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German Pages 271 Year 2004
Schriften zum Steuerrecht Herausgegeben von Prof. Dr. Joachim Lang und Prof. Dr. Jens Peter Meincke
Band 79
Zum Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf das Steuerbilanzrecht Zugleich ein Beitrag zur Verweisungslehre
Von Christian Bärenz
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
CHRISTIAN BÄRENZ
Zum Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf das Steuerbilanzrecht
Schriften zum Steuer recht Herausgegeben von Prof. Dr. Joachim Lang und Prof. Dr. Jens Peter Meincke
Band 79
Zum Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf das Steuerbilanzrecht Zugleich ein Beitrag zur Verweisungslehre
Von Dr. Christian Bärenz
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin hat diese Arbeit im Jahre 2002 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
D 188 Alle Rechte vorbehalten # 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten (Allgäu) Printed in Germany ISSN 0582-0235 ISBN 3-428-11108-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Meinen Eltern Dieter und Christiane Bärenz
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde dem Juristischen Fachbereich der Freien Universität Berlin im März 2002 als Dissertation eingereicht. Sie wurde bis Januar 2003 aktualisiert und konnte insbesondere noch das Urteil des EuGH vom 7. Januar 2003 in der Rechtssache BIAO berücksichtigen. Es ist guter Brauch, an dieser Stelle denjenigen Personen Dank zu sagen, ohne deren Hilfe diese Arbeit nicht entstanden wäre: An erster Stelle möchte ich mich herzlich bei meinem Doktorvater, Prof. Dr. Markus Heintzen, bedanken. Er hat nicht nur mein Interesse für die in dieser Arbeit untersuchte Schnittstelle zwischen Gemeinschaftsrecht und Steuerbilanzrecht geweckt. Vielmehr hat er das Entstehen der Arbeit durch seine ausgezeichnete Betreuung in einer Weise gefördert, die jedem Promotionsstudenten gewünscht werden kann. Herrn Prof. Dr. Helmut Lecheler habe ich für die zügige Übernahme des Zweitgutachtens zu danken. Für seine zahlreichen Anmerkungen und Ratschläge danke ich herzlich meinem Freund Ulrich Forsthoff; ein ebenso herzliches „Vergelt‘s Gott“ geht aus dem gleichen Grunde an meine Freunde aus München, Florian Möslein und Dr. Nico Zachert. Meine Großmutter Luzie Sikora hat diese Arbeit großzügig finanziell unterstützt, wofür ich ihr ebenso herzlich danke wie meiner Frau Nuria Morales Cantos, die mir den in der Endphase der Dissertation sowie bei der Doppelbelastung zwischen beruflichem Einstieg und Korrektur der Druckversion entstehenden Stress (fast) immer nehmen konnte. Gewidmet ist diese Arbeit meinen Eltern. Sie haben nicht nur die Arbeit selbst maßgeblich gefördert, sondern mich auf dem gesamten Weg bis zu diesem Ende meiner Ausbildung entscheidend unterstützt. Berlin, 15. Oktober 2003
Christian Bärenz
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1 Einleitung und Gang der Untersuchung
17
Kapitel 2 Vorabentscheidungskompetenz des EuGH im Rahmen des Art. 234 EG
21
A. Funktion, Wesen und Bedeutung des Vorabentscheidungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . .
21
B. Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
24
I. 1. Fallgruppe: Kein Zusammenhang der Vorlagefrage mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreites . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
II. 2. Fallgruppe: Keine Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen . . .
27
1. Konstruierter Rechtsstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27
2. Erledigter Ausgangsrechtsstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30
III. 3. Fallgruppe: Mangelnde Aufklärung über Sachverhalt und rechtlichen Hintergrund der Vorlagefrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
32
IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
35
C. Gegenstand des Vorabentscheidungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
35
D. Vorabentscheidungskompetenz des EuGH bei Gemeinschaftsrecht, welches von den Mitgliedstaaten in außergemeinschaftlichem Rahmen angewendet wird . . . . . . . . . . . . .
36
I. Die Rechtssache Thomasdünger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
36
II. Die Rechtssachen Dzodzi und Gmurzynska-Bscher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
38
1. Die Argumentation des EuGH in der Rechtssache Dzodzi . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
38
2. Die Entscheidungserheblichkeit der Vorlage im Verfahren GmurzynskaBscher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
40
10
Inhaltsverzeichnis III. Kritik der Dzodzi-Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41
1. Kritik der tragenden Gründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42
a) Wortlaut und subjektiv-historische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42
b) Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43
c) Sinn und Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43
d) Der Vorwurf der Kompetenzüberschreitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
44
2. Konsequenzen der Dzodzi-Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
46
a) Probleme bei der Auslegung der gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift im Falle der nationalen Verweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47
(1) Die Auslegung im Rahmen des Art. 234 EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47
(2) Die besondere Problematik in den Fällen der nationalen Verweisung
49
b) Die Rechtskraft der Entscheidung des Gerichtshofes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Wirkung von Auslegungsurteilen im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Die Wirkung inter partes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Die Wirkung inter omnes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Die Wirkung von Auslegungsurteilen im Fall der nationalen Verweisung auf Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
54 55 55 56 58
(2) Die Wirkung von Gültigkeitsprüfungen im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Die Rechtskraft von Entscheidungen bezüglich von Gültigkeitsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Relevanz für die Fälle der nationalen Verweisung . . . . . . . . . . . . . . . (i) Möglichkeit der Gültigkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ii) Gemeinschaftsrechtliche Auswirkung der Gültigkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63
c) „Anwendungsbereich“ differiert in den Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . .
63
d) Frage der Überlastung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
64
e) Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65
60 60 61 61
(1) Versuch einer Begründung der Vorlagepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65
(2) Gegenargumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
66
(3) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69
IV. Die Rechtssachen Fournier, Federconsorzi und Kleinwort Benson . . . . . . . . . . . . . .
70
1. Fournier und Federconsorzi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
70
2. Kleinwort Benson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
72
V. Der Alternativvorschlag des Generalanwalts Jacobs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
75
VI. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
76
Inhaltsverzeichnis
11
Kapitel 3 Auswirkungen der Dzodzi-Rechtsprechung auf die deutsche Rechtsordnung
78
A. Das Verhältnis von klassischen Verweisungen und Verweisungen im Sinne der Dzodzi-Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
78
I. Die klassische Verweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
79
II. Die Verweisung im Sinne der Dzodzi-Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
80
III. Verweisung bei der Umsetzung von Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
80
IV. Die überschießende Umsetzung von Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
83
V. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
84
B. Fallgruppen von Verweisungen im Sinne der Dzodzi-Rechtsprechung in der deutschen Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
84
I. Unmittelbare Verweisung auf Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
84
1. Die Verweisung in § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
84
2. Die Verweisung in § 21 Abs. 2 UStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
87
II. Die überschießende Umsetzung von Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
88
1. Keine Verbindlichkeit der Vierten Richtlinie für die Gewinnermittlung . . . . .
88
2. Verbindlichkeit der Vierten Richtlinie auch für Personenhandelsgesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
92
III. Die Verweisung auf nationales Recht, welches Gemeinschaftsrecht umsetzt, als mittelbare Verweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
92
IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
94
C. Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Verweisungen im Sinne der Dzodzi-Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
94
I. Feststellung der Ungültigkeit der Gemeinschaftsrechtsnorm durch den Gerichtshof – Die Auswirkungen auf die nationale Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . .
95
1. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Verweisung auf eine nichtige Norm unter formalen Aspekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
96
12
Inhaltsverzeichnis 2. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Verweisung auf eine nichtige Norm unter materiell-rechtlichen Aspekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
96
a) Nationales und gemeinschaftsrechtliches Grundrecht vom Schutzbereich her deckungsgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
b) Nationales Grundrecht umfassender als gemeinschaftsrechtliches Grundrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
98
c) Gemeinschaftsrechtliches Grundrecht umfassender als nationales Grundrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 d) Der Sonderfall der überschießenden Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 e) Die Rechtslage bei der Nichtigkeitserklärung gemäß Art. 230 EG . . . . . . . 103 II. Die unmittelbare Verweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 III. Die überschießende Umsetzung und die mittelbare Verweisung . . . . . . . . . . . . . . . . 105 D. Nationale Übernahme- und Vorlagepflichten des BFH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 I. Dogmatische Konstruktion der nationalen Übernahmepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 II. Dogmatische Konstruktion der nationalen Vorlagepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 III. Unterschied zwischen der nationalen und der gemeinschaftsrechtlichen Vorlagepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 IV. Unmittelbare Verweisung auf Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 1. Die Verweisung in § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 2. Die Verweisung in § 21 Abs. 2 UStG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 V. Die überschießende Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 1. Der erste Abschnitt des Dritten Buches im HGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 a) Möglichkeit einer gespaltenen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 (1) Das Argument der Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 (2) Kein sachlicher Grund für eine gespaltene Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . 121 b) Relevanz des Verbots der gespaltenen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 2. Grundsätzliche Konnexität bei der überschießenden Umsetzung . . . . . . . . . . . . 124 3. Inhalt und Reichweite der nationalen Vorlagepflicht im Handelsbilanzrecht . 124 VI. Die mittelbare Verweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 VII. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
Inhaltsverzeichnis
13
E. Auswirkungen der Dzodzi-Rechtsprechung auf die deutsche Finanzgerichtsbarkeit . . 127 I. Vorlagerecht trotz Bindungswirkung entgegenstehender Rechtsprechung des Revisionsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 1. Der Fall der direkten Geltung von Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 a) Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 b) Die deutsche (Finanzgerichts-)Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 2. Geltung der Rheinmühlen-Rechtsprechung in den Fällen der Dzodzi-Verweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 3. Sanktion im Fall der Vorlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 a) Gemeinschaftsrechtliche Zulässigkeit einer mitgliedsstaatlichen Sanktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 b) Beurteilung nach der FGO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 (1) Beschwerde gemäß § 128 FGO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 (2) Revision gemäß § 115 FGO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 II. Mögliche Sanktionen bei unterschiedlicher Rechtsprechung des EuGH und des BFH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 1. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Anwendbarkeit von Art. 101 I S. 2 GG bei Nichtvorlage letztinstanzlicher Gerichte . . . . . . . . . . . . . 138 2. Anwendbarkeit dieser Rechtsprechung auf Dzodzi-Verweisungen . . . . . . . . . . . 142 a) Entzug des gesetzlichen Richters bei Nichtvorlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 b) Entzug des gesetzlichen Richters durch Vorlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 3. Nationale Vorlagepflicht und der Entzug des gesetzlichen Richters . . . . . . . . . . 143 4. Nationale Übernahmepflicht und der Entzug des gesetzlichen Richters . . . . . . 144
Kapitel 4 Der Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf Grund des Maßgeblichkeitsgrundsatzes
147
A. Der Maßgeblichkeitsgrundsatz als mittelbare Dzodzi-Verweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 I. Der Maßgeblichkeitsgrundsatz im deutschen Steuerbilanzrecht . . . . . . . . . . . . . . . . 148 1. Die formelle Maßgeblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 2. Die materielle Maßgeblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
14
Inhaltsverzeichnis II. Inhalt des Verweisungsobjektes „handelsrechtliche Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 1. Der Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf das Verweisungsobjekt . . . . . . . . . . . 154 2. Steuerrechtliche oder handelsrechtliche Auslegung des Verweisungsobjektes
155
III. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 B. Inhalt und Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 I. Die historische Entwicklung des Maßgeblichkeitsgrundsatzes in der steuerrechtlichen Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 1. Die Entwicklung des Maßgeblichkeitsgrundsatzes in der Gesetzgebung bis zum Steuerreformgesetz 1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 2. Auswirkungen aktueller gesetzgeberischer Änderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 a) Die steuerliche Unzulässigkeit von Drohverlustrückstellungen seit 1997 . 161 b) Das Steuerentlastungsgesetz 1999 / 2000 / 2002 und das Gesetz zur Bereinigung von steuerlichen Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 (1) Änderungen im Bereich der Rückstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 (2) Weitere Änderungen im Bereich der Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 II. Die wichtigsten Argumente für und gegen eine Verknüpfung der steuerrechtlichen mit der handelsrechtlichen Rechnungslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 1. Die unterschiedliche Zielsetzung steuerrechtlicher und handelsrechtlicher Rechnungslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 a) Ziel der handelsrechtlichen Gewinnermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 b) Ziel der steuerrechtlichen Gewinnermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 c) Die Idee des „Fiskus als Teilhaber“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 (1) Kritik der Vergleichbarkeit von Fiskus und Gesellschafter . . . . . . . . . . . 172 (2) Kritik der Wahl der Vergleichsobjekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 d) Zur Vereinbarkeit von Imparität und Leistungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 2. Die Rechtsnatur von Handels- und Steuerbilanzrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 3. Der Gedanke der Einheit der Rechtsordnung / Verhältnis Steuerrecht zu Zivilrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 4. Praktikabilitäts- und Vereinfachungsgedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 5. Schutz vor dem Fiskus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 6. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182
Inhaltsverzeichnis
15
III. Die Auffassung des BFH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 1. Die Entscheidung des Großen Senats vom 3. Februar 1969 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 2. Die Entscheidung des Großen Senats vom 7. August 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 IV. Die zweckbezogen eingeschränkte Maßgeblichkeit auf Grund der Interpretation des Verweisungsgehaltes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 V. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 VI. Übernahme- und Vorlagepflichten auf Grund der materiellen Maßgeblichkeit . . 194 1. Beschluss vom 9. September 1998 / 17. November 1999 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 2. Urteile vom 9. Dezember 1993 / 25. Oktober 1994 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 3. Beschluss des BFH vom 15. März 1999 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 4. Urteil vom 28. März 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 5. Beschluss vom 7. August 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 6. Vorlagebeschluss des FG Köln vom 16. Juli 1997, Verfahren DE+ES . . . . . . . 206 7. Vorlagebeschluss des FG Hamburg vom 22. April 1999 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 a) Die Fragen nach der Vorabentscheidungs-Zuständigkeit des EuGH . . . . . . 208 b) Die Fragen nach der Bilanzierung von Kreditrisiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 c) Die Fragen zur Wertaufhellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 d) Das Urteil des EuGH vom 7. Januar 2003, BIAO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 8. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 VII. Zwischenergebnis zu Kapitel 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
Kapitel 5 Der Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf Grund materieller Begriffsidentität
216
A. Der Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf die Auslegung des Begriffes der Herstellungskosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 I. Der gemeinschaftsrechtliche Einfluss auf den Herstellungskostenbegriff des § 255 Abs. 2 HGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
16
Inhaltsverzeichnis II. Die Rechtsprechung des BFH zur Relevanz des Gemeinschaftsrechts auf Grund des einheitlichen Herstellungskostenbegriffes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 1. Das Urteil vom 21. Oktober 1993 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 2. Das Urteil vom 9. Mai 1995 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 3. Das Urteil vom 19. Mai 1995 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 III. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
B. Der Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf die Auslegung des Teilwertbegriffes . . . . . . 230 I. Die Berücksichtigung des Gewinnaufschlages bei der Teilwertberechnung durch den BFH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 II. Die BFH-Rechtsprechung zur Bewertung so genannter Verlustprodukte . . . . . . . . 233 III. Zwischenergebnis zu B. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 C. Gemeinschaftsrechtlicher Einfluss auf das Steuerbilanzrecht ohne Maßgeblichkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 D. Zwischenergebnis zu Kapitel 5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238
Kapitel 6 Fazit
239
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
Kapitel 1
Einleitung und Gang der Untersuchung Die Verknüpfung steuerrechtlicher mit handelsrechtlicher Rechnungslegung hat in Deutschland Tradition. Sie erfolgt durch den so genannten Maßgeblichkeitsgrundsatz, auch Maßgeblichkeitsprinzip genannt. Der Wortlaut der einschlägigen steuerrechtlichen Bestimmung in ihrer aktuellen Fassung1 besagt: „Bei Gewerbetreibenden, die auf Grund gesetzlicher Vorschriften verpflichtet sind, Bücher zu führen und regelmäßig Abschlüsse zu machen, oder die ohne eine solche Verpflichtung Bücher führen und regelmäßig Abschlüsse machen, ist für den Schluss des Wirtschaftsjahres das Betriebsvermögen anzusetzen (§ 4 Abs. 1 Satz 1), das nach den handelsrechtlichen Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung auszuweisen ist. Steuerrechtliche Wahlrechte bei der Gewinnermittlung sind in Übereinstimmung mit der handelsrechtlichen Jahresbilanz auszuüben.“
Die Frage nach Inhalt und Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes dürfte eine der umstrittensten Fragen im Steuerbilanzrecht2 sein3, ein „unerschöpfliches Thema, an dem sich die Geister scheiden“4. Die hier vertretenen Positionen reichen von einer absoluten Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz ohne Anerkennung ungeschriebener Ausnahmen5 bis hin zu einer prinzipiellen Unvereinbarkeit der Steuerbilanz mit der Handelsbilanz6. Kern der Auseinandersetzung ist letztlich die Frage, ob und in welcher Form die Verknüpfung steuerlicher mit handelsrechtlicher Gewinnermittlung sinnvoll, gerecht und verfassungsmäßig ist. Der Streit hierüber beschäftigte ganze Generationen von Juristen. Im Vergleich hierzu relativ neu ist die Frage, welchen Einfluss das Gemeinschaftsrecht und hiermit verbunden welche Kompetenzen der EuGH im Rahmen § 5 Abs. 1 EStG 1990. Genauso könnte der Begriff Bilanzsteuerrecht verwendet werden. In dieser Arbeit wird der Begriff des Steuerbilanzrechts deshalb bevorzugt, weil er besser dem Begriff des Handelsbilanzrechts gegenüber gestellt werden kann. 3 Vgl. A. Moxter, Missverständnisse um das Maßgeblichkeitsprinzip, DStZ 2000, 157, wonach die Diskussion hierum von der Parteien Gunst und Hass verwirrt wird. 4 Vgl. G. Döllerer, Die Verknüpfung handels- und steuerrechtlicher Rechnungslegung, ZHR 157 (1993), 349. 5 Vgl. G. Crezelius, Maßgeblichkeitsgrundsatz in Liquidation?, DB 1994, 689, 691. 6 Vgl. H. Weber-Grellet, Rechtsprechung des BFH zum Bilanzsteuerrecht im Jahre 2000, BB 2001, 35. 1 2
2 Bärenz
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Kap. 1: Einleitung und Gang der Untersuchung
des deutschen Einkommensteuerrechts hat7. Schon die Fragestellung mag auf den ersten Blick verwundern, schließlich unterliegt das Einkommensteuerrecht noch der alleinigen Kompetenz der nationalen Gesetzgeber. Ermöglicht wird eine derartige Fragestellung durch folgenden Gedankengang: Durch den im deutschen Steuerrecht geltenden Maßgeblichkeitsgrundsatz wird auf das mittlerweile gemeinschaftsrechtlich geregelte Handelsbilanzrecht verwiesen. Auslegungsfragen zu diesem gemeinschaftsrechtlichem Einfluss unterliegenden Handelsbilanzrecht sind daher (in noch zu untersuchendem Umfange) relevant für Problemstellungen im Steuerbilanzrecht. Darüber hinaus hält sich der EuGH im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nach seiner so genannten Dzodzi-Rechtsprechung8 auch dann für die Auslegung von Gemeinschaftsrecht, z. B. der 4. Bilanzierungsrichtlinie, zuständig, wenn der konkrete Rechtsstreit nicht im Anwendungsbereich dieser Richtlinie, sondern beispielsweise im nationalen Einkommensteuerrecht stattfindet. Mit anderen Worten, eine Vorlage eines deutschen Finanzgerichts zu Fragen der 4. Bilanzierungsrichtlinie in einer einkommensteuerrechtlichen Rechtsstreitigkeit ist nach Ansicht des EuGH zulässig. Legt dann der Gerichtshof gemäß Art. 234 EG die 4. Bilanzierungsrichtlinie aus, so sind die Auswirkungen dieser Auslegung auf den innerstaatlichen Rechtsstreit unklar. Es stellt sich nämlich unter anderem die Frage, ob der nationale Richter die Auslegung auch für das nationale Steuerrecht übernehmen darf oder hierzu sogar verpflichtet ist. Die Frage gewinnt zusätzlich an Brisanz durch die Tatsache, dass mit der Auslegungskompetenz des Gerichtshofes für das Gemeinschaftsrecht im Rahmen des Art. 234 EG nicht nur Vorlagerechte, sondern gemäß Art. 234 Abs. 3 EG auch Vorlagepflichten nationaler Gerichte korrespondieren. Möglicherweise ist der BFH daher in den Fragen des deutschen Einkommensteuergesetzes gemäß Art. 234 Abs. 3 EG vorlageverpflichtet. Diese Frage wird, wenn auch erst in jüngerer Zeit, mit vergleichbarer Vehemenz9 diskutiert wie die nach Inhalt und Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes. Schließlich könnte eine Vorlageverpflichtung zu einer nicht unerheblichen Kompetenzverlagerung in bilanzrechtlichen Fragen vom BFH auf den EuGH führen10. Zum Teil wird sogar befürchtet, 7 Erstmals H. Beisse, Die steuerrechtliche Bedeutung der neuen deutschen Bilanzgesetzgebung, StVj 1989, 295, 306. 8 Vgl. Kapitel 2. D. 9 Vgl. F. Wassermeyer, Die Verpflichtung der obersten Bundesgerichte zur Vorlage von Bilanzierungsfragen an den EuGH, FS für Marcus Lutter, S. 1633, 1648, der die Diskussion als eine Art Glaubenskrieg bezeichnet. 10 Vgl. T. Herrmanns, Ist der EuGH für Fragen des deutschen Bilanzsteuerrechts zuständig?, GmbHR 1999, 1123, 1131; H. Kessler, Das Vorabentscheidungsersuchen des FG Hamburg vom 22. April 1999 in Sachen Bilanzierung von Kreditrisiken: Paradebeispiel für einen misslungenen Vorlagebeschluss, IStR 2000, 531, 533. W. Meilicke, Zur Vorlagepflicht des BFH in Bilanzierungsfragen, BB 1999, 890, 893 spricht von einer Machtfrage; H. Olgemöller, Aktuelles EU-Steuerrecht, S. 107, 137 sogar von Machtkampf.
Kap. 1: Einleitung und Gang der Untersuchung
19
die Arbeit des BFH werde sich im Verfassen von Vorlagebeschlüssen an den EuGH erschöpfen11. Geprägt ist diese Diskussion hauptsächlich von steuerrechtlichen Argumenten. Eine Auseinandersetzung mit der einschlägigen EuGH-Rechtsprechung und deren Analyse sowohl unter gemeinschaftsrechtlichen Aspekten als auch auf ihre nationalen Auswirkungen fehlt noch. Auch die aktuelleren, zum Maßgeblichkeitsgrundsatz erschienenen Dissertationen untersuchen diese Frage entweder gar nicht12 oder nur am Rande13. Im zweiten Kapitel der Arbeit wird zunächst der oben angedeuteten Frage nachgegangen, ob der EuGH auch dann zur Auslegung von Gemeinschaftsrecht zuständig ist, wenn der zugrunde liegende Rechtsstreit außerhalb des Anwendungsbereiches des Gemeinschaftsrechts liegt. Diese Frage hat am Gerichtshof zu einer – in diesem Umfang – seltenen Kontroverse zwischen EuGH und einigen Generalanwälten geführt. Der Schwerpunkt dieses Kapitels wird in der systematischen Einordnung, Analyse und Kritik der einschlägigen Dzodzi-Rechtsprechung unter gemeinschaftsrechtlichen Aspekten liegen. Im dritten Kapitel werden die Auswirkungen dieser Rechtsprechung auf die deutsche Rechtsordnung untersucht. Zunächst wird geprüft, wie relevant die DzodziRechtsprechung insbesondere auf dem Gebiet der Rechnungslegung und des Steuerrechts ist. Anders formuliert interessiert die Frage, ob der deutsche Gesetzgeber in diesen Gebieten auf Gemeinschaftsrecht verweist und wenn ja, in welcher Form und mit welchen Konsequenzen. Neben materiellrechtlichen Fragen werden auch die Folgen dieser Verweisungen für das deutsche Prozessrecht untersucht. So wird verschiedentlich angedeutet, dass unabhängig von den gemeinschaftsrechtlichen auch nationale Vorlagepflichten an den EuGH bestehen könnten14; diese Fragestellung soll hier vertieft werden. Schließlich bedarf das Verhältnis zwischen den Finanzgerichten und dem BFH in Hinblick auf die Entscheidungskompetenz bezüglich der Beurteilung von Inhalt und Reichweite nationaler Verweisungen der Erörterung. Interessant ist hierbei, ob und inwieweit die Finanzgerichte durch eine Vorlage So H. Kessler, Anmerkung, StuB 1999, 91. C. Alsheimer, Die Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen für die steuerrechtliche Gewinnermittlung in der Bundesrepublik Deutschland und im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland – eine Gegenüberstellung; F. Pfahl, Die Maßgeblichkeit der Handelsbilanz, ein dem Steuerrecht vorgegebenes Grundprinzip?; K. Pohl, Die Entwicklung des ertragsteuerlichen Maßgeblichkeitsprinzips; G. Rombach, Das Maßgeblichkeitsprinzip im System einkommensteuerrechtlicher Gewinnermittlung; N. Schiele, Unternehmensbesteuerung und Handelsbilanz; L. Schmidt, Maßgeblichkeitsprinzip und Einheitsbilanz; T. Stobbe, Die Verknüpfung handels- und steuerrechtlicher Rechnungslegung; S. Vogt, Die Maßgeblichkeit des Handelsbilanzrechts für die Steuerbilanz. 13 Vgl. F. Broer, Maßgeblichkeitsprinzip und Harmonisierung der Rechnungslegung; K. Fresl, Die Europäisierung des deutschen Bilanzrechts; F. Königbauer, Das Maßgeblichkeitsprinzip im Spannungsfeld zwischen Handelsrecht und Steuerrecht. 14 Vgl. G. Betlem, Annotation to Case 28 / 95 Leur-Bloem, CMLR 1999, 165, 176; F. Broer, Maßgeblichkeitsprinzip, S. 292. 11 12
2*
20
Kap. 1: Einleitung und Gang der Untersuchung
an den Gerichtshof gemäß Art. 234 Abs. 2 EG eine Kompetenzverlagerung auf den EuGH für das deutsche Steuerbilanzrecht erreichen können. Während in den Kapiteln 2 und 3 allgemein nationale Verweisungen im Bereich der Rechnungslegung und des Steuerrechts auf Gemeinschaftsrecht hinsichtlich ihrer Konsequenzen bezüglich der Auslegungszuständigkeiten, Bindungswirkungen und Vorlagepflichten analysiert werden, verengt sich die Untersuchung im vierten Kapitel auf den Maßgeblichkeitsgrundsatz. Nach dessen systematischer Einordnung wird zunächst sein Verweisungscharakter und -gehalt geprüft. Dabei geht es ausschließlich darum, diese Frage de lege lata zu klären. Modelle, die möglicherweise de lege ferenda vorzugswürdiger sind, werden nicht untersucht. In Hinblick auf die Praxisnähe der Arbeit wird die Analyse der Rechtsprechung den Schwerpunkt bilden. Nach Darstellung des Verweisungsgehaltes sollen die in den beiden vorangegangenen Kapiteln gewonnenen Erkenntnisse genutzt werden, um die Frage des Einflusses des Gemeinschaftsrechts auf das Steuerbilanzrecht und die Problematik der Vorlage- und Übernahmepflichten deutscher Finanzgerichte als mögliche Konsequenz dieses Einflusses genauer zu beurteilen. In Kapitel 5 wird untersucht, ob ein gemeinschaftsrechtlicher Einfluss auf das Steuerbilanzrecht auch unabhängig vom Maßgeblichkeitsgrundsatz denkbar ist. Anlass für diese Überlegung ist nicht nur die ständige Forderung nach der Abschaffung des Maßgeblichkeitsgrundsatzes. Vielmehr wird verschiedentlich eine Kompetenz des EuGH auch im Rahmen der steuerrechtlichen Bewertung behauptet. Hier ist die Geltung des Maßgeblichkeitsgrundsatzes aber sehr umstritten. Die theoretische Grundsatzfrage, ob und warum der Maßgeblichkeitsgrundsatz auch im Rahmen der Bewertung gilt, soll nicht beantwortet werden. Vielmehr wird unter Zugrundelegung der einschlägigen BFH-Rechtsprechung zum Herstellungskostenbegriff, welche die Identität des steuerrechtlichen mit dem handelsrechtlichen Herstellungskostenbegriff vertritt15, geprüft, ob diese Rechtsprechung die Übernahme von Auslegungen handelsrechtlicher – und damit möglicherweise unter dem Einfluss des Gemeinschaftsrechts stehender – Vorschriften auch für die steuerrechtliche Bewertung gebietet. Sollte diese Frage zu bejahen sein, wäre ein gemeinschaftsrechtlicher Einfluss in steuerlichen Bewertungsfragen unabhängig von der Beantwortung der Frage nach der Geltung des Maßgeblichkeitsgrundsatzes vorhanden. Diese Überlegungen könnten dann auch für den Fall gelten, dass der Maßgeblichkeitsgrundsatz abgeschafft wird.
15
Vgl. BFH, Beschluss v. 4. Juli 1990, BFHE 160, 466, 473.
Kapitel 2
Vorabentscheidungskompetenz des EuGH im Rahmen des Art. 234 EG A. Funktion, Wesen und Bedeutung des Vorabentscheidungsverfahrens Das europäische Gemeinschaftsrecht ist in seiner Entwicklung seit den 50er Jahren ein Recht eigener Art zwischen dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten und dem Völkerrecht geworden. Der EuGH hat von Anfang an die Autonomie der Gemeinschaftsrechtsordnung unterstrichen16. Diese Autonomie folgt aus der Tatsache, dass das Gemeinschaftsrecht eigene Rechtsquellen hat und sich mit zunehmender Konkretisierung seiner tragenden Begriffe und Prinzipien von seiner historischen Verankerung in den Rechtskonzepten der Mitgliedstaaten löst17. Aus dieser Autonomie folgen zwei Besonderheiten des Gemeinschaftsrechts gegenüber herkömmlichem Völkerrecht: Das Prinzip der unmittelbaren Geltung und das Prinzip des Anwendungsvorranges18. Dieses unmittelbar geltende, den nationalen Vorschriften vorgehende Recht wird aber zum größten Teil von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten vollzogen. Gegen die in diesem Rahmen erfolgenden Vollzugsakte ist regelmäßig der Rechtsweg nach nationalem Recht eröffnet. Im Rahmen ihrer nationalen Rechtsschutzverpflichtung sind die nationalen Gerichte verpflichtet, das Gemeinschaftsrecht in eigener Verantwortung auszulegen und anzuwenden. Der nationale Richter wird so zum „europäischen Richter“.19 Die Gefahr einer unterschiedlichen Auslegung und damit einer unterschiedlichen Anwendung liegt in Hinblick auf die unterschiedlichen Rechtssysteme der Mitgliedstaaten auf der Hand. Hätten die Verträge dies nicht beachtet, so hätte die Möglichkeit einer divergierenden Entwicklung des Gemeinschaftsrechts bestanden. Schließlich haben Präzedenzfälle aus dem Völkerrecht gezeigt, dass die Einheitlichkeit der Rechtsprechung ein Grunderfordernis eines jeden integrierten Rechtssystems ist. Als Beispiel für die ohne gemeinsame Oberinstanz schnell ver16 17
EuGH, van Gend & Loos, C-26 / 62, Slg. 1963, 1, 24. M. Dauses, Der EuGH. Garant der Einheit des Gemeinschaftsrechts, DRiZ 1984, 349,
351. 18 19
Vgl. Geiger, EUV / EGV, Art. 10 EGV Rdn. 18 und 32. Lenz-Borchardt, EG-Vertrag, Art. 234 Rdn. 1.
22
Kap. 2: Vorabentscheidungskompetenz des EuGH gemäß Art. 234 EG
laufende Differenzierung bei der Auslegung von Verträgen seien nur die Abkommen über das Einheitliche Wechselgesetz20 und das Einheitliche Scheckgesetz21 genannt. Da ihre Auslegung allein den Gerichten der Mitgliedstaaten oblag, entwickelten sich schnell ebenso viele Abkommen wie vertragschließende Parteien.22 Dies zeigt den wichtigsten Zweck, den das Vorabentscheidungsverfahren gem. Art. 234 EG erfüllen soll: die Gewährleistung einer einheitlichen Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechtes. Der EuGH hat dies im Fall Rheinmühlen wie folgt formuliert23: „Art. 177 ist von entscheidender Bedeutung dafür, dass das vom Vertrag geschaffene Recht wirklich gemeinsames Recht bleibt; er soll gewährleisten, dass dieses Recht in allen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft immer die gleiche Wirkung hat. Auf diese Weise soll er unterschiedliche Auslegungen des Gemeinschaftsrechtes verhindern, das die nationalen Gerichte anzuwenden haben; doch zielt er auch darauf ab, diese Anwendung selbst zu gewährleisten, da er dem nationalen Richter die Möglichkeit gibt, die Schwierigkeiten auszuräumen, die sich aus der Notwendigkeit ergeben können, dem Gemeinschaftsrecht im Rahmen der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zur vollen Geltung zu verhelfen.“
Die Funktion des Vorabentscheidungsverfahrens erschöpft sich aber nicht nur in der Wahrung der EG-einheitlichen Rechtsanwendung. In starkem Maße besitzt das Verfahren auch Bedeutung für den Rechtsschutz der Bürger24. Die Klagebefugnis natürlicher und juristischer Personen gegen normative Akte der Gemeinschaft unterliegt gem. Art. 230 IV EG starken Einschränkungen. Die Rechtsschutzmöglichkeit für diesen Personenkreis eröffnet sich dadurch, dass sie die mitgliedstaatlichen Vollzugsmaßnahmen regelmäßig vor den innerstaatlichen Gerichten anfechten können. In diesen Verfahren kann dann durch eine Vorlage an den EuGH geklärt werden, ob die gemeinschaftsrechtliche Rechtsgrundlage, auf welcher der Vollzugsakt beruht, gültig ist. Diese Struktur des Vorabentscheidungsverfahrens wird im Übrigen auch von Privatpersonen, die letztlich weniger an der Einzelentscheidung als an der Überprüfung der nationalen Rechtslage (oder Verwaltungspraxis) interessiert sind, genutzt25. Des Weiteren kann der Gerichtshof im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens seiner Funktion gerecht werden, das Gemeinschaftsrecht fortzuentwickeln26. Viele der Entscheidungen, die sichtbar zur Entwicklung des Gemeinschaftsrechts
RGBl. 1933 II, S. 377. RGBl. 1933 II, S. 537. 22 M. Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 45. 23 EuGH, Rheinmühlen, C-166 / 73, Slg. 1974, 33. 24 Schlussantrag des Generalanwalts Roemer, Rotterdam, C-73 und 74 / 63, Slg. 1964, 47; U. Everling, Vorabentscheidungsverfahren, S. 18; Commentaire TCE-Roseren, Art. 234 Rdn. 3. 25 Vgl. D. Chalmers, EU Law I, S. 472; Craig / de Burca, The Evolution of EU Law, S. 236. Als Beispiel mit deutscher Beteiligung sei das Verfahren PreussenElektra, C-379 / 98, EuZW 2001, 242, genannt. 20 21
A. Funktion, Wesen und Bedeutung des Vorabentscheidungsverfahrens
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beigetragen haben, sind in Vorabentscheidungsverfahren ergangen: Die unmittelbare Wirkung des Gemeinschaftsrechts, sein Vorrang vor dem nationalen Recht, der Schutz der Grundrechte und vieles mehr wurden in diesem Verfahren entwickelt27. In der Literatur aus der Anfangszeit der Gemeinschaft wird noch ein weiterer Zweck erwähnt: die Wahrung der rechtlichen Selbstständigkeit der Gemeinschaften, die gefährdet sein könnte, wenn die Rechtmäßigkeit des Handelns der Gemeinschaftsorgane uneingeschränkt der Nachprüfung durch den nationalen Richter unterläge28. In Anbetracht dessen, dass die rechtliche Selbstständigkeit der Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nicht mehr ernsthaft angezweifelt wird, dürfte sich dieser Zweck „durch Erfüllung“ erledigt haben. Das Vorabentscheidungsverfahren ist die mit Abstand häufigste Verfahrensart vor dem EuGH. Am 31. Dezember 2000 waren von insgesamt 803 Verfahren 374 Vorlagen gemäß Art. 234 EG29. In Anbetracht der Tatsache, dass die durchschnittliche Dauer eines Vorabentscheidungsverfahrens mittlerweile 21,6 Monate beträgt30, sind Befürchtungen, dieses Verfahren könnte Opfer seines eigenen Erfolges werden31, nicht von der Hand zu weisen. Entgegen seiner Bezeichnung handelt es sich bei dem Vorabentscheidungsverfahren nicht um ein Gerichtsverfahren, in welchem zunächst der EuGH „vorab“ und sodann das nationale Gericht entscheidet32. Seinem Wesen nach ist es vielmehr ein Zwischenverfahren, welches einen Teilausschnitt des vor dem nationalen Gericht anhängigen Gesamtverfahrens bildet33. Das Verfahren beginnt und endet vor dem nationalen Gericht, nachdem es in einer Zwischenstation vor den EuGH gelangt ist, der vom nationalen Richter um die Beantwortung einer für die Entscheidung des konkreten Rechtsstreites relevanten gemeinschaftsrechtlichen Frage ersucht worden ist. Allein Letztere stellt den Gegenstand der Vorabentscheidung dar, über den der EuGH zeitlich und materiell getrennt vom Endurteil entscheidet. Über den dem Gesamtverfahren zugrunde liegenden materiellen Anspruch hingegen entscheidet allein das nationale Gericht. Dies erhellt, dass das Vorabent-
26 Vgl. G. Rodríguez Iglesias, Der Europäische Gerichtshof und die Gerichte der Mitgliedstaaten, S. 23. 27 Vgl. P. Pescatore, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 177 EWG-Vertrag und die Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten, BayVBl. 1987, 33, 36. 28 Vgl. C. Tomuschat, Vorabentscheidung, S. 7. 29 Vgl. Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, Jahresbericht 2000, Übersicht 14. 30 Vgl. Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, Jahresbericht 2000, Übersicht 8. 31 Vgl. H. Rasmussen, Remedying the crumbling EC judicial System, CMLR 2000, 1071, 1076; Streinz / Leible, Die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaft – Reflexionen über Reflexionspapiere, EWS 2001, 1. 32 Vgl. Rengeling / Middeke / Gellermann, Rechtsschutz in der EU, Rdn. 350. 33 Vgl. Grabitz / Hilf, EGV, Art. 177 Rdn. 2.
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Kap. 2: Vorabentscheidungskompetenz des EuGH gemäß Art. 234 EG
scheidungsverfahren von einer strikten Aufgabentrennung zwischen dem nationalen Gericht und dem EuGH ausgeht34. Folge dieser Aufgabentrennung ist es unter anderem, dass das Verhältnis zwischen dem EuGH und dem vorlegenden Gericht nicht durch hierarchische Unterbzw. Überordnung geprägt ist. Vielmehr betont der EuGH seit frühester Rechtsprechung, dass das Verfahren im Geiste der Zusammenarbeit verläuft35 .
B. Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage Die Beurteilung der Erforderlichkeit der Vorlage ist grundsätzlich Sache des nationalen Gerichts. Dies ergibt sich schon aus dem Wortlaut des Vertragstextes, wonach Voraussetzung der Vorlage ist, dass “ dieses Gericht eine Entscheidung darüber zum Erlass eines Urteils für erforderlich hält“ (Art. 234 Abs. 2 EG). Auch die Ausgestaltung des Vorabentscheidungsverfahrens spricht für eine derartige Betrachtungsweise. Schließlich kennt der vorlegende Richter regelmäßig den Sachverhalt besser und vermag daher auch die Entscheidungserheblichkeit einer Vorlage besser einzuschätzen36. In der (vornehmlich älteren) Literatur wurde daraus geschlossen, dass die Entscheidungskompetenz des nationalen Richters insoweit ausschließlich sei, der EuGH mithin insoweit keine Kompetenz habe37. Diese Auffassung hat der EuGH mittlerweile aufgegeben38. Zwar wird von ihm im Grundsatz immer noch betont, dass er es dem vorlegenden Gericht zu prüfen überlässt, ob die Beantwortung der zur Vorabentscheidung vorgelegten Frage im Rahmen des bei Letzterem anhängigen Rechtsstreites erforderlich ist39. Denn das innerstaatliche Gericht besitzt, da es allein über eine unmittelbare Kenntnis des Sachverhaltes und der von den Parteien vorgetragenen Argumente verfügt und schließlich auch die Verantwortung für die zu fällende Entscheidung trägt, die besseren Voraussetzungen, um – in voller Kenntnis der Sache – die Erheblichkeit der Rechtsfragen zu beurteilen, die durch den bei ihm anhängigen Rechtsstreit aufVgl. Rengeling / Middeke / Gellermann, Rechtsschutz in der EU, Rdn. 350. EuGH, Schwarze, C-16 / 65, Slg. 1965, 1165; vgl. H. Lecheler, Zum Bananenmarkt-Beschluss des BVerfG, NJW 2000, 3124, JuS 2001, 120, 123. 36 Vgl. EuGH, van Gend & Loos, C-26 / 62, Slg. 1963, 24. 37 A. Barav, Preliminary Censorship? The Judgement of the European Court in Foglia v. Novello, ELR 1980, 443, 468; H.-W. Daig, Auslegung und Anwendung von Art. 177 EWGVertrag durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, FS für Hans Kutscher, S. 79, 84; K. Möller, Der EuGH als gesetzlicher Richter, S. 26; Schweitzer / Hummer, Europarecht, S. 164, Rdn. 543; M. Villagómez Cebrián, La Cuestion prejudicial en el Derecho comunitario europeo, S. 95. 38 In Richtung der zitierten Literatur noch EuGH, Albatros, C-20 / 64, Slg. 1965, XI-3, 8. 39 EuGH, Thomasdünger, C-166 / 84, Slg. 1985, 3001. 34 35
B. Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage
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geworfen werden, und um zu entscheiden, ob für den Erlass seines Urteils die Einholung einer Vorabentscheidung erforderlich ist40. Dessen ungeachtet betont der EuGH in mittlerweile ständiger Rechtsprechung, dass er nicht über eine Vorlagefrage befinden kann, wenn offensichtlich ist, dass die von einem nationalen Gericht erbetene Auslegung des Gemeinschaftsrechts in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreites steht, oder wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind41. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, die Rechtsprechung, die zu diesen Ausnahmen geführt hat, entsprechend der obigen Ausführung des Gerichtshofes zu systematisieren. Dies wird die später folgende Analyse der Dzodzi-Rechtsprechung erleichtern, bei der die Frage nach der Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit eine wichtige Rolle spielt. Der EuGH selbst verzichtet auf eine genaue dogmatische Einordnung42. Es bietet sich aber an, anhand der von ihm aufgeführten Kriterien Fallgruppen zu bilden, wobei zu beachten ist, dass die Grenzen dieser Fallgruppen fließend sind43.
I. 1. Fallgruppe: Kein Zusammenhang der Vorlagefrage mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreites Der Gerichtshof diskutierte eine eigene Prüfungskompetenz bezüglich der Erforderlichkeit der Vorlage erstmals in dem Rechtsstreit Salgoil44. Hintergrund dieser Entscheidung war Folgendes: Die italienische Regierung hatte in ihrer Stellungnahme gefordert, dass das vorlegende Gericht ausdrücklich die Anwendbarkeit der gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift im innerstaatlichen Prozess feststellen müsse. Das Fehlen einer solchen Feststellung sollte zur Unzulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens führen. Dieser Auffassung schloss sich der EuGH nicht an. Vielmehr entschied er, dass eine Vorlage zulässig sei, wenn die auszulegende Vorschrift nicht offensichtlich irrtümlich herangezogen wurde. Im Fall Salonia45 nahm er hierauf Bezug, bejahte allerdings auch hier im Ergebnis die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens.
40 St. Rspr. des EuGH, erstmals in EuGH, Pigs Marketing Board, C-83 / 78, Slg. 1978, 2368. 41 Vgl. EuGH, Nour, C-361 / 97, Slg. 1998, I-3106. 42 Vgl. D. O‘Keeffe, Is the Spirit of Article 177 under Attack, ELR 1998, 509, 520. 43 Vgl. Barnard / Sharpston, The changing Face of Article 177 References, CMLR 1997, 1113, 1141. 44 Vgl. EuGH, Salgoil, C-13 / 68, Slg. 1968, S. 679. 45 Vgl. EuGH, Salonia, C-126 / 80, Slg. 1981, S. 1576.
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Kap. 2: Vorabentscheidungskompetenz des EuGH gemäß Art. 234 EG
Im Rahmen dieser Fallgruppe wurde die Zulässigkeit erstmals im Fall Falciola46 verneint. Hintergrund der Vorlage war ein italienisches Gesetz über den Ersatz der von Richtern in Ausübung ihres Amtes verursachten Schäden und über die zivilrechtliche Haftung von Richtern, welches in der italienischen Richterschaft für Unmut sorgte. Der vorlegende Richter sah durch dieses Gesetz seine Unabhängigkeit gefährdet. Mit seiner Vorlagefrage wollte er wissen, ob dieses Gesetz dazu führe, dass die italienischen Richter nur noch über eine „scheinbare“ (Anführungszeichen im Original) Rechtsprechungsbefugnis verfügten. Der Gerichtshof war der Auffassung, dass schon aus dem Wortlaut des Vorlagebeschlusses hervorgehe, dass das vorlegende Gericht sich lediglich fragt, welche psychologischen Reaktionen der Erlass des vorgenannten italienischen Gesetzes bei bestimmten italienischen Richtern hervorrufen könnte. Dies sei eine nicht für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreites objektiv erforderliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts47. Fortgesetzt wurde diese Rechtsprechung u. a. in dem Fall Grado und Bashir48. Auch diese Vorlage war dadurch gekennzeichnet, dass sie keinerlei Bezug zum Gemeinschaftsrecht aufwies. Im Fall Grado und Bashir nahm der vorlegende deutsche Amtsrichter in einem Strafbefehlsverfahren daran Anstoß, dass der Strafbefehl an die ausländischen Angeklagten die Anrede „Herr“ im Gegensatz zu Strafbefehlen bei deutschen Angeklagten nicht enthielt und wollte die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit dieses Vorgehens festgestellt wissen. Es lag auf der Hand, dass diese Rechtsfrage für das eigentliche Strafbefehlsverfahren ohne Bedeutung war. Der EuGH erweiterte seine Rechtsprechung zur Unzulässigkeit von Vorlagefragen bei fehlendem Bezug des Ausgangsrechtsstreites zum Gemeinschaftsrecht auch auf Fälle, in denen ein Bezug des konkreten Falles zum Gemeinschaftsrecht lediglich rein hypothetischer Natur war49. So wollte der Kläger im Fall Moser50 einen Gemeinschaftsbezug im Verfahren wie folgt herstellen: Im Kern ging es ihm um die (ihm verwehrte) Zulassung zu einer Referendarstelle als Lehramtsanwärter. Würde ihm diese verwehrt, so der Kläger, könnte er später mangels Berufsabschluss nicht in anderen Mitgliedstaaten arbeiten. Konkrete diesbezügliche Vorhaben benannte er nicht. Der Fall Grado und Bashir zeigt vielleicht am deutlichsten, wie notwendig die einschränkende Rechtsprechung ist. Lagen Letzterer ursprünglich eher theoretische Überlegungen zugrunde, so zeigte sich später, dass nicht alle nationalen Richter mit der ihnen im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens zugewiesenen Aufgabe verantwortungsvoll umgehen. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang Vgl. EuGH, Falciola, C-286 / 88, Slg. 1990, I-191. Vgl. EuGH, Falciola, C-286 / 88, Slg. 1990, I-191, 195. 48 Vgl. EuGH, Grado und Bashir, C-291 / 96, Slg. 1997, I-5541. 49 Vgl. EuGH, Moser, C-180 / 83, Slg. 1984, 2547; EuGH, Kremzow, C-2645, Slg. 1997, I-2645; EuGH, Nour, C-361 / 97, Slg. 1998, I-3108. 50 Vgl. EuGH, Moser, C-180 / 83, Slg. 1984, 2547. 46 47
B. Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage
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der Schlussantrag des Generalanwalts Gand im Verfahren Albatros51 im Jahre 1964: „Ferner muß man sich fragen, ob bis zur letzten Konsequenz an dem Grundsatz festzuhalten ist, dass der Gerichtshof die Erwägungen, auf die das nationale Gericht die Vorlegung zur Vorabentscheidung gestützt hat, nicht nachprüfen kann, auch wenn die gestellte Frage mit dem Hauptprozeß offensichtlich in keinem Zusammenhang steht. Muß der Gerichtshof in diesem Fall dennoch eine abstrakte und rein theoretische Auslegung geben, die mit der Entscheidung eines Rechtsstreites nichts zu tun hat, aber nichtsdestoweniger in anderem Zusammenhang herangezogen werden und zu Konflikten mit den nationalen Gerichten und Behörden führen kann? Vielleicht werden Sie sich eines Tages zu einer Abgrenzung gegenüber solchen Vorlegungsersuchen entschließen müssen, die als Verfahrensmißbrauch erscheinen.“
Sich vor querulatorischen Vorlagen zu schützen, liegt im Interesse der Arbeitsfähigkeit des EuGH und somit eines effektiven Rechtsschutzes; daher hat der EuGH die vom Generalanwalt Gand prophezeite Abgrenzung mittlerweile vorgenommen.
II. 2. Fallgruppe: Keine Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen Die zweite Fallgruppe, in der der Gerichtshof eigenständig die Erforderlichkeit der Vorlage prüft, erschließt sich vor dem Hintergrund, dass die Antwort des EuGH auf ein Vorabentscheidungsersuchen der tatsächlichen Entscheidung eines Rechtsstreites dienen soll und nicht dazu, ein Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen zu erstellen52. An der tatsächlichen Entscheidung eines Rechtsstreites fehlt es, wenn der Rechtsstreit von vornherein konstruiert war oder sich erledigt hat.
1. Konstruierter Rechtsstreit In dem Verfahren Foglia / Novello53 lehnte der EuGH ein Vorabentscheidungsersuchen ab, dem folgender Sachverhalt zu Grunde lag: Einem italienischen Weinhändler (Herrn Foglia) missfiel offenbar die Praxis französischer Steuerbehörden, auf bestimmte italienische Likörweine erhöhte Steuern zu erheben. Im Rahmen eines Versandkaufes nach Frankreich gelang es ihm, durch geschickte Vertragsgestaltung sowohl mit dem Käufer als auch mit dem Speditionsunternehmen in einem Zivilprozess vor einem italienischen Gericht die Frage nach der Vereinbarkeit der französischen Steuerregelungen mit dem Gemeinschaftsrecht aufzuwerfen. 51 52 53
Schlussantrag des Generalanwalts Gand, Albatros, C-20 / 64, Slg. 1965, XI-3, 15. Vgl. EuGH, Robards, C-149 / 82, Slg. 1983, 187. Vgl. EuGH, Foglia / Novello, C-104 / 79, Slg. 1980, 745.
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Kap. 2: Vorabentscheidungskompetenz des EuGH gemäß Art. 234 EG
Der EuGH vertrat die Auffassung, er sei nicht zuständig, wenn die Parteien des Ausgangsverfahrens eine Verurteilung der Steuerregelung eines Mitgliedstaates mittels eines Verfahrens vor dem Gericht eines anderen Mitgliedstaates erreichen wollen, obwohl die Parteien über das angestrebte Ergebnis der Gemeinschaftswidrigkeit einig seien, aber dessen ungeachtet gegen die fragliche Steuererhebung in dem anderen Mitgliedstaat nicht von Rechtsbehelfen Gebrauch gemacht hätten54. In der Literatur wird vertreten, damit habe der EuGH das Erfordernis eines echten Rechtsstreites in Abgrenzung zum konstruierten Verfahren statuiert55. Abgesehen davon, dass der Begriff des konstruierten Verfahrens durch den EuGH erst im Rechtsstreit Foglia / Novello II56 verwendet wurde, wird diese Auffassung den Besonderheiten des Falles nicht gerecht. Die Besonderheit liegt nämlich darin, dass der Rechtsstreit nicht nur konstruiert war, sondern mittels dieser Konstruktion auch noch das Recht eines anderen Mitgliedstaates auf seine Gemeinschaftsrechtskonformität überprüft werde sollte. Soweit diese Merkmale isoliert auftraten, hat der EuGH in den Verfahren Dürbeck57 und Rau58 im Ergebnis die Zulässigkeit der Vorabentscheidungsverfahren bejaht. In dem Verfahren Dürbeck folgte der Gerichtshof im Ergebnis den Ausführungen des Generalanwalts Reischl, der ein Rechtsschutzinteresse bejahte, obwohl er das Vorliegen eines konstruierten Verfahrens für möglich hielt59. Der Kläger hatte – für einen Importeur untypisch – eine Kiste Tafeläpfel aus Chile einfliegen lassen, um auf diesem Wege die Rechtmäßigkeit einer Verordnung prüfen lassen zu können, die die Überführung der Tafeläpfel in den freien Verkehr verbot. In dem Verfahren Rau führte die Tatsache, dass vor einem Mitgliedstaat das Recht eines anderen Mitgliedstaates auf seine Gemeinschaftsrechtskonformität überprüft werden sollte, nicht zur Unzulässigkeit des Vorabentscheidungsverfahrens60. Zutreffend erscheint es daher, dass es das Zusammentreffen bzw. die Kombination beider Umstände war, welches den Gerichtshof zur Verneinung der Zulässigkeit veranlasste61. Vgl. EuGH, Foglia / Novello, C-104 / 79, Slg. 1980, 745. Vgl. G. Bebr, Tatsächlicher Rechtsstreit als unabdingbare Voraussetzung der Zulässigkeit einer Vorlage gem. Art. 177 EWGV?, EuR, 1980, 244, 250; Lenz-Borchardt, EG-Vertrag, Art. 234 Rdn. 29; Schweitzer / Hummer, Europarecht, Rdn. 543. 56 Vgl. EuGH, Foglia / Novello II, C-244 / 80, Slg. 1981, 3046. 57 Vgl. EuGH, Dürbeck, C-112 / 80, Slg. 1981, 1095. 58 Vgl. EuGH, Rau, C-261 / 81, Slg. 1982, 3971. 59 Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Reischl, Dürbeck, C-112 / 80, Slg. 1981, 1127. 60 Daher wird man entgegen V. Röben, Die Einwirkung der Rechtsprechung des EuGH auf das mitgliedstaatliche Verfahren in öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten, S. 87, nicht sagen können, das die mitgliedstaatlichen Gerichte ausschließlich auf die Prüfung der Normen ihres Staates beschränkt sind. 54 55
B. Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage
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In späteren Verfahren brachte der Gerichtshof die Grundsätze der Foglia / Novello-Rechtsprechung, obwohl von Verfahrensbeteiligten angesprochen, nicht wieder zur Anwendung62. Es erscheint daher als richtig, diese Rechtsprechung als Einzelfallrechtsprechung zu betrachten, aus der keine weitgehenden dogmatischen Folgerungen zu ziehen sind63. Zwar wird vertreten, dass in der Rechtssache Meilicke64 obige Rechtsprechung fortgesetzt wurde65. Obwohl der Tatbestand darauf hindeutet66, findet sich in den Urteilsgründen keine Erwähnung eines konstruierten Rechtsstreits. Die Ablehnung wird vielmehr darauf gestützt, dass die vorgelegten Fragen hypothetischen Charakter hätten und zudem nicht hinreichend mit tatsächlichen und rechtlichen Angaben versehen worden seien67. Auch die Entscheidung des Gerichtshofes in der Rechtssache Preussen-Elektra AG68 bestätigt die Beurteilung von Foglia / Novello als Einzelfallrechtsprechung. In diesem Verfahren gab es mehrere Anhaltspunkte dafür, dass der Rechtsstreit konstruiert war69. Zum einen war im Ausgangsverfahren die Beklagte Tochtergesellschaft der Klägerin. Beide waren sich darüber einig, dass die von der Klägerin angegriffene nationale Regelung, das Stromeinspeisungsgesetz, gemeinschaftswidrig war. Eingeklagt wurde ein in Anbetracht der Gesamtbelastung von einem zweistelligen Millionenbetrag nur symbolischer Betrag von DM 500,–. Trotz dieser starken Indizien hielt der Gerichtshof die Vorlage für zulässig. Für ihn war, und hier lag in der Tat ein Unterschied zu Foglia / Novello, ausschlaggebend, dass die streitigen Verpflichtungen zwischen den Parteien nicht aus Vertrag, sondern direkt aus dem deutschen Stromeinspeisungsgesetz folgten. Der hier erfolgten Einordnung von Foglia / Novello als Einzelfallrechtsprechung könnte man entgegenhalten, dass der Gerichtshof das Merkmal des konstruierten Rechtsstreites in ständiger Rechtsprechung als Beispiel für ein unzulässiges Vor-abentscheidungsverfahren zitiert. Dies hat seinen Hintergrund möglicherweise darin, dass Foglia / Novello der erste Fall überhaupt war, bei dem im Ergebnis die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsverfahrens verneint wurde. Dementsprechend stark war die Reaktion in der Literatur, der Gerichtshof stieß auch auf heftige Ablehnung70. In diesem Sinne wohl auch D. Wyatt, Foglia (No. 2), ELR 1982, 186, 191 f. Vgl. M. Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 106. 63 Vgl. Everling, Vorabentscheidungsverfahren, S. 43. 64 Vgl. EuGH, Meilicke, C-83 / 91, Slg. 1992, I-4871. 65 So wohl Lenz-Borchardt, EG-Vertrag, Art. 234 Rdn. 29. 66 Vgl. EuGH, Meilicke, C-83 / 91, Slg. 1992, I-4871, 4921. 67 Vgl. EuGH, Meilicke, C-83 / 91, Slg. 1992, I-4871, 4935. 68 Vgl. EuGH, PreussenElektra, C- 379 / 98, EuZW 2001, 242; vgl. zu den materiellrechtlichen Fragen dieser Entscheidung H. Lecheler, Anmerkung, RdE 2001, 140 f. 69 Vgl. J. Gündisch, Preisgarantie für Strom aus Windkraftanlagen keine Beihilfe, NJW 2001, 3686. 61 62
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2. Erledigter Ausgangsrechtsstreit Der Gedanke, dass das Vorabentscheidungsverfahren nicht dazu dienen soll, ein Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen zu erstellen, fand auch in einer anderen, praktisch viel relevanteren Konstellation Anwendung. Es handelt sich hierbei um Fälle, bei denen sich der Ausgangsrechtsstreit nach erfolgter Vorlage erledigt hatte. Es liegt auf der Hand, dass sich die Frage, ob eine derartige Prozesserledigung eingetreten ist, allein nach dem nationalen Prozessrecht beurteilt und somit der Beurteilung des EuGH grundsätzlich entzogen ist. Der Gerichtshof sah sich jedoch auch hier, vergleichbar mit seiner Rechtsprechung zu Vorlagen, die keinerlei Bezug zum konkreten Rechtsstreit enthielten, genötigt, Ausnahmen zu statuieren. Wiederum waren die ersten Ausführungen hierzu nur theoretischer Natur. Im Fall Pardini71 hatte ein italienischer Richter in einem Eilverfahren vorgelegt, nach der Vorlage aber den Fall mit einer einstweiligen Verfügung abgeschlossen, so dass die Antwort des EuGH praktisch keinerlei Einfluss mehr auf den Rechtsstreit haben konnte. Auf Grund eines Formfehlers seitens des Richters war der Rechtsstreit zwar tatsächlich beendet; formal kam es jedoch nicht zu einer Erledigung des Verfahrens. Dies ließ der EuGH ausreichen, um den Fall zu entscheiden. Allerdings ließ er keinen Zweifel daran, dass er ohne Formfehler die Vorlage für unzulässig gehalten hätte, weil der Richter die erbetene Entscheidung nicht mehr zum Erlass seines (Hervorhebung auch im Original) Urteils benötige72. Des Weiteren erteilte der EuGH Überlegungen eine Absage, dass durch eine Vorlage schon im (erledigten) Eilverfahren das spätere Hauptverfahren beschleunigt werden könnte73. Im Fall Bernini74 bestätigte der Gerichtshof diese Rechtsprechung. In dieser Rechtssache zahlte die beklagte Behörde im Laufe des Verfahren zwar die erstrebte Studienbeihilfe, trotzdem nahm die Klägerin die Klage nicht zurück. Der EuGH hielt im Ergebnis das Ersuchen um Vorabentscheidung für zulässig. Der Gerichtshof verneinte die Zulässigkeit erstmals im Fall Zabala Erasun75. In dem zugrundeliegenden Ausgangsverfahren war faktisch eine Erledigung durch Zahlung der begehrten Arbeitslosenunterstützung eingetreten. Das Gericht sah sich aber aus zwei Gründen an der Rücknahme seines Entscheidungsersuchens gehin70 Vgl. A. Barav, Preliminary Censorship? The Judgement of the European Court in Foglia v. Novello, ELR 1980, 443, 467. 71 Vgl. EuGH, Pardini, C-338 / 85, Slg. 1988, 2041. 72 Vgl. EuGH, Pardini, C-338 / 85, Slg. 1988, 2074. 73 Vgl. EuGH, Pardini, C-338 / 85, Slg. 1988, 2075. 74 Vgl. EuGH, Bernini, C-3 / 90, Slg. 1992, I-1071. 75 Vgl. EuGH, Zabala Erasun u. a., C-422 / 93, 423 / 93 und 424 / 93, Slg. 1995, I-1567.
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dert: Zum einen sei es wegen „der Wirkung des Vorabentscheidungsersuchens gem. Art 177 EGV“ nicht mehr für die Entscheidung zuständig. Zum anderen bestünde ein Interesse an einer Entscheidung über den konkreten Fall hinaus. Die erste Begründung beruhte offensichtlich auf einem fehlerhaften Verständnis des Vorabentscheidungsverfahrens. Der Gerichtshof sah sich insoweit zu der Feststellung veranlasst, dass durch die Vorlage zur Vorabentscheidung keinesfalls der ganze Rechtsstreit an den EuGH verwiesen werde, mithin die Zuständigkeit bezüglich des Ausgangsrechtsstreites weiterhin bei dem nationalen Richter verbleibe76. Auch die zweite Erwägung des nationalen Gerichtes wies der Gerichtshof zurück. Die bloße Tatsache, dass ein über den konkreten Rechtsstreit hinausgehendes Interesse bestünde, sei gerade nicht ausreichend. Entscheidend sei vielmehr, dass die Antwort auf das Vorabentscheidungsersuchen für die tatsächliche Entscheidung eines Rechtsstreites erforderlich sei. Der Gerichtshof habe keine Zuständigkeit zur Abgabe von Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen77. Diese Überlegung fand sich schon in der Rechtssache Robards78, in der es der EuGH ablehnte, eine nicht entscheidungserhebliche, gleichwohl aber später relevant werden könnende Regelungslücke durch erweiternde Auslegung zu beseitigen. Diese Sichtweise bestätigte der EuGH nachfolgend in der Rechtssache Esso Espanola79. Hier war das im Ausgangsrechtsstreit angefochtene Dekret in einem anderen Verfahren für nichtig erklärt worden. Der EuGH akzeptierte die Begründung des vorlegenden Gerichts nicht, das künftige Urteil sei über den konkreten Rechtsstreit hinaus von Bedeutung. Im Ergebnis ließ er aber eine andere Begründung, dass nämlich die Nichtigkeit im ersten Verfahren auf rein nationalen Gründen beruhe und insoweit eine Kassationsbeschwerde anhängig sei, für die Bejahung der Zulässigkeit ausreichen. Eine weitere Besonderheit wies der Fall Djabali80 auf. Dort war in dem Verfahren vor dem französischen Tribunal des affaires de sécurité sociale Evry zwar prozessual Erledigung eingetreten, das Tribunal war aber auf Grund der nationalen Verfahrensvorschriften daran gehindert, eine dem Gerichtshof ordnungsgemäß vorgelegte Vorabentscheidungsfrage zurückzunehmen. Der Gerichtshof hielt sich insoweit für zuständig, den mangelnden Nutzen einer Vorabentscheidung für den Ausgangsrechtsstreit selbst festzustellen und folglich die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsverfahrens zu verneinen81. Vgl. EuGH, Zabala Erasun u. a., C-422 / 93, 423 / 93 und 424 / 93, Slg. 1995, I-1586. Vgl. EuGH, a. a. O. 78 Vgl. EuGH, Robards, C-149 / 82, Slg. 1983, 187. 79 Vgl. EuGH, Esso Espanola, C- 134 / 94, Slg. 1995, I-4245; Schlussantrag des Generalanwalts Cosmas, ebd., Slg. 1995, I-4229. 80 Vgl. EuGH, Djabali, C-314 / 96, Slg. 1998, I-1149. 81 Vgl. EuGH, Djabali, C-314 / 96, Slg. 1998, I-1163. 76 77
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Kap. 2: Vorabentscheidungskompetenz des EuGH gemäß Art. 234 EG
III. 3. Fallgruppe: Mangelnde Aufklärung über Sachverhalt und rechtlichen Hintergrund der Vorlagefrage Erlauben die Angaben im Vorlagebeschluss mangels Erkennbarkeit des Sachverhaltes und der zugrunde liegenden nationalen Regelungen dem Gerichtshof keine sachdienliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts, so liegt ein Fall der dritten Fallgruppe vor, in der die Vorlage unzulässig ist. Dieses Zulässigkeitskriterium, welches der EuGH erstmals in der Rechtssache Pretore di Salo82 der Sache nach anwandte, ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. In Anbetracht der Tatsache, dass Rechtsfragen auf Grund verschiedenster Sachverhaltskonstellationen im Rahmen des Art. 234 EG aufgeworfen werden, sollte das vorlegende Gericht besondere Sorgfalt bei der Sachverhaltsschilderung und Erklärung des rechtlichen Hintergrundes walten lassen. Dies dient nicht nur der Information des Gerichtshofes. Es ist eine Besonderheit des Vorabentscheidungsverfahrens, dass gemäß Art. 20 der Satzung des Gerichtshofes das Vorabentscheidungsersuchen der nationalen Gerichte den Mitgliedstaaten und der Kommission mit der Möglichkeit der Stellungnahme zugestellt wird. Damit Letztere wahrgenommen werden kann, besteht ein Interesse an einer den sachlichen und rechtlichen Hintergrund ausreichend erläuternden Vorlagefrage83. Der EuGH war gerade in der Anfangszeit großzügig und bemüht, jedes Vorabentscheidungsersuchen zu bescheiden. Im Verfahren Pretore di Salo84 sah er sich hierzu auf Grund mangelhafter Sachverhaltsdarstellung bei einer (von mehreren) Vorlagefrage außer Stande. Erstmals zur gänzlichen Unzulässigkeit des Vorabentscheidungsverfahrens führte dies in der Rechtssache Telemarsiacobruzzo85. Interessanterweise verwendete der EuGH den Begriff der Unzulässigkeit noch nicht, vielmehr verwendete er die Formulierung, dass „über die Fragen nicht entschieden zu werden brauche“86. Der Terminus der Unzulässigkeit wurde erstmals im Verfahren Banchero87 verwendet, und zwar in der Steigerungsform „offensichtliche Unzulässigkeit“. Damit eröffnete sich der EuGH die Möglichkeit, derartige Verfahren in der Form des Beschlusses gem. Art. 92 Abs. 1 i.V.m. Art. 103 Abs. 1 EuGH VfO zu entscheiden. Dies hat den Vorteil, dass die Verfahren in einem deutlich kürzeren Zeitraum entschieden werden können; im konkreten Fall betrug die Verfahrensdauer mit 11 MoVgl. EuGH, Pretore di Salo, C-14 / 86, Slg. 1987, 2569. Vgl. EuGH, Holdijk, C-141 – 143 / 81, Slg. 1982, 1311; EuGH, Saddik, C-458 / 93, Slg. 1995, I-511. 84 Vgl. EuGH, Pretore di Salo, C-14 / 86, Slg. 1987, 2569. 85 Vgl. EuGH, Telemarsiacobruzzo, C- 320 / 90, 321 / 90 und 322 / 90, Slg. 1993, I-427. 86 Vgl. EuGH, a. a. O. 87 Vgl. EuGH, Banchero, C-157 / 92, Slg. 1993, I-1090. 82 83
B. Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage
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naten ungefähr die Hälfte der durchschnittlichen Verfahrensdauer des Entscheidungsjahres88. In der Literatur wurde dies unter rechtsdogmatischen Gesichtspunkten als bedenklich erachtet; die Wahl der Worte „offensichtliche Unzulässigkeit“ verkenne die Natur des Vorabentscheidungsverfahrens als ein Zwischenverfahren89. Dieser Einwand ist schwer nachvollziehbar. Insbesondere ist nicht ersichtlich, wieso es im Rahmen eines Zwischenverfahrens keine offensichtliche Unzulässigkeit geben soll. Für das Vorgehen des EuGH spricht der Wortlaut des Art. 103 Abs. 1 EuGH VfO, der eine entsprechende Anwendung der Vorschriften der Direktklagen für das Vorabentscheidungsverfahren anordnet. Gerade Praktikabilitätsgründe sprechen dafür, unklare Vorlagefragen schon als offensichtlich unzulässig zu bewerten und somit die Möglichkeit zu eröffnen, das Vorabentscheidungsverfahren per Beschluss zu beenden. Nachfolgende Beschlüsse90 haben diese Rechtsprechung bestätigt, so dass Spekulationen um ein Redaktionsversehen des EuGH91 unbegründet geblieben sind. Diesen Beschlüssen kommt im Übrigen über die bloße Nicht-Annahme keine Wirkung zu92. Wie sich an obigen Beispielen zeigt, entscheidet der Gerichtshof materiell nicht über die mangelnde Einschlägigkeit des Gemeinschaftsrechts93, er sieht sich lediglich zu einer Entscheidung nicht in der Lage. Einer wie auch immer gearteten Rechtskraft steht jedenfalls entgegen, dass der nationale Richter ohne rechtliche Hindernisse die gleichen Fragen mit besserer Darstellung nochmals vorlegen kann94. Die Darstellung sollte dann substanziell besser sein, denn der EuGH sah sich zu Recht nicht gehindert, auch anschließende Neuvorlagen als unzulässig abzulehnen95 Auch diese Rechtsprechung des Gerichtshofes stieß, ähnlich wie Foglia / Novello96, in der Literatur auf zum Teil starke Kritik97. So wurde der Vorwurf erhoben, diese Rechtsprechung entmutige den nationalen Richter bezüglich einer Vorlage98. 88 Vgl. S. Strasser, Evolution & Effort: Docket Control & Preliminary References in the European Court of Justice, Columbia Journal of European Law 2 (1996), 49, 91. 89 Vgl. M. Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 108. 90 Vgl. z. B. EuGH, Agostini, C-9 / 98, Slg. 1998, I-4267. 91 Vgl. M. Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 108. 92 A.A. A. Pietrek, Verbindlichkeit von Vorabentscheidungen, S. 91. 93 So fehlgehend A. Pietrek, a. a. O. 94 Vgl. A. Arnull, Case Law, CMLR 1994, 377, 384. 95 Vgl. B. Wägenbaur, Stolpersteine des Vorabentscheidungsverfahrens, EuZW 2000, 37, 41 m. w. N. 96 Vgl. EuGH, Foglia / Novello, C-104 / 79, Slg. 1980, 745. 97 Vgl. W. Alexander, La Recevabilité des Renvois prejudiciels dans la Perspective de la Réforme institutionnelle de 1996, Cahiers de Droit Européen 1995, 561, 572 charakterisiert die Entscheidung als „réaction bien brusque“.
3 Bärenz
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Kap. 2: Vorabentscheidungskompetenz des EuGH gemäß Art. 234 EG
Diese Kritik scheint übertrieben. Richtig ist zwar, dass eine Vorlage an den EuGH für den nationalen Richter regelmäßig ein außergewöhnlicher Vorgang ist99. Dem hat der EuGH auch lange genug durch eine großzügige Rechtsprechung Rechnung getragen. Dass er jetzt in Hinblick auf seine Arbeitsüberlastung100 restriktiver wird, ist verständlich. Hierbei ist darauf hinzuweisen, dass diese Rechtsprechung des EuGH nicht so interpretiert werden kann, dass die tatsächliche Arbeitsbelastung zu einer Veränderung rechtlicher Kriterien führt. Rechtlich gesehen, bestanden die nunmehr auch in der Realität vom EuGH eingeforderten Qualitätsanforderungen an einen Vorlagebeschluss schon immer101. Nicht die rechtlichen Kriterien haben sich durch diese Rechtsprechung daher geändert, sondern der Wille des Gerichtshofes, diese Kriterien durchzusetzen. Im Übrigen ließe sich das obige Argument auch umdrehen: gerade weil für den nationalen Richter ein außergewöhnlicher Fall vorliegt, ist er zu außergewöhnlicher Sorgfalt gehalten102. Rechtsdogmatisch in der Tat bedenklich ist aber die Tatsache, dass der EuGH103 und mit ihm die Lehre104 diese Fallgruppe mit den ersten beiden gemeinsam als Zulässigkeitskriterium diskutieren. Zum Teil erfolgt sogar eine gemeinsame Diskussion unter dem Stichwort „Erforderlichkeit der Vorlage“105. Richtig daran ist zwar, dass ein Verstoß gegen die in den jeweiligen Fallgruppen genannten Anforderungen im Ergebnis zur Unzulässigkeit der Vorlage führt. Die gemeinsame Diskussion vernachlässigt aber, dass dies der einzige Berührungspunkt ist. Denn die mangelnde Begründung einer Vorlage hat ansonsten wenig mit der Erforderlichkeit für den ursprünglichen Rechtsstreit zu tun. Erstere ist im Grunde ein Formfehler, während die Frage der Erforderlichkeit der Vorlage materieller Natur ist. Auch in ihren Einwirkungen auf das Kooperationsverhältnis zwischen nationalem Gericht und Gerichtshof unterscheidet sich diese Fallgruppe von den ersten
98 Vgl. A. Arnull, Case Law, CMLR 1994, 377, 385; J. C. Fourgoux, Note, Recueil Dalloz 1993, 466, 467 spricht sogar davon, dass der nationale Richter eine Psychoanalyse seitens des Gerichtshofes befürchten müsse. 99 Vgl. A. Arnull, Case Law, CMLR 1994, 377, 385. 100 Vgl. T. Kennedy, First Steps to a European Certioriari?, European Law Review 1993, 121, 126. 101 Ähnlich P. Oliver, La Recevabilité des Questions préjudicielles: La Jurisprudence des Années 1990, Cahiers de Droit Européen 2001, 15, 29. 102 In diesem Sinne auch Chavrier / Honorat / Pouzoulet, La Recevabilité de Questions préjudicielles et la Compétence de la Cour pour y répondre, L’actualité juridique-droit administratif 1995, 708, 709. 103 Vgl. EuGH, Nour, C-361 / 97, Slg. 1998, I-3106. 104 Vgl. u. a. Callies / Ruffert-Wegener, EG-Vertrag, Art. 234 Rdn. 16; J. C. Fourgoux, Note, Recueil Dalloz 1993, 466; D. Simon, Notes, Journal du Droit international 1994, 477, 478. 105 Vgl. u. a. Callies / Ruffert-Wegener, EG-Vertrag, Art. 234 Rdn. 16.
C. Gegenstand des Vorabentscheidungsverfahrens
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beiden: Während Letztere tatsächlich Ausnahmefälle dahingehend statuierten, dass in die Sphäre des vorlegenden nationalen Gerichts eingegriffen wird, fällt vorliegende Fallgruppe allein in die Sphäre des EuGH. Denn hier beurteilt der EuGH keine Auswirkungen der Vorlage auf den Ausgangsrechtsstreit, er sieht sich vielmehr mangels ausreichender Grundlagen zu einer Entscheidung nicht im Stande.
IV. Zwischenergebnis Mit der oben analysierten Rechtsprechung wird keinesfalls der Grundsatz aufgegeben, dass im Rahmen der Aufgabenteilung zwischen Gerichtshof und nationalen Gerichten Letzteren die Beurteilung der Erforderlichkeit der Vorlage obliegt. Der EuGH hat sich lediglich davon verabschiedet, dass dieser Grundsatz ausnahmslos gilt. Die von ihm insoweit postulierten Ausnahmen haben ihren Hintergrund im Wesentlichen in der Vorbeugung des Missbrauchs des Vorabentscheidungsverfahrens106 und finden ihre Rechtfertigung letztlich in der Sicherung der Arbeitsfähigkeit des Gerichtshofes. Sie erfassen spezielle Sachverhalte, so dass es übertrieben erscheint, von einem „zusätzlichen Zulässigkeitsfilter“107 zu sprechen.
C. Gegenstand des Vorabentscheidungsverfahrens Art. 234 EG beschränkt den Anwendungsbereich des Vorabentscheidungsverfahrens strikt auf die Normsätze des Gemeinschaftsrechts. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass nationales Recht als solches in keinem Fall Gegenstand einer Vorabentscheidung sein kann. Dies gilt für jegliche Auslegung des nationalen Rechts durch den EuGH108. Hiervon umfasst ist auch die von den vorlegenden Gerichten gestellte Frage nach der Vereinbarkeit nationalen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht. Dies schließt nicht aus, dass der EuGH den nationalen Gerichten alle Kriterien für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts an die Hand gibt, um diese Gerichte in die Lage zu versetzen, die Vereinbarkeit nationaler Normen mit einer Gemeinschaftsregelung selbst zu beurteilen109. Der Gerichtshof bezeichnet diese Umdeutung der Vorlagefrage als „Herausschälen dessen, was die Auslegung des Gemeinschaftsrechts betrifft“110. Diese Technik des „Herausschälens“ entspricht der Aufgabenvertei106 So auch M. Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 108; Barnard / Sharpston, The changing face of article 177 references, CMLR 1997, 1113, 1157. 107 So aber D. Simon, Notes, Journal du Droit international 1994, S. 477, 480. 108 Vgl. EuGH, FOR, C-54 / 72, Slg. 1973, 204. 109 Vgl. EuGH, Hünermund, C-292 / 92, Slg. 1993, I-6820.
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Kap. 2: Vorabentscheidungskompetenz des EuGH gemäß Art. 234 EG
lung im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens und ist kein unnötiger Formalismus111. Die überwältigende Mehrheit der deutschen Gerichte scheint die Antworten auf die eventuell umformulierten Fragen problemlos in den Folgeentscheidungen umsetzen zu können112. Des Weiteren unterscheidet Art. 234 EG zwischen Fragen nach der Gültigkeit von Normen und Auslegungsfragen. Dieser Unterschied wird vor allem bei der Frage nach der Rechtskraft des Urteils relevant113.
D. Vorabentscheidungskompetenz des EuGH bei Gemeinschaftsrecht, welches von den Mitgliedstaaten in außergemeinschaftlichem Rahmen angewendet wird Hat der EuGH nach alledem im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens keine Kompetenz zur Auslegung nationalen Rechts, so fragt sich, wie es um seine Kompetenz bestellt ist, wenn nationales Recht auf Gemeinschaftsrecht verweist oder vom Wortlaut her mit Letzterem identisch ist. Diese Frage stellte sich erstmals in dem Verfahren Thomasdünger114. Begehrt wurde die Auslegung von Gemeinschaftsrecht, im zugrunde liegenden Rechtsstreit ging es aber ausschließlich um nationales Recht, welches auf Gemeinschaftsrecht verwies. I. Die Rechtssache Thomasdünger Dem Verfahren lag folgender Sachverhalt (hier vereinfacht dargestellt) zu Grunde: Die Firma Thomasdünger GmbH beschäftigte sich mit dem Handel und mit der Herstellung von Düngemitteln. In diesem Rahmen führte sie aus Frankreich Konverterschlacke (Abfall bei der Eisen- und Stahlherstellung) ein, welche einen relativ hohen Phosphatanteil aufwies. Vor Einführung dieser Konverterschlacke beantragte sie bei der zuständigen Oberfinanzdirektion eine diesbezügliche verbindliche Zolltarifauskunft. Letztere ist ein Verwaltungsakt, mit der sich die Zollbehörde hinsichtlich der zolltariflichen Einreihung der Ware bindet115. 110 Vgl. EuGH, Pretore di Salo, C-14 / 86, Slg. 1987, 2569; auf französisch: „( . . . ) dégager du libellé des questions formulées les éléments relevant de l‘interpretation du droit communautaire ( . . . )“. 111 Vgl. Koenig / Sander, EG-Prozeßrecht, S. 247 Rdn. 491. 112 Vgl. J. Schwarze, Befolgung, S. 16. 113 Ausführlich unten Kapitel 2 D. III. 2. b). 114 EuGH, Thomasdünger, C-166 / 84, Slg. 1985, 3001. 115 Vgl. Witte / Wolfgang, Lehrbuch des europäischen Zollrechts, S. 366, Rdn. 1476.
D. Vorabentscheidungskompetenz des EuGH bei Gemeinschaftsrecht
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Der Hintergrund dieses Antrages war aber nicht – wie üblicherweise – das Bestreben, die entstehenden Zollkosten kalkulieren zu können. Da es sich um die Einfuhr von Waren aus Frankreich handelte, fielen im fraglichen Zeitraum (80er Jahre) auf Grund der seit 1. Juli 1968 bestehenden Zollunion keine Zölle an. Allerdings machte die Bundesbahn damals die Transportkosten für bestimmte Waren von deren Einordnung in den Gemeinsamen Zolltarif abhängig. Die Einordnung der phosphathaltigen Konverterschlacke durch die Oberfinanzdirektion als (eher werthaltiges) Düngemittel statt als Schlacke (und somit eher wertloser Abfall) verursachte daher im Ergebnis jährliche Transportmehrkosten in Höhe von 2,5 Mio. DM. Kommission und Generalanwalt äußerten Unverständnis über das Verfahren. Der Gemeinsame Zolltarif (GZT) sei überhaupt nicht betroffen, denn es ginge um die Einfuhr von Waren von Frankreich nach Deutschland116. Der Generalanwalt hielt aus folgenden Gründen den Gerichtshof für unzuständig: Das Gemeinschaftsrecht sei allenfalls mittelbar betroffen, denn seine Anwendbarkeit ergebe sich lediglich dadurch, dass eine nationale Stelle sich freiwillig und einseitig dafür entschieden habe, es als Bezugspunkt für die Festlegung nationaler Regelungen zu verwenden. Bei der Auslegung der vorgelegten Fragen würde der Gerichtshof nur scheinbar Gemeinschaftsrecht auslegen, in Wirklichkeit aber nationales Recht beurteilen. Dies sei ihm gemäß Art. 177 EWG-Vertrag untersagt. Schließlich sei eine sinnvolle Auslegung auch deswegen unmöglich, weil der GZT und die nationale Regelung unterschiedliche Ziele verfolgten117. Der EuGH ging auf diese Argumente nicht näher ein, sondern bejahte seine Zuständigkeit mit der kurzen Begründung, es sei – von Ausnahmefällen abgesehen – dem vorlegenden Gericht überlassen, anhand des Sachverhaltes zu prüfen, ob die Beantwortung der vorgelegten Frage zur Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreites erforderlich sei118. Die Brisanz der Problematik fand keine Widerspiegelung in der Literatur. Dies lag möglicherweise daran, dass das Problem in einem derart speziellen Rechtsgebiet wie dem Zollrecht auftrat und lediglich der Tenor des Vorlagebeschlusses veröffentlich wurde119, nicht aber die Gründe. Bedenkt man, dass Thomasdünger die erste Rechtssache war, in der die Auslegung von Gemeinschaftsrecht in einem rein nationalen Ausgangsrechtsstreit vom Gerichtshof begehrt wurde, so ist allein unter historischen Gesichtspunkten eine genauere Untersuchung der Vorlagefrage gerechtfertigt:
116 Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Mancini, Thomasdünger, C-166 / 84, Slg. 1985, 3002. 117 Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Mancini, Thomasdünger, C-166 / 84, Slg. 1985, 3002, 3003. 118 Vgl. EuGH, Thomasdünger, C-166 / 84, Slg. 1985, 3009. 119 BFH, Beschluss vom 8. Mai 1984, BFHE 141, 105.
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Kap. 2: Vorabentscheidungskompetenz des EuGH gemäß Art. 234 EG
Verbindliche Zolltarifauskünfte (vZTA) sind daran gebunden, dass sie sich auf eine tatsächlich beabsichtigte Ein- und Ausfuhr beziehen120. Aufgabe der vZTA ist es, die zolltarifliche Behandlung einer Ware verbindlich festzulegen121. Dies spricht dafür, dass Ein- und Ausfuhr nur solche Vorgänge meint, die zollrechtlich relevant, mit anderen Worten, die mit der Überschreitung einer Zollgrenze verbunden sind. Genauso wenig, wie eine vZTA vor dem Hintergrund erteilt werden kann, dass damit eine umsatzsteuerliche Vergünstigung nur im Inland erstrebt wird122, kommt daher eine Erteilung einer vZTA zum Zwecke der Tarifierung bei der Bundesbahn in Betracht. Die Tatsache, dass die Gründe des Beschlusses lediglich die Vorlagefragen wiederholen123, spricht für die Annahme, dass die Entscheidungserheblichkeit der Vorlage nicht gründlich durchdacht wurde. Demnach war die Erteilung der vZTA nach nationalem Recht rechtswidrig; die tarifliche Einordnung war nicht streitrelevant. Nach alledem war die erste Vorlage in einem rein nationalen Rechtsstreit überflüssig.
II. Die Rechtssachen Dzodzi und Gmurzynska-Bscher Während der Gerichtshof in der Rechtssache Thomasdünger zu der besonderen Zuständigkeitsproblematik keine Stellung bezog, tat er dies in der Rechtssache Dzodzi124 zum ersten Mal. Wenig später entschied er mit der gleichen Begründung die Rechtssache Gmurzynska-Bscher125; Generalanwalt Darmon hatte seine Schlussanträge126 zu beiden Rechtssachen am gleichen Tag gehalten und auf die Parallelen hingewiesen. Im Folgenden wird zunächst anhand des Falles Dzodzi, welcher namensgebend für diese Rechtsprechung wurde, die Argumentation des Gerichtshofes vorgestellt.
1. Die Argumentation des EuGH in der Rechtssache Dzodzi Dem Fall Dzodzi lag folgender Sachverhalt (hier vereinfacht dargestellt) zu Grunde: Vgl. Witte / Wolfgang, Lehrbuch des europäischen Zollrechts, S. 366, Rdn. 1475. Vgl. BFH, Urteil v. 31. Juli 1973, BFHE 110, 92, 93. 122 Vgl. BFH, Urteil v. 31. Juli 1973, BFHE 110, 92, 93; bestätigt durch BFH, Urteil v. 20. Juni 1995, BFHE 178, S. 262, 264; BFH, Urteil v. 6. Mai 1997, BFH NV 1997, 727, 728. 123 Vgl. BFH, Beschluss vom 8. Mai 1984, Az. VII K 5 / 81, Gründe nicht veröffentlicht. 124 EuGH, Dzodzi, C-297 / 88 und 197 / 89, Slg. 1990, I-3763. 125 EuGH, Gmurzynska-Bscher, C-231 / 89, Slg. 1990, I-4003. 126 Schlussanträge des Generalanwaltes Darmon, Dzodzi, C-297 / 88 und C 197 / 89, Slg. 1990, I-3778; Schlussanträge des Generalanwaltes Darmon, Gmurzynska-Bscher, C-231 / 89; alle Schlussanträge vom 3. Juli 1990. 120 121
D. Vorabentscheidungskompetenz des EuGH bei Gemeinschaftsrecht
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Frau Dzodzi, eine togolesische Staatsangehörige, heiratete einen belgischen Staatsangehörigen, der wenig später verstarb. Nach dem Tod ihres Mannes beantragte sie eine belgische Aufenthaltserlaubnis. Da sie mehrfach Belgien kurzzeitig verlassen hatte, war ihre Rechtsposition unklar. Das insoweit einschlägige belgische Ausländergesetz hatte eine interessante Gesetzessystematik. Es fragte, wie die Ehefrau stünde, wäre sie mit einem EU-Ausländer statt mit einem Belgier verheiratet. Einen dementsprechenden Status sollte die Ehefrau eines Belgiers dann erhalten. Hintergrund dieser kompliziert erscheinenden Systematik war, dass auf diesem Wege das Phänomen der Inländerdiskriminierung vermieden werden konnte. Obwohl es offensichtlich war, dass der konkret zu entscheidende Fall keinerlei Bezug zum Gemeinschaftsrecht aufwies, begehrte das vorlegende Gericht eine Auslegung der einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften, um zu wissen, wie Frau Dzodzi im Falle der Verheiratung mit einem EU-Ausländer stünde. Der Gerichtshof nahm zu der Zuständigkeitsproblematik Stellung, indem er zunächst sein Verständnis über die Aufgabenverteilung im Rahmen des Art. 177 (heute Art. 234) erläuterte127: „Das in Artikel 177 EWG-Vertrag vorgesehene Verfahren ist demgemäß ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten, mit Hilfe dessen ersterer letzteren die Kriterien für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts an die Hand gibt, die sie für die Entscheidung der bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten benötigen. Hieraus folgt, daß es allein Sache der nationalen Gerichte ist, bei denen der Rechtsstreit anhängig ist und die die Verantwortung für die zu erlassende gerichtliche Entscheidung tragen, im Hinblick auf die Besonderheiten jedes Einzelfalls sowohl die Erforderlichkeit einer Vorlageentscheidung für den Erlaß ihres Urteils als auch die Erheblichkeit der von ihnen dem Gerichtshof vorgelegten Frage zu beurteilen. Folglich ist der Gerichtshof, wenn die von den nationalen Gerichten gestellten Fragen die Auslegung einer Bestimmung des Gemeinschaftsrechts betreffen, grundsätzlich zu einer Entscheidung verpflichtet.“
Zu einer (weiteren128) Ausnahme von diesem Grundsatz sah sich der Gerichtshof nicht veranlasst129: „Weder aus dem Wortlaut des Artikels 177 noch aus dem Zweck des durch diesen Artikel eingeführten Verfahrens ergibt sich, daß die Verfasser des Vertrages solche Vorlagen von der Zuständigkeit des Gerichtshofes ausschließen wollten, die eine Gemeinschaftsbestimmung in dem besonderen Fall betreffen, dass das nationale Recht eines Mitgliedstaates auf den Inhalt dieser Bestimmung verweist, um die auf einen rein internen Sachverhalt dieses Staates anwendbaren Vorschriften zu bestimmen.
127 128 129
EuGH, Dzodzi, C-297 / 88 und 197 / 89, Slg. 1990, I-3763, 3793 Rz. 33 – 35. Zu den schon anerkannten Ausnahmen vgl. Kapitel 2 B. EuGH, Dzodzi, C-297 / 88 und 197 / 89, Slg. 1990, I-3763, 3793 Rz. 36 – 37.
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Kap. 2: Vorabentscheidungskompetenz des EuGH gemäß Art. 234 EG Es besteht im Gegenteil für die Gemeinschaftsrechtsordnung ein offensichtliches Interesse daran, daß jede Bestimmung des Gemeinschaftsrechts unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie angewandt werden soll, eine einheitliche Auslegung erhält, damit künftige unterschiedliche Auslegungen verhindert werden.“
Des Weiteren stellte der Gerichtshof klar130: „Die Zuständigkeit des Gerichtshofes beschränkt sich jedoch auf die Prüfung der Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts. Er kann in seiner Antwort nicht die allgemeine Systematik der Bestimmungen des nationalen Rechts berücksichtigen, die gleichzeitig mit der Verweisung auf das Gemeinschaftsrecht den Umfang dieser Verweisung festlegen. Für die Berücksichtigung der Grenzen, die der nationale Gesetzgeber der Anwendung des Gemeinschaftsrechts auf rein interne Sachverhalte, auf die es nur mittelbar kraft nationalen Gesetzes anwendbar ist, setzen wollte, gilt das innerstaatliche Recht, so daß dafür ausschließlich die Gerichte des Mitgliedstaates zuständig sind.“
Trotz heftiger Kritik der Generalanwälte hielt der Gerichtshof an dieser Rechtsprechung fest. Er bestätigte sie u. a. in den Rechtssachen Tomatis und Fulchiron131, in Leur-Bloem132 und Giloy133. All diesen Rechtssachen war gemeinsam, dass nationale Rechtsvorschriften aus einem Rechtsgebiet, in dem die Gemeinschaft keine Rechtssetzungskompetenz hat, auf Gemeinschaftsrecht verwiesen. Bevor diese Rechtsprechung ausführlich untersucht wird, erfolgt in Hinblick auf die fehlerhafte Vorlageentscheidung in der Rechtssache Thomasdünger eine Überprüfung der nationalen Vorlage in der Rechtssache Gmurzynska-Bscher, welche im Übrigen keine argumentativen Unterschiede seitens des Gerichtshofes zu Dzodzi aufweist.
2. Die Entscheidungserheblichkeit der Vorlage im Verfahren Gmurzynska-Bscher In dem Rechtsstreit Gmurzynska-Bscher ging es um folgenden Sachverhalt: Frau Gmurzynska-Bscher, eine Galeristin, importierte aus den Niederlanden nach Deutschland das Kunstwerk „Konstruktion aus Emaille 1“ und beantragte diesbezüglich eine vZTA. Diese benötigte sie für die Berechnung der fälligen Einfuhrumsatzsteuer. Letztere verweist auf die jeweilige Einordnung in den gemeinsamen Zolltarif134. Da auf Grund der außergewöhnlichen Beschaffenheit des Kunstwerkes mehrere verschiedene Einordnungen in den GZT denkbar waren, kam es zu Meinungsverschiedenheiten mit der Oberfinanzdirektion; im anschließenden Rechtsstreit legte der BFH vor. 130 131 132 133 134
EuGH, Dzodzi, C-297 / 88 und 197 / 89, Slg. 1990, I-3763, 3794 Rz. 42. EuGH, Tomatis und Fulchiron, C-384 / 89, Slg. 1991, I-127. EuGH, Leur-Bloem, C-28 / 95, Slg. 1997, I-4161. EuGH, Giloy, C-130 / 95, Slg. 1997, I-4295. Vgl. § 21 Abs. 2 UStG 1980.
D. Vorabentscheidungskompetenz des EuGH bei Gemeinschaftsrecht
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Im Gegensatz zur Rechtssache Thomasdünger war die Entscheidung des BFH135 für eine Vorlage korrekt. Insbesondere stand sie nicht im Widerspruch zu seiner Rechtsprechung, dass eine vZTA nicht erteilt werden kann, wenn damit eine umsatzsteuerliche Vergünstigung nur im Inland erstrebt wird136. Insoweit ist nämlich zu beachten, dass zum damaligen Zeitpunkt noch das UStG 1980137 galt. Danach fielen Gegenstände aus dem Gemeinschaftsgebiet noch unter die Einfuhrumsatzsteuer138. Für Letztere sah § 21 Abs. 2 UStG die sinngemäße Anwendung der Zollvorschriften vor, was die Vorschriften über die vZTA umfasst139. Nach heutiger Rechtslage wäre eine Vorlage allerdings fehlerhaft. Denn mit dem durch das UStG 1993140 neu geschaffenen Steuertatbestand des innergemeinschaftlichen Erwerbes (§ 1 Abs. 1 Nr. 5 UStG) unterfällt die Einfuhr aus dem Gemeinschaftsgebiet nicht mehr der Einfuhrumsatzsteuer, sondern gilt als innere Umsatzsteuer141. Die Verweisungen in der dann einschlägigen Anlage zu § 12 UStG beziehen sich aber nur auf den Zolltarif, sie schließen die Vorschriften über die vZTA nicht ein142. Eine vZTA dürfte daher nach heutiger Rechtslage nicht erteilt werden143.
III. Kritik der Dzodzi-Rechtsprechung In der deutlichen Mehrzahl der Fälle folgt der Gerichtshof den Schlussanträgen der Generalanwälte144. Gerade im Rahmen der Dzodzi-Rechtsprechung haben die Generalanwälte beständig versucht, den Gerichtshof von einem anderen Ergebnis zu überzeugen und damit zu einer Aufgabe seiner Rechtsprechung zu bewegen. Darüber hinaus sind einige Konsequenzen der Dzodzi-Rechtsprechung erörterungsbedürftig: So ist beispielsweise sowohl die Frage der Rechtskraft der in dieser Konstellation ergangenen Urteile unklar als auch die Frage, ob im Rahmen der DzodziRechtsprechung die letztinstanzlichen Gerichte gemäß Art. 234 Abs. 3 EG vorlageverpflichtet sind.
BFH, Beschluss v. 6. Juni 1989, BFH NV 1990, S. 203. Vgl. BFH, Urteil v. 31. Juli 1973, BFHE 110, 92, 93; bestätigt durch BFH, Urteil v. 20. Juni 1995, BFHE 178, S. 262, 264; BFH, Urteil v. 6. Mai 1997, BFH NV 1997, 727, 728. 137 Vgl. BStBl. 1979 I, 654. 138 Vgl. Plückebaum-Malitzky / Schwarz, UStG, § 1 Abs. 1 Nr. 4. 139 Vgl. BFH, Urteil v. 3. Mai 1990, BFHE 161, 260, 261. 140 Vgl. BStBl. 1993, 345, 646. 141 Vgl. Sölch / Ringleb / Schöll, UStG, § 12 Rdn. 51. 142 Vgl. BFH, Urteil v. 20. Juni 1995, BFHE 178, 262, 265. 143 Vgl. BFH Urteil v. 6. Mai 1997, BFH NV 1997, 727, 728; a.A. M. Scheuer, Neuere und neueste Entwicklungen im Bereich der verbindlichen Zolltarifauskunft, ZfZ 1992, 377, 381. 144 J. Gündisch, Rechtschutz, S. 62. 135 136
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Kap. 2: Vorabentscheidungskompetenz des EuGH gemäß Art. 234 EG
Im Folgenden wird daher diese Rechtsprechung näher untersucht. Die Untersuchung wird dabei in diesem Kapitel auf die gemeinschaftsrechtlichen Aspekte beschränkt. In diesem Rahmen soll auch geprüft werden, ob die Rechtssachen Fournier145, Federconsorzi146 und Kleinwort Benson147, in denen die Zuständigkeit des Gerichtshofes auf Grund ähnlicher Überlegungen umstritten war, vom EuGH richtig entschieden worden sind. Die Generalanwälte stützten ihre Angriffe zum einen auf die Kritik der tragenden Gründe, zum anderen auf Hinweise bezüglich der problematischen Folgen dieser Rechtsprechung. Die Untersuchung erfolgt dementsprechend.
1. Kritik der tragenden Gründe Die Erwägung des Gerichtshofes, dass sich weder aus dem Wortlaut des Artikels 234 noch aus Sinn und Zweck der Regelung ergebe, dass die Verfasser des Vertrages solche Vorlagen von der Zuständigkeit des Gerichtshofes ausschließen wollten, die eine Gemeinschaftsbestimmung in dem besonderen Fall betreffen, dass das nationale Recht eines Mitgliedstaates auf den Inhalt dieser Bestimmung verweist, um die auf einen rein internen Sachverhalt dieses Staates anwendbaren Vorschriften zu bestimmen, ist die erste Schaltstelle auf dem Weg zur Bejahung seiner Zuständigkeit. Diese Erwägung ist durchaus angreifbar.
a) Wortlaut und subjektiv-historische Auslegung Soweit auf den mutmaßlichen Willen der Verfasser des Vertrages abgestellt wird, liegt es nahe, dass Letztere eine derartige Situation nicht vorhergesehen haben148. Betrachtet man den Wortlaut des Art. 234 Abs. 1 EG, so entscheidet der Gerichtshof gemäß lit. a) über die Auslegung des Vertrages. Gemäß lit. b) entscheidet er auch über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe der Gemeinschaft und der EZB und somit über das Sekundärrecht. Legt man den anhängigen Rechtsstreit zu Grunde, ließe sich vertreten, dass hier keine Frage des Vertrages bzw. des Sekundärrechts gestellt wird, da man sich überhaupt nicht im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts befindet. Diese Auffassung vertreten offenbar die Generalanwälte mit der Formulierung, es gäbe kein Gemeinschaftsrecht außerhalb des Gemeinschaftsrechts149.
145 146 147 148
457.
Vgl. EuGH, Fournier, C-73 / 89, Slg. 92, I-5621. Vgl. EuGH, Federconsorzi, C-88 / 91, Slg. 1992, I-4035. Vgl. EuGH, Kleinwort Benson, C-346 / 93, Slg. 1995, I-615. So auch D. Simon, Questions préjudicielles, Journal du Droit international 1991, 455,
D. Vorabentscheidungskompetenz des EuGH bei Gemeinschaftsrecht
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Dagegen ließe sich anführen, dass es auf den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts nicht ankommt; dieser ist in Art. 234 EG nicht ausdrücklich erwähnt. Die Tatsache, dass sich die Frage zu der Auslegung des Vertrages oder des Sekundärrechts in nationalem Zusammenhang stellt, ändert nichts daran, dass eine „Frage über die Auslegung des Vertrages bzw. eine Frage über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe der Gemeinschaft und der EZB“ gestellt wird. Geht man diese Überlegung mit, so liegt die Annahme der Zuständigkeit nicht außerhalb des Wortlautes150. b) Systematische Auslegung Systematisch bedenklich erscheint, dass es der Gerichtshof für eine Bejahung der Zuständigkeit ausreichen lässt, dass der Wortlaut sowie Sinn und Zweck eine Zuständigkeit nicht ausschließen. Hierbei ist zu beachten, dass die Entscheidungskompetenz des Gerichtshofes auf die in den Verträgen enumerativ festgelegten Klage- und Verfahrensarten beschränkt ist. Es gibt daher zahlreiche, nicht ausdrücklich ausgeschlossene Fälle, in denen der Gerichtshof nicht zuständig ist. Der Schluss vom nicht ausdrücklichen Ausgeschlossensein zur Bejahung der Einschließung ist daher systemwidrig151. c) Sinn und Zweck Die Gewährleistung einer einheitlichen Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts ist die wichtigste Aufgabe des Vorabentscheidungsverfahrens152. Die Bejahung der Zuständigkeit mit teleologischer Begründung setzt daher voraus, dass eben diese einheitliche Auslegung und Anwendung im Falle der Verneinung der Zuständigkeit gefährdet wäre. Diese Gefahr besteht nach Ansicht des Gerichtshofes153: „Es besteht im Gegenteil für die Gemeinschaftsrechtsordnung ein offensichtliches Interesse daran, dass jede Bestimmung des Gemeinschaftsrechts unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie angewandt werden soll, eine einheitliche Auslegung erhält, damit künftige unterschiedliche Auslegungen verhindert werden.“
Der EuGH ist offenbar der Ansicht, dass eine falsche Auslegung des Gemeinschaftsrechts seitens eines nationalen Gerichts in einem außergemeinschaftlichen 149 So erstmals Generalanwalt Darmon, Schlussanträge Gmurzynska-Bscher, C-231 / 89, Slg. 1990, I-4009, 4010. 150 So wohl auch P. Hommelhoff, Die Rolle der nationalen Gerichte bei der Europäisierung des Privatrechts, FS 50 Jahre BGH, S. 889, 920. 151 In diese Richtung auch Generalanwalt Tesauro, Slg. 1995, I-617, 630. 152 Vgl. oben unter Kapitel 2 A. 153 EuGH, Dzodzi, C-297 / 88 und 197 / 89, Slg. 1990, I-3763, 3793, Rz. 37.
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Kap. 2: Vorabentscheidungskompetenz des EuGH gemäß Art. 234 EG
Rahmen die Auslegung des Gemeinschaftsrechts auch für den Fall gefährdet, dass es in seinem eigentlichen Anwendungsbereich relevant wird. Letztlich ist diese Annahme spekulativer Natur. Ob man die Auffassung des Gerichtshofes154 als unnötige Dramatisierung werten muss155, mag dahinstehen. Die (Gegen)Auffassung des Generalanwaltes Jacobs, dass eine derartige Gefährdung höchstens mittelbar und nur vorübergehend ist, erscheint durchaus schlüssig. Seiner Ansicht nach wäre im Rechtsverkehr klar, dass die Auslegung des nationalen Gerichts im außergemeinschaftlichen Rahmen nicht durch den Gerichtshof autorisiert wurde und daher im gemeinschaftlichen Rahmen in Frage gestellt werden könnte156. Dem lässt sich allerdings zugunsten der Auffassung des EuGH folgende Überlegung entgegenhalten157: Unterstellt, Rechtsstreitigkeiten würden zunächst in den Fällen der nationalen Verweisung von der Rechtsprechung unter rein nationalen Kriterien entschieden. Treten später Streitigkeiten im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts auf und werden diese auf Vorlage vom Gerichtshof anders entschieden, stehen die nationalen Gerichte im Teilbereich der nationalen Verweisung vor einem Dilemma. Sie können dann nur entweder ihre eigene Rechtsprechung zu der nationalen Verweisung revidieren, was bei den betroffenen Verkehrskreisen auf Unverständnis stoßen wird, oder sie können an ihrer abweichenden Rechtsprechung festhalten mit der Folge, dass die gleiche Rechtsnorm unterschiedlich angewandt wird, je nach dem, ob man sich im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts oder der nationalen Verweisung befindet. Ein derartiger Zerfall kodifikatorischer Regelungen könnte dem Gerichtshof angelastet werden und somit dessen Akzeptanz in den Kreisen der nationalen Justiz verringern. d) Der Vorwurf der Kompetenzüberschreitung Vor einer Kompetenzüberschreitung bei Bejahung der Zuständigkeit warnte erstmals Generalanwalt Mancini in der Rechtssache Thomasdünger. Er formulierte diese Warnung wie folgt158: 154 Zustimmend wohl D. Simon, Législation nationale opérant un Renvoi aux Dispositions communautaires, Europe 1997, Octobre 15, 16. 155 So R. Mehdi, Renvoi préjudiciel en Interprétation, Journal du Droit international 1998, 480, 483. 156 Vgl. Schlussanträge des Generalanwaltes Jacobs, Leur-Bloem, C-28 / 95, Slg. 1997, I-4165, 4180. 157 Vgl. J. Basedow, Der BGH, seine Rechtsanwälte und das europäische Privatrecht, FS für Hans Erich Brandner, S. 651, 663; ähnlich R. Schulze, Auslegung Europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 9, 19. 158 Vgl. Schlussantrag des Generalanwalts Mancini, Thomasdünger, C-166 / 84, Slg. 1985, 3002, 3003.
D. Vorabentscheidungskompetenz des EuGH bei Gemeinschaftsrecht
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„Mit anderen Worten, es (das Gemeinschaftsrecht) wird nur deshalb berücksichtigt, weil eine nationale Stelle sich freiwillig und einseitig dafür entschieden hat, es als Bezugspunkt für die Festlegung der eigenen (Hervorhebung im Original) Regeln zu verwenden. Bei der Beantwortung dieser Fragen würde der Gerichtshof daher scheinbar die in diesen genannten Normen auslegen, in Wirklichkeit aber innerstaatliche Vorschriften beurteilen, in die diese Normen übernommen worden sind, wobei sie ihren zwingenden Charakter gänzlich verloren haben. Das bedeutet, dass der Gerichtshof eine Aufgabe wahrnehmen würde, deren Wahrnehmung ihm durch Artikel 177 EWG-Vertrag ausdrücklich untersagt ist.“
Auch in den Rechtssachen Dzodzi und Gmurzynska-Bscher war der Generalanwalt der Meinung, dass der Gerichtshof keine Kompetenz hatte. Er vertrat letztlich die Ansicht, dass gar kein Gemeinschaftsrecht betroffen sei und folglich die Kompetenz fehle159: „Artikel 177 ist von entscheidender Bedeutung dafür, dass das vom Vertrag geschaffene Recht wirklich gemeinsames Recht bleibt; er soll gewährleisten, dass dieses Recht in allen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft immer die gleiche Wirkung hat. Naturgemäß betrifft dieser Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens, die Einheitlichkeit der Wirkungen des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten, selbstverständlich nur den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts, so wie er in diesem und nur in diesem definiert wird. ( . . . ) Es gibt kein Gemeinschaftsrecht außerhalb des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts. ( . . . ) Dass die Begriffe, die es in diesem Rahmen zugrunde legt, einseitig angewandt werden können, um diesen oder jenen Gesichtspunkt einer nationalen Regelung zu bestimmen, kann den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts und demgemäß die Zuständigkeit des Gerichtshofes nicht erweitern.“ (alle Hervorhebungen im Original)
Diesen Warnungen begegnete der Gerichtshof mit seiner Klarstellung160: „Die Zuständigkeit des Gerichtshofes beschränkt sich jedoch auf die Prüfung der Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts. Er kann in seiner Antwort nicht die allgemeine Systematik der Bestimmungen des nationalen Rechts berücksichtigen, die gleichzeitig mit der Verweisung auf das Gemeinschaftsrecht den Umfang dieser Verweisung festlegen. Für die Berücksichtigung der Grenzen, die der nationale Gesetzgeber der Anwendung des Gemeinschaftsrechts auf rein interne Sachverhalte, auf die es nur mittelbar kraft nationalen Gesetzes anwendbar ist, setzen wollte, gilt das innerstaatliche Recht, so dass dafür ausschließlich die Gerichte des Mitgliedstaates zuständig sind.“
Mit dieser Klarstellung kann der Gerichtshof den Vorwurf, letztlich nationales Recht auszulegen161, widerlegen162. Es wird jedoch noch zu prüfen sein, inwieweit die feinsinnige Differenzierung des EuGH praktikabel ist. 159 Vgl. Schlussantrag des Generalanwalts Darmon, Dzodzi, C-297 / 88 und C 197 / 89, Slg. 1990, I-3778, 3780. 160 EuGH, Dzodzi, C-297 / 88 und 197 / 89, Slg. 1990, I-3763, 3794, Rz. 42. 161 Inkorrekt insoweit D. Chalmers, EU-Law I, S. 439; A. Martín Jiménez, Impuestos Directos, Asunto C-28 / 95, Revista española de Derecho Financiero 1998, 483, 485 spricht von einer Erweiterung des Anwendungsbereiches des Gemeinschaftsrechts (amplía del ámbito de aplicación del Derecho comunitario); H. Rasmussen, Remedying the crumbling EC judicial System, CMLR 2000, 1071, 1082 meint, the Court interprets purely national provisions. 162 Zutreffend F. Wassermeyer, Die Verpflichtung der obersten Bundesgerichte zur Vorlage von Bilanzierungsfragen an den EuGH, FS für Martin Lutter, S. 1633, 1644.
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Kap. 2: Vorabentscheidungskompetenz des EuGH gemäß Art. 234 EG
Die Kritik aus der Literatur, dass der Gerichtshof entweder seine Kompetenz überschritten habe oder sich Kompetenzen durch die Mitgliedstaaten habe einseitig zuweisen lassen163, geht fehl164. Sie übersieht, dass der EuGH gerade nicht die nationale Verweisungsnorm165, sondern nur die originäre Gemeinschaftsrechtsnorm auslegt. Seine Zuständigkeit hierfür folgt schon aus dem Wortlaut des Art. 234 EG. Die Tatsache, dass im Ausgangsrechtsstreit nur über nationales Recht entschieden wird, ist allein eine Frage der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage166. Diese Frage zu beantworten, obliegt aber nach ständiger Rechtsprechung grundsätzlich dem nationalen Richter. Hiervon zu trennen ist die Frage, ob es dem EuGH möglich gewesen wäre, ähnlich den schon bestehenden Fallgruppen, in denen er von diesem Grundsatz abweicht167, eine weitere zu statuieren. Akzeptiert man die Prämisse, dass bei Verneinung der Zuständigkeit die einheitliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts gefährdet wäre, kann man die Begründung des EuGH als in sich tragfähig bezeichnen168. Eine Motivation des Gerichtshofes mag darin bestanden haben, sich selbst als oberste Instanz für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu bestätigen. In diesem Zusammenhang war es ihm offenbar gleichgültig, in welchem Zusammenhang das Gemeinschaftsrecht Anwendung fand169.
2. Konsequenzen der Dzodzi-Rechtsprechung Es bleibt aber zu prüfen, ob die Konsequenzen dieser Rechtsprechung nicht dafür sprechen, eine andere, auch in sich schlüssige Lösung zu wählen.
163 So D. Martin, Du bon Usage de l‘Article 177 du Traité de Rome, Revue de jurisprudence de Liège, Mons et Bruxelles 1991, 189, 190. 164 So auch Bravo-Ferrer Delgado / La Casta Muñoa, Case Law, CMLR 1992, 152, 158. 165 So fehlgehend Peter / Eichhoff, Anmerkung zu DE+ES, C-275 / 97, EWS 1999, 436, 438, die davon sprechen, der EuGH habe seine Zuständigkeit im deutschen Steuerbilanzrecht bejaht. Missverständlich auch Crezelius in Kirchhof, EStG, § 5 Rdn. 15, der davon spricht, dass der EuGH davon ausgehe, dass die gesetzliche Fassung des § 5 Abs. 1 S. 1 EStG eine Entscheidungsdivergenz zwischen Zivil- und Finanzgerichtsbarkeit verhindern soll. Der EuGH macht sich hierüber ausweislich seiner Dzodzi-Rechtsprechung keine Gedanken, sondern übernimmt die diesbezügliche Wertung der nationalen Gerichte. 166 A.A., aber fehlgehend G. Betlem, Case Law, CMLR 1996, 137, 146. 167 Vgl. oben unter Kapitel 2 B. 168 So auch Bravo-Ferrer Delgado / La Casta Muñoa, Case Law, CMLR 1992, 152, 158. 169 So Bravo-Ferrer Delgado / La Casta Muñoa, Case Law, CMLR 1992, 152, 159.
D. Vorabentscheidungskompetenz des EuGH bei Gemeinschaftsrecht
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a) Probleme bei der Auslegung der gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift im Falle der nationalen Verweisung Der Gerichtshof beschränkt seine Auslegung in den Fällen der nationalen Verweisung ausschließlich auf das Gemeinschaftsrecht. Damit vermeidet er den Vorwurf, letztlich nationales Recht auszulegen. Es wird sich zeigen, dass eine derartige Beschränkung problematisch ist. Diese Problematik resultiert zum Teil aus einigen Besonderheiten der Auslegung im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens, die deshalb vorher dargestellt werden sollen. (1) Die Auslegung im Rahmen des Art. 234 EG Wie schon dargelegt, sind im Rahmen des Kooperationsverhältnisses die Kompetenzbereiche des vorlegenden nationalen Gerichts und des Gerichtshofes voneinander abgegrenzt. In der Rechtssache Da Costa formulierte der EuGH dies wie folgt170: „Gibt der Gerichtshof im Rahmen eines bestimmten, vor einem innerstaatlichen Gericht schwebenden Rechtsstreites eine Auslegung des Vertrages, so beschränkt er sich darauf, die Bedeutung der Normen des Gemeinschaftsrechts aus Geist und Wortlaut des Vertrages abzuleiten, während es dem innerstaatlichen Richter vorbehalten ist, die in dieser Weise ausgelegten Normen auf den konkreten Fall zu übertragen.“
Die Rechtsauslegung, welche im Übrigen auch die Schließung von Lücken171 und die Rechtsfortbildung172 umfasst, ist daher Sache des EuGH, die Rechtsanwendung obliegt dem nationalen Gericht173. Art. 234 EG zerreißt einen in der normalen Gerichtspraxis letztlich einheitlichen Vorgang, dessen einzelne Akte – Normerkenntnis und Normauswahl, Tatsachenfeststellung und -selektion, Tatsachenwürdigung unter den Gesichtspunkten der in Betracht kommenden Normen – von einem für Auslegung und Anwendung zuständigen Richter nicht in strengem Nacheinander, sondern in ständigem Wechselspiel vollzogen werden174.
EuGH, Da Costa, C-28 – 30 / 62, Slg. 1962, 89. Vgl. H.-W. Daig, Zur Rechtsvergleichung und Methodenlehre im europäischen Gemeinschaftsrecht, FS für Konrad Zweigert, S. 395, 402. 172 M. Heintzen, Die „Herrschaft“ über die Europäischen Gemeinschaftsverträge – Bundesverfassungsgericht und Europäischer Gerichtshof auf Konfliktkurs?, AöR 119 (1994), 564, 585; G. Schaub, Der Rechtsschutz im Arbeitsrecht vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, NJW 1994, 81, 83. 173 Vgl. H. Matthies, Zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorlageverfahren, in Rechtsvergleichung, Europarecht und Staatenintegration, Gedächtnisschrift für Vlad Constantinesco, S. 471, 473. 174 Vgl. H.-W. Daig, Aktuelle Fragen der Vorabentscheidungen nach Art. 177 EWGV unter besonderer Berücksichtigung von Rechtsprechung und Praxis des EuGH, Europarecht 1968, 259, 283. 170 171
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Daher ist die Grenze zwischen Rechtsauslegung und Rechtsanwendung in der Praxis vor dem EuGH fließend175. Dies liegt auch daran, dass in bestimmten Fallgestaltungen, u. a. im Zolltarifrecht, die Auslegung derart ins Detail geht, dass dem nationalen Richter bei seiner Subsumtion keinerlei Spielraum mehr verbleibt. Dem Gerichtshof deswegen Kompetenzüberschreitung mit der Begründung vorzuwerfen, er würde nicht nur auslegen, sondern auch das Gemeinschaftsrecht konkret anwenden, erscheint unangebracht. Die detaillierte Auslegung des EuGH ist regelmäßig nur die Antwort auf eine detaillierte Vorlagefrage. Im Übrigen hätte der nationale Richter kein Interesse an einer Auslegung, die derart abstrakt ist, dass sie ihm im Ergebnis nicht weiterhilft176. In der Tat ist erwogen worden, zu konkrete Vorlagefragen als unzulässig zu betrachten, da es insoweit nicht mehr um Rechtsauslegung, sondern um Rechtsanwendung geht177. In Hinblick auf die Unmöglichkeit einer exakten Abgrenzung zwischen Auslegung und Anwendung sollten sich derartige Überlegungen aber nur auf spezielle Fallgruppen, wie z. B. das Zolltarifrecht, beziehen178. Der Gerichtshof befindet sich jedenfalls in einem ständigen Spannungsverhältnis, einerseits eine hinreichend klare Rechtsauskunft, die sich unmittelbar auf den nationalen Rechtsstreit beziehen lässt, zu erteilen, es aber andererseits zu vermeiden, diesen Rechtsstreit faktisch zu präjudizieren179. Im Grundsatz achtet er darauf, die Grenzen der Auslegung nicht zu überschreiten. Insgesamt gesehen ist die Praxis flexibel und fallorientiert180. Viel spricht dafür, im Rahmen der Auslegung im Vorabentscheidungsverfahren nicht von Kompetenzen zu sprechen, die der Abgrenzung bedürfen, sondern das Verständnis von aufeinanderfolgenden Abschnitten eines Prozesses in den Vordergrund zu stellen181.
175 Vgl. V. Constantinesco, La libre Circulation des Personnes et des Services, Journal du Droit international 1976, 221, 226; G. Bebr, Case Law – Case 69 / 85, CMLR 1987, 719, 727. 176 Vgl. R. Kovar, La Procédure du Renvoi préjudiciel en Interprétation, Journal du Droit international 1976, 191, 192. 177 In diesem Sinne die Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs, Wiener, C-338 / 95, Slg. 1997, I-6497, 6502. 178 Vgl. H. Lecheler, Einführung in das Europarecht, S. 208, wonach eine derartige Einschränkung des Vorabentscheidungssystems einer ausdrücklichen vertraglichen Regelung bedürfe. 179 Vgl. J. Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaft, S. 70. 180 Vgl. U. Everling, Vorabentscheidungsverfahren, S. 32. 181 Vgl. C. Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaft, S. 48.
D. Vorabentscheidungskompetenz des EuGH bei Gemeinschaftsrecht
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(2) Die besondere Problematik in den Fällen der nationalen Verweisung Urteile im Vorabentscheidungsverfahren haben oft allgemeine Bedeutung über den konkreten Fall hinaus. Oft erwartet man von ihnen auch die abstrakte Klärung grundsätzlicher Fragen. Nach Ansicht von Everling zögert der Gerichtshof heute, anders als in den sechziger Jahren, weitreichende Grundsätze und Doktrinen zu entwickeln. Er zieht es vielmehr vor, sich eng auf die im konkreten Fall entscheidungserheblichen Probleme zu beschränken. Ein wesentlicher Grund hierfür liegt in der Komplexität des Gemeinschaftsrechts, so dass die Auswirkungen der Urteile immer schwerer vorauszusehen sind182. Diese Problematik besteht schon bei den „normalen“ Auslegungen, d. h. bei Auslegungen, denen ein gemeinschaftsrechtlicher Sachverhalt zu Grunde liegt. Bei den hier diskutierten Fällen kommt aber noch erschwerend hinzu, dass der zugrunde liegende Sachverhalt gerade keinen gemeinschaftsrechtlichen Hintergrund hat, sondern sich ausschließlich im nationalen Rechtskreis befindet. Im Fall Leur-Bloem183 zeigt sich diese Problematik besonders plastisch. Der Rechtssache liegt, hier vereinfachend dargestellt, folgender Sachverhalt zu Grunde: Frau Leur-Bloem war Alleingesellschafterin und Geschäftsführerin zweier privater Gesellschaften niederländischen Rechts. Sie beabsichtigte, Anteile an einer dritten Gesellschaft (auch niederländisch) zu erwerben, wobei die Bezahlung mit Anteilen an den beiden ersteren erfolgen sollte. Sie beantragte bei der niederländischen Finanzverwaltung, diese Transaktion im Rahmen des niederländischen Einkommensteuergesetzes als „Fusion durch Austausch von Anteilen“ zu behandeln. Hintergrund dieses Antrages war die Möglichkeit, bei der dem Antrag entsprechenden Einordnung einen horizontalen steuerlichen Verlustausgleich vornehmen zu können. Das niederländische Einkommensteuergesetz wiederum verlangt nach Auffassung des vorlegenden Gerichts, dass innerstaatliche Fusionen innergemeinschaftlichen Fusionen gleichgestellt werden. Die steuerliche Behandlung Letzterer ist in der Richtlinie 90 / 434 / EWG184 über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, die Einbringung von Unternehmensanteilen und den Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten betreffen, geregelt. Hintergrund dieser Richtlinie ist die Überlegung, dass Fusionen etc. notwendig sind, um binnenmarktähnliche Verhältnisse zu schaffen. Die Richtlinie verhindert u. a., dass der Wertzuwachs, der regelmäßig bei der Einbringung von Unterneh182 Vgl. U. Everling, Rechtsanwendungs- und Auslegungsgrundsätze des EuGH, in DStJG 11, 51, 58. 183 EuGH, Leur-Bloem, C-28 / 95, Slg. 1997, I-4161. 184 ABl. 1990, L 225, S. 1.
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mensanteilen anfällt, ohne Weiteres besteuert wird. Nach Art. 11 der Richtlinie brauchen die Mitgliedstaaten die Richtlinie nicht anzuwenden, wenn eine der hauptsächlichen Beweggründe der Fusion die Steuerersparnis ist185. Letzteres wird sogar indiziert, wenn die Fusion nicht auf „vernünftigen wirtschaftlichen Gründen“ beruht. Mit der Vorlagefrage begehrte das niederländische Gericht insbesondere eine Auslegung von „Austausch von Anteilen“ (im Folgenden Vorlagefrage 1). So wollte es wissen, ob der Annahme eines „Austausches von Anteilen“ entgegenstehe, dass dieselbe natürliche Person, die vor dem Austausch Alleingesellschafter der erworbenen Gesellschaften war, nach dem Austausch Alleingesellschafter der zu erwerbenden Gesellschaft ist. Des Weiteren wollte das Gericht wissen, ob der Hintergrund der Fusion, einen horizontalen Verlustausgleich nach dem niederländischen Einkommensteuergesetz realisieren zu können, einen „vernünftigen wirtschaftlichen Grund“ i.S.v. Art. 11 der Richtlinie bildet (im Folgenden Vorlagefrage 2). Generalanwalt Jacobs äußerte mehrere Bedenken bei der Auslegung. Zutreffend wies er darauf hin, dass der Begriff des „Austausches von Anteilen“, dessen Tragweite für die Anwendung der Richtlinie von erheblicher Bedeutung sei, hier vor dem Hintergrund eines Sachverhaltes ausgelegt werde, der mit den Vorgängen, die die Richtlinie regeln wollte, nämlich grenzüberschreitende Fusionen, sehr wenig zu tun habe. Im Gegensatz zu Auslegungsfragen im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts hat der Gerichtshof daher keinen konkreten Fall, anhand dessen er subsumieren oder die praktischen Folgen seiner Auslegung abschätzen kann186. Generalanwalt Jacobs räumte ein, dass es selbst bei Vorliegen eines konkreten Falles zu Fehleinschätzungen kommen könne; insoweit gäbe es keine Garantie dafür, dass der Sachverhalt einer Rechtssache die Beurteilung aller maßgeblichen Punkte zulasse187. Die Gefahr einer Fehleinschätzung und damit einer Fehlentscheidung sei jedoch in Fällen, in denen der Gerichtshof die Vorschriften außerhalb des eigentlichen Rahmens auslegen müsste, erheblich größer. Schließlich müsse man auf fiktive, nur gedanklich erschlossene Situationen abstellen. Hier sei die Möglichkeit, erhebliche Faktoren zu übersehen bzw. durch sachfremde Faktoren (nämlich die des nationalen Falls188) irregeleitet zu werden, besonders groß189. 185 Vgl. ausführlicher A. de Waal, Droit fiscal international français: Développements récents. Revue de Droit des Affaires internationales 1998, 108, 113. 186 Vgl. H.-J. de Kluiver, Harmonisation of Law, Substantive Review and Abuse of Rights in the EC, S. 47, 55. 187 Vgl. Schlussantrag des Generalanwaltes Jacobs, Leur-Bloem, C-28 / 95, Slg. 1997, I-4165, 4182. 188 Vgl. H.-J. de Kluiver, Harmonisation of Law, Substantive Review and Abuse of Rights in the EC, S. 47, 55.
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Darüber hinaus bestehen nicht immer identische, fiktiv gemeinschaftsrechtliche Situationen. Dies zeigte sich erstmals bei der Vorlagefrage 2 in der Rechtssache Leur-Bloem: Bei einem innergemeinschaftlichen, d. h. bei einem grenzüberschreitenden Austausch von Anteilen ist ein niederländischer horizontaler Verlustausgleich gar nicht möglich. Denn um den Tatbestand der Grenzüberschreitung zu erfüllen, müsste sich mindestens eine Partei außerhalb der Niederlande befinden. Dann aber findet das niederländische Einkommensteuergesetz keine direkte Anwendung. Vielmehr könnte man einen vergleichbaren Effekt nur mittelbar, nämlich über die Anwendung von Doppelbesteuerungsabkommen erreichen. Die fiktiv „gemeinschaftsrechtliche“ Situation ist dann aber nicht mehr identisch mit dem dem Rechtsstreit zugrunde liegenden Sachverhalt. Diese Bedenken des Generalanwaltes sind nicht von der Hand zu weisen. Zwar kann man bei keiner der bisher vom Gerichtshof entschiedenen Fälle derartige Fehler feststellen. Dies liegt zum einen daran, dass einigen Rechtssachen190 sehr konkrete Vorlagefragen zu Grunde lagen, die von ihrer Natur her kaum allgemeine Auswirkungen haben. Zum anderen ist die Dzodzi-Rechtsprechung vergleichsweise jung. Viel spricht daher dafür, dass es nur eine Frage der Zeit und damit verbunden der Anzahl der zu entscheidenden Fälle ist, bis sich die Befürchtungen des Generalanwaltes bewahrheiten werden. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob alle Auslegungsinstrumente, die dem Gerichtshof üblicherweise zur Verfügung stehen, auch in den Fällen der nationalen Verweisung Anwendung finden. Bei der Beantwortung dieser Frage wird man differenzieren müssen: Die primärrechtskonforme Auslegung, d. h. die vertragskonforme Auslegung von Sekundärrecht, ist weiterhin möglich191. Da es sich insoweit um die Auslegung von Gemeinschaftsrecht handelt, wirkt sich die Tatsache, dass im Ausgangsrechtsstreit das Gemeinschaftsrecht nur mittelbar Anwendung findet, nicht aus. Fraglich ist dagegen, inwieweit die Grundsätze über die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts, insbesondere der Grundsatz der richtlinienkonformen Auslegung, Anwendung finden. Dieser Grundsatz, der nach der Rechtsprechung des EuGH nicht nur im Verhältnis Bürger gegen Mitgliedstaat192, sondern auch bei Streitigkeiten zwischen Bür189 Vgl. Schlussantrag des Generalanwaltes Jacobs, Leur-Bloem, C-28 / 95, Slg. 1997, I-4165, 4182. 190 So z. B. in den Rechtssachen Gmurzynska-Bscher und Giloy. 191 Bei G. Betlem, Annotation to Case 28 / 95 Leur-Bloem, CMLR 1999, 165, 175 bleibt unklar, ob er mit „doctrine of concistent interpretation“ auch die primärrechtskonforme Auslegung erfassen will. 192 Vgl. EuGH, von Colson und Kaufmann, C-14 / 83, Slg. 1984, 1891, 1892.
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gern193 gilt, setzt voraus, dass das nationale Recht in den Anwendungsbereich der jeweiligen Richtlinie fällt194. Gerade dies ist aber in den hier untersuchten Konstellationen nicht der Fall. Dies spricht entscheidend dafür, dass eine richtlinienkonforme Auslegung gemeinschaftsrechtlich nicht erforderlich ist195. Der EuGH bestätigte diese Ansicht in der Rechtssache ICI196: „Betrifft der Rechtsstreit vor dem nationalen Gericht also einen Sachverhalt, der nicht in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fällt, so ist dieses Gericht nach dem Gemeinschaftsrecht weder verpflichtet, seine Rechtsvorschriften gemeinschaftsrechtskonform auszulegen, noch, sie unangewendet zu lassen.“
Um so erstaunlicher ist der nächste Satz: „Falls ein und dieselbe Vorschrift in einer in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallenden Situation unangewendet bleiben müßte, in einer nicht in diesen Anwendungsbereich fallenden Situation jedoch weiterhin angewendet werden könnte, wäre das zuständige Organ des betreffenden Staates verpflichtet, diese Rechtsunsicherheit zu beseitigen, soweit sie die sich aus den Gemeinschaftsrechtsvorschriften ergebenden Rechte beeinträchtigen könnte.“
Zum besseren Verständnis dieser Aussage ist eine kurze, stark vereinfachte Schilderung des Sachverhaltes notwendig: Die Klägerin, Teilinhaberin einer Holding in Großbritannien, wollte im Ausgangsrechtsstreit erreichen, Verluste einer Tochtergesellschaft steuerlich auf ihr Ergebnis zu übertragen. Nach dem britischen Income and Corporation Tax Act war dies allerdings nur dann möglich, wenn die Mehrheit der Tochtergesellschaften ihren Sitz in Großbritannien hatte. Diese Regelung hielt die Klägerin für nicht vereinbar mit der Niederlassungsfreiheit. Der Fall wies die zusätzliche Besonderheit auf, dass die numerische Mehrheit der Tochtergesellschaften ihren Sitz nicht in anderen Mitgliedstaaten, sondern in Drittstaaten hatte. Nur eine Minderheit hatte den Sitz in Mitgliedstaaten. Das vorlegende Gericht hielt es allerdings für möglich, dass der Begriff „Mehrheit“ nach dem Income and Corporation Tax Act nicht numerisch, sondern möglicherweise nach Umsätzen zu bestimmen sei. Mit seiner ersten Vorlagefrage wollte es wissen, ob es mit der Niederlassungsfreiheit vereinbar sei, dass ein nationaler Gesetzgeber die obige Regelung trifft. Der Gerichtshof verneinte dies im Ergebnis. Seine Zuständigkeit, von der britischen Regierung mangels Entscheidungserheblichkeit bezweifelt, bejahte er in 193 Vgl. EuGH, Marleasing, C-106 / 89, Slg. 1990, I-4135; P. Craig, Directives: Direct Effect, Indirect Effect and the Construction of National Legislation, ELR 1997, 519, 525. 194 Vgl. P. Mead, The Obligation to apply European Law: is Duke dead?, ELR 1991, 490, 497. 195 So auch N. Travers, Residence Restraints on the Transferability of Corporate Trading Losses and the Right of Establishment in Community Law, ELR 1999, 403, 409. 196 EuGH, ICI, C-264 / 96, Slg. 1998, I-4695, 4725.
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konsequenter Fortführung der Rechtsprechung, dass er nur in den offensichtlich entscheidungsunerheblichen Vorlagen nicht zu entscheiden brauche197. Mit der zweiten Vorlagefrage wollte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 10 EG-Vertrag es gebiete, auch für Fälle, die nicht in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallen, eine Verlustübertragung zuzulassen. Der Gerichtshof verneinte diese Frage. Im konkreten Fall sah er keine Gefahr für eine Beeinträchtigung von Rechten aus dem Gemeinschaftsrecht198. Offensichtlich hält es der Gerichtshof aber für grundsätzlich denkbar, dass die unterschiedliche Behandlung von Fällen, die in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallen, und Fällen, die außerhalb des Gemeinschaftsrechts spielen, zu einer Rechtsunsicherheit führen kann, die letztlich die Rechte aus dem Gemeinschaftsrecht beeinträchtigt. Diese Überlegung weist eine ähnlich hohe Sensibilität auf wie der Gedanke des EuGH, dass eine falsche Auslegung des Gemeinschaftsrechts seitens eines nationalen Gerichts in einem außergemeinschaftlichen Rahmen die Auslegung des Gemeinschaftsrechts auch dann gefährdet, wenn Letzteres in seinem eigentlichen Terrain relevant wird199. Diese Überlegung kann aber auch zu sehr problematischen Ergebnissen führen. So erscheint es vorstellbar, dass sich die – wenngleich indirekte – Beeinträchtigung von Gemeinschaftsrechten nur dadurch beheben ließe, dass die außergemeinschaftlichen Fälle den gemeinschaftlichen gleichgestellt werden. Über eine indirekte Gefährdung des Gemeinschaftsrechts käme man dann aber zu einer enormen Ausweitung des Anwendungsbereiches des Gemeinschaftsrechts. Dies gilt insbesondere für die Fälle der so genannten Inländerdiskriminierung. Hier geht der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung richtigerweise davon aus, dass das Gemeinschaftsrecht keine Anwendung findet200. Obige Argumentation ließe sich auf die Fälle der Inländerdiskriminierung durchaus übertragen. Überlegungen in vergleichbarer Richtung finden sich in einem solchen Fall bei Generalanwalt da Cruz Vilaça201. Dogmatisch erscheint daher schon die Eröffnung des Anwendungsbereiches von Art. 10 , hier Satz 2202, sehr bedenklich. Man sollte die Äußerung des EuGH aber nicht überbewerten. Zum einen muss tatsächlich eine echte Gefahr der indirekten Beeinflussung von GemeinschaftsVgl. oben unter Kapitel 2 B. II. EuGH, ICI, C-264 / 96, Slg. 1998, I-4695, 4725. 199 Vgl. oben unter Kapitel 2 D. II. 200 Vgl. EuGH, Aubertin u. a., C-29 bis 35 / 94, Slg. 1995, I-301, 316; weitere Nachweise in den dazugehörenden Schlussanträgen des Generalanwalts Lenz, S. 308 Fn. 17 ff. 201 Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts da Cruz Vilaça, Gauchard, C-20 / 87, Slg. 1987, 4885, 4887. 202 So auch H. van den Hurk, The European Court of Justice knows its Limits, EC-Tax 1999, 211, 222. 197 198
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rechten vorliegen, was der Gerichtshof z. B. für den konkreten Fall verneint hat203. Zum anderen folgt selbst aus dem Vorliegen einer derartigen Gefahr nicht eine notwendige Gleichbehandlung; auch der EuGH spricht nur von der Verpflichtung zur Beseitigung der Rechtsunsicherheit, welcher beispielsweise auch durch ausdrückliche Abgrenzung innerhalb der nationalen Regelungen nachgekommen werden kann. Trotz dieser starken Einschränkungen: Nimmt man die Äußerung des EuGH ernst, sind die Mitgliedstaaten auch auf außergemeinschaftlichem Terrain, und hierzu zählen die Fälle der nationalen Verweisung, in der Rechtsanwendung nicht mehr völlig frei204. Es sei angemerkt, dass die richtlinienkonforme Auslegung, gemeinschaftsrechtlich erforderlich oder nicht, immer eine Auslegung des nationalen Rechts ist, die dem nationalen Richter obliegt, auch wenn Letzterer zu einer derartigen Auslegung vom Gerichtshof angehalten wurde. Es ist daher der nationale Richter, dem bei der Entscheidung des Rechtsstreites einige Auslegungsmethoden nicht mehr zur Verfügung stehen. Denn das hier Gesagte gilt nicht nur für die richtlinienkonforme Auslegung, sondern selbstverständlich auch für die unter bestimmten Voraussetzungen205 mögliche direkte Wirkung von Richtlinien206. Nach alledem lässt sich konstatieren, dass dem Gerichtshof bei der Auslegung von Gemeinschaftsrecht in den Fällen nationaler Verweisungen nicht weniger Auslegungsinstrumente zur Verfügung stehen. Insofern ist die Dzodzi-Rechtsprechung unproblematisch. Problematisch ist sie aber deswegen, weil der Gerichtshof die Gemeinschaftsrechtsregelung vor dem Hintergrund eines rein nationalen Sachverhaltes auslegen muss.
b) Die Rechtskraft der Entscheidung des Gerichtshofes Hat sich der Gerichtshof mit der Dzodzi-Rechtsprechung den Weg zu seiner Entscheidung wie oben dargelegt verkompliziert, so stellt sich als Nächstes die Frage, welche Auswirkungen diese Rechtsprechung auf seine Entscheidung selbst hat, insbesondere auf deren Rechtskraft. Die Rechtskraft von Vorabentscheidungsurteilen ist im positiven Gemeinschaftsrecht nicht geregelt. Daher und auf Grund der Natur des Vorabentscheidungsverfahrens ist sie umstritten. Zunächst soll hier die Wirkung von Auslegungsurteilen auf den Ausgangsrechtsstreit im Allgemeinen und im Falle der nationalen Verwei203
Für seinen Fall auch Generalanwalt da Cruz Vilaça, Gauchard, C-20 / 87, 1987, 4885,
4887. 204 205
A.A., aber ohne Begründung A. Rainer, Anmerkung zu ICI, IStR 1998, 471. Vgl. EuGH, Ratti, C-148 / 78, Slg. 1979, 1629; Moormann, C-190 / 87, Slg. 1988,
4689. 206
So auch G. Betlem, Annotation to Case 28 / 95 Leur-Bloem, CMLR 1999, 165, 175.
D. Vorabentscheidungskompetenz des EuGH bei Gemeinschaftsrecht
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sung auf Gemeinschaftsrecht im Besonderen untersucht werden. Dem soll eine entsprechende Untersuchung für die Urteile, welche Gültigkeitsfragen betreffen, folgen. (1) Die Wirkung von Auslegungsurteilen im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens Auslegungsurteile entfalten zum einen Wirkungen inter partes. Untersuchenswert ist darüber hinaus, ob und in welchem Umfang Folgen inter omnes bestehen. Denn diese Möglichkeit bildete den Hintergrund der Bedenken des Generalanwaltes Jacobs in der Rechtssache Leur-Bloem bezüglich der Auslegung der gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift in den Fällen der nationalen Verweisung207. (a) Die Wirkung inter partes Zu der Wirkung eines Auslegungsurteils auf den Ausgangsrechtsstreit hat der EuGH frühzeitig Stellung genommen. In der Rechtssache Milch-, Fett- und Eierkontor208 entschied er, dass seine Auslegung die mit dem Ausgangsverfahren befassten Gerichte bindet. Das heißt, dass nicht nur das vorlegende Gericht insoweit gebunden ist. Die Bindung gilt auch für ein eventuell vorhandenes Rechtsmittelgericht, ein Instanzgericht, welches sich nach einer Zurückverweisung mit der Sache befasst, und für das Gericht der Hauptsache, wenn schon im summarischen Verfahren vorgelegt wurde209. In Deutschland gilt die Bindung auch für das BVerfG im Rahmen einer konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG210. Die Bindung besteht darin, dass das nationale Gericht nicht von der Auslegung des fraglichen Gemeinschaftsrechts durch den Gerichtshof abweichen darf. Dies schließt nicht aus, dass eine erneute Vorlage durch das nationale Gericht in der gleichen Rechtssache erfolgen kann. Derartige Vorlagen hält der EuGH für gerechtfertigt, wenn das nationale Gericht beim Verständnis oder der Anwendung des Urteils Schwierigkeiten hat, wenn es eine neue Rechtsfrage stellt oder dem Gerichtshof neue Gesichtspunkte unterbreitet, die ihn dazu veranlassen könnten, eine bereits gestellte Frage abweichend zu beantworten211. Die Bindungswirkung inter partes hat zwei Facetten: Zum einen ist sie abstrakter Natur, nämlich bezüglich der Auslegung des Gemeinschaftsrechts. Zum ande207 Vgl. Schlussantrag des Generalanwaltes Jacobs, Leur-Bloem, C-28 / 95, Slg. 1997, I-4165, 4182; ausführlich in Kapitel 2 D. III. 2. a) (2). 208 EuGH, Milch-, Fett- und Eierkontor, C-29 / 68, Slg. 1968, S. 165, 166; bestätigt durch EuGH, Benedetti, C-52 / 76, Slg. 1977, 163. 209 Vgl. M. Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 148. 210 Vgl. BVerfG, Beschluss v. 25. Juli 1979, BVerfGE 52, 187, 201; zustimmend R. Stettner, Europäisches Gemeinschaftsrecht als Quelle der Rechtsfindung deutscher Gerichte 1974 – 1984, AöR 1986, 537, 589. 211 Vgl. EuGH, Wünsche, C-69 / 85, Slg. 1986, 947, 953.
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ren wirkt sie auch konkret, nämlich bei der Entscheidung des Ausgangsrechtsstreites. Letztere Wirkung ist aber nicht uneingeschränkt. So kann das vorlegende Gericht, möglicherweise gerade auf Grund der Antwort des Gerichtshofes, nachträglich zu dem Schluss kommen, dass Gemeinschaftsrecht nicht einschlägig ist212. Die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage fällt grundsätzlich in seine Kompetenz213. (b) Die Wirkung inter omnes Welche Wirkungen ein Auslegungsurteil über den konkreten Rechtsstreit hinaus haben kann, ist in der Rechtslehre stark umstritten. Nach einer Ansicht besteht eine rechtliche Wirkung erga omnes. Sieht man in dem Vorabentscheidungsverfahren ein „objektiviertes Verfahren“ zur abstrakten Auslegung des Gemeinschaftsrechts, so liegt es in der Tat nicht fern, dass der einmal getroffenen Auslegung Gesetzeskraft oder eine gesetzesgleiche Wirkung zuerkannt wird214. Auch andere Aspekte des Vorabentscheidungsverfahrens sprechen hierfür. Erwähnt wird in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass nach Art. 20 der Satzung des Gerichtshofes das Vorabentscheidungsersuchen der nationalen Gerichte den Mitgliedstaaten und der Kommission mit der Möglichkeit der Stellungnahme zugestellt wird215. Der wichtigste Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens, die Sicherung der Einheit der Gemeinschaftsrechtsordnung, spricht ebenfalls dafür, dass die Auslegung nicht für ein bestimmtes Verfahren, sondern nur ein für allemal in einem bestimmten Sinn vorgenommen werden kann216. Am Gerichtshof fand diese These in Generalanwalt Trabucchi einen Verfechter217. Ein anderer Generalanwalt, Lagrange, vertrat eine dem entgegenstehende Auffassung218. Diese, als herrschend bezeichnet219, geht zwar auch von einer allgemeinen Wirkung aus, allerdings nicht auf Grund von rechtlicher AllgemeinverVgl. M. Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 149. Vgl. oben unter Kapitel 2 B. 214 Vgl. J. Schwarze, Abstraktion, S. 125. 215 Vgl. Smit / Herzog, The Law of the EC, § 177.22(b). 216 Vgl. Commentaire Megret, Art. 177, Nr. 41. 217 Vgl. Schlussantrag des Generalanwalts Trabucchi, Syndicat général, C-18 / 74, Slg. 74, 946, 953; ders., L’Effet „erga omnes“ des Décisions préjudicielles rendues par la Cour de Justice des Communautés Européennes, RTDE 1974, 56, 82. 218 Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Lagrange, Da Costa, C-28 – 30 / 62, Slg. 1963, 85, 91; ders., L’Action préjudicielle dans le Droit interne des Etat Membres et en Droit communautaire, RTDE 1974, 268, 296. 219 Vgl. J. Schwarze, Abstraktion, S. 125; M. Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 153 und Lenz-Borchardt, EG-Vertrag, Art. 234 Rdn. 55 sprechen sogar von allgemeiner Auffassung. 212 213
D. Vorabentscheidungskompetenz des EuGH bei Gemeinschaftsrecht
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bindlichkeit, sondern auf Grund der Leitfunktion für die Anwendung des Gemeinschaftsrechts220. Gegen eine rechtliche Allgemeinverbindlichkeit spreche die Tatsache, dass der Gerichtshof nicht selbst an seine frühere Entscheidung gebunden sei221. Da das Vorabentscheidungsverfahren auf einem bestimmten Prozess aufbaue, könne die Auslegungsentscheidung, auch wenn sie abstrakt getroffen werde, ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung schwerlich über den konkreten Rahmen des Ausgangsverfahrens hinausweisen222. Schließlich spreche die nach der C.I.L.F.I.T-Rechtsprechung223 gegebene Möglichkeit einer nochmaligen Vorlage seitens der nationalen Gerichte gegen eine derartige Rechtsbindung. Diese Meinungsverschiedenheit, die ihre Ursache letztlich in der oben beschriebenen Unmöglichkeit einer rein abstrakten Auslegung hat, ist vom Gerichtshof nicht ausdrücklich entschieden worden. In der Rechtssache Salumi nahm er zum Wesen der Auslegung wie folgt Stellung224: „Durch die Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts, die der Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Art. 177 EWG-Vertrag vornimmt, wird erläutert und erforderlichenfalls verdeutlicht, in welchem Sinn und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre. Daraus folgt, daß die Gerichte die Vorschrift in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse, die vor Erlaß des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteils entstanden sind, anwenden können und müssen, wenn alle sonstigen Voraussetzungen für die Anrufung der zuständigen Gerichte in einem die Anwendung dieser Vorschrift betreffenden Streit vorliegen.“
Diese Stellungnahme wird in der Literatur verschiedentlich als Neigung zu einer rechtlichen erga omnes Wirkung gewertet225. Die praktische Relevanz des Meinungsstreites ist gering226. Denn letztinstanzliche Gerichte müssen, wollen sie von einer Auslegung des Gerichtshofes abweichen, nach der C.I.L.F.I.T-Rechtsprechung227 ohnehin vorlegen. Nur die Frage, ob auch die unterinstanzlichen Gerichte bei Abweichung zu einer Vorlage verpflichtet sind, wird im Ergebnis unterschiedlich beantwortet228.
Vgl. U. Everling, Vorabentscheidungsverfahren, S. 66. Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Lagrange, Da Costa, C-28 – 30 / 62, Slg. 1963, 85, 91. 222 Vgl. J. Schwarze, Abstraktion, S. 126. 223 Vgl. EuGH, C.I.L.F.I.T., C-283 / 81, Slg. 1982, 3415, 3429. 224 Vgl. EuGH, Salumi, C-66, 127,128 / 79, Slg. 1980, 1237, 1260. 225 Vgl. Schwarze, EU-Kommentar, Art. 234 Rdn. 66. 226 Vgl. Stuart / Warner, Judicial Decision as a Source of Community Law, FS für Hans Kutscher, S. 273, 278. 227 Vgl. EuGH, C.I.L.F.I.T., C-283 / 81, Slg. 1982, 3415. 228 Für Vorlagepflicht M. Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 155; A. Pietrek, Verbindlichkeit, S. 258 ff.; dagegen Schwarze, EU-Kommentar, Art. 234 Rdn. 66. 220 221
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Kap. 2: Vorabentscheidungskompetenz des EuGH gemäß Art. 234 EG
(c) Die Wirkung von Auslegungsurteilen im Fall der nationalen Verweisung auf Gemeinschaftsrecht Die obige229 Überlegung, dass es nicht ausgeschlossen sei, dass die Auslegung seitens des Gerichtshofes keine Anwendung im konkreten Rechtsstreit findet, ist in normalen Konstellationen eher theoretischer Natur. In den Fällen der nationalen Verweisung auf Gemeinschaftsrecht gewinnt sie schnell an Brisanz. Denn hier wird im Ausgangsrechtsstreit allein über nationales Recht entschieden. Der Unterschied zu den Fällen im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts ist folgender: Wenn der nationale Richter im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts die Entscheidungserheblichkeit der Vorlage bejaht, ist er, falls er nicht später die Entscheidungserheblichkeit verneinen sollte, gemeinschaftsrechtlich verpflichtet, die Auslegung des EuGH zu übernehmen; dem Urteil kommt dann eine inter partes Wirkung zu. In den Fällen der nationalen Verweisung kann eine derartige gemeinschaftsrechtliche Verpflichtung nicht bestehen. Denn der Gerichtshof selbst beschränkt in seiner Dzodzi-Rechtsprechung seine Auslegung ausschließlich auf das Gemeinschaftsrecht230, der nationale Richter entscheidet aber über nationales Recht. In den Fällen der Verweisung steht es daher im Ausgangsrechtsstreit dem vorlegenden Gericht unter gemeinschaftsrechtlichen Aspekten frei, die Auslegung des Gerichtshofes zu übernehmen231. Diese Freiheit wird jedenfalls nicht eingeschränkt durch die Treuepflicht der Mitgliedstaaten gemäß Art. 10 EG. Insofern erscheint es zwar überlegenswert, aus dieser Treuepflicht eine Verpflichtung zu folgern, nur dann vorzulegen, wenn die Antwort des Gerichtshofes als entscheidungserheblich angesehen wird. Ob eine derartige Folgerung überzeugend ist, erscheint zweifelhaft, kann aber dahinstehen. Denn jedenfalls kann eine derartige Pflicht nicht so weit gehen, dass nach Entscheidung seitens des Gerichtshofes eine Verpflichtung besteht, die Entscheidung des EuGH als für den Ausgangsrechtsstreit entscheidungserheblich anzunehmen. Denn eine solche Pflicht besteht, wie oben gezeigt, auch in den „normalen“ Fällen der Vorlage nicht. Die eingeschränkte Bindungswirkung des EuGH-Urteils hat bei den Generalanwälten von Anfang an für Unbehagen gesorgt232. Generalanwalt Tesauro hielt es mit dem Vorabentscheidungsverfahren für unvereinbar, dass die Auslegung nicht verbindlich sei233. Diese Aussage ist so aber nicht korrekt. Die Auslegung des Ge-
Vgl. Kapitel 2 D. III. 2. b) (1) (a). Vgl. oben Fn. 160. 231 So ausdrücklich EuGH, Fournier, C-73 / 89, Slg. 92, I-5659. 232 Vgl. Schlussantrag des Generalanwalts Darmon, Dzodzi, C-297 / 88 und C 197 / 89, Slg. 1990, I-3778, 3780. 233 Vgl. Generalanwalt Tesauro, Kleinwort Benson, C-346 / 93, Slg. 1995, I-617, 630. 229 230
D. Vorabentscheidungskompetenz des EuGH bei Gemeinschaftsrecht
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richtshofes bezüglich des Gemeinschaftsrechts ist auch in den Fällen der Verweisung verbindlicher Natur. Sie wirkt zum einen inter partes, als dass im Ausgangsrechtsstreit, soweit über Gemeinschaftsrecht entschieden wird, nicht von der Auslegung des Gerichtshofes abgewichen werden darf. Diese Wirkung wird regelmäßig nur theoretischer Natur sein, da im Ausgangsrechtsstreit gerade nicht über Gemeinschaftsrecht, sondern über – auf dieses Recht verweisendes – nationales Recht entschieden wird. Dies lässt aber die Bindungswirkung nicht entfallen. So ist es zum Beispiel vorstellbar, dass das Rechtsmittelgericht nicht das verweisende nationale Recht, sondern das Gemeinschaftsrecht direkt für anwendbar hält. In diesem Falle wäre es an die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den Gerichtshof gebunden. Eine andere Wirkung der Vorabentscheidung des EuGH ist praktisch relevanter: die Wirkung inter omnes. Unabhängig von der Tatsache, ob man ihr nur faktische oder rechtliche Wirkung zubilligt, besteht sie für die Fälle der Verweisung in gleichem Maße wie im Normalfall. Dies war im Übrigen auch der Hintergrund der Bedenken des Generalanwaltes Jacobs in der Rechtssache Leur-Bloem bezüglich der Auslegung der gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift234. Die von Generalanwalt Tesauro235 gezogene Parallele zum EWR-Gutachten I236 des EuGH ist, soweit dem Gerichtshof insoweit Widersprüchlichkeit vorgeworfen wurde, fragwürdig237. In dem Gutachten hatte es der Gerichtshof für nicht hinnehmbar gehalten, dass seine Antworten lediglich Auskunftswirkung und keine Bindungswirkung hätten238. Wie oben gezeigt, besitzen die Urteile des Gerichtshofes aber Bindungswirkung auch in den Fällen der nationalen Verweisung. Ein Wertungswiderspruch lässt sich dagegen zu der Rechtsprechung Zabala Erasun239 feststellen. Dort hatte es der Gerichtshof für den Fall, dass die vorgelegte Frage zwar nicht im Ausgangsrechtsstreit, wohl aber in anderen Verfahren von Bedeutung sei, abgelehnt, das Vorabentscheidungsersuchen zu beantworten240. Der Gerichtshof habe keine Zuständigkeit zur Abgabe von Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen241. Die Rechtswirkungen eines Auslegungsurteils im Falle der nationalen Verweisung sind aber nahezu identisch mit denen in der Fallgruppe Zabala Erasun. Ein 234 Vgl. Schlussantrag des Generalanwaltes Jacobs, Leur-Bloem, C-28 / 95, Slg. 1997, I-4165, 4182; ausführlich in Kapitel 2 D. III. 2. a) (2). 235 Vgl. Generalanwalt Tesauro, Kleinwort Benson, C-346 / 93, Slg. 1995, I-617, 630. 236 Vgl. EuGH, EWR I, Gutachten 1 / 91, Slg. 1991, I-6079. 237 Dies räumt Generalanwalt Jacobs ein im Schlussantrag Leur-Bloem, C-28 / 95, Slg. 97, I-4184. 238 Vgl. EuGH, EWR I, Gutachten 1 / 91, Slg. 1991, I-6079. 239 Vgl. EuGH, Zabala Erasun u. a., C-422 / 93, 423 / 93 und 424 / 93, Slg. 1995, I-1567. 240 Vgl. Kapitel 2 B. II. 2. 241 Vgl. EuGH, Zabala Erasun u. a., C-422 / 93, 423 / 93 und 424 / 93, Slg. 1995, I-1567.
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Unterschied besteht lediglich in der Tatsache, dass in der Fallgruppe Zabala Erasun die Auslegung mit Sicherheit keine Auswirkung auf den Ausgangsrechtsstreit hat, während dies in den Fällen der nationalen Verweisung in den Händen des vorlegenden Gerichts liegt. Ausdrücklich hielt der Gerichtshof es insoweit aber für denkbar, dass das vorlegende Gericht keinen Nutzen aus der Auslegung für den konkreten Fall ziehen könne242. Dieser geringfügige Unterschied rechtfertigt keine unterschiedliche Behandlung. (2) Die Wirkung von Gültigkeitsprüfungen im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens Im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens entscheidet der EuGH nicht nur über Auslegungs-, sondern auch über Gültigkeitsfragen. (a) Die Rechtskraft von Entscheidungen bezüglich von Gültigkeitsfragen Die Rechtskraft dieser Entscheidungen ist etwas einfacher als bei den Auslegungsurteilen zu beurteilen. Zu den Folgen für den Fall, dass der Gerichtshof eine Norm im Ergebnis für ungültig hält, hat der EuGH in der Rechtssache International Chemical Corporation243 überzeugend ausgeführt: „Ein Urteil des Gerichtshofes, durch das nach Artikel 177 EWG-Vertrag die Ungültigkeit der Handlung eines Organs, insbesondere einer Verordnung des Rates oder der Kommission, festgestellt wird, stellt, obwohl sein unmittelbarer Adressat nur das Gericht ist, das den Gerichtshof angerufen hat, für jedes andere Gericht einen ausreichenden Grund dafür dar, diese Handlung bei den von ihm zu erlassenden Entscheidungen als ungültig anzusehen. Da dies allerdings nicht bedeutet, dass den nationalen Gerichten die Befugnis, die ihnen Art. 177 EWG-Vertrag einräumt, entzogen wäre, ist es Sache dieser Gerichte zu beurteilen, ob ein Interesse daran besteht, eine bereits vom Gerichtshof entschiedene Frage erneut aufzuwerfen, wenn der Gerichtshof bereits zuvor die Ungültigkeit der Handlung eines Gemeinschaftsorgans festgestellt hat. Ein solches Interesse könnte vor allem dann gegeben sein, wenn noch Unklarheiten über die Gründe, über den Umfang und eventuell über die Folgen der zuvor festgestellten Ungültigkeit bestehen sollten.“
Mit dieser Entscheidung unterscheidet der Gerichtshof dogmatisch sauber zwischen der Nichtigkeitserklärung nach einer Nichtigkeitsklage und der Feststellung der Ungültigkeit im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens244. Vgl. EuGH, Fournier, C-73 / 89, Slg. 92, I-5621, 5659 Rdn. 23. Vgl. EuGH, International Chemical Corporation, C-66 / 80, Slg. 1981, 1191 ff. 244 Vgl. J. Usher, Declarations of Invalidity under Article 177 ECC: Of general Effect?, ELR 1981, 284, 285. 242 243
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Die insofern bestehende Möglichkeit, dass der EuGH im Rahmen einer erneuten Prüfung – eine erneute Vorlage wäre durchaus zulässig245 – für ungültig erkanntes Recht nunmehr für gültig erachtet, ist aber theoretischer Natur246. Praktisch hat die Feststellung der Ungültigkeit daher Wirkung erga omnes247. Soweit der Gerichtshof die zu prüfende Norm für gültig erachtet, tenoriert er seit frühester Rechtsprechung248: „Die Prüfung der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen hat keinen Grund ergeben, die vorbezeichnete Norm als ungültig zu betrachten.“
Diese Entscheidung hat keine konstitutive Wirkung und entfaltet mithin keine Rechtskraft über den konkreten Streit hinaus. Freilich kann kein nationales Gericht von sich aus Gegenteiliges entscheiden. Dies beruht aber nicht auf der Rechtskraft des Urteils, sondern auf der Tatsache, dass nationale Gerichte nach der Foto-FrostRechtsprechung249 keine Kompetenz für die Verwerfung von Gemeinschaftsrechtsnormen haben250. (b) Relevanz für die Fälle der nationalen Verweisung Soweit ersichtlich, wurde der Gerichtshof in den Fällen der nationalen Verweisung immer nur um Auslegung gebeten. (i) Möglichkeit der Gültigkeitsprüfung Diese Tatsache macht eine Untersuchung aber nicht entbehrlich. Zum einen ist es vorstellbar, dass dem nationalen Gericht Zweifel auch an der Gültigkeit der zugrunde liegenden gemeinschaftlichen Regelung kommen. Zum anderen ist eine ausdrückliche Gültigkeitsvorlage nicht notwendig, wenn der EuGH im Rahmen einer Auslegungsfrage die Gültigkeit der Vorschrift überprüfen kann. In der Literatur wird darauf hingewiesen, dass sich die Gültigkeitsprüfung nicht immer von der Auslegung trennen lasse251. Für die Fälle der primärrechtskonformen Auslegung von Sekundärrecht liegt dies auf der Hand, insoweit gibt es auch eine einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofes252. Der EuGH ließ es darüber hinaus in der Vgl. Weatherill / Beaumont, EC Law, S. 291. Vgl. H. Labayle, La Cour de Justice des Communautés et les Effets d’une Déclaration d’Invalidité, RTDE 1982, 484, 492; M. de Wilmars, Annulation et Appréciation de Validité dans le Traité CEE: Convergence ou Divergence?, FS für Hans Kutscher, 283, 298; a.A., sogar diese theoretische Möglichkeit ausschließend A. Pietrek, Verbindlichkeit, S. 233 ff. 247 So auch U. Everling, Vorabentscheidungsverfahren, S. 65. 248 Vgl. EuGH, Rotterdam, C-73 und 74 / 63, Slg. 1964, 3, 31. 249 Vgl. EuGH, Foto-Frost, C-314 / 85, Slg. 1987, 4199. 250 So auch A. Pietrek, Verbindlichkeit, S. 212. 251 Vgl. GTE-Krück, EG-Vertrag, Art. 177 Rdn. 41. 252 Vgl. EuGH, Schul, C-15 / 81, Slg. 1982, 1409, 1434; EuGH, Merck, C-292 / 82, Slg. 1985, 3781, 3794. 245 246
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Rechtssache Beus253 ausreichen, dass die Gültigkeit nicht schon im Vorlagebeschluss, sondern durch späteres Parteivorbringen angezweifelt wurde. Ob der Gerichtshof uneingeschränkt die Gültigkeit einer Gemeinschaftsrechtsnorm prüfen darf, wenn ihm nur Auslegungsfragen vorgelegt wurden, mag zweifelhaft erscheinen. Dagegen ließe sich möglicherweise anführen, dass der nationale Richter im Rahmen des Kooperationsverhältnisses mit seinem Vorlagebeschluss die zu behandelnden Fragen begrenzt254. Für ein uneingeschränktes Prüfungsrecht spricht aber entscheidend, dass der Gerichtshof „sehenden Auges“ eine ungültige Norm nicht soll auslegen müssen. Schließlich ist er bei einer Gültigkeitsfrage auch nicht auf die Prüfung der Zweifel aus dem Vorlagebeschluss beschränkt, sondern kann ex-officio anderen Zweifeln nachgehen255. In der Literatur wurde schon frühzeitig ein umfassendes Prüfungsrecht gefordert256. Nachdem der Gerichtshof in einem Auslegungsverfahren257 von sich aus die Gültigkeit geprüft hatte, anerkannte er in der Rechtssache Roquettes Frères258 ein derartiges Prüfungsrecht ausdrücklich und stellte im Ergebnis die Nichtigkeit einer Verordnung fest. Noch großzügiger war der EuGH in der Rechtssache De Haan259. Hier erklärte er in einem Vorabentscheidungsverfahren eine Entscheidung der Kommission für ungültig, obwohl diese Entscheidung gar nicht Gegenstand der Vorlagefrage war. Er reagierte damit pragmatisch auf die Besonderheit des Falles, wonach diese Entscheidung in gleichzeitig anhängigen, aber ausgesetzten Verfahren mit einer Nichtigkeitsklage angegriffen worden war260. Für den Gerichtshof war es im Ergebnis wichtiger, dem „mit der Entscheidung des Ausgangsrechtsstreites befassten Gericht eine zweckdienliche Antwort zu geben“261, als rein dogmatischen Überlegungen zu folgen. Schon aus Praktikabilitätsgründen ergibt sich aber auch, dass der Gerichtshof nicht zu einer umfassenden Gültigkeitsprüfung verpflichtet ist. Nach alledem ist es denkbar, dass der Gerichtshof auch in den Fällen der Dzodzi-Verweisungen zu Gültigkeitsfragen Stellung nimmt.
Vgl. EuGH, Beus, C-5 / 67, Slg. 1968, 127, 144. Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Gand, Beus, C-5 / 67, Slg. 1968, 162, 164; J.-F. Couzinet, Le Renvoi en Appréciation de Validité devant la Cour de Justice des Communautés Européennes, RTDE 1976, 648, 662. 255 Vgl. EuGH, Rotterdam, C-73 und 74 / 63, Slg. 1964, 3, 30; Reapenbusch, Droit institutionnel, S. 439. 256 Vgl. E.-W. Fuss, Anmerkung zum Urteil C-5 / 67, Europarecht 1968, 295, 305. 257 Vgl. EuGH, Bagusat, C-87, 112 und 113 / 79, Slg. 1980, 1159, 1170. 258 Vgl. EuGH, Roquettes Freres, C-145 / 79, Slg. 1980, 2917. 259 Vgl. EuGH, De Haan, C-61 / 98, Slg. 1999, I-5003. 260 Zustimmend Bode / Ehle, Die Ausweitung des Prüfungsumfanges im Vorabentscheidungsverfahren durch den EuGH, EWS 2001, 55, 57. 261 Vgl. EuGH, De Haan, C-61 / 98, Slg. 1999, I-5003, 5044. 253 254
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(ii) Gemeinschaftsrechtliche Auswirkung der Gültigkeitsprüfung Allein die Tatsache, dass eine Gültigkeitsprüfung in den Fällen der nationalen Verweisung möglich sein soll, sorgte für Unmut bei den Generalanwälten262, Generalanwalt Jacobs empfand diese Möglichkeit gar als unsinnig263. In der Tat erscheint es ungewöhnlich, dass letztlich auf Grund eines nationalen Rechtsstreits eine gemeinschaftsrechtliche Norm für unwirksam erklärt werden könnte. Von der ungewohnten Konstellation abgesehen, sind ernsthafte Folgen auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene nicht ersichtlich264. Für den Fall, dass die Gültigkeitsprüfung kein negatives Ergebnis zur Folge hat, tenoriert der Gerichtshof ohnehin zurückhaltend265, so dass erhöhte Gefahr in den Fällen der nationalen Verweisung nicht besteht. Unter dem Aspekt eines möglichst umfänglichen Rechtsschutzes ist es sogar als positiv zu bewerten, dass eine zusätzliche Möglichkeit zur Rechtmäßigkeitsüberprüfung existiert. c) „Anwendungsbereich“ differiert in den Mitgliedstaaten Verweist der nationale Gesetzgeber auf Gemeinschaftsrecht, so kann er eine derartige Entscheidung nur für seine eigene Rechtsordnung treffen. Nationale Alleingänge sind insofern nichts Ungewöhnliches. Dies hat allerdings zur Folge, dass der Gerichtshof von Staaten mit häufiger nationaler Verweisung mehr in Anspruch genommen werden kann; seine Zuständigkeit kann je nach Mitgliedstaat unterschiedlich sein266. Diese Folge wird von der Literatur angegriffen: Mitgliedstaaten hätten nicht die Kompetenz, einseitig den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts zu bestimmen267 bzw. einseitig die Kompetenz des EuGH zu erweitern268. Im Ergebnis würde dies zu einer Ungleichbehandlung der Mitgliedstaaten führen269. 262 So erstmals Generalanwalt Darmon, Schlussantrag Gmurzynska-Bscher, C-231 / 89, Slg. 1990, I-4009, 4010. 263 Vgl. insbesondere Generalanwalt Jacobs, Schlussanträge Leur-Bloem, C-28 / 95 und 130 / 95, Slg. 1997, I-4165, 4185. 264 Interessanter ist die Frage der Auswirkung auf die nationale Ebene, die in Kapitel 3 C. I. untersucht wird. 265 Vgl. oben Kapitel 2 D. III. 2. b) (2) (a). 266 Vgl. Generalanwalt Jacobs, Schlussanträge Leur-Bloem, C-28 / 95 und 130 / 95, Slg. 1997, I-4165, 4186. 267 Vgl. Habersack / Mayer, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, JZ 1999, 913, 919. 268 Vgl. R. Kilches, Sammlung des europäischen Mehrwertsteuerrechts, S. 64. 269 Vgl. J. Schulze-Osterloh, Phasengleiche Aktivierung von Dividendenansprüchen, ZGR 2001, 497, 511.
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Der Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts ist aber nicht betroffen; nur durch die nationale Verweisung wird das nationale Recht nicht zum Gemeinschaftsrecht. Auch der Vorwurf der einseitigen Kompetenzerweiterung ist ungenau. Der EuGH hat ausdrücklich betont, nur das (von der Verweisung erfasste) Gemeinschaftsrecht auszulegen; diese Kompetenz hatte er aber immer. Soweit eine Ungleichbehandlung der Mitgliedstaaten gerügt wird, ist der Gerichtshof der falsche Adressat. Denn die Ungleichbehandlung beruht ausschließlich auf der jeweiligen Verweisungspraxis der Mitgliedstaaten, über welche Letztere in eigener Souveränität entscheiden. Bei genauer Betrachtung zeigt sich, dass durch die nationale Verweisung nur die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage betroffen ist, mit anderen Worten, dass das Gemeinschaftsrecht in mehr Fällen entscheidungserheblich ist. Dies führt dann dazu, dass der Gerichtshof im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens je nach Mitgliedstaat unterschiedlich in Anspruch genommen wird. Diese Tatsache ist aber nicht systemwidrig bzw. steht nicht in Widerspruch zu einem einheitlichen Anwendungsgebiet des Gemeinschaftsrechts270. Sie hat vielmehr ihre Ursache darin, dass die Frage der Entscheidungserheblichkeit grundsätzlich national geregelt ist271. Dementsprechend sind auch Rechtsmittel gegen einen Vorlagebeschluss, welche gemeinschaftsrechtlich zulässig272 sind, national in verschiedenem Ausmaße vorhanden. Auch dies kann im Ergebnis zu einer unterschiedlichen Inanspruchnahme des EuGH führen. Systemwidrig ist dies nicht, sondern wegen des Kooperationsverhältnisses im Vorabentscheidungsverfahren sogar systemimmanent.
d) Frage der Überlastung Der EuGH ist überlastet; die durchschnittliche Entscheidungsdauer von Verfahren gemäß Art. 234 EG betrug 2000 21,6 Monate, am 31. Dezember 2000 waren insgesamt 803 Verfahren anhängig273. Darüber hinaus lässt sich feststellen, dass die Mitgliedstaaten vermehrt auf Gemeinschaftsrecht, insbesondere im Bereich der nationalen Wettbewerbsrechtsregelungen, verweisen274.
A.A. G. Betlem, Annotation to Case 28 / 95 Leur-Bloem, CMLR 1999, 165, 174. Vgl. hierzu auch Kapitel 3 E. I. 3. a). 272 Vgl. EuGH, Chanel, C-31 / 68, Slg. 1970, 403, 405; ausführlich hierzu in Kapitel 3 E. I. 3. a). 273 Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, Jahresbericht 2000, Übersichten 8 und 14. 274 Vgl. G. Betlem, Annotation to Case 28 / 95 Leur-Bloem, CMLR 1999, 165, 177; vgl. Generalanwalt Tesauro, Schlussanträge Kleinwort-Benson, C-346 / 93, Slg. 1995, I-617, 631(Fn. 31). 270 271
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Durch die Bejahung seiner Zuständigkeit in den Fällen der Verweisung besteht die Gefahr, dass die Anzahl der Vorabentscheidungsverfahren weiter anwächst275. Die Intention des EuGH, mit seiner großzügigen Rechtsprechung die Einheitlichkeit der Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu sichern, könnte durch eine verstärkte Inanspruchnahme276 dieser Möglichkeit und der damit verbundenen Ineffizienz des Rechtsschutzes in ihr Gegenteil verkehrt werden. Bisher ist dieses Argument tendenziell theoretischer Natur. Denn die Anzahl der auf Grund der DzodziRechtsprechung angenommenen Fälle liegt insgesamt unter 20; sie ist daher (noch) vernachlässigbar gering.
e) Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte Gemäß Art. 234 Abs. 3 EG trifft die letztinstanzlichen Gerichte bei einer Frage zur Auslegung oder Gültigkeit von Gemeinschaftsrecht eine Vorlagepflicht. Schon in der Rechtssache Dzodzi fragte sich der Generalanwalt, ob eine derartige Vorlagepflicht auch in den Fällen der nationalen Verweisung bestünde277. In der Rechtssache Leur-Bloem vertrat der Generalanwalt die Auffassung, eine derartige Pflicht ließe sich nur mit juristischen Verrenkungen (im Original: „legal gymnastics“) vertreten278. Der Gerichtshof hat zu dieser Frage noch keine Stellung bezogen279. (1) Versuch einer Begründung der Vorlagepflicht Betrachtet man den Wortlaut des Art. 234 EG, so setzt eine Vorlagepflicht voraus, dass eine Frage über die Auslegung des Vertrages gestellt wird. Schon bei der Wortlautauslegung erfolgt eine entscheidende Weichenstellung: Legt man den anhängigen Rechtsstreit zu Grunde, ließe sich vertreten, dass keine Frage des Vertrages gestellt wird, da man sich nicht im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts befindet. 275 Vgl. Schlussanträge des Generalanwaltes Jacobs, Leur-Bloem, C-28 / 95, Slg. 1997, I-4165, 4185. 276 Vgl. H. Rasmussen, Remedying the crumbling EC judicial System, CMLR 2000, 1071, 1083. 277 Vgl. Generalanwalt Darmon, Schlussanträge Dzodzi, C-297 / 88, 197 / 89, Slg. 1990, I-3778, 3780. 278 Vgl. Schlussanträge des Generalanwaltes Jacobs, Leur-Bloem, C-28 / 95, Slg. 1997, I-4165, 4185. 279 Vgl. Habersack / Mayer, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, JZ 1999, 913, 921; J. Schulze-Osterloh, Deutsches Bilanzrecht und Ertragssteuerrecht vor dem Europäischen Gerichtshof, DStZ 1997, 281, 284; fehlgehend a.A. W. Meilicke, Zur Vorlagepflicht des BFH in Bilanzierungsfragen, BB 1999, 890; Ulmer / Hüffer, HGB-Bilanzrecht, Anh. § 243, Rdn. 7c.
5 Bärenz
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Dagegen ließe sich anführen, dass es auf den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts nicht ankommt; dieser ist in Art. 234 EG nicht ausdrücklich erwähnt. Die Tatsache, dass sich die Frage zu der Auslegung des Vertrages in nationalem Zusammenhang stellt, ändert nichts an dem Fakt, dass eine „Frage über die Auslegung des Vertrages“ gestellt wird. Dies entspricht vom Ergebnis her der Herangehensweise des Gerichtshofes in der Dzodzi-Rechtsprechung, wo sich die gleiche Frage gestellt hat280. Folgt man letzterer Überlegung, so liegt eine Vorlagepflicht nicht außerhalb des Wortlautes. Die Überlegung des EuGH, dass eine falsche Auslegung des Gemeinschaftsrechts seitens eines nationalen Gerichts in einem außergemeinschaftlichen Rahmen die Auslegung des Gemeinschaftsrechts dann gefährdet, wenn Letzteres in seinem Anwendungsbereich relevant wird, gilt auf Grund der Autorität der letztinstanzlichen Gerichte für diese in besonderem Maße281. Darüber hinaus wird vertreten, dass es der Systematik des Art. 234 Abs. 3 EG fremd wäre, wenn das nach der Dzodzi-Rechtsprechung bestehende Vorlagerecht nicht mit einer Vorlagepflicht korrespondierte282. Es sind nach alledem durchaus Argumente für eine Vorlagepflicht283 vorhanden, so dass eine Bewertung mit „gymnastique juridique hasardeuse“284 möglicherweise zu scharf ist. Zu prüfen bleibt, inwieweit diese Argumente widerlegbar sind und ob es nicht ungleich überzeugendere Überlegungen gegen eine Vorlagepflicht gibt. (2) Gegenargumentation Die Gegner einer Vorlagepflicht argumentieren, dass dem Gerichtshof die Wahrung des Gemeinschaftsrechts gemäß Art. 220 EG obliege. Da in dem anhängigen Rechtsstreit kein Gemeinschaftsrecht anwendbar sei, könnten sich die letztinstanzlichen Gerichte insoweit einer Vorlagepflicht entziehen285. Der gleiche Gedanke steht hinter dem Argument, dass es ungewöhnlich sei, dass man die nationalen Gerichte zu einer Vorlage verpflichtet, obwohl das Gemeinschaftsrecht in dem anhängigen Vgl. oben Kapitel 2 D. III. 1. a). In diesem Sinne wohl auch Habersack / Mayer, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, JZ 1999, 913, 919. 282 Vgl. D. Kellersmann, Zur Diskussion um die Vorlagepflicht in bilanzsteuerlichen Fragen – geklärte und offene Fragen, StuB 2001, 122, 124; W. Meilicke, Zur Vorlagepflicht des BFH in Bilanzierungsfragen, BB 1999, 890; unklar K. Fresl, Die Europäisierung des deutschen Bilanzrechts, S. 64. 283 Für Vorlagepflicht, wenngleich ohne Begründung, N. Dautzenberg, Anmerkung, FR 1997, 690, 691. 284 So R. Mehdi, Renvoi préjudiciel en Interprétation, Journal du Droit international 1998, 480, 483. 285 Vgl. M.-C. Bergerès, Note, Recueil Dalloz Sirey 1998, 217, 219. 280 281
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Rechtsstreit keine Anwendung findet286. Letztlich ist diese Argumentationsfigur vom Gerichtshof bei der Diskussion der Zuständigkeit nicht akzeptiert worden287. Ein weiteres Gegenargument ist, dass die Annahme einer Vorlageverpflichtung zu der merkwürdigen Konsequenz führt, dass die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gem. Art. 226 EG gegen einen Mitgliedstaat einleiten könnte, weil dessen letztinstanzliches Gericht in einem rein nationalen Rechtsstreit nicht vorgelegt hat288. Fraglich ist, ob dieses Ergebnis über die Merkwürdigkeit hinaus zusätzliche Gründe gegen die Annahme einer Vorlagepflicht beinhaltet. Leitet die Kommission „im Normalfall“ ein Vertragsverletzungsverfahren wegen einer Vorlagepflichtverletzung ein, so wird sie als Erstes prüfen, ob der Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts in dem jeweiligen Verfahren eröffnet war, mit anderen Worten, ob der Sachverhalt vom Gemeinschaftsrecht erfasst wurde. Im Falle der nationalen Verweisung wäre das Verfahren ein anderes. Hier müsste zunächst geprüft werden, ob der jeweilige Sachverhalt von der nationalen Verweisung erfasst wird. Das ist ausschließlich eine Frage des nationalen Rechts, in dem die Kommission weniger Sachverstand haben wird. Diese Überlegungen gelten nicht nur für die Kommission, sondern in noch stärkerem Maße für den Gerichtshof, der im späteren Verlaufe des Verfahrens mit der Klage befasst sein würde. In einem derartigen Verfahren müsste der Gerichtshof letztlich auch beurteilen, ob die Einschätzung des Umfangs und der Reichweite der nationalen Verweisung auf das Gemeinschaftsrecht durch das nationale Gericht korrekt war. Denn ohne eine derartige Nachprüfung bestünde die Gefahr, dass der Mitgliedstaat wegen einer falschen Einschätzung seines Gerichts verurteilt würde. Diese Nachprüfung – im Kern eine Beurteilung nationalen Rechts – ist dem EuGH aber aus zwei Gründen rechtlich verwehrt. Zum einen verfügt der Gerichtshof über keine Kompetenz zur Auslegung nationalen Rechts289. Im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens ergibt sich dies schon aus dem Wortlaut des Art. 234 EG290; in den anderen Verfahren aus Art. 220 EG, wonach der Gerichtshof die Wahrung des Gemeinschaftsrechts sichert. Eine Auslegung nationalen Rechts verstieße daher gegen den im Gemeinschaftsrecht geltenden Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung. Dieser besagt, dass die Organe der Gemeinschaft 286 Vgl. G. Betlem, Annotation to Case 28 / 95 Leur-Bloem, CMLR 1999, 165, 176; in diesem Sinne wohl auch Haunold / Tumpel / Widhalm, Anmerkung zu Leur-Bloem, SWI 1997, 474, 475. 287 Siehe oben Kapitel 2 D. III. 1. a). 288 Vgl. Stellungnahme der Kommission im Verfahren Leur-Bloem, zit. in den Schlussanträgen des Generalanwalts Jacobs zu Leur-Bloem, C-28 / 95, Slg. 1997, I-4165, 4178. 289 Allgemeine Meinung, vgl. J. Schwarze, EU-Kommentar, Art. 220, Rdn. 34. 290 Vgl. Kapitel 2 C.
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nur innerhalb der ihnen durch die Verträge zugewiesenen Kompetenzen tätig werden können. Dass dieser Grundsatz auch für ihn selbst gilt, hat der EuGH ausdrücklich betont291. Zum anderen verstieße die im Rahmen des Art. 226 EG notwendige Nachprüfung auch gegen die innere Logik der Dzodzi-Rechtsprechung: Hier hat der Gerichtshof ausdrücklich betont, dass für die Beurteilung der Grenzen, die der nationale Gesetzgeber der Anwendung des Gemeinschaftsrechts auf rein interne Sachverhalte setzen wollte, das innerstaatliche Recht gilt, so dass dafür ausschließlich die Gerichte des Mitgliedstaates zuständig sind292. Man mag dieser Argumentation Praxisferne vorwerfen, weil die Kommission erst einmal ein Vertragsverletzungsverfahren wegen Verletzung der Vorlagepflicht eingeleitet hat293 und Klage noch nie erhoben wurde. Trotzdem zeigt diese Überlegung, dass es für das Funktionieren der Sanktion, nämlich des Vertragsverletzungsverfahrens, notwendig ist, dass sich der Streit vor dem nationalen Gericht im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts befindet. Soweit nur das Vorlagerecht betroffen ist, kommt diesem Argument nur eingeschränkte Bedeutung zu. Denn hier bleibt eine Nichtvorlage, da gerade keine Pflicht zur Vorlage existiert, sanktionslos. Im Falle der Verletzung der Vorlagepflicht gewinnt die Überlegung an Gewicht. Auch andere Argumente, die im Falle des Vorlagerechts nicht zwingend gegen die Zuständigkeit des Gerichtshofes sprachen, vermögen im Falle der Vorlagepflicht mehr zu überzeugen. Dies gilt zum einen für den Vorwurf der Systemwidrigkeit. Konnten die Unterschiede im Falle des Vorlagerechts noch mit Hinweis auf die Einordnung als Frage der Entscheidungserheblichkeit gerechtfertigt werden, erscheint dies im Falle der Vorlagepflicht nicht möglich. Denn diese Vorlagepflicht hätte ihre Ursache in einer autonomen Handlung des Mitgliedstaates. Dass aber autonome Handlungen von Mitgliedstaaten, die im Übrigen reversibel sind, zu einer gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtung dieses Mitgliedstaates führen können, ist eine Tatsache, die dem Gemeinschaftsrecht sonst fremd ist. Die nationale Verweisung erhielte bei einer derartigen Betrachtung den Charakter einer Unterwerfung, der keineswegs seitens des Mitgliedstaates beabsichtigt sein muss. Letzteres liegt besonders dann auf der Hand, wenn die Verweisungsnorm älter als die Gemeinschaft ist294.
EuGH, Glasoltherm, C-399 / 97, Slg. 1998, I-4521 EuGH, Dzodzi, C-297 / 88 und 197 / 89, Slg. 1990, I-3763, 3794 Rz. 42. 293 Note der Kommission an den deutschen Außenminister SG (90) / D / A / 90 / 0406; vgl. zum Hintergrund G. Meier, Zur Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf nationales Verfahrensrecht im Falle höchstrichterlicher Vertragsverletzungen, EuZW 1991,11. 294 Als Beispiel hierfür sei der Maßgeblichkeitsgrundsatz im deutschen Steuerrecht genannt. Näheres hierzu in Kapitel 4 B. I. 291 292
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Auch das Argument der Überlastung gewinnt – anders als bei der Beurteilung eines Vorlagerechtes295 – deutlich an Gewicht. Bedenkt man die vielen Fälle der mittelbaren Verweisung auf Gemeinschaftsrecht296, so würde die konsequente Beachtung der Vorlagepflicht durch die nationalen Gerichte unverzüglich zur Arbeitsunfähigkeit des EuGH führen297. Soweit für eine Vorlagepflicht in den Fällen nationaler Verweisung angeführt wird, dass Art. 234 EG ein Vorlagerecht ohne Vorlagepflicht fremd sei298, ist dies nicht zwingend. Man kann dem entgegenhalten, dass der EuGH den Art. 234 EG schon in drei Fallgruppen gegen seinen Wortlaut ausgelegt hat. Mit der Foto-Frost-Rechtsprechung299 entschied er, dass die unterinstanzlichen Gerichte zur Vorlage verpflichtet sind, wenn sie gemeinschaftsrechtliche Regelungen verwerfen bzw. nicht anwenden wollen. Für den dritten Absatz existieren sogar schon zwei Ausnahmen. Zum einen sind die letztinstanzlichen Gerichte nicht zu einer Vorlage verpflichtet, wenn die gestellte Frage in einem gleichgelagerten Fall bereits Gegenstand einer Vorlage war, zu der betreffenden Rechtsfrage bereits eine gesicherte Rechtsprechung existiert oder die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts derart offenkundig ist, dass für vernünftige Zweifel keinerlei Raum bleibt300. Zum anderen besteht im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes grundsätzlich keine Vorlagepflicht301, wohl aber ein Vorlagerecht302. Ein Auseinanderfallen von Vorlagerecht und Vorlagepflicht würde daher nicht zum ersten Mal angenommen. (3) Zwischenergebnis Soweit die Literatur die Dzodzi-Rechtsprechung ablehnt, erstreckt sich diese Ablehnung selbstverständlich auch auf die Vorlagepflicht. Die Annahme einer Vorlagepflicht ist aber keinesfalls zwingende Folge der Dzodzi-Rechtsprechung; gerade bei Zugrundelegung der Dzodzi-Rechtsprechung bestehen überzeugende Argumente gegen eine Vorlagepflicht.
Vgl. Kapitel 2 D. III. 2. d). Vgl. zu diesem Begriff Kapitel 3 B. III. 297 Vgl. hierzu auch Kapitel 5 A. II. 298 Vgl. D. Kellersmann, Zur Diskussion um die Vorlagepflicht in bilanzsteuerlichen Fragen – geklärte und offene Fragen, StuB 2001, 122, 124; W. Meilicke, Zur Vorlagepflicht des BFH in Bilanzierungsfragen, BB 1999, 890; unklar K. Fresl, Die Europäisierung des deutschen Bilanzrechts, S. 64. 299 EuGH, Foto-Frost, C-314 / 85, Slg. 1987, 4199. 300 Vgl. EuGH, C.I.L.F.I.T., C-283 / 81, Slg. 1982, 3415. 301 Vgl. EuGH, Morson, C-35 und 36 / 82, Slg. 1982, 3723. 302 Vgl. T. Schmitt, Richtervorlagen in Eilverfahren?, S. 379. 295 296
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Es zeigte sich, dass bei Annahme einer Vorlagepflicht die Dzodzi-Rechtsprechung ihren Charakter wandelt: Soweit nur ein Vorlagerecht zur Diskussion stand, griff der EuGH durch diese Rechtsprechung nicht in die Domäne der nationalen Gerichte ein, er stellte sich zusätzlich als Instanz zur Verfügung. Mit der Annahme einer Vorlageverpflichtung hingegen würde diese Rechtsprechung einen deutlichen, dem Kooperationsverhältnis im Rahmen des Art. 234 EG widersprechenden Eingriffscharakter gewinnen. Einer Öffnung der nationalen Gerichte hin zum Gemeinschaftsrecht wäre dies nicht zuträglich303. Praktische Konsequenz der Annahme einer Vorlagepflicht wäre eine vom EuGH nicht zu bewältigende Anzahl von Vorlagen.
IV. Die Rechtssachen Fournier, Federconsorzi und Kleinwort Benson Der Gerichtshof hat nicht nur Fälle entschieden, in denen der nationale Gesetzgeber auf Gemeinschaftsrecht verwies. Es gab auch atypische Konstellationen, die im Rahmen einer ausführlichen Untersuchung der Dzodzi-Rechtsprechung einer Analyse unterzogen werden sollen. Alle drei Rechtssachen werden im Zusammenhang mit der Dzodzi-Rechtsprechung zitiert, sind jedoch zwei unterschiedlichen Fallgruppen zuzuordnen.
1. Fournier und Federconsorzi Bei diesen Rechtsstreitigkeiten lag die Besonderheit darin, dass in dem anhängigen Rechtsstreit vor dem nationalen Gericht nicht staatliche Normen, sondern privatrechtliche Verträge auf das Gemeinschaftsrecht verwiesen. Hintergrund des Verfahrens Fournier304 war, zusammengefasst, folgender: Um zu gewährleisten, dass ausländische Fahrzeuge haftpflichtversichert sind, fordern weltweit die Staaten üblicherweise das Vorhandensein der so genannten Grünen Karte bei Einreise. Dieses System setzt Kontrollen bei der Einreise auch aus Mitgliedstaaten voraus, was offensichtlich einigen Zielen der EG abträglich ist. Diese Problematik sollte durch die erste Kraftfahrzeug-HaftpflichtversicherungsRichtlinie305 gelöst werden, die einen Verzicht dieser Kontrollen zum Ziel hatte. Darüber hinaus wurde in der Richtlinie die Regulierung von Problemfällen, welche auf dem Fehlen der Kontrollen basierte, in einem zwischen den nationalen Versicherungsverbänden abzuschließenden Vertrag vorgeschrieben. Im Fall Fournier
303 304 305
Vgl. M.-C. Bergerès, Note, Recueil Dalloz Sirey 1998, 217, 219. Vgl. EuGH, Fournier, C-73 / 89, Slg. 92, I-5621. Vgl. RL v. 24. 4. 1972 (72 / 166 / EWG), ABl. EG Nr. L 103 / 1.
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war die Klausel eines derartigen Vertrages streitig, wobei die Klausel den gleichen Wortlaut wie in der Richtlinie hatte. Der Gerichtshof begründete seine Zuständigkeit mit keinem Wort, stellte aber ausdrücklich klar, dass er nur die Klausel der Richtlinie auslege. Er fuhr fort306: „Es ist deshalb Sache des vorlegenden Gerichts, das allein für die Auslegung des zwischen den nationalen Büros geschlossenen Abkommens zuständig ist, die darin verwendeten Begriffe in dem von ihm für angemessen erachteten Sinn auszulegen, ohne dass es dabei an die Bedeutung gebunden wäre, die dem identischen Ausdruck der Richtlinie zukommt.“
Der Gerichtshof hat also auch in diesen Verfahren zwischen der Auslegung des Gemeinschaftsrechts und der Auslegung der auf dieses verweisenden privatrechtlichen Bestimmungen unterschieden. Diese Unterscheidung erfolgte im Übrigen schon in früheren Verfahren307, die auch die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherungs-Richtlinie als Hintergrund hatten. Generalanwalt Jacobs nahm näher zur Zuständigkeitsfrage Stellung308: Er sah die Möglichkeit, die Grundsätze der Dzodzi-Rechtsprechung auch auf Fälle der privatrechtlichen Verweisung anzuwenden. Umfassend wollte er allerdings die Anwendung nicht bejahen. Er zog sich vielmehr auf die Besonderheit des Falles zurück, welche darin lag, dass der Abschluss der privatrechtlichen Verträge Voraussetzung für das Inkrafttreten eines wesentlichen Teils der Richtlinie war. Im Fall Federconsorzi309 gab es eine derartige Besonderheit nicht. Der zugrunde liegende Sachverhalt war, verkürzt dargestellt, folgender: Im Rahmen ihrer Interventionspolitik in der Landwirtschaft subventioniert die Gemeinschaft Olivenöl durch feste Ankaufspreise. Der Ankauf läuft über staatliche Interventionsstellen. Die italienische Interventionsstelle beauftragte als Subunternehmerin die Federconsorzi. In dem Vertrag zwischen diesen beiden Parteien wurden auch Regelungen für den Fall des Diebstahls von Olivenöl getroffen, wobei diese Regelungen aus dem Gemeinschaftsrecht übernommen wurden. Auch im Gemeinschaftsrecht gibt es insofern einen Regelungsbedarf, freilich nur für das Verhältnis zwischen staatlicher Interventionsstelle und europäischem Garantiefonds. Im Ausgangsrechtsstreit fand ein Diebstahl bei der Federconsorzi statt, streitig war die Auslegung der aus dem Gemeinschaftsrecht übernommenen Diebstahlsregelung.
Vgl. EuGH, Fournier, C-73 / 89, Slg. 92, I-5621, 5659. Vgl. EuGH, Bureau belge des Assureurs Automobiles, C-116 / 83, Slg. 1984, 2481, 2490; EuGH, Demouche, C-152 / 83, Slg. 1987, 3833 beide zeitlich vor der Dzodi-Rechtsprechung. 308 Vgl. Generalanwalt Jacobs, Schlussanträge Fournier, C-73 / 89, Slg. 1992, I-5640, 5646 ff. 309 Vgl. EuGH, Federconsorzi, C-88 / 91, Slg. 1992, I-4035. 306 307
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Diesmal nahm der Gerichtshof zu der Zuständigkeitsproblematik ausdrücklich Stellung und bejaht seine Zuständigkeit unter Hinweis auf die Dzodzi-Rechtsprechung310. Wiederum betonte er, dass Gegenstand seiner Auslegung ausschließlich die gemeinschaftsrechtliche Regelung sei. Bei deren Bewertung griff er ausdrücklich311 auf eine in der Agrarpolitik entwickelte Beweislastregelung312 zurück, welche vor dem Hintergrund unrechtmäßiger Zahlungen seitens der Mitgliedstaaten entwickelt wurde. An diesem Fall zeigt sich besonders deutlich, dass der nationale Richter die Anwendbarkeit der Auslegung des EuGH für den nationalen Rechtsstreit hinterfragen muss. Denn in der bei dem italienischen Richter anhängigen Rechtssache spielen gemeinschaftsrechtliche Beweislastverteilungen keine Rolle. Die Erstreckung der Dzodzi-Rechtsprechung auf die Fälle der privatrechtlichen Verweisungen ist konsequent. Die Befürchtung, dass insoweit die Arbeitsbelastung des Gerichtshofes signifikant steigen werde, hat sich bis jetzt nicht bewahrheitet.
2. Kleinwort Benson Diesem Rechtsstreit lag, vereinfacht dargestellt, folgender Sachverhalt zu Grunde: Das britische House of Lords befand in einer Entscheidung Anfang der 90er Jahre, dass Zinsswap-Verträge zwischen Kommunen und Investmentbanken wegen des damit verbundenen Risikos besonderer Form bedürfen. Auf Grund dieses Urteils erwiesen sich die meisten der bis dato geschlossenen Verträge als formnichtig und wurden rückabgewickelt. Im Rahmen der Rückabwicklung begehrte die in London ansässige Investmentbank Kleinwort Benson Zahlung von der Stadt Glasgow. Die Klage wurde wegen der für die Bank günstigeren Verjährungsregeln im englischen London und nicht im schottischen Glasgow erhoben. In Großbritannien bestehen verschiedene Zivilgerichtsbarkeiten; die interlokalen Kompetenzkonflikte werden durch den Civil Jurisdiction and Judgement Act 1982 geregelt. Letzterer verweist insoweit auf das EuGVÜ313. Für dieses Übereinkommen existiert ein Protokoll314, welches dem Gerichtshof eine dem Art. 234 EG ähnliche Auslegungskompetenz zuweist315. Vgl. EuGH, Federconsorzi, C-88 / 91, Slg. 1992, I-4035, 4064. Vgl. EuGH, Federconsorzi, C-88 / 91, Slg. 1992, I-4035, 4067. 312 Vgl EuGH, Griechenland / Kommission, C-335 / 87, Slg. 1990, I-2875, 2876. 313 Vgl. ABl. L 304, S. 1, 77 ff. 314 Vgl. Protokoll v. 3. Juni 1971, ABl. 1972, L 299, S. 32. 315 Hingewiesen sei auf die Verordnung (EG) Nr. 44 / 2001, AblEG Nr. L 12 v. 16. 1. 2001, welche mit Wirkung zum 1. 3. 2002 das EuGVÜ vergemeinschaftet. Positiv Stellung zu die310 311
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Die Verweisungstechnik des Civil Jurisdiction and Judgement Act 1982 war eine besondere: man übernahm bis auf wenige Ausnahmen wortgleich die Regelungen des EuGVÜ. Den jeweils zuständigen Behörden der Teile des Vereinigten Königreiches, z. B. den schottischen Behörden, wurde grundsätzlich die Möglichkeit eingeräumt, vom EuGVÜ abweichende Regelungen zu treffen. Als relevant sollte sich eine weitere Bestimmung erweisen: Entscheidungen des EuGH sollten im Anwendungsbereich des Civil Jurisdiction and Judgement Act 1982 nur „berücksichtigt“ werden, im direkten Anwendungsbereich des EuGVÜ werden die Entscheidungen des Gerichtshofes dagegen als „bindend“ betrachtet. Generalanwalt Tesauro vertrat die Ansicht, dass es für die Beurteilung der Zuständigkeit nicht darauf ankomme, ob es sich um eine Vorlage gemäß Art. 234 EG oder gemäß dem Protokoll zum EuGVÜ handele316. Er nahm daher die Gelegenheit zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit der Dzodzi-Rechtsprechung wahr und empfahl dem Gerichtshof, Letztere aufzugeben317. Der Gerichtshof verneinte seine Zuständigkeit im Wesentlichen mit zwei Argumenten. Zunächst verwies er darauf, dass keine Verweisung im Sinne der Dzodzi-Rechtsprechung vorläge. Denn das EuGVÜ sei nur musterartig und auch nicht vollständig übernommen worden, die nationalen Behörden hätten zudem die Möglichkeit zu abweichenden Regelungen318. Dieses Argument ist in zweierlei Hinsicht inkorrekt. Zum einen verkennt es die Aufgabenverteilung im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens. Es widerspricht der Dzodzi-Rechtsprechung insoweit, als nach Letzterer allein der nationale Richter über die Reichweite der Verweisung entscheidet. Wenn der Gerichtshof die Meinung vertritt, es liege keine Verweisung vor, entscheidet er gerade über diese Frage. Darüber hinaus stand es im konkreten Fall in deutlichem Widerspruch zum Ergebnis der nationalen Rechtsprechung. So uneinig sich die britischen Richter darüber waren, ob nun Glasgow oder London der richtige Gerichtsstand war, so einig waren sie sich darüber, dass das in Frage stehende englische Recht deckungsgleich mit dem Gemeinschaftsrecht auszulegen sei319.
ser Entwicklung nehmen Micklitz / Rott, Vergemeinschaftung des EuGVÜ in der Verordnung (EG) Nr. 44 / 2001, EuZW 2001, 325 ff. 316 Vgl. Generalanwalt Tesauro, Schlussanträge Kleinwort-Benson, C-346 / 93, Slg. 1995, I-617, 625. 317 Vgl. Generalanwalt Tesauro, Schlussanträge Kleinwort-Benson, C-346 / 93, Slg. 1995, I-617, 631. 318 Vgl. EuGH, Kleinwort Benson, C-346 / 93, Slg. 1995, I-639. 319 Vgl. die Darstellung bei Habersack / Mayer, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, JZ 1999, 913, 920.
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Kap. 2: Vorabentscheidungskompetenz des EuGH gemäß Art. 234 EG
Die zweite Erwägung des Gerichtshofes, und diese wird zum Teil für das „decisive argument“ gehalten320, war, dass die Rechtsprechung des Gerichthofes keine Bindungswirkung habe, sondern lediglich berücksichtigt werden müsse. Eine bloß beratende Wirkung stünde in Widerspruch zur Aufgabe des Gerichtshofes und könne nicht hingenommen werden321. Auch dieses Argument vermag in Hinblick auf die Dzodzi-Rechtsprechung nicht zu überzeugen. Wie oben dargelegt, ist auch dort die Bindungswirkung inter partes lediglich theoretischer Natur, in der Rechtssache Fournier hat der Gerichtshof selbst eingeräumt, dass im konkreten Rechtsstreit anders entschieden werden könne322. Die Auslegung des EuGVÜ wäre darüber hinaus für die Zukunft – auch in Großbritannien – bindend gewesen323. Indem der Gerichtshof eines der wesentlichen Argumente324 der Dzodzi-Rechtsprechung verwandte, um im Ergebnis aber seine Zuständigkeit zu verneinen, stiftete er in der Literatur Unruhe. Viele sahen darin die Aufgabe der Dzodzi-Rechtsprechung325, jedenfalls die Fälle der privaten Verweisungen wären „overruled“326. Jedoch wurde auch darauf hingewiesen, dass eine ausdrückliche Aufgabe der Dzodzi-Rechtsprechung gerade nicht erfolgt sei327. Letzteres bewahrheitete sich durch spätere Entscheidungen des Gerichtshofes328. Es bleibt festzuhalten, dass der Gerichtshof in der Rechtssache Kleinwort Benson inkonsequent entschieden hat329. Deswegen sollte diese Entscheidung in der zukünftigen Rechtsprechung des Gerichtshofes keine Rolle mehr spielen. 320 Vgl. Borras Rodríguez / Vilà Costa, Jurisprudencia del Tribunal de Justicia de las Comunidades Europeas, Revista jurídica de Catalunya 1995, 1159, 1161. 321 Vgl. EuGH, Kleinwort Benson, C-346 / 93, Slg. 1995, I-641. 322 Vgl. EuGH, Fournier, C-73 / 89, Slg. 92, I-5621, 5659; dies übersehend P. Volken, Bemerkungen, Schweizerische Zeitschrift für internationales und europäisches Recht 1996, 125, 126. 323 Vgl. E. M. Bishop, Kleinwort Benson: A good Example of judicial Self-restraint?, ELR 1995, 495, 501. 324 Vgl. A. Huet, Convention de Bruxelles du 27 Septembre 1968, Journal du Droit international 1996, 550, 555. 325 Chavrier / Honorat / Pouzoulet, La Recevabilité de Questions préjudicielles et la Compétence de la Cour pour y répondre, L’actualité juridique-droit administratif 1995, 708, 711; V. Holl, Kehrtwende in der Rechtsprechung des EuGH zur Auslegungszuständigkeit im Vorabentscheidungsverfahren?, IPRax 1997, 174, 177; E. Peel, Non-Admissibility and Restitution in the European Court of Justice, Lloyd’s Maritime and Commercial Law Quarterly 1996, 8, 11; Rigaux / Simon, Convention de Bruxelles, Europe Mai 1995, 16, 17; zweifelnd C. Kohler, Gemeinschaftsrecht und Privatrecht: Zur Rechtsprechung des EuGH im Jahre 1995, ZEuP 1996, 452, 455. 326 Vgl. Smit / Herzog, The Law of the EC, § 177.07(a). 327 Vgl. L. Collins, Notes, The Law Quarterly Review 1995, 541, 544. 328 Vgl. EuGH, Leur-Bloem, C-28 / 95, Slg. 1997, I-4161; EuGH, Schoonbroodt, C-247 / 97, Slg. 1998, I-8095.
D. Vorabentscheidungskompetenz des EuGH bei Gemeinschaftsrecht
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V. Der Alternativvorschlag des Generalanwalts Jacobs Generalanwalt Jacobs beschränkte sich in der Rechtssache Leur-Bloem nicht nur darauf, den Gerichtshof zu einer Aufgabe der Dzodzi-Rechtsprechung bewegen zu wollen. Vielmehr versuchte er auch, eine Alternative anzubieten330. Er räumte ein, dass es Fälle gebe, in denen das Gemeinschaftsrecht außerhalb seines Anwendungsbereiches Anwendung findet und in denen der Gerichtshof seine Zuständigkeit bejahen sollte. Er versuchte, insofern zwischen „horizontalen“ und „vertikalen“ Fällen zu unterscheiden. Mit „horizontalen“ Fällen meinte der Generalanwalt Sachverhalte, in denen das Gemeinschaftsrecht auf Fälle erstreckt wurde, für die es nicht gedacht war. Offenbar dachte der Generalanwalt hier an Konstellationen wie in den Rechtssachen Dzodzi oder Leur-Bloem. Hier möchte er die Zuständigkeit des Gerichtshofes generell verneinen. Was er mit „vertikalen“ Fällen meinte, ist schwer verständlich. Offenbar geht es ihm darum, ob das Gemeinschaftsrecht direkt kausal für die Verweisung war, mit anderen Worten, ob die Kausalkette nicht, wie oben, durch eine eigene, vom Gemeinschaftsrecht unabhängige Entscheidung unterbrochen wird. In diesen Fällen will der Generalanwalt die Zuständigkeit bejahen, hier möchte er offenbar auch die Rechtssachen Fournier und Federconsorzi einordnen. Hintergrund dieser Überlegung ist offenbar, dass in den „vertikalen“ Fällen Gemeinschaftsrecht im weitesten Sinne durchgeführt wird. Offenbar hält der Generalanwalt hier die Gefahr einer wichtige Aspekte übersehenden Auslegung für geringer. Diese Abgrenzung vermag nicht zu überzeugen331. In beiden Fällen hat die Verweisung dogmatisch die gleichen Auswirkungen. Die Annahme, bei den „vertikalen“ Fällen sei die Gefahr sachfremder Auslegung wegen starker Nähe zum Gemeinschaftsrecht geringer, ist schon auf Grund der bisher entschiedenen Fälle zweifelhaft. So erscheint die Auslegung des Gerichtshofes im Zollrecht (z. B. Gmurzynska-Bscher) weit fundierter und entscheidungsnäher als beispielsweise seine Entscheidung in der Rechtssache Fournier.
329 So auch G. Betlem, Case Law, CMLR 1999, 178; Habersack / Mayer, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, JZ 1999, 913, 920; C. Pellisé, Asunto C-28 / 95, Revista Jurídica de Catalunya, 1998, 594, 597; a.A. Dietze / Schnichels, Die aktuelle Rechtsprechung des EuGH zum EuGVÜ, EuZW 1996, 455, 456; S. Ellwood, Recent Decision, Kleinwort Benson Ltd. v. Glasgow City Council, 9 N.Y. Int’l L. Rev. 127, 131. 330 Vgl. Schlussanträge des Generalanwaltes Jacobs, Leur-Bloem, C-28 / 95, Slg. 1997, I-4165, 4188. 331 So auch F. Hoenjet, The Leur-Bloem judgment: the Jurisdiction of the European Court of Justice and the Interpretation of the Anti-Abuse Clause in the Merger Directive, EC-Tax 1997, 206, 210.
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Kap. 2: Vorabentscheidungskompetenz des EuGH gemäß Art. 234 EG
VI. Zwischenergebnis Der Gerichtshof gründet seine Rechtsprechung im Wesentlichen auf zwei Überlegungen: zum einen legt er den Wortlaut des Artikels 234 EG weit aus, zum anderen nimmt er die Gefahr einer uneinheitlichen Auslegung sehr ernst. Dies ist nicht zwingend, aber vertretbar. Die fast ausschließlich theoretische Rechtskraftwirkung inter partes332 zeigt, dass das Vorabentscheidungsverfahren in den Fällen der nationalen Verweisung seinen Charakter wandelt. Es wird zu einem Verfahren „sui generis“333 dergestalt, dass der Gerichtshof eine „Serviceleistung“, nämlich die Auslegung von Gemeinschaftsrecht, im Rahmen einer Entscheidung über nationales Recht anbietet. Durchaus treffend ist der Vergleich mit einem qualifizierten Rechtsgelehrten, der ein auf Grund von Kollisionsregeln zuständiges Gericht berät, wenn Letzteres ausländisches Recht anwenden muss334. Die Intention des Gerichtshofes hinter der Dzodzi-Rechtsprechung ist keine bevormundende335, vielmehr möchte der Gerichtshof den nationalen Gerichten die von ihnen erwünschte Hilfe leisten336. Diese Serviceleistung hatte in vielen Fällen ihren praktischen Nutzen für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreites. Als Beispiele seien die drei „deutschen“ Vorlagen Thomasdünger, Gmurzynska-Bscher und Giloy genannt. Soweit dem Gerichtshof in der Rechtssache Dzodzi eine zu allgemeine Antwort vorgeworfen wurde337, lag dies auch an der sehr allgemeinen Vorlagefrage. Trotz allem sind die gewichtigen Bedenken gegen die Dzodzi-Rechtsprechung nicht von der Hand zu weisen. Die Gefahren bei der Auslegung338, systemwidrige Konsequenzen wie die fast ausschließlich theoretische Rechtskraftwirkung inter partes339 und nicht zuletzt die erhöhte Arbeitsbelastung hätten den Ausschlag gegen die mit der Dzodzi-Rechtsprechung gefundene Lösung geben können340. In Vgl. hierzu Kapitel 2 D. III. 2. b) (1) (c). So erstmals Generalanwalt Darmon, Schlussantrag Gmurzynska-Bscher, C-231 / 89, Slg. 1990, I-4009, 4010. 334 Vgl. Generalanwalt Darmon, Schlussantrag Gmurzynska-Bscher, C-231 / 89, Slg. 1990, I-4009, 4010; in diesem Sinne auch G. Ress, Die Entscheidungserheblichkeit im Vorlageverfahren nach Art. 177 EWG-Vertrag im Vergleich zu Vorlageverfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG, FS für Günther Jahr, S. 339, 343. 335 Vgl. J. Schuch, Die Zuständigkeit des EuGH für Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 177 EGV im Bilanzsteuerrecht, SWI 1997, 459, 462. 336 In diesem Sinne „co-operative approach“ wohl auch D. O‘Keeffe, Is the Spirit of Article 177 under Attack, ELR 1998, 509, 519. 337 Bravo-Ferrer Delgado / La Casta Muñoa, Case Law, CMLR 1992, 152, 159. 338 Vgl. hierzu Kapitel 2 D. III. 2. a) (2). 339 Vgl. hierzu Kapitel 2 D. III. 2. b) (1) (c). 340 So A. Arnull, The European Union and its Court of Justice, S. 56; G. Betlem, Case Law, CMLR 1999, 165, 178; E. Hinton, Case Law Leur Bloem v. Inspecteur der Belastingdienst, Columbia Journal of European Law 4 (1998), 155, 166; P. Oliver, La Recevabilité des 332 333
D. Vorabentscheidungskompetenz des EuGH bei Gemeinschaftsrecht
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diesem Falle wäre eine weitere Ausnahmefallgruppe von dem Grundsatz, dass im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens gemäß Art. 234 EG die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit einer Vorlagefrage dem nationalen Gericht obliegt, statuiert worden. Die Statuierung dieser Fallgruppe hätte im Wesentlichen darauf gestützt werden können, dass das Vorabentscheidungsverfahren nicht nur voraussetzt, dass Fragen zum Gemeinschaftsrecht vorgelegt werden, sondern auch, dass diese Fragen im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts relevant werden. Möglicherweise reicht das Bewusstsein, dass die oben beschriebenen Gefahren vorhanden sind, aus, diese zu begrenzen. Schwerlich vertretbar erscheint in jedem Falle eine Bejahung der Vorlagepflicht gemäß Art. 234 Abs. 3 EG in den Fällen der Dzodzi-Rechtsprechung. Zum einen würde sich der Charakter dieser Rechtsprechung merklich wandeln: Statt großzügige Serviceleistung zu sein, würde sie einen deutlichen, dem im Rahmen des Art. 234 EG bestehenden Kooperationsverhältnis widersprechenden Eingriffscharakter gewinnen. Zum anderen bestünde die Vorlagepflicht in einer vom EuGH nicht zu bewältigenden Anzahl von Fällen. Unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen wird man sich mittlerweile mit der Dzodzi-Rechtsprechung abfinden müssen. Der Gerichtshof misst dem Gedanken der Rechtssicherheit hohen Stellenwert bei und ist wenig geneigt, eine ständige Rechtsprechung aufzugeben341. Dies dürfte vorliegend in besonderem Maße gelten, schließlich wurde die Rechtssache Leur-Bloem in der Besetzung des großen Plenums durch 13 Richter entschieden342. Da die Generalanwälte in der Sache immer opponierten, ist die Annahme abwegig, dem Gerichtshof wäre nicht bewusst gewesen, worauf er sich eingelassen habe. Dies haben wohl auch die Generalanwälte eingesehen, in späteren Rechtssachen343 verzichteten sie auf nochmalige Angriffe.
Questions préjudicielles: La Jurisprudence des Années 1990, Cahiers de Droit Européen 2001, 15, 38. 341 Vgl. M. Dauses, Ein Sieg für die Demokratie in Europa, EuZW 1990, 169; P. Oliver, Wie wichtig ist das Urteil „Hag II“?, EuZW 1991, 274. 342 Auch das die Dzodzi-Rechtsprechung bestätigende Urteil v. 7. Januar 2003 in der Rechtssache BIAO, C-306 / 99, wurde vom Plenum gefällt. 343 Vgl. Schlussanträge des Generalanwalt Jacobs, Schoonbroodt, C-247 / 97, Slg. 1998, I-8097, 8103; EuGH, DE+ES Bauunternehmung GmbH, C-275 / 97, GmbHR 1999, 1145; EuGH, Urteil v. 11. Januar 2001, Azienda Agricola, C-403 / 98, noch nicht veröffentlicht. Zu beachten ist aber der von dieser Linie abweichende Schlussantrag des Generalanwaltes Jacobs, BIAO, C-306 / 99 m. w. N.; der Tenor ist veröffentlicht in IStR 2002, 25 mit Anmerkung Bärenz.
Kapitel 3
Auswirkungen der Dzodzi-Rechtsprechung auf die deutsche Rechtsordnung Nachdem die Dzodzi-Rechtsprechung im gemeinschaftsrechtlichen Rahmen untersucht wurde, sollen nunmehr die Folgen dieser Rechtsprechung für die deutsche Rechtsordnung geklärt werden.
A. Das Verhältnis von klassischen Verweisungen und Verweisungen im Sinne der Dzodzi-Rechtsprechung Verweisungen gibt es in allen Rechtsgebieten und in den verschiedensten Formen. Sie werden in förmlichen Gesetzen, Rechtsverordnungen, Satzungen, Verwaltungsvorschriften und Vorschriften privater Vereine verwendet. Es gibt sie zwischen Landes-, Bundes- und Gemeinschaftsrecht. Hinter diesem breiten Spektrum verbergen sich unterschiedliche Motive, vielgestaltige Rechtsformen und demgemäß auch heterogene Rechtsprobleme344. Gegenstand dieser Untersuchung ist zunächst die Frage, welche Verweisungen bzw. Verweisungstechniken Verweisungen im Sinne der Dzodzi-Rechtsprechung sind. Mengentheoretisch sind fünf Antworten denkbar: Die Menge der klassischen Verweisung entspricht der Menge der Verweisung im Sinne der Dzodzi-Rechtsprechung. Denkbar ist weiterhin, dass eine Menge Teilmenge der anderen ist und umgekehrt. Es besteht die Möglichkeit einer gemeinsamen Schnittmenge und die Möglichkeit zweier voneinander unterschiedlicher Mengen. Die Beantwortung obiger Frage wird es ermöglichen zu beurteilen, inwiefern der Erkenntnisstand für die klassischen Verweisungen auch für die Verweisungen im Sinne der Dzodzi-Rechtsprechung übernommen werden kann. Voraussetzung ist zunächst eine terminologische Klärung beider Verweisungsbegriffe.
344 Vgl. W. Brugger, Rechtsprobleme der Verweisung in Hinblick auf Publikation, Demokratie und Rechtsstaat, VerwArch 78(1987), S. 1, 2 m. w. N.
A. Klassische Verweisungen und Dzodzi-Rechtsprechung
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I. Die klassische Verweisung Das Vorliegen einer Verweisung wird üblicherweise bejaht, wenn eine Rechtsnorm für sich genommen oder aus ihrer Verankerung in dem betreffenden Regelwerk heraus unvollständig ist und sich zur Vervollständigung auf andere Normen bezieht, statt deren Wortlaut zu wiederholen. Der Inhalt der in Bezug genommenen Vorschrift wird „inkorporiert“, gleichsam „fotografiert“345 und gedanklich in das verweisende Gesetz eingefügt. Er wird zum Bestandteil der verweisenden Norm, teilt im Anwendungsbereich dieser Norm deren Geltungskraft und Ranghöhe und ist im Rechtsschutzsystem auch (nur) wie diese Norm gerichtlich überprüfbar346. Die Verweisung lässt die Geltung und Wirkungskraft der in Bezug genommenen Vorschrift als solche unangetastet347. Nur dem Inhalt dieser Vorschrift wird ein zusätzlicher Wirkbereich erschlossen. Diese Technik der Bezugnahme erfüllt vor allem zwei Funktionen: Sie erlaubt eine kurze Fassung des Gesetzestextes, der von Wiederholungen entlastet wird, und dient so der Gesetzesökonomie. Des Weiteren ist sie ein wichtiges gesetzgeberisches Mittel, um das Ineinandergreifen von Vorschriften, sei es im gleichen Gesetz oder in der Gesamtrechtsordnung, sichtbar zu machen348. Die Verweisung hat somit eine formelle und eine materielle Komponente. Die formelle besteht darin, dass eben nicht abgeschrieben, sondern „verwiesen wird“. Die materielle Komponente besteht darin, dass der Gesetzgeber keine eigenständige Regelung in der Sache trifft. Die Regelung besteht vielmehr in der Entscheidung, „es so zu machen, wie“349. Innerhalb dieses Begriffsrahmens lassen sich statische und dynamische Verweisungen unterscheiden. Erstere verweisen auf bestehende Vorschriften „in der derzeitigen Fassung“ oder in der Fassung eines bestimmten Zeitpunktes der Gegenwart oder Vergangenheit. Sie wird als statisch bezeichnet, weil die Verweisung durch Änderungen des Bezugsobjektes nicht berührt wird. Dynamisch wird verwiesen, wenn auf eine Norm „in der jeweiligen Fassung“ Bezug genommen wird. So werden Änderungen am Bezugsobjekt automatisch übernommen350. 345 Vgl. J.F. Staats, Verweisung und Grundgesetz, in Rödig, Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, S. 243, 254. 346 Vgl. T. Clemens, Die Verweisung von einer Rechtsnorm auf andere Vorschriften, AöR 111(1986), S. 63, 65, der in Fn. 3 auf eine hier nicht interessierende Ausnahme hinweist. 347 Zu der (zweifelhaften) Rechtsfigur der geltungserweiternden Verweisung A. Haratsch, Verweisungstechnik und gemeinschaftsgerichtete EG-Richtlinien, EuR 2000, 42, 45. 348 Vgl. H.U. Karpen, Die Verweisung als Mittel der Gesetzgebungstechnik, S. 13. 349 Vgl. T. Klindt, Die Zulässigkeit dynamischer Verweisungen auf EG-Recht aus verfassungs- und europarechtlicher Sicht, DVBl. 1998, 373, 376. 350 Vgl. F. Ossenbühl, Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Verweisung als Mittel der Gesetzgebungstechnik, DVBl. 1967, 401.
80
Kap. 3: Dzodzi-Rechtsprechung und deutsche Rechtsordnung
Keine klassischen Verweisungen sind unbestimmte Rechtsbegriffe. Hier wird nicht eine bereits getroffene Regelungsanordnung für einen anderen Regelungssachverhalt übernommen, sondern ein ausfüllungsbedürftiger Rechtsbegriff geprägt, dessen Inhalt mit den Mitteln der klassischen Auslegung entwickelt werden muss. Unbestimmte Rechtsbegriffe unterscheiden sich von Verweisungen mithin dadurch, dass nicht bereits aus der Norm selbst heraus dezidiert erkennbar ist, was gelten soll, sondern der Geltungsinhalt erst erkannt sein will. Im Übrigen fehlt schon jeder „Verweis“ auf eine andere Regelung351. Von Verweisung kann auch nicht gesprochen werden, soweit die Rechtsprechung bestimmten Verwaltungsvorschriften normkonkretisierende Wirkung zuerkennt. Denn die jeweiligen Gesetze verweisen gerade nicht auf diese Verwaltungsvorschriften, Letztere finden vielmehr nur Anwendung auf Grund eines richterrechtlich entwickelten Auslegungsgebotes352. II. Die Verweisung im Sinne der Dzodzi-Rechtsprechung Die Verweisungen im Rahmen der Dzodzi-Rechtsprechung353, im Folgenden auch Dzodzi-Verweisungen genannt, zeichnen sich dadurch aus, dass die Mitgliedstaaten durch nationalen Anwendungsbefehl dem Gemeinschaftsrecht außerhalb seines ursprünglichen Geltungsbereiches Geltung verschaffen. Dass dies im Wege einer klassischen Verweisung erfolgen kann, liegt auf der Hand. Die Möglichkeit, dass sich beide Verweisungstypen ausschließen, besteht daher nicht. Sollten sich nun Verweisungen finden lassen, die jeweils nur einer Verweisungsmenge zuzuordnen sind, könnte das Verhältnis dieser Mengen abschließend geklärt werden: Beide hätten eine gemeinsame Schnittmenge. Unter diesem Aspekt sollen daher Verweisungen bei der Umsetzung von Richtlinien und die überschießende Umsetzung von Richtlinien terminologisch geklärt und untersucht werden. III. Verweisung bei der Umsetzung von Richtlinien Art. 249 Abs. 3 EG charakterisiert die Richtlinie als denjenigen Rechtsakt der Gemeinschaft, der für den Mitgliedstaat, an den er gerichtet ist, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich ist, den innerstaatlichen Stellen jedoch die Wahl der Form und Mittel überlässt. 351 Vgl. T. Klindt, Die Zulässigkeit dynamischer Verweisungen auf EG-Recht aus verfassungs- und europarechtlicher Sicht, DVBl. 1998, 373, 374. 352 Vgl. Klindt, a. a. O. 353 G. Betlem, Case Law, CMLR 1999, 165, 171, bezeichnet sie als „spontaneous harmonization“.
A. Klassische Verweisungen und Dzodzi-Rechtsprechung
81
Sinn und Zweck der Richtlinie ist es, die Autonomie der Mitgliedstaaten zu schonen und der Gemeinschaft ein flexibles Handlungsinstrument bereitzustellen, mit dem Letztere auf die unterschiedlichen Rechtszustände in den einzelnen Mitgliedstaaten reibungslos und effektiv einwirken kann354. Obwohl sich die Richtlinie nach alledem nur an die Mitgliedstaaten richtet, stellte sich dem Gerichtshof schon sehr früh die Frage, ob die Richtlinie auch unmittelbare Folgen für den Bürger zu verursachen vermag355. Dem Hinweis auf den Wortlaut des Art. 249 EG und die in ihm vorgesehene Unterscheidung zwischen Verordnung und Richtlinie ist der Gerichtshof mit dem Argument entgegengetreten, aus der unmittelbaren Geltung der Verordnung folge nicht, dass andere Rechtsakte niemals derartige Wirkungen entfalten könnten. Die Richtlinie könne nur praktisch wirksam werden, wenn der Einzelne sich vor Gericht auf die dem Staat auferlegte Verpflichtung berufen könne. Daher stellt sich die Frage der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien nur, wenn Letztere nicht, nicht rechtzeitig oder nicht korrekt in innerstaatliches Recht umgesetzt wurden356. Darüber hinaus fordert die ständige Rechtsprechung des EuGH, dass die Vorschriften der Richtlinie dem Einzelnen Rechte gewähren und die Vorschriften inhaltlich unbedingt sowie hinreichend genau sind, so dass sie ohne Konkretisierung durch eine Umsetzungsmaßnahme anwendbar sind357. Neben dem Gedanken der praktischen Wirksamkeit („effet utile“) der Richtlinie war ein weiterer Hintergrund dieser Rechtsprechung, dass der Staat keine Vorteile aus seiner Nichtbeachtung des Gemeinschaftsrechts ziehen dürfe358. Das Bundesverfassungsgericht hat dies ausdrücklich als zulässige Rechtsfortbildung anerkannt359. Wenn auch die Umsetzung einer Richtlinie keine klassische Verweisung darstellt, kann die umsetzende innerstaatliche Norm eine derartige Verweisung beinhalten. Denn in der Praxis wird häufig360 in der umsetzenden Norm direkt auf die Richtlinie verwiesen. Dies bietet sich in technischen Bereichen an, in denen die Richtlinien sehr detaillierte Vorgaben enthalten. Derartige Verweisungen, oft auch dynamischer Natur, sind verfassungsrechtlich zulässig361. Vor dem Hintergrund, dass eine Überschreitung der Umsetzungsfrist vermieden wird, erscheint eine dynamische Verweisung sogar als gemeinschaftsrechtlich vorzugswürdig362. Vgl. S. Heß, Die Umsetzung von EG-Richtlinien im Privatrecht, S. 15. Vgl. EuGH, Grad / Finanzamt Traunstein, C-9 / 70, Slg. 1970, 825, 837 ff. 356 Vgl. U. Everling, Zur direkten innerstaatlichen Wirkung der EG-Richtlinien, FS für Karl Carstens, S. 95, 101. 357 Vgl. EuGH, Foster, C-188 / 89, Slg. 1990, I-3313, 3348. 358 Vgl. EuGH, a. a. O. 359 Vgl. BVerfG, Urteil v. 8. April 1987, BVerfGE 75, 223, 240. 360 Als Beispiel sei § 3 Abs. 2 der 15. BImSchV genannt, in Feldhaus, Bundesimmissionsschutzrecht, B 2.15, S. 10. 361 Vgl. OVG NW, Beschluss v. 1. Februar 1996, NWVBl. 1996, 307, 309; a.A., aber ohne Begründung, M. Hilf, Die Richtlinie der EG – ohne Richtung, ohne Linie? EuR 1993, 1, 13. 354 355
6 Bärenz
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Kap. 3: Dzodzi-Rechtsprechung und deutsche Rechtsordnung
Die Tatsache, dass eine dynamische Verweisung nur dann Sinn macht, wenn die Richtlinie selbst detailliert genug ist, um im Rahmen der Verweisung eine Regelung treffen zu können, führt zu einer Überlegung, die das Vorliegen einer klassischen Verweisung in Frage stellt: Voraussetzung einer klassischen Verweisung ist, dass dem Verweisungsobjekt ein zusätzlicher Wirkbereich erschlossen wird. Mit anderen Worten, die Verweisung selbst muss Recht schaffen, welches vorher für diesen Lebenssachverhalt nicht existierte363. Keine Verweisung läge daher vor, wenn der deutsche Gesetzgeber eine – unmittelbar wirkende – EG-Verordnung „umsetzen“ würde, in dem er ein Gesetz erließe, welches den gleichen Sachverhalt wie diese Verordnung regeln wollte und insofern auf Letztere verwiese. Dies wäre im Übrigen gemeinschaftsrechtlich unzulässig364. Man könnte daher vermuten, dass auf Grund der Möglichkeit der unmittelbaren Wirkung die Richtlinie schon einen Regelungscharakter entfaltet, der eine zweite Regelung durch die (verweisende) nationale Umsetzungsmaßnahme ausschließt, genauso wie eine Verordnung nicht regelnd umgesetzt werden kann. Dabei würde jedoch übersehen, dass die Tatsache, dass ein Bürger sich unter bestimmten Voraussetzungen auf die (nicht umgesetzte) Richtlinie berufen kann, Letzterer zwar unmittelbare Wirkung, aber eben noch keinen vollwertigen Regelungscharakter verleiht. Dies folgt daraus, dass die unmittelbare Wirkung nur unter bestimmten Voraussetzungen und gegenüber dem Staat, nicht aber Dritten, eintritt. Konsequenterweise akzeptiert der EuGH die unmittelbare Wirkung nicht als Rechtfertigungsgrund für eine fehlende Umsetzung365: „Auch die Rechtfertigung mit der „unmittelbaren Anwendbarkeit“ der fraglichen Richtlinien ist zurückzuweisen. Denn nach Art. 189 Abs. 3 ist die Durchführung der Gemeinschaftsrichtlinien dadurch sicherzustellen, daß die Mitgliedstaaten geeignete Durchführungsmaßnahmen ergreifen. Nur unter besonderen Umständen, insbesondere wenn ein Mitgliedstaat nicht die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen getroffen hat oder aber die ergriffenen Maßnahmen nicht der betreffenden Richtlinie entsprechen, hat der Gerichtshof den einzelnen das Recht zuerkannt, sich vor Gericht gegenüber einem Mitgliedstaat, der der Richtlinie nicht nachgekommen ist, auf diese zu berufen. Diese Mindestgarantie, die sich aus dem zwingenden Charakter der Verpflichtung ergibt, welche den Mitgliedstaaten nach Art. 189 Abs. 3 durch die Richtlinien auferlegt ist, kann keinem Mitgliedstaat als Rechtfertigung dafür dienen, dass er es versäumt hat, rechtzeitig zur Erreichung des Ziels der jeweiligen Richtlinie geeignete Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen.“ 362 Vgl. T. Klindt, Die Zulässigkeit dynamischer Verweisungen auf EG-Recht aus verfassungs- und europarechtlicher Sicht, DVBl. 1998, 373, 380; a.A. S. Heß, Die Umsetzung von EG-Richtlinien im Privatrecht, S. 38. 363 Vgl. T. Klindt, Die Zulässigkeit dynamischer Verweisungen auf EG-Recht aus verfassungs- und europarechtlicher Sicht, DVBl. 1998, 373, 377. 364 Vgl. EuGH, Variola, C-34 / 73, Slg. 1973, 981, 990. 365 Vgl. EuGH, Kommission / Belgien, C-102 / 79, Slg. 1980, 1473, 1487.
A. Klassische Verweisungen und Dzodzi-Rechtsprechung
83
Folglich trifft der nationale Umsetzungsakt eine eigenständige rechtliche Regelung, dynamische Verweisungen auf Richtlinien sind somit klassische Verweisungen. Da es Verweisungen des nationalen Rechts auf Gemeinschaftsrecht im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts sind, ergibt sich die Zuständigkeit des Gerichtshofes für die Auslegung der Richtlinie unproblematisch aus Art. 234 EG; einer gesonderten Begründung dieser Zuständigkeit durch die Dzodzi-Rechtsprechung bedarf es nicht. Mithin sind diese Verweisungen keine Verweisungen im Sinne der Dzodzi-Rechtsprechung. IV. Die überschießende Umsetzung von Richtlinien Die Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten zu Umsetzungsmaßnahmen nur hinsichtlich des von ihr definierten Ziels. Die insoweit notwendigen Umsetzungsmaßnahmen werden manchmal dazu genutzt, auch andere Sachverhalte, die von der Richtlinie nicht erfasst werden, mitzuregeln. Dies wird als überschießende Umsetzung von Richtlinien bezeichnet366. In Deutschland gibt es hierfür zwei prominente Beispiele: Im Handelsbilanzrecht werden wesentliche Bestimmungen der Vierten Bilanzrichtlinie, welche Geltung nur für Kapitalgesellschaften und atypische Personengesellschaften beansprucht, in den allgemeinen, d. h. für alle rechnungspflichtigen Unternehmen geltenden Vorschriften der §§ 238 bis 263 HGB umgesetzt367. Im Umwandlungsgesetz werden Vorschriften der Verschmelzungs- und Spaltungsrichtlinie, welche nur für Aktiengesellschaften gelten, im allgemeinen Teil umgesetzt und gelten daher auch für andere Gesellschaftstypen. Typischerweise erfolgt eine überschießende Umsetzung dadurch, dass der Tatbestand der nationalen Regelung erweitert wird und die von der Richtlinie geforderte Rechtsfolge sich auch auf diese Tatbestandserweiterung bezieht. Diese Norm, regelmäßig ein Gesetz, ist aus sich selbst heraus verständlich. Im Übrigen fehlt auch ein textualer Hinweis – um das Wort Verweis zu vermeiden – auf eine andernorts getroffene Regelung. Der überschießenden Umsetzung von Richtlinien fehlt daher die formelle Komponente der klassischen Verweisung. Materiell betrachtet liegt der Schwerpunkt seiner Entscheidung auch nicht im klassischen „es so zu machen, wie . . .“. Im Kern ist die Intention: „ich treffe für beide Objekte die gleiche Regelung.“ Würde man auch Letzteres für eine Verweisung ausreichen lassen, wäre jede Norm, deren Tatbestand mehrere Objekte erfasst, eine Verweisung. Der Begriff der Verweisung würde jede Kontur und damit seine Aussagekraft verlieren. 366 Vgl. Habersack / Mayer, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, JZ 1999, 913, 914. Es findet sich aber auch die Bezeichnung als „extensive Angleichung“, vgl. R. Schulze, Auslegung Europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 9, 17. 367 Ausführlich hierzu unter Kapitel 3 B. II. und Kapitel 3 D. V. 1.
6*
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Kap. 3: Dzodzi-Rechtsprechung und deutsche Rechtsordnung
Nach alledem ist die überschießende Umsetzung von Richtlinien zwar keine klassische Verweisung, sie wendet aber (im „überschießenden“ Teil) Gemeinschaftsrecht auf Fälle an, die ausschließlich der nationalen Gesetzgebungsbefugnis unterliegen, mit anderen Worten, sie ist eine Verweisung im Sinne der DzodziRechtsprechung. V. Zwischenergebnis Festzuhalten ist daher, dass der klassische Verweisungsbegriff nicht mit dem Verweisungsbegriff der Dzodzi-Rechtsprechung übereinstimmt; die Mengen beider Verweisungen haben aber eine gemeinsame Schnittmenge. Schon gefundene Erkenntnisse über die klassischen Verweisungen finden daher nur Anwendung auf diese Schnittmenge. Eine eigenständige Untersuchung der Verweisungen im Sinne der Dzodzi-Rechtsprechung ist daher geboten.
B. Fallgruppen von Verweisungen im Sinne der Dzodzi-Rechtsprechung in der deutschen Rechtsordnung Im Folgenden wird versucht, die verschiedenen Erscheinungsbilder von Verweisungen im Sinne der Dzodzi-Rechtsprechung in der deutschen Rechtsordnung in Fallgruppen zu systematisieren. Da diese Systematisierung letztlich der Untersuchung des gemeinschaftsrechtlichen Einflusses auf das Steuerbilanzrecht dienen wird, werden die Beispiele der Fallgruppen aus dem deutschen Steuerrecht gewählt. I. Unmittelbare Verweisung auf Gemeinschaftsrecht Zunächst besteht die Möglichkeit, dass ausdrücklich auf Gemeinschaftsrecht verwiesen wird. Dies wird im Folgenden als unmittelbare Verweisung bezeichnet. Denkbar wäre auch eine Bezeichnung als direkte Verweisung. Die hier gewählte Bezeichnung lässt aber besser den Unterschied zur mittelbaren Verweisung368 erkennen. 1. Die Verweisung in § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG Das deutsche Umsatzsteuerrecht kennt zwei Steuersätze: § 12 Abs. 1 UStG bestimmt Anwendungsbereich und Höhe des allgemeinen Steuersatzes, § 12 Abs. 2 368
Vgl. hierzu Kapitel 3 B. III.
B. Fallgruppen von Verweisungen
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UStG trifft diese Regelungen für den ermäßigten Steuersatz. Zur Konkretisierung von Gegenständen verweist § 12 Abs. 2 UStG in seiner Nr. 1 auf eine Anlage, welche wiederum eine Einordnung nach dem Gemeinsamen Zolltarif (GZT) vornimmt. Auszug aus der Anlage zu § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG Laufende Nummer
Warenbezeichnung
Zolltarif (Kapitel, Position, Unterposition)
...
...
...
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Zubereitung von Fleisch, Fischen und . . .
aus Kapitel 16
29
Zucker und Zuckerwaren
Kapitel 17
...
...
...
Wie aus der Anlage ersichtlich, lassen sich zwei Arten von Verweisungen unterscheiden. Zum einen wird in der Anlage ohne Einschränkung auf die Gegenstände eines Kapitels, einer Position oder Unterposition verwiesen (vgl. Nr. 29 der Anlage). Zum anderen gibt es „ex-Positionen“369, die durch die Warenbezeichnung in Spalte 2 nur einen Teil aus einem Kapitel, aus einer Position oder aus einer Unterposition begünstigen (vgl. Nr. 28 der Anlage, Spalte 3 „aus Kapitel 16“). Mögliche materielle Auswirkungen dieser Unterschiede werden später ausführlicher erörtert370. Schon das bis 31. Dezember 1967 geltende Umsatzsteuerrecht hatte verschiedene Warenabgrenzungen nach dem damals noch nationalen Zolltarif vorgenommen. Hintergrund dieser Anknüpfung ist gesetzgeberische Ökonomie. Eigene Begriffsabgrenzungen für das Gebiet der Umsatzsteuer mit den sich zwangsläufig ergebenden Abgrenzungsschwierigkeiten werden dadurch vermieden. Außerdem ist so sichergestellt, dass die Einfuhr von Waren und die Inlandslieferung gleichmäßig belastet werden371. Am 1.7. 1968 trat der GZT als unmittelbar in den Mitgliedstaaten geltendes Recht in Kraft, der deutsche Zolltarif galt allerdings ergänzend fort. Seit 1.1. 1994 gilt ausschließlich der Zollkodex der EU.372
Vgl. K. Friedrich, Zolltarif und ermäßigter Umsatzsteuersatz, DB 1998, 1157, 1158. Vgl. Kapitel 3 D. IV. 1. 371 Vgl. Schlienkamp / Rondorf in Plückebaum-Malitzky, Umsatzsteuergesetz, § 12 Abs. 2 Rdn. 51. 372 Vgl. Husmann in Rau / Dürrwächter / Flick / Geist, Umsatzsteuergesetz, § 12 Abs. 2 Nr. 1 und 2 Rdn. 87. 369 370
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Kap. 3: Dzodzi-Rechtsprechung und deutsche Rechtsordnung
Legt man den klassischen Verweisungsbegriff zu Grunde, so wird man das Vorliegen einer Verweisung bejahen: Von einem formellen deutschen Gesetz wird auf Gemeinschaftsrecht verwiesen. Eine Verweisung im Sinne der Dzodzi-Rechtsprechung ließe sich nur bejahen, wenn dieses deutsche Gesetz außerhalb des Anwendungsbereiches des Gemeinschaftsrechts liegt. Konkret hieße das, dass der deutsche Gesetzgeber bei seiner Entscheidung, was er in die Anlage zu § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG aufnimmt, keinen gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben ausgesetzt sein darf. In der Tat wird im Schrifttum betont, dass der deutsche Gesetzgeber durch die unmittelbare Anwendung des Gemeinschaftsrechts nicht seine Befugnis, den Kreis der begünstigten Gegenstände zu ändern, aufgegeben habe373. Dies ist nicht ganz korrekt. Richtig ist zwar, dass diese Befugnis nicht durch die Verweisung aufgegeben wurde. Daneben ist jedoch zu beachten, dass mittlerweile auch der Bereich der Umsatzsteuer selbst immer detaillierteren Einflüssen des Gemeinschaftsrechts unterliegt. Sowohl die zweite Richtlinie des Rates zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern374 als auch die sechste Richtlinie375 sahen in Art. 9 Abs. 2 bzw. Art. 12 Abs. 4 nur vor, dass „bestimmte Lieferungen und bestimmte Dienstleistungen“ einem erhöhten oder ermäßigten Satz unterworfen werden können. Die Mitgliedstaaten waren daher bei der Einstufung der Waren frei, insoweit lag eine unmittelbare Verweisung im Sinne der Dzodzi-Rechtsprechung von deutschem Recht auf Gemeinschaftsrecht vor. Die Richtlinie 92 / 77 / EWG376 änderte aber mit Wirkung zum 1. Januar 1993 die 6. Richtlinie. Artikel 12 Abs. 3 3. UA lautet nunmehr: „Die Mitgliedstaaten können außerdem einen oder zwei ermäßigte Sätze anwenden. Diese ermäßigten Sätze ( . . . ) sind nur auf Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen der in Anhang H genannten Kategorien anwendbar.“
In diesem Anhang H werden die Gegenstände und Dienstleistungen relativ detailliert beschrieben. Entscheidend ist darüber hinaus, dass dieser Anhang abschließend ist. Seit dem 1. Januar 1993 ist daher der Verweisungscharakter des § 12 Abs. 2 UStG noch komplizierter: Die Entscheidung, was in die Anlage aufzunehmen ist, obliegt wegen der detaillierten Regelung der 6. Richtlinie seit dem 1.1. 1993 nicht mehr dem deutschen Gesetzgeber. 373 374 375 376
Vgl. Weymüller in Sölch / Ringleb, Umsatzsteuer, § 12 Rdn. 16. RL 67 / 228 / EWG v. 11. April 1967, ABl. EG 1967, 1303. RL 77 / 388 / EWG v. 17. Mai 1977, ABl. EG, 1977, Nr. L 145 / 1. RL 92 / 77 / EWG v. 19. Oktober 1992, ABl. EG 1992 Nr. L 316 / 1.
B. Fallgruppen von Verweisungen
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Im Vorlagefalle würde der EuGH daher eine Gemeinschaftsnorm (GZT) im Rahmen des Gemeinschaftsrechts (6. Richtlinie) auslegen, zu seiner Zuständigkeit brauchte es die Dzodzi-Rechtsprechung nicht. Mithin hat § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG seit dem 1.1. 1993 nicht mehr den Charakter einer Verweisung im Sinne der Dzodzi-Rechtsprechung. Soweit im Folgenden von § 12 Abs. 2 UStG die Rede ist, bezieht sich die Untersuchung auf die Rechtslage vor dem 1. 1. 1993. § 12 Abs. 2 UStG ist nicht die einzige unmittelbare Verweisung auf Gemeinschaftsrecht im deutschen Recht. Die unmittelbare Anwendung von Gemeinschaftszollrecht ist unter anderem auch in § 11 Abs. 1, Abs. 5 und § 5 Abs. 2 Nr. 8 UStG vorgesehen. Dogmatische Unterschiede sind insoweit nicht ersichtlich, so dass im Folgenden die Untersuchung der unmittelbaren Verweisung am Beispiel des § 12 Abs. 2 UStG fortgeführt wird.
2. Die Verweisung in § 21 Abs. 2 UStG Gemäß § 21 Abs. 2 UStG gelten – von einigen hier nicht interessierenden Ausnahmen abgesehen – für die Einfuhrumsatzsteuer die Vorschriften für Zölle sinngemäß. Im Unterschied zu § 12 Abs. 2 UStG ist § 21 Abs. 2 UStG eine unmittelbare Verweisungsanalogie377 auf Gemeinschaftsrecht und soll zusammen mit der unmittelbaren Verweisung auf Gemeinschaftsrecht untersucht werden. Eine gemeinsame Untersuchung erfolgt insbesondere vor dem gemeinsamen Hintergrund, dass unmittelbar verwiesen wird378. Vorschriften für Zölle sind alle in Deutschland unmittelbar anwendbaren Rechtsnormen, die Zölle betreffen. Dazu zählen grundsätzlich auch die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften für Zölle, die in den Mitgliedstaaten unmittelbar gelten379. Im Rahmen der Einfuhrsteuern ist die Verweisung auf die Zollvorschriften üblich380. Dadurch wird gewährleistet, dass die bei der Einfuhr zu erhebenden Abgaben (Eingangsabgaben) von ein und derselben Behörde in einem Bescheid nach dem gleichen Verfahren auf Grund einheitlich getroffener Feststellungen einfach und zweckmäßig erhoben werden. Aus diesen Erwägungen ergibt sich auch, dass die Verweisung in § 21 Abs. 2 UStG dynamischer Natur ist. Denn anderenfalls ergäbe sich wiederum ein Aus377 378 379 380
Vgl. H.U. Karpen, Die Verweisung als Mittel der Gesetzgebungstechnik, S. 78. Im Unterschied zu einer nur mittelbaren Verweisung; vgl. hierzu Kapitel 3 B. III. Vgl. BFH, Urteil v. 3. Mai 1990, BFHE 161, 260, 261. Vgl. Schwarz in Plückebaum-Malitzky, Umsatzsteuergesetz, § 21 Rdn. 27 m. w. N.
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Kap. 3: Dzodzi-Rechtsprechung und deutsche Rechtsordnung
einanderfallen der für Zölle und die Einfuhrumsatzsteuer in einem bestimmten Zeitpunkt anwendbaren Vorschriften381. Da das Gemeinschaftsrecht für die Einfuhrumsatzsteuer keine Regelung trifft, ist § 21 Abs. 2 UStG eine Verweisung im Sinne der Dzodzi-Rechtsprechung.
II. Die überschießende Umsetzung von Richtlinien Auch die überschießende Umsetzung von Richtlinien ist eine Verweisung im Sinne der Dzodzi-Rechtsprechung. Im Gegensatz zu der oben besprochenen unmittelbaren Verweisung auf Gemeinschaftsrecht ist sie aber keine klassische Verweisung382. Im Folgenden soll die überschießende Umsetzung anhand der Umsetzung der Vierten Richtlinie im Handelsbilanzrecht 383 näher untersucht werden. Allerdings ist die Beurteilung dieser Umsetzung als überschießende nicht unbestritten. Dies liegt im Wesentlichen daran, dass der Regelungsgehalt der Vierten Richtlinie unterschiedlich eingeschätzt wird. Zum einen wird vertreten, dass durch die Vierte Richtlinie keine verbindlichen Vorgaben für die Gewinnermittlung getroffen würden. Nach dieser Ansicht fehlt es daher schon an einer verbindlichen Vorgabe des Gemeinschaftsrechts, die umgesetzt werden müsste. Die entgegengesetzte Auffassung meint, die Vierte Richtlinie umfasse auch die Personengesellschaften. Hiernach würde es an einer „überschießenden Komponente“ der Umsetzung fehlen.
1. Keine Verbindlichkeit der Vierten Richtlinie für die Gewinnermittlung Biener und Moxter sind der Auffassung, Richtlinien seien für den nationalen Gesetzgeber nicht immer verbindlich. An einer Verbindlichkeit fehle es dann, wenn dem Mitgliedstaat hinsichtlich der Anpassung seines Rechts ein Wahlrecht eingeräumt ist oder wenn ein verdecktes Wahlrecht in der Form besteht, dass auf die Umschreibung verwendeter Begriffe verzichtet wird, um den Mitgliedstaaten die Fortführung ihres unterschiedlichen Rechts zu ermöglichen384. Die Richtigkeit des ersten Teils der Aussage liegt auf der Hand. Vgl. BFH, Urteil v. 3. Mai 1990, BFHE 161, 260, 262. Vgl. oben Kapitel 3 A. IV. 383 RL 78 / 660 / EWG in ABl. Nr. L 222 v. 14. August 1978, S. 11 – 31. 384 Vgl. H. Biener, Bilanzierung im Spannungsfeld von Europa-, Umwandlungs-, und Steuerrecht, StbJb 1995 / 96, 29, 40; ders., Rechtspolitische Überlegungen zur EuGH-Entscheidung, in Europäisierung des Bilanzrechts, S. 63, 71; A. Moxter, Zum Umfang der Entscheidungskompetenz des Europäischen Gerichtshofes im Bilanzrecht, BB 1995, 1463, 1465. 381 382
B. Fallgruppen von Verweisungen
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Dagegen ist die Figur des „verdeckten Wahlrechtes“385 dubios386. Die bloße Tatsache der Verwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffes macht zwar eine Auslegung erforderlich, die Richtlinie verliert deswegen aber keineswegs ihren verbindlichen Charakter. Insofern ist es unerheblich, dass hinter einem gefundenen Formelkompromiss die Intention stand, den Mitgliedstaaten die Fortführung ihres unterschiedlichen Rechts zu ermöglichen. Diese Tatsache wird der EuGH bei einer Auslegung so weit wie möglich berücksichtigen. Das dann gefundene Auslegungsergebnis ist aber für die Mitgliedstaaten verbindlich387, für einen Ermessensspielraum ist, auch wenn die Auffassung des Gerichtshofes von ihrer Auffassung abweichen sollte, kein Raum388. Wollen die Mitgliedstaaten eine derartige Konsequenz vermeiden, müssen sie auf der ausdrücklichen Einführung eines Wahlrechtes bestehen389. Ein derartiges Wahlrecht kann unterschiedliche Ausprägungen haben. Typischerweise enthält die Richtlinie dann Formulierungen wie „die Mitgliedstaaten können . . .“390. Rechtstechnisch wird daher den Mitgliedstaaten offen gelassen, überhaupt eine Regelung zu treffen. Anzutreffen ist auch die Variante, in denen die Mitgliedstaaten zwar eine Regelung treffen müssen, in der Festlegung des Inhaltes dieser Regelung aber frei sind. So trifft Art. 4 Abs. 3 lit. b) der 6. USt-RL391 folgende Regelung: „Als Baugrundstücke gelten erschlossene oder unerschlossene Grundstücke entsprechend den Begriffsbestimmungen der Mitgliedstaaten.“
Derartige Regelungen sind zulässig und haben die Konsequenz, dass der Gerichtshof eine Auslegung nicht vornimmt392. Vor dem Hintergrund einer einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts ist regelmäßig zu fordern, dass eine derartige Verweisung auf die Begriffsbestimmung durch die Mitgliedstaaten ausdrücklich erfolgt393. 385 Ähnlich A. Moxter, Zum Umfang der Entscheidungskompetenz des Europäischen Gerichtshofes im Bilanzrecht, BB 1995, 1463, 1465: „implizite Mitgliedstaaten-Wahlrechte“. 386 Ablehnend auch J. Hennrichs, Wahlrechte im Bilanzrecht der Kapitalgesellschaften, S. 422. 387 Vgl. K. van Hulle, „True and Fair View“, im Sinne der 4. Richtlinie, FS für Budde, S. 313, 317; F. Wassermeyer, Die Verpflichtung der obersten Bundesgerichte zur Vorlage von Bilanzierungsfragen an den EuGH, FS für Marcus Lutter, S. 1633, 1640. 388 Vgl. A. Bleckmann, Die Richtlinie im Europäischen Gemeinschaftsrecht und im Deutschen Recht, in: Handwörterbuch unbestimmter Rechtsbegriffe im Bilanzrecht des HGB, S. 11, 25; M. Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 482; a.A. G. Kloos, Die Transformation der 4. EG-Richtlinie (Bilanzrichtlinie) in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, S. 93. 389 Vgl. J. Schulze-Osterloh, Deutsches Bilanzrecht und Ertragssteuerrecht vor dem Europäischen Gerichtshof, DStZ 1997, 281, 283. 390 Vgl. Art. 5 Abs. 1 der Vierten Richtlinie. 391 RL 77 / 388 / EWG v. 17. Mai 1977 , ABl. EG, 1977, Nr. L 145 / 1. 392 Vgl. EuGH, Gemeente Emmen, C-469 / 93, Slg. 1996, I-1721, 1722.
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Kap. 3: Dzodzi-Rechtsprechung und deutsche Rechtsordnung
Die Figur des „verdeckten Wahlrechtes“394 lässt sich auch nicht damit rechtfertigen, dass es in Ausnahmefällen eine stillschweigende Verweisung auf die einzelstaatlichen Gebräuche gibt395. Eine derartige stillschweigende Verweisung kommt zwar dem „verdeckten Wahlrecht“ sehr nahe. In Hinblick auf die Notwendigkeit einer einheitlichen Auslegung des Gemeinschaftsrechts ist die stillschweigende Verweisung aber ein „Fremdkörper“, der nur in Fällen untergeordneter Bedeutung der Unterschiede akzeptabel ist396. Darüber hinaus ist in Anlehnung an die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Ekro397 zu fordern, dass sich das die Vorschrift erlassende Organ über die zukünftigen Unterschiede in den Mitgliedstaaten im Klaren war398. Im Fall der Vierten Bilanzrichtlinie ist aber, um bei dem Beispiel399 Bieners zu bleiben, keine Stellungnahme zu Art. 31 Abs. 1 lit. c aa) derart vorhanden, dass sich der Rat mit unterschiedlichen Auslegungen der Regelung “ Nur die am Bilanzstichtag realisierten Gewinne werden ausgewiesen“ abfinden würde. Für die hier vertretene Auffassung spricht auch das Verfahren in der Rechtssache Tomberger400. Hier wollte der BGH mit seiner Vorlagefrage wissen, ob die so genannte phasengleiche Aktivierung von Dividendenansprüchen mit der Richtlinie vereinbar sei. In seinen Schlussanträgen ging Generalanwalt Tesauro ausdrücklich auf die Argumentation Bieners, vorgetragen von der deutschen Regierung, ein401: „Sie (die Bundesregierung) führt im einzelnen aus, daß die Vorschrift den Mitgliedstaaten bei der Definition des Begriffes „realisierter Gewinn“ einen weiten Spielraum lasse. Folglich stehe es jedem Mitgliedstaat frei, den Grundsatz der phasengleichen Aktivierung anzuwenden, indem er ihn unter den jeweiligen Voraussetzungen unter den Begriff des realisierten Gewinns fasse. Ich halte das nicht für überzeugend. ( . . . ) So unterschiedlich der Begriff „realisierter Gewinn“ in der Tradition und Praxis der Rechnungslegung in den verschiedenen Mitgliedstaaten auch sein mag, kann er sich jedenfalls nicht auf einen lediglich künftigen, d. h. rechtlich und wirtschaftlich noch nicht eingetretenen Gewinn erstrecken.“
Offensichtlich ging der Generalanwalt davon aus, dass die Mitgliedstaaten in der Umsetzung der Richtlinie nicht frei sind. Gleiches gilt für den Gerichtshof, Vgl. EuGH, Ekro, C-327 / 82, Slg. 1984, 107. Ähnlich A. Moxter, Zum Umfang der Entscheidungskompetenz des Europäischen Gerichtshofes im Bilanzrecht, BB 1995, 1463, 1465: „implizite Mitgliedstaaten-Wahlrechte“. 395 Vgl. EuGH, Ekro, C-327 / 82, Slg. 1984, 107. 396 Vgl. EuGH, Ekro, C-327 / 82, Slg. 1984, 107, 119. 397 Vgl. EuGH, Ekro, C-327 / 82, Slg. 1984, 107. 398 Vgl. EuGH, Ekro, C-327 / 82, Slg. 1984, 107, 119. 399 Vgl. H. Biener, Bilanzierung im Spannungsfeld von Europa-, Umwandlungs-, und Steuerrecht, StbJb 1995 / 96, 29, 42. 400 Vgl. EuGH, Tomberger, C-234 / 94, Slg. 1996, I-3145. 401 Vgl. Schlussanträge des Generalanwalt Tesauro, Tomberger, C-234 / 94, Slg. 1996, I-3135, 3142 ff. 393 394
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obwohl dieser in seinem Urteil zu einem entgegengesetzten Ergebnis, nämlich der Zulässigkeit der phasengleichen Aktivierung von Dividendenansprüchen, kam. Die These Moxters, die Vierte Richtlinie habe bezüglich der Regelungen für die Gewinnermittlung nur eine grobe Rahmenfunktion402, ist fragwürdig. Denn nach den Erwägungsgründen sollen die „einzelstaatlichen Vorschriften über die Gliederung und den Inhalt des Jahresabschlusses und des Lageberichts sowie über die Bewertungsmethoden“ koordiniert werden (keine Hervorhebung im Original)403. Darüber hinaus ist der Begriff der „groben Rahmenregelung“ unklar. Er meint materiell wohl das Gleiche wie die „impliziten Mitgliedstaatenwahlrechte“ und ist aus denselben Gründen abzulehnen. Die hier vertretene Auffassung wird durch die Ausführungen des EuGH im Verfahren BIAO bestätigt.403a 2. Verbindlichkeit der Vierten Richtlinie auch für Personenhandelsgesellschaften Die Richtlinie gilt ihrem eindeutigen Wortlaut nach nicht für Personenhandelsgesellschaften. Vereinzelt wird die Auffassung vertreten, dass aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht Richtlinien auch dann anwendbar sein müssen, wenn sie außerhalb des durch die Richtlinien definierten Anwendungsbereiches durch eine Verweisungsnorm des Gesetzgebers Relevanz entfalten404. Mit anderen Worten, die Tatsache der überschießenden Umsetzung durch den nationalen Gesetzgeber soll zu einer gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtung führen, auch den überschießenden Teil richtlinienkonform auszulegen. Als Begründung wird die Erwägung der Dzodzi-Rechtsprechung herangezogen: Es müsse sichergestellt werden, dass das Gemeinschaftsrecht in allen EU-Staaten dieselbe Wirkung entfaltet, um eine unterschiedliche Auslegung in Fällen der unmittelbaren Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts zu verhindern405. Der Bezug auf die Dzodzi-Rechtsprechung hält näherer Überprüfung nicht stand. Dort ging es nicht um die Frage, ob die Mitgliedstaaten zu einer Anwendung des 402 Vgl. A. Moxter, Zum Umfang der Entscheidungskompetenz des Europäischen Gerichtshofes im Bilanzrecht, BB 1995, 1463, 1466. 403 Vgl. J. Hennrichs, Die Bedeutung der EG-Bilanzrichtlinie für das deutsche Handelsbilanzrecht, ZGR 1997, 66, 72. 403a Vgl. Kapitel 4 B. VI. 7. d). 404 Vgl. Herzig / Rieck, Europäisierung der handels- und steuerrechtlichen Gewinnermittlung im Gefolge der Tomberger-Entscheidung, IStR 1998, 309, 317. Ähnlich F. Broer, Maßgeblichkeitsprinzip und Harmonisierung der Rechnungslegung, S. 283. Dass W. Schön, Steuerrechtliche Einkünfteermittlung, Maßgeblichkeitsprinzip und Europäisches Bilanzrecht, FS für Hans Flick, S. 573, 581 vom BFH, Urteil v. 28. März 2000, BFHE 191, 339, 346 als Vertreter dieser Ansicht zitiert wird, ist nicht nachvollziehbar. 405 Vgl. Herzig / Rieck, a. a. O.
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Kap. 3: Dzodzi-Rechtsprechung und deutsche Rechtsordnung
Gemeinschaftsrechts außerhalb des Regelungsbereiches verpflichtet sind, sondern nur um die Frage, ob der Gerichtshof für eine Auslegung des Gemeinschaftsrechts, welches von den Mitgliedstaaten freiwillig in außergemeinschaftlichem Rahmen angewendet wird, zuständig ist. Zu der hier interessierenden Frage hat der EuGH in der Rechtssache ICI406 wie folgt Stellung genommen: „Betrifft der Rechtsstreit vor dem nationalen Gericht also einen Sachverhalt, der nicht in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fällt, so ist dieses Gericht nach dem Gemeinschaftsrecht weder verpflichtet, seine Rechtsvorschriften gemeinschaftsrechtskonform auszulegen noch sie unangewendet zu lassen.“
Diese Erwägungen gelten nicht nur für die Gerichte, sondern für alle Organe der Mitgliedstaaten. 3. Zwischenergebnis Das Dritte Buch des HGB (§§ 238 – 342a), welches auf die Umsetzung der Vierten Bilanzrichtlinie zurückgeht, ist ein typischer Fall der überschießenden Umsetzung von Richtlinien. Dies ergibt sich daraus, dass die Vierte Bilanzrichtlinie nur für Kapitalgesellschaften und atypische Personengesellschaften gilt, die insoweit zu treffenden Regelungen aber teilweise vom deutschen Gesetzgeber in den §§ 238 bis 263 auf alle Kaufleute erstreckt werden407. III. Die Verweisung auf nationales Recht, welches Gemeinschaftsrecht umsetzt, als mittelbare Verweisung Der Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf die deutsche Rechtsordnung wächst stetig. Sofern Richtlinien in nationale Gesetze umgesetzt werden, ist dies für den Rechtsanwender nicht leicht erkennbar408, da für ihn Letztere im Vordergrund stehen. Noch komplizierter wird es, wenn deutsche Gesetze auf andere Gesetze verweisen, die ihrerseits Gemeinschaftsrecht umsetzen. Dabei ist es sogar möglich, dass die Verweisung älter als der gemeinschaftsrechtliche Einfluss ist. Ein Beispiel hierEuGH, ICI, C-264 / 96, Slg. 1998, I-4695, 4725. Vgl. Habersack / Mayer, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, JZ 1999, 913, 915; J. Hennrichs, Die Bedeutung der EG-Bilanzrichtlinie für das deutsche Handelsbilanzrecht, ZGR 1997, 66, 74; J. Schulze-Osterloh, Deutsches Bilanzrecht und Ertragssteuerrecht vor dem Europäischen Gerichtshof, DStZ 1997, 281, 282; F. Wassermeyer, Die Verpflichtung der obersten Bundesgerichte zur Vorlage von Bilanzierungsfragen an den EuGH, FS für Marcus Lutter, 1633, 1636. 408 Vgl. U. Everling, Zur Auslegung des durch EG-Richtlinien angeglichenen nationalen Rechts, ZGR 1992, 376, 385. 406 407
B. Fallgruppen von Verweisungen
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für ist der Maßgeblichkeitsgrundsatz im deutschen Steuerrecht, der in Deutschland zum Teil schon im 19. Jahrhundert galt409. § 5 Abs. 1 S. 1 EStG verweist auf die Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung, welche dem Handelsbilanzrecht entnommen werden. Letzteres ist mittlerweile gemeinschaftsrechtlich geregelt. Soweit das verweisende Gesetz selbst keinem gemeinschaftsrechtlichen Einfluss unterliegt, kann man von einer Verweisung im Sinne der Dzodzi-Rechtsprechung sprechen. Da hier formell nicht auf Gemeinschaftsrecht verwiesen wird, sondern auf nationales Recht, welches allerdings Gemeinschaftsrecht umsetzt, werden derartige Verweisungen in dieser Untersuchung als mittelbare Verweisungen bezeichnet. In den bisher vom EuGH im Rahmen der Dzodzi-Rechtsprechung entschiedenen Fälle sind derartige mittelbare Verweisungen nicht ersichtlich. Deshalb hat es der BFH offengelassen, ob mittelbare Verweisungen dem Verweisungsbegriff der Dzodzi-Rechtsprechung entsprechen410. Argumente für diesbezügliche Zweifel enthält die Entscheidung nicht. Ausschlaggebend für die Qualifizierung als Dzodzi-Verweisung ist, dass Gemeinschaftsrecht außerhalb seines Anwendungsbereiches entscheidungserheblich ist. Bedenkt man, dass es den nationalen Gerichten im Vorlagefall auf die Auslegung dieses Gemeinschaftsrechts ankommt, so ist nicht ersichtlich, wieso allein die Tatsache, dass formell auf nationales Recht verwiesen wird, einer Anwendbarkeit der Dzodzi-Rechtsprechung entgegenstehen soll. Entscheidend ist vielmehr, dass dieses nationale Recht Gemeinschaftsrecht, nämlich Richtlinien, umsetzt und daher das Gemeinschaftsrecht im Rahmen der Auslegung der nationalen Umsetzungsvorschrift entscheidungserheblich wird. Nimmt man die Aussage des EuGH im Rahmen der Dzodzi-Rechtsprechung, dass die Entscheidung über die Entscheidungserheblichkeit grundsätzlich beim nationalen Richter liege411, ernst, so kann das rein formale Argument, dieses Verweisungsobjekt sei – obwohl gemeinschaftsrechtlichem Einfluss unterliegend – national, nicht ausschlaggebend sein412. Vielmehr führt die konsequente Anwendung der obigen Aussage des EuGH letztlich dazu, auf formale Überlegungen413 gänzlich zu verzichten und bei der Frage der Entscheidungserheblichkeit auf rein materielle Gesichtspunkte abzustellen.
Vgl. Darstellung bei F. Königbauer, Maßgeblichkeit, S. 54 ff. Vgl. BFH, Urteil v. 15. Juli 1998, BFHE 186, 388, 393; offengelassen auch durch W. Birkenfeld, Der Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf die Rechtsverwirklichung im Steuerrecht, StuW 1998, 55, 69. 411 EuGH, Dzodzi, C-297 / 88 und 197 / 89, Slg. 1990, I-3763, 3793 Rz. 33 – 35. 412 Vgl. hierzu auch Kapitel 5 A. II. 413 Hierzu zählt auch die Frage, ob auf Gemeinschaftsrecht durch Verweisung oder durch materielle Identität Bezug genommen wird, vgl. ausführlich Kapitel 5 A. II. 409 410
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Kap. 3: Dzodzi-Rechtsprechung und deutsche Rechtsordnung
IV. Zwischenergebnis Verweisungen im Sinne der Dzodzi-Rechtsprechung existieren in der deutschen Rechtsordnung in drei Fallgruppen. Es gibt die unmittelbaren Verweisungen, die sich wiederum in unmittelbare Verweisungen und unmittelbare Verweisungsanalogien unterteilen lassen, die überschießende Umsetzung von Richtlinien und die mittelbare Verweisung414.
C. Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Verweisungen im Sinne der Dzodzi-Rechtsprechung Im Folgenden soll untersucht werden, ob sich aus dem Charakter einer Verweisung als Verweisung im Sinne der Dzodzi-Rechtsprechung besondere verfassungsrechtliche Bedenken in der deutschen Rechtsordnung ergeben. Verweisungsnormen unterliegen – wie alle Normen – den verfassungsrechtlichen Anforderungen, die für Inhalt, Form und Bekanntmachung aufgestellt sind. An diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben gemessen, ist die Kritik insbesondere an der dynamischen Verweisung nie verstummt415. Demgegenüber betont das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung, dass dynamische Verweisungen nicht grundsätzlich unzulässig sind. Sie seien aber nur in dem Rahmen zulässig, den die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie und der Bundesstaatlichkeit ziehen; grundrechtliche Gesetzesvorbehalte können diesen Rahmen zusätzlich einengen416. Für Verweisungen auf Gemeinschaftsrecht hat das Bundesverfassungsgericht schon frühzeitig ausgeführt417: „Der Gesetzgeber kann in einer Ermächtigung zum Erlaß von Rechtsverordnungen auch auf Normen und Begriffe des Rechts der Europäischen Gemeinschaften verweisen. Gemeinschaftsrecht und nationales Recht der Mitgliedstaaten sind zwar verschiedene Rechtsordnungen. Die beiden Rechtsordnungen stehen jedoch nicht unverbunden nebeneinander, greifen vielmehr auf mannigfache Weise ineinander. Diese vielfältige Verschränkung von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht verbietet es, Verweisungen auf Gemeinschaftsrecht anders zu beurteilen als Verweisungen für nationales Recht (vgl. BVerfGE 26, 338 [367] für bundesrechtliche Verweisungen auf Landesrecht).“
Da keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass das BVerfG von dieser Haltung abweichen wird, soll in dieser Untersuchung keine Grundsatzdiskussion über die 414 Zu einer Teilgruppe, nämlich den Fällen der materiellen Begriffsidentität, ausführlich in Kapitel 5 A. II. 415 Vgl. Nachweise bei H. Veh, Dynamische Verknüpfung von Landes- und Bundesrecht, BayVBl. 1987, 225. 416 Vgl. BVerfG, Beschluss v. 25. Februar 1988, BVerfGE 78, 32, 36 m. w. N. 417 BVerfG, Beschluss v. 13. Oktober 1970, BVerfGE 29, 198, 210.
C. Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Verweisungen
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Zulässigkeit von Verweisungen auf Gemeinschaftsrecht geführt werden418. Vielmehr wird zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der einzelnen Fallgruppen der Dzodzi-Verweisungen anhand der konkreten Fallbeispiele Stellung genommen. Davor soll ein schon oben angedeuteter Gedanke419 weitergeführt werden.
I. Feststellung der Ungültigkeit der Gemeinschaftsrechtsnorm durch den Gerichtshof – Die Auswirkungen auf die nationale Rechtsordnung Bei der Diskussion im Rahmen der Dzodzi-Rechtsprechung empfand es Generalanwalt Jacobs als unsinnig420, dass der Gerichtshof in den Fällen der nationalen Verweisung die Ungültigkeit der Gemeinschaftsrechtsnorm feststellen könne. Im Folgenden sollen die Auswirkungen auf die nationale Rechtsordnung für die Fälle untersucht werden, in denen der Gerichtshof die Gemeinschaftsrechtsnorm für ungültig erklärt. Interessant ist hier, wo es um die Verfassungsmäßigkeit der Dzodzi-Verweisungen geht, insbesondere die Frage, ob und in welchem Umfang die nationale (Verweisungs-)Norm auf Grund der Ungültigkeitserklärung des Gerichtshofes bezüglich der Gemeinschaftsnorm verfassungswidrig ist bzw. für verfassungswidrig erklärt werden kann. Zunächst sei daran erinnert, dass die Dzodzi-Verweisungen nur im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens, nicht aber im Rahmen der Nichtigkeitsklage gemäß Art. 230 EG relevant werden. Daher geht es vorliegend nicht um die Nichtigkeitserklärung nach einer Nichtigkeitsklage, sondern nur um die Feststellung der Ungültigkeit im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens421. In der Literatur wird vereinzelt erwogen, dass eine derartige Feststellung unmittelbare Folgen für die nationale Verweisungsnorm haben könnte422: „Were the Court of Justice to rule that a Community provision declared invalid were void for all purposes, however, the effect might be to nullify provisions of national law which were based on it. This would mean that a ruling of the Court of Justice might render unenforceable national legislation falling outside the scope of the treaty.“
Maßgeblich ist, dass eine derartige Entscheidung des Gerichtshofes gerade nicht „void for all purposes“ ist. Denn der Umfang der Rechtskraft wird jedenfalls durch die Kompetenz des EuGH begrenzt. 418 Hierzu T. Klindt, Die Zulässigkeit dynamischer Verweisungen auf EG-Recht aus verfassungs- und europarechtlicher Sicht, DVBl. 1998, 373, 377 ff. m. w. N. 419 Vgl. Fn. 264. 420 Vgl. Generalanwalt Jacobs, Schlussanträge Leur-Bloem, C-28 / 95 und 130 / 95, Slg. 1997, I-4165, 4185. 421 Vgl. zu dieser Unterscheidung oben Kapitel 2 D. III. 2. b) (2) (a). 422 Vgl. A. Arnull, The Evolution of the Court‘s Jurisdiction under Article 177 EEC, CMLR 1993, 129, 135.
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Kap. 3: Dzodzi-Rechtsprechung und deutsche Rechtsordnung
Nach Art. 220 EG sichert der Gerichtshof die Wahrung des Gemeinschaftsrechts, für nationales Recht ist er nicht zuständig. Dies ergibt sich aus dem im Gemeinschaftsrecht geltenden Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung, wonach die Organe der Gemeinschaft nur innerhalb der ihnen durch die Verträge zugewiesenen Kompetenzen tätig werden können. Dass dieser Grundsatz auch für ihn selbst gilt, hat der EuGH ausdrücklich betont423. Die Entscheidungen des EuGH entfalten daher nur Wirkung im Rahmen des Gemeinschaftsrechts; die nationale Verweisungsnorm im außergemeinschaftlichen Rahmen wird durch Entscheidungen des Gerichtshofes formell nicht betroffen. Trotz mangelnder unmittelbarer Wirkung führt die Ungültigkeitserklärung des EuGH zu der Tatsache, dass das nationale Gesetz (oder die nationale Verordnung) auf eine nichtige bzw. unanwendbare Norm verweist. Wegen der Gefahr, dass im Wege der Verweisung Unrecht inkorporiert wird, stellt sich die Frage, ob eine Verweisung auf eine nichtige Norm überhaupt zulässig ist. Bei der Beantwortung dieser Frage wird man differenzieren müssen.
1. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Verweisung auf eine nichtige Norm unter formalen Aspekten Formal gesehen ist der Verweis auf eine nichtige Norm zulässig. Dies ergibt sich vor allem daraus, dass ein wesentlicher Hintergrund der Verweisungstechnik die Vermeidung von Wiederholungen ist. Es ist folglich zulässig, auf Vorschriften zu verweisen, die nicht mehr gültig424 oder möglicherweise nie in Kraft getreten sind. Entscheidend ist unter dem Aspekt der Rechtsstaatlichkeit allein, dass die (ungültige) Vorschrift ordnungsgemäß verkündet wurde425. Hiervon zu trennen ist die Frage nach dem materiellen (Un)Recht, welches inkorporiert wird. So ist es schwer vorstellbar, dass eine Norm, deren Ungültigkeit der Gerichtshof auf Grund einer gravierenden Grundrechtsverletzung feststellt, „im Gewand“ des nationalen Verweisungsgesetzes der nationalen Grundrechtsprüfung standhält. 2. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Verweisung auf eine nichtige Norm unter materiell-rechtlichen Aspekten Dies ist jedoch nicht mehr eine Frage der direkten Auswirkung der Ungültigkeitsfeststellung. Im Kern geht es vielmehr darum, ob die nationale VerweisungsEuGH, Glasoltherm, C-399 / 97, Slg. 1998, I-4521. Vgl. Hessischer VGH, Urteil v. 27. April 1951, Verwaltungsrechtsprechung in Deutschland, 4 (1952), S. 540, 542. 425 So richtig H.U. Karpen, Verweisung, S. 146. 423 424
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norm noch vereinbar mit der nationalen, und damit verglichen mit den EG-Verträgen einer anderen, Verfassung ist. Die nationale Verweisungsnorm (im Sinne der Dzodzi-Rechtsprechung) genießt bei der gerichtlichen Prüfung keinen Sonderstatus. Insbesondere sind hier, da es sich um eine nationale Norm außerhalb des Anwendungsbereiches des Gemeinschaftsrechts handelt, die Grundsätze des Bundesverfassungsgerichts über die Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden gegen sekundäres Gemeinschaftsrecht426 nicht anwendbar427. Die Beurteilung der Verfassungswidrigkeit der nationalen Verweisungsnorm setzt die Klärung des Beurteilungsmaßstabes voraus. Denkbar ist aber auch, dass mehrere Maßstäbe zu beachten sind. In diesem Fall wird das Verhältnis dieser Beurteilungsmaßstäbe zu klären sein. Die Untersuchung wird dadurch komplexer, dass die überschießende Umsetzung von Richtlinien als wichtige Fallgruppe der Dzodzi-Verweisungen sowohl einen Gemeinschaftsrecht umsetzenden als auch einen auf Gemeinschaftsrecht Bezug nehmenden Teil beinhaltet428. Um diese Besonderheit genauer analysieren zu können, wird im Folgenden nicht nur untersucht, welche Auswirkung die Feststellung der Ungültigkeit der Gemeinschaftsrechtsnorm auf eine nationale Verweisungsnorm im Sinne der Dzodzi-Rechtsprechung hat, sondern parallel hierzu auch, inwiefern Auswirkungen einer derartigen Feststellung auf eine nationale Umsetzungsnorm (einer Richtlinie) vorhanden sind.
a) Nationales und gemeinschaftsrechtliches Grundrecht vom Schutzbereich her deckungsgleich Stellt der Gerichtshof die Nichtigkeit einer sekundärrechtlichen Norm wegen Verletzung von Gemeinschaftsgrundrechten fest, so ist regelmäßig davon auszugehen, dass auch die nationale Verweisungsnorm verfassungswidrig ist. Der Grund der Verfassungswidrigkeit liegt aber weder in einem Verstoß gegen Gemeinschaftsgrundrechte oder gegen sonstiges höherrangiges Gemeinschaftsrecht. Denn der nationale Gesetzgeber befindet sich nicht im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts. Als Akt der deutschen und damit der an das Grundgesetz gebundenen Gewalt unterliegt die Verweisung ausschließlich der Prüfung am Grundgesetz. Die Verfassungswidrigkeit resultiert daher aus einem Verstoß gegen das jeweilige nationale Grundrecht.
426 Vgl. zuletzt BVerfG, Beschluss v. 7. Juni 2000, NJW 2000, 3124; hierzu G. Nicolaysen / C. Nowak, Teilrückzug des BVerfG aus der Kontrolle der Rechtmäßigkeit gemeinschaftlicher Rechtsakte: Neuere Entwicklungen und Perspektiven, NJW 2001, 1233. 427 Unklar insoweit OVG NW, Beschluss v. 1. Februar 1996, NWVBl. 1996, 307, 309. 428 Vgl. hierzu Kapitel 3 A. IV.
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Für den Fall der Umsetzung von Gemeinschaftsrecht ist das Ergebnis das Gleiche. Der Grund der Verfassungswidrigkeit der Umsetzungsnorm liegt aber auch hier nicht in einem Verstoß gegen Gemeinschaftsgrundrechte oder gegen sonstiges höherrangiges Gemeinschaftsrecht. Es liegt zwar materiell ein „Verstoß“ auch des Umsetzungsaktes gegen Gemeinschaftsgrundrechte vor429. Schon terminologisch betrachtet kann aus diesem nicht die Verfassungswidrigkeit, sondern nach der Theorie des Anwendungsvorranges430 nur die Nichtanwendung der nationalen Umsetzungsnorm folgen. Zu dieser Nichtanwendung kommt aber in dieser Konstellation noch die Nichtigkeit der Umsetzungsnorm wegen Verstoßes gegen das nationale Grundrecht. Zur Klarstellung: Prüfungsmaßstab bei der Dzodzi-Verweisung war ausschließlich nationales Verfassungsrecht, während die nationale Umsetzungsnorm sowohl am nationalen Verfassungsrecht als auch am Gemeinschaftsrecht gemessen werden muss431. Zur Verfassungswidrigkeit der Umsetzungsnorm kann nur der Verstoß gegen nationales Verfassungsrecht führen. Die obigen Erwägungen gelten bei der Annahme, dass nationale und gemeinschaftsrechtliche Grundrechte deckungsgleich sind. Für diesen Fall erübrigt sich die Diskussion des Verhältnisses zwischen nationalem und gemeinschaftsrechtlichem Prüfungsmaßstab. Diese Deckungsgleichheit ist jedoch nicht zwingend. Denkbar ist auch, dass jedenfalls in Teilbereichen der gemeinschaftsrechtliche Grundrechtsschutz umfassender ist als der nationale oder umgekehrt.
b) Nationales Grundrecht umfassender als gemeinschaftsrechtliches Grundrecht Im Rahmen der „Bananenmarktdiskussion“432 wurde verschiedentlich erörtert, inwiefern die deutschen Grundrechte einen umfassenderen Schutz als die Gemeinschaftsgrundrechte bieten433. Die Richtigkeit dieser Aussage hier unterstellt, erscheint fraglich, ob die deutsche Norm, gemessen am deutschen Grundrecht, ver429 Der Verstoß gegen Gemeinschaftsgrundrechte wird in einem anderen Zusammenhang relevant: Der Gerichtshof kann nämlich Akte der Mitgliedstaaten, die Gemeinschaftsrecht umsetzen, auf ihre Konformität mit den Gemeinschaftsgrundrechten prüfen. Vgl. hierzu Weiler / Lockhart, „Taking Rights“ seriously: The European Court and its fundamental Rights Jurisprudence, CMLR 1995, 51, 59 ff. 430 Vgl. R. Streinz, Europarecht, Rdn. 200. 431 Ausführlich hierzu in Kapitel 3 C. I. 2. b). 432 Vgl. BVerfG, Beschluss v. 7. Juni 2000, BVerfGE 102, 147. 433 Vgl. Bleckmann-Pieper, Europarecht, S. 61; M. Nettesheim, Grundrechtliche Prüfdichte durch den EuGH, EuZW 1995, 106; allg. B. Rickert, Grundrechtsgeltung bei der Umsetzung europäischer Richtlinien in innerstaatliches Recht, S. 52 ff.; M. Zuleeg, Zum Verhältnis nationaler und europäischer Grundrechte, EuGRZ 2000, 511, 512 m. w. N.
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fassungswidrig sein kann, während die Gemeinschaftsrechtsnorm vom Gerichtshof nicht beanstandet wurde. Im Fall der Dzodzi-Verweisung ist dies denkbar. Der nationale Gesetzgeber befindet sich außerhalb des Gemeinschaftsrechts. Alleiniger Prüfungsmaßstab ist das nationale Grundrecht. Auch für den Fall der Umsetzung von Richtlinien wird vertreten, dass alleiniger Prüfungsmaßstab für den nationalen Umsetzungsakt das nationale Verfassungsrecht sei434. Auch das Bundesverfassungsgericht schien in diese Richtung zu tendieren435: „Der nationale Gesetzgeber ist bei der Umsetzung an die Vorgaben des Grundgesetzes gebunden. Die Frage, ob er bei der Umsetzung im Rahmen des ihm von der Richtlinie eingeräumten Gestaltungsspielraums Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte der Ast. verletzt, unterliegt in vollem Umfang verfassungsrechtlicher Überprüfung.“
Richtig an dieser Auffassung ist zunächst, dass der nationale Umsetzungsakt einer verfassungsrechtlichen Überprüfung unterliegt. Die Tatsache einer gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtung ändert an dem nationalen Charakter der zu ihrer Erfüllung erlassenen Rechtsnormen ebenso wenig etwas wie dies eine sonstige völkerrechtliche Verpflichtung zur Rechtsetzung tut436. Präzisierungsbedürftig ist aber, was das BVerfG mit „verfassungsgerichtlicher Prüfung vollen Umfangs“ meint. Zu beachten ist nämlich, dass sich der nationale Gesetzgeber gerade nicht außerhalb des Gemeinschaftsrechts befindet. Einschränkend muss daher gelten, dass das von der Richtlinie als verbindlicher Mindestgehalt Geforderte nicht dadurch umgangen werden kann, dass der nationale Umsetzungsakt durch die Anwendung innerstaatlicher Grundrechte zu Fall gebracht wird437. Die gleiche Überlegung steht hinter der Formulierung, der Prüfungsmaßstab sei das Grundgesetz, allerdings über Art. 23 Abs. 1 modifiziert zugunsten der Begründungs- und Vollzugsakte der Europäischen Union438. Die dem entgegenstehende Auffassung, Richtlinien könnten mangels direkter Wirkung Verfassungsrecht nicht verdrängen439, ist mit der Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Kreil440 unvereinbar. Gerstner / Goebel, Grundrechtsschutz in Europa, Jura 1993, 626, 632. Vgl. BVerfG, Beschluss v. 12. Mai 1989, NJW 1990, 974. 436 Vgl. R. Streinz, Bundesverfassungsrechtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 180. 437 Vgl. T. Kingreen in Callies / Ruffert, EUV, Art. 6 EUV, Rdn. 59; in diesem Sinne schon Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 737. 438 Vgl. Streinz, in M. Sachs, Grundgesetz, Art. 23 Rdn. 49. 439 So U. Di Fabio, Richtlinienkonformität als ranghöchstes Normauslegungsprinzip?, NJW 1990, 947, 952 f.; E. Sarcevic, Der EuGH als gesetzlicher Richter (Art. 101 Abs. 1 GG), DÖV 2000, 941, 948 vertritt die Auffassung, die nationalen Grundrechte blieben anwendbar, könnten aber den Vollzug des sekundären Gemeinschaftsrechts nicht verhindern. Der Sinn dieser Differenzierung zwischen Anwendbarkeit und mangelnder Wirksamkeit erschließt sich nicht. 434 435
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Mit Beschluss v. 9. Januar 2001 führt das Bundesverfassungsgericht nunmehr aus441: „Soweit im Übrigen die Normsetzung zwingend dem Gemeinschaftsrecht folgt, ist sie ebenso wie das sekundäre Gemeinschaftsrecht selbst nicht am Maßstab der deutschen Grundrechte durch das BVerfG zu prüfen, sondern unterliegt dem auf Gemeinschaftsrechtsebene gewährleisteten Grundrechtsschutz.“
Diese Aussage auf ihre dogmatische Konsistenz zu überprüfen, ist nicht Gegenstand dieser Untersuchung. Verwiesen sei lediglich auf die vorzugswürdig442 erscheinende Auffassung des ÖstVfGH443: „. . . dass der Gesetzgeber bei der Ausführung von Gemeinschaftsrecht jedenfalls insoweit an bundesverfassungsgesetzliche Vorgaben gebunden bleibt, als eine Umsetzung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben durch diese nicht inhibiert wird. Der Gesetzgeber unterliegt in diesen Fällen also einer doppelten Bindung, nämlich einer Bindung an das Gemeinschaftsrecht und einer Bindung an den verfassungsrechtlich gezogenen Rahmen.“
Im Ergebnis jedenfalls kommt zur Vermeidung einer gemeinschaftsrechtswidrigen Situation444 bei der Umsetzung einer Richtlinie eine Verfassungswidrigkeit nur soweit in Betracht, als der Mindestgehalt der Richtlinie nicht angegriffen wird. Denkbar ist zum Beispiel, dass bei der Ausübung eines durch die Richtlinie gegebenen Wahlrechts der das Wahlrecht in Anspruch nehmende Teil445 verfassungswidrig umgesetzt wird. Da das Wahlrecht gerade nicht zum Mindestgehalt der Richtlinie gehört, besteht für diesen Teil kein Anlass, den verfassungsrechtlichen Prüfungsrahmen zu modifizieren. c) Gemeinschaftsrechtliches Grundrecht umfassender als nationales Grundrecht Geht man davon aus, dass die Gemeinschaftsgrundrechte in bestimmten Fällen umfassender als die deutschen Grundrechte sind446, so kann, wenn der Gerichtshof die Gemeinschaftsrechtsnorm nicht beanstandet, denklogisch keine Verletzung des nationalen Grundrechts bestehen. Vgl. EuGH, Kreil, C-285 / 98, EuGRZ 2000, 155, 157. Vgl. BVerfG, Beschluss v. 9. Januar 2001, NJW 2001, 1267, 1268. 442 Vgl. C. Huber-Wilhelm, Anmerkung, EuZW 2001, 223; a.A. offenbar M. Niedobitek, Kollisionen zwischen EG-Recht und nationalem Recht, VerwArch 2001, 58, 65. 443 Vgl. ÖstVerfGH, Urteil v. 9. Dezember 1999, EuZW 2001, 219, 222. 444 Vgl. Brink / Krichbaum, Feindliche Konformitäten, DÖV 2000, 973, 980. 445 Diese Erscheinungsform des nationalen Gestaltungsspielraumes nicht erkennend P. Funk-Rüffert, Kooperation von Europäischem Gerichtshof und Bundesverfassungsgericht im Bereich des Grundrechtsschutzes, S. 108 f. 446 U. Everling, Der Beitrag des Europäischen Gerichtshofs zur europäischen Grundrechtsgemeinschaft, 40 Jahre Grundgesetz, nennt auf S. 176 als Beispiel die Gleichbehandlung von Mann und Frau. 440 441
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Interessant ist die Situation, in der der Gerichtshof die Gemeinschaftsrechtsnorm beanstandet, die nationale Verweisungsnorm aber (noch) nicht in das nationale Grundrecht eingreift. So könnte eine Richtlinie das gemeinschaftsrechtliche Verbot der Ungleichbehandlung von Mann und Frau verletzen, während die nationale Verweisungsnorm den (hier unterstellt einen schwächeren Schutz vermittelnden) Art. 3 Abs. 2 GG (noch) nicht verletzt. Die nationale Verweisungsnorm ist demnach verfassungsgemäß, die Feststellung der Gemeinschaftsrechtswidrigkeit durch den Gerichtshof mithin ohne Folgen. Anders im Falle der Umsetzung einer Richtlinie. Das nationale Umsetzungsgesetz ist zwar verfassungsgemäß. Auszulegen und anzuwenden ist es aber richtlinienkonform. Letzteres beinhaltet damit auch, dass Auslegung und Anwendung gemeinschaftsgrundrechtskonform erfolgen müssen447. Mit anderen Worten, die Feststellung der Ungültigkeit durch den Gerichtshof hat (mittelbare) Auswirkung auf die nationale Umsetzungsnorm. Insofern kann man auch von einer Bindung des Mitgliedstaates an das Gemeinschaftsgrundrecht sprechen448.
d) Der Sonderfall der überschießenden Umsetzung Es hat sich gezeigt, dass die Auswirkungen der Feststellung der Ungültigkeit unterschiedlich sein können, je nachdem, ob es sich um eine Umsetzung von oder Verweisung auf Gemeinschaftsrecht handelt. Dies führt zu der Frage, wie die Auswirkungen auf die überschießende Umsetzung von Gemeinschaftsrecht, welche sowohl einen umsetzenden als auch einen verweisenden Teil beinhaltet, zu beurteilen sind. Diese Frage ist in der Rechtssache Leur-Bloem449 schon relevant geworden. Dort hatte das niederländische Einkommensteuergesetz gefordert, reine Binnenfusionen genauso wie innergemeinschaftliche Fusionen zu behandeln450. Es beschränkte sich aber nicht auf diesen Verweis, sondern stellte darüber hinaus auch eigene Tatbestandsmerkmale für die Anerkennung von – dann steuerbegünstigten – reinen Binnenfusionen auf. Der EuGH, dem in diesem Zusammenhang die Fusionsrichtlinie vorgelegt wurde, kam bei der Auslegung zu einem Ergebnis, welches einem dieser Tatbestandsmerkmale widersprach. Damit wurde das niederländische Gesetz in sich widersprüchlich. Denn wollte man das streitige Tatbestandsmerkmal für eine innerstaat447 Vgl. I. Pernice, Gemeinschaftsverfassung und Grundrechtsschutz – Grundlagen, Bestand und Perspektiven, NJW 1990, 2409, 2417. 448 Vgl. M. Ruffert, Die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft als Verpflichtete der Gemeinschaftsgrundrechte, EuGRZ 1995, 518, 528. 449 Vgl. EuGH, Leur-Bloem, C-28 / 95, Slg. 1997, I-4161. 450 Vgl. T. Stevens, Blumen aus Holland, IStR 1998, 201; vgl. auch Darstellung in Kapitel 2 D. III. 2. a) (2).
