Zur Ökonomik von Sport, Entertainment und Medien: Schnittstellen und Hintergründe 9783110724523, 9783110724400

This volume contains the collected papers of the 53rd Radein Research Seminar, which took place in February 2020. The ed

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German Pages 367 [368] Year 2021

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Table of contents :
Inhalt
Die Ökonomik von Sport, Entertainment und Medien – ein Thema für das Forschungsseminar Radein?
Teil I: Sportmärkte
Zur Vergabe der Medienrechte in der Fußball-Bundesliga
Ökonomische Fragen der Talentförderung im Fußball: Theorie, Praxis und empirische Beobachtungen
Ein Ordnungsrahmen für den Wettbewerb in Sportligen: das Beispiel der National Football League
Brot und Spiele – Wollen Konsumenten eigentlich sauberen Sport?
Teil II: Unterhaltungsmärkte und - industrien
Wettbewerb und Antitrust in Unterhaltungsmärkten
Jenseits der Werkbank: Aufstieg der Kulturindustrien in Ostasien am Beispiel Koreas
Big Data Comes to Hollywood – Audiovisuelle Medienmärkte im Digitalen Zeitalter
Glücksspielregulierung aus ordnungsökonomischer Perspektive
Teil III: Medien, Digitalisierung und Information
Marktabgrenzung und Wettbewerbspolitik im digitalen Zeitalter – Wettbewerbsökonomische Anmerkungen
Freie Lizenzen und öffentlich-rechtliche Medien: Wettbewerbspolitische Dimensionen
Künstliche Intelligenz, Preisalgorithmen und ihre wettbewerbspolitischen Implikationen
Datenskaleneffekte und Künstliche Intelligenz – Ein ökonomischer Blick auf die KI-Bibliotheken Tensorflow von Google und Pytorch von Facebook
The Prices of Open Access Publishing: The Composition of APC across Different Fields of Sciences
Evaluation eines Blended Learning Konzepts in der makroökonomischen Lehre
Kurzvitae der Beitragenden
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Zur Ökonomik von Sport, Entertainment und Medien: Schnittstellen und Hintergründe
 9783110724523, 9783110724400

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Zur Ökonomik von Sport, Entertainment und Medien

Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft

| Herausgegeben von Prof. Dr. Thomas Apolte Prof. Dr. Martin Leschke Prof. Dr. Albrecht F. Michler Prof. Dr. Christian Müller Prof. Dr. Rahel M. Schomaker und Prof. Dr. Dirk Wentzel

Band 108

Zur Ökonomik von Sport, Entertainment und Medien | Schnittstellen und Hintergründe Herausgegeben von Oliver Budzinski, Justus Haucap, Annika Stöhr und Dirk Wentzel

ISBN 978-3-11-072440-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-072452-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-072463-9 ISSN 1432-9220 Library of Congress Control Number: 2021943943 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Oliver Budzinski, Justus Haucap, Annika Stöhr und Dirk Wentzel Die Ökonomik von Sport, Entertainment und Medien – ein Thema für das Forschungsseminar Radein? | 1

Teil I: Sportmärkte Andreas Polk Zur Vergabe der Medienrechte in der Fußball-Bundesliga | 13 Tim Schmidt und Dirk Wentzel Ökonomische Fragen der Talentförderung im Fußball: Theorie, Praxis und empirische Beobachtungen | 45 Jan Schnellenbach Ein Ordnungsrahmen für den Wettbewerb in Sportligen: das Beispiel der National Football League | 77 Arne Feddersen Brot und Spiele – Wollen Konsumenten eigentlich sauberen Sport? | 95

Teil II: Unterhaltungsmärkte und -industrien Oliver Budzinski, Sophia Gaenssle und Nadine Lindstädt-Dreusicke Wettbewerb und Antitrust in Unterhaltungsmärkten | 111 Diana Schüler und Werner Pascha Jenseits der Werkbank: Aufstieg der Kulturindustrien in Ostasien am Beispiel Koreas | 145 Sophia Gaenssle Big Data Comes to Hollywood – Audiovisuelle Medienmärkte im Digitalen Zeitalter | 181 Justus Haucap Glücksspielregulierung aus ordnungsökonomischer Perspektive | 201

VI | Inhalt

Teil III: Medien, Digitalisierung und Information Björn A. Kuchinke Marktabgrenzung und Wettbewerbspolitik im digitalen Zeitalter – Wettbewerbsökonomische Anmerkungen | 239 Leonhard Dobusch Freie Lizenzen und öffentlich-rechtliche Medien: Wettbewerbspolitische Dimensionen | 261 Valentin Bixer und Ulrich Heimeshoff Künstliche Intelligenz, Preisalgorithmen und ihre wettbewerbspolitischen Implikationen | 273 Michael Vogelsang Datenskaleneffekte und Künstliche Intelligenz – Ein ökonomischer Blick auf die KI-Bibliotheken Tensorflow von Google und Pytorch von Facebook | 295 Xijie Zhang, Thomas Grebel und Oliver Budzinski The Prices of Open Access Publishing: The Composition of APC across Different Fields of Sciences | 317 Horst Rottmann und Christoph Voit Evaluation eines Blended Learning Konzepts in der makroökonomischen Lehre | 337 Kurzvitae der Beitragenden | 359

Oliver Budzinski, Justus Haucap, Annika Stöhr und Dirk Wentzel

Die Ökonomik von Sport, Entertainment und Medien – ein Thema für das Forschungsseminar Radein? 1

Einleitung | 1

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Die wirtschaftliche Relevanz von Sport-, Unterhaltungs- und Medienmärkten | 2

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Das Forschungsseminar Radein | 4

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Die Beiträge in diesem Band | 6

1 Einleitung Das 53. Forschungsseminar Radein beschäftigte sich vom 09. bis 16. Februar 2020 – also gerade noch vor den ersten Pandemiemaßnahmen und Lockdowns – vor ma­ lerischer Kulisse in Südtirol mit dem Thema „Neuere Entwicklungen der Ordnungsund Wettbewerbspolitik: Sportökonomik, Unterhaltungsökonomik, Medienökono­ mik“. Insgesamt 44 Wissenschaftler/-innen diskutierten 17 Referate im Hauptteil der Tagung sowie 11 Beiträge im thematisch freien Teil für den wissenschaftlichen Nach­ wuchs. Der vorliegende Tagungsband enthält die Schriftfassungen von 14 Beiträgen aus dem Hauptteil der Tagung, wobei in die vorliegenden Kapitel die Korreferate und die stets lebhaften Diskussionen der Tagung eingegangen sind. Während Themen aus dem Bereich der Medienökonomik bereits früher Gegen­ stand des traditionsreichen Radeiner Forschungsseminars waren (etwa Wentzel 2009; Lindstädt-Dreusicke & Wentzel 2018), stellt die Behandlung von Sport und Entertain­ ment als zentrales Hauptthema ein Novum dar. Freilich wurden diese Branchen auch im Rahmen allgemeiner Generalthemen in früheren Tagungsbänden thematisiert (in­ ter alia, Budzinski & Pawlowski 2015; Haucap & Heimeshoff 2018). Insbesondere die wirtschaftswissenschaftliche Erforschung von Sport- und Unterhaltungsmärkten mag nicht immer als vorrangiges Problem der Ökonomik und der Wirtschaftsordnung ge­ sehen und verstanden werden. Doch zum einen bieten beide Bereiche in sich selbst und in ihrer unvermeidlichen Interaktion mit Medienmärkten ein spannendes Unter­ suchungsfeld voller ökonomischer Besonderheiten, welche spezifische Ausgestaltun­ gen ökonomischer Theorien bedürfen und interessante Möglichkeiten bieten, aus der hier reichhaltigen empirischen Evidenz zu lernen. Zum anderen weisen diese Bran­ chen insbesondere in ihren kommerziellen Ausprägungen auch eine hohe wirtschaft­ liche Relevanz auf.

https://doi.org/10.1515/9783110724523-001

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2 Die wirtschaftliche Relevanz von Sport-, Unterhaltungs- und Medienmärkten Der Sport hat weltweit längst den Status eines eigenständigen und dynamischen Wirt­ schaftssektors erhalten. Auch die ökonomische Theorie ist schon seit einiger Zeit auf­ merksam geworden auf diesen besonderen Bereich in Wirtschaft und Gesellschaft, in dem sich auf vortreffliche Weise die Wirkung von Regeln und Anreizen studieren lässt.¹ Würde etwa im Fußball die Abseitsregel abgeschafft oder im Tennis der zweite Aufschlag, so änderte sich unverzüglich die gesamte Strategie und der Charakter des Spiels. Und mit der gleichen Sensibilität reagieren üblicherweise Wirtschaftssubjek­ te auf die Veränderung von Ordnungsbedingungen. Nicht umsonst haben die Grün­ dungsväter der Ordnungstheorie immer wieder Analogien zu den Wirtschaftssubjek­ ten als „Spielern“, zu den Rahmenbedingungen als „Spielregeln“ und zur Rolle des starken Staates als „Schiedsrichter“ gezogen. Der Sport erschafft durch die internationale Aufmerksamkeit und die kommer­ zielle Vermarktung „Superstars“ wie Lionel Messi, Cristiano Ronaldo, Tom Brady, Dirk Nowitzki oder Roger Federer, die einerseits durch fabelhafte Leistungen, andererseits durch ungeheure Gehälter und Ablösesummen auf sich aufmerksam machen. Neuere Entwicklung im Mediensektor, allen voran die Digitalisierung und das Internet, ha­ ben die weltweite Bekanntheit dieser Stars zusätzlich befördert. Ob die Ablösesumme eines Fußballers wie Neymar in Höhe von 222 Mio. Euro gerechtfertigt ist oder das Jahresgehalt eines Robert Lewandowski in Höhe von ca. 19 Mio. Euro, ist letztlich ei­ ne ökonomische Entscheidung. Der japanische Sportausrüster Uniqlo wird sicherlich genau überlegt haben, warum Roger Federer am Ende seiner beispiellosen Karriere einen Ausrüstervertrag über 150 Mio. Dollar erhielt. Die ökonomische Theorie der Su­ perstars, wie sie maßgeblich von Rosen (1981) und Adler (1985) entwickelt wurde, hat jedenfalls einen hohen Erklärungsgehalt – gerade auch für die Nachfrage nach dem Miterleben und Zuschauen von Sportereignissen (Budzinski & Feddersen 2016). Der Sportsektor ist jedoch nicht nur der glamouröse und medienwirksame Zir­ kus der Superstars. In Deutschland gab es 2020 ca. 18.000 registrierte Sportvereine, in denen ca. 24 Mio. Menschen Sport betrieben. Die zahlreichen Betreuer/-innen, Trai­ ner/-innen und Jugendkoordinator/-innen leisten als Ehrenamtliche einen wichtigen Beitrag zur Bildung von Sozialkapital im Sinne von Putnam (1995) und zur Förderung der Gesundheit. Nach Zahlen des Bundesinstituts für Sportwissenschaft (2016) hat der Sport ca. 2,3 % zum BIP beigetragen, ca. 4,2 % aller Konsumausgaben privater Haus­ halte entfielen auf den Sport und ca. 3 % betrug der Anteil an der gesamtwirtschaft­

1 Übersichten über den Kanon der Sportökonomik und den Stand sportökonomischer Forschung lie­ fern, inter alia, Deutscher et al. (2016), Breuer & Forrest (2018), Downward et al. (2019) und neueste Forschungsergebnisse die Beiträge im Journal of Sports Economics sowie im International Journal of Sport Finance. Als Pionierbeiträge der Sportökonomik gelten Rottenberg (1956) und Neale (1964).

Ökonomik von Sport, Entertainment und Medien – Thema für das Forschungsseminar?

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lichen Beschäftigung. Die Bundesbürger investierten ca. 56,2 Mrd. Euro für aktiven Sportkonsum und ca. 8,8 Mrd. Euro für passiven Sportkonsum, also primär für Ein­ trittsgelder oder Fernsehabonnements. Vor dem Hintergrund dieser Zahlen lohnte es sich wirklich, im Forschungsseminar Radein erstmalig auf den Sport zu schauen und der Sportökonomik den Platz einzuräumen, den sie sich zunehmend verdient. Auch die Unterhaltungsindustrie ist erstmalig und zurecht in Radein genauer ana­ lysiert worden. Kim Kardashian als bekannteste Persönlichkeit des Reality TVs hat mit fast 140 Mio. sog. follower auf Instagram eine sehr hohe Bekanntheit weltweit: Ihre Schwester Kylie Jenner, ebenfalls im Bereich des Reality TVs aufgestellt, war mit nur 21 Jahren die erste und jüngste amerikanische Frau, die es mit eigener wirtschaftlicher Tätigkeit zu einem Einkommen von einer Milliarde US-Dollar gebracht hat – wobei der Begriff „Leistung“ natürlich subjektiv ist. Einen Fußballstar wie Lionel Messi kann man an seinen Toren messen, einen Tennisstar wie Roger Federer an seinen Titeln in Wimbledon, aber was genau ist der Inhalt, ist die Leistung im Unterhaltungsbereich? Ohne Zweifel ist die Möglichkeit, unterhaltsame Inhalte zu konsumieren, durch die Entwicklung des Internet in Verbindung mit dem Smartphone und dem Tablet ex­ ponentiell gestiegen. Auf Netzwerken wie Youtube und Tik Tok werden täglich Millio­ nen neue Filme und Inhalte geladen, die sozialen Netzwerke wie Facebook, Instagram oder Twitter sind mittlerweile Kommunikationsplattformen, die auch seriöse Unter­ nehmen und sogar Universitäten nutzen müssen, wenn sie nicht im Wettbewerb um neue Studenten gegenüber den Mitbewerbern zurückfallen wollen. „Ordnungsfragen digitaler Medien“, wie sie auch schon früher in Radein diskutiert wurden (etwa Hau­ cap & Heimeshoff 2018), sind jedenfalls reichlich vorhanden. Nun mag mancher Ökonom argumentieren, die Unterhaltungsökonomik sei pri­ mär relevant und spannend für die jüngeren und „spaßorientierten“ Zielgruppen, während die seriösen wirtschaftlichen und politischen Entscheidungsträger mit an­ deren Fragen befasst wären. Eine solche Sichtweise ist jedoch höchst gefährlich, wie der Fall des YouTubers Rezo zeigt, der im Mai 2019 unmittelbar vor der Europa-Wahl ein durchaus umstrittenes Video ins Internet stellte, mit dem er den Ausgang der Wahl maßgeblich beeinflusst haben soll (Dambeck 2019). Obwohl viele Expert/-innen das Video analysierten und zahlreiche Fehler und inhaltliche Falschaussagen feststell­ ten, kam das Video bei vielen Zuschauern sehr gut an, weil die Geschichte bzw. das „Narrativ“ (Shiller 2019), welches dort transportiert wurde, dem Zeitgeist entsprach. Ohne Zweifel sind die Grenzen zwischen Sport und Unterhaltung fließend. Der amerikanische Superbowl, das Endspiel um die amerikanische Football-Meister­ schaft, ist ein solches Beispiel. Die berühmte Halbzeit-Show ist inzwischen fast genau­ so wichtig wie das eigentliche Spiel: 2020 verfolgten ca. 100 Mio. Menschen in den USA das Spiel. Und schließlich will auch das Publikum in erster Linie unterhalten werden, auch wenn darüber, was am unterhaltsamsten ist, zwischen Hardcore-Fans (welche das Pure und die Reinheit des Spiels hochhalten) und Casual-Fans (welche wesentlich am Spektakel des Ereignisses interessiert sind) durchaus Meinungsver­ schiedenheiten bestehen. Neben dem traditionellen Sport entwickelt sich zudem

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der digitale E-Sport als Mittelding zwischen Unterhaltung und Sport – mit hohen Zuwachsraten und Preisgeldern. Das Endspiel im League of Legends (LoL), einem in der Fan-Gemeinde besonders beliebten Spiel, verfolgten weltweit über 200 Mio. Menschen. Allein diese wenigen Zahlen rechtfertigen schon, warum Ökonomen sich auch mit dem Unterhaltungssektor befassen sollten. Die Corona-Pandemie dürfte die Digitalisierung und damit auch den E-Sport weiter fördern. Medienökonomik ist im Dreiklang mit Unterhaltung und Sport die wohlmöglich schon am meisten akzeptierte Spezialdisziplin in der Ökonomik. Es gibt Fachzeit­ schriften, Fachtagungen, Lehrstühle und sehr viel interdisziplinäre Forschung zwi­ schen Ökonomen und Medienwissenschaftlern. Doch auch in diesem Sektor hat es gravierende Veränderungen gegeben, die alte Modelle und Überzeugungen relativie­ ren und völlig neue Fragen aufwerfen. Als im Februar 2008 erstmals ein Radein-Semi­ nar ausschließlich zum Thema Medienökonomik stattfand (Wentzel 2009), hatte fast genau ein Jahr vorher, am 09. Januar 2007, Steve Jobs eine merkwürdige Erfindung vor­ gestellt: Ein Mobiltelefon, mit dem man auch noch Musik hören, Fotos machen und sogar Nachrichten schicken konnte – er nannte es iPhone. Nur wenige Jahre später hat das Smartphone alle gesellschaftlichen Schichten weltweit erreicht und ist zum wichtigsten Medium der Kommunikation geworden. Die Wirkungsmacht der neuen digitalen Medien, die „Hebelwirkung“ im wirt­ schaftlichen, kulturellen, gesellschaftlichen und auch im politischen Bereich ist beeindruckend. Der abgewählte US-Präsident Trump war der erste und der einzige politisch Verantwortliche weltweit, der seine interne und externe Kommunikation fast vollständig auf den Nachrichtendienst Twitter umstellte, bis das Unternehmen seinen Account wegen dauerhafter und nachweislicher Falschaussagen sowie we­ gen Anstiftung zur Gewalt sperrte. Die fast 60.000 Tweets, die er im Laufe seiner Präsidentschaft absetzte, dürften für zahlreiche Ökonomen, Medien- und Kommuni­ kationsforscher ein sehr anschauliches Forschungsprojekt über die Ordnungsbedürf­ tigkeit des Mediensektors sein. Und dass Unterhaltung und (kommerzieller) Sport natürlich wesentlich mit den Medien interagieren, liegt auf der Hand: für Medien sind Spitzensport und Unterhaltungsevents Premiuminhalte, Sport- und Unterhal­ tungsanbieter benötigen Medien, um ihr Gut über die Live-Zuschauer hinaus an das Publikum zu bringen.

3 Das Forschungsseminar Radein Das Forschungsseminar Radein ist eine absolute Rarität im internationalen Katalog von Tagungen. Die meisten Konferenzen und Doktorandenseminare, die über mehre­ re Tage an einem entfernten Ort stattfinden, werden dann beendet oder laufen aus, wenn der oder die Gründer aus dem aktiven Dienst ausscheiden. K. Paul Hensel, der Gründer des Radein-Seminars, verstarb bereits 1975, doch noch immer versammeln

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sich alljährlich seine Schüler – heute allesamt Emeriti – sowie deren Schüler und vie­ le junge Doktorand/-innen in einem kleinen Dorf oberhalb von Bozen in Südtirol. Im Februar 1967 veranstaltete K. Paul Hensel, Direktor der Forschungsstelle zum Vergleich wirtschaftlicher Lenkungssysteme an der Universität Marburg, und der Wirt­ schaftshistoriker Ingomar Bog mit ihren Doktoranden ein Seminar in Tirol, um eine Woche lang neue Themen der Ordnungs- und Institutionenökonomik zu erörtern. Die Teilnehmer dieses Seminars waren begeistert über die Möglichkeit des wissenschaftli­ chen Austauschs in einer sehr angenehmen Atmosphäre mitten in den Bergen, so dass der Wunsch nach einer Neuauflage geäußert wurde. Ein Zufall führte K. Paul Hensel im nächsten Jahr nach Radein in Südtirol, das damals noch nicht einmal durch eine reguläre Straße mit der Umwelt verbunden war. Nach dem zweiten Seminar war schon klar: Hier war eine neue und zugleich völlig neuartige Tradition entstanden. Seitdem hat das Radein-Seminar bis einschließlich 2020 jedes Jahr stattgefunden. Anfänglich lag ein thematischer Schwerpunkt des Seminars auf dem Systemver­ gleich von Zentralverwaltungswirtschaften mit marktwirtschaftlichen Ordnungen. K. Paul Hensel war damals zugleich Vorsitzender des Forschungsbeirates zu Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands. Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch der sozialistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme erwei­ terte sich das Forschungsspektrum zu einer modernen, empirisch fundierten und breit angelegten Ordnungs- und Institutionenökonomik. In den letzten Jahren wur­ den zahlreiche Themengebiete diskutiert und in Tagungsbänden publiziert, etwa die Europäische Integration (Heine & Kerber 2007; Schomaker 2017), Wettbewerbsöko­ nomik (Haucap & Thieme 2018), Finanzmärkte und Geldpolitik (Michler & Smeets 2011; Belke et al. 2013), Recht und Ökonomie (Haucap & Budzinski 2020), Wachstum und Entwicklung (Leschke & Otter 2020), Medienökonomik (Wentzel 2009), Theo­ rie und Praxis internationaler Organisationen (Wentzel 2013), Verhaltensökonomik (Müller & Otter 2015) und viele mehr. Fest im Seminar verankert ist immer ein Dok­ torandenseminar, bei dem junge Wissenschaftler/-innen ihre Arbeiten präsentieren. Auch hierdurch kommen immer wieder neue Ideen, Methoden und Perspektiven in „das Seminar“. Es geht nicht um das Rezitieren alter Meister, es geht um die Neuund Weiterentwicklung der Ordnungsökonomik mit modernen Methoden und neuen Fragestellungen. Das Radein-Seminar ist der älteste ordnungspolitische „Think Tank“ in Europa – mit sehr viel jugendlichem Elan für die Zukunft. Teilnehmer/-innen des Seminars sind zum einen die in der Seminartradition Hen­ sels stehenden Professor/-innen und ihre Mitarbeiter/-innen, zum anderen ein je nach Thema wechselnder Kreis von internationalen Expert/-innen, darunter nicht nur Wis­ senschaftler/-innen aus Universitäten und Forschungsinstituten, sondern auch sach­ kundige Praktiker aus Politik, Wirtschaft, Verbänden und Zentralbanken. Internatio­ nalität, Interdisziplinarität und Innovation sind die drei tragenden Säulen des Semi­ nars. Die Seminare der Vergangenheit haben zu einer sehr großen Anzahl von Publika­ tionen geführt. Die von Hensel 1954 begründete „Schriftenreihe zu Ordnungsfragen

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der Wirtschaft“ ist nach wie vor Publikationsort der meisten Radein-Seminare. Seit Band 102 werden die Bände im Verlag de Gruyter publiziert: Sie können in Buchform aber auch in elektronischer Form bezogen werden. Der Trägerverein, Forschungsseminar Radein e. V., ist gemeinnützig und unab­ hängig. Das Seminar finanziert sich durch Spenden und die Beiträge seiner Mitglie­ der. Das im vorliegenden Band zusammengefasste Seminar vom Februar 2020 wur­ de unterstützt durch die Marburger Gesellschaft für Ordnungsfragen der Wirtschaft sowie durch die Doris-und-Michael-Hagemann-Stiftung (https://www.hagemannordnungspolitik.de/die-stiftung) zur Förderung von Freiheit, Ordnung und Wirt­ schaft. Auch Michael „Mike“ Hagemann war ein Schüler von K. Paul Hensel. Sei­ ne Stiftung fördert nicht nur das Radein-Seminar, sondern hat 2020 auch erstmalig den mit 8.000 Euro dotierten K.-Paul-Hensel-Preis für herausragende Dissertationen und Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der Ordnungsökonomik ausgeschrieben, mit dem junge Wissenschaftler/-innen motiviert werden sollen, im Arbeitsgebiet der Ordnungsökonomik zu forschen.

4 Die Beiträge in diesem Band Der vorliegende Band widmet sich zuerst der Sportökonomik. Teil I betrachtet in vier Kapiteln aktuelle Ordnungsfragen, die sich auf Sportmärkten stellen. Dabei zeigt gleich der Beitrag von Andreas Polk (Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin) sowohl die ökonomische Relevanz sportökonomischer Fragestellungen als auch die Verknüpfung von Sport und Medien: Die Vergabe der millionenschweren Medienrech­ ten am kommerziellen Fußball – hier der Fußball-Bundesliga – repräsentiert einen typischen Untersuchungsgegenstand der Sportökonomik. Seit vielen Jahrzehnten wird hier abweichend von der sonst üblichen Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung ein Kartell der Rechteanbieter, die sogenannte Zentralvermarktung, von den Wettbe­ werbsbehörden akzeptiert. Der Beitrag von Andreas Polk unterzieht diese Institution einer kritischen Analyse aus ökonomischer Sicht und deckt Bedarf für ordnungspoliti­ sche Reformen auf. Im nachfolgenden Kapitel betrachten Tim Schmidt (Karlsruher SC) und Dirk Wentzel (Hochschule Pforzheim) ökonomische Fragen der Talentförderung im Fußball. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass besser in „Beine“ (besonders in die noch ganz jungen talentierten Nachwuchsspieler, aber auch in die Qualifikation von Trainern und pädagogischer Betreuung) als in „Steine“ investiert werden sollte. Vom (europäisch geprägten) Fußball geht es im nächsten Kapitel zum (amerikanisch geprägten) Football. Jan Schnellenbach (Brandenburgische Technische Universität Cottbus) geht der Frage nach, warum die National Football League (NFL) trotz er­ heblicher Unterschiede in den wirtschaftlichen Voraussetzungen ihrer Teilnehmer eine vergleichsweise große sportliche Ausgeglichenheit erreichen kann. Finanzielle Disparitäten werden in der Sportökonomik üblicherweise als wesentliche Ursache

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für competitive imbalance bis hin zur Dominanz weniger Mannschaften gesehen. Jan Schnellenbachs Analyse identifiziert vor allem eine Deckelung der Team-Budgets so­ wie eine egalitäre Umsatzverteilung als Ursache für die hohe competitive balance des Modells NFL. Sein Beitrag liefert somit wichtige Erkenntnisse für die intensiv geführte sportökonomische Diskussion um die Wirkung spezieller Ordnungsregeln und Insti­ tutionen auf den sportlichen und wirtschaftlichen Wettbewerbsprozess (Übersicht: Budzinski 2018). Teil I des vorliegenden Bandes schließt mit einem Beitrag, in dem Arne Feddersen (University of Southern Denmark, Campus Esbjerg) die provokative Frage stellt, ob Konsumenten von Sportereignissen überhaupt sauberen, d. h. hier doping-freien, Sport wollen. In der Sportökonomik wird das Thema Doping intensiv behandelt und dabei typischerweise angenommen, dass „natürlich“ die Zuschauer in großer Mehrheit doping- und manipulationsfreien Sport bevorzugen (Überblick: Breuer & Forrest 2018). In seiner empirischen Analyse der dänischen Zuschauernach­ frage der Tour de France geht Arne Feddersen der Frage nach, ob Dopingskandale die Nachfrage seitens der Zuschauer negativ beeinflussen – und kommt zu dem Ergebnis, dass sich hierfür weder kurz- noch mittelfristige Evidenz finden lässt. Teil II des vorliegenden Bandes adressiert in vier Kapiteln die ökonomische Ana­ lyse von Unterhaltungsmärkten. Dieser Teil startet mit einem Kapitel von Oliver Bud­ zinski (Technische Universität Ilmenau), Nadine Lindstädt-Dreusicke (Hochschule Pforzheim) und Sophia Gaenssle (Technische Universität Ilmenau), welches die öko­ nomischen Besonderheiten von Unterhaltungsmärkten mit einem besonderen Fokus auf Digitalisierungseffekte diskutiert. Die Autoren identifizieren neben einer insge­ samt prowettbewerblichen Wirkung auch eine Reihe von Problemfeldern, in denen die bisherige Wettbewerbsordnung zu kurz greift. Die Frage der Nachhaltigkeit des Wettbewerbs in den und um die Streaming-Märkte wird dabei ebenso analysiert wie mögliche Wettbewerbsprobleme, die sich aus Gatekeeper-Positionen beispielsweise von App-Stores für vor- und nachgelagerte Märkte ergeben. Daran schließt sich ein Kapitel über die Entwicklung der Kulturindustrien in Korea an, in dem Diana Schüler und Werner Pascha (beide Universität Duisburg-Essen) basierend auf einer Theorie der kulturellen Evolution, unterfüttert mit empirischer Evidenz, unter anderem der spannende (globale) Aufstieg der koreanischen Gaming-Industrie analysiert wird. Auch hier spielen die Chancen, Möglichkeiten und Risiken, welche die internetge­ stützte Digitalisierung für die Unterhaltungs- und Kulturindustrien weltweit mit sich bringt, eine zentrale Rolle. Dies gilt natürlich auch für den traditionellen Dominator audiovisueller Unterhaltungsinhalte – Hollywood. Sophia Gaenssle (Technische Uni­ versität Ilmenau) zeichnet in ihrem Beitrag die Herausforderungen nach, welche das digitale Zeitalter für die Filmindustrie und generell für audiovisuelle Medienmärkte mit sich bringt. Eine neue Wettbewerbsdynamik begleitet dabei das Aufeinander­ treffen der „alten“ Giganten (Disney, Time Warner und Co), die zunehmend auch in die modernen Distributionsmärkte drängen, mit den „neuen“ Giganten des Strea­ ming-Zeitalters (Netflix und Co), die zunehmend auch versuchen, die Marktstufe der Produktion eigener Inhalte zu erklimmen. Auch im Glücksspiel finden viele Men­

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schen Unterhaltung und auch hier stellen die Möglichkeiten des digitalen Zeitalters bestehende Regulierungen vor neue Herausforderungen. Justus Haucap (HeinrichHeine-Universität Düsseldorf) erörtert in seinem Beitrag zur Glücksspielregulierung aus ordnungsökonomischer Perspektive sowohl das ökonomische Rational hinter der Regulierung des Glücksspiels als auch die Entwicklung und aktuellen Probleme der Ordnung des Glücksspielmarktes in Deutschland. Der dritte Teil des vorliegenden Bandes bringt in sechs Kapiteln Themen aus dem vielfältigen Spannungsfeld von Medien, Digitalisierung und Information zusammen. Teil III startet mit einem Klassiker der wettbewerbsökonomischen Analyse von (un­ ter anderem) Medienmärkten, nämlich dem Problem der Marktabgrenzung. Björn Kuchinke (Bauhaus-Universität Weimar) fokussiert basierend auf den grundlegenden Aspekten dieser Problematik und der Entwicklung der Marktabgrenzungsregeln in der deutschen Wettbewerbsordnung auf die Herausforderungen, die durch die Digitalisie­ rung hier entstehen. Die Dynamik der Online-Märkte – bspw. symbolisiert durch den jüngsten Aufstieg von Tik Tok – und die Medienkonvergenz lassen den Autor an der Geeignetheit des traditionellen Bedarfsmarktkonzeptes zweifeln und die Frage nach einer asymmetrischen Marktabgrenzung und darauf aufbauender Regulierung für große und kleine (Digital-)Unternehmen aufwerfen. Die hohe Relevanz dieser Fragen zeigt sich auch darin, dass die hiermit zusammenhängenden Fragen von erweiterten Konzepten der Marktmacht und Elementen einer Ex-Ante-Regulierung großer Plattfor­ men auch die Diskussionen um die deutschen und europäischen Wettbewerbsregeln prägt (Budzinski et al. 2020; Marsden & Podszun 2020; Haucap & Schweitzer 2021). Im anschließenden Kapitel zum Thema der freien Lizenzen und öffentlich-rechtli­ chen Medien adressiert Leonhard Dobusch (Universität Innsbruck) einen weiteren medientypischen Schwerpunkt wettbewerbspolitischer Analyse. Angesichts einer wachsenden Bedeutung nicht-linearer Verbreitungswege und des Wandels des Me­ dienkonsums gerade jüngerer Zielgruppen geht der Autor der wichtigen Frage nach, wie die aus gesellschaftlichen Mitteln finanzierten Inhalte wettbewerbsfähiger in den digitalisierten Märkten platziert werden können und identifiziert dabei vor allem institutionelle Hemmnisse. Einer weiteren brennenden wettbewerbspolitischen Fra­ ge widmen Valentin Bixer und Ulrich Heimeshoff (beide Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf) ihr Kapitel zur Nutzung von künstlicher Intelligenz für Preissetzungsal­ gorithmen und die daraus folgenden wettbewerbspolitischen Implikationen. Dabei setzen sich die Autoren kritisch mit experimentellen Studien auseinander, die zei­ gen, dass durch das Einsetzen von Preisalgorithmen unter bestimmten Bedingungen kollusive Gleichgewichte herbeigeführt werden können. Künstliche Intelligenz steht auch im Zentrum des Beitrages von Michael Vogelsang (Hochschule Ruhr West in Mülheim a. d. R.). Wie bei den Preissetzungsalgorithmen geht es auch hier um die Nutzung von (digitalen) Daten, wobei hier Datenskalenef­ fekte in Bezug auf KI-Bibliotheken im Fokus stehen. Diese setzen selbst für markt­ führende Unternehmen Anreize, zunächst auf Open-Source-Eigenschaften zu setzen, diese aber später bei abgesicherter Marktstellung wieder aufzuheben. Während also

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die strategische Nutzung von Open Source zur eigenen Gewinnmaximierung bei Inter­ netgiganten wie Google und Facebook bereits zum Alltagsgeschäft gehören, scheinen sich die marktführenden Wissenschaftsverlage gegen Open-Access-Geschäftsmodel­ le eher zu wehren. Xijie Zhang, Thomas Grebel und Oliver Budzinski (alle Technische Universität Ilmenau) finden in ihrer Analyse der Preisgestaltung bei wissenschaftli­ chen Open-Access-Publikationen Indizien dafür, dass marktmächtige Verlage dazu tendieren, der Bewahrung ihrer Marktmacht Priorität über neuen Geschäftsmöglich­ keiten einzuräumen, wobei das Ausmaß der Marktmachtbestandteile der Preise zwi­ schen den wissenschaftlichen Disziplinen divergiert. Die Wichtigkeit der Ausgestal­ tung von Open-Access Publikationsmöglichkeiten wächst dabei unter anderem auch mit der steigenden Relevanz von Online-Lehre. Noch bevor die Pandemiebedingungen den Trend zum E-Learning massiv beschleunigt haben, analysierten Horst Rottmann (Ostbayrische Technische Hochschule Amberg-Weiden) und Christoph Voit (ifo Institut München) ein Blended-Learning-Experiment in der makroökonomischen Lehre und legen in ihrem Beitrag eine Evaluation der Ergebnisse dar. Die durch den vorliegenden Band dokumentierte Werkschau des 53. Forschungs­ seminars Radein bringt also eine beeindruckende Menge und Vielfalt an wirtschafts­ wissenschaftlichen Erkenntnissen hervor, welche für die weitere ordnungsökonomi­ sche Forschung eine wesentliche Bedeutung entfalten werden. Unser Dank gilt na­ türlich allen Autorinnen und Autoren der Beiträge in diesem Band, aber auch den Korreferenten im Seminar und allen Diskussionsteilnehmern, welche maßgeblich da­ zu beigetragen haben, den vorliegenden Beiträgen ihren qualitativen Feinschliff zu verpassen. Darüber hinaus danken wir der Familie Perwanger und ihrem Team für die wie immer hervorragende Beherbergung und Bewirtung auf dem Zirmerhof.

Literatur Adler, M. (1985). Stardom and Talent. American Economic Review, 75(1):208–212. Belke, A., Michler, A. F., Seitz, F. und Wentzel, D. (2013). Conference Report on the 46. Radein Re­ search Seminar “A New Global Financial Architecture in the Aftermath of the Crisis: A European View”. Credit and Capital Markets, 46(2):173–180. Breuer, M. und Forrest, D. (2018). The Palgrave Handbook on the Economics of Manipulation in Pro­ fessional Sports. Basingstoke: Palgrave. Budzinski, O. (2018). Financial Regulation as an Anticompetitive Institution. In: Breuer, M. und Forrest, D. (Hrsg.), The Palgrave Handbook on the Economics of Manipulation in Professional Sports, S. 159–179. Basingstoke: Palgrave. Budzinski, O. und Feddersen, A. (2016). Mikroökonomische Aspekte des Spitzensports: Nachfrage I – Einflussfaktoren auf die Zuschauernachfrage. In: Deutscher, C., Hovermann, G., Pawlowski, T. und Thieme, L. (Hrsg.), Handbuch Sportökonomik, S. 41–65. Schorndorf: Hofmann-Verlag. Budzinski, O., Gaenssle, S. und Stöhr, A. (2020). Der Entwurf zur 10. GWB Novelle: Interventionis­ mus oder Laissezfaire? List Forum für Wirtschafts- und Finanzpolitik, 46(2):157–184.

10 | Oliver Budzinski, Justus Haucap, Annika Stöhr und Dirk Wentzel

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| Teil I: Sportmärkte

Andreas Polk

Zur Vergabe der Medienrechte in der Fußball-Bundesliga 1

Einleitung | 13

2

Die Bedeutung der Medienerlöse in der Bundesliga | 15

3

Die Ausgestaltung der Zentralvermarktung | 18 3.1 Wettbewerbspolitische Einordnung | 18 3.2 Marktdesign | 19 3.2.1 Die Vergaberunden 2017/18–2020/21 und 2021/22–2024/25 | 19 3.2.2 Ergebnisse der Vergaberunden | 23 3.3 Ausnahme von der Zentralvermarktung: Re-Live | 25

4

Ökonomische Einordnung | 26 4.1 Marktstufen | 26 4.2 Wohlfahrtskriterien für die Beurteilung von Sportmärkten | 27 4.3 Die relevanten Märkte | 29 4.3.1 Ansatz des Bundeskartellamts | 30 4.3.2 Aspekte zur Marktabgrenzung | 31

5

Kritische Würdigung des gegenwärtigen Regimes der Zentralvermarktung | 33 5.1 Unklarer Zielkonflikt: Welcher Wettbewerb? | 33 5.2 Mangelnde ordnungspolitische Fundierung | 36 5.3 Vertikale Aspekte des DFL-Kartells | 37 5.4 Einzelvermarktung als Alternative? | 38

6

Fazit | 40

1 Einleitung Wenn zum Wochenende der Ball rollt, ist den meisten Zuschauern vermutlich nicht be­ wusst, dass sie einem der seltenen Fälle offiziell tolerierter Kartellbildung beiwohnen. Die Vereine der Fußball-Bundesliga sind wirtschaftliche Akteure, die nach den wettbe­ werbspolitischen Regeln keine Absprachen untereinander tätigen dürfen. Bei der Ver­ marktung der Medienrechte in der ersten und zweiten Bundesliga gibt es jedoch eine Ausnahme: Die Vereine übertragen die mediale Vermarktung der Spiele auf die Deut­ sche Fußball Liga e. V. (DFL), die die nationalen Übertragungsrechte von Live-Spie­ len, Live-Konferenzen und der nachgelagerten Berichterstattung bündelt und zentral gegenüber den Medienverwertern anbietet. Die DFL ist damit ein eigenständig agie­

Anmerkung: Ich danke den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Radein-Seminars für hilfreiche An­ merkungen und die gewohnt lebhafte und anregende Diskussion. Niklas Gogoll und einem weiteren Kollegen gilt mein besonderer Dank für die kritische Durchsicht des Manuskripts. https://doi.org/10.1515/9783110724523-002

14 | Andreas Polk

render Zusammenschluss der 36 Clubs der ersten und zweiten Bundesliga.¹ Sie koor­ diniert die Modalitäten zur Ausstrahlung der Spiele, legt die Verbreitungskanäle fest und gestaltet den Markt in Form einer Auktion, der den Preis für die verschiedenen Rechtepakete findet. Neben dieser marktgestaltenden Funktion im ordoliberalen Sin­ ne greift die DFL aktiv in die Preisgestaltung während der Rechteauktion ein. Sie ist damit Schiedsrichter und Spieler in einer Person. Dieser Beitrag setzt sich kritisch mit dem System der Zentralvermarktung in der ersten Fußball Bundesliga auseinander.² Er argumentiert, dass das gegenwärtige Mo­ dell der Zentralvermarktung unter ordnungspolitischen Gesichtspunkten Defizite auf­ weist. Eine klare Formulierung der durch die Vermarktung zu erreichenden Ziele ist wünschenswert, ebenso wie die Trennung der Rollen im Marktgeschehen. Letzteres im Sinne eines marktschaffenden Akteurs einerseits und einer davon unabhängigen In­ stanz, die diskretionär in das Marktgeschehen eingreifen kann, sofern dies überhaupt notwendig erscheint. Zudem sollten Alternativen zur Zentralvermarktung diskutiert werden. Beispielsweise könnte eine Einzelvermarktung durch die Vereine in der Lage sein, die Märkte wettbewerblicher auszugestalten und Effizienzvorteile zu realisieren.

1 Die DFL vertritt die Interessen der beiden Lizenzligen als ordentliches stimmberechtigtes Mitglied im Deutschen Fußball-Bund e. V. (DFB). Die DFL vertritt ausschließlich die Interessen des Profifuß­ balls, während der DFB der größte Sportverband Deutschlands mit über 7,1 Millionen Mitgliedern ist und als Dachverband der Landes- und Regionalverbände des Fußballs in Deutschland allgemein für die Belange des deutschen Fußballs eintritt (bspw. Schiedsrichterwesen, Trainerausbildung, Ausrich­ tung DFB Pokal der Frauen und Männer). Die Gesamterlöse der DFL und ihrer Mitglieder betrugen in der Saison 2018/19 4,8 Mrd. Euro, wovon allein 4,02 Milliarden Euro auf die 18 Bundesliga-Clubs ent­ fielen (DFL 2020a). Über die Zusammensetzung der DFL Gremien entscheidet im Drei-Jahres-Turnus die Generalversammlung, die sich aus jeweils einem stimmberechtigten Vertreter der Profivereine zu­ sammensetzt (DFL 2019). Sie entscheidet über den Aufsichtsrat der DFL GmbH, die zur Leitung des operativen Geschäfts von der DFL e. V. beauftragt ist. Aufgaben sind die u. a. die Organisation und Vermarktung der Spiele und die Terminierung der Saison- und Relegationsspiele. Die DFL hat fünf Tochtergesellschaften, die für die internationale Organisation, die digitale Vermarktung, die Daten­ auswertung, die Produktion des TV-Basissignals und die Reiseplanung aller Involvierten zuständig sind. 2 Im selben Verfahren und analog zur Vergabe der Erstligaspiele werden auch die Medienrechte für die Spiele der zweiten Bundesliga durch die DFL vermarktet. Dieser Beitrag konzentriert sich auf die Vereine der 1. Fußball Bundesliga. Nicht Gegenstand dieses Beitrags sind die Vergabe der Medienrech­ te an den Pokalspielen der Männer und Frauen durch den DFB sowie die Vermarktung der internatio­ nalen Vereinsspiele der Männer durch die DFL (u. a. Champions League, Europa League), die Spiele der Frauen-Bundesligen und ihrer internationalen Pendants, sowie die Spiele der dritten Bundesliga und der niederklassigen Ligen durch den DFB.

Zur Vergabe der Medienrechte in der Fußball-Bundesliga | 15

2 Die Bedeutung der Medienerlöse in der Bundesliga Die 1. Bundesliga erzielt den mit Abstand höchsten Umsatz der deutschen Fußballli­ gen (3,17 Mrd. Euro). Er entspricht ungefähr dem Sechsfachen der 2. Bundesliga (0,54 Mrd. Euro). Die Umsätze der 3. Bundesliga, deren Medienrechte durch den DFB ver­ marktet werden, betragen nur ca. 6 % des Umsatzes der höchsten Liga (0,19 Mrd. Euro; DFB 2019). Im internationalen Vergleich der höchsten Spielklassen erzielt die 1. Bun­ desliga gemeinsam mit der Primera División in Spanien die zweithöchsten Umsätze hinter der englischen Premier League (siehe Tabelle 1). Interessant ist der Anteil der Personalkosten im Verhältnis zu den Umsätzen: Während diese in der Bundesliga et­ was mehr als 50 % am Gesamtumsatz ausmachen, liegt der Anteil in der französischen League 1 bei rund Dreiviertel aller Umsätze, in der spanischen und italienischen Liga bei ca. Zweidrittel. Auch hier weist die englische Premier League mit 3,2 Mrd. Euro (60 %) den höchsten Betrag aus. Tab. 1: Umsätze 2017/18 der wichtigsten Bundesligen im europäischen Vergleich. Datenquelle: De­ loitte (2019). Höchste Liga

Umsatz [in Mrd. Euro]

Anteil Personalkosten [in Mrd. Euro]

Premier League (England) 1. Bundesliga (Deutschland) Primera División (Spanien) Serie A (Italien) Ligue 1 (Frankreich)

5,4 3,2 3,1 2,2 1,7

59 % [3,2] 53 % [1,7] 66 % [2,0] 66 % [1,5] 75 % [1,3]

In der Vergangenheit wurden die nationalen Medienrechte zur Übertragung der Bun­ desligaspiele für jeweils vier Jahre im Rahmen eines Auktionsverfahrens vergeben. Der letzte Vermarktungszeitraum umfasste die Saisons 2017/18 bis 2020/21 („vergan­ gene Runde“), die im Juni 2020 abgeschlossene Vermarktungsrunde bezieht sich auf die Saisons 2021/22 bis 2024/25 („aktuelle Runde“). Die Auktion findet üblicherweise im Frühjahr/Sommer in der Rückrunde der vorletzten Saison statt.³ Die DFL veröffent­ licht auf ihrer Homepage keine Informationen zum laufenden Vergabeverfahren. Als verlässliche Quelle stehen Fallberichte bzw. Fallentscheidungen durch das Bundes­ kartellamt zur Verfügung, die aber nur mit zeitlicher Verzögerung und in der Regel nach Beendigung der Auktion veröffentlicht werden. Für die vier Jahre der laufenden Vergaberunde wurden insgesamt 4,64 Mrd. Eu­ ro erzielt, die in mehreren Tranchen in den jeweiligen Spielzeiten ausgezahlt werden

3 Die aktuelle Vergaberunde, die eigentlich im Frühjahr 2020 geplant war, wurde aufgrund der Co­ vid-19-Pandemie auf Juni 2020 verschoben.

16 | Andreas Polk

Tab. 2: Entwicklung der Mediengelder national für die erste und zweite Bundesliga. Datenquelle: DFL (2016), Kicker (2020). Saison

2017/18

2018/19

2019/20

2020/21

Summe

Betrag [in Mrd. Euro]

0,986

1,117

1,241

1,306

4,65

Bezüglich der Summe ergeben sich leichte Unterschiede zur von der DFL genannten Zahl in Höhe von 4,64 Mrd. Euro. 3.500 3.168 3.000 2.711 2.500

2.392 2.276

478

2.793

475 872

467 2.000

436

Sonst. Erlöse (16 %) 772

1.500

510

640

854 Sponsoring (28 %)

673

Medienrechte (39 %) Spieltag (17 %) 1248

1.000

933

960

717

731

483

521

528

504

538

2013/14

2014/15

2015/16

2016/17

2017/18

500

0

Abb. 1: Umsatzerlöse der Bundesliga über die Zeit. Datenquelle: Deloitte (2019). Erlöse ohne Trans­ fererlöse. Die Anteile der Erlösarten beziehen sich auf die Saison 2017/18.

und leichten jährlichen Steigerungen unterliegen. Das geschätzte Volumen der Me­ dienerlöse in der Saison 2020/21 liegt bei 1,3 bis 1,4 Mrd. Euro (siehe Tabelle 2). Im Durchschnitt machen die Medienerlöse ca. 40 % des gesamten Umsatzes der Bundes­ ligavereine aus, ihre relative Bedeutung schwankt zwischen den Vereinen. Für den Hamburger SV betrugen sie in der Saison 2016/17 beispielsweise ca. 27 % des Gesamt­ umsatzes, beim FSV Mainz ca. 53 % (Deloitte 2018).⁴ Zur Einordnung dieser Zahlen stellt Abbildung 1 die Entwicklung der Umsatzerlöse in der Ersten Bundesliga dar. In der letzten berichteten Saison 2017/18 wurde durchschnittlich ca. ein Viertel des Um­

4 Die Vereine berechnen die Umsätze auf unterschiedliche Arten, was bei der Vergleichbarkeit der Zahlen zu berücksichtigen ist. Die Daten umfassen alle Medienerlöse, also auch inkl. der vom DFB vermarkteten Pokalspiele und internationaler Wettbewerbe.

Zur Vergabe der Medienrechte in der Fußball-Bundesliga | 17

0

20

40

60

Bayern München

80

Borussia Dortmund

Bor. Mönchengladbach

3 70

20

48

Hertha BSC

2 73

21

49

Eintracht Frankfurt

3 75

21

51

TSG 1899 Hoffenheim

2 76

21

54

3 68

18

47

FC Schalke 04

44

16

4

VfL Wolfsburg

44

16

3 64

SC Freiburg FSV Mainz 05 34

1.FC Union Berlin

30

Fortuna Düsseldorf SC Paderborn

17

8

7

2 49

11

36

1.FC Köln

10

57

2 53

12

38

FC Augsburg

4

14

40

64

3 59

15

42

Werder Bremen

82 80

77

4

21

52

RB Leipzig

4

21

55

Bayer 04 Leverkusen

4

21

57

2 47

1 38

1 25

12 2 1 14 Bestand

Wettbewerb

Nachhaltigkeit

Abb. 2: Verteilung der Medienerlöse auf die Vereine der 1. Bundesliga. Datenquelle: Bulibox.de. Stand: Ende Saison 2019/20. Tab. 3: Verteilung der Medienerlöse auf die vier Säulen am Beispiel des durchschnittlichen Erlöses in der Rechteperiode 2017/18–2020/21.

Anteil Betrag [in Mrd. Euro]

Leistungskomponenten Bestand Wettbewerb

Sonstige Nachhaltigkeit Nachwuchs

Summe

70 % 0,812

5% 0,058

100 % 1,16

23 % 0,267

2% 0,023

Insgesamt 1,14 Mrd. Euro der 1,16 Mrd. Euro werden auf Basis des sportlichen Erfolgs verteilt.

satzes mit Sponsoring und Merchandising erzielt, ca. ein Sechstel des Umsatzes entfiel jeweils auf die Erlöse am Spieltag und auf sonstige Erlöse. Fast die gesamten Erlöse (98 %) werden nach Kennziffern des sportlichen Erfolgs auf die Vereine der ersten und zweiten Bundesliga verteilt. Die DFL spricht zwar von einem „Vier-Säulen-Modell“, allerdings bestehen die ersten drei Säulen aus erfolgsori­ entierten Komponenten, die sich lediglich in Hinblick auf die Zeiträume der Berech­ nung und die Gewichtungen der Ligen unterscheiden.⁵ Die vierte Säule berücksichtigt

5 Die vier Säulen werden als Bestand (70 %), Wettbewerb (23 %), Nachhaltigkeit (5 %) und Nachwuchs (2 %) bezeichnet. In den Säulen Bestand und Wettbewerb werden die Kennzahlen nach einem Punk­

18 | Andreas Polk

die Nachwuchsarbeit, ist mit 2 % der gesamten Erlöse aber vernachlässigbar gering. Abbildung 2 und Tabelle 3 zeigen sowohl die erwarteten Erlöse aus der Zentralver­ marktung in den einzelnen Säulen, als auch die Berechnungen der Transfers an die Vereine für die Saison 2019/20. Die Daten weisen auch auf den umverteilenden Cha­ rakter des gegenwärtigen Transfersystems hin, sofern man unterstellt, dass bspw. der FC Bayern München deutlich höhere Medienerlöse bei einer Einzelvermarktung erzie­ len könnte.⁶

3 Die Ausgestaltung der Zentralvermarktung 3.1 Wettbewerbspolitische Einordnung Als Kartell der Vereine koordiniert die DFL die ökonomischen Interessen der Markt­ teilnehmer. Sie setzt den Wettbewerb zwischen den Vereinen um Medienanbieter und Zuschauer außer Kraft. Damit entfaltet sie horizontale und vertikale wettbewerbliche Wirkung (Budzinski & Szymanski 2015; Monopolkommission 2016). Kartelle sind nach § 1 GWB (und Art. 101 AEUV) verboten, können jedoch nach § 32 b GWB toleriert wer­ den. Die rechtliche Logik ist wie folgt: Da Kartelle nach § 1 GWB verboten sind, kann das Bundeskartellamt nach § 30 GWB von den Unternehmen verlangen, eine Zuwider­ handlung gegen das Kartellverbot abzustellen, das Kartell also aufzulösen. Die Regel des § 32 b GWB ermöglicht es den Unternehmen ein intendiertes Kartell an das Bun­ deskartellamt zu berichten und darzulegen, warum es nach Ansicht der Beteiligten unschädlich ist und positive Wirkungen für die Verbraucher entfaltet. Das Bundes­ kartellamt kann im Zuge eines solchen Verfahrens Bedenken äußern, denen die Un­ ternehmen durch Zusagen begegnen können. Ist das Bundeskartellamt der Ansicht, dass die Zusagen geeignet sind die Bedenken des Amtes auszuräumen, kann es in ei­ nem Beschluss die Zusagen für verpflichtend erklären. Damit sind die Unternehmen förmlich gebunden sich an die zugesagten Verpflichtungen zu halten. Im Gegenzug verpflichtet sich die Wettbewerbsbehörde, nicht gegen die Kartellbildung vorzugehen. Diese Verpflichtung gilt nur, sofern sich die Unternehmen an die Zusagen halten. In Bezug auf die Medienvergabe durch die DFL beziehen sich die Verpflichtungszusagen

tesystem basierend auf den Ergebnissen der letzten fünf Jahre separat für jede Liga (Bestand) oder Liga-übergreifend berechnet (Wettbewerb). Die Säule Nachhaltigkeit errechnet sich aus den Erfolgen in den letzten 20 Jahren über beide Ligen hinweg. Die Säule Nachwuchs berücksichtigt den Spieleein­ satz von verbandsausgebildeten U23-Spielern (in Minuten). 6 Dieses Argument unterstellt, dass Vereine wie der FC Bayern oder BVB Dortmund für sich genom­ men über hohe Anziehungskraft verfügen. Möglicherweise ergibt sich die Attraktivität aber erst im Zusammenspiel mit anderen Vereinen. Sofern davon auszugehen ist, dass der FC Bayern München in der Lage wäre, mehr als doppelt so hohe Medienerlöse wie bspw. der 1. FC Union Berlin zu erzielen, wird der umverteilende Charakter deutlich.

Zur Vergabe der Medienrechte in der Fußball-Bundesliga | 19

auf die jeweilige Ausschreibungsrunde, faktisch entfalten sie damit nur für den Zeit­ raum der Ausschreibungsrunde ihre Wirkung. Eine Verpflichtungszusage hat durch­ aus den Charakter eines ausgehandelten Kompromisses zwischen den wettbewerbli­ chen Bedenken des Amts und den Anliegen der Unternehmen.⁷

3.2 Marktdesign In Hinblick auf die Ausgestaltung der Rechtevergabe sind zwei wettbewerbsrechtli­ che Vorgaben durch die Europäische Kommission relevant (Europäische Kommission 2007a, b). Zum einen verhindert das Alleinerwerbsverbot, dass ein einzelner Medien­ verwerter sämtliche Rechte erwirbt. Ziel ist es eine Monopolstellung gegenüber den Zuschauern zu vermeiden. Ob das Alleinerwerbsverbot aber tatsächlich Wettbewerb induziert, hängt u. a. kritisch von der zugrunde gelegten Marktdefinition ab (vgl. Ab­ schnitt 4.3). Zweitens sieht die Ausgestaltung der Rechtevergabe vor, dass die Erwer­ ber der Rechtepakete Sublizenzen vergeben oder das Rechtepaket vollständig an Drit­ te übertragen können.⁸

3.2.1 Die Vergaberunden 2017/18–2020/21 und 2021/22–2024/25 Die DFL unterteilt die Rechte an den Spielen in Pakete, die von den Rechteverwer­ tern in einer Auktion erworben werden können. Mit Ausnahme des sogenannten ReLive, für das das Verwertungsrecht bei den Vereinen liegt (vgl. Abschnitt 3.3), wer­ den alle Medienrechte zentral durch die DFL angeboten. Die Rechtepakete umfassen Live-Videos an den einzelnen Spielen, Live-Konferenzen, Audiorechte oder Nachbe­ richterstattungen zu verschiedenen Zeitpunkten („Erst-, Zweit- und Drittverwertun­ gen“). Die Pakete sind zudem zum Teil über den Übertragungsweg definiert, bspw. TV7 Ene Verhandlungslösung besteht nicht in dem Sinne, dass beide Seiten Zugeständnisse machen (müssen), um eine Verhandlungslösung zu erzielen. Das Bundeskartellamt ist als selbstständige Bun­ desoberbehörde unabhängig, es setzt das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen durch und geht gegen Kartellbildung vor. Es fehlt damit ein Zwang seitens des Amtes eine Verhandlungslösung zu fin­ den. Faktisch versuchen die Unternehmen jedoch, das Amt von der Angemessenheit ihrer Interessen und der kartellrechtskonformen Auswirkung des Vorhabens zu überzeugen, was den Unternehmen im Rahmen der asymmetrischen Informationsverteilung Verhaltensspielraum zur Beeinflussung des Amtes gibt (engl., „Regulatory Capture“; Dal Bó 2006). Ebenfalls schränken begrenzten Ressourcen auf Seiten des Amtes die Verhandlungsspielräume gegenüber den Unternehmen ein. 8 Im Rahmen einer Kooperation zwischen Sky und der ARD war beispielsweise das Spiel zwischen Borussia Dortmund und FC Schalke 04 in der Rückrunde der Saison 2018/19 auch im öffentlich-recht­ lichen Fernsehen frei empfangbar (Stuttgarter Nachrichten 2019). Das Rechtepaket A, das Eurosport erwarb, wurde zur Saison 2019/20 an den Anbieter DAZN exklusiv sublizensiert (Bundeskartellamt 2020). Nach einer außerordentlichen Kündigung durch Eurosport hat die DFL die restlichen Spiele des Pakets A für die Saison 2019/20 an DAZN und Amazon lizensiert (Ashelm 2020; FAZ 2020).

20 | Andreas Polk

Übertragung via Kabel oder Satellit („TV“), oder die Übertragung als Internetstream („Web“) (Bundeskartellamt 2016; 2020). Insgesamt werden weit über ein Dutzend Pa­ kete definiert. Die folgende Darstellung beschränkt sich auf die wichtigsten Rechte zur Übertragung der Live-Spiele der ersten Bundesliga über TV oder Web. In den beiden Auktionen definierte die DFL fünf bzw. vier Rechtepakete, die sich auf Verwertung von Live-Bildern der insgesamt 306 Spiele der ersten Bundesliga bezie­ hen. In Klammern sind die Anzahl der Spiele angegeben, die in jedem Paket enthalten sind. Die überwiegende Mehrheit dieser Spiele hat Exklusivcharakter.⁹ Die beiden Vergaberunden unterscheiden sich leicht in Hinblick auf die Defini­ tion der Pakete und in Hinblick auf die Umsetzung des Alleinerwerbsverbots. In der aktuellen Vergaberunde wurden die früheren Pakete A und E zu einem Paket für die Freitags- und Sonntagsspiele zusammengefasst, das auch die Entlastungsspiele um­ fasst, die vollständig am Sonntag ausgetragen werden (Paket D). Zudem spielt die Rei­ henfolge der Paketbenennung in der neuen Runde keine Rolle: Während in der alten Runde die Pakete in einer sequentiellen Auktion in alphabetischer Reihenfolge auf­ gerufen wurden, wählt die DFL in der neuen Runde die Reihenfolge der aufgerufenen Pakete selbst aus. Ein weiterer Unterschied besteht in der Gewährung von Wahlrech­ ten der Medienverwerter in der aktuellen Runde: Der Erwerber von Paket C hat neu das Recht, ein Spiel des Spieltags für den Samstagabend auszuwählen. Anschließend hat der Erwerber von Paket D das Recht, von den verbleibenden Spielen ein Spiel für den Freitag oder Sonntag auszusuchen.¹⁰ Den Medienverwertern der Freitags- und Sonn­ tagsspiele wird damit zum ersten Mal das Recht eingeräumt in die Spielplanansetzung einzugreifen.¹¹ Zur Umsetzung des Alleinerwerbverbots definierte die alte Vergaberunde ein OTTPaket, das aber nicht zum Zuge kam. Für den Fall, dass ein Medienverwerter sämtliche Pakete erworben hätte, wäre über das OTT-Paket ein co-exklusives Recht verauktio­ niert worden, das es dem Erwerber erlaubt hätte die Spiele der Pakete C und E ex­ klusiv über die Web-Schiene zu vertreiben. Der ursprüngliche Erwerber dieser Pakete wäre dann auf die TV-Schiene beschränkt gewesen. In der neuen Auktion wird das

9 Zusätzlich wurde in Hinblick auf die Live-Übertragung ein weiteres Paket geschaffen, das aus­ schließlich im frei emfangbaren Fernsehen gezeigt werden darf. Es umfasst die Eröffnungsspiele zu Hin- und Rückrunde am Freitagabend, sowie ein Spiel aus dem letzten Spieltag der Hinrunde. Zu die­ sem Paket gehören ebenfalls die Relegationsspiele der ersten und zweiten Bundesliga. Weitere Pake­ te umfassen Rechte zur „Highlight“-Berichterstattung in verschiedenen Verwertungsrunden oder die Live-Berichterstattung aus der zweiten Bundesliga. 10 Für die Auswahlprozesse gilt, dass ein Klub höchstens achtmal pro Saison vom jeweiligen Rechte­ verwerter ausgesucht werden darf. 11 Die Medienverwerter von Paket C haben als zuerst das Recht, ein Spiel für den Samstagabend an­ zusetzen („first-pick“). Für die verbleibenden Spiele erhalten die Medienverwerter von Paket D das Recht, ein Spiel für den Freitagabend oder Sonntag anzusetzen („second-pick“). Das Zweitzugriffs­ recht wird in der aktuellen Vergaberunde zum ersten Mal erteilt, das Erstzugriffsrecht für das Spiel am Samstagabend bestand schon in der alten Vergaberunde.

Zur Vergabe der Medienrechte in der Fußball-Bundesliga | 21

Tab. 4: Zuschnitt der Rechtepakete in den Auktionen 2017/18 bis 2021/21 und 2021/22 bis 2024/25. Datenquelle: Bundeskartellamt (2016, 2020). 2017/18–2020/21 a

2021/22–2024/25 b

Paket A

Live Spiele (40+5): – Freitagsspiele – Entlastungsspiele Montag und früher Sonntag – Relegation und Supercup (5)

Live-Konferenz (166) – Samstagnachmittag – Englische Woche)

Paket B

Live-Konferenz (172) – Samstagnachmittag – Englische Wochen

Live-Spiele (168+2) – Samstagnachmittag – Englische Woche – Letzter Spieltag – Relegation (2)

Paket C

Live-Spiele (176) – Samstagnachmittag – Englische Wochen

Live-Spiele (32+1) – Samstagabend – Supercup (1)

Paket D

Live-Spiele (30): – Samstagabend

Live-Spiele (106) – Freitagsspiele – Sonntagsspiele

Paket E

Live-Spiele (60) – Sonntagsspiele

geht auf in Paket A

a

Der Berechnung der Anzahl der Spiele liegt zugrunde, dass der 33. und 34. Spieltag komplett am Samstagnachmittag parallel gespielt wird, zwei Spieltage als Englische Wochen ausgetragen werden und zehn Entlastungsspiele angesetzt werden. Das Paket A ergibt sich aus den Freitagspielen an 30 regulären Spieltagen (zzgl. vier Relegationsspiele zur 1. und 2. Bundesliga und dem Supercup). Die Spiele in Paket C ergeben sich aus 32 Spieltagen á 5 Spielen (160), zzgl. der zusätzlichen Spiele aus den Englischen Wochen (8) und der letzten beiden Spieltage (18), abzüglich der zehn Entlastungs­ spiele. Die Spiele aus Paket B entsprechen denen aus Paket C, mit dem Unterschied, dass in den Englischen Wochen jeweils am Dienstag und am Mittwoch zwei Spiele vorgezogen werden. Damit ver­ ringert sich die Anzahl der Spiele in der Live-Konferenz um vier. Die Spiele in Paket D ergeben sich aus 30 regulären Spieltagen, an denen am Samstagabend gespielt wird. Die Spiele in Paket E ergeben sich aus 30 regulären Spieltagen, an denen zu zwei Terminen am Sonntag gespielt wird. Hinweis: Da zu­ sätzlich ein Paket mit u. a. drei Live-Spielen am Freitagabend ausschließlich für Free-TV versteigert wird (Paket H), reduziert sich die Anzahl der tatsächlich exklusiven Live-Spiele im Paket A um drei. b Für den Zeitraum 2021/22–2024/25 liegt der Berechnung der Anzahl der Spiele zugrunde, dass der 34. Spieltag komplett am Samstagnachmittag parallel gespielt wird, ein Spieltag als Englische Woche ausgetragen wird und zehn Entlastungsspiele angesetzt sind. Die Spiele in Paket B ergeben sich aus 32 Spieltagen á 5 Spielen (160), zzgl. der Spiele aus der Englischen Woche und dem letzten Spieltag (18), abzüglich zehn Entlastungsspiele. Hinzu kommen die zwei Relegationsspiele zum Aufstieg in die erste Bundesliga. Die Spiele aus Paket A entsprechen denen aus Paket B, mit dem Unterschied, dass in der Englischen Woche jeweils am Dienstag und am Mittwoch zwei Spiele vorgezogen werden. Damit verringert sich die Anzahl der Spiele in der Live-Konferenz um zwei. Das Paket C ergibt sich aus den Abendspielen an 32 regulären Spieltagen (zzgl. Supercup). Die Spiele in Paket D ergeben sich aus jeweils einem Spiel am Freitagabend und zwei Spielen am Sonntag á 32 Spieltage (96), zzgl. der zehn Entlastungsspiele am frühen Sonntagnachmittag (10). Hinweis: Da zusätzlich ein Paket mit u. a. drei Live-Spielen am Freitagabend ausschließlich für Free-TV versteigert wird (Paket E), reduziert sich die Anzahl der exklusiven Live-Spiele in dem Paket D um drei.

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Alleinerwerbsverbot modifiziert: Für den Fall, dass ein einzelner Anbieter die ersten drei zur Auktion gestellten Pakete erwirbt, würde das vierte Paket entweder exklu­ siv, oder die beiden zuletzt veräußerten Pakete co-exklusiv an einen unabhängigen Bieter veräußert. Hierzu werden für die Auktion des vierten Pakets zwei alternative Szenarien angeboten, von denen eins den Zuschlag erhält: Das erste Szenario sieht vor, dass ein unabhängiger Anbieter exklusiv das vierte Paket erwirbt. In der Folge liegen die ersten drei Pakete exklusiv bei einem Anbieter und das vierte exklusiv bei einem anderen. Im zweiten Szenario erwirbt der erste Bieter auch das vierte Paket, so dass sämtliche Live-Pakete von diesem Anbieter angeboten werden können, aller­ dings nicht mehr vollumfänglich exklusiv. Denn zusätzlich erwirbt in diesem Fall ein zweiter unabhängiger Anbieter die Rechte für die Web-Verwertung für das dritte und vierte Paket. In der Folge erhält in diesem co-exklusiven Szenario der erste Erwerber die Rechte an allen vier Live-Paketen, und zwar exklusiv über alle Verwertungswege für die ersten beiden Pakete und technologieneutral (aber nicht exklusiv) für die bei­ den letzten Pakete (TN-Paket). Der zweite Erwerber erhält für die beiden letzten Pakete ein co-exklusives Recht für die Verwertungsschiene Web (OTT-Paket).¹² Das von der DFL festgelegte Auktionsverfahren wurde zweistufig gestaltet, es ent­ spricht im Wesentlichen einer Erstpreisauktion mit verdeckter Gebotsabgabe. Zudem behält sich die DFL diskretionäre Rechte vor, um in das laufende Auktionsverfahren einzugreifen. Im ersten Durchgang, der sog. Vorbehaltspreisauktion, können nacheinander auf alle Rechte einzeln und einmalig geboten werden.¹³ Gebündelte Angebotsabgabe für mehrere Pakete sind nicht zulässig. Zudem definiert die DFL einen Mindestpreis als Vorbehaltspreis für jedes Paket, der den Bietern nicht mitgeteilt wird. Den Zuschlag erhält der höchste Bieter, allerdings nur, wenn sein Gebot (a) über dem von der DFL im Geheimen festgelegten Vorbehaltspreis liegt, und (b) mindestens 20 % über dem Gebot des besten Verlierers liegt, oder kein zweites Angebot vorliegt. Sind beide Bedingungen erfüllt, wird der Zuschlag obligatorisch an den höchsten Bie­ ter erteilt. Ist dies nicht der Fall, wandert das Paket in die zweite Auktionsrunde. Der zweite Durchgang besteht aus einer Reservationspreisauktion. Die DFL legt erneut für die noch vorhandenen Pakete verdeckte Mindestpreise fest. Die Bieter müs­ sen nun auf alle Pakte zeitgleich Gebote abgeben. Der Zuschlag wird obligatorisch er­ teilt, wenn das Höchstgebot über dem Reservationspreis und mindestens 20 % über

12 Im Ergebnis hat die Auktion dazu geführt, dass ein Anbieter (Sky) die Rechte an drei Paketen und ein zweiter Anbieter (DAZN) die Rechte an dem vierten Paket exklusiv erhält. Denkbar wäre auch ein Ergebnis gewesen, in dem ein Anbieter (bspw. Sky) sämtliche Live-Pakete vermarktet und ein weiterer Anbieter (bspw. DAZN) zwei der vier Pakete zusätzlich co-exklusiv über die Schiene Web anbietet. 13 In der alten Vergaberunde wäre das OTT-Paket erst in der Reservationspreisrunde zum Zuge ge­ kommen.

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dem Gebot des höchsten Verlierers liegt. Ist dies nicht der Fall, hat die DFL ein Ermes­ sen das Recht anhand fest vorgegebener Kriterien (bspw. Reichweite, Bonität, Sen­ dekonzept) an einen der beiden Bieter zu veräußern. Für den Fall, dass auch nach der zweiten Runde nicht alle Rechte vergeben sind, behält sich die DFL weitgehende Handlungsmöglichkeiten offen: Sie kann die Auktion modifizieren, das Paket eigen­ ständig vermarkten oder über eine Verhandlungslösung bilateral veräußern. Zwischen der alten und aktuellen Vergaberunde hat die DFL den zeitlichen Ab­ lauf modifiziert: In der alten Vergaberunde wurde die Reservationspreisauktion erst durchgeführt, nachdem alle Vorbehaltspreisauktionen beendet wurden. Die Reserva­ tionspreisauktion sah dann eine simultane Auktion mit individuellen Gebote für alle verbleibenden Rechtepaketen vor, wobei die ersten Gebote aus der Vorbehaltspreis­ auktion Gültigkeit behalten. In der neuen Vergaberunde sieht das Auktionsdesign vor, dass die Pakete A bis D separat und nacheinander in einer Kombination aus Vorbe­ halts- und Reservationspreisauktion vergeben werden, d. h. die Reservationspreisauk­ tion schließt sich direkt an die Vorbehaltspreisauktion für das jeweilige Rechtepaket an. Zudem informiert die DFL die Bieter, ob der Grund für das Eintreten in die Reser­ vationspreisauktion das Nicht-Erreichen des Vorbehaltspreises oder der fehlende Ab­ stand von 20 % zum höchsten unterliegenden Bieter ist. Nach der Auktionierung der ersten drei Rechtepakete veröffentlicht die DFL zudem, ob das Alleinerwerbsverbot greift und damit das vierte Recht im exklusiven oder co-exklusiven Szenario ausge­ schrieben wird.

3.2.2 Ergebnisse der Vergaberunden Die Auktion für die Vergaberunde 2017/18–2020/21 sprach dem Anbieter Sky die Rechte an den Paketen B, C, D und E zu (DFL 2016). Das Paket A erwarb der Anbieter Euro­ sport, der dieses Paket seit der Saison 2019/20 an den Anbieter DAZN sublizensiert. Mit der Corona-Pandemie und der zeitweisen Einstellung des Spielbetriebs hat sich Euro­ sport aus der Medienverwertung zurückgezogen. Die DFL hat das Paket daraufhin di­ rekt an DAZN vergeben. Da DAZN ausschließlich webbasierten Service anbietet, sind die Spiele des Pakets A nicht rein TV-basiert empfangbar.¹⁴ Da das OTT-Paket nicht erworben wurde, darf Sky die Live-Spiele und Konferenzen über das TV-Signal und internetbasierte Streaming-Dienste vermarkten. In der Summe wurden 4,64 Mrd. Euro für die vier Spielzeiten und sämtliche zur Auktion stehenden nationalen Medienrechte erlöst, was einem durchschnittlichen Erlös von 1,16 Mrd. Euro pro Saison entspricht. Die tatsächlichen Zahlen schwanken leicht, da die DFL keine genauen Angaben über die Verteilung der Erlöse auf die einzelnen Rechtepakete und Jahre veröffentlicht (vgl. Tabelle 2). Auch hat die Corona-Pandemie laut Presseberichten zu leicht abweichen­ den Medienerlösen zu Ende der Saison 2019/20 geführt. 14 Kunden von Sky haben die Möglichkeit, das DAZN-Signal über den Receiver ausspielen zu lassen.

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Die Auktion für die Vergaberunde 2021/22 bis 2024/25 hat nur geringe Änderungen gebracht (DFL 2020c). Weiterhin erwirbt Sky die Rechte an den Paketen B, C und D. Das Paket A, das die Spiele am Freitag und Sonntag umfasst (frühere Pakete A und E), er­ warb DAZN direkt. Die Regeln zum Alleinerwerbsverbot haben keine Anwendung ge­ funden. In der Summe werden Medienerlöse von 4,4 Mrd. Euro erzielt, dies entspricht einem durchschnittlichen Saisonerlös von 1,1 Mrd. Euro. Abbildung 3 illustriert beispielhaft anhand der Saison 2018/19, welche Spiele über das DAZN-Abonnement geschaut werden können. Sie verdeutlicht beträchtliche Un­

Englische Woche

Englische Woche

Bayer 04 Leverkusen Borussia Dortmund Eintracht Frankfurt SV Werder Bremen Fortuna Düsseldorf Sport-Club Freiburg 1. FC Nürnberg VfL Wolfsburg 1. FSV Mainz 05 FC Schalke 04 FC Augsburg VfB Stuttgart RB Leipzig Borussia Mönchengladbach TSG 1899 Hoffenheim Hertha BSC Hannover 96 FC Bayern München

1. Spieltag Hinrunde (nicht-exklusiv)

Hinrunde 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17

Vorletzter und letzter Spieltag (Samstag Nachmittag)

1. Spieltag Rückrunde (nicht-exklusiv)

Rückrunde 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 ∑ Bayer 04 Leverkusen 7 Borussia Dortmund 6 Eintracht Frankfurt 6 SV Werder Bremen 5 Fortuna Düsseldorf 5 Sport-Club Freiburg 5 1. FC Nürnberg 5 VfL Wolfsburg 4 1. FSV Mainz 05 4 FC Schalke 04 4 FC Augsburg 4 VfB Stuttgart 4 RB Leipzig 3 Borussia Mönchengladbach 3 TSG 1899 Hoffenheim 3 Hertha BSC 3 Hannover 96 3 FC Bayern München 2

Abb. 3: Verteilung der exklusiven Spiele auf DAZN auf die jeweiligen Vereine in der Saison 2018/19. Datenquelle: Bulibox.de. Die Spiele zu Beginn der Hin- und Rückrunde sind auch im Free-TV emp­ fangbar. In der Saison 2019/20 ergab sich bis zum durch die Covid-19 Pandemie bedingten Spiel­ stopp ein ähnliches Bild.

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terschiede zwischen den einzelnen Vereinen.¹⁵ Eine Gleichverteilung sähe vor, dass je­ der Verein 4,2 mal über DAZN zu sehen ist. De facto sind Spiele einiger Vereine jedoch deutlich seltener zu sehen als im Mittel zu erwarten wäre (bspw. FC Bayern München), andere hingegen häufiger (bspw. Bayer 04 Leverkusen). Die Gründe hierfür können vielfältig sein. Neben einer strategisch motivierten Ausrichtung der Spielansetzung in Hinblick auf die Medienerlöse sind auch organisatorische Aspekte bei der Spielanset­ zung und der internationale Spielbetrieb in Champions League und Europa League zu berücksichtigen. Allerdings erscheint der internationale Spielplan nicht hinreichend, um die starke Heterogenität in der Spielansetzung zu erklären. Würde die Champions League die unterschiedliche Behandlung der einzelnen Vereine im Zeitfenster von DAZN rechtfertigen, wäre zu erwarten, dass sich die Spielansetzungen des FC Bay­ ern München und von Borussia Dortmund im Zeitfenster von DAZN weniger deutlich unterscheiden, als dies Abbildung 3 widerspiegelt. Auch lässt sich die häufige Anset­ zung von Spielen von Eintracht Frankfurt im Zeitfenster von DAZN nur teilweise durch die Teilnahme an der Europa League erklären.

3.3 Ausnahme von der Zentralvermarktung: Re-Live Die DFL weicht in Hinblick auf das sog. Re-Live von der Zentralvermarktung ab. Beim Re-Live wird das Live-Signal eines Bundesligaspiels zeitversetzt als Videostream ange­ boten, meistens einige Stunden nach dem Abpfiff.¹⁶ Diese Dienste arbeiten ausschließ­ lich webbasiert, das Recht zur Medienverwertung liegt bei den Vereinen. Vor Aus­ bruch der Covid-19-Pandemie boten ungefähr die Hälfte aller Bundesligavereine sol­ che Übertragungen zu divergierenden Preisen an. Tabelle 5 verdeutlicht erhebliche Preisunterschiede zwischen den Vereinen. Ca. die Hälfte der Vereine bot diese Über­ tragungsart überhaupt nicht an.

15 Die letzte Bundesligasaison 2019/20 eignet sich durch die durch die Covid-19-Pandemie bedingte temporäre Aussetzung und Neuterminierung des Spielbetriebs nur bedingt zu Veranschaulichung. Bis zum Ausbruch der Pandemie und dem angeordneten Spielstopp ist das Bild der Terminansetzung strukturell ähnlich gewesen. Die reguläre Spielansetzung, die vor Ausbruch der Covid-19-Pandemie bis zum 28. Spieltag der Saison 2019/20 geplant war, sah beispielsweise kein Spiel des SC Freiburg vor, das exklusiv auf DAZN gezeigt worden wäre. Die Saison wurde nach 25. Spieltag abgebrochen und erst zum 16. Mai 2020 mit einem kompakten Spielplan fortgesetzt. 16 Die Vereine veröffentlichen keine genauen Informationen zum Zeitablauf, bis ein Re-Live zur Ver­ fügung steht.

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Tab. 5: Angebot zum Re-Live in der Einzelvermarktung. Stand: Saison 2019/20; Januar 2020.

Verein

Preis [in Euro] Jahr

FC Schalke 04 *) FC Bayern München Borussia Mönchengladbach Borussia Dortmund Eintracht Frankfurt *) 1. FC Union Berlin 1. FC Köln **) SV Werder Bremen

19,04 36,00 49,95 23,88 24,99 39,50 18,00 47,88

6 Monate

1 Monat

20,00 25,95

4,00 4,95 1,99

14,99 19,75 29,94

Preis / Spiel 0,59 1,12 1,56 0,74 0,78 1,23 0,56 1,50

Kein Re-Live bieten: RB Leipzig, Fortuna Düsseldorf, Bayer 04 Leverkusen, Sport-Club Freiburg, TSG 1899 Hoffenheim, Hertha BSC, SC Paderborn 07, VfL Wolfsburg, FC Augsburg, 1. FSV Mainz 05.

4 Ökonomische Einordnung 4.1 Marktstufen Die Zentralvermarktung der Medienrechte bezieht sich auf die Marktstufe der Medien­ märkte, in der Fußballvereine (bzw. die DFL als ihre Vertreter) die Rechte an den Bildund Tonmaterialien an Medienverwerter wie Sky, DAZN oder Amazon veräußern. Die­ se bündeln die Rechte in der Regel mit anderen Inhalten wie Spielfilmen oder weiteren Sportveranstaltungen. Auf dem Zuschauermarkt trifft dieses Angebot auf die Endver­ braucher, die Fußballfans, die in der Regel das gesamte Programmbündel (oder Teile daraus) abonnieren. Diese schematische Darstellung der Wertschöpfungskette stellt jedoch nur einen Ausschnitt aus der gesamten Wertschöpfungskette Fußball-Bundes­ liga dar. Zwei weitere Aspekte erscheinen in Hinblick auf die wettbewerbliche Beur­ teilung der Zentralvermarktung durch die DFL besonders relevant. Die Vereine sind auf einem stark wettbewerblich geprägten internationalen Spie­ lermarkt tätig, in dem die Vereine der Bundesliga mit Vereinen aus den anderen eu­ ropäischen und außereuropäischen Ligen konkurrieren. Als zentraler „Input“ für den Erfolg einer Mannschaft in nationalen und internationalen Wettbewerben spielt das Transfergeschehen auf dem globalen Spielermarkt eine zentrale Rolle. Die Finanzie­ rung der Transfers auf diesen Inputmärkten geschieht einerseits durch das Transfer­ geschehen selbst, d. h. Verkäufe günstiger Einkäufe oder eigener Nachwuchsspieler finanzieren neue Transfers in die Vereine. Zum anderen dienen auch externe Einnah­ mequellen zur Finanzierung. Die Einnahmen aus der Rechteverwertung spielen dabei mit einem Anteil von 40 % an den gesamten Einnahmen der Clubs eine zentrale Rolle (vgl. Abschnitt 2). Ein Teil der Märkte, die die Fußballvereine bedienen, ist durch Mehrseitigkeit ge­ kennzeichnet. Während es sich bei den Spielermärkten im Wesentlichen um klassi­

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sche einseitige Inputmärkte handelt, ist eine Betrachtung der Medienseite als einsei­ tige Märkte nicht sachgerecht (Budzinski & Satzer 2011). Die Märkte für Medienrechte, abgleitet aus den Zuschauermärkten, stehen mit verschiedenen anderen Aktivitäten der Clubs in Beziehung, es bestehen positive indirekte Netzwerkeffekte. Auf Zuschau­ erseite sind dies neben der Bedienung der Nachfrage über Videobilder die Teilnahme am Spiel vor Ort, also der Stadionbesuch durch den Zuschauer. Dabei ist tendenzi­ ell von einer Substitutionsbeziehung auszugehen, auch wenn die empirische Evidenz zum Ausmaß der Substitutionswirkung nicht eindeutig ist (Allan & Graeme 2008; Bud­ zinski & Feddersen 2016; Kringstad et al. 2018; Wang et al. 2018,). In Hinblick auf Netz­ werkeffekte ist auch eine positive Wirkung der Stadionbesucher auf die TV-Zuschau­ er anzunehmen. Offen ist, wie wichtiger dieser Aspekt ist.¹⁷ Anders herum ist davon auszugehen, dass zumindest indirekt und langfristig die Fernsehzuschauer eine posi­ tive Wirkung auf die Ticketnachfrage ausüben. Auch wenn es sich hierbei weniger um Netzwerkeffekte, sondern um Effekte einer abgeleiteten Nachfrage handelt, wird die Interdependenz zwischen den Medienmärkten auf der einen Seite und den Märkten für die Besuche der Spiele im Stadion auf der anderen Seite deutlich. Mehrseitigkeit besteht ebenfalls in Hinblick auf das Sponsoring- und Werbege­ schäft der Fußballvereine. Von Seiten der Zuschauer (Stadion, TV) wirken positive in­ direkte Netzwerkeffekte auf die Werbe- und Sponsoringpartner der Vereine, da mit steigenden Zuschauerzahlen die Reichweite der Maßnahmen steigt. Falls eine hohe Reichweite mit einer positiven Markenreputation einhergeht, wirkt auch diese positiv. Es ist davon auszugehen, dass negative indirekte Netzwerkeffekte von den Werbe- und Sponsoringpartnern auf die Zuschauer ausgeübt werden, da sie die Werbeaktivitäten vermutlich als störend empfinden. Insgesamt sind Fußballvereine und die durch sie bedienten Märkte als Plattformmärkte aufzufassen, deren Mehrseitigkeit Rechnung zu tragen ist.

4.2 Wohlfahrtskriterien für die Beurteilung von Sportmärkten Die Wettbewerber im Sport sind voneinander abhängig, es bedarf einer Kooperation zum Wettbewerb. Da kommerzialisierte Sportmärkte wesentlich von der Gunst der Zu­ schauer abhängen, spielen für die Attraktivität einer Liga ihr Grad der sportlichen Aus­ geglichenheit eine zentrale Rolle, sowie das Qualitätsniveau der Liga insgesamt. Hin­ zu kommt, dass ein Teil der Vereine neben dem nationalen Ligageschehen auch Erfolg in internationalen Vereinswettbewerben anstrebt, deren Wettbewerbe einer anderen Governance-Struktur durch die UEFA unterliegen. Neben den üblichen Kriterien wie

17 Einerseits haben die Spiele vor leeren Rängen während der Covid-19-Pandemie gezeigt, dass es sol­ che positive Wechselwirkungen tatsächlich gibt. Anbetracht der ohnehin hohen Auslastungsgrade der Stadien und der Möglichkeit, die Stadionatmosphäre auch bei geringer Zuschauerzahl medial wirken zu lassen, scheint dieser Aspekt unter normalen Bedingungen aber vernachlässigbar.

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allokativer Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit kommen damit drei weitere Aspekte in Betracht, die bei der Beurteilung des nationalen Marktdesigns auf Sportmärkten zu berücksichtigen sind. Die sportliche Ausgeglichenheit zwischen Wettbewerbern bestimmt maßgeblich, ob der sportliche Wettkampf für die Zuschauer spannend und attraktiv ist. Diese Sicht­ weise beruht auf der Annahme, dass der Sportzuschauer eine Präferenz für Spannung hat und nicht etwa allein daraus Nutzen erzielt, dass die eigene Mannschaft immer gewinnt. Angesichts der Opportunitätskosten der Zeit ist zu erwarten, das ausgegli­ chene Wettbewerbe für die Zuschauer attraktiver sind als solche, bei denen der Sieger von vornherein mit großer Wahrscheinlichkeit feststeht. Die empirische Forschung zur Bedeutung der sportlichen Ausgeglichenheit für die Attraktivität von Sportwett­ bewerben ist allerdings gemischt (Budzinski & Feddersen 2015; Monopolkommission 2016; Pawlowski et al. 2017; Pawlowski & Nalbantis 2019). Dennoch ist davon auszuge­ hen, dass c. p. eine ausgeglichene Liga, die offen für Überraschungen ist, aus Sicht der Zuschauer attraktiver ist im Vergleich zum selben Ligageschehen, in dem der Sieger von vornherein feststeht. Die Attraktivität einer Liga steigt mit ihrer insgesamt wahrgenommenen Quali­ tät. Zur Beurteilung der Medienvergabe ist zu berücksichtigen, welche Rückwirkun­ gen die Zentralvermarktung auf die wahrgenommene Qualität der Liga besitzt, bezo­ gen auf die gesamte Liga, einzelne Mannschaften oder einzelne Spiele. Die Beziehung dieses Kriteriums zu dem der wettbewerblichen Ausgeglichenheit ist ambivalent. Auf der einen Seite können Ausgeglichenheit und Qualitätsniveau komplementär sein in Ligen, in denen gute Mannschaften Anreize für andere Mannschaften geben, das ei­ gene Qualitätsniveau anzuheben.¹⁸ Wettbewerbliche Ausgeglichenheit geht dann mit einem hohen Qualitätsniveau der Liga insgesamt einher. Zum anderen ist aber auch denkbar, dass die wahrgenommene Qualität einer Liga auf Mannschaften beruht, die als erfolgreich wahrgenommen werden und auf einem höheren Leistungsniveau spie­ len als der Rest. Ist dies der Fall, besteht eine Substitutionsbeziehung zwischen dem Qualitätsniveau der Liga und ihrer wettbewerblichen Ausgeglichenheit. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit spielt eine große Rolle in der Bundesliga. Ungefähr ein Drittel aller Vereine qualifizieren sich für die europäischen Vereinswett­ bewerbe, ihre Bedeutung wird in der Zukunft eher steigen.¹⁹ Während aus Zuschauer­

18 Als Beispiel hierfür kann das Management des FC Bayern München dienen, das sehr erfolgreich langfristig erfolgsorientiert arbeitet und anderen Vereinen als Vorbild dient. Auch auf dem Spieler­ markt sind ähnliche Effekte zu beobachten: Die starke Position einzelner Vereine auf dem internatio­ nalen Spielermarkt gibt anderen Vereinen Anreize verstärkt nach Alternativen zu suchen, beispiels­ weise durch den Auf- und Ausbau der eigenen Nachwuchsarbeit. 19 Für die Champions League qualifizieren sich vier Teams, für die Europa League drei Teams (inkl. Europa League Qualifikation). Nach Medienberichten plant die UEFA zudem die Schaffung einer drit­ ten europäischen Liga ab der Saison 2021/22 (Zeit Online 2018).

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sicht die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Liga sicherlich wünschenswert ist, ist die Interessenlage auf Seiten der Vereine durchaus heterogen.²⁰ Damit steht das Ziel der internationalen Wettbewerbsfähigkeit im Konflikt mit dem Kriterium der sportli­ chen Ausgeglichenheit, insbesondere aus Sicht der Vereine mit geringen Chancen auf eine internationale Qualifikation. Dieser Aspekt wird durch die starke Interdependenz zwischen der globalen Vermarktungsfähigkeit eines Vereins und seiner internationa­ len Wettbewerbsfähigkeit verstärkt, so dass das Ziel der internationalen Wettbewerbs­ fähigkeit tendenziell im Konflikt zum Ziel der sportlichen Ausgeglichenheit steht. In Hinblick auf die üblichen Wohlfahrtskriterien sollte die Vermarktung der Medi­ enrechte eine möglichst effiziente Allokation der Produktionsfaktoren bei einem ho­ hen Qualitätsniveau ermöglichen. Dies impliziert eine wettbewerbliche Ausgestaltung der Märkte aus Sicht des Endverbrauchers, dem Zuschauer. Da für diesen gleichzeitig auch die o. g. weiteren Wohlfahrtskriterien eine Rolle spielen, steht das Effizienzkri­ terium in einem Spannungskonflikt zu den anderen Zielen. Das Kriterium der Vertei­ lungsgerechtigkeit verursacht Ökonomen traditionell Unbehagen, was jedoch nicht bedeutet, dass es in wirtschaftspolitischer Hinsicht irrelevant ist.²¹ In diesem Kon­ text wird Verteilungsgerechtigkeit als Teilaspekt der sportlichen Ausgeglichenheit ver­ standen, also als Mittel zum Zweck der sportlichen Ausgeglichenheit.²²

4.3 Die relevanten Märkte Eine wettbewerbliche Analyse setzt ein Verständnis über die betroffenen relevanten Märkte in sachlicher und räumlicher Hinsicht voraus. Die Festlegung der sachlichen Marktabgrenzung sollte zwar theoriegeleitet durchgeführt werden, letztendlich han­ delt es sich aber um eine empirische Fragestellung.²³ Das Bundeskartellamt hat sich in seinen Fallentscheidungen an eine Marktdefinition herangetastet, was aus fallöko­ nomischer Sicht nicht unüblich ist (Bundeskartellamt 2012; 2016; 2020). In Hinblick auf die wettbewerbliche Beurteilung der Zentralvermarktung ist die Marktabgrenzung kritisch zu würdigen.

20 Zwar besteht durchaus ein gemeinsames Interesse aller Vereine an einem guten Abschneiden der qualifizierten Clubs in den europäischen Wettbewerben, da dies – langfristig – die Anzahl der inter­ nationalen Startplätze erhöhen kann. Da für viele Vereine das internationale Geschäft aber keine rea­ listische Option ist, ist dieser Aspekt von untergeordneter Rolle. 21 Zur Diskussion der Fragen von Verteilungsgerechtigkeit vgl. Krämer (2020). 22 In Hinblick auf die Zuschauermärkte, also die Frage, welche Marktseite Renten erzielt, spielt die Verteilungsgerechtigkeit ebenfalls eine Rolle. 23 Die verschiedene Methoden zur Marktabgrenzung diskutiert beispielsweise Motta (2004, Kap 3.2). Vgl. zu diesem Aspekt auch Monopolkommission (2016).

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4.3.1 Ansatz des Bundeskartellamts Das Bundeskartellamt diskutiert zwei durch die Zentralvermarktung betroffene Märk­ te, die Medienmärkte und die Zuschauermärkte. Der für die Vereine wichtige Spieler­ markt findet in der Entscheidung keine Berücksichtigung (Bundeskartellamt 2020). In Hinblick auf die Medienmärkte definiert das Amt einen „nationalen Markt für Medienübertragungsrechte an ganzjährig ausgetragenen Herren-Fußballwettbewer­ ben mit Teilnahme von Bundesliga-Klubs“ (Rechtemarkt) und dem diesen Markt nach­ gelagerten „nationalen Markt für audiovisuelle Live-Übertragungen der Spiele“ (Zu­ schauermarkt). Diese Definition umfasst Spiele von Vereinen der ersten und zweiten Bundesliga und schließt die Medienrechte am DFB-Pokal und den europäischen Wett­ bewerben mit ein. Eine Unterscheidung zwischen Rechten für Pay-TV-Angebote oder Angebote im freien Fernsehen entfällt. Während das Amt in einer früheren Entschei­ dung noch offen ließ, ob der Markt weiter zu fassen ist und ausgewählte Sportrechte wie Formel-1-Rennen oder Boxkämpfe umfassen sollte (Bundeskartellamt 2012), wird die sachliche Marktdefinition seit 2016 auf Fußball-Sportereignisse begrenzt (Bundes­ kartellamt 2016; 2020). In Hinblick auf die Zuschauermärkte, also dort, wo die Medienunternehmen auf die Endverbraucher treffen, bezog sich das Bundeskartellamt früher ausschließlich auf Pay-TV-Märkte, oder ließ diese Frage zumindest offen (Bundeskartellamt 2016). Mit der aktuellen Entscheidung nimmt das Bundeskartellamt die Klarstellung der 9. GWBNovelle auf, dessen § 18 Abs. 2a GWB deutlich macht, dass ein Markt auch ohne ent­ geltliche Leistung vorliegen kann. Damit entfällt eine Unterscheidung zwischen PayTV und Free-TV-Angeboten auf dem Zuschauermarkt (Bundeskartellamt 2020). Eben­ so erkennt die Entscheidung die fortgeschrittene Konvergenz der Übertragungswege an. In Hinblick auf alternative Sportangebote verfolgt das Amt eine enge Marktabgren­ zung und bezieht sich allein auf nationale und internationale Fußballwettbewerbe mit Vereinen der DFL. Das Bundeskartellamt hat bisher offenbar keine empirische basierte Marktab­ grenzung vorgenommen.²⁴ Zugleich wird zumindest erwähnt, dass eine empirische Vorgehensweise angemessen wäre. In diesem selbst aufgestellten Spannungsfeld erwähnen die früheren Fallentscheidung Informationen aus einer Befragung der Medienanbieterseite zum Verhalten ihrer Zuschauer, um daraus Hinweise für das Zu­ schauerverhalten abzuleiten (Bundeskartellamt 2012; 2016). Dieser Ansatz ist kritisch

24 Dies ist auch nicht zwingend notwendig, bspw. aus fallökonomischen Gründen, wenn das Bun­ deskartellamt davon ausgeht, dass eine exakte Definition zur sachgerechten Fallentscheidung nicht erforderlich ist. Dies ist insbesondere auch dann der Fall, wenn – basierend auf der ausstehenden Ent­ scheidung – nicht zu erwarten ist, dass ein beteiligtes Unternehmen den Rechtsweg einschlägt, die gesamte Entscheidung also zur Disposition steht. Aus sachlicher Hinsicht ist eine solche Vorgehens­ weise zu rechtfertigen, wenn durch eine weitere empirische Fundierung der Marktabgrenzung keine weiteren kritischen Erkenntnisse in Hinblick auf die Falllogik zu erwarten sind.

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zu würdigen, denn zum einen gibt es keine Hinweise in der Entscheidung, dass es sich bei der zugrunde gelegten Studie um eine unabhängige Markterhebung handelt. Zum anderen ist das Vorgehen insgesamt kritisch zu hinterfragen, da das Bundeskar­ tellamt die Märkte möglichst objektiv ermitteln sollte. Die Verwendung von Branchen­ informationen ist dabei zulässig, in den vorliegenden Fällen werden jedoch alleine Informationen bemüht, die von einer Marktseite kommen und auf einer nicht näher spezifizierten Befragung beruhen. Es ist nicht davon auszugehen, dass beteiligte Un­ ternehmen in einem Verfahren Informationen über das Zuschauerverhalten neutral weitergeben. In der Entscheidung zur aktuellen Vergaberunde versucht das Bundes­ kartellamt zwar, die empirische Datenlage durch Verweis auf allgemein zugängliche Informationen zu verbessern. Im Wesentlichen folgt das Amt aber weiterhin dem An­ satz, die Marktdefinition durch die Marktbefragung der potentiellen Rechteerwerber zu stützen (Bundeskartellamt 2020).

4.3.2 Aspekte zur Marktabgrenzung 4.3.2.1 Mehrseitigkeit der Märkte Teile in der Wertschöpfungskette im Profifußball zeichnen sich durch Mehrseitigkeit aus, da Fußballvereine als Werbeplattformen aufgefasst werden können. Je nach Wir­ kung der direkten und indirekten Netzwerkeffekte, aber auch in Abhängigkeit des wettbewerblichen Umfelds dieser Plattformmärkte, ergeben sich für die Unternehmen verschiedene Anreize in Hinblick auf die Preissetzung. So spielen Aspekte des wettbe­ werblichen Umfelds wie Multi-Homing oder Skalierbarkeit eine Rolle um die Anreize, deren sich die einzelnen Vereine ausgesetzt sehen, zu verstehen.²⁵ Dies ist insbesonde­ re zur Analyse der Frage von Bedeutung, ob die potentiell negativen wettbewerblichen Effekte zu rechtfertigen sind, die die Kartellierung im Rahmen der Zentralvermarktung mit sich bringt. Hierzu bedarf es eines Kontrafaktums, das der Zentralvermarktung als Alternative gegenüberzustellen ist. Um das Argument zur Notwendigkeit einer Berücksichtigung der Mehrseitigkeit der Märkte zu veranschaulichen, wird beispielhaft auf das Alternativmodell einer Ein­ zelvermarktung durch die Vereine eingegangen. Würden die Vereine ihre Medienrech­ te individuell selber vermarkten, wäre der Anreiz zu Preiserhöhungen auf den Zu­ schauer- und Medienmärkten aufgrund positiver indirekter Netzwerkeffekte auf die Sponsoren- und Werbemärkte eingeschränkt. Die Mehrseitigkeit der Fußballmärkte

25 Im Fußball-Kontext könnte Multi-Homing bedeuten, dass Fußballfans die Spiele mehrerer Vereine als vergleichbar ansehen. Für Sponsoren und Werbetreibende könnte dies bedeuten, dass sie mehrere Vereine unterstützen oder diese zumindest als Alternative in Betracht ziehen. Die Skalierbarkeit bspw. der Märkte für das Spieltagsgeschehen könnte durch die Stadiongrößen begrenzt sein, was bei einigen Vereinen, deren Spieltage regelmäßig ausverkauft sind, auch faktisch eine Rolle zu spielen scheint. In Hinblick auf die mediale Verwertung scheint die Skalierbarkeit nicht beschränkt zu sein.

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wirkt damit tendenziell preissenkend. In Hinblick auf die wettbewerbliche Beurtei­ lung des Vermarktungsregimes sollten diese Effekte berücksichtigt werden. Ignoriert die Marktdefinition den Aspekt der Mehrseitigkeit, besteht die Gefahr einer verzerrten Darstellung der wettbewerblichen Verhältnisse zur Beurteilung der unterschiedlichen Vermarktungsregimes. Das Bundeskartellamt geht in seiner Fallentscheidung auf die Frage der Mehrseitigkeit der Fußballmärkte jedoch nicht weiter ein.²⁶ 4.3.2.2 Spielermarkt (Inputmärkte) Die Medien- und nachgelagerten Zuschauermärkte sind wesentlich für die Finanzie­ rung der Vereine, sie machen in der 1. Fußball-Bundesliga 50–60 % der gesamten Erlö­ se aus. Auf der Ausgabenseite steht dem ein Anteil von 50 % an den Gesamtausgaben für Personalkosten gegenüber, die zum größten Teil auf dem international ausgerich­ teten Spielermarkt anfallen. Ein Wegfall der Medienerlöse würde die finanziellen Ressourcen deutlich schmä­ lern, die auf den internationalen Spielermärkten zur Verfügung stehen. Die wettbe­ werbliche Beurteilung der Ausgestaltung der Medienmärkte kann daher nur im Kon­ text des internationalen Wettbewerbs um Spieler angemessen beurteilt werden. Die­ ser Aspekt, der in der Fallentscheidung des Bundeskartellamts nicht erwähnt wird, ist bei der abschließenden kritischen Würdigung der Zentralvermarktung zu berück­ sichtigen. 4.3.2.3 Nachfragermarkt (Zuschauer) Aus Sicht der Nachfrager ist von Bedeutung, welche Präferenzen die Zuschauer in Hinblick auf den Bundesligafußball haben (Monopolkommission 2016). Sofern Fuß­ ballfans ein Interesse am allgemeinen Ligageschehen haben, besteht zwischen den einzelnen Live-Spielen ein hohes Maß an Substituierbarkeit. Sollten Fußballfans jedoch hauptsächlich als Fan eines Vereins Interesse am Spiel haben, würde die­ se Substituierbarkeit stark eingeschränkt. Dieser Aspekt ist zentral für die Frage, inwiefern die Zentralvermarktung die wettbewerbliche Ausgestaltung der Märkte behindert. Falls die Zuschauer hauptsächlich Interesse am Ligageschehen haben, würde die Zentralvermarktung wesentliche Ausweichmöglichkeiten der Fußballfans verhindern, die bei einer Einzelvermarktung durch die Vereine bestünde. Bei einer Einzelvermarktung wären die Zuschauer in der Lage vom Wettbewerb der Vereine um die Gunst der Zuschauer an einem bestimmten Spieltag zu profitieren. Zudem gäbe es eine Substitutionsbeziehung zwischen der Übertragung einzelner Live-Spiele und

26 Das Amt erkennt lediglich in Hinblick auf die Marktmodelle frei empfangbarer privatwirtschaft­ licher Sender an, dass diese Sender auf zweiseitigen Märkten tätig sind. Der Beschluss nimmt nicht weiter Bezug darauf, ob dies auch für öffentlich-rechtliche Sender und für das Pay-TV gilt (Bundeskar­ tellamt 2020).

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der Live-Konferenz bzw. der nachgelagerten Berichterstattung. Die Zentralvermark­ tung ist in diesem Fall mit ökonomischen Kosten durch den Wegfall des Wettbewerbs verbunden. Zeigen die Fans hingegen hauptsächlich am Vereinsgeschehen Interesse, ist das Ausmaß des Substitutionswettbewerbs zwischen den einzelnen Live-Spielen gering, da die Produkte aus Sicht des Zuschauers stark voneinander differenziert sind. Die Zentralvermarktung würde den Wettbewerb nicht deutlich schwächen. Die Rechte an der Live-Konferenz und an den nachgelagerten Berichterstattungen wären in diesem Fall komplementär zu den Spielen der einzelnen Vereine. Ist diese Sicht zutreffend, ist von einer Marktstruktur auszugehen, in der die einzelnen Vereine in Hinblick auf die Live-Spiele mit Marktmacht gegenüber ihren Fans ausgestattet sind, während die Live-Konferenz und die Nachberichterstattung komplementär zu diesem Gut sind. Die Zentralvermarktung zwingt die Zuschauer in diesem Fall, Bündel an Spielen zu erwer­ ben, an denen sie möglicherweise nur geringes Interesse besitzen. Welche Sichtweise auf die Präferenzen der Zuschauer letztendlich zu rechtfertigen ist, lässt sich nur em­ pirisch ermitteln.

5 Kritische Würdigung des gegenwärtigen Regimes der Zentralvermarktung Die folgenden Abschnitte argumentieren, dass die gegenwärtige Ausgestaltung der Zentralvermarktung Mängel aufweist, die in einer fehlenden ordnungspolitischen Orientierung begründet ist. Insbesondere besteht ein Zielkonflikt zwischen dem vor­ nehmlich genannten Ziel der wettbewerblichen Ausgestaltung der Medienmärkte und dem versteckten Ziel der Wettbewerbsfähigkeit der Bundesligavereine auf den internationalen Spielermärkten. Die Existenz dieses Zielkonflikts kann begründen, warum das eigentliche Ziel, das Aufrechterhalten des Wettbewerbs, durch die Vor­ gaben des Alleinerwerbsverbots und den durch das Bundeskartellamt genehmigten Paketzuschnitt nicht erreicht wird. Der Abschnitt schließt mit einem Ausblick auf ein Alternativregime, das ein stärkeres Gewicht auf die Einzelvermarktung der Live-Spiele durch die Vereine setzt.

5.1 Unklarer Zielkonflikt: Welcher Wettbewerb? Das Bundeskartellamt verfolgt das Ziel, Märkte wettbewerblich und offen zu halten (Bundeskartellamt 2011). In der Fallentscheidung begründet das Amt die Akzeptanz der Zentralvermarktung mit Effizienzen auf den nachgelagerten Medien- und Zu­ schauermärkten. Die Vorteilhaftigkeit der durch die Zentralvermarktung bedingten wettbewerblichen Effekte erscheint jedoch insgesamt als fraglich. Sie scheinen vor

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dem eigentlichen Ziel, der Aufrechterhaltung der internationalen Wettbewerbsfähig­ keit der Bundesligavereine, in den Hintergrund zu treten. Die Zentralvermarktung führt zu Bündelungseffekten, die den Zuschauern die Op­ tion nimmt die Spiele eines einzelnen Vereins zu abonnieren. Die Wohlfahrtseffekte auf Zuschauerseite sind damit ambivalent: Sofern von Zuschauern als Fans eines be­ stimmten Vereins auszugehen ist, kann sie negative Wirkung durch den Zwang zum Kauf eines Bündels entfalten. Sofern zwischen den Live-Spielen eines einzelnen Ver­ eins und dem gesamten Ligageschehen Komplementaritäten bestehen, sind positive Wirkungen möglich, da die Bündelung den Konsumentenkreis potenziell erhöht. Die­ se Bündelungsvorteile lassen sich jedoch auch ohne den wettbewerblich harten Ein­ griff der Zentralvermarktung realisieren, wie noch argumentiert wird, so dass sie als Rechtfertigung für die Kartellierung der Bundesligavereine nicht zwingend erscheint. Die gegenwärtige Ausgestaltung des Alleinerwerbsverbots erlaubt es, dass die Rechte an den Live-Spielen und der Live-Konferenz am Samstagnachmittag von dem­ selben Medienanbieter erworben werden können, was durch Sky auch faktisch der Fall ist. Damit wird ein mögliches wettbewerbliches Element aus Sicht der Zuschauer genommen, das es erlauben würde zwischen der Übertragung einzelner Live-Spiele und der Live-Konferenz zu wählen. Dies wirkt sich insbesondere dann wettbewerb­ lich negativ aus, wenn sich Fußballfans hauptsächlich für das Ligageschehen inter­ essieren, also eine starke Substitutionsbeziehung zwischen den Live-Spielen und der Live-Konferenz besteht. Für den Fall, dass sich Fans hauptsächlich für die Geschi­ cke eines einzelnen Vereins interessieren, führt die Bündelung der Rechte bei einem Anbieter dazu, dass den Zuschauern Wahlmöglichkeiten zwischen den imperfekten Substituten Live-Spiel des eigenen Vereins und der Live-Konferenz aus Spielen aller Vereine vorenthalten werden. In Hinblick auf den Preis führt das Alleinerwerbsverbot dazu, dass ein Zuschau­ er, der möglichst viel Fußball konsumieren möchte, zwei Abonnements abschließen muss. Ob sich dadurch die Ausgaben insgesamt erhöhen, hängt von zwei gegenläu­ figen Effekten ab: Zum einen steigt die Anzahl der notwendigen Abonnements, was tendenziell zu steigenden Ausgaben für das Wirtschaftsgut Fußball führt. Zum ande­ ren ist denkbar, dass der induzierte Wettbewerb auf den Endverbrauchermärkten die Abonnementpreise so stark drückt, dass in der Summe die Abonnementsausgaben sinken. Fraglich ist also, ob die Summe der Preise „im Wettbewerb“ niedriger ist als der Preis im Monopol. Um diese Frage abschließend zu klären liegen keine Daten vor, da insbesondere der Preis für ein Sky-Abonnement aufgrund zahlreicher Sonderange­ botsaktionen stark schwankt.²⁷ Letztendlich müsste aus Sicht eines Fußballzuschau­ ers der Preis für ein Abonnement bei Sky um ca. 10 Euro pro Monat sinken, um die Mehrausgaben eines Abonnements bei DAZN zu kompensieren, was nicht der Fall zu sein scheint. Das Alleinerwerbsverbot führt dann zu steigenden Preisen. Das Bundes­ 27 Vgl. www.sky-angebote.de oder die Diskussion um Sonder- und Rückholangebote auf Foren wie forum.digitalfernsehen.de.

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kartellamt erwähnt in seiner Entscheidung zwar die Notwendigkeit zum Abschluss mehrerer Abonnements, geht auf diesen Aspekt aber nicht weiter ein (Bundeskartell­ amt 2020). Ein weiteres Merkmal für die Wettbewerblichkeit von Märkten ist neben dem Preis der Leistungserbringung die Qualität des Produkts. Das Bundeskartellamt fokussiert in seiner Entscheidung ausdrücklich auf diesen Aspekt des Leistungswettbewerbs und legt dar, wie das Alleinerwerbsverbot einen ansonsten fehlenden Innovations­ wettbewerb sicherstellt (Bundeskartellamt 2020). Nach dieser Ansicht hat der Wettbe­ werbsdruck, den insbesondere DAZN ausgeübt hat, zu einer deutlichen Verbesserung der Qualität des Online-Angebots von Sky geführt, beispielsweise in Hinblick auf die Anzahl der möglichen Nutzer, der Bildqualität und der Fähigkeit, während einer LiveÜbertragung zurückzuspulen. Das Amt argumentiert, dass das Alleinerwerbsverbot kausal für die Verbesserung der Qualität des Angebots aller Anbieter ist, was für die Zentralvermarktung spreche. Diese Argumentation ist jedoch nur im Rahmen der Zentralvermarktung selbst relevant, d. h. ohne das Alleinerwerbsverbot ist tatsächlich davon auszugehen, dass die Qualität des Online-Angebots von Sky nicht dem heutigen Standard entspräche, wenn es DAZN als innovativen Wettbewerber nicht gäbe.²⁸ Tat­ sächlich sollte die Zentralvermarktung dem Kontrafaktum einer Einzelvermarktung gegenüber gestellt werden, um die wettbewerblichen Auswirkungen darzustellen. Bei diesem geeigneten Vergleichsmaßstab ist es nicht ersichtlich, warum der vom Bundeskartellamt dargestellte Innovationswettbewerb nicht auch in der Einzelver­ marktung Wirkung entfalten könnte. Im Gegenteil wäre eher davon auszugehen, dass die Vielzahl an unabhängigen Rechteanbietern in der Einzelvermarktung den wettbe­ werblichen Druck in qualitativer Hinsicht erhöhen würden. Somit erscheint es nicht angemessen, die Idee des Qualitäts- oder Innovationswettbewerbs als Argument für die Zentralvermarktung aufzuführen. Als Alternative zur gegenwärtigen Ausgestaltung der Zentralvermarktung wäre es möglich, die Rechte an den Spielen nicht-exklusiv zu vergeben.²⁹ Dies könnte bei­ spielsweise durch eine parallele Vergabe der Rechte über alle Vertriebsschienen er­ folgen oder in co-exklusiven Szenarien auf den Schienen Web und TV. Dass hierdurch die Wettbewerbsintensität steigt, sofern es keine Koordinierung auf Anbieterseite gibt, ist naheliegend. Die Konsequenz wären geringere Medienerlöse auf Seiten der DFL, da der Wert des Medienrechts an der Übertragung der Live-Spiele sinkt. Der Grund, warum diese aus Sicht der Zuschauer offensichtlich vorteilhafte Lö­ sung nicht realisiert wird, liegt vermutlich in dem anvisierten Ziel, die Wettbewerbsfä­

28 Der Wettbewerbsdruck durch Eurosport war offenbar in dieser Hinsicht nicht ausreichend, obwohl auch dieser Anbieter nach der Logik des Arguments zum Qualitätswettbewerb hätte beitragen müssen. Auch Monopolkommission (2020) würdigt den Aspekt des Qualitätswettbewerbs kritisch. 29 Die Bedeutung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit für die Begründung der Zentralvermark­ tung diskutiert auch die Monopolkommission (2016; 2020), insbesondere auch in Hinblick auf eine nicht-exklusive Ausschreibung der Übertragungsrechte.

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higkeit der deutschen Vereine auf dem internationalen Spielermarkt zu erhöhen. Die künstliche Verknappung der Medienrechte durch die Zentralvermarktung ist damit ein Mittel, um die Vereine der Bundesliga international wettbewerbsfähig zu halten. Sie akzeptiert hierfür eine Behinderung des Wettbewerbs auf den nationalen Medienund Zuschauermärkten. Dies kann durchaus im Sinne der Zuschauer sein, sofern eine starke Präferenz für ein hohes Maß an Qualität der Liga und der internationalen Wett­ bewerbsfähigkeit vorhanden ist. Diese Aspekte sind letztendlich miteinander abzuwä­ gen. Die Argumente für die Zulässigkeit der Zentralvermarktung durch das Bundeskar­ tellamt erlauben eine solche Abwägung aber erst gar nicht. Das Amt beansprucht, die Zentralvermarktung alleine durch die wettbewerblichen Effekte auf den nachgelager­ ten Märkten herleiten zu können.

5.2 Mangelnde ordnungspolitische Fundierung Der gegenwärtigen Ausgestaltung der Rechtevergabe mangelt es an einem verläss­ lichen Ordnungsrahmen. Angesichts der Bedeutung dieses Rechtepakets wäre es wünschenswert einen solchen Ordnungsrahmen zu definieren. Der bisherige Ansatz des Trials-and-Errors durch das Zusammenspiel von DFL und Bundeskartellamt hat den Vorteil, dass die Funktionsweise der Märkte in kleinen Schritten „erlernt“ werden kann und eine Adaption an ein sich rasch wandelndes Umfeld im Zuge der Digitalisie­ rung möglich ist (bspw. Marktabgrenzung, Konvergenz der Übertragungswege). Aus ordnungspolitischer Sicht ist dieser Weg gegenwärtig aber nicht mehr überzeugend. Die Funktionsweise der Medienmärkte und die verschiedenen Zielkategorien profes­ sioneller Sportmärkte werden gut verstanden. Die Konvergenz der Übertragungswege ist weitgehend abgeschlossen, was das Bundeskartellamt in den letzten Entscheidun­ gen entsprechend würdigt (Bundeskartellamt 2020). Zudem stellen die regelmäßigen Zusagenentscheidungen durch das Bundeskartellamt fortlaufende Markteingriffe in das Marktgeschehen dar, die bei der adäquaten Ausgestaltung eines ordnungspoliti­ schen Rahmens umgangen werden können. So plädiert auch die Monopolkommission dafür, das Vorgehen Verfahren zur Überprüfung der Medienvermarktung aufgrund von Verpflichtungszusagen zu beenden, einzustellen (Monopolkommission 2016). Notwendig wird damit ein ordnungspolitischer Rahmen, der insbesondere den Zielkonflikt zwischen der möglicherweise gewünschten internationalen Wettbewerbs­ fähigkeit einiger Vereine und der wettbewerblichen Ausgestaltung der Zuschauer­ märkte adressiert. Ein Ordnungsrahmen würde das Bundeskartellamt zudem von der Bürde regelmäßiger Verfahren in dieser Sache befreien und Ressourcen für andere Aufgaben freisetzen.³⁰ Die Sachexpertise, die sich das Amt angeeignet hat, sollte bei der Gestaltung des Ordnungsrahmen einbezogen werden. Dieser müsste das wettbe­ 30 So erkennt das Bundeskartellamt an, dass die Zentralvermarktung den Tatbestand der Kartellie­ rung nach Art 101 Abs. 1 AEUV und § 1 GWB zwar erfüllt, aber ggf. nach Art. 101 Abs. 3 bzw. § 2 GWB

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werbliche Umfeld auf allen relevanten Märkte berücksichtigen und darlegen, welche Eingriffe in den Wettbewerb zugunsten der internationalen Wettbewerbsfähigkeit einzelner Vereine zu rechtfertigen sind. Zudem ist der Ordnungsrahmen so auszu­ gestalten, dass die gegenwärtige Situation, in der die DFL sowohl den Rahmen der Preisfindung ausgestaltet, als auch als Spieler in die Preisgestaltung eingreift, unter­ bunden wird.

5.3 Vertikale Aspekte des DFL-Kartells Die DFL entfaltet nicht nur in horizontaler Hinsicht als Kartell der Vereine Wirkung, sondern potenziell auch in vertikaler Hinsicht gegenüber den Vereinen. Ob und in wel­ chem Ausmaß dies der Fall ist, soll an dieser Stelle nicht abschließend geklärt wer­ den. Es gibt aber Hinweise, dass vertikale Elemente durchaus eine Rolle spielen kön­ nen. Dies wird beispielsweise in Bezug auf das Re-Live deutlich, der einzigen Form der Einzelvermarktung jenseits der Zentralvermarktung der Medienrechte durch die DFL. Die heterogene Preisstruktur deutet auf die Potenziale hin, die eine stärkere Ausdif­ ferenzierung des Preissystems durch die Vereine in einer Einzelvermarktung haben können. Die Zentralvermarktung, die zu einem einheitlichen Preis über alle Vereine führt, ermöglicht diese Differenzierung nicht. Das Re-Live bietet damit einen poten­ ziellen wettbewerblichen Angriffspunkt auf die Zentralvermarktung durch die DFL, gegen die sich die DFL absichert. Auch die Richtlinien der DFL zum Re-Live deuten auf vertikale Machtverhältnisse gegenüber einzelnen Vereinen hin. So behält sich die DFL in ihren Richtlinien zur In­ dividualvermarktung vor, dass die Clubs die Erträge aus der Einzelvermarktung jähr­ lich an die DFL in einer Einnahmen- und Ausgabenrechnung übermitteln (DFL 2016; 2020b). Ein weiteres Indiz befindet sich in den Vorgaben zur Streitschlichtung, die vorsehen, dass bei Streitigkeiten über die Anwendung der Individualvermarktungs­ richtlinie zunächst die zuständigen Organe der DFL entscheiden. Auch wenn sie keine abschließenden Urteile darstellen, sind diese Regelungen ein Hinweis für eine markt­ starke Position der DFL gegenüber den Vereinen, da sie sich vorbehält, sowohl als Partei als auch – über ihre zuständigen Organe – als Richterin in potenziellen Strei­ tigkeiten mit den Vereinen erstinstanzlich zu agieren. Ein weiterer Hinweis darauf, dass die DFL vertikale Wirkung entfaltet, ist in ihrer Kompetenz zur Spielansetzung während der laufenden Saison zu sehen. Grundsätz­ lich ist es zu begrüßen, dass die Spielorganisation zentral je nach Ligageschehen an­ gepasst wird, so dass die Zuschauer von einer spannenden Spieltagansetzung profitie­ ren können und die internationalen Spielpläne Berücksichtigung finden. Zugleich ist

freistellbar sein könnte. Eine abschließende Klärung dieses Sachverhalts behält sich das Bundeskar­ tellamt aber stets vor (Bundeskartellamt 2020: RZ 100-102), was auch der Intention des § 32b GWB entspricht, der eine vollständige Ausermittlung nicht zwingend erfordert.

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die Spieltagansetzung nicht frei von Interessen der DFL auf den Medienmärkten. Die Terminierung der Spiele während der laufenden Saison erlaubt festzulegen, welche Partien die einzelnen Medienverwerter übertragen, womit die DFL auch eine Macht­ position gegenüber den Verwertern besitzt. Durch die Regeln des Erst- und Zweitzu­ griffs für die Medienverwerter in der aktuellen Vergaberunde wird dieser Machtaspekt auf Seiten der DFL gemildert, zugleich wird ihre Bedeutung sichtbar. Ob sich zuletzt auch die Abgaben, die die Vereine an die DFL tätigen, als Hinweis auf eine vertikale Machtstellung interpretieren lassen, bleibt an dieser Stelle offen. Mit einem Anteil von 6,25 % an den erzielten Medienerlösen erhält die DFL bei durch­ schnittlichen jährlichen Erlösen von zurzeit 1,16 Mrd. Euro jährlich 72,5 Mio. Euro (DFL 2020a).

5.4 Einzelvermarktung als Alternative? Die wettbewerblichen Mängel, die durch die Zentralvermarktung der DFL induziert werden, stellen die Frage nach einem alternativen System des Marktdesigns, das wett­ bewerbliche Anforderungen und die besonderen Wohlfahrtsparameter auf den Sport­ märkten besser berücksichtigt. Aufgrund der vielfältigen Möglichkeiten zur Marktge­ staltung kann die Diskussion an dieser Stelle nicht umfassend geführt werden, auch ist die Eigentumsfrage am ursprünglichen Übertragungsrecht bisher nicht eindeutig geklärt.³¹ Beispielhaft sei anhand eines Systems der Einzelvermarktung durch die Ver­ eine skizziert, wie wettbewerblichen Potentialen auf den Medienmärkten Vorschub geleistet werden könnte.³² Dabei ist dem Spannungsfeld potenzieller Koordinierungs­ vorteile, die eine Zentralvermarktung bieten kann, dem Wunsch nach effektivem Wett­ bewerb auf Seiten der Zuschauermärkte Rechnung zu tragen. Denkbar wäre ein Sys­ tem der hybriden Einzelvermarktung mit folgenden Elementen: – Einzelvermarktung der Live-Spiele durch die beteiligten Vereine. Da pro Spiel zwei Mannschaften zum Gut „Bundesligafußball“ beitragen, besitzt jeder Verein ge­ meinsame Eigentumsrechte zur individuellen Vermarktung. Alternativ sind Sze­ narien denkbar, in denen der Heimverein das Recht zur Medienverwertung be­ sitzt. Den Vereinen steht der Verwertungsweg offen, d. h. sie können die Spiele vertikal integriert in Eigenregie übertragen, oder über den Markt Medienverwer­

31 Zur Diskussion alternativer Organisationsformen der Fußball-Bundesliga vgl. Saldsieder (2016). Die Monopolkommission (2016) diskutiert die unklare Ausgestaltung der Eigentumsrechte an Spielen der Fußball-Bundesliga. Eine Einzelvermarktung als Alternative zur gegenwärtigen Zentralvermark­ tung erwähnen auch Heermann (2017; 2020) und Budzinski et al. (2019). 32 Zur theoretischen Analyse der Vermarktungsregime vgl. Falconieri et al. (2004), Gürtler (2007), Kesenne (2014). Weeds (2016) diskutiert Anreize zur Marktschließung durch einen exklusiven Rechte­ anbieter.

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ter beauftragen. Den Vereinen steht ebenfalls offen, ob Sie die Spiele einzeln, in Form von zeitbefristeten Abonnements oder als Saisontickets verwerten.³³ Zentralvermarktung von Live-Konferenz und Nachberichterstattungen, um Koor­ dinierungsvorteile zu realisieren. Umverteilung: Das System der Einzelvermarktung wird mit einem Transfersystem kombiniert, das die Erlöse aus den beiden Vermarktungswegen umverteilt. Die Kriterien der Umverteilung müssen die Aspekte der Leistungs- und Verteilungs­ gerechtigkeit berücksichtigen, und bieten die Möglichkeit, Zielvorstellungen zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit abzubilden. Einheitliche Standards sichern das Qualitätsniveau der Übertragung (bspw. hin­ sichtlich Bild- und Tonqualität, neutralem Kommentar, Zensurverbot). Denkbar ist, dass die Produktion der Bilder zentral über einen Dienstleister im Rahmen einer offenen Ausschreibung erfolgt, oder alternativ über die Vereine selbst. Operative Tätigkeiten zum Spielbetrieb werden von einer unabhängigen Stelle festgelegt (bspw. Spielansetzung, Schiedsrichterwesen etc.), die an der Vermark­ tung der Rechte nicht beteiligt ist.

Das so umrissene System ist geeignet, mehr Wettbewerb auf den Zuschauermärkten zugunsten der Nachfrager zu bewirken, ohne dabei zwingend Nachteile zur interna­ tionalen Wettbewerbsfähigkeit und zur Qualität der Liga in Kauf zu nehmen. Das Po­ tenzial, die eigene Zuschauerbasis im Rahmen einer Einzelverwertung besser anzu­ sprechen, erlaubt positive Effekte zur Ausgeglichenheit der Liga. Das Transfersystem adressiert Fragen der Umverteilung zwischen den Vereinen, die auch mit einer Einzel­ vermarktung realisiert werden können (Monopolkommission 2016). Insgesamt würden die Vereine durch die Einzelvermarktung der Live-Spiele ein höheres Maß an ökonomischer Flexibilität erhalten, da sie ihre Zuschauer direkt an­ sprechen können. Dies ist besonders dann der Fall, wenn die Zuschauer hauptsäch­ lich als Fans eines bestimmten Vereins zu charakterisieren sind. Zwar führt die Einzel­ vermarktung zu einer starken Marktstellung der Vereine gegenüber ihren Fans, diese existiert jedoch auch im System der Zentralvermarktung durch das Angebotsmono­ pol der DFL. Zwei Effekte könnten die starke Marktmacht dämmen: Zum einen hät­ ten die Vereine kein Monopolrecht am Spiel, wenn Heim- und Auswärtsmannschaft Eigentumsrechte an der Medienverwertung erhalten, was zu einem Duopol auf den Zuschauermärkten führt. Zum anderen haben die Vereine bei der Einzelvermarktung Anreize, die Effekte, die durch die Mehrseitigkeit der Märkte entstehen, zu internali­ sieren. Dies wirkt tendenziell preissenkend auf die Zuschauermärkte, da diese positi­ ve indirekte Netzeffekte auf das Werbe- und Sponsoringgeschäft ausüben. Im System

33 Sofern ein Verein zu einem vorher definierten Zeitpunkt keine Vermarktungslösung gefunden hat, ist eine Rückfalloption zu definieren, die garantiert, dass alle Spiele der Bundesliga live zu empfangen sind.

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der Zentralvermarktung fehlen diese Anreize zur Internalisierung, da die DFL allein die Medienerlöse und damit ihre eigenen Erlöse unabhängig vom Werbe- und Spon­ soringgeschäft der Vereine maximiert. Koordinierungsvorteile existieren insbesondere bei der Live-Konferenz und der Nachberichterstattung³⁴, die zentral vermarktet werden. Die Aufteilung der Medien­ rechte zwischen Einzelvermarktern und einer Zentralvermarktung fördert den Wett­ bewerb in imperfekten Substituten. Zuschauer mit einem Interesse an einem Verein können am Markt entscheiden, welche Form der Ligaberichterstattung sie wählen. Beim Spiel des eigenen Vereins am Samstagnachmittag besteht ein zumindest abge­ schwächter Wettbewerb zwischen der Live-Konferenz und dem einzelnen Spiel. Sollte zudem die empirische Analyse der Zuschauermärkte zeigen, dass die Zuschauer ins­ gesamt stark am Ligageschehen interessiert sind, kommt zum durch die Konkurrenz der Live-Spiele induzierten Wettbewerb bei der Einzelvermarktung die Substitutions­ beziehung zwischen den Live-Spielen und der Live-Konferenz hinzu, was die Wettbe­ werbsintensität zum Vorteil der Verbraucher erhöht. Diese kurze Diskussion über ein potenzielles Regime zur Ausgestaltung der Me­ dienvergabe verdeutlicht, dass die Einzelvermarktung grundsätzlich geeignet sein kann, mehr Wettbewerb auf den Endverbrauchermärkten zu induzieren und die al­ lokative Effizienz zum Vorteil der Verbraucher zu erhöhen. Da die Potenziale aus der Einzelvermarktung für die Vereine vermutlich sehr unterschiedlich ausfallen, ist das Regime durch eine geeignete Umverteilung zu ergänzen, die Kriterien der internatio­ nalen Wettbewerbsfähigkeit, der Ausgeglichenheit der Liga und dem Qualitätsniveau adressiert.

6 Fazit Die DFL entfaltet als Kartell der Vereine horizontale und vertikale wettbewerbliche Effekte. Das gegenwärtige System der Zentralvermarktung in Kombination mit dem Alleinerwerbsverbot lässt wettbewerbliche Potenziale ungenutzt. Kritisch zu beurtei­ len ist aus ordnungspolitischer Sichtweise das System der ad hoc Entscheidungen durch das Bundeskartellamt. Das gegenwärtige Marktdesign ist intransparent, die DFL behält sich in den Auktionen ein hohes Maß an diskretionärem Spielraum gegen­ über den Medienunternehmen vor. Sie agiert als Marktgestalter, der bei Bedarf in das Verfahren eingreift. Das Regime der Zentralvermarktung ist nicht überzeugend begründet, da der (vermutlich eigentlich adressierte) Zielkonflikt zwischen einer wettbewerblichen Aus­

34 Die Monopolkommission weist auf potenziell wohlfahrtsfördernde Effekte durch Produktbünde­ lung von TV-Angeboten hin (Monopolkommission 2016).

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gestaltung der Medien- und Zuschauermärkte und dem Ausbau der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Liga oder einiger als wichtig wahrgenommener Vereine nicht thematisiert wird. Dieser Spagat liegt darin begründet, dass das Bundeskar­ tellamt alleine den Schutz des Wettbewerbs verfolgt. Ziele jenseits dieses Aufgaben­ bereichs unterliegen nicht dem Kompetenzbereich des Amts.³⁵ Damit überrascht es nicht, dass das Bundeskartellamt auf den eigentlichen Zielkonflikt nicht eingehen kann: Einer wettbewerblichen (und damit zuschauerfreundlichen) Ausgestaltung der Märkte unter Umgehung einseitiger Marktmacht, die zu Effizienzgewinnen auf Seiten der Verbraucher führen würde, steht das Interesse der Liga an einer möglich um­ fassenden Finanzausstattung gegenüber, um auf dem internationalen Spielermarkt bestehen zu können. Die Zentralvermarktung ermöglicht dies durch die Kartellierung der Vereine auf den Medienmärkten. Eine ordnungspolitisch saubere Gestaltung des Marktdesigns ist angesichts der Bedeutung der zugrundeliegende Medienrechte notwendig. Sie erhöht die Transpa­ renz, erlaubt die Beteiligung aller Stakeholder und fordert, dass die Zielparameter zur Ausgestaltung der Medienrechte klar formuliert werden. Zudem wäre diese Vorge­ hensweise geeignet, das Bundeskartellamt von immer wiederkehrenden ad hoc Ent­ scheidungen zu befreien, die in ihrer Ausgestaltung zudem nicht völlig frei von Aspek­ ten bilateraler Verhandlungsmacht sind. Als Denkanstoß schlägt dieser Beitrag ein System der Einzelvermarktung vor, das den Vereinen mehr Spielraum bei der Vermarktung ihrer Medienrechte in Hinblick auf die Live-Spiele lässt und die Live-Konferenz zur Realisation von Koordinierungs­ effekten weiterhin zentral vermarktet. Nicht alle Aspekte dieses Vorschlags lassen sich ausführlich an dieser Stelle diskutieren; der Beitrag verdeutlicht aber, wie sich wett­ bewerbliche Potenziale besser realisieren lassen. Eine Einzelvermarktung kann dazu beitragen, die sportliche Ausgeglichenheit in der Liga zu erhöhen, den Vereinen mehr Flexibilität in der Ausgestaltung ihrer Verträge zu geben und die allokative Effizienz zu erhöhen, ohne dadurch die Qualität der Liga und die internationale Wettbewerbs­ fähigkeit zu beeinträchtigen. Ziele zur Chancengleichheit zwischen den Vereinen bil­ det das Transfersystem ab. Spielbetriebsorganisation und Vermarktung sind zu tren­ nen. Für die Konzeption eines klaren Ordnungsrahmens spricht zudem, dass es nicht Aufgabe der Wettbewerbsbehörden sein kann, durch kartellrechtliche Ausnahmere­ geln Vereine der Fußball-Bundesliga in ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit zu stützen.

35 Aus diesem Grunde erlaubt das GWB für Fusionskontrollvorhaben mit § 42 GWB das Ministerer­ laubnisverfahren, in dem weitere Gründe vom Wirtschaftsminister berücksichtigt werden können. Im Kontext von Kartell- und Missbrauchsverfahren gibt es dieses Instrument nicht.

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Tim Schmidt und Dirk Wentzel

Ökonomische Fragen der Talentförderung im Fußball: Theorie, Praxis und empirische Beobachtungen 1

Einleitung: Der Leistungssport im Zeitalter digitaler Medien | 45

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Talentförderung in unterschiedlichen Sportarten und Kulturen | 49 2.1 Talentdefinitionen und Abgrenzungen | 49 2.2 Talentförderung in den USA im College System | 52 2.3 Talentförderung in nicht-demokratischen Systemen | 54

3

Talentförderung im Bereich des europäischen Profi-Fußballs | 55 3.1 Der europäische Kontext: Das Bosman-Urteil des EuGHs | 55 3.2 Das Ausbildungsparadoxon: Kaufen oder Ausbilden von Talenten | 57 3.3 Kosten und Erträge von Talentausbildung | 60 3.4 Das Zusammenspiel von Verband (DFB) und kommerziellen Interessen | 61

4

Empirische Betrachtung der Talentförderung | 62 4.1 Individuelle und kollektive Erfolgswahrscheinlichkeiten | 62 4.2 Der relative Alterseffekt (RAE): Eine statistische Anomalie in der Talentselektion | 63 4.3 Der statistische Zusammenhang zwischen Erfolgswahrscheinlichkeiten und Beginn der Förderung | 68

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Fazit und Ausblick: Investitionen in Beine anstatt Steine | 72

1 Einleitung: Der Leistungssport im Zeitalter digitaler Medien “There is no business like show business” – so lautet eine alte Weisheit in der Un­ terhaltungs- und Filmbranche, basierend auf einem Broadway Musical¹ aus dem Jahr 1946. Diese Überzeugung hatte über Jahrzehnte Bestand, waren doch Broadway Musi­ cals und Hollywood-Filme die großen Kinomagneten und die damaligen Stars weltbe­ rühmt. Betrachtet man im Vergleich dazu die deutsche Bundesliga im Gründungsjahr 1963, so war der Fußballsport zumindest wirtschaftlich und in der medialen Wahrneh­

1 Das Broadway-Stück hat den Titel „Annie get your gun“ mit dem Titelsong „There is no business like show business“: Es war Grundlage für zahlreiche Aufführungen am Broadway und ebenso viele Verfilmungen, u. a. mit Frank Sinatra.Superstars wie Sinatra gab es damals primär im Film. Die großen Sportstars mit entsprechenden Gagen und einem Superstar-Image entwickelten sich eigentlich erst im Fernsehzeitalter (Adler 1985; Wentzel 2002). Anmerkung: Die Autoren danken Prof. Dr. Markus Kurscheidt (Universität Bayreuth) herzlich für ein konstruktives und hilfreiches Korreferat und zahlreiche Literaturhinweise. https://doi.org/10.1515/9783110724523-003

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mung noch weitestgehend bedeutungslos. Das erste Tor in der Geschichte der Bundes­ liga fiel im Spiel zwischen Werder Bremen und Borussia Dortmund, aber von diesem Tor gibt es weder ein Foto noch einen Filmmitschnitt, weil die Übertragungstechnik nicht rechtzeitig einsatzbereit war. Im heutigen digitalen Zeitalter wäre es undenkbar, dass bei einem Spitzenspiel die mediale Berichterstattung fehlt oder erst verspätet einsetzt. Mit der Einführung des Privatfernsehens in Deutschland 1984 hat sich die Verwertung von Sportereignissen – und insbesondere dem Fußball – vervielfacht: in Deutschland sprach man vom „medi­ enpolitischen Urknall“ (Wentzel 2002). Aber vor allem mit der Erfindung des Internets und der Smartphones und Tablets² hat sich eine beinahe unendlich große Plattform für die Präsentation und Verwertung von Sportereignissen ergeben. Man könnte von einem zweiten medienpolitischen Urknall sprechen, dessen ökonomische und sozia­ le Implikationen den ersten jedoch um ein Vielfaches übertreffen. Streaming-Dienste wie DAZN ermöglichen, dass der Nutzer quasi rund um die Uhr alle attraktiven Sport­ ereignisse der Welt verfolgen kann – und dass zu einem vergleichsweise günstigen Pauschalpreis (flatrate) pro Monat. Die Debatte um pro und contra von Pay-TV, wie sie zu Beginn des neuen Millenniums geführt wurde (Wentzel 2002; 2009), erscheint heute geradezu antiquiert. Grenzenlose Programme erfordern einen ständig steigenden Anteil von attrakti­ ven und spannenden Inhalten, wie sie durch die sog. Premium-Inhalte repräsentiert werden (Wentzel & Lindstädt-Dreusicke 2017; Wentzel 2018). Dies können Spielfilme sein, Serien auf neuen Plattformen wie Netflix, Nachrichten und Infotainment, Musik, Shows, Talkshows und vieles mehr. Der Sport und viele attraktive Events nehmen je­ doch einen immer größeren Anteil an den Medieninhalten an, denn die zentrale Defi­ nition des Sports ist die Ungewissheit des Ausgangs. Die Fußball-Weltmeisterschaften, die europäische Champions League, ein Tennisfinale zwischen Roger Federer und Ra­ fael Nadal, der 100 Meter Sprint bei Olympia und natürlich das größte Medienereignis der Welt, der Superbowl im American Football (hierzu Schnellenbach i. d. B.), binden Millionen von Menschen in ihrer Aufmerksamkeit. Deshalb hat sich die alte Weisheit der Filmbranche heutzutage auch weitgehend gewandelt: „There is no business like sport business“. Oder wie Conzelmann, Zibung und Zuber es formulieren: „Der Spit­ zensport hat sich in den letzten Jahrzehnten zum wohl meistbeachteten Kulturphäno­ men weltweit entwickelt“ (Conzelmann et al. 2018: 87). Sportereignisse sind immer frisch und aktuell, die Darsteller können zu Helden oder tragischen Helden werden, Drama und Komödie liegen oft nahe beieinander und die Hoffnung auf einen Sieg wird immer wieder neu geboren (Wentzel 2002; Dau­ mann 2011). Ein noch so attraktiver Spielfilm mit Weltstars hingegen wird nach einer

2 Steve Jobs präsentierte 2007 das iphone, das eine völlig neue Dimension der Medien darstellt. Durch die Einführung der Smartphones und Tablets ist die Mediennutzung – vor allem bei den jungen und mittelalten Zielgruppen – quasi zeitlich unbegrenzt möglich. Zur empirischen Entwicklung der Medi­ ennutzung siehe Wentzel & Lindstädt-Dreusicke (2017).

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mehrfachen Wiederholung langweilig: Das Ende der „Titanic“ und von Hauptdarstel­ ler Leonardo di Caprio sind bekannt und können auch nicht beeinflusst werden – es besteht auch keine Aussicht auf eine Wiederholung mit besserem Ausgang. Im Kon­ trast dazu ist der Sport attraktiv und im Ausgang ungewiss – jedenfalls in den meisten Fällen, in denen die sog. wettbewerbliche Ausgeglichenheit („competitive balance“) nicht aus dem Gleichgewicht geraten ist. Selbst ein unterklassiges Fußballspiel – et­ wa zwischen Rot-Weiß Essen und Alemannia Aachen in der Regionalliga West, kann hochgradig spannend sein und bis zu 30.000 Zuschauer ins Stadion locken. Zudem sind es häufig, wie Prinz (2012) feststellt, die Unwägbarkeiten des Sports (etwa Wit­ terungseinflüsse, Fehlentscheidungen der Schiedsrichter wie in Wembley 1966, der legendäre Büchsenwurf beim Spiel von Borussia Mönchengladbach gegen Inter Mai­ land 1971 oder die Spuckattacke gegen Rudi Völler bei der WM 1990), die den Sport so attraktiv machen und einzelne Ereignisse über Jahre hinweg unvergesslich erschei­ nen lassen. Prinz (2012) bezeichnet diese Momente als „generic chance“. Dieses reine Glück, diese Unwägbarkeiten des Sports, sind einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren der Attraktivität des Sportes. Für die Anbieter des Unterhaltungsguts „Sport“ auf dem zweiseitigen Markt be­ steht deshalb eine beinahe unendliche Nachfrage nach neuen Talenten, nach aus­ geprägten Persönlichkeiten, nach Gesichtern. Roger Federer hat mit seinem neuen japanischen Ausrüster einen Vertrag über 300 Millionen US-Dollar und zehn Jahre geschlossen – und das am Ende seiner sportlichen Laufbahn. Der 16-jährige Nach­ wuchsspieler Youssoufa Moukoko von Borussia Dortmund, der als größtes Talent im deutschen Fußball gilt, hat gerade vom Ausrüster Nike einen 10 Millionen Euro-Ver­ trag erhalten. Die Jagd nach Talenten und zukünftigen Superstars hat einen bisher noch nicht dagewesenen Höhepunkt erreicht – wie auch die Entwicklung der Ab­ lösesummen im internationalen Fußball dokumentiert (Wentzel 2012). Ob sich eine Ablösesumme von 222 Millionen Euro für einen Spieler wie Neymar, die Paris Saint Germain zahlte, überhaupt noch wissenschaftlich und ökonomisch erklären lässt, wird später in diesem Beitrag diskutiert. Ein erfolgreicher Verein im Profisport muss zugleich wirtschaftliche und sportli­ che Ziele verfolgen (ausführlich: Saldsieder 2016). Dies hängt unter anderem von der Organisationsform der sportlichen Liga ab: Sind es wie in den USA primär geschlos­ sene Ligen, in denen es keinen Auf- und Abstieg gibt, oder sind es wie in den meisten europäischen Ligen offene Ligen, in denen auch Traditionsvereine vom sportlichen Abstieg wirtschaftlich schwer getroffen werden können? Die Kernfrage ist jedoch in allen Systemen die gleiche Frage, wie eine Mannschaft viele wettbewerbsfähige Spie­ ler rekrutieren kann, um möglichst große sportliche Erfolge zu erzielen. Während in den USA die Ausbildung für die Profiligen primär über den College Sport der NCAA er­ folgt, werden in Europa und in Latein-Amerika vor allem Talent-Akademien zur Aus­ bildung herangezogen. Hierbei ist in erster Linie der Fußball die mit Abstand attrak­ tivste Sportart in Europa und auch in Lateinamerika, die zunehmend auch andere Sportarten „kannibalisiert“ und deren Talente abwirbt.

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Bei gegebenem Budget stellt sich für jeden Verein aber eine klassische wirtschaft­ liche Fragestellung, wie sie in der Arbeitsmarktökonomik lange bekannt ist: Soll ein Verein eigene Talente ausbilden in der Hoffnung, den neuen Messi oder Ronaldo zu finden, oder soll der Verein fertige Spieler kaufen und mit hohen Gehältern anlocken. „Make or buy“ – das ist hier die Frage. Fußball-Romantiker mögen dies kritisieren, aber die zunehmende „Kommerzialisierung des Leistungssports“ (Prinz 2012) ist die entscheidende Entwicklung, die durch die medialen Verwertungsmöglichkeiten ent­ standen ist. Insoweit ist die Frage der Talententwicklung nicht nur eine sportwissen­ schaftliche Frage, sondern auch eine ökonomische Herausforderung, die von den Or­ ganisationsstrukturen der Ligen abhängt. In der vorliegenden Untersuchung wird zunächst im zweiten Kapitel der Begriff „Talent“ sport- und kulturübergreifend unter Verweis auf eine bereits existierende umfangreiche Literatur diskutiert. Es zeigt sich, dass die Suche nach Talenten ganz im Verständnis der Ordnungstheorie abhängig ist von den Ordnungsbedingungen des Marktes und von den materiellen Anreizen der einzelnen Sportarten. Klassische olym­ pische Sportarten wie etwa das Ringen haben es sehr schwer, ihre Talente zu fin­ den und zu behalten, denn die Anreize zur Abwanderung in massenattraktive Sport­ arten mit hohen Verdienstmöglichkeiten sind einerseits sehr groß, andererseits ist die mediale Aufmerksamkeit – von olympischen Spielen abgesehen – minimal. Meis­ tens kann hier nur eine spezielle staatliche Förderung³ helfen oder eben ein Colle­ ge System, das auch für Randsportarten attraktive Stipendien anbietet. Talentförde­ rung hat kommerzielle Verwertungsmöglichkeiten und Fragestellungen, aber auch ethische Herausforderungen, etwa bei der Förderung in nicht-demokratischen Sys­ temen, in denen auch Doping ein akzeptiertes Mittel zur Leistungsdurchsetzung sein kann (Daumann 2008; Feddersen i. d. B.). Im dritten Kapitel wird die Talentförderung mit besonderem Fokus auf den euro­ päischen Sport- und Fußballmarkt analysiert. Durch das sog. Bosman-Urteil des Eu­ GHs aus dem Jahr 1995 hat sich ein grenzenloser Markt für europäische Spieler erge­ ben, die durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit geschützt werden (ausführlich: Riedl & Cachay 2002). Nach Ablauf eines Vertrages können Spieler ablösefrei zu einem an­ deren Verein gehen – der Wechsel von Robert Lewandowski von Borussia Dortmund zu Bayern München ist hier ein sehr bekanntes Beispiel. Durch die Lizensierungsauflagen des Verbandes sind alle Proficlubs gezwungen, zertifizierte Nachwuchsabteilun­ gen zu unterhalten. Doch wie genau sind die Kosten und der Nutzen dieser Investitio­ nen zu bewerten? Im vierten Kapitel werden empirische Befunde der Talentförderung vorgestellt. Wenn ein Verein ein Kind im Alter von acht oder neun Jahren in eine Akademie

3 Die Förderung des Leistungssports liegt in Deutschland in der Kompetenz des Innenministeriums, das die Bundessportfachverbände in ihrem Bemühen unterstützt, optimale Bedingungen für ihre Ath­ leten zur Verfügung zu stellen. Grundsätzlich sind aber alle Sportverbände angehalten, eigene Einnah­ men zu erzielen. Bestimmte Sportarten werden auch durch die Bundespolizei gefördert.

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aufnimmt, kann niemand genau sagen, ob dieses Kind zehn Jahre später als Profi auflaufen kann: Wie in der Finanzmarktheorie sind diese Kinder quasi „Optionen“, die mit bestimmten Wahrscheinlichkeiten Ergebnisse erbringen – oder eben nicht (Wentzel & Vogel 2013). Heckman (2007) untersuchte in seiner mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Forschungsarbeit die Renditen von Bildungsinvestitionen und konn­ te empirisch nachweisen, dass diese im frühkindlichen Alter am höchsten sind – nicht nur im Sport, sondern auch in der Musik, der Mathematik und der Lese-Rechtschrei­ befähigkeit. Bezogen auf die Talentförderung im Sport treten jedoch erstaunliche statistische Resultate zutage, die als „Förderungsanomalien“ bezeichnet werden könnten und die für die Talentförderung relevante neue Sachverhalte liefern. Den Abschluss des vorliegenden Beitrags bietet eine Zusammenfassung der Ergebnisse sowie ein Ausblick auf zukünftige Forschungsfragen.

2 Talentförderung in unterschiedlichen Sportarten und Kulturen 2.1 Talentdefinitionen und Abgrenzungen Es gibt eine große Vielzahl von Talentdefinitionen mit unterschiedlichem Schwer­ punkt, die sich keineswegs nur auf den Sport beziehen. So haben beispielsweise Ritz und Thom (2018) ein sehr umfassendes Konzept vorgestellt zur Talententdeckung, Kompetenzentwicklung sowie zur Förderung von Leistungsträgern, das auf alle Be­ reiche von Management in Unternehmen, Verbänden oder internationalen Unterneh­ men angewendet werden kann. Grundsätzlich ist es die gleiche Fragestellung, ob man ein Talent für die Musik, für den Sport oder für Führungspositionen in Unternehmen sucht. Im Band von Ritz und Thom beschäftigen sich Conzelmann, Zibung und Zuber (Conzelmann et al. 2018) spezifisch mit Fragen der Talentselektion und Förderung im Sport, ebenso Hohmann et al. (2002). In der Literatur wird üblicherweise zwischen statischen und dynamischen Ele­ menten einer Talentfunktion unterschieden (ausführlich Joch 2001). Gemäß Conzel­ mann, Zibung und Zuber (2018: 88 ff.) sind die Teilprozesse Rekrutierung, Diagnose, Selektion und Förderung zu differenzieren mit unterschiedlichen Teilanforderungen bei der fördernden Institution, dem Individuum und der begleitenden Sportwissen­ schaft. Dies kann auch die fördernde Akademie sein, die auf der Basis sportwissen­ schaftlicher Erkenntnisse Talente ausbildet. Zu den statischen Elementen der Talentfunktion gehören die genetischen Grund­ lagen (Disposition), die Leistungsbereitschaft des Kindes, das soziale Umfeld und die tatsächlichen Resultate, die ein Talent im Wettkampf realisieren kann. Zu den dynami­ schen Elementen gehören die dauerhafte Bereitschaft, Veränderungsprozesse in Gang

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zu bringen, die Steuerung durch Training und nicht zuletzt die pädagogische und psy­ chologische Begleitung im Zeitablauf. Die Talentdefinition von Joch (2001) und anderen scheint den Kreis der potenziel­ len Kandidaten bereits stark einzugrenzen, gleichwohl ist eine eindeutige Erfolgspro­ gnose im Sinne von naturwissenschaftlicher Exaktheit nicht möglich. Es gibt zahlrei­ che Beispiele von erfolgreichen Sportlern, die durch dieses Raster fielen und anderen, die nie als Talent gefördert wurden und die dennoch eine sehr erfolgreiche Karriere starten konnten. Marco Reuss wurde beispielsweise in der B-Jugend von Borussia Dort­ mund mit der Begründung ausgemustert, er sei nicht athletisch genug. Miroslav Klose hingegen hat nie eine Talent-Akademie besucht und wurde trotzdem WM-Rekordtor­ schützenkönig. Bei Talentförderung geht es um Wahrscheinlichkeiten, nicht um exak­ te Wahrheiten. Auch Boris Becker wurde vom badischen Tennis-Verband anfänglich nicht als ein Top-Talent eingestuft. Bei den statischen Elementen steht die genetische Veranlagung an erster Stelle. Größe, Körperbau und Muskulatur sind sehr exakt zu prognostizieren, wenn die El­ tern beide bekannt sind. So wurden beispielsweise in der DDR alle Kinder bereits im frühkindlichen Alter vermessen und in passende Sportarten eingeteilt – die berech­ tigte ethische Frage, ob dies zulässig ist, sei hier außer Acht gelassen. Von den meis­ ten Trainern wird jedoch die tatsächliche Leistungsbereitschaft noch deutlich höher eingestuft als das genetische Talent: „Schweiß und Fleiß schlägt Talent“. Diese Leis­ tungsbereitschaft lässt sich aber üblicherweise nicht mit einem eindeutigen Messver­ fahren zu einem bestimmten Zeitpunkt beobachten, sondern erfordert einen längeren Zeitraum, um tragfähige Erkenntnisse zu gewinnen. Das soziale Umfeld stellt einen Schlüssel zur erfolgreichen Entwicklung von Ta­ lenten dar. Schon 1993 untersuchten Schneider, Bös und Rieder (Schneider et al. 1993) das Umfeld von (Tennis-) Talenten und erkannten einen klaren Zusammenhang zum zeitlichen Aufwand der Eltern. Dieser ist allerdings ein zweischneidiges Schwert: Star­ kes Engagement der Eltern kann sich sehr positiv auswirken, kann aber auch genau das Gegenteil bewirken, wenn Eltern aus schwächeren Einkommensschichten star­ ken Druck auf ihre Kinder ausüben. Dann kann es sehr sinnvoll sein, Talente schon früh in ein Sportinternat zu überführen mit entsprechender positiver und unterstüt­ zender pädagogischer Betreuung. Dies gilt im Übrigen auch für die Ernährung, die in prekären Familienverhältnissen oftmals nicht den Anforderungen an den modernen Leistungssport entspricht. Resultate und Ergebnisse im Wettkampf sind das letzte Element in der statischen Talentfunktion. Von der Fußball-Ikone Adi Preißler stammt der berühmte Satz: „Grau ist alle Theorie: Entscheidend ist auf‘m Platz“. Manche Talente erbringen im Training Höchstleistungen, können diese aber in Wettkampfsituationen nicht konstant erbrin­ gen. So erforscht die differenzielle Sportpsychologie, „inwieweit sich Personen, die ‚Hoffnung auf Erfolg‘ oder ‚Furcht vor Misserfolg‘ zeigen, in ihrem Verhalten in ei­ nem sportlichen Wettkampf unterscheiden“ (Hänsel et al. 2016: 112). Natürlich gibt es im Sport auch Wettkampfglück oder Pech – „generic chance“ im Sinne von Prinz

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(2012), aber ein Tennisspieler, der jeden Tiebreak und jedes Fünf-Satz-Match im letzten Satz verliert, wird dauerhafte Erfolge nicht erzielen können. In der Sportpsychologie⁴ werden die Bereiche der Kognition, der Emotion, der Motivation (extrinsisch und in­ trinsisch) und Volition unterschieden, um die Umsetzung von physischen Fähigkeiten im Wettkampf zu analysieren. Wie Eberspächer (2019) aufzeigt, können zwar Defizite im mentalen Bereich noch durch gezieltes Training reduziert werden. Aber ein Talent, das schon frühzeitig in der Lage ist, Resultate zu erzielen, hat hier einen klaren Start­ vorteil. Bei den dynamischen Talentaspekten ist auf die Leistungszuwachsraten (Seidel 2005: 12 f.) zu fokussieren. Diese sind spezifisch für einzelne Sportarten zu überprü­ fen. Bei den csm-Sportarten (Centimeter, Sekunden, Meter) können relativ genau Zei­ ten, Weiten oder andere exakte Werte bestimmt werden, um die Talententwicklung vergleichsweise objektiv im Zeitablauf zu bewerten. Bei anderen Sportarten spielt auch der Umgang mit Öffentlichkeit und der hieraus resultierende Druck eine große Rolle. Wenn im amerikanischen College Football 18-jährige vor über 100.000 Zuschau­ ern und landesweiter Fernsehübertragung spielen, ist die Fähigkeit, mit öffentlicher Aufmerksamkeit und Druck umzugehen, genauso wichtig wie die athletischen Fähig­ keiten. Zu den dynamischen Talentelementen gehört auch die aktive Steuerung durch Training. Hier besteht ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Talents und der Steuerung durch Training. Das Talent ist hier eindeutig auf einen Input von außen angewiesen, selbst wenn es über eine natürliche und überdurch­ schnittliche Begabung für eine Sportart verfügt. Die moderne Trainingslehre wird fast jährlich an neueste wissenschaftliche Erkenntnisse angepasst. Vergleicht man bei­ spielsweise ein Tennisspiel der 70er Jahre mit der heutigen Athletik, Ausdauer und Schnelligkeit der Top-Spieler, so erkennt man eindeutig, dass diese unterschiedlichen Anforderungen sich auch in den Trainingsbedingungen wiederfinden müssen. Als letztes dynamisches Element der Talentfunktion ist die pädagogische Beglei­ tung zu erwähnen. Es darf nicht übersehen werden, dass eine zentrale Entwicklungs­ phase eines sportlichen Talents zeitgleich mit der Pubertät stattfindet, in der zahlrei­ che biologische, mentale und charakterliche Veränderungsprozesse stattfinden. Zu­ dem muss eine schulische Ausbildung abgeschlossen werden, denn eine sportliche Karriere steht immer unter dem Risiko eines vorzeitigen Endes durch Verletzungen. In den sog. „Eliteschulen des Sports“ werden deshalb Talente parallel in ihren sportli­ chen und schulischen Entwicklungen unterstützt. Diese Eliteschulen arbeiten einer­ seits sehr eng mit den Fußball-Talentakademien zusammen, aber auch mit den Olym­ piaförderungen anderer, medial weniger in der Aufmerksamkeit stehenden Sportar­ ten.

4 Dem vorliegenden Beitrag liegt das Lehrbuch und die Systematisierung von Hänsel, Baumgärtner, Kornmann und Ennigkeit (2016) zugrunde.

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2.2 Talentförderung in den USA im College System Wie sehr Talentförderung auch von kulturellen Ordnungsbedingungen abhängt, zeigt ein Blick in die USA (ausführlich: Barnes 2020; Schnellenbach i. d. B.). In der Regel haben alle größeren Colleges und Universitäten Sportmannschaften, die in ihrer je­ weiligen Konferenz⁵ untereinander Wettkämpfe austragen. Gemäß den Richtlinien der National Collegiate Athletes Association (NCAA) müssen die Sportler absolute Ama­ teure und am jeweiligen College als Studenten eingeschrieben sein. Nicht-Studenten erhalten keine Spielerlaubnis (sog. eligibility). Die Vermarktung dieser Ligen ist in den massenattraktiven Sportarten – vor allem American Football und Basketball⁶ – hoch professionell und finanziell sehr einträglich. Für talentierte Sportler ist das College das Ziel aller Anstrengungen, denn im College winkt zunächst ein Sportstipendium, ohne das viele sich gar kein Universitätsstudium leisten könnten, und im Weiteren die Möglichkeit, im Anschluss an das Studium sogar noch eine Profikarriere zu beginnen. Ein vergleichbares Vereinswesen wie im europäischen (Fußball-) Sport gibt es in den USA nicht. College Sport ist in den USA auch bei den Zuschauern extrem populär mit sehr hohen Besucherzahlen sowohl im Stadion wie auch Einschaltquoten an den Fernseh­ geräten. So werden die größten Football-Stadien der USA von Universitäten benutzt, nicht von den professionellen Football-Mannschaften. Die University of Michigan hat beispielsweise mit 107.000 Zuschauern das größte Stadion der USA, dicht gefolgt von der Pennsylvania State University mit 106.000 Zuschauern. Bemerkenswert ist es, dass diese großen Stadien tatsächlich immer ausverkauft sind und die Universitäten zudem hohe Fernseherlöse erzielen, so dass die Sportfakultäten (athletic departments) über große finanzielle Mittel verfügen, die dann größtenteils für Stipendien zur Verfügung stehen oder in die materielle Ausstattung der Sportstätten fließen. Der College Sport ist auch ein zentrales Mittel zur Bindung der Alumni an ihre Alma Mater, die sehr häu­ fig auf eine lebenslange Bindung hinausläuft. Die sportliche Laufbahn der Studenten (student athlets) in den UniversitätsMannschaften ist streng auf vier Jahre⁷ begrenzt und es dürfen keinerlei Gehälter oder Vergünstigungen gezahlt werden. Streng genommen ist der Hochschul-Abschluss das Entgelt der Sportler, die sich sonst auch gar kein Studium an den teilweise extrem

5 Aufgrund der Größe des Landes und zur Vermeidung hoher Reisekosten und langer Reisezeiten sind die Universitäten alle in regionale Konferenzen eingeteilt. Die Wettkämpfe finden primär (aber nicht ausschließlich) innerhalb dieser Konferenzen statt. So sind etwa die Pennsylvania State University, die University of Michigan, die Ohio State University und die Michigan State University neben einigen weiteren Universitäten in der sog. BIG TEN Konferenz zusammengeschlossen. Dort misst man sich nicht nur sportlich, sondern auch in akademischen und anderen gesellschaftlichen Vergleichswerten. 6 Die Playoff-Spiele im Basketball um die amerikanische College-Meisterschaft (sog. March Madness) können besonders hohe Einschaltquoten vorweisen. 7 Die vier Jahren sind Freshman, Sophomore, Junior und Senior. In bestimmten Ausnahmefällen kann diese Zeit um ein Jahr verlängert werden (sog. Redshirt Year).

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teuren Universitäten leisten könnten. Besonders große sportliche Talente, an de­ nen die Profimannschaften der entsprechenden Sportligen interessiert sind, können unter bestimmten Bedingungen auch schon früher das College verlassen und sich einer Profi-Mannschaft anschließen⁸. Die Colleges wiederum rekrutieren ihre Nach­ wuchsspieler an den jeweiligen High Schools unter strengen Auflagen. Angesichts der hohen finanziellen Anreize ist es jedoch keinesfalls immer gewährleistet, dass bei den Rekrutierungsprozessen keine Zahlungsströme erfolgen. Insgesamt zeichnet sich das System jedoch durch ein vergleichsweise hohes Maß an Regelbefolgung aus, was auch an den sehr scharfen Sanktionsmöglichkeiten der NCAA liegt. Die Talente trainieren im College – zumindest an den großen Universitäten – unter absolut professionellen Bedingungen, die sehr häufig mit den Sportstätten von ProfiClubs auf einer Augenhöhe stehen, wenn nicht sogar deutlich besser sind. Über vier Jahre können sich die Athleten kontinuierlich weiterentwickeln und Profi-Clubs auf sich aufmerksam machen. Dieser Weg steht zwar nur wenigen Top-Athleten offen, aber für die meisten College Sportler endet ihr Weg immerhin mit einem berufsqualifizie­ renden Hochschulabschluss⁹. Die größten Talente kommen nach Abschluss ihrer College-Laufbahn dann in den draft, eine Art von Talent-Versteigerung oder Auktion (ausführlich: Schnellen­ bach i. d. B.). Die Talente selbst haben nur sehr eingeschränkte Mitsprache-Rech­ te, für welches Profi-Team sie spielen wollen. So ist es beispielsweise im American Football so, dass die schlechteste Mannschaft der Vorjahres Anrecht auf den besten Nachwuchsspieler hat, um die wettbewerbliche Ausgeglichenheit der NFL langfristig zu erhalten¹⁰. Ein Wechsel zu einem anderen Team ist erst nach einer festgelegten Mindestfrist möglich. Das Recht auf freie Arbeitsplatzwahl wird durch den draft für alle Beteiligten außer Kraft gesetzt mit voller Unterstützung durch die Athleten. Die Kommerzialisierung des amerikanischen College Sports wird zurecht kriti­ siert (Barnes 2020). Bei dieser Kritik wird aber häufig übersehen, dass das System zu­ gleich auch eine starke Talentförderung in den weniger medienwirksamen, aber klas­ sischen Olympia-Sportarten, etwa Schwimmen, Leichtathletik, Ringen oder Turnen,

8 So hat beispielsweise der talentierte Running Back Saquon Barkley die Pennsylvania State Universi­ ty vorzeitig verlassen, um sich den New York Giants bei einem Jahresgehalt von 1,9 Millionen US-Dollar anzuschließen – eine ökonomisch durchaus nachvollziehbare Entscheidung. Das größte BasketballTalent der USA, Zion Williamson, hat die Duke University nach nur einem Jahr verlassen, um einen Vertrag mit 10 Millionen Jahresgehalt bei den New Orleans Pelicans zu unterschreiben. 9 Zwischen den Universitäten innerhalb einer Konferenz gibt es immer einen Wettbewerb um die Fra­ ge, wie viele Sportler tatsächlich ihren Abschluss schaffen (sog. graduation rate) und welchen Noten­ schnitt die Sportler erzielen. Dem zumindest in Deutschland verbreiteten Vorurteil, dass in den USA Top-Sportler gar nicht wirklich studieren müssen, kann eindeutig widersprochen werden. 10 Theoretisch wäre es zwar denkbar, dass schlechte Mannschaften am Ende der Saison absichtlich verlieren, um Zugriff auf das größte Talent zu erhalten: Man spricht vom sog. „tanking“. In der Praxis wäre es jedoch sehr schwierig, eine solche Strategie durchzusetzen, ohne später von der NFL sanktio­ niert zu werden – bis hin zum Ausschluss von Mannschaften.

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ermöglicht. Üblicherweise erwirtschaften die großen Sportarten American Football und Männer-Basketball dem athletic department große Gewinne und damit die Mög­ lichkeit, andere Sportarten quer zu subventionieren. So verlangt die NCAA, dass im Normalfall alle angebotenen Sportarten für Männer und für Frauen organisiert wer­ den – mit Ausnahme des American Football. Selbst wenn weniger medienwirksame Sportarten wie Feldhockey, Lacrosse, Ringen oder rhythmische Sportgymnastik kei­ ne Einnahmen erzielen, können die Talente unter extrem professionellen Bedingun­ gen für vier Jahre ihrer Randsportart nachgehen und erhalten Stipendien. Dies erklärt auch, warum die USA als einzige große Sportnation aus dem Westen in den OlympiaSportarten mit den Mannschaften aus nicht-demokratischen Ländern mithalten kann, gerade auch in der Leichtathletik, im Turnen und im Schwimmen.

2.3 Talentförderung in nicht-demokratischen Systemen Im Idealfall geht es bei der sportlichen Talentförderung um die Unterstützung von motivierten jungen Menschen, die freiwillig und mit Begeisterung eine Sportart betrei­ ben. Wie auch der Deutsche Fußball-Bund (DFB 2020b) in seinen Richtlinien festlegt, sollte Talentförderung weitestgehend ohne Zwang erfolgen. Wenn die Eigenmotiva­ tion fehlt, ist ohnehin nicht auf Dauer mit einem sportlichen Erfolg zu rechnen (Joch 2001; Hohmann et al. 2002). Der weltweite Vergleich von Talentförderung und der historische Rückblick auf die Talentförderung in der früheren UdSSR oder der DDR zeigen jedoch, dass es auch Zielsetzungen geben kann, bei denen das Athletenwohl keinesfalls im Vordergrund stehen muss. So findet sich beispielsweise in einem Lehrbuch zum Handballsport vom DTSB der DDR in Leipzig der Hinweis, dass die Sportförderung die Überlegenheit des sozialistischen Systems auch nach außen aufzeigen soll, die individuelle Rolle des Athleten also eindeutig hinter dem größeren politischen Auftrag zurückstehen muss: Man sprach von Sportlern der DDR als den „Diplomaten im Trainingsanzug“. Eine freie Auswahl der Sportart durch den Athleten war in der DDR nicht gegeben. Es musste die Sportart ausgeübt werden, die nach frühkindlicher Diagnostik die größ­ te Erfolgswahrscheinlichkeit ergab. Bei den ausgewählten Athletinnen und Athleten (und deren Eltern) war der Anreiz zur Befolgung aber sehr groß, denn erfolgreiche Sportler hatten das seltene Privileg, auf Auslandsreisen gehen zu dürfen und auch bei der Vergabe von knappen Gütern (Wohnungen, Autos) bevorzugt zu werden. In der DDR war zudem die Neigung zu Doping und anderen der Verabreichung von leistungssteigernden Präparaten stark ausgeprägt – teilweise sogar ohne Kennt­ nis der Talente und in Ausnahmefällen sogar gegen deren Willen. Doping ist zwar keineswegs nur auf totalitäre Staaten beschränkt (ausführlich: Daumann 2008), aber aufgrund fehlender demokratischer Kontrolle und gelenkter Presse sehr viel wahr­ scheinlicher. In westlichen Ländern wird die Entscheidung für Doping zumeist auf individueller Ebene getroffen – etwa im Radsport und dort von mafia-artigen Struktu­

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ren unterstützt. In nicht-demokratischen Systemen wie der früheren DDR ist Doping hingegen ein Werkzeug im Systemvergleich. Eine neutrale und wissenschaftliche Aufarbeitung der Talentförderung in der DDR verbietet jedoch, alle DDR-Sportler grundsätzlich unter einen Generalverdacht zu stellen und ausschließlich das Doping-Thema zu betonen. Eine relativ aktuelle wis­ senschaftliche Ausarbeitung der sächsischen Akademie der Wissenschaften (Adam et al. 2015) zeigt, dass eine objektive und unvoreingenommene Sichtweise in der un­ mittelbaren Zeit nach der Wende gar nicht möglich und erwünscht war. Die Autoren verweisen deshalb methodisch sauber auf die bundesrepublikanische Literatur zu diesem Thema vor 1990 in Abgrenzung zur Literatur der DDR vor 1990 zum gleichen Thema und auf die gesamtdeutsche und internationale Literatur nach 1990 und die aktuellen Studien, in denen ein neues Interesse an der Sportförderung in der DDR jenseits des Dopings aufkommt. Themen sind beispielsweise die Vereinbarkeit von Spitzensport und Schule sowie Spitzensport und Beruf – Fragen, die völlig neutral diskutiert werden können. Talentförderung in nicht-demokratischen Systemen ist allerdings keineswegs ei­ ne historische Randnotiz. Die vollständige Sperre russischer Athleten als Folge des sog. McLaren Reports (WADA 2016a, 2016b) zeigt eindeutig, dass das Athletenwohl auch heute noch mancherorts staatlichen Zielen und großer Geltungssucht unterge­ ordnet werden. So verweist McLaren in seinem abschließenden Bericht zu Russland auch auf den systematischen Einsatz von Dopingmitteln im Jugendbereich: Statt von Talentförderung wäre es hier angebracht, von Talentmissbrauch zu sprechen. Doping in nicht-demokratischen Systemen oder Staatsdoping wie in Russland üben zudem auch starke negative Effekte auf Sportler aus demokratischen Systemen mit konsequenten Doping-Kontrollen aus – gerade in den csm-Sportarten. Die fehlen­ de Chancengleichheit im Wettkampf mit gedopten Athleten kann die Motivation und Bereitschaft verringern, in diese Sportarten überhaupt zu investieren.

3 Talentförderung im Bereich des europäischen Profi-Fußballs 3.1 Der europäische Kontext: Das Bosman-Urteil des EuGHs Der Name Jean Marc Bosman ist nur wenigen Fußballfans wirklich bekannt. Wenn jedoch die Auswirkungen des sog. „Bosman-Urteils“ des Europäischen Gerichtsho­ fes (EuGH) aus dem Jahr 1995 auf die heutige europäische Sportlandschaft diskutiert werden, dann kann Bosman durchaus als der einflussreichste Fußballer aller Zeiten bezeichnet werden (ausführlich: Binder & Findlay 2012; Wentzel & Saldsieder 2014; Duval & Van Rompoy 2016). Das Bosman-Urteil ist im Übrigen auch das meistzitier­ te Urteil des EuGHs aller Zeiten. Nach dem Rechtsspruch des EuGHs sagte Bosman

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in durchaus realistischer Selbsteinschätzung: „I believe that my name will forever go down in the history of football“. Bis zu der Klage von Bosman gab es im europäischen Profifußball spezifische Re­ geln zur Begrenzung von ausländischen Spielern. So galt die Regel, dass jede Mann­ schaft lediglich drei „Ausländer“ gleichzeitig auf dem Platz haben durfte. Diese Regel war einerseits zum Schutz der eigenen Nachwuchsspieler gedacht, denn sie begrenz­ te die Transfermacht der großen Vereine und förderte die Notwendigkeit, Spieler der eigenen Nationalität einzusetzen. Durch die Ausländerregel konnten sich finanzkräf­ tige Vereine zwar mehrere internationale Stars kaufen, aber eben nur drei zeitgleich einsetzen. Der „ordnungspolitische Urknall“ (Wentzel & Saldsieder 2014) im Profifußball kam dann durch das Urteil des EuGHs zustande, der die Ausländerregel als Verstoß gegen die Freizügigkeiten der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 rügte. Der EuGH stellte fest, dass die Freizügigkeit für Arbeitnehmer grundsätzlich auch für alle Profisportler gelte (nicht nur für Fußballer) und dass die Verbände zwar eine eigenständige Regelungsgewalt hätten, aber eben nicht zur Begrenzung grundle­ gender europäischer Freiheiten. Ebenfalls urteilte der EuGH, dass Spieler zwar zur Vertragstreue verpflichtet wären, nach Ablauf ihrer Tätigkeit jedoch nicht daran ge­ hindert werden dürften, ein neues Arbeitsverhältnis in Europa aufzunehmen. Wenn ein Spieler also aus einem bestehenden Vertrag „herausgekauft“ wird, dann ist eine Ablösesumme rechtmäßig. Wenn der Vertrag hingegen ordnungsgemäß erfüllt wur­ de, dann kann der Spieler völlig ablösefrei wechseln. Diese Regelung hat, wie bereits einleitend erwähnt, weitreichende Konsequenzen für das Vertragsmanagement der Vereine und die Frage, wann ein wechselwilliger Spieler „optimal verkauft“ oder aber zur Vertragserfüllung gezwungen werden sollte (Frick 2009). Das Bosman-Urteil erschütterte den europäischen Profi-Sport in seinen Grund­ festen, denn es ist in der Tat ein einheitlicher Markt für Sportler entstanden oder, an­ dersherum formuliert: Aus dem nationalen Arbeitsfeld für Sportler wurde ein euro­ päischer Arbeitsmarkt. Dies hat auch weitreichende Konsequenzen für die Talentför­ derung und Talententwicklung. Einerseits haben der DFB und die Deutsche Fußball Liga (DFL) auf das Bosman-Urteil reagiert und alle Vereine, die eine Lizenz für die Bun­ desliga beantragen, zur Gründung von Nachwuchsleistungszentren gezwungen (DFB 2019). Andererseits haben sich Vereine in den kleineren europäischen Ländern, die nicht mit den finanziellen Möglichkeiten der großen fünf Ligen¹¹ mithalten können, auf die Entwicklung und Weiterveräußerung von Talenten spezialisiert. Vereine wie

11 Als die fünf großen Ligen (auch Big 5) werden England, Spanien, Deutschland, Italien und Frank­ reich eingestuft. England und Spanien haben aus verschiedenen kulturellen Gründen international bessere Vermarktungsmöglichkeiten. Zum Teil hängt das auch damit zusammen, dass diese Ligen deutlich spannender sind, was den Ausgang der Meisterschaft angeht.Allerdings könnte der Brexit und die dadurch entstehende Beschränkung der Freizügigkeit in Europa die Verhältnisse neue ord­ nen (Wentzel 2019).

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Ajax Amsterdam und der FC Porto haben sozusagen aus der Talententwicklung ein Geschäftsmodell gemacht. Der von den Kritikern des Bosman-Urteils befürchtete Zusammenbruch der Ligen und die Schädigung der Nachwuchsarbeit sind keineswegs eingetreten. Allerdings hat der Richterspruch beachtliche Auswirkungen auf die Konzentrationstendenzen im Profifußball und auf die Verschlechterung der wettbewerblichen Ausgeglichenheit (competitive balance), denn nun können sich die großen und finanzkräftigen Ver­ eine quasi internationale Wunschmannschaften zusammenstellen. Durch die neuen Ordnungsbedingungen ist es also wesentlich einfacher geworden, finanzielle Macht auch in sportlichen Erfolg umzusetzen. Auf internationaler (europäischer) Ebene tre­ ten jetzt sehr prominente Mannschaften in der Champions League gegeneinander an, die aber auf nationaler Ebene kaum noch nennenswerte Konkurrenz haben – eine wettbewerbspolitisch und sportökonomisch bedenkliche Entwicklung.

3.2 Das Ausbildungsparadoxon: Kaufen oder Ausbilden von Talenten Die Frage, wer Talente und Nachwuchskräfte ausbilden soll, ist keinesfalls auf den Sport begrenzt (ausführlich: Ritz & Thom 2017). Das derzeit wohl größte Problem des deutschen Arbeitsmarktes ist der sog. Fachkräftemangel. Ob Zimmerleute, Klempner, Schneider oder Bäcker: Alle klagen über einen Mangel an geeignetem und qualifizier­ tem Nachwuchs: Doch wer soll diese ausbilden? Die Ausbildung von jungen Leuten und Jugendlichen ist für die Unternehmen mit vielen Unwägbarkeiten und ökonomi­ schen Risiken verbunden. Für manche Unternehmen kann es eine erfolgreiche Stra­ tegie sein, nicht auszubilden und dann denjenigen qualifizierten Absolventen attrak­ tive Löhne zu bieten, um sie vom Ausbildungsbetrieb wegzulocken. Die würde zum klassischen Ausbildungsparadoxon führen. Spieltheoretisch argumentiert: Wenn al­ le Unternehmen eine (dominante) Strategie des „Abwartens und Abwerbens“ verfol­ gen, dann würden keine Nachwuchskräfte mehr ausgebildet und der entsprechende Arbeitsmarkt würde kollabieren. Auch für den Sport und insbesondere für den Fußballsport ist das Ausbildungspa­ radoxon offensichtlich. Doch ob Vereine tatsächlich in Nachwuchs investieren, hängt von den Rahmenbedingungen des Transfermarktes und der Finanzkraft der Vereine ab. Eine einfache spieltheoretische Überlegung kann dies verdeutlichen (siehe Tabel­ le 1): Es existieren nur zwei Vereine A und B und beide sind zudem finanziell gleich stark. Es existiert kein externer Markt für Talente, auf dem sich die Vereine bedienen könnten. Wenn beide Vereine nun in den Nachwuchs investieren, erhalten sie ein Nut­ zenniveau von 5. Investiert kein Verein in den Nachwuchs (wie beim Fachkräfteman­ gel), dann erhalten beide das schlechteste Nutzenniveau von jeweils 0. Investiert nur ein Verein, so kann der Ausbildungsverein seine besten Talente behalten und einen

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Tab. 1: Gleichgewicht bei finanziell gleich starken Vereinen ohne externen Spielermarkt. Eigene Darstellung. Verein B Verein A Ausbilden Kaufen

Ausbilden 5/5 1/6

Kaufen 6/1 0/0

Tab. 2: Gleichgewicht bei finanziell ungleichen Vereinen ohne externen Spielermarkt. Eigene Dar­ stellung. Verein B Verein A Ausbilden Kaufen

Ausbilden 5/5 0/6

Kaufen 6/5 0/0

Teil seiner Talente veräußern – sein Nutzenniveau steigt auf 6. Der nicht ausbilden­ de Verein kann ebenfalls sein Nutzenniveau auf 1 verbessern und zumindest einen kleinen Zugang zu Spielern erhalten. Unter den gegebenen Annahmen dieses Modells wäre es also für beide, finanziell gleich starke Vereine die dominante Strategie, Talen­ te auszubilden. Eine kleine Veränderung der Annahmen führt jedoch zu einem anderen Gleich­ gewicht (siehe Tabelle 2). Wenn Verein A klein und finanziell schwach wäre, Verein B jedoch groß und finanziell stark, dann ändern sich die Strategien sofort. Noch immer erreichen beide den Wert 5/5, wenn ausgebildet wird und 0/0, wenn nicht ausgebildet wird. Allerdings ändern sich die gemischten Strategien. Der finanzschwache Verein hat nicht die Möglichkeit des Zukaufens: diese Strategieoption ist 0/5. Für ihn ist es deshalb zweckmäßig, auszubilden und einen Teil seiner Talente (vermutlich die Bes­ ten) zu verkaufen. Der finanzstarke Verein B hat den Anreiz, die besten Talente von A abzuschöpfen und so ein hohes Nutzenniveau 6/6 zu erzielen. In der Realität ist die Annahme, dass kein externer Spielermarkt existiert, jedoch nicht aufrechtzuerhalten. Weltweit werden junge Spieler ausgebildet, ob in Afrika, La­ teinamerika oder Asien mit dem primären Ziel, den Weg in die fünf großen europäi­ schen Ligen zu schaffen. Die Kaufentscheidung ist also realiter immer möglich, un­ abhängig davon, ob ein Verein ausbildet oder nicht. Zudem greift eine ausschließlich ökonomische Analyse der Ausbildung zu kurz, denn Jugendarbeit ist eines der zentra­ len Instrumente, um einen Verein in einer Region, bei den Fans und in der Bevölke­ rung zu verankern. Eine Talentakademie in einer kleineren Stadt wie die des SC Frei­ burg oder von Borussia Mönchengladbach haben in ihrer Region einen Stellenwert, der weit über den Fußball hinausgeht. Ausbildungsvereine sind in gewisser Hinsicht auch ein Markenzeichen eines Vereins für die Verbundenheit mit der Region. Auch dies stiftet für den Verein einen Nutzen im Sinne eines Reputationsgewinns.

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Ebenso wie die Ausbildung ist auch der Kauf eines Spielers mit Unwägbarkeiten über die zukünftige Leistungsfähigkeit verbunden. Die sog. risky worker-Theorie be­ sagt, dass bei der Einstellung eines neuen Mitarbeiters nur bestimmte harte Fakten beobachtbar sind, viele weiche Faktoren aber erst mit der Einstellung sichtbar wer­ den: Dies gilt für Manager, Professoren, Lehrlinge – und eben auch für Profisportler. Der Kauf eines einzelnen Spielers kann durchaus kläglich scheitern. Der berühmte Fall des Kalle del Haye, der 1980 mit seinem Wechsel zum FC Bayern der erste Millio­ nentransfer der Bundesliga wurde, gilt als das Musterbeispiel eines Fehleinkaufs und sinnbildlich für die Fußballer-Weisheit: „Geld schießt keine Tore“. Aber in der großen Zahl wird sich ein finanzkräftiger Verein durch den Ankauf von vielen Spielern immer gegen finanzschwächere Teams durchsetzen: Geld schießt also doch Tore. So ist bei­ spielsweise der Marktwert des FC Bayern München größer als die kompletten Kader aller Bundesligisten von Platz 9 bis Platz 18 zusammen¹². In einem einzelnen Spiel kann durchaus der David einmal den Goliath besiegen – aber nicht über eine Saison mit 34 Spielen. Allerdings wird die Kaufstrategie im europäischen Markt schwieriger und risiko­ reicher. Bei seinem Wechsel zum FC Barcelona im Jahr 1982 kostete Diego Maradona umgerechnet 8 Millionen Euro Ablösesumme. Bei seinem Wechsel zu Paris Saint Ger­ man im Jahr 2017 kostete Neymar 222 Millionen Euro. Vereine außerhalb der Big 5 sind ohnehin nicht mehr in der Lage, Top-Talente zu halten oder gar zu kaufen – ganz im Sinne des zweiten Falles der spieltheoretischen Analyse. Obwohl die Nationalmann­ schaften von Holland, Dänemark oder Kroatien in internationalen Turnieren gut mit­ halten können, sind die Vereinsmannschaften international nur noch begrenzt wett­ bewerbsfähig, weil sie alle Top-Spieler an die Big 5 Ligen abgeben. Der Konzentra­ Tab. 3: Transfers mit der höchsten Ablösesumme. Datenquelle: Transfermarkt.de 2021, Stand: 16. Januar 2021. Spieler

Verein

Ablösesumme [in Mio. Euro]

Neymar da Silva Santos Júnior Kylian Mbappé Philippe Coutinho Ousmane Dembélé João Félix Antoine Griezmann Cristiano Ronaldo Eden Hazard Paul Pogba Gareth Bale

Paris St. Germain Paris St. Germain FC Barcelona FC Barcelona Atlético Madrid FC Barcelona Juventus Turin Real Madrid Manchester United Real Madrid

222 145 145 130 127,2 120 117 115 105 101

12 https://www.transfermarkt.de/1-bundesliga/startseite/wettbewerb/L1 (zuletzt abgerufen am 03. März 2020).

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tionsprozess findet sowohl national (sog. Siegermarkteffekte) als auch international statt. Auch für deutsche Vereine, die durch die 50+1 Regel in ihren Finanzierungsmög­ lichkeiten im europäischen Vergleich eingeschränkt sind, erweisen sich die Kaufge­ schäfte auf internationaler Ebene als zunehmend schwierig. Bei den zehn größten Transfers (siehe Tabelle 3), die sich mittlerweile alle im dreistelligen Millionen-Bereich abspielen, ist bisher kein deutscher Verein vertreten. Die Entwicklung der Transfer­ summen verdeutlicht, wie groß die Nachfrage nach Superstars im Sinne von Rosen (1981) ist.

3.3 Kosten und Erträge von Talentausbildung Die Kosten der Talententwicklung sind relativ gut und eindeutig messbar. So entste­ hen Ausgaben für Trainer und Betreuer, Trainingsgelände, Trainingskleidung, Fahr­ ten zu Auswärtsspielen, Übernachtungskosten und vieles mehr. Als Daumenregel in den Talent-Akademien gilt, dass im Durchschnitt in etwa 10.000 Euro pro Talent pro Jahr investiert werden. Dies bestätigen auch die Statuten des DFB: Wechselt ein Spieler von einer Talent-Akademie in eine andere, sind pro Jahr ab der U12 9.000 Euro Aus­ bildungsentschädigung zu zahlen. Bei Talenten, denen bereits ein Vertragsangebot vorlag, wird dieser Betrag verdreifacht auf 27.000 Euro pro Jahr (DFB 2020b). Nutzen und Erträge von selbstausgebildeten Spielern hingegen haben zwei Di­ mensionen: Erstens der reine Verkaufserlös, den ein Spieler beim Wechsel zu einem neuen Verein erzielt. Zweitens der Nutzen, den ein „home grown player“ durch erfolg­ reiche Spiele für den eigenen Verein erzielen kann. Lionel Messi vom FC Barcelona gilt nach verschiedenen Kriterien als der erfolgreichste Fußballer aller Zeiten. Er wurde in Barcelona ausgebildet und hat bisher auch nur für diesen Verein gespielt, dessen großen Erfolge in den letzten Jahren eindeutig mit seiner Leistung zusammenhängen. Ein Verein maximiert also seinen gesamten Ausbildungsertrag, wenn ein selbst ent­ wickelter Spieler einen begrenzten Zeitraum erfolgreich für den eigenen Verein spielt und dann für eine hohe Summe transferiert werden kann. Ein besonders erfolgreiches Beispiel für finanzielle Erträge aus dem Verkauf von Talenten ist die sog. „Knappenschmiede“ des FC Schalke 04. – Manuel Neuer wechselte 2012 für 25 Mio. Euro zum FC Bayern – Julian Draxler wechselte 2015 für 35 Mio. Euro zum VfL Wolfsburg – Leroy Sane wechselte 2017 für 50,5 Mio. Euro zu Manchester City (PL) – Thilo Kehrer wechselte 2018 für 37 Mio. zu Paris Saint Germain (L1) – Max Meyer wechselte 2018 für 18 Mio. zu Chrystal Palace (PL) Allein mit diesen fünf Talenten konnte der FC Schalke 04 insgesamt 165,5 Mio. Euro Einnahmen erzielen. Geht man von etwa 2 Mio. Euro Kosten für ein Nachwuchsleis­ tungszentrum (NLZ) pro Jahr aus (ca. 200 Jugendspieler mal 10.000 Euro durchschnitt­

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liche Jahreskosten), so hätte der FC Schalke sein NLZ für ganze 82 Jahre finanziert. Offensichtlich eine mehr als lohnende Investition.

3.4 Das Zusammenspiel von Verband (DFB) und kommerziellen Interessen Der DFB ist mit ca. 7 Millionen Mitgliedern der größte nationale Sportfachverband weltweit. Ungefähr ein Drittel der Mitglieder sind noch minderjährig. Der DFB und die zahlreichen ehrenamtlichen Trainer und Jugendbetreuer erfüllen einen wichtigen erzieherischen Auftrag. Etwa 25.000 Vereine in 26 Landes- und Regionalverbänden dokumentieren vor allem eines: Fußball in Deutschland ist ein Massenphänomen und die wirtschaftliche Bedeutung dieses Sports überragt andere Sportarten um ein Viel­ faches. Der DFB ist auch ein treibendes Element in der Jugendarbeit, obwohl der Ver­ band nicht nur kommerzielle Interessen verfolgt, sondern auch eine klare Aufgabe im Breitensport hat. Vom DFB zu unterscheiden ist die DFL, die 2000 von den Vereinen der 1. und 2. Bundesliga gegründet wurde – mit Unterstützung und rechtlicher Bestätigung durch den DFB. Die DFL spielt auch eine wichtige Rolle in der Talentförderung, denn alle Vereine, die eine Lizenz für den Spielbetrieb erhalten wollen, müssen eine Talent­ akademie errichten und diese nach hohen sportlichen und pädagogischen Kriterien zertifizieren lassen. Das Stützpunktsystem des DFB wurde im Jahr 2000 eingeführt, nachdem die deut­ sche Nationalmannschaft eine sehr schwache Europameisterschaft gespielt hatte und bereits in der Vorrunde ausgeschieden war. In landesweit 366 Stützpunkten koordi­ nieren 1.300 Stützpunkttrainer mit 29 Stützpunkt-Koordinatoren ein wöchentliches Zusatztraining für Talente der Jahrgänge U12, U13, U14 und U15, die aber weiterhin in ihren jeweiligen Amateurvereinen spielen (ausführlich: DFB 2020b). Natürlich sind die Scouts der großen Vereine stets aufmerksame Zaungäste bei den öffentlichen Trai­ ningseinheiten. Die Top-Talente wechseln schon früh in die Talent-Akademien der großen Vereine. Ab der U15 findet kein Stützpunkt-Training mehr statt. Spätestens ab diesem Zeitpunkt kann (eigentlich) kein Top-Talent mehr bei einem „Dorf-Verein“ ver­ bleiben. Ein besonderes Merkmal der Talentförderung in allen Sportarten ist die Verein­ barkeit von Schule und Sport. Spitzensportler tragen ein ausgesprochen hohes Ver­ letzungsrisiko, das schon in jungen Jahren zur Beendigung der Karriere führen kann. Dies muss nicht notwendigerweise Invalidität bedeuten, aber zumindest das Ende ei­ ner Laufbahn auf dem Niveau von Spitzensportlern. Aus diesem Grund ist es notwen­ dig, das Verhältnis von Schule und Sport so zu organisieren, dass ein Schulabschluss möglich ist. Für die sog. Eliteschulen des Sports (DFB 2020a) ist dieser Koordinationsaufwand hoch, denn jede Sportart hat eigene spezifische Anforderungen. So haben Leistungs­

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schwimmer fast immer Trainingseinheiten schon vor der Schule, was einen immensen organisatorischen Aufwand erfordert. Spitzenfußballer trainieren häufig zweimal täg­ lich – auch dies muss mit der Schule und den Lehrkräften koordiniert werden. Ab der U15 findet die Talentförderung ausschließlich in den Talent-Akademien der Profi-Ver­ eine statt, die ebenfalls eng mit den Eliteschulen des Sports zusammenarbeiten. Man kann diese Elite-Schulen des Sports quasi als eine Private Public Partnership bezeich­ nen, also als ein Zusammenspiel von privaten (individuellen und kommerziellen) und staatlichen Interessen zum Vorteil beider Parteien.

4 Empirische Betrachtung der Talentförderung Alle Talent-Akademien haben das gleiche Ziel: Wie kann das eine Talent gefördert wer­ den, das entweder für den eigenen Verein große sportliche Erfolge erzielt oder aber für eine große Ablösesumme verkauft werden kann, um die finanzielle Basis für die wei­ tere Jugendarbeit zu leisten? Geld alleine kann den Erfolg oder Misserfolg aber nicht erklären: Während der FC Barcelona und seine berühmte Schule „La Masia“ die er­ folgreichste Jugendarbeit weltweit betreiben, hat der große nationale Konkurrent, Re­ al Madrid, kaum spektakuläre Erfolge bei der Jugendarbeit vorzuweisen. Er setzt auf den Zukauf spektakulärer Superstars. Wo genau liegen die Unterschiede?

4.1 Individuelle und kollektive Erfolgswahrscheinlichkeiten Wenn ein Kind im Alter von neun oder zehn Jahren in eine Talent-Akademie eintritt, ist aus einer seriösen wissenschaftlichen Perspektive nicht vorherzzusagen, ob ein Durchbruch in zehn Jahren hin zum Profifußball möglich ist. Die weiter oben analy­ sierten Elemente der Talentfunktion sind so komplex, dass eine zielgenaue Prognose nicht möglich ist. Hinzu kommen mögliche Verletzungen, frühe Ermüdungserschei­ nungen des Körpers, die Pubertät als biologische Zäsur, charakterliche Herausforde­ rungen, persönliche Dramen im Umfeld (etwa die Scheidung von Eltern) und viele andere Zufallselemente, die eine zielgenaue Prognose im Einzelfall unmöglich ma­ chen. Allerdings gibt es kollektive Wahrscheinlichkeiten, die in jeder Talentakademie als Daumenregeln existieren und die eine erstaunliche statistische Robustheit aufwei­ sen: Von jedem Jahrgang kommen in der Regel ein bis zwei Spieler durch. Diese Dau­ menregel ist nicht wirklich präzise, denn die Kadergrößen von Jugendmannschaften sind üblicherweise sehr unterschiedlich. In einer U10-Mannschaft sind üblicherwei­ se zehn bis zwölf Spieler aktiv, in der U19-Mannschaft ca. 28 Spieler. Im Schnitt über alle Jugendmannschaften kann man von einer Mannschaftsgröße von 20 Spielern aus­ gehen. Wenn die Daumenregel gilt, dann kämen etwa fünf Prozent aller geförderten Spieler ans Ziel.

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Eine genaue empirische Überprüfung dieser Zahlen ist schwierig, weil die meis­ ten Clubs die Daten ihrer Jugendspieler aus verschiedenen Gründen sehr vertraulich behandeln. Wentzel und Vogel (2013) haben deshalb in einem Beitrag¹³ einen sehr ein­ fachen Ansatz gewählt, in dem sie für alle Mannschaften der ersten und der zweiten Bundesliga die Zahl der aktiven Jugendspieler anhand des Internet-Auftritts der Ver­ eine ausgezählt haben und diese in Relation zu den Eigengewächsen im Profikader in Relation gesetzt haben. Basierend auf den Zahlen für die Saison 2012/13 wurden beispielsweise beim FC Bayern 216 Spieler im Jugendbereich gezählt und im damals aktuellen Profikader spielten acht Spieler, die im eigenen FC Bayern Campus ausge­ bildet wurden. Wentzel und Vogel (2013) bezeichnen diese Zahl als α, also ausgebildet im eigenen Verein und als Profi aktiv im eigenen Verein. Allerdings ist es in einem Verein wie dem FC Bayern mit einem starken Profikader für Jugendspieler schwierig, sich gegen aktuelle Topstars durchzusetzen. Der α-Fak­ tor läge gerade einmal bei 2,75 %. Deshalb ist auch zu prüfen, inwieweit sich Spie­ ler der Jugend-Akademie in anderen Vereinen durchsetzen: Dies kann als β-Faktor bezeichnet werden. Hier hatte der FC Bayern in der untersuchten Saison einen sehr guten Wert, denn 25 in München ausgebildete Spieler hatten den Weg in andere Ver­ eine der ersten und zweiten Bundesliga geschafft. Die Durchlässigkeit zwischen der Jugend und der Profimannschaft sagt also als isolierter Faktor noch nichts über die Qualität der Jugendarbeit eines Vereins aus. Die aggregierten Zahlen für alle Spieler ergaben einen α-Faktor von 5,06 % für die erste Bundesliga und einen Wert von 7,5 % für die zweite Bundesliga. Die alte Trainer-Daumenregel „einer kommt durch“ hat also bei Anwendung dieser einfachen Messmethode durchaus statistische Evidenz. Aller­ dings sind alle „fußballverrückten Eltern“, die ihr Kind in der U9 zu einem Profi-Verein bringen, der festen Überzeugung, dass ihr Kind „der Auserwählte“ sein wird.

4.2 Der relative Alterseffekt (RAE): Eine statistische Anomalie in der Talentselektion Bei der Selektion von Talenten geht es viel um statistische Werte und Wahrscheinlich­ keiten. Wenn die Eltern eines Talentes beispielsweise beide groß sind, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass auch das Kind relativ groß werden wird. Statistiken können hilfreich sein, um Potenziale zu entdecken und Fehlentwicklungen aufzuzeigen¹⁴. Bei der statistischen Auswertung der Geburtsmonate von Talenten ergibt sich ei­ ne statistische Anomalie, die vermuten lässt, dass die Ausbildung von Talenten nicht

13 Beitrag vorgestellt auf der fünften ESEA Konferenz Sport and Economics in Esbjerg, Dänemark 2013. 14 Grundsätzlich hat der Einsatz von Statistiken („Big Data“) im Fußball stark zugenommen (Wirt­ schaftswoche 2018).

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optimal läuft und das deutliche Verbesserungspotenziale existieren. Die Rede ist vom sog. relativen Alterseffekt (RAE). Die Einteilung der Jugendmannschaften im Fußball erfolgt nach einem Stich­ tag. Die Kinder werden nach ihren Geburtsjahrgängen in bestimmte Altersklassen (U7–U19) eingeteilt. Der Stichtag ist hier immer der 1. Januar, so dass Spieler mit die­ sem Geburtsdatum durchaus mit Kindern zusammenspielen können, die am 31.12. des gleichen Jahres Geburtstag haben. De facto ist das Talent vom 1. Januar dann ein Jahr älter als das Kind vom 31.12. Tritt ein Kind mit zehn Jahren in eine Talent-Aka­ demie ein, kann der Entwicklungsvorsprung beinahe zehn Prozent seines Lebens im Vergleich zu einem anderen Mitspieler ausmachen – mit entsprechend mehr Trai­ ningseinheiten, Wettkämpfen und Spielerfahrung. Wird die Verteilung der Geburtsmonate in einem Jahrgang in der Normalbevöl­ kerung mit den jeweiligen Jahrgängen im Fußball verglichen, lässt sich eine starke Diskrepanz feststellen. Die frühen Monate des Jahres sind bei den Fußballern stark überdurchschnittlich vertreten, die späten Monate stark unterdurchschnittlich (siehe Abbildung 1). Bei diesem Effekt spricht man vom relativen Alterseffekt (englisch „re­ lative age effect“). Der RAE ist aber keineswegs nur ein Effekt des Fußballs. Wird bei­ spielsweise die Verteilung der Kinder an einem Gymnasium in einer 5. Klasse betrach­ tet, lässt sich folgendes feststellen: Auch hier ist der RAE vorhanden. Relativ ältere Kinder, die früher im Jahr geboren wurden, haben eine deutlich höhere Wahrschein­ lichkeit, eine Gymnasialempfehlung zu erhalten (Jürges & Schneider 2006). Der RAE ist ein Phänomen, das schon seit über 30 Jahren in unterschiedlichen Be­ reichen der Pädagogik und Talentselektion erforscht wird. Dennoch ist bis heute kein Lösungsvorschlag entwickelt worden, wie dieser Effekt im Bereich der sportlichen Ta­ lentförderung verhindert werden könnte. Bei der statistischen Untersuchung des RAE werden die relativen Häufigkeiten der Geburtsmonate eines Jahrgangs in unterschied­ lichen zeitlichen Intervallen (halbjährlich, quartalsweise oder monatlich) analysiert. Die meisten Kinder kamen in den letzten 30 Jahren in den Sommermonaten zur Welt. Im Vergleich zu den Geburtsmonaten der Fußballprofis lässt sich feststellen, dass die meisten Spieler im ersten Halbjahr bzw. sogar im ersten Quartal geboren sind (siehe Abbildung 1). Daraus könnte gefolgert werden, dass die Fußballvereine entweder im Scouting die Mehrzahl der Kinder (Sommermonate) schlichtweg übersehen, dass das Scouting bzw. die Förderung nicht zielführend ist oder die Talentförderung in den Ver­ einen selbst möglicherweise einen unpräzisen Fokus setzt. Jedes Jahr werden große Beträge in die Jugendförderung weltweit investiert, in Deutschland seit der Einfüh­ rung der NLZ im Jahre 2000 insgesamt 1,57 Milliarden Euro (Deutsche Fußball Liga GmbH 2020). Eine hohe Summe, die gemäß den vorliegenden Statistiken bezüglich der Geburtsmonate noch nicht optimal eingesetzt wird. Bei genauerer Betrachtung der Auswirkungen des Effekts, wäre die Bezeichnung „relatives Altersproblem“ möglicherweise sinnvoller.

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Altersverteilung Deutschland U-19 Bundesliga Süd Saison 17/18 180

Anzahl der Spieler

160 140 120 100 80 60 40 20 0 Q1

Q2

Q3

Q4

Quartale Abb. 1: Altersverteilung Deutschland U-19 Bundesliga Süd Saison 2017/2018. Quelle: Eigener Daten­ satz T. Schmidt.

Verblüffend ist auch die Erkenntnis, „dass die bereits selektierten Nachwuchsta­ lente nahezu keine motorischen Leistungsunterschiede zwischen relativ Älteren und relativ Jüngeren aufweisen“ (Votteler 2017: 64). Dennoch ist der RAE sehr stark vorhanden. Außerdem steigt dieser in Bezug auf die unterschiedlichen Niveaustufen in Deutschland (Stützpunkte, Leistungszentrum, Auswahl, U-Nationalmannschaft) stetig an. Dieser Anstieg kann nicht auf den moto­ rischen Vorteil der relativ Älteren zurückgeführt werden, da dieser ab dem Niveau der Talent-Akademien nicht mehr vorhanden ist (Votteler 2017). Die untersuchten Zahlen bezüglich des RAE bestätigten die Quoten aus den bis­ herigen Forschungen. In der Bundesligasaison 2017/2018 sind doppelt so viele Spie­ ler im ersten Quartal geboren als im Letzen. Prozentual sind 57 % der Profispieler im ersten Halbjahr und nur 43 % der Spieler im zweiten Halbjahr geboren, obwohl die starken Geburtsmonate Juli, August und September sind (siehe Abbildung 2). Werden die Mittelwerte bezogen auf die Quartale betrachtet, ergibt sich folgendes Bild: Bei ei­ ner durchschnittlichen Kadergröße von 27 Spielern sind 8,7 im ersten Quartal, 7,9 im zweiten Quartal, 7,7 im dritten Quartal und 4,6 Spieler im vierten Quartal geboren. In der U19 Bundesliga Süd ist der prozentuale Unterschied der beiden Halbjahre noch stärker. Waren es in der ersten Herren Bundesliga 57 %, sind es in der Junioren­ bundesliga schon 71 % der Spieler, welche im ersten Halbjahr geboren sind. Fokussiert man den Blick auf die unterschiedlichen Quartale, lässt sich ein noch deutlicheres Bild erkennen. Bei einer durchschnittlichen Kadergröße von 25,6 Spielern in der U19 Bundesli­ ga Süd sind 11,5 der Spieler im ersten Quartal, 6,6 im zweiten Quartal, 5,1 im dritten Quartal und lediglich 2,4 Spieler im vierten Quartal geboren. In den U-Nationalmann­ schaften verschiebt sich das ganze Bild noch weiter in Richtung des ersten Quartals,

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43 % 57 %

1. Halbjahr

Abb. 2: Altersverteilung nach Geburtsmonaten 1. Bundesliga Saison 2017/2018. Quelle: Eigener Datensatz T. Schmidt.

2. Halbjahr

was in Anbetracht der geburtenstarken Monate sehr ungleiche Verhältnisse aufdeckt (siehe Abbildung 3). Anhand dieser Zahlen kann prognostiziert werden, dass statistisch gesehen ein Jugendspieler, der im vierten Quartal geboren ist, deutlich niedrigere Chancen be­ sitzt, später einmal in einer U-Nationalmannschaft zu spielen. Diese Aussage ist über­ raschend, denn sie kann nur auf Grundlage der Geburtsmonate und ohne eine Leis­ tungsanalyse getroffen werden. In der Saison 2018/2019 lassen sich nahezu die glei­ chen Zahlen feststellen. Auch ein Blick in die Premier League in England zeigt ein ähnliches Bild. 53 % der Spieler sind im ersten Halbjahr und nur 47 % der Spieler im zweiten Halbjahr gebo­ Altersverteilung Deutschland U-19 Bundesliga Süd Saison 17/18

U-Nationalmannschaften Deutschland 2017/2018

9%

9%

17 %

20 % 45 %

54 %

20 % 26 %

Q1

Q2

Q3

Q4

Q1

Q2

Q3

Q4

Abb. 3: Vergleich der Altersverteilung U-19 und U-Nationalmannschaften. Quelle: Eigener Datensatz T. Schmidt.

Ökonomische Fragen der Talentförderung im Fußball |

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ren. Die Union of European Football Associations (UEFA) veröffentliche im November 2016 in ihrem Magazin UEFA Direct hierzu vermeintliche Losungsansätze bezüglich des RAE. Der französische Fußballverband versucht beispielsweise mit Hilfe einer po­ sitiven Diskriminierung dem RAE entgegenzuwirken. Die Scouts des Verbands müssen eine bestimme Anzahl an Spieler auswählen, die zwischen Juli und Dezember geboren sind. Des Weiteren werden in der letzten Phase des Scoutingprozesses in der U17 aus­ schließlich Talente aus den letzten beiden Quartalen gescoutet. „Wir schließen dieje­ nigen mit Geburtsdatum zwischen Januar und Juli aus, weil sie bereits die Gelegenheit hatten, sich zu beweisen. Die Spieler der zweiten Jahreshälfte werden so ein weiteres Mal getestet.“ (UEFA 2016: 19), so Blaquart (technischer Direktor des Französischen Fußballverbands). Ein weiterer Lösungsansatz ist das „Bio-Banding“. Hierbei werden die Spielerin­ nen und Spieler nicht nach ihrem eigentlichen kalendarischen, sondern nach ihrem biologischen Alter eingeteilt. Ziel ist es, dass die Talente eine bessere Lernumgebung haben und die Chancengleichheit im Training verbessert wird. In England wurde im August 2015 das erste Bio-Banding-Turnier für Spieler mit einem Reifestadium von 85–90 % veranstaltet, an dem sich die vier Klubs Southampton, Stoke City, Norwich City und Reading beteiligten. Kleinere Fußball-Nationen wie beispielsweise Tschechien und Belgien setzen auf sogenannte Futur-Talent-Turniere für verschiedene Jahrgänge. Diese Turniere werden ausschließlich für Spieler aus dem letzten Quartal veranstaltet, um diesen nochmals eine besondere Plattform zu bieten. In Deutschland verstärkte sich der RAE gerade mit der Einführung der U15 Re­ gionalliga im Jahr 2010. Deshalb wurde 2017 entschieden, die Regionalliga Süd (Hes­ sen, Baden-Württemberg, Bayern) wieder zu verändern. Der bayerische Fußballver­ band hat sich aus der Regionalliga Süd komplett herausgezogen und die Liga, mit al­ len bayerischen Vereinen wie beispielsweise dem FC Bayern München, verlassen. Der Vergleich der Zahlen der U17 Mannschaften vor und nach der Teilung der Re­ gionalliga lässt dennoch keinen positiven Effekt, bezogen auf den RAE, feststellen (siehe Abbildung 4). Als Resümee lässt sich Folgendes feststellen: Die oben aufgeführten Lösungsan­ sätze tragen letztendlich nicht zur Verminderung des RAEs bei. In der heutigen Ge­ sellschaft wird ein Trainer oft nur an seinen Titeln bzw. an seinem Punkteschnitt ge­ messen. Auf Grundlage dessen verbunden mit der meist hauptamtlichen Tätigkeit der Trainer im U15-U19 Bereich und dem damit verbundenen Druck nach Erfolgen, wird der Trainer sich in den meisten Fällen für die physisch besseren Spieler entscheiden. Seht rein der Erfolg im Vordergrund, so ist ein großer und muskulöser Spieler der ver­ meintlich „bessere“ Spieler, um Erfolge zu erlangen, da dieser in den entscheidenden Zweikämpfen einen zumindest physischen Vorteil besitzt. Bei den U15 Junioren kann beispielsweise beobachtet werden, dass dort ein Größenunterschied von bis zu mehr als 30 cm vorhanden sein kann. Für die physisch schwächeren Spieler in diesem Alter ist dieser enorm große Unterschied meist nur sehr schwer auszugleichen. Ein Trainer

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U17-Mannschaften(Saison 19/20) nach der Teilung der Regionalliga U-15

80 70 60 50 40 30 20 10 0

60 Anzahl der Spieler

Anzahl der Spieler

U17-Mannschaften(Saison 18/19) vor der Teilung der Regionalliga U-15

50 40 30 20 10 0

Q1

Q2

Q3

Quartale

Q4

Q1

Q2

Q3

Q4

Quartale

Abb. 4: Vergleich der U17 Mannschaften vor und nach der Teilung der Regionalliga Süd (2017). Quel­ le: Eigener Datensatz T. Schmidt.

wird sich im Zweifel immer für den vermeintlich „besseren“ Spieler entscheiden und nicht auf die Verteilung der Geburtsmonate oder Ähnliches achten. Betrachtet man die unterschiedlichen Lösungsansätze, so lässt sich also ein wesentlicher Aspekt fest­ stellen: Der Aspekt des Erfolgsdrucks wird in den meisten Fällen außer Acht gelassen. Votteler (2017) betont in seinen Vorschlägen für Interventionsmaßnahmen unter anderem, dass Spieler, die relativ jünger sind aufgrund der vielen Möglichkeiten an Förderprogrammen des DFB (Stützpunkte) trotzdem eine gute Chance haben, auch im späteren Alter gescoutet zu werden. Dieser These kann nur mit starken Einschrän­ kungen zugestimmt werden. Bezieht man aber das Ziel der gesichteten Spieler mit ein, später Fußballprofi zu werden, verschlechtert sich die Wahrscheinlichkeit der erst später gesichteten Spieler enorm. Dieses Phänomen zeigt die nachfolgende statisti­ sche Analyse.

4.3 Der statistische Zusammenhang zwischen Erfolgswahrscheinlichkeiten und Beginn der Förderung Wie früh die Talentförderung in einer Akademie beginnen sollte, ist unter Praktikern umstritten. So vertritt Christian Titz (ehemals Chef-Trainer HSV) die These: Wenn die zusätzlichen Trainingseinheiten in den DFB-Stützpunkten wahrgenommen werden, kann bis zum Ende der C-Jugend auch der Jugendverein ausreichend sein. Manche Kids brauchen diese Entwicklungszeit. Ab der B-Jugend führt an den Akademien in der Regel aber kein Weg mehr vorbei. (Weidenfeller 2016)

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Die Gegenthese wird von Manuel Baum (ehemals Chef-Trainer FC Augsburg) vertreten: Das Ziel von allen Nachwuchsleistungszentren ist natürlich, Spieler möglichst früh zu bekom­ men, eine geringe Fluktuation und hohe Durchlässigkeit zu haben. . . Ich würde mittlerweile empfehlen, so früh wie möglich zu einem Nachwuchsleistungszentrum zu wechseln. Denn die Ausbildung dort ist richtig gut. (1x1 Sport 2020)

Die beiden Aussagen von bekannten Persönlichkeiten im Profi-Fußball führen zu dia­ metral entgegengesetzten Strategien. Die Frage, ob das eigene Kind so früh wie mög­ lich bei einem NLZ spielen soll oder wann der richtige Zeitpunkt für einen Wechsel in ein NLZ wäre, stellen sich womöglich viele Eltern bzw. Spieler. Die nachfolgende statistische Erhebung kann einen Beitrag zur Beantwortung dieser Frage leisten. Analysiert werden Fußballprofis der 1. Bundesliga und der Premier League (Eng­ land). Hierbei wird das Eintrittsalter der Spieler in eine Förderakademie oder einen Verein auf vergleichbar hohem Niveau untersucht. „Hohes Niveau“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Spieler, in einem NLZ (Deutschland) oder einem vergleich­ baren Niveau (mind. Regionalliga bzw. 3. Liga) gespielt haben. Spieler außerhalb der Top 5 Ligen werden in dieser Statistik erfasst, wenn der Ausbildungsverein mindes­ tens in der 2. Nationalen Liga des jeweiligen Landes gespielt hat. Hierbei wurden nur Spieler berücksichtigt, die zum Zeitpunkt der statistischen Erhebung (hier die Jahr­ gänge ab 1993) jünger als 25 Jahre alt waren. Ab diesem Zeitpunkt stieg die Förderung im Jugendfußball enorm an (u. a. 2001 in Deutschland: Gründung der NLZ). Untersucht wurden dabei insgesamt 814 Spieler: – Bundesliga Saison 2017/2018 (94 Spieler) – Bundesliga Saison 2018/2019 (140 Spieler) – Bundesliga Saison 2019/2020 (245 Spieler) – Premiere League Saison 2018/2019 (165 Spieler) – Premiere League Saison 2019/2020 (170 Spieler) Nach Abschluss der statistischen Erhebung ergab sich folgende Verteilung: Von den insgesamt 814 erfassten Spielern haben 65 % der Profis im Alter von 13 Jahren oder jünger in einem NLZ oder in vergleichbaren Mannschaften gespielt. Lediglich 18 % sind zu einem späteren Zeitpunkt hinzugestoßen. Bei 17 % der untersuchten Spieler konnte keine genauere Aussage getroffen werden. Vergleicht man die Spieler, über welche eine genaue Aussage getroffen werden kann, wird die Diskrepanz noch deutlicher: 527 der 671 untersuchten Profis spielten im Alter von 13 Jahren oder jünger auf einem hohen nationalen Niveau, was einem Prozentsatz von 79 % entspricht. Lediglich 21 % spielten zu diesem Zeitpunkt noch auf Amateurniveau (siehe Abbildung 5). Der Mittelwert des Eintrittsalter lag bei 10,94 Jahren. Das heißt, dass die meisten Profifußballer ab der U12 in einer Talent-Akademie oder auf einem vergleichbaren Ni­ veau spielten.

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Eintrittsalter Spieler unter 25 Jahren

21 %

79 %

13 oder jünger

über 13

Abb. 5: Eintrittsalter Spieler unter 25 Jahren mit bekannten Daten. Quelle: Eigener Datensatz T. Schmidt.

Wird der Blick nur auf die englische Premiere League gerichtet, ergibt sich die in Abbildung 6 dargestellte Verteilung. Diese Verteilung ist mehr als nur ein statistischer Ausreißer. Die Mehrheit der Pro­ fis spielte bereits im Alter von 7 bis 13 Jahren auf einem hohen nationalen Niveau. Das Maximum ist bei 8 Jahren zu erkennen. Wird die Statistik bezüglich des Eintrittsalters in die einzelnen Altersstufen (7 bis 18) unterteilt, ergibt sich eine ähnliche Verteilung wie bei den Untersuchungen über „Bildungsrenditen“ (Heckman 2007). Je früher in die Förderung investiert wird, desto höher ist die daraus resultierende Rendite (siehe Abbildung 7). Bezogen auf den Mittelwert von 10,94 Jahren und den Arbeiten von Heckman kann den NLZ geraten werden, die Förderung der Talente vor allem in den Bereich der U8 bis U12 zu verstärken und zu verbessern. Aktuell wird in den Talent-Akademien vor allem in den oberen Jugendbereichen das meiste Geld investiert. Dies lässt sich beispiels­ Eintrittsalter der Spieler unter 25 Jahren in England

Anzahl der Spieler

120 100 80 60 40 20 0 7 bis 13

14 bis 18 Unterteilung in zwei Altersklassen

Abb. 6: Eintrittsalter der Spieler unter 25 Jahren in England. Quelle: Eigener Datensatz T. Schmidt.

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Eintrittsalter England 19/20 Profis unter 25 Jahren 35

Anzahl der Spieler

30 25 20 15 10 5 0 7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

Eintrittsalter Abb. 7: Eintrittsalter England 19/20 Profis unter 25 Jahren, Unterteilung in die einzelnen Altersstu­ fen. Quelle: Eigener Datensatz T. Schmidt.

weise an der Anzahl der hauptamtlichen Trainer in den oberen Bereichen verglichen mit den unteren Bereichen sehen. Eine weitere empirische Auffälligkeit ist, dass einige Vereine sogar keinen einzi­ gen Profi im Kader hatten, der erst nach dem 13. Lebensjahr angefangen hat, auf einem hohen Niveau Fußball zu spielen. Unter anderem: – TSG Hoffenheim Saison 2018/2019 – Chelsea Football Club Saison 2018/2019 – Tottenham Hotspur Saison 2018/2019 – FC Liverpool Saison 2018/2019 – West Ham United Saison 2018/2019 – AFC Bournemouth Saison 2018/2019 – Sheffield United Saison 2019/2020 – FC Burnley Saison 2019/2020 – FC Crystal Palace Saison 2019/2020 – Norwich City Saison 2019/202 Fazit: Spielt ein Juniorenfußballer in einem Alter von 13 oder jünger in einem NLZ eines Bundesliga-Vereins (oder auf einem vergleichbaren Niveau), ist die statistische Wahr­ scheinlichkeit, später Profi zu werden, deutlich höher als bei einem Spieler, der in ei­ nem Amateurverein ausgebildet wird. Bei jedem Spieler muss natürlich der Einzelfall im Detail betrachten werden, da hier viele verschiedene Faktoren zusammenspielen. Dennoch kann gesagt werden, dass eine frühzeitige Förderung auf einem hohen Ni­ veau im Allgemeinem zielführender erscheint.

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5 Fazit und Ausblick: Investitionen in Beine anstatt Steine Im vorliegenden Beitrag wurde deutlich, dass auch in den nächsten Jahren mit einem weiteren Anstieg der Nachfrage nach Talenten zu rechnen ist. Bundesliga, Pokal, euro­ päische Wettbewerbe, Europa- und Weltmeisterschaften für Nationalmannschaften, Nations Cup und vieles mehr: „There is no business like SPORT business“. Die TopVereine sind gut beraten, eigenständig auf hohem Niveau auszubilden, um in den ei­ genen sportlichen Erfolg zu investieren und möglicherweise Talente zu einem hohen Preis zu verkaufen. Die erwähnte Knappenschmiede des FC Schalke 04 ist nur eines von mehreren guten und erfolgreichen Beispielen. In der Talentförderung selbst finden sich aber noch deutliche Verbesserungspo­ tenziale. In Anlehnung an die vorgestellten empirischen Ergebnisse wie auch an die Ergebnisse von Heckman (2007) über die Bildungsrenditen frühkindlicher Bildungs­ investitionen sollte eine verstärkte Förderung der jüngeren Mannschaften stattfinden. Oft stellen sich die Eltern, die Trainer der Amateurvereine und weitere Personen, die im Entscheidungsprozess der gesichteten Spieler involviert sind, die Frage, ob ein Wechsel zu einer Talent-Akademie im jungen Alter empfehlenswert ist. Natürlich muss immer der Einzelfall betrachtet werden, aber aufgrund der empirischen Untersuchung und dem damit verbundenen Ziel der Spieler, später einmal Fußballprofi zu werden, kann eine klare Empfehlung ausgesprochen werden: Ein Wechsel in ein Leistungszen­ trum sollte möglichst früh stattfinden. Des Weiteren sollte eine Professionalisierung der Mitarbeiter (Trainer, Co-Trainer, Betreuer, Funktionsteam) für die Kinder im Alter von 7 bis 10 Jahren erfolgen. Der Fo­ kus darf hier nicht nur auf den Trainern, sondern muss auf die gesamte pädagogi­ sche Betreuung gelegt werden. Möglicherweise sollte über eine Ganztagesbetreuung für die jugendlichen Talente nachgedacht werden, um die Vereinbarkeit von Schule und Sport besser zu gewährleisten. Eine weitere Handlungsempfehlung für die Talentakademien bezieht sich auf das Scouting. Es sollte verstärkt in den Bereich der U8 bis U12 stattfinden, sodass hier mög­ lichst viele Spieler auf einem hohen Niveau gesichtet werden können. Die ScoutingAbteilung sollte den RAE berücksichtigen und durch gezielte Förderung und Überprü­ fung von späteren Geburtsmonaten diesem entgegenwirken. Eine weitere Empfehlung wäre es, den Start der Talent-Akademien eventuell schon bei der U7 bzw. U8 anzuset­ zen und hier mit einer breiteren Masse (zwei bis drei Teams) in die Saison gehen. So haben die Spieler schon früh eine gezielte und bessere Förderung als im Amateurver­ ein und die breitere Basis gibt vielen Spielern aus der Region eine Chance, auf einem solchen Niveau zu spielen, zu trainieren und „sich zu zeigen“. Auf Grundlage der empirischen Untersuchungen ergeben sich noch weitere offe­ ne Forschungsfragen, die zukünftig untersucht werden könnten. Beispielsweise muss überprüft werden, ob der RAE auch bei den sogenannten „Spätzündern“ (Eintrittsal­

Ökonomische Fragen der Talentförderung im Fußball

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ter in die Talentakademie später als 13 Jahre) vorhanden ist. Außerdem stellt sich die Frage, ob es eine Diskrepanz zwischen den Top-Vereinen und allen weiteren Vereinen bzw. zwischen der 1. und 2. Bundesliga gibt. Gute Ausbildungsvereine verlieren häu­ fig ihre Top-Talente in der U17 und U19 an die ganz großen Vereine. Sie müssen also Talente „nachbesetzen“, um die eigenen Reihen wieder aufzuschließen. Haben diese Spieler überhaupt noch eine Erfolgschance oder sind sie reine „Auffüll-Spieler“? Abschließend sei noch einmal betont: Bei der Talentselektion und Förderung geht es nicht um eine mathematisch eindeutige Prognose für ein spezifisches Talent. Es kann nur um Wahrscheinlichkeiten gehen, die durch die Elemente der Talentfunk­ tion vorgegeben sind. Wenn es Verbesserungsmöglichkeiten für die Talentselektion gibt – etwa durch Berücksichtigung des RAE – können Wahrscheinlichkeiten verbes­ sert werden. Unabhängig davon erfordert aber jede frühkindliche Talentförderung ein hohes Maß an ethischer Verantwortung bei den Eltern und bei den Trainern sowie ei­ nen maximalen Eigenantrieb bei den Talenten. Zu seinem Glück gezwungen werden kann (und sollte) niemand!

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Jan Schnellenbach

Ein Ordnungsrahmen für den Wettbewerb in Sportligen: das Beispiel der National Football League 1

Einleitung | 77

2

Die National Football League (NFL): ein erster Überblick | 78

3

Die Wettbewerbssituation der NFL | 81

4

Die Umsatzverteilung innerhalb der NFL | 83

5

Die Salary Cap | 86

6

Das Draft-System der NFL | 89

7

Was wäre auf europäische Sportligen übertragbar? | 91

8

Fazit | 92

1 Einleitung Die National Football League (NFL) gilt als ein Beispiel für eine relativ ausgeglichene Sportliga, die diese Ausgeglichenheit erreicht, obwohl die Mannschaften (Franchises) in dieser Liga wirtschaftlich eigentlich sehr unterschiedliche Ausgangssituationen ha­ ben. Franchises in kleineren, auch ländlicheren Märkten haben typischerweise deut­ lich geringere Einnahmen als solche, die in den großen Metropolen angesiedelt sind. Dennoch schaffen es die Franchises mit wirtschaftlich deutlich besseren Vorausset­ zungen typischerweise nicht, dies in stabile sportliche Vorteile umzumünzen. Dies steht in starkem Kontrast zu vielen europäischen Sportligen, insbesondere im Fußball. Hier findet man oft einen engen Zusammenhang zwischen wirtschaftli­ cher Leistungsfähigkeit und sportlichem Erfolg. Mannschaften wie Bayern München, der FC Barcelona, Paris St. Germain oder Manchester City, die mit den größten jährli­ chen Budgets ihrer Länder arbeiten können, spielen fast nie gegen Abstieg, aber meist um die Meisterschaft. Versuche, dies über Mechanismen wie das Financial Fair Play zu ändern, scheiterten bisher kläglich. Wieso die NFL in dieser Hinsicht erfolgreicher ist, wird in diesem Beitrag disku­ tiert. Nach einem kurzen Überblick über die Geschichte und die Struktur der NFL (Ka­ pitel 2) folgt eine Diskussion der Wettbewerbssituation der Liga (Kapitel 3). Darauf aufbauend werden die Umsatzverteilung innerhalb der Liga (Kapitel 4), der Gehaltsde­ Anmerkung: Ich danke den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Radein-Seminars 2020 für ihre sehr hilfreichen Kommentare, insbesondere dem Korreferenten Niklas Gogoll, aber auch Detlef Aufderhei­ de, Oliver Budzinski, Horst Rottmann, Franz Seitz und Dirk Wentzel. https://doi.org/10.1515/9783110724523-004

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ckel (Kapitel 5) und das System des College Draft (Kapitel 6) vorgestellt. Eine mögliche Übertragbarkeit dieser Mechanismen auf europäische Ligen wird in Kapitel 7 disku­ tiert, bevor einige Schlussfolgerungen den Beitrag abschließen.

2 Die National Football League (NFL): ein erster Überblick Die NFL existiert unter ihrem aktuellen Namen seit 1922, geht aber auf eine frühere Gründung aus dem Jahr 1920 zurück. Sie begann mit vierzehn Mannschaften, von de­ nen heute allerdings nur noch zwei Teams existieren – die Chicago Bears und die Ari­ zona Cardinals. Der ursprüngliche Spielmodus bestand in einer Saison, die bis zu drei­ zehn Spieltage umfasste. Das bedeutet allerdings nicht, dass jedes Team einmal gegen jedes andere NFL-Team spielte. Vielmehr konnten die Mannschaften auch gegen Geg­ ner spielen, die nicht Mitglied der NFL waren. Die Liga selbst bestand zunächst vor allem in einer Tabelle ihrer Mitglieder, die auf der Basis von deren Ergebnissen erstellt wurde, unabhängig davon ob diese Spiele gegen andere Liga-Mitglieder oder andere Mannschaften absolviert wurden. Da in dieser Tabelle unterschiedliche Teams eine unterschiedliche Anzahl tatsächlich absolvierter Spiele hatten, erfolge die Reihung nach dem Prozentsatz der gewonnenen Spiele. Dieser wird auch heute noch in den Tabellen ausgewiesen, obwohl er eigentlich keine eigenständige Bedeutung mehr hat. Playoffs wurden zunächst nicht ausgetragen. Die Zahl der Mitglieder der NFL variierte in den folgenden Jahren. Bereits 1921 hatte die Liga 21 Mitglieder, schrumpfte aber dann ab 1927 stark und bestand 1932 nur noch aus acht Mannschaften. Hierfür waren fast immer wirtschaftliche Schwierigkei­ ten ausscheidender Teams verantwortlich. Im Jahr 1932 wurde auch das erste Play­ off-Spiel ausgetragen. Dahinter stand zu diesem Zeitpunkt keine Marketing-Strategie, sondern die Notwendigkeit eines Entscheidungsspiels, als die Chicago Bears und die Portsmouth Spartans die Saison gleichauf beendet hatten. Chicago gewann das Spiel, das auf ein sehr starkes Zuschauerinteresse stieß. Die NFL reagierte darauf, indem sie ab 1933 eine Eastern und eine Western Division aus je fünf Mannschaften schuf. Die Sieger der beiden Divisionen durften dann in einem Championship-Spiel um die Meisterschaft spielen. Bis einschließlich 1965 bestand eine NFL-Saison aus zehn bis fünfzehn regulären Spieltagen und einem Spiel um die Meisterschaft zwischen den Siegern der Divisionen. Die Zahl der Mitglieder der Divisionen fluktuierte zwischen vier und sieben. Es gab in der NFL zu keinem Zeitpunkt die Möglichkeit zum Auf- oder Abstieg in eine andere Liga. Die Teams waren und sind private Unternehmen, die in der Re­ gel einzelnen Eigentümern oder Eigentümerfamilien gehören. Einzige Ausnahme sind die Green Bay Packers, die 1919 gegründet wurden und seit 1921 Mitglied der NFL sind. Die Packers sind im Besitz von über 350.000 meist lokalen Kleinaktionären. Die Statu­

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ten des Teams legen fest, dass kein einzelner Eigentümer mehr als eine feste Zahl von Aktien besitzen darf, so dass eine breite Streuung des Eigentums gesichert ist. Die Pa­ ckers sind daher auch eines der wenigen NFL-Teams, das niemals ernsthaft einen Um­ zug in eine andere Stadt erwogen hat. Fast alle anderen Mannschaften sind dagegen entweder bereits mindestens einmal umgezogen, oder haben dies zumindest ernst­ haft in Erwägung gezogen. Ein Grund für einen Umzug kann in der Aussicht auf einen lukrativeren regionalen Markt bestehen. Es kommt aber auch vor, dass Mannschaften nach ihrem Verkauf umziehen, zu dem es beispielsweise gelegentlich kommt, wenn Erben eines bisherigen Eigentümers kein Interesse am Sport haben, oder Liquidität benötigen, um ihre Erbschaftsteuerschuld zu zahlen. Zu einem Austritt aus der Liga kam es historisch ebenfalls vor allem aus wirt­ schaftlichen Gründen. Vor allem in den ersten Jahrzehnten der Liga konnte es pas­ sieren, dass Teams in die Insolvenz gingen und damit auch die Liga verließen. Auch gegen dieses Problem waren vor allem die Green Bay Packers geschützt, deren breite Eigentümerbasis immer wieder bereit war, Kapitalerhöhungen zu finanzieren, wenn Liquiditätsbedarfe dies nötig machten – auch für einmalige Investitionen wie den Aus­ bau des Stadions. Inzwischen ist das Modell der Packers aber nicht mehr übertragbar, da die NFL sich die Regel auferlegt hat, dass alle anderen Teams nicht mehr als 32 Be­ sitzer haben dürfen und mindestens einen Besitzer haben müssen, der mindestens 30 % der Anteile hält. Der Wert der NFL-Franchises ist beachtlich, wie die letzten drei Verkäufe doku­ mentieren. Im Jahr 2012 wurden die Cleveland Browns für 1,095 Mrd. US-Dollar ver­ kauft, im Jahr 2014 die Buffalo Bills für 1,513 Mrd. US-Dollar und im Jahr 2018 die Ca­ rolina Panthers für 2,23 Mrd. US-Dollar. Dabei handelt es sich nur selten um Preise, die allein durch die abdiskontierten, für die Zukunft erwarteten Gewinne der Franchi­ ses gedeckt wären. Vielmehr kommen nur selten und unregelmäßig einzelne Teams auf den Markt. Ist dies einmal der Fall, so konkurrieren in der Regel mehrere sehr zahlungskräftige Milliardäre um den Zuschlag, für die neben rein wirtschaftlichen Er­ wägungen auch das soziale Prestige einer NFL-Eigentümerschaft und der damit ver­ bundene Konsumnutzen relevant sind. Gleichzeitig spielt auch noch eine spekulative Komponente eine Rolle. Die bisher stetig steigenden Preise gehandelter NFL-Franchi­ ses schüren die Erwartung, dass die Eigentümerschaft im Zeitablauf jedenfalls nicht mit einem Verlust verbunden sein wird, und dass im Ernstfall eines Liquiditätsbedarfs in der Eigentümerfamilie eine NFL-Franchise relativ problemlos wieder zu Geld ge­ macht werden kann. Umsatz und Gewinn der einzelnen Franchises variieren relativ stark. Die Zeit­ schrift Forbes veröffentlicht jährlich eine Schätzung des Marktwertes sowie Daten für Umsatz und EBITDA für jedes NFL-Team. Tabelle 1 vermittelt einen Eindruck der wirt­ schaftlichen Ungleichheit innerhalb der Liga. Diese folgt einerseits aus Unterschie­ den in der Struktur regionaler Märkte. Franchises mit eher lokaler Ausstrahlung in strukturschwachen Märkten generieren c. p. weniger Einnahmen als Teams in Metro­ polmärkten. Hinzu kommt, dass es auch in der NFL Franchises mit landesweiter Aus­

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Tab. 1: Bewertungen, Umsätze und EBITDA von NFL-Franchises. Datenquelle: Forbes 2019. Team

geschätzter Wert [in Mrd. US-Dollar]

Umsatz [in Mio. US-Dollar]

EBITDA [in Mio. US-Dollar]

Dallas Cowboys New England Patriots New York Giants Los Angeles Rams San Francisco 49ers ... Cleveland Browns Tennessee Titans Cincinnati Bengals Detroit Lions Buffalo Bills

5,5 4,1 3,9 3,8 3,5 ... 2,175 2,15 2 1,95 1,9

950 600 519 401 492 ... 399 394 380 385 386

420 240 142 30 93 ... 32 53 58 73 82

strahlung und Fangemeinde gibt, wie etwa die auch als „America’s Team” bezeich­ neten Dallas Cowboys, oder die langfristig erfolgreichen New England Patriots. Der wirtschaftliche Vorsprung solcher Teams ist durchaus vergleichbar mit der relativen Position großer Vereine wie dem FC Bayern oder Borussia Dortmund in der Bundesli­ ga. Die Daten zeigen, dass vor allem Franchises mit einem Umsatz deutlich oberhalb von 400 Mio. US-Dollar im Jahr einen erheblichen Spielraum für höhere Kosten, etwa für Spielergehälter, hätten, die zwar zulasten ihres Gewinns gingen, aber ihre sport­ lichen Wettbewerbsvorteile deutlich ausweiten könnten. Hätte man es hier mit einer Sportliga nach kontinentaleuropäischem Vorbild zu tun, so gäbe es in der Regel kei­ ne Eigentümer mit privatwirtschaftlichen Interessen und zusätzlicher Umsatz würde größtenteils in zusätzliche Ausgaben im sportlichen Bereich transformiert. Wäre die NFL ähnlich organisiert, könnten die umsatzschwächsten Teams z. B. für Spielerge­ hälter und sportliche Infrastruktur nur etwa 40 % des Budgets der Dallas Cowboys aufwenden, was langfristig zu erheblicher sportlicher Ungleichheit führen dürfte. Wie ist es um die tatsächliche Chancengleichheit in der NFL bestellt? Fort (2012) vergleicht jährlich die tatsächliche Standardabweichung des Anteils gewonnener Spiele der Teams mit einer idealisierten Standardabweichung, die zustande käme, wenn jedes Team jedes Spiel mit einer Wahrscheinlichkeit von 1/2 gewinnen würde. Seit dem Ende der 1970er-Jahre bewegt sich der Quotient beider Standardabweichun­ gen in einem Intervall zwischen 1,3 und 1,8, ohne dass ein Trend erkennbar wäre. Insgesamt deutet der Wert auf eine relativ hohe Ausgeglichenheit der Liga hin, die signifikant größer ist als die aller anderen amerikanischen Profi-Sportligen (Fort 2012: 211). Eine relativ hohe Ausgeglichenheit zeigt sich auch beim Zugang zu den Playoffs. Seit 1980 gab es nur zwei Jahre, in denen nicht mindestens zwei Teams in die Playoffs kamen, die im Jahr zuvor nicht dabei waren (Fort 2012: 212).

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Auch in der absoluten Spitze zeigt sich eine gewisse Ausgeglichenheit. Für das seit 1966 ausgetragenen Superbowl-Finale schafften Teams bisher dreizehn Mal in zwei aufeinanderfolgenden Jahren die Qualifikation. Nur zwei Teams, die Miami Dolphins und die New England Patriots, konnten sich je einmal für drei aufeinanderfolgende Superbowl-Spiele qualifizieren. Und nur die Buffalo Bills schafften es einmal, sich für vier konsekutive Finalspiele zu qualifizieren – und alle vier zu verlieren. In den letz­ ten zwei Jahrzehnten galten die New England Patriots seit dem Beginn der Ära des aktuellen Headcoaches Bill Belichick und des aktuellen Quarterbacks Tom Brady als das dominierende Team der NFL, auch wenn nach dem Ende der Saison 2019 nun ein vorläufiges Ende dieser Dominanz erwartet wird. In dieser Ära konnten die Patriots sich neunmal für den Superbowl qualifizieren und diesen sechsmal gewinnen. Auch wenn diese Dominanz für NFL-Verhältnisse beeindruckend ist, so ist sie doch nicht vergleichbar z. B. mit der Position des FC Bayern in der Fußball-Bundesliga, oder der von Real Madrid und dem FC Barcelona in der Primera Division. Die zentrale Frage, wie diese relativ hohe Ausgeglichenheit der Liga erreicht wird, soll in den folgenden Kapiteln diskutiert werden.

3 Die Wettbewerbssituation der NFL Als professionelle Football-Liga steht die NFL inzwischen de-facto für sich alleine. Es gab einzelne, kleinere professionelle Ligen, wie etwa die aus acht Mannschaften be­ stehende XFL, deren Spielbetrieb im Anschluss an das Saisonende der NFL begann. Die XFL war durch kleinere Regeländerungen gekennzeichnet, die das Spiel etwas spektakulärer machen sollten. Aufgrund kleinerer Budgets und geringeren Zuschauer­ interesses in den Konkurrenzligen haben Spieler aber eine klare Präferenz für die NFL, so dass die XFL grosso modo Spieler beschäftigte, deren Qualität für die NFL nicht reichte. Ähnliches gilt für die Arena Football League, die von 1987 bis 2019 mit Unter­ brechungen existierte und aus sechs Franchises bestand. In der Arena Football League wurde in kleineren Hallen auf kleineren Feldern gespielt, was das Tempo des Spiels erhöht hat. Aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten wurde jedoch inzwischen der Spielbetrieb eingestellt. Zur Canadian Football League (CFL) besteht kein direktes Konkurrenzverhältnis, zumal auch die CFL nach leicht anderen Regeln spielt. Gelegentlich wechseln zwar Spieler zwischen beiden Ligen; meist sind dies jedoch Spieler, die in der NFL keinen lukrativen Vertrag bekommen und als zweitbeste Option in die CFL wechseln. Euro­ päische Ligen stellen ebenfalls keine direkte Konkurrenz dar. Amerikanische Spieler, die in europäischen Ligen spielen, tun dies in aller Regel nur, weil sie in den USA kei­ nen Vertrag erhalten haben. Ebenso fehlt der NFL ein übergeordneter, internationaler Wettbewerb. Es gibt keinerlei Ambitionen, sich in internationalen Wettbewerben ver­ gleichbar der UEFA Champions League zu messen. Vielmehr werden mit gesundem,

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aber realistischen Selbstvertrauen die Sieger des Superbowl-Finales als „World Cham­ pions” bezeichnet. Der relevante Wettbewerb der NFL besteht derzeit vor allem aus anderen Profili­ gen in den USA. Dabei gibt es zeitlich allerdings nur geringe Überschneidungen mit dem Spielbetrieb der Major League Baseball, der von März bis Ende Oktober stattfin­ det, während die NFL-Saison von Anfang September bis Anfang Februar reicht. Grö­ ßere Überschneidungen gibt es mit der National Basketball Association (NBA), deren Saison von Oktober bis Juni dauert. In welchem Ausmaß Zuschauerströme zwischen beiden Sportarten wechseln, ist jedoch unklar. Da das Thema bisher kaum empirische Aufmerksamkeit erhalten hat, dürfte es quantitativ nur wenig bedeutsam sein. Den­ noch übt die Existenz eines parallelen, ebenfalls sehr beliebten Sportangebots einen gewissen zusätzlichen Druck auf die NFL aus, ein für den Zuschauer interessantes An­ gebot bereitzustellen. In der Vergangenheit entstand ein solcher Druck auch durch andere professionel­ le Football-Ligen in den USA. Tatsächlich ist die NFL in ihrer heutigen Form das Er­ gebnis eines Zusammenschlusses zweier Ligen. 1960 eröffnete die American Football League (AFL) mit zunächst acht und später zehn Teams in zwei Divisionen den Spiel­ betrieb. Dieser fand zeitlich parallel zur NFL statt, war also als direkter Wettbewerber der NFL konzipiert. Zwar hatte die AFL immer signifikant geringere Zuschauerzahlen als die alteingesessene NFL, aber sie generierte genügend Interesse, um den Spielbe­ trieb aufrecht zu erhalten und von der NFL als ernsthafter Wettbewerber wahrgenom­ men zu werden. Dies führte dazu, dass AFL und NFL zunächst begrenzt kooperierten und 1966 erstmals den Superbowl als Finale zwischen dem Sieger der AFL und dem der NFL austrugen. Die endgültige Fusion erfolgte dann 1970; seitdem besteht die NFL als fusionierte Liga aus der American Football Conference (der früheren AFL) und der National Football Conference (der früheren, kleineren NFL), deren Sieger weiterhin den Superbowl austragen. Den letzten ernsthaften Herausforderer hatte die NFL mit der United States Foot­ ball League (USFL), die allerdings nur drei Saisons von 1983 bis 1985 den Spielbetrieb aufrechterhielt (siehe hierzu Pearlman 2018). Die USFL spielte mit 18 Teams wie auch später die XFL zunächst im Frühjahr bis Frühsommer; die Liga vermied so den direk­ ten Wettbewerb gegen die NFL und hoffte, auf diesem Weg auch NFL-Fans an sich bin­ den zu können, die nach dem Ende der NFL-Saison weiterhin Football sehen wollen. Gleichzeitig gelang es den teils sehr solventen Besitzern von USFL-Teams, Spieler mit erheblichem Talent in die Liga zu locken und so den Talentpool der NFL anzugreifen. Als Kardinalfehler wird rückblickend gesehen, dass die Eigentümer der USFL 1986 versuchten, den Spielbetrieb parallel zu dem der NFL zu legen. Die Ratio dahinter war, dass einzelne Eigentümer – unter ihnen Donald Trump als Miteigentümer der New Jer­ sey Generals – eine Fusion mit der NFL nach dem Vorbild der AFL erzwingen wollten. Letztlich scheiterte dieser Plan allerdings. Dies lag auch daran, dass man hoffte, ein Kartellverfahren gegen die NFL zu gewinnen und aus den Entschädigungszahlungen den Wechsel zum Herbst-Spielbetrieb zu finanzieren. Tatsächlich gewann die USFL

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zwar das Verfahren, aber die Jury sah die wirtschaftliche Verantwortung für ihre Pro­ bleme doch bei eigenen Fehlern der USFL. Sie sprach der USFL nur eine symbolische Entschädigungszahlung von drei US-Dollar zu. Die Pläne zum direkten Angriff auf die NFL waren nicht mehr finanzierbar, so dass die Saison von 1986 nie tatsächlich ge­ spielt wurde und die USFL den Betrieb einstellte (Pearlman 2018: 292 ff.). Die NFL ist also zwar nur selten mit direktem Wettbewerb anderer Football- oder Profisport-Ligen konfrontiert. Ein potenzieller Markteintritt einer konkurrierenden Li­ ga ist aber, wie die Geschichte zeigt, nicht nur hypothetisch möglich, sondern als rea­ listische Möglichkeit zu denken. Darüber hinaus konkurriert die NFL natürlich stets auch mit ganz anderen Unterhaltungsangeboten, die mit Sport gar nichts zu tun haben müssen. Insgesamt ist die Beliebtheit der NFL in den USA relativ robust. Zwar schien es 2016 und 2017 als würden die Zuschauerzahlen einbrechen, seitdem haben sie sich aber wieder erholt und sind fast wieder auf dem Niveau von 2010. Im Durchschnitt sahen in der regulären Saison 2019 an jedem Spieltag 16,5 Millionen Amerikaner die Spiele der Liga¹, in den Playoffs steigt diese Zahl nochmals deutlich an.

4 Die Umsatzverteilung innerhalb der NFL Die NFL unterscheidet zwischen lokalen Umsätzen auf der einen und nationalen und internationalen Umsätzen auf der anderen Seite. Zur letzten Gruppe gehören vor allem Einnahmen aus der Vermarktung von nationalen und internationalen Fernsehrech­ ten, die für die gesamte Liga im Paket erfolgt. Juristische Voraussetzung hierfür war der Sports Broadcasting Act von 1961, der es den großen Sportligen der USA explizit erlaubt, als Monopolisten ihre Übertragungsrechte gebündelt zu vermarkten. Hinzu kommt die Direktvermarktung des Zugangs zu Spielen, insbesondere über das Inter­ net, die sich an Zuschauer außerhalb der USA richtet. Der nationale und internatio­ nale Umsatz der NFL, der an die Franchises umverteilt wird, betrug im Jahr 2018 8,78 Mrd. US-Dollar.² Jede NFL-Franchise erhält aus diesem Topf einen gleichen Anteil, al­ so im Jahr 2018 274,3 Mio. US-Dollar pro Team. Dies ist aus verschiedenen Gründen bemerkenswert. Vor allem ist hier die stark unterschiedliche Größe von Fernsehmärkten zu beachten. Schon durch die Größe ih­ res eigenen, regionalen Marktes generieren Teams etwa aus Los Angeles oder New York tendenziell höhere Zuschauerzahlen als Franchises, die nicht in Metropolmärk­ ten beheimatet sind. Hinzu kommt, dass Teams mit längeren Phasen des sportlichen

1 Vgl. https://www.cnbc.com/2019/12/30/nfl-ratings-recovering-new-media-deals-could-be-on-the2020-agenda.html (zuletzt abgerufen am 27. Januar 2020). 2 Diese Zahl wird nicht von der NFL selbst veröffentlicht, sondern jährlich dem Jahresbericht der Green Bay Packers entnommen, die als Aktiengesellschaft als einziges Team zur Veröffentlichung ver­ pflichtet sind.

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Erfolgs, oder Traditionsfranchises, die sich über Jahrzehnte eine landesweite Anhän­ gerschaft aufgebaut haben, ebenfalls ein größeres Zuschauerpotenzial haben. Wenn man etwa aus Deutschland die Bestrebungen von Bundesligavereinen wie dem FC Bayern kennt, Übertragungsrechte stärker eigenständig zu vermarkten, so scheint es prima facie erstaunlich, dass in den USA eine derart egalitäre Verteilung von Umsät­ zen möglich ist. Die Stabilität dieses Arrangements ist einerseits institutionellen Pfadabhängig­ keiten geschuldet. In der NFL werden alle wichtigen Entscheidungen mit einfacher Mehrheit der Franchise-Eigentümer getroffen. Nachdem einmal der Weg der kollekti­ ven Vermarktung von Übertragungsrechten mit pauschaler Verteilung an die Franchi­ ses gegangen wurde, wäre es für die Teams mit größeren eigenen Märkten schwierig, eine Mehrheit zu organisieren, um vom Status Quo abzuweichen. Die grundsätzliche Entscheidung für dieses Arrangement wurde aber bereits in den 1960er-Jahren getrof­ fen, als sich die NFL-Eigentümer unter dem Druck des Wettbewerbs durch die AFL ent­ schieden, nach außen ihre Interessen gemeinsam zu vertreten (Vrooman 2012: 9 f.). Hinzu kommt ein Allmendeproblem in Sportligen (hierzu York & Miree 2018). Ei­ gentümer einzelner Teams haben sowohl ein Interesse an der Profitabilität ihrer Fran­ chise, als auch an ihrem sportlichen Erfolg. Spieler, über deren Karrieren das Da­ moklesschwert eines schnellen, verletzungsbedingten Karriereendes schwebt (Turner 2018), wollen so schnell wie möglich so viel wie möglich verdienen. Sofern sportlicher Erfolg und Profitabilität einzelner Franchises korrelieren führt dies zu einem Anreiz vor allem für die wirtschaftlich starken Teams, so viel in ihre Spieler zu investieren, dass das Gemeingut der sportlichen Ausgeglichenheit gefährdet wird. Insofern ist die pauschale Umverteilung der Umsätze aus Übertragungsrechten ein erster, aber noch kein hinreichender Schritt, dieses Gemeingut zu schützen. Sofern die Zuschauer die Ausgeglichenheit der Liga stark genug gewichten und mit ihrer Nachfrage elastisch genug auf Veränderungen der sportlichen Offenheit der Liga reagieren, lohnt es sich auch für Besitzer von Franchises mit höherem eigenen wirtschaftlichen Potenzial, dieses Gemeingut zu erhalten und einem Ordnungsrah­ men zuzustimmen, der dies gewährleistet (siehe bereits Rottenberg 1956). Es lohnt sich dann, zu einer stark kooperativen und zentralisiert gestalteten Verwaltung der Liga überzugehen, in der Entscheidungen, die den rein sportlichen Wettbewerb be­ treffen, auf der Franchise-Ebene getroffen werden, ansonsten aber die Gemeingüter der Liga gemeinsam verwaltet werden (Dietl et al. 2009). Empirisch unterstützt wird die Vermutung, dass Fans eine ausgeglichene Foot­ ball-Liga schätzen, u. a. von Paul et al. (2011). In dieser Studie wird ein Fan-Rating genutzt, mit dem Fans auf der Webseite der NFL die Spiele über eine Saison hinweg bewerten konnten. Das Ergebnis war, dass Zuschauer Spiele mit engerem Ausgang klar besser bewerteten als solche mit eindeutigem Resultat. Die intuitive Vermutung, dass Zuschauer Spannung suchen, scheint also zuzutreffen – zumindest für die NFL. Die­ ses Ergebnis ist aber nicht so trivial und selbstverständlich, wie es vielleicht zunächst klingt. Für den Stadionbesuch gibt es nämlich schwache Evidenz, dass die Zuschauer

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von Heimmannschaften in der NFL etwas stärker dazu neigen, Spiele im Stadion zu sehen, wenn sie einen eindeutigen Sieg erwarten (Coates & Humphreys 2010), sowie starke Evidenz dafür, dass sie weniger ins Stadion gehen, wenn sie eine Heimnieder­ lage erwarten (ebenda). Das spiegelt möglicherweise eine gewisse Risikoscheu: Beim Stadionbesuch kann man, wenn es für die eigene Mannschaft schlecht läuft, nicht problemlos das Pro­ gramm wechseln, und der Aufwand ist auch deutlich höher als beim Konsumieren eines Spiels im Fernsehen. Überträgt man das verhaltensökonomische Phänomen der Verlustaversion auf diese Entscheidung, so könnte man erwarten, dass das Miterleben von Niederlagen einen stärkeren negativen Nutzen auslöst, als das Miterleben von Sie­ gen einen positiven. Das könnte erklären, warum manche risikoscheue Fans Spiele, die sie als sehr knapp erwarten, lieber nicht im Stadion sehen wollen. Für die Nachfra­ ge nach Live-Spielen im Fernsehen zeigt sich für die NFL nämlich wiederum ein positi­ ver Effekt der erwarteten Spannung auf die Zuschauerzahlen (inter alia, Paul & Wein­ bach 2007). Einen genauso differenzierten Effekt je nach Stadion- und TV-Zuschauer­ reaktion findet Cox (2018) für die britische Premier League. Hat aber eine egalitäre Umsatzverteilung tatsächlich einen positiven Effekt auf die Ausgeglichenheit einer Liga? Unter bestimmten Umständen trifft dies zu. Zu un­ terscheiden sind hier ein dulling effect und ein sharpening effect (hierzu Dietl et al. 2011). Der dulling effect führt dazu, dass der Zusammenhang zwischen sportlichem und ökonomischem Erfolg c. p. erst einmal loser wird, wenn es eine egalitäre Vertei­ lung von Einnahmen in der Liga gibt. Dieser Anreiz verleitet Eigentümer von gewinn­ orientierten Franchises, weniger in die Qualität ihrer Teams zu investieren. Die Liga wird insgesamt langweiliger, das sportliche Niveau sinkt. Die Ausgeglichenheit nimmt ebenfalls nicht zu, da der Underdog seine Investitionen noch stärker senkt als das dominierende Team. Dies ändert sich, wenn die Zuschauer das Gemeingut der Aus­ geglichenheit tatsächlich positiv bewerten und finanziell honorieren. In diesem Fall führt eine egalitärere Umsatzverteilung dazu, dass i) der Kuchen des zu verteilenden Umsatzes insgesamt größer wird, ii) der zusätzliche Umsatz bei Franchises, die ohne Umverteilung von Umsätzen schwächer wären, größere positive marginale Effekte auf die sportliche Leistungsfähigkeit hat als bei den dominierenden Teams, so dass iii) im neuen Gleichgewicht die sportliche Lücke zwischen beiden kleiner wird (siehe auch Késenne (2000) für ein alternatives Modell). Interessant ist im Fall der NFL aber auch die Kombination von Anreizen, mit der die Liga gewährleistet, dass die Eigentümer der einzelnen Mannschaften sich so ver­ halten, dass die Attraktivität der Liga insgesamt gestärkt wird. Zwar wird einerseits oft argumentiert, dass die NFL fast schon sozialistisch organisiert sei (Sanderson & Siegfried 2003: 269).³ Dies gilt jedoch nur für die nationalen und internationalen Ein­ 3 „The NFL is the most socialistic, sharing revenues from its huge national television contract and merchandise sales (almost) equally and gate receipts 66/34 to the home and visiting teams, respec­ tively.”, ebenda.

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nahmen. Darüber hinaus fließen den Franchises zahlreiche eigene Einnahmen zu, die nicht geteilt werden. Dies sind beispielsweise 60 % der Ticketeinnahmen aus Heim­ spielen, Einnahmen aus dem Verkauf von Fanartikeln, aber auch aus Übertragungs­ rechten in lokalen Medienmärkten. Ruft man sich nochmals Tabelle 1 in Erinnerung, so ist klar, dass die Streuung dieser Einnahmen zwischen den Teams enorm ist. Wäh­ rend die fünf umsatzschwächsten Teams jüngst nur etwas über 110 Mio. US-Dollar pro Jahr aus diesen Quellen vereinnahmten, waren es bei den Dallas Cowboys fast 680 Mio. US-Dollar (siehe auch Bradbury (2019) zu den Determinanten der lokalen Umsätze). Dies würde sich natürlich in geringer sportlicher Ausgeglichenheit niederschla­ gen, wenn es nicht weitere Mechanismen wie die im folgenden Kapitel diskutierte sa­ lary cap geben würde, die dies verhindern. Da es diese Mechanismen aber gibt und die Ausgaben der Teams daraus folgend relativ wenig streuen – jedenfalls deutlich weni­ ger als die Einnahmen – fließen zusätzliche Einnahmen einer Franchise ab einem ge­ wissen Schwellenwert praktisch automatisch in die Gewinne, welche die Eigentümer abschöpfen können. Die Eigentümer haben somit einen starken Anreiz, ihre eigenen Franchises – auch und vor allem sportlich – so erfolgreich zu bewirtschaften, dass die lokalen Einnahmen hoch sind und weiterwachsen. Gleichzeitig wird ihnen durch die egalitäre Verteilung der nationalen Umsätze ein Sockelbetrag bereitgestellt, der auch Teams aus kleinen Märkten finanziell wettbewerbsfähig hält. Und die nun noch zu diskutierenden weiteren Mechanismen stellen sicher, dass die umsatzstarken Teams nicht ein Vielfaches der umsatzschwachen Teams in den sportlichen Erfolg investie­ ren können.

5 Die Salary Cap Zu den wichtigen, Chancengleichheit herstellenden Mechanismen der NFL gehört die sogenannte salary cap, ein Gehaltsdeckel für Spieler. Dieser Deckel bezieht sich aber nicht auf einzelne Verträge, sondern auf die Gehaltssumme, die eine Franchise in ei­ ner Saison aufwenden darf. Der Gehaltsdeckel der NFL ist fix und grundsätzlich für alle Franchises identisch. Er ist also nicht zu verwechseln mit weicheren Regeln wie dem Financial Fair Play der UEFA, die lediglich vorsehen, dass die laufenden Einnah­ men einer Mannschaft ausreichen sollten, um die laufenden Ausgaben zu finanzie­ ren. Der Gehaltsdeckel der NFL ist außerdem nicht nur zwischen den Eigentümern der Teams vereinbart. Vielmehr war er auch Teil von Verteilungskonflikten zwischen der Spielergewerkschaft der NFL und den Eigentümern. Es ist unmittelbar nachvollziehbar, dass gewinnmaximierende Eigentümer einen Anreiz haben können, sich auf einen Gehaltsdeckel zu einigen, um ihre Position im Verteilungskonflikt zwischen Eigentümern und Spielern zu stärken und den Spiel­ raum für die Erwirtschaftung von Gewinnen zu erhöhen. Dagegen kann man natürlich

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argumentieren, dass hier ein Nachfragekartell auf dem Spielermarkt gebildet wird. Ähnliches gilt für das im folgenden Kapitel noch zu diskutierende Draft-System. Al­ lerdings neigen amerikanische Gerichte dazu, solche Fälle aus der Konsumentensicht, d. h. aus Sicht des Publikums zu betrachten. Wenn also solche Regeln die Wohlfahrt der Konsumenten erhöhen, da sie eine stärker ausgeglichene Liga bereitstellen, so werden wettbewerbsrechtliche Einwände von amerikanischen Gerichten tendenziell zurückgewiesen (Fort 2017). Darüber hinaus sind die Gehaltsdeckel Teil der Kollektiv­ verhandlungen zwischen NFL und Spielergewerkschaft. Es wurde also ein Gesamtpa­ ket geschnürt, welches die salary cap für die Spielergewerkschaft akzeptabel machte (im Detail Heller 2000). Zu diesem Gesamtpaket gehört eine Regelung, welche neben dem Gehaltsdeckel auch eine Untergrenze definiert und festlegt, dass in jedem Jahr ein bestimmter Anteil des unter dem Deckel verfügbaren Spielraums auch tatsächlich ausgegeben werden muss. Dieser Anteil reichte, je nach konkreter Vereinbarung, in den letzten Jahren von 89 % bis zu 99 % für jedes einzelne Team. Darüber hinaus gibt es auch eine Untergrenze für die Liga insgesamt. Verstoßen einzelne Franchises gegen die Bestimmungen der salary cap, so dro­ hen ihnen Sanktionen in Form von Geldstrafen, Verlusten von Draft Picks (siehe das folgende Kapitel) oder gar Zwangskündigungen von Spielerverträgen. Im Gegensatz zu den opaken und wenig glaubhaften Sanktionsdrohungen z. B. der UEFA bei Ver­ stößen gegen ihr Financial Fair Play, sind die Sanktionsdrohungen der NFL ernst, so dass die Teams sich sehr zuverlässig an Ober- und Untergrenzen halten. Die Detailregelungen der salary cap sind durchaus kompliziert und führen dazu, dass die Teams in der Regel Experten beschäftigen, die sich mit der Optimierung der Spielerverträge im Hinblick auf den Gehaltsdeckel beschäftigen. Zunächst gilt, dass das Gehalt eines Spielers in einem Jahr vollständig gegen die salary cap in diesem Jahr zählt. Nun sind Spielerverträge in der NFL allerdings flexibler als in europäischen Ligen. Ein Team hat grundsätzlich die Möglichkeit, einen Spieler zu entlassen, ohne dass dieser ein Anrecht auf die noch offenen Gehälter hat, sofern diese nicht ausdrück­ lich garantiert sind. Erhält also beispielsweise ein Spieler einen Vierjahresvertrag, der jedes Jahr eine Zahlung von 5 Mio. US-Dollar vorsieht, so kann die Franchise diesen Spieler auch nach dem ersten, zweiten, oder dritten Jahr entlassen und hat dann keine Verpflichtung, die weiteren Gehälter zu zahlen. Dies hat im Wesentlichen zwei Effekte auf die Vertragsgestaltung: Erstens sehen die Verträge in der Regel höhere Jahresgehälter am Ende der Vertragslaufzeit vor. Spie­ ler, Spielerberater und Teams können dann zwar mit sehr hohen Gehaltsvolumina für Schlagzeilen sorgen, wissen aber, dass ein Spieler gegen Ende der Vertragslaufzeit in bestechender Form sein muss, um die dann fälligen hohen Gehälter noch zu rechtfer­ tigen und der Entlassung zu entgehen. Die salary cap kann allerdings einen zusätzli­ chen Anreiz für das Team setzen, doch vertragstreu zu sein. Entlässt unser Team den Beispiel-Spieler nach dem zweiten Vertragsjahr, so muss es nämlich zwar die verblie­ benen 10 Mio. US-Dollar für die letzten zwei Jahre nicht an den Spieler zahlen. In der Rechnung für die salary cap tauchen aber nun dennoch die gesamten, verbliebenen

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10 Mio. US-Dollar im Jahr der Entlassung auf und verringern so den Spielraum für die Gehälter anderer Spieler. So kann es für die Teams lohnend sein, doch in den sauren Apfel zu beißen und eigentlich überteuerte Spieler weiter zu beschäftigen, oder diese nicht zu entlassen, sondern im Rahmen eines trades an ein anderes Team abzugeben. Hinzu kommt das Problem der signing bonuses. Diese garantierten Zahlungen bei Vertragsabschluss werden zunächst zu gleichen Teilen über die gesamte, verbliebene Vertragslaufzeit aufgeteilt. Bekommt unser Spieler zu seinem Vierjahresvertrag also einen signing bonus von 20 Mio. US-Dollar, so belastet dieser den Gehaltsdeckel in jedem Vertragsjahr mit weiteren 5 Mio. US-Dollar. Wird der Spieler vorher entlassen, oder geht er freiwillig in den Ruhestand, so belastet auch der verbliebene Rest des si­ gning bonus den Gehaltsdeckel unmittelbar in dem Jahr, in dem der Spieler die Fran­ chise verlässt. Schließlich kommen noch weitere Bonuszahlungen hinzu. Hier wird unterschieden zwischen Boni, deren Zahlung wahrscheinlich ist, z. B. weil der Spie­ ler die entsprechenden Leistungsziele in der Vergangenheit schon einmal erreich hat. Diese Bonuszahlungen zählen ebenfalls zu den für den aktuellen Gehaltsdeckel rele­ vanten Ausgaben. Boni, die mit unwahrscheinlichen Leistungszielen verbunden sind, zählen dagegen erst gegen den Deckel der nächsten Saison, falls sie schlussendlich doch gezahlt wurden. Für die Saison 2020 wird die salary cap bei 201,2 Mio. US-Dollar für jedes Team liegen. Dies bedeutet aber dennoch nicht, dass jedes Team im Jahr 2020 genau gleich viel für laufende Gehälter ausgeben kann. Denn wie oben gesehen, können früher ver­ einbarte Zahlungen, wie frühere signing bonuses, den aktuell noch frei verfügbaren Spielraum von Team zu Team unterschiedlich einschränken. Entsprechend können Teams mit hohen Altlasten, die sie z. B. für inzwischen in den Ruhestand gewechselte Schlüsselspieler vereinbart hatten, in ihrem aktuellen Ausgabenspielraum stark ein­ geschränkt sein. Die Komplexität der salary cap und die damit verbundene prinzipielle wirtschaft­ liche Waffengleichheit aller Franchises im Hinblick auf das Gehaltsvolumen führen dazu, dass Positionen im Teammanagement an relativer Bedeutung gewinnen (Deu­ bert et al. 2013). Darauf deuten auch Vergleiche zwischen der Zeit vor Einführung der salary cap und danach hin (Allen & Chadwick 2012). Ähnliches gilt für die Arbeit er­ folgreicher Trainer, sowohl als Headcoaches als auch als spezialisierte Coaches, deren Beitrag zur sportlichen Produktionsfunktion in der NFL erheblich ist (Brian 2013). Damit existiert trotz der sehr egalitären Wirkung des Gehaltsdeckels also ein wich­ tiges, aber nicht reguliertes Residuum, welches die Leistung von Teams beeinflusst. Franchises, denen es gelingt, ein gut funktionierendes Team von Coaches, Scouts, sa­ lary cap-Experten und General Managern dauerhaft zu binden, können immer noch einen stabilen Wettbewerbsvorteil erlangen und auch eine längere Ära von dauerhaf­ tem Erfolg begründen. Genauso können relativ schlecht geführte Franchises trotz der egalitären wirtschaftlichen Situation dauerhaft erfolglos sein. Ein Beispiel für die erste Gruppe sind die New England Patriots, die seit 2001 nur zweimal nicht in den Playoffs vertreten waren; ein Beispiel für die zweite Gruppe sind die Cincinnati Bengals, die zu­

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letzt 1990 über die Wildcard-Runde der Playoffs hinauskamen. Insgesamt deutet die empirische Evidenz aber darauf hin, dass die Einführung der salary cap tatsächlich zur größeren sportlichen Ausgeglichenheit der Liga beitrug (Larsen et al. 2006).

6 Das Draft-System der NFL Auch die in jedem Frühjahr stattfindende NFL-Draft ist so gestaltet, dass sie zu ei­ ner größeren sportlichen Offenheit der NFL beitragen soll. Im Rahmen der Draft re­ krutieren die NFL-Teams Nachwuchsspieler, die zuvor als nicht bezahlte Amateure im College-Football ihr Können gezeigt haben. Die Teilnahme an der Draft ist für CollegeSpieler der einzige Weg in die NFL. Werden sie hier von keiner NFL-Franchise gewählt, so können sie zwar immer noch als undrafted free agents frei mit jeder Mannschaft über einen Vertrag verhandeln. Es ist aber nicht möglich, als Spieler von vornher­ ein auf die Teilnahme an der Draft zu verzichten und stattdessen direkt mit einzelnen Teams verhandeln. Die Regeln sind relativ einfach. Die schlechteste Mannschaft der vergangenen Sai­ son verfügt im nächsten Frühjahr über den ersten Draft Pick, also über das Recht, als erste Mannschaft einen Spieler aus dem aktuellen College-Talentpool zu wählen. Die Mannschaft hat dann auch das alleinige Recht, mit diesem Spieler über seinen ersten Profivertrag zu verhandeln. Kommt es zu keiner Einigung zwischen dem Team und einem gewählten Spieler, so wird dieser in diesem Jahr nicht in der Liga spielen. Er müsste dann nach einem verlorenen Jahr nochmals an der darauffolgenden Draft teil­ nehmen. Dabei ist auch der Verhandlungsspielraum inzwischen stark eingeschränkt. So ist durch die Kollektivverhandlungen zwischen NFL und Spielergewerkschaft die Länge der Rookie-Verträge reguliert; Spieler die in der ersten Runde der Draft gewählt wer­ den, bekommen beispielsweise Vierjahresverträge, die für die Teams eine Option auf ein fünftes Jahr beinhalten. Ebenso gibt es besondere salary caps für die neuen Spieler in ihren ersten Verträgen. Flexibilität herrscht dagegen vor allem noch bei den signing bonuses, mit denen sich besonders talentierte und wertvolle Spieler schon zu Beginn ihrer Karrieren hohe garantierte Zahlungen sichern können. Insgesamt sind aber eher die zweiten Verträge, die ein Spieler aushandelt, die tatsächlich sehr lukrativen Ver­ träge in seiner Karriere. Die Struktur der Gehälter über die Karriere der Spieler ist also inzwischen so reguliert, dass Spieler sich erst einmal als Profis in der Liga bewähren müssen, bevor sie die oft in den Medien kolportierten exorbitant hohen Gehälter er­ zielen können. Dies ist sowohl aus Sicht der Teams sinnvoll, da der Sprung vom College in die Pro­ filiga immer mit einer erheblichen Unsicherheit verbunden ist. Es gibt immer wieder herausragende College-Spieler, welche die Umstellung auf die noch schnellere und intensivere Spielweise in der NFL nicht überzeugend bewältigen. Es ist aber auch aus

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Sicht der Veteranen sinnvoll, die in der Spielergewerkschaft die Mehrheit darstellen. Denn diese sichern sich mit der engen Regulierung der Rookie-Gehälter ein größeres Stück vom verfügbaren Gehaltskuchen. Die Mannschaften ihrerseits können ihre Draft Picks frei handeln. So sind die­ se Zugriffsrechte regelmäßig Teil von Vereinbarungen über Spielerwechsel zwischen Teams. Im Gegensatz zum europäischen Fußball wechselt ein Spieler das Team nicht gegen die Zahlung einer Ablösesumme. Das abgebende Team wird vielmehr entschä­ digt, indem es entweder einen anderen Spieler bekommt, oder einen oder mehrere Draft Picks, oder eine Kombination aus beiden. Ebenso können noch während der Draft die Zugriffsrechte getauscht werden. Eine Franchise, die auf verschiedenen Posi­ tionen dringenden Handlungsbedarf hat, kann beispielsweise einen besonders wert­ vollen Erstrunden-Pick gegen mehrere Picks eines anderen Teams in späteren Runden tauschen und sich damit mehr Handlungsspielraum verschaffen. Der tatsächliche Effekt der Draft auf die sportliche Ausgeglichenheit der Liga ist umstritten. Zwar wird insgesamt eine ausgleichende Wirkung der Draft gesehen (Grier & Tollison 1994). Diese variiert jedoch zwischen den Franchises, und manche von ihnen scheinen sich damit schwer zu tun, das Instrument der Draft zu nutzen, um sportlich aufzuholen. Das liegt vor allem an den Entscheidungsträgern der NFL-Fran­ chises. Diesen fällt es regelmäßig schwer, die tatsächliche Leistungsfähigkeit von Col­ lege-Spielern auf der Profi-Ebene präzise einzuschätzen. Ein Beispiel ist der aktuelle Quarterback der New England Patriots, Tom Brady, der sicherlich der dominierende Quarterback der vergangenen 19 NFL-Saisons war, selbst aber erst in der sechsten von sieben Draft-Runden, als 199ster Spieler gewählt wurde. Auf der anderen Seite über­ schätzen schlechte Teams oft den Wert von frühen Zugriffsrechten, in der Hoffnung, dass einzelne, kommende Superstars ihr Team entscheidend verbessern können. Die­ se Teams sind dann bereit, schädlich viele spätere Picks im Gegenzug aufzugeben (Berri 2018). Die eingeschränkte Fähigkeit, das Potenzial von College-Spielern präzise abzu­ schätzen, ist auch erstaunlich, weil die Teams eine stark datenbasierte Strategie ein­ setzen (Pitts & Evans 2018). Sie orientieren sich an Daten über die Produktivität von Spielern im College, aber auch über zahlreiche Aspekte ihrer Physis und physischen Leistungsfähigkeit. Hinzu kommt der sogenannte Wonderlic-Test, der die kognitiven Fähigkeiten von Spielern misst. Vor der Draft findet jährlich außerdem die sogenann­ te Combine statt. Hier können sich College-Spieler bei Leistungstests direkt vor den Vertretern aller Franchises präsentieren. Dennoch setzen die Teams bisher diese Da­ tensammlungen nicht effizient ein und über- und unterbewerten dauerhaft die Bedeu­ tung einzelner Indikatoren (Pitts & Evans 2019). Ebenso gibt es Evidenz, die darauf hindeutet, dass zu wenige Zugriffsrechte wäh­ rend der Draft gehandelt werden (Hersch & Pelkowski 2016). Es bleiben systematisch mögliche Tauschgewinne zwischen Teams ungenutzt. Dies kann daran liegen, dass die Transaktionskosten unter Zeitdruck zu hoch sind. Es kann auch mit verhaltens­ ökonomischen Ansätzen wie dem endowment effect erklärt werden. Denkbar wäre

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auch, dass besonders risikoscheue Vertreter ihrer Teams nicht bereit sind, unter Beob­ achtung der landesweiten Medien trades durchzuführen, die eher riskant erscheinen oder gegenüber der eigenen Fangemeinschaft schwer zu vermitteln sind. Dafür spricht auch, dass Teams systematisch Kandidaten aus kleineren Colleges diskriminieren und deren Potenzial konsistent zu gering eingeschätzt wird (Hendricks et al. 2003). Auch hier könnte der Grund sein, dass College-Spieler aus prominenten Colleges gegenüber der Öffentlichkeit leichter als risikoärmere Wahl vermittelbar sind.

7 Was wäre auf europäische Sportligen übertragbar? Késenne (2005) zeigt, dass einige Resultate bezüglich des Effekts einer egalitären Um­ satzverteilung auf die sportliche Ausgewogenheit einer Liga nicht robust sind, wenn der Spielerpool variabel ist. Diese Bedingung gilt für die NFL nicht; fast alle hinrei­ chend talentierten Footballspieler werden versuchen, Verträge mit NFL-Teams abzu­ schließen.⁴ Sie gilt aber beispielsweise für Teams in nationalen europäischen FußballLigen, die jederzeit Spieler an andere nationale Ligen verlieren oder Spieler aus diesen rekrutieren könnten. Ist der Talentpool variabel und verhalten sich die Teams als Ge­ winnmaximierer, dann kann eine Umverteilung von Umsätzen im Modell von Késenne zu einem Rückgang der sportlichen Ausgeglichenheit führen. Der Grund ist, dass die Teams dann mit ihrer Nachfrage nach sportlichen Talenten eine positive Externalität produzieren. Sie heben das Talentniveau der Liga, ihnen fließt aber nicht der gesamte Gewinn aus diesem höheren Talentniveau zu. Da dieser Verhaltensanreiz für relativ ärmere Teams größer sein kann als für relativ reiche Teams, kann aus einer Umvertei­ lung von Umsätzen ein Rückgang der sportlichen Ausgeglichenheit folgen. Dies gilt jedoch nicht, wenn die Teams nicht ihre Gewinne, sondern unmittelbar die Zahl ihrer sportlichen Erfolge maximieren. In diesem Fall wird der Nutzen zusätzlichen Talents voll internalisiert und Umverteilung von Umsätzen führt auch in Ligen mit offenem Talentpool zu mehr Ausgeglichenheit. Dies ist in europäischen Ligen in der Regel der Fall. Ein Gehaltsdeckel sollte al­ so trotz des offenen Talentpools nationaler Ligen den gewünschten Effekt auf die Ausgeglichenheit haben – aber natürlich nur innerhalb der einzelnen Liga. Bei ei­ ner Einführung eines Gehaltsdeckels nur in einer einzigen Liga wäre dagegen deren europäische Wettbewerbsfähigkeit gefährdet. Rechnen sich hinreichend viele Verei­ ne Chancen aus, sich über längere Zeit immer wieder für europäische Wettbewerbe zu qualifizieren, so reicht dies aus, um die notwendige Mehrheit zu verhindern, die für die Einführung eines Gehaltsdeckels nötig wäre. Realistische Chancen hätte also, wenn überhaupt, dann eine salary cap auf europäischer Ebene.

4 Ausnahmen könnten allenfalls seltene Multi-Sport-Talente sein, denen auch der Weg in die NBA oder MLB offensteht.

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Aber auch hier gibt es einen wichtigen Unterschied zu den amerikanischen Profi­ ligen. Dort folgte der Anreiz zur Einführung von salary caps auch aus den wirtschaft­ lichen Interessen der Eigentümer der Mannschaften, die so ihren Spielraum zur Ge­ winnabschöpfung erhöhen. Die europäischen Ligen werden dagegen noch von Mann­ schaften dominiert, für die es ausschließlich darum geht, den sportlichen Erfolg zu maximieren. Da kein residual claimant vorhanden ist, der den Gewinn abschöpft, flie­ ßen auch allfällige Gewinne letztlich immer wieder in Ablösesummen, Spielergehäl­ ter, oder Vereinsinfrastrukturen. Hinzu kommen Drohungen von Vereinen mit sehr großem Vorsprung vor ihrer nationalen Konkurrenz, im Zweifel aus UEFA-Wettbewer­ ben auszusteigen und eine eigene, internationale Super-Liga zu gründen. Die Glaub­ würdigkeit solcher Drohungen soll hier nicht weiter diskutiert werden. Sie unterstrei­ chen aber jedenfalls die Verhandlungsmacht der großen Vereine, die unter Maßnah­ men, welche die Wettbewerbsgleichheit stärken, eher leiden würden. Man kann also festhalten, dass ein Gehaltsdeckel auf europäischer Ebene vermut­ lich die Wettbewerbsgleichheit stärken würde, dass seine Einführung aber ausgehend vom aktuellen Status Quo unwahrscheinlich ist. Ähnliches gilt für eine sehr egalitäre Verteilung von Geldern aus der Vermarktung von Fernsehrechten. Auch deren Einfüh­ rung stößt auf Widerstand der großen Vereine, deren Verhandlungsmacht wohl aus­ reicht, um ihnen ein faktisches Vetorecht zu geben. Darüber hinaus haben wir oben bereits gesehen, dass die egalitäre Verteilung von Fernsehgeldern allein nicht reicht, solange die weiteren Einnahmen der Vereine noch sehr heterogen sind. Es ist gerade das Zusammenspiel von salary cap und egalitärer Verteilung, die für die relativ hohe competitive balance in der NFL verantwortlich ist. Die NFL ist also zumindest unmittelbar kein direktes Vorbild für europäische Sportligen. Der Blick auf die NFL könnte aber zumindest Sportfans die Angst vor einer oft befürchteten Kommerzialisierung des Sports nehmen. Denn paradoxerweise sind es gerade die gewinnorientiert arbeitenden Privateigentümer, die ein Interesse daran haben, das liga-weite Allmendegut der sportlichen Ausgeglichenheit zu schützen und sich entsprechende Regeln zu geben. Möglicherweise zementieren also beispielswei­ se Kampagnen gegen eine Aufhebung der 50 %-plus-1-Regel gerade den Status Quo geringer sportlicher Ausgeglichenheit, was den tatsächlichen Motiven von Unterstüt­ zern solcher Kampagnen sicherlich nicht entspricht.

8 Fazit Der NFL gelingt es, eine hohe sportliche Ausgeglichenheit herzustellen, obwohl die wirtschaftlichen Kennzahlen der einzelnen Franchises eigentlich das genaue Gegen­ teil erwarten ließen. Dabei ist es auch interessant, dass der sportliche Erfolg nur wenig mit dem wirtschaftlichen Erfolg korreliert. So haben es die Los Angeles Rams und die New York Giants seit 2010 nur zweimal in die Playoffs geschafft, die Dallas Cowboys

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93

dreimal, die San Francisco 49ers immerhin viermal. Lediglich die New England Patri­ ots schafften es, über einen sehr langen Zeitraum hinweg relativ konstant erfolgreich zu bleiben. Ähnliche Dynastien wie im europäischen Fußball, bei dem Unterschiede in den Budgets recht stabil die Erfolge in den nationalen Ligen prognostizieren helfen, gibt es in der NFL nicht. Dennoch können die hier diskutierten Mechanismen, die in der NFL angewandt wurden, nicht verhindern, dass manche Mannschaften über den langjährigen Durch­ schnitt erfolgreicher sind als andere. Es gibt Mannschaften, denen über Jahrzehnte nicht zugetraut wird, es in die Playoffs zu schaffen oder dort mehr als eine Runde zu überstehen. Auch nach der salary cap, der NFL Draft und der egalitären Umsatzver­ teilung bleibt ein nicht regulierter Rest: die Qualität von Coaches und Management, insbesondere auch der Scouts, die in der Lage sind, unterschätzte Spieler aufzuspü­ ren, die trotz eines geringen Effektes auf den Gehaltsdeckel unter den spezifischen Bedingungen einer bestimmten Mannschaft zu einem wichtigen Puzzle-Teil werden können. Völlige sportliche Ausgeglichenheit wird man daher auch in der NFL niemals herstellen können. Die zentrale Lehre für europäische Ligen besteht aber darin, dass es ausgehend von der aktuellen Situation unwahrscheinlich ist, dass die Mechanismen, die in der NFL funktionieren, adaptiert werden. Man müsste also zunächst einmal die Voraus­ setzungen dafür schaffen, dass diese Mechanismen für die Mannschaften interessant werden. Zu diesen Voraussetzungen gehört paradoxerweise eine zunehmende Kom­ merzialisierung des Sports. Denn nur wenn Gewinnmaximierung das Ziel von TeamEigentümern ist, haben diese ein direktes Interesse daran, die Attraktivität der Liga insgesamt so hoch zu bewerten, dass Ausgeglichenheit als Ziel in den Vordergrund rückt.

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Arne Feddersen

Brot und Spiele – Wollen Konsumenten eigentlich sauberen Sport? 1

Einleitung | 95

2

Literaturüberblick | 96

3

Empirische Analyse | 97

4

Daten und deskriptive Statistik | 98

5

Ergebnisse | 102

6

Fazit | 105

1 Einleitung Fernsehübertragungen von Sportveranstaltungen erzielen zumeist die größten Zu­ schauerreichweiten unabhängig davon, ob es sich um Fußball, Boxen, Radrennsport, Skispringen oder Motorsport handelt. Im Vergleich zu Analysen der Determinanten von Stadionnachfrage gibt es zurzeit relative wenige Studien der Determinanten der Nachfrage von TV-Übertragungen von Sportereignissen. Im Bereich der Analyse der Stadionnachfrage existieren deutlich mehr als 150 Studien. Einen Überblick über den Stand der Forschung findet sich bei Borland & MacDonald (2003), García Villar & Rodríguez Guerrero (2009) sowie Budzinski & Feddersen (2016). Von den vorhandenen Veröffentlichungen zu den Determinanten von TV-Über­ tragungen von Sportereignissen analysiert die überwiegende Mehrheit die Nachfrage nach Sportarten wie Fußball (inter alia, Nüesch & Franck 2009; Alavy et al. 2010; Fed­ dersen & Rott 2011) und American Football (inter alia, Paul & Weinbach 2007; Tainsky 2010). Es gibt deutlich weniger Analysen zu (etwas) weniger populären Sportarten wie Tennis (Konjer et al. 2017) oder Radsport (Van Reeth 2013; Rodríguez-Gutiérrez et al. 2015). Dieser Beitrag analysiert die Determinante der Nachfrage nach Fernsehsendun­ gen der Tour de France in Dänemark. Dabei trägt diese Studie auf zweierlei Weise zur vorhandenen Literatur über die Determinanten der Nachfrage nach TV-Übertragun­ gen bei. Erstens analysiert es eine Sportart außerhalb des europäischen Fußballs und der nordamerikanischen Major Leagues. Zweitens ist dies erst der dritte Beitrag, der sich explizit mit der Frage befasst, ob Dopingskandale das Verhalten von Sportkon­ sumenten in Form der Nachfrage nach Fernsehübertragungen (negativ) beeinflussen. Laut Cisyk (2020) scheint das Fernsehpublikum ein sehr guter Indikator für die Nach­ frage nach Sport zu sein, da die Reaktion der Verbraucher sofort und ohne Verzöge­ rung eintritt (z. B. beim Ticketverkauf). Zudem ist die Größe des TV-Publikums und https://doi.org/10.1515/9783110724523-005

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die wirtschaftliche Bedeutung der Einnahmen aus den TV-Übertragungen in der Re­ gel deutlich größer als beim Stadionpublikum. Aufgrund der Häufigkeit des Auftretens und Prominenz von Dopingfällen stellt der Radsport eine sehr interessante Sportart dar, um die Auswirkungen von Doping­ skandalen auf das Verbraucherverhalten zu untersuchen. Darüber hinaus erscheint Dänemark eine gute Fallstudie zu sein. Während des Untersuchungszeitraums er­ reichten die Übertragungen von Etappen der Tour de France einen durchschnittli­ chen Marktanteil von rund 62 % und einen Bevölkerungsanteil von rund 7 %. Laut Van Reeth (2013) hat Dänemark nach der belgischen Region Flandern – sogar noch vor traditionellen Radsportnationen wie Frankreich, Italien, den Niederlanden und Spanien – den zweithöchsten Bevölkerungsanteil im Rahmen von Radsportübertra­ gungen weltweit. Darüber hinaus waren dänische Radfahrer im Beobachtungszeit­ raum relativ erfolgreich und in Dopingskandale verwickelt. So gewann z. B. Bjarne Riis 1996 die Tour de France und war über die Jahre – sowohl als Fahrer als auch als Teamchef – stark in diverse Dopingskandale verwickelt. Dieser Beitrag ist dabei wie folgt organisiert. Kapitel 2 gibt einen Überblick über die vorhandene Literatur zu den Determinanten der Nachfrage nach TV-Übertragun­ gen von Sportveranstaltungen. Im dritten Kapitel wird das empirische Modell vorge­ stellt, während in Kapitel 4 die Variablen und Datenquellen beschrieben werden. In Kapitel 5 werden die Ergebnisse der empirischen Analyse beschrieben und diskutiert. Das letzte Kapitel schließt ab.

2 Literaturüberblick Die Literatur zu den Determinanten der Nachfrage nach Sport wurde lange Zeit von Studien zur Zuschauernachfrage nach Stadionbesuchen dominiert (inter alia, Borland & MacDonald 2003; García Villar & Rodríguez Guerrero 2009; Budzinski & Feddersen 2016). In letzter Zeit hat jedoch die Anzahl der empirischen Analysen der Determinan­ ten der Nachfrage nach Sportübertragungen zugenommen. Die erste Studie, die sich mit dem Thema der Nachfrage nach Live-Sportübertragungen befasste, war die Studie von Forrest, Simmons und Buraimo (2005). Dieser Studie folgten unter anderem John­ sen & Solvoll (2007), Paul & Weinbach (2007), Buraimo & Simmons (2009), Nüesch & Franck (2009), Di Domizio (2010), Alavy et al. (2010) und Feddersen & Rott (2011). Die Hauptforschungsfrage dieses Papiers ist die Auswirkung von Dopingskanda­ len auf die Nachfrage nach TV-Übertragungen. Während es eine größere Gruppe von Arbeiten gibt, die Doping und insbesondere die Gründe für Doping aus wirtschafts­ wissenschaftlicher Sicht anhand mikroökonomischer oder spieltheoretischer Modelle diskutieren (Breivik 1992; Maennig 2002; Haugen 2004; Eber 2008), gibt es nur sehr wenige Studien, die sich mit den Auswirkungen von Dopingskandalen auf die Nach­ frage nach Sportprodukten (z. B. Tickets oder Fernsehsendungen) befassen. Dies ist

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bis zu einem gewissen Grad überraschend, da eine der Argumentationen im Kampf gegen Doping (neben verschiedenen gesundheitlichen Aspekten) sehr oft ein starker Rückgang des Faninteresses ist. Bisherige Studien beruhen dabei hauptsächlich auf Umfragen, um die Auswirkungen von Doping auf das Verbraucherverhalten zu analy­ sieren (Solberg et al. 2010; Engelberg et al. 2012; Abeza et al. 2020). Unter den Studien, die auf offenbarten Präferenzen beruhen, sind die Arbeiten von Van Reeth (2013), Van Reeth (2019) und Cisyk (2020) hervorzuheben, da diese in einem engen Zusammen­ hang mit der vorliegenden Analyse stehen. Diese drei Arbeiten analysieren die Aus­ wirkungen von Dopingskandalen auf die Nachfrage nach TV-Sendungen im Radsport bzw. Baseball. Darüber hinaus untersuchen Cisyk und Courty (2017) den Nachfrage­ effekt von Doping in Bezug auf den Stadionbesuch in der nordamerikanischen Major League Baseball.

3 Empirische Analyse Das im Folgenden verwendete empirische Modell baut auf der vorhandenen Literatur zur Zuschauernachfrage nach Sportveranstaltungen auf. Die einflussreichsten Veröf­ fentlichungen in Bezug auf diese empirische Analyse sind – neben den oben aufge­ führten Studien von Van Reeth (2013), Van Reeth (2019) und Cisyk (2020) – zwei weite­ re Analysen zur Nachfrage nach TV-Übertragungen im Radsport (Rodríguez-Gutiérrez et al. 2015; Rodríguez-Gutiérrez & Fernández-Blanco 2017). Inspiriert von der Literatur wurden fünf Kategorien von Variablen identifiziert: Etappenart, Fortschritt des Wettbewerbs, Patriotismus, Wochentag und Wetter. Alle Variablen in diesem Modell sind ex ante verfügbar (d. h. vor dem Beginn der jeweiligen Etappe). Das Regressionsmodel kann dabei wie folgt formalisiert werden: TV it = β0 + ART it β1 + FORTSCHRITT it β2 + NATIONAL it β3 + β4 Doping it + WOCHENTAGSTYP it β5 + WETTER it β6 + γ t + ε it

(1)

TV it ist die abhängige Variable und repräsentiert die Anzahl der Fernsehzuschauer von Etappe i im Jahr t und wird in 1.000 Zuschauern angezeigt. Um eine bessere Les­ barkeit zu gewährleisten, wurden die im Folgenden beschriebenen unabhängigen Va­ riablen in Vektoren gruppiert. ART it ist ein Vektor von fünf Dummy-Variablen, die den jeweiligen Etappencharakter abbilden. Sie nehmen jeweils den Wert Eins an, wenn die Etappe entweder eine Flachetappe, eine Bergetappe, eine hügelige Etappe, ein Einzel­ zeitfahren, ein Teamzeitfahren oder ein Prolog ist. Andernfalls nehmen die variablen den Wert Null an. Im Folgenden stellt die Dummyvariable Flachetappe die Referenz­ kategorie dar. FORTSCHRITT it ist ein Vektor, der aus drei Variablen besteht, die das Fort­ schreiten der jeweiligen Ausgabe der Tour de France darstellen. Die erste Variable, Erste Etappe it , ist Eins, wenn Etappe i die erste Etappe einer Ausgabe der Tour de

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France ist, und andernfalls Null. Die nächste Variable (Letzte Etappe it ) nimmt den Wert Eins an, wenn Etappe i die letzte Etappe einer Ausgabe der Tour de France ist. Diese Variable soll die Effekte der sogenannten tour d’honneur auf dieser Etappe sowie das anschließende prestigeträchtige Ziel auf den Champs-Élysées erfassen. Ab­ schließend enthält diese Kategorie die Variable Etappennummer it , die die laufende Nummer der Etappe innerhalb einer Ausgabe der Tour de France angibt. Die Variablen, die im Vektor NATIONAL it enthalten sind, sollen die Effekte ei­ nes Nationalhelden bzw. des Nationalstolzes erfassen. Gelbes Trikot DK it nimmt den Wert Eins an, wenn ein dänischer Fahrer zu Beginn der Etappe i im Jahr t an der Spit­ ze der Gesamtwertung steht und daher das gelbe Trikot trägt. Es wird erwartet, dass sich dies stark positiv auf die Nachfrage nach TV-Übertragungen der Tour de France in Dänemark auswirkt. Etappensieger DK it hat den Wert Eins, wenn ein dänischer Fahrer die vorherige Etappe gewonnen hat. Der Vektor WOCHENTAGSTYP it besteht aus zwei Dummy-Variablen, die unter­ schiedlichen Effekte von Wochentagen und Wochenende erfassen. Daher nimmt die Variable Wochentag it (Wochenende it ) den Wert Eins an, wenn Etappe i im Jahr t an einem Wochentag (Wochenende) stattfand, wobei Wochentag it die Referenzkatego­ rie darstellt. Der Vektor WETTER it besteht aus der Variablen Temperatur it und Regen it . Die erste Variable gibt die mittlere Temperatur in °C und die zweite die Gesamtnieder­ schlagsmenge in mm an. Beide Wettervariablen enthalten Werte für den Tag der Aus­ strahlung der Etappe i im Jahr t und stammen von einer Wetterstation in der Stadt Odense, die geografisch sehr zentral in Dänemark liegt¹. Das Hauptinteresse dieser Analyse ist die Variable Doping it , mithilfe derer die Auswirkungen von Dopingskandalen auf das dänische Fernsehpublikum erfasst wer­ den sollen. Sie hat den Wert Eins, wenn ein Fahrer während der Tour de France im Jahr t mit verbotenen leistungsfördernden Mitteln erwischt wurde und während des laufenden Wettbewerbs im Jahr t vom diesem ausgeschlossen wurde. Darüber hinaus bleibt die Variable Eins für die verbleibenden Etappen der Tour de France des Jah­ res. Wenn im Jahr t bis zur Etappe i kein Dopingfall aufgetreten ist, ist der Wert von Doping it Null. Abschließend wurde ein fixer Effekt (γ t ) in das Regressionsmodell auf­ genommen, um zeitinvariante Effekte innerhalb der Austragung der Tour de France im Jahr t zu erfassen.

4 Daten und deskriptive Statistik Laut Van Reeth (2013) basieren empirische Analysen der Fernsehzuschauer norma­ lerweise auf zwei verschiedenen Maßen: (a) der durchschnittlichen Anzahl von Per­

1 Datenquelle ist der Webservice www.weatherunderground.com.

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sonen, die die Sportübertragung im Fernsehen anschauen; (b) dem prozentualen An­ teil der Zuschauer, die die Sportübertragung im Fernsehen anschauen. Die Mehrheit der bisher veröffentlichen akademischen Analysen verwendet dabei die durchschnitt­ liche Anzahl von Zuschauern (inter alia, Forrest et al. 2005; Johnsen & Solvoll 2007; Buraimo & Simmons 2009; Feddersen & Rott 2011; Bergmann & Schreyer 2019; Hum­ phreys & Pérez 2019; Gasparetto & Barajas 2020), während weniger Studien auf dem Anteil der Zuschauer basieren (inter alia, Nüesch & Franck 2009; Alavy et al. 2010; Di Domizio 2010). Darüber hinaus führt Van Reeth (2013) ein drittes Maß zur Messung der Zuschauernachfrage nach TV-Übertragungen in die sportökonomische Literatur ein, die sogenannte „Peak Audience“. Diese misst die maximale Anzahl von Zuschau­ ern innerhalb der gesamten Übertragungsdauer. Da dieses Maß der TV-Nachfrage für Forscher selten verfügbar ist, wurde es in der Literatur nicht häufig verwendet (Van Reeth 2013: 44) und wird – ebenfalls aufgrund von Nichtverfügbarkeit – auch in die­ ser Analyse nicht verwendet. Die abhängige Variable in dieser Analyse ist die durchschnittliche Zuschauerzahl der Tour-de-France-Übertragungen in Dänemark zwischen 1993 und 2015. In Däne­ mark werden die Fernsehreichweiten von Kantar Media erhoben. Hierbei wird ein re­ präsentatives Panel von 1.200 dänischen Haushalten verwendet, um die landesweiten Fernsehreichweiten zu schätzen. Die Analyse in dieser Studie basiert auf der durch­ schnittlichen Anzahl von Fernsehzuschauern ab einem Alter von drei Jahren (in 1.000 Zuschauern). Dabei wird eine Person als Zuschauer für eine bestimmte Fernsehsen­ dung angesehen, wenn diese Person mindestens zehn aufeinanderfolgende Minuten dieser Sendung gesehen hat (Kantar Gallup 2019). Fernsehübertragungen von Etappen der Tour de France sind in Dänemark sehr beliebt. Wie aus Tabelle 1 hervorgeht, beträgt die Gesamtzahl der Zuschauer der Sen­ dungen etwa 370.000 oder 7,1 % der dänischen Bevölkerung von rund 5,8 Millionen (Danmarks Statistik 2020). Das Minimum betrug ungefähr 38.000 Zuschauer und das Maximum 1,2 Mio. Zuschauer. Aufgrund des Zeitplans am Nachmittag erreichen die Sendungen einen hohen Marktanteil (d. h. den Anteil der Zuschauer, die die Sendun­ gen der Tour de France von allen Personen sehen, die gleichzeitig fernsehen) von durchschnittlich 62 % mit einer Standardabweichung von 15,5 %. Das Maximum war ein Marktanteil von 91,5 %. Vergleicht man die Anzahl der Zuschauer mit der Gesamt­ bevölkerung Dänemarks, so beträgt der Bevölkerungsanteil durchschnittlich 7 % bei einem Minimum von nur 1 % und einem Maximum von 23,5 %. Tab. 1: Deskriptive Statistik (1).

Reichweite Marktanteil [in %] Bevölkerungsanteil [in %]

Mittelwert

Standardabweichung

Min.

Max.

366.223 61,56 7,10

164.845 15,48 3,25

37.700 5,7 0,70

1.170.500 91,40 23,50

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Tab. 2: Deskriptive Statistik (2).

Allgemein Bergetappe Hügelige Etappe Individuelles Zeitfahren Mannschaftszeitfahren Flachetappe Wochenende Werktags

Anzahl

Mittelwert

Standardabweichung

Min.

Max.

447 114 64 47 12 210 162 285

366.223 413.237 377.380 433.555 280.200 327.148 409.308 341.733

164.845 163.330 122.602 224.520 74.663 153.049 202.798 133.038

37.700 141.300 221.700 51.200 148.300 37.700 51.200 37.700

1.170.500 899.000 775.900 1.101.900 425.800 1.170.500 1.170.500 830.100

Wie oben beschrieben, kann davon ausgegangen werden, dass sowohl die Etap­ penart als auch der Wochentag einen signifikanten Einfluss auf die Fernsehzuschauer haben. Um hier einen ersten Anhaltspunkt zu geben, werden in Tabelle 2 die deskrip­ tiven Statistiken für die verschiedenen Etappentypen sowie für Wochentags- und Wo­ chenendetappen angegeben. Wie erwartet zeigen die verschiedenen Etappentypen deutlich Unterschiede. Die beliebten Berg- und Einzelzeitfahrten haben eine durchschnittliche Zuschauerzahl von rund 415.000 und 435.000. Das Minimum für Bergetappen liegt bei 140.000 Zu­ schauern und das Maximum bei 900.000 Zuschauern, während sich die Werte für Ein­ zelzeitfahren zwischen 50.000 und 1,2 Mio. Zuschauern bewegen. Flachetappen, die die Mehrheit der Etappen in diesem Datensatz darstellen, habe eine durchschnittliche Zuschauerzahl von rund 330.000. Interessanterweise zeigen Team-Zeitfahren, die bei den Organisatoren aufgrund ihres Marketingwerts beliebt sind, das geringste Interes­ se der Fernsehzuschauer mit einer durchschnittlichen Reichweite von „nur“ 280.000 Zuschauern. Darüber hinaus ziehen an einem Wochenende durchgeführte Etappen ein höheres durchschnittliches Fernsehpublikum (ca. 410.000) an als an einem Wo­ chentag durchgeführte Etappen (ca. 340.000). Abbildung 1 zeigt ein Streudiagramm aller 447 Etappen in chronologischer Rei­ henfolge. Obwohl sowohl ein linearer Trend (gestrichelte schwarze Linie) als auch ein nicht-parametrischer Trend, der auf dem Lowess-Befehl in Stata 14 (durchgezogene schwarze Linie) basiert, keinen erkennbaren Trend in der erfassten Zuschauerreich­ weite erkennen lassen, sind zwei Bereiche mit höherer TV-Nachfrage zwischen 1995 und 1998 (Beobachtungen 50 und 125) und 2003 und 2011 (Beobachtungen 215 und 375) zu erkennen. Der erste Höhepunkt ereignete sich in den besten Zeiten der Karrie­ re von Bjarne Riis, der 1996 die Tour de France gewann und 1995, 1993 und 1997 den 3., 5. und 7. Platz belegte. Der zweite Höhepunkt, der zwischen 2003 und 2011 liegt, könn­ te mit dem sportlichen Erfolg des dänischen Teams „Professional Cycling Denmark“ mit Bjarne Riis als Teammanager zusammenhängen. Dieses Team wurde von dem USamerikanischen IT-Dienstleistungsunternehmen CSC (2001–2008) und der dänischen Investmentbank Saxo Bank (2009–2013) gesponsert. Obwohl das Team keinen däni­

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Abb. 1: Zuschauerreichweite (1993–2015). Eigene Abbildung

schen Anwärter auf die Gesamtwertung der Tour de France hatte, hatten der italieni­ sche Fahrer Ivan Basso und der luxemburgische Fahrer Andy Schleck Aussicht auf den Gewinn der Gesamtwertung in verschiedenen Jahren. Basso belegte zwischen 2002 und 2005 den 11., 8., 3. und 2. Platz, während Schleck 2008 und 2009 den 12. und 2. Platz belegte. Schleck beendete die Tour de France 2010 zunächst mit 39 Sekun­ den Rückstand auf dem zweiten Platz hinter dem Spanier Alberto Contador. Rückwir­ kend erhielt er durch das Schiedsgericht für Sport (CAS) den 1. Platz, nachdem der ursprüngliche Gewinner Alberto Contador im Februar 2012 wegen des Einsatzes leis­ tungssteigernder Medikamente verurteilt worden war. Zudem bestand das Team aus vielen dänischen Fahrern und war wahrscheinlich der Haupttreiber der höheren TVNachfrage in dieser Zeit. Außerdem gewann der für das niederländische Team „Rabo­ bank“ startende dänische Fahrer Michael Rasmussen 2005 und 2006 bei der Tour de France die Bergwertung und eine Bergetappe, während er in der Gesamtwertung den 7. und 17. Platz belegte. 2007 führte Rasmussen die Tour de France an, nachdem er die Etappen 8 und 16 gewonnen hatte. Er wurde jedoch von seinem Team vom Ren­ nen zurückgezogen und wegen Verstößen gegen interne Regeln entlassen, da er einige Doping-Tests verpasste und mehrfach über seinen Aufenthaltsort gelogen hatte. Abbildung 2 zeigt die Anzahl der Fernsehzuschauer nach Etappennummer, um die Möglichkeit eines Trends in der Zuschauerzahl aufgrund der zunehmenden Span­ nung im Verlauf der drei Wochen der Tour de France hervorzuheben. Es wird allgemein angenommen, dass die Spannung bis zur Endphase (stetig) zunimmt, wenn norma­ lerweise wichtige Bergetappen – häufig mit spektakulären Bergankünften – und Zeit­ fahren geplant sind, um die Spannung in Bezug auf das Gesamtklassement aufrecht­

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Abb. 2: Zuschauerreichweite (nach Etappennummer). Eigene Abbildung

zuerhalten. Sowohl der lineare Trend (gestrichelte Linie) als auch der nicht parame­ trische, lokal gewichtete Trend (durchgezogene Linie) zeigen im Verlauf der Tour de France einen deutlichen Aufwärtstrend.

5 Ergebnisse Das in Gleichung (1) vorgestellte Modell wird unter Verwendung von OLS geschätzt. Die Ergebnisse sind in Tabelle 3 angegeben. Die Ergebnisse für TV-Übertragungen der Tour de France in Dänemark stimmen größtenteils mit den Ergebnissen in der vorhandenen Literatur und den Erwartungen überein. Entsprechend den Ergebnissen der weiteren Publikationen zu Determinan­ ten der Nachfrage nach Radsportübertragungen (Van Reeth 2013; Rodríguez-Gutiér­ rez et al. 2015; Rodríguez-Gutiérrez & Fernández-Blanco 2017; Van Reeth 2019) ist zu sehen, dass die Art der Etappe einen erheblichen Einfluss hat. Im Vergleich zur Referenzkategorie (Flachetappe) hat eine Bergetappe 61.062 zu­ sätzliche Zuschauer. Einzelzeitfahren zeigen mit 63.804 zusätzlichen Zuschauern ei­ nen Effekt ähnlicher Größenordnung. Ein Prolog – ein kurzes Einzelzeitfahren (nor­ malerweise kürzer als 10 km), das gelegentlich zu Beginn der Tour de France ab­ gehalten wird – zieht 143.080 zusätzliche Zuschauer an. Diese relativ hohe Zahl im Vergleich zu einer flachen Etappe, aber auch zu Bergetappen und einzelnen Zeit­ fahren ist sehr wahrscheinlich auf den Zeitpunkt der Ausstrahlung zurückzuführen.

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Tab. 3: Regressionsergebnisse. Zuschauer in 1.000

OLS

Konstante

266,684*** (46,564) 61,063*** (13,216) 8,006 (15,079) 63,804*** (19,413) 36,756 (29,840) 143,080*** (46,978) −65,578* (37,656) 135,427*** (28,007) 7,568*** (1,093) 120,941*** (30,510) 18,006 (29,236) 46,180*** (10,795) −5,310** (2,201) 17,249* (9,984) −39,457 (34,090)

Bergetappe Hügelige Etappe Individuelles Zeitfahren Mannschaftszeitfahren Prolog Erste Etappe Letzte Etappe Etappennummer Gelbes Trikot DK Etappensieger DK Wochenende Temperatur Regen Doping N R2 Adj. R 2

447 0,675 0,648

Ein Prolog, sofern im Etappenplan enthalten, wird normalerweise an einem Sams­ tagabend angesetzt und übertragen. Daher kann die Variable neben der Attraktivität des Kurzzeitfahrens auch den Sendezeiteffekt erfassen, da reguläre Etappen fast aus­ schließlich zwischen 10 Uhr und 18 Uhr stattfinden. Ein solcher Sendezeiteffekt findet sich in der Literatur für viele andere Sportarten (siehe z. B. Feddersen & Rott 2011). Eine Variable, die den Sendezeiteffekt erfasst, wurde aufgrund von Problemen mit Multikollinearität jedoch nicht in das Modell aufgenommen. Alle drei Koeffizienten sind bei 1 % signifikant.

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Hügelige Etappen und Team-Zeitfahren sind nicht signifikant von Null verschie­ den. Dies könnte insbesondere im Hinblick auf den Effekt von Team-Zeitfahren über­ raschend sein, da sowohl die Organisatoren als auch Sponsoren und Fernsehsender normalerweise für diese spezielle Form werben – wahrscheinlich aufgrund des Wer­ beeffekts und der spektakulären Bilder. Aufgrund des fragwürdigen sportlichen Werts dieser Team-Zeitfahren scheinen die Fernsehzuschauer diese nicht mehr als Flach­ etappen zu schätzen. Sendungen der ersten Etappe haben etwa 65.000 Zuschauer weniger, während die letzte Etappe 135.000 zusätzliche Zuschauer anzieht. Der Koeffizient für die Dummy­ variable ist auf dem 1 %-Niveau signifikant, während die Dummyvariable Erste Etappe nur auf dem 10 %-Niveau signifikant ist. Die Beliebtheit der Übertragung der Schluss­ etappe liegt sehr wahrscheinlich an einigen spezifischen Traditionen dieser Etappe. Erstens ist es ein ungeschriebenes Gesetz, dass der Anführer der Tour de France, wäh­ rend dieser sogenannten tour d’honneur nicht mehr angegriffen wird. Zweitens ist der erste Teil dieser Etappe – bevor die Stadtgrenze von Paris erreicht wird – von Feier­ lichkeiten und Späßen unter den Radfahrern geprägt. Drittens findet der letzte Teil der letzten Etappe in der Innenstadt von Paris in Runden zwischen dem Arc de Triomphe und dem Place de la Concorde mit der Ziellinie auf den Champs-Élysées statt. Diese Etappen enden sehr oft in einem Massensprint, da dies die letzte Möglichkeit für ei­ nen Etappensieg für einige Teams und einen prestigeträchtigen Sieg für jeden Sprinter ist. Aufgrund dieser Eigenschaften ist die Schlussetappe bei (dänischen) Fernsehzu­ schauern relativ beliebt. Die Etappenanzahl wirkt sich deutlich positiv auf die TV-Nachfrage aus und zeigt einen zunehmenden Trend von Spannung und Interesse im Verlauf der Tour de Fran­ ce. Dies bedeutet, dass jede Etappe etwa 7.500 Zuschauer mehr anzieht als die vorheri­ ge. Dies scheint zunächst kein großer Wert zu sein. Es bedeutet jedoch, dass aufgrund dieses zunehmenden Trends zusätzliche 150.000 Zuschauer die letzte Etappe im Ver­ gleich zur ersten sehen. Die Beweise für die Wirkung von Patriotismus sind gemischt. Während ein däni­ scher Fahrer an der Spitze der Gesamtwertung einen starken und signifikant positi­ ven Effekt auf das dänische Fernsehpublikum hat (ca. 120.000 zusätzliche Zuschauer, wenn ein Däne zu Beginn einer Etappe das gelbe Trikot trägt), gibt es keinen signifi­ kanten Effekt, wenn ein dänischer Fahrer die vorherige Etappe gewonnen hat. Die Ergebnisse in Bezug auf den Wochentag und die Wettervariable stimmen mit den meisten Studien zur Nachfrage nach Sportübertragungen – nicht nur im Rad­ sport – überein. Am Wochenende durchgeführte Etappen haben eine deutlich höhe­ re Zuschauerzahl (plus 46.000) als eine Etappe an einem Wochentag. Die Tempera­ tur wirkt sich negativ auf die TV-Nachfrage nach Tour-de-France-Übertragungen aus. Dies deckt sich sowohl mit früheren empirischen Ergebnissen als auch mit theore­ tischen Überlegungen. Mit steigenden Temperaturen steigen auch die Opportunitäts­ kosten für das Fernsehen. Schließlich erhöht ein zusätzlicher Millimeter Niederschlag

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das Fernsehpublikum um 17.249 Zuschauer – der Koeffizient ist jedoch „nur“ auf dem 10 %-Niveau signifikant. Das Hauptaugenmerk dieser Studie gilt der Variable, die die Auswirkungen von Dopingskandalen auf die Nachfrage nach Fernsehsendungen der Tour de France in Dänemark erfasst. Es zeigt sich, dass der Koeffizient dieser Variablen nicht signifikant von Null verschieden ist und es daher kein Beweis für einen kurzfristigen negativen Effekt von Dopingskandalen auf die Nachfrage nach TV-Übertragungen von der Tour de France gibt. Dieses Ergebnis stimmt größtenteils mit den Ergebnissen früherer Stu­ dien in anderen Ländern überein (Van Reeth 2013; 2019). Darüber hinaus könnten die langfristigen Auswirkungen von Dopingskandalen durch die jährlichen Fixeffekte er­ fasst worden sein. Da Dopingskandale, die außerhalb der Tour de France aufgedeckt worden sind (insbesondere rückwirkend aberkannte Tour-Siege), das Interesse und die Nachfrage nach Radsportübertragungen in Dänemark negativ beeinflusst haben könnten. Die festen Jahreseffekte der Regressionsanalyse zeigen jedoch keinen Trend oder Muster auf.

6 Fazit Diese Studie analysiert die Nachfrage nach Fernsehübertragungen der Tour de Fran­ ce in Dänemark zwischen 1993 und 2015. Im Einklang mit der existierenden Litera­ tur zeigen die Ergebnisse der in dieser Studie durchgeführten OLS-Regression, dass Etappenmerkmale und Patriotismus die Hauptdeterminanten für die Nachfrage nach TV-Übertragungen der Tour de France sind. Es kann gezeigt werden, dass Bergetap­ pen und Einzelzeitfahren einen starken positiven Effekt auf die Nachfrage haben. Ein Prolog erhöht die Anzahl der Fernsehzuschauer erheblich – wahrscheinlich aufgrund der Ausstrahlung während der Hauptsendezeit. Die wichtigste Erkenntnis dieses Bei­ trags ist, dass keine Beweise dafür gefunden werden konnten, dass Dopingskandale, die während der Tour de France auftreten, das Verhalten von Konsumenten von Rad­ sportübertragungen signifikant beeinflussen. Diese Ergebnisse zu den (kurzfristigen) Auswirkungen von Dopingskandalen ähneln denen von Van Reeth (2013). Diese Studie postuliert jedoch das Vorhanden­ sein eines statistisch signifikanten Langzeiteffekts von Doping auf die Nachfrage nach Fernsehsendungen. Evidenz für einen solchen langfristigen Effekt kann in diesem Bei­ trag nicht gefunden werden. Darüber hinaus widersprechen die Ergebnisse der hier durchgeführten Studie den Ergebnissen von Cisyk (2020). Dort findet sich Evidenz, dass TV-Zuschauer im nordamerikanischen Baseball durchaus negativ auf Doping im Sport reagieren.

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| Teil II: Unterhaltungsmärkte und -industrien

Oliver Budzinski, Sophia Gaenssle und Nadine Lindstädt-Dreusicke

Wettbewerb und Antitrust in Unterhaltungsmärkten 1

Einleitung | 111

2

Ökonomische Besonderheiten von Unterhaltungsmärkten | 114 2.1 Erfahrungsgüter & Qualität | 115 2.2 Fixkostendegression & Güterheterogenität | 116 2.3 Superstareffekte | 117 2.4 Rolle der Medien | 120 2.5 Preis- und Geschäftsmodelle | 124

3

Wettbewerbsordnung und Wettbewerbspolitik | 126 3.1 Wettbewerb um den Streaming-Markt | 126 3.2 App Stores als Gatekeeper? | 130 3.3 Fußballübertragungen: Neue Effekte bewährter Abhilfemaßnahmen | 133

4

Implikationen und Schlussfolgerungen | 135

1 Einleitung Jeder Mensch kommt täglich mit einer Vielzahl von Unterhaltungsinhalten in Berüh­ rung – das Lesen eines spannenden Buches, der Besuch eines Konzertes oder einer Theateraufführung, Binge-Watching der Lieblingsserie auf Netflix & Co., die Bundes­ liga Spiele am Wochenende auf Sky oder Dazn, der Konsum von Podcasts, das Fol­ gen angesagter Influencer auf YouTube und Instagram oder aber die neueste Hash­ tag-Challenge auf TikTok – die Liste könnte unendlich fortgeführt werden. Folglich weisen Unterhaltungsmärkte eine hohe ökonomische Relevanz auf. Gemäß Pricewa­ terhouseCoopers (PwC 2019) erzielte die Branche in Deutschland im Jahr 2018 einen Gesamtumsatz in Höhe von 53 Mrd. Euro und konnte im Vergleich zum Vorjahr um 1 % zulegen, wofür sich insbesondere die digitalen Angebote verantwortlich zeigten.¹ Für 2023 wird ein Umsatzvolumen in Höhe von 57,3 Mrd. Euro prognostiziert und somit ein weiteres Wachstum erwartet (Ballhaus 2019). Laut ebenfalls von PwC erhobenen Daten lagen die weltweiten Umsätze der Unter­ haltungs- und Medienbranche im Jahr 2019 bei 2,1 Bio. US-Dollar und sollen prognos­ tiziert bis 2024 auf 2,5 Bio. US-Dollar ansteigen (Statista 2020a). Innerhalb der ein­ zelnen Teilsegmente der (mediengebundenen) Unterhaltungsindustrien lassen sich

1 Die hier betrachteten Segmente sind: Zeitungen, Zeitschriften, Bücher, Kino, Fernsehen, Internet­ video, Musik, Radio und Podcast, Videospiele, E-Sport, Virtual Reality, Lineare TV-Werbung, Online­ werbung, sowie Außenwerbung und Datenkonsum (PwC 2019). https://doi.org/10.1515/9783110724523-006

112 | Oliver Budzinski, Sophia Gaenssle und Nadine Lindstädt-Dreusicke

klare Unterschiede ausmachen und spezifische Wachstumstreiber identifizieren. Be­ reits seit einigen Jahren haben insbesondere die klassischen Printmedien zu kämpfen, während die digitalen Angebote sehr gut performen. Die Videospielindustrie zeich­ net sich als umsatzstärkste Unterhaltungsindustrie mit einem weltweiten Umsatz von 145,7 Mrd. US-Dollar im Jahr 2019 aus und soll laut Experten auch in den kommenden Jahren weiterwachsen – die Branche hat aufgrund der Corona-Pandemie im Jahr 2020 noch einmal stark zulegen können (Bocksch 2020). Auch in Deutschland sind die digi­ talen Segmente Wachstumstreiber wie Virtual Reality, E-Sport, Internetvideos, Video­ spiele sowie die Online-Werbung (Ballhaus 2019: 16). Im Bereich der Internetvideos ist seit Jahren eine hohe Dynamik zu erkennen. Lagen die Umsätze im Video-on-Demand (VoD) Segment² für Deutschland im Jahr 2017 noch bei 1,346 Mrd. Euro, stiegen sie im Jahr 2019 bereits auf 1,931 Mrd. Euro und sollen prognostiziert im Jahr 2025 bei 4,203 Mrd. Euro liegen (Statista 2020d). Im Vergleich dazu lagen die Umsätze im VoD-Seg­ ment weltweit im Jahr 2019 bei 49,694 Mrd. Euro mit einer Prognose für 2025 in Höhe von 112,074 Mrd. Euro (Statista 2020e). Den positiven Entwicklungen folgend lassen sich in den letzten Jahren umfassende Aktivitäten in diesem Segment beobachten – sei es durch Markteintritte oder steigende Investitionen für Eigenproduktionen (siehe hierzu auch Kapitel 3.1). Betrachtet man einen einzelnen Video-Dienst wie YouTube, wird deutlich, welche ökonomische Bedeutung dieser für einen Wirtschaftsstandort wie Deutschland hat. Laut einer Studie von Oxford Economics sind rund 25.000 Ar­ beitsplätze in Deutschland mit der Videoplattform verknüpft; ferner trägt YouTube mit seinem Ökosystem knapp 775 Mio. Euro zum deutschen BIP bei – bei rund 47 Mio. Erwachsenen, die YouTube jeden Monat in Deutschland erreicht (Herrmann 2020). Dies macht es zum meist genutzten Video-on-Demand-Dienst in Deutschland (Lind­ städt-Dreusicke & Budzinski 2020; Budzinski, Gaenssle & Lindstädt-Dreusicke 2020). Bedingt durch technologische Entwicklungen, insbesondere anhaltende Digitali­ sierungstendenzen und Medienkonvergenz, sind diese Entwicklungen natürlich stark von den Konsumenten und ihrer Nachfrage für verschiedene Unterhaltungsinhalte getrieben. Laut ARD/ZDF (2020) ist die Mediennutzung³ in Deutschland seit 1964 im Zeitverlauf insgesamt gestiegen, wenngleich sich die Werte seit 2015 stabilisieren (durchschnittliche Nutzungsdauer brutto pro Tag: 9:27 Stunden); die Parallelnut­ zung der Medien liegt bei knapp 80 min./Tag. Innerhalb der jüngeren Alterssegmente (14–29 Jahre) lassen sich sowohl bei der allgemeinen Mediennutzung als auch bei der Parallelnutzung nochmals höhere Werte verzeichnen, wobei interessant ist, dass die Brutto-Nutzungszeit stärker ansteigt als die Netto-Nutzungszeit, was impliziert, dass mehr Inhalte parallel genutzt werden und sich somit der Wettbewerb der Anbieter von Unterhaltungsmedien um Zeit und Aufmerksamkeit der jungen Nutzer verstärkt (Bre­

2 Das VoD-Segment umfasst hierbei: SVoD (subscription-based VoD), TVoD (transaction-based VoD) und EST (electronic-sell-through) (Statista 2020e) – also ohne werbefinanzierte Dienste wie YouTube. 3 Betrachtet werden seit 2020 die Kategorien Audio, Video, Text, wobei das Internet auch das nichtmediale Internet mit Bereichen wie Gaming, Kommunikation oder Shopping umfasst (ARD/ZDF 2020).

Wettbewerb und Antitrust in Unterhaltungsmärkten

| 113

unig et al. 2020). Auch weiterhin gilt, dass die Tagesreichweiten von Bewegtbild und Audio die der Textmedien überbieten, wobei der Anteil der Bewegtbildnutzung noch mal angestiegen ist (ARD/ZDF 2020: 3, 8). Insbesondere bei der jungen Zielgruppe ist eine klare zeit- und ortssouveräne Nutzung von sowohl Online-Bewegtbildinhalten (Video-on-demand Dienste à la YouTube, Netflix, Mediatheken) als auch OnlineAudioinhalten (Audio-on-demand Dienste à la Spotify) zu beobachten (ARD/ZDF 2020; Breunig et al. 2020). Das steigende Bedürfnis nach zeit- und ortssouveräner Mediennutzung wird durch die breite Verfügbarkeit von und die hohe Ausstattung der Bevölkerung mit mobilen Endgeräten (v. a. Smartphones) forciert und lässt die internetbasierte Nut­ zung von Unterhaltungsinhalten weiter ansteigen. So konnten in den letzten Jahren steigende Nutzungszahlen in den Bereichen verschiedener onlinebasierter Unterhal­ tungsinhalte à la Podcasts, Social Media oder Streamingdienste beobachtet werden: Nach einer Bitkom-Studie nutzen in Deutschland im Jahr 2020 bereits 33 % der Be­ fragten hin und wieder Podcasts, während es vier Jahre zuvor erst 14 % waren (Statista 2020b: 4). Durch die Corona-Pandemie hat dieser Bereich noch einmal einen weiteren Wachstumsschub erhalten. Da viele Podcasts bislang für den User (noch) kostenfrei sind, erscheint der Markt auch für die werbetreibende Seite interessant. Während in den USA im Jahr 2019 laut IAB (Internet Advertising Bureau) und PwC schon knapp 678 Mio. US-Dollar in Podcast-Werbung investiert wurden, waren es in Deutschland lediglich 9 Mio. Euro (von Fraunberg 2020; BVDW 2020). Social Media Plattformen wie Instagram und TikTok konnten in den letzten Jahren ebenfalls hohes Wachstum unter ihren Nutzern verzeichnen (Milz 2020; Statista 2020c). So meldete das erst im Jahr 2016 gegründete Unternehmen TikTok im September 2020, dass der Dienst in Europa mittlerweile über 100 Millionen aktive Nutzer aufweist, während er weltweit (Stand: Februar 2020) 800 Millionen aktive Nutzer verzeichnet (Marx 2020). Die hohe Nutzung, welche ebenfalls in Corona-Zeiten nochmals zulegen konnte, macht den Dienst mittlerweile auch für werbetreibende Unternehmen attraktiv – bekannte Un­ ternehmen wie BMW, OTTO, Punica und Zalando bespielen den Dienst um jüngere Zielgruppen zu erreichen (Zunke 2020). Teilweise wird sogar argumentiert, dass sich das Internet überhaupt erst durch und mit Hilfe von Entertainmentinhalten durchgesetzt hat (Noam 2016), was indirekt noch weiter die ökonomische Wichtigkeit der Unterhaltungsindustrie unterstreicht. Trotz dieser Relevanz wird sie in der ökonomischen Literatur jedoch vergleichsweise stiefmütterlich behandelt. In diesem Beitrag arbeiten wir in Kapitel 2 basierend auf den Eigenschaften von Unterhaltungsgütern und den Besonderheiten ihrer Medien­ bindung heraus, welche spezifischen Wettbewerbsprobleme sich insbesondere in di­ gitalen Unterhaltungsmärkten ergeben können. Anschließend diskutieren wir in Ka­ pitel 3 eine Auswahl aktueller Antitrustfälle, in welchen die speziellen ökonomischen Eigenschaften von Unterhaltungsindustrien eine relevante Rolle spielen, bevor wir in Kapitel 4 die wichtigsten Implikationen zusammenfassen.

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2 Ökonomische Besonderheiten von Unterhaltungsmärkten Innerhalb der Wirtschaftswissenschaften sind die Gebiete der Medienökonomik und der Kulturökonomik gut etabliert, mit eigenen Fachzeitschriften, Vereinigungen und Konferenzen.⁴ Die Stichworte Unterhaltungsökonomik bzw. Entertainment Econo­ mics liefern hingegen in den einschlägigen Datenbanken typischerweise nur we­ nige Treffer zu allgemeinen Titeln (Ausnahmen sind beispielsweise Andersson & Andersson 2006; Pannicke 2018; Vogel 2020). Aber es existiert freilich eine Menge an industriebezogenen Beiträgen, die einzelne Unterhaltungsmärkte analysieren, was angesichts der umfassenden Vielfältigkeit an Unterhaltungsmöglichkeiten auch durchaus angemessen erscheint. Konsumenten fragen zu Unterhaltungszwecken audiovisuelle Inhalte wie u. a. Spielfilme, YouTube Videos, Netflix-Serien, Fernseh­ shows, Sportübertragungen, Konzerte und Theatervorführungen, Audioinhalte wie bspw. Musikstreaming, Hörspiele und Podcasts, Leseinhalte wie bspw. Magazine, Bücher und E-Books, Eventinhalte wie bspw. Festveranstaltungen, Kirmes, Festivals, Bars und Clubs und vieles anderes mehr nach.⁵ Die große Diversität der Güter und Märkte innerhalb der Unterhaltungsindustrie impliziert, dass jede Beschreibung ihrer ökonomischen Eigenschaften und Besonderheiten unvollständig bleiben muss und nicht alle in gleichem Maße erfasst. Dennoch lassen sich eine Reihe von Eigenschaf­ ten identifizieren, die zum einen eine Vielzahl an Unterhaltungsgütern und -märkten betrifft und zum anderen relevant für den wirksamen Wettbewerb auf diesen Märk­ ten ist. Zu diesem Zweck können moderne Erkenntnisse der Medienökonomik (inter alia, Dewenter & Rösch 2015; Budzinski & Kuchinke 2020), der Kulturökonomik (inter alia, Ginsburgh & Throsby 2006; 2014; Towse 2019; Towse & Hernandez 2020) und der allgemeinen Industrieökonomik (inter alia, Belleflamme & Peitz 2015) kombiniert werden.

4 Beispielhaft können hier genannt werden: die Association of Cultural Economics International, die World Media Economics and Management Conference, das Journal of Cultural Economics, das Journal of Media Economics oder das Creative Industries Journal. 5 Beiträge, die einzelne dieser Unterhaltungsformen aus ökonomischer Sicht analysieren, wären bei­ spielsweise, jeweils inter alia, für die (Spiel-)Filmindustrie Frank (1993), Haucap (2006), Gaenssle et al. (2019), Gaenssle i. d. B., für Streamingmärkte Aguiar & Waldfogel (2018; 2020), McKenzie et al. (2019), Budzinski, Gaenssle & Lindstädt-Dreusicke (2020), für Büchermärkte Reimers & Waldfogel (2017); für Hörspielmärkte Gaenssle & Kuchinke (2020), für Online-Games Banks & Cunningham (2013), Schüler & Pascha i. d. B., für Adult Entertainment West & Orr (2007), Zhang et al. (2017), für Reality-TV Schüller et al. (2014), oder für Social Media Stars Gaenssle & Budzinski (2020), Budzinski & Gaenssle (2020).

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2.1 Erfahrungsgüter & Qualität Typischerweise handelt es sich bei Unterhaltungsgütern um Erfahrungsgüter. Der Un­ terhaltungsnutzen eines Inhaltes, wie beispielsweise eines Films, erschließt sich erst während des Konsums und damit nach dem Kauf des Gutes. Die Qualität eines Unter­ haltungsgutes ist dabei der individuelle Unterhaltungsnutzen, welcher subjektiv ist (also nicht von anderen als dem Individuum selbst beurteilt werden kann) und sich interpersonal unterscheiden kann. Ob ich mich unterhalten fühle, ist weder objektiv bestimmbar noch sicher vorherzusehen.⁶ Erfahrungsgüter werden typischerweise einerseits gegen Such- und Inspektions­ gütern, bei denen die Qualität des Gutes vor dem Kauf erfassbar ist, und zum ande­ ren gegen Vertrauensgüter, bei denen die Qualität des Gutes auch nach dem Konsum nicht (ohne weiteres) beurteilt werden kann, abgegrenzt (Nelson 1970; Wolinsky 1995). Unterhaltungsgüter können Inspektionsgutcharakter aufweisen, wenn dasselbe Un­ terhaltungsgut mehrfach konsumiert wird, ohne dass sich der Unterhaltungsnutzen signifikant und nicht-antizipiert verändert. Zwar weiß der Konsument genau, was ihn bei dem wiederholten Anschauen desselben Films erwartet, jedoch dürfte in vielen Fällen gerade dieses Wissen den Unterhaltungsnutzen senken. Ein deutliches Beispiel hierfür wären Sportübertragungen: das zweite Schauen desselben Fußballspiels wird den meisten Konsumenten kaum noch Unterhaltungsnutzen stiften, weil gerade die Unsicherheit über den Ausgang des sportlichen Wettbewerbs (die sogenannte „uncer­ tainty of outcome“) einen wesentlichen Unterhaltungsnutzen (Spannung) darstellt. Serien und Sequels oder auch Kriminalfilme (wie auch Kriminalromane) wären ein ähnliches Beispiel. Dem steht nicht entgegen, dass sich manche Konsumenten einen Film vielleicht mehrmals anschauen, gerade weil sie antizipieren können, welcher (wenn auch gegenüber dem erstmaligen Schauen möglicherweise deutlich reduzier­ ter) Unterhaltungsnutzen sie erwartet. Bei anderen Unterhaltungsgütern kann der In­ spektionscharakter deutlich stärker ausgeprägt sein: So dürfte der maximale Unter­ haltungsnutzen eines Musikstückes oftmals nicht beim Ersthören entstehen – auch wenn natürlich bestimmte Lieder auch nerven können, wenn man sie zu oft gehört hat.⁷ Im Gegenteil, der Unterhaltungsnutzen des wiederholten Konsums kann durch­ aus steigend und antizipierbar sein, wie bei Lieblingsliedern, die man immer wieder gerne und immer lieber hört oder die unsterbliche Musik aus der jeweiligen eigenen Ju­ gend, die einen nostalgisch in der Vergangenheit schwelgen lässt. Zumindest für den Erstkonsum dürfte allerdings der Erfahrungsgutcharakter überwiegen. Hingegen han­ delt es sich bei Unterhaltungsgütern typischerweise nicht um Vertrauensgüter. Anders als beispielsweise bei Gütern wie Nachrichten oder politischen Analysen, bei denen

6 Vgl. ausführlicher zur Subjektivität und verschiedenen Dimensionen der Qualität von Unterhal­ tungsgütern Budzinski, Kohlschreiber, Kuchinke & Pannicke (2020). 7 Zu Verdrossenheitsphänomenen bei übermäßiger Konfrontation mit bestimmten Inhalten siehe Kuhlmann et al. (2014); Schumann (2018).

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auch nach Konsum erhebliche Unsicherheit über ihre (inhaltliche) Qualität bestehen kann (aber nicht muss), weiß der Konsument nach Konsum des Unterhaltungsgutes, ob er sich unterhalten gefühlt hat und kann dementsprechend die Unterhaltungsqua­ lität einschätzen. Märkte mit Erfahrungsgutcharakter sind durch unvollkommene Informationen gekennzeichnet. Wenn dies nur eine Marktseite betrifft oder die Unvollkommenheit die Angebots- und die Nachfrageseite sehr asymmetrisch betrifft, liegen Informations­ asymmetrien vor, welche die Funktionsfähigkeit des Marktes einschränken können (Akerlof 1970; Budzinski & Kuchinke 2020). Im Falle von Unterhaltungsmärkten ste­ hen den Ex-Ante-Informationsmängeln der Nachfrager jedoch im Regelfall ebensol­ che Informationsmängel auf der Anbieterseite gegenüber. Mit Blick auf Märkte für audiovisuelle Inhalte wird dies sogar als zentrales Charakteristikum der Angebots­ seite betrachtet (Caves 2003; Gaenssle i. d. B.). Ob ein Film oder ein Musikstück oder ein anderes Unterhaltungsgut dem Konsumenten gefallen wird, also ihm individuell Unterhaltungsnutzen stiftet, ist ex ante für die Produzenten nicht vorhersagbar, so dass Unterhaltungsmärkte zwar typischerweise durch Informationsmängel gekenn­ zeichnet sind, diese aber regelmäßig nicht zu strategisch ausnutzbaren Informations­ asymmetrien führen. Dahingehend unterscheiden sich Unterhaltungsmärkte von Nachrichtenmärkten, auf denen der Vertrauensgutcharakter wohlfahrtsschädliche Informationsasymmetrien generieren kann.

2.2 Fixkostendegression & Güterheterogenität Die Kostenstruktur vieler Unterhaltungsmärkte ist dadurch gekennzeichnet, dass die Erstellung des Originals (der sogenannten „ersten Kopie“) mit deutlich höheren Kos­ ten verbunden ist als die Erstellung weiterer Kopien (sogenannter First-Copy-Cost Ef­ fekt). Die hohe Beeinflussung der Kostenstruktur durch diese Fixkostendegression ist dabei auch bereits kennzeichnet für traditionelle Unterhaltungsmärkte wie Kino- und Fernsehfilme, (gedruckte) Bücher, (auf Vinyl oder CD gepresste) Musik, usw. (Grau & Hess 2007; Doyle 2016). Die Kosten der Erstellung des Manuskriptes oder der Kompo­ sition und Einspielung eines Musikstückes (inklusive der kreativen Leistung ihrer zu­ grundeliegenden Ideenschöpfung) sind für die Kostenstruktur meist gewichtiger als die laufenden Kosten des Druckens oder Kopierens. Die Digitalisierung der Unterhal­ tungsindustrien verstärkt diesen Effekt nochmals in erheblicher Weise: die Kosten ei­ ner weiteren Kopie eines digitalen Unterhaltungsgutes (bspw. eines digitalen Videos, E-Books oder einer MP3-Musikdatei) nähern sich dem Wert null an (Shapiro & Varian 1999; Waldfogel 2018). Allerdings wäre es nicht korrekt, aus dem First-Copy-Cost Effekt darauf zu schlie­ ßen, dass digitale Unterhaltungsmärkte zu natürlichen Monopolen tendieren würden. Zu den Bedingungen eines natürlichen Monopols zählt neben der Subaddivitität der Kosten im relevanten Bereich der Gesamtmarktmenge auch die Homogenität des Gu­

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tes (Baumol 1977). Im Gegensatz dazu stellen Unterhaltungsmärkte typischerweise Märkte mit sehr heterogenen Gütern dar, so dass sich der Konsum der allermeisten Nachfrager auf immer wieder anders ausgestaltete Güter von immer wieder neuen Anbietern bezieht. Diese extreme Heterogenität könnte in Verbindung mit exklusiven Verwertungsrechten der kreativen Schöpfer (im Rahmen des Urheberrechtes) sogar zu dem Gedanken führen, die einzelnen Unterhaltungsprodukte seien institutionelle Monopole. Doch auch hier ist Vorsicht geboten: exklusive Rechte an einem konkre­ ten Produkt (einem Film, einem Musikstück, einem Kunstwerk, usw.) konstituieren in heterogenen Märkten nur dann ein Monopol, wenn es für die Masse der Nachfrage keine (imperfekten) Substitute gibt. Dies ist aber regelmäßig bei Unterhaltungsgütern nicht gegeben. So besteht zwar an einem konkreten Kriminalroman X ein exklusives Urheberrecht, damit geht jedoch wohl kaum Monopolmacht einher. Vielmehr dürf­ te es aus der Sicht der Masse der Nachfrager (imperfekte) Substitute in Form ande­ rer Kriminalromane (oder auch ganz anderer Unterhaltungsgüter) geben, so dass jede Preiserhöhung für den Roman X mit einer Abwanderung eines Teils der Konsumen­ ten einhergehen dürfte. In gleicher Weise existieren auch keine Monopole für einzelne Popmusiklieder, die sich im Gegenteil immer schon in einem intensiven Preiswettbe­ werb zueinander befanden und befinden. Im Zuge der Digitalisierung sinken die sogenannten Sampling-Kosten für viele Un­ terhaltungsgüter. Vor dem Erwerb in Musikstücke oder Bücher hineinzuhören bzw. -lesen ist digital sehr viel einfacher möglich. Dies senkt die Qualitätsunsicherheit der Konsumenten (in Bezug auf den Erfahrungsgutcharakter, siehe Kapitel 2.1), verschärft tendenziell den Wettbewerb zwischen imperfekten Substituten und begünstigt flat­ rate- und datenbasierte Preismodelle (siehe Kapitel 2.5). Insgesamt ist festzuhalten, dass die Besonderheiten der Kostenstruktur einem wirksamen Wettbewerb in Unter­ haltungsmärkten nicht im Wege stehen.

2.3 Superstareffekte Viele Unterhaltungsmärkte sind durch das sogenannte Superstarphänomen gekenn­ zeichnet. Rosen (1981) versteht darunter das Phänomen, dass trotz geringer Unter­ schiede in den Fähigkeiten („Talent“) einige wenige Superstars vielfach höhere Ein­ kommen erzielen als der Rest der (Unterhaltungs-) Künstler. Sie nehmen sozusagen am Einkommensmarkt eine dominante Stellung ein, wobei realistischerweise für je­ den empirisch abgrenzbaren Unterhaltungsmarkt eher von einem Oligopol an Super­ stars auszugehen ist als von einer echten Monopolisierung (Gaenssle & Budzinski 2020). Aufgrund der in Kapitel 2.2 bereits beschriebenen Heterogenität der Nachfra­ ge kommt es meist nicht zu „Winner-takes-all“-Märkten, wie sie vor allem von Frank & Cook (2013) beschrieben werden. Stattdessen vereinigen wenige (Unterhaltungs-) Künstler in einem Unterhaltungsmarkt einen Großteil der Nachfrage auf sich und er­ zielen überproportional (im Vergleich zur Allokation der Fähigkeiten oder Talente)

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hohe Einkommen. Während Rosen (1981) tatsächlich menschliche Superstars im Au­ ge hat, sind Superstarphänomene in der Literatur auch in Bezug auf Organisationen wie Museen und Restaurants oder Unterhaltungsgüter wie Filme identifiziert worden (umfassender Überblick: Budzinski & Gaenssle 2020, Tabelle 1). Die von Rosen (1981) vorgeschlagene Erklärung des ökonomischen Superstarphä­ nomens lautet, dass gute Talente ein schwaches Substitut für Ausnahmetalente dar­ stellen, d. h. die Masse der Nachfrager will von der absoluten Spitze unterhalten wer­ den und bereits das Zweitbeste trifft auf eine massiv reduzierte Zahlungsbereitschaft, selbst wenn die Talentdifferenz marginal ist. Diese Theorie ist jedoch mit einer Reihe von Problemen verbunden, welche insbesondere im Begriff und in der Messung von Talent (oder ebenso von Fähigkeiten, wenn man diesen Begriff bevorzugt⁸) begründet sind. So ist es zwar im Bereich des Sports noch recht gut möglich, Talentdifferenzen zu definieren und zu messen – und tatsächlich gibt es hier empirische Studien, wel­ che sogenannte Rosen-Effekte finden (Lucifora & Simmons 2003; Brandes et al. 2008; Franck & Nüesch 2008; Prinz et al. 2012; Bryson et al. 2014), obwohl dies bereits im Mannschaftssport keinesfalls mehr trivial ist. In vielen anderen Unterhaltungsberei­ chen wie Film, Musik, Videos, Literatur, usw. kommen Konzepte von Talent und Fähig­ keiten schnell an ihre Grenzen: Was genau ist das Talent eines Popmusikers, Schau­ spielers, Komikers, Krimiautors oder YouTube-Creators und wie kann man es messen? Die oben diskutierte immanente Subjektivität der Unterhaltungsqualität und die da­ mit zusammenhängende Heterogenität der Geschmäcker (Präferenzen) erschwert dies in erheblicher Weise. So zeigen Untersuchungen zum Wahlverhalten von Zuschauern bei Musikwettbewerben, dass eine Vielzahl von Faktoren das Abstimmungsverhalten beeinflussen (also den Präferenzen der Nachfrager nach Unterhaltung entsprechen), darunter Aspekte wie Aussehen, Charme und Charisma ebenso wie Reihenfolgeef­ fekte (inter alia, Ginsburgh & Noury 2008; Spierdijk & Vellekoop 2009; Budzinski & Pannicke 2017a, 2017b; Budzinski, Kohlschreiber, Kuchinke & Pannicke 2020), sowie dass die Multidimensionalität der Zuschauerpräferenzen die Wettbewerbsintensität zwischen den Anbietern und deren Effizienz steigert (Amegashie 2009). Zudem könn­ te neben dem künstlerischen Talent und Faktoren wie Charisma auch die Fähigkeit durchzuhalten, Phasen der Erfolglosigkeit hartnäckig zu überstehen und immer wie­ der neue Inhalte bereitzustellen (bspw. neue Bücher oder Songs zu schreiben) einen wichtigen Faktor des „Entertainmenttalents“ darstellen (Gaenssle & Budzinski 2020). Ein Mindestmaß an Talent, Fähigkeiten oder Begabung scheint notwendig, um in Unterhaltungsmärkten überhaupt Erfolgspotenzial zu haben. Dies scheint jedoch in den meisten Fällen nicht das alleinige Kriterium des tatsächlichen Erfolgs darzu­

8 Anders als (zumindest bisher) in der Ökonomik unterscheidet man in anderen Wissenschaften zwi­ schen Talent als angeboren Kompetenzen und Fähigkeiten als antrainierten Kompetenzen. Für die Zwecke der Starökonomik ist diese Unterscheidung – anders als beispielsweise für die Trainingswis­ senschaften innerhalb der Sportwissenschaft – allerdings nicht relevant, da es sozusagen nur auf das Ergebnis, d. h. die Performance im Markt, ankommt.

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stellen und nicht (allein) zu entscheiden, wer in das Oligopol der Superstars Einzug erhält und wer nicht. Hierfür könnte ein Zusammenspiel von Erfahrungsgutcharakter, Konsumkapital und Netzwerkeffekten eine relevante Rolle spielen (Adler 1985; 2006; MacDonald 1988). Demnach ziehen die Nachfrager von Unterhaltungsgütern über drei Kanäle Nutzen aus ihrem Konsum: (a) den Unterhaltungsnutzen aus dem direkten Konsum, (b) Nutzen daraus, sich mit anderen über das Unterhaltungsgut auszutauschen (com­ monality effect) und (c) Nutzen aus dem Konsum der Berichterstattung oder weiterer Informationen und Inhalte über das Unterhaltungsgut. Die Konsumkapitaltheorie besagt dabei, dass der Nutzen aus dem Konsum bestimm­ ter Unterhaltungsgüter wächst, je mehr Wissen über diese Art Unterhaltungsgut vor­ handen ist (Stigler & Becker 1977). Je mehr und je genauer man bspw. Fußballspiele (oder eine Serie im TV oder über Streaming) verfolgt, umso mehr weiß man über die­ sen Sport (diese Serie) und seine Stars – umso größer ist gemäß dieser Theorie der Nutzen des weiteren Konsums (Gaenssle & Kunz-Kaltenhäuser 2020). Für den Nutzen­ kanal (a) bedeutet dies eine Pfadabhängigkeit: wenn bereits Konsumkapital zu Star X gebildet wurde, bringt der weitere Konsum von Inhalten mit Star X einen höheren Nutzen als jener von Inhalten alternativer Stars und somit wird der weitere Konsum von Star X präferiert. Dadurch wiederum wächst das Konsumkapital über Star X, so dass weiterer Konsum noch größere Nutzenzuwächse bringt und dem entsprechend noch stärker präferiert wird (snowball effect; Adler 1985).⁹ Unterstützt wird diese sich selbst verstärkende Pfadabhängigkeit durch die Risikoaversion vieler Konsumenten: aufgrund des Erfahrungsgutcharakters von Unterhaltungsgütern (siehe Kapitel 2.1) präferieren risikoaverse Konsumenten Inhalte mit bekannten Stars gegenüber Inhal­ ten mit ihnen noch nicht bekannten Stars (MacDonald 1988). Zwar weisen auch neue Inhalte von und mit bekannten Stars Erfahrungsgutcharakter auf, aber die Kennt­ nis des bisherigen Werkes reduziert die Qualitätsunkenntnis in unvollständiger Art und Weise, da die Qualitätsabweichung vom bisherigen Werk vermutlich geringer ist als die mögliche Qualitätsspanne bisher unbekannter Künstler. Alt-Konsumenten von Bruce Springsteen, Rihanna oder Drake werden von deren neuen Alben vermutlich mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit enttäuscht, als wenn sie ein neues Album ei­ nes ihnen bisher unbekannten Künstlers erwerben. Umgekehrt mag freilich auch die Wahrscheinlichkeit sinken, von Altstars noch einmal so wie früher begeistert zu wer­ den, weswegen erst das Vorhandensein einer gewissen Risikoaversion bei den Kon­ sumenten zu einer Präferenz von bekannten Altstars über unbekannte Neulinge führt (MacDonald 1988).

9 Dies kann bis zu suchtähnlichen Phänomenen führen (Gaenssle & Kunz-Kaltenhäuser 2020).

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Die Nutzenkanäle (b) und (c) verstärken den konzentrationsfördernden Effekt der Konsumkapitalakkumulation noch um direkte Netzwerkeffekte (Katz & Shapiro 1985; 1994). Die Wahrscheinlichkeit, sich mit anderen über einen Star X austauschen zu können, wächst ebenso mit der Anzahl derjenigen, die (Inhalte über/von) denselben Star X konsumieren (Adler 1985) wie die Wahrscheinlichkeit, (in den Medien) auf wei­ tere Inhalte dieses Stars zu stoßen (Adler 2006). Daher kann es nutzenmaximierend sein, einen Star zu präferieren, welcher von möglichst vielen anderen Konsumenten ebenfalls präferiert wird (bandwagon effect; Leibenstein 1950). Je stärker das Gewicht der Nutzenkanäle (b) und (c) in der Nutzenfunktion eines individuellen Konsumenten ist, umso stärker wird dieser Konsument dazu neigen, die bekanntesten Superstars zu präferieren. Naturgemäß ist auch hier die Heterogenität der Nachfrager erheblich und es gibt selbstverständlich Konsumenten, bei welchen (b) und (c) entweder sehr klein oder aber auf eng definierte Peer Groups bezogen sind, so dass ihr Konsum von Super­ starphänomenen vergleichsweise wenig bestimmt wird. Aber für den Massenkonsum von Unterhaltungsgütern liefert die Ökonomik der Superstars einen empirisch gehalt­ vollen Erklärungsansatz (Budzinski & Gaenssle 2020, Tabelle 1). Eine wesentliche Implikation der Superstarökonomik für die Funktionsweise von Unterhaltungsmärkten ist ihr konzentrationsfördernder Effekt: die Kombination aus Konsumkapitalakkumulation, Risikoaversion und direkten Netzwerkeffekten begüns­ tigt oligopolistische Marktstrukturen, wobei die Heterogenität der Präferenzen die­ se Tendenzen begrenzt. Zudem generiert das Zusammenwirken der drei genannten Faktoren Markteintrittsbarrieren, welche Neulinge benachteiligen und Altsassen (Alt­ stars) begünstigen.

2.4 Rolle der Medien Medien spielen für einen erheblichen Teil der Unterhaltungsgüter eine erhebliche Rolle: abgesehen von der – ebenfalls sehr relevanten – Live-Industrie (Konzerte, Theater, Zirkus, Events, etc.) werden Unterhaltungsgüter über die Medien als Trans­ missions- und Speicherungskanal von Informationen dem Publikum zugänglich ge­ macht. In der vordigitalen Zeit gehörten dazu gedruckte Magazine und Bücher, wel­ che Geschichten transportierten, Radiosendungen über Funkwellen bestimmter Fre­ quenzbänder, welche Musik und andere Inhalte den Konsumenten ebenso in das Haus lieferten wie Fernsehsendungen audiovisuelle Inhalte. Die Kombination von Breitbandinternetzugang und Digitalisierung führt dazu, dass sich derzeit das (live oder on-demand) Streaming von Audio- und audiovisuellen Inhalten immer mehr durchsetzt (siehe auch Kapitel 3.1). Auch gibt es einen Trend weg von gedruckten Magazinen und Büchern hin zu magazinähnlichen Onlineinhalten und E-Books. Traditionelle wie moderne Medien ermöglichen den Produzenten von Unterhal­ tungsgütern Zugang zu möglichen Konsumenten. Mit dieser Funktion geht einer ge­

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wisse Gatekeeper-Funktion her, welche zu einer Marktzutrittsschranke werden kann und die sich in vordigitaler Zeit vor allem durch zwei Elemente manifestierte: – Frequenzknappheit: Auf den vordigitalen Frequenzbändern war die Anzahl an Sendeplätzen technisch begrenzt, was für Radio und TV eine natürliche Marktzu­ trittsschranke konstituierte, welche in vielen Fällen zu einer staatlich organisier­ ten Frequenzallokation führte. Durch digitale Ausstrahlungstechnologien (u. a. via Kabel oder Satellit) sowie durch Breitbandinternet spielt das Problem der Fre­ quenzknappheit – mit Ausnahme des frei empfangbaren Lokalradios – in der Ge­ genwart jedoch keine Rolle mehr. – Macht der Redaktionen: In der traditionellen Medienwelt entscheiden Redaktio­ nen was gesendet oder gedruckt wird. Dieser Selektionsprozess war notwendig, da erstens die Menge an Inhalten (Unterhaltung plus Information) typischerwei­ se die send- bzw. druckbare Menge überstieg und zweitens Knappheit der bes­ ten Sendeplätze (beispielsweise zur sogenannten Prime-Time am Abend, wenn das größte Publikum erreichbar war) bzw. der besten Druckplätze (beispielswei­ se auf der Titelseite) vorherrschte. Damit kommt den Redaktionen traditioneller Medien Macht darüber zu, welche Inhalte überhaupt bzw. wann gezeigt werden. Diese Macht kann im Idealfall als Qualitätskontrolle genutzt werden, unterliegt aber auch kommerziellen Anreizen sowie Verzerrungen, wenn Redakteure Eigen­ interessen und eigene Präferenzen in den Entscheidungsprozess einstreuen. Auch diese Marktzutrittsschranke, welche mutmaßlich den Marktzutritt von Neulingen und von innovativen Angeboten eingeschränkt hat, ist im digitalen Zeitalter weit­ gehend erodiert. Bereits Kabel- und Satellitenfernsehen ermöglichte viel mehr Sendeplätze als Inhalte verfügbar waren und die wachsende Verfügbarkeit nichtlinearer On-Demand-Angebote, bei denen die Konsumenten selbst entscheiden, wann sie welche Inhalte konsumieren (Mediatheken, Netflix, Amazon Prime, aber auch YouTube) reduziert inzwischen auch die Knappheit von Prime-Time Sende­ plätzen. Die Verfügbarkeit von Breitbandinternet ermöglicht nun sogar den direk­ ten Zugang zum Publikum, ohne dass ein redaktioneller Selektionsprozess dazwi­ schengeschaltet sein muss: jeder kann seine (audiovisuellen) Inhalte über Dienste wie YouTube, Instagram oder TikTok – oder auch über eigene Webseiten, Blogs, Foren, etc. – in das Internet hochladen und damit veröffentlichen bzw. anbieten (inter alia, Castells 2009; Blank 2013).¹⁰ Allerdings bedeutet die Erosion der früheren Marktzutrittsschranken und Gatekeeper nicht, dass im digitalen Zeitalter keine Barrieren mehr existieren würden. Zwar kann in der Tat jeder seine Inhalte hochladen, doch ist damit im Rahmen eines überwältigen

10 In diesem Zusammenhang werden mitunter die Begriffe User-Generated Content und Prosumers bzw. Prosumption (und ähnliche Varianten) verwendet. Vgl. zur Problematik des ersten und zur man­ gelnden Geeignetheit des zweiten Begriffes Gaenssle & Budzinski (2019: 15–18).

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und unstrukturierten Informationsflusses (information overload) noch kein Zugang zu einem Publikum erreicht, welches ja nur dann über den Konsum eines Inhaltes entscheiden kann, wenn es den betreffenden Inhalt überhaupt wahrnimmt. Ein er­ heblicher Teil der via Internet bereitgestellten Inhalte erreicht niemanden außer dem Inhalte-Anbieter selbst. Auch im digitalen Zeitalter ist der Zugang zum Publikum da­ bei kein Zufall, sondern erfolgt durch neuartige Gatekeeper: – Datenbasierte und algorithmische Such- und Empfehlungssysteme: Welche In­ halte dem durchschnittlichen Nutzer über die Dienste-Anbieter im Internet ange­ boten werden entscheiden anstelle von Redaktionen algorithmenbasierte Suchund Empfehlungssysteme (Belleflamme & Peitz 2020; Gaenssle & Budzinski 2020; Budzinski, Gaenssle & Lindstädt-Dreusicke 2021). Diese individualisieren sowohl die Ergebnisse und ihre Reihenfolge zu vom Nutzer eingegebenen Suchbegriffen als auch Empfehlungen, welcher der jeweilige Dienst dem Nutzer zum weiteren Konsum vorschlägt. Diese Individualisierung beruht auf der Auswertung perso­ nalisierter Daten des Nutzers, also beispielsweise seiner eigenen Konsum- und Surfhistorie (enthüllte Präferenzen) sowie Kommentare (und andere Posts) und Bewertungen (bspw. Likes), welche der Nutzer abgegeben hat (geäußerte Präfe­ renzen). Aus diesen versucht der Dienst algorithmenbasiert sowie Mithilfe von Ähnlichkeitsschätzungen und der allgemeinen Popularität von Inhalten ein indi­ viduelles Präferenzprofil zu erstellen, auf welches dann Such- und Empfehlungs­ systeme ausgerichtet werden, um den Konsum von Inhalten dieses Dienstes zu maximieren. Dabei kommt der Reihenfolge der Such- und Empfehlungsergebnis­ se eine erhebliche Rolle zu, denn obwohl prinzipiell sehr große Mengen an Er­ gebnissen gelistet werden könnten, beachten die meisten Nutzer nur die ersten paar Ergebnisse (Lorigo et al. 2006; Pan et al. 2007; Ghose & Yang 2009). Beispie­ le für Dienste, die mit datenbasierten Such- und Empfehlungssystemen arbeiten sind YouTube, Instagram, Spotify, Netflix, Amazon, TikTok, u. v. a. m. Für die Kon­ sumenten bieten diese algorithmischen Selektionssysteme den Vorteil präferenz­ gerechter Ergebnisse und damit einer hohen Qualität der ergänzenden Dienstleis­ tung Such- und Empfehlungssysteme (Budzinski, Gaenssle & Lindstädt-Dreusicke 2021).¹¹ Für Inhalte-Anbieter stellen sie gleichzeitig insofern eine Marktzutritts­

11 Bei Unterhaltungsinhalten dürfte auch das Problem der Meinungsblasen und Echokammern nicht so schwerwiegend sein, wie in Bezug auf Nachrichtenmärkte. Echokammereffekte entstehen zwar auch und Konsumenten werden weniger mit genrefremden Unterhaltungsinhalten konfrontiert, aber abgesehen von meritorischen Argumenten – „man“ (wer auch immer das ist) müsste die Unterhal­ tungsinhalte auch gegen die gezeigten Präferenzen der Konsumenten erzwingen – sind bisher kaum Theorien oder empirische Evidenz einer systematischen Wirkung auf Unterhaltungsnachfrage be­ kannt. Negative Auswirkungen auf die Angebotsvielfalt oder auf die kulturelle Diversität scheint es (bisher) nicht zu geben (Waldfogel 2018; Aguiar & Waldfogel 2020). Vereinzelt wird allerdings ein Zu­ sammenhang zwischen dem Konsum von Unterhaltungsinhalten und populistischen Politikneigun­ gen sowie geringerer Intelligenz diskutiert, allerdings für traditionelle Medien (Durante et al. 2019). Hier besteht noch Forschungsbedarf.

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schranke dar, als dass ein effektiver Marktzutritt nicht gelingt, wenn die eigenen Inhalte nicht durch solche Systeme dem Publikum vorgeschlagen und empfoh­ len werden. Trotz der Individualisierung dieser Systeme entsteht sozusagen eine Knappheit an prominenten Such- und Empfehlungsplätzen. Das Management der Algorithmen, also die Kunst, die eigenen Inhalte innerhalb dieses Systems mög­ lichst weit nach oben zu pushen, wird damit zu einer wesentlichen Kompetenz von Inhalte-Anbietern (Gaenssle & Budzinski 2020). Zwar sind die genauen Ei­ genschaften der Algorithmen naturgemäß (wertvolle) Geschäftsgeheimnisse, es ist aber davon auszugehen, dass – neben den individuell-datenbasierten Elemen­ ten – populäre Inhalte systematisch eher gefunden und empfohlen werden als (bisher) nicht populäre Inhalte, da in der Masse gilt, dass Nutzer eine hohe Wahr­ scheinlichkeit haben, das zu mögen, was auch andere mögen (global oder inner­ halb entsprechender Interessengruppen; Jung & Nüesch 2019). Damit werden die durch das Superstarphänomen ohnehin schon bestehenden direkten Netzwerk­ effekte (siehe Kapitel 2.3) noch erheblich verstärkt. Macht der neuen Dienstleister: Über die Ausgestaltung ihrer Such- und Empfeh­ lungsalgorithmen aber auch über die allgemeinen Nutzungsbedingungen und Be­ stimmungen (siehe Kapitel 3.2) kommt den „neuen“ Medien bzw. den DiensteAnbietern eine relevante Macht zu: sie entscheiden, welche Inhalte die Aufmerk­ samkeit des Publikums erreichen und welche nicht. Während ein neutraler Dienst lediglich daran interessiert ist, die Unterhaltungspräferenzen seiner Kunden mög­ lichst gut zu treffen und darüber die Konsumzeit innerhalb seines Dienstes zu maximieren, entstehen immer dann Anreize zu Verzerrungen, wenn der DiensteAnbieter gleichzeitig auch eigene Inhalte anbietet (Bourreau & Gaudin 2018; Cal­ vano & Jullien 2018; De Cornière & Taylor 2020; Budzinski, Gaenssle & LindstädtDreusicke 2021). Ein derart vertikal integrierter Anbieter kann dann eigene Inhal­ te – beispielsweise Eigenproduktionen von Netflix oder Amazon – systematisch in der Reihenfolge der Such- und Empfehlungssysteme bevorzugen und/oder In­ halte besonders enger Konkurrenten entsprechend herabsetzen und in den hin­ teren Such- und Empfehlungssystemen „verstecken“ (sogenanntes self-preferen­ cing). Gleiches gilt, wenn vertikale Verträge zwischen Dienste- und Inhalte-Anbie­ tern vorliegen, beispielsweise (und hypothetisch) Verträge zwischen den Majors der Musikindustrie und eines großen Streamingdienstes, so dass Inhalte der Ma­ jors in Suchergebnis- und Empfehlungslisten systematisch prominenter angezeigt werden als Inhalte der Independents. Eine gewisse redaktionelle Macht besteht demnach weiter, wenn auch etwas indirekter durch die Ausgestaltung der Algo­ rithmen sowie in den Händen neuer Akteure. Sie wird begrenzt durch die Möglich­ keiten der Konsumenten, zwischen Diensten zu wählen und zu wechseln, sowie durch die Fühlbarkeit solcher selbstbevorzugender Verzerrungen, denn wenn die

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Masse der Nutzer diese gar nicht bemerkt, bedarf es keiner erheblichen Markt­ macht, um die Präferenzen der Nutzer in dieser Weise auszubeuten.¹² Insgesamt verändern digitale Medien zwar die Marktzutrittsschranken, heben sie aber nicht vollständig auf. Zudem verstärken sich die ohnehin auf Unterhaltungsmärkten wirkenden direkten Netzwerkeffekte im digitalen Zeitalter. Hinzu kommen One-StopShopping Effekte, d. h. Konsumenten möchten ihre Unterhaltungsinhalte gerne über einen Zugang ansteuern können statt multiple Zugänge zu Streamingdiensten verwal­ ten zu müssen (siehe auch Kapitel 3.3). Zu den noch offenen Fragen zählt, ob es mittel­ fristig bei dem derzeit dynamischen Wettbewerb zwischen verschiedenen Streaming­ diensten (siehe Kapitel 3.1) bleiben wird oder ob sich im Zeitablauf ein persistentes en­ ges Oligopol oder gar die Dominanz eines Dienstes einstellen wird. Letzteres Szenario könnte auch für die Unterhaltungsproduzenten ein erhebliches Wettbewerbsproblem darstellen, insbesondere wenn der dominante Dienst zudem noch vertikal integriert wäre.

2.5 Preis- und Geschäftsmodelle Bereits bei den traditionellen Medien lassen sich unterschiedliche Geschäftsmodel­ le beobachten. Zum einen existieren hier die gebührenfinanzierten öffentlich-recht­ lichen Anstalten, die in Deutschland in erheblicher Weise das Radio- und TV-Sen­ derangebot bestimmen. Daneben haben sich zwei Geschäftsmodelle privater Medien in diesen Bereichen herausgebildet: das sogenannte Pay-TV, welches den Konsumen­ ten, meist per monatlicher Flatrate, seltener als Pay-per-View, direkt für die Übertra­ gung der Inhalte zahlen lässt und das sogenannte Free-TV, welches den Konsumenten die Inhalte unentgeltlich und werbefinanziert zur Verfügung stellt. Auch im digitalen Bereich lassen sich diese Geschäftsmodelle prinzipiell wiederfinden: Die Streaming­ dienste Netflix und Amazon Prime stellen ihre Dienste als Abonnement zur Verfügung, welches mit einer monatlichen Flatrate bepreist wird. YouTube und Instagram hinge­ gen verzichten auf einen monetären Preis, schalten aber Werbung. Spotify bietet beide Modelle an: einen werbefinanzierten unentgeltlichen Zugang und ein flatrate-bepreis­ tes Premiummodell. Eine Besonderheit, die wohl allen Online-Diensten gemein ist, stellt das Sammeln personalisierter Daten der Konsumenten dar, d. h. sozusagen das Erheben eines Da­ tenpreises. Dabei dienen die personalisierten Daten zum einen dazu, das Angebot auf den Kunden maßzuschneidern und so seine Konsumnachfrage zu maximieren (siehe

12 Es gehört zu den allgemeinen Merkmalen der Digitalwirtschaft, dass Ausbeutungs- und Verdrän­ gungspotenziale weniger stark an das Vorliegen marktbeherrschender Stellungen gebunden sind als dies traditionellerweise angenommen wird (inter alia, Bougette et al. 2019; Budzinski, Gaenssle & Stöhr 2020a, 2020b).

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Kapitel 2.4). Zudem aber stellen die Daten – bzw. genauer formuliert die Analysen der Daten – eine weitere Einkommensquelle dar (Budzinski & Kuchinke 2020; Budzinski, Gaenssle & Lindstädt-Dreusicke 2021): – Zum einen können sie dazu verwendet werden, den Werbetreibenden einen ge­ zielten Zugang zur Aufmerksamkeit ihrer Zielgruppe anzubieten. Datenbasierte Werbung (targeted advertising) richtet die Werbung zielgenauer auf jene indivi­ duellen Konsumenten aus, welche vermutlich (gemäß der Datenanalyse) Präfe­ renzen für das beworbene Gut haben, und sollte somit eine höhere Effektivität besitzen, was wiederum die Zahlungsbereitschaft der Werbetreibenden erhöht. – Zum zweiten können die Daten genutzt werden, um nach den Bedürfnissen Drit­ ter Datenanalysen maßgeschneidert anzufertigen. So stellt für Spotify der Verkauf solcher Analysen des Hörverhaltens ihrer Kunden an die Musikindustrie, welche damit ihre Investitions- und Produktionsentscheidungen optimieren kann, eine erhebliche Einnahmequelle dar. Bei vertikal integrierten Diensten wie Netflix kön­ nen die Daten natürlich auch zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der eige­ nen Produktionsabteilungen genutzt werden (Gaenssle i. d. B.). Diese zusätzliche Dateneinnahmequelle kann dazu genutzt werden, den Abonne­ mentpreis bzw. die Werbelast für die Kunden zu senken, um die Zahl der Nutzer zu steigern. Wenn Medien werbefinanzierte Modelle wählen, entwickeln sie Plattformcharak­ ter, das heißt sie bedienen mindestens zwei Nachfragegruppen, welche durch indi­ rekte Netzwerkeffekte miteinander verbunden sind (Rochet & Tirole 2003; Armstrong 2006). Die Plattformökonomik wird umfassend auf traditionelle ebenso wie auf digi­ tale Medienmärkte angewendet (inter alia, Anderson & Gabszewicz 2006; Lindstädt 2010; Dewenter & Rösch 2015; Haucap & Stühmeier 2016). Sie erklärt asymmetrische Preisstrukturen wie den Nullpreis für die Zuschauer von Free-TV-Sendern, welcher über die Preise für die Platzierung von Werbung kreuzsubventioniert wird. Zudem stel­ len die indirekten Netzwerkeffekte – eine Nachfragegruppe profitiert von der Größe der anderen Nachfragegruppe – einen nachfrageseitigen Größenvorteil dar, welcher Konzentrationstendenzen begünstigt. Allerdings konnte bisher das Datenelement der Geschäfts- und Preismodelle moderner Mediendienste noch nicht zufriedenstellend in diesen Theorierahmen integriert werden. Das Plattformgeschäftsmodell steht im Medienbereich (und nicht nur dort) dem traditionellen Handelsgeschäftsmodell entgegen. Netflix oder Spotify (im Premium­ modell) kaufen die Rechte für das Streaming-Angebot ihrer Inhalte von den Produ­ zenten der Unterhaltungsgüter an und verkaufen sie an die Nutzer weiter. Sie orga­ nisieren ihren Streaming-Service somit nicht als Plattform, sondern im Grunde als klassisches Handelsgeschäft. Hingegen ist YouTube ein Beispiel für das Plattform­ geschäftsmodell: YouTube kauft oder produziert keine Inhalte, sondern stellt einen virtuellen Raum zur Verfügung, in welchen Produzenten ihre Inhalte hochladen und Konsumenten sich diese Inhalte ansehen können: Produzenten fragen somit Upload-

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Raum von YouTube nach, Konsumenten Unterhaltungsinhalte – und beide zusätz­ liche Dienstleistungen, die YouTube anbietet (Zahlungssysteme zur Verteilung der Werbeeinnahmen, Such- und Empfehlungssysteme, usw.). Insofern handelt es sich um künstliche Plattformen, welche nicht – wie bei dem ursprünglichen Beispiel für ökonomische Plattformen, nämlich Zahlungssysteme (Rochet & Tirole 2003) – durch die Marktbedingungen erzwungen werden, sondern strategisch seitens der Unterneh­ men als Geschäftsmodell gewählt werden. Das bedeutet auch, dass Plattformeffekte in Medienmärkten nicht unausweichlich sind.

3 Wettbewerbsordnung und Wettbewerbspolitik Nachdem in Kapitel 2 einige Gemeinsamkeiten moderner Unterhaltungsindustrien mit einem besonderen Fokus auf der Vermittlung durch digitale Medien herausgearbei­ tet worden sind, diskutieren wir in diesem Kapitel exemplarisch ausgewählte Fälle, welche aus unserer Sicht ebenso besondere wie typische Herausforderungen an die Wettbewerbsordnung und Wettbewerbspolitik stellen.

3.1 Wettbewerb um den Streaming-Markt Die hohe Dynamik auf den VoD-Märkten wurde in Kapitel 1 bereits aufgezeigt (sie­ he auch Prince & Greenstein 2017; McKenzie et al. 2019; Budzinski, Gaenssle & Lind­ städt-Dreusicke 2020). Dennoch und trotz der kürzlich erfolgten Markteintritte von Disney+, AppleTV+, Joyn oder HBO Max haben sich in den letzten Jahren einige weni­ ge dominante Anbieter auf dem Streaming-Markt herauskristallisiert. Im Bereich des PVoD (paid-for video-on-demand; userfinanzierte Dienste) sind hier die Dienste Net­ flix und Amazon Prime Video zu nennen, im AVoD Bereich (advertised-financed vi­ deo-on-demand; primär werbefinanzierte Dienste) die Plattform YouTube (LindstädtDreusicke & Budzinski 2020). Diese Marktstellungen sind nicht nur auf dem deutschen Markt zu beobachten, sondern auch in den USA, UK sowie in Teilen auch in den skan­ dinavischen Ländern feststellbar (Audience Project 2019).¹³ Bemerkenswert ist, dass die Spitzenpositionen nicht von den klassischen und tradierten Großunternehmen der Medienindustrie eingenommen, sondern von neueren Anbietern belegt werden.¹⁴ Es ist daher interessant sich anzuschauen, wie klassische Medienhäuser auf die Strea­ ming-Herausforderungen reagieren, weshalb wir im Folgenden die Wettbewerbsakti­ 13 Während YouTube und Netflix in den skandinavischen Ländern (Dänemark, Finnland, Schweden, Norwegen) starke Positionen einnehmen, spielt Amazon Prime Video eine eher kleine Rolle (Audience Project 2019). 14 In diesem Zusammenhang ist es auch interessant, dass Netflix inmitten der Corona-Krise (Mitte April 2020) Disney als bis dato wertvollsten Medienkonzern der Welt überholt hat (Jacobsen 2020).

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vitäten speziell in den USA und Deutschland betrachten, wo sich entsprechende Dy­ namiken aufgetan haben. Der deutsche TV-Markt ist in öffentlich-rechtlichen und privaten (werbefinanzier­ ten) Rundfunk aufgeteilt. VoD-Angebote klassischer Medienhäuser aus dem linearen TV-Geschäft (hier vor allem die zwei großen privaten Sendergruppen ProSiebenSat.1 und RTL mit ihren Angeboten Joyn bzw. TV Now) nehmen eine vergleichsweise (noch) schwache Marktposition ein.¹⁵ Die deutschen Medienhäuser (sowohl (i) private als auch (ii) öffentlich-rechtliche) haben allerdings bereits deutlich früher versucht, mit eigenen VoD-Angeboten auf den Markt zu treten, um auf das bereits damals festzustel­ lende veränderte Mediennutzungsverhalten der Rezipienten zu reagieren. 2010, rund vier Jahre bevor Netflix und Amazon Prime Video den deutschen Markt betraten, gab es zwei geplante VoD-Vorhaben, die allerdings durch das Bundeskartellamt verhindert wurden. (i) Ohne im Detail auf die beiden Fälle einzugehen (siehe hierzu ausführlich Bun­ deskartellamt 2011; 2015; Budzinski & Lindstädt-Dreusicke 2020), ging es im sog. Amazonas Projektvorhaben um die Gründung eines Gemeinschaftsunterneh­ mens von RTL und ProSiebenSat.1 zum Aufbau und Betrieb einer gemeinsamen VoD-Plattform mit Inhalten (auch von Drittanbietern), die zuvor im TV gelaufen sind. Die Finanzierung der Plattform sollte über Werbeerlöse erfolgen. Kernar­ gument des Bundeskartellamts für die Untersagung des Amazonas Projekts war, dass der Zusammenschluss das ohnehin schon existierende marktbeherrschende Duopol von RTL und ProSiebenSat.1 auf dem bundesweiten Markt für TV-Wer­ bung (zum damaligen Zeitpunkt ca. 80–90 % Marktanteil) weiter verschärft hätte (Bundeskartellamt 2011). (ii) Bei Germany’s Gold ging es um ein ähnliches Projekt, diesmal jedoch der öffent­ lich-rechtlichen Rundfunkanstalten ARD und ZDF, mit dem den Verbrauchern Inhalte der öffentlich-rechtlichen TV-Sender und Dritter, welche zuvor im klassi­ schen TV ausgestrahlt wurden, teils nutzer-, teils werbefinanziert zur Verfügung gestellt werden sollten (Bundeskartellamt 2015; Budzinski & Lindstädt-Dreusicke 2020). Das Bundeskartellamt äußerte allerdings kartellrechtliche Bedenken hin­ sichtlich der Bereiche Preisabsprachen, Exklusivitätsvereinbarungen sowie den Ausschluss alternativer Services von Drittanbietern (Bundeskartellamt 2015), weswegen die Wettbewerbsbehörde eine Reihe an Auflagen verhängte. Aufgrund von unter diesen Bedingungen fehlenden positiven wirtschaftlichen Prognosen wurde das Projekt allerdings von den Beteiligten zurückgezogen (Mantel 2013).

15 Basierend auf den VOD Ratings nimmt Netflix bewertet nach täglichen Nutzern in Deutschland (Wertungszeitraum: 01.-13.04.2020) mit 10,19 Mio. die klare Spitzenposition ein, gefolgt von Amazon Prime Video (6,77 Mio.), TV-Now (4,38 Mio.) und erst auf Platz 6 folgt Joyn mit 0,91 Mio. (Schröder 2020: 52). Gewertet nach Abonnentenzahlen liegen Amazon Prime Video (Platz 1) und Netflix (Platz 2) klar an der Spitze, TV Now folgt erst auf Platz 6, während Joyn unter den Top 15 im gleichen Zeitraum nicht vertreten ist (ebenda).

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Knapp 10 Jahre nach den geplanten Vorhaben haben Budzinski & Lindstädt-Dreu­ sicke (2020) in einer Ex-Post-Analyse und vor dem Hintergrund der anhaltenden Dynamiken im VoD-Markt beide Fälle analysiert und kommen zu dem Ergeb­ nis, dass die damaligen Entscheidungen aus heutiger Perspektive kaum noch zu rechtfertigen sind. So sind relevante Erkenntnisse moderner Plattformökonomie nicht ausreichend berücksichtigt worden, der aufkommende Wettbewerb durch internationale VoD-Dienste wurde erheblich unterschätzt, und die Frage nach Marktmacht in Onlinewerbemärkten ist aus heutiger Sicht ebenfalls anders ein­ zuordnen (siehe ausführlich: Budzinski & Lindstädt-Dreusicke 2020). Ohne das Bundeskartellamt damit zu kritisieren – hinterher ist eine Beurteilung immer leichter als mit dem Versuch, die (nahe) Zukunft abzuschätzen – zeigen beide Fälle, wie dynamisch sich die Marktsituation im Bereich Fernseh- und StreamingMärkte innerhalb des letzten Jahrzehnts verändert hat. Mit Blick auf den US-Medienmarkt lassen sich zwei aktuelle Fälle und Entwicklungen beleuchten. Wie aufgezeigt, nehmen Netflix und Amazon Prime Video auch hier do­ minante Marktstellungen ein. Die Reaktionen traditioneller Medienhäuser sind nicht ausgeblieben. So ist im November 2019 Disney+, zunächst in den USA, Kanada, Nie­ derlande, Australien und Neuseeland gestartet, gefolgt von weiteren europäischen Ländern (u. a. Deutschland, Großbritannien, Spanien, Italien, Österreich) Ende März 2020. Bereits neun Monate nach dem Launch von Disney+ verzeichnet der Dienst 60,5 Mio. Abonnenten, wenngleich das noch weit von Netflix mit seinen weltweit aktuell 193 Mio. Abonnenten entfernt ist (Brien 2020). Ende Mai 2020 ging Time Warner mit seinem Dienst HBO Max in den USA an den Start und bietet seinen Abonnementen laut eigenen Aussagen 10.000 Stunden Premium Inhalte (Warner Media 2020). Beide Dienste – Disney+ und HBO Max – müssen in die wenige Jahre zuvor erfolgten Fusio­ nen zwischen AT&T und Time Warner (iii) einerseits sowie Disney und Fox (iv) an­ dererseits eingeordnet werden, welche im Folgenden kurz skizziert werden, um im Anschluss Auswirkungen auf den Wettbewerb diskutieren zu können. (iii) Im Oktober 2016 gaben AT&T und Time Warner ihre Fusionspläne bekannt. Die US-Wettbewerbsbehörden sahen in dem vertikalen Zusammenschluss jedoch ei­ ne Gefahr erheblicher Wettbewerbsbeschränkung mit Nachteilen für Wettbewerb und Verbraucher. Konkret wurde eine Verdrängung von Wettbewerbern im Pay-TV Markt befürchtet, sei es durch überhöhte Preise oder gar das Nicht-zur-Verfügungstellen (sog. Blackout Strategie) von Time Warner Inhalten für Wettbewerber (Sa­ lop 2018; Stöhr et al. 2020). Ein Jahr später, im Jahr 2017, klagte die US-Regierung gegen die geplante Übernahme, welche jedoch im Juni 2018 ohne große Auflagen gerichtlich genehmigt wurde, eine Entscheidung, die schließlich im Februar 2019 in zweiter Instanz bestätigt wurde (Stöhr et al. 2020). (iv) Dem horizontalen Zusammenschluss von Disney und Fox ging ein umfassender Bieterstreit zwischen Disney und Comcast voraus. Beide Unternehmen bekunde­ ten großes Interesse an den zum Verkauf stehenden Teilen des Fox Imperiums,

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so unter anderem das Filmstudio 20th Century Fox, verschiedene Fox TV-Sender sowie die Beteiligung von Fox am Streaming-Anbieter Hulu. Obwohl Comcast das höhere Angebot abgab, entschied sich Fox schließlich für die Fusion mit Disney, da eine größere Wahrscheinlichkeit einer Genehmigung ebendieser durch die USWettbewerbsbehörden gesehen wurde, welche im Sommer 2018 unter Auflagen erfolgte (DOJ 2018; Stöhr et al. 2020). Für den Wettbewerb in VoD-Märkten sind mehr Anbieter zunächst einmal grund­ sätzlich positiv zu bewerten, insbesondere auch wenn dadurch die Medienaltsassen mit den neuen Marktführern auf Augenhöhe in Konkurrenz treten. In wettbewerbs­ intensiven Streaming-Märkten können sich positive Effekte mit Blick auf eine grö­ ßere Angebotsvielfalt und entsprechende Ausweichmöglichkeiten für Konsumenten, niedrigere Verbraucherpreise sowie positive Auswirkungen auf Innovationen einstel­ len, welche insbesondere den Verbrauchern zugutekommen (Stöhr et al. 2020). Der Konsument kann mit weiteren VoD-Diensten auf dem Markt unter mehr Anbietern wählen, und ihm steht ein größerer Umfang an Bewegtbild-Inhalten zur Verfügung. Allein Disney+ stellt seinen Abonnenten mehr als 500 Filme, über 350 Serien sowie 26 Originalformate zur Verfügung (App 2020). HBO Max bietet seinen Abonnemen­ ten u. a. den kompletten HBO Service, Filme und Serien von Warner Bros‘, sowie Max Originals Eigenproduktionen an (Warner Media 2020). Auf der anderen Seite muss allerdings berücksichtigt werden, dass sich gewisse Lizenzinhalte teils nur auf neue Dienste verschieben. Dies steht im starken Kontrast zu One-Stop-Shopping Konsu­ mentenpräferenzen (siehe Kapitel 2.4 und 3.3). So stellt Disney seit 2019 keine Filme und Serien mehr aus dem eigenen Archiv an Netflix und Amazon zur Verfügung (Otto 2017; Scheele 2019), sondern nutzt hierfür exklusiv seinen eigenen Streamingdienst. Auch HBO hat in den USA beispielsweise die Serie Friends von Netflix abgezogen und bietet diese künftig auf HBO Max an; zudem ist ein einmaliges Special mit den Original-Charakteren durch die Produktionsfirma Warner Media im Originalstudio der Warner Bros‘ geplant (Horizont Online & dpa 2020). Gerade letztere Pläne sind ein Ergebnis der vertikalen Integration durch die erfolgte Fusion zwischen AT&T und Time Warner. Durch das Nutzen der Geschäftsaktivitäten auf allen Wertschöpfungsstufen kann der Wettbewerb beschränkt werden, indem sich Produktion und Distribution von In­ halten exklusiv auf den vertikal integrierten Anbieter konzentrieren und andere Wett­ bewerber (z. B. Netflix und Amazon, insbesondere aber auch kleinere und unabhängi­ ge neue Streamingdienste) in der Distribution dieser Inhalte ausgeschlossen werden. Auch lassen sich sog. antikompetitive Blackout Strategien verfolgen, welche im Falle von AT&T und Time Warner im Pay TV-Markt auch schon beobachtet werden konnten; so im November 2018, kurz nach dem erfolgten Zusammenschluss, im Falle des Black­ outs von HBO Inhalten für das konkurrierende Unternehmen DISH (siehe ausführlich: Stöhr et al. 2020). Insbesondere die Kombination von Internetzugängen (AT&T) und Inhalte-Anbieter (Time Warner) lassen eine Übertragung solcher Blackout Strategien

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auf Onlinestreaming-Märkte möglich werden. Weitere Aktivitäten bedingt durch ver­ tikale Verflechtungen lassen sich auch bei HBO Max erkennen. So bietet AT&T poten­ ziellen Kunden attraktive Konditionen in der Verknüpfung seines Streamingdienstes HBO Max mit Internet- und TV-Verträgen von AT&T (Koenigsdorff 2019) – Maßnahmen, die den Wettbewerb gegenüber nicht-integrierten Unternehmen verzerren können. Als Reaktion haben Netflix und Amazon Prime Video in den letzten Jahren die Investitio­ nen in Eigenproduktionen stark ausgeweitet (Aguiar & Waldfogel 2018) und produ­ zieren eigene Serien- und Film-Inhalte (z. B. House of Cards, Workin‘ Moms, You are Wanted, Tom Clancy’s Jack Ryan). Selbst im Wettbewerb zwischen vertikal vollständig integrierten Diensten kann es für die Konsumenten jedoch nachteilig sein, wenn jeder Anbieter ein geschlossenes Ökosystem anbietet, mit entsprechenden Wechselkosten, erschwertem Multihoming und Lock-in Effekten (Stöhr et al. 2020). Auch können sich durch einen intensiven Wettbewerb positive Effekte auf die Ver­ braucherpreise einstellen. So sind Disney+ (6,99 €/Monat oder 69,99 €/Jahr) und auch AppleTV+ (4,99 €/Monat) verglichen mit den aktuellen Abopreisen bei Netflix (güns­ tigstes Abo: 7,99 €/Monat) und Amazon Prime Video (ebenfalls 7,99 €/Monat¹⁶) mit ge­ ringeren Abo-Preisen in den Markt eingestiegen. Fraglich ist allerdings, wie dauerhaft diese positiven Effekte sind. Vieles wird davon abhängen, ob der gegenwärtig intensi­ ve Wettbewerb der Dienste von Dauer ist oder ob sich am Ende wenige oder sogar nur ein dominanter Dienst durchsetzt, was dann in ein persistentes Oligopol oder Mono­ pol mündet – mit erheblichen negativen Folgewirkungen für Konsumentenwohlfahrt und Programmvielfalt. Gerade die vertikale Integration, die anders als bei unabhän­ gigen Streamingdiensten erhebliche Anreize zu antikompetitiver Selbstbevorzugung und Marktverschließung generiert (inter alia, Budzinski, Gaenssle & Lindstädt-Dreu­ sicke 2021), kann dabei langfristig zu einem erheblichen und dauerhaften Problem werden.

3.2 App Stores als Gatekeeper? Die für Onlineunterhaltungsmärkte typischen Phänomene vertikale Integration und Marktverschließung (siehe auch Kapitel 2.4) spielen auch in den aktuell laufenden Fällen von Wettbewerbsbeschränkungen durch App Stores eine relevante Rolle. App Stores sind Onlinemarktplätze, welche in den digitalen Ökosystemen der Betriebs­ systeme mobiler Endgeräte (Smartphones, Tablets) das Herunterladen und Installie­ ren von Programmen ermöglichen. Sie bieten zudem typischerweise Dienstleistun­ gen wie Such- und Empfehlungssysteme sowie marktplatzspezifische Zahlungssys­ teme an. Weltweit wird auf den ersten Blick der Markt von einem Duopol beherrscht, wobei Google Play (früher: Android Market) deutlich mehr Downloads als der Apple 16 Allerdings sind in diesem Abo-Preis die weiteren Prime Vorteile wie z. B. next day delivery, Gratis Standardversand sowie Amazon Music ebenfalls enthalten.

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App Store aufweist, der letztere aber höhere Erlöse erwirtschaftet. Weitere Marktplät­ ze wie der Microsoft Store, der Amazon App Store oder die BlackBerry World sind trotz der teilweise dahinterstehenden Großkonzerne unbedeutend, während andere wie die Huawei AppGallery vor allem lokale Relevanz haben. Diese Marktstruktur er­ gibt sich dabei aus der vertikalen Verflechtung zwischen App Stores und Betriebssys­ temen: Mobile Endgeräte mit einem Apple IOS-Betriebssystem können ausschließlich über den Apple App Store Programme herunterladen und installieren, während mo­ bile Endgeräte mit einem Android-Betriebssystem aus dem Hause Alphabet-Google zwar grundsätzlich über verschiedene App Stores Programme herunterladen können. Jedoch ist der konzerneigene Marktplatz Google Play vorinstalliert und wird automa­ tisch aufgerufen (ist also mit dem Betriebssystem gebündelt), sodass ein Großteil der Android-Nutzer automatisch über Google Play Programme einkauft. Daher kann be­ zweifelt werden, dass es sich tatsächlich um ein Duopol handelt, da die Marktplätze von Apple und Alphabet-Google nicht direkt in Konkurrenz zueinander stehen, son­ dern über die Wahl des Betriebssystems (Apple Smartphone versus Android Smart­ phone) die Wahl des App Stores de-facto bereits vorentschieden ist. Somit kann auch argumentiert werden, dass innerhalb des Apple Ökosystems der Apple App Store eine Monopolstellung einnimmt, während innerhalb des Android Ökosystems Google Play eine dominante Marktstellung innehat. Aus der hieraus resultierenden Marktmacht hat sich jüngst eine Reihe von Wett­ bewerbsproblemen auf dem Markt der Programme für mobile Endgeräte ergeben. Die­ se entstehen auch dadurch, dass sowohl Apple als auch Google eine problematische Anreizsituation haben (siehe Kapitel 2.4), denn sie bieten auch selbst Programme auf den konzerneigenen Marktplätzen an, in Konkurrenz zu Drittanbietern. Drei aktuelle Fälle, welche die vielfältige Wettbewerbsproblematik illustrieren, sind (i) Epic vs. Ap­ ple & Google, (ii) die Kontroverse um sog. Parental Control Apps und (iii) Spotify vs. Apple, die nachfolgend kurz skizziert werden.¹⁷ (i) Epic Games ist der Anbieter des beliebten Onlinespiels Fortnite mit mehr als 350 Mio. registrierten Spielern. Im Jahr 2020 haben sowohl Apple als auch Al­ phabet-Google das Spiel aus dem Sortiment ihrer Programm-Marktplätze (Apple App Store und Google Play) genommen, also im Grunde einen Boykott des Spie­ leherstellers in die Wege geleitet. Der Kern des Konfliktes liegt in der Frage, ob Epic einen eigenen direkten Zahlungsservice in seine Fortnite App integrieren darf oder ob es die jeweiligen Zahlungssysteme von Apple und Google verwenden muss. In beiden Fällen schreiben die Richtlinien der Marktplätze vor, dass aus­ schließlich die Marktplatzzahlungssysteme verwendet werden dürfen, auf deren Umsätze dann sowohl Apple als auch Google eine „Steuer“ von bis zu 30 % erhe­

17 Die Fakten der drei Fälle und der zugrundeliegenden Märkte sind im gesamten Kapi­ tel 3.2 der laufenden Berichterstattung von Competition Policy International (https://www. competitionpolicyinternational.com/) entnommen.

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ben. Während Apple und Google darauf verweisen, dass dies der Sicherheit der Konsumenten vor unseriösen Transaktionen diene, verweist Epic auf die Markt­ macht der beiden innerhalb der jeweiligen Ökosysteme und argumentiert, dass man nur durch ein eigenes „in-game“-Zahlungssystem der missbräuchlichen „Steuer“ ausweichen könne – und nur deswegen solche Direktzahlungsservices auch durch die marktmächtigen Marktplatzbetreiber untersagt würden. Der Boy­ kott bedeutet, dass Epic’s Fortnite auf Apple Smartphones nicht mehr verfügbar ist, während es auf Android Smartphones nur noch mit erhöhtem Suchaufwand außerhalb des dominanten Marktplatzes genutzt werden kann. Zum Verfassungs­ zeitpunkt dieses Beitrags waren die anhängigen Wettbewerbsverfahren noch nicht entschieden. US-amerikanische Gerichte haben allerdings eine Gegenklage von Apple auf Schadenersatz wegen Vertragsbruchs (Verletzung der Marktplatz­ richtlinien) abgewiesen. Unabhängig vom Ausgang der Verfahren zeigt dieser Fall, zu welcher Anreizproblematik die Kombination aus vertikaler Integration und Marktmacht in der digitalen Unterhaltungswelt führen kann: Selbst eines der erfolgreichsten Onlinespieleprodukte verschafft nicht hinreichend Gegen­ macht, um vor Boykotten sicher zu sein. (ii) Diese Problematik verschärft sich weiter, wenn zu vertikaler Integration und Marktmacht auch noch Anreize zur Selbstbevorzugung (siehe Kapitel 2.4) kom­ men. Im Fall von Epic Games bieten Apple und Google keine eigenen Konkurrenz­ produkte zu Fortnite an. Das war im Fall der Kontroverse um Parental Control Apps, insbesondere in den USA, anders. Anfang 2019 verbannte Apple eine Rei­ he populärer Parental Control Programme, welche Eltern die Kontrolle über die Smartphones ihrer Kinder ermöglichen, aus dem Apple App Store. Die offizielle Begründung war, dass die verwendete Technologie der Apps die PrivatsphäreRegeln von Apple für Drittanbieter-Apps verletzten und zu tief in die Persönlich­ keitsrechte Dritter (also mutmaßlich der Kinder) eingreifen würde. Allerdings geschah dies zu einem Zeitpunkt, als Apple gerade seine eigene Parental Control App (Screen Time) auf den Markt gebracht hatte, so dass sich Apple damit defacto mit Hilfe des konzerneigenen App Stores der Konkurrenz auf diesem Markt entledigte. Zudem fiel Screen Time als Apple-Eigenproduktion nicht unter die Privatsphäre-Regeln für Drittanbieter. Im Zuge drohender Wettbewerbsverfah­ ren änderte Apple seine Politik im Juni 2019 und ließ die Konkurrenz wieder zu. Freilich hatte Screen Time bis zu diesem Zeitpunkt erheblich an Marktanteilen gewonnen, die naturgemäß auch nicht mehr vollständig verloren gingen (bspw. aufgrund von Gewöhnungseffekten bei den Nutzern). Hier zeigt sich, wie die marktübergreifende Dominanz eines digitalen Ökosystems nicht nur zur Setzung überhöhter Preise (wie mutmaßlich im Epic-Fall), sondern auch zur Monopolisie­ rung weiterer Märkte innerhalb des Ökosystems missbraucht werden und welche Rolle Instrumente der Selbstbevorzugung dabei spielen können. (iii) Der dritte Fall greift noch einmal den Streaming-Markt auf (siehe Kapitel 3.1), dies­ mal allerdings im Musik- bzw. Audiobereich. Hier befindet sich zum Verfassungs­

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zeitpunkt einer der marktführenden Musikstreaming-Dienste, Spotify, in einem Wettbewerbskonflikt mit Apple. Gemäß den Vorwürfen von Spotify belegt Apple die Spotify-App in seinem Apple App Store mit einer Strafgebühr von 30 % – im Ge­ gensatz zu anderen subscription-based Apps – und blockiert selektiv den Trans­ fer von Nutzerdaten zu Spotify sowie generell die Zurverfügungstellung von Up­ grades der Spotify-App. Auch hier ist wieder zu beachten, dass Apple mit seinem Dienst Apple Music eine konkurrierende App zu der Spotify-App über den kon­ zerneigenen Markplatz anbietet. Apple Music ist von den restriktiven Maßnahmen des Apple App Stores nicht betroffen. Während Spotify zu den Pionieren erfolgrei­ cher Musikstreaming-Dienste gehört, ist Apple vergleichsweise spät in das Strea­ ming-Geschäft gestartet – daher ist der Anreiz vergleichsweise groß, die Markt­ macht über den Apple App Store auszunutzen und die eigenen Markanteile über eine Raising-Rivals-Costs (Salop & Scheffman 1983; Scheffman & Higgins 2015)Strategie der Behinderung der Konkurrenz auszuweiten. Neben den möglichen Preisüberhöhungsmissbrauch tritt hier also möglicherweise Behinderungswett­ bewerb über das selektive Vorenthalten von Nutzerdaten sowie über die Blockade von Upgrades auf. Ein ähnlicher Fall von Behinderungswettbewerb lag vor, als Amazon mit deaktivierten Buy-Buttons, massiv verzögerten Lieferzeiten und ähn­ lichen Strategien im E-Book-Fall gegen Verlage vorging (Budzinski & Köhler 2015).

3.3 Fußballübertragungen: Neue Effekte bewährter Abhilfemaßnahmen Die Digitalisierung der Unterhaltungsindustrien führt nicht nur zu neuartigen oder neudimensionierten Wettbewerbsproblemen, wie in den vorigen Kapiteln gezeigt wur­ de. Darüber hinaus wandelt sich auch die Wirkung von bewährten Abhilfen, die von Wettbewerbsbehörden als Auflagen oder im Rahmen von Zusage-Verpflichtungen ver­ hängt werden. Ein Beispiel hierfür stellen die Auflagen dar, welche Wettbewerbsbe­ hörden in Europa regelmäßig verhängen, um die negativen Wohlfahrtswirkungen der Zentralvermarktung der Übertragungsrechte kommerzieller Fußballwettbewerbe zu mildern und die Konsumentenwohlfahrt zu schützen. Insbesondere die hier übliche partielle Entbündelung im Zusammenhang mit der sog. „No-Single-Buyer-Rule“ führt im digitalen Zeitalter im Gegenteil zu einer weiteren Verschlechterung der Konsumen­ tenwohlfahrt (zum gesamten Kapitel: Butler & Massey 2019; Budzinski et al. 2019; De­ wenter & Klein 2021). Kommerzielle Fußballigen wie die UEFA Champions League, die English Pre­ mier League oder die Bundesliga vermarkten die Medienrechte (Übertragungs- und Berichterstattungsrechte) typischerweise, indem sie die Übertragungsrechte an den einzelnen Spielen zentral bei der kommerziellen Organisation der Liga (in Deutsch­ land beispielsweise bei der Deutschen Fußball-Liga; DFL) bündeln und zentral an die interessierten Medienhäuser auktionieren (siehe dazu auch Polk i. d. B.). Aus ökono­

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mischer Sicht handelt es sich hierbei um ein Kartell der Rechteinhaber¹⁸, welches hö­ here Verkaufspreise ermöglicht als die wettbewerbliche Einzelvermarktung der Spiele durch die einzelnen Vereine. Über die Ausbeutung der direkten Nachfrager, nämlich der Medienhäuser, die sich nun de-facto einem monopolistischen Angebot durch das Kartell gegenübersehen, hinaus wird auch die Konsumentenwohlfahrt beeinträchtigt, denn die höheren Preise für Übertragungsrechte schlagen sich in höheren Subskrip­ tionspreisen (nur Pay-TV) sowie mehr Werbung und weniger Investitionen in andere Programminhalte nieder. Dem gegenüber stehen mögliche Effizienzvorteile aufgrund einer einheitlichen und abgestimmten Präsentation des Gesamtwettbewerbs und ei­ ner möglichen Umverteilung der Einnahmen zu Gunsten schwächerer Wettbewerber und darüber eine Stärkung der Qualität des Produkts. Im Einklang mit der ökono­ mischen Literatur (Übersicht: Budzinski et al. 2019: 148–151) bezweifeln regelmäßig jedoch auch die Wettbewerbsbehörden (Übersicht: Budzinski 2019: 148–151), dass die Vorteile die Nachteile für die Konsumentenwohlfahrt ausgleichen. Daher haben die europäischen Wettbewerbsbehörden, unter anderem die Europäische Kommission und das Bundeskartellamt, eine Auflagenpraxis entwickelt, welche die negativen Wirkungen der Zentralvermarktung für den Konsumenten zumindest hinreichend abmildern sollen.¹⁹ An dieser Stelle geht es uns nicht um eine umfassende Diskussion und Würdi­ gung aller Auflagen (siehe dafür inter alia, Budzinski 2019; Polk i. d. B.), sondern um die spezifische Auflage der partiellen Entbündelung, kombiniert mit der Auflage, dass nicht ein Käufer alle Bündel erwerben darf. Das Kartell der Rechteinhaber, vertreten durch die jeweilige Ligaorganisation, auktioniert die exklusiven Übertragungsrechte an allen Ligaspielen im Bündel, um einen maximalen Preis zu erzielen. Um den wett­ bewerbsbeschränkenden Effekt auf der Ebene der Medienhäuser – und dadurch auch die auf die Konsumentenebene durchgereichten negative Effekte – abzumildern, ver­ langen europäische Wettbewerbsbehörden von den Ligaorganisationen regelmäßig, dass die exklusiven Übertragungsrechte (pro Sendegebiet) in mehrere Bündel aufzu­ teilen, einzeln zu auktionieren und an mindestens zwei verschiedene Medienhäuser zu veräußern sind. Dadurch wird vermieden, dass nur ein Medienhaus diese populä­ ren Premiuminhalte auf sich vereinen kann und damit der Wettbewerb auf der Ebene der Medienmärkte geschützt. In der traditionellen Fernsehwelt von werbefinanzierten kommerziellen sowie öffentlich-rechtlichen TV-Anstalten kann diese Auflage auch die Konsumentenwohlfahrt fördern, da erstens weniger schädliche Durchreichungseffek­ te (negative Wirkungen des verringerten Wettbewerbs auf den Medienmärkten auf die

18 Dies gilt unter der Annahme, dass die einzelnen Rechteinhaber (hier: die teilnehmenden Verei­ ne) die Ligaorganisation (hier bspw. die DFL) effektiv kontrollieren. Andernfalls, wenn die Ligaver­ marktung einer von den Teilnehmern unabhängigen Organisation obliegt, wäre über den (vertikalen) Missbrauch von Marktmacht nachzudenken (Budzinski & Szymanski 2015). 19 Ob eine hinreichend starke Abhilfe gelingt, wird in der ökonomischen Literatur nicht selten be­ zweifelt (inter alia, Quitzau 2003; 2010; Peeters 2011; 2012; Budzinski 2018; Polk i. d. B.).

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Konsumenten) auftreten und zweitens die Berichterstattung auf mehreren Kanälen mit vernachlässigbaren Umschalt- und Wechselkosten einhergeht. In der modernen Streaming-Welt sieht dies jedoch anders aus: Werden die exklusiven Übertragungs­ rechte an den Ligaspielen nun in Bündeln an mehrere Streaming-Anbieter verkauft (wie es derzeit de-facto geschieht; Dewenter & Klein 2021), so müssen die Konsumen­ ten (also die Fußballfans) nun mehrere Abonnementverträge mit Streaming-Anbie­ tern schließen. Dies bedeutet sowohl eine Kumulation der Subskriptionsgebühren als auch steigende Transaktionskosten durch das Management der verschiedenen Abon­ nementverträge und Streaming-Accounts (mit im Vergleich zum Umschalten auf der Fernbedienung deutlich gestiegenen Umschalt- und Wechselkosten). Eine Auflage, welche also in der traditionellen Medienwelt durchaus als konsu­ mentenwohlfahrtsfördernd eingestuft werden konnte, erweist sich nun in der digita­ len Unterhaltungswelt als konsumentenwohlfahrtsschädlich (Budzinski et al. 2019; Dewenter & Klein 2021). Dieses Beispiel zeigt deutlich, dass auch bewährte Abhilfe­ maßnahmen gegen wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweisen angesichts der Di­ gitalisierung der Unterhaltungsindustrien überdacht werden müssen. Möglicherwei­ se ist eine Zentralvermarktung im Streaming-Zeitalter wettbewerbsökonomisch nicht mehr zu rechtfertigen (Polk i. d. B.) oder zumindest müsste die Exklusivität der Über­ tragungsrechte an einzelnen Spielen unterbunden werden, um effektiven und konsu­ mentenfreundlichen Wettbewerb zu schaffen (Budzinski et al. 2019).

4 Implikationen und Schlussfolgerungen Der vorliegende Beitrag fasst die ökonomischen Besonderheiten von Unterhaltungs­ märkten zusammen und legt dabei einen besonderen Fokus auf die Effekte der Digi­ talisierung auf diese Märkte. Dabei werden die Aspekte Erfahrungsgüter und Qualität (Kapitel 2.1), Fixkostendegression & Güterheterogenität (Kapitel 2.2.), Superstareffek­ te (Kapitel 2.3), die Rolle (digitaler) Medien (Kapitel 2.4) sowie Preis- und Geschäfts­ modelle (Kapitel 2.5) diskutiert. Ein wesentliches Ergebnis der Betrachtung ist dabei, dass Unterhaltungsmärkte im digitalen Zeitalter anfällig für typische Wettbewerbsbe­ schränkungen in digitalen Ökosystemen werden. In der traditionellen, vordigitalen Welt waren Unterhaltungsmärkte vergleichsweise selten Schauplatz erheblicher Wett­ bewerbsbeschränkungen (und die wenigen Ausnahmen waren oftmals technisch be­ dingt und wurden durch die Digitalisierung erodiert), was aber keinesfalls an einer geringen ökonomischen Bedeutung lag, sondern vielmehr an der starken Heteroge­ nität und (regionalen und sachlichen) Fragmentierung dieser Industrien. Dies ändert sich in der digitalen Welt sowohl mit Blick auf die Medien- als auch Inhalte-Märkte. Kapitel 3 unterstreicht diesen Befund mit einer Auswahl an relevanten Wettbewerbs­ problemen und -fällen, welche derzeit anfällig sind und diskutiert werden. Dabei zeigt sich, dass

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die prowettbewerbliche Wirkung der Digitalisierung auf Medienmärkte fragil ist und des aktiven wettbewerbspolitischen Schutzes bedarf (Kapitel 3.1), vertikale und konglomerate Verflechtungen in digitalen Ökosystemen erhebli­ che Anreize zu behinderungswettbewerblichen Strategien wie beispielsweise Ausbeutung vor- und nachgelagerter Marktstufen, Selbstbevorzugung, Monopo­ lisierung und Raising Rivals Costs mit sich bringen (Kapitel 3.2), und bisherige Abhilfemaßnahmen, die in der traditionellen Welt akzeptabel funktio­ niert haben, unter den Rahmenbedingungen digitalisierter Medien- und Unter­ haltungsmärkte nicht mehr automatisch wohlfahrtssteigernde Wirkungen entfal­ ten (Kapitel 3.3).

Auch die Betrachtung von Wettbewerb und Antitrust in Unterhaltungsmärkten deu­ tet dabei in die gleiche Richtung wie die generelle wettbewerbliche Analyse digitaler Ökosysteme (siehe für eine Übersicht über jüngere Expertisen Kerber (2019)): die Wett­ bewerbsordnung bedarf einer Anpassung an die Besonderheiten digitaler Märkte und Industrien (inter alia, Budzinski 2016). Dabei sind insbesondere wünschenswert: – eine Erweiterung des Verständnisses von Marktmacht über die Einzelmarktdomi­ nanz hinaus hin zu Konzepten von systemischer Marktmacht innerhalb von digi­ talen Ökosystemen, – eine Wiederbelebung der Wettbewerbspolitik gegen vertikale und konglomerate Beschränkungen, – sowie eine differenzierte Analyse von Situationen ökonomischer Abhängigkeit. Die Reformdiskussionen in Deutschland und Europa stoßen derzeit bereits in diese Richtungen (inter alia, Budzinski, Gaenssle & Stöhr 2020a; 2020b; Haucap 2020; Mars­ den & Podszun 2020; Podszun 2020). Allerdings sollten dabei die vorbeugenden Kräf­ te und Wirkungen der Zusammenschlusskontrolle nicht vernachlässigt werden: wäh­ rend derzeit auf breiter Front die Verschärfung der Missbrauchskontrolle und sogar die Schaffung einer Regulierung von datenmächtigen Unternehmen innerhalb digita­ ler Ökosysteme diskutiert wird, wird die weitere Schaffung solcher Strukturen durch Zusammenschlüsse und Übernahmen – wie im jüngst erst genehmigten Fall GoogleFitbit – nicht bzw. zu wenig adressiert. Budzinski, Gaenssle und Stöhr (2020a; 2020b) fordern daher eine Modernisierung des Verständnisses von wettbewerbsgefährden­ den Marktstrukturen auch in der Zusammenschlusskontrolle. Diese allgemeinen Implikationen für die Wettbewerbsordnung sind allerdings um eine spezielle Schlussfolgerung für Unterhaltungsmärkte zu ergänzen: Unter­ haltungsmärkte bedürfen der besonderen wettbewerbspolitischen Aufmerksamkeit und dürfen nicht mit Samthandschuhen angefasst werden. Letztendlich gilt es, die relevanten prowettbewerblichen und innovationstreibenden Wirkungen der Digita­ lisierung effektiv durch ihre inhärente Erosion durch mächtige Marktteilnehmer zu verhindern. Gerade auch wegen der auf den immer mitbetroffenen Inhalte-Märkten stets dahinterstehenden kulturellen Implikationen bedarf dies einer modernisierten

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Wettbewerbsordnung und kann nicht plausibel durch eine (Sektor-) Regulierung er­ folgen, deren polit- und administrationsökomische Dimension unvermeidbar Gefahr läuft, die relevante wohlfahrtsfördernde Dynamik digitalisierter Unterhaltungsindus­ trien abzuwürgen.

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Diana Schüler und Werner Pascha

Jenseits der Werkbank: Aufstieg der Kulturindustrien in Ostasien am Beispiel Koreas 1

Einleitung | 145

2

Begrifflichkeiten und methodische Vorüberlegungen | 149 2.1 Zum Verständnis des Begriffs Kulturindustrien | 149 2.2 Zur theoretischen Herangehensweise | 150

3

Die koreanischen Kulturindustrien | 152 3.1 Das Spektrum der Kulturindustrien und die Perspektive auf ausgewählte Teilbranchen | 152 3.2 Wertschöpfung und Export der Kulturindustrien | 154 3.3 Internationaler Vergleich | 156

4

Fallstudien | 158 4.1 Rundfunkdienste | 159 4.1.1 Die Branchenentwicklung und die Rolle des Zufalls | 159 4.1.2 Nachfragekonditionen | 159 4.1.3 Strategie, Struktur und Wettbewerb | 160 4.1.4 Verwandte und unterstützende Industrien | 162 4.1.5 Faktorkonditionen | 162 4.1.6 Staat | 163 4.1.7 Zwischenfazit | 164 4.2 Gaming-Industrie | 164 4.2.1 Die Branchenentwicklung und die Rolle des Zufalls | 164 4.2.2 Strategie, Struktur und Wettbewerb | 165 4.2.3 Verwandte und unterstützende Industrien | 167 4.2.4 Faktorkonditionen | 167 4.2.5 Nachfragekonditionen | 169 4.2.6 Staat | 170 4.2.7 Zwischenfazit | 171

5

Fazit | 171

1 Einleitung Im Februar 2020 wurden die Gewinner der Academy Awards des Jahres 2020 verkün­ det. Zum ersten Mal überhaupt in der Geschichte der sog. Oscars ging bei der inzwi­ schen 92. Verleihung der Preis für den besten Film an einen fremdsprachigen Film. Gewinner war der koreanische Film Parasite, eine Arbeit des unter Cineasten keines­ wegs unbekannten Regisseurs Bong Joon-ho. Der Film changiert zwischen Komödie und Horrorfilm, Krimi und Melodram, überrascht mit zahlreichen Wendungen, und https://doi.org/10.1515/9783110724523-007

146 | Diana Schüler und Werner Pascha

ist dabei als ernstzunehmende Position zu zentralen sozialen Fragen zu lesen, wie sie sich heutzutage überall auf dem Globus aufdrängen. Damit nahm er nicht nur das südkoreanische Publikum für sich ein, sondern die Welt fühlte sich angesprochen – und dabei bestens unterhalten. Dieser eindrucksvolle Erfolg steht nicht isoliert. Koreanische Fernsehserien er­ freuen sich großer Beliebtheit in Japan, Südostasien und darüber hinaus. Das TV-Seri­ endrama Winter Sonata von 2002 etwa löste eine japanische Touristenwelle, vor allem Touristinnen, zu den Originalschauplätzen in Seoul aus. Die Erfolge sind auch nicht auf Film oder TV beschränkt: Koreanische Popmusik (K-Pop) begeistert jugendliche Zuhörer in Ost und West, und auch koreanische Online Games gehören zu den füh­ renden Angeboten weltweit. Der Erfolg solcher Kulturindustrien – mehr zur Definition später – ist auch nicht auf die Republik Korea (im Folgenden: Korea) beschränkt. Auch Japan hat etwa eine boomende J-Pop Industrie, seine Manga-Comics und Anime-Filme nehmen eine globale Spitzenstellung ein, und auch bei den Filmen kann das Nach­ barland mithalten: Während die Goldene Palme von Cannes im Jahr 2019 an Parasite ging, wurde 2018 der japanische Beitrag Shoplifters – Familienbande mit demselben Preis ausgezeichnet. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit diesem Phänomen und konzentriert sich dabei auf Korea, obwohl es gewiss spannend wäre, auch die Ähnlichkeiten bzw. Bezüge zwischen den Kulturindustrien in verschiedenen Ländern Ostasiens zu unter­ suchen. Die Bedeutung des Erfolgs der Kulturindustrien für Korea geht dabei über den ei­ ner beliebigen Wirtschaftsbranche wesentlich hinaus. Dafür sind insbesondere drei Zusammenhänge verantwortlich, die das zu untersuchende Phänomen nicht nur für Korea selbst interessant machen, sondern auch für andere Volkswirtschaften Lehren versprechen. (1) Der erste hier relevante Kontext besteht darin, dass der traditionelle Wachs­ tumsmechanismus der koreanischen Volkswirtschaft an sein Ende gekommen zu sein scheint. Bisher funktionierte dieser Ansatz über eine Exportorientierung leistungsfä­ higer Verarbeitungsindustrien, in denen Großkonzerne – die sog. Chaebol – die Pro­ duktion von Gütern wie Stahl, Schiffen, Autos und elektronischen Bauteilen wie Spei­ cherchips vorantrieben. Die OECD merkt an, das Modell sei „losing steam“ (OECD 2018: 13). Inzwischen ist Korea kein Schwellenland mehr, sondern mit einem Pro-KopfEinkommen von 31.380 US-Dollar im Jahr 2018 (nach Weltbank-Daten) eine fortge­ schrittene Wirtschaft, die in einer unangenehmen Sandwich-Position zwischen den bis dato führenden Volkswirtschaften der Welt und einer Reihe nachrückender Öko­ nomien, die über Kostenvorteile Marktanteile an sich ziehen können, eingeklemmt ist. Gleichzeitig fehlt in der rasch alternden Volkswirtschaft die Möglichkeit, Produktions­ faktoren wie Arbeit und Kapital noch wesentlich stärker zu mobilisieren, und die mög­ lichen Produktivitätsfortschritte erscheinen beschränkt. Von daher ist die potenzielle Wachstumsrate immer weiter zurückgefallen und liegt für 2016 bis 2020 inzwischen bei unter 3 % im Jahr (vgl. Abbildung 1).

Jenseits der Werkbank: Aufstieg der Kulturindustrien in Ostasien am Beispiel Koreas

| 147

Potenzielles Wachstum (Prozent) 6

6 5,0

5

5 0,9 3,7

4

4

3,4

0,6 3

2,2

2,8

0,9

0,7

1,8

2

2 1,6

1

1,9

3

1,4 1

1,3

0,9

0,7

0

0 2001–2005

2006–2010

2011–2015

2016–2020

Totale Faktorproduktivität

Kapitalstock

Arbeitskräftepotenzial

Potenzielle Wachstumsrate

Abb. 1: Der Rückgang des Potenzialwachstums in Korea. Quelle: Eigene Darstellung. Datenquelle: Ahn (2018: 5), auf Basis einer Studie der Bank of Korea von 2017.

Vor diesem Hintergrund ist der Erfolg einer Branche wie der Kulturindustrie mit ihren von den Verarbeitungsindustrien völlig verschiedenen Geschäftsmodellen jenseits der traditionellen Werkbank von großem Interesse (grundlegend: Howkins 2001). Umgekehrt ist dieser Bereich damit auch anfällig für einen gewissen Hype, der etwa von staatlicher Seite forciert werden könnte, um Hoffnung auf eine wieder wachstumsstärkere Zukunft zu wecken. (2) Ein zweiter beachtenswerter Aspekt besteht darin, dass die positiven Effekte nicht auf den direkten Beitrag zur Wertschöpfung oder zu den Exporten beschränkt sind, sondern dass von florierenden Kulturindustrien auch positive indirekte Effekte auf den Rest der Wirtschaft und sogar auf die gesellschaftliche Entwicklung erhofft werden können. So wird oft vermutet, dass der Konsum kulturbezogener Güter und Dienstleistungen auch das Interesse an kulturell verbundenen Angeboten weckt, z. B. im Tourismus oder bei Gütern, die eine kulturelle Affinität ausstrahlen, etwa ein Inter­ esse an koreanischer Konsumelektronik, wenn ein Faible für die Filmkultur des Lan­ des oder K-Pop vorliegt (inter alia, Park 2014; Huh & Wu 2017). Das stellt nicht zuletzt für den Exportsektor eine Stimulanz dar. Eine attraktive Kultur stellt somit eine beach­ tenswerte Basis für ein „Nation Branding“ dar, wie es von vielen Ländern betrieben wird. Kulturindustrien sind zudem mit Kreativität und neuen Ideen verbunden. Das macht sie spannend gerade für junge Menschen und dient als lokaler Anknüpfungs­ punkt für vielfältige Initiativen. Florida (2002) hat den Aufstieg der „kreativen Klasse“ postuliert, was wichtige Entwicklungsimpulse für entsprechende Städte und Quartie­ re bedeuten könnte und zu einer intensiven Verfolgung auch stadtplanerischer Ansät­ ze geführt hat. Schließlich kann der Zusammenhang von Kultur, Kreativität und In­

148 | Diana Schüler und Werner Pascha

novation herausgestellt werden. Dabei bringen die Kulturindustrien zunächst einmal selbst innovatives Potenzial hervor. Zum anderen unterstützen die Kulturindustrien mit ihren kreativen Angeboten das Innovationspotenzial anderer Wirtschaftszweige, und schließlich sind zeitgenössische Kulturindustrien wie webbasierte Dienste oder elektronische Spiele selbst intensiver Nutzer und sogar Treiber des in der Wirtschaft hervorgebrachten technologischen Fortschritts (Müller et al. 2008). (3) Ein weiterer Zusatznutzen der Kulturindustrien bezieht sich auf mögliche An­ sehensgewinne in der Welt, aber auch im eigenen Land. Bezüglich letzterem wird ver­ schiedentlich argumentiert, dass eine florierende Kulturindustrie den Stolz und das Wohlbefinden in Bezug auf das eigene Land fördern könne. Dies ist nicht unumstrit­ ten, sind solche Vorteile doch schwer zu belegen. Zudem kann sich ein übertriebener national verankerter „Stolz“ auch problematisch auswirken, und eine um sich grei­ fende Popkultur auch negativ gegenüber der traditionellen „Hoch“kultur empfunden werden (Jin 2017). Häufiger angesprochen werden die Ansehensgewinne im Ausland. Joseph Nye jr. (2011) nennt in diesem Zusammenhang bei seinem Konzept der Smart Power, einer Überarbeitung seines Ansatzes der Soft Power, drei Ebenen von relatio­ naler Macht, von denen die dritte Ebene die Beeinflussung von Perzeptionen, Präfe­ renzen und Sichtweisen umfasst. Eine im Ausland positive rezipierte Kulturindustrie kann einen, wenn im Detail auch wenig tangiblen, Beitrag zu diesem Aspekt leisten, was ihn gerade für eine Mittelmacht wie Korea interessant macht, die sich gegenüber Schwergewichten wie China und Japan, aber auch auf multilateraler Ebene, ansons­ ten kaum mit gewichtigen Machtaspekten profilieren kann. Gerade dieser letzte Gesichtspunkt zeigt nochmals, dass die angesprochenen Nut­ zenebenen von Kulturindustrie nicht nur für Korea von Relevanz sind, sondern dass ein Erkenntnisinteresse daran, wie und unter welchen Umständen die Kulturindus­ trien in Korea so eindrucksvoll gewachsen sind, von universaler Tragweite und auch andernorts von Interesse ist (so etwa jüngst im Rahmen von UNCTAD-Diskussionen, siehe O‘Connor 2019). Für den folgenden Beitrag ergibt sich daraus die Leitfrage nach den Entstehungsbzw. Erfolgsfaktoren der Kulturindustrien in Korea. Abschließend soll auch gefragt werden, was daraus für die Bedeutung bzw. Perspektiven dieser Entwicklungen folgt. Aus diesen Fragestellungen ergibt sich folgender Gedankengang für diesen Bei­ trag: Im folgenden zweiten Kapitel sind zunächst einige Vorfragen zu klären. Zum ei­ nen ist insbesondere der bisher nicht näher spezifizierte Begriff der Kulturindustrien zu erläutern, zum anderen ist das methodische Vorgehen des Hauptteils zu begrün­ den. Wir nutzen Michael Porters Diamanten-Modell (Porter 1991) als Referenzrahmen zur Erfassung der Entstehungs- bzw. Erfolgsfaktoren im Rahmen einer explorativen Fallstudienanalyse, die wichtige Faktoren nicht durch eine zu enge theoretische Per­ spektive übersehen soll. Nach einem Überblick über die koreanischen Kulturindus­ trien in Kapitel 3 widmet sich das vierte Kapitel dann den zwei detaillierteren Fallstu­ dien Rundfunk und Online-Gaming. Die Ergebnisse werden schließlich in Kapitel 5 zusammengeführt.

Jenseits der Werkbank: Aufstieg der Kulturindustrien in Ostasien am Beispiel Koreas

| 149

2 Begrifflichkeiten und methodische Vorüberlegungen Dieser Abschnitt geht auf die Begrifflichkeiten und die methodischen Vorüberlegun­ gen ein.

2.1 Zum Verständnis des Begriffs Kulturindustrien Der Begriff der Kulturindustrie wurde von Horkheimer und Adorno in einem Kapitel ihrer Dialektik der Aufklärung (1947) in die akademische Debatte eingeführt. Sie wer­ fen darin einen kritischen Blick auf den sog. Spätkapitalismus, in dem die Kultur zur Ware bzw. kommodifiziert werde. In der Folge verlor der Begriff der nun oft im Plural genannten Kulturindustrien seine negative Konnotation. Er wurde nun vielfach relativ vordergründig als Produk­ tion und Verbreitung von kulturellen Inhalten verstanden. Im koreanischen Kontext wurden die Kulturindustrien zunächst als Träger heimi­ scher kultureller Inhalte gesehen. Die Militärregierungen sahen ihre Aufgabe darin, diese zu stützen, um das patriotische Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken. Dies änderte sich unter dem ersten zivilen Präsidenten Kim Young-sam (1993–1998), der die Zensur aufhob und es auch den Chaebol erlaubte, in die Kulturindustrien einzu­ treten (Kwon & Kim 2014: 427). Das damalige Ministry of Culture förderte die Kulturin­ dustrien nun auch nicht mehr ausschließlich im Interesse einer national orientierten Kulturbildung, sondern unterstützte aktiv die Entwicklung der Kultur als Industrie mit wirtschaftlichem Mehrwert (Kwon & Kim 2014: 428). Sie wurde von den demokratisch gewählten Regierungen zunehmend als zentral für das Wirtschaftswachstum und die wirtschaftliche Entwicklung angesehen (Kwon & Kim 2013: 518). Damit kam es im Sin­ ne von Jin (2017: 48) zu einer fokussierten Kommerzialisierung von Kulturprodukten. Unter Präsident Roh Moo-hyun (2003–2008) wurden die Kulturindustrien zu ei­ ner der zehn strategischen Industrien für die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung Koreas, und die Integration mit der Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT)-Industrie wurde noch stärker gefördert (Kwon & Kim 2014: 428). Die konserva­ tive Regierung von Lee Myung-bak (2008–2013) setzte die Kulturpolitik der Vorgän­ gerregierungen fort, verschärfte aber den Wirtschaftlichkeitsaspekt im gesamten Seg­ ment der Kulturindustrien. Neologismen in diesem Kontext waren die „kreativen In­ dustrien“, wobei der Fokus auf den Zusammenhang von Kultur und IKT sowie auf den Innovationsgehalt und die Einbringung individueller Fähigkeiten verschoben wurde, sowie bei Lee Myung-bak vor allem die „Content-Industrien“, womit auf wirtschaftli­ che Fragen des industriellen Prozesses abgehoben wird. Park Geun-hye (2013–2017) setzte als Präsidentin wie jeder ihrer Vorgänger ei­ gene Akzente. Ihre Wirtschaftspolitik wurde vom Begriff der „Kreativwirtschaft“ ge­

150 | Diana Schüler und Werner Pascha

prägt, der den Blick u. a. auf arbeitsmarktliche Fragen erweiterte. Unter dem Nachfol­ ger Moon Jae-in (seit 2017) wurde diese Terminologie wieder aufgegeben, wobei sich die inhaltliche Ausrichtung aber wieder nur in Nuancen veränderte. Will man empi­ risch orientiert zu diesem Bereich arbeiten, stößt man zumeist auf Begrifflichkeiten, die sich an der Idee der Content-Industrie(n) orientieren. Die wichtigsten Statistiken beispielsweise, die auch wir hier vornehmlich verwenden, nehmen gerade auf diesen Begriff Bezug. Wir verwenden im vorliegenden Text zwar vor allem den etwas zugäng­ licheren Terminus der Kulturindustrien, orientieren uns bei seiner Definition aber dar­ an, was der Content Industry Promotion Act von 2010 als Content-Industrien identifi­ ziert. Danach geht es um jede Industrie, die durch die Produktion von „Inhalt“ (con­ tent), dessen Verbreitung, verbundene Dienstleistungen u. ä. Wertschöpfung schafft, wobei der Inhalt Daten oder Informationen umfasst, die als Zeichen, Text, Grafik, Farbe, Stimme, Geräusch, Bild, Video o. ä. sowie Komposita davon ausgedrückt wer­ den.

2.2 Zur theoretischen Herangehensweise Eine zweite Frage im Rahmen dieser Vorüberlegungen ist die nach einem hilfreichen theoriebezogenen Referenzrahmen, um die Entstehungs- bzw. Erfolgsfaktoren der Kulturindustrien in Korea zu identifizieren. Da es sich bei dem vorliegenden Beitrag um eine explorative Analyse handelt, ist es sinnvoll, das „analytische Netz“ weit aus­ zuwerfen, um relevante Aspekte nicht zu übersehen. Vor diesem Hintergrund bietet sich Michael Porters bekanntes Diamanten-Modell der Wettbewerbsvorteile an (Por­ ter 1991). Ursprünglich handelt es sich dabei um den Versuch, die Voraussetzungen für erfolgreiche Unternehmensstrategien aus einem nationalen Kontext heraus zu identifizieren. Porter hat damit insbesondere auch Clusterbildungen untersucht und zu erklären versucht, wie ähnlich gelagerte Unternehmen im räumlichen Zusammen­ hang eine erfolgreiche Industrie hervorbringen. Als zentrale Kräfte unterscheidet er dabei: – Faktorkonditionen bzw. die Verfügbarkeit von Produktionsfaktoren, – (inländische) Nachfragekonditionen, – Unternehmensstrategie, Struktur und Wettbewerb, – verwandte und unterstützende Branchen. Dazu kommen als Faktoren – die Rolle des Zufalls sowie – die Rolle des Staates, wobei diese letzteren insoweit einen Sonderstatus beanspruchen, als sie sich mittel­ bar auf alle anderen vier Bereiche auswirken können (vgl. Abbildung 2). Der Ansatz erscheint prima facie tauglich, um zentrale Triebkräfte zu erfassen. Tatsächlich ist er im strategischen Management bis heute sehr verbreitet. Gleichzei­

Jenseits der Werkbank: Aufstieg der Kulturindustrien in Ostasien am Beispiel Koreas

Zufall

| 151

Strategie, Struktur und Wettbewerb

Faktorkonditionen

Nachfragekonditionen

Verwandte und unterstützende Branchen

Staat

Abb. 2: Porters Diamanten-Modell der Wettbewerbsvorteile. Quelle: Eigene Darstellung in Anleh­ nung an Porter (1991).

tig gibt es allerdings auch deutliche Kritik am Diamanten-Modell (inter alia, Penttinen 1994): So seien die benannten Faktoren im Wesentlichen ad-hoc bestimmt; sie ergeben sich nicht aus einem theoretischen Kontext. Zudem werde die Sicht auf eine regional konzentrierte, von einer nationalen Kultur geprägten Heimatbasis einer Industrie vie­ len Fällen, etwa kleinen Ländern, nicht gerecht. Schließlich wird vorgebracht, dass die heute multinationalen Unternehmen über den Heimatmarkt als Basis weit hin­ ausgewachsen seien (inter alia, Ohmae 2005), sodass eine Beschränkung der Analyse auf das nationale Umfeld nicht sinnvoll sei. Das Theoriedefizit ist ernst zu nehmen, verliert im Rahmen einer explorativen Un­ tersuchung aber an Gewicht. Man kann sogar umgekehrt argumentieren, dass beim Versuch einer explorativen Erkundung eines empirischen Phänomens eine verengte Sicht auf einzelne Zusammenhänge dem Erkenntnisgewinn abträglich wäre. Ein möglicher theoretischer Ansatz könnte gleichwohl darin bestehen, auf die Netzwerkeffekte abzuheben, die in vielen Kulturindustrien zu finden sind und die zu einem raschen Wachstum der Branche beitragen können. Zum einen finden sich solche Effekte auf der Nachfrageseite, da die individuellen Entscheidungen hinsicht­ lich des Konsums von Kulturprodukten immer auch von den Konsumentscheidungen des sozialen Netzwerks bestimmt werden (Potts et al. 2008). Netzwerkeffekte ergeben

152 | Diana Schüler und Werner Pascha

sich ferner auf der Angebots- bzw. Produktionsseite (McIntyre & Srinivasan 2017), bei­ spielsweise durch die Nutzung von Plattformen für die Verbreitung digitaler Produkte ohne wesentlich ins Gewicht fallende variable Kosten. Dadurch ergeben sich starke Skalierungstreiber in Richtung Wachstum. Während solche Effekte offenkundig rele­ vant sind, erklären sie doch nicht hinreichend, warum ausgerechnet ein Land wie Ko­ rea diese Netzwerkvorteile so außerordentlich erfolgreich für sich nutzen kann. Wir werden von daher solche Netzwerkphänomene zwar beachten, uns aber nicht auf sie beschränken. Dies könnte sonst dazu führen, etwa die Rolle der staatlichen Indus­ triepolitik, die für Korea oft als so entscheidend gesehen wird (grundlegend: Amsden 1989), oder die Bedeutung historischer Zufälle zu vernachlässigen. Noch in einer anderen Hinsicht nehmen wir die Kritik an Porter ernst, nämlich im Hinblick auf seine Fokussierung auf nationale Zusammenhänge. Tatsächlich kann es gerade bei relativ kleinen Volkswirtschaften zu einer zentralen Frage werden, wo und wie beispielsweise nicht selbst produzierte Vorprodukte erworben werden können oder wie, im Fall Koreas besonders relevant, der Absatzmarkt über den beschränkten heimischen Markt hinaus ausgedehnt werden kann. Für das Phänomen der „Welle“ an koreanischen Kulturprodukten (sog. Hallyu oder koreanische Welle) mit weltwei­ ter Verbreitung ist dies ja gerade zentral. Bei einem mit Porter verwandten Konzept wird gerade auf solche Effekte besonders abgehoben, nämlich bei dem sog. Führungs­ märkte-Ansatz (Beise 2004). Neben angebotsseitigen Faktoren hebt er insbesondere auf die Verbreitung im internationalen Rahmen und die Rolle der dortigen Abnehmer, die Neuerungen zugetan sind, ab. Im Rahmen eines solchermaßen offen verstande­ nen Porter-Referenzrahmens werden wir von daher Aspekten wie der internationalen Verbreitung und den beobachtbaren Netzwerkeffekten besondere Aufmerksamkeit widmen.

3 Die koreanischen Kulturindustrien Im Folgenden werden zur Veranschaulichung einige Statistiken der koreanischen Kul­ turindustrien insgesamt und der beiden Fallbeispiele aufgezeigt.

3.1 Das Spektrum der Kulturindustrien und die Perspektive auf ausgewählte Teilbranchen Die koreanischen Kulturindustrien in dem in Kapitel 2 definierten Sinne umfassen ent­ sprechend der offiziellen Listung durch die staatlichen Behörden, die sich dabei des Begriffes der Content-Industrie bedient, insgesamt elf Branchen: das Verlagswesen, die Comic-Industrie, die Musikindustrie, die Computerspieleindustrie, die Filmindus­ trie, die Zeichentrickindustrie, die Rundfunkdienste, die Werbeindustrie, die „Cha­

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Tab. 1: Branchen der Kulturindustrien in Südkorea. Quelle: Contents Industry Statistical Survey 2019. Branche

Teilbereiche

Anteil an der Wertschöpfung der Kulturindustrie 2018

Verlagswesen

Verlage, Druckereien, Verlagsgroß- und Einzelhandel, indirekter Onlineverlagsvertrieb, Verlagsverleihwesen

18,7 %

Comic-Industrie

Comicverlage, Onlinecomicproduktion und indirekter Vertrieb, Comicbücherverleih, Comic Groß- und Einzelhandel

0,9 %

Musikindustrie

Musikproduktion, Musik- und Audiotitelverlage, Tonträgerreproduktion und -direktvertrieb, Tonträgergroß- und -einzelhandel, indirekter Onlinemusikvertrieb, Musikveranstaltungsunternehmen, Betriebe zur Gesangsschulung

4,4 %

Computerspiele­ industrie („Gaming“)

Spieleproduktion und -direktvertrieb, indirekter Spielevertrieb

13,0 %

Filmindustrie

Filmproduktion, -unterstützung und -vertrieb, digitaler Onlinevertrieb

5,6 %

Zeichentrickindustrie

Animationsproduktion, direkter und indirekter Zeichentrickvertrieb, Onlinezeichentrickvertrieb

0,5 %

Rundfunkdienste

Antennen-, Satelliten- und Kabelfernsehen, Fernsehkanalnutzungsanbieter, Rundfunkmedienproduktion, Internetmedienproduktion

13,7 %

Werbeindustrie

Werbeagenturen, Werbeproduktion, Werbedienstleistungen, Druckereien, Onlinewerbeagenturen, Agenturen für Außenwerbung

11,3 %

„Character“-Industrie

„Character“-Produktion, „Character“-Merchandisevertrieb

10,5 %

Wissensinformations­ industrie

E-Learningunternehmen, Anbieter von sonstigen Datenbanken und Onlineinformationen, Vermittlungsdienstleistungen von Portalen und sonstigen Internetinformationen, Virtual Worldund Virtual Reality-Unternehmen

16,6 %

Content-SolutionIndustrie

Content-Lösungsunternehmen, Computergraphikhersteller

4,8 %

racter“-Industrie, die Wissensinformationsindustrie und die Content-Solution-Indus­ trie. Innerhalb dieser Grobgliederung werden verschiedene Teilbereiche unterschie­ den (vgl. Tabelle 1).

154 | Diana Schüler und Werner Pascha

Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass das Feld der Kulturindustrien recht heterogen ist. Zum einen umfasst es in der Öffentlichkeit gut wahrnehmbare Endpro­ dukte wie Filme oder Onlinespiele, zum anderen entlang der Wertschöpfungskette vorgelagerte Vor- und Zwischenprodukte wie z. B. Anbieter von Computergrafik. Hin­ sichtlich der Endprodukte gibt es eine ausgeprägte horizontale Struktur. Laterale Ver­ bindungen gibt es aber teilweise dadurch, dass, vom Endprodukt her gedacht, der Öffentlichkeit bekannte Unterhaltungskünstler in verschiedenen Formaten eine Rolle spielen, z. B. als Sänger, Schauspieler oder Werbeträger. Trotz solcher Bezüge wäre eine genauere Analyse der Gesamtindustrie im Er­ gebnis zu konturlos und geriete zu oberflächlich. So ist der Einfluss internationaler Konkurrenz oder Endnachfrage in verschiedenen Teilbranchen sehr unterschiedlich. Auch regulative Vorgaben und Fördermaßnahmen seitens des Staates weisen mar­ kante Unterschiede auf. Wir entscheiden uns deshalb dafür, zwei Teilbranchen einer genaueren Untersu­ chung zu unterziehen. Wir wählen einmal die Rundfunkdienste, vornehmlich wegen ihrer starken öffentlichen Wahrnehmung sowie ihrer Verankerung und Sichtbarkeit in der Konsumnachfrage. Es ist davon auszugehen, dass gerade in solchen Feldern die positiven Externalitäten auf andere Bereiche wie den Tourismus besonders stark sind, was das Interesse an den Kulturindustrien nachhaltig begründet. Dazu kommt als zweite Teilbranche die Gaming-Industrie („Games“). Sie ist hinreichend verschieden von den Rundfunkdiensten, um eine interessante Varianz zu schaffen, und zeichnet sich gleichzeitig durch ein besonders starkes Exportwachstum aus, was unten noch näher gezeigt wird. Im Folgenden zeigen wir zunächst einmal die Wertschöpfung und die Exportbei­ träge der Kulturindustrien auf. Danach folgt die Darstellung im internationalen Ver­ gleich. Dabei gehen wir besonders auch auf die ausgewählten zwei Fallstudien ein.

3.2 Wertschöpfung und Export der Kulturindustrien Die Gesamtbranche hat in den zurückliegenden Jahrzehnten einen markanten Auf­ stieg genommen. Hinsichtlich der Wertschöpfung sind die Kulturindustrien insgesamt allein zwischen 2005 und 2018 um ca. 130 % gewachsen (vgl. Abbildung 3). Während ihr Anteil am BIP 2005 noch 2,39 % ausmachte, stieg er bis zum Jahr 2012 auf 2,77 %, was wahrscheinlich nicht zuletzt auf den unerwarteten globalen Hype um den Song Gangnam Style des Sängers Psy und dessen positive externe Effekte auf andere Bran­ chen der Content-Industrie zurückzuführen ist. 2018 lag der Anteil der Content-Indus­ trie am BIP bei 2,66 %, ein Plus von knapp 0,27 Prozentpunkten gegenüber 2005. In absoluten Zahlen belief sich die Wertschöpfung der gesamten Kulturindustrien 2018 auf 47,45 Bio. KRW (ca. 44,8 Mrd. US-Dollar). Dieser Betrag leistet zwar noch einen eher bescheidenen Beitrag zur gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung, etwa im Ver­ gleich zum produzierenden Gewerbe, welches im Jahr 2018 ca. 26,6 % der Wertschöp­

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| 155

50 45 40

Billion KRW

35 30 25 20 15 10 5 0 2005

2006

2007

2008

2009

Rundfunk

2010 Games

2011

2012

Sonstiges

2013

2014

2015

2016

2017

2018

Gesamte Kulturindustrie

Abb. 3: Wertschöpfung der Kulturindustrien. Quelle: Contents Industry Statistical Survey 2011, 2016, 2019. „Sonstiges“ umfasst die Kulturindustrie ohne die Branchen Rundfunk und Games. Daten vor 2005 nicht verfügbar.

fung ausmachte (World Bank 2020), doch schließen diese Zahlen eben noch nicht die schwer zu quantifizierenden positiven externen Effekte ein. Obwohl die Branchen Rundfunk und Games 2018 insgesamt nur 0,71 % zur ge­ samtwirtschaftlichen Wertschöpfung beitrugen, was ca. 12,68 Bio. KRW entspricht, so machte dies immerhin mehr als ein Viertel (26,7 %) des Beitrags der Kulturindustrien am Bruttoinlandsprodukt (BIP) aus. Auch der Export der Kulturindustrien ist seit 2005 stetig gestiegen (vgl. Abbil­ dung 4). Betrug der absolute Ausfuhrwert aller Kulturindustrien 2005 noch rund 1,3 Mrd. US-Dollar, so stieg er bis 2018 auf 9,6 Mrd. US-Dollar an (+639 %), was in­ zwischen einem Anteil von 1,59 % am koreanischen Export entspricht. 2005 lag der 12

Milliarde USD

10 8 6 4 2 0 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 Rundfunk

Games

Sonstiges

Gesamte Kulturindustrie

Abb. 4: Export der Content-Industrie. Quelle: Ministry of Culture, Sports and Tourism, Contents In­ dustry Statistical Survey (2011, 2019); Jin (2017: 49). Daten für die gesamte Kulturindustrie vor 2005 nicht verfügbar; Daten für Musik und Games vor 1998 nicht verfügbar.

156 | Diana Schüler und Werner Pascha

Anteil noch bei 0,46 %, 2015 wurde die 1 %-Marke überschritten. Der Anteil hat sich also in gut zehn Jahren mehr als verdreifacht. Auch beim Export ist der direkte Beitrag der Kulturindustrien vergleichsweise gering, doch werden auch bei den Ausfuhrsta­ tistiken die potenziell markant positiven externen Effekte auf andere Exportgüter ausgeblendet. Statistisch ist der stetige Anstieg der Exporte hauptsächlich durch den Beitrag der Gaming-Industrie zu erklären, was nochmals ihre Auswahl als Fallstudie unter­ streicht. Zum Beispiel kann der steile Anstieg der kulturindustriellen Exporte um 46,7 % im Jahr 2017 gegenüber dem Vorjahr auf den massiven Erfolg der Videospiele Compass und Crusader Quest von NHN Entertainment und Lineage M von NCSoft in Japan zurückgeführt werden, was die Exporte der Spieleindustrie um 80,7 % an­ stiegen ließ (Kim & Kim 2017). Im Jahr 2018 machten die Exporte der Spieleindustrie daher zwei Drittel (66,7 %) der Exporte der Content-Industrie aus; 2005 waren es noch 43,4 %. Der andere hier besonders interessierende Bereich, Rundfunk, leistet mit 5 % deutlich geringere Beiträge. Allerdings stieg auch hier zwischen 2005 und 2018 das Exportvolumen stark an, und zwar um 292,9 %. Mehr als ein Drittel der Exporte gehen nach China, Hongkong und Taiwan („Grea­ ter China“) (vgl. Abbildung 5). Ein Fünftel erreicht Japan und 13 % Südostasien. 16 % werden nach Nordamerika exportiert, was im Vorjahr mit 9,4 % noch deutlich niedri­ ger war. Lediglich 7 % finden den Weg nach Europa und andere Länder. Ein genauerer Blick auf die Exportregionen der zwei Branchen Rundfunk und Games offenbart interessante strukturelle Unterschiede. Während sich die Rundfunk­ exporte, d. h. im Wesentlichen TV-Produktionen, mit 22 % und 34 % auf Greater China und Japan verteilen, gibt es eine gravierend andere Verteilung bei den Ausfuhren der Gaming-Industrie. Fast 46 % der exportierten koreanischen Videospiele werden nach Greater China geliefert und nur 14 % nach Japan. Dieser Unterschied mag teilweise in dem Exportverbot koreanischer Kulturgüter nach China, einschließlich TV-Serien, Musik und Filme, aber ausschließlich Games, als Folge eines diplomatischen Konflikts zwischen Korea und China seit 2016 begründet sein. Erst kürzlich wurde das Export­ verbot gelockert (Shin & Kim 2020). Jeweils ca. 10 % der Exportgüter gehen nach Südostasien. Exporte nach Nordame­ rika belaufen sich auf 7 % in der Rundfunkbranche und der Gaming-Industrie (vgl. Abbildung 5).

3.3 Internationaler Vergleich Ein internationaler Vergleich der gesamten koreanischen Kulturindustrien mit den entsprechenden Industrien anderer Länder erscheint naheliegend. Haben sie (tat­ sächlich) ein besonderes Gewicht im Weltmaßstab? Ist ihre Bedeutung in Korea au­ ßergewöhnlich groß, oder entspricht sie doch eher dem Durchschnitt? Die dafür not­ wendigen Vergleiche gestalten sich aufgrund definitorischer Unterschiede allerdings

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Games Andere 7% Europa 7%

Nordamerika 16 %

Greater China 46 %

Südostasien 10 % Japan 14 % Rundfunk Andere 14 % Europa 1%

Greater China 22 %

Nordamerika 20 %

Japan 34 %

Südostasien 9%

Kulturindustrie insgesamt Andere 7% Europa 7% Greater China 37 % Nordamerika 16 %

Südostasien 13 % Japan 20 %

Abb. 5: Export nach Regio­ nen. Quelle: Ministry of Cul­ ture, Sports and Tourism, Contents Industry Statisti­ cal Survey (2019). Greater China umfasst die Volksre­ publik China, Hongkong und Taiwan.

158 | Diana Schüler und Werner Pascha

als schwierig, sind letztlich kaum aussagefähig. Obwohl sich UNDP und UNESCO als internationale Organisationen um das Thema bemühen, zumeist unter dem Terminus der „kreativen Industrien“, wurde mit dem Sonderbericht von 2013 nach Auffassung vieler Beobachter keine befriedigende statistische Erfassung geleistet; auch der neu­ este Bericht der UNCTAD von 2018 mit Daten bis 2015 ist wenig aussagefähig, da der gewählte Güterraum deutlich zu weit ist: Dort scheint sich eine dominante Position Chinas bei den Weltexporten darzustellen, die sich aber nicht zuletzt durch solche „Kulturgüter“ wie Möbel, Keramik oder Spielzeuge ergibt (UNCTAD 2018; O‘Connor 2019: 3). Natürlich versucht auch Korea selbst, seine Kulturindustrien global einzuordnen. Laut dem von der Korea Creative Content Agency publizierten Bericht „2019 Foreign Contents Market Analysis“, welcher sich auf verschiedene Datenquellen, hauptsäch­ lich aber auf den Global Entertainment & Media Outlook von PwC, stützt, liegt Korea im weltweiten Vergleich der gesamten Kulturindustrien mit einem Marktvolumen von 62,3 Mrd. US-Dollar im Jahr 2018 auf Platz 7, hinter den USA, China, Japan, Deutsch­ land, Großbritannien und Frankreich (KOCCA 2019: 12). Ein Vergleich der in dieser Studie näher betrachteten Branchen Rundfunk und Games ist insbesondere hinsichtlich der erzielten Inlandsumsätze möglich. Im Bereich der Videospiele liegt Korea laut dem Newzoo 2020 Global Games Market Report (Newzoo 2020) mit einem geschätzten Umsatz von 6,5 Mrd. US-Dollar auf Platz 4 im internationalen Vergleich hinter China, den USA und Japan und vor Deutschland. Pro Kopf liegt Südkorea jedoch auf Platz 2 hinter Japan. Laut dem britischen Ofcom International Communications Market Report 2017 (Ofcom 2017: 99) erzielte die koreanische Fernsehbranche 2016 einen Umsatz von 140 GBP pro Kopf (ca. 190,4 US-Dollar), was insgesamt ca. 7,2 Mrd. GBP (9,8 Mrd. US-Dollar) entspricht. Damit liegt die koreanische TV-Industrie im internationalen Vergleich zwar nur auf Platz 8.; nach Einnahmequellen betrachtet liegt Südkorea in der Kategorie Abonnements („Subscription“) mit 92 GBP (125,1 US-Dollar) pro Kopf allerdings auf Platz 3 hinter den USA und Schweden. Insgesamt erhärten solche Vergleiche den Eindruck einer starken Position vieler Segmente der koreanischen Kulturindustrien auch im Weltvergleich, selbst wenn die statistischen Basisdaten keine wirklich befriedigenden Aussagen oder aussagefähi­ ge Standardanalysen, etwa die Berechnung von Indexwerten für offenbarte Wettbe­ werbsvorteile, zulassen.

4 Fallstudien Im Folgenden werden die Branchen Rundfunkdienste und Gaming-Industrie im Hin­ blick auf die Entstehung ihrer nationalen Wettbewerbsstärken untersucht. Dafür wer­ den die einzelnen Faktoren des Diamanten-Modells nach Porter analysiert. Die Rei­

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henfolge der untersuchten Faktoren ergibt sich danach, wie die „Story“ der entspre­ chenden Branche am besten vermittelt werden kann.

4.1 Rundfunkdienste 4.1.1 Die Branchenentwicklung und die Rolle des Zufalls Koreanische Fernsehdramen haben relativ früh Aufmerksamkeit erfahren. Sie stellen ein zentrales Produkt der Rundfunkdienste dar, auf das wir hier auch im Wesentlichen abheben. Nachdem bereits in den 1990er Jahren einige Serien im asiatischen Ausland Erfolge verzeichneten, gewann die koreanische Welle durch die Megahits Autumn Fai­ ry Tale (2000, Fernsehprovider KBS), Winter Sonata (2002, KBS) und Jewel in the Pa­ lace (2003, MBC) in den 2000er Jahren weiter an Dynamik (Jin & Yoon 2016: 1278). In Japan wurde insbesondere Winter Sonata zu einem interkulturellen Phänomen, welches die Nachfrage nach koreanischen Dramen nachhaltig ankurbelte (Lee & Ju 2010: 78). Ungefähr ein Jahrzehnt später wurde ein weiterer Meilenstein gesetzt, als 2016 das Drama Descendants of the Sun (2016, KBS) nicht nur in andere Länder ex­ portiert wurde, sondern als erstes Drama überhaupt simultan in China ausgestrahlt wurde. Diese und viele andere koreanische TV-Produktionen sind mittlerweile auch über westliche Streamingplattformen in Europa und Nordamerika verfügbar. Ein entscheidender Zufall für einen starken Entwicklungsschub für die koreani­ sche Rundfunkbranche war ironischerweise die Asiatische Finanzkrise von 1997/98, welche die einheimische Wirtschaft empfindlich traf. Da Korea krisenbedingt die De­ visen für den Import ausländischer Produktionen fehlten, forcierte die Film- und Fern­ sehbranche des Landes die lokale Produktion (Jin 2017: 48). Dadurch entstanden ein­ zigartige Fernsehformate wie Serien („Dramen“) und Unterhaltungsshows, die bald in die ebenfalls von der Asienkrise betroffenen Länder exportiert werden konnten, da auch dort die Nachfrage nach günstigen, aber hochwertigen Alternativen zu den teuren japanischen oder US-amerikanischen TV-Produktionen angestiegen war (Jin 2017: 48).

4.1.2 Nachfragekonditionen Bis Ende der 1980er Jahre wurden die gesamten Kulturindustrien streng durch das koreanische Militärregime kontrolliert. Im Zuge der landesweiten Demokratiebewe­ gung wurde die Medienzensur ab 1988 jedoch gelockert (Park 2002: 121), sodass sich die Nachfrage verschob: Die größere Meinungsfreiheit führte zu einer verstärkten inländischen Nachfrage nach Dramen und Filmen mit Bezug zu sozialen und poli­ tischen Themen (Kwon & Kim 2013: 522). Für den Erfolg koreanischer TV-Produktio­ nen im asiatischen Ausland seit Ende der 1990er Jahre war jedoch laut Jin (2018: 412)

160 | Diana Schüler und Werner Pascha

die wahrgenommene kulturelle „Reinheit“ (purity) entscheidend. Damit ist gemeint, dass aus dem heimischen, nicht aus dem westlichen Kontext stammende Themen, Werte und emotionale Haltungen bedient werden, was sich auch auf das Agieren der Schauspieler, ihr Wort- und Mienenspiel, die Einbindung von Natur u. ä. auswirkt. Metaveevinij (2008: 112) und Shim (2008: 224 f.) führen zudem an, dass insbesondere historische Dramen auf in Asien geläufigen Werten basieren, beispielsweise konfu­ zianistische Elemente behandeln, mit denen sich die Konsumenten und gerade auch Konsumentinnen anderer asiatischer Länder identifizieren können, bzw. dies – so würden wir ergänzen – zumindest eine interessante Alternative zu westlichen Be­ ziehungsthemen bildet. Beispielsweise portraitierte das historische Drama Jewel in the Palace (2003, MBC) die traditionelle koreanische Kultur am Königshof mit ihren eigentümlichen sozialen Beziehungen und wurde damit im Ausland zu einem kom­ merziellen Erfolg. Das Drama Winter Sonata (2002, KBS) war insbesondere in Japan extrem erfolgreich, da sich „asiatische“ Motive etwa zu familiärer Bindung, Freund­ schaft, Loyalität gegenüber Gesellschaft und Nation sowie zarten Formen unschul­ diger Liebe in dem Drama manifestierten; diese waren, so argumentieren Lee und Ju (2010: 87 ff.), in der stark verwestlichten japanischen Gesellschaft in den Schatten gerückt und somit in japanischen Kulturprodukten kaum thematisiert (Metaveevinij 2008: 110). Der Erfolg von „K-Dramen“ im Westen in jüngster Zeit wird ebenfalls da­ mit in Zusammenhang gebracht, dass diese weniger brutal und sexualisiert seien als westliche Serien (Lee 2018: 370). Gleichzeitig erweckte Winter Sonata bei japanischen Frauen mittleren Alters ein Gefühl von Nostalgie nach vergessenen Sehnsüchten jüngerer Jahre (Lee & Ju 2010: 93). Westlichen Zuschauerinnen jüngeren Alters bieten K-Dramen durch die optische Attraktivität der männlichen Hauptdarsteller eine Maskulinität, die mit dem westlichen Klischeebild des Machos kontrastiert, und durch die fantasiereichen (Liebes-)Geschichten einen Eskapismus aus der realen westlichen Alltagsroutine (Lee 2018: 371 f.). Insbesondere die visuelle Attraktivität der Darsteller und der Erzählty­ pus der sog. Aschenputtel-Geschichte, dessen sich viele Dramen bedienen, findet Anklang bei nicht-koreanischen Zuschauern bzw. –innen (Metaveevinij 2008: 111 ff.). Hierzu merken Jin und Yoon (2016: 1287) und Lee (2018: 372) an, dass diese oft sehr ste­ reotypisch und vorhersehbar sind – was allerdings nicht ausschließt, dass Zuschau­ er gerade diese Vorhersehbarkeit, eine Happy-End-Garantie sozusagen, besonders schätzen.

4.1.3 Strategie, Struktur und Wettbewerb Die Qualität von TV-Produktionen stieg um 1990 an, als zu den bis dahin dominieren­ den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten Korea Broadcasting System (KBS) und Munhwa Broadcasting Corporation (MBC) ein neuer privater Wettbewerber, und zwar das Rundfunknetzwerk Seoul Broadcasting System (SBS), den Markt betrat (Kwon &

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Kim 2013: 527). Zudem wurden Kabel- und Satellitenfernsehsender gegründet, was die Konkurrenz belebte. Im Zuge der Verteilung 20 neuer Sender für die Kategorien Nachrichten, Filme, Sport, Kultur etc. im Jahr 1993 erhielten die Chaebol Samsung, Daewoo und Hyundai die kommerziell lukrativsten (Shim 2002: 338). Samsung bei­ spielsweise bediente den einzigen Pay-TV Kanal für Filme (Catch One) und einen für Dokumentationen (Q Channel) (Shim 2002: 338). Da das damalige Angebot koreani­ scher TV-Produktionen jedoch noch nicht ausreichte, um die Sendezeiten zu füllen, entbrannte unter den Chaebol ein kostspieliger Wettbewerb um Hollywood-Filmpro­ duktionen und Lizenzvereinbarungen mit ausländischen Rundfunkanstalten (Shim 2002: 344 f.). Im Zuge der Restrukturierung nach der Asiatischen Finanzkrise zogen sich die meisten Chaebol aus der Film- und Fernsehbranche zurück, um sich wieder auf ihr Kerngeschäft zu fokussieren (Shim 2002: 347). Eine Ausnahme bildet hier das Chaebol Chaeil Jedang (CJ), ursprünglich Samsung zugehörig, wovon es sich 1993 abspaltete (CJ Website 2020). CJ trat 1995 in die Enter­ tainmentindustrie ein und ist mittlerweile in der Fernseh-, Film-, Musikbranche aktiv. 2006 wurde beispielsweise der Kabelsender tvN gegründet, der zu CJ ENM E&M Div. gehört. Auf tvN wurden u. a. Reply 1988 (2015/16), Goblin (2016/17) und Mr. Sunshine (2018) ausgestrahlt, die zu den Dramen mit den höchsten Einschaltquoten im korea­ nischen Kabelfernsehen gehören. Mit der Deregulierung der Medienindustrie durch Änderungen des Broadcasting Act 2009 wurde es auch branchenfremden Unternehmen ermöglicht, in die Rundfunk­ branche einzutreten (Jang & Pinansky 2011), sodass der Kabelfernsehsender Joongang Tongyang Broadcasting Company (JTBC) 2011 von der Nachrichtenagentur JoongAng Ilbo gegründet werden konnte.¹ Durch die Dramen Sky Castle (2018/19), Itaewon Class (2020) und The World of the Married (2020) wurde auch JTBC zu einem erfolgreichen Kabelsender. Des Weiteren wurde es durch Änderungen im Broadcasting Act im Jahr 2000, der Einführung des Digitalfernsehens und der Ausweitung des Internets zu Beginn der 2000er für Telekommunikationsunternehmen wie Korea Telecom (KT), SK Telecom, Hanaro Telecom und Dacom möglich, in die Rundfunkbranche einzutreten, wodurch innovative Dienstleistungen wie netzwerkbasierte Rundfunkdienste (Internet Proto­ koll-TV, IPTV), oder Video on Demand (VOD) Dienste angeboten werden konnten (Kim 2005). Insgesamt ist der koreanische Rundfunkmarkt also durch starke Wettbewerbs­ kräfte geprägt, nicht zuletzt dadurch, dass zusätzliche finanzstarke Unternehmen in den Markt eintreten konnten und durch neue Technologien zusätzliche Dynamik ver­ ursacht haben. Gerade in der Frühphase war es hilfreich, dass der Markt durch kultu­

1 JTBC wurde Quasi-Nachfolger der Tongyang Broadcasting Corporation (TBC), welcher 1964 von Samsung gegründet wurde, aber 1980 zur Fusion mit KBS gezwungen wurde. Die Nachrichtenagentur JoongAng Ilbo gehörte ebenfalls bis 1999 offiziell zur Samsung Gruppe.

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relle, aber auch regulatorische Schranken von übermächtigen ausländischen Anbie­ tern isoliert bleiben konnte, ohne der internen Wettbewerbsdynamik zu schaden.

4.1.4 Verwandte und unterstützende Industrien Wie die gesamte Kulturindustrie nutzte auch die Rundfunkbranche seit den späten 1990er Jahren die Infrastruktur der staatlich geförderten IKT-Industrien, insbesondere das Hochgeschwindigkeitsinternet und mobile Netzwerke sowie die Technologien der Elektroindustrie, wodurch ein positiver Kreislauf für alle beteiligten Industrien ent­ stand (Kwon & Kim 2013: 518; 2014: 427 f.). Um die Integration zwischen den Kultur­ industrien, der IKT-Industrie und der digitalen Medienindustrie zu fördern, stellte die Regierung finanzielle und institutionelle Unterstützung bereit, beispielsweise durch gesetzliche Quotenregelungen oder Fördereinrichtungen, die den Unternehmen der Kulturindustrien Zugang zu den neuesten Fernsehern, Computern und Mobiltelefo­ nen ermöglichte (KOCCA 2012 in Kwon & Kim 2014: 431). Speziell um Technologie für die Rundfunk- und Filmbranche zu entwickeln, unterstützte die Regierung seit Mit­ te der 1990er Jahre auch die heimische Industrie für Film- und Videoequipment (Kim 2012 in Kwon & Kim 2014: 431). Neben den positiven Externalitäten dieser Hardware-Industrien auf die Rund­ funkbranche können auch die anderen Branchen der Kulturindustrien als unterstüt­ zend angesehen werden. So gibt es zum einen Crossovers zwischen der Rundfunk­ branche und der Gaming-Industrie, da Videospiele und Gaming-Unternehmen auch in Dramen thematisiert werden, so beispielsweise in Lucky Romance (2016, MBC), Strong Woman Do Bong Soon (2017, JTBC) und Memories of the Alhambra (2018, tvN). Zum anderen beteiligen sich viele K-Pop-Gruppen und Sänger an den Soundtracks von K-Dramen, sodass auch die Musikindustrie eine unterstützende Rolle spielt. Beispielsweise wurde für das Drama Goblin (2016, tvN) der Titel Stay with me von Chanyeol, einem Mitglied der Boyband EXO, und der Sängerin Punch aufgenommen, welcher mit ca. 208 Mio. Aufrufen der Original Soundtrack-Titel mit den meisten YouTube-Aufrufen ist (Stand Mai 2020).

4.1.5 Faktorkonditionen Eines der wichtigsten Elemente bei der Faktorausstattung, welches die Wettbewerbs­ fähigkeit der Rundfunkbranche erhöhte, war die Verbreitung des Internets und der Beginn der Digitalisierung des Rundfunks im Jahr 2001 (Kim 2005: 155), was schließ­ lich zum Ende des analogen Fernsehens im Jahr 2012 führte (Jin 2017: 720). 1997 wurde in Südkorea zum ersten Mal über die Digitalisierung der Rundfunkdienste debattiert. Zunächst nahmen 2001 die vier terrestrischen Sender KBS, EBS, MBC und SBS ihren digitalen Service in Betrieb (Kazuma 2005: 99) und 2002 folgten die Kabelfernsehan­

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bieter (Chung & Kim 2010: 5). Die Digitalisierung ermöglichte es auch Telekommuni­ kationsunternehmen in die Rundfunkbranche einzutreten (Kim 2005: 161), wodurch sich das Internetfernsehen (IPTV) fortwährend ausbreiten konnte. Die Anzahl der Be­ sitzer eines digitalen Fernsehgeräts stieg von 49,7 % im Jahr 2011 auf 90,4 % im Jahr 2019 an (KISDI 2020: 2). Im selben Zeitraum stieg der Anteil der Pay-TV Nutzer die IPTV einsetzen von 11,1 % auf 41,2 %, und der Anteil derjenigen, die Kabelfernsehen nutzen, sank von 72,1 % auf 47,6 % (KISDI 2020: 7). Internationalen Konsumenten wurden koreanische Dramen und Filme durch VOD, d. h. westliche Streamingdienste wie YouTube, Netflix oder Viki Rakuten zu­ gänglich (Jin & Yoon 2016: 1285). Im Jahr 2019 nutzten im Ausland 80,5 % der Befrag­ ten einer Studie YouTube, um koreanischen Dramen zu sehen, 49 % nutzten Netflix (KOFICE 2020: 16).

4.1.6 Staat Aus staatlicher Perspektive wurden die Kulturindustrien bis Anfang der 1990er Jah­ re einzig unter dem Gesichtspunkt der Kultur- und Identitätsbildung gesehen und vor potenziell schädlichen Einflüssen durch ausländische Kulturprodukte geschützt (Jin 2017: 47 f.). Gleichzeitig wurden sie durch die koreanische Militärdiktatur stark zensiert und reguliert; vor allem die Inhalte von Rundfunk- und Musikproduktionen (Kwon & Kim 2013: 519–520). Unter Präsident Park Chung-hee (1961–1979) wurde die gesamte Rundfunkbranche unter KBS und MBC gebündelt, sodass sie gut überwacht und dafür benutzt werden konnte, die Regierung in einem möglichst guten Licht dar­ zustellen (Kwon & Kim 2013: 520). Speziell für die Rundfunkbranche wurde durch den Broadcasting Act 1990 dann eine Quotenregelung für ausländische und heimische Produkte festgelegt, auf deren Basis öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten 80 % und Kabelfernsehsender mindes­ tens 50 % heimische Produktionen zu berücksichtigen hatten; davon mussten wieder­ um 2 bis 20 % von unabhängigen Studios produziert werden (Shim 2008: 2010; Kwon & Kim 2013: 525). Diese Quoten wurden auch im Five-Year Plan for Advanced Broadcas­ ting von 1995 verankert, der sämtliche damalige politische Maßnahmen der Regierung zur Rundfunkbranche bündelte (Shim 2008: 211 f.). Zu Beginn der 2000er Jahre wurde eine stündliche Mindestquote für digitale TVProduktionen eingeführt, um das Wachstum des digitalen Rundfunks zu beschleuni­ gen (MCT 2002 in Kwon & Kim 2014: 431). Unter der Roh Regierung wurde 2006 sogar ein Industriepark namens Digital Magic Space gebaut, der die Produktion von digi­ talen TV-Produktionen mit einer Kapazität von 2.000 Stunden jährlich ermöglichte (Shim 2008: 219; MCT 2007 in Kwon & Kim 2014: 432). Die bereits erwähnte Konvergenz zwischen Kommunikationstechnologien und Rundfunkbranche wurde ebenfalls von der Regierung initiiert.

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Zudem wurde Ende der 1990er das Korean Broadcasting Institute gegründet, ei­ ne an das Ministry of Culture and Tourism angeknüpfte Organisation, die Umfragen und Studien durchführte sowie der Industrie Hardware zu Verfügung stellte (Shim 2008: 214). Mit dem geänderten Broadcasting Act von 2003 wurde die Korean Broad­ casting Commission eingerichtet, deren Zuständigkeiten die Administration, Regulie­ rung und Überwachung der Rundfunkbranche umfasste (Shim 2008: 214). Um den Export von TV-Produktionen zu fördern, stellte die Regierung seit Beginn der 2000er Jahre finanzielle Unterstützung für das internationale Marketing bereit und veranstaltete seit 2001 die International Broadcasting Exhibition mit staatlichen Mitteln (Shim 2008: 218).

4.1.7 Zwischenfazit Nach dem Wegfall der Zensur, einem exogenen Faktor, führten ein intensiver Wett­ bewerb und Preisvorteile gegenüber US- und japanischen Produkten zu einer star­ ken Expansion. Gleichzeitig profitierte die Branche von einer zum Teil überraschend hohen Nachfrage im Ausland, nicht nur aufgrund von Preisvorteilen, sondern ins­ besondere durch den Purity-Faktor, der die Hallyu maßgeblich in Schwung brach­ te. Netzwerkeffekte und Skalenökonomien begünstigten sicher die Dynamik, können ihre Entstehung aber nicht hinreichend erklären. Staatliche Subventionierung war eher zweitranging, wobei einige ordnungspolitische Maßnahmen (z. B. die Änderun­ gen des Broadcasting Act, Förderung der Konvergenz mit IKT und Digitalisierungs­ push) durchaus wichtig waren, um die Geschäftsmodelle zu sichern und voranzubrin­ gen.

4.2 Gaming-Industrie 4.2.1 Die Branchenentwicklung und die Rolle des Zufalls Im Branchenvergleich der Kulturindustrien ist die koreanische Computerspieleindus­ trie besonders kommerziell. Sie hat sich durch Online Games bzw. Mobile Online Games, die in Korea beliebter sind als Konsolenspiele (Jin & Chee 2008: 47), interna­ tional einen Namen gemacht. Mitte der 1990er Jahre wurde mit Kingdom of the Winds des damaligen Startups Nexon das weltweit erste grafikbasierte Multi-User Dungeon (MUD) Spiel entwickelt (Jin & Chee 2008: 38), das zwar kommerziell selbst nicht sehr erfolgreich war, aber wegweisend für die Weiterentwicklung der Technologie und der Industrie wurde. 25 Jahre später ist die Computerspieleindustrie die „Cashcow“ der koreanischen Kulturindustrien. Das Mobile-Massively Multiplayer Online Role-Play­ ing Game (MMORPG) Lineage M führte 2017 zu einem Rekordumsatz von 1,6 Mrd. US-Dollar für den Spieleentwickler NCSoft (Bertits 2018). Es stand damit für den Wan­

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del des MMORPG-Genres in Südkorea: weg von PC-Spielen und hin zu Mobile Games (Bertits 2018). Bis zum Beginn des kommerziellen Internets in Korea 1994 hatten lediglich ein paar Forschungs- und Bildungseinrichtungen Zugang zum Internet, welches sich noch in der Anfangsphase befand, aber für die Entwicklung von Online Games zen­ tral war (Chon et al. 2005). So kam es, dass am Korea Advanced Institute of Science und Technology (KAIST) und an der Seoul National University (SNU) einige Studen­ ten in ein Forschungsprojekt zur Weiterentwicklung von MUDs involviert waren (Wi 2015: 330). MUDs sind textbasierte Vorgänger von grafischen Online Games, die in den 1980er Jahren entwickelt worden waren und als Open Source Codes interessier­ ten Entwicklern zu Verfügung standen (Wi 2009: 86). 1991 konnten einige Studenten des KAIST und der SNU, darunter Jake Song, der spätere Gründer von Nexon und Entwickler von NCSofts Lineage, zufällig einen Blick auf diese MUDs werfen, wobei sie das Potenzial für Online Games erkannten (Wi 2009: 107).

4.2.2 Strategie, Struktur und Wettbewerb Die koreanische Online-Gaming-Branche wird mittlerweile von den „3N“ beherrscht, Nexon, Netmarble und NCSoft, die insgesamt fast die Hälfe des gesamten Umsatzes der Top 54 Gaming-Unternehmen in Korea ausmachen (Lee, J. 2020, vgl. Tabelle 2). Die Top 10 stellen demnach 80 % des Gesamtumsatzes dar, was eine relativ hohe Markt­ konzentration bedeutet. Die Chaebol sind überraschenderweise nicht in der Online-Gaming-Industrie tä­ tig, obwohl deren aggressiver Vorstoß in diverse Wirtschaftsbranchen ein eigentlich typisches Problem für junge Industrien in Korea darstellt. Der Grund liegt darin, dass der Versuch der Chaebol, Anfang der 1990er Jahre in die stark regulierte und vor japa­ nischer Konkurrenz geschützte Videospieleindustrie einzutreten, scheiterte (Casson & Park 2015: 627). Massive Piraterie von lizensierter Spielesoftware und illegaler Handel von importierten Konsolen führte zu schrumpfenden Umsätzen, weshalb die Techno­ logie nicht vollständig absorbiert und neue Spiele nicht entwickelt werden konnten (Casson & Park 2015: 627). Somit blieb die Spielesoftware für die Konsumenten un­ attraktiv (Yoshimatsu 2005: 159). Aufgrund des Importverbots konnten sich japani­ sche Konsolenspiele in Korea nicht etablieren (Jin & Chee 2008: 47), und sie waren – vermutlich aufgrund der japanischen Dominanz in dem Bereich – in Korea sogar mit einem negativen Image behaftet (Yoshimatsu 2005: 159). Dies ließ den Unternehmen Nexon und NCSoft in den 1990er Jahren genügend Freiraum, den Binnenmarkt mit einer innovativen, von den Chaebol ungenutzten Technologie zu betreten. Da Onlinespiele über Netzwerkverbindungen gespielt werden, können anders als bei Offlinespielen keine Einnahmen über den Verkauf von Konsole oder Spielesoft­ ware generiert werden. Bei MUD Spielen war es zunächst möglich, durch Zugangsge­ bühren zu den Servern Einnahmen zu erzielen; allerdings verlangten die Netzwerk­

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Tab. 2: Top 3 der Gaming-Unternehmen 2019, Umsatz und Gewinn [in Billion KRW]. Datenquelle: Lee, J. (2020). Unternehmen

Gegründet

Umsatz 2019

Gewinn 2019

Mitarbeiter

Nexon Netmarble NCSoft

1994 2000 1997

2,68 2,17 1,70

1,02 0,20 0,48

6.430 802 2.300

anbieter, von denen die Spieleentwickler aufgrund der Infrastruktur abhängig waren, mit ansteigenden Spielerzahlen immer höhere Anteile daran (Wi 2009: 91). Durch die rapide Ausbreitung von sog. PC Bangs (wörtlich: PC Raum; etwa gleich­ bedeutend mit Internet Cafés) entstand eine neue Möglichkeit, nicht den Spielern selbst, sondern den PC Bang-Betreibern eine Gebühr abzuverlangen (Wi 2009: 96). Diese Strategie, die zuerst von NCSoft angewandt wurde, wird „IP Pricing“ genannt (Huhh 2008: 32). Für die Spieler bedeutete dies mehr Flexibilität, da sie zu Hause nicht über einen Highspeed Internetanschluss verfügen und kein Abonnement mit dem Spielehersteller abschließen mussten (Huhh 2008: 33). Eine weitere Innovation waren Mikrotransaktionen durch „Item -Pricing: Hier war der Zugang zum Server oft kostenlos, allerdings mussten innerhalb des Spiels virtuelle Items gekauft werden. Diese Preisstrategie entstand aufgrund wegfallender Werbeeinnahmen nach dem Platzen der dot-com Bubble und wurde bald zum globalen Standard in der OnlineGaming-Industrie (Wi 2009: 100; Chon et al. 2013: 14; Wi 2015: 329). Im Hinblick auf die strategische Konzeption der Spiele selbst entstanden zum ei­ nen die erfolgreichen MMORPG, die auf regelmäßige Spieler, meist junge Männer (Wi 2009: 98), abzielten. Zum anderen betraten zeitgleich Spieleportale wie Han Game die Szene, die digitale Versionen von traditionellen Spielen wie Go-Stop, Schach bzw. Poker anboten (Wi 2015: 333). Diese Onlinespiele konnten auch Gelegenheitsspieler, Frauen und Ältere begeistern. Die Gaming-Industrie ist also durchaus in sich hetero­ gen und zielt ab auf verschiedene demografische Gruppen. Für den internationalen Erfolg der koreanischen Gaming-Industrie waren die kulturelle Hybridisierung und die Glokalisierungsstrategie entscheidende Faktoren. Laut Jin (2011: 132) expandierte der Spieleentwickler NCSoft mit Niederlassungen nach Nordamerika und Europa, um dort die Online Games besser vermarkten zu können. Gleichzeitig wurden in den MMORPG oft koreanische und westliche Kultur vermischt, beispielsweise wurde im Spiel Lineage eine mittelalterliche europäische Kulisse mit koreanischen Themen und Werten kombiniert, was das Spiel nicht nur für Koreaner unterhaltsam machte (Jin 2011: 132). Interessanterweise funktionieren solche Spiel­ ideen nicht über kulturelle „purity“ wie bei den erfolgreichen TV-Dramen, sondern durch ihren die Fantasie anregenden kulturellen Hybridansatz.

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4.2.3 Verwandte und unterstützende Industrien Mehr noch als die meisten anderen Branchen der Kulturindustrien haben die GamingUnternehmen von der Konvergenz mit dem Informations- und Kommunikationssektor profitiert, der seit den frühen 1990er Jahren stark expandierte. Schon damals trug die Herstellung von Computern, Elektronik und optischen Produkten („ICT Manufactu­ ring“) fast 1 % zum aggregierten Produktivitätswachstum in Korea bei, deutlich mehr als in den meisten anderen OECD-Ländern (OECD 2003: 8). Im Jahr 2013 lag der An­ teil von ICT Manufacturing an der Wertschöpfung bei über 7 %, der Anteil des gesam­ ten IKT-Sektors betrug 10 % (OECD 2017: 117). Das Wachstum von IKT-Hardware und Dienstleistungen resultierte insbesondere aus der Konkurrenz zwischen den Chaebol und der Förderung der IKT-Branche durch die koreanische Regierung (Lee 2003). Eine weitere unterstützende Industrie für die frühzeitige Verbreitung von Online­ spielen innerhalb Koreas war die bereits kurz erwähnte PC Bang-Industrie. Sie ent­ stand Mitte der 1990er Jahre, als nur wenige koreanische Haushalte über Internetan­ schluss verfügten, aber die Nachfrage nach Onlinespielen stark anstieg (Chon et al. 2013: 13). Die Anzahl der PC Bangs stieg genauso rasant an wie die Beliebtheit von Online Games, nämlich von ca. 2.500 im Jahr 1998 auf über 22.000 im Jahr 2001 (Huhh 2008: 30), und sie wurden bald zu einem wichtigen Marketingtool für die Spieleent­ wickler (Wi 2009: 96).

4.2.4 Faktorkonditionen Die entscheidendste Faktorkondition für die erfolgreiche Entwicklung der koreani­ schen Online-Gaming-Industrie war wohl die radikale technologische Innovation der Videospielbranche, auf die Korea besonders schnell ansprang. Zum einen be­ stand die technische Grundlage für Onlinespiele aus der Kombination von Serverund Netzwerktechnologie, wodurch es möglich wurde, mit vielen anderen Spielern gleichzeitig zu interagieren, und zwar unabhängig vom physikalischen Ort der Spieler (Wi 2015: 326; Casson & Park 2015: 622). Zwar wurde das weltweit erste textbasierte MUD nicht in Korea, sondern 1978 in Großbritannien entwickelt und kommerziali­ siert; allerdings blieb der Erfolg in westlichen Ländern aus (Wi 2009: 86). Fast zwei Jahrzehnte später aber bereitete Nexon mit dem Spiel Kingdom of Winds 1996 nicht nur den Weg für grafische MUDs (MUG) in Korea, sondern lag dabei auch weltweit an der Technologiegrenze, da die Entwicklung von MUGs in den USA zeitgleich stattfand (Casson & Park 2015: 626). Zum anderen waren die anfänglichen MUG Spiele den damaligen Konsolenspie­ len zwar grafisch unterlegen und wirkten daher recht altmodisch; ein wesentlicher inhaltlicher Unterschied zwischen Konsolen- und Onlinespielen bestand aber darin, dass letztere nicht auf einem vom Entwickler vorgegebenen Spielplan basierten, son­ dern, dass die Handlung des Spiels durch die Spieler selbst bestimmt werden konnte

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(Wi 2009: 84, 87). Dies stellte die Entwickler, die die Handlungen kontrollieren und Störungen fortlaufend beheben müssen, vor neue Herausforderungen. Der Wechsel zu dieser neuartigen Technologie und innovativen Spielweise war für japanische Spie­ leentwickler nicht wirtschaftlich (Wi 2015: 328). Als weitere zentrale Faktorkondition kann die rasante Verbreitung des Internets als Infrastruktur angeführt werden, ohne welches derartige Spiele nicht möglich ge­ wesen wären. Eine primitivere Infrastruktur für netzwerkbasierte Spiele in Korea wur­ de allerdings schon mit den PC Communications-Netzwerken 1986 gelegt (Chon et al. 2005), auf denen textbasierte MUD Spiele zunächst gespielt wurden (Wi 2009: 87). Da diese jedoch in Leistung und Nutzeranzahl begrenzt waren, wurden sie ab Mitte der 1990er mit der Einführung des kommerziellen Internets in Korea obsolet. Entscheidend für die Entwicklung des kommerziellen Internets in Korea war das Korea Information Infrastructure Projekt von 1995, durch das zwischen 1998 und 2000 die technische Grundlage für Breitbandinternet gelegt wurde (Chon et al. 2013: 12). Ab 1998 boten gleich mehrere Unternehmen Breitband-Internetzugang über Telefon- und Kabelfernsehanschlüsse an, was zu intensiver Konkurrenz führte. Dies resultierte in niedrigeren Preisen und einer verbesserten Qualität, was viele Koreaner zum Erwerb eines privaten Breitband-Internetanschluss motivierte (Chon et al. 2013: 13). 2004 hat­ ten bereits 70 % der koreanischen Haushalte einen Breitband-Internetanschluss, und ab 2006 begann der Ausbau der noch schnelleren Fibre-to-the-Home Leitungen (Chon et al. 2005). Dadurch wurde Korea zu einem der am besten vernetzten Länder mit ei­ ner der schnellsten Internetverbindungen weltweit (Statista 2020a). Mittlerweile hat Korea auch das weltweit schnellste mobile Internet (Statista 2020b), was zum Erfolg der Mobile Online Games markant beigetragen hat. Weniger zentral, aber dennoch unabdingbar waren auch die Faktorkonditionen Human- und Finanzkapital. Die Gründer der wichtigsten Gaming-Unternehmen sind allesamt Absolventen der Eliteuniversitäten KAIST und SNU, nicht zuletzt deshalb untereinander gut vernetzt, wodurch sie von den für ein Unternehmertum wichtigen Netzwerkeffekten profitierten (Casson & Park 2015: 623). Daneben spielt auch die Nachwuchsgenerierung von Softwareentwicklern offenkundig eine wichtige Rolle. Aufgrund der innovativen Technologie von Online Games gab es Mitte der 1990er Jahre noch einen Mangel an Ingenieuren mit den geeigneten Fähigkeiten (Casson & Park 2015: 626). Nach ersten Erfolgen der Branche Ende der 1990er Jahre stieg jedoch die Zahl entsprechend qualifizierter IT-Ingenieure an (Wi 2009: 106; Casson & Park 2015: 626). Für Japan, das seinerzeit führend bei Konsolenspielen war und die für die Programmierung notwendigen Fähigkeiten in-house lehrte, war es weitaus schwie­ riger, geeignetes Personal für die neue Technologie bereitzustellen (Wi 2009: 106), sodass Korea seinen Wettbewerbsvorsprung in diesem Segment halten konnte. Die Gründer von Nexon konnten sich für die Entwicklung des ersten MUGs eine Investition von ca. 200.000 US-Dollar durch IBM Korea sichern (Wi 2015: 331). Das Startkapitel anderer Firmen in der noch jungen koreanischen Online-Gaming-Indus­ trie kam hauptsächlich aus privaten Ersparnissen und Geldtransfers. Solche privaten

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Finanzspritzen reichten oft aus, da die Produktionskosten anfangs noch überschau­ bar waren (Casson & Park 2015: 625). Die Onlinespieleentwickler mussten nämlich keine „dinglichen“ Konsolen oder Datenträger produzieren, sondern lediglich die Ser­ ver einkaufen und pflegen. Dies heißt, die Grenzkosten für jeden weiteren Spieler sind bei Online Games quasi null, die Fixkosten sind allerdings vergleichsweise hoch. Bald stiegen jedoch die Ausgaben aufgrund höherer Personalkosten und anspruchsvolle­ rer Technologie (Casson & Park 2015: 625). Einige Unternehmen konnten sich durch das 1996 eingerichtete Aktiensegment KOSDAQ und den Venture Capital Boom um die Jahrtausendwende herum mit ausreichend Kapital versorgen (Kenney et al. 2002: 85, 90; Casson & Park 2015: 625).

4.2.5 Nachfragekonditionen Jin und Chee (2008: 50 ff.) begründen den Erfolg von MMORPG in Korea durch die be­ sonderen Nachfragekonditionen, gewiss auch ein nicht zu vernachlässigender Faktor. Auch dabei spielen die PC Bangs eine wichtige Rolle. Erstens ist die koreanische Gesellschaft gemeinschaftsorientiert, d. h. junge Ko­ reaner verspüren das große Bedürfnis, zu einer Gruppe zu gehören. MMORPG, die in Gruppen, genannt Gilden oder „Blood Alliances“, gespielt werden (Wi 2009: 95), er­ möglichen es, diesen sozialen Faktor auf die Onlinewelt zu übertragen. Gleichzeitig wurde die online-Spielgemeinschaft durch das Zusammenkommen in den physika­ lisch existierenden PC Bangs verstärkt, deren Funktion einem Gemeinschaftszentrum ähnelt (Jin & Chee 2008: 50; Huhh 2008: 31). In erster Linie geht es vielen Jugendli­ chen also gar nicht um das Onlinespiel selbst, sondern um den Gemeinschaftscha­ rakter, der durch das Spiel und die PC Bangs entsteht (Jin & Chee 2008: 50). Dies er­ klärt gut, warum Koreaner weiterhin lieber in PC Bangs spielen, obwohl auch zu Hau­ se mittlerweile eine Highspeed Breitbandinternetverbindung verfügbar wäre (Huhh 2008: 27). Letztendlich verbreiten sich Onlinespiele in Korea also nicht nur durch so­ ziale Netzwerke online, sondern auch durch in der Realität manifestierte informelle Beziehungsnetzwerke (Casson & Park 2914: 624). Das macht sich auch bei mobilen Games bemerkbar, von denen manche so programmiert sind, dass man durch die Ein­ ladung weiterer Personen, z. B. Freunde oder Arbeitskollegen, Punkte gewinnt (Jin et al. 2015: 420). Zweitens gibt es laut Jin und Chee wirtschaftliche Gründe auf der Konsumenten­ seite, die zur Verbreitung von Online Games in Korea beigetragen haben. Einerseits können Spieler durch den Verkauf von virtuellen Items beachtliche Geldsummen verdienen, was insbesondere nach der Asiatischen Finanzkrise junge Koreaner zum Spielen motivierte (Jin & Chee 2008: 51). Andererseits dienten die PC Bangs Ende der 1990er Jahre auch als Büroersatz für zahlreiche Arbeitslose (Jin & Chee 2008: 50). Die 24 Stunden lang geöffneten PC Bangs boten sogar eine nächtliche Unterkunft für diejenigen, die sich keine eigene Wohnung leisten konnten (Jin & Chee 2008: 50). So

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wurden die PC Bangs ein fester Bestandteil des koreanischen Stadtbildes und eben auch ein wichtiger Treiber bei der Ausbreitung der koreanischen Online-Gaming-Kul­ tur. Drittens spielt schließlich für die mittlerweile mobilen MMORPG das räumliche Umfeld, in dem die meisten Koreaner leben, eine Schlüsselrolle (Jin et al. 2015: 421). Die vielen Pendler aus den Satellitenstädten vor allem in die Hauptstadt Seoul nutzen die mobilen Onlinespiele zum Zeitvertreib – das Highspeed Wifi in den U-Bahnen er­ möglicht dies problemlos. Somit gibt es hier eine interessante räumliche Erweiterung der Spielekultur von den immobilen PC Bangs in die mobilen öffentlichen Verkehrs­ mittel. Eine weitere Besonderheit prägt die koreanische Gaming-Kultur. Das Spiel Star­ Craft in Verbindung mit der Ausbreitung der PC Bangs um das Jahr 2000 herum war auch entscheidend für die Entstehung von E-Sports in Korea, was die Popularität von Online Games unter Jugendlichen zusätzlich steigerte (Jin & Chee 2008: 48 f.). Die professionellen Onlinegamer, die von großen Unternehmen gesponsert werden, sind in Korea anders als in anderen Ländern keine als langweilig geltenden Computer­ freaks, sondern Berühmtheiten, die von Jugendlichen verehrt und imitiert werden (Jin & Chee 2008: 48 f.). Dieser Faktor unterscheidet die koreanische deutlich von der On­ line-Gaming-Kultur vieler westlicher Länder.

4.2.6 Staat Ursprünglich war die Online-Gaming-Industrie kein „picked winner“ der koreani­ schen Regierung (Casson & Park 2015: 627 f.), d. h. für Online-Gaming gab es keine ausgeprägte vertikale Industriepolitik inklusive Steueranreizen oder Subventionen, wie es in Korea für ausgewählte Industrien zumindest bis Anfang der 1990er Jahre üblich war (Tsang & Park 2013: 242). Allerdings wurden von der Regierung im Sinne einer horizontalen Industriepo­ litik grundlegende Weichen hinsichtlich des Internets und später der Digitalisierung gelegt, die der Gaming-Industrie zugutekamen. Ab 1997 wurden durch den neuen Act on the Special Measures to Promote Venture Businesses alle technologieorientierten und innovativen Unternehmen gefördert, zu denen auch die Gaming-Unternehmen zählten (Casson & Park 2015: 628). Zudem erhielten die Onlinespieleentwickler indi­ rekte staatliche Unterstützung dadurch, dass die Regierung die Entwicklung des ko­ reanischen Venture Capital Marktes massiv vorantrieb (Kenney et al. 2002: 90; Casson & Park 2015: 625 f.). Wie unter 4.2.4 thematisiert herrschte bei den rasch wachsenden Gaming-Unter­ nehmen bald ein Mangel an qualifizierten IT-Ingenieuren, und somit startete die koreanische Regierung, die nach den ersten Erfolgen der Spieleentwickler nun eben­ falls das Potenzial erkannte, eine Bildungsoffensive im IT-Bereich, was zu einem rapiden Anstieg von Absolventen in den relevanten Fächern führte (Casson & Park

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2015: 626). Außerdem bot die neu gegründete Korea Game Industry Agency (KGIA) ein Ausbildungsprogramm für Spieleentwickler an (Tsang & Park 2013: 242). Zudem erlaubte es der „Music Records, Video und Game Act“, der unter der Regierung von Kim Dae-jung in Kraft trat, exzellenten Spieleentwicklern, ihren Ersatzmilitärdienst in Gaming-Unternehmen zu absolvieren, was einen Verlust von Expertise verhindern sollte (Kwon & Kim 2014: 432). 2006 trat dann der Game Industry Promotion Act zur gezielteren Förderung der Online-Gaming-Industrie in Kraft.

4.2.7 Zwischenfazit Für die Gaming-Industrie lässt sich festhalten, dass diese vor allem durch die inno­ vativen technologischen Ideen einiger weniger Unternehmer entstand und durch klu­ ge neue Geschäftsmodelle kommerziell erfolgreich wurde. Gleichzeitig trafen Online­ spiele aufgrund ihres Gemeinschaftscharakters unter koreanischen Jugendlichen auf einen Nerv. Die PC Bangs als integraler Teil der koreanischen Stadtinfrastruktur wie der Gaming-Kultur halfen dabei, diesen Trend zu verstärken. Die Regierung verkann­ te das Potenzial zunächst; sie legte jedoch wichtige Grundlagen, beispielsweise im Bereich der Internetinfrastruktur sowie der allgemeinen Förderung der ICT-Industrie und der Venture Capital Industrie.

5 Fazit Der vorliegende Beitrag hat sich mit dem rasanten Aufstieg der Kulturindustrien in Korea auseinandergesetzt, welcher dort wie auch in vielen Ländern große Aufmerk­ samkeit gefunden hat. Verbunden damit sind auch Hoffnungen auf eine weitere posi­ tive Entwicklung für Korea wie für die Übertragbarkeit von Erfolgsrezepten auf andere Länder. Eine erste Erkenntnis war, dass die verschiedenen Kulturindustrien sehr unter­ schiedlich sind. Das drückt sich allein schon in den unterschiedlichen Abgrenzungen und der verwendeten Terminologie aus. Für die weitere Analyse haben wir uns auf zwei recht verschiedene Branchen konzentriert, die Rundfunkdienste, insbesondere Fernsehformate, und auf Onlinespiele. Bei ersterer spielen etablierte Träger aus dem Medienbereich, verbunden mit Chaebol, eine große Rolle, die letzteren werden von ehemaligen Startups, heute Großunternehmen, dominiert. Der Erfolg letzterer ent­ hält gerade für ein Land wie Korea, das in seinen bisher so erfolgreichen Verarbei­ tungsindustrien von etablierten Großkonzernen dominiert wird, sodass neue Anbieter manchmal kaum eine Chance zu haben scheinen, eine wichtige Botschaft. Mit dem Porter-Diamanten von Wettbewerbsvorteilen haben wir uns für ein breit angelegtes Referenzmodell für die explorative Analyse der Hintergründe der Erfolgs­

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geschichten entschieden. Obwohl es uns nicht um eine Theorieprüfung oder -bestäti­ gung ging, hat sich gezeigt, dass sich der Erfolg der Branchen nicht auf einzelne, als hinreichend einzuschätzende Faktoren zurückführen lässt, etwa die Digitalisierung in diesen Industrien mit ihren angebots- und nachfrageseitigen Skalenökonomien bzw. Netzwerkvorteilen. Vielmehr sind verschiedene Diamantkomponenten in ihrem Zu­ sammenspiel zu würdigen, was eine einfache Übertragung der Erfolgsgeschichten auf andere Länder bereits ausschließt. Bei beiden Branchen spielten historische Zufälle eine Rolle. Bei den Fernsehfor­ maten war es der frühe, kulturpolitisch motivierte Importschutz, dann der durch die Asiatische Finanzkrise bedingte Preisvorteilsschub im In- und Ausland. Bei den On­ line Games war es der zunächst fast nebensächlich anmutende Innovationserfolg ein­ zelner Gründer und die Notwendigkeit, aber auch die Möglichkeit, sich gegenüber Ja­ pans Spielkonsolen mit einem eigenen Geschäftsmodell abzugrenzen; so konnte sich durch die raschen Fortschritte in der Internetvertiefung und -verbreitung das Poten­ zial von Online Games entfalten. Die Rolle des Staates war vor allem bezüglich der breiten Förderung von technologischen Fortschritten wie etwa beim Interausbau zen­ tral, also typisch horizontalen Formaten von Industriepolitik. Ein „picking the win­ ners“ war in beiden Fällen nicht vorrangig. Eher im Nachhinein sprang der Staat „auf den erfolgreichen Zug“ und versuchte, sich im Glanze der privatwirtschaftlichen Er­ folge zu sonnen und diese weiter zu befördern. Die neuen Angebote konnten sich dabei der starken angebots- und nachfragesei­ tigen Skalen- und Netzwerkeffekte bedienen, die sich durch die neuartigen, in Korea besonders verbreiteten digitalen Formate von Inhalten boten. Während also das angebotsseitige Umfeld sehr wichtig war, musste doch auch ei­ ne marktfähige Nachfrage gesucht und gefunden werden, die über die konventionel­ le Nachfrage nach Kulturgütern hinausging. Im Rundfunkbereich waren und sind das die „purity“ der Inhalte, also die Einbringung korea- oder, bei aller Vorsicht gegenüber unzulässigen Vereinfachungen, auch „asientypischer“ beziehungsbezogener Themen und Darstellungsformen, bei den Onlinespielen die Möglichkeit, soziales Miteinander mit anderen Spielern integral in die Spiele einzubauen. Dabei ist bei letzteren gerade die Hybridisierung von westlichen und östlichen Sujets ein interessanter Beliebtheits­ treiber. In beiden Branchen schafft dabei der kulturelle Nährboden Koreas auch im Ausland als spannend empfundene neuartige Konsummöglichkeiten. Welche Perspektiven zeichnen sich nun für die weitere Entwicklung für Korea und für die Übertragbarkeit von Erfolgsrezepten auf andere Länder ab? Ein erster Punkt betrifft die direkten Beiträge zur Wirtschaftsleistung. Wir haben die beachtlichen Beiträge etwa zum BIP dokumentiert. Für die Zukunft zeichnet sich weiteres markantes Wachstum ab, da eine sehr interessierte Nachfrage zu beobach­ ten ist und zumal die Kulturindustrien weiterhin von der Regierung, auch über Re­ gierungswechsel in unterschiedliche politische Lager hinweg, gefördert werden. Als Beleg für die Rundfunkbranche mag ein Verweis auf The World of the Married (JTBC) genügen, das 2020 weitere Zuschauerrekorde brach.

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Ähnliches gilt für die Exporterfolge, die ebenfalls im vorliegenden Beitrag doku­ mentiert wurden. Gerade die Spielebranche hat sich hier zuletzt als markanter Wachs­ tumsmotor erwiesen, stärker noch als die Rundfunkdienste wie etwa Fernsehserien und übrigens auch deutlich dynamischer als die von der Öffentlichkeit am meisten beachtete Musikindustrie. Eine andere Frage ist die, wie das zukünftige Marktpotenzial im In- und Ausland einzuschätzen ist. Viele Beobachter beschränken sich dabei auf eine einfache Extra­ polation der bis dato eindrucksvollen Trends. Man kann sich kaum vorstellen, dass die Kulturgüter auf absehbare Zeit erfolgreich etwa mit den integrierten Schaltkreisen mithalten können, von denen Korea 2019 immerhin knapp 80 Mrd. US-Dollar ausführ­ te, was nicht weniger als etwa dem Zehnfachen der Kulturindustrien entspricht. Hinter einer solchen Skepsis stehen etwa Überlegungen zur Marktsaturierung bei Kulturpro­ dukten im In- wie im Ausland, die in den einschlägigen Arbeiten zum KulturgüterBoom kaum jemals angesprochen werden. Auch die Konkurrenz zwischen etablierten und als neu und „schick“ empfundenen Landeskulturen ist dabei in Rechnung zu stel­ len. Zwar genießt Korea ein markantes und immer noch deutlich wachsendes Anse­ hen, doch wird es kaum jemals an eine marktbeherrschende Stellung auf Weltebene heranreichen können: Kulturgenuss lebt nämlich immer auch von Diversität und sich wandelnden Vorlieben. Jenseits der direkten wirtschaftlichen Beiträge der Kulturgüter ist an die indirek­ ten Effekte zu denken, die sich über mögliche positive Externalitäten ergeben. Dabei wird zumeist auf drei Zusammenhänge hingewiesen: einen Beitrag zu anderen Aus­ fuhrkategorien, insbesondere Konsumgüterexporten (Park 2014; Huh & Wu 2017), zum Tourismus (Bae et al. 2017; Lim & Giouvris 2020) und zur Innovationskraft der Wirt­ schaft (Pratt & Jeffcut 2009). Der Nachweis solcher Beiträge ist aber nicht leicht und wird häufiger behauptet als belastbar belegt. Das liegt insbesondere daran, dass für eine Modellspezifizierung, die sich empirisch testen lässt, unterschiedliche abhängi­ ge Variablen gewählt werden können, diverse Modelltypen, verschiedene Zeiträume und Referenzländer. Für manche Zusammenhänge ergeben sich dann durchaus statis­ tisch signifikante Erklärungsbeiträge, für andere aber nicht, wobei in der Regel keine theoretisch verankerte These darüber besteht, warum gerade die schwachen Ergebnis­ se nicht stichhaltig sein sollten. Huh und Wu (2017) benutzen z. B. ein Gravity-Modell, um den Einfluss des Konsumgüterexports in 40 Länder im Rahmen einer Panel-Analy­ se auf verschiedene Exportkategorien und den Zustrom von Touristen nach Korea zu erfassen. Verschiedene Beiträge sind erwartungsgemäß signifikant, aber gerade bei langlebigen Konsumgütern schwach, was nur schwer im Rahmen der Erwartungen der Kulturökonomik zu erklären ist. Wie bereits erläutert, zeichnet sich insbesondere die Online-Gaming-Branche durch ihre Innovationskraft aus, und auch die Rundfunkbranche hat durch die Digi­ talisierung und den Wandel hin zu IPTV einen Innovationsschub erfahren. Insbeson­ dere sollte es zu Spillovern auf andere Industrien kommen, wobei die IKT-Industrie die naheliegendste ist. Auch sollte der Innovationsdruck durch die starke Konkur­

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renz innerhalb der Kulturindustrien zu neuen, kreativen Produkten und zu weiteren Unternehmensgründungen führen. Beispielsweise im Kontext der Industrie 4.0 nen­ nen Yang et al. (2019) die koreanische Virtual Reality (VR) Industrie, die bereits über die notwendige Hardware, d. h. VR headsets, verfüge, aber der es aufgrund der kost­ spieligen Produktion an VR Content mangele. Laut Yang et al. (2019: 11 ff.) brauche es jedoch innovative VR Contents, um die gesamte VR Industrie weiterzuentwickeln und neue Geschäftsideen und -gründungen voranzutreiben. Durch das 2015 von der koreanischen Regierung initiierte Flagship Project Support Program wurde es inno­ vativen kleinen und mittleren Unternehmen ermöglicht, offene VR Plattformen zu errichten. Durch diese konnten die Güter der Kulturindustrien kostengünstiger im VR Format angeboten werden und es entstanden zahlreiche neue Geschäftsideen (Yang et al. 2019: 13). Wir stellen die indirekten Effekte nicht grundsätzlich in Frage. Sie sind plausibel, in ihrer Höhe und Verlässlichkeit aber nur sehr schwierig abschätzbar. Im politischökonomischen Prozess wird deshalb die Neigung bestehen, sie zu überschätzen, denn Politiker könnten die Existenz solcher Effekte dazu nutzen, um zusätzliche industrie­ politische Maßnahmen zu begründen. Ein weiterer Zusammenhang betrifft die zusätzlichen sozioökonomischen Auswir­ kungen im Inland. Zum einen können die kulturwirtschaftlichen Erfolge einen gewissen Stolz auf die Leistungen des eigenen Landes begründen und damit das Wohlbefinden stärken. Diese Argumentation führt in Aspekte der Glücksökonomik hinein und entzieht sich weitgehend einer belastbaren Erfassung. Ob diejenigen, nämlich die Jungen, die neu­ artige Kulturprodukte wie Online Games oder TV-Dramen vorrangig konsumieren und als nationale Leistung positiv bewerten, mag zweifelhaft erscheinen. Immerhin ist es bezeichnend, dass sich Politiker jeder Couleur gerne mit den Erfolgen der Kulturin­ dustrien in Verbindung bringen. Von kulturkritischer Seite wird den modernen Kulturindustrien oftmals vorgehal­ ten, dass sie die kulturelle Vielfalt im Lande einschränken, da ihre Erfolge die Akzep­ tanz und das Interesse für andere Musikformen, auch traditionelle koreanische Mu­ sik, mindern und dies durch die Kommerzialisierung des Kulturbetriebs noch weiter forciert werde. Aus ökonomischer Sicht ist das Argument einer Einschränkung der Di­ versität nachvollziehbar, auch wenn ja weiter durchaus für jedermann die Möglichkeit besteht, andere kulturelle Formen aktiv und passiv zu pflegen. Mit welcher Selbst­ sicherheit manche Kulturkritiker allerdings einzelne Formen der künstlerischen Be­ tätigung qualitativ über bzw. unter andere setzen und daraus Folgerungen ableiten, überrascht den Ökonomen dann schon. In der Summe kommt es zu dem fast ironi­ schen Ergebnis, dass die neuen koreanischen Kulturbeiträge einerseits das kulturelle Angebot auf Weltebene gewiss positiv erweitern, dass ein Film wie Parasite unstreitig eine Bereicherung für die Kinoleinwände rund um den Globus ist. Andererseits aber schafft der kommerzielle Megaerfolg bestimmter Stilrichtungen im Inland auch Pro­

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bleme, eine positiv zu bewertende Differenzierung kultureller Angebote lebendig zu erhalten. Damit sind wir bei dem letzten zu berücksichtigenden Aspekt, nämlich den Aus­ wirkungen im internationalen Kontext. Die koreanische Regierung hat sich über die Jahre, mit etwas wechselnden Schwerpunktsetzungen, darum bemüht, die Kulturin­ dustrien zu einem Pfeiler ihrer auswärtigen Kulturpolitik zu machen (Kim & Jin 2014). Solche Anstrengungen sind für ein Land wie Korea sehr nachvollziehbar. Denn zwi­ schen der Großmacht China und der großen Mittelmacht Japan muss die Republik Ko­ rea massive Anstrengungen betreiben, um international Status und Gehör zu finden. Das Image von Korea hat sich international positiv entwickelt. Nach einer vom Kore­ an Culture and Information Service (KOCIS) im Februar 2020 veröffentlichten Umfrage haben 76,7 % der befragten Ausländer ein positives oder sogar sehr positives Bild von Korea, übrigens deutlich ausgeprägter als bei den befragten Koreanern (64,8 %; dabei auch deutlich weniger „sehr positiv“) (Song 2020). Zu einem nicht geringen Teil dürfte das am Erfolg der Kulturindustrien liegen, so jedenfalls in der Selbsteinschätzung der Befragten: 38 % sahen die Populärkultur als Hauptfaktor, 15 % den wirtschaftlichen Wohlstand und 14 % das kulturelle Erbe. Ob sich dieses Koreabild positiv auf die Soft Power des Landes ausgewirkt hat, ist kaum belastbar abzuschätzen, aber auch nicht unwahrscheinlich. Nun hat selbst ein positives Außenbild seine Kehrseite, denn entsprechend posi­ tive Stereotypisierungen können ein verklärtes Bild schaffen, das einer realistischen Einschätzung entgegensteht. So finden Kim und Omerbašić (2016), dass internationa­ le Fans durch die textuelle Interaktion mit koreanischen TV-Dramen über Social Media oft eine fantasiereiche Vorstellung von Korea als Land kreieren, die im Kontrast zu ih­ rer gelebten Realität im Heimatland steht und womöglich auch mit der koreanischen Alltagsrealität wenig übereinstimmt. Min Joo Lee (2020: 8) zeigt, dass westliche weib­ liche K-Drama-Fans nach Korea reisen, um ihre in der Heimat unerfüllte Sehnsucht nach Intimität und Liebe zu stillen; sie sehnen sich nach koreanischen Männern, die durch die K-Dramen zu einem romantischen Ideal stilisiert werden. In der Realität en­ den solche Fantasien oft in bitterer Enttäuschung. Letztlich beinhaltet jede dynamische Entwicklung in Wirtschaft und Gesellschaft Ambivalenzen, und es spricht im Grunde nur für die gewachsene Bedeutung der ko­ reanischen Kulturindustrien, wie viele Belange sie berührt. Als Vorbild für die Gestaltung der Wirtschaftspolitik anderer Länder ist der Fall der koreanischen Kulturindustrien weniger geeignet. Wie gezeigt werden konnte, war der Erfolg einzelner Kulturbranchen in Korea mit ihren jeweiligen Besonderheiten von vielen Faktoren abhängig und nicht wirklich steuerbar. Richtet man den Blick auf die Handlungsoptionen des Staates, ist die Hauptlehre, dass ein Staat, wie in Korea cum grano salis geschehen, Rahmenbedingungen schaffen kann, in denen sich neuarti­ ge Angebote ausprobieren können. Direkte industriepolitische Unterstützung hat in Korea in der Regel erst später eingesetzt, als sichtbare kommerzielle Erfolge bereits eingetreten waren. Zumindest wurden dadurch verlustreiche Fehlinvestitionen in sol­

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che Infant-Industrien vermieden, die später nie erfolgreich wurden. Allein das sind wohl Lehren, die für so manche staatlichen Träger in vielen Ländern auch heute noch überraschend und nützlich sein können.

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178 | Diana Schüler und Werner Pascha

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Sophia Gaenssle

Big Data Comes to Hollywood – Audiovisuelle Medienmärkte im Digitalen Zeitalter 1

Einleitung: Der Film zwischen Innovation und Status Quo | 181

2

Filmgeschichte Hollywood: Bye Bye Golden Era? | 184

3

Media Giants: Nobody knows Anything? | 187 3.1 Besonderheiten der Produktion | 187 3.2 Besonderheiten der Distribution | 188

4

Digital Giants: Netflix knows Something? | 190 4.1 Veränderungen in der Produktion | 192 4.2 Veränderungen in der Distribution | 193

5

Fazit: The Future is Now, Always ... | 195

1 Einleitung: Der Film zwischen Innovation und Status Quo Die Geschichte Hollywoods geht Hand in Hand mit technischen Neuerungen und In­ novationen. Die Filmindustrie ist seit jeher gezeichnet von technischem Wandel ent­ lang der gesamten Wertschöpfungskette; vom Stummfilm zum Ton, Farbfilm, Fernse­ hen und Videowiedergabe. All diese technischen Veränderungen sind elementarer Be­ standteil der Traumfabrik Hollywood und hatten einschneidende Auswirkungen für die gesamte Industrie (Pardo 2013). Die Entwicklungen der letzten beiden Jahrzehnte unter dem Einfluss der Digitalisierung waren jedoch weitreichender und schneller als alle Innovationen und Neuerungen, die Hollywood bisher gesehen hat. Sie reichen in der Produktion vom Wechsel von Analog- zu Digitalaufnahmen, bis hin zu neuen tech­ nischen Möglichkeiten der Computeranimation und Bildnachbearbeitung. Vor allem die Distribution digitaler Inhalte hat grundlegende Veränderungen mit sich gebracht. Auf der einen Seite sinkende Vervielfältigungs- und Transportkosten, auf der anderen Seite Probleme mit Eigentumsrechten und Piraterie. Dies führt bis hin zu legalen On­ line-Angeboten von Video-on-Demand (VoD) Diensten wie Netflix und Amazon Prime Video (Amazon). Angesichts des stetigen Innovationsdrucks ist es umso bemerkenswerter wie die großen Hollywoodstudios des zwanzigsten Jahrhunderts ihre Stellung im Markt über viele Jahrzehnte (teilweise fast ein Jahrhundert) hinweg behaupten konnten. Das eta­ blierte Oligopol aus inzwischen fünf „Major Studios“ (Universal, Warner Bros., Dis­ ney/Fox, Sony Pictures, Paramount Pictures) dominiert den US-Markt wie in Tabelle 1 zu sehen ist. Mit weitem Abstand setzen sich die ersten sechs (bislang „Big Six“ ge­ https://doi.org/10.1515/9783110724523-008

182 | Sophia Gaenssle

Tab. 1: Top 10 Filmverleiher 1995–2020, kumuliert. Datenquelle: The Numbers (2020). Rang

Filmstudio

Filme

Kinoumsatz

Tickets

Marktanteil

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

Walt Disney Warner Bros. Sony Pictures Universal 20th Century Fox Paramount Pictures Lionsgate New Line Dreamworks SKG Miramax

571 802 728 511 519 481 415 207 77 384

$ 39.688.247.167 $ 35.592.155.457 $ 28.777.646.671 $ 27.464.279.056 $ 25.853.240.689 $ 24.231.319.306 $ 9.537.881.421 $ 6.194.343.024 $ 4.278.649.271 $ 3.835.978.908

5.668.000.685 5.128.007.401 4.258.806.679 3.938.555.708 3.792.196.830 3.647.168.888 1.211.552.593 1.116.305.898 760.431.349 714.099.626

16,94 % 15,19 % 12,28 % 11,72 % 11,04 % 10,34 % 4,07 % 2,64 % 1,83 % 1,64 %

nannt) von der Konkurrenz ab. Disney und Fox werden hier zwar noch als getrennte Filmverleiher aufgeführt, haben aber 2019 fusioniert. Der nordamerikanische Binnenmarkt ist darüber hinaus der lukrativste weltweit. Auch wenn China in den letzten Jahren rasant aufgeholt hat, erzielt die nordamerika­ nische Filmindustrie immer noch die größten Umsätze weltweit. Tabelle 2 zeigt eine Übersicht der weltweiten Top 10 Kinomärkte über die Jahre 2009–2018.¹ Diese Dominanz ist nicht nur auf den nordamerikanischen Raum beschränkt; Hol­ lywood exportiert seit den 30er Jahren weltweit audiovisuelle Inhalte (Gomery 1986). Dieser Einfluss reicht daher über die US-Grenzen hinaus bis nach Europa, wo US-Film­ Tab. 2: Top 10 Märkte nach Kinoumsätzen [in Milliarden US-Dollar] 2009–2018. Datenquelle: Euro­ pean Audiovisual Observatory (2014; 2019).

US & Canada China Japan UK Südkorea Frankreich Indien Deutschland Australien Mexiko Russland

2009

2010

2011

2012

2013

2014

2015

2016

2017

2018

10,6 0,9 2,2 1,5 0,9 1,7 1,4 1,4 0,9 n. a. 0,9

10,6 1,5 2,5 1,5 1,0 1,7 1,4 1,2 1,0 n. a. 1,0

10,2 2,0 2,3 1,7 1,1 1,9 1,5 1,3 1,1 n. a. 1,1

10,8 2,7 2,5 1,7 1,3 1,7 1,6 1,4 1,2 n. a. 1,2

10,9 3,5 2,0 1,7 1,4 1,7 1,6 1,4 1,1 n. a. 1,1

10,4 4,8 1,7 1,7 1,5 1,8 1,5 1,3 0,9 0,8 n. a.

11,1 6,8 1,8 1,9 1,4 1,5 1,5 1,3 0,9 0,8 n. a.

11,4 6,6 2,2 1,7 1,5 1,5 1,5 1,1 0,9 0,8 n. a.

11,1 8,3 2,0 1,7 1,6 1,6 1,6 1,2 0,9 0,9 n. a.

11,9 9,2 2,0 1,7 1,7 1,6 1,5 1,1 0,9 0,9 n. a.

1 Nordamerika dominiert die Kinoumsätze, werden allerdings die Anzahl verkaufter Tickets zugrunde gelegt führt Indien, gefolgt von China und dann erst USA/Kanada (European Audiovisual Observatory 2019).

Big Data Comes to Hollywood – Audiovisuelle Medienmärkte im Digitalen Zeitalter

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Marktanteile in der EU (Kinotickets) nach Filmherkunft 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0

2009 Rest der Welt 2,6 US/EU Kooperation 4,1 US 67,1 EU 26,2

2010 1,4 5 68,2 25,4

2011 1,8 8,1 61,6 28,5

2012 1,5 6,9 62,8 28,9

2013 3,6 1,1 69,1 26,2

2014 3,2 0,4 63,2 33,2

2015 2,8 7,1 63,1 27

2016 2,1 3,5 67,3 27,1

2017 1,7 4,2 66,2 27,9

2018 2,1 5,4 63,2 29,4

Abb. 1: Marktanteile in der EU (Kinotickets) nach Filmherkunft in [%]. Datenquelle: European Audio­ visual Observatory (2014; 2019).

vertriebe große Marktanteile des Kinomarktes für sich einnehmen können (siehe Ab­ bildung 1). Durch die Entwicklungen des digitalen Zeitalters steht das starke Studio-Oligopol vor neuen Herausforderungen. Die dominante Position der Filmstudios könnte nun zum ersten Mal ernstlich ins Wanken geraten. Streaming-Anbieter wie Netflix, Amazon & Co („Digital Majors“) stellen mit ihren Distributionswegen eine ernsthafte neue Kon­ kurrenz dar. Während die VoD-Anbieter zunächst als zusätzliche Vertriebsmöglichkeit erachtet wurden, haben diese zunehmend an eigenem Einfluss gewonnen (Aguiar & Waldfogel 2018). Durch Rückwärtsintegration von der Distributionsebene auf die Pro­ duktionsebene und die Erstellung beliebter Eigenproduktionen (sogenannte „Origi­ nals“) können sie heute viele treue Konsumenten für sich gewinnen.² Ist dies tatsächlich eine neue Ära des Films und das Ende der Studiomacht? Dieser Beitrag analysiert die gegenwertige Wettbewerbssituation der US-amerikanischen Ma­ jor Studios, den neuen Wettbewerbsdruck durch Digital Majors und innovative Neue­ rungen in diesem Bereich. Der Unterschied zwischen dem Angebot der digitalen New­ comer und den alteingesessenen Incumbents wird herausgearbeitet. Dabei zeigen sich vor allem in der Sammlung, Aufbereitung und Verwendung von Daten neue Anfor­ derungen für Major Studios, um im digitalen Kampf mithalten zu können. Kapitel 2 gibt einen geschichtlichen Überblick. In Kapitel 3 werden spezifische Eigenheiten des Filmmarktes und Gründe der Studiodominanz aufgeführt, um anschließend in Kapi­

2 Netflix z. B. mit 182,9 Millionen weltweit zahlenden Abonnenten, Stand November 2019 (siehe Ta­ belle 5, Kapitel 4).

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tel 4 die Veränderungen, vor allem hinsichtlich der Verwendung von Daten, aufzuzei­ gen. Das Fazit in Kapitel 4 fasst zusammen und gibt einen Ausblick.

2 Filmgeschichte Hollywood: Bye Bye Golden Era? Die Entstehung und der Wandel der US-Filmstudios im 20ten Jahrhundert trägt ele­ mentar zur heutigen Marktstruktur der globalen Film- und Medienindustrie bei. Um die Dominanz und Entstehung heutiger Medienkonglomerate und das Ausmaß an Integration und Diversifikation darzustellen, bietet dieses Kapitel einen kurzen ge­ schichtlichen Überblick mit Fokus auf Marktkonzentration und die wichtigsten Kar­ tellrechtsverfahren. Ziel ist die Entstehung der aktuellen Marktsituation und ein grundlegendes Verständnis der Zusammenhänge in diesem Markt aufzuzeigen. Nach einer kurzen Phase blühenden Wettbewerbs in den USA (um 1900), in der viele Produzenten und Regisseure in den Markt drängten und die Filmtechnologie selbst der eigentliche Star war, wandelte sich die Marktstruktur um 1908 mit der Mo­ tion Picture Patents Company (MPPC). Das Unternehmen versuchte den technischen Zugang in der Industrie zu kontrollieren und Monopolmacht aufzubauen. Das Mono­ pol scheiterte zuletzt nach Kartellrechtsverfahren und Patentrechtsstreits in 1918, als die MPCC nach einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs keine Berufung mehr einlegte (inter alia, Conant 1960; Gomery 1986; Frank 1993; McDonald 2000). Der Niedergang der MPCC ermöglichte es anderen Unternehmen ihre Machtstel­ lung auf- und auszubauen, allen voran Famous Players-Lasky (später Paramount). Selbst die „Revolution des Tons“, die die Stummfilmzeit beendete, änderte nichts am oligopolistischen Trend der Industrie (Frank 1993; McDonald 2000). Während die eu­ ropäische Filmindustrie bis zum Ersten Weltkrieg innovativ und auch auf dem ame­ rikanischen Absatzmarkt sehr erfolgreich war, konnte sie mit den Investitionen und dem Wachstum des amerikanischen Marktes in den 20er Jahren nicht mithalten (Bak­ ker 2005). In 1929 hatte sich eine Marktstruktur etabliert: die „Big Five“ oder „Majors“, Paramount, Loew’s (später MGM – Metro-Goldwyn-Mayer), Warner Brothers, Twen­ tieth Century Fox (Fox) und Radio-Keith-Orpheum (RKO) dominierten den Markt, wäh­ rend Universal, Columbia und United Artists die „Little Three“ oder „Minors“ genannt wurden. Damit begann die Goldene Ära der Filmstudios („Studio Era“ oder „Golden Age“, ca. 1930–1949) in der diese Studios die amerikanische Filmindustrie dominier­ ten, in den internationalen Filmvertrieb investierten und nicht zuletzt die vertikale Integration ausbauten (Gomery 1986). In der „Post-Studio Era“ (ca. 1950–1975) führten zwei weitreichende Entscheidun­ gen zu einer dramatischen Veränderung der Marktstruktur in der Filmindustrie. Im Dezember 1946 entschied das Department of Justice, dass die Bündelung von Film­ paketen (unabhängige Kinobetreiber wurden gezwungen Filme als Bündel zu kau­ fen, anstatt sie einzeln erwerben zu können) wettbewerbswidrig sei. Die zweite Ent­

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scheidung war noch weitreichender, als 1948 in der „Paramount Entscheidung“ der Supreme Court die vertikale Integration der Filmstudios unterband und die Studios gezwungen waren ihre Kinoketten zu veräußern (Frank 1993; McDonald 2000). Zeit­ gleich wurde Fernsehen (durch die Erfindung des Röhrenfernsehers) ein ernstzuneh­ mender Wettbewerber. Zuschauer genossen es zu Hause zu bleiben um sich unter­ halten zu lassen und gingen seltener ins Kino (Silver 2007). Die Beendigung der ver­ tikalen Integration durch die Wettbewerbsbehörden und das parallele Aufkommen des TV führten dazu, dass die neuen Fernsehunternehmen zumindest vorübergehend der Marktmacht der Major Studios etwas entgegensetzen konnten. Diese beiden Ent­ scheidungen und rückläufige Kinozuschauerzahlen bedeuteten das Ende der vertikal­ integrierten Studios und eine Neuorganisation der gesamten Industrie. Die Ergebnisse dessen beeinflussen das Industriegefüge bis heute. Es folgte eine Phase der Diversifi­ kation, horizontalen Integration und Zusammenschlüssen. Auf der Suche nach neuen Einkommensquellen begannen die Studios mit multimedialem Entertainment und ei­ nem Trend zu diversifizierten Medienkonglomeraten. Die sogenannte Blockbuster-Strategie, einer TV-Werbestrategie mit der die Stu­ dios ihre Filme zuvor im Fernsehprogramm bewerben, veränderte das Verhältnis von Fernsehen und Kino. Die Filmproduzenten erkannten das Potential des Fernsehmark­ tes, der nun nicht mehr als harte Konkurrenz, sondern als Werbe- und Verwertungs­ plattform gesehen wurde (Gomery 2004). Dies war der Beginn des Zeitalters „New Hollywood“, das geprägt war durch die Erschließung aller dem Kino nachgelagerten Märkte. Die Entscheidung „United States v. Capitol Service“ hob 1985 das ParamountUrteil auf und ermöglichte den Filmstudios die vertikale (Re-)Integration in alle Film­ vermarktungsmärkte.³ In den 80er und 90er Jahren investierten die Produzenten in Kinoketten, Fernsehstationen und Video-Unternehmen (Gomery 2004; Lewis 2008). Die heutige Marktstruktur ist geprägt von Zusammenschlüssen und Übernahmen, sowie vertikaler und horizontaler Integration. Eigentümer haben gewechselt und doch blieb eines bemerkenswert stabil, die Oligopol-Struktur der größten Medien­ unternehmen. Sechs (bzw. fünf „Major“) Studios überlebten viele Dekaden (manche bereits ein Jahrhundert), siehe dazu Tabelle 3.⁴ Sinkende Kosten, vor allem im Vertrieb, und die Nutzung aller Verwertungsfens­ ter – sog. “Windowing” (von Kino über VHS (o. ä. Trägermedien) bis hin zu Free-TV) – machten die Filmindustrie immer profitabler. Vor allem etablierte Unternehmen konn­ ten die entstehenden Größenvorteile auf internationalen Märkten nutzen und ihre Stellung festigen.

3 Für eine aktuelle Entscheidung hierzu aus 2020 siehe: https://www.competitionpolicyinter national.com/judge-agrees-to-end-paramount-consent-decrees/. 4 Obwohl das Disney Studio 1923 gegründet wurde, war es ein Außenseiter zur Studio Ära und kann als „Newcomer“ unter den großen Studios bezeichnet werden. Während Disney aufstieg, verschwand RKO aus dem Markt und MGM spielt nur noch eine untergeordnete Rolle.

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Tab. 3: Übersicht Filmstudios und Gründungsjahr. Stand: August 2020. Mutterkonzern

Major Film Studio und Gründungsjahr

Walt Disney Walt Disney AT&T / Warner Media Sony NBC Universal / Comcast Viacom

Disney Pictures Twentieth Century Fox (Fox) Warner Bros. Columbia Universal Paramount

1923 1935 1923 1924 1912 1912

„Although many fans look back to the 1930s and 1940s as the Golden Age of the movie business, in fact the end of the 20th century was the era when the Big Six in Hollywood achieved its greatest power and profitability.“ (Gomery 2004: 196).

Das erste Jahrzehnt des 21ten Jahrhunderts war geprägt vom fortschreitenden Inter­ net- und Breitbandausbau. Die Verfügbarkeit von immer schnellerem Internet ermög­ lichte es, große Dateien (illegal) herunterzuladen. So war zunächst die Musikindustrie (aufgrund kleinerer Datenmengen) und mit Breitbandverfügbarkeit schließlich auch die Filmindustrie von illegalen Downloads der Piraterie betroffen (De Vany & Walls 2007; Waterman et al. 2007). Der Mangel an legalen Onlineangeboten und teilwei­ se fehlendes Rechtsverständnisses im (neuen) digitalen Raum (viele Konsumenten hätten wohl keine CD im Kaufhaus gestohlen, wohl aber CDs von Freunden kopiert etc.) führten dazu, dass Piraterie ein ernstzunehmendes Problem der Medienindustrie wurde. Die Digitalisierung führte zu dynamischen Effekten und Innovationszwang in der Industrie. Der Online-Piraterie wurde mit Urheberrechtsdurchsetzungen und Ab­ schaltung populärer Filehosting-Adressen entgegengewirkt (Peukert et al. 2017). Vor allem aber legale Plattformen und Online-Verfügbarkeit führten schließlich zum Rück­ gang illegaler Downloads (Smith et al. 2019). Gleichzeitig entstanden Soziale Netzwer­ ke wie Facebook und vor allem YouTube, die den Konsumenten weitere Möglichkeiten für den Konsum von Online-Videos bereitstellten. YouTube entwickelte sich schnell und zunächst amateurhafte Videos, sogenannter User Generated Content (UGC), wur­ de immer weiter professionalisiert (Döring 2014), sodass heute Stars der Sozialen Me­ dien ein Millionenpublikum unterhalten (Gaenssle & Budzinski 2020). Die alteinge­ sessenen Mediengiganten bekommen neue Konkurrenz aus dem digitalen Sektor mit Angeboten von Netflix, Amazon Prime und YouTube Premium. Die großen Studios ver­ suchen (immer noch) Anschluss an digitale Entwicklungen zu finden, z. B. durch die Einführung der VoD Plattform Disney+ 2019.

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3 Media Giants: Nobody knows Anything? Um den digitalen Wandel der Filmindustrie und dessen Herausforderungen aufzu­ zeigen, ist die Darstellung grundsätzlicher Strukturen und spezifischer Eigenheiten dieses Marktes elementar. So wird in der Filmwissenschaft und traditionellen Lite­ ratur zwischen der Produktion (die Filmerstellung, Herstellung der ersten „Kopie“), Distribution/Filmverleih (Verkauf und Marketing) und Filmvorführung/Ausstrahlung (Präsentation vor zahlendem Publikum, ursprünglich Kinopräsentation) unterschie­ den (Litman 1998; Eliashberg et al. 2006). Im ökonomischen Sinne ist das sog. „Win­ dowing“, die sukzessive Veröffentlichung eines Films in verschiedenen Verwertungs­ fenstern, als eine Distributions- und (sequenzielle) Preisdiskriminierungsstrategie zu sehen. Konsumenten mit hoher Zahlungsbereitschaft und geringer Toleranz für Wartezeit werden zunächst bedient, im Zeitablauf werden alle weiteren Konsumen­ tengruppen sukzessive erschlossen. Im herkömmlichen Sinne wird ein Film zunächst im Kino, zeitlich versetzt auf einem Trägermedium (VHS, DVD, Blu-ray, o. ä.), dann im Pay-TV und schließlich im Free-TV gezeigt. Die Preise für den Konsum sinken entspre­ chend im Zeitablauf. Mit dem technischen Wandel verschiedener Jahrzehnte haben sich diese Verwertungsstrategien immer wieder verändert und die Zeiten der einzel­ nen Fenster immer weiter verkürzt (Smith & Telang 2017). Aus Sicht der Studio Majors handelt es sich entsprechend um eine Distributionsstrategie, weshalb im Folgenden schlicht zwischen Produktion und Distribution unterschieden wird und nicht genauer auf die einzelnen Verwertungsfenster der Ausstrahlung (Kinobetreiber, Fernsehen und DVD-Handel o. ä.) eingegangen wird.

3.1 Besonderheiten der Produktion Die Produktion der ersten Filmkopie wird unterteilt in (i) die Drehbucherstellung oder Akquirierung von Drehbuchrechten (für Konzepte oder Bücher), (ii) die Vorproduktion (Organisation des Drehs), (iii) die Produktion (der tatsächliche Dreh) und (iv) Post­ produktion (Filmschnitt, Visuelle Effekte etc.) (Vogel 2015). Die Erstellung dieses in­ itialen Filmnegativ ist mit hohen Kosten, sogenannten First-Copy-Kosten, verbunden. Dabei werden die Investitionen des Filmproduzenten häufig als ein „unbekanntes“ Risiko gesehen, da der Erfolg oder Misserfolg des Films nicht absehbar ist – „Nobo­ dy knows anything“.⁵ Dem liegen die Erfahrungsgutcharakteristik und Mitläufereffek­ te beim Filmkonsum zugrunde. Zuschauer können erst nach dem Konsum die Quali­ tät beurteilen und eine Aussage darüber treffen, ob ihnen der Film gefallen hat (sie­

5 Diese Worte stammen von Drehbuchautor und zweifachen Oscargewinner William Goldman. Richard E. Caves hat dies in einen wissenschaftlichen Kontext gebracht und das „NobodyKnows“-Principle formuliert (Goldman 1984; Caves 2003).

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he hierzu Haucap 2006; Budzinski et al. 2020a, in diesem Band). Positive Erfahrun­ gen werden durch Mundpropaganda (heute auch digital) geteilt (Liu 2006) und füh­ ren häufig zu Mitläufereffekten und exponentiellem Erfolg von Filmen (Leibenstein 1950; Adler 1985; 2006; Jung & Nüesch 2020). Ein Produzent von Kreativ- und Medi­ engütern steht dieser Unsicherheit gegenüber und muss damit rechnen, dass trotz al­ ler Bemühungen der Erfolg ausbleibt. In mehreren empirischen Studien untersuchen Walls und De Vany die Unsicherheit in der Filmbranche und kommen zum Ergebnis, dass die Erlöse aus der Filmdistribution stabil sind, jedoch der Erfolg einer einzelnen Filmproduktion tendenziell unvorhersehbar ist (De Vany & Walls 1996; Walls 2005; De Vany 2006). Große Filmstudios streuen das Risiko über mehrere Produktionen; in großen Filmportfolios gleichen sich so riskantere Projekte mit anderen aus, etwaige Flops können mit Hits kompensiert werden (Pokorny & Sedgwick 2010). Teure Block­ buster mit Starbesetzung haben häufig Hit-Potential, müssen aber auch ein großes Publikum erreichen, um die Kosten zu decken. Gomery (2000) führt eine Reihe von Beispielen aus dem Sommer 1997 an: „Men in Black“ (unerwarteter Hit), „Air Force One“ (erwarteter Hit) und „Die Hochzeit meines besten Freundes“ (unerwarteter Hit). Große Filmstudios mit hohen Investitionsbudgets können entsprechend differenzierte Filmportfolios erstellen und sind damit einzelnen unabhängige Produzenten überle­ gen. „The industry has demonstrated itself to be remarkably robust [. . . ], learning how to spread risk across annual portfolios of films, while recognizing the importance of investing heavily in par­ ticular film properties in the hope of capturing the huge revenues generated by the ‘hits’ of the season.“ (Pokorny & Sedgwick 2010: 78).

Die entsprechenden Größenvorteile und Risikostreuung führen zur Überlegenheit der Major-Filmstudios im Produktionsbereich. Hinzu kommen zusätzlich jahrzehntelange Erfahrung (siehe Kapitel 2), daraus resultierende Lerneffekte und ein ausgedehntes Netzwerk (siehe 3.2).

3.2 Besonderheiten der Distribution Auf die bereits genannten hohen First-Copy-Kosten zur Filmerstellung folgen in der Distribution geringe Kosten der Vervielfältigung. Bereits zu Zeiten des Analogfilms wa­ ren die variablen Kosten für weitere Filmkopien gering; in der digitalen Zeit gehen die Grenzkosten gegen Null (Shapiro & Varian 1999; Budzinski & Kuchinke 2020). Daraus folgt, dass auch in der langen Frist die Durchschnittskosten pro erreichten Zuschauer sinken und Größenvorteile entstehen. Der Distributionsvorgang generiert weit weni­ ger Aufmerksamkeit als der Produktionsprozess mit seinen Stars und Storys (Gomery 2004), dennoch ist er mit den Economies of Scale der wichtigste Bestandteil für Lang­ lebigkeit und Erfolg in der Industrie. Die Nutzung dieser Größenvorteile im internatio­ nalen Vertrieb haben lange Zeit den Wettbewerbsvorteil der Major-Studios gegenüber

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Tab. 4: Grenzüberschreitender Handel US [in Milliarden]. Datenquelle: USITC (2018: 133).. Jahr

Export

Import

2011 2012 2013 2014 2015 2016

17,9 18,7 18,4 19,8 21,4 20,4

3,6 5,5 5,2 7,5 9 10

anderen amerikanischen Konkurrenten ausgemacht (Smith & Telang 2017). Sie verfü­ gen über globale Netzwerke und Tochtergesellschaften in vielen Ländern außerhalb der USA. Unabhängige Filmproduzenten, die ihren Content global vertreiben möch­ ten und verschiedene Kinos etc. bespielen möchten, müssen verschiedene Verträge mit Filmverleihern und Kinobetreibern verhandeln, während ein einziger Vertrag mit einem der Major-Studios den Zugang zu einem weltweiten Netzwerk erlaubt. Auf die­ se Weise kontrollieren sie den Export amerikanischer Produktionen und die Produkti­ on (hausinterner aber) ausländischer Projekte.⁶ Tabelle 4 veranschaulicht das ImportExport-Verhältnis der USA für audiovisuelle Services. Der internationale Vertrieb stellt eine elementare Rolle für die US Filmindustrie dar (vgl. hierzu auch die Marktanteile in der EU, Abbildung 1 in Kapitel 1). Der Filmindustrie zu eigen ist die sequentielle Distributionsstrategie, das sog. „Windowing“. Wie bereits erwähnt werden die Filminhalte in verschiedenen Ver­ wertungsfenstern zeitlich nacheinander über unterschiedliche Kanäle veröffentlicht. Dabei vergingen früher Monate bis Jahre von der Kinodistribution bis zur Veröffentli­ chung auf VHS oder DVD. Mit fortschreitender technischer Weiterentwicklung haben sich diese Verwertungsfenster immer weiter verkürzt (Goldmedia⁷ 2017; Smith & Te­ lang 2017). Bei dieser strategischen Entscheidung stehen sich verschiedene Effekte gegenüber (Dalton & Leung 2017): (i) „Release Gap Effect“ getrieben durch Senkung der Distributionskosten durch Digitalisierung und vor allem Piraterie. Damit haben die Studios Anreize den Veröffentlichungszeitraum zwischen den Fenstern zu verkür­ zen. (ii) „Word of Mouth Effect“ durch Mundpropaganda werden positive Netzwerkef­

6 Beispielsweise: Disney: „The Walt Disney Company EMEA has a physical presence in 30 countries employing more than 6,000 people (Disneyland Paris employs an additional 16,000 people); its channels reach child­ ren and families in 133 countries.“ https://thewaltdisneycompany.eu/about/. Warner: „Warner Bros. Pictures is also a global leader in the marketing and distribution of feature films, operating offices in more than 30 countries and releasing films in over 120 international territories, either directly to theaters or in conjunction with partner companies and co-ventures.“ https://www. warnerbros.com/studio/about/company-overview. 7 Die Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie gibt auch eine Übersicht über die zeitliche Veränderung und Sequenzen in Deutschland.

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fekte in Gang gesetzt, die als Empfehlungssystem und Marketing wirken. Die Studios haben Anreize den Zeitraum zwischen den Fenstern zu verlängern. (iii) Wettbewerb zwischen Blockbustern minimieren. Mit einem Veröffentlichungszeitplan werden die Hits der Saison so getaktet, dass sie sich so wenig wie möglich kannibalisieren. Durch die sequentielle Release-Strategie und das entsprechende Timing wird Exklusivität und (Pseudo-)Knappheit suggeriert (Christophers 2012; Doyle 2016). Das Entertain­ ment im Kino, als Highlight der Saison und Auftakt-Event, und anschließend immer wiederkehrendes Marketing für jedes „neue Fenster“, generiert Bekanntheit und Ver­ trauen im Gedächtnis der Konsumenten. Seit Zeiten der Block-Buster Strategie und „New Hollywood“ (Kapitel 2) wurden diese Strategien graduell angepasst und für neue technische Gegebenheiten modifiziert. Mit neuen Wettbewerbern auf dem VoD-Markt, die Inhalte ohne Beachtung von Verwertungsfenstern auf ihren Streaming-Seiten ver­ öffentlichen, ist dieses Vorgehensweise nun disruptiv gestört worden. Damit sind konsequenterweise auch Zwischenhändler wie unabhängige Kinobetreiber betroffen.

4 Digital Giants: Netflix knows Something? Das digitale Zeitalter hat einige elementare Neuerungen in der Filmindustrie mit sich gebracht. Auf der einen Seite gesunkene Kosten in Produktion, Marketing und Ver­ trieb (Waldfogel 2016) und auf der anderen Seite neue Qualitätsansprüche z. B. an di­ gitale Bildbearbeitung, visuelle Effekte, Animation etc. Dieser Beitrag fokussiert sich jedoch auf ein ausschlaggebendes neues Element der digitalisierten Filmindustrie: die Sammlung und Verwendung von Daten. Dies stellt einen elementaren Unterschied zwischen den Studio Majors und den Digital Majors dar. Die Digital Majors und damit die neue Konkurrenz der Studios sind im enge­ ren Sinne Online-Videotheken wie Netflix oder Amazon. Dies sind VoD-Anbieter für bezahlungspflichtigen Content, also Paid-VoD (PVoD), die ihre Inhalte entweder in ei­ nem Flatrate-Modell oder transaktionsbasiert „Pay-per-View“ anbieten. Das schließt im engsten Sinne werbefinanzierte Services, Advertised-VoD (AVoD), wie YouTube oder Twitch aus. Dabei ist jedoch anzumerken, dass Google mit dem entgeltpflichti­ gen Service „YouTube Premium“ auch auf den PVoD Markt drängt und begonnen hat eigene „Originals“ zu produzieren. Damit könnte YouTube zukünftig in Konkurrenz zu Netflix & Co treten, diese Entwicklung bleibt aber abzuwarten.⁸ Darüber hinaus übt selbst die klassische AVoD-Version von YouTube Wettbewerbsdruck auf Fernse­ hen und PVoD-Anbieter aus (siehe hierzu empirische Ergebnisse von Budzinski et al. 2020b).

8 YouTube Premium stellt aktuell einen Hybrid aus Video-Inhalten (Gegenstand dieser Analyse), aber vor allem Musikinhalten dar. Damit könnte Google vor allem versuchen mit Spotify & Co als Musik­ streaming-Dienstleister zu konkurrieren.

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Tab. 5: Top 10 PVoD-Anbieter weltweit [in Millionen]. Abgeändert und erweitert. Datenquelle: FIPP (2019). Stand: 2020. Rang

VoD Anbieter

Land

Zahlende Abonnenten

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

Netflix Amazon Prime Video a iQiyi Tencent Video Youku Disney+ b Apple TV Plus c Hulu Viu Alt Balaji

Global Global China China China Global Global USA SO Asien Indien

182,9 (2020 Q1) 150,0 (2019 Q4) 100,0 (2019 Q2) 94,9 (2019 Q3) 81,1 (2019 Q3) 50,0 (2020 Q1) 33,6 (2019 Q4) 31,8 (2019 Q4) 30,0 (2019 Q1) 20,0 (2019 Q4)

a

Amazon gibt keine genauen Informationen über Prime Video Nutzer heraus. Dies sind die weltweiten Nutzer des allgemeinen Prime Services in dem die Video-Datenbank integriert ist. Doch allein über den Google Play Store wurde die Prime Video App bereits mehr als 100 Millionen Mal heruntergeladen. b Schätzungsweise rund 40 Prozent temporäre Nutzer, die das Testabonnement des Anbieters nutzen. Anfang 2020 gab Disney 28 Millionen Subscriber an. c Ein großer Anteil der Apple TV Plus Nutzer könnte auch nur das unentgeltliche Test-Jahr des Anbieters nutzen, das im November 2019 mit Kauf eines Apple Endgerätes ermöglicht wurde.

Die Angaben der PVoD-Anbieter bezüglich ihrer Nutzerzahlen sind kontrovers und genaue Zahlen kaum verfügbar. Es existieren diverse Pressemitteilungen, Studi­ en und Hochrechnungen. Eine aktuelle Zusammenfassung stellt Tabelle 5 dar, in der die Top 10 PVoD-Services hinsichtlich ihrer Nutzerzahlen gelistet werden. Global sind vor allem Netflix und Amazon zu nennen, bemerkenswert ist jedoch auch der Erfolg der chinesischen Anbieter, die allein in China agieren und dennoch große Nutzergruppen erreichen. Auch die Major Studios sind im PVoD-Markt tätig. Disney ist unter den Top 10 mit Disney+ und Hulu vertreten. Hulu war ursprünglich ein Gemeinschaftsprojekt von Disney, Fox, Universal und Time Warner. In 2019 hat Disney die Anteile und damit die Kontrolle des Unternehmens übernommen.⁹ Die anderen Major Studios schaffen es nicht in die obersten Ränge des VoD-Marktes. Warner bietet in den USA HBO Max und HBO Now an, Sony zeigt Inhalte auf Play Station Video, Universal plant laut Presseangaben noch einen eigenen Service und auch Paramount hat keinen eigenen Streaming-Service. Der Markt ist aktuell sehr dynamisch und stark umkämpft (Budzinski & Lindstädt-Dreusicke 2020; Lindstädt-Dreusicke & Budzinski 2020). Die Übersicht verdeutlicht, dass die Studios aktuell in diesem Bereich nicht marktbeherrschend sind, wobei davon auszugehen ist, dass die bereits stark ver­ tikal integrierten Medienkonzerne (siehe Kapitel 2) Anreize haben den VoD-Markt

9 Pressebericht CNN (Disis 2019).

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in den nächsten Jahren weiter zu erschließen. Der Anteil unabhängig produzierter Filminhalte (sogenannter „Independents“), die nicht von den Major Studios (oder mit deren Beteiligung) produziert wurden, steigt stetig. Waldfogel (2016) zeigt, dass vor allem im VoD-Markt das Angebot unabhängiger Produzenten in den letzten Jahren zunimmt. Zum aktuellen Zeitpunkt verteidigen die Major Studios ihre Vorreiterpo­ sition als Inhalte-Anbieter (auch mit alten, aber beliebten Filmen und Klassikern). Mit steigender Anzahl an Eigenproduktionen der VoD-Anbieter könnte dieser Vor­ sprung allerdings im Zeitablauf dahinschmelzen und der Zugang zu Konsumenten über Online-Videotheken strategisch immer wichtiger werden.

4.1 Veränderungen in der Produktion In der Produktion zeigen die großen VoD-Player, allem voran Netflix, selbstbewusste und neuartige Entscheidungen, welche Inhalte produziert werden sollen und in wel­ chem Umfang. Dabei wählen sie einen der Filmindustrie ungekannten Ansatz: inno­ vative Verwendung von Informationen aus Daten als Entscheidungsgrundlage. Statt „Nobody knows anything“ zeigt das Beispiel der Produktion House of Cards „Net­ flix knows something“. Im amerikanischen Fernsehmarkt wird standardmäßig für die Entstehung einer neuen Serie zunächst eine Pilotfolge (eine erste Probefolge) finan­ ziert. Für diese wird durchschnittlich zwischen 5–6 Millionen US-Dollar investiert, wo­ bei viele Serien schlussendlich nicht umgesetzt werden. Ca. 800 Millionen US-Dollar werden jährlich für solche Pilotprojekte eingesetzt (Smith & Telang 2017). Während TV-Sender, denen das Drehbuch zu House of Cards zunächst vorgestellt wurde, mit der Finanzierung einer Pilotfolge zögerten, investierte Netflix nicht nur in ein Pilotpro­ jekt, sondern bot 100 Millionen US-Dollar für zwei Staffeln mit 26 Episoden. Sie waren aufgrund ihrer Daten überzeugt, dass die Serie ein Hit werden würde, da zahlreiche Konsumenten sich für David Fincher Filme mit Kevin Spacey in der Hauptrolle inter­ essierten (Smith & Telang 2017). Durch die Beobachtung des Konsumentenverhaltens auf der Videoplattform lernt Netflix die Präferenzen der Zuschauer einzuschätzen und verringert das „Nobody-Knows“-Risiko. Obwohl die Entscheidung zu House of Cards in der Industrie sehr skeptisch betrachtet wurde, zeigt der Erfolg dieses (und weite­ rer) Beispiele den Erfolg der Datenanalyse und deren Einsatz bereits in der Produkti­ on. Durch die Masse und Details an beobachtbaren Daten ergeben sich neue Zusam­ menhänge und Präferenzmuster, die vorher nicht nachvollziehbar waren. So stehen Inhalte-Anbietern in traditionellen Verwertungsfenstern wie Kino und TV lediglich akkumulierte Einschaltquoten oder Zahlen von Kinobesuchern zur Verfügung. Hin­ gegen haben VoD-Betreiber Zugang zu weiteren relevanten Detailinformationen wie z. B. wann der Konsument einen Film pausiert, wie viele Folgen eine Serie auf ein­ mal gesehen werden, welche Inhalte gerne im Verbund geschaut werden, etc. Netflix fragt bereits bei einer Account-Erstellung erste Präferenzen der neuen Zuschauer ab („stated preferences“) und beobachtet dann das tatsächliche Nutzungsverhalten auf

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Produktion

Distribution

Konsumenten

Abb. 2: Präferenzgerechte Produktion. Eigene Abbildung.

der Plattform („revealed preferences“). Diese angegebenen und offenbarten Präferen­ zen (Budzinski & Kuchinke 2020) und deren Analyse dienen damit als Entscheidungs­ grundlage für Investitionen in zukünftige Projekte, wie in Abbildung 2 dargestellt. Die Daten spielen folglich eine elementare Rolle für Investitionsentscheidungen und die Produktion (z. B. Auswahl der Schauspieler, Regie, etc.).

4.2 Veränderungen in der Distribution Die systematische und massenhafte Sammlung, Aufbereitung und Analyse von Konsumentendaten eröffnen Anbietern völlig neue Möglichkeiten, nicht nur in der Produktion, sondern auch im Vertrieb audiovisueller Inhalte. Ein elementarer Be­ standteil des digitalen Vertriebes sind dabei Bereitstellungssysteme, um Inhalte auszuwählen und für Konsumenten verfügbar zu machen. Die algorithmische Be­ reitstellung von Inhalten wird heute angepasst an individuelle Präferenzen. Aus der Masse an verfügbaren Inhalten, die ein Streaming-Service anbietet, werden mithilfe digitaler Such- und Empfehlungssysteme Content-Vorschläge ausgewählt, die auf den angegebenen und offenbarten Präferenzen des Konsumenten der je­ weiligen Plattform beruhen (Gaenssle & Budzinski 2020; Budzinski et al. 2022, in Druck). So werden präferenzgerechte Angebote z. B. auf der Startseite vorgestellt, als Suchergebnis gelistet, oder bei Beendigung des vorhergehenden Videos angezeigt. Die Empfehlungen basieren nicht nur auf einem einzelnen Algorithmus, sondern auf einem Algorithmen-System aus einer Vielzahl an Algorithmen, die sich ergän­ zen. In der Literatur werden drei Arten von Empfehlungssystemen unterschieden (i) intrapersonelle Präferenzen („Content-Based“, basierend auf der individuellen Konsumhistorie), (ii) interpersonelle Präferenzen (genannt „Collaborative Filtering“, basierend auf dem Konsumverhalten anderer Konsumenten mit ähnlichem Präfe­ renzen), (iii) intra- und interpersonelle Hybridmethode (eine Kombination aus (i) und (ii)) (Adomavicius & Tuzhilin 2005; Zhang et al. 2019). Zudem bieten einige Streaming-Services Kategorien wie „Trending now“ oder „in deiner Region beliebt“, um dem Zuschauer die (vermeintlichen) Hits des eigenen Umfelds und der Masse an Zuschauern zu signalisieren (Gomez-Uribe & Hunt 2015: 13:2).

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Produktion

Distribution

Konsumenten

Abb. 3: Präferenzgerechte Distribution. Eigene Abbildung.

Während es normalerweise profitmaximierend ist, mit Hilfe algorithmischer Emp­ fehlungen die individuellen Präferenzen des Nutzers zu approximieren, können un­ ter bestimmten Umständen auch Anreize dazu entstehen, die Algorithmus-basierten Ergebnisse bewusst zu verzerren. Mit den Anreizen zur Verzerrung von Suchergebnis­ sen und Empfehlungen beschäftigen sich bereits einige ökonomische Studien (unter anderem, Drugov & Jeon 2017; Bourreau & Gudin 2018; Calvano & Jullien 2018; De Cor­ nière & Taylor 2020). Dabei haben vertikal integrierte Streaming-Anbieter Anreize zur Selbstbevorzugung; sie streuen eigene Inhalte ein und steigern damit deren Erfolg. Jung & Nüesch (2020) zeigen, dass der vorhergehende Erfolg eines Videos für Kon­ sumenten ein Qualitätsmerkmal an sich darstellt. In ihrer Studie nehmen Zuschauer ein Video als qualitativ hochwertiger war, wenn es zuvor von mehr Menschen kon­ sumiert wurde. Dies zeigt positive Netzwerkeffekte und einen sich selbst multiplizie­ renden Erfolg von Videoinhalten (Mitläufereffekt, siehe Kapitel 3.1). Die VoD-Anbieter haben dementsprechend den Anreiz für ihre eigenen Inhalte einen solchen Schnee­ balleffekt (à la Adler 1985; 2006) loszutreten. Durch die strategische Schlüsselposi­ tion, den Online-Zugang zum Konsumenten, könnten mit solchen Praktiken gezielt Wettbewerber auf dem vorgelagerten Inhalte-Markt (Produktion) verdrängt werden. Abbildung 3 zeigt den Zusammenhang von Präferenzgerechter Produktion und Distri­ bution. Ein weiterer Unterschied in der Distribution der Digital Majors liegt in der Veröf­ fentlichungsstrategie. Zu Beginn der Digitalisierung ermöglichten Breitbandinternet und digitale Inhalte massive Online-Piraterie (siehe Kapitel 2). Netflix & Co setzten hier auf Konsumentenbequemlichkeit und Zugänglichkeit; sie ermöglichten einfachen le­ galen Zugang zu Videoinhalten (Smith & Telang 2017). Breit angelegte Bündelung von Filminhalten war mit physischen Produkten schwer möglich, in einer Online-Video­ thek allerdings schon. „[. . . ] a benefit of Internet TV is that it can carry videos from a broader catalog appealing to a wide range of demographics and tastes, and including niche titles of interest only to relatively small groups of users.“ (Gomez-Uribe & Hunt 2015: 13:2).

Selbst low-value Konsumenten der Piraterie zahlen häufig für diese extra Serviceleis­ tungen bspw. wird exakt vermerkt, an welcher Stelle der Serie aufgehört wurde zu

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schauen, um nach einer Pause genau an dieser Stelle wieder einsteigen zu können. Traditionelle Windowing-Sequenzen und Preisdiskriminierungsstrategien werden in diesem Fall nicht eingesetzt und der Inhalt direkt nach Erstellung auf der StreamingPlattform herausgebracht. Die VoD-Betreiber übergehen dabei Kino und Fernsehen. Statt einzelne Folgen sukzessive zu veröffentlichen, wie es im herkömmlichen TV der Fall war, stellen VoD-Anbieter häufig ganze Staffeln auf einmal zur Verfügung. Die An­ bieter sind nicht mehr an ein TV-Programm gebunden, erhöhen so den Suchtfaktor für Inhalte auf ihrer Plattform, sogenanntes Binge-Watching (Gaenssle & Kunz-Kal­ tenhäuser 2020), und reduzieren Piraterie-Anreize. Insgesamt haben sich die Digital Majors in der Online-Welt einige Wettbewerbs­ vorteile gegenüber den Studio Majors erarbeitet. Die Konkurrenz kommt für die Studi­ os nun nicht mehr aus den eigenen Reihen, wie z. B. Lionsgate (mit großen Hits wie Die Tribute von Panem), sondern aus anderen Bereichen, v. a. aus nachgelagerten Märk­ ten. Netflix als ehemalige Online-Videothek mit dem Versand von Filmen auf DVD und Blu-ray oder der Shopping-Riese Amazon bringen digitales Knowhow mit, das an be­ stimmten Stellen (z. B. Datenauswertung und Algorithmen) überlegen ist. Tab. 6: Zusammenfassung – Neuheiten Produktion und Distribution. Eigene Darstellung. Zusammenfassend in der Produktion

Zusammenfassend in der Distribution

Investitionsentscheidung basierend auf Daten d. h. Konsumentenpäferenzen (z. B. ganze Staffel statt Pilot) Produktionsentscheidungen basierend auf Konsumentenpräferenzen (z. B. Story, Cast, etc.)

Individualisierte Inhaltebereitstellung (Suchund Empfehlungssysteme) Individualisiertes Marketing (z. B. verschiedene Trailer präferenzgerecht für Zielgruppe) Inhaltebündelung (Bündelung statt Preisdiskrimierung, Konsumentenkomfort und Zugänglichkeit gegen Piraterie)

5 Fazit: The Future is Now, Always . . . Seit fast einem Jahrhundert dominieren einige wenige Major Studios Hollywoods Film­ industrie; sie haben zahlreiche Innovationen des zwanzigsten Jahrhunderts überstan­ den: „In the twentieth century, low-cost paperback printing, word-processing and desktop publishing software, recording to magnetic tape (and later to videocassettes, CDs, and DVDs), radio, televi­ sion, cinema multiplexes, the Walkman, cable television, and a host of other innovations were introduced. Through it all, three to six firms – often the same three to six firms – maintained control over [media] their industries.“ (Smith & Telang 2017: 12).

196 | Sophia Gaenssle

Die Auswirkungen der Digitalisierung sind allerdings rasanter und tiefgreifender als alle bisherigen Entwicklungen der Medienbranche. Wettbewerbsdruck kommt für die Major Filmstudios nicht mehr aus den eigenen Reihen, sondern geht hauptsächlich von digitalen Giganten mit umfänglichem digitalen Knowhow aus. Hier steht DigitalKnowhow versus Film-Knowhow. Ist dies nun das Ende der Studiomacht und eine neue Ära des Films? Ähnlich wie bei der Einführung des Röhrenfernsehers, die die Studios ins Wanken brachte (sie­ he Kapitel 2), haben digitale Innovationen tiefschürfende Veränderungen und Ein­ schnitte für die Mediengiganten gebracht. Es bleibt abzuwarten, ob sie sich, wie be­ reits in der „Post-Studio Era“, auch im „Digital Hollywood“ durchsetzen können. Die Digitalisierung hat in der gesamten Medienindustrie Marktcharakteristika verändert, auf die insbesondere etablierte Medienunternehmen neue Antworten finden mussten und müssen. Die Adaptions- und Innovationsfähigkeit der Studio Majors ist an die­ ser Stelle gefragt. Disney hat beispielsweise schon in der Vergangenheit gezeigt, dass sie sich digitales Knowhow schlicht zukaufen. In 2006 kaufte das Unternehmen Pixar Animation Studios auf, die damaligen Vorreiter in Computeranimationstechnik mit Erfolgsproduktionen wie Toy Story. Mit entsprechenden Killer Acquisitions könnten sich die großen Studios weiteres digitales Knowhow ins Haus holen, um Wissen ab­ zuschöpfen und eigene Kompetenzen aufzubauen. Festzuhalten bleibt, dass die Entwicklungen aus ökonomischer Sicht neuen Wett­ bewerb und damit neue Dynamik und Innovationsdruck in den Filmmarkt bringen. Die Major Studios versuchen durch vertikale Integration und eigene Erschließung des VoD-Marktes dem entgegenzusteuern und die Neueindringlinge zu verdrängen. Das Wettbewerbsverhalten des neuen vertikalen Giganten AT&T Time Warner (nach dem Zusammenschluss in 2019) in benachbarten Märkten kann hier beispielhaft angeführt werden; der Zusammenschluss hat bereits zu ersten Blackouts bei konkurrierenden TV-Sendern geführt (Stöhr et al. 2020). Ein ähnliches Verhalten und ein harter Ver­ drängungskampf können auch im VoD-Markt erwartet werden. Zu welchen neuen Strukturen dieser Wettbewerb führen wird, ob der Wettbewerb tatsächlich dynamisch bleibt, oder sich ein weiteres marktmächtiges Oligopol herausbildet, bleibt abzuwar­ ten. Vorstellbar wäre ein digitales Oligopol à la GANA (Google, Amazon, Netflix & Apple) oder, aufgrund mangelnder Erfolgsaussichten Googles, aber großen Bemü­ hungen Disneys DANA (Disney, Amazon, Netflix & Apple).

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Justus Haucap

Glücksspielregulierung aus ordnungsökonomischer Perspektive 1

Einleitung | 201

2

Regulierungsbedarf auf Glücksspielmärkten | 202

3

Entwicklung der Glücksspielregulierung in den letzten 20 Jahren | 208

4

Marktsituation bei Glücksspiel in Deutschland | 212 4.1 Legales und nicht legales Glücksspiel in Deutschland | 212 4.2 Marktvolumen und Marktentwicklung | 214

5

Anforderungen an einen effektiven und sachgerechten Ordnungsrahmen | 216 5.1 Ziele | 216 5.2 Internationale Erfahrungen | 216 5.3 Konkrete Anforderungen an einen effizienten Ordnungsrahmen für Glücksspiel | 220 5.4 Zwischenfazit | 223

6

Der neue Glücksspielstaatsvertrag 2021 | 224 6.1 Lizenzen | 224 6.2 Spieler- und Jugendschutz | 225 6.3 Werbemöglichkeiten | 227 6.4 Sportwetten | 227 6.5 Besteuerung | 228

7

Fazit | 232

1 Einleitung Im Frühjahr 2020 haben sich die 16 Bundesländer auf eine Novellierung des Glücks­ spielstaatsvertrages (GlüStV) geeinigt. Mit Inkrafttreten des neuen Glücksspielstaats­ vertrages zum 1. Juli 2021 soll so die Regulierung des Glücksspiels in Deutschland nach fast 20 Jahren – endlich – in einen europarechtskonformen Rahmen überführt wer­ den. Vor diesem Hintergrund erörtert der vorliegende Beitrag zum einen das ökono­ mische Rational hinter der Regulierung des Glücksspiels aus normativer Perspektive. Zum anderen wird die Entwicklung der Glücksspielregulierung in Deutschland seit 2004 skizziert, um dann auf dieser Basis und der aktuellen Marktsituation eine Eva­ luation des Regulierungsrahmens, welcher seit dem 1. Juli 2021 gilt, aus ordnungsöko­ nomischer Perspektive vorzunehmen. Anmerkung: Für hilfreiche Kommentare danke ich Franz Seitz sowie den Teilnehmerinnen und Teil­ nehmern des 53. Radeiner Forschungsseminars. Für technische Unterstützung und Zuarbeiten beim Abfassen des Manuskriptes danke ich Daniel Fritz und Marlene Merker. Abschnitt 6.5 dieses Beitrags basiert auf einem Gutachten, das im Auftrag des Deutschen Sportwettenverbands (DSWV) und des Deutschen Online Casinoverbands (DOCV) erstellt wurde (Haucap et al. 2020). https://doi.org/10.1515/9783110724523-009

202 | Justus Haucap

2 Regulierungsbedarf auf Glücksspielmärkten Die Glücksspielregulierung in Deutschland verfolgt nach § 1 des (alten und neuen) Glücksspielstaatsvertrags (GlüStV) fünf zentrale Ziele: (1) die Bekämpfung von Spiel­ sucht, (2) eine Kanalisierung der Nachfrage in legale Bahnen, (3) Jugend- und Spieler­ schutz, (4) die Betrugs- und Kriminalitätsprävention sowie (5) die Wahrung der Inte­ grität des Sports. Diese Ziele lassen sich nicht nur dem Glücksspielstaatsvertrag ent­ nehmen, sie sind vor dem Hintergrund der ökonomischen Theorie des Marktversagens auch gut begründbar. Aus ordnungsökonomischer Sicht können Märkte prinzipiell re­ gulierungsbedürftig sein, wenn ansonsten ein Marktversagen droht, wenn also der Wettbewerb auf Märkten zu ineffizienten Ergebnissen führt. In solchen Fällen kön­ nen staatliche Eingriffe die Ineffizienz reduzieren oder sogar ganz beheben, sofern das mögliche Regulierungsversagen nicht noch erheblicher ist als das identifizierte Marktversagen (Coase 1960; Demsetz 1969). Zu Marktversagen kann es kommen, wenn einer der folgenden fünf Marktversa­ gensgründe vorliegt. Erstens kann es bei öffentlichen Gütern zu Marktversagen kom­ men. Öffentliche Güter sind solche Güter, bei denen (a) die Nutzung durch einen wei­ teren Nutzer keine weiteren Kosten verursacht und insbesondere die Nutzbarkeit des Gutes für bisherige Nutzer nicht durch die zusätzlichen Nutzer eingeschränkt wird (sog. Nicht-Rivalität im Konsum) und (b) ein Ausschluss von Nutzern, welche für die Nutzung nicht zahlen wollen, mit vertretbaren Mitteln nicht möglich ist (sog. NichtAusschließbarkeit). Das Angebot von Glücksspiel ist offensichtlich schon deshalb kein öffentliches Gut, weil ein Ausschluss nicht zahlungswilliger Nutzer von der Teilnahme am Glücksspiel leicht möglich ist. Staatliche Eingriffe in den Glücksspielmarkt sind also nicht dadurch zu rechtfertigen, dass hier öffentliche Güter vorlägen. Zweitens kommt es bei sog. natürlichen Monopolen zu Marktversagen, wenn es also „natürlicher Weise“ aufgrund subadditiver Kosten (wie sie etwa bei steigenden Skalenerträgen regelmäßig vorliegen) zu einer Monopolbildung kommt und die Pro­ duktions- und Vertriebskosten am geringsten sind, wenn es nur einen einzigen Anbie­ ter am Markt gibt. Klassische Beispiele sind die netzgebundenen Versorgungsbran­ chen wie die Wasser-, Strom- oder auch Fernwärmeversorgung, bei denen der Betrieb eines zweiten Netzes jeweils ineffizient wäre. In diesen Fällen ist es vielmehr effizient, wenn nur ein Anbieter die Marktnachfrage im Bereich des natürlichen Monopols al­ lein bedient. Für das Glücksspiel lässt sich, wenn überhaupt, allein im Bereich des Lottos bzw. bei Lotterien ggf. ein natürliches Monopol ausmachen (inter alia, Walker 1998; Ayal 2010: 818 f.). Erstens dürften bei der Organisation von Lotto und Lotterien sinkende Durchschnittskosten vorliegen. Zweitens, und wesentlich wichtiger, scheint die Attraktivität des Lottospiels auch stark von der Höhe des Hauptgewinns bzw. des Jackpots abzuhängen. Die Größe des Jackpots wiederum hängt stark von der Anzahl der Teilnehmer am Spiel ab. Insofern existieren hier positive Netzeffekte. Lotto wird umso attraktiver, je höher der „Jackpot“ ist, dessen Höhe wiederum von der Anzahl

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203

der Spieler bzw. der Summe der Spieleinsätze abhängt. Aus diesem Grund ist eine gro­ ße Lotterie oft vielen kleinen Lotterien vorzuziehen. Ungeklärt ist dabei allerdings die optimale Anzahl der Lottoziehungen (Walker 1998: 389). Bei Lotto und Lotterien liegt somit zwar nicht unbedingt ein natürliches Monopol im engeren Sinne des Begriffes vor, der sich allein auf die Subadditivität der Kosten bezieht. Gleichwohl können po­ sitive Netzwerkeffekte dazu führen, dass Nachfrager eine einzige Lotterie vielen klei­ neren vorziehen und somit auch „natürlich“ ein Monopol entsteht. Ob die Netzeffekte beim Lotto allerdings automatisch ein gesetzlich abgesicher­ tes, staatliches Lottomonopol rechtfertigen, kann durchaus kritisch hinterfragt wer­ den (vgl. auch Ennuschat 2019). Denkbar ist auch, dass sich die positiven Netzeffekte über Pool-Lösungen zwischen ansonsten konkurrierenden Lottogesellschaften reali­ sieren lassen, sodass ein gemeinsamer Jackpot mehrerer Lotterien ausgespielt wird. Ein solcher gemeinsamer Jackpot ist der Eurojackpot, der inzwischen unter den staat­ lichen Lottogesellschaften aus 18 europäischen Ländern ausgespielt wird. Wenngleich die am Eurojackpot beteiligten nationalen Lottogesellschaften nicht im Wettbewerb stehen, wäre ein solcher Pool prinzipiell auch unter Wettbewerbern denkbar. Ein dritter möglicher Marktversagensgrund sind spürbare Externalitäten, bei de­ nen es erhebliche positive oder negative Auswirkungen einer Handlung auf unbe­ teiligte Dritte gibt, ohne dass diese Auswirkungen auf Dritte von den handelnden Parteien hinreichend berücksichtigt werden. Das klassische Beispiel für negative Ex­ ternalitäten sind Umweltverschmutzung und Lärm, das für positive Externalitäten Impfungen, durch die nicht nur der oder die Geimpfte, sondern auch Dritte vor In­ fektionen geschützt werden. Im Bereich des Glücksspiels sind diese externen Effekte jedoch vergleichsweise überschaubar, auch wenn oftmals viele Kosten und auch psychische Folgen, unter denen Spielsüchtige selbst leiden, fälschlicherweise als soziale Kosten bezeichnet werden (vgl. dazu bereits Walker & Barnett 1999; Walker 2003). Spielsüchtige leiden zwar regelmäßig unter ihrer Sucht, doch sind dies primär keine Externalitäten, da die Hauptlast der Sucht in der Regel der oder die Süchtige selbst trägt. Gleichwohl kön­ nen negative Externalitäten hier auch eine gewisse Rolle spielen, insofern Spielsucht auch Dritte, wie etwa Familienangehörige, negativ beeinflusst, etwa durch eine sog. Co-Abhängigkeit. Allerdings betreffen diese „Externalitäten“ in der Regel dem oder der Süchtigen nahestehende Personen wie etwa Familienmitglieder. Daher dürfte fraglich sein, ob solche familieninternen Externalitäten ein hinreichender Grund für eine staatliche Regulierung sein sollten. Gleichwohl soll auch nicht suggeriert werden, dass es außerhalb des Familien­ kreises keinerlei negativen Externalitäten gäbe. Kontrovers diskutiert wird zum einen, ob die Existenz von Spielstätten und Glücksspiel eine „Beschaffungskriminalität“ in­ duziert (Eadington 1999; Grinols & Mustard 2004; Kearney 2005). Jedoch ist zu fragen, welches Ausmaß diese „Beschaffungskriminalität“ faktisch annimmt und ob diese bei legalem oder bei illegalem Glücksspiel stärker ausgeprägt ist. Zum anderen werden

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Glücksspielstätten in Teilen als sog. NIMBY-Güter (Not in my Backyard) angesehen (inter alia, Thompson et al. 1993; Lee et al. 2010; Haucap et al. 2021). Negative Externalitäten, die über den Familienkreis hinausgehen, können zudem bei Sportwetten entstehen, wenn Wettmärkte Anreize zur Manipulation der eigent­ lichen Sportereignisse erzeugen, sodass deren Attraktivität auch für die Sportinteres­ sierten und dortigen Akteure leidet (Nolte & Wördehoff 2017). Aus ökonomischer Sicht ist die Wahrung der Integrität des Sports als Ziel der Glücksspielregulierung als ein Vermeiden negativer Externalitäten zu sehen. Gleichwohl besteht das wesentliche Problem des pathologischen Spielens nicht in den negativen Auswirkungen einer Sucht auf unbeteiligte Dritte, also die negativen Externalitäten, sondern in den negativen Konsequenzen der Sucht für die Spielsüch­ tigen selbst (dazu unten mehr). Während also öffentliche Güter, natürliche Monopole und externe Effekte als Gründe für ein mögliches Marktversagen im Bereich des Glücksspiels weitgehend aus­ scheiden (mit der Ausnahme des Ziels, die Integrität des Sports zu wahren), bleiben zwei weitere Marktversagensgründe, die für Glücksspielmärkte eine hohe Relevanz aufweisen können: Dies sind zum einen Informationsasymmetrien, zum anderen eingeschränkt rationales Verbraucherverhalten. Informationsasymmetrien bestehen, weil Spieler ggf. seriöse Anbieter von Glücksspiel nicht hinreichend von unseriösen Anbietern unterscheiden können, etwa was Ausschüttungsquoten angeht. Allerdings können Vergleichsplattformen im Internet hier für Abhilfe sorgen. In der Tat zeigt sich auch, dass Glücksspielangebote in regulierten Märkten und Glücksspielangebote in unregulierten Märkten von Spielern durchaus als Substitute betrachtet werden und Vergleichsplattformen im Internet die Informationsasymmetrien zwischen Anbietern und Spielern deutlich reduzieren.¹ Anders ausgedrückt ermöglichen es Internetver­ gleichsplattformen den Spielerinnen und Spielern heute, auch die Seriosität und Reputation von unregulierten Anbietern gut einzuschätzen. Mehr Gewicht hat dagegen die Feststellung, dass Verbraucherinnen und Verbrau­ cher nicht immer völlig rational handeln, sondern oftmals bestenfalls eingeschränkt rational. Diese eingeschränkte Rationalität ist insbesondere für das Ziel der Sucht­ bekämpfung sowie das Ziel des Spieler- und Jugendschutzes im GlüStV relevant. Beim Spieler- und Jugendschutz geht es nicht um den Schutz Dritter, sondern um den Schutz der Spieler selbst vor möglichen Suchtgefahren und den negativen Folgen für sie selbst. Zwar gibt es auch ökonomische Theorien rationaler Abhängigkeit, denen zufolge auch Suchtverhalten ein Ausdruck rationalen, nutzenmaximierenden Handelns sein kann (Stigler & Becker 1977; Becker & Murphy 1988), doch außerhalb der Ökonomik

1 Siehe: https://www.casino.guru, https://www.gambling.com/de/online-casinos/strategie/die-6online-casinos-mit-der-besten-auszahlung-97000 sowie https://www.casino.org/de/auszahlungs quote/ oder https://www.casinoonline.de/beste-auszahlungsquoten.php (zuletzt abgerufen am 20. März 2021).

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205

gilt die These, dass Individuen sich selbst in vollem Bewusstsein aller Konsequenzen einer Sucht hingeben als falsifiziert und unbrauchbar. Auch unter Ökonomen wird die Theorie kritisiert, etwa von Elster (1997; 1999) oder sehr drastisch von Rogeberg (2004; 2020), der in seinem Aufsatz mit dem schönen Titel „Taking Absurd Theories Seriously: Economics and the Case of Rational Addiction Theories“ wörtlich schreibt: Rational addiction theories illustrate how absurd choice theories in economics get taken serious­ ly as possibly true explanations and tools for welfare analysis despite being poorly interpreted, empirically unfalsifiable, and based on wildly inaccurate assumptions selectively justified by adhoc stories. The lack of transparency introduced by poorly anchored mathematical models, the psychological persuasiveness of stories, and the way the profession neglects relevant issues are suggested as explanations for how what we perhaps should see as displays of technical skill and ingenuity are allowed to blur the lines between science and games. (Rogeberg 2004: 263)

Empirisch fruchtbarer scheint in der Tat die These zu sein, dass Individuen sich eben nicht unter Abwägung aller Konsequenzen in ein Suchtverhalten hineinbegeben und sodann glücklich ihrer nutzenmaximierenden Sucht frönen, sondern dass zumindest ein Teil der Spielerinnen und Spieler nur (stark) eingeschränkt rational handelt und sogar ärztlicher Hilfe und einer Therapie bedarf. Das Bild des rationalen, glücklichen und nutzenmaximierenden Süchtigen ist ein Zerrbild, das Ökonomen spannend fin­ den mögen, aber doch sehr realitätsfremd ist. Dass Glücksspiel ein gewisses Suchtpotenzial aufweist, kann vernünftigerweise nicht bestritten werden. Die letzte Erhebung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung kommt zu folgendem Befund: Die Befragung 2017 kommt für die 16- bis 70-Jährigen bevölkerungsweit auf eine Schätzung der 12-Monats-Prävalenz des pathologischen Glücksspiels von 0,31 % (männliche Befragte: 0,55 %, weibliche: 0,06 %) und des wahrscheinlich problematischen Glücksspiels von 0,56 % (männliche Befragte: 0,64 %, weibliche: 0,47 %). (Banz & Lang 2017: 15)

Somit neigen zwar aktuell weniger als ein Prozent der Bevölkerung in Deutschland zu einem pathologischen Spieltrieb, dennoch kann dies aufgrund der erheblichen per­ sönlichen Konsequenzen Grund für Markteingriffe sein, um diese Individuen und ggf. ihre Angehörigen vor sich selbst zu schützen. Allerdings ist bei der Frage nach einer sachgerechten Marktregulierung auch zu berücksichtigen, dass von den gut 75 % der deutschen Bevölkerung, welche bereits irgendwann in ihrem Leben mindestens ein­ mal an einem Glücksspiel teilgenommen haben (sog. Lebenszeitprävalenz; Banz & Lang 2017: 13), nur ein sehr geringer Teil eine pathologische Spielneigung entwickelt. Es gilt somit eine Balance zu finden, um Spieler mit einem Suchtpotenzial (vor sich selbst) zu schützen, zugleich aber dem Gros der Spieler nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 GlüStV „ei­ ne geeignete Alternative zum nicht erlaubten Glücksspiel darstellendes Glücksspiel­ angebot“ zu unterbreiten, um „den natürlichen Spieltrieb der Bevölkerung in geord­ nete und überwachte Bahnen zu lenken“.

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In der Diskussion über die Glücksspielregulierung spielt darüber hinaus die Theo­ rie der meritorischen bzw. demeritorischen Güter eine gewisse Rolle (inter alia, Grinols & Omorov 1996; Gross 1998), auch wenn die Theorie der (de)meritorischen Güter unter Ökonomen als weitgehend diskreditiert angesehen werden kann. Meritorische Güter sind solche Produkte, deren Produktion und Konsum per se als gesellschaftlich be­ sonders erwünscht angesehen werden. Dementsprechend sind demeritorische Güter das Gegenteil, nämlich Güter, deren Produktion und/oder Konsum gesellschaftlich als unerwünscht betrachtet werden. Es geht dabei allerdings nicht etwa um positive Ex­ ternalitäten (meritorische Güter) oder negative Externalitäten (demeritorische Güter), sondern um eine (angebliche) Ursache für Marktversagen sui generis, die gerade nicht auf Externalitäten beruhe. Das Kernargument der Meritorik liegt darin, dass Individuen entweder selbst nicht wissen, welche Produkte gut oder schlecht für sie sind und sie diese deshalb nicht oder eben zu viel nachfragen oder aber, dass Individuen zwar wissen, welche Produkte gut (und schlecht) für sie wären, diese aber dennoch nicht (oder zu viel) nachfragen, weil sie Versuchungen unterliegen. Eine rein marktwirtschaftliche Be­ reitstellung würde deshalb zu einem Angebot führen, das nicht dem gesellschaftlich wünschenswerten Angebot entspricht, so die Argumentation. Deshalb müsse der Staat korrigierend eingreifen. Des Weiteren wird angenommen, dass es Individuen gibt, die besser wissen, wie der „richtige“ Konsum für fehlgeleitete Bürgerinnen und Bürger aussieht und diese Individuen (kollektiv) über ein angemessenes Konsumni­ veau entscheiden sollen. Während das Argument, dass Individuen selbst nicht wissen, was gut und schlecht für sie ist, eine paternalistische Argumentation ist, die sich aber unter Umständen noch mit dem Vorliegen asymmetrischer Informationen versöhnen lässt, ist das zwei­ te Argument, dass Individuen trotz besserem Wissen Versuchungen unterliegen, eine eher verhaltensökonomische Begründung. Beide Argumente liefern jedoch keine wei­ tere neue Begründung für das Vorliegen von Marktversagen. Informationsasymme­ trien als auch Verhaltensfehler sind bereits Bestandteile des bestehenden Prüfkanons für Marktversagenstatbestände. Die Klassifizierung eines Gutes oder einer Dienst­ leistung als meritorisch oder demeritorisch liefert also kein neues Argument für Marktversagen, sondern bringt lediglich eine Verkleidung schon bekannter Markt­ versagensgründe (externe Effekte, Informationsasymmetrien, Verhaltensfehler) in anderem Gewand. Es ist daher auch nicht schwer zu verstehen, warum diese Theorie in der Öko­ nomie weitgehend diskreditiert ist. So schreiben z. B. schon Baumol und Baumol (1981: 426 f.) im Kontext der staatlichen Kunstförderung: The term merit good merely becomes a formal designation for the unadorned value judgement that the arts are good for society and therefore deserve financial support. . . the merit good ap­ proach is not really a justification for support – it merely invents a bit of terminology to designate the desire to do so.

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Das Konzept der Meritorik liefert somit keine sinnvolle ökonomische Begründung für oder gegen die Bereitstellung eines Gutes; es ist nicht mehr als ein Werturteil, dass jemand sich etwas Spezielles wünscht oder eben nicht. In der Ökonomie führt das Konzept daher zurecht ein Schattendasein, im Grunde wird es primär als pseudowis­ senschaftliche Begründung für eigene Überzeugungen benutzt, vor allem von Inter­ essengruppen. In Bezug auf die o. g. Ziele des GlüStV lassen sich Markteingriffe zur Wahrung der Integrität des Sports, zur Betrugs- und Kriminalitätsprävention als auch zu Zwe­ cken des Jugend- und Spielerschutzes durch Informationsasymmetrien ökonomisch begründen. Wesentlich ist hier sicherzustellen, dass Spiele nicht manipuliert werden, Auszahlungen korrekt erfolgen, Gewinnchancen korrekt angegeben werden usw. Im Bezug auf die Integrität des Sports liegen zudem bei einer Manipulation von Sporter­ eignissen auch Externalitäten vor, da nicht nur die entsprechenden Wettmärkte be­ troffen sind, sondern auch unabhängige Mitspieler, Zuschauer und andere Beteiligte (wie etwa Sponsoren) geschädigt werden können. Das bedeutendste Marktversagen droht jedoch, weil zumindest ein Teil der Markt­ teilnehmer nicht vollständig rational agieren dürfte. Davon ist besonders bei spiel­ süchtigen Personen auszugehen, aber teils auch bei Jugendlichen, welche die voll­ ständigen Konsequenzen ihres Handelns ggf. noch nicht abzusehen vermögen. Die Spielsuchtbekämpfung, aber auch das Ziel des Jugendschutzes als eine besondere Form der Suchtprävention, lassen sich durch diese eingeschränkte Rationalität öko­ nomisch gut herleiten und als Regulierungsziele begründen. Um diese Ziele errei­ chen zu können, ist eine Kanalisierung des Glücksspielkonsums in einen legalen, staatlich beaufsichtigten Rahmen unabdingbar, da auf Schwarzmärkten Spielsucht­ bekämpfung, Spieler- und Jugendschutz als auch die anderen Ziele des GlüStV kaum erreichbar sind. In der Gesamtschau sind also die Regulierungsziele des GlüStV auch normativ sehr gut aus der ökonomischen Theorie des Marktversagens herleitbar. Das Vorliegen von Marktversagen allein rechtfertigt aus ökonomischer Sicht je­ doch noch nicht automatisch eine staatliche Regulierung und schon gar nicht jedwe­ de Regulierung. Vielmehr müssen die Risiken eines Regulierungsversagens, welche darin bestehen, dass die regulatorischen Ziele nicht erreicht werden oder die oben identifizierten Probleme ggf. sogar noch vergrößert werden, gegen die Gefahren des Marktversagens abgewogen werden. Zudem sollten die einzelnen Regulierungsmaß­ nahmen auch zielführend, notwendig und angemessen sein, um das gesteckte Ziel zu erreichen. Wie wir im folgenden Abschnitt zeigen werden, hat die Regulierung des Glücksspiels in Deutschland die selbst gesteckten Ziele in den letzten 20 Jahren vor allem deswegen nicht erreicht, weil gerade im stark wachsenden Bereich des OnlineGlücksspiels das Ziel der Kanalisierung in legale Bahnen massiv verfehlt wurde und somit auch die anderen Ziele nicht erreicht werden konnten.

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3 Entwicklung der Glücksspielregulierung in den letzten 20 Jahren Die gesetzgeberische Zuständigkeit für das materielle Glücksspielrecht liegt nach Art. 70 Abs. 1 Grundgesetz (GG) bei den Bundesländern.² Bis zum 01.07.2004 hat­ ten die Bundesländer unterschiedliche, eigene Lotterie- und Glücksspielgesetze. Alle Landesgesetze enthielten dabei zwar Regelungen für ein staatliches Lotteriemonopol, jedoch variierten die Regelungen insbesondere in Bezug auf das Angebot von Sport­ wetten. Am 18.12.2003 schlossen die Bundesländer sodann den Lotteriestaatsvertrag (LottStV) ab, der am 01.07.2004 in Kraft trat. Nachdem bis dahin in den Bundesländern verschiedenartige Rechtsgrundlagen für das Lotterie- und Glücksspielwesen bestan­ den, wurde mit dem Staatsvertrag zum Lotteriewesen in Deutschland (Lotteriestaats­ vertrag) das Lotterierecht und Glücksspielrecht (mit Ausnahme des Spielbankrechts) vereinheitlicht. Ziele des LottStV waren nach § 1: (1) den natürlichen Spieltrieb der Bevölkerung in geordnete und überwachte Bahnen zu len­ ken, insbesondere ein Ausweichen auf nicht erlaubte Glücksspiele zu verhindern, (2) übermä­ ßige Spielanreize zu verhindern, (3) eine Ausnutzung des Spieltriebs zu privaten oder gewerb­ lichen Gewinnzwecken auszuschließen, (4) sicherzustellen, dass Glücksspiele ordnungsgemäß und nachvollziehbar durchgeführt werden und (5) sicherzustellen, dass ein erheblicher Teil der Einnahmen aus Glücksspielen zur Förderung öffentlicher oder steuerbegünstigter Zwecke im Sin­ ne der Abgabenordnung verwendet wird.

Die Ziele des LottStV, die bereits eine Ähnlichkeit zu den Zielen des heutigen GlüStV aufweisen, sollten – angeblich – dadurch erreicht werden, dass bundesweit das in den Ländern bereits bestehende Monopol für Lotto und Sportwetten fortgeschrieben wurde. Am 28.03.2006 erklärte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) den LottStV je­ doch für verfassungswidrig.³ Es sei nach Maßgabe der Gründe mit Art. 12 Abs. 1 GG unvereinbar, dass Sportwetten nur staatlich veranstaltet und vermittelt werden dür­ fen, ohne dass das staatliche Monopol zugleich konsequent am Ziel der Bekämpfung der Suchtgefahren ausgerichtet werde. Das staatliche Sportwettenmonopol sei in sei­ ner damaligen Ausgestaltung unvereinbar mit der Berufsfreiheit privater Sportwet­ ten-Anbieter. Allerdings stellte das BVerfG das staatliche Sportwettenmonopol nicht grundsätzlich in Frage, sondern nur dessen damalige Ausgestaltung, die nicht auf ei­ ne Bekämpfung der Spielsucht ausgerichtet sei. Das BVerfG gab dem Gesetzgeber auf, bis zum 31.12.2007 eine gesetzliche Neuregelung zu schaffen.

2 BVerfG, Beschluss vom 18. März 1970 – 2 BvO 1/65 = BVerfGE 28, 119 für das Spielbankrecht. 3 BVerfG, Beschluss vom 28.03.2006 – 1 BvR 1054/01.

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Der Vorgabe des BVerfG folgend wurde der LottStV am 01.01.2008 durch den Glücksspielstaatsvertrag (GlüStV) abgelöst. Die Ziele des GlüStV waren denen des LottStV ähnlich, nach § 1 GlüStV 2008 waren die Ziele: (1) das Entstehen von Glücksspielsucht und Wettsucht zu verhindern und die Voraussetzungen für eine wirksame Suchtbekämpfung zu schaffen, (2) das Glücksspielangebot zu begrenzen und den natürlichen Spieltrieb der Bevölkerung in geordnete und überwachte Bahnen zu lenken, ins­ besondere ein Ausweichen auf nicht erlaubte Glücksspiele zu verhindern,(3) den Jugend- und den Spielerschutz zu gewährleisten, (4) sicherzustellen, dass Glücksspiele ordnungsgemäß durchge­ führt, die Spieler vor betrügerischen Machenschaften geschützt und die mit Glücksspielen ver­ bundene Folge- und Begleitkriminalität abgewehrt werden.

Die Suchtbekämpfung wird somit nun seit 2008 explizit als Ziel erwähnt und stärker in den Vordergrund gerückt. Die Einnahmenaufteilung war hingegen im GlüStV 2008 kein erklärtes Ziel mehr. Vor dem Hintergrund des erwähnten Urteils des BVerfG ver­ suchten die Länder allerdings, die staatliche Monopolisierung des Sportwettenmark­ tes etwa dadurch verfassungskonform zu gestalten, dass unter anderem relativ strik­ te Werbebeschränkungen festgelegt wurden. Nach § 5 Abs. 1 GlüStV 2008 hatte sich Glücksspielwerbung „zur Vermeidung eines Aufforderungscharakters bei Wahrung des Ziels, legale Glücksspielmöglichkeiten anzubieten, auf eine Information und Auf­ klärung über die Möglichkeit zum Glücksspiel zu beschränken.“ Ferner durfte solche Werbung nach § 5 Abs. 2 GlüStV 2008 „nicht gezielt zur Teilnahme am Glücksspiel auffordern, anreizen oder ermuntern“. Werbung im Fernsehen und im Internet sowie Werbung für andere Anbieter als den staatlichen Monopolanbieter Oddset war nach § 5 Abs. 3,4 GlüStV 2008 untersagt. Diese Beschränkungen führten in der Folge zum einen wiederholt zu Konflikten mit Sportvereinen, etwa bei Trikotwerbung, und auch bei Spielen ausländischer Vereine in Deutschland (Monopolkommission 2012: Tz. 24). Zugleich legte der staatliche Anbieter Oddset die Werberegeln in der Folgezeit sehr großzügig aus. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) erklärte das deutsche Staatsmonopol für Sportwetten daraufhin am 08.09.2010 in seiner existierenden Form für europarechts­ widrig.⁴ Ein staatliches Wettmonopol sei zwar grundsätzlich zulässig, um Spielsucht zu bekämpfen. Dies werde in Deutschland aber nicht konsequent verfolgt. Das Lotte­ rie- und Sportwettenmonopol sei nicht kohärent und systematisch auf die Erreichung der Regulierungsziele ausgerichtet, sodass eine Beschränkung der Niederlassungsund Dienstleistungsfreiheit privater Anbieter nicht gerechtfertigt sei. Das staatliche Sportwettenmonopol des damaligen Glücksspielstaatsvertrages verstoße vielmehr gegen europäisches Recht. Zur Begründung verwies der EuGH insbesondere auf die damals intensiven Werbekampagnen von Oddset, die der Suchtprävention als der notwendigen Grundlage eines Glücksspielmonopols zuwiderliefen.

4 EuGH, Urteil vom 08.09.2010, Az. C-316/07.

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In der Folge begannen die Bundesländer mit der Ausarbeitung eines neuen Regu­ lierungsrahmens und am 06.04.2011 verständigten sich die Regierungen der 16 Bun­ desländer auf einen Staatsvertrag zur Änderung des Staatsvertrages zum Glücksspiel­ wesen in Deutschland, den ersten Glücksspieländerungsstaatsvertrag (1. GlüÄndStV). Dieser sah die probeweise Öffnung des Sportwettenmarktes für sieben private Anbie­ ter mit einem Konzessionsmodell vor, wonach zunächst sieben Lizenzen für sieben Jahre mit dem Ziel vergeben werden sollten, eine bessere Kanalisierung der Spiellei­ denschaft in legale Bahnen zu erproben. Die Konzessionsabgabe sollte bei 16,67 % des Spieleinsatzes liegen. In Bezug auf gewerbliche Spielautomaten wurde für neue und bereits bestehen­ de Spielhallen eine zusätzliche Erlaubnispflicht eingeführt. Zur Umsetzung wurden auf Länderebene inhaltlich unterschiedliche Ausführungsgesetze beschlossen, wel­ che auch den Bereich der Spielhallen regeln. Für diese gelten zusätzliche Regeln wie etwa das Verbot der Abgabe von Speisen und Getränken, Beschränkungen der Öff­ nungszeiten, ein Verbot von Außenwerbung und Mindestabstände zu anderen Spiel­ hallen sowie Einrichtungen, die vorwiegend von Kindern und Jugendlichen besucht werden. Am 15.04.2011 notifizierte die Bundesrepublik den Gesetzesentwurf für den 1. GlüÄndStV bei der Europäischen Kommission. Diese gab sodann am 18.07.2011 ei­ ne ausführliche Stellungnahme ab, in der sie erhebliche Bedenken im Hinblick auf die Begrenzung des Angebots im Zusammenhang mit Online-Glücksspieldiensten sowie hinsichtlich der Vorschriften für die Veranstaltung und Vermittlung von Casi­ nospielen und Poker im Internet vorgebracht hat. Daneben machte die Kommission Bemerkungen zum Konzessionsverfahren für Sportwetten sowie zu anderen Aspek­ ten im Zusammenhang mit diesen Konzessionen, zur gewerblichen Glücksspielver­ mittlung, zur Internetwerbung, zu Aufsichtsmaßnahmen sowie zur kohärenten und systematischen Begrenzung von Wetttätigkeiten. Anders ausgedrückt formulierte die EU-Kommission ihre Einschätzung, dass wesentliche Teile des Entwurfs unvereinbar mit Unionsrecht seien. Die Kommission beanstandete, dass der Entwurf zwar vorgebe, die Öffnung des Sportwettenmarktes mit dem Ziel einer Kanalisierung illegaler Wet­ ten in den legalen Markt zu beabsichtigen, die Öffnung aber insgesamt nicht kohärent erfolge und die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen nicht belegt sei. Die Anzahl von nur sieben Lizenzen sei sehr gering und die geplante Konzessionsabgabe von 16,67 % zu hoch. Als Konsequenz kam es zu Änderungen des ursprünglichen Entwurfs. Statt sie­ ben sollten nun 20 Lizenzen an Anbieter von Sportwetten vergeben werden und eine Konzessionsabgabe in Höhe von 5 % des Spieleinsatzes erhoben werden. Der 1. GlüÄndStV beendete u. a. das Vertriebsverbot für Lotto über das Inter­ net und ermöglichte einen grenzüberschreitenden Lotto-Jackpot sowie Werbung von Spielbanken. Außerdem sah der 1. GlüÄndStV für maximal 20 private und staatli­ che Anbieter von Sportwetten für eine sog. Experimentierphase eine auf sieben Jahre begrenzte Ausnahme vom staatlichen Monopol vor. Diesen geänderten Entwurf unter­

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zeichneten alle Bundesländer mit Ausnahme von Schleswig-Holstein am 15.12.2011. Der 1. GlüÄndStV trat am 1. Juli 2012 in Kraft. Schleswig-Holstein beteiligte sich, wie bereits erwähnt, zunächst als einziges Bundesland nicht am 1. GlüÄndStV. Stattdessen beschloss der Landtag am 14.09.2011 ein eigenes „Gesetz zur Neuordnung des Glücksspiels“, das zum 01.01.2012 in Kraft trat. Das staatliche Veranstaltungsmonopol für Lotto blieb bestehen, die Beschrän­ kungen bei Vertrieb und Werbung wurden jedoch weitgehend aufgehoben. Zugleich ermöglichte Schleswig-Holstein es privaten Anbietern für Sportwetten und OnlineCasinos für jeweils sechs Jahre Lizenzen zu erhalten. Die Konzessionsabgabe richtet sich dabei nicht nach dem Spieleinsatz, sondern nach dem Bruttospielertrag. Die Höhe dieser Bruttospielertragsabgabe lag bei 20 %. Bei der Landtagswahl 2012 ver­ lor die Koalition aus CDU und FDP ihre Mehrheit und die neue Landesregierung aus SPD, Grünen und SSW trat im Januar 2013 dem 1. GlüÄndStV bei und beendete damit die landesspezifische Sonderregelung. Bis dahin waren in Schleswig-Holstein jedoch bereits 25 Lizenzen für Sportwetten und 23 für Online-Casinos erteilt worden (Nolte 2017). Das bundesweite Vergabeverfahren für die 20 Sportwetten-Konzessionen wurde am 08.08.2012 eröffnet, unter Federführung des Landes Hessen. Alle Entscheidungen im Konzessionsverfahren sollten nach § 9 Abs. 5 GlüÄndStV vom sog. Glücksspielkol­ legium getroffen werden, das mit Verwaltungsvertretern aller Länder besetzt ist (inter alia, Kirchhof 2016a; 2016b). Die Vergabe der im 1. GlüÄndStV vereinbarten Lizenzen war zunächst für das Frühjahr 2013 angekündigt, verzögerte sich allerdings. Im September 2014 wurde das Verfahren zur Vergabe von Sportwetten vom Verwaltungsgericht Wiesbaden als in­ transparent und als Verletzung der Dienstleistungsfreiheit im Binnenmarkt bewer­ tet und letztendlich mit Beschluss vom 05.05.2015 gestoppt. Das Land Hessen legte daraufhin beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof (VGH) Beschwerde ein. Der VGH bestätigte das Urteil des Verwaltungsgerichts Wiesbaden jedoch am 16.10.2015 und er­ klärte die Vergabe der Konzessionen durch das Glücksspielkollegium als verfassungs­ widrig.⁵ Am 04.02.2016 erklärte der EuGH daraufhin, dass der rechtliche Zustand der Glücksspielregulierung weiterhin europarechtswidrig sei.⁶ Die Ministerpräsidenten der Bundesländer einigten sich daraufhin am 16.03.2017 auf einen weiteren Glücksspieländerungsstaatsvertrag (2. GlüÄndStV), der am 01.01.2018 in Kraft treten sollte. In Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen kam es jedoch nach neuerlichen Regierungswechseln in den beiden Landtagen nicht zu einer Zustimmung, sodass die Ratifizierung des 2. GlüÄndStV scheiterte (Bremer 2018; Terhechte 2019: 94 ff.).

5 Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 16.10.2015 – Az.: 8 B 1028/15. 6 EuGH, Urteil vom 04.02.2016 – Az.: C-336/14.

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Nach dem Scheitern des 2. GlüÄndStV wurden erneut Verhandlungen zur Neure­ gulierung des Glücksspielsektors aufgenommen. Die Bundesländer einigten sich im März 2019 auf einen dritten Glücksspieländerungsstaatsvertrag (3. GlüÄndStV), der als Übergangslösung bis Ende Juni 2021 gelten sollte. Darin wurde unter anderem die Befristung auf 20 Sportwetten Konzessionen aufgehoben. Zugleich wurde die Verga­ be von Online-Casino-Lizenzen durch das Land Schleswig-Holstein von den anderen Bundesländern anerkannt (Reeckmann 2020; Hilf & Umbach 2020). In der Folge hat das Land Hessen am 12.10.2020, nachdem zuvor ein Rechtsstreit die Lizenzvergabe blockiert hatte, die ersten 15 Lizenzen zum Angebot von Sportwetten erteilt. In der Folge (Stand: 07.06.2021) sind weitere 14 Konzessionen erteilt worden. Am 17./18.01.2020 haben sich die Staatskanzleien der Bundesländer zudem auf einen neuen Glücksspielstaatsvertrag geeinigt, der seit dem 01.07.2021 gilt und unter anderem auch eine Lizenzerteilung für Online-Automaten-Spiele und Online-CasinoSpiele ermöglicht und einen neuen Regulierungsrahmen definiert. Die Details des Glücksspielneuregulierungsstaatsvertrages (GlüStV 2021) werden in Kapitel 6 aus­ führlicher beschrieben und bewertet. Die Bundesregierung hat den GlüStV 2021 am 18.05.2020 zur Notifizierung bei der EU-Kommission eingereicht, und zwischen dem 23. und 29.10.2020 wurde der GlüStV 2021 von den Regierungschefinnen und -chefs der Bundesländer unterzeichnet. Die Ratifizierung des GlüStV 2021 in den entsprechen­ den Landesparlamenten erfolgte bis zum 28.04.2021, als mit Nordrhein-Westfalen das letzte der 16 Bundesländer den Vertrag ratifizierte. Nach fast 20 Jahren scheint nun eine europarechtskonforme Regulierung des Glücksspiels in Deutschland zum Greifen nah zu sein. Bevor wir in Kapitel 6 de­ taillierter auf den neuen Ordnungsrahmen für Glücksspiel in Deutschland eingehen und seine Chancen und Risiken analysieren, soll im nächsten Abschnitt zunächst die Marktsituation im Glücksspiel dargestellt werden und auch mit anderen europäischen Ländern verglichen werden.

4 Marktsituation bei Glücksspiel in Deutschland 4.1 Legales und nicht legales Glücksspiel in Deutschland Solange kein europarechtskonformer Regulierungsrahmen für Glücksspiel in Deutsch­ land bestand, war es den Bundesländern nicht möglich, Glücksspiel-Anbietern mit einer Lizenz aus einem EU-Mitgliedsstaat zu untersagen, in Deutschland Glücksspiel online anzubieten. Ein solches Verbot würde angesichts eines fehlenden europa­ rechtskonformen Rechtsrahmens in Deutschland gegen die Dienstleistungsfreiheit im Binnenmarkt verstoßen. Eingriffe in die europarechtlich garantierte Niederlassungs- und Dienstleistungs­ freiheit sind durch den deutschen Gesetzgeber nur dann gerechtfertigt, wenn sie im

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Hinblick auf das mit der staatsvertraglichen Regulierung vorrangig verfolgte Ziel der Suchtbekämpfung die verschiedenen Formen des Glücksspiels gemäß ihrer divergie­ renden Suchtgefährdungspotenziale in rechtlich wie auch tatsächlich kohärenter Wei­ se regeln. Im Sinne einer kohärenten Glücksspielregulierung⁷ passt es nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs beispielsweise nicht zusammen, wenn man einerseits das Veranstaltungsmonopol bei großen Lotterien mit Suchtprävention begründet und andererseits das mutmaßlich gefährlichere Automaten- und Casinospiel ausdehnt. Aus juristischer Perspektive befindet sich die Regulierung der Glücks- und Gewinn­ spielmärkte in Deutschland solange in einem rechtlichen Schwebezustand, bis der neue GlüStV 2021 implementiert ist (Nolte 2017). Faktisch konnte der deutsche Markt für Glücks- und Gewinnspiele bisher in ei­ nen regulierten und einen nicht-regulierten Markt unterteilt werden, wobei unter den regulierten Markt Glücksspielangebote fallen, welche nach deutschem Recht regulär angeboten werden dürfen. Diese beschränken sich auf Lotto und diverse staatliche Lotterien, stationäre Spielbanken und Spielhallen sowie bei Sportwetten bis Oktober 2020 auf die Toto- und Oddset-Wetten des Deutschen Lotto- und Totoblocks (DLTB). Andere Sportwettanbieter wie bspw. Tipico, Bwin etc. bewegten sich in einer rechtli­ chen Grauzone: Sie verfügen zwar über Lizenzen für Poker-, Casino- und Sportwetten­ angebote aus anderen EU-Mitgliedsländern, jedoch nicht über eine deutsche Lizenz. Inzwischen (Stand: 07.06.2021) sind jedoch, wie oben erwähnt, 29 Lizenzen zum sta­ tionären und/oder Internet-Angebot von Sportwetten erteilt worden. Online-Casino und Online-Poker sind aktuell jedoch noch nicht legal, werden aber faktisch gedul­ det, solange die Anbieter bestimmte Regeln befolgen – auch dazu unten mehr. Der rechtliche Schwebezustand soll durch den neuen Glücksspielstaatsvertrag endgültig aufgehoben werden. Obwohl bis Oktober 2020 in Deutschland keine Konzessionen für Sportwettenan­ bieter erteilt wurden, fanden sich in größeren Städten gerade für Sportwetten schon lange zahlreiche Wettbüros von Anbietern wie Tipico, Bwin und bet3000. Auch On­ line-Glücksspiele waren und sind vor allem in Form von Online-Poker und OnlineCasino faktisch omnipräsent. Sportwetten werden nicht nur von bekannten Persön­ lichkeiten, wie dem ehemaligen Nationaltorhüter Oliver Kahn, beworben, sondern haben auch den Sponsorenmarkt der Bundesliga erobert. So ist bspw. Tipico Partner zahlreicher namhafter Fußballvereine, wie dem FC Bayern München, RB Leipzig und dem Hamburger SV, Bwin sponsert Borussia Dortmund und betway neben Werder Bremen u. a. auch den FC St. Pauli. Sämtliche Vereine der ersten und zweiten Fußball­ bundesliga haben heute Sponsorenverträge mit einem Sportwettanbieter. Der Grund für diese zunächst verwirrende Situation liegt darin, dass der bisherige Glücksspiel­

7 Der EuGH erhebt diese Forderung in ständiger Rechtsprechung, z. B. in den dem Carmen MediaUrteil nachfolgenden Urteilen vom 04.02.2016 in der Rechtssache C-336/14, Ince, vom 24.01.2013 in den verbundenen Rechtssachen C-186/11 und C-209/11, Stanleybet OPAP, vom 30.06.2011 in der Rechtssa­ che C-212/08, Zeturf, und vom 15.09.2011 in der Rechtssache C-347/09, Dickinger und Ömer.

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staatsvertrag eben europarechtswidrig war, der neue Glücksspielstaatsvertrag jedoch erst zum Juli 2021 in Kraft trat, sodass bis dahin ein rechtlicher Schwebezustand be­ stand.

4.2 Marktvolumen und Marktentwicklung Laut Jahresreport 2019 der obersten Glücksspielaufsichtsbehörde in Hessen, der im November 2020 publiziert wurde, liegen die gesamten Spieleinsätze im deutschen Glücksspielmarkt hochgerechnet bei 86,5 Mrd. Euro, wobei auf den sog. „erlaubten“ Markt rd. 63,0 Mrd. Euro bzw. 73 % entfallen und auf den „unerlaubten“ Markt – also Anbieter ohne eine explizite Genehmigung zum Angebot – 23,5 Mrd. Euro bzw. 27 % des Gesamtvolumens (HMDIS 2020b: 15). Gemessen an den Bruttospielerträgen sieht die Aufteilung etwas anders aus. Dies liegt daran, dass die Bruttospielerträge bei On­ line-Casino und Sportwetten sehr viel kleiner sind als etwa bei Lotto. Von den gesam­ ten Bruttospielerträgen in Höhe von etwa 13,3 Mrd. Euro entfallen 11,1 Mrd. Euro bzw. 83 % auf den erlaubten Markt und 2,2 Mrd. Euro bzw. 17 % auf den nicht genehmigten Markt, also den Schwarzmarkt (HMDIS 2020b: 16). Den größten Anteil im genehmigten Markt machen Geldspielgeräte in Spielhallen und Gaststätten mit 5,5 Mrd. Euro Bruttospielertrag bzw. 36,7 Mrd. Euro an Spieleinsät­ zen (HMDIS 2020b: 17 f.). Die staatlichen Lotterien und Sportwetten des DLTB erzielen einen Bruttospielertrag in Höhe von 3,7 Mrd. Euro bei einem Spieleinsatz von 7,3 Mrd. Euro, wobei davon der Hauptteil von rd. 98 % von Lotto und den Lotterien getragen wird. Hingegen machen die beiden Sportwetten des DLTB, Oddset und Fußball-Toto mit Bruttospielerträgen von insgesamt 59 Mio. Euro (bei Spieleinsätzen von 0,2 Mrd. Euro) nur einen fast verschwinden kleinen Teil des genehmigten Marktes aus (HMDIS 2020b: 17 f.). Die gesamten Bruttospielerträge der Spielbanken belaufen sich auf 860 Mio. Eu­ ro, wobei davon das sog. Große Spiel 19 % und das Kleine Spiel 81 % ausmachen. Die Klassen-, Sozial- und Sparlotterien, die neben den Lotterien des DLTB existieren, kom­ men auf Bruttorspielerträge in Höhe von 979 Mio. Euro bei Spieleinsätzen in Höhe von 1,7 Mrd. Euro. Pferdewetten spielen bei Spieleinsätzen in Höhe von 0,2 Mrd. Euro rd. 45 Mio. Euro im erlaubten Markt ein (HMDIS 2020b: 17 f.). Im stark wachsenden nicht genehmigten Markt wurden 2019 die Bruttospiel­ erträge auf insgesamt 2,2 Mrd. Euro geschätzt. Der größte Teil davon entfällt auf nicht genehmigte Sportwettenanbieter mit 1,3 Mrd. Euro, gefolgt von Online-Casino mit 514 Mio. Euro. Bei den Sportwetten werden davon den Angaben der obersten Glücksspielaufsichtsbehörde zufolge etwa 70 % im stationären Vertrieb erzielt und 30 % online. Daneben tragen Online-Zweitlotterien mit 345 Mio. Euro bzw. 16 % und Online-Poker mit 56 Mio. Euro bzw. 3 % zum nicht genehmigten Markt bei (HMDIS 2020b: 21).

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Diese Werte mit Bruttospielerträgen von insgesamt 2,2 Mrd. Euro mögen im Ver­ gleich zu den Bruttospielerträgen in Höhe von 11,1 Mrd. Euro im legalen Markt gering erscheinen und eine erfolgreiche Kanalisierung von 83 % vermuten lassen. Ein Blick auf die Details und somit eine differenziertere Betrachtung ergeben jedoch ein ande­ res Bild. So zeigt ein Blick auf die Spieleinsätze, dass nur noch 73 % auf den genehmig­ ten Bereich entfallen. Wie erwähnt, liegt diese Differenz in den unterschiedlichen Auszahlungsquoten begründet. Für den nicht regulierten Online-Poker- und OnlineCasino-Markt etwa geht die oberste Glücksspielaufsichtsbehörde in ihrem Bericht von einer Auszahlungsquote – in der Fachsprache auch als Return-to-Player (RTP)-Wert bezeichnet – von etwa 96 % aus. Aus 14,2 Mrd. Euro Spieleinsätzen werden Brutto­ spielerträge von etwa 570 Mio. Euro generiert (HMDIS 2020b: 21). Bei Sportwetten variieren die Auszahlungsquoten, je nach Vertriebsform zwischen 80 % im stationä­ ren Vertrieb und über 90 % im Internet (HMDIS 2020b: 20). Hingegen ist die Auszah­ lungsquote bei Lotto nur rund 50 % (HMDIS 2020b: 23). Im Übrigen sind auch bei den wirtschaftlich nahezu bedeutungslosen staatlichen Sportwettenanbietern Toto und Oddset die Auszahlungsquoten mit 57 % und 66 % sehr deutlich unter denen privater Anbieter.⁸ Noch deutlicher wird der unterschiedliche Erfolg bei der Kanalisierung, wenn die einzelnen Glücksspielarten betrachtet werden. Im Bereich von Lotto und Lotterien existieren zwar einige nicht genehmigte Online-Zweitlotterien, auf welche insgesamt 0,7 Mrd. Euro an Spieleinsätzen entfallen (HMDIS 2020b: 21). Diese fallen jedoch im Vergleich zu den rund 9 Mrd. Euro Spieleinsätzen beim DTLB gering aus, sodass die Kanalisierung bei über 90 % liegt. Bei Spielbanken und Spielhallen sowie Geldspiel­ geräten in Gaststätten dürfte die Kanalisation ähnlich hoch sein, zu nicht legalem Spiel liegen hier keine Zahlen vor. Betrachtet man allerdings die rapide wachsenden Spielformen der Online-Sport­ wetten, des Online-Pokers und des Online-Casinos so zeigt sich ein düsteres Bild in Bezug auf die Kanalisierung. Die Kanalisierungsrate liegt bei Sportwetten bei zwei Pro­ zent, denn nur 0,2 Mrd. Euro der insgesamt 8,8 Mrd. Euro an Spieleinsätzen erfolgen bei lizenzierten Anbietern. Da für die Spielformen des Online-Pokers und des OnlineCasinos bis zum 01.07.2021 noch ein Totalverbot herrschte, liegt die Kanalisierungsrate hier bei null Prozent. Zusammengefasst erreicht man bei den genannten Spielformen zusammen nur eine Kanalisierungsrate von unter einem Prozent. Das Kanalisierungs­ ziel wird also in diesen Bereichen nahezu vollständig verfehlt. Das Verfehlen des Kanalisierungsziels in diesen Bereichen ist besonders tragisch, da dies die am stärksten wachsenden Bereiche des Glücksspielmarktes sind. So haben

8 Dies wiederum führt regelmäßig zu harscher Kritik und schlechten Bewertungen von Oddset auf Vergleichsportalen, siehe etwa https://www.sportwetten24.com/allgemein/oddset-sportwettentest-2020-das-peinliche-angebot-beim-staatlichen-deutschen-buchmacher.html (zuletzt abgerufen am 03. April 2021).

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sich etwa die Spieleinsätze bei Sportwetten zwischen 2013 und 2018 mehr als verdop­ pelt.⁹ Bei Online-Poker und Online-Casino ist die Entwicklung sogar noch rasanter (Peren & Clement 2016; Haucap et al. 2017c: 106 ff.). Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass gerade bei den am schnells­ ten wachsenden Bereichen des Glücksspiels das Ziel der Kanalisierung bisher nahezu vollständig verfehlt wurde (vgl. dazu schon Haucap 2018).

5 Anforderungen an einen effektiven und sachgerechten Ordnungsrahmen 5.1 Ziele Das Ziel, den natürlichen Spieltrieb der Bevölkerung in geordnete und überwachte Bahnen zu kanalisieren, nimmt eine gewisse Sonderstellung im Rahmen der aus ju­ ristischer Sicht gleichrangigen Zielsetzungen des GlüStV ein. Auch mit Blick auf an­ dere Jurisdiktionen zeigt sich, dass die Erreichung der Ziele insbesondere durch die Schaffung eines wettbewerbsfähigen legalen Angebots ohne wesentliche Restriktio­ nen im Produktangebot selbst gefördert wird (Haucap et al. 2017c). Nur unter dieser Bedingung finden beide Marktseiten im Rahmen des regulierten Marktes zusammen. Die Kanalisierung des Spieltriebs in die angestrebten geordneten und überwach­ ten Bahnen muss als Grundvoraussetzung für das Erreichen der weiteren, gleichran­ gigen Zielsetzungen des GlüStV überhaupt verstanden werden (Haucap et al. 2017c). Nur für ein reguliertes Umfeld kann der Gesetzgeber das Niveau von Jugend- und Spielerschutz bestimmen. Die für die Erreichung dieses Schutzniveaus veranlassten Maßnahmen können dann ihre Wirkung auf die Verbesserung des Jugend- und Ver­ braucherschutzes, auf die Spielsuchtprävention oder die Betrugs- und Kriminalitäts­ abwehr entfalten. Im nicht-regulierten Bereich ist dies grundsätzlich, mit den damit potenziell verbundenen Gefahren, nicht möglich.

5.2 Internationale Erfahrungen Studien aus anderen Ländern zeigen, dass eine erfolgreiche Regulierung des Glücks­ spiels auch zu einer hohen Kanalisierungsrate führen kann. Als positive Beispiele kön­ nen hier Dänemark und Großbritannien (Haucap et al. 2017c: 138 ff.) genannt wer­ den, die beide über eine Kanalisierungsrate von über 90 % verfügen. In Spanien und Frankreich liegt die Kanalisierungsrate mit 75 bzw. 60 % etwas niedriger. Als nega­

9 Siehe https://de.statista.com/statistik/daten/studie/557955/umfrage/wetteinsaetze-auf-demdeutschen-sportwettenmarkt/ (zuletzt abgerufen am 03. April 2021).

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100 %

217

95 % 90 %

Kanalisierungsrate

80 % 75 % 60 %

60 %

40 % 30 % 20 % 1,8 %

0% 40

80

120

160

Indexwert Abb. 1: DICE-Kanalisierungsindex und Kanalisierungsrate. Quelle: Haucap et al. (2017c: 161).

tives Beispiel kann Polen genannt werden. Dort liegt die Kanalisierungsrate bei nur etwa 30 %. Ob eine Regulierung des Glücksspiels zu einer erfolgreichen Kanalisie­ rung führt, hängt von unterschiedlichen Faktoren ab. Die Analyse der Glücksspiel­ märkte verschiedener EU-Mitgliedstaaten hat gezeigt, dass besonders die quantita­ tive Begrenzung der Lizenzen, das Verbot von Online-Casino und Online-Poker, die Einschränkung des Wett- oder Spielprogramms sowie die Ausgestaltung der Glücks­ spielsteuern, insbesondere, wenn sie als Spieleinsatzsteuer angelegt ist, dem Kana­ lisierungsziel entgegenwirken (Haucap et al. 2017c: 158 ff.). In Dänemark, Frankreich und Spanien hat im Zuge der Liberalisierung bzw. der Lizenzerteilung bei Online-Casi­ no und Online-Poker eine Verlagerung der Glücksspielaktivitäten vom nicht-lizenzier­ ten in den lizenzierten Markt stattgefunden und die Kanalisierungsrate hat sich dem­ entsprechend erhöht (vgl. Abbildung 1). Um die Auswirkungen der verschiedenen Faktoren auf die Kanalisierungsrate zu ermitteln, haben Haucap et al. (2017c) den DICE-Kanalisierungsindex entwickelt. Da­ bei wurden die Regulierungsmaßnahmen hinsichtlich ihrer kanalisierenden Wirkung im Hinblick auf die Glücksspielaktivitäten unterschiedlich gewichtet. Je höher der In­ dexwert, desto zielführender ist das Maßnahmenbündel im Hinblick auf eine hohe Ka­ nalisierungsrate. Konkret werden folgende Maßnahmen mit den in Klammern angege­ benen Gewichten berücksichtigt: Begrenzung der Lizenzzahl (5), Beschränkung On­ line-Casino (5), Beschränkung Online-Poker (5), Werbeverbote (3), Offshore-Blocking (2), Steuerhöhe (4), Steuerbemessungsgrundlage (5), einfaches Authentifizierungs­ verfahren (4) sowie Wettprogrammbeschränkung (4) (Haucap et al. 2017c: 158 ff.).

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Die folgende Abbildung zeigt einen eindeutig positiven Zusammenhang zwischen Indexwert und Kanalisierungsrate: Die Länder mit einem niedrigen Indexwert weisen auch die niedrigsten Kanalisierungsquoten auf. Verglichen mit den Marktbedingungen und -ergebnissen der dargestellten Ver­ gleichsländer weist Deutschland noch die größte Ähnlichkeit mit Polen auf, obwohl selbst Polen bisher ein deutlich liberaleres Regime für den Glücksspielmarkt hatte als Deutschland. Gleichwohl besitzen Polen und Deutschland bisher die niedrigsten Ka­ nalisierungsraten. Dies ist im Wesentlichen auf die schlechten Rahmenbedingungen im Glücksspielmarkt zurückzuführen: Regelungen wie die bisherigen Verbote sowohl für Online-Poker als auch für Online-Casino, eine Spieleinsatzsteuer (anstelle einer Bruttospielertragssteuer), das Fehlen einer unabhängigen Regulierungsbehörde für Glücksspielbelange sowie weitreichende Werbebeschränkungen haben Marktbedin­ gungen geschaffen, die weder auf Anbieter- noch auf Nachfragerseite Anreize geboten haben, im lizenzierten Markt aktiv zu werden. Die Auswirkungen einer Liberalisierung des Glücksspiels auf die Kanalisierungs­ rate zeigen sich deutlich am Beispiel Frankreichs. Dort kam es 2010 zu einer Libera­ lisierung von Online-Sportwetten und Online-Poker. Schätzungen gehen davon aus, dass bis zur Liberalisierung im Jahr 2010 etwa 75 % der Online-Einsätze auf illegalen Internetseiten getätigt wurden.¹⁰ Seitdem hat sich der Graumarktanteil („Offshore“) 100 % Liberalisierung Internetwetten und Online-Poker 80 %

60 %

40 %

20 %

0% 2007

2008

2009

2010

2011

2012

2013

2014

2015

2016

Abb. 2: Entwicklung des Offshore-Anteils im französischen Online-Glücksspielmarkt von 2007–2016. Quelle: Haucap et al. (2017c: 124).

10 Siehe https://www.qivive.com/de/%C3%B6ffnung-des-marktes-der-online-wettspiele-frankreich (zuletzt abgerufen am 11. Januar 2021).

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219

deutlich reduziert und lag 2016 unter 30 % (vgl. Abbildung 2). Allerdings ist hierbei zu berücksichtigen, dass der in der Abbildung dargestellte Offshore-Anteil sich nur auf den sogenannten Graumarkt bezieht und den Schwarzmarkt nicht berücksichtigt. Copenhagen Economics (2016) beziffert die Kanalisierungsrate für das Jahr 2016 auf nur rund 50 %. Es zeigt sich, dass es im Zuge der Liberalisierung zu einer Erhöhung der Kana­ lisierungsquote kam. Allerdings wies der Ordnungsrahmen in Frankreich auch nach 2010 noch einige Schwächen auf, wie etwa die Besteuerung des Spieleinsatzes (und nicht des Bruttospielertrags) sowie das weiterhin bestehende Verbot von Online-Casi­ no. Dadurch konnten Kanalisierungsraten wie in Dänemark oder Großbritannien, die sich für die Besteuerung des Bruttospielertrags und eine Liberalisierung des OnlineCasino Marktes entschieden haben, in Frankreich nicht erreicht werden. Aufgrund der beschränkten Erfolge bei der Kanalisierung hat sich Frankreich zudem zumindest für Online-Poker unlängst für den Wechsel zur Besteuerung des Bruttospielertrags ent­ schieden.¹¹ Der internationale Vergleich zeigt Möglichkeiten auf, wie ein dem Kanalisie­ rungsziel dienender Ansatz gerade im Sinne des Jugend-, Spieler- und Verbraucher­ schutzes aussehen kann. So sollte die Konzessionsvergabe allein auf qualitativen Kri­ terien fußen und nicht willkürlichen (mitunter unionsrechtswidrigen) quantitativen Beschränkungen folgen. Während ein innovatives, innovationsoffenes und breites Produktspektrum abgestimmt auf die Kundenbedürfnisse unabdingbar erscheint, kann über vielfältige und zielgerichtete Maßnahmen (bspw. adäquate Identifizie­ rungs- und Authentifizierungsmethoden, eine spielform- und anbieterübergreifende Sperrdatenbank, verpflichtende durch den Spieler selbst gewählte Limits etc.) ei­ ne Kontrolle der Anbieter und des Marktes und so ein Schutz der Spieler erreicht werden. Gerade die fortschreitende Digitalisierung erzeugt stets neuartige und in­ novative Produkte, Produktformen sowie Geschäftsmodelle, die sich an der zuneh­ mend digitalen Lebenswirklichkeit der Menschen orientieren. Alle europäischen Jurisdiktionen verfolgen mit der Regulierung nahezu identische Ziele wie Deutsch­ land, und in keinem Mitgliedsstaat ist eine „Laissez-faire“-Haltung zum Glücksspiel feststellbar. Vielmehr werden überall zielgerichtete Maßnahmen eingesetzt, um ein Schutzniveau zu garantieren und gleichzeitig eine möglichst umfassende Lenkung des Spieltriebs in geordnete und überwachte Bahnen zu gewährleisten. Wie sich im internationalen Vergleich zeigt, ist hiermit kein grundsätzlicher Widerspruch oder ein „Entweder-oder“ verbunden.

11 Siehe https://igamingbusiness.com/french-senate-approves-shift-to-ggr-tax-for-gambling/ (zu­ letzt abgerufen am 10. Dezember 2020).

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5.3 Konkrete Anforderungen an einen effizienten Ordnungsrahmen für Glücksspiel Ganz allgemein sollte der empirische Maßstab zur Beurteilung der Erreichung gesetz­ geberischer Ziele einer Glücksspielregulierung das tatsächliche Spielverhalten sein. Während grundsätzlich ein Rückgang der Nutzung von Glücksspielen in Deutschland zu beobachten ist, gilt dies für den Verlauf der Spielsuchtprävalenz über die Zeit hin­ weg nicht (Stöver & Baur 2017). Es muss vielmehr davon ausgegangen werden, dass die Rate glücksspielbezogener Probleme nicht gesunken ist. Somit steht zu befürch­ ten, dass regulatorische Eingriffe zwischen 2007 und heute bestenfalls wirkungslos waren – schlimmstenfalls sogar kontraproduktiv gewirkt und glücksspielbezogene Ri­ siken für deutsche Bürger erhöht haben. Die deutsche Glücksspielregulierung sieht schon lange eine Vielzahl verhältnis­ präventiver Maßnahmen (Begrenzung der Verfügbarkeit, Verbot von Online-Spielfor­ men) vor. Dies basiert offenbar auf der Annahme, dass ein linearer Zusammenhang zwischen der Verfügbarkeit eines Suchtobjektes und dem Ausmaß der Suchtprävalenz in einer Gesellschaft besteht. Diese Annahme besitzt in der theoretischen Situation die Plausibilität, dass, wenn ein Suchtobjekt nicht verfügbar ist, es auch nicht zur Sucht kommen kann. Empirische Untersuchungen können diese anschauliche Schlussfol­ gerung aber nicht hinreichend untermauern. Während zwar Prävalenzstudien existie­ ren, die einen solchen Effekt zeigen können, existieren ebenso Studien, die bei einer Erhöhung der Verfügbarkeit keinerlei Änderung oder sogar einen Rückgang bei der Suchtprävalenz fanden (Stöver & Baur 2017). Auch auf einer Makro-Ebene ist aufgrund der angestellten Ländervergleiche nicht feststellbar, dass Glücksspielregulierungen in Europa mit regulierten Märkten mit privaten Glücksspielanbietern zu einer Erhöhung der jeweiligen Prävalenzraten pathologischen Glücksspiels geführt hätten. Basierend auf dieser Evidenz ist davon auszugehen, dass eine rein quantitative Begrenzung des Glücksspielangebots oder Totalverbote keine wirksamen Maßnahmen zur Erreichung der Präventionszielsetzung darstellen. Gerade im digitalen Glücksspielbereich sah die bisherige Regulierung vielfach ein totales Verbot vor. Dabei wird zumeist über die Besonderheiten des Internets argumentiert: Während manche Forscher das Internet (lediglich) als weiteren Ver­ triebsweg ansehen, gehen andere davon aus, dass die Möglichkeiten des Internets auch dazu führen können, dass sich die Charakteristika der angebotenen Spiele ver­ ändern und diese dadurch risikobehafteter werden. Die Diskussion dazu ist noch nicht abgeschlossen, der derzeitige Stand lässt sich aber dahingehend zusammenfassen, dass Online-Glücksspiele eventuell neuartige Risikofaktoren mit sich gebracht ha­ ben mögen, durch die Digitalisierung gleichzeitig aber ebenfalls neuartige Methoden des Spielerschutzes möglich werden und das Internet so potenziell als starke Umge­ bung für den Spielerschutz ausgestaltet werden kann (Stöver & Baur 2017). Auf Basis der Erkenntnisse der Ländervergleiche ist zu konstatieren, dass es zu keinem (bspw.

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in Großbritannien befürchteten) Anstieg glücksspielbezogener Probleme durch die Regulierung von Online-Glücksspielen gekommen ist (Stöver & Baur 2017). Im Hinblick auf das Kanalisierungsziel ist vor allem die Schaffung eines wettbe­ werbsfähigen lizenzierten Angebots wichtig. Nur auf diese Weise werden sich beide Marktseiten für das regulierte Glücksspielsegment entscheiden. So muss einerseits die Wettbewerbsfähigkeit der Anbieter gewährleistet sein, um im Markt gegen unli­ zenzierte Glücksspielbetreiber bestehen zu können, andererseits das Angebot attrak­ tiv genug sein, um ebenfalls die Nachfrage zu kanalisieren. Auf diese Weise scheint auch eine Verbesserung des Jugend- und Verbraucherschutzes möglich, da Spieler nur durch ein breites legales Glücksspielangebot vor unlizenzierten Anbietern geschützt werden, die keine Verbraucherstandards befolgen. Die deutsche Glücksspielregulie­ rung bedarf daher einer grundsätzlichen Neuordnung. Zu den klassischen Gefahrenbildern in Verbindung mit dem Angebot und der Nachfrage von Glücksspielen zählen Delikte wie Betrug, Steuerhinterziehung und Geldwäsche (Haucap et al. 2017b). Diese Gefahren gilt es durch eine effektive Re­ gulierung weitestgehend zu unterbinden. In diesem Zusammenhang besteht eine äußerst unbefriedigende Datenlage zu glücksspielbezogenen Betrugs- und Krimina­ litätsfällen in Deutschland. Die Zahl der erfassten Fälle ist sehr gering. Eine höhere Dunkelziffer ist durchaus denkbar, doch gibt es auch Faktoren, die auf eine mode­ rate Gefahr hindeuten. Durch die hohe Nachverfolgbarkeit elektronischer Zahlungs­ ströme und der Kundenidentifizierungsverfahren scheint das Geldwäscherisiko im Online-Glücksspielbereich trotz teilweise hoher Ausschüttungsquoten überschau­ bar zu sein. Durch die Einbindung von Online-Glücksspielanbietern in den Kreis der Verpflichteten im Zuge der Umsetzung der 4. EU-Geldwäscherichtlinie werden zu­ dem einheitliche Sorgfalts- und Meldepflichten normiert. Auch die Akzeptanz der Kunden in diesem Segment deutet auf eine moderate Betrugsgefahr hin. So lässt sich anhand des Consumer Market Scoreboards der Europäischen Kommission, wel­ ches die Marktperformance im Hinblick auf die Konsumentenfreundlichkeit misst, erkennen, dass der Markt für Online-Glücksspiel und Lotterieservices ein unter­ durchschnittliches Maß an Problemen seitens der Konsumenten mit den Anbietern aufweist. Eine effiziente Betrugs- und Kriminalitätsbekämpfung kann nur auf Grundlage ei­ ner erfolgreichen Kanalisierung gelingen, da sich die Angebote im nicht regulierten Markt staatlicher Kontroll- und Einflussmöglichkeiten entziehen. Was die Anbieter von Glücksspielen betrifft, so sollten künftig umfassende Prüfungen im Zusammen­ hang mit der Lizenzierung sowie laufende Revisionen, Zertifizierungen u. a. von Mit­ arbeitern, Technik und Software sicherstellen, dass die zugelassenen Anbieter und deren Produkte und Dienstleistungen integer sind. Dem Versuch Krimineller, Glücks­ spielprodukte zu Lasten der Glücksspielanbieter oder anderer Kunden zu missbrau­ chen, stehen selbstregulatorische und selbstschützende Maßnahmen der Glücksspiel­ wirtschaft entgegen. Aus kommerziellem Interesse und Eigenschutz wirken Anbieter darauf hin, dass die von ihnen angebotenen Produkte und Dienstleistungen transpa­

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rent und nicht manipulierbar sind. Zu diesen Maßnahmen zählen die Identifizierung und Authentifizierung von Kundendaten, die Erstellung von Spielerprofilen, risikoba­ sierte Analysen sowie ein umfangreiches Überwachungs- und Überprüfungssystem zur Identifikation von Auffälligkeiten. Somit bestehen trotz der sich nicht entfaltenden regulatorischen Wirkung des bisherigen GlüStV dennoch einige Schutzmechanismen. Gleichwohl wäre es wünschenswert, wenn die zukünftige Glücksspielaufsichtsbehör­ de eine empirische Grundlage und einen besseren Überblick über das Marktgesche­ hen erhielte. Hierzu haben sich in anderen Jurisdiktionen u. a. Safe-Server bewährt, auf denen Transaktionsdaten revisionssicher gespeichert und für Aufsichtsbehörden zur Verfügung gestellt werden. Ein Sonderfall unter den Zielen des Glücksspielstaatsvertrages ist der Schutz der Integrität des Sports, da mit der Sportwette lediglich eine Art des Glücksspiels adres­ siert wird. Schutzobjekt ist die Unversehrtheit und Unbeeinflussbarkeit sportlicher Wettbewerbe durch die Abwehr wettbezogener Spielmanipulation – auch präventiv im Vorfeld der eigentlichen Gefahrenabwehr (Nolte & Wördehoff 2017). Bei der Errei­ chung dieses Ziels ist der Glücksspielstaatsvertrag 2012 aus zwei Gründen auf ganzer Linie gescheitert. Zum einen verhinderte die missglückte Kanalisierung in einen re­ gulierten Sportwettenmarkt effektiven Integritätsschutz hinsichtlich der bewettbaren Wettbewerbe. Das strukturell defizitäre – sinnwidrig quantitativ begrenzte – Konzes­ sionsmodell war als fauler Kompromiss zwischen staatlichem Veranstaltungsmono­ pol und zunehmendem europarechtlichen Kohärenzdruck zum Scheitern verurteilt und war der wesentliche Ursprung des Schwarzmarktwachstums. Zum anderen fehlte hinsichtlich der Effektivität der im Glücksspielstaatsvertrag enthaltenen Restriktio­ nen über Art und Umfang zulässiger Sportwetten jeglicher wissenschaftlich-empiri­ scher Rückhalt. Sowohl das Verbot sogenannter “Ereigniswetten” als auch die restrik­ tive Regulierung von Live-Wetten stellen mangels Geeignetheit zur Manipulations­ prävention beizutragen, eine unverhältnismäßige Einschränkung der europäischen Dienstleistungsfreiheit dar (Nolte & Wördehoff 2017). Signifikante anbieterseitige Limits bei Live- und Ereigniswetten begrenzen die Li­ quidität dieser Märkte und erhöhen das Entdeckungsrisiko potenzieller Manipulato­ ren. Zugleich konterkariert die Untersagung dieser seitens der Verbraucher stark nach­ gefragten Wettarten das Kanalisierungsziel. Zugunsten des Schutzes der sportlichen Integrität sollte daher die empirisch rückhaltlose, willkürliche Unterscheidung von Live- und Pre-Match-Wetten sowie von Ergebnis- und Ereigniswetten aufgegeben wer­ den. Stattdessen wären die Wettverläufe lizenzierter Anbieter engmaschig zu kontrol­ lieren, wie dies im erfolgreich regulierten britischen Sportwettenmarkt geschieht (Nol­ te & Wördehoff 2017). Weitere zielorientierte Maßnahmen sind der Ausschluss von Wetten auf Amateurund Jugendspiele, die Beibehaltung der Inkompatabilitätsregelungen und die weite­ re Promotion von Frühwarnsystemen. Darüber hinaus sind die Glücksspielaufsichts­ behörden aufgerufen, ihrem selbstgesteckten Anspruch gerecht zu werden und den Sportbeirat kontinuierlich beratend in seine Entscheidungsprozesse einzubinden. Die

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Mitglieder des Sportausschusses fühlen sich bislang zu selten zu Rate gezogen und sehen ihre Positionen in den Beiträgen des Glücksspielkollegiums nicht angemessen repräsentiert (Nolte & Wördehoff 2017).

5.4 Zwischenfazit Die Evaluierung der bisher geltenden deutschen Glücksspielregulierung zeigt, dass die Ziele des Glücksspielstaatsvertrages nachvollziehbar, ökonomisch gut begründ­ bar und angemessen sind. Die Ziele entsprechen berechtigten staatlichen Schutzin­ teressen. Jedoch ist der in Deutschland bisher gewählte Ansatz, diese Ziele durch Mo­ nopole, selektive Marktöffnung, Restriktionen und Totalverbote vieler Spielformen durchzusetzen, als inkohärent und – wie auch die bisherige Administration durch das verfassungswidrige Glücksspielkollegium (Kirchhof 2016a; 2016b; 2017) – für die Zielerreichung ungeeignet. Die Ziele des GlüStV werden, teils deutlich, verfehlt. Der internationale Vergleich mit anderen EU-Mitgliedsstaaten zeigt, dass dies kein ex­ klusiv deutsches Phänomen ist. Dennoch haben viele europäische Staaten bereits durch eine kontrollierte Marktöffnung nach qualitativen Kriterien ein weitaus höhe­ res Schutz- und Kontrollniveau erreicht als Deutschland. Der DICE KanalisierungsIndex und unsere Analyse dieser Länder deutet darauf hin, dass Regulierungsmo­ delle wie in Großbritannien oder Dänemark geeigneter sind, die Ziele des GlüStV zu erfüllen als der bisher von den Bundesländern bis 2020 verfolgte Ansatz. Aufbauend auf den Erkenntnissen dieser Evaluierung lassen sich zwei zentrale Schlussfolgerungen ziehen, wie die Ziele des GlüStV besser erreicht werden können. Zum einen zeigt sich, dass eine kontrollierte Öffnung des Glücksspielmarktes nicht zu einem erkennbaren Anstieg der Suchtprävalenz führt (Stöver & Bauer 2017), sondern dem Staat die Kontrolle über den Markt verschafft. Durch eine kontrollierte Öffnung gewinnen die Aufsichtsbehörden einen besseren Überblick über das Marktgeschehen und damit die Möglichkeit auch schutzbedürftige Spieler besser zu adressieren. Zum anderen erlangen staatliche Behörden eine wesentlich bessere Datengrundlage, wel­ che wiederum dazu beiträgt, die Regulierung evidenzbasiert weiterzuentwickeln und zu verbessern. All dies setzt eine möglichst effektive Kanalisierung voraus, weswegen dieser Zielstellung des GlüStV faktisch der Status primus inter pares eingeräumt wer­ den muss. Die Digitalisierung des Glücksspielmarktes sollte zudem nicht allein als Risiko, sondern auch als Chance zur besseren Kontrolle des Marktes betrachtet werden. Mit einer Ausdehnung des Glücksspiels ins Internet verliert der Markt zwar seine natür­ lichen Grenzen und es entstehen weitere Missbrauchspotenziale für Wachstum. Die Digitalisierung öffnet allerdings auch den Weg für neuartige, äußerst effektive Sicher­ heits- und Kontrollmaßnahmen. Ob Suchtprävention durch zentrale Sperrung gefähr­ deter Spieler, die flexible Limitierung von Einsätzen, den Schutz der Verbraucher vor Spielmanipulation und Betrug oder der Gefahrenabwehr im Bereich der Geldwäsche –

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moderne Monitoring-, Sperr- und Identifizierungssysteme ermöglichen dem Regulator eine umfassende Kontrolle des Marktes. Aus den genannten Gründen und unter Einbezug des internationalen Vergleichs scheint die Ausgestaltung der Regularien des deutschen Glücksspielstaatsvertrags im Hinblick auf das Ziel der Kanalisierung, das als Grundvoraussetzung für sämtliche an­ dere, gleichgestellte Ziele des Glücksspielstaatsvertrags betrachtet werden kann, als bisher völlig verfehlt. Der neue Glücksspielstaatsvertrag 2021 kommt hier zu wesent­ lichen Verbesserungen, wenngleich auch der neue Ordnungsrahmen noch Schwach­ stellen aufweist, wie im nächsten Abschnitt erläutert wird.

6 Der neue Glücksspielstaatsvertrag 2021 Der neue „Staatsvertrag zur Neuregelung des Glücksspielwesens in Deutschland und zur Errichtung einer gemeinsamen Aufsichtsbehörde“, auch als Glücksspielneuregu­ lierungsstaatsvertrag („GlüStV 2021“) bezeichnet, regelt seit dem 01.07.2021 die Libe­ ralisierung des deutschen Glücksspielmarktes. Gesetzlich geregelt ist insbesondere die Öffnung der Märkte für Online-Glücksspiele und Sportwetten sowie die Einrich­ tung einer gemeinsamen Aufsichtsbehörde, die ihren Sitz in Sachsen-Anhalt bzw. ge­ nauer in Halle (Saale) haben und zum 01.01.2023 ihre Arbeit aufnehmen soll. Die Än­ derungen werden im Folgenden kurz beschrieben und evaluiert.

6.1 Lizenzen Am staatlichen Lottomonopol hält der GlüStV 2021 fest, auch wenn eine überzeu­ gungskräftige juristische Begründung des Lotteriemonopols Ennuschat (2019: 88) zu­ folge nicht gerade leicht fällt.¹² Für Sportwetten, Online-Poker und virtuelle Automa­ tenspiele jedoch sind ebenso wie für Online-Casino Lizenzierungsverfahren geplant, die ein legales Anbieten dieser Spiele in Deutschland ermöglichen. Bis Oktober 2020 gab es, wie oben beschrieben, nur Lizenzen aus Schleswig-Holstein, die wiederum nur für eben dieses Bundesland Gültigkeit besaßen. Daher wurde in der Werbung stets der Hinweis »Nur für Spielerinnen und Spieler aus SH« eingeblendet. Wer als NichtSchleswig-Holsteiner die Seiten aufrief, wurde auf die .com-Seite weitergeleitet, wel­ che in der Regel mit einer Lizenz aus einem anderen EU-Mitgliedsstaat betrieben wur­

12 Ennuschat (2019: 88) führt allerdings auch aus, dass es bemerkenswert sei, „dass zahlreiche frei­ heitliche Staaten mit einer wettbewerblich strukturierten Wirtschaft dennoch ein Lotteriemonopol kennen, und zwar selbst dann, wenn andere Glücksspielsektoren dem Wettbewerb geöffnet worden sind.“

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de. Im Oktober 2020 wurden dann die ersten 15 Lizenzen für Sportwetten auf Basis des 3. GlüÄndStV vergeben. Bis Juni 2021 wurden 14 weitere Lizenzen vergeben. Seit dem 15.10.2020 dürfen zudem auch Online-Casinos bereits ihr Geschäft in Deutschland betreiben, ohne deswegen von den Aufsichtsbehörden verfolgt zu wer­ den. Voraussetzung zur Teilnahme an dieser Vorabmarkteröffnung ist allerdings, dass die Casinos 30 Spielregeln einhalten, auf die sich die Bundesländer geeinigt haben. So muss jeder Spieler regelmäßig darauf hingewiesen werden, wieviel Geld er ver­ loren oder gewonnen hat. Mit einem Panikbutton soll sich der Spieler zudem selbst für 24 Stunden sperren können. Diese Sperre gilt für jede Spieleseite. Die Webseite muss an die bundesweite Spielersperrdatei angeschlossen sein, und Spieler dürfen auf sämtlichen Online-Casinos nicht mehr als 1.000 Euro pro Monat einzahlen. Mit Inkrafttreten des GlüStV 2021 wurde auch für Online-Casinos die offizielle Li­ zenzerteilung ermöglicht. Während die Anzahl der Konzessionen für Sportwetten, On­ line-Poker und virtuelle Automatenspiele jedoch nicht länger quantitativ begrenzt ist, wird nach § 22c GlüStV 2021 für Online-Casino nur eine begrenzte Anzahl an Lizenzen eingeführt. Die Zahl der Konzessionen richtet sich dabei nach der Anzahl an erlaubten Spielbanken in einem Bundesland, die im jeweiligen Spielbankenrecht des Landes ge­ regelt wird. Diese Regelung legt den Verdacht nahe, dass vor allem die existierenden Spielbanken eine Online-Casino-Lizenz erhalten sollen. Bemerkenswert ist in diesem Kontext, dass die Anzahl der Spielbanken zwischen den Bundesländern nicht nur in absoluten Zahlen, sondern auch pro Kopf der Bevöl­ kerung erheblich variiert. Während das Saarland allein sieben Spielbanken hat (da­ von allein drei in Saarbrücken), gibt es in Nordrhein-Westfalen bisher nur vier Spiel­ banken und in Thüringen keine einzige. Wie Haucap et al. (2021) zeigen, werden Spiel­ banken oftmals in Grenznähe oder in Kurorten betrieben, um Touristen bzw. Kurgäste zum Glücksspiel anzulocken, nicht aber um den Spieltrieb der heimischen Bevölke­ rung zu kanalisieren. Auch vor diesem Hintergrund erscheint es fragwürdig, die Li­ zenzvergabe für Online-Casinos an die Anzahl der existierenden Spielbanken in ei­ nem Bundesland zu knüpfen.

6.2 Spieler- und Jugendschutz Neben den liberalisierenden Maßnahmen enthält der GlüStV 2021 zudem eine Reihe von Regelungen bezüglich des Spieler- und Jugendschutzes. So sollen drei zentrale und anbieterübergreifende Datenbanken geschaffen werden. Dabei handelt es sich erstens um eine Sperrdatei, die gesperrte und minderjährige Spieler anbieterüber­ greifend vom Online-Glücksspiel ausschließt, zweitens um eine Limitdatei, die den monatlichen Einzahlungsbetrag auf 1.000 Euro begrenzt und drittens eine Aktivitäts­ datei, die verhindern soll, dass ein paralleles Spielen stattfindet. Außerdem soll ein Spielsuchtfrüherkennungssystem eingeführt werden.

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Bei virtuellen Automatenspielen sind darüber hinaus erhebliche Begrenzungen der Spielabläufe vorgesehen. Der Einsatz pro Spiel wird auf einen Euro begrenzt (§ 22a Abs. 7 GlüStV 2021). Die Mindestspieldauer je Spiel darf durchschnittlich fünf Sekun­ den nicht unterschreiten (§ 22a Abs. 6 GlüStV 2021). Jackpots und Autoplay-Funktio­ nen sind verboten (§ 22a Abs. 4 und 8 GlüStV 2021), und nach einer Spielzeit von einer Stunde ist eine verbindliche Spielpause von fünf Minuten einzuhalten (§ 22a Abs. 9 GlüStV 2021). Nach § 6c Abs. 1 GlüStV 2021 gilt ein anbieterübergreifendes Einzahlungslimit von 1.000 Euro pro Monat. Erhaltene Gewinne, die wiederum eingesetzt werden, zählen nicht dazu. Kritisch anzumerken ist, dass ein absolutes Einzahlungslimit von 1.000 Euro nicht zwischen unterschiedlichen Einkommensverhältnissen differenziert. Des­ halb erscheint hier eine Ausdifferenzierung nach Einkommensverhältnissen, sofern der Spieler ein hinreichend hohes Einkommen nachweisen kann, angebrachter. So könnte das Einzahlungslimit zunächst auf 1.000 Euro begrenzt werden, jedoch bei Nachweis entsprechender Einkünfte auch erhöht werden. Zudem findet keine Risiko­ gewichtung statt. Wer etwa beim Roulette im Online-Casino 500 Euro auf Rot und 500 Euro auf Schwarz setzt, erreicht das Einzahlungslimit ebenso wie jemand der 1.000 Euro auf eine Zahl setzt. Um übermäßiges Spielen zu verhindern, erscheint eher eine nach Einkommensverhältnissen differenzierte Begrenzung der möglichen Spiel­ verluste sinnvoll, nicht aber die pauschale Begrenzung der Einzahlungen. Zudem soll das gleichzeitige Spielen mit mehreren Accounts verboten werden. Bislang verhindern stationäre Casinos innerhalb ihres Angebots, dass Spieler über mehrere Accounts zugleich spielen. Dies soll auch im Online-Bereich verboten blei­ ben und mit Hilfe einer Aktivitätsdatei überwacht werden. Branchenverbände sehen diese Regelung jedoch kritisch. Die Aktivitätsdatei zur Verhinderung parallelen Spiels im Internet nach § 6h GlüStV 2021 leiste angeblich keinen Beitrag zum Spielerschutz. Zudem gehe die vorgesehen fünfminütige Wartezeit beim Anbieterwechsel an der Le­ benswirklichkeit der Verbraucher vorbei und letztlich sei auch das technische Aus­ fallrisiko der Datei zu Spitzenlastzeiten und die damit verbundenen Haftungsrisiken enorm. In der Tat ist gerade bei Sportwetten nicht unbedingt klar, dass es vorteilhaft ist, paralleles Wetten bei verschiedenen Anbietern zu unterbinden, da so auch etwaige Arbitrage und das Ausnutzen unterschiedlicher Wettquoten deutlich erschwert wer­ den. Nach § 8a Abs. 1 GlüStV 2021 müssen Veranstalter und Vermittler von Glücksspielen, an denen gesperrte Spieler nicht teilnehmen dür­ fen, (. . . ) Personen [sperren], die dies beantragen (Selbstsperre) oder von denen sie aufgrund der Wahrnehmung ihres Personals oder aufgrund von Meldungen Dritter wissen oder aufgrund sons­ tiger tatsächlicher Anhaltspunkte annehmen müssen, dass sie spielsuchtgefährdet oder über­ schuldet sind, ihren finanziellen Verpflichtungen nicht nachkommen oder Spieleinsätze riskie­ ren, die in keinem Verhältnis zu ihrem Einkommen oder Vermögen stehen (Fremdsperre).

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227

Die Fremdsperre dürfte oftmals heikel sein, insbesondere, wenn sie „aufgrund der Wahrnehmung des Personals“ erfolgt. Es erscheint ratsam, im Minimum eine behörd­ liche Überprüfung einzuführen, um willkürlichen Entscheidungen vorzubeugen.

6.3 Werbemöglichkeiten Auch die Werbemöglichkeiten der Glücksspielanbieter sollen in einem gewissen Aus­ maß liberalisiert werden. Inhaber einer Lizenz sollen demnach zukünftig prinzipiell für ihre Angebote werben dürfen, wobei es eine Reihe von Regelungen zu Art, Ort und Zeitpunkt der Werbung geben wird. Unter anderem ist in Bezug auf die Werbung in § 5 Abs. 3 GlüStV 2021 auch geregelt, dass zwischen 6:00 und 21:00 Uhr „keine Wer­ bung im Rundfunk und Internet für virtuelle Automatenspiele, Online-Poker und On­ line-Casinospiele erfolgen“ darf. Ferner ist Werbung für Sportwetten im Fernsehen un­ mittelbar vor oder während der Live-Übertragung von Sportereignissen für Sportwet­ ten auf dieses Sportereignis nicht zulässig. Hier stellt sich die Frage, wie praktikabel dies ist. Es erscheint besser, die Werberegeln regelmäßig zu evaluieren und sie stärker ins Ermessen der neuen Regulierungsbehörde zu stellen als dies abschließend gesetz­ lich zu regeln, da die Regulierungsbehörde flexibler auf neue Erkenntnisse reagieren kann.

6.4 Sportwetten Nach § 21 Abs. 1a GlüStV 2021 sind Sportwetten, die in erheblichem Maße anfällig für Manipulationen sind oder die Integrität des sportlichen Wettbewerbs gefährden, (. . . ) unzulässig; dies betrifft insbesondere Geschehnisse, die ein Teilnehmer eines Sportereignisses selbst willkürlich herbeiführen kann. Sportwetten auf den Eintritt eines regelwidrigen Verhaltens oder die Sanktionierung (. . . ) sind unzulässig.

Bei Sportereignissen, die ein Teilnehmer selbst willkürlich herbeiführen kann, han­ delt es sich vor allem um Einzelsportarten. Dies hätte also zur Folge, dass Wetten auf Sportarten wie beispielweise Tennis, Formel 1, Ski oder olympische Einzelsportarten verboten wären. Weiter heißt es unter § 21 Abs. 4 GlüStV 2021: Die Verknüpfung der Übertragung von Sportereignissen in Rundfunk und Telemedien mit der Veranstaltung oder Vermittlung von Sportwetten ist nicht zulässig. Während des laufenden Sportereignisses dürfen ausschließlich Wetten abgeschlossen werden, die (1) Wetten auf das Endergebnis oder (2) Wetten auf das nächste Tor, den nächsten Satz oder einen ähnlichen Be­ standteil eines Endergebnisses in Sportarten, in denen regelmäßig nur eine geringe Gesamtan­ zahl dieser Ereignisse im Laufe des Sportereignisses auftritt, insbesondere im Fußball, Hockey, Eishockey oder Volleyball, sind.

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Diese Regelung wird zur Folge haben, dass Live-Wetten auf Ereignisse bei Sportarten wie Handball oder Basketball verboten sind. Besser wäre hier der neuen Regulierungs­ behörde mehr Ermessen zu gestatten als eine gesetzliche Regelung. Nach § 8 Abs. 3 Satz 5 GlüStV soll eine „Einlasskontrolle“ für Wettbüros geschaffen werden. Schon beim Betreten des Wettbüros besteht die Pflicht jeden Kunden mit dem Spielersperrsystem abzugleichen. Dies dürfte zu einer kostenintensiven Nachrüstung von bundesweit rund 4.000 Wettbüros führen. Die Situation in einem Wettbüro ist eine gänzlich andere als die in einer Spielhalle. Der Abgleich mit dem Spielersperrsystem vor der Wettabgabe würde vollkommen ausreichen und wäre dabei unkomplizierter beziehungsweise kostengünstiger.

6.5 Besteuerung Neben den Regeln des GlüStV 2021 wird auch die Besteuerung von Online-Glücksspie­ len ein zentraler Punkt des neuen Regelwerkes sein. Die Ausgestaltung der Besteue­ rung ist jedoch nicht im GlüStV selbst geregelt. Vielmehr wird die Besteuerung von Glücksspielen durch Bundesgesetz geregelt. Gleichwohl wird die Besteuerung einen erheblichen Einfluss darauf haben, ob und wie gut die Ziele des GlüStV 2021 erreicht werden können. Eine effektive Kanalisierung hin zu legalen Online-Glücksspielen muss durch eine funktionierende Besteuerung flankiert werden, die Unterschiede der einzelnen Spiel­ formen berücksichtigt und welche das legale Glücksspiel für Spielerinnen und Spieler nicht so unattraktiv macht, dass diese doch lieber im nicht-legalen Markt spielen. Die deutsche Glücksspielbesteuerung kennt prinzipiell zwei verschiedene Be­ steuerungsmodelle: die Besteuerung der Spieleinsätze und die Besteuerung des Brut­ tospielertrags. Bei der Besteuerung der Spieleinsätze wird der eingesetzte Betrag pro Spiel versteuert. Bei der Besteuerung des Bruttospielertrags wird hingegen nicht der Spieleinsatz besteuert, sondern der sog. Bruttospielertrag, der sich als Differenz aus sämtlichen Spieleinsätzen (inklusive etwaiger Teilnahmeentgelte) und der Auszah­ lungen an die Spieler ergibt. Bei der Besteuerung des Bruttospielertrags wird diese Differenz dann mit einem bestimmten Steuersatz belegt. Eine Arbeitsgruppe einiger Landesfinanzministerien hatte zunächst vorgeschla­ gen, nicht den Bruttospielertrag, sondern – im krassen Gegensatz zu fast allen an­ deren EU-Mitgliedsstaaten – den Spieleinsatz zu besteuern. Als Steuersatz wurde zunächst 8 % für virtuelle Automatenspiele, 5,3 % für Online-Poker und 10 % für On­ line-Casinospiele vorgeschlagen.¹³ Am 23. Juni 2021 beschloss der Deutsche Bundes­ tag dann einen Satz von 5,3 % für alle drei Spielarten. Auch für Sportwetten ist die schon bestehende Sportwetten-Einsatzsteuer von bisher 5 auf 5,3 % angehoben wor­ 13 Siehe https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/online-casino-deutschland-casino-1.5156044 (zuletzt abgerufen am 03. April 2021).

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den.¹⁴ Der Bundesrat hat dem Gesetzesbeschluss des Bundestages am 25. Juni 2021 zugestimmt. Eine Besteuerung des Spieleinsatzes in Höhe von 5,3 % wird jedoch dazu führen, dass das legale Glücksspiel für Spieler in Deutschland unattraktiv wird: Faktisch ge­ fährdet eine solche Spieleinsatzsteuer das Ziel der Kanalisierung des Glücksspiels in massiver Weise, weil eine Spieleinsatzsteuer von 5,3 % die möglichen Ausschüttungs­ quoten und somit die Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit des legalen Spiels so eklatant verschlechtert, dass viele Spieler lieber im nicht-legalen Markt spielen wer­ den. Dies lässt sich am Beispiel der virtuellen Automatenspiele gut verdeutlichen. Bei virtuellen Automatenspielen handelt es sich um eine Form des Glücksspiels, bei dem Spielautomaten online simuliert werden. Die Gewinnwahrscheinlichkeit wird dabei über die Auszahlungsquote an den Spieler, den sogenannten „RTP-Wert“, definiert, wobei RTP für „Return to Player“ steht. Im Durchschnitt liegt die Auszahlungsquote bei den virtuellen Automatenspielen derzeit bei etwa 96 %, wie im Jahresreport 2018 der obersten Glücksspielaufsichtsbehörden in Hessen nachzulesen ist (HMDIS 2019: Tz. 3.2). Dies bedeutet, dass Spieler im Durchschnitt 96 % ihres Spieleinsatzes wieder zurückgewinnen. Vier Prozent des Einsatzes erhält das Casino im Durchschnitt. Bei ei­ ner Spieleinsatzsteuer von 5,3 % macht das Online-Casino somit – sofern sich nichts an den Auszahlungsquoten ändern würde – Verluste, da die Steuerlast die Einnahmen übersteigen. Eine Spieleinsatzsteuer von 5,3 % wirkt demnach wie eine Besteuerung des Bruttospielertrags von über 100 %. Unter einer derart hohen Steuerlast kann na­ turgemäß kein Online-Casino wettbewerbsfähig agieren und würde somit mittel- oder langfristig aus dem Markt ausscheiden, wenn der RTP-Wert nicht angepasst wird. Online-Glücksspielanbieter müssten daher die Auszahlungsquoten anpassen. Ausgehend von einer wettbewerblichen Auszahlungsquote von derzeit durchschnitt­ lich 96 % müsste das Online-Casino diese um die Höhe der Spieleinsatzsteuer auf 90,7 % reduzieren. Eine solche Spieleinsatzsteuer von 5,3 % wirkt dann wie eine Brut­ tospielertragssteuer von 57,0 % (5,30 Euro Steuern von den dann einbehaltenen 9,30 Euro). Die Steuerlast ist selbst bei einer Reduzierung der Auszahlungsquote daher immer noch immens – vor allem im europäischen Quervergleich, wo die durchschnitt­ liche Bruttospielertragssteuer bei 19 % liegt (Haucap et al. 2020; PWC 2021). Praktisch wird sich eine solche Absenkung der Auszahlungsquote von 96 auf 90,7 % jedoch kaum umsetzen lassen. Spielerinnen und Spieler könnten nämlich auf dem Schwarzmarkt mit demselben Startbudget effektiv etwa 2,4-mal so viel einsetzen bzw. effektiv 2,4-mal so lange spielen wie auf dem regulierten Markt. Das Angebot an Online-Glücksspielen ist dabei riesig und die Branche sehr wettbewerbsintensiv. So existieren allein für Spielerinnen und Spieler aus Deutschland knapp 1.500 On­

14 Vgl. Gesetz zur Änderung des Rennwett- und Lotteriegesetzes und der Ausführungsbestimmungen zum Rennwett- und Lotteriegesetz (Bundestags-Drucksache 19/28400 vom 13.04.2021).

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line-Casinos, ein großer Teil davon agiert hierbei im nicht-regulierten Bereich, vor allem aus dem asiatischen und karibischen Raum (Haucap et al. 2020). Auf einschlä­ gigen Portalen wie casino.guru wird mehr als der Hälfte dieser Anbieter mindestens eine gute Reputation bescheinigt, was Spielerinnen und Spielern ein Gefühl von Si­ cherheit und Zuverlässigkeit vermittelt. Die Portale sind auch für deutsche Spieler leicht zu erreichen, sie bieten ähnlichen Content an, der auch in deutscher Sprache verfügbar ist, und locken Spieler mit attraktiven Boni. Zudem existieren explizite Ver­ gleichsportale¹⁵, auf denen Spieler die Konditionen (insb. die Auszahlungsquoten) und Entgelte verschiedener Anbieter sehr leicht vergleichen können. Die Substituti­ ons- und Wechselbereitschaft der Spielerinnen und Spieler dürfte daher hoch sein. Die in Europa lizenzierten Casinoseiten sind daher einem hohen Maß an Wettbewerb durch Casinoseiten aus dem nicht regulierten Bereich ausgesetzt. Bemerkenswert ist in diesem Kontext auch, dass die implizite Spieleinsatzsteuer bei Geldspielgeräten in Spielhallen und Gaststätten im Jahr 2019 in Hessen bei 4,6 % lag, da auf 2659 Mio. Euro Spieleinsatz Vergnügungs- plus Umsatzsteuern in Höhe von 122 Mio. Euro gezahlt wurden (HMDIS 2020b: 23). Die implizite Bruttospielertragssteu­ er bei Geldspielgeräten in Spielhallen und Gaststätten lag in den Jahren 2018 und 2019 bundesweit bei 25,3 %, da auf einen Bruttospielertrag in Höhe von 5.500 (2018) bzw. 5.900 (2019) Mio. Euro Vergnügungs- plus Umsatzsteuern in Höhe von 1.392 (2018) bzw. 1.495 (2019) Mio. Euro entrichtet wurden (HMDIS 2020a: 6, 21). Damit liegt sowohl die implizite Spieleinsatzsteuer bei Geldspielgeräten in Spielhallen und Gaststätten unter den geplanten 5,3 % für Online-Spiele. Vor allem aber liegt die viel bedeutsamere implizite Bruttospielertragssteuer bei Geldspielgeräten in Spielhallen und Gaststätten mit gut 25 % deutlich unter dem Satz von 57,0 %, der sich bei einer Spieleinsatzsteuer von 5,3 % bei Online-Spielen ergibt. Wissenschaftliche Studien und der europäische Vergleich zeigen, dass eine Spiel­ einsatzsteuer erhebliche negative Auswirkungen auf die Kanalisierungsquote hat (Co­ penhagen Economics 2020). Von einer Austrocknung des illegalen Spielbetriebs kann somit keinesfalls ausgegangen werden. Im Gegenteil: Die Steuer droht, die legale Be­ tätigung virtueller Automatenspiele zu senken und damit das Volumen des illegalen Glücksspiels zu erhöhen. Somit ist eine Abwanderung der Spieler vom regulierten in den Schwarzmarkt praktisch vorprogrammiert. Das Kanalisierungsziel kann so nicht erreicht werden. Faktisch wirkt die Spieleinsatzsteuer damit nicht nur der Kanalisie­ rung und den anderen Zielen des GlüStV, die von einer erfolgreichen Kanalisierung abhängen, sondern auch den fiskalischen Interessen strikt entgegen. Die reduzierte Spieldauer konterkariert auch das Ziel des GlüStV 2021 in Bezug auf den Spielerschutz. Neben dem möglichen Gewinn ist für Spieler virtueller Automaten­

15 Siehe https://www.gambling.com/de/online-casinos/strategie/die-6-online-casinos-mit-derbesten-auszahlung-97000, https://www.casino.org/de/auszahlungsquote/ oder https://www.casino online.de/beste-auszahlungsquoten.php (zuletzt abgerufen am 03. April 2021).

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spiele die Spieldauer ein wichtiger Aspekt. Eine reduzierte Spieldauer als Folge einer Spieleinsatzsteuer wirkt sich auch dahingehend aus, dass der Spieler zusätzliche Ein­ zahlungen tätigt, um auf seine erwartete bzw. gewünschte Spieldauer zu kommen. Eine erfolgreiche Kanalisierung hin zu legalen Online-Glücksspielen ließe sich je­ doch erreichen, wenn als Bemessungsgrundlage für die Besteuerung der Bruttospiel­ ertrag dient und nicht der Spieleinsatz. In Europa haben sich bisher sämtliche Staaten mit einer Online-Glücksspielregulierung für eine Besteuerung auf Grundlage des Brut­ tospielertrags entschieden. Frankreich ist – abgesehen von Sportwetten – das einzige europäische Land, das bei Online-Glücksspiel eine Besteuerung des Spieleinsatzes vornimmt, jedoch hier auch nur Online-Poker und auch nur mit einem Steuersatz von 2 %, nicht aber 5,3 % – das ist deutlich mehr als der doppelte Satz! Zugleich hat sich Frankreich, gerade aufgrund der dort schlechten Kanalisierungsquoten, unlängst für den Wechsel zur Besteuerung des Bruttospielertrags entschieden, wie oben bereits er­ wähnt. Neben der richtigen Bemessungsgrundlage bei der Glücksspielbesteuerung ist aber auch die Höhe des angewendeten Steuersatzes entscheidend. Im europäischen Durchschnitt liegt dieser bei etwa 19 % (PWC 2021). Mehrere Studien haben sich in­ zwischen mit der Thematik befasst, wie hoch eine solche Steuer ausfallen kann, ohne das übergeordnete Ziel der Kanalisierung zu tangieren. Dabei kommen die Studien überwiegend zu dem Ergebnis, dass eine effektive Kanalisierung und zugleich ein hohes Steueraufkommen bei einer Besteuerung des Bruttospielertags von 15–20 % erreicht werden kann (Haucap et al. 2020). Abbildung 3 illustriert den Zusammenhang zwischen Kanalisierungsrate und Steuerrate. Die bisherige Besteuerung des Online-Glücksspiels mittels der Umsatz­ steuer von ca. 16 %¹⁶ liegt innerhalb des optimalen Besteuerungsintervalls von 15 bis 20 %. Gleiches gilt für den europäischen Durchschnitt von 19 %. Eine Spielein­ satzsteuer von 5,3 % hat bei einer Reduktion des RTP-Werts von 96 auf 90,7 % die Wirkung einer Bruttospielertragssteuer von 57,0 %. Damit liegt sie sehr deutlich über der optimalen Bruttospielertragssteuer von 15 bis 20 %. Bei einer Besteuerung des Spieleinsatzes mit 5,3 % wird das Kanalisierungsziel nicht erreicht werden können. Dies hat dann auch zur Folge, dass nicht das maximale Steueraufkommen erzielt wird. Somit wirkt eine Spieleinsatzsteuer nicht nur dem Ka­ nalisierungsziel, sondern auch den fiskalischen Interessen gänzlich entgegen. Auch die weiteren Ziele des GlüStV 2021, wie der Jugend- und Spielerschutz, können ohne ei­ ne erfolgreiche Kanalisierung nicht erreicht werden. Aufgrund internationaler Erfah­

16 Die Besteuerung erfolgt derzeit auf Basis der Umsatzsteuer von 19 %. Die Bemessungsgrundlage ist dabei allerdings der Umsatz abzüglich der Umsatzsteuer. Dies wird an folgendem Beispiel erläu­ tert: Von insgesamt eingenommenen 100 Euro beträgt die Umsatzsteuer 15,97 Euro. Dies ergibt sich aus 100 − 100/1,19. Die Bemessungsgrundlage zur Besteuerung des Online-Glücksspiels liegt damit bei 100 − 15,97 = 84,03 Euro. Auf diesen Betrag werden die 19 % angewendet. Bezüglich des Gesamtum­ satzes von 100 Euro entspricht dies einem effektiven Steuersatz von ca. 16 %.

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Kanalisierungsrate Steueraufkommen

1)

2)

3)

4)

Steueraufkommen Kanalisierungsrate

15 % 20 %

57 % (Spieleinsatzsteuer von 5,3 %)

Steuerrate

Abb. 3: Auswirkungen der Steuerrate auf die Kanalisierungsquote und das Steueraufkommen. 1) Derzeitige Besteuerung: Umsatzsteuer auf Online-Glücksspiele i. H. v. 19 Prozent auf Bruttospiel­ ertrag ohne Umsatzsteuer = 15,97 Prozent auf Bruttospielertrag. 2) Durchschnittlicher Glücksspielsteuersatz auf Online-Casinos in der EU = 19 Prozent auf Brutto­ spielertrag. 3) Glücksspielsteuersatz auf Online-Casinos in Schleswig-Holstein = 20 Prozent auf Bruttospiel­ ertrag 4) Glücksspielsteuer auf virtuelle Automatenspiele in Deutschland mit 57 Prozent auf Bruttospiel­ ertrag (nach unterstellter Reduzierung der Ausschüttungsquote um die Spieleinsatzsteuer von 5,3 Prozent). Quelle: Haucap et al. (2020) in Anlehnung an Copenhagen Economics (2016: 4).

rungen ist davon auszugehen, dass die Kanalisierungsquote bei der geplanten Spiel­ einsatzsteuer deutlich unter 50 % fallen würde. Der GlüStV 2021 droht somit, letztlich an der (viel zu hohen) Besteuerung des Spieleinsatzes gänzlich zu scheitern.

7 Fazit Dass manche Leute einen mehr oder minder stark ausgeprägten (Glücks-)Spieltrieb haben, mag bedauerlich sein oder auch nicht. Durch Verbote allein wird dieser je­ doch nicht befriedigt – im Gegenteil: Die Lehren der Vergangenheit zeigen, dass das Spielbedürfnis dann illegal befriedigt wird und so Spieler- und Jugendschutz beson­ ders schwer zu gewährleisten sind. Der Spieltrieb verschwindet nicht einfach durch Verbote, denn gerade im digitalen Zeitalter wird es durch zahlreiche Online-Angebote zunehmend einfach, diesem Bedürfnis nachzugehen.

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Das Ziel der Glücksspielregulierung, das Spielen in legale Bahnen zu lenken, ist auch aus ökonomischer Sicht aus mindestens zwei Gründen zu begrüßen: Erstens kann so der Markt reguliert und Spieler- und Jugendschutz wenn auch nicht perfekt, so doch besser gewährleistet werden als auf dem Schwarzmarkt. Und zweitens las­ sen sich durch eine sachgerechte Besteuerung auch Staatseinnahmen erzielen, die – zumindest theoretisch – für sinnvolle Vorhaben ausgegeben werden können. Die Glücksspielregulierung der vergangenen 20 Jahre ist dabei im Wesentlichen ein Lehrstück für politisches Versagen. Unter fortwährender Missachtung von Europaund bisweilen auch Verfassungsrecht wurden zum einen Grundfreiheiten der Bürge­ rinnen und Bürger eingeschränkt, zum anderen gab es aber keinen wirksamen Jugendund Spielerschutz. Insofern hat die Glücksspielregulierung der vergangenen 20 Jah­ re – bedauerlicherweise – einiges mit der Drogenpolitik in Deutschland gemeinsam. Um ein Marktversagen durch Informationsasymmetrien zu verhindern und um die Gefahr der Spielsucht zu reduzieren, sollte die Nachfrage in ein legales Umfeld kanalisiert werden. Damit aber eine hohe Kanalisierungsrate erreicht werden kann, dürfen legale Angebote im Vergleich zum Schwarzmarkt nicht zu unattraktiv sein. An­ sonsten kommt es zu einer Abwanderung der Spieler vom legalen regulierten Markt in den unregulierten Schwarzmarkt, wie die deutsche und die internationale Erfah­ rung lehrt. Spielangebote im legalen Markt sind attraktiv, wenn Spielangebote nicht zu sehr eingeschränkt werden, Steuern keine wettbewerbsfähigen Angebote (Quoten) verhindern und die Authentifizierung nicht zu umständlich ist (Haucap et al. 2017a). Der GlüStV 2021 formuliert Ziele, die sich gut auf Basis der ökonomischen Theorie des Marktversagens begründen und daraus ableiten lassen. Um diese Ziele effektiv zu erreichen, geht der GlüStV 2021 prinzipiell in die richtige Richtung. Eine weitgehend sachgerechte, europa- und verfassungsrechtskonforme Regulierung des Glücksspiels ist nun in Deutschland nach fast 20 Jahren rechtlicher Schwebezustände und blü­ hender Schwarzmärkte zum Greifen nah, auch wenn die Regulierung im Hinblick auf Werberegeln, Spielprogramme, Einsatzlimits und anderes im Detail noch Schwächen aufweist. Umso wichtiger ist daher die regelmäßige Evaluation des regulatorischen Rahmens. Die regelmäßige Evaluation der Glücksspielregulierung sollte die neue Aufsichts­ behörde für das Glücksspiel übernehmen. Zugleich ist zu empfehlen, angesichts der Dynamik des Glücksspielmarktes, der technologischen Entwicklungen und der Not­ wendigkeit, Regulierung immer wieder zu evaluieren, weniger Details im Glücksspiel­ staatsvertrag auf Gesetzesebene vorzugeben, sondern besser der neuen Aufsichtsbe­ hörde mehr Ermessen zuzugestehen und ggf. auch die rechtliche Kompetenz einzu­ räumen, selbst Verordnungen zu erlassen. Wie die Geschichte der letzten 20 Jahre zeigt, verläuft die Abstimmung zwischen 16 Bundesländern stets sehr schleppend und langwierig. Die Anpassung der Glücksspielstaatsverträge dauert daher sehr lange. Da aber in der Regulierung auch schnelles Handeln erforderlich sein kann, wäre es um­ so wichtiger, die Aufsichtsbehörde mit den entsprechenden Regelungskompetenzen auszustatten.

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Scheitern kann die gesamte Glücksspielregulierung schließlich – und darauf deu­ tet momentan einiges hin – an einer unsachgemäßen Besteuerung. Die beschlossene Spieleinsatzsteuer von 5,3 % droht die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Anbieter im Bereich von Online-Poker, Online-Casino und bei virtuellen Automatenspielen sehr ernsthaft zu gefährden. Deutschland ist in der EU das einzige Land mit einer Spielein­ satzsteuer, während alle anderen EU-Staaten bei Online-Glücksspielen außer Sport­ wetten eine Bruttospielertragssteuer verwenden. Eine Spieleinsatzsteuer von 5,3 % entspricht umgerechnet einer Bruttospielertragssteuer von 57 %. Dies ist das Dreifa­ che des EU-Durchschnitts und dürfte daher ein massives Abwandern von Spielerinnen und Spielern in den Schwarzmarkt induzieren. Bei allen Schwächen in den Details des GlüStV 2021 ist die überbordende Besteuerung eindeutig das gravierendste Problem, das den gesamten GlüStV 2021 letztlich auch zum Scheitern bringen kann. Hier be­ steht erheblicher Korrekturbedarf.

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| Teil III: Medien, Digitalisierung und Information

Björn A. Kuchinke

Marktabgrenzung und Wettbewerbspolitik im digitalen Zeitalter – Wettbewerbsökonomische Anmerkungen 1

Einleitung und Motivation | 239

2

Marktabgrenzung 1.0: Grundsätzliche Diskussion | 241

3

Marktabgrenzung 2.0: Das GWB bis zur 8. GWB-Novelle | 242 3.1 Sachliche Marktabgrenzung | 243 3.2 Räumliche Marktabgrenzung | 244 3.3 Zeitliche Marktabgrenzung | 245 3.4 Diskussion und Schlussfolgerungen | 245

4

Marktabgrenzung 3.0: Die 9. GWB-Novelle | 246 4.1 Entwicklungen | 246 4.2 Änderungen im GWB | 247 4.3 Diskussion und Schlussfolgerungen | 248

5

Marktabgrenzung 4.0: Die 10. GWB-Novelle oder das „GWB-Digitalisierungsgesetz“ | 249 5.1 Daten | 249 5.2 Intermediationsmacht | 253

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Schlussbemerkungen | 254

1 Einleitung und Motivation Die Abgrenzung von Märkten ist seit jeher Kern bzw. ein voraussetzendes Element in der deutschen und internationalen Wettbewerbspolitik.¹ Nur wenn Märkte sinn­ voll abgegrenzt werden, kann eine marktbeherrschende Stellung ermittelt werden, die womöglich missbräuchlich ausgenutzt wird. Nur bei sinnvoll abgegrenzten Märk­ ten können die Wirkungen von Zusammenschlüssen oder die Wettbewerbswirkungen von Vertragsbestandteilen beurteilt werden. Die Diskussion, um eine „richtige“, „sinnvolle“ Marktabgrenzung ist dabei so alt wie die Wettbewerbspolitik selbst und insofern nichts Neues. Die Diskussionen haben aber im Zuge der Digitalisierung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Welt in den letzten Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen. Grund hierfür ist, dass mit der Digitalisierung Tatbestände aufgetreten sind, die vorher keine oder kaum eine Rol­ le gespielt haben. Hierzu zählt erstens dass (Medien-)Unternehmen gegenüber an­

1 Anders ausgedrückt ist die Marktabgrenzung kein Selbstzweck, sondern eine indirekte Methode, um die Marktmacht eines Unternehmens abzuschätzen. Vgl. hierzu grundsätzlich auch Dittmann et al. (2018). https://doi.org/10.1515/9783110724523-010

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deren Unternehmen häufig zwei oder mehrere Nutzergruppen zusammenführen, die zwar institutionell voneinander getrennt, zugleich jedoch über indirekte Netzeffekte miteinander verbunden sind.² Die Unternehmen bzw. deren Produkte fungieren als Plattform, über welche die verschiedenen Marktseiten koordiniert werden. Der Nut­ zen der Marktseiten wird nicht alleinig durch den Konsum der Ware oder die Inan­ spruchnahme der Dienstleistung, sondern ebenso durch die Zahl und/oder die Zu­ sammensetzung der Nutzer auf der anderen Marktseite beeinflusst (Katz & Shapiro 1985: 424; Roson 2005: 144; Schmalensee 2002: 106; Armstrong 2006: 669; Dewen­ ter 2006: 60; Dewenter & Haucap 2009: 39). Im Falle positiver Netzeffekte profitieren beide Nutzergruppen von der Existenz der jeweils anderen Marktseite (Dewenter & Haucap 2009: 39 f.; Wright 2004: 47; Evans 2010; Dittmann & Kuchinke 2020: 7 ff.). Die bestmögliche Ausnutzung der Verbundenheit der Nutzergruppen erfolgt über eine plattformspezifische Preissetzung (Rochet & Tirole 2003: 990; Schmalensee 2002: 105; Evans & Schmalensee 2007: 154). Diese entspricht nicht den für traditionel­ le Märkten geltenden Regeln, nach denen Unternehmen ihre Preise unter Würdigung der Zahl der konkurrierenden Unternehmen, dem Homogenitätsgrad der Güter, sach­ lichen, zeitlichen und/oder räumlichen Präferenzen sowie der Verteilung der Nach­ frager uvm. setzen. Vielmehr richten sich die Preise (auch oder im Wesentlichen) nach der Stärke der indirekten Netzeffekte. Die Gruppe, von welcher der geringere Effekt auf die andere Marktseite ausgeht, zahlt typischerweise einen höheren Preis als vice versa. Je stärker die Netzeffekte sind, desto geringer ist der von der betreffenden Nut­ zergruppe zu entrichtende Preis. Mitunter kann dieser weit unter Grenzkosten gesetzt werden oder sogar negativ sein (Evans 2003a: 193; Wright 2004: 48; Evans & Schma­ lensee 2007: 160; Evans 2008: 7; Rysman 2009: 130; Dewenter et al. 2014: 7; Dittmann & Kuchinke 2020: 7 f.). Zweitens spielen Daten, insbesondere personalisierte Daten, in einer digitalisier­ ten Welt eine immer wichtigere Rolle, denn mit diesen Daten können die eigenen An­ gebote verbessert, neue Angebote erstellt oder aber Werbeplätze besser vermarktet werden. Geschäftsmodelle beruhen teilweise ausschließlich auf der Sammlung von Daten.³ Große Datenmengen existieren in einigen Branchen zwar schon seit gerau­ mer Zeit (Scanner Daten, Finanzmarktdaten etc.), in einem so ausgeprägten Maße wie heute, sind diese Daten jedoch erst mit voranschreitender Digitalisierung möglich ge­ worden (z. B. Sammlung von Daten durch Sensoren, Cookies, Tracking und ähnlichen Neuerungen) (Dewenter & Kuchinke 2019: 18). Drittens sind digitale Märkte häufig geprägt von einer hohen Dynamik, die sich u. a. in einem hohen Innovationsdruck und einer großen Vielfalt zeigt (Körber 2016; Schweitzer et al. 2016: 4).⁴ Die Entwicklung von digitalen Märkten stellt die Wettbe­

2 Zu den Besonderheiten von Medienmärkten vgl. grundsätzlich Budzinski & Kuchinke (2020) sowie Dewenter (2006: 60), Dewenter & Haucap (2009: 39) und Dittmann et al. (2018). 3 Der Nutzer zahlt quasi mit seinen Daten. Die (direkte) Nutzungsgebühr ist daher häufig Null. 4 Zur dynamischen Entwicklung digitaler Güter und Märkte siehe auch Monopolkommission (2015).

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werbspolitik und im Speziellen die Marktabgrenzung als Basis von wettbewerbspoli­ tischen Entscheidungen damit vor immer neue Herausforderungen. Die Wettbewerbs­ politik steht vor der Aufgabe, den Spagat zwischen dem Erhalt von Innovationen auf der einen und dem Erhalt von Wettbewerb auf der anderen Seite zu schaffen. Damit ist gemeint, dass auf der einen Seite die Innovationskraft von Newcomern und Altsassen erhalten bleiben soll, aber die alteingesessenen Unternehmen, wie Google, Facebook, Amazon und Apple, ihre Marktposition nicht zementieren sollen.⁵ Der Umstand, dass laufend neue oder differenzierte Angebote entwickelt werden, ist auf Medienmärkten relevant. Ein anderer, damit einhergehender Aspekt ist das Nutzungsverhalten der Nachfrager. Die Berücksichtigung des medialen Nutzungsver­ haltens z. B. von Internetusern ist ein wesentliches Element bei der Diskussion um eine wettbewerbsökonomisch sinnvolle Marktabgrenzung. Grundsätzlich ist zu fra­ gen, ob sich bei geändertem Nutzungsverhalten der User in Bezug auf mediale Inhalte die Substituierbarkeit von digitalen Angeboten und Plattformen ebenfalls geändert hat.⁶ Es wäre beispielweise denkbar, dass sich der Bedarf der Nutzer hin zur allgemei­ nen Freizeitgestaltung oder Ablenkung geändert hat, d. h. nicht mehr einzelne Bedürf­ nisse, wie Kommunikation oder das Anschauen von Videos, im Vordergrund stehen. Damit ist auch klar, dass das Wettbewerbsverhalten von Plattformen vor diesem Hin­ tergrund auf dem Prüfstand steht. Konkret gilt es zu fragen, wie sich die Angebote und Funktionen entwickelt haben. Mithin ist wichtig zu untersuchen, ob eine Aus­ weitung der Funktionen von Plattformen stattfindet und welche Rolle spezielle Funk­ tionen oder exklusive Inhalte spielen.

2 Marktabgrenzung 1.0: Grundsätzliche Diskussion Die Frage nach einer sinnvollen Marktabgrenzung ist vor dem Hintergrund des Wirt­ schaftssystems „Marktwirtschaft“ zu sehen. Die Marktwirtschaft ist das potenziell leistungsfähigste Wirtschaftssystem. Sie setzt eine Ordnung mit wohl definierten Freiheits-, Eigentums- und Verfügungsrechten voraus und entfaltet ihre Leistungs­ fähigkeit, wenn der Wettbewerb wirksam ist. Wirksamer Wettbewerb entsteht nur unter bestimmten institutionellen und strukturellen Voraussetzungen und maximiert die volkswirtschaftliche Wohlfahrt nur dann, wenn der Staat eine Wettbewerbsord­ nung durchsetzt, die unzulässige Verhaltensweisen definiert und unterbindet sowie den Wettbewerb als Koordinationsverfahren gegen einzelwirtschaftliche Interessen schützt (Giersch 1961).

5 Es kommt hier auch zu sog. Killeraquisitionen. Vgl. Haucap & Schweitzer (2021). 6 Vor dem Hintergrund des Gedankens eines Bedarfsmarktkonzeptes würde dies den Kreis der im Wettbewerb stehenden Plattformen verändern und womöglich hier zu neuen Erkenntnissen führen.

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Die Frage wie genau die Wettbewerbspolitik in Deutschland auszusehen hat, ist nach dem zweiten Weltkrieg intensiv diskutiert worden. Im Grunde gibt hierbei die sogenannte „Hoppmann-Kantzenbach-Kontroverse“ einen guten Überblick über die verschiedenen Meinungen. Kantzenbach hat im Sinne der US-amerikanischen „Har­ vard-School“ mit seinem Konzept der „optimalen Wettbewerbsintensität“ aus dem Jahre 1967 die Meinung vertreten, dass es wünschenswerte und damit schützenswer­ te Marktstrukturen gibt, die zu den besten ökonomischen Ergebnissen führen (Kant­ zenbach 1967). Seinem Konzept zufolge ist das weite Oligopol mit mäßiger Produkt­ differenzierung die optimale, anzustrebende Marktstruktur. Hoppmann ist im Sinne der „ordoliberalen Schule“ und mit seinem Konzept der „Wettbewerbsfreiheit“ zu ei­ nem anderen Ergebnis gekommen (Hoppmann 1968; 1977; 1982; 1988). Demnach ist die Wettbewerbsfreiheit an sich zu schützen. Diese führt zu optimalen ökonomischen Ergebnissen. Ohne auf Einzelheiten der Konzepte eingehen zu wollen oder zu müssen, hat dies bereits auf den ersten Blick unterschiedliche und erhebliche Implikationen für die Marktabgrenzung in der angewandten Wettbewerbspolitik. Auf der einen Seite ist nach Kantzenbach eine Marktabgrenzung zwangsläufig erforderlich. Nach Hopp­ mann ist diese im Grunde abzulehnen, denn ein Marktsystem ist ein spontan koor­ dinierendes, offenes, evolutorisches, komplexes, interdependentes System aus sehr vielen Märkten. Eine Einzelmarktbetrachtung ist folglich unzulässig. Einzelne markt­ liche Ergebnisse sind nicht vorhersehbar, sondern stellen nur ein Muster dar. Damit wird bereits auf der Ebene der Leitbilddiskussion deutlich, dass es Diskussionspunkte hinsichtlich einer Marktabgrenzung gibt, ohne überhaupt konkrete Konzepte für eine solche zu diskutieren.

3 Marktabgrenzung 2.0: Das GWB bis zur 8. GWB-Novelle Mit dem zum 1.1.1958 in Kraft getretenen Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB), das mittlerweile in der neunten Fassung aus dem Jahre 2017 vorliegt, hat auch das Bundeskartellamt (BKartA) als erste wettbewerbspolitische Instanz seine Arbeit aufgenommen. Zentrale Instrumente der Wettbewerbspolitik sind das Verbot wettbe­ werbsbeschränkender Verhaltensweisen und die Missbrauchsaufsicht sowie seit 1973 die Zusammenschlusskontrolle. Bei all diesen Instrumenten ist eine Marktabgrenzung durchzuführen. Die Marktabgrenzung ist hierbei der erste Schritt in einem Verfahren, d. h. bei der Missbrauchsaufsicht wird beispielsweise zunächst der Markt abgegrenzt, dann wird ermittelt ob eine marktbeherrschende Stellung vorliegt und abschließend ist zu prüfen, ob diese Marktstellung missbräuchlich ausgenutzt wird. Die Marktab­ grenzung erfolgt typischerweise in drei Dimensionen, nämlich erstens sachlich, zwei­

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tens räumlich und drittens zeitlich (Schmidt & Haucap 2013). Ist der Markt nach diesen Kriterien abgegrenzt, wird auch vom sogenannten „relevanten Markt“ gesprochen.

3.1 Sachliche Marktabgrenzung Hinsichtlich der sachlichen Marktabgrenzung sind über die Jahre verschiedene Kon­ zepte (zumindest theoretisch) diskutiert worden. Diese Diskussion soll an dieser Stelle nicht nachgezeichnet werden.⁷ Fakt ist, dass die wettbewerbspolitischen Ent­ scheidungen des BKartA typischerweise durch eine Marktabgrenzung nach dem Be­ darfsmarktkonzept nach Lawrence Abbott (1973) und Helmut Arndt (1958) begründet werden. Hierbei ist jeweils die Sicht der Marktgegenseite einzunehmen, wenn An­ gebots- oder Nachfragemacht vermutet wird.⁸ Nach dem Bedarfsmarktkonzept und exemplarisch unterstellter Angebotsmacht gehören alle Produkte bzw. die Firmen, die diese anbieten, sachlich zu einem Markt, wenn die Nachfrager diese als Sub­ stitute ansehen. Um das Bedarfsmarktkonzept anzuwenden gibt es die Möglichkeit sogenannte Substitutionslücken nach Joan Robinson (1969) zu ermitteln. Um solche Substitutionslücken herauszufinden können z. B. Nachfrager zu ihrem Kaufverhal­ ten und zur Produktverwendung befragt werden. Genauso kann auf Unternehmensbzw. Marktdaten zurückgegriffen werden. Hiermit kann die sogenannte Kreuzprei­ selastizität berechnet werden, um die Effekte einer Preiserhöhung oder -senkung bei einem Produkt A auf die verkaufte Menge eines Produktes B abzuschätzen. Bei einer Kreuzpreiselastizität von Null liegt eine Substitutionslücke vor, es handelt sich also um zwei Produkte, die vom Nachfrager nicht als Substitut angesehen werden. Es liegen daher zwei getrennte Märkte vor. Bei einer hohen Kreuzpreiselastizität se­ hen die Nachfrager die Produkte als Substitute an und es handelt sich sachlich um denselben Markt. Liegt die Kreuzpreiselastizität zwischen diesen beiden Extremen wird von einer spürbaren Kreuzpreiselastizität gesprochen. Mithin wird in diesem Zusammenhang auch über enge und weite Substitute argumentiert. Gerade mit Blick auf die internationale Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union (EU) und in den USA lassen sich weitere Konzepte und Instrumente zur sach­ lichen Marktabgrenzung bei dem Tatverdacht der Angebotsmacht finden, die damit auch in Deutschland von Relevanz sind. Zu diesen gehören die Analyse der Preisge­ staltungsmodelle und -unterschiede, die Analyse der Gleichförmigkeit der Preise bzw. der Preisentwicklung sowie die Analyse der Wechselkosten für die Nachfrage. Auch hierdurch können letztendlich Substitutionslücken entstehen und Märkte sachlich

7 Ein Beispiel wäre etwa das „Konzept der externen Interdependenz“ nach Robert Triffin (1971). Hier­ nach gehören alle Unternehmen sachlich zu einem Markt, die beim Verkauf in einer gegenseitigen Abhängigkeit verbunden sind. 8 Wird Angebotsmacht vermutet wird der Markt also sachlich aus Sicht der Nachfrager abgegrenzt und umgekehrt erfolgt eine Abgrenzung aus Sicht der Anbieter, wenn Nachfragemacht vermutet wird.

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auseinanderfallen. Des Weiteren wird der hypothetischer Monopolistentest angewen­ det.⁹ Hierbei geht es um die Analyse der Gewinnentwicklung innerhalb eines Jahres nach einer unterstellten Preiserhöhung des Produktes von 5 % bei Konstanz aller üb­ rigen Preise. Ein Antitrustmarkt umfasst sachlich (und räumlich) den Absatz, den ein Monopolist zur Durchsetzung von Marktmacht bzw. zur Gewinnsteigerung aus einer dauerhaften (> 1 Jahr) Preiserhöhung von 5–10 % benötigt. Wenn selbst ein Monopolist den Preis des betrachteten Gutes nicht spürbar (5–10 %) erhöhen wird, dann hat ein Unternehmen mit geringerem Marktanteil keine Marktmacht sowie nicht die Fähigkeit zur dauerhaften Preiserhöhung. Es liegt also kein eigenständiger Markt vor. Bei vermuteter Nachfragemacht wird der Markt sachlich mit Blick von der An­ gebotsseite abgegrenzt. Im Grunde handelt es sich wiederum um das Bedarfsmarkt­ konzept, denn es wird beispielsweise geprüft, ob die Anbieter Substitute, also Al­ ternativen für die Abnahme ihrer Produkte haben. Hierbei spielt auch, gerade im wettbewerbspolitischen Rahmen der EU, die Frage der Umstellungsflexibilität der Angebotsseite eine wichtige Rolle. Es wird also analysiert, ob eine sofortige Umstel­ lung des Angebotes ohne Zusatzkosten und ohne versunkene Kosten möglich ist. Außerdem wird der Umfang der administrativen, rechtlichen und sonstigen Sachver­ halte analysiert, die eine Umstellung behindern. Ist die Umstellungsflexibilität sehr hoch, dann ist der sachliche Markt relativ groß, denn die Anbieter können durch eine Umstellung der Produktion auf alternative Nachfrager ausweichen. Ist die Um­ stellungsflexibilität niedrig, dann ist dies nicht möglich und der sachlich relevante Markt beschränkt sich auf die ursprünglichen Abnehmer.

3.2 Räumliche Marktabgrenzung Nach der sachlichen Marktabgrenzung erfolgt die räumliche Marktabgrenzung (Schmidt & Haucap 2013). Der räumlich relevante Markt umfasst das Gebiet, in dem die beteiligten Unternehmen die relevanten Produkte anbieten und nachfragen, in dem die Wettbewerbsbedingungen hinreichend homogen sind und das sich von benachbarten Gebieten spürbar unterscheidet. Abgrenzungsmerkmale sind hierbei die Art und die Eigenschaften der Waren bzw. Dienstleistungen, Verbraucherge­ wohnheiten, Preis- und Marktanteilsunterschiede sowie Marktzutrittsschranken. Konkrete Kriterien zur räumlichen Abgrenzung, die sowohl in der EU als auch beim BKartA Anwendung finden, sind daher Handelsbeschränkungen, wie Zölle oder Standards, Transportkosten, Vertriebssysteme, Konsumentenpräferenzen, Sprach­ barrieren, rechtliche Regulierungen und die Wettbewerbsbedingungen, gemessen in der Entwicklung der Preise, der Handelsströme und der Marktanteile. Als Ergebnis der räumlichen Abgrenzung ist je nach Sachverhalt ein Weltmarkt, ein Markt im 9 Der hypothetische Monopolistentest wird auch als SSNIP-Test bezeichnet. SSNIP steht hierbei für „small but significant non-transitory increase in price“ (Zimmerlich 2007; Daljord et al. 2008).

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europäischen Währungsraum, ein EU-weiter Markt, ein nationaler, regionaler oder lokaler Markt nachzuvollziehen, in dem jeweils gleiche oder hinreichend gleiche Wettbewerbsbedingungen vorliegen, die sich von benachbarten Gebieten unter­ scheiden.

3.3 Zeitliche Marktabgrenzung Die zeitliche Abgrenzung ist bedeutsam, wenn Güter, die zu unterschiedlichen Zeit­ punkten angeboten bzw. nachgefragt werden, nicht vollständig austauschbar sind (Schmidt & Haucap 2013). Beispiele hierfür wären z. B. Morgenzeitung und Abendzei­ tung, Güterangebot innerhalb und außerhalb der täglichen, gesetzlich fixierten Öff­ nungszeiten des Einzelhandels oder Saisonprodukte, wie Freilandgemüse gegenüber Gemüse aus Gewächshäusern. Auch hier gilt, dass zeitlich die Wettbewerbsbedingun­ gen nicht gleich sind bzw. umgekehrt bei den zeitlich abgegrenzten Märkten die Wett­ bewerbsbedingungen ähnlich sind.

3.4 Diskussion und Schlussfolgerungen Zunächst ist zu sehen, dass die Marktabgrenzung bzw. die Verfahren zur Marktabgren­ zung auch ohne digitale Märkte immer schon in der wettbewerbstheoretischen und -politischen Diskussion thematisiert wurden. Die Auseinandersetzungen können an dieser Stelle nicht ausdifferenziert wiedergegeben werden, jedoch soll kurz auf zwei Diskussionspunkte eingegangen werden. Der erste betrifft letztendlich die Auslegung der sachlichen Marktabgrenzung, d. h. ab wann, ab welcher Höhe der Kreuzpreiselas­ tizität gehört ein Produkt nicht mehr zu einem sachlich relevanten Markt? Und ab wann handelt es sich um ein enges oder weites Substitut? Hier gibt es per se keine richtige Antwort, sondern es kommt immer auf den konkreten Fall und die Faktenla­ ge an. Der zweite Diskussionspunkt war und ist noch immer bezogen auf die einzelnen Vor- und Nachteile der Verfahren zur sachlichen Marktabgrenzung. Dies soll am hypo­ thetischen Monopolistentest kurz erörtert werden. Ein klassisches Problem beim hy­ pothetischen Monopolistentest sind die Daten, d. h. die Gewinnung der empirischen Daten zu den Grenzkosten und damit zur Bildung der Preis-Grenzkosten-Marge für das Gut vor der Preiserhöhung ist häufig schwierig. Es wird daher sehr häufig auf die va­ riablen Kosten und nicht die Grenzkosten zurückgegriffen. Die Werte zur erwarteten Nachfrageelastizität bei einem hypothetischen Preisanstieg von 10 % sind außerdem häufig nicht eindeutig empirisch zu schätzen. Hilfsmittel sind in der angewandten Wettbewerbspolitik häufig Befragungen sowie historische Preis- und Mengendaten. Außerdem muss gesehen werden, dass bei einer erwarteten Mengenreduktion, die größer als die kritische Mengenreduktion ist, mit Hilfe von Befragungen und Kreuz­

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preiselastizitäten das am stärksten konkurrierende Gut zu identifizieren ist. D. h., es wird letztendlich wieder auf alte Instrumente, wie Befragungen und Berechnung der Kreuzpreiselastizität zurückgegriffen. Das größte Problem ist jedoch, dass das Verfah­ ren unbrauchbar ist, wenn auf dem Markt bereits ein Monopolpreis vorliegt. Der Ge­ winn kann dann nicht weiter steigen.¹⁰ Insgesamt ist hinsichtlich der Einordnung bzw. Bewertung der Marktabgren­ zungspraxis des BKartA, aber auch in der EU, festzustellen, dass diese als relativ gut und wettbewerbsökonomisch haltbar sowie praktikabel einzuordnen ist. Zu diesem Urteil führt erstens der Umstand, dass aus Sicht der Leitbilddiskussion immer der Schutz des Wettbewerbs im Vordergrund stand und steht und nicht wie beispiels­ weise in Frankreich oder Großbritannien der wettbewerbsökonomisch abzulehnende „Public Interest“-Ansatz verfolgt worden ist (Schmidt & Haucap 2013). Zweitens sind bis zum Jahre 2002 bzw. bis zum Jahre 2006 letztendlich kaum Gerichtsverfahren aufgetreten, in denen Fehler erster oder zweiter Ordnung nachzuvollziehen sind. Die Beschlüsse haben also weitestgehend vor Gericht Bestand gehabt.

4 Marktabgrenzung 3.0: Die 9. GWB-Novelle 4.1 Entwicklungen Das Jahr 2002 hat mit den Urteilen des Europäischen Gerichts erster Instanz (GEI) in den Fällen Airtours/First Choice, Schneider/Legrand und Tetra Laval/Sidel SA eine Zäsur mit sich gebracht, denn in diesen Urteilen sind die Verbotsverfügungen der Eu­ ropäischen Kommission (EK) durch das GEI im Rahmen der jeweiligen Zusammen­ schlussvorhaben aufgehoben worden. Mehr noch ist im Prinzip ein Fehler erster Ord­ nung unterstellt worden und der EK eine hohe Beweislast für Untersagungen aufge­ bürdet worden. In der Folge der drei Urteile des GEI hat die EK den „more economic approach“ verkündet. Damit hat auch die Marktabgrenzung auf dem Prüfstand ge­ standen.¹¹ Das Jahr 2006 brachte außerdem zusätzliche Diskussionen, als das BKartA das Zusammenschlussvorhaben in Sachen Axel Springer AG (Springer) – ProSiebenSat.1 (P7S1) untersagte (Kuchinke & Schubert 2006; Budzinski & Wacker 2007). Interessant

10 Es kann dann zum sogenannten Cellophan-Irrtum kommen. 11 Die EK hat in diesem Zusammenhang angekündigt, dass negative Effekte aus einer Verengung im Oligopol mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein müssen. Nach dem Urteil im Fall EK/Tetra Laval war außerdem unklar, wann konglomerate Zusammenschlüsse zu verbieten sind. Das GEI hat zudem am 13.7.2006 auf Antrag von Konkurrenten (Impala) die Freigabe im Fall von Sony/BMG (Fehler 2. Ordnung) aufgehoben. Die Genehmigung von Zusammenschlüssen ist seit diesem Urteil von der EK sorgfältiger zu prüfen und zu begründen. Die Beweislast ist seitdem für die EK nun bei Genehmigun­ gen und Untersagungen symmetrisch (Kuchinke & Henders 2007; 2010).

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sind die zum Teil neuen Gesichtspunkte in der Begründung zur Entscheidung gewe­ sen. Hierzu gehören vor allem die Behandlung und Einordnung der mit der sogenann­ ten „crossmedialen“ Fusion zusammenhängenden Effekte und Problemstellungen. Im Kern hat (spätestens) dieser Zusammenschluss zur verstärkten Diskussion der theo­ retischen Einordnung und der Berücksichtigung der Theorie der zwei- bzw. mehrsei­ tigen Märkte in konkreten wettbewerbsökonomischen Fällen geführt (inter alia Ditt­ mann et al. 2018; Dittman & Kuchinke 2020; Stöhr et al. 2020). Damit hat die Abgren­ zung von Märkten (noch) mehr an Gewicht, aber auch an Komplexität gewonnen.

4.2 Änderungen im GWB Die wettbewerbsrechtliche Praxis, die neuen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen sowie die wettbewerbstheoretischen Diskussionen haben eine Überar­ beitung des GWB notwendig gemacht. Die 9. GWB-Novelle ist die Antwort des Gesetz­ gebers darauf gewesen. Die Änderungen und vor allem die ökonomischen Bewertun­ gen können hier nicht in Gänze vorgestellt werden (siehe Budzinski 2017). Hinsichtlich der Marktabgrenzung ist zunächst zu erkennen, dass sich auf den ersten Blick keine wesentlichen Neuerungen ergeben haben, d. h. prinzipiell ist auch mit der 9.GWB No­ velle am Bedarfsmarktprinzip festgehalten worden. Insofern gelten auch weiterhin die unter dem Punkt „Marktabgrenzung 2.0“ ausgeführten wettbewerbspolitischen Prin­ zipien und Instrumente sowie ihre Vor- und Nachteile. Auf den zweiten Blick sind die Änderungen jedoch relativ weitreichend. § 18 Abs. 2a GWB lautet nun: „Der Annahme eines Marktes steht nicht entgegen, dass eine Leistung unentgeltlich erbracht wird.“ Damit wird explizit den Überlegungen der Theorie der zweiseitigen Märkte und dem Umstand Rechnung getragen, dass Angebote kostenlos genutzt werden können. § 18 Abs. 3a GWB regelt, dass insbesondere bei mehrseitigen Märkten und Netzwerken . . . bei der Bewertung der Marktstellung eines Unternehmens auch zu berücksichtigen [sind]: 1. Direkte und indirekte Netzwerkeffekte, 2. die parallele Nutzung mehrerer Dienste und der Wechselaufwand für die Nutzer, 3. seine Grö­ ßenvorteile im Zusammenhang mit Netzwerkeffekten, 4. sein Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten, 5. innovationsgetriebener Wettbewerbsdruck.

Eine weitere Änderung, die mit der Marktabgrenzung in Zusammenhang steht, ist mit § 20 GWB eingeführt worden. Dieser regelt, dass eine relative oder überlegene Markt­ macht für einen Missbrauch ausreicht. § 20 Abs. 3 Nr. 3 GWB sagt in diesem Zusam­ menhang weiter aus, dass Unternehmen für sich selbst gegenüber den Wettbewerbern keine Vorteile im Einkauf durchzusetzen sollen. Dieser Tatbestand kann damit auch auf große Medienunternehmen abzielen.

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4.3 Diskussion und Schlussfolgerungen i. Unentgeltlichkeit Beginnend mit dem ersten Punkt, dass es sich auch dann um Märkte handelt, wenn eine Leistung unentgeltlich erbracht wird, ist es wettbewerbsökonomisch verwunder­ lich, warum dies nicht schon längst in das GWB aufgenommen worden ist oder war­ um dies überhaupt eine Diskussion wert ist. Würde eine Leistung unentgeltlich abge­ geben und würde dies keinen Markt begründen, dann würden auch tradierte, nicht unbedingt digitale Märkte, wie werbefinanziertes Fernseh- und Radioprogramm oder rein werbefinanzierte Zeitungen oder Zeitschriften, keine Märkte darstellen. Auf die­ sen Märkten haben Rezipienten seit jeher mit ihrer Aufmerksamkeit „bezahlt“, die wiederum in Opportunitätskosten bewertbar und damit in ihrem monetären Wert ab­ bildbar ist (Czygan 2003). Heutzutage zahlen die Nutzer (neben der Aufmerksamkeit für Werbung) mit ihren Daten.

ii. Theorie zweiseitiger Märkte Hinsichtlich der Berücksichtigung der Theorie der zweiseitigen Märkte bzw. des Um­ standes, dass es sich bei digitalen Märkten zumeist um nicht einseitige Märkte han­ delt, ist zunächst zu sagen, dass die Implementierung im GWB notwendig, ja überfäl­ lig war. Gründe hierfür sind die bereits angeführten theoretischen Diskussionen und die Tatsache, dass digitale Märkte zumeist zwei- oder mehrseitig sind (Evans 2003b; Auer & Petit 2015). Es ist zu hoffen, dass diese Gesetzesänderung tatsächlich zu ei­ ner besseren bzw. adäquaten Marktabgrenzung führt und somit die Entscheidungen besser werden. Die bisherige Praxis ist nämlich als eher ernüchternd einzustufen.¹² Die Ausführungen bei Dittmann et al. (2018) und Dittman & Kuchinke (2020) ver­ deutlichen die Unmöglichkeit einer pauschalen Bewertung von Zusammenschluss­ fällen auf mehrseitigen Märkten (siehe auch Lindstädt 2009: 41; Budzinski & Lind­ städt 2010: 440 f.). Durch Zusammenschlüsse kann es ebenso zu Effizienzgewinnen wie zu wohlfahrtsmindernden Wettbewerbsbeschränkungen kommen (Budzinski & Lindstädt 2010: 441 f.; Dewenter et al. 2011: 21; Evans & Schmalensee 2012: 34, 176). Die Beurteilung wird letztendlich vielfach von der konkreten Höhe der indirekten Netzef­ fekte im Einzelfall abhängen. Hierbei kann es zwar zu Ungenauigkeit mit der Folge von Verzerrungen kommen (Filistrucchi 2008: 10 f.; Budzinski & Lindstädt 2010: 442 f.), je­ doch dürfte den Kartellbehörden in der Regel zumindest die Einschätzung gelingen, von welcher Marktseite der stärkere Netzeffekt ausgeht (Dewenter & Kaiser 2005: 58). Die Gefahr von Fehlern erster und zweiter Art erscheint somit bei Verzicht auf die An­ 12 Zu den Problemen bei Zusammenschlussfällen im Mediensektor in den USA und in Deutschland vgl. Dittmann et al. (2018); Dittman & Kuchinke (2020); Stöhr et al. (2020).

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wendung der Theorie mehrseitiger Märkte höher zu sein als bei Ungenauigkeiten in der Bestimmung der exakten Höhe der Netzeffekte (Dewenter et al. 2014: 8 f.).

iii. Relative oder überlegen Marktmacht Mit § 20 GWB ist neu geregelt worden, dass relative oder überlegene Marktmacht für ei­ nen Missbrauch ausreicht. Die Grenzen einer marktbeherrschenden Stellung müssen also nicht zwangsläufig erfüllt sein, sondern es reichen unzureichende Ausweichmög­ lichkeiten für die geschädigten Unternehmen aus. Das Ziel dieser Vorschrift ist die Ver­ hinderung der Benachteiligungen marktschwacher Unternehmen beim Einkauf. Dies hat also nicht zwangsläufig etwas mit der Digitalisierung zu tun. Grundsätzlich geht es um den Missbrauch von Nachfragemacht.¹³ Das Kernproblem dieser Vorschrift ist, dass niedrige und wettbewerbswidrig niedrige (Einkaufs-)Preise in der Praxis nicht gegeneinander abzugrenzen sind (Monopolkommission 2007; 2008). Dies gilt insbe­ sondere auch vor dem Hintergrund der bereits erörterten Preisstruktur auf mehrseiti­ gen Märkten. Dadurch ist diese Vorschrift als wettbewerbsökonomisch problematisch einzustufen.

5 Marktabgrenzung 4.0: Die 10. GWB-Novelle oder das „GWB-Digitalisierungsgesetz“ Im Vorfeld der 9. GWB-Novelle hat es intensive Diskussionen zu den zukünftigen, effi­ zienten Regeln gegeben (Budzinski 2017; Plattform Industrie 4.0 2018). Zusammenge­ fasst ist hier die vorherrschende Meinung gewesen, dass das GWB und damit die be­ stehenden Wettbewerbsregeln eine Weiterentwicklung erfahren sollten, eine Revolu­ tion, also ein wirklicher Umbruch, jedoch nicht vonnöten ist. Viele Diskussionspunkte sind in die 9. GWB-Novelle mit eingeflossen, wie im vorhergehenden Kapitel kenntlich gemacht worden ist.

5.1 Daten Die jetzigen Diskussionen haben sich dagegen deutlich geändert. Dies zeigt allein der aktuelle Referentenentwurf des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (RBfWE) zur zehnten Änderung des GWB dadurch, dass hiermit „ein fokussiertes, pro­ aktives und digitales Wettbewerbsrecht 4.0“ (GWB-Digitalisierungsgesetz) eingeführt

13 Dieses Problem kann beispielsweise im Lebensmitteleinzelhandel auftreten.

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werden soll (RBfWE 2020). Die Bundesregierung spricht von einem „Strukturbruch“ (Die Bundesregierung 2020). Alle Änderungsvorschläge können und sollen hier nicht dargestellt werden.¹⁴ Bezüglich der Marktabgrenzung ist jedoch zu erkennen, dass Da­ ten ein wesentlich höheres Gewicht zugeschrieben wird als noch vor wenigen Jahren. Das Problem ist, dass zweiseitige Märkte sehr häufig zu Monopolstellungen tendie­ ren. Dies ergibt sich daraus, dass dann alle Netzeffekte, aber auch Größen- und Ver­ bundvorteile, ausgenutzt werden können. Große Mengen an Daten verstärken diese Tendenz, denn diese führen erstens zu einem Wettbewerbsvorteil, wie bereits in Kapi­ tel 1 ausgeführt worden ist. Zweitens können Daten erhebliche Markteintrittsbarrieren bewirken. Zusammengenommen kann dies dazu führen, dass ein Markt „kippt“ und der wirksame Wettbewerb um den Markt erlischt. In diesem Zusammenhang wird drit­ tens auch davon gesprochen, dass große Plattformen eine Art „Gatekeeper-Funktion“ einnehmen. Über solche Plattformen läuft der Zugang zu Informationen, zu Dienst­ leistungen und zu Marktpartnern. Eine Transaktion kann nur durch Nutzung dieser großen Plattformen zustande kommen. Sie stellen damit eine technisch unumgäng­ liche Schnittstelle dar. Im Raum steht deshalb die Idee den Zugang zu Daten über das Wettbewerbsrecht zu regulieren. Konkret soll hier eine Neufassung oder Erwei­ terung der sogenannten „Essential Facility Doctrine“ um den Datenaspekt vorgenom­ men werden. Dies soll im Grunde – dem Ansatz eines „Level Playing Fields“ folgend – marktbeherrschende Unternehmen zwingen, den Zugriff durch Dritte auf ihre Daten zuzulassen.¹⁵ Vor diesem Hintergrund soll nach dem RBfWE § 20 Abs. 3a GWB neu eingeführt werden (RBfWE 2020). Dieser regelt, dass Verhaltensweisen von Unternehmen mit re­ lativer oder überlegener Marktmacht, die Wettbewerber davon abhalten Größenvor­ teile auszunutzen, eine unibillige Behinderung darstellen. Außerdem werden bei § 18 Abs. 3 GWB die Wörter „und sein Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten“ ergänzt. Eine marktbeherrschende Stellung kann folglich nicht nur mit den bisher gängigen Argumenten oder Tatsachen wie Finanzkraft, Zugang zu Beschaffungs- oder Absatz­ märkten o. ä. begründet werden, sondern eben auch mit dem Zugang zu Daten. Wei­ terhin sieht der aktuelle RBfWE vor, § 18 GWB um einen neuen Absatz 3b zu ergänzen. Dieser soll lauten: Bei der Bewertung der Marktstellung eines Unternehmens, das als Mittler auf mehrseitigen Märk­ ten tätig ist, ist insbesondere auch die Bedeutung der von ihm erbrachten Vermittlungsdienstleis­ tungen für den Zugang zu Beschaffungs- und Absatzmärkten zu berücksichtigen.

14 Zur Übersicht über die Änderungen im Rahmen der 10. GWB-Novelle vgl. Haucap & Schweitzer (2021). Zu einer ersten kritischen Einschätzung vgl. Monopolkommission (2020). 15 Andersherum ausgedrückt würde also die Zugangsverweigerung als Missbrauch geahndet werden (unter noch zu definierenden Umständen) und letztendlich würde das jeweilige Unternehmen zu ei­ nem Zugang durch Dritte gezwungen werden.

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Damit berücksichtigt der Gesetzgeber, dass große Plattformen eine Gatekeeper-Funk­ tion haben können. Ein erfolgreicher Markteintritt ist in der aktuellen Situation im Prinzip nur mög­ lich, wenn es sich um disruptive Innovationen handelt. Das Problem hierbei ist, dass diese innovativen, neuartigen Angebote womöglich vom Nutzer nicht als Substitut an­ gesehen werden. Nur wenn kein „Lock-In“ besteht ist es möglich, dass dieser neue Dienst sich ausbreitet und vermehrt genutzt wird. Am besten integriert der neue Dienst den alten, so dass er bei Erreichen der kritischen Masse den alten Dienst ablösen kann. Das Wettbewerbsrecht sollte also diesen Innovationswettbewerb gerade im Digitalbe­ reich schützen. Ein wettbewerbsökonomischer Knackpunkt scheinen also Daten und der Zugang zu Datenquellen zu sein. Dies ist zwar bereits in der 9. GWB-Novelle und der Einfüh­ rung von § 18 Abs. 3a Nr. 4 GWB berücksichtigt worden, es ist jedoch fraglich, ob diese Vorschrift ausreicht. Außerdem muss (normativ) geklärt werden, was das Datenrecht oder das Datenschutzrecht in diesem Zusammenhang leisten kann und soll. Diese Frage kann an dieser Stelle nicht erörtert werden (Vgl. hierzu im Überblick Robert­ son 2019). Wettbewerbsrecht kann jedoch insgesamt vor diesem Hintergrund nicht die Probleme des Datenrechts lösen (Buiten 2020). Fakt ist, dass die Marktabgrenzung durch die bestehenden Vorschriften nicht substanziell geändert wird, sondern um die Frage der Daten oder den Datenmarkt erweitert. Die Abgrenzung eines Marktes und die Ermittlung einer marktbeherrschenden Stellung wird hierdurch in einzelnen Ver­ fahren vermutlich nur komplexer, aber nicht zwangsläufig ökonomisch besser und ist für alle Beteiligten mit einer relativ hohen Unsicherheit verbunden. In diesem Zusammenhang ist zu sehen, dass die bestehenden rechtlichen Rege­ lungen, aber auch teilweise die aktuellen (theoretischen) Auseinandersetzungen, viel zu unpräzise sind, denn die ökonomischen Eigenschaften von Daten sind vielfältig und müssten berücksichtigt werden (vgl. hierzu im Überblick Dewenter & Kuchinke 2019: 19 ff. und die dort angegebene Literatur). Daten haben typischerweise die Ei­ genschaften der Nicht-Rivalität und der Ausschließbarkeit. Dritte haben mithin über den regulierten Zugang zu Speichermedien sowie Firewalls, Verschlüsselungen und Digital Rights Management keinen Zugang zu Daten von Unternehmen. Wettbewerbs­ rechtlich wird nun im Grunde diskutiert, diese Ausschließbarkeit aufzuheben oder zu relativieren. Sind keine Ausschließbarkeit und keine Rivalität im Konsum gegeben, liegt ein öffentliches Gut vor. Newcomer könnten dann Trittbrettfahren, was in der Fol­ ge dazu führen könnte, dass kein Unternehmen die Kosten der Datensammlung tragen möchte, also ineffizient wenig Daten gesammelt werden. Im Grunde genommen sol­ len mit § 18 Abs. 3a Nr. 4 GWB Unternehmen mit großen Datenbeständen bestraft wer­ den können, was ebenso zu einem Anreiz führen könnte, weniger Daten zu sammeln. Daten sind zudem nur teilweise substituierbar, komplementär und vergänglich. Dies ist wettbewerbsökonomisch zu berücksichtigen, denn die Wirkungen für den Wettbe­ werb sind unterschiedlich. Der entscheidende Punkt ist aber, dass Daten i. d. R. nichtexklusiv sind. Zwei Internetplattformen könnten also über die gleiche Zielgruppe Da­

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ten erheben, um ihre Werbeflächen optimal zu vermarkten. Nicht-exklusive Daten lie­ gen also dann vor, wenn Datenverfügbarkeit gegeben ist und/oder Daten gegen ein angemessenes Entgelt (Erschwinglichkeit) erworben werden können. Funktioniert al­ so der Datenmarkt, wird auch so die Nicht-Exklusivität von Daten gewährleistet. D. h. umgekehrt, dass nur dann, wenn weder Datenverfügbarkeit noch Erschwinglichkeit gegeben ist, kommt es zu einem wettbewerblichen Problem. Dann liegen nämlich ex­ klusive Daten vor und Konkurrenten könnten erhebliche Wettbewerbsnachteile ha­ ben. Es ist auch zu sehen, dass Größenvorteile hinsichtlich der Datenerhebung, -spei­ cherung und -verarbeitung vorstellbar sind. Unternehmen mit einer großen Kapazität und großen Datenbanken haben also geringere durchschnittliche Kosten als Unter­ nehmen mit einer kleinen oder mittleren Kapazität. Die Grenzkosten der zusätzlichen Datenerzeugung tendieren außerdem ab einer gewissen Größe gegen Null. Wettbe­ werbsökonomisch müssen diese Punkte bei einem Eingriff einer Kartellbehörde mit ins Kalkül einfließen. Zusammengefasst scheint die Argumentation über die Beur­ teilung einer marktbeherrschenden Stellung über den Rückgriff auf die vorhandene Menge an Daten theoretisch richtig, aber von der Anwendung her impraktikabel und somit als (eher) nicht brauchbar. Es kommt eher noch ein Marktabgrenzungsproblem ins Spiel, nämlich die des richtigen Datenmarktes. Hinzu kommt, dass unterschiedliche Typen von Daten bereits jetzt alternativen Regeln laut Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) unterliegen (Verordnung (EU) 2016/679). Hierin wird insbesondere zwischen personenbezogen und maschinengenerierten Daten unterschieden. Maschinen-generierte Daten sind von der DSGVO ausgenommen. Ziel der DSGVO ist es auf der einen Seite den Schutz personenbe­ zogener Daten innerhalb der EU sicherzustellen und auf der anderen Seite einen freien Datenverkehr innerhalb des europäischen Binnenmarktes zu gewährleisten. Im Einzelnen sind hier u. a. Transparenzvorschriften oder die Schaffung der Daten­ portabilität implementiert worden. Vor diesem Hintergrund ist die Forderung eines Datenzugangs auf personenbezogene Daten durch Dritte unsinnig, weil dies recht­ lich nicht möglich ist. Handelt es sich um maschinengenerierte Daten so sieht die Sachlage rechtlich anders aus. Aber hier müsste nach Branchen o. ä. differenziert werden, denn die Datenproblematik und die damit in Zusammenhang stehenden Wettbewerbsprobleme sind beispielsweise in der Automobilindustrie andere und vor allem anders gewichtig als in alternativen Branchen. Im Übrigen ist zu klären, wo, d. h. in welchen Branchen Daten wirklich ein so­ genanntes „Bottleneck“ darstellen. Auch hier ist die Frage eines Datenzugangsrechts genauer zu klären und es sind eventuell spezifische Regeln für bestimmte Branchen zu erörtern.

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5.2 Intermediationsmacht Ein weiterer Diskussionspunkt ist die sogenannte „Intermediationsmacht“, die Platt­ formen besitzen können (Schweitzer et al. 2018: 8 ff., 66 ff.). Intermediationsmacht meint im Grunde, dass gerade große Internetplattformen eine wichtige, ja überra­ gende Rolle auf zwei- oder mehrseitigen Märkten spielen können.¹⁶ Plattformen mit Intermediationsmacht schaffen dann häufig ein separates Ökosystem mit den dem­ entsprechend gesetzten Regeln der jeweiligen Unternehmen. Dies macht auf der einen Seite aus ökonomischer Sicht bei zwei- oder mehrseitigen Märkten Sinn, da dadurch positive ökonomische Effekte entstehen, wie bereits ausgeführt worden ist. Auf der anderen Seite verleiht dies den Plattformen aber auch eine gewisse Macht, denn sie können die Regeln festlegen und hierdurch womöglich Missbrauch betreiben. Auch aus diesem Grund wird die bereits angeführte Datenzugangsregulierung gefordert, d. h. mit der Regulierung des Datenzugangs soll auch dem Problem der Intermedia­ tionsmacht begegnet werden. Der Gesetzgeber antwortet auf dieses Phänomen nun nach dem RBfWE mit dem neu einzuführenden § 19a GWB bzw. dem neu einzuführen­ den, bereits vorgestellten § 18 Abs. 3b GWB (RBfWE 2020). Nach dem neuen § 19a GWB soll das BKartA feststellen können, dass ein Unternehmen nicht nur auf einzelnen Märkten marktbeherrschend ist, sondern aufgrund von Netzwerkeffekten, Zugang zu Daten, Ressourcen und Einfluss auf die Markttätigkeit Dritter überragende marktüber­ greifende Bedeutung für den Wettbewerb hat. Die Regelung zielt damit auf die großen Digitalkonzerne, wie Amazon, Apple, Facebook und Google, ab. Neu ist der „Zugang zu wettbewerbsrelevanten Daten“ als zusätzliches Bewertungskriterium zur Bestim­ mung einer marktbeherrschenden Stellung. Große Plattformen mit Intermediationsmacht gibt es schon länger, wie etwa bei Bankdienstleistungen (Emch & Thompson 2006). Neu ist seit geraumer Zeit deren Bedeutung, wenn beispielsweise an sogenannte „Wallet Garden Strategien“ gedacht wird.¹⁷ Eine solche Strategie zeichnet sich dadurch aus, dass mit einem Account (na­ hezu) alle Dienste, wie Chatten, Suchanfragen oder Bezahlsysteme, zur Verfügung ste­ hen. Die vermeintliche Intermediationsmacht ist also nicht auf einen Dienst, Markt bzw. einzelne Märkte, eine Nutzung oder einen Sektor beschränkt, sondern reicht wei­ ter in viele Bereiche des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens hinein. Sol­ che Entwicklungen können auch (in unterschiedlichem Maße) bei sozialen Plattfor­ men nachvollzogen werden. „Social-Media-Plattformen“, „Social-Media-Seiten“ oder „soziale Plattformen“ werden als Systeme im Internet verstanden, durch bzw. über die Nutzer einen virtuellen Raum zum Austausch mit anderen Usern sowie zur Gestaltung und Weiterverbreitung medialer Inhalte erhalten. Die Schwerpunkte Kommunikati­ on, Kollaboration, Partizipation, Multimedia-Nutzung, Unterhaltung und User Gene­ rated Content werden als grundlegende Charakteristika einer solchen Anwendungs­ 16 Im Kern geht es dabei wieder um die bereits genannte Gatekeeper-Funktion. 17 Ein konkretes Beispiel wäre etwa die Strategie von WeChat.

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plattform verstanden (Schweitzer et al. 2016: 2; Gabriel & Röhrs 2017: 13 ff., 20 f.). Die Schöpfung und (Weiter-) Verarbeitung dieses Contents kann in Form von Texten, Vi­ deos, Bildern und Musik als Individuum oder in der Gemeinschaft erfolgen (Gabriel & Röhrs 2017: 12). Das Angebot der Onlinedienste ist über die Jahre auf vielen Plattfor­ men wesentlich erweitert worden und erstreckt sich von der Erstellung eines persön­ lichen Profils, dem Empfang und Versand von Benachrichtigungen über die Konzep­ tion von Blogs oder Mikroblogs bis hin zum Teilen von Fotos, Videos und anderer vom User erzeugter Inhalte. Leistungen können durch ihre Nutzer zumeist entgeltfrei in Anspruch genommen werden, setzen jedoch eine Registrierung auf der entsprechen­ den Plattform und die (eingeschränkte) Preisgabe personenbezogener Daten voraus (BKartA, 2015: 30; Müller 2015; BKartA 2016). Vor diesem Hintergrund soll nun eine Bewertung der Intermediationsmacht er­ folgen. An sich müssten die von der Intermediationsmacht betroffenen Märkte erst abgegrenzt werden.¹⁸ Aber was ist der Markt vor dem Hintergrund der angebotenen Funktionen und der alternativen Wettbewerber sowie vor dem Hintergrund der ver­ schiedenen Marktseiten? Grundsätzlich sind viele Plattformen mit unterschiedlicher Größe betroffen und das Nutzerverhalten ist nicht homogen. Hinzu kommt die Werbe­ seite. Der Gedanke der Intermediationsmacht ist daher als grundsätzlich nicht falsch einzustufen und es soll nicht in Frage gestellt werden, dass es diese gibt oder zu Pro­ blemen führen kann. Wettbewerbsökonomisch geht sie allerdings völlig am Ziel vor­ bei, denn sie löst keines der vorhandenen Probleme, sondern verschärft diese eher, da erstens die Definition der Intermediationsmacht unklar ist und damit zweitens auch deren Messung. Drittens scheint über diese Diskussion der eigentliche, bereits in Ka­ pitel 4 diskutierte Umstand verloren zu gehen, nämlich die Zwei- oder Mehrseitigkeit von Märkten zu erkennen, zu analysieren und zu bewerten.¹⁹ Viertens scheint es bei Problemen, die typischerweise eher in Einzelfällen auftreten, wie etwa bei „amazon marketplace“, gerichtlich klären zu lassen und nicht über das Wettbewerbsrecht bzw. durch das BKartA.

6 Schlussbemerkungen Vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen soll eine kurze, zusammenfassende Bewertung vorgenommen werden. Diese erfolgt in zwei kurzen Szenarien.

18 Ansonsten kann ja keine Intermediationsmacht gemessen werden. 19 Dazu ein Beispiel: Die einzigen beiden Tageszeitungsverlage in einer Stadt fusionieren. Das BKartA hat zu entscheiden. Hilft nun die Diskussion der Intermediationsmacht? Nein! Es geht darum zu schauen, welche Effekte sich auf den Märkten bzw. Marktseiten ergeben, d. h. wird es Preissteigerun­ gen geben oder anders: Welche Märkte sind betroffen und was wird sich bei den Wettbewerbsparame­ tern tun?

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i. Szenario I Es wird am Bedarfsmarktkonzept festgehalten. Dann sind insbesondere die vor­ geschlagenen Regelungen zu Datenzugang und zur Intermediationsmacht wettbe­ werbsökonomisch aus den genannten Gründen äußerst fraglich. Diese stellen eher politischen Aktionismus dar. Diese Einschätzung gilt erstens vor dem Eindruck, dass Ängste oder Vorbehalte gegenüber großen digitalen Unternehmen bestehen, die mehr oder weniger (wirtschaftlich oder gesellschaftlich) begründet sind. Wettbe­ werbsökonomisch sind diese Befürchtungen jedenfalls theoretisch nicht durchweg zu begründen, wie die obigen Ausführungen gezeigt haben. Zweitens hilft ein Blick in die Realität, um die Forderungen einzuschätzen. Exemplarisch zeigt nachfolgende Abbildung 1 die weltweiten Downloadzahlen bei den Top-Social-Media-Apps.

Abb. 1: Top-Social-Media-Apps. Quelle: DER SPIEGEL 2020: 71.

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Die Abbildung zeigt, dass es eben nicht so ist, dass Marktstellungen unangreifbar sind. Die Plattform TikTok hat den bisherigen Branchenprimus Facebook mittlerweile überholt. Es passiert also im Grunde das, was noch vor drei bis vier Jahren die Mehr­ heitsmeinung in der Wettbewerbspolitik gewesen ist, dass nämlich erreichte Markt­ stellungen nicht dauerhaft sind oder sein müssen (Hamelmann & Haucap 2015). Zu­ mindest gilt diese Entwicklung offenbar für Social-Media-Plattformen, die sehr häufig in der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion stehen. Die Komplexität einer Marktabgrenzung nach dem Bedarfsmarktkonzept wird durch die exemplarisch genannte Konvergenz von Social-Media-Plattformen, ihrer Anwendungsoptionen, und der daraus resultierenden Unklarheit, welche Plattfor­ men in die Abgrenzung einbezogen werden müssen, deutlich zunehmen (Filistrucchi et al. 2014). Die veränderten Nutzungsgewohnheiten (Paperlein 2016; Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW) e. V. 2018) (non-linear, zeitgleich/parallel, nahezu immer online, zur Ablenkung uvm.), die Annäherung der Leistungsangebote und interferie­ renden Anwendungsmöglichkeiten erschweren die Bestimmung von entsprechenden Substituten, die Erfassung ist u. U. folglich deutlich erweitert vorzunehmen. Die zu­ nehmende Konvergenz könnte aber auch gleichzeitig bedeuten, dass zunehmend mehr Plattformen im Wettbewerb stehen. Der relevante Markt wird also insofern eher größer.

ii. Szenario II Die Kernfrage ist aufgrund der vorgestellten Überlegungen eigentlich, ob sich die Wettbewerbspolitik nicht vom Bedarfsmarktkonzept aktueller Prägung verabschie­ den sollte.²⁰ Damit ist nicht gemeint, dass die Zwei- oder Mehrseitigkeit von Märkten in Frage gestellt werden soll oder das diese nicht zu berücksichtigen ist. Es geht viel­ mehr darum, ob nicht die direkte Erfassung der Marktmacht durch den Nachweis eines konkreten Schadens und einer fundierten Schadenstheorie besser ist. Alterna­ tive Methoden, um Wettbewerbseffekte abzuschätzen, wären hier z. B. die Ermittlung des Transaktionswertes bzw. eines Transaktionswertindikators oder der SIEC („si­ gnificant impediment of effective competition“)-Test nach amerikanischem Vorbild. Ein weiterer Punkt der hierbei viel stärker und ausdifferenzierter zu diskutieren wä­ re, ist eine asymmetrische Marktabgrenzung. Die asymmetrische Regulierung von z. B. großen und kleinen bzw. mittelständischen Unternehmen ist insgesamt in einer digitalisierten Welt aus ordnungspolitischer Sicht nicht nur aus wettbewerbspoliti­ scher Sicht geboten, weil nur so die Erhaltung eines funktionsfähigen Wettbewerbs garantiert werden kann (Dewenter & Kuchinke 2019).

20 Zum Überblick über die aktuelle Wettbewerbspolitik bzw. die wettbewerbspolitische Praxis vgl. Schwalbe (2019).

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Leonhard Dobusch

Freie Lizenzen und öffentlich-rechtliche Medien: Wettbewerbspolitische Dimensionen 1

Einleitung | 261

2

Voraussetzungen freier Lizenzierung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk | 263

3

Wettbewerbspolitische Aspekte freier Lizenzierung | 267 3.1 Wettbewerbsökonomische Aspekte freier Lizenzen im Rahmen des Drei-Stufen-Tests im Rundfunkrecht | 267 3.2 Wettbewerbsrechtliche Fragen freier Lizenzierung öffentlich-rechtlicher Inhalte im Einzelfall | 269

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Fazit und Ausblick | 270

1 Einleitung Einer der größten von der Allgemeinheit finanzierten Produzenten urheberrechtlich geschützter Inhalte in Deutschland ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk. Dennoch sind, abgesehen von vereinzelten Ausnahmen, die so finanzierten Werke nicht für die Öffentlichkeit frei verfüg- und nutzbar. Während sich im Bildungs- und Forschungsbe­ reich bereits seit einiger Zeit die Ansicht durchsetzt, dass öffentlich finanzierte Inhalte auch möglichst öffentlich zugänglich sein sollten, ist diese Sichtweise im Kontext des öffentlich-rechtlichen und mit Beiträgen finanzierten Rundfunks bislang nicht selbst­ verständlich. Zwar werden öffentlich-rechtliche Inhalte inzwischen auch im Internet über Webseiten und Mediatheken zugänglich gemacht, allerdings sind die Anstalten rundfunkrechtlich dazu verpflichtet, diese – je nach Themenfeld – binnen mehr oder weniger kurzer Frist wieder zu Depublizieren. Abgesehen von der – zunehmend gelockerten – Pflicht zur Depublikation, ist aber auch die Nutzung der digital zugänglichen Inhalte im Wesentlichen auf den passiven Konsum eingeschränkt. Weiternutzung ist – auch im nicht-kommerziellen Rahmen – nicht ohne Klärung von Rechten möglich, was angesichts damit verbundener Auf­ wände für Privatnutzer/-innen in der Regel unterbleibt. Selbst in Fällen wie Eigenpro­ duktionen ohne GEMA-Musik oder Mitschnitten politischer Debatten, in denen keine nachgelagerte Verwertungskaskade wie zum Beispiel bei Spielfilmen und Serien be­ steht, ist eine Weiternutzung nicht unkompliziert möglich. Das Einbinden der MP3Datei einer Radioreportage oder eines Ausschnitts eines Fernsehinterviews auf dem eigenen Blog ist in der Regel nicht ohne weiteres möglich. Während viele derartige, eigentlich unrechtmäßige Nutzungsarten im privaten Bereich toleriert werden (was aber auch keine befriedigende Lösung darstellt), er­ geben sich für Institutionen wie Bildungseinrichtungen oder auch freie Projekte wie https://doi.org/10.1515/9783110724523-011

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die Online-Enzyklopädie Wikipedia massive Einschränkungen. In die frei lizenzierte Wikipedia könnten nur Ausschnitte aus Sendungen eingebettet werden, die unter freien, Wikipedia-kompatiblen Lizenzen veröffentlicht wurden. Die fehlende Kompatibilität selbst von eigenproduzierten öffentlich-rechtlichen Inhalten ohne Fremdmaterial mit gemeinnützigen und reichweitenstarken Plattfor­ men wie Wikipedia – jede/-r Internet-Nutzer/-in in den OECD-Staaten besucht im Durchschnitt mehr als neun Wikipedia-Artikel pro Monat (Steinmaurer & Wenzel 2015) – ist aber auch aus Perspektive der Rundfunkanstalten selbst ein Problem von zunehmender Bedeutung. In dem Maße, in dem die lineare Reichweite öffent­ lich-rechtliche Angebote (insbesondere bei jungen Zielgruppen zwischen 14 und 19 Jahren) zurückgeht (Frees et al. 2019), gewinnen nichtlineare Verbreitungswege an Bedeutung für die Erfüllung des öffentlich-rechtlichen Auftrags. Dieser fordert ja von den öffentlich-rechtlichen Anstalten, möglichst viele Menschen mit ihren Angeboten zu erreichen. Vor allem bei jüngeren Zielgruppen ist das heute schon nur noch eingeschränkt über lineare Sender bzw. Mediatheken möglich, weshalb auch 2016 mit „Funk“ ein öf­ fentlich-rechtliches Jugendangebot gestartet wurde. Funk verzichtet völlig auf einen Sender und verbreitet Inhalte primär über (kommerzielle) Drittplattformen wie You­ Tube, Facebook, Instagram oder TikTok und erreicht damit mittlerweile 73 Prozent der 14- bis 29-Jährigen (Funk 2019). Das kommerzielle Plattformumfeld mit primär klickgetriebenen Empfehlungsalgorithmen stellt für öffentlich-rechtliche Angebote jedoch eine Herausforderung dar. Gerade für Informations-, Dokumentations- und zeitgeschichtlich relevante Inhalte böte sich hier mit der gemeinnützigen Wikipedia eine – gerade auch in jüngeren Zielgruppen (Oehmichen & Schröter 2009) – reich­ weitenstarke Alternative bzw. Ergänzung an. Bedingung für die direkte Präsenz von öffentlich-rechtlichen Bewegtbild- und Audioinhalten in der Wikipedia ist allerdings deren Bereitstellung unter kompati­ bler Lizenz sowie in offenen Formaten. Während letzteres vergleichsweise einfach zu bewerkstelligen ist, sind freie, Wikipedia-kompatible Lizenzen für öffentlich-recht­ liche Anbieter in Deutschland mit beträchtlichen Herausforderungen und offenen Fragen verbunden. Grob lassen sich diese in interne und externe Herausforderungen gliedern. Während interne Herausforderungen wie zum Beispiel Vergütungsregeln prinzipiell autonom von öffentlich-rechtlichen Anstalten adressier- und lösbar sind, sind externe Herausforderungen – zu denen beispielsweise Regeln von Verwertungs­ gesellschaften sowie die hier fokussierten, wettbewerbspolitischen Rahmenbedin­ gungen zählen – nur sehr eingeschränkt von den öffentlich-rechtlichen Medien selbst zu überwinden. Sie repräsentieren zumindest in der kurzen bis mittleren Frist schwer überwindbare Grenzen für den Einsatz freier Lizenzen im Kontext öffentlich-recht­ licher Medien. Bevor die wettbewerbspolitische Dimension freier Lizenzen im öf­ fentlich-rechtlichen Kontext in den Blick genommen wird, werden deshalb zunächst Grundlagen und Voraussetzungen freier Lizenzierung in diesem Bereich kurz erörtert.

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2 Voraussetzungen freier Lizenzierung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk Unter freien Lizenzen werden im Folgenden solche Urheberrechtslizenzen verstan­ den, die Dritten in standardisierter und kostenloser Art und Weise Rechte einräumen, die ansonsten den Rechtinhaber/-innen vorbehalten blieben, worunter insbesonde­ re auch die Nutzung für kommerzielle Zwecke fällt. Diesbezüglich sind die über freie Lizenzen eingeräumten Nutzungsrechte weitreichender als bei bloß offener Lizenzie­ rung, bei der eine solche kommerzielle Nutzung weiterhin vorbehalten bleiben kann. Für beide Bereiche, also offene und freie Lizenzierung haben sich – jenseits von Soft­ warelizenzen – die 2002 in den USA erstmals von der gleichnamigen Organisation ver­ öffentlichten Creative-Commons-Lizenzen als de-facto Standard etabliert. Im Ergebnis soll mit Hilfe von Creative-Commons-Lizenzen ein möglichst großer Pool – eine Allmende – an alternativ lizenzierten Werken entstehen, die automatisch und ohne (häufig prohibitive) Rechteabklärung neue Formen der Nutzung (z. B. Teilen in sozialen Netzwerken), Weiterverwendung (z. B. in Form von Remixes oder kollek­ tiven Contentplattformen) und Distribution (z. B. via Peer-to-Peer-Tauschbörsen) er­ lauben (Dobusch 2010). Gerade für die Möglichkeit, offen bzw. frei lizenzierte Inhalte aus verschiedenen Quellen miteinander zu kombinieren, ist Lizenzkompatibilität von entscheidender Bedeutung, weshalb Creative Commons die Funktion einer Standar­ disierungsorganisation erfüllt (Dobusch et al. 2017). Konkret bietet Creative Commons vier verschiedene Lizenzmodule an, die zu ver­ schiedenen Lizenzvarianten miteinander kombiniert werden können. Zwei dieser Li­ zenzvarianten sind freie, mit der Nutzung in Wikipedia kompatible Lizenzen. Sie zwin­ gen neben der Nennung der Lizenz entweder nur zur Namensnennung des/der Ur­ hebers/-innen (CC BY) bzw. eine Veröffentlichung abgeleiteter Werke unter derselben Lizenz (CC BY-SA 4.0). Auf Grund der Zulässigkeit kommerzieller Nutzung sind der­ art freie Lizenzen – gerade auch im Kontext öffentlich-rechtlicher Medien – sowohl voraussetzungsreicher als auch effektiver was potenzielle Reichweite betrifft (weil in einer größeren Zahl an Kontexten verwendbar). Sie stehen im Fokus dieses Beitrags. Gleichzeitig schränken diese größeren Nutzungsfreiheiten den Bereich jener öf­ fentlich-rechtlich finanzierten Inhalte ein, die überhaupt für eine freie Lizenzierung in Frage kommen. So scheiden dadurch in der Regel sämtliche fiktionalen Produktio­ nen mit längerfristigen Verwertungskaskaden sowie der Nutzung von GEMA-Musik ebenso aus, wie Nachrichten- und Magazinproduktionen, die unter Verwendung von Drittcontent (z. B. Agenturmaterial) erstellt wurden. In diesen Fällen ist die Klärung der für eine freie Lizenzierung erforderlichen Rechte nicht nur aufwändig, sondern de-facto unmöglich. So erlauben Verwertungsgesellschaften im Musikbereich wie eben die deutsche GEMA ihren Mitgliedern die Veröffentlichung von Werken nur un­ ter solchen offenen Lizenzen, die eine kommerzielle Verwertung explizit ausschließen

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(GEMA 2020). Agenturmaterial ist ebenfalls nie frei lizenziert, da das Geschäftsmodell von Nachrichtenagenturen auf dem Lizenzverkauf an deren Kund/-innen fußt. Dennoch gibt es auch unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen eine gro­ ße Zahl an öffentlich-rechtlich finanzierten bzw. produzierten Inhalten, die prinzipi­ ell für eine Lizenzierung unter freien Lizenzen in Frage kommen. Darunter fallen Ei­ genproduktionen sowie bestimmte Nachrichten- und Dokumentationsformate ohne Fremdcontent und GEMA-Musik. In diesen Bereichen sind die Rechteklärungsfragen überschaubar und kommerzielle Zweit- und Drittverwertungsmöglichkeiten spielen oft keine große Rolle. Von Seiten der freiwilligen Autor/-innen in der deutschspra­ chigen Wikipedia wurde inzwischen eine „Wunschliste“ an öffentlich-rechtliche An­ stalten formuliert, auf der sich unter anderem Standbilder, historische Aufnahmen, Dokumentationen, Wahlberichte und O-Töne finden (Dobusch 2017). Allerdings werden auch solche Inhalte, die urheberrechtlich vergleichsweise ein­ fach frei lizenzierbar wären, bislang nur ausnahmsweise unter solchen Lizenzen be­ reitgestellt (vgl. z. B. Dobusch 2020). Im Zuge meiner Tätigkeit als ZDF Fernsehrat für den Bereich „Internet“ wurde ich diesbezüglich mit drei Erklärungsmustern konfron­ tiert, die primär interne, organisatorische Herausforderungen der öffentlich-rechtli­ chen Anstalten selbst darstellen: (i.) Manipulationsängste, (ii.) eine große Zahl an in­ volvierten Rechteinhaber/-innen sowie (iii.) Vergütungsregeln.

i. Manipulationsängste Die Angst, dass mit offenerer Lizenzierung eine größere Gefahr der Verbreitung ma­ nipulierter, d. h. verfälschter und irreführenderweise öffentlich-rechtlichen Sendern zugeschriebener, Inhalte einhergehen könnte, begleitet die Debatte um alternative Lizenzierungsformen seit über zehn Jahren. Ein 2014 an die Öffentlichkeit gelangtes Positionspapier einer internen Arbeitsgruppe zu „Creative Commons in der ARD“ empfahl nicht zuletzt deshalb den Einsatz maximal restriktiver Creative-CommonsLizenzversionen (AG Creative Commons 2014: 4): „Die Lizenz „NamensnennungKeine kommerzielle Nutzung-keine Bearbeitung“ (BY-NC-ND) ist am einfachsten anwendbar, sie minimiert rechtliche Risiken.“ Allerdings wurde auch damals bereits angemerkt, dass durch so eine Lizenz „erwünschte Nutzungsarten“ wie beispielsweise eine Nutzung in der Wikipedia ver­ unmöglicht wird. Noch expliziter mit Manipulationsängsten wurde in internen Stel­ lungnahmen des ZDF die Zurückhaltung bei freier Lizenzierung begründet (gekürzt und anonymisiert): „Natürlich schließt auch eine restriktive Lizenz eine Weiterver­ wendung durch Dritte nicht aus. Es ist aber ein Unterschied, ob dies illegal geschieht oder mit unserer ausdrücklichen Zustimmung.“ Das Problem an Stellungnahmen wie der hier zitierten liegt darin, dass eine ir­ reführende Zuschreibung veränderter Inhalte sich niemals auf eine „ausdrückliche Zustimmung“ im Rahmen einer Creative-Commons-Lizenz stützen kann. Die davon

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betroffenen Persönlichkeitsrechte werden von freien Urheberrechtslizenzen nicht er­ fasst bzw. sehen Creative-Commons-Lizenzen, die eine Änderung von Werken erlau­ ben, die Pflicht vor, derartige Änderungen als solche auszuweisen. Im Umkehrschluss folgt daraus, dass freie Lizenzen die rechtlichen Möglichkei­ ten, gegen irreführende Zuschreibung manipulierter Inhalte vorzugehen, auf keine Weise einschränken. Daran, dass diesbezügliche, mit freien Lizenzen verbundene, Ängste und Vorurteile ihrer Nutzung abträglich sind, ändert das wenig und macht In­ formations- und Aufklärungsaktivitäten von Seiten der öffentlich-rechtlichen Rund­ funkanbieter erforderlich, wenn die Nutzung freier Lizenzen auf Ebene von Redaktio­ nen befördert werden soll.

ii. Große Zahl an Rechteinhaber/-innen Eine weitere Hürde für freie Lizenzierung ist der Umstand, dass an der Erstellung von (vor allem Bewegtbild-)Inhalten im öffentlich-rechtlichen Kontext in der Regel eine größere Zahl an Urheber/-innen beteiligt sind, die alle der Nutzung offener oder freier Lizenzen zustimmen müssen, damit diese zum Einsatz kommen können. Abgesehen von damit verbundenen Vergütungsfragen (siehe auch Punkt iii.), ist so eine Option in den etablierten Standardabläufen der Rechteeinholung und -klärung derzeit nicht vorgesehen, was zusätzliche Rechteklärungsaufwände erforderlich macht. Besonders prohibitiv wirkt dieser Umstand aber hinsichtlich möglicher Re-Lizen­ zierung von Archivinhalten, bei der alleine das Finden der relevanten Rechteinha­ ber/-innen mit beträchtlichen Kosten verbunden wäre. Hier ist alleine die Klärung von Rechten für (neuerliche) Online-Nutzung – ohne freie Lizenzierung dieser Inhalte – bereits mit nicht unerheblichen Aufwänden verbunden (Limbach 2018). Dass eine große Zahl an Mitwirkenden einer freien Lizenzierung aber nicht prin­ zipiell im Weg steht, belegt unter anderem die fiktionale Dokumentation („Mocku­ mentary“) mit dem Titel „Operation Naked“, die 2016 im Auftrag des ZDF unter Regie von Mario Sixtus unter einer Creative-Commons-Lizenz erschienen ist. Hinzu kommen jüngere Beispiele von Video-Clips der ZDF-Doku-Reihe „Terra X“, die sogar unter frei­ en, Wikipedia-kompatiblen Lizenzen veröffentlicht wurden (Dobusch 2020).

iii. Vergütungsregeln Die mit Abstand größte interne Hürde für vermehrte Veröffentlichung öffentlich-recht­ lich finanzierter Inhalte unter freien Lizenzen stellen jedoch die etablierten Vergü­ tungsregeln im öffentlich-rechtlichen Kontext dar. Ein großer Teil von öffentlich-recht­ lichen Inhalten sind entweder Auftragsproduktionen oder werden unter Mitarbeit von freien Dienstnehmer/-innen erstellt. In beiden Fällen werden nur bestimmte Nutzun­

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gen unmittelbar abgegolten und für mögliche zukünftige Verwendung derselben In­ halte zusätzliche Honorare (sogenannte „Wiederholungshonorare“) vereinbart. Diese Form der gestaffelten Vergütung ist mit freien Lizenzierungsweisen nicht kompatibel, da hier Dritten in standardisierter Weise eine vergütungsfreie Nutzung ermöglicht wird. Aus Perspektive der öffentlich-rechtlichen Anstalten ist deshalb für freie Nutzung eine (zusätzliche) Abgeltung für verringerte Folgeverwertungs- und -ver­ gütungsoptionen vorzusehen. Dies wird von Seiten der Senderspitze durchaus aner­ kannt, wie Peter Arens, Leiter der ZDF-Hauptredaktion Geschichte und Gesellschaft, in einem Interview mit medienpolitik.net einräumt, wenn er sagt: Die Nutzung unter CC-Lizenz wurde bei der Bemessung der Vergütung mitberücksichtigt und ist mit der vertraglich vereinbarten Vergütung durch das ZDF abgegolten. Sollte es für die Urheber zu Mehraufwand für CC kommen, werden wir diesen natürlich berücksichtigen, das ist mir sehr wichtig. (Hartung 2020)

Diese hier angesprochene „Mitberücksichtigung“ von Creative-Commons-Lizenzie­ rung bei der „Bemessung der Vergütung“ ist bislang jedoch noch nicht tarifvertraglich vereinbart und deshalb die im Einzelfall auszuhandelnde Ausnahme. Dementspre­ chend voraussetzungsreich ist freie Lizenzierung immer noch in den meisten öffent­ lich-rechtlichen Kontexten.

iv. Zwischenfazit Zusammengefasst sind Manipulationsängste, die große Zahl an zustimmungspflich­ tigen Rechteinhaber/-innen sowie (fehlende) Vergütungsregeln für freie Lizenzen die größten internen Herausforderungen für deren häufigere Nutzung. Allen drei Punkten gemein ist, dass sie zu einem – verglichen mit herkömmlichen Lizenzierungsprakti­ ken – erhöhten Aufwand auf Seiten der öffentlich-rechtlichen Anstalten führen. Die­ sen Mehraufwänden stehen – zumindest derzeit noch – schwer messbare, potenzielle Reichweiten- und Reputationsgewinne gegenüber (vgl. aber Dobusch 2020). Gleichzeitig dürften bereits in der näheren Zukunft die Anreize zur freien Lizenzie­ rung und damit der Möglichkeit der Verbreitung öffentlich-rechtlicher Inhalte über of­ fene Plattformen wie Wikipedia stark zunehmen. Neben den bereits in der Einleitung erwähnten Schwierigkeiten, bestimmte – vor allem jüngere – Zielgruppen im Zeitalter digitaler Plattformöffentlichkeit überhaupt zu erreichen (Frees et al. 2019), sind das die neuen Möglichkeiten seit Inkrafttreten des 22. Rundfunkänderungsstaatsvertrags per 1. Mai 2019, Inhalte auch ohne Bezug zu linearen Sendung zu erstellen und online zu verbreiten. In dem Maße, in dem der Anteil an öffentlich-rechtlichen Inhalten ohne klassischlineare Verbreitungswege zunimmt, steigt die Attraktivität alternativer und dem öf­ fentlich-rechtlichen Auftrag entsprechender Verbreitungswege wie zum Beispiel im

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Bildungsbereich. Auch dafür bieten sich freie Lizenzen als Mittel zur Erleichterung der Distribuierbarkeit und Verwendbarkeit von Online-Inhalten an. Gleichzeitig ge­ winnen mit einer zunehmenden Nutzung von freien Lizenzen durch öffentlich-recht­ liche Anbieter auch externe Herausforderungen und Grenzen für freie Lizenzierung an Bedeutung.

3 Wettbewerbspolitische Aspekte freier Lizenzierung Zusätzlich zu den bis hierhin fokussierten internen Herausforderungen, die mit der Nutzung von freien Lizenzen für öffentlich-rechtliche Inhalte verbunden sind, gibt es noch externe, nur bedingt durch die öffentlich-rechtlichen Anstalten autonom beantwortbare Fragen. Neben den bereits erwähnten Einschränkungen auf Grund von dominanten Marktakteuren wie Verwertungsgesellschaften und internationalen Nachrichtenagenturen, werden im Folgenden vor allem die wettbewerbspolitischen Dimensionen freier Lizenzen in den Blick genommen und an Hand von stilisierten Falldarstellungen illustriert.

3.1 Wettbewerbsökonomische Aspekte freier Lizenzen im Rahmen des Drei-Stufen-Tests im Rundfunkrecht Der Diskussion wettbewerbsrechtlicher Fragen ist vorauszuschicken, dass es zum Status öffentlich-rechtlicher Rundfunkanbieter aus Sicht des EU-Beihilfenrechts kei­ ne klare, höchstrichterlich abgesicherte Rechtslage gibt. Das liegt unter anderem am „Beihilfekompromiss“ zwischen EU-Kommission und der Bundesrepublik Deutsch­ land, mit dem ein diesbezüglicher Rechtsstreit beigelegt worden war (European Com­ mission 2009; Held 2011). Kernpunkt der Einigung war die Vorgabe, dass das Online-Angebot der öffentlichrechtlichen Anbieter einem rundfunkrechtlich geregelten Drei-Stufen-Test unterzogen werden muss. Rechtlich dient dieser Drei-Stufen-Test dazu zu überprüfen, inwieweit durch ein neues Online-Angebot das Beihilfenverbot des Art. 107 Abs. 1 AEUV (exArt. 87 EGV) tangiert wird. Die zentrale Passage dieser Bestimmung lautet wie folgt (Hervorhebungen durch den Autor): Soweit in den Verträgen nicht etwas anderes bestimmt ist, sind staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unter­ nehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen dro­ hen, mit dem Binnenmarkt unvereinbar, soweit sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beein­ trächtigen.

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Im Rahmen des Drei-Stufen-Tests wird in Deutschland gem. § 11f Abs. 4 Rundfunk­ staatsvertrag von den zuständigen Gremien der Rundfunkaufsicht – beim ZDF bei­ spielsweise der ZDF Fernsehrat – auf Basis von empirischen Studien sowie nach öf­ fentlichem Konsultationsverfahren bei neuen Online-Angeboten geprüft, (i) inwieweit das neue Telemedienangebot oder die wesentliche Änderung den de­ mokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnissen der Gesellschaft entspricht, (ii) in welchem Umfang durch das neue Telemedienangebot oder die wesentliche Än­ derung in qualitativer Hinsicht zum publizistischen Wettbewerb beigetragen wird und (iii) welcher finanzielle Aufwand für das neue Telemedienangebot oder die wesentli­ che Änderung erforderlich ist. Dabei sind unter anderem „die Auswirkungen auf alle relevanten Märkte des geplan­ ten, neuen Telemedienangebots“ zu untersuchen. Exemplarisch sei hier auf das von der Beratungsfirma Goldmedia (2019) erstellte „medienökonomische Gutachten“ im Zuge des letzten Drei-Stufen-Test-Verfahrens zum ZDF-Telemedienänderungskonzept (2019–2020) verwiesen. Darin wurde unter anderem geschätzt, welche Auswirkungen eine Ausdehnung von Verweildauern öffentlich-rechtlicher Inhalte in Mediatheken auf „relevante Märkte“ haben könnte. Die Basis für diese Schätzung bieten „Werbe­ marktäquivalenzwerte“: Dabei werden die wesentlichen Änderungen der Telemedienangebote des ZDF und die durch die Änderungen potenziell zusätzlich erzielbaren Reichweiten [. . . ] in Relation gesetzt zu den da­ durch (theoretisch) erzielbaren Vermarktungserlösen. Ein analoges Vorgehen für eine Äquiva­ lenzwertberechnung erfolgt auch für den Bereich Pay-VoD. Die Reichweiten werden mit Markt­ volumina hochgerechnet, sodass ein theoretischer Äquivalenzwert berechnet werden kann, wel­ che Umsätze die privaten Wettbewerber nicht erzielen können, da diese Reichweiten durch die geänderten Telemedienangebote des ZDF generiert und nicht durch Werbung oder durch kosten­ pflichtige VoD-Angebote kapitalisiert werden. (Goldmedia 2019)

Zumindest in dieser jüngsten wettbewerbsökonomischen Analyse fand die Möglich­ keit von freier Lizenzierung noch keine Berücksichtigung. Ganz generell waren die kalkulierten Äquivalenzwerte für eine Ausdehnung von Verweildauern in den für freie Lizenzierung infrage kommenden, kommerziell für Folgeverwertungen vergleichswei­ se marginal relevanten Bereichen, sehr gering. Die Bereiche „Nachrichten“ und „Bil­ dung“ weisen mit Äquivalenzwerten von € 0,42 Mio. bzw. € 0,29 Mio. die mit Abstand geringsten Werte auf; zum Vergleich: für „Unterhaltung“ mit € 2,06 Mio. und für „Fik­ tion“ mit € 6,51 Mio. werden für 2022 die höchsten Äquivalenzwerte kalkuliert (Gold­ media 2019: 65). Zusammenfassend halten die Studienautor/-innen fest: Aus den umfangreichen Untersuchungsschritten des Gutachtens geht deutlich hervor, dass mehr eigenständige audiovisuelle Inhalte (Online-Only-/Online-First), eine Erweiterung der Verweil­ dauern sowie eine stärkere Verbreitung auf Drittplattformen [. . . ] keine spürbaren Auswirkungen auf den ökonomischen Wettbewerb haben. (Goldmedia 2019: 61)

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Angesichts dessen, dass selbst in den Bereichen „Nachrichten“ und „Bildung“ nur ein Bruchteil der Inhalte überhaupt für freie Lizenzierung in Betracht kommt, weil Fremd­ material und/oder GEMA-Musik genutzt werden, dürfte sich die aggregierte Auswir­ kung von freier Lizenzierung auf relevante Märkte auf äußerst niedrigem Niveau be­ wegen.

3.2 Wettbewerbsrechtliche Fragen freier Lizenzierung öffentlich-rechtlicher Inhalte im Einzelfall Von größerer praktischer Bedeutung als die Einschränkungen des rundfunkrechtli­ chen Drei-Stufen-Tests könnten hingegen Grenzen des Wettbewerbsrechts – konkret des oben zitierten Beihilfenverbots des Art. 107 Abs. 1 AEUV (ex-Art. 87 EGV) – dahin­ gehend sein, dass die freie Lizenzierung durch die öffentlich-rechtlichen Anstalten eine rechtswidrige Beihilfe für Dritte darstellen könnte. Im Jahr 2019 veröffentlichte Wikimedia Deutschland e. V. ein beauftragtes Rechts­ gutachten, das sich intensiv mit dieser Frage auseinandergesetzt hat. Die beiden Au­ toren Roland Broemel und Hans-Heinrich Trute (2019: 2) behandeln darin die Frage, ob „die Freigabe von Inhalten öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten für die All­ gemeinheit, konkret unter einer Jedermannlizenz wie CC-BY, die auch kommerzielle Nutzungen erlaubt, eine unzulässige Subvention dar[stellt]“? Mit anderen Worten, es geht nicht darum, ob die Rundfunkbeiträge selbst eine un­ zulässige Beihilfe darstellen, sondern ob die Freigabe von mit Rundfunkbeiträgen fi­ nanzierten Inhalten eine unzulässige Beihilfe von Dritten im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV darstellen könnte. Im Allgemeinen, so auch Broemel und Trute, begünstigen freie Lizenzen nicht bestimmte Marktakteure oder Wirtschaftszweige in besonderer Weise, fallen deshalb also mangels Selektivität nicht unter das Beihilfenverbot. Aller­ dings ist es im Einzelfall denkbar, dass sich bei freier Lizenzierung „die Selektivität einer Begünstigung trotz des formell allgemeinen Charakters der Begünstigung aus den Umständen des Einzelfalls ergeben (sog. De-facto-Selektivität) [kann].“ (Broemel und Trute 2019: 2). Diesbezügliche Abgrenzungsfragen lassen sich am besten an zwei konkreten, rea­ len Beispielfällen illustrieren: einem Portal für Unterrichtsmaterialien des Bayrischen Rundfunks und einer Kooperation zwischen ZDF und Wikimedia e. V. Beispiel „So geht Medien“ des BR: Im Rahmen dieses Online-Portals bietet der Bay­ rische Rundfunk diverse Unterrichtsmaterialien zur Verwendung im Schulunterricht als Download an (So geht Medien 2020). Derartige Angebote stehen in einem Wettbe­ werbsverhältnis zu privaten Anbietern von Unterrichtsmaterialien für den Medienbe­ reich; deren Einkunftsmöglichkeiten sind von dem Angebot stärker betroffen als An­ bieter sonstiger Unterrichtsmaterialien. Insofern stellt sich die Frage, ob mit der kos­ tenlosen Bereitstellung solcher Materialien unter freien Lizenzen – im konkreten Fall

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sind die Unterlagen (noch) nicht frei lizenziert – eine wettbewerbsrechtlich relevante Verzerrung des Wettbewerbs einhergeht. Broemel und Trute (2019: 11) zu Folge ergibt sich jedoch eine beihilferechtsrelevante wettbewerbsverzerrende Wirkung eines generell gewährten Vorteils [. . . ] nicht bereits daraus, dass die allgemein zur Verfügung gestellte Leistung für bestimmte Ge­ schäftsmodelle oder für bestimmte Unternehmen vorteilhafter ist als für andere.

Diese Einschätzung ist auch konsistent mit der etablierten Praxis – auch von EU-For­ schungsförderungsprogrammen¹ – eine allgemeine und freie Zugänglichmachung von öffentlich geförderten Forschungsergebnissen zu verlangen. Auch in diesen Fäl­ len ist es keineswegs unüblich, dass unterschiedliche Branchen in unterschiedlichem Ausmaß von freiem Zugang zu diesen Forschungsergebnissen profitieren. Beispiel #ZDFCheck mit Wikimedia: Im Jahr 2013 kooperierten im Vorfeld der Bundestagswahl das ZDF Hauptstadtstudio und der gemeinnützige Verein Wikimedia Deutschland, um den Wahrheitsgehalt von Politikeraussagen zu überprüfen. Als Teil des Projekts wurden unter anderem, „[g]emeinsam mit der Grafikerin des ZDF und der Beratung von Wikipedianern [. . . ] auch gezielt Material [erarbeitet], das in der Wikipedia noch fehlt“ und unter freien, Wikipedia-kompatiblen Lizenzen veröffent­ licht. Broemel und Trute (2019: 15) dazu: „Eine solche gezielte, auf die Bedürfnisse von Wikipedia abgestimmte Erstellung von Material durch eine öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt dürfte das Kriterium der De-facto-Selektivität erfüllen.“ Verallgemeinert lässt sich aus dem Beispiel von #ZDFCheck die Maxime ableiten, dass eine freie Lizenzierung von öffentlich-rechtlichen Inhalten in der Tendenz wett­ bewerbsrechtlich umso unproblematischer sein dürfte, je mehr das Ziel eine allge­ mein-öffentliche Nutzbarkeit im Sinne des öffentlich-rechtlichen Auftrags ist und je weniger es um spezifische Kooperationsprojekte mit externen – kommerziellen oder nicht-kommerziellen – Partnerorganisationen geht.

4 Fazit und Ausblick Die verstärkte Veröffentlichung von öffentlich-rechtlichen Inhalten unter freien Li­ zenzen leistet einen Beitrag zur digitalen Transformation öffentlich-rechtlicher Medi­ enangebote, die zunehmend auf Verbreitung über Drittplattformen angewiesen sind bzw. sein werden. Die größten Hürden am Weg zu einem größeren Anteil an frei lizenzierten Inhalten sind dabei interne, von den öffentlich-rechtlichen Anstalten selbst adressierbare Her­ ausforderungen – allen voran eine Berücksichtigung von freien Lizenzen in Standard­

1 Vgl. z. B. das Open-Access-Mandat in Horizon 2020 (European Commission 2020).

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verträgen und Vergütungsregeln. Im Bereich der externen Herausforderungen schrän­ ken die Nutzung von Fremdmaterial sowie GEMA-Musik den Pool an potenziell frei li­ zenzierbaren Inhalten ein. Die wettbewerbsrechtlichen Grenzen für freie Lizenzierung sind aber sowohl in prinzipieller Hinsicht – erfasst im Rahmen des rundfunkrechtli­ chen Drei-Stufen-Tests – als auch im Kontext konkreter Lizenzierungsprojekte – hier insbesondere betreffend möglicher De-facto-Selektivität freier Lizenzierung – relativ weit gezogen und stellen keine wesentliche Einschränkung aus Sicht der öffentlichrechtlichen Anbieter dar.

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Valentin Bixer und Ulrich Heimeshoff

Künstliche Intelligenz, Preisalgorithmen und ihre wettbewerbspolitischen Implikationen 1

Einleitung | 273

2

Algorithmen – Begriff und Gattungen | 274 2.1 Algorithmen nach auszuführender Aufgabe | 275 2.2 Algorithmen nach Lernstil | 276 2.3 Algorithmen nach Interpretierbarkeit | 279

3

Algorithmen und Kollusion | 280 3.1 Marktumfeld | 281 3.2 Algorithmen als wettbewerbsbeschränkendes Instrument und algorithmische Kollusion | 283 3.2.1 Algorithmen als wettbewerbsbeschränkendes Instrument | 283 3.2.2 Algorithmische Kollusion | 285

4

Algorithmische Kollusion in der Literatur – Ein Überblick | 286 4.1 Ergebnisse der experimentellen Literatur zu algorithmischer Kollusion | 286 4.2 Grenzen und Einordnung der Studienergebnisse | 288

5

Wettbewerbspolitischer Handlungsbedarf und Fazit | 290

1 Einleitung Im Jahre 2015 verurteilte ein US Bundesgericht in Kalifornien David Topkins, Manager eines Online-Händlers in den USA, aufgrund eines Verstoßes gegen das Kartellrecht. Der Online-Händler verkaufte Poster und gerahmte Kunst über verschiedene Online­ kanäle direkt an Privatpersonen, darunter auch über die Plattform Amazon Market­ place (Mehra 2016). Von 2013 bis 2014 schloss sich der Online-Händler mit anderen Händlern zusammen, um die Preise für gewisse Poster festzulegen und zu erhöhen. Um die Absprache umzusetzen, nutzten die Beteiligten eine Preissoftware, die die Preise der beteiligten Parteien im Einklang mit der Absprache festlegte.¹ In diesem Fall wurde letztlich ein Preisalgorithmus als Instrument für eine widerrechtliche Abspra­ che genutzt. Zwar handelt es sich in dieser Form um keine neue Form der Absprache zwischen Unternehmen, gleichwohl stellt sich die Frage, inwieweit Preisalgorithmen nach derzeitigem Forschungsstand in der Lage sind, eigenständig und ohne menschli­ ches Zutun kollusives Verhalten zu implementieren. Dies setzt voraus, dass Preisalgo­

1 U.S. vs. Topkins: No. CR 15-00201 WHO.US District Court-Nothern District of California. Urteil vom 30. April 2015 https://doi.org/10.1515/9783110724523-012

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rithmen über experimentelles Handeln miteinander und ohne menschliche Eingriffe eine Angleichung ihres Preissetzungsverhaltens erreichen können. Dieser Beitrag liefert eine Übersicht über den aktuellen Stand der Forschung und legt dar, inwieweit die Gefahr algorithmischer Kollusion nach derzeitigem For­ schungsstand besteht. Dazu werden die relevanten Simulationsstudien und Experi­ mente in diesem Forschungsgebiet kurz dargelegt und eingeordnet. Zunächst definie­ ren wir in Kapitel 2 den Begriff des Algorithmus, sowie seine verschiedenen Ausprä­ gungen. In Kapitel 3 werden die potenziell negativen Effekte von Algorithmen auf den Wettbewerb identifiziert, sowie mögliche Szenarien der Kollusion veranschaulicht, die durch Preisalgorithmen auftreten können. Anschließend gibt Kapitel 4 einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand und zeigt auf, welche Grenzen im Rahmen der Forschung bestehen. Kapitel 5 schließt mit den wettbewerbspolitischen Implikationen und einem Fazit.

2 Algorithmen – Begriff und Gattungen Eine der wichtigsten technologischen Entwicklungen in der digitalen Wirtschaft ist der Einsatz und die Nutzung von Algorithmen. Algorithmen können einerseits zur Auswertung von Datensätzen eingesetzt werden, andererseits können damit auch be­ stimmte Prozesse automatisiert werden. Das Bundeskartellamt definiert einen Algo­ rithmus als „eine Folge von einfachen bzw. klar definierten Operationen, die in einer bestimmten Reihenfolge ausgeführt werden sollen, um einen bestimmten Aufgaben­ typ zu erledigen oder bestimmte Probleme zu lösen“ (Bundeskartellamt 2020). Algo­ rithmen kommen in unterschiedlichsten Bereichen zum Einsatz und können in die­ sem Zusammenhang nach unterschiedlichen Kriterien rubriziert werden. In Tabelle 1 werden daher verschiedene Dimensionen vorgestellt, nach denen Algorithmen einge­ teilt werden können. Hierbei stehen insbesondere jene Algorithmen im Zentrum der Tab. 1: Eigene Darstellung. Unterscheidungskriterium

Ausprägung

Auszuführende Aufgabe

Monitoring- und Datensammel-Algorithmus Preisalgorithmus Personalisierungs-Algorithmus Ranking-Algorithmus Supervised Unsupervised Reinforcement Learning Deep Learning White-box-Algorithmus Black-box-Algorithmus

Lernmethode

Interpretierbarkeit

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275

Betrachtung, deren Nutzung wirtschaftliche beziehungsweise wettbewerbliche Wir­ kungen haben können. In den nachfolgenden Kapiteln rücken insbesondere jene Al­ gorithmen in den Fokus der Betrachtung, die zur automatischen Preissetzung verwen­ det werden.

2.1 Algorithmen nach auszuführender Aufgabe Eine Dimension um Algorithmen einzuteilen ist die Unterscheidung nach auszufüh­ render Aufgabe. Eine der Aufgaben kann das reine Sammeln von Daten umfassen. Dies können sowohl Daten von Wettbewerbern, Konsumenten oder auch allgemeine Marktdaten sein (European Commission 2017). Eine Sektoruntersuchung der Europäi­ schen Kommission von 2017 konnte zeigen, wie stark der Einsatz von Algorithmen un­ ter Online-Händlern fortgeschritten ist. Bereits 53 % der Online-Händler beobachten die Preise von Wettbewerbern mithilfe von Algorithmen. Dies könnte insofern Einfluss auf den Wettbewerb haben, als Unternehmen mittels des Sammelns von Daten Kol­ lusionsabsprachen überwachen und Abweichungen sanktionieren könnten. Mit zu­ nehmender Markt- und Preistransparenz kann kollusives Verhalten somit unterstützt werden (OECD 2017). Vor diesem Hintergrund und aus wettbewerbsrechtlicher Sicht spielen sogenann­ te Preisalgorithmen eine entscheidende Rolle. Ein solcher Algorithmus kann den Preis eines Produkts eines Unternehmens unter Einbeziehung verschiedener Fakto­ ren nach zuvor festgelegten Regeln automatisch anpassen. Oftmals wird dabei auf externe Faktoren wie Nachfrageverhalten und Marktentwicklung oder interne Fakto­ ren wie Auslastungskapazitäten, Lagerbestand oder die eigenen Produktionskosten zurückgegriffen (Bernhardt & Dewenter 2020). Als typisches Beispiel können hier Softwarelösungen von Luftfahrtunternehmen oder Hotels angeführt werden, die un­ ter Zuhilfenahme des Algorithmus ihre Preise für eine Flugreise bzw. ein Hotelzimmer den aktuellen Marktentwicklungen anpassen. Im E-Commerce-Bereich beobachtet ein signifikanter Anteil der Händler nicht nur die Preise der Wettbewerber, sondern nutzt zudem Preisalgorithmen, um ihre Preise den Marktentwicklungen anzupassen (European Commission 2017). Die Unternehmen können dabei ihre Preise den Preisen der Wettbewerber anpassen oder diese gezielt unterbieten. Insbesondere für Händler, die nicht nur ein oder zwei Produkte, sondern mehrere Produkte gleichzeitig online vertreiben, ist ein solcher Algorithmus zur Preisüberwachung und -anpassung not­ wendig (Bernhardt & Dewenter 2020). Des Weiteren sind Personalisierungsalgorithmen in der digitalen Geschäftswelt weit verbreitet. Bedingt durch die Zunahme des Onlinehandels ist die Zahl der ange­ botenen Produkte im Internet rasant gestiegen. Damit hat sowohl die Produktbreite als auch die Produkttiefe für die Konsumenten zugenommen, was die Kaufentschei­ dung auf Basis der umfassenden und verfügbaren Informationen nicht zwangsläufig erleichtert (Yoganarasimhan 2020). Mit Hilfe historischer Verbraucherdaten und Pro­

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gnosemodellen können Firmen personalisierte Produktvorschläge an Konsumenten adressieren, wodurch die Produktrelevanz für den Kunden tendenziell steigt und sich damit die Kaufwahrscheinlichkeit erhöht. Insbesondere bei Onlinewerbung auf Web­ seiten und sozialen Netzwerken kommt diese Art von Algorithmen zum Einsatz (Au­ torité de la concurrence & Bundeskartellamt 2019). Eng verwandt mit Personalisierungsalgorithmen sind Ranking-Algorithmen. Die­ se werden häufig bei Vergleichsportalen oder Suchmaschinen-Anbietern genutzt, um den Nutzern Angebote von höherer Relevanz zu unterbreiten (Autorité de la concur­ rence & Bundeskartellamt 2019). Dadurch sollen Nutzer schneller ein passendes Pro­ dukt finden und die Suchkosten reduziert werden. Die Tendenz, Onlinekäufe vermehrt über mobile Endgeräte zu tätigen, wird den Einsatz von Rankingalgorithmen verstär­ ken, da Konsumenten beim Kauf über mobile Endgeräte insgesamt ungeduldiger sind (Ursu 2018). Abschließend seien an dieser Stelle noch weitere Algorithmen angeführt, deren Anwendung in der digitalen Geschäftswelt breiten Einzug gefunden hat. Analog zu Preisalgorithmen auf der Angebotsseite, finden sich nachfrageseitig Algorithmen zum Preistracking, um dem Konsumenten bei einem Preisrückgang einen Kaufanreiz zu bieten. Sinkt der Preis bei dem zuvor avisierten Produkt, so erhält der Konsument ei­ ne Benachrichtigung über den Preisverfall und kann nun das Produkt günstiger er­ werben. Eine technische Weiterentwicklung davon sind Algorithmen zum automa­ tisierten Vertragswechsel. So können diese Algorithmen beispielsweise Strom- oder Gasverträge vergleichen und unverzüglich den besten Vertrag für den Verbraucher abschließen. Dies erspart dem Konsumenten Zeit und er profitiert gleichzeitig von den günstigeren Vertragskonditionen (Autorité de la concurrence & Bundeskartellamt 2019).

2.2 Algorithmen nach Lernstil Die zweite Dimension um Algorithmen zu kategorisieren kann durch die Betrachtung der zugrundeliegenden Art der Lernmethode des Algorithmus durchgeführt werden. Dabei kann grundsätzlich zwischen Algorithmen mit selbstlernender bzw. statischer Lernmethode unterschieden werden. Statische Algorithmen behandeln jene Faktoren (Parameter), die den Input eines Algorithmus in einen Output transformieren, als im Zeitablauf konstant. Das bedeu­ tet, der gleiche Input erzeugt immer wieder den gleichen Output. Bei einem selbstler­ nenden Algorithmus hingegen kann sich im Zeitverlauf die Parametrisierung ändern, sodass bei identischem Input der Output unterschiedlich ausfallen kann. In Bezug auf einen Preisalgorithmus wäre ein selbstlernender Algorithmus in der Lage, die Parame­ ter, die den Preis als Output erzeugen, so zu justieren, um einen optimalen Preis mit

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dem optimierten Preissetzungsmodell zu generieren.² Der selbstlernende Algorithmus passt daher sein Preissetzungsmodell dynamisch an und entwickelt dieses fortlaufend weiter (Bundeskartellamt 2020). Die selbstlernenden Algorithmen lassen sich wiederum in drei Subkategorien einteilen, die vom jeweiligen Grad der Lernmethode abhängen. In der Literatur wird dabei zwischen supervised, unsupervised und reinforcement learning unterschie­ den. Diese Lernmethoden sind ein Teilgebiet des Maschinellen Lernens (ML), was wiederum ein Teilgebiet des in der Literatur bekannten und amorphen Begriffes der Künstlichen Intelligenz (AI) ist. Das Fachgebiet der Künstlichen Intelligenz kann allge­ mein als „Simulation intelligenten menschlichen Denkens und Handelns aufgefasst“ (Mainzer 2016: 1) werden und versucht menschliche Intelligenz nachzuahmen, wobei der Begriff der Intelligenz unterschiedlich ausgelegt werden kann. Die Technologie des Maschinellen Lernens als Teilgebiet der AI kann Wissen aus Daten generieren und fortlaufend Neues dazulernen.³ Das erworbene Wissen und die dahinterstehende Logik können anschließend auf neue und unbekannte gleichartige Daten angewandt werden. Supervised Learning: Beim Supervised Learning oder auch überwachtes Lernen genannt, wird dem Algorithmus ein aufbereiteter Datensatz präsentiert, mit Hilfe des­ sen der Algorithmus in der Trainingsphase bestimmte Vorhersagen oder Aussagen zu treffen erlernen kann. In der Trainingsphase erhält der Algorithmus Daten mit Input­ werten sowie den dazugehörigen und mit Labels versehenen Outputwerten. Im Ideal­ fall lernt der Algorithmus die dahinterstehende Logik zwischen dem Input und dem Output, um die gelernte Regel und Logik im Anschluss auf neue noch unbekannte, aber ähnliche Daten anzuwenden (Alpaydin 2016: 39). Supervised Learning ist insbe­ sondere zur Ausführung von Regressionsanalysen oder Klassifikationen geeignet (Dö­ bel et al. 2018). Beispielsweise kann der trainierte Algorithmus Vorhersagen über Häu­ serpreise mit bestimmten Merkmalen treffen oder Emails als Spam oder Nicht-Spam klassifizieren (Schwalbe 2018). Unsupervised Learning: Im Unterschied zum überwachten Lernen besteht beim unüberwachten Lernen keine Notwendigkeit die Daten zu kennzeichnen, da der Algo­ rithmus auch nicht aufbereitete Daten verarbeiten kann (Athey & Imbens 2019), wobei einzuräumen ist, dass diese Umstände das Lernen wesentlich erschweren (Kelleher & Tierney 2018: 100). Der Algorithmus ist dabei so programmiert, Muster und Struk­ turen in den Daten zu erkennen und darzustellen. Der Lernstil des unüberwachten Lernens wird dann angewandt, wenn keine logisch aufbereiteten Trainingsdatensät­ ze zum Lernen zur Verfügung stehen. Der Algorithmus übernimmt dabei die Aufgabe die Daten zu clustern oder trägt zur Dimensionsreduktion bei (Döbel et al. 2018). Bei­

2 Vgl. zu selbstlernenden Algorithmen Alpaydin (2016): 24–26. Statistische Modelle mit im Zeitverlauf variierenden Parametern haben auch in der Ökonometrie inzwischen eine lange Tradition. Vgl dazu beispielsweise Kim & Nelson (1999): 1–4. 3 Manche Autoren wie Alpaydin (2016): 17, bezeichnen ML auch als Voraussetzung für KI.

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spielsweise können mit Hilfe von Clustering Konsumentengruppen anhand bestimm­ ter Merkmale identifiziert werden, was Unternehmen neue Erkenntnisse für gezieltes Marketing oder zur Preisdifferenzierung liefern kann (Autorité de la concurrence & Bundeskartellamt 2019). Reinforcement Learning: Die dritte Kategorie neben den bereits genannten Lernstilen des Supervised und Unsupervised Learning bildet das Reinforcement Learning als Teil des Machine Learning. Beim Reinforcement Learning oder auch bestärkendes Lernen genannt versucht ein algorithmischer Agent⁴ durch Ausführung bestimmter Operationen seine Umwelt explorativ zu erkunden. Über die Methode des „Trial-and-Error“ versucht der lernende Algorithmus Feedback aus der Umwelt zu er­ halten, um zukünftig bessere Aktionen auszuführen (Stucke & Grunes 2016: 181–182). Dadurch soll unerwünschtes Verhalten reduziert und wünschenswertes Verhalten maximiert werden. Der Prozess des bestärkenden Lernens läuft dabei wie folgt ab: Aus einem Aktionsraum A wählt der Agent eine Aktion, die in einer nur teilweise bekannten Umgebung ein Feedback in Gestalt einer Belohnung erzeugt. Dabei exis­ tieren verschiedene Arten des Reinforcement Learning. Die bekannteste und häufig genutzte Methode ist die des Q-Learnings. Der Name entstammt der sogenannten Q-Funktion Q(s,a), die den zu erwartenden Nutzen Q einer bestimmten Aktion a im Status oder Zustand s berechnet. Die berechneten Werte des erwarteten Nutzens wer­ den dann in einer Q-Matrix gespeichert. Der Agent versucht in der Trainingsphase die Nutzenwerte der Q-Matrix durch Exploration zu bestimmen, um daraus die beste Strategie abzuleiten (Schwalbe 2018). Zusammengefasst ist Q-Learning ein einfaches und bewährtes Reinforcement-Learning Modell, das darauf abzielt, den Gegenwarts­ wert der erwarteten zukünftigen Erträge für bisher unbekannte Umgebungen bei sich wiederholenden Interaktion zu maximieren (Klein 2019). Deep Learning: Deep Learning ist ebenfalls ein Teilgebiet des maschinellen Ler­ nens, allerdings liegt diesem Ansatz im Gegensatz zu den zuvor beschriebenen Lern­ stilen eine komplexere Methode der Datenverarbeitung zugrunde (Kelleher & Tierney 2018: 31–33). Der Methode des Deep Learning liegt der Einsatz sogenannter künst­ licher neuronalen Netze (KNN) zugrunde. Die künstlichen neuronalen Netze sollen den Versuch darstellen, die neuronalen Netze eines menschlichen Gehirns zu repli­ zieren.⁵ Die KNN bestehen dabei aus unterschiedlichen Schichten, darunter die Ein­ gangsschicht (Input Layer), die versteckte Schicht (Hidden Layer) sowie die Ausgangs­ schicht (Output Layer) (siehe Abbildung 1). Diese Vorgehensweise weist bestimmte Parallelen zu Zustandsraum-Modellen in der Ökonometrie auf, in denen unbeobacht­ bare Elemente, wie zum Beispiel Phasen des Konjunkturverlaufs, geschätzt werden (Hamilton 1994: 372–376). Jede dieser Schichten setzt sich wiederum aus künstlichen

4 Ein Agent beschreibt ein System/Programm, das zu bestimmtem autonomen Verhalten in der Lage ist und selbstständig Aktionen in einer Umgebung ausführen kann, um bestimmte Ziele zu erreichen. 5 Eine kurze Darstellung von KNN und ihrer Schätzung findet sich in Franses (2000): 206–221.

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Neuronale Netze Inputwerte

Summierung und Aktivierungsfunktion w11

Outputwerte

a

x2



a

y1

x3



a

y2

xn



a

Eingabeschicht (Input Layer)

w

w 12 w 13

1n



x1

Verdeckte Zwischenschicht (Hidden Layer)

Ausgabeschicht (Output Layer)

Abb. 1: Schematische Darstellung eines künstlichen neuronalen Netzwerkes. Quelle: Döbel et al. (2018: 12).

Neuronen zusammen. Die Neuronen der versteckten Schicht werden mit Informatio­ nen aus der Eingangsschicht gespeist und ab einem gewissen vordefinierten Schwel­ lenwert aktiviert. Wann der Schwellenwert erreicht wird, hängt unter anderem von den Inputwerten und deren Gewichtungsfaktor ab. Die aktivierten Neuronen der ers­ ten verdeckten Schicht leiten dann Informationen an die nächste Schicht weiter, die dort wiederum bei Schwellwertüberschreitung Neuronen aktivieren können. Ein neu­ ronales Netz ist umso komplexer, je mehr Neuronen und Schichten ein solches um­ fasst (Alpaydin 2016: 106–107). Deep Learning kommt insbesondere dort zum Einsatz, wo komplexe, unstrukturierte und umfangreiche Daten analysiert werden müssen. Aus Bildern, Texten oder Tönen können numerische Werte generiert werden, die dem KNN als Input dienen. Wichtig beim Deep Learning ist eine umfassende Datengrund­ lage aus der das KNN lernen kann. Innerhalb des Lernprozesses kann anschließend durch Modifikation der Gewichte und Schwellenwerte der Neuronen der entsprechen­ de Output realisiert werden. Die Neuronen der Ausgangsschicht enthalten schließlich die Ergebnisse (Schwalbe 2018; Athey & Imbens 2019).

2.3 Algorithmen nach Interpretierbarkeit Darüber hinaus ist es möglich Algorithmen nach weiteren Kategorien wie der In­ terpretierbarkeit zu kategorisieren. Dabei können die Algorithmen in zwei Rubriken eingeteilt werden. Einerseits existieren solche Algorithmen, die grundsätzlich für Menschen interpretierbar, das heißt nachvollziehbar sind. Diese sogenannten „whitebox“-Algorithmen erlauben es mit Hilfe des Codes das Verhalten und die Aktion zu

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identifizieren, welche aus der Nutzung des Algorithmus folgen. Im Gegensatz da­ zu zeichnet einen „black-box“-Algorithmus aus, dass sein Verhalten aufgrund des Einsatzes maschinellen Lernens kaum anhand des Codes oder einer Beschreibung nachvollziehbar ist. Dadurch entsteht ein Mangel an Nachvollziehbarkeit des Ent­ scheidungsprozesses, insbesondere bei Deep-Learning-Algorithmen (Autorité de la concurrence & Bundeskartellamt 2019; Bernhardt & Dewenter 2020).

3 Algorithmen und Kollusion In diesem Abschnitt wird hinsichtlich der zunehmenden Nutzung von Preissoftware dargelegt, welche Markstrukturen kollusives Verhalten von Unternehmen möglich machen bzw. stützen und inwieweit Algorithmen die Marktbedingungen verändern, die potenziell die Wahrscheinlichkeit eines kollusiven Verhaltens beeinflussen. Zu Beginn wird daher die Bedeutung von Algorithmen bei bestimmten Markteigenschaf­ ten erörtert. Anschließend werden unterschiedliche Szenarien betrachten, inwieweit Algorithmen zu Kollusion führen können. Bevor jedoch auf den Einfluss von Algorithmen auf Kollusionsergebnisse einge­ gangen wird, sollte der Begriff der Kollusion kurz dargelegt werden. Grundsätzlich wird in der Literatur zwischen der expliziten und der stillschweigenden Kollusion unterscheiden (Whinston 2006: 21; OECD 2017). Kollusion ist zunächst jede Form der Koordinierung zwischen Unternehmen um höhere Gewinne zu erzielen, wel­ che Unternehmen ohne diese Absprache nicht erreichen könnten und die zu einem Wohlfahrtsverlust führt (Motta 2004: 137). Unter expliziter Kollusion versteht man eine Absprache zwischen Unternehmen, die durch schriftlich oder mündlich ge­ troffene Vereinbarung aufrechterhalten wird. Stillschweigende Kollusion beschreibt hingegen eine Form der Koordinierung zwischen Unternehmen, der keine ausdrück­ liche Vereinbarung zugrunde liegt.⁶ Im Sinne von Harrington (2019) kann Kollusion auch beschrieben werden als: „Collusion is when firms use strategies that embody a reward-punishment scheme which rewards a firm for abiding by the supracom­ petitive outcome and punishes it for departing from it“ (Harrington 2019: 336). Aus wettbewerbsrechtlicher Sicht muss stillschweigende Kollusion nicht zwangsläufig rechtswidrig sein, im Gegensatz zu expliziter Kollusion (Whinston 2006: 15–16; OECD 2017). Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) regelt dies in Art. 101, in dem es heißt, dass „alle Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhal­ tensweisen, welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeig­

6 Da eine stillschweigende Kollusion keine Kommunikation voraussetzt, wird der Begriff der Kollu­ sion in diesem Kontext teilweise als unpräzise empfunden. In der Literatur wird daher manchmal der Begriff der impliziten Koordinierung verwendet.

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net sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts bezwecken oder bewirken“ verboten sind. Eine rechtli­ che Bewertung, wann Kollusion rechtswidrig oder rechtskonform ist, wird in diesem Beitrag nicht vorgenommen.

3.1 Marktumfeld Um den Einfluss von Algorithmen auf die Kollusionswahrscheinlichkeit zu untersu­ chen, sollten zunächst die Markteigenschaften, unter denen die Unternehmen agie­ ren, näher betrachtet werden. In der ökonomischen Theorie können etwa Faktoren identifiziert werden, die die Stabilität und den Fortbestand von wettbewerbswidrigen Absprachen beeinflussen. Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben sind in Tabelle 2 die relevantesten Markteigenschaften aufgeführt, die die Kollusionswahr­ scheinlichkeit am stärksten beeinflussen (OECD 2017). Diese Markteigenschaften las­ sen sich in strukturelle Eigenschaften, sowie in nachfrage- und angebotsseitige Cha­ rakteristika untergliedern (vgl. dazu Hamilton & Suslow 2006). Ein bedeutender Faktor ist die Anzahl der Firmen auf dem Markt. Grundsätzlich gilt, je mehr Anbieter auf dem Markt, desto weniger wahrscheinlich ist eine Kollusion, da eine Absprache unter wenigen Wettbewerbern leichter aufrecht zu erhalten ist (Sel­ ten 1973). Algorithmen, insbesondere Preisalgorithmen, erleichtern nun die Überwa­ chung und Koordination von Kollusion, wodurch die Kosten für ebenjene Tätigkeiten sinken. Die Nutzung von Algorithmen kann daher eine Koordination zwischen Unter­ nehmen erleichtern und somit die Wahrscheinlichkeit von Kollusion erhöhen (Auto­ rité de la concurrence & Bundeskartellamt 2019; Ivaldi et al. 2003). Einen weiteren strukturellen Faktor stellen Markteintrittsbarrieren dar. Geringe Markteintrittsbarrieren verringern die Wahrscheinlichkeit bzw. Stabilität kollusiver Praktiken, da neue Firmen relativ leicht in den Markt eintreten können und sich nicht an der Kooperation beteiligen oder einen Teil der Kollusionsgewinne abschöpfen wollen. Ezrachi und Stucke (2016) übertragen das Argument zunehmenden Wettbe­ werbs aufgrund des Fehlens von Markteintrittsbarrieren auch auf digitale Märkte. Der Einfluss von Algorithmen auf die Kollusionswahrscheinlichkeit hingegen wird in der Literatur ambivalent gesehen. Einerseits können Markteintrittsbarrieren durch Algorithmen aufgrund besserer Marktinformationen und effektiverer Preisstrategien reduziert werden, was positiv zu bewerten ist. Andererseits können Algorithmen dann den Marktzutritt erschweren, wenn die zur Nutzung von Algorithmen notwendigen Daten nicht oder in nur sehr begrenztem Umfang zur Verfügung stehen (OECD 2017). Die Wirkungsrichtung hängt daher von unterschiedlichen Faktoren ab. Die Markttransparenz ist für das Zustandekommen kollusiver Gleichgewichte ebenfalls von Bedeutung. Hohe Markttransparenz erleichtert einerseits das Beob­ achten von Kollusionsabweichungen, wodurch die Stabilität der Kollusion erhöht werden kann. Andererseits kann mit Hilfe eines Algorithmus die Opazität reduziert

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Tab. 2: Eigene Darstellung in Anlehnung an OECD (2017): 23. Faktoren für Kollusion Strukturelle Eigenschaften

Nachfragefaktoren Angebotsfaktoren

Einfluss von Algorithmen auf die Kollusionswahrscheinlichkeit Anzahl der Firmen Eintrittsbarrieren Markttransparenz Interaktionsfrequenz Nachfragewachstum Nachfragefluktuation Innovation Kostenasymmetrien

+ ± + + 0 0 − −

werden, etwa durch erweiterte Datenanalyse. Algorithmen erhöhen folglich die Wahr­ scheinlichkeit einer Kollusion in zweifacher Hinsicht. Erstens durch Erhöhung der Markttransparenz an sich und zweitens durch die bessere Aufdeckung und die damit verbundene Sanktionierung von Abweichungen (OECD 2017). Des Weiteren ist die Interaktionsfrequenz der Kollusionsparteien ein relevanter Faktor für das Kollusionsereignis. Häufige Interaktionen erleichtern Kartellabspra­ chen in der Form, dass Abweichungen schneller beobachtet und bestraft werden kön­ nen. Dies erhöht außerdem die Stabilität der Kollusion. Algorithmen vereinfachen dieses Szenario, sodass einerseits die Interaktion dadurch steigt und andererseits Ab­ weichungen durch schnelleres Aufdecken unrentabler werden (Monopolkommission 2018). Nachfrageseitig kann die Nutzung von Algorithmen Konsumenten beim Kauf von Produkten und Dienstleistungen unterstützen und die Entscheidungsfindung verein­ fachen. Im Hinblick auf die Kollusionswahrscheinlichkeit von Unternehmen spielen jedoch Nachfragefaktoren wie das Nachfragewachstum und die Nachfragefluktuation eine untergeordnete Rolle (OECD 2017). Angebotsseitig können Faktoren wie Innovationen und Kostenasymmetrien die Wahrscheinlichkeit kollusiver Gleichgewichte reduzieren. Der Wert einer Absprache sinkt mit zunehmender Innovationsdynamik eines Marktes, da Innovationen Anreize schaffen von der Kollusion abzuweichen. Algorithmen-getriebene Branchen können daher einem intensiveren Wettbewerb ausgesetzt sein, wodurch die Kollusionswahr­ scheinlichkeit tendenziell geringer ausfällt. Die Anwesenheit von Kostenasymmetrien verringert ebenfalls die Wahrscheinlichkeit von Kollusion, da eine Preisabsprache bei unterschiedlichen Kostenstrukturen nicht leicht zu realisieren ist. Algorithmen kön­ nen daher bei Existenz von Kostenasymmetrien die Asymmetrien zwischen den Un­ ternehmen weiter verstärken, was einen negativen Einfluss auf die Kollusionswahr­ scheinlichkeit impliziert (OECD 2017).

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3.2 Algorithmen als wettbewerbsbeschränkendes Instrument und algorithmische Kollusion Nachfolgend wird in verschiedenen Szenarien dargestellt, inwieweit Algorithmen Kol­ lusion unterstützen können oder sogar erst möglich machen. Dabei wird unterschie­ den, ob eine Kollusion mit Beteiligung menschlicher Akteure oder autonom zwischen Algorithmen stattgefunden hat. Im Vordergrund der Betrachtung stehen hierbei ins­ besondere Preisalgorithmen.

3.2.1 Algorithmen als wettbewerbsbeschränkendes Instrument Wird zwischen Unternehmen durch menschliches Zutun eine Absprache getroffen, die mit Hilfe eines Preisalgorithmus implementiert wird, so sind in diesem Zusammen­ hang drei verschiedene Szenarien zu unterscheiden. Messenger Szenario: Beim sogenannten Messenger Szenario fungiert der einge­ setzte Algorithmus als Messenger, das heißt als Übermittler von Preisänderungen oder anderen angebotsrelevanten Informationen (Ezrachi & Stucke 2016: 39–45). Die Nut­ zung eines Algorithmus als Instrument zur Implementierung einer Absprache wirft aus wettbewerbsrechtlicher Sicht jedoch keine problematischen Fragen auf, da eine Sanktionierung mit den bestehenden gesetzlichen Regelungen gegeben ist (Schwal­ be 2018). Bekanntes Beispiel bei dem mit Hilfe eines Algorithmus eine Preisabspra­ che umgesetzt wurde ist der Fall eines Managers eines Online- Handels, der Preisal­ gorithmen nutzte und den beteiligten Katellanten einen Computercode schrieb, um die Einhaltung der Absprache zu gewährleisten.⁷ Die Absprache der Poster-Preise er­ folgte hier zwischen Menschen und wurde durch Nutzung eines Algorithmus etabliert (McSweeny & O’Dea 2017). Der Algorithmus diente also als Messenger und Hilfsmittel zur Kollusion. Hub and Spoke Szenario: Im Hub-Spoke Szenario findet keine direkte Abspra­ che zwischen den Kollusionsparteien statt, sondern über Dritte. Nutzen mehrere Fir­ men den gleichen oder einen ähnlichen Algorithmus, den sie von einem Drittanbie­ ter beziehen, kann dies die Kollusionswahrscheinlichkeit erhöhen (Ezrachi & Stucke 2016: 46–55). Der Anbieter des Algorithmus tritt als zentraler Akteur (Hub) auf und kann das Verhalten der Unternehmen (Spokes) dergestalt koordinieren, als dass es zu kollusivem Verhalten kommt. Bedingt durch die Tatsache, dass Unternehmen der­ selben Branche denselben oder einen ähnlichen Preisalgorithmus nutzen, kann es dazu kommen, dass die Verhaltensweisen und Preise autonomer Unternehmen sich

7 U.S. vs. Topkins: No. CR 15-00201 WHO.US District Court-Nothern District of California. Urteil vom 30. April 2015.

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allmählich annähern. Der Drittanbieter fungiert als zentraler Knotenpunkt, um eine Kollusion zu implementieren (Schwalbe 2018; Bernhardt & Dewenter 2020). Predictable Agent: In diesem Szenario entwickelt jedes Unternehmen unabhän­ gig voneinander einen eigenen Preisalgorithmus. Da die Nutzung von Preisalgorith­ men die Markttransparenz erhöht (vgl. Kapitel 3.1) können Preisfestsetzungen und Preisanpassung schneller erfolgen. Durch parallele Verwendung von Preisalgorith­ men, die u. a. die Preisentwicklung der Wettbewerber überwachen, können Inter­ dependenzen bei der automatischen Preisfestsetzung entstehen, die zu einer wett­ bewerbsbeschränkenden Wirkung in Form stillschweigender Kollusion führen kann (Ezrachi & Stucke 2017). Preissenkungen von Wettbewerbern können schneller erfasst werden, wodurch andere Firmen ihre Preise entsprechend schnell anpassen können, was den Wettbewerbsdruck tendenziell reduziert und die Wahrscheinlichkeit still­ schweigender Kollusion erhöht. Die Unternehmen nutzen die Preisalgorithmen daher als Teil ihrer Pricing-Strategie, um ähnliche Verhaltensweisen bei Wettbewerbern zu entdecken und damit eine Interdependenz und Korrelation im Preissetzungsverhalten herzustellen (Bernhardt & Dewenter 2020). Hansen et al. (2020) zeigen in einer jüngst durchgeführten Simulation, dass die langfristige Preissetzung eines Unternehmens vom Informationsgehalt der beobachtbaren Preissetzung der Wettbewerber abhängt. Ist der Informationsgehalt niedrig, dann resultieren daraus langfristig Wettbewerbs­ preise. Ist der Informationsgehalt hingegen hoch, sind supra- kompetitive Preise zu beobachten. Fehlspezifizierte Preisalgorithmen überschätzen die eigene Preissensiti­ vität, was zu einer Korrelation der Preise und insgesamt zu einem höheren Preisniveau führt (Hansen et al. 2020). Bei den geschilderten Szenarien werden Algorithmen als eine Art Werkzeug zur Implementierung von Kollusion genutzt. In der Realität sind diese Szenarien jedoch nicht gleich wahrscheinlich bzw. sind unterschiedlich schwer umzusetzen. Während das Messenger Szenario relativ leicht umzusetzen ist und auch in der Realität bereits aufgetreten ist, konnte das Predictable Agent Szenario in der Realität bisher nicht be­ obachtet werden. Fälle wie die des amerikanischen Topkins Falls als Musterbeispiel des Messenger Szenarios dürften auch zukünftig zu beobachten sein. Dabei nutzten Konkurrenten den gleichen Computercode um die Absprache durchzusetzen (Bern­ hardt & Dewenter 2020). Obwohl die Implementierung eines Hub-Spoke Kartells et­ was aufwendiger ist, können Algorithmen das Entstehen ebendieser vereinfachen. In einem dem Hub-Spoke Szenario nahen Fall, bestätigte der EuGH im Eturas-Fall, dass ein mittelbarer Kontakt über einen Drittanbieter (hier: Eturas) ausreicht, um als Teil­ nehmer an einem Kartellvergehen belangt zu werden. Eturas ist ein Online-Reisebu­ chungssystem mit Sitz in Litauen, welches von mehreren Reisebüros genutzt wird. Über den internen Messenger versandt Eturas zunächst eine Mail, mit der Bitte an ei­ ner Befragung über die Reduktion des Onlinerabatts im System teilzunehmen. Kurze Zeit später erhielten alle Reisebüros eine Nachricht über den internen Messenger mit dem Hinweis, dass ab sofort der Rabatt bei Onlinebuchungen automatisch auf höchs­ tens 3 % begrenzt wird. Lediglich mit einem technischen Mehraufwand konnten die

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Reisebüros einen höheren Rabatt als 3 % gewähren. Tatsächlich gewährten die Rei­ sebüros daher nur noch den einheitlichen Preisnachlass von 3 %. Fraglich ist aller­ dings, ob die Reisebüros die über den internen Mitteilungsdienst versandte Mail auch zur Kenntnis genommen haben. Eturas wurde dafür mit einer Geldbuße wegen des Verstoßes gegen das Verbot der abgestimmten Absprachen durch Koordination einer Rabattobergrenze im Sinne des Art. 101 Abs. 1 AEUV belegt.⁸ Zwar zeigt dieser Fall keine Reinform einer Hub-Spoke-Konstellation, jedoch macht dies deutlich, welche Gefahr im Hinblick auf die Kollusionswahrscheinlichkeit von einem zentralisierten System oder Algorithmus durch erleichterten vertikalen Informationsaustausch aus­ gehen kann.

3.2.2 Algorithmische Kollusion Das vierte und von den vorherigen Szenarien fundamental verschiedene Szenario be­ schreibt das, was allgemein unter algorithmischer Kollusion aufgefasst werden kann. Ezrachi und Stucke (2017) beschreiben es auch als das „Autonomous Machine Szena­ rio“. Gemeint ist damit die Vorstellung und Sorge, dass eine Interaktion ausschließlich zwischen Algorithmen autonom stillschweigende Kollusion herbeiführen kann, ohne dass dies explizit programmiert wurde. Algorithmische Kollusion ist daher das Ergeb­ nis selbstlernender Algorithmen, ohne Beteiligung menschlicher Akteure und ohne die Möglichkeit und Notwendigkeit der direkten Kommunikation zwischen Algorith­ men. Manche Studien, wie sie beispielsweise von Crandall et al. (2018) durchgeführt wurde, können zeigen, dass Kooperationen zwischen Algorithmen in einem wieder­ holten stochastischen Spiel möglich sind. Allerdings lassen die Autoren Mechanis­ men zum Signalling zu, sodass Algorithmen gestattet wird, mit Hilfe von Signalen zu kommunizieren, was durchaus als ex ante Eingriff von menschlicher Seite gewertet werden kann. Da Signalling eine Form der expliziten Kommunikation darstellt, was nicht mehr unter einer stillschweigenden Kollusion subsumiert werden kann, werden die Art von Studien, die in Experimenten Signallingmethoden nutzen, in diesem Bei­ trag nicht näher erläutert (Crandall et al. 2018).⁹ Die Frage ob und wann es zu algo­ rithmischer Kollusion kommt und wie wahrscheinlich dieses Ereignis ist, ist unklar. Der nächste Abschnitt soll daher einen Überblick der wissenschaftlichen Literatur bie­ ten, ob das Risiko algorithmischer Kollusion zum jetzigen Zeitpunkt bereits signifikant ist.

8 Rs. C-74/14 (Eturas), ECLI:EU:C:2016:42, Urteil des Europäischen Gerichtshofs, 2016. 9 Obwohl Kollusion durch zwei simultane Algorithmen zustande gekommen ist, kann das Kollusions­ ergebnis auf eine explizite Kommunikation zwischen den Firmen zurückgeführt werden, was implizit der Nutzung eines Algorithmus als Instrument zur Kollusion entspricht.

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4 Algorithmische Kollusion in der Literatur – Ein Überblick In diesem Kapitel wird vor dem Hintergrund der potenziellen Gefahr der Entstehung von algorithmischer Kollusion die vorhandene experimentelle Literatur zur Kollusion von Algorithmen dargestellt und diskutiert. In den letzten Jahren sind dazu einige Ar­ beiten entstanden, die sich mit dem Entstehen algorithmischer Kollusion beschäfti­ gen. Die meisten Studien nutzen dazu experimentelle, computergestützte Umgebun­ gen, um mögliche Kollusion von Algorithmen unter Annahme bestimmter Marktstruk­ turen zu simulieren.

4.1 Ergebnisse der experimentellen Literatur zu algorithmischer Kollusion Einige dieser Studien legen nahe, dass stillschweigende Kollusion zwischen Algorith­ men unter gewissen Annahmen möglich ist. Die meisten Modelle greifen für die Com­ puterexperimente auf Reinforcement Learning Algorithmen zurück, innerhalb derer Simulationen in künstlichen oligopolistischen Umgebungen durchgeführt werden. Eine der ersten Studien, die sich mit dem simultanen Lernen von Q-learning-Algorith­ men beschäftigt hat, war Kayamk & Waltmann (2008). Die Autoren simulieren dazu in einem wiederholten Cournot-Oligopol (Mengenwettbewerb) mit zwei Firmen, die zwischen zwei Produktionsniveaus wählen können das langfristige Kooperationsver­ halten der Q-learning Algorithmen. Im Durchschnitt über die letzten 100 Perioden der insgesamt 100 durchgeführten Simulationsdurchgänge¹⁰ zeigen die Autoren, dass die Wahrscheinlichkeit vom Kollusionszustand zum Nash-Gleichgewicht überzugehen geringer ist als die Wahrscheinlichkeit vom Nash-Gleichgewicht zum Kollusions­ zustand auszuweichen. Daraus schließen die Autoren auf ein kollusives Verhalten der Algorithmen. Diese Beobachtung gilt allerdings nur bei einer Explorationswahr­ scheinlichkeit die gegen Null strebt. Bei einer festen Aufdeckungswahrscheinlichkeit ist die Wahrscheinlichkeit im Nash-Gleichgewicht zu enden größer als den Kollu­ sionszustand zu erreichen. Ein vollständig koordiniertes Gleichgewicht, bei dem der höchstmögliche gemeinsame Profit maximiert wird, wird jedoch im Allgemeinen nicht erreicht (Waltman & Kaymak 2008). In Anlehnung an Kayamk und Waltmann (2008) zeigt Xu (2020), dass in einem wiederholten Cournot-Oligopol die Verwendung eines Reinforcement Learning Algo­ rithmus zum Nash- Gleichgewicht führt. In jedem Simulationsdurchgang mit jeweils 4.000 Perioden nehmen n Firmen teil. Zu Beginn jeder Periode wählen die Firmen

10 Ein Simulationsdurchgang entspricht jeweils eine Million Perioden.

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ihr Produktionsniveau. Am Ende der Periode können die Firmen ihren Gewinn beob­ achten und der Algorithmus passt durch Reinforcement Learning entsprechend seine Entscheidungsparameter an. Der Autor zeigt, dass abhängig von den zur Verfügung stehenden beobachtbaren Informationen langfristig das Nash-Gleichgewicht erreicht wird (Xu 2020). Im Gegensatz zu den bisher betrachteten Cournot-Modellen untersuchen in einer experimentellen Studie Calvano et al. (2018) unter Verwendung eines Bertrand- Mo­ dells (Preiswettbewerb), ob Preisalgorithmen selbstständig Kollusion etablieren kön­ nen. Die Autoren verwenden dazu einen single-agent Q-learning-Algorithmus, der in der Trainings- und Lernphase in einem wiederholten Bertrand-Spiel in einer künst­ lichen Umgebung trainiert wird. Innerhalb der künstlichen Umgebung können die Parameter der Nachfrage, die Anzahl der Wettbewerber, das Preisintervall sowie die Grenzkosten festgelegt und implementiert werden. Im Basis-Szenario simulieren die Autoren einen Bertrand-Wettbewerb mit zwei Firmen und konstanten Grenzkosten. Daraus resultiert, dass der Bertrand-Nash-Gleichgewichtspreis sowie der Monopol­ preis für das jeweilige Setting exakt berechnet werden können. Mit Hilfe dieser In­ formationen können die Autoren dem Algorithmus beibringen den Unterschied zwi­ schen Wettbewerbspreis und Monopolpreis zu erkennen, um daraus zu lernen und eine Strategie zu entwickeln. Die Autoren gehen vom Abschluss des Lernprozesses des Algorithmus aus, wenn sich die optimale Preisstrategie für jede Firma in 100.000 aufeinanderfolgender Perioden nicht ändert. Im Durchschnitt ist eine Konvergenz der optimalen Strategie der Algorithmen nach 850.000 Perioden zu beobachten. In die­ sem Szenario identifizieren die Autoren supra-kompetitive Preise. In der Studie konnte festgestellt werden, dass der Algorithmus gelernt hat, bei Abweichung den Abweichler zu bestrafen und bei Kooperation den Kooperateur zu belohnen (Calvano et al. 2018). Im Sinne von Harrington (2019) kann diese Strategie, die Implementierung eines er­ folgreichen Belohnungs- und Bestrafungssystems, als Kollusion verstanden werden. Calvano et al. (2018) schließen daraus, dass der Algorithmus kollusives Verhalten er­ lernt hat. Klein (2019) kommt in seiner Studie zu ähnlichen Resultaten. Der Studie liegt ebenfalls ein Bertrand-Duopol zugrunde, im Unterschied zu Calvano et al. erfolgt die Preissetzung jedoch nicht simultan, sondern sequentiell. Die Firmen produzieren wie bereits bei Calvano et al. ein homogenes Gut und wählen den Preis aus einer endli­ chen Menge. Die Nachfrage ist linear und die Grenzkosten betragen null. Klein zeigt auf, dass im Duopol mit sequenzieller Preissetzung eine Konvergenz der Preise statt­ findet. Die Annäherung der Preise erfolgt zwar unter dem Niveau des höchstmöglich gemeinsamen Gewinns, jedoch deutlich über dem Niveau des Wettbewerbspreises. Die Konvergenz kann dabei in Form einer Annäherung gegen einen festen Preis auftre­ ten oder sich in Form von Preiszyklen manifestieren. Mit zunehmendem Preisintervall nimmt die Wahrscheinlichkeit eine Konvergenz der Algorithmen hin zu profitablen asymmetrischen Preiszyklen zu beobachten zu. Der Autor zeigt außerdem, dass der Q-learning-Algorithmus eine Strategie zur Bestrafung von Abweichungen von supra-

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kompetitiven Preise entwickelt hat. Die Simulationsergebnisse sind im Allgemeinen robust gegenüber Veränderungen der Lernparameter (Klein 2019).

4.2 Grenzen und Einordnung der Studienergebnisse Die oben beschriebenen Experimente, die den Wettbewerb zwischen zwei oder mehr simultanen Preisalgorithmen simulieren, konnten in künstlichen, stark stilisierten, Umgebungen unter gewissen Annahmen ein gleichgerichtetes kooperatives Verhal­ ten von Algorithmen beobachten. In diesen eher einfachen und wenig realistischen Umgebungen konnte in der Literatur, ungeachtet der Resultate von Xu (2020), kol­ lusives Verhalten der Algorithmen beobachtet werden. Fraglich ist jedoch, inwiefern die Ergebnisse der Simulationsstudien auf die Realität übertragbar sind. Nachfolgend werden daher die Limitationen der Studien dargestellt. Alle der oben genannten Studien verwenden in ihren Simulationen einen soge­ nannten single-agent Algorithmus. Das bedeutet, alle Algorithmen maximieren ihre erwarteten Gewinne jeweils unabhängig voneinander. Zwar haben die Algorithmen gelernt den gemeinsamen Profit zu steigern, dieses Ergebnis ist jedoch Teil eines Lern­ prozesses der auf individueller Profitmaximierung beruht. Im Gegensatz dazu bezie­ hen multi-agent Algorithmen das Verhalten der anderen Agenten mit ein und treffen Entscheidungen auf Grundlage des Verhaltens aller Akteure. Die Nutzung von multiagent Algorithmen wiederum erfordert eine hohe verfügbare Rechenleistung, deren Bedarf mit der Anzahl der Wettbewerber exponentiell ansteigt. Einerseits erscheint daher die Verwendung von single-agent Algorithmen in komplexen und dynamischen Umgebungen zu restriktiv, um daraus Rückschlüsse auf reale Verhaltensweisen abzu­ leiten. Andererseits ist der Einsatz von multi-agent Algorithmen aufgrund der erfor­ derlichen Rechenkapazitäten noch stark limitiert (Ittoo & Petit 2017). Ein weiterer Aspekt der zwar an einigen Stellen in den Studien angesprochen, al­ lerdings en passant stark vernachlässigt wird, ist der Zeithorizont, innerhalb dessen Kollusion realisiert wird. In der Studie von Calvano et al. (2018) tritt ein Lerneffekt und eine Konvergenz der Preise erst nach rund 850.000 Perioden auf. Mit Hilfe von Com­ putersimulationen können die Perioden sehr schnell durchlaufen werden, allerdings ergibt sich unter realistischen Bedingungen ein anderes Bild. Entspräche eine Periode einer Stunde, das heißt würden die Preisalgorithmen jede Stunde die Preise anpassen, dann wäre der Lernprozess erst nach 97 Jahren abgeschlossen. Unter realistischen Be­ dingungen ist ein solch langer Lernprozess offenkundig impraktikabel und realitäts­ fremd (Deng 2019). Klein (2019) zeigt in seiner Simulation, dass die Geschwindigkeit zur Konvergenz mit zunehmendem Preisintervall sinkt. Unter realistischen Bedingun­ gen, in der in der Regel keine vorgegebenen festen Preisintervalle existieren, dürfte eine Konvergenz daher mit noch geringerer Geschwindigkeit zu beobachten sein. Entscheidend für das Zustandekommen und die Stabilität von Kollusion unter realitätsnahen Bedingungen ist außerdem das allgemeine dynamische Marktumfeld.

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Märkte sind im Zeitverlauf immer wieder unterschiedlichsten Veränderungen aus­ gesetzt. Neue Marktteilnehmer können hinzutreten oder Wettbewerber ausscheiden, Firmen können fusionieren oder einen Konkurrenten übernehmen. Dies führt ange­ botsseitig zu starken Veränderungen, was in den künstlichen Umgebungen der Simu­ lationsstudien bisher unberücksichtigt bleibt. Ferner hat auch die reine Anzahl der Wettbewerber einen Einfluss auf die Kollusionswahrscheinlichkeit. Je mehr Wettbe­ werber auf einem Markt agieren, desto schwieriger ist eine Koordination zu kollusivem Verhalten zu erreichen (Schwalbe 2018). In der Literatur konnten Huck et al. (2004) zeigen, dass auf Cournot-Märkten der Wettbewerb mit steigender Anzahl an Firmen sinkt und eine Kollusion unwahrscheinlich wird. Bei einem Duopol ist mitunter ein kollusives Verhalten zu beobachten, ab drei Firmen kann bereits ein kompetitives Marktergebnis festgestellt werden. Auf Märkten mit vier oder mehr Firmen wird Kol­ lusion nicht erreicht (Huck et al. 2004). Produktinnovationen können ebenfalls einen wettbewerbsverändernden Effekt dergestalt haben, dass Innovationen die Nachfrage sowie die Substitutionsmöglichkeiten verändern können. Dadurch wäre die Nach­ frage, anders als in den Studien durch Annahme einer linearen Nachfragefunktion, im Zeitverlauf Veränderungen ausgesetzt (Schwalbe 2018). Die Wahrscheinlichkeit eine algorithmische Kollusion unter realen Bedingungen zu beobachten scheint vor diesem Hintergrund aktuell zumindest fragwürdig. Darüber hinaus ist für eine algorithmische Kollusion nicht nur die Marktstruk­ tur, sondern auch die Markttransparenz von hoher Relevanz. Damit ein lernender Al­ gorithmus ausgereifte und verbesserte Entscheidungen treffen kann, sind bestimmte Inputvariablen erforderlich. Unter vollständig beobachtbaren Informationen konnte Salcedo (2015) in seiner Untersuchung zeigen, dass Kollusion zwischen Algorithmen bei einem Duopol mit Preiswettbewerb möglich ist. Jedoch basiert dieses Ergebnis auf nicht-realistischen Annahmen. Aufgrund der beobachtbaren Größen, die die Firmen wahrnehmen können, sind die Algorithmen in der Lage Rückschlüsse hinsichtlich des Preissetzungsverhaltens der anderen Firma zu ziehen und können sogar den anderen Algorithmus entschlüsseln (Salcedo 2015). Abgesehen davon, dass das Dekodieren an­ derer Algorithmen wohl eher einer mittelbaren Kommunikation gleichkommt, ist al­ lein das Entschlüsseln des Preissetzungsverhaltens unzureichend, um damit kollusi­ ves Verhalten zu etablieren (Schwalbe 2018). Vielmehr bedarf es eines Verständnisses über die jeweilige Geschäftsstrategie, die ohne mittelbaren Austausch zwischen Fir­ men für andere Wettbewerber unzugänglich ist. Sind bestimmte Informationen nicht beobachtbar, ist nur eine unpräzise Entscheidungsgrundlage verfügbar, auf der der Algorithmus seine Preisentscheidungen treffen kann. Zwar sind auf B2C Märkten meis­ tens die verfügbaren Variablen wie Preise beobachtbar, auf B2B Märkten in der Regel nicht (Ittoo & Petit 2017). Hinzu kommt außerdem, dass realer Wettbewerb nicht nur über Preise stattfindet, sondern andere Faktoren wie Service oder Qualität einen Ein­ fluss auf die Kaufentscheidung haben. Kollusion, welche sich nur über eine Anglei­ chung auf der Preisebene auszeichnet, würde dadurch tendenziell den Wettbewerb auf eine andere Ebene verlagern (Schwalbe 2018).

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Dies macht deutlich, dass eine reine algorithmische Kollusion unter realen Be­ dingungen aktuell relativ unwahrscheinlich erscheint. Insbesondere die Anzahl der Wettbewerber, dynamische Marktveränderungen und unzureichend beobachtbare In­ formationen reduzieren die Wahrscheinlichkeit, eine Kollusion über selbstlernende Algorithmen und ohne direkten Austausch mit Wettbewerbern zu etablieren.

5 Wettbewerbspolitischer Handlungsbedarf und Fazit Im Zuge der Verbreitung digitaler Märkte sowie des Onlinehandels ist die Nutzung von Preisalgorithmen ein weit verbreitetes Mittel für Unternehmen, Preise von Wettbewer­ bern zu überwachen und automatisch die eigenen Preise anzupassen. Aufgrund der Vielzahl von Produkten ist für einige Unternehmen die Verwendung von Preisalgorith­ men unabdingbar, um auf Marktveränderung schnell zu reagieren. Allerdings besteht die Sorge, dass der Einsatz von Preisalgorithmen Kollusionen stabilisieren kann oder gar erst möglich macht. Einerseits können mit Hilfe eines Algorithmus bereits getroffe­ ne Absprachen implementiert werden, anderseits besteht die potenzielle Gefahr einer algorithmischen Kollusion, das heißt, eine Kollusion ohne menschliche Interaktion. Dieser Beitrag zeigt vor diesem Hintergrund, inwieweit Algorithmen eine Kollusion unterstützen bzw. befördern können. Außerdem gibt dieser Beitrag einen Überblick über die gegenwärtige Literatur zu algorithmischer Kollusion und diskutiert anhand derer die Ergebnisse. Einige Studien konnten in ihren Simulationen zeigen, dass algorithmische Kollu­ sion ohne Kommunikation möglich ist. Die Experimente konnten zeigen, dass Algo­ rithmen Strategien erlernt haben eine Kollusion herbeizuführen und diese aufrecht­ erhalten können. Allerdings sind diese Resultate vorsichtig zu bewerten, da relativ restriktive Annahmen bezüglich der Marktstruktur sowie des Marktverhaltens getrof­ fen wurden, die ein solches Ergebnis begünstigen. In den meisten Studien werden da­ bei die Faktoren des Marktumfelds wie die Nachfrage, die Innovationsdynamik, die Anzahl der Wettbewerber oder die Grenzkosten konstant gehalten. Jedoch unterlie­ gen Märkte stetig Veränderungen, sodass aus den Ergebnissen der Studien nicht di­ rekt Rückschlüsse auf das tatsächliche Entstehen algorithmischer Kollusion abgeleitet werden können. Außerdem vernachlässigen die Studien den zeitlichen Aspekt unter dem eine Kollusion zustande kommt. Hinsichtlich der Komplexität, der teilweise un­ beobachtbaren Faktoren, sowie der sich dynamisch verändernden Märkte scheint die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer algorithmischen Kollusion zum gegenwärti­ gen Zeitpunkt relativ unwahrscheinlich. Fest steht allerdings, dass der Einsatz von Preisalgorithmen die Märkte verändert und Absprachen begünstigen kann. Für das Wettbewerbsrecht und die Wettbewerbsbehörden ergeben sich daraus offene Fragen, ob und inwieweit das Wettbewerbsrecht angepasst werden muss, um wettbewerbsbe­

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schränkendes Verhalten durch algorithmische Kollusion zu unterbinden. Selbst wenn das nationale und europäische Wettbewerbsrecht dahingehend angepasst wird, algo­ rithmische Kollusion als Verstoß einzustufen, so ist die Verfolgung und Aufdeckung mit erheblichen Schwierigkeiten und einem großen technischen Aufwand verbunden. Da algorithmische Kollusion zum aktuellen Zeitpunkt unwahrscheinlich erscheint, die zukünftigen Entwicklungen im Bereich der algorithmischen Kollusion allerdings nicht absehbar sind, kann der mögliche Reformbedarf des Wettbewerbsrechts nicht ermittelt werden. Darüber hinaus besteht weiterhin ein großer Forschungsbedarf, um das Entstehen algorithmischer Kollusion besser zu verstehen und mögliche Strategien und Mechanismen zur Identifikation und Aufdeckung zu entwickeln. Wenn auch reine algorithmische Kollusion zum aktuellen Zeitpunkt nicht sehr wahrscheinlich ist, so ergeben sich durch die Anwendung von Preisalgorithmen ver­ schiedene Handlungsbedarfe für die Wettbewerbspolitik bzw. das Kartellrecht. Sollten Algorithmen in Zukunft in der Lage sein, miteinander zu kommunizieren und kollu­ sive Gleichgewichte zu erreichen, so könnte die klassische Unterscheidung zwischen koordiniertem Verhalten zwischen Unternehmen im Sinne von Kartellen und Parallel­ verhalten problematisch werden. Explizite Kommunikation zwischen Unternehmen würde es in diesen Fällen nicht mehr geben, aber möglicherweise Kommunikation zwischen Algorithmen. Dies liegt zwar in mehr oder weniger weiter Ferne, aber die Komplexität des Sachverhalts bedingt es, dass zumindest Grundüberlegungen zur Handhabung solcher Fälle bereits jetzt angestellt werden sollten. Die Verwendung von Algorithmen durch Unternehmen bringt mit sich, dass Wett­ bewerbsbehörden künftig häufiger Algorithmen auf ihre kartellrechtliche Konformität prüfen müssen. Dies stellt die Behörden vor große Herausforderungen, denen sowohl auf Seiten des Personals als auch auf technischer Seite begegnet werden sollte. Ein weiterer Aspekt, welcher durch Algorithmen betroffen ist, ist das sogenannte Kartellscreening. In der Literatur sind in den letzten 15 Jahren Ansätze zur Identifi­ kation von kollusivem Verhalten insbesondere mit Hilfe von Preisdaten entwickelt worden (vgl. inter alia Bolotova et al. 2008 sowie von Blanckenburg & Geist 2009, 2011). Oftmals war die Anwendung dieser Methoden durch den Mangel geeigneter Daten erschwert. Durch eine potenziell höhere Änderungsfrequenz von Preisen in di­ gitalen Märkten könnten die vorhandenen Datenmengen für solche Tests in den kom­ menden Jahren zunehmen, was als positiv zu bewerten wäre. Auf der anderen Seite besteht durchaus die Möglichkeit, dass Verfahren wie einfache Strukturbruchtests nicht mehr angewendet werden können, weil Algorithmen bei kollusiven Absprachen so programmiert werden, dass unter Zuhilfenahme vieler kleinerer Preisänderun­ gen Strukturbrüche in den Daten vermieden werden können. In solchen Fällen wird es künftig möglicherweise eine Verschiebung zu anderen Regressionsmodellen mit nicht-konstanten Parametern oder Tests basierend auf Preisverteilungen geben. Es zeigt sich somit, dass auch in Bezug auf die Identifikation von algorithmischer Kol­ lusion, sei es reine algorithmische Kollusion oder Algorithmen mit menschlicher Kommunikation kombiniert, künftig große Herausforderungen nicht nur auf Seiten

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des Kartellrechts, sondern auch für das ökonomische Analyseinstrumentarium geben wird.

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Michael Vogelsang

Datenskaleneffekte und Künstliche Intelligenz – Ein ökonomischer Blick auf die KI-Bibliotheken Tensorflow von Google und Pytorch von Facebook 1

Einleitung | 295

2

Literaturüberblick | 296 2.1 Open Source Software | 296 2.2 Digitale Plattformen und Daten | 297 2.3 Werbung | 299

3

Künstliche Intelligenz, Tensorflow und Pytorch | 300 3.1 Neuronale Netze | 300 3.2 Grundlagen der KI-Bibliotheken | 301 3.3 Entstehung von Tensorflow und Pytorch | 302 3.4 Ökosysteme | 304 3.5 Nutzung und Beliebtheit von Tensorflow und Pytorch | 304 3.6 Open Source Politik | 306

4

Datenskaleneffekte und KI-Bibliotheken | 307 4.1 Gewinnfunktion | 307 4.2 Ausweitung des Datenbestands | 308 4.3 Wahl des Vermarktungsmodells | 309 4.4 Forschungsbedarf | 310

5

Wirtschaftspolitik | 310 5.1 Open Source und Wettbewerbsrecht | 310 5.2 Transfer learning | 311 5.3 KI-Strategien in Deutschland | 311

6

Fazit | 312

Anhang | 315

1 Einleitung Die beiden Internetplattformen Google und Facebook setzen nicht nur Künstliche In­ telligenz (KI) ein, um ihre Dienste anzubieten, sondern stellen mit Tensorflow und Pytorch auch zwei wichtige Bibliotheken für die Entwicklung von KI Open Source zur Verfügung. Dabei handelt es sich um Softwareelemente (engl.: „machine learning frameworks“), die u. a. die Entwicklung und Berechnung von neuronalen Netzen er­ leichtern. Moderne Anwendungen, die eine datenbasierte Mustererkennung beinhal­ ten, basieren häufig auf neuronalen Netzen. https://doi.org/10.1515/9783110724523-013

296 | Michael Vogelsang

Dieser Beitrag gibt einen kurzen Überblick über die KI-Bibliotheken und setzt sich mit den Beweggründen der beiden kommerziell ausgerichteten Plattformen ausein­ ander, diese als Open Source Software anbieten. Dabei steht der durch KI im Kernge­ schäft von Google und Facebook erzeugte Datenskaleneffekt im Vordergrund.

2 Literaturüberblick 2.1 Open Source Software Ein Strang in der Literatur zu Open Source Software setzt sich mit der Motivation von kommerziell ausgerichteten Unternehmen auseinander. Open Source bedeutet im en­ geren Sinne, dass der Quellcode einer Software offen einsehbar ist. Wie genau die Soft­ ware weiterverwendet oder modifiziert werden darf, richtet sich nach dem Lizenztyp¹. August et al. (2013) untersuchen die Vorteilhaftigkeit von Lizenztypen in Abhängigkeit des Verhältnisses von Initiator und Beitragendem zu der Software. Häufig behalten die Entwickler das Copyright und räumen den Nutzern über die Open Source Lizen­ zen entsprechende Nutzungsrechte ein. Dabei können sie ihr Copyright auch nutzen, um für spätere Versionen die Lizenzbedingungen zu ändern. Ein gemeinsames Kennzeichen aller Open Source Lizenzen ist es, dass für die Nut­ zung kein Entgelt verlangt wird. Initiiert wird die Entwicklung von Open Source Soft­ ware entweder von – Einzelnen oder Kleingruppen (Beispiel: Linus Torvalds, Begründer von Linux) – Stiftungen (Beispiel: Mozilla) – gemeinnützige Unternehmen bzw. Public Benefit Corporations (Beispiel: RStudio) – kommerziell ausgerichteten Unternehmen (Beispiele: Google, Facebook). Open Source Projekte bauen auf die gemeinsame Weiterentwicklung und Fehlerbe­ handlung mithilfe der IT-Community. Die Verbreitung von Open Source Software wird immer dann begünstigt, wenn die Nutzer über fortgeschrittene IT-Kompetenz verfügen (Lerner & Tirole 2000: 8). Mit der Motivation von kommerziell ausgerichteten Softwareherstellern, Open Source Software anzubieten, setzen sich u. a. Lerner und Tirole (2001), Baake und Wichmann (2003) sowie Henkel (2008) auseinander. Goldfarb und Tucker (2019) wür­ digen vor allem den Beitrag von John Lerner und Jean Tirole zu diesem Literaturstrang. Die genannten Gründe beziehen sich auf:

1 Eine Übersicht über Software Lizenzen bietet https://opensource.org/licenses/category und https: //www.urheberrecht.de/open-source/#Open-Source-Lizenzen-im-Vergleich (zuletzt abgerufen am 14. Juli 2020).

Datenskaleneffekte und Künstliche Intelligenz





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Unternehmenskennzahlen: Höhere Umsätze bzw. Gewinne auf komplementären Märkten können erreicht werden. In der Umsetzung von Open Source Projekten müssen gewinnorientierte Softwareunternehmen auf das richtige Verhältnis von Offenheit und Kontrolle achten (Garcia-Swartz & Campbell-Kelly 2019). Wissenstransfer und Qualitätssteigerung: Das Unternehmen bleibt auf der Höhe der IT-Entwicklung im Open Source Segment. Dadurch ist es auch leichter mög­ lich, Ideen aus dem Open Source Bereich in proprietärer Software einzusetzen. Personalmarketing: Durch die Beteiligung an Open Source Projekten ist es leich­ ter, talentierte Programmierer als Mitarbeiter anzuwerben. Strategie und Standardsetzung: Ein Standard kann mit Hilfe eines Open Source Projektes leichter durchgesetzt und so einem möglichen Wettbewerber zuvorge­ kommen werden.

Zudem gibt es Sonderfälle, auch wenn die Software zum Kerngeschäft gehört, bei einer Auftragsentwicklung, bei Verwendung spezieller Lizenzen wie BSD oder bei alter Soft­ ware, die nicht länger verwertbar ist (Henkel 2008). Auch der umgekehrte Fall, dass ei­ ne neue Version einer Open Source Software von dem initiierenden Unternehmen nur noch gegen Entgelt angeboten wird, ist möglich. Die Software SugarCRM bildet einen Präzedenzfall für den Wechsel von Open Source zu einer proprietären Software². Aus Sicht von Unternehmen, die Software nicht entwickeln, sondern anwenden, sind nach Kees und Markowski (2019) weitere Kriterien wichtig. Die beiden Autoren entwickeln ein „morphologisches Merkmalsschema“ für Open Source Unternehmens­ software, das im Anhang auf Tensorflow und Pytorch angewendet wird.

2.2 Digitale Plattformen und Daten Facebook und Google gehören zu den Anbietern von digitalen Plattformen, die maß­ geblich durch die Literatur von zweiseitigen Märkten beschrieben werden. Bei zweisei­ tigen Märkten wird der Nutzen von Kunden auf der einen Seite des Marktes dadurch bestimmt, wie erfolgreich die Plattform mit der Akquisition von Kunden auf der an­ deren Seite des Marktes ist (Armstrong 2006). Rochet und Tirole (2006) zeigen, dass auf zweiseitigen Märkten die Preisstruktur das Ausmaß des Netzwerkeffekts zwischen

2 Was das für die Nutzer bedeutet, wird aus einem entsprechenden Blogeintrag von Clint Oram aus dem Jahr 2018 deutlich. Oram hatte das Unternehmen 2004 mitbegründet und ist heute für das Mar­ keting verantwortlich: „In mid 2017, we announced that Sugar 6.5 had reached it’s end-of-life and would no longer be supported. It is now time for the SugarCRM open source project to come to conclu­ sion (. . . ) To be clear, SugarCRM has ended development and maintenance of the Community Edition. SugarCRM no longer issues new bug fixes, security updates and patches for the Community Edition, and will be soon removing all Community Edition downloads from SourceForge.net. We want to thank all of the developers and users [. . . ]“ https://community.sugarcrm.com/community/news/blog/2018/ 04/06/sugar-community-edition-open-source-project-ends (zuletzt abgerufen am 14. Juli 2020).

298 | Michael Vogelsang

den Gruppen bestimmt. Economides und Katsamakis (2006) beleuchten speziell den Wettbewerb zwischen Anbietern von proprietärer und Open Source Software. In einem Literaturstrang wird insbesondere die Rolle von Daten beleuchtet. Dabei steht die Standardannahme einer abnehmenden Grenzproduktivität der Perspektive gegenüber, dass zusätzliche Daten den Informationsgehalt bzw. den Grenznutzen der Anwender steigern, die Grenzproduktivität der Plattformbetreiber erhöhen oder deren Grenzkosten senken. Schaefer und Sapi (2020) belegen einen Daten-Netzwerkeffekt mit Suchmaschinendaten empirisch. Lerner (2014) zieht in seine Argumentation die Werbeerlöse der Plattformen mit ein (s. u.). Prüfer und Schottmüller (2017) stellen ein spieltheoretisches Modell mit zwei Duopolisten vor, in dem ein Daten-Netzwerkeffekt, der von den Autoren als indirekter Netzwerkeffekt durch die maschinelle Auswertung von Nutzerpräferenzen oder anderer Charakteristika beschrieben wird, die Grenzkos­ ten von weiteren Innovationen senkt, wenn die Nutzung des entsprechenden Portals zunimmt. Die beiden Perspektiven auf die Produktivität von Daten bringen Posner und Weyl (2018) in Übereinklang. Sie argumentieren, dass durch das maschinelle Lernen neue Komplexitätsstufen erreicht werden. Innerhalb einer Komplexitätsstufe weisen Daten eine abnehmende Grenzproduktivität auf, aber sobald eine neue Komplexitätsstufe erreicht wird, besitzen die darauf aufbauenden Dienstleistungen einen höheren Wert. Daher könnten Daten zunehmende statt abnehmende Grenzproduktivitäten besitzen. Aus ihrem Modell heraus schlagen Prüfer und Schottmüller (2017) vor, dass die beiden Wettbewerber ihre Daten teilen sollten, um die Entstehung eines Monopols zu verhindern. Das führt zu der Frage, ob Daten eine „essential facility“ im Sinne der Monopoltheorie sind. Tucker zeigt sich dazu skeptisch und argumentiert, dass Daten bei weitem nicht so nützlich und einzigartig („ubiquitous“) wären, wie häufig ange­ nommen würde (Tucker 2019: 694). Die Kommission Wettbewerbsrecht 4.0 themati­ siert dagegen die Rolle von Verbundvorteilen der Datennutzung aus unterschiedli­ chen Quellen, durch die konglomerate Strukturen entstehen könnten (Kommission Wettbewerbsrecht 2019: 18). Haucap et al. setzen sich explizit mit den Auswirkungen der Künstlichen Intelligenz auseinander: In dem Maße, in dem der Einsatz selbstlernender Algorithmen künftig in ganz vielen Feldern wirt­ schaftlicher Tätigkeit zu einem entscheidenden Wettbewerbsfaktor wird und der Zugriff auf große Mengen von Feedbackdaten eine faktisch automatische Innovation und Anpassung an sich ver­ ändernde Präferenzen erlaubt, kann ein exklusiver Zugriff eines Unternehmens auf solche Daten geeignet sein, andere Unternehmen vom Markt zu verdrängen. (Haucap et al. 2018: 136)

Bourreau und de Streel (2019) zeigen auf, wie Digitalkonzerne mittels konglomerater Strukturen und Produkt-Ökosystemen zu Gatekeepern für ihre Nutzer werden können. Cremer et al. (2019) verweisen darauf, dass die Diskussion um den Umgang mit der Macht der neuen Konglomerate gerade erst beginne, aber die EU-Kommission im Zu­ ge von Unternehmenszusammenschlüssen auch schon früher geprüft habe, ob durch

Datenskaleneffekte und Künstliche Intelligenz

|

299

die Zusammenführung von Daten im Rahmen einer Fusion ein kaum einholbarer Wett­ bewerbsvorteil entstehe.

2.3 Werbung Aus Sicht der Plattform ergeben sich die Werbeerlöse aus den verkauften Werbeplät­ zen und den Werbepreisen. Dabei weist Lerner auf die Rolle des Targetings hin, das die zielgruppengenaue Ausspielung von Werbung ermöglicht: Eine wachsende Platt­ form kann den negativen Preiseffekt durch die Ausdehnung der Werbeplätze kompen­ sieren, wenn sich durch ein verbessertes Targeting eine erhöhte Nachfrage der Wer­ bekunden ergibt (Lerner 2014: 42). Werbekunden wiederum messen den Erfolg von Werbekampagnen mit verschiedene Metriken. Einen Überblick bieten beispielsweise Laudon und Traver (2015: 434). Die Kosten für die Werbung ergeben sich bei Facebook und Google u. a. durch Auktionsverfahren mit verschiedenen Preisschemata. Die beiden wichtigsten sind: – CPM – Cost per mille. Dies ist der Preis für Tausend Page Impressions. Dieses Preis­ modell wird gewählt, wenn die generelle Aufmerksamkeit für ein Thema im Fokus stehen soll. – CPC – Cost per click. Dies ist der Preis für einen Klick (z. B. auf ein Textlink) nach den Wünschen des Werbetreibenden. Das Auktionsverfahren³ führt zu einer Preisdifferenzierung nach Begriff, Branche, Ort, Saison usw. Einzelne Statistiken, die zum Beispiel von Marketingagenturen wie Adespresso⁴, Bluecorona⁵, Hochmann Consultants⁶, Kenshoo⁷, WebStrategie⁸ oder Wordstream⁹ geführt und veröffentlicht werden, belegen dies. Das Verhältnis von CPM zu CPC wird im weiteren Verlauf des Beitrags als Effizi­ enzparameter interpretiert. Dieser zeigt an, wie gut es den Plattformen gelingt, Präfe­ renzen der Nutzer vorherzusagen. Mit CPC wird die Targeting-Entscheidung vom Wer­ betreibenden auf die Plattform übertragen (Asdemir et al. 2012: 809). Damit können

3 Eine detaillierte Beschreibung des Auktionsverfahrens findet sich in diesem Blogbeitrag von Dan Shewan: https://www.wordstream.com/blog/ws/2015/05/21/how-much-does-adwords-cost (zuletzt abgerufen am 14. Juli 2020). 4 https://adespresso.com/blog/facebook-ads-cost (zuletzt abgerufen am 14. Juli 2020). 5 https://www.bluecorona.com/blog/pay-per-click-statistics (zuletzt abgerufen am 14. Juli 2020). 6 https://www.hochmanconsultants.com/cost-of-ppc-advertising (zuletzt abgerufen am 14. Juli 2020). 7 https://kenshoo.com/digital-marketing-trends (zuletzt abgerufen am 14. Juli 2020). 8 https://www.webstrategiesinc.com/blog/what-is-a-good-cost-per-click-cpc (zuletzt abgerufen am 14. Juli 2020). 9 https://www.wordstream.com/blog/ws/2015/07/06/average-cost-per-click (zuletzt abgerufen am 14. Juli 2020).

300 | Michael Vogelsang

diejenigen Plattformen bei CPC höhere Gewinne erzielen bzw. niedrigere Preise akzep­ tieren, die bei der Einschätzung der Nutzerpräferenzen die besten Fähigkeiten besit­ zen.

3 Künstliche Intelligenz, Tensorflow und Pytorch 3.1 Neuronale Netze Neuronale Netze gehören zu einem Teilgebiet der Künstlichen Intelligenz, das als Deep Learning bezeichnet wird. Durch Deep Learning wird es einem Rechner ermöglicht, komplexe Konzepte auf einfache Konzepte zurückzuführen und die Zusammenhänge zu lernen (Goodfellow et al. 2016: 5). Im Ergebnis wird die Erkennung von Mustern in Daten möglich, was dann zu entsprechenden Vorhersagen genutzt werden kann. 1950 begann die Arbeit an künstlich intelligenten IT-Systemen. Marvin Minsky und Dean Edmonds bauten 1950 den ersten Computer, der über ein neuronales Netz­ werk verfügte, und Alan Turing veröffentlichte seinen Aufsatz über „Computing Ma­ chinery and Intelligence“ (Russel & Norvig 2012: 17). Die Bedeutung des Begriffs „Künstliche Intelligenz“ unterliegt seitdem einem stetigen Wandel (Nilsson 2010; Vogelsang 2019). Ein Standardbeispiel für die Möglichkeiten von neuronalen Netzen ist das MNISTZahlenbeispiel (siehe Abbildung 1). Der MNIST-Datensatz wurde in den 80er Jahren vom National Institute of Standards and Technology in den USA zusammengestellt. In dem Teildatensatz umfasst er 70.000 Pixelbilder mit 28 × 28 Pixeln. Abb. 1: Trainingsdaten. Datenquelle: MNIST-Datensatz (LeCun 2010).

Die Pixel sind die Input-Daten, die zu 70.000 Vektoren mit jeweils 784 (= 28 × 28) Einträgen für die jeweiligen Helligkeitswerte transformiert werden. Die Outputdaten sind die entsprechenden Kodierungen der tatsächlich gezeigten Ziffern von 0 bis 9. Das neuronale Netz lernt dann die Verbindungen zwischen Input- und Outputdaten, so dass die jeweils nächste handgeschriebene Ziffer aus dem Testdatensatz mit großer Sicherheit richtig prognostizierten werden kann. Bei einem Test durch den Autor ergaben sich Trefferquoten über 98 % mit den aus dem MNIST-Datensatz generierten Testdaten. Allerdings stammt die in Abbildung 2 rechts gezeigte Vier nicht aus dem MNIST-Datensatz, sondern zeigt die in Deutschland

Abb. 2: Testdaten. Quelle: Eigene Darstellung. MNIST-Datensatz.

Datenskaleneffekte und Künstliche Intelligenz

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301

übliche Schreibweise einer Vier. Diese wurde von dem mit den MNIST-Daten trainier­ ten neuronalen Netz als eine Sechs klassifiziert. Dieses Beispiel zeigt, dass jedes KI-System nur so gut ist wie seine Inputdaten. Um komplexere Probleme wie die Handschriftenerkennung für Menschen aus unter­ schiedlichen Ländern bewältigen zu können, sind entsprechend mehr Daten mit wei­ ter differenzierenden Merkmalen notwendig. Der Nutzen eines zusätzlichen Daten­ punkts, der zu der Lösung eines komplexeren Problems beiträgt, ist damit im Sinne von Posner und Weyl (2018) positiv.

3.2 Grundlagen der KI-Bibliotheken Für die einfachere Programmierung und schnellere Berechnung von neuronalen Net­ zen können KI-Bibliotheken eingesetzt werden, die wie eine neue Sprache auf einem höheren Abstraktionsniveau zu verstehen sind. Zu den KI-Bibliotheken gehören ne­ ben Tensorflow und Pytorch auch MxNet, Caffee, CNTK und andere. Übersichten sind auf einschlägigen Internetseiten wie von heise.de¹⁰ oder pathmind.com¹¹ zu finden. Die Vorteile von KI-Bibliotheken („machine learning frameworks“) sind: – Einfachere Erstellung von neuronalen Netzen. Mit Hilfe der KI-Bibliotheken kön­ nen neuronale Netze mit wenigen Programmierzeilen erstellt und trainiert wer­ den. – Schnellere Berechnung. Duarte et al. belegen die deutlich bessere Performance durch die Verwendung von Tensorflow oder Pytorch auch bei der Berechnung von ökonomischen Modellen, die nicht auf neuronalen Netzen basieren (Duarte et al. 2020). – Nutzung von CPUs und GPUs. GPUs sind Grafikkarten, die Graphen (s. u.) sehr schnell ausführen können. – Lastverteilung auf mehrere Rechner. Mit Hilfe der Graphentheorie wird die Berechnung einer Funktion in mehrere, für ei­ nen Computer ausführbare Teilschritte zerlegt. Abbildung 3 zeigt beispielhaft die Be­ rechnung der Dichtefunktion einer Normalverteilung. Dadurch entsteht ein Datenflussmodell, in dem an jedem Knoten die Berechnung ausgeführt werden kann, sobald die Daten eintreffen. Es werden Abhängigkeiten zwi­ schen den Einzelteilen des Modells erkannt, womit die Lastverteilung einfacher wird (Hope et al. 2018: 24). Zudem reduzieren sich die Probleme für die Entwickler, konkret: Das Datenflussmodell „removes the need to have programmers handle concurrency is­

10 https://www.heise.de/select/ix/2019/1/1545999823788057/ix.0119.066-071.qxp_table_3878.html (zuletzt abgerufen am 14. Juli 2020). 11 https://pathmind.com/wiki/comparison-frameworks-dl4j-tensorflow-pytorch (zuletzt abgerufen am 14. Juli 2020).

302 | Michael Vogelsang Pfeile repräsentieren den Datenfluss

Knoten repräsentieren die Operatoren x

hoch

neg

x/y

e

Input

1

sigma hoch

Konstante

x/y

x*y

2 x/y

sigma

2*pi

Wurzel

x*y

f (x) =

1 σ 2π

x2 e 2σ 2

Abb. 3: Datenflussmodell. Quelle: Negro (2020), Fig. 3.32; übersetzt vom Autor.

sues such as semaphores or manually spawning and managing threads“ (Negro 2020: Kap. 3.3.1).

3.3 Entstehung von Tensorflow und Pytorch Google bezeichnet die KI-Bibliothek Tensorflow als eine „end-to-end open source ma­ chine learning platform“¹². Tensorflow wurde im Jahr 2015 veröffentlicht. Im Septem­ ber 2019 folgte die Version Tensorflow 2.0. Google nutzt Tensorflow vielfältig, u. a. bei der Suchfunktion, bei GMail und Translate¹³. Pytorch ist ebenfalls eine Programmbibliothek für KI-Anwendungen, die über die Programmiersprache Python eingebunden wird. Sie wurde im Frühjahr 2017 Open Source gestellt, Pytorch 1.0 wurde im Mai 2018 veröffentlicht. Facebook als Initiator selbst spricht von einem „deep learning framework¹⁴“, das alle neuronalen Netze der

12 https://www.tensorflow.org/ (zuletzt abgerufen am 14. Juli 2020). 13 https://www.tensorflow.org/about/case-studies/ (zuletzt abgerufen am 14. Juli 2020). 14 https://ai.facebook.com/tools/pytorch (zuletzt abgerufen am 14. Juli 2020).

Datenskaleneffekte und Künstliche Intelligenz

| 303

Facebook-eigenen Systeme steuert. Dazu gehörte es schon im Jahr 2018, etwa sechs Milliarden Übersetzungen von Texten pro Tag¹⁵ zu bewerkstelligen. Für die Vorgän­ gersoftware Caffe2 wurde eine Gesamtzahl von 200 Billionen Vorhersagen pro Tag für alle bei Facebook laufenden Modelle genannt¹⁶. In einschlägigen Blogs von IT-Entwicklern wird die größere Flexibilität von Pytorch hervorgehoben. Pytorch basiert im Gegensatz zu ersten Version von Ten­ sorflow auf einem dynamischen Graphen¹⁷. Damit ist es „on-the-fly“ möglich, den Be­ rechnungsgraphen zu ändern und Fehlersuche und Überprüfung (debugging) schon während der Laufzeit vorzunehmen¹⁸. Als Reaktion auf den Wettbewerb mit Pytorch veröffentlichte Google im September 2019 die Version Tensorflow 2.0, die ebenfalls dy­ namische Graphen einsetzt. Weitere Unterschiede aus Sicht von IT-Entwickeln finden sich auf Spezialseiten wie Heise¹⁹, Github²⁰, Pathmind²¹, TheGradient²², Towardsda­ tascience²³ o. ä. Ein früher häufiger genannter Vorteil von Tensorflow gegenüber Pytorch ist die bessere Visualisierungsmöglichkeit, für die die Bibliothek Tensorboard zur Verfügung steht. Auf diese Kritik hat Facebook reagiert, indem Tensorboard nun auch „offiziell“ über Pytorch angesteuert und genutzt werden kann²⁴, was vermutlich durch die ent­ sprechende Open Source Lizenz für Tensorflow erleichtert wurde. Die beiden beschriebenen Beispiele zeigen das ambivalente Verhältnis der bei­ den Konkurrenten: Facebook und Google stehen in einem Wettbewerb auf dem Wer­ bemarkt und um die Führerschaft bei KI-Bibliotheken, sind aber gleichzeitig bereit, für Applikationen, die nicht zu den Kernbereichen zählen, Entwicklungen des Kon­ kurrenten für ihr „Ecosystem“ einzusetzen.

15 https://engineering.fb.com/ai-research/announcing-pytorch-1-0-for-both-research-andproduction (zuletzt abgerufen am 14. Juli 2020). 16 https://engineering.fb.com/ai-research/announcing-pytorch-1-0-for-both-research-andproduction (zuletzt abgerufen am 14. Juli 2020). 17 https://www.exxactcorp.com/PyTorch (zuletzt abgerufen am 14. Juli 2020). 18 https://entwickler.de/online/machine-learning/neuronale-netzwerke-pytorch-579898880.html (zuletzt abgerufen am 14. Juli 2020). 19 https://www.heise.de/select/ix/2019/1/1545999823788057/ix.0119.066-071.qxp_table_3878.html (zuletzt abgerufen am 14. Juli 2020). 20 https://nicodjimenez.github.io/2017/10/08/tensorflow.html (zuletzt abgerufen am 14. Juli 2020). 21 https://pathmind.com/wiki/comparison-frameworks-dl4j-tensorflow-pytorch (zuletzt abgerufen am 14. Juli 2020). 22 https://thegradient.pub/state-of-ml-frameworks-2019-pytorch-dominates-research-tensorflowdominates-industry (zuletzt abgerufen am 14. Juli 2020). 23 https://towardsdatascience.com/pytorch-vs-tensorflow-1-month-summary-35d138590f9 (zuletzt abgerufen am 14. Juli 2020). 24 https://pytorch.org/tutorials/intermediate/tensorboard_tutorial.html (zuletzt abgerufen am 14. Juli 2020).

304 | Michael Vogelsang

3.4 Ökosysteme Beide Entwicklerteams, diejenigen von Tensorflow und Pytorch, werben damit, dass rund um ihre Software umfangreiche „Ecosystems“ entstehen. Diese umfassen: – Das technische „Ökosystem“ mit Datensätzen, vortrainierten Netzen, weiteren Software-Tools usw. So ist es zum Beispiel möglich, für Übersetzungen auf bereits von anderen geleistete Programmierarbeit zurückzugreifen²⁵. – Das Informatiker-„Ökosystem“, die Aktivierung der Open-Source-Community, z. B. unter Nutzung von github. – Das Bildungs-„Ökosystem“, d. h. der Einsatz der KI-Bibliotheken an Hochschulen zur Forschung und zur Ausbildung des IT-Nachwuchses. – Das Umsetzungs-„Ökosystem“. Facebook²⁶ führt als Cloud-Partner Alibaba Cloud, Amazon Web Services, Google Cloud Platform und Microsoft Azure auf. Google²⁷ nennt dagegen vier Software-Entwicklungspartner, von denen Accenture das in Deutschland bekannteste Unternehmen ist. – Die Neutralität in Bezug auf Betriebssysteme und die direkte Einsatzmöglichkeit auf Smartphones²⁸. Bemerkenswert ist, dass trotz des Wettbewerbs zwischen Facebook und Google um Werbekunden beide Konzerne jeweils die andere KI-Bibliothek mit einsetzen (siehe Tabelle 1). Tab. 1: Kooperationen zwischen Facebook und Google in Bezug auf deren KI-Bibliotheken. Eigene Darstellung. Nutzungsrichtung

Beispiel

Kommunikation auf

Nutzung durch Facebook

Tensorboard wird im Pytorch-Framework zur Visualisierung genutzt.

pytorch.org

Nutzung durch Google

Google bietet Cloud-Dienstleistungen mit Pytorch an.

pytorch.org („Cloud-Parnter“) cloud.google.com

3.5 Nutzung und Beliebtheit von Tensorflow und Pytorch Um die Relevanz von Tensorflow und Pytorch einzuschätzen, können mehrere Me­ triken herangezogen werden. Zusammenfassend kommt He zu dem Schluss, dass

25 26 27 28

https://pytorch.org/ecosystem (zuletzt abgerufen am 14. Juli 2020). https://pytorch.org/get-started/cloud-partners (zuletzt abgerufen am 14. Juli 2020). https://www.tensorflow.org/trusted-partners (zuletzt abgerufen am 14. Juli 2020). https://pytorch.org/mobile/home (zuletzt abgerufen am 14. Juli 2020).

Datenskaleneffekte und Künstliche Intelligenz |

305

Pytorch beliebter in der Forschung (nach Einreichungen zu Fachkonferenzen) sei, aber Tensorflow in der Industrie dominieren würde (He 2019). Die folgende, kurze Analyse greift ausgewählte Kennzahlen, zu denen die Idee von Jeff Hale (2018) und Howard He (2019) stammt, auf. Bei der Interpretation der folgenden Tabellen ist zu beachten, dass Tensorflow zwei Jahre vor Pytorch als Open Source für die Allgemeinheit verfügbar wurde, somit Bestandsdaten wie angezeigte Bücher nicht direkt miteinander vergleichbar sind. Aktuelle Stellenausschreibungen können als Proxy für die Beliebtheit der KIBibliotheken in der Industrie interpretiert werden. Zum Stichtag 28. Januar 2020 er­ gaben sich für Ausschreibungen auf einschlägigen Jobportalen in Deutschland die in Tabelle 2 dargestellten Nennungen. Tab. 2: Nennungen in Stellenausschreibungen in Deutschland. Eigene Darstellung.

Indeed Monster Stepstone

Tensorflow

Pytorch

581 157 82

167 15 25

Der Vergleich mit anderen KI-Bibliotheken wie Theano, CNTK usw. zeigt, dass diese eine vergleichsweise geringe Bedeutung haben. So machen zum Beispiel die Nennun­ gen in Stellenausschreibungen nicht mehr als 15 % der Nennungen von Tensorflow und Pytorch aus. Ähnliche Größenordnungen ergeben sich auch bei Publikationen (siehe Tabelle 3, Stand: 03.02.2020). Die Angaben wurden nicht um Doppelzählungen bereinigt. Tab. 3: Nennungen in Publikationen, ohne Bereinigung um Doppelzählungen. Eigene Darstellung.

Digibib (Lizenz Hochschule Ruhr-West, andere Bibliotheken: alle) arXIV Amazon (Rubrik: Computer + Internet) Google Scholar (Suchbegriffe: Tensorflow bzw. Pytorch in Verb. mit Artificial Intelligence)

Tensorflow

Pytorch

2108 447 428 26.200

261 207 63 8.910

Auch die auf Github zur Verfügung stehenden Zahlen bestätigt den Eindruck: Ten­ sorflow verzeichnet derzeit knapp 75.000 repositories, Pytorch knapp 35.000. In einer Umfrage unter, nach eigenen Angaben, 90.000 Softwareentwicklern von stackover­

306 | Michael Vogelsang

flow²⁹ im Jahr 2019 landete Pytorch allerdings knapp vor Tensorflow in der Rubrik „Most Loved other Frameworks, Libraries, and Tools“. Bei den Umfrageergebnissen handelt es sich viel stärker um Momentaufnahmen als bei den anderen verwendeten Maßzahlen.

3.6 Open Source Politik Beide, Tensorflow und Pytorch, stehen Open Source zur Verfügung. Konkret ist dies bei Tensorflow die Lizenz Apache 2.0³⁰, ³¹. Facebook gibt auf Github keinen explizi­ ten Lizenznamen an, was untypisch ist, sondern beschreibt die eingeräumten Rechte kurz³². Beiden Lizenzen ist gemeinsam, dass sie die Weiterverbreitung und Modifikation erlauben. Ebenfalls bei beiden Lizenzen ist vorgeschrieben, dass die Copyright-Infor­ mationen entsprechend beibehalten werden müssen. Die Namen der beteiligten Un­ ternehmen, also vor allem Google und Facebook sowie der verbundenen Unterneh­ men, dürfen nicht ohne deren Erlaubnis für Werbezwecke verwendet werden. Eine Haftung für Probleme, die aus der Nutzung der KI-Bibliotheken resultieren, wird ab­ gelehnt. Auf einer Internetseite von Pytorch wird klargestellt, dass sich Facebook vor­ behält, Pytorch Entwicklungen zu steuern. In den „General Terms“ zu der Website pytorch.org werden auch explizit mögliche Entwicklungsrichtungen genannt³³: Die­ se beinhalten „optional paid services“, eine „monthly or annual subscription fees“, „optional Hosting and Support services“. Pytorch behält sich auch das Recht vor, „to display advertisements on your content unless you have purchased an Ad-free Up­ grade or a Services account“. Damit wird von Facebook schon heute klargestellt, dass Pytorch in Zukunft auch eine eigenständige Erlösquelle sein könnte.

29 https://insights.stackoverflow.com/survey/2019 (zuletzt abgerufen am 14. Juli 2020). 30 https://github.com/tensorflow/tensorflow/blob/master/LICENSE (zuletzt abgerufen am 14. Juli 2020). 31 Bei der Lizenz Apache 2.0 wird Nutzern explizit das Recht eingeräumt, das eigene Werk zu ei­ nem Patent anzumelden. Daher gilt Apache 2.0 auch als eine Lizenz für Open Source Projekte, die von Konzernen eingesetzt werden sollen (https://opensource.guide/de/legal). Sobald allerdings von dem neuen Rechteinhaber eine Patentklage gegen andere Nutzer der Software, die unter Apache 2.0 veröffentlicht wurde, angestrebt wird, verliert dieser die Nutzungsrechte an der ursprünglichen Software. Damit wird eine Balance zwischen den Interessen der Initiatoren und der Kontributo­ ren (den Weiterentwicklern) erreicht (https://opensource.com/article/18/2/how-make-sense-apache2-patent-license). (zuletzt abgerufen am 14. Juli 2020). 32 https://github.com/pytorch/pytorch/blob/master/LICENSE (zuletzt abgerufen am 14. Juli 2020). 33 https://discuss.pytorch.org/tos (zuletzt abgerufen am 14. Juli 2020).

Datenskaleneffekte und Künstliche Intelligenz

| 307

4 Datenskaleneffekte und KI-Bibliotheken 4.1 Gewinnfunktion Das Kapitel beschreibt einen KI-spezifischen Datenskaleneffekt für eine Internetplatt­ form und begründet damit die Rationalität für den Open Source Ansatz. Ausgangs­ punkt ist eine Mustererkennungs- und Klassifikationssoftware, mit der Unternehmen Werbung zielgruppengenau ausspielen können („targeting“, siehe Kapitel 2.3). Die Zielgruppen, Begriffe, Branchen, Zeiträume, Orte o. ä. werden als homogen unter­ stellt. Die Performance der Software wird maßgeblich durch die Verwendung von KI-Bibliotheken erreicht. Das Unternehmen verfügt bereits über einen Datenschatz D. ηD repräsentiert die generierten Page Impressions, wobei η für das Nutzungsverhalten steht. Zudem verfügt das Unternehmen über eine Software S, um den Datenschatz zielgruppen­ spezifisch auszuwerten. Je besser die Software ist, desto mehr Klicks werden aus einem vorhandenen Datenschatz generiert. Es wird angenommen, dass alle generier­ ten Klicks und Page Impressions zu den exogen gegebenen Marktpreisen c cpc und c cpi = c cpm /1000 (siehe Kapitel 2.3) verkauft werden können. Die Qualität der Software S, für die die verwendete KI-Bibliothek ein wesentlicher Baustein ist, hängt von der Zahl der dafür eingesetzten Mitarbeiter (Informatiker) L ab. Der Lohnsatz w für die Mitarbeiter sei konstant. Alle anderen Kostenkomponen­ ten für die Plattform stehen in einem bestimmten Verhältnis zu D, der durch einen Durchschnittskostenparameter k ausgedrückt wird. Mit einem konstanten k läuft die Kostenfunktion linear in D. Neben den Werbeerlösen kann das Plattformunternehmen auch Erlöse durch den Verkauf bzw. Lizenzierung der Software an Dritte erzielen. Die Gewinnfunktion Π lautet ∏ = C(ηDαS(L))c cpc + ηDc cpi + V(αS(L))v − ηDk − Lw

(1)

mit C(.) für die Funktion der Zahl der verkauften Klicks, c cpc für den Verkaufspreis pro Klick, η für die Nutzungsintensität, D für den Datenbestand, c cpi für den Verkaufspreis von Page Impressions, α für den Open Source Effizienzparameter, S(L) für die Quali­ tät der eigenen Softwareentwicklung, L für die Zahl der eingesetzten Informatiker, V für die Menge von verkauften Softwarelizenzen, v für deren Verkaufspreis, k für die Durchschnittskosten für die Pflege des Datenbestands (ohne die Mitarbeiter für die Softwareentwicklung) und w für den Lohnsatz. Es sei vereinfachend angenommen, dass die Preis- und Kostenparameter c cpc , c cpi , v, k und w exogen gegeben sowie L und D unabhängig voneinander seien. Der Effizienzparamater α beträgt 1 für das Mo­ dell einer proprietären Software und α > 1, wenn die KI-Bibliothek Open Source ver­ fügbar ist. Mit dem Effizienzparameter wird abgebildet, dass bei einer Open Source Software eine gemeinsame Weiterentwicklung und Fehlerbehandlung mithilfe der IT-

308 | Michael Vogelsang

Community möglich ist (siehe Kapitel 2.1). Damit bezeichnet α S(L) die Gesamtqualität der Software.

4.2 Ausweitung des Datenbestands Im Folgenden wird die Veränderung des Gewinns untersucht, wenn ein Unternehmen den Datenbestand ausweitet. Dabei liegt der Fokus auf den Komponenten des Grenz­ gewinns. Unter den getroffenen Annahmen ist die sonst übliche Berechnung einer op­ timalen Menge nicht hilfreich, da diese bei der Kapazitätsgrenze liegen würde. Wenn das Unternehmen seinen Datenbestand ausweitet, erhöht sich der Gewinn um ∂∏ ∂C (2) = ηαS(L)c cpc + ηc cpi − ηk > 0 ∂D ∂(ηDαS(L)) Nach Umformung mit η > 0, c cpi > 0 ergibt sich als Bedingung für die Ausweitung des Datengeschäfts aus dieser Sicht der in Abbildung 4 dargestellte Term. Zielgruppenspezifität

ccpc (c cpi−k) ∂C α S(L) + >0 ccpi ccpi ∂(.) Skalenparameter Marktbewertung von Klicks zu PI Qualität der Software Open Source Effizienzparameter Generierung zusätzlicher Klicks bei Zunahme des zielgruppenspezifischen Datenbestands

Abb. 4: Bedingung für Ausweitung des Datenge­ schäfts. Quelle: Eigene Abbildung.

Der Datenbestand wird ausgeweitet, wenn die Summe aus beiden Summanden größer Null ist. Dies kann sogar dann der Fall sein, wenn die Durchschnittserlöse pro Page Impression (PI) unter den Durchschnittskosten liegen (zweiter Summand), dies aber durch eine zielgruppenspezifische Auswertung des Datenbestands in Ver­ bindung mit der Ausspielung von entsprechender Werbung und der Generierung von Klicks wettgemacht wird (erster Summand). Der erste Summand repräsentiert damit den Gewinnanstieg durch datenbasierten Skaleneffekte. Die Formel zeigt die Vorteile von marktführenden Plattformbetreibern gegenüber den kleineren Plattformbetreibern. Diese erzielen – eine höhere Marge als Differenz c cpi −k, sofern für die Markführer ein niedrigeres k unterstellt werden kann, und – verfügen über bessere Softwarelösungen, um die höhere Marktbewertung für Klicks gegenüber Page Impressions in einen höheren Gewinnzuwachs pro zu­ sätzlichem Datenpunkt umzusetzen.

Datenskaleneffekte und Künstliche Intelligenz

| 309

4.3 Wahl des Vermarktungsmodells Mit der einfachen Betrachtung des Grenzgewinns kann auch abgeleitet werden, ob bei gegebenem D eine Expansion zu einem höheren Gewinnanstieg führt, wenn die Software als Open Source oder als proprietäre Variante angeboten wird. Expansion wird hier mit der Neueinstellung eines weiteren Informatikers umschrieben. Bei einer Open Source Software gilt α > 1 und V = 0 und bei der proprietären Variante α = 1 und V > 0, so dass sich zwei Softwareregime ergeben: Proprietär: ∏ = C(ηDS(L))c cpc + ηDc cpi + V(S(L))v − ηDk − Lw

(3)

prop.

Open Source: ∏ = C(ηDαS(L))c cpc + ηDc cpi − ηDk − Lw

(4)

opS

Die Open Source Lösung wird bevorzugt, wenn Π prop < Π opS . Wenn das Unternehmen expandieren und einen weiteren Informatiker einstellen möchte, wird Open Source bevorzugt, wenn ∂ ∏opS ∂L



∂ ∏ prop ∂L

>0

(5)

für alle L und damit (α − 1)

∂C ∂S ∂V ∂S ηDc cpc − v >0 ∂(.) ∂L ∂(.) ∂L

(6)

gilt. Da alle verwendeten partiellen Ableitungen größer Null sind, kann das Open Source Kalkül geschrieben werden als: ηD(α − 1)

∂C ∂(.) ∂V ∂(.)

>

v c cpc

(7)

Die Weiterentwicklung als Open Source Lösung wird dann bevorzugt, wenn der Klick­ zuwachs durch eine verbesserte Software, gewichtet mit dem Datenbestand, der Nut­ zungsintensität und dem Effizienzfaktor, im Verhältnis zum Zuwachs der verkauften Menge das Preisverhältnis von einer Softwarelizenz zu einem Klick überwiegt. Mit anderen Worten: Der hohe Datenbestand von Google und Facebook ist mitver­ antwortlich dafür, dass die KI-Bibliotheken als Open Source von diesen beiden kom­ merziell ausgerichteten Unternehmen angeboten werden. Der Datenskaleneffekt, hier repräsentiert durch den Gewinnanstieg bei einer Ausweitung des Datenbestands, wird durch die Open Source Verfügbarkeit der KI-Bibliotheken verstärkt. Zentral für das Ergebnis aus formaler Sicht ist dabei die Annahme, dass der Open Source Effizienzparameter α größer 1 ist. Dies zeigt sich auch daran, dass das Verhält­ nis der Kreuzableitungen von ∂Π opS und ∂Π prop nach L und D genau dem Effizienz­ parameter α entspricht.

310 | Michael Vogelsang

Der hier beschriebene Datenskaleneffekt ist ein konkretes Beispiel für die Analyse von Lerner und Tirole: When can it be advantageous for a commercial company to release proprietary code under an open source license? The first condition is (. . . ) that the company expects to therby boost its profit on a complementary segment. A second is that the increase in profit in the proprietary comple­ mentary segment offsets any profit that would have been made in the primary segment, had it not been converted to open source. (Lerner & Tirole 2000: 30)

4.4 Forschungsbedarf In dem vorherigen Kapitel wird theoretisch ein datenbasierter Skaleneffekt auf Anbie­ terseite beschrieben, der auf KI-Bibliotheken beruht, die wiederum ein besseres und schnelleres Targeting und Matching von Werbekunden und Plattformnutzern durch neuronale Netze ermöglichen. Weiterer Forschungsbedarf besteht in Bezug auf die technologische Substituierbarkeit der KI-Bibliotheken sowie der Substituierbarkeit zwischen den Internetplattformen sowie zwischen den Werbeformaten Page Impres­ sions und Klicks aus Sicht der Werbetreibenden. Die empirische Überprüfung setzt entsprechendes Datenmaterial u. a. zu den Präferenzen der IT-Entwickler und von Mengen und Preisen aus dem Werbemarkt voraus.

5 Wirtschaftspolitik 5.1 Open Source und Wettbewerbsrecht Üblicherweise wird in der Wettbewerbspolitik eine marktdominante Position einer Open Source Software als weniger problematisch als eine entsprechende Position einer proprietären Software angesehen. Dies führen beispielsweise Cremer et al. (2019: 29) aus. Zu einem anderen Schluss kam die EU-Kommission in dem Wettbewerbsver­ fahren gegen Google wegen des Betriebssystems Android. Auch Android ist Open Source, aber die EU-Kommission argumentierte, dass die Entwickler in der Realität keine Chance hätten, Android unabhängig von Google weiterzuentwickeln: Diese müssten den Smartphone-Herstellern ein „attraktives Set“ von Applikationen (Apps) und Schnittstellen (APIs) liefern. Dazu wären entweder Linzenzverhandlungen mit Google notwendig, um dessen proprietäre Apps und APIs zu nutzen, oder es müsste mit entsprechender Inanspruchnahme von zeitlichen und finanziellen Ressourcen das „Google app and APIs ecosystem“ nachgebaut werden (European Commission 2018: 126).

Datenskaleneffekte und Künstliche Intelligenz

| 311

Im Fall der KI-Bibliotheken könnte ein regulatorisches Dilemma entstehen, wenn es für Facebook und Google genau deswegen rational ist, neue Versionen von Tensor­ flow und Pytorch Open Source zu stellen, weil der Grenzgewinn aus dem Kerngeschäft mit Open Source den Grenzgewinn aus der Vermarktung einer proprietären Software überschreitet.

5.2 Transfer learning In der ökonomischen Literatur wird diskutiert, ob Daten eine „essential facility“ dar­ stellen könnten (siehe Kapitel 2.1), d. h. Wettbewerber verlangen können sollen, unter bestimmten Voraussetzungen Zugang zu den Daten zu erhalten. Allerdings ist es fraglich, ob mit einer Zugangsregulierung für Daten das Ziel eines intensiveren Wettbewerbs auf Plattformmärkten erreicht werden kann: Zum einen ent­ steht unmittelbar ein Konflikt mit dem Datenschutz. Daten verlieren an Wert, wenn sie nicht mehr an ihre Merkmalsträger gebunden sind. Zum anderen sind Daten zunächst nicht mehr als eine Sammlung von einzelnen Einträgen in Datenbanken, bis sie mit einer geeigneten Software ausgewertet werden. Umgekehrt ist es bei KI-Modellen: Sind diese einmal trainiert, können sie auch von anderen Anwendern in ähnlichen Kontexten eingesetzt und mit kleinen Daten­ mengen weitertrainiert werden (Transfer-Learning). Mit einem Zugang zu trainierten neuronalen Netzen, d. h. einer Weitergabe der Struktur und der Gewichte, könnten Wettbewerber auch mit einem kleineren Datenschatz zu ähnlich genauen Vorhersa­ gen wie die marktdominanten Unternehmen kommen. Hennemann fordert, dass ge­ klärt werden müsse, ob „protective rights for AI-based technologies“ eine „essential facility“ begründen könnten (Hennemann 2020: 371).

5.3 KI-Strategien in Deutschland Auffallend an der KI-Strategie der Bundesregierung ist, dass in dieser Open Source Software überhaupt keine Rolle spielt. In der „Strategie Künstliche Intelligenz der Bundesregierung“ (Bundesregierung 2018) wird „Open Source“ nur ein einziges Mal erwähnt, in dem KI-Zwischenbericht der Bundesregierung vom November 2019 (Bun­ desregierung 2019) kein einziges Mal. Bei den Digitalisierungsstrategien der Bundes­ länder spielt Open Source, mit Ausnahme von Baden-Württemberg, ebenfalls keine Rolle. Baden-Württemberg widmet Open Source zumindest einen kurzen Absatz in Bezug auf kleine und mittlere Unternehmen (Landesregierung Baden-Württemberg 2017: 38)

312 | Michael Vogelsang

Den Nutzen von Open Source in dem KI-Kontext hat übrigens der Automobilher­ steller BMW erkannt. Im Dezember 2019 wurde bekannt³⁴, dass Teile der von BMW ent­ wickelten KI-Software, teilweise auch auf Basis von Tensorflow, Open Source³⁵ gestellt wurden. Zumindest könnte dieser strategische Schritt zum Anlass genommen werden, zu überdenken, ob Open Source nicht auch in der KI-Strategie der Bundesregierung ei­ ne größere Bedeutung zukommen sollte. Google und Facebook zeigen exemplarisch, wie Unternehmen erfolgreich Ökosysteme entwickeln können. Eine Risikobewertung aus industrieller Perspektive zu der möglichen Gefahr, mit eigenen KI-Produkten in eine Abhängigkeit von Google oder Facebook zu geraten, falls neue Versionen ihrer Bibliotheken eines Tages nur noch als proprietäre Software angeboten werden, steht ebenfalls aus.

6 Fazit Die beiden zurzeit führenden KI-Bibliotheken, Tensorflow und Pytorch, wurden von Google und Facebook entwickelt. Diese haben ihre KI-Bibliotheken (engl.: „machine learning frameworks“) open source gestellt, da sie sich dadurch eine schnellere Dif­ fusion und eine Verbesserung ihrer bestehenden, komplementären Geschäftsmodelle versprechen. Um den Kern der KI-Bibliotheken herum entstehen Ökosysteme, die den Aus­ tausch unter Entwicklern, weitere technische Lösungen (z. B. Schnittstellen zu Daten­ banken) und Aus- und Weiterbildung umfassen. Dabei gibt es auch Indizien für eine Kooperation zwischen den beiden führenden Plattformen. Der Datenskaleneffekt begründet, warum kommerziell ausgerichtete Unterneh­ men Open Source Software anbieten. Durch diesen wird ökonomisch nachvollziehbar, warum die beiden zurzeit wichtigsten Open Source KI-Bibliotheken ausgerechnet von zwei marktmächtigen Anbietern digitaler Plattformen stammen. Wirtschaftspolitisch wird in den KI-Strategien der aktuellen Bundesregierung und der Bundesländer dem Thema Open Source zu wenig Beachtung geschenkt. Weiterer Forschungsbedarf besteht unter anderem bei der empirischen Messung der Datenskaleneffekte.

34 https://www.cio.de/a/bmw-stellt-algorithmen-auf-open-source-plattform,3624768 (zuletzt abge­ rufen am 14. Juli 2020). 35 Die entsprechende github-Seite lautet: https://github.com/BMW-InnovationLab (zuletzt abgeru­ fen am 14. Juli 2020).

Datenskaleneffekte und Künstliche Intelligenz |

313

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Datenskaleneffekte und Künstliche Intelligenz

| 315

Anhang Auf Basis des morphologischen Merkmalschemas von Kees und Markowski (2019: 61) werden Tensorflow und Pytorch gegenübergestellt. Tensorflow

Pytorch

Reifegrad Versionsnummer

2.1

1.4

Ursprungsjahr

Open source: 2015

Open source: 2017

KI-Bibliothek; Querschnittstechnologie für alle Geschäftsfelder

wie Tensorflow

Zielgruppen Leistungsumfang Branchenausrichtung

alle

wie Tensorflow

Ausrichtung auf Unter­ nehmensgröße

Datenintensive Unternehmen (vom Start-Up bis Konzern)

wie Tensorflow

Ausrichtung auf Län­ der

alle

wie Tensorflow

Alle Varianten, lokal oder cloud-basiert

wie Tensorflow

Server-Betriebssystem

alle, wie Python

wie Tensorflow

Client-Betriebssystem

alle Möglichkeiten, auch App- oder browserbasiert, incl. Android und IOS

wie Tensorflow

Datenbank

wie Python

wie Python

Programmiersprache

C++; Einbindung über Python, JavaScript, Swift (Beta), R (über Keras)

C++; Einbindung über Python

Apache 2.0

eigene Bedingungen, an BSD orientiert ohne diese explizit zu nennen

Technologie Zugriffsart

Open source Spezifika Lizenz

Forking

Ursprungssoftware

wie Tensorflow

Entwicklungsmuster

Einfacher Entwicklungsstrang, d. h. es gibt einen Standard

wie Tensorflow

Support

Umfassend: Online-Hilfe, FAQs, Community, Tutorials, Videos etc.

wie Tensorflow

Initiatoren

Google Commercial open source

Facebook Commercial open source; copyright Inhaber explizit genannt

Kommerzialisierung

Im Kerngeschäft (Werbung, Cloud-Dienste) von Google und bei Partnern (IT-Entwickler)

Im Kerngeschäft (Werbung) von Facebook und bei Partnern, inkl. Cloud-Dienstleistern

Xijie Zhang, Thomas Grebel und Oliver Budzinski

The Prices of Open Access Publishing: The Composition of APC across Different Fields of Sciences 1

Introduction | 317

2

Objectives and Hypotheses | 319

3

Data and Method | 321

4

Results | 324

5

Discussion and Conclusions | 330

1 Introduction In principle, the process of publishing scientific articles is the same across all scien­ tific disciplines. After a quality check – ensured by the traditional peer-review pro­ cess – the journal decides if an article can be published. Since the publishing pro­ cess is a simple routine and authors, reviewers and editors are barely paid for their contributions to the scientific publication process, one may conclude that produc­ tion cost should not differ much between publishers either, and neither should prices for accessing published research work. One reason why prices differ, as publishers may argue, is that journals enjoy different levels of reputation. To publish an article in a reputed journal also yields reputation to respective authors – and reputation, not the least, is what researchers eventually seek for (Bergstrom 2001; Grebel 2011; Smith 2018). Accordingly, the publishers can charge higher so-called article process­ ing charges (APC). Another reason for differences in prices may be rooted in a certain degree of mar­ ket power in the scientific publishing market. Primarily libraries but also remaining subscribers pay more and more for accessing scientific journals. For dominant pub­ lishers, academic publishing has become a profitable business in recent decades (De­ lamothe & Smith 2004). Considerable merger and acquisition activities in the publish­ ing market have aided big publishers to increase their market power and their pricing strategy of bundling famous journals with less famous ones tends to facilitate re-al­ locating rents from buyers to the publishers (McCabe 2002; 2004; Solomon & Björk 2012b). Not even the era of digitization, which has made the open access (OA) movement possible, seems to diminish publishers’ market power, despite its production cost re­ Note: We thank Jens Wolling for valuable comments to an earlier version of this paper. https://doi.org/10.1515/9783110724523-014

318 | Xijie Zhang, Thomas Grebel und Oliver Budzinski

ducing effect in the publication process (Budzinski et al. 2020). The Budapest Open Access Initiative in 2001 (Tennant et al. 2016; Piwowar et al. 2018) started to pursue the idea to make scientific knowledge freely accessible. To set this into practice, the payment procedure needed also a new design. Instead of subscribers paying subscrip­ tion fees, it became the authors, or the libraries to which they are associated with, that pay the APC¹, i.e. the price for OA publishing. However, the implicit hope that this technical change comes with a reduction in publishing cost for them has not yet been satisfied. Publishers started to adjust to this change by adapting their business model. Two strategies emerged: first, the creation of new journals explicitly devoted to open access publishing (the so-called gold-OA journals) and, second, the development of hybrid OA options offering authors to choose between the subscription model and the OA model on the level of every single paper to be published. Thus, by pursuing the lat­ ter strategy, publishers could skim the cream of both the subscription model and the OA model. Parts of the articles in hybrid journals would remain subscription based, whereas articles for which authors opted for the OA model became freely available. The hybrid model is mainly employed by incumbent publishers and hybrid journals manage to charge higher APC than their gold OA counterparts (Morrison et al. 2015; Pinfield et al. 2016; 2017; Budzinski et al. 2020). The variance in APC between journals is large. This holds true also among jour­ nals of big publishers. Many studies have been conducted to disentangle the different drivers of APC (Hagenhoff et al. 2008; Solomon & Björk 2012a; Romeu et al. 2014; Wang et al. 2015; Pinfield et al. 2016; 2017; Schönfelder 2018; Yuen et al. 2019; Budzinski et al. 2020). Reputation is one of the most frequently investigated explanatory variables. Usually proxied by journal impact factor, it takes a positive impact on APC (Schön­ felder 2018; Budzinski et al. 2020). The largest share in APC, as Schönfelder (2018) and Budzinski et al. (2020) show, accrues to the hybrid business model. Especially established big publishers are able to charge significantly higher APC. In contrast to previous studies, which merely controlled for the heterogeneity be­ tween disciplines within their estimation strategy, we focus explicitly on the APC dif­ ferences between disciplines. Despite the same fundamental structure, different scien­ tific disciplines follow quite different publication regimes in detail. Some disciplines experience abundance of funding opportunities while others have difficulty in doing so (Solomon & Björk 2012a; 2012b; Tenopir et al. 2017). Consequently, publishers with market power could try to acquire a greater share in the respective discipline’s dispos­ ability of funds. A further difference lies in the availability of outlets. Some disciplines have a higher number of publication slots available in journals than others (Buchheit et al. 2002). Furthermore, some disciplines value preprints more for the sake of vis­

1 There is a considerable number of journals financially supported by academic institutes like univer­ sities and societies, which very often are free of charge. As our study focus is on the APC, these cases are excluded from the analysis.

The Prices of Open Access Publishing

| 319

ibility, in contrast to disciplines focusing exclusively on peer-reviewed journal arti­ cles (Fry et al. 2016). In addition, more importantly, not all disciplines are dominated by established and/or for-profit publishers/journals in the same way, which eventu­ ally affects APC. Particularly in smaller disciplines non-profit publishers are prevalent (Dewatripont et al. 2007; Gargouri et al. 2012). All these differences, as we hypothe­ size, create specific conditions for incumbent publishers to adjust their rent-seeking behavior accordingly, which will also reflect in the differences in APC across disci­ plines. In order to provide a preliminary picture, we will focus on the four main subject fields provided by Scopus, which is also widely used in the literature, namely Health Sciences, Life Sciences, Physical Sciences, and Social Sciences (for classification de­ tails, see Appendix). We compare the difference in APC levels across these four groups. Then we test the influence of market power on APC levels. The dataset is assembled from three main sources: The Directory of Open Access Journals (DOAJ), the “Ope­ nAPC Initiative”, and the “CiteScore Metrics” of Scopus. In addition, we complete the data with information about publisher profit types and the foundation year of the pub­ lisher. In the next section, we motivate the hypothesis we derive. Section 3 provides de­ tails on the data and methodology. Results are discussed in Section 4, followed by the limitations of our study and a conclusion in Section 5.

2 Objectives and Hypotheses The objective of this study is to test, to what extent established publishers exploit their market power by raising the APC above basic production cost in the four selected dis­ ciplines. Research question: How does market power contribute to APC differences across disci­ pline fields? Many studies report that there is an obvious variance of APC across disciplines. Jour­ nals from Life and Health Sciences appear to be levying the highest APC and Social Sciences seems to be offering the most favorable price for OA publishing (Hagenhoff et al. 2008; Solomon & Björk 2012a; 2012b; Björk & Solomon 2015; Schönfelder 2018). The reasons behind this variance can be manifold, but results from previous studies suggest that market power should play a considerable role in determining APC levels (Schönfelder 2018; Budzinski et al. 2020). Suppose the market of academic publishing is sufficiently competitive and publishers do not possess much market power within an individual subject field, then APC should be around the level of the production cost of publishing. With digitization, the production process of a scientific article should be similar across disciplines, which means that prices (APC) should be around the same level as well, while taking all remaining drivers of APC into account such as dif­

320 | Xijie Zhang, Thomas Grebel und Oliver Budzinski

ferences in reputation. If they nevertheless differentiate their APC levels, publishers have market power and exploit it to maximize their profits. Since Health Sciences and Life Sciences enjoy access to higher resources funding, inter alia, publication prices (like submission fees but also APC), the authors from these fields may display a higher willingness-to-pay, followed by Physical Sciences (Solomon & Björk 2012a). Conversely, authors of Social Sciences have significantly less financial support, which forces them to prefer cheaper publication opportuni­ ties. In other words, they have a lower willingness-to-pay. Generally, publishing in a peer-review OA journal has two benefits: one is the prestige arising from such a jour­ nal; the other is the potentially high visibility thanks to free access (boosting cita­ tions). Both the prestige of the publication outlet and the number of citations of one’s work are important career mechanisms in science. Most of prestigious journals deliv­ ering high reputation are incumbent outlets, having been in the market long before the OA movement started, because reputation-building takes time (Suber 2002; Liu 2005). As a consequence, the more prestigious journals are usually paid-hybrid-OA – and the more expensive ones, as former studies found reputation to be a driving-factor for APC (Solomon & Björk 2012a; 2012b; Wang et al. 2015; Pinfield et al. 2017; Schön­ felder 2018). Thus, publishing OA in journals offering high reputation in general in­ curs considerable costs to the authors. By contrast, publishing with the closed-access option, authors still enjoy the journals’ prestige but without bearing any cost. The disadvantage of publishing with the subscription-only-access option – the danger of low visibility – may be alleviated by freely available preprints (a form of free open access). These are earlier versions of papers published in peer-reviewed jour­ nals, usually without the latest review-based changes and not in the journal-style edition. One of their functions is to bridge the time-consuming process of peer-re­ viewed publication (which can take several years) and create an immediate avail­ ability of newest research – though having not yet passed the (often lengthy) quality control mechanisms of peer-review (so-called working papers or discussion papers). However, preprints may also alleviate the disadvantage of publishing with the sub­ scription-only-access option: if, at the end of the process, a publication in a subscrip­ tion-based accessible prestigious journal co-exists with a freely available preprint, then reputation and visibility can be achieved without the authors having to pay a high (APC) price. Thus, the combination of closed-access publication and free preprint may be an imperfect substitute for OA publishing in the eyes of authors. At the same time, the preprints also represent an alternative for readers wanting access to the papers, which should lower the market power of the journal publishers. In the context of this study, it is important to consider that preprint practices differ across disciplines. Scholars in some disciplines of Social Sciences favor preprints and even cite preprints in their papers. By contrast, in Health and Life Sciences, articles are only published in peer-review journals and remain invisible before (Whitley 2000; Fry et al. 2016). Hence, while the combination of preprints and closed-access journal pub­ lications may represent an acceptable option from the perspective of Social Sciences

The Prices of Open Access Publishing

| 321

authors, the expensive OA option of a prestigious journal may be seen as an important and necessary enhancement of the closed-access option for scholars in Health Sci­ ences and Life Sciences – particularly given the good availability of (external) funding for APC. If established publishers extract supracompetitive rents due to market power, APC should be observed the highest in Health Sciences and Life Sciences and lowest in Social Sciences due to the field-specific situations. Market power should have the strongest impact on APC in Health Sciences and Life Sciences, whereas it should be lowest in Social Sciences. Hypothesis: Market power has a higher impact on APC in Health Sciences and Life Sci­ ences than in Physical Sciences and Social Sciences.

3 Data and Method To test our hypothesis, we conduct multivariate regressions, taking the following vari­ ables into account: market power (as our prime interest), journal reputation, citations, number of articles per journal, profit types (non-profit/for-profit), and publisher age. We construct market power from two variables, namely hybrid and big publisher. As pointed out, a hybrid journal is a journal that offers a gold-OA publishing option, while keeping the traditional subscription model as a default. As reported, hybrid journals, which usually belong to incumbent publishers, charge higher APC in their OA option than gold journals (Morrison et al. 2015; Pinfield et al. 2016; 2017). Due to indirect network effects, when looking at the publishing market as a two-sided market (Jeon & Rochet 2010; Armstrong 2015; McCabe & Snyder 2007; 2018), authors respond more elastically to the price for OA publishing than readers for accessing an article (stronger indirect network effect from authors to readers than vice versa). Thus, the publisher as a platform would actually like to charge readers and cross-subsidize authors. Con­ sequently, the ability to extract rents from the market is more limited in the OA model. Additionally, with open access, for-profit publishers cannot enjoy excess rents by subscription bundles anymore. Publishers enjoying market power experience incen­ tives to keep as many authors and readers in the old system as possible. Introducing a hybrid version allows to offer authors a choice to stick to the old, closed-access model or pay for getting OA. The incentive for the publishers is then to set APC on a high level in order to (i) push authors back into the closed-access model and (ii) reap revenues from those authors (or their financial backers) displaying a high willingness-to-pay in order to compensate for the loss of supracompetitive rents. Thus, established publish­ ers may keep their revenue stream up, at the same time, hampering the attractiveness of OA publishing. By contrast, publishers of gold-OA journals need to earn all their revenues through OA and cannot afford to restrict their offers to authors with a high willingness-to-pay (as long as they cannot price-discriminate between authors accord­ ing to their individual willingness-to-pay). Therefore, we consider hybrid journals as

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publishers’ attempt to sustain their market power (Budzinski et al. 2020). This should also be the case for the top five publishers above all. Across all disciplines, they own more than 45 per cent of the total number of articles according to the data of “CiteScore Metrics” by Scopus.² Market concentration in a field is also a relevant factor in driving APC. However, it also is a fixed effect in the respective disciplines, for which we em­ ploy dummies. Including the fields as dummy variables, we can explain more variance in APC than with market concentration. This is also one of the findings in Budzinski et al. (2020). To proxy reputation, as one of the further drivers of APC, we use the Source-Nor­ malized Impact per Paper (SNIP) from Scopus. In order to see the field-specific ef­ fects of market power, interaction terms of each field with hybrid and each field of big publishers are added, e.g. Health Sciences × hybrid, Health Sciences × big publishers. Journal reputation (SNIP), citation, number of articles, and publisher age are cardinal variables. Hybrid (hybrid or gold), big publishers (big or not), profit type (for-profit or non-profit) are dichotomous variables. Fields are four dummy variables (Health Sci­ ences, Life Sciences, Physical Sciences, and Social Sciences). In the following, we briefly describe the three datasets we use from DOAJ, “Ope­ nAPC Initiative” and Scopus.

i. DOAJ From DOAJ, we extract the information of the OA type gold, the publishers and the APC of gold-OA journals. DOAJ is an online gold-OA journal directory³. It is a cross-sectional journal-level dataset with 13,436 entries. Hence, all data entries are considered as the most updated information. Any journal found in DOAJ is counted as a gold-OA journal. Entries with no APC or zero APC are excluded. After excluding the data, there are 3,547 titles left. As DOAJ is a global repository, APC are registered with different currencies. We employ the Purchasing Power Parity (PPP) from the Organization for Economic Co-operation and Development (OECD) to convert APC into USD.

ii. “OpenAPC Initiative” From the “OpenAPC Initiative”, we obtain the information about the kind of OA jour­ nal (hybrid vs. gold) and the value of APC. The “OpenAPC Initiative” is an open source project collecting APC information offered by participating universities and research

2 This is the count of big publishers according to the “CiteScore Metrics” Scopus database from 2011 to 2018. 3 See: https://doaj.org/.

The Prices of Open Access Publishing

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institutions⁴. It is located at Bielefeld University Library, supported by the German Research Foundation and the Federal Ministry of Education and Research. By 2019, it contains information of 81,293 articles from 2005 to 2019 contributed by 241 univer­ sities and institutes. Unfortunately, the “OpenAPC Initiative” does not provide a bal­ anced panel, although the database contains repeated cross sections. In order to pro­ duce a journal-level cross-sectional data of 2018, the mean APC is calculated. We con­ vert APC from originally EUR into USD using PPP from OECD.

iii. “CiteScore Metrics” by Scopus We keep the information of SNIP, number or articles, citations and subject fields from “CiteScore Metrics” by Scopus. The data is downloaded from Scopus’ website⁵. It is a panel data of 52,531 journals from 2011 to 2018. Since we have to turn the longitu­ dinal data into a cross section in the year of 2018, we take the mean of SNIP, and the number of articles and citations are summed up. If there is any unmatching infor­ mation of publishers, we select the latest and the most frequent information. Finally, 25,006 observations remain.

iv. Profit type and publisher age The information of publisher profit types and the years of establishment are collected manually from publishers’ websites. Publisher age is calculated by deducting the es­ tablishment year with 2018. Finally, we merge the data of DOAJ, “OpenAPC Initiative” and Scopus’ “CiteScore Metrics” by ISSN, the information of publisher profit types and the foundation year of publishers by the publisher information. After merging the different data sources, the final database includes 2,887 titles. In order to perform our analysis, we firstly run four separate regressions for each of the four fields to see how the variables of market power perform in each field. Sec­ ondly, we run the combined model by including the four fields as dummy variables. Thirdly, to see the marginal effects of market power in different subject fields, we add another model where we interact the variables of market power with the four subject fields, respectively.

4 See: https://www.intact-project.org/openapc/. 5 See: https://www.scopus.com/sources.

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4 Results Table 1 shows the descriptive statistics. Since we collected the information about age and profit orientation of publishers from their websites, we had to exclude publish­ ers without a searchable website from our study. The average APC of our dataset is 2,163 USD. The minimum is 12 USD, while the most expensive outlet reaches 7,502 USD, showing a big variance in the APC among journals. The mean SNIP is 1, the differ­ ence between the highest score and the lowest is 8.75. The gap between highest ranked journal and lowest is almost 9 scores. On average, every article in the dataset is cited once, but there are also journals included whose articles are never cited (0) and oth­ ers whose articles are cited on average almost 9 times. The publishers range from 6 years old to 500 years old with an average of 135 years old, which demonstrates that most of the publishers in our data are not that young. Citations and number of arti­ cles are the sum of the years 2001 to 2018. Both of them contain huge variance, too. In our dataset, 60 per cent of the titles are hybrid journals and 83 per cent are for-profit journals. Commercial publishers and big publishers seem to take up the majority of the journals. The means of APC, SNIP, publisher age, citations and number of articles in each discipline are presented in Table 2. Life Sciences charges the highest APC, followed by Health Sciences and Physical Sciences, while Social Sciences comes in last place, which is consistent with the study of Solomon and Björk (2012a), who report that Life Sciences and Health Sciences enjoy lavish grants and funding resources. Physical Sci­ ences demonstrates the highest SNIP, which does not comply with the description in previous studies, which, for example, claim that Health Science performs best in SJR (Miguel et al. 2011; Ennas & Di Guardo 2015) and JCR (Giglia 2010; Gumpenberger et al. 2013). Physical Sciences have the most citations and the highest number of articles in 8 years, which goes in the same direction as SNIP. The average age of publishers is more or less the same across fields with the exception of Social Sciences having publishers about 20 years older than the others. Tab. 1: Descriptive statistics.

APC SNIP Hybrid Age For-profit Citations No. of articles

Obs.

Mean

Std. Dev.

Min.

Max.

2,887 2,837 2,887 2,565 2,571 2,887 2,887

2,162.97 1.09 0.60 134.54 0.83 8,675.4 2,678.8

1,314.41 0.72 0.49 89.78 0.38 25,324.8 5,538.2

12 0 0 6 0 0 1

7,501.93 8.75 1 500 1 469,880 124,290

The Prices of Open Access Publishing

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Tab. 2: ANOVA of APC, SNIP, age, citations and number of articles by subject fields.

N APC SNIP Age Citations No. of articles

Social Sciences

Life Sciences

Physical Sciences

Health Sciences

F-Stat.

475 1,958.7 1.03 155.4 1,425.5 867.1

754 2,359.5 1.06 136.2 10,741.2 2,871.2

851 2,005.6 1.2 128.0 13,058.2 3,853.2

799 2,276.8 1.03 126.6 6,396.9 2,333.5

15.76 *** 14.13 *** 10.45 *** 25.89 *** 31.95 ***

p < 0.001 p < 0.01 * p < 0.05 Note: the numbers in the table represent mean APC, SNIP, age, citations and number of articles within each subject field. *** **

With 81 per cent, Social Sciences has the largest share of hybrid journals, followed by Physical Sciences with a share of 60 per cent (see Figure 1a), Life Sciences and Health Sciences with a bit less but still above 50 per cent. By contrast, shown in Fig­ ure 1b, Health Sciences has the highest share of for-profit journals, which is 91 per cent. The lowest with a share of 72 per cent is Physical Sciences. The shares of hybrid journals and for-profit journals seem to be quite close in Social Sciences (81 per cent and 87 per cent, respectively) and Physical Sciences (60 per cent and 72 per cent, re­ spectively). Both the share of hybrid journals and the share of for-profit journals across four discipline fields are examined with a Chi2 -Test and both have p-values lower than 0.1 per cent, which means both shares are significantly different across the four fields. In order to see if the journals employing the hybrid model and the ones belonging to for-profit publishers overlap, we make a cross-table of discipline fields by OA models among for-profit journals (shown in Table 3). The majority of for-profit journals are using a hybrid OA model in all four fields. As it is indicated in Figure 1, the biggest overlap is in Social Sciences, which accounts for 88 per cent. The significant result of the Chi2 -Test means, the shares of for-profit journals applying the hybrid model are significantly different across the four fields. Figure 2 displays the compositions of the top five publishers in each subject field. On the left-hand side, we depict the shares of journals belonging to the top five pub­ lishers within each field (calculated within the observations of each field), on the righthand side, the shares belonging to each top five publisher and each field respectively (the numbers of the bar labels are calculated based on the total observations of big publishers). Hence, we have 20 subgroups (5 publishers × 4 fields). All the shares are examined with a Chi2 -Test (p < 0.001) and it shows the shares of journals owned by top five publishers are significantly different across four fields, as well as the shares of journals belonging to each big publisher differ significantly across four fields. On the left-hand side, Social Sciences has the highest share of journals belonging to the big

326 | Xijie Zhang, Thomas Grebel und Oliver Budzinski n=851

n=475

n=754

n=799

100% 81%***

Share of journals

80%

60%***

60%

56%***

52%***

40%

He al th

Sc ie nc es

Sc ie nc es Li fe

Ph ys ic al Sc ie nc es

So ci al

Sc ie nc es

20%

(a) n=851

n=754

n=475

n=799 91%***

100%

87%***

84%***

Share of journals

80%

72%***

60% 40%

Ph ys ic al Sc ie nc es

Sc ie nc es Li fe

Sc ie nc es So ci al

He al th

Sc ie nc es

20%

(b) Hybrid

Gold

Note: ***p