papst als scheiternder Souverän, als Richter der Unentschiedenheit; er ist nicht in der Lage, ein Urteil zu fällen, er verweist auf eine höhere Instanz und überlässt dem Angeklagten selbst, über sich zu urteilen. Die Ordnung bricht in dem Moment zusammen, in dem die Ausnahme in Gestalt Torrigianos wieder in sie zurück drängt, ihre (rechtlichen, religiösen, künstlerischen) Säulen gleichsam zum Wanken bringt, indem das Gericht nicht mehr zu urteilen vermag. In eben diesem brüchigen und letztendlich gebroche-

246

Ebd.

247

Ebd.

248

Ebd., 138.

1.3 I NNERLICHKEIT UND P SYCHOLOGIE

| 153

nen Kreuzpunkt »zwischen dem juridisch-institutionellen Modell und dem biopolitischen Modell der Macht«249 ist die ›Struktur der Ausnahme‹ angesiedelt, die Ball hier dramatisiert. Von diesen Geschehnissen bestürzt, kann der Künstler Torrigiano, der »hat gebüßt / Wie keiner noch für einen Knabenstreich«,250 nichts anderes mehr tun, als in einem einzigen Augenblick zu ›erkranken‹. Daher ruft er aus: »Der Gipfel der Verrücktheit ist erreicht! Die Welt / Bricht auseinander. Schlagt sie ganz ins Nichts hinein!«251 Seine Konsequenz ist endgültig; der Künstler stirbt am Ende des Dramas durch seine eigene Hand: »Torrigiano fällt, während er sich durchsticht, mit einem Knäul von Männdern zu Boden.«252 Es wird hier aber noch kein neuer ›Künstler‹ geboren, wenn auch Torrigiano als »Neuer Heiliger«253 bezeichnet wird – dies hat Ball später theoretisch und auch literarisch exemplifiziert. Die für expressionistische Dramen typische Opfertat Torrigianos hat noch keine Folgen, »es wird von den Beteiligten nicht als solches erkannt, seine gesellschaftliche Relevanz bleibt hinter der individuellen Tat verborgen.«254 Geprägt von frühexpressionistischer Poetik formuliert Ball hier die Überwindung

249

Agamben, Homo sacer, 16. Zum Zusammenhang von Biopolitik und Ästhetik s. auch Draxler, Gefährliche Substanzen, 157f.: »Am Beispiel des Kunstbegriffs lässt sich gut zeigen, wie die Idee einer substanziellen Kunst selbst als Effekt der diskursive und institutionellen Neustrukturierung der Kunstfelder im 18. Jahrhundert entstanden und bis heute fest darin verankert ist. Es ist also nicht so sehr die in diesem Ideal verkörperte Vorstellung des unmittelbaren Produktiv-Werdens als eine Schöpfung, als etwas grundlegend Neues, Modernes, Lebendiges, Authentisches oder Originelles, die ihre historische Wirkmächtigkeit ausmacht, als vielmehr gerade der Widerspruch von begrifflichem Ideal und struktureller Wirklichkeit. [...] Autonomie und Avantgarde entfalten aus einer solchen, biopolitisch inspirierten Sichtweise dasselbe Paradiga, eine Art von bioästhetischem Impuls, der letztlich nur auf Basis des selbstgenerativ-substanziellen Verständnisses von Kunst denkbar ist. [...] Das Problem dieses Impulses liegt nicht nur in der Unerreichbarkeit seines Anspruchs, mit anderen Worten in der prinzipiellen Verfangenheit in Repräsentation, sondern ebenso im unbezweifelbaren Überleben des akten, mimetischen, handwerklichen oder arbeitsteiligen Kunstbegriffs im Realismus, im Design und den anderen Künsten der Produktion.«

250

Ball, »Die Nase des Michelangelo«, 140.

251

Ebd., 144.

252

Ebd.

253

Ebd., 142.

254

Faul, »Nachwort« [zu: H. Ball, Dramen], 319.

154 | 1. Z UR Ä STHETIK KRITISCHER K OLLISSION

des Alten, ›Zuständlichen‹, und noch nicht die Etablierung des Neuen,255 die eine Ästhetik der Provokation forciert. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass auch Balls Drama Der Henker von Brescia, das, wie die Forschung nachgewiesen hat, auf Karl Strobls historischem Roman Das Frauenhaus von Brescia als literarischer Vorlage beruht,256 als messianisches Erlösungsdrama gelesen worden ist, in dem die Figur des Henkers als Typus des ›Neuen Menschen‹,257 der sein Leben für eine bessere Welt hergibt, in Erscheinung tritt.258 Da diese Interpretation jedoch nur auf den ersten Akt des Dramas zurück greifen konnte, während die ihr unbekannten Akte einen anderen Dramenverlauf schildern und daher diese Deutung venachlässigbar machen,259 soll dieser Kontext hier nur im Hinblick auf dessen vitalistischen ›Charakter‹ angeführt werden. Das Drama erzählt von der Belagerung Brescias durch Truppen Heinrichs VII., bei der dessen Frau Margarete von den Verteidigern der Stadt gefangen genommen und zusammen mit ihren Hofdamen in ein Bordell gebracht wird, wo sie nach dem Wissen des Stadthauptmanns Barbianos den Männern von Brescia als Hure zur Verfügung stehen soll; da Margarete aber zuvor die Kleidung mit ihrer Zofe Roswitha getauscht hatte, ist diese nun als vermeintliche Königin den Demütigungen durch den Henker von Brescia, der gleichzeitig dem Bordell vorsteht, ausgesetzt.260 Dabei interessiert sich Ball weniger für den Fortgang der Geschichte, als vielmehr für die »drastische, bilderreiche Sprache«; teilweise »artet sie in einen regelrechten lyrischen Reihungsstil expressionistischer Prägung aus«, etwa, so Eckhard Faul, bei bei der Erlösungsvision des Henkers, die sprachlich sehr an Balls Gedicht Versuchug des heiligen Antonius bzw. an seinen damit »verwandten« Bericht über seine Reise nach Dresden erinnere.261 Heißt es im Drama Barbara, sieh, deine Haut ist ein Madensack ! Wanzen und Flöhe nagen sich fest daran, endloses Ungeziefer, endloser Schmutz. Die Haut juckt uns und ist rot gefleckt. Wir liegen am Boden, und bluten und spucken. Wir schreien im Kot und duften nach Vieh. Aber der Schleier verpufft. Eine Decke hebt sich. Ein Blick tut sich auf. Grüne Gezelte und Wände,

255

Vgl. ebd., 310.

256

Dazu ausführlich Schaub, »›Der Henker von Brescia‹«. S. dazu außerdem ausführlich Pelgen, »Der Henker von Brescia von Hugo Ball«.

257

S. dazu auch Koch, »Ein Dadaist auf der Suche nach dem ›neuen‹ Menschen«.

258

Vgl. Steinbrenner, »Flucht aus der Zeit«?, 55-60.

259

Dazu näher Faul, »Nachwort« [zu: H. Ball, Dramen], 310, 320f.

260

Vgl. ebd., 320.

261

Faul, »Nachwort« [zu H. Ball, Dramen], 322.

1.3 I NNERLICHKEIT UND P SYCHOLOGIE

| 155

die ins Unendliche steigen. Glütige Vögel sitzen auf elfenbeinernen Simsen und fahren einher mit langen Schnäbeln und schreien Liedern. Silberne Tore klingen in ihren Angeln. Regenbögen auf Nachtgewölk. Fanfaren aus Gold und Scharlachfahnen und Bruderschrei. Die Engel schauen weit vorgebeugt aus den Fenstern heraus. Die Straßen wanken und die Paläste der Seligkeit dröhnen[,]262

heißt es im Gedicht: Wände schief, Häuser schief. Stechfliegenschwärme sausen und funkeln durchs Zimmer. Wände haben die Blattern bekommen und bröckeln ab. Ärzte mit hohen Kappen gehen um und verkleben die Krankheit mit Pflastern. Acht Ellen hoch steht an der Türe des Pestphantom mit der Klapper. Ich hole zum Schlag aus. Hilfe! Es weicht nicht. Eine gelbe Wolke. Zeter und Mordio. Irrsinn. Irrsinn! Fliegende Scharlachstädte. Grüne Oasen. Leuchtfäden. Schwarze ratternde Sonnen. Der Boden wankt. Eine grüne Decke stürzt ein. »Da ist er !« Sie knebeln mich, Negerfratzen, das Knie auf meinem Bauchfell. Menschenkörper, knapp über dem Boden, flüchten und schnellen Nackt und energisch mit zuckemder Schlangenbewegung die Korridore entlang. Ein Zischen von hunderttausend Dampfsirenen schreit aus den Hafenstädten. Kerle mit Bambusstangen über- und durcheinander auf Plätzen und Türmen. Gerenne, Gestampfe. Luft eitert. Licht zerplatzt. Fixsterne in Kasernen verirrt.263

Und in Die Reise nach Dresden schreibt Ball: Dresden selbst: Gelbe Blätter, ganze Kanarienvogelschwärme, fliegen durch die Luft. Blaue Herbstsonne explodierend. Gelbe, rote, grüne Parkanlagen in Frost gepackt. Ein Zeltlager von Messbuden und Jahrmarktsplunder. Ein Geknatter grünroter Fahnen im Munizipalviertel: Jahrhundertfeier der Befreiungskriege. Abgesprungene Hosenknöpfe in der Eleketrischen (o Lebenslust du Daseinsfreude!) Im Café de Paris spielen sie »Wer will unter die Soldaten?« (o Sachsenvolk, Knopfmacher und Lebkuchenhändler!). Grazilbarock steigt das Antlitz der Stadt schwarz und phantastisch mit Türmen, Glocken und Brücken in den mondstrahlenen Abendhimmel.264

262

Ball, »Der Henker von Brescia«, 158.

263

Ders., »Versuchung des Heiligen Antonius«, 33. S. dazu u.a. auch Wenzel White, The Magic Bishop, 36-39.

264

Ball, »Die Reise nach Dresden«, 11.

156 | 1. Z UR Ä STHETIK KRITISCHER K OLLISSION

Sind die provokativen Implikationen aufgrund der sexuellen ›Aufladung‹ des Dramas offensichtlich, ist die wie schon im Phantastenroman erzählerisch inszenierte, apokalyptische, von ekstatischer Gewalt geprägte Vision des Gedichts leicht zu identifizieren. Der Text über Dresden biete dabei gleichsam als Scharnier zwischen allen drei literarischen Varianten eine Deutungsperspektive an, die die den jeweiligen Szenarien eingeschriebene Provokation in ästhetischer Erfahrung konzentriert. Davon zeugen nicht nur die dem literarischen Blick auf Dresden zugewiesene Farb-Metaphorik, sondern auch die konkrete Erfahrung in der Konfrontation mit künstlerischer Produktion, genauer: mit avantgardistischer Kunst. Ball schreibt: Im Richterschen Kunstsalon haben ein paar Futuristen ausgestellt: Umberto Boccioni, Carlo D., Carra, Luigi Russolo, Gino Severini. Wenige Bilder in kleinem Raum. Explosionen, Erdbeben, Anarchistenschlacht, Wahnsinn, tellurische Mystik. Wo Häuser gemalt werden, stürzen sie über- und durcheinander, schießen sie senkrecht in den Abgrund. Wo der Auswurf der roten Lyriker seinen Janitscharentumult gegen »Wohlstand« und Schlendrian richtet (wie in Russolos »Revolution«) oder eine Kavallerieattacke über Anarchisten hinwegtobt (wie in Carras »Beerdigung des Anarchisten Galli«), sausen, brennen und schwirren Kraftlinien durch das Bild, die das Gehirn anspringen, die das Blut aufpeitschen zu Fisteltönen. Man versteht diese Bilder nicht. Gott sei Dank! Alles wollen sie verstehen; um es loszuwerden. Diese Bilder zwingen das absolut Verrückte in Erscheinung. Man schreit vor Angst und Entsetzen. Diese Bilder sind das Innerste, Erschütterndste, Grandioseste, Unfaßbare, das seit Menschengedenken gemacht worden ist. Daß sie zu Dutzenden zugleich auftreten, ist das erstaunlichste, fürchterlichste Phänomen, das sich denken läßt. Diese (Bilder) in ihrer losbrechenden ungeheuren Dynamik, ihrer Kraftstrahlenherrlichkeit, ihrer geheimen elektrischen Vibration und Radioaktivität verkünden die Revolution der Unterminierung, der ekstatischen Krankheit, die sich nach Ausbruch sehnt; die Nervenfächer und Rhythmusfelder des Todes, des Lichts, der Dynamos und der Uratome. Eingefangene psychische Telefunken zetern, schreien und kreisen in zinnobergrünem Getöse. Bewegung der Spermatozoen alles Seins ist festgehalten. Urkraft effulguriert in singenden Linien. Aktiv gewordene zerfetzte Körper tanzen, Lichtgranaten in platzender Wut, Sinfonien und Schwaden von Blut und Gold. Schwangere Himmel und ejakulierte Fixsterne. Rotglühende Männer und aufbrüllende Sklaven, Wahnsinn und Umsturz: atemberaubende heulende Dinge, die kommen werden, die kommen werden.265

In dieser Passage sind zentrale Anhaltspunkte ästhetischer Provokation nach Ball genannt (etwa Innerlichkeit, Erschütterung, Revolution, Ekstase, Krankheit,

265

Ebd., 12f.

1.3 I NNERLICHKEIT UND P SYCHOLOGIE

| 157

Anarchismus, Psychologie, Aktion, Wahnsinn, Umsturz etc.); die Passage, die sich auf Balls ›Eindrücke‹ des Futurismus konzentriert, steht zugleich in engem Zusammenhang zu Der Henker von Brescia, der ganz im Zeichen verschiedener Kunst-Ismen des eingehenden 20. Jahrhunderts, aber auch voran gegangener Kunst-›Bewegungen‹ steht. Dabei gehen etwa die wesentlichen Komponenten des literarischen Vitalismus, Sexualität und Gewalt, in Balls Stück eine »bemerkenswerte Verbindung ein«;266 sein Drama wirkt sowohl neuromantisch wie frühexpressionistisch;267 Jugendstilelemente wie auch die Thematisierung »ekstatischer Religiosität mit einem zu Hysterie neigenden Erotismus«268 sind feststellbar. Dass insbesondere die Farbe Rot bzw. mithin das Motiv des Bluts von Ball im Stück exponiert werden, unterstützen die These einer vitalistischen Lesart, aber auch die von mir hier vorgenommene Handhabbarmachung des Dramas zum Nachweis der Provokationsästhetik im Zeichen von psychologischer Therapie in Balls Literatur: »Die vitalistischen Tendenzen, die der Henker in seiner zerstörerischen Funktion bereits per se verkörpert, verstärkt Ball durch dessen extreme Religiosität, dessen brennenden Wunschen nach Erlösung, der ekstatische Züge trägt.«269 So wirkt der Henker am Schluss des Dramas »wie ein Irrer.«270 Zur Erklärung dieser ›Irrsinnigkeit‹ ist es naheliegend, noch einmal durch Balls ›Brille‹ einen Blick auf den Künstlertherapeuten sowie die therapeutische Ästhetik zu werfen. Ball stört sich an jenen »Theorien der Künstler und Ästheten«, die von Intuition und Inspiration sprechen und doch die Frage unterlassen, »wer oder was inspiriert und in welche Gebiete des Lebens ihre Intuition reicht, welch andere Gebiete ihrem Formgewissen aber verschlossen bleiben.«271 Es ist die die ästhetische Provokation hervorbringende Kritik in ihrem Bewertungsbemühen des künstlerischen Gestaltungsvermögens, welche die therapeutische Ästhetik leitet. Deren Ziel besteht in der Wiederherstellung der gestörten Harmonie und Freiheit, der schönen Gestalt vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Verhältnisse.272 »Der Künstler hat die Norm der sozialen Welt zu gestalten«, so Ball, »[d]as heißt: er hat die ihm aus der untergeordneten Sphäre entgegenkom-

266

Faul, »Nachwort« [zu: H. Ball, Dramen], 324.

267

Vgl. Schmähling, »Hugo Ball und der Expressionismus«, 21.

268

Faul, »Nachwort« [zu: H. Ball, Dramen], 326. S. dazu auch Jost, »Jugendstil und Expressionismus«, 88f.

269

Faul, »Nachwort« [zu: H. Ball, Dramen], 328.

270

Ebd.

271

Ball, »Der Künstler und die Zeitkrankheit«, 121.

272

Vgl. ebd., 126.

158 | 1. Z UR Ä STHETIK KRITISCHER K OLLISSION

menden Materien und Bilder in seinen Phantasieschatz einzutragen« und dann »mit den Mitteln seiner Phantasie und den ihm aus der übergeordneten Sphäre zuströmenden Formelementen ein neues, feineres Gebilde« aufzustellen.273 Bevor er dies tun kann, muss der ›innerste Phantasieraum‹ abgetastet und ›Grundformen der Anschauung‹ ermittelt sein. Ball formuliert eine »hierarchischstrategische Mittelstellung des Künstlers«,274 die diesem die Kompetenz zur Erzeugung einer Formqualität zuspricht; der Künstler ist ihm der »Kundige und Erbe eines alten Formwissens«,275 das er provozierend handhabt, zum Zwecke der sozialen Therapie neu zu gestalten vermag. Die Nenner der ästhetischen Therapie respektive der therapeutischen Ästhetik Balls liegen in der Auflösung letzter Einheiten, eben auch: »der Wortbedeutung im Sprachverschleiß«.276 Durch die Provokation der den Künstler krank machenden Zeit, der sich dieser in seiner selbst ausgesetzt fühlt277 und die er außerhalb seiner selbst als künstlerische ›Leistung‹ bzw. ›rein-künstlerische Form‹ realisiert, erschaffen wird ein Kunstwerk, welches die Einklammerung eines dem Künstler konstitutive Akte vollziehenden Bewusstseins auf der Seite von Kunstproduktion und -rezeption intendiert. Produktions- wie Rezeptionssubjekt sind aufgefordert, das vom Kunstwerk vorgegebene Schema im Akt der ästhetischen Therapie auszufüllen. Dabei entscheidend ist, dass es sich um das Schema des sprachlichen Kunstwerks handelt, das Ball fast zehn Jahre vor seiner im Zeitkrankheits-Aufsatz explizierten Ästhetik in gleichzeitig theoretischer wie praktischer Arbeit eigenständig künstlerisch exponiert. Macht sich Kandinsky die Arbitrarität des Zeichens zu nutze,278 die für ihn durch mehrmaliges Wiederholen einer Lautfolge Gestalt gewinnt, wenn sich ihr primärer Sinn verflüchtigt oder zumindest doch als willkürlich eingesehen wird – wenn Kandinsky somit das Wort potentiell an den ihm referierten Gegenstand

273

Ebd., 128.

274

Hillach, »›Das Wort als ein Gottwesen von unentrinnbarer Wirkung‹«, 262.

275

Ebd.

276

Ebd.

277

An anderer Stelle schreibt Ball, der »junge Literat« finde »keinen Boden und kein Publikum mehr. Irgendwie empfindet er in Lebensfragen realer, radikaler als je. [...] Irgendwie fühlt er sich ohne Schutz und Subsistenz. Er vertreibt sich die Zeit mit Psychoanalyse und neigt zur Hochstapelei. Er stänkert in 20 Berufen und zieht sich zurück, um überhaupt zu verzichten.« (»Die junge Literatur in Deutschland«, 34.)

278

Vgl. Sausurre, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft.

1.3 I NNERLICHKEIT UND P SYCHOLOGIE

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gebunden sieht, macht Ball, so auch Eckhard Philipp, mit de Sausurre ernst: Er »tauscht den Signifikanten aus, nicht aber das Signifikat.«279 Ball schreibt: Wir haben die Plastizität des Wortes jetzt bis zu einem Punkte getrieben, an dem sie schwerlich mehr überboten werden kann. Wir erreichten dies Resultat auf Kosten des logisch gebauten, verstandesmäßigen Satzes und demnach auch unter Verzicht auf ein dokumentarisches Werk (als welches nur mittels zeitraubendes Gruppierung von Sätzen in einer logisch geordneten Syntax möglich ist). Was uns bei unseren Bemühungen zustatten kam, waren zunächst die besonderen Umstände dieser Zeit, die eine Begabung von Rang weder ruhen noch reifen läßt und sie somit auf die Prüfung der Mittel verweist. Sodann aber war es der emphatische Schwung unseres Zirkels, von dessen Teilnehmern einer den andern stets durch Verschärfung der Forderungen und der Akzente zu überbieten suchte. Man mag immer lächeln: die Sprache wird uns unseren Eifer einmal danken, auch wenn ihm keine direkt sichtbare Folge beschieden sein sollte. Wir haben das Wort mit Kräften und Energien aufgeladen, die uns den evangelischen Begriffs des ›Wortes‹ (logos) als eines magischen Komplexbildes wieder entdecken ließen.280

Nach der Einsicht in die Notwendigkeit einer Prüfung der Mittel stellt Ball seinen Lautgedichten dann »einige programmatische Worte«281 voran, die den »›theoretischen Teil‹ seiner Dichtung ausmachen«:282 Man verzichte darauf, aus zweiter Hand zu dichten: nämlich Worte zu übernehmen (von Sätzen ganz zu schweigen), die man nicht funkelnagelneu für den eigenen Gebrauch erfunden habe. Man wolle den poetischen Effekt nicht länger durch Maßnahmen erzielen, die schließlich nichts weiter seien als reflektierte Eingebungen oder Arrangements verstohlen angebotener Geist-, nein Bildreichigkeiten.283

Der das Lautgedicht »bedingende Reflexionszusammenhang« ist sonach »integraler Bestandteil des Kunstwerkes«; künstlerische Theorie und künstlerische Praxis sind elementar verbunden, indem dem Rezipienten »ein Blickpunkt eingerichtet« wird,284 von dem aus er eigenständig, wie nach Kammler Wolfgang Iser sagen würde, die »divergierendem Orientierungszentren der Textperspektiven

279

Philipp, Dadaismus, 63.

280

Ball, Die Flucht aus der Zeit, 101f.

281

Ebd., 106.

282

Kammler, »Die Auflösung der Wirklichkeit«, 52.

283

Ball, Die Flucht aus der Zeit, 106.

284

Kammler, »Die Auflösung der Wirklichkeit«, 52.

160 | 1. Z UR Ä STHETIK KRITISCHER K OLLISSION

zum System der Perspektivität aufheben kann.«285 Dieser Blickpunkt ist im ästhetischen, sprachkünstlerischen Werk Balls als »›theoretischer Teil‹ angelegt, während die ›normalsprachlichen‹ Titel der Lautgedichte den Verweisungshorizont, den Imaginationsraum eröffnen«.286 Balls Versuche, »der isolierten Vokabel die Fülle einer Beschwörung, die Glut eines Gestirns zu verleihen«, was die »Preisgabe des Satzes« steigern, das Wort mehr als nur aus dem »gedankenlos und automatisch ihm zuerteilten Satzrahmen (dem Weltbilde)« heraus nehmen soll, forcieren den Wunsch, die »ausgezehrte Großstadtvokabel« mit »Licht und Luft« zu nähren, ihr »Wärme, Bewegung und ihre ursprünglich unbekümmerte Freiheit« wieder zu geben.287 Die »Dialektik von subjektiver Freiheit des schöpferischen Menschen« und der »Notwendigkeit einer künstlerischen Antwort« auf die gesellschaftlichen Fragen der krank machenden Epoche findet in der ästhetischen Provokation, wie sie Balls Lautdichtung unterstreicht, ihren »objektiven Ausdruck«:288 Die Theorien, Kandinskys z.B., immer auf den Menschen anwenden, und sich nicht in die Ästhetik abdrängen lassen. Um den Menschen geht es, nicht um die Kunst. Wenigstens nicht in erster Linie um die Kunst. Daß das Bild des Menschen in der Malerei dieser Zeit mehr und mehr verschwindet und alle Dinge nur noch in der Zersetzung vorhanden sind, das ist ein Beweis mehr, wie häßlich und abgegriffen das menschliche Antlitz, und wie verabscheuenswert jeder einzelne Gegenstand unserer Umgebung geworden ist. Der Entschluß der Poesie, aus ähnlichen Gründen die Sprache fallen zu lassen, steht nahe bevor. Das sind Dinge, die es vielleicht noch niemals gegeben hat.289

Die Ästhetik der Provokation entspricht, wie im Übrigen auch Balls Lautdichtung im Speziellen, der Verpflichtung des Künstlers auf das ›Prinzip der inneren Notwendigkeit‹ im Sinne Kandinskys, das jeglichen traditionellen Kanon künstlerischer Produktion verabschiedet, die Tradition ›bekehrt‹ hat, denn das »Wesentliche« ist für Kandinsky »die Mitteilung der Ideen und Gefühle«: Ebenso sollte man sich zum Kunstwerk stellen und sich die direkte abstrakte Wirkung des Werkes dadurch verschaffen. Dann wird mit der Zeit die Möglichkeit sich entwickeln,

285

Iser, Der Akt des Lesens, 62.

286

Kammler, »Die Auflösung der Wirklichkeit«, 52. S. dazu auch den Kommentar von Eckhard Faul in H. Ball, Gedichte.

287

Ball, Die Flucht aus der Zeit, 102.

288

Kammler, »Die Auflösung der Wirklichkeit«, 53.

289

Ebd., 84.

1.3 I NNERLICHKEIT UND P SYCHOLOGIE

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durch reine künstlerische Mittel zu sprechen, dann wird es überflüssig werden, Formen aus der äußerlichen Welt zum innerlichen Sprechen zu leihen, die uns heute die Gelegenheit geben, Form und Farbe verwendend, dieselben im innern Werte zu vermindern oder zu steigern.290

Ball schreibt: Statt der Prinzipien Symmetrien und Rhythmen einführen. Die Weltordnungen und Staatsaktionen widerlegen, indem man sie in einen Satzteil oder einen Pinselstrich verwandelt. / Die distanzierende Erfindung ist das Leben selber. Seien wir neu und erfinderisch von Grund aus. Dichten wir das Leben täglich um.291

Die den Lautgedichten vorangestellten ›programmatischen Worte‹ bilden das ›Werkzeug‹, mit dem dann die sinnlich erfahrbare ›Natur‹ des Klanggedichts vom Rezipienten bearbeitet werden kann, um eine ästhetische Erfahrungsganzheit zu konstituieren: »Das analytisch in geistig-reflexive und sinnlichwahrnehmbare Momente zu trennende autonome Kunstwerk findet seine Vollendung erst in der Einheit stiftenden, synthetisierenden Tätigkeit eines aktiv rezipierenden Bewusstseins«, »in der Verwirklichung der Autonomie eines geschichtlichen Rezipienten als Erfahrungs- und Erkenntnissubjekt.«292 Dessen Erfahrung und Erkenntnis ist für Ball gekoppelt an die aktive Tat, die sich gegen die »formalistische verkappte Entartung«293 der Zeit richtet. Zur wichtigen Frage wird deshalb, wie sich der prozessuale Vollzug ästhetischer Provokation in der künstlerischen Aktion expressis verbis verhält. Die Frage, die zu beantworten bleibt, ist, ob diese ›Aktion‹ sozusagen das letzte Wort über die ästhetischen Provokations-›Kanäle‹ bleibt; oder ob, wie es in einem anderen Zusammenhang heißt, die Ästhetik der Provokation mit der »Geste des Radikalen«294 (E. Przywara) einen Ort hat, an dem sie nur in actu existiert – als ›Lebensform‹, die eine Bühne benötigt, ein Theater, ein ›Psychologietheater‹. Für sie gilt, was Ball früh für die Bedeutung der ›Kultur‹ für Nietzsche hervorhebt,295 dass es hier die Sprache ist, die handelt, die agiert, genauer:

290

Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst, 121. S. dazu auch Kammler, »Die Auflösung der Wirklichkeit«, 53.

291

Ball, Die Flucht aus der Zeit, 86.

292

Kammler, »Die Auflösung der Wirklichkeit«, 54.

293

Ball, Die Flucht aus der Zeit, 35.

294

Przywara, »Integraler Katholizismus?«, 115.

295

Vgl. Ball, »Nietzsche in Basel«, 65f.: »Was Nietzsche nach Basel mitbrachte, war [...] ein gerade aus dem freiesten Studium der heterogensten Kunst- und Wissen-

162 | 1. Z UR Ä STHETIK KRITISCHER K OLLISSION

dass dies eine Philosophie ist, die, so Bernhard Echte, »durch ihren Autor erwiesen wird, der sie verkörpert und darstellt«: »Implicite handelt es sich um eine Geburt der Wahrheit«, welche »die Dichotomie von Theorie und Praxis« aufhebt.296 Theorie und Praxis sind dabei vor allem auch in der ›kritischen Haltung‹ nicht zu trennen und werden ununterscheidbar.297 Dies ist ein Prinzip der umgekehrten Kommunikation zwischen Künstler und Wahrnehmungsobjekt, eines Phänomens, »nach welchem der Seelenhaushalt gleichsam ein präformiertes Netz über die Dinge und Erscheinungen legt und sie dergestalt zu Abstraktionen verkümmern läßt«;298 es ist ein Prinzip, das die Dominanz der Theorie vor der künstlerischen Objektivation zeitigt. Die Theorie ist notwendiges Explikandum neben dem eigentlichen Kunstwerk; das Kunstwerk ›lebt‹ nur noch von Gnaden der Theorie.299 Die theoretischen Arbeiten sind notwendige Begleiter der künstlerischen Aktion, wobei dabei das Manifest die eigentliche ›Gattung‹ der künstlerischen Avantgarde bedeutet.300 Die Betrachtung des Begriffspaares ›Innerlichkeit‹ und ›Psychologie‹ bei Ball hat gezeigt, dass

schaftszweige hervorgegangenes Kulturwissen. Dieselbe Vielseitigkeit, dieselbe Zerfahrenheit, derselbe Dilettantismus (wie man will), die er als ein Streben nach ›Universalwissen‹ schon als Knabe bekämpfte; die ihn verhinderten, mit sich ins Klare zu kommen; die ihn zur Zwangsjacke der Philologie als nach einer bewußten Einseitigkeit greifen ließen, werden nun zur Voraussetzung dessen, was ihn in Basel erwartete: Die Kultur, als die Einheit aller künstlerischen und wissenschaftlichen Bestrebungen; die Kultur als seine Aufgabe, sein Beruf, seine Muse und Lebensbestimmung.« 296

Echte, »Hugo Ball – Ein sonderbarer Heiliger?«, 17.

297

Vgl. Lorey, »Konstituierende Kritik«, 60.

298

Philipp, Dadaismus, 78.

299

Vgl. ebd.

300

S. auch Backes-Haase, Kunst und Wirklichkeit; Asholt/Fähnders, Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde; dies. (Hg.), »Die ganze Welt ist eine Manifestation«; Malsch, Künstlermanifeste; Ehrlicher, Die Kunst der Zerstörung, 20-35. Zum methodischen Defizit der Bezeichnung des Manifests als ›Gattung‹ vgl. Berg, »Das Manifest – eine Gattung?«. S. dazu außerdem Schröer, »L’art est mort«, 127: »Schon der Ursprung der Textgattung an sich, der im politischen Raum zur Proklamation von meistens adelsherrschaftlichen Bekanntmachungen anzusiedeln ist, weist darauf hin, daß Manifeste nicht genuin künstlerischer Natur sind. Auch die Manifeste der Avantgarden sind nicht nur auf ihren schriftlich-künstlerischen Charakter zu reduzieren. Gerade der Kontext, dem sie eigentlich entsprangen, ist der der Aktion.«

1.3 I NNERLICHKEIT UND P SYCHOLOGIE

| 163

diese beiden Vollzugsweisen des ästhetischen Provokationsprozesses nur im Verhältnis des sich wechselseitig steigernden Zusammenspiels von Sprache gesehen werden können. Diese These bedarf im Folgenden einer Erläuterung, um Balls ästhetischer ›Rede‹, in der sich die Provokationsästhetik artikuliert, Ausdruck zu verleihen.

Zweiter Teil: Konkretisation der Kritik

»Das Spiel ist die erste Poesie des Menschen.« JEAN PAUL

»Der Gegensatz zu Spiel ist nicht Ernst, sondern – Wirklichkeit.« SIGMUND FREUD

1 Ästhetische Spielerfahrung

»Kritik muss in der Sprache der Artisten reden.« WALTER BENJAMIN

Die Diskussion der philosophischen, ästhetischen und literarischen Dreh- und Angelpunkte, um die herum eine Ästhetik der Provokation im vorliegenden Fokus, wie angekündigt, zu lokalisieren ist, endete in der Paarung zweier Auffassungen: Auf der einen Seite steht Kandinskys These vom ›reinen Material‹ und der ›inneren Natur‹ der Dinge, vom ›inneren Klang‹ der Worte; ihr bei Seite steht Balls These von den Therapiemöglichkeiten des durch die Zeit erkrankten Künstlers durch Aufhebung etwa der Wortbedeutungen, ihrer regelrechten Vernichtung. Beide Auffassungen haben zur Überlegung des Zusammenfalls von Theorie und Praxis der Kunst im Geiste der Provokation geführt. Ein Hinweis zur Realisierung dieses Zusammenfalls wurde dabei angedeutet. Beide Auffassungen sind motiviert in einem ästhetisch-spirituellen Konzept auf anarchistischer Grundlage (s. Kap. 3.4).1 Ball zitiert im Kandinsky-Vortrag entsprechend eine Stelle aus Der Blaue Reiter,2 in der es heißt: »Anarchie« nennen viele den gegenwärtigen Zustand der Malerei. Dasselbe Wort wird schon hier und da auch bei der Bezeichnung des gegenwärtigen Zustandes in der Musik gebraucht. Darunter versteht man fälschlich ein planloses Umwerfen und Unordnung. Die Anarchie ist Planmäßigkeit und Ordnung, welche nicht durch eine äußere und schließlich versagende Gewalt hergestellt werden, sondern durch das Gefühl des Guten geschaffen werden. Also auch hier werden Grenzen gestellt, die aber als innere bezeichnet werden

1 Vgl. Schlichting, »Nachwort« [zu: Ball, Michael Bakunin], 443. In Balls Darstellung von Kandinskys Überlegungen ist auffallend, dass dieser dessen Anarchie-Verständnis als ästhetische Anarchie in Paranthese mit einer positiv konnotierten, politischen Anarchie deutet (vgl. Berg, Avantgarde und Anarchismus, 292). 2 Vgl. Ball, »Kandinsky«, 45.

170 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK müssen und die äußeren ersetzen müssen werden. Und auch diese Grenzen werden immer erweitert, wodurch die immer zunehmende Freiheit entsteht, die ihrerseits freie Bahn schafft für die weiteren Offenbarungen.3

Die Feststellung der Herstellung von Anarchie zunächst im Innern mit intendierter Wirkung im Äußeren ist ein Motiv, das bei Ball wiederum früh festzustellen ist; es fällt u.a. auch zusammen mit dem am Ende des voran gegangenen Kapitels gegebenen Hinweis auf die Verwirklichung von theoretischer und praktischer Einheit in der ›Gattung‹ des Manifests, einer ›Gattung‹, mit der genuin provokante Kunstaktionen korrelieren. Symptomatisch hierfür ist die Schrift Ein literarisches Manifest von Hugo Ball und Richard Huelsenbeck,4 der ich hier (auch in ihrem konkreten historischen Kontext) daher etwas nähere Aufmerksamkeit schenken möchte; ich lese diese, wie jedes Manifest der Avantgarde, als theoretischen, ästhetischen und literarischen Text. Er lautet: Es soll die Presse und dem Publikum durch unser Auftreten gezeigt werden, daß es Persönlichkeiten gibt, die die Sache der »jüngsten« Literatur auch im Kriege weiterführen. Diese jüngste Literatur hat eine ganz bewußt Tendenz. Diese Tendenz: Expressionismus, Buntheit, Abenteuerlichkeit, Futurismus, Aktivität, Dummheit (gegen die Intellektualität, gegen die Bebuquins, gegen die gänzlich Arroganten). Wir wollen: Aufreizen, umwerfen, bluffen, triezen, zu Tode kitzeln, wirr, ohne Zusammenhang, Draufgänger und Negationisten sein. Unsere Sache ist die Sache der Intensität, der Nüstern, der Askese, des methodischen Fanatismus, der Flaggen und Konspirationen. Wir werden immer »gegen« sein. Wir werden die geistige Führerschaft an uns nehmen. Wir werden zu Felde ziehen gegen die Gehirnwesen, Geistlinge, Systemlinge. Gegen die Aktionierer und lyrischen Tenöre. Wir ergreifen die Partei der Bilderstürme und jeglicher Radikalen. Wir propagieren den Stoffwechsel, den Saltomortale, den Vampyrismus und alle Art Mimik. Wir sind nicht naiv genug, an den Fortschritt zu glauben. Wir haben es nur mit dem »heute« zu tun. Wir wollen sein: Mystiker des Details, Bohrlinge und Hellseher, Antikonzeptionisten und Literaturstänkerer. Wir wollen den Appetit verderben an aller Schönheit, Kultur, Poesie, an allem Geist, Geschmack, Sozialismus, Altruismus und Synonymismus. Wir gehen los gegen alle »ismen« Parteien und »Anschauungen«. Negationisten wollen wir sein.5

Die kunst- und literaturgeschichtliche Aufladung des Textes, etwa mit Bezug auf den durch Verwendung von entsprechenden Begriffen hergestellten italienischen

3 Kandinsky/Marc (Hg.), Der Blaue Reiter, 147. 4 Zur Beziehung zwischen Ball und Huelsenbeck s. ausführlich Nenzel, »Hugo Ball und Richard Huelsenbeck«. 5 Ball/Huelsenbeck, »Ein literarisches Manifest«, 116.

2.1 Ä STHETISCHE S PIELERFAHRUNG

| 171

Futurismus,6 interessiert mich an diesem hier jedoch weniger als die darin enthaltenen Implikationen ästhetischer Provokation, die die ›literarische Tendenz‹ aufzeigt, die das Manifest jener ›Gedächtnisfeier für gefallene Dichter‹ verleihen soll, aus deren Anlass es verfasst worden ist.7 Ein literarisches Mainfest hat daher auch als ›Programm‹ zum Programm Geltung, als »Metatext zum Gesamt›Text‹ der literarischen Totenfeier«, als deren »›literaturtheoretisches‹ Herzstück«.8 Der Text birgt ein »beträchtliches provokatives, unruhestiftendes Potential«;9 er birgt die Vorstellung einer »Literatur in Aktion«, in der die Idee einer »Literatur als Aktion« enthalten ist10 – eine Kunst- und Literaturtheorie, die einer ›jüngsten‹ Literatur Ausdruck verleiht, die sich in den Dienst der Provokation stellt, indem sie ›aufreizt‹, ›umwirft‹, ›blufft‹, ›triezt‹ etc. An anderer Stelle schreibt Ball über Die junge Literatur in Deutschland, dass es dort »trotz hunderttausend Büchern, Zeitschriften und Bibliotheken so etwas wie ein öffentliches geistiges Leben, das heißt unmittelbare Ausprägung dessen, was man denkt und fühlt (auf dem Podium, in der Versammlung, in der Tagespresse) noch nicht gibt«, dass »[w]ichtiger als ›Literatur‹« das »Eingreifen, das Sich-Beteiligen an der Öffentlichkeit sei«, dass »[w]ichtiger als Verse, Aufsätze, Dramen irgendwelcher Art« das »Ausprägen etwelcher Gedanken coram publico« sei, ob »im Vortragssaal, mit der Reitpeitsche oder in der Debatte«, dass man statt Gedichtbände und Romane zu veröffentlichen an Manifeste denken und »jetzt Abende auf eigene Faust unter Umgehung der Zeitschriften« veranstalten soll.11

6

Dazu ausführlich J. Kühn, »Ein deutscher Futurist«, sowie u.a. auch SchmidtBergmann, Die Anfänge der literarischen Avantgarde in Deutschland, bes. 291. Das Manifest ist zudem zu lesen als Beitrag zu Balls literarischer Auseinandersetzung mit Franz Pfemfert (s. dazu wiederum näher Verf., »Fightclub«).

7

Vgl. die Ankündigungen dieser ›Gedächtnisfeier‹ in: Tägliche Rundschau v. 10.02.1915; Berliner Börsen-Courier v. 09.02.1915; Vossische Zeitung v. 09.02.1915. S. dazu auch Nenzel, Kleinkarierte Avantgarde; Füllner, Richard Huelsenbeck, 58-74; dies., Dada Berlin in Zeitungen, 3-14; Bergius, Das Lachen Dadas, 56-59.

8

Schaub, »Dada avant la lettre«, 88.

9

Ebd., 89.

10 Ebd., 98. 11 H. Ball, »Die junge Literatur in Deutschland«, S. 32, 34.

172 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK

a) ›Rhetorische‹ Avantgarde Erläutern lässt sich das Balls/Huelsenbecks literarischem Manifest eingeschriebene Programm mit Blick auf ein Begriffspaar, das darin an mehreren Stellen hervorgehoben ist. Es wird durch folgende zwei Begriffe gebildet: Negation und ›Gegen-Sein‹.12 Die Auslegungen dieses Begriffspaares stehen zum Ersten in einem Verhältnis der Begründung: es bezieht die Auffassung der ästhetischen Provokation vom Traditionsbruch des Bestehenden auf die ästhetische Realisation, die Ball und Huelsenbeck im Selbstverständnis als ›Draufgänger und Negationisten‹, als ›Radikalisten‹ beschreiben. Die Feststellungen von Angriffszielen dieser Art ›jüngster‹ Literatur sind Abstraktionen von einem spezifischen ästhetischen Prozess; seine Stationen finden sich nicht in Juxtaposition, sondern reiben sich aneinander oder ziehen einander herbei; eines will das andere oder eines stößt das andere ab. Die in diesem Manifest konzeptuell entworfene ästhetische Provokation bildet sich in der prozessualen Verknüpfung signifikanter Elemente, die zugleich als solche Elemente erst in ihrer prozessualen Verbindung entstehen: Entscheidend ist das Potential der Übergänge zwischen diesen Elementen, denen man durch die Literatur zu folgen vermag. Ineins mit dieser Genese der prozessualen Verknüpfung ergibt sich die eigentliche Provokation, die aber mit Blick auf das Manifest hier zugleich einbehalten bleibt in eine unaufhebbare Defizienz, da dieses nicht wie ursprünglich beabsichtigt im Rahmen der Gedächtnisfeier distribuiert worden ist.13 Die eigentliche Provokation formuliert hinge-

12 Zur Idee eines ubiquitären ›Dagegen-Seins‹ s. insbes. auch Hardt/Negri, Empire. S. außerdem auch Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 715f.: »Im Dadaismus vollziehen Individuen erstmals bewußt die für alle moderne Subjektivität mustergültige Umkehrung des neuzeitlichen Ich-Welt-Verhältnisses: das kynische Individuum macht Schluß mit der Pose des in sich ruhenden Kunstschöpfers (Genie), des Weltdenkers (Philosoph), des ausholenden Unternehmers; es läßt sich vielmehr bewußt vom Gegebenen treiben. Ist das, was uns treibt, brutal, sind es auch wir. Dada blickt nicht auf einen geordneten Kosmos. Worauf es ankommt, ist Geistesgegenwart im Chaos. Sinnlos wäre inmitten des mörderischen Getümmels jede Großdenkerpose, wie sie in den geruhsam aufgeregten Lebensphilosophien der Zeit üblich war. Dada forderte vom Dasein eine absolute Gleichzeitigkeit mit den Tendenzen der eigenen Zeit – existentielle Avantgarde. Nur das Avancierteste lebt mit ihm in einer Zeitlinie: Krieg als Mobilmachung und Selbstenthemmung; fortgeschrittenste Destruktivverfahren bis in die Künste; Antipsychologie, Antibourgeoisie.« 13 Vgl. Schaub, »Dada avant la lettre«, 89f.

2.1 Ä STHETISCHE S PIELERFAHRUNG

| 173

gen ein weiterer, tatsächlich dort publik gemachter, weil vorgetragener Text, der Ein literarisches Manifest nicht nur werkgeschichtlich begleitet, sondern mithin überhaupt ermöglicht. Hugo Balls Totenrede auf Hans Leybold wurde »von einem größeren Teil der Hörer als eine Provokation, als eine Zumutung, als eine Unverschämtheit empfunden.«14 Die in Ein literarisches Manifest ausdrücklich angesprochenen Rezipienten (›Presse‹ und ›Publikum‹) machen die Provokation durch ihre Reaktion erst zu einer solchen. Es ist die, so erscheint es an dieser Stelle, offenbar unangemessene und daher schockierende Behandlung eines Gegenstandes der Rede sowie die Verhöhnung und Beschimpfung des Publikums, die die eigentliche Provokation bezeichnen.15 Nur durch den der Ordnung des Gegenstandes vollends enthobenen Zusammenhang kann Ball – prä-dadaistisch16 – eine Provokation hervorrufen. Als unangemessene gehen die Einzelmomente seiner Rede ineinander über und determinieren die Form gleichsam durch ihren Untergang. Die Frage, wie das in Ein literarisches Manifest aufgeworfene Verhältnis des Begriffspaars von Negation und ›Gegen-Sein‹ zu denken sei, um Momente ›eigentlicher‹ Provokation angemessen wiederzugeben, beantwortet sich somit eindeutig: Es muss tatsächlich so gedacht werden, dass gegen eine Vorgabe, gegen eine Tradition, gegen eine Konvention in ihren ästhetisch prozessualen Zusammenhang verstoßen wird; forciert wird die Destruktion des Tradierten in dem Versuch, die usuelle Relation zwischen ›res‹ und ›verba‹, zwischen Kunstwerk und Realität, Form und Inhalt, Symbol und Referenz aufzubrechen, die Konventionalität der Zeichenprozesse ad absurdum zu führen, um im Ergebnis eine Neubesinnung ex nihilo anzustoßen. Damit gründet die Auslegung des genannten Begriffspaares in einer Konzeptualisierung (prä-)dadaistischer Rhetorik, wie sie Gerhard Schaub aufgezeigt hat, was ich kurz referieren werde und wobei ich zeigen will, wie diese dann auch explizit ästhetisch provozierend vollzogen wird und wie deren ›Stationen‹ die Momente der Provokation bezeichnen. Dabei soll auch die weiter gefasste Bedeutung der Rhetorik für die ›Bewegungen‹ der Avantgarde zumindest schlaglichtartig skizziert werden.

14 Ebd., 75f. Vgl. dazu auch Tägliche Rundschau v. 14.02.1915: »Noch schlimmer [als die Totenrede Kurt Hillers auf Ernst Wilhelm Lotz] allerdings war der ›Nachruf‹, den Herr Ball darauf einem gefallenen Münchener Literaturen Hans Leybold widmete; er wirkte halb wie eine Verulkung des Toten, halb wie eine Verhöhnung des Publikums«. 15 Dazu auch Siepe, Der Leser des Surrealismus, 21-39. 16 Dazu insgesamt Schaub, »Dada avant la lettre«. S. außerdem Pörtner, »Dada vor Dada«, 7-15.

174 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK

Wenn aber die ästhetische Provokation mit der ihr inhärenten »kompromisslosen Ablehnung einer traditionellen Kunst« sowie der »Aufnahme und Verschärfung künstlerischer Tendenzen« jegliche Tradition,17 welcher Art auch immer, ablehnt, so auch die regulativen Prinzipien der Rhetorik. Zugleich treten mit ihrer hier deutlich werdenden Betonung des mündlichen Vortrags vor allem auch Erfordernisse der Beredsamkeit verstärkt in den Mittelpunkt, allerdings mit experimenteller, neuartiger Stoßrichtung: Die mitteilende Rede tritt zurück zu Gunsten der strategisch kalkulierten Selbstdarstellung des Sprechenden; die gewöhnliche Ordnung der Rede und deren argumentative Klarheit werden aufgebrochen, um stattdessen das Publikum in Rage zu bringen, auch zu belustigen, regelrecht zu berauschen, d.h. buchstäblich zu provozieren. Ästhetische Provokation setzt diese Art von Rhetorik ein, also etwa, so Hermann Korte, Paradoxie, Wortspiel, Ironie, Über- und Untertreibung, die große Gebärde und das große Wort, die unerwartete Pointe und de[n] plötzliche[n] Abbruch eines Gedankens, die Mischung von Stilebenen, Kaskaden von Antithesen und funkelnde Bildern, von Pathosformeln und bizarren Metaphern, de[n] abrupte[n] Wechsel von einschmeichelnden und brüskierenden, schockierenden Wendungen, nicht zuletzt auch die Vorliebe für sarkastische und zynische Ausdrucksweisen[,]18

um rhetorische inventio und dispositio gleichsam auf den Kopf zu stellen und das Schema der officia oratis durch assoziative und leidenschaftliche Redeelemente in die ästhetische Einflussnahme mit einzubeziehen. Die Rhetorik beschreibt dabei das Mittel bzw. Verfahren, das Ball in seiner Totenrede einsetzt, als jene Unangemessenheit, die rezeptiv empfunden wird, als inaptum: die ästhetische Provokation ist so ein Geschehen des gegen die zentrale rhetorische Stilqualität der Angemessenheit (aptum) verstoßenen Stilprinzips.19 Die Ästhetik der Provokation denkt diese Unangemessenheit im Gegensatz zur Manifestation des aptums in der strikten Beachtung der Kongruenzen von Stil und Autor/Sprecher, von Stil und Rezipient, von Stil und Text- bzw. Redesituation, von Stil und Stoff usw. als einen Prozess der Verletzung bzw. Missachtung all dieser Adäquationen, der in Balls Totenrede seinen Ausdruck findet.

17 Vgl. Döhl, »Dadaismus«, 729. 18 Vgl. Korte, Die Dadaisten, 48. 19 Dazu näher Plett, Einführung in die rhetorische Textanalyse, 23f.

2.1 Ä STHETISCHE S PIELERFAHRUNG

| 175

Ball missachte die Stil-Stoff-Kongruenz, indem er »den Tod (wie auch das Leben) seines Freundes Leybold auf eine gänzlich unsentimentale, unpathetische, saloppe Weise darstellt«20, wenn es heißt: Eines Tages, mitten im Krieg, stürzte er vom Pferd, vor der Stadt Namur, kam zurück nach Berlin, pflanzte einen Vollbart ins Café des Westens und begab sich in seine Garnison Itzehoe, von wo er depeschieren ließ, er sei mit dem Tode gegangen. [...] Er ging ein (literarisch gesprochen). Er verendete (literarisch gesprochen). Er starb in irgendeiner Ecke, ohne einen Laut, und ohne daß er noch jemand gesprochen hätte. [...] Er ist hin.«21

Ball missachte die Stil-Rezipient-Kongruenz, indem er »für ein vom Publikum als ›hoch‹, ›würdig‹, ›pathetisch‹ erachtetes Text- bzw. Redegenus (die Totenrede) eine niedrige Stilebene mit umgangssprachlichen, ›subkulturellen‹, neologistischen Wendungen wählt«22, wenn es heißt: Und pachte einfach drauf los. [...] Inzwischen verspritzten wir Glossen und Gedichte, nach allen Seiten. »Die Revolution« verkrachte nach 5 Nummern. [...] Leybold programmatelte. [...] Er tat furchtbar viele Frauen auf: bei ihm eine Form der Propagierung des öffentlichen Lebens.23

Hinzu komme die Verletzung eines Tabus, hier: Homosexualität in einer Torenrede anzusprechen: »Er negierte mein Gesäß. Er reizte mich maßlos. [...] Er warb um mich, vorsichtig und höflich, wie um eine schöne Frau.«24 Und Ball missachte die Stil-Textsituation-Kongruenz, indem er »für einen offiziellen, traurigen, ›pathetischen‹ Anlaß« ein »unpassendes, nicht-formelles, unkonventionelles ›Register‹ benutzt«.25 Diese intentional verwendeten Inkongruenzen bei Ball

20 Schaub, »Dada avant la lettre«, 78. 21 Ball, »Totenrede«, 28. 22 Schaub, »Dada avant la lettre«, 78. 23 Ball, »Totenrede«, 25-27. 24 Ebd., 25f. 25 Schaub, »Dada avant la lettre«, 79. Ähnlich provoziert Ball mit seinem Gedicht Der Henker, da wegen diesem die Nummer der Zeitschrift, in dem dieses erschienen ist, beschlagnahmt worden ist, und zwar »weil der Text als unzüchtig angesehen wurde«; Ball thematisiert darin den Geschlechtsakt als »abstoßende Handlung«; seine Verse »verbildlichen sexuelle Handlungen auf ungewöhnlich häßliche Weise« (Faul, »Nachwort« [zu : H. Ball, Gedichte], 298). Z.B. so: »Ich kugle Dich auf Deiner roten Decke. / Ich bin am Werk: blank wie ein Metzgermeister. / Tische und Bänke stehen wie blitzende Messer / der Syphiliszwerg stochert in Töpfen voll Gallert und Kleister«

176 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK

bringen das Begriffspaar von Negation26 und ›Gegen-Sein‹ als Verhältnis zweier Aspekte der ästhetischen Provokation zur Geltung, in dem diese als zwei Dimensionen prozessual verknüpft sind:27 sie werden zugleich produktions- und rezeptionsästhetisch (nach-)vollzogen. Balls Totenrede gibt daher deutlich zu erkennen, dass das inaptum einerseits und ein provoziertes Publikum andererseits eng zusammen gehören: Das inaptum wird ein wichtiges Mittel, um das Publikum zu provozieren; Provoziert-Sein ist die ›normale‹ Reaktion des Publikums auf die gezielte Verwendung des Unangemessenen als eines die Erwartungen der Rezipienten brüskierenden Faktors.28 Ball probiert einen weiteren Faktor derart konzipierter ästhetischer Provokation in der Schlusspassage seiner Totenrede aus: das Mittel der »direkten, aggressiven, marktschreierischen, zynischen, provokativen Ansprache des Publikums« 29. Ball fordert: Widersprechen Sie nicht! Kaufen Sie seine nachgelassenen Glossen und Gedichte, die ich herausgeben werde. [...] Gedenken Sie seiner! Haben Sie Mitleid! Seien Sie freundlich! Sie alle haben seinen Tod mitverschuldet. Alle, wie Sie auch hier unten sitzen. Möge Ihnen sein Name einfallen wenn Sie Ihre Kinder säugen. Ich habe dem nichts hinzuzufügen.30

Ball reiht sich mit der rhetorischen bzw. dann auch antirhetorischen ›Durchdringung‹ der Totenrede ein in das grundsätzlich zwiespältige Verhältnis der Avant-

(Ball, »Der Henker«, 25). Dazu ausführlich Faul, »›In irgend einer Art Revolutionär‹«. S. außerdem auch Wenzel White, The Magic Bishop, 28-34. 26 Sloterdijk spricht von einem »Verfahren der ›reflektierten Negation‹« (Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, 720). 27 »Durch all diese intentional verwendeten Inkongruenzen, die dem, was das Durchschnittspublikum von einer Totenrede und ›Gedächtnisfeier‹ erwartete, zuwiderliefen, hat Hugo Ball bestehende Konventionen zerstört, akzeptierte Spielregeln des literarischen und sozialen Lebens verletzt, die Erwartungen der Hörer enttäuscht, Widerspruch und Ablehnung herausgefordert, Unmut und Widerwillen erregt. Durch die Anwendung des Stilprinzips der Unangemessenheit, durch einen relativ einfachen, jedoch immer wieder wirksamen rhetorisch-literarischen ›Trick‹ also, ist es Ball bei der ›Gedächtnisfeier‹ gelungen, sein Publikum zu irritieren, zu provozieren und zu schockieren.« (Schaub, »Dada avant la lettre«, 80). 28 Vgl. ebd., 81. 29 Ebd. 30 Ball, »Totenrede«, 28.

2.1 Ä STHETISCHE S PIELERFAHRUNG

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garde zur rhetorischen Tradition.31 Der Verweigerungsgestus ästhetischer Provokation, ihr Protestpotential und ihre Vorliebe für die Demontage von Sinn, bezieht sich auch in rhetorischer Hinsicht auf das, was von der ›zertrümmerten‹ »Welt der Systeme«32 übrig bleibt: den »Sprachschutt zerborstener Weltbilder«33 bzw. die zu demontierende (sprachliche) Phrase. Stattdessen soll, wie es im noch näher zu betrachtenden ersten dadaistischen Manifest heißt, letztendlich »auf die konventionelle Sprache« verzichtet werden, um »eigenen Unfug, und Vokale und Konsonanten dazu, die ihm entsprechen«, zu erschaffen.34 Balls provokative Sprach-Kritik ist von der Technik des Vortrags nicht zu trennen und aufs Engste mit der Rezitations-Situation verknüpft, in der dieser zu Gehör gebracht wird. Die Beredsamkeit Balls betrifft in dieser Perspektive genuin sprachliches Partiturmaterial, die die Kombination von »Wort- und Satzfetzen« ebenso hervorhebt wie »Geräuschimitationen, rhythmische Lautfolgen, Beschreibungen akustischer Eindrücke, Handlungsfragmente unterschiedlichster Art und lockere Bildassoziationen zu einem Textarrangement, das auf Vortrag und Publikum hin angelegt« ist.35 Eine derartige ›Rede‹ soll die Zuhörerschaft – auch im ganz wörtlichen Sinne – aufreizen und, wie Huelsenbeck sagen würde, ›wachtrommeln‹; die Auflösung von Syntax und Form, der unvermittelte Abbruch von Wortfolgen und ihre Ersetzung durch undefinierbare Buchstabenreihen, vor allem aber die Provokation eines in Rage gebrachten Publikums zu erproben, sind Kennzeichen dieser Dada-Rhetorik: »Auf diese Weise wurde [diesem] vorgeführt, daß Kultur, Kunst und Geist, ja sogar das eigene Tun unsinnig sind.«36 Das Provokationsgebot der dadaistischen Rhetorik zielt jedoch »über die bloße Bühnen-›Posse ohne Bedeutung‹«37 hinaus. In Huelsenbecks Texten fehlt etwa die »ordnende«, »alles überschaubare« Rede-»Instanz« und es erscheint dadurch inhaltlich wie formal eine »zerrissene, chaotische Welt«, nicht als Erkenntnis eines sprechenden Subjekts, welches das umgebende Chaos in »eine poetische Bildersprache transformiert« (wie es z.B. im Expressionismus bei Johannes R. Becher oder Gottfried Benn der Fall ist), sondern »als provozierende Konfrontation mit jenem ›Ende der Welt‹ in einem an sein Ende gekommenen Sprechen, das nur

31 Zu den vorliegenden Überlegungen s. Verf., »Dadaismus«. 32 Ball, Die Flucht aus der Zeit, 99. 33 Korte, Die Dadaisten, 49. 34 Ball, »Das erste dadaistische Manifest«, 40. 35 Korte, Die Dadaisten, 49f. 36 Prosenc, Die Dadaisten in Zürich, 76. 37 Korte, Die Dadaisten, 51.