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liche Fusion anwenden, so lag keine Gleichbehandlung mit einer innergemeinschaftlichen Fusion mehr vor. Der niederländische Hoge Raad löste das Dilemma wie folgt451: Er stellte ausdrücklich klar, dass das einschlägige Tatbestandsmerkmal mit der durch den Gerichtshof erfolgten Auslegung der Richtlinie nicht vereinbar war, mit anderen Worten, es bestand ein Widerspruch zwischen der Richtlinie und dem Einkommensteuergesetz. Auf der anderen Seite konnte man den Gesetzesmaterialien das Anliegen des Gesetzgebers, eine Inländerdiskriminierung zu vermeiden, entnehmen. Diesen Konflikt entschied der Hoge Raad dahingehend, dass das einschlägige Tatbestandsmerkmal keine Anwendung finden könne. Begründet wurde dies mit einem Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, da der Gesetzgeber gerade die Gleichbehandlung nationaler und innergemeinschaftlicher Fusionen gewollt habe. Im Ergebnis gab er daher dem Anliegen nach Gleichbehandlung den Vorrang. Es drängt sich die Frage auf, ob auch in der deutschen Rechtsordnung ein derartiges Ergebnis denkbar wäre. Abstrakt betrachtet geht es um die Problematik, ob es im Rahmen der Auslegung möglich ist, den Widerspruch zwischen einem gesetzgeberischen Anliegen und einem konkreten Tatbestandsmerkmal dadurch zu entschärfen, dass man diesem Tatbestandsmerkmal nicht nur in Einzelfällen bzw. in bestimmten Fallgruppen, sondern generell die Anwendung versagt. Noch allgemeiner betrachtet handelt es sich um die Frage, wie man auf einen Widerspruch im Willen des Gesetzgebers reagiert: Der Wille zur Gleichbehandlung der nationalen mit den gemeinschaftsrechtlichen Fällen, der seinen Ausdruck in der überschießenden Umsetzung der Richtlinie gefunden hat, kollidiert mit dem Willen, der seinen Niederschlag in dem zusätzlichen Tatbestandsmerkmal hat. Durch die generelle Nichtanwendung dieses Tatbestandsmerkmales wird die Grenze des Wortsinns überschritten. Nach zutreffender Ansicht kann eine derartige Interpretation des Gesetzes nicht mehr Auslegung genannt werden, vielmehr handelt es sich um eine Reduktion als Unterfall der richterlichen Rechtsfortbildung452. Eine derartige Reduktion ist nur insoweit zulässig, als dem Gesetz nicht ein entgegengesetzter, das gesetzgeberische Ziel in einem wesentlichen Punkt verfehlender oder verfälschender Sinn gegeben würde453. Bei der deutschen Lösung des Vgl. Darstellung bei G. Betlem, Case Law, CMLR 1999, 165, 176 f. Vgl. Koch / Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 268; Looschelders / Roth, Grundrechte und Vertragsrecht: Die verfassungskonforme Reduktion des § 565 Abs. 2 S. 2 BGB, JZ 1995, 1034, 1044. A.A. das BVerfG, welches die Reduktion als Unterfall der verfassungskonformen Auslegung ansieht, vgl. Urteil v. 17. März 1993, BVerfGE 88, 144, 166 – 168. 453 Vgl. BVerfG, Beschluss v. 19. Juni 1973, BVerfGE 35, 263, 280. 451 452
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schon vom Hoge Raad entschiedenen Problems bietet sich daher eine differenzierende Lösung an: Steht die Gleichbehandlung der gemeinschaftsrechtlichen und nationalen Fälle im Vordergrund und handelt es sich bei dem für nationale Fälle aufgestellten, zusätzlichen Kriterium nicht um eine Verwirklichung eines wesentlichen Gesetzeszweckes, so ist eine Reduktion zulässig. Die Reduktion ist sogar geboten, wenn die Ungleichbehandlung der gemeinschaftsrechtlichen mit den nationalen Fällen einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG bildete454. In diesem Fall handelte es sich terminologisch um eine verfassungskonforme Reduktion455. Im Ergebnis würde dann der verweisende Teil innerhalb der überschießenden Umsetzung wie eine echte Umsetzung behandelt. Steht dagegen hinter dem zusätzlichen Tatbestandsmerkmal für die nationalen Fälle eine wichtige Wertentscheidung des Gesetzgebers, so ist eine Reduktion nicht möglich. Eine richterliche Rechtsfortbildung verstieße dann gegen den Gedanken der Gewaltenteilung456. In diesem Fall ist wieder zu differenzieren: Verstößt die Ungleichbehandlung der gemeinschaftsrechtlichen mit den nationalen Fällen gegen Art. 3 Abs. 1 GG, so ist die Bestimmung verfassungswidrig. Liegt ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG nicht vor, so kann das zusätzliche Tatbestandsmerkmal für die nationalen Fälle weiterhin Anwendung finden. Dies freilich um den Preis, dass der ursprünglich vorhandene Wille des Gesetzgebers zur Gleichbehandlung der Fallgruppen missachtet wird.
e) Die Rechtslage bei der Nichtigkeitserklärung gemäß Art. 230 EG Es sei hier nur kurz angedeutet, dass die obige Differenzierung zwischen formellen Auswirkungen und Inkorporation materiellen Unrechts auch bei der Beurteilung der Folgen der Nichtigkeitserklärung im Rahmen des Art. 230 EG fruchtbar gemacht werden kann. Hier ist nämlich umstritten, welche Konsequenzen die Ungültigkeitserklärung einer Richtlinie457 für das nationale Umsetzungsgesetz hat. Einigkeit besteht nur darüber, dass das nationale Umsetzungsgesetz nicht automatisch ungültig ist. Dies folgt jedoch nicht daraus, dass sich die Nichtigkeitserklärung nur auf den angegriffenen Rechtsakt bezieht458, sondern schon aus dem 454 Ein Beispiel für eine derartige Verfassungswidrigkeit findet sich in Kapitel 3 D. V. 1. a), wobei die Verfassungswidrigkeit dort nicht zu einer Reduktion eines Gesetzes führt, sondern nur den Vorzug einer Auslegungsvariante vor einer anderen begründet. 455 Vgl. Looschelders / Roth, Grundrechte und Vertragsrecht: Die verfassungskonforme Reduktion des § 565 Abs. 2 S. 2 BGB, JZ 1995, 1034, 1044. 456 Vgl. Looschelders / Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung, S. 258. 457 Vgl. z. B. EuGH, Parlament / Rat, C-295 / 90, Slg. 1992, I-4193, 4194. 458 So aber Cremer in Callies / Ruffert, EGV, Art. 231 Rdn. 2.
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Grundsatz, dass Gemeinschaftsrecht (im weitesten Sinne) vor dem nationalen Recht keinen Geltungs-, sondern nur Anwendungsvorrang genießt459. Entscheidungen des Gerichthofes können daher nie zur Ungültigkeit einer nationalen Norm führen. Dies heißt aber nicht, dass das Umsetzungsgesetz von der Nichtigkeitserklärung nicht tangiert würde460. Erklärt der Gerichtshof die Richtlinie wegen Verstoßes gegen unmittelbar wirkendes Primärrecht461 (beispielsweise eine der Grundfreiheiten) für nichtig, so liegt es nahe, dass auch das Umsetzungsgesetz dieses materielle Unrecht inkorporiert und folglich wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht unangewendet bleiben muss. Auf der anderen Seite erscheint zweifelhaft, ob jede Nichtigkeitserklärung zur Nichtanwendbarkeit des Umsetzungsgesetzes führt462. So wird die Verletzung einer Formvorschrift bei Erlass der Richtlinie regelmäßig nicht zur Inkorporation materiellen Unrechts durch das Umsetzungsgesetz führen. Es ist daher nicht ersichtlich, warum das Gemeinschaftsrecht der weiteren Anwendung dieses Gesetzes entgegen stehen sollte.
II. Die unmittelbare Verweisung Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Verweisungen in § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG und § 21 Abs. 2 UStG wurde vereinzelt bestritten463. Im Wesentlichen wurden diese Zweifel darauf gestützt, dass der Bundesgesetzgeber unzulässigerweise auf seine Gesetzgebungsbefugnisse zugunsten der Europäischen Gemeinschaften verzichtet hätte. Ein derartiger, unzulässiger Verzicht liegt aber nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nicht vor, wenn der zuständige Gesetzgeber die wesentlichen Entscheidungen selbst trifft und sie nicht „außenstehenden“ Stellen überlässt464. Legt man diese Auffassung zu Grunde, so kann man vorliegend nicht von einer unzulässigen dynamischen Verweisung sprechen465.
Vgl. R. Streinz, Europarecht, Rdn. 200. So aber M. Röttinger, Bedeutung der Rechtsgrundlage einer EG-Richtlinie und Folgen einer Nichtigkeit, EuZW 1993, 117, 120. 461 Vgl. H. Jarass, Probleme der richtlinienkonformen bzw. der EG-rechtskonformen Auslegung, EuR 1991, 211, 223. 462 So aber Borchardt in Lenz, EGV, Art. 231 Rdn. 4. 463 Vgl. E.-W. Fuss, Zur Verweisung des Deutschen Umsatzsteuergesetzes auf den Gemeinsamen Zolltarif der Europäischen Gemeinschaften, FS für Heinz Paulick, S. 293, 322. 464 Vgl. BVerfG, Beschluss v. 15. Juli 1969, BVerfGE 26, 338, 367. 465 Vgl. Schlienkamp, Rondorf in Plückebaum-Malitzky, Umsatzsteuergesetz, § 12 Abs. 2 Rdn. 58 / 1. 459 460
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Denn mit der Bezugnahme auf ausgewählte Positionen des Gemeinsamen Zolltarifs hat der Gesetzgeber selbst im Einzelnen über den Umfang der Steuerbegünstigung entschieden. Überdies ist sichergestellt, dass der Umfang der Steuerermäßigung grundsätzlich entsprechend der vom Gesetzgeber getroffenen Entscheidung erhalten bleibt, ohne dass es eines korrigierenden gesetzgeberischen Eingriffs bedarf. Um dies zu gewährleisten, kann die Bundesregierung auf Grund der Ermächtigung in § 26 Abs. 1 Satz 2 UStG den Umfang der Steuerermäßigung nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 abweichend von zolltariflichen Abgrenzungen bestimmen; von dieser Ermächtigung ist auch schon verschiedentlich Gebrauch gemacht worden466. Auch die Verweisung in § 21 Abs. 2 UStG ist verfassungsrechtlich unbedenklich.
III. Die überschießende Umsetzung und die mittelbare Verweisung Der überschießenden Umsetzung begegnen keine verfassungsrechtlichen Bedenken467. Die „verweisungstypischen“ Bedenken überzeugen hier schon deshalb nicht, weil der Gesetzgeber gerade nicht verweist, sondern den „überschießenden Teil“ mitregelt, mit anderen Worten keine Verweisung im klassischen Sinne vorliegt468. Fehlgehend ist die Erwägung von Habersack / Mayer, dem deutschen Gesetzgeber sei es aus Gründen des nationalen Rechts verwehrt, eine „unbedingte und unmittelbare“ Verweisung im „überschießenden Teil“ auf Gemeinschaftsrechts vorzunehmen, da dieser Teil nur einer eingeschränkten Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht unterliege469. Eine derartige Einschränkung liegt aber, wie oben gezeigt, nicht vor. Schließlich sind auch bei der mittelbaren Verweisung grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedenken nicht ersichtlich.
466 Vgl. Husmann in Rau / Dürrwächter / Flick / Geist, Umsatzsteuergesetz, § 12 Abs. 2 Nr. 1 und 2, Rdn. 79 m. w. N. 467 Vgl. F. Wassermeyer, Die Verpflichtung der obersten Bundesgerichte zur Vorlage von Bilanzierungsfragen an den EuGH , FS für Marcus Lutter, S. 1633, 1638. 468 Vgl. oben Kapitel 3 A. IV. 469 Vgl. Habersack / Mayer, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, JZ 1999, 913, 920. In sich widersprüchlich wird dann aber festgestellt, dass letztlich nur der Text, nicht aber der Charakter als Gemeinschaftsrechtsnorm übertragen werden kann.
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D. Nationale Übernahme- und Vorlagepflichten des BFH469a Nach der hier vertretenen Auffassung besteht in den Fällen der Dzodzi-Verweisungen zwar ein Vorlagerecht, aber keine Vorlagepflicht der letztinstanzlichen Gerichte gemäß Art. 234 Abs. 3 EG470. Betlem hält es trotz Verneinung der gemeinschaftsrechtlichen Vorlagepflicht für möglich, dass eine Vorlagepflicht aus nationalem Recht resultiert471. Auch Broer leitet trotz Verneinung einer gemeinschaftsrechtlichen Vorlagepflicht eine derartige Pflicht aus nationalem Recht ab472. Der EuGH sei, soweit er zur Entscheidung befugt ist, gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG. Daher bestünde eine Vorlagepflicht aus nationalem Verfassungsrecht473. Diese Begründung vermag nicht zu überzeugen. So bleibt Broer den Beweis seiner Prämisse, der EuGH sei – soweit zu einer Entscheidung befugt - gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, schuldig. Hierbei ist zu beachten, dass sich der nationale Rechtsstreit in den Fällen der Dzodzi-Rechtsprechung gerade nicht im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts befindet. Wenn man dann – wie Broer – eine gemeinschaftsrechtliche Vorlagepflicht verneint, ist nicht ersichtlich, wieso der EuGH gesetzlicher Richter sein soll. Der bloße Hinweis auf Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG vermag daher eine nationale Vorlagepflicht nicht zu begründen. Im Folgenden wird untersucht, ob und gegebenenfalls auf welcher Grundlage eine derartige nationale Vorlagepflicht begründet werden kann. Anlass, über die Notwendigkeit einer nationalen Vorlageverpflichtung nachzudenken, bieten nachstehende Überlegungen: Es könnte ein Bedürfnis dafür bestehen, dass die gemeinschaftsrechtliche Norm in gleicher Weise ausgelegt wird, unabhängig davon, ob sie im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts oder im Rahmen der nationalen Verweisung Geltung entfaltet. Dieses Bedürfnis korrespondiert mit der materiellrechtlichen Frage nach dem Inhalt und der Reichweite der nationalen Verweisung. Sollte Letztere eine „Konnexität“ zwischen Verweisungs- und Gemeinschaftsrechtsnorm derart anordnen, dass eine unterschiedliche Auslegung bzw. Anwendung der Normen aus nationaler Sicht system- oder sogar verfassungswidrig wäre, so besteht möglicherweise die Pflicht, eine erfolgte Auslegung des EuGH bezüglich der Gemeinschaftsrechtsnorm zu übernehmen. 469a Im Folgenden wird immer von Übernahme- und Vorlagepflichten des BFH gesprochen, weil dieser für das hier untersuchte Steuerbilanzrecht zuständig ist. Grundsätzlich gelten die Überlegungen für alle letztinstanzlichen Gerichte. 470 Vgl. oben Kapitel 2 D. III. 2. e). 471 Vgl. G. Betlem, Annotation to Case 28 / 95 Leur-Bloem, CMLR 1999, 165, 176. 472 Vgl. F. Broer, Maßgeblichkeitsprinzip, S. 292. 473 Vgl. F. Broer, Maßgeblichkeitsprinzip, a. a. O.
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Untersucht werden muss daher zunächst, ob und inwiefern eine derartige Übernahmepflicht besteht.
I. Dogmatische Konstruktion der nationalen Übernahmepflicht Hintergrund der hier vertretenen Übernahmepflicht ist der oben angedeutete Wille des Gesetzgebers, die Fälle im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts und die Fälle, in denen das Gemeinschaftsrecht durch nationalen Anwendungsbefehl Geltung erwirbt, gleich zu behandeln. Ob ein derartiger Wille des Gesetzgebers vorliegt, ist folglich als Erstes zu prüfen. Bejaht das nationale Gericht diesen Gleichbehandlungswillen, so muss es die Rechtsprechung des EuGH für die Fälle im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts auch für die nationalen Verweisungsfälle übernehmen. Anderenfalls würde das nationale Gericht sich selbst widersprechen. Denn es kann nicht auf der einen Seite die Anordnung der Gleichbehandlung im Rahmen des nationalen Gesetzes erkennen, auf der anderen Seite durch eine andere Behandlung der nationalen Verweisungsfälle eine Ungleichbehandlung für den konkret zu entscheidenden Fall statuieren. Mit anderen Worten, nach der Bejahung der Konnexität ist es, um eine in sich widersprüchliche Entscheidung zu vermeiden, logisch zwingend, die Rechtsprechung des EuGH auch für die Fälle der nationalen Verweisung zu übernehmen. Möglicherweise wird der hier vertretenen Übernahmepflicht entgegenhalten, dass sie zu einer dem deutschen Recht grundsätzlich fremden Präjudizwirkung474 eines Urteils, hier des EuGH-Urteils, führt. Anders gesagt, man könnte der Übernahmepflicht entgegenhalten, dass der deutsche Gesetzgeber bei rein nationalen Gesetzen auch die Gleichbehandlung der von ihnen erfassten Fälle erstrebt, trotzdem aber beispielsweise der Amtsrichter nicht zur Übernahme der Auslegung einer Norm seitens des BGH verpflichtet ist. Derartige Zweifel vermögen nicht zu überzeugen, da sie die Besonderheit der hier behandelten Konstellation nicht hinreichend beachten. Im Kern wird die Übernahmepflicht nämlich nicht auf das Gleichbehandlungsgebot in der Form der Gleichheit der Rechtsanwendung für den Bürger durch den Richter475 gestützt. Dies wäre, da die Rechtspflege auf Grund der Unabhängigkeit der Richter konstitutionell uneinheitlich ist476, auch nicht überzeugend. Es geht vielmehr darum, dass die Übernahmepflicht zwingende Konsequenz des vorher vom nationalen Gericht explizit477 bejahten Gleichbehandlungsgebotes der 474 Vgl. K. Pilny, Präjudizienrecht im anglo-amerikanischen und im deutschen Recht, S. 200. 475 Vgl. Dürig in Maunz / Dürig, Grundgesetz, Art. 3 Abs. 1 Rdn. 378. 476 Vgl. Dürig in Maunz / Dürig, Grundgesetz, Art. 3 Abs. 1 Rdn. 410.
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Kap. 3: Dzodzi-Rechtsprechung und deutsche Rechtsordnung
gemeinschaftsrechtlichen und nationalen Fälle ist, welchem in concreto nur durch die Übernahme der EuGH-Rechtsprechung zu den Gemeinschaftsfällen entsprochen werden kann. Denn die andere Möglichkeit, eine Gleichbehandlung zu erreichen, nämlich von der Rechtsprechung des EuGH im Rahmen des Gemeinschaftsrechts abzuweichen und für diese Fälle die nationale Rechtsprechung für die nationalen Fälle zu übernehmen, ist den deutschen Gerichten auf Grund der C.I.L.F.I.T-Rechtsprechung478 verwehrt. Aus dieser Rechtsprechung folgt nämlich, dass den nationalen Gerichten eine Abweichung von einer durch den EuGH erfolgten Auslegung einer Gemeinschaftsrechtsnorm ohne vorherige Anrufung des EuGH nicht erlaubt ist479. Im Ergebnis bedeutet eine Übernahmepflicht aber nicht, dass der nationale Richter der Rechtsprechung des Gerichtshofes „ausgeliefert“ ist. Genauso, wie er im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts den EuGH durch eine nochmalige Vorlage zu einer Änderung seiner Auffassung bewegen kann, besteht diese Möglichkeit auf Grund der Dzodzi-Rechtsprechung auch in den Fällen der nationalen Verweisung. Will der nationale Richter im Rahmen des Gemeinschaftsrechts abweichen, ist er gemeinschaftsrechtlich zu einer Vorlage verpflichtet. Außerhalb des Gemeinschaftsrechts besteht eine derartige gemeinschaftsrechtliche Vorlagepflicht nach der hier vertretenen Auffassung nicht. Dies führt zu der Frage, ob sich eine derartige Vorlageverpflichtung möglicherweise aus nationalem Recht ergibt. II. Dogmatische Konstruktion der nationalen Vorlagepflicht Der nationale Gesetzgeber hat diese Problematik nicht erkannt, insofern liegt eine Regelungslücke vor. Fraglich ist daher, ob diese Lücke im Wege der Analogie geschlossen werden kann. Ob sich Art. 100 Abs. 2 GG für eine analoge Anwendung eignet, erscheint zweifelhaft. Dabei muss hier nicht entschieden werden, ob man im Wege einer analogen Auslegung eine Vorlagepflicht zum EuGH statt zum Bundesverfassungsgericht überhaupt erreichen kann. Denn auch bezüglich des Vorlageobjektes erfasst Art. 100 Abs. 2 GG eine ganz andere Konstellation. Dort geht es um die Frage, ob eine Regel des Völkerrechts unmittelbare Rechte und Pflichten gem. Art. 25 GG erzeugen kann. In den Fällen der Dzodzi-Verweisung hat aber die Gemeinschaftsrechtsnorm gerade keine unmittelbare Wirkung. Da es abstrakt gesehen um die Vermeidung einer unterschiedlichen Auslegung geht, bietet sich die in der deutschen Rechtsordnung in verschiedensten Formen480 477 Gerade an dieser ausdrücklichen Bejahung fehlt es in dem obigen Vergleichsfall vom Amtsrichter und dem BGH. 478 Vgl. EuGH, C.I.L.F.I.T., C-283 / 81, Slg. 1982, 3415. 479 Vgl. Borchardt in Lenz, EGV, Art. 234 Rdn. 55.
D. Nationale Übernahme- und Vorlagepflichten des BFH
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existierende Divergenzvorlage an. Die Systematik des deutschen Gesetzgebers bei der Divergenzvorlage geht dahin, bei Divergenz in der Berufungsinstanz die Revisionszulassung beziehungsweise Rechtsbeschwerde vorzuschreiben. Dagegen ist in der Revisionsinstanz das abweichende Gericht zur Vorlage verpflichtet481. Zwei Gedanken dieser Systematik können auch für die hier diskutierten Fälle nutzbar gemacht werden. Zum einen sollte die Vorlagepflicht nur die Revisionsinstanzen, mit anderen Worten die Bundesgerichte, treffen. Zum anderen sollte die Vorlagepflicht nur das abweichende Gericht treffen. Ein Abweichen setzt begrifflich voraus, dass schon eine Rechtsprechung des EuGH zu der gemeinschaftsrechtlichen Norm, auf die verwiesen wird, existiert. Fasst man diese Überlegungen zusammen, so ergibt sich folgende Vorgehensweise für die Beantwortung der Frage nach der nationalen Vorlagepflicht: Zunächst ist zu fragen, ob der EuGH die Gemeinschaftsrechtsnorm, auf die verwiesen wird, schon ausgelegt hat. Bei Verneinung dieser Frage besteht keine nationale Vorlagepflicht. Für eine Vorlage ließen sich zwar rechtspolitische Gründe finden. So wird im Falle einer Nichtvorlage das Risiko einer nachfolgenden und anderslautenden Entscheidung seitens des EuGH in Kauf genommen. Letztere wiederum würde dann einen Wechsel in der nationalen Rechtsprechung nach sich ziehen, was weder im Sinne der Rechtssicherheit noch im Sinne des Ansehens der nationalen Gerichte liegt. Aus dieser Überlegung eine „prophylaktische“ Vorlagepflicht zu folgern, widerspricht aber einer Wertung der deutschen Prozessordnung, wie sie sich beispielsweise in § 132 Abs. 4 GVG oder § 11 Abs. 4 FGO niederschlägt. Dort wird die Behandlung von Grundsatzfragen durch die großen Senate geregelt. Danach kann der erkennende Senat eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung dem großen Senat vorlegen, wenn dies zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist. Dies zeigt, dass in der deutschen Rechtsordnung der oben geschilderten Gefährdung von Rechtssicherheit und Ansehen nicht derart viel Bedeutung geschenkt wird, dass man eine Vorlagepflicht statuiert. Da die deutschen Gerichte in den Fällen der Dzodzi-Verweisungen ohnehin ein Vorlagerecht gemäß Art. 234 Abs. 2 EG haben, besteht aus nationaler Sicht keine Notwendigkeit, eine Vorlagepflicht einzuführen. Anders ist die Situation zu beurteilen, wenn der EuGH das gemeinschaftsrechtliche Verweisungsobjekt bereits ausgelegt hat. Hier muss das nationale Gericht zunächst Inhalt und Reichweite der nationalen Verweisung klären. Ordnet die Verweisung keine zwingende „Konnexität“ zwischen nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht an, so besteht kein Bedürfnis für eine einheitliche Auslegung, mithin kein Bedürfnis für eine Vorlagepflicht. 480 481
Eine Übersicht gibt C. Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 225. Vgl. C. Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, S. 223.
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Kap. 3: Dzodzi-Rechtsprechung und deutsche Rechtsordnung
Gleiches gilt im Ergebnis, wenn das nationale Gericht zwar die „Konnexität“ bejaht, aber bei seiner Auslegung der Gemeinschaftsrechtsnorm nicht von der Auslegung des EuGH abweichen will. Ein Bedürfnis für eine Anwendung des Rechtsgedankens der Divergenzvorlage besteht dagegen, wenn das nationale Gericht die „Konnexität“ bejaht, aber von der Auslegung des gemeinschaftsrechtlichen Verweisungsobjektes durch den EuGH abweichen möchte. Zur Klarstellung: Nach der hier vertretenen Ansicht wäre eine derartige Abweichung gemeinschaftsrechtlich zulässig. Dadurch, dass der deutsche Gesetzgeber im Wege der Verweisung Gemeinschaftsrecht inkorporiert, wird dieses Gemeinschaftsrecht zu nationalem Recht. Der deutsche Gesetzgeber könnte statt auf eine Gemeinschaftsrechtsnorm auch auf eine Rechtsnorm beispielsweise aus Griechenland verweisen. In keinem von beiden Fällen bestünde eine gemeinschaftsrechtliche bzw. völkerrechtliche Pflicht, die Auslegung der jeweiligen Rechtsordnungen zu übernehmen. Das Verbot einer abweichenden Auslegung des gemeinschaftsrechtlichen Verweisungsobjektes ergibt sich allein aus dem nationalen Recht. Ordnet beispielsweise das nationale Recht im Wege der Verweisung eine Gleichbehandlung der Gemeinschaftsrechts- und der nationalen Fälle an, so soll diese Gleichbehandlung in concreto erreicht werden. Mit anderen Worten, der nationale Fall soll so behandelt werden wie der gemeinschaftsrechtliche tatsächlich behandelt wird. Diese tatsächliche Behandlung korrespondiert mit der Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH. Diesem Sinn der Verweisung würde es widersprechen, wenn die nationalen Gerichte die Norm des Gemeinschaftsrechts, auf die verwiesen wird, anders auslegten als der EuGH. Wollen die nationale Gerichte von einer schon erfolgten Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH abweichen, müssen sie erneut vorlegen in der Hoffnung, kraft ihrer Argumente den Gerichtshof von einer Änderung seiner Rechtsprechung zu überzeugen. Es bestehen nach alledem zwei Unterschiede zu einer innerstaatlichen Divergenzvorlage, wie sie beispielsweise in § 132 Abs. 2 GVG oder § 11 Abs. 2 FGO geregelt ist. Organisatorisch betrachtet, haben die nationalen Gerichte, da es keinen gemeinsamen Großen Senat mit dem EuGH gibt, keinen personellen Einfluss auf die endgültige Entscheidung. In den rein nationalen Fällen entsendet der vorlegende Senat dagegen zumindest einen Richter in den Großen Senat. Des Weiteren soll der Sache nach keine Divergenz im nationalen Recht vermieden werden, sondern eine Divergenz zwischen nationaler und gemeinschaftsrechtlicher Entscheidung für Fälle, deren Gleichbehandlung der Gesetzgeber ausdrücklich wollte. Dieser ausdrückliche Wille zur Gleichbehandlung, dessen Vorliegen in jedem Falle einer besonderen Prüfung bedarf, schafft die für die Analogie erforderliche Ähnlichkeit der beiden Tatbestände.
D. Nationale Übernahme- und Vorlagepflichten des BFH
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Möglicherweise wird der hier vertretenen Ansicht, dass keine gemeinschaftsrechtliche, aber eine nationale Vorlagepflicht bestehe, methodische Inkonsequenz bzw. unnötige Verkomplizierung vorgeworfen. Denkbar ist der folgende Einwand: Nach der hier vertretenen Auffassung gehe es sowohl in den Fällen der nationalen als auch in den Fällen der gemeinschaftsrechtlichen Vorlagen letztlich um die Auslegung des gemeinschaftsrechtlichen Verweisungsobjektes bzw. der gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift. Für eine derartige Auslegung sei das Vorabentscheidungsverfahren des Art. 234 EG vorhanden, die hier vertretene Differenzierung verkleinere „aufwendig“ den Anwendungsbereich des Art. 234 EG, um dann im Wege der Analogie wiederum eine nationale Vorlagepflicht zu statuieren. Einfacher wäre es, gleich eine gemeinschaftsrechtliche Vorlagepflicht auch in den Fällen der nationalen Verweisung zu bejahen. Dem ist zunächst entgegenzuhalten, dass die Annahme einer derartigen Vorlagepflicht sehr problematisch ist482. Darüber hinaus besteht in den Fällen der nationalen Vorlagepflicht weniger ein gemeinschaftsrechtliches Interesse an einer einheitlichen Auslegung des Gemeinschaftsrechts, als vielmehr ein nationales Interesse an einer einheitlichen Behandlung der nationalen Verweisungsfälle mit den originär gemeinschaftsrechtlichen Fällen. Die Notwendigkeit einer einheitlichen Auslegung des Verweisungsobjektes unabhängig von seinem Anwendungsbereich, praktisch nur in den seltenen Fällen der Divergenz über diese Gemeinschaftsrechtsrechtsnorm vorhanden, ist unmittelbare Folge dieses nationalen Interesses. Sind demnach die Beweggründe nationaler Natur, so spricht dies dafür, auch die prozessuale Pflicht im nationalen Recht zu verankern. Schließlich sind die praktischen Unterschiede zwischen der gemeinschaftsrechtlichen und nationalen Vorlagepflicht gewichtige Argumente für die hier vertretene Differenzierung.
III. Unterschied zwischen der nationalen und der gemeinschaftsrechtlichen Vorlagepflicht Diese Differenzierung hat erhebliche praktische Auswirkungen: Insbesondere ist der BFH bei einer rein nationalen Vorlagepflicht nicht an die strikten Vorgaben der C.I.L.F.I.T.-Rechtsprechung483 gebunden. Nach dieser Rechtsprechung entfällt die Vorlagepflicht gemäß Art. 234 Abs. 3 EG nur, wenn die gestellte Frage in einem gleichgelagerten Fall bereits Gegenstand einer Vorlage war, zu der betreffenden Rechtsfrage bereits eine gesicherte Rechtsprechung existiert oder die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts derart offenkundig ist, dass für vernünftige Zweifel keinerlei Raum bleibt. Die gemeinschaftsrechtliche Vorlagepflicht ist somit ungleich umfassender als die nationale. Mit der Entwicklung Letzterer wird daher auch dem Bedürfnis der 482 483
Vgl. Kapitel 2 D. III. 2. e) (2). Vgl. EuGH, C.I.L.F.I.T., C-283 / 81, Slg. 1982, 3415.
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Entlastung des EuGH Rechnung getragen; die Gefahr, dass der Gerichtshof mit einer Fülle von Vorlagen zu Detailfragen zeitlich und fachlich überfordert würde484, wäre deutlich geringer. Im Folgenden soll versucht werden, die Fallgruppen der nationalen Dzodzi-Verweisungen bezüglich des Bestehens der „Konnexität“ zwischen nationalem Recht und dem gemeinschaftsrechtlichen Verweisungsobjekt und damit gegebenenfalls auf das Bestehen einer Übernahme- bzw. Vorlagepflicht zu untersuchen. Ziel der Untersuchung ist es, allgemeingültige Aussagen zumindest innerhalb einer Fallgruppe zu finden. Dies würde die Beurteilung in der Praxis deutlich erleichtern. Darüber hinaus lassen sich möglicherweise Erkenntnisse aus einer Fallgruppe auf eine andere übertragen. So wird beispielsweise in Teilen des Umsatzsteuerrechts von der „Maßgeblichkeit des Zolltarifs“485 gesprochen. Es erscheint nicht fernliegend, hier gewonnene Erkenntnisse auf ihre Relevanz bezüglich der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz zu überprüfen.
IV. Unmittelbare Verweisung auf Gemeinschaftsrecht 1. Die Verweisung in § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG Die in § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG vorhandene Verweisung wird vom BFH wie folgt verstanden486: „Die ausdrückliche Verweisung der Anlage auf den Zolltarif hat wesentliche Bedeutung für die Auslegung. Sie macht deutlich, dass es bei der Auslegung der einzelnen Regelungen der Anlage allein auf die zolltariflichen Vorschriften und Begriffe ankommt. Damit scheidet eine Auslegung aus, die sich an den normkonzipierenden Grundsätzen des Gesetzgebers des UStG orientiert, die für die Aufstellung des Kataloges maßgebend war. Nicht gewünschte Konsequenzen des strengen Zolltarifrechts muss der Gesetzgeber erforderlichenfalls durch Einfügung einer ausdrücklichen Ausnahme in die betreffende Bestimmung der Anlage vermeiden.“
Zum Teil verwandte der BFH auch die Formulierung, dass die zolltariflichen Vorschriften infolge der im Umsatzsteuerrecht enthaltenen Verweisung unmittelbar gelten487. Dabei ist davon auszugehen, dass der BFH mit unmittelbarer Geltung nicht den normativen Anwendungsbereich meinte, sondern nur die oben ausgeführte Bedeutung bei der Auslegung unterstreichen wollte.
484 Vgl. M. Kempermann, Ausstrahlung der EuGH-Entscheidung zur phasengleichen Vereinnahmung von Dividenden auf die steuerliche Gewinnermittlung, in Europäisierung des Bilanzrechts, S. 105, 113. 485 Vgl. die Nachweise bei K. Friedrich, Noch einmal: Zolltarif und ermäßigter Umsatzsteuersatz – FGO und „Zollsachen“, DB 2001, 781, 782. 486 Vgl. BFH, Urteil v. 20. Februar 1990, BFHE 160, 342, 343. 487 Vgl. BFH, Urteil v. 29. Oktober 1986, BFHE 148, 90, 91.
D. Nationale Übernahme- und Vorlagepflichten des BFH
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Diese Interpretation der Verweisung als „Maßgeblichkeit des Zolltarifs für die umsatzsteuerliche Einordnung“ erscheint kritikwürdig. Grundsätzlich ist die Anlage Teil des Umsatzsteuerrechts und daher umsatzsteuerrechtlich auszulegen488. Richtig ist zwar, dass für eine derartige Auslegung im Fall der einschränkungslosen Verweisung489 auf den Zolltarif kein Raum ist. Anders ist dies jedoch für die „exPositionen“ zu beurteilen. Schon die Tatsache, dass gerade nicht auf ein vollständiges Kapitel im GZT verweisen wird, sondern auf Waren aus diesem Kapitel, zeigt, dass eine Abkopplung des Umsatzsteuerrechts vom Zollrecht möglich ist490. Mit anderen Worten, hier hat der Gesetzgeber die vom BFH geforderte ausdrückliche Ausnahme statuiert. Die Frage, ob die Ware aus einem Kapitel ist oder nicht, ist somit eine rein umsatzsteuerrechtliche491. Anders als bei der zollrechtlichen Auslegung ist daher beispielsweise eine Analogie möglich492. Von einer Maßgeblichkeit des GZT und damit des Gemeinschaftsrechts kann nach alledem nicht die Rede sein493. Der BFH geht davon aus, dass ihn auf Grund der Entscheidungserheblichkeit des GZT im deutschen Umsatzsteuerrecht eine gemeinschaftsrechtliche Vorlagepflicht trifft494. Dies ist nach der hier vertretenen Ansicht nicht der Fall. Folgt man dem BFH in Hinblick auf die Maßgeblichkeit des GZT für die umsatzsteuerrechtliche Einordnung495, so muss man grundsätzlich eine Pflicht zur Übernahme der Rechtsprechung des EuGH zum GZT für die umsatzsteuerrechtliche Regelung annehmen. Denn es wäre widersprüchlich, die „Maßgeblichkeit“ des GZT zu betonen, dem BFH aber eine abweichende Auslegung dieses GZT im Rahmen von § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG zu gestatten. Nach der hier vertretenen Ansicht ist zu differenzieren: Für die einschränkungslosen Verweisungen ist dem BFH zu folgen. Im Falle der „ex-Positionen“ ist dagegen im Wege der Auslegung zu prüfen, ob eine Maßgeblichkeit des GZT und damit eine Übernahmepflicht besteht.
488 So richtig K. Friedrich, Expositionen der Anlage zum Umsatzsteuergesetz und zolltarifliche Vorgabe, UR 2002, 12, 14. 489 Zur Differenzierung zwischen einschränkungsloser Verweisung und „ex-Position“ vgl. Kapitel 3 B. I. 1. 490 Vgl. K. Friedrich, Expositionen der Anlage zum Umsatzsteuergesetz und zolltarifliche Vorgabe, UR 2002, 12, 13. 491 Vgl. BFH, Urteil v. 14. Januar 1997, BFHE 182, 466, 469. 492 A.A. Husmann in Rau / Dürrwächter / Flick / Geist, Umsatzsteuergesetz, § 12 Abs. 2 Nr. 1 und 2 Rdn. 78. 493 A.A. Weymüller in Sölch / Ringleb, UStG, § 12 Rdn. 24. 494 Ausdrücklich BFH, Beschluss v. 20. Februar 1990, BFHE 159, 573, 575; vgl. auch BFH, Urteil v. 2. April 1996, BFHE 180, 231, 237, wonach die Vorlagepflicht auf Grund der C.I.L.F.I.T.-Rechtsprechung im konkreten Fall entfalle. 495 Vgl. BFH, Urteil v. 20. Februar 1990, BFHE 160, 342, 343.
8 Bärenz
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Kap. 3: Dzodzi-Rechtsprechung und deutsche Rechtsordnung
2. Die Verweisung in § 21 Abs. 2 UStG Im Gegensatz zu § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG ordnet § 21 Abs. 2 UStG nur die „sinngemäße“ Geltung der Vorschriften für Zölle an. Aus dieser somit nur eingeschränkten Verweisung folgert der BFH496: „Das bedeutet aber noch nicht ohne weiteres die Anwendbarkeit aller (Hervorhebung im Original) Zollvorschriften. Vielmehr bedarf die Frage, ob und inwieweit eine Vorschrift des Zollrechts im Einklang mit Sinn und Zweck der Einfuhrumsatzsteuer als Teil der Mehrwertsteuer steht, für jede Bestimmung einer eigenen Prüfung.“
Im Rahmen dieser Prüfung kam der BFH zur Anwendung des damals noch geltenden § 57 Abs. 2 ZG (Entstehung einer weiteren Zollschuld)497 und der Nacherhebungsverordnung498 im Rahmen der Einfuhrumsatzsteuer. In der Literatur hat es Versuche gegeben, den Verweisungsgehalt von § 21 Abs. 2 UStG dahingehend einzuschränken, dass Vorschriften für Zölle, die materiellrechtliche Regelungen enthalten oder nicht in einem zeitlichen Zusammenhang mit der Einfuhrabfertigung stehen, von der Verweisung und somit von der Anwendung im Rahmen der Einfuhrumsatzsteuer ausgeschlossen seien499. Mit der Begründung, dass eine derartige Differenzierung für den Rechtsanwender schwierig sei und im Widerspruch zum Anliegen des Gesetzgebers, die technische Abwicklung der Einfuhrumsatzsteuererhebung zu vereinfachen, stünde, hat der BFH diese Auffassung abgelehnt500. Dies führt im Ergebnis aber nicht dazu, dass die gemäß BFH vorzunehmende Prüfung immer zur Anwendbarkeit der Zollvorschriften im Rahmen des § 21 Abs. 2 UStG führt501. Die Konnexität im Rahmen des § 21 Abs. 2 UStG ist daher vergleichbar mit den Fällen der „ex-Positionen“ im Rahmen des § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG.
V. Die überschießende Umsetzung Bei der überschießenden Umsetzung stellt sich die Frage einer nationalen Vorlagepflicht nur für den überschießenden Teil der Umsetzung, da sich für den nichtüberschießenden Teil die Vorlagepflicht direkt aus Art. 234 EG ergibt. 496 Vgl. BFH, Urteil v. 26. April 1988, BFHE 153, 463, 465; BFH, Urteil v. 3. Mai 1990, BFHE 161, 260, 263. 497 Vgl. BFH, Urteil v. 26. April 1988, BFHE 153, 463. 498 Vgl. BFH, Urteil v. 3. Mai 1990, BFHE 161, 260. 499 Vgl. O. Schwarz, Ungeregelte Fragen der unmittelbaren Anwendung der am 1. 7. 1980 in Kraft getretenen EWG-Verordnung Nr. 1697 / 79 (Nacherhebung), RIW 1980, 481, 484. 500 Vgl. BFH, Urteil v. 3. Mai 1990, BFHE 161, 260, 264. 501 Vgl. Weymüller, in Sölch / Ringleb, UStG, § 21 Rdn. 16 – 17 mit Beispielen.
D. Nationale Übernahme- und Vorlagepflichten des BFH
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Diese Frage soll zunächst am Beispiel des ersten Abschnittes des Dritten Buches im HGB untersucht werden, bevor die Fragestellung auf alle überschießenden Umsetzungen erweitert wird.
1. Der erste Abschnitt des Dritten Buches im HGB Hier besteht eine gemeinschaftsrechtliche Vorlagepflicht immer dann, wenn das Bilanzrecht von Kapitalgesellschaften betroffen ist. Soweit keine Kapitalgesellschaften betroffen sind, stellt sich die Frage, ob eine unterschiedliche und somit „gespaltene“ Auslegung der gleichen Vorschrift denkbar ist. Hält man nämlich eine derartige gespaltene Auslegung für möglich, so ist ein Grund für eine Vorlage an den Gerichtshof nicht ersichtlich, es fehlt dann an der Konnexität. Die Beurteilung dieser Frage richtet sich allein nach nationalem Recht502; das Gemeinschaftsrecht findet keine Anwendung503.
a) Möglichkeit einer gespaltenen Auslegung Die Möglichkeit einer gespaltenen Auslegung wird für die hier untersuchten §§ 238 bis 263 HGB von Hennrichs wie folgt begründet504: Die Vierte Richtlinie stehe unter dem „Regime“ des so genannten true and fair view-Gebots ihres Art. 2 Abs. 3. Dieses Gebot sei nach der Konzeption der Richtlinie ein Vorrangprinzip (overriding principle) : Reicht die Anwendung der Richtlinie nicht aus, um dem Gebot zu entsprechen, sind zusätzliche Angaben zu machen (Art. 2 Abs. 4 der Richtlinie), und ist in Ausnahmefällen die Anwendung einer Vorschrift mit dem true and fair view-Gebot unvereinbar, so muss von der betreffenden Vorschrift abgewichen werden, um die Erfüllung des Vorrangprinzips sicherzustellen (Art. 2 Abs. 5 S. 1). Dementsprechend erlange das true and fair view-Prinzip eine „interpretative Funktion“, es „strahlt“ in die Auslegung der Einzelvorschriften der Vierten Richtlinie ein. Der deutsche Gesetzgeber habe aber dem true and fair view-Gebot durch die Umsetzung in § 264 Abs. 2 HGB nur für Kapitalgesellschaften Geltung verschaffen wollen. Soweit die §§ 238 bis 263 auf Nicht-Kapitalgesellschaften anzuwenden 502 Vgl. R. Ahmann, Die Bilanzrichtlinie und die steuerliche Gewinnermittlung – Eine Zwangsehe?, FS für Ludwig Schmidt, 269, 276; missverständlich A. Herlinghaus, „Tomberger“ und die Folgen – ein Beitrag zur Frage der Entscheidungskompetenz des EuGH im Handels- und Steuerbilanzrecht, IStR 1997, 529, 537. 503 Fehlgehend daher M. Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, S. 173, Rdn. 269. 504 Vgl. J. Hennrichs, Die Bedeutung der EG-Bilanzrichtlinie für das deutsche Handelsbilanzrecht, ZGR 1997, 66, 78 ff.
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Kap. 3: Dzodzi-Rechtsprechung und deutsche Rechtsordnung
wären, verstieße die „Einstrahlungswirkung“ des true and fair view-Gebots gegen die gesetzliche Systematik des Dritten Buches des HGB. Richtig an dieser Argumentation ist zunächst die Erkenntnis, dass das true and fair view-Gebot auch in den Ersten Abschnitt des Dritten Buches einstrahlt505. Dies wurde lange von einem Großteil des Schrifttums, zurückgehend auf die Abkopplungsthese506, bestritten. Diese These geht davon aus, dass das true and fair view-Gebot nur Einfluss auf den Anhang, nicht dagegen auf die Bilanz selbst hat507. Bedenklich an dieser Auffassung ist zunächst, dass der deutsche Gesetzgeber in § 264 Abs. 2 S. 2 HGB nur für Ausnahmefälle zusätzliche Angaben im Anhang fordert. Dies zeigt, dass der Anhang vom Gesetzgeber nicht als eigenständiges, von Bilanz, Gewinn- und Verlustrechnung unabhängiges Informationsinstrument gedacht ist. Die Abkopplungsthese macht daher unzulässigerweise die Ausnahme zur Regel508. Im Übrigen ist sie vom EuGH mit dem Tomberger-Urteil509 verworfen worden510. Der Gerichtshof hat deutlich entschieden, dass die Beachtung des true and fair view-Prinzips die Hauptzielsetzung der Vierten Richtlinie ist511 und auch für das Verständnis der Bilanz gilt512. In dieser Frage stimmte er mit dem Gene505 Dies wird von H. Beisse, „True and fair view“ in der Steuerbilanz?, DStZ 1998, 310, 312 unter Verkennung der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben als verwunderlich bezeichnet. 506 Vgl. erstmals A. Moxter, Die Jahresabschlussaufgaben nach der EG-Bilanzrichtlinie: Zur Auslegung von Art. 2 EG-Bilanzrichtlinie, AG 1979, 141, 145; ders., Zum Verhältnis von handelsrechtlichen Grundsätzen ordnungsgemäßer Bilanzierung und True-and-fair-view-Gebot bei Kapitalgesellschaften, FS für Wolfgang Dieter Budde, 419, 429; H. Beisse, Die Generalnorm des neuen Bilanzrechts, FS für Georg Döllerer, S. 25, 28; B. Knobbe-Keuk, Bilanzund Unternehmenssteuerrecht, S. 44. 507 Vgl. H. Beisse, Die steuerrechtliche Bedeutung der neuen deutschen Bilanzgesetzgebung, StVj 89, 295, 306. 508 Vgl. H. Streim, Die Generalnorm des § 264 Abs. 2 HGB – Eine kritische Analyse, FS für Adolf Moxter, S. 392, 404. 509 Vgl. EuGH, Tomberger, C-234 / 94, Slg. 1996, I-3145. 510 Vgl. Haselmann / Schick, Phasengleiche Aktivierung von Dividendenansprüchen: Das Verwirrspiel im EuGH-Verfahren ist noch nicht beendet, DB 1996, 1529, 1531; R. Hüttemann in Großkomm., HGB, § 264, Rdn. 26; D. Kellersmann, Zur Diskussion um die Vorlagepflicht in bilanzsteuerlichen Fragen – geklärte und offene Fragen, StuB 2001, 122, 127; D. Kleindieck, Geschäftsleitertätigkeit und Geschäftsleitungskontrolle: Treuhänderische Vermögensverwaltung und Rechnungslegung, ZGR 1998, 466, 479; C. Luttermann, Juristische Übersetzung als Rechtspolitik im Europa der Sprachen, EuZW 1998, 151, 155; W. Schön, Annotation to Tomberger, C-234 / 94, CMLR 1997, 681, 692; H. Weber-Grellet, Bilanzrecht im Lichte, Bilanzsteuerrecht im Schatten des EuGH, DB 1996, 2089; zweifelnd am weiteren Fortbestand der These auch N. Herzig, Anmerkung zu Tomberger, DB 1996, 1401, 1402; B. Kropff, Phasengleiche Gewinnvereinnahmung aus der Sicht des Europäischen Gerichtshofs, ZGR 1997, 115, 128; unklar K.-H. Foster, Anmerkung zu Tomberger, AG 1996, 419; an der These ohne Auseinandersetzung mit der Tomberger-Entscheidung festhaltend Ebenroth / Boujong / Joost / Wiedmann, HGB, § 264, Rdn. 21; H. Wiedmann, Bilanzrecht, Kommentar der §§ 238 bis 342a HGB, § 264 Rdn. 21 . 511 Vgl. EuGH, Tomberger, C-234 / 94, Slg. 1996, I-3145, 3153.
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ralanwalt überein513. Der BFH hat die Relevanz des „true and fair view“-Grundsatzes für die Auslegung bilanzrechtlicher Begriffe dementsprechend anerkannt514 Richtig an der Argumentation von Hennrichs ist auch, dass der deutsche Gesetzgeber bei der Umsetzung der Vierten Richtlinie keine Geltung des true and fair view-Gebotes für alle Kaufleute wollte. Dies ergibt sich daraus, dass der Regierungsentwurf in § 237 Abs. 2 noch eine diesbezügliche einheitliche Regelung für alle Kaufleute vorsah. Der Rechtssausschuss lehnte dies ab, weil: „( . . . ) er bereits den Eindruck vermeiden möchte, das geltende Recht werde in diesem Punkt für alle Kaufleute, die nicht Kapitalgesellschaften sind, geändert.515“
In der Literatur wurde dieses Anliegen anschaulich beschrieben mit: Schotten dicht zwischen dem Allgemeinen und Besonderen Teil516. Auf der anderen Seite sah der Rechtsausschuss: „Angereichert werden die §§ 38 ff. HGB (der erste Abschnitt des Dritten Buches, Anmerkung des Verfassers) durch Regelungsinhalte der Vierten Richtlinie, die heute schon nach allgemeiner Auffassung für alle Kaufleute gelten. . . 517“
Dieser Widerspruch518 (Einfluss der Vierten Richtlinie, aber keine Geltung des true and fair view-Prinzips) lässt sich nur vermeiden, wenn man die Abkopplungsthese teilt, wonach das true and fair view-Prinzip nicht für die Bilanzvorschriften, sondern nur für den Anhang gelte. Wie gezeigt, ist diese These aber mit der Tomberger-Rechtsprechung nicht vereinbar. Hennrichs will dem Anliegen des Gesetzgebers dadurch Rechnung tragen, dass er eine gespaltene Auslegung zulässt. Diese Schlussfolgerung steht aber in Widerspruch zu dem Vorhaben des Gesetzgebers, im Ersten Abschnitt einheitliches Recht für alle Kaufleute zu schaffen. Er hat die Materie in der Weise geordnet, dass er im Dritten Buch des HGB die „Vorschriften für alle Kaufleute“ in einem Ersten Abschnitt (§§ 238 – 263 HGB) zusammenfasste. Rechtssystematisch wurden die Vorschriften der §§ 38 ff. HGB (alte Fassung), die immer für alle Kaufleute galten, durch Regelungsinhalte der Vierten Vgl. EuGH a. a. O. Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Tesauro, Tomberger, C-234 / 94, Slg. 1996, I-3135, 3142. 514 Vgl. BFH, GrS 2 / 99, Beschluss v. 7. August 2000, DStR 2000, 1682, 1686. 515 Vgl. Bericht des Rechtsausschusses, in Biener / Berneke, S. 10. 516 Vgl. B. Großfeld, Bilanzrecht für Juristen – Das Bilanzrichtlinien-Gesetz vom 19. 12. 1985, NJW 1986, 955, 956; ähnlich Kirnberger in HK-HGB, E vor 238 Rdn. 4 „in sich geschlossener Vorschriftenblock“. 517 Vgl. Bericht des Rechtsausschusses, in Biener / Berneke, S. 10. 518 Vgl. D. Kellersmann, Zur Diskussion um die Vorlagepflicht in bilanzsteuerlichen Fragen – geklärte und offene Fragen, StuB 2001, 122, 127; H. Kessler, Der EuGH und das Gebot des true and fair view, StuB 1999, 1314, 1315. 512 513
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Kap. 3: Dzodzi-Rechtsprechung und deutsche Rechtsordnung
Richtlinie angereichert519. Der Erste Abschnitt sollte für Einzelkaufleute und Personenhandelsgesellschaften abschließend und darüber hinaus für alle anderen Kaufleute gelten520. Mit anderen Worten, es sollte im Ersten Abschnitt gleichlautendes Recht geschaffen werden521. In einer Vorlage an den Großen Senat bei dem BFH522, welche allerdings mittlerweile zurückgenommen wurde523, vertrat der Erste Senat die Auffassung, dass dieses gleichlautende Recht keine Transformation der Bilanzrichtlinie beinhalte. So führt er aus524: „Damit wird nochmals deutlich, daß das BiRiLiG im Ersten Abschnitt des Dritten Buches vorrangig auf schon bisher geltende nationale Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung Rückgriff nimmt und erst im Zweiten Abschnitt die eigentliche Transformation der BiRiLi stattfindet.“
Diese Auffassung ist abzulehnen. Dass auch dem Ersten Senat unwohl bei dieser Aussage war, zeigt sich an den von ihm verwandten Relativierungen („vorrangig“, „eigentliche“). Die Tatsache, dass die schon vorher geltenden nationalen Regelungen möglicherweise zum Teil deckungsgleich mit den nun umzusetzenden gemeinschaftsrechtlichen Regelungen waren, ändert nichts am Tatbestand der Umsetzung. So wird sich nicht bestreiten lassen, dass beispielsweise das Realisationsprinzip in § 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB Art. 31 Abs. c) aa und bb) der Vierten Richtlinie für Kapitalgesellschaften umsetzt. Im Übrigen hat der Gesetzgeber ausdrücklich eine „Anreicherung“525 der vormals geltenden nationalen Regelungen mit Regelungsinhalten der 4. Richtlinie beabsichtigt. In der Konsequenz würde die Auffassung des Ersten Senats dazu führen, dass der EuGH in handelsrechtlichen Streitigkeiten für die Auslegung der den §§ 238 – 263 HGB zugrunde liegenden Richtlinienvorschriften nicht zuständig wäre526; dies wäre eine gemeinschaftsrechtlich nicht vertretbare Auffassung527.
Vgl. Bericht des Rechtsausschusses, in Biener / Berneke, Bilanzrichtliniengesetz, S. 8. Vgl. Bericht des Rechtsausschusses, in Biener / Berneke, Bilanzrichtliniengesetz, S. 7; missverständlich daher Baumbach / Hopt, HGB, Einl. v. § 238, Rdn. 10, der davon spricht, dass der erste Abschnitt für Einzelkaufleute und Personengesellschaften gilt. Dies ist zwar richtig, ohne Zweifel gilt der erste Abschnitt aber auch für die Kapitalgesellschaften. 521 Vgl. J. Schulze-Osterloh, Deutsches Bilanzrecht und Ertragssteuerrecht vor dem Europäischen Gerichtshof, DStZ 1997, 281, 283. 522 BFH, Beschluss v. 9. September 1998, IStR 1999, 75; geändert mit Beschluss v. 17. November 1999, DB 2000, 25. 523 BFH, Beschluss v. 8. November 2000, DStR 2001, 294. 524 Vgl. BFH, Beschluss 9. September 1998, IStR 1999, 75, 77. 525 Dies zitiert der BFH selbst a. a. O. 526 So richtig K. Buciek, Anmerkung zu BFH, Urteil v. 9. September 1998, IStR 1999, 75, 78. 527 Vgl. W. Meilicke, Zur Vorlagepflicht des BFH in Bilanzierungsfragen, BB 1999, 890, 893. 519 520
D. Nationale Übernahme- und Vorlagepflichten des BFH
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Fraglich ist nach alledem, wie der Widerspruch der gesetzlichen Anliegen zu lösen ist. Entweder man räumt dem Vorhaben, dass das true and fair view-Prinzip keine Rolle für Kaufleute, die keine Kapitalgesellschaften sind, spielen soll – dann aber die Möglichkeit einer gespaltenen Auslegung – oder der Idee eines gleichlautenden Rechts des Ersten Abschnitts – dann aber Einfluss des true and fair view-Prinzips für alle Kaufleute - den Vorrang ein. Die Fragestellung ähnelt in hohem Maße der Problematik, mit welcher sich der niederländische Hooge Raad in der Fortsetzung der Rechtssache Leur-Bloem auseinandersetzen musste528. Die entscheidenden Gründe sprechen für eine gleichlautende Auslegung des ersten Abschnittes, insofern wird hier die Wertung des Hooge Raad im Ergebnis geteilt. (1) Das Argument der Rechtssicherheit In der Literatur wird darauf verwiesen, dass Begriffe selbst innerhalb eines Gesetzes unterschiedliche Bedeutung haben könnten, dies sei unter dem Stichwort „Relativität der Rechtsbegriffe“ geläufig529. Folglich sei methodisch gegen eine gespaltene Auslegung nichts einzuwenden530. Mit „Relativität der Rechtsbegriffe“ beschreibt man aber herkömmlicherweise nur die Möglichkeit, dass ein und dasselbe Wort innerhalb verschiedener Gesetze einen verschiedenen Sinn haben531. So hat beispielsweise das Wort „Anfechtung“ im BGB eine andere Bedeutung als im Insolvenzrecht. Hintergrund dieser Differenzen ist regelmäßig die Tatsache, dass die verschiedene Zweckbestimmung ganzer Rechtsgebiete zu einer unterschiedlichen, durch die besondere Funktion des jeweiligen Gebiets bestimmte Auslegungsweise auch im Hinblick auf die scheinbar gleichlautenden Begriffe führen532. Mit anderen Worten, der Rechtsbegriff wird den Zwecken der diversen Teilrechtsordnungen gemäß ausgestaltet, wodurch er eine variierende, jedem dieser Zwecke entsprechende Bedeutung erhält533.
Vgl. oben Kapitel 3 C. I. 2. d). Vgl. J. Hennrichs, Die Bedeutung der EG-Bilanzrichtlinie für das deutsche Handelsbilanzrecht, ZGR 1997, 66, 78. 530 Vgl. für das Umwandlungsrecht T. Schöne, Das Aktienrecht als „Maß aller Dinge“ im neuen Umwandlungsrecht?, GmbHR 1995, 325, 327 f.; für das Handelsbilanzrecht J. Schulze-Osterloh, Deutsches Bilanzrecht und Ertragssteuerrecht vor dem Europäischen Gerichtshof, DStZ 1997, 281, 284; a.A. offenbar A. Herlinghaus, „Tomberger“ und die Folgen – ein Beitrag zur Frage der Entscheidungskompetenz des EuGH im Handels- und Steuerbilanzrecht, IStR 1997, 529, 537, der vom „Prinzip der einheitlichen Auslegung“ spricht. 531 Vgl. K. Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 94. 532 Vgl. K. Engisch, Die Relativität der Rechtsbegriffe, Deutsche Landesreferate zum V. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung in Brüssel 1958, S. 59, 70. 533 Vgl. Ryu / Silving, Was bedeutet die sogenannte „Relativität der Rechtsbegriffe“?, ARSP Bd. 59 (1973), 57, 81. 528 529
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Kap. 3: Dzodzi-Rechtsprechung und deutsche Rechtsordnung
Im Grundsatz ist gegen die „Relativität der Rechtsbegriffe“ daher nichts einzuwenden. Bei der überschießenden Umsetzung hätte sie aber eine besondere Qualität: Einem Begriff wird nicht etwa in verschiedenen Teilrechtsordnungen, nicht etwa in verschiedenen Gesetzen, nicht einmal in verschiedenen Paragrafen eine unterschiedliche Bedeutung zugemessen. Vielmehr wird der gleiche Begriff innerhalb des gleichen Gesetzes und innerhalb des gleichen Paragraphen unterschiedlich ausgelegt, je nach Einschlägigkeit des Gemeinschaftsrechts. Dies ist nicht nur methodisch bedenklich534. Vielmehr ist es fragwürdig, ob eine derart verstandenes Gesetz mit dem im Grundgesetz verankerten Rechtsstaatsprinzip vereinbar ist. Eine der wichtigsten Anforderungen dieses Prinzips an das Gesetz ist das Gebot zur Klarheit und Bestimmtheit535. Eine Norm, die sich im Tatbestand an verschiedene Adressaten wendet und eine gleichlautende Rechtsfolge für diese Adressaten vorsieht, verstieße gegen dieses Gebot, wenn die gleichlautende Rechtsfolge einen je nach Adressat unterschiedlichen Inhalt hätte. Ob dieser Grundsatz ausnahmslos gilt, muss hier nicht entschieden werden. In jedem Fall müssen wichtige sachliche Gründe für eine derartige gespaltene Auslegung sprechen. Ähnliche Erwägungen hat der Große Senat bei dem BFH im Zusammenhang mit einer einheitlichen Auslegung des Herstellungskostenbegriffes536 für die Bereiche des Privatvermögens einerseits und des Betriebsvermögens andererseits angestellt und unabweisbare Gründe zur Rechtfertigung einer unterschiedlichen Auslegung gefordert537. Die steuerliche Behandlung von Privat- und Betriebsvermögen wird in verschiedenen Normen geregelt. An eine gespaltene Auslegung wären, da sie ein und dieselbe Norm betrifft, a maiore ad minus noch höhere Rechtfertigungsmaßstäbe anzulegen. Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass sich eine Vereinbarkeit mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht dadurch erreichen lässt, dass die Rechtswissenschaft die „Relativität des Rechtsbegriffs“ bemerklich macht, die Mehrdeutigkeit als solche kennzeichnet538. Den Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip kann vielmehr nur der Gesetzgeber beheben, indem er entweder unterschiedliche Begriffe einführt oder ausdrücklich festlegt, dass beispielsweise der Begriff der Herstellungskosten für 534 Vgl. allgemein W. Sauer, Juristische Methodenlehre, S. 335 in Fn. 1; a.A. wohl M. Lutter, Die Auslegung angeglichenen Rechts, JZ 1992, 593, 607: Auslegung und Anwendung dieses Mischrechts verlangen dennoch die Trennung, die Ent-Mischung. 535 Vgl. R. Herzog in M / D, GG, Art. 20, VII. Art. 20 und die Frage der Rechtsstaatlichkeit, Rdn. 63; M. Sachs in Sachs, Grundgesetz, Art. 20, Rdn. 125; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, S. 829. 536 Auch Jakob / Wittmann, Von Zweck und Wesen steuerlicher AfA, FR 1988, 540, 550 halten eine einheitliche Auslegung für formal-methodisch ansprechend. 537 Vgl. BFH, Beschluss v. 4. Juli 1990, BStBl. 1990, 830, 835. 538 A.A. offenbar K. Engisch, Die Relativität der Rechtsbegriffe, Deutsche Landesreferate zum V. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung in Brüssel 1958, S. 59, 71.
D. Nationale Übernahme- und Vorlagepflichten des BFH
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Personenhandelsgesellschaften eine andere Bedeutung als für Kapitalgesellschaften hat. (2) Kein sachlicher Grund für eine gespaltene Auslegung Sachliche Gründe für eine gespaltene Auslegung sind nicht ersichtlich. Der Wille des Gesetzgebers ist insofern wenig ergiebig, da er in sich widersprüchlich ist539. Es ist sachlich nicht nachvollziehbar, dass beispielsweise das Realisationsprinzip des § 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB für Einzelkaufleute einen anderen Inhalt als für Kapitalgesellschaften haben soll540. Gleiches gilt für die Begriffe der Anschaffungs- und der Herstellungskosten541. Mit dieser Aussage wird nicht behauptet, dass eine gespaltene Auslegung beispielsweise von § 252 HGB gegen den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen würde. Danach darf wesentlich Gleiches nicht ungleich und wesentlich Ungleiches soll seiner Eigenart entsprechend unterschiedlich behandelt werden542. Es ist grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, diejenigen Sachverhalte auszuwählen, an die er dieselbe Rechtsfolge knüpft, die er also im Rechtssinn als gleich ansehen will543. Zwar hat der Gesetzgeber eine Gestaltungsfreiheit. Er kann die Merkmale bestimmen, die für die Gleich- und Ungleichbehandlung maßgeblich sein sollen, muss diese Auswahl aber sachgerecht treffen. Ob der Unterschied in der Rechtsform ausreichend für die Bejahung der Sachgerechtigkeit ist, muss hier nicht entscheiden werden. Aus den oben dargelegten Gründen der Rechtssicherheit hängt das Verbot der gespaltenen Auslegung gerade nicht davon ab, dass eine derartige Auslegung gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstieße544. Wollte man eine derartige Abhängigkeit statuieren, so verlöre das Kriterium der Rechtssicherheit seine eigenständige Bedeutung. Vielmehr erfolgt gewissermaßen eine Beweislastumkehr: Da bei der Betrachtung der Vereinbarkeit einer Norm mit Art. 3 Abs. 1 GG grundsätzlich von der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers auszugehen ist, kann die unterschiedliche Behand539 Vgl. oben Kapitel 3 D. V. 1. a); diesen Aspekt übersehen sowohl H. Beisse, Die steuerrechtliche Bedeutung der neuen deutschen Bilanzgesetzgebung, StVj. 1989, 295, 305 als auch J. Hennrichs, Die Bedeutung der EG-Bilanzrichtlinie für das deutsche Handelsbilanzrecht, ZGR 1997, 66, 80. 540 B. Kropff, Phasengleiche Gewinnvereinnahmung aus der Sicht des Europäischen Gerichtshofs, ZGR 1997, 115, 128. 541 Vgl. F. Broer, Maßgeblichkeitsprinzip, S. 297; W. Müller, Der Europäische Gerichtshof und die deutschen Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung, FS für Carsten Peter Claussen, S. 707, 716; J. Schulze-Osterloh, Deutsches Bilanzrecht und Ertragssteuerrecht vor dem Europäischen Gerichtshof, DStZ 1997, 281, 285. 542 Vgl. H. Schneider, Gesetzgebung, S. 41. 543 Vgl. BVerfG, Beschluss v. 9. März 1994, BVerfGE 90, 145, 196. 544 So aber Y. Schnorbus, Grundlagen zur Auslegung des allgemeinen Teils des UmwG, WM 2000, 2321, 2326.
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Kap. 3: Dzodzi-Rechtsprechung und deutsche Rechtsordnung
lung von Lebenssachverhalten nicht die Verfassungswidrigkeit indizieren. Hier ist immer genau zu prüfen, ob diese Lebenssachverhalte einander gleichen und ob eine eventuelle Ungleichbehandung sachlich geboten bzw. willkürlich ist. Anders bei der Betrachtung der Zulässigkeit einer gespaltenen Auslegung unter dem Aspekt der Rechtsstaatlichkeit. Hier ist diese Auslegung für den Normadressaten derart problematisch, dass sie grundsätzlich unzulässig ist, es sei denn, herausragende Gründe sprechen für die Notwendigkeit der gespaltenen Auslegung. Mit anderen Worten: Es gibt für den Rechtsanwender auf Grund des Gebots zur Klarheit und Bestimmtheit eine Vermutung dagegen, die gleichlautende Rechtsfolge einer Norm unterschiedlich auszulegen. Für den Fall, dass man die Verfassungswidrigkeit wegen Verstoßes gegen Art. 3 GG bei nicht rechtsformneutraler Auslegung der §§ 238- 263 HGB bejaht, wäre eine gespaltene Auslegung nicht nur unter dem Aspekt der Rechtssicherheit, sondern auch unter dem Aspekt der verfassungswidrigen Ungleichbehandlung unzulässig. Lässt eine Norm aber mehrere Auslegungen zu, die teils zu einem verfassungswidrigen, teils zu einem verfassungsgemäßen Ergebnis führen, so muss die Norm entsprechend, d. h. „verfassungskonform“ ausgelegt werden545, vorliegend daher nicht gespalten. Eine gespaltene Auslegung des Ersten Abschnittes im Dritten Buch des HGB hätte im Übrigen auch Auswirkungen über das Handelsbilanzrecht hinaus. So wird vertreten, dass der Maßgeblichkeitsgrundsatz die gespaltene Auslegung auch in das Steuerbilanzrecht tragen könne546. Dies wäre mit dem dort geltenden Gebot der Gleichmäßigkeit der Besteuerung schwerlich vereinbar547. Nach alledem besteht ein Verbot einer gespaltenen Auslegung548.
Vgl. K. Bettermann, Die verfassungskonforme Auslegung, S. 19. Vgl. W. Meilicke, Zur Vorlagepflicht des BFH in Bilanzierungsfragen von Personengesellschaften und Einzelunternehmen, BB 2001, 40, 41. 547 Vgl. F.-J. Kolb, Der Maßgeblichkeitsgrundsatz als Schleuse zum Gemeinschaftsrecht, FS für Albert Rädler, S. 377, 393. 548 Im Ergebnis ebenso Arndt / Wiesbrock, Der EuGH als gesetzlicher Richter in ertragsteuerlichen Rechtsstreitigkeiten?, DStR 1999, 350, 353 Fn. 46; Crezelius in Kirchhof, EStG, § 5, Rdn. 14; M. Groh, Bilanzrecht vor dem EuGH, DStR 1996, 1206, 1208; W. Müller, Der Europäische Gerichtshof und die Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung, in Europäisierung des Bilanzrechts, S. 87, 93; T. Stobbe in H / H / R, EStG, § 5 Rdn. 20; a.A. H. Beisse, Die paradigmatischen GoB, FS für Welf Müller, S. 731, 753; ders., „True and fair view“ in der Steuerbilanz?, DStZ 1998, 310, 315; ders., Wandlungen der Grundsätze ordnungsgemäßer Bilanzierung, GS für Brigitte Knobbe-Keuk, S. 385, 406; anders noch ders. , Die steuerrechtliche Bedeutung der neuen deutschen Bilanzgesetzgebung, StVj. 1989, 295, 305; K. Fresl, Die Europäisierung des deutschen Bilanzrechts, S. 80; F.J.-Kolb, Der Maßgeblichkeitsgrundsatz als Schleuse zum Gemeinschaftsrecht, FS für Albert Rädler, S. 377, 399; offen gelassen von C. Back, Richtlinienkonforme Interpretation des Handelsbilanzrechts, S. 155; U. Klinke, Europäisches Unternehmensrecht und EuGH, Die Rechtsprechung in den Jahren 1996 – 1997, ZGR 1998, 212, 234. 545 546
D. Nationale Übernahme- und Vorlagepflichten des BFH
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b) Relevanz des Verbots der gespaltenen Auslegung Das Verbot der gespaltenen Auslegung wäre akademisch, wenn eine Auslegung des Ersten Abschnittes im Dritten Buch des HGB im Lichte des true and fair viewGebots nicht zu anderen Ergebnissen führte als eine Auslegung ohne Geltung dieses Gebots. Nach Ansicht des Rechtsausschusses hätte sich auch bei Einführung des true and fair view-Prinzips für alle Kaufleute das geltende Recht nicht wesentlich verschärft549. Genauere Ausführungen, was mit „nicht wesentlich“ gemeint sei, fehlen allerdings. Der Streit entzündet sich unter anderem an der für die Praxis relevanten Frage, welche Bedeutung das true and fair view-Prinzip für die Ausübung bilanzieller Wahlrechte hat. Insofern werden alle denkbaren Lösungsvarianten vertreten. Soweit jeglicher ergebnisändernde Einfluss des true and fair view-Prinzips insoweit geleugnet wird550, geschieht dies regelmäßig vor dem Hintergrund der mit der Rechtsprechung des Gerichtshofes nicht mehr zu vereinbarenden Abkopplungsthese. Ansonsten werden verschiedene Einflussmöglichkeiten551 diskutiert, von einer nur in Ausnahmefällen bestehenden Missbrauchsgrenze552, einer Subsidiärfunktion553 über eine Leitfunktion554 bis hin zur Betrachtung als „oberstes Gebot555 und Richtschnur556“. Diesen Streit zu entscheiden, ist nicht Gegenstand dieser Untersuchung. Entscheidend und ausreichend ist hier die Feststellung, dass das true and fair viewPrinzip eine wie auch immer geartete Auswirkung auf die Auslegung hat. Dies wird bei der Anwendung des Ersten Abschnittes im Dritten Buch des HGB zu beachten sein.
549 550
Vgl. Bericht des Rechtsausschusses, in Biener / Berneke, S. 10. Vgl. H. Beisse, Die Generalnorm des neuen Bilanzrechts, FS für Georg Döllerer, S. 25,
42. 551 Vgl. J. Hennrichs, Wahlrechte im Bilanzrecht der Kapitalgesellschaften, S. 330 ff. m. w. N. 552 Vgl. Baumbach / Hopt, HGB, § 264 Rdn. 16. 553 Vgl. Hense / Schellhorn in Beck‘scher Bilanzkommentar, § 264, Rdn. 27. 554 Vgl. H. Weber-Grellet, Europäisierung des deutschen Bilanzrechtes, in Europäisierung des Bilanzrechts, S. 95, 98. 555 Vgl. Großfeld / Junker, Die Prüfung des Jahresabschlusses im Lichte der 4. EG-Richtlinie, ZGR Sonderheft Nr. 2, 252, 275. 556 Vgl. Großfeld / Junker, Die Prüfung des Jahresabschlusses im Lichte der 4. EG-Richtlinie, ZGR Sonderheft Nr. 2, 252, 266.
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Kap. 3: Dzodzi-Rechtsprechung und deutsche Rechtsordnung
2. Grundsätzliche Konnexität bei der überschießenden Umsetzung Nach der Bejahung der Konnexität für die §§ 238 – 263 HGB stellt sich auf Grund der tendenziell abstrakten Argumente gegen eine gespaltene Auslegung die Frage, ob nicht generell bei der überschießenden Umsetzung die für das Existieren der nationalen Vorlagepflicht erforderliche Konnexität vorhanden ist. Diese Frage ist jedenfalls dann, wenn der Gesetzgeber die Gemeinschaftsvorgaben wie im Handels- und Umwandlungsrecht in den jeweils Allgemeinen Teilen der Gesetze umsetzt, zu bejahen557. Hintergrund dieser Umsetzungstechnik ist im Kern, dass die Vorschriften für alle und nicht nur für die von der Richtlinie umfassten Vorgänge gelten sollen558. Der Wille zur Gleichbehandlung der nationalen mit den gemeinschaftsrechtlichen Fällen seitens des Gesetzgebers wird daher regelmäßig eindeutig sein. Die oben gegen eine gespaltene Auslegung aufgeführten Argumente, insbesondere die aus dem Rechtsstaatsprinzip hergeleiteten, lassen sich verallgemeinern. Dagegen beruhten die Argumente für die Möglichkeit der gespaltenen Auslegung auf den sich widersprechenden Intentionen des Gesetzgebers bei der Umsetzung der Vierten Richtlinie. Derartige Widersprüche sollten Ausnahmecharakter haben.
3. Inhalt und Reichweite der nationalen Vorlagepflicht im Handelsbilanzrecht Der BFH muss folglich auch im Handelsbilanzrecht für Einzelkaufleute und Personenhandelsgesellschaften der Auslegung des EuGH für das Handelsbilanzrecht für Kapitalgesellschaften folgen. Die Pflicht zur Übernahme dieser Rechtsprechung resultiert aus dem nationalen Verbot der gespaltenen Auslegung. Es erscheint inkonsequent, bei einer gespaltenen Auslegung die Grundlagen des Handelsbilanzrechts gefährdet zu sehen, aber nur „überzeugenden“ Urteilen des EuGH folgen zu wollen559. Dies gilt umso mehr, als die „Überzeugungskraft“ naturgemäß unterschiedlich beurteilt wird. Aus der Bejahung der Übernahmepflicht folgt in den oben dargelegten Fallkonstellationen560 auch eine Vorlagepflicht.
557 So auch H.-D. Schwarz, in Widmann / Mayer, Umwandlungsrecht, Band 1, Einf. UmwG Rdn. 7.2; a.A. Y. Schnorbus, Grundlagen zur Auslegung des allgemeinen Teils des UmwG, WM 2000, 2321, 2325. 558 Vgl. H.-D. Schwarz, Das neue Umwandlungsrecht, DStR 1994, 1694, 1697. 559 So aber J. Schulze-Osterloh, Deutsches Bilanzrecht und Ertragssteuerrecht vor dem Europäischen Gerichtshof, DStZ 1997, 281, 285. 560 Vgl. Kapitel 3 D. II.
D. Nationale Übernahme- und Vorlagepflichten des BFH
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Der BFH hat in einem Urteil eine Vorlagepflicht bei Nichtkapitalgesellschaften im Rahmen der Vierten Richtlinie verneint561. Dies bezog sich erkennbar nur auf eine gemeinschaftsrechtliche Vorlagepflicht, insoweit ist die Entscheidung richtig.
VI. Die mittelbare Verweisung Hängt die nationale Vorlagepflicht von Umfang und Reichweite der Verweisung auf Gemeinschaftsrecht ab, so ist es schwer, allgemeine Aussagen darüber zu treffen. Im Gegensatz zur überschießenden Umsetzung von Richtlinien, die immerhin auf einer einheitlichen Gesetzestechnik beruht, kommen mittelbare Verweisungen in unterschiedlichen Varianten vor. Dies gilt umso mehr, als dass die Gemeinschaft verstärkt Richtlinien im Privatrecht erlässt562 und deshalb ursprünglich rein nationale Verweisungen plötzlich auf Gemeinschaftsrecht umsetzendes nationales Recht verweisen. Im nächsten Kapitel soll am Beispiel des Maßgeblichkeitsgrundsatzes im Steuerbilanzrecht eine genaue Untersuchung einer nationalen Übernahme- und Vorlagepflicht im Falle der mittelbaren Verweisung erfolgen.
VII. Zwischenergebnis Auf Grund des Inhalts und der Reichweite der jeweiligen nationalen Verweisung kann sich eine nationale Pflicht der letztinstanzlichen Gerichte ergeben, das ihnen durch die Dzodzi-Rechtsprechung eingeräumte Vorlagerecht in Anspruch zu nehmen. Voraussetzung einer derartigen Vorlagepflicht ist zunächst eine Übernahmepflicht; mit anderen Worten: eine Auslegung des Gerichtshofes für das gemeinschaftsrechtliche Verweisungsobjekt muss durch die nationalen Gerichte auch für die Verweisung übernommen werden. Ob eine Übernahmepflicht vorliegt, hängt davon ab, ob eine Konnexität zwischen nationaler Verweisung und gemeinschaftsrechtlichem Verweisungsobjekt besteht, die eine Ungleichbehandlung der jeweils geregelten Fälle ausschließen soll. Hintergrund einer derartigen Konnexität ist regelmäßig der gesetzgeberische Wille zur Gleichbehandlung der zugrunde liegenden Fälle. Bei der überschießenden Um561 Vgl. BFH, Urteil v. 28. März 2000, BFHE 191, 339. Eine ausführliche Urteilsanalyse wird in Kapitel 4 B. VI. 4. vorgenommen. 562 Vgl. M. Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 8; S. Heß, Die Umsetzung von EG-Richtlinien im Privatrecht, S. 11 f. m. w. N.; M. Schmidt, Privatrechtsangleichende EU-Richtlinien und nationale Auslegungsmethoden, RabelsZ 1995, 569, 570 spricht von „Flutwellen von EU-Richtlinien, die über Kernbereiche des Privatrechts hinweggespült sind“.
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Kap. 3: Dzodzi-Rechtsprechung und deutsche Rechtsordnung
setzung von Richtlinien resultiert, soweit die oben563 untersuchte Gesetzestechnik angewandt wird, die Übernahmepflicht zusätzlich daraus, dass eine Nichtübernahme der einschlägigen EuGH-Rechtsprechung im Ergebnis zu einer verfassungswidrigen gespaltenen Auslegung führt. Die Vorlagepflicht besteht dann, wenn das nationale Gericht von einer schon durch den EuGH erfolgten Auslegung des gemeinschaftsrechtlichen Verweisungsobjekts abweichen will. Zur Klarstellung: Mit Abweichung ist nicht gemeint, dass man die gemeinschaftsrechtliche Vorschrift unter dem Aspekt der Verweisung anders auslegen möchte, zum Beispiel mit dem Argument der teleologischen Reduktion der Verweisung. Letzteres wäre eine ausschließlich nationale Frage, die, sollte hierüber eine unterschiedliche Auffassung innerstaatlicher Gerichte bestehen, im Rahmen einer „reinen“ Divergenzvorlage zu dem jeweils zuständigen nationalen Gericht geklärt werden kann564. Mit Abweichung ist eine andere Auslegung des gemeinschaftsrechtlichen Verweisungsobjektes im Gemeinschaftsrechtskontext, wenngleich im Rahmen eines nationalen Rechtsstreits, gemeint. Es handelt sich im Kern um eine Divergenzvorlage an den EuGH bezüglich der Auslegung von Gemeinschaftsrecht, die für Rechtsstreitigkeiten gilt, bei denen dieses Gemeinschaftsrecht außerhalb des Gemeinschaftsrahmens qua nationalem Anwendungsbefehl Geltung entfaltet. Die Analogie sollte je nach Gericht auf dessen Verpflichtung zur Divergenzvorlage an den jeweiligen Großen Senat gestützt werden. Dies bedeutet beispielsweise, dass sich die nationale Vorlagepflicht für die BGH-Senate aus § 132 Abs. 2 GVG analog, für BFH-Senate aus § 11 Abs. 2 FGO analog ergibt. Eine derartige nationale Vorlagepflicht ist nicht an die Kriterien der C.I.L.F.I.TRechtsprechung gebunden. In den Fällen der unmittelbaren Verweisung auf Gemeinschaftsrecht und im Fall der überschießenden Umsetzung von Richtlinien ist die als Voraussetzung für eine nationale Übernahme- und ggf. Vorlagepflicht erforderliche Konnexität grundsätzlich zu bejahen. In den Fällen der unmittelbaren Verweisungsanalogie und der mittelbaren Verweisung ist eine derart generelle Aussage nicht möglich, hier muss die Frage nach der Konnexität für den einzelnen Fall anhand des Inhalts und der Reichweite der Verweisung beurteilt werden.
Vgl. Kapitel 3 D. V. 2. Die Vorlage des 1. Senats bezüglich der Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes an den Großen Senat, vgl. BFH, Beschluss v. 9. September 1998, DStR 1999, 151, geändert mit Beschluss v. 17. November 1999, DB 2000, 25, welche zurückgezogen wurde, vgl. BFH, Beschluss v. 8. November 2000, DStR 2001, 294, war allerdings keine Divergenzvorlage gemäß § 11 Abs. 2 FGO, sondern eine Grundsatzvorlage gemäß § 11 Abs. 4 FGO. Vgl. hierzu Kapitel 4 B. VI. 1. 563 564
E. Auswirkungen auf die deutsche Finanzgerichtsbarkeit
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E. Auswirkungen der Dzodzi-Rechtsprechung auf die deutsche Finanzgerichtsbarkeit Nach dem oben Gesagten obliegt die Beurteilung der Reichweite der nationalen Verweisung den nationalen Gerichten. Es besteht daher die Möglichkeit, dass diese Beurteilung je nach Instanz unterschiedlich ausfällt. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Frage, welche Bindungswirkung die Entscheidungen der oberinstanzlichen für die unterinstanzlichen Gerichte entfalten. Dies ist anders formuliert die Frage, inwiefern die Bindungswirkung von Urteilen einem Vorlagerecht unterinstanzlicher Gerichte entgegensteht. Denkbar sind Meinungsverschiedenheiten aber nicht nur zwischen Gerichten, sondern auch zwischen Prozessparteien und Gerichten. Derartige Meinungsverschiedenheiten können zum Beispiel im Zusammenhang mit der oben entwickelten Vorlagepflicht auftreten. Daher soll auch untersucht werden, inwiefern eine mögliche Verletzung dieser nationalen Übernahme- und Vorlagepflichten mit Verfassungsbeschwerden gerügt werden kann.
I. Vorlagerecht trotz Bindungswirkung entgegenstehender Rechtsprechung des Revisionsgerichts Geprüft werden soll dies zunächst für den Fall der direkten Anwendbarkeit von Gemeinschaftsrecht, danach für die Fälle der Dzodzi-Verweisung.
1. Der Fall der direkten Geltung von Gemeinschaftsrecht Nach § 126 Abs. 5 FGO gilt, dass das Gericht, an das eine Rechtssache im Rahmen einer Revision zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen wurde, bei seiner Entscheidung die rechtliche Beurteilung des BFH zu Grunde zu legen hat. Entsprechende Regelungen finden sich auch in § 144 Abs. 6 VwGO, in § 170 Abs. 5 SGG und in § 565 Abs. 2 ZPO. Ein Konflikt zwischen Art 234 Abs. 2 EG und den obigen Normen (im Folgenden wird der Einfachheit halber die Norm der FGO als Beispiel genommen) kann leicht entstehen: Kommen dem Instanzgericht nach der Zurückverweisung Zweifel an der Vereinbarkeit der Auffassung des Revisionsgerichtes mit dem Gemeinschaftsrecht, so billigt Art. 234 Abs. 2 EG Ersterem ein Vorlagerecht zu. § 126 Abs. 5 FGO statuiert aber gerade eine Bindungswirkung an die (möglicherweise gemeinschaftsrechtswidrige) Auffassung des Revisionsgerichtes.
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Kap. 3: Dzodzi-Rechtsprechung und deutsche Rechtsordnung
a) Rechtsprechung des EuGH Der EuGH hat zu dieser Problematik frühzeitig Stellung genommen. In der Rechtssache Rheinmühlen führte er aus565: „Die Bestimmungen des Artikels 177 sind für den nationalen Richter zwingendes Recht ( . . . ). Daraus folgt, daß die nationalen Gerichte ein unbeschränktes Recht zur Vorlage an den Gerichtshof haben, wenn sie der Auffassung sind, daß eine bei ihnen anhängige Rechtssache Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen aufwirft, über die diese Gerichte im konkreten Fall entscheiden müssen. Sonach kann eine innerstaatliche Rechtsnorm, die nicht-letztinstanzliche Gerichte an die rechtliche Beurteilung des übergeordneten Gerichts bindet, diesen Gerichten nicht das Recht nehmen, dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen vorzulegen, um die es in dieser rechtlichen Beurteilung geht. Etwas anderes müßte gelten, wenn von dem nicht-letztinstanzlichen Gericht gestellte Fragen sachlich mit Fragen identisch wären, die das letztinstanzliche Gericht bereits vorgelegt hat. Dagegen muß das nicht-letztinstanzliche Gericht, wenn es der Auffassung ist, daß es aufgrund der rechtlichen Beurteilung des übergeordneten Gerichts zu einer das Gemeinschaftsrecht verletzenden Entscheidung gelangen könnte, frei entscheiden können, ob es dem Gerichtshof die Fragen vorlegt, die ihm zweifelhaft sind. Wären die nicht-letztinstanzlichen Gerichte gebunden, ohne den Gerichtshof anrufen zu können, so wären dessen Zuständigkeit zur Vorabentscheidung wie auch die Anwendung des Gemeinschaftsrechts auf allen Stufen der Gerichtsbarkeit in den Mitgliedstaaten eingeschränkt.“
Mit dieser Rechtsprechung wollte der EuGH nicht die Hierarchien der nationalen Gerichtsordnungen durcheinander bringen und es den unterinstanzlichen Gerichten ermöglichen, sich über die Rechtsprechung der letztinstanzlichen Gerichte hinweg zu setzen. Maßgeblich war vielmehr die Überlegung, dass letzten Endes der Spruch des EuGH Vorrang vor jedem nationalen Gericht hat. Die unterinstanzlichen Gerichte versuchen daher nicht, ihre eigenen Rechtsansichten an die Stelle des höheren Gerichts zu setzen, dies würde die Instanzenhierarchie tatsächlich modifizieren. Sie ersetzen vielmehr die Auffassung des höheren Gerichts durch die Ansicht des letztlich ohnehin zuständigen EuGH566. Für eine dogmatische Begründung dieses Ergebnisses reicht der Verweis auf den Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts allein nicht aus567. Insoweit ist nämlich richtig, dass das Gemeinschaftsrecht keine Regelungen über die Bindungswirkung von Urteilen der Revisionsinstanzen trifft. Dies bleibt die Domäne der Mitgliedstaaten, welche größtenteils mit den deutschen Regelungen vergleichbare Vorschriften haben568. EuGH, Rheinmühlen, C-166 / 73, Slg. 1974, 33, 38. Vgl. G. Bebr, Anmerkung zum Urteil vom 16. 1. 1974 – C-166 / 73, Europarecht 1974, 358, 361. 567 Ungenau insoweit R. Riegel, Zur Einschränkung der Vorlagebefugnis nach Art. 177 Abs. 2 EWGV, RIW 1976, 110, 111. 568 Vgl. R. Koch, Einwirkungen des Gemeinschaftsrechts auf das nationale Verfahrensrecht, EuZW 1995, 78, 82. 565 566
E. Auswirkungen auf die deutsche Finanzgerichtsbarkeit
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Entscheidend ist, dass eine nationale Bindung an die Auffassung des Revisionsgerichtes dem „effet utile“ des Vorlagerechtes gemäß Art. 234 EG entgegenstehen würde. Mit anderen Worten, der nationale Richter ist von der Anwendung der nationalen Regelung nur befreit, wenn eine entsprechende Maßnahme die Effizienz des Vorabentscheidungsverfahrens beeinträchtigen würde569. Eine derartige Beeinträchtigung ist in verschiedenen Konstellationen vorstellbar. Beispielsweise könnten die Mitgliedstaaten eine Regelung treffen, nach der die Entscheidungen ihrer obersten Gerichte ähnlich den Entscheidungen des englischen House of Lords Präjudizwirkung für zukünftige Streitigkeiten hätten. Sie würden damit die Bindung ihrer Gerichte auch für den Fall der Gemeinschaftsrechtswidrigkeit einer solchen Entscheidung anordnen570, von einer wirksamen Wahrung des Vorranges des Gemeinschaftsrechts bliebe im Ergebnis nicht mehr viel übrig571. Auch innerstaatlich führt die Argumentation des EuGH zu überzeugenden Ergebnissen. § 126 Abs. 5 FGO dient der Prozessökonomie und soll einer Verfahrensverzögerung entgegenwirken bzw. die Wahrung der Rechtseinheit verwirklichen572. Diese Ziele werden durch das Vorlagerecht des Finanzgerichts nicht beeinträchtigt. Denn wenn das FG trotz Zweifel an der Gemeinschaftsrechtskonformität nicht vorlegen kann, so wird der BFH regelmäßig gemäß Art. 234 Abs. 3 EG vorlageverpflichtet sein, jedenfalls ist dem BFH auf Grund der obigen Zweifel eine Berufung auf die „acte-clair-Doktrin“ versagt. Das Finanzgericht seinerseits hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zuzulassen, da in dem künftigen Revisionsverfahren voraussichtlich eine Vorabentscheidung gemäß Art. 234 Abs. 3 EG einzuholen sein wird573.
b) Die deutsche (Finanzgerichts-)Rechtsprechung Das Rheinmühlen-Urteil erging auf Grund einer Vorlage des BFH; im Übrigen waren es vor allem die Finanzgerichte, welche obige Problematik diskutierten. Sowohl das Finanzgericht Hamburg574 als auch das Finanzgericht Düsseldorf575 schlossen sich dem EuGH an. 569
Vgl. R. Kovar, Note arrêt C-166 / 73, 146 / 73, Journal du Droit international 1976, 198,
202. 570 Vgl. W. Meilicke, Zum Vorrang der Vorlage nach Art. 177 EWG-Vertrag vor der Bindung nach § 126 Absatz 5 FGO, DStZ 1995, 427, 428. 571 Vgl. J.A. Winter, Annotation to Cases 146 / 73 and 166 / 73, CMLR 1974, 216. 572 Vgl. Tipke / Kruse, AO / FGO, § 126 Rdn. 24. 573 Vgl. K. Reiche, Kompetenzwidrige EuGH-Rechtsprechung zu Art. 177 Absatz 2 EGV?, EuZW 1995, 569, 570. 574 Vgl. FG Hamburg, Urteil v. 23. Juli 1982, EFG 1983, 72, 73. 575 Vgl. FG Düsseldorf, Urteil v. 6. September 1989, RIW 1990, 230.
9 Bärenz
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Kap. 3: Dzodzi-Rechtsprechung und deutsche Rechtsordnung
Ausdrücklich abweichend dagegen das Finanzgericht Rheinland-Pfalz576: Den Anwendungsbereich des Artikel 234 Abs. 2 EG und den Aspekt des „effet utile“ falsch einschätzend577, vertrat es die auch in der Kommentarliteratur 578 anzutreffende Ansicht, im Streitfall einschlägig sei mit § 126 Abs. 5 FGO ausschließlich nationales Recht, und zu dessen Auslegung sei der Gerichtshof nicht befugt. Der 7. Senat des Bundesfinanzhofes hat die Frage in zwei Urteilen ausdrücklich offengelassen579. In dem aktuelleren Urteil hielt er es in Hinblick auf das Urteil des EuGH in der Rechtssache Peterbroek580 für möglich, “ dass der EuGH auf erneute Vorlage das Verhältnis von § 126 Abs. 5 FGO zu Art. 177 EGV in einem anderen Lichte sehen könnte“581. Der BFH glaubt, in der Peterbroek-Entscheidung einen neuen Ansatz des Gerichtshofes zur Frage des Verhältnisses nationaler Verfahrensvorschriften zu Art. 234 EG zu erkennen. Er zitiert den EuGH582: „Für die Anwendung dieser Grundsätze ist jeder Fall, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Gemeinschaftsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren, des Verfahrensablaufes und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen nationalen Stellen zu prüfen. Dabei sind gegebenenfalls die Grundsätze zu berücksichtigen, die dem nationalen Rechtsschutzsystem zu Grunde liegen, wie z. B. der Schutz der Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens.“
Bedauerlicherweise erläutert der BFH nicht näher, worin er den neuen Ansatz sieht. Vielmehr muss er selbst einräumen, dass sich der EuGH ausdrücklich auf seine Rheinmühlen-Entscheidung bezieht583. Schon vorher hatte der Gerichtshof in der Rechtssache Mecanarte584 die Grundsätze der Rheinmühlen-Entscheidung ausdrücklich bestätigt. Auch materiell gesehen ist kein neuer Ansatz erkennbar. In der Rechtssache Peterbroek ging es unter anderem um die Frage, ob eine 60-tägige prozessuale Präklusionsfrist bezüglich der Stellungnahme zu Fragen des Gemeinschaftsrechts mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sei. Eine solche Frist hielt der Gerichtshof zwar Vgl. FG Rheinland-Pfalz, Urteil v. 7. November 1994, RIW 1995, 519. Vgl. N. Dautzenberg, Anmerkung zum Urteil des FG Rheinland-Pfalz v. 7. November 1994, RIW 1995, 519. 578 Vgl. Tipke / Kruse, AO / FGO, § 126 Rdn. 31; zweifelnd auch HHSp-Offerhaus, AO / FGO, § 126 Rdn. 64. 579 Vgl. BFH, Urteil v. 3. November 1983, BFHE 140, 11, 12; BFH, Urteil v. 2. April 1996, BFHE 180, 231, 236. 580 Vgl. EuGH, Peterbroeck, C-312 / 93, Slg. 1995, I-4599. 581 Vgl. BFH, Urteil v. 2. April 1996, BFHE 180, 231, 237. 582 Vgl. EuGH, Peterbroeck, C-312 / 93, Slg. 1995, I-4599, 4621. 583 Vgl. EuGH, Peterbroeck, C-312 / 93, Slg. 1995, I-4599, 4621. 584 Vgl. EuGH, Mecanarte, C-348 / 89, Slg. 1991, I-3277, 3312 ff. 576 577
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nicht für generell gemeinschaftsrechtswidrig, im konkreten Fall ergab sich die Unvereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht aus zusätzlichen, hier nicht interessierenden Besonderheiten585. Die vom BFH zitierte Urteilsbegründung dürfte daher zum einen vor allem für Fristenregelungen im Prozessrecht gelten. Zum anderen spricht viel dafür, dass der Gerichtshof, als er von erschwerter bzw. unmöglicher Anwendung von Gemeinschaftsrecht sprach, hiermit materielles (Grundfreiheiten etc.) und kein prozessuales Recht, wie Art. 234 EG, meinte586. Selbst wenn man die erwähnte Formel anwenden wollte, sind zwingende innerstaatliche Gründe für die Nichtanwendbarkeit des Vorlagerechts, wie oben gezeigt, nicht vorhanden. Auch in der am gleichen Tag entschiedenen Rechtssache van Schindel und van Veen587, bei der der Gerichtshof im Ergebnis (im Gegensatz zu Peterbroek) keine Gemeinschaftsrechtswidrigkeit der nationalen Verfahrensnorm annahm, hielt er die Rheinmühlen-Rechtsprechung ausdrücklich aufrecht588. Es bleibt daher zu wünschen, dass der Bundesfinanzhof mit einem klaren Wort zum Vorrang des Art. 234 Abs. 2 EG gegenüber § 126 Abs. 5 FGO die letzten Unsicherheiten beseitigt. Trotz gleichlautender Vorschriften in der VwGO, des SGG und der ZPO findet eine vergleichbare Diskussion in diesen Rechtsgebieten nicht statt. Die Frage, ob das Instanzgericht an die BVerwG-Auffassung gebunden ist und daher keine Vorlagemöglichkeit mehr hat, wird beispielsweise in den Kommentaren der VwGO nicht angesprochen. Vertreten wird insoweit lediglich, dass keine Bindungswirkung für das unterinstanzliche Gericht vorläge, wenn zwischenzeitlich ein entgegenstehendes EuGH-Urteil gefallen sei589. Insoweit wird offensichtlich dem BVerwG gefolgt, welches die entsprechende Ansicht für seine Selbstbindung im Rahmen des § 144 VwGO vertreten hat590.
585 Vgl. D. Simon, Note C-312 / 93, 430, 431 / 93, Journal du Droit international 1996, 468, 469; zustimmend auch T. Heukels, Annotation to C-430, 431 / 93, 312 / 93, CMLR 1996, 337, 344; G. Rodríguez Iglesias, Zu den Grenzen der verfahrensrechtlichen Autonomie der Mitgliedstaaten bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts, EuGRZ 1997, 289, 293; die Besonderheiten des Falles in seiner harschen Kritik verkennend R. Weymüller, Anmerkung zum Urteil des EuGH in der Rechtssache C-312 / 93, RIW 1996, 347, 348. 586 Vgl. V. Röben, Die Einwirkung der Rechtsprechung des EuGH auf das mitgliedstaatliche Verfahren in öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten, S. 361. 587 Vgl. EuGH, van Schindel und van Veen, C-430 und 431 / 93, Slg. 1995, I-4705; kritisch A. Cahn, Gemeinschaftsrecht und nationales Verfahrensrecht, Anmerkung zu C-430 und 431 / 93 sowie C-312 / 93, ZeuP 1998, 974, 978. 588 Vgl. EuGH, van Schindel und van Veen, C-430 und 431 / 93, Slg. 1995, I-4705, 4737. 589 Vgl. Kopp / Schenke, VwGO, § 144 Rdn. 13; Eyermann, VwGO, § 144 Rdn. 16. 590 BVerwG, Urteil v. 29. November 1990, BVerwGE 87, 154; zustimmend Redeker / von Oertzen, VwGO, § 144 Rdn. 12.
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Kap. 3: Dzodzi-Rechtsprechung und deutsche Rechtsordnung
Im Zivilrecht gibt es, soweit ersichtlich, keine einschlägige Entscheidung. Das Schrifttum bejaht herrschend eine Vorlagemöglichkeit591. In der Sozialgerichtsbarkeit sind höchstrichterliche Entscheidungen nicht ersichtlich592. Im Schrifttum wird, wenn auch ohne weitere Begründung, das Bestehen einer Vorlagemöglichkeit verneint593.
2. Geltung der Rheinmühlen-Rechtsprechung in den Fällen der Dzodzi-Verweisung Interessant ist, zu welchen Ergebnissen die Anwendung der Grundsätze der Rheinmühlen-Rechtsprechung auf die Fälle der Dzodzi-Verweisungen führt. Sollte der Bundesfinanzhof beispielsweise entscheiden, dass in steuerbilanzrechtlichen Streitigkeiten aus dem Maßgeblichkeitsgrundsatz keine Notwendigkeit zur Vorlage von Fragen bezüglich des Handelsbilanzrechts folgt, so ist man auf den ersten Blick geneigt, den Finanzgerichten in Hinblick auf die RheinmühlenRechtsprechung trotzdem ein Vorlagerecht gemäß Artikel 234 Abs. 2 EG einzuräumen. Dies würde jedoch die Reichweite der Rheinmühlen-Entscheidung verkennen: Die obige Überlegung, dass letztlich ohnehin der EuGH entscheidet und die Instanzenhierarchie im Ergebnis nicht betroffen wird, gilt nämlich nur, wenn es sich tatsächlich um Fragen des Gemeinschaftsrechts handelt594. Genauer: wenn es sich um Fragen handelt, für deren Beantwortung der EuGH im Rahmen der Arbeitsteilung des Vorabentscheidungsverfahrens zuständig ist. Dies ist aber nicht immer der Fall. Soweit zum Beispiel zweifelhaft ist, ob die dem EuGH vorgelegte Frage überhaupt entscheidungserheblich ist, wird diese Frage allein vom nationalen Richter entschieden. Insofern tritt daher auch eine nationale Bindungswirkung ein595; von einem uneingeschränkten Vorlagerecht des nicht-letztinstanzlichen Gerichts kann daher auch bei der Rheinmühlen-Rechtsprechung nicht gesprochen werden596.
Vgl. Stein / Jonas-Grunsky, ZPO, § 565 II Rdn. 14 m. w. N. Nicht nachvollziehbarer anderer Ansicht insoweit Meyer-Ladewig, SGG, § 170 Rdn. 12 b zu BSG, Urteil v. 17. September 1964, in BSGE 21, 295. 593 Vgl. Meyer-Ladewig, SGG, § 170 Rdn. 10a. 594 Vgl. Generalanwalt Warner, Schlussanträge zu Rheinmühlen, Slg. 1974, 40, 43. 595 Vgl. P. E. Goose, Einschränkung der Vorlagebefugnis nach Art. 177 Abs. 2 EWG durch die Rechtsmittelgerichte, RIW 1975, 660, 661; wohl auch W. Meilicke, Zum Verhältnis zwischen Selbstbindung des Revisionsgerichts und gemeinschaftsrechtlicher Vorlagepflicht, RIW 1994, 477, 478; BFH, Beschluss v. 27. Januar 1981, BFHE 132, 217, 218. 596 Vgl. P. E. Goose, Einschränkung der Vorlagebefugnis nach Art. 177 Abs. 2 EWG durch die Rechtsmittelgerichte, RIW 1975, 660, 661. 591 592
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Diese Überlegung ist auf die Fälle der Dzodzi-Verweisung übertragbar. In seiner Dzodzi-Rechtsprechung hat der EuGH die Beurteilung der Reichweite der nationalen Verweisung allein dem nationalen Richter überlassen597. Konsequenterweise steht daher das Gemeinschaftsrecht einer Bindung der unterinstanzlichen Gerichte nicht entgegen598. 3. Sanktion im Fall der Vorlage Es stellt sich damit die Frage, wie eine Vorlage seitens eines Finanzgerichtes trotz entgegenstehender bindender Verneinung einer Vorlagepflicht durch den BFH innerstaatlich sanktioniert werden könnte. a) Gemeinschaftsrechtliche Zulässigkeit einer mitgliedsstaatlichen Sanktion Die Gemeinschaftsrechtsordnung steht einer Anfechtbarkeit von Vorlagebeschlüssen nach Ansicht des EuGH grundsätzlich nicht entgegen. Der Gerichtshof hat hierzu frühzeitig ausgeführt, dass der EGV der innerstaatlichen Revisionsinstanz nicht verbiete, über Rechtsmittel gegen die Vorlage zu befinden. Vielmehr sei eine derartige Entscheidung dem innerstaatlichen Recht und dem nationalen Gericht überlassen599. Folgerichtig wurde in späteren Verfahren, bei denen der Vorlagebeschluss durch ein nationales Gericht aufgehoben wurde, das Verfahren für gegenstandslos erklärt600. Allgemein führt der Gerichtshof aus601: „. . . daß sich der Gerichtshof nach seiner ständigen Praxis solange mit einem gemäß Art. 177 eingereichten Vorabentscheidungsersuchen für befaßt hält, wie dieses nicht vom vorlegenden Gericht zurückgenommen oder von einem höheren Gericht auf ein Rechtsmittel hin aufgehoben worden ist.“
Interessant ist zunächst die Frage, ob sich der Gerichtshof mit dieser Rechtsprechung nicht in einen Wertungswiderspruch zu der Rheinmühlen-Rechtsprechung setzt602. Dort sah er es als mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar an, dass den unter-instanzlichen Gerichten durch die Bindungswirkung eines Urteils der Oberinstanz das Vorlagerecht genommen wird. Im Ergebnis kann aber auf Grund der Bejahung der nationalen Angreifbarkeit des Vorlagebeschlusses das Gleiche passieren. Hebt die Oberinstanz nämlich den EuGH, Dzodzi, C-297 / 88 und 197 / 89, Slg. 1990, I-3763, 3794, Rz. 42. A.A. H. Olgemöller, Aktuelles EU-Steuerrecht, S. 107, 115. 599 Vgl. EuGH, Robert Bosch GmbH, C-13 / 61, Slg. 1962, 97, 110. 600 Vgl. EuGH, Chanel, C-31 / 68, Slg. 1970, 403, 405. 601 Vgl. EuGH, Simmenthal, C-106 / 77, Slg. 1978, 629, 643. 602 Soweit ersichtlich erstmals gestellt von Generalanwalt Warner, Schlussanträge zu Rheinmühlen C-166 / 73, Slg. 1974, 40, 44 597 598
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Kap. 3: Dzodzi-Rechtsprechung und deutsche Rechtsordnung
Vorlagebeschluss auf, so wird das Vorlagerecht insofern „ausgehebelt“, als dass über die Vorlage nicht mehr durch den Gerichtshof entschieden wird. Dem insoweit konsequenten Vorschlag des Generalanwalts Warner603, die nationale Anfechtbarkeit nicht mehr zuzulassen, ist der EuGH nicht gefolgt604: „Der Gerichtshof hat entschieden, daß eine innerstaatliche Rechtsnorm, welche die Gerichte an die rechtliche Beurteilung eines übergeordneten Gerichts bindet, diesen Gerichten nicht schon aus diesem Grund das in Artikel 177 vorgesehene Recht zur Anrufung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaft nimmt. Da es sich jedoch um Gerichte handelt, deren Entscheidungen mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, schließt Art. 177 nicht aus, dass gegen die Entscheidungen, mit denen ein solches Gericht den Gerichtshof um die Vorabentscheidung ersucht, die normalen Rechtsmittel des innerstaatlichen Rechts gegeben sind.“
Dies vermag nicht zu überzeugen. Insbesondere wird nicht klar, was aus dem gemeinschaftsrechtlich unbeschränkten Recht zur Vorlage an den Gerichtshof wird, welches besteht, wenn das unterinstanzliche Gericht der Auffassung ist, dass eine bei ihm anhängige Rechtssache Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen aufwirft, über die es im konkreten Fall entscheiden muss605. Nun ist dieses gemeinschaftsrechtliche Vorlagerecht, wie oben dargelegt, nicht unbeschränkt. So enthält der Vorlagebeschluss immer die Entscheidung über die Entscheidungserheblichkeit, die regelmäßig allein auf Grundlage des nationalen Rechts erfolgt. Bei der Beurteilung der gemeinschaftsrechtlichen Zulässigkeit der Anfechtung von Vorlagebeschlüssen bietet sich eine vergleichbare Differenzierung an: Die Anfechtung ist unzulässig, wenn sie auf Gründe gestützt wird, die die Auslegung von Gemeinschaftsrecht durch das unterinstanzliche Gericht betreffen. Dafür spricht zum einen der oben dargelegte Gedanke des „effet utile“. Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass den unterinstanzlichen Gerichten bewusst von den Verfassern der Verträge ein Vorlagerecht eingeräumt wurde. Damit sollte ein Gegengewicht zu der erwarteten Zurückhaltung der letztinstanzlichen Gerichte geschaffen werden, wo Prestigegesichtspunkte in stärkerem Maße eine Rolle spielen606. Dagegen steht das Gemeinschaftsrecht der Anfechtung, wenn sie auf eine fehlerhafte Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit607 oder sonstige Verletzung von nationalem Verfahrensrecht608 gestützt wird, nicht entgegen609. Denn die BeurteiVgl. Fn. 602, S. 48. Vgl. EuGH, Rheinmühlen II, C-146 / 73, Slg. 1974, 139, 148. 605 Vgl. EuGH, Rheinmühlen, C-166 / 73, Slg. 1974, 33, 38. 606 Vgl. C. Tomuschat, La Justice – c‘est moi, EuGRZ 1979, 257, 258. 607 A.A. C. Tomuschat, La Justice – c‘est moi, EuGRZ 1979, 257, 258. 608 So richtig M. Hilf, Anmerkung zum Beschluss des VGH Baden-Württemberg v. 17. April 1986, EuGRZ 1986, 573, 574. 603 604
E. Auswirkungen auf die deutsche Finanzgerichtsbarkeit
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lung dieser Fragen erfolgt ausschließlich auf der Grundlage nationalen Rechts. Es besteht aus gemeinschaftsrechtlicher Perspektive kein Interesse daran, dass der Gerichtshof zu einem Vorlagebeschluss Stellung nimmt, der beispielsweise von einem falsch besetzten Spruchkörper verfasst wurde.
b) Beurteilung nach der FGO610 Ist nach Auffassung des EuGH eine mitgliedstaatliche Sanktion des Vorlagebeschlusses zulässig, so stellt sich die Frage nach dem konkreten, nationalen Rechtsbehelf. In Betracht kommt entweder die Beschwerde oder die Revision. (1) Beschwerde gemäß § 128 FGO Nach Ansicht des BFH ist eine Beschwerde gegen einen Vorlagebeschluss nicht statthaft611. Zwar sei der Vorlagebeschluss keine Maßnahme im Sinne des die Statthaftigkeit ausschließenden § 128 Abs. 2 FGO, jedoch sei Letzterer erweiternd dahin auszulegen, dass er den vom Gesetzgeber offenbar nicht bedachten Fall des Vorabentscheidungsersuchens umfasse. Dies ergebe sich daraus, dass sich dieses Ersuchen, vergleichbar mit dem in § 128 Abs. 2 FGO genannten Beweisantrag bzw. Beweisbeschluss, auf die Entscheidung in der Sache selbst beziehe. Diese Sachentscheidung unterliege aber der Überprüfung durch das Revisionsgericht. Es sei kein Grund ersichtlich, weshalb die Entscheidungskompetenz des Revisionsgerichts ganz oder teilweise in das Beschwerdeverfahren verlagert werden solle. Schließlich entstünde dadurch die Gefahr der Doppelbelastung des BFH und, hiermit verbunden, die Gefahr abweichender Entscheidungen612. Die Richtigkeit dieser Auffassung bestätige sich daran, dass für Vorlagebeschlüsse gemäß Art. 100 GG das Gleiche gelte613. Die Begründung des BFH vermag nicht in vollem Umfang zu überzeugen. Zunächst ist festzuhalten, dass der zur Analogie614 herangezogene Abs. 2 des § 128 FGO eine Ausnahmevorschrift zu dem in § 128 Abs. 1 FGO statuierten Grundsatz 609 A.A., jede Möglichkeit, die Verletzung nationalen Rechts zu rügen, verneinend C. Tomuschat, Vorabentscheidungsverfahren, S. 142. 610 Zu der Beurteilung nach der ZPO vgl. OLG Köln, Beschluss v. 13. Mai 1977, WRP 1977, 734; dagegen T. Pfeiffer, Keine Beschwerde gegen EuGH-Vorlagen?, NJW 1994, 1996 ff. 611 BFH, Beschluss v. 27. Januar 1981, BFHE 132, 217; BFH, Beschluss v. 25. Juli 1995, BFH NV 1996, S. 163; anders noch BFH, Beschluss v. 14. August 1973, BFHE 110, 12. 612 Vgl. BFH, Beschluss v. 27. Januar 1981, BFHE 132, 217, 218. 613 Vgl. BFH, Beschluss v. 27. Januar 1981, BFHE 132, 217, 219. 614 Vgl. BFH, Beschluss v. 27. Januar 1981, BFHE 132, 217, 218; a.A. Tipke / Lang, FGO, § 128 Rdn. 17, die ohne Begründung die Nichtzulässigkeit der Beschwerde auf Grund besonderer gesetzlicher Bestimmung annehmen.
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ist, wonach die Beschwerde zulässig ist, wenn nicht das Gesetz etwas anderes bestimmt. Diese Ausnahme ist nicht nur formulierungstechnischer Natur, sie hat auch materiellen Charakter615. Im Gegensatz zu anderen Verfahrensordnungen ist dies eine Besonderheit der FGO und hat seinen Hintergrund in der Tatsache, dass das finanzgerichtliche Verfahren zweistufig aufgebaut ist616. Daher beansprucht der Satz, dass Ausnahmevorschriften tendenziell eng auszulegen seien617, vorliegend Geltung; mit anderen Worten, für die analoge Erweiterung bedarf es besonderer Rechtfertigung. Die vom BFH angeführte Gefahr der Doppelbelastung bzw. unterschiedlichen Entscheidung besteht nicht, denn sie beruht auf einem Zirkelschluss. Hier ist darauf hinzuweisen, dass dem BFH im Revisionsverfahren die Nachprüfung der Beschlüsse entzogen ist, die ihrerseits selbstständig mit der Beschwerde angefochten werden können618. Ließe man die Beschwerde gegen den Vorlagebeschluss zu, so dürfte der BFH im Revisionsverfahren keine nochmalige Überprüfung vornehmen. Trotzdem ist dem BFH im Ergebnis zuzustimmen. Zum einen ist eine gewisse Vergleichbarkeit mit dem in § 128 Abs. 2 FGO genannten Beweisbeschluss nicht von der Hand zu weisen. Beide Beschlüsse dienen der Entscheidung in der Sache selbst und können verfahrensverlängernd wirken619. Insofern besteht auch eine Ähnlichkeit mit dem Vorlageverfahren nach Art. 100 I GG. Zum anderen führt die Annahme der Statthaftigkeit einer Beschwerde zu unbefriedigenden Ergebnissen in Hinblick auf den dann vorhandenen Rechtsschutz. Problematisch ist vor allem, worin die erforderliche620 Beschwer des Beschwerdeführers liegen soll. Die in der FGO insoweit übliche Unterscheidung621 zwischen formeller Beschwer beim Rechtsmittelführer und materieller Beschwer beim Rechtsmittelgegner ist wenig hilfreich. Bei Beschwerden gegen die Nichtvorlage, deren Statthaftigkeit konsequent bejaht werden müsste, ließe sich die Beschwer zwar formell ermitteln. Anders bei Beschwerde gegen eine Vorlage: Hier liegt die Beschwer, anders als noch in den Anfangsjahren der Gemeinschaft622, im Kern in der beträchtlichen Verfahrensverzögerung. Ob dies für eine 615 Vgl. zu dieser Unterscheidung Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 175 f. 616 Vgl. Gräber / Ruban, FGO, § 128 Rdn. 1. 617 Vgl. Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 175 f. 618 Vgl. Gräber / Ruban, FGO, § 128 Rdn. 3; Zöller / Gummer, ZPO, § 548 Rdn. 1 für die entsprechende Vorschrift in der ZPO. 619 Vgl. BFH, Beschluss v. 14. August 1973, BFHE 110, 13. 620 Vgl. BFH, Beschluss v. 14. August 1973, BFHE 110, 13. 621 Vgl. Gräber / Ruban, FGO, vor § 115 Rdn. 12 ff. 622 Vgl. P. Goose, Einschränkung der Vorlagebefugnis nach Art. 177 Abs. 2 EWG durch die Rechtsmittelgerichte, RIW 1975, 660, 663, wonach die Vorabentscheidungsverfahren regelmäßig kaum länger als ein halbes Jahr dauern. In dieser Zeit hatte der BFH mit Beschluss v. 14. August 1973, BFHE 110, 12 eine Beschwer verneint.
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Beschwer ausreicht, erscheint zweifelhaft. Schließlich würde eine Verfahrensverzögerung nunmehr durch den Streit über die Rechtmäßigkeit des Beschlusses eintreten623. Darüber hinaus hat der Gesetzgeber Beweisbeschlüsse, deren verfahrensverzögernde Auswirkungen ihm bekannt waren, von der Anfechtbarkeit ausdrücklich ausgeschlossen. Pfeiffer sieht die Beschwer in Zivilprozessen darin, dass im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens die Rechtsstellung der Parteien erheblich verändert würde: Entgegen dem in der ZPO geltenden Beibringungsgrundsatz sei den Parteien vor dem EuGH, da es sich um ein Verfahren von Richter zu Richter handele, die Herrschaft über den Tatsachenstoff entzogen624. Ob diese Ansicht der Natur des Vorabentscheidungsverfahrens gerecht wird, erscheint zweifelhaft, muss hier aber nicht entschieden werden. Denn in der FGO gilt gemäß § 76 Abs. 1 Satz 1 der Untersuchungsgrundsatz. Es zeigt sich daher, dass die Beschwerde bei Vorlagebeschlüssen nicht das geeignete Rechtsmittel ist. Mangels Beschwer wird – insbesondere bei den Beschwerden gegen eine Vorlage – sie regelmäßig nicht zulässig sein, wegen der Sperrwirkung des § 124 Abs. 2 FGO wäre der Revisionsinstanz später eine Überprüfung versagt. Im Ergebnis würde daher aus der Bejahung der Statthaftigkeit der Beschwerde ein deutlich schlechterer Rechtsschutz als nach der bisherigen Auffassung des BFH folgen. (2) Revision gemäß § 115 FGO Als einzige Sanktion steht folglich die Revision zur Verfügung. Die Verletzung von § 126 Abs. 5 FGO ist ein Verfahrensmangel gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO625. II. Mögliche Sanktionen bei unterschiedlicher Rechtsprechung des EuGH und des BFH Die gerade untersuchte Frage der Anfechtbarkeit von Vorlagebeschlüssen betraf den Fall, dass die Parteien mit der Vorlage eines unterinstanzlichen Gerichts nicht einverstanden sind. Denkbar ist aber auch, dass die Parteien eine Vorlage für notwendig halten, das erkennende Gericht aber anderer Auffassung ist. Besonders brisant ist dies bei den letztinstanzlichen Gerichten.
Vgl. BFH, Beschluss v. 14. August 1973, BFHE 110, 14. Vgl. T. Pfeiffer, Keine Beschwerde gegen EuGH-Vorlagen?, NJW 1994, 1996, 2000; ihm folgend M. Brück, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof als Bestandteil des deutschen Zivilprozesses, S. 138. 625 Vgl. BFH, Beschluss v. 21. September 1993, BFH NV 1995, 395, 396. 623 624
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Kap. 3: Dzodzi-Rechtsprechung und deutsche Rechtsordnung
So sehr der EuGH das Kooperationsverhältnis im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens auch betonen mag, ändert dies nichts an der Tatsache, dass er im Ergebnis bei juristischen Fragen des Gemeinschaftsrechts das letzte Wort hat. Gerade für die letztinstanzlichen Gerichte der Mitgliedstaaten ist dies eine ungewohnte Situation626, für sie kann es „a bitter pill of supremacy“627 sein. Es vermag daher nicht zu überraschen, dass sich vereinzelt628 letztinstanzliche Gerichte ihrer Vorlagepflicht entzogen haben. Die gemeinschaftsrechtliche Sanktionsmöglichkeit besteht in der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gemäß Art. 226 EG. Die praktischen Wirkungen sind allerdings beschränkt: Auf Grund des Gewaltenteilungsprinzips besteht kein Weisungsrecht der Exekutive gegenüber der Judikative. De lege lata besteht auf Grund der Rechtskraft des nationalen Urteils keine Möglichkeit, in der betreffenden Sache anders zu entscheiden629. Aus diesem Grund hat die Kommission erst einmal630 wegen einer Nichtvorlage ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet; zu einem Gerichtsverfahren kam es aber nicht. Im Falle von Dzodzi-Verweisungen besteht nach der hier vertretenen Auffassung ohnehin keine gemeinschaftsrechtliche Vorlagepflicht; folglich stellt sich die Frage einer gemeinschaftsrechtlichen Sanktion nicht. Die Konsequenzen der Gegenansicht für das Vertragsverletzungsverfahren wurden schon dargelegt631. Im Folgenden wird aus diesen Gründen die Untersuchung auf nationale Sanktionsmöglichkeiten konzentriert. Dabei wird zunächst die einschlägige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für die Fälle der unmittelbaren Geltung des Gemeinschaftsrechts untersucht, bevor deren Anwendbarkeit auf die nationale Vorlage- und Übernahmepflicht in Fällen der Dzodzi-Verweisungen diskutiert wird. 1. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Anwendbarkeit von Art. 101 I S. 2 GG bei Nichtvorlage letztinstanzlicher Gerichte Nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG darf niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Die Frage, ob auch der Gerichtshof gesetzlicher Richter im Sinne die626 Vgl. M. Heintzen, Die „Herrschaft“ über die Europäischen Gemeinschaftsverträge – Bundesverfassungsgericht und Europäischer Gerichtshof auf Konfliktkurs?, AöR 119 (1994), 564, 587. 627 Vgl. Thomas de la Mare, in Craig / de Búrca, The Evolution of EU Law, S. 228. 628 Nachweise bei G. Meier, Zur Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf nationales Verfahrensrecht im Falle höchstrichterlicher Vertragsverletzungen, EuZW 1991, 11. 629 Zu Forderungen, de lege ferenda die Durchbrechung der Rechtskraft insoweit zuzulassen, vgl. Borchardt, in Lenz, EGV, Art. 234 Rdn. 47. 630 Vgl. Nachweis bei G. Meier, Zur Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf nationales Verfahrensrecht im Falle höchstrichterlicher Vertragsverletzungen, EuZW 1991, 11. 631 Vgl. oben Kapitel 2 D. III. 2. e) (2).
E. Auswirkungen auf die deutsche Finanzgerichtsbarkeit
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ser Vorschrift sei, stellte sich das Bundesverfassungsgericht schon in einem Beschluss im Jahre 1970632, ließ die Beantwortung aber offen. Implizit bejahte es die Frage schon 1977633. Mit dem „Solange II“ – Beschluss634 sprach das Bundesverfassungsgericht dem Gerichtshof ausdrücklich die Qualität eines gesetzlichen Richters im Sinne des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG zu und eröffnete damit die Möglichkeit, einen Verstoß gegen die gemeinschaftsrechtliche Vorlagepflicht erfolgreich mit der Verfassungsbeschwerde zu rügen. In dem Verfahren Kloppenburg635 wurde diese Möglichkeit erstmals erfolgreich in Anspruch genommen. Hintergrund war, dass der 5. Senat des BFH die Theorie der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien als nicht überzeugend empfand und ihr, ohne nochmals dem Gerichtshof vorzulegen, die Gefolgschaft versagte636. In seinem Beschluss setzte sich das Bundesverfassungsgericht zwar ausführlich mit der Problematik auseinander, inwiefern die Theorie der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien sich noch im Rahmen zulässiger Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof befindet. Bei der Frage, inwiefern der BFH sich seiner Vorlagepflicht willkürlich entzogen habe, nahm es jedoch keine Konkretisierung des Willkürbegriffs vor, sondern beschränkte sich auf eine Bejahung der Willkür jedenfalls für den Fall, dass das letztinstanzliche Gericht nicht vorlege, obwohl es von einer Rechtsauffassung des Gerichtshofes abweiche, die dieser in demselben Verfahren637 im Rahmen einer Vorabentscheidung gemäß Art. 234 EG geäußert habe. In weiteren, dem Kloppenburg-Verfahren wenig später folgenden Beschlüssen638 wurde Willkür auch dann angenommen, wenn ohne Vorlage bewusst von der Rechtsprechung des EuGH abgewichen wurde, unabhängig davon, in welchem Verfahren der EuGH seine Auffassung niedergelegt habe. Mit Beschluss vom 9. November 1987639 präzisierte das Bundesverfassungsgericht den Willkürmaßstab im Sinne des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG bei der verfassungsrechtlichen Prüfung einer Verletzung der gemeinschaftsrechtlichen Vorlagepflicht. Es bediente sich dabei der Methodik der Fallgruppenbildung. Nach der ersten Fallgruppe liegt Willkür vor, wenn das letztinstanzliche Gericht trotz der – seiner Auffassung nach bestehenden – Entscheidungserheblichkeit der Vgl. BVerfG, Beschluss v. 13. Oktober 1970, BVerfGE 29, 198, 207. Vgl. BVerfG, Beschluss v. 8. Juni 1977, BVerfGE 45, 142, 181. 634 Vgl. BVerfG, Beschluss v. 22. Oktober 1986, BVerfGE 73, 339, 366 ff. 635 Vgl. BVerfG, Beschluss v. 8. April 1987, BVerfGE 75, 223 ff. 636 Vgl. BFH, Urteil v. 25. April 1985, EuR 1985, 191 ff.; davor schon für das gleiche Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz BFH, Beschluss v. 16. Juli 1981, EuR 1981, 442. 637 Vgl. EuGH, Kloppenburg, C-70 / 83, Slg. 1984, 1075. 638 Vgl. BVerfG, Beschluss v. 4. November 1987, Az. 2 BvR 876 / 85 und Beschluss v. 4. November 1987, Az. 2 BvR 763 / 85, beide in EuGRZ 1988, 120. 639 BVerfG, Beschluss v. 9. November 1987, EuGRZ 1988, 109. 632 633
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Kap. 3: Dzodzi-Rechtsprechung und deutsche Rechtsordnung
gemeinschaftsrechtlichen Frage eine Vorlage überhaupt nicht in Erwägung zieht. Hier liegt die Willkür in der grundsätzlichen Verkennung der Vorlagepflicht640. Nach der zweiten Fallgruppe besteht Willkür, wenn das zur Vorlage verpflichtete Gericht bewusst nicht vorlegt und von der Auffassung des EuGH abweicht. Dieser Fall ist als per-se-Willkürtatbestand zu qualifizieren641. Die Qualifizierung dieser beiden Fallgruppen als Willkür ist unproblematisch642. In der dritten Gruppe werden die Fälle zusammengefasst, in denen eine Rechtsprechung des Gerichtshofes entweder noch nicht vorliegt oder aber die Möglichkeit der Fortentwicklung besteht. Hier ist nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts Willkür nur gegeben, wenn das letztinstanzliche Gericht den ihm in solchen Fällen zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat; dies ist dann der Fall, wenn mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig (Hervorhebung im Original) vorzuziehen sind643. Eine Kontrolle anhand dieser Maßstäbe ist dem Bundesverfassungsgericht aber nur möglich, wenn ihm die Gründe hinreichend sicher bekannt sind, aus denen das letztinstanzliche Hauptsachegericht von einer Vorlage abgesehen hat. Offensichtlich unhaltbar handhabt das letztinstanzliche Gericht seine Vorlagepflicht demnach auch dann, wenn es eine gemeinschaftsrechtliche Problematik allein nach nationalen Maßstäben ohne Auseinandersetzung mit der europäischen Judikatur behandelt oder den Einfluss der Gemeinschaftsgrundrechte auf sekundäres Gemeinschaftsrecht nicht in Betracht zieht644. Mit dieser Rechtsprechung bringt das Bundesverfassungsgericht zum Ausdruck, dass es sich nicht als oberstes „Vorlagen-Kontroll-Gericht“645 versteht. Systematisch betrachtet ist dies konsequent, da durch Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG gerade nicht jede Rechtsverletzung sanktioniert wird, sondern nur diejenige willkürlicher Natur. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz wäre in Hinblick auf die zu erwartende zusätzliche Arbeitsbelastung für das ohnehin schon an seinen Grenzen arbeitende Gericht problematisch.
Vgl. BVerfG, Beschluss v. 9. November 1987, EuGRZ 1988, 109, 111. Vgl. BVerfG, Beschluss v. 9. November 1987, EuGRZ 1988, 109, 111. 642 Vgl. U. Wölker, Wann verletzt eine Nichtvorlage an den EuGH die Garantie des gesetzlichen Richters, EuGRZ 1988, 97, 99. 643 Vgl. BVerfG, Beschluss v. 9. November 1987, EuGRZ 1988, 109, 111. 644 Vgl. BVerfG, Beschluss v. 9. Januar 2001, NJW 2001, 1267, 1268; zustimmend P. Sensburg, Die Vorlagepflicht an den EuGH: Eine einheitliche Rechtsprechung des BVerfG, NJW 2001, 1259, 1260. 645 Vgl. G. Ress, Wichtige Vorlagen deutscher Verwaltungsgerichte an den Gerichtshof der europäischen Gemeinschaften, DV 1987, 177, 217. 640 641
E. Auswirkungen auf die deutsche Finanzgerichtsbarkeit
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Im Schrifttum wird demgegenüber wiederholt eine strengere Überprüfung gefordert. Das Wort eindeutig in der dritten Fallgruppe sei bemerkenswert646 und eine in der Praxis kaum zu überwindende Hürde647. Diese Kritik hat das Bundesverfassungsgericht jedenfalls zum Teil dadurch entschärft, dass es in einer aktuellen Entscheidung eine genaue Auseinandersetzung mit der gemeinschaftsrechtlichen Problematik im Urteil verlangt648. Vielfach wird darauf verwiesen, dass angesichts der Verantwortung des Staates gegenüber der Gemeinschaft eine strengere Auslegung geboten sei649. Das Gemeinschaftsrecht selbst fordert eine derartige Auslegung nicht. Aus der mitgliedstaatlichen Treuepflicht gemäß Art. 10 EG eine Ausnahme herleiten zu wollen650, scheint die Reichweite dieser Treuepflicht zu überziehen. Zum einen ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten bei der Erfüllung ihrer Vertragspflichten einen Spielraum haben. Es gibt auch keinen Anhaltspunkt dafür, dass sich dieser Spielraum in der Weise verdichtet hat, dass die Mitgliedstaaten ein zusätzliches Kontrollsystem einführen müssen. Da die Gerichte unabhängig sind, liegt es in erster Linie an ihnen als Organe des Staates, ihre Pflichten aus Art. 234 EG zu befolgen. Zum anderen besteht eine mit der deutschen vergleichbare innerstaatliche Kontrolldichte, soweit ersichtlich, nur in Österreich. Dort hat der ÖVerfGH den EuGH als gesetzlichen Richter anerkannt mit der hiermit verbundenen Möglichkeit, den Entzug dieses Richters mit der Verfassungsgerichtshofbeschwerde zu rügen651. Ein Urteil des spanischen Verfassungsgerichts ist, obwohl auch in Spanien eine vergleichbare Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde wegen Entzugs des gesetzlichen Richters besteht652, nicht ersichtlich. Aus Sicht des Gemeinschaftsrechts kann daher schon auf Grund der jetzigen BVerfG-Rechtsprechung von einer „überobligationsmäßigen“ Pflichterfüllung gesprochen werden653. Materiell betrachtet haben alle drei Fallgruppen eines gemeinsam: Ein Entzug des gesetzlichen Richters setzt in jedem Falle voraus, dass der EuGH für die relevante Frage überhaupt zuständig ist.
646 Vgl. M. Rodi, Vorlageentscheidungen, gesetzlicher Richter und Willkür, DÖV 1989, 750, 754. 647 Vgl. M. Clausnitzer, Die Vorlagepflicht an den EuGH – Zum (mangelnden) Rechtsschutz gegen Verstöße letztinstanzlicher Gerichte, NJW 1989, 641, 643. 648 Vgl. BVerfG, Beschluss v. 9. Januar 2001, NJW 2001, 1267, 1268. 649 Vgl. C. Heitsch, Prüfungspflichten des Bundesverfassungsgerichtes unter dem Staatsziel der europäischen Integration, EuGRZ 1997, 461, 469 m. w. N. 650 In diesem Sinne wohl G. Nicolaysen, Vertragsverletzung durch mitgliedstaatliche Gerichte, EuR 1985, 368, 374. 651 Vgl. ÖVerfGH, Urteil v. 11. Dezember 1995, Bundesvergabeamt, Slg. 14.390, S. 941. 652 Vgl. M. Villagómez Cebrián, La Cuestion prejudical, S. 91. 653 So auch U. Wölker, Wann verletzt eine Nichtvorlage an den EuGH die Garantie des gesetzlichen Richters, EuGRZ 1988, 97, 103.
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2. Anwendbarkeit dieser Rechtsprechung auf Dzodzi-Verweisungen Diese trivial erscheinende Feststellung ist aber von entscheidender Bedeutung, wenn man die Anwendbarkeit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf die Dzodzi-Verweisungen untersucht. Befürworter und Gegner einer Vorlagepflicht sind hier schnell mit der Behauptung, die Nichtvorlage bzw. Vorlage sei ein Entzug des gesetzlichen Richters und somit mit der Verfassungsbeschwerde angreifbar.
a) Entzug des gesetzlichen Richters bei Nichtvorlage Bei Befürwortern der Vorlagepflicht sowohl im Handels- als auch im Steuerbilanzrecht findet sich oft in verschiedener Gestalt die Behauptung, der EuGH habe sich für das deutsche Recht zuständig erklärt. So findet man Formulierungen wie: „der EuGH habe im Tomberger-Fall seine Zuständigkeit für die Auslegung der §§ 238 – 263 HGB bejaht“654, „der EuGH habe seine Zuständigkeit in Angelegenheiten des deutschen Steuerrechts bejaht“655 oder „der EuGH geht ohne Zweifel von seiner Zuständigkeit und der Einschlägigkeit der 4. EG-Richtlinie für den bilanzsteuerrechtlichen Ansatz aus“656. Konsequent wird dann ausgeführt, eine Nichtvorlage sei das Übergehen einer EuGHRechtsprechung und somit willkürlich657. Schon der Ansatz ist aber falsch. Der EuGH legt im Rahmen der Dzodzi-Rechtsprechung gerade nicht die nationale, sondern ausschließlich die gemeinschaftsrechtliche Vorschrift aus; darüber hinaus überlässt er es ausdrücklich dem nationalen Richter, die Reichweite der nationalen Verweisung zu beurteilen658. Hat sich der EuGH aber nicht insoweit für zuständig erklärt659, kann schon begrifflich kein Übergehen seiner Rechtsprechung vorliegen660.
654
Vgl. W. Meilicke, Zur Vorlagepflicht des BFH in Bilanzierungsfragen, BB 1999, 890,
893. Vgl. Peter / Eichhoff, Anmerkung, EWS 1999, 436, 438. Vgl. Kußmaul / Klein, Überlegungen zum Maßgeblichkeitsprinzip im Kontext jüngerer nationaler sowie internationaler Entwicklungen, DStR 2001, 546, 549. 657 Vgl. W. Meilicke, Zur Vorlagepflicht des BFH in Bilanzierungsfragen, BB 1999, 890, 893. 658 Vgl. oben Kapitel 2 D. II. 659 So richtig T. Herrmanns, Ist der EuGH für Fragen des deutschen Bilanzsteuerrechts zuständig?, GmbHR 1999, 1123, 1130. 660 A.A. offenbar H. Kessler, Das Vorabentscheidungsersuchen des FG Hamburg vom 22. April 1999 in Sachen Bilanzierung von Kreditrisiken: Paradebeispiel für einen misslungenen Vorlagebeschluss, IStR 2000, 531, 532. 655 656
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b) Entzug des gesetzlichen Richters durch Vorlage Bei den Gegnern einer Vorlagepflicht findet sich wiederum die Formulierung, in Umkehrung der Bundesverfassungsgerichtsrechtsprechung vom 8. April 1987661 würde mit einer Vorlage der gesetzliche Richter entzogen662. Auch dies vermag nicht zu überzeugen. Denn die zitierte Rechtsprechung ist gar nicht „umkehrfähig“. Die Gegner der Vorlagepflicht bestreiten, bei genauer Betrachtung, die Entscheidungserheblichkeit einer EuGH-Vorlage für den konkreten Rechtsstreit. So vertreten sie beispielsweise die Auffassung, die Ansicht, die der EuGH im Rahmen einer Auslegung der in §§ 238 – 263 HGB umgesetzten Handelsbilanzrichtlinie äußert, sei trotz Maßgeblichkeitsgrundsatz nicht für eine Entscheidung im Steuerbilanzrecht erheblich. Im Rahmen des Art. 234 EG ist es aber nie Aufgabe des Gerichtshofes, sondern die Aufgabe des vorlegenden Gerichts, über die Entscheidungserheblichkeit der Vorlage zu entscheiden663. Die Rechtskraft der EuGH-Entscheidung erstreckt sich gerade nicht auf diesen Punkt. Daher kann es auch hier keine entgegengesetzte Auffassung des EuGH geben, von der willkürlich664 abgewichen werden kann. Deshalb sind diese Überlegungen auch und gerade dann gültig, wenn eine gemeinschaftsrechtliche Vorlagepflicht entgegen der hier vertretenen Auffassung für Dzodzi-Verweisungen bestehen sollte. Besteht eine derartige gemeinschaftsrechtliche Vorlagepflicht nicht, so lässt sich mit der obigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein Entzug des gesetzlichen Richters nie begründen.
3. Nationale Vorlagepflicht und der Entzug des gesetzlichen Richters Es liegt auf der Hand, dass die nationale Vorlagepflicht von den drei oben aufgeführten665 Fallgruppen nicht erfasst wird. Auf der anderen Seite ist allgemein anerkannt, dass auch die Verletzung von Verpflichtungen zur Divergenzvorlage zu einem Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG führen kann666. 661 Vgl. R. Ahmann, Die Bilanzrichtlinie und die steuerliche Gewinnermittlung – Eine Zwangsehe?, FS für Ludwig Schmidt, 269, 288. 662 Vgl. H. Weber-Grellet, Europäisiertes Steuerrecht?, StuW 1995, 336, 349; ders., Steuerbilanzrecht, S. 28. 663 Vgl. oben Kapitel 2 B. 664 Letztlich auf mangelnde Willkür abstellend M. Groh, Bilanzrecht vor dem EuGH, DStR 1996, 1206, 1210. 665 Vgl. Kapitel 3 E. II. 1. 666 Vgl. BVerfG, Beschluss v. 16. August 1994, NStZ 1995, 76; Kissel, GVG, § 16 Rdn. 42.
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Kap. 3: Dzodzi-Rechtsprechung und deutsche Rechtsordnung
Eine derartige Verletzung ist zu bejahen, wenn der auf Grund der Divergenz zur Vorlage verpflichtete Senat die Vorlage trotz Bejahens der Divergenz mit einem anderen Spruchkörper willkürlich unterlässt. Praktisch viel relevanter sind aber die gleichermaßen zu einer Verletzung von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG führenden Fälle, in denen schon das Vorliegen der Divergenz willkürlich verneint wird667. Allerdings ist zu beachten, dass die hier vertretene nationale Vorlagepflicht keine gesetzliche ist, sondern auf einer Analogie beruht. Fraglich ist, ob sich der Schutzbereich des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG auch auf derartige Vorlagepflichten erstreckt. Eine derartige Analogie wäre Richterrecht. Bedenkt man, dass sich auf dem Gebiet des Richterrechts ein aus dem Gedanken der Rechtssicherheit erwachsender Vertrauensschutz des Rechtsunterworfenen, jedenfalls bei „gefestigter“ und „ständiger“ Rechtsprechung, gebildet hat, so spricht dies dafür, diesen Vertrauensschutz auch auf die gerichtliche Zuständigkeit zu konzentrieren. Der Gerichtsunterworfene soll sich schutzwürdig darauf verlassen können, dass gesetzliche Normen erweiterndes Richterrecht nur von einem dazu berufenen Spruchkörper geändert wird. Dies spricht im Ergebnis entscheidend dafür, den Schutzbereich des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG auch auf Richterrecht zu erstrecken668. Nach alledem kann die Verletzung der nationalen Vorlagepflicht in gleichem Maße durch Verfassungsbeschwerde gerügt werden wie die Verletzung der nationalen Pflicht zur Divergenzvorlage.
4. Nationale Übernahmepflicht und der Entzug des gesetzlichen Richters Ist die Verletzung der nationalen Vorlagepflicht nach alledem sanktionsfähig, so stellt sich die Frage, ob auch die Verletzung der Übernahmepflicht, welche Voraussetzung der Vorlagepflicht ist, isoliert mit dem Argument des Entzuges des gesetzlichen Richters gerügt werden kann. Praktisch ist eine derartige Verletzung beispielsweise in der Form vorstellbar, dass der BFH zwar die Einheitlichkeit der Auslegung des Realisationsprinzips für Personenhandelsgesellschaften und Kapitalgesellschaften betont, das vom EuGH für die Kapitalgesellschaften gefundene Ergebnis aber nicht für überzeugend hält und daher nicht übernimmt669. Insofern kann die Übernahmepflicht auch selbstständig neben der Vorlagepflicht verletzt werden.
667 Vgl. W. Leisner, Urteilsverfassungsbeschwerde wegen Nichtvorlage bei Abweichung, NJW 1989, 2446, 2447. 668 So auch P. Kothe, Vorlage, Richterrecht und Anspruch auf den gesetzlichen Richter?, DÖV 1988, 284, 290. 669 Eine derartige Vorgehensweise für möglich haltend J. Schulze-Osterloh, Deutsches Bilanzrecht und Ertragssteuerrecht vor dem Europäischen Gerichtshof, DStZ 1997, 281, 285.
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Im Rahmen der Übernahmepflicht erscheint aber fraglich, ob der EuGH überhaupt gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG sein kann. Diese Frage sollte man verneinen. Maßgeblich hierbei ist nicht, dass der Gerichtshof bei einem Vorabentscheidungsverfahren über Dzodzi-Verweisungen einem Sachverständigen für ausländisches Recht ähnelt670. Trotz dieser Besonderheiten würde es zu weit gehen, dem Gerichtshof insoweit die Eigenschaft eines Gerichts abzusprechen. Ausschlaggebend ist vielmehr die Natur der nationalen Übernahmepflicht. Diese basiert letztlich nicht auf prozessualen, sondern auf materiell-rechtlichen Erwägungen671. Ob deren Beachtung von Art. 101 GG geschützt wird, erscheint zweifelhaft. Das Bundesverfassungsgericht spricht davon, dass Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG eine „Zuständigkeitsgarantie“ ist, in deren Rahmen Zuständigkeitsregelungen im deutschen Verfahrensrecht oder die Kompetenznorm des Art. 234 EG geprüft werden672. Da die nationale Übernahmepflicht auf dem materiell-rechtlichen Gedanken der Konsequenz beruht673, erscheint es systematisch vorzugswürdig, die Einhaltung der nationalen Übernahmepflicht unter dem Aspekt des Grundrechts aus Art. 3 Abs. 1 GG zu prüfen. Hier erfolgt typischerweise die Überprüfung von Willkür674 bei der Anwendung materiellen nationalen Rechts durch das Bundesverfassungsgericht. Für eine zusätzliche Überprüfung im Rahmen des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG gibt es keinen Anlass. Zum Prüfungsmaßstab bei Art. 3 Abs. 1 GG führt das BVerfG aus675: „Willkürlich ist ein Richterspruch nur dann, wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, daß er auf sachfremden Kriterien beruht. Das ist anhand objektiver Kriterien festzustellen. Schuldhaftes Handeln des Richters ist nicht erforderlich. Fehlerhafte Auslegung eines Gesetzes allein macht eine Gerichtsentscheidung nicht willkürlich. Willkür liegt vielmehr erst vor, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder der Inhalt der Norm in krasser Weise missdeutet wird. Von willkürlicher Rechtsprechung kann jedoch nicht gesprochen werden, wenn das Gericht sich mit der Rechtslage eingehend auseinandersetzt und seine Auffassung nicht jedes sachlichen Grundes entbehrt.“
Gemessen an diesem Maßstab erscheint die Grundrechtsrelevanz einer Verletzung nationaler Übernahmepflichten sehr unwahrscheinlich. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Frage nach dem Inhalt und der Reichweite der naVgl. Kapitel 2 D. III. 2. e) (3). Vgl. Kapitel 3 D. I. 672 Vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats v. 27. August 1991, NJW 1992, 678. 673 Vgl. Kapitel 3 D. I. 674 Vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer desErsten Senats v. 20. September 2000, NJW 2001, 1200. 675 Vgl. BVerfG, Beschluss v. 3. November 1992, BVerfGE 87, 273, 278. 670 671
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Kap. 3: Dzodzi-Rechtsprechung und deutsche Rechtsordnung
tionalen Verweisung regelmäßig kompliziert ist und folglich die Vertretbarkeit unterschiedlicher Ergebnisse nahe liegt. Zu bejahen wäre Willkür dagegen in der am Anfang dieses Abschnittes aufgeführten Konstellation. Wenn in einem Urteil zunächst eine absolute Konnexität zwischen nationalem und Gemeinschaftsrecht festgestellt wird, die Übernahme aber wegen sachfremder Kriterien, wie z. B. mangelnder Überzeugungskraft des durch den EuGH gefundenen Auslegungsergebnisses, verneint wird, ist dieses Urteil willkürlich.
Kapitel 4
Der Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf Grund des Maßgeblichkeitsgrundsatzes Ein Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf das Steuerbilanzrecht wird seit der erstmaligen Problematisierung durch Beisse676 in der Literatur und in zunehmenden Maße auch in der Rechtsprechung diskutiert. Einigkeit besteht in dieser Diskussion lediglich darin, dass eine wichtige Ursache eines derartigen Einflusses der in § 5 Abs. 1 EStG verankerte Maßgeblichkeitsgrundsatz, auch Maßgeblichkeitsprinzip genannt, sein kann. Wie schon dargelegt677, konnte im Gegensatz zur überschießenden Umsetzung von Richtlinien auf Grund der vielfältigen Erscheinungsformen mittelbarer Dzodzi-Verweisungen keine generalisierende Aussage darüber getroffen werden, in welchem Umfang diese auf Gemeinschaftsrecht verweisen und welche Konsequenzen diese Verweisungen sowohl für einen materiellen Einfluss des Gemeinschaftsrechts als auch für das Bestehen nationaler Übernahme- und Vorlagepflichten haben. Vielmehr besteht die Notwendigkeit einer einzelfallbezogenen Untersuchung. Einer derartigen Untersuchung wird im Folgenden anhand der Verweisung in § 5 Abs. 1 EStG erfolgen. Dabei sollen die in den vorangegangen Kapiteln gewonnenen Erkenntnisse dazu genutzt werden, Aussagen über den Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf das deutsche Steuerbilanzrecht zu treffen. Aus der oben enwickelten Dogmatik resultiert folgende Vorgehensweise: Zunächst ist zu klären, ob es sich bei dem Maßgeblichkeitsgrundsatz um eine mittelbare Dzodzi-Verweisung handelt. Sollte eine derartige Einordnung möglich sein, so beurteilt sich die durch die Verweisung zum Gemeinschaftsrecht hergestellte Konnexität, mit anderen Worten die Frage des materiellen Einflusses des Gemeinschaftsrechts und die Frage der nationalen Übernahme- und Vorlagepflichten, nach Inhalt und Reichweite der Verweisung. Die hier entwickelte Dogmatik ist dabei einer besonderen Herausforderung ausgesetzt, denn die in § 5 EStG enthaltene dynamische678 Verweisung stellt in mehrfacher Hinsicht einen Sonderfall dar: Zunächst wird nicht auf eine konkrete Geset676 H. Beisse, Die steuerrechtliche Bedeutung der neuen deutschen Bilanzgesetzgebung, StVj 1989, 295, 306. 677 Vgl. Kapitel 3 B. III. 678 Vgl. Mathiak in Kirchhof / Söhn, EStG, § 5 Rdn. A 180.
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Kap. 4: Gemeinschaftsrecht und Maßgeblichkeitsgrundsatz
zesnorm verwiesen, sondern auf einen unbestimmten Rechtsbegriff679, nämlich die handelsrechtlichen Grundsätze der ordnungsgemäßen Buchführung. Letztere unterliegen einem wie auch immer gestalteten gemeinschaftsrechtlichen Einfluss680, wobei dieser Einfluss wiederum durch die Besonderheit gekennzeichnet ist, dass im Handelsbilanzrecht eine überschießende Umsetzung von Richtlinien erfolgte681.
A. Der Maßgeblichkeitsgrundsatz als mittelbare Dzodzi-Verweisung I. Der Maßgeblichkeitsgrundsatz im deutschen Steuerbilanzrecht Der Maßgeblichkeitsgrundsatz ist durch § 5 Abs. 1 EStG im deutschen Einkommensteuerrecht verankert. Der Wortlaut dieser Bestimmung in ihrer aktuellen Fassung682 besagt: „Bei Gewerbetreibenden, die auf Grund gesetzlicher Vorschriften verpflichtet sind, Bücher zu führen und regelmäßig Abschlüsse zu machen, oder die ohne eine solche Verpflichtung Bücher führen und regelmäßig Abschlüsse machen, ist für den Schluss des Wirtschaftsjahres das Betriebsvermögen anzusetzen (§ 4 Abs. 1 Satz 1), das nach den handelsrechtlichen Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung auszuweisen ist. Steuerrechtliche Wahlrechte bei der Gewinnermittlung sind in Übereinstimmung mit der handelsrechtlichen Jahresbilanz auszuüben.“
Es ist weit verbreitete Praxis, zwischen formeller und materieller Maßgeblichkeit zu unterscheiden683. 1. Die formelle Maßgeblichkeit Die formelle Maßgeblichkeit wird herrschend dahingehend beschrieben, dass der Steuerpflichtige bei der Erstellung seiner Steuerbilanz an die konkreten, d. h. an die Ansätze der tatsächlich erstellten Handelsbilanz, an die handelsrechtlich zulässigen684 Handelsbilanzansätze gebunden ist, soweit nicht zwingendes Steuerrecht abweichende Ansätze gebietet685. Hierzu näher unter Kapitel 4 A. II. Hierzu näher unter Kapitel 4 A. II. 1. 681 Vgl. Kapitel 3 B. II. 682 § 5 Abs. 1 EStG 1990. 683 Vgl. F. Wassermeyer, Die Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz und die Umkehr dieses Grundsatzes, DStJG Band 14, S. 29, 30 mit weiteren Nachweisen. 684 Daher besteht keine Bindung an eine falsche Handelsbilanz, vgl. Schleswig-Holsteinisches Finanzgericht, Urteil v. 12. Februar 1998, EFG 1998, 805, 806. 679 680
A. Der Maßgeblichkeitsgrundsatz als mittelbare Dzodzi-Verweisung
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Überwiegend wird § 5 Abs. 1 S. 1 EStG als eigentliche Rechtsgrundlage für die formelle Maßgeblichkeit betont686, durch die Einfügung des § 5 Abs. 1 S. 2 EStG habe der Gesetzgeber diese formelle Maßgeblichkeit lediglich vorausgesetzt687. Die so genannte umgekehrte Maßgeblichkeit ist ein Aspekt der formellen Maßgeblichkeit. Unter der Annahme der Geltung einer uneingeschränkten formellen Maßgeblichkeit setzt die Ausübung steuerrechtlicher Wahlrechte nämlich voraus, dass vorweg entsprechende Ansätze in der Handelsbilanz gewählt werden. Ein ausschließlich oder vorrangig steuerlich begründetes Wahlverhalten zwingt zu einer Gestaltung der Handelsbilanz, an die sonst nicht gedacht würde688. Die Umkehrung der Maßgeblichkeit erfolgt aber nur faktisch, rechtlich bleibt es bei der Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen Ansätze689. Im Ergebnis kann dies zum Beispiel dazu führen, dass in der Handelsbilanz für einzelne Vermögensgegenstände Wertansätze gewählt werden, die nicht den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung entsprechen. Ermöglicht wird dies durch so genannte handelsrechtliche Öffnungsklauseln in den §§ 254, 279 Abs. 2 HGB. Die umgekehrte Maßgeblichkeit wird aus handelsbilanzrechtlicher 690 Sicht stark kritisiert, zum Teil wird insoweit ein Verstoß gegen die 4. Richtlinie gesehen691. Diese Streitfragen können hier nicht weiter vertieft werden, denn sie liegen außerhalb des Untersuchungsgegenstandes dieser Arbeit. Vorliegend soll nämlich untersucht werden, wie durch nationale Verweisungen das Gemeinschaftsrecht außerhalb seines originären Anwendungsbereiches Einfluss auf die nationale Rechtsordnung gewinnt. Bei der umgekehrten Maßgeblichkeit stellt sich dagegen im Kern die Frage, inwieweit einige Vorschriften, z. B. §§ 254, 279 Abs. 2 HGB, im Regelungsbereich der Richtlinie diese nicht korrekt umsetzen.
685 Vgl. W. Mathiak, Maßgeblichkeit der tatsächlichen Handelsbilanzansätze für die Steuerbilanz und umgekehrte Maßgeblichkeit, StbJb 1986 / 87, 79, 83. 686 Vgl. F. Wassermeyer, Die Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz und die Umkehr dieses Grundsatzes, DStJG Band 14, S. 29, 37; wohl auch Schleswig-Holsteinisches Finanzgericht, Urteil v. 12. Februar 1998, EFG 1998, 805, 806; a.A. J. Schulze-Osterloh, Handelsbilanz und steuerrechtliche Gewinnermittlung, StuW 1991, 284, 285, wonach sie sich aus § 60 Abs. 2 Satz 1 EStDV ergibt; nach H. Weber-Grellet, Handelsrechtliche Bewertungswahlrechte in der Steuerbilanz, DB 1994, 2405, 2406 existiert die formelle Maßgeblichkeit nur noch in Gestalt des § 5 Abs. 1 S. 2 EStG. 687 Vgl. J. Schulze-Osterloh, Handelsbilanz und steuerrechtliche Gewinnermittlung, StuW 1991, 284, 285. 688 Vgl. W. Mathiak, Maßgeblichkeit der tatsächlichen Handelsbilanzansätze für die Steuerbilanz und umgekehrte Maßgeblichkeit, StbJb 1986 / 87, 79, 83. 689 Vgl. Kempermann in Kirchhof / Söhn, EStG, § 5 B 140. 690 Vgl. B. Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, S. 31, die von einem ungeheuerlichen Übergriff des Steuerechts auf die Institution der Handelsbilanz spricht. 691 J. Hennrichs, Wahlrechte im Bilanzrecht der Kapitalgesellschaften, S. 220 mit weiteren Nachweisen.
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Kap. 4: Gemeinschaftsrecht und Maßgeblichkeitsgrundsatz
2. Die materielle Maßgeblichkeit Der materielle Maßgeblichkeitsgrundsatz gibt die rechtliche Bindung an, der ein Steuerpflichtiger beim Erstellen seiner Steuerbilanz unterliegt. Nach Maßgabe des § 5 Abs. 1 S. 1 EStG sind die handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung wie beim Erstellen einer Bilanz durch einen Kaufmann zu befolgen, wobei es keine Rolle spielt, ob tatsächlich eine Handelsbilanz erstellt wird. Damit liegt zunächst eine klassische Verweisung vor. Wie oben schon angedeutet, wird aber formal nicht auf ein anderes Gesetz verwiesen, sondern, da insoweit keine gesetzliche Definition existiert, auf den unbestimmten Rechtsbegriff der handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung (im Folgenden auch GoB genannt). Da die Reichweite einer Verweisung nicht vor Definition des Verweisungsobjekts geklärt werden kann, muss zunächst geklärt werden, wie dieser Rechtsbegriff zu verstehen ist.
II. Inhalt des Verweisungsobjektes „handelsrechtliche Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung“ Die Frage, welches Verweisungsobjekt mit der Formulierung handelsrechtliche Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung erfasst werden soll, ist umstritten. Vorliegend interessieren diese Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung allein als Verweisungsobjekt im Rahmen des § 5 EStG, eine umfassende Auseinandersetzung mit diesem auch unter anderen Aspekten strittigen692 Begriff liegt außerhalb des Untersuchungsgegenstandes. Die wahlweise als herrschend693 oder traditionell694 beschriebene Ansicht ist der Auffassung, dass auf sämtliche geschriebenen und ungeschriebenen Gewinnermittlungsregeln des HGB verwiesen wird695. Nach anderer, von Schulze-Osterloh696 begründeter Meinung bezieht sich die Verweisung eng am Wortlaut orientiert nur auf die handelsrechtlichen Grundsätze 692 Vgl. hierzu grundlegend H. Kruse, Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung; U. Leffson, Die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung. 693 Vgl. W. Mathiak, Unmaßgeblichkeit von kodifiziertem Handelsrechnungslegungsrecht für die einkommensteuerliche Gewinnermittlung?, FS für Heinrich Beisse, S. 323, 325. 694 Vgl. J. Hennrichs, Der steuerrechtliche sog. Maßgeblichkeitsgrundsatz gem. § 5 EStG, StuW 1999, 138, 139. 695 Vgl. W. Mathiak, Unmaßgeblichkeit von kodifiziertem Handelsrechnungslegungsrecht für die einkommensteuerliche Gewinnermittlung?, FS für Heinrich Beisse 1997, 323, 325 mit weiteren Nachweisen in Fn. 10 und 11. 696 Erstmals J. Schulze-Osterloh, Herstellungskosten in der Handels- und Steuerbilanz, StuW 1989, 242, 247 – 248; ders., Handelsbilanz und steuerliche Gewinnermittlung, StuW 1991, 284, 285.
A. Der Maßgeblichkeitsgrundsatz als mittelbare Dzodzi-Verweisung
151
ordnungsgemäßer Buchführung – wie auch immer kodifiziert – und lehnt damit die Einbeziehung von Vorschriften des HGB, soweit sie diesen Grundsätzen widersprechen, ab697. Noch weitergehend versteht Weber-Grellet nur die GoB im engeren Sinne als Verweisungsobjekt, mit anderen Worten, nur auf die – abstrakten – Grundsätze und nicht auf die unterhalb von ihnen angesiedelten Kodifikationen wird verwiesen. Eine Geltung dieser kodifizierten Normen käme nur im Wege der Analogie in Betracht698. Der Unterschied der Auffassungen sei am Beispiel des Realisationsprinzips, welches in § 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB kodifiziert ist, dargestellt: Nach herrschender Auffassung verweist § 5 EStG auf § 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB. Die Auffassung von Schulze-Osterloh folgt dem im Ergebnis nach der Prüfung, ob § 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung entspricht. Weber-Grellet wiederum bezieht den Verweis nur auf das abstrakte Realisationsprinzip. Das Regelungsanliegen von Weber-Grellet, die Eigenständigkeit der Steuerbilanz von der Handelsbilanz zu betonen, wird noch ausführlich gewürdigt. Seine Auffassung, die vor diesem Hintergrund zu verstehen ist699, dürfte aber verfehlt sein. Zwar spricht für sie der Wortlaut des § 5 Abs. 1 EStG, der auf „handelsrechtliche Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung“ Bezug nimmt und nicht auf die §§ 238 ff. HGB. Die Schlussfolgerung, auf einfachgesetzliche Ausprägungen der GoB nur im Wege der Analogie zurückzugreifen, steht aber in erheblichem Widerspruch zu dem Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung, dessen Bedeutung Weber-Grellet im Rahmen des Maßgeblichkeitsgrundsatzes ansonsten ausdrücklich betont700. Der Widerspruch besteht darin, dass ein Verweis auf kodifizierte Normen dem Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit offensichtlich besser Rechnung trägt als ein Verweis auf unbestimmte Rechtsbegriffe. Methodisch bedenklich ist darüber hinaus, dass er die Regelungslücke, die er per Analogie schließen will bzw. muss, durch seine – zu sehr am Wortlaut haftende – Auslegung selbst geöffnet hat701. 697 Vgl. J. Schulze-Osterloh, Die Steuerbilanz als Tatbestandsmerkmal im Einkommenund Körperschaftsteuergesetz, DStJG Band 14, 123, 127 – 128 mit weiteren Nachweisen. 698 Vgl. Weber-Grellet in Schmidt, EStG, § 5 Rdn. 28; ders., Handelsrechtliche Bewertungswahlrechte in der Steuerbilanz – Reichweite des steuerrechtlichen Bewertungsvorbehaltes, StbJb 1994 / 95, 97, 103. 699 So auch J. Hennrichs, Der steuerrechtliche sog. Maßgeblichkeitsgrundsatz gem. § 5 EStG, StuW 1999, 138, 140. 700 Vgl. H. Weber-Grellet, Maßgeblichkeitsschutz und eigenständige Zielsetzung der Steuerbilanz, DB 1994, 288, 289; ders., Maßgeblichkeitsgrundsatz in Gefahr?, DB 1997, 385, 389; ders., Die Gewinnermittlungsvorschriften des Steuerentlastungsgesetzes 1999 / 2000 / 2002 – Ein Fortschritt ?, DB 2000, 165, 166; ders., Steuern im modernen Verfassungsstaat, S. 326. 701 In diesem Sinne auch J. Hennrichs, Der steuerrechtliche sog. Maßgeblichkeitsgrundsatz gem. § 5 EStG, StuW 1999, 138, 141.
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Kap. 4: Gemeinschaftsrecht und Maßgeblichkeitsgrundsatz
Bei der Abgrenzung der beiden erstgenannten Ansichten bemühen beide Seiten die historische Auslegung zu ihren Gunsten. Während nach § 33 Abs. 2 EStG 1920 der Geschäftsgewinn nach den Grundsätzen zu berechnen war, “ wie sie für die Inventur und Bilanz durch das Handelsgesetzbuch vorgeschrieben sind“, galt nach der Maßgeblichkeitsformel des § 13 EStG 1925, dass das Betriebsvermögen nach den „Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung zu ermitteln sei“702. SchulzeOsterloh erblickt in dieser Änderung ein Argument für seine Ansicht703, Mathiak will dies unter Auswertung der damaligen Literatur widerlegt haben704. Die Überzeugungskraft derartiger Argumente ist vor dem Hintergrund des seitdem erfolgten tiefgreifenden Wandels der Steuerrechtsordnung begrenzt705. Dies gilt in besonderem Maße für Argumente, die vor Inkrafttreten des Grundgesetzes verwendet wurden. Denn die Ausstrahlung des Grundgesetzes auf das einfache Steuerrecht – die in ihrem Kern unstrittig ist706 – war damals nicht gegeben. Die Erkenntnis von Schulze-Osterloh, dass einzelne HGB-Vorschriften GoBwidrig sind707, kann, ihre Richtigkeit hier unterstellt, auf das Handelsrecht keine Auswirkung haben, da der Kaufmann auf Grund der Gesetzeskraft auch an derartige Normen bei seiner Handelsbilanzierung gebunden ist708. Im Kern geht es der Ansicht von Schulze-Osterloh daher um die Frage, inwieweit diese handelsrechtlichen Normen steuerlich berücksichtigt werden sollen709. Dieses ernstzunehmende Anliegen muss aber, methodisch betrachtet, nicht zwangsläufig über eine enge Auslegung des Verweisungsobjektes erreicht werden, sondern kann mit dem gleichen Ergebnis710 unter dem Aspekt der Reichweite der Verweisung betrachtet werden711. 702 Zitiert nach W. Mathiak, Unmaßgeblichkeit von kodifiziertem Handelsrechnungslegungsrecht für die einkommensteuerliche Gewinnermittlung?, FS für Heinrich Beisse 1997, 323, 326. 703 Vgl. J. Schulze-Osterloh, Herstellungskosten in der Handels- und Steuerbilanz, StuW 1989, 242, 248. 704 Vgl. W. Mathiak, Unmaßgeblichkeit von kodifiziertem Handelsrechnungslegungsrecht für die einkommensteuerliche Gewinnermittlung?, FS für Heinrich Beisse 1997, 323, 326 – 328. 705 Vgl. R. Ahmann, Die Bilanzrichtlinie und die steuerliche Gewinnermittlung – Eine Zwangsehe?, FS für Ludwig Schmidt, S. 269, 284. 706 Vgl. Kirchhof in Kirchhof, EStG, Einleitung, Rdn. 1 – 2. 707 Vgl. Kempermann in Kirchhof / Söhn, EStG, § 5 B 38; J. Schulze-Osterloh, Handelsund Steuerbilanz, ZGR 2000, 594, 596 – 597. 708 Vgl. W. Mathiak, Unmaßgeblichkeit von kodifiziertem Handelsrechnungslegungsrecht für die einkommensteuerliche Gewinnermittlung?, FS für Heinrich Beisse 1997, 323, 331. 709 Vgl. J. Schulze-Osterloh, Herstellungskosten in der Handels- und Steuerbilanz, StuW 1989, 242, 248. 710 Vgl. Kempermann in Kirchhof / Söhn, EStG, § 5 B 38. 711 In diesem Sinne auch J. Hennrichs, Der steuerrechtliche sog. Maßgeblichkeitsgrundsatz gem. § 5 EStG, StuW 1999, 138, 141.
A. Der Maßgeblichkeitsgrundsatz als mittelbare Dzodzi-Verweisung
153
Mit der Ansicht von Schulze-Osterloh verbunden sind nämlich einige Unstimmigkeiten: Zum einen befindet sie sich in Hinblick auf § 141 Abs. 1 Satz 2 AO in systematischem Erklärungsnotstand. Nach dieser Vorschrift finden für Nichtkaufleute, die wegen der wirtschaftlichen Bedeutung des Gewerbebetriebes oder des Betriebes einer Land- und Forstwirtschaft für Zwecke der Besteuerung buchführungspflichtig sind, die §§ 238, 240 bis 242 Abs. 1 und die §§ 243 bis 256 HGB sinngemäße Anwendung. Es wäre befremdlich712, wenn dieser Personenkreis steuerlich näher an das HGB gebunden sein sollte als Vollkaufleute713. Zum anderen begegnen auch der einschränkend auslegenden Ansicht Bedenken, die aus dem Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung resultieren714. Danach dürfen Steuern nur erhoben werden, wenn der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Steuerpflicht knüpft715. Der Grundsatz folgt letztlich aus der Tatsache, dass Steuerrecht Eingriffsrecht ist und sich der Vorbehalt des Gesetzes, soweit das Vermögen des Steuerpflichtigen belastet wird, jedenfalls aus Art. 2 Abs. 1 GG ergibt716. Ein derartiges Gesetz muss sich aber am Rechtsstaatsprinzip messen lassen. Eine der wichtigsten Anforderungen dieses Prinzips an das Gesetz ist das Gebot zur Klarheit und Bestimmtheit717. Nun führt dieses Gebot zwar auch im Steuerrecht nicht dazu, dass die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe unzulässig ist. Das BVerfG führt insoweit aus718: „. . . so ist darauf hinzuweisen, daß nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes selbst die schöpferische Füllung weiter Lücken auf der Grundlage einer richtungsweisenden Generalklausel eine herkömmliche und stets bewältigte richterliche Aufgabe ist. Dieser Grundsatz ist keineswegs auf das Zivilrecht und auf die Zivilgerichte beschränkt. Die Steuergesetze, die die Steuerpflicht an bestimmte wirtschaftliche Lebenssachverhalte knüpfen, müssen der Vielfalt wirtschaftlicher Gestaltungsmöglichkeiten Rechnung tragen und können ohne unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln nicht auskommen.“
712 W. Schön, Steuerbilanz zwischen Handelsrecht und GG, StuW 1995, 366, 375 bezeichnet es sogar als ein Unding. 713 Vgl. auch F.-J. Kolb, Der Maßgeblichkeitsgrundsatz als Schleuse zum Gemeinschaftsrecht, FS für Albert Rädler, S. 377, 392. 714 Vgl. Crezelius in Kirchhof, EStG, § 5 Rdn. 27. 715 Vgl. Kruse, Tipke / Kruse, AO, § 3 Rd. 33. 716 Vgl. Birk, in HHSp, AO, § 3 Rdn. 89. 717 Vgl. Herzog in M / D, GG, Art. 20, VII. Art. 20 und die Frage der Rechtsstaatlichkeit, Rdn. 63; Sachs in Sachs, Grundgesetz, Art. 20, Rdn. 125; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, S. 829. 718 BVerfG, Beschluss v. 10. Oktober 1961, BVerfGE 13, 153, 164.
154
Kap. 4: Gemeinschaftsrecht und Maßgeblichkeitsgrundsatz
Ähnlich wie bei der Auseinandersetzung mit der Ansicht Weber-Grellets gilt auch hier, dass der Verweis auf gesetzliche Vorschriften den Vorwurf der mangelnden Tatbestandsbestimmtheit besser zurückweisen kann als eine Vorgehensweise, die eine weitergehende Prüfung des Verweisungsobjektes fordert719. Dies gilt vorliegend in besonderem Maße, denn das Verweisungsobjekt, die handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung, sind im Einzelnen, insbesondere in der Frage der Rechtsnatur720, sehr umstritten. Nach alledem ist der Ansicht zu folgen, wonach Verweisungsobjekt des materiellen Maßgeblichkeitsprinzips das Normensystem des HGB, soweit es Gewinnermittlungsregeln statuiert, zuzüglich einiger ungeschriebener Grundsätze721 ist722.
1. Der Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf das Verweisungsobjekt Insofern gewinnt auch das Gemeinschaftsrecht Einfluss auf das Verweisungsobjekt. Wie oben dargelegt723, ergibt sich aus der überschießenden Umsetzung der Vierten Richtlinie ein nationales Gebot, die §§ 238 – 263 HGB einheitlich auszulegen. Dabei gewinnt das Gemeinschaftsrecht auf Grund nationalen Anwendungsbefehls Bedeutung über seinen ursprünglichen Geltungsbereich hinaus724. Beispielsweise gilt auf Grund des Verbots der gespaltenen Auslegung725 das Realisationsprinzip in § 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB, mit welchem Art. 31 Abs. c) aa) und bb) der Vierten Richtlinie für Kapitalgesellschaften umgesetzt wurde, in gleichem Umfang für Personenhandelsgesellschaften.
Vgl. W. Schön, Steuerbilanz zwischen Handelsrecht und GG, StuW 1995, 366, 375. Grundlegend hierzu H. W. Kruse, Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung, S. 13 – 103. 721 So auch W. Schön, Steuerbilanz zwischen Handelsrecht und GG, StuW 1995, 366, 374. 722 So auch J. Hennrichs, Der steuerrechtliche sog. Maßgeblichkeitsgrundsatz gem. § 5 EStG, StuW 1999, 138, 139 – 141; Matthiak in Kirchhof / Söhn, EStG, § 5 Rdn. A 382. 723 Vgl. Kapitel 3 D. V. 1. 724 Diesen Gesichtspunkt nicht erkennend R. Euler, Steuerbilanzielle Konsequenzen der internationalisierten Rechnungslegung, StuW 1998, 15, 22. 725 Vgl. hierzu Kapitel 3 D. V. 1. 719 720
A. Der Maßgeblichkeitsgrundsatz als mittelbare Dzodzi-Verweisung
155
2. Steuerrechtliche oder handelsrechtliche Auslegung des Verweisungsobjektes Verweisungsobjekt des § 5 Abs. 1 EStG sind die handelsrechtlichen GoB. Hauptsächlich entscheidet über diese handelsrechtlichen Normen aber nicht der BGH, sondern wegen des Maßgeblichkeitsgrundsatzes in steuerrechtlichen Streitigkeiten der BFH726. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob bei der Auslegung der handelsrechtlichen GoB steuerliche Überlegungen eine Rolle spielen dürfen. Dass derartige Überlegungen faktisch eine Rolle spielen, liegt nahe727. Es gibt aber auch Begründungsversuche für einen rechtlichen Vorrang steuerlicher Überlegungen. So meint Pezzer, dass durch die Inkorporation der handelsrechtlichen Normen in das Steuerrecht sich diese insoweit den spezifischen Rechtsprinzipien des Steuerrechts zu unterwerfen haben728. Ähnlich vertritt WeberGrellet die Auffassung, durch die Verweisung würden die handelsrechtlichen GoB zu steuerrechtlichen Normen729. Hintergrund dieser Auffassungen ist einmal mehr das Bemühen, die Steuerbilanz entsprechend ihrer Zielsetzung von der Handelsbilanz abzugrenzen. Indes ist der Ansatz methodisch verfehlt. Die Überlegung, durch eine Verweisung ändere das Verweisungsobjekt seinen rechtlichen Charakter, ist unzutreffend. Schließlich wird Handelsbilanzrecht auch nicht deshalb zu Strafrecht, weil in den Straftatbeständen des Bankrotts auf Normen des HGB verwiesen wird730. Es gibt nur einmal handelsrechtliche GoB; dementsprechend müsste der BFH, wollte er beispielsweise von einer Auslegung des BGH abweichen, den Gemeinsamen Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes anrufen731. Daher ist die Gewinnung und Auslegung der handelsrechtlichen GoB eine rein handelsrechtliche Aufgabe732. Steuerliche Erwägungen dürfen hier nicht berücksichtigt werden. Für diese Ansicht spricht schließlich der insoweit klare Wortlaut des § 5 Abs. 1, der auf die handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung verweist733. 726 Vgl. B. Knobbe-Keuk, Unternehmenssteuerrecht, S. 20; R. Winnefeld, Bilanzhandbuch, Einf. Rdn. 70; kritisch hierzu O. Sauer, Zu den Divergenzen zwischen Handels- und Steuerrecht bei der Bilanzierung und Bewertung von Wirtschaftsgütern, AG 1978, 341, 343. 727 Nach Vors. Richter am BFH M. Groh dürfe man schließlich nicht das Nichtanwendungsgesetz herausfordern; vgl. M. Groh, Diskussionsbeitrag, Rückstellungen in der Handels- und Steuerbilanz, S. 90. 728 Vgl. H.-J. Pezzer, Bilanzierungsprinzipien als sachgerechte Maßstäbe der Besteuerung, DStJG 14, 3, 19. 729 Vgl. H. Weber-Grellet, Europäisiertes Steuerrecht?, StuW 1995, 336, 349. 730 Vgl. M. Groh, Bilanzrecht vor dem EuGH, DStR 1996, 1206, 1209. 731 Vgl. M. Groh, Bilanzrecht vor dem EuGH, DStR 1996, 1206, 1209. 732 Vgl. H. Beisse, Zum Verhältnis von Bilanzrecht und Betriebswirtschaftslehre, StuW 1984, 1, 6; T. Gruber, Der Bilanzansatz in der neueren BFH-Rechtsprechung, S. 26. 733 Vgl. G. Kraft, Schlussfolgerungen aus der Entscheidung des Großen Senats des Bundesfinanzhofes zur phasengleichen Dividendenaktivierung für die Rechnungslegungspraxis,
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Kap. 4: Gemeinschaftsrecht und Maßgeblichkeitsgrundsatz
Diesen Ausführungen steht auch nicht die Entscheidung des Großen Senats des BFH734 zur steuerlichen Unzulässigkeit phasengleicher Aktivierung von Dividenden entgegen. Zwar enthält dieser Beschluss Ausführungen zu einer im Vergleich mit dem Handelsrecht unterschiedlichen Sachgesetzen folgenden Auslegung von GoB im Steuerrecht735, jedoch sind diese im Kontext der gesamten Entscheidung zu sehen736. Möglicherweise ist die Forderung nach einer steuerrechtlichen Auslegung der handelsrechtlichen GoB nur missverständlich formuliert. Denn im Ergebnis soll mit dieser Forderung erreicht werden, dass das Steuerrecht nicht vor den handelsrechtlichen GoB kapituliert bzw. diese unbesehen übernimmt. In Betracht kommt deshalb, dass die Befürworter einer steuerrechtlichen Auslegung diese nicht auf die handelsrechtlichen GoB, sondern auf § 5 EStG beziehen. Mit anderen Worten, nicht das Verweisungsobjekt, sondern die Verweisungsnorm soll steuerlich ausgelegt werden. Einem derartigen Ansatz wird man sich in Hinblick darauf, dass die Verweisungsnorm dem Steuerrecht entstammt, schwer entziehen können. Die dann auftretende steuerrechtliche737 Frage, ob die handelsrechtlichen GoB von der Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes erfasst werden, muss später gestellt werden738. Diese Differenzierung zwischen der Auslegung der Verweisungsnorm und der Auslegung des Verweisungsobjektes ist unserer Rechtsordnung keineswegs fremd. So werden Differenzierungen im Bereich des Nebenstrafrechts vorgenommen, soweit auf zivil- oder verwaltungsrechtliche Normen verwiesen wird. Hinsichtlich ihres strafrechtlichen Bezuges wird die (Verweisungs-)Norm tendenziell eng am Wortlaut ausgelegt, während dies im zivil- oder verwaltungsrechtlichen Bereich, in dem sich das Verweisungsobjekt befindet, nicht notwendig ist. Diese Vorgehensweise hat einen konkreten Hintergrund, nämlich den strafrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz, der einer zu weiten Auslegung im Wege steht739.
Wpg 2001, 2, 7; T. Stobbe, Die Verknüpfung handels- und steuerrechtlicher Rechnungslegung, S. 83. 734 Vgl. BFH, Beschluss v. 7. August 2000, GrS 2 / 99, GmbHR 2000, 1106. 735 Vgl. W.-D. Hoffmann, GmbHR-Kommentar (2), GmbHR 2000, 1113, 1114; a.A. Weber-Grellet in Schmidt, EStG, § 5 Rdn. 270 unter Dividendenansprüche. 736 Eine ausführliche Analyse dieser Entscheidung unter diesem Aspekt in Kapitel 4 B. III. 2. 737 So richtig H. Beisse, Zum Verhältnis von Bilanzrecht und Betriebswirtschaftslehre, StuW 1984, 1, 6. 738 Vgl. Kapitel 4 B. IV. 739 Vgl. K. Tiedemann, Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht, S. 263.
B. Inhalt und Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes
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III. Zwischenergebnis Verweisungsobjekt des materiellen Maßgeblichkeitsgrundsatzes ist das Normensystem des HGB, soweit es Gewinnermittlungsregeln statuiert, zuzüglich einiger ungeschriebener Grundsätze. Dieses Verweisungsobjekt ist – anders als die Verweisungsnorm – nur einer handelsrechtlichen Auslegung zugänglich. Des Weiteren unterliegt das Normensystem des HGB, soweit es Gewinnermittlungsregeln statuiert, einem gemeinschaftsrechtlichen Einfluss. Daher kann der Maßgeblichkeitsgrundsatz als mittelbare Dzodzi-Verweisung charakterisiert werden.
B. Inhalt und Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes Wie oben entwickelt740, hängt der gemeinschaftsrechtliche Einfluss – und hiermit verbunden nationale Übernahme- und Vorlagepflichten – ausschließlich von Inhalt und Reichweite der Dzodzi-Verweisung auf das Gemeinschaftsrecht ab. Inhalt und Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes sind heftig umstritten741. Die hierzu vertretenen Positionen reichen von einer absoluten Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz ohne Anerkennung ungeschriebener Ausnahmen742 bis hin zu einer prinzipiellen Unvereinbarkeit der Steuerbilanz mit der Handelsbilanz743. Kern der Auseinandersetzung ist letztlich die Frage, ob und in welcher Form die Verknüpfung steuerlicher mit handelsrechtlicher Gewinnermittlung sinnvoll, gerecht und verfassungsmäßig ist. Die befürwortende oder ablehnende Grundeinstellung ist vielfach die Ausgangsbasis für die Interpretation der sachlichen Reichweite744. Die Beantwortung dieser Frage ist in verschiedenen Dissertationen745 versucht worden. Vorliegend interessiert sie in erster Linie vor dem Hintergrund des gemeinschaftsrechtlichen Einflusses auf das Steuerbilanzrecht. Als, wenn auch Vgl. Kapitel 3 D. VII. Vgl. A. Moxter, Missverständnisse um das Maßgeblichkeitsprinzip, DStZ 2000, 157, wonach die Diskussion hierum von der Parteien Gunst und Hass verwirrt wird. 742 Vgl. G. Crezelius, Maßgeblichkeitsgrundsatz in Liquidation?, DB 1994, 689, 691. 743 Vgl. H. Weber-Grellet, Rechtsprechung des BFH zum Bilanzsteuerrecht im Jahr 2000, BB 2001, 35. 744 Vgl. Plewka / Schmidt in Lademann / Söffing / Brockhoff, EStG, § 5 Rdn. 117. 745 Vgl. F. Broer, Maßgeblichkeitsprinzip und Harmonisierung der Rechnungslegung; F. Königbauer, Das Maßgeblichkeitsprinzip im Spannungsfeld zwischen Handelsrecht und Steuerrecht; F. Pfahl, Die Maßgeblichkeit der Handelsbilanz, ein dem Steuerrecht vorgegebenes Grundprinzip?; G. Rombach, Das Maßgeblichkeitsprinzip im System einkommensteuerrechtlicher Gewinnermittlung; L. Schmidt, Maßgeblichkeitsprinzip und Einheitsbilanz, T. Stobbe, Die Verknüpfung handels- und steuerrechtlicher Rechnungslegung; S. Vogt, Die Maßgeblichkeit des Handelsbilanzrechts für die Steuerbilanz. 740 741
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Kap. 4: Gemeinschaftsrecht und Maßgeblichkeitsgrundsatz
präjudizielle, Vorfrage kann sie nicht umfassend diskutiert werden. Die Untersuchung soll methodisch gesehen weniger den Grundsatzstreit um den Maßgeblichkeitsgrundsatz entscheiden, sondern die vorgetragenen Argumente systematisieren und auf ihre Konsequenzen bezüglich des gemeinschaftsrechtlichen Einflusses untersuchen. Dazu wird zunächst kurz die Entwicklung des Maßgeblichkeitsgrundsatzes in der Steuergesetzgebung skizziert. Danach werden die wesentlichen Argumente für und gegen die Verknüpfung der steuerrechtlichen mit der handelsrechtlichen Rechnungslegung untersucht. Dabei wird auch hier keine Streitentscheidung angestrebt. Vielmehr soll durch beide Darstellungen das Verständnis der darauf folgenden Analyse der einschlägigen Rechtsprechung des BFH erleichtert werden.
I. Die historische Entwicklung des Maßgeblichkeitsgrundsatzes in der steuerrechtlichen Gesetzgebung Hintergrund einer kurzen Darstellung der historischen Entwicklung des Maßgeblichkeitsgrundsatzes ist weniger die Erwartung, daraus konkrete Argumente für die Auslegung zu gewinnen. Zwar ist in der Literatur geradezu eine Häufung historischer Darstellungen zu konstatieren746, die Überzeugungskraft hieraus gewonnener Argumente ist aber vor dem Hintergrund des seitdem erfolgten tiefgreifenden Wandels unserer Verfassungs- und Steuerordnung begrenzt747. Der Schwerpunkt der Darstellung soll daher auf die Frage nach dem Verhältnis des Steuergesetzgebers zum Maßgeblichkeitsgrundsatz gelegt werden. Besonderes Interesse verdienen insoweit die aktuellen Gesetzesänderungen.
1. Die Entwicklung des Maßgeblichkeitsgrundsatzes in der Gesetzgebung bis zum Steuerreformgesetz 1990 Die Verknüpfung der steuerlichen mit der handelsrechtlichen Rechnungslegung hat in Deutschland Tradition748. Nach Mathiak ist sie beinahe so alt wie die moderne Einkommensbesteuerung749. So führten das Königreich Sachsen und die Freie Hansestadt Bremen – die Steuergesetzgebung war vor 1919 Sache der Länder – 1874 das Maßgeblichkeitsprinzip Vgl. F. Königsbauer, Maßgeblichkeitsprinzip, S. 49. Vgl. R. Ahmann, Die Bilanzrichtlinie und die steuerliche Gewinnermittlung – Eine Zwangsehe?, FS für Ludwig Schmidt, S. 269, 284. 748 Eine ausführliche Darstellung findet sich sowohl bei K. Pohl, Die Entwicklung des ertragsteuerlichen Maßgeblichkeitsprinzips, als auch bei E. Werner, Entwicklungszäsuren der Steuer-Bilanz, S. 76 ff. 749 Vgl. W. Mathiak, Maßgeblichkeit der tatsächlichen Handelsbilanzansätze für die Steuerbilanz und umgekehrte Maßgeblichkeit, StbJb 1986 / 87, S. 79, 93. 746 747
B. Inhalt und Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes
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in ihre Einkommensteuergesetze ein750. Für die Ausbreitung des Maßgeblichkeitsprinzips in Deutschland war die Übernahme durch Preußen als politisch und ökonomisch dominierenden Staat von besonderer Bedeutung. Die Einführung des Maßgeblichkeitsgrundsatzes erfolgte hier im Rahmen der Miquel’schen Steuerreform im Jahre 1891751. Die reichsgesetzlichen Vorschriften zwischen den beiden Weltkriegen (§ 33 Abs. 2 EStG 1920, § 13 EStG 1925 und § 5 Abs. 1 EStG 1934) entsprachen dem Vorbild der sächsischen Regelung752. Mit dem EStG 1934 wurde ein Normierungszustand erreicht, der im Kernbereich dem heute geltenden § 5 entspricht; selbst die Paragraphenbezeichnung stimmt bereits überein753. In der Nachkriegszeit, die von einer Vielzahl von Einzelfallregelungen und von überhöhten Steuersätzen – zum Vergleich: bei Einführung des Maßgeblichkeitsgrundsatzes in Sachsen lag der Spitzensteuersatz der Einkommensteuer bei 4% zuzüglich unterschiedlich hoher Gemeindezuschläge 754 – geprägt war, wurde die Diskussion um das Verhältnis von Handels- und Steuerbilanz weitergeführt. Offenbar angeregt durch die DM-Eröffnungsbilanz, welche eine Einheitsbilanz war, wurde die Idee der Einheitsbilanz weitgehend befürwortet755. § 5 EStG 1955 brachte für den Maßgeblichkeitsgrundsatz keine materiellen Änderungen. Die 1969 eingesetzte Steuerreform-Kommission befasste sich eingehend mit der steuerrechtlichen Gewinnermittlung und sprach sich für die Aufgabe des Maßgeblichkeitsgrundsatzes aus. Die Kommission kennzeichnete ihren Vorschlag als „formale Loslösung der Steuerbilanz von der Handelsbilanz bei inhaltlicher Übernahme der handelsrechtlichen Bilanzierungsvorschriften“756. Dieser Gedanke wurde von dem Referentenentwurf des EStG 1974 übernommen. Nach diesem Entwurf sollte der Maßgeblichkeitsgrundsatz aufgegeben werden, die neuen steuerlichen Bilanzierungsvorschriften wurden weitgehend in Anlehnung an die entsprechenden Vorschriften des Aktiengesetzes formuliert757. Die kritischen Stimmen758 gewannen jedoch die Oberhand im Gesetzgebungsverfahren. Der Gesetzgeber begründete sein Festhalten am Maßgeblichkeitsgrundsatz da750 Vgl. zur Geschichte bis 1945 ausführlich F. Königbauer, Das Maßgeblichkeitsprinzip im Spannungsfeld zwischen Handelsrecht und Steuerrecht, S. 54 – 80. 751 Vgl. P. Zimmermann, Zur Zukunft des Maßgeblichkeitsprinzips aus dem Blickwinkel seiner Entstehung, StuB 2001, 806, 807. 752 Vgl. W. Mathiak, Maßgeblichkeit der tatsächlichen Handelsbilanzansätze für die Steuerbilanz und umgekehrte Maßgeblichkeit, StbJb 1986 / 87, S. 79, 95. 753 Vgl. Mathiak in Kirchhof / Söhn, EStG, § 5 A 132. 754 S. Vogt, Die Maßgeblichkeit des Handelsbilanzrechts für die Steuerbilanz, S. 81. 755 Vgl. Mathiak in Kirchhof / Söhn, EStG, § 5 A 137. 756 Vgl. Mathiak in Kirchhof / Söhn, EStG, § 5 A 144. 757 Vgl. H.-G. Rau, Der Referentenentwurf des Einkommensteuergesetzes 1974, DB 1972, 156, 158. 758 U.a. G. Döllerer, Maßgeblichkeit der Handelsbilanz in Gefahr, BB 1971, 1333.
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Kap. 4: Gemeinschaftsrecht und Maßgeblichkeitsgrundsatz
mit, dass es „aus Gründen der Einheitlichkeit der Rechtsordnung und der Vereinfachung der Rechtsanwendung weiterhin erforderlich (sei), die Abweichung zwischen Handelsbilanz und Steuerrecht möglichst eng zu halten und die Handelsbilanzen auch für die Besteuerung nutzbar zu machen“759. Im Folgenden wurde der Maßgeblichkeitsgrundsatz vom Gesetzgeber grundsätzlich nicht mehr in Frage gestellt. Allerdings kam es zu punktuellen Änderungen, welche vor dem Ziel zu verstehen sind, befürchteten Steuerausfällen auf Grund einschlägiger BFH-Rechtsprechung zu begegnen. So entschied der BFH im so genannten Biersteuer-Urteil760, dass die Biersteuer weder als Herstellungskosten eines Wirtschaftsgutes noch als Rechnungsabgrenzungsposten aktiviert werden dürfe. Wegen der Befürchtung, dass die Anwendung dieses Urteils insbesondere im Bereich der Tabak- und Mineralölwirtschaft zu erheblichen, einmaligen Steuerausfällen führen könnte, fügte der Gesetzgeber die Vorschrift des § 5 Abs. 4 S. 2 Nr. 1 EStG 1975 hinzu, wonach auf der Aktivseite „als Aufwand berücksichtigte Zölle und Verbrauchsteuern, soweit sie auf am Abschlussstichtag auszuweisende Wirtschaftsgüter des Vorratsvermögens entfallen“, anzusetzen sind761. Am 26. Juni 1979 entschied der BFH762, dass die Umsatzsteuer auf Anzahlungen nicht aktiviert werden darf, eine erhaltene Anzahlung aber mit dem vollen Betrag, d. h. ohne Abzug der Umsatzsteuer auf die Anzahlung, zu passivieren sei. Da der Gesetzgeber insoweit einmalige Steuerausfälle in Höhe von ca. 6 Mrd. DM befürchtete763, ergänzte er § 5 Abs. 3 S. 2 um eine Nr. 2, wonach auf der Aktivseite auch anzusetzen sei die „als Aufwand berücksichtigte Umsatzsteuer auf am Abschlussstichtag auszuweisende Anzahlungen“. Nachdem der BFH bei der Rückstellung für Verbindlichkeiten wegen Verletzung von Patentrechten nur „einige Wahrscheinlichkeit“, dass der Steuerpflichtige in Anspruch genommen würde, ausreichen ließ764, verschärfte der Gesetzgeber durch Einfügung eines neuen Absatzes 3 in § 5 insoweit die steuerliche Anerkennung erheblich. Allen drei Gesetzesmaßnahmen war gemeinsam, dass sie klare Ausnahmen vom Maßgeblichkeitsgrundsatz statuierten, gesprochen wurde schon von einer „Denaturierung des Maßgeblichkeitsprinzips“765.
759 760 761 762 763 764 765
Vgl. BT-Drucksache 7 / 1470, S. 223. BFH, Urteil vom 26. Februar 1975, BFHE 115, 243. S. Vogt, Die Maßgeblichkeit des Handelsbilanzrechts für die Steuerbilanz, S. 120. BFH, Urteil vom 26. Juni 1979, BFHE 128, 243. Vgl. Bericht des Finanzausschusses, BT-Drucksache 8 / 4157, S. 4. Vgl. BFH, Urteil vom 11. November 1981, BFHE 134, 432. Vgl. K. Pohl, Die Entwicklung des ertragsteuerlichen Maßgeblichkeitsprinzips, S. 244 ff.
B. Inhalt und Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes
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Zu einer weiteren Abkopplung der Steuerbilanz von der Handelsbilanz führte die im Rahmen des Steuerreformgesetzes 1990766 getroffene Regelung zur steuerlichen Anerkennung von Jubiläumsrückstellungen. In Abkehr von einer früheren Rechtsprechung767 entschied der BFH insoweit, dass in Hinblick auf die einschlägige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts die Jubiläumszuwendung, ähnlich der Verpflichtung zur Zahlung einer Pension768, wirtschaftlich in den jeweils abgelaufenen Jahren verursacht wurde. Daher bestand ein Rückstellungsgebot769. Der Gesetzgeber wollte daraufhin ursprünglich generell ein Rückstellungsverbot statuieren, schränkte aber in Hinblick auf die starke Kritik aus Wirtschaftskreisen und der Literatur770 mit der getroffenen Regelung lediglich die steuerliche Anerkennung von Jubiläumsrückstellungen ein. Im Ergebnis führte die Regelung insbesondere bei Zuwendungen für 5- und 10-jährige Jubiläen zu einer Divergenz zwischen Handels- und Steuerbilanz771.
2. Auswirkungen aktueller gesetzgeberischer Änderungen a) Die steuerliche Unzulässigkeit von Drohverlustrückstellungen seit 1997 Konnte man die obigen Regelungen noch als Einzelbilanzregelungen bezeichnen, so war die Abschaffung der Drohverlustrückstellung – handelsrechtlich auf Grund des Imparitätsprinzips geboten – durch das Gesetz zur Fortführung der Unternehmensteuerreform772 ein heftiger Schlag gegen das Maßgeblichkeitsprinzip773. Ob diese Regelung ein fiskalischer Beutefeldzug774 und damit systemfremd775 oder aber ein Beitrag zur Objektivierung der Gewinnermittlung776 ist, Steuerreformgesetz 1990 v. 25. Juli 1988, BGBl. I 1988, 1093, 1095. BFH, Urteil v. 19. Juli 1960, BFHE 71, 264. 768 Vgl. G. Döllerer, Steuerbilanz und Beutesymbol, BB 1988, 238, 240. 769 Vgl. BFH, Urteil v. 5. Februar 1987, BFHE 149, 55. 770 Vgl. B. Knobbe-Keuk, Zum Verfall der Steuergesetzgebung, BB 1988, 1086, 1087 f.; Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft, Stellungnahme zum Entwurf eines Steuerreformgesetzes 1990, BB 1988, 1089, 1091 f. 771 Vgl. F. Pfahl, Die Maßgeblichkeit der Handelsbilanz, ein dem Steuerrecht vorgegebenes Grundprinzip?, S. 100. 772 BGBl. I 1997, 2590. 773 Vgl. M. Groh, Steuerentlastungsgesetz 1999 / 2000 / 2002: Imparitätsprinzip und Teilwertabschreibung, DB 1999, 978, 980. 774 Vgl. A. Moxter, Zur Abgrenzung von Verbindlichkeitsrückstellungen und (künftig grundsätzlich unzulässigen) Verlustrückstellungen, BB 1997, 1477, 1478. 775 Vgl. A. Bordewin, Keine Rückstellung für drohenden Verlust in der Steuerbilanz, FR 1998, 226, 232; F. W. Selchert, Internationalisierung der Rechnungslegung und Maßgeblichkeitsprinzip?, FS für Lutz Fischer, S. 913, 921; M. Wiesbrock, Die Verlustrückstellung im Steuer- und Verfassungsrecht, S. 85. 766 767
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Kap. 4: Gemeinschaftsrecht und Maßgeblichkeitsgrundsatz
soll hier nicht weiter untersucht werden. Dies ist letztlich die Frage, ob und inwieweit das Leistungsfähigkeitsprinzip mit dem Imparitätsprinzip kollidiert777. In jedem Fall wurde durch die steuerliche Regelung eine derartige Abkopplung der Steuer- von der Handelsbilanz herbeigeführt, dass die baldige Aufgabe des Maßgeblichkeitsgrundsatzes als eine logische Konsequenz erschien778. b) Das Steuerentlastungsgesetz 1999 / 2000 / 2002 und das Gesetz zur Bereinigung von steuerlichen Vorschriften Einen derartigen Schritt vollzog der Gesetzgeber aber weder im Steuerentlastungsgesetz 1999 / 2000 / 2002 (im Folgenden StEntlG) noch im Gesetz zur Bereinigung von steuerlichen Vorschriften779 (im Folgenden StBereinG). Insbesondere die Regelungen des StEntlG beeinflussen die steuerrechtliche Gewinnermittlung trotzdem erheblich780. Dargestellt werden soll hier nur der Teil der Änderungen, welcher das Verhältnis zwischen Handels- und Steuerbilanz betrifft und damit möglicherweise den Maßgeblichkeitsgrundsatz weiter einschränkt. Fragen der Verfassungswidrigkeit von Übergangsregelungen, insbesondere beim Wertaufholungsgebot bei Teilwerterholung, liegen außerhalb des Untersuchungsgegenstandes, da es hier im Wesentlichen um Fragen von (un)zulässiger Rückwirkung781 geht. Zur besseren Veranschaulichung wird zwischen Änderungen von Rückstellungs- und Bewertungsvorschriften unterschieden. (1) Änderungen im Bereich der Rückstellungen Durch das StBereinG fügte der Gesetzgeber den § 5 Abs. 2 a in das EStG ein. Danach dürfen Verbindlichkeiten oder Rückstellungen für Verpflichtungen, die nur zu erfüllen sind, soweit künftig Einnahmen oder Gewinne anfallen, erst angesetzt werden, wenn die Einnahmen oder Gewinne angefallen sind. Hintergrund dieser Regelung ist eine neuere, entgegenstehende Rechtsprechung des BFH782. Danach 776 So H. Weber-Grellet, Der Apotheker-Fall – Anmerkungen und Konsequenzen zum Beschluß des Großen Senats vom 23. 6. 1997 GrS 2 / 93, DB 1997, 2233, 2235; ähnlich W. Doralt, Sind Rückstellungen steuerpolitisch gerechtfertigt?, DB 1998, 1357, 1358. 777 Hierzu ausführlicher in Kapitel 4 B. II. 1. d). 778 Vgl. J. Thiel, Objektivierung der Gewinnermittlung, StbJb. 1997 / 98, 309, 329; M. Wiesbrock, Die Verlustrückstellung im Steuer- und Verfassungsrecht, S. 85 spricht davon, dass das Maßgeblichkeitsprinzip im Kern schon aufgehoben sei. 779 Gesetz v. 22. Dezember 1999, BGBl. I 1999, 2601. 780 Vgl. Stobbe / Loose, Steuerentlastungsgesetz 1999 / 2000 / 2002 Auswirkungen auf die handels- und steuerrechtliche Gewinnermittlung, FR 1999, 405, 420. 781 Hierzu Stobbe / Loose, Steuerentlastungsgesetz 1999 / 2000 / 2002 Auswirkungen auf die handels- und steuerrechtliche Gewinnermittlung, FR 1999, 405, 408 m. w. N. 782 Vgl. BFH, Urteil v. 20. September 1995, BFH 178, 434; BFH, Urteil v. 3. Juli 1997, BFH 183, 513; BFH, Urteil v. 17. Dezember 1998, BFHE 187, 552; BFH, Urteil v. 4. Februar 1999, BFHE 187, 418.
B. Inhalt und Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes
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sollte es, soweit mit einer Rückzahlung zu rechnen ist, durch das Vorsichtsprinzip geboten sein, als Korrektur zur Erfassung der Zuwendung in voller Höhe als Eigenkapital einen Passivposten zu bilanzieren783. In der Sache ist § 5 Abs. 2a EStG eine von der handelsrechtlichen abweichende steuerrechtliche Passivierungsbegrenzung784. Für sie spricht das systematische Argument, wonach gemäß § 6 a Abs. 1 Nr. 2 EStG eine Pensionsrückstellung nicht zulässig ist, soweit die Pensionsverpflichtung von künftigen gewinnabhängigen Bezügen des Pensionsberechtigten abhängig ist785. Auch das StEntlG enthält umfangreiche Neuregelungen für die steuerliche Behandlung von Rückstellungen. Nach § 5 Abs. 4 b S. 1 EStG dürfen Rückstellungen für Aufwendungen, die Anschaffungs- oder Herstellungskosten für ein Wirtschaftsgut sind, nicht mehr gebildet werden. Diese Regelung bestätigte die einschlägige Rechtsprechung des BFH786 und stimmt mit dem handelsrechtlichen Pendant überein. Letzteres gilt jedenfalls dann, wenn man § 5 Abs. 4 b S. 1 EStG in bestimmten Konstellationen teleologisch reduzierend auslegt787. Zu einer Abweichung mit der handelsrechtlichen Regelung führt dagegen § 5 Abs. 4 b S. 2 EStG. Dieser regelt den Fall der Entsorgung von abgebrannten Kernbrennelementen. Hierzu sind die Betreiber auf Grund ihrer Betriebsgenehmigung verpflichtet. Die Wiederaufbereitung, an deren Ende neue Brennelemente stehen, ist aber teurer als ein Neuerwerb. Handelsrechtlich kann daher für die Differenz zwischen den für die schadlose Verwertung der radioaktiven Abfälle insgesamt aufzuwendenden Entsorgungskosten und dem aus diesem Prozess effektiv erlangten wirtschaftlichen Vorteil in Gestalt des mit seinem Marktwert angesetzten wiederverwendbaren Brennelements eine Rückstellung gebildet werden788. Die steuerliche Regelung lässt dies nicht mehr zu, sie ist der Sache nach ein noch zulässiges789 Aufteilungsverbot für eine bestimmte Branche. Im Ergebnis führt die Regelung zu einer steuerlichen Belastung der Wiederaufbereitung 790. Vgl. BFH, Urteil v. 4. Februar 1999, BFHE 187, 418, 423. Vgl. Crezelius in Kirchhof, § 5 Rdn. 102. 785 Vgl. H. Weber-Grellet, Aktuelle bilanzsteuerliche Probleme nach dem Steuerentlastungsgesetz, BB 2000, 1024, 1027. 786 Vgl. BFH, Urteil v. 19. August 1998, BFHE 186, 417. 787 Hierzu T. Siegel, Rückstellungen für Anschaffungs- und Herstellungskosten in Ausnahmefällen?, DB 1999, 857. 788 Vgl. Küting / Kessler, Zur geplanten Reform des bilanzsteuerlichen Rückstellungsrechts nach dem Entwurf eines Steuerentlastungsgesetzes 1999 / 2000 / 2002, DStR 1998, 1937, 1942. 789 Vgl. H. Weber-Grellet, Die Steuerbilanz nach dem Steuerentlastungsgesetz 1999 / 2000 / 2002, StuB 1999, 1289; a.A. Günkel / Fenzl, Ausgewählte Fragen zum Steuerentlastungsgesetz: Bilanzierung und Verlustverrechnung, DStR 1999, 649, 651; W.-D. Hoffmann, Die Auswirkungen des Steuerentlastungsgesetzes 1999 / 2000 / 2002 auf die Steuerbilanz, GmbHR 1999, 380, 381. 790 Vgl. M. Heintzen, Rückstellungen für die atomare Entsorgung auf der Grundlage des Steuerentlastungsgesetzes 1999 / 2000 / 2002, StuW 2001, 71. 783 784
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Kap. 4: Gemeinschaftsrecht und Maßgeblichkeitsgrundsatz
Auch die Bewertung von Rückstellungen wurde geändert. So wurden in § 6 Abs. 1 Nr. 3 a EStG zwecks realitätsnäherer Bewertung unter Einschränkung des Maßgeblichkeitsgrundsatzes791 neue, nicht abschließende Bewertungsgrundsätze792 aufgestellt. Hervorzuheben ist insbesondere die Abzinsungspflicht für langfristige Rückstellungen in § 6 Abs. 1 Nr. 3a lit. e und die gleichlautende Regelung für (ungewisse) Verbindlichkeiten. Bis dahin war das Steuerbilanzrecht „zinslos“793. Im Handelsrecht ist gemäß § 253 Abs. 1 S. 2 HGB eine Abzinsung nur zulässig, wenn in der Verpflichtung ein Zinsanteil enthalten ist, mit anderen Worten, wenn bei sofortiger Erfüllung ein geringerer Betrag zu leisten wäre794. Die steuerrechtliche Neuregelung findet ihre Rechtfertigung in der Überlegung, dass unverzinsliche oder niedrig verzinsliche Verpflichtungen auch unter dem Teilwertgesichtspunkt weniger belastend sind als marktüblich verzinste Schulden795. Dies bedeutet mit anderen Worten aber auch, dass der Steuerpflichtige die auferlegte Sollverzinsung in Zukunft tatsächlich verdienen muss. In diesem Zusammenhang könnte sich der an das Bewertungsgesetz angelehnte Abzinsungssatz von 5,5% als nicht unproblematisch erweisen796. Denn er liegt über dem Zinssatz von Zehn-Jahres-Anleihen des Bundes, welcher momentan nur 4% beträgt. (2) Weitere Änderungen im Bereich der Bewertung Im Bereich der Bewertung wurde insbesondere die Teilwertabschreibung797 deutlich geändert. Ursprünglich sah der Gesetzesentwurf die völlige Abschaffung 791 Vgl. Fischer in Kirchhof, EStG, § 6 Rdn. 152; IDW-Steuerfachausschuss, Entwurf eines Steuerentlastungsgesetzes 1999 / 2000 / 2002, Wpg 1999, 293, 294; a.A. offenbar W. Scheffler, Verbreiterung der Bemessungsgrundlage: Was bleibt von Rückstellungen in der Steuerbilanz, StuB 2000, 489, 542. 792 Hierzu im Einzelnen Stobbe / Loose, Steuerentlastungsgesetz 1999 / 2000 / 2002 Auswirkungen auf die handels- und steuerrechtliche Gewinnermittlung, FR 1999, 405, 414 ff.; H. Weber-Grellet, Die Steuerbilanz nach dem Steuerentlastungsgesetz 1999 / 2000 / 2002, StuB 1999, 1289, 1290 ff. 793 Vgl. H. Weber-Grellet, Die Steuerbilanz nach dem Steuerentlastungsgesetz 1999 / 2000 / 2002, StuB 1999, 1289, 1292. 794 Beachte aber die geplanten Änderungen durch das AltfahrzeugG, hierzu T. Siegel, Zur geplanten Neuregelung der Rückstellungen in Handelsbilanz und Steuerbilanz, DStR 2001, 1674 ff. 795 Vgl. BT.-Drucks. 14 / 23, S. 239; zustimmend Fischer in Kirchhof, EStG, § 6 Rdn. 158; H. Weber-Grellet, Die Steuerbilanz nach dem Steuerentlastungsgesetz 1999 / 2000 / 2002, StuB 1999, 1289, 1292; ablehnend R. Beiser, Die Abzinsung von Verbindlichkeiten und Rückstellungen im Lichte des Leistungsfähigkeitsprinzips, DB 2001, 296, 297; hierzu Erwiderung von L. Knoll, DB 2001, 779; Replik von R. Beiser, DB 2001, 780; ablehnend auch Günkel / Fenzl, Ausgewählte Fragen zum Steuerentlastungsgesetz: Bilanzierung und Verlustverrechnung, DStR 1999, 649, 656. 796 Vgl. I. Ernsting, StEntlG: Zur Ausdehnung des Abzinsungsgebotes auf Rückstellungen für Sachleistungsverpflichtungen, StuB 1999, 457, 462. 797 Zur Teilwertdefinition ausführlich in Kapitel 5 B.
B. Inhalt und Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes
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der Teilwertabschreibung vor798. Auf Grund heftiger Kritik799 nahm der Gesetzgeber hiervon Abstand, schränkte die bisher zulässige Teilwertabschreibung aber deutlich ein. So ist eine Teilwertabschreibung nunmehr nur noch zulässig, wenn eine dauerhafte Wertminderung vorliegt. Der Begriff der dauerhaften Wertminderung ist dem Handelsrecht, § 253 Abs. 2 HGB, entliehen800. Da im Handelsrecht für das Umlaufvermögen das so genannte strenge Niederstwertprinzip mit der Folge eines Abschreibungszwanges gilt, wird es hier häufige Unterscheide zwischen Handelsund Steuerbilanz geben. Aber auch für den Bereich des Anlagevermögens, wo auf Grund des so genannten milden Niederstwertprinzips ein Abschreibungswahlrecht besteht, sind Unterschiede möglich. Neu eingeführt ist auch das Wertaufholungsgebot in § 6 Abs. 1 Nr. 1 S. 4 EStG. Nach dieser Regelung muss der Steuerpflichtige nachweisen, dass der niedrigere Teilwert weiterhin anzusetzen ist. Bisher bestand hier ein Zuschreibungswahlrecht. Dieses führte in Verbindung mit § 280 Abs. 2 HGB bei Kapitalgesellschaften dazu, dass das handelsrechtliche Wertaufholungsgebot in das Leere ging. Nunmehr führt die steuerliche Zuschreibungspflicht auch zu einer handelsrechtlichen; zwischen Handels- und Steuerbilanz besteht daher, wenn auch auf anderem Niveau, weiterhin Gleichklang. Anders ist die Situation für Personenhandelsgesellschaften. Hier besteht handelsrechtlich gemäß § 253 Abs. 5 HGB unverändert ein Zuschreibungswahlrecht, so dass hier eine Differenz zwischen Handels- und Steuerbilanz denkbar ist801.
3. Zwischenergebnis Auf Grund der zahlreichen Divergenzen zwischen handels- und steuerrechtlichen Regelungen ist die Möglichkeit, für steuerliche und handelsrechtliche Zwecke einheitlich Rechnung zu legen, praktisch nicht mehr gegeben802. Gesprochen wurde in diesem Zusammenhang schon von einer faktischen Aufgabe des Maßgeblichkeitsgrundsatzes803. Die vielen Einzelbilanzregelungen und Durchbrechungen des Maßgeblichkeitsgrundsatzes im EStG lassen erkennen, dass dieser Grundsatz vom Gesetzgeber jedenfalls nicht als unumstößliches oder unverzichtbares, dem
Vgl. BT-Drucks. 14 / 23, S. 5, 171. Vgl. Stobbe / Loose, Steuerentlastungsgesetz 1999 / 2000 / 2002 Auswirkungen auf die handels- und steuerrechtliche Gewinnermittlung, FR 1999, 405 m. w. N. 800 Vgl. BT-Drucks. 14 / 443, S. 22. 801 Vgl. Stobbe / Loose, Steuerentlastungsgesetz 1999 / 2000 / 2002 Auswirkungen auf die handels- und steuerrechtliche Gewinnermittlung, FR 1999, 405, 409. 802 Vgl. IDW-Steuerfachausschuss, Entwurf eines Steuerentlastungsgesetzes 1999 / 2000 / 2002, Wpg 1999, 293, 294. 803 Vgl. B. Lauth, Endgültiger Abschied von der Einheitsbilanz?, DStR 2000, 1365, 1366. 798 799
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Kap. 4: Gemeinschaftsrecht und Maßgeblichkeitsgrundsatz
Einkommensteuerrecht vorgegebenes Grundprinzip angesehen wurde804 bzw. wird. Die ausdrücklichen Stellungnahmen des Gesetzgebers zum Maßgeblichkeitsgrundsatz aus neuerer Zeit sind in sich widersprüchlich. So führte er noch 1998 aus805: „Das deutsche Vorsichtsprinzip hat sich bewährt. Es ist Grundlage der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die steuerliche Gewinnermittlung.(..) Seine Aufgabe oder Einschränkung kommt daher nicht in Frage.“
Diese Aussage, obgleich in erster Linie im Zusammenhang mit dem Vorsichtsprinzip getroffen, ist eine – jedenfalls indirekte – Bekräftigung des Maßgeblichkeitsgrundsatzes806. Dagegen enthielt der Entwurf des StEntlG folgende Äußerungen807: „Die handelsrechtliche Gewinnermittlung ist inzwischen nicht nur im Hinblick auf die enge Verknüpfung mit der steuerlichen Gewinnermittlung unbefriedigend. Die deutschen Vorschriften werden zunehmend kritisiert, da ihre auf dem Gläubigerschutz basierenden Prinzipien nur einen eingeschränkten Blick auf die tatsächliche Ertragslage ermöglicht.( . . . ) Daher wird die steuerliche Gewinnermittlung im Zuge der Steuerreform objektiviert. Die Bindung an die Handelsbilanz (Maßgeblichkeit) wird insoweit aufgegeben. (...) Die Besteuerung richtet sich in erster Linie nach der Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen. Damit unvereinbar ist das handelsrechtliche Imparitätsprinzip und somit auch das Niederstwertprinzip.“
Diese Auffassung ist, trotz einiger Änderungen des Entwurfes, nicht zurückgenommen worden808 und ist gegenüber dem Maßgeblichkeitsgrundsatz ablehnend. Insbesondere macht sich der Gesetzgeber ein häufig gegen die Maßgeblichkeit verwandtes Argument, nämlich die Unvereinbarkeit mit einer Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, zu eigen. Die Tragfähigkeit dieses Arguments und anderer soll daher im Folgenden untersucht werden.
804 Vgl. F. Pfahl, Die Maßgeblichkeit der Handelsbilanz, ein dem Steuerrecht vorgegebenes Grundprinzip?, S. 103. 805 Vgl. BT-Drucksache 13 / 7141, S. 8. 806 Vgl. N. Herzig, Notwendigkeit und Umsetzungsmöglichkeiten eines gespaltenen Rechnungslegungsrechts (Handels- und Steuerbilanz), KoR 2001, 154, 155. 807 Vgl. BT-Drucksache 14 / 23, S. 170. 808 Vgl. J. Schulze-Osterloh, Verfassungsrechtliche Grenzen der bilanzsteuerrechtlichen Gesetzgebung, DStJG 23, S. 67, 70.
B. Inhalt und Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes
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II. Die wichtigsten Argumente für und gegen eine Verknüpfung der steuerrechtlichen mit der handelsrechtlichen Rechnungslegung Die Auseinandersetzung um die Verknüpfung der steuerrechtlichen mit handelsrechtlicher Gewinnermittlung erfolgt auf verschiedenen Argumentationsebenen. Im Wesentlichen werden die Zielsetzungen von handels- und steuerrechtlicher Gewinnermittlung untersucht. Daneben spielen aber sowohl Praktikabilitätserwägungen wie der Vereinfachungsgedanke, welcher für eine Einheitsbilanz streiten soll, als auch theoretische Überlegungen, z. B. der Gedanke der Einheit der Rechtsordnung, eine Rolle. Es ist bezeichnend für die Diskussion, dass keine dieser Argumentationsebenen als unstrittig angesehen werden kann. So wird gegenüber der Zweckidentität von Handels- und Steuerbilanz809 eine unterschiedliche Zwecksetzung vertreten810. Leiten die einen Argumente für den Maßgeblichkeitsgrundsatz aus dem Gedanken der Einheit der Rechtsordnung her811, betonen andere die Unterschiedlichkeit auf Grund des Charakters des Handelsrechts als Zivilrecht, des Steuerrechts als öffentliches Eingriffsrecht812. Schließlich wird zum einen betont, wie stark die Vereinfachung der Bilanzierung auf Grund der Maßgeblichkeit sei813; dagegen wird die Vielzahl der Ausnahmen vom Maßgeblichkeitsgrundsatz unterstrichen, welche in der Praxis eine einheitliche Bilanzierung unmöglich machten814. Kennzeichnend für diese Diskussion ist, dass sie oft im Zusammenhang mit konkret zu beantwortenden Bilanzierungsfragen erfolgt und die eigentlichen Stellungnahmen zur Grundsatzfrage eher „garnierend-behauptend“ als argumentierend sind815. Eine genauere, insbesondere systematisierende Betrachtung der Argumente ist daher unumgänglich.
1. Die unterschiedliche Zielsetzung steuerrechtlicher und handelsrechtlicher Rechnungslegung Einer der Kernpunkte des Meinungsstreits ist die Frage, inwieweit steuerrechtliche und handelsrechtliche Rechnungslegung hinsichtlich ihrer Ziele und Zwecke 809 R. Euler, Steuerbilanzielle Konsequenzen der internationalisierten Rechnungslegung, StuW 1998, 15, 23. 810 Vgl. W. Müller, Die Ausnahme und die Regel – Ein Lehrstück, dargestellt am so genannten Maßgeblichkeitsprinzip, DStR 2001, 1858, 1860; T. Siegel, Rückstellungen, Teilwertabschreibungen und Maßgeblichkeitsprinzip, StuB 1999, 195, 201. 811 Vgl. Hauser / Meurer, Die Maßgeblichkeit der Handelsbilanz im Lichte neuer Entwicklungen, WPg 1998, 269, 280. 812 Vgl. Schmidt / Weber-Grellet, EStG, § 5 Rdn. 27. 813 C.U. Hildesheim, Der Grundsatz der Maßgeblichkeit, StBp 2001, 1, 6. 814 Vgl. J. Schulze-Osterloh, Handels- und Steuerbilanz, ZGR 2000, 594, 600. 815 So pointiert G. Rombach, Das Maßgeblichkeitsprinzip im System einkommensteuerrechtlicher Gewinnermittlung, S. 200.
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Kap. 4: Gemeinschaftsrecht und Maßgeblichkeitsgrundsatz
übereinstimmt oder divergiert. Die insoweit vertretene These, Rechnungslegung sei in ihrem Kernbestand unteilbar816, ist genauso richtig wie wenig aussagekräftig. Denn sie verlagert die Fragestellung lediglich: Fraglich ist dann, was zum Kernbestand gehört und was nicht. a) Ziel der handelsrechtlichen Gewinnermittlung Das Schrifttum bezieht sich bei der Konkretisierung der Ziele der handelsrechtlichen Rechnungslegung auf die Interessen der verschiedenen Bilanzadressaten817. Unterschieden wird insoweit vor allem zwischen Zahlungs- und Informationsinteressen818. Nach herrschender Auffassung ist die zentrale Aufgabe der handelsrechtlichen Gewinnermittlung die Ausschüttungsbemessung819. Zu ermitteln ist der vorsichtig bemessene realisierte Gewinn, der entnommen oder ausgeschüttet werden kann, ohne die Substanz und die Gläubiger zu gefährden820. Auf Ausschüttung dieses Gewinns kann zum Beispiel bei Aktiengesellschaften nach einem Gewinnverwendungsbeschluss ein gesellschaftsrechtlicher Anspruch bestehen821. Die Tatsache, dass die tragenden Säulen des Handelsbilanzrechts das Realisationsprinzip mit seiner umsatzgebundenen und das Imparitätsprinzip mit seiner verlustantizipierenden Wirkung sind und dadurch eine einseitige Betonung des Vorsichtsgedankens erfolgt, hat seinen Hintergrund in dieser Ausschüttungsbemessung822. Neben der Ausschüttungsbemessungsfunktion hat der handelsrechtliche Jahresabschluss auch die Funktion der Rechenschaftslegung des Managements gegenüber den Gesellschaftern zu erfüllen; er dient der Dokumentation und Schuldendeckungskontrolle sowie der Überprüfung der Kreditwürdigkeit durch die Gläubiger. Dabei sollen nicht nur die gegenwärtigen Eigner und Gläubiger, sondern auch künftige Kapitalgeber, Arbeitnehmer und die Öffentlichkeit informiert werden. Zusammenfassend kann man diese Aufgaben unter dem Begriff „Informationsfunktion des handelsrechtlichen Jahresabschlusses“ subsumieren823. 816 Vgl. J. Sigloch, Ein Valet dem Maßgeblichkeitsprinzip, BFuP 2001, 157, 179; ähnlich H. Beisse, Zum neuen Bild des Bilanzrechtssystems, FS für Adolf Moxter, S. 3, 23. 817 Vgl. N. Schiele, Unternehmensbesteuerung und Handelsbilanz, S. 55. 818 Vgl. W. Ballwieser, Anforderungen des Kapitalmarktes an Bilanzansatz- und Bilanzbewertungsregeln, KoR 2001, 160. 819 Vgl. T. Stobbe, Die Verknüpfung handels- und steuerrechtlicher Rechnungslegung, S. 24. 820 Vgl. J. Thiel, Bilanzrecht, S. 82 Rdn. 192. 821 Vgl. A. Raupach, Wandel von Bilanzierungszwecken?, FS für Welf Müller, S. 793, 809. 822 Vgl. L. Schmidt, Maßgeblichkeitsprinzip und Einheitsbilanz, S. 127; H. Weber-Grellet, Maßgeblichkeitsschutz und eigenständige Zielsetzung der Steuerbilanz, DB 1994, 288, 289. 823 Vgl. T. Stobbe, Die Verknüpfung handels- und steuerrechtlicher Rechnungslegung, S. 27.
B. Inhalt und Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes
169
Es zeigt sich, dass diese beiden Zwecke divergieren können. Dies gilt nicht nur, wenn man wie die traditionelle Meinung Gläubigerschutz und Vorsichtsprinzip gleichsetzt824 und einen Gegensatz zwischen Gläubiger- und Gesellschafterschutz betont825. Denn dieser Gegensatz ist nicht zwingend826. Zum einen sind auch Investoren und Anteilseigner, wirtschaftlich betrachtet, Gläubiger. Zum anderen ist nicht einzusehen, wieso außenstehende Gläubiger, wie Lieferanten oder Abnehmer, einen höheren Schutz genießen sollen als Anteilseigner. Eine derartige Differenzierung lässt sich jedenfalls nicht aus der verfassungsrechtlichen Eigentumsbindung des Unternehmens ableiten827. Eine Divergenz kann aber dadurch entstehen, dass die wegen der Ausschüttungsbemessung durch das Vorsichtsprinzip geprägte Bilanz keine realistisches, weil (über)vorsichtiges Bild der Unternehmenslage abbildet. Betrachtet man die Gläubiger nicht als Objekte paternalistischer Fürsorge, sondern als zu rationaler Entscheidung befähigte Akteure828, so kommt man schnell zu der Erkenntnis, dass sowohl Gläubiger als auch Eigenkapitalgeber primär an möglichst präziser Information über den finanziellen Zustand des Unternehmens interessiert sind. Stille Reserven, deren Förderung durch die herkömmliche deutsche Bilanzierungsphilosophie gefördert wurde, waren nur scheinbar im Gläubigerinteresse. Denn in aller Regel waren sie verschwunden, wenn sie gebraucht wurden829. Es ist daher nicht nachvollziehbar, wie diesen stillen Reserven unternehmenserhaltende Wirkung zugeschrieben werden kann830. Der aufgezeigte Konflikt zwischen Ausschüttungsbemessung und Information lässt sich dadurch lösen, dass nicht an jeden ausgewiesenen Vermögenszuwachs zugleich Ausschüttungsfolgen geknüpft werden831. Zusammenfassend lässt sich daher feststellen, dass der Zweck der Ausschüttungsbemessung der wichtigste für die Handelsbilanz ist. Der gleichzeitig verfolgte Informationszweck kann, muss aber nicht hiermit kollidieren. 824 Vgl. H. Beisse, Gläubigerschutz, Grundprinzip des deutschen Bilanzrechts, FS für Karl Beusch, S. 77. 825 Vgl. H. Beisse, Gläubigerschutz, Grundprinzip des deutschen Bilanzrechts, FS für Karl Beusch, S. 77, 83. 826 Vgl. K. Fresl, Die Europäisierung des deutschen Bilanzrechts, S. 30. 827 Vgl. Budde / Steuber, Rechnungslegung im Spannungsfeld zwischen Gläubigerschutz und Information der Gesellschaft, AG 1996, 542, 545. 828 Vgl. F. Kübler, Vorsichtsprinzip versus Kapitalmarktinformation, FS für Wolfgang Dieter Budde, S. 361, 365. 829 Vgl. Budde / Steuber, Rechnungslegung im Spannungsfeld zwischen Gläubigerschutz und Information der Gesellschaft, AG 1996, 542, 545. Großfeld, Bilanzrecht, S. 128, Rdn. 271, zieht plastisch , aber zutreffend eine Parallele zu dem Sprichwort: „Wen die Götter stürzen, den blenden sie zuerst“. 830 So aber H. Biener, Bilanzierung im Spannungsfeld von Europa-, Umwandlungs- und Steuerrecht, StbJb 1995 / 96, 29, 33. 831 Vgl. L. Schmidt, Maßgeblichkeitsprinzip und Einheitsbilanz, S. 127.
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Kap. 4: Gemeinschaftsrecht und Maßgeblichkeitsgrundsatz
b) Ziel der steuerrechtlichen Gewinnermittlung Hauptaufgabe der steuerrechtlichen Rechnungslegung ist die Ermittlung einer Steuerbemessungsgrundlage für die Ertragsteuern, deren Primärziel wiederum die Versorgung des Staates mit Einnahmen ist. Daneben setzt der Fiskus das Steuerrecht und insbesondere das Steuerbilanzrecht als Instrument der Wirtschaftslenkung ein832. Aus der fiskalischen Aufgabe selbst lassen sich keine brauchbaren Aussagen über die Kriterien für die steuerliche Bemessungsgrundlage herleiten833. Anders als noch die Weimarer Reichsverfassung in Art. 132 trifft das Grundgesetz keine ausdrückliche Bestimmung über die Steuerlastenverteilung. Nichtsdestotrotz besteht Einigkeit darüber, dass das Grundgesetz, insbesondere in Art. 3 Abs. 1 GG, verfassungsrechtliche Vorgaben für die Besteuerung trifft. Herausragende Bedeutung kommt insoweit dem Leistungsfähigkeitsprinzip zu834, welches nicht nur ein ethisches Axiom und allgemein anerkanntes Fundamentalprinzip gerechter Besteuerung835, sondern auch aus dem positiven Verfassungsrecht herleitbar ist836. Für das BVerfG bildet insoweit der Gleichheitssatz gem. Art 3 Abs. 1 GG den verfassungsrechtlichen Geltungsgrund837. Eine weitere wichtige Rolle spielt das objektive Nettoprinzip, dem gleichfalls Verfassungsrang zugeschrieben wird838. Dieses Prinzip besagt, dass die Einkommensteuer ihrer Grundstruktur nach eine Steuer ist, die auf den von einem bestimmten Steuersubjekt bezogenen „Gewinn“ ausgerichtet ist.839 Diese Gewinnbezogenheit bedeutet im Kern, dass nicht einfach an Einnahmen oder Erträge angeknüpft werden kann, sondern an die Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben bzw. Erträgen und Aufwendungen. Darüber hinaus existiert der Grundsatz der periodengerechten Gewinnermittlung, wobei vorliegend dahingestellt bleiben kann, ob er seine Grundlage lediglich
Hierzu O. Jacobs, Das Bilanzierungsproblem in der Ertragsteuerbilanz, S. 64 ff. Vgl. P. Kirchhof, Verfassungsmaßstäbe eines vereinfachten, freiheitlichen Steuerrechts, S. 23, 28. 834 Vgl. J. Lang, Konkretisierungen und Restriktionen des Leistungsfähigkeitsprinzips, FS für Heinrich Wilhelm Kruse, S. 313, 315 m. w. N.; dezidiert a.A. Gassner / Lang, Das Leistungsfähigkeitsprinzip im Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht, S. 121. 835 Vgl. Tipke / Lang, Steuerrecht, § 4 Rdn. 83. 836 Vgl. P. Kirchhof, Der verfassungsrechtliche Auftrag zur Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit, StuW 1985, 319, 322. 837 Vgl. BVerfG, Beschluss v. 22. Februar 1984, BVerfGE 66, 214, 223. 838 Vgl. W. Goebbels, Die familiengerechte Besteuerung, S. 80; J. Schulze-Osterloh, Verfassungsrechtliche Grenzen der bilanzsteuerrechtlichen Gesetzgebung, DStJG 23, S. 67, 69. 839 Vgl. K. Friauf, Zur Frage der Nichtabzugsfähigkeit von Aufsichtsratsvergütungen im Körperschaftsteuerrecht, StuW 1973, 97. 832 833
B. Inhalt und Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes
171
in der technischen Überlegung findet, den Staat periodisch wiederkehrend mit Einkünften auszustatten, oder auch materiellen Gehalt hat840. Allen aufgeführten Grundsätzen ist gemeinsam, dass sie sehr abstrakt und folglich besonders konkretisierungsbedürftig sind. Der Gedanke, eine derartige Konkretisierung mit Hilfe der handelsrechtlichen Gewinnermittlung vorzunehmen, ist nicht fern liegend. Zwar liegen einige Unterschiede der Ziele von handels- und steuerbilanzrechtlicher Gewinnermittlung auf der Hand: Hinsichtlich der Information dient die Handelsbilanz einer ganzen Reihe von Adressaten, wie etwa der Geschäftsleitung, dem Eigentümer, dem Gesellschafter, dem Gläubiger, dem Arbeitnehmer und den Aufsichtsorganen etc., während die Steuerbilanz nur die Information des Steuergläubigers zum Zweck der Feststellung der Bemessungsgrundlage für die Steuern vom Einkommen zur Aufgabe hat. Darüber hinaus spielt in der Handelsbilanz die Überlegung der Wirtschaftslenkung keine vergleichbare Rolle wie in der Steuerbilanz841. Auf der anderen Seite ist eine gewisse Ähnlichkeit nicht von der Hand zu weisen. Beide Bilanzen versuchen, periodengerecht den Gewinn des Betriebes zu ermitteln. Eine genaue und ausführliche Untersuchung der einzelnen handelsrechtlichen Gewinnermittlungsgrundsätze auf ihre Vereinbarkeit mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben ist nicht Gegenstand dieser Arbeit842. Anhand zweier Überlegungen soll lediglich gezeigt werden, dass es aus verfassungsrechtlicher Sicht keinen Grund dafür gibt, die handelsrechtlichen Gewinnermittlungsvorschriften ungeprüft in das Steuerrecht zu übernehmen. Dies ist wichtig, um die Konnexität zwischen handels- und steuerrechtlicher Gewinnermittlung auch im Rahmen des geltenden Rechts unter den Aspekten der Vorlage- und Übernahmepflichten genauer beurteilen zu können. Zunächst wird sich mit einer These auseinander gesetzt, die die rein fiskalische, d. h. von Lenkungsabsichten freie, steuerliche Gewinnermittlung mit der an Ausschüttungsbemessung und Kapitalerhaltung orientierten handelsrechtlichen Gewinnermittlung auf bestechende Art zu vereinbaren scheint. Danach soll anhand eines handelsrechtlichen Grundprinzips, dem Imparitätsprinzip, gezeigt werden, dass die theoretische Zweckdivergenz zwischen Handels- und Steuerbilanz auch geeignet ist, praktische Folgerungen für die steuerliche Geeignetheit handelsrechtlicher Gewinnermittlungsgrundsätze zuzulassen. Vgl. hierzu ausführlich K.-D. Drüen, Periodengewinn und Totalgewinn, S. 85 ff. Vgl. W. Müller, Die Ausnahme und die Regel – Ein Lehrstück, dargestellt am so genannten Maßgeblichkeitsprinzip, DStR 2001, 1858, 1860. 842 Ansätze hierzu bei F. Broer, Maßgeblichkeitsprinzip und Harmonisierung der Rechnungslegung, S. 336 ff.; F. Königbauer, Das Maßgeblichkeitsprinzip im Spannungsfeld zwischen Handelsrecht und Steuerrecht, S. 158 ff. 840 841
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Kap. 4: Gemeinschaftsrecht und Maßgeblichkeitsgrundsatz
c) Die Idee des „Fiskus als Teilhaber“ Bedenkt man, dass es ein Problem der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit ist, die abschnittsweise Besteuerung ohne Zugriff auf die Substanz zu gewährleisten, so liegt die Heranziehung der handelsrechtlichen Gewinnermittlung als Konkretisierungshilfe nahe. Durchaus verbreitet wird hierin aber nicht nur eine Konkretisierungshilfe, sondern sogar ein „rechtsethischer“ Zusammenhang gesehen843. Dieser Zusammenhang wird wie folgt hergeleitet844: Der Gewinn sei, neben einer steuerlichen Größe, auch ein betriebswirtschaftlicher und handelsrechtlicher Maßstab für die Leistungsfähigkeit eines Unternehmens. Er zeige, auf eine einfache Formel gebracht, in welchem Umfang aus dem im Unternehmen arbeitenden Geld „Mehrgeld“ geworden ist. Dieses „Mehrgeld“ sei der Betrag, der bei den Gesellschaftern verteilt werden könne. Der Fiskus in seiner Eigenschaft als „stiller Teilhaber“845 könne nicht mehr verlangen als die anderen Gesellschafter. Er könne keinen Gewinn besteuern, der noch nicht verwirklicht ist; denn nur der Gewinn, nicht die Erwartung künftiger Gewinne unterliege der Einkommensteuer. Der Gedanke des Fiskus als stiller Teilhaber hat verbreitet Anhängerschaft gefunden846. Er verdient es, unter zwei Gesichtspunkten einer genaueren Kritik unterzogen zu werden. (1) Kritik der Vergleichbarkeit von Fiskus und Gesellschafter Zunächst erscheint es fraglich, ob der Fiskus tatsächlich genauso wie der Gesellschafter behandelt wird bzw. werden sollte. Immerhin wird Ersterer im Falle eines Verlustes durch den – wenn auch begrenzten – Verlustvortrag zur Rückerstattung seiner „Gewinnanteile“ verpflichtet847. Diesem Unterschied lässt sich nicht generell entgegenhalten, auch der Gesellschafter beteilige sich an den Verlusten, nämlich im Rahmen der Drohverlustrückstellung, welche die Höhe des Gewinns senke. Denn der Verlustnachtrag gilt auch für Verluste, die nicht durch Drohverlustrückstellungen antizipiert wurden. 843
Vgl. A. Moxter, Zum Verhältnis von Handelsbilanz und Steuerbilanz, BB 1997, 195,
198. 844 Grundlegend G. Döllerer, Maßgeblichkeit der Handelsbilanz in Gefahr, BB 1971, 1333, 1134; die Parallele zwischen Staat und Gesellschafter zog zum ersten Mal, wenn auch nicht im Rahmen der Maßgeblichkeitsdiskussion, das Königlich Preußische OVG, Urteil v. 2. Juli 1902, in Entscheidungen des Königlich Preußischen Oberverwaltungsgerichts in Staatsteuersachen, Zehnter Band, S. 294, 305. 845 Dieser Begriff ist bildlich gemeint und hat mit dem stillen Gesellschafter im gesellschaftsrechtlichen Sinne nichts zu tun. 846 Vgl. K. Fresl, Die Europäisierung des deutschen Bilanzrechts, S. 17 m. w. N.; T. Stobbe, Neue Koordinaten des Steuerbilanzrechts?!, FR 1997, 361, 362 m. w. N. 847 Vgl. T. Siegel, Mangelnde Ernsthaftigkeit des Gläubigerschutzes als offene Flanke der deutschen Rechnungslegungsvorschriften, FS für Jörg Baetge, S. 117, 132.
B. Inhalt und Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes
173
Dies bedeutet nicht, dass der Fiskus generell schlechter gestellt ist als der Gesellschafter. Immerhin haftete Letzterer mit seiner Einlage, gegebenenfalls auch unbeschränkt848. Beide Beispiele zeigen jedoch deutliche Unterschiede in der Stellung von Fiskus und Gesellschafter. (2) Kritik der Wahl der Vergleichsobjekte Abgesehen von diesen Unterschieden erscheint schon der erste Ansatz des Vergleiches, nämlich die Auswahl des Vergleichspaares Fiskus / Gesellschafter, als verfassungsrechtlich fragwürdig. Gerade bei einer Prüfung im Rahmen des Art. 3 GG ist es methodisch wenig überzeugend, den Fiskus als Vergleichspartner einzubeziehen. Insbesondere ist es mit der „Grundphilosophie“ der Grundrechte, welche den Bürger vor dem Staat schützen sollen, schwerlich vereinbar. Richtigerweise muss die steuerliche Belastung des Unternehmers mit anderen Steuerpflichtigen verglichen werden849. Bei einem derartigen Vergleich ist zwar Sorgfalt geboten. Dies gilt insbesondere in Anbetracht der Tatsache, dass in Deutschland ein Dualismus der Einkünfteermittlung gilt, der grundsätzlich vom BVerfG akzeptiert wird850. Es ist beispielsweise nicht differenziert genug, bei einem Vergleich eines steuerzahlenden Unternehmens mit einem steuerzahlenden Arbeitnehmer die Rückstellungen beim Unternehmen einzuschränken mit der Begründung, der Arbeitnehmer könne auch keine Rückstellungen bilden851. Denn Letzterer erzielt im Gegensatz zum Unternehmen Überschusseinkünfte. Dessen ungeachtet zeigt sich bei der richtigen Wahl der Vergleichsobjekte, beispielsweise zwischen Steuerpflichtigen, die beide nach dem Betriebsvermögensvergleich besteuert werden, dass die handelsrechtliche nicht uneingeschränkt für die steuerliche Gewinnermittlung Geltung beanspruchen kann. Dies gilt zum Beispiel für den Bereich der handelsrechtlichen Wahlrechte. Wäre das Vergleichspaar Fiskus / Gesellschafter richtig gebildet, ließe sich prinzipiell auch nichts gegen eine Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen Wahlrechte anführen. Die Unvereinbarkeit Letzterer mit einer an Art. 3 Abs. 1 GG ausgerichteten Besteuerung entspricht aber der ständigen Rechtsprechung des BFH852.
848 Küting / Kessler, Einige Bemerkungen zum Verhältnis von Imparitätsprinzip und Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit, StuB 2000, 21, 28. 849 So zutreffend F. Wagner, Aufgabe der Maßgeblichkeit bei einer Internationalisierung der Rechnungslegung?, DB 1998, 2073, 2075. 850 Vgl. BVerfG, Beschluss v. 11. Mai 1970, BVerfGE 28, 227, 236. 851 In diesem Sinne BT-Drucks. 14 / 23, S. 170; ähnlich U. Müller, Imparitätsprinzip und Erfolgsermittlung, DB 1996, 689, 695, die es als verfassungswidrig erachtet, dass die Möglichkeit der Rückstellung nur einer bestimmten Gruppe von Steuerpflichtigen zur Verfügung steht. 852 Vgl. Kapitel 4 B. III. 1.
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Kap. 4: Gemeinschaftsrecht und Maßgeblichkeitsgrundsatz
Auch bei Beachtung des Dualismus der Einkünfteermittlung, mit anderen Worten, auch bei einem Vergleich der Besteuerung von Überschusseinkünften mit dem Betriebsvermögensvergleich, zeigt sich, dass Rückstellungen, soweit sie nicht abgezinst werden müssen853, eine erhebliche Subventionswirkung854 haben. Bedenkt man, dass diese Subventionswirkung rechnerisch über den eigentlichen Aufwand hinaus gehen und damit sogar zu einem Finanzierungsgewinn führen kann855 und sachliche Gründe schon für eine bloße Subvention nicht ersichtlich sind856, so liegen verfassungsrechtliche Bedenken auf der Hand857. Derartige Bedenken lassen sich auch nicht mit einem Hinweis auf Art. 14 Abs. 2 GG ausräumen. Schön vertritt insofern die Auffassung, dieser Artikel verleihe dem Maßgeblichkeitsgrundsatz seine innere verfassungsrechtliche Legitimation: Art. 14 Abs. 2 GG setze dem steuerlichen Zugriff dort eine Grenze, wo die Substanz angegriffen wird, an den Erträgen dagegen dürfe der Staat partizipieren. Diese Vorstellung würde durch den Maßgeblichkeitsgrundsatz aufgegriffen, denn auch die Handelsbilanz sei darauf gerichtet, den „entziehbaren“ Gewinn zu ermitteln. Der im Leistungsfähigkeitsprinzip angelegte Begriff des „disponiblen Einkommens“ gewinne eine neue, in der Struktur der handelsrechtlichen Gewinnermittlung stehende Dimension: Nur auf den Gewinn, den der Steuerpflichtige seinem Unternehmen entziehen kann, dürfe der Staat zurückgreifen858. Diese Überlegung ist nicht überzeugend, weil Schön das voraussetzt, was er beweisen möchte: nämlich dass der steuerlich entziehbare Gewinn dem handelsrechtlichen entspricht. Gerade diese Wertung lässt sich aber aus Art. 14 Abs. 2 GG nicht ableiten. Vielmehr lässt sich aus dessen Schutzbereich eine verfassungsrechtliche Aussage über die Grenze zwischen Substanz und Ertrag beim Betriebsvermögensvergleich nicht entnehmen859. Zur Klarstellung: Es ist durchaus möglich, dass der steuerrechtliche Gewinn dem handelsrechtlichen entsprechen kann. Dafür, dass sich diese Übereinstimmung zwingend ergeben muss, sind die Anhänger der These vom Fiskus als stiller Teilhaber einen Beweis schuldig geblieben. Viel spricht dafür, dass ein derartiger Beweis nicht zu führen ist. Denn es leuchtet relativ schnell Beachte insoweit die Änderungen durch das StEntlG, vgl. Kapitel 4 B. I. 2. b) (1). Hierzu Rogall / Spengel, Abzinsung von Rückstellungen in der Steuerbilanz, BB 2000, 1234, 1235 f. mit Beispielen. 855 Vgl. T. Siegel, Rückstellungen in der Steuerbilanz und Leistungsfähigkeitsprinzip, StuB 2000, 29, 32; diese Möglichkeit übersehend R. Beiser, Die Abzinsung von Verbindlichkeiten und Rückstellungen im Lichte des Leistungsfähigkeitsprinzips, DB 2001, 296, 297. 856 Vgl. T. Siegel, Saldierungsprobleme bei Rückstellungen und die Subventionswirkung des Maßgeblichkeitsprinzips, BB 1994, 2237, 2244. 857 Vgl. W. Doralt, Sind Rückstellungen steuerpolitisch gerechtfertigt?, DB 1998, 1357, 1358. 858 Vgl. W. Schön, Die Steuerbilanz zwischen Handelsrecht und Grundgesetz, StuW 1995, 366, 377. 859 So auch W. Schön, Die Steuerbilanz zwischen Handelsrecht und Grundgesetz, StuW 1995, 366, 373. 853 854
B. Inhalt und Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes
175
ein, dass der steuerlich entziehbare oder – besser – steuerlich vergleichbare860 Gewinn durchaus höher liegen kann als der handelsrechtliche. Gerade in besonderen Situationen, man denke an den Lastenausgleich nach dem Zweiten Weltkrieg, kann es gesellschaftlich und auch verfassungsrechtlich geboten sein, die unscharfe861 Grenze zwischen Substanz und Ertrag unter steuerlichen Gesichtspunkten deutlicher in den Bereich der Substanz zu verschieben, während handelsrechtlich für eine derartige Verschiebung kein Anlass besteht. Nach alledem zeigt sich, dass die Idee des Fiskus als Teilhaber am handelsrechtlich ermittelten Unternehmensgewinn nicht geeignet ist, einen „rechtsethischen“ Zusammenhang zwischen handels- und steuerrechtlicher Gewinnermittlung zu begründen862.
d) Zur Vereinbarkeit von Imparität und Leistungsfähigkeit Dass die steuerliche Gewinnermittlung von der handelsrechtlichen abweichen kann, zeigt sich auch am Beispiel des Imparitätsprinzips. Dieses gilt im Handelsrecht und besagt zum einen, dass schon entstandene, aber noch nicht realisierte Verluste berücksichtigt werden, zum anderen nimmt es künftige Verluste vorweg863. Die erste Fallgruppe betrifft handelsrechtlich die Abschreibung auf den niedrigeren beizulegenden Wert nach § 253 Abs. 2 S. 3, Abs. 3 HGB, die zweite die Drohverlustrückstellung nach § 249 Abs. 1 S. 1 HGB864. Um das Verhältnis von steuerrechtlicher zu handelsrechtlicher Gewinnermittlung besser beurteilen zu können, soll am Beispiel der Drohverlustrückstellung untersucht werden, ob hier eine steuerliche Berücksichtigung verfassungsrechtlich geboten ist865. Sollte diese Frage zu verneinen sein, wäre die These von einer grundsätzlichen Selbständigkeit der steuerlichen Gewinnermittlung ein weiteres Mal bestätigt. Beantwortet werden muss hier daher nicht die Frage, ob und inwieVgl. H. Weber-Grellet, Steuerbilanzrecht, S. 35. Diese Unschärfe resultiert letztlich aus der Unschärfe des betriebswirtschaftlichen und bilanztheoretischen Gewinnbegriffs. Beide Begriffe sind heftig umstritten; ihre Analyse liegt außerhalb des Untersuchungsgegenstandes. Einigkeit besteht sowohl bei Betriebswirten als auch bei Bilanztheoretikern nur darin, dass es den „richtigen“ Gewinn nicht gibt. 862 Vgl. F. Wagner, Welche Kriterien sollen die Neuordnung der steuerrechtlichen Gewinnermittlung bestimmen?, BB 2002, 1885, 1887, der das Argument des „stillen Teilhabers“ als eine der erstaunlichsten gedanklichen Fehlkonstruktionen der letzten Jahrzehnte bezeichnet. 863 Vgl. J. Schulze-Osterloh, Verfassungsrechtliche Grenzen der bilanzsteuerrechtlichen Gesetzgebung, DStJG 23, S. 67, 72. 864 Vgl. A. Moxter, Zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Bilanzrecht, StuW 1989, 232, 241. 865 So z. B. Küting / Kessler, Zur geplanten Reform des bilanzsteuerlichen Rückstellungsrechts nach dem Entwurf eines Steuerentlastungsgesetzes 1999 / 2000 / 2002, DStR 1998, 1937, 1940. 860 861
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Kap. 4: Gemeinschaftsrecht und Maßgeblichkeitsgrundsatz
weit das Imparitätsprinzip berücksichtigt werden sollte oder darf, sondern nur die Frage, ob es berücksichtigt werden muss. Zur Bejahung dieser Frage werden zwei grundlegende Argumente angeführt: Zum einen wird dargelegt, der drohende Verlust beeinträchtige die Leistungsfähigkeit. Dies allein wird niemand bestreiten; brisant und schwerer zu beantworten ist dagegen die Frage, wann genau und in welchem Umfang diese Beeinträchtigung eintritt. Denkbar ist zum einen der Zeitpunkt der genauen Kenntnis vom drohenden Verlust, dies würde für eine Verlustantizipation 866 in Form einer Drohverlustrückstellung sprechen. Mit Sicherheit wird die Leistungsfähigkeit bei Eintritt des Verlustes beeinträchtigt. Für eine Verlustantizipation wird wie folgt argumentiert: Sie werde durch das Leistungsfähigkeitsprinzip vorgegeben, denn ein gedachter Erwerber würde, ähnlich wie bei der Teilwertkonzeption867, den drohenden Verlust preismindernd berücksichtigen868. Letzteres ist zwar zutreffend, systematisch jedoch nicht geeignet, eine Verlustantizipation zu rechtfertigen. Denn überzeugend wäre dieses Argument in diesem Zusammenhang nur, wenn der für die Gewinnermittlung vorgesehene Betriebsvermögensvergleich jeweils die Veräußerung des Unternehmens zum Maßstab erhöbe869. Dies ist jedoch, anders als bei der Teilwertermittlung, nicht der Fall. Eine derartige Ermittlung würde zwingend zur Aufdeckung der stillen Reserven und zum Ausweis des originären Geschäfts- und Firmenwerts führen. Der „Teilwerttest“870 ist daher unzulässig. Dieses Ergebnis wird durch folgende Überlegungen zur steuerlichen Gewinnermittlung gestützt: Steuern sind zu zahlen, wenn Gewinne vorhanden sind, keine Steuern sind zu zahlen, wenn Verluste entstehen. Die steuerliche Verlustantizipation stellt daher die Dinge auf den Kopf und ist systemwidrig871. Die Systemwidrigkeit zeigt sich darin, dass im Jahr des tatsächlichen Eintritts der Vermögensminderung im Falle einer vorangegangenen Drohverlustrückstellung bilanzielle Erfolgsneutralität zu vermerken ist872. Die Systemwidrigkeit lässt sich schließlich 866 A.A. H. Kessler, Verabschiedet sich der Bundesfinanzhof vom Imparitätsprinzip?, DStR 1994, 1289, 1296, der die Auffassung vertritt, der Verlust sei nicht antizipiert, es läge vielmehr schon eine Vermögenseinbuße vor. 867 Hierzu ausführlich in Kapitel 5 B. 868 Vgl. A. Bordewin, Keine Rückstellung für drohenden Verlust in der Steuerbilanz, FR 1998, 226, 232; A. Moxter, Zur Abgrenzung von Verbindlichkeitsrückstellungen und (künftig grundsätzlich unzulässigen) Verlustrückstellungen, DB 1997, 1477, 1480. 869 So zutreffend J. Schulze-Osterloh, Verfassungsrechtliche Grenzen der bilanzsteuerrechtlichen Gesetzgebung, DStJG 23, S. 67, 74. 870 So J. Hennrichs, Maßgeblichkeitsgrundsatz oder eigenständige Prinzipien für die Steuerbilanz, DStJG 24, 301, 320. 871 Vgl. U. Müller, Imparitätsprinzip und Erfolgsermittlung, DB 1996, 689, 693; H. Weber-Grellet, Der Apotheker-Fall – Anmerkungen und Konsequenzen zum Beschluß des Großen Senats vom 23. 6. 1997 GrS 2 / 93, DB 1997, 2233, 2235. 872 J. Schulze-Osterloh, Verfassungsrechtliche Grenzen der bilanzsteuerrechtlichen Gesetzgebung, DStJG 23, S. 67, 75.
B. Inhalt und Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes
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nicht mit dem Hinweis widerlegen, durch das Imparitätsprinzip werde zwar der Periodengewinn, nicht aber der Totalgewinn beeinflusst; es würden nur Verschiebungen auftreten, „abgesehen von Progressionen und Zinsverlusten“.873 Der lapidare874 Hinweis auf Progressionsverschiebungen und Zinsverluste verkennt, dass diese zu einer signifikanten Änderung der Steuerlast875 führen können, von der nicht „abgesehen werden kann“876. Die These, durch die steuerliche Nichtanerkennung von Drohverlustrückstellungen würden Firmen in die Insolvenz getrieben, da sie substanziellen Vermögensverlust aus versteuertem Eigenkapital finanzieren müssen877, ist unzutreffend. Denn der Vermögensverlust, selbst wenn man ihn schon zum Zeitpunkt der genauen Kenntnis vom drohenden Verlust bejaht878, ist in diesem Zeitpunkt jedenfalls noch kein Verlust an Liquidität. Die steuerliche Nichtanerkennung kann daher nicht zu einer Zahlungsunfähigkeit führen. Genauso wenig kann sie Ursache einer Überschuldung sein. Dies gilt jedenfalls dann, wenn eine uneingeschränkte steuerliche Verlustverrechnung möglich ist879. Als zweites Argument gegen die steuerliche Nichtanerkennung von Drohverlustrückstellungen wird vertreten, es läge eine willkürliche Ungleichbehandlung vor, da Verbindlichkeitsrückstellungen weiterhin auch steuerlich berücksichtigt würden880. Dem ist entgegenzuhalten, dass beide Rückstellungsarten unterschiedliche Zwecke verfolgen und unterschiedliche Zeitabschnitte ansprechen881. Während die Verbindlichkeitsrückstellung einen bereits wirtschaftlich verursachten Aufwand aufweist, bildet die Verlustrückstellung einen künftigen Verlust, nämlich einen Saldo aus künftigem Ertrag und künftigem Aufwand ab. Es liegt daher im Ermessensspielraum des Gesetzgebers, diese beiden Sachverhalte unterschiedlich zu regeln882. 873 So in der Tat M. Stahlschmidt, Die Maßgeblichkeit – Glücksfall oder Störfaktor, DStZ 2000, 415, 417. 874 Vgl. C.U. Hildesheim, Der Grundsatz der Maßgeblichkeit, StBp 2001, 1, 6. 875 Vgl. das Beispiel bei J. Hennrichs, Der steuerrechtliche sog. Maßgeblichkeitsgrundsatz gem. § 5 EStG, StuW 1999, 138, 153, bei dem eine Verringerung der Steuerlast um 80% erfolgt. 876 A.A., aber wenig überzeugend M. Stahlschmidt, Die Maßgeblichkeit – Glücksfall oder Störfaktor, DStZ 2000, 415, 417. 877 Vgl. H. Ott, Zieht der Gesetzgeber die Lehren aus dem Fall Holzmann?, StuB 2000, 569, 570. 878 So offenbar H. Kessler, Verabschiedet sich der Bundesfinanzhof vom Imparitätsprinzip?, DStR 1994, 1289, 1296. 879 Beachte insofern die Einschränkungen durch das StEntlG. 880 Vgl. Herzig / Rieck, Saldierungsbereich bei Drohverlustrückstellungen im Gefolge der Apothekerentscheidung, DB 1997, 1881, 1884; A. Moxter, Zur Abgrenzung von Verbindlichkeitsrückstellungen und (künftig grundsätzlich unzulässigen) Verlustrückstellungen, DB 1997, 1477, 1480. 881 Vgl. M. Groh, Verbindlichkeitsrückstellung und Verlustrückstellung: Gemeinsamkeiten und Unterschiede, BB 1988, 27.
12 Bärenz
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Kap. 4: Gemeinschaftsrecht und Maßgeblichkeitsgrundsatz
Nach alledem zeigt sich, dass eine Berücksichtigung des Imparitätsprinzips bei der steuerrechtlichen Gewinnermittlung verfassungsrechtlich jedenfalls nicht geboten ist883. Die zumindest partielle Zweckdivergenz zwischen handels- und steuerrechtlicher Gewinnermittlung ist daher nicht nur theoretischer Natur, sondern kann auch bei konkreten Beispielen, wie bei der Bewertung des Imparitätsprinzips, zu unterschiedlichen Ergebnissen führen.
2. Die Rechtsnatur von Handels- und Steuerbilanzrecht Es besteht in der Rechtsprechung, Gesetzgebung und Literatur ein weitgehender Konsens darüber, dass das Handelsbilanzrecht genau wie das Steuerbilanzrecht öffentliches Recht ist884. Lediglich vereinzelt wird, wenn auch ohne weitere Begründung, das Handelsbilanzrecht dem Zivilrecht zugeordnet885. Zumindest missverständlich886 ist in diesem Zusammenhang auch die Äußerung des Großen Senats des BFH887 in seinem Beschluss zur phasengleichen Dividendenaktivierung888: „Das Handelsrecht wird von ( . . . ) beeinflusst. Das Steuerrecht ist dagegen öffentliches, d. h. in seinem Kern zwingendes Recht“.
Da es in diesem Beschluss um den Vergleich von Handels- und Steuerbilanzrecht ging, könnte man diese Äußerung, insbesondere auf Grund der Verwendung des Wortes „dagegen“, als eine Abweichung von der bisher einhelligen Meinung auffassen. Eine derartige Abweichung könnte geeignet sein, unterschiedliche Ergebnisse der jeweiligen Gewinnermittlung zu rechtfertigen. Gerade vor dem Hintergrund der Tatsache, dass der öffentlich-rechtliche Charakter des Handelsbilanzrechts weitgehend unstrittig war, sollte die unbegründete Äußerung nicht ohne weiteres als Abweichung eingestuft werden.
882 So auch, trotz Plädoyer für eine Gleichbehandlung, A. Bordewin, Keine Rückstellung für drohenden Verlust in der Steuerbilanz, FR 1998, 226, 233. 883 So auch Oestreicher / Spengel, Anwendung von IAS in der EU – Zukunft des Maßgeblichkeitsprinzips und Steuerbelastung, RIW 2001, 889, 894; J. Schulze-Osterloh, Verfassungsrechtliche Grenzen der bilanzsteuerrechtlichen Gesetzgebung, DStJG 23, S. 67, 75; wohl auch, trotz Plädoyer für eine Berücksichtigung, J. Hennrichs, Maßgeblichkeitsgrundsatz oder eigenständige Prinzipien für die Steuerbilanz, DStJG 24, 301, 324. 884 Vgl. J. Icking, Die Rechtsnatur des Handelsbilanzrechts, S. 35 ff. m. w. N. 885 Vgl. H. Weber-Grellet, Tendenzen der BFH-Rechtsprechung, StuW 1993, 195, 202; ders., Der Maßgeblichkeitsgrundsatz im Lichte aktueller Entwicklungen, BB 1999, 2659, 2661; ders. aber differenzierter, Zur Abschaffung des Maßgeblichkeitsgrundsatzes, StuB 2002, 700, 702 f. 886 Vgl. A. Moxter, Phasengleiche Dividendenaktivierung: Der Große Senat des BFH im Widerstreit zu den handelsrechtlichen GoB, DB 2000, 2333, 2336. 887 Vgl. BFH, Beschluss v. 7. August 2000, GmbHR 2000, 1106, 1111. 888 Hierzu ausführlich Kapitel 4 B. III. 2.
B. Inhalt und Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes
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Denn die Betonung des öffentlich-rechtlichen Charakters des Steuerbilanzrechts durch den Großen Senat und auch durch Weber-Grellet hat womöglich eine andere Zielrichtung: Obwohl sowohl das Handels- als auch das Steuerbilanzrecht zum öffentlichen Recht gehören, besagt diese „Gemeinsamkeit“ allein noch nichts für eine übereinstimmende Auslegung. Dies wird, durchaus kontrovers, unter dem Stichwort „Einheit der Rechtsordnung“ diskutiert.
3. Der Gedanke der Einheit der Rechtsordnung / Verhältnis Steuerrecht zu Zivilrecht Auf Grundlage dieses Stichwortes wird durchaus verbreitet gefolgert, handelsrechtliche und steuerliche Gewinnermittlung müssten zu kongruenten Ergebnissen kommen. Es sei unerträglich, wenn der Kaufmann steuerrechtlich zu einer Bilanzierung gezwungen sei, die ihm bei handelsrechtlicher Beurteilung eine Bestrafung wegen Bankrotts einbrächte889. Zwar lässt sich dem, wie gerade gezeigt, nicht einfach entgegenhalten, das Handelsbilanzrecht gehöre mit dem Zivilrecht einem anderen Rechtskreis an890. Trotz allem dürfen mit dem Argument der Einheit der Rechtsordnung nicht strukturelle Unterschiede verschiedener Rechtsgebiete verwischt werden891. Steuerbilanzrecht ist seinem Wesen nach Steuerrecht und kein Handelsrecht892. Auch wenn das Handelsbilanzrecht seiner Natur nach öffentliches Recht ist, so erfüllt es doch andere Zwecke. Unter diesem Gesichtspunkt ist es daher gewinnbringend, kurz das Verhältnis des Steuerrechts zum Zivilrecht zu beleuchten. Die Finanzrechtsprechung hat lange zwischen der so genannten wirtschaftlichen Betrachtungsweise, d. h. einer Auslegung und Tatbestandsbeurteilung nach Zweck und wirtschaftlicher Bedeutung der Steuergesetze, und dem so genannten „Primat des Zivilrechts“893 geschwankt. Der Reichsfinanzhof und anfangs noch der BFH favorisierten die wirtschaftliche Betrachtungsweise. Es war das Bundesverfassungsgericht, welches mit zwei Entscheidungen894 den BFH aufrief, dort die Ordnungsstruktur des Zivilrechts zu Vgl. G. Döllerer, Maßgeblichkeit der Handelsbilanz in Gefahr, BB 1971, 1333, 1335. Hingewiesen sei hier auf den interessanten Umstand, dass in der Diskussion um den Maßgeblichkeitsgrundsatz verbreitet, sogar von Befürwortern der Maßgeblichkeit, die These vom Handelsbilanzrecht als Zivilrecht akzeptiert wird, vgl. beispielsweise M. Stahlschmidt, Die Maßgeblichkeit – Glücksfall oder Störfaktor, DStZ 2000, 415, 417. Dies kann nur mit dem „Eifer des Gefechts“ erklärt werden. 891 Vgl. F. Broer, Maßgeblichkeitsprinzip und Harmonisierung der Rechnungslegung, S. 392. 892 Anders, aber nicht vertretbar S. Vogt, Die Maßgeblichkeit des Handelsbilanzrechts für die Steuerbilanz, S. 298. 893 Vgl. L. Woerner, Verfassungsrecht und Methodenlehre im Steuerrecht, FR 1992, 226, 227. 889 890
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Kap. 4: Gemeinschaftsrecht und Maßgeblichkeitsgrundsatz
wahren, wo das Steuerrecht an die bürgerlich-rechtliche Ordnung anknüpfe895. Der Meinungsumschwung zurück zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise ging wieder vom Bundesverfassungsgericht aus. Im Anschluss an die griffige These Kirchhofs von der Vorherigkeit, aber nicht des Vorrangs des Zivilrechts gegenüber dem Steuerrecht896 führte es aus897: „Knüpft eine steuerrechtliche Norm an eine zivilrechtliche Gestaltung an, so ist die Auslegung der steuerrechtlichen Bestimmung weder zwingend an dem Vertragstyp auszurichten, der der von den Parteien gewählten Bezeichnung entspricht, noch wird sie notwendigerweise von der zivilrechtlichen Qualifikation des Rechtsgeschäftes beeinflußt. Auch gilt keine Vermutung, das dem Zivilrecht entlehnte Tatbestandsmerkmal einer Steuerrechtsnorm sei im Sinne des zivilrechtlichen Verständnisses zu interpretieren. Ein Vorrang oder eine Maßgeblichkeit der zivilrechtlichen Würdigung besteht schon deshalb nicht, weil Zivilrecht und Steuerrecht nebengeordnete, gleichrangige Rechtsgebiete sind, die denselben Sachverhalt aus einer anderen Perspektive und unter anderen Wertungsgesichtspunkten beurteilen“.
Diese Argumente gelten wegen der zumindest partiellen Zweckdivergenz von Handels- und Steuerbilanz898 – trotz des Charakters des Handelsbilanzrechts als öffentliches Recht – auch für das Verhältnis des Steuer- zum Handelsbilanzrecht. Allerdings besteht ein Unterschied, der nicht verschwiegen werden soll: Im Gegensatz zum allgemeinen Steuerrecht verweist das Steuerbilanzrecht durch den Maßgeblichkeitsgrundsatz auf das Handelsbilanzrecht. Es liegt nahe, dass auf Grund dieser einfachgesetzlichen Verweisung die Anbindung des Steuerbilanzrechts an das Handelsbilanzrecht stärker als die Anbindung des Steuerrechts an das Zivilrecht ist899. Dass „Mehr“ an Anbindung kann aber nur aus dieser Verweisung resultieren, nicht dagegen aus dem generalisierenden Gedanken der Einheit der Rechtsordnung.
4. Praktikabilitäts- und Vereinfachungsgedanken Auf Grund der Tatsache, dass mit dem Maßgeblichkeitsprinzip ein Grundsatz statuiert wurde, der von vielen Ausnahmen geradezu durchlöchert wird, kann von einer Einheitsbilanz nicht mehr die Rede sein900. Letztere ist daher spätestens seit 894 Vgl. BVerfG, Urteil v. 24. Januar 1962, 1 BvL 32 / 57, BVerfGE 13, 290 ff. und BVerfG, Urteil v. 24. Januar 1962, 1 BvR 232 / 60, BVerfGE 13, 318 ff. 895 Vgl. W. Heinicke, Die Grenzen steuerrechtlicher Gestaltung, FS für Ludwig Schmidt, S. 751, 761. 896 Vgl. P. Kirchhof, Steuerumgehung und Auslegungsmethoden, StuW 1983, 173, 181. 897 Vgl. BVerfG, Beschluss v. 27. Dezember 1991, 2 BvR 72 / 90, BStBl. 1992, 212, 213. 898 Vgl. Kapitel 4 B. II. 1. 899 Vgl. ausführlicher in Kapitel 4 B. IV. 900 Vgl. W. Schroller, Die Zukunft des Maßgeblichkeitsgrundsatzes im Hinblick auf das Steuerentlastungsgesetz 1999 / 2000 / 2002 und die geplante Unternehmenssteuerreform, FS
B. Inhalt und Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes
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dem Steuerentlastungsgesetz 1999 / 2000 / 2002 in der Praxis eine Ausnahme901. Der möglicherweise früher vorhandene Vereinfachungsgedanke, im Wesentlichen nur eine Bilanz erstellen zu müssen, vermag daher nicht mehr für eine Ankopplung der Steuer- an die Handelsbilanz zu streiten902. Im Übrigen lässt sich der erforderliche Mehraufwand heutzutage durch den Einsatz von Computerprogrammen begrenzen903.
5. Schutz vor dem Fiskus Recht häufig wird als Argument für die Beibehaltung der Maßgeblichkeit vorgebracht, nur diese diszipliniere den Steuergesetzgeber, setze seiner Geldgier Grenzen904. Nicht auszudenken sei, welches Chaos die Steuergesetzgebung im Bilanzrecht anrichten würde, wenn sie die „Fessel“ der Handelsbilanz abwerfen würde905. Zum Teil wird diese Argumentation als „Beisskorbtheorie“ bezeichnet906. De iure ist sie nicht überzeugend. Schutz vor dem Fiskus bietet nicht der Maßgeblichkeitsgrundsatz, sondern das Verfassungsrecht und die daraus abgeleiteten steuerrechtlichen Prinzipien907. Die zahlreichen, fiskalisch bedingten Ausnahmen vom Maßgeblichkeitsgrundsatz908 zeigen, dass in der Vergangenheit dieser (angebliche) Schutz wenig effektiv war . Auch de facto ist das Argument fragwürdig. Abgesehen von seinem spekulativen Charakter liegt es näher, dass der deutsche Fiskus angesichts der internationalen Beweglichkeit des Kapitals weniger durch das handelsrechtliche Vorsichtsprinzip als vielmehr durch den Wettbewerb der Staaten um das Aufkommen aus der Kapitaleinkommensbesteuerung diszipliniert wird909. für Herbert Brönner, S. 361, 373; Stobbe / Loose, Steuerentlastungsgesetz 1999 / 2000 / 2002 Auswirkungen auf die handels- und steuerrechtliche Gewinnermittlung, FR 1999, 405, 420. 901 C. Theile, Maßgeblichkeitsprinzip, europäisches und internationales Bilanzrecht: die Bilanzierung bei der GmbH und GmbH & Co. im Umbruch(II), GmbHR 1999, 1241,1248. 902 A.A. C.U. Hildesheim, Der Grundsatz der Maßgeblichkeit, StBp 2001, 1, 6. 903 Vgl. D. Steck, Die Beibehaltung des Maßgeblichkeitsprinzips – Pro und Contra, StuB 2002, 487, 489. 904 Vgl. G. Söffing, Für und wider den Maßgeblichkeitsgrundsatz, FS für Wolfgang Budde, S. 635, 655. 905 Vgl. A. Raupach, Das Steuerrecht als unerwünschte Rechtsquelle der Handelsbilanz, FS für Adolf Moxter, S. 101, 124. 906 Vgl. K. Eichhorn, Das Maßgeblichkeitsprinzip bei Rechnungslegung nach den International Accounting Standards, S. 39. 907 F. W. Selchert, Internationalisierung der Rechnungslegung und Maßgeblichkeitsprinzip?, FS für Lutz Fischer, S. 913, 921. 908 Vgl. Kapitel 4 B. I. 909 Vgl. U. Schreiber, Hat das Maßgeblichkeitsprinzip noch eine Zukunft?, FS für Heinrich Beisse, S. 491, 503.
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Kap. 4: Gemeinschaftsrecht und Maßgeblichkeitsgrundsatz
6. Zwischenergebnis Verfassungsrechtliche Argumente für eine strikte Ankopplung des Steuer- an das Handelsbilanzrecht waren bei genauer Betrachtung nicht überzeugend. Es konnte eine jedenfalls partielle Zweckdivergenz zwischen handels- und steuerrechtlicher Gewinnermittlung festgestellt werden. Diese Divergenz kann nicht durch die These vom Fiskus als stillem Teilhaber relativiert werden, denn Letztere vermochte nicht zu überzeugen910. Folge der Divergenz kann ein vom handelsrechtlichen Gewinn abweichender steuerrechtlicher Gewinn sein. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Erkenntnis, dass der Maßgeblichkeitsgrundsatz keine fundamentale Gerechtigkeitsnorm ist911. Auch das Argument von der Einheit der Rechtsordnung vermag eine strikte Ankopplung der steuerrechtlichen an die handelsrechtliche Gewinnermittlung nicht zu rechtfertigen. Praktische Überlegungen, insbesondere Vereinfachungsgesichtspunkte, können in Hinblick darauf, dass eine Einheitsbilanz nicht mehr vorstellbar ist, genauso wenig für eine Ankopplung sprechen. Auf der anderen Seite liegt eine gewisse, abstrakte Ähnlichkeit zwischen Handels- und Steuerbilanz in Hinblick auf die Ermittlung eines periodisierten, entziehbaren Gewinns auf der Hand. Da gleichzeitig die verfassungsrechtlichen Vorgaben an eine steuerliche Gewinnermittlung zu wenig konkret für eine praktische Handhabung sind, erscheint es nicht fern liegend, dass sich das Steuerrecht bei der Festlegung des steuerbaren Gewinns der Hilfe des Handelsbilanzrechtes bedient912. Durchaus zutreffend ist der von Schön getroffene Vergleich913 zur Bundesverfassungsgerichtsentscheidung zum (steuerfreien) Existenzminimum914: Der Verfassung war zwar das Gebot einer steuerlichen Freistellung dieses Existenzminimums zu entnehmen, nicht aber eine konkrete Aussage zu dessen Höhe. Insoweit bediente sich das Gericht der Sachkunde des Sozialhilferechts. Dabei muss deutlich betont werden, dass ein signifikanter Unterschied zwischen „sich-der-Hilfe-bedienen“ und sklavischer Verkettung besteht. Insbesondere ist eine genaue Prüfung der Tauglichkeit zur Hilfe unabdingbar. Mit anderen Worten, eine Übernahme der handelsrechtlichen Regelung in das Steuerrecht erfolgt nicht aus „rechtsethischen“ 915 Gründen, sondern als Mittel zum Zweck. Vermag die han910 Im Ergebnis ebenso K. Eichhorn, Das Maßgeblichkeitsprinzip bei Rechnungslegung nach den International Accounting Standards, S. 41. 911 So zutreffend J. Thiel, Objektivierung der Gewinnermittlung, StbJb 1997 / 98, 309, 311. 912 Skeptischer unter dem Aspekt der neuen Institutionenökonomik C. Kirchner, Bilanzrecht und neue Institutionenökonomik, FS für Heinrich Beisse, S. 267, 275. Ihm erscheint es schwer vorstellbar, dass bilanzrechtliche Regelungen, die aus der Sicht der Anteilseigner und Gläubiger zustimmungsfähig sind, zugleich auch im Verhältnis Unternehmung / Staat zustimmungsfähig sein können. 913 Vgl. W. Schön, Steuerbilanz zwischen Handelsrecht und GG, StuW 1995, 366, 374. 914 Vgl. BVerfG, Beschluss v. 25. September 1992, BVerfGE 87, 153, 170 ff.
B. Inhalt und Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes
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delsrechtliche Regelung diesen Zweck nicht zu erfüllen, kann sie nicht maßgeblich sein916. Treffend erscheint insoweit der Begriff der zweckbezogen eingeschränkten Maßgeblichkeit917. Im Folgenden soll überprüft werden, inwiefern die Rechtsprechung des BFH dieses Verständnis der Verweisung durch den Maßgeblichkeitsgrundsatz stützt.
III. Die Auffassung des BFH Dabei wird die Untersuchung auf Fragen des Bilanzansatzes beschränkt. Dies hat den Hintergrund, dass hier eine wie auch immer geartete Geltung des Maßgeblichkeitsgrundsatzes unstrittig ist, während dies für Fragen der Bewertung nicht gilt918. Der Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf Letztere wird später untersucht919.
1. Die Entscheidung des Großen Senats vom 3. Februar 1969 In dieser, geradezu klassischen Entscheidung920 nahm der Große Senat zu der Frage Stellung, wie handelsrechtliche Aktivierungs- und Passivierungswahlrechte steuerrechtlich zu bewerten seien. Hierzu führte er aus921: „Die Verweisung auf die handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung unterscheidet nicht zwischen Wirtschaftsgütern, deren Aktivierung handelsrechtlich geboten oder verboten ist, und Wirtschaftsgütern, die handelsrechtlich aktiviert werden dürfen, aber nicht müssen. Sie bedarf insoweit der Auslegung, bei der ihr Sinn und Zweck, der Zusammenhang mit den übrigen steuerrechtlichen Vorschriften über die Gewinnermittlung und schließlich auch verfassungsrechtliche Grundsätze zu berücksichtigen sind. ( . . . ) Da es dem Sinn und Zweck der steuerrechtlichen Gewinnermittlung entspricht, den vollen Gewinn zu erfassen, kann es nicht im Belieben des Kaufmanns stehen, sich durch die Nichtaktivierung von Wirtschaftsgütern, die handelsrechtlich aktiviert werden dürfen, oder durch den Ansatz eines Passivpostens, der handelsrechtlich nicht geboten ist, ärmer zu machen, als er ist. Bilanzierungswahlrechte im Steuerrecht stünden auch schwerlich im
915 So aber A. Moxter, Zum Verhältnis von Handelsbilanz und Steuerbilanz, BB 1997, 195, 198; kritisch hierzu W. Rainer Walz, Strategien zur Überwindung des bilanzrechtlichen Anpassungsbedarfs, FS für Friedrich Kübler, S. 557, 578. 916 Vgl. H. Weber-Grellet, Der Apotheker-Fall, StbJb 1997 / 98, 275, 289. 917 Vgl. T. Schildbach, Maßgeblichkeit – Rechtslage und Perspektiven, BB 1989, 1443, 1449. 918 Vgl. Kapitel 5. 919 Vgl. Kapitel 5. 920 Vgl. BFH, Beschluss v. 3. Februar 1969, BFHE 95, 31. 921 Vgl. BFH, Beschluss v. 3. Februar 1969, BFHE 95, 31, 36.
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Kap. 4: Gemeinschaftsrecht und Maßgeblichkeitsgrundsatz
Einklang mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gleichheit der Besteuerung (Art. 3 des Grundgesetzes).“
Diese Auffassung entspricht mittlerweile auch der h.M. im Schrifttum922, wenngleich die Kritiker nicht völlig verstummt sind923. Interessant ist in diesem Zusammenhang die unterschiedliche Bewertung dieser Entscheidung. Prominente Befürworter der Maßgeblichkeit legen starken Wert auf das Wortlautargument. Aus der Tatsache, dass in § 5 EStG auf das Betriebsvermögen abgestellt wird, welches nach den handelsrechtlichen Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung auszuweisen ist (und nicht darf), wird gefolgert, dass steuerrechtlich nur zwingendes Handelsbilanzrecht maßgebend sei924. Andere interpretieren diese Entscheidung schon als Bekenntnis zur zweckbezogenen Maßgeblichkeit925. Hierfür spricht immerhin die deutliche, allgemeingültige Betonung des Zwecks der steuerlichen Gewinnermittlung, den vollen Gewinn zu erfassen926. In jedem Fall führte dieser Beschluss zu einer Abkopplung der Steuer- von der Handelsbilanz. Praktische Relevanz entfalten die entwickelten Grundsätze heute für das in § 250 Abs. 3 HGB behandelte Disagio von Verbindlichkeiten und Anleihen, die Instandhaltungsrückstellung nach § 249 Abs. 1 S. 3 HGB, die Aufwandsrückstellung nach § 249 Abs. 2 HGB und für die vom BFH als Aktivierungswahlrecht begriffene Ausgleichsverpflichtung nach § 89b HGB.
2. Die Entscheidung des Großen Senats vom 7. August 2000 Hier927 ging es um die Problematik der so genannten phasengleichen Dividendenaktivierung, mit welcher sich neben dem BFH auch schon der BGH und der EuGH beschäftigten. Es wird im Kern über die Frage entschieden, ob die Aktivierung eines zum Zeitpunkt der Bilanzierung zwar noch nicht rechtlich, aber wirtschaftlich entstandenen Dividendenanspruchs handels- und steuerrechtlich möglich oder sogar schon geboten ist. Diese Frage stellt sich ausschließlich bei Kapitalgesellschaften, denn bei Personenhandelsgesellschaften entsteht der Gewinnanspruch Vgl. Kempermann in Kirchhof / Söhn, EStG, § 5 Rdn. B 114. Vgl. Crezelius in Kirchhof, EStG, § 5 Rdn. 29; Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, S. 23. 924 Vgl. H. Beisse, Handelsbilanzrecht in der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs, BB 1980, 637, 638; G. Döllerer, Die Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz, BB 1969, 501, 503; ablehnend F. Wilsdorf, Rechnungslegungszwecke, S. 72. 925 Vgl. T. Stobbe, Die Verknüpfung handels- und steuerrechtlicher Rechnungslegung, S. 82; dem dezidiert widersprechend G. Döllerer, Die Verknüpfung handels- und steuerrechtlicher Rechnungslegung, ZHR 157 (1993), 349, 353. 926 Vgl. BFH, Beschluss v. 3. Februar 1969, BFHE 95, 31, 36. 927 Vgl. BFH, Beschluss v. 7. August 2000, GmbHR 2000, 1106. 922 923
B. Inhalt und Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes
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der Gesellschafter, dessen Umfang sich nach §§ 20, 121 HGB bzw. nach dem Gesellschaftsvertrag richtet, üblicherweise mit Feststellung des Jahresabschlusses. Hier ist die zeitgleiche Gewinnvereinnahmung daher regelmäßig möglich928. Der Große Senat nahm in diesem Beschluss ausdrücklich zum Verhältnis Steuerbilanzrecht / Handelsbilanzrecht und möglichen Vorlagepflichten an den EuGH Stellung. Seine Äußerungen müssen jedoch auch vor dem Hintergrund der konkreten Entscheidung gesehen werden. Daher wird hier zunächst die von ihm gefundene Auffassung zur phasengleichen Dividendenaktivierung dargestellt und einer kritischen Analyse unterzogen. Danach werden seine Thesen zum Verhältnis Steuerbilanzrecht / Handelsbilanzrecht gewürdigt. Die Äußerungen zu möglichen Vorlagepflichten an den EuGH werden später untersucht929. Die diesem Rechtsstreit zugrunde liegende Fallkonstellation war die Folgende: Die Klägerin, eine GmbH, hatte am 23. 12. 1985 von ihrer Muttergesellschaft 84% der Aktien an der H-AG erworben. Am 24. 6. 1986 beschloss die Hauptversammlung der H-AG neben der Feststellung des Jahresabschlusses zum 31. 12. 1985 gleichzeitig eine Dividendenausschüttung in Höhe von ca. 9 Mio. DM. Auf Grund der Tatsache, dass ein Verlustvortrag der Klägerin in Höhe von DM 10 Mio. nur noch bis einschließlich 1985 möglich war, hatte die Klägerin ein vitales Interesse an der Aktivierung des Dividendenanspruches bereits im Jahresabschluss 1985. Es liegt auf der Hand, dass der Aktienerwerb nur deswegen erfolgte. Der BGH hat in seinem ersten Urteil930 zur phasengleichen Dividendenaktivierung ausgeführt, dass Beteiligungserträge grundsätzlich erst dann zu aktivieren seien, wenn ein diesbezüglicher Gewinnverwendungsbeschluss der Beteiligungsgesellschaft vorliegt. Eine Ausnahme gelte jedoch dann, wenn sich der Gewinnanspruch gegen ein verbundenes Unternehmen mit gleichem Geschäftsjahr richte, bei dem das ausschüttungsberechtigte Unternehmen mehrheitlich beteiligt ist. Im vom BGH entschiedenen „Tomberger“-Fall931 vertrat dieser in Übereinstimmung mit der zwischenzeitlich ergangenen BFH-Rechtsprechung, dass für den Fall einer 100%gen Beteiligung der Mutter-GmbH an der Tochtergesellschaft eine Verpflichtung zur phasengleichen Dividendenaktivierung bestehe. Dieser Entscheidung ging eine Vorlage932 an den EuGH voraus, mit welcher der BGH dieses Ergebnis gemeinschaftsrechtlich absichern wollte. Der EuGH hielt, entgegen der Schlussanträge des Generalanwaltes Tesauro, die phasengleiche Dividendenaktivierung unter bestimmten Bedingungen für gemeinschaftsrechtlich zulässig.
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Vgl. V. Lippek, Die Aktivierung von Beteiligungserträgen, StuB 2000, 1085, 1090. Vgl. in Kapitel 4 B. VI. 5. Vgl. BGH, Urteil v. 3. November 1975, BGHZ 65, 230. Vgl. BFH, Urteil v. 12. Januar 1998, BGHZ 137, 378. Vgl. BGH, Beschluss v. 21. Juni 1994, BB 1994, 1673.
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Kap. 4: Gemeinschaftsrecht und Maßgeblichkeitsgrundsatz
Die ältere BFH-Rechtsprechung ging entsprechend der BGH-Auffassung jedenfalls von einem handelsrechtlichen Aktivierungswahlrecht aus. Nach dem Grundsatz, dass handelsrechtliche Aktivierungswahlrechte zu einer steuerrechtlichen Aktivierungspflicht führten933, ergab sich eine steuerrechtliche Aktivierungspflicht934. Der Zehnte Senat erweiterte die BGH-Rechtsprechung sogar auf Fälle, in denen der Mehrheitsgesellschafter ein Einzelunternehmen war935. Die zentralen Argumente waren: Mit Ablauf des Geschäftsjahres stehe objektiv fest, dass die Tochtergesellschaft einen Gewinn erzielt habe. Der Mehrheitsgesellschafter könne durch seine beherrschende Stellung bestimmen, dass der Gewinn ganz oder teilweise an ihn ausgeschüttet werde. Der nach Abschluss der Bilanz erfolgte Gewinnverwendungsbeschluss verdeutliche in einer objektiv nachprüfbaren Weise die schon am Bilanzstichtag bestehende Absicht des Mehrheitsgesellschafters, sich Gewinne der Gesellschaft durch Ausschüttung zuzuführen. Diese Absicht sei im Nachhinein erhellt worden936. Der Vierte Senat kritisierte diese Auffassung und neigte zu einer grundsätzlichen Aufgabe des Instituts der phasengleichen Dividendenaktivierung937, konnte die Frage aber offen lassen. In seinem Vorlagebeschluss938 schloss sich der Erste Senat dieser Auffassung ausdrücklich an. Methodisch ging er davon aus, dass ein Wirtschaftsgut „Dividendenforderung“ vorläge. Er wollte aus steuerlichen Gründen aber ein Aktivierungsverbot herleiten. Dieser Vorgehensweise schloss sich der Große Senat nicht an. Vielmehr vertritt er die Auffassung, dass schon ein Wirtschaftsgut „Dividendenforderung“ auf Grund fehlenden Gewinnverwendungsbeschlusses regelmäßig nicht vorläge939. Eine andere Beurteilung sei nur dann denkbar, wenn auf Grund objektiver, nachprüfbarer und nach außen in Erscheinung tretender Kriterien am Bilanzstichtag sowohl ein ausschüttungsfähiger Bilanzgewinn als auch die feste Ausschüttungsabsicht der Gesellschafter feststehe. Dies könne allenfalls in Ausnahmefällen zutreffen. Bezüglich des mindestens ausschüttungsfähigen Bilanzgewinnes spräche gegen eine Feststellbarkeit schon am Bilanzstichtag die Möglichkeit, nach dem Bilanzstichtag vorzunehmende Bilanzierungswahlrechte, beispielsweise die Inanspruchnahme von Sonderabschreibungen oder die Wahl der anzuwendenden Methode für AfA, anders als zunächst geplant in Anspruch zu nehmen940. Vgl. Kapitel 4 B. III. 1. Vgl. BFH, Urteil v. 2. April 1980, BFHE 131, 196, 198; BFH, Urteil v. 3. Dezember 1980, BFHE 132, 80, 84. 935 Vgl. BFH, Urteil v. 8. März 1989, BFHE 156, 443, 449 f. 936 Vgl. BFH, Urteil v. 8. März 1989, BFHE 156, 443, 450. 937 Vgl. BFH, Urteil v. 26. November 1998, BFHE 187, 492, 496. 938 Vgl. BFH, Beschluss v. 16. Dezember 1998, BFHE 187, 305. 939 Vgl. BFH, Beschluss v. 7. August 2000, GmbHR 2000, 1106, 1108. 940 Vgl. BFH, Beschluss v. 7. August 2000, GmbHR 2000, 1106, 1109. 933 934
B. Inhalt und Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes
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In Hinblick auf die fehlende rechtliche Entstehung der Dividendenforderung komme der gesicherten Ausschüttungsabsicht des Gesellschafters eine wesentliche Bedeutung zu. Weder aus einem später unterbreiteten Gewinnverwendungsvorschlag noch aus einer später beschlossenen Gewinnverwendung lasse sich insoweit ein gesicherter Rückschluss ziehen. Es gebe nämlich keinen Erfahrungssatz dahingehend, dass der spätere Gewinnverwendungsbeschluss den Willen der Gesellschafter am Bilanzstichtag widerspiegele941. Die damit bestehende Divergenz zu der BGH-Rechtsprechung beurteilt der Große Senat wie folgt942: „Der BGH konnte zu der von ihm vertretenen Rechtsauffassung nur gelangen, indem er zur Auslegung des Begriffs „Vermögensgegenstand“ nach dem Bilanzstichtag liegende Ereignisse wie Inhalt und Reihenfolge von Jahresabschlussfeststellungen und Gewinnverwendungsbeschlüssen auf den Bilanzstichtag zurückbezog und das Wertaufhellungsprinzip entsprechend extensiv auslegte. Insofern folgen aber Handels- und Steuerrecht unterschiedlichen Sachgesetzlichkeiten. Das Handelsrecht wird wesentlich von Gläubigerschutzinteressen beeinflusst, die in den Fällen der hier interessierenden Art einer extensiven Auslegung des Wertaufhellungsprinzips nicht entgegenstehen. Das Steuerrecht ist dagegen öffentliches, d. h. in seinem Kern zwingendes Recht. Es wird wesentlich von dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gleichheit der Besteuerung geprägt. Deshalb können Grund und Höhe der Besteuerung – von gesetzlich normierten Ausnahmen abgesehen – nicht vom Willen des Steuerpflichtigen abhängig gemacht werden. Dies ist aber der Fall, wenn die Anwendung des handelsrechtlichen Wertaufhellungsprinzips einem beherrschenden Unternehmen Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet, die einem gesetzlich nicht vorgesehenen Wahlrecht, einen Nicht-Vermögensgegenstand als Wirtschaftsgut zu behandeln, gleichkommen.“
Diese Entscheidung ist auf ein lebhaftes Echo im Schrifttum gestoßen, gerade die zuletzt zitierte Beurteilung wurde als dogmatischer „Paukenschlag“ bezeichnet943. Wie nach dieser Entscheidung das Institut der phasengleichen Dividendenaktivierung handelsrechtlich beurteilt wird, bleibt, da der Große Senat dies verbal offen ließ944, abzuwarten945. Steuerrechtlich jedenfalls ist es tot946. 941 Vgl. BFH, Beschluss v. 7. August 2000, GmbHR 2000, 1106, 1110; so schon N. Neu, Die Aktivierung von Dividendenforderungen in Handels- und Steuerbilanz, BB 1995, 399, 401. 942 Vgl. BFH, Beschluss v. 7. August 2000, GmbHR 2000, 1106, 1111. 943 Vgl. H. Weber-Grellet, Rechtsprechung des BFH zum Bilanzsteuerrecht im Jahr 2000, BB 2001, 35. 944 Vgl. BFH, Beschluss v. 7. August 2000, GmbHR 2000, 1106, 1110. 945 Für handelsrechtliche Zulässigkeit F. Wassermeyer, Der GmbHR-Kommentar (1), GmbHR 2000, 1111; W.-D. Hoffmann, Von der phasengleichen Dividendenvereinnahmung zu den Grundsätzen ordnungsgemäßer steuerlicher Bilanzierung, DStR 2000, 1809, 1814; a.A. J. Schulze-Osterloh, Phasengleiche Aktivierung von Dividendenansprüchen, ZGR 2001, 497, 513. 946 Vgl. F. Wassermeyer, Der GmbHR-Kommentar (1), GmbHR 2000, 1111; zustimmend W.-D. Hoffmann, Erwiderung zu Groh, DB 2000, 2557, 2558; G. Kraft, Steuer-, bilanz- und gesellschaftsrechtliche Überlegungen zur phasengleichen Dividendenaktivierung nach der
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Kap. 4: Gemeinschaftsrecht und Maßgeblichkeitsgrundsatz
Im Kern hat sich der Große Senat für eine formale und gegen eine wirtschaftliche Betrachtungsweise entschieden947. Für das gefundene Ergebnis spricht zum einen, dass eine phasengleiche Aktivierung das Verbot des § 59 AktG unterläuft und dass sie entgegen § 29 GmbHG eine Vorabausschüttung auch ohne entsprechenden Gesellschafterbeschluss ermöglicht948. Darüber hinaus hat sich der deutsche Gesetzgeber bei der Umsetzung der Vierten Richtlinie bei dem Einzelabschluss ausdrücklich gegen die Equity-Methode, welche die Problematik der phasengleichen Dividendenaktivierung gegenstandslos machen würde949, entschieden. Eine Anerkennung der phasengleichen Aktivierung würde diese Entscheidung konterkarieren950. Das entscheidende Argument dürfte aber das Argument der Rechtssicherheit sein951. Zum einen würden im Falle der Zulässigkeit der phasengleichen Dividendenaktivierung die genauen Anforderungen an die objektive Bestimmbarkeit des Ausschüttungswillens Quelle ständiger Unsicherheit sein952. Zum anderen entstehen vielfältige Probleme dann, wenn ein Alt-Gesellschafter seine Beteiligung zwischen wirtschaftlicher und rechtlicher Entstehung an einen Neu-Gesellschafter verkauft und überträgt953. Obgleich für das vom Großen Senat gefundene Ergebnis gute Gründe sprechen, gilt diese Beurteilung nicht für die Begründung der Divergenz zwischen Handelsbilanz- und Steuerbilanzrecht. Der Sache nach sind die Ausführungen zum Realisationsprinzip, insbesondere zur Wertaufhellung, genauso für das Handelsrecht gültig954. Methodisch wird das vom Handelsrecht abweichende Ergebnis mit einer anderen Auslegung der GoB gerechtfertigt, mit anderen Worten, der Große Senat statuiert neben den handelsrechtlichen auch steuerrechtliche GoB955. Dieser Weg ist jedoch nicht überzeugend956. Entscheidung des Großen Senats des BFH 2 / 99, FS für Welf Müller, S. 755, 772; a.A. M. Groh, Kein Abschied von der phasengleichen Bilanzierung, DB 2000, 2444, 2446. 947 Kritisch insoweit C. Luttermann, 2. Kommentar, FR 2000, 1131, 1132. 948 Vgl. F. Wassermeyer, Auswirkungen der neueren Entscheidungen des Großen Senats zum Bilanzsteuerrecht, DB 2001, 1053, 1055. 949 Vgl. K. Küting, Ausstrahlung der EuGH-Entscheidung auf die handelsrechtliche Rechnungslegung, S. 51, 58; W. Schruff, Zur Bilanzierung von Beteiligungserträgen nach dem Urteil des EuGH vom 27. Juni 1996, FS für Jörg Baetge, S. 427, 442. 950 Vgl. J. Lüders, Der Zeitpunkt der Gewinnrealisierung im Handels- und Steuerbilanzrecht, S. 100. 951 Vgl. P. Bilsdorfer, Anmerkungen, Steuer & Studium, 2001, 35. 952 Vgl. BFH, Beschluss v. 16. Dezember 1998, GmbHR 1999, 351, 358. 953 Vgl. F. Wassermeyer, Der Zu- und Abfluß von Gewinnausschüttungen – Bilanzrechtlich und steuerrechtlich gesehen, FS für Georg Döllerer, S. 705, 709 m. w. N. 954 Vgl. J. Schulze-Osterloh, Phasengleiche Aktivierung von Dividendenansprüchen, ZGR 2001, 497, 509; F. Wassermeyer, Der GmbHR-Kommentar (1), GmbHR 2000, 1111, 1112. 955 Vgl. W.-D. Hoffmann, Die Unmaßgeblichkeit der GoB für die Steuerbilanz, StuB 2000, 1039, 1040; ders., Quo vadis deutsches Bilanzsteuerrecht?, DB 2001, 452; H. List, Die phasengleiche Aktivierung von Dividendenansprüchen – ein Problem zwischen EuGH, BGH
B. Inhalt und Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes
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Soweit der Große Senat als Argument für eine Abweichung anführt, dass das Handelsbilanzrecht vom Gläubigerschutzgedanken geprägt sei, hat man dies bisher immer vor dem Hintergrund der Tatsache getan, dass der handelsrechtliche Gewinn niedriger als der steuerliche war. Gerade im Fall des steuerlichen Verbots der phasengleichen Dividendenaktivierung fällt der handelsrechtliche Gewinn aber höher aus. Der Hinweis auf den zwingenden Charakter des Steuerbilanzrechts ist missverständlich, denn auch das Handelsbilanzrecht ist zwingendes öffentliches Recht957. Auch die Gestaltungsfeindlichkeit des Steuerrechts als Konsequenz des Gleichheitsgrundsatzes gemäß Art. 3 Abs. 1 GG958 vermag vorliegend als Divergenzgrund nicht zu überzeugen. Denn jedenfalls in den Nachfolgejahren ist es der Beteiligungsgesellschaft möglich, durch Verschiebung der Gewinnverwendungsbeschlüsse die Gewinnhöhe zu steuern959. Nach alledem finden sich im Falle der phasengleichen Dividendenaktivierung keine überzeugenden Gründe für eine Abweichung der steuerlichen von der handelsrechtlichen Begründung. Viel spricht daher dafür, dass der Große Senat auf diesem Wege lediglich eine Divergenzvorlage an den Gemeinsamen Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes vermeiden wollte960. Diese Annahme wird unterstützt durch die Tatsache, dass ein Mitglied des Großen Senats schon vor der Entscheidung spekulierte, die erforderliche Anrufung des Gemeinsamen Senats sei ein Umstand, dem Großen Senat des BFH die Argumentation, dass es sich hier um einen Fall handelt, in dem die steuerrechtliche von der handelsrechtlichen Behandlung abzukoppeln sei, sympathisch zu machen961. Unabhängig von der Fragwürdigkeit der konkreten Entscheidung zeigt der Beschluss des Großen Senats deutlich, dass Letzterer zu einer unterschiedlichen Entwicklung der handels- und steuerrechtlichen Bilanzierung bereit ist962. In Hinblick darauf, dass durch die Einführung des Halbeinkünfteverfahrens die Dividendeneinkünfte zum Teil steuerfrei gestellt werden, nimmt die praktische Bedeutung der und BFH –, WM 2001, 941, 946; zweifelnd K. Drüen, Der Maßgeblichkeitsgrundsatz im Wechselspiel zwischen Gesetzgeber und Rechtsprechung, FR 2001, 992, 997. 956 Vgl. ausführlich Kapitel 4 A. II. 2. 957 Vgl. ausführlich Kapitel 4 B. II. 2. 958 Welcher selbstverständlich durch den BFH angewendet werden darf; a.A., dies sei ausschließlich dem BVerfG vorbehalten, H. Kiehne, Beschluss des Großen Senats des BFH zur phasengleichen Dividendenvereinnahmung – eine Fehlentscheidung, StB 2001, 246, 250. 959 Vgl. H. Weber-Grellet, Anmerkung, DStR 1999, 1648. 960 Vgl. Blaum / Kessler, Das Ende der phasengleichen Vereinnahmung von Beteiligungserträgen in der Steuerbilanz?, StuB 2000, 1233, 1240; W.-D . Hoffmann, Der GmbHR-Kommentar (2), GmbHR 2000, 1113, 1114. 961 Vgl. M. Kempermann, Anmerkung, FR 1999, 374. 962 Vgl. F. Wassermeyer, Auswirkungen der neueren Entscheidungen des Großen Senats zum Bilanzsteuerrecht, DB 2001, 1053, 1055; H. Weber-Grellet, Rechtsprechung des BFH zum Bilanzsteuerrecht im Jahr 2000, BB 2001, 35.
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Kap. 4: Gemeinschaftsrecht und Maßgeblichkeitsgrundsatz
konkreten Entscheidung zwar ab, eine gewisse praktische Relevanz bleibt jedoch963.
3. Zwischenergebnis Trotz aller Modifizierungen betont der BFH964, dass der Steuergesetzgeber mit der Anbindung der steuerlichen Gewinnermittlung an die handelsrechtlichen GoB eine Grundsatzentscheidung getroffen hat. Doch ist die Rechtsprechung mittlerweile bereit, diese Grundsatzentscheidung in den Fällen zu korrigieren, in denen nach ihrer Auffassung das handelsrechtliche Ergebnis mit steuerrechtlichen Prinzipien nicht vereinbar ist965. Diese Vorgehensweise entspricht der Auffassung von der zweckbezogen eingeschränkten Maßgeblichkeit. IV. Die zweckbezogen eingeschränkte Maßgeblichkeit auf Grund der Interpretation des Verweisungsgehaltes Methodisch vermochte die Vorgehensweise des Großen Senats, insbesondere bei der Behandlung der phasengleichen Dividendenaktivierung, nicht zu überzeugen. Im Folgenden soll daher versucht werden, eine bessere methodische Begründung zu finden. Eine derartige Begründung sollte vorzugsweise direkt aus dem Steuerbilanzrecht, genauer § 5 EStG, kommen; die Sondervorschriften der AO sind nur dazu geeignet, Extremfälle zu lösen966. Neben der Möglichkeit der Entwicklung steuerrechtlicher GoB, mit anderen Worten, der steuerrechtlichen Auslegung des Verweisungsobjektes in § 5 Abs. 1 EStG, welche nicht zu überzeugen vermag967, wurde schon die Möglichkeit einer steuerrechtlichen Auslegung von § 5 Abs. 1 EStG – der Verweisungsnorm selbst – angedeutet968. Als Ansatzpunkte einer derartigen Auslegung, die eine Abweichung des steuervom handelsbilanzrechtlichen Ergebnis rechtfertigen könnte, sind zwei dogmatische Wege denkbar: Zum einen könnte man erwägen, den Begriff des steuerrechtlichen Wirtschaftsgutes nicht deckungsgleich mit dem Begriff des handelsrechtlichen Vermögensgegenstandes auszulegen. Zum anderen kommt in Betracht, sich 963 Vgl. M. Groh, Replik zu Hoffmann, DB 2000, 2558 mit einem Beispiel, a.A. F. Broer, Maßgeblichkeitsprinzip, S. 88. 964 Vgl. BFH, Beschluss v. 10. November 1999, BStBl 2000 II, S. 131, 139. 965 Vgl. F. Wassermeyer, Auswirkungen der neueren Entscheidungen des Großen Senats zum Bilanzsteuerrecht, DB 2001, 1053, 1055. 966 Vgl. F. Wassermeyer, Auswirkungen der neueren Entscheidungen des Großen Senats zum Bilanzsteuerrecht, DB 2001, 1053, 1055. 967 Vgl. Kapitel 4 A. II. 2. 968 Vgl. Kapitel 4 A. II. 2.
B. Inhalt und Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes
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die Tatsache, dass § 5 EStG eine Verweisung enthält, nutzbar zu machen. Mit den Instrumenten der teleologischen Reduktion oder der restriktiven Auslegung ließe sich dann möglicherweise eine Abweichung der Ergebnisse rechtfertigen. Vorliegend soll die erstgenannte Möglichkeit nicht weiter untersucht werden. Dies hat zum einen den Grund, dass der BFH trotz zum Teil harscher Kritik in der Literatur969 in ständiger Rechtsprechung verbal970 daran festhält, Wirtschaftsgut und Vermögensgegenstand stimmten inhaltlich überein971. Die Konsequenzen dieser Rechtsprechung für eventuelle Übernahme- und Vorlagepflichten werden später dargestellt972. Darüber hinaus werden in dieser Arbeit Verweisungen auf ihre Reichweite untersucht. Mit diesem Untersuchungsgegenstand korrespondiert die Möglichkeit der Auslegung oder Reduktion einer Verweisung deutlich besser. Dass die Notwendigkeit eines abweichenden Ergebnisses bestehen kann (nicht muss), wurde oben nachgewiesen. Erreicht werden kann eine derartige Abweichung de lege lata entweder durch eine restriktive Auslegung oder eine teleologische Reduktion. Zwischen beiden Methoden besteht naturgemäß ein gleitender Übergang973, weshalb die Frage beim Maßgeblichkeitsgrundsatz zum Teil offen gelassen wird974. Grundsätzlich ist die Einschränkung des Anwendungsbereiches der Norm im Wege der teleologischen Reduktion größer als bei der restriktiven Auslegung, da bei Ersterer der Auslegungsbereich unterschritten wird975. Dies spricht dafür, dass der Begründungsaufwand bei einer teleologischen Reduktion höher sein sollte als bei der einschränkenden Auslegung976. Bedenkt man, dass der Maßgeblichkeitsgrundsatz seinem Charakter nach eine Verweisung ist, so erweist sich folgende Aussage von Larenz / Canaris als interessant977: 969 J. Costede, Die Aktivierung von Wirtschaftsgütern im Einkommensteuerrecht, StuW 1995, 115, 116 spricht von unehrlicher Judikatur; J. Schulze-Osterloh, Handels- und Steuerbilanz, ZGR 2000, 594, 598 bezeichnet diese Judikatur als bloßes Lippenbekenntnis. Kritisch, wenn auch zurückhaltender, das Mitglied des Großen Senats beim BFH F. Wassermeyer, Auswirkungen der neueren Entscheidungen des Großen Senats zum Bilanzsteuerrecht, DB 2001, 1053: Der BFH solle die Frage der Deckungsgleichheit besser offen lassen. Dem BFH dagegen zustimmend H. Westerfelhaus, Zwei-Stufen-Ermittlung zum bilanzierungsfähigen Vermögensgegenstand, DB 1995, 885, 889. 970 Vgl. zu den tatsächlichen Abweichungen J. Schulze-Osterloh, Handels- und Steuerbilanz, ZGR 2000, 594, 597 f. 971 Vgl. BFH, Beschluss v. 7. August 2000, GmbHR 2000, 1106, 1108 m. w. N. 972 Vgl. Kapitel 5 C. 973 Vgl.U. Diederichsen, Zur Begriffstechnik richterlicher Rechtsfortbildung im Zivilrecht, FS für Franz Wieacker, S. 325, 333. 974 Vgl. J. Hennrichs, Der steuerrechtliche sog. Maßgeblichkeitsgrundsatz gem. § 5 EStG, StuW 1999, 138, 146. 975 Vgl. H.-F. Brandenburg, Die teleologische Reduktion, S. 76. 976 A.A. H.-M. Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, S. 225 Rdn. 507, der einen gleichartigen Begründungsaufwand annimmt. 977 Vgl. Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 82.
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Kap. 4: Gemeinschaftsrecht und Maßgeblichkeitsgrundsatz
„Auch wo dies nicht im Gesetz ausdrücklich erwähnt ist, kann die Anwendung der Norm, auf die in der Verweisungsnorm verwiesen wird, immer nur eine „entsprechende“ sein. Unsachgemäße Gleichsetzungen sind also zu vermeiden, von der Sache, d. h. den zu regelnden Lebensverhältnissen her gebotene Differenzierungen dürfen nicht ausgeschlossen werden.“
Träfe diese Aussage in dieser Allgemeinheit zu, so müsste man die zweckbezogen eingeschränkte Maßgeblichkeit methodisch nicht weiter begründen. Allerdings kann man Larenz / Canaris entgegenhalten, dass sich über die Frage, ob eine Gleichsetzung „unsachgemäß“ ist, häufig trefflich streiten lässt. Es liegt daher nahe, dass der Gesetzgeber durch die Verweisung die Entscheidung über diese Sachgemäßheit schon im positiven Sinne getroffen hat. Anderenfalls hätte er sich nicht des Instruments der Verweisung, sondern der Verweisungsanalogie978 bedient bzw. bedienen können. Hier überlässt der Gesetzgeber die Entscheidung über die Gleichsetzung in viel stärkerem Maße dem Richter. Wird sie bejaht, so befindet sich der Richter noch im Rahmen der Auslegung. Er zieht, methodisch betrachtet, keinen Analogieschluss979. Gleiches muss für die Verneinung gelten: Verneint der Richter bei der Verweisungsanalogie die Vergleichbarkeit, so ist dies noch Auslegung und keine teleologische Reduktion. Systematisch betrachtet kann daher die Einschränkung der Reichweite einer Verweisung ohne Anhaltspunkte im Wortlaut, wie sie beispielsweise bei der Verweisungsanalogie vorhanden sind, regelmäßig nur durch eine teleologische Reduktion erfolgen. Der Gedanke von Larenz / Canaris ist aber unter anderen Gesichtspunkten zutreffend: Durch die Verweisung auf ein anderes Rechtsgebiet ist die Gefahr, dass ein Widerspruch zwischen der ratio legis und dem Normtext besteht, erhöht worden. Anders gesagt, die Wahrscheinlichkeit von planwidrigen Lücken oder Widersprüchen ist höher als bei Nichtverweisungen. Die Verweisung ist daher zwar – entgegen Larenz / Canaris – a priori nicht in höherem Maße der Auslegung zugänglich, wohl aber „anfälliger“ für teleologische Reduktionen. Eine derartige Reduktion ist aber nicht immer zulässig. Vielmehr kann, insbesondere aus Gründen der Rechtssicherheit, welche die strikte Einhaltung der eindeutigen Norm gebietet, ein Verbot der teleologischen Reduktion bestehen. Ob das der Fall ist, ist zunächst im Wege der Auslegung zu ermitteln980. Systematisch spricht bei dem Maßgeblichkeitsgrundsatz gegen ein Verbot der teleologischen Reduktion die Tatsache, dass es ohnehin zahlreiche steuerrechtliche Sondervorschriften gibt. Auch der Wille des Gesetzgebers ist gerade in jüngerer Zeit, anders als beispielsweise bei der einschränkungslosen Verweisung im Rahmen des § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG981, nicht eindeutig982. Darüber hinaus spricht, wie Vgl. hierzu auch in Kapitel 3 B. I. 2. Vgl. C.-W. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 24; T. Falk, Die Anwendung der Zivilprozessordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes nach § 173 Verwaltungsgerichtsordnung, S. 15. 980 Vgl. Larenz / Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 211. 978 979
B. Inhalt und Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes
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gerade hergeleitet, der Charakter des Maßgeblichkeitsgrundsatzes als Verweisung gegen ein Verbot der teleologischen Reduktion983. Einer Einschränkung der Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes im Wege der teleologischen Reduktion wird entgegengehalten, dies führe zu einem Verlust an Rechtssicherheit984. Dies ist zwar zutreffend, aber auf der anderen Seite eine nicht vermeidbare Folge985. Der Verlust an Rechtssicherheit ist begrenzt, wenn man erkennt, dass die teleologische Reduktion nicht dazu führen kann, eine Norm zu derogieren986. Das heißt, eine Abweichung von dem durch die handelsrechtlichen GoB gefundenen Ergebnis ist nur dann zulässig, wenn Letzteres mit anderen steuerrechtlichen Grundsätzen von Verfassungsrang987 nicht vereinbar ist988. Diese verfassungskonforme Reduktion989 ähnelt der verfassungskonformen Auslegung insoweit, als beide – Reduktion und Auslegung – notwendig sind, ein verfassungswidriges Ergebnis zu vermeiden. Dass im Zusammenhang mit der Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes weder von verfassungskonformer Auslegung noch Reduktion gesprochen wird, liegt möglicherweise daran, dass die kollidierenden steuerrechtlichen Grundsätze – wie beispielsweise das Leistungsfähigkeitsprinzip – zwar Verfassungsrang haben, aber – anders als z. B. Grundrechte – ihrerseits einer Ableitung aus der Verfassung bedürfen. Unzulässig wäre eine Abweichung vom handelsrechtlich gefundenen Ergebnis daher, wenn sie damit begründet würde, es läge zwar kein Verstoß gegen derartige Grundsätze vor, das abweichende Ergebnis sei aber zweckmäßiger bzw. sachgerechter. Letztlich führt der Charakter des Maßgeblichkeitsgrundsatzes als Verweisung de lege lata dazu, dass eine Übernahme des handelsrechtlichen Ergebnisses indiziert wird990. Die Widerlegung der Vereinbarkeit dieses Ergebnisses mit den Grundsätzen der steuerlichen Gewinnermittlung, insbesondere mit dem Leistungs-
Vgl. Kapitel 3 D. IV. 1. Vgl. Kapitel 4 B. I. 3. 983 Fehlgehend daher A. Moxter, Bilanzrechtlicher Aufbruch beim Bundesfinanzhof?, DStZ 2002, 243, 244, der als Voraussetzung für eine Abweichung des steuerrechtlichen Ergebnisses vom handelsrechtlichen eine Feststellung der Verfassungswidrigkeit des Maßgeblichkeitsgrundsatzes durch das BVerfG fordert. 984 Vgl. H. W. Kruse, Auslegung am Gesetz vorbei, FS für Wolfgang Ritter, S. 413, 424. 985 Vgl. O. Jacobs, Das Bilanzierungsproblem in der Ertragsteuerbilanz, S. 61. 986 Vgl. H.-F. Brandenburg, Die teleologische Reduktion, S. 77. 987 Weitergehend offenbar H. Weber-Grellet, Steuern im modernen Verfassungsstaat, S. 182, der vom Vorrang spezieller steuerrechtlicher Grundsätze spricht, ohne Letztere aber zu präzisieren. 988 Vgl. Tipke / Lang, Steuerrecht, § 9 Rdn. 309, 311. 989 Vgl. Looschelders / Roth, Grundrechte und Vertragsrecht: Die verfassungskonforme Reduktion des § 565 Abs. 2 S. 2 BGB, JZ 1995, 1034, 1044. 990 Ähnlich D. Gosch, Einige Bemerkungen zur aktuellen bilanzsteuerrechtlichen Rechtsprechung des I. Senats des BFH, DStR 2002, 977, 984. 981 982
13 Bärenz
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Kap. 4: Gemeinschaftsrecht und Maßgeblichkeitsgrundsatz
fähigkeits- und Gleichheitsgrundsatz, ist nur im Wege der teleologischen Reduktion möglich. Von methodischem Interesse und deshalb hier nebenbei bemerkt sei, dass eine derartige Reduktion im Anwendungsbereich des § 141 Abs. 1 S. 2 AO nicht notwendig ist. Dieser statuiert, praktisch wenig relevant991, originär steuerrechtliche Buchführungspflichten für einen bestimmten Kreis von Nichtkaufleuten. Es wird aber nur die sinngemäße Geltung der §§ 238, 240 bis 242 Abs. 1, 243 bis 256 HGB angeordnet. Es handelt sich daher um eine Verweisungsanalogie. Hintergrund war die Überzeugung, dass für Land- und Forstwirte (ein Teil der Adressaten) teilweise eigenständige GoB gelten992. Unterschiedliche Ergebnisse lassen sich wegen der Geltung des Gleichheitssatzes im Rahmen der Buchführungs- und Bilanzierungspflichten nur mit den Besonderheiten der Land- und Forstwirtschaft rechtfertigen993. Nichtsdestotrotz kann ein von der handelsrechtlichen Gewinnermittlung abweichendes Ergebnis steuerrechtlich mit der Anordnung nur sinngemäßer Geltung begründet werden. V. Zwischenergebnis Der deutsche Gesetzgeber hat mit dem Maßgeblichkeitsgrundsatz eine Grundsatzentscheidung für die Verknüpfung der steuerrechtlichen mit der handelsrechtlichen Rechnungslegung getroffen. Er hat diese Entscheidung durch die Statuierung zahlreicher Ausnahmen aber auch stark relativiert. Verfassungsrechtlich ist eine derartige Verknüpfung nicht geboten. Im Gegenteil, in Hinblick auf die zum Teil unterschiedliche Zwecksetzung der verschiedenen Rechnungslegungen und auf Grund nur im Steuerrecht geltender verfassungsrechtlicher Vorgaben kann ein Abweichen des steuerlichen Gewinns vom handelsrechtlichen geboten sein. Am besten wird diesen Anforderungen de lege lata das Verständnis des Maßgeblichkeitsgrundsatzes als rein zweckbezogene Maßgeblichkeit gerecht. Auch die Rechtsprechung des BFH neigt zu dieser Auffassung. Methodisch lässt sich eine derartig zweckbezogene Maßgeblichkeit durch eine teleologische Reduktion der in § 5 EStG statuierten Verweisung realisieren.
VI. Übernahme- und Vorlagepflichten auf Grund der materiellen Maßgeblichkeit Verknüpft man diese Erkenntnisse mit den vorher herausgearbeiteten Kriterien für nationale Übernahme- und Vorlagepflichten, so ergibt sich für die Verweisung Vgl. Kruse / Drüen in Tipke / Kruse, § 140 Rdn. 1. Vgl. Trzaskalik in HHSp, AO, § 141, Rdn. 63. 993 Vgl. J. Schulze-Osterloh, Die Steuerbilanz als Tatbestandsmerkmal im Einkommenund Körperschaftsteuergesetz, S. 123, 128; Trzaskalik in HHSp, AO, § 141, Rdn. 64. 991 992
B. Inhalt und Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes
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in § 5 EStG folgendes Bild: Grundsätzlich stellt der Maßgeblichkeitsgrundsatz, soweit keine steuerlichen Sondervorschriften einschlägig sind, die für diese Pflichten erforderliche Konnexität her. Aufgehoben wird die Konnexität aber in den Fällen, in denen die Verweisung auf das Handelsbilanzrecht teleologisch reduziert werden muss. Folgt man der Einschätzung als zweckbezogen eingeschränkte Maßgeblichkeit nicht, so sei die Beurteilung der Konnexität anhand der beiden Extrempositionen geschildert: Vertritt man eine absolute Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz ohne Anerkennung ungeschriebener Ausnahmen994, so besteht immer eine Konnexität außer in den Fällen der geschriebenen Ausnahmen. Hält man dagegen die Steuerbilanz für „prinzipiell“ unvereinbar mit der Handelsbilanz995, muss man genauer erläutern, wie sich diese Unvereinbarkeit konkret auswirkt. „Prinzipiell“ kann dann aber keine Konnexität bestehen. Auch der BFH hat sich in einem mittlerweile zurückgezogenen Vorlagebeschluss an den Großen Senat des BFH im Zusammenhang mit einer eventuell bestehenden Vorlagepflicht an den EuGH Gedanken über die Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes gemacht. Diese sollen kritisch gewürdigt werden. Danach soll die BFH-Rechtsprechung untersucht werden, in denen der BFH eine Vorlage gemäß Art. 234 EG erwog, wenngleich im Ergebnis immer verneinte. Schließlich sollen die beiden bisher in einem Steuerrechtsstreit erfolgten Vorlagen von Finanzgerichten an den EuGH analysiert werden. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der Frage, ob von den Finanzgerichten die Konnexität zwischen Handels- und Steuerbilanzrecht in den konkreten Fällen richtig eingeschätzt wurde.
1. Beschluss vom 9. September 1998 / 17. November 1999 Der Erste Senat wollte mit seinem Vorlagebeschluss vom 9. September 1998996 gemäß § 11 Abs. 4 FGO über die Frage der Reichweite der Verweisung durch den Maßgeblichkeitsgrundsatz einen Beschluss des Großen Senat herbeiführen. Die ursprüngliche Vorlagefrage war, da sie nach einer Vorlagepflicht des BFH fragte, zumindest unglücklich formuliert. Mit seinem Änderungsbeschluss997 stellte der Erste Senat aber klar, dass es ihm ausschließlich um die materielle Frage der Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes ging. Bedauerlicherweise wurde der Vorlagebeschluss zurückgenommen998. Dessen ungeachtet sind seine Gründe aufschlussreich. Vgl. G. Crezelius, Maßgeblichkeitsgrundsatz in Liquidation?, DB 1994, 689, 691. Vgl. H. Weber-Grellet, Rechtsprechung des BFH zum Bilanzsteuerrecht im Jahr 2000, BB 2001, 35. 996 BFH, Beschluss v. 9. September 1998, IStR 1999, 75. 997 BFH, Beschluss v. 17. November 1999, DB 2000, 25. 994 995
13*
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Kap. 4: Gemeinschaftsrecht und Maßgeblichkeitsgrundsatz
Der Erste Senat verneint grundsätzlich eine Verweisung des Steuerbilanzrechts auf Gemeinschaftsrecht999. Der Maßgeblichkeitsgrundsatz stamme aus einer Zeit, in der durch das nationale Recht noch kein Bezug auf Gemeinschaftsrecht hergestellt werden konnte. Das gesamte Gesetzgebungsverfahren zum BiRiLiG sei vom Gedanken der Steuerneutralität durchzogen gewesen. Eine Transformation des Gemeinschaftsrechts habe erst im Zweiten Abschnitt des Dritten Buches des HGB stattgefunden. Sei nach alledem – jedenfalls – für Personengesellschaften weder handels- noch steuerrechtlich ein Bezug zum Gemeinschaftsrecht hergestellt, so muss dies jedenfalls auch für die steuerliche Gewinnermittlung der Kapitalgesellschaften gelten. Denn unterschiedliche Gewinnermittlungsgrundsätze je nach Rechtsform eines gewerblichen Unternehmens seien dem deutschen Steuerrecht fremd und würden dem Prinzip der gleichmäßigen steuerlichen Belastung zuwiderlaufen. Der BFH räumte ein, dass diese Interpretation im Grundsatz zu einer Abweichung von Handels- und Steuerbilanz bei Kapitalgesellschaften führen könne. Dies sei aber in Hinblick auf eine gleichmäßige Besteuerung nachrangig und daher hinzunehmen. Im Übrigen spreche gegen eine Auslegung durch den EuGH, dass eine ertragsteuerliche Harmonisierung in der EU nicht vorhanden sei. Diese Begründung vermag in keiner Hinsicht zu überzeugen. Das historische Argument, die Verweisung selbst sei älter als das Gemeinschaftsrecht, ist zwar zutreffend, vermag aber auf Grund des dynamischen Verweisungscharakters des Maßgeblichkeitsgrundsatzes nicht gegen eine Konnexität zu streiten1000. Soweit der Erste Senat der Auffassung ist, der gesamte Erste Abschnitt des Dritten Buches des HGB sei frei von gemeinschaftsrechtlichen Einflüssen, ist dies jedenfalls für Kapitalgesellschaften nicht vertretbar1001. Eine Abkopplung des steuerlichen Gewinnermittlungsrechts vom Handelsbilanzrecht für Kapitalgesellschaften lässt sich nicht derart begründen. Denkbar wäre allenfalls, entgegen der hier vertretenen Auffassung1002 einen Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf das Handelsbilanzrecht der Personenhandelsgesellschaften zu verneinen. Dann könnte man, und dies schwebt offenbar dem Ersten Senat vor, die Verweisung des § 5 EStG (ggf. i.V.m. § 8 Abs. 1 KStG) nur als Verweisung auf eben diese gemeinschaftsrechtsfreien GoB verstehen. Für eine derartige Konstruktion sprechen keine sachlichen Gründe. Wieso die Besteuerung einer Kapitalgesellschaft anhand von – vermeintlich gemeinschaftsrechtsfreien – GoB für Personengesellschaften anstatt der – unbestreitbar gemeinschaftsrechtlichem Einfluss unterliegenden – GoB für Kapitalgesellschaften erfolBFH, Beschluss. v. 8. November 2000, DStR 2001, 294. Vgl. BFH, Beschluss v. 9. September 1998, IStR 1999, 75. 1000 Vgl. Arndt / Wiesbrock, Der EuGH als gesetzlicher Richter in ertragsteuerlichen Rechtsstreitigkeiten?, DStR 1999, 350, 353. 1001 Vgl. Kapitel 3 B. II. 1. und Kapitel 3 D. V. 1. 1002 Vgl. Kapitel 3 D. V. 1. 998 999
B. Inhalt und Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes
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gen soll, bleibt unklar. Darüber hinaus akzeptiert man auf diese Weise ein Auseinanderfallen der Handels- und Steuerbilanz für Kapital-, nicht aber für Personenhandelsgesellschaften. Auch hier sind sachliche Gründe für eine derartige Differenzierung nicht ersichtlich. Soweit gegen eine Auslegungskompetenz des EuGH angeführt wird, es bestehe im Bereich der Ertragssteuern keine Kompetenz der Gemeinschaft bzw. es fehle insoweit an einer Harmonisierung, ist dieses Argument zwar sehr häufig anzutreffen1003, aber gleichwohl nicht überzeugend1004. Hierbei wird nicht beachtet, dass der EuGH gerade kein Steuer-, sondern ausschließlich Handelsbilanzrecht auslegt. Die Tatsache, dass die Vorlage möglicherweise in einem steuerrechtlichen Rechtsstreit erfolgt, ist unbeachtlich. Dies hat seine Ursache allein in der nationalen Verweisung auf Gemeinschaftsrecht. Mit anderen Worten: Verweist der nationale Gesetzgeber auf Gemeinschaftsrecht außerhalb seines eigentlichen Anwendungsbereiches, ist es eine logische Folge, dass der EuGH auf Grund eines Rechtsstreites zu einer Frage Stellung nimmt, die außerhalb des Gemeinschaftsrechts liegt und daher nicht harmonisiert sein kann. Die Begründung des Vorlagebeschlusses ist sehr ergebnisorientiert. Einen brauchbaren Beitrag zur Beantwortung der gestellten Frage leistet sie leider nicht. War der Versuch, eine allgemeine Antwort auf die Frage nach Inhalt und Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes zu finden, seitens des BFH nicht von Erfolg gekrönt, so bleibt es dennoch lohnenswert, zu untersuchen, wie der BFH die Frage nach dem Einfluss des Gemeinschaftsrechts in Einzelfällen entschieden hat. Die Untersuchung beschränkt sich hier, wie im ganzen Kapitel, auf Fragen des Bilanzansatzes und erfolgt in chronologischer Reihenfolge.
2. Urteile vom 9. Dezember 1993 / 25. Oktober 1994 In beiden Urteilen setzte sich der BFH mit der Problematik der richtigen Bilanzierung von Rechnungsabgrenzungsposten (im Folgenden: RAP) auseinander. In dem vom ersten Urteil1005 zu entscheidenden Sachverhalt1006 gestattete ein Landwirt einem Elektrizitätsversorgungsunternehmen die unbefristete Inanspruchnahme einiger seiner landwirtschaftlich genutzten Grundstücke zum Zwecke von Bau und Betrieb elektrischer Versorgungsleitungen. Den hierfür gezahlten Betrag buchte der Landwirt als Ertrag und bildete einen gleichmäßig über 25 Jahre aufzulösenden passiven RAP. Das Finanzamt wandte sich gegen die Bildung des RAP und wollte den Betrag in voller Höhe erfolgswirksam berücksichtigen. 1003 Vgl. J. Schulze-Osterloh, Phasengleiche Aktivierung von Dividendenansprüchen, ZGR 2001, 497, 510; H. Weber-Grellet, Anmerkung, DStR 1999, 1648. 1004 A.A. M. Kempermann, Anmerkung, FR 1999, 135. 1005 BFH, Urteil v. 9. Dezember 1993, BFHE 173, 393. 1006 Hier vereinfacht dargestellt.
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Kap. 4: Gemeinschaftsrecht und Maßgeblichkeitsgrundsatz
Im vom zweiten Urteil1007 zu entscheidenden Sachverhalt1008 betrieb der Kläger den Abbau von Mineralien. Mit den Eigentümern bimsführender Grundstücke schloss er Verträge über den „Kauf des Rechts auf Aneignung von Bimsvorkommen“. Das Entgelt für dieses Recht war bei Abschluss des Vertrages zu entrichten. Bis zur Anzeige des Abbaus konnten die Eigentümer ihre Grundstücke nutzen. Der Kläger wollte die Zahlungen sofort als Betriebsausgabe abziehen; das Finanzamt vertrat die Auffassung, hier sei ein aktiver RAP zu bilden. Steuerrechtlich wird die Bildung von RAP in § 5 Abs. 5 S. 1 EStG geregelt: Als Rechnungsabgrenzungsposten sind nur anzusetzen 1. auf der Aktivseite Ausgaben vor dem Abschlußstichtag, soweit sie Aufwand für eine bestimmte Zeit nach diesem Tag darstellen; 2. auf der Passivseite Einnahmen vor dem Abschlußstichtag, soweit sie Ertrag für eine bestimmte Zeit nach diesem Tag darstellen.
Die handelsrechtliche Regelung in § 250 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 HGB ist wortgleich. Sie setzt im Wesentlichen Art. 18 und 21 der Vierten Richtlinie um. Letztere weist eine Besonderheit auf: Die verschiedenen sprachlichen Fassungen divergieren. Das Wort „bestimmte“ kommt weder in der englischen1009 noch in der französischen1010 Fassung vor1011. Besonders brisant wird diese Divergenz auf Grund der Tatsache, dass es gerade das Tatbestandsmerkmal der „bestimmten“ Zeit ist, um welches bei der bilanzrechtlichen Einordnung von RAP am heftigsten gestritten wird1012. Auch in beiden vom BFH entschiedenen Fällen war es gerade die Frage der Bestimmtheit, die besonderer Argumentation bedurfte. So war beispielsweise der Vertrag des Landwirtes zeitlich unbegrenzt, was auf den ersten Blick gegen eine zeitliche Bestimmtheit spricht. Sollte sich diese Frage in einem rein handelsbilanzrechtlichen Rechtsstreit stellen, muss dem EuGH gemäß Art. 234 Abs. 3 EG vorgelegt werden; eine Berufung auf die Ausnahmen der C.I.L.F.I.T.-Rechtsprechung1013 ist in Hinblick auf die sprachlichen Divergenzen der zugrunde liegenden Richtlinie nicht möglich.
BFH, Urteil v. 25. Oktober 1994, BFHE 176, 359. Hier vereinfacht dargestellt. 1009 . . . but relating to a subsequent financial year. 1010 . . . mais concernant un exercice ultérieur. 1011 Vgl. J. Schulze-Osterloh, Der Ausweis von Aufwendungen nach dem Realisationsund dem Imparitätsprinzip, FS für Karl-Heinz Forster, S. 653, 664. 1012 Vgl. H. Beisse, Wandlungen der Rechnungsabgrenzung, FS für Wolfgang Dieter Budde, S. 67, 68 ff.; H. Gschwendtner, Zur Bilanzierung von Vorleistungen bei Dauerrechtsverhältnissen, DStZ 1995, 417, 419; T. Stobbe, Das Kriterium der „bestimmten Zeit“ bei den Rechnungsabgrenzungsposten, FR 1995, 399. 1013 Vgl. EuGH, C.I.L.F.I.T., C-283 / 81, Slg. 1982, 3415, 3429. 1007 1008
B. Inhalt und Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes
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Praktische Relevanz entfaltet das Merkmal der bestimmten Zeit aber, wie die Rechtsstreitigkeiten vor dem BFH zeigen, vor allem im Steuerbilanzrecht. Hier hat die Abgrenzung zwischen RAP und Betriebsausgaben folgenden Hintergrund: Im Rahmen der Aktivierung ist der Steuerpflichtige regelmäßig an einer Einordnung als Betriebsausgabe statt RAP interessiert, weil dies den sofortigen gewinnmindernden Abzug ermöglicht. Das Gegenteil gilt für die RAP auf der Passivseite. Es stellt sich daher die brisante Frage, welche Folgen die sprachliche Divergenz der Richtlinie für das Steuerbilanzrecht hat. Der BFH vertritt zur Relevanz des Gemeinschaftsrechts folgende Auffassung: Anwendbar sei allein § 5 Abs. 5 EStG1014. Somit existiere eine eigenständige steuerrechtliche Vorschrift, die nicht Gegenstand einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung sei1015. Der BFH hält das Gemeinschaftsrecht daher nicht für relevant. Seine Argumente scheinen, isoliert betrachtet, vertretbar. Der BFH verstrickt sich allerdings in einen unauflösbaren Widerspruch, wenn er gleichzeitig zum Verhältnis der steuerrechtlichen zur handelsrechtlichen Regelung ausführt, dass beide Vorschriften inhaltlich übereinstimmen1016. Wenn diese Übereinstimmung besteht1017, dann kann man trotz einer eigenständigen steuerrechtlichen Regelung die Relevanz des Gemeinschaftsrechts nicht leugnen1018. Sollte der EuGH beispielsweise für die handelsrechtliche Regelung zu dem Auslegungsergebnis kommen, dass es gerade nicht auf einen „bestimmten“ Zeitraum ankommt, so käme der BFH auf Grund der von ihm angenommenen Regelungsidentität nicht umhin, diese Wertung auch für § 5 Abs. 5 EStG zu übernehmen. Dieser logische Widerspruch kann dem BFH eigentlich nicht entgangen sein. Viel spricht dafür, dass er auf diesem Wege lediglich einer, nach der hier vertretenen Auffassung nicht bestehenden, Vorlagepflicht gemäß Art. 234 Abs. 3 EG ausweichen wollte1019. Es liegt hier einer der seltenen Fälle vor, in denen der BFH das ihm nach der Dzodzi-Rechtsprechung zustehende Vorlagerecht in Anspruch nehmen sollte1020. Vgl. BFH, Urteil v. 9. Dezember 1993, BFHE 173, 393, 398. Vgl. BFH, Urteil v. 25. Oktober 1994, BFHE 176, 359, 366. 1016 Vgl. BFH, Urteil v. 9. Dezember 1993, BFHE 173, 393, 395. 1017 So auch die h.L., vgl. H. Beisse, Wandlungen der Rechnungsabgrenzung, FS für Wolfgang Dieter Budde, S. 67, 80 f.; G. Crezelius, Bestimmte Zeit und Rechnungsabgrenzung, DB 1998, 633, 634; W. Hartung, Rechnungsabgrenzungsposten und richtlinienkonforme Auslegung, FS für Adolf Moxter, S. 213, 215; Schmidt / Weber-Grellet, EStG, § 5, Rdn. 242, 245. 1018 So auch C. Back, Richtlinienkonforme Interpretation des Handelsbilanzrechts, S. 164; W. Schön, Steuerrechtliche Einkünfteermittlung, Maßgeblichkeitsprinzip und Europäisches Bilanzrecht, FS für Hans Flick, S. 573, 582. 1019 So auch G. Crezelius, Bestimmte Zeit und Rechnungsabgrenzung, DB 1998, 633, 634; T. Stobbe, Das Kriterium der „bestimmten Zeit“ bei den Rechnungsabgrenzungsposten, FR 1995, 399, 402. 1014 1015
200
Kap. 4: Gemeinschaftsrecht und Maßgeblichkeitsgrundsatz
Denn die Auslegung der Vierten Richtlinie ist gerade vor dem Hintergrund der Sprachdivergenz originäre Aufgabe des EuGH.
3. Beschluss des BFH vom 15. März 1999 In diesem Verfahren1021 des einstweiligen Rechtsschutzes wollte der Antragsteller die steuerrechtliche Anerkennung einer Verbindlichkeitsrückstellung gemäß § 5 Abs. 1 EStG i.V.m. § 249 Abs. 1 HGB auf Grund folgenden Sachverhalts erreichen: Er vertrieb gewerblich Autobatterien und hatte sich den Kunden gegenüber zur unentgeltlichen Rücknahme von Altbatterien verpflichtet. Es stellte sich im Rahmen von § 249 Abs. 1 HGB die Frage, wann diese Verpflichtung zur Rücknahme wirtschaftlich verursacht wurde. Denkbar ist zum einen der Zeitpunkt des Verkaufes der Altbatterie, dies würde eine Rückstellung ermöglichen. Denkbar ist aber auch, die wirtschaftliche Verursachung der Rücknahmeverpflichtung erst im Zeitpunkt der eigentlichen Rückgabe (regelmäßig bei einem Neukauf) anzunehmen, dann könnte keine Rückstellung gebildet werden. Die Vorinstanz1022 zog eine Parallele zur BFH-Rechtsprechung bezüglich von Nachbetreuungsleistungen1023 und vertrat folglich die Meinung, dass keine Rückstellung gebildet werden dürfe. Der BFH hielt dies für ernstlich zweifelhaft1024. In der Tat sprechen die besseren Argumente für eine wirtschaftliche Verursachung schon vor der Rücknahme. Denn der Hersteller weiß auf Grund der begrenzten Lebensdauer beim Verkauf der Batterie um seine Rücknahmepflicht; er wird sie in seine Preiskalkulation mit einbeziehen1025. Des Weiteren spricht gerade bei umweltgefährdenden Wirtschaftsgütern das Veranlassungsprinzip dafür, an das frühere Inverkehrbringen anzuknüpfen1026. Unabhängig davon wird die Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen Verbindlichkeitsrückstellung für die Steuerbilanz nicht angezweifelt1027. Nach der hier vertretenen Ansicht bestünde daher eine nationale Übernahme- und ggf. Vorlagepflicht.
1020 Ähnlich H. Beisse, Wandlungen der Rechnungsabgrenzung, FS für Wolfgang Dieter Budde, S. 67, 84. 1021 Vgl. BFH, Beschluss v. 15. März 1999, BFH / NV 1999, 1205. 1022 Vgl. FG München, Beschluss v. 29. Mai 1998, EFG 1998, 1458. 1023 Vgl. BFH, Urteil v. 10. Dezember 1992, BFHE 170, 149. 1024 Vgl. BFH, Beschluss v. 15. März 1999, BFH / NV 1999, 1205, 1206. 1025 Vgl. Haun / Strnad, Steuerliche Rückstellungen wegen Rücknahme von Altautos, DB 1999, 2078, 2079. 1026 Offengelassen von BFH, Beschluss v. 15. März 1999, BFH / NV 1999, 1205, 1207. 1027 Vgl. BFH, Urteil v. 10. Dezember 1992, BFHE 170, 149, 151; Schmidt / Weber-Grellet, EStG, § 5, Rdn. 352.
B. Inhalt und Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes
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Der BFH verneinte eine Vorlagepflicht gemäß Art. 234 Abs. 3 EG mit dem Argument, eine solche bestünde jedenfalls in einem summarischen Verfahren nicht. Dies entspricht im Grundsatz der Auffassung des EuGH1028. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob sich eine derartige Aussage auch für die hier entwickelten nationalen Übernahme- und Vorlagepflichten treffen lässt. Entscheidendes Argument für die Annahme einer Übernahmepflicht war, dass das Gericht nicht eine konkrete Gleichbehandlungsabsicht der national und gemeinschaftsrechtlich geregelten Fälle annehmen und gleichzeitig für die nationalen Fälle von der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH abweichen konnte1029. In einem summarischen Verfahren gilt dieses Argument grundsätzlich gleichermaßen, allerdings mit einer Einschränkung: Denkbar ist, dass gerade die Frage der konkreten Gleichbehandlungsabsicht eine komplizierte Rechtsfrage ist. Insofern kann das Gericht die Frage offen lassen; dann besteht auch keine nationale Übernahmepflicht. Grundlage für die nationale Vorlagepflicht war im Wesentlichen eine Analogie zur Divergenzvorlage zum Großen Senat1030. Es liegt daher nahe, zunächst zu untersuchen, wie Letztere im Rahmen von summarischen Verfahren gehandhabt wird. Diese Frage wird, möglicherweise auf Grund mangelnder Praxisrelevanz, selten diskutiert. Betrachtet man den Wortlaut der einschlägigen Normen, so ist Voraussetzung, dass ein Senat von der „Entscheidung“ eines anderen abweichen möchte. Vom Wortlaut her wäre auch ein Beschluss im summarischen Verfahren mitumfasst. Daher wird in diesem Zusammenhang die Verfahrensart für unbeachtlich gehalten1031. Dies erscheint wenig überzeugend. Bedenkt man, dass mittels der Divergenzvorlage die Einheitlichkeit der Rechtsprechung gesichert werden soll1032, so erscheint ihre Anwendung in einem Verfahren, an welches sich regelmäßig ein Hauptsacheverfahren anschließt und das zügig abgewickelt werden muss, wenig sinnvoll. Richtig ist allerdings, dass in summarischen Verfahren auch Rechtsfragen entschieden werden müssen, die nur hier, nicht aber im Hauptsacheverfahren, relevant sind. Nur in diesen (seltenen) Fällen ist eine Divergenzvorlage geboten1033.
1028 Vgl. EuGH, Morson, C-35 / 82 und 36 / 82, Slg. 1982, 3723; anders im Fall des einstweiligen Rechtsschutzes gegen gemeinschaftsrechtliche Akte EuGH, Zuckerfabrik Süderdithmarschen, C-143 / 88, Slg. 1991, I-415. 1029 Vgl. Kapitel 3 D. I. 1030 Vgl. Kapitel 3 D. II. 1031 Vgl. C. Meyer, Die Sicherung der Einheitlichkeit höchstrichterlicher Rechtsprechung durch Divergenz- und Grundsatzvorlage, S. 45. 1032 Vgl. C. Meyer, Die Sicherung der Einheitlichkeit höchstrichterlicher Rechtsprechung durch Divergenz- und Grundsatzvorlage, S. 83. 1033 So zutreffend A. May, Verfahrensfragen bei der Divergenzanrufung des Großen Senats, DRiZ 1983, 305, 306.
202
Kap. 4: Gemeinschaftsrecht und Maßgeblichkeitsgrundsatz
Diese Gedanken lassen sich auf die nationale Vorlagepflicht übertragen. Hier dürften die obigen Ausnahmefälle noch vereinzelter auftreten. Zusammenfassend lässt sich daher sagen, dass in summarischen Verfahren grundsätzlich eine nationale Übernahmepflicht besteht. Dagegen ist die nationale Vorlagepflicht hier theoretischer Natur.
4. Urteil vom 28. März 2000 Auch in diesem Verfahren1034 ging es um die Beurteilung der Zulässigkeit einer Verbindlichkeitsrückstellung. Entschieden werden musste über folgenden Sachverhalt1035: Die Bilanzierende, eine Personenhandelsgesellschaft, hatte ein Grundstück veräußert, im Jahr darauf wurde jedoch gewandelt. Bis zum Bilanzstichtag wurden keine Wandlungsverhandlungen geführt. Der BFH ging zunächst mit der ständigen Rechtsprechung davon aus, dass durch den Übergang von Besitz, Nutzungen und Lasten ein Gewinn realisiert wurde1036. Nunmehr stellte sich für ihn die Frage, ob dieser durch die Bildung einer Rückstellung neutralisiert werden durfte. Ein derartiges Ergebnis lässt sich in Hinblick auf § 5 Abs. 4a EStG nur noch durch die Bejahung einer Verbindlichkeitsrückstellung erzielen. In der Tat hat der BFH diese Möglichkeit nicht grundsätzlich ausgeschlossen1037. Dem ist im Ergebnis zuzustimmen, denn es würde dem steuerlichen Realisations- und Vorsichtsprinzip widersprechen, den gerade nicht vom Markt bestätigten Kaufpreis der steuerlichen Gewinnermittlung zu Grunde zu legen1038. Im Ergebnis verneinte der BFH allerdings die Zulässigkeit einer Rückstellungsbildung. Nach dem Wertaufhellungsprinzip durfte die künftige Rückabwicklung nicht berücksichtigt werden. Denn die Wandlung sei auf Grund ihres rechtsgestaltenden Charakters keine ansatzaufhellende, sondern eine ansatzbeeinflussende Tatsache1039. Ansatzaufhellend könnte die Wandlung allenfalls dann sein, wenn, was hier nicht der Fall war, vor dem Bilanzstichtag Wandlungsverhandlungen geführt worden sind und die Wandlung wahrscheinlich gewesen sei.
Vgl. BFH, Urteil v. 28. März 2000, BFHE 191, 339. Hier stark vereinfacht. 1036 Gegen die Anwendung dieses Grundsatzes bei derartigen Sachverhaltskonstellationen mit beachtlichen Gründen W.-D. Hoffmann, Anmerkung, DB 2000, 1444. 1037 Zustimmend N. Pickhardt-Poremba, Die neue BFH-Rechtsprechung zum Ansatz von Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten, StuB 2001, 180, 184; dagegen Kessler / Strnad, Kommentar, FR 2000, 829: Nur Drohverlustrückstellung kommt in Betracht. 1038 Vgl. H. Gschwendtner, Anmerkung, DStZ 2000, 646, 648; B. Paus, Rückabwicklung eines Kaufvertrages, DStZ 2000, 789, 790. 1039 Zweifelnd insoweit J. Ekkenga, BB-Kommentar, BB 2000, 2569. 1034 1035
B. Inhalt und Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes
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Der BFH bejahte in seinem Urteil zweimal die Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen Regelung: Sowohl bei der Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten1040 als auch bei dem Wertaufhellungsprinzip1041 sei die handelsrechtliche Regelung maßgeblich. Damit stellte er nach der hier vertretenen Auffassung eine Konnexität zwischen Steuer- und Gemeinschaftsrecht her. Der BFH hielt Letzteres aber nicht für entscheidungserheblich1042: Da dem Anwendungsbereich der Vierten Richtlinie nur Kapitalgesellschaften unterfielen, die Bilanzierende aber Personenhandelsgesellschaft sei, käme eine Vorlage an den Gerichtshof nicht in Betracht. Die Entscheidung darüber, ob und inwieweit die für Kapitalgesellschaften geltenden Bilanzierungsgrundsätze über das Gebot der bilanzrechtlichen und steuerrechtlichen Gleichbehandlung auch Einfluss auf die Auslegung der allgemeinen, für Einzelkaufleute und Personengesellschaften geltenden Bilanzierungsvorschriften nehmen, sei allein Aufgabe der deutschen Gerichte. Diese Aussage ist zwar an sich zutreffend. Der BFH bleibt aber auf halbem Wege stehen: Er hätte die von ihm richtig erkannte Aufgabe, über die Relevanz des Gleichbehandlungsgebotes zu erkennen, auch wahrnehmen müssen. Möglicherweise wäre er dann zu der Erkenntnis gelangt, dass der EuGH auf Grund des Verbotes der gespaltenen Auslegung der §§ 238 – 263 HGB doch Einfluss auf die Auslegung des Handelsbilanzrechts und über den Maßgeblichkeitsgrundsatz auch auf das Steuerbilanzrecht von Personenhandelsgesellschaften hat. Im Ergebnis wurde richtigerweise von einer Vorlage abgesehen; die hier aufgeworfenen Fragen erscheinen zu speziell, als dass eine Vorlage sinnvoll erschiene.
5. Beschluss vom 7. August 2000 In seinem Beschluss zur steuerlichen Unzulässigkeit der phasengleichen Dividendenaktivierung1043 äußerte sich der Große Senat zu einer Vorlage an den EuGH wie folgt1044: „Der Große Senat entscheidet die ihm vorgelegten Rechtsfragen zwar nur für den Bilanzstichtag 31. 12. 1985. Er geht dennoch davon aus, dass die in dieser Entscheidung entwickelten Rechtsgrundsätze für spätere Bilanzstichtage gleichermaßen Anwendung finden. Die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens scheitert schon daran, dass die Vorlagefragen nur für den Bilanzstichtag 31. 12. 1985 zu beantworten waren. Damals war das 1040 1041 1042 1043 1044
Vgl. BFH, Urteil v. 28. März 2000, BFHE 191, 339, 342. Vgl. BFH, Urteil v. 28. März 2000, BFHE 191, 339, 344. Vgl. BFH, Urteil v. 28. März 2000, BFHE 191, 339, 346. Vgl. Kapitel 4 B. III. 2. Vgl. BFH, Beschluss v. 7. August 2000, GmbHR 2000, 1106, 1111.
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Kap. 4: Gemeinschaftsrecht und Maßgeblichkeitsgrundsatz
Bilanzrichtliniengesetz noch nicht allgemein anzuwenden.( . . . ) Deshalb betrifft die vom Großen Senat getroffene Entscheidung nur die Rechtslage vor In-Kraft-Treten des BiRiLiG v. 19. 12. 1985. Entsprechend berührt sie nicht die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe der Gemeinschaft.“
Diese Aussagen verdienen eine genauere Analyse unter zwei Gesichtspunkten: Zum einen erscheint die Berufung nur auf das In-Kraft-Treten des Umsetzungsgesetzes problematisch; eine genaue Prüfung der umzusetzenden Richtlinie wäre notwendig gewesen. Zum anderen erscheint die Aussage hinsichtlich ihrer Geltungskraft in sich widersprüchlich. Wird zunächst betont, dass die entwickelten Rechtsgrundsätze auch für spätere Bilanzstichtage Anwendung finden, ist der (vermeintlich) nicht unter den Geltungsbereich der Richtlinie fallende Bilanzstichtag der tragende Grund des Großen Senates für die Nichtvorlage. Der Hinweis des Großen Senats auf die fehlende Geltung des BiRiLiG trifft nicht den Kern der Sache1045. Er vernachlässigt, dass anerkanntermaßen spätestens ab Ende der Umsetzungsfrist einer Richtlinie das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung gilt1046. Schulze-Osterloh hat zutreffend darauf hingewiesen, dass die Umsetzungsfrist 1985 deutlich abgelaufen war1047. Die richtlinienkonforme Auslegung findet zwar, wie schon ihr Name nahe legt, ihre Grenze dort, wo keine Auslegung mehr möglich ist1048. Die vor Umsetzung der Bilanzrichtlinie einschlägigen Normen, §§ 149 Abs. 1 i.V.m. 151 Abs. 1 III B Nr. 10 AktG 1965 sind aber derart allgemein gehalten, dass an ihrer Auslegungsfähigkeit keine Zweifel bestehen1049. In einem handelsbilanzrechtlichen Rechtsstreit wäre das Gericht daher zu einer Vorlage verpflichtet gewesen. Die Berufung des Großen Senats auf die fehlende Geltung des BiRiLiG ist daher fehlerhaft. Sie erscheint umso merkwürdiger, als noch kurz vorher ausgeführt wurde, dass man ohnehin davon ausgehe, die entwickelten Rechtsgrundsätze würden für spätere Bilanzstichtage gleichermaßen Anwendung finden. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage1050, ob ein Gericht berechtigt bzw. verpflichtet ist vorzulegen, 1045 A.A. Blaum / Kessler, Das Ende der phasengleichen Vereinnahmung von Beteiligungserträgen in der Steuerbilanz?, StuB 2000, 1233, 1240. 1046 Vgl. Callies / Ruffert, EG-Vertrag, Art. 249 Rdn. 110; U. Ehricke, Die richtlinienkonforme und die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts, RabelsZ 1995, 598, 621; M. Zuleeg, Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung und Fortbildung mitgliedstaatlichen Rechts, S. 163, 170. 1047 Vgl. J. Schulze-Osterloh, Phasengleiche Aktivierung von Dividendenansprüchen, ZGR 2001, 497, 508. 1048 Vgl. H. Jarass, Probleme der richtlinienkonformen bzw. der EG-rechtskonformen Auslegung, EuR 1991, 211, 218; M. Zuleeg, Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung und Fortbildung mitgliedstaatlichen Rechts, S. 163, 172; a.A. M. Lutter, Ergänzende Bemerkungen zur Auslegung im Gesellschaftsrecht und im Kapitalmarktrecht, S. 83, 84. 1049 Vgl. die damals schon geführte Diskussion zur phasengleichen Dividendenaktivierung Geßler / Hefermehl / Eckardt / Kropff, AktG, 3. Lfg. 1973, § 151, Rdn. 74; Grosskommentar, AktG, § 151, Anm. 73.
B. Inhalt und Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes
205
wenn eine Auslegungszuständigkeit des EuGH erst für zukünftige Rechtslagen bzw. Streitigkeiten besteht, das Gericht aber eine Kontinuität seiner Rechtsprechung sicherstellen will1051. Dies erscheint in Hinblick auf den vom EuGH entschiedenen Fall Zabala Erasun1052 als zweifelhaft. Dort hatte der Gerichtshof judiziert, die bloße Tatsache, dass ein über den konkreten Rechtsstreit hinausgehendes Interesse besteht, sei gerade nicht ausreichend für eine zulässige Vorlage. Entscheidend sei vielmehr, dass die Antwort auf das Vorabentscheidungsersuchen für die tatsächliche Entscheidung eines Rechtsstreites erforderlich ist. Der Gerichtshof habe keine Zuständigkeit zur Abgabe von Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen1053. Übertragen auf obige Konstellation wird man eine differenzierte Antwort geben müssen: Das bloße Interesse eines Gerichts, dass seine Rechtsprechung auch ab dem Geltungszeitpunkt des Gemeinschaftsrechts Bestand hat, ist nicht ausreichend. Notwendig ist darüber hinaus, dass die aktuelle Entscheidung anders getroffen würde, wäre diese weitere Geltung nicht gesichert. Letzteres hat der Große Senat nicht ausdrücklich festgestellt; trotzdem liegt die Vermutung nahe, dass er nur eine Entscheidung treffen wollte, die auch ab Geltung des Gemeinschaftsrechts Anwendung findet. Im Ergebnis hat der Große Senat nach der hier vertretenen Auffassung konsequenterweise nicht vorgelegt: Da er ausdrücklich ein vom handelsrechtlichen abweichendes steuerrechtliches Ergebnis gefunden hat1054, bestand keine Konnexität zwischen Steuerbilanzrecht und Gemeinschaftsrecht. Der BFH hat, wie dargestellt, im Ergebnis immer von einer Vorlage an den EuGH abgesehen. Die Finanzgerichte waren weniger zurückhaltend. Bei ihren Vorlagen kann zwar nicht die Frage der Vorlagepflicht untersucht werden, wohl aber zum einen ihr Verständnis des Zusammenhangs zwischen Gemeinschaftsrecht und Steuerbilanzrecht, zum anderen ihr Verständnis von der Funktionsweise des Vorabentscheidungsverfahrens.
1050 Sie stellt sich allerdings nicht in diesem konkreten Fall, da hier – entgegen der Auffassung des Großen Senats – der gemeinschaftsrechtliche Einfluss schon zum Zeitpunkt der Entscheidung bestand. 1051 Ohne weitere Begründung bejahend G. Kraft, Schlussfolgerungen aus der Entscheidung des Großen Senats des Bundesfinanzhofes zur phasengleichen Dividendenaktivierung für die Rechnungslegungspraxis, Wpg 2001, 2, 5. 1052 Vgl. EuGH, Zabala Erasun u. a., C-422 / 93, 423 / 93 und 424 / 93, Slg. 1995, I-1567. 1053 Vgl. Kapitel 2 B. II. 1054 Diese Divergenz ist allerdings nicht überzeugend, vgl. Kapitel 4 B. III. 2.
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Kap. 4: Gemeinschaftsrecht und Maßgeblichkeitsgrundsatz
6. Vorlagebeschluss des FG Köln vom 16. Juli 1997, Verfahren DE+ES Der der Vorlage des Finanzgerichts Köln1055 zugrunde liegende Sachverhalt war ein alltäglicher: Es ging um die pauschale Bewertung des Gewährleistungsobligos eines Hochbauunternehmens gegenüber seinen Auftraggebern. Zwischen Finanzamt und dem Hochbauunternehmen bestand Einvernehmen darüber, dass dem Grunde nach eine Rückstellungsbildung gerechtfertigt war. Strittig blieb allein die Höhe. Während das Finanzamt lediglich 0,5% des betreffenden Jahresumsatzes anerkennen wollte, bestand das Hochbauunternehmen auf 2%. Handelsrechtlich betrachtet handelt es sich um eine Rückstellung wegen ungewisser Verbindlichkeiten gemäß § 249 Abs. 1 S. 1 HGB. Bei dieser Vorschrift besteht auch Einigkeit darüber, dass sie vom Maßgeblichkeitsgrundsatz erfasst wird; mit anderen Worten, es besteht eine Konnexität zwischen Handels- und Steuerbilanzrecht1056. Das FG Köln hatte erhebliche Bedenken gegen die Zulässigkeit einer Pauschalrückstellung. Seiner Auffassung nach verstieße eine Pauschalrückstellung gegen den Grundsatz der Einzelbewertung in Art. 31 Abs. 1 lit. e der Vierten Richtlinie; aus diesem folge die Notwendigkeit einer Einzelrückstellung 1057. Der EuGH vermochte dem nicht zu folgen. Er verwies darauf, dass Abweichungen vom Grundsatz der Einzelbewertung gemäß Art. 31 Abs. 2 der Vierten Richtlinie in Ausnahmefällen zulässig seien. Ein derartiger Ausnahmefall läge vor, wenn eine Pauschalbewertung gegenüber einer Einzelrückstellung das geeignetere Mittel sei, um ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild von der Höhe der Aufwendungen zu geben1058. Die Richtlinie enthalte keine Regelung bezüglich der Bewertungskriterien von Pauschalrückstellungen bzw. bezüglich der Höhe der zulässigen Prozentsätze; dies lasse sich nur im Rahmen der verschiedenen nationalen Rechtssysteme bestimmen. Letztere seien dabei durch die Richtlinie begrenzt: Sowohl der true-and-fair-view-Grundsatz als auch die Tatsache, dass gemäß Art. 42 Abs. 1 der Richtlinie nur Rückstellung in Höhe des notwendigen Betrages anzusetzen sind, müssen beachtet werden1059. Das gesamte Verfahren hat im deutschen Schrifttum ein reges Echo hervorgerufen. Bedauerlicherweise gab es zahlreiche Fehlbeurteilungen, insbesondere hinsichtlich des EuGH-Urteils. So fand sich verbreitet die Ansicht, der EuGH habe sich für kompetent erklärt, über deutsches Steuerbilanzrecht zu entscheiden1060. 1055 1056 1057 1058 1059
Vgl. FG Köln, Beschluss v. 16. Juli 1997, EFG 1997, 1166. Vgl. FG Köln, Beschluss v. 16. Juli 1997, EFG 1997, 1166. Vgl. FG Köln, Beschluss v. 16. Juli 1997, EFG 1997, 1166, 1167. Vgl. EuGH, DE + ES, C-275 / 97, Slg. 1999, I-5331, 5359. Vgl. EuGH, DE + ES, C-275 / 97, Slg. 1999, I-5331, 5360.
B. Inhalt und Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes
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Dies verlässt die Bandbreite des Vertretbaren. Der EuGH bejaht seine Zuständigkeit offensichtlich auf Grund seiner Dzodzi-Rechtsprechung1061. Ausgelegt hat er in seiner Entscheidung ausschließlich die Vierte Richtlinie. Dabei ist er zu dem zutreffenden Ergebnis gelangt, dass Pauschalrückstellungen mit der Vierten Bilanzierungsrichtlinie vereinbar sind. Zu Recht ist allerdings die Vorlage des FG Köln kritisiert worden1062. Denn die Bildung von Pauschalrückstellungen entsprach gängiger Praxis und Rechtsprechung1063 und wurde noch nie grundsätzlich in Frage gestellt. Ihre Notwendigkeit folgt daraus, dass Einzelrückstellungen nur diejenigen Gewährleistungsverpflichtungen berücksichtigen können, die sich bis zum Bilanzerstellungstag konkretisiert haben. Aufgabe der Pauschalrückstellung ist es, diejenigen Gewährleistungsverpflichtungen zu erfassen, die sich zwar bis zum Bilanzerstellungstag noch nicht konkretisiert haben, wo aber für eine Gruppe von Umsatzvorgängen auf Grund von Erfahrungswerten mit einer gewissen Inanspruchnahme gerechnet werden muss1064. Die Anerkennung von Pauschalrückstellungen dem Grunde nach ist daher eine Selbstverständlichkeit1065. Die eigentlich interessante Frage nach der Höhe der Rückstellung ist schon auf Grund der Natur der Pauschalrückstellung, insbesondere ihre Abhängigkeit von der Branche und der individuellen Betriebserfahrung1066, Sache des Tatgerichts1067. Die Vorlage war nach alledem überflüssig. 7. Vorlagebeschluss des FG Hamburg vom 22. April 1999 Der Vorlagebeschluss des FG Hamburg1068 beeindruckt zunächst durch seinen Umfang1069. Er widmet sich 3 Themenkomplexen und wird hier, entsprechend der auch in der amtlichen Sammlung vorgenommenen Unterteilung, untersucht. 1060 So W.-D. Hoffmann, Der EuGH als Mentor deutschen Bilanzrechts – Anmerkungen zum EuGH-Urteil vom 14. 9. 1999, DStR 1999, 1686; ders., Quo vadis deutsches Bilanzsteuerrecht?, DB 2001, 452; Kußmaul / Klein, Überlegungen zum Maßgeblichkeitsprinzip im Kontext jüngerer nationaler sowie internationaler Entwicklungen, DStR 2001, 546, 549; Peter / Eichhoff, Anmerkung, EWS 1999, 436, 438. 1061 Vgl. Schlussanträge des Generalanwaltes Léger, DE + ES, C-275 / 97, Slg. 1999, I-5334, 5339 f.; zur Dzodzi-Rechtsprechung vgl. Kapitel 2 D. III. 1. d). 1062 Vgl. W.-D. Hoffmann, Der EuGH als Mentor deutschen Bilanzrechts – Anmerkungen zum EuGH-Urteil vom 14. 9. 1999, DStR 1999, 1686, 1688; A. Moxter, Pauschalrückstellung in der Steuerbilanz unzulässig?, DB 1998, 269, 272; wfr, Anmerkung, DB 1999, 2036. 1063 Vgl. H. Schuhmann, Pauschalrückstellungen, StBp 1998, 291, 292 ff. m. w. N. 1064 Vgl. A. Moxter, Pauschalrückstellung in der Steuerbilanz unzulässig?, DB 1998, 269, 270. 1065 wfr, Anmerkung, DB 1999, 2036, 2037. 1066 Vgl. H. Schuhmann, Pauschalrückstellungen, StBp 1998, 291, 294. 1067 Vgl. W.-D. Hoffmann, Der EuGH als Mentor deutschen Bilanzrechts – Anmerkungen zum EuGH-Urteil vom 14. 9. 1999, DStR 1999, 1686, 1688. 1068 Vgl. FG Hamburg, Beschluss v. 22. April 1999, EFG 1999, 1022.
208
Kap. 4: Gemeinschaftsrecht und Maßgeblichkeitsgrundsatz
a) Die Fragen nach der Vorabentscheidungs-Zuständigkeit des EuGH Der erste Komplex beinhaltete folgende Fragen1070: „Ist der EuGH im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 11 EGV a.F. zur Auslegung der BiRiLi nicht nur zuständig bei Zweifeln über die richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Handelsbilanzrechts für Kapitalgesellschaften (hier §§ 264 ff. HGB), sondern auch zuständig 1. soweit Inhalte der BiRiLi bei deren Umsetzung (hier durch das BiRiLiG) in das für alle Kaufleute geltende nationale Handelsbilanzrecht übernommen wurden (hier §§ 238 ff. HGB), auch wenn für diese das in Präambel und Art. 2 der BiRiLi vorangestellte Gebot des „true and fair view“ nicht in den Gesetzestext übernommen wurde (anders als bei Kapitalgesellschaften, § 264 Abs. 2, § 289 Abs. 1 HGB); 2. soweit das nationale Steuerrecht (hier § 5 Abs. 1 S. 1 EStG i.V.m. § 8 Abs. 1 KStG und § 7 GewStG) für die Gewinnermittlung bilanzierender Kaufleute von der Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung ausgeht und a) soweit diese in den (durch das BiRiLiG) harmonisierten Vorschriften für alle Kaufleute (§§ 238 ff. HGB) geregelt sind oder b) soweit die spezielleren Bilanzierungsvorschriften (§§ 264 ff. HGB) einschlägig sind;
für
Kapitalgesellschaften
3. soweit das nationale Steuerrecht im anderen Zusammenhang auf handelsbilanzrechtliche Begriffe oder Maßstäbe Bezug nimmt? . . .“
Der Fehler dieses gesamten Komplexes liegt auf der Hand: Es ist nach der eindeutigen, immer wieder vom EuGH betonten Dzodzi-Rechtsprechung Aufgabe des nationalen Gerichts, über Inhalt und Reichweite der Verweisung auf Gemeinschaftsrecht zu befinden1071. Die Beantwortung der vorgelegten Fragen obliegt daher allein der deutschen Finanzgerichtsbarkeit1072. Exakterweise müsste der Gerichtshof diesen Fragenkomplex als unzulässig beurteilen, da es nicht um Fragen des Gemeinschaftsrechts, sondern des mitgliedstaatlichen Rechts geht. Nicht auszuschließen ist aber, dass der EuGH lapidar auf seine Dzodzi-Rechtsprechung verweist und eine konkludente Bejahung seitens des FG Hamburg unterstellt, um zu den darauf folgenden Fragen Stellung zu nehmen.
1069 D. Dziadkowski, Der EuGH entscheidet zu deutschem Bilanzrecht, FR 1999, 1300, fühlt sich an eine „große“ Seminararbeit erinnert. 1070 Vgl. FG Hamburg, Beschluss v. 22. April 1999, EFG 1999, 1022. 1071 Vgl. Kapitel 2 D. II. 1. 1072 A.A. M. Lausterer, Anmerkung, IStR 1999, 639, 640; in dieser Untersuchung erfolgt eine Stellungnahme zu Frage 1 in Kapitel 3 D. V. 1., zu Frage 2 in Kapitel 4 und zu Frage 3 in Kapitel 5.
B. Inhalt und Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes
209
b) Die Fragen nach der Bilanzierung von Kreditrisiken Hier1073 stellte das FG Hamburg elf Fragen zur bilanzrechtlichen Behandlung so genannter Risiko-Unterbeteiligungs-Garantien („risk subparticipations agreement“). Im Streitfall handelte es sich um eine derartige Garantie eines deutschen Kreditinstitutes für Kredite, die ein anderes Kreditinstitut einem im Ausland (Chile) ansässigen Schuldner ausgereicht hatte. Derartige Garantien funktionieren solcher Weise, dass der Garantiegeber gegen die Zahlung einer Avalprovision die Haftung für die Rückzahlung des Kredits übernimmt. Als schwebende Geschäfte sind sie nicht bilanzierungsfähig, sondern vielmehr gemäß § 251 S. 1 HGB als Eventualverbindlichkeiten unterhalb der Bilanz auszuweisen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass gar keine Auswirkungen auf die Bilanz möglich sind. Im Gegenteil, ist eine Inanspruchnahme (bzw. ein Rückgriff) wahrscheinlich, so ist eine (gewinnmindernde) Rückstellung zu bilden. Dies wirft, auf Grund der steuerlichen Nichtanerkennung so genannter Drohverlustrückstellungen1074 zunächst die dogmatisch Frage auf, welcher Art diese Rückstellung ist. Denkbar ist entweder eine Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten gemäß § 249 Abs. 1 S. 1 1. Alt. HGB oder eine Drohverlustrückstellung gemäß § 249 Abs. 1 S. 1 2. Alt. HGB1075. Das FG Hamburg ging ohne Weiteres von Letzterer aus1076. Dies erscheint wenig überzeugend. Denn die Bildung einer Drohverlustrückstellung setzt einen gegenseitigen, auf Leistungsaustausch gerichteten Vertrag voraus1077. Zivilrechtlich 1078 betrachtet, stellt sich die sich aus der Risiko-Unterbeteiligungs-Garantie ergebende Haftung aber als einseitige, gerade nicht in ein Gegenseitigkeitsverhältnis eingebundene Verpflichtung dar. Hier zeigt sich die Ähnlichkeit zu einer Inanspruchnahme als Bürge, wo anerkanntermaßen eine Verbindlichkeitsrückstellung zu bilden ist1079. Die Tatsache, dass es sich um eine quasi entgeltliche Bürgschaft handelt, ändert daran nichts1080. Denn das gegenseitige Austauschverhältnis besteht in der Haftungsübernahme des Garantiegebers einerseits und Zahlung der Avalprovision durch den Garantienehmer andererseits1081; die sich später eventuell ergebende Haftung bleibt einseitige VerpflichVgl. FG Hamburg, Beschluss v. 22. April 1999, EFG 1999, 1026. Vgl. Kapitel 4 B. I. 2. a); im Streitfall wurde die Drohverlustrückstellung auf Grund der alten Gesetzeslage noch anerkannt. 1075 Vgl. zur Unterscheidung Kapitel 4 B. II. 1. d). 1076 Zustimmend J. Schlösser, Drohverlustrückstellungen für Länderrisiken aus Haftungsverhältnissen?, StuB 2000, 143, 144. 1077 Vgl. Schmidt / Weber-Grellet, EStG, § 5, Rdn. 453. 1078 Gründe für eine steuerrechtlich abweichende Betrachtung sind nicht ersichtlich. 1079 Vgl. Clemm / Erle in Beck‘scher Bilanzkommentar, § 249 Rdn. 100 unter Bürgschaft. 1080 A.A. offenbar T. Naumann, Zur Abgrenzung von künftig ertragsteuerrechtlich nicht mehr zu bildenden Drohverlustrückstellungen, insbesondere bei Kreditinstituten, BB 1998, 527, 529. 1073 1074
14 Bärenz
210
Kap. 4: Gemeinschaftsrecht und Maßgeblichkeitsgrundsatz
tung. Nach alledem ist die Einordnung als Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten gemäß § 249 Abs. 1 S. 1 1. Alt. HGB zutreffend. Die Fragen des FG Hamburg betrafen sowohl die Bildung als auch die Bewertung derartiger Rückstellungen. So erschien ihm die Zulässigkeit pauschaler Rückstellungen im Gegensatz zu reinen Einzelwertberichtigungen als zweifelhaft. Darüber hinaus wollte es unter anderem wissen, wie das Länderrisiko derartiger Forderungen neben dem eigentlichen Bonitätsrisiko einzuschätzen war. Beide Risiken sind Teil des Kreditrisikos. Als Länderrisiken werden sämtliche politische oder ökonomische Einflüsse angesehen, die sich auf die Erfüllung von grenzüberschreitenden Transaktionen auswirken, zum Beispiel Unterbindung des Kapitalverkehrs durch die Notenbank des betreffenden Staates. Gefragt wurde auch nach Methoden der Berechnung dieses Länderrisikos. Auch dieser Teil des Vorlagebeschlusses ist zu kritisieren. Das FG Hamburg verkennt mit seinen Fragen zum Großteil die Arbeitsteilung im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens gemäß Art. 234 EG. Bei genauerer Betrachtung betrifft die Mehrheit der Fragen Tatfragen. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der Berechnungsmethoden des Länderrisikos. Da diese in wesentlichen Teilen institutsindividuell berechnet werden1082, handelt es sich hier um eine originäre Aufgabe der Tatsacheninstanz1083. Das Gleiche gilt für das individuell verschiedene Verhältnis von Bonitäts- und Länderrisiko. Die Frage nach der Zulässigkeit von Pauschalbewertungen ist durch den EuGH im Verfahren DE + ES1084 schon entschieden worden1085; sie war auch in diesem Zusammenhang nicht ernsthaft strittig1086. Darüber hinaus befremdet an dem Vorlagebeschluss, dass sich das FG Hamburg ohne weitere Erläuterung bei der Auslegung der Vierten Richtlinie an den IAS orientiert1087. Letztere sind aber (noch)1088 nicht Teil des Gemeinschaftsrechts. Zum Zeitpunkt des Erlasses der Vierten Richtlinie erfolgte auch keine Orientierung an den IAS1089. 1081 So zutreffend H. Kessler, Das Vorabentscheidungsersuchen des FG Hamburg vom 22. April 1999 in Sachen Bilanzierung von Kreditrisiken: Paradebeispiel für einen misslungenen Vorlagebeschluss, IStR 2000, 531, 533. 1082 Dies räumt das FG Hamburg selbst ein; vgl. Beschluss v. 22. April 1999, EFG 1999, 1026, 1031. 1083 Vgl. –wfr.-, Anmerkung, DB 1999, 2189, 2190. 1084 Vgl. Kapitel 4 B. VI. 6. 1085 Allerdings konnte das FG Hamburg bei Abfassung des Beschlusses vom EuGH-Urteil noch keine Kenntnis haben. 1086 Vgl. BFH, Urteil v. 7. Mai 1998, BFH NV 1998, 1471, 1472. 1087 Vgl. FG Hamburg, Beschluss v. 22. April 1999, EFG 1999, 1026, 1027. 1088 Insoweit ist aber der Verordnungsentwurf der Kommission zur verbindlichen Anwendung der IAS für Konzernabschlüsse zu beachten; hierzu C. Ernst, EU-Verordnungsentwurf zur Anwendung von IAS: Europäisches Bilanzrecht vor weitreichenden Änderungen, BB 2001, 823; M. Heintzen, EU-Verordnungsentwurf zur Anwendung von IAS: Kein Verstoß gegen Unionsverfassungsrecht, BB 2001, 825.
B. Inhalt und Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes
211
c) Die Fragen zur Wertaufhellung Im Dritten Teil seiner Vorlage1090 stellt das FG Hamburg Fragen zur Problematik der Wertaufhellung. Diese Problematik befasst sich damit, wie Tatsachen in der Bilanz zu behandeln sind, die erst zwischen Bilanzstichtag und Tag der Aufstellung bekannt werden. Die theoretische Abgrenzung ist die Folgende: Erkenntnisse aus diesem Zeitraum sind als wertaufhellend in der Bilanz zu berücksichtigen, wenn sie sich auf Gegebenheiten des Vorjahres beziehen, aber erst in dem fraglichen Zeitraum (genauer) bekannt wurden. Nicht zu berücksichtigende wertbegründende Informationen haben ihre Ursache im neuen Geschäftsjahr. Mit seiner ersten Frage möchte das FG Hamburg wissen, ob wertaufhellend nicht nur Risikoerhöhungen, sondern auch Risikominderungen erfasst werden. Die Frage ist geeignet, Erstaunen hervorzurufen. Soweit ersichtlich, wird nicht ernsthaft vertreten, dass Risikominderungen nicht berücksichtigt werden sollten1091. Die zweite Frage betrifft dagegen ein umstrittenes Thema: Gefragt wird, ob die Tilgung eines Kredites zwischen Bilanzstichtag und Tag der Bilanzaufstellung wertaufhellend1092 oder wertbeeinflussend1093 wirkt. Die letzte Frage gilt dem Begriff des „Tages der Aufstellung“ der Bilanz. Hier vertritt das FG Hamburg die Auffassung, als solcher könnte in gewissen Konstellationen auch der Tag gelten, an dem die Bewertung der betreffenden Bilanzposten abgeschlossen wird1094. Beide Frage zeichnen sich dadurch aus, dass sie recht spezielle bilanzrechtliche Probleme aufwerfen. Im Kern handelt es sich um Fragen der Bewertung. Auf Grund des steuerlichen Bewertungsvorbehaltes wäre es daher notwendig gewesen, sich mit der Frage der Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen und damit der gemeinschaftsrechtlichen Regelung für die steuerrechtliche Norm zu beschäftigen1095. Vor einer Vorlage an den EuGH hätte es näher gelegen, zunächst eine Lösung auf nationaler Ebene zu finden. Erst wenn an dieser Lösung ernsthafte gemeinschaftsrechtliche Zweifel bestehen, sollte dem EuGH vorgelegt werden. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Vorlagebeschluss des FG Hamburg deutlich mehr Schatten als Licht aufzuweisen hat. Abgesehen von klaren Fehleinschätzungen, beispielsweise bei der Frage, wer über die Reichweite der Verweisung urteilen muss1096, oder in der Auffassung, bei der Auslegung der Richtlinie 1089 Vgl. H. Kessler, Das Vorabentscheidungsersuchen des FG Hamburg vom 22. April 1999 in Sachen Bilanzierung von Kreditrisiken: Paradebeispiel für einen misslungenen Vorlagebeschluss, IStR 2000, 531, 537. 1090 Vgl. FG Hamburg, Beschluss v. 22. April 1999, EFG 1999, 1033. 1091 Vgl. Budde / Geißler in Beck‘scher Bilanzkommentar, § 252 Rdn. 38. 1092 So z. B. BFH, Urteil v. 7. Mai 1998, BFH NV 1998, 1471, 1473. 1093 So z. B. Schmidt / Glanegger, EStG, § 6 Rdn. 47. 1094 Zustimmend J. Schlösser, Wertaufhellung: Bringt der EuGH Licht ins Dunkel?, StuB 2000, 309, 310. 1095 Hierzu ausführlicher in Kapitel 5.
14*
212
Kap. 4: Gemeinschaftsrecht und Maßgeblichkeitsgrundsatz
sei auf die IAS zurück zu greifen, erweisen sich die meisten Fragen als schlicht entbehrlich1097.
d) Das Urteil des EuGH vom 7. Januar 2003, BIAO Der EuGH hat dieses Verfahren zum Anlass genommen, seine Dzodzi-Rechtsprechung ausdrücklich zu bestätigen. Generalanwalt Jacobs hatte seine schon mehrfach geäußerten1098, grundsätzlichen Bedenken gegen diese Rechtsprechung aufrecht erhalten und dementsprechend die Zuständigkeit des EuGH verneint1099. Nach der nochmaligen Bestätigung der Entscheidung Leur-Bloem durch das Plenum ist nicht davon auszugehen, dass der EuGH seine Dzodzi-Rechtsprechung in Zukunft aufgeben wird. Interessant sind die Ausführungen des Gerichtshof, soweit er die Systematik und den Regelungsinhalt der Vierten Richtlinie erläutert. Der EuGH stellt unmissverständlich klar, dass die von der Vierten Richtlinie aufgestellten Grundsätze – und hier insbesondere der Grundsatz des true and fair view – von den nationalen Rechtsordnungen im Anwendungsbereich der Richtlinie zu respektieren sind. Es liegt in der Natur von Grundsätzen, dass sie keine konkrete Festlegung für die Regelung von Einzelfällen treffen. Im Rahmen dieser Grundsätze billigt der EuGH dem nationalen Recht einen gewissen Spielraum zu. Einzelne Detailregelungen der Mitgliedstaaten mögen daher voneinander abweichen können; das Fortbestehen unterschiedlichen Bilanzierungsrechts im Sinne anderer Bilanzierungsphilosophien oder anderer Grundsätze ist dagegen nicht gemeinschaftsrechtskonform. Seine grundsätzlichen Wertungen konnte der EuGH im Rahmen des dritten Teils der Vorlagefragen anwenden. Das FG Hamburg fragte u. a., ob die Tilgung eines Kredites zwischen Bilanzstichtag und dem Tag der Bilanzaufstellung für die Rückstellungen bezüglich der Kreditrisiken wertaufhellend oder nachträglich wertverändernd wirkt1100. Abstrakt fragt das FG Hamburg daher nach der Reichweite der Wertaufhellung. In diesem Zusammenhang ist umstritten, ob subjektiv Gewusstes, objektiv Wissbares oder der subjektive Erkenntnisstand des sorgfältigen Kaufmanns maßgeblich ist.1101 Die Rechtsprechung des BFH ist nicht einheitlich. Kennzeichnend für die Vgl. Kapitel 4 B. VI. 7. a). Vgl. H. Kessler, Das Vorabentscheidungsersuchen des FG Hamburg vom 22. April 1999 in Sachen Bilanzierung von Kreditrisiken: Paradebeispiel für einen misslungenen Vorlagebeschluss, IStR 2000, 531, 542. 1098 Vgl. Schlussanträge des Generalanwaltes Jacobs, Leur-Bloem, C-28 / 95, Slg. 1997, I-4165, 4180. 1099 Vgl. Schlussanträge des Generalanwalt Jacobs, IStR 2002, 24. 1100 Vgl. Kapitel 4 B. VI. 7. c). 1101 Vgl. Schmidt / Weber-Grellet, EStG, § 5 Rdnr. 81 m. w. N. 1096 1097
B. Inhalt und Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes
213
objektive Wertaufhellungskonzeption ist das Wechselobligo-Urteil des BFH aus dem Jahre 1965,1102 welches nachfolgend mehrfach vom BFH bestätigt wurde.1103 In diesem Urteil hatte der BFH argumentiert, dass aus der Einlösung eines Wechsels nach dem Bilanzstichtag folge, am Bilanzstichtag selbst habe objektiv keine Veranlassung zu der Befürchtung bestanden, der Wechsel würde nicht eingelöst1104. Diese objektive Wertaufhellungskonzeption trägt ihren Namen jedenfalls für die Wechselobligo-Konstellation zu Unrecht. Denn der ihr zu Grunde liegende Gedanke ist nicht „objektiv“, sondern unzutreffend.1105 Die Tatsache, dass der Wechsel nach dem Bilanzstichtag vom Bezogenen eingelöst wurde, lässt keinen zwingenden Rückschluss darüber zu, ob zum Zeitpunkt des Bilanzstichtages die Gefahr einer Inanspruchnahme aus dem Wechsel bestand. Die Verwendung eines Wechsels hat nicht selten den Hintergrund, kurzfristige Liquiditätsengpässe zu überbrücken. Schließlich ist es vorstellbar, dass der Bezogene den Wechsel nach dem Bilanzstichtag nur deswegen einlösen konnte, weil er nach dem Bilanzstichtag eine Erbschaft oder ein Lotteriegewinn gemacht hat. Dies soll aber auch nach der objektiven Konzeption des BFH gerade keinen Rückschluss auf den objektiven Wert zum Bilanzstichtag erlauben.1106 Es ist daher zu begrüßen, dass der EuGH im Ergebnis diese objektive Wertaufhellungskonzeption ablehnt. Der Gerichtshof vertritt nämlich die Auffassung, dass sich ein Vorgang wie die Rückzahlung eines Kredites nach dem Bilanzstichtag nicht tatsächlich auf das fragliche Geschäftsjahr beziehe. Dementsprechend stelle dieser Vorgang keine Tatsache dar, die eine rückwirkende Neubewertung einer sich auf diesen Kredit beziehenden Rückstellung erfordere, die auf der Passivseite der Bilanz ausgewiesen ist. Handelsrechtlich ist daher die Wechselobligo-Rechtsprechung des BFH gemeinschaftsrechtswidrig. Die Entscheidung des EuGH gewinnt an zusätzlicher Überzeugungskraft dadurch, dass sie gleichzeitig dem Grundsatz des true and fair view Rechnung trägt: Nach Auffassung des EuGH könne die Nichterwähnung von Umständen wie der komplette Wegfall eines Risikos durchaus irreführend sein und dementsprechend gegen letzteren Grundsatz verstoßen. Der Grundsatz des true and fair view verlange daher, dass an irgendeiner Stelle im Jahresabschluss der Wegfall oder die Verringerung eines solchen Risikos erwähnt werde. Die geeignetste Methode der Aufnahme dieser Angabe in den Jahresabschluss überlässt der EuGH materiell dem nationalen Recht; die Überprüfung dementsprechend dem nationalen Richter. Die
Vgl. BFH, Urteil vom 27. April 1965, BFHE 82, 445, 448. Vgl. BFH, Urteil vom 4. April 1973, BFHE 109, 55, 56; BFH, Urteil vom 7. Mai 1998, BFH-NV 1998, 1471, 1473. 1104 Zustimmend A. Moxter, Bilanzrechtsprechung, S. 262. 1105 So auch B. Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, S. 54, 55. 1106 Vgl. BFH, Urteil vom 4. April 1973, BFHE 109, 55, 57. 1102 1103
214
Kap. 4: Gemeinschaftsrecht und Maßgeblichkeitsgrundsatz
Lösung des EuGH vermag Aspekte der Rechtssicherheit und Praktikabilität auf elegante Weise mit der Informationsfunktion des Jahresabschlusses zu vereinen. Für die vom EuGH entschiedene Frage zur Wertaufhellung können die steuerrechtlichen Konsequenzen nach dem Beschluss des großen Senates des BFH, wonach das Wertaufhellungsprinzip im Handels- und Steuerbilanzrecht unterschiedliche Ausgestaltungen annehmen kann1107, nicht abschließend beurteilt werden. Für eine unterschiedliche Betrachtung ist aber in dieser Frage keine Rechtfertigung ersichtlich. Die Wechselobligo-Rechtsprechung des BFH und die mit ihr verbundene objektive Wertaufhellungskonzeption hat daher auch steuerrechtlich keine Zukunft.
8. Zwischenergebnis Die Diskussion um eine Vorlagepflicht in steuerbilanzrechtlichen Fragen ist zunächst dadurch geprägt, dass eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Frage, ob im Rahmen der Dzodzi-Rechtsprechung überhaupt eine gemeinschaftsrechtliche Vorlagepflicht besteht, nicht stattfindet. Soweit eine Vorlagepflicht auf anderer dogmatischer Ebene verneint wird, geschieht dies mit wenig überzeugenden Argumenten. Gekennzeichnet ist die Diskussion in Teilen durch die Furcht, die Arbeit des BFH würde sich im Verfassen von Vorlagebeschlüssen an den EuGH erschöpfen1108. Dabei wird verkannt, dass selbst bei Bejahung einer Vorlagepflicht im steuerbilanzrechtlichen Bereich der Schwerpunkt in der Subsumtion eines Sachverhaltes unter bestimmte Tatbestandsvoraussetzungen liegt. Dies bliebe in jedem Falle Aufgabe des BFH1109. Auch Auffassungen, die einen ähnlichen Einfluss des EuGH wie im Bereich der Umsatzsteuer prognostizieren1110, sind wenig überzeugend. Sie übersehen, dass der Bereich der Einkommensteuer gerade nicht harmonisiert ist und die Zuständigkeit des EuGH im Gegensatz zur Umsatzsteuer allein auf der nationalen Beurteilung der nationalen Verweisung auf Gemeinschaftsrecht beruht. Der BFH wird auch weiterhin die wichtigste Quelle für die Feststellung des Steuerbilanzrechts bleiben1111. Nach der hier vertretenen Auffassung besteht für ihn nur ein Vorlagerecht. Bei der Inanspruchnahme dieses Rechts muss rechtspolitisch zunächst beachtet werden, dass der EuGH schon jetzt an den Grenzen seiner Vgl. BFH, Beschluss vom 7. August 2000, BFHE 192, 339, 352. So z. B. H. Kessler, Anmerkung, StuB 1999, 91. 1109 So zutreffend F. Wassermeyer, Die Verpflichtung der obersten Bundesgerichte zur Vorlage von Bilanzierungsfragen an den EuGH, FS für Marcus Lutter, S. 1633, 1648. 1110 So D. Dziadkowski, Zur Europäisierung des Bilanzrechts, FR 1998, 865, 871; ders., DE + ES: Quo vadis, Steuerbilanz?, IStR 1999, 636. 1111 A.A. W. Meilicke, Zur Bedeutung der richtlinienkonformen Auslegung für das deutsche Steuerrecht, BB 1992, 969, 972. 1107 1108
B. Inhalt und Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes
215
Kapazität arbeitet. Daher sollten bilanzrechtliche Detailfragen nicht vorgelegt werden. Genutzt werden sollte das Vorlagerecht aber dann, wenn gerade der EuGH eine besondere Kompetenz zur Beantwortung der Vorlagefrage hat. Dies gilt beispielsweise für den Fall unterschiedlicher Sprachfassungen der Vierten Richtlinie1112. Darüber hinaus sollte durch eine Vorlage an den EuGH Rechtssicherheit in der Frage, ob im Rahmen des Art. 234 Abs. 3 EG eine Vorlagepflicht auch in den Fällen der Dzodzi-Rechtsprechung besteht, geschaffen werden. Auf Grund der wenigen bisher ergangenen Entscheidungen des EuGH zur Vierten Richtlinie, sind nationale Übernahme- und Vorlagepflichten im Steuerbilanzrecht praktisch (noch) nicht relevant.
VII. Zwischenergebnis zu Kapitel 4 Der Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf das deutsche Steuerbilanzrecht auf Grund des Maßgeblichkeitsgrundsatzes richtet sich danach, wie man Inhalt und Reichweite dieses Maßgeblichkeitsgrundsatzes beurteilt. Dies ist ausschließlich eine Frage des nationalen Rechts, die den deutschen Gerichten obliegt und der Beurteilung durch den EuGH entzogen ist. Am überzeugendsten erscheint insoweit die Charakterisierung als zweckbezogen eingeschränkte Maßgeblichkeit. Folgt man dieser Beurteilung, so besteht der gemeinschaftsrechtliche Einfluss grundsätzlich immer dann, wenn nicht zwingende verfassungsrechtliche Gründe ein Abweichen der steuerrechtlichen von der handelsrechtlichen Beurteilung gebieten. Prozessual besteht für den BFH in steuerbilanzrechtlichen Streitigkeiten keine Vorlagepflicht gemäß Art. 234 Abs. 3 EG. Die nationalen Übernahme- und Vorlagepflichten sind praktisch auf Grund der bisher geringen Anzahl der vom EuGH zur Vierten Richtlinie getroffenen Entscheidungen kaum relevant.
1112
Vgl. Kapitel 4 B. VI. 2.
Kapitel 5
Der Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf Grund materieller Begriffsidentität Im Rahmen des Steuerbilanzrechts lassen sich Fragen des Bilanzansatzes von Fragen der Bewertung unterscheiden. Während sich die Fragen des Bilanzansatzes damit beschäftigen, was überhaupt in eine Bilanz eingestellt werden kann, geht es bei den Bewertungsfragen um die Höhe der jeweiligen Aktiva und Passiva. Die Untersuchung im vorangegangenen Kapitel hat gezeigt, dass das Gemeinschaftsrecht und der EuGH auf Grund des Maßgeblichkeitsgrundsatzes Einfluss auf steuerrechtliche Fragen im Rahmen des § 5 Abs. 1 EStG haben können. Eine am Wortlaut orientierte Interpretation dieser Vorschrift („anzusetzen“) führt zu dem Ergebnis, dass sich der Maßgeblichkeitsgrundsatz nur auf den Bilanzansatz und nicht auf dessen Bewertung bezieht1113. In diesem Sinne entschied der Große Senat des BFH im Jahre 1978 noch, dass für die Bewertung von Wirtschaftsgütern grundsätzlich keine Maßgeblichkeit bestehe1114. Verwiesen wurde in diesem Zusammenhang auch auf den steuerrechtlichen Bewertungsvorbehalt in § 5 Abs. 4 (heute Abs. 6) EStG. Diese Rechtsprechung kann mittlerweile als aufgegeben betrachtet werden. So stützte der Große Senat des BFH 1990 bei der Beurteilung eines zentralen Bewertungsbegriffes – des Begriffs der Herstellungskosten – seine Auffassung, der handelsrechtliche Herstellungskostenbegriff sei auch für das Einkommensteuerrecht maßgeblich1115, ausdrücklich auch auf den Maßgeblichkeitsgrundsatz1116. Dessen ungeachtet besteht bei der Frage nach der Geltung des Maßgeblichkeitsgrundsatzes im Rahmen der Bewertung, insbesondere im Schrifttum, Einigkeit nur über die schlichte Erkenntnis, dass ausdrückliche steuerrechtliche Bewertungsvorschriften in ihrem Anwendungsbereich einschlägig sind. Für den Fall, dass eine derartige Bewertungsvorschrift fehlt, bestehen erhebliche Meinungsunterschiede. Das Spektrum reicht von einer völligen Ablehnung1117 bis zur Bejahung1118 der Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen Vorschriften in Bewertungsfragen. Vgl. Wendl in Kirchhof / Söhn, EStG, § 6 Rdn. A 205. Vgl. BFH, Beschluss v. 12. Juni 1978, BFHE 125, 516, 526. 1115 Vgl. BFH, Beschluss v. 4. Juli 1990, BFHE 160, 466, 473. 1116 Vgl. BFH, a. a. O.; so auch BFH, Urteil v. 17. Mai 2000, BFH-NV 2001, 155. 1117 Vgl. Meincke in Littmann / Bitz / Meincke, EStG, § 6, Rdn. 18, der Lösungen, die das Handelsbilanzrecht anbietet, nur argumentsweise beachten will. 1113 1114
Kap. 5: Gemeinschaftsrecht und materielle Begriffsidentität
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Bemerkenswert an dieser Diskussion ist der folgende Aspekt: Da der Maßgeblichkeitsgrundsatz in § 5 Abs. 1 S. 1 EStG normiert ist, müsste es jedenfalls für die Befürworter der Maßgeblichkeit in Bewertungsfragen nahe liegen, den Regelungsbereich dieser Norm auch auf Bewertungsfragen zu erstrecken. Doch selbst die Befürworter vertreten nicht, dass § 5 Abs. 1 S. 1 EStG Fragen der Bewertung regelt. Vielmehr wird davon gesprochen, dass die dortige Verweisung auch für die Bewertung „gilt“1119 bzw. dass das Maßgeblichkeitsprinzip insoweit aus § 5 Abs. 1 „abgeleitet wird“1120. Vereinzelt wird es nicht einmal als Widerspruch empfunden, § 5 Abs. 1 EStG zwar ausschließlich auf den Bilanzansatz zu beziehen, den Maßgeblichkeitsgrundsatz aber trotzdem für die Bewertung gelten zu lassen, soweit dem nicht abweichende Regelungen des EStG entgegenstehen1121. Eingeräumt wird, dass der Wortlaut des § 5 Abs. 1 EStG nicht eindeutig sei1122, mit anderen Worten, dass jedenfalls eine explizite Verweisung auf Handelsrecht im Rahmen der Bewertung nicht existiert1123. Nun ist es nicht Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit, die Grundsatzfrage nach der Geltung des Maßgeblichkeitsprinzips im Rahmen der Bewertung einschließlich der Frage nach präzisen Rechtsgrundlagen einer derartigen Geltung zu beantworten. Unabhängig von der Beantwortung dieser Grundsatzfrage könnte sich ein gemeinschaftsrechtlicher Einfluss auf Bewertungsfragen daraus ergeben, dass sowohl im unter Einfluss des Gemeinschaftsrechts stehenden Handelsrecht als auch in der steuerrechtlichen Bewertung die gleichen Begriffe verwendet werden. Sollte dies der Fall sein, kommt es möglicherweise auf eine Verweisung durch den Maßgeblichkeitsgrundsatz nicht mehr an. Klärungsbedürftig bleibt dann allerdings die Frage, was „gleiche“ Begriffe sind; mit anderen Worten, wie stark die Übereinstimmung zwischen dem steuerrechtlichen Begriff und seinem handelsrechtlichen Pendant sein muss. In Betracht kommt zwar, in Hinblick auf den formell bestehenden Bewertungsvorbehalt des § 5 Abs. 6 EStG, jeglichen Einfluss des Gemeinschaftsrechts und damit jegliche Auslegungskompetenz des Gerichtshofes zu verneinen. Sollte sich eine derart formale Argumentation als unzulässig erweisen, bedarf die Frage, wie stark eine solche Übereinstimmung sein muss, um die beispielsweise für eine nationale Übernahmepflicht erforderliche Konnexität herzustellen, einer Beantwortung.
Vgl. Schmidt / Glanegger, EStG, § 6 Rdn. 17. So z. B. Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, S. 154; F. Wassermeyer, Die Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz und die Umkehr dieses Grundsatzes, DStJG Band 14, S. 29, 39. 1120 So Schmidt / Glanegger, EStG, § 6 Rdn. 17. 1121 Vgl. A. Krieger, Der Grundsatz der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die steuerrechtliche Gewinnermittlung, FS für Georg Döllerer, S. 327, 343. 1122 Vgl. B. Haeger, Der Grundsatz der umgekehrten Maßgeblichkeit in der Praxis, S. 10. 1123 Vgl. J. Thiel, Bilanzrecht, S. 97 Rdn. 230. 1118 1119
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Kap. 5: Gemeinschaftsrecht und materielle Begriffsidentität
Denkbar sind verschiedene Möglichkeiten. Diejenige mit den höchsten Anforderungen wäre die Forderung nach gleichzeitig semantischer und inhaltlicher Gleichheit der verwendeten Begriffe. Man könnte demgegenüber auch erwägen, die mehrheitliche Übereinstimmung der Bewertungsergebnisse ausreichen zu lassen. Immerhin wird eine derartige Übereinstimmung auch von Gegnern der Maßgeblichkeit im Rahmen der steuerlichen Bewertung festgestellt1124. Denkbar ist schließlich auch, dass die Antwort zwischen diesen beiden Positionen liegt. Die Untersuchung dieser Fragen soll anhand des Begriffes der Herstellungskosten und des Begriffspaares Teilwert und niedriger beizulegender Wert erfolgen. Sowohl der Begriff der Herstellungskosten als auch der Begriff des Teilwertes spielen eine zentrale Rolle in der steuerlichen Bewertung1125; bei beiden Begriffen wird ein gemeinschaftsrechtlicher Einfluss diskutiert1126. Eine Untersuchung anhand dieser Begriffe hat gegenüber der Behandlung der Grundsatzfrage nach der Geltung des Maßgeblichkeitsprinzips im Rahmen der Bewertung zum einen den Vorteil, konkrete Ergebnisse liefern zu können. Zum anderen kann sie auf eine gefestigte Rechtsprechung des BFH zu den beiden Begriffen gestützt werden. Methodisch wird zunächst der im Handels- und Steuerrecht semantisch übereinstimmende Herstellungskostenbegriff untersucht. Danach wird anhand des Begriffspaares Teilwert und niedriger beizulegender Wert geprüft, ob auf eine semantische Übereinstimmung verzichtet werden kann und – bejahendenfalls – welche Voraussetzungen dann erfüllt sein müssen, um eine Konnexität zu bejahen.
A. Der Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf die Auslegung des Begriffes der Herstellungskosten Der Begriff der Herstellungskosten, den das EStG in zahlreichen Vorschriften verwendet, ist in den Steuergesetzen nicht definiert. Dagegen findet sich eine gesetzliche Definition in § 255 Abs. 2 HGB. Diese handelsrechtliche Definition, die auf das die 4. Bilanzierungsrichtlinie umsetzende Bilanzrichtliniengesetz zurückgeht, beruht auf der Steuerrechtspraxis1127. Nach Ansicht des Großen Senats des BFH ist der handelsrechtliche Herstellungskostenbegriff auch für das Einkommensteuerrecht maßgeblich1128. 1124 Vgl. J. Schulze-Osterloh, Die Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz, ihre Umkehrung und das Bilanzrichtliniengesetz, FR 1986, 545, 550. 1125 Vgl. Horschitz / Groß / Weidner, Bilanzsteuerrecht und Buchführung, S. 220. 1126 Vgl. für die Herstellungskosten W. Schön, Steuerrechtliche Einkünfteermittlung, Maßgeblichkeitsprinzip und Europäisches Bilanzrecht, FS für Hans Flick, S. 573, 586; für den Teilwertbegriff Herkenroth / Körner / Rodewald, Vorlagefähigkeit bilanzsteuerrechtlicher Fragen an den EuGH am Beispiel von Teilwertabschreibungen auf Beteiligungen, DStR 1999, 9, 14. 1127 Vgl. BFH, Beschluss v. 4. Juli 1990, BFHE 160, 466, 472.
A. Auslegung des Begriffs der Herstellungskosten
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Diese Ansicht wird der folgenden Untersuchung zugrunde gelegt. Sie ist nachfolgend von verschiedenen Senaten bestätigt worden1129. Vorliegend interessiert zunächst die Frage, inwiefern die deutsche handelsrechtliche Herstellungskostendefinition gemeinschaftsrechtlichem Einfluss unterliegt. Sollte ein derartiger Einfluss bestehen, liegt die Annahme einer für die nationale Übernahme- oder Vorlagepflicht erforderlichen Konnexität zwischen Gemeinschaftsrecht und Steuerrecht auf Grund obiger Rechtsprechung des Großen Senats nahe. Insofern ist es auch reizvoll zu untersuchen, ob der BFH diese Problematik erkannt und wie er sie bewältigt hat. In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, dass der 4. Senat am BFH auch die Definition der Anschaffungskosten in § 255 Abs. 1 HGB steuerrechtlich für maßgeblich hält1130. Vorliegend wird die Untersuchung aber auf die Rechtsprechung zu den Herstellungskosten begrenzt. Dies hat seinen Grund zum einen darin, dass sich hier die Grundsatzentscheidung über die Begriffsidentität auf die Autorität des Großen Senats des BFH stützen kann. Zum anderen hat diese Entscheidung weitere Urteile nach sich gezogen, in denen sich verschiedene Senate des BFH ausdrücklich Gedanken über die Folgen dieser Identität auf das Bestehen von Vorlagepflichten an den EuGH gemacht haben.
I. Der gemeinschaftsrechtliche Einfluss auf den Herstellungskostenbegriff des § 255 Abs. 2 HGB Inwieweit die Definition des Herstellungskostenbegriffes in § 255 Abs. 2 HGB einem gemeinschaftsrechtsrechtlichen Einfluss unterliegt, ist umstritten. Die insoweit einschlägigen Regelungen der 4. Richtlinie lauten1131: Art. 35 Absatz 3 a) Zu den Herstellungskosten gehören neben den Anschaffungskosten der Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe die dem einzelnen Erzeugnis unmittelbar zurechenbaren Kosten. b) Den Herstellungskosten dürfen angemessene Teile der dem einzelnen Erzeugnis nur mittelbar zurechenbaren Kosten, welche auf den Zeitraum der Herstellung entfallen, hinzugerechnet werden. Absatz 4 Zinsen für Fremdkapital, das zur Finanzierung der Herstellung von Gegenständen des Anlagevermögens gebraucht wird, dürfen in die Herstellungskosten einbezogen werden, soVgl. BFH, Beschluss v. 4. Juli 1990, BFHE 160, 466, 473. Vgl. die Urteile in Kapitel 5 A. II. 1130 Vgl. BFH, Urteil v. 24. August 1995, BFHE 178, 359, 361; BFH, Urteil v. 21. Januar 1999, BFHE 188, 27, 32; so schon G. Söffing, Anschaffungsnaher Aufwand – Rechtsprechung im Wandel?, StVj 1989, 163, 168. 1131 Vgl. Biener / Berneke, Bilanzrichtliniengesetz, S. 819. 1128 1129
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Kap. 5: Gemeinschaftsrecht und materielle Begriffsidentität
fern sie auf den Zeitraum der Herstellung entfallen. Ihre Aktivierung ist im Anhang zu erwähnen. Artikel 39 Absatz 2 Für die Feststellung der Anschaffungs- und Herstellungskosten gilt Artikel 35 Absätze 2 und 3. Die Mitgliedstaaten können auch Artikel 35 Absatz 4 anwenden. Die Vertriebskosten dürfen nicht in die Herstellungskosten einbezogen werden.
Trotz dieser Regelungen wird zum Teil jeglicher Einfluss der gemeinschaftsrechtlichen Regelungen auf die Definition der Herstellungskosten im HGB bestritten. Vertreten wird insoweit, dass die Richtlinie nicht vorgibt, was unter „Herstellung“ zu verstehen sei. Deshalb konnte sich der Gesetzgeber an die Einkommensteuer-Richtlinien anlehnen, um zu bestimmen, was „herstellen“ bedeutet1132. Gegenüber dieser absoluten Leugnung des gemeinschaftsrechtlichen Einflusses wird etwas differenzierter argumentiert, die Richtlinie normiere – anders als § 255 Abs. 2 HGB – den Herstellungsvorgang nicht umfassend, sondern nur einen Teilbereich, nämlich das Erzeugen und die Produktion eines Gegenstandes (des Umlaufvermögens) im Betrieb des Steuerpflichtigen. Eine generelle Regelung verbleibe in der Kompetenz des nationalen Gesetzgebers1133. Auch der BFH neigt zu dieser Ansicht1134: „Die Begriffsbestimmung der Herstellungskosten in § 255 Absatz 2 Satz 1 HGB berührt den Regelungsinhalt des Art. 35 Absatz 3 EWGRL 78 / 660 offenkundig nicht. Diese Richtliniennorm definiert den Begriff der Herstellungskosten nicht, sondern setzt ihn dem Grunde nach voraus. Sie regelt lediglich, welche Kosten „zu den Herstellungskosten gehören“, d. h., wie die Herstellungskosten der Höhe nach zu bemessen, welche Arten von anläßlich der Herstellung auftretenden Kosten darin einzubeziehen sind.“
Diesen Ansichten ist zwar zuzugeben, dass der Richtlinientatbestand offen, auslegungsfähig und auslegungsbedürftig ist1135. Die daraus gezogene Schlussfolgerung erscheint jedoch unter gemeinschaftsrechtlichen Aspekten bedenklich. Für den EuGH ist die fehlende Definition eines gemeinschaftsrechtlichen Begriffes grundsätzlich kein Hindernis, diesen einheitlich und damit entgegen manchem mitgliedstaatlichen Recht auszulegen1136. Diese an der Wahrung der Rechts1132 Vgl. F. Klein, Der Herstellungskostenbegriff in § 255 Abs. 2 S. 1 des Handelsgesetzbuches und seine Prägung durch den Bundesfinanzhof bei Gebäuden – Zugleich ein Beitrag zur Interaktion zwischen Rechtsprechung und Gesetzgeber, FS für Adolf Moxter, S. 277, 281. 1133 Vgl. B. Heuermann, Die Abziehbarkeit von Aufwendungen zur Beseitigung verdeckter Mängel als Werbungskosten, DStR 1993, 1318, 1320. 1134 Vgl. BFH, Urteil v. 9. Mai 1995, BFHE 177, 454, 456; zustimmend H.-J. Pezzer, Die Instandsetzung und Modernisierung von Gebäuden nach der jüngsten Rechtsprechung des BFH, DB 1996, 849, 850. 1135 Vgl. W. Spetzler, Wirkung und Einfluß des Rechts der Europäischen Gemeinschaft auf das nationale Steuerrecht, DB 1993, 553, 558.
A. Auslegung des Begriffs der Herstellungskosten
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einheit ausgerichtete Vorgehensweise findet ihre Rechtfertigung in dem Umstand, dass der Anspruch auf einheitliche Geltung des Gemeinschaftsrechts in allen Mitgliedstaaten in Frage gestellt wäre, wenn jeder Mitgliedstaat über die Festlegung der Begriffsinhalte den Anwendungsbereich einer Gemeinschaftsrechtsvorschrift letztendlich selbst bestimmen könnte1137. Im vorliegenden Fall spricht für einen einheitlichen gemeinschaftsrechtlichen Herstellungskostenbegriff darüber hinaus, dass die umfangreichen Gliederungsschemata der Art. 8 ff. Bilanzrichtlinie keinen Sinn ergäben, wenn nicht zugleich ein grundsätzliches inhaltliches Verständnis der aufgeführten Vermögensgegenstände europaweit angeordnet würde1138. Nach Auffassung von Groh ist der Streit über einen gemeinschaftsrechtlichen Einfluss deshalb irrelevant, weil selbst im Fall einer nicht ordnungsgemäßen Umsetzung der Richtlinie Letztere keine unmittelbare Wirkung entfalten könne1139. Richtig ist zwar, dass keine unmittelbare Wirkung zu Lasten Privater eintreten kann1140, beispielsweise in einem zivilrechtlichen Prozess zwischen Gesellschaftern. Da gemäß § 334 Abs. 1 Nr. 1 b) HGB ein Verstoß gegen § 255 Abs. 2 S. 1 und 2 HGB als Ordnungswidrigkeit gilt, ist eine unmittelbare Wirkung gegenüber dem Staat durchaus vorstellbar. Entscheidend ist aber, dass auch in einem reinen Privatrechtsstreit die Notwendigkeit einer richtlinienkonformen Auslegung, soweit Letztere möglich ist, besteht1141. Festzuhalten bleibt daher, dass die deutsche Herstellungskostendefinition in § 255 Abs. 2 HGB richtlinienkonform ausgelegt werden muss. Vorgelegt werden können nur Fragen zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts, nicht des nationalen Rechts1142. Vorlagefähig wären daher Fragen zum gemeinschaftsrechtlichen Herstellungskostenbegriff1143. Eine gemäß der Dzodzi-Rechtsprechung allein von den nationalen Gerichten nach der nationalen Rechtsordnung zu entscheidende Frage ist die nach der Reichweite der nationalen Verweisung, hier beispielsweise die Frage, inwieweit der steuerrechtliche mit dem handelsrechtlichen Herstellungskostenbegriff übereinstimmt.
1136 Vgl. EuGH, Rockfon, C-449 / 93, Slg. 1993, I-4291, 4316; zustimmend M. Lutter, Die Auslegung angeglichenen Rechts, JZ 1992, 593, 602. 1137 Vgl. Borchardt in Lenz, EGV, Art 220, Rdn. 17. 1138 Vgl. W. Schön, Steuerrechtliche Einkünfteermittlung, Maßgeblichkeitsprinzip und Europäisches Bilanzrecht, FS für Hans Flick, S. 573, 586. 1139 Vgl. M. Groh, Bilanzrecht vor dem EuGH, DStR 1996, 1206, 1210. 1140 Vgl. hierzu auch in Kapitel 3 A. III. 1141 Vgl. EuGH, Marleasing, C-106 / 89, Slg. 1990, I-4135. 1142 Vgl. Kapitel 2 C. 1143 Vgl. W. Hartung, Ist die deutsche Herstellungskostenobergrenze richtlinienkonform ?, BB 1992, 2392; Streck / Olgemöller, Das Recht der Europäischen Gemeinschaft und seine Durchsetzung in der Steuerberaterpraxis, DStR 1993, 417, 423.
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Kap. 5: Gemeinschaftsrecht und materielle Begriffsidentität
II. Die Rechtsprechung des BFH zur Relevanz des Gemeinschaftsrechts auf Grund des einheitlichen Herstellungskostenbegriffes Indem der BFH den steuerlichen mit dem gemeinschaftsrechtlichem Einfluss unterliegenden handelsrechtlichen Herstellungskostenbegriff gleichsetzt, stellt er die für eine nationale Übernahmepflicht erforderliche Konnexität her. Mit anderen Worten, der bloße Hinweis auf den formellen Bewertungsvorbehalt des § 5 Abs. 6 EStG kann das Feld der einkommensteuerlichen Bewertung nicht mehr dem Zugriff der europäischen Gerichtsbarkeit entziehen1144. Denn es ist in sich widersprüchlich, zwar eine materielle Begriffsidentität zu betonen, Rechtswirkungen des Handelsrechts auf das Steuerrecht aber zu negieren1145. Wenn nämlich Auslegungen des Handelsrechts auf Grund des formellen Bewertungsvorbehaltes nicht für das Steuerrecht gelten, besteht die vom Großen Senat vertretene materielle Identität der Begriffe nicht mehr1146. Der BFH selbst prüft immer nur die Frage der gemeinschaftsrechtlichen Vorlagepflicht, die nach der hier vertretenen Ansicht1147 ohnehin nicht besteht. Mangels Rechtsprechung des Gerichtshofes zum Herstellungskostenbegriff bestand noch keine Notwendigkeit, zur nationalen Übernahme- bzw. Vorlagepflicht Stellung zu nehmen. Im Folgenden sollen die Urteile des BFH untersucht werden, in denen er selbst die Problematik einer gemeinschaftsrechtlichen Vorlagepflicht im Zusammenhang mit dem Herstellungskostenbegriff diskutiert hat. Besonderes Interesse gilt dabei den Argumenten des BFH, mit denen er trotz Begriffsidentität eine derartige Vorlagepflicht verneint hat. Sollten sich diese Argumente als richtig erweisen, könnte ihre Anwendung auch im Rahmen der nationalen Übernahmebzw. Vorlagepflichten in Betracht kommen. Davor soll jedoch noch kurz erörtert werden, ob die materielle Begriffsidentität ausreichend für ein Vorlagerecht gemäß der Dzodzi-Rechtsprechung ist. Immerhin liegt eine klassische Verweisung1148 gerade nicht vor, auch die anderen bisher behandelten Fallgruppen1149 der Dzodzi-Verweisungen scheinen diese Konstellation nicht unmittelbar zu erfassen.
1144 Vgl. W. Schön, Steuerrechtliche Einkünfteermittlung, Maßgeblichkeitsprinzip und Europäisches Bilanzrecht, FS für Hans Flick, S. 573, 582. 1145 Vgl. A. Herlinghaus, „Tomberger“ und die Folgen – ein Beitrag zur Frage der Entscheidungskompetenz des EuGH im Handels- und Steuerbilanzrecht, IStR 1997, 529, 538; a.A. B. Bippus, US-amerikanische Grundsätze der Rechnungslegung von Unternehmen und die Maßgeblichkeit im deutschen Bilanzrecht – keine unvereinbaren Bilanzierungsphilosophien, DStZ 1998, 637, 643; wohl auch L. Meyer-Arndt, Die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofes für das Bilanzrecht, BB 1993, 1623, 1627. 1146 Vgl. die ähnliche Argumentation Kapitel 4 B. VI. 2. 1147 Vgl. Kapitel 2 D. III. 2. e) (3). 1148 Hierzu Kapitel 3 A. I. 1149 Hierzu Kapitel 3 B.
A. Auslegung des Begriffs der Herstellungskosten
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Vertreten wird insoweit, dass ein Vorlagerecht gemäß der Dzodzi-Rechtsprechung eine explizite Verweisung erfordert1150, wobei der Begriff der expliziten Verweisung nicht näher erläutert wird. Sollte damit die klassische Verweisung gemeint sein, wäre nach dieser Ansicht auch bei der überschießenden Umsetzung von Richtlinien kein Vorlagerecht gegeben. Der EuGH selbst hat eine derartige Anforderung nie gestellt. Vielmehr hat er den Grundsatz betont, dass die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage vom nationalen Gericht zu beurteilen sei1151. Die Entscheidungserheblichkeit kann sich dabei aus einer klassischen Verweisung ergeben, zwingend ist dies jedoch nicht. Ausreichend ist, dass der nationale Richter aus Gründen des nationalen Rechts die Auslegung von Gemeinschaftsrecht benötigt1152. Dies ist bei einer Begriffsidentität der Fall. Wollte man formelle Anforderungen an die nationale Verweisung stellen, so wären diese Anforderungen letztlich nach nationalem Recht zu beurteilen. Weil dies außerhalb der Kompetenz des Gerichtshofes läge, zeigt sich, dass formelle Anforderungen an die Dzodzi-Verweisungen nicht sinnvoll sind. Systematisch betrachtet lässt sich die materielle Begriffsidentität noch als Teil der Fallgruppe mittelbare Verweisung1153 verstehen. Durch die Annahme der Begriffsidentität zwischen zwei Begriffen stellt der Gesetzgeber oder jedenfalls die Rechtsprechung1154 den erforderlichen Zusammenhang zwischen dem rein nationalen Recht und dem gemeinschaftsrechtlichen Einfluss unterliegenden nationalen Recht her. Die hier vertretene Auffassung entspricht im Ergebnis der EuGH-Rechtsprechung in der Rechtssache Angonese1155. Dort berief sich der Kläger aus Südtirol trotz rein nationalen Sachverhaltes (er wohnte in Südtirol und bewarb sich dort bei einer Bank; er wurde abgewiesen, weil er eine Sprachbescheinigung der Südtiroler Provinzverwaltung nicht besaß) auf die in Art. 39 EG verbürgte Arbeitnehmerfreizügigkeit. Das vorlegende Gericht begründete den Gemeinschaftsrechtsbezug in einer Hilfserwägung mit der Möglichkeit, auf die in 39 EG verbürgte Arbeitnehmerfreizügigkeit würde durch die Art. 1418 Codice Civile verwiesen, mit der Folge dass, wenn ein Eingriff in Art. 39 EG zu bejahen sei, die italienische Vorschrift 1150 Vgl. F. Broer, Maßgeblichkeit, S. 295; in sich widersprüchlich Herzig / Rieck, Europäisierung der handels- und steuerrechtlichen Gewinnermittlung im Gefolge der TombergerEntscheidung, IStR 1998, 309, 319, die bezüglich des § 5 Abs. 2 EStG ausführen, es fehle an einer expliziten (keine Hervorhebung im Original) Verweisung und auch für § 6 im Grundsatz eine eigenständige Regelung betonen, andererseits für den Begriff der Herstellungskosten ein Vorlagerecht annehmen mit der Begründung, das Herstellungskostenprinzip sei Ausfluss des (gemeinschaftsrechtlich) geregelten Realisationsprinzips. 1151 Vgl. Kapitel 2 D. II. 1. 1152 So auch G. Betlem, Annotation to Case 28 / 95 Leur-Bloem, CMLR 1999, 165, 172; E. Hinton, Case Law Leur Bloem v. Inspecteur der Belastingdienst, Columbia Journal of European Law 4 (1998), 155, 163. 1153 Vgl. Kapitel 3 B. III. 1154 Vgl. hierzu auch Kapitel 5 C. 1155 Vgl. EuGH, Angonese, C-281 / 98, EuR 2000, 926.
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Kap. 5: Gemeinschaftsrecht und materielle Begriffsidentität
über die Sprachbescheinigung gemäß Art. 1418, 1421 CC nichtig wäre. Generalanwalt Fennely hielt diese Erwägung für nicht ausreichend. Im Gegensatz zu den Verweisungen der Dzodzi-Rechtsprechung sei vorliegend keine konkrete, ausdrückliche Verweisung auf Gemeinschaftsrecht gegeben1156. Der Gerichtshof entgegnete dem mit dem Hinweis, dass nur ein offensichtlich fehlender Zusammenhang zur Unzulässigkeit der Vorlage führe; davon könne keine Rede sein1157. Im Ergebnis lässt der Gerichtshof eine lediglich indirekte oder konkludente Bezugnahme durch eine Generalklausel (!) des mitgliedstaatlichen Privatrechts auf Gemeinschaftsrecht für eine Zulässigkeit der Vorlage ausreichen1158. Diese Herangehensweise ist weniger mit dem Bemühen zu erklären, eine Grundsatzentscheidung zur unmittelbaren Drittwirkung von Grundfreiheiten treffen zu wollen1159. Vielmehr ist sie konsequente Folge der Grundeinstellung des EuGH, so wenig wie möglich in die Autonomie der mitgliedstaatlichen Gerichte einzugreifen1160. Es sei darauf hingewiesen, dass durch diese konsequente Fortführung der Dzodzi-Rechtsprechung die Menge zulässiger Vorlagen gemäß Art. 234 EG erheblich ausgeweitet wird. Dies gilt in besonderem Maße für Österreich. Da dort das Verbot der Inländerdiskriminierung aus dem verfassungsrechtlichen Gleichheitsgebot hergeleitet wird1161, kann über die Brücke des nationalen Verfassungsrechts ein Verstoß gegen eine Grundfreiheit in einem „gedachten“ grenzüberschreitenden Sachverhalt Folgen für rein inländische Sachverhalte haben1162. Dies führt im Ergebnis dazu, dass Fragen des Gemeinschaftsrechts in einer Vielzahl von rein nationalen Fällen entscheidungserheblich sein können.
1. Das Urteil vom 21. Oktober 1993 In diesem Urteil1163 hatte der BFH über die umstrittene1164 Frage zu entscheiden, wie das handelsrechtliche Aktivierungswahlrecht gemäß § 255 Abs. 2 Satz 3 HGB steuerrechtlich zu behandeln sei. Der erkennende Senat schloss sich zunächst 1156 Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Fennely v. 25. November 1999, Angonese, C-281 / 98, noch nicht veröffentlicht, Tz. 37. 1157 Vgl. EuGH, Angonese, C-281 / 98, EuR 2000, 926, 929. 1158 Vgl. T. Körber, Innerstaatliche Anwendung und Drittwirkung der Grundfreiheiten, EuR 2000, 932, 939. 1159 So aber Streinz / Leible, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, EuZW 2000, 459, 460. 1160 Vgl. Lane / Nic Shuibhne, Case Law, CMLR 2000, 1237, 1243. 1161 Vgl. ÖstVfGH, Erkenntnis vom 17. Juni 1997, EuGRZ 1997, 362, 363. 1162 Vgl. J. Gundel, Anmerkung, EuZW 2000, 311. 1163 Vgl. BFH, Urteil v. 21. Oktober 1993, BFHE 172, 462. 1164 Vgl. die Darstellung des Meinungsstandes im Schrifttum bei Küting / Lorson, Kritische Anmerkungen zum Umfang der Herstellungskosten in der Steuerbilanz im Spiegel von Literatur und BFH-Rechtsprechung, DStR 1994, 729, 730 ff.
A. Auslegung des Begriffs der Herstellungskosten
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der Rechtsprechung des Großen Senats1165 zur Übereinstimmung von handelsrechtlichem und steuerrechtlichem Herstellungskostenbegriff an1166. Er vertrat des Weiteren die Auffassung, dass nach § 6 Abs. 1 Nr. 2 S. 1 EStG die Herstellungskosten gemeint seien, also grundsätzlich alle (beide Hervorhebungen im Original) Aufwendungen, die ihrer Art nach Herstellungskosten sind1167. Das hierdurch gefundene Ergebnis, dass das handelsrechtliche Bilanzierungswahlrecht somit steuerlich zu einer Aktivierungspflicht führt, sah der BFH in Einklang mit seiner ständigen Rechtsprechung1168, dass handelsrechtliche Ansatzwahlrechte steuerrechtlich zu einer Aktivierungspflicht führen. Diesem Urteil wurde vorgeworfen, es habe die Auffassung des Großen Senats zur Begriffsidentität des steuerlichen mit dem handelsrechtlichen Herstellungskostenbegriff wieder verworfen1169. Dieser Vorwurf ist nicht gerechtfertigt. Denn er schließt von der Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen Begriffsbestimmung auf die Maßgeblichkeit des handelsrechtlichen Aktivierungswahlrechts. Definition und Wahlrechte sind aber zwei verschiedene Dinge. Die Definition bestimmt, was der Art nach zu den Herstellungskosten gehört. Die Aussage zum Wahlrecht regelt, ob und welche Gruppen der so definierten Herstellungskosten aktiviert werden dürfen oder aktiviert werden müssen1170. Ist also eine Maßgeblichkeit des handelsrechtlichen Wahlrechts nicht gegeben, kann auch keine Konnexität mit der zugrunde liegenden gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift bestehen. Der BFH formuliert dies richtig1171: „Die weitere Frage, um die es im Streitfall geht, nämlich die Frage, welche Auswirkungen das handelsrechtliche Wahlrecht des § 255 Abs. 2 S. 3 HGB für die steuerrechtliche Gewinnermittlung hat, ist nicht Gegenstand der gemeinschaftsrechtlichen Regelung.“
2. Das Urteil vom 9. Mai 1995 In diesem Rechtsstreit setzte sich der BFH mit der Frage auseinander, wann bestimmte Instandsetzungs- und Modernisierungsaufwendungen für Gebäude als nachträgliche Herstellungskosten gemäß § 255 Abs. 2 HGB zu bewerten seien1172. Vgl. BFH, Beschluss v. 4. Juli 1990, BFHE 160, 466. Vgl. BFH, Urteil v. 21. Oktober 1993, BFHE 172, 462, 465. 1167 Vgl. BFH, a. a. O. 1168 Seit BFH, Beschluss v. 3. Februar 1969, BFHE 95, 31. 1169 Vgl. Küting / Lorson, Kritische Anmerkungen zum Umfang der Herstellungskosten in der Steuerbilanz im Spiegel von Literatur und BFH-Rechtsprechung, DStR 1994, 729, 730; zweifelnd auch T. Stobbe, Eingeschränkte Maßgeblichkeit bei den Herstellungskosten, FR 1994, 105, 109. 1170 Vgl. A. Bordewin, Gemeinkosten als Teil der Herstellungskosten, DStZ 1994, 513, 515; H. Weber-Grellet, Handelsrechtliche Bewertungswahlrechte in der Steuerbilanz, DB 1994, 2405, 2407. 1171 Vgl. BFH, Urteil v. 21. Oktober 1993, BFHE 172, 462, 467. 1165 1166
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Kap. 5: Gemeinschaftsrecht und materielle Begriffsidentität
Im Ergebnis stellte er klar, dass der Begriff der so genannten Generalüberholung nicht für die Beantwortung der Frage, ob eine wesentliche Verbesserung i.S.v. § 255 Abs. 2 S. 1 HGB vorliege, geeignet sei und gab ihn auf1173. Des Weiteren stellte er neue Kriterien für die Abgrenzung von Erhaltungsaufwand und nachträglichen Herstellungskosten auf1174. Diese Entscheidung ist vor dem Hintergrund der Abgrenzungsbemühungen der Rechtsprechung zwischen Erhaltungsaufwand und Herstellungskosten zu sehen, wobei die Rechtsprechung zu Letzteren auch den so genannten anschaffungsnahen Aufwand1175 und nachträgliche Herstellungskosten zählt1176. Die Abgrenzung hat erhebliche Bedeutung für die steuerliche Beurteilung: Aufwendungen für Instandhaltungs- und Modernisierungsmaßnahmen sind als Werbungskosten gemäß § 9 Abs. 1 S. 1 EStG bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung im Jahr der Verausgabung in voller Höhe zu berücksichtigen, Herstellungskosten dagegen grundsätzlich nur verteilt auf die Nutzungsdauer des Gebäudes in Form von Absetzung für Abnutzung1177. Letztlich wurde durch das vorliegende Urteil die Zuordnung von Instandsetzungs- und Modernisierungsaufwendungen als nachträgliche Herstellungskosten strikt an das Vorliegen eines der Tatbestandsmerkmale des § 255 Abs. 2 S. 1 HGB gebunden1178. Dies spricht in Hinblick auf den dann vorhandenen gemeinschaftsrechtlichen Einfluss1179 dafür, dem EuGH Auslegungskompetenzen zuzubilligen. Hierzu führte der BFH aus, dass die handelsrechtliche Begriffsbestimmung der Herstellungskosten nicht den Regelungsinhalt der Vierten Richtlinie berühre. Letztere definiere den Herstellungskostenbegriff nicht, sondern setze ihn dem Grunde nach voraus1180. Diese Auffassung ist mit der obigen1181 Begründung abzulehnen. Vielmehr hat der BFH durch sein Vorgehen, dass er sowohl die nachträglichen HerstellungskosVgl. BFH, Urteil v. 9. Mai 1995, BFHE 177, 454. Vgl. H.-J. Pezzer, Die Instandsetzung und Modernisierung von Gebäuden nach der jüngsten Rechtsprechung des BFH, DB 1996, 849, 856. 1174 Vgl. im Einzelnen F. Balmes, Evolution des „anschaffungsnahen Aufwands“ in der neueren Rechtsprechung, FR 1999, 1339, 1343. 1175 Vgl. T. Carlé, Die Zukunft des anschaffungsnahen Aufwands, DStZ 2001, 377. 1176 Vgl. W. Spindler, Zur Abgrenzung von Herstellungs- und Erhaltungsaufwand bei Instandsetzungs- und Modernisierungsmaßnahmen an Gebäuden, DStR 1996, 765, 769. 1177 Vgl. W. Becker, Ändert der BFH seine gefestigte Rechtsprechung zum „anschaffungsnahen Herstellungsaufwand“?, INF 2001, 225. 1178 Vgl. W. Spindler, Zur Abgrenzung von Herstellungs- und Erhaltungsaufwand bei Instandsetzungs- und Modernisierungsmaßnahmen an Gebäuden, DStR 1996, 765, 769. 1179 Vgl. Kapitel 5 A. I. 1180 Vgl. BFH, Urteil v. 9. Mai 1995, BFHE 177, 454, 456; siehe auch Kapitel 5 A. I. 1181 Vgl. Kapitel 5 A. I. 1172 1173
A. Auslegung des Begriffs der Herstellungskosten
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ten1182 als auch den „anschaffungsnahen Aufwand“1183 unter § 255 Abs. 2 HGB subsumiert, diesen beiden steuerrechtlichen Begriffen eine gemeinschaftsrechtliche Dimension verliehen1184. Es ist nicht Aufgabe dieser Untersuchung, diese Subsumtion auf ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen. Insbesondere der „anschaffungsnahe Aufwand“ ist ursprünglich von der Steuerrechtsprechung unter dem Aspekt des Gleichbehandlungsgrundsatzes entwickelt worden1185, was gegen eine Ankopplung an das Handelsrecht und für eine eigene steuerrechtliche Wertung spricht1186. Der BFH sollte die von ihm selbst geschaffene gemeinschaftsrechtliche Dimension des „anschaffungsnahen Aufwandes“ nicht aus den Augen verlieren. Dies gilt insbesondere, soweit er eine Änderung seiner einschlägigen Rechtsprechung1187 in Betracht zieht.
3. Das Urteil vom 19. Mai 1995 Hier1188 musste sich der BFH unter anderem mit der Frage auseinander setzen, ob Investitionszuschüsse die Herstellungskosten des bezuschussten Wirtschaftsgutes mindern können. Auch dies ist ein klassischer Streit1189. Nach Abschn. 34 Abs. 1 EStR gewährt die Finanzverwaltung dem Steuerpflichtigen ein Wahlrecht, ob er den Investitionszuschuss als realisierten Gewinn oder als Minderung der Anschaffungs- oder Herstellungskosten behandeln will. Für den Bereich der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung betrachtete der 9. Senat eine Kürzung der Herstellungskosten als zwingend1190. Während der 3. und 4. Senat das Bestehen des von der Finanzverwaltung gewährten Wahlrechts offen ließen1191, bejahte der 10. Senat ausdrücklich dessen Zulässigkeit1192. 1182 Vgl. W. Spindler, Zur Abgrenzung von Herstellungs- und Erhaltungsaufwand bei Instandsetzungs- und Modernisierungsmaßnahmen an Gebäuden, DStR 1996, 765, 769. 1183 Kritisch hierzu F. Balmes, Evolution des „anschaffungsnahen Aufwands“ in der neueren Rechtsprechung, FR 1999, 1339, 1343 m. w. N. 1184 So zutreffend W. Spetzler, Wirkung und Einfluß des Rechts der Europäischen Gemeinschaft auf das nationale Steuerrecht, DB 1993, 553, 558; Herzig / Rieck, Europäisierung der handels- und steuerrechtlichen Gewinn-ermittlung im Gefolge der Tomberger-Entscheidung, IStR 1998, 309, 319. 1185 Vgl. F. Balmes, Evolution des „anschaffungsnahen Aufwands“ in der neueren Rechtsprechung, FR 1999, 1339 m. w. N. 1186 Vgl. H. Weber-Grellet, Steuerbilanzrecht, S. 245. 1187 Vgl. W. Becker, Ändert der BFH seine gefestigte Rechtsprechung zum „anschaffungsnahen Herstellungsaufwand“?, INF 2001, 225, 229 zu BFH, Beschluss v. 21. November 2000, DB 2001, 72. 1188 Vgl. BFH, Urteil v. 19. Juli 1995, BFHE 179, 19. 1189 Vgl. W. Mathiak, Rechtsprechung zum Bilanzsteuerrecht, DStR 1992, 1601, 1603. 1190 Vgl. BFH, Urteil v. 26. März 1991, BFHE 164, 263.
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Kap. 5: Gemeinschaftsrecht und materielle Begriffsidentität
Letzterer Ansicht schloss sich der hier erkennende 1. Senat ausdrücklich an. Er vertrat die Auffassung, dass öffentliche Zuschüsse keinen Einfluss auf die Höhe der Herstellungskosten haben könnten1193. In der Begründung verwies er auch auf die gemeinschaftsrechtliche Definition der Herstellungskosten1194: „Bestätigt wird diese Auffassung insbesondere auch durch Art. 35 Abs. 2 und 3 des Bilanzierungsrichtliniengesetzes (dies muss ein Schreibfehler sein, gemeint ist die Richtlinie selbst), der zu den Anschaffungskosten nur den Einkaufspreis und die Nebenkosten, zu den Herstellungskosten nur die Anschaffungskosten der Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe und die dem einzelnen unmittelbar zurechenbaren Kosten rechnet.“
Implizit bejaht der erkennende Senat somit eine einschlägige gemeinschaftsrechtliche Regelung. Seine Auffassung, dass diese Regelung eindeutig und keiner Auslegung zugänglich sei, ist dagegen fragwürdig. Richtigerweise trifft die Richtlinie zu dieser Problematik keine ausdrückliche Regelung. Dessen ungeachtet hält der erkennende Senat das steuerrechtliche Bilanzierungswahlrecht für zulässig. Er lässt es dabei ausdrücklich offen, ob das Steuerbilanzrecht – und damit implizit auch das Handelsbilanzrecht – hierfür eine ausreichende Grundlage bietet. Entscheidend ist für ihn das in der Sache zutreffende Argument, die Sofortversteuerung des Investitionszuschusses könne dem Zweck der Zuschussgewährung zuwiderlaufen1195. Daher sei die Verwaltungsrichtlinie eine zulässige sachliche Billigkeitsmaßnahme gemäß § 163 Abs. 1 S. 2 AO1196. Diese Lösung ist, trotz der angestellten handelsrechtlichen Überlegungen, im Ergebnis rein steuerrechtlicher Natur. Anders als der 10. Senat, der das Wahlrecht auf den Gewinnrealisierungsgrundsatz stützte1197, koppelt der erkennende Senat ausdrücklich die steuerrechtliche von der handelsrechtlichen Behandlung ab1198. Mangels Konnexität besteht daher kein gemeinschaftsrechtlicher Einfluss auf die behandelte Problematik. Bedenkt man, dass die Legitimation für das steuerrechtliche Wahlrecht letzten Endes in der Unsicherheit über die Einordnung der Zuschüsse liegt1199, so erschiene es selbst bei Bejahung der Konnexität als wenig zweckmäßig, das Vorlagerecht an den Gerichtshof in Anspruch zu nehmen.
1191 Vgl. BFH, Urteil v. 14. Juli 1988, BFHE 154, 212, 216; BFH, Urteil v. 28. April 1989, BFHE 156, 497, 501. 1192 Vgl. BFH, Urteil v. 22. Januar 1992, BFHE 167, 69. 1193 Vgl. BFH, Urteil v. 19. Juli 1995, BFHE 179, 19, 25. 1194 Vgl. BFH, a. a. O. 1195 Vgl. auch M. Groh, Rechtsprechung zum Bilanzsteuerrecht, StuW 1994, 90, 91. 1196 Vgl. BFH, Urteil v. 19. Juli 1995, BFHE 179, 19, 27. 1197 Vgl. BFH, Urteil v. 22. Januar 1992, BFHE 167, 69, 76. 1198 Vgl. BFH, Urteil v. 19. Juli 1995, BFHE 179, 19, 27. 1199 Vgl. H. Weber-Grellet, Handelsrechtliche Bewertungswahlrechte in der Steuerbilanz, DB 1994, 2405, 2408.
A. Auslegung des Begriffs der Herstellungskosten
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III. Zwischenergebnis Der handelsrechtliche Herstellungskostenbegriff unterliegt gemeinschaftsrechtlichem Einfluss und ist dementsprechend richtlinienkonform zu interpretieren. Auf Grund der durch den Großen Senat hergestellten Begriffsidentität der steuerlichen mit den handelsrechtlichen Herstellungskosten besteht die für eine nationale Übernahme- und Vorlagepflicht erforderliche Konnexität zwischen Steuer- und Handelsbilanzrecht; insofern ist der formell bestehende Bewertungsvorbehalt ohne Wirkung. Diese Überlegung ist verallgemeinerungsfähig: Immer dann, wenn der BFH die Identität der steuerrechtlichen mit der handelsrechtlichen Bewertung betont1200, stellt er die obige Konnexität her. Die Begriffsidentität ist keine notwendige Voraussetzung; entscheidend ist die Identität der Regelung. Die vom BFH vertretene These, steuerrechtliche Bewertungsfragen seien selbst dann nach steuerrechtlichen Bewertungsvorschriften zu beurteilen, wenn diese mit den Grundsätzen des Handelsrechts übereinstimmten 1201, ist missverständlich. Ihr Inhalt wird besonders dann fragwürdig, wenn keine abschließende steuerrechtliche Bewertungsvorschrift vorhanden ist und der BFH daher auf die handelsrechtliche Vorschrift zurückgreift1202. Wenn er mit dieser These jeglichen Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf die steuerrechtliche Bewertung negieren möchte, ist sie in sich widersprüchlich und daher falsch. Dieser Widerspruch kann allerdings dadurch aufgehoben werden, dass trotz Bejahung der Begriffsidentität das mit dem handelsrechtlichen übereinstimmende steuerrechtliche Ergebnis durch steuerliche Sondervorschriften, beispielsweise der AO, korrigiert wird. Die diesbezügliche Vorgehensweise des Ersten Senats1203 ist methodisch nicht zu beanstanden. In Betracht kommt insoweit auch die Anwendung von § 42 AO1204. Die Verallgemeinerungsfähigkeit dieser Überlegungen beschränkt sich nicht nur auf den Anwendungsbereich der steuerlichen Bewertung. Immerhin ließe sich hier eine Konnexität unabhängig von der materiellen Begriffsidentität auch mit einer Geltung der Maßgeblichkeit im Rahmen der Bewertung begründen. Dies wäre bei Einkünften aus Vermietung und Verpachtung gemäß § 21 EStG nicht möglich, da diese gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 2 EStG als Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten ermittelt werden. Allerdings hat die Rechtsprechung ausdrücklich 1200 So für die Bewertung von Rückstellungen BFH, Urteil v. 15. Juli 1998, BFHE 186, 388; für die Bewertung nach der Lifo-Methode BFH, Urteil v. 20. Juni 2000, BFHE 192, 502. 1201 Vgl. BFH, Urteil v. 20. Juni 2000, BFHE 192, 502, 512; BFH, Urteil v. 15. Juli 1998, BFHE 186, 388, 394. 1202 Vgl. D. Gosch, Anmerkung zu BFH, Urteil v. 15. Juli 1998, DStR 1998, 1464. 1203 Vgl. Kapitel 5 A. II. 3. 1204 Vgl. hierzu im Rahmen der steuerlichen Bewertung BFH, Urteil v. 28. Juni 2001, DStR 2001, 1381, 1383.
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Kap. 5: Gemeinschaftsrecht und materielle Begriffsidentität
festgestellt, dass der handelsrechtliche Herstellungskostenbegriff auch für die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung gilt1205. Auf Grund dieser Rechtsprechung hat mit den obigen Überlegungen das Gemeinschaftsrecht auch einen Einfluss auf die Ermittlung der Einkünfte gemäß § 21 EStG1206.
B. Der Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf die Auslegung des Teilwertbegriffes Es hat sich gezeigt, dass bei dem Begriff der Herstellungskosten eine Konnexität zwischen Handels- und Steuerbilanzrecht besteht, die zu einer nationalen Übernahme- und ggf. auch Vorlagepflicht führen kann. Sowohl das Handels- als auch das Steuerrecht haben, semantisch betrachtet, den gleichen Begriff verwendet. Interessant ist daher die Frage, ob man eine Konnexität auch dann bejahen könnte, wenn eine semantische Übereinstimmung nicht vorliegt. Diese Fragestellung soll anhand des Teilwertes untersucht werden. Letzterer bietet sich insoweit an, als dass er zum einen begrifflich nur im Steuerrecht, nicht aber im Handelsrecht existiert. Zum anderen bejahen Teile der Literatur eine Übereinstimmung mit dem handelsrechtlichen Begriff des beizulegenden Wertes1207. Die meisten Stellungnahmen in der Literatur wurden vor dem Steuerentlastungsgesetz 1999 / 2000 / 2002 abgegeben. Durch dieses Gesetz sind zwar die Modalitäten der Teilwertabschreibung geändert worden1208, nicht jedoch die Definition des Teilwertes. Gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 1 S. 3 EStG ist der Teilwert der Betrag, den ein Erwerber des ganzen Betriebes im Rahmen des Gesamtkaufpreises für das einzelne Wirtschaftsgut ansetzen würde; dabei ist davon auszugehen, dass der Erwerber den Betrieb fortführt. Nach dieser vom RFH entwickelten Konzeption ist zu unterscheiden zwischen dem Wert, den das Wirtschaftsgut aus dem Zusammenhang gerissen für sich haben würde (Einzelwert), und dem Wert, den der Gegenstand als Teil der wirtschaftlichen Einheit hat (Teilwert). Die Berücksichtigung des Teilwerts im 1205 Vgl. BFH, Beschluss v. 4. Juli 1990, BFHE 160, 466, 476; BFH, Urteil v. 9. Mai 1995, BFHE 177, 454, 456. 1206 So auch W. Spetzler, Wirkung und Einfluß des Rechts der Europäischen Gemeinschaft auf das nationale Steuerrecht, DB 1993, 553, 558. 1207 Vgl. R. Euler, Zur Verlustantizipation mittels des niedrigen beizulegenden Wertes und des Teilwertes, ZfbF 1991, 191, 210; Herkenroth / Körner / Rodewald, Vorlagefähigkeit bilanzsteuerrechtlicher Fragen an den EuGH am Beispiel von Teilwertabschreibungen auf Beteiligungen, DStR 1999, 9, 12; W. Mellwig, Für ein bilanzzweckadäquates Teilwertverständnis, FS für Adolf Moxter, S. 1069, 1085; G. Siepe, Darf ein ertragsteuerlicher Teilwertansatz den handelsrechtlich gebotenen Wertansatz überschreiten?, FS für Karl-Heinz Forster, S. 607, 624. 1208 Vgl. Kapitel 4 B. I. 2. b) (2).
B. Auslegung des Teilwertbegriffes
231
Einkommensteuerrecht soll sicherstellen, dass der wahre Wert der Wirtschaftsgüter als Betriebsvermögen in der Ausgangsgröße sachgerecht bestimmt wird, d. h., das Betriebsvermögen als Gesamtheit nicht über dem Marktwert bewertet, andererseits aber eine Unterbewertung vermieden wird1209. Es liegt auf der Hand, dass die Subsumtion tatsächlicher Sachverhalte unter diese gesetzliche Definition nicht einfach ist. Weder liegt der fiktive Gesamtkaufpreis des fiktiven Erwerbers offen zutage, noch ist die Aufteilung dieses Gesamtkaufpreises auf die einzelnen Wirtschaftsgüter eine leicht zu bewältigende Aufgabe1210. Aus Praktikabilitätsgründen hat die Rechtsprechung daher so genannte Teilwertvermutungen1211 aufgestellt. Nach der zentralen Vermutung entspricht der Teilwert eines Wirtschaftsgutes im Zeitpunkt der Anschaffung bzw. Herstellung den Anschaffungs- bzw. Herstellungskosten1212. Zu einem späteren Zeitpunkt wird bei Gütern des abnutzbaren Anlagevermögens vermutet, dass der Teilwert den um die Absetzung für Abnutzung verminderten Anschaffungs- und Herstellungskosten entspricht. Bei den Wirtschaftsgütern des Umlaufvermögens geht die grundsätzliche Vermutung dahin, dass dann der Teilwert den Wiederbeschaffungskosten entspricht1213. Diese Vermutungen können vom Steuerpflichtigen durch den Nachweis widerlegt werden, dass er entweder bereits beim Erwerb eine Fehlmaßnahme getätigt hat oder dass der Wert des Wirtschaftsgutes nach dem Erwerb gesunken ist1214. Das handelsrechtliche Pendant1215 zum steuerrechtlichen Teilwert ist der (niedrigere) beizulegende Wert gemäß § 253 Abs. 2 S. 3 (gemildertes Niederstwertprinzip) und § 253 Abs. 3 S. 1 und 2 HGB (strenges Niederstwertprinzip). Dieses Niederstwertprinzip leitet sich aus dem Bewertungsgrundsatz der Vorsicht und des Imparitätsprinzips ab. Genauso wie bei der Berechnung des Teilwertes ist im Rahmen der handelsrechtlichen Bewertung die Annahme der Fortführung des Unternehmens ein anerkannter Grundsatz (going-concern-Prinzip), welcher in § 252
1209 Vgl. S. Bellin, Der Teilwert bei uneinbringlichen und zweifelhaften Geldforderungen im Bilanzsteuerrecht, S. 50. 1210 Vgl. D. Brenner, Der Teilwert von Finanzanlagen – unter besonderer Berücksichtigung des Körperschaft- steuerguthabens in Beteiligungsgesellschaften, FS für Ludwig Schmidt, S. 251, 252. 1211 Diese sind durch das Steuerentlastungsgesetz 1999 / 2000 / 2002 nicht geändert worden; vgl. R. Ringwald, Teilwertabschreibung und Wertaufholung nach der Neuregelung in § 6 Abs. 1 Nrn. 1, 2 EStG 1999, INF 1999, 321, 323. 1212 St. Rspr. des RFH und BFH, vgl. BFH, Urteil v. 29. April 1999, BFHE 189, 51, 53 m. w. N. 1213 Vgl. S. Bellin, Der Teilwert bei uneinbringlichen und zweifelhaften Geldforderungen im Bilanzsteuerrecht, S. 66 m. w. N. 1214 Vgl. D. Brenner, Der Teilwert von Finanzanlagen – unter besonderer Berücksichtigung des Körperschaft- steuerguthabens in Beteiligungsgesellschaften, FS für Ludwig Schmidt, S. 251, 253 m. w. N. 1215 So H. Weber-Grellet, Steuerbilanzrecht, S. 247.
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Kap. 5: Gemeinschaftsrecht und materielle Begriffsidentität
Abs. 1 Nr. 2 HGB kodifiziert ist. Die zweite Fiktion der Teilwertdefinition, die Veräußerung des Betriebes als Ganzes, ist dagegen dem Handelsrecht fremd1216. Dies führt dazu, dass bei der fiktiven Veräußerung im Rahmen der handels- und steuerrechtlichen Bewertung verschiedene Märkte für bewertungsrelevant erklärt werden. Bei der steuerrechtlichen Bewertung ist der Markt der Unternehmensveräußerung bewertungsrelevant. Anders bei der handelsrechtlichen Bewertung: Hier geht es um den für den einzelnen Vermögensgegenstand bestehenden Markt. Diese unterschiedliche Betrachtungsweise führt zu unterschiedlichen Ergebnissen: Bei Gegenständen des Umlaufvermögens entspricht der Teilwert – aus Sicht des gedachten Erwerbers des ganzen Betriebes konsequent – grundsätzlich den Wiederbeschaffungskosten. Mit anderen Worten, die Beurteilung am Markt erfolgt aus einer Käuferperspektive. Handelsrechtlich ist auf Grund des Imparitätsprinzips für den beizulegenden Wert unterhalb der Anschaffungs- und Herstellungskosten der Preis, welcher auf dem Absatzmarkt zu erzielen wäre, entscheidend1217. Dies bedeutet im Ergebnis nichts anderes, als das die Beurteilung am Markt aus der Sicht des Verkäufers erfolgt. Der (niedrigere) beizulegende Wert und der Teilwert sind nach alledem unterschiedlichen Rechtskreisen zuzuordnen und im Übrigen auch unabhängig voneinander entwickelt worden1218. Gleichwohl wird vertreten, dass den beiden Werten kein unterschiedlicher Inhalt beizumessen sei. Es sei kein Grund erkennbar, warum ein Unternehmenserwerber im Rahmen des Gesamtkaufpreises für einen einzelnen Vermögensgegenstand bzw. für ein einzelnes Wirtschaftsgut einen anderen Betrag ansetzen sollte als den unter der Annahme der Unternehmensfortführung „beizulegenden Wert“1219. Dem ist nicht zu folgen. Dass die unterschiedlichen Konzeptionen zu verschiedenen Ergebnissen führen, zeigt sich am besten anhand zweier vom BFH entschiedener Fälle.
I. Die Berücksichtigung des Gewinnaufschlages bei der Teilwertberechnung durch den BFH Der Teilwert von zum Absatz bestimmten Waren hängt nicht nur von ihren Wiederbeschaffungskosten, sondern auch von ihrem voraussichtlichen Veräußerungs1216 Vgl. J. Schulze-Osterloh, Die Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz, ihre Umkehrung und das Bilanzrichtliniengesetz, FR 1986, 545, 549; L. Schmidt, Maßgeblichkeitsprinzip und Einheitsbilanz, S. 83. 1217 Vgl. J. Schulze-Osterloh, Die Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz, ihre Umkehrung und das Bilanzrichtliniengesetz, FR 1986, 545, 549. 1218 Vgl. Adler / Düring / Schmaltz, Rechnungslegung und Prüfung der Unternehmen, § 253 Rdn. 470. 1219 So G. Siepe, Darf ein ertragsteuerlicher Teilwertansatz den handelsrechtlich gebotenen Wertansatz überschreiten?, FS für Karl-Heinz Forster, S. 607, 615.
B. Auslegung des Teilwertbegriffes
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erlös ab. Deckt Letzterer nicht die Selbstkosten der Ware, so liegt sowohl der beizulegende Wert als auch der Teilwert unter den Wiederbeschaffungskosten. Im Gegensatz zum beizulegenden Wert berücksichtigt die ständige Rechtsprechung des BFH1220 im Rahmen des Teilwerts bei den Selbstkosten auch den durchschnittlichen Unternehmergewinn. Handelsrechtlich ist eine derartige Wertung nicht möglich. Würde man den noch nicht realisierten, durchschnittlichen Unternehmensgewinn aktivieren, würde dieser gewinnerhöhend wirken. Dies wäre eine handelsrechtlich unzulässige Realisierung fiktiver Gewinne1221. Der BFH begründet seine Rechtsprechung im Wesentlichen mit der Erwägung, im Rahmen der Teilwertschätzung sei die Annahme nahe liegend, dass ein Betriebserwerber auch die durch Lagerung, Unmodernwerden oder aus anderen Gründen im Wert geminderten Warenpartien nur zu einem Preis übernehmen würde, der ihm noch einen Unternehmergewinn gestatte. Die Erwägung, der Verlust bei derartigen Waren würde durch den Gewinn aus anderen Warenpartien ausgeglichen, verstieße gegen den Grundsatz der Einzelbewertung. Die Hinzufügung des durchschnittlichen Unternehmensgewinns – und nicht eines für derartige Warengruppen typischen – erfolgt aus Praktikabilitätsgründen, da unterschiedliche Unternehmensgewinne schwer zu kalkulieren seien1222. Im Ergebnis führt dies dazu, dass der Teilwert niedriger als der beizulegende Wert sein kann1223. Die These vom gleichen Inhalt der beiden Begriffe ist daher nicht haltbar. Dies gilt umso mehr, als dass der Teilwert auch höher als der beizulegende Wert sein kann. Diese Konstellation ist unter anderem bei Verlustprodukten anzutreffen.
II. Die BFH-Rechtsprechung zur Bewertung so genannter Verlustprodukte Verlustprodukte sind Produkte, die ein Unternehmer bewusst unter seinen Herstellungs- bzw. Anschaffungskosten verkauft. Die Motivation für ein derartiges Verhalten liegt, insbesondere im Einzelhandel, auf der Hand. Der Unternehmer möchte auf diese Weise Kunden werben und erhofft sich, den durch die Verlustprodukte entstandenen Verlust durch den Verkauf anderer Produkte nicht nur zu kompensieren, sondern im Ergebnis durch dieses Verhalten den Betriebsgewinn insgesamt zu erhöhen. Voraussetzung eines derartigen Verlustes ist nicht, dass der Verkaufspreis nominell unter den ursprünglichen Herstellungskosten liegt. Die Grundlegend BFH, Urteil v. 5. Mai 1966, BFHE 86, 28, 31. Vgl. M. Groh, Künftige Verluste in der Handels- und Steuerbilanz, zugleich ein Beitrag zur Teilwertdiskussion, StuW 1976, 32, 35. 1222 Vgl. BFH, Urteil v. 5. Mai 1966, BFHE 86, 28, 31. 1223 Vgl. J. Schulze-Osterloh, Die Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz, ihre Umkehrung und das Bilanzrichtliniengesetz, FR 1986, 545, 549. 1220 1221
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Kap. 5: Gemeinschaftsrecht und materielle Begriffsidentität
später durch das Produkt erzeugten Kosten (Miete etc.) können handelsrechtlich wegen des Niederstwertprinzips dazu führen, dass der beizulegende Wert unter den Anschaffungskosten liegt1224. Vom BFH war nun zu entscheiden, ob diese Erwägungen geeignet sind, die Teilwertvermutung, der Teilwert entspreche den Anschaffungskosten, zu widerlegen. Dafür könnte auf den ersten Blick sprechen, dass im Gegensatz zur Handelsbilanz nicht nur die bis zur Veräußerung anfallenden Selbstkosten bei der Veräußerung gedeckt werden müssen, sondern beim Teilwert auch die Deckung des durchschnittlichen Unternehmensgewinns berücksichtigt werde1225. Der BFH verneint die Widerlegung der Teilwertvermutung mit folgender zutreffender1226 Überlegung1227: „Wird ein Betrieb ( . . .. ) insgesamt rentabel geführt, so zeigt dies, dass die Aufnahme einzelner so genannter Verlustprodukte nicht schädlich ist, d. h. keine Fehlmaßnahme darstellt. Ein gedachter Erwerber des Betriebs, der diesen so erwirbt, wie er vom Veräußerer geführt wurde, und ihn in dieser Form jedenfalls zunächst unverändert fortführt, hätte daher keinen Anlass, für die Verlustprodukte einen niedrigeren Betrag als die Anschaffungskosten anzusetzen, weil diese Produkte keinen negativen Erfolgsbeitrag für den Betrieb im ganzen leisten und er sie sich ebenfalls nur zu den vom Veräußerer aufgewendeten Anschaffungskosten wiederbeschaffen könnte. Handelt es sich, was bei einem rentabel geführten Betrieb anzunehmen ist, bei den Verlustprodukten um Artikel, bei denen die Kalkulation nicht kostendeckender Verkaufspreise branchenüblich ist, so ist der gedachte Erwerber sogar gezwungen, diese Produkte zu den gleichen Bedingungen anzubieten wie der Veräußerer. Sie sind dann betriebsnotwendig, weshalb der gedachte Erwerber schon deshalb keinen Abschlag von den Anschaffungskosten vornehmen würde.“
Dieser Argumentation ist entgegengehalten worden, dass sie im Ergebnis die konkreten, durch das Verlustprodukt verursachten Verluste mit anderen betrieblichen Vorteilen saldiere und damit gegen den Grundsatz der Einzelbewertung verstoße1228. Der Einwand vermag nicht zu überzeugen. Er verkennt, dass im Rahmen der Teilwertbetrachtung zwar die Einzelbewertung gilt, aber eben unter dem Aspekt der Unternehmensfortführung als Ganzes. Das gewisse Spannungsverhältnis, in dem der Teilwertbegriff mit dem Grundsatz der Einzelbewertung steht, kann 1224 Vgl. M. Groh, Künftige Verluste in der Handels- und Steuerbilanz, zugleich ein Beitrag zur Teilwertdiskussion, StuW 1976, 32, 34. Der BFH lässt offen, ob er diese handelsrechtliche Betrachtungsweise für richtig hält, vgl. BFH, Urteil v. 29. April 1999, BFHE 189, 51, 57. 1225 Vgl. Kapitel 5 B. I. 1226 Im Sinne dieser Rechtsprechung schon M. Groh, Künftige Verluste in der Handelsund Steuerbilanz, zugleich ein Beitrag zur Teilwertdiskussion, StuW 1976, 32, 38; H. Wittorff, Warenbewertung bei Preisherabsetzungen im Einzelhandel, StBp 1984, 226, 228. 1227 Vgl. BFH, Urteil v. 29. April 1999, BFHE 189, 51, 54. 1228 Vgl. Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht, S. 178; G. Söffing, Verlustprodukte, FR 1978, 240, 241; Stibi / Stibi, Objektive Gewinnermittlung ade?, StuB 1999, 1254, 1257; differenzierter U. Breidert, Keine Teilwertabschreibung bei so genannten Verlustprodukten?, BB 2001, 979, 984.
B. Auslegung des Teilwertbegriffes
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nicht dadurch aufgelöst werden, dass einer reinen Einzelbewertung der Vorrang gegeben wird1229. In der Wertung des BFH liegt im Übrigen kein Widerspruch zu seiner Rechtsprechung, der durchschnittliche Unternehmergewinn sei im Rahmen der Teilwertberechnung zu den Selbstkosten der Ware zu addieren1230. Im Gegensatz zu Waren, deren Wert beispielsweise auf Grund von Änderungen der Mode sinkt, ist bei Verlustprodukten von vorneherein nie die Erzielung eines Gewinnes mit dem konkreten Verlustprodukt geplant. Diesen Aspekt würde der Erwerber des Betriebes berücksichtigen.
III. Zwischenergebnis zu B. Eine Interpretation des Teilwertes im Sinne des handelsrechtlich beizulegenden Wertes wird der Teilwertdefinition nicht gerecht1231. Sie führte im Ergebnis dazu, dass das Begriffsmerkmal der Veräußerung des Betriebes als Ganzes keine Anwendung fände1232. Diese Auslegung ist daher keine zulässige teleologische Reduktion des Gesetzeswortlautes, sondern eine unzulässige Ausklammerung des gesetzgeberisch gewollten Inhalts der Norm1233. Mangels materieller Übereinstimmung von steuerlichem Teilwert und handelsrechtlichem beizulegenden Wert fehlt die für eine nationale Übernahme- und Vorlagepflicht erforderliche Konnexität. Nicht entscheidend ist dagegen die bloße semantische Verschiedenheit. Die Aussage, dass trotz der unterschiedlichen Herleitung von beizulegendem Wert und Teilwert beide Werte häufig übereinstimmen1234, muss hier nicht abschließend bewertet werden. In praktisch relevanten Teilbereichen, zum Beispiel im Bereich der Bewertung von Beteiligungen an Kapitalgesellschaften, ist diese Häufigkeit jedenfalls nicht gegeben1235. Eine Teilwertabschreibung von Betei1229 1230 1231
Vgl. BFH, Urteil v. 29. April 1999, BFHE 189, 51, 56. Vgl. Kapitel 5 B. I. Vgl. A. Moxter, Funktionales Teilwertverständnis, FS für Erich Loitlsberger, S. 473,
479. 1232 Im Ergebnis übereinstimmend J. Müller-Dott, Der steuerliche Teilwert, FS für Wolfgang Ritter, S. 215, 225. Anders jedoch die Begründung: Nach Müller-Dott klammert diese Interpretation das going concern-Prinzip aus. 1233 Im Ergebnis auch J. Müller-Dott, Der steuerliche Teilwert, FS für Wolfgang Ritter, S. 215, 225. 1234 Vgl. Horschitz / Groß / Weidner, Bilanzsteuerrecht und Buchführung , S. 347; T. Schildbach, Niedriger Zeitwert versus Teilwert und das Verhältnis von Handels- und Steuerbilanz, StbJb 1990 / 91, S. 31, 42; Stibi / Stibi, Objektive Gewinnermittlung ade?, StuB 1999, 1254; T. Stobbe, Die Verknüpfung handels- und steuerrechtlicher Rechnungslegung, S. 163. 1235 Vgl. Küting / Kessler, Teilwertabschreibungen auf Beteiligungen unter besonderer Berücksichtigung der höchstrichterlichen Finanzrechtsprechung, GmbHR 1995, 345, 347.
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Kap. 5: Gemeinschaftsrecht und materielle Begriffsidentität
ligungen an Personengesellschaften kommt im Gegensatz zum Handelsrecht schon deshalb nicht in Betracht, weil die Gewinne und Verluste aus der Mitunternehmerschaft den Gesellschaftern unmittelbar zugerechnet werden und dem Ansatz Gesellschaftsbeteiligung keine eigenständige Bedeutung zukommt1236. Methodisch betrachtet reicht die Annahme einer häufigen Übereinstimmung von Ergebnissen nicht aus, um eine für die nationale Übernahme- und Vorlagepflicht notwendige Konnexität zu bejahen. Denn die bloße (wenn auch häufige) Übereinstimmung der Ergebnisse gewährleistet gerade nicht die materielle Übereinstimmung der rechtlichen Regelung. Fehlt aber eine materielle Übereinstimmung, so gewinnt für die (wenn auch wenigen) abweichenden Ergebnisse der Bewertungsvorbehalt des Ertragsteuerrechts in § 5 Abs. 6 EStG entscheidende Bedeutung: Selbst wenn sich nach handelsrechtlichen Bewertungsgrundsätzen ein anderer Wert ergibt, ist er für die ertragsteuerliche Bilanzierung nicht zu übernehmen1237.
C. Gemeinschaftsrechtlicher Einfluss auf das Steuerbilanzrecht ohne Maßgeblichkeitsgrundsatz Die obigen Überlegungen zum Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf das Steuerbilanzrecht auf Grund von materieller Begriffsidentität können auch für den Fall der Abschaffung des Maßgeblichkeitsgrundsatzes fruchtbar gemacht werden. Immerhin ist dieser sehr umstritten, vielfach wird seine Abschaffung gefordert1238. Jedoch wollen sich auch diejenigen, die sich für ein eigenständiges, am Betriebsvermögensvergleich festhaltendes Steuerbilanzrecht aussprechen, in vielen Fragen an die bewährten Regeln des Handelsbilanzrechts anlehnen1239. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Frage, ob es für eine Konnexität zwischen Steuer- und Handelsbilanzrecht einer ausdrücklichen Anlehnung des Gesetzgebers, beispielsweise in der Gesetzesbegründung, bedarf. Möglicherweise ist auch die ausdrückliche Ankopplung durch die Rechtsprechung ausreichend. Dann stellt sich, ähnlich wie im Rahmen der Bewertung1240, die Frage, ob noch ein Rückgriff auf das Argument der Eigenständigkeit der steuerlichen Regelung möglich ist, um einen Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf das Steuerbilanzrecht zu verneinen. Der BFH hat hierzu im Zusammenhang mit der Frage der phasengleichen Gewinnaktivierung1241 wie folgt Stellung genommen1242: 1236 1237 1238 1239 1240 1241
Vgl. BFH, Urteil v. 20. Juni 1985, BFHE 144, 230, 233. Vgl. BFH, Urteil v. 30. November 1988, BStBl 1990 II, 117, 118 f. Vgl. Kapitel 4 A. III. Vgl. J. Schulze-Osterloh, Handels- und Steuerbilanz, ZGR 2000, 594, 602. Vgl. Kapitel 5 A. II. Hierzu ausführlich in Kapitel 4 B. III. 2.
C. Steuerbilanzrecht ohne Maßgeblichkeitsgrundsatz
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„Eine erneute Vorlage an den EuGH ist nicht erforderlich.( . . . ) Hinzu kommt, dass es im Streitfall letztlich darum geht, ob bereits am 31. 12. 1989 der Anspruch auf die Ausschüttung des Gewinnes der Betriebsgesellschaft als Wirtschaftsgut der Besitzgesellschaft entstanden war. Der Begriff „Wirtschaftsgut“ wurde vom RFH entwickelt und 1934 in das EStG übernommen. Er findet sich heute in § 4 Abs. 1, § 5 Abs. 2 und § 6 EStG. Bei den Vorschriften handelt es sich um eigenständige steuerliche Gewinnermittlungsvorschriften. Auch wenn der Ausdruck „Wirtschaftsgut“ nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung, der der Senat beipflichtet, in Übereinstimmung mit dem handelsrechtlichen Begriff des Vermögensgegenstandes auszulegen ist, beruht die einheitliche Auslegung nicht auf einer Entscheidung des deutschen Gesetzgebers bei der Umsetzung der Vierten und Siebten Richtlinie in nationales Recht, um das Steuerrecht an das Gemeinschaftsrecht anzupassen. Das Gebot der einheitlichen Auslegung geht vielmehr ausschließlich auf die Rechtsprechung zurück, die sich insoweit nicht von Anpassungsüberlegungen hat leiten lassen, sondern auf Sinn und Zweck der Begriffe abstellt. So gesehen hat der Senat selbst dann, wenn er den Wirtschaftsgutbegriff in Übereinstimmung mit dem Begriff des Vermögensgegenstandes auslegt, nur über ersteren zu entscheiden. Damit entscheidet er nicht mehr über Gemeinschaftsrecht, was eine Vorlage an den EuGH ausschließt.“
Die Negierung des gemeinschaftsrechtlichen Einflusses mit dem Argument, trotz Begriffsidentität ausschließlich über den originär steuerrechtlichen Begriff zu entscheiden, ist mit den gleichen Gründen1243 wie die Berufung auf den formalen steuerrechtlichen Bewertungsvorbehalt bei steuerlichen Bewertungsfragen trotz Begriffsidentität abzulehnen1244. Genauso wenig überzeugend ist die Argumentation, für eine Konnexität mit dem Gemeinschaftsrecht käme es auf den diesbezüglichen ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers bzw. der Rechtsprechung an. Entscheidend ist nicht, warum der BFH eine materielle Begriffsidentität annimmt, sondern dass er dies tut. Mit der Annahme einer Begriffsidentität stellt der BFH, wenn auch unbewusst oder sogar ungewollt, den gemeinschaftsrechtlichen Einfluss logisch zwingend her. Missfällt ihm dieser Einfluss, muss er die Begriffsidentität aufgeben. Sprechen aber, wie der BFH meint, Sinn und Zweck der Begriffe für diese Begriffsidentität, kann der gemeinschaftsrechtliche Einfluss nicht unter Hinweis auf einen fehlenden „Anpassungswillen“ negiert werden. Daher dürften sich auch Überlegungen, das Gemeinschaftsrecht könne durch bloße Aufgabe des Maßgeblichkeitsgrundsatz aus dem Steuerbilanzrecht zurückgedrängt werden1245, als Illusion erweisen. Eine derartige Zurückdrängung ließe Vgl. BFH, Urteil v. 26. November 1998, BFHE 187, 492, 498 f. Vgl. Kapitel 5 A. II. 1244 Im Ergebnis ebenso C. Luttermann, Gemeinsame Anmerkung zu BFH, Beschluss v. 16. 12. 1998 – I R 50 / 95 und BFH, Urteil v. 26. 11. 1998 – IV R 52 / 96, FR 1999, 378, 379. 1245 So J. Schulze-Osterloh, Handels- und Steuerbilanz, ZGR 2000, 594, 601; ähnlich J. Hennrichs, Der steuerrechtliche sog. Maßgeblichkeitsgrundsatz gem. § 5 EStG, StuW 1999, 138, 152, der annimmt, bei formaler Loslösung des Steuer- vom Handelsbilanzrecht erübrigten sich die europarechtlichen Folgeprobleme; ders., Maßgeblichkeitsgrundsatz oder eigenständige Prinzipien für die Steuerbilanz?, DStJG 24, S. 301, 328. 1242 1243
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Kap. 5: Gemeinschaftsrecht und materielle Begriffsidentität
sich allenfalls durch eine völlige Abkopplung des Steuerbilanzrechts vom gemeinschaftsrechtlich geprägten Handelsbilanzrecht erreichen. Ob dies in Hinblick darauf, dass Rechnungslegung in ihrem Kernbestand unteilbar sei1246, überhaupt möglich ist, erscheint zweifelhaft. In Betracht käme insoweit nur, dass im Rahmen der steuerlichen Gewinnermittlung völlig auf den Betriebsvermögensvergleich verzichtet und auf eine Besteuerung des cash-flow übergegangen wird1247. Im Übrigen bleibt unklar, wieso der gemeinschaftsrechtliche Einfluss auf das Steuerbilanzrecht per se zurückdrängungsbedürftig ist.
D. Zwischenergebnis zu Kapitel 5 Unabhängig davon, wie man die Grundsatzfrage nach der Geltung des Maßgeblichkeitsgrundsatzes im Rahmen des § 6 EStG beantwortet, können sich ein Einfluss des Gemeinschaftsrechts und damit verbundene Kompetenzen des Gerichtshofes hinsichtlich der steuerlichen Bewertung aus einer materiellen Identität von handelsrechtlichen und steuerrechtlichen Begriffen ergeben. Eine derartige Identität bejaht der BFH für den Begriff der Herstellungskosten. Konsequenz dieser Bejahung ist, dass eine Berufung auf den formellen Bewertungsvorbehalt nicht mehr geeignet ist, einen Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf die steuerliche Bewertung zu negieren. Dabei führt die vom BFH angenommene Begriffsidentität sogar dazu, einen derartigen Einfluss auch für die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung, obgleich ihrer Natur nach Überschusseinkünfte, zu statuieren. Schließlich hat sich gezeigt, dass schon die materielle Identität der Regelungen ausreicht; eine semantische Begriffsidentität ist nicht notwendig. Bei der Auslegung des Teilwertbegriffes besteht dagegen kein gemeinschaftsrechtlicher Einfluss. Entscheidend hierfür ist nicht die mangelnde semantische Übereinstimmung, sondern vielmehr die Tatsache, dass entgegen einer verbreiteten Meinung keine materielle Identität zwischen dem Begriff des Teilwertes und dem handelsrechtlichen Begriff des beizulegenden Wertes besteht. Ob beide Begriffsdefinitionen häufig zu einem übereinstimmenden Ergebnis führen, mag dahinstehen, da selbst eine Bejahung der Häufigkeit methodisch nicht ausreicht, die für den Einfluss des Gemeinschaftsrechts notwendige Konnexität herzustellen.
1246 Vgl. J. Sigloch, Ein Valet dem Maßgeblichkeitsprinzip, BFuP 2001, 157, 179; ähnlich H. Beisse, Zum neuen Bild des Bilanzrechtssystems, FS für Adolf Moxter, S. 3, 23. 1247 Vgl. H.-J. Kanzler, Die steuerliche Gewinnermittlung zwischen Einheit und Vielfalt, FR 1998, 233, 247; K. Tipke, Steuerliche Ungleichbelastung durch einkunfts- und vermögensartdifferente Bemessungsgrundlagenermittlung und Sachverhaltsverifizierung, FS für Heinrich Wilhelm Kruse, S. 215, 220; vgl. allgemein zur cash-flow-Besteuerung H. WeberGrellet, Bestand und Reform des Bilanzsteuerrechts, DStR 1998, 1343, 1348 f.
Kapitel 6
Fazit Die Untersuchung hat gezeigt, dass sich ein Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf das deutsche Steuerbilanzrecht nicht leugnen lässt. Dieser Einfluss hat eine prozessuale und eine materielle Komponente. Der prozessuale Einfluss resultiert im Wesentlichen aus der Dzodzi-Rechtsprechung des EuGH. Danach sind Vorlagen im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens zu Fragen des Gemeinschaftsrechts, beispielsweise zu Fragen der Vierten Bilanzierungsrichtlinie, auch dann zulässig, wenn der konkrete Rechtsstreit außerhalb des Anwendungsbereiches des Gemeinschaftsrechts, beispielsweise im Einkommensteuerrecht, stattfindet. Die Analyse dieser Rechtsprechung hat gezeigt, dass sie mit dem Grundsatz des Art. 234 EG konform geht, wonach die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage dem nationalen Richter obliegt. Die durch die Dzodzi-Rechtsprechung aufgeworfenen Probleme, insbesondere die bei der Auslegung des Verweisungsobjektes und der Beurteilung der Bindungswirkung auftretenden, wären nur dadurch zu vermeiden gewesen, dass der EuGH zu schon vorhandenen Ausnahmen vom obigen Grundsatz eine weitere Ausnahmefallgruppe mit der Folge der Unzulässigkeit der Vorlage hätte statuieren müssen. In der Konstellation der Dzodzi-Rechtsprechung besteht keine gemeinschaftsrechtliche Vorlagepflicht für die letztinstanzlichen Gerichte gemäß Art. 234 Absatz 3 EG. Die Annahme einer derartigen Pflicht verstieße zum einen gegen die innere Logik der Dzodzi-Rechtsprechung. Zum anderen führte sie zu einem Ausmaß an Vorlagen, das vom EuGH nicht zu bewältigen ist. Die Kompetenz, die Frage nach dem Bestehen einer Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte in der Konstellation der Dzodzi-Rechtsprechung zu entscheiden, liegt beim EuGH. Bedenkt man die Rechtssicherheit, die seine Entscheidung schaffen würde, so ist eine diesbezügliche Vorlage wünschenswert. Dagegen kann in den Konstellationen der Dzodzi-Rechtsprechung eine nationale Übernahme- und Vorlagepflicht bestehen. Mit nationaler Übernahmepflicht ist die Verpflichtung des Richters gemeint, die Auslegung des EuGH für das gemeinschaftsrechtliche Verweisungsobjekt auch für die nationale Dzodzi-Verweisung zu übernehmen. Eine nationale Vorlagepflicht kann in den Fällen bestehen, in denen der nationale Richter von der Auslegung des gemeinschaftsrechtlichen Verweisungsobjektes durch den EuGH abweichen will. Für summarische Verfahren gilt,
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Kap. 6: Fazit
dass hier grundsätzlich eine nationale Übernahmepflicht bestehen kann; dagegen ist die nationale Vorlagepflicht hier theoretischer Natur. Des Weiteren wurde gezeigt, dass sich die Dzodzi-Verweisungen durch drei Fallgruppen erfassen lassen: die unmittelbare und die mittelbare Verweisung auf Gemeinschaftsrecht außerhalb seines Anwendungsbereiches sowie die überschießende Umsetzung von Richtlinien. Diese Dzodzi-Verweisungen haben mit den klassischen Verweisungen nur eine gemeinsame Schnittmenge. Der Wissensstand für Letztere kann daher nicht ungeprüft übernommen werden. Das Gleiche gilt auch für andere, bisher zum Verhältnis des nationalen Rechts zum Gemeinschaftsrecht gewonnene Erkenntnisse. So führte bei genauer Betrachtung die Rheinmühlen-Rechtsprechung des EuGH für Dzodzi-Verweisungen zu anderen Ergebnissen. Wenn nämlich der EuGH die Beurteilung der Reichweite der nationalen Verweisung allein dem nationalen Richter überlässt, so steht das Gemeinschaftsrecht einer Bindung der unterinstanzlichen Gerichte an die Auffassung des oberinstanzlichen Gerichts – anders als in den Fällen der unmittelbaren Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts – nicht entgegen. Auch die Rechtsprechung des BVerfG zum EuGH als gesetzlichem Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG kann für die Dzodzi-Verweisungen nicht unmodifiziert übernommen werden. Selbst wenn man, entgegen der hier vertretenen Auffassung, eine gemeinschaftsrechtliche Vorlagepflicht auch in den Konstellationen der DzodziRechtsprechung bejaht, findet diese Rechtsprechung keine Anwendung. Das Gleiche gilt für eine Verletzung der hier entwickelten nationalen Übernahmepflicht, deren Einhaltung nur im Rahmen der Willkürrechtsprechung überwacht werden kann. Die Verletzung der nationalen Vorlagepflicht dagegen kann in gleichem Maße durch Verfassungsbeschwerde mit der Begründung des Entzugs des gesetzlichen Richters gerügt werden wie die Verletzung der nationalen Pflicht zur Divergenzvorlage. Abgesehen davon, dass für die Dzodzi-Verweisungen nicht ungeprüft der bisherige Wissensstand übernommen werden kann, schaffen sie auch neue, eigenständige Probleme. So wird – unabhängig vom jeweils einschlägigen Rechtsgebiet – bei der überschießenden Umsetzung von Richtlinien die Möglichkeit einer gespaltenen Auslegung diskutiert. Hierbei ist zu beachten, dass dem Argument der Rechtssicherheit gegenüber dem Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 GG eigenständige Bedeutung zukommt. Daraus resultiert für die Beurteilung einer – bei einer gespaltenen Auslegung – unterschiedlichen Regelung für den gemeinschaftsrechtlichen und nationalen Teil der Regelung das Folgende: Bei der Betrachtung der Vereinbarkeit einer Norm mit Art. 3 Abs. 1 GG ist grundsätzlich von der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers auszugehen, die unterschiedliche Behandlung von Lebenssachverhalten kann nicht die Verfassungswidrigkeit indizieren. Anders bei der Betrachtung der Zulässigkeit einer gespaltenen Auslegung unter dem Aspekt der Rechtsstaatlichkeit. Hier ist diese Auslegung für den Normadressaten derart problematisch, dass sie grundsätzlich unzulässig ist.
Kap. 6: Fazit
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Allen drei Fallgruppen war gemeinsam, dass der Einfluss des Gemeinschaftsrechts abhängig war von der Frage nach der Konnexität der Dzodzi-Verweisung mit dem gemeinschaftsrechtlichen Verweisungsobjekt. Wie und ob diese Konnexität hergestellt wird – sei es durch Verweisung, durch überschießende Umsetzung von Richtlinien oder durch materielle Begriffsidentität – richtet sich ausschließlich nach nationalem Recht. Das Gleiche gilt für die Frage nach eventuell aus dieser Konnexität resultierenden prozessualen Pflichten. Im Steuerbilanzrecht resultiert der Einfluss zu großen Teilen aus dem Maßgeblichkeitsgrundsatz. Durch diesen verweist das deutsche Steuerbilanzrecht auf Handelsbilanzrecht, welches in wesentlichen Punkten Gemeinschaftsrecht in nationales Recht transformiert. Eine Analyse der Transformation hat gezeigt, dass diese im Wege einer überschießenden Umsetzung der Vierten Bilanzierungsrichtlinie erfolgte. Die Frage des Einflusses des Gemeinschaftsrechts auf das Steuerbilanzrecht im Rahmen von § 5 EStG ist in hohem Maße abhängig von der Frage nach Inhalt und Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes. Als Antwort auf Letztere hat sich die Figur der zweckbezogen eingeschränkten Maßgeblichkeit angeboten. Danach erfolgt eine Übernahme der handelsrechtlichen Regelung in das Steuerrecht nicht aus „rechtsethischen“ Gründen, sondern als Mittel zum Zweck. Vermag die handelsrechtliche Regelung diesen Zweck – die steuerliche Gewinnermittlung – nicht zu erfüllen, kann sie nicht maßgeblich sein. Methodisch lässt sich eine derartig zweckbezogene Maßgeblichkeit durch eine teleologische Reduktion der in § 5 EStG statuierten Verweisung realisieren. In der Praxis hat dies die Konsequenz, dass eine Abweichung von dem durch die handelsrechtlichen GoB gefundenen Ergebnis nur dann zulässig ist, wenn dieses mit anderen steuerrechtlichen Grundsätzen von Verfassungsrang nicht vereinbar ist. Nach der hier vertretenen Auffassung besteht für den BFH in steuerbilanzrechtlichen Streitigkeiten regelmäßig ein Vorlagerecht an den EuGH. Bei der Inanspruchnahme dieses Rechts sollte rechstpolitisch zunächst beachtet werden, dass der Gerichtshof schon jetzt an den Grenzen seiner Kapazität arbeitet. Daher sollten bilanzrechtliche Detailfragen nicht vorgelegt werden. Genutzt werden sollte das Vorlagerecht aber dann, wenn gerade der EuGH eine besondere Kompetenz zur Beantwortung der Vorlagefrage hat. Dies gilt beispielsweise für den Fall unterschiedlicher Sprachfassungen der Vierten Richtlinie. Der Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf das Steuerbilanzrecht hat seine Ursache aber nicht ausschließlich im Maßgeblichkeitsgrundsatz. Ersterer und damit verbundene Kompetenzen des Gerichtshofes können sich auch aus einer materiellen Identität von handelsrechtlichen und steuerrechtlichen Begriffen ergeben. Die Bejahung dieser materiellen Identität führt dazu, dass die Auslegung der formell vom Gemeinschaftsrecht unabhängigen nationalen Regelung gleichzeitig die Auslegung des gemeinschaftsrechtlich geregelten „Pendants“ berücksichtigen muss. So kann sich beispielsweise die Rechtsprechung im Rahmen der steuerlichen Bewertung nicht auf den steuerlichen Bewertungsvorbehalt zwecks Negierung des 16 Bärenz
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Kap. 6: Fazit
gemeinschaftsrechtlichen Einflusses zurückziehen, wenn sie vorher die materielle Identität der handels- und steuerrechtlichen Bewertung festgestellt hat. Diese Überlegung ist verallgemeinerungsfähig und konnte in dieser Untersuchung im Umsatzsteuerrecht, im Handelsbilanzrecht sowie bei den steuerlichen Ansatz- und Bewertungsvorschriften fruchtbar gemacht werden. Der gemeinschaftsrechtliche Einfluss kann daher nicht formell begrenzt werden, sondern nur durch die Einschränkung der materiellen Identität. Daraus folgt für das Steuerbilanzrecht, dass auch ohne Maßgeblichkeit eine Einwirkung des Gemeinschaftsrechts nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich ist.
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Sachverzeichnis Abkopplungsthese 116 Albatros 27 Angonese 223 Bananenmarktdiskussion 98 Banchero 32 Bernini 30 Beschwerde gem. § 128 FGO 135 Beus 62 BIAO 212 Biersteuer-Urteil 160 Bindungswirkung des § 126 Abs. 5 FGO 127 Da Costa 47 De Haan 62 DE + ES 206 Djabali 31 Drohverlustrückstellung 175 – steuerliche Unzulässigkeit 161 Dürbeck 28 Dzodzi 38 Dzodzi-Rechtsprechung 239
handelsrechtliche Gewinnermittlung – Ausschüttungsbemessung 168 – Informationsfunktion 168 Herstellungskosten 218 – Aktivierungswahlrecht 225 – gemeinschaftsrechtlicher Einfluss 219 – nachträgliche 225 – Relevanz von Investitionszuschüssen 227 ICI 52, 92 International Chemical Corporation 60 Kleinwort Benson 72 Kloppenburg 139 Leistungsfähigkeitsprinzip 170 Leur-Bloem 49, 101
Falciola26 Federconsorzi 71 Fiskus als stiller Teilhaber 174 Fiskus als Teilhaber 172 Foglia / Novello 27 Foglia / Novello II 28 Fournier 70
Maßgeblichkeit – des GZT für das Umsatzsteuerrecht 113 – formelle 148 – materielle 150 – umgekehrte 149 – zweckbezogen eingeschränkte 183, 190 Maßgeblichkeitsgrundsatz 147 – Geltung im Rahmen der Bewertung 216 – historische Entwicklung 158 – Inhalt und Reichweite 157 – teleologische Reduktion 191 – verfassungsrechtliche Bewertung 182 Meilicke 29 Milch-, Fett- und Eierkontor 55 Moser 26
gespaltene Auslegung 115 Gmurzynska-Bscher 40 GoB 150 – steuerrechtliche Auslegung 156 Grado und Bashir 26
Pardini 30 Peterbroek 130 phasengleiche Dividendenaktivierung 184, 203 Pretore di Salo 32
Einheit der Rechtsordnung 179 Esso Espanola 31
270
Sachverzeichnis unbestimmter Rechtsbegriff 80
Preussen-Elektra AG 29 Primat des Zivilrechts 179 RAP 197 Rau 28 Rechtsnatur von Handels- und Steuerbilanzrecht 178 Relativität der Rechtsbegriffe 119 Rheinmühlen 128 Robards 31 Roquettes Frères 62 Salgoil 25 Salonia 25 Salumi 57 Solange II 139 Steuerentlastungsgesetz 162 Stille Reserven 169
1999 / 2000 / 2002
Teilwert 218 – Änderung der Teilwertabschreibung 164 – Begriff 230 – Teilwertvermutungen 231 – Verhältnis zum (niedrigeren) beizulegenden Wert 232 Telemarsiacobruzzo 32 Thomasdünger 36, 44 Tomberger 90 true and fair view 123, 212 Übernahmepflicht 107, 144 – auf Grund des Maßgeblichkeitsgrundsatzes 194 – im Eilverfahren 201 überschießende Umsetzung von Richtlinien 83
van Schindel und van Veen 131 verdecktes Wahlrecht 90 Verlustprodukte 233 Verweisung – Annahme durch den Richter 237 – auf eine nichtige Norm 96 – 97 – bei der Umsetzung von Richtlinien 81 – des Steuerbilanzrechts auf Gemeinschaftsrecht 196 – durch materielle Begriffsidentität 222 – Dzodzi-Verweisung 80 – klassische 79 – mittelbare 93 – stillschweigende 90 – verfassungsrechtliche Zulässigkeit 94 Vorabentscheidungsverfahren – Dauer 23 – Kooperationsverhältnis 137 – Rechtskraft 56 Vorlagepflicht – letztinstanzlicher Gerichte im Rahmen der Dzodzi-Rechtsprechung 65 – 66, 69 – nationale 106, 108 – nationale, auf Grund des Maßgeblichkeitsgrundsatzes 194 – nationale, im Eilverfahren 201 – Unterschied zwischen gemeinschaftsrechtlicher und nationaler 111 Wechselobligo-Urteil 213 Wertaufhellung 211 – 212 wirtschaftliche Betrachtungsweise 179 Zabala Erasun 30, 59, 205