Zukunftsort: EUROPA 9783110420272, 9783110425437

Today’s times are turbulent in Europe. European integration faces serious disagreements as to the right economic policy,

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German Pages 194 [196] Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
1. Europa in globaler Perspektive
Das Europa der Aufklärung – ein corps politique ?
Labor der Gewalt? Europäische Imperien und koloniale Kriege
Europa und der Kapitalismus
2. Europäische Zukunftsorte
Das osmanische Sarajevo: Multikulturalität zwischen Toleranz und Unduldsamkeit
Mittelmeer als Mythos
Unser Meer: Das Mittelmeer zwischen Dekadenz, Nostalgie und Erneuerung
3. Europa in der Krise
Demokratie in Europa
Europäische Identität – eine ständige Herausforderung
Steckt die Europäische Union in der schwersten Krise seit 1950?
Frieden und Sicherheit – welche Rolle für Europa?
Europa als Rechtsgemeinschaft?!Gefährdungen und Herausforderungen
Die neue Rolle Deutschlands und die Zukunft Europas
Verständigung trotz sprachlicher VielfaltPlädoyer für eine stärkere Förderung des Englischen in Europa
Res Publica Europaea: Europa anders
Autorenverzeichnis
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Zukunftsort: EUROPA
 9783110420272, 9783110425437

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Zukunftsort: EUROPA

Zukunftsort: EUROPA Herausgegeben von Günter Stock, Christoph Markschies und ­Susanne Hauer

AKADEMIE FORSCHUNG

Der Band dokumentiert ausgewählte Vorträge im Rahmen des Jahresthemas 2013/14 Zukunftsort: EUROPA der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

Diese Publikation erscheint mit Unterstützung der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Forschung des Landes Berlin und des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg sowie der Allianz Kulturstiftung, der Fritz Thyssen Stiftung, L.I.S.A – Das Wissenschafts­ portal der Gerda Henkel Stiftung und der Technologiestiftung Berlin.

Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint. ISBN 978-3-11-042543-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-042027-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-042034-0 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Lektorat: Susanne Hauer/ Michael Scherf / Can Tunc Coverbild: flickr, Sebastià Giralt Satz: SatzBild, Sabine Taube Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Günter Stock, Christoph Markschies, Susanne Hauer

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

1.  Europa in globaler Perspektive Barbara Stollberg-Rilinger

Das Europa der Aufklärung – ein corps politique? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Andreas Eckert

Labor der Gewalt? Europäische Imperien und koloniale Kriege . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Jürgen Kocka

Europa und der Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

2.  Europäische Zukunftsorte Holm Sundhaussen

Das osmanische Sarajevo: Multikulturalität zwischen Toleranz und Unduldsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Rémi Brague

Mittelmeer als Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Claus Leggewie

Unser Meer: Das Mittelmeer zwischen Dekadenz, Nostalgie und Erneuerung . . . . . 81

3.  Europa in der Krise Dieter Grimm

Demokratie in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Krzysztof Ruchniewicz

Europäische Identität – eine ständige Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

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Inhalt

Hartmut Kaelble

Steckt die Europäische Union in der schwersten Krise seit 1950? . . . . . . . . . . . . . . 111 Tilman Brück

Frieden und Sicherheit – welche Rolle für Europa? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Andreas Vosskuhle

Europa als Rechtsgemeinschaft?! Gefährdungen und Herausforderungen . . . . . . . . 135 Angelo Bolaffi

Die neue Rolle Deutschlands und die Zukunft Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Jürgen Gerhards

Verständigung trotz sprachlicher Vielfalt. Plädoyer für eine stärkere Förderung des Englischen in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Ulrike Guérot

Res Publica Europaea: Europa anders . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193

Günter Stock, Christoph Markschies, Susanne Hauer

Vorwort 2015 jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa zum 70. Mal. Der Jahrestag markiert auch einen weiteren Grundpfeiler der europäischen Integration: 70 Jahre Frieden, den zumindest die westeuropäischen Gesellschaften seit dem Ende des Krieges erlebt haben. Europa hat seit dem Zweiten Weltkrieg das Zusammenleben von unterschiedlichen Religionen und Kulturen sowie viele Politik- und Wirtschaftsbereiche im weltweit größten Zusammenschluss von Demokratien – der Europäischen Union – friedlich gestaltet. Eine Erfolgsgeschichte, deren Ergebnisse gleichwohl umstritten sind und ein Frieden, der bedroht ist: Gerade in den letzten Monaten setzten an vielen Stellen ideologisch motivierte Auseinandersetzungen ein und scheinbar längst beruhigte geographische Konfliktlinien brachen wieder auf. Die Zeiten in Europa sind turbulent: Plötzlich scheinen wieder Glaubenskriege möglich und bedrohen die Zukunft der europäischen Integration: Glaubenskriege um Toleranz und Integrationskraft der europäischen Gesellschaften, aber auch schwere Auseinandersetzungen um die richtige Wirtschaftspolitik. Gewalttätige Auseinandersetzungen um die Presse- und Meinungsfreiheit, bedenkliche Renationalisierungsbewegungen in einigen europäischen Staaten und die sich täglich zuspitzende Gewalt in unmittelbarer geografischer Nachbarschaft erschüttern die Europäische Union in ihren Grundfesten. Zwangsläufig stellen sich hier Fragen nach der Zukunft Europas, die nicht nur in medialen und politischen Debatten, sondern auch in der Wissenschaft intensiv verhandelt werden: Wie könnte der spezifisch europäische Weg aussehen, mit diesen Krisen umzugehen und was hält Europa trotz oder gerade in Krisenzeiten zusammen? Wie wollen wir in Europa zusammenleben? Wie also sieht die Europäische Union von morgen aus und welche Rolle spielt sie in der Welt?

Nachdenken über Europa – Das Jahresthema „Zukunftsort: EUROPA“ Über Europa nachdenken, heißt über die Zukunft nachdenken. Vor dem Hintergrund der zahlreichen Herausforderungen, die Europa in Atem halten, sowie der zunehmenden ­Europaskepsis, ist es der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) ein besonderes Anliegen, das Nachdenken und die Diskussion über Europas Zukunft zu fördern. Sie widmete daher ihr Jahresthema in den Jahren 2013 und 2014 dem „Zukunftsort: EUROPA“. Der Titel war dabei sehr bewusst und als klares Bekenntnis zu Europa gewählt, sollte er doch verdeutlichen, dass Europa mehr ist als eine politische Institution, eine bloße Wirtschafts- und Währungsunion. Europa ist ein Kultur- und

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Vorwort

Rechtsraum und zugleich der Ort, an dem Europa immer wieder neu entworfen wird: Zukunftsort Europa. Die Initiative „Jahresthema“ wurde 2007 von der Akademie ins Leben gerufen. Für jeweils zwei Jahre wählt die BBAW einen Themenschwerpunkt aus, zu dem sie den Dia­ log zwischen Wissenschaft und Gesellschaft fördern möchte. Ziel der Jahresthemen ist es einerseits, die Öffentlichkeit über die Forschungsprojekte der Akademie zu informieren, diese in einen breiteren Kontext zu setzen und zur Diskussion anzuregen. Anderer­ seits geht es darum, die Aktivitäten wissenschaftlicher und kultureller Institutionen unter ­einem Themendach zu bündeln und dadurch die interinstitutionelle Vernetzung nachhaltig zu fördern. Begleitet werden die jeweiligen Themenschwerpunkte von einem Beirat, der sich aus Akademiemitgliedern sowie weiteren interdisziplinären Experten zusammensetzt.1 In den Jahren 2013 und 2014 zielte das Jahresthema darauf ab, Debatten über drängende Zukunftsfragen, aber auch Krisenphänomene Europas im Austausch mit der Öffentlichkeit und durch wissenschaftliche Expertise anzuregen und zu vertiefen. Mit ihrer flexiblen Struktur, die die Entwicklung unterschiedlichster themenspezifischer ­Publikumsformate erlaubt, vermitteln die Jahresthemen zwischen sehr unterschiedlichen Bereichen; die meisten Veranstaltungen sind durchgängig interdisziplinär. So brachten im Jahresthema „Zukunftsort: EUROPA“ rund 160 beteiligte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Studierende und Akteure aus Kultur und Politik sowohl Erinnerungskulturen und Zukunftsfragen wie inner- und außereuropäische Perspektiven auf Europa in einen Dialog. Natürlich gibt es kein einheitliches Europa, das zu beschreiben oder zu erforschen wäre. „Europe Unlimited“ lautete folgerichtig der Titel des interdisziplinären Kurzfilmwettbewerbs und -forums – eines von 30 Projekten im Jahresthema 2013|14. Anhand einer Auswahl aus über 350 eingereichten Dokumentationen, Portraits und Spielfilm­­ episoden aus ganz Europa näherten sich Filmschaffende gemeinsam mit Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern der Frage: „Gibt es ein Europa und wenn ja wie viele?“. Nicht nur im Jahresthema, sondern auch in wissenschaftlichen Diskursen an Akademien und anderswo diskutieren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stets lebhaft unterschiedlichste Europakonzepte und Europäisierungsprozesse. Ihre Über­ legun­gen und Fragestellungen setzen bei den verschiedensten Perspektiven an: Die Forschungen reichen von historischen wie gegenwartsbezogenen Studien über Europa, zu lokalen und regionalen Untersuchungen in und an den Rändern Europas bis zu Arbeiten, die die euro­päische Integration von „oben“ und „unten“ erforschen. Fragen beispielsweise zum konzeptionellen und politischen Aufbau der heutigen EU oder zur europäischen Identität, die sich sowohl in den konkreten Lebenswelten der Bürger als auch in 1

Mitglieder des Beirats im Jahresthema 2013|14 „Zukunftsort: EUROPA“ waren neben den für ­dieses Vorwort Verantwortlichen Tilman Brück, Herrmann Danuser, Etienne François, Ute Frevert, ­Christoph Möllers, Magdalena Nowicka, Jürgen Renn, Dagmar Schipanski und Joachim Treusch. Ihnen allen danken wir sehr herzlich für ihr Engagement.

Vorwort

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den Machtzentren der Union konstituiert, werden dabei oft auch auf einer normativen Ebene betrachtet und diskutiert. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nehmen so an der Aushandlung komplexer Europäisierungsprozesse zwischen verschiedensten gesellschaftlichen Akteuren und der Konstruktion nicht minder komplexer Europabilder teil. Im Rahmen des Jahresthemas stellten die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Gedanken zu Europa in öffentlichen Veranstaltungen einem breiten Publikum zur Diskussion. Der vorliegende Band führt eine Auswahl dieser Stimmen und ihrer Überlegungen zusammen.2

Europa in globaler Perspektive In den vorherrschenden Bildern und Imaginationen von Europa werden Phänomene wie Aufklärung, bürgerliche Gleichheit, Liberalismus, Moderne, Rationalität und universelle Menschenrechte als Entdeckungen bzw. Leistungen der europäischen (Geistes-) Geschichte dargestellt. Diese sogenannten europäischen Errungenschaften beanspruchen zudem eine weltweite Geltung. Sind diese vielen selbstverständlichen Annahmen historisch betrachtet haltbar? Welche alternativen Lesarten der europäischen Geistes­ geschichte entstehen, wenn Europa in globaler Perspektive wahrgenommen wird? Die Akademievorlesung Europa in globaler Perspektive, die die Historikerin Ute ­Frevert und der Wissenschaftshistoriker Jürgen Renn im Rahmen des Jahresthemas konzipierten und die im vorliegenden Band auszugsweise dokumentiert ist, zeichnete die sich radikal verändernde Rolle Europas in der Welt im Zeitraum von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart nach. Mit ihren binnen- und außereuropäischen Sichtweisen präsentierten Akademiemitglieder und Gäste alternative Lesarten, die eine klassische europazentrierte Geschichtsschreibung in Frage stellen – zugunsten einer Vielfalt der Perspektiven. So begab sich die Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger in ihrem Beitrag „Das Europa der Aufklärung – ein corps politique?“ auf die Suche nach den Ursprüngen der europäischen Einheit und findet sie in der Zwietracht. Denn was man im 18. Jahrhundert als Europa bezeichnete, habe seine Konturen vor allem durch die permanente Konkurrenz und strategische Heiratspolitik der europäischen Dynastien gewonnen. Die strukturelle Friedlosigkeit führte, so Stollberg-Rilinger, zur Ausbildung eines gemeinsamen Handlungsrepertoires der europäischen Königshäuser, mit dem Konflikte ausgelöst, ausgetragen und beigelegt wurden. An gewaltsame Konflikte und ein äußerst dunkles Kapitel der europäischen Geschichte erinnert Andreas Eckert in seinem Beitrag „Labor der Gewalt? Europäische Imperien und koloniale Kriege“, in dem er sich den Komplexitäten kolonialer Herrschaftsgeschichte widmet. Der Historiker und Afrikawissenschaftler beschreibt die Errichtung 2

Ein Archiv aller Projekte sowie Video- und Audiomitschnitte ausgewählter Veranstaltungen des Jahres­themas 2013|14 „Zukunftsort: EUROPA“ sind online abrufbar unter: http://jahresthema.bbaw. de/2013_2014/ (Stand: 30. 01. 2015).

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Vorwort

kolonialer Herrschaft als eine langwierige, ungleichzeitige Angelegenheit, geprägt durch ein kompliziertes Konkurrenzgeflecht, in dem nicht selten Europäer gegen Europäer und Einheimische gegen Einheimische standen. Ein zentraler Aspekt des europäischen Kolonialismus ist für ihn die Anwendung von Gewalt, auch wenn es vielerorts neben dem Widerstand gegen die kolonialen Eroberer ebenso Arrangement und Kooperation gegeben habe. Eckert fragt daher nach den Gründen bzw. ideologisch motivierten Legitimationsargumenten dieser Gewaltbereitschaft. Dabei verweist er auf eine Verbindung zwischen kolonialer Gewalterfahrung und der Kriegsführung europäischer Staaten, die im 19. und 20. Jahrhundert besonders drastisch durch Herrendenken, Rassismus und die allgemeine militärische Sozialisation geprägt war. Jürgen Kocka schaut in „Europa und der Kapitalismus“ auf einen anderen Teil des europäischen Erbes, der nicht weniger deutliche Spuren hinterlassen hat. In seinem Diskussionsbeitrag zeigt der Sozialhistoriker auf, dass die europäische Geschichte mit der Entstehung des modernen Kapitalismus, aber auch mit der Kritik an diesem eng verbunden ist – mit weltweiten Auswirkungen vor allem im 20. Jahrhundert. Wie wir keinen aktuellen Konflikt ohne die Geschichte des Kolonialismus verstehen, so lassen sich heutige Finanzmärkte oder Wirtschaftskrisen nicht ohne das Wissen über die Geschichte des Kapitalismus erklären. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist für Kocka vor allem die Neugestaltung des Kapitalismus im Kalten Krieg ein zentraler Antrieb der Integration (West-) Europas, deren derzeitige Krise mit der jüngsten Krise des heutigen Finanzkapitalismus verbunden ist.

Europäische Zukunftsorte Bei der Erforschung und Beschreibung von Europäisierungsprozessen blicken Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler glücklicherweise nicht mehr nur auf das „Zentrum“ und die Institutionen der Europäischen Union, sondern zunehmend auch auf Akteure und Regionen an den Rändern des europäischen Kontinents, deren Zugehörigkeit historisch umstritten war und aktuell noch immer fraglich ist. So rücken heutige Grenzregionen des Mittelmeerraums oder Osteuropas in den Fokus und damit Migranten sowie Angehörige religiöser und ethnischer Minderheiten. Sie sind es, die Europas Widersprüchlichkeiten in einer postkolonialen und globalisierten Welt sichtbar machen und uns so mit entscheidenden Zukunftsfragen konfrontieren. Die Veranstaltungsreihe Zukunftsorte Europas setzte hier an und stellte im Rahmen des Jahresthemas bekannte und überraschende „Zukunftsorte“ Europas vor. Der Band präsentiert eine Auswahl der Beiträge, die sowohl die historischen Entwicklungen als auch aktuelle Perspektiven und Zukunftsfragen ausgewählter Orte und Regionen Europas in den Blick nehmen. Holm Sundhaussen untersuchte in einer historischen Analyse den Zukunftsort Sarajevo, denn jahrhundertelang galt dieser Ort als eine multikulturelle Stadt und wurde oft als Modell für Toleranz und Offenheit beschworen. Erst durch das Attentat von 1914 und die Belagerung der Stadt von 1992 bis 1994 ist ihre Multikulturalität in der internationa-

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len Erinnerungskultur in ein zweifelhaftes Licht geraten. In seinem Beitrag „Das osma­ nische Sarajevo: Multikulturalität zwischen Toleranz und Unduldsamkeit“ zeichnete Sundhaussen die keineswegs konfliktfreien Beziehungen zwischen den vier in Sarajevo beheimateten Religionsgemeinschaften in der osmanischen Periode der Stadtgeschichte zwischen 1462 und 1878 nach. Dabei stellte der Historiker und Südosteuropa-Experte dem mystifizierten Bild Sarajevos ein realistisches und damit konfliktreiches Bild des Neben-, Mit- und Gegeneinanders im Stadtleben gegenüber. Leider ist Holm Sundhaussen im Februar 2015 noch vor Drucklegung dieses Bandes verstorben. Ein stets von Mythen umrankter Ort war und ist auch der Mittelmeerraum, der für viele Menschen nicht nur ein beliebtes Reiseziel, sondern seit Jahrhunderten eine Quelle intellektueller, kultureller und wissenschaftlicher Inspiration darstellt. Aktuell ist die Wahrnehmung des Mittelmeerraums vor allem mit Stichworten wie Krise, Konflikt und Protestbewegungen verbunden. Doch ist nicht vielleicht die „Krise des Südens“ auch ein Ausgangspunkt für neue Impulse in der Region und für die Europäische Union? Mit einer ideengeschichtlichen Perspektive zeigt Rémi Brague in seinem Diskussionsbeitrag „Mittel­meer als Mythos“ auf, wie das Mittelmeer seit Jahrzehnten Träumen verschiedenster Färbung Vorschub leistet, die durch die Mythisierung der Vergangenheit eine rosige Zukunft des Dialogs der Kulturen plausibel machen soll. Der Philosoph und Wissenschaftshistoriker stellt die These auf, dass es zu den Originalitäten Europas gehört, einen Teil seiner Identität und Selbstlegitimation aus außereuropäischen Quellen zu schöpfen. So seien zwei Gründungsmythen Europas – das Christen- und Judentum einerseits und die griechisch-römische Antike andererseits – keine europäischen Erscheinungen ge­ wesen, sondern voreuropäische. Die Idee des heutigen Europas sei außer der geographischen Lage kaum mit diesen Mythen verknüpft. Dem Mittelmeerraum komme in diesem Zusammenhang als Raum der Begegnungen und Verknüpfungen über die Jahrhunderte hinweg jedoch eine wesentliche Bedeutung zu, die bis heute anhalte. Claus Leggewie analysiert in seinem Beitrag „Unser Meer: Das Mittelmeer zwischen Dekadenz, Nostalgie und Erneuerung“ aktuelle Probleme des Südens und skizziert konkrete Lösungswege und neue Visionen für eine Wiederbelebung der Region als ein Zukunftsort Europas. Der Politikwissenschaftler schlägt grundlegende Reformen in der Energieversorgung und der Finanzmarktpolitik sowie mögliche Instrumente einer neuen „Süd-Politik“ vor. So sieht Leggewie in der Erweiterung und Vertiefung der Union in einem neuen, euro-mediterranen Regionenverbund eine mögliche Alternative zum vorherrschenden Zentralismus der Europäischen Union und eine wichtige Chance, den Anrainerstaaten des Mittelmeerraums ein demokratisches Modell für eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe anzubieten.

Europa in der Krise Das institutionelle Demokratiedefizit der EU wird oft als Hindernis im europäischen Integrationsprozess, der Mangel an Partizipationsmöglichkeiten gar als Grund für die

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Vorwort

Identitätskrise Europas beklagt. Zusammen mit dem Studienkolleg zu Berlin, einer leider inzwischen geschlossenen Einrichtung der Studienstiftung des Deutschen Volkes und der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung, regte das Jahresthema 2013|14 daher noch vor der Wahl zum Europäischen Parlament im Mai 2014 mit der internationalen Tagung Demokratieverständnis in Europa und der Welt eine Diskussion zum Begriff „Demokratieverständnis“ an: Gemeinsam mit Akademiemitgliedern und internationalen Gästen untersuchten Berliner Studierende und Alumni des Studienkollegs Demokratiedefizite der EU sowie unterschiedliche Konzepte von Demokratie innerhalb und außerhalb Europas. Auch Dieter Grimm diagnostizierte in seinem Tagungsbeitrag „Demokratie in ­Euro­pa“ eine Legitimationsschwäche der Europäischen Union. Diese habe aber ihren Grund nicht in mangelnden Kompetenzen des Europäischen Parlaments, wie viele argumentieren und daher eine „Parlamentarisierung der EU“ einfordern. Wichtiger wäre es, so der Rechtswissenschaftler Grimm, der Verselbständigung von Kommission und Europäischem Gerichtshof von den demokratisch legitimierten Organen Parlament und Rat entgegenzuwirken und die Entscheidung höchst politischer Fragen von einem administrativ-judikativen Modus in einen politischen Modus zu überführen. Krzysztof Ruchniewicz hingegen will der Legitimationsschwäche der Europäischen Union mit der Schaffung einer europäischen Identität entgegentreten, die für ihn eine immerwährende Zukunfts- und Gestaltungsaufgabe darstellt. In seinem Diskussionsbeitrag „Europäische Identität – eine ständige Herausforderung“ konstatiert der Historiker noch immer große Unterschiede zwischen den westeuropäischen Ländern und den ­Staaten Ostmitteleuropas. Die gravierenden Transformationsprozesse, die die Menschen in Ostmitteleuropa nach dem Ende des Kalten Krieges durchlebten, haben für ihn noch zu ­wenig Eingang in das kollektive Gedächtnis der europäischen Integration gefunden – stelle dieses doch einen wesentlichen Eckpfeiler des Zusammengehörigkeitsgefühls dar. Der gemeinsame Erfahrungsschatz ist für Ruchniewicz zudem nur eines von vielen Elementen einer europäischen Identität, die er in seinem Beitrag beschreibt. Die Jahre 2013/14 wurden in Europa von den Auswirkungen der Banken-, Staatsschulden- und Euro-Währungskrise sowie der Wirtschaftskrisen in vielen europäischen Staaten begleitet. In der Vortragsreihe Europa in der Krise: Problemdiagnose und Zukunftsperspektiven, die das Jahresthema mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung vor diesem Hintergrund realisierte, kamen Akademiemitglieder und Gäste unterschiedlicher Disziplinen mit ihren Thesen, Fragestellungen und Lösungsansätzen zu krisenhaften Erscheinungen in Europa zu Wort. Die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler thematisierten dabei nicht allein die wirtschaftlichen Auswirkungen, sondern auch diverse Symptome der Krise(n) wie die veränderten Machtkonstellationen und Fragen der demokratischen Legitimation in der Europäischen Union. Staatliche Souveränitätsbeschränkungen durch Sparzwänge und -kontrollen sowie Renationalisierungstendenzen in einigen EU-Mitgliedsländern standen ebenfalls auf der Agenda. Der Historiker Hartmut Kaelble fragt in seinem Beitrag „Steckt die Europäische Union in der schwersten Krise seit 1950?“ und reagiert damit auf die in medialen, poli­ tischen, aber auch wissenschaftlichen Debatten oft fehlende Kontextualisierung von

Vorwort

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­ risen. Er nimmt der jüngsten Krise die ihr gewöhnlich zugesprochene Singularität und K vergleicht sie mit einer ähnlich schweren, aber anders gearteten Herausforderung der europäischen Integration in den 1970er Jahren. Diese damalige Krise werde – da weitgehend vergessen – in der öffentlichen Debatte über die gegenwärtigen Krisenphänomene des europäischen Gedankens übersehen. Die jüngste Krise, die sich spätestens mit dem Zusammenbruch der US-amerikanischen Großbank Lehman Brothers im September 2008 abzeichnete, erscheint im Vergleich zu den Entwicklungen vor vierzig Jahren nicht weniger gravierend, aber ihre besonderen Gefahren und Chancen werden deutlicher sichtbar. Mit ökonomischen, aber vor allem sicherheitspolitischen Chancen wie Gefahren beschäftigt sich der Beitrag „Frieden und Sicherheit – welche Rolle für Europa?“. Darin geht der Ökonom Tilman Brück der Frage nach, ob die Vision eines friedlichen Europas, die den europäischen Integrationsprozess von Beginn an prägt, auch Wege aus der europäischen Staatsschuldenkrise aufzeigen kann. Nicht nur im Blick auf die wirtschaftliche Integration, auf die sich die europäische Gemeinschaft lange konzentrierte, sondern auch in den Bereichen Frieden, Sicherheit und Verteidigung ist für ihn eine enge europäische Zusammenarbeit unerlässlich. Brück analysiert aus sozio-ökonomischer Sicht die wirtschaftliche Logik von Krieg und Frieden, beleuchtet den Status quo der europäischen Zusammenarbeit in den Bereichen Sicherheit und Verteidigung und skizziert Konzepte, die Sicherheit und wirtschaftliche Effizienz zu verbinden suchen. Dabei betont Brück die Rolle der individuellen Wahrnehmung von Sicherheit. Nur so könne Europa den ursprünglichen Anspruch, ein Kontinent des Friedens zu werden, einlösen. Für Andreas Vosskuhle besitzt das Recht als Europas stabilstes Fundament die Kraft, auch in der Krise Konflikte zu bewältigen. In seinem Beitrag „Europa als Rechtsgemeinschaft?! Gefährdungen und Herausforderungen“ weist der Präsident des Bundesverfassungsgerichts die in der Staatsschuldenkrise zunehmend geäußerten Bedenken gegen die Leistungsfähigkeit des Rechtswesens entschieden zurück und beleuchtet anhand folgender Fragen die Potentiale, aber auch Herausforderungen der europäischen Rechtsgemeinschaft: Was leistet das Recht für Europa? Was bedeutet die Rechtsgemeinschaft für die Auslegung und Durchsetzung des Rechts? Welche Rolle spielt hierbei die „Schwester des Rechts“, die Demokratie? Die europäische Banken-, Wirtschafts- und Institutionenkrise macht Probleme der wirtschaftlichen wie institutionellen Strukturen der Europäischen Union deutlich und wirft auch die Frage nach den zukünftigen Kräfteverhältnissen zwischen den einzelnen Mitgliedsländern auf. Angelo Bolaffi schaut in seinem Beitrag „Die neue Rolle Deutschlands und die Zukunft Europas“ auf sich verändernde Machtkonstellationen in Europa, in dem einige Mitgliedsländer – als Ausdruck und Symptom der Krise(n) zugleich – deutlich an Entscheidungsmacht verloren, andere hinzugewonnen haben. Auf die Frage nach der deutschen Rolle in der weiteren Krisenbewältigung antwortet der Politologe und Philosoph deutlich: Bolaffi fordert Deutschland auf, aufgrund seiner aktuellen Wirtschaftskraft und als „Hauptverantwortlicher der historischen europäischen Tragödien“ mehr Verantwortung im krisengeschüttelten Europa zu übernehmen und es

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Vorwort

„zum großen Ziel der politischen, sozialen und ökonomischen Einheit zu lenken und davon zu überzeugen“. Für Jürgen Gerhards, Mitinitiator der Vortragsreihe im Rahmen des Jahresthemas, würde die Einheit Europas durch die verstärkte Förderung des Englischen als „Lingua Franca“ deutlich erleichtert. In seinem Beitrag „Verständigung trotz sprachlicher Vielfalt. Plädoyer für eine stärkere Förderung des Englischen in Europa“ legt der Soziologe dar, wie Englisch als offizielle Sprache die Mobilität und Kommunikation der Bürger begünstigen und zu mehr ökonomischer Integration beitragen würde, ohne die kulturelle Selbständigkeit und Vielfalt der Länder zu beeinträchtigen. Englisch als poten­tielle Einheitssprache fördere die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit und einer transna­tionalen Zivilgesellschaft als Gegengewicht zum europäischen Machtapparat, so ­Gerhards. Die zukünftige Ausgestaltung der Europäischen Union ist schließlich auch Thema im Beitrag von Ulrike Guérot. Angesichts rückläufiger Unterstützung vieler Bürger für das europäische Projekt und der Renaissance nationaler Stereotype setzt sich die Politikwissenschaftlerin unter dem Titel „Res Publica Europaea: Europa anders“ für die Idee eines Europa als staatenübergreifende Gemeinschaft ohne nationale Vormachtstellung und die Stärkung der politischen wie sozialen Union ein. Am Ende einer zehnteiligen Vortragsreihe innerhalb des Jahresthemas, die im vorliegenden Band nur in Auszügen dokumentiert ist, waren sich die beteiligten Sozialwissenschaftler, Juristen, Historiker und Ökonomen darin einig, dass die Krise vor allem Chancen in sich birgt. Denn noch nie wurde so viel und so intensiv über Europa diskutiert – und die Diskussionen halten an. Die Wahrnehmung der Europäischen Union wird zunehmend politisiert, was der Entstehung einer streitbaren europäischen Öffentlichkeit neue Dynamiken verleiht. In der Wahl zum Europäischen Parlament im Mai 2014, in der erstmalig Spitzenkandidaten der europäischen Parteienfamilien gegeneinander antraten, findet sich ein erstes deutlich sichtbares Zeichen dieser Entwicklungen. Während manche Beobachter das Projekt Europa schon als gescheitert ansehen und eine erneute Stärkung der Nationalstaaten herbeisehnen, fordern andere gerade eine weitere Vertiefung der europäischen Integration, eine einheitliche Wirtschafts- und Sozialpolitik und endlich auch eine stärkere Demokratisierung europäischer Institutionen, um gestärkt aus der Krise hervorzugehen.

Zukunftsort Europa Die in diesem Band versammelten Beiträge, aber auch alle weiteren Diskussionsanregungen und Denkanstöße aus dem Jahresthema 2013|14 „Zukunftsort: EUROPA“, stellen den Versuch einer interdisziplinären Bestandsaufnahme Europas in seinen historischen wie aktuellen Rahmenbedingungen, Narrativen und Zukunftsperspektiven dar. Allen Beiträgen gemein ist das klare Bekenntnis zu Europa als einem Zukunftsort, der nur gemeinsam gestaltet werden kann und sollte. Denn neben dem reichhaltigen geistigen und

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kulturellen Erbe Europas ist es vor allem die gemeinsame, oft blutige Geschichte dieses Kontinents, auf die sich die europäische Einigung gründet. In diesem Zusammenhang kommt den europäischen Akademien der Wissenschaften, die im Verbund „All European Academies“ (ALLEA) zusammengeschlossen sind, eine zentrale Funktion zu: Sie helfen dabei, dieses Erbe zu erhalten, weiter zu erforschen und für die Gegenwart und Zukunft aufzubereiten. Darüber hinaus sind sie ein wichtiger Motor für die Schaffung eines europäischen Forschungsraumes, ohne den Europa als Zukunftsort nicht denkbar wäre. Bereits die erste Fachtagung des Jahresthemas 2013|14 „Zukunftsort: EUROPA“ im Juni 2013 zog eine Zwischenbilanz zur Umsetzung des europäischen Forschungsraums, der bereits im Jahr 2000 von der Europäischen Kommission als Vision skizziert worden war. Mittlerweile ist sie zwar in Ansätzen realisiert, gleichwohl gilt es, sie als zentralen Leitgedanken für die Ausrichtung sämtlicher Forschungsund Entwicklungsmaßnahmen der Europäischen Union weiter zu entwickeln und auszugestalten. Zudem wurde auf der Tagung die wichtige Anregung formuliert, neben diesem europäischen Forschungsraum auch einen europäischen Bildungsraum zu schaffen, der nicht nur Ergänzung, sondern Grundvoraussetzung und Basis wäre. Europa kann, wenn es Lehren aus Geschichte und Gegenwart zieht, weiterhin ein Zukunftsort sein und sich in vielen Gesellschaftsbereichen sogar noch stärker als Zukunftsstandort behaupten. Dafür müssen die einzelnen Mitgliedsländer der Europäischen Union jedoch damit beginnen, die Probleme der andern auch als die eigenen zu begreifen, gemeinsam aktuelle Herausforderungen anzugehen und solidarisch nach Lösungen zu suchen. Das größte Potential des Zukunftsortes Europa muss nicht mehr freigelegt, sondern weithin nur wahrgenommen und gefördert werden: Im einzigartigen Zusammen­ leben von verschiedenen Gesellschaften und Kulturen liegt Europas wahrer Reichtum – die kulturelle Vielfalt, das ist das Europäische, so lässt sich europäische Identität am ehesten beschreiben. Vielfalt braucht Begegnung und Austausch – Europa muss daher noch in viel stärkerem Maß als gemeinsamer Kommunikationsraum verstanden und genutzt werden. Projekte wie das Jahresthema 2013|14 „Zukunftsort: EUROPA“ an der BBAW, aber auch viele andere Initiativen wollen solch einen Kommunikationsraum und solche Dialoge anbieten. Denn die Schaffung einer transnationalen und wirklich inklusiven euro­päischen Zivilgesellschaft liegt weiterhin als großes Zukunftsprojekt vor uns. Erinnern wollen wir an dieser Stelle an den Soziologen Ulrich Beck, der Anfang dieses Jahres gestorben ist. Er beschrieb seinen Zukunftsort Europa wie folgt: „Wenn es eine Idee gibt, die die Europäer neu beflügeln könnte, dann ist es die des kosmopolitischen Europas, weil sie den Europäern die Angst des Identitätsverlustes nimmt. Je sicherer und in ihrer nationalen Würde anerkannter sich die Europäer fühlen, umso weniger werden sie sich im Nationalstaat einigeln, umso entschiedener werden sie für europäische Werte in der Welt eintreten. In einem in diesem Sinne kosmopolitischen Europa, in dem die Menschen Wurzeln und Flügel haben, würde ich gern leben.“3 3

Beck, Ulrich: Warum Europa?, in: Abendland unter? Reden über Europa. Hrsg. von Henning Schulte-­Noelle u. Michael M. Thoss, München 2007, S. 187.

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Vorwort

Unser Band möchte die, die ihn lesen, zu eigenen Antworten auf die Frage „Wie sieht Ihr Zukunftsort Europa aus?“ anregen. Unser besonderer Dank gilt den Autorinnen und Autoren dieses Bandes sowie ­allen Zukunftsort: Mitwirkenden und Kooperationspartnern des Jahresthemas 2013|14 „­ ­EUROPA“. Can Tunc, der als studentische Hilfskraft für das Jahresthema tätig war, ­danken wir für sein großes Engagement. Wir bedanken uns zudem bei zahlreichen ­Förderern, darunter die Allianz Kulturstiftung, die Fritz Thyssen Stiftung, die Hermann und Elise geborene Heckmann Wentzel-Stiftung, die Gerda Henkel Stiftung, die Stiftung Mercator, die Technologiestiftung Berlin sowie die Wilhelm und Else Heraeus-Stiftung, für deren freundliche Unterstützung einzelner Veranstaltungen und Projekte im Jahresthema.

1. Europa in globaler Perspektive

Europa ist heute geradezu eine Insel des Friedens, des Wohlstands und der Rechtsstaatlichkeit. Ich wünsche und hoffe, dass die großen Herausforderungen, mit denen ­Euro­pa gegenwärtig konfrontiert ist – die Finanzkrise, das Flüchtlingselend im Süden, die neue großrussische Expansionspolitik – nicht dazu führen, dass diese Errungenschaften rechtsradikalen populistischen Bewegungen zum Opfer fallen.

Barbara Stollberg-Rilinger

Das Europa der Aufklärung – ein corps politique  ? In einer berühmten Denkschrift aus seiner Kronprinzenzeit bezeichnete Friedrich der Große Europa als corps politique; seine Reflexionen über die damalige Mächtekonstellation tragen den Titel ‚Betrachtungen über den gegenwärtigen Zustand des politischen Körpers von Europa‘, ‚Considérations sur l’état présent du corps politique de l’Europe‘ (1738).1 Der Titel ist überraschend: Was heißt hier corps politique? War Europa denn ein politischer Körper? Was könnte Friedrich damit gemeint haben? Vermutlich meinte er die Metapher nicht so wörtlich, wie es ältere Allegorien der respublica christiana taten, die Europa buchstäblich in einen weiblichen Körper verwandelten (Abb. 1). Ein solches Bild wird Friedrich kaum vor Augen gehabt haben. Zum einen entsprach das Motiv einer spezifisch habsburgischen Sicht, und zum anderen waren solche allegorischen Europakarten im 18. Jahrhundert bereits seit längerem aus der Mode gekommen. Jedenfalls: Dem damaligen Europa – was auch immer das genau war – fehlte eigentlich alles, was einen ‚politischen Körper‘ ausmacht, auch nach damaligem Verständnis. Denn ein corpus politicum ist ja ein politisches Ganzes, das kollektiv handlungsfähig ist. Ein Körper hat ein Haupt und einen Willen. Das heißt: Um sinnvoll von einem politischen Körper zu sprechen, bedarf es entweder eines Herrschaftsinhabers oder eines gewissen Maßes an Organisation, an formalen Verfahrensregeln und an Repräsentanten, deren individuelles Handeln dem ganzen Kollektiv zugerechnet wird. Ein Körper in diesem präzisen Sinne war das damalige Europa zweifellos gerade nicht; es hatte ja

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Friedrich der Große: Considérations sur l’état présent du corps politique de l’Europe, in: Œuvres de Frédéric le Grand. Hrsg. von Johann D. E. Preuß, 30 Bde., Berlin 1846–1856, Bd. 8, S. 1–30.

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weder ein monarchisches Oberhaupt noch ein kollektives Repräsentativorgan, noch gab es irgendwelche formalen Verfahren, die es ermöglicht hätten, Entscheidungen zu treffen, die für ganz Europa hätten Verbindlichkeit beanspruchen können. Aber was war es dann? Mein zweiter Kronzeuge ist Voltaire, der in seiner Geschichte des Zeitalters Ludwigs XIV. aus dem Jahr 1751 schreibt: Schon seit langem durfte man das christliche Europa – Rußland ausgenommen – für eine Art großer Republik ansehen, die in mehrere […] Staaten zerfiel, welche jedoch sämtlich miteinander harmonierten, sämtlich, wenn auch in verschiedene Sekten zersplittert, dieselbe religiöse Grundlage hatten und sich sämtlich zu denselben völkerrechtlichen und politischen Grundlagen bekannten, die den übrigen Erdteilen noch fremd waren.“2

Ich komme auf diese „Grundlagen“ noch im Einzelnen zurück. Die Überlegenheit Europas war ein Gemeinplatz schon seit dem 17. Jahrhundert (Abb. 2).3 Und noch in der Encyclopédie der französischen Aufklärer heißt es – ebenfalls 1751 – unter Berufung auf Montesquieu – und der hatte es schon von Plinius dem Älteren –, Europa sei zwar der kleinste, aber auch der bedeutendste und mächtigste der vier Erdteile, und zwar aufgrund seiner Finanzkraft und seiner Truppenmacht, seines Handels und seiner Schifffahrt, der Fruchtbarkeit seines Bodens, der Aufgeklärtheit und des Fleißes seiner Völker, seiner Erfolge in den Künsten und Wissenschaften und vor allem aufgrund des Christentums, das für das jenseitige Heil und das diesseitige Glück der Menschen sorge.4 Die Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts sprachen von Europa als einem Kollektivsubjekt, und zwar in einem emphatischen Sinne; ‚Europa‘, das war vor allem eine Chiffre für den Stolz und die Zuversicht der Aufklärungseliten, der Gelehrten, Literaten und Künstler, die sich darin selbst feierten. Doch all das machte Europa noch nicht zu einem corpus politicum. Was genau Europa eigentlich sei, sagten die Allegorien und Elogen nicht, sie setzten es als selbstverständlich voraus. Die Frage, der ich nun nachgehen will, ist: Inwiefern hatte diese Rede von Europa als corps politique oder als „große Republik“ im 18. Jahrhundert über die kollektive Imagination hinaus irgendein Fundament in der Realität des politischen Handelns? Heutzutage, im Zeitalter des postmodernen Dekonstruktivismus, kann man Europa selbstverständlich nicht mehr als eine überzeitliche, substanzielle Gegebenheit beschreiben, sondern wird es nur mehr in einem konstruktivistischen, anti-essentialistischen Sinne verstehen: Europa war das, was die Akteure glaubten, dass es sei, aber auch das, was die Akteure selbst dazu machten, indem sie sich in ihrem Handeln an dem orientierten, was sie glaubten. Es war

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Voltaire: Das Zeitalter Ludwigs XIV., deutsch von Robert Habs, Leipzig 1887, Bd. I, S. 25f. Zum Theatrum Europaeum vgl. Dethlefs, Gerd: Schauplatz Europa, in: Europa im 17. Jahrhundert. Ein politischer Mythos und seine Bilder. Hrsg. von Klaus Bußmann u. Elke Anna Werner, Wies­ baden 2004, S. 149–180; zu den Europa-Allegorien vgl. auch Poeschel, Sabine: Europa – Herrscherin der Welt? In: Bußmann u. Werner 2004, S. 269–288. Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Bd. 6, Paris 1751, S. 211f., s. v. Europe.

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Abb. 1  Johannes Putsch (1537), Europa prima pars terrae in forma virginis, in: Sebastian Münster, Cosmographia Universalis, 1588, © akg-images

also mehr als nur ein Mythos, eine Idee oder Fiktion; es war auch ein Ensemble kollektiver Praktiken.5 Die Frage ist also: Welches Repertoire an Praktiken und Handlungserwartungen erzeugte welche Art von struktureller Identität und grenzte Europa von anderen Weltgegenden nach außen ab? Meine These lautet, dass man von Europa nur in einem dialektischen Sinne als von einer politischen Einheit sprechen kann. Seine Einheit bestand in seiner Zwietracht und folgte daraus. Was man im 18. Jahrhundert, im Zeitalter der Aufklärung, Europa nannte, gewann seine politischen Konturen vor allem durch die permanente Konkurrenz unter den verwandten und verschwägerten Dynastien. Europa war eine Konfliktgemeinschaft. Doch gerade diese strukturelle Friedlosigkeit führte zur Ausbildung eines gemeinsamen Handlungsrepertoires, mit dem Konflikte angefangen, ausgetragen und beigelegt wurden, 5

So etwa Werner, Elke Anna: Einführung, in: Bußmann u. Werner 2004 (wie Anm. 3), S. 9–23, hier S. 14; ähnlich schon Burke, Peter: Did Europe Exist Before 1700? In: History of European Ideas 1 (1980), S. 21–29. Die Literatur zum Europa-Begriff, zu Europa-Ideen, Europa-Bildern und Europa-­ Mythen ist unüberschaubar; vgl. nur etwa Schmale, Wolfgang: Geschichte und Zukunft der europäischen Identität, Stuttgart 2008; den Boer, Pim, Heinz Duchhardt, Georg Kreis u. Wolfgang Schmale (Hrsg.): Europäische Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2012.

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Abb. 2  Matthias Merian d. Ä. / Johann Philipp Abelin (Hg.), Theatrum Europaeum, Frankfurt a. M. 1635, Titelkupfer, © Universität Augsburg

und eines gemeinsamen völkerrechtlichen Normensystems, das kontrafaktisch gegen die Verletzung seiner selbst aufrechterhalten wurde. Das soll im Folgenden in fünf Punkten auseinandergelegt werden.

Das Europa des 18. Jahrhunderts war ein hochadeliger Heiratskreis Die Grenzen Europas waren die Grenzen eines dynastischen Verwandtschaftssystems.6 Zu Europa gehörten die Länder derjenigen Herrscherfamilien, die untereinander das Konnubium pflegten, das heißt, einen Heiratskreis bildeten. Denn: Nach dem Westfälischen Frieden war Europa keineswegs, wie man noch immer oft lesen kann, bereits ein System souveräner Staaten. Das „Westfälische System“ ist ein westfälischer Mythos. Souveränität, so hat André Krischer zuletzt formuliert, war ein „sozialer Status“.7 Souve­ 6 7

Vgl. Cosandey, Fanny: Europäische Konstruktion oder Familienstrategien? In: Bußmann u. ­Werner 2004 (wie Anm. 3), S. 323–332. Krischer, André: Souveränität als sozialer Status. Zur Funktion des diplomatischen Zeremoniells in

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räne, das waren zunächst einmal in erster Linie Fürsten, Potentaten bzw. Oberhäupter von Dynastien; Herrschaft reproduzierte sich durch Vererbung; Politik hatte noch immer in hohem Maße den Charakter von dynastischem Handeln (Ausnahmen bestätigen die ­Regel). Es ging um Ruhm, Rang und Ehre des adeligen Stammes und Namens. Das hat die jüngere Diplomatiegeschichte, die sich von Staaten als überzeitlichen Kollektiv­ akteuren verabschiedet hat und auf die Ebene der konkreten Akteure hinabgestiegen ist, in letzter Zeit überzeugend gezeigt.8 Dann aber wird deutlich: Europa war in allererster ­Linie ein hochadeliger Heiratskreis, eine société des princes.9 Dazugehörte, wer potenziell für Heirats­projekte in Frage kam: die Häuser Habsburg und Bourbon natürlich, die Stuarts und die Oranier, die Welfen und Wettiner, die Hohenzollern und Wittelsbacher, die ­Häuser ­Savoyen und Lothringen (um nur einige zu nennen), aber auch – spätestens seit den 1720er Jahren – die Romanov. Nichts zeige so deutlich die Metamorphose Russlands zu einer europäischen Macht, fanden die Zeitgenossen, wie die Heiratsverhandlungen zwischen Zar Peter und dem Haus Bourbon.10 Das Europa dieses hochadeligen Heiratskreises war zugleich ein christliches Europa, und zwar ein bekenntnisübergreifend christliches. Denn die Konfessionsgrenzen ver­ liefen quer durch die Adelsfamilien; zur Not musste die Braut konvertieren, um eine Heirats­verbindung über die Grenzen der christlichen Kirchen hinweg möglich zu machen, wie Katharina, die Prinzessin von Anhalt, als sie die Gattin des russischen Zaren wurde, oder die Protestantin Elisabeth Christine von Braunschweig-Wolfenbüttel, als sie den Habsburger Karl VI. heiratete. Eine klare Grenze verlief aber gegenüber dem I­ slam: Zwischen den osmanischen Herrschern und christlichen Hochadelsfamilien wurden keine Ehen geschlossen.

Europa war eine Konfliktgemeinschaft Familienbande sorgen bekanntlich keineswegs für Frieden und Harmonie – ganz im Gegenteil. Gerade weil Europa ein dynastischer Heiratskreis war, war es zugleich eine Konfliktgemeinschaft, wenn dieser paradoxe Ausdruck erlaubt ist. Die Dynastien befanden sich in einem Zustand permanenter Konkurrenz, ihr Verhältnis war strukturell friedlos und „bellizistisch“.11 Es gab keine dauerhaft stabilen Bündniskonstellationen, auch

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der Frühen Neuzeit, in: Diplomatisches Zeremoniell in Europa und im Mittleren Osten in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Ralph Kauz, Giorgio Rota u. Jan Paul Niederkorn, Wien 2009, S. 1–32. Grundlegend von Thiessen, Hillard u. Christian Windler (Hrsg.): Akteure in Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel (Externa, Bd. 1), Köln, Weimar, Wien 2010; vgl. auch die weiteren Bände der Reihe „Externa“. So Bély, Lucien: La société des princes, XVIe-XVIIIe siècle, Paris 1999. Vgl. Schaub, Marie-Karine: Wahrnehmungen und Praktiken in den französisch-russischen Beziehungen (17. bis 19. Jahrhundert), in: Thiessen u. Windler 2010 (wie Anm. 8), S. 319–340. Kunisch, Johannes: La guerre – c’est moi! Zum Problem der Staatenkonflikte im Zeitalter des Absolutismus, in: Zeitschrift für historische Forschung 14 (1987), S. 407–438; Burkhardt, Johannes: Die

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keine festen konfessionellen oder gar weltanschaulichen Lager; alles war in fortwährender Bewegung. Das galt ganz besonders für die Zeit zwischen Westfälischem Frieden und Französischer Revolution. Die Mehrzahl der militärischen Auseinandersetzungen folgte aus Erbfolgestreitigkeiten. Je enger die Dynastien durch wechselseitige Heiraten miteinander verflochten waren, desto mehr potenziell konkurrierende Erbansprüche gab es. Es kennzeichnet die politische Logik dieser Zeit, dass man über die Länder, die man in einer Dynastie zusammengebracht, geerbt und erobert hatte, verfügte wie über jeden anderen Familienbesitz auch. Jedes Haus strebte danach, seine Territorienbündel bei Gelegenheit möglichst vorteilhaft zu erweitern und abzurunden. Sobald sich abzeichnete, dass irgendwo eine Linie ohne männlichen Erben aussterben oder ein Wahlfürstentum vakant werden würde, gerieten diese Länder ins Visier der europäischen Höfe und wurden zum Gegenstand eifriger dynastischer Kalkulationen. Man grub in den Archiven Erbansprüche und Besitztitel aus, oder man suchte Wahlgremien durch Versprechungen und Geschenke auf seine Seite zu bringen. Zugleich erwog man aber auch passende Tauschmöglichkeiten, wenn einem ein Land zur abgerundeten Sammlung noch fehlte. Die mindermächtigen Potentaten wurden als Allianzpartner, aber auch als Tauschobjekte in die Pläne der Großen einbezogen. Die europäischen Hochadelsfamilien betrachteten die Länder samt Untertanen als potenzielle Verfügungsmasse in einem hochkomplexen Spiel, bei dem es darauf ankam, den anderen möglichst immer einen Zug voraus zu sein. Um das extrem komplexe Spielfeld überschaubarer und künftige Spielzüge der anderen berechenbarer zu machen, publizierten Gelehrte um 1700 dicke Kompendien, die alle erdenklichen „Prätensionen“, also unerfüllte Rechtsansprüche sämtlicher Häuser exakt verzeichneten. Kurzum: Der Krieg erschien als eine Art höfisches Gesellschaftsspiel – diese Metapher drängt sich einem nicht nur aus heutiger Perspektive auf; sie war auch den Zeitgenossen geläufig. Nur die Osmanen waren nicht in das Erbfolgekarussell einbezogen; die Kriege gegen sie hatten eine andere Qualität, hörten aber im 18. Jahrhundert allmählich auf. Die osmanischen Herrscher waren aber nichtsdestoweniger immer noch, wenn auch in Nebenrollen, als Bündnispartner mit von der Partie, ja sie boten sich im 18. Jahrhundert sogar – erfolglos – als Vermittler zwischen den christlichen Potentaten an.

Europa war eine Kommunikationsgemeinschaft Dass Europa eine Gemeinschaft war, deren politische Akteure bestimmte Kommunika­ tions­formen teilten, ist nur die andere Seite derselben Medaille, denn auch Konflikte sind ja eine Art der Kommunikation. Ich komme noch einmal auf das eingangs angeführte Voltaire-Zitat zurück. Zu den Grundsätzen, die allen europäischen Potentaten gemeinsam seien, schreibt er auch: Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit. Grundlegung einer Theorie der Bellizität Europas, in: Zeitschrift für Historische Forschung 24 (1997), S. 509–574.