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mehr ›Geräusch‹ ist.«38 Modellieren expressionistische Autoren wie Alfred Lichtensein und Jakob von Hoddis noch Zeit- und Welt-Erfahrungen in der »uneinheitlichen, unzusammenhängenden Reihung von Bildern und Eindrücken«, löst sich für Ball und ›seinen‹ Dadaismus, wie sich noch zeigen wird, auch die »Kohärenz einzelner Bild- und Wahrnehmungskomplexe auf«: Der »heroische Nihilismus und die gelassene, überlegene Pose« gehören für ihn zusammen.39 Es ist die Literatur, in der die Brüche der Logik sowie die ›Dekonstruktion‹ von Sätzen und Wörtern in der provokativen ästhetischen Praxis eingeschrieben ist; sie führen zu einer geradezu meditativen sprach-kritischen Praxis: Balls poetologische Reflexionen und poetischen Experimente weisen über die Auflösung der Syntax bei Filippo Tomasso Marinetti40 und über die Versuche der ›Wortkunst‹ des ›Sturmkreises‹ hin41 auf den Impetus eines Gegenraums »zu einer Welt öffentlichen und privaten Sprechens«, das auf der einen Seite »müheloses Verstehen, Eindeutigkeit, Information, Objektivität« beansprucht und auf der anderen Seite »wie kein anderes Sprechen« »Worthülsen« und »Leerformeln« aufbietet42 – eine »öde, lahme, leere Sprache des Menschen der Gesellschaft«.43 Ball schreibt: »Und seltsam: die magisch erfüllte Vokabel beschwor und gebar einen neuen Satz, der von keinerlei konventionellem Sinn bedingt und gebunden war.«44 An anderer Stelle in Die Flucht aus der Zeit heißt es zum sprech- und sprachkritischen Hintergrund seiner ›Lautgedichte‹: Man verzichte mit dieser Art Klanggedichte in Bausch und Bogen auf die durch den Journalismus verdorbene und unmöglich gewordene Sprache. Man ziehe sich in die innerste Alchemie des Wortes zurück, man gebe auch das Wort noch preis, und bewahre so der Dichtung ihren letzten heiligsten Bezirk.45

Ein Beispiel gibt Ball selbst mit seinem bekanntesten »Imaginationsgedicht«46 Karawane.47 Die Forschung ist sich einig, das Material des Textes sei »elemen-

38 Ebd. 39 Ebd. 40 Vgl. Faul, »Nachwort« [zu: Ball, Gedichte], 307. 41 Vgl. Korte, Die Dadaisten, 53. 42 Ebd., 55. 43 Ball, Die Flucht aus der Zeit, 113. 44 Ebd., 102. 45 Ebd., 106. 46 Kemper, Vom Expressionismus zum Dadaismus, 166.

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tarer Natur«, »gleichsam geschaffen aus einfach und ursprünglich wirkenden Elementen«: Das »assoziative Potential« reiche »vom Karawanengeräusch über Elefanten-Stampfen, Treiberrufen, fremdländisch klingenden Phantasielauten«,48 Anleihen aus afrikanischen und indonesischen Sprachen,49 »Zauberritualen« bis hin zu frühchristlicher Glossolalie, »Beschwörungs- und Gebetstexten, liturgischen Formeln, Geisterbann, Sprechgesang, hypnotischer Magie, Tanzliedversen und Unsinnspoesie.«50 In ihm vollziehe sich geradezu ein Bedeutungsgeschehen, »das seinen Sinn nicht aus der fixen Bedeutung einzelner Morpheme oder Wörter bezieht, sondern das sich aus der Abfolge mehrere Lautsequenzen und ihrem Zusammenwirken innerhalb der Verse und des Gedichts ergibt.«51 Abgesehen davon zeigt Balls Karawane aber gerade auch, was für die Provokationsästhetik mitunter am Entscheidensten ist, die »Theatralisierung des Gedichts, der Arten des Vortragens und die Weisen der theatralischen Begleitumstände«52 an. Ball unterstreicht, das laute Rezitieren sei ihm »zum Prüfstein der Güte eines Gedichtes geworden«53 und erklärt, wie die (pseudo-religiöse) Rezitationsweise von Lautgedichten auch die ausschließlich destruktive Negation überwinden kann:

47 Ball, »Der Zug der Elefanten«, 68. Zur Deutung von Balls Lautgedichten s. u.a. auch Wenzel White, The Magic Bishop, 103-120. 48 Korte, Die Dadaisten, 53. 49 Vgl. Middleton, »The Rise of Primitivism and its Relevance to the Poetry of Expressionism and Dada«, 199; Faul, »Nachwort« [zu H.B., Gedichte], bes. 311: »[E]ine ganze Anzahl von Suaheli-Worten [ist] in den Gedichten vorhanden [...], würde man andere afrikanische Sprachen und Dialekte hinzunehmen, kämen zweifellos weitere hinzu. An einer Stelle zeigt sich auch, daß dies nicht nur Zufall ist: Balls ›Totenklage‹ beginnt ausgerechnet mit dem Wort ›ombula‹ – in Suaheli bedeutet ›omboleza‹ beweinen, betrauern, beklagen, jammern. Diese Übereinstimmung kann nur aus der Kenntnis des Originalwortes erfolgt sein, Ball muß also zumindest Berührungen mit afrikanischen Sprachen gehabt haben. Auf die naheliegendste Verbindung weist er in seinem Tagebuch selbst hin: Jan Ephraim, der Wirt des Cabaret Voltaire, der offenbar viele Jahre in Afrika gelebt hatte, nahm an den Veranstaltungen der Dadaisten regen Anteil.« 50 Korte, Die Dadaisten, 55. 51 Kemper, Vom Expressionismus zum Dadaismus, 165. S. demgegenüber auch B. Allemann, »Gibt es abstrakte Dichtung?«, 170: »Was man das akustische Material der Sprache nennen kann, tritt hier in sein Eigenrecht, unabhängig von den Bedeutungen, die verleugnet und vertuscht werden.« 52 Vgl. Bohle, Theatralische Lyrik und lyrisches Theater im Dadaismus, 141. 53 Ball, Die Flucht aus der Zeit, 83.

180 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK Ich hatte mir dazu ein Kostüm konstruiert. Meine Beine standen in einem Säulengrund aus blauglänzendem Karton, der mir schlank bis zur Hüfte reichte, so daß ich bis dahin wie ein Obelisk aussah. Darüber trug ich einen riesigen, aus Pappe geschnittenen Mantelkragen, der innen mit Scharlach und außen mit Gold beklebt, am Halse derart zusammengehalten war, daß ich ihn durch ein Heben und Senken der Ellbogen flügelartig bewegen konnte. [...] Da bemerkte ich, daß meine Stimme, der kein anderer Weg mehr blieb, die uralte Kadenz der priesterlichen Lamentation annahm, jenen Stil des Meßgesangs, wie er durch die katholische Kirche des Morgen- und Abendlandes wehklagt.54

Die Diskursform, in der dieser Vortrag möglich ist, bleibt dabei die Literatur; die rezitativ vorgetragenen Lautgedichte sind immer noch Gedichte, d.h. Literatur. Die von Ball geschilderte Szene ist so zu verstehen als eine ästhetische Anordnung, die dazu dient, ein neu geschaffenes literarisches Phänomen zu demonstrieren wie zu erproben und erstmalig zu bestimmen. Diese Konstellation ist für den Status und die Funktion der Literatur nicht ohne Folgen: Die Literatur wird als ›Rede‹ von ihrer auf einem materiellen Träger wie z.B. des Papiers abgehoben und dadurch selbst geradezu immateriell, d.h. sie verschreibt sich nicht der Nachahmung etablierten literarischen Schreibens, sondern wiederum dem Entwurf eines Neuen, indem sie als Laute gesprochen wird. Die Literatur wird zu einem explorativen Medium, das poetologische und dann auch ästhetische Artikulationen nicht nur erneuert, radikalisiert, sondern diese auch epistemologisch verschiebt. Gleichzeitig demonstriert Balls Karawane in ihrem späteren dennoch gedruckten, speziellen, typographisch die enthaltenen Lautfolgen nachempfindenden, drucktechnischen Erscheinungsbild55 zudem die graphische Dimension des literarischen Dadaismus, was in provokativer Hinsicht verdeutlicht, wie sehr nicht nur die sprachlichen Lautfolgen, sondern auch die rezeptiv erwartete Schrift-›Gestalt‹ zum Zweck der Provokation verändert bzw. gestaltet wird – eine Idee, auf die etwa auch Raoul Hausmann mit seinen Plakatgedichten produktiv reagiert hat, für deren Realisation der Schrift-Setzer dem Künstler zur Seite tritt, indem er die Texte »aus dem Kasten der großen hölzernen Buchstaben für Plakate nach Laune und Zufall« zusammen setzt: »Ein kleines f zuerst, dann ein m, dann ein s, ein b, eh, was nun? Na, ein w und ein t und so weiter und so weiter, eine große écriture automatique mit Fragezeichen, Ausrufezeichen und selbst

54 Ebd., 105f. 55 Dazu näher Kemper, Vom Expressionismus zum Dadaismus, 166f.

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einer Anzeigehand dazwischen!«56 Hausmanns Plakatgedichte wie fmsbw oder OFFEA »befreien« so das phonetische Gedicht »aus dem Käfig des Buches«.57 Sind bereits so Prinzipien des Zufalls konstitutiv für ästhetisch provozierende Literatur, lohnt sich ein Blick auf deren Relevanz für eine Ästhetik der Provokation im Kontext von Hugo Ball, d.h. im Kontext der mit ihm befreundeten wie ihn rezipierenden Dichter: Sie kommen z.B. in Hinsicht auf Hans Arps literarische Arbeiten zum Tragen, die als ein »Kompendium überraschender, zufälliger und unsinniger Konnexe gelten«,58 als »eine Textwelt, die nichts mit dieser Welt zu tun hat, sie nicht abbildet und nicht deutet, eine Welt aus Sprache und Spiel«,59 womit an eine weiter zurückreichende, ludisch-ästhetische Tradition angeknüpft wird, die eine Theorie bzw. Poetik des Spiels konstituiert, die das »Spielzeug« als »Poesie-Erreger« (H. Bellmer) versteht.60 Ich habe diese Beobachtung bereits an anderer Stelle und für einen anderen Zusammenhang erklärt; ich möchte meine Bemerkungen hierzu im Folgenden aber wiederholend ausweiten, um zu verdeutlichen, dass eine derart zu bezeichnende ›Ludische Literatur‹ insbesondere auch für eine provokationsästhetische Fundierung nicht unberücksichtigt bleiben darf, um dessen weiterführenden und konzeptuell zu entwerfenden Implikate auszuführen.61

56 Hausmann, »Zur Geschichte des Lautgedichtes«, 43. 57 Ebd., 189. 58 Döhl, Das literarische Werk Hans Arps 1903-1930, 131. 59 Ebd. 60 Bellmer, Die Puppe, 29. Christoph Schmidt stellt einen sinnvollen Bezug zwischen der Idee des Spielzeugs und Balls Fiktion zum Namensmythos Dadas in dessen Phantastenroman her: »›Johann‹ – das Karusselpferd wird hier auch ›Steckenpferd‹ genannt. Das ist die Übersetzung für das französische Wort ›Dada‹, wird hier aber offenbar auch mit dem ›Blauen Reiter‹ – dem Symbol der sich befreienden Kunst des Kreises um Kandinsky, Franz Marc und Gabriele Münter – in Verbindung gebracht und entsprechend verharmlost. Die ›wilden Pferde‹, seit Platon Symbol für Sinnlichkeit und Phantasie, die außer Rand und Band geraten sind, die also – die Metaphorik beruht ja auf diesem Vergleich – nicht mehr zu ›zügeln‹ sind, haben sich in harmlose ›Steckenpferde‹ verwandelt. Sie sind domestiziert oder vielleicht besser: privatisiert, Spielzeug« (Die Apokalypse des Subjekts, 109.) 61 Vgl. Verf., »›Ein Spiel mit den schäbigen Überbleibseln‹«. Zur Bedeutung des ›Spiels‹ bei Ball s. auch Kiefer, »Hugo Balls Wort-Spiele«.

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b) Literarisches ›Spielzeug‹ Die o.g. Beobachtung weist also darauf hin, dass sich der hier in seiner rhetorischen Dimension erläuterte Gehalt ästhetischer Provokation dann näher verstehen lässt, wenn sie mit Hilfe der durch sie selbst mitgedachten ästhetischen Spielerfahrung eine eigene bedeutungstheoretische Erläuterung erfährt, die dann wiederum neue rhetorische Anschlüsse lokalisierbar macht. Die Auffassung einer Ästhetik des Spiels wie einer literarischen Spieltheorie ist zwar ebenso als philosophische Konzeption präsentiert62 wie apodiktisch fundiert,63 jedoch nur selten in ihrem systematischen Gehalt diskutiert worden.64 Hinweise sollen im Folgenden gegeben werden, indem ich erneut von theoretischen Prämissen ausgehe, die ich zunächst vorstellen und versuchen werde, strukturelle Ordnungskriterien zu entwickeln. Ein erster Aspekt, der für dieses Anliegen Erfolg verspricht, ist also die Befragung theoretischer Schriften nach Spuren einer Poetik des Spiels. Im vorliegenden Fall führt der Weg zu einer Reihe von Ausführungen, die das Spiel unter strukturellen Gesichtspunkten diskutieren. Zu nennen ist zunächst Friedrich Schiller, der im fünfzehnten Brief Über die ästhetische Erziehung des Menschen den Gegenstand des »sinnlichen Triebs« als »Leben« auffasst, um sodann den »Formtrieb« als »Gestalt« zu bezeichnen und schließlich den »Spieltrieb« in einem »allgemeinen Schema« vorzustellen.65 Dessen Gegenstand werde, so Schiller, »lebende Gestalt heißen können; ein Begriff, der allen ästhetischen Beschaffenheiten der Erscheinungen, und mit einem Worte dem, was man in weitester Bedeutung Schönheit nennt, zur Bezeichnung dient.«66 Dadurch könne aber weder »die Schönheit« auf das »ganze Gebiet des Lebendigen ausgedehnt, noch bloß in dieses Gebiet eingeschlossen« werden; vielmehr soll sie »eine Gemeinschaft zwischen Formtrieb und Stofftrieb, das heißt, ein Spieltrieb seyn, weil nur die Einheit der Realität mit der Form, der Zufälligkeit mit der Nothwendigkeit,

62 So etwa Sonderegger, Für eine Ästhetik des Spiels. 63 So etwa Matuschek, Literarische Spieltheorie. 64 Vgl. Keith, Poetische Experimente der deutschen und russischen Avantgarde, 56. Eine Ausnahme stellt bekanntlich Liede, Dichtung als Spiel, dar. 65 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, 58. S. dazu näher u.a. auch Janz, »Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen«. 66 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 58.

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des Leidens mit der Freyheit den Begriff der Menschheit vollendet.«67 Und so erscheint »die Schönheit« Schiller als das »gemeinschaftliche Objekt« des »Spieltriebs«68, was für ihn allerdings keine Erniedrigung bedeutet oder eine Gleichstellung mit den »frivolen Gegenständen«; weder dem Vernunftbegriff noch ihrer Würde widerspreche die Einschränkung der »Schönheit« auf ein »bloßes Spiel« – vielmehr erweitere dieses jene.69 Die »wirklich vorhandene Schönheit« sei des »wirklich vorhandenen Spieltriebes werth«, aber durch das »Ideal der Schönheit«, welches die Vernunft aufstelle, sei auch ein »Ideal des Spieltriebes« aufgegeben, das der Mensch in allen seinen Spielen »vor Augen haben soll«,70 ein Postulat, woraus Schiller sein berühmtes Wort ableitet: der Mensch soll mit der Schönheit nur spielen, und er soll nur mit der Schönheit spielen. Denn um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.71

Dieser Satz, das verspricht Schiller an dieser Stelle, werde »das ganze Gebäude der ästhetischen Kunst und der noch schwürigern Lebenskunst« tragen.72 Die Frage, wann eine Literatur wie in einem Bezug zum Spiel steht, lässt sich mit Schiller dahingehend beantworten, wenn sie in den Kontext des generellen Problems eingerückt wird, das durch das Verhältnis von spielerischen Regeln zur Dimension ästhetischer Erfahrung und Darstellung bezeichnet wird. Denn dieses Verhältnis ist dem literarischen ›Unternehmen‹ nicht akzidentell, sondern gewinnt Notwendigkeit wie Gestalt aus dem Begründungszusammenhang, in die es sich aus dieser Perspektive verstrickt. Am Deutlichsten tritt sie hervor, wenn man ihre programmatische Bestimmung betrachtet, wie sie Hans Bellmer in Die Spiele der Puppe skizziert. Dort heißt es: Das Spiel gehört zur Gattung Experimental-Poesie [...]. Das beste Spiel will weniger auf etwas hinauslaufen, als sich an dem Gedanken seiner eigenen, unbekannten Forschung wie an einer Verheißung erhitzen. Das beste Spielzeug wäre darum jenes, das nichts vom Sockel eines im Voraus bestimmten, immer gleichen Funktionierens weiß, das so reich an Möglichkeiten und Zufällen wie die ärmste Lumpenpuppe und herausfordernd wie eine Wünschelrute an die Umwelt herangeht, um hier und da die fieberhaften Antworten auf

67 Ebd., 59. 68 Ebd., 60. 69 Ebd., 61. 70 Ebd., 62. 71 Ebd., 62f. 72 Ebd., 63.

184 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK das immer Erwartete zu hören, die jeder nachsprechen kann: Die plötzlichen Bilder des ›DU‹.73

Das Charakteristische spielerischer Kunst ist demnach eine radikalisierte transzendentale Befragung der unhintergehbaren Voraussetzungen für eigenständige ästhetische Produktion; das Kunstwerk inszeniert das, worauf es sich bezieht – die Wirklichkeit, die Wahrheit, seine eigenen Bestandteile, den Rezipienten usw. –, als eine »irrlichternde Ungerichtetheit«, als eine »in sich zurücklaufende Bewegung, die gerade darauf angelegt ist, nicht stillgelegt werden zu können«: »Materialität und Sinn, Offenheit und Geschlossenheit, Mittel und Zweck, Selbstbezug und Fremdbezug und andere Entgegensetzungen mehr oszillieren in einem Hin und Her, dessen Pointe darin besteht, in keiner Synthese aufgehoben werden zu können.«74 Dieses »Hin und Her« bezeichnet nun Umberto Eco mit dem Begriff des »offenen Kunstwerks«,75 in dem die Bedeutung gerade nicht im Werk liege, sondern in den kommunikativen Strukturen, die es in semantischer, syntaktischer, physischer, emotiver und thematischer Hinsicht eröffne; Offenheit sei das Medium der Bedeutungserzeugung und nicht schon das Ziel, nicht schon die Bedeutung selbst.76 Der im Begriff des ›offenen Kunstwerks‹ zusammen gefasste Befund gründet in einer Wendung zum Prozessualen, im Akt der Formation, in dem es vornehmlich um einen offenen Werkprozess geht.77 Eine für die Theorie des Spiels wichtige Untersuchung bietet Ecos vorgenommene Analyse, da sie jene Werkform fokussiert, die sich auf eine spielerische Interaktion mit dem Rezipienten ausrichtet, indem Eco die operativen Strukturen der Kunst und die Struktur der Form beleuchtet, die bei Eco, wie gesagt, immer auch die Beziehung von Werk und Betrachter mit einschließt und somit bereits ›aufgefasste‹ Form ist. Der Moment der ›Offenheit‹ steht hier für eine programmatische Poetik, bei der diese in jenen kommunikativen Strukturen entsteht, die das offene Kunstwerk eröffnet. Als besonders lehrreich für die Annäherung an eine spielerische Literatur im Zeichen der Provokation erweisen sich Ecos Bemerkungen im Hinblick auf die ästhetischen Verwirklichungen des Spielerischen, deren Eigenarten erst einer genaueren Betrachtung der jeweiligen Werkstruktur zugänglich werden.

73 Bellmer, Die Puppe, 29. 74 Lüthy, »Der Einsatz der Autonomie. Spieldimensionen in der Kunst der Moderne«, 38. 75 Vgl. Eco, Das offene Kunstwerk. 76 Vgl. ebd., 7-24; 27-59. 77 Vgl. Lüthy, »Der Einsatz der Autonomie«, 45.

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Der eröffnete Spielraum wird stets anders konturiert und in einer je eigenen Weise zuallererst erzeugt. Erst im Durchspielen der Werkstruktur lässt sich bestimmen, ob das gespielte Spiel eher als Fiktion, Selbst-Reflexion oder SelbstKritik aufzufassen ist. Ein weiterer Aspekt, der für einen Bestimmungsvorschlag spielerischer Literatur von Bedeutung ist, sind die vielfach zu beobachtenden und für die Theorie des Spiels charakteristischen (und z.T. bereits erwähnten) Phänomene von Spielfeldern wie Zufall und Regel, Regelverletzung und Modifizierung der Regelsysteme, die Aktivierung des Potentials der Kindheit, der spielerische Entwurf einer eigendefinierten ›befreiten‹ Existenz, der explizit provozierte Zufall u.ä. Mit diesen Stichworten greife ich Theoreme auf, die in einer Fülle von unterschiedlich zu bewertenden Formen fassbar sind, und die für eine Literatur, zu der entsprechende Werke zählen, eine ausschlaggebende Bedeutung für die Deutung als eine spielerische Dichtung hat. Ein solcher theoretischer Umgang mit dem Spielerischen lässt sich vor allem in zwei Varianten beobachten. (1.) handelt es sich um Johan Huinzigas Überlegungen zum Homo Ludens, in denen der spielerische Mensch dem arbeitenden gleichberechtigt gegenüber ge78 stellt wird. Nach Huinziga entsteht Kultur in Form von Spiel, das »Gemeinschaftsleben« erhalte »seine Ausstattung mit überbiologischen Formen, die ihm höheren Wert verleihen, in Gestalt von Spielen«; in diesen Spielen bringe die Gemeinschaft ihre »Deutung des Lebens und der Welt zum Ausdruck«: »In der Zwei-Einheit von Kultur und Spiel« sei das Spiel die primäre, objektivwahrnehmbare, konkret bestimmte Tatsache, während Kultur nur die Bezeichnung sei, »die unser historisches Urteil dem gegebenen Fall anheftet.«79 Durch Wiederholung, Einübung und damit Ausarbeiten eines Regelwerks und schließlich durch Variation und Neuaufführung werde das experimentell Erprobte zur Kulturform; das Spiel, nicht die Arbeit, werden als konstituierendes Element alles Kulturellen angesehen.80 Das Spiel ist hier definiert »durch Zwang- und Zwecklosigkeit«; es ist bestimmt durch »ein ›als ob‹, das es aus dem übrigen Alltag heraushebt«; kennzeichnend sind eine zeitliche und räumliche Begrenzung, die es als »abschließbare Handlung auf einem eigenen Spielfeld mit festgelegten, selbst gesetzten Grenzen bestimmt«.81 Das Spiel ist zudem unvernünf-

78 Vgl. Huizinga, Homo Ludens. 79 Ebd., 57. 80 Vgl. Bäzner, »Kunst als spielerischer Handlungsraum«, 24. 81 Ebd., 24f.

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tig, von rationalistischen und auf Effektivität zielenden Standpunkt aus überflüssig und bereitet Vergnügen.82 Es verwundert nicht, dass Huizinga im Zuge seiner Überlegungen schließlich auf den Punkt ›Spiel und Dichtung‹ zu sprechen kommt, um nach dem »Wesen der dichterischen Schöpfung« zu fragen, bilde doch dies in gewissem Sinne das »zentrale Thema einer Erörterung über den Zusammenhang von Spiel und Kultur«.83 Dichtung in ihrer »ursprünglichen Funktion als Faktor früher Kultur« werde »im Spiel und als Spiel geboren.«84 Wenn Huizinga im Anschluss eine dann sicherlich doch soziologisch zentrierte, vor allem mythologische und rituelle Konturierung des Themas versucht, bleibt festzuhalten, dass die Verbindung von Spiel und Literatur mit Huizinga stark gemacht werden kann. Dieser schreibt: Zählen wir noch einmal auf, was uns die eigentlichen Merkmale des Spiels zu sein schienen. Es ist eine Handlung, die innerhalb gewisser Grenzen von Zeit, Raum und Sinn verläuft, in einer sichtbaren Ordnung, nach freiwillig angenommenen Regeln, außerhalb der Sphäre materieller Nützlichkeit oder Notwendigkeit. Die Stimmung des Spiels ist Entrücktheit und Begeisterung, und zwar entweder eine heilige oder eine lediglich festliche, je nachdem das Spiel Weihe oder Belustigung ist. Die Handlung wird von Gefühlen der Erhebung und Spannung begleitet und führt Fröhlichkeit und Entspannung mit sich. Es ist kaum zu verkennen, daß alle Aktivitäten der poetischen Formgebung: das symmetrische oder rhythmische Einteilen der gesprochenen oder gesungenen Rede, das Treffen mit Reim oder Assonanz, das Verhüllen des Sinns, der künstliche Aufbau der Phrase, in diese Sphäre des Spiels von Natur gehören.85

Als aufschlussreich für die vorliegende Diskussion erweist sich (2.), was Roger Caillois, der sich denn auch insgesamt der Avantgarde verbunden zeigt, über Die Spiele der Menschen ausführt.86 Auch Caillois bestimmt das Spiel als frei, was für ihn jedoch bedeutet, dass es abgetrennt ist von der Realität sowie vom produktiven Leben und damit nicht schöpferisch sei, d.h. es bringe, im Gegensatz

82 Vgl. ebd. 83 Huizinga, Homo ludens, 133. 84 Ebd. 85 Ebd., 146. 86 Auch Brokoff rekurriert bei seiner Untersuchung von Balls Lautdichtung auf Caillois (vgl. Die Geschichte der reinen Poesie, 523), jedoch mit einer anderen Stoßrichtung als die hier privilegierte.

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zur Kunst der Arbeit, kein endgültiges Werk hervor.87 Dabei unterscheidet Caillois vier Typen des Spiels: agon – der Wettstreit (z.B. Schachspiel) und alea – der Zufall (z.B. Roulette), mimikry – die Maskierung (z.B. Rollenspiel, Schauspiel) und ilinx – der Rausch (z.B. Tanz). Das Spielerische bewegt sich für Caillois zwischen zwei Polen: einerseits der paida, d.h dem Vergnügen, der freien Improvisation, der Phantasie und des ausgelassenen Überschwangs; und andererseits dem ludus, der Unterwerfung unter einen Kanon, der Meisterung von künstlerisch-gesetzlichen Schwierigkeiten, dem Wettkampf mit sich selbst, der Berechnung und Kombination; Ludus ist angesiedelt im Spannungsfeld zwischen Regelgehorsam und einer experimentellen Ausdeutung des Regelrahmens.88 Es ist dieses Ausdeutungsprogramm, das die primäre Ausformung spielerischer Literatur im Einflussbereich der historischen Avantgarde und der von Ball innerhalb dieser theoretisierten wie praktizierten Ästhetik der Provokation sichtbar werden lässt, fasst man das Spielerische auch als jenes ›karnevalistische Lachen‹ auf,89 das Michail Bachtin insbesondere an Literaturformen herausgearbeitet hat90 – für Bachtin steht die karnevaleske Welt schließlich auf der »Grenze zwischen Kunst und Leben«.91 In jenem neuen ›Lebenszustand‹, dem die Provokationsästhetik folgt, wird die ›Kunst einer militanten Ironie‹ durch ihren Angriff auf die Institutionen von Staat, Kultur und Gesellschaft auf ein radikalskeptisches ›Nichts‹ hin entfaltet, das »als eine ständig wiederkehrende Anti-Pointe«92

87 Vgl. Caillois, Die Spiele und die Menschen, 92. 88 Vgl. ebd., 96-144. Zur ›Regelhaftigkeit‹ avantgardistischer Literatur s. auch Henzler, Literatur an der Grenze zum Spiel, 146: »Spiel heißt hier nicht, daß kindliche und naive Autoren einer einfachen Spielfreude ergeben waren und das lästige Denken durch lustige Wortspiele ersetzt haben. Ein hohes Maß an Kontrolle über die eigene verwendete Sprache und schon vorhandene Sprachelemente und -strukturen zeichnet die hier vorgestellten Texte aus. Der Eindruck der Beliebigkeit, des ›Spielerischen‹, den die Texte vermitteln, ist nicht auf eine Beliebigkeit im Umgang mit Sprache zurückzuführen, sondern auf eine dem Text inhärente Reflexion auf das Verhältnis von Kunst und Welt, von Sprache und Sprecher.« 89 Ball notiert: »Der Künstler als das Organ des Unerhörten bedroht und beschwichtigt zugleich. Die Bedrohung erregt eine Abwehr. Da sie sich aber als harmlos herausstellt, beginnt der Beschauer sich selber ob seiner Furcht zu verlachen.« (Die Flucht aus der Zeit, 83f.) S. dazu auch Bergius, Das Lachen Dadas; Liede, Dichtung als Spiel, 26. 90 S. dazu Bachtin, Literatur und Karneval. 91 Ders., Rabelais und seine Welt, 55. 92 Platschek, »Dada und die Unsterblichkeit«, 14.

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deren Leitgedanken wiedergibt; dessen Signet stellt eine spezifische Lach-Kultur dar,93 die Politik, Moral, Kunst und Philosophie in karnevalistische ›Clownerien‹ aufzulösen sucht. Raoul Hausmann schreibt: Wir wünschen die Welt bewegt und beweglich, Unruhe statt Ruhe, – fort mit allen Stühlen, weg mit den Gefühlen und edlen Gesten! Und wir sind Antidadaisten, weil für uns der Dadaist noch zu viel Gefühl und Ästhetik besitzt. Wir haben das Recht zu jeder Belustigung, sei es in Worten, in Farben, Geräuschen; dies alles aber ist ein herrlicher Blödsinn, den wir bewußt lieben und verfertigen, – eine ungeheure Ironie, wie das Leben selbst: die exakte Technik des endgültig eingesehenen Unsinns als Sinn der Welt!!!94

Von einer solchen Position aus hebt Hausmann die »Heiligkeit des Gelächters«95 als emphatisch-pathetische Formel für das Vergnügen an Polemik und Ironie hervor. Humor ist hier ein ›Sprungbrett‹ der Reflexion, mittels dem die Skepsis allem Bestehenden gegenüber verdeutlicht wird. Freude und Spaß in unterschiedlichen Varianten gehören zur ästhetisch provozierenden ›Lach-Kultur‹ – auch abseits von Ball. Johannes Baaders Überlegenheits-Haltung gegenüber der Welt soll beispielsweise aus der Nachkriegsgesellschaft eine ›Gotteskommödie der Menschheit‹ machen, in der er als ›heiliger Narr‹ agiert.96 Derartige ›Donquichotterie‹ verwandelt ›blutigen Ernst‹ in ›heiteres Spiel‹, verlangt von seinen Protagonisten eine ›Narrenrolle‹, die eine konsequent ausgelebte Paradoxie unvereinbarere Gleichzeitigkeiten impliziert, welche in letzter Konsequenz tatsächlich die Grenze zwischen Kunst- und Lebenspraxis zumindest für einige Zeit aufheben soll. Zugleich verweist diese Inszenierung als ›Narr‹ auf die »literarische Seite« des Kynismus, der »vornehmlich literarische Qualitäten wie Witz, Parodie und Satire« mit jener Identität und Maskierung zu repräsentieren sucht.97 Das Lachen ästhetischer Provokation zeitigt allerdings auch andere, ›ernsthafte‹ Implikationen.98 Das Lachen ist eine »besondere Form kynischer Selbst-

93 Zur ästhetischen Repräsentation des Lachens in historischer Sicht s. Beise/Martin/Roth (Hg.), LachArten. 94 Hausmann, »Der deutsche Spießer ärgert sich«, 84. 95 Ders., »Was will der Dadaismus in Europa?«, 96. 96 Vgl. Baader Oberdada, »Vierzehn Briefe Christi« und andere Druckschriften, 190. S. dazu auch Schings, Narrenspiele oder die Erschaffung einer verkehrten Welt, bes. 103f. 97 Niehues-Pröbsting, Der Kynismus des Diogenes und der Begriff des Zynismus, 18. 98 Dazu auch Bock, »›Negermusik und koptische Heilige‹ – Die Unmöglichkeit des Lachens bei Hugo Balls Dadaismus«.

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behauptung«, das »nahezu tödliche Waffen« zum Zweck der Destruktion darstellen kann.99 Balls dadaistische ›Clownerien‹ können zwar mit so etwas wie Unfug und Blödsinn verbunden sein; zugleich ist diesem Lachen aber ein »bitterer, harter, ja unerbittlicher Zug nicht fremd.«100 Entsprechende Soiréen und Matinéen umfassen nicht allein ein Angebot, das Zwecken der Unterhaltung unterworfen ist, sondern kommentieren in Gestalt von Groteske und Ironie jede Ideologie, die Gegenstände von Verstehensversuchen in ihrer Subversion unterlaufen. Huelsenbeck führt daher aus, der Dadaist sehe instinktmäßig seinen Beruf darin, dem Publikum seine »Kulturideologie zusammenzuschlagen«.101 Das Lachen ist hier ein künstlerisches »Lieblingswerkzeug«,102 das seinerseits subversiv als Instrument der Skepsis, der Sinnstörung und der wiederum kynisch motivierten »Umwertung der Werthe«103 im Sinne Nietzsches mit allen Konsequenzen der Moderne fungiert.104 So sind die exzentrischen Ausdrucksformen und wechselnden Ausgestaltungen dieses Lachens nur zu verstehen, wenn auch die vom Zusammenbruch der Kultur zur Zeit des Ersten Weltkrieges herrührende Melancholie ins Blickfeld rückt.105 Die als ein Ergebnis dieses Krieges eingetretene »schockartige Entfremdung zwischen Mensch und Welt«106 führt dazu, diese Welt als ›blutigen Karneval‹, als ›Irrenhaus‹ und ›Harlekinade unter rotem Galgen‹ aus der Position eines »Sehenden unter all den stickenden Blinden«107 wahrzunehmen.

99

Niehues-Pröbsting, Der Kynismus des Diogenes und der Begriff des Zynismus, 221,

100

Korte, Die Dadaisten, 69. S. dazu auch Zehetner, Hugo Ball, 13f.: »Die dadaisti-

223. schen und darüber hinausreichenden Texte und Reflexionen Hugo Balls analysieren das avantgardistische Zusammenspiel – mit wechselnder Gewichtung der Elemente, was sich anhand verschiedener Phasen seines Werks aufzeigen lässt – weiter, denn als Einsatz des Spiels wird das Leben selbst aufgerufen. Man bräuchte wohl nicht ausdrücklich daran zu erinnern, dass der Spielcharakter gelegentlich in Ernst umschlägt und das ›Zusammenspiel‹ cum grano salis zu verstehen ist [...].« 101

Huelsebeck, En avant Dada, 39.

102

Molderings, Marcel Duchamp, 103.

103

Nietzsche, Gesammelte Briefe, III, 321. Es handelt sich hierbei um ein Zitat aus einem Brief Nietzsches an Georg Brandes vom 20.11.1888.

104

Vgl. Bergius, Das Lachen Dadas, 9.

105

Vgl. ebd., 11.

106

Ebd.

107

Grosz, Briefe 1913-1959, 44.

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Dadas Lachen knüpft damit an das Ironieverständnis des »›NeoCyniker[s]‹«108 Nietzsche an, der den »europäischen Mitmenschen«, der seine Kostüme »wechselt und wechselt«, weil ihm keines mehr stehe, auf das Lachen als überlebensstrategisches, kultur- und gesellschaftskritisches Instrumentarium hinweist: Ein für die Ästhetik der Provokation bedeutungsvolles Zitat aus Jenseits von Gut und Böse, das auch dem dritten Kapitel von Huelsenbecks Einleitung in dessen Dada-Almanach voran gestellt ist,109 lautet: Aber der ›Geist‹, insbesondere der ›historische Geist‹, ersieht sich auch noch an dieser Verzweiflung seinen Vorteil: immer wieder wird ein neues Stück Vorzeit und Ausland versucht, umgelegt, abgelegt, eingepackt, vor allem studiert: – Wir sind das erste studierte Zeitalter in puncto der ›Kostüme‹, ich meine der Moralen, Glaubensartikel, Kunstgeschmäcker und Religionen, vorbereitet wie noch keine Zeit es war, zum Karneval großen Stils, zum geistigen Faschings-Gelächter und Übermut, zur transzendentalen Höhe des höchsten Blödsinns und der aristophanischen Welt-Verspottung. Vielleicht, daß wir hier gerade das Reich unserer Erfindung noch entdecken, jenes Reich, wo auch wir noch original sein können, etwa als Parodisten der Weltgeschichte oder Hanswürste Gottes – vielleicht daß, wenn auch nichts von heute sonst Zukunft hat, doch gerade unser Lachen noch Zukunft hat!110

So strebt die ästhetische Provokation im rhetorischen wie spieltheoretischen Horizont eine ›karnevalistische‹ Erweiterung des Literaturbegriffs an und setzt dafür eine Vielzahl von Spielversionen ein; genutzt werden den »herkömmlichen Sinn unterlaufende Sprachspiele«, die Sprach-Collage, »Rollenspiele mit den Komponenten der persiflierenden Maskierung, Mimikry und Gesellschaftssatire«, bei der gesellschaftliche und künstlerische Konventionen als phrasenhaft »enttarnt« sind.111 Zu beachten ist, dass hier eine Auflösung und generelle Verletzung des bis dahin gültigen Regelkanons betrieben werden soll, womit sowohl eine Reflexion der Darstellungsmittel und -weisen sowie die Überschreitung der textuellen Gattungsgrenzen einher geht als auch die Hinwendung zum Experiment, das sich ja dann wirklich auch am Material ›entzündet‹. Im ersten dadaistischen Manifest führt Ball daher Dada zunächst als Anti-Kunst vor Augen, ohne

108

Niehues-Pröbsting, Der Kynismus des Diogenes und der Begriff des Zynismus, 306. Zur näheren Darstellung wie Diskussion des Kynismus bei Nietzsche s. ebd., 306340.

109

Vgl. Huelsenbeck, Dada Almanach, 7.

110

Nietzsche, Werke in drei Bänden, III, 686.

111

Bätzner, »Kunst als spielerischer Handlungsraum«, 21.

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dieser die ästhetische ›Beschaffenheit‹, Schiller würde sagen: ohne ihr die ›Schönheit‹ abzusprechen. Ball definiert: Dada ist eine neue Kunstrichtung. [...] Dada stammt aus dem Lexikon. Es ist furchtbar einfach. Im Französischen bedeutet’s Steckenpferd. Im Deutschen heißt’s Addio, steigts mir den Rücken runter. Auf Wiedersehen ein andermal! Im Rumänischen: »Ja wahrhaftig, Sie haben recht, so ist’s. Jawohl, wirklich, machen wir.« Und so weiter. Ein internationales Wort. Nur ein Wort und das Wort als Bewegung. Sehr leicht zu verstehen. Es ist ganz furchtbar einfach. Wenn man eine Kunstrichtung daraus macht, muß das bedeuten, man will Komplikationen wegnehmen. [...] Und im Ästhetischen kommt es auf die Qualität an.112

Hier markiert Ball wiederum deutlich, die Setzung eines Anfangs als Sprechakt und unterstreicht dabei die Fragwürdigkeit der Gründungsmacht der Sprache, indem er ihren konventionellen und arbiträren Charakter erkenntlich macht. Der Hinweis auf das Lexikon betont zunächst die konventionelle und auf gesellschaftliche Normativität gegründete Seite sprachlicher Bedeutungsverfertigung. Im nächsten Schritt wird dann deren Arbitrarität aufgewiesen, indem dem Signifikanten Dada je nach Einzelsprache und teilweise innerhalb der gleichen Sprache unterschiedliche Signifikate zugeordnet werden. Das seiner äußeren Form entsprechend ›furchtbar einfache‹ Symbol [im Sinne von Peirce113] erweist sich als inhaltlich polysem; sein Bedeutungsreichtum wird als prinzipiell unabschließbar gekennzeichnet (›und so weiter‹). Signifikation wird hier als Prozeß ausgestellt, als nicht abschließbare Bewegung [...].114

An anderer Stelle hat Ball dies nochmals präzisiert, indem er ausführt, was »wir Dada nennen, ist ein Narrenspiel aus dem Nichts, in das alle höheren Fragen verwickelt sind; eine Gladiatorengeste; ein Spiel mit den schäbigen Überbleibseln; eine Hinrichtung der posierten Moralität und Fülle.«115 Das Verhältnis von

112

Ball, »Das erste dadaistische Manifest«, 39.

113

Vgl. Peirce, Über Zeichen, 14f.

114

Ehrlicher, Die Kunst der Zerstörung, 201.

115

Ball, Die Flucht aus der Zeit, 98. Weiterhin heißt es dort programmatisch: »Der Dadaist liebt das Außergewöhnliche, ja das Absurde. Er weiß, daß sich im Widerspruche das Leben behauptet und daß seine Zeit wie keine vorher auf die Vernichtung des Generösen abzielt. Jede Art Maske ist ihm darum willkommen. Jedes Versteckspiel, dem eine düpierende Kraft innewohnt. Das Direkte und Primitive erscheint ihm inmitten enormer Unnatur als das Unglaubliche selbst. Dass der Bankrott der Ideen das Menschenbild bis in die innersten Schichten zerblättert hat, treten

192 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK

differentiellem Spiel und Bedeutung, wie es ästhetische Sprachverwendungen ausprägen, zeigt noch einmal eine Subversion der konventionellen Sprache an. Die Zerstörung ist, so Alfred Liede, »eines des häufigsten Spiele«, und gerade »im Spiel mit der Sprache« werde »der zerstörende Spieltrieb sichtbar«.116 Ball spricht denn auch davon, die Sprache »ad acta zu legen«: Dada m’dada. Dada mhm dada da. Auf die Verbindung kommt es an, und daß sie vorher ein bisschen unterbrochen wird. Ich will keine Worte, die andere erfunden haben. Alle Worte haben andre erfunden. Ich will meinen eigenen Unfug, meinen eigenen Rhythmus und Vokale und Konsonanten dazu, die ihm entsprechen, die von mir selbst sind. Wenn diese Schwingung sieben Ellen lang sind, will ich füglich Worte dazu, die sieben Ellen lang sind.117

An der ›Freisetzung‹ eines bedeutungssubversiven ›bloßen‹ Spiels der Sprache im Sinne Schillers offenbart sich gleichsam eine Wahrheit über das sprachliche Geschehen schlechthin, die spielerisch überhaupt erst generiert wird und in einer Endlosschleife Poesie immer wieder von Neuem ›erregt‹: Da kann man nun so recht sehen, wie die artikulierte Sprache entsteht. Ich lasse die Vokale kobolzen. Ich lasse die Laute ganz einfach fallen, etwa wie eine Katze miaut ... Worte tauchen auf, Schultern von Worten, Beine, Arme, Hände von Worten. Au, oi, uh. Man soll nicht zu viel Worte aufkommen lassen. Der Vers ist die Gelegenheit, allen Schmutz abzutun. Ich wollte die Sprache hier selber fallen lassen. Diese vermaledeite Sprache, an der Schmutz klebt, wie von Maklerhänden, die die Münzen abgegriffen haben. Das Wort will ich haben, wo es aufhört und wo es anfängt. Dada ist das Herz der Worte.118

in pathologischer Weise die Triebe und Hintergründe hervor. Da keinerlei Kunst, Politik oder Bekenntnis diesem Dammbruch gewachsen scheinen, bleibt nur die Blague und die blutige Pose. [...] Der Dadaist kämpft gegen die Agonie und den Todestaumel der Zeit.« (98f.) 116

Liede, Dichtung als Spiel, 26.

117

Ball, »Das erste dadaistische Manifest«, 40.

118

Ebd. Diese Manifeststelle steht wiederum im Zusammenhang der ›Umwertung der Werte‹ im Sinne Nietzsches bzw. im Sinne seines Cynismus. Dazu NiehuesPröbsting, Der Kynismus des Diogenes und der Begriff des Zynismus, 333-335: »Eine entfernte Verwandtschaft besteht darin, daß die zwei Begriffe ›nomisma‹ und ›Wert‹ beide doppeldeutig sind, beide bezeichnen einen ökonomischen und einen moralisch-ethischen Sachverhalt. Allerdings ist bei ›Wert‹ die Anschaulichkeit der ökonomischen Bedeutung schwächer ausgeprägt als bei ›nomisma‹, der Begriff ist

2.1 Ä STHETISCHE S PIELERFAHRUNG

| 193

Die ästhetische Erfahrung im Spiel mit der Sprache119 soll den Grund allen Bedeutens als seinen Abgrund enthüllen, und zwar indem sie tatsächlich als ›offenes Kunstwerk‹ im Sinne Ecos geradezu körperliche Formen annimmt, die frei aufgefunden werden sollen, man könnte auch sagen: die spielerisch wie aus dem Nichts entstehen, wobei die beabsichtigte Wirkung präsent bleibt. Ball berichtet in Die Flucht aus der Zeit von seinem ersten Vortrag der ersten Verse ohne Worte, dass er sich dazu, das sei nochmals wiederholt, ein eigenes Kostüm konstruiert hat: Seine Beine »standen in einem Säulengrund aus blauglänzendem Karton«, der ihm also »schlank bis zur Hüfte reichte«, so dass er »bis dahin wie ein Obelisk aussah«; darüber trug er einen »riesigen, aus Pappe geschnittenen Mantelkragen, der innen mit Scharlach und außen mit Gold beklebt, am Halse derart zusammengehalten war«, dass er »ihn durch Heben und senken der Ellenbogen flügelartig bewegen konnte«, dazu »einen zylinderarti-

abstrakter, der Gegenstand dahinter weniger greifbar als eine Münze [...]. Wir sind aber dafür gewissermaßen entschädigt dadurch, daß bei Nietzsche die Münzmetaphorik mit besonderer Vorliebe verwendet wird [...]. Die weitaus häufigste Variante dieser Metaphorik ist ›Falschmünzer‹ und ›Falschmünzerei‹ [...]. Die ›Umwertung der Werte‹ macht eine vorgängige ›Falschmünzerei‹ rückgängig; dies war übrigens auch ein möglicher, vielleicht der ursprüngliche Sinn der Diogenes-Anekdote: der Kyniker prägt die durch Tradition überkommenen und verkommenen Gesetze und Sitten um.« Zur Zersetzung der Selbstverständlichkeit überkommener Werte und Einstellungen als »hypothetische Interpretationen der Vorgeschichte der heutigen Praktiken, Werte und Institutionen« bzw. zur »Mobilisierung von Zweifeln und von zersetzender Reflexion auf das eigene Gewordensein durch Texte« s. Saar, Genealogie als Kritik, 143. Vgl. auch ebd., 304: »In der Tat kann man Nietzsches konkrete Vorschläge zur Neubestimmung der Werte der abendländischen Kultur als Aufforderungen zur kompromisslosen Neudefition von Gesellschaften jenseits der Bürden und Geländer der metaphysischen und religiösen Autoritäten verstehen.« 119

Vgl. Ball, Die Flucht aus der Zeit, 101: »Wir haben die Plastizität des Wortes jetzt bis zu einem Punkte getrieben, an dem sie schwerlich mehr überboten werden kann. Wir erreichten dies Resultat auf Kosten des logisch gebauten, verstandesmäßigen Satzes und demnach auch unter Verzicht auf ein dokumentarisches Werk (als welches nur mittels zeitraubender Gruppierung von Sätzen in einer logisch geordneten Syntax möglich ist).« S. auch ebd., S. 42: »Es gilt, unangreifbare Sätze zu schreiben. Sätze, die jeglicher Ironie standhalten. Je besser der Satz, desto höher der Rang. Im Ausschalten der angreifbaren Syntax oder Assoziation bewährt sich die Summe dessen, was als Geschmack, Takt, Rhythmus und Weise den Stil und den Stolz eines Schriftstellers ausmacht.«

194 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK

gen, hohen, weiß und blau gestreiften Schamanenhut.«120 Zudem erinnert sich Ball, wie er derart »die Rolle eines Predigers« übernommen hat, als »magischer Bischof« in die »uralte Kadenz der priesterlichen Lamentation« verfallen ist, in »jenen Stil des Meßgesangs, wie er durch die katholischen Kirchen des Morgenund Abendlandes wehklagt«.121 Was sich als rhetorisch dargebrachtes Kunstwerk darbietet, dem (mit Huizinga gesprochen) etwas Kulturell-Spielerisches, RituellMythisches grundlegend zu eigen ist, erweist sich recht besehen zugleich als dessen offener ›Spielraum‹. Im ersten dadaistischen Manifest heißt es mithin, jede Sache habe ihr Wort, aber das Wort ist eine Sache für sich geworden. Warum soll ich es nicht finden? Warum kann der Baum nicht »Pluplusch« heißen? und »Pluplubasch«, wenn es geregnet hat? Das Wort, das Wort, das Wort außerhalb eurer Sphäre, eurer Stickluft, dieser lächerlichen Impotenz, eurer stupenden Selbstzufriedenheit, außerhalb dieser Nachrednerschaft, eurer offensichtlichen Beschränktheit. Das Wort, meine Herren, das Wort ist eine öffentliche Angelegenheit ersten Ranges.122

Die Werkstruktur der Sprache wird so im avantgardistischen ›Spiel‹ zertrümmert und in freie Improvisation123 mit kynischer Intention übersetzt.124 Die Usurpation des Spielerischen über die Sprache im Prozess der ästhetischen Provokation verweist auf eine Realität als »die Wirklichkeit eines Spiels, bei dem die Regeln jederzeit außer Kraft gesetzt werden können, um ein neues Spiel zu beginnen.«125 Gleichwohl hat allein dieses Eingeständnis noch nicht notwendig eine Preisgabe des Regelrahmens zur Folge. Die Ausdeutung dieser Literatur über Theoreme des Spiels als frei ›flottierende‹ Offenheit der ästhetischen Sprache ist nicht die einzige Möglichkeit, die sich mit den Hinweisen auf ihre theoretischen

120

Ebd., 105.

121

Ebd., 106.

122

Ders., »Das erste dadaistische Manifest«, 40.

123

Dazu Borgards, »Gesetz, Improviation, Medien.«

124

»Für den Kyniker scheint es nur sofortige Freuden hervorzubringen, die der Turbulenz, der Improvisation, der Sorglosigkeit und der unkontrollierten Phantasie entspringen. [...] Die Anekdote, der Witz oder der Kalauer sind dazu bestimmt, moralische Wirkungen zu erzielen – Bewußtwerdungen, könnte man sagen. Das Spiel enthüllt heuristische Tugenden. Die Straße, der Marktplatz, die Außenwelt dienen den kynischen Darbietungen als Rahmen: das Spiel erfolgt nach Prinzipien der Improvisation.« (Onfray, Der Philosoph als Hund, 75)

125

Luyken, »Zur Strategie des dadaistischen Spiels«, 60.

2.1 Ä STHETISCHE S PIELERFAHRUNG

| 195

Zusammenhänge geben lässt. Sie bildet vielmehr, das hat sich bereits angedeutet, ebenfalls den Einsatzpunkt für eine Reflexion auf die ›Spielfelder‹ dieser Literatur.126 Das literarische Kunstwerk ist das Medium, in dem sich der Prozess selbstreflexiver Texte entfaltet, die Spieltheorie der Diskurs schlechthin, der ihn artikuliert.127 Das Strukturgesetz dieses Diskurses, der die innere Bewegung des literarischen Textes nachvollzieht, hat Ball in Der Künstler und die Zeitkrankheit resümierend beschrieben.128 Dasjenige, was Ball mit dem Begriff der ›therapeutischen Ästhetik‹ ebenfalls aufgreift und unter Rückgriff auf Otto Ranks Studie Der Künstler ins Auge fasst, meint, dass sich in der literarischen Praxis die Freisetzung des Spiels in einer semantischen ›Zerfaserung‹ erweist, die im Geiste Diogenes’ steht: Das Spiel ist eine Pharmakopöe, eine Medikation. Die Menschen sind krank, man muß sie heilen. Die einzig taugliche Arznei, diejenige, die den wirklichen Leiden zu Leibe rückt, läßt sich durch das Spiel verabreichen, als wäre dieses der Grundstoff für einen wirklich bitteren Trank ... Der Philosoph als Arzt der Zivilisation ist eine Metapher [...]. Diogenes ist einer der ersten Allgemeinmediziner [...]. Diogenes praktiziert also eine mit Kunst gepaarte Therapie: die kynische Psychagogik setzt in der Tat Begabungen, Talente voraus, die Beherrschung bestimmter Techniken, eine Inspiration, die nie aussetzt, einen sicheren und geschärften Sinn für die Diagnose und die gebotenen Medikationen. Das Ganze in einem Ballett, das sowohl dem Rausch wie der Maskerade Raum läßt – worin man die entscheidenden Komponenten des Spiels wiederfindet.129

Der Ausdruck einer solchen Bewegung vermag der spieltheoretische Diskurs so zu sein, dass er darauf verzichtet, diese diskursiv vollständig zu artikulieren. Recht verstanden sind Balls Hinweise im Hinblick auf die Konturierung spieleri-

126

S. zur weiteren Diskussion Verf., »›Ein Spiel mit den schäbigen Überbleibseln‹«.

127

Die »magische Lebenschiffre« der »radikalen Avantgarde-Kunst, DADA« fixiert, so Christoph Schmidt, die beiden extremen Pole des eigenen Lebenswerks und dessen Etappen als eine Transformation, in der der Anspruch der radikalen ästhetischen Subjektivität auf absolute Emanzipation von der Tradition und ihrer normativen Verfassung zu deren Suspension führe, um von hier die »wahre Revolution« dieses Subjekts als ethisch-theologisches Subjekt einzuleiten (Die Apokalypse des Subjekts, 7).

128

Dazu näher Verf., »›Ein Spiel mit den schäbigen Überbleibseln‹«, 323-325.

129

Onfray, Der Philosoph als Hund, 76f.

196 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK

scher Literatur richtungsweisend für die Ästhetik der Provokation, wie sie sich hier vor dem Hintergrund der genannten Spieltheoreme zeigt. Die Spannung zwischen dem auszumessen, was nun ein ludisch-literarischer Text ›predigt‹, und dem, was er ›praktiziert‹, also auch hier zwischen seiner Bedeutung und seinen sprachlichen Mustern, seinem Spiel mit der Sprache, ist Aufgabe einer Theorie, für die wiederum Walter Benjamin zum Orientierungspunkt wird. Denn dieser hat in seinem bereits zitierten Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit die einschneidenden Veränderungen, die die Kunst im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts erfährt, mit dem Begriff des Verlusts der Aura beschrieben und diesen wiederum aus den Veränderungen im Bereich der Reproduktionstechniken zu erklären versucht.130 Gerade dies steht in einem, vor dem dargestellten Horizont deutlich werdenden Zusammenhang zum Spiel. Wenn Benjamin von einem bestimmten Typus der Beziehung zwischen Werk und Rezipient ausgeht, den er auratisch nennt (eine »einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag«),131 dann geht es hier auch um ein kultisch-spielerisches Ritual.132 Die Künstler der Avantgarde haben, das sei ebenfalls wiederholt, Effekte der Reproduktion zu erzeugen versucht:

130

Naheliegender Weise stellt Benjamins Aufsatz selbst eine Provokation und mithin ein Beispiel praktizierter Provokationsästhetik dar – ein weiterer Hinweis auf die enge Verbindung der Theorien Balls und Benjamins. Vgl. etwa Leschke, Einführung in die Medientheorie, 167f.: »Für die traditionelle Selbstbeschreibung des Kunstsystems, die mit Begriffen wie Einzigartigkeit, Genie, Originalität und Schöpfung operierte und die die Bestimmbarkeit ihrer Produkte nach Kräften auszuschließen suchte und auf dem Gegenteil, nämlich der Unvorhersehbarkeit des Ästhetischen, insistierte, stellt dieser Ansatz Benjamins eine keineswegs auf die leichte Schulter zu nehmende Provokation dar. Benjamins Gedankengang ist also von der Selbststilisierung des Kunstsystems her ausgeschlossen und ein Affront. Nun ist auf der anderen Seite das Kunstsystem mit seinem Anspruch auf Einzigartigkeit für die materialistische Geschichts- und Gesellschaftskonzeption eine Provokation. Denn mit Einzigartigkeit und Genie kann eine Theorie, die es auf Tauschwerte und ökonomische Reproduktion abgesehen hat, verständlicherweise nur wenig anfangen. Von der Kunst wird – wenigstens nach den Auffassungen einer idealistischen Ästhetik – eine Art immaterielles Gelände jenseits der schnöden materiellen Reproduktion konstituiert, das von der materialistischen Theorie her prinzipiell nicht angemessen zu erfassen sei. Die Provokation liegt also in diesem Fall in der behaupteten Begrenztheit einer als universal konzipierten Theorie.«

131

Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, 16.

132

Vgl. dazu auch Bürger, Theorie der Avantgarde, 36.

2.1 Ä STHETISCHE S PIELERFAHRUNG

| 197

Auf die merkantile Verwertbarkeit ihrer Kunstwerke legten die Dadaisten viel weniger Gewicht als auf ihre Unverwertbarkeit als Gegenstände kontemplativer Versenkung. [...] Ihre Gedichte sind »Wortsalat«, sie enthalten obszöne Wendungen und allen nur vorstellbaren Abfall der Sprache. Nicht anders ihre Gemälde, denen sie Knöpfe oder Fahrscheine aufmontierten. Was sie mit solchen Mitteln erreichen, ist eine rücksichtslose Vernichtung der Aura ihrer Hervorbringungen, denen sie mit den Mitteln der Produktion das Brandmal der Reproduktion aufdrücken.133

Die Avantgarde erprobt an einzelnen ›Produkten‹ Kunst, Kunstwerk und Künstler von jener ›Zeitkrankheit‹, von der Ball spricht, zu heilen, und zwar in einer evident spielerischen Erfahrungs- und Geltungsdimension, von der wiederum Schiller schreibt, der Mensch werde durch sie »unwiderstehlich ergriffen und angezogen« und befinde sich in einem »Zustand der höchsten Ruhe und der höchsten Bewegung«; es entsteht »jene wunderbare Rührung, für welche der Verstand keinen Begriff und die Sprache keinen Nahmen hat.«134 Diese spielerische Literatur entfaltet sich aus einem durchaus emphatischen Konzept von einer Ästhetik der Provokation, der im Kontext der avantgardistisch-dadaistischen Programmatik ihre Brisanz zukommt, auch deshalb, weil ihr auf diesem Feld mit seinen unberechenbaren Wendungen größte Sprengkraft zukommt: Avantgardistische ›Rhetorik‹ und literarisches ›Spielzeug‹ fallen zusammen zu einer »besonders aufregende[n] dissonante[n] Geräuschkulisse«,135 zu einem »optischakustische[n] Tohuwabohu«,136 um provokatives Chaos zu konzentrieren. Ball schreibt: »In typischer Verkürzung zeigt [dieses] den Widerstreit der vox humana mit einer sie bedrohenden, verstrickenden und zerstörenden Welt, deren Takt und Geräuschablauf unentrinnbar sind.«137

133

Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, 37f.

134

Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 64.

135

Kemper, Vom Expressionismus zum Dadaismus, 123.

136

Plumpe, »Avantgarde«, 12.

137

Ball, Die Flucht aus der Zeit, 86.

»Das Leben ist die Provokation, genauer: Ich im Leben, das ist die Provokation.« CHRISTOPH SCHLINGENSIEF

»Indem das Werk eine Welt aufstellt, stellt es die Erde her. Das Herstellen ist hier im strengen Sinne des Wortes zu denken. Das Werk rückt und hält die Erde selbst in das Offene einer Welt. Das Werk läßt die Erde eine Erde sein.« MARTIN HEIDEGGER

2 ›Performativität‹ und Sprache

»Wie nicht sprechen?« JACQUES DERRIDA

Das ›revolutionäre‹,1 innovative Verfahren, das in Ein literarisches Manifest angekündigt ist, wird von Ball in seiner »Anti-Totenrede«2 wie in der daran anschließenden Lautpoesie3 bzw. allgemein in der spielerischen Literatur mit den genannten Mitteln der ästhetischen Provokation dekliniert. Die Negation wie die »Anti-Haltung«,4 das ›Gegen-Sein‹ sind darin bei Ball als »EmpörungsElemente«5 (R. Hausmann) gedacht.6 Diese finden ihre Erfüllung in der Herstel-

1

Vgl. Ehrlicher, Die Kunst der Zerstörung, 179.

2

Schaub, »Dada avant la lettre«, 77.

3

S. dazu auch Hilmes, »Unter falscher Flagge«, 115: »Turbulent ging es zu im ›Cabaret Voltaire‹, und laut war es. Die Züricher Bürger waren empört über den ›von der großen Trommel, Brüllen, Pfeifen und Gelächter‹ begleiteten Vortrag der Phantastischen Gebete von Huelsenbeck [...]. Die ausgestellten Negermasken von Janco – das optische Pendant zu Huelsenbecks ›Negergesängen‹ – stießen auf Ablehnung und lösten Befremden aus. Spektakulär war Balls Selbstinszenierung als ›magischer Bischof‹ am 23. Juni 1916 beim Vortrag seines ersten Klanggedichts gadji beri bimba. Seine ›Verse ohne Worte‹ sind umstritten, denn sie oszillieren zwischen Unsinnspoesie und einer auf sprachmagischen Überlegungen fußenden neuen Sinnstiftung durch die Kunst.« Vgl. auch Ball, Die Flucht aus der Zeit, 85. S. zudem auch Schmitz-Emans, Die Sprache der modernen Dichtung, 131-157.

4

Schaub, »Dada avant la lettre«, 133.

5

Hausmann, »Kurt Schwitters wird MERZ«, 71.

6

Ihre Negativität und Gegnerschaft richtet sich im Speziellen »1. gegen das oft direkt angesprochene Publikum, insbesondere gegen das bürgerliche, genauer: das spießbürgerliche, bourgeoise Publikum [...]. 2. gegen alle zeitgenössischen Kunst-Ismen und

202 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK

lung performativer Äußerungsakte, die auf Formen oralen Sprechens verweisen (Appell, Befehl, Deklamation etc.). Die Weisen ästhetischer Provokation führen damit zu einem weiteren wichtigen Begriff ästhetischer Theorie, der als Grenzbegriff gedacht ist; er steht auf der Grenze zwischen ästhetischer Imagination und dem Bereich sozialen Handelns.7 Das Moment dieser Grenze erfasst der Begriff im Wechsel von Kunstwerk und den mit ihm gesetzten Relationen von Subjekt vs. Objekt und Material- vs. Zeichenstatus zum Ereignis.8 Gerade diejenige Instanz, durch deren Beschaffenheit der Künstler hier provozieren kann, produziert hier Strukturen ästhetischer Provokation, um als Kyniker der Moderne »sein Dasein wie ein Kunstwerk« zu formen, zu handeln.9 Es ist der Begriff des Performativen10 im Sinne John Austins,11 der behauptet, dass sprachliche Äußerungen nicht nur bezwecken, die Beschreibung eines

Kunstbewegungen, insbesondere gegen Expressionismus und Futurismus [...]; 3. gegen den Dadaismus als Kunstrichtung [...].« (Schaub, »Dada avant la lettre«, 133f.) Die Gegnerschaft richtet sich also auch gegen Dada als »Geisteszustand«, als »Geisteshaltung«, weil Dada auch »seine eigene Gegenläufigkeit« ist (Hausmann, »DADA ist mehr als DADA«, 86), weil Dada »alles«, auch sich selbst »bezweifelt«, weil die »echten Dadas« auch »gegen DADA« sind (Tzara, 7 DADA Manifeste, 43), weil »als konsequenter Dadaist« jeder Dadaist »natürlich ein Anti-Dada« ist (Hausmann, Retrospektive, 23). S. dazu auch Verf., »Les ›Matadors‹ Dada«. 7

Vgl. Ehrlicher, Die Kunst der Zerstörung, 34.

8

Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, 30. Nach Mersch führen insbesondere Surrealismus und Dadaismus »auf das, was sich als ›Archäologie des Performativen‹ bezeichnen« ließe, indem sie sich »nicht auf den Innenraum der Kunst« beschränken, sondern diesen »in ihr Außen« entgrenzen, »aus Kunst etwas anderes als Kunst« machen und »Übergänge zu einem ›anderen Anfang‹« suchen; gerade hierher gehöre »die eigentliche Provokation der Avantgarde« und der »Avantgardismus« trage »so bereits genuin performative Züge« (Ereignis und Aura, 251f.).

9

Onfray, Der Philosoph als Hund, 78. S. auch ebd.: »Die Kyniker verabscheuen die Passivität. Handeln setzt Engagement und den Konflikt mit der Wirklichkeit voraus, einen besonderen Kampf gegen den Widerstand der Welt.«

10 Der Begriff des Performativen (wie auch derjenige der Performanz) ist innerhalb der jüngeren kulturwissenschaftlichen Forschung zu einem zentralen »Schlüsselbegriff« avanciert, der »als gemeinsamer Bezugspunkt die irreduzible Prozesshaftigkeit kultureller Phänomene in den Fokus« nimmt und auf einen »umfassenderen, über einzelne Fachdisziplinen hinausgehenden theoriegeschichtlichen Kontext« verweist; auffallend ist dabei, dass dieser Begriff zwar nicht ausschließlich an den Poststrukturalismus zu binden ist, aber »gerade in diesem Umfeld auf besonders fruchtbaren Boden« fällt

2.2 ›P ERFORMATIVITÄT ‹ UND S PRACHE

| 203

Sachverhalts, sondern auch Handlungen zu vollziehen.12 D.h. dieser Begriff besagt, dass Sprache das bedeutet, was sie tut, und hierbei wirklichkeitskonstituierend wirkt, indem sie die soziale Wirklichkeit herstellt, von der sie spricht.13 Sprechen ist Weltveränderung – und das bedeutet, dass zu deren Gelingensbedingungen nicht nur sprachliche, sonder auch soziale Bedingungen notwendig sind: »Die performative Äußerung richtet sich immer an eine Gemeinschaft, die durch die jeweils Anwesenden vertreten wird«; sie bedeutet »die Aufführung eines sozialen Aktes.«14 Bei Austin ist der Begriff des Performativen immer auch mit dem Scheitern von sprachlichem Handeln verbunden.15 Die Inszenierung dieses Scheiterns ist ein Exempel, mit dem »die Anfälligkeit aller Kriterien und das Ausgesetztsein aller definitiven Begriffe für die Unentscheidbarkeiten, die Unwägbarkeiten und Vieldeutigkeiten, die mit dem wirklichen Leben verbunden sind«,16 demonstriert sind. Das Performative ist es, das eine Dynamik in Gang setzt, »die dazu führt, das dichotomische begriffliche Schema als Ganzes zu destabilisieren.«17 Performativität – das meinen u.a. Balls Schriften zur ›Gedächtnisfeier‹ – bildet einen Zuträger für die Ästhetik der Provokation, sofern sie dichotomische Paare wie Subjekt/Objekt (s. Kap. 1.1) oder Signifikant/Signifikat (s. Kap. 1.3a, b) oszillieren lässt. Das Performative ist in der Lage, diese Paarbildungen zu destabilisieren, »ja zum Kollabieren zu bringen«,18 und es ist auffallend, dass die für Balls Totenrede rekapitulierte provokative Dimension in einem performativen Äußerungsakt ihre Erfüllung findet,19 in dem strategisch das Scheitern seines Han-

(Hempfer/Volbers, »Vorwort«, 7f.). Zur Ausdifferenzierung des entsprechenden Theoriefeldes s. auch Hempfer, »Performance, Performanz, Performativität«, sowie insgesamt auch Fischer-Lichte, Performativität; Peters, Der Vortrag als Performance. 11 Vgl. Austin, Zur Theorie der Sprechakte (How to do Things with Words), 29. 12 Dazu näher König, »Bausteine einer allgemeinen Theorie des Performativen aus linguistischer Perspektive«, sowie auch Häsner/Hufnagel/Maassen/Traininger, »Text und Performativität«. 13 Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, 32. 14 Ebd. 15 Vgl. dazu etwa Felman, The Literary Speech Act. 16 Krämer/Stahlhut, »Das ›Performative‹ als Thema der Sprach- und Kulturphilosophie«, 45. 17 Ebd., 56. 18 Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, 34. 19 Zur Perspektive der Performativität bei Ball s. auch Guerra, »Giovanni Papini und Hugo Ball«, 102, sowie Wenzel White, The Magic Bishop, 125-136.

204 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK

delns, wie sich gezeigt hat, grundsätzlich enthalten ist – ein Bruch mit einer referenzbezogenen Repräsentationsästhetik auf der einen Seite, der aktionistische Wille zum symbolischen Handeln auf der anderen Seite, d.h. das Zurücktreten kommunikativer und explikatorischer Funktionen zugunsten einer performativen Ereignishaftigkeit.20 Für die der Gedächtnisfeier nachfolgenden Dada-Soiréen gilt in gleicher Weise, wie sehr der Dada-»Performer«21 die »psychische Belastbarkeit des Publikums vor Ort direkt experimentell zu testen« versucht: »Dada sucht die öffentliche Provokation und die Zuschauer ihrerseits nehmen sie zum Anlass, daraus einen Skandal zu machen«.22 So gibt es »kein abschließendes Telos mehr, das den Gegensatzzusammenhang von Aktion und Reaktion im Konsens aufheben könnte.«23 Wendet Austin den Begriff des Performativen ausschließlich im Zusammenhang mit Sprechhandlungen an, ist damit seine Anwendung auf körperliche Handlungen keineswegs auszuschließen,24 wie dies Judith Buthler in Performative Acts and Gender Constitution: An Essay in Phenomenolgy and Feminist Theory demonstriert: Performative Akte (als körperliche Handlungen) sind für sie insofern als »›non-referential‹«25 zu bezeichnen,26 »als sie sich nicht auf etwas Vorgegebenes, Inneres, eine Substanz oder gar ein Wesen beziehen, das sie ausdrücken sollen«: »Jene feste, stabile Identität, die sie ausdrücken könnten, gibt es nicht«; die körperlichen Handlungen, die für Butler als performativ gelten, »bringen keine vorgängig gegebene Identität zum Ausdruck, vielmehr bringen sie Identität als ihre Bedeutung allererst hervor.«27 Der Körper ist in seiner je besonderen Materialität Resultat einer Repetition bestimmter Gesten und Bewegungen; Identität als körperliche und soziale Wirklichkeit wird erst durch per-

20 Vgl. Ehrlicher, Die Kunst der Zerstörung, 31. 21 Forster, Die Fülle des Nichts, 142. 22 Ebd., 148: »Die Aktionen geschehen dabei in der Hoffnung und Erwartung auf Reaktionen, die ihnen die Differenzen ihrer Ansichten von der Allgemeinheit bestätigen. Seien es Applaus, affirmative oder abschätzige Zwischenrufe, Gespanntheit oder Desinteresse, diese Antworten des Publikums stellen Rückkopplungseffekte dar, die durch die Kopräsens von Performer und Zuschauer möglich werden und kreativ weiter verarbeitet werden können.« (Ebd.) S. dazu wiederum auch Melzer, Latest rage the big drum. 23 Forster, Die Fülle des Nichts, 151. 24 Vgl. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, 34. 25 Ebd., 37. 26 Vgl. Butler, »Performative Acts and Gender Constitution«. 27 Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, 37.

2.2 ›P ERFORMATIVITÄT ‹ UND S PRACHE

| 205

formative Akte konstituiert – von der wirklichkeitskonstituierenden und selbstreferentiellen Wirkung der Performativität spricht ebenfalls Austin. Während für diesen aber das Misslingen des performativen Aktes und damit dessen funktionale Gelingungsbedingungen im Vordergrund stehen, fragt Butler nach den »phänomenologischen Verkörperungsbedingungen«.28 Mit Merleau-Ponty, »der den Körper nicht allein als historische Idee begreift, sondern auch als ein Repertoire von Möglichkeiten, die kontinuierlich zu verwirklichen sind«,29 ist für Butler der Prozess der performativen Erzeugung von Identität ein »Prozeß von Verkörperung«: »Durch die stilisierte Wiederholung performativer Akte werden bestimmte historisch-kulturelle Möglichkeiten verkörpert« und dadurch »sowohl der Körper als historisch-kulturell markierter wie auch Identität allererst erzeugt.«30 Dennoch ist bei Butler wie bei Austin die »Fähigkeit des Performativen virulent, Dichotomien zum Einsturz zu bringen«, denn die performativen Akte eröffnen auch die Möglichkeit, dass »sich in/mit ihnen die/der einzelne selbst hervorbringt – und zwar durchaus auch abweichend von den in der Gemeinschaft dominierenden Vorstellungen, wenn auch um den Preis gesellschaftlicher Sanktionen.«31 Darin treffen sie einen entscheidenden Zug der Explikation ästhetischer Provokation. Indem Butler die Verkörperungsbedingungen mit denjenigen einer Theateraufführung vergleicht, lassen sich diese als Aufführungsbedingungen beschreiben, genauer: der Vollzug performativer Akte ist eine öffentliche Aufführung in deren Verständnis von ›performance‹. Hinzuweisen ist hier erneut auf Balls theatertheoretische Konzeptionen wie auf seine theaterpraktischen Erfahrungen, etwa auch als Regieschüler von Paul Legband an der Schauspielschule des Deutschen Theaters unter der Direktion von Max Reinhardt.32 Wenn Reinhardts Inszenierungen neue räumliche Arrangements schaffen, um die Zuschauer aus der Beobachterposition des zeitgenössischen ›Guckkastentheaters‹ gleichsam herauszudrängen und ihnen neue Formen der Interaktion mit den Schauspielern zu ermöglichen, ja diese im emphatischen Sinne zu ›Schöpfern‹ der Aufführung zu machen, Schauspieler und Zuschauer in körperliche Ko-Präsenz zu versetzen,33 wird auf die ›wirklichen Körper‹ der Aufführung aufmerksam gemacht; vollzogen wird ein Wandel vom Zeichenstatus des Körpers (als Träger von Bedeutung) zu seinem Materialcharakter: »Der Aufführung kommt ihr Kunstcha-

28 Ebd., 38. 29 Ebd. Vgl. auch Butler, » Performative Acts and Gender Constitution«, 273. 30 Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, 38. 31 Ebd., 38f. 32 S. dazu auch Schlichting, »Hugo Ball Chronik«, 12. 33 Dazu ausführlich Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, 48f.

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rakter – ihre Ästhetizität – nicht aufgrund eines Werkes zu, das sie schaffen würde, sondern aufgrund des Ereignisses, als das sie sich vollzieht.«34 Eben darum geht es bei der ›Gedächtnisfeier für gefallene Dichter‹. Die provokative Aktivität, die dabei Balls durch Ein literarisches Manifest theoretisch fundierte Totenrede entfaltet, verweist auf einen Werkbegriff als Ereignisbegriff, den Ball im Zusammenhang der theatralischen Aufführung seiner Lautgedichte noch stärker inszeniert. Das herkömmliche, traditionelle Gefüge von Zuschauern und Schauspielern wird darin in einem doppelt performativen Akt gestört: Die sprachliche Handlung scheitert, weil die Wörter nicht mehr richtig ›verstanden‹ werden, und die körperliche Handlung scheitert, weil die Zuschauer nicht mehr nur zuschauen können, sondern mithören müssen, sich herausgefordert fühlen vom ›Schauspieler‹ als ›Ereignis‹ auf der Bühne, der sich so ganz gewohnten Rezeptionsweisen verweigert. Das Publikum ist aufgefordert, sich aufzuregen, zu reagieren »ohne Rücksicht«, wie Ball schreibt, »auf eine besondere Richtung mit Vorschlägen und Beiträgen«.35 Auch das Lachen36 ist hierbei stets mitgedachte Reaktion und tatsächlich reagiert das Publikum auf Balls Lautgedichte nach anfänglicher Konsternierung, indem es vor Lachen regelrecht ›explodiert‹.37 Ball schreibt, dass der »Versuch, das Publikum mit künstlerischen Dingen zu unterhalten«, »in ebenso anregender wie instruktiver Weise zum ununterbrochen Lebendigen, Neuen, Naiven« drängt: »Es ist mit den Erwartungen des Publikums ein Wettlauf, der alle Kräfte der Erfindung und der Debatte in Anspruch nimmt«.38 Die Methode des Vortrags zielt »bewußt auf Provokation«39 und auch der ›priesterliche‹ Ton, den Ball beim Vortrag seiner Lautgedichte wählt, bekräftigt eine Rezeption der Darbietung als Provokation.40 Dadurch ergeben sich Effekte auf der Seite der Rezipierenden, die Balls sprach- und zeitkritischen Intentionen mindestens nahe kommen: »Gegen das Fiasko des auf Vernunft aufgebauten Modells, das sich im ›Grauen dieser Zeit‹ manifestiert, evoziert Balls Lautdichtung ästhetischen Widerstand«.41

34 Ebd., 53. 35 Ball, Die Flucht aus der Zeit, 79. 36 S. dazu auch Mersch, Ereignis und Aura, 254. 37 Vgl. Richter, DADA – Kunst und Antikunst, 42. 38 Ball, Die Flucht aus der Zeit, 83. 39 Döhl, »Dadaismus«, 730. 40 Vgl. Keith, Poetische Experimente der deutschen und russischen Avantgarde, 162. 41 Ebd., 177.

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a) ›Auftritt‹ und ›Affekt‹ Die Effekte auf der Seite des Rezipierenden haben eine Ursache; sie sind die Einprägung eines Typs konfrontierender Intention, die im konkreten avantgardistischen Kontext stehen. Eine konfrontierende Intervention verbirgt sich in dem Ansinnen der Avantgarde, eine »mentale Revolution eingeübter Auslegungsmuster des Lebens« zu verursachen, »verbunden mit befreiende[r] Energie«.42 Wenn das aber so ist, dann müssen Avantgarden aus dieser Perspektive im Zustand jener ›Engerie‹ behandelt werden. Man kann sich dann nicht mit der reinen Beobachtung ihrer Erscheinungen begnügen, sondern muss sich dem Grundlagenproblem zuwenden, was sie überhaupt zu Avantgarden macht, was sie auslöst, welche ›Energie‹ sie befreit und welche durch sie befreit wird. Der Frage, der an dieser Stelle demnach auch nachzugehen ist, liegt an der Schnittstelle beider Ebenen und sie betrifft auch beide Ebenen: ebenso die die Avantgarden befreiende wie die durch sie befreite ›Energie‹, die nötig ist, um jene gleichsam zu beschleunigen oder um sie entgegen einer Kraft zu bewegen. Zu zeigen ist, dass sich hinter dieser Energiemetapher ein spezifischer Ausgangs- und Zielpunkt verbirgt, der jeweils mit einem starken (seelischen) Gefühl in eins fällt: der ›Wut‹, die somit als weiterer wichtiger Begriff der Provokationsästhetik vorzustellen ist. Wenn ich dazu Überlegungen und Klärungen zu einem kunst- und literaturtheoretischen Verständnis dessen anstelle, was ›wütende‹ Avantgarden sind,43 so stehen zwei Merkmale im Zentrum meines Interesses. Erstens: ›Wütende‹ Avantgarden sind durch den Umstand ausgezeichnet, dass sie auf näher zu untersuchende Weise emphatisch wahrnehmen, und zwar »in dem zugleich fundamentaleren und weiterreichenden Sinn von ›Gefahrwerden‹«.44 Sie sind Resultate der künstlerischen Aufnahme und reflexiven Verarbeitung von ›Gefahren‹ und den »dabei in Kraft tretenden Wirkungen auf Wahrnehmungs- und Bewusstseinsmechanismen, der Öffnung neuer Erfahrungsräume«, wofür vor allem »Manipulationen an und mit Zeichensystemen« verantwortlich sind.45 Mit diesem Aspekt hängt nun zweitens eine spezifische Weise ästhetischer Erfahrung

42 Wehle, »Avantgarde: Ein historisch-systematisches Paradigma ›moderner‹ Literatur und Kunst«, 33f. 43 S. dazu auch ansatzweise die Diskussion in Verf., »Rage Systems or The rage of the Avant-Garde«. 44 Welsch, Ästhetisches Denken, 110. 45 Keith, Poetische Experimente, 38.

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zusammen, auf die ich mich hier konzentriere: ›Wütende‹ Avantgarden verwenden das ästhetische Zeichen im Sinne der Provokationsästhetik als Material und weniger als Signifikant;46 sie subvertieren dadurch die Signifikantenbildung, schieben die Bewegung der Bildung von Bedeutungen unendlich auf. Dies betrifft im Übrigen auch das Verhältnis von Kritik und affektiver Wut, für das, wie Patricia Purtschert im Rückgriff auf Foucaults Kritik-Begriff nachgewiesen hat, eine »formale Ähnlichkeit« herauszustellen ist: Wut verweist auf eine unentwirrbare und offensichtliche Verstrickung mit der Macht, die sie angreift und der sie unterworfen ist. Damit gleicht sie der Figur der Kritik, wie sie von Foucault beschrieben wird: Wut und Kritik sind Reaktionen auf etwas, gerichtet gegen etwas, sie speisen ihren Sinn aus einer Gegnerschaft, der sie zugleich angehören. [...] Die wütende Kritik zielt, gerade weil sie aus einer Position der Betroffenheit heraus deutlich macht, wie gewisses Leben verhindert und anderes ermöglicht wird, auf die sorgsam gehüteten und ökonomisch verwalteten Verhältnisse von Nähe und Distanz, Versachlichungen und Objektivierungen und versucht, diese anders zu organisieren.47

›Wut‹ ist eine sehr heftige Emotion, sie ist häufig eine impulsive und aggressive Reaktion, ausgelöst durch eine als unangenehm empfundene Situation oder Bemerkung, zum Beispiel eine Kränkung; ›Wut‹ ist im allgemeinen Verständnis heftiger als der ›Ärger‹ und schwerer zu beherrschen als der ›Zorn‹; wer wütet, sagt man, zerstört blindlings.48 Selbst wenn ein Teil dieser Bestimmungen von alltäglichen Redeweisen abgeleitet, zudem auch undifferenziert und pauschalisierend ist, so enthüllen sie doch einiges über den Charakter dessen, was mit dem Begriff der ›Wut‹ auf dem Spiel steht. Was sagen die oben aufgeführten Verwendungsweisen über den Gehalt ›wütender‹ Avantgarden? Zunächst verweisen sie auf das Element des Reaktiven, für das es einen Auslöser geben muss, sowie auf das der Impulsivität, d.h. auf ein spontanes, situationsunangemessenes, unkontrolliertes Verhalten: ›Wut‹ ist schon auf den ersten Blick eine heftige Gemütsbewegung, ein Affekt. Werden die ›wütenden‹ Avantgarden im Kontext des schon thematisierten »Avantgardemanifestantismus«49 situiert, gewinnt dieser Bezug an Evidenz. Hier markiert insbesondere das Manifest des Futurismus den »Wechsel von einer re-

46 S. zum Kontext insgesamt auch Mersch, Was sich zeigt. 47 Purtschert, »Nicht so regiert werden wollen: Zum Verhältnis von Wut und Kritik«, 158; s. außerdem bes. auch ebd., 150. 48 S. zu den folgenden Überlegungen Verf., »Raging Avant-Gardes«. 49 Ehrlicher, Die Kunst der Zerstörung, 21.

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ferenzbezogenen Repräsentationsästhetik zur wirkungsbezogenen Produktionsästhetik«: »Literatur wird dabei weniger als Konglomerat von Zeichen aufgefaßt, sondern vielmehr als ein Potential zur Stimulierung von Affekten.«50 Filippo Tommaso Marinetti schreibt: – Los, sagte ich, los, Freunde! Gehen wir! Endlich ist die Mythologie, ist das mystische Ideal überwunden. Wir werden der Geburt des Kentauren beiwohnen, und bald werden wir die ersten Engel fliegen sehen! … Man muß an den Pforten des Lebens rütteln, um ihre Angeln und Riegel zu prüfen! … Gehen wir! Da, seht auf der Erde, die erste aller Morgenröten! Nichts gleicht dem Glanz des rotten Sonnenschwertes, das zum erstenmal in unsere tausendjährige Finsternis hineinsticht! …51

Die Aufforderung zum direkten Handeln ist denn auch ein wesentliches Merkmal des schon zitierten Varieté-Theaters Marinettis: »Dieses bleibt nicht unbeweglich wie ein dummer Gaffer, sondern nimmt lärmend an der Handlung teil, singt mit, begleitet das Orchester und stellt durch improvisierte und wunderliche Dialoge eine Verbindung zu den Schauspielern her.« 52 Worauf die Verabschiedung argumentativ-rationalen zugunsten direkten Handelns,53 die an der aus der zitierten Stelle in Marinettis Manifest in der Fiktion eines Verkehrsunfalls geschildert wird, hinweist, ist der Umstand, dass es sich um die Selbstentäußerung des Subjekts handelt, »die im Beschleunigungsrausch des im eigentlichen Sinne des Wortes automobilisierten Futuristen erfolgt«.54 Das Subjekt streckt sich in seinem Wagen »wie ein Leichnam auf der Bahre aus«, aber sogleich erwacht es »zu neuem Leben unter dem Steuerrad«, das »wie eine Guillotine« seinen Magen bedroht.55 Die lebensbedrohliche wie lebenserneuernde Technikerfahrung ist es, die den Futuristen wütend macht und zugleich eine Wut entfesselt, die schöpferisch wirkt: Der wütende Besen der Tollheit kehrte uns aus uns selbst heraus und jagte uns durch Straßen, abschüssig und tief wie Flußbetten. […] Ich schrie: – Die Witterung, die Witterung allein genügt den Bestien!

50 Ebd., 89. 51 Marinetti, »Gründung und Manifest des Futurismus«, 30. 52 Ders., »Das Varieté«, 172. 53 Vgl. Ehrlicher, Die Kunst der Zerstörung, 90. 54 Ebd., 93. 55 Marinetti, »Gründung und Manifest des Futurismus«, 31.

210 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK Und wie junge Löwen verfolgten wir den Tod, der in seinem schwarzen, mit fahlen Kreuzen gefleckten Fell durch den weiten, malvenfarbigen, lebendigen und bebenden Himmel davonstob. […] – Verlassen wir der Weisheit schreckliches Gehäuse, und werfen wir uns, wie mit Stolz gefärbte Früchte, in den riesigen und fletschenden Rachen des Windes! … Werfen wir uns dem Unbekannten zum Fraß hin, nicht aus Verzweiflung, sondern nur, um die tiefen Brunnen des Absurden zu füllen! […] Ich bremste hart, und vor lauter Ärger stürzte ich mich, mit den Rädern nach oben, in den Graben …56

›Wütend‹, ›schreiend‹, ›verärgert‹ – die emotionale, affektive Aufladung der Szene ist nicht von der Hand zu weisen. Was Marinetti damit ausdrückt, ist der Umstand, dass der Furor der Beschleunigung, die hier im Bild einer Autofahrt beschrieben ist, eine »Selbstopferungsbereitschaft« in einem konkreten Handlungszusammenhang offenbart: »Die Bereitschaft zur Auslieferung an das Unbekannte vollzieht sich im willentlich herbeigeführten Unfall.«57 Marinetti weist damit darauf hin, dass die technische Beschleunigung des Körpers die Grenzen der Zeitlichkeit hinter sich lässt, »weil sie den Bewußtseinspunkt selbst überholt, von dem aus noch eine Gerichtetheit der Bewegung anzugeben wäre«: »Die rasende Autofahrt dient nicht irgendeiner intentionalen Fortbewegung, sondern zielt auf das Moment der lustbesetzten Selbstopferung in Ekstase.«58 Die Fiktion gipfelt in dem durch Aktionismus erreichten »heroischen Triumph des Willens«,59 dem die psychologische Dimension einer Traumaabwehr abseits biographisch-lebensweltlicher Bezüge eingeschrieben ist.60 Nicht zuletzt sieht man daran, wie ein technischer Unfall das Trauma des ›industriellen Bewusstseins‹ des modernen Menschen bedeutet:61 Oh, mütterlicher Graben, fast bis zum Rand mit schmutzigem Wasser gefüllt! Oh, schöner Abflußgraben einer Fabrik! Ich schlürfte gierig deinen stärkenden Schlamm, der mich an die heilige, schwarze Brust meiner sudanesischen Amme erinnerte … Als ich wie ein

56 Ebd., 35f. 57 Ehrlicher, Die Kunst der Zerstörung, 93. 58 Ebd. 59 Ebd. 60 Marinetti war selbst 1908 in der Nähe von Mailand in einen Graben gefahren. S. dazu u.a. Blum, The Other Modernism, 53. 61 Vgl. Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise, bes. 177-134.

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schmutziger, stinkender Lappen unter meinem auf dem Kopf stehenden Auto hervorkroch, fühlte ich die Freude wie ein glühendes Eisen erquickend mein Herz durchdringen! Ein Haufen mit Angelruten bewaffneter Fischer und gichtbrüchiger Naturforscher lärmte schon um das Wunder herum. Mit geduldiger und peinlich genauer Sorgfalt stellten diese Leute große Gerüste auf und legten riesige Eisennetze aus, um mein Auto wie einen großen gestrandeten Haifisch zu fangen. Langsam tauchte der Wagen aus dem Graben auf und ließ wie Schuppen seine schwere Karosserie des gesunden Menschenverstandes und seine weichen Polster der Bequemlichkeit auf dem Grund zurück. […] Da, das Antlitz vom guten Fabrikschlamm bedeckt – diesem Gemisch aus Metallschlecke, nutzlosem Schweiß und himmlichen Ruß –, zerbeult und mit verbundenen Armen, aber unerschrocken, diktierten wir unseren ersten Willen allen lebendigen Menschen dieser Erde […].62

Der im futuristischen Manifest fiktionalisierte, selbstproduzierte Unfall des Erzählers ist lesbar als »Versuch zur Verarbeitung von Kontingenz- und Schockerlebnissen, welche die technifizierte Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts auslöste«, als »Strategie der Kontingenzbewältigung«, als »Reaktion auf die Anforderungen einer modernen Lebenswelt, die besonders in den Großstädten von der Simultanpräsenz heterogener Stimuli gekennzeichnet war und dem einzelnen zunehmend das Gefühl vermittelte, das ›Steuer‹ über sein Leben nicht mehr selbst in Händen zu halten.«63 Die ›Wut‹ der Avantgarden, die hier zum Ausdruck kommt, ist kurzgeschlossen mit dieser Erfahrung der Moderne. Durch sie sollen eingespielte Wahrnehmungsmuster außer Kraft gesetzt werden, um die neue technische und gesellschaftliche Mobilität und zugleich die ästhetische Reaktion auf ein umfassend verändertes Lebensgefühl der Moderne abzubilden.64 Angestrebt wird, wie sich auch bei Ball gezeigt hat, eine explizit »psychische Reinigung, die als absolute imaginiert wird« und die »nicht in einer nur verschiebenen Expansion der Identitätsgrenzen« besteht, sondern »auf ein Zusammenbrechen der systemischen Differenz zwischen Außen und Innen« hinausläuft.65 Der damit behaupte Zusammenfall von künstlerischem Innen und Außen innerhalb der ästhetischen Wahrnehmung, lässt sich noch einmal etwas näher verdeutlichen, wenn man den Begriff der ›Wut‹ als imperativen Titel von Aussagen

62 Marinetti, »Gründung und Manifest des Futurismus«, 32f. 63 Ehrlicher, Die Kunst der Zerstörung, 94. 64 Vgl. Schmidt-Bergmann, Die Anfänge der literarischen Avantgarde in Deutschland, 70. 65 Ehrlicher, Die Kunst der Zerstörung, 95.

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über die Aufgaben von Kunst versteht, die die ästhetischen Überzeugungen des Futurismus italienischer wie russischer Provenienz mit den ›Flügeln‹ der historischen Avantgarde in ihrer dadaistischen und im Übrigen auch surrealistischen und konstruktivistischen Ausrichtung verbinden:66 Der Begriff der ›Wut‹ enthält so Aussagen über die Aufgabe von Kunst, »in Erstaunen zu versetzen, um dadurch der Automatisierung der Wahrnehmung« entgegen zu wirken und um die »vollständige Erneuerung der menschlichen Sensibilität« im Sinne Marinettis zu kämpfen.67 Imperativ sind diese Aussagen deshalb, weil sie in der Konfrontation mit einem ständig Neuen, Unvorhergesehenen aufrecht erhalten werden;68 sie stehen im Dienst der »sensibilisierenden Funktion der ästhetisch verstandenen Primärakte des Erstaunens«69 und damit auch im Kontext von Viktor Šklovskijs Theorie der Entautomatisierung der Wahrnehmung, die eine Funktion der Verfremdung für die avantgardistische ›Idee‹ formuliert: »Ganze (Kunst-)Werke sind jetzt versteinert (okameneli), die Werke der Klassiker sind für uns mit einem gläsernen Panzer überzogen [...].«70 Gleichzeitig stehen diese imperativen Aussagen in Übereinstimmung mit dem Wunsch, diese ›Versteinerungen‹ zu zerschlagen. Anders gesagt: Der »›Wahrnehmungsverlust‹ durch Konventionalisierung und Gewöhnung« korresponiert mit dem »›Wirklichkeitsverlust‹ der ›versteinerten, verknöcherten‹ Sprache, die ihrerseits wieder auf die Wahrnehmung zurückwirkt.«71 Šklovskij schreibt: Heute ist die alte Kunst tot, eine neue noch nicht geboren; tot sind auch die Dinge, wir haben das Gefühl für die Welt verloren [...]. Im alltäglichen Leben sind wir nicht mehr Künstler, wir lieben unsere Häuser und Kleider nicht mehr und trennen uns leicht von einem Leben, das wir nicht mehr empfinden. Nur das Schaffen neuer Formen in der Kunst

66 Vgl. Hansen-Löve, Der russische Formalismus, 68. 67 Ebd. 68 Vgl. ebd., 68f. 69 Ebd., 69. 70 Viktor Šklovskij, »Predposylki futurizma« (1915), zit. nach: ebd. 71 Ebd. S. dazu etwa auch Mirskonca A. Kruenychs Deklaracija slova, kak takovogo, wo es heißt »Die Wörter sterben, die Welt bleibt ewig jung. Der Künstler hat die Welt aufs neue gesehen – wie Adam – und gibt allem seine Namen. Die Lilie ist wunderschön, aber das Wort Lilie ist schrecklich abgegriffen und ›abgetragen‹. Daher nenne ich Lilie ›euy‹ – und die ursprüngliche Reinheit ist wiederhergestellt« (zit. nach ebd.), was sowohl in der inhaltlichen Stoßrichtung wie in der Wortwahl nicht zufällig an Balls erstes dadaistisches Manifest erinnert.

2.2 ›P ERFORMATIVITÄT ‹ UND S PRACHE

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kann dem Menschen das Erleben der Welt (perezivanie mira) zurückgewinnen, die Dinge auferwecken (voskresit’ vesi) und den Pessimismus töten.72

Aufrund der Bestimmung der Neu-Schaffung von Kunst-Formen als Konstituent der Auferweckung der Dinge sind diese Aussagen wiederum als ›wütend‹ motiviert bestimmt: Die Aussagen über das Schaffen neuer Formen in der Kunst sind Aussagen über eine ›Wut‹ sowie gegen eine Versteinerung oder Verknöcherung des Bestehenden im Prozess der Wahrnehmung: Die »neue ›Weltsicht‹« bzw. das »frische ›Weltempfinenden‹« rückt an die »Stelle des ideologischen Begriffs der ›Weltanschauung‹«; die Kunst erscheint nicht weiter als eine »›Denkmethode‹«, sondern als eine »›Methode zur Erneuerung der Wahrnehmbarkeit der Welt‹, die wiederum nur durch die Veränderung (Verfremdung) der Form garantiert wird«73 – im Zeichen der ›Wut‹. Die ›wütenden‹ Avantgarden belassen es aber nicht dabei, allein wütend zu sein; sie sind zudem bestrebt, ›allen lebendige Menschen dieser Erde‹ wütend zu machen. Deshalb schreibt Marinetti: »Wehe dem, der uns diese infamen Worte noch einmal sagt!«74 Die Gewalt, die als »monistische, psychodynamisch wirkende Kraft«75 in den elf Manifestpunkten formuliert wird, zeigt die Insistenz auf eine »Permanenz der Revolte«, die »allein durch die Übertragung emotionaler Erregung« vermittelt werden kann:76 durch ›Wut‹. Nicht zufällig wird das Manifest des Futurismus zum »Ort einer Schrift, welche die Differenz zwischen Oralität und Literarizität einfach zu überspringen sucht und die Direktheit performativer Sprechakte simuliert.«77 Es steht in direktem Zusammenhang mit Balls kunsttheoretischen Texten,78 zumal das »futuristische Programm der Umwertung aller Werte« als »Stil der revolutionierten Verkehrsmittel und Nachrichtenübermittlung, des Dynamismus der großen Städte und der neuen technischen Medien, der Reproduzierbarkeit der Künste und der Kinematographen« das »Zeitgefühl auch der deutschen Schriftsteller der sich formierenden Avantgarde genau« zu treffen vermag.79 Ball hat mithin den italie-

72 Viktor Šklovskij, »Voskresenie slova« (1919), zit. nach: ebd. 73 Ebd., 70. 74 Marinetti, »Gründung und Manifest des Futurismus«, 36. 75 Ehrlicher, Die Kunst der Zerstörung, 96. 76 Ebd., 98. 77 Ebd., 90. 78 Vgl. Sheppard, »Dada und Futurismus«. 79 Schmidt-Bergmann, Die Anfänge der literarischen Avantgarde, 70.

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nischen Futurismus stark rezipiert80 und lässt sich auch von diesem zu seinen eigenen, ›wütenden‹ Proklamationen anregen; treibt die performativ verfahrende Sprachverwendung Marinettis Text an die Ränder der Schriftlichkeit,81 ist dessen ›wütende‹ Auflösung bei Ball, wie sich erwiesen hat, bereits realisiert. Aus beiderlei ›Wut‹ ist die Provokationsästhetik mitunter konstituiert. Der provozierte Rezipient des ›wütenden‹ avantgardistischen Kunstwerks macht die Erfahrung, »daß sein an organischen Kunstwerken ausgebildetes Verfahren der Aneignung geistiger Objektivationen dem Gegenstand unangemessen ist«: Weder erzeugt das avantgardistische Werk einen Gesamteindruck, der eine Sinndeutung erlaubt, noch läßt der möglicherweise sich einstellende Eindruck im Rückgang auf die Einzelteile sich klären, da diese nicht mehr einer Werkintention untergeordnet sind. Diese Versagung von Sinn erfährt der Rezipient als Schock. Ihn intendiert der avantgardistische Künstler, weil er daran die Hoffnung knüpft, der Rezipient werde durch diesen Entzug von Sinn auf die Fragwürdigkeit seiner eigenen Lebenspraxis und die Notwendigkeit, diese zu verändern, hingewiesen. […] Die Problematik des Schocks als intendierte Reaktion des Rezipienten besteht darin, daß er im allgemeinen unspezifisch ist. Selbst wenn man annimmt, daß die Durchbrechung der ästhetischen Immanenz gelingt, so ist damit über die Richtung der möglichen Verhaltensänderung des Rezipienten noch nichts ausgemacht. Die Reaktion des Publikums auf DadaVeranstaltungen ist für das Unspezifische der Reaktion bezeichnend. Das Publikum antwortet auf die Provokation der Dadaisten mit blinder Wut.82

Wenn nun die sich an der (technischen) Lebens- wie Sprachkrise der Moderne geradezu entzündete ›Wut‹ der Avantgarden gar nicht ›wirklich‹ die Lebenspraxis der Rezipienten verändert,83 so geschieht dies auch deshalb, weil die von ihnen intendierten Reaktionen einer Explosion gleichen, die – tatsächlich – nicht kontrollierbar werden kann: sie erschafft wiederum allein ›Wut‹, ›blinde Wut‹. Aus dieser kurzen Verständigung ergibt sich ein Set von Eigenschaften, die zum ›Wut‹-Charakter der Avantgarden zu gehören scheinen: die Stimulierung von Affekten im Akt der Kunst; die innere und äußere Entäußerung des Subjekts, insbesondere seiner gewohnten Sprache und seines Bewusstseins; die emotionale Erfahrung der Moderne; das Streben nach permanenter (künstlerischer)

80 Dazu wiederum ausführlich J. Kühn, »Ein deutscher Futurist«, 86-103. S. zudem auch Demetz, Worte in Freiheit, 90-98. 81 Vgl. Ehrlicher, Die Kunst der Zerstörung, 98. 82 Bürger, Theorie der Avantgarde, 108. 83 Vgl. ebd.

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Erregung; die Schockierung des Rezipienten im Moment der ästhetischen Produktion; schließlich die unkontrollierte und unkontrollierbare ›Entladung‹ von Künstler, Kunstwerk und Publikum. So lässt sich eine Definition von ›wütenden‹ Avantgarden formulieren: ›Wütende‹ Avantgarden sind durch (intellektuelle wie körperliche) Praktiken der Aggression konstituierte Kunst-›Bewegungen‹ mit explosivem Charakter, die mehr oder weniger komplexe theoretische Systeme von Verhaltenserwartungen bereitstellen, mehr oder weniger destabile psychische Konstitutionen etablieren. Je nach Intensität der die ›wütenden‹ Avantgarden bedingenden und von ihnen bedingten mithin heftigen Emotion gibt es dann naturgemäß stärker und weniger ›wütende‹ Avantgarden. Diese sind dementsprechend graduelle Phänomene, die aber durch einen bestimmten Grad an Kongruenz gekennzeichnet sind: Ihre ›Wut‹ ist Ausdruck einer deutlichen Krise; sie sind Gefüge eines größeren ›kulturelles Projekts‹, das sie zu einer Art von Gestalt verfestigt. Es lässt sich also trotz verschiedener Intensitäts-Grade der ›Wut› sowie verschiedener ›Aggregatzustände‹ ›wütender‹ avantgardistischer Theorie wie Praxis eine gemeinsame Basis bestimmen, die der Avantgarde-Forschung nicht unbekannt ist: Diese Avantgarden versuchen, »metasemiotisch von kulturellen Nullpunkten aus zu operieren, von denen aus sie die Mittel der Konstitution von Wirklichkeit, allen voran deren Basis, die Sprache, entfunktionalisieren, vorführen und in Frage stellen – und damit auch die Grundlagen jeder Form von Gesellschaft«,84 etwa durch Konterkarierung der Muster und Mechanismen etablierter Kultur und dem Versuch, daraus einen neuen Bewusstseinszustand zu erzeugen. Das Subjekt soll aus den ›Fängen‹ totalisierender Vernunft »vor der Tyrannei des Faktischen, des Nützlichen und Erfolgreichen«85 befreit werden. Was genau macht jedoch diese Befreiung bzw. den spezifischen Status ›wütender‹ Avantgarden aus? Zwei Aspekte sind zu nennen: Erstens: Der misstrauische Charakter von ›wütenden‹ Avantgarden. Nach Freud bewältigt die Kultur »die gefährliche Aggressionslust des Individuums, indem sie es schwächt, entwaffnet und durch eine Instanz in seinem Inneren, wie durch eine Besatzung in der eroberten Stadt überwachen läßt.«86 ›Wütende‹ Avantgarden, so könnte man sagen, sind dagegen darum bestrebt, die ›gefährliche Aggressionslust des Individuums‹ noch zu verstärken. Da, wo sie die ›Instanz‹ im Innern überwindet, um, wie in Balls Erstem dadaistischen Manifest, die Sprache aggressiv zu stören, zu zerstören, gehört zum Vorgang der ›Wut‹

84 Keith, Poetische Experimente, 355. 85 S. J. Schmidt, Ästhetische Prozesse, 33. 86 Freud, Abriß der Psychoanalyse, 111.

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dabei ein Moment der Übertreibung: »In vieler Hinsicht übertreibt diese Literatur, aber nur, um als Literatur überhaupt etwas zu betreiben, um überhaupt eingreifen zu können.«87 ›Wütende‹ Avantgarden sind in ihrem Misstrauen, in ihrem Unbehagen übertreibend und, indem sie dies sind, negierend revolutionär. Chris Bezzel führt aus: revolutionär ist […] eine dichtung, die das medium sprache selbst verändert, umfunktioniert, die den hierarchischen sprachlichen charakter zerstört, die im neuartigen sprachspiel und durch das neuartige sprachspiel diejenige gesellschaftliche umwälzung vorwegnimmt, für die alle revolutionäre arbeiten. dichter unter diesem aspekt ist also der, der mit poetischen mitteln im medium der sprache selbst als ein menschliches zeichensystem für menschen revolutioniert. dichtung der revolution bedeutet revolution der dichtung.88

Wie lässt sich die ›Verkettung‹ von (›wütenden‹) Avantgarden und Revolution genauer markieren? Die Verfahren dieses Aufweises habe ich bereits oben implizit skizziert; betrachten möchte ich sie nun noch ansatzweise an einem generellen Verhältnis, und zwar an demjenigen von Kunst und Revolution, wie es Gerald Raunig beleuchtet hat.89 Sein Einsatzpunkt sind zwei Texte von Richard Wagner und Anatoli Lunatscharski90 sowie eine Überlegung von Deleuze/Guattari,91 die ausführen: Zu sagen, die Revolution selbst sei eine Utopie der Immanenz, heißt nun aber nicht, sie sei damit ein Traum, etwas, das sich nicht verwirklicht oder sich nur verwirklicht, indem es verrat an sich selbst begeht. Im Gegenteil, es bedeutet, die Revolution als Immanenzebene zu setzen, als unendliche Bewegung, absolutes Überfliegen, allerdings insofern diese Merkmale sich mit dem verbinden, was es hier und jetzt im Kampf gegen den Kapitalis-

87 Scheffer, »Aufbruch und Provokation«, 39. 88 Bezzel, »dichtung und revolution«, 36. Der ›revolutionäre‹ Charakter von Dichtung ist kein Phänomen, das erst mit den historischen Avantgarden aufkommt; gleichwohl lassen sich diese als Träger einer (zweiten) Literaturrevolution auffassen (vgl. R. Kühn, »Überlegungen zum Thema ›Avantgarde‹ aus literaturwissenschaftlicher Sicht im Rückblick auf ein Vierteljahrhundert«, 47, 37). Zu Balls politisch-revolutionären Ansichten s. etwa seine für den vorliegenden Kontext nicht maßgeblichen Artikel in der Freien Zeitung. 89 S. Raunig, Kunst und Revolution. 90 Vgl. dabei Wagner, »Die Kunst und die Revolution«, mit Lunatscharski, »Die Revolution und die Kunst«. 91 Vgl. Raunig, Kunst und Revolution, 7.

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mus an Realem gibt, und immer wieder neue Kämpfe entfachen, sobald die vorhergehende verraten ist.92

Revolutionär ist die Kunst so in einem ersten Sinne, wenn in ihr der – schon wiederholt erwähnte – »Topos der totalisierenden Entgrenzung von Kunst und Leben«93 enthalten ist. Neben dieser bei Wagner und Lunatscharski zugrunde gelegten gibt es bei Deleuze/Guattari mindestens aber noch eine weitere, mit der gerade genannten kompatible Möglichkeit, die Deutung des Verhältnisses von Revolution und Kunst zu erschließen. Der Vorschlag von Deleuze/Guattari ist im Zusammenhang der ›Verkettung‹ von Kunstmaschinen und revolutionären Maschinen situiert,94 wobei der Begriff der ›Maschinen‹, so Raunig, hier »weder einen rein technischen Mechanismus (ein mechanisiertes Werkzeug) im Gegensatz zum Menschlichen, noch eine bloße Metapher« meint: Maschinen sind demnach komplexe Gefüge, die mehrere Strukturen zugleich durchdringen und sie verbinden, die Kollektive und Individuen durchziehen, Menschen und Dinge. Das Verhältnis von Mensch und Maschine lässt sich in einer derartigen Konzeption von Maschinisierung nicht mehr in Begriffen der Ersetzung oder der Anpassung fassen, also der Ersetzung des Menschen durch die Maschine oder der Anpassung des Menschen an die Maschine, sondern nur in solchen der Verbindung und des Austausches. Vor allem aber bezeichnet der Begriff Maschine [...] auch soziale Gefüge [...]95

Nun weist Raunig darauf hin, wie Deleuze/Guattari im Schlusskapitel des AntiÖdipus »im Kontext der Austauschformen und Verhältnissetzungen von revolutionären Maschinen und Kunstmaschinen« auch die »Avantgardeströmungen der 1910er Jahre« beleuchten, und dies »im Rahmen des Vorschlags, vier Einstellungen zur Maschine zu unterscheiden, die exemplarisch stehen für die möglichen Verkettungen von Kunst und Revolution«.96 Dabei erscheint vor allem die »molekulare dadaistische Maschinerie« als ein eigentümlicher Status, da sie »die Produktionsverhältnisse einer Prüfung durch die Wunschmaschine« unterwerfe

92 Deleuze/Guattari, Was ist Philosophie?, 115f. 93 Raunig, Kunst und Revolution, 13. 94 Vgl. ebd., 15, sowie Deleuze/Guattari, Anti-Ödipus, insbes. Appendix: ›Programmatisch Bilanz für Wunschmaschinen‹, 497-521. S. dazu auch Guattari, »Maschine und Struktur«, ders., Wunsch und Revolution, sowie einführend Schmidgen (Hg.), Ästhetik und Maschinismus. 95 Raunig, Kunst und Revolution, 15. S. dazu ausführlich auch ders., Tausend Maschinen. 96 Ebd., 19.

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und »mit ihrer antimilitaristischen, internationalistischen, anarchischen Praxis eine fröhliche Deterritorialisierung jenseits aller Territorialitäten« entfache (s. dazu auch das folgende Kap.) – im Gegensatz zum itialienischen wie russischen Futurismus. Deleuze/Guattari: Und weil es sich gerade nicht um Ideologie, sondern um Maschinerisierung dreht, die ein ganzes Zeitepochen- und Gruppenbewußtsein in Gang setzt, ist die Beziehung dieser Einstellungen zum gesellschaftlichen und politischen Feld komplex, wenngleich nicht unbestimmt. Der italienische Futurismus formuliert eindeutig die Organisationsbedingungen und -formen einer faschistischen Wunschmaschine, einschließlich aller Äquivokationen einer nationalistischen und kriegswilligen »Linken«. Die russischen Futuristen versuchen, ihre anarchistischen Elemente in eine Parteimaschine gleiten zu lassen, die sie zermalmt. Politik ist nicht die stärkste Seite der Dadaisten.97

Dies wäre im Übrigen ein Kriterium zur Unterscheidung ›wütender‹ dadaistischer von ›wütenden‹ futuristischen Avantgarden: Erstgenannte sind nicht ›politisch‹ im engeren Sinne; sie sind vielmehr eigentümlich ›politisch‹, d.h. ästhetisch-politisch, worauf ich nochmals näher zurückkommen werde. Eine zweite Möglichkeit, den spezifischen Status ›wütender‹ Avantgarden zu benennen, wäre ihre Aktualität. Dafür steht paradigmatisch wiederum das Projekt von Poststrukturalismus, Dekonstruktivismus und ›Postmoderne‹, denn es sind Autoren wie Michel Foucault, Jacques Derrida und Jacques Lacan, die den avantgardistischen Impuls »an die nachfolgenden Generationen weitergeben«.98 Peter Bürger führt aus: In der Histoire de la folie formuliert Foucault eine Vernunftkritik, die an Radikalität der surrealistischen nicht nachsteht, indem er zu zeigen versucht, daß die Selbstsetzung der Vernunft mit dem Ausschluß ihres Andern, des Wahnsinns, einhergeht. Derrida hat sich eingehend mit diesem Text befaßt und Foucault vorgeworfen, daß er eine unzulässige Voraussetzung mache, nämlich die, er vermöchte in der Sprache der Vernunft die Wahrheit des Wahnsinns zur Sprache bringen. Er selbst versucht die Cartesische Vernunft auf andere Weise zu erschüttern, nämlich indem er deren Evidenzprinzip in Frage stellt, das sich selbst gegenwärtige Bewußtsein des Ich. Da das Bewußtsein sich nur über sprachliche Zeichen seiner Selbstgegenwart vergewissern kann, in jedem sprachlichen Zeichen aber

97 Deleuze/Guattari, Anti-Ödipus, 521. Zu den politischen Verwendungen des Begriffs ›Revolution‹ s. etwa auch Hannah Arendts Rekapitulation (»Über die Revolution«, bes. 50-53), sowie in Bezug hierzu auch Julia Kristevas Reaktion (Revolt, She Said, bes. 85, 100). Vgl. dazu außerdem auch Raunig, Kunst und Revolution, 25. 98 Bürger, »Das Denken der Unmittelbarkeit und die Krise der Moderne«, 41.

2.2 ›P ERFORMATIVITÄT ‹ UND S PRACHE

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der Verweis auf nicht-gegenwärtige Zeichen enthalten ist (Bestimmung jedes Zeichens durch die Differenz zu anderen Zeichen), ist die Selbstpräsenz des Bewußtseins, auf der das Cartesische Cogito beruht, eine Fiktion. Lacan schließlich hat in einem seiner Séminaires mit aller wünschenswerten Deutlichkeit ausgesprochen, daß es ihm darum geht, die ich-zentrierte Weltsicht seiner Zuhörer nachhaltig zu erschüttern. Wie der Analysand am Ende der Analyse, die Lacan praktiziert, fähig sein soll, sein Ich als imaginäre, d.h. narzißtische Gestalt seines Selbst zu betrachten, so sollen auch die Zuhörer Lacans zu einer Sicht ihrer selbst geführt werden, in der das Ich nur noch eine im Diskurs vorgegebene Stelle ist, nicht mehr Zentrum eines selbstbewußten Subjekts.99

Foucault, Derrida, Lacan – mit diesen Namen und den mit ihnen verbundenen Theoremen in der Tradition ›wütender‹ Avantgarden wird eine von deren schon angedeuteten Eigenschaften nochmals näher betont: die Fiktivität der Selbstpräsenz des Bewusstseins, die den traumatischen Kern der die Avantgarden befreiende und durch sie befreiten ›Wut‹ bedingt. Ich möchte vor dem Hintergrund dieses Befundes hier noch andeutungsweise zwei Konsequenzen skizzieren, die sich aus diesen Überlegungen ableiten. Wenn Jürgen Habermas im Kontext seiner Ausführungen zur Kunstkritik die Wirkungsweise ästhetischer Erfahrung als Erneuerung nicht nur der Interpretationen der Bedürfnisse (einer modernen Gesellschaft), »in deren Licht wir die Welt wahrnehmen«, bestimmt, sondern gleichzeitig als Eingriff »in die kognitiven Deutungen und die normativen Erwartungen«, d.h. ebenfalls als Veränderung der Art, »wie all diese Momente aufeinander verweisen«,100 dann hat sich die Erkennbarkeit und Verwirklichung dieser Eingriffe (meinen Überlegungen zufolge) auch als Kriterium für die ›Wut‹ der Avantgarden erwiesen. Norbert Lange führt zu Balls Lautgedichten aus: Darin darf man einen sozialen, magischen Akt sehen, in dem die Beteiligten sich darauf einigen, die Worte über den ihnen eigenen mannigfaltigen Sinn zu manifesten Textgebilden zu erklären, letztlich sogar zu realen Bestandteilen der Welt. So kann das magisch verstandene Wort das Wesen einer Beschwörung annehmen und eine Geste zum buchstäblichen Eingriff in das Weltgefüge werden [...].101

99

Ebd. S. dazu auch ders., »Der Surrealismus im Denken der Postmoderne«. Dabei seien, so zumindest Bürger, bei Lacan die Bezüge zu den Avantgardebewegungen am Deutlichsten erkennbar (vgl. ders., »Das Denken der Unmittelbarkeit«, 41).

100

Habermas, »Die Moderne – ein unvollendetes Projekt«, 461. S. dazu auch Bürger, Zur Kritik der idealistischen Ästhetik, 53f.

101

Lange, »Gadji beri bimba‹ – Hugo Balls Sprachwunder«, 88.

220 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK

Systematisch deutet sich hier eine totale Logik des Zerfalls an,102 die Ball theoretisiert und fiktionalisiert.103 Mit ihr lassen sich Momente bestimmen, in denen tatsächlich die Strukturen entsprechender Krisenerfahrungen zu erkennen sind.104 Für die ›wütenden‹ Avantgarden sind dies – mit Adorno und auch im Sinne Balls gesagt – der ›Zerfall der Sprache‹;105 Derrida spricht von einer unlösbaren ›Krise der Vernunft‹, von ›Wahnsinnskrisen‹.106 Und damit ist auch der Grund dafür angedeutet, warum die Beschäftigung mit dem Charakter von ›wütenden‹ Avantgarden in der Einbindung ästhetischer Provokation ein Thema ist, das auch über die im engeren Sinne ästhetische Philosophie von Interesse sein muss. Nur dann nämlich, wenn man ›wütende‹ Avantgarden nicht als singuläre Erscheinungen behandelt, sondern nach ihrer systematischen Verfasstheit fragt, wird man die Bruchstellen, die ›Gefahren‹ einer Gesellschaft in den Blick bekommen können, betrachtet man sie durch die – aus ›Wut‹ – weit aufgerissenen Augen ihrer künstlerischen Subjekte und Rezipienten, ihres ästhetischen ›Vortrupps‹, ihrer Avantgarden. Eine zweite Konsequenz deutet sich an. In der Fluchtlinie der Beschäftigung mit dem Charakter ›wütender‹ Avantgarden liegt ein Problem, das die Zukunft dieses Projektes betrifft und sich mit einer Eingebung Lacans berührt, die er in Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion formuliert: »[…] die Befangenheit des Subjekts in der Situation gibt die allgemeinste Formel für den Wahnsinn ab, sowohl für den zwischen den Mauern der Asyle wie für den, der mit seinem Lärm und seiner Wut die Erde betäubt.«107 Eine vom ›Wut‹-Begriff geleitete (ggf. zukünftige) Ausformung avantgardistischer ›Bewegungen‹ wäre nämlich darauf angewiesen, den mit seinem ›Lärm‹ und seiner ›Wut‹ die Erde ›betäubenden‹ Wahnsinn der Gesellschaft dann doch tatsächlich als System von Kunst als Lebenspraxis einzugeben. Die Gesellschaft sähe sich dann weiterhin mit solchen Kunstrichtungen konfrontiert, die nicht primär damit befasst sind, »Veränderungen in Kunst oder Literatur zu bringen, sondern mit der Dekonstruktion des ge-

102 103

Vgl. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, II, 200. Ball fragt: »Wie kann man dem Wort seine Macht wiedergeben? Indem man sich immer tiefer mit dem Worte identifiziert. / Zu jenem innersten Kern der Person und Nation durchdringen, wo die bewegenden Gedanken herkommen.« (Die Flucht aus der Zeit, 137.)

104

S. dazu erneut auch Kossellek, Kritik und Krise.

105

Vgl. Adorno, »Thesen über die Sprache des Philosophen«, 368.

106

Vgl. Derrida, Die Schrift und die Differenz, 100f.

107

Lacan, »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion«, 70.

2.2 ›P ERFORMATIVITÄT ‹ UND S PRACHE

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samten gesellschaftlichen Systems.«108 Die ästhetische Erfahrung, die »die positive Seite jenes Prozesses der Ausdifferenzierung des gesellschaftlichen Teilsystems Kunst« ist, »dessen negative Seite der gesellschaftliche Funktionsverlust des Künstlers« darstellt,109 würde so durch die Erfahrung einer ›wahnsinnigen‹ wie ›dekonstruierten‹ Gesellschaft im Zeichen der ›Wut‹, letztendlich umfassender: im Zeichen der Provokation abgelöst.

b) ›Anarchismus‹ der Sprache Nun zielt der Zusammenhang der Begriffe Performativität, Aufführung, Ereignis, Wut auf einen weiteren, bereits eingeführten Begriff, der für Ball, wie vor allem Hubert van den Berg in einer Reihe von Untersuchungen ausführlich nachgewiesen hat, auf die ich mich im Folgenden beziehe und konzentriere,110 eine herausragende Stellung innerhalb seines Theorie-Gefüges einnimmt: die Anarchie.111 Ich werde die Bedeutung des Anarchie-Begriffs mit van den Berg nachvollziehen, um daran anschließend Balls Roman Flametti oder Vom Dandysmus der Armen mit Hilfe dieser einer Lektüre zu unterziehen. Dies zu tun, ist nahe liegend, gleichwohl bislang noch kein entsprechendes Interpretament vorgelegt worden ist: So entwickelt Balls Vorwort zum Roman »eine anarchistische Sicht der Subkultur«;112 dieses Vorwort zeigt Ball, wie Gerhard Schaub überzeugend und umfassend dargestellt hat, als ›latenten Bakunisten‹.113 In diesem Vorwort schreibt Ball: Der kleine Roman, von dem ich spreche, wendet sich gegen zwei Begriffe, gegen die sich meine ganze Natur empörte: Den Begriff »Lumpenproletariat« und den Begriff »Menschenmaterial«. In einer Zeit, die jeglichen Sinn für den Wert des Individuums verloren hat, die mit Menschenleben umgeht wie mit Schmutz, in einer Zeit der raffiniertesten Entseelungs- und Entleibungsmethoden, der Organisationen und Kollektivbegriffe, diesen Massenguillotinen, schien es mir wichtig, selbst in einem so kleinen Kreise wie ein Roman es sein kann, den Wert gerade der kleinsten Leute zu betonen, den Wert gerade der

108

Kuenzli, »The Semiotics of Dada Poetry«, 56.

109

Bürger, Theorie der Avantgarde, 43.

110

Insbes. auf Berg, »Gustav Landauer und Hugo Ball«.

111

S. dazu auch Liede, Dichtung als Spiel, 224-229.

112

Schlichting, »Nachwort« [zu: Ball, Michael Bakunin], 469.

113

Vgl. Schaub »Der ›latente Bakunist‹ Hugo Ball«.

222 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK unscheinbarsten Existenzen; der Existenzen, die am leichtesten übersehen werden können, die gar nichts gelten und zu gelten scheinen. In dieser Zeit des bombastischen Aberglaubens an den Geldsack und die Quantität, schien es mir nicht ganz belanglos, zu versuchen, ob sich das Gefühl der Persönlichkeit nicht auch unter den Geringsten herstellen liesse. Ich versuchte, Eigenleben, Selbstwert, Ueberzeugung, Sinn und Vernunft aufzuzeigen unter Menschen winziger Grösse, unter Grundeln, die auf dem Boden schwimmen und im Sumpf, unter den Allerkleinsten. Ich hatte dabei die Endabsicht, einen Tritt zu versetzen, jenem geheiligten Götzen, das sich bürgerliche Kultur nennt.114

Auf die Anarchie spielt Ball unabhängig des Flametti-Romans nun etwa auch in Die junge Literatur in Deutschland an, indem er auf Michael Bakunin und Gustav Landauer hinweist,115 und wenn er in der Totenrede ebenfalls etwa Landauer nennt sowie von »Anarchie im Gegensatz zu jeglichem Bonzentum (sei’s, wer’s sei)« spricht.116 Zunächst beeinflusst von anarchistischen Ideen Otto Gross’,117 vor allem aber geleitet von Bakunin und Landauer118 ist Balls Ästhetik der Übertragung der anarchistischen Vorstellung von ›Überdruss‹ und ›Sehnsucht‹ durch

114

Ball, »Vorwort zu einem Roman ›Die Indianer‹«, 29-31.

115

Ders., »Die junge Literatur in Deutschland«, 32, 34.

116

Ebd., 26. Für weitere Belege zur Bedeutung insbes. Landauers für Ball s. Berg,

117

Vgl. Schlichting, »Nachwort« [zu: Ball, Michael Bakunin], 444f. Bei Gross ist in

»Gustav Landauer und Hugo Ball.« diesem Kontext, Ball ähnlich, eine Politisierung der Psychoanalyse festzustellen (vgl. Von geschlechtlicher Not zur sozialen Katastrophe, 130f.). S. dazu u.a. auch Hurwitz, »Otto Gross – Von der Psychoanalyse zum Paradies«. 118

S. dazu auch Ball, Die Flucht aus der Zeit, 27: »Begegnung mit Gustav Landauer. Ein abgezehrter älterer Mann mit wallendem Hut und dünnem Bart. Etwas pastoral Sanftes umgibt ihn. Vorletzte Generation. Die sozialistischen Theorien als Refugium für edlere Naturen. Ein überlebter Eindruck. Er rät, nicht wegzureisen, sondern zu bleiben. Er glaubt an die ›biologische‹ Entwicklung des Deutschen. Seine Einladung, ihn in Hermsdorf zu besuchen. / Abends bei P[femfert]. Er nennt Landauer ›einen Politiker‹, den der Ästhet ›verpfuscht habe‹. Es sei ihm nicht möglich gewesen, ›sich unter Deutschen durchzusetzen‹. Aber es gebe nur drei Anarchisten in Deutschland, davon sei er einer. ›Ein kluger, gebildeter, früher nicht ungefährlicher Mann.‹« S. außerdem etwa ders., »Die Schuld am Diktatfrieden«, wo es über Landauer heißt, er sei ein »aufrichtig verehrte[r] Rebell [...], den man weder einen Bolschewiken, noch einen halbwüchsigen Burschen nennen kann, weil er erstens parteilos ist, zweitens aber ein an Geist und Reife gleich bewundernswertes soziales und föderatives System vertritt.« (74)

2.2 ›P ERFORMATIVITÄT ‹ UND S PRACHE

| 223

›Zerstörung‹ und ›Aufrichtung‹ auf die Sprache geschuldet,119 die sich daher mit Derrida als Sprache schreiben lässt. Sie hat ihren Grund darin, dass Momente wie »Provokation, Negation, Destruktion und die versuchte Auflösung vorfindbarer Ordnungen und Hierarchien im künstlerischen wie politischen Leben«120 zum Repertoire des ästhetischen Theoretikers werden. Der Kern von Balls Anbindung der ästhetischen Provokation an anarchistische Tendenzen ist zwar nicht allein auf die Zerstörung des Existierenden (in welcher Ausformung auch immer) zu reduzieren;121 gleichwohl kann die Deutung provokativer Elemente in Balls Kunsttheorie als ›anarchistisch‹ gelten.122 Ein Kompromiss beider Positionen bildet die Ansicht, dass der Anarchismus für Ball als »Vehikel für eigene Überlegungen«123 funktioniert, und zwar aus der hier vorgeschlagenen Perspektive: als Vehikel für eine Kunsttheorie der performativen, aufführbaren, ›ereignishaften‹ Sprache (und dann letztendlich auch der Literatur) vor der Folie ästhetischer Provokation. Eine solche These erlaubt schwächere und stärkere Auslegungen; sie changieren zwischen der Gleichsetzung von Balls Anschauungen mit denjenigen anarchistischer Autoren und der Ansicht, seine Lektüre und Auseinandersetzung mit anarchistischen Theoretikern als »Instrument zur Gestaltung seiner eigenen, erheblich vom Inhalt der Lektüre abweichenden und z.T. einen Gegensatz dazu bildenden Auffassungen« zu betrachten und das bedingt durch Balls sehr individuelle Rezeption eines regelrechten ›Anarchismus-Gerüchts‹.124 Stark zu machen

119

Vgl. Mühsam, »Revolution«, 2: »Die treibenden Kräfte der Revolution sind Ueberdruß und Sehnsucht, ihr Ausdruck ist Zerstörung und Aufrichtung. / Zerstörung und Aufrichtung sind in der Revolution identisch. Alle zerstörende Lust ist eine schöpferische Lust (Bakunin). / Einige Formen der Revolution: Tyrannenmord, Absetzung einer Herrschergewalt, Etablierung einer Religion, Zerbrechen alter Tafeln (in Konvention und Kunst), Schaffen eines Kunstwerks; der Geschlechtsakt. / Einige Synonyma der Revolution: Gott, Leben, Brunst, Rausch, Chaos. / Laßt uns chaotisch sein!«

120

Berg, »Gustav Landauer und Hugo Ball«, 142.

121

S. dazu auch Lösche, Anarchismus, 7.

122

Vgl. dazu u.a. auch Buschkühle, Dada – Kunst in der Revolte, 22; Steinke, The Life

123

Berg, »Hugo Ball und der Anarchismus«, 114.

and Work of Hugo Ball, 167; Egger, Hugo Ball. Ein Weg aus dem Chaos, 90. 124

Vgl. Lösche, Anarchismus, VII. S. dazu auch Berg, »Hugo Ball und der Anarchismus«, 120. Damit korreliert eine eigene, späte Stellungnahme Balls: »Ich habe mich genau geprüft. Niemals würde ich das Chaos willkommen heißen, Bomben werfen, Brücken sprengen und die Begriffe abschaffen mögen. Ich bin kein Anarchist.« (Die

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ist schließlich auch die konstruktive Seite ästhetischer Provokation als »›schöpferische‹ Rückseite ›zerstörerischer Lust‹«.125 Doch wie auch immer man die These auslegt: ohne irgendeine Anbindung an anarchistische ›Strukturen‹ verliert Balls ›Sprachkunst‹ einen wesentlichen Halt. Ich schlage also vor, die These von der ›Nutzung‹ des Anarchismus als Vehikel für eine Ästhetik der Provokation nicht in einer starken, sondern einer schwachen Version zu lesen. Gerade die scheinbar schwache Version formuliert eine Einsicht in die Voraussetzungen ästhetischer Provokation. Während die starke Version leicht ihres überzogenen Anspruchs überführt werden kann, behält sie in ihrer schwachen Version auch noch gegenüber solchen Positionen Recht, die die oft angenommenen Zusammenhänge zwischen Ball und dem Anarchismus korrigieren, weil von einer unklaren Bedeutung des Terminus ›Anarchismus‹ ausgegangen wird.126 Sie weist nämlich darauf hin, dass auch ein unklarer Begriff von Anarchismus nicht anders denn als relevant für Ball gelten kann. Dessen Anarchismus-Rezeption ist für mich in ihrer schwächeren Version der Index eines ›bestimmten‹ Zugriffs auf das Kunstwerk. Diesen zu überprüfen, heißt zugleich, Balls Anliegen nachzugehen, eine ›unmöglich gewordene Sprache‹, eine Sprache, die nur noch in ihrer Durchstreichung existiert (also wiederum als Sprache), neu zu beleben.127 Hierbei ist mit van den Berg ein weiterer ›Name‹ anarchistischer Prägung zu nennen: Pierre-Joseph Proudhon.128 Ball schreibt: Proudhon, der Vater des Anarchismus, scheint auch der erste gewesen zu sein, der um die stilistischen Konsequenzen wusste. Ich bin neugierig, etwas von ihm zu lesen. Hat man nämlich einmal erkannt, daß das Wort die erste Regierung war, so führt dies zu einem fluktuierenden Stil der die Dingworte vermeidet und der Konzentration ausweicht. Die einzelnen Satzteile, ja die einzelnen Vokabeln und Laute erhalten ihre Autonomie zurück. Vielleicht ist es der Sprache einmal beschieden, die Absurdität dieser Doktrin ad aculos zu demonstrieren.

Flucht aus der Zeit, 34.) Wie alle Selbstaussagen in seinem überarbeiteten Tagebuch ist auch diese Aussage Balls zu hinterfragen, nicht ohne ihr – vor dem Hintergrund dieser Hinterfragung – auch Glauben zu schenken. 125

Berg, »Gustav Landauer und Hugo Ball«, 142f.

126

Vgl. ders., »Hugo Ball und der Anarchismus«, 101.

127

Vgl. Ball, Die Flucht aus der Zeit, 106.

128

Vgl. Berg, »Gustav Landauer und Hugo Ball«, 143f. Dazu u.a. auch Reinhart Meyer u.a., DADA in Zürich und Berlin 1916-1920, 90. Hierzu kritisch Berg, »Gustav Landauer und Hugo Ball«, 144.

2.2 ›P ERFORMATIVITÄT ‹ UND S PRACHE

| 225

Schon der sprachbildende Prozeß wäre sich selbst zu überlassen. Die Verstandeskritik müßte fallen, Behauptungen wären vom Übel; ebenso jede bewusste Verteilung der Akzente. Die Symmetrie würde voraussichtlich unterbleiben, die Harmonisierung vom Impuls abhängen. Keinerlei Tradition und Gesetz dürften gelten. – Es scheint mir nicht einfach, als konsequenter Anarchist die Übereinstimmung zwischen Person und Doktrin, zwischen Stil und Überzeugung durchzuführen.129

Die Textstelle zeigt, dass Ball »›neugierig‹« auf Proudhon ist, dass er diesen jedoch nicht zwangsläufig gelesen haben muss,130 zumal Proudhon von einer (dadaistischen) Revolutionierung der Sprache weit entfernt ist, ebenso wie er in ästhetischer Hinsicht einen poetischen Realismus vertritt.131 Balls ProudhonRezeption steht vielmehr, wie van den Berg konzise bestimmt, im Kontext mit seiner Bekanntschaft und Auseinandersetzung mit Gustav Landauer. Dieser schreibt, was auch van den Berg betont, über Proudhon, er habe als »Mann der Synthese« gelehrt, daß die geschlossenen Begriffsworte nur Symbole für die unaufhaltsame Bewegung sind; er hat die Begriffe in strömende Kontinuität aufgelöst. [...] Proudhon, der keine Frage mit Dingworten lösen wollte, der an die Stelle geschlossener Dinge Bewegungen, Beziehungen, an die Stelle des scheinhaften Seins das Werden, an die Stelle der groben Sichtbarkeiten das unsichtbare Hin und Her gesetzt hat, verwandelte schließlich – in seinen reifsten Schriften – die Sozialökonomie in Psychologie, die Psychologie aber aus der starren Individualpsychologie, die aus dem Einzelmenschen ein isoliertes Ding macht, in eine Sozialpsychologie, die den Menschen als Glied eines unendlichen, ungetrennten und unsäglichen Werdestroms erfaßt. So gibt es keinen Proudhonismus, sondern nur einen Proudhon. So kann das, was Proudhon für einen bestimmten Moment Wahres gesagt hat, heute, wo man die Dinge Jahrzehnte lang hat weitergehen lassen, nicht mehr gelten. Geltung kann nur haben, was Ewiges in Proudhons Verstehen ist; es kann nicht sklavisch der Versuch gemacht werden, zu ihm, zu einem vergangenen geschichtlichen Moment zurückzukehren.132

Landauers gerade zitierte Typisierung von Proudhons Diktum, die Ball fast wörtlich wiederholt, parallelisiert den Umgang mit Sprache mit der Fundierung sei-

129

Ball, Die Flucht aus der Zeit, 38f.

130

Berg, »Gustav Landauer und Hugo Ball«, 144: »Wenn es tatsächlich zur Lektüre gekommen sein sollte [...], hätte Ball zweifesohne feststellen müssen, daß Proudhon die von ihm nahegelegte bzw. erhoffte Konsequenz nicht gezogen hat.«

131

Dazu u.a. ausführlich Brandwajn, La Langue et l’esthétique de Proudhon.

132

Landauer, Aufruf zum Sozialismus, 107.

226 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK

nes Anarchismus. Sie wird einer provokationsästhetischen Theorie zum Paradigma einer »paradiesischen, nicht-hierarchischen, nach dem Prinzip der gegenseitigen Hilfe organisierten Gesellschaft ohne Ausbeutung, Unterdrückung und Krieg«.133 In der Erläuterung Landauers steht dabei die Frage im Vordergrund, wie »der Zweifel über Sprache als Mittel zur Erfassung von Wirklichkeit«134 möglich ist. Dies folgt der Argumentation eines Welterfassungskonzept, das auf Balls Flametti-Roman verweist, in dem jenes Konzept ins Spiel gebracht wird, wenn die Geschichte um Zustand und Zukunft eines Varietéensembles in der Schweiz »beiseitegeschobene Personen«135 exponiert und dabei starke Konkretisierung erfährt: Flametti zog die Hosen an, spannte die Hosenträger und brachte durch mehrfaches Wippen der Beine die etwas straff ansitzende Hosennaht in die angängigste Lage. Er zündete sich eine Zigarette an, stülpte die Hemdärmel auf und trat aus dem Schlafgemach in das Gasfrühlicht seiner geheizten Stube. »Kaffee!« befahl er mit etwas verschlafener, rau gepolsteter Stimme. Er strich sich die haarigen Arme und gähnte. Trat vor den Spiegelschrank, zog sich den Scheitel. Er bürstete Hosen und Stiefel ab, setzte sich dann auf das weinrote Plüschsofa und öffnete zögernd die Schublade des vor dem Sofa stehenden Eßtisches. Dort befanden sich Rechnungsbüchner, seine verschiedenen Kassen, Quittungshefte und die brandroten Briefkuverte, die die Anschrift trugen »Flamettis Variteté-Endemble«.136

Balls Roman ist in der Fiktion einer Künstler-Gemeinschaft, einer »Artistenfamilie, die isoliert und bis zum Schluß des Buchs als geschlossene Gruppe auftritt«,137 die Einlösung eines anarchistischen Programms eingeschrieben, dem ein artistischer, ästhetischer und dann auch kunsttheoretischer Faktor innewohnend ist.138 Der Roman zeigt, dass die Bedingung der Möglichkeit des Funktionierens einer im Folgenden zu benennenden Ausprägung des Anarchismus zugleich die seiner Kunstfertigkeit ist. Das trifft in besonderer Weise für die Darstellung zu, die das Buch von diesem Funktionieren gibt: Indem sie von ihm nur in einer als künstlerisch inszenierte ›Idee‹ chiffriert präsentierten Struktur erzählt, entzieht

133

Berg, »Gustav Landauer und Hugo Ball«, 146.

134

Ebd.

135

Stein, Die Inflation der Sprache, 11.

136

Ball, Flametti oder Vom Dandymus der Armen, 7.

137

Philipp, Dadaismus, 135.

138

Zur kultur- und literaturgeschichtlichen Kontextualisierung Balls im Hinblick auf Kabarett und Varieté s. Verf., »›Jedem Lyriker sein Kabarett‹«.

2.2 ›P ERFORMATIVITÄT ‹ UND S PRACHE

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sie ihm das sichere Fundament, unterstreicht aber zugleich dessen regulativen Zug. Dass die in Flametti erzählerisch betrachteten anarchistischen Konzeptionen nicht ausdrücklich benannt sind, ist deren eigentliches Symptom. Balls Phantasma von einer Kunst der »Inspiration, [des] persönlichen Einfall[s] und Zufall[s]«139 gibt auf die Frage nach dem Grund für die Konzeption einer ›unmöglich gewordenen Sprache‹ eine parallele Antwort: Zum Einen steht dahinter, so Philipp, der »Ernst und das Engagement für die deklassierte Species Mensch« vor dem Hintergrund des »als realhistorische Transzendentalie ins Spiel gebrachten Ersten Weltkriegs«;140 zum Anderen zeigt sich, so Borgards, indem Flametti den »Zufall in den künstlerischen Produktionsprozess einführt«, dass »dieses Moment der Kontingenz nicht nur für den Verlauf der Produktion, sondern auch für das fertige Produkt von konstitutiver Bedeutung bleibt«: Extemporiert wird hier wie dort, in der Probe wie auf der Bühne. So dient die Improvisation nicht einfach als ein kreatives, der Präsentation vorgelagertes Produktionsmittel, sondern kommt selbst als zu präsentierende Aktion zur Darstellung [...]; bei Ball wird die Improvisation zur Kunst selbst. Eröffnet ist damit ein normendistanzierender Raum, in welchem die freie Entscheidung mehr gilt als die korrekte Anwendung einer Regel und in

139

Ball, Flametti oder Vom Dandysmus der Armen, 24. S. dazu auch Borgards, »Ge-

140

Philipp, Dadaismus, 133f. S. dazu auch C. Schmidt, Die Apokalypse des Subjekts,

setz, Improvisation, Medien.« 60: »Zunächst erscheint das Genie Flametti tatsächlich als Regisseur einer politischen Gegenwelt. Die Prostituierten, Ganoven und fahnenflüchtigen Einzelgänger des Variete, Flametti nennt sie ›Apachen‹, sind beschädigte Existenzen, die in seiner Truppe nach dem Modell einer urkommunistischen Gesellschaft zusammenleben. Flamettis Ensemble ist ein ›Soziotop‹ am Rande der Gesellschaft, das wie ein real gewordenes Kunstwerk im Spannungsfeld zwischen Utopie und Regelverstoß angesiedelt ist. [...] Von vorneherein oszillieren dieses Existenzen zwischen Kriminalität und anarchischer Politik. Sie sind im Konflikt mit dem bürgerlichen Gesetz und können unter dem Einfluß Flamettis ihren Zusammenstoß mit Autorität und Polizei als politische Sabotage interpretieren. [...] Flamettis Ensemble realisiert so zumindest im kleinen Rahmen das in der ästhetischen Anarchie gesetzte Ideal einer politischen Ordnung der Freiheit ohne Herrschaft und Besitz.« An Schmidts Lesart fällt hier der bereits erwähnte, unklare Begriff der Anarchie auf, den ich im Folgenden mit van den Berg und meiner eigenen Lesart näher bestimmen will.

228 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK welchem vom Zufall mehr erwartet wird als vom Zwang, ein Raum für ›événements malgré préparation‹.141

So erweist sich Balls Roman als gleichursprünglich mit den durch die Provokationsästhetik in Frage gestellten, traditionellen Bedingungen der Möglichkeit (auch ausdrücklich sprach-)künstlerischen Schaffens. Flametti ist so nicht nur »ein Extempore von Kopf bis Fuß« (»Vielseitig, unberechenbar, auch in seinem Repertoire. Nur kein festes Programm! Nichts langweiliger als das. [...] Bei Flamettis gab’s überhaupt kein [Programm...] Sprudeln muß man: das war sein oberster Grundsatz«);142 Aufnahme in sein Ensemble findet nur, der »interessant« ist, der einen »Knacks« hat, eine »gebrochene Linie«, der »Schicksale« gehabt hat, sich »bewegen« kann, »Welt« aufweisen kann: »Deklassierte Menschen, gerempelte Personnagen sind die gebornen Artisten. Im Dreck muß man gewesen sein, um Artist zu werden.«143 In Flamettis Ensemble werden »Sprachen gesprochen« (»englisch, französisch, dänisch, sogar malayisch«); diese Artisten kennen »das Leben« und »kommen aus einer anderen Welt«: »Aus Unterdrückung werden Artisten. Wo keine Defekte sind, sind keine Menschen. Buntheit, Zauber, Exotik: nur aus Verzweiflung.«144 Die Dimension einer ›anderen Welt‹ in der Konstitution von Künstlerschaft entzieht dieser zugleich die ›gewöhnlichen‹ Einschreibungen ihrer Bedingung und wird dabei die Produktivität als ›Artist‹ in einer notwendigen, doch hier enorm verunsicherten Gestalt gedacht – als Sprache –, so wird gleichsam eine Kluft aufgerissen, vor die sich der Künstler gestellt sieht. Es ist die »radikale Sprachskepsis«,145 die diese Kluft aufreißt und die Fritz Mauthner in seinen Beiträgen zu einer Kritik der Sprache entwickelt,146 welche wiederum Landauers eigene sprachphilosophische Erwägungen in Skepsis und Mystik grundieren.147 Wie van den Berg erläutert, ist die Welterkenntnis durch Sprache nach Mauthner allerdings unmöglich, genauer: Produkt der Gewohnheit, ein ›leeres Abstraktum‹; nach der lebendigen Anschauung bleiben Begriff und Wort gleichsam zurück. Auch davon erzählt Balls Flametti-Roman, in dem es mithin heißt:

141

Borgards, »Gesetz, Improvisation, Medien«, 51.

142

Ball, Flametti oder Vom Dandysmus der Armen, 24.

143

Ebd., 24f.

144

Ebd., 25.

145

Berg, »Gustav Landauer und Hugo Ball«, 146.

146

Vgl. Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, I.

147

Vgl. Landauer, Skepsis und Mystik. S. dazu u.a. auch Lynn, Prophet of Community, 154.

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»Nicht so viel Anpassung. Mehr Würde. Magie. Nicht soviel Worte. Mehr lautlose Tat. Im Ganzen: Vereinfachung. Wucht.«148 Die Erkenntnis der Welt folge nach Mauthner in toto der Erlösung von der ›Tyrannei‹ der Sprache, denn ein Bild der Welt zeige sich erst, nachdem die Begriffssprache beseitigt sei.149 Sprache als subjektiv-menschliches Artefakt blockiere die objektive Erkenntnis der außermenschlichen Wirklichkeit; Sprache sei ein ›elendes Erkenntniswerkzeug‹, wertlos für die Erkenntnis der Wirklichkeitswelt.150 Sprache bilde Wirklichkeit nicht ab; sie werde in die Welt projiziert, wodurch sich das Bild der Wirklichkeit verzerre.151 Auch wenn Sprache Grenze und Form des menschlichen Realitätsbildes sei, so befinde sie sich doch gleichzeitig in unmittelbarer Nähe zum Denken; es gebe kein Denken ohne Sprechen, d.h. ohne Worte, oder genauer: Es gebe gar kein Denken, es gebe nur Sprechen:152 »Da der Mensch in Sprache denke und dies das Resultat einer langen historischen (Sprach-)Entwicklung sei, die für eine Fixierung alter Bedeutungen geführt habe, verhindere Sprache neue Erkenntnisse und einen direkten Zugang zur Wirklichkeit.«153 Sprachliche Begriffe seien so statisch. In Konsequenz erscheine die permanente »Diskrepanz zwischen aktueller, gegenwärtiger Wirklichkeitserfahrung und überliefertem, anachronistischem Sprach-Material.«154 Der Mensch sei »Gefangener seiner eigenen Sprache«: die »menschliche Vorstellung der (außermenschlichen) Wirklichkeit«

148

Ball, Flametti oder Vom Dandysmus der Armen, 62.

149

»Eine selbstgestellte, große neue Aufgabe, die Kritik der Sprache« (Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, I, XI); »[w]ill ich emporklimmen in der Sprachkritik, die das wichtigste Geschäft der denkenden Menschheit ist, so muß ich die Sprache hinter mir und vor mir und in mir vernichten von Schritt zu Schritt, so muß ich jede Sprosse der Leiter zertrümmern, indem ich sie betrete« (ebd., 1f.); »[m]an kann wohl sagen, daß die Sprache nicht etwa die Küchenabfälle, die Kjökenmöddinge der Menschheit, sondern recht eigentlich die Exkremente der Menschheit darstellt. Die lebendige Anschauung muß sterben, muß verdaut und verbraucht werden, damit ihre Reste zum Begriff und zum Worte werden. Ein ungeheurer Berg solcher Exkremente ist die Sprache, ein babylonischer Turm von Abfallstoffen, der auch wohl bis in den Himmel hineingewachsen wäre, wenn nicht auch Fäkalien schließlich noch ihre Abnehmer fänden und verschwänden« (ebd., 671.)

150

Vgl. Eschenbacher, Fritz Mauthner und die deutsche Literatur um 1900, 35. S. dazu mit Konzentration auf Ball außerdem Berg, »Sprachkrise als Zeitkrankheit«.

151

Vgl. Eschenbacher, Fritz Mauthner und die deutsche Literatur um 1900, 35.

152

Vgl. ebd., 68f.

153

Berg, »Gustav Landauer und Hugo Ball«, 148.

154

Eschenbacher, Fritz Mauthner und die deutsche Literatur um 1900, 68f

230 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK

sei »nicht diese Wirklichkeit, sondern nur Sprache.«155 Gefangenschaft (in) der Sprache verlangt für Mauthner den Rückzug in eine Mystik des Schweigens.156 Flametti oder Vom Dandysmus der Armen läuft auf einen Höhepunkt zu, für den das Ensemble, um, in der Logik der Handlung, die finanziell prekären Verhältnisse zu überwinden und einen theatralischen ›Coup‹ zu landen, ein neues Programm einstudiert, in dessen Zentrum der Aufritt eines Indianerstamms bzw. des Indianerhäuptlings Feuerschein steht, und zwar als »Indianertanz, Symbol ekstatischer Selbstentäußerung«.157 Für Max Stirner führt, wie van den Berg weiter ausführt, die radikale Absage an abstrakte Begrifflichkeiten zu sprachlichen ›Hirngespinsten‹, denen sich das Individuum in letzter Konsequenz – anarchistisch – zu entziehen hat:158 Wer einen Gedanken nicht los werden kann, der ist soweit nur Mensch, ist ein Knecht der Sprache, dieser Menschensatzung, dieses Schatzes vom menschlichen Gedanken. Die Sprache oder ›das Wort‹ tyrannisiert uns am ärgsten, weil sie ein ganzes Heer von fixen Ideen gegen uns aufführt. [...] Ist das Denken nicht mein Denken, so ist es bloß ein fortgesponnener Gedanke, ist Sklavenarbeit oder Arbeit eines ›Dieners am Worte‹. [...] [Ich] erhebe [...] mich über die Wahrheiten und ihre Macht. [...] Die Wahrheiten sind vor mir so gemein und so gleichgültig wie die Dinge, sie reissen mich nicht hin und begeistern mich nicht. Da ist auch nicht eine Wahrheit, nicht das Recht, nicht die Freiheit, die Menschlichkeit usw., die vor mir Bestand hätte und der ich mich unterwürfe. Sie sind Worte, nichts als Worte, wie dem Christen alle Dinge nichts als ›eitle Dinge‹ sind. [...]

155 156

Berg, »Gustav Landauer und Hugo Ball«, 149. Vgl. Eschenbacher, Fritz Mauthner und die deutsche Literatur um 1900, 94-103. S. dazu auch J. Kühn, Gescheiterte Sprachkritik, 250-252, bes. 250f.: »Gustav Landauer hat zuerst auf die Mystik als letzter Konsequenz der utopischen Sprachkritik verwiesen. Seiner Anregung ist wohl auch Mauthners Hinweis auf die Beziehung zwischen seiner Sprachkritik und der Mystik Meister Eckharts [...] zu verdanken. [...] Im Wörterbuch der Philosophie gibt sich Mauthner selbst als Mystiker. Aber diese Mystik erscheint als theoretische Konstruktion, als bewußte Flucht vor den Konsequenzen der utopischen Sprachkritik [...] Denn Neigung zur Mystik und Achtung vor der Mystik machen noch keinen Mystiker. Mauthner fehlt das Entscheidende, das mystische Erlebnis.«

157

Philipp, Dadaismus, 136.

158

Vgl. Berg, »Gustav Landauer und Hugo Ball«, 149.

2.2 ›P ERFORMATIVITÄT ‹ UND S PRACHE

| 231

Wahrheiten sind Phrasen, Redensarten, Worte [...]; in Zusammenhang oder in Reih und Glied gebracht, bilden sie die Logik, die Wissenschaft, die Philosophie.159

Für einen derartigen Individual-Anarchismus »bleibt nur das Ich.«160 Die Bestimmung eines Nicht-Existenten außerhalb der Sprache ist jedoch, so van den Berg weiter, der Garant dafür, dass auch die (abstrakten) Konzepte ›Subjekt‹ und ›Individuum‹ nur innerhalb dieser existieren;161 auch das Ich als Wirklichkeitsvorstellung ist nach Mauthner eine Täuschung der Sprache;162 auch der Begriff der Individualität ist eine sprachliche Abstraktion ohne verstellbaren Inhalt.163 Die Auffassung, dass es durch die Historizität der Sprache für den Menschen nichts Außersprachliches gibt, eliminiere die Vorstellung eines »›Einzigen‹«; zugleich ergebe sich »aus dieser Historizität« die Möglichkeit eines »sozialen Anarchismus.«164 In Die Revolution schreibt Landauer, »isolierte Individuen hat es gar nie gegeben; die Gesellschaft ist älter als der Mensch. Den Zeiten der Auflösung, des Verfalls und des Übergangs blieb es vorbehalten, so etwas wie isolierte und atomisierte Menscheneinzelne zu schaffen«.165 Anarchie bedarf einer Gemeinschaft, einer »Synthese von Freiheit und Gebundenheit«,166 da sonst soziales Leben unmöglich ist: Die Realisten des Mittelalters [...] hießen Realisten, weil sie die Universalien, die letzten leersten Abstrakta und die Gattungsnamen, für Wirklichkeiten erklärten. Da sie sich meist an Artefakta, an Erzeugnisse der Menschenhände und Menschenköpfe, wie Topf, Tugend, Gott, Unsterblichkeit, hielten, hatten ihre Gegner, die Nominalisten, ihnen gegenüber leichtes Spiel, so schwer diese Oberflächlichkeiten, Geistreichen auch in ihrer tiefsinnigen

159

Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, 358f.

160

Berg, »Gustav Landauer und Hugo Ball«, 150.

161

Vgl. ebd.

162

»Das Ich ist als Wirklichkeitsvorstellung eine Täuschung der Sprache, eine Selbsttäuschung, als Ichgefühl ist es jedoch eine Wirklichkeit, und zwar bekanntlich eine sehr wirksame Wirklichkeit.« (Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, 668.)

163

Vgl. Eschenbacher, Fritz Mauthner, 39.

164

Berg, »Gustav Landauer und Hugo Ball«, 150f.

165

Landauer, Die Revolution, 48.

166

Ebd., 36; s. auch ebd.: »[...] als die Gebundenheit da erstarrt war und dort gesprengt wurde, überall aber Sinn und Heiligung zu verlieren anfang, reckte sich die Freiheit hoch empor, gedieh zur Stärke und überragenden Genialität der Person zu Zügellosigkeit und Gewalttätigkeit.«

232 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK und verrannten Zeit durchdrangen: sie erklärten, diese Begriffe seien keine Realitäten, sondern bloß Worte. Die Nominalisten haben eine notwendige Säuberungsarbeit vollbracht; sie berauben Hirngespinste ihrer Realität und Heiligkeit. Der letzte große Nominalist war Max Stirner, der mit radikalster Gründlichkeit den Spuk der Abstrakta aus den Gehirnen auszukehren unternahm. Die Essenz seiner Lehre ist etwa in den Worten enthalten, die er nicht gerade so ausgesprochen hat: »Der Gottesbegriff ist zu vernichten. Aber nicht Gott ist der Erzfeind, sondern der Begriff.« Er hat entdeckt, daß alle tatsächliche Unterdrückung zuletzt von den Begriffen und Ideen ausgeübt wird, die respektiert und für heilig genommen werden. Mit unerschrockener, gewaltiger und sicherer Hand hat er Begriffe wie Gott, Heiligkeit, Moral, Staat, Gesellschaft, Liebe auseinandergenommen und lachend ihre Hohlheit demonstriert. Die Abstrakta waren nach seiner glänzenden Darstellung aufgeblasene Nichtigkeiten, die Sammelnamen nur der Ausdruck für eine Summe von Einzelwesen. Der letzte Nominalist setzte das konkrete Einzelwesen, das Individuum, als Realität auf den entleerten Stuhl Gottes, der von nun an von dem Einzigen und seinem Eigentum besessen wurde. Das war die Stirnersche Besessenheit. Uns liegt nun die entgegengesetzte und darum ergänzende Arbeit ob: die Nichtigkeit des Konkretums, des isolierten Individuums nachzuweisen und zu zeigen, welch tiefe Wahrheit in der Lehre des Realisten steckt. Die Umwege, die in Jahrhunderten gemacht wurden, waren nicht überflüssig, aber jetzt ist es Zeit zu der Einsicht, daß es keinerlei Individuum, sondern nur Zusammengehörigkeiten und Gemeinschaften gibt. Es ist nicht wahr, daß die Sammelnamen nur Summen von Individuen bedeuten; vielmehr sind umgekehrt die Individuen nur Erscheinungsformen und Durchgangspunkte, elektrische Funken eines Großen und Ganzen. Eine andere Frage ist freilich, ob die überlieferten Gattungsnamen in ihrer bequemen Schablonenhaftigkeit auch nur einigermaßen einen gemäßen Ausdruck für die Gesamtheiten bilden, deren Momentblitze die Individuen sind.167

In Balls Roman gruppiert sich eine solche Verhandlung um die Vorbereitungen bzw. die Inszenierung des Indianer-Stücks; so wie es bei Stirner heißt: »Ich bin Nichts im Sinne der Leerheit, sondern das schöpferische Nichts, das Nichts, aus welchem ich selber als Schöpfer schaffe«,168 so erschafft sich der Künstler hier auf der Bühne selbst als schöpferisches Ich, dessen Schöpferkraft allerdings (wie typisch für Ball) im Dämonischen ansetzt:169

167

Landauer, Skepsis und Mystik, 12f.

168

Stirner, Der Einzelne und sein Eigentum, 7.

169

S. dazu auch Verf., »›Der Künstler und die Zeitkrankheit‹« sowie auch Hoff, »Bürger, Künstler, Exorzisten«; dort geht es u.a. um die Frage, »warum dieser Text auch heute noch als wegweisende Intervention in eine anhaltende Krisenkonstellation

2.2 ›P ERFORMATIVITÄT ‹ UND S PRACHE

| 233

Unten in der Musik muß es donnern und blitzen: Brwrr, brwrrrr, worgeln und tremolieren. Dann muß die rechte Hand höherlaufen. Feuerschein kommt von links, späht durch das Kulissenfesnter der Bauernstube, drohend, erschrecklich, in hohem, dämonischem Federschmuck, mit der Lanze. Kommt dann heraus auf die Bühne, vorsichtig, schlechend, verfolgt, den Kopf spähend vorgestreckt, die Halsmuskeln gespannt, den Tomahawk mordbereit. Verschwindet unter Donner und Blitz der Musik in der Kulisse rechts.170

Als ›Dämon‹171 taucht der Häuptling Feuerschein auf; er bedroht in seinem Gebaren die ihn selbst bedrohende Welt, die er – ganz im Bild des angriffslustigen, unerschrockenen, aber auch ›mordbereiten‹ Indianers, ganz im Sinne aber auch des hier wiederholend skizzierten Anarchismus – zerschlagen will. Schmidt führt aus, dass Flamettis »geniales Charisma« für das »eigentliche Drama« einer derartigen »ästhetisch-politischen Dynamik« steht, »nämlich der Umschlag der anarchischen Revolte gegen jede Herrschaft in ein dämonisches Machtspiel.«172 Insbesondere der ästhetischen Kritik kommt im Zuge dessen wiederum eine nicht unwichtige Rolle zu: »In dem Augenblick nämlich, wo die ästhetische Kritik an allen Gesetzen und Normen«, so Schmidt, »zu der notwendigen Suspension der Kunst selbst als eines autonomen ästhetischen Scheins führt, da muß es zuletzt zu einer gefährlichen Verwechslung zwischen Schein und Realität kommen.«173 Dies sei der Augenblick, wo das ästhetische Genie seinen – wie ich hinzufüge, bereits im Begriff der ästhetischen Kritik ›vernichteten‹ – souveränen Machtanspruch potenziell in einer kunstverlassenen Realität geltend machen müsse: »Es ist der eigentliche Sturz des anarchistischen Erzengels aus dem ästhetischen Himmel und seine Verwandlung in den Lichtbringer, den satanischen Luzifer.«174 Auch deshalb verwandelt sich Flametti in einen Indianer, und dies nicht nur kostümiert, sondern in einer tatsächlich dämonisch anmutetenden,

(›Zeitkrankheit‹) gelesen werden kann« (34) und wie Ball damit weniger an einen »dämonischen Trend« als an die »Tradition der Geistererscheinung« anknüpft (61). 170

Ball, Flametti oder Vom Dandysmus der Armen, 68.

171

S. dazu wiederum auch Verf., »›Der Künstler und die Zeitkrankheit‹«. Bei der Verwendung des Begriffs ›Dämon‹ ist bewusst, wie sehr er von gr. daimónion im positiven Sinn eine Schicksalsmacht ebenso bezeichnet wie im negativen einen Geist, ein Gespenst bzw. Satan oder Luzifer. S. dazu etwa Riedweg, »Daimon«.

172

C. Schmidt, Die Apokalypse des Subjekts, 59.

173

Ebd. 59f.

174

Ebd., 60.

234 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK

›magischen‹ Transformation:175 »Flametti fühlte, wie seine Nase schärfer wurde, energischer: eine Adlernase. Seine Augen kühner, verwegener, sprühend. Er fühlte die Lanze in seiner Faust. Die Federbüschel liefen ihm kalt den Rücken hinunter. Sein Unterkiefer schob sich vor in bestialischer Vehemenz.«176 In Die Flucht aus der Zeit schreibt Ball: »Die Selbstbehauptung liegt der Kunst der Selbstverwandlung nahe. Der Isolierte sucht sich zu behaupten unter den ungünstigen Bedingungen: er muß sich unangreifbar machen. Die Magie ist die letzte Zuflucht der individuellen Selbstbehauptung.«177 Und an anderer Stelle heißt es: »Die letzte Konsequenz des Individualismus ist die Magie, sei sie schwarz, weiß oder romantisch-blau.«178

c) ›Mystische Introspektion‹ Die Historizität der Sprache werde von Landauer, so van den Berg, nicht so sehr als »Hindernis bei der Wahrnehmung von Wirklichkeit, sondern vielmehr als diachrones Register der Humanität verstanden«.179 Um dieses »Register zu zie-

175

Zum Begriff der ›Magie‹ in seiner Relevanz für Ball s. etwa Malinowski, »Magie, Wissenschaft und Religion«; vgl. dazu Philipp, Dadaismus, 144f. Zur Bedeutung des Magie-Begriffs bei Ball im Vergleich zu Novalis s. Wenzel White, »Hugo Ball und Novalis«, bes. 309.

176

Ball, Flametti oder Vom Dandysmus der Armen, 65.

177

Ders., Die Flucht aus der Zeit, 140.

178

Ebd., 145. Nach C. Schmidt ist die »Verwechslung von Fiktion und Realität [...] nicht kontingentes Kennzeichen von Flamettis literarischer Biographie, sondern im Selbstverständnis der radikalen ästhetischen Subjektivität immer schon angelegt. Das sich von der Verfassung der Tradition emanzipierende Genie führt zuletzt selbst die Aufhebung der Kunst herbei, die potentiell zu einer Ästhetisierung der realen sozial-politischen Welt und damit zu der Metarmophose des Genies in ein politisches Subjekt führen muß. Diese Transformation ist um so folgenreicher, als sie aus der Position eines Subjekts geschieht, das sich selbst gegenüber jeder Verfassung als Souverän definiert – und das heißt auch als das wahrhaft freie Subjekt, für das die Realität mit ihren reellen Zwängen im Grunde ein Schein ist. Da die Realität so eine falsche Fiktion und das Genie die wahre Verfassung des Subjekts verkörpert, enthält jede Setzung durch das ästhetische Subjekt schon den Charakter einer höheren und eigentlicheren Realität.« (Die Apokalypse des Subjekts, 66.)

179

Berg, »Gustav Landauer und Hugo Ball«, 152.

2.2 ›P ERFORMATIVITÄT ‹ UND S PRACHE

| 235

hen«, bediene sich Landauer einer Methode, die, so meine These, für Balls Ästhetik von entscheidender Bedeutung ist und die denn auch in direktem Zusammenhang mit Mauthners ›Rückzug ins Schweigen‹ steht: der »mystische[n] Introspektion«.180 Alle Mystiker beklagen mithin das Unvermögen der Sprache, das, was sie in der unio mystica erfahren haben, zum Ausdruck zu bringen; schließlich bedeutet das griechische Verbum myein ›die Augen‹ und auch ›den Mund‹ schließen:181 »Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische«; »[w]ovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.«182 Die Sprache »ist der mystischen Erfahrung entgegengesetzt, und doch: Was wäre die mystische Erfahrung ohne die Sprache?«183 Bereits die cognitio dei experimentalis, die Erfahrungserkenntnis Gottes, bringe die Notwendigkeit sprachlich-diskursiver Rückbindung der mystischen Erfahrung zum Ausdruck.184 Bei Meister Eckhart heißt es etwa: »Wêre hie nieman gewesen, ich müeste si disem stocke geprediet hân.«185 Die mystische Erfahrung »in ihrer Transsprachlichkeit bleibt auf die Sprache bezogen, sie muß sich mitteilen, und was sie mitteilt, ist ihre Transdiskursivität, das Unvermögen der Sprache.«186 Daher ist es für Landauer auch möglich, durch »mystische Kontemplation«, durch »Spurensuche in der Sprache«, die in einer Gesellschaft »verlorengegangene ›Gemeinschaft‹ wieder aufzufinden.187 Diese Auffindung ist in Balls Roman allerdings noch nicht realisiert, zumindest noch solange nicht, bis Flametti das IndianerStück zur Aufführung gebracht hat: Und was ein richtiger Dandy war, der von der Welt etwas verstand, entschloß sich überhaupt nicht, hineinzugehen, sondern die Sache mehr platonisch zu genießen, als Schau-

180

Ebd. In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, dass es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer starken Mystikrezeption kommt (vgl. WagnerEgelhaaf, Mystik der Modere, 25; vgl. außerdem u.a. dies., »Mystische Diskurse«).

181

Vgl. ebd., 93.

182

Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 7.

183

Wagner-Egelhaaf, »Mystische Diskurse«, 93.

184

Vgl. ebd.

185

Eckhart, Predigten, Traktate, 181.

186

Wagner-Egelhaaf, »Mystische Diskurse«, 93f. S. dazu u.a. auch Haug, »Das Wort und die Sprache bei Meister Eckhart«, 25-44; ders., »Das Gespräch mit dem unvergleichlichen Partner«; ders., »Zur Grundlegung einer Theorie des mystischen Sprechens«; Quint, »Mystik und Sprache«.

187

Berg, »Gustav Landauer und Hugo Ball«, 153.

236 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK spiel gewissermaßen von außen, als Zusammenklang, mit der überlegenen Intelligenz dessen, den die Realität nur als Widerspruch nicht mehr enttäuschen kann. Noch aber hatte die Fuchsweide ihre letzte Verführung nicht ausgespielt: die Echtheit inmitten einer Welt des Scheins; das Wunder als Resultat unerhörter Perversitäten. Von wem aber konnte man solche Leistung erwarten? Nur von Flametti.188

Als Kunst-Produktion fungiert Flamettis Indianer als Projektionsfläche des künstlerischen Ichs, das auf seine innere Realität zurückgeworfen ist, was nach außen sichtbar wird: »Man staute sich vor den breiten Reklamefenstern des ›Krokodilen‹. Da stand vor dem großen Aquarium voll blaugrauer Karpfen das Plakat der ›Indianer‹: Flametti als Häuptling Feuerschein. / So sah er aus! So leibte und lebte er! Das war die Synthese seiner inneren Eigenschaften!«189 Nun begründet Landauer nach van den Berg den »Voluntarismus seines Anarchismus« wie folgt:190 Die Geschichte von (dem Begriff) ›Revolution‹ vergegenwärtige die Revolution, und diese Vergegenwärtigung sei »nichts andres als die Revolution«,191 da diese nur in der Realität stattfinden könne und die einzig erfassbare Realität ja die innere sprachliche sei: »Das menschliche Individuum besitzt, besser: ist durch diese historische Dimension der Sprache Gemeinschaft in nuce.«192 Die Annahme, Wirklichkeit sei für den Menschen nur Sprache, ergebe neue Möglichkeiten, diese Wirklichkeit zu ändern; da Wirklichkeit nur Sprache sei, impliziere die Innovation der gedachten/sprachlichen Wirklichkeit nicht zuletzt die Innovation der Sprache, wobei das »mystische ›Nichts‹« zugleich, »wie in der mystischen ›creatio ex nihilo‹, voraussetzungslose (Neu-) Schöpfung« ermögliche.193 Was für Mauthner Gefangenschaft (in) der Sprache sei, erweise für Landauer den Weg zu (neuer) Freiheit:194 So also steht es: unsere Welt ist ein Bild, das mit sehr armseligen Mitteln, mit unseren paar Sinnen, hergestellt ist. Diese Welt aber, die Natur, in ihrer Sprachlosigkeit und Unaussprechbarkeit, ist unermeßlich reich gegen unsere sogenannte Weltanschauung, gegen das, was wir als Erkenntnis oder Sprache von der Natur schwatzen. Denn die Sprache ist nur ein Bild dieses Bildes, da alle Sprache durch Metapher entstanden und durch Meta-

188

Ball, Flametti oder Vom Dandysmus der Armen, 87.

189

Ebd.

190

Berg, »Gustav Landauer und Hugo Ball«, 153.

191

Landauer, Die Revolution, 10.

192

Berg, »Gustav Landauer und Hugo Ball«, 153.

193

Ebd.

194

Ebd.

2.2 ›P ERFORMATIVITÄT ‹ UND S PRACHE

| 237

phern sich weiter entwickelt hat. Unsere Sinne teilen uns nur mit, was wir wahrnehmen, also mit dem Gedächtnis, also mit der Sprache erfassen können. Unsere Nerven wissen von dem, was sie angeht, mehr, als wir Nervenbesitzer ahnen, als unser Oberbewußtsein weiß und in Worte fassen kann. Die Welt ist ohne Sprache. »Sprachlos würde auch, wer sie verstünde.« Homo non intelligendo fit omnia. Die Sprache, der Intellekt, kann nicht dazu dienen, die Welt uns näher zu bringen, die Welt in uns zu verwandeln. Als sprachloses Stück Natur aber verwandelt sich der Mensch in alles, was er berührt. Hier beginnt die Mystik [...].195

Die Richtung einer neuen Freiheit als ›neue Mystik‹ und ›neue starke Aktion‹ hat Landauer genauer bezeichnet: sie führt zur Literatur.196 Denn so wenig Erkenntnisfunktion die Sprache besitzt, so viel vermag sie als Kunstmittel: In der Dichtung werde, so Martina Wagner-Egelhaaf, der Sinn jedes Wortes im kontextualen Beziehungsgefüge evident, das Wort sei ›flimmernd‹, ›zitternd‹, ›schwebend‹, sei ein ›à peu près‹.197 Für die Dichtung ist es ein Gewinn, dass Worte keine Anschauungen hervorbringen, sondern immer nur Bilder von Bildern von Bildern: Wir [...] haben erfahren, daß Worte nicht Bilder geben und nicht Bilder hervorrufen, sondern nur Bilder von Bildern von Bildern. Wir kommen im praktischen Leben [...] mit den Worten der Sprache so gut aus, daß wir gewöhnlich übersehen, wie unfähig die Sprache ist, ihre letzten Absichten zu erreichen. Jedes einzelne Wort ist geschwängert von seiner eigenen Geschichte, jedes einzelne Wort trägt in sich eine endlose Entwicklung von Metapher zu Metapher. Wer das Wort gebraucht, der könnte vor lauter Fülle der Geschichte gar nicht zum Sprechen kommen, wenn ihm nur ein geringer Teil dieser metaphorischen Sprachentwicklung gegenwärtig wäre; ist sie ihm aber wieder nicht gegenwärtig, so gebraucht er jedes einzelne Wort doch nur nach seinem konventionellen Tageswerte, als Spielmarke, und gibt mit diesen Spielmarken nur einen imaginären Wert, gibt niemals Anschauung.198

195

Landauer, Skepsis und Mystik, 6.

196

Vgl. Berg, »Gustav Landauer und Hugo Ball«, 154.

197

Vgl. Wagner-Egelhaaf, Mystik der Moderne, 33.

198

Mauther, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, 115. Dort heißt es daher: »Wie die römische Dame in ihrem Boudoir oder Götter aller Zeiten und Völker beisammen hatte, und darum in der Not nicht wußte, zu welchem beten, so hat der Dichter und Denker unserer Zeit alle Wortfetische zweier Jahrtausende in seinem Gehirn beisammen und kann kein Urteil mehr fällen, kann kein Gefühl mehr ausdrücken, ohne daß die Worte wie ein gespenstischer Verwandlungskünstler auf dem Drahtseil ein

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Mauthner wendet das mystische Paradigma ins Ästhetische.199 – Systematisch entscheidend im Hinblick auf Balls Verknüpfung von mystischer und anarchistischer Ästhetik ist an dem metaphorischen Charakter der Sprache die Grundrelation der Neubildung, bei der in jedem Bedeutungswandel eine Übertragung des Vorhandenen auf das Neue stattfindet.200 So sei alle Sprache eine Übertragung des Eigentlichen in Uneigentliches, auf vager Ähnlichkeit beruhende Assoziation.201 Angeregt von dem eigenwilligen Umgang mit Sprache in der mittelalterlichen Mystik fordert Landauer eine selbstbewusste, kreative Umformung der Sprache. Er sieht die Verpflichtung »zu einer neuen Art des Sprechens und Darstellens, die einen Unterton der Ironie, des ›peu à peu‹, des Provisorischen und Metaphorischen bewahrt.«202 In Balls Flametti-Roman wird etwa die Musik zur Varieté-Aufführung denn auch als ›Sprache‹ vorgeführt: »›Mtata, mtata, umba, umba, umba, umba!‹«; »Ptuhh dada dada da, umba umba!‹«203 So wie die Musik

Maskenkostüm nach dem anderen abstreifen und ihn auslachen und unter den Kleidern durch das Rasseln ihrer Knochen verraten, daß sie halbverweste Gerippe sind. In bunten Farben schimmern unsere Sprachen und scheinen reich geworden. Es ist der falsche Metallglanz der Fäulnis.« (229f.) 199

Vgl. Wagner-Egelhaaf, Mystik der Modere, 35.

200

S. dazu auch Grob, »Nach der Lebenskunst«, 133: »Unabhängig von weltanschaulichen Präferenzen oder von Einflussthesen korrespondieren diverse avantgardistische Züge mit mystischen Traditionen: so die fast durchgehende radikale Ablehnung der bestehenden Welt, die Annahme, dass Neues nur über die Zerstörung des Alten entstehen könne, die Vorstellung einer Teilhabe an Formen des Absoluten über Selbstzerstörung und -erniedrigung, sprach- und formmagische Konzeptionen (die nun meist psychologisierend über die Wirkung begründet werden), die apophatische Orientierung am letztlich Unaussprechlichen, am (beredten) Schweigen. Dass sich hier Anschlüsse für politische Konzepte wie Anarchie und Revolution bilden, braucht nicht ausgeführt zu werden. Ein solches Verständnis stützt die in letzter Zeit zunehmend geäußerte Ansicht, dass auch der Dadaismus keineswegs nur über die proklamierte Sinnverweigerung verstanden werden kann. Die ›Mystik‹ der Avantgarde muss man deswegen nicht in ihren ideologischen Ausprägungen und inneren Differenzen suchen, sondern in ihrem Formverständnis und in ihrer Funktionalisierung von Kunst und Künstler.« Grobs Ausführungen konturieren nicht nur, sondern bestätigen die hier vorgestellten Thesen um und für eine Ästhetik der Provokation.

201

Vgl. Wagner-Egelhaaf, Mystik der Moderne, 36.

202

Ebd.

203

Ball, Flametti oder Vom Dandysmus der Armen, 91.

2.2 ›P ERFORMATIVITÄT ‹ UND S PRACHE

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im Roman »eine Orgie« feiert, revolutioniert Ball in seinen Lautgedichten die Sprache – ›orgiastisch‹ und ›wild‹. Im Roman heißt es daher programmatisch: Hörner, Piston, Baßklarinett; Tuba, Trommel und Fagott schrieen, zeterten, kreischten, gröhlten. Die Schallöcher der Trompeten stachen wie Sternwartenrohre nach allen Seiten gelb in die Luft; sie spieen Musik. Die Augen der Bläser verdrehten sich und drohten als blanke Kugeln aus ihren Höhlen zu fallen. Die Disharmonien zerfetzten einander. Und Herr Fournier, der für das Ganze verantwortlich war, gebärdete sich wie ein Wilder.204

Die Revolutionierung der Sprache soll also zu einer ›neuen Wortkunst‹ führen, die Landauer, so wiederum van den Berg, ansatzweise in der symbolistischen Poesie Hugo von Hofmannsthals und Stefan Georges verwirklicht sieht:205 [Da] die Sinnenwelt nicht sagbar ist, [...] geben uns nun die Poeten nicht nur den Rhythmus ihres Lebens und ihrer Gefühle: sondern eben so die Bilder der Sinnenwelt: als das Unsagbare. Dieses Ineinanderschwingen der Unsagbarkeiten, die von den entgegengesetzten Enden herströmen – der Rhythmus aus der Zeit, das Sinnenbild aus dem Raum, – dieses Auflösen alles Realen im Elemente des Traumes: das finde ich in den Dichtungen derer, die ich genannt habe, und das eben scheint mir die Stimmung zu sein, in der man einzig und allein von der Sprachkritik zur Wortkunst zurückkehren kann.206

In dem Aufruf zum Sozialismus, auf den Ball Bezug nimmt, »ordnet Landauer gewissermaßen Proudhon Hofmannsthal und George zu;« zugleich verweisen seine Bemerkungen zu Proudhon darauf, dass er Mauthner »nicht bis zum Ende folgt«, indem er unterstellt, dass Proudhon »mit der Auflösung seiner Begriffe ›in strömende Kontinuität‹ und der Vermeidung von ›Dingworten‹ (Substantive, Abstrakta) erfolgreich war und zu verwirklichen wußte, was Mauthner zufolge prinzipiell unmöglich ist«: »durch (Erneuerung der) Sprache zu einem adäquat(er)en Begriff der Wirklichkeit zu gelangen.«207 Dabei befreit die Erkenntnis der Erkenntnisunfähigkeit der Sprache die Sprache »zu einer neuen künstlerischen Produktivität, die im permanenten Kreisen um das unerreichbare Ich als der wahren, nur mystisch erfahrbaren Wirklichkeit besteht.«208 Als eine solche ›Wirklichkeit‹ wird die Welt der Indianer im Flametti-Roman ausdrücklich ausgewiesen; die ›Wirklichkeit‹, die das Stück zeigen soll, ist eine vermittelte; sie

204

Ebd., 100.

205

Vgl. Berg, »Gustav Landauer und Hugo Ball«, 154.

206

Zit. nach ebd.

207

Berg, »Gustav Landauer und Hugo Ball«, 154f.

208

Wagner-Egelhaaf, Mystik der Moderne, 37.

240 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK

deutet hin auf den Versuch des Künstlers, zu neuer künstlerischer Produktivität zu gelangen, wonach sinnbildlich Flametti als Häuptling Feuerschein zu streben scheint: »Meine Damen und Herrn! Keine richtigen, echten, wirklichen Indianer. Keine Sioux, Apachen, Komantschen. Keiner wird mit den Kesseln rasseln wie auf dem Jahrmarkt, oder auf der Mess’ z’ Basel. Sie brauchen keine Angst zu haben. Es schreckt nicht. Es passiert Ihnen nichts. Sondern: Sie sehen die Wirklichkeit. Das aussterbende Volk der Indianer auf dem Kriegspfad. Die Rache und die Verklärung. Den Häuptling mache ich selbst.« »Ich selbst«, wiederholte Flametti, indem er in Selbstpersiflage komisch an sich hinunterstrich. [...] »Sie werden dieses Ensemble sehen und ergriffen sein. [...]«209

Hier ist der Ansatzpunkt, von dem aus sich eine Ästhetik der Provokation über ihre Momente der Performativität mit denjenigen der Anarchie konstituiert: An die Stelle der Betonung der Notwendigkeit ›äußerer‹ Freiheit tritt diejenige »›innerer‹ Erleuchtung«; was Ball dem Anarchismus entnimmt ist nicht die »Ablehnung der äußeren Welt«, als vielmehr deren Verlagerung »ins Innen«.210 Damit korrespondiert seine Erfahrung der Einbrüche und Zusammenbrüche ›alter‹ Gewissheiten in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts: sozialpolitische Unruhe nämlich, Sprachkrise und auch die ›Entdeckung‹ des Unbewussten bei Freud; für das Subjekt, das Ich oder Selbst existiert dabei die ›Welt‹ nur in der von ihm ›erkannten‹ Form: in Sprache, deren ›Leben‹ aber auf dem Prüfstand steht. »Ein Streben nach neuer Ordnung, nach neuen Gesetzen ließ ihn das Chaotische belauschen«, schreibt Emmy-Ball Hennings über Ball. »So ist’s bei ihm gewesen in der Kunst, in der Politik und auch in der Geschichte. [...] Die Wissenschaft anzuwenden – darin war er ein bewußter Künstler, ein Lebendigmacher.«211 Auf dem Hintergrund des unter Rekapitulation entsprechender Forschungen dargestellten Aufweises von ›Performativität‹ und ›Anarchismus‹ der Sprache lässt sich nun der Einsatzpunkt der Provokationsästhetik noch einmal verdeutlichen. Deren Thesen verdanken sich zeitgenössischer avantgardistischer Reflexion von Begrifflichkeiten wie ›Kunst und Leben‹ sowie ihrer Konzentration auf die ästhetische Auseinandersetzung mit Mystik, Sprachphilosophie und Psychoanalyse.212 Dabei nimmt sie an, dass die Betonung des therapeutischen Potentials

209

Ball, Flametti oder Vom Dandysmus der Armen, 93.

210

Steinbrenner, »Theoretischer Anarchismus und ›IMITATIO CHRISTI‹«, 88f.

211

Ball-Hennings, »Aus dem Leben Hugo Balls«, 13f.

212

Vgl. Berg, Avantgarde und Anarchismus, 463.

2.2 ›P ERFORMATIVITÄT ‹ UND S PRACHE

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der Kunst die Krankheit der Zeit wie des Künstlers, an der beide leiden, beenden kann:213 »Auf der Achse der Individualisierung/Subjektivierung ist Mystik zweifellos die Form radikalster Subjektivität – der Ort der Wahrheit ist nun weder die gesetzmäßig operierende Natur noch die Geschichte, sondern das isolierte Subjekt selbst.«214 Diese Voraussetzung des Einsatzes der provokativen Ästhetik kann sich jedoch als trügerisch erweisen. Die Apperzeption der von Ball lokalisierten, die ästhetisch zu vollziehende Provokation auslösende ›Zeitkrankheit‹ kann nicht allein schon dadurch ›heilsam‹ wirken, dass sie die Sprache performativ und anarchistisch im dargestellten Sinn mit Bedeutungsverschiebungen versieht. Vielmehr sind auch deren ästhetisch provozierend gebildeten, ›neuen‹ Bedeutungen immer dann, wenn sie aus der Perspektive des Nachvollzugs ihres Bildungsprozesses betrachtet werden, in eine Überhöhung ins Religiös-Mystische hineingezogen. In Balls Varieté-Roman gehört das »Herz« Flamettis etwa auch den »Gestrandeten, den Gelegenheitskönnern, den Kindern Gottes.«215 Schmidt führt zutreffend aus: Die soziale Transposition des Dada-Cabaret ins Variete-Milieu setzt im Roman neue sprachliche Strategien frei, die von der Entlarvung der dadaistischen Sprachmystik als bruitistischer Lärm und der surrealistischen Montage bis zum gezielten Einsatz von Dialekt, Slang und Ganovensprache reichen. Die adamitische Namenssprache der emanzipatorischen Einbildungskraft wird hier zum bloßen Lärm, der das babylonische Gewirr der Sprachen und Sprachstile begleitet. Setzt die reine Alchemie der poetischen Sprache nicht das Pneuma einer anderen Welt, sondern nur die verborgene Dämonie dieser Welt frei, so enthalten die Stimmen und Satzfragmente des Weltenlärms keine geheime übernatürliche Semantik mehr, die der Dadaist vor der Kontamination durch den Alltag retten müßte. Die Destruktion der Alltagssprache, die Auflösung in ihre phonetischen Elemente ermöglicht keine poetische Rekonstruktion der utopischen Welt, sondern ist nur Indiz eben für den Untergang und den Verfall dieser Welt in die Barbarei. Die Neuschöpfung der Sprache aus dem ästhetischen Geist ist nur eine andere Form dämonischer Selbstermächtigung des

213

Balls eigene Versuche als Therapeut einer ›Eigenen Psychoanalyse‹ (vgl. Zehetner, Hugo Ball, 122f.; dazu auch ausführlicher Wacker, »›Man muß den Teufel wieder an die Wand malen ...‹«) sind ein Beleg dafür, dass Ball seine theoretischen ›Ideen‹ im eigenen ›produktiven‹ Leben umzusetzen versucht hat.

214

Gruber, »Mystik, Esoterik, Okkultismus: Überlegungen zu einer Begriffsdiskussi-

215

Ball, Flametti oder Vom Dandysmus der Armen, 125.

on«, 35.

242 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK Subjekts, die keine Alternative zum Subjekt der modernen bürgerlichen Herrschaft durch Rationalität darstellt, sondern [...] eine gefährlich Konkurrenz.216

Die provokative Ästhetik kann von ihrem Hinweis auf die Bedeutungsverschiebungen der Sprache nur deshalb eine Therapie erwarten, weil ›Seele‹ und Sprache, welche die Begriffe trägt, doch ineins gesehen werden.217 ›Ästhetisch‹ meint hier daher auch, geistig wie körperlich davon zu träumen, zu ersehnen, »wie vortrefflich es wäre«, »im gleichen Rhythmus zu schwingen wie die Dinge dieser Welt.« 218 (H. U. Gumbrecht) Eine genauere Bestimmung dieser ›Schwingung‹ lässt sich gewinnen, wenn noch einmal kurz auf den ›magischen‹ Ort der Entstehung von ›Kommunikation‹ mit dem ›Ur-Einen‹ geblickt wird.219 Die Frage nach dem ästhetischen Träumen oder Ersehnen jener stellt sich im Zusammenhang der mystischen Rede ›performativer‹ wie ›anarchistischer‹ Prägung,220 zumal sich Ball in seinem Buch über das Byzantinische Christentum221 selbst »als Mystiker«222 gibt: »Für den Mystiker ist nun Sprache nicht nur vordergründiges Kommunikationsmittel«,223 sondern sie hat, wie Gershom Scholem sagt, eine ›Innenseite‹:224 »Ihre immanente Struktur kann demzufolge nicht darauf aus sein, im Syntagmaverband auf Referenzobjekte Gründendes auszusagen; sie steht symbolisch für einen potentiellen

216

C. Schmidt, Die Apokalypse des Subjekts, 68f.

217

Vgl. Philipp, Dadaismus, 67.

218

Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik, 138f.

219

»›Magie‹ bedeutet [hier] in Balls Sprachauffassung eine affektive Symbolik der Sprache in ihren Klang- wie in ihren Bildqualitäten und basiert auf dem Glauben an die Sprache als Logos des personifizierten Gottes, der – wie der antike Schauspieler durch seine Maske – durch die Sprache ›personat‹, das heißt durchtöne. [...] bei Ball impliziert Sprachmagie den Glauben an eine ursprüngliche Identität von Wort, Bild, Materie und Sprecher beziehungsweise Schöpfer [...]. Dieses ›fleischgewordene Wort‹ hat Ball schon in seiner avantgardistischen Poetik im Sinn, wenn er die Sprache vom ›Materialismus‹ reinigen und ihr zu einer ursprünglichen ›Würde‹ verhelfen will [...].« (Rechner-Zimmermann, Die Flucht in die Sprache, 30f.).

220

Dazu auch Stauffacher, »Erfahrung des Unaussprechlichen«.

221

Dazu u.a. einführend Kantzenbach, »Eine Alternative zum ›Übermenschen‹«. Einen Überblick über Enstehungs- und Wirkungsgeschichte bietet Wacker, »Nachwort« [zu: Ball, Byzantinisches Christentum].

222

Philipp, Dadaismus, 179.

223

Ebd.

224

Vgl. Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik, 16.

2.2 ›P ERFORMATIVITÄT ‹ UND S PRACHE

| 243

Sinn, der der Prämisse nach freilich niemals ausdrückbar sein wird.«225 Der Literatur kommt dabei erneut eine wichtige Aufgabe zu. Scholem führt aus: Was die Würde einer Sprache sein wird, aus der sich Gott zurückgezogen haben wird, ist die Frage, die sich die vorlegen müssen, die noch in der Immanenz der Welt den Nachhall des verschwundenen Schöpfungswortes zu vernehmen glauben. Das ist eine Frage, auf die in unserer Zeit wohl nur die Dichter eine Antwort haben, die die Verzweiflung der meisten Mystiker an der Sprache teilen und die eines mit den Meistern der Kabbala verbindet, auch wo sie deren theologische Formulierung als noch zu vordergründig verwerfen: der Glaube an die Sprache als ein wie immer dialektisch aufgerissenes Absolutum, der Glaube an das hörbar gewordene Geheimnis in der Sprache.226

Balls Ästhetik und mit ihr sein Verständnis von Kritik und Literatur sind nicht zuletzt Reflexe seines Nachdenkens über derart mystische ›Probleme‹.227 Ball glaubt an die Möglichkeit, »historische Sedimente von den Begriffen abtragen zu können, um dem Blendwerk der Kategorien zu entgehen, wenn er nur durch die Zeit ›hindurchrutscht‹, um am Uranfänglichen himmlischen Kadenzen zu lauschen oder sie zu reproduzieren.«228 Die Auflösung der Sprache – sei sie ›performativ‹ oder ›anarchistisch‹, ›rhetorisches‹ Mittel oder theoretisches ›Spielzeug‹ – entsprechen nicht nur der mystischen Perspektive; »sie sind, genau besehen, deren Voraussetzung«.229 Durch diese kurze Erläuterung des ›magischen‹ Orts der Entstehung von ›Kommunikation‹ mit dem ›Ur-Einen‹ als aus der Perspektive der Provokationsästhetik entworfene Anschlüsse an Fragen der Mystik ist dieser zwar benannt, aber noch nicht genug über seine Struktur gesagt. Es lassen sich jedoch aus den vorliegenden Überlegungen Hinweise auf seine Verfassung gewinnen. Die Richtung, in die sie weisen, wird deutlich, wenn noch einmal bedacht wird, dass der mystische Diskurs seine Positionen aufgrund seiner prinzipiellen Struktur immer qua Negation, qua Differenz setzt.230 Dieser ständige Einfluss der Differenz ist ein Strukturmoment der Mystik, der erneut einen theoretischen Anschluss der Provokationsästhetik Balls mit ›postmodernen‹ Überlegungen ermöglicht. Dieser

225

Philipp, Dadaismus, 179.

226

Scholem, »Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala«, 495.

227

Vgl. Philipp, Dadaismus, 181.

228

Ebd.

229

Ebd.

230

Vgl. Wagner-Egelhaaf, »Mystik, Literatur und Dekonstruktion«, 101. S. dazu auch dies., »Lektüre(n) einer Differenz: Mystik und Dekonstruktion«.

244 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK

weist zudem über die Theoreme hinaus auf eine Praxis der Kritik, wie sie Harald Bloom in Kabbala. Poesie und Kritik beschreibt. Darin liest Bloom »das jüdische Exil als Metapher für eine von der göttlichen Urschrift entfernte Repräsentation«: »Jeder kabbalistische Text versteht sich als Kommentar eines anderen Textes und also als Kommentar des verlorenen göttlichen Urtextes – eine Bewegung, die sich von Text zu Text fortschreibt.«231 Bloom schreibt: Man kann [...] sagen, daß jede Religion apotropäische Litanei gegen die Gefahren der Natur ist, und so ist jede Dichtung eine apotropäische Litanei, Abwehr und Verteidigung gegen den Tod. Aus unserer Perspektive ist Religion verschüttete Dichtung. Und unter den religiösen Interpretationssystemen scheint mir die Kabbala einzigartig zu sein, insofern sie einfach schon Dichtung ist und kaum der Übersetzung ins Reich der Ästhetik bedarf. Über die direkte Schilderung des schaffenden Geistes hinaus bietet die Kabbala sowohl ein Modell für die Prozesse des poetischen Einflusses, wie auch Landkarten für die problematischen Wege der Interpretation. Die Kabbala ist eine kühnere Theorie der Schrift als alle neueren Entwicklungen der französischen Kritik, allerdings ist sie Theorie, die die absolute Unterscheidung zwischen der Schrift und der inspirierten Rede ebenso leugnet, wie sie die menschlichen Unterscheidungen zwischen Anwesenheit und Abwesenheit leugnet.232

Es hat sich bereits gezeigt, dass bei Ball die ›neuen‹ Bedeutungen von Sprache im Akt ihrer religiös-mystischen Bildung in einem paradoxen Moment gleichzeitig anwesend und abwesend erscheinen; Sprache ist in ihrer semantisch verständlichen Form abwesend, in ihrem Lautgehalt aber zugleich anwesend. Derjenige Gegenstand, der als Grund dieser Konstellation zu erfahren ist, ist – weil er jener notwendig vorgelagert ist – ein ›Ur‹-Grund. Gleichermaßen spreche, so Bloom, die Kabbala von der Schrift vor der Schrift, worin er Derridas ›Spuren‹ erkennt; sie spreche aber auch von der Rede vor der Rede, »einer ersten Unterweisung, die allen Spuren der Rede vorausgeht.«233 Bloom weist darauf hin, dass Derrida in seiner Grammatologie behauptet, »daß die Schrift der Rede zugleich äußerlich und innerlich ist, während die Rede selbst schon Schrift ist, da die Spur, der sie folgt, ›als etwas vor dem Sein Kommendes begriffen werden muß.‹«234 Einen Unterschied zwischen Kabbala und Derridas ›Dekonstruktion‹ weist er hier auf: Derrida sagt, daß ›alle westlichen Methoden der Analyse, der Erklärung, des Lesens oder der Interpretation‹ hervorgebracht wurden, ›ohne jemals die radikale Frage der Schrift zu

231

Dies., »Mystik, Literatur und Dekonstruktion«, 102.

232

Bloom, Kabbala, 48.

233

Ebd.

234

Ebd.

2.2 ›P ERFORMATIVITÄT ‹ UND S PRACHE

| 245

stellen‹, dies trifft gewiß nicht für die Kabbala zu, die mit Sicherheit eine westliche Methode, wenn auch eine esoterische, ist. Auch die Kabbala denkt auf Wegen, die von der westlichen Metaphysik nicht zugelassen sind, da ihr Gott zugleich en-Sof und ajin, völlige Anwesenheit und völlige Abwesenheit ist, und alle ihre Innenseiten auch Außenseiten enthalten, während alle ihre Wirkungen auch die Ursachen determinieren. Aber die Kabbala bringt die Bewegung von Derridas ›Spuren‹ zum Halten, weil sie einen Punkt des Ursprünglichen kennt, wo Anwesenheit und Abwesenheit in kontinuierlichem Wechselspiel nebeneinander bestehen.235

Auch an anderer Stelle ist die Parallele zwischen Derrida und der Rabbin’schen Tradition der Schriftgelehrsamkeit (»im Unterschied zur metaphysischtheologischen Tradition des abendländisch-christlichen Denkens«)236 bestimmt worden: Die jüdische Wertsetzung des Buchstabens entspreche dem von Derrida gesetzten freien Spiel der Schrift-Zeichen,237 deren Bedeutung als Begriff für die Kritik wie denn auch für die Provokationsästhetik nicht noch einmal eigens betont werden muss.238 Derridas différance als ›Urschrift‹ und ›Urspur‹ unterstreicht eben auch, dass es keinen ›Namen‹ für diese gibt, auch nicht den der ›différance‹, eine Position, die eben »höchst ›mystisch‹ erscheint.239 Wenn zwar

235

Ebd., 48f.

236

Wagner-Egelhaaf, »Mystik, Literatur und Dekonstruktion«, 103.

237

Vgl. Handelmann, »Jacques Derrida and the Heretic Hermeneutic«.

238

Entgegen antisemitischer Stellen in Balls Werk – vgl. zur Diskussion Wacker, »Ein rabiater Antisemit?«, bes. 170-181; Hübner, »Christus oder Jehova« – ist hervorzuheben, dass dieser vor allem in seiner Rezeption der Psychoanalyse zu einer Reflexion des Verhältnisses Christentum und Judentum kommt (vgl. Zehetner, Hugo Ball, 123, sowie ders., »Dämon, Pneuma, Mensch«, 314).

239

Vgl. Wagner-Egelhaaf, »Mystik, Literatur und Dekonstruktion«, 103. S. dazu auch Habermas, »Überbietung der temporalisierten Ursprungsphilosophie: Derridas Kritik am Phonozentrismus«, 212f.: »Die Urschrift nimmt den Platz eines subjektlosen Erzeugers von Strukturen ein, die dem Strukturalismus zufolge jedes Autors entbehren. Sie stiftet die Differenzen zwischen den in einer abstrakten Ordnung wechselseitig aufeinander bezogenen Zeichenelementen. [...] Alle sprachlichen Ausdrücke, ob sie nun in der Gestalt von Phonemen oder Graphemen auftreten, sind gewissermaßen von einer selbst nicht präsenten Urschrift ins Werk gesetzt. Diese erfüllt, indem sie allen Kommunikationsvorgängen und allen beteiligten Subjekten vorauseilt, die Funktion der Welterschließung, freilich so, daß sie sich selbst zurückhält, die Parusie widersteht und nur in der Verweisungstruktur der erzeugten Texte, im ›allgemeinen Text‹, ihre Spur hinterläßt. Das dionysische Motiv des Gottes, der den

246 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK

der ›mystische Gott‹ und die différance in letzter Konsequenz inkommensurabel sind,240 so setzt die Operation des Vergleichs dennoch »vergleichbare, d.h. klar umgrenzte Systempositionen voraus.«241 Cornelius Zehetner weist – wie auch ich – darauf hin, dass eine Gegenüberstellung Balls mit Derrida »philosophisch etwa im Hinblick auf den dekonstruktivistischen ›Ruf‹« anzusetzen ist, »der bei Derrida vor allem im Grunde seiner ›vorzukünftigen‹ Zeitstruktur ›Spur‹ bleibt«.242 Das Verständnis ästhetischer Provokation bei Ball impliziert offenkundig eine Konstruktion von radikaler Sprachskepsis über mystische Versenkung mit zumindest anarchistischem Engagement,243 eine »neue starke Aktion« im Sinne Landauers, die zum Konzept von »seelische[r] Einheit und sprachliche[r] Reinheit«244 führen und darüber hinaus zur Überwindung der Verzweiflung an der Sprache der, so Ball, »Jargon des Abstrakten«245 vermieden werden soll. Ball schreibt: »Wie kann man dem Wort seine Macht wiedergeben? Indem man sich immer tiefer mit dem Worte identifiziert. Zu jenem innersten Kern der Person und Nation durchdringen, wo die bewegenden Gedanken herkommen.«246 Als »praktische Versuche«247 in dieser Richtung, so die These, lassen sich nicht nur, wie van den Berg angibt,248 Balls Lautgedichte und sein Phantastenroman verstehen, sondern ebenfalls, so mein Ergebnis, gerade auch seine theoretischen Schriften wie seine ›kritische‹ Publizistik (s. Kap. 2.3) und sein Flametti-Roman. In ihm dient, so Schmidt, die »ästhetische Provokation«, da sie »desselben dä-

Söhnen und Töchtern des Okzidents seine in Aussucht gestellte Präsenz durch zehrende Abwesenheit nur um so fühlbarer macht, kehrt in der Metapher von der Urschrift und ihrer Spur wieder [...].« Zur Reaktion Derridas vgl. ders., Wie nicht sprechen, 17 – ein Text, der im letzten Kapitel eingehender mit Blick auf Ball diskutiert werden wird. 240

Vgl. Wagner-Egelhaaf, »Mystik, Literatur und Dekonstruktion«, 105.

241

Ebd.

242

Zehetner, Hugo Ball, 52.

243

Vgl. Berg, »Gustav Landauer und Hugo Ball«, 157.

244

J. Kühn, Gescheiterte Sprachkritik, 44.

245

Ball, Die Flucht aus der Zeit, 71. Zu dieser Stelle s. auch Stein, Die Inflation der

246

Ball, Die Flucht aus der Zeit, 137.

247

Berg, »Gustav Landauer und Hugo Ball«, 159.

248

Vgl. ebd.

Sprache, 17, sowie Berg, »Gustav Landauer und Hugo Ball«, 158.

2.2 ›P ERFORMATIVITÄT ‹ UND S PRACHE

| 247

monischen Ursprungs« sei wie die »Welt der Herrschaft selbst«, einer »Beschleunigung der Katastrophe.«249 In Balls Literatur und Ästhetik fallen Theorie und Praxis tatsächlich zusammen; beide Bereiche stehen darin in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis, das ihre spannungsvolle, womöglich, wären sie vollends realisiert, in einer Katastrophe endende Beziehung in den im vorliegenden Kapitel verhandelten Punkten ›Innerlichkeit‹, ›Psychologie‹, ›Spiel‹ und ›Sprache‹ nie aufgibt, Punkte, die Ball in einem Eintrag in Die Flucht aus der Zeit selbst aufgreift und benennt: Wir suchten der isolierten Vokabel die Fülle einer Beschwörung, die Glut eines Gestirns zu verleihen. Und seltsam: die magisch erfüllte Vokabel beschwor und gebar einen neuen Satz, der von keinerlei konventionellem Sinn bedingt und gebunden war. An hundert Gedanken zugleich anstreifend, ohne sie namhaft zu machen, ließ dieser Satz das urtümlich spielende, aber versunkene, irrationale Wesen des Hörers erklingen; weckte und bestärkte er die untersten Schichten der Erinnerung. Unsere Versuche streiften Gebiete der Philosophie und des Lebens, von denen sich unsere ach so vernünftige, altkluge Umgebung kaum etwas träumen ließ.250

Die bisherige Argumentation hat die Konzeption einer kritischen ›Praxis‹ selbst noch nur ausschnittsweise erläutert. Sie hat diese Idee zunächst anhand der zu ihrer Konstitution notwendigen ›Theorie‹ abgesichert. Ich werde nun in der Erläuterung der praktischen Weisen der Kritik, in denen sich Balls theoretische Ideen ästhetischer Provokation geradezu entzünden, einen Blick auf Balls ›Schreiben‹, das (mit Rancière gesagt) »nicht nur eine Ausdrucksform des Wortes, sondern vielmehr eine Idee vom Wort selber und von der ihm innewohnenden Kraft«251 ist, mithin auch auf seinen ›Stil‹ der Kritik werfen. Der Begriff der ›Praxis‹ soll dabei aber nicht als Antonym zum Begriff der ›Theorie‹ entworfen werden: Theorien sind, so auch Tasos Zembylas und Claudia Dürr, »emergente Produkte einer Praxis«; eine ›Praxis‹ »ist nicht bloß körperlich und auch nicht nur mental, sie bildet vielmehr den Rahmen für die Entfaltung körperlicher und kognitiver Aktivitäten« und sie auszuüben »wird häufig zu einem wesentlichen Teil der personellen Identität, das heißt, sie generiert emotionelle, motivationelle und moralische Komponenten, die handlungsstiftend sind.«252 Balls kritische Praxis

249

C. Schmidt, Die Apokalypse des Subjekts, 62.

250

Ball, Die Flucht aus der Zeit, 102.

251

Rancière, Das ästhetische Unbewußte, 25.

252

Zembylas/Dürr, »Vorwort«, 13f.

248 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK

verweist, so gesehen, explizit auf seine Identität als Künstler, Dichter, Philosoph, ›Denker‹. Zudem soll es auch um eine Theorie der Praxis bei Ball gehen.253

253

S. dazu auch Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, u.a. 248: »Der Praxis muß demzufolge eine Logik zugeschrieben werden, die keine der Logik ist, um damit zu vermeiden, ihr mehr Logik abzuverlangen, als sie zu geben in der Lage ist, und sich auf diese Weise dazu zu verurteilen, entweder Inkohärenzen in ihr aufdecken oder ihr eine Kohärenz aufzwingen zu wollen.« Eine Diskussion des ›kritischen Felds‹ sowie des ›Habitus des Kritischen‹ im Sinne von und mit Bourdieu demonstiert wiederum Kastner, »Zur Kritik der Kritik der Kunstkritik«. S. außerdem auch Nowotny/Raunig (Hg.), Instituierende Praxen.

»Mit einem Wort, ist Ihnen nicht passiert, dass Sie ›aufblickend‹ lesen‹?« ROLAND BARTHES

»[...]; ich möchte eine Kritik mit Funken der Fantasie.« MICHEL FOUCAULT

3 Kritische ›Praxis‹

»Was ist eigentlich ein Ideologe? Ein Lesemeister im übernatürlichen Bilderbuch. [...] Vor allem zu fordern ist die Verschmelzung von Namen und Sachen; die möglichste Vermeidung von Worten, zu denen es keine Bilder gibt. Um Ideologe zu sein, müßte man die Gesetze der Magie kennen.« HUGO BALL

Kritik ist »nicht so sehr von ihren Ergebnissen her zu betrachten«; als »akute Praxis«, als »performativer Akt des Treffens von Unterscheidungen, des Setzens von Behauptungen und Werten ist sie bei all ihrer Widersprüchlichkeit unverzichtbar.«1 Kritik ist, wie sie Kapitel 2 definiert hat, ein Eingriff in die ›Welt‹, eine Art von (ästhetischer, literarischer) Theorie, die sich in die Praxis einschreibt.2 Draxler fragt: Was kann ein Bild, einen Text, einen Sound überhaupt kritisch machen? Ist es der manifeste Inhalt, vielleicht die Haltung, aus der heraus etwas getan oder gelassen wird? Woran wäre diese wiederum ablesbar, an einem Engagement außerhalb des Werks? Wie verhält es sich umgekehrt bei einer künstlerischen Kritik, die gar kein Werk mehr hervorbringen, also auf die Form verzichten will, sich als reine Kritik und doch als künstlerische Aktivität oder zumindest in Bezug darauf verstanden wissen will? Lässt sich auf der formalen Seite bereits das ästhetische Material progressiv oder reaktionär zuordnen? Und kann auf der inhaltlichen Seite [...] bereits der pure Verweis auf andere, nicht bürgerliche Lebensrealitäten als kritisch gelesen werden? Muss nicht immer mit der Uneindeutigkeit der Bilder

1 Draxler, Gefährliche Substanzen, 125. 2 Vgl. ebd., 136.

252 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK und der ›Eigenlogik‹ der Formen gerechnet werden, mit den Voraussetzungen ihrer Entstehung sowie ihren konkreten Kontexten und Codes, um einschätzen zu können, als welche künstlerische Formate sie überhaupt von wem wahrgenommen werden können?3

Ein Großteil dieser Fragen, hinter denen sich Auseinandersetzungen zum Verständnis von Ästhetik als einer »›offenen‹ letztlich prinzipiell uneindeutigen Erfahrungsform«4 verbirgt – etwa »hinsichtlich des künstlerischen und kritischen Sprechens«,5 also u.a. des Problems, ob dieses »Sprechen im Namen der Sache agiert und die jeweilige Kunstsparte nur ein Instrument hierfür darstellt«6 – konnte schon beantwortet werden; was an Balls Kritik-›Praxis‹ nun hier vornehmlich interessiert, sind nicht in erster Linie die Inhalte dieser Kritik als vielmehr ihre Form, ihre Schreibweise. Da dieser Begriff im Laufe seiner Geschichte verschiedene Aufladungen erfahren hat, ist als Erstes seine Bestimmung im verwendeten Verständnis zu entwickeln. Und vor dem Horizont der voraus gegangenen Kapitel ist es nicht überraschend, dieses mit einem Gedanken zu versuchen, den Roland Barthes in Le Degré zéro de l’écriture formuliert. Aus diesem Versuch lassen sich dann exemplarisch weitere zentrale Praktizierungen von Kritik bei Ball erklären. Barthes unterscheidet bekanntlich zwischen der Sprache, dem Stil und der Schreibweise (écriture) eines literarischen Werkes: Die Sprache erscheint ihm als »ein allen Schriftstellern einer Epoche gemeinsamer Corpus an Vorschriften und Gewohnheiten«,7 der Stil hingegen als eine »Form der Bestimmung«, die (bildhaft gesprochen) »aus der mythischen Tiefe des Schriftstellers« aufsteigt

3

Ebd.

4

Ebd., 136.

5

Ebd., 137.

6

Ebd.

7

Barthes, »Am Nullpunkt der Literatur«, 15. S. auch ebd.: »Das bedeutet, daß sie so etwas wie eine Naturgegebenheit darstellt, die durch die Rede des Schriftstellers hindurchgeht, ohne dieser eine Form zu geben, ja, ohne diese auch nur zu nähren: sie ist wie ein abstrakter Kreis von Wahrheiten, außerhalb dessen erst sich die Dichte eines einsamen Wortes abzulagern beginnt. Sie schließt die gesamte literarische Schöpfung etwa so ein, wie Himmel und Erde und deren Berührungslinie für den Menschen eine vertraute Heimstatt zeichnen. Sie ist weniger ein Materialvorrat als vielmehr ein Horizont, das heißt gleichzeitig Grenze und Station, mit einem Wort: der beruhigende Bereich einer Struktur.«

2.3 K RITISCHE ›P RAXIS ‹

| 253

und sich »außerhalb seiner Verantwortlichkeit« entfaltet8 – der Anschluss an Balls mystisch-anarchistischen Begriff von Sprache ist offensichtlich. Dieser Stil wird bei Barthes also an den Körper des Schriftstellers gebunden; »sein Geheimnis besteht in einer in diesem Körper eingeschlossenen Erinnerung.«9 Zwischen Sprache und Stil siedelt Barthes dann etwas Drittes an, das er écriture (›Schreibweise‹) benennt, was für ihn die »allgemeine Wahl eines Tones«, eines »Ethos« bedeutet, durch den sich ein Schriftsteller eindeutig »individualisiert«, »engagiert«, wie Barthes sagt.10 Es handelt sich um etwas, das nicht allein als bewusste Wahl des Schriftstellers aufgefasst werden soll, das nicht allein auf Seiten des Schriftstellers zu verorten ist. Die écriture wird auch, so Daniela Langer, definiert als »Verhältnis zwischen dem Geschriebenen und der Gesellschaft« und als »literarische Ausdrucksweise«; sie »liegt also zugleich im Schriftsteller, im Text und zwischen Text und Gesellschaft«:11 Sprache und Stil sind Objekte, die Schreibweise ist eine Funktion: Sie bedeutet die Beziehung zwischen dem Geschaffenen und der Gesellschaft, sie ist die durch ihre soziale Bestimmung umgewandelte literarische Ausdrucksweise, sie ist die in ihrer menschlichen Intention ergriffene Form, die somit an die großen Krisen der Geschichte gebunden ist.12

Die »Schreibweise«, so Barthes, »bedeutet eine Art und Weise, Literatur zu konzipieren, nicht, sie zu verbreiten«; dies allerdings nur in Abhängigkeit von der Zeit, in der der Schriftsteller schreibt: Die Schreibweise besitzt deshalb eine doppelte Realität: einerseits entsteht sie zweifellos aus einer Konfrontierung des Schriftstellers mit seiner Gesellschaft, andererseits weist sie ihn von dieser gesellschaftlichen Zweckhaftigkeit in tragischer Weise zurück auf die instrumentellen Ursprünge seines Schaffens. Mangels einer frei konsumierbaren sprachlichen Ausdrucksform, die ihm zur Verfügung gestellt werden könnte, bietet die Geschichte dem Schriftsteller die Forderung einer solchen, die frei produziert werden kann.

8

Ebd., 16: »Die Sprache als solche ist [...] diesseits der Literatur. Der Stil ist fast jenseits. [...] Unter dem Namen Stil formt sich [...] eine autarke sprachliche Ausdrucksweise, die nur in die eigene, geheime Mythologie des Autors hinabreicht, in jene Hypophysis der Rede, wo sich das erste Wort- und Dingpaar bildet, wo sich ein für allemal die großen Wortthemen seiner Existenz niederlassen.«

9

Ebd., 17. Zur kurzen Explikation des Verhältnisses von Kritik und Erinnerung s. Matt, »Kritik und Vergessen«.

10 Barthes, »Am Nullpunkt der Literatur«, 18. 11 Langer, Wie man wird, was man schreibt, 201. 12 Barthes, »Am Nullpunkt der Literatur«, 18.

254 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK So bezeichnen die Wahl und schließlich die Verantwortlichkeit schließlich eine Freiheit, doch diese Freiheit hat, je nach dem geschichtlichen Augenblick, nicht die gleichen Grenzen. Es ist dem Schriftsteller nicht möglich, seine Schreibweise in einer Art zeitlosem Arsenal der literarischen Formen auszusuchen. Die möglichen Schreibweisen eines bestimmten Azors entstehen unter dem Druck der Geschichte und der Tradition.13

Genau darum geht es bei der ›Produktion‹ ästhetischer Provokation; so wie nach Barthes die Schreibweise den »Kompromiß zwischen Freiheit und Erinnerung« bezeichnet (»sie ist die sich erinnernde Freiheit, die nur Freiheit ist in der Geste der Wahl, aber schon nicht mehr in ihrer Dauer«),14 kommt die Provokationsästhetik in dem sich durch sie realisierten kritischen Schreiben nicht ohne die Erinnerung an die Tradition aus, von der sie sich zu befreien sucht. Relevant im Kontext der Provokationsästhetik und den Praktiken der Kritik bei Ball ist zudem, dass Barthes in einem späteren Text die derart gesellschaftlich eingebettete écriture ebenfalls an den Körper rückbindet. »Die Schrift«, sagt Barthes in einem Interview von 1974, [d]ie Schrift, das ist die Hand, also der Körper: seine Triebe, seine Kontrollen, seine Rhythmen, seine Gewichte, sein Gleiten, seine Komplikationen, seine Ausflüchte, kurz, nicht die Seele (ungeachtet der Graphologie), sondern das mit seinem Begehren und seinem Unbewußten befrachtete Subjekt.15

Barthes’ körperliche16 Wesens-Bestimmung der Schrift kann in Verbindung gebracht werden mit der von diesem mit Bezug auf de Saussure und Hjemslev vor-

13 Ebd., 19f. 14 Ebd., 20. 15 Ders., »Roland Barthes wider die Gemeinplätze«, 214. 16 S. zu diesem Aspekt auch den Hinweis, den Rancière für das ›ästhetische Unbewußte‹ gibt: »Das ästhetische Unbewußte, das vom ästhetischen Regime der Kunst nicht zu trennen ist, äußert sich in der Polarität dieser doppelten Bühne der stummen Sprache: einerseits die auf die Körper geschriebene Sprache, die durch die Arbeit einer Entzifferung und einer Neuschreibung in ihrer sprachlichen Signifikation wiederhergestellt werden muß; andererseits die taube Sprache einer namenlosen Macht, die sich hinter jedem Bewußtsein und jeder Signifikation verbirgt und der man eine Stimme und einen Körper geben muß, auch auf die Gefahr hin, daß diese anonyme Stimme und dieser phantomatische Körper das menschliche Subjekt auf den Weg des großen Verzichts mitreißen, hin zu diesem Nichts des Willens, dessen Schopenhauerscher Schatten mit seinem ganzen Gewicht auf dieser Literatur des Unbewußten lastet.« (Das ästhetische Unbewußte, 31.)

2.3 K RITISCHE ›P RAXIS ‹

| 255

genommenen, semiologischen Unterscheidung in signifé/signifiant und dénotation/connotation. Barthes interessiert die Bedeutungskonstitution aller möglicher Arten kultureller Zeichensysteme der Gesellschaft und konzentriert sich weiterhin vor allem auf sekundäre Bedeutungssysteme: Die Denotation stellt die erste, rein lexikalische bzw. syntaktische Bedeutung eines Wortes bzw. einer Aussage dar, ihre wörtliche Bedeutung, die sich aus dem Verhältnis der Ausdrucksebene (des Signifikanten) zur Inhaltsebene (des Signifikats) ergibt; in der Konnotation erhält eine denotierte Aussage erster Ordnung als Ganzes eine neue Bedeutung, wenn beispielsweise etwas in seiner Gesamtheit zum Signifikanten (oder Ausdruck) eines zweiten Systems wird, dessen Signifikat (oder Inhalt) die Vorzüglichkeit des Produkts ist.17 Dem Semiologen Barthes geht es letztlich mehr um die Bedeutungsprozesse als um die Bedeutung selbst.18 In S/Z sind es ebenfalls die Begriffe connotation und dénotation, um die Barthes Denken kreist; hier wertet er die Konnotation zum wesentlichen sprachlichen Mechanismus eines Textes auf, als »nennbare, absteckbare Spur eines gewissen Pluralen im Text«, als »eine Bestimmung, eine Beziehung, eine Anapher, eine Linie, die sich auf vorhergegangene, spätere oder von außen kommende Hinweise, auf andere Orte des Textes (oder eines anderen Textes) zu beziehen vermag.«19 Dies verweist darauf, dass die Konnotation im Gegensatz zur Denotation für Barthes »nichts feststellt, sondern im Gegenteil gerade Bewegungen aufmacht«20 – eine Beobachtung, die mit Bezug auf die Opposition zwischen lesbaren (lisible) und schreibbaren (scriptible) Texten an Gewicht gewinnt: Der schreibbare Text, das sind wir beim Schreiben, bevor das nicht endende Spiel der Welt (die Welt als Spiel) durch irgendein singuläres System (Ideologie, Gattung, Kritik) durchschritten, durchkreuzt und gestaltet worden wäre, das sich dann auf die Pluralität der Zugänge, die Offenheit des Textgewebes, die Unendlichkeit der Sprachen niederschlägt.21

Ins Bild setzt Barthes seine Vorstellung von einem Text, wenn er ihn in Form einer Zwiebel sieht, einer Anordnung übereinander gelegter Schalen, dessen Gebilde letztlich, bildhaft gesprochen, keinerlei Herz, keinen Kern, kein Geheimnis, kein unerbittliches Prinzip in sich schließt als allein das Unendliche seiner eigenen Hüllen – die nichts anderes als das Ganze ihrer eigenen Oberflächen

17 Vgl. dazu auch Barthes, »Der Werbespot«. 18 Vgl. Langer, Wie man wird, was man schreibt, 208. 19 Barthes, S/Z, 12. 20 Langer, Wie man wird, was man schreibt, 209. 21 Barthes, S/Z, 9.

256 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK

umschließen.22 Die Produktivität eines Textes liegt mithin darin, niemals abgeschlossen zu sein und auch nicht der Kommunikation zu dienen, sondern in sich selbst eine Sprache zu sein, die den Autor ebenso wie den Leser in ein nie abgeschlossenes Spiel mit Signifikation einschließt – als Vorgang einer immer neuen Bedeutungserzeugung, die demgemäß nicht auf die Bedeutung abzielt, sondern sich selbst als Bewegung immer weiter trägt, als Arbeit des Textes, als immer neue, unabschließbare und durch keine Lektüre vollkommen ausschöpfbare Signifikationsbewegung.23 Ein solcher Text-Begriff versinnbildlicht Barthes zudem im Bild des »Gewebes«,24 in dem sich die Signifikanten zerstreuen, in dem verschiedene ›Fäden‹ als Intertexte ineinander greifen – ein ›Wuchern‹ des Textes. Man könnte (mit Barthes) sagen, es ist nicht allein (wie Austin sagt) die Sprache, sondern es ist (auch) das Schreiben, das handelt (performe)25 – sich bewegend, wuchernd. Nun rückbindet Barthes die écriture ausdrücklich an den physiologischen Körper, vor allem an die Hand, wenn er betont, es sei die Skription, der ›muskuläre Akt‹ des Schreibens, des ›Buchstabenziehens‹, der für ihn von Interesse sei; es ist die Geste des Schreibens, mit der die Hand ein Schreibwerkzeug ergreife, es auf die Oberfläche drücke, darauf vorrücke, indem sie es bedränge oder umschmeichele und regelmäßige, wiederkehrende, rhythmisierte Formen ziehe, die Barthes interessiert.26 Diese Geste folgt dem Programm, das, was die Provokationsästhetik theoretisch ›vormacht‹, nun auch praktisch, d.h. als Text, zu realisieren. Ich werde dieses Programm einer Überprüfung im Hinblick auf die Praxis der Kritik bei Ball unterziehen. Hier interessiert nun mich zuvorderst die Frage, ob sich Balls ›Sprache‹, ›Stil‹ und ›Schreibweise‹ der Kritik abhängig von Folgerungen aus der körperlichen Wesensbestimmung von Schrift und Schreiben, ihrem ›Wuchern‹ diskutieren und begründen lassen. »Und doch sollten Ideale

22 Vgl. ders., »De œuvre au texte«, 1271. 23 Vgl. etwa ders., »Texte (théorie du)«. 24 »Text heißt Gewebe; aber während man dieses Gewebe bisher immer als ein Produkt, einen fertigen Schleier aufgefaßt hat, hinter dem sich, mehr oder weniger verborgen, der Sinn (die Wahrheit) aufhält, betonen wir jetzt bei dem Gewebe die generative Vorstellung, daß der Text durch ein ständiges Flechten entsteht und sich selbst bearbeitet; in diesem Gewebe – dieser Textur – verloren, löst sich das Subjekt auf wie eine Spinne, die selbst in die konstruktiven Sekretionen ihres Netzes aufginge.« (Ders., Die Lust am Text, 94.) 25 Vgl. ders., »Der Tod des Autors«, 187. 26 Vgl. etwa ders., »Variations sur l’écriture«.

2.3 K RITISCHE ›P RAXIS ‹

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identisch sein mit der Person, die sie vertritt«, schreibt Ball, »[und doch] sollte der Stil eines Autors seine Philosophie darstellen, auch ohne daß er sie eigens entwickelt.«27 Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass angesichts der bisherigen provokationsästhetischen Analysen der Verdacht auf eine politische Motivation dieser Kunst und Literatur kaum zurückgewiesen werden kann. In dieser artikuliert sich wiederholt die Forderung, die Provokation des Ästhetischen nicht allein auf ihren theoretischen Gehalt zu beschränken, sondern ihr eine über die ästhetische Theoriesphäre hinausweisende praktische Relevanz zuzusprechen. Es geht damit auch um die produktions- wie funktionsästhetische Weise von Kritik: Funktionsästhetiken sind nun keineswegs auf die ›Anwendungsbereiche‹ der verschiedenen Künste beschränkt. Mit der regulativen Idee einer Avantgarde entstand bereits im 19. Jahrhundert ein Verständnis, das die Kritik an der autonomen und substanziell-innerlichen Bestimmung von Kunst als Kunst in sich trug. Avantgarde war zwar nicht nur ein künstlerisches, sondern gleichzeitig auch ein politisches Projekt, jeweils untrennbar mit den zeitgenössischen Fortschrittsidealen verbunden. [...] Für die künstlerische Avantgarde [...] wurde das Wechselverhältnis zwischen progressiver Kunst und Politik zum entscheidenden Knotenpunkt. Die Versuche reichen von einer Parallelisierung und Harmonisierung der beiden Bereiche über ihren Widerstreit, etwa wenn avantgardistische Kunst sich politisch reaktionär gibt, bis hin zur Auffassung, dass die künstlerische Avantgarde die eigentliche politische Avantgarde darstelle.28

Versteht man die Provokations- als eine solche politische, gesellschaftliche, interventionistische Produktions- und Funktionsästhetik, so gewinnt sie einen Status zwischen den bisher diskutierten Positionen, der für den Schriftsteller als kritischen Künstler den Anspruch sozialer Anteilnahme oder ›Beteiligung‹ in Anschlag bringt. Es ist die ästhetische Kritik, durch die nach Reinhart Kosellek entsprechend der »Gegensatz zwischen Alten und Modernen artikuliert und damit ein Zeitverständnis herausgebildet« wird, »das Zukunft und Vergangenheit auseinanderreißt«: »Das Ferment der Kritik verändert damit den Charakter des politischen Geschehens.«29 In Der Autor als Produzent fordert Benjamin mithin vom Schriftsteller, über die ›Funktion›, die sein Werk innerhalb der schriftstelleri-

27 Ball, Die Flucht aus der Zeit, 39. 28 Draxler, Gefährliche Substanzen, 44. S. dazu auch Poggioli, The Theory of the Avantgarde, 94. 29 Kossellek, Kritik und Krise, 7.

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schen Produktionsverhältnisse einer Zeit hat,30 nachzudenken und daraus die Konsequenzen für seine ästhetisch-aktivistische ›Technik‹, mithin seine Schreibweisen und auch seinen ›Stil‹ zu ziehen;31 der Schriftsteller bewegt sich so, wie Rancière sagen würde, innerhalb eines »ästhetischen Regimes« als ein Regime, welches keine Form der Entsprechung mehr, das heißt keine Hierarchie dieser Art voraussetzt. Dieses Regime qualifiziert die Dinge der Kunst nicht nach den Regeln ihrer Produktion, sondern nach ihrer Zugehörigkeit zu einem besonderen Sensorium und zu einem spezifischen Erfahrungsmodus. [...] Das soll heißen, dass die Produkte der Künste nicht länger über die Höhe der Stellung des Sujets, die sie behandeln, qualifiziert werden, oder über Bestimmungen, die sie erfüllen oder über soziale Kräfte, denen sie dienen. Sie schreiben sich in eine eigene Sphäre der Erfahrung ein. Nur in diesem Regime existiert die Kunst als solche [...], nur in diesem Regime hat die Kunst eine Geschichte (die sich von den »Leben berühmter Künstler« unterscheidet) und eigene Institutionen [...].32

Wie eine solche ›Institution‹ als ›Art‹ von Kritik bei Ball zu identifizieren ist, wird das nächste Kapitel explizieren. Dazu werde ich auch einige Erläuterungen zu dem Begriff einer ästhetisch-, praktisch-produzierten Kritik geben. Ich frage dazu: Was heißt es, Kritik zu produzieren? Und welche Rolle spielt dabei die Literatur?

a) Die »Waffe« der Kritik Ball hat die dadaistischen Aktivitäten die der Übertreibung und des Absoluten genannt. In Die Flucht aus der Zeit heißt es: Was mich an all diesen Produktionen interessiert, ist eine unbegrenzte, Prinzip gewordene Bereitschaft des Fabulierens, des Übertreibens. Wilde hat mich darüber belehrt, dass das eine sehr wertvolle Macht ist, und es ist gerade das Band, das uns alle verbindet. Die Nervensysteme sind äußerst sensibel geworden. Absoluter Tanz, absolute Poesie, absolute Kunst –: gemeint ist, daß ein Minimum von Eindrücken genügt, um außergewöhnliche

30 Vgl. Benjamin, »Der Autor als Produzent«. S. dazu u.a. auch Fuld, Walter Benjamin, 235. 31 S. auch Draxler, Gefährliche Substanzen, 45. Draxler nennt Benjamins Text »das funktionsästhetische Manifest« schlechthin (ebd., 46). 32 Rancière, Ist Kunst widerständig?, 40f.

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Bildformen hervorzurufen. Alle Welt ist medial geworden: vor Angst, vor Schreck, vor Qual, oder weil es keine Gesetze mehr gibt – wer weiß es? Vielleicht auch ist nur unser Gewissen so geängstet, so belastet, so gequält, daß es beim geringsten Anruf mit den erstaunlichsten Lügen und Vorwänden (Fiktionen und Bildern) reagiert; vorausgesetzt, man wolle gelten lassen, daß Bilder nur eben verdecken, heilen, in die Irre leiten und von empfangenen Wunden ablenken sollen.33

Wie schreibt Ball nun selbst übertreibend, absolutierend? Er konzentriert sich mitunter darauf, darin den Ausdruck des Bedürfnisses nach einer ›Waffe‹ im ›Kampf‹ um die Zugriffsmöglichkeiten auf die Welt und das Selbst zu sehen. Er versucht die Frage nach dieser ›Waffe‹ als eigene Konsequenz des adäquaten Vollzugs ästhetischer Provokation zu konzipieren. Die Antwort, die Ball auf die Frage gibt, lässt sich angeben, wenn das Schreibmodell, dem dieser in einigen Fällen folgt, erläutert wird. Es ist die »Glossenkunst«,34 die Ball ernst nimmt, um das textuell Übertreibende, Absolute bereits vor seinen Versuchen einer experimentellen, avantgardistischen Dichtung als Schreibender zu realisieren. In Die Jüngst Berliner proklamiert Kurt Hiller 1911, dass sich in der Kunst der Glosse der »›Hirnkampf‹« der expressionistischen Generation organisiere: »Sie ist die Waffe der Wollenden, Ideelichen, Typuspropagatoren; ist der ethischen Künstler schimmernder Stahl. [...] Die Glosse: unsre Kunstform par exzellence.«35 1914 konstatiert Hugo Kersten: »Die einzig mögliche Ausdrucksform ist für uns das Gedicht und die Glosse. Alles andre ist eitle Produktionsaffigkeit.«36 1913 führt Kurt Pinthus aus:

33 Ball, Die Flucht aus der Zeit, 156f. 34 Hiller, »Die Jüngst Berliner«, 35. Zu Etymologie und Begriff der Glosse s. u.a. Rohmer, Die literarische Glosse, 16-37; Camen, Die Glosse in der deutschen Tagespresse. Unter dem Begriff Glosse versteht Ball eine Reihe unterschiedlicher Textsorten, darunter theatertheoretische Texte (»meine IX Wedekind-Glossen«, Briefe 1904-1927, I, 53) und Theaterkritiken (vgl. ebd., 67). Außerdem nennt er seinen Roman Flametti eine »Glosse zum Dadaismus« (Die Flucht aus der Zeit, 123). Diese weite Begriffsverwendung ist typisch für die Glossen-Rubrik avantgardistischer Zeitschriften. S. dazu etwa Rohmer, Die literarische Glosse, 199: »Diese Abschnitte tragen häufig Überschriften, die zusammenfassend den Charakter der Rubrik bezeichnen. Sie nennen entweder mehrere Formen oder vereinen ohne Rücksicht auf die Sammelbezeichnung die verschiedenen Textsorten.« 35 Hiller, »Die Jüngst Berliner«, 36. 36 Kersten, »Leo Matthias«, 466.

260 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK [...] wir Jüngeren sind kurz, weil wir etwas zu sagen haben (die Ausführlichkeiten von heute sind meist belanglos). Wir Jüngeren lieben das Essentielle; wir polken das Wesentliche aus dem Leben heraus. [...] Weil wir das Essentielle lieben, sind wir knapp im Ausdruck und in der Form. Ältere Bürger spähen behaglich zunächst nach dem Leitartikel vorn im Blatt; wir Jüngeren blättern heftig alsbald in jenen Glossen und kurzen Kritiken, die hinten in den Zeitschriften stehen. Daher haben alle besseren Revüen unserer Tage neben dem Hauptteil einen Glossenteil aufzuweisen. Späteren Historikern werden diese Glossen wichtiger sein als jene langen Artikel. Die Glosse ist uns Ersatz für die langen kritischen und moralischen Abhandlungen früherer Zeiten. Die Glosse ist wirksamer; sie verhält sich zur Abhandlung wie der Witz zum Humor. Eine Anzahl von Assoziationen wird in der Glosse fortgelassen, nur die wesentlichsten spitz dargeboten. Der Leser muß zum Springer werden und wird mehr erschüttert als der frühere behagliche Schlenderer. Wie Zauberkünstler hantieren wir: wir zeigen den Tatbestand; dann ein geschickter Handgriff, die Sache offenbart sich verändert, aus dem Vogel ist ein Karnickel geworden. Verdutzt lacht oder wütet der Leser.37

Zu schließen ist aus diesen Erläuterungen ein Streben »nach Knappheit des Ausdrucks«,38 um von einem textuell verhandelten, mithin kritisierten ›Gegenstand‹ den »Kern« frei zu legen, um »bleibende Erinnerungen« zu schaffen.39 Pinthus: Wir gebrauchen diese knappen Formen, nicht aus Faulheit, nicht aus Unfähigkeit, Größeres zu schreiben, sondern weil sie uns Erfordernis sind. Weder wir noch andere haben Zeit zu verlieren. Wenn wir zu viel und zu lang schreiben oder lesen, rinnt draußen zu viel von dem süßen, wehen Leben vorbei, das wir fressen müssen, um weiter leben zu können.40

37 Pinthus, »Glosse, Aphorismus, Anekdote«, 213. 38 Ebd., 214. 39 Herrmann, »Zabern-Extrakt«, 71f. 40 Pinthus, »Glosse, Aphorismus, Anekdote«, 214. Die Textsortenforschung bestimmt die Glosse als »einen Kurzkommentar spöttisch-ironischen, satirischen, sarkastischbitteren, grotesken Inhalts«: »Die Glosse ist also eine Spezialform des Kommentars, eben ein Kommentar, der sich der Mittel des Spotts, der Ironie, der Satire, des Sarkasmus, der Groteske bedient. Im Konzert der journalistischen Räsonnements spielt sie die Rolle des Spaßmachers und Hofnarren, des schillernden Luftikus’, des widerborstigen Querulanten und schwarz-bösen Kritikasters, alles in allem die Rolle der ›unseriösen‹ Schwester Leichtfuß [...].« (Nowag/Schalkowski, Kommentar und Glosse, 184.) »Ironie-Signale« sind der Textsorte Glosse immanent, der es »wesentlich auf polemisch-mokierende Effekte« und auf eine »sprachlich originelle Themenbehand-

2.3 K RITISCHE ›P RAXIS ‹

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Ball orientiert sich am Postulat der Knappheit, das er mit einem weiteren zeitgenössischen produktionsästhetischen Postulat in Verbindung setzt, das Karl Kraus im Vorwort seines Dramas Die letzten Tage der Menschheit erklärt: »Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen; ich habe gemalt, was sie nur taten. Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate.«41 Die »Denunziation der Zeit durch den Satiriker« vollzieht sich bei Kraus »wesentlich per Zitat aus Zeitungen«.42 Kraus setzt das Zitat innerhalb der Glosse als absolut: Alle Glossen in der ›Fackel‹, wo Karl Kraus aus Zeitungen zitiert, sind szenisch in ihrer Anlage, bringen Menschen, ihre Redeweise, Tonfall, Gestik auf satirische Wiese zum Ausdruck. [...] Da er das Wort als ein körperhaftes Wesen erblickte, nicht nur als einen Klangkörper hörte, beobachtete er mit unerschöpflichem Vergnügen die Sprachgebärden der berufsmäßig sprechenden Politiker und schreibenden Schriftsteller; er fängt sie auf mit seinem akustischen Spiegel. Er zitiert – und schafft – Beispiele dafür, wie im hingestellten Wort zugleich eine Situation mit ihrem ganzen Hintergrund dasteht.43

Die Glosse ist so ›reines‹ Zitat, wie die folgenden Beispiele zeigen: Aus einem Verlag von Karl Meyer in Hannover erschienenen, für den Schulgebrauch bestimmten Lesebuch der Rektoren Kappey und Koch in Hildesheim: »Regiment greift an«, von Leutnant Hoppe vom Regiment 79:  Da drüben, da drüben liegt der Feind In feigen Schützengräben, Wir greifen ihn an, und ein Hund wer meint, Heut würde Pardon gegeben. Schlagt alles tot, was um Gnade fleht, Schießt alles nieder wie Hunde,

lung« ankomme (Lüger, Pressesprache, 86f.): »Widersprüche und Reibungen so zu verschärfen, daß sie auch dem ungeübten Leser ins Auge fallen, mit anderen Worten: die von ihm wahrgenommene Komik so zuzusitzen, daß auch Leser mit weniger scharfem Blick lachen können – das ist es, worum es dem Glossenschreiber geht. [...] Dieser Kunstgriff, die Glossenidee also, ist das Geheimnis des Handwerks, gute Glossen zu schreiben.« (Nowag/Schalkowski, Kommentar und Glosse, 243) 41 Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, 9. 42 Riha, »›Heiraten‹ in der ›Fackel‹«, 116. 43 Rychner u.a., »An Stelle eines Nachworts«, 417.

262 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK Mehr Feinde, Mehr Feinde! Sei euer Gebet! In dieser Vergeltungsstunde! [...] Aus drei im pädagogischen Verlag A. Haase in Prag erschienenen Büchlein des Wiener Lehrers Weyrich: »Auf daß ihr mit wissendem Herzen und Munde hasset, halte ich euch einen Spiegel vor, aus dem euch das neidverzerrte und haßverfärbte Antlitz des falschen Albion entgegengrinst.« »Jetzt freilich möchte ich nur wünschen, daß den Russen Galizien all seine Gaben: Armut und Schmutz, verseuchte Brunnen und tolle Hunde, Hunger und Seuchen in verschwenderischem Maße zuteil werden läßt.« [...] »Hei, da haben wir mit unseren Karabinern dreingehauen, als gälte es Klötze zu spalten. Hab’ auch viele Russenschädel zerschlagen. Hurra!« [...] »Jeden einzelnen von uns hat der Krieg aus dem Alltag gerissen, hat ihn umgeformt und sittlich wachsen lassen. Wir alle sind bessere Menschen, bessere Österreicher geworden!«44

Die Montage45 der einzelnen Zitate konstituiert die Glosse; sie ist die Kritik. Kraus erklärt: »Mein Ausdruck ist ganz und gar die Laune der Umwelt, in deren Schwall und Gedränge mir von Namen und Arten, Stimmen und Mienen, Erscheinungen und Erinnerungen, Zitaten und Plakaten, Zeitungen und Gerüchten, Abfall und Zufall das Stichwort zufällt und jeder Buchstabe zum Verhängnis werden kann.«46 Die »unterschiedlichen Zitiertechniken« gelten ihm als »höchste Stilleistung, zu der er es in seiner Kunst der Satire gebracht habe«.47 Das ›reine‹ Zitat genügt für Kraus allerdings nicht, um das Objekt der Kritik immer vollends der gedanklichen ›Vernichtung‹ zuzuführen. Das ist der Grund,

44 Ebd., 169f. 45 S. dazu wiederum auch die Ausführungen von Joachim Paech über die filmische Schreibweise: »Diese Mimesis des Realen als Form hat die Montage als einen ihrer wesentlichen Inhalte. [...] Montage, so verstanden, kann tendenzielle diese drei Bedeutungen zugleich realisieren: – Mimesis einer montageförmig erlebten Realität, – Konstruktion von Bedeutungen aus der reihung oder dem Zusammenprall von Elementen zu einem neuen Zusammenhang, – Dekonstruktion bestehender Zusammenhänge und ihre Auflösung in Elemente, die in ihrer Heterogenität erhalten bleiben und in einer offenen textuellen Struktur variable Verbindungen eingehen.« (Literatur und Film, 129.) 46 Kraus, Über die Sprache, 15. 47 Riha, »›Heiraten‹ in der ›Fackel‹«, 116. Zu einzelnen Zitat-Typen bei Kraus s. ebd., 116-126.

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warum dem Zitat auch dessen Kommentierung an vielen Stellen folgt. Kraus geht hierbei »entscheidend übers bloße Zitieren und Konfrontieren von Zitaten hinaus, bleibt aber im Mittel der Kritik und Satire stark an die Zitatoperation gebunden«:48 Ein von der Kammerfrau der Duse hinausgeworfener Interviewer weiß deshalb nur das Folgende auszusagen: Ist sie wirklich da? Niemand hat mit ihr gesprochen, niemand hat sie gesehen. Ein Trugschluß. Weil er nicht mehr da ist, glaubt er, sie sei nicht da. Aber gerade der Umstand, daß niemand mit ihr gesprochen, niemand sie gesehen hat, beweist doch, daß sie da ist. Selbst dem Gesandten ihres Landes, der sich als aufmerksamer Diplomat ihr vorstellen wollte, blieb die Tür ihres Zimmers verschlossen. Diese Mitteilung – in dicken Lettern – kommt schon immerhin dem Geständnis nahe, daß sie da ist. Aber es soll auch dartun, daß es keine Schande für einen Journalisten sei, von ihr nicht vorgelassen zu werden, wenn das sogar einem passieren kann, den das Land und nicht das Blatt gesandt hat. Man gehört so für den Augenblick des Hinauswurfs gleichsam zum diplomatischen Korps und muß sich taktvoll benehmen. Man tut infolgedessen, als ob man noch immer nicht wüßte, daß sie da ist. [...] D i e D u s e i s t s e h r u n a n g e n e h m auf den Proben. J ä h z o r n i g u n d h y s t e r i s c h . Sie ist kein Star, sie will eine Göttin unter den Mitspielenden sein. Und diese müssen es sich gefallen lassen. Da können die Reporter von Glück sagen, daß sie nur mit der Kammerzofe zu tun bekamen [...].49

Kraus hinterfragt »verschwommene und verstellende Redeweisen auf ihren konkreten Sinn hin« und bietet dadurch »die Auflösung der Phrase ins Klarbild ihrer eigentlichen Bedeutung«50 – auch darin tritt der Bezug Balls zu Kraus hervor.51 Das beschriebene Glossenmodell ist deshalb die geeignete Folie, um Balls Praxis

48 Ebd., 118. 49 Kraus, »Ein von der Kammerfrau der Duse hinausgeworfener Interviewer«, 76-78. 50 Riha, »›Heiraten‹ in der ›Fackel‹«, 118. 51 Kurt Hiller zählt Kraus zu den »sechs, sieben wahrhaft Großen«, denen sich die expressionistische Generation »nicht nur nicht antipodisch, sondern geradezu religiös subjiziert« fühlte (»Die Jüngst Berliner«, 33). Den persönlichen Kontakt zu Kraus hat Ball ein einziges Mal gesucht, als er (erfolglos) um dessen Mithilfe bei den Planungen zu einer Anthologie konfiszierter Autoren bat (vgl. Briefe 1904-1927, I, 51; dazu näher ebd., III, 51f.).

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der Kritik in formaler Hinsicht zu erläutern. Diesem entspricht exemplarisch Balls Text Jenner Tucholsky im Geschlechterkampf; darin montiert Ball eine Vielzahl von Zitaten, die er demjenigen Text entnimmt, den er glossierend kritisiert, d.h. einen Text Kurt Tucholskys aus Die Schaubühne.52 Hier zeigt sich, wie Ball von einem Prätext, mindestens aber von einem Wort, einem Lemma ausgeht, das er – glossierend – ausdeutet. 53 Gleichzeitig befolgt Ball eine Schreibkonvention, die er später in seinem unveröffentlichten Tagebuch in einem Eintrag vom März/April 1923 als »redigierende Methode« und eigentliches Ideal seines Schreibens bezeichnet, worauf insbesondere Wacker hinweist.54 Dieses Schreibens fasst Ball in die Kurzformel: »Besehen, abändern und weitergeben.«55 Wenn Balls Text auch größtenteils aus direkten Zitaten besteht, so kommentiert er diese zugleich, nennt Tucholskys Kritik an der Schauspielerin Tilla Durieux etwa eine »masochistische Notzucht« und eine »in Geschlechtshaß motivierte skribifaxische Vergewaltigung mitten auf der Straße«, die »an beinahe öffentlicher Stelle« stattgefunden hat.56 Ball bringt Tucholskys Zitatreihen in Belegposition und verknüpft die einzelnen Zitatelemente bald durch assoziative, bald durch argumentative Strukturen; Balls Text entwickelt sich stringent und zwingend aus dem Zitat; sein Text ist aufgrund der semantischen Schärfe, der, wie Ball schreibt, »Stockprügel«,57 eine ›Waffe‹ im ›Kampf‹ um die subjektive Deutungsmacht des kritisierten Kultur-›Objekts‹ (die Schauspielerin Tilla Durieux). So nennt Ball das Medium von Tucholskys Kritik, Die Schaubühne, eine »mit Fleiß, Geduld und Spucke geführte Zeitschrift, die sich mit der subalternen Kunst des Theaters befaßt«, die »nichts besseres« zu tun habe, als Tilla Durieux zu kritisieren.58 Ball setzt seine Polemik zudem häufig in Klammern und stellt sie den Zitaten beiseite, zum Beispiel in der Form: »(dem Antonius; es ist gut, daß man keiner ist)«; »(Ja, ja, das Wörtchen ›Geschlechtsakt‹!)«; »Je nun, angenehmster Herr Tuch, das wird seine Schwierigkeit haben. Was muß man ihnen

52 Vgl. Tucholsky, »Tilla Durieux«, mit Hugo Ball, »Jenner Tucholsky im Geschlechterkampf«. 53 Dieses Verfahren gilt übergreifend für das Glossenmodell (vgl. Rohmer, Die literarische Glosse, 220). 54 Vgl. Wacker, »Nachwort« [zu: Ball, Byzantinisches Christentum], 555. 55 Zit. nach ebd., 556. 56 Ball, »Jenner Tucholsky im Geschlechterkampf«, 48. 57 Ebd., 48. 58 Ebd.

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da nehmen?)«; »(er knöpft sich für allemal zu gegen diesen Typus)«.59 In der direkten Beleidigung ist Balls Kritik den Intentionen ästhetischer Provokation inhärent. So wie dessen Geschehen sich theoretisch abspielt, setzt Ball die Kritik praktisch-provozierend im Text um: »dieser Nashornvogel«, »Sadist«, »Nebbich-Tucholsky«, »Ichthyosaurier«.60 Dabei zitiert und kommentiert er nicht nur provozierend, sondern tut dies auch in der von Pinthus ausdrücklich geforderten Knappheit und Kürze: mittels Satzklammern und elliptischen Satzkonstruktionen (»In, auf und um die ›Schaubühne‹ herum. Von allen Seiten. Mit allen Mitteln«).61 »Kürze, Wucht, Prägnanz des Ausdrucks«, die »drastisch wirkende Knappheit der Sprache«,62 die insbesondere die Prosa des Expressionsimus prägt, erweist sich als ebenso prägend für Balls Kritik. Diese ist deshalb ausdrücklich als ästhetische, als literarische Kritik zu bestimmen (s. Kap. 2). Ball schreibt kritisch als Literatur und das im Modus ästhetischer Provokation. Über die Inszenierung eines Stücks von Raimund heißt es etwa: »Die Frucht eines Dichterlebens. Die Melone einer Umgebung. Die alles Wasser dieser Umgebung in sich gesogen, andern entzogen hat. Das Wesentliche der Lebensführung eines Zaubermachers und maniakalisch Verdächtigen. Das ist dieses Stück«,63 und über eines von Strindberg urteilt er: ein »dünnes«, »virtuosig« gemachtes Stück.64 Dabei referiert Ball konsequenter Weise auch über die Struktur des Gegenstandes; daher werden sowohl deskriptive wie expositorische und argumentative Einheiten kritischer Praxis dargestellt:

59 Ebd., 49. 60 Ebd. ›Nebbisch‹ ist der jiddische Ausdruck für einen »bemitleidenswerten Menschen«, einen »Niemand«; ›Nebbichthiosaurus‹ bezeichnet einen »erbärmlichen Menschen« (Althaus, Kleines Lexikon deutscher Wörter jiddischer Herkunft, 150f.) Schreibt Ball außerdem, »Diese teuflischen Friseurcircen. ›Wir werden uns unerhört lieben‹, sagen sie. Aber Kuchen« (»Jenner Tucholsky im Geschlechterkamp«, 49), verweist er auf den sowohl Berlinerischen wie jiddischen Ausruf ›Ja Kuchen!‹ bzw. ›Ja chochom, aber nicht lamdon‹, der »beschönigend soviel wie ›Kot‹ und weiter ›Minderwertiges, Enttäuschendes‹ meint und »ironisch als Verneinung und zur Zurückweisung gebraucht« wird; als »jüdischer Satz« bedeutet der Ausspruch: ›zwar klug, aber kein Gelehrter‹; als Rotwelschsatz müsste man ihn ›schlau, aber nicht schlau genug‹ übersetzen (vgl. Althaus, Mauscheln, 149-151.). 61 Ball, »Jenner Tucholsky im Geschlechterkamp, 50. 62 Sokel, »Die Prosa des Expressionismus«, 157. 63 Ball, »Raimunds ›Rappelkopf‹«, 21. 64 Ders., »›Ostern‹ von Strindberg«, 384.

266 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK Ein Onkel tritt auf. Der heißt Eschenbacher. Und sagt etwas bieder-beschwichtigendes. Man bemerkt das Spiel: bisschen deklamatorisch, gedreht. »Euch alle, die ich lieb habe«, sagt Medardus. Man erinnert sich der lapidaren ersten Kriegsdepeschen des Generalquartiermeisters von Stein und findet das Ganze dort oben etwas unsachlich, umschweifig, droschkenhaft.65

Die formale Richtung, in die Balls Kritik als Literatur weist, lässt sich in der Beantwortung der folgenden Frage genauer benennen: Aufgrund welcher programmatischer Voraussetzungen werden die praktischen ›Elemente‹ dieser Kritik als Poetik der ästhetischen Diskurse beschrieben? Die Antwort, die ich auf diese Frage vorschlagen möchte und deren Thesen teilweise bereits in Kapitel 2 genannt wie begründet worden sind, lautet: Das poetologische Programm dieser kritischen Praxis respektive der »modernen Kritik«66 hat ihren Ursprung in der ›Identität‹ des Kritikers als Künstler, was eine Wiederholung jener Position erlaubt, die Alfred Kerr in seiner Vorrede zum Neuen Drama erläutert:67 In einem Zusammenhang: ich fordre vom wahren Kritiker: »Er gebe die Kritik des Hasses und der Liebe, temperiert durch historische Gerechtigkeit. Davidsbündlerkritik, die gleich dem biblischen König zwei Werkzeuge liebt: die Schleuder und die Harfe.« [...] Haß und Liebe sind besser als Neigung und Abneigung. Der Anblick jedes Kunstwerkes führt zu einer unbewußten Addition. Die Stärke der guten und der schlechten Einzeleindrücke denke man in Zahlen umgesetzt. Von der Höhe der Addenden hängt die Stimmung,

65 Ders., »Der junge Medardus«, 65. 66 Faul, »Aber Betrieb muß sein«, 36. 67 Den zeitgenössischen Einfluss Kerrs auf Dichter wie Kritiker dokumentiert eine Reihe in Die Aktion, die fragt, was Alfred Kerr für die zeitgenössische Literatur bedeute, worauf u.a. Erich Mühsam, Ferdinand Hardekopf, Kurt Hiller, Peter Altenberg und Max Brod antworteten (vgl. Die Aktion, 1 Jg., Nr. 10 vom 27. April 1911, Sp. 299303; Nr. 11 vom 1. Mai 1911, Sp. 335-338; Nr. 12 vom 8. Mai 1911, Sp. 369-371; Nr. 13 vom 15. Mai 1911, Sp. 397-399; Nr. 14 vom 22. Mai 1911, Sp. 430-432). S. davon insbes. den Beitrag von Frank Wedekind in Nr. 10: »Seine Schreibweise, die bekanntlich viele Feinde hat, hat aber auch überraschend viele Nachahmer gefunden, meines Erachtens nicht zum Nachteil der Literatur, denn der schlimmste Feind einer Literaturentwicklung ist sicherlich die salbungsvolle bombastische Kritik, die im Gegensatz zu den meisten Zeitschriften speziell in der Tagespresse ihre Orgien feiert. Kritik hat kurz zu sein.« (Sp. 299) Vgl. auch Dovifat, Zeitungslehre, II, 66: »Diese von Kerr mit außerordentlicher Zielsicherheit und sprachlicher Kraft, aber im extrem egozentrischen Sinne verfochtene Richtung fand und findet mancherlei Nachfolge.«

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von der Höhe der zwei Summen das Urteil ab. Richtig bleibt alles, bis es in seelische Bestandteile zerlegt wird. Das zu tun ist der ernsteste Teil der Kritik. Die Kritik mag also beides geben: Willkür und Sachlichkeit. Die Willkür darf in der Darstellung, die Sachlichkeit muß in der letzten Wertung liegen. Sie trachte, die Werke zu sehen, wie der Literaturhistoriker sie in fünfundzwanzig Jahren sehn wird: aber sie schäme sich der ungezwungensten Regungen nicht: des Hasses und der Liebe. (Denn Kritik ist eine Kunst, keine Wissenschaft [...].)68

Die Kritik muss nach Kerr eindeutig sein, für oder dagegen, darum »Haß oder Liebe« zeigen: »Der criticus tut sich nicht als Weltenrichter auf. Er haßt, was ihn wurmt. Er liebt, was ihn lockt. Und sagt es.«69 Dazu erscheint ihm die Abgrenzung, dieser sei kein Dichter, sondern ein Kritiker, ungenau.70 Der »wahre Kritiker« bleibt für ihn »ein Dichter: ein Gestalter«: »Der Dichter ist ein Konstrukteur. Der Kritiker ist ein Konstrukteur von Konstruktoren.«71 Dichtung »zerfällt« (nach Kerr) in »Epik, Lyrik, Dramatik und Kritik.«72 Der Kunstcharakter der Kritik ist Kerr oberstes Prinzip kritischer Betätigung: Wert hat, wie ich glaube, nur Kritik, die in sich ein Kunstwerk gibt: so daß sie noch einen Menschen wirken kann, wenn ihre Inhalte falsch geworden sind (oder der Besprochene verschimmelt ist). Die Kritik, die als eine Dichtungsart anzugeben ist. [...] Sie ist im schönsten Fall eine Kunst. Sie wird umso größer sein, jemehr sie Kunst ist. [...] Die Kunst im Kritiker, sie lebt fort. Was ist produktive Kritik? Es hat noch kein Kritiker einen Dichter erzeugt, produziert! Produktive Kritik ist solche, die ein Kunstwerk in der Kritik schafft. Jede andere Deutung ist leer. Unter den Kritikern hat nur das Recht, einem abgestempelten »Dichter« zu nahen, wer selbst einer ist. [...] In der Kritik also nicht nur die Wahrheit zu sagen (welches Voraussetzung ist), sondern ein Kunstwerk in ihrer Äußerung zu gestalten, eine Schönheit zu zeugen, ein Gebilde zu sein: nur solche Kritik ist produktiv. Denn sie ist Produktion. Hier steht der Kritiker an dem Punkt, wo die Innungsunterschiede aufhören zwischen abgestempelten Dichtern und Kritikern. Wo er nicht an der Frontlinie des Schwarms herumläuft als Gegensätzlicher. Sondern mittendrin lebt, gleichgeartet, Vertreter einer Dichtungsart. Die Menschen, die

68 Kerr, Das neue Drama, VIIf. 69 Ders., Die Welt im Drama, VII. 70 Vgl. ders., Das neue Drana, X. 71 Ebd. 72 Ders., Die Welt im Drama, VI. Zu Kerrs Auffassung von Kritik als vierte Kunstgattung s. auch Schneider, Alfred Kerr als Theaterkritiker, bes. I, 5584.

268 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK seine Kunst aufs Korn nimmt, die Objekte der Gestaltung, sind Dichter. So allein hat das Gelall von der produktiven Kritik einen Sinn: wenn Kritik Produktion ist. [...] Der künftige Dichter wird äußern: Ich habe nicht den Wunsch, der ordnende Knecht eines Schwarms zu werden von mittleren Begabungen, Unbegabungen und ganz Wenigen, die ich über mir stehend ansehe. Nicht im Traum. Wohl aber manchmal ein Herold dieser letzten. Nicht ihre Kreatur; sondern ihr Cousin. [...] Der künftige Kritiker wird im allgemeinen daran festhalten, daß Systeme Schwindelbauten sind; daß aber langen Bestand hat, was in sich gut gesagt ist.73

Dieser Entwurf einer »gut gesagten«, mithin formal, d.h. literarisch ambitioniert formulierten Kritik findet bei Ball nicht als Nachahmung, sondern als Nachfolge ihre Entsprechung. Liest man Balls kritische Publizistik gleichsam mit den Augen Kerrs, so zeigt sich, dass diese geradezu als eine Unterwerfung unter die oben angegebenen ästhetischen Funktionen geschuldet sein könnten, hätte Ball sich nicht ausdrücklich gegen einen solchen Verdacht verwährt. Es stellt sich die Frage, wie sich sein zunächst theoretisches Verhältnis zu Kerrs Kritik-Poetik praktisch verhält. Dieses kommt in den Blick, wenn es als Wahlverwandtschaft im Verständnis der Kennzeichnung einer intellectual history, als »geistige Nähe«74 (M. Löwy) betrachtet wird. Dazu ist es nicht unangebracht, sich die autobiographische, bislang nicht näher herausgestellte Ausgangslage bewusst zu machen, die ich hier daher bestimme: Ball und Kerr kannten einander; gegenüber Richard Dehmel zählt Ball am 21. Mai 1914 Alfred Kerr zu jenen Mitarbeitern, die sich an der Anthologie Die Konfiszierten beteiligen.75 Seiner Schwester Maria Hildebrand informiert Ball sechs Tage später über den Prozess von Klabund und Kerr »gegen den Staatsanwalt«.76 In einem Brief vom 6. Juli 1914 ist davon die Rede, dass er Kerr gesprochen habe.77 Und im November 1914 erwähnt Ball Kerr in einem Brief an August Hofmann im Zusammenhang mit einer eigenen Theaterkritik.78 Ausführlich setzt sich Ball am 18. Dezember 1914 brieflich mit Kerr auseinander.79 Hier ver-

73 Kerr, Das neue Drama, XIf. 74 Löwy, Erlösung und Utopie: jüdischer Messianismus und libertäres Denken, 21. Zu diesem Verfahren anhand eines anderen Beispiels bei Ball s. Guerra, »Giovanni Papinie und Hugo Ball«, 87. 75 Vgl. Ball, Briefe 1904-1927, I, 48. 76 Ebd. 77 Vgl. ebd., 55. 78 Vgl. ebd., 64. 79 Vgl. ebd., 66f.

2.3 K RITISCHE ›P RAXIS ‹

| 269

gleicht Ball die eigene Kritik zu einer Luther-Aufführung im Deutschen Künstlertheater aus Zeit im Bild mit derjenigen Kerrs zu selben Inszenierung. Diese habe er, »gerade« als er seinen Text in die Druckerei gegeben hatte, »in die Hand« bekommen.80 Auffallend ist ein Distanzierungsbestreben Balls, in dem der Anschein, er könne als Epigone Kerrs gelten, zurückgewiesen ist. »Gottseidank«, heißt es, habe er »sehr anders« geschrieben, »aus einem anderen Gesichtswinkel heraus«: »Ob besser oder schlechter, das interessiert mich nicht. Aber jedenfalls anders. Und – noch knapper.«81 Die eigene kritische Schreibweise begründet sich bei Ball hier aus einer Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit ›anderer‹, ›knapper‹ Kritik im Vergleich zu Kerr. Inwiefern beeinflusst Kerr aber nun Ball? Kerrs Luther-Kritik erscheint am 10. Dezember 1914 in Der Tag,82 also 17 Tage vor Erscheinen von Balls Kritik in Zeit im Bild. Beide Kritiken zum selben Gegenstand sind dabei vor allem strukturell nicht unähnlich: Ball beginnt seine Kritik mit dem Hinweis, dass Strindberg-Stücke zur Zeit sehr beliebt an Berliner Bühnen seien83 – Kerr schreibt zu Beginn seines Textes von einer »Strindbergmode«.84 Kerr gliedert seine Kritik in insgesamt neun Abschnitte, die er mit römischen Buchstaben abgrenzt; nachdem er die Luther-Aufführung hinsichtlich der bestehenden Kriegs- und Zensurbedingungen situiert hat (»Der Zustand im Kriegsjahr 1914: Strindberg beschneidet den Luther, Der Spielordner beschneidet den Strindberg. Der Zensor beschneidet den Spielordner«),85 beschreibt und beurteilt er die Inszenierung. Kerr entwirft dazu ein Szenario eindrücklicher ›Bilder‹ und seinerseits vergleichenden Bezugsnahmen: »Man sieht viel; und hört wenig«; »Wie viel Unmacht steckt in Strindberg a.D. Zu drei Vierteln ausgepustet«; »August Strindbergs Verwandtschaft mit Grabbe (neben der mit Zacharias Werner) steigt noch einmal empor [...]. Auch bei Grabbe, dem Dieterich und Wüterich, spürt man den Wahn des Trinkers. Eines Haderhaftigen. Eines von Skorpionen Gepeitschten. Damals noch voll brausender Brunst.« 86 Um in der Terminologie Kerrs zu sprechen: Er entscheidet sich für den ›Hass‹ gegenüber der Vorstellung im Deutschen Künstlertheater, eine Erfahrung, über die sich ebenfalls Ball im Klaren ist:

80 Ebd., 67. 81 Ebd. 82 Vgl. Kerr, »Strindberg: ›Luther‹«. 83 Vgl. Ball, »›Luther‹ im Deutschen Künstlertheater«, 71. 84 Kerr, »Strindberg: ›Luther‹«. 85 Ebd. 86 Ebd.

270 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK Die Regie: Es war eine amusische Aufführung. Von Quellenstudium nicht getrübt. [...] Das Zinnober hat gefehlt. Damals lebten Grünewald und Dürer. Ihr habet dieses Stück inszeniert nach Scherers Weltgeschichte. Und ganz aus Pappe [...]. Auch die Darstellung: Kanzler als Nationalheld: Sehr überschätzt. Er ist nur der Komödiant mit dem robusten Gewissen. [...] Kanzler, den eine liebreiche Presse zum deutschen Nationalschauspieler gestempelt hat, ein Mann mit bösartig blickendem Habichtskopf, macht diesen Luther (ursprünglich für Wegener bestimmt) aus der kalten Lamain heraus. Es fehlen die Seelenstürze (altmodisch zu reden).87

Das ›Andere‹ der Kritik, die Ball mit Blick auf Kerr herausstellt, betrifft tatsächlich deren Kürze; Ball erkennt richtig, »wie lange« Kerr »braucht«, um zu begründen, dass die Aufführung »schlecht ist«.88 Ball geht »gleich in medias res«; er konstatiert ohne Umschweife, dass jene »gar nicht von Belang« sei: »Was hätte man draus machen können.«89 Vor der Folie der brieflichen Äußerungen Balls wird deutlich: Wen bzw. was Ball kritisiert, ist nicht allein die genannte Theaterinszenierung, sondern auch eine konkrete Kritikweise Alfred Kerrs. Er emanzipiert sich so von der dominierenden Kritik-Praxis Kerrs, ohne sich allerdings vollends von ihr zu lösen; er ›vernichtet‹ Kerrs Kritik gedanklich, er provoziert ihn, indem er in seiner eigenen Kritik instiktiv deren Verfahren übertrifft, und dies wiederum stilistisch, mithin in vornehmlich syntaktischer Hinsicht, mittels verkürzter Syntax und Klammerbildung. Dabei zeigt sich umgekehrt: Kerr fordert Ball heraus, jedoch allein aus der Perspektive Balls; er provoziert ihn seinerseits – ästhetisch; der Kritiker und Autor Alfred Kerr provoziert den Kritiker und Autor Hugo Ball im Schreiben. Heißt es etwa bei Kerr: »Der Dichter schaut zu – die Zuschauer dichten. (Das ist der Kern vieler historischer Dramen)«,90 heißt es bei Ball: »O diese Jüngstgetauften! [...] Man könnte auf den Gedanken kommen, sie fürchten die Wiederkunft eigener Stadtviertel (in diesen neugotischen Zeiten)« sowie: »Er hatte morbum gallicum (die damals modernste Krankheit). Schmiß einen Dominikaner über die Fensterbrüstung hinunter (einen Polizisten, nach heutigen Begriffen!).«91 Zugleich bedient Ball hier ein literarisches Ideal, das, wie schon gesagt, die Literatur des Expressionismus insgesamt kennzeichnet: die »Tendenz zur Ellip-

87 Ball, »›Luther‹«, 72f. 88 Ders., Briefe 1904-1927, I, 67. 89 Ebd. 90 Kerr, »Strindberg: ›Luther‹«. 91 Ball, »›Luther‹«, 72.

2.3 K RITISCHE ›P RAXIS ‹

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sis«.92 Beispiele bei Ball lauten: »Die Roland erwirkt so etwas. Veranlaßt so etwas. Stellt ins Rampenlicht. [...] Die Kritik: Anlaß zu vieler Begeisterung«;93 »Eine plötzlich selten wertvolle Geste. Ein separater Adel. Eine merkwürdige tokkateske Haltung der Handfläche, reich an Zier, Expression, seelischem Abenteuer«.94 Balls Klammersetzung verleiht dabei auch offensichtlich langen Satzkonstruktionen den Anschein von Gedrängtheit: »Viel billige Kolportage und Sentiment-Auffrischung, die sich auf den Kalender bezieht, statt einer Wesenslinie (wie in ›Wetterleuchten‹)«; Wenn (ferner): Idiosynkrasien (wie die unter Hochdruck stehende Furcht vor dem Gerichtsvollzieher), aber die exorbitante Bedeutung eines ins Lautlose gesprochenen Worts wie »Paletot, Pellerine« und so, im Munde von Frau Richard (dieser exzellenten Schauspielerin!) plötzlich die ganze Marionettenhaftigkeit des Daseins, die ganze schreckhafte Symbolik des Alltags enthüllen.95

Dieses Schreibverfahren ersetzt Nebensätze und bündigt die Satzaussage – »Es ist ein klassisches Stück (man hätte das gar nicht gedacht)«96 –; dieselbe Funktion erfüllt gleichermaßen die Setzung der Satzzeichen, vorwiegend in Form von Doppelpunkten: »Man denkt: Na schön«97 und in Form von Ausrufezeichen: »Schildkraut, Sie geben dem Faust zu wenig Bartwichse! Sehn se sich mal den Faust an bei Reinhardt! Is ne Sache! Mehr Positur, mehr Schneid, mehr Elejanz! Se sehn ja schmuggelig aus! Se sehn ja aus, als wollten se de Hände abwischen am Kaftan!«98 Die Knappheit und Gedrängtheit expressionistischer Literatur, die Ball als Möglichkeit der ›Gestalt‹ von Kritik bestimmt, destabilisiert, verunsichert die kritisierten Objekte (hier: das Theater-›Geschehen‹ seiner Zeit) als ›Schreibweise‹ – dies auch in ›positiver‹, d.h. lobender Absicht: Reinhardt scheint resolut zum Volkstheater oder Komödienhaus überzugehen. Bassermann, va! Pallenberg, entfalte dich! Wie selig man den letzten Strindberg spielte! (»Wetterleuchten.«) Ein Wetterleuchten fürs Schaufenster. (Und das Stück ist so wundervoll!) Die Kleinstädter: gut. Raimund: gut. Stücke, wo man nicht zu denken braucht. Sondern nur zu erfinden. Der Clou des Abends: Pallenberg. Was soll man noch sagen, da Ja-

92 Sokel, »Die Prosa des Expressionismus«, 168. 93 Ball, »Wiener Theater«, 74. 94 Ders., »›Ostern‹ von Strindberg«, 384. 95 Ebd. 96 Ders., »Raimunds ›Rappelkopf‹«, 21. 97 Ders., »Der junge Medardus«, 65. 98 Ders., »›Luther‹«, 71.

272 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK cobsohn über ihn geschrieben hat? Er ist klassisch (in der Geste), fanatisch (im Umriß), pathologisch (in der Vehemenz). Ja, das ist er. Ein gefährlicher Herr für die Dichter. Ein Archifanatikus, ein Revoltär unter den Mimen. Er hat Zinnober im Hirn (und Kobalt im Herzen). Er prägt sich in die Schädeldecken derer, die ihn gesehen haben. Auch die Eibenschütz: Bon, bon. Wie sie die Arme schlenkert! Es gibt keine Schlüsselbeine mehr und sonstige Hemmungen. Sie ist vollendete Schwebe. (Aber Herr Jacobsohn sagt, daß sie sich in den Mittelpunkt gepfeffert hat. »Gepfeffert«, sagt er.) Sie ist süß und geliebt, die Eibenschütz. Die Kammerkätzchen werden sie zu ihrer Patronin machen.99

Kritik ist bei Ball ebenfalls praktische Literatur (hier: expressionistische Gebrauchsprosa); für sie gilt, was Ball über das »Theater im allgemeinen« ausführt, dass sie »eine Institution« sei, »in der die Kunst zum Publikum herabsteigt«; der Kritiker müsse als Konsequenz daraus »hinaufsteigen«, um eine »Verschiebung des ästhetischen Balancements« zu verhindern.100 Daher lässt sich resümmieren: Trotz aller Differenzierung ›hasst‹ Ball nicht Kerr, sondern ›liebt‹ ihn; er ›liebt‹ ihn diskursiv. In einem Brief an Käthe Brodnitz stellt Ball denn auch fest, Kerr sei »doch der Einzige, der Geist, Form, Ausdruck und – noch einiges andere hat. Ich bin ganz verliebt in ihn.«101 Gleichwohl setzt er diese ›Liebe‹ nicht über die ›Liebe‹ zur eigenen Ästhetik; Ball ›liebt‹ in erster Linie ›sich selbst‹: Eine methodologische Bemerkung: Es ist (heute) nicht wichtig, »Kunstkritik« zu schreiben, kerriologisch, sondern Leute zu suchen. Mit der Laterne. Lacher. Beweger. Aufrufer. Lustigmacher. Je skurriler, desto besser. Für andere Zeiten mag was anderes gelten. Was sollen wir heute mit unserer Tante machen? Wir lassen sie Cancan tanzen. Wir wollen Fahnen, Bünde, Kerle (spitzwinklig), die sich den Kopf einrennen.102

Daher ist die Ästhetik der Provokation nach Ball auch das Resultat einer Negativitätserfahrung über den ästhetischen Diskurs hinaus; sie steht auch im engen Zusammenhang mit dem Geltungsanspruch nicht allein einer ›Neuen‹ Kunst und Literatur, sondern zur selben Zeit mit demjenigen einer ›Neuen‹ Kritik bzw. genauer: eines ›Neuen‹ Journalismus, der in der Tat in die Gesellschaft einzugreifen, diese zu verändern vermag. Mithin fordert Ball: »Lasset uns einen (neuen) Journalismus gründen. Der Tag hat das Recht. Nicht die ›Ewigkeit‹. Die Ewigkeit – was geht sie uns an? Sie geht uns gar nichts an [...] Man beschäftige sich

99

Ders., »Raimunds ›Rappelkopf‹«, 22.

100

Ders., »Der junge Medardus«, 67.

101

Ders., Briefe 1904-1927, I, 76.

102

Ders., »Grabbe«, 23f.

2.3 K RITISCHE ›P RAXIS ‹

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mit dem, was auf die Nägel brennt. Intensivtest. Man mische sich ein.«103 Demgegenüber betont im Übrigen Kerr den »Ewigkeitszug«104 der Kritik. Wird das Resultat der Diskussion um die Praxis der Kritik bei Ball auf diejenigen Punkte bezogen, die sich bislang erwiesen haben (im Hinblick auf ihren literarischen Gehalt), so bekräftigt sich diese Tendenz vor dem Hintergrund einer weiteren, Barthes würde sagen, ›wuchernden‹ Schreibweise Balls, die wiederholt einen expressionistischen Kontext hat und sich in folgender Beobachtung andeutet, die einen weiteren Hinweis auf die Medialität105 derartigen Schreibens gibt:106 Der Expressionismus »beherrscht« zu seiner Zeit die Filmtheorie und auch deren Filmpraxis verfolgt das »zutiefst expressionistische Ziel« einer »großartigen Erfahrung« in der Verbindung von Mise en Scène, Montage und filmischem Expressionismus.107 Wie dieser für Balls kritische Praktiken dann auch hinsichtlich lebensaktivierender Aktionen zu denken ist sowie, in welche programmatische Richtung einer provokationsästhetischen Zukunft der Literatur dies bei und für Ball weist, erläutert exemplarisch das folgende Kapitel.

b) »Lebensumschwungkraft« Der vorhergehende Abschnitt hat im Ausgang von Alfred Kerrs Poetik von Kritik darauf hingewiesen, dass sich mit ihr für Ball das Interesse an literarischen Schreibweisen etabliert, die im Schnittpunkt der ›Epochen‹ liegen, der Ball zu-

103

Ebd., 24.

104

Kerr, Das neue Drama, VIII.

105

S. dazu auch Schlichting, »Pioniere des Medialen«.

106

S. dazu auch Bähr, Die Funktions des Theaters im Leben Hugo Balls, 57: »Ball war kein Expressionist, der über Jahre hinweg seine Idee in eine bestimmte Form, eben die expressionistische, kleidete und in der inhaltlichen Variation dieser Form die Idee zu verwirklichen suchte. Er unterzog sich den verschiedensten Formen. Daß er 1913/14 die Möglichkeit des Gesamtkunstwerks unter dem Etikett ›Expressionismus‹ für durchsetzbar hielt, ebenso wie er ihr wenig später den Namen ›Dadaismus‹ gab, darf nicht mißverstanden werden, als habe er sich nur den jeweiligen Zeitströmungen angepaßt. Gerade als Dramaturg besaß er durchaus den Blick für das Neue und dessen ideologische Ausnutzung. Aber die sich damals überstürzenden modernen Tendenzen machten es unmöglich, seine Vorstellungen einmal konkret zu einem Ende zu entwickeln.«

107

Monaco, Film verstehen, 159.

274 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK

gehörig ist, was die Frage aufgeworfen hat, wie seine ›Form‹ der Kritik als ›geschriebene‹ dem Medium des Films angenähert ist. Zu einer solchen Annäherung verhilft ein kurzer Blick auf filmisches Schreiben,108 d.h. auf Techniken wie die des sequenzierten, ›geschnittenen‹ Erzählens.109 Im Text Zürich schreibt Ball: »Man lebt in Zürich: [...]«; »Dahinter der See: [...]«; »Auf der Straße begibt sich: [...]«; »Oder es findet, unter freiem Himmel, eine Versammlung statt, auf dem Münsterplatz.«110 Ball nimmt ›wie mit einer Kamera‹ einzelne ›Bilder‹ auf und montiert sie abfolgend: Hüte, Bagage und Instrumentenkästen liegen geschichtet inmitten des Kreises auf einem Haufen. Frauen mit seltsamen Hüten und Brillen (aus Bildern des Quentin Massys) singen eine erbarmenswürdige Melodie vom gekreuzigten Heiland. Auf dem Balkon der ›Bollerei‹ die Studenten: in langer Reihe mit eckigen Köpfen und Quastenpfeifen.111

Ein Merkmal der filmischen Schreibweise112 ist so der »gebrochene abrupte Satzverlauf«: Es gibt keinen weitgespannten Bogen der Beschreibung mehr. Nüchtern werden Standort und Blickwechsel der Figuren notiert, die kleinste räumliche Abweichung fixiert und der eigene Kommentar so störend empfunden, daß er nur noch in Anpassung an das Satzmuster einbezogen wird.113

Balls Blick auf die wahrgenommene Wirklichkeit ist strukturiert durch das, wie es Joachim Paech nennt, »Hyper-Dispositiv Film-Kino-Großstadt«;114 Ball findet als literarischer Avantgardist so im filmischen Schreiben einen kulturellen

108

S. dazu etwa auch die Aussage Leo Tolstois 1908 über das Medium Filmakamera: »Sie werden sehen, daß dieser kleine klickende Apparat mit der Kurbel eine Revolution in unserem Leben bewirken wird – im Leben der Schriftsteller. Das ist ein direkter Angriff auf unsere alten Methoden literarischer Kunst. Wir werden uns an die Leinwand mit ihren Schatten und die kalte Maschine anpassen müssen.« (Zit. nach Paech, Literatur und Film, 122.) Zum Zusammenhang von Film und (literarischer) Avantgarde s. auch Lommel, »Synästhesie«.

109

S. dazu etwa Kaemmerling, »Die filmische Schreibweise«.

110

Ball, »Zürich«, 29.

111

Ebd.

112

S. dazu insgesamt auch Paech, Literatur und Film, Kap. 7, 122-150.

113

Kaemmerling, »Die filmische Schreibweise«, 187.

114

Paech, Literatur und Film, 126.

2.3 K RITISCHE ›P RAXIS ‹

| 275

Platz;115 Ball flaniert daher in seinem Text gleichsam als Kameramann durch die Stadt und fokussiert die Dinge, denen er begegnet; dabei zoomt er geradezu in Räumlichkeiten: »Das Kabarett ist ein hübscher Raum, sehr besucht. Violette und lila Ampeln in Pagodenform. Höllenrote, entzückende kleine Bühne.« 116 Das unmittelbar Erlebte, Gegenwärtige, die Beschäftigung mit dem, wie Ball sagt, »was auf den Nägeln brennt« und in das man sich einzumischen habe,117 wird filmisch nachvollzogen und dies wiederum auch ganz im Sinne des expressionistischen ›Reihungsstils‹, der, wie Paech mit Vietta ausführt, ja gekennzeichnet ist »durch ›rasche Zusammendrängung wechselnder Bilder‹ und den ›schroffen Abstand‹ zwischen ihnen«; dieser bringt denn auch »mimetisch die veränderten Wahrnehmungsstrukturen« selbst zur Darstellung; er ist »zu begreifen als literarische Mimesis einer neuen, historisch vermittelten Wahrnehmungs- und Bewußtseinsnorm«.118 Als ›Werkzeug‹, dies zu tun, steht Ball also auch hier die expressionistische Prosa-Form zur Verfügung, etwa so, wie sie für Alfred Döblin kennzeichnend ist.119 Dessen in gleicher Weise ›knapper‹, parataktischer Stil, der sich »unmittelbar aus der Ausschaltung des erklärenden Erzählers« und dem Versuch, »allen Anschein erzählerischer Absicht zu vermeiden«, ergibt, ist ebenso gekennzeichnet vom »Wegfallen der Nebensätze«, die »Erklärung und Motivierung dienen«, und von der weitgehenden »Reduktion« des Satzbaus auf seine »einfachsten Bestandteile«.120 Die literarische Darstellung erfordert nach Döblin bei der ungeheuren Menge des Geformten einen ›Kinostil‹; in höchster Gedrängtheit und Präzision habe die Fülle der erzählten Geschichte vorbeizuziehen; der Sprache

115

Vgl. ebd., 151: »Diese literarische Avantgarde findet im Kino einen kulturellen Ort

116

Ball, »Zürich«, 30.

117

»Der deutsche Literat, den ein Zufall in die Versammlung verschlägt, ganz ohne

[...].«

Kontakt, ganz voller Abneigung kommunistischen Dingen gegenüber, ist tief erstaunt und beschämt und dankt einem Kreise von Menschen, in dem sich Gelassenheit und Erfahrung das Rüstzeug schaffen für den sozialen Kampf der Zukunft.« (Ebd., 31) 118

Vietta, »Großstadtwahrnehmung und ihre literarische Darstellung«, 361. Vgl. auch Paech, Literatur und Film, 128. S. dazu außerdem auch Vietta, »Expressionistische Literatur und Film«; Zmegac, »Exkurs über den Film im Umkreis des Expressionismus«.

119

Vgl. u.a. Schärf, Alfred Döblins »Berlin Alexanderlatz«.

120

W. Sokel, »Die Prosa des Expressionismus«, 157. S. dazu u.a. auch Anz, Literatur des Expressionismus, 175-178.

276 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK

sei das Äußerste der Plastik und Lebendigkeit abzuringen.121 Döblin gebiete, so Walter H. Sokel, den »sparsamsten Gebrauch der Wörter, das Weglassen aller Begründungen, aber auch schmückender Gleichnisse«; »›[n]icht Erzählen, sondern Bauen‹, nicht Erklären, sondern Hinstellen« sei das Ziel: »›Das Ganze darf nicht erscheinen wie gesprochen, sondern wie vorhanden.‹«122 Mithin schreibt Ball: Zürich ist die Stadt der Gesangsvereine. [...] Gesellenhäuser heißen hier »Zur Käshütte«, »Blaue Fahne«, »Zur Zimmerleuten«. Auch wird viel trompetet, aus sechs Stockwerken heraus. Man tut etwas für die Lunge. [...] man spricht viel Französisch, von Genf her. Scheintot ist man versucht die Stadt zu nennen trotz Sonne und Grobheit nach drei Tagen Aufenthalt. Niemand führt Buch über Verbleib und Schattierung geflüchteter Krimineller.123

Das Parataktisch-Beiordnende, in dem die syntaktische Unterordnung gegenüber der Beiordnung annähernd fehlt,124 ist für Balls ›gegenwärtige‹ Betrachtungsweise prägend; Ball ›erzählt‹ so schreibend bzw. literarisch verfahrend und erweist auch darin die Distanz und Durchbrechung einer zurück liegenden (hier: narrativen) Tradition.125 Balls ästhetische Provokation ist auch gegen diese gerichtet,

121

Vgl. Schärf, Alfred Döblins »Berlin Alexanderlatz«, 10f.

122

Sokel, »Die Prosa des Expressionismus«, 157.

123

Ball, »Zürich«, 29.

124

Vgl. Sokel, »Die Prosa des Expressionismus«, 158.

125

Filmische Schreibweisen sind nicht zwangsläufig Ausdruck dafür, dass sich das Schreiben »von Techniken leiten ließe, die der Film genuin für sich beanspruchen kann.« (Schärf, Alfred Döblins »Berlin Alexanderlatz«, 18.) Techniken wie das Einund Ausblenden, Schuss und Gegenschuss, die Kamerafahrt oder das Zoomen von der Szene zur Totalen, dann ins Detail und anderes mehr sind »genuine Errungenschaften der Literatur, auf die sich die ersten bedeutenden Filmregisseure explizit als literarisch vorgeprägte berufen haben. Diese Techniken waren bereits vor dem Film vorhanden und wurden von den ersten Regisseuren als solche erkannt.« (Ebd.) So meint auch Döblins ›Kinostil‹ »keine Adaption neuer Techniken, sondern die Reduktion ihrer Eigenständigkeit auf die Belange der traditionellen Schriftkultur« (ebd., 21). Die Debatte um filmische Schreibweisen in der Literatur kommt um 1910 auf, als Regisseure wie D. W. Griffith zum ersten Mal versuchen, eine Literarisierung des filmischen Erzählens zu erreichen; zur gleichen Zeit wird erprobt, filmische Techniken auf die Literatur zu übertragen (vgl. ebd., 21f.) – in Form von innerem Monolog (bei Schnitzler, Proust, Rilke), halluzinativem Ausschweifen

2.3 K RITISCHE ›P RAXIS ‹

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obgleich ihn zuvorderst der kritische Diskurs in seinem Vorhandensein, seiner jetzigen Erscheinung, seiner ›Lebendigkeit‹ interessiert. Darum verwendet er auch in Zürich das Zitat, genauer: erneut das ›reine‹ Zitat, um eine Szene in ihrer gegenwärtigen Diskursivität zu beschreiben: Sagen Sie uns, Genosse H., – Sie haben da Sondererfahrung – was wissen Sie uns von Tarifverträgen?« (Bericht folgt) »Schön. Aber Sie setzen sich da in Widerspruch zu Genosse W. Genosse W. erzählte uns, daß er nur unkündbare Tarifverträge kennt, und daß das Interesse des Arbeitgebers nur unkündbare Tarifverträge verlangt.« (Genosse H. und W. debattieren und einigen sich.) »Schön und die Streiks? Wer erinnert sich noch des Holzarbeiterausstandes bei uns in der Schweiz? [...]« [...] »Oder? Genosse C.?« Man befriedigt ein seelisches Bedürfnis. »Oder?« Man hat Gefallen an sich selbst. »Gut, das ist es. Es gibt in der Arbeiterschaft Vorgänge von nicht nur materieller Bedeutung. Es gibt auch – man könnte fast sagen – ästhetische Streiks.126

Hinter die Zitate »tritt kein ›sagte‹, ›sprach‹ oder ›redete ihn an‹«; sie bilden einen »Filmdialog«: »Der Dialog erlangt eine Eigenbewegung und zeigt keinerlei Spuren jener Individuen mehr, die ihn durch ihre Rede erzeugen.«127 Ist nun das hier knapp skizzierte filmisch-expressionistische Schreiben Balls für eine ästhetische Kritik im Zeichen der Provokation angemessen? Und zwar angemessen gerade auch der Aufgabe, die die Kritik bei Ball erfüllen soll, nämlich Klärung von Struktur und Möglichkeit, mithin ›Waffe‹ und ›Werkzeug‹ wie ›Idee‹ und ›Substrat‹ desjenigen Prozesses zu sein, der im Vollzug ästhetischer Provokation in der jeweiligen Gegenwart, im Vorhanden-Sein impliziert ist? Eine erste Antwort lautet, Balls Schreiben gleiche insgesamt einer Tendenz, die »Antinomien«128 ästhetischer Kritik ebenso ausbilden wie sie einen Vermittlungsdienst für ›jüngste‹ Kunst im Sinne Balls leisten.129 Favorisiert ist darin ein

(Benn) oder stream of conciousness (Joyce, V. Woolf), also in Form verdeckter Montage, d.h. von »narrativer Dekonstruktion herkömmlicher Erzählverfahren«: »›Filmische Schreibweisen‹ arbeiten demnach nicht ›wie der Film‹, also nicht analog zu dessen spezifischer Konstruktivität, sondern ›mit dem Film‹, also parallel zu der Automatisierung seiner technischen Prozeduren.« (Ebd., 22.) 126

Ball, »Zürich«, 30f.

127

Kaemmerling, »Die filmische Schreibweise«, 197.

128

Albrecht, Literaturkritik, 121.

129

Der Expressionismus gilt als »eine Art Jugendbewegung« (Anz, Literatur des Expressionismus, 31). Ball erklärt am 27. Mai 1914 gegenüber Maria Hildebrand, er »gelte nun als Vertreter der jüngsten Literatur« (Briefe 1914-1927, I, 48).

278 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK

Kritikertypus, der ein »vorausstürmender Gebärer«, ein »Aufpeitscher«, ein »Verkörperer des Geistes« ist, »der sich die Aufrüttelung zur Vervollkommnung vorgenommen habe« und der eine »Mittlerfunktion« zwischen ›jüngster‹ Literatur und dem Leser einnimmt.130 Die »Kritik-Praxis« findet so aus einer »Randexistenz im Literaturbetrieb« heraus statt131 – als literarisches ›Leben‹ der Avantgarde. Was Ball in seinem Phantastenroman fiktionalisiert, findet in diesem Betrieb ›wirklich‹ statt: Schreibweisen von »Kritiker-Dichtern«, die sich sich der »weitreichenden Ignoranz der Öffentlichkeit« mittels »pathetischer (Selbst-)Propaganda« erwehren.132 In der »relativ kohärenten Subkultur«133 des Expressionismus praktiziert Ball eine ästhetische Kritik, die bewundert, wie deren Literatur »nach allen Seiten hin das Leben anpackt«.134 So ›transportiert‹ Balls Kritik ästhetische Vorstellungen, propagiert diese, insbesondere die neuzeitliche vitalistische Lebensphilosophie à la Nietzsche und Bergson:135 Das ›Leben‹ erscheint darin »als ›vita femina‹ undurchschaubar, unergründlich; es kann vom Menschen ›nie als ein ganzes› wahrgenommen werden«; das »Werden« bedeutet ihr einen der »höchsten philosophischen Gesichtspunkte«; »alles Geschehen – in seiner positiven, schönen wie auch in seiner negativen, hässlichen Ausformung –« soll »fließ[en]«: Leben erschöpft sich für ihn nicht in seinen angenehmen, lustvollen Qualitäten, sondern bezieht zugleich auch Häßlichkeit, Leid, Schmerz und Zerstörung ein; ja, gerade im bewußten Ja-Sagen zu den dunklen und vernichtenden Aspekten des Geschehens kommt erst die volle Lebenskraft zur Geltung; die Haltung zu den »negativen« Seiten des Lebens wird zum Gradmesser für die Lebensfülle des Menschen.136

Das ›Leben‹ bedeutet ein ›Strömen‹ und ›Fließen‹; es ist »dynamisiert«, ausgehend vom Grundsatz der »vitalen Dynamik«, nach der der élan vital (die »Lebensumschwungkraft«) Grundgegebenheit des Lebens ist:

130

Albrecht, Literaturkritik, 22.

131

Ebd.

132

Ebd.

133

Anz, Literatur des Expressionismus, 28.

134

Ball, »Klabund«, 47.

135

Zur Funktion der Lebensphilosophie Bergsons in Balls Denken, insbes. in Balls Prosa s. u.a. auch Philipp, Dadaismus, 164-169, sowie C. Schmidt, Die Apokalypse des Subjekts, 45-50.

136

Martens, Vitalismus und Expressionismus, 35, 73f.

2.3 K RITISCHE ›P RAXIS ‹

| 279

Das schöpferische Leben kann seine Bewegung nicht in einem gleichmäßigen dahinfließenden Strom entfalten, sondern wird in jedem Augenblick mit der Materie, mit der eigenen »Tendenz [...] zur Erschlaffung, Ermattung und Abspannung«, konfrontiert. Durch eine solche Gegenkraft wird die Bewegung des Lebens dynamisiert, zu einer stetigen kämpferischen Überwindung der Erstarrung gezwungen; das Leben zeigt sich bei jeder Analyse »als eine Anstrengung, die geneigte Bahn rückzuerklimmen, die die Materie hinuntersteigt«, ja, die ganze »Entwicklung der organischen Welt ist nichts als das Abrollen dieses Kampfes«.137

Mithin schreibt Ball im Text Klabund: Man wünscht diese Gedichte eines jungen Menschen in viele junge Hände, weil die Welt hier so hell geschaut wird und so souverän: daß er stets über ihr steht, keine ihrer Regionen scheuend, aber an keine sich bindend – ist das nicht ein Glück und ein Reichtum? (»Man soll in keiner Stadt länger bleiben als ein halbes Jahr ...«) Klabund hat Abenteuertum in sich, das heißt: den Realismus des Ungehemmten.138

Hier ist das expressionistische »Prinzip«, »eigene literarische und weltanschauliche Ideale durchzusetzen«, evident: »Gut ist, was vitalistische Auffassungen vertritt.«139 Die Kritik erfolgt »unter dem Zeichen des Lebens«; »die Lebensenthusiasten« bestimmen ihre »Stoßrichtung« wie ihr »Vokabular«, ihren »revolutionären Impetus«, der, wie sich bereits gezeigt hat, eine »folgenreiche Veränderung der dichterischen Sprache« nach sich zieht.140 Deren ›Auflösung‹ ist im ›Stil‹ der Kritik bereits angedeutet; von der parataktischen Reihung (z.B.: »Man hat den Autor gleich in den ersten Tagen der Mobilmachung beseitigt. Im Trubel der Kriegserklärungen verschwand er, fast lautlos. Er war im Wege. Er besaß Macht. Er hatte Gewalt über die Massen«)141 über die Ellipse (z.B.: »Oder, eine Angelegenheit der wetteifernden Millionenstädte: Organisation der riesen Ver-

137

Ebd., 60.

138

Ball, »Klabund«, 47. S. dazu auch Klabund, Morgenrot!, 25: »Man soll in keiner Stadt länger bleiben als ein halbes Jahr. / Wenn man weiß, wie sie wurde und war, / Wenn man die Männer hat weinen sehen / Und die Frauen lachen, / Soll man von dannen gehen, / Neue Städte bewachen. // Läßt man Freunde und Geliebte zurück, / Wandert die Stadt mit einem als ein ewiges Glück. / Meine Lippen fingen zuweilen / Lieder, die ich ihr gelernt, / Meine Sohlen eilen / Unter einem Himmel, der auch sie besternt.«

139

Faul, »Aber Betrieb muß sein«, 211f.

140

Martens, Vitalismus und Expressionismus, 289.

141

Ball, »Jaurès über die französische Armee«, 193.

280 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK

pflegung, Spritzen der Telefunkstation. Reden in Parlamenten, vor Massen, Zukunftsmusik. Oder: (in Frankreich) ein neronischer Festzug mit Kamelen, indischen Turbans, Suahelinegern und Radschahs«)142 ist es kein all zu weiter Schritt mehr hin zur (dadaistischen) Auflösung des Syntax bzw. zur Destruktion des Satzgefüges. Mit der Einsicht, dass die ästhetische Kritik bei Ball auch dem Programm der ›Lebensumschwungkraft‹ genügt, zeichnet sich zugleich der Umriss einer politischen Alternative ab, bei der »Vergesellschaftlichung und Tatengemeinschaft« neben der »Hinwendung zum Politischen« stehen und die Vorstellung einer »die Isolation des Künstlers überwindende[n] Gemeinschaft« zeitigt, einer »den sozial unverbindlichen Ästhetizismus verabschiedende politische Verantwortlichkeit.«143 Diese »Politisierung«144 der Kritik, deren Grenzen mit dem Geschehen politischer Meinungsbildung verschwimmen,145 macht vor der ästhetischen Kritik Balls nicht halt.146 Er schreibt: Der Krieg bringt es mit sich, daß man sich intensiver mit Politik . Kaiser, Staat, Diplomatie; Bomben, Russen, Franzosen; das alles ist mehr als je in den Brennpunkt gerückt. [...] Was an diesem Buch zumeist interessiert, ist die Frage, wie weit Zustände, die vor 10 Jahren bestanden, für die heutige Armee noch Gültigkeit haben. Wie weit sich Parallelen ziehen lassen.147

In Kriegsbilderbogen Münchener Künstler heißt es über die ›Schönheit‹ des Krieges: [Die erste Mappe] enthält Blätter von zwölf jüngeren Münchener Künstlern aus dem Kreise der »Neuen Sezession« und setzt sich mit den verschiedenartigsten Episoden und Ereignissen des Krieges auseinander. Sanitäter vom Roten Kreuz tränken einen verwundeten Franzosen. Ulanenattacke überrumpelt eine Transportkolonne. Erhängte Franktireure in

142

Ders., »Neue Kriegsmappen im Goltzverlag«, 3.

143

Anz, Literatur des Expressionismus, 128, 133.

144

Berman, »Literaturkritik zwischen Reichsgründung und 1933«, 249. Ich blende in dieser Arbeit die ausdrücklich zeitgeschichtlich-politischen Äußerungen Balls aus, wie er sie als Redakteur der Freien Zeitung in einer Vielzahl von Artikeln benennt, da diese in erster Linie den ›politischen Journalisten‹ und nicht den Ästhetiker und Theoretiker Ball betreffen. Dazu umfangreich Korol, Deutsches Präexil in der Schweiz 1916-1918.

145

Vgl. Albrecht, Literaturkritik, 123.

146

S. dazu auch Jindich Toman, »Im Kriege regt sich das Urgewässer«, 19.

147

Ball, »Die Russen in der Mandschurei und – in Polen«, 198.

2.3 K RITISCHE ›P RAXIS ‹

| 281

einer Straße zu Lüttich. Stürmende Bayern usw. Das Unternehmen ist sehr zu begrüßen. [...] der Künstler, schweigend oder redend, wird überliefern, was dieser Krieg uns brachte. Das Mappenwerk kann sich [...] zu einem umfassenden Dokument ausbilden und ein getreues Abbild nicht nur der Schrecken, sondern auch der furchtbaren Schönheiten und Buntheiten dieses Krieges werden.148

Wenn auch diese Äußerungen im Kontext der Zensur wie von Balls ambivalenter Haltung vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges zu relativieren sind,149 so zeigen sie doch für die hier relevante Fragerichtung, dass die Kunst in der Kritik politisch gleichsam Platz findet, wenngleich diese Kunst von anderer Seite als in elementarem Gegensatze zum Krieg aufgefasst wird: Der Krieg ist etwas ungeheuer Gegenständliches. Nur die im Gegenständlichen wirken können, sind jetzt Künstler: Militärs, Politiker, Techniker, Organisatoren. Die Kunst, mit der wir bis an die Schwelle des Krieges gegangen waren, war nicht gegenständlich. Wir lebten im Sommer 1914 in einem Augenblick, in dem die Kunst zu einer unerhört abstrakten Formalität gediehen war.150

Balls Kritik Kriegsbilderbogen Münchener Künstler betont dagegen, dass das darin besprochene, bildnerische ›Mappenwerk‹ »die Realitäten« nicht außer acht lassen und »Kino, Photographie und Rote-Kreuz-Postkarte« künstlerisch übertreffen soll. In der Kritik Neue Kriegsmappen im Goltzverlag heißt es: »Die Mappe dünkt mich eine Talentprobe dafür, wie man sich zagesam über die Essenz wegsetzt. Von all dem faltenreichen Gestus unseres Krieges ist kein Hauch zu verspüren.«151 Ball will hier keine »Bildchen voller Idylle, Paradiesigkeit, salonöser Entferntheit« sehen, sondern die ›Wirklichkeit‹ aus Krankheit (»Cholera, Pediculis, Rheuma«) und ›echten‹ Waffen: »So sieht doch keine Kanone aus! Das weiß ein Liftboy. Gewissermaßen ein ›heiliges Kanonenrohr‹ ist doch keine 21-cm-Feldhaubitze! (um die es sich draußen handelt). Realitäten, meine Herren!«152 Ball schreibt: Ihre Bilder (zum großen Teil) sind Umschweife, Unnotwendigkeiten, Illusion. Nehmen Sie die erste beste illustrierte Zeitung zur Hand und übersetzen Sie die Photos! Seien Sie zeitgemäß! Es gibt keine Kunst, sie wäre denn dies. Ich vermisse die Autos, Luftschiffe,

148

Ders., »Kriegsbilderbogen Münchener Künstler«, 1f.

149

S. dazu auch Schaub, »Totentanz 1916«.

150

Hausenstein, »Für die Kunst«, 46.

151

Ball, »Neue Kriegsmappen im Goltzverlag«, 4.

152

Ebd.

282 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK Bombenfänger, Panzerzüge, Scheinwerfer und Feldstecher. (Aber auch das »heutige« Tempo der Bewegung, wie es der Film übermittelt.)153

Balls Ästhetisierung des Krieges steht hier auch unter futuristischem Einfluss,154 zumal die ›synthetischen Romane‹ des italienischen Futurismus »sehr kurz«, in »wenigen Minuten, in wenige[n] Worten« und »in wenigen Gesten» eine »Unzahl von Situationen, Empfindungen, Ideen, Sinneswahrnehmungen, Ereignissen und Symbolen« schildern155 und die »Ästhetisierung der Politik« ein »wesentliches Element der futuristischen Programmatik« bedeutet.156 Dennoch ist Balls Ästhetisierung in keinem Fall die »eines Patrioten« als eine »nach ästhetischen Kriterien angelegte Vision des Kollektivs.«157 Im Krieg, so meint es ebenfalls die expressionistische Lebensphilosophie, werde die »intensivste Bewegungsenergie« und damit der »radikalste Formenwandel, der sich denken lässt, ausgelöst.«158 Elementar erscheint ihnen eine »metaphysische Leistung des Krieges«; der Krieg habe »dem Leben eine ungeheure Intensitätssteigerung gegeben«; im Sog des »Bewegungsstromes«, der alle Bereiche mit frenetischer »Lebendigkeit« durchflute, bewirke der Krieg neben den katastrophalen äußeren Folgen eine innere Erneuerung, eine »Steigerung des Quantums von Leben«.159 Ball schreibt: »Heraus aus dem Atelier, hinein ins Leben!«160

153

Ebd.

154

S. dazu auch Brodnitz, »Die futuristische Geistesrichtung in Deutschland«, bes. 43: »Ihre angestrengteste Arbeit besteht darin, den knappsten, prägnantesten, individuellsten Ausdruck für jeden Gedanken zu schaffen.« Darin erweist sich wiederum die Affinität der historischen Avantgarde, hier: des italienischen Futurismus, zu Film und Kino, gleichwohl diese für jenen, so Paech, »nicht die Rolle gespielt« hat, »die dieser Bewegungskunst par excellence zukommen müßte.« (Literatur und Film, 154.)

155

Stahl, Anti-Kunst und Abstraktion in der literarischen Moderne (1909-1933), 92.

156

Schmidt-Bergmann, Die Anfänge der literarischen Avantgarde in Deutschland, 80. Eines der ersten futuristischen Manifeste in Italien von 1909 trägt den Titel Manifesto Politico die Futuristi; 1913 folgt Programma politico futurista (vgl. ebd., 81).

157

Toman, »Im Kriege regt sich das Urgewässer«, 14.

158

Martens, Vitalismus und Expressionismus, 68.

159

Ebd.

160

Ball, »Neue Kriegsmappen im Goltzverlag«, 4.

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c) »Konversion[en]« Tritt man nun einen Schritt zurück und betrachtet die in der Kritik bei Ball vorzufindene ›Lebensantriebskraft‹ erneut, ist es unerlässlich, sich auch die in den entsprechenden Kritiken konkret formulierten ästhetischen Postulate Balls in Hinsicht auf die Provokationsästhetik anzusehen. Sofern Balls Texte als Beispiele der Formation von Kritik und Literatur zur Ausdeutung der Provokationsästhetik gelesen werden – und natürlich sind sie nicht nur das, sondern ineins damit allgemeine Zeugnisse seiner kritischen Prosa und Publizistik –, ist es auch entscheidend, welche ›Gestalt‹ der Kritik über die skizzierten Weisen hinaus identifizierbar wird. Diese ist, so die These, gleichzusetzen einer »GedankenDiskussion«.161 Für die Frage, unter der ich Balls Kritik-Praxis hier betrachte, steht deshalb ebenfalls deren Versuchscharakter im Vordergrund, genauer: ihre Form als Versuch, als Erprobung, als Essay, dem nicht zufällig der »Status als Kunstform«162 wie als »literarische Zweckform« zukommt und der »strukturelle Relevanz« vor allem »für die Gegenwart« beansprucht:163

161

Friedrich, »Der Essay«, 188.

162

Ebd., S. 190. S. außerdem u.a. auch Braungart/Kauffmann (Hg.), Essayismus um 1900.

163

Haas, Essay, 36, 41. S. dazu u.a. auch Adornos Ausführungen zum Essay, in denen es u.a heißt: »Die Regungen der Autoren erlöschen in dem objektivem Gehalt, den sie ergreifen. Die objektive Fülle von Bedeutungen jedoch, die in jedem geistigem Phänomen verkapselt sind, verlangt vom Empfangenden, um sich zu enthüllen, eben jene Spontaneität subjektiver Phantasie, die im Namen objektiver Disziplin geahndet wird. Nichts läßt sich herausinterpretieren, was nicht zugleich hineininterpretiert wäre. Kriterien dafür sind die Vereinbarkeit der Interpretation mit dem Text und mit sich selber, und ihre Kraft, die Elemente des Gegenstandes mitsammen zum Sprechen zu bringen. Durch diese ähnelt der Essay einer ästhetischen Selbständigkeit, die leicht als der Kunst bloß entlehnt angeklagt wird, von der er gleichwohl durch sein Medium, die Begriffe, sich unterscheidet und durch seinen Anspruch auf Wahrheit bar des ästhetischen Scheins.« (»Der Essay als Form«, 11). Anstoß für Adorno Überlegungen ist eine Beobachtung von Lukács (vgl. ebd., 9), die besagt, die »Form des Essays« habe »bis jetzt noch immer nicht den Weg des Selbständigwerdens zurückgelegt, den ihre Schwester, die Dichtung, schon längst durchlaufen hat: den der Entwicklung aus einer primitiven, undifferenzierten Einheit mit Wissenschaft, Moral und Kunst.« (»Die Seele und die Formen«, 29.) S. außerdem auch Bürger, »Über den Essay«, 8: »[D]em Essayisten geht es um eine Strenge, die nicht

284 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK [E]in kürzeres, geschlossenes, verhältnismäßig locker komponiertes Stück betrachtsamer Prosa, das in ästhetisch anspruchsvoller Form einen einzigen, inkommensurablen Gegenstand meist kritisch deutend umspielt, dabei am liebsten synthetisch, assoziativ, anschauungsbildend verfährt, den fiktiven Partner im geistigen Gespräch virtuos unterhält und dessen Bildung, kombinatorisches Denken, Phantasie erlebnishaft einsetzt.164

So entwirft Ball in Theatertrust die Utopie eines Theaters der Zukunft,165 einer »Theatergesellschaft« mit »gemeinsamen Maßstäben der Kritik«, mit »Linie, Stil, Gleichmäßigkeit«.166 In Das neue Volkstheater am Bülowplatz erprobt er ganz ähnlich jene ästhetischen Prämissen, die zur Theorie Dadas bzw. umfassender: zu den Thesen des provokationsästhetischen Geschehens führen werden. Ball bezieht hier Stellung für ein ›politisches‹ Theater jenseits der »Bahnen der Salongeisterei und Unterhaltungsliteratur, des Kolportageromans, des Zirkus und des Witzblatts«, für ein Theater, das in der Lage ist »in die Entwicklung der Literatur aktiv einzugreifen«.167 Er will durch dieses Theater »Anteil an der Entwicklung der Literatur« und »das Interesse der jüngeren [...] Generation« finden, anstatt dieses solchen »Herren« zu überlassen, die »fast sämtlich der Blütezeit des Naturalismus« entstammen.168 Seit Kriegsausbruch sieht Ball die »künstlerische Erziehung des Volkes« vernachlässigt und will daher an »Ansätze zu einer Neugestaltung des städtischen und des nationalen Theaters« anschließen; »neuer produktiver Talente« sollen an dieses Theater gebunden sein.169 Und wenn er schließlich verlangt, »sich allem Neuen« offen zu halten (»neue[r] Ausblick, neue Ideen«), »radikal« zu sein, »zukunftsfreudig«, alle »tatsächlichen, aktiven Köpfe, deren man habhaft werden kann« hinzuzuziehen und ausleitet: »Der Ehrgeiz eines solchen Instituts muß sein, wahrhafter Ausdruck der Zeit und damit (nur damit) des Volks zu sein«,170 dann entwirft er – als Kritik – das Konzept ei-

die der Methode wäre. So beginnt er sich beim Schreiben zu beobachten, bemerkt, wie seine Begriffe den Gegenstand formen und ihn zu dem machen, als den sein Text ihn zeigt. Unter dieser misstrauischen Selbstbeobachtung verändert sich sein Schreiben.« Zu Balls essayistischem Schreiben s. auch Monti, »›Das vergrabene Gesicht dieser Zeit‹«. 164

Rohner, Der deutsche Essay, 672.

165

Vgl. Bähr, Die Funktion des Theaters im Leben Hugo Balls, 80.

166

Ball, »Theatertrust«, 54.

167

Ders., »Das neue Volkstheater am Bülowplatz«, 57.

168

Ebd., 61. S. auch ders., »Das Theater am Bülowplatz«, 64.

169

Ders., »Das neue Volkstheater am Bülowplatz«, 61.

170

Ebd., 62.

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| 285

ner ›neuen‹ Lebensveränderung nicht allein durch die, sondern der Kunst, die jene (gedanklich) in eine Krise stürzt, die sie nur »ringend« und »erzwingend«, »streitend« und »versuchend« überwinden kann, mittels »freie[r] Bewegung«.171 Darin enthalten ist der Gedanke, dass das Wort (als Exemplum der Kunst) dem Dichter (oder Künstler) gleichsam ins Nichts entgleitet und die Welt ins Stürzen bringt: »[I]ch begriff«, schreibt Ball in Die Flucht aus der Zeit, »daß die ganze, ringsum ins Nichts zerstäubte Welt als Ergänzung nach der Magie schrie; nach dem Worte als einem Siegel und letzten Kernpunkt des Lebens.«172 In ein deutliches Bild setzt Ball diesen Kunstentwurf etwa, wenn er Wedekind kritisiert. Diese ästhetische Kritik enthält zahlreiche begriffliche Substrate des bisher Gesagten, beispielsweise: Fanatismus,173 der Gedanke, sich durch die Kunst ein öffentliches Leben zu (er)schaffen, »Agitation für sich und die Sache«, »Unmittelbarkeit«, das Närrische der Kunst, »Vitalität«, Darstellung der Realitäten, Vereinnahmung, »Neues«. Ich zitiere ausführlicher die entsprechenden Passagen zum Beleg: [...] Als Frank Wedekind auf die Bretter trat: Donnerwetter! Die anderen sahen neben ihm aus wie ein Kegelspiel, das im Umfallen ist. Sie waren einfach nicht mehr da. Es gab uns einen Riß. Wir fühlten: Voilà! Das ist er! Seine Stücke waren bewiesen. Hatten auf einmal Existenz. Zwielebigkeit zwischen Dichter und Werk. Sein Atem glühte. Sein Tempo hackte. Fanatismus brachte ein Vibrieren auf die Bühne [...]. Was vorher Schreibsal war, ward Lebsal. Fluchte, blutete, tobte, schrie: uns und der staatlichen, gesellschaftlichen, religiösen Autorität ins Gesicht hinein. Schauspieler werden hieß für ihn: sich ein öffentliches

171

Ebd.

172

Ders., Die Flucht aus der Zeit, 270. S. dazu auch Walter Muschg, Von Trakl zu Brecht, 76f.: »Die Dadaisten waren die ersten, die das Ausmaß der Katastrophe erkannten. Sie sahen auch das Versagen der aufgewühlten Dichtung und die Gegenstandslosigkeit der messianischen Sprache. Utopien, Ideale, jede Verpflichtung der Kunst auf einen Glauben, die Literatur insgesamt gehörten für sie zum Gerümpel einer absurd gewordenen Epoche. Sie taten den letzten Schritt zur Befreiung der Sprache von der Tradition. Sie befreiten sie auch von der Aufgabe, die Menschen feierlich zu erschüttern [...]. Nach ihrer Poetik konnte sich die absolute Freiheit der Kunst nur noch als Ausbruch aus jeder inhaltlichen Fixierung beweisen. Nach Auflösung der Syntax unternahmen sie die Zertrümmerung des Worts in seine Splitter von Laut und Sinn, den Vorstoß in das sprachliche Nichts.«

173

Andernorts vermisst Ball eine »neue, »sehr fanatische und direkte« Publizistik wie ein »öffentliches Leben« der »jungen Literatur.« (»Die junge Literatur in Deutschland«, 33f.)

286 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK Leben schaffen; Agitation für sich und die Sache, Auseinandersetzung deutlichste, Brust an Brust mit denen, denen es galt. Das gab ihm Unmittelbarkeit [...]. Wedekinds Manco: Die Kunst (d.h. Beherrschung) der Invektiven. Bombenwerfen wird demnächst moderner sein und ihn verdrängen. [...] Ein Schauspiel, grausam wie Harakiri (wird man Sagen): Es schlitzte sich einer die Seele auf. Zerstörte die Wand zwischen innen und außen. (»Scham« genannt.) Zwischen öffentlich und privat. Zerriß und zerfetzte sich selbst. Barbarismus. Flagellatentum. Und lud uns als Zuschauer ein. Fluchte sadistisch, spie Witz und Hohn. Und immer der Verstand, der hinrichtende Verstand. Gotische Berserkerei in diesem Sichselbst-Entblößen; unerhört. (Erinnert euch an »Zensur«, als er den Buridan spielte, eines Tages. »Der Clown Wedekind«. Das Lachen blieb euch in der Kehle stecken. Oder als er den Hetmann spielte: Donquichote im Reich der Idee ward jetzt erst Bild.) [...] Nicht, daß er immer ergriffen hätte. Er hypnotisiert. Er hat den Krampf im Gehirn. Den Krampf (im Körper). Den Krampf (in der Kehle), in den Beinen. Auch in den –. Holzschnitt ist alles: grob und eckig und ohne Übergang. [...] Es knarrt, wenn er schreitet. Er krächzt, wenn er spricht. Seine Nase ist steil und kühn. Wenn er auf der Straße der Elektrischen begegnet, zwingt er sie auszuweichen. Mißtrauisch, gereizt. Verlegen. Oder taktlos, brutal, sarkastisch. Naiv wie ein Pony und tobsüchtig wie ein Narr. [...] Weil seine dramatische Idee die des öffentlichen Lebens ist und ihre letzte Gestalt erst findet, wenn er selbst sie verficht. Er ist (immer vom Spezifischen gesprochen) nicht abzutrennen von seiner Idee. Er steht auf der Bühne: drei Worte, und all sein Verfolgungswahn ist plausibel: Unterdrückte Vitalität, gereizt, entlädt sich in aufreizendem Widerspruch. [...] Andere können gar nicht genug von ihm lernen. Sein Zweck ist die Sache. Sein Mittel die Sachlichkeit. Logik (die man ihm merkwürdigerweise abgesprochen hat) seine Methode. So spielt er (seine) Stücke. Ohne viel Gestus. Ohne viel Mimik und Maske. Er macht nicht Theater. Er besetzt es, nimmt es in Beschlag. [...] Lernet von ihm, wie man Realitäten bringt. Wie man auf den Füßen steht. Wie man da ist. Neben ihm ist alles nur wackelndes Postament. [...] Er ist Abschluß einer Epoche. Prägnanz im Superlativ. Rationalistisch-logisch kann man nur mit Prägnanz sein (und umgekehrt). Er steht da als das Ende der Moral, als die verkörperte Moralidiosynkratie dieser letzten Epoche. Aus ist’s. Moral (samt ihrer Negation: Amoral) wird binnen kurzem kein Gegenstand mehr sein. Nur mehr Farbfleck. Ihr (Dramatiker!), die ihr euch mit der Gesellschaft befaßt, hört auf! Der Schauspieler Wedekind, populär geworden, macht allem übrigen Gesellschaftsstück den Garaus. Drückt es an die Wand. Erledigt es. Ihr könnt keine Gesellschaftsstücke mehr schreiben, ohne in seine Stapfen zu treten. Neues, oder ihr seid seine Epigonen!174

174

Ders., »Wedekind als Schauspieler«, 15-18.

2.3 K RITISCHE ›P RAXIS ‹

| 287

Einen ähnlichen Entwurf nimmt Ball in einer zweiten, später entworfenen Dimension des Kontexts der ›Lebensumschwungkraft‹ vor. Bezieht sich die soeben beschriebene auf die durch die Kritik eingeforderte Künstlerschaft, so die zweite – weitreichender – auf die »Revolutionäre der Zeit«.175 In dem ersten Fall ist der konzeptionelle Wunsch nach einer, wie Ball im Text Über Okkultismus, Hieratik und andere seltsam schöne Dinge, der seine Kritik des Kongresses des Ordo Templi Orientalis bzw. der Laban-Tanzschule ist, schreibt, »umfassende[n] eigene[n] Literatur« enthalten, deren »Zweck es ist, eine höhere Lebensauffassung als die geltende materielle zu vertreten«, und dies mit pädagogischen Implikationen, als Weise der »Erziehung zum Künster« wie »zur Persönlichkeit«: »Der Eleve soll neben der Pflege seiner geistigen und physischen Talente auch Gelegenheit erhalten, die Zusammenhänge seiner Kunst im rhythmischen und kulturellen Ganzen zu erfassen. Er soll nicht nur als Individuum, sondern als Teil im Kosmos und im Gesamtkunstwerk empfinden [...].«176 Prototyp dieses ersten Falles erscheint Ball die Künstlerschaft und künstlerische Praxis Mary Wigmans, die »alles Geistige auf eine rhythmische, körperliche Basis« zurück bringe: Sie liebt die Mystik der Fläche, Hell, Dunkel, den Kontrapunkt der Farben und Komposition; die große, geniale Sprache, Verklärung der inneren Linie und das plötzliche Aufleuchten seelischer Komplexe. Ihr Muskelspiel hat einen männlichen, kriegerischen Akzent. Sie beherrscht eine Skala der Leidenschaften von sich selbst verzehrender Glaubensglut bis zu den Delirien alttoledanischer Feste. Und sie instrumentiert und drapiert ihre Passionen vom grellen Rot bis zum tiefen Schwarz mit allen starken, eindeutigen, plastischen Farben.177

Im zweiten Entwurfsfall trifft Ball, wie schon angedeutet, eine fundamentale Entscheidung für die ›Zukunft‹ der Literatur, denn er »aktualisiert die Religion als politische und ästhetische Form«: »Die Revolution, gescheitert im Politischen, soll auf neuem Weg noch einmal versucht werden.«178 Ball schreibt: »Meine Meinung war, daß nur die unbedingte Selbstkritik, die unzweideutige Offenheit Abhilfe schaffen und einen neuen Aufstieg bewirken könne. Der Weg

175

Ders., »Der große Bauernkrieg 1525«, 166.

176

Ders., »Über Okkultismus, Hieratik und andere seltsam schöne Dinge«, 54f.

177

Ebd., 56.

178

Süllwold, Das gezeichnete und ausgezeichnete Subjekt, 141. S. dazu auch Flasch, »Von der ›Kritik der deutschen Intelligenz‹ zu Dionysius Areopagita«, bes. 125f.

288 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK

aber, der nun einzuschlagen wäre, blieb im Dunkeln.«179 Den Weg, der einzuschlagen wäre, konzipiert Ball nun als eine »Richtschnur der Kritik«,180 wie sie bereits im Titel seines Buches Zur Kritik der deutschen Intelligenz genannt ist und die ausdeutet, was Ball sich von einer Biographie des für dieses Werk so zentralen Thomas Münzer als Aufgabe für einen deutschen Philologen verspricht, den »Anfang des Beweises« zu liefern, »daß eine radikale Lösung der politischen Frage nicht möglich ist, ohne die Lösung der religiösen.«181 In Zur Kritik der deutschen Intelligenz schreibt Ball denn auch: »Es handelt sich [...] nicht mehr darum, Selbsterlösung zu treiben und vor der unannehmbaren Realität in die Kunst und Illusion zu flüchten. Es handelt sich vielmehr um die Auflösung dieser Realität, um die Erlösung der Gesellschaft bis ins letzte Glied.«182 Es ist nur konsequent, dass Ball sein nachfolgendes Buch Byzantisches Christentum eine »Ergänzung« der »schwer zu verteidigende[n]«183 Kritik der deutschen Intelligenz nennt:184 Wenn ich heute unter dem Titel »Byzantinisches Christentum« eine Ergänzung meines ersten Buches vorlege, glaube ich den wenigen Freunden meines ersten Versuches eine Erklärung schuldig zu sein. Zwischen den beiden Büchern liegen vier Jahre einer unermüdlichen Arbeit, vor allem an meiner eigenen Person. Das Thema, der deutsche Geist, die deutsche Moral, ist dasselbe geblieben. Aber die Geste des Rebellen ist verschwunden. Die politischen (materiellen) Fragen sind ausgeschaltet. Eine berauschte Theologie, eine Gotteslehre, in der ich alle höheren Werte zu sammeln und zu begründen suche, kommt überschwänglich zum Ausdruck. Sie kommt in orthodoxen Formen zum Ausdruck. In autoritären Formen. Ich würde es tief bedauern, wenn die kirchliche Auffassung der behandelten Fragen auch nur im geringsten verkannt oder verletzt erschiene. Ich würde mich bemühen, solchen Mangel bei erster Gelegenheit nach Kräften gutzumachen.185

Im Vortrag Abbruch und Wiederaufbau führt er anschließend aus:

179

Ball, »Notizen zum Versuch eines Vorwortes für das ›Byzantinische Christentum‹«,

180

Süllwold, Das gezeichnete und ausgezeichnete Subjekt, 109.

181

Ball, »Aufgabe für einen deutschen Philologen«, 171.

182

Ders., Die Folgen der Reformation/Zur Kritik der deutschen Intelligenz, 317.

183

Flasch, »Von der ›Kritik der deutschen Intelligenz‹ zu Dionysius Areopagita«, 122.

300.

184

Zu dieser Beobachtung s. auch Guerra, »Byzanz liegt in der Schweiz«, 71.

185

Ball, »Notizen zum Versuch eines Vorwortes für das ›Byzantinische Christentum‹«, 300f.

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Was ist es nun mit der deutschen Kultur, der deutschen Ideologie, dem deutschen Satanismus, den deutschen Vorurteilen, die 1914 die Welt skandalisierten? Und im Kreuzzug (Ideen existieren ja, sowie sie einmal ausgesprochen wurden) –: welcher Begriff, welche Auffassung der Welt sollte vernichtet werden? Welche Erlösung sollte geschehn, und wovon? Welches heilige Grab sollte geschützt oder befreit werden? Die Antwort auf diese Fragen löst auch die Frage nach dem, was abgebrochen und was neu aufgebaut werden soll. [...] Erlöst sein wollte die Menschheit von der Entartung in Willkür und Übermut, in Brutalität und Größenwahn [...].186

Der Weg, der nach Ball zu einem solchen Wiederaufbau zu führen vermag, ist also die Religion;187 »ohne die Wiederherstellung der Religion«, schreibt Ball, »wird keine Erneuerung werden«: Das Reich des Satans haben wir erlebt. Wir können wieder glauben, daß es Teufel gibt. Wir sahen sie am Werk. Machen wir aus Deutschland ein Gottesland, wir brauchen nur den Gegensatz zu all dem aufzustellen, was wir ringsum am Werke sahen. Dies ist meine Idee vom Wiederaufbau.188

Schließlich führt Ball die Operationen, die ihm für diese seine Idee nützlich erschienen, in einem weiteren Begriffspaar zusammen: »im Paar Exorzismus und Konversion [...], fundiert im Paar Dämon und Gott.«189 Ball ästhetisiert dazu die

186 187

Ders., »Abbruch und Wiederaufbau«, 276f. Vgl. ebd., 292f. S. zum Zeitkontext auch Ruster, Die verlorene Nützlichkeit der Religion.

188

Ebd., 294. Werner Hülsbusch hat Balls ›religiöse Existenz‹ entsprechend nachgezeichnet (vgl. »Hugo Balls Flucht zum Grunde«).

189

Zehetner, Hugo Ball, 92. Hingewiesen sei darauf, dass Ball unter Pseudonym (vgl. Briefe 1904-1927, I, 72) einen Beitrag über Berthold Schwarz, den Erfinder des Schießpulvers, veröffentlicht hat, für den er dämonische Zuschreibungen beschreibt: »Als Erfinder eines notorischen ›Teufelswerks‹ scheint er dem Haß und der Verachtung seiner Mitbrüder verfallen zu sein. Als Erfinder und Inszenator von Teufelskünsten seinem ganzen Zeitalter der schärfsten Brandmarkung wert erschienen zu sein. Wenn man sich zur Gewißheit bringt, daß die praktische Anwendung der Pulvererfindung eine gewisse verborgene Bosheit, Teuflischkeit der Invention und der ideellen Veranlagung zweifelsohne voraussetzt, wird man begreiflich finden, daß nicht bloß vom Handwerk, sondern auch von der Gesinnung her der Name Bertholdus niger, der finstere, schwarze, hämische, unheimliche Berthold, gerechtfertigt erscheint.« (»Berthold Schwarz, der Erfinder des Schießpulvers«, 157.)

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Religion als Literatur.190 Ball beschreibt in Byzantinisches Christentum, so auch Schmidt, das »religiöse Genie als letzte Konsequenz und Umkehrung des ästhetischen« und stellt daher das »liturgische Gebet« als »transformierte Form des poetischen Gedichts dar.«191 Seine »erstaunlich gelehrte Monografie« ist denn auch als »Immunisierungsstrategie« sowohl gegen die »moderne Tendenz« aufzufassen, »die Ästhetik aus dem Kult auszusondern«, als auch gegen die »moderne Fabel, es gäbe eine Kunst ohne Kult oder Liturgie.«192 Bezeichnender Weise formuliert er diesen, sein Spätwerk mitunter dominierenden Gedanken193 auch in Form einer Kritik bzw. genauer: in Form einer Buchkritik. Sein Text Die religiöse Konversion ist die umfangreiche Auseinandersetzung mit Sante de Sanctis Werk La conversione religiosa (1924); dieser beginnt so: Die Heiligengeschichte ist die spezifischste Literatur der Kirche. Auf keinem Gebiete spielt sie gegenwärtig eine gleich große Rolle wie in der Psychologie und der Psychiatrie. Wir leben im Übergang von einem abstrakten und rationalistischen Zeitalter zu einem konkreten und rationalen. Die gesellschaftlichen Normen sind in der Auflösung begriffen. Der Primat des Bewußten, des Willens, des Ich ist, zeitweise wenigstens, gebrochen. Ein neuer Zustrom aus unterbewussten Quellen harrt noch der Einordnung, ehe ein neues Weltbild entsteht. Uralte Schichten der seelischen Erfahrung befreien sich und drängen ans Licht. Die Begriffe von Wahrheit und Wissenschaft und ihr Inbegriff, die Akademie, sind in ihrer Geltung und ihrem Rage fraglich geworden; ein neuer Wertmaßstab bereitet

190

Nach Matthias Christen bedeute der »visionäre Advent«, auf den Balls »Heilserwartung« aus sei, »nichts anderes als die Chiffre einer neuen, noch ausstehenden Kunst«, die »angesichts des drohenden Zusammenbruchs der alten bürgerlichen Wertordnung aufs Ganze« gehe – gehen müsse – und die »Transzendenz«, »die eine funktionalisierte Kirche religiös nicht mehr glaubhaft zu vertreten« wisse, »wenigstens ästhetisch vor der restlosen Profanation zu bewahren« versuche. (»Endlose Revolte«, 95.) In einer Ankündigung des Byzantinischen Christentums im Börsenblatt des Deutschen Buchhandels (Nr. 89, 7. April 1923, 2809) heißt es im Übrigen auch über dieses Buch Balls, es sei »nur der Dichtung vergleichbar, die durch Form und Inhalt gleichzeitig in ihren Bann zieht und auch dem verwöhnten und abgestumpften Lesemüden Stunden der vertiefung und des Staunens verschafft.« (Zit. nach Wacker, »Nachwort« [zu: Ball, Byzantinisches Christentum], 531.)

191

C. Schmidt, Die Apokalpyse des Subjekts, 155.

192

Hoff, »Bürger, Künstler, Exorzisten«, 36.

193

S. dazu u.a. auch Agazzi, »Religion und Geistlichkeit im Werk von Hugo Ball«.

2.3 K RITISCHE ›P RAXIS ‹

| 291

sich vor, der seine Prinzipien nicht den Tatsachen und ihrer Berechnung, sondern dem Glauben und den symbolschaffenden Kräften entnimmt.194

Die Anschlüsse, seien sie im Wortlaub, seien sie inhaltlicher Natur, an Der Künstler und die Zeitkrankheit liegen auf der Hand; wenn Ball nun an dieser Stelle de Sanctis Buch bespricht, dann tut er dies nicht ohne ästhetische Theorie. Allerdings gibt er dies nicht direkt zu verstehen. Sein Text liest sich überwiegend als Kritik wie als Diskussion des ihm als Folie dienenden Buches. Meine These ist es, dass Die religiöse Konversion darüber hinaus ein entscheidendes Scharnier zum Verständnis der Provokationsästhetik nach Ball darstellt, lassen sich doch mit diesem Text in Deutlichkeit die Fluchtpunkte bestimmen, auf die Balls Werk in der vorgeschlagenen Perspektive hinausläuft. Interessant ist, dass Ball erneut entschieden eine Krisensituation lokalisiert, für die er dann einen Ausweg vorzuschlagen weiß. »Wir glaubten, daß der Mensch mechanisch und nach den Gesetzen der materiellen Energie funktioniere, und lobte damit ein Gespenster- und Totenreich«, schreibt Ball: »Wir suchten alle höheren Erscheinungen auf die Intelligenz, auf den Körper, auf die Chemie zurückzuführen und bewiesen nur immer mehr, daß wir unfähig geworden seien, die höheren Werte hervorzubringen.«195 Dass in der Dimension dieser Unfähigkeit, ›höhere Werte‹ zu erschaffen, der Hinweis auf eine religiöse Ausgestaltung der Kunst bzw. überhaupt auf die Kirche an sich gegeben ist, führt auf eine für Ball zu diesem Zeitpunkt entscheidende Positions- und Funktionsbestimmung. Indem er konstatiert, die »Kirche allein«196 biete Widerstand, ist es ihm möglich, erneut eine Diagnose der Zeit zu versuchen und für sie eine therapeutische Möglichkeit anzubieten: Die Irrenhäuser füllen sich mit Neuropathen, Epileptikern und Geisteskranken, und man ist versucht, wieder wie einstens Krankheit und Sünde identisch zu sehen. Noch aber hat es gute Weile, bis wieder der junge Arzt mit ernsthaften theologischen Studien beginnt, und umgekehrt der junge Theologe sein Interesse der Psychiatrie zuwendet, der er sein ganzes Leben doch in einem übertragenenen Sinne zu widmen gedenkt. Noch wird im Lager der Mediziner von Religion und gar von der Kirche viel zu wenig gewusst, als daß nach reinlicher Scheidung der Phänomene an eine wahre Bewältigung der Gesellschaftsleiden könnte geschritten werden.197

194

Ball, »Die religiöse Konversion«, 336.

195

Ebd., 337.

196

Ebd.

197

Ebd., 338.

292 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK

Bevor auf den Widerstand der Kirche in der Zeit nach Ball eingegangen werden kann, lässt sich diese Idee des Widerstands eingrenzen, wenn man sie in die Frage einrückt, die Rancière in einem gleichnamigen Vortrag aufgeworfen hat: Ist Kunst widerständig? Rancière sagt: Die Schwierigkeit, die dieser Titel stellt, lässt sich einfach ausdrücken: die Verbindung dieser Worte ergibt unmittelbar einen Sinn. Aber er tut dies in der Welt der Meinung. In dieser Welt ist anerkannt, dass die Kunst widersteht und dass sie dies auf verschiedene Weisen tut, die alle in einer einzigen Macht zusammenlaufen. Auf der einen Seite widersteht die Konsistenz des Werkes dem Verschleiß durch die Zeit, auf der anderen widersteht der Akt, der es hervorgebracht hat, der Bestimmung durch den Begriff. Von dem, was der Zeit und dem Begriff widersteht, wird angenommen, dass es natürlicherweise den Mächten widersteht. Das Klischee des freien und rebellischen Künstlers kann diese Logik der Meinung ohne Schwierigkeit veranschaulichen.198

Was Rancière zur »lexikalischen Homonymie des Wortes ›Widerstand‹« ausführt, betrifft den ›praktischen‹ Künstler der Provokationsästhetik an sich: »Zu widerstehen bedeutet«, sagt Rancière, »die Haltung desjenigen einzunehmen, der sich der Ordnung der Dinge entgegenstellt und dabei das Risiko, diese Ordnung durcheinander zu bringen, nicht anerkennt.«199 Man kann sagen: Rancière spricht hier über denjenigen, der die Ästhetik der Provokation praktiziert. An einer Stelle in Was ist Philosophie?, die Rancière zitiert und anschließend umfangreich diskutiert, geben Deleuze/Guattari zu bedenken, was für das die ästhetische Provokation praktizierende Subjekt Geltung hat: »Der Schriftsteller verbiegt die Sprache, lässt sie vibrieren, umklammert sie, spaltet sie, um den Perzeptionen die Perzepte, den Affektionen die Affekte, der Meinung die Empfindung zu entreißen – mit Blick, so ist zu hoffen, auf jenes Volk, das noch fehlt.«200 Die Zukunft, auf die hier geblickt wird, befördert nach Ball also die Kirche und deren Widerstand, der im Sinne Rancières mit demjenigen der Kunst zusammen fällt. Deren Aufgabe ist, so Deleuze/Guattari, das stets widerkehrende Leiden, ihr immer wieder aufflammender Protest, ihr immer wieder aufgenommener Kampf. Sollte alles vergebens sein, weil das Leiden ewig währt und die Revolutionen ihren Sieg nicht überdauern? Doch der Erfolg einer Revolution beruht nur in ihr selbst, eben in den Schwingungen, den Umklammerungen, den Öffnungen, die sie den Menschen im Moment ihres Vollzugs gab und die in sich ein immer im Werden

198

Rancière, Ist Kunst widerständig?, 7.

199

Ebd., 8.

200

Deleuze/Guattari, Was ist Philosophie?, 208.

2.3 K RITISCHE ›P RAXIS ‹

| 293

begriffenes Monument bilden, wie jene Grabhügel, denen jeder neue Reisende einen weiteren Stein hinzufügt.201

Wenn Rancière in seiner Lektüre dieser Stelle den »Widerstand des Werkes« nicht als die »Rettung der Politik durch die Kunst«, sondern die Kunst als Politik bestimmt, dann spricht er ganz im Sinne Balls, jedoch ohne den nächsten, für diesen notwendigen Zukunftsschritt zu gehen, nämlich in Richtung der Religion. Unabhängig voneinander machen sie aber dennoch beide die gleiche Beobachtung und es ist nur folgerichtig, dass Rancière Schiller als Gewährsmann anführt – dessen Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, die derart wichtig für Rancière sind, haben hier mithin bereits für den spieltheoretischen Zug der Provokationsästhetik interessiert. Rancière führt aus: Es ist Schiller, der in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen die politische Bedeutung des »Widerstands« oder des ästhetischen »Dissenses« befreit hat. Das freie ästhetische Spiel ist die Abschaffung des Gegensatzes zwischen einer vollen Menschheit und einer Unter-Menschheit. Das freie ästhetische Spiel und die Universalität des Geschmacksurteils bestimmen eine neue Freiheit und eine neue Gleichheit, die verschieden sind von denen, die die revolutionäre Regierung unter der Form des Gesetzes einrichten wollte: eine Freiheit und eine Gleichheit, die nicht mehr abstrakt, sondern sinnlich sind. Deswegen trägt sie in sich das Versprechen einer »neuen Lebenskunst« der Individuen und der Gemeinschaft, das Versprechen einer neuen Menschheit.202

Die ›neue Lebenskunst‹ ist der ›Lebensumschwungkraft‹ äquivalent;203 der Widerstand der Kunst, der für Rancière eine »eigene Politik« bestimmt, die sich für geeignet erklärt, »eine neue menschliche Gemeinschaft zu befördern«,204 gleicht dem Widerstand der Kirche nach Ball. Auch Ball verhandelt das Ästhetische und das Politische als »komplementäre Grenzfragen.«205 Die Konstatierung der alleinigen Widerstandskraft der Kirche in einer derart sozialen Situation führt Ball zur Kritik an der Zeit, die er mit Hilfe von de Sanctis’ Versuch, »einen Typus des religiösen Konvertiten auf bio-psychologischer Grundlage aufzustellen« begründet.206 Die ›Konversion‹ ist für Ball kein individuelles oder theologisches,

201

Ebd., 109.

202

Rancière, Ist Kunst widerständig?, 21f.

203

S. dazu mit anderer Stoßrichtung auch Grob, »Nach der Lebenskunst.«

204

Rancière, Ist Kunst widerständig?, 22.

205

Borgards, »Gesetz. Improvisation. Medien«, 52.

206

Ball, »Die religiöse Konversion«, 338.

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sondern ein allgemeines Problem;207 die religiöse Konversion erscheint ihm als ein »Zeitproblem von universaler Bedeutung«.208 Im Kontext der Provokationsästhetik ist insbesondere interessant, wie Ball nun seine Konversions-Konzeption abzusichern sucht. Indem er an de Sanctis Buch gleichsam entlang liest, gewinnt er deren ›Säulen‹ durch dessen konzise Diskussion. So kann er erst die Religionspsychologie als »noch junge Disziplin«209 punktuell skizzieren, um die Frage nach dem Erscheinungsbild und der Betrachtung der Konversion zu stellen. Sie wird ausgelöst, so Ball, durch explizit ›schmerzhafte Erfahrungen: »Ob es eine Krankheit, eine Verletzung, Gefangensein, Hunger, eine häusliche, persönliche oder soziale Enttäuschung, ob es eine moralische Verwirrung oder in den höheren Fällen eine geistige Enttäuschung ist: immer geht der Umkehr von Schmerz voraus.«210 Die Auflösung von phänomenalen Komplexen gelinge hier im Hinblick auf die Sublimation, die eine Wiederkehr des Verdrängten, »also dessen, was nur scheinbar aufgelöst sein mag, nicht mehr stattfinden« lasse; in der Sublimation werden »jene substanziellen Elemente, ›Anlagen‹, entfaltet, die die unzerstörbaren Überbleibsel der Auflösung« seien: Und Entfaltung heißt bisher Aktualisierung der geschöpflich-biologischen Potenzen; nicht nur einer materia prima, sondern einer widerständigen zweiten Materie. Das Widrige, Böse, jetzt als Negatives, ist wenn nicht im Prinzip aufzulösen, so doch zu vertreiben, zu

207

Zur These, dass die Konversion auch als charakteristische Lebensfigur des romantischen Künstlers gelten kann s. Wolfgang Frühwald, »Romantik – im Spannungsfeld von Kunstglaube, Mythologie und Theologie II«.

208

Ball, »Die religiöse Konversion«, S. 338. Zu Balls ›eigener‹ Konversion als »religiöser Heimkehrer« s. u.a. Wacker, »Nachwort« [zu: Ball, Byzantinisches Christentum], 520.

209

Ball, »Die religiöse Konversion«, 339. S. u.a. auch ebd., 341: »Die Religionspsychologie will als Wissenschaft gleichweit entfernt sein von einem dilettierenden Psychologismus, der alles Wunderbare und Unbekannte für ›erklärlich‹ hält, wie sie entfernt sein will von einem Kantianismus einer Methode, die Gott und die Welt im Subjekt beschließt, eine Methode, mit der nach De Sanctis das ganze religiöse Leben sich im geschlossenen Zirkel bewegt, mit dem einen Unterschied von den positiven Religionen, daß in solchem ›Idealismus‹ Gott zum Individualgeist und der Individualgeist zum Universalen wird.«

210

Ebd., 342. Zum Kontext s. auch Borgards (Hg.), Schmerz und Erinnerung; ders., Poetik des Schmerzes; Hermann, Schmerzarten.

2.3 K RITISCHE ›P RAXIS ‹

| 295

bannen. Der Exorzismus bedeutet eine Auflösung und Vernichtung des Widrigen insofern, als er Vorstufe und Gegenstück zur sublimierenden Konversion ist.211

Denkt man parallel an Balls ästhetisches Therapie-Modell aus Der Künstler und die Zeitkrankheit und behält im Blick, dass Religion, zumindest für den späten Ball, an die Stelle der Kunst zu treten scheint, sich Religion ihm als Literatur regelrecht offenbart, führt er über die Figur des Konvertiten das aus, was auch für den im Provokationsgeschehen innerlich wie äußerlich ›bewegten‹ Künstler schon bestimmt worden ist:212 »Eine Vereinfachung der seelischen Ökonomie findet statt, eine Neuordung der seelischen Kräfte, die einer Kräfteersparnis und einem Lustgewinn gleichkommt; ein Sichbesinnen auf das eine Notwendige, um im äußeren und inneren Kampfe sicherer und endgültig zu bestehen.«213 Daher kann Ball schreiben, es gebe »Konvertiten der Farbe des Tons, des Wortes« etc., mithin Dichter, die die »letzten Gründe des Wortes in seine Wurzel« verfolgen.214 Indem Ball dabei immer auch de Sanctis Buch kritisiert, konkretisiert er gleichzeitig das Verfahren der Kritik, als deren Protagonist hier jener eine Typus des Konvertiten auftritt, für den eine »ganz bestimmte seelische Prädisposition« bezeichnend sei.215 Zu deren Erklärung geht Ball zu einer Ebene der Begründung über, die jene Prädisposition begrifflich beschreiben kann und die auf Begriffe wie das Un- oder Unterbewusste, das Sublimale und die Verdrängung zielen. Es seien »Ausnahmezustände der Psyche«, schreibt er, »in denen das Unbewußte hervortritt und dominiert«, und es seien »Krankheitszustände, wenn es dauernd dominiert.«216 Dass er damit ein Vokabular gebraucht, das später (wie gezeigt)

211

Zehetner, Hugo Ball, 92.

212

»Der Weg von der ästhetischen zur asketischen Subjektivität ist der Weg bis an die Grenzen der politischen Theologie, an der der Versuch, das Himmelreich auf Erden zu gründen, noch einmal einer radikal kritischen Reflexion unterzogen wird. Erst die innere Revolution kann die äußere Revolution vor einem Absturz in den Satanismus und die Dämonie schützen.« (C. Schmidt, Die Apokalypse des Subjekts, 152.)

213

Ball, »Die religiöse Konversion«, 343.

214

Ebd., 345.

215

Ebd., 347.

216

Ebd., 350. S. dazu auch C. Schmidt, Die Apokalypse des Subjekts, 161: »Hugo Ball hat von Anfang an geradezu instinktiv diesen theologischen Abgrund des zu Ende geführten Ästhetizismus als eine dämonische Inkarnation des Göttlichen durch den

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etwa Agamben und zeitgleich die ›wütenden‹ Avantgarden verwenden,217 verdeutlicht einmal mehr, wie wegweisend Balls Theoreme für diese Diskurse ästhetischer, politischer, soziologischer, psychologischer Provenienz sind. Noch einmal: Die Situation des Konvertiten ähnelt und ist, meinen Thesen zufolge, geradezu identisch mit derjenigen des Künstlers im prozessualen Geschehen ästhetischer Provokation. Was diese aus ihnen ›macht‹, ist eine Neuordnung, eine, mit Ball gesagt, Sublimation, eine ›Erhebung‹, »und zwar kraft einer inneren Tätigkeit« des Subjekts: Seine seelischen Prozesse unterliegen einer beständigen, erst automatischen und unterbewußten, dann bewußten Zerlegung, die ihm ermöglicht, seinen Grundaffekt, sagen wir schlicht seinen Glauben, von den ihm bisher vertrauten Objekten zu trennen und ihn auf neue, bessere, ihm würdiger erscheinende Objekte zu übertragen. Es ist einzusehen, daß solche Auflösung und Neuordnung, die den Grundglauben, die Seelenenergie selbst befreit und mit den ihr mehr entsprechenden religiösen Vorstellungen in Einklang bringt – daß, sage ich, eine solche Vereinheitlichung und Neuodnung mit einer bis zur Ekstase gehenden Euphorie verbunden sein kann.218

Die Lösung, die Ball letztendlich anbietet, gestattet, die Ästhetik der Provokation in ein Bild zu fassen, das Ball der Sublimation zuschreibt, d.h. dasjenige einer »elementaren Auflösung zum Zwecke einer Ausscheidung der Schlacken«; das Bild einer »feurigen Läuterung und einer neuen endgültigen Kristallisation«, durch die eine »Erweiterung, Erhebung, eine Reinigung der seelischen Fähigkeiten zum Zwecke ihrer sozialen Verwendbarkeit und Nobilitierung« bewirkt wird.219 Ziel ist es, wie Ball für de Sanctis in Anschlag bringt, die »Zusammenfassung aller zerstreuten affektiven Energien und ihre Anwendung auf eine einzige Möglichkeit: auf die Befreiung vom fatalen Zwang der verurteilten Widerstände.«220 Sieht man den Künstler (als Kritiker seiner selbst wie seines Außen) als ›Konvertit‹ im Sinne Balls, dann streift dieser auch alle Phasen der körperlichen und/oder seelisch-geistigen »Irrung«, die er »zu überwinden hat, ehe er sein

Menschen begriffen und von ihm aus diese ego-theologische oder onto-theologische Synthese als absoluten Krisen- und Ausnahmezustand angegriffen.« 217

Ball spricht denn auch etwa von Affekten, Emotionen und Vorstellungen, von einem »Seelenleben«, bestehend aus »einer vielfach gestuften Schichtung solcher Systeme oder Komplexe« (»Die religiöse Konversion«, 351).

218

Ebd., 356.

219

Ebd., 357f.

220

Ebd., 360.

2.3 K RITISCHE ›P RAXIS ‹

| 297

Ziel der Vollendung erreicht.«221 Dieser Künstler muss, das schreibt wiederum Rancière, »selbst von der ›anderen Seite‹ kommen, er muss etwas zu Starkes erlebt haben, etwas Unerträgliches, eine Erfahrung der ersten Natur, der nichtmenschlichen Natur, von der er mit ›geröteten Augen‹ und an seinem Fleisch gezeichnet zurückkehrt.«222 Bevor ich im nächsten, abschließenden Kapitel den ›Ort‹ diskutiere, an dem der (literarische) Künstler-Kritiker (womöglich) seine ›Vollendung‹ erreicht, soll zur Verdeutlichung noch kurz daran erinnert werden, welche Interpretation mit der oben dargestellten Konversions-Frage dem Künstlerischen gegeben wird. Ich habe im Verlauf dieses Kapitels aufgezeigt, welche Rolle die ›Lebensumschwungkraft‹ für die Praxis der Kritik bei Ball spielt. Nach einer Verdeutlichung der literarisch-stilistischen (hier: filmischen bzw. ›knappen‹) Verfahren und dem Versuchscharakter von Balls ›Schreiben‹ konnte noch einmal auf den zeitdiagnostischen Zug und die religiösen Implikate seiner Ästhetik eingegangen werden, die sich aus der Parallelisierung von Konvertit und (erkranktem) Künstler ergeben hat. Dieser tritt am Ende als Ideologe in Erscheinung und zwar in einem Verständnis, das Ball in seinem Essay Carl Schmitts Politische Ideologie dargestellt hat: Was bezeichnet den Ideologen? Wie kommt er zustande? Er hat ein persönliches, fast privates System, dem er Dauer verleihen möchte. Er gruppiert alle Lebenstatsachen, gruppiert seine ganze Erfahrung um die eine Grundüberzeugung, daß Ideen das Leben beherrschen; daß das Leben niemals nach seinen Bedingungen, sondern nur nach freien, unbedingten, ja bedingenden Einsichten, eben nach Ideen, geordnet und aufgebaut werden kann. Die Exaltiertheit und Hartnäckigkeit dieser seiner Überzeugung macht die Größe des Ideologen aus. In einer Zeit, die das Nichts anbetet, indem sie die Ideologie bekämpft oder belächelt, in solcher Zeit wird der Ideologe genötigt sein, seine Basis zu prüfen. Er wird zum Politiker und schließlich zum Theologen werden, ehe er sich’s versieht.223

Im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Werk Schmitts, die im vorliegenden Kontext insofern ausschlaggebend ist,224 dass Ball hier seine ݀sthetik der Zu-

221

Ebd., 376.

222

Rancière, Ist Kunst widerständig?, 29.

223

Ball, »Carl Schmitts Politische Theologie«, 303f.

224

S. dazu auch Flasch, »Von der ›Kritik der deutschen Intelligenz‹ zu Dionysius Areopagita«, 129; zum Verhältnis zwischen Ball und Schmitt s. außerdem Wacker, »Vor einigen Jahren kam einmal ein Professor aus Bonn ... der Briefwechsel Carl Schmitt / Hugo Ball«; Rösch, Der Versuch, das Mißtrauen gegen die Sprache zu

298 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK

kunft‹ auf den genannten Fluchtpunkt bringt, verabschiedet Ball die Romantik,225 allerdings in dem Sinne von »Romantikern«, »die sich im Tatsachenbereich nicht entscheiden wollen, ja die aus der Unentschiedenheit eine Philosophie des Irrationalen machen.«226 Das Irrationale kann dabei, so Ball, zwei Bedeutungen haben: »unvernünftig und übervernünftig« – eine ›Idee‹, mit der dann die »inspiriende und offenbarende« Welt als übernatürlicher und übervernünftiger »Organismus« dargestellt werden kann.227 Wenn sich dahinter für Ball in erster Linie die Kirche verbirgt, so lässt sich vor dem Hintergrund des oben gewagten Kurzschlusses fragen, inwiefern die Zukunft der Kunst und damit auch diejenige der Literatur, wie eingangs gesagt, nur im Werden, als ›Organismus‹ (im Sinne Balls als auch wiederum in demjenigen Kandinskys) gesehen und wie dieser in realitate verortet werden kann?

überwinden; Doremus, »La théologie politique de Carl Schmitt vue par Hugo Ball en 1924«. 225

S. andererseits wiederum auch Christen, »Endlose Revolte.«

226

Ball, »Carl Schmitts Politische Theologie«, 312. Zur Tradition, an die Carl Schmitt in seiner Politischen Romantik anknüpft, s. Bohrer, Die Kritik der Romantik, 284311; Brinkmann, »Romantik als Herausforderung«.

227

Ebd., 320f.

»Es mag sein, daß ich unterbewusst niemals die Absicht gehabt habe, es zu vollenden, denn das Wort ›vollenden‹ implizierte die Zustimmung zu traditionellen Methoden und dem ganzen Instrumentarium, das sie begleitet.« MARCEL DUCHAMP

»Es gibt weder eine Wissenschaft des Schönen, sondern nur Kritik, noch schöne Wissenschaft, sondern nur schöne Kunst.« IMMANUEL KANT

4 Der ›Ort‹ der Kritik

»[...] können wir [...] wieder kritisch werden? D.h. mehr Ideen generieren, als wir empfangen haben, als Erben einer ruhmreichen kritischen Tradition, die wir nicht wegsterben oder wie ein nicht mehr gespieltes Klavier ›verstummen‹ lassen wollen.« BRUNO LATOUR

Die Überlegungen zur Begründung einer Ästhetik der Provokation, die die ästhetische Formation von Kritik und Literatur geltend macht, haben in der vorliegenden Arbeit zuletzt folgenden Weg eingeschlagen: Der Blick auf die Schreibweisen, die Form und Gestalt von Kritik als Literatur (vornehmlich innerhalb der Publizistik und Essayistik Hugo Balls) hat gezeigt, dass es hier um eine brüchige, aber doch (noch) bestehende Allianz geht, eine Allianz, um nochmals mit Rancière zu sprechen, »zwischen künstlerischer Radikalität und politischer Radikalität«, »deren Eigenname der heute verdächtige Begriff der Ästhetik ist.«1 Es hat sich ebenfalls bereits erwiesen, dass nur eine solche Perspektive auf diese besondere Ästhetik als provokativ beschrieben werden kann, die explizit künstlerische Prozesse im Funktionieren von Kritik bedingt. Rancière führt über die »historische Mission« eins »Subjekt[s] namens ›Avantgarde‹« in Das Unbehagen in der Ästhetik aus: Die relationale Ästhetik verwirft die Anmaßungen der Selbstgenügsamkeit der Kunst wie die Träume der Transformation des Lebens durch die Kunst, sie bekräftigt jedoch eine wesentlich Idee, nämlich dass die Kunst darin bestehe, Räume und Beziehungen zu schaffen, um materiell und symbolisch das Territorium des Gemeinsamen neu zu gestalten. Die

1 Rancière, Das Unbehagen in der Ästhetik, 32.

302 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK Praktiken der ortspezifischen Kunst, die Verschiebung des Films in die verräumlichten Formen der musealen Installation, die gegenwärtigen Formen der Verräumlichung der Musik oder die aktuellen Praktiken des Theaters und des Tanzes gehen in dieselbe Richtung einer Entspezifizierung der Instrumente, der Materialien oder Anordungen, die den unterschiedlichen Künsten eigentümlich sind, einer Konvergenz in einer selben Idee und Praxis der Kunst als Weise, einen Ort zu besetzen, an dem sich die Verhältnisse zwischen den Körpern, den Bildern, den Räumen und den Zeiten neu verteilen.2

Die Diskussion der ›kritischen‹ Praxis Balls hat nun aber gezeigt, dass dieser Befund Rancières auf die Praktiken der Literatur hin zu erweitern ist. Unklar blieb dabei jedoch, wie der Ort, von dem auch Rancière spricht, konkret zu besetzen ist. Es geht damit darum, einen Ort zu finden, der eine Aussageposition definiert, die als Differenz zur »reinen Konvention« wahrgenommen werden und als Ausgangspunkt kritischer Reflexion dienen kann: »Dies setzt wiederum einen Bezug zur Avantgarde voraus, die überhaupt erst getestet hatte, wie weit diese Konventionen auflösbar sind.«3 Nach Rancière ist es die »kritische Kunst«, die sich vornimmt, »aus dem Betrachter einen bewussten Akteur zu machen«;4 sie ist es, die durch eine »lebendige Ideologie der Vermittlung«5 zwischen Produzent und Rezipient zu verorten ist. Die »Schwierigkeit der kritischen Kunst«, so Rancière weiter, sei nicht, »zwischen Politik und Kunst zu vermitteln«: Sie besteht darin, das Verhältnis zwischen den zwei ästhetischen Logiken zu ermitteln, die unabhängig von ihr existieren, weil sie der Logik des ästhetischen Regimes selbst angehören. Die kritische Kunst muss zwischen der Spannung vermitteln, die die Kunst zum »Leben« drängt, und derjenigen, die umgekehrt die ästhetische Empfindsamkeit von den anderen Formen sinnlicher Erfahrung trennt. Sie muss von den Zonen der Ununterscheidbarkeit zwischen Kunst und den anderen Sphären die Verbindungen wählen, die die politische Verstehbarkeit hervorrufen. Und sie muss von der Einsamkeit des Werks den Sinn der sinnlichen Verschiedenartigkeit entlehnen, der die politischen Energien der Verweigerung nährt. Diese Vermittlung zwischen den Formen der Kunst und denen der Nicht-Kunst erlaubt es, Kombinationen von Elementen zu errichten, die zweifach sprechen können: ausgehend von ihrer Lesbarkeit und ausgehend von ihrer Unlesbarkeit.6

2 Ebd., 32f. 3 Draxler, Gefährliche Substanzen, 163. 4 Rancière, Das Unbehagen in der Ästhetik, 57. 5 Draxler, Gefährliche Substanzen, 134. 6 Rancière, Das Unbehagen in der Ästhetik, 58.

2.4 D ER ›O RT ‹ DER K RITIK

| 303

In dieser Beschreibung erscheint der Ort der ›kritischen Kunst‹, mithin der ästhetischen Kritik als Bildungsgesetz eines bestimmten Sprechens, einer bestimmten Art der Äußerung zu bestehen, die die Differenz zwischen Kunst und NichtKunst fundamentiert. Wie lässt sich dieser fundamentierende Bezug nochmals erläutern? Durch die Grenzüberschreitung und Statusveränderung zwischen Kunst und Nicht-Kunst haben sich, so Rancière, »die radikale Fremdheit des ästhetischen Gegenstandes und die aktive Aneignung der gemeinsamen Welt« vereinigen können »und sich zwischen den gegenteiligen Paradigmen der Leben gewordenen Kunst und der widerständigen Form den ›dritten‹ Weg einer Mikropolitik der Kunst etablieren können.«7 Und es ist nur konsequent, dass Rancière an dieser Stelle ausdrücklich auch den »Dadaismus« als eine »Politik der Mischung von Verschiedenartigem« nennt.8 Dessen (topographischen) ›GeburtsOrt‹, das Cabaret Voltaire, hat Carola Hilmes einen aus der bürgerlichen Gesellschaft und aus ihrer Kunst ausgegrenzten Ort genannt; seinerseits Ausdruck der gesellschaftspolitischen und kulturellen Krisen der Zeit, markiere es einen Ort der Abweichung, und dies im Sinne Foucaults, genauer: hinsichtlich seines Heterotopie-Konzepts.9 Ich möchte – ausgehend von diesem Hinweis, aber unabhängig der von Hilmes genutzten Betrachtung des Cabaret Voltaire – diese Überlegungen nutzen, um die Frage nach dem Ort der Kritik analog zu Foucault auf vier Grundsätze einzugrenzen. Dazu wende ich mich im Folgenden kurz Foucaults Vortrag Von anderen Räumen zu und prüfe, wie sich so dem Ort der Kritik genähert werden kann. Foucault führt aus: Der Raum, in dem wir leben und der uns anzieht, so dass wir aus uns selbst heraustreten, der Raum, in dem die eigentliche Erosion unseres Lebens, unserer Zeit und unserer Geschichte stattfindet, dieser Raum, der uns zerfrisst und auswächst, ist seinerseits heterogen. Anders gesagt, wir leben nicht in einer Leere, die wir mit Menschen und Dingen füllen könnten. Wir leben nicht in einer Leere, die verschiedene Farben annähme. Wir leben

7 Ebd., 62f. 8 Ebd. 9 Vgl. Hilmes, »Unter falscher Flagge«, 120-122. Mit kultursemiotischer Theorie (etwa mit Lotman, Kunst als Sprache; Bachtin, Die Ästhetik des Wortes) zur Beschreibung des Cabaret Voltaire arbeiten hingegen Kempf/Kratz, »Die ›Lautgedichte‹ Hugo Balls als Erkenntnisgegenstand kultursemiotischer Texttheorie«.

304 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK vielmehr innerhalb einer Menge von Relationen, die Orte definieren, welche sich nicht aufeinander reduzieren und einander absolut nicht überlagern lassen.10

Wenn Foucault nun jene Orte interessieren, »denen die merkwürdige Eigenschaft zukommt, in Beziehung mit allen anderen Orten zu stehen, aber so, dass sie alle Beziehungen, die durch sie bezeichnet, in ihnen gespiegelt und über sie der Reflexion zugänglich gemacht werden, suspendieren, neutralisieren oder in ihr Gegenteil verkehren«,11 dann möchte ich diese ›Eigenschaft‹ dem Ort der Kritik zusprechen. Dadurch ergibt sich die Möglichkeit, dass es sich bei diesem Ort entweder, mit Foucault gesprochen, um eine »Utopie« handeln kann, d.h. um einen Ort »ohne realen Ort«, um einen zutiefst irrealen Ort, oder um eine »Heterotopie«,12 worauf bereits Hilmes durch ihre Diskussion hinweist. Vor dem Hintergrund der bisherigen Ergebnisse kann es nicht verwundern, dass der Ort der Kritik aus einer provokationsästhetischen Perspektive heterotopisch sein dürfte, zumal er, wie Foucault sagen würde, einen »Gegenort« darstellt, eine tatsächlich verwirklichte Utopie, in der reale Orte, »zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden.«13 Genau diesem Schema entsprechen und folgen schließlich die Strategien ästhetischer Kritik (s. erneut Kap. 1.2).14

10 Foucault, »Von anderen Räumen«, 319f. S. dazu auch die Kurzbibliographie ebd., 329, darunter Elden, Mapping the Present; Hörster, »Bildungsplatzierungen«; Monod, »Structure, spatialisation et archéologie, ou: ›L’époque de l’Histoire‹ peut-elle finir?«; Teyssot, »Heterotopias and the History of Spaces«. 11 Foucault, »Von anderen Räumen«, 320. 12 Ebd. 13 Ebd. 14 Andererseits ist an Barthes’ Idee des ›Rauschens‹ der Sprache im Kontext seines Text-Begriffs zu erinnern. Barthes führt aus, dieses stelle »eine Utopie dar. Welche Utopie? Die einer Musik des Sinns; darunter verstehe ich, dass die Sprache in ihrem utopischen Zustand erweitert, ja, ich würde sogar sagen, denaturiert wäre, bis sie ein immenses lautliches Geflecht bildet, in dem der semantische Apparat irrealisiert wäre« (»Das Rauschen der Sprache«, 90). Daraus folgert Doris Pany, obwohl Barthes den ›Text‹, »in dem ein machtfreier Diskurs ebenso vorweggenommen wäre wie eine neue Art des ›Nullpunkts‹«, zunächst vor allem als literarischen Text denke, trage der Begriff »die Aufhebung der Grenze zwischen Literatur und Kritik bereits in sich«: »Angesichts der Polyphonie des ›Texts‹ beginnen das Schreiben des Autors und der Kommentar des Kritikers unweigerlich zu konvergieren« und damit könne »der Kritiker« für Barthes »nunmehr selbst die Utopie der ungeteilten Sprache vorausnehmen.« (»Roland Barthes als Literaturkritiker«, 198f.)

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So wie Foucault die Heterotopien im Bild des Spiegels erklären kann, so lässt sich der Ort der Kritik zunächst ebenfalls derart bildhaft beschreiben (vgl. wiederum Kap. 1.2): Er wäre dann ein Ort, der das ästhetische Subjekt erst sichtbar für sich selbst macht und ihm erlaubt, sich dort zu betrachten, wo es gar nicht ist: eben in einem Spiegel; zugleich entdeckt es durch den Spiegel, dass es nicht an dem Ort ist, an dem es ist, da es sich »dort drüben« sieht: Durch diesen Blick, der »gleichsam tief aus dem virtuellen Raum hinter dem Spiegel« zu ihm dringt, kehrt es wiederum zu sich selbst zurück, richtet seinen Blick wieder auf sich selbst und sieht sich wieder dort, wo es ist.15 In diesem Bild des Spiegels wäre der Ort der Kritik in den Zuschreibungen, die der Kritik und mit ihr der Literatur innerhalb einer Ästhetik der Provokation zugewiesen worden sind, tatsächlich eine Heterotopie, weil so der Ort, an dem man sich befindet, während man sich im Spiegel betrachtet, »absolut real in Verbindung mit dem gesamten umgebenden Raum und zugleich absolut irreal wiedergibt, weil dieser Ort nur über den virtuellen Punkt jenseits des Spiegels wahrgenommen werden kann.«16 Einen entscheidenden Zug der Explikation provokationsästhetischen Geschehens trifft Foucaults Modell in dem Punkt, den dieser als »Krisenhetrotopie«17 bezeichnet; auch wenn Foucault damit eher Krisenzustände der Adoleszenz, von »Frauen während der Monatsblutung, Frauen im Kindbett« etc. benennt, ist der Bezug zu den bereits genannten ›Krisen‹, in denen eine provokative Ästhetik sich konstituiert, doch auffallend.18 Die Funktionsweise des Orts der Kritik, die nach Foucault jede Heterotopie innerhalb der betreffenden Gesellschaft aufweise,19 wäre aus diesem Blickwinkel, auf eine Krise zu reagieren, und die Fähigkeit, die Heterotopien besitzen, d.h. »mehrere Orte, die eigentlich nicht miteinander verträglich sind, an einem einzigen Ort nebeneinander zu stellen«,20 würde bedeuten, am Ort der Kritik die Orte der Krise in ihrem Erscheinen zusammen zu bringen. Als Heterotopie steht der Ort der Kritik mithin in »Verbindung mit zeitlichen Brüchen« (eine Heterotopie »beginnt erst dann voll zu funktionieren«, sagt Foucault, »wenn die Menschen einen absoluten Bruch mit der traditionellen Zeit vollzogen haben«);21

15 Foucault, »Von anderen Räumen«, 321. 16 Ebd. 17 Ebd. 18 Zum Topos von Kritik und Krise s. neben Kosselek, Kritik und Krise, auch Said, Die Welt, der Text und der Kritiker, 292. 19 Vgl. Foucault, »Von anderen Räumen«, 322. 20 Ebd., 324. 21 Ebd.

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dass die Kritik sich aus ihrer temporalen Bezüglichkeit (was war, was ist, was wird sein) zusammensetzt, ist in diesem Kapitel schon deutlich geworden. Und: Den Ort der Kritik betritt man nicht ›einfach‹; man wird etwa dazu gezwungen wie im Fall, dass man zum Kritisierten in starker Verbindung steht oder selbst die Kritik artikuliert;22 wobei dieser Ort ganz offensichtlich sich zwischen jenen »zwei extremen Polen bewegt«, die Foucault den Heterotopien als letztes Merkmal zuweist: Er schafft in seiner ästhetischen, literarischen Erscheinungsform einen »illusionären Raum«, »der den ganzen realen Raum und alle realen Orte, an denen das menschliche Leben eingeschlossen ist, als noch größere Illusion entlarvt«, und zugleich einen »anderen realen Raum, der im Gegensatz zur wirren Unordnung unseres Raumes eine vollkommene Ordnung aufweist.«23 Auch wenn Foucault primär auf ›existierende‹ topographische Orte abhebt, Freudenhäuser zum Beispiel, Gefängnisse oder Friedhöfe, ist seine ›Idee‹ der Heterotopie dennoch geeignet, um den Ort der Kritik in seinen Funktionen und Fähigkeiten zumindest zu verstehen. Wie lässt sich dieser Ort noch näher erfassen? Derrida gibt einen Hinweis, wenn er seinerseits fragt: »Wie nicht sprechen? How to avoid speaking? Warum jetzt diese Frage hinführen zu der Frage nach dem Ort? War sie nicht bereits darin? Und ist nicht Hinführen stets ein sich von einem Ort zu einem anderen hin Begeben? Eine Frage hinsichtlich des Ortes hält sich niemals außerhalb des Ortes, sie ist von dem Ort eigens betroffen.«24 Und indem er ausführt, dass es dazu um »Dichtung, um Literatur, um Literaturkritik, um Poetik [...]« geht, gewinnt der Ort der Kritik wieder nähere Kontur; es geht, so Derrida, um all das, was das Sprechen oder die Schrift, im geläufigen Sinne, mit dem, was ich hier eine Spur heiße, kommunizieren lassen kann. Jedes Mal ist es unmöglich, darin zum einen das unermeßliche Problem der figürlichen Verräumlichung (sowohl im Sprechen oder in der geläufigen Schrift im geläufigen Sinne als auch im Raum zwischen dem geläufigen Sinn und dem anderen, von dem der geläufige Sinn nur eine Figur ist), zum anderen das des Sinns und der Referenz, endlich das des Ereignisses, insofern es Statt findet, zu vermeiden.25

Was Derrida nennt sind die ›Bestandteile‹ der Ästhetik der Provokation (d.h. ganz allgemein und paschaul gesagt: Sprechen, Schreiben, Dichtung, Literatur,

22 Vgl. ebd., 325. 23 Ebd., 326. 24 Derrida, Wie nicht sprechen. Verneinungen, 51. 25 Ebd., 51f.

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Kritik, Poetik usw.). Hier fällt auf, dass Derrida an dieser Stelle auf die »christliche Apophatik des Dionysius«26 zu sprechen kommt, dass er damit einen nicht unähnlichen Fluchtpunkt wählt, der auch für Ball im vorher gegangenen Kapitel herausgestellt werden konnte; Derrida leitet daraus einen Grundsatz für »jede Lektüre, jede Interpretation, jede Poetik, jede Literaturkritik« ab: [...] zumindest das bereits-da eines Satzes, die Spur eines Satzes, dessen Einzigartigkeit irreduzibel und dessen Referenz unerläßlich bleiben sollte in einem gegebenen Idiom. Eine Spur hat Statt gefunden. Selbst wenn die Idiomatizität notwendig verloren gehen oder sich kontaminieren lassen muß durch die Wiederholung, die ihr einen Code und eine Intelligibilität gewährt, selbst wenn sie es nur dahin bringt, sich auszustreichen, wenn sie nur im Ausgestrichen-werden ankommt, wird die Ausstreichung Statt gefunden haben, und wäre es durch Asche (de cendre). Es gibt da Asche.27

Diese Überlegung fasst das Geschehen ästhetischer Provokation noch einmal zusammen, und dies auch ganz explizit: Sie kann nur stattfinden, da das, was sie betrifft, mit Derrida gesagt, »stets bereits vergangen« ist; sie besteht in Bezug auf ein »vergangenes Geheiß«.28 Das ist die eigentliche Provokation im Sinne Derridas: »Anordnung oder Verheißung, dieses Geheiß verpflichtet (mich) in einer strikt asymmetrischen Weise, noch bevor ich, ich (moi), habe ich (je) sagen und, um sie mir wieder zuzueignen, um die Symmetrie wiederherzustellen, eine solche Provokation habe signieren können.«29 Im Hinblick auf den Ort der Kritik lässt sich so für diesen formulieren: Jede Kritik setzt an einem Punkt an. Jede Kritik verweist auch auf etwas, was noch nicht ist (oder vielleicht einmal war, aber jetzt nicht mehr ist) und durch den kritischen Akt ein-

26 »In die christliche Apophatik des Dionysius übersetzt [...], bedeutet dies, daß das Vermögen zu sprechen und gut zu sprechen von Gott bereits von Gott herrührt, selbst wenn man, um es zu tun, vermeiden muß, in dieser oder jener Weise zu sprechen mit dem Ziel, direkt zu sprechen oder wahr zu sprechen, selbst wenn man vermeiden muß, überhaupt zu sprechen. Dieses Vermögen ist eine Gabe und eine Wirkung Gottes. Davon die Ursache ist eine Art absoluter Referent, doch zunächst einmal eine Anordnung und ein Versprechen/eine Verheißung in einem. Die Ursache, die Gabe der Gabe, die Anordnung und die Verheißung sind dasselbe, das Selbe, auf das oder eher noch auf den die Verantwortung dessen, der spricht und der ›gut spricht‹, antwortet.« (Ebd., 53f.) 27 Ebd., 54f. 28 Ebd., 56. 29 Ebd., 56.

308 | 2. K ONKRETISATION DER K RITIK treten soll. Schließlich gibt es einen »Ort« [...], von dem aus der/die KritikerIn spricht: eine Theorie, ein Ensemble von Werten oder ein Zeitalter, das als Paradigma dienen mag. An diesem Ort des Sprechens befinden sich auch die Kriterien, welche die Kritik anwendet, um sie als Kontrastfolie ihrem Objekt entgegenzuhalten.30

In seiner Betrachtung von Kritik und Politik nach Walter Benjamin unterstreicht Stefan Nowotny, wie Benjamins »Bild von dem, was Kritik ist« in seinem Text zur Programm der literarischen Kritik (»Pflanzen aus dem Garten der Kunst in die fremde Erde des Wissens versetzen, um die kleinen Veränderungen der Form, die da an ihnen in Erscheinung treten, aufmerksam zu erfassen«),31 einerseits in seinem Gehalt als Metapher hier implizit daran anschließt, dass gr. metà phérein ›übertragen‹, ›an einen anderen Ort tragen‹ bedeutet, und dass damit andererseits eine Vorstellung von Kritik gegeben ist, »die Dinge mit den Wurzeln« auszuheben: Die so vorgehende Kritik atomisiert sich, so könnten wir sagen, indem sie ihre Gegenstände gleichsam als Atome aus der Zeit herausschlägt; und wenn Benjamin nicht einfach von der Zeit, sondern vom Zusammenhang der Zeit spricht, so ist dies wortwörtlich aufzufassen, denn »Zeit« meint hier nicht das abstrakte Kontinuum des Vorkommens der Dinge, sondern die Entfaltungsmodalität ihrer zusammenhängenden Existenz. Diese wiederum nennt Benjamin an vielen Stellen schlicht »Leben«, und insofern die Kritik selbst in diesem Zusammenhang gehört, kann er [...] auch von »der Kritik als einer Erscheinungsform des Lebens der Werke« sprechen [...].32

Damit sind die Überlegungen zum Ort der Kritik da angelangt, von wo aus diese Studie u.a. ihren Ausgang genommen hat: Statt um eine (nie vollendete) Überführung der Kunst in Lebenspraxis, scheint es hier um eine Überführung der Kritik in Lebenspraxis zu gehen, was – wie gesehen – im Kern dasselbe aussagt, ist

30 Gürses, »Kein Kommentar«, 185. S. dazu auch – als Beispiel für einen Blick aus der literaturkritischen Praxis – Schwens-Harrant, Literaturkritik, etwa 172f.: »Auch die spielerische Verbindung von Theoriewissen, angewandten Methoden und den literarischen Texten könnte die Literaturkritik auszeichnen [...]. Ihre Vorliebe ist das Stören von allzu festen Vorstellungen, sei es von der Welt, sei es von der Literatur, sei es von den Wertmaßstäben, die an die Literatur herangetragen werden. Sie schlägt [...] Brücken zwischen Themen und Texten, zwischen Literatur und Leben. Sie spürt ästhetische, politische, ökonomische und andere Zusammenhänge auf und weiß um die eigenen Produktionsbedingungen und die der literarischen Werke.« 31 Benjamin, »Programm der literarischen Kritik«, 167. 32 Nowotny, »Die fremde Erde des Wissens«, 226f.

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es doch in der vorliegenden Arbeit um die ästhetische Formation von Kritik und Literatur gegangen, die beide letzten Endes und wiederholt gesagt ineins sieht: So wenig [nach Benjamin] das Kunstwerk reiner Ausdruck des Lebens ist, so wenig kann auch die Kritik den Anspruch erheben, dessen Potenzierung zu sein, gleichsam die vorangetriebenste, weil endlich zum Bewusstsein von sich selbst gelangte Entfaltung des Lebens selbst. Sie ist nicht fortschreitende Entfaltung des in den Werken pulsierenden Lebens, sondern Modus der Dauer, des »Fortlebens« und »Nachlebens« [...] und allein in diesem Sinn des »Lebens der Werke«, und das bedeutet immer schon: des in diesen niedergelegten, stillgelegten, abgestorbenen Lebens.33

Dennoch vermag die Kritik, an den, wie Benjamin in Ursprung des deutschen Trauerspiels schreibt, »Grund einer Neugeburt«34 zu rühren, und dies, so Nowotny, »insofern, als sie die ›historischen Sachgehalte‹, die Ablagerungen des Lebens in seinem Zusammenhang im geäußerten, dargestellten besonderen Leben«, in »›Wahrheitsgehalte‹ umbildet, in Scherben, die sich als Bruchstücke eines problematischen Ganzen wissen und die an die sich möglicherweise anderes, Neues fügen kann.«35 Der Ort der Kritik besteht dann auch darin, jene »Kerben«,36 bzw. besser: jene »Scherben« zu versammeln und zusammen zu fügen, was »vielleicht ein von Rissen und Lücken durchsetztes Bildnis des Vergangenen und Verlorenen, vielleicht aber auch ein Bildnis des Künftigen ist, auf das das Werk der Zusammenfügung zuhält.«37 Vor dem Aufweis dieses Ortes der Kritik lässt sich für die Formation von Kritik und Literatur differenzieren, was Reinhard Döhl als ›Leistung‹ des Dadaismus herausgestellt hat: Schreibt Döhl, dessen »künstlerische Errungenschaften« haben ein »Neuverständnis der Kunst mit eingeleitet, ohne dessen Kenntnis das, was heute an Kunst erzeugt wird, kaum zu verstehen sein dürfte«,38 beansprucht die Provokationsästhetik, die ich für Hugo Ball, dessen ›Dadaismus‹ und darüber hinaus zu erklären versucht habe, dass sie ein Neuverständnis nicht nur

33 Ebd., 236. 34 Benjamin, »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, 358. 35 Nowotny, »Die fremde Erde des Wissens«, 236. 36 »Es handelt sich bei solchen temporären Punkten nicht um Koordinaten einer Position, sondern um die Kerben der Kritik, in die viele weitere Kritiken einschlagen, um die Macht samt ihrer Ordnung zu durchlöchern.« (Gürses, »Was ist ›atopische‹ Kritik?«, 189.) 37 Nowotny, »Die fremde Erde des Wissens, 235. 38 Döhl, »Dadaismus«, 735.

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von Kunst und im Besonderen von Literatur, sondern auch von Kritik bedeutet; sie kann somit nicht nur zersetzen, ›vernichten‹, sondern auch erschaffen, neu schöpfen. Diese Verallgemeinerung ist zugleich die Erfahrung einer neuen Erscheinungsform von Autorschaft: Es ist der Blick des ästhetisch provozierend verfahrenden Autors, der befreit worden ist, der befreiend erschafft und selbst dadurch frei ist.39 In Anlehnung an Draxler lässt sich so konstatieren, dass sich hier die Literatur in der Kritik erfüllt, dass Kritik und Literatur sich wechselseitig »substantialisieren«:40 »[K]ritische Kultur«41 bedeutet »kritische Produktion«42 von Literatur, auch wenn dies die Aufgabe mit sich bringt, die die Ästhetik der Provokation mitunter erfüllt, beispeilsweise denn auch, wie sich wiederum des Öfteren gezeigt hat, »Schocks auszuüben«.43 Indem die ästhetische Kritik an dem ihr eigenen Ort also Ansprüche an »Originalität, Autorschaft und Genie« erhebt, liegt der Gegensatz »nicht einfach zwischen der Behauptung von Genialität auf der einen Seite und der These vom Tod des Autors auf der anderen«; vielmehr fragt die Provokationästehtik nach den »spezifischen Bedingungen und Möglichkeiten von Autorschaft«, nach einer »spezifischen Autorschaft von Kritik.«44 Auch daraus seien die Rhetoriken zu ›Kunst und Leben‹, »wie sie die Geschichte der Avantgarden durchziehen«, hervorgegangen.45 Am Ort der Kritik findet die »Infizierung«46 des (insbesondere auch literarischen) Kunstwerks durch die Kritik statt. Das ist ein weiteres Bild von Kritik, das diese als Technik identifiziert, und zwar in einer Weise, wie sie ja Foucault artikuliert.47 In dieser Benennung, so Gerald Raunig, ist die »kritiké techne«48 im Sinne Platons bereits enthalten, »die Kunst also, das Handwerk des Unterscheidens«;49 zudem ist in der Vorstellung einer Technik der Kritik der Begriff der »auctoritas als Urheberschaft, Subjektivierung und Spezifizierung des Ursprungs« enthalten, was das oben skzizzierte Verständnis des Orts der Kritik als Zusammenfügung von ›Scherben‹ weiter

39 S. dazu auch Draxler, Gefährliche Substanzen, 108. 40 Ebd., 119. 41 Ebd., 125. 42 Nowotny, »Die fremde Erde des Wissens«, 240. 43 Ebd. 44 Draxler, Gefährliche Substanzen, 128. 45 Ebd., 129. 46 Ebd., 207. 47 Vgl. erneut Foucault, Was ist Kritik?, 9. 48 Platon, »Politikos«, 260. 49 Raunig, »Was ist Kritik?«, 14.

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stärkt: »Das lateinische Substantiv auctor kommt vom Verb augeo, für vermehren. Auctor ist in dieser [...] Perspektive eine Person, die etwas vermehr oder mehrere nicht zwingend zusammen gehörende Komponenten zusammenführt.«50 Die Autorschaft von Kritik hängt unmittelbar mit dieser etymologischen Beobachtung zusammen. Raunig führt aus: Es geht in der Critic nun zunächst darum, die alten Auctores zu verstehen, was für uns vielleicht erwartungsgemäß, für den Zeitkontext aber einigermaßen überraschend, in einem nächsten Schritt ergänzt wird um die Erweiterung »oder verständlich zu machen«. Der springende Punkt zwischen »verstehen« und »verständlich machen« ist die Relation zwischen einer passiven Fortsetzung der Auslegungstradition in den erlaubten Bahnen der Erkenntnis und dem »Verständlichmachen« als einer definitiven Produktivität der Kritik. Kritik beruht also nicht nur auf der Aneignung von Sprachkompetenz, um Texte verstehen zu können, sie greift in die Textproduktion aktiv ein. Sie geht über brave Regelbefolgung genauso hinaus wie über sklavische Rekonstituierung des Ursprungstextes.51

Die Autorschaft von Kritik behauptet immer auch eine Prozessualität, die »die Autorenschaft vervielfältigt«, indem das existente Ausgangsmaterial als »produktiver Prozess der Neuzusammensetzung« bearbeitet wird, als »Wiedereinsetzung eines heterogenetischen Prozesses«, als eine »viel verschlungene Praxis der kontinuierlichen Rekombination«, als ein »komplexer Apparat«, als eine »produktive, abstrakte Maschine«, durch die »Spielraum für Neuzusammensetzung, Neuerfindung« entsteht – als »Wechselspiel zwischen dem ausgesetzten iudicium und der inventio, zwischen dem Urteilsvermögen, das im ›Verständlichmachen‹ des Texts deutlich über die Praxis der empirischen Unterscheidung im Sinne von Aufteilung und Ausscheidung hinausgeht, und der Erfindungsgabe, die die (Signifikanten-)Komponenten neu verkettet.«52 Es sind dies alles Punkte, die die Ergebnisse der Analyse der Provokationsästhetik wiederholt benennen und zusammenfassen; zu nennen wären etwa auch, dass die ›abstrakte Maschine‹ der Kritik »Formen des Gegen-Verhaltens«, mithin »Verhaltensrevolten«/»Verhaltenswiderstände«53 (M. Foucault) hervorzubringen vermag: »Kritik muss in diesem Zusammenhang«, so wiederum Raunig, »als Suche nach alternativen Lebensformen« wie als »Kampf« (etwa »um Sprache« oder »um eine breitere Praxis der Wissensproduktion«) verstanden wer-

50 Ebd., 19. 51 Ebd., 20. 52 Ebd., 21. 53 Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, 285.

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den.54 Kritik lässt sich, so verstanden, als eine »bestimmte Form der Verweigerung verstehen, als Entziehen und Entgehen«, also nicht als ›reine‹ Negation, sondern als »die Konstituierung eines Vermögens zu handeln«,55 und zwar auch hinsichtlich des eigenen Selbsts, als »Selbst/be/ver/urteilung«, die eine »reinigende Differenz« erzeugt.56 Schmidt führt in einer längeren Passage aus: Der Begründer des Dada, Hugo Ball, erkennt in den Namen für die radikale AvantgardeKunst, DADA, bekanntlich eine magische Lebens-Chiffre, die die eigene Biographie als doppelten Anruf definiert, zuerst durch Nietzsches Dionysos und dann durch den frühchristlichen Mystiker Dionysius Areopagita. Die magische Lebenschiffre definiert so die beiden extremen Pole des eigenen Lebenswerkes und dessen Etappen als eine Transformation, in der der Anspruch der radikalen ästhetischen Subjektivität auf absolute Emanzipation von der Tradition und ihrer normativen Verfassung zu deren Suspension führt, um von hier allerdings die wahre Revolution dieses Subjekts als ethisch-theologisches Subjekt einzuleiten. [...] Von [der Schönheit] her stellt sich die Umkehrung des Subjekts als Logik einer extremen Steigerung des Ästhetischen dar, in der die Forderung nach der absoluten Souveränität des subjektiven Ausdrucks (durch das Genie) nicht nur die Verfassung der Tradition schockhaft suspendiert, sondern zuletzt eben sich selbst als letzte Instanz der autonomen ästhetischen Tradition negiert, um die Schönheit nunmehr als Ereignis eben dieser Selbstüberwindung des Genies durch sich selbst, also als eine Rücknahme des Selbst, wenn nicht sogar als eine »Selbstopferung« zu inszenieren. Was sich in dieser Steigerung und Übersteigerung des Ästhetischen durch die Instanz des Subjekts ereignet, [...] wird bei Ball zur Vorstufe eines Geschehens radikaler Selbstbegegnung, in der zuerst die tragische, und dann zunehmend die christologische Dimension der dadaistischen Existenz evident wird: nämlich über die Einsicht in die potenzielle Identität der Ursache der bestehenden Machtverhältnisse und der gegen diese Machtverhältnisse aufbegehrenden ästhetischen Subjektivität als zwei komplementäre Aspekte desselben fundamentalen Willens zur Macht. Dieser Wille zur Macht, insofern er das Ich zum Untergang verurteilt, ist eine katastrophale Verfallenheit des Ich’s an sich selbst und kennzeichnet das Ich aber auch schon in seiner kreatürlichen Sehnsucht nach Erlösung. Das Ende des ästhetischen Subjekts ist der Anfang eines Prozesses der Selbstreflexion und -kritik, der eben auf eine andere Verfasstheit von Subjektivität, auf deren Rekonstitution und »Auferstehung« sich ausrichtet. Die rhetorische Definition der magischen Lebensschrift als Chiasmus wird so für Hugo Ball zunehmend als Kreuz gedeutet, das zu tragen er nunmehr als die Bedingung der Möglichkeit

54 Raunig, »Was ist Kritik?«, 27. 55 Lorey, »Konstituierende Kritik«, 47. 56 Ebd., 56.

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einer ethischen Selbstverwandlung und Therapie des Selbst deutet, die vom Gott der Liebe ihren Ausgang nehmen und den Künstler gleichsam aus der Gefahrenzone seiner ästhetischen Selbstbezogenheit befreien soll.57

Diese Prognose, mit der Schmidt seine Studie beginnt, bestätigt die vorliegende Untersuchung zur Ästhetik der Provokation nach Ball. Der Ort der Kritik ist für das ästhetische Subjekt, das Schmidt exemplarisch gerade in Ball selbst erkennt, durch ›Selbstreflexion‹, ›radikale Selbstbegegnung‹, ›Selbstüberwindung‹, ›Rücknahme des Selbst‹, ›Selbstopferung‹, aber auch durch ›absolute Emanzipation von der Tradition‹, ja deren ›schockhafte‹ Suspension gekennzeichnet. An diesem Ort wünscht sich das ästhetische Subjekt die ›Selbstverwandlung‹ und ›Erlösung‹, letzten Endes eine ›Therapie‹ auch über den eigenen individuellen Kontext hinaus. Die Befreiung aus der ›Gefahrenzone‹ der eigenen ›ästhetischen Selbstbezogenheit‹ stellt die Therapie und damit die Heilung der ›Gesellschaft‹ in Aussicht. Es ist dies eine ästhetische Rebellion, die Ball in seiner nie zu Ende geführten Dissertation mit Nietzsche deutet.58 Darin betrachtet Ball einmal, was Nietzsche unter dem ›dionysischen Problem‹ versteht, das dieser nach Ball in »jenen Kulturen des Wiedererstehens der Natur«, »des bacchinischen Rausches, Rasens und Sichselbstzerreißens« erkenne.59 Es handele sich bei Nietzsches ›dionysischem Problem‹ um das »Zustandekommen der Kunst«; Nietzsches Verdienst sei u.a. zum Einen eine »rigoros ästhetische Weltinterpretation«, zum Anderen

57 C. Schmidt, Die Apokalypse des Subjekts, 7-9. S. auch ders., »Die Endzeit des Genies – Zur Problematik des ästhetischen Subjekts in der Postmoderne«. Vgl. außerdem Ball, Die Flucht aus der Zeit, 296: »Als mir das Wort ›Dada‹ begegnete, wurde ich zweimal angerufen von Dionysius. D.A. – D.A. (über diese mystische Geburt schrieb H...k; auch ich selbst in früheren Notizen. Damals trieb ich Buchstaben- und WortAlchimie).« S. dazu wiederum auch Wieland, »Lebenssammlung statt Gesamtausgabe«, 125: »Ball selbst versuchte rückblickend seiner Entwicklung eine gewisse Kontinuität zu verleihen, wenn er beispielsweise festhält, dass der Wortschöpfung Dada die Initialen von Dionysius Areopagita bereits eingeschrieben waren [...]. Vielleicht rührt dieser Aphorismus am Ende gar von Balls Annotationspraktik her. Und zwar deshalb, weil Ball die Abkürzung ›D.A.‹ auch als Marginalie verwendet, um in den Büchern Stellen zu markierem, die sich auf seine Arbeit über Dionysius Areopagita beziehen. [...] Dergestalt schreibt sich die dadaistische Herkunft Balls gleichsam neu in den theologischen Kontext ein.« 58 Vgl. dazu erneut C. Schmidt, Die Apokalypse des Subjekts, 75. 59 Ball, »Nietzsche in Basel«, 71f.

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eine »rigoros ästhetische Kulturperspektive für die Gegenwart«.60 Das »Ideal« sei hier: »ein Zeitalter der Kunst, entfaltet aus der Vernichtung alles dessen, was diesem Ideal im Wege steht, »dazu eine entsprechend großartige Bändigung durch die Kunst.«61 Darum dreht sich die Provokationsästhetik; sie ist gleichsam Balls real werdende Nietzsche-Exegese, durch die, wie für Nietzsche nach Ball der Philosoph als »›Richter des Lebens‹« erscheint, am Ort der Kritik vielleicht sogar die ›Umwertung aller Werte‹ prozessual stattfinden kann – ein »Prinzip der Wertschätzung«, mithin »das der schöpferischen Köpfe anstelle gehorchenden, beziehenden; das des Geschmacks anstelle der Pflicht; das der persönlichen Freiheit anstelle der persönlichen Abhängigkeit«.62 An diesem Ort müsste dann auch jene »Art philosophisches Kunstwerk mit ästhetischen Werten«63 zu stellen sein, von dem Ball am Ende seiner Streitschrift schreibt. In Die Flucht aus der Zeit heißt es: Die beispiellose Kindlichkeit und Zucht der neuen Kunst verdankt sich nicht bewußten, sondern visionären, zukünftigen Stilelementen. Es ist ein Bestreben da, den innersten Rahmen, das letzte Gefängnis der geistigen Person zu erfassen. Die Entwürfe rühren an jene prophetische Linie, die den Wahn begrenzt. Zwischen dieser Sphäre und der greisenhaften Gegenwart liegt eine ganze (soziale, politische, kulturelle und sentimentale) Welt, auf deren Vorstellungen der Künstler verzichtet. Der Kampf gegen die daher rührenden Phantasmen ist seine Askese.64

Diesen ›Kampf‹ führt der Künstler-Kritiker, der für Ball bei Nietzsche als, wie schon gesagt, »Philosophen-Künstler«65 imaginiert wird, mit provokationsästhetischen Mitteln, die dann endgültig an den Grenzen zum ›Wahn‹ eingesetzt werden. »Ganz folgerichtig«, schreibt Ball wird der moderne Künstler vermeiden, den Anstoß seiner ästhetischen Gebilde mit in das bezeugte Erlebnis einzubeziehen. Er wird nur die Schwingung, die Kurve, das Resultat mitteilen, den Anlaß aber verschweigen. Er wird nur seine innere Ruhe und Harmonie wieder herzustellen suchen, nicht aber den Erreger darstellen (das wäre Wissenschaft, keine Kunst). Es hängt dann von der inneren Konstitution ab, ob der künstlerisch Begabte gleich dem Irren nur sinnlose Gesichts- und Gehörhalluzinationen mitteilt; ob er bei star-

60 Ebd., 72. 61 Ebd., 79. 62 Ebd., 91. 63 Ebd., 98. 64 Ders., Die Flucht aus der Zeit, 169f. 65 Ders., »Nietzsche in Basel«, 90.

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kem sozialen Empfinden Gebilde schafft, die ein beziehungsreiches Gesetz erfüllt; oder ob er wie der Heilige, der nur im Einklang lebt, den Einklang weiterbildet. Hirngespinste und Romantik können die Folge sein, aber auch klassische Werke und neue Glieder am mystischen Leib. Das aufnehmende Innere kann rein oder unrein, verworren oder klar, verrucht oder heilig sein.66

Eine der letzten Konsequenzen, die Ball später daraus zieht, lautet: »Es ist wieder bedeutsam, daß es die Dichter sind, die an Stelle der Philosophen und Theologen treten.«67 Die Nobilitierung der provokationsästhetisch doch verabschiedeten Literatur aus dem Geist der Kritik ist eine der wichtigen, paradoxen Resultate dieser Ästhetik, die am Ende auf den ›Dichter‹ und ›Kritiker‹ Hugo Ball selbst anzuwenden ist. »Es ist mein Vorteil«, schreibt Ball in einem der letzten Notate in Die Flucht aus der Zeit: Es ist mein Vorteil, kein Amt zu haben. Wäre ich Professor, so wären mir [...] die Hände gebunden. Aber ich bin unabhängig und hoffe, es immer mehr zu werden. Ich muß mein ganzes Augenmerk darauf richten, daß ich zu keiner Partei oder Klasse gezählt werden und es mir leisten kann, ohne Interesse und Rücksicht mich zu entscheiden.68

Und programmatisch heißt es wenige Einträge zuvor: Alles in Distanz bringen, ausziehen und von sich wegschieben. Nicht nur den Körper, vielleicht auch das Herz und den Geist. Ob man sich ein Herz auf die Stirn tätowieren sollte? Alle Welt würde dann sehen: das Herz ist ihm in den Kopf gestiegen. Und da es ein tintenblaues Herz, ein sterbeblaues, ein agonisches Herz wäre, könnte man auch sagen: der Tod ist ihm in den Kopf gestiegen. Wir brauchen nur aufzuschreiben, wie tief uns der Schrecken traf.69

Was in den zurück liegenden Kapiteln vorläufig bezeichnet worden ist, gewinnt auf dem Hintergrund dieser Idee eine schärfere Kontur: Das Schreiben, das Aufschreiben erscheint so als letzte ästhetische Quintessenz, die sich, wie es auch, so Martin Stingelin, bei Nietzsche der Fall ist, zu einer »existentiellen Erfahrung«70 steigert. Diese Auffassung beantwortet zugleich die Frage, wer Hugo Ball als

66 Ders., Die Flucht aus der Zeit, 170. 67 Ebd., 277. 68 Ebd., 295. 69 Ebd., 291. 70 Stingelin, »Schreiben«, 10. S. außerdem auch ders., »›er war im Grunde der eigentliche Schriftsteller, während ich bloss der Autor war‹«.

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Schreibender überhaupt ist. Am Ende dieser Studie kann gesagt werden, dass für Balls Schreiben das gilt, was auch für dasjenige Foucaults herausgestellt worden ist: dass es Dokument einer »unruhigen Theoriebildung, eines suchenden Denkens in Bewegung« ist; weit »weniger als die ›Summe‹ einer intellektuellen Biographie« ist es Ausdruck von »Ausschnitte[n] und Etappen einer radikalen Selbstbefragung, die Einblicke in ein Labor des Denkens eröffnen.«71 Was Roland Barthes die »strukturalistische Tätigkeit«72 genannt hat, »die in einer Doppelbewegung von Zerlegung und Neuarrangement besteht«,73 trifft für Balls Ästhetik ebenso zu wie für die ›Herausforderung‹, vor die uns dieser insgesamt stellt: In seiner ›Inspiration‹, seinem ›Stil‹ und seiner ›Persönlichkeit‹ ist er Foucault und mit diesem dem Unvereinbaren der ›Postmoderne‹ nicht unähnlich; die Gemeinsamkeit seines Werkes würde so »nicht in einem einheitlichen inhaltlichen Motiv«74 liegen als vielmehr in dessen Unabgeschlossenheit. Dieses wäre dann im Ganzen weniger Signum eines bestimmten theoretischen Programms als eine bestimmte Weise, Kritik und Literatur zu betreiben: als Provokation.75 Sie ist der Mechanismus, durch den das Problem aufscheint, das gleichsam wie ein Schatten die Geschichte von Kunst und Literatur seit Balls (in erster Linie poetologisch aufzufassenden) ›Erfindung‹ des Dadaismus im weiteren Verlauf bis heute begleitet. Die so in ihrem provokationsästhetischen Vollzug zur Geltung gebrachte ästhetische Kritik macht einsichtig, dass, wie Ball meint, eine »Revolution« – auch eine künstlerische – »nicht ›gemacht‹ werden kann, es sei denn durch ein beschleunigtes Umlernen«: »Das kann man nicht machen, das macht sich selbst.«76 Sich zu bemühen, den »Tatsachen und dem eigentlichen Stile der Zeit gerecht zu werden«, ist mithin der Leitspruch dieser Ästhetik. »Rumpeln die Dinge dann, mögen sie rumpeln«, schreibt Ball und weiter: »Es wird eine neue Basis dasein.«77

71 Honneth/Saar, »Geschichte der Gegenwart«, 1654. 72 Barthes, »Die strukturalistische Tätigkeit«, 190. 73 Honneth/Saar, »Geschichte der Gegenwart«, 1665. 74 Ebd., 1679. 75 S. dazu auch Saar, Genealogie als Kritik, 346, wo es heißt, generell könne sich der »unterbreitete theoretische Vorschlag zur Praxis der Kritik« anbieten, sich »zur Kritik und zur Veränderung der eigenen Selbstverständnisse und Selbstverhältnisse provozieren zu lassen.« 76 Ball, Die Flucht aus der Zeit, 115. 77 Ebd.

Dank

Das vorliegende Buch haben Gespräche zwischen Disziplinen und zwischen Generationen begleitet. Für die Gastfreundschaft im Haus von Eckhard Faul danke ich. Auch danke ich diesem wie auch Ernst Teubner für Ratschläge, vielfältige Unterstützung und zahlreiche Informationen aus der Hugo-Ball-Sammlung Pirmasens, Raymund Meyer, Hans Burkhard Schlichting, Bernd Wacker, Klaus Steinbach sowie Hans Dieter Zimmermann für Gewinn bringende Gespräche, Diskussionen und den gemeinsamen Einsatz für Gegenwart und Zukunft der Hugo-Ball-Forschung sowie den Mitarbeitern des Robert-Walser-Archivs und des Schweizerischen Literaturarchivs Bern für die Möglichkeit zur Einsichtnahme in den Nachlass von Hugo Ball. Die Zeit und Ruhe zur Konzeptualisierung der Arbeit, zu Archivarbeit und Forschungsaufenthalten hat mir ein Stipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung ermöglicht, wofür ich gerne danke. Dank für akademische Ausbildung, für Ermutigung und Nachdenklichkeit schulde ich Hans Peter Althaus, Franziska Schößler und insbesondere Gerhard Schaub. Dieser hat mich als Erster mit Leben und Werk von Hugo Ball vertraut gemacht, mich für literaturwissenschaftliche wie philologische Forschung begeistert und mich vielfach akademisch inspiriert. Für freundschaftliche wie fachliche und kollegiale Verbundenheit danke ich Miriam Morek und Christof Hamann. Mein Dank gilt darüber hinaus Michael Niehaus und Martin Stingelin, die diese Arbeit zuletzt begleitet haben. Dem transcript-Verlag danke ich für die Aufnahme des Buchs in sein Verlagsprogramm und hier vor allem Anke Poppen und Kai Reinhardt für die Unterstützung im Zuge der Veröffentlichung. Zu danken habe ich außerdem Gerlinde, Alois und Manuel Ruf – und in ganz besonderer Weise Justine Josefine Ruf, geb. Malecki.

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–, »Der große Bauernkrieg 1525« (1915), in: ebd., 161-169. –, »Aufgabe für einen deutschen Philologen. Zur Reformationsfeier« (1917), in: ebd., 170-171. –, »Jaurès über die französische Armee« (1914), in: ebd., 193-197. –, »Die Russen in der Mandschurei und – in Polen (Weressájew, Meine Erlebnisse im Russisch-Japanischen Krieg)« (1915), in: ebd., 198-202. –, »An unsere Freunde und Kameraden« (1919), in: ebd., 254-257. –, »Die Revolution und der Friede« (1919), in: ebd., 258-261. –, »Abbruch und Wiederaufbau (Vortrag, gehalten am 1.7.1920 vor der Ortsgruppe Hamburg der Deutschen Friedensgesellschaft)«, in: ebd., 273-295. – »Notizen zum Versuch eines Vorwortes für das ›Byzantinische Christentum« (1922), in: ebd., 299-302. –, »Carl Schmitts Politische Theologie« (1924), in: ebd., 303-335. –, »Die religiöse Konversion« (1925), in: ebd., 336-376. –, Flametti oder Vom Dandysmus der Armen (1918), FfM: Suhrkamp 1989 (Bibliothek Suhrkamp). –, »Das Münchener Künstlertheater. Eine prinzipielle Beleuchtung« (1914), in: Walter Schmitz (Hg.), Die Münchner Moderne. Die literarische ›Szene‹ der Kunststadt um die Jahrhundertwende, Stuttgart: Reclam 1990 (Reclams Universal-Bibliohek; 8557), 359-363. –, »Regie und Regisseur« (1913), in: Hugo-Ball-Almanach 14 (1990), 1-3. –, »Vorwort zu einem Roman ›Die Indianer‹« (1916/17), in: ebd., S. 29-35. –, Die Flucht aus der Zeit (1927), hg. u. mit einem Nachwort versehen v. Bernhard Echte, Zürich: Limmat 1992. –, »Klabund« (1913), in: Hugo-Ball-Almanach 21/22 (1997/98), 47. –, »Jenner Tucholsky im Geschlechterkampf« (1914), in: ebd., 48-50. –, »Theatertrust« (1914), in: ebd., 51-55. –, »Das neue Volkstheater am Bülowplatz« (1915), in: ebd., 56-63. –, »Das Theater am Bülowplatz« (1915), in: ebd., 64. –, »Der junge Medardus« (1914), in: ebd., 65-67. –, »Strindbers ›Rausch‹« (1914), in: ebd., 68-70. –, »›Luther‹ im Deutschen Künstlertheater« (1914), in: ebd., 71-73. –, »Wiener Theater. Siegfried Geyer u. Paul Frank: ›Der Viererzug‹« (1915), in: ebd., 74f. –, Tenderenda der Phantast (1914-1920), hg. v. Raimund Meyer u. Julian Schütt, Innsbruck: Haymon 1999. –, »Kriegsbilderbogen Münchener Künstler« (1914), in: Hugo-Ball-Almanach 23 (1999), 1f. – »Neue Kriegsmappen im Goltzverlag« (1915), in: ebd., 3-6.

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Lettre Peter Braun, Bernd Stiegler (Hg.) Literatur als Lebensgeschichte Biographisches Erzählen von der Moderne bis zur Gegenwart April 2012, 412 Seiten, kart., mit farb. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2068-9

Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Dezember 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-89942-583-3

Annette Gilbert (Hg.) Wiederaufgelegt Zur Appropriation von Texten und Büchern in Büchern Juli 2012, 426 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1991-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Lettre Ursula Hennigfeld (Hg.) Nicht nur Paris Metropolitane und urbane Räume in der französischsprachigen Literatur der Gegenwart August 2012, 260 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1750-4

Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Rhetoriken von Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin November 2012, ca. 378 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1760-3

Malte Kleinwort, Joseph Vogl (Hg.) Eingänge in »eine ausgedehnte Anlage« Topographien von Franz Kafkas »Das Schloß« Februar 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2188-4

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Lettre Vera Bachmann Stille Wasser – tiefe Texte? Zur Ästhetik der Oberfläche in der Literatur des 19. Jahrhunderts

Thomas Lischeid Minotaurus im Zeitkristall Die Dichtung Hans Arps und die Malerei des Pariser Surrealismus

März 2013, ca. 290 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1929-4

Juli 2012, 356 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2103-7

Christine Bähr Der flexible Mensch auf der Bühne Sozialdramatik und Zeitdiagnose im Theater der Jahrtausendwende September 2012, 520 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1557-9

Andrea Ch. Berger Das intermediale Gemäldezitat Zur literarischen Rezeption von Vermeer und Caravaggio Juli 2012, 266 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2069-6

Matteo Colombi (Hg.) Stadt – Mord – Ordnung Urbane Topographien des Verbrechens in der Kriminalliteratur aus Ost- und Mitteleuropa Oktober 2012, 310 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1918-8

Daniel Henseler, Renata Makarska (Hg.) Polnische Literatur in Bewegung Die Exilwelle der 1980er Jahre Dezember 2012, ca. 370 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2032-0

Annabelle Hornung Queere Ritter Geschlecht und Begehren in den Gralsromanen des Mittelalters November 2012, ca. 348 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2058-0

Tim Mehigan, Alan Corkhill (Hg.) Raumlektüren Der Spatial Turn und die Literatur der Moderne November 2012, ca. 450 Seiten, kart., ca. 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2099-3

Takemitsu Morikawa Japanizität aus dem Geist der europäischen Romantik Der interkulturelle Vermittler Mori Ogai und die Reorganisierung des japanischen ›Selbstbildes‹ in der Weltgesellschaft um 1900 November 2012, ca. 320 Seiten, kart., ca. 38,80 €, ISBN 978-3-8376-1893-8

Miriam N. Reinhard Entwurf und Ordnung Übersetzungen aus »Jahrestage« von Uwe Johnson. Ein Dialog mit Fragen zur Bildung Juni 2012, 248 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2010-8

Markus Tillmann Populäre Musik und Pop-Literatur Zur Intermedialität literarischer und musikalischer Produktionsästhetik in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur November 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1999-7

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