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Namentlich stimmen sie in der klugen Politik überein, daß sie so viel als möglich ein Gleichgewicht an Macht unter sich erhalten, indem sie beständig, sogar mitten im Kriege, das Mittel der Unterhandlung anwenden und eines beim andern Gesandte oder minder ehrenwerte Spione unterhalten, die alle Höfe von den Plänen eines einzigen in Kenntnis zu setzen […] vermögen.12

Europa war also eine Gemeinschaft, die durch ein Netz ständiger wechselseitiger Beobachtung und Kommunikation verbunden war. Seit dem 16. Jahrhundert hatte sich allmählich ein System ständigen Gesandtenaustauschs entwickelt. Im 18. Jahrhundert unterhielten nahezu alle Fürstenhöfe wechselseitig permanente Gesandtschaften, vom hochrangigen Botschafter, dem Ambassadeur, bis zum einfachen Residenten, die gemeinsamen Verhaltensregeln folgten.13 Diese Gesandtschaften hatten unterschiedliche symbolische und instrumentelle Funktionen: Sie symbolisierten den Stand der gegenseitigen Beziehungen, führten Verhandlungen und sammelten Informationen. Diese – mehr oder weniger geheimen – Informationen benötigte man dringend, um das Unberechenbare ein bisschen berechenbarer zu machen. Zunehmend handelte es sich nicht mehr nur um Kenntnisse über die Personenkonstellationen bei Hof, die Günstlinge, Mätressen und Parteibildungen, sondern auch um abstrakte Zahlen und Daten über Finanzquellen, Schulden, Rüstungsausgaben, Truppenstärken usw., also die Frühformen der Statistik. All das benötigte man wechselseitig, um die Interessen einer jeden Macht, ihre spezifische „Staatsräson“, möglichst exakt berechnen und seine eigenen Schachzüge darauf ausrichten zu können. Europa war also eine Gemeinschaft politischen Kalküls, es wurde zusammengehalten durch kollektiv geteilte empirische Klugheitsregeln. Zu diesen Regeln gehörte die permanente wechselseitige Beobachtung ebenso wie das dauernde Im-Gespräch-Bleiben – und zwar nicht aus Menschenfreundlichkeit, sondern weil sich die Konstellationen so schnell änderten und man auf den Feind von gestern vielleicht schon morgen als Bündnispartner angewiesen war. Auch das vielzitierte „System des europäischen Gleichgewichts“, das vor allem die Engländer auf ihre Fahnen geschrieben hatten, ist nicht mit einer völkerrechtlichen Norm zu verwechseln – es war eine schlichte Klugheitsregel, eine Generalmaxime, wonach es für das Kartell der fünf, sechs großen Mächte vorteilhafter sei, wenn nicht eine von ihnen mächtiger wurde als alle anderen. Zu diesem System des politischen Kalküls gehörte in gewissem Sinne auch das Osmanische Reich. Zwar war es nicht in das System des ständigen, reziproken Gesandtenaustauschs einbezogen. Die Osmanenherrscher unterhielten nicht, wie umgekehrt viele europäische Mächte in Istanbul, ständige Gesandtschaften an den europäischen Höfen. Doch in das mächtepolitische Beziehungssystem waren sie selbstverständlich einbezogen. 12 13

Voltaire 1887 (wie Anm. 2), S. 26. Vgl. Krischer, André: Das Gesandtschaftswesen und das vormoderne Völkerrecht, in: Rechtsformen Internationaler Politik. Theorie, Norm und Praxis vom 12. bis 18. Jahrhundert. Hrsg. von Michael Jucker, Martin Kintzinger u. Rainer Christoph Schwinges, Berlin 2011, S. 197–240; Bély, Lucien: L‘Art de la paix en Europe. Naissance de la diplomatie moderne XVIe – XVIIIe siècles, Paris 2007.

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Barbara Stollberg-Rilinger Solange die Hohe Pforte ihre Außenpolitik nach den gleichen Prinzipien rationaler – und das hieß egoistischer und moralfreier – Machtpolitik gestaltete, die auch die christlichen Staaten für sich in Anspruch nahmen, bestand kein Anlass, in den Türken ‚the Other‘ der europäischen Politik zu sehen.14

Wessen Länder nicht durch die Osmanen bedroht waren, der schloss ohne weiteres Bündnisse mit ihnen. Daher verwundert es nicht, dass einzelne Autoren wie Edmund Burke, Ludwig Timotheus Spittler oder Johann Christoph Gatterer das Osmanische Reich im späten 18. Jahrhundert als europäische Macht bezeichneten.15

Europa war eine Symbolgemeinschaft Zu den kollektiven Regeln des europäischen Gesandtschaftsverkehrs, die sich nach dem Westfälischen Frieden herauskristallisierten, gehörte wesentlich auch ein bestimmter symbolischer Code. Das diplomatische Zeremoniell des Umgangs zwischen Höfen und auswärtigen Gesandtschaften war die lingua franca des europäischen Mächtesystems; es war die nonverbale, aber dennoch höchst präzise Sprache, in der man sich wechselseitig über seine Zugehörigkeit und den Stand der wechselseitigen Beziehungen verständigte. Auch das erwähnt Voltaire in dem oben genannten Text, wenn er schreibt: „Sie [die Europäer] gestehen einmütig gewissen Fürsten, wie dem Kaiser, Königen und andern geringeren Potentaten, den Vorrang und gewisse Vorrechte zu […]“. Mit diesen „gewissen Vorrechten“ sind ganz konkrete Standards der zeremoniellen Behandlung von Gesandten gemeint, wie der Titel Exzellenz, das Recht, bei der Audienz zur Rechten des Gastgebers zu gehen, die Regel, den Hut in bestimmten Momenten auf- oder abzusetzen und andere Formen der „Staats-Höflichkeit“ mehr. Dabei handelte es sich um alles andere als unwesentliche Äußerlichkeiten. Diese zeremonielle Sprache war vielmehr das Medium, in dem die souveränen Potentaten sich gegenseitig signalisierten, dass sie einander grundsätzlich als Souveräne und das heißt: als gleichberechtigte Akteure akzeptierten (oder eben auch nicht). Auch dabei blieben selbstverständlich Konflikte nicht aus, ganz im Gegenteil. Aber wenn sich etwa Peter der Große weigerte, vor einem Gesandten des französischen Königs den Hut zu ziehen, so zeugt das nicht davon, dass er von der europäischen Zeremonialsprache keine Ahnung hatte, sondern umgekehrt: Er wusste genau, worum es dabei ging; gerade deshalb gab es ja Streit.16 Das galt grundsätzlich auch für das Osmanische Reich. Doch der osmanische Sultan spielte insofern eine Sonderrolle, als er noch im 18. Jahrhundert den Gesandten europäischer Potentaten in der Regel den 14 15 16

So Osterhammel, Jürgen: Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 1998, S. 47. Belege bei Osterhammel 1998 (wie Anm. 14), S. 47f. Hennings, Jan: The Semiotics of Diplomatic Dialogue: Pomp and Circumstance in Tsar Peter I’s Visit to Vienna in 1698, in: International History Review 30 (2008), S. 515–544.

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Umgang von gleich zu gleich verweigerte. Traditionell behandelte er sie in seinem Reich stets wie privilegierte Untertanen: Die „Kapitulationen“, die er mit ihnen abschloss, betrachtete er als Gnadenerweise, nicht als Verträge, ihre Gaben als schuldige Tribute, nicht als freiwillige Geschenke.17 Das heißt, die osmanischen Herrscher verweigerten sich auch noch im 18. Jahrhundert dem Code der souveränen Gleichheit, wie er unter europäischen Potentaten üblich war (was nicht heißt, dass sie diesen Code nicht beherrschten).

Europa war eine völkerrechtliche Normengemeinschaft Europa war schließlich auch eine völkerrechtliche Normengemeinschaft. Eine der elementaren gemeineuropäischen Normen war eben die, dass die Fürsten einander gegenseitig als grundsätzlich gleichberechtigte Akteure behandelten, ungeachtet der feinen Unterschiede im Rang, die sie nach wie vor hochhielten. Doch was genau heißt das, Völkerrechtsgemeinschaft? Zunächst einmal heißt es, dass die europäischen Potentaten durch ein zunehmend dichteres Netzwerk von Verträgen miteinander verknüpft waren, meist flankiert und unterstützt durch Heiratsverbindungen. In diesem Vertragsgeflecht bestand das „positive Völkerrecht“, das von den Gelehrten seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert in dickleibigen Kompendien gesammelt und publiziert wurde. Seit etwa 1690 wurde in diesen Verträgen zunehmend die tranquillitas Europae, die Ruhe und Sicherheit ganz Europas, als Begründungsfigur benutzt und verdrängte allmählich die ‚Christenheit‘ als Bezugsgröße.18 Zuweilen war auch von der libertas Europae als Ziel der Verträge die Rede. Mit Freiheit war dabei allerdings die Freiheit jeder einzelnen Macht von äußeren Einflussnahmen gemeint, also wiederum: ihre Souveränität. Aber alle diese Regeln und Praktiken waren ambivalent: Was die Ruhe Europas herstellen sollte – Beistandsverträge, Allianzen, Heiraten, Gleichgewichtsdoktrin usw. – produzierte zugleich an anderer Stelle neuen potenziellen Konfliktstoff. Die Verträge hatten immer partikularen Charakter; sie brachten keine europäische Friedensgemeinschaft. Friedenssicherung war ganz eindeutig nicht das höchste Ziel dieser Völkerrechtsgemeinschaft. Aber auch wenn Europa keine Friedensgemeinschaft war, so war es doch – gerade deshalb – eine Normengemeinschaft, das heißt, man teilte gewisse normative Vorstellungen davon, wie die allgegenwärtigen Konflikte auszutragen seien. Um ein letztes Mal 17

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Windler, Christian: Interkulturelle Diplomatie in der Sattelzeit: Vom inklusiven Eurozentrismus zur „zivilisierenden“ Ausgrenzung, in: Thiessen u. Windler 2010 (wie Anm. 8), S. 445–470; Kaiser, Wolfgang: Politik und Geschäft: Interkulturelle Beziehungen zwischen Muslimen und Christen im Mittelmeerraum, in: Thiessen u. Windler 2010 (wie Anm. 8), S. 295–318; van den Boogert, Maurits H.: The Capitulations and the Ottoman Legal System. Qadis, Consuls and Beraths in the 18th Century, Leiden, Boston 2005. Duchhardt, Heinz: ‚Europa‘ als Begründungs- und Legitimationsformel in völkerrechtlichen Verträgen der Frühen Neuzeit, in: ders.: Frieden im Europa der Vormoderne. Ausgewählte Aufsätze 1979 –2011. Hrsg. von Martin Espenhorst, Paderborn 2011, S. 111–122.

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Voltaire zu zitieren: Es machte die Republik Europa aus, dass sich alle Potentaten „zu denselben völkerrechtlichen […] Grundlagen“ bekannten, wozu er namentlich zählt: „Sie machen Kriegsgefangene untereinander nicht zu Sklaven“ – für nichtchristliche Kriegsgefangene galt das wohlgemerkt nicht – „und sie achten die Gesandten ihrer Feinde.“19 Über solche traditionellen Grundregeln des Rechts im Krieg hinaus kennzeichnete es Europa als völkerrechtliche Normengemeinschaft, dass man eine sehr elaborierte Theorie vom Recht des Zusammenlebens der Staaten entwickelt hatte, die als kollektiver Legitimations-Code von allen Akteuren gleichermaßen herangezogen wurde. Diese elaborierte Völkerrechtstheorie war eindeutig ein „europäisches Gewächs“.20 Sie war ein Produkt der Natur- oder besser Vernunftrechtslehren, wie sie von Hugo Grotius, Thomas Hobbes und Samuel von Pufendorf bis zu Johann Gottlieb Heineccius und Emer de Vattel entworfen worden waren. Das Vernunftrecht hatte sich als eine Art „politischer Sprache“21 an den europäischen Universitäten etabliert und prägte die Ausbildung der Juristen und politischen Akteure überall in ganz ähnlicher Weise. Von Portugal bis Russland sprachen sie alle dieselbe theoretische Sprache, verwendeten dieselben Kategorien und bedienten sich derselben Methoden der Normbegründung. Das erzeugte zwar wohlgemerkt keine wirkliche Erwartungssicherheit; es hieß nicht, dass die Akteure diese Normen tatsächlich befolgten. Aber sie hielten sie eben doch kontrafaktisch aufrecht und beriefen sich darauf zur Legitimation ihres Handelns. Umgekehrt heißt das: Verstöße gegen diese Normen mussten verschleiert werden. Das „natürliche“ Völkerrecht, das heißt das Recht zwischen den Völkern, wie es sich nach vernunftrechtlichen Grundsätzen darstellte, brachte die Ambivalenz seiner selbst klar auf den Punkt, indem es feststellte, dass Völker oder „Nationen“ sich untereinander im Naturzustand befinden, analog zum hypothetischen Zustand, in dem sich die Individuen befinden, bevor sie den Gesellschaftsvertrag geschlossen und sich eine höchste Gewalt gegeben haben. Das heißt, zwischen Nationen bzw. Staaten gibt es keine übergeordnete Herrschaftsgewalt, keinen neutralen Schiedsrichter und niemanden, der die Verletzung völkerrechtlicher Normen sanktionieren könnte. Doch gerade dieses Kon­ strukt ­ eines zwischenstaatlichen Naturzustands diente dazu, von allen partikularen, gewachsenen, miteinander konkurrierenden Rechtsansprüchen der Potentaten radikal zu abstrahieren und stattdessen aus allgemeinsten, „vernünftigen“ Axiomen mit streng „geometrischer“ Folgerichtigkeit ein allgemeines Normensystem abzuleiten, vor dem alle Völkerrechtssubjekte gleich waren. Das völkerrechtliche Normensystem, wie es etwa Emer de Vattel in seinem Naturrechtsklassiker beschrieben hat, verstand sich selbst gerade nicht als ein System, das auf 19 20 21

Voltaire 1887 (wie Anm. 2), Bd. I, S. 25f. So zuletzt Steiger, Heinhard: Rezension zu: Oxford Handbook of Global International Law, in: Der Staat 53 (2014), S. 121–137, hier S. 136. Im Sinne von Pocock, John G. A.: The Concept of a Language and the métier d’historien: Some Considerations on Practice (1987), in: Ideengeschichte (Basistexte). Hrsg. von Barbara Stollberg-Rilinger, Stuttgart 2010, S. 95–110.

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Europa beschränkt war. Europa kommt als relevante Größe in diesen Naturrechtslehrbüchern gar nicht vor. Das „natürliche“ Völkerrecht erhob vielmehr den Anspruch, für alle Nationen gleichermaßen, für die „société universelle du genre humain“ zu gelten.22 Das Naturrecht extrapolierte seine eigenen Normen und erstreckte sie auf die Weltgesellschaft, das ganze Menschengeschlecht. Gewiss war das eine eurozentrische Perspektive, aber eine, die die außereuropäischen Völker einschloss, ein „inklusiver Eurozentrismus“.23 Man könnte vielleicht sagen: Die aufklärerische Naturrechtslehre entwickelte aus einem europäischen Blickwinkel die Normen, die eine Überwindung dieses europäischen Blickwinkels immerhin ermöglichten. Diese Normen erwuchsen, wie gesagt, aus einem Zustand der faktischen Friedlosigkeit. Wenn es im Zeitalter der Aufklärung überhaupt so etwas gab wie eine politische Einheit Europas, dann war es seine höchst ambivalente Einheit in der Zwietracht. Daraus aber entstand ein abstraktes Normensystem, das universellen Anspruch hatte und alle ‚Nationen‘ strikt gleich behandelte – europäisch zwar in seiner Genese, aber nicht in seiner Geltung.

Literatur Belissa, Marc: Fraternité universelle et intérêt national (1713−1795). Les cosmopolitiques du droit des gens, Paris 1998. Bély, Lucien: La société des princes, XVIe−XVIIIe siècle, Paris 1999. Bély, Lucien: L’Art de la paix en Europe. Naissance de la diplomatie moderne XVIe−XVIIIe siècles, Paris 2007. Burke, Peter: Did Europe Exist Before 1700? In: History of European Ideas 1 (1980), S. 21–29. Burkhardt, Johannes: Die Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit. Grundlegung einer Theorie der Bellizität Europas, in: Zeitschrift für Historische Forschung 24 (1997), S. 509–574. Bußmann, Klaus u. Elke Anna Werner (Hrsg): Europa im 17. Jahrhundert. Ein politischer Mythos und seine Bilder, Wiesbaden 2004. Cosandey, Fanny: Europäische Konstruktion oder Familienstrategien? In: Europa im 17. Jahrhundert. Ein politischer Mythos und seine Bilder. Hrsg. von Klaus Bußmann u. Elke Anna Werner, Wies­ baden 2004, S. 323–332. den Boer, Pim, Heinz Duchhardt, Georg Kreis u. Wolfgang Schmale (Hrsg.): Europäische Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2012. Dethlefs, Gerd: Schauplatz Europa, in: Europa im 17. Jahrhundert. Ein politischer Mythos und seine Bilder. Hrsg. von Klaus Bußmann u. Elke Anna Werner, Wiesbaden 2004, S.149–180. Duchhardt, Heinz: ‚Europa’ als Begründungs- und Legitimationsformel in völkerrechtlichen Verträgen der Frühen Neuzeit, in: ders.: Frieden im Europa der Vormoderne. Ausgewählte Aufsätze 1979– 2011. Hrsg. von Martin Espenhorst, Paderborn 2011, S. 111–122.

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Vattel, Emer de: Le Droit des gens ou principes de la loi naturelle, appliqués à la conduite et aux affaires des nations et des souverains (1758). Das Völkerrecht oder Grundsätze des Naturrechts, angewandt auf das Verhalten und die Angelegenheiten der Staaten und Staatsoberhäupter, dt. Übers. von Wilhelm Euler, Tübingen 1959; vgl. Belissa, Marc: Fraternité universelle et intérêt national (1713–1795). Les cosmopolitiques du droit des gens, Paris 1998. Windler 2010 (wie Anm. 17).

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Barbara Stollberg-Rilinger

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Europa darf sich nicht als Festung entwerfen und muss verstehen, dass es nicht mehr Mittelpunkt der Welt ist. Der Aufstieg reaktionärer und fremdenfeindlicher politischer Parteien, die derzeit überall in Europa punkten, stellt eine immense Herausforderung dar. Diese Gruppierungen in ihre Schranken zu weisen ist das wichtigste Gebot der Stunde, sonst hat Europa als Idee und Praxis keine Zukunft.

Andreas Eckert

Labor der Gewalt? Europäische Imperien und ­koloniale Kriege Kolonialismus und Europa Jürgen Osterhammel hat Kolonialismus mit guten Gründen als ein „Phänomen von kolossaler Uneindeutigkeit“ bezeichnet, das definitorisch nicht zu bändigen sei.1 Und die Geschichte des Kolonialismus war entsprechend keineswegs ein einheitlicher, geradliniger Prozess, der seit der iberischen Landnahme in Mittel- und Südamerika im sechzehnten Jahrhundert unaufhaltsam voranschritt und schließlich zur Zeit des Ersten Weltkriegs seinen Höhepunkt erreichte, als das Festland der Erde etwa zur Hälfte von Kolonien bedeckt war. Der Kolonialismus bestand aus einer Vielzahl von Kolonialismen und entzieht sich mithin allzu simplen Schemata, wie sie auch hierzulande lange für populäre antikolonialistische Theorien von Hobson über Lenin bis hin zum aktivistischen „Tiers-Mondisme“ kennzeichnend waren. Die Errichtung kolonialer Herrschaft war zudem eine langwierige, ungleichmäßige Angelegenheit und durch ein komplexes Konkurrenzgeflecht geprägt, in dem nicht selten Europäer gegen Europäer und Einheimische gegen Einheimische standen. Es gab vielerorts Widerstand gegen die kolonialen Eroberer, aber ebenso Arrangement und Kooperation.2 Kolonialismus war mithin ein europäisches Projekt. Die europäische Moderne ist nur schwer denkbar ohne Kolonialismus und Imperialismus. Europa realisierte sich in der Welt, in der Auseinandersetzung mit anderen Gesellschaften jenseits der eigenen Grenzen. Die europäische Expansion veränderte die Welt und mit 1

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Osterhammel, Jürgen u. Jan C. Jansen: Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 2009, S. 8. Vgl. ferner Cooper, Frederick: Kolonialismus denken. Konzepte und Theorien in kritischer Perspektive, Frankfurt a. M. 2012. Eckert, Andreas: Kolonialismus, Frankfurt a. M. 2006.

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Andreas Eckert

ihr Europa. Sie prägte nicht nur die eroberten und kolonisierten Gebiete in „Übersee“, sondern auch die europäischen Staaten selbst.3 Die Frage nach den Rückwirkungen des kolonialen Projekts auf Europa sowie nach den vielfältigen Verflechtungen zwischen Metropole und Kolonie wird seit geraumer Zeit diskutiert. Diese Verflechtungen sind bisher weniger für den ökonomischen und politischen, als eher für den kulturellen Bereich nachgezeichnet worden. Demnach war Kolonialismus keine Einbahnstraße, auf der kolonisierte Gesellschaften lediglich auf europäische Initiativen reagierten oder bestenfalls kreativ mit ihnen umgingen. Erfahrungen in den Kolonien prägten auf vielfältige Weise die Entwicklungen in Europa selbst. Kultur und Wissenschaft, Formen sozialer Disziplin sowie Diskurse über Sexualität in der europäischen bürgerlichen Ordnung beruhten nicht selten, so die These, auf Modellen und Inspirationen aus den Kolonien. Ein diesbezüglich kleines, aber markantes Beispiel ist das Verfahren der Identitätsfeststellung mit Hilfe eines Abdrucks der Fingerkuppe. Diese Prozedur kam zunächst Ende des 19. Jahrhunderts in Bengalen systematisch zur Anwendung, bevor sie dann auch in Europa gängige Praxis wurde.4 Am intensivsten sind Verflechtungen und Rückwirkungen kolonialer Erfahrungen wohl für das britische Empire untersucht worden. Salman Rushdie hat in seinen „Satanischen Versen“ die eindringliche Formulierung gefunden, dass „das Problem der Engländer darin besteht, dass ihre Geschichte im Wesentlichen in Übersee stattgefunden hat und sie daher ihre Bedeutung nicht verstehen“ könnten.5 Die britische Kolonialgeschichte fand aber nicht nur in „Übersee“, sondern gleichsam auch in Großbritannien selbst statt und hinterließ dort ebenfalls ihre Spuren. Viele Historiker und Kulturwissenschaftler betonen immer wieder, das Empire mit seinen Kolonien habe einen fundamentalen Bestandteil britischer Kultur und nationaler Identität gebildet. Eine vieldiskutierte Studie besagt, dass die imperiale Expansion kein Akzidens des britischen Kapitalismus gewesen sei, sondern geradezu ihre Essenz ausgemacht habe.6 In vielen Bereichen habe die koloniale Erfahrung überdies auf den britischen Alltag zurückgewirkt: Sport, Musik, Wissenschaft, Kinderbücher, Film, Propaganda und Jagd. Eine britische Identität sei erst in bewusster Abgrenzung zum „kolonisierten Anderen“ entstanden.7 Die Rückwirkung der kolonialen Erfahrung ist nicht nur in Großbritannien, sondern auch bei den meisten ehemaligen europäischen Kolonialmächten zu einem wichtigen Thema geworden, das nicht allein die Fachwissenschaft, sondern auch die Öffentlichkeit und gelegentlich die Politik beschäftigt.8 3 4 5 6 7

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Lehning, James R.: European Colonialism since 1700, Cambridge 2013. Vgl. Brons, Franziska: Im Labyrinth der Linien. Zur Geschichte des Fingerabdrucks, in: Gegenworte 20 (2008), S. 40–43. Rushdie, Salman: Die Satanischen Verse, München 1989, S. 337. Cain, Peter J. u. Anthony G. Hopkins: British Imperialism, 2 Bde., London, New York 1993. Vgl. aus der Fülle der einschlägigen Literatur Thompson, Andrew: The Empire Strikes Back? The Impact of Imperialism on Britain from the mid-nineteenth Century, Harlow 2005; Stockwell, Sarah (Hrsg.): The British Empire. Themes and Perspectives, Oxford 2008. Gegenposition bei Porter, Bernard: The Absent-Minded Imperialists. What the British really thought about empire, Oxford 2004. Für Frankreich vgl. etwa Tshimanga, Charles [u. a.] (Hrsg.): Frenchness and the African Diaspora:

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Die Ambivalenz des Kolonialismus Die Frage nach kolonialen Verflechtungen und den Effekten kolonialer Herrschaft auf die Metropole soll im Folgenden knapp am Beispiel der Gewalt im kolonialen Afrika diskutiert werden. Die Geschichte des Kolonialismus ist auch eine Geschichte der Kriege und der Gewalt, oder, in den recht drastischen Worten des Soziologen Trutz von Trotha, „eine Geschichte des okzidentalen Herrschaftsanspruchs auf rauchenden Trümmern ­voller ­Leichenhaufen.“9 Aimé Césaire, der große Dichter der Négritude, äußerte in seinem Mitte der 1950er Jahre publizierten „Discours sur le colonialisme“ den Verdacht, die Weißen könnten Hitler nicht das Verbrechen am Menschen an sich nicht verzeihen, sondern, so Césaire, „dass es die Demütigung des Weißen ist und die Anwendung kolonialistischer Praktiken auf Europa, denen bisher nur die Araber Algeriens, die Kulis in Indien und die Neger Afrikas ausgesetzt waren.“10 Die von Césaire in zornigen Worten beklagte Verharmlosung, gar Negierung kolonialer Verbrechen und Gewalt rüttelte an der verbreiteten Ansicht, die Europäisierung der Erde sei letztlich ein Projekt des Fortschritts gewesen und habe die Kolonisierten vor Schlimmerem bewahrt. Kolonialismus ist seither ideologisch weitgehend geächtet, was die Fortdauer rassistischer Diskriminierung in vielen Regionen der Welt freilich nicht verhinderte. Nostalgisch-paternalistische Verklärungen der kolonialen Herrschaft – „nicht alles war schlecht“ – und handfeste Rechtfertigungen kolonialer Ideologie und Praktiken finden sich in den vergangenen Dekaden überdies immer wieder – vor allem in Bezug auf Afrika. Kolonialismus war charakterisiert durch die ambivalente Beziehung zwischen emanzipatorischem Diskurs und einer von Gewalt, Zwangsarbeit, Rassismus und der Miss­ achtung von Rechten geprägten kolonialen Herrschaftspraxis. Während die koloniale Ära vielerorts und in verschiedenen Phasen von Gewalt und einer Politik des selektiven Terrors gekennzeichnet war und eine gewisse „Kultur des Terrors“ bis zum Ende nicht verschwand, existierte sie in einem sich verändernden Umfeld, in dem Gewalt verurteilt wurde, wenn sie nicht in irgendeiner Weise mit fortschrittlichen Reformen verknüpft werden konnte. Frederick Cooper und Ann Stoler haben auf die Sonderrolle verwiesen, die dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts als einem Zeitraum zukommt, in dem die Kolonialismen Teil einer paneuropäischen Debatte über die Gepflogenheiten „zivilisierter“ Staaten wurden, die eine imperialistische Moral konsolidierte.

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Identity and Uprising in Contemporary France, Bloomington 2010; Cooper, Frederick: Citizenship between Empire and Nation. Remaking France and French Africa, 1945–1960, Princeton 2014; für Deutschland Conrad, Sebastian: Deutsche Kolonialgeschichte, München 2008; Eckert, Andreas u. Albert Wirz: Wir nicht, die anderen auch. Deutschland und der Kolonialismus, in: Jenseits des Euro­ zentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Hrsg. von Sebastian Conrad [u. a.], 2. erw. Aufl. Frankfurt a. M. 2013, S. 506–525. Trotha, Trutz von: Was war Kolonialismus? Einige zusammenfassende Befunde zur Soziologie und Geschichte des Kolonialismus und der Kolonialherrschaft, in: Saeculum 55,1 (2004), S. 49–95, hier: S. 51. Césaire, Aimé: Über den Kolonialismus, Berlin 1968 (frz. Orig. 1955), S. 12.

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Andreas Eckert Vor Ort war dieser „neue“ Imperialismus nicht weniger durch Zwang und Brutalität gekennzeichnet als der alte. Dennoch unternahmen die Machteliten Europas nun große Anstrengungen, um sich gegenseitig zu versichern, dass Zwang und Brutalität keine offe­nen Versuche zur Ausbeutung, sondern vernünftige Anstrengungen zum Aufbau permanenter Strukturen seien: stabile Regierungen, welche die gewalttätige, von Konflikten gekennzeichnete Tyrannei der Gemeinwesen der „Eingeborenen“ ersetzen würden; friedlicher Handel und Lohnarbeit anstelle der bestehenden, von Sklaverei und Raubzügen geprägten chaotischen Verhältnisse; eine komplexe Strukturierung, die verschiedene Gruppen, rassische Identitäten und erlaubte Formen des ­sexuellen und gesellschaftlichen Kontakts definierte und gegeneinander abgrenzte und die beunruhigend instabilen Zustände eines früheren Zeitalters beendete.11

Die Vorstellung von einer Zivilisierungsmission setzte eine auf Konkurrenz und Hie­ra­r­ chien beruhende Weltsicht voraus. Zudem stellten Zivilisierungsdiskurse die gegenwärtigen Verhältnisse in den zu zivilisierenden Gegenden als unglücklich und deswegen ohnehin der Reform bedürftig dar.12 Das grundlegende Problem der Zivilisierungsmission im kolonialen Afrika bestand darin, dass die Andersartigkeit der zu zivilisierenden Völker weder naturgegeben noch unveränderlich war. Ihre Verschiedenheit musste definiert und perpetuiert werden. Soziale Grenzen, die eben noch klar definiert waren, konnten sich verschieben. Das Zivilisierungsprojekt der Kolonialmächte, das die Bevölkerungen der kolonisierten Gebiete zu disziplinierten Bauern oder Arbeitern und zu willfährigen Untertanen eines bürokratischen Staates machen wollte, gab den Anstoß zu einem Diskurs über die Frage, wie viel „Zivilisierung“ diese Untertanen bräuchten und welche politischen Folgen „zu viel Zivilisierung“ haben könnte. Allgemein wollten Kolonialbeamte ihre afrikanischen Untertanen zu „vervollkommneten Eingeborenen, nicht zu Nachbildungen von Europäern“ machen.13 Koloniale Herrschaft in Afrika wie anderswo stand häufig unter Rechtfertigungsdruck. Und selbst wenn viele Verfechter und Akteure des kolonialen Projekts eine Art „natürlichen“ Herrschaftsanspruch verspürten, so sorgten die Kolonisierten ebenso wie Kritiker in der Metropole dafür, dass der Kolonialismus oder zumindest zentrale Aspekte davon, etwa die Gewalt, immer wieder legitimiert werden mussten. Die Zivilisierungsmission als wesentliche Rechtfertigungsrhetorik war charakterisiert durch eine Spannung zwischen Borniertheit und Universalismus, Sendungsbewusstsein und Herrschaftswahn, teleologischer Geschichtsbetrachtung und Entwicklungsnegation, dem Insistieren auf kultureller Überlegenheit und realer Unfähigkeit, der Rhetorik der Assimilation und der Angst, von der Fremde verschlungen zu werden. Die Rechtfertigungen und ihre Widersprüche verweisen auf die Widersprüche des Kolonialismus selbst. Er war weder zivili11

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Stoler, Ann L. u. Frederick Cooper: Between Metropole and Colony: Rethinking a Research Agenda, in: Tensions of Empire. Colonial Cultures in a Bourgeois World. Hrsg. von Frederick Cooper u. Ann L. Stoler, Berkeley 1997, S. 1–56. Grundlegend zum Thema der Zivilisierungsmission: Barth, Boris u. Jürgen Osterhammel (Hrsg.): Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, Konstanz 2005. Stoler u. Cooper 1997 (wie Anm. 11), S. 7.

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satorische Mission noch Zeit des heroischen Widerstands gegen eine von außen aufgezwungene ­Tyrannei, sondern eine Geschichte der Gewalt und Ausbeutung ebenso wie eine Geschichte vielfältiger, widersprüchlicher Auseinandersetzungen und Kooperationen.14

Kolonialismus, Kolonialkrieg und Gewalt: der Genozid in Deutsch-Südwestafrika In der Publikation der Kriegsgeschichtlichen Abteilung des Großen Generalstabs von 1906/07 zum Kolonialkrieg in Deutsch-Südwestafrika hieß es unumwunden: „Wer hier kolonisieren wollte, musste zuerst zum Schwert greifen und Krieg führen – aber nicht mit kleinlichen und schwächlichen Mitteln, sondern mit starker, Achtung gebietender Macht bis zur völligen Niederwerfung der Eingeborenen. Erst dann war eine wirkliche Kolonisierung des Schutzgebietes möglich.“15 Und auch Lothar von Trotha, der als Verantwortlicher für den Genozid an den Herero traurige Berühmtheit erlangte, formulierte ein unmissverständliches Credo: „Gewalt mit krassem Terrorismus und selbst mit Grausamkeit auszuüben, war und ist meine Politik. Ich vernichte die afrikanischen Stämme mit Strömen von Blut und Strömen von Geld. Nur auf dieser Aussaat kann etwas Neues entstehen, was Bestand hat.“16 Krieg und Gewalt waren im kolonialen Kontext in der Regel – und anders, als es die Zitate suggerieren – keineswegs ein Ausdruck der Stärke, sondern der Schwäche der euro­päischen Kolonialherren. Koloniale Herrschaft blieb immer prekär.17 Zugleich war sie hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten ambivalent. Zwar folgten koloniale Gesellschaften grundsätzlich dem Prinzip der Distanz. Die oberen Ebenen des kolonialen Staates und der Wirtschaft waren per definitionem europäisch, und räumliche Segregation, Paternalismus und Herablassung gegenüber einheimischen Kulturen und Versuche der systematischen Ausbeutung von Einheimischen stellten die Regel dar. Gleichwohl wurden diese Grenzen immer wieder durchbrochen, und so lassen sich koloniale Gesellschaften zumindest ansatzweise durch die Gleichzeitigkeit von Trennung und Verbindung charakterisieren. So kamen die Kolonialherren schon aus Kosten­gründen und angesichts der geringen Zahl europäischer Administratoren in den

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Vgl. Cooper, Frederick: Conflict and Connection. Rethinking Colonial African History, in: American Historical Review 99,4 (1994), S. 1516–1545. Zit. nach Gewald, Jan-Bart: The Herero Genocide: German unity, settlers, soldiers, and ideas, in: Die (koloniale) Begegnung. AfrikanerInnen in Deutschland 1880–1945. Deutsche in Afrika 1880–1918. Hrsg. von Marianne Bechhaus-Gerst u. Reinhard Klein-Arendt, Frankfurt a. M. 2003, S. 109–127. Zit. nach Gewald (wie Anm. 15), S. 109. Dazu etwa Reinkowski, Maurus u. Gregor Thum (Hrsg.): Helpless Imperialists. Imperial Failure, Fear and Radicalization, Göttingen 2013.

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meisten Fällen nicht umhin, auf einheimische Kräfte zurückzugreifen, um die Maschinerie des kolonialen Staates in Gang zu halten. Eine Strategie der Kolonialherren, mit den Grenzen ihrer Macht umzugehen, bestand in der Politik des selektiven Terrors und der Vorführung der technischen Überlegenheit, die sich gut am Beispiel der deutschen Kolonien nachzeichnen lässt. „Angesichts knapper Ressourcen ist Gewalt“, schreibt Trutz von Trotha, „unter herrschaftssoziologischen Gesichtspunkten ein sehr ökonomisches Herrschaftsmittel. Gewalt überzeugt.“18 Der euro­päische Anspruch auf das Gewaltmonopol in den Kolonien brachte erst einmal die Gewalt hervor, die er zu beseitigen beanspruchte. Das Massaker erwies sich dabei aus Sicht der kolonialen Eroberer als gleichsam geeignete Form, ihren Anspruch auf Herrschaft zu manifestieren. Vor allem die ersten Dekaden der Kolonialherrschaft waren insbesondere in Afrika durch diese punktuellen Exzesse extremer Gewalt gekennzeichnet. Sogenannte Strafexpeditionen, das Abbrennen der Siedlungen von Dorfgemeinschaften, die als „widerständig“ galten oder sich weigerten, Steuern zu zahlen sowie extrem harte Gerichtsurteile gegen Einheimische charakterisierten des Weiteren das Repertoire der Kolonialherren. Massaker oder deren Androhung standen typischerweise am Anfang der kolonialen Eroberung, aber sie waren auch im weiteren Verlauf fester Bestandteil kolonialer Politik. Von allen kolonialen Kriegen und Massakern19 steht nicht zuletzt der Krieg der deutschen Schutztruppen gegen die Herero und Nama im damaligen Deutsch-Südwestafrika (heutiges Namibia) im Zentrum kontroverser Debatten, und zwar vor allem aus zwei Gründen. Erstens stimmen viele Historiker darin überein, diesen Krieg als den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts zu bezeichnen.20 Und zweitens, sehr viel provokanter noch, haben einige Protagonisten der Debatte Verbindungslinien zwischen Kolonialgewalt und nationalsozialistischer Herrschaft behauptet und dabei Fäden aufgenommen, die sich zum einen auf Frantz Fanon und den bereits zitierten Aimé Césaire, vor allem aber auf Hannah Arendt beziehen.21 Jürgen Zimmerer hat diese These mit dem plakativen Titel „Von Windhuk nach Auschwitz“ zugespitzt und in diesem Zusammenhang argumentiert, dass die Bereitschaft, bestimmte Gruppen von Menschen zu vernichten, als ultimativer

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von Trotha, Trutz: Koloniale Herrschaft. Zur soziologischen Theorie der Staatsentstehung am Beispiel des „Schutzgebietes Togo“, Tübingen 1994, S. 37–44, Zitat: S. 39. Vgl. etwa Klein, Thoralf u. Frank Schumacher (Hrsg.): Kolonialkriege. Militärische Gewalt im ­Zeichen des Imperialismus, Hamburg 2006. Vgl. stellvertretend: Zimmerer, Jürgen u. Joachim Zeller (Hrsg.): Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904–1908) in Namibia und seine Folgen, Berlin 2003. Referenztext ist Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986 (zuerst 1951). Vor allem Jürgen Zimmerer kommt das große Verdienst zu, ausgehend vom Kolonialkrieg in Deutsch-Südwestafrika die Frage nach dem „kolonialen Charakter“ der nationalsozialistischen Kriegsführung auf die Tagesordnung der Geschichtsschreibung zum Nationalsozialismus gesetzt zu haben, die bis dato den Aspekt des Kolonialismus weitgehend ignoriert hatte.

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Tabubruch angesehen werden müsse, der zuerst in den Kolonien Gestalt angenommen und schließlich im Holocaust seine radikalste Ausprägung gefunden habe.22 In den Debatten über die genozidäre Gewalt in der damaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika lassen sich vor allem zwei Stränge unterscheiden. Susanne Kuß hat in e­ iner vergleichenden Untersuchung über „deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschau­ plätzen“ die These vertreten, dass die Art der Kriegsgewalt in den Kolonien vor allem aus den Besonderheiten der Kriegsräume hervorging. Ins Zentrum rückt sie den jeweiligen Raum und die situativen Bedingungen, die in ihrer Deutung den unterschiedlichen Verlauf der Kriege und der Gewaltformen bestimmten.23 Zwar habe es eine auf den Vernichtungsgedanken ausgerichtete Militärdoktrin, habe es Nationalismus und Rassismus als „metropolitanes Marschgepäck“24 gegeben, doch erst im Zusammentreffen mit den jeweiligen Gegebenheiten des Kriegsschauplatzes sei die spezifische Form jedes einzelnen Kolonialkriegs entstanden. Die genozidale Gewalt in Deutsch-Südwestafrika entstand, folgen wir der Autorin, aus der misslungenen Vernichtungsschlacht, auf welche die deutsche Militärdoktrin fixiert war. Aber auch das Faktum, dass Deutsch-Südwestafrika eine Siedlerkolonie war, spielte demnach eine wesentliche Rolle.25 Ein ganz anderes Erklärungsmodell verfolgte hingegen einige Jahre vor der Publikation von Susanne Kuß die amerikanische Historikerin Isabell Hull.26 Sie argumentiert, dass sich in Deutschland spätestens mit dem Krieg gegen Frankreich 1870/71 eine Militärkultur formiert habe, welche die Verselbständigung und Entgrenzung kriegerischer Gewalt, ihre Ablösung von politischen Zielen und selbst dem traditionellen militärischen Ziel, einen Krieg zu gewinnen, in sich barg. Sie ließ, so Hull, lediglich die – physische – Vernichtung des Gegners oder den eigenen Untergang zu. Dieses Potenzial habe sich zunächst im Krieg gegen die Herero entladen; freilich kann Hull im Gegensatz zu Zimmerer keine direkte Verbindung zwischen dem Genozid in Südwestafrika und dem Judenmord der Nationalsozialisten erkennen. Hulls These ist nicht zu Unrecht als eine Revitalisierung der „Sonderwegsthese“ gedeutet worden. Gemäß dieser These, der sich besonders die „kritische Sozialgeschichte“ verpflichtet fühlte, hatten die Strukturen des Deutschen Reiches die Verarbeitung der Industrialisierungs- und Staatsbildungskrisen verhindert und dessen vorindustrielle Eliten mit ihrer Vorliebe für autoritäre Lösungen dem „Radikalfaschismus“ der 1930er Jahre entscheidend vorgearbeitet. Der National­

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Die wesentlichen Aufsätze Zimmerers zu dieser Thematik finden sich in ders.: Von Windhuk nach Auschwitz? Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust, Berlin [u. a.] 2011. Kuß, Susanne: Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen. Eskalation von Gewalt zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Berlin 2010. Kuß 2010 (wie Anm. 23), S. 231. Zum Verhältnis von Siedlungskolonien und Gewalt vgl. Elkins, Caroline u. Susan Pedersen (Hrsg.): Settler Colonialism in the Twentieth Century: Projects, Practices, Legacies, London, New York 2005. Hull, Isabell V.: Absolute Destruction. Military Culture and the Practices of War in Imperial Ger­ many, Ithaca 2005.

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sozialismus erschien aus dieser Sicht „als antimoderner Endpunkt einer verhängnisvollen Sonderentwicklung“.27 Der von Jürgen Zimmerer praktizierte Blick „von Windhuk nach Auschwitz“ kann als eine weitere und besonders markante Wiederauferstehung der Sonderwegsthese im Kontext der Kolonialgeschichte bezeichnet werden. Für die nationale Zuspitzung der These, in der „Tabubrüche“, Karrieren, Institutionen und Geisteshaltungen vom Waterberg in Deutsch-Südwestafrika bis nach Auschwitz reichen, ist der Bezug auf Hannah Arendt jedoch irreführend. In ihrem Buch analysiert sie Antisemitismus, Rassismus und Kolonialismus als europäische, transnationale Phänomene. Sie hebt an keiner Stelle deutsche Kolonialmassaker und -kriege von anderen qualitativ ab. Arthur de Gobineau und Cecil Rhodes, Joseph Conrad und Rudyard Kipling sind bei Arendt wichtiger als Lothar von Trotha. „Die Auflösung der ‚Idee der Menschheit und des gemeinsamen Ursprungs des Menschengeschlechts‘ sowie die Genese des Wunsches nach ‚systematischer Ausrottung ganzer Rassen‘ platziert Arendt in Afrika – nur eben nicht als deutsches, sondern als explizit europäisches Phänomen.“28 Denn die Geschichte des westlichen Kolonialismus ist ein gemeinsames europäisches Erbe, und nicht zufällig ist Joseph Conrads berühmte, ursprünglich für den belgischen Kongo geprägte Chiffre vom „Herz der Finsternis“ zum universell anwendbaren Synonym für koloniale Parallelwelten aus Gewalt und Ausbeutung geworden. Vergleichende Forschungen haben auf zahlreiche Kolonialmassaker des 19. und 20. Jahrhunderts verwiesen, mit denen der Herero-Krieg strukturell weit enger verwandt ist als mit dem nationalsozialistischen Vernichtungskrieg. Dies gilt etwa für die amerikanische Eroberung und Kolonisierung der Philippinen zwischen 1898 und 1902, die durch einen Eroberungsund Vernichtungskrieg gegen eine entlang rassischer Kriterien definierte Zivilisation charakterisiert war.29 Und kurz vor den amerikanischen Verheerungen hatten spanische Truppen zwischen 1895 und 1898 auf Kuba eingeführt, was in den meisten dann folgenden Kolonialkriegen übernommen werden sollte – „die Kriegsführung gegen die Lebensgrundlagen der Zivilbevölkerung, der Versuch, diese von den Kombattanten zu trennen, großangelegte Umsiedlungsprogramme, die Einrichtung von ‚Konzentrationslagern‘, die Misshandlung, Massaker und Tötung durch Vernachlässigung von einer großen Anzahl von Zivilpersonen – im spanisch-kubanischen Fall soll die Zahl der Ziviltoten deutlich

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Welskopp, Thomas: Identität ex negativo. Der „deutsche Sonderweg“ als Metaerzählung in der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft der siebziger und achtziger Jahre, in: Die historische Meister­ erzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945. Hrsg. von Konrad H. Jarausch u. Martin Sabrow, Göttingen 2002, S. 109–139, hier: S. 118f. Gerwarth, Robert u. Stephan Malinowski: Der Holocaust als „kolonialer Genozid“? Europäische Kolonialgewalt und nationalsozialistischer Vernichtungskrieg, in: Geschichte und Gesellschaft 33 (2007), S. 439 – 466, hier: S. 455. Die folgenden Ausführungen basieren weitgehend auf diesem Aufsatz. Schumacher, Frank: „Niederbrennen, plündern und töten sollt ihr“: Der Kolonialkrieg der USA auf den Philippinen (1899–1913), in: Klein u. Schumacher 2006 (wie Anm. 19), S. 109–144.

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über 100.000 gelegen haben.“30 Zu den interessantesten Forschungsfragen gehört in diesem Zusammenhang, inwieweit die europäischen (und anderen) Kolonialmächte in ­Sachen Kolonialkrieg voneinander lernten oder es gar eine Art transkontinentales „koloniales Archiv“ über die Behandlung von Kolonisierten gab, das abgerufen werden konnte. Es war für Kolonialmächte jedenfalls üblich, über den nationalen Tellerrand zu blicken und sich etwa an Praktiken früherer Kriege zu orientieren.31 So war die Errichtung von Konzentrationslagern während des Burenkrieges in Südafrika und des Herero-Krieges in Südwestafrika durch internationale Einflüsse geprägt. Zugleich spielten aber auch strukturelle Gegebenheiten vor Ort, lokale Traditionen und nicht zuletzt imperiale Kulturen ebenso eine Rolle.32

Fazit: von den Kolonien nach Europa? Warum, so fragen Gerwarth und Malinowski mit guten Gründen, sind die Länder mit der längsten und langfristig gewaltreichsten Kolonialtradition wie Großbritannien und Frankreich gerade nicht identisch mit jenen Staaten, die nach dem Ersten Weltkrieg das größte Maß an rassistischer Zerstörung nach innen und außen freisetzten? Warum praktizierte der britische und französische Kolonialismus zwar weit über 1945 hinaus Rassismus und Gewalt und warum bildeten beide Staaten zugleich den politischen Kern der europäischen Demokratien und nicht den des genozidalen Totalitarismus? Kann man die faschistische Gewalt in Europa mit Frantz Fanon als Ersatz für die entfallenen „Gewalttheater“ in den Kolonien erklären? Der Faschismus als nach innen gekehrter Kolonialismus?33 Hannah Arendts Perspektive, dass die von Europa in die außereuropäische Welt getragene Gewaltpraxis, die Entwicklung und praktische Umsetzung rassistischer Theoreme in den Kolonien von Bedeutung für die innereuropäische Geschichte waren, bleibt weiterhin eine Herausforderung. Bei der Ausgestaltung des „gemeinsamen Hauses Europa“ wird sich das „koloniale Erbe“, das stark von Gewalt geprägt ist, nicht in den Keller sperren lassen. Und die bisher zu dieser Thematik weitgehend nationalstaatlich geführten Auseinandersetzungen müssen in europäische Debatten münden, ohne die Bedeutung des Nationalstaats in diesem Kontext zu ignorieren.

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Gerwarth u. Malinowski 2007 (wie Anm. 28), S. 447. Übergreifend zu dieser Thematik: Lindner, Ulrike: Koloniale Begegnungen. Deutschland und Großbritannien als Imperialmächte in Afrika 1880 –1914, Frankfurt a. M. 2011. Vgl. Kreienbaum, Jonas: „Ein trauriges Fiasko“. Koloniale Konzentrationslager im südlichen Afrika, 1900 –1908, Hamburg 2015. Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde, Reinbek bei Hamburg 1966.

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Andreas Eckert

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Labor der Gewalt? Europäische Imperien und ­koloniale Kriege

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Ich wünsche mir ein Europa, das die Realität seiner Politik mit der Rhetorik seiner Wertorientierung besser in Einklang bringt; das zur Zivilisierung des Kapitalismus zwischen dem Marktradikalismus der Amerikaner und dem Staatssozialismus Ostasiens mehr beiträgt als bisher; ein Europa, das neue Wege findet, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und gesellschaftliche Vernunft zu vereinbaren.

Jürgen Kocka

Europa und der Kapitalismus Wer hoffnungsvoll über den „Zukunftsort Europa“ nachdenkt, spricht selten über „Kapitalismus“. Wer über das reiche Erbe Europas referiert und darüber, wie es der Zukunft nützen kann, spricht vermutlich von Aufklärung und moderner Wissenschaft, den Menschenrechten, dem Rechts- und dem Nationalstaat, vom Lernen aus Kriegen, Diktaturen und Genozid, wohl auch von moderner Technik und Industrialisierung, selten aber von Kapitalismus. Durch Kapitalismus definiert sich Europa in den Texten seiner Freunde und Befürworter heute in der Regel nicht. Ich halte das für eine bedauerliche Verkürzung. Mit derselben Berechtigung, mit der sich Europa als Kontinent der Aufklärung deuten lässt, kann man Europa auch als Kontinent des Kapitalismus verstehen – und beides hing überdies zusammen. Im Folgenden möchte ich diese These erläutern.

Kapitalismusdiskurse, Kapitalismuskritik Zunächst: Der Begriff selbst ist ein europäisches Produkt. Die Begriffe „Kapital“ und „Kapitalist“ sind älter, das Substantiv „Kapitalismus“ setzte sich erst nach der Revolution von 1848/49 durch, als Begriff der Kritik in sozialistischen Zirkeln, seit den 1860er Jahren auch als sozialwissenschaftlicher Analysebegriff, jedenfalls im Französischen, Deutschen und Englischen. In Deutschland waren Johann Karl Rodbertus und Albert Eberhard Friedrich Schäffle die Ersten, Karl Marx und Friedrich Engels benutzten das Substantiv anfangs kaum und auch später nur peripher, aber sie schrieben ausgiebig von der kapitalistischen Produktionsweise und prägten damit die Bedeutung auch des Substantivs mit. Bald benutzen Werner Sombart und Max Weber, Rudolf Hilferding und Joseph Schumpeter, im Englischen Thorstein Veblen und John Maynard Keynes den Begriff. Bis zum Ersten Weltkrieg hatte er sich, vielgestaltig und kontrovers, etabliert.

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Jürgen Kocka

Individualisierte Eigentumsrechte, Märkte und Kommodifizierung, Investition, ­Kredit, Profit und Akkumulation, der Gegensatz von Kapital und Arbeit, Ungleichheit, Fabrik­ industrie und Industrialisierung – das waren die wichtigsten Merkmale, die in unterschiedlichen Kombinationen für die Definition benutzt wurden. In Polemik und Analyse war der Kapitalismus-Begriff ein Begriff der Differenz. Er wurde genutzt, um bestimmte Elemente der damaligen Gegenwart zu betonen und meist kritisch zu beleuchten, im Kontrast zu früheren, vorkapitalistischen Verhältnissen, die oft nostalgisch stilisiert wurden, aber auch im Kontrast zu einer vorgestellten besseren Zukunft, damals vor allem einer sozialistischen Zukunft. Der Begriff wurde so definiert, dass er auch zur Analyse von Ansätzen und Wirklichkeiten in frühen Zeiten und anderen Kulturen, die den Begriff selbst noch nicht kannten, verwendet werden konnte. In gewisser Weise ist „Kapitalismus“ bis heute ein Begriff der Differenz geblieben.1 In Europa kam es auch zur ersten grundsätzlichen Rechtfertigung des Kapitalismus. Bis ins 16. und 17. Jahrhundert hatten in den Theologien, Philosophien und Staatstheorien Europas kapitalismusskeptische bis kapitalismusfeindliche Stimmungen vorgeherrscht. Deren wichtigste Wurzel lag in der christlichen Tradition, die für das Gewinnstreben der Kaufleute, die Anhäufung von Reichtum und die Wahrnehmung von Eigeninteressen wenig moralische Anerkennung bereithielt. Die Reformation hat daran nur wenig ge­ ändert. Eine durchgreifende Aufwertung des Kapitalismus ergab sich erst aus dem Geist der Aufklärung. Baron de Montesquieu lobte den „sanften Handel“ („doux commerce“) als zivilisierende Kraft. Bernard de Mandeville, David Hume, Marquis de Condorcet und Adam Smith argumentierten ähnlich. Das allgemeine Wohl, so die Stoßrichtung ihrer Argumente, werde durch die vernünftige Verfolgung von Eigeninteressen gefördert. Der Vorteil des einen müsse nicht der Nachteil des anderen sein. Geschäft und Moral stünden nicht notwendigerweise im Gegensatz zueinander. Der Markt helfe mit, den Krieg der Leidenschaften durch den Kompromiss zwischen den Interessen zu ersetzen. Er fördere Tugenden wie Fleiß und Beharrlichkeit, Rechtschaffenheit und Disziplin – und damit die zivile, die bürgerliche Gesellschaft. Man erwartete nicht nur, dass der Kapitalismus den Wohlstand vermehren, sondern auch, dass er dazu beitragen würde, eine bessere, gerechtere Ordnung des menschlichen Zusammenlebens hervorzubringen. Hundert Jahre später und erst recht heute waren und sind von dieser Utopie des Kapitalismus nur Bruchstücke übriggeblieben. Die einstmals enge Allianz von Aufklärung und Kapitalismus ist in Vergessenheit geraten. Der Glauben an die zivilisierende Macht des Kapitalismus wurde durch das Streben nach Zivilisierung des Kapitalismus mit politischen und sozialen Mitteln ersetzt – oder durch das Streben nach seiner Abschaffung. Diesem Wandel vom Kapitalismuslob zur Kapitalismuskritik lagen säkulare Erfahrungen zugrunde: der Aufstieg des Industriekapitalismus, den Smith noch kaum kannte, 1

Vgl. Hilger, Marie-Elisabeth: Artikel: Kapital, Kapitalist, Kapitalismus, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3. Hrsg. von Otto Brunner [u. a.], Stuttgart 1982, S. 408–442, bes. 410, 433f., ­437–439; Passow, Richard: „Kapitalismus“. Eine begrifflich-terminologische Studie, 2. Aufl. Jena 1927.

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der mit massenhafter Lohnarbeit und großen Unternehmen Marx und Engels als Beobachtungsgrundlage diente und der mittlerweile in großen Teilen des Westens zum Randphänomen geworden ist; die Erschütterung durch kapitalistische Krisen; dann die zum Teil doch sehr innige Verbindung von Kapitalismus und Imperialismus, Kapitalismus und Krieg sowie Kapitalismus und Diktatur im 20. Jahrhundert; wachsende Ungleichheit; innere Veränderungen des Kapitalismus bis hin zum hypertrophen Finanzkapitalismus der letzten Jahrzehnte; zerstörerische Folgen des kapitalistischen Wachstums, die erst in den letzten Jahrzehnten akut geworden sind – bis hin zum bedrohlichen Klimawandel.2 Entsprechend vielgestaltig war und ist Kapitalismuskritik: als Bestandteil rechts­ extremen Protests, in enger Verschmelzung mit Antiliberalismus und Antisemitismus; als Bestandteil christlich-sozialer Kritik an Materialismus und „Vergötzung der Märkte“; als Kern unterschiedlicher Sozial- und Kulturkritik von links, die im 19. und 20. Jahrhundert besonders in ihren sozialistisch-kommunistischen Varianten zur großen intellektuellen und politischen Herausforderung wurde – aber durch das Scheitern des Kommunismus an Glaubwürdigkeit und Tragfähigkeit verloren hat; schließlich auch Kapitalismuskritik als Bestandteil von Imperialismuskritik und postkolonialer Kritik an der westlichen Moderne. Wie immer es um die Bonität einzelner kapitalismuskritischer Argumente stehen mag, und sie waren und sind oftmals hochgradig dubios, sei zweierlei hervorgehoben: Zum ­einen hat Kapitalismuskritik, vor allem, wo sie in sozialen Druck und politische Bewegung übersetzt werden konnte, entscheidend zur Reform und damit wohl auch zum Überleben des Kapitalismus beigetragen: durch Einbettung und Regulierung, durch koordinierte Organisation der Märkte, durch den Aufbau des Sozial- und Interventionsstaats – so im späten 19. und 20. Jahrhundert, dann als Folge der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren und vor allem im dritten Viertel des 20. Jahrhunderts, der goldenen Zeit des organisierten Kapitalismus im Angesicht des Ost-West-Gegensatzes.3 Zum anderen: Die Kritik des Kapitalismus hat sich, mit diesem zusammen, weltweit verbreitet, verändert und vervielfältigt. Dennoch: Mit der möglichen Ausnahme islamischer Gesellschaften scheint auch heute Kapitalismuskritik in Europa tiefer verwurzelt und weiter verbreitet zu sein als in anderen Teilen der Welt. Das spiegelt sich selbst in der Semantik wider. In den USA hat sich in den letzten Jahrzehnten „capitalism“ sehr viel eindeutiger zum politisch relativ neutralen Deskriptions- und Analysebegriff gemausert, während der Begriff im Deutschen, Französischen und Italienischen, wohl auch im Spanischen, weiterhin viele kritische Obertöne mit sich trägt – was stört und fasziniert, aber der Einsicht nicht schaden muss.

2 3

Vgl. Hirschman, Albert O.: Rival Views of Market Society and Other Recent Essays, Cambridge, Mass. 1992, S. 105 –141. Vgl. Kocka, Jürgen: Kritik und Verheißung in der Geschichte des Kapitalismus, in: Merkur 68 (­April 2014), S. 289–298. – Zur rechten Kapitalismuskritik: Muller, Jerry Z.: Capitalism and the Jews, Princeton 2010.

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Jürgen Kocka

Soweit einige Stichworte zu den Diskursen über Kapitalismus: seinen Begriff, seine Rechtfertigung und seine Kritik – als primär europäische Phänomene.

Ein kapitalistischer Kontinent über Jahrhunderte Im Kapitalismus verfügen die wirtschaftlichen Akteure über Rechte, um relativ autonom und dezentral wirtschaftliche Entscheidungen zu treffen. Märkte sind als Mechanismen der Allokation und Koordination zentral; Warenförmigkeit ist für den Kapitalismus typisch, einschließlich der Kommodifizierung der Arbeit und den damit verbundenen asymmetrischen Spannungsverhältnissen zwischen Kapital und Arbeit. Kapital ist zentral, das heißt die Verwendung von Ressourcen zur Investition in der Gegenwart in Erwartung größerer Vorteile in der Zukunft. Dazu gehört die Verwendung von Kredit, der Umgang mit Unsicherheit und Risiko, die Orientierung an Profit und Akkumulation. Wandel, Wachstum und Expansion sind teils Ziele, teils Folgen. So verstanden war Kapitalismus in der europäischen Geschichte frühzeitig präsent, zunächst als mittelalterlicher Kaufmannskapitalismus: zwar ein Minderheitsphänomen, aber mit früh entwickelter Expansionsdynamik vor allem in Richtung Finanzierung von Staatsgeschäften und Organisation des Gewerbes. Die europäische Expansion in die Welt seit Beginn der Neuzeit hatte viele Antriebe, doch die Ressourcen und Ambitionen, die Gier und die Unternehmungslust vor allem westeuropäischer Handels- und Finanzkapitalisten gehörten dazu, in enger Verbindung mit dem Machtstreben der Höfe, der Neugier von Bürgern und der Glaubensgewissheit der Kirchen. Vom 16. bis zum 18. Jahrhundert gewann der Kapitalismus Gestalt, im Überseehandel, in den Kolonien und im Wirtschaftsleben Europas. Auch die moderne Unternehmung entstand. Nach Marx ist der Kapitalismus blut- und schmutztriefend zur Welt gekommen, verbunden mit Gewalt und Unterdrückung. Der Zusammenhang zwischen Kolonialisierung und Kapitalismus ist dafür der klarste Beleg, am kapitalistischen Plantagensystem auf der Basis von Sklavenarbeit und Sklavenhandel lässt es sich zeigen. Gleichzeitig wurden die Niederlande und England nicht nur zu den kapitalistischsten und wohlhabendsten Ländern der Welt, sondern auch zu den zivilgesellschaftlich aktivsten und verfassungsgeschichtlich freiesten. Die Industrialisierung begann in Europa, im 18. Jahrhundert zunächst in England, dann auch auf dem Festland – und zwar in kapitalistischen Organisationsformen, als Industriekapitalismus und auf der Grundlage weit zurückreichender kapitalistischer Traditionen. Vor allem der Industrialisierung mit ihren technisch-wissenschaftlich-organisatorischen Innovationen und der von ihr ausgehenden gesellschaftlich-kulturellen Modernisierung verdankten die Europäer die weitgehende Überwindung der jahrhundertealten Not, die Verlängerung ihres Lebens, wachsenden Konsum und immensen Zuwachs an Lebensqualität und Fortschritt (und zwar in allen Schichten der Gesellschaft, wenngleich ungleich verteilt). Der Industrialisierung verdankten die Europäer ihre wirtschaftliche, militärische und politische Überlegenheit, ihre Macht und ihre Ausstrahlung, ihre Führungsrolle in

Europa und der Kapitalismus

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der Welt bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Es ist nicht vorstellbar, dass diese Industrialisierung ohne die grenzenlose Dynamik des Kapitalismus – also in nicht-kapitalistischen Ordnungsformen – hätte stattfinden können. Über die Jahrhunderte war Europa nicht nur der kriegerischste, sondern auch der kapitalistischste Kontinent. Die Literatur über die Ursachen füllt Bibliotheken. Klar ist, dass der Aufstieg des Kapitalismus über die Jahrhunderte maßgeblich von nicht-ökonomischen Faktoren abhing, vor allem von Politik und Recht, von Herrschern und Staaten, ihrer Vielfalt und Konkurrenz, ihren Kriegen und ihrem Finanzbedarf. Dass die europäische Geschichte, anders als die chinesische, nicht unter dem Dach eines Reiches, sondern im „Geschiebe und Gedränge“ miteinander ringender, sich gegenseitig bedrohender, voneinander lernender politischer Einheiten verlief, war ungemein wichtig. Die Verfasstheit der Politik fiel ins Gewicht. Die Geschichte der Staatsbildung und die Geschichte des Kapitalismus sind in Europa aufs engste verflochten, der früh entstandene Finanzkapitalismus diente als Scharnier. Staat und Markt, aber auch Gewalt und Geschäft waren engstens verflochten. Anderes war ebenfalls wichtig. In jüngster Zeit hat man zum Glück gelernt, die Geschichte der Wirtschaft und die Geschichte des Wissens enger aufeinander zu beziehen. Kapitalismus hatte nie nur mit Habgier und Machtgier, vielmehr auch mit Neugier zu tun. Und das Verhältnis von Religion und Kapitalismus bleibt auf der Tagesordnung. Die Weber-These zum Zusammenhang von Ethik des Protestantismus und Geist des Kapitalismus bleibt kontrovers, nicht hinreichend belegt, war wohl selbst Teil eines protestantischen Vorurteils im ausgehenden Kulturkampf des späten 19. Jahrhunderts. Aber sie ist auch nicht tot. Dass es Zusammenhänge zwischen Religion und Wirtschaft gab, ist außerordentlich wahrscheinlich, wenn man bedenkt, wie ausgeprägt die Frömmigkeit der Europäer über die Jahrhunderte gewesen ist. Um den Aufstieg, den Sieg und die inneren Widersprüche des Kapitalismus in Europa zu verstehen, muss man die Geschichte Europas als Ganze in den Blick nehmen. Aber nicht jetzt.4

Kapitalismus und europäische Integration Wenn man die jüngste Geschichte Europas fokussiert, entdeckt man die fortwirkende „Kulturbedeutung“ des Kapitalismus. Er prägt europäische Geschichte weiterhin. Ich möchte dies abschließend in drei Schritten an der Geschichte und Gegenwart der europäischen Integration verdeutlichen. 1. Blicken wir auf die Bedingungen und Ursachen, die den europäischen Integrationsprozess in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren auf den Weg gebracht haben. Sicher, da waren auch idealistische Hoffnungen und der Versuch, aus der Geschichte der vorangehenden Katastrophen zu lernen und ihre Wiederkehr zu vermeiden. Aber zu

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Als Überblick Kocka, Jürgen: Geschichte des Kapitalismus, München 2013.

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Jürgen Kocka

konkreten Schritten in Richtung europäischer Einigung kam es erst mit dem beginnenden Kalten Krieg 1947, als die amerikanische Politik das containment der Sowjetunion als eines ihrer Hauptziele formulierte und in diesem Zusammenhang für die ökonomische Stärkung Westeuropas und seine Einigung eintrat, als Bollwerk gegen den weiteren Vormarsch des Kommunismus – man kann auch sagen: zur Verteidigung des Kapitalismus. Der zu dieser Strategieänderung gehörende Marshallplan verpflichtete die Empfängerländer zur institutionalisierten Kooperation. In der Europäischen Zahlungsunion wurden der Zahlungsverkehr und der Handel zwischen ihnen multilateral organisiert. Als Anpassung an diese Kursänderung der Amerikaner gab die französische Politik das Ziel auf, Deutschland aus Angst vor erneuter Revanche dauerhaft schwach und zu diesem Zweck die Ruhr und das Saargebiet unter eigener Kontrolle zu halten. Erst jetzt setzten sich Monnet und Schumann für die Zusammenlegung der deutschen und französischen Montanindustrie und ihre Kontrolle durch eine internationale Behörde ein, an der sich neben Frankreich und Deutschland auch die Benelux-Länder und Italien beteiligten. Es entstand die Montanunion oder Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die in den Römischen Verträgen von 1957 als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) ausgebaut und verfestigt wurde. Als Ziel erklärte die Präambel eine „immer engere Union“. Der Einigungsprozess brachte Markt und Staat, Kapitalismus und politische Koordination in spezifischer Weise zusammen: einerseits als Bekräftigung des Marktprinzips, der Konkurrenz, des Freihandels, andererseits aber mit Elementen politischer Planung, behördlicher Regulierung und sozialpolitischen Ausgleichs, mit vielen Räten, Kommissionen, Behörden und Vorschriften. Das war das Gegenteil von „neoliberal“, das war ein sozialstaatlich gezähmter „organisierter Kapitalismus“, dessen Hoch-Zeit beiderseits des Atlantiks nach dem Zweiten Weltkrieg begann und in den Deregulierungen der späten 1970er und 1980er Jahre zu Ende gehen sollte. Für diese Art der europäischen Einigung gab es viel Unterstützung durch die Interessenvertretungen aus Industrie, Handel und Landwirtschaft. In ihren Grundlinien war die EWG – und blieb die EU – ein Kind des organisierten, nicht des marktradikalen Kapitalismus.5 2. Als 1989/90 das kommunistische Lager kollabierte, stellte sich die damals aus zwölf Mitgliedern bestehende Europäische Gemeinschaft sehr rasch auf eine rapide Erweiterungspolitik ein, auch gegenüber zwölf Beitrittsländern in Ostmittel- und Osteuropa, die 2004 bzw. 2007 in die EU aufgenommen wurden. Allen Beteiligten war klar, dass die EU sich dadurch eine erhebliche Last aufbürdete, ihre eigene Heterogenität dramatisch erhöhte und Länder aufnahm, die nicht nur ökonomisch rückständig waren, sondern ­deren politische Kultur zum Teil von rechtsstaatlich-demokratischer Praxis weit entfernt war. Warum tat sich die EU das an? Es gab starke stabilitäts-, außen- und militärpolitische Motive. Die Länder selbst wollten es und waren bereit, sich dafür zu verändern. Aber es gab auch gewichtige ökonomische Interessen.

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Brunn, Gerhardt: Die Europäische Einigung von 1945 bis heute, 2. Aufl. Stuttgart 2009.

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Unmittelbar nach der Öffnung der Grenzen 1989/90 waren massenhaft westeuropäische und nordamerikanische Unternehmen, multinationals, Banken, Handelsketten und Dienstleister in die Region geströmt. Ihre Hoffnung richtete sich auf neu zu erschließende Märkte wie auf die Nutzung wohl ausgebildeter, wenig anspruchsvoller, billiger Arbeitskräfte in Unternehmen und Filialen, die man rasch errichten oder aus dem Westen dorthin verlegen würde. Während die ökonomischen Großmächte USA und Japan ihre „Hinterhöfe“ mit Potenzialen billiger Arbeitskräfte in Lateinamerika und Asien seit Langem besaßen, musste die EU lange darauf verzichten und glich diesen Nachteil jetzt aus. Der dynamische Kapitalismus der EU wirkte als Treibsatz ihrer Osterweiterung.6 3. Schließlich ein Blick auf die gegenwärtige Krise der europäischen Integration. Auch wenn die unmittelbare Gefahr des Zerfalls der Euro-Zone überwunden zu sein scheint, die Konjunktur wieder angelaufen ist und die Sorgenkinder an der südlichen und westlichen Peripherie ihre Überschuldungskrise in den Griff zu bekommen scheinen, sitzt die Verunsicherung tief, ist die Enttäuschung oder Verärgerung über Europa in den Geber- und Nehmerländern aus unterschiedlichen Gründen ausgeprägt und sind im politischen Raum Anti-EU-Strömungen aktiv, die verschiedene Ursachen haben (Immigration!), aber ohne die Erfahrung der jüngsten Finanz-, Überschuldungs- und Eurokrise sicherlich schwächer wären. Diese Finanz-, Überschuldungs- und Eurokrise aber resultiert zum erheblichen Teil aus der Krise des globalen Kapitalismus. Was immer verschärfend hinzugekommen ist, im Kern war diese der Kollaps eines seit den 1970er Jahren gefährlich deregulierten, überdehnten, verselbstständigten, hochgradig spekulativen, zunehmend digitalisierten Finanzkapitalismus, der mit seiner Aushöhlung des Haftungsprinzips und seiner eklatanten Kurzatmigkeit auch Grundprinzipien beschädigt, die den Kapitalismus einstmals erst stark gemacht haben. Nach dem problematischen Grundsatz „too big to fail“ übernahmen überall öffentliche Hände den Schaden. Das hat nicht nur Prinzipien der öffentlichen Moral beschädigt und Systemkritik verstärkt, sondern auch zur sprunghaften Erhöhung der Staatsverschuldung geführt, auch in zahlreichen EU-Ländern. Aus der Finanz- entwickelte sich eine Verschuldungskrise, die allerdings auch andere Ursachen hat und überdies Fehlkonstruktionen ans Tageslicht zerrt, die die Integration – Währungs- ohne Fiskalunion! – seit Einführung des Euro belasten. Die Problematik ist keineswegs überwunden.7 Die kurzen Blicke auf drei Stationen der europäischen Integrationsgeschichte sollten nicht belegen, dass es sich bei den Entscheidungen zugunsten der europäischen Integration im Kern um ökonomische Entscheidungen gehandelt hat oder um Ergebnisse ökonomischer Instrumentalisierung der Politik. Das wäre falsch, vielmehr handelte es sich durchweg um politische und ökonomische Entscheidungen in engstem Gemenge. Doch gezeigt werden sollte, wie parallel und verzahnt die Geschichte des Kapitalismus und 6 7

Berend, Ivan T.: From the Soviet Bloc to the European Union. The Economic and Social Transformation of Central and Eastern Europe since 1973, Cambridge 2009, S. 123–131. Vgl. ders.: Europe in Crisis. Bolt from the Blue? New York 2013.

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Jürgen Kocka

die Geschichte Europas in puncto Integration verlaufen – von der Grundsteinlegung in einer Phase des aufsteigenden organisierten Kapitalismus über das Zusammenspiel von kapitalistischer Dynamik und Osterweiterung bis hin zur inneren Verknüpfung der Krise des deregulierten Finanzkapitalismus mit der Krise der europäischen Integration heute. Man wird diese – die europäische Krise – nicht lösen können, ohne jene – die Krise des Kapitalismus – in den Griff zu bekommen. Ansätze sind auf dem Weg. Ob sie zielführend sind, ist offen. Es wäre aber nicht das erste Mal, dass aus einer Krise der Integration ihre Vertiefung hervorginge.

Zwischen Marktradikalismus und Staatskapitalismus Es gibt nicht den einen europäischen Kapitalismus, sondern mehrere. Aber im Norden und in der Mitte des Kontinents – in Skandinavien und Deutschland, Österreich und den Niederlanden, mit Abstrichen auch in Frankreich – hat sich bei allen Unterschieden im Detail die Variante eines organisierten Kapitalismus herausgebildet und trotz Abstrichen gehalten, der in der Struktur der EU ein Spiegelbild besitzt und an ihr zusätzlichen Halt findet. Diese Form des Kapitalismus unterscheidet sich vom marktradikalen Modell der Anglo-Amerikaner durch stärkere Kooperation zwischen den Unternehmen, mehr staatliche Regulierung, einen stärker ausgebauten Sozialstaat, ausgeprägte kollektive Interessenvertretung und Aushandlungsprozesse, weniger Ungleichheit und – insgesamt – viel Organisation. Dieser kontinentaleuropäische Typ des koordinierten oder organisierten Kapitalismus unterscheidet sich aber auch scharf vom Typus des Staatskapitalismus, wie er in Ostasien, Russland und anderswo in unterschiedlichen Formen zu beobachten ist, und zwar durch deutlich mehr Marktautonomie und schärfere Begrenzung der staatlichen Eingriffsmöglichkeiten im Rechts- und Verfassungsstaat, durch zivilgesellschaftliche Dynamik und Demokratie. 8 Die Unterschiede zwischen den genannten drei Typen des Kapitalismus sind seit den 1970er Jahren gewachsen. Globalisierung bedeutet nicht Konvergenz. Es gibt weitere Typen in Europa und in der Welt, ich gehe hier darauf nicht ein. Während systemische Alternativen zum Kapitalismus nicht wirklich erkennbar sind, nimmt seine innere Vielgestaltigkeit zu. Die Diskussion um die Zukunft des Kapitalismus ist in vollem Gang.9 Seine Probleme sind groß, am größten wohl der sich abzeichnende Klimawandel, der mir aber durch mehr verursacht zu sein scheint als durch den Kapitalismus. Es ist klar, dass Kapitalismus 8

9

Hall, Peter A. u. David Soskice (Hrsg.): Varieties of Capitalism. The Institutional Foundations of Comparative Advantage, Oxford 2001; Fulcher, James: Kapitalismus, 2. Aufl. Stuttgart 2011, S. 89– 134; Winkler, Heinrich August (Hrsg.): Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen und Anfänge, Göttingen 1974. Zuletzt Wallerstein, Immanuel [u. a.]: Does Capitalism Have a Future? Oxford 2013; Streeck, Wolfgang: How Will Capitalism End? In: New Left Review 87 (2014), S. 35–64.

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unter sehr unterschiedlichen sozialen und politischen Verhältnissen florieren kann. Diese sind gestaltbar. Weltweit gültige Rezepte kann es nicht geben. Doch der kontinentale Typus des organisierten Kapitalismus scheint mir trotz vieler innerer Probleme eher als andere geeignet, eine lebensfähige neue Balance zwischen Markt und Staat hervorzubringen – und zwar im Sinn gegenseitiger Begrenzung wie gegenseitiger Verschränkung von Marktkräften und Politik; vielleicht auch ein Kapitalismus mit kontrollierterem Wachstum; ein System, das der kapitalistischen Logik Raum gibt und sie zugleich begrenzt, durch Einbettung in nicht-kapitalistische Widerlager, die erneut an Boden gewinnen könnten. Entsprechende Experimente werden angestellt, entsprechende Tendenzen sind auf dem Weg. Gerade auch in Europa.

Literatur Berend, Ivan T.: From the Soviet Bloc to the European Union. The Economic and Social Transformation of Central and Eastern Europe since 1973, Cambridge 2009. Berend, Ivan T.: Europe in Crisis. Bolt from the Blue? New York 2013. Brunn, Gerhardt: Die Europäische Einigung von 1945 bis heute, 2. Aufl. Stuttgart 2009. James Fulcher: Kapitalismus, 2. Aufl. Stuttgart 2011. Hall, Peter A. und David Soskice (Hrsg.): Varieties of Capitalism. The Institutional Foundations of Comparative Advantage, Oxford 2001. Hilger, Marie-Elisabeth: Artikel: Kapital, Kapitalist, Kapitalismus, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3. Hrsg. von Otto Brunner [u. a.] Stuttgart 1982, S. 339–454. Hirschman, Albert O.: Rival Views of Market Society and Other Recent Essays, Cambridge, Mass. 1992. Kocka, Jürgen: Geschichte des Kapitalismus, München 2013. Kocka, Jürgen: Kritik und Verheißung in der Geschichte des Kapitalismus, in: Merkur 68 (2014), S. 289–298. Muller, Jerry Z.: Capitalism and the Jews, Princeton 2010. Passow, Richard: „Kapitalismus“. Eine begrifflich-terminologische Studie, 2. Aufl. Jena 1927. Streeck, Wolfgang: How Will Capitalism End? In: New Left Review 87 (2014), S. 35–64. Wallerstein, Immanuel [u. a.]: Does Capitalism Have a Future? Oxford 2013. Winkler, Heinrich August (Hrsg): Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen und Anfänge, Göttingen 1974.

2. Europäische Zukunftsorte

Mein Zukunftsort ist die Europäische Idee.

Holm Sundhaussen

Das osmanische Sarajevo: Multikulturalität ­zwischen Toleranz und Unduldsamkeit Sarajevo als Erinnerungsort Das heutige Sarajevo ist keine Metropole. Mit knapp 300.000 Einwohnern ist es nicht besonders groß und mit 550 Jahren auch nicht sehr alt. Doch Sarajevo hat etwas Besonderes: Es ist eine der wenigen osmanischen Stadtgründungen im Balkanraum und die einzige Stadt in der Region, die ihr osmanisches Erbe bis zur Gegenwart immer wieder rekonstruiert und bewahrt hat. In dieser Hinsicht ist Sarajevo einzigartig. Und die Stadt ist einzigartig, was das jahrhundertelange Zusammenleben von vier Religionsgemeinschaften betrifft (Muslime, Orthodoxe, Katholiken und sephardische Juden). Das findet man kaum anderswo in Europa, jedenfalls nicht über so einen langen Zeitraum.1 Im Folgenden geht es um die Wahrnehmung Sarajevos, um die Deutung dessen, wofür die Stadt steht oder angeblich steht. Ich konzentriere mich dabei auf die osmanische Zeit (und lasse hier die jüngste Vergangenheit, die Belagerung der Stadt während des Bosnienkrieges, außer Betracht). Sarajevo ist nicht nur eine Stadt, sondern ein Erinnerungsort, – ein Fixpunkt in der Vergangenheit, auf den sich das kulturelle Gedächtnis ausrichtet. Während viele andere Städte im Balkanraum wie Athen, Belgrad, Sofia usw. nach der Befreiung von osmanischer Herrschaft mehr oder minder radikal entosmanisiert wurden, hat Sarajevo sein osmanisches Vermächtnis bewahrt. Es bildet den Kern des Erinnerungsorts. Was später hinzukam – während der österreichisch-ungarischen Periode (1878–1918) sowie im ersten und zweiten Jugoslawien (1919–1991) – spielt nur eine nachgeordnete Rolle. Das gilt auch für das Attentat von 1914, das zwar in der interna­ tionalen Erinnerung untrennbar mit Sarajevo verbunden ist, aber mit der Stadtgeschichte wenig zu tun hat. Anders verhält es sich mit dem von 1992 bis Anfang 1996 belagerten Sarajevo, das zu ­einem zweiten Erinnerungsort geronnen ist. Dieser zweite Erinnerungs-

1

Die Ausführungen stützen sich auf mein Buch: Sarajevo. Die Geschichte einer Stadt, Wien [u. a.] 2014. Die folgenden Anmerkungen beschränken sich auf den Nachweis von Zitaten. Das Literaturverzeichnis am Ende des Beitrags enthält eine Auswahl von Werken zur Geschichte Sarajevos von seiner Gründung bis zur Gegenwart.

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Holm Sundhaussen

Abb. 1  Blick auf Alifakovac mit Inat kuća, © Holm Sundhaussen

ort steht in direkter Verbindung mit dem ersten, ist aus ihm hervorgegangen und bildet eine Einheit mit ihm. Im Zentrum aller Debatten über Sarajevo seit anderthalb Jahrhunderten steht die osmanische („türkische“) Vergangenheit: entweder als etwas, das es zu bewahren und zu pflegen oder als etwas, das es zu überwinden, zu eliminieren gilt. Für die einen ist das osmanische Erbe ein kulturgeschichtliches Denkmal, ein Kunstwerk, für die anderen ein islamisches, „asiatisches“ Erbe, das Tyrannei, Fremdherrschaft und Rückständigkeit symbolisiert – ein Unort. Dem post-imperialen und post-kolonialen „Sodom und Gomorra des Serbentums“2 steht das „Jerusalem Europas“3 gegenüber: Sarajevo als Stadt der Vielfalt und Offenheit sowie einer in Jahrhunderten gewachsenen Multikulturalität. Und wenn es so etwas gibt wie den „Genius Loci“, über den schon antike Schriftsteller räsoniert haben, dann hat er im Fall Sarajevos etwas mit dieser traditionsreichen Vielgestaltigkeit zu tun. Sie hat das Äußere der Stadt geprägt. Ob und in welcher Weise sie nach innen gewirkt hat, ist schwerer zu beantworten. Dass Menschen eine Stadt prägen, versteht sich von selbst, aber geht es auch umgekehrt? Hat der städtische Raum mit seiner Ausstrahlungskraft, seiner Aura, Einfluss auf die Menschen, die in diesem soziokulturellen Raum leben, sich darin bewegen und agieren – auf ihre Verhaltensweisen, gar auf ihre 2

3

Zitiert nach Hadžihasanović, Aziz: Sarajevo – istine i mitovi: o nekim mistifikacijama tzv. turske ere grada (Sarajevo – Wahrheiten und Mythen: über einige Mystifikationen der sog. türkischen Ära), Sarajevo 2001, S. 9, 96 u. passim. Koštović, Nijaza: Sarajevo: Evropski Jeruzalem, Sarajevo 2001.

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Abb. 2  Rekonstruktion des osmanischen Sarajevo: Modell im Brusa-Bezistan, © Holm Sundhaussen

Wertvorstellungen? Moscheen, Kirchen und Synagogen gehören seit Jahrhunderten zum äußeren Erscheinungsbild Sarajevos und repräsentieren dessen vielschichtige ­soziale Ordnung. Verhalten sich Menschen, die in einer solchen Umgebung aufgewachsen sind und sich darin heimisch fühlen, anders als Menschen in einer kulturell homogenen Umgebung? Sind Gebäude, Plätze, Straßen ihrerseits „Akteure“, wie einige Stadtforscher behaupten? Oder handelt es sich um bloße Mystifikationen? Von seiner Gründung im Jahr 1462 bis zum Berliner Kongress 1878, als es unter österreichisch-ungarische Verwaltung kam, repräsentierte Sarajevo den osmanischen Stadttypus par excellence, der sich nicht nur äußerlich – in der Topografie des städtischen Raums und dem Fehlen von Stadtmauern –, sondern auch in der Organisation und Zusammensetzung der Stadtbevölkerung grundsätzlich von den Städten in Mittel- und Westeuropa unterschied. Köln, Frankfurt oder Hamburg auf der einen und Sarajevo auf der anderen Seite verkörperten gänzlich andersartige „Welten“, die sich nur unvollkommen mit Begriffen wie „Okzident“ und „Orient“ beschreiben lassen.

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Religiöse Parallelgesellschaften Wie sich das Nebeneinander, Miteinander oder Gegeneinander der vier in Sarajevo vertretenen Religionsgemeinschaften in früh- und mittelosmanischer Zeit gestaltete, lässt sich bestenfalls in Umrissen rekonstruieren. Quellen zur Alltagsgeschichte sind bis ins 18. Jahrhundert hinein rar. Wie in anderen osmanischen Städten, so bestand auch in ­Sarajevo eine klare Trennung zwischen dem Geschäftsviertel (der čaršija), wo Religion und ethnische Zugehörigkeit kein Exklusionskriterium darstellten, und den Wohnvierteln (mahale), die sich entsprechend dem Glaubensbekenntnis der Bewohner zusammensetzten. Das Osmanische Reich war bekanntlich nicht auf Integration der verschiedenen Bevölkerungsgruppen angelegt, sondern auf deren Segregation. Religionsausübung, Wohnen, Familien- und Privatrecht, Bildungswege sowie intellektuelle Diskurse waren weitgehend getrennt. Nur im Geschäftsleben wurden die Grenzen überwunden. Von wechselseitigen Besuchen, gemeinsamen Feiern und interreligiösen Begegnungen, wie sie aus dem 20. Jahrhundert bekannt sind, konnte im alten Sarajevo wohl keine Rede sein, damit auch nicht von Interkulturalität im heutigen Sinn. Auch die jeweiligen „hommes de lettres“ der Religionsgemeinschaften hatten kaum geistigen Kontakt miteinander. Sie bewegten sich in unterschiedlichen Netzwerken und Kommunikationsräumen, die oft weit über Bosnien und das Omanische Reich hinausreichten. Ihre Mobilität war erstaunlich. Aber ihre andersgläubigen Nachbarn vor Ort kannten sie nicht. Jedenfalls nicht wirklich (doch man grüßte sich). In ihren zumeist religiös konnotierten Texten bedienten sich die Gelehrten je nach Glaubensgemeinschaft unterschiedlicher Schriftsprachen und Alpha­ bete (Osmanisch-Türkisch, Arabisch, Persisch, Bosnisch mit arabischer Schrift, Bosnisch mit kyrillischer Schrift, Lateinisch, Kirchenslawisch, Hebräisch und Judenspanisch mit hebräischer Kursivschrift). Und obwohl fast alle dieselbe Alltagssprache (Bosnisch) benutzten oder zumindest verstanden (wenn auch nicht lesen und schreiben konnten), ­waren die Kommunikationsbarrieren auf der Ebene der Hochkultur kaum zu überwinden – nicht nur wegen des Sprachbabylons, sondern auch und vor allem kulturell. Ein Angehöriger der ulema (der islamischen Rechts- und Religionsgelehrten) in Sarajevo konnte mühelos in einen Dialog mit seinesgleichen in Istanbul, Mekka oder Aleppo treten, aber nicht mit einem gebildeten Christen oder Juden in Sarajevo. Dies gilt auch noch für das 19. Jahrhundert, wie der von einer kroatischen Osmanistin ausgewertete Nachlass von Muhibbi, eines Kadis am Scheriatsgericht in Sarajevo, geradezu exemplarisch zeigt. Muhibbi (ca. 1788–1854) war Angehöriger der ulema und eines Derwischordens. Wo immer er in den Städten des Osmanischen Reiches oder als Pilger in Mekka mit Gleichgesinnten zusammenkam, fühlte er sich zuhause. Seine Welt war die Gemeinschaft der Muslime, die umma. Doch zu den Bildungseliten der Orthodoxen, Katholiken oder Sepharden in Sarajevo scheinen keine privaten Kontakte bestanden zu haben, obwohl Muhibbi als Richter beruflich auch mit Christen und Juden zu tun hatte. Die vier Religionsgemeinschaften in Sarajevo stellten das dar, was wir heute mit dem Begriff „Parallelgesellschaften“ etikettieren, sofern man den polemischen Subtext außer Acht lässt. Die Einwohnerschaft der Stadt war multireligiös und multikulturell – eine

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Vielfalt, die gewollt war und geschätzt wurde. „Parallelgesellschaften“ bedeutet nicht, dass es keine Gemeinsamkeiten gab. Ganz im Gegenteil! In der Alltagskultur gab es viele Ähnlichkeiten, Synkretismen und Hybriditäten (worauf ich jetzt aber nicht eingehen kann). Was die Menschen trennte, waren die Hochkulturen, die damit verbundene Hierarchisierung der Religionen, die Unterschiede in der Privilegierung der Religionsgruppen und im Steuersystem. Über Konflikte zwischen den Religionsgemeinschaften in der Stadt gibt es bis ins 19. Jahrhundert hinein kaum Informationen. Entweder gab es sie nicht, oder sie galten nicht als erwähnenswert, oder die entsprechenden Dokumente gingen verloren. Dennoch kam es gelegentlich zu Zwischenfällen: 1521, zu Beginn der Statthalterschaft Gazi Husrev-begs, des mit Abstand bedeutendsten Stifters von Sarajevo, wurde der Provinzial des bosnischen Franziskanerordens, Stjepan Vučilić, sowie zehn Fratres verhaftet. Nachdem die Ordensbrüder ihrem Provinzial zur Flucht verholfen hatten, wurden sie in Sarajevo 1523 zum Tode verurteilt und hingerichtet. Der Orden betrachtete sie als ­Opfer religiösen Hasses (in odium religionis occisi).4 Diese religionskämpferische Deutung steht im Widerspruch zu allem: zur osmanischen Religionspolitik, zu den Zu­ sicherungen, die Sultan Mehmed II. („der Eroberer“) 1463 den bosnischen Franziskanern gegeben hatte und zum Verhalten Husrev-begs, der als religiös tolerant galt und selbst Kontakte zu Katholiken unterhielt. In einer Anordnung von 1532 bestätigte Husrev-beg allen Bewohnern Sarajevos die Freiheit ihres Glaubens. Hintergrund der erwähnten Tragödie war die Tatsache, dass die Franziskaner in Fojnica und Visoko an ihren Klöstern Umbauten ohne Genehmigung vorgenommen und dass sie dem Provinzial zur Flucht verholfen hatten. Mit Religionshass hatte es nichts zu tun. Gegen die These vom Religionshass spricht auch die Errichtung einer orthodoxen Kirche und einer Synagoge in Sarajevo. Die älteste Kirche in der Stadt ist die Alte ortho­ doxe Kirche bzw. die Kirche der Hl. Erzengel Michael und Gabriel in der Nähe der čaršija. Nach der Volksüberlieferung soll sie zur Zeit Gazi Husrev-begs entstanden sein. Aber die Entstehung gibt viele Rätsel auf. Da nach islamischem Recht keine neuen Kirchen gebaut, sondern nur bestehende repariert werden durften, müsste die Alte orthodoxe Kirche bereits vor der osmanischen Eroberung (1463) bestanden haben. In einem Erlass der Hohen Pforte vom November 1729 wird der Wiederaufbau des Gotteshauses, das fünf Jahre zuvor völlig abgebrannt war, in der Tat mit dem Argument erlaubt, die Kirche habe bereits zum Zeitpunkt der osmanischen Eroberung existiert. Aber wie erklärt sich dann, dass sich davon keine Spur in den erhaltenen Quellen findet? Vielleicht stammte die Kirche tatsächlich aus vorosmanischer Zeit, war aber zerstört worden und wurde während der Statthalterschaft Gazi Husrev-begs wieder hergestellt? Oder wurde sie mit einer Sondergenehmigung bzw. unter Missachtung der religiösen Gesetze neu gebaut? Eine wirklich befriedigende Antwort auf diese Fragen gibt es bislang nicht. Ähnlich verhält es sich mit der alten Synagoge in Sarajevo, die um 1581 errichtet wurde. Wie bei der Alten

4

Nach Jelinić, Julijan: Kultura i bosanski franjevci (Die Kultur der bosnischen Franziskaner), Bd. 1, Sarajevo 1990, S. 125 (Reprint der Ausgabe von 1915).

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Abb. 3  Die Alte orthodoxe Kirche am Rand der Čaršija, © Holm Sundhaussen

orthodoxen Kirche stellt sich auch in diesem Fall die Frage, wie dieser nach den Bestimmungen der Scharia verbotene Neubau zustande kam. Kehren wir noch einmal zu jenen Vorfällen zurück, die als Beleg für interreligiöse Spannungen gedeutet werden können. Tatsache ist, dass katholische Geistliche (meist außerhalb Sarajevos) bei der Ausübung ihrer religiösen Praktiken immer wieder behindert wurden. Doch geschah dies gegen den Willen der Pforte, die wiederholt mit einem „großherrlichen Befehl“ (firman) intervenierte und die Einhaltung der den Franziskanern gewährten Freiheiten anordnete. Die Bestätigung der Privilegien kostete freilich stets Geld, weil in mittel- und spätosmanischer Zeit alles Geld kostete. Und um an Geld zu kommen, entwickelten einige osmanische Würdenträger ziemlich ausgefallene Praktiken. In seiner Geschichte der Sepharden in Bosnien berichtet Moritz Levy von einem Vorfall im Jahr 1819. Damals habe der neu eingetroffene Wesir für Bosnien, Ruždi Paša, von den Juden Sarajevos 500.000 Groschen erpressen wollen. Er ließ zehn angesehene Sephardim, mit dem Rabbiner Moše Danon an der Spitze, in den Kerker werfen und drohte damit, sie hinzurichten, wenn er nicht innerhalb von drei Tagen die 500.000 Groschen erhielte. Die Gemeinde konnte eine derartige Summe nicht aufbringen. An einem Samstagvorabend, dem Tage, an welchem die Hinrichtung der Eingekerkerten stattfinden sollte, besuchte der Greis Rafael Levy die Kaffeehäuser, in welchen sich die angesehenen Moslimen zu versammeln und ihre Beratungen abzuhalten pflegten, und mit tiefgreifenden

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Worten schilderte er den angesammelten Moslimen die traurige Lage der Juden. Die Moslimen waren tiefbewegt und wie ein Mann gaben sie alle dem weinenden Greise […] ihr Ehrenwort ab, daß sie alle bereit sind, mit ihrem Leben für die Sicherheit der Eingekerkerten einzustehen.5

Im Morgengrauen stürmten 3.000 bewaffnete Muslime den Kerker und befreiten die gefangenen Juden, während der Wesir nach Travnik floh. In allen diesen (und einigen anderen) Fällen ging es – wie gesagt – nicht um Religion oder Religionshass, sondern um Geld, immer wieder um Geld. Bedeutsamer als die Konflikte zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen waren die Konflikte zwischen den christlichen Konfessionen: zwischen Katholiken und Orthodoxen. Nachdem das serbisch-orthodoxe Patriarchat in Peć (Kosovo) 1557 wiederhergestellt worden war, versuchte es wiederholt, die Katholiken („Lateiner“) unter seine Jurisdiktion zu bringen und Abgaben von ihnen zu erzwingen. Die Franziskaner wehrten sich unter Verweis auf die Urkunde Mehmeds des Eroberers, die 1566 von Sultan Süleyman dem Prächtigen erneuert wurde. Aber das Patriarchat blieb hartnäckig, sodass die Franziskaner wiederholt über den habsburgischen Gesandten bei der Pforte protestierten oder einen Vertreter nach Istanbul schickten, um sich (jeweils gegen entsprechende Bezahlung) bestätigen zu lassen, was schon oft bestätigt worden war. Ein ausführlicher Bericht an die Propaganda Fide in Rom von 1692 (?) enthält Angaben über einen Streit zwischen dem serbischen Patriarchat und den Katholiken vor dem Scheriatsgericht in Sarajevo. Der orthodoxe Patriarch sei in Begleitung von 40 Geistlichen nach Sarajevo gekommen mit einem angeblichen Firman des Sultans, in dem die Unterstellung der Katholiken unter die Patriarchatsgewalt angeordnet worden sei. Das Gericht (also ein islamisches Gericht) wies den Usurpationsversuch allerdings zurück und bestätigte die alten Privilegien der Franziskaner. (Zu ähnlichen Vorfällen kam es auch im Verlauf des 18. Jahrhunderts.) Aber auch in diesen Fällen ging es wohl weniger um religiöse Fragen als um Geld und Einfluss. Nicht um Geld ging es bei den Auseinandersetzungen zwischen Anhängern verschiedener Strömungen des Islam, vor allem zwischen den in Sarajevo stark vertretenen Derwischorden auf der einen und Repräsentanten des orthodoxen Hochislam und islamischen Eiferern auf der anderen Seite. Die Derwische (zumindest einige der Derwisch-Bruderschaften) galten in religiösen Fragen als zu lässig, zu locker, zu tolerant. Darüber kam es in Sarajevo in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu scharfen Konflikten zwischen den Anhängern Mehmed Kadizades (den Kadićevci), einer puritanisch-fundamentalistischen Strömung des Islam, und den Derwischen. Mit anderen Worten: Die Beziehungen zwischen Muslimen, Christen und Juden in Sarajevo waren in der Regel friedfertig – friedfertiger und konfliktfreier als die Beziehungen zwischen den beiden christlichen Konfessionen oder den verschiedenen Strömungen

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Levy, Moritz: Die Sephardim in Bosnien. Ein Beitrag zur Geschichte der Juden auf der Balkanhalbinsel, Sarajevo 1911 (Reprint Klagenfurt 1996), S. 79f.

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im Islam. Heißt dies, dass Sarajevo eine Modellstadt für religiöse Toleranz und Offenheit war? Der bosniakische Historiker Aziz Hadžihasanović hat in einer 2001 veröffentlichten Arbeit über „Sarajevo: Wahrheiten und Mythen“, in der er sich kritisch mit serbischen Mythen auseinandersetzt, Toleranz und Offenheit zu Merkmalen Sarajevos erkoren. Fast auf jeder Seite seines Buches taucht das Begriffspaar mindestens einmal, oft sogar mehrfach auf.6 Seine Ausführungen ähneln aber mehr einer Beschwörung und Selbstvergewisserung als einer historischen Analyse. Serbische Mythen werden durch bosniakische ersetzt. Dass die Religionsgemeinschaften – ungeachtet aller Diskriminierungen, denen Christen und Juden ausgesetzt waren – im Großen und Ganzen bis ins 19. Jahrhundert friedlich koexistierten, war mehreren Faktoren geschuldet: erstens dem Pragmatismus in der Religionspolitik des Osmanischen Reiches und dem Einfluss des Sufismus bzw. der Derwisch-Orden, die eine entscheidende Rolle bei der (freiwilligen) Islamisierung der Bevölkerung Sarajevos gespielt haben. Schon früh hatten die Osmanen erkannt, dass mit religiösem Fanatismus kein dauerhafter Staat zu machen ist. Mit dieser Einsicht waren sie religiösen Eiferern im 21. Jahrhundert weit voraus. Zweitens hat die Expansion des Reiches auch den Aufstieg Sarajevos beflügelt. Die Stadt wuchs, die Wirtschaft florierte, und der Wohlstand nahm zu, wovon alle Stadtbewohner – unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit – profitierten, wenn auch gewiss nicht im gleichen Ausmaß. Drittens schrumpfte der Anteil der Nichtmuslime an der städtischen Bevölkerung infolge der Übertritte zum Islam rapid. Anfang des 17. Jahrhunderts waren über 90 % der Stadtbewohner Muslime. Und da sie überwiegend Südslawen (keine Türken) waren, stellte sich die Bevölkerung Sarajevos zu dieser Zeit sowohl ethnisch wie religiös nahezu homogen dar, was die viel beschworene Multireligiosität und Multikulturalität in ein etwas anderes Licht rückt. Viertens ging von der geringen Zahl der Nichtmuslime keinerlei Gefahr für die Vorherrschaft des Islam aus. Die Machtverhältnisse waren eindeutig, und wer sich damit arrangierte, fand ein gutes Auskommen. Die Nichtmuslime besetzten wichtige Nischen im Leben der Stadt (vor allem im Handel, teilweise auch im Handwerk), woraus beide Seiten – Muslime und Nichtmuslime – ihren Vorteil zogen. An der bestehenden Asymmetrie änderte dies nichts. Das war Pragmatismus und Duldung. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Im Vergleich zu christlichen Staaten und Städten im übrigen Europa der Frühen Neuzeit – man denke an die katholische Reconquista des maurischen Spanien, an die Inquisition, die Judenverfolgungen, die blutigen Kriege zwischen Katholiken und Protestanten – schnitten das Osmanische Reich und Sarajevo sehr vorteilhaft ab.

6

Hadžihasanović 2001 (wie Anm. 2).

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Von der Duldung zum Religionshass Die Bewährungsprobe für „Toleranz und Offenheit“ kam erst im 19. und 20. Jahrhundert mit der deutlichen Zunahme der christlichen Bevölkerung in Sarajevo, der allenthalben einsetzenden Nationalisierung von Religion und der nationalen oder sozialen Mobilisierung des Mobs. Aber schon vorher, in Kriegszeiten, wenn katholische Mächte (oder später das orthodoxe Russland) gegen die Osmanen Krieg führten und wenn diese Kriege mit osmanischen Verlusten oder gar Niederlagen endeten, konnte dies auch die interreligiösen Beziehungen in Bosnien und Sarajevo belasten. Die Christen gerieten in den Verdacht der Illoyalität oder zumindest einer gespaltenen Loyalität (der oft zutreffend gewesen sein dürfte) und hatten Repressalien seitens der Muslime zu fürchten. Nachdem Sarajevo 1697 durch die Truppen Prinz Eugens von Savoyen in Schutt und Asche gelegt worden war, kamen die Christen aus der Stadt ins Feldlager des Prinzen und baten um Schutz. „Ich hoffe auch“, notierte der Prinz, „alle Christen, die sich im Lande befinden, über die Save führen zu können.“7 Aus Angst vor Vergeltung und in dem Wunsch, die Verwüstung hinter sich zu lassen, folgten viele Christen den kaiserlichen Truppen nach Norden: auf habsburgisches Territorium. Doch viele wurden enttäuscht und kehrten nach Friedensschluss wieder in ihre Heimat zurück. Von der Zerstörung im Jahr 1697 hat sich Sarajevo bis zum Ende der osmanischen Herrschaft nie wieder völlig erholt, auch wenn der Wiederaufbau der Stadt nur zwei bis drei Jahrzehnte in Anspruch nahm. Das neue Sarajevo war das alte Sarajevo. Äußerlich zumindest: Die čaršija, die sakralen Gebäude (Moscheen, Koranschulen, Derwisch-Konvente), die sozialen und wirtschaftlichen Einrichtungen (Armenküchen, Herbergen, Karawansereien, Markthallen) und die Wohnviertel (mahale) waren dort, wo sie immer gewesen waren. Ansonsten änderte sich fast alles. Das „goldene Zeitalter“ Sarajevos war endgültig vorbei. Das lag nicht allein und auch nicht in erster Linie am Überfall des „edlen Ritters“. Denn so, wie Aufstieg und Blütezeit Sarajevos untrennbar mit der Expansionsphase des Osmanischen Reiches verknüpft gewesen waren (die vielen großzügigen Stiftungen, denen die Stadt ihr Aussehen und ihre Prosperität verdankte, wären anderenfalls kaum möglich gewesen), so wirkten auch der Verfall der klassischen osmanischen Institutionen und die Erosion der „Pax Ottomanica“ auf die Stadt zurück. Denn eine „Insel der Seligen“ konnte Sarajevo nicht sein. Auf die Einzelheiten des Reichsverfalls kann ich hier nicht eingehen. Die Liste der Verfallserscheinungen war jedenfalls beeindruckend: die permanente Finanzkrise der Pforte, die Inflation, die bizarren Steuererhöhungen, der Verfall des „Lehnssystems“, die Verwahrlosung des Janitscharenkorps, die Degeneration des Zunftwesens, der Ämterkauf, die überbordende Korruption, die Korrumpierung des Rechtssystems und die Zunahme des Banditentums (der Heiducken) seien zumindest stichwortartig erwähnt. Sarajevo bekam die Systemkrise des Reiches 7

Tagebuch des Prinzen Eugen von Savoyen über den Streifzug nach Sarajevo im Jahre 1697. Mitgeteilt von Hauptmann Zitterhoffer, in: Mitteilungen des k. u. k. Kriegsarchivs, 3. Folge, Bd. VIII, Wien 1914.

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zwar vermutlich erst mit einer zeitlichen Verzögerung zu spüren, doch spätestens seit Mitte des 18. Jahrhunderts verdüstert sich auch das Bild des osmanischen Sarajevo. Die Jahre 1747–1757 sind in die Geschichte der Stadt als Jahrzehnt der „Anarchie“ eingegangen. Der Chronist Mula Mustafa Bašeskija berichtet, dass (muslimische) „Taugenichtse“ unter der friedfertigen Bevölkerung Streit angezettelt und sich wechselseitig umgebracht hätten: Ein Taugenichts tötete den anderen. Im März 1757 nahmen die Stadtbürger schließlich 23 Taugenichtse und Mörder fest und erdrosselten sie. „Möge Allah ihnen gnädig sein!“8 Hintergrund der gewaltsamen Auseinandersetzungen waren soziale Missstände, insbesondere die wachsende Kluft zwischen Reichen und Armen und die Willkür des Gouverneurs. Auch in der Folgezeit kam es wiederholt zu teilweise anarchischen Zuständen. Bosnien ähnelte immer mehr einer verrotteten Provinz. Und das einst – nach den Maßstäben der damaligen Zeit – „moderne“ Sarajevo mit hoher Lebensqualität degenerierte zum Sinnbild von Rückständigkeit und Verdorbenheit. Irgendwann zwischen 1809 und 1812 schrieb Muhamed Emin Isević einen Bericht über die Verhältnisse in Bosnien, den er Sultan Mahmud II. schickte. Isević stammte aus einer angesehenen Sarajevoer Intellektuellenfamilie, sein Vater war Mufti (ranghöchster islamischer Geistlicher) von Sarajevo gewesen, er selbst betätigte sich abwechselnd als Kadi in seiner Geburtsstadt und als Professor an der Islamischen Hochschule in Edirne, sofern er nicht gerade verbannt war. Seinen Bericht schrieb er wahrscheinlich während seiner Verbannung auf der Ägäis-Insel Lemnos. Darin schildert er die Situation in seiner Heimatstadt und in Bosnien in abgrundschwarzen Farben. Er attackiert die Richter, ihre Stellvertreter, die Geistlichen (Muftis), die Wesire, die Steuereintreiber, die Janitscharen-Agas usw., kurz: (fast) alle, die Rang und Namen hatten. Die meisten von ihnen seien unwissend, geldgierig, korrupt und hätten sich ihre Zertifikate und Ämter lediglich erkauft, um anschließend die arme Bevölkerung (die muslimische ebenso wie die christliche) gnadenlos auszubeuten.9 Mag sein, dass Isević in einigen Punkten übertrieben hat, aber im Großen und Ganzen wird seine Darstellung durch viele andere Quellen bestätigt. Und anscheinend hat auch Mahmud II. seine Schrift ernst genommen, denn trotz der vielen Feinde, die sich Isević gemacht hatte, kam er erstaunlicherweise immer wieder auf freien Fuß. Nach Beginn der Reformperiode im Osmanischen Reich im 19. Jahrhundert lief die Entwicklung in Sarajevo und Bosnien völlig aus dem Ruder. Die Auflösung des Janitscharen-Korps, der einstigen – mittlerweile unkontrollierbaren – Elitetruppe des Reiches, konnte in Sarajevo erst nach einem siebenmonatigen heftigen Widerstand durchgesetzt werden. Die Führer der Widerstandsbewegung wurden vom Gouverneur entweder an Ort und Stelle hingerichtet (ihre abgetrennten Köpfe schickte er an die Pforte) oder zur Aburteilung nach Istanbul überstellt. Alle Schichten, deren Privilegien durch die „Neuord8 9

Bašeskija, Mula Mustafa Šefki: Ljetopis (1746 −1804) (Chronik [1746–1804)]). (Übersetzung u. Vorwort von Mehmed Mujezinović), Sarajevo 1968, S. 31–35. Vollständiger Text bei Aličić, Ahmed: Manuskript Ahvali Bosna od Muhameda Emina Isevića (poč. XIX v.) (Das Manuskript Ahval-i Bosna von Muhamed Emin Isević [Anfang des 19. Jahrhunderts]), in: Prilozi za orijentalnu filologiju 32–33 (1982–1983), S. 163–198.

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nung“ (Tanzimat) gefährdet waren, verbündeten sich nun gegen die Reichshauptstadt. Die Beziehungen zwischen den bosnisch-muslimischen Führungsschichten und der Pforte spitzten sich mit dem russisch-osmanischen Frieden von 1829 zu, als der Sultan sich unter anderem gezwungen sah, zwei Bezirke, die zur bosnischen Verwaltungsprovinz gehört hatten, an das autonome Fürstentum Serbien abzutreten. 1831/32 brachen dann zwischen den bosnischen Rebellen unter Führung von „kapetan“ Husein Gradaščević, dem „Drachen von Bosnien“ (Zmaj od Bosne), und den Regierungstruppen heftige Kämpfe aus. Die Rebellen forderten einen Autonomiestatus für Bosnien (vergleichbar dem für das benachbarte Fürstentum Serbien). Der Sultan lehnte ab und befahl die militärische Niederschlagung des Widerstands. Gradaščević und die Autonomiebewegung werden von einigen bosniakischen Historikern regelrecht glorifiziert. Doch die Vorstellung der damaligen bosnischen Führungsschichten, man könne durch eine weitreichende Autonomie für Bosnien und unter Verzicht auf Reformen im Innern zum „goldenen Zeitalter“ und zur „guten alten Ordnung“ zurückkehren, war gänzlich unrealistisch. Die „alte Ordnung“ war tot und hatte sich schon vor der Zerstörung Sarajevos 1697 in Auflösung befunden. Selbst wenn das Unmögliche möglich gewesen wäre, hätte dies keine Lösung bedeutet. Denn es hatte sich nicht nur das Osmanische Reich verändert – verändert hatte sich auch die Welt außerhalb des Reiches und um das Reich herum, und zwar dramatisch. Ohne grundlegende Reformen konnte Bosnien die neuen Herausforderungen nicht bestehen. Aber von Reformen war in den Verlautbarungen Gradaščevićs und seiner Anhänger keine Rede. Sie stemmten sich mit allen Mitteln gegen die Politik der Hohen Pforte, auch gegen das Edikt von Gülhane, mit dem 1839 die Gleichberechtigung der Religionsgemeinschaften verkündet wurde. Erst nachdem die Pforte 1850 den Konvertiten Omer-paša Latas als Kommandeur der Regierungstruppen nach Bosnien entsandt hatte, wurde der Wider­stand der bosnischen Notabeln martialisch gebrochen. Danach kehrte vorübergehend Ruhe ein, und die Reformpolitik konnte beginnen. Aber die Zeit bis zu den Aufständen der orthodoxen Bauern in der Herzegowina von 1875 und der österreichisch-ungarischen Okkupation nach dem Berliner Kongress 1878 war zu kurz, um (angesichts der andauernden Renitenz bosnisch-muslimischer Eliten) Grundlegendes verändern zu können. Die Reformen blieben auf halbem Wege stecken. Die von den bosnisch-muslimischen Honoratioren lange betriebene Blockade bei der Umsetzung des Edikts von Gülhane aus dem Jahr 1839 in einer Provinz mit mehrheitlich christlicher Bevölkerung erwies sich schnell als Bumerang. Das Dekret hatte Erwartungen geweckt, deren Nichterfüllung umso größere Enttäuschung hervorrufen musste. Als der österreichische Konsul Dimitrije Atanasković am 6. Januar 1851 auf dem Konsulatsgebäude in Sarajevo die österreichische Fahne hisste, nahm die christliche Bevölkerung dies mit Jubel auf. Für sie war es ein einzigartiges Erlebnis, die Fahne eines christlichen Staates im „alten Janitscharennest“ Sarajevo wehen zu sehen. Die Forderung nach religiöser Gleichberechtigung, die im „Großherrlichen Handschreiben“ vom Februar 1856 noch einmal bekräftigt wurde, stellte für die Muslime und insbesondere für ihre Honoratioren einen Bruch mit allem dar, was sie gewohnt waren: eine verstörende Verschiebung der überlieferten Machtverhältnisse, eine Veränderung all dessen, was bis gestern selbst-

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verständlich gewesen war – real wie symbolisch. Viele Muslime fühlten sich bedroht. Ein Hasan-aga aus Mostar erregte sich 1858 darüber, dass die Christen „jetzt übermütig geworden [sind], sie tragen breite Gürtel und lassen ihre Namen auf ihre Siegelringe graben. Vergangene Woche, als ich nach meinem Meierhof ritt, begegnete mir der Tabakkrämer Kosta. Meinst du, der Lümmel wäre vom Gaul gestiegen, wie es sich geziemt, bis ich vorüber war. Nichts da, Efendi, der Kerl hat die Unverschämtheit, knapp an mir vorüber zu reiten und mich nur kurz zu grüßen. Wohin soll das führen?“10 Es sollte noch schlimmer kommen. Anfang der 1870er Jahre wurde in Sarajevo nach langer Obstruktion seitens der Muslime die Neue orthodoxe Kirche (Metropolitankirche) vollendet. Am 2. August 1872, am Eliastag, wurde sie vom neuen Metropoliten Paisije, begleitet von 76 Geistlichen, feierlich eingeweiht. An der Zeremonie sollen mehr als 10.000 Menschen teilgenommen haben. Die „gewaltigen“ Glocken der Metropolitankirche mussten allerdings stumm bleiben, doch durfte die kleine Glocke an der Alten orthodoxen Kirche am Rand der Čaršija läuten. Zum ersten Mal, zum ersten Mal seit vierhundert Jahren wurde die religiöse ­Hierarchie symbolisch in Frage gestellt: Zum ersten Mal konnte man das Christentum hören. Und die Muslime trauten ihren Ohren nicht. Ein Geräusch wurde zur Machtfrage. Für die muslimischen Zeitgenossen war dies etwas Unerhörtes (im wahrsten Sinne des Wortes). Ihre vertraute Welt, die Textur des Alltags geriet aus den Fugen: ein Kulturschock (vergleichbar dem Ruf eines Muezzins in einer traditionell christlichen Umgebung). In den Berichten aus dem 19. Jahrhundert ist immer und immer wieder von Intoleranz, Fanatismus und Hass zwischen den Religionsgemeinschaften die Rede. Der bekannte britische Archäologe Sir Arthur Evans, der als junger Mann 1875 Bosnien-Herzegowina zu Fuß durchquerte, verlieh Sarajevo gar den Titel einer „Metropolis des Fanatismus“.11 Auf den ersten Blick erscheint es paradox, dass die von Istanbul angeordnete Politik der religiösen Gleichberechtigung zur Verfeindung der Religionsgemeinschaften und zum Religionshass beitrug. Aber nur auf den ersten Blick. Denn gerade die religiöse Gleichberechtigung setzte unter den gegebenen Umständen real existierender sozialer Ungleichheit und ausbleibender Säkularisierung Prozesse in Gang, durch die die Religionszugehörigkeit (im Kampf um Ressourcen) an Bedeutung gewann (Konfessionalismus). So endete die osmanische Periode Sarajevos ebenso düster, wie sie glanzvoll begonnen hatte.

Schlussbemerkung Vielfalt, Abgrenzung und Interaktion unter sich verändernden politischen, wirtschaft­ lichen und kulturellen Rahmenbedingungen sind die zentralen Achsen, um die herum 10 11

Murad-efendi (Pseudonym für Franz von Werner): Türkische Skizzen, Band 1, Leipzig 1877, S. 141f. Evans, Arthur J.: Through Bosnia and Herzegovina on Foot during the Insurrection, August and September 1875, London 1877, S. 49.

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sich die Geschichte Sarajevos entfaltete. Es ist eine Geschichte des Neben-, Mit- und Gegeneinanders, eine Geschichte von Multikulturalität und Exklusivität in variierenden Kombinationen. Nach den bisher bekannten Quellen hat es in Sarajevo über Jahrhunderte hinweg keine Pogrome und keine Religionskriege gegeben, die ihren Ursprung in der Stadt gehabt hätten. Konflikte gab es, und in spätosmanischer Zeit häuften sie sich. Aber erst mit der Nationalisierung der Religion und der Sakralisierung der Nation seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts wurde ein explosives Modell der Abgrenzung in die Stadt getragen, das es in dieser Form vorher nicht gegeben hatte. Das Attentat von 1914 war ein Symptom unter vielen. Erst mit der partiellen Säkularisierung im Verlauf des 20. Jahrhunderts (insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg unter sozialistischem Vorzeichen) entstand etwas wie Interkulturalität, die es vorher ebenfalls nicht gegeben hatte: eine Interkulturalität, in der religiöse und nationale Zugehörigkeit als Privatangelegenheit verstanden wurden, eine Interkulturalität, die – wie wir heute wissen – fragil war, verletzbar blieb und schließlich im Krieg von 1992 bis 1995 vernichtet wurde. Sarajevos Vergangenheit ist kein Modell für die Zukunft. Aber es ist lohnend darüber nachzudenken, wie und warum Multikulturalität funktionierte und warum sich das Zusammenleben veränderte und schließlich in sein Gegenteil umschlug. Am Beispiel Sarajevos lässt sich verfolgen, wie Menschen unter sich verändernden Rahmenbedingungen und Regel­ werken miteinander und gegeneinander agieren. Insofern hat der bosnische Schriftsteller Dževad Karahasan recht, wenn er schreibt: „Alles, was in der Welt möglich ist, existiert in Sarajevo, in verkleinerter Form zwar, reduziert auf seinen Kern, aber es existiert, weil Sarajevo das Innenzentrum der Welt ist.“12

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12

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Holm Sundhaussen

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Ich hoffe, dass die Europäer wieder aus den „exzentrischen“ Quellen (Antike, Judentum, Christentum) ihrer Kultur schöpfen, dass sie ihre eigene Zukunft und die Bedingungen dazu wieder wollen, damit Europa nicht zum Museum seiner vergangenen Leistungen wird.

Rémi Brague

Mittelmeer als Mythos Das Mittelmeer ist Gegenstand einer Reihe von Legenden. Sie sind so gut wie immer rosa gefärbt. Von Nietzsche, der seinen Tee „mediterranisiren“ wollte, indem er ihm ein paar Tropfen Orangensaft hinzufügte1 über Albert Camus’ „Geist des Mittelmeers“, den er der „deutschen Ideologie“ entgegensetzte,2 bis zu den Reiseveranstaltern, die heiteren Himmel und blaues, lauwarmes Wasser verkaufen. Dialog, métissage, Multikulti, all die Schlagwörter, die unter den schönen mediatischen Seelen herumgeistern, finden einen Verankerungspunkt im Mittelmeerraum. Diesen Legenden möchte ich hier den Garaus machen. Aus einer desillusionierten Sicht der Dinge soll ein Aufruf zur Verwirklichung der Utopie entstehen.

Mittelmeer als Vergangenheit Zuerst muss ich Sie hinsichtlich der Bedeutung des Mittelmeers im Dialog der Kulturen, der als ein typisch mittelmeerisches Thema gilt, gewissermaßen ernüchtern. Das Mittelmeer spielte nur dann eine zentrale Rolle, wenn es von einer einzigen Kultur beherrscht wurde. Das geschah erst mit der römischen Herrschaft. Die entscheidende Wasserscheide ist wohl das Datum, ab dem Rom den Handel im Mittelmeer ausnahmslos kontrollierte: 67 vor Christo, als Pompeius Magnus die letzten Seeräuber Illyriens besiegte. Danach verdiente das Mittelmeer die sprichwörtlich gewordene Bezeichnung mare nostrum. Beispiele dafür, wie das Mittelmeer als Handelsplatz für Kulturgüter aus dem Süden und dem Norden fungierte, ließen sich unschwer anhäufen und sind weithin bekannt. Die Apostelgeschichte berichtet darüber, wie Paulus von Antiochien nach Zypern und Kreta 1 2

Nietzsche, Friedrich: Fragment 12 [144], Herbst 1881, in: ders.: Kritische Studienausgabe. Hrsg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Berlin 1980, Bd. 9, S. 601. Albert Camus, L’Homme révolté, 5: La pensée de midi. Paris 1951, S. 369–371.

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segelte, in Malta Schiffsbruch erlitt, nach Rom verschleppt und dort enthauptet wurde. Plotin, ein gebürtiger Grieche aus Ägypten, dozierte in Rom und verstarb in Neapel. Augustinus reiste von Karthago nach Mailand und zurück. 555 gründete Cassiodor das Kloster zu Vivarium in Kalabrien und wollte dabei die syrischsprachige Klosterschule zu Nisibis im nördlichen Irak nachahmen, die er besucht hatte.3 Mit der arabischen Eroberung ihrer südlichen Ufer nahm diese kulturelle Einheit ein Ende. Nach der berühmten These des belgischen Historikers Henri Pirenne stellte diese Eroberung das wahre Ende der antiken Welt dar.4 Seit 1922 wurde Pirenne jedoch auch in Frage gestellt. Man hat unter anderem geltend gemacht, dass die Umgestaltung des Raums, die die arabische Eroberung mit sich brachte, positive Wirkungen auf den Handel im Mittelmeer zeitigte. Nach den Völkerwanderungen habe sie dem Seehandel ein zweites Leben erlaubt.5 Exemplarisch ist das Schicksal der nördlichen Häfen wie Barcelona, Marseille, Genua, Venedig, Ragusa (Dubrovnik). Im Mittelalter und bis zur Neuzeit war das Mittelmeer der Raum der Seeräuberei und des Sklavenhandels. Die Araber hatten 80 Jahre lang einen Stützpunkt in Südfrankreich besetzt, in Lagarde-Freinet, von ungefähr 890 bis zur Schlacht zu Tourtour 973, in der sie von den Provenzalen besiegt wurden.6 Der heutige Name der Berge (Maures) mag auf ihre Anwesenheit anspielen und ebenso der Ortsname Ramatuelle, der als raḥmat Allah zu deuten wäre. Korsika wurde von den Genuesen mit Wachttürmen umzingelt, um den durch den Menschenraub erlittenen Aderlass gewissermaßen zu begrenzen. Algier wurde zu einem riesengroßen Sklavenmarkt, auf dem Cervantes drei Jahre verbringen musste, bevor er nach drei Fluchtversuchen losgekauft wurde. Andere hatten weniger Glück und wurden kastriert und weiterverkauft. Nach einem missglückten Versuch Karls V. hielt die Seeräuberei bis zur erfolgreichen Eroberung Algiers durch die französische Flotte im Jahr 1830 an.

Mittelalter und Neuzeit als Ausbruch aus dem Mittelmeer Für den oben erwähnten neuen wirtschaftlichen Aufschwung fungierte das Mittelmeer zwar als die Bühne, nicht aber als dessen Motor. Man könnte nämlich, völlig amateurhaft in Sachen Geopolitik, mit dem Gedanken spielen, die Geschichte der mittelalterlichen und neuzeitlichen Zivilisation als die Geschichte von drei sich nacheinander abspielenden Ausbrüchen aus dem Mittelmeer zu erzählen. Was die Geographie betrifft, so stellen die Räume, die diese Zivilisationen ein3 4

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Cassiodoros: Institutiones, I, 1; Patrologia Latina, Bd. 70, Spalte 1005. Pirenne, Henri: Mahomet et Charlemagne (1922), in: Histoire économique de l’Occident médiéval, Bruges 1951, S. 62–70. Zur Rezeption vgl. Hübinger, Paul Egon (Hrsg.): Bedeutung und Rolle des Islam beim Übergang vom Altertum zum Mittelalter (Wege der Forschung CCII), Darmstadt 1968. Lombard, Maurice: L’Islam dans sa première grandeur (VIIIe−XIe siècle), Paris 1971. Vgl. Sénac, Philippe: Provence et piraterie sarrasine, Paris 1995.

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nahmen, drei Ausgänge aus dem Raum dar, den das Mittelmeerbecken bildet. Was die Geschichte anbelangt, so sind die drei daraus entstehenden Kulturgebilde auch Ausgänge aus der antiken Kultur. Diese drei Ausgänge haben sich auf drei Gegenden fixiert, die das Mittelmeer verlängern, aber auch verlassen: a) Byzanz, das das Mittelmeer durch den Bosporus, auf dem die Hauptstadt Konstantinopel selbst liegt, in Richtung des Schwarzen Meers öffnet. b) Islam, der das Mittelmeer durch die Meerenge von Hormus in Richtung des Indischen Ozeans öffnet, wobei der Schlüsselhafen Basra im südlichen Irak liegt. c) Das neuzeitliche Europa, das das Mittelmeer durch die Straße von Gibraltar in Richtung des Atlantischen Ozeans eröffnet. Die wichtigen Häfen sind zuerst Sevilla, dann London und Amsterdam. Das Meisterwerk des französischen Historikers Fernand Braudel erzählt die Geschichte dieser gewaltigen Umkehrung des Welthandels.7 Diese drei Zivilisationen sind wie Geschwüre auf geographischen Engen. Nun gibt es zweierlei Arten von Engen: Meerengen und Landengen. Man könnte zwischen Meerenge-Welten und Landenge-Welten unterscheiden. Byzanz ist eine Meerenge-Welt, wohingegen das mittelalterliche Europa und das islamische Reich Landenge-Welten darstellen. Europa ist der Inbegriff der Isthmen zwischen dem Mittelmeer und den nördlichen Meeren (Kanal, Nordsee und Atlantischer Ozean). Das islamische Reich ist der Inbegriff der Isthmen zwischen dem Mittelmeer und dem Indischen Ozean bzw. den großen innerkontinentalen Meeren: dem Schwarzen Meer und dem Kaspischen Meer. Nun hat sich die Geschichte zugunsten der Landenge-Welten entschieden: Byzanz, in der Klemme zwischen zwei Meerenge-Welten, wurde von der islamischen Welt eingesogen. Die zwei mittelalterlichen Welten, die im Kampf ums Überleben das Feld behauptet haben, sind beide Welten, deren Schwerpunkt sich weit vom Mittelmeer weg verlagerte. Der Schwerpunkt des arabischen Reichs ist zuerst Medina, dann Damaskus, endlich Bagdad, wobei dieses Reich, mit der neuen Dynastie der Abbassiden, eher persisch als arabisch wurde. Der Schwerpunkt des östlichen Römischen Reichs ist nicht mehr Rom im Latium, sondern das zweite Rom, Konstantinopel, eine Stadt, die nur am äußersten Rande dem Mittelmeer angehört. Der Schwerpunkt des westlichen Römischen Reichs, zuerst von Karl dem Großen skizziert, dann ab den Ottonen in die Tat umgesetzt, ist Aachen, eine Stadt, die ziemlich weit vom Mittelmeer entfernt steht. Von diesem Gesichtspunkt aus kann man nicht nur sagen, dass Europa als solches nicht mittelmeerisch ist, sondern, dass es das Anti-Mittelmeer par excellence verkörpert. Es bildet den Ort des entscheidendsten Durchbruchs aus dem Mittelmeerraum. Von ihm ist nämlich die Umorientierung ausgegangen, die den Welthandel in die Richtung des Atlantischen Ozeans, dann in die ganze Welt lenkte.

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Vgl. Braudel, Fernand: La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II, 2. Aufl. Paris 1966, zuerst 1949.

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Mittelmeer als retrospektiver Traum Europas

Abb. 1  Aristide Maillol, La Méditeranée, 1905, © Manuel Cohen / akg-images

An diese ganz konkrete Geschichte könnte man vielleicht die Gegenwart des Mittelmeers in der europäischen Phantasie anknüpfen, eine Gegenwart, die sich als eine Sehnsucht deuten ließe und möglicherweise als ein Traum. Ausgerechnet wegen dieses traumhaften Status ist sein affektiver Wert so mächtig. Um es mit einem vielleicht ein wenig zu bekannten Satz von Marcel Proust zu sagen, „die echten Paradiese sind die Paradiese, die man verloren hat“.8 In der Geschichte der europäischen Empfindung bilden diese Sehnsüchte eine Kette, deren Glieder sich sukzessiv, je nach Epoche, in verschiedenen Ländern beheimaten. Sie werden empfunden, als enthielten sie in einbalsamierter Form die von der Zivilisation überholten Welten. So ist Italien für das Mittelalter das Konservatorium des römischen Erbes; für die Neuzeit ist sie das unumgängliche Reiseziel der „Grand Tours“ der britischen Oberschicht oder noch von Goethe. Griechenland ist für das klassische Deutschland das Konservatorium des Heidentums (Schiller, Hölderlin). Im Zeitalter der Restauration wurde für das industrialisierte Europa Spanien das Konservatorium der mittelalterlichen Sitten. Der Erste, der dies wahrnahm, war wohl der Amerikaner Washington Irving. Nach ihm kamen aus Frankreich der Schriftsteller Prosper Mérimée und der Musiker Georges Bizet, dessen Oper Carmen (1875) die meist aufgeführte in der Welt bleibt. Die Rauheit der Sitten faszinierte blasierte Intellektuelle. Interessanterweise war wohl der Erste, der

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Proust, Marcel : Le Temps retrouvé, in: ders.: A la Recherche du temps perdu. Hrsg. von Pierre Clarac u. André Ferré, Paris 1954, Teil 3, S. 870.

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Spanien als Gegenstand einer Sehnsucht lancierte, auch der große Revolutionär der europäischen Empfindung Jean-Jacques Rousseau in seinem Lob des Stierkampfs.9 Für die Europäer von heute werden Marokko, Tunesien oder gar Ägypten als die Konservatorien einer Welt empfunden, die viele Elemente enthält, die sie seit der neuzeitlichen Rationalisierung der Lebensverhältnisse verdrängen mussten: eine Welt von vergessenen bunten Farben und Düften, eine Kultur auch zwischenmenschlicher Beziehungen, auf Gastfreundschaft gegründet usw. Hier wäre der ganze Orientalismus zu zitieren, wobei man das Wort ohne abwertenden Nebenton vernehmen sollte. Da wären die Ägyptenreise des französischen Schriftstellers Gustave Flaubert oder des deutschen Malers Paul Klee anzuführen. Auch politisch hat diese Haltung zu Missverständnissen geführt, die jedoch ab und zu unerwartet positive Folgen zeitigen konnten, wie etwa die friedliche Marokko-Politik von Marschall Hubert Lyautey (1854 –1934) oder der letztendlich gescheiterte arabische Traum des britischen Abenteurers Thomas Edward Lawrence (1888–1935). Interessant ist es zu bemerken, dass heutzutage ein neuer Mythos im Entstehen begriffen ist: Für den heutigen halbgebildeten Europäer stellt die arabische Kultur eine Art Synthese der Werte Italiens und Spaniens dar. Auf der einen Seite ist sie für ihn eine noch unversehrte Welt, in der herkömmliche Verhältnisse aus der Zeit vor der Rationalisierung immer noch gang und gäbe sind, wie etwa Gastfreundschaft; auf der anderen Seite der Ursprung mancher Elemente unserer höheren Kultur, „das vergessene Erbe“.10 Was Venedig betrifft, so ist die Stadt für alle Europäer die wunderbare Erinnerung an ein verlassenes Zentrum der ersten kapitalistischen Weltwirtschaft, wie eine mit Perlmutt überzogene Schale, verlassen vom einst darin lebenden Weichtier.

Ein aufschlussreiches Experiment Die Exempel multikultureller Städte und Gegenden haben kein sehr positives Schicksal erlebt. Man kann die Vergangenheit als eine Reihe von Experimenten betrachten, die die Möglichkeit gewisser Lösungen aufweisen sollen, die man für gewisse soziale Probleme vorschlägt. Ob dieses Vorgehen sinnvoll ist, steht dahin. Wenn das aber der Fall ist, dann ist das Experimentieren nicht gerade aufschlussreich. All die Gegenden, die einst multikulturell waren, hatten danach einen deutlichen Hang, es nicht mehr zu sein. Diese Bewegung ist nicht von gestern. Von der nördlichen Küste des Mittelmeers aus wurde Sizilien im späten 11. Jahrhundert von den Normannen erobert und Andalusien von den christlichen Reichen des Nordens am Ende des 15. Jahrhunderts. Die letzen Muslime Spaniens, die sogenannten

 9 10

Rousseau, Jean-Jacques: Considérations sur le gouvernement de Pologne, III, in: Œuvres Complètes. Hrsg. von Bernard Gagnebin u. Marcel Raymond, Paris 1964, Bd. 3, S. 963. Vgl. Menocal, Maria-Rosa: The Arabic Role in Medieval Literary History: A Forgotten Heritage, Philadelphia 1987.

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moriscos, wurden 1610, etwas mehr als ein Jahrhundert später, aus dem Königreich ausgewiesen. Ist es noch notwendig, von Bosnien zu reden? Alexandria an der Südküste, mit seiner bunten Bevölkerung, wo Griechen und Italiener sich unter die Ägypter mischten, wo Französisch als lingua franca den Gedankenaustausch ermöglichte, wurde in wenigen Jahrzehnten so gut wie ausschließlich arabisch und islamisch. Die überwiegende Mehrheit der Spanier, Italiener, Malteser und Franzosen, die sich in Algerien als Kolonisten angesiedelt hatten, und mit ihnen die Juden, die mit dem Crémieux-Gesetz von 1870 zu französischen Staatsbürgern wurden, zog es in die Hauptstadt, als das Land 1962 unabhängig wurde. Eine historische Tatsache verdient Beachtung, weil sie einen Sonderfall darstellt: Die christlichen Gemeinden verschwanden aus dem Maghreb schon im 11. Jahrhundert, während sie im Orient (Ägypten, Syrien, Irak) bis heute fortbestehen. Da aber manche islamische Gruppen ihre Ausrottung planen und durchführen, ist es wahrscheinlich, dass auch sie verschwinden.

Eine nicht so rosige Vergangenheit Sollten wir diese Vergangenheit bedauern? Es wäre abwegig, sie rosig zu malen. Koexistenz war nie Gleichheit. Sie bedeutete nicht immer gegenseitige Achtung, ja nicht mal gegenseitige Kenntnis. Die moderne Kolonisation Algeriens hat keine Gesellschaft ins Sein gerufen, in der diese Werte die Regel waren. Daran kann man erkennen, wie sehr ich das Understatement mag. Weiter in der Vergangenheit war das schon erwähnte Alexandria auch der Erfindungsort des theoretischen Antisemitismus durch Apion, gegen den Flavius Josephus seine Apologie des Judentums verfassen musste. Die Stadt ist auch der Geburtsort des Pogroms, fast drei Jahrhunderte vor der Machtübernahme durch das Christentum. Die ersten antijüdischen Aufstände der Geschichte fanden nämlich im Jahre 38 unserer Zeitrechnung statt.11 Das ebenfalls vielbesungene Cordoba ist auch die Stadt, aus der zwei ihrer größten Denker, der Jude Maimonides und der Muslim Averroes, ins Exil gehen mussten. Wir wissen nicht genau, warum der Zweite nach Lucena gehen musste. Der Erstere musste, als er noch ein Kind war, vor den Almohaden flüchten, die, eine Ausnahme im Islam, die Nicht-Muslime vor die Wahl zwischen Bekehrung, Exil oder Tod gestellt hatten. Generell gab es im mittelalterlichen Andalusien Herrschende und Beherrschte. Juden und Christen blieben ahl al-ḏimma, Untertanen zweiten Ranges also. Das brachte eine bestimmte psychologische Haltung mit sich, die Ibn Khaldun schon im 15. Jahrhun-

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Vgl. Baron, Shalom W.: Histoire d’Israël, Teil 1: Des origines au début de l’ère chrétienne, übers. von V. Nikiprowetzky, Paris 1956, S. 255ff.

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dert skizzenhaft beschrieb.12 Es gibt Ausnahmen, die dann und wann auffallen. So führt man immer wieder den Fall Samuel Ibn Nagrila, genannt al-Nagid (gestorben 1056), an. ­Dieser Jude brachte es zum Wesir des Reichs zu Granada, eines unter den vielen Duodez­ fürstentümern (ṭa'ifa), die aus den zusammengebrochenen Kalifaten der Umayyaden entstanden waren. Man kennt ihn insbesondere durch die Angriffe von Ibn Hazm. Im Großen und Ganzen unterschied sich aber die Lage der Tributpflichtigen nicht wesentlich von der ihrer Zeitgenossen im Osten. Das Alltagsleben der jüdischen Gemeinden im Maghreb war von Demütigung und ab und zu von Verfolgung geprägt. Eine vor einigen Jahren veröffentlichte Blütenlese jüdischer Chroniken bestätigt die politisch höchst unkorrekt gewordene Ansicht, dass die französische Kolonisierung von den Juden als eine Befreiung empfunden wurde und objektiv eine bedeutende Verbesserung ihrer Verhältnisse darstellte.13

Gab es einen Dialog der mittelmeerischen Kulturen? In einer Literatur, die fast zu einem literarischen Genre für sich geworden ist, pflegt man den Kulturaustausch, für den eben das mittelalterliche Mittelmeer den Rahmen bildete, zu loben. Ich habe ihn selbst anderswo ausführlich behandelt.14 Da haben wir unleugbare Tatsachen, die von tausend Spuren belegt werden. Hier muss man aber nicht alles vermengen. Anleihen kultureller Elemente zwischen Kulturwelten sind Tatsachen, die es übrigens seit je gibt, im Mittelmeerraum wie auch überall sonst. Jedoch heißt entleihen nicht notwendig „sich in ein Gespräch einzulassen“. Ich sehe dafür zwei Gründe. Erstens: Weil ein Dialog sich in zwei Richtungen entfalten muss, setzt er den Austausch von Fragen und Antworten voraus. Nun vollziehen sich im Mittelalter, auf dem Gebiet der Kultur, die Anleihen nur in eine Richtung. Der jüdische und christliche Norden entleiht viel aus dem jüdischen und islamischen Süden. Dagegen weiß der Süden so gut wie nichts vom Norden und interessiert sich kaum für ihn. Die Bewohner der südlichen Gebiete des Mittelmeers betrachten diejenigen, die wir heute „Europäer“ nennen würden, mit Verachtung. Oft ist die Sichtweise der Südländer durch dieselben vorurteilsbeladenen Klischees gefärbt wie diejenige, die heutzutage im Munde der Europäer in Umlauf sind. Ein lustiges Beispiel liefert Maimonides, der versucht, das mosaische Verbot des Genusses von Schweinefleisch vernünftig zu begründen. Dort, wo dieser Genuss erlaubt sei, liefen die 12 13 14

Khaldun, Ibn: Muqaddima, VI. Hrsg. von Eugène Quatremère, Paris, Institut de France, 1858, Bd. 3, S. 265; übers. von Franz Rosenthal, New York 1958, Bd. 3, S. 306. Vgl. Fenton, Paul u. David G. Littman: L’Exil au Maghreb. La condition juive sous l’Islam 1148−1912, Paris 2010. Vgl. Brague, Rémi: Europa – seine Kultur, seine Barbarei. Exzentrische Identität und römische Sekundarität, 2. Aufl. Wiesbaden 2012, Kap. IV–VI.

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Schweine überall in den Dörfern herum, die schmutziger seien als die Aborte. Und er fügt hinzu: „wie das in Europa (Ifranǧ) der Fall ist!“15 Die einzigen Beispiele mittelalterlicher wechselseitiger Einflüsse finden sich innerhalb des christlichen Nordens, zwischen Lateinern und Byzantinern. Dazu fand diese Wechselwirkung sehr spät statt. Anfangs waren die Byzantiner gegenüber den unge­ hobelten Europäern hochnäsig – nicht ohne Gründe. Erst im 15. Jahrhundert übersetzten die Gebrüder Kydones Werke von Augustin, Boethius und Thomas von Aquin. Damals hatte das Oströmische Reich übrigens nur noch einige Jahrzehnte zu leben. Der zweite Grund ist radikaler: Die Partner eines Dialogs müssen mindestens Zeitgenossen sein. Hier ist das nicht der Fall. Thomas von Aquin wurde siebenundzwanzig Jahre nach Averroes Tod und einundzwanzig Jahre nach dem Tod Maimonides geboren. Wir besitzen ein einziges Beispiel eines echten Dialogs im vollen Sinn des Wortes, und der Erfolg ist gering. Es handelt sich um den Traktat, in dem Ibn Sab‛īn, ein Mystiker und Philosoph aus Murcia in Spanien (1217–1270), zwischen 1237 und 1242 philosophische Fragen beantwortet, die kein Geringerer als Kaiser Friedrich II. hatte stellen lassen. Der Mystiker behandelt den christlichen Kaiser von oben herab, korrigiert die Formulierung seiner Fragen in einer unerträglich pedantischen Weise, als rührten diese Fragen von ­einem unbeholfenen Schulkind her. Dazu sind die gegebenen Antworten nicht gerade originell.16 Die einzigen Dialoge, die im eigentlichen Sinne des Worts stattfanden, sind Kontroversen religiösen Inhalts. Das ist der Fall bei den disputationes (Hebräisch wiqquḥim), die die spanischen Christen den Juden aufzwangen, wie zum Beispiel die große Disputation zu Tortosa, die sich über drei Jahre erstreckte (1414 –1416). Die Richter waren ab und zu unparteiisch und erklärten die jüdische Seite zur Siegerin. So wurde 1267, am Ende eines Streits mit einem zum Christentum übergetretenen Glaubensgenossen, der katalanische Rabbiner Nachmanides zum Sieger erklärt, und zwar vom Herrscher Barcelonas, der ihn auch mit einem Preis von 300 Denaren beschenkte – eine Tatsache, die offizielle Urkunden im Archiv der Krone Kataloniens bestätigen.17 Wie dem auch sei, die allgemeine Stimmung konnte bei solchen Streitgesprächen unmöglich von der politischen Lage unberührt bleiben. Eine bestimmte Religion, das Christentum, war nämlich die Religion der Staatsmacht. Sich zu ihr zu bekennen erlaubte einem, in Frieden zu leben, ja in die herrschende Oberschicht einzutreten.

15 16

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Maimonides: Führer der Unschlüssigen, III, 48. Hrsg. Joël, Issachar, Jerusalem 1929, S. 439. Sab’în, Ibn: Correspondance philosophique avec l’empereur Frédéric II de Hohenstaufen, hrsg. von Serefeddin Yaltkaya, Bd. 1, Paris 1943, vgl. z. B. S. 45, 19f.; 48, 9f.; 62, 19f.; 64, 7f.; 71, 1f. Es liegt eine zweisprachige Ausgabe vor, Die Sizilianischen Fragen, hrsg. von Matthias Lutz-Bachmann [u. a.], Freiburg 2005. Vgl. Baer, Yitzhaq: Contribution à l’étude critique des disputations de R. Yehiel de Paris et de R. Moïse Nahmanide (Hebräisch), in: Tarbiz, Quarterly for Jewish Studies, Vol. II, No. 2 (1931), S. 10.

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Es wird von Gesprächen berichtet, bei denen alle Vertreter religiöser Überzeugungen in den Stand vollkommener Gleichheit und Neutralität gestellt worden seien, wobei es verboten gewesen sein soll, sich auf eine Offenbarung zu berufen und die Vernunft als einziges Werkzeug gestattet gewesen sei. Ein Zeugnis über solch interreligiöse Streitgespräche im Bagdad des 9. Jahrhunderts wird immer wieder erwähnt. Es stammt von einem gewissen Abû Umar ibn Sa‛dî und wurde in einem biographischen Wörterbuch am Ende des 11. Jahrhunderts angeführt.18 Der Urheber der Quelle ist aber ein religiöser Eiferer, der zeigen wollte, wie sehr Bagdad verdorben war und an einer unerträglichen Nachlässigkeit in Sachen Glauben litt. Es liegt nahe, dass er übertrieben und verzerrt, ja vielleicht alles zum Zweck der Polemik erfunden hat. Die anderen Fälle neutraler Gespräche sind Disputationen, die vor dem großen Khan der Mongolen stattfanden. Sie waren deshalb möglich, weil der Khan der Anführer eines Volks war, in dem mehrere Religionen nebeneinander existierten: Schamanismus, Buddhismus, Christentum nestorianischer Obedienz und Islam. Unsere einzigen Quellen darüber entstammen den Gesandten des Papsts, die gegen die Vertreter anderer Religionen argumentieren durften. Es nimmt nicht wunder, dass ihre Berichte sie als Gewinner darstellen. Es wäre auf jeden Fall übertrieben, Karakorum im Mittelmeerraum zu verorten.

Die böse Seite der Geschichte Man schreibt Karl Marx einen Satz zu, nach dem die Geschichte durch ihre böse Seite fortschreite. Der echte Satz ist weniger lapidar: „Die schlechte Seite ist es, welche die Bewegung ins Leben ruft, welche die Geschichte macht, dadurch, daß sie den Kampf zeitigt“ (c’est le mauvais côté qui produit le mouvement qui fait l’histoire en constituant la lutte).19 Dabei greift Marx die Hegel’sche Idee einer List der Vernunft auf, der es nicht an Plausibilität mangelt. In der Tat ist es möglich, dass die Kriege, ja zum Beispiel die Kreuzzüge, mehr zum Fortschritt der Kultur beigetragen haben als der Dialog und andere Mode gewordene Begriffe. Die kulturellen Einflüsse sind des Öfteren Folgen von Eroberungen. Vier Beispiele seien hier angeführt, in chronologischer Ordnung.20 1. Die Übersetzungen aus dem Griechischen ins Arabische im Bagdad des 9. Jahrhunderts wären nicht möglich gewesen ohne die arabische Eroberung des 7. Jahrhunderts und die Errichtung eines Reiches, das Bevölkerungsteile enthielt, die kulturell fortgeschrittener waren als die herrschende Oberschicht aus Arabien. Der Aufschwung der arabischen 18

19 20

Der Bericht befindet sich im biographischen Wörterbuch al-Humaydîs, Cairo 1953; auch zitiert z. B. in: Goodman, Lenn E.: Jewish and Islamic Philosophy. Crosspollinations in the Classic Age, Edinburgh 1999, S. VII. Marx, Karl: Misère de la philosophie, II, 1, in: ders.: Œuvres, Teil 1: Economie. Hrsg. von M. Rubel, Paris 1965, S. 89. Über die Verhältnisse unterrichtet Brague 2006 (wie Anm. 1), bes. S. 185–233.

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Rémi Brague

Sprache als Verwaltungssprache des neu gegründeten Reichs, besonders nach Abd al-Malik (685), ermöglichte die Entstehung eines gesamtmittelöstlichen Kulturraums, jenseits der Grenze, die bisher das byzantinische Zweistromland und Persien trennte. 2. Die Übersetzungen der Schule zu Toledo im 12. Jahrhundert setzten die 1085 erfolgte Eroberung der Stadt durch die Könige zu Kastilien voraus. Mit den Handschriften wurden auch diejenigen erobert, die sie lesen konnten, nämlich die Juden, die vor Ort geblieben waren. Um zu übersetzen, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: da zu sein und gebildet zu sein. Nun gehörten die Moslems, die nach der Eroberung geblieben waren, nicht den gebildeten Kreisen an. Die gebildeten Leute, die Beamten zum Beispiel, flohen im Sog ihrer Vorgesetzten. Die Juden waren mehr oder weniger neutral zwischen Christentum und Islam. Diese Mittelstellung hat ihnen auch böse Streiche gespielt. Es war nämlich leicht, ihnen vorzuwerfen, die Helfershelfer des jeweiligen Gegners zu sein. Auf jeden Fall sind sie auf Gedeih und Verderb in Toledo geblieben. Ihre Kenntnisse des Arabischen und der romanischen Alltagssprache erlaubten ihnen, als Vermittler zu fungieren. 3. Endlich wird des Öfteren, und mit vollem Recht, auf die Art und Weise hingewiesen, wie das islamische Kulturerbe zu den jüdischen Gemeinden Kataloniens und der Provence überging, dann nach Europa als Ganzem.21 Mit Recht erwähnt man die Bedeutung der Familie Ibn Tibbon, die drei Generationen von Übersetzern aus dem Arabischen ins Hebräische hervorbrachte. All das aber hätte sich nicht zugetragen, oder wenigstens nicht so früh, ohne ein an und für sich recht peinliches Ereignis: die schon erwähnte Machtergreifung durch die Almohaden und ihre Verfolgungspolitik gegenüber ihren nicht-muslimischen Untertanen. Jüdische Familien entschieden sich für das Exil und siedelten sich im Norden an, auf der christlichen Seite der Grenze, wohin sie ihre Lieblingsschriften mitnahmen. 4. Am bekanntesten ist wohl die Wanderung byzantinischer Gelehrter nach dem endgültigen Sturz von Konstantinopel durch die Türken 1453.22 In ihren Koffern brachten sie auch Handschriften nach Italien. Zwar war damals griechisches Gedankengut schon in Umlauf, und anzutreffen waren auch Griechen, die den Italienern und anderen Europäern Griechisch beibrachten. Der endgültige Charakter der türkischen Eroberung zwang aber dazu, die Hoffnung auf eine weitere Pflege des klassischen Erbes auf griechischem Boden aufzugeben. Man erlaube mir, meinen Beitrag mit einem meiner Meinung nach hübschen, aber etwas unangenehmen Beispiel zu beenden. Es zeigt das, was wirklich geschehen ist. Die Bibliothek des Palast-Klosters El Escorial, unweit von Madrid, enthält einen reichen Fundus arabischer Handschriften. Kein Wunder, bildet man sich ein, und man träumt nochmals vom Kulturerbe Andalusiens. In der Tat besteht dieser Fundus keineswegs aus 21

22

Vgl. die sehr wertvolle Synthese von Freudenthal, Gad: Les sciences dans les communautés juives médiévales de Provence: Leur appropriation, leur rôle, in: Revue des études juives 152 (1993), S. 29–136. Vgl. die Arbeiten von Geanakoplos, Deno John, insb.: Greek Scholars in Venice. Studies in the dissemination of Greek learning from Byzantium to Western Europe, Cambridge, Mass. 1962.

Mittelmeer als Mythos

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Handschriften, die die Christen fanden, als sie in Andalusien einmarschierten. Er kam auf dem Seeweg nach Spanien. Da löst sofort ein zweiter Traum den ersten ab: eben das Mittelmeer als Raum kulturellen Austauschs. In der Tat gehörte das mit Handschriften beladene Schiff einem Buchhändler und erlitt an der Küste Spaniens Schiffbruch!23 Es lag gar nicht in der Absicht der Seeleute, nach dem christlichen Spanien zu segeln. Die Fracht wurde zwar beschlagnahmt, aber erst ab dem 17. Jahrhundert von Gelehrten ausgebeutet.

Schluss All das mag sehr pessimistisch klingen. Nach dem französischen Romanschriftsteller ­Georges Bernanos ist ein Pessimist ein trauriger Idiot, ein Optimist dagegen ein glück­ licher Idiot24. Man versteht leicht, dass ich beide Extreme vermeiden möchte … Es scheint mir nützlich, darauf hinzuweisen, dass der Dialog der Kulturen oder wie das auch heißen mag, ein Dialog, der übrigens nicht nur wünschenswert, sondern notwendig ist, keine Tatsache der Vergangenheit ist, sondern der Zukunft. Es ist keine Sache der Erinnerung, sondern des Willens. Wir haben keine Vorbilder, keine echte Ahnengalerie. Dies ehrlich anzuerkennen könnte uns helfen, die heutigen Probleme anzugreifen, wo sie sind. Das wäre ein unumgänglicher erster Schritt, um zu versuchen, sie zu lösen. Die erste Bedingung, seine Träume in die Tat umzusetzen, ist, dass man wach wird.

Literatur Baer, Yitzhaq: Contribution à l’étude critique des disputations de R. Yehiel de Paris et de R. Moïse Nahmanide (Hebräisch), in: Tarbiz, Quarterly for Jewish Studies 2,2 (1931), S. 10. Baron, Shalom W.: Histoire d’Israël, Teil 1: Des origines au début de l’ère chrétienne, übers. von V. Nikiprowetzky, Paris 1956. Bernanos, Georges: La liberté pour quoi faire? In: Essais et écrits de combat. Hrsg. von Michel Estève [u. a.], Paris 1995. Brague, Rémi: Europa – seine Kultur, seine Barbarei. Exzentrische Identität und römische Sekundarität, 2. Aufl. Wiesbaden 2012. Braudel, Fernand: La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II, 2. Aufl. Paris 1966. Calabozo, Braulio Justel: La real biblioteca de el Escorial y sus manuscritos árabes. Sinopsis histórico-descriptiva, Madrid, Instituto hispano-árabe de cultura 1978 [non vidi]. Camus, Albert: L’Homme révolté, 5: La pensée de midi. Paris 1951. Cassiodoros: Institutiones, I, 1; Patrologia Latina, Bd. 70.

23 24

Vgl. Calabozo, Braulio Justel: La real biblioteca de el Escorial y sus manuscritos árabes. Sinopsis histórico-descriptiva, Madrid, Instituto hispano-árabe de cultura 1978 [non vidi]. Bernanos, Georges: La liberté pour quoi faire? In: Essais et écrits de combat. Hrsg. von Michel Estève [u. a.], Paris 1995, S. 1262.

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Rémi Brague

Fenton, Paul u. David G. Littman: L’Exil au Maghreb. La condition juive sous l’Islam 1148−1912, Paris 2010. Freudenthal, Gad: Les sciences dans les communautés juives médiévales de Provence: Leur appropriation, leur rôle, in: Revue des études juives 152 (1993). Geanakoplos, Deno John: Greek Scholars in Venice. Studies in the dissemination of Greek learning from Byzantium to Western Europe, Cambridge, Mass. 1962. Goodman, Lenn E.: Jewish and Islamic Philosophy. Crosspollinations in the Classic Age, Edinburgh 1999. Hübinger, Paul Egon (Hrsg.): Bedeutung und Rolle des Islam beim Übergang vom Altertum zum Mittel­ alter (Wege der Forschung CCII), Darmstadt 1968. Huntzinger, Jacques: Il était une fois la Méditerranée, Paris 2010. Khaldun, Ibn: Muqaddima, VI. Hrsg. von Eugène Quatremère, Paris, Institut de France, 1858, Bd. 3, S. 265; übers. von Franz Rosenthal, New York 1958, Lacoste, Yves: Géopolitique de la Méditerranée, Paris 2006. Lombard, Maurice: L’Islam dans sa première grandeur (VIIIe−XIe siècle), Paris 1971. Maimonides: Führer der Unschlüssigen, III, 48. Hrsg. Joël, Issachar, Jerusalem 1929. Marx, Karl: Misère de la philosophie, II, 1, in: ders.: Œuvres, Teil 1: Economie. Hrsg. von M. Rubel, Paris 1965. Menocal, Maria-Rosa: The Arabic Role in Medieval Literary History: A Forgotten Heritage, Philadelphia 1987. Nietzsche, Friedrich: Fragment 12 [144], Herbst 1881, in: ders.: Kritische Studienausgabe. Hrsg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Berlin 1980, Bd. 9. Pirenne, Henri: Mohammed und Karl der Große. Untergang der Antike am Mittelmeer und Aufstieg des germanischen Mittelalters, Frankfurt a.M. 1986. Proust, Marcel: Le Temps retrouvé, in: ders.: A la Recherche du temps perdu. Hrsg. von Pierre Clarac u. André Ferré, Paris 1954, Teil 3. Rousseau, Jean-Jacques: Considérations sur le gouvernement de Pologne, III, in: Œuvres Complètes. Hrsg. von Bernard Gagnebin u. Marcel Raymond, Paris 1964, Bd. 3. Sénac, Philippe: Provence et piraterie sarrasine, Paris 1995.

Mein Zukunftsort Europa ist eine supranationale Gemeinschaft, die ihre Verfassungsprinzipien ernst nimmt und sich in der Welt selbstbewusst für Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und echte Demokratie einsetzt, die ihre östliche Peripherie vor eurasischen Imperiums­ träumen schützt und ihre südliche Flanke einschließlich der arabischen Staaten im Maghreb und Maschrek unterstützt.

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Unser Meer: Das Mittelmeer zwischen Dekadenz, Nostalgie und Erneuerung Mein Kollege Rémi Brague legt in seinem Beitrag zu dieser Publikation die historische Dimension des Mittelmeerraumes und diesen als Erinnerungsort dar und warnt richtigerweise vor der Mythisierung des Südens. Ich möchte mich hier auf die Gegenwart und Zukunft der südlichen Peripherie beziehen und von aktuellen Herausforderungen, aber auch Chancen sprechen. Vorab drei Thesen: 1. D-Mark- und EUro-Nationalismus beschädigen die südliche Peripherie; das kurzsichtige Krisenmanagement des Nordens hat die Potenziale der südlichen EU-Länder unterminiert und Chancen, die der Arabische Frühling bot, vielleicht schon unwiederbringlich zerstört. 2. Chancen birgt auch keine konventionelle Wachstumsstrategie, sie liegen in einer grünen Entwicklung der Méditerranée, die auf Umwelt- und Meeresschutz, sanften Tourismus, nachhaltige Agrarwirtschaft, erneuerbare Energien, Ressourceneffizienz und intelligente Mobilität setzt. 3. Die Mittelmeerunion von 47 europäischen und arabischen Gesellschaften sowie Israel bleibt weit hinter ihren Möglichkeiten zurück; dabei wäre sie eine Matrix für eine neue Form regionaler Identität unterhalb supranationaler Staatenbünde (wie der EU) und oberhalb eines parochialen Separatismus (wie in Katalonien oder der Lombardei). 1. Tua res agitur, Europa, könnte man die Wahl zum Deutschen Bundestag im Jahr 2013 kommentieren. Zwar ging es im vorangegangenen Wahlkampf offiziell so gut wie nie um Europa, aber die Zukunft der Europäischen Union stand indirekt im Zentrum: Frau Merkel will sich die SPD in eine Große Koalition holen, weil die Eurokrise noch lange nicht

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ausgestanden ist (und diese lagerübergreifende Krisenprävention kennzeichnet auch die deutsch-französische Kooperation), und die AfD, neben einer populistischen Protestbewegung ja auch eine Art deutsch-nationales Professorenparlament, hat der antieuropäischen Stimmung Ausdruck verliehen, die sich in anderen Ländern noch viel stärker artikuliert. So gesehen war die Bundestagwahl nur die Ouvertüre zur Europawahl im Jahr 2014. Kollege Brague thematisiert den Nutzen und Nachteil der Historie. Methodologisch schwanken wir (nietzscheanisch gesprochen) zwischen der Überhistorisierung1, die kürzlich wieder Giorgio Agamben2 in seinem Rückgriff auf Alexandre Kojève mit der unhistorischen Konstruktion einer Latinität im Kampf gegen das teutonische Imperium vorgenommen hat, und einer ahistorischen und ebenso polemischen Betrachtung des Mittel­meerraums als Problemzone: hier zu viel, da zu wenig Geschichte. Stellen Sie sich bitte eine Landkarte der Mittelmeer-Region vor. Die Hafenstädte sind zwar noch Knotenpunkte globaler Netzwerke, aber ohne Eigensinn und Vitalität. Der äußere Eindruck, den Orte wie Genua und Almería, Palermo und Piraeus heute ­machen, entspricht dem aktuellen Bild der südeuropäischen Sorgenkinder Portugal, Italien, Griechen­land, Spanien, kurz: PIGS. Welcher Börsianer oder Eurokrat oder Clown auch immer sich dieses Schweine-Akronym ausgedacht haben mag, es steht für die Krise der gesamten Europäischen Union. Im Norden möchten viele das Quartett lieber heute als morgen loswerden, im Süden herrscht die passende Los-von-Brüssel-Stimmung. Und alle gemeinsam beschwören einen Nationalstaat, der noch weniger steuern und bewirken könnte als die zunehmend in Zweifel gezogene supranationale Gemeinschaft. Die europäische Peripherie von Portugal über die nordafrikanischen Staaten bis nach Griechenland erscheint seit einigen Jahren als Bedrohungszone, fast wie der Ostblock im Kalten Krieg. Im Süden – einst eine politische Himmelsrichtung, die in der populären Vorstellung und politischen Kultur eher positive und heitere Assoziationen weckte – orten Politiker und öffentliche Meinung heute die größten Sicherheitsrisiken: islamistischen Terror, Euro-Crash (mit einem Domino-Effekt auf die gesamte Finanzarchitektur) und Flüchtlingswellen aus dem globalen Süden. Diese akute Irritation ist freilich im genetischen Code des supranationalen Konstrukts Europa eingebaut, das Grenzen setzt, aber auch verhandelbar macht. Betrachtet man Landkarten Europas von der Antike an, ist das eigentlich nichts Besonderes – nicht nur die Außengrenzen Europas, sondern auch seine Binnengrenzen haben sich unendlich oft verschoben. Aber die Ära des Nationalismus und des Nationalstaates – mit seiner typischen Vorspiegelung der Übereinstimmung von Gebiet, Sprache, Geschichte und kollektiver Identität – hat hier eine Definitions-Sicherheit suggeriert, die eine poröse EU-Außengrenze noch weniger halten kann. Die Europäische Union, als supranationaler 1

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Flender, Armin: Artikel: Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, in: Schlüsselwerke der Kulturwissenschaften. Hrsg. von Claus Leggewie, Darius Zifonun, Anne Lang, Marcel Siepmann u. Johanna Hoppen, Bielefeld 2011, S. 144–147. Agamben, Giorgio: Que l’Empire latin contre-attaque! In: Libération vom 24. 3. 2013.

Unser Meer: Das Mittelmeer zwischen Dekadenz, Nostalgie und Erneuerung

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Abb. 1  Griechische und phönizische Kolonien im Mittelmeerraum, © Gepgepgep, Wikimedia Commons, lizenziert unter CreativeCommons-Lizenz cc by-sa 3.0, URL: http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.de

Zweckverband mit prinzipieller „Erweiterungsoffenheit“3 (Maurizio Bach), hat per se flüssige Grenzen; sie werden durch Europäisches Recht gesetzt und sind in den Grenzräumen notorisch umstritten. In der Mittelmeerregion – buchstäblich dem Mittel-Meer zwischen Europa, Afrika und Asien – wird diese fluide Begrenzung noch problematischer, weil sie eben nicht durch einen Grenzzaun oder entsprechende territoriale Markierungen zu symbolisieren ist, sondern sich buchstäblich am schwankenden Horizont verliert und nur durch gelegentliche Patrouillen behauptet werden kann. Hier dramatisiert sich eine Erfahrung der Globalisierung, die der Soziologe Georg Simmel4 schon vor gut hundert Jahren reflektiert hat: Grenzen sind soziale Tatsachen und kulturelle Setzungen, die sich räumlich formen (können). Die Europäische Union wird also am besten von ihren Grenzen her begriffen, dort aber wird ihre Souveränität auch am stärksten angegriffen. Letztlich drückt sich darin, um einen Gedanken Rémi Bragues5 aufzugreifen, ein uraltes Problem europäischer Identität aus, die schon immer exzentrisch war, weil vieles „Europäische“ aus (Klein-) Asien stammt, und exterritorial, weil Europa seine Errungenschaften auf friedliche wie kriegerisch-koloniale Weise in alle Welt exportierte. Schon oft war das Mittelmeer ein Hort der Unsicherheit, ja eine Kampfzone. Das hat zuletzt der fulminante Roman Zone 3 4 5

So Bach, Maurizio: Europa ohne Gesellschaft? Politische Soziologie der Europäischen Integration, Wiesbaden 2008. Zur Grenze als „soziologische Tatsache, die sich räumlich formt“: Georg Simmel: Soziologie (zuerst 1908), Frankfurt/M. 1992 (Gesamtausgabe Bd. 11). Brague, Remi: Europa – seine Kultur, seine Barbarei. Exzentrische Identität und römische Sekundarität, Wiesbaden 2012.

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des polyglotten, derzeit in Berlin lebenden Franzosen Mathias Énard in Erinnerung ge­ rufen, dessen finsterer Protagonist wie ein wütender Achill dem Echo früherer Schlachten lauscht und den neuesten Massakern nachfährt – „von Homers Trojanern bis zu Jean Genets Palästinensern, vom Spanischen Bürgerkrieg bis zum Algerienkrieg, von den Verbrechen der deutschen Besatzer in Griechenland und der Deportation der Juden aus Thessaloniki bis zum mörderischen Zusammenbruch des ehemaligen Jugoslawien“6. In Serbien nennt man das Mittelmeer gelegentlich den „blauen Friedhof “ und Syrien ist die vorläufig letzte Station dieser blutigen Historie. Eine realistische Mittelmeerpolitik muss sich dieser Gewaltgeschichte vergewissern, um sie nicht erneut durchmachen zu müssen. Zu lernen ist mit der Historisierung aber eben auch, auf welche Weise der mediterrane Raum mit seinen Hafenstädten und Inseln friedlich vernetzt und politisch, ökonomisch und kulturell verbunden war. Der Gedanke der Polis ist bekanntlich im Mittelmeerraum von einer der ersten Seemächte der Erde erdacht und erprobt worden – von den Stadtstaaten des Attischen Seebundes im fünften Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Ohne diesen Bund der Poleis idealisieren und übermäßig aktualisieren zu wollen, enthält er doch einen bedenkenswerten politischen Kern für die transnationale Kooperation heute: An die Stelle einer orientalischen Landmacht, der Despotie der Perser, trat als politische Macht ein für die damalige Zeit ungewöhnlicher, horizontaler Bund von Kleinstädten auf, die ihren Vollbürgern demokratische Mitwirkung einräumten.7 Waren die historischen Reiche (mit Ausnahme der Wikinger) terrestrisch geerdet, bildet das Meer in der Neuzeit die natürliche und systemische Umwelt des internationalen Staatensystems. Die marine Expansion unterscheidet sich wesentlich von der terrestrischen, da sie, wie schon gezeigt, nicht durch Grenzmarkierungen geleitet oder behindert war. Dieser praktische Universalismus und spontane Kosmopolitismus prägte das Seerecht und die weltumspannenden Handels- und Verkehrsbeziehungen, doch mehr und mehr als Funktion der terrestrischen Entwicklung, die auf der Konstitution, Konzentration und Kooperation national-staatlicher Systeme beruhte und das Mittelmeer ab dem 16. Jahrhundert in eine Randlage brachte. Noch etwas kommt hinzu: Ein Forscherkreis um die schweizerisch-slowenische ­Historikerin Desanka Schwara stellt den Mittelmeerraum als eine Verschachtelung von Diasporagemeinschaften dar.8 Ihre wichtigsten Trägergruppen waren Kaufleute, Seefahrer und Piraten, Personengruppen also, die ihrer Natur nach hochmobil sind, die auf ihre Bewegungsfreiheit achten und – im dezidierten Interesse an Gewinn und Beute – eher religiöse und großfamiliäre als nationale Bindungen und Loyalitäten eingegangen waren. Das Mittelmeer lag als ausgedehnter Raum für Waren, Passagiere und Ideen vor ihnen; 6 7 8

Ritte, Jürgen: Besprechung von Michel Énard: Zone. Berlin 2010, in: Neue Zürcher Zeitung vom 24. 11. 2010. Abulafia, David: Das Mittelmeer: Eine Biographie, Frankfurt / M. 2013. Schwara, Desanka: Kaufleute, Seefahrer und Piraten im Mittelmeerraum der Neuzeit. Entgrenzende Diaspora – verbindende Imaginationen, München 2011.

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Abb. 2  Die neue Mittelmeerunion, © Brigitte Wallinger / Österreichische Militärische Zeitschrift

sie machten es zu einem dichten Kommunikationsraum geteilter Weltbilder und rivalisierender Glaubensüberzeugungen, die sich in einem bunten Festkalender manifestierten. Dabei waren die Grenzen zwischen anerkanntem Handel und klandestinem Korsarentum, zwischen theologischem Disput und missionarischem Eifer durchaus fließend. Das Mittelmeer als große Diasporazone, in welcher „Routes“ (Wege) mehr gelten als „Roots“ (Wurzeln)9 – diese Sichtweise darf nicht zu einer Romantisierung von Mobilität und Entwurzelung führen, denn viele Migrationsfälle waren auch in früheren Epochen gewaltsam erzwungen. „Zerstreuung“, wie Diaspora wörtlich zu übersetzen wäre, ist nicht per se eine Brutstätte von Innovation und Kosmopolitismus, sie wird dazu nur unter günstigen Umständen urbaner Toleranz. Zu bevorzugen ist deshalb der neutralere Begriff der Netzwerke. Jedenfalls stellten die physischen Interaktionen und imaginierten Verbindungen im Mittelmeerraum kein klares Wir-Gefühl und keine territoriale Einheit her, sie schufen eher „margins“10, Zwischenwelten. Von besonderer Bedeutung für die Mittelmeerwelten seit den Phöniziern und Etruskern waren die Netzwerke zwischen den Stadtstaaten, deren Austausch auch für Fernand Braudel11 die faktische Einheit des Mittel­meerraums stiftete. Das bedeutet auch: Die Mittelmeerregion konnte das Zentrum der Welt und die Arena einer ersten Globalisierung sein, solange dieses Netzwerk funk 9 10 11

Nach Clifford, James: Routes, Cambridge 1997. Davis, Natalie Zamon: Women on the Margins. Three Seventeenth-Century Lives, Harvard 1995. Braudel, Fernand: La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II., Paris 1949.

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tionierte; ihr Einfluss und ihre prägende Kraft nahmen ab, als die Globalisierung auf die Atlantikachse ausgriff und die westfälische Ordnung konfessionell homogener Nationalstaaten und das Wettrennen um imperiale Einflusszonen die internationalen Beziehungen prägte. Man muss deswegen heute die urbanen Systeme in Erinnerung rufen, deren Vitalität auf einem öffentlichen Raum beruhte, der von allen (männlichen) Gemeinschaften frequentiert und geteilt wurde. In ihm entfaltete sich die Palette von Professionen, Nationen und Glaubensgemeinschaften, dort ließ sich ein hohes Maß an Heterogenität integrieren, das den Minderheiten und Außenseitern relativ großen Bewegungsspielraum gab und Emporkömmlingen soziale Aufstiege und politische Karrieren ermöglichte. Hier ent­wickelte sich ein welthistorisch außerordentlicher Reichtum an wiederum männlich dominierten Patronage- und Klientelsystemen, an Geschäftsbeziehungen und Freundschaftsnetzen, hier begegnete man sich in Tavernen, Kaffeehäusern und Festsälen, um sie herum pflegte man Armencaritas und standen die Bank- und Pfandhäuser12. Wenigstens kurz vermerkt sei die Tatsache, dass dieses „christliche Abendland“ stark durch jüdische und muslimische Minderheiten und Eliten beeinflusst und geprägt war. Wer derlei Reminiszenzen als „multikulturalistische“ Romantik abtut, irrt. Denn niemand leugnet die politisch-theologische Konkurrenz zwischen den monotheistischen Religionsgemeinschaften und die zum Teil mit Gewalt ausgetragenen Konflikte. Aber niemand sollte die Leistung dieser Epoche und damit auch ihren Vorbildcharakter für eine Mittelmeerunion neuen Typs verkennen, wie dies aus tagespolitischen Gründen seit 2001 zunehmend der Fall ist. Nüchtern zu konstatieren ist die Verlustgeschichte, die der Niedergang der mediterranen Welt und Vielfalt schon seit dem 16. Jahrhundert darstellt. Gleichwohl darf man in der akuten Krise nach Anschlüssen für eine polymorphe Gestaltung des heutigen Europa suchen, die das revitalisierte Netzwerk der Stadtstaaten ohne Imitationszwang zum Vorbild und zur Drehscheibe einer euro-mediterranen Einigung erhebt. So würde das Mare nostrum endgültig entkolonialisiert und seine nationalen, ethnischen und religiösen Antagonismen entschärft. In den Küstengebieten und Inselzonen des Mittelmeers sind die Stadtstaaten mit hohem Autonomiebewusstsein zunächst als Antipoden gegen die Flächenstaaten aufgetreten und haben später als lebendige und selbstbewusste Enklaven in ihnen gewirkt. Hier am Mittelmeer entwickelten sich der Typus der neuzeitlichen Stadt und ein starkes Muster von Urbanität und Urbanisierung schlechthin, das bis ins 19. Jahrhundert hinein, bis zur Herausbildung und Dominanz der amerikanischen (Vor-)Stadt maßgeblich geblieben ist. Auch heute noch leben an diesem Meer die meisten Menschen an den Küstenstreifen und Deltas (am dichtesten in der zusammenwachsenden Metropolregion Kairo/Alexandria, in Mega-Citys wie Istanbul, in den Agglomerationen um Athen, Algier, Rom, Marseille und Barcelona. Das Nachtbild der urbanen Leuchtpole zeichnet den Küstenverlauf wie eine Lichterkette nach.

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Cowan, Alexander Francis: Mediterranean urban culture 1400–1700, Exeter 2000.

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2. Die Gründe, warum die soziale und ökonomische Entwicklung in eigentlich allen Ländern des Mittelmeerraumes in den vergangenen Jahrzehnten relativ schleppend verlaufen ist, werden derzeit viel diskutiert (und ethnisiert). Zum einen haben die Volkswirtschaften den Anschluss an die kapitalistische Globalisierung der 1970er Jahre verpasst, indem sie sich zu stark auf Renteneinkommen aus den Rohstoff- und Agrarexporten, aus dem Tourismus und aus Überweisungen der Arbeitsmigranten verlassen haben. Das ist hausgemacht. Zum anderen haben sich Teile derselben Ökonomien seit den 1980er Jahren rasant und schutzlos dem globalen Kasino- und Kamikaze-Kapitalismus angepasst, indem diese Renteneinnahmen, auf der Grundlage eigentlich anachronistischer Staats­ apparate und Gesellschaftsstrukturen, überwiegend in spekulative Immobilien- und Finanzgeschäfte flossen – mit den heute manifesten Folgen. Solche mentalen und institutionellen Pfadabhängigkeiten sind schwer zu überwinden, doch ist von den krisengeschüttelten Gesellschaften nicht weniger verlangt als ein radikaler Richtungswechsel. Gelingen kann das nicht durch Zwang von außen, sondern nur im Rahmen einer gesamt­ europäischen Nachhaltigkeitsoffensive, die von der unguten Mischung aus pauschalem Sparzwang und blinder Wachstumsoffensive ablässt. Eine Mittelmeerunion neuen Typs benötigt einen anspruchsvolleren und weiterreichenden Rahmen, in dem die losen und disparaten Versatzstücke der bisherigen Mittelmeerpolitik aufeinander abgestimmt und nachhaltiger ausgestaltet werden. Eine solche Konvergenz würde die Entkolonisierung vollenden und den südeuropäischen EU-Staaten eine wichtige Rolle übertragen. Die Jugend des Mittelmeerraums, das hat Kanzlerin Merkel nur rhetorisch anerkannt, braucht eine solche Perspektive jenseits von Stagnation und Abwanderung, von Pauperisierung und Unsicherheit, Autoritarismus und Gewalt. Fünf exemplarische Politikfelder13 drängen sich hier auf, nämlich Energieversorgung, Tourismus, Außenhandel, Umweltschutz und Wissensökonomie. a) Primärenergieversorgung und Exportmuster der südlichen Peripherie reflektieren bisher nur ganz schwach das große Potenzial, das erneuerbare Energien in dieser von Sonne und Wind durchfluteten Zone haben. Um es zu heben, müssen aber nicht nur er­ neuer­bare Energien aus dem Süden in das nordeuropäische Stromnetz eingespannt werden, sie müssen vor allem eingesetzt werden für eine nachhaltige Entwicklung in den Ländern selbst und in Afrika südlich der Sahara. Der Circulus vitiosus zwischen Ölabhängigkeit, klimaschädlichem Wirtschaften und Verschuldung kann so durchbrochen werden. b) Immer noch entfällt rund ein Drittel des globalen Tourismus auf die Mittelmeerregion, deren Infrastruktur und Mentalität er zutiefst geprägt hat. Zugleich hat der Massen­tourismus über die Jahrzehnte hinweg gravierende ökologische und ökonomische Kollateralschäden verursacht. Notwendig ist deshalb der Wandel einer rücksichtslosen Masseninvasion aus dem Norden bzw. den Dienstleistungszentren des Südens in die

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Der Abschnitt folgt jetzt Leggewie, Claus: Zukunft im Süden. Wie die Mittelmeerunion Europa wiederbeleben kann, Hamburg 2012.

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Zielgebiete in eine respektvolle und kreative Begegnung der Kulturen des Nordens und Südens. c) Die Mittelmeerländer sind trotz der industriellen Entwicklung und der Herausbildung eines Dienstleistungssektors eingespannt geblieben in eine asymmetrische Arbeitsteilung mit den reichen EU-Ländern, die sie in dauerhafter Abhängigkeit gehalten und bis in die 1980er Jahre hinein und jetzt erneut Abwanderung von unqualifizierter und qualifizierter Arbeitskraft erzeugt hat. Notwendig sind deshalb die Aushandlung einer umweltverträglichen, wesentlich stärker auf lokale Bedürfnisse und Märkte eingestellten Agrarökonomie, ein fairer Handelsaustausch und ein vernünftiges Migrationsregime. d) Des Weiteren muss die verletzliche ökologische Basis des Meeres geschützt werden, indem nachhaltige Fischerei, präventiver Küstenschutz und angemessene Offshore-­ Energiedienstleistungen gefördert und die Méditerranée im europäischen Bewusstsein wieder „unser Meer“ wird. e) Im Mittelmeerraum fehlt schließlich eine nachhaltige, lokal kolorierte Wissensökonomie, die kulturelle und religiöse Grenzen überwindet und am Schicksal der Völker ausgerichtet ist. Die historischen Interaktionen sind zwar abgebrochen, aber an Vorbildern mangelt es wahrlich nicht. Abgerundet werden muss das umfassende Transformationsprogramm durch eine an den Bedürfnissen der jungen Generation ausgerichtete Verstetigung der kulturellen und wissenschaftlichen Kooperation im Rahmen der bestehenden EU-Programme (Erasmus, Leonardo da Vinci, Jean Monnet) und der entsprechenden Abschnitte in den Assozia­ tions­abkommen. Nur wenn man sie auf Energiewende, sanften Tourismus, fairen Handel und maritime Entwicklung bezieht (weitere Beispiele sind möglich), ergeben die „Rettungsschirme“ und „Strukturhilfen“ der EU mittel- und langfristig Sinn, nur dann kann eine ungenaue Ad-hoc-Sanierung in nachhaltige Entwicklung münden und aus der politischen Vormundschaft des Nordens eine politische Kooperation auf Augenhöhe werden. Natürlich können diese (im Blick auf das bisherige Krisenmanagement kontrafaktischen) Entwicklungschancen hier nur grob umrissen werden; wichtig ist, dem Wachstumspakt der EU-Länder in der öffentlichen Debatte und bei den Entscheidungseliten zukunftsweisende Perspektiven zu bieten, die in der Konsequenz auch eine institutionelle Reform der EU und der Mittelmeerunion nach sich ziehen. 3. Zur Frage eines neuen Regionalismus nur eine kurze Bemerkung zum Abschluss. Zwischen marktgetriebener Globalisierung und reaktiver Renationalisierung entwickeln sich heute weltweit neue Makro-Regionen. Ihre Reichweite übersteigt die parochiale Selbstbezogenheit kleiner Regionen und regionalistischer Bewegungen, die sich von größeren (nationalstaatlichen) Einheiten absetzen und abspalten (Beispiele: die schottische, lombardische oder katalanische Autonomiebewegung). Unterstützt werden kann diese Regionalisierung durch neue Formen transnationaler Staatsbürgerschaft, die in der Makro-­Region auch eine politische Partizipationsebene unterhalb der Nationalstaaten, aber quer durch die Regionen bietet. Regionen werden herkömmlich definiert als Teilgebiete eines größeren Raums, als Ausdehnungen in der Fläche, wie sie für den modernen Territorialstaat typisch ist. In der Regel haben Nationalstaaten territoriale Unter-

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gliederungen; wie die Diversität der Regionen innerhalb der EU zeigt, haben diese ganz unterschiedliche Zuschnitte und Kompetenzen. Zu unterscheiden sind funktionale und homogene Aspekte der Regionsbildung: Für die kollektive Identität einer Region sind naturräumlich-ökologische und vor allem symbolisch-kulturelle (darunter sprachlich-dia­ lektale) Verbindungen bedeutsam, für die funktionale Verbindung sorgen Gebiets­körper­ schaften und wirtschaftliche Arbeitsteilungen. Sind die Regionen der EU in der Regel sektoral-differenzierende Einheiten föderaler Natur, die als Arenen der Regional- und Strukturpolitik genutzt werden, werden aber auch grenzüberschreitende Regionsbildungen mit transnational-integrierender Funktion möglich und empfehlenswert. Die Mittelmeerunion stellt (ähnlich wie andere Zielgebiete der europäischen Nachbarschaftspolitik) eine überdurchschnittlich große, bisher wenig funktionale und identitätsstiftende Einheit dar.14 Stärkere Verbindlichkeit erlangt haben Makroregionen an der Ostsee und im Donau- bzw. Alpen-Adria-Raum,15 in geringerem Maße gilt dies auch für die Anrainerregionen der Nordsee. Mitgliedschaft und Teilhabe in regionalen Verbünden sind nicht exklusiv, denkbar ist vielmehr eine Union multipler und überlappender Zugehörigkeitskreise, die wesentlich von unten wächst und sich an transnationalen Problemen ausrichtet.16 In ihrem Kern können etwa vernetzte Metropolregionen stehen, aber auch historische Kulturbeziehungen oder ökologische Problemzonen mit ähnlich gelagerten Herausforderungen. Auch Städtepartnerschaften, regionalstaatliche Allianzen und kulturpolitische Netzwerke können transnationale Synergien und Netzwerke hervorbringen. Ein territorialer Zusammenhang ist hier nicht erforderlich und auch nicht erwünscht; eher sind Makroregionen virtuelle Räume, die sich lebensweltlich konkretisieren und ent­wickeln.

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3. Europa in der Krise

Europa überwindet sein Legitimationsdefizit durch weise Beschränkung auf diejenigen Aufgaben, welche die Mitgliedstaaten nicht mehr erfüllen können, und durch Stärkung der eigenen Demokratie und Verzicht auf die Schwächung der mitgliedstaatlichen Demokratie.

Dieter Grimm

Demokratie in Europa Europäische Demokratie ist nicht dasselbe wie staatliche Demokratie. Der Grundsatz jeder staatlichen Demokratie lautet: Die Staatsgewalt geht vom Volk aus. Der Grundsatz der europäischen Demokratie lautet: Die Unionsgewalt geht von den Mitgliedstaaten aus. Damit wird nicht behauptet, dass der Europäischen Union die demokratische Legitimation fehle. Aber es wird gesagt, dass ihre demokratische Legitimation durch die ihrerseits demokratischen Mitgliedstaaten vermittelt ist. Sie ist Fremdlegitimation, nicht wie im Staat Eigenlegitimation. Woran zeigt sich das? Es findet zunächst in der Rechtsgrundlage der EU Ausdruck. Die EU leitet nicht nur ihre Existenz von den Mitgliedstaaten ab. Diese haben sie ins Leben gerufen, ihre Zwecke bestimmt, ihre Organisation festgelegt und ihr diejenige öffentliche Gewalt übertragen, welche sie zur Erreichung ihrer Zwecke benötigt. Die Mitgliedstaaten behalten sich auch das weitere Bestimmungsrecht über die EU vor. Denn die Rechtsgrundlage der EU ist ihrer Rechtsnatur nach nicht eine Verfassung, sondern ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen den Mitgliedstaaten, der wiederum nur von diesen geändert werden kann. Die Unionsbürger kommen dabei nicht vor. Weder stimmen sie über den Vertrag ab noch wird er vom Europäischen Parlament, das die Unionsbürger repräsentiert, ratifiziert. Es wird nur angehört, entscheidet aber nichts. Dagegen kommen die Völker der Mitgliedstaaten ins Spiel. Der von ihren Staatsund Regierungschefs geschlossene Vertrag muss in jedem Mitgliedstaat ratifiziert werden, und zwar in dem Verfahren, das die nationalen Verfassungen vorschreiben. Auf der Staatenseite sind die Bürger also beteiligt, entweder direkt oder durch ihre gewählten Repräsentanten, aber eben als Staatsbürger, nicht als Unionsbürger. Sie entscheiden, ob ihr Staat den Vertragsschluss der Staats- und Regierungschefs billigt, und das Nein eines einzigen Staates genügt, um den Vertrag scheitern zu lassen. Die Eigenart der europäischen Demokratie kommt aber auch in dem Organisationsmodell zum Ausdruck, das die Mitgliedstaaten der EU gegeben haben und das auch durch die verschiedenen Vertragsänderungen in seinem Kern nicht berührt wurde. Dieses Modell war anfangs so beschaffen, dass die Akte öffentlicher Gewalt der EU

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ihre ­demokratische Legitimation allein von den Mitgliedstaaten empfingen. Das zentrale Organ der EU ist der Rat, heute aufgespalten in den Europäischen Rat, in dem die Staats- und Regierungschefs Sitz und Stimme haben und dem die Leitentscheidungen zustehen, und den Rat, in dem die Mitgliedstaaten durch die jeweils zuständigen Minister vertreten sind und der als Gesetzgeber fungiert. Lange Zeit war er sogar der alleinige Gesetzgeber der EU. Das zentrale Organ der EU ist also nicht ein Parlament, sondern ein Gremium, das aus den Exekutivorganen der Mitgliedstaaten besteht. Das bedeutet wiederum nicht, dass dieses Gremium undemokratisch ist, denn die Regierungen der Mitgliedstaaten sind ihrer­seits demokratisch legitimiert, indem sie aus Wahlen hervorgehen, aber eben aus nationalen Wahlen, nicht aus europäischen. Es führte also eine ununterbrochene Legitimationskette von den Völkern der Mitgliedstaaten über die nationalen Staatsorgane zum Rat und weiter zu den rein europäischen Organen Kommission und Gerichtshof, die ihrerseits an den Willen der Mitgliedstaaten gebunden waren, wie er in den Verträgen und den vom Rat beschlossenen Gesetzen Ausdruck fand. Dagegen hatte das Europäische Parlament in der ursprünglichen Organstruktur keine legitimationsspendende Funktion. Es war nur als beratende Versammlung vorgesehen, die nicht direkt gewählt wurde, sondern sich aus nationalen Parlamentariern zusammensetzte und keine Entscheidungsbefugnis besaß. Seit 1979 wird es direkt gewählt, und nach und nach sind ihm durch Vertragsänderungen auch Entscheidungsbefugnisse eingeräumt worden. Das hatte etwas damit zu tun, dass ab einem bestimmten Entwicklungsstand der europäischen Integration die von den Mitgliedstaaten vermittelte demokratische Legitimation nicht mehr ausreichte. Bis zum Jahr 1986 galt das Einstimmigkeitsprinzip nicht nur für Änderungen der Europäischen Verträge, sondern auch für Gesetzesbeschlüsse des Rats. Die Einstimmigkeit sicherte die demokratische Legitimation der europäischen Gesetzgebung. Kein Mitgliedstaat war einem Gesetz unterworfen, dem er nicht durch seine demokratisch legitimierten und verantwortlichen nationalen Organe zugestimmt hatte. Mit der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 wurde das Einstimmigkeitserfordernis im Rat aufgegeben. Nun konnte es also vorkommen, dass auf dem Territorium eines Mitgliedstaats Gesetze galten, die seine demokratisch legitimierten und kontrollierten Organe ausdrücklich abgelehnt hatten. Damit war die Legitimationskette von den Mitgliedstaaten zum europäischen Hoheitsakt, jedenfalls für die überstimmten Staaten, unterbrochen. Die dadurch entstandene Legitimationslücke konnte nur durch eine europäische Legitimation geschlossen werden. Das war die Stunde des Europäischen Parlaments. Es bekam nun Mitentscheidungsbefugnisse, die sich seitdem ständig erweitert haben. Infolgedessen gibt es keine monistische Legitimation mehr, sondern eine dualistische. Ein Legitimationsstrom verläuft weiter von den Mitgliedstaaten, einer von den Unionsbürgern zur EU. Der Letztere beschränkt sich jedoch auf die Ausübung europäischer Hoheitsgewalt, während es für die Einrichtung und Ausgestaltung der europäischen Hoheitsgewalt bei der alleinigen Legitimation durch die Mitgliedstaaten bleibt.

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Der L ­ issabon-Vertrag hat zwar das Vertragsänderungsverfahren neu geregelt, aber den Mitgliedstaaten nicht aus der Hand genommen. Kann man dann wenigstens für die Ausübungsebene sagen, dass das gewählte Parlament und nicht der von den Mitgliedstaaten beschickte Rat das zentrale legitimationsspendende Organ der EU ist? Dazu muss man sich das Organgefüge der EU nach dem Lissabon-Vertrag näher anschauen. Dem Vertrag zufolge stehen die großen Richtungsentscheidungen dem Europäischen Rat zu. Der aus Ministern der Mitgliedstaaten gebildete Rat ist das Hauptgesetzgebungsorgan der EU, aber nicht das alleinige. Gesetzgebungs­ initiativen kann nur die Kommission ergreifen. Das Europäische Parlament hat abgestufte Mitentscheidungsbefugnisse. Es zieht aber nicht mit dem Rat gleich. Es kann Gesetz­ gebungsvorhaben des Rats beeinflussen und verhindern, aber nicht selbst Gesetze geben. Obwohl nun an der Bildung der Kommission beteiligt, ist das Parlament auch hier dem Rat unterlegen. Der Kommissionspräsident wird vom Europäischen Rat vorgeschlagen und vom Europäischen Parlament gewählt. Bei dem Vorschlag sollen die Mehrheitsverhältnisse im Parlament berücksichtigt werden. Das wurde 2014 erstmals relevant. Die ­übrigen Mitglieder der Kommission, eines je Mitgliedstaat, werden vom Rat im Einvernehmen mit dem Kommissionspräsidenten benannt. Das Kollegium bedarf der Zustimmung des Parlaments. Der Europäische Rat ernennt sodann die Kommissare. Das Europäische Parlament kann die Kommission durch Misstrauensvotum zum Rücktritt zwingen. Das europäische Modell lässt sich also nicht als parlamentarische Demokratie charakterisieren. Zum einen ist die Europäische Kommission keine Regierung. Dazu fehlt es ihr an der Befugnis zu Richtungsentscheidungen, die dem Europäischen Rat, also den Spitzen der Mitgliedstaaten, vorbehalten ist. Zum anderen geht die Kommission nicht aus dem Parlament hervor. Es wirkt nur an ihrer Bildung mit und kann sie stürzen. Für ihre laufende Arbeit, die Verwirklichung des im Vertrag und in den Gesetzen festgelegten Integrationsprogramms, ist sie nicht auf eine parlamentarische Mehrheit angewiesen. Das Ergebnis der Parlamentswahlen ist für den Rat nur insofern relevant, als er es bei der Nominierung des Kommissionspräsidenten berücksichtigen soll. Für die Kommission ist es kaum relevant, weil ihre Hauptaufgabe in der Durchsetzung des Integrationsprogramms besteht, das vertraglich und gesetzlich festgelegt ist und daher nicht von parlamentarischen Mehrheiten abhängt. Was die demokratische Legitimation der EU-Organe angeht, ist das Bild vielgestaltig. Eine direkte europäische Legitimation genießt allein das Parlament. Umgekehrt sind der Europäische Rat und der Rat allein von den Mitgliedstaaten legitimiert. Die Kommission kann sich auf eine gemischte Legitimation stützen. Die Berufung der Mitglieder des Euro­päischen Gerichtshofs (EuGH) ist Sache der nationalen Regierungen. Er arbeitet aber im Schutz der richterlichen Unabhängigkeit. Aussagekräftig wird dieser Befund allerdings erst, wenn man die Legitimation in Bezug zu den Kompetenzen setzt. Dann ergibt sich, dass das einzige ausschließlich europäisch legitimierte Organ, das Parlament, das schwächste im europäischen Organgefüge ist. Diese Schwäche wird noch durch seine verminderte Repräsentativität vergrößert, die sich

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aus der Inkongruenz von Parteien, die zur Wahl stehen, und Fraktionen, die im Parlament agieren, ergibt. Verglichen mit der staatlichen Demokratie schneidet die europäische also schlechter ab. Aber die EU ist kein Staat, und deswegen darf man ihre Demokratie auch nicht an der staatlichen messen. Der Vergleich zwischen staatlicher und europäischer Demokratie ist nützlich zur Erkenntnis der Unterschiede. Er taugt aber nicht zur Bewertung der europäischen Demokratie. Das heißt freilich nicht, dass die europäische Demokratie gar nicht bewertet werden dürfte. Sie muss im Gegenteil bewertet werden, weil die Verträge Demokratie vorschreiben und das Grundgesetz die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU nur insoweit erlaubt, als diese ein angemessenes Demokratieniveau erreicht. Das Demokratieniveau der EU wird vielfach als defizitär betrachtet, selbst wenn man es nicht mit staatlichen Maßstäben misst. Die Ursache dafür wird meist in der eben beschriebenen Organisationsstruktur der EU gesucht. Dabei steht die relative Schwäche des einzigen europäisch legitimierten Organs, des Parlaments, im Vordergrund. In der Stärkung des Parlaments wird daher von vielen die Lösung des europäischen Demokratie­ defizits erblickt. Die Vorschläge laufen in der Regel darauf hinaus, das Europäische Parlament mit allen Befugnissen auszustatten, die nationale Parlamente üblicherweise haben, also: Gesetzgebung, Budgetfeststellung, Regierungsbildung, Regierungskontrolle. Das könnte nicht ohne Veränderung bei den anderen Organen gelingen. Benötigt würde eine Regierung im staatlichen Sinn, für die nur die Kommission in Betracht kommt, die im Gegenzug vom Parlament abhängig würde. Der große Verlierer wäre der Rat, der in eine Zweite Kammer des Parlaments, eine Art Staatenkammer, umgewandelt würde. Für ­manche bildet die Wahl eines europäischen Präsidenten den Abschluss der Reform. Erkennbar steht hier das Modell des Bundesstaates Pate, und in der Tat würde sich die EU nach einer derartigen Reform einem Bundesstaat strukturell stark annähern. Die Frage lautet, ob damit das Demokratieproblem gelöst wäre. Das würde voraussetzen, dass die EU legitimationsschwach ist, weil das zentrale legitimationsvermittelnde Organ nicht das von den Unionsbürgern gewählte Parlament, sondern der von den nationalen Regierungen beschickte Rat ist. Unter dieser Voraussetzung wäre die Umstellung von Fremdlegitimation durch die Mitgliedstaaten auf Eigenlegitimation durch das Parlament das geeignete Mittel. Eine parlamentsvermittelte Demokratie bezieht ihre Stärke allerdings nicht nur aus den Befugnissen des Parlaments. Es kann seine demokratische Funktion vielmehr nur erfüllen, wenn es in einen permanenten Prozess politischer Meinungsbildung und Interessenartikulation des Publikums eingebettet ist, der in der Wahl gipfelt, sich aber nicht in ihr erschöpft. Es muss vielmehr eine dauerhafte Verbindung zwischen Publikum und Repräsentativorgan geben, damit die Vorstellungen und Bedürfnisse des Publikums im Parlament Ausdruck finden und in die politische Willensbildung eingehen. Nationale Parlamente leisten das mehr oder weniger gut. Dem Europäischen Parlament fällt diese Leistung schwer. Damit wird nicht ein Versagen behauptet, sondern eine strukturelle Schwäche festgestellt, die dem Parlament selbst nicht angelastet werden kann. Es sind die gesellschaftlichen Voraussetzungen einer lebendigen Demokratie, an

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denen es in der EU fehlt und die folglich die Vermittlungsfunktion des Parlaments beeinträchtigen. Die europäische Kommunikation ist im Vergleich mit der nationalen schwach ausgebildet. Wesentliche Akteure fehlen. Es gibt keine europäischen Parteien, sondern rund 200 nationale Parteien, die Abgeordnete ins Europäische Parlament entsenden. Eine Europäisierung findet erst im Parlament selbst statt, in dem sich die Parteien zu relativ lockeren europäischen Fraktionen zusammenschließen. Auf der nationalen Ebene sind die politischen Parteien eine wichtige Triebkraft des Kommunikationsprozesses. Für den europäischen Kommunikationsprozess fehlt es daran. Deswegen hat auch das Europäische Parlament Schwierigkeiten, eine europaweite Meinungsbildung zu generieren und in die Entscheidungsprozesse der anderen Organe ­hinein zu vermitteln. Es ist nach oben hin offen, nach unten aber verstopft. Schwach ausgebildet sind ebenfalls die europäischen Verbände, Organisationen und Bürger­ bewegungen. Vollends fehlt es an europäisierten Medien und damit an dem wichtigsten Mechanismus europäischer Meinungsbildung. Das Europäische Parlament ist also von seiner gesellschaftlichen Basis, den Unionsbürgern, weiter entfernt als die nationalen Parlamente von den Staatsbürgern, und es ist nicht zu erwarten, dass sich das kurzfristig ändern lässt. Die Voraussetzungen für eine Behebung des Demokratiedefizits durch eine Stärkung des Parlaments sind also nicht günstig. Man darf aber beim Parlament nicht stehen bleiben. Ins demokratische Kalkül muss auch eingehen, dass eine Vollparlamentarisierung der EU auf Kosten der demokratischen Legitimation ginge, die der EU durch die Mitgliedstaaten zugeführt wird. Der von den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten gebildete Europäische Rat würde nur noch bei Vertragsänderungen benötigt, der aus nationalen Ministern bestehende Rat würde mit dem Parlament die Rollen tauschen. Die Verselbstständigung der EU von ihren mitgliedstaatlichen Trägern schritte weiter fort, ohne dass ihre Eigenlegitimation zunähme. Die Legitimationslücke würde sich verbreitern. Die Verwirklichung der institutionellen Reformen würde also, aufs Gesamte ge­ sehen, zu einer Legitimationsminderung, nicht zu einer Steigerung führen. Die Situation verschärft sich aber dadurch, dass es noch ein weiteres, jedoch selten bemerktes Demokratieproblem gibt, das man mit einer Umgestaltung des institutionellen Gefüges gar nicht beheben könnte, denn es unterläuft das institutionelle Gefüge. Es geht darum, dass in der EU Entscheidungen von großer politischer Tragweite in einem demokratiefernen unpolitischen Modus gefällt werden. Sie erfolgen auf administrativen und judikativen Pfaden in einer Weise, dass weder Parlament noch Rat darauf Einfluss haben, also gerade die legitimationsspendenden Organe. Wie das? Die Erklärung liegt in einer Eigenart der Rechtsgrundlage der EU. Sie besteht nicht, wie im Staat, in einer Verfassung, sondern in völkerrechtlichen Verträgen, die von den Mitgliedstaaten geschlossen und im Lauf der Zeit mehrfach geändert wurden, stets im Weg des Vertragsschlusses. In zwei bahnbrechenden Urteilen hat der EuGH diese Verträge für innerstaatlich direkt geltend, also nicht nur die Staaten verpflichtend, sondern auch deren Bürger berechtigend, und zudem für vorrangig gegenüber dem nationalen Recht erklärt einschließlich dem höchstrangigen, den nationalen Verfassungen. Dieser

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umwälzende Vorgang – umwälzend, weil im Text der Verträge so nicht vereinbart – ist nicht ohne Grund als „Konstitutionalisierung“ der Verträge gedeutet worden. Sie haben Eigenschaften und erfüllen Funktionen, die in den Mitgliedstaaten der Verfassung zukommen. Gleichwohl unterscheiden sie sich stark von einer Verfassung. Verfassungen setzen dem Staat Ziele und Grenzen und legen die Spielregeln für politische Entscheidungen fest, überlassen die Entscheidungen selbst aber dem demokratischen Prozess, so dass die Wahlen Einfluss auf die Politik haben. Diese Differenz ist für die Leistung der Verfassung zentral. Demgegenüber begnügen sich die Europäischen Verträge nicht damit, sondern legen selbst viele Politiken fest. Sie sind voll von Bestimmungen, die im Staat nicht in der Verfassung stünden, sondern im Gesetz geregelt würden, zum Beispiel das gesamte Wettbewerbsrecht. Das ist auch der Grund dafür, dass die Verträge weit umfangreicher sind als Verfassungen. Durch die Rechtsprechung des EuGH sind sie nun aber mit Verfassungsrang versehen. Das hat erhebliche Weiterungen. Was auf Verfassungsebene geregelt ist, entzieht sich dem politischen Prozess und ist damit auch dem Einfluss der Wahl ent­zogen. Es muss nur noch ausgeführt und umgesetzt werden. Das ist Sache der Kommission und im Konfliktfall des EuGH. Im Unterschied zur Rechtsetzung, die politische Entscheidungen verlangt, ist die Rechtsanwendung vom geltenden Recht determiniert und insofern unpolitisch. Allerdings darf man die Determinationskraft von Rechtsnormen nicht überschätzen. Rechtsnormen gelten für eine Vielzahl künftiger Fälle, die nur begrenzt vorhersehbar sind. Sie werden deswegen generell und abstrakt formuliert. Die Fallkonstellationen, auf die sie angewandt werden, sind dagegen individuell und konkret. Die Kluft zwischen abstrakt-genereller Norm und konkret-individuellem Fall muss durch Interpretation überbrückt werden. Die Interpretation wäre aber missverstanden, wenn man sie für die Ermittlung eines in der Norm vorgegebenen und feststehenden Sinns hielte. Für die Normanwendung auf den Fall bestehen immer größere oder kleinere Spielräume. Diese werden durch die juristische Interpretationsmethode zwar eingeengt. Aber die Methode ist kein neutrales Mittel, um einen vorgegebenen Sinn zutage zu fördern. Methode ist ihrerseits wieder ein Gegenstand von Auswahlprozessen. In der Interpretation wird Sinn nicht nur ermittelt, sondern auch konstituiert. Die Methodenwahl präjudiziert das Ergebnis. Der EuGH, der der authentische Interpret des Unionsrechts ist, hat die Verträge von Anfang an nicht nach dem Muster ausgelegt, das für völkerrechtliche Verträge gebräuchlich war. Erkenntnisziel ist im Völkerrecht primär der Wille der vertragschließenden Staaten, und souveränitätsbeschränkende Normen sind eng auszulegen. Der EuGH hat dagegen die Verträge wie Verfassungen behandelt, bei denen das Erkenntnisziel der objektivierte Zweck der Norm ist und Souveränitätsinteressen keine Rolle spielen, denn im Staat gibt es, anders als im Völkerrecht, nicht mehrere Souveräne, sondern nur einen. Im Ergebnis hat das zu einer Ausnutzung der Spielräume geführt, die außerordentlich integrationsfreundlich war. Gerade in den Zeiten, als die Integration politisch stagnierte, war es der EuGH, der sie juristisch entschieden vorangetrieben hat.

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Das zeigte sich schon bei den beiden bahnbrechenden Entscheidungen von 1963 und 1964, in der die unmittelbare Anwendbarkeit des europäischen Rechts in den Mitgliedstaaten und sein Vorrang vor nationalem Recht festgestellt wurden. Mit unmittelbarer ­Anwendbarkeit war nicht nur gemeint, dass europäisches Sekundärrecht keiner Transformation in nationales Recht bedurfte. Das ergab sich bereits aus dem Text der Verträge. Neu war dagegen, dass die vier wirtschaftlichen Grundfreiheiten, nämlich freier Verkehr der Waren, Dienstleistungen, Kapitalien und Personen, nicht als Direktiven für die Gesetzgebung betrachtet wurden, sondern als Grundrechte der Wirtschaftssubjekte, die diese vor den Gerichten der Mitgliedstaaten einklagen konnten. Vorrang des Europarechts vor dem nationalen Recht hieß infolgedessen nicht, dass die Mitgliedstaaten völkerrechtlich verpflichtet waren, entgegenstehendes nationales Recht aufzuheben, sondern dass es bei einem Widerspruch ohne weiteres unanwendbar wurde. Ob ein Widerspruch vorlag, war wiederum eine Frage der Interpretation. Die Folgen dieses Verständnisses zeigten sich zunächst bei der Herstellung des Gemeinsamen Marktes. Um ihn zu ermöglichen, verboten die Verträge den Mitglied­staaten Einfuhrbeschränkungen zum Schutz der einheimischen Wirtschaft sowie Maßnahmen, die einer Einfuhrbeschränkung gleichkamen. Ausländerdiskriminierung sollte in der EWG nicht mehr möglich sein. Der EuGH interpretierte diese Bestimmungen aber nicht als Antidiskriminierungsregeln, sondern als Antiregulierungsregeln. Jede Norm, die sich hinderlich für den Marktzugang auswirkte, verfiel damit dem europäischen Verdikt, gleichgültig, ob sie einen diskriminierenden oder protektionistischen Grund hatte. Hinderlich für den Marktzutritt kann sich freilich alles Mögliche auswirken, das Schulrecht, das Scheidungsrecht, der Denkmalschutz. Die Norm war entgrenzt. Im Prinzip war nichts mehr vor dem Europarecht gefeit. Auf diese Weise verloren zahlreiche nationale Schutzbestimmungen, etwa zur Produktsicherheit, zum Konsumentenschutz etc. ihre Anwendbarkeit. Das wäre nicht weiter nachteilig gewesen, wenn die nicht mehr anwendbaren nationalen Regelungen durch europäische ersetzt worden wären. Vielfach geschah das, aber keineswegs immer, denn die Abschaffung nationaler Regelungen und die Setzung europäischer Vorschriften folgen unterschiedlichen Logiken. Die Unanwendbarkeit des natio­ nalen Rechts erfordert nur die rechtliche Feststellung eines Widerspruchs, während die europäische Regelung einen Gesetzgebungsakt verlangt, der bis 1986 nur durch einstimmigen Ratsbeschluss möglich war und auch nach dem Übergang zur Mehrheitsentscheidung bei 28 Mitgliedstaaten auf große Hürden stößt. Fritz Scharpf hat das als Asymmetrie zwischen negativer Integration (Integration durch Abschaffung nationalen Rechts) und positiver Integration (Integration durch Setzung europäischen Rechts) gekennzeichnet. Im Ergebnis war der Markt weit stärker liberalisiert, als das dem Willen der meisten Mitgliedstaaten entsprach. Nach der Herstellung des Gemeinsamen Marktes konzentrierte sich die Rechts­ anwendung durch Kommission und EuGH stark auf die Marktliberalisierung durch Stärkung des Wettbewerbs. Dabei half ihm das Wettbewerbsrecht der Verträge, das staatliche Beihilfen verbietet, die marktverzerrende Wirkung haben. War dabei ursprünglich an

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Bei­hilfen zugunsten einzelner Wettbewerber gedacht, so erstreckte der EuGH die Anwendung des Beihilfeverbots alsbald auf öffentlich-rechtliche Dienstleister, ungeachtet der Frage, welche Gründe für die Schaffung der öffentlichen Dienstleistungen ausschlaggebend gewesen waren. Die Privatisierungswelle, die durch Europa gelaufen ist, hat zum Teil darin ihren Grund. Den Mitgliedstaaten ist es seitdem nicht mehr möglich zu entscheiden, welche Leistungen sie dem Markt überlassen und welche sie der staatlichen Vorsorge vorbehalten wollen. Wesentliche, in den Mitgliedstaaten tief verwurzelte Institutionen sind dem zum Opfer gefallen. Was hat das mit der europäischen Demokratie zu tun? Es hat insofern mit Demokratie zu tun, als dass Entscheidungen von hohem politischen Gewicht aufgrund der Eigenart der Verträge, die die Distanz zwischen Verfassung und Gesetz nicht wahren, als reine Rechtsdurchsetzungs-Entscheidungen fallen, also in einem unpolitischen Modus. In diesem Modus bleiben die demokratisch am schwächsten legitimierten Organe, Kommission und EuGH, unter sich, während die demokratisch legitimierten Organe, Rat und Parlament, keine Rolle spielen. Es bleiben auf diese Weise auch die allein auf europäische Interessen verpflichteten Instanzen Kommission und Gerichtshof unter sich, während das einzige mitgliedstaatliche Interessen vertretende Organ, der Rat, nicht eingreifen kann. Anders als im Staat haben sie aber auch keine Chance, die Entscheidungen von Kommission und EuGH für die Zukunft zu korrigieren. Sind im Staat die politischen Institu­ tio­nen, Parlament und Regierung, mit der Auslegung und Anwendung des Gesetzes durch Verwaltungen oder Gerichte nicht einverstanden, weil sie ihre gesetzgeberische Absicht darin nicht wiedererkennen oder schädliche Auswirkungen feststellen, dann können sie die rechtsanwendenden Instanzen durch eine Gesetzesänderung umprogrammieren. Sind die Materien aber, wie in Europa, bereits auf der Verfassungsebene geregelt, dann entfällt diese Möglichkeit. Dann kann nur eine Verfassungsänderung helfen. Verfassungsänderungen sind im Staat nicht schwer. In der EU bedeuten sie aber: Vertragsänderung, also Herbeiführung von Übereinstimmung unter allen 28 Mitgliedstaaten, und sind daher meist aussichtslos. In der EU gibt es faktisch keine demokratische Korrektur von Vertragsinterpretationen. Die Rechtsanwendungsinstanzen sind immun. Der EuGH ist freier als jedes nationale Gericht, auf Kosten der Demokratie. Dadurch öffnet sich in der EU eine Kluft zwischen Entscheidungsbefugnis und Verantwortung. Die Kommission hat durch Eigenart und Konstitutionalisierung der Verträge eine erhebliche Entscheidungsmacht gewonnen, für die in den Verträgen keine entsprechende Verantwortung vorgesehen ist, weil sie als reiner Rechtsvollzug angesehen wird. Die einzige Korrekturmöglichkeit besteht in einer Klage beim EuGH wegen Vertragsverletzung durch extensive Interpretation der Verträge, die aber bei dem selbst extensiv interpretierenden Gericht wenige Chancen hat. In einem demokratischen Verantwortungszusammenhang stehen dagegen die Regierungen der Mitgliedstaaten, auf denen die Last der Durchführung europäischer Beschlüsse lastet, weil die EU keinen eigenen Verwaltungsunterbau hat. Häufig werden die nationalen Regierungen daher für etwas verantwortlich gemacht, was sie nicht beschlossen haben, während bei der EU nur ein diffuser Unmut des Publikums ankommt.

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Es sind also gerade Verselbständigungsprozesse der administrativen und judikativen Unionsorgane, die für dieses Demokratieproblem verantwortlich sind. Sie können des­ wegen nicht durch weitere Verselbständigungen von den Mitgliedstaaten bekämpft werden. Dieses Demokratieproblem ließe sich vielmehr nur durch eine Revision der Rechtsgrundlage der EU lösen. Wenn die Verträge schon durch die Rechtsprechung des EuGH „konstitutionalisiert“ worden sind, dann müssten sie auch in ihrer Struktur dem Modell einer Verfassung angenähert werden. Verfassungsrang dürften dann nur noch die Bestimmungen über den Zweck und die Grundsätze der EU, die Vorschriften über ihre Organe und deren Verfahren sowie die Grundrechte-Charta haben. Alles Weitere müsste dagegen auf die Stufe des Gesetzes zurückgeführt und damit für den demokratischen Prozess geöffnet werden. Das würde praktisch den gesamten Vertrag über die Arbeitsweise der EU betreffen. Ein derartiger Schritt wird aber nicht einmal erwogen. Auch der Verfassungskonvent, der die Verträge ja einer Verfassung annähern wollte, hat diesen naheliegenden Schritt nicht getan. Welche Schlussfolgerungen sind daraus zu ziehen? Die demokratische Legitimation der EU ruht derzeit auf zwei Säulen, einer mitgliedstaatlichen und einer europäischen. Beide sind jedoch nicht gleichermaßen tragfähig. Der Legitimationsstrom von den Staaten ist wesentlich stärker als die europäische Eigenlegitimation. Die Reformüberlegungen richten sich auf eine Stärkung der Eigenlegitimation. Das geht aber nicht ohne Verkürzung der Legitimation von den Mitgliedstaaten. Fremdlegitimation und Eigenlegitimation verhalten sich zueinander nicht wie kommunizierende Röhren. Eine Schwächung der nationalen Legitimationsströme führt nicht zu einer Stärkung der europäischen, weil die Ursachen der europäischen Legitimationsschwäche nicht im Institutionellen, sondern in den gesellschaftlichen Voraussetzungen von Demokratie liegen. Deswegen ist es unwahrscheinlich, dass die ins Gespräch gebrachten Reformen ihren Zweck erreichen würden. Die EU muss vielmehr ein Eigeninteresse an einer starken Demokratie in den Mitgliedstaaten haben. Stattdessen versucht sie, ihnen immer mehr demokratische Substanz zu entziehen, ohne zu bemerken, dass sie damit sich selbst schadet, weil sie nicht in der Lage ist, genügend Eigenlegitimation zu generieren. Sie ist auf dem falschen Weg.

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Dieter Grimm

Ich wünsche mir ein Europa des Friedens. Angesichts des Krieges in der Ukraine, wird der Stellenwert des Friedens jedoch immer offensichtlicher. Frieden bleibt eine ständige Aufgabe für alle Europäer, ähnlich wie die Vertiefung der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zusammen­ arbeit auf dem alten Kontinent. Ohne Frieden können diese ambitionierten Projekte nicht realisiert werden.

Krzysztof Ruchniewicz

Europäische Identität – eine ständige Herausforderung Die europäische Identität steht heute mehr denn je auf dem Prüfstand. Die Schaffung ­einer gemeinsamen Identität war und ist das Ziel vieler europäischer Staaten, das bis heute nicht realisiert wurde. Immer noch bestehen große Unterschiede zwischen dem sogenannten alten Europa und den Staaten Ostmitteleuropas, die nach dem Zusammenbruch des Kommunismus die Chance bekommen haben, „nach Europa zurückzukommen“. Diese Länder waren zwar immer ein Bestandteil Europas, durch die Unterdrückung seitens der UdSSR nach 1945 wurde aber ihr politisches und wirtschaftliches System verändert, was auch für Europa gravierende Folgen hatte. Allerdings kann die Frage der gemeinsamen Identität nicht auf die letzten Jahrzehnte reduziert werden. Mit dieser Frage war Europa immer schon konfrontiert. Im nachstehenden Aufsatz werden die Bemühungen der euro­ päischen Staaten um eine gemeinsame Identität kurz skizziert sowie ein Minimal- und Maximalprogramm vorgestellt, um sich dieser großen Herausforderung des immer noch geteilten Europas anzunähern.

Politische Integration Seit einiger Zeit ist eine gewisse Krise in Theorie und Praxis der europäischen Integration zu beobachten.1 Für Menschen aus den neuen Mitgliedsstaaten ist dies eine schmerzhafte Feststellung, denn auf den Moment des Anschlusses an eben diesen Prozess haben wir doch so lange gewartet … Die gegenwärtige Krise hat weniger mit wirtschaftlichen 1

Bei der Nennung der relevanten Publikationen zur europäischen Einigung und ihrer heutigen Probleme habe ich mich auf die wichtigsten Veröffentlichungen der letzten Jahre konzentriert.

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­ ragen zu tun. Insgesamt gelang es schnell, den wirtschaftlichen Aspekt der Integration in F Ostmittelosteuropa – trotz aller Probleme des Transformationsprozesses – umzusetzen.2 Um vieles schwieriger ist jedoch die Realisierung der politischen Integration. Mit diesem Problem haben sich die Gründungsväter der Europäischen Gemeinschaft auseinandergesetzt. Heute beschäftigt diese Frage die politischen Eliten der Europäischen Union. Gleichwohl ist festzustellen, dass die Verhältnisse im Europa der 28 komplizierter geworden sind. Es stellt sich die berechtigte Frage, auf welcher Grundlage ein solcher Prozess fortgeführt werden soll. Wie kann man das europäische Bauwerk samt seinen weit ausgebauten Institutionen mit Leben erfüllen, ihm eine Seele einhauchen? Wie kann man einen europäischen Patriotismus schaffen, ohne den sich nämlich die Teilnahme der EU-Bürger am Integrationsprozess als erfolglos erweisen kann? Das bloße Bewohnen eines geografisch definierten Europas ist schließlich nicht die Minimalbedingung dafür, Europäer zu sein, um das Gefühl von Verbundenheit mit anderen Europäern zu teilen. Das Projekt der Schaffung eines, wie böse Zungen behaupten, „europäischen Hyper­ marktes“ ist gelungen, aber schließlich wollen wir unsere Zukunft doch nicht in einem Warenlager erblicken. Was bildet also das ersehnte Gemeinschaftsgefühl, die viel beschworene europäische Identität? Kann ein solches Projekt überhaupt gelingen, und zwar auf eine Art und Weise, dass sich nicht nur die „Alt-Europäer“, sondern auch die aus verschiedenen Kulturkreisen stammenden Immigranten damit identifizieren können? Am einfachsten, und das ist der am häufigsten gewählte Weg, lässt sich das Gefühl von eigener Besonderheit in Abgrenzung zu etwas oder zu jemandem aufbauen. Dies wäre demnach eine ausschließende, geschlossene Identität oder ein „Fremdkörper“ in unserer Welt. Häufig ist eine solche Herangehensweise mit der Verneinung oder Ablehnung der anderen, die die äußere Welt bilden, verbunden. Eine derartige Gesinnung wollen wir jedoch nicht kultivieren. Das Ideal wäre die Überzeugung von der eigenen Andersartigkeit, aber in Verbindung mit einer offenen, freundschaftlichen Einstellung anderen gegenüber. Daher ist es notwendig, in der Vergangenheit Europas und der vielen Völker, die Europa ausmachen, eben solche identitätsstiftende Elemente zu suchen. „Einheit in der Vielfalt“, diese am häufigsten artikulierte Vision eines gemeinsamen Europas lebt in den Herzen seiner enthusiastischsten Befürworter. Was jedoch ist zu tun, damit diese Vielfalt die noch instabile Identität nicht auseinandersprengt? Was ist zu tun, damit uns die – obwohl diese Bedrohung um einiges weniger real ist – Vereinheitlichungsanstrengungen nicht unserer europäischen Vielfalt berauben?

2

Vgl. Loth, Wilfried: Europas Einigung: Eine unvollendete Geschichte, Frankfurt a.M. 2014.

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Europa und das Christentum Wenn sie an die charakteristischen Merkmale ihres Kontinentes denken, führen viele Europäer gern die Errungenschaften der antiken Zivilisationen an: die griechische Demokratie, das römische Recht, die Denkmäler der damaligen Kunst, die wissenschaftlichen Errungenschaften, die zur Grundlage unserer Kultur, unseres Schönheitskanons und unserer Einstellung gegenüber der Welt geworden sind.3 Ihre zweite Quelle ist das Christentum, das die nächsten Jahrhunderte hindurch ein kulturprägender Faktor des Kontinents gewesen ist. Zweifellos hatte das Christentum im Mittelalter einen entscheidenden Einfluss auf die Ausgestaltung Europas als einer Glaubens- und Kulturgemeinschaft, die im Gegensatz zu den als heidnisch bezeichneten Gebieten stand. Wir haben uns eher als Christen definiert denn als Europäer. Zeitweilig markierte die räumliche Ausdehnung des Christentums die Grenzen Europas, auch die mentalen. Für die Polen ist der Beginn ihrer Staatlichkeit und der ihrer Geschichte eben jener Moment, in dem der polnische Herrscher das Christentum annahm.4 Jedoch trug das Christentum von Beginn an auch den Keim des Zerfalls in sich. Existierten doch der östliche und der westliche Ritus, die sich offiziell Mitte des 11. Jahrhunderts in zwei Kirchen teilten, aber schon früher großen Einfluss auf die Herausbildung tiefer Unterschiede zwischen den Anhängern des Katholizismus (West-, später Mitteleuropa) und den östlichen Christen (byzantinische, orthodoxe, dominierend in Süd- und Osteuropa) hatten. Damit wurde eine Trennlinie zwischen dem westlichen und östlichen Teil Europas sichtbar. Die Spaltung des westlichen Christentums in Katholiken und Protestanten im 16. Jahrhundert führte zusätzlich zur Untergrabung dieser Glaubensgemeinschaft, und die von den Europäern geführten Glaubenskriege bleiben bis heute ein Beispiel großer Grausamkeit. Dessen ungeachtet sind durch den Einfluss des Christentums gemeinsame Elemente in den Kulturen der europäischen Völker entstanden, ein gemeinsames Wertesystem. Die Berufung auf die christlichen Ursprünge Europas lag besonders Papst Johannes Paul II. und mit ihm vielen zeitgenössischen Katholiken sehr am Herzen.5 Wenn man über die wichtige Rolle des Christentums in der Geschichte des Kontinents spricht, ist jedoch zu bedenken, dass die Religion im Leben der heutigen Europäer 3 4

5

Vgl. Delouche, Frederic (Hrsg.): Das europäische Geschichtsbuch. Von den Anfängen bis ins 21. Jahrhundert, Bonn 2013. Siehe Zientara, Benedykt: Frühzeit der europäischen Nationen: Die Entstehung von Nationalbewusstsein im nachkarolingischen Europa, Osnabrück 1997; Salmonowicz, Henryk: Das lange 10. Jahrhundert. Über die Entstehung Europas, Osnabrück 2009. Vgl. Johannes Paul II.: Erinnerung und Identität. Gespräche an der Schwelle zwischen den Jahrtausenden, Augsburg 2005. Über die Europa-Vorstellungen von Johannes Paul II. siehe ferner Rabanus, Joachim: Europa in der Sicht Papst Johannes Paul II. Eine Herausforderung für die Kirche und die europäische Gesellschaft, Paderborn 2004; Böhr, Christoph u. Stephan Raabe (Hrsg.): Eine neue Ordnung der Freiheit. Die Sozialethik Johannes Paul II. – eine Vision für das vereinte Europa, Osna­ brück 2007.

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eine immer unbedeutendere Rolle spielt. Die Zahl der Anhänger aller christlichen Bekenntnisse ist im Sinken begriffen, auch wenn in verschiedenen Regionen Europas unterschiedliche Ursachen dafür verantwortlich sind. Der Glaube verbindet uns nicht mehr, aber wir leben weiterhin in einer auf ihn gestützten Kulturlandschaft. Man sollte sich an dieses Erbe erinnern, aber dabei ist zu unterstreichen, dass das heutige Europa, sein Aufbau und sein Rechtssystem – etwas vereinfacht gesagt – im 18. Jahrhundert, in der Zeit der Aufklärung, ihre Anfänge nahmen. Damals bildeten sich neue Grundsätze heraus, auf die die Bewohner des alten Kontinents stolz waren: das Prinzip der Gewaltenteilung, die republikanischen Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sowie die Grundlagen der kapitalistischen Wirtschaftsform. Im Laufe einer langen Entwicklung, in einigen Ländern durch revolutionäre Erhebungen beschleunigt, wurde ein demokratisches System der Herrschaftsausübung geschaffen. Die Veränderungen des 19. Jahrhunderts brachten für Europa – vor allem für seine stärksten Länder – die Vormachtstellung in der Welt. Gleichzeitig jedoch kamen Erscheinungen auf, die auf den Anfang vom Ende eines so verstandenen Europäertums deuteten.

West- und Osteuropa Wir müssen uns auf den rühmlichen Teil unserer historischen Tradition berufen, zugleich aber auch an die Last des Kolonialismus und der Nationalismen, an die Geburt der totalitären Systeme (des nationalsozialistischen und des kommunistischen) und an die beiden Weltkriege denken, die von Europa ausgingen und dem Kontinent beispiellose Menschenverluste und Zerstörungen einbrachten. Das gemeinsame geschichtliche Gedächtnis der Europäer muss also auch die Erinnerung an den Verrat der eigenen Ideen und Traditionen wach halten, daran, dass die Menschen- und Bürgerrechte mit Füßen getreten wurden.6 Dies hatte Europa nach dem Zweiten Weltkrieg begriffen. Die Absicht, neuen Kriegen zuvorzukommen sowie das Streben nach Schutz vor dem kommunistischen Totalitarismus erleichterte den Aufbau eines Grundgerüstes für eine neue Gemeinschaft. Die Erinnerung an den nicht lange zurückliegenden Krieg und der Druck durch die ­äußere Bedrohung trieben sozusagen die Arbeit der „Gründungsväter“ an weiteren Formen europäischer Gemeinschaften (EGKS, EWG) voran. Das Ergebnis war ein langer Prozess der politischen Stabilisierung und des Wohlstandes, der im westlichen Teil des Kontinentes Einzug gehalten hatte. Jedoch sollte auch die Verbitterung der Europäer nicht vergessen werden, die – gegen ihren Willen und trotz der Anstrengungen ihrer unabhängigen Regierungen – auf der an6

König, Helmut, Julia Schmidt u. Manfred Sicking (Hrsg.): Europas Gedächtnis. Das neue Europa zwischen nationalen Erinnerungen und gemeinsamer Identität, Bielefeld 2008; Großbölting, Thomas u. Dirk Hoffmann (Hrsg.): Vergangenheit in der Gegenwart. Vom Umgang mit Diktaturerfahrungen in Ost- und Westeuropa, Göttingen 2008; Troebst, Stefan u. Johanna Wolf (Hrsg.): Erinnern an den Zweiten Weltkrieg. Mahnmale und Museen in Mittel- und Osteuropa, Leipzig 2011.

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deren Seite des „Eisernen Vorhangs“ zurückblieben. Mittel- und Osteuropa durchlebten damals auch eine Zeit der Integration, einer Integration, die nur ein grotesk verzerrtes Spiegelbild des Vereinigungswerkes des Westens war. Hier war dieser Prozess nämlich das Ergebnis einer gewaltsamen Einsetzung von kommunistischen Regierungen, der Unterordnung dieser Länder unter die UdSSR, der Zerstörung von grundlegenden bürgerlichen Freiheiten und der Grundsätze einer gesunden Wirtschaftsführung. Wenn man sich heute über die wirtschaftliche Rückständigkeit dieses Teiles von Europa beklagt, sollte man nicht vergessen, dass dies nicht ausschließlich das Ergebnis einer jahrhundertlangen wirtschaftlichen Verspätung ist, sondern auch des Nichtergreifens von bestehenden Entwicklungschancen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Europäer dieser Regionen wollen zweifellos, dass auch ihre Erlebnisse mit in den europäischen Erfahrungsschatz eingehen. Denn diese sind die Erfahrungen von Menschen, die größtenteils dazu gezwungen wurden, unter zwei Diktaturen zu leben: der nationalsozialistischen und der kommunistischen.7 Die neuen Mitgliedsstaaten der EU haben noch eine weitere schmerzhafte geschichtliche Erfahrung durchgemacht: Stärkere Länder zwingen den schwächeren ihren Willen auf. Dieser Teil Europas erinnert sich daran, dass Hitler den Krieg mit Unterstützung Stalins ausgelöst hat. Das kollektive Gedächtnis wird hier nach wie vor von Bildern und Symbolen bestimmt wie „Münchener Abkommen“ und „Verrat von Jalta“, an denen schließlich auch die demokratischen Länder des Westens mitgewirkt hatten. Angesichts solcher Erfahrungen ist die Art und Weise gemeinsamer Politikfindung innerhalb der euro­päischen Gemeinschaften sehr wichtig. Es stellt sich nur das Problem, dass gerade diese Vorgehensweise mit dem effektiven Funktionieren eines so komplexen Organismus, der aus vielen Staaten besteht, schwer zu vereinbaren ist… Die Geschichte ist also eine Quelle vielfältiger Erfahrungen, die für die europäische Identität von Bedeutung sind. Man kann aus ihr sowohl Elemente auswählen, die die These von der europäischen Einheit – als einer Gemeinschaft mit einem weitgefassten Kulturbegriff – untermauern, als auch Belege finden, die eher als Warnung dienen können.

Verantwortung und Engagement Die Rolle sämtlicher politischer Bildungsmaßnahmen kann hier nicht hoch genug geschätzt werden, insbesondere, da die Generationen, die den Zweiten Weltkrieg und den Mangel an Freiheit erlebt haben, nach und nach von der Bühne abtreten. Und für die heutigen Europäer scheint es, als wären Demokratie, Toleranz und Freiheit der Normal7

Vgl. Troebst, Stefan (Hrsg.): Postdiktatorische Geschichtskulturen im Süden und Osten Europas. Bestandsaufnahme und Forschungsperspektiven, Göttingen 2010; Kandinsky, Anna, Dietmar Müller u. Stefan Troebst: Der Hitler-Stalin-Pakt 1939 in den Erinnerungskulturen der Europäer, Göttingen 2011; Troebst, Stefan: Erinnerungskultur – Kulturgeschichte – Geschichtsregion: Ostmitteleuropa in Europa, Stuttgart 2013.

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zustand, selbstverständlich und für immer gegeben. Dadurch kann eine gewisse Gleichgültigkeit anderen gegenüber entstehen. Die niedrige Beteiligung in vielen Ländern an den Wahlen zum Europäischen Parlament beunruhigt schließlich nicht nur viele Politiker, sondern auch Soziologen und andere Forscher und Beobachter des gesellschaftlichen Lebens. Alarmierend sollte ebenfalls das geringe Wissen über die europäischen Institutionen, über ihre Kompetenzen und ihre Tätigkeiten sein. Die politische Bildung bleibt daher eine ständige Aufgabe auch in den Ländern, die Demokratie seit längerer Zeit praktizieren. Ein Element dieser Bildung sollte die Förderung eines Verantwortungsgefühls für die Region, das Land, aber auch die ganze Union sein. Die Aneignung von Wissen über die Arbeitsweise der EU und die Förderung ihrer Integrationsbestrebungen durch die Teilnahme an den europäischen Wahlen wäre ein Beweis wahrgenommener staatsbürgerlicher Pflicht und Verantwortung. Die Institutionen der Union müssen allerdings gewisse Anstrengungen unternehmen, um sich dem Bürger zu nähern, um die Effektivität ihrer Arbeit und ihren Einfluss auf das Leben der Durchschnittseuropäer zu verdeut­ lichen. Sehr oft gehen die Errungenschaften der europäischen Institutionen in der Flut der kritisch-ironischen Äußerungen der Medien über die erneuerten Bestimmungen zur Länge der Gurken und zur Definition von Wodka unter. Eine Möglichkeit, den Teil der europäischen Identität zu beleben, der auf der Verbundenheit mit den demokratischen Grundsätzen beruht, kann das aktive Eintreten der EU für die Freiheit weltweit, aber vor allem in der nächsten Nachbarschaft sein. Der Erweiterungsprozess hat gezeigt, dass Integration und eine politische und wirtschaftliche Gemeinschaft ein attraktives Modell sind. Die neuen Mitglieder der EU brachten ihre regionale Verbundenheit in die Gemeinschaft ein. Für sie sind die europäischen Bestrebungen der Ukraine genauso berechtigt wie ihre eigenen. Man könnte auch behaupten, dass sie wenigstens so verständlich sind wie die Forderungen der Türkei in dieser Hinsicht. In diesem Zusammenhang muss man betonen, dass das vereinte Europa nicht für sich selbst existiert, sondern dass es eine Mission in der Welt hat – eine Mission zur Unterstützung aller demokratischen Prozesse in seiner nächsten Umgebung und schließlich auch eine Mission zur Hilfe für die ärmsten Länder, die von verschiedenen Katastrophen betroffen sind. Die Union und ihre Mitglieder tun das zwar unabhängig voneinander, aber diese Handlungen setzen eine Konsolidierung und mediale Präsenz voraus. Diese Aktivitäten werden die Grundlage der zukünftigen gemeinsamen Außenpolitik des vereinigten Euro­ pas bilden. Festzustellen ist, dass die heutige europäische Identität gerade einmal ansatzweise existiert. Ihre verschiedenen Komponenten funktionieren, aber nicht überall in gleicher Weise. Am stärksten bekennen sich die politischen und intellektuellen Eliten zu ihr, am wenigsten die normalen Bürger. Eigentlich ist Identität immer eine Aufgabe der Zukunft, etwas zu Gestaltendes. Noch sind wir nicht mit dem Problem der Beziehung zwischen der europäischen und der nationalen Identität fertig geworden. Bedrohungen und äußere ­Probleme bringen uns immer noch dazu, die Flucht in fremdenfeindliche Einstellungen anzutreten, besonders in den westeuropäischen Gesellschaften, weil der ärmere Teil Euro­pas eine Konfrontation mit Immigranten noch nicht in einem solchen Ausmaß er-

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fährt. Andererseits jedoch gibt es ein Problem bei der Artikulation von Erwartungen an die Zuwanderer, wie sie sich ihre neue Existenz unter Europäern aufbauen sollen. Man muss ihre Traditionen schätzen, aber auch die Erwiderung dieser Toleranz einfordern. Wenn sie es sich ausgesucht haben, in einer offenen Gesellschaft zu leben, dann sollten sich ihr Verhalten und ihre Beziehung zur Bevölkerungsmehrheit auf diese Einstellung gründen. Das Motto „In Vielfalt geeint“ hat auch Anziehungskraft auf Lebensentwürfe, die nicht aus Europa stammen.

Europäische Identität durch gemeinsame Grundwerte Wenn es um die europäische Identität geht, können wir ein Minimal- und ein Maximalprogramm unterscheiden. Das Maximalprogramm – unter Berücksichtigung unseres ganzen Wissens über die geschichtliche Vergangenheit der Völker – bleibt, glücklicherweise, eine von vielen Utopien. Es wird kein einheitliches europäisches Bewusstsein entstehen, kein geeintes europäisches Volk, es wird keinen Superstaat geben, auch wenn uns manche hin und wieder damit zu erschrecken versuchen. Die nationale Identifikation wird auch in Zukunft die Grundlage im Leben der Europäer darstellen. Zwangsläufig bleiben also Tätigkeiten zugunsten des Minimalprogramms, was nicht wenig ist, weil dies nämlich im Aufbau eines Gemeinschafts- und Verantwortungsgefühls im Rahmen der Europäischen Union besteht. Notwendig ist demnach etwas in der Art eines Verfassungspatriotismus (Habermas), die Kultivierung der Einigkeit über die Grundwerte, die von allen als vorrangig und notwendig für die Grundfreiheiten jedes Einzelnen angesehen werden. Es sind dies folgende: bürgerliche Freiheit, demokratische Regierungsform, Rechtsstaatlichkeit, Toleranz und Achtung des anderen, freie Marktwirtschaft verbunden mit Hilfe für die Ärmeren und Solidarität mit den Schwächeren. Die reicheren Länder müssen die Entwicklung der ärmeren Mitglieder der EU unterstützen. Diese Feststellung, obschon sie banal klingen mag, ist nicht für alle selbstverständlich und erfreut sich keiner großen Popularität. Aber nur unter Beachtung des notwendigen Maßes an Solidarität und Subsidiarität können soziale Verwerfungen vermieden werden, kann sich eine stabile und prosperierende Union entwickeln. Die europäische Identität basiert also ganz wesentlich auf einem Gefühl von Zugehörigkeit, das sich auf die Anerkennung einer breit verstandenen europäischen Kultur bezieht und nicht zuletzt von einem politisch-wirtschaftlichen Erfolg getragen wird, der die Europäische Union zu einem Modell mit großer Anziehungskraft werden ließ. Zur Grundlage dieser Identität muss darüber hinaus das Gefühl hinzukommen, dass die Zukunft Europas in der Integration liegt, dass dies eine historische Chance ist, die es wahrzunehmen gilt. Dabei kann es für die Zukunft durchaus förderlich und kraftspendend sein, dass Europa mit „zwei Lungen“ atmet: mit einer westlichen und einer östlichen. Beide Organe bilden eine besondere Grundlage für die Entwicklung: der Westen mit seiner Wirtschaftskraft, einer gut funktionierenden, erprobten Demokratie, mit seiner Erfahrung in der Verfolgung von gemeinsamen Zielen, der Osten dagegen mit der frischen Energie,

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die aus dem Wunsch nach Freiheit und Wohlstand, nach einem besseren Leben entsteht, und aus der Überzeugung, dass die Europäische Union den sehr oft traurigen und tragischen Pfad der Geschichte des östlichen Teils Europas ein für alle Mal verändern kann.

Literatur Böhr, Christoph u. Stephan Raabe (Hrsg.): Eine neue Ordnung der Freiheit. Die Sozialethik Johannes Paul II. – eine Vision für das vereinte Europa, Osnabrück 2007. Delouche, Frederic (Hrsg.): Das europäische Geschichtsbuch. Von den Anfängen bis ins 21. Jahrhundert, Bonn 2013. Großbölting, Thomas u. Dirk Hoffmann (Hrsg.): Vergangenheit in der Gegenwart. Vom Umgang mit Diktaturerfahrungen in Ost- und Westeuropa, Göttingen 2008. Johannes Paul II.: Erinnerung und Identität. Gespräche an der Schwelle zwischen den Jahrtausenden, Augsburg 2005. Kandinsky, Anna, Dietmar Müller u. Stefan Troebst (Hrsg.): Der Hitler-Stalin-Pakt 1939 in den Erinnerungskulturen der Europäer, Göttingen 2011. König, Helmut, Julia Schmidt u. Manfred Sicking (Hrsg.): Europas Gedächtnis. Das neue Europa zwischen nationalen Erinnerungen und gemeinsamer Identität, Bielefeld 2008. Loth, Wilfried: Europas Einigung: Eine unvollendete Geschichte, Frankfurt a.M. 2014. Rabanus, Joachim: Europa in der Sicht Papst Johannes Paul II. Eine Herausforderung für die Kirche und die europäische Gesellschaft, Paderborn 2004. Salmonowicz, Henryk: Das lange 10. Jahrhundert. Über die Entstehung Europas, Osnabrück 2009. Troebst, Stefan u. Johanna Wolf (Hrsg.): Erinnern an den Zweiten Weltkrieg. Mahnmale und Museen in Mittel- und Osteuropa, Leipzig 2011. Troebst, Stefan: Erinnerungskultur – Kulturgeschichte – Geschichtsregion: Ostmitteleuropa in Europa, Stuttgart 2013. Zientara, Benedykt: Frühzeit der europäischen Nationen: Die Entstehung von Nationalbewusstsein im nachkarolingischen Europa, Osnabrück 1997.

Im besten Fall bleibt die Europäische Union stabil und autonom, gewinnt das Vertrauen der Unionsbürger zurück, entwickelt ein vollgültiges europäisches Parlament, sichert die Demokratien in den Mitgliedsländern und den Frieden in Europa, etabliert politische Prinzipien der europäischen Solidarität, leitet mehr Prosperität in Europa ein und beschließt eine transparente Finanz- und Wirtschaftspolitik.

Hartmut Kaelble

Steckt die Europäische Union in der schwersten Krise seit 1950? „Ich war schon im Voraus erschreckt über den Verdruss, den ich Ihnen und auch mir selbst bereite, indem ich wieder anfange, die Gründe für den Wunsch nach der Vereinigung Europas vorzutragen und eine Bilanz der Enttäuschungen und Erfolge zu ziehen“.1 Dieses aktuell klingende Zitat stammt von Raymond Aron aus dem Jahr 1976, als er zu einem Vortrag über Europa eingeladen wurde. Diese Äußerung aus einer früheren Krise der europäischen Integration weist uns darauf hin, dass schon damals unter den europäischen Intellektuellen auch ein verbreitetes, heute vergessenes Krisengefühl herrschte. Allerdings unterscheidet sich die heutige Krise in einem Punkt von der damaligen. Sie erzeugt kein verdrießliches Desinteresse, sondern mobilisiert ganz im Gegenteil auch das akademische Milieu. Aber stecken wir wirklich in der schwersten Krise der europäischen Integration, wie es die Bundeskanzlerin auch noch im letzten Bundestagswahlkampf verkündete, ohne dass ihr darin widersprochen wurde? Oder gab es nicht vielleicht doch schon früher schwere Krisen der europäischen Integration, die sicher anders waren, wie wir an der Reaktion von Raymond Aron sehen können, aber deshalb doch keineswegs weniger schwer? Ich möchte die jüngste Krise mit der letzten schweren Krise der europäischen Integration vergleichen, mit der Krise der 1970er Jahre, die ich gleich kurz vorstellen werde. Anschließend werde ich zwei gegensätzliche Plädoyers präsentieren. In einem ersten Plädoyer sollen die Gründe genannt werden, die tatsächlich die jüngste Krise als die bisher schwerste der europäischen Integration erscheinen lassen. Danach werden in einem zweiten Plädoyer alle die Gründe aufgeführt, nach denen die Krise der 1970er Jahre zwar 1

Aron, Raymond: L’Europe face à la crise des sociétés industrielles (1976), in: L’Europe? L’Europe. Hrsg. von Pascal Ory, Paris 1998, S. 857 (Übersetzung H. K.).

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anders geartet, aber doch ähnlich schwer war und die auf die jüngste Krise ein anderes Licht werfen. Am Ende möchte ich meine Einschätzung zusammenfassen.

Vorbemerkungen Es sei erstens an eine häufig getroffene Unterscheidung zwischen zwei gegenwärtigen Krisen erinnert. Einerseits stand Europa vor einer wirtschaftlichen Krise, also der Finanz­krise, die ab 2007 in den USA einsetzte, 2008 auf Europa überschwappte und vom Spätjahr 2008 bis Mitte 2010 zu einem tiefen Wachstumseinbruch in der Realwirtschaft Europas führte, der allerdings rasch wieder aufgeholt wurde. Andererseits hatte Europa eine Schuldenkrise durchzustehen, die sich ab 2010, beginnend mit der Schuldenkrise Griechenlands, zu einer Krise der europäischen Integration ausweitete. Unter einer Krise der europäischen Integration versteht man eine längere Entscheidungsblockade, ein Scheitern von bereits ausgearbeiteten europäischen Projekten oder auch eine unzureichende Antwort der europäischen Entscheider auf grundlegend neue Herausforderungen. Diese Entscheidungsblockaden beruhen in der Regel auf tiefen Interessenkonflikten zwischen den Mitgliedsländern, sind verbunden mit einem Krisenbewusstsein, mit heftigen und kontroversen öffentlichen Debatten über die europäische Politik und mit Erschütterungen des Vertrauens in die europäische Politik. Schwere Krisen der europäischen Integration sind verbunden mit Wirtschaftskrisen, mit Verschärfungen der wirtschaftlichen und sozialen Disparitäten zwischen den Mitgliedsländern, aber auch mit globalen Spannungen zwischen Europa und außereuropäischen Regierungen. Eine zweite Vorbemerkung zur Krise der 1970er Jahre: Sie ist heute weitgehend vergessen. Sie fand ebenfalls vor dem Hintergrund einer Wirtschaftskrise oder besser eines krisenhaft tiefen Umbruchs statt: den beiden Ölschocks von 1973 und 1978/79; dazu ­kamen das Ende des Währungssystems von Bretton Woods mit seinen festen, an den Dollar gebundenen Wechselkursen und der langfristige Einbruch des Wirtschaftswachstums in Europa. Dieses sank von durchschnittlich 5 Prozent ein Vierteljahrhundert lang auf rund 2 Prozent im langen Durchschnitt und führte daher zum Abstieg Europas von einer dynamischen Weltregion mit höheren Wachstumsraten als in den USA zu einer Problemregion mit besonders niedrigem Wachstum. Damals geriet auch die europäische Integration in eine Krise, die aus dem Scheitern oder dem Zurückstutzen der hochfliegenden Pläne des europäischen Gipfels von Den Haag 1969 mit seinen drei großen Zielen ­resultierte: Diese bestanden in der Einrichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion, die 1971 scheiterte, in der Schaffung einer politischen Union, die nur wenig vorankam, und in der ersten Erweiterung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft um Irland, Großbritannien, Däne­mark und Norwegen. Der Beitritt Norwegens scheiterte in einem Referendum, der Beitritt Großbritanniens ist bis heute ein im Land selbst umstrittenes Projekt. Es ist im Übrigen erstaunlich, dass die jüngste Krise der europäischen Inte­gration so gut wie nie mit solchen früheren Krisen verglichen wird, obwohl die Europäer derartige histo­rische Vergleiche an sich gern ziehen. Die jüngste Finanzkrise wurde fortwährend mit der 1929

Steckt die Europäische Union in der schwersten Krise seit 1950?

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beginnenden Weltwirtschaftskrise verglichen. Ähnliches findet man angesichts der Krise der europäischen Integration so gut wie nie.2

Die jüngste Krise die schwerste Krise Mein erstes Plädoyer: Was spricht dafür, die jüngste Krise als die schwerste der europäischen Integration anzusehen? Tatsächlich lässt sich eine ganze Reihe von Gründen anführen. Der erste Grund: In der jüngsten Krise brach die Unterstützung der Europäischen Union in der öffentlichen Meinung viel stärker ein als in den 1970er Jahren. Auch damals gab es eine Abschwächung in der Unterstützung der europäischen Integration. Die Aufzeichnungen von Raymond Aron, aus denen ich anfangs zitierte, spiegeln die wachsende Skepsis unter den Intellektuellen und Experten wider. Auch in der öffentlichen Meinung schlug sich diese Skepsis gegenüber der europäischen Integration nieder. Der Prozentsatz der Europäer in den Mitgliedsländern, die die Politik der Europäischen Gemeinschaft als eine gute Sache einstuften, ging von 63 Prozent 1975 auf 53 Prozent 1976 zurück. Derjenige der Europäer, die die europäische Integration ablehnten, stieg von 9 Prozent 1975 auf als alarmierend empfundene 14 Prozent im Jahr 1976.3 Dieser Vertrauensverfall war allerdings in der jüngsten Krise viel tiefgreifender. Der Anteil der Unionsbürger mit einem positiven Bild von der Europäischen Union fiel von durchaus normalen 48 Prozent im Herbst 2009 auf 31 Prozent im Herbst 2011 ab. Ein negatives Bild von der Europäischen Union besaßen die üblichen 15 Prozent der Unionsbürger noch im Herbst 2009, aber ganz neuartige 26 Prozent im Herbst 2011. Das negative Bild wurde damit fast ebenso gewichtig wie das positive. Die Skepsis überwog in 2

3

Vgl. Historiker zu Krisen der europäischen Integration: Gehler, Michael: From Crisis to Crisis, from Success to Success? European Integration Challenges and Opportunities in Light of Europe’s History (1918–2009), in: EU China. Global Players in a Complex World. Hrsg. von Michael Gehler, Xuewu Gu u. Andreas Schimmelpfennig, Hildesheim, Zürich, New York 2012, S. 45–74; Kaelble, Hartmut: Spirale nach unten oder produktive Krisen? Die Geschichte der Entscheidungskrisen der europäischen Integration, in: Integration 36 (2013), S. 169–182; ders.: Eine beispiellose Krise? Die Krise der europäischen Integration seit 2010 im historischen Vergleich, in: Krise der europäischen Vergesellschaftung? Soziologische Perspektiven. Hrsg. von Martin Heidenreich, Wiesbaden 2014, S. 31–51; Kirt, Romain (Hrsg.): Die Europäische Union und ihre Krisen, Baden-Baden 2001; Kühnhardt, Ludger (Hrsg.): Crises in European Integration. Challenges and Responses, 1945–2005, New York, Oxford 2009; Loth, Wilfried (Hrsg.): Crisis and Compromises, the European project 1963–1969, Baden-Baden 2001; Ludlow, Piers (Hrsg.): The European Community and the crisis of the 1960’s. Negotiating the Gaullist Challenge, London 2006; Schulz-Forberg, Hagen: On the historical origins of the EU’s current crisis: Or, the hypocritical turn of European integration, in: The European Rescue of the European Union? The Existential Crisis of the European Political Project. Hrsg. von Agustín José Menéndez, Edoardo Chiti u. Pedro Teixeira, Oslo 2012, S. 15–36. Eurobarometer. Trend 1974 –1994, Luxemburg, Amt für amtliche Veröffentlichungen der europäischen Gemeinschaften 1994, S. 86f.

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Hartmut Kaelble

den Mitgliedsländern nicht nur im Norden, in Großbritannien und Schweden und in Ostmitteleuropa, vor allem in Tschechien, Österreich und Ungarn, sondern dominierte nun auch im Süden Europas mit Portugal, Spanien, Italien und Zypern die früheren Bastionen der Unterstützung für die Europäische Union. Besonders alarmierend: Obwohl die akute Schuldenkrise seit 2012 beendet ist, blieb die Skepsis gegenüber der Europäischen Union auch 2013 unverändert groß.4 In den jüngsten Umfragen vom März 2014 waren zwar die Europäer mit einer positiven Sicht auf die Europäische Union mit 34 Prozent wieder etwas stärker vertreten als die mit einer negativen Sichtweise mit 26 Prozent.5 Trotzdem wurde die Europäische Union weiterhin negativer gesehen als vor der Krise. Wir müssen uns daher mit der Frage auseinandersetzen, ob die Schuldenkrise, ganz anders als frühere Krisen der europäischen Integration, lange Schleifspuren hinterlassen hat und zu einem hohen Sockel der Europaskepsis führen wird. Bei den Europawahlen im Mai 2014 waren diese Auswirkungen am Erfolg der Europagegner deutlich zu erkennen. Ein zweiter Grund für die außergewöhnliche Schärfe der jüngsten Krise: Die politischen Debatten über europäische Entscheidungen waren in der jüngsten Krise weitaus heftiger als in den 1970er Jahren. Sie waren damals noch getragen vom europäischen Konsens – die Politikwissenschaftler sprechen vom permissiven Konsens – darüber, dass das Projekt der europäischen Integration wirtschaftlich und politisch segensreich und die Entscheidungen über europäische Politik in kleinen Zirkeln deshalb auch gerechtfertigt seien. Michael Zürn hat sehr überzeugend gezeigt, dass dieser permissive Konsens seit den 1980er Jahren verfiel und die europäischen Entscheidungen zunehmend kontrovers diskutiert wurden.6 Die europäischen Intellektuellen setzten sich seit damals stärker mit europäischen Entscheidungen auseinander. Die Zahl der Experten der europäischen Integration nahm vor allem in den Politikwissenschaften, der Nationalökonomie und der Jurisprudenz sowie neuerdings auch in der Soziologie zu. Die Europäische Union griff zudem mit zahlreichen neuen Kompetenzen viel tiefer in die Lebensverhältnisse der Bürger ein als in den 1970er Jahren und wurde auch deshalb umstrittener. Volksabstimmungen über neue europäische Verträge oder über Mitgliedschaft in der Europäischen Union trieben diese Politisierung weiter voran. Sie hat sicher auch die heftigen Ausschläge bei den Meinungsumfragen in der jüngsten Krise mit beeinflusst. Die jüngste Krise der europäischen Integration war drittens auch heftiger, weil der politische Konflikt um die europäischen Entscheidungen besonders fokussiert war. In den 1970er Jahren verteilten sich die europäischen politischen Konflikte auf eine ganze Reihe von Themen, nämlich auf den Sinn der Währungsunion, auf das Projekt der politischen Union, auf die Beziehungen zu den USA, auf die Konflikte mit der OPEC und schließlich auf die schwierige Norderweiterung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Der 4 5 6

http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/eb/eb80/eb80_first_en.pdf (30. 07. 2014). http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/eb/eb81/eb81_en.htm (30. 07. 2014). Rauch, Christian u. Michael Zürn: Zur Politisierung der EU in der Krise, in: Krise der europäischen Vergesellschaftung? Soziologische Perspektiven. Hrsg. von Martin Heidenreich, Wiesbaden 2014, S. 121–145.

Steckt die Europäische Union in der schwersten Krise seit 1950?

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politische Konflikt in der jüngsten Krise dagegen war ganz konzentriert auf die Verschuldung der Mitgliedsländer, die unbezahlbar hohen Zinsen für Staatsschulden vor allem in den südlichen Mitgliedsländern und auf den Umgang der Europäischen Union mit dieser für den Euro bedrohlichen Situation. Ich brauche diesen Konflikt nicht zu schildern. Er hatte vier Folgen, die die 1970er Jahre überhaupt nicht kannten: Er spaltete wie schon erwähnt die Europäische Union und die Eurozone in zwei Konfliktgegner, einerseits den hoch verschuldeten, in eine wirtschaftliche Rezession geratenen, von Arbeitslosigkeit geschlagenen Süden, zu dem man auch Irland rechnen muss, und den wirtschaftlich stärkeren, wenn auch nicht wirklich prosperierenden Norden andererseits. Der Konflikt verschärfte auf deprimierende Art die internationalen Vorurteile und Hassgefühle, die die europäische Integration eigentlich abbauen sollte. Er konfrontierte die Europäer mit einem Interessenkonflikt, der nur noch von Experten wirklich zu durchschauen war und der auch deshalb bedrohlich erschien, weil diese Experten zerstritten waren. Er führte zu Spannungen im französisch-deutschen Führungsduo und zur Angst vor einer neuartigen Vorherrschaft eines einzigen Landes in der Europäischen Union, nämlich Deutschlands. Er zwang die Europäische Union schließlich in eine neue, bisher unabgeschlossene Debatte über das, was Solidarität zwischen Mitgliedsländern und was Eigenverantwortlichkeit jedes einzelnen Mitgliedslandes zu bedeuten hatte. Ein vierter Grund für die besondere Schärfe der jüngsten Krise der europäischen Integration: Auch die im Hintergrund stehende Wirtschaftskrise war in den 1970er Jahren weniger tief. Sicher schrumpfte die westeuropäische Wirtschaft auch damals, und zwar 1975. Zudem entwickelte sich eine bedrohliche Inflation, die der keynesianischen Politik zum Vorwurf gemacht wurde. Trotzdem war die jüngste Wirtschaftskrise schärfer als die der 1970er Jahre. Die europäische Wirtschaft schrumpfte nicht nur einmal, nämlich 2008/2010, sondern ein zweites Mal 2011/2012. Die wirtschaftlichen Wachstumsraten vor und nach der Schrumpfung blieben weit niedriger als in den 1970er Jahren. Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung stiegen weit über das Niveau der 1970er Jahren hinaus.7 Schließlich ein fünfter Grund: In der jüngsten Krise nahm das globale Vertrauen in die europäische Wirtschaft und die europäische Politik stärker ab als während der 1970er Jahre. Nicht nur die Finanzmärkte verloren ihr Vertrauen in die europäische Wirtschaft, zumindest 2012–2013. Auch die außereuropäische politische Öffentlichkeit sah Europa vor allem als Problemfall, die amerikanische Öffentlichkeit heute stärker als zuvor. In Ostasien wurde Europa nicht mehr als Modell der transnationalen Integration angesehen wie noch in den frühen 2000er Jahren, sondern eher als Beispiel einer gescheiterten internationalen Wirtschaftspolitik.

7



http://stats.oecd.org/index.aspx?queryid=9158 (Wirtschaftswachstum) [14. 12. 2014]. http://stats.oecd.­org/index.aspx?queryid=36324 (Arbeitslosigkeit) [14. 12. 2014 ]. http:// oecd.statstcs ­government debt (Staatsverschuldung) [14. 12. 2014].

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Auch eine schwere Krise in den 1970er Jahren Mein zweites Plädoyer: Es gibt auch gute Gründe, welche die Krise der 1970er Jahre als ebenso schwer erscheinen lassen. Es sind weniger, aber nicht weniger gewichtige Gründe: In den 1970er Jahren war die Krise aus einem Grund schwieriger, den man heute leicht übersieht: Die europäischen Entscheidungsinstanzen waren noch unfertig und ihr Aufbau war ein Teil der Krise. Weder der alle paar Monate tagende Europäische Rat noch die Europäische Zentralbank waren eingerichtet. Das Europäische Parlament war noch schwach. Die Europäische Kommission war durch die Konflikte der 1960er Jahre angeschlagen. Es dauerte daher damals viel länger, bis europäische Entscheidungen getroffen waren. Ein extremes Beispiel: Vom Projekt einer europäischen Währungsunion 1970 bis zum Beschluss zur Einführung des Euro im Vertrag von Maastricht im Jahr 1992 vergingen über zwanzig Jahre. Heute dagegen sind die europäischen Entscheidungsgremien etabliert. Der Europäische Rat arbeitet seit fast drei Jahrzehnten nach festen, wenn auch immer wieder reformierten Regeln. Die Europäische Zentralbank ist gegründet und hat einen Präsidenten, der sich seiner Verantwortung voll bewusst ist. Das Europäische Parlament gewinnt vor allem seit dem Vertrag von Lissabon an Einfluss. Die Europäische Kommission spielt eine wichtige Rolle bei der Ausführung der Entscheidungen des Europäischen Rates, beim Europäischen Semester, also bei der Kontrolle der nationalen Haushalte, bei der Beobachtung der Disparitäten zwischen den Mitgliedsländern und bei der Kontrolle der europäischen Banken. Die Entscheidungen fielen deshalb in der jüngsten Krise erheblich rascher. Wenn sie trotzdem immer noch zu zögernd und unzureichend waren, dann lag es nicht daran, dass die Entscheidungsgremien nicht klar definiert und eingerichtet waren.8 Die Krise der 1970er Jahre kann zweitens auch deshalb als schwerer angesehen werden, weil die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Disparitäten zwischen den Mitgliedsländern der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft größer waren als in der jüngsten Krise zwischen den Mitgliedsländern der Eurozone. Was immer man betrachtet: die wirtschaftspolitischen Prinzipien, die wirtschaftlichen Wachstumsraten, die Exportraten, die Lohnstückkosten, die Sozialausgaben, die Bildungsausgaben – immer waren die Kontraste innerhalb der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft größer als innerhalb der heutigen Eurozone. Nur die Arbeitslosigkeit bildet eine Ausnahme. Als sie in den 1980er Jahren anstieg, war sie in der Europäischen Gemeinschaft jedoch ungleichartiger als in der Eurozone der jüngsten Gegenwart.9 8 9

Vgl. Offe, Klaus: Europa in der Falle, Analysen und Alternativen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 76,1 (2013), S. 67–80. OECD. Historical statistics 1960–1985, Paris 1987, S. 44, 107. http://stats.oecd.org/Index. aspx?lang=en&SubSessionId=1a5366a0-7586-414f-ac46-cea2742a66ee&themetreeid=17 (18. 12. 2013); http://stats.oecd.org/Index.aspx?DatasetCode=SNA_TABLE1 (18. 12. 2013); Data. woldbank.org/indicator/ NY.GDP.PCAP.KD.ZG (20.12.2013).

Steckt die Europäische Union in der schwersten Krise seit 1950?

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Freilich ist dies nur ein Teil der Geschichte. Die Beurteilung von innereuropäischen Disparitäten hat sich in der jüngsten Krise grundlegend gewandelt. Noch in den 1990er Jahren besaß die innere europäische Vielfalt in der europäischen Öffentlichkeit einen hohen Wert. Die Europäische Union übernahm in dieser Zeit sogar das Motto „Einheit in Vielfalt“. Dagegen steht seit der Schuldenkrise die innere Vielfalt der Europäischen Union unter dem Generalverdacht, die europäische Währung zu gefährden, da für eine optimale Währung nur begrenzte Disparitäten des Wachstums, der Zahlungsbilanz, der Löhne und der Arbeitslosigkeit, aber auch der Sozialausgaben, der Bildung, der Arbeitsethik der Staatsbeamten oder des Vermögenskatasters zulässig sind. Es wird viel zu selten recherchiert, ob die inneren Disparitäten in Europa wirklich außergewöhnlich scharf und die ökonomischen Verflechtungen zwischen den Mitgliedsländern der Eurozone wirklich außergewöhnlich schwach sind oder wie andere große Währungsräume wie China, Indien, Russland mit weit größeren Disparitäten, die Vereinigten Staaten mit ähnlichen Disparitäten zurechtkommen. Ein drittes Argument: Man wird sich auch überlegen müssen, ob die Politisierung der europäischen Entscheidungen tatsächlich nur als Moment der Krise anzusehen ist. Michael Zürn hat zu Recht darauf hingewiesen, dass diese Politisierung auch zur Lösung der Krise in einem doppelten Sinn beiträgt oder beitragen kann.10 Im Unterschied zu den 1970er Jahren nahm das Interesse der Intellektuellen an den politischen Entscheidungen zu. Die Zahl und der Einfluss der wissenschaftlichen Europaexperten wuchsen. Die politischen Beratungsinstitute beschäftigten sich stärker mit europäischer Politik. Aus diesen Gründen hat sich die Transparenz, möglicherweise auch die Qualität der europäischen Entscheidungen verbessert. Der Druck auf die europäischen Entscheider ist größer geworden. Auch deshalb wurde in der jüngsten Krise rascher entschieden als in der Krise der 1970er Jahre. Ein entscheidendes Manko ist allerdings nicht zu übersehen. Trotz dieser Politisierung sind die Durchschnittseuropäer weiterhin zu wenig an europäischen Entscheidungen interessiert. Nur an Volksabstimmungen über europäische Themen beteiligen sich die Bürger stark. Die Beteiligung an den Europawahlen sank dagegen seit den ersten Direktwahlen im Jahr 1979 immer weiter ab. Die Europawahl im Mai 2014, bei der erstmals eine echte Wahl zwischen Spitzenkandidaten bestand, war ein wichtiger Testfall. Die Wahlbeteiligung stabilisierte sich erstmals und stieg in einigen Ländern, darunter Frankreich, Großbritannien, Schweden, den Niederlanden und Deutschland, sogar wieder an. Aber ob das eine historische Wende darstellte, muss sich erst noch erweisen.11 Ein viertes, vielleicht unerwartetes Argument: In den deutsch-französischen Regierungsbeziehungen ist die Kompromissfähigkeit in der jüngsten Krise größer als während der der 1970er Jahre. Das mag überraschend klingen, da diese Beziehungen durch das wirtschaftliche und politische Ungleichgewicht zwischen Frankreich und Deutschland 10 11

Rauch u. Zürn 2014 (wie Anm. 7), S. 121–145. Vgl. http://www.europarl.europa.eu/aboutparliament/de/000cdcd9d4/Turnout-(1979-2009).html und http://www.ergebnisse-wahlen2014.eu/de/election-results-2014.html (30. 7. 2014).

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in den letzten Jahren zunehmend belastet werden. Trotzdem waren die deutsch-französischen Gegensätze in den 1970er Jahren größer – nicht zuletzt wegen der tiefen Gegensätze in der Wirtschaftspolitik – in der Vorstellung von Staatsschulden, von der Unabhängigkeit einer Zentralbank, von Exportwirtschaft und von der staatlichen Intervention in die Wirtschaft. Dagegen näherten sich seit den 1980er Jahren beide Länder in den Grundsätzen der Wirtschaftspolitik erheblich an. Zudem sind die Zivilgesellschaften, die auf politische Entscheidungen zu Europa Einfluss nehmen, also die politischen Beratungsinstitute, die wissenschaftlichen Experten, die Interessenorganisationen, die sozialen Bewegungen, die Städtepartnerschaften bis hin zu den Abgeordneten der nationalen Parlamente, erheblich stärker verflochten als in den 1970er Jahren. Die deutsch-französischen Beziehungen bekamen darüber hinaus einen weit gewichtigeren symbolischen Charakter. Der deutsch-französische Vertrag von 1963 wurde 1973 kaum gefeiert. 2003 und 2013 hingegen fanden sehr eindrucksvolle Feierlichkeiten im symbolträchtigen Schloss von Versailles und im Plenarsaal des Deutschen Bundestags statt. Wichtige europäische Entscheidungen in der jüngeren Schuldenkrise beruhten auf einem deutsch-französischen Kompromiss, zuletzt die Beschlüsse des Europäischen Rats über die Bankenunion.

Eine zusammenfassende Einschätzung Abschließend meine eigene Einschätzung: In der gegenwärtigen Krise waren vor allem drei Bedingungen etwas günstiger als in den 1970er Jahren: Die europäischen Institutionen sind anders als in den 1970er Jahren eingerichtet. Ihre Kompetenzen sind geklärt. Sie können entscheiden. Für diese europäischen Entscheidungen ist es überwiegend von Vorteil, dass sie in der europäischen Öffentlichkeit viel intensiver diskutiert werden als in den 1970er Jahren und dass daran nicht nur Politiker und Intellektuelle, sondern auch weit mehr Experten aus den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen beteiligt sind. Die Regierungen Frankreichs und Deutschlands besitzen zudem mehr Erfahrung bei der Suche nach Kompromissen bei der Vorbereitung von europäischen Entscheidungen. Die inneren Disparitäten werden zweitens zwar stärker als in den 1970er Jahren als ein zentrales Problem der Krise angesehen, sind aber in Wirklichkeit nicht mehr so gravierend. Sie unterscheiden sich auch nicht grundsätzlich von den inneren Disparitäten der USA und sind sogar weniger ausgeprägt als die in China, Indien oder Russland. Drittens spielten äußere Bedrohungen oder Ängste vor äußeren Bedrohungen in der gegenwärtigen Krise jedenfalls bis vor Kurzem eine geringere Rolle als in den 1970er Jahren, der Zeit des Kalten Kriegs und der Ölschocks. Europa kann oder konnte ohne die Bedrängung durch solche realen oder eingebildeten Bedrohungen entscheiden. Sicher nahm der globale Druck von außereuropäischen Regierungen zu, was angesichts der Zunahme an internationalen Verflechtungen aber unvermeidbar ist.

Steckt die Europäische Union in der schwersten Krise seit 1950?

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Gefährlicher als in den 1970er Jahren erscheinen in der gegenwärtigen Krise dagegen drei Entwicklungen. Erstens sind die Nord-Süd-Spannungen in Europa ein neues, schweres Problem, auf das Wolf Lepenies mit großer Kompetenz eingegangen ist.12 Zweitens ist neu und beunruhigend, dass die Krise des Vertrauens in die Europäische Union die Wirtschaftskrise, also in der Gegenwart die Schuldenkrise, ungewöhnlich lange anhält, viel länger als in früheren Krisen der europäischen Integration. Man wird sehr genau verfolgen müssen, ob die Schuldenkrise dauerhafte politische Schäden an der europäischen Integration hinterlässt. Drittens erscheint an der jüngsten Krise gefährlich, dass die Europäische Union das zentrale Problem dieser Krise, die Regelung und die Konditionen der Solidarität zwischen den Mitgliedsländern, nicht wirklich zu lösen begonnen hat. Die zähe Krise des Vertrauens in die Europäische Union und der neue europäische Nord-Süd-Konflikt hat viel mit diesem ungeklärten, aber essentiellen Ziel der Europäischen Union zu tun. Für die Zeit nach dieser Krise steht die Europäische Union vor zwei Optionen. Die erste Option: Es wird ganz offensichtlich mehr Kontrolle der nationalen Haushalte und Banken durch die Europäische Union geben. Sie dürfte damit in der Öffentlichkeit vor allem als eine Kontrollinstanz erscheinen und sicher auch entsprechende öffentliche Kritik hinnehmen müssen. Die zweite Option: Die Europäische Union könnte eine zusätzliche, eine zweite Lehre aus der Krise ziehen. Sie könnte und sollte schlussfolgern, dass ihr eine neue, ergänzende Aufgabe neben der Sicherung des Friedens, der Demokratien und des Wohlstands zukommt: die Hilfe des vereinten Europas für die Bevölkerungen von Mitgliedsländern, die in Not geraten sind und denen die nationalen Regierungen nicht mehr wirkungsvoll helfen können. Man sollte die Bereitschaft der Europäer zu solchen Hilfsleistungen nicht unterschätzen. Jürgen Gerhards zeigt in seinem jüngsten Buch, dass die große Mehrheit der spanischen, polnischen und deutschen Bevölkerung es für richtig hält, dass die Europäische Union einem in Not geratenen Mitgliedsland hilft.13 Die Europäische Union sollte sich dieser Debatte über ihre Aufgaben stellen und aus der schweren Krise lernen. Diese Debatte zu führen, wurde in der letzten großen Krise der europäischen Integration während der 1970er Jahre versäumt. Dieses Versäumnis sollte nicht wiederholt werden.

12

13

Vgl. Lepenies, Wolf: Nord und Süd. Der europäische Himmelsrichtungsstreit. Vortrag zur Ver­leihung des Schrader-Preises 2010. http://www.schader-stiftung.de/uploads/tx_schaderstiftung/vortrag_ lepenies_schader-preis_290510.pdf 8 (30.7.2014). Gerhards, Jürgen u. Holger Lengfeld: Wir, ein europäisches Volk? Sozialintegration Europas und die Idee der Gleichheit aller europäischen Bürger, Wiesbaden 2013.

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Hartmut Kaelble

Literatur Aron, Raymond: L’Europe face à la crise des sociétés industrielles (1976), in: L’Europe? L’Europe. Hrsg. von Pascal Ory, Paris 1998. Gehler, Michael: From Crisis to Crisis, from Success to Success? European Integration Challenges and Opportunities in Light of Europe’s History (1918–2009), in: EU China. Global Players in a Complex World. Hrsg. von Michael Gehler, Xuewu Gu u. Andreas Schimmelpfennig, Hildesheim, Zürich, New York 2012, S. 45–74. Gerhards, Jürgen u. Holger Lengfeld: Wir, ein europäisches Volk? Sozialintegration Europas und die Idee der Gleichheit aller europäischen Bürger, Wiesbaden 2013. Heidenreich, Martin (Hrsg.): Krise der europäischen Vergesellschaftung? Soziologische Perspektiven, Wiesbaden 2014. Kaelble, Hartmut: Spirale nach unten oder produktive Krisen? Die Geschichte der Entscheidungskrisen der europäischen Integration, in: Integration 36 (2013), S. 169–182. Kaelble, Hartmut: Eine beispiellose Krise? Die Krise der europäischen Integration seit 2010 im historischen Vergleich, in: Krise der europäischen Vergesellschaftung? Soziologische Perspektiven. Hrsg. von Martin Heidenreich, Wiesbaden 2014, S. 31–51. Kirt, Romain (Hrsg.): Die Europäische Union und ihre Krisen, Baden-Baden 2001. Kühnhardt, Ludger (Hrsg.): Crises in European Integration. Challenges and Responses, 1945–2005, New York, Oxford 2009. Lepenies, Wolf: Nord und Süd. Der europäische Himmelsrichtungsstreit. Vortrag zur Verleihung des ­ Schrader-Preises 2010. http://www.schader-stiftung.de/uploads/tx_schaderstiftung/vortrag_ lepenies_­schader-preis_290510.pdf 8 (30. 7. 2014). Loth, Wilfried (Hrsg.): Crisis and Compromises, the European project 1963–1969, Baden-Baden 2001. Ludlow, Piers (Hrsg): The European Community and the crisis of the 1960’s. Negotiating the Gaullist Challenge, London 2006. Offe, Klaus: Europa in der Falle, Analysen und Alternativen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 76,1 (2013), S. 67–80. Rauch, Christian u. Michael Zürn: Zur Politisierung der EU in der Krise, in: Krise der europäischen Vergesellschaftung? Soziologische Perspektiven. Hrsg. von Martin Heidenreich, Wiesbaden 2014. S. 121–145. Schulz-Forberg, Hagen: On the historical origins of the EU’s current crisis: Or, the hypocritical turn of European integration, in: The European Rescue of the European Union? The Existential Crisis of the European Political Project. Hrsg. von Agustín José Menéndez, Edoardo Chiti u. Pedro Teixeira, Oslo 2012, S. 15 –36.

Europa bedeutet Vielfalt, nicht Einförmigkeit. Europas Vielfalt ist eine Stärke, keine Schwäche. Europas größte Stärke sind seine eigenen Werte, nicht die Bewertungen Anderer. Die Werte ermöglichen die Vielfalt Europas, und vielleicht auch mehr Vielfalt jenseits Europas.

Tilman Brück

Frieden und Sicherheit – welche Rolle für Europa? 1 Einleitung Der Zeitpunkt für eine Reflexion der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist nicht ungünstig: Im Dezember 2013 haben die Staats- und Regierungschefs der EU auf ihrem Gipfel zum ersten Mal seit 2005 diese Themen erneut gemeinsam beraten – wobei de facto dann die Situation in der Ukraine die Diskussion dominierte. Dieser Beitrag gibt, aus ökonomischer Sicht, einen kurzen Einblick in die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Dafür möchte ich zunächst an die Kernaufgabe Europas erinnern, um dann auf die ökonomische Logik von Krieg und Frieden einzugehen und einige Entwicklungen in den Bereichen Verteidigungsausgaben und Waffenhandel vorzustellen. Anschließend werde ich den Status quo der europäischen Zusammenarbeit im Bereich Sicherheit und Verteidigung skizzieren. Abschließen möchte ich mit der Betonung der subjektiven Sicherheit als einem sehr europäischen, aber bislang vernachlässigten Aspekt von Außen- und Sicherheitspolitik.

Europa und Frieden Ausgangspunkt der Analyse ist die Feststellung, dass die Einigung (West-)Europas die logische Konsequenz aus dem Grauen zweier Weltkriege war. Keine andere Weltregion musste so schmerzhaft lernen, dass Frieden eine absolute Notwendigkeit für Freiheit und für Wohlstand ist – und dass Frieden nur durch Kooperation erreicht werden kann. Der Zweite Weltkrieg forderte ca. 70 Millionen Todesopfer, geschätzte zwei Drittel davon waren Zivilisten.2 Ebenso wurden 70 % der industriellen Infrastruktur Europas 1 2

Ich danke Silvia Lohfink für exzellente Forschungsassistenz. The Economist: The second world war. Counting the cost (2012). http://www.economist.com/ node/21556542 (9. 06. 2014).

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Tilman Brück

zerstört.3 Dementsprechend litt die europäische Wirtschaft. Im Jahr 1950 lag das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf deutlich unter den Vorkriegswerten. Die Versöhnung der Völker in (West-)Europa hatte deshalb allerhöchste politische Priorität, auch um die wirtschaftliche Entwicklung zu unterstützen. Wie bereits der ehemalige französische Außenminister Robert Schuman erkannt hatte: „Der Beitrag, den ein organisiertes und lebendiges Europa für die Zivilisation leisten kann, ist unerlässlich für die Aufrechterhaltung friedlicher Beziehungen“.4 Diese Vision ermöglichte damals die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). Auf der Basis des gemeinsamen Marktes wurde 1992 mit dem Vertrag von Maastricht nicht nur die wirtschaftliche und politische Union gegründet, sondern es wurden auch die deutlich weniger ambitionierten Grundsteine einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) gelegt. Hierzu heißt es im Vertrag, dass auf längere Sicht auch die Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik und zu gegebe­ ner Zeit eine gemeinsame Verteidigung eingerichtet werden soll. All dies diene dem Ziel, die Identität und Unabhängigkeit Europas zu stärken, um Frieden, Sicherheit und Fortschritt in ­Europa und der Welt zu fördern.

Statt diese politisch fundamentalen Fragen zu forcieren, hat Europa jedoch, unter anderem gelenkt von Jacques Delors, die wirtschaftliche Integration vorangetrieben, zunächst den einheitlichen Markt und dann den Euro. Europas Elite hat damit versucht, pragmatisch den Weg des geringsten Widerstands bei der europäischen Einigung zu gehen – und die ‚low hanging fruit‘ am Baum Europas zuerst zu ernten. Wir erleben dieser Tage und Jahre den Preis dafür, dass dieser Weg nicht mit einer umfassenden Reform der europäischen Strukturen verbunden war. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt zum Beispiel war zu weich, um wirkliche Disziplin herzustellen. Wir wissen auch schon seit Jahren, dass die Kriterien des Stabilitätspaktes politisch unterlaufen wurden – nicht nur Griechenland hat bei der Defizitstatistik geschummelt. Selbst Deutschland hat sich nicht an diese Vorgaben gehalten – was unsere Volkswirtschaft ebenfalls geschwächt und unsere Widerstandskraft in der Krise vermindert hat – so erfolgreich wir relativ gesehen heute dastehen. Zurück zum Frieden: Wenn wir es schon nicht geschafft haben, eine gemeinsame ­Lösung für die Wirtschaft Europas zu finden, so war allen Beteiligten klar, dass eine gemeinsame Lösung für die Außen- und Sicherheitspolitik noch schwieriger zu realisieren wäre. Also wurde zunächst die wirtschaftliche Seite forciert, um das positive Zusammenspiel von Frieden und Wohlstand zu entfachen. Und nicht ganz ohne Erfolg. Ja, es gab die grausamen Kriege im ehemaligen Jugoslawien. Ja, es gab politischen Terrorismus in vielen Staaten Europas. Und dennoch hat 3 4

Pilisuk, Marc u. Jennifer Achord Rountree: Who benefits from global violence and war: uncovering a destructive system, Westport 2008, S. 136. Europäische Union (N. d.): Schumann-Erklärung – 9. Mai 1950. http://europa.eu/about-eu/basic-­ information/symbols/europe-day/schuman-declaration/index_de.htm (9. 06. 2014).

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die EU dem Frieden bereits gute Dienste geleistet, was der Friedensnobelpreis 2012 dann ja, aus meiner Sicht zu Recht, anerkannte. Die EU erhielt den Friedensnobelpreis für die Förderung von „Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschrechten in Europa“. Sie habe, so das Nobelpreis-Komitee, einen Kontinent des Krieges in einen Kontinent des Friedens verwandelt. Heute wissen wir, dass die liberale Grundannahme, dass Frieden Handel und Wohlfahrt steigert, auch empirisch klar belegt ist.5 Länder, die stärker wirtschaftlich miteinander verflochten sind, neigen weniger dazu, sich militärisch anzugreifen – die Opportunitätskosten sind einfach zu groß. Entscheidend sind dabei sowohl die geographische Lage der Staaten zueinander als auch die relative Größe und Macht der Staaten. Interessant ist dabei vor allem der Gedanke, dass beide Zielgrößen (Handel und Frieden) simultan aufeinander einwirken. Mehr Handel fördert den Frieden und mehr Frieden fördert den Handel. Der aktuelle Russland-Ukraine-Konflikt zeigt, dass hier offensichtlich zwei Staaten nicht genug miteinander gehandelt haben. Denn: Frieden ist kein Nullsummenspiel. Auch wenn Präsident Putin dies derzeit anders sieht, kann Frieden für beide Seiten wirtschaftlich profitabel sein. Zurück zur EU: Die wirtschaftliche Integration war sozusagen der erste Schritt auf dem Weg in Richtung eines friedlichen Europas. Gleichzeitig steht die Einigung Europas im Bereich Sicherheit und Verteidigung größtenteils noch aus – ohne eine Einigung in diesen Bereichen haben wir aber keine wirkliche Europäische Union. Anders formuliert: Europa hat aus ganz pragmatischen friedenspolitischen Gesichtspunkten die ökonomische Einigung forciert. Jenseits der technischen Probleme dieser Strategie ist es nun an der Zeit, eine Perspektive jenseits des rein ökonomischen Einigungsdiskurses zu entwickeln und eine, auch ökonomisch motivierte, Einigung der EU im Bereich Sicherheits- und Verteidigungspolitik voranzubringen. Dabei sehe ich drei tiefer gehende Gründe für diese neue Perspektive: Erstens ist es die logische Weiterentwicklung des Projekts Europa (das nicht per se ein ökonomisches Projekt sein oder bleiben sollte). Zweitens kann eine rationalere und überzeugendere ­Außen- und Sicherheitspolitik Europas ein überzeugender Grund für die Bürger Europas sein, sich für Europa zu engagieren. Drittens kann dieser Prozess auch die Ressourcen freisetzen, die das sozio-ökonomische Projekt Europa stärken können. Mit weniger ­Kosten mehr Sicherheit – und somit mehr Wohlstand – das ist eine Win-win-Situation, der wir uns nicht verschließen sollten.

5

Li, Quan u. Rafael Reuveny: Trading for Peace? Disaggregated Bilateral Trade and Interstate Military Conflict Initiation, paper presented at the „Theories of International Political Economy and China“ Conference in Beijing, 2008. http://www.princeton.edu/~pcglobal/conferences/beijing08/ papers/Li-Reuveny.pdf (9. 06. 2014).

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Krieg als entscheidender Kostenfaktor Krieg und Unsicherheit verursachen nicht nur enormes menschliches Leid und unter­ graben Institutionen und politische Systeme, sie sind auch für die Volkswirtschaft extrem schädlich. Deshalb möchte ich zunächst einen kurzen Blick auf diese Begriffe werfen und sie als Ökonom definieren. Im Rahmen meiner eigenen Forschungsarbeit habe ich mich mit den Kosten von gewaltsamen Konflikten beschäftigt. Zusammen mit meinen Kollegen Olaf de Groot und Carlos Bozzoli habe ich berechnet, wie viel Bruttoinlandsprodukt die Welt seit 1960 durch Kriege verloren hat. Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass das globale BPI jährlich um knapp 16 % höher gewesen wäre, wenn wir seit 1960 in Frieden gelebt hätten.6 Unter globalem BPI verstehen wir hier die Summe aller nationalen Bruttoinlandsprodukte. Natürlich sprechen wir bei Kosten des Krieges nicht allein von den finanziellen ­Aspekten. Teil unseres Forschungsprojektes war es auch, den Zusammenhang von materiellen Kosten und sozioökonomischen Faktoren wie Kindersterblichkeit und Bildung zu berechnen. Die finanziellen Kosten des Krieges korrelieren stark mit diesen Faktoren. Wir haben die Ergebnisse unserer Studie zu den Kosten des Krieges mit den Ergebnissen anderer Studien zu anderen Übeln dieser Welt verglichen und dabei festgestellt, dass Krieg ähnliche hohe Kosten verursacht wie der Klimawandel. Alle anderen Übel sind dabei eher zweitrangig. Gewalt und Unsicherheit sind also massive Hindernisse für Wachstum und Wohlstand. Wir sind im Rahmen unserer Forschungsarbeit auch auf einen Zusammenhang gestoßen, der als eine der Ursachen für Kriege betrachtet werden kann: Während die weniger entwickelten Länder vom Frieden profitiert hätten, hätten die Industrieländer dadurch Verluste gemacht. Kosten und Gewinne sind also, wie so oft, ungleich verteilt. Hierbei muss man allerdings auch innerhalb eines Landes zwischen Gewinnern und Verlierern unterscheiden. Aus staatlicher Sicht ist Krieg in der Regel mit Verlusten verbunden. Dies kann in den meisten Fällen auch nicht durch den indirekten Beitrag der Industrie durch Steuern oder Arbeitsplätze ausgeglichen werden. Vor einigen Jahren hatte ich bereits zusammen mit Olaf de Groot und Friedrich Schneider berechnet, was der deutsche Einsatz in Afghanistan unseren Staat kostet.7 Es handelt sich hierbei um eine Berechnung mit zahlreichen Unsicherheitsfaktoren, die auf mehreren wichtigen Annahmen basiert. Wir haben verschiedene mögliche Szenarien bezüglich Dauer und Intensität der deutschen Beteiligung am Krieg in Afghanistan berücksichtigt. In einem realistischen Szenario, das wir 2010 berechnet haben und in dem wir damals davon ausgingen, dass Deutschland noch einige Jahre in Afghanistan präsent ­bleiben 6 7

de Groot, Olaf, Carlos Bozzoli u. Tilman Brück: The Global Economic Burden of Violent Conflict (noch nicht veröffentlicht). Brück, Tilman, Olaf de Groot u. Friedrich Schneider: The economic costs of the German participation in the Afghanistan war, in: Journal of Peace Research 48,6 (2011), S. 793–805.

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würde, schätzten wir die Gesamtkosten der deutschen Beteiligung am Krieg in Afgha­ nistan auf 26 bis 47 Milliarden Euro. Hätte sich Deutschland dazu verpflichtet, das ­Engagement in Afghanistan auszuweiten und wäre Deutschland mit stärkerem Widerstand konfrontiert worden, so wären die Kosten erheblich angestiegen. Die relativ großen Kostenspannen sind den Unsicherheitsfaktoren zuzuschreiben, auf deren Grundlage die Zahlen geschätzt werden mussten. Unseren Schätzungen zufolge kostet jedes weitere Jahr, in dem Deutschland am Einsatz in Afghanistan teilnimmt, zusätzliche 2,5 bis 3 Milliarden Euro.

Deutsche Militärausgaben und Waffenproduktion im internationalen Vergleich Der deutsche Staat hat im Jahr 2012 Militärausgaben im Wert von 1,4 % des BIP getätigt und belegt damit den 9. Platz im internationalen Vergleich, gemessen am absoluten Wert der Ausgaben.8 Mit Verteidigungsausgaben meine ich hier Ausgaben für Streitkräfte, Verteidigungsministerien und -ämter, paramilitärische Einheiten sowie für militärisch ausgerichtete Unternehmen der Raumfahrt. Laut dem Finanzplan des Bundes 2012 bis 2016 sollen die deutschen Militärausgaben in diesem Zeitraum konstant bleiben, preisbereinigt damit also leicht sinken.9 Auch der internationale Trend bei den Verteidigungsausgaben geht zum ersten Mal seit 1998 nach unten, wobei sich die Trends regional stark unterscheiden. Während die Ausgaben in den USA, in Europa und in Australien derzeit sinken, erhöht Russland zum Beispiel die Verteidigungsausgaben mehr und mehr. Ein Schelm, wer sich dabei Böses denkt! In West- und Mitteleuropa wurden im Jahr 2012 insgesamt ca. 307 Milliarden ­Dollar allein für Verteidigung ausgegeben. Zwischen 2011 und 2012 sind die europäischen ­Militärausgaben im Schnitt zwar um 1,6 % gesunken, dies ist jedoch eher auf die Finanz­ krise als auf eine strategisch motivierte Reduktion zurückzuführen. In den USA lässt sich auch eine Reduktion der Verteidigungsausgaben unter Präsident Obama beobachten. Im All­gemeinen sind Verteidigungsausgaben ein wichtiger Kostenblock im Regierungsgeschäft, der durch eine verstärkte Zusammenarbeit deutlich verringert werden könnte. Die Gesamtsumme aller Militärausgaben ist nun schon seit ein paar Jahren höher als am Ende des Kalten Krieges. Das liegt einerseits an der Aufrüstung der USA, begründet durch die Terroranschläge vom 11. September 2001 und die Kriege im Irak und in Afgha8

9

Die im Folgenden zitierten Zahlen zu den Verteidigungsausgaben basieren auf Perlo-Freeman, Sam [u. a.]: Trends in world military expenditure, 2012, SIPRI Fact Sheet (2013) (http://books.sipri.org/ product_info?c_product_id=458) (13. 06. 2014), falls keine andere Quelle angegeben ist. Stockholm International Peace Research Institute: SIPRI Yearbook 2013. Armaments, Disarmament and International Security, Oxford 2013, S. 130.

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nistan. Gleichzeitig erhöhten auch aufstrebende Staaten wie China, Indien und Russland ihre Militärausgaben. China ist heute schon auf Platz zwei der Militärausgaben, übertroffen nur von den USA. Deren Ausgaben sind jedoch immer noch ungefähr viermal so hoch. Russland folgt auf Platz drei. Im Rahmen der Modernisierung der Streitkräfte sollen die russischen Militärausgaben bis 2015 von 4,4 % des BIP auf 4,8 % erhöht werden. Interessant wird dabei der Versuch der Quadratur des Kreises: Bundespräsident Gauck, Bundesaußenminister Steinmeier und Bundesverteidigungsministerin von der Leyen haben in einem bemerkenswerten und miteinander abgestimmten Rede-Trio auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2014 ein stärkeres sicherheitspolitisches Engagement Deutschlands weltweit gefordert. Fraglich ist jedoch, ob die Kapazitäten bzw. die finanziellen Ressourcen hierfür verfügbar sind – wenn mit sicherheitspolitischem Engagement denn primär militärisches Engagement gemeint war. Zu überlegen wäre aus meiner Sicht, wie mit begrenzten Mitteln vorbeugend Frieden und Sicherheit geschaffen werden könnten. Denn die Ressourcen zur Schaffung von Frieden mit Waffengewalt sind in Deutschland, in der EU und in der NATO derzeit schlicht nicht vorhanden. Und wir sollten vermeiden, die Bundeswehr in Missionen zu schicken, für die sie nicht ausgerüstet oder vorbereitet ist. Es ist also aus ökonomischer Sicht fraglich, ob Deutschland primär auf militärische Mittel setzen kann und sollte. Hierbei gilt es auch zu beachten, dass nicht nur die tatsächlichen Konflikte, sondern auch die aus ihnen resultierende Unsicherheit sowie politische Gegenmaßnahmen beträchtliche Kosten verursachen können, wie wir es im Irak und in Afghanistan beobachten konnten. Andererseits kann auch Passivität massive Kosten verursachen. Syrien ist ein Beispiel hierfür. Für die deutsche Industrie ist die Produktion von Waffen nach wie vor ein wichtiger Geschäftsbereich. Das Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) erstellt seit Ende der 1980er Jahre ein Ranking der 100 größten Waffenproduzenten, gemessen am Umsatz.10 Dem aktuellen Ranking zufolge gehören auch vier deutsche Unternehmen zu den globalen Top 100 unter den Waffenproduzenten, und zwar Rheinmetall, Thyssen­ Krupp, KraussMaffei sowie Wegmann und Diehl.11 Der deutsche Anteil am Gesamt­ umsatz der Top 100 ist mit ca. 2 % im Jahr 2011 allerdings relativ gering. Das liegt jedoch daran, dass der deutsche Markt, genau wie der gesamteuropäische, stark fragmentiert ist. Außerdem kommt dazu noch EADS bzw. die Airbus Group, die wir als paneuropäisches Unternehmen separat führen. Für den größten Anteil sorgen mit einigem Abstand die USA, wo auch Lockheed Martin sitzt, nach wie vor die Firma mit dem größten Umsatz.

10 11

Die im Folgenden zitierten Zahlen zu den Top-100-Umsätzen basieren auf Stockholm International Peace Research Institute 2013 (wie Anm. 9), S. 288–234, falls keine andere Quelle angegeben ist. Perlo-Freeman, Sam u. Pieter D. Wezeman: The SIPRI Top 100 arms-producing and military services companies, 2012. SIPRI Fact Sheet (2014). http://books.sipri.org/product_info?c_product_ id=472 (13. 06. 2014).

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Der Anteil der russischen Unternehmen an den Top-100-Umsätzen steigt deutlich an. Putins Politik der Aufrüstung lässt sich also auch am Umsatz der großen staatlichen ­russischen Waffenhersteller ablesen. Und interessant ist auch der klare Trend zu mehr militärischen Dienstleistungen, der sich genau erkennbar in den Daten niederschlägt. Besonders hervorzuheben ist hier die Expansion vieler Unternehmen in den Bereich der Cybersecurity. Den Schätzungen des SIPRI zufolge werden bereits 3,5 % der Militärausgaben in Cybersecurity investiert.12 Angesichts der sich häufenden NSA-Skandale scheint dies auch durchaus sinnvoll zu sein. Ich erwarte deshalb für die kommenden Jahre einen rasanten Anstieg der Ausgaben für Cybersecurity. Die Diversifikation von Unternehmen – unter anderem durch den Bereich der Cyber­ security – ist eine Reaktion der Rüstungsindustrie auf die veränderte und teilweise reduzierte Nachfrage in den letzten Jahren. Auch durch Spezialisierung, Einrichtung von Tochterunternehmen im Ausland oder durch die Suche nach neuen Exportpartnern be­ reiten sich die Unternehmen auf kargere Zeiten vor. Insgesamt ist die Datenlage in Bezug auf die internationale Waffenproduktion aber leider nicht optimal. Aufgrund der Unzugänglichkeit von Umsatzzahlen kann die aus China stammende Produktion nicht mit berücksichtigt werden. Das würde die Statistik andernfalls sicherlich spürbar verändern. Man kann mit einiger Sicherheit sagen, dass mehrere chinesische Unternehmen in den SIPRI-Top-100 auftauchen würden, wenn sie ihre Daten veröffentlichten. Es ist außerdem oft schwer abzuschätzen, was zivile und was militärische Produktion ist. Viele der Techniken, die für herkömmliche Produkte verwendet werden, können gleichzeitig zur Herstellung von Waffen genutzt werden. SIPRI muss den Markt also teilweise basierend auf der vorhandenen Information schätzen. Eine sinnvolle Politik kann nur durch einen regen Informationsfluss ermöglicht werden. Neben Regierungen sind deshalb auch Unternehmen in der Pflicht, die Produktion und den Handel von Waffen mit der angemessenen Transparenz zu behandeln. Waffen werden nicht nur für den inländischen Bedarf produziert. Eng verbunden mit der Frage der Waffenproduktion ist deshalb die Frage des Waffenhandels. Die Regulierung des Exports von Waffen verbindet ethische, politische und ökonomische Aspekte. SIPRI berechnet dabei das Volumen der gehandelten Waffen, nicht den Geldwert, um vergleichbare Zahlen zu generieren. Dafür wird die militärische Kapazität der Lieferungen von unseren Experten auf einen sogenannten trend indicator value (TIV) geschätzt. Zusätzlich wird ein Mittelwert über einen Zeitabschnitt von fünf Jahren berechnet, da die Lieferungen von Jahr zu Jahr stark variieren können. Wir erhalten damit eine sehr aufschlussreiche Datenbasis, mit der sich die einzelnen Handelsprozesse international und über die Zeit sehr gut vergleichen lassen.

12

Stockholm International Peace Research Institute 2013 (wie Anm. 9), S. 221.

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Die Rüstungsindustrie wird also auch durch die globalen Veränderungen der Militärausgaben in den nächsten Jahren unter erheblichem Druck stehen. Für die deutsche Produktion, die zu einem großen Teil für das Ausland produziert, sind solche Prognosen natürlich besonders kritisch. Knapp die Hälfte (ca. 48 %) der in Deutschland produzierten Waffen werden nicht für Deutschland hergestellt.13 Zwischen 2008 und 2012 gingen 35 % der Exporte an das europäische Ausland, unter anderem an Spanien und Griechenland.14 Wie gerade erwähnt, sind aber genau dort die Militärausgaben rückläufig.

Wirtschaftliche Integration im Bereich Sicherheit und ­Verteidigung: eine Bestandsaufnahme Wie weit sind wir also mit der Integration der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik schon gekommen? Wir haben in der EU eine Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP). Sie gehört formell zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, ist jedoch institutionell und instrumentell eigenständig. Alle Beschlüsse der GSVP müssen einstimmig im Rat der Europäischen Union getroffen werden. Mit dem Vertrag von Lissabon hat die GSVP ihren aktuellen Namen bekommen und wurde erweitert, unter anderem durch eine Beistandsklausel, die auch die ursprünglich neutralen Länder Finnland, Irland und Österreich mit einbezieht. Damit wurde die GSVP zu einem Militärbündnis. Außerdem gibt es seit dem Vertrag von Lissabon das Amt des Hohen Vertreters für die Außen- und Sicherheitspolitik und den Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD). Bereits vorher gab es die sogenannten Petersberger Aufgaben, die im Rahmen der Westeuropäischen Union, einem militärischen Beistandspakt zwischen verschiedenen westeuropäischen Ländern, geschaffen wurden. Diese wurden nun auf die GSVP übertragen – sie umfassen humanitäre Aufgaben, Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben sowie Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung (einschließlich friedensschaffender Maßnahmen). Auf Grundlage der Petersberger Aufgaben ist die EU auch auf verschiedenen Missionen unterwegs. Im Jahr 2003 erfolgten die ersten Einsätze im Rahmen der GSVP. Die EU hat seitdem zahlreiche Einsatzanfragen erhalten und bis dato 34 Missionen durchgeführt – die Kapazitäten sind allerdings beschränkt und auch die Kapazitätsziele für die Zukunft wurden heruntergeschraubt.15 Laut der Europäischen Sicherheitsstrate-

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14 15

Schubert, Susanne u. Julian Knippel: Quantifizierung der volkswirtschaftlichen Bedeutung der Sicher­­heits- und Verteidigungsindustrie für den deutschen Wirtschaftsstandort (2012). http://www. wifor.de/tl_files/wifor/PDF_Publikationen/Schubert,%20S.%20;%20Knippel,%20J.%20(2012).pdf (13. 06. 2014), S. 6. Holtom, Paul [u. a.]: Trends in international arms transfers, 2012. SIPRI Fact Sheet (2013). http:// books.sipri.org/product_info?c_product_id=455 (13. 06. 2014). Bickerton, Chris J. [u. a.]: Security co-operation beyond the nation-state: the EU’s common security and defence policy, in: Journal of Common Market Studies 49 (1) (2011), S. 1−21.

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gie (ESS) aus dem Jahr 2003 zählen nicht nur regionale Konflikte zu den zentralen Be­ drohungen Europas, sondern auch Terrorismus, Proliferation von Massenvernichtungswaffen, Staatsscheitern sowie organisierte Kriminalität. Im Dezember 2008 wurden dann noch Cybersecurity und Klimafragen zu den Schwerpunkten der ESS hinzugefügt. Die Entscheidungsprozesse in diesem Bereich sind langwierig und die Mitgliedsstaaten sorgen sich um die Erhaltung ihrer Souveränität. Wenn es um Sicherheit und Militär geht, ist diese Angst natürlich besonders groß. Das Vertrauen in die anderen Mitgliedsstaaten ist hierfür wohl noch nicht groß genug. Deshalb versucht man, die Kompetenzen der einzelnen Länder zu erhalten – was dann allerdings zu einer eher ineffektiven und ineffizienten Politik führt. Dies wiederum ist nicht gerade zuträglich für das Vertrauen der Bevölkerung in die Institution der Europäischen Union. Und so schließt sich der Kreis des Misstrauens, des Zögerns und Zauderns, der Ineffektivität und der faulen Kompromisse. Im Rahmen der GSVP obliegen viele Entscheidungen immer noch den einzelnen Mitgliedsstaaten. Bezüglich der Exportkontrolle hat die Gemeinsame Außen- und Sicher­ heitspolitik zum Beispiel nur sehr begrenzten Einfluss. Obwohl es durchaus sinnvoll wäre, den Export von Waffen ins außereuropäische Ausland abzustimmen, wie es durch die GASP bzw. durch den sogenannten Code of Conduct on Arms Exports vorgesehen ist, funktioniert dies in der Praxis nicht besonders gut. Auch in Forschung und Entwicklung beschränkt sich die Zusammenarbeit noch auf ein Minimum: Nur ein Achtel der Aus­ gaben wird in gemeinsame Projekte investiert. Als Ergebnis haben wir heute in der EU 25 Armeen, 21 Luftwaffen und 18 Marinen, in denen größtenteils auch noch unterschiedliche Waffensysteme benutzt werden. Wenn wir uns die europäischen Militärausgaben der letzten 10 Jahre wieder ins Gedächtnis rufen, lässt sich leicht erkennen, dass sich durch die Schaffung der GSVP nicht allzu viel verändert hat. Die Ausgaben blieben bis zur Finanzkrise nahezu konstant, sie stiegen sogar leicht an. Das spricht nicht unbedingt dafür, dass die GSVP zu mehr Effizienz in Sicherheit und Verteidigung geführt hat. Es ist also höchste Zeit für eine Veränderung in der europäischen Sicherheits- und Ver­ teidigungspolitik. Wie die niederländische Außenministerin Jeanine Hennis-­Plasschaert auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2013 forderte, sollten wir den Verlust von Souveränität nicht fürchten, sondern uns stattdessen mit einem moderneren Konzept von Souveränität anfreunden. Die Bedeutung der EU als internationaler und auch militärischer Akteur ist in den letzten Jahrzehnten stark gewachsen. Auch in der Zukunft werden Einsätze, wie sie durch die GSVP ermöglicht werden, häufiger und wichtiger sein. Gleichzeitig befinden wir uns aber in einer Phase der Ressourcenknappheit. Wie bereits erwähnt, sind die europäischen Militärausgaben zwischen 2011 und 2012 aufgrund der Finanzkrise im Schnitt um 1,6 % gesunken. Das hat natürlich Konsequenzen für die Wirtschaft: Man kann davon ausgehen, dass es zu einer Rationalisierung in der europäischen Produktion kommen wird, denn Produktivität und Effizienz müssen gesteigert werden. Es kündigt sich, mal wieder, eine Konso-

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lidierung des europäischen Marktes an. Von verschiedenen Seiten werden Konzepte wie verstärktes Pooling and Sharing, also die gemeinsame Nutzung von Ressourcen, vorgeschlagen. Die Forderung nach solchen politischen Maßnahmen ist in den letzten Jahren immer lauter geworden, denn das nationalstaatliche Denken in diesem Bereich kostet uns Ressourcen, die wir immer weniger haben – bzw. die die Wohlstands- und Wachstumsaussichten der nachfolgenden Generationen belasten. Sicherheit hat ihren ökonomischen Preis. Aber wenn wir eine konstante Sicherheit zu einem geringeren Preis erreichen können, dann ist das auch gute Wirtschafts- und Haushaltspolitik. Die Sicherheitspolitik ist zu wichtig – und sie ist zu teuer –, als dass wir sie nur den Sicherheitspolitikern überlassen könnten. In Zeiten von Wachstumskrise und ­europaweit hoher Arbeitslosigkeit müssen wir auch ökonomische Aspekte in der Schaffung von Frieden berücksichtigen. Frieden schaffen mit mehr ökonomischer Effizienz – das ist eine Herausforderung, der sich Europa bislang nicht ehrlich gestellt hat. Eine von der Münchner Sicherheitskonferenz beauftragte Studie von McKinsey hat das Sparpotential einer gemeinsamen Verteidigung in Europa ermittelt. Insgesamt können demnach bis zu 31 % der Kosten für Militär und Sicherheit durch eine stärkere Integration vermieden werden.16 Im Jahr 2010 wurde die Europäische Verteidigungsagentur (European Defence Agency, EDA) bereits damit beauftragt, das Konzept Pooling and Sharing weiterzuentwickeln und entsprechende Projekte voranzutreiben. Eines der laufenden Projekte soll zum Beispiel die Luftbetankung erleichtern. Dabei wird ein Flugzeug, das sich im Einsatz befindet, während des Fluges von einem anderen mit Treibstoff versorgt. Als die EU im Jahr 2011 in den libyschen Bürgerkrieg eingriff, war man bezüglich der Luftbetankung zum Beispiel stark von den amerikanischen Tankflugzeugen abhängig. Man hatte nicht nur geringe Kapazitäten, auch die Modelle der vorhandenen Tankflugzeuge waren so unterschiedlich, dass die Luftbetankung erschwert wurde. Die EDA arbeitet derzeit an mehreren Projekten, der gemeinsamen Nutzung von Feldlazaretten bis zu Satellitensystemen. Dennoch hält auch die EDA selbst die bisherigen Errungenschaften für stark ausbaufähig. Ein konkreter Vorschlag für verstärktes Pooling and Sharing ist zum Beispiel die Beschaffung von Ausrüstung, die von den nationalen Einsatzkräften separat genutzt werden kann. Somit bliebe die Entscheidung über einen Einsatz eine rein nationalstaatliche Angelegenheit, während die Ausrüstung von der EU zur Verfügung gestellt würde. Eine weitere Möglichkeit wäre die integrierte Ausbildung von Streitkräften, die in Belgien und den Niederlanden bereits gut funktioniert.17 Natürlich ist auch der Austausch von Information und eine Abstimmung und Harmonisierung von Maßnahmen ein wich16

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McKinsey & Company (N. d.): The Future of European Defence: Tackling the Productivity Challenge. https://www.securityconference.de/fileadmin/MSC_/PDF/Future_of_European_Defence_-_ Tackling_the_Productivity_Challenge.pdf (13. 06. 2014). Constantinescu, Maria: Approaches to European Union military collaboration in the current economic austerity environment, in: Journal of Defense Resources Management 3, 1 (2012), S. 87−92.

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tiger Bereich der Sicherheit und Verteidigung, in dem es noch Verbesserungsbedarf gibt. Pooling and Sharing bedeutet auch, dass eine Spezialisierung stattfinden kann. So könnte das Potenzial der einzelnen Länder am besten ausgeschöpft werden. Es ist also offensichtlich, dass ein gleiches Maß an Sicherheit in Europa zu niedrigeren Kosten möglich ist.

Ein Gefühl von Sicherheit und Frieden in Europa Damit wir tatsächlich einen Kontinent des Friedens schaffen, muss sich jedoch vor allem ein Gefühl von Sicherheit innerhalb der Bevölkerung einstellen. Dieses kann sich unabhängig von der tatsächlichen Bedrohung bzw. der Sicherheits- und Verteidigungs­ kapazität des Landes entwickeln. Im Bereich der nationalen Sicherheit ist es ja fast schon ein Paradox, dass wir uns vor etwas schützen, nämlich Krieg, das es in dieser Form in Deutschland dankenswerterweise nicht mehr gibt. Natürlich wäre es richtig, wenn man dem entgegnen würde, wir hätten in Deutschland keinen Krieg mehr, weil wir eine kluge Außen- und Sicherheitspolitik betreiben (und nebenbei bemerkt endlich eine gefestigte Demokratie geworden sind). Aber analytisch ist es eben sehr schwer zu wissen, wann die Dosis der verabreichten Medizin stark genug ist, wenn das gewünschte Ziel im Nichtauftreten von Symptomen besteht. Wichtig ist also der Schutz an sich – wobei das erforderliche Niveau eben sehr schwer zu ermitteln ist – und wichtig ist auch, dass das Ergebnis des Schützens von der Bevölkerung als effektiv angesehen wird. Neben der subjektiven Risikoeinschätzung sind unsere Emotionen wichtig. Unsere Sorgen und Nöte bestimmen oft unser Handeln – wir möchten nicht arbeitslos oder krank werden oder in einer verschmutzten Umwelt oder vielleicht einer nicht vertrauten sozialen Umgebung leben. Es gibt also individuelle Sorgen und solche, die unsere Gesellschaft und Umwelt betreffen. Es scheint plausibel, dass Menschen Prioritäten betreffend dieser unterschiedlichen Themen haben und sie sich unterschiedlich stark um sich oder andere Sorgen machen. Zusammen mit Catherine Müller habe ich mich mit den Ängsten auseinandergesetzt, die beispielsweise durch den Terrorismus ausgelöst werden. Im Rahmen einer größeren Untersuchung haben wir gezeigt, dass Terrorismus signifikante Sorgen auslöst.18 Ja, vor Beginn der Wirtschaftskrise waren diese Sorgen der Deutschen größte Sorgen! Gleichzeitig konnten wir zeigen, dass Terrorangst durch verschiedene Faktoren wesentlich in ihrem Ausmaß bestimmt wird. Terrorangst wird vor allem durch das Geschlecht, das Alter, den Wohnort (auf dem Land versus in der Stadt) und den Grad der Schulbildung bestimmt. Dabei haben ältere Frauen mit wenig Schulbildung, die auf dem Land leben, die meisten Sorgen um den globalen Terrorismus. Das ist natürlich, objektiv betrachtet, absurd. Die Wahrscheinlichkeit, als ältere, weniger gebildete und auf dem Land lebende 18

Brück, Tilman u. Cathérine Müller: Comparing the Determinants of Concern about Terrorism and Crime, in: Global Crime 11, 1 (2009), S. 1–15.

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Frau das Opfer eines Terroranschlags zu werden, ist wahrscheinlich praktisch gleich null. Also sollte die Terrorangst eher die Domäne relativ junger, mobiler und gut gebildeter Menschen sein, die in großen Städten wohnen und viel pendeln.

Ausblick Was bedeutet das nun für die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik in ­Europa? Knapp zusammengefasst halte ich es für die Zukunft Europas für entscheidend, dass wir jenseits der Bewahrung des negativen Friedens, der in der Abwesenheit von Krieg und Gewalt besteht, auch einen positiven Frieden gestalten, der die subjektive Sicherheit der Bürger mit einschließt. Subjektive Sicherheit ist ein elementarer Bestandteil von Sicher­heit und Frieden. Wir können nicht im Frieden leben, wenn wir Angst vor eigenen Regierungen (seien sie faschistisch oder kommunistisch), Angst vor der Invasion Russlands in Nachbarstaaten, Angst vor der Auslöschung allen Lebens durch Atomwaffen, Angst vor dem globalen Terrorismus oder Angst vor organisierter Kriminalität haben müssen. Der offene Dialog der Elite Europas mit der europäischen Bevölkerung und der offene Dialog in der Bevölkerung Europas zu Fragen wie Krieg, Frieden, Verteidigung und Sicherheit sollten deshalb eine hohe Priorität haben. Nur so können angemessene politische Maßnahmen getroffen, gerechtfertigt und von der europäischen Bevölkerung angenommen werden. Ein wichtiger Ansatz könnte vorsehen, nicht die Risiken der Bedrohung zu reduzieren oder den Schutz vor Bedrohung zu intensivieren, sondern die Angst vor Bedrohung zu mindern. Sicherheitspolitik ist auch Kommunikationspolitik – und noch zu oft reden wir von Bedrohungen und schaffen so selbstverstärkende Kreisläufe aus Bedrohung, Reaktion, Bedrohungsgefühl und mehr Reaktion. Das ist auch ökonomisch nicht effizient. Das trifft auch auf eine Verstärkung der militärischen Zusammenarbeit in Europa zu. Diese ist, wie ich ausgeführt habe, auch eine Chance, Ressourcen freizusetzen für weitere europäische Projekte etwa im Bereich der Infrastruktur, der Bildung und Forschung sowie der sozialen Gerechtigkeit. Die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik hat sich im Dschungel des elitären Diskurses und der kleinteiligen Politik des Möglichen verloren – und sich damit von den Realitäten einer sich schnell ändernden Welt und den Sorgen und Nöten der Bürger Europas entfernt. Die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik sollte das Kernprojekt der europäischen Einigung, des europäischen Friedens werden – und dabei die politischen, ökonomischen und emotionalen Bedürfnisse der Bürger ernst nehmen. Denn eine Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist nur dann effektiv, wenn sich die Bürger sicher fühlen.

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Literatur Bickerton, Chris J. [u. a.]: Security co-operation beyond the nation-state: the EU’s common security and defence policy, in: Journal of Common Market Studies 49, 1 (2011), S. 1–21. Brück, Tilman u. Cathérine Müller: Comparing the Determinants of Concern about Terrorism and Crime, in: Global Crime 11, 1 (2009), S. 1–15. Brück, Tilman, Olaf de Groot u. Friedrich Schneider: The economic costs of the German participation in the Afghanistan war, in: Journal of Peace Research 48, 6 (2011), S. 793–805. Constantinescu, Maria: Approaches to European Union military collaboration in the current economic austerity environment, in: Journal of Defense Resources Management 3, 1 (2012), S. 87–92. de Groot, Olaf, Carlos Bozzoli u. Tilman Brück: The Global Economic Burden of Violent Conflict (noch nicht veröffentlicht). Europäische Union (N. d.): Schumann-Erklärung – 9. Mai 1950. http://europa.eu/about-eu/basic-­ information/symbols/europe-day/schuman-declaration/index_de.htm (9. 06. 2014). Holtom, Paul [u. a.]: Trends in international arms transfers, 2012. SIPRI Fact Sheet (2013). http://books. sipri.org/product_info?c_product_id=455 (13. 06. 2014). Li, Quan u. Rafael Reuveny: Trading for Peace? Disaggregated Bilateral Trade and Interstate Military Conflict Initiation, paper presented at the „Theories of International Political Economy and China“ Conference in Beijing, 2008. http://www.princeton.edu/~pcglobal/conferences/beijing08/papers/ Li-Reuveny.pdf (9. 06. 2014). McKinsey & Company (N. d.): The Future of European Defence: Tackling the Productivity ­Challenge. https://www.securityconference.de/fileadmin/MSC_/PDF/Future_of_European_Defence_-_­ Tackling_the_Productivity_Challenge.pdf (13. 06. 2014). Perlo-Freeman, Sam u. Pieter D. Wezeman: The SIPRI Top 100 arms-producing and military services companies, 2012. SIPRI Fact Sheet (2014). http://books.sipri.org/product_info?c_product_id=472 (13. 06. 2014). Perlo-Freeman, Sam [u. a.]: Trends in world military expenditure, 2012. SIPRI Fact Sheet (2013). http:// books.sipri.org/product_info?c_product_id=458 (13. 06. 2014). Pilisuk, Mark u. Jennifer Achord Rountree: Who benefits from global violence and war: uncovering a destructive system, Westport 2008. Schubert, Susanne u. Julian Knippel: Quantifizierung der volkswirtschaftlichen Bedeutung der Sicher­ heits- und Verteidigungsindustrie für den deutschen Wirtschaftsstandort (2012). http://www.­wifor. de/tl_files/wifor/PDF_Publikationen/Schubert,%20S.%20;%20Knippel,%20J.%20(2012).pdf (13. 06. 2014). Spiegel Online International: Self Defense: Protectionism Rules in EU Arms Industry (2013). http:// www.spiegel.de/international/europe/inefficiency-and-protectionism-rule-european-union-defense-industry-a-938326.html (13. 06. 2014). Stockholm International Peace Research Institute: SIPRI Yearbook 2013. Armaments, Disarmament and International Security, Oxford 2013. The Economist: The second world war. Counting the cost (2012). http://www.economist.com/ node/21556542 (9. 06. 2014).

Wir wollen ein starkes Europa der Freiheit, der Vielfalt, der Subsidiarität, der Bürgernähe, der Dezentralität und des gegenseitigen Respekts – verbunden durch gemeinsame Werte und das gemeinsame Recht. Nur als demokratisch legitimierte Rechtsgemeinschaft hat Europa eine Zukunft.

Andreas Vosskuhle

Europa als Rechtsgemeinschaft?! 1 Gefährdungen und Herausforderungen

Das Recht in der Krise Die Staatsschuldenkrise hat die Europäische Union erschüttert. Ihre Folgen sind nicht rein ökonomischer Natur: Die Krise äußert sich auch und gerade in einer nachhaltigen Verunsicherung der Bürgerinnen und Bürger. „Wohin geht Europa?“, fragen sich viele. In Krisenzeiten wächst das Bedürfnis nach einer großen europäischen Erzählung. Wir suchen den Funken, der die Menschen neu für das Projekt Europa begeistert, und das starke Band, das alles zusammenhält. Wohl nur wenige Bürgerinnen und Bürger denken dabei an die von Walter Hallstein, dem ersten Vorsitzenden der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, in Worte gefasste Idee, „Europa als Rechtsgemeinschaft“2 zu begreifen. „Rechtsgemeinschaft“ klingt kühl, nüchtern und technokratisch. Doch bei näherem Hinsehen wird deutlich: Das Recht ist Europas stabilstes Fundament! Das gilt gerade in der Krise. Warum dem so ist und warum wir gerade in der Krise nicht das Recht über Bord werfen dürfen, will ich versuchen, Ihnen näherzubringen. Drei Grundfragen sollen mich bei diesem Unternehmen leiten: Erstens: Was kann das Recht für Europa leisten? Zweitens: Was heißt Rechtsgemeinschaft für die Akteure bei der Aus-

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Für wertvolle Unterstützung danke ich meinen Wissenschaftlichen Mitarbeitern am BVerfG Dr. ­Friederike Lange und Dr. Friedrich Schütter. Hallstein, Walter: Die EWG – Eine Rechtsgemeinschaft, in: ders.: Europäische Reden. Hrsg. von Thomas Oppermann, Stuttgart 1979, S. 341. Eingehend: Mayer, Franz C., Europa als Rechtsgemeinschaft, in: Europawissenschaft. Hrsg. von Gunnar Folke Schuppert, Ingolf Pernice, Ulrich Haltern, Baden-Baden 2005, S. 429ff.; Pernice, Ingolf, Begründung und Konsolidierung der Europäischen Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft, in: Der Beitrag Walter Hallsteins zur Zukunft Europas – Referate zu Ehren von Walter Hallstein. Hrsg. von Manfred Zuleeg, Baden-Baden 2003, S. 56ff.

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legung und Durchsetzung des Rechts? Und schließlich drittens: Welche Rolle spielt in diesem Kontext die Schwester des Rechts, die Demokratie?

Die Leistungen des Rechts für die europäische Integration: Die orientierende, integrierende und legitimierende Kraft ­ des Rechts Meine erste These lautet: Ohne die orientierende, integrierende und legitimierende Kraft des Rechts kann Europa nicht stabil gebaut werden. Um nachzuvollziehen, was das Recht für die Europäische Union leistet, bietet es sich an, von den klassischen Funktionen des Rechts in einer Gesellschaft auszugehen. Will man einige soziologische Definitionsansätze zusammennehmen3, so lässt sich „Recht“ jedenfalls als diejenigen Regeln, Rechte und Standards fassen, die als verbindlich anerkannt sind – also für gewöhnlich beachtet werden – und die sich auch in Konfliktsitua­ tionen nicht als „zahnlos“ erweisen, sondern mithilfe eines Rechtsstabs durchsetzbar sind. Dabei leistet das Recht insbesondere dreierlei4: Erstens steuert das Recht das Handeln der Menschen in einem Verband. Auf diese Weise erlaubt es uns, stabile Erwartungen zu bilden, was das Verhalten unserer Mitmenschen angeht. Dabei vermeidet Recht Konflikte, verschafft dem Einzelnen Orientierungssicherheit und reduziert Risiken.5 Die durch das normative Gerüst erzeugten verläss­lichen Verhaltensmuster sind gerade in heterogenen Gruppen wie der Europäischen Union besonders wichtig, in der kulturelle und soziale Unterschiede es schwerer machen, sich intuitiv aufeinander einzustellen. Recht erleichtert insoweit das Zusammenleben. Zweitens bereinigt das Recht Konflikte innerhalb einer Gemeinschaft. Knirscht es in einer Gruppe, kann ein Richter die schwelende Auseinandersetzung anhand rechtlicher Maßstäbe entscheiden – er fungiert dabei ähnlich wie ein Mechaniker, der Blockaden in einem Getriebe löst. Recht ist zur Konfliktbereinigung umso wichtiger, je geringer die sonstigen traditionellen und emotionalen Bindungskräfte sind, die eine Gemeinschaft zusammenhalten.6 Denn eine Gruppe mit geringen Kohäsionskräften läuft Gefahr, durch ausgreifende Konflikte und aufgebaute Spannungen gesprengt zu werden. Mit Hilfe von Recht lässt sich ein Konflikt heilen oder zumindest eingrenzen, ohne dass die Gemeinschaft in ihrem Bestand bedroht wird. Recht integriert! Drittens organisiert das Recht das Zustandekommen bindender Entscheidungen: Es bestimmt, mit anderen Worten, wer wann in welchen Grenzen das Sagen hat. Dazu ord3 4 5 6

Überblick bei Röhl, Klaus F.: Rechtssoziologie, Köln, Berlin, Bonn, München 1987, S. 213–222. Klassisch: Llewellyn, Karl N.: The Normative, the Legal, and the Law Jobs: The Problem of Juristic Method, in: The Yale Law Journal 49 (1940), S. 1373–1375. Luhmann, Niklas: Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1993, S. 131–132; Rehbinder, Manfred: Rechtssoziologie, 7. Aufl. München 2009, S. 96–101. Llewellyn 1940 (wie Anm. 4), S. 1375; Rehbinder 2009 (wie Anm. 5), S. 94–96.

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net es Entscheidungsgewalt zu und stellt – etwa demokratische – Entscheidungsverfahren bereit.7 Dies ist die typische Aufgabe einer Verfassung. Dass sich die Ausübung von Macht im Rahmen dieser Regeln hält, ist Voraussetzung für ihre Anerkennung durch die Gemeinschaft. Recht schafft auf diese Weise Legitimation. Sicherlich gibt es daneben noch weitere Funktionen des Rechts.8 In unserem Kontext genügt es aber festzuhalten: Recht wirkt orientierend, integrierend und legitimierend in einer Gemeinschaft.

Politik statt Recht? Meine zweite These lautet: In der Krise ist die Versuchung groß, das Recht aufzugeben. Nicht von ungefähr wird die Unverbrüchlichkeit des Rechts in jüngerer Zeit auf europäischer Ebene zunehmend hinterfragt. Nach dem Motto „Not kennt kein Gebot“ gibt es starke Kräfte, die die derzeitigen Probleme in der Europäischen Union politisch lösen wollen und meinen, auch ein „strenggenommen“ rechtswidriges Handeln könne in bestimmten Situationen geboten und daher richtig sein.9 Die immer wieder geäußerten Bedenken gegen die Leistungsfähigkeit des Rechts lassen sich – auf einer etwas allgemeineren Ebene – wie folgt zusammenfassen: Erstens dringe das Recht zu den eigentlichen Ursachen der Krise nicht vor. Die Kritik knüpft daran an, dass Recht abstrakt und allgemein ist.10 Es formalisiert einen Konflikt und reduziert ihn auf bestimmte zulässige Argumente. Dabei blendet es notwendigerweise eine ganze Reihe von Bedürfnissen und Besonderheiten aus. Dies führe dazu, dass es der Komplexität der Staatsschuldenkrise und den vielschichtigen Interessen der betroffenen Akteure und Länder nicht gerecht werde. Insbesondere bei der Verarbeitung „psychologischer“ Faktoren und Effekte, etwa der Stimmung an den Märkten oder der Auswirkung bestimmter „Signale“ auf das politisch-soziale Gleichgewicht in den Krisenländern, gerate das Recht an seine Grenzen. Zweitens seien die vom Recht vorgesehenen Konfliktlösungen zu starr. Recht sei „­binär codiert“ –, ein bisschen rechtswidrig gebe es ebenso wenig wie ein bisschen

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Llewellyn 1940 (wie Anm. 4), S. 1383–1387; Rüthers, Bernd, Christian Fischer u. Axel Birk: Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 6. Aufl. München 2011, S. 53. Baer, Susanne: Rechtssoziologie, Baden-Baden 2011, S. 103–156; Rüthers [u. a.] 2011 (wie Anm. 7), S. 46 –57. Vgl. Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Kennt die europäische Not kein Gebot? In: ders.: Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht, Berlin 2011, S. 299–303; Schorkopf, Frank: Gestaltung mit Recht – ­Prägekraft und Selbststand des Rechts in einer Rechtsgemeinschaft, in: Archiv des öffentlichen Rechts 136 (2011), S. 340. In diese Richtung Schorkopf, Frank: Finanzkrisen als Herausforderung der internationalen, europäischen und nationalen Rechtsetzung, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 71 (2012), S. 187.

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schwanger.11 Gerade in der Krise werden aber vielfach Zwischenlösungen oder Kompromisse als nötig empfunden. Dieses Bedürfnis stößt sich an der als gering erachteten Flexibilität des Rechts.12 Das Recht – so die unterschwellige Wahrnehmung – nehme der Gemeinschaft hier die Chance, für ein Problem eine Lösung nach eigenen Präferenzen zu erarbeiten und dabei außerrechtliche Erwägungen einzubeziehen. Es setze von vorn­ herein Anspruchsdenken an die Stelle von Gemeinsinn und Solidarität. Zugespitzt heißt dies: Die Behandlung eines Problems durch den Rechtsapparat komme einem „Diebstahl“ an der Gemeinschaft gleich.13 Und drittens: Das Recht und seine Akteure seien mit der Krise überfordert. Die Staatsschuldenkrise ist geprägt von überbordender Komplexität und Dynamik, schwer abseh­baren Kausalverläufen, globalen Effekten sowie unabschätzbaren Risiken. Der Gesetzgeber auf nationaler wie europäischer Ebene sei zu schwerfällig, so heißt es, um in der jeweils erforderlichen Weise mit Regelungen zu reagieren. Im Vertragsänderungsverfahren potenziere sich dieses Problem noch. Auch fehle es dem Gesetzgeber schlicht an ausreichendem Wissen zur Schaffung sinnvoller Regelungen: Die notwendigen Informationen befänden sich allenfalls bei der Exekutive, mehr noch aber bei spezialisierten Institutionen wie z. B. den verschiedenen europäischen Agenturen, der Europäischen Zentralbank oder im privaten Sektor.14 Auch der Justizapparat sei nicht in der Lage, die Konflikte zu durchschauen und in der gebotenen Schnelligkeit zu bereinigen.

Das Recht als unentbehrliches Fundament auch in Krisenzeiten Lässt sich das Recht gegenüber diesen Einwänden erfolgreich verteidigen? Ich meine ja. Die sicherlich bestehenden Systemgrenzen des Rechts in der Krise werden meines Erachtens viel zu früh beschworen. Meine dritte These lautet dementsprechend: Das Recht besitzt die Kraft, gerade auch in der Krise Konflikte zu bewältigen. Gäbe man es preis, entzöge man der Europäischen Union ihr Fundament. Der Einwand, das Recht sei zu abstrakt und zu wenig flexibel, verkennt: Gerade in seiner Abstraktheit und relativen Starrheit liegen die großen Stärken des Rechts, die seine soeben beschriebenen Leistungen – Orientierungssicherheit, Integration und Legitimation – erst ermöglichen. Als abstraktes und allgemeines Instrument bringt das Recht zwar in der Tat eine gewisse Distanz zur Wirklichkeit mit sich. Recht abstrahiert von charakterlichen Eigenschaften, Bedürfnissen, Interessen, sozialer Stellung, politischer und wirtschaftlicher Macht und also von alledem, was das Leben eines Individuums von dem der anderen 11 12 13 14

Dagegen aber Bumke, Christian: Relative Rechtswidrigkeit, Tübingen 2004. Vgl. Schorkopf 2011 (wie Anm. 9), S. 341–342. Christie, Nils: Konflikte als Eigentum, in: ders.: Grenzen des Leids, 2. Aufl. Münster 1995, S. 131. Zu den Herausforderungen an die Rechtsetzung im Finanzmarkt Christie, Nils: Konflikte als Eigentum, in: Christie 1995 (wie Anm. 13), S. 120–121.

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unterscheidet. Es konzentriert sich vielmehr auf ganz bestimmte Gegebenheiten, an die es spezifische Folgen knüpft.15 Der Einzelne ist im Recht – unabhängig von individuellen Faktoren – zunächst einmal „Rechtssubjekt“ wie alle anderen auch. Dies lässt sich auf die Mitgliedstaaten in der Europäischen Union mit ihren Rechten und Pflichten übertragen. Distanz zu persönlichen und politischen Konflikten ist eine spezifische Stärke des Rechts – meines Erachtens kann man hier sogar von einer „heilenden Distanz des Rechts“ sprechen. Mittels dieser Distanz kann das Recht eine gemeinsame Basis auch dort schaffen, wo eine Gemeinschaft durch kulturelle Unterschiede geprägt ist. Das Recht drückt für eine plurale Gemeinschaft allgemeingültige Gerechtigkeitsvorstellungen aus, auf die man sich trotz aller Unterschiede hat einigen können. Deshalb kommt ihm in einem ­Europa der Vielfalt eine so große Bedeutung für den europäischen Integrationsprozess zu. Besonders plastisch wird diese Bedeutung, wenn wir uns die Alternativen vergegenwärtigen. Was Konflikte in der Europäischen Union betrifft, so müssten sie – hätten wir keinen rechtlichen Rahmen – zwischen den Mitgliedstaaten jeweils direkt ausgehandelt werden. Dies würde für die Rückforderung einer Beihilfe ebenso gelten wie für die Umsetzung einer Umweltschutzrichtlinie oder die Verwirklichung der Personenfreizügigkeit. Was würde passieren, wenn die Akteure jeweils politisch entscheiden müssten, wie mit einem solchen Problem umzugehen ist? Nicht nur begönne für jeden die Suche nach dem kurzfristigen Vorteil. Bei der Auseinandersetzung kämen darüber hinaus auch eben jene Faktoren ins Spiel, die das Recht erfolgreich ausblendet – etwa die Größe und wirtschaftliche Macht des betroffenen Mitgliedstaats, die Parteifarbe der jeweiligen Regierungen, etwaige in der Vergangenheit geknüpfte Allianzen, erfahrene Kränkungen oder enttäuschte Erwartungen. Die Europäische Union würde innerhalb kürzester Zeit Zerreißproben ausgesetzt, die sie kaum überstehen dürfte. Um die Brisanz zu erahnen, muss man nur auf die Einhaltung der Stabilitätskriterien zurückblicken: Dass sich Mitglieder des Europäischen Rates hier an selbst gesetzte Regeln nicht gehalten haben, hat zu einem spürbaren Vertrauensverlust der Bürgerinnen und Bürger in die Gemeinschaft insgesamt geführt.16 Das Recht hat gegenüber politischen Auseinandersetzungen einen ganz entscheidenden Vorteil: Zwar stellt die Einigung auf einen Rechtsrahmen das Ergebnis politischer Auseinandersetzungen dar17 – das Recht wird jedoch vor dem Konflikt gesetzt. Die Politisierung eines konkreten Streitfalls wird dadurch verhindert.18 Hierin liegt eine ganz maßgebliche Integrationsleistung des Rechts für Europa.

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Baer 2011 (wie Anm. 8), S. 105. Vgl. Möllers, Thomas: Die Rolle des Rechts im Rahmen der Währungsunion und der Schuldenkrise, in: Europa als Rechtsgemeinschaft – Währungsunion und Schuldenkrise. Hrsg. von Th. Möllers u. F. Chr. Zeitler, Tübingen 2012, S. 5–6. Baer 2011 (wie Anm. 8), S. 36–37. Grimm, Dieter: Die Zukunft der Verfassung II – Auswirkungen von Europäisierung und Globalisierung, Berlin 2012, S. 146.

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Die Verrechtlichung, wie wir sie in der Europäischen Union erreicht haben, unterscheidet sich gerade durch dieses Mehr an Stabilität von einer nur politischen Einigung. Grundlage des Prozesses der europäischen Integration sollten nach der Vorstellung der Gründungsväter der Gemeinschaft die wirtschaftliche Zusammenarbeit (Stichwort: Montanunion) und die politische Kooperation (Stichwort: Europäische Verteidigungsgemeinschaft) sein. Beide Komponenten waren und sind naturgemäß Gegenstand von Interessenskonflikten und dementsprechend fragil. Erst durch die einende Kraft des Vertragswerks tritt in den Worten Hallsteins die Herrschaft des Rechts „[a]n die Stelle der Macht und ihrer Manipulierung, […] des Gleichgewichts der Kräfte, des Hegemoniestrebens und des Spiels der Allianzen“ und verdrängt „Gewalt und politische[n] Druck“.19 Die Preisgabe dieser Errungenschaft des Rechts in der Krise wäre ein Rückschritt. Dass es Alternativen gibt, lässt sich sehr schön am Beispiel des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und des Fiskalvertrags illustrieren. Es ist ein sehr beachtlicher Erfolg für das Recht, dass es im Rahmen der Krisenbewältigung überhaupt zu einem ESM und einem Fiskalvertrag gekommen ist. Die Politik hat sich hier in einer äußerst schwierigen Situation gegen informelle Ad-hoc-Absprachen und für eine Verrechtlichung und demokratische Rückanbindung von Kriseninstrumentarien entschieden. Bei alledem soll nicht verkannt werden, dass die Rechtsbindung in manchen Situatio­ nen zur Zumutung werden kann. Aus der Soziologie ist aber bekannt: Normabweichendes Verhalten können Gruppen nur begrenzt aushalten – es schwächt ihre Identität und führt zu einem Verlust an Einheit und Stabilität, äußerstenfalls bis hin zum Zerfall.20 Dies dürfte umso mehr für eine Gemeinschaft von Staaten wie die Europäische Union gelten, die durch das Recht geschaffen wurde, ihre Aufgaben mittels des Rechts verwirklicht und die Idee des Rechts in ihren Anspruch aufgenommen hat.21 Gelingt es, das Recht auch dort aufrechtzuerhalten, wo es schwerfällt, ist – wie das Beispiel ESM zeigt – dadurch viel gewonnen. Zum einen kann man dann die orientierende, integrierende und legitimierende Kraft des Rechts zur Lösung auch sehr bedrohlicher Probleme mobilisieren. Zum anderen wird das Recht durch seine Beachtung gestärkt. Dies führt wiederum zu einer Stärkung der Gemeinschaft im Ganzen.

Rechtsgemeinschaft bedeutet Verantwortungsteilung Wie gelingt nun die Auslegung und Durchsetzung des Rechts in einem Rechtsraum, in dem neben der Ebene des Unionsrechts 28 mitgliedstaatliche Rechtsordnungen mit unterschiedlichsten historischen, kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Prägungen bestehen?

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Hallstein 1979 (wie Anm. 2), S. 344 u. 348. Raiser, Thomas: Grundlagen der Rechtssoziologie, 6. Aufl. Tübingen 2013, S. 166. Hallstein 1979 (wie Anm. 2), S. 343.

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Die Antwort auf diese grundsätzliche Frage ergibt sich aus meiner vierten These. Sie lautet: Rechtsgemeinschaft bedeutet Verantwortungsteilung.

Anwendungsvorrang Die zentrale Herausforderung des Rechts in einem Mehrebenensystem ist die Lösung von Normenkonflikten, wenn also die Anwendung einer Norm notwendig zur Verletzung einer anderen Norm führt. Bereits im Jahr 1964 entschied der Gerichtshof in der Rechtssache Costa/ENEL, dass im Kollisionsfall dem Unionsrecht Vorrang vor dem nationalen Recht zukommt.22 Auf der Grundlage des zunächst eher schlicht anmutenden Gedankens des Anwendungsvorranges gelingt die Koordinierung großer Rechtsmassen zwischen den Ebenen des Unionsrechts und des nationalen Rechts. Organisatorische Basis ist ein Institutionengefüge mit Verfahrensabläufen und Instrumenten, die ihrerseits zu einer Vertiefung der Integration beitragen. Für die Durchführung des Unionsrechts werden die Behörden der Mitgliedstaaten instrumentalisiert.23 Das Prinzip des Anwendungsvorranges sichert dabei die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung.

Rechtsprechung im europäischen Gerichtsverbund Neben den nationalen Verwaltungen obliegt es den Gerichten, für die Durchsetzung des europäischen und nationalen Rechts zu sorgen. Aufgrund des dezentralen Vollzugsmodells sind gerade die nationalen Fachgerichte wichtige Akteure bei der Durchsetzung des Unionsrechts.24 Schlechthin konstitutiv für die Verrechtlichung des europäischen Integrationsprozesses ist dabei das Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 267 AEUV.25 Dieses Verfahren sichert die Verpflichtung der innerstaatlichen Gerichte, dem Unionsrecht Vorrang vor entgegenstehendem nationalem Recht einzuräumen, prozedural ab. Dass Fragen zur Auslegung des Primärrechts oder der Gültigkeit des Sekundärrechts 22 23

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EuGH Slg. 1964, S. 1251 (1270). Vgl. Schmidt-Aßmann, Eberhard: Verfassungsprinzipien für den Europäischen Verwaltungsverbund, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts. Hrsg. von Hoffmann-Riem, Schmidt-Aßmann, Voß­ kuhle, Band I, 2. Aufl. München 2012, S. 285 –286. Näher Gärditz, Klaus F.: Europäisches Unionsrecht als Gegenstand des nationalen Rechtsschutzes, in: Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union. Hrsg. von Hans-Werner Rengeling, Andreas Middeke u. Martin Gellermann, 3. Aufl. München 2014, S. 601. Karpenstein, Ulrich: Art. 267 AEUV Vorabentscheidungsverfahren, in: Das Recht der Europäischen Union. Hrsg. von Eberhard Grabitz, Meinhard Hilf u. Martin Nettesheim, 50. Ergänzungslieferung, München 2013, Rn. 1–3; von Bogdandy, Armin: Grundprinzipien, in Europäisches Verfassungsrecht – Theoretische und dogmatische Grundzüge. Hrsg. von Amin von Bogdandy u. Jürgen Bast, 2. Aufl. Heidelberg, Berlin 2009, S. 42.

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dem Gerichtshof der Europäischen Union vorgelegt werden, ist Ausdruck der Verantwortungsteilung in einem Verbund, in dem die Ebenen des Unionsrechts und des nationalen Rechts zusammenhängen. Auch das Zusammenspiel des Bundesverfassungsgerichts mit dem Europäischen Gerichtshof vollzieht sich im Verbund. Es ist daher nur konsequent, dass der Zweite Senat am 14. Januar 2014 im Zusammenhang mit dem sogenannten OMT-Programm der Europäischen Zentralbank erstmals in seiner Geschichte dem Gerichtshof mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt hat.26

Rücksichtnahme auf nationale Zusammenhänge in der Rechtsgemeinschaft Freilich darf das einigende Band des Rechts nicht zur Fessel werden. Eine übergeordnete Rechtsschicht mit Anwendungsvorrang birgt die Gefahr der Nivellierung der unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Rechtstraditionen. Eine „formalistische Gleichmacherei“27 durch das Recht wirkt im Zweifel eher desintegrativ und läuft damit den Zielen der Union zuwider. Es müssen also Wege gefunden werden, Besonderheiten des nationalen Rechts angemessen zu berücksichtigen. Integration bedeutet nicht nur Rechtsvereinheitlichung, Gemeinschaft verlangt auch Rücksichtnahme. Schon die Entscheidung gegen einen Geltungs- und für einen Anwendungsvorrang gewährleistet eine gewisse Pluralität.28 Für den Fall, dass das Unionsrecht und das nationale Verfassungsrecht kollidieren, zieht das Bundesverfassungsgericht dem Anwendungsvorrang in drei Fallkonstellationen Grenzen:

Grundrechtsschutz Die erste Konstellation betrifft den Grundrechtsschutz. Seit dem Solange-II-Beschluss aus dem Jahr 1986 übt das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit nur noch dann aus, wenn nicht mehr sichergestellt ist, dass im Unionsrecht ein dem Standard des Grundgesetzes im Wesentlichen vergleichbarer Grundrechtsschutz gewährleistet ist.29 Seit der Åkerberg-Fransson-Entscheidung des Gerichtshofs aus dem Februar 2013 wird die Frage diskutiert, ob der Gerichtshof auf der Grundlage einer großzügigen Auslegung der Vorschrift über den Anwendungsbereich der Grundrechtecharta in dem fremden Gewässer des nationalen Grundrechtsschutzes fischt. Darin deutete er das Tatbestandsmerkmal der „Durchführung des Unionsrechts“ in Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GrCh in einer 26 27 28 29

BVerfGE 134, 366. Hallstein 1979 (wie Anm. 2), S. 341. von Bogdandy 2009 (wie Anm. 25), S. 41. BVerfGE 73, 339 (376, 387) – Solange II.

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Weise, dass praktisch jedes mitgliedstaatliche Handeln mit Bezug zum Unionsrecht seiner Grundrechtskontrolle unterfällt.30 Hier besteht die Gefahr, dass durch die generelle Verlagerung des Grundrechtsschutzes von der nationalen auf die supranationale Ebene ein vermeintlich höherer Grundrechtsschutz zum Preis der Zielgenauigkeit und Sachnähe erkauft wird. Denkbar ist zum Beispiel, dass der Gerichtshof in einem multipolaren Grundrechtsverhältnis eine Grundrechtsposition der Charta als gegenüber einem gegenläufigen nationalen Grundrecht vorrangig ansieht.31 Ob dann eine Neujustierung der Solange-Rechtsprechung zu erfolgen hat, bleibt abzuwarten. Aus institutioneller Perspektive bedenklich ist jedenfalls, dass mit einer Ausweitung des Anwendungsbereichs der Charta eine verstärkte Befassung des Gerichtshofs mit Grundrechtsfragen einhergehen könnte, ohne dass die nationalen Verfassungsgerichte eingebunden sind.32 Eine solche Zentralisierung des Grundrechtsschutzes liefe dem Konzept der Rechtsgemeinschaft mit geteilten Verantwortungen zuwider.

Ultra vires – Kontrolle und Identitätskontrolle Unanwendbar sind darüber hinaus in Deutschland solche Rechtsakte, die aufgrund ersichtlicher Kompetenzüberschreitungen der europäischen Organe, sogenannten Ultra-­ vires-Akten, ergehen oder die den unantastbaren Kerngehalt der Verfassungsidentität berühren.33 Der Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes34 wird durch diesen an restriktive Voraussetzungen geknüpften Identitätsvorbehalt nicht in Frage gestellt.35 Vielmehr bedingen Integration und Identität sich gegenseitig. Sie sind zwei Seiten derselben Medaille, zwei verfassungs- und unionsrechtlich zu schützende Werte, deren Bewahrung und Förderung ineinandergreifen.

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EuGH NJW 2013, 1415–1416; vgl. die Analysen bei Geiß, Robin: Europäischer Grundrechtsschutz ohne Grenzen, in: Die öffentliche Verwaltung 7 (2014), S. 265; Thym, Daniel: Die Reichweite der EU-Grundrechte-Charta – Zu viel Grundrechtsschutz? In: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2013, S. 889; Weiß, Wolfgang: Grundrechtsschutz durch den EuGH: Tendenzen seit Lissabon, in: Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2013, S. 287. Lange, Friederike: Verschiebungen im europäischen Grundrechtssystem? In: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2014, S. 173. Lange 2014 (wie Anm. 31). Art. 79 Abs. 3 i.V.m. Art. 1 und Art. 20 GG; BVerfGE 123, 267 (400) – Vertrag von Lissabon; 126, 286 (302) – Honeywell. BVerfGE 123, 267 (346) – Vertrag von Lissabon. BVerfGE 123, 267 (400-401) – Vertrag von Lissabon.

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Recht und Demokratie Wir haben gesehen, wie auf der Grundlage des Rechts die Organisation und der Zusammenhalt eines komplexen Verbundes von 28 Staaten gelingen kann. In den Jahrzehnten seit der Gründung der Gemeinschaft lag der Fokus auf der Herstellung einer effektiven Unionsrechtsordnung, die den gebotenen Freiraum für die vielfältigen kulturellen Zusammenhänge in den einzelnen Mitgliedstaaten lässt. Seit Ausbruch der Staatsschuldenkrise gibt es starke Kräfte, die eine Problemlösung jenseits rechtlicher Vorgaben auf politischer Ebene anstreben. Mag ein System intergouvernementalen Regierens, das neben beziehungsweise an die Stelle der supranationalen Entscheidungsstrukturen der Union tritt, auf absehbare Zeit auch schwer verzichtbar sein, so dürfen doch seine Nachteile nicht übersehen werden. Es birgt wegen der fehlenden Beteiligung des Europäischen Parlamentes die Gefahr eines Exekutivföderalismus.36 An die Stelle der im Primärrecht vorgesehenen Rechtssetzungsverfahren tritt die vorrangig an politischen Interessen orientierte Krisenbewältigung durch die Regierungen.37 Wie weit die verminderte Transparenz und demokratische Kontrolle solcher Strukturen durch die nationalen Parlamente kompensiert wird, hängt von den nationalen Rechtsordnungen ab. Meine fünfte und letzte These lautet daher: Jede Rechtsgemeinschaft lebt von effektiver demokratischer Rückanbindung. Das Bundesverfassungsgericht hat in den letzten Jahren wiederholt die Notwendigkeit der Rückkopplung des Integrationsprozesses an das nationale Parlament betont. Griechenlandhilfe-Urteil In der Entscheidung zur Griechenlandhilfe und zum Euro-Rettungsschirm vom 7. September 2011 wies der Zweite Senat darauf hin, dass die Entscheidung über Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Hand einen grundlegenden Teil der demokratischen Selbstgestaltungsfähigkeit im Verfassungsstaat darstellt38. Auch in einem System intergouvernementalen Regierens muss der Haushaltsgesetzgeber Herr seiner Entschlüsse bleiben. Dies bedeutet: Der Deutsche Bundestag darf seine Budgetverantwortung nicht durch unbestimmte haushaltspolitische Ermächtigungen auf andere Akteure übertragen39. 36

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Oeter, Stefan: Föderalismus und Demokratie, in: Europäisches Verfassungsrecht – Theoretische und dogmatische Grundzüge. Hrsg. von Armin von Bogdandy u. Jürgen Bast, 2. Aufl. Heidelberg, Berlin 2009, S. 104. Kadelbach, Stefan: Lehren aus der Finanzkrise – Ein Vorschlag zur Reform der Politischen Institutionen der Europäischen Union, in: Europarecht 2013, S. 495. BVerfGE 129, 124 (177); Analyse der Maßstäbe bei Kube, Hanno: Nationale Budgethoheit und Europäische Integration, in: Archiv des öffentlichen Rechts 137 (2012), S. 215–217. BVerfGE 129, 124 (179); zum Schutz der Budgethoheit: Nettesheim, Martin: „Euro-Rettung“ und Grundgesetz – Verfassungsgerichtliche Vorgaben für den Umbau der Währungsunion, in: Europarecht 2011, S. 771; Ruffert, Matthias: Die europäische Staatsschuldenkrise vor dem Bundes­

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Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. September 2012 zur Ratifizierung des ESM-Vertrags und des Fiskalvertrags Diese Rechtsprechungslinie hat das Bundesverfassungsgericht im Verfahren der einstweiligen Anordnung im Urteil zum Europäischen Stabilitäts-Mechanismus ein Jahr später fortgesetzt. Jede wichtige Entscheidung der deutschen Vertreter im ESM bedarf danach der Beteiligung des Bundestages, der zudem über alle wesentlichen Prozesse des ESM zu informieren ist.40 Das in Art. 38 Abs. 1 GG verankerte Wahlrecht der Bürgerinnen und Bürger würde verletzt, wenn die gewählten Abgeordneten die Kontrolle über grund­ legende haushaltspolitische Entscheidungen nicht mehr innehaben.41 Inzwischen hat das Bundesverfassungsgericht auch in der Hauptsache entschieden, dass das Zustimmungsgesetz zum ESM-Vertrag den verfassungsrechtlichen Anforderungen Rechnung trägt.42 Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union vom 14. Januar 2014: ­Vereinbarkeit des Beschlusses des EZB-Rates vom 6. September 2012 über Technical features of Outright Monetary Transactions (OMT) mit dem Unionsrecht Eine vielbeachtete Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in diesem Kontext ist der an den Gerichtshof gerichtete Vorlagebeschluss vom 14. Januar 2014.43 Gegenstand der Vorlage ist die Frage, ob der sogenannte OMT-Beschluss44 der Europäischen Zentralbank vom 6. September 2012 mit dem Primärrecht der Union vereinbar ist. In diesem Beschluss ist vorgesehen, dass das Europäische System der Zentralbanken Staatsanleihen ausgewählter Mitgliedstaaten in unbegrenzter Höhe ankaufen kann. Voraussetzung ist, dass diese Mitgliedstaaten zugleich an einem mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus vereinbarten Reformprogramm teilnehmen. Bislang ist der Beschluss nicht umgesetzt worden.

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verfassungsgericht – Anmerkungen zu dem Urteil vom 7. September 2011, in: Europarecht 2011, S. ­847–856. BVerfGE 132, 195 (269–272); näher Herrmann, Christoph: Die Bewältigung der Euro-Staatsschulden-Krise an den Grenzen des deutschen und europäischen Währungsverfassungsrechts, in: Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2012, S. 805; Schorkopf, Frank: „Startet die Maschinen“ – Das ESM-Urteil des BVerfG vom 12.9.2012, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2012, S. 1273; Tomuschat, Christian: Anmerkung zum Urteil des BVerfG vom 12.09.2012 – BvR 1390/122 – u. a., in: Deutsches Verwaltungsblatt 2012, S. 1431. BVerfGE 132, 195 (239). BVerfG EuGRZ 2014, 193. BVerfGE 134, 366; erste Analysen bei Herrmann, Christoph: Luxemburg, wir haben ein Problem! In: Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2014, S. 161 und Müller-Franken, Sebastian: Anmerkung zu BVerfG, Vorlagebeschluss vom 14. Januar 2014 – 2 BvR 2728/13 u. a., in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2014, S. 514. Beschlusses des Rates der Europäischen Zentralbank vom 6. September 2012 über Technical features of Outright Monetary Transactions.

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Ausgangspunkt der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die folgende Erwägung: Handlungen der europäischen Organe finden ihre demokratische Legitimation im Zustimmungsgesetz zu den europäischen Verträgen und dem darin niedergelegten sogenannten Integrationsprogramm. Wesentliches Element dieses Integrationsprogramms ist das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung in Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 EUV.45 Wenn Rechtsakte der europäischen Organe aus den Grenzen der ihnen übertragenen Befugnisse ausbrechen (sogenannter Ultra-vires-Akt) und damit nicht mehr vom Zustimmungsgesetz gedeckt sind, unterläuft dies die demokratische Einflussmöglichkeit, die dem Bürger durch das Wahlrecht in Art. 38 Abs. 1 GG gewährt wird.46 Der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung dürfen eine offensichtliche und strukturell bedeutsame Usurpation von Hoheitsrechten durch Organe der Europäischen Union nicht einfach geschehen lassen.47 Im Rahmen ihrer jeweiligen Kompetenzen sind sie verpflichtet, mit rechtlichen oder mit politischen Mitteln auf die Aufhebung kompetenzüberschreitender Maßnahmen hinzuwirken sowie – solange die Maßnahmen fortwirken – geeignete Vorkehrungen dafür zu treffen, dass die innerstaatlichen Auswirkungen der Maßnahmen so weit wie möglich begrenzt bleiben.48 Verstoßen Bundestag und Bundesregierung gegen ihre Handlungspflicht, verletzt dies den wahlberechtigten Bürger in seinem Recht aus Art. 38 Abs. 1 GG. Dass diese Handlungspflicht nicht näher konkretisiert wird, ist nicht der Einfallslosigkeit des Bundesverfassungsgerichts, sondern dem Respekt vor dem weiten Entscheidungsspielraum des Parlamentes und der Regierung geschuldet. Ob nun der OMT-Beschluss gegen das währungspolitische Mandat der Europäischen Zentralbank49 oder gegen das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung50 verstößt, wird zunächst der Gerichtshof im Rahmen der Vorabentscheidung zu klären haben. Auf dieser Grundlage muss dann das Bundesverfassungsgericht seine abschließende Entscheidung am Maßstab des Grundgesetzes treffen. Auch am Vorlagebeschluss erkennen Sie das Bestreben des Bundesverfassungsgerichts, durch eine demokratische Rückkopplung an die nationalen Rechtssysteme die Herrschaft des Rechts durchzusetzen und eine dauerhafte Akzeptanz des europäischen Integrationsprozesses in den Mitgliedstaaten zu gewährleisten.

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Näher zur Kompetenzordnung in der EU Klein, Hans H.: Integration und Verfassung, in: Archiv des öffentlichen Rechts 139 (2014), S. 165 (171 ff.) BVerfGE 134, 366 (392 ff. Rn. 36 ff.) BVerfGE 134, 366 (394 ff. Rn. 44 ff.) BVerfGE 134, 366 (395 f. Rn. 49) Vgl. Art. 119 und 127ff. AEUV. Vgl. Art. 123 Abs. 1 AEUV.

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Schluss Selbstverständlich erschöpfen sich die Bindekräfte in der Europäischen Union nicht im Recht, dessen Wirkung, Koordinierung und demokratische Rückkopplung ich versucht habe, etwas zu erhellen. Recht eignet sich auch nur beschränkt als Inspirationsquelle einer fulminanten „europäischen Erzählung“. Dazu ist das europäische Rechtsgebilde zu komplex, zu vertrackt und für den Nichtjuristen vielleicht auch zu wenig zugänglich. Wir sollten uns aber bewusst machen: Vernachlässigen wir das Recht, so gefährden wir damit alles andere, was unser gemeinsames Europa ausmacht. Nur als demokratisch legitimierte Rechtsgemeinschaft hat Europa eine Zukunft!

Literatur Baer, Susanne: Rechtssoziologie, Baden-Baden 2011. Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Kennt die europäische Not kein Gebot? In: ders.: Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht, Berlin 2011, S. 299ff. Bumke, Christian: Relative Rechtswidrigkeit, Tübingen 2004. Calliess, Christian: Finanzkrisen als Herausforderung der internationalen, europäischen und nationalen Rechtsetzung, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 71 (2012), S. 113ff. Christie, Nils: Konflikte als Eigentum, in: ders.: Grenzen des Leids, 2. Aufl. Münster 1995, S. 131ff. Gärditz, Klaus F.: Europäisches Unionsrecht als Gegenstand des nationalen Rechtsschutzes, in: Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union. Hrsg. von Hans-Werner Rengeling, Andreas Middeke u. Martin Gellermann, 3. Aufl. München 2014, S. 601ff. Geiß, Robin: Europäischer Grundrechtsschutz ohne Grenzen, in: Die öffentliche Verwaltung 7 (2014), S. 265ff. Grimm, Dieter: Die Zukunft der Verfassung II – Auswirkungen von Europäisierung und Globalisierung, Berlin 2012. Hallstein, Walter: Die EWG – Eine Rechtsgemeinschaft, in: ders.: Europäische Reden. Hrsg. von Thomas Oppermann, Stuttgart 1979, S. 341ff. Herrmann, Christoph: Die Bewältigung der Euro-Staatsschulden-Krise an den Grenzen des deutschen und europäischen Währungsverfassungsrechts, in: Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2012, S. 805ff.; ders.: Luxemburg, wir haben ein Problem! In: Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2014, S. 161ff. Kadelbach, Stefan: Lehren aus der Finanzkrise – Ein Vorschlag zur Reform der Politischen Institutionen der Europäischen Union, in: Europarecht 2013, S. 489ff. Karpenstein, Ulrich: Art. 267 AEUV Vorabentscheidungsverfahren, in: Das Recht der Europäischen Union. Hrsg. von Eberhard Grabitz, Meinhard Hilf u. Martin Nettesheim, 50. Ergänzungslieferung, München 2013. Klein, Hans H.: Integration und Verfassung, in: Archiv des öffentlichen Rechts 139 (2014), S. 165 ff. Kube, Hanno: Nationale Budgethoheit und Europäische Integration, in: Archiv des öffentlichen Rechts 137 (2012), S. 205ff. Lange, Friederike: Verschiebungen im europäischen Grundrechtssystem? In: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2014, S. 169ff. Llewellyn, Karl N.: The Normative, the Legal, and the Law Jobs: The Problem of Juristic Method, in: The Yale Law Journal 49 (1940), S. 1355ff.

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Luhmann, Niklas: Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1993. Mayer, Franz C., Europa als Rechtsgemeinschaft, in: Europawissenschaft. Hrsg. von Gunnar Folke Schuppert, Ingolf Pernice, Ulrich Haltern, Baden-Baden 2005, S. 429ff. Möllers, Thomas: Die Rolle des Rechts im Rahmen der Währungsunion und der Schuldenkrise, in: ­Europa als Rechtsgemeinschaft – Währungsunion und Schuldenkrise. Hrsg. von Th. Möllers u. F. Chr. Zeitler, Tübingen 2012, S. 1ff. Müller-Franken, Sebastian: Anmerkung zu BVerfG, Vorlagebeschluss vom 14. Januar 2014 – 2 BvR 2728/13 u. a., in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2014, S. 514ff. Nettesheim, Martin: „Euro-Rettung“ und Grundgesetz – Verfassungsgerichtliche Vorgaben für den Umbau der Währungsunion, in: Europarecht 2011, S. 765ff. Oeter, Stefan: Föderalismus und Demokratie, in: Europäisches Verfassungsrecht – Theoretische und dogmatische Grundzüge. Hrsg. von Armin von Bogdandy u. Jürgen Bast, 2. Aufl. Heidelberg, Berlin 2009, S. 73ff. Pernice, Ingolf, Begründung und Konsolidierung der Europäischen Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft, in: Der Beitrag Walter Hallsteins zur Zukunft Europas – Referate zu Ehren von Walter Hallstein. Hrsg. von Manfred Zuleeg, Baden-Baden 2003, S. 56ff. Raiser, Thomas: Grundlagen der Rechtssoziologie, 6. Aufl. Tübingen 2013. Rehbinder, Manfred: Rechtssoziologie, 7. Aufl. München 2009. Röhl, Klaus F.: Rechtssoziologie, Köln, Berlin, Bonn, München 1987. Ruffert, Matthias: Die europäische Staatsschuldenkrise vor dem Bundesverfassungsgericht – Anmerkungen zu dem Urteil vom 7. September 2011, in: Europarecht 2011, S. 842ff. Rüthers, Bernd, Christian Fischer u. Axel Birk: Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 6. Aufl. München 2011. Schmidt-Aßmann, Eberhard: Verfassungsprinzipien für den Europäischen Verwaltungsverbund, in: Grundlagen des Verwaltungsrechts. Hrsg. von Hoffmann-Riem, Schmidt-Aßmann, Voßkuhle, Band I, 2. Aufl. München 2012, S. 261ff. Schorkopf, Frank: Gestaltung mit Recht – Prägekraft und Selbststand des Rechts in einer Rechtsgemeinschaft. Archiv des öffentlichen Rechts 136 (2011), S. 323ff.; ders.: „Startet die Maschinen“ – Das ESM-Urteil des BVerfG vom 12.9.2012, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2012a, S. 1273ff., ders.: Finanzkrisen als Herausforderung der internationalen, europäischen und nationalen Recht­setzung, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 71 (2012b), S. 183ff. Thym, Daniel: Die Reichweite der EU-Grundrechte-Charta – Zu viel Grundrechtsschutz? In: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2013, S. 889ff. Tomuschat, Christian: Anmerkung zum Urteil des BVerfG vom 12.09.2012 – BvR 1390/122 – u. a., in: Deutsches Verwaltungsblatt 2012, S. 1431ff. von Bogdandy, Armin: Grundprinzipien, in: Europäisches Verfassungsrecht – Theoretische und dogmatische Grundzüge. Hrsg. von A. von Bogdandy u. Jürgen Bast, 2. Aufl. Heidelberg, Berlin, 2009, S. 13ff. Weiß, Wolfgang: Grundrechtsschutz durch den EuGH: Tendenzen seit Lissabon, in Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2013, S. 287ff.

Nur ein vereintes Europa darf (vielleicht) hoffen, den Herausforderungen der Globalisierung erfolgreich die Stirn zu bieten. Nur so kann man die materiellen ­Errungenschaften eines weltweit einzigartigen Sozialstaatsmodelles schützen, dessen rechtliche und kulturelle Werte verteidigen und sie als konstituierendes Element eines kosmopolitischen, universell bedeutsamen Projekts geltend machen.

Angelo Bolaffi

Die neue Rolle Deutschlands und die Zukunft Europas Ein Vierteljahrhundert nach dem Fall der Berliner Mauer und der wiedererreichten nationalen Einheit sitzt Deutschland, das sich endlich im Frieden mit sich und der Welt wähnte, erneut auf der Anklagebank und sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, den Euro­ päern sein Wirtschaftskonzept und sein Gesellschaftsmodell aufzwingen zu wollen. Parteiführer des linken wie des rechten Spektrums, progressive gleichermaßen wie konservative Kommentatoren – sie alle blicken erneut, überraschend vereint in einem antiteutonischen Bündnis, mit einer Mischung aus Feindseligkeit und Neid auf Deutschland: feindselig, weil sie vieles als inakzeptable Einmischung, wenn nicht gar als eisernes Diktat wahr­nehmen, neidisch angesichts der Erfolge einer Wirtschaft, die sich unerwartet gegenläufig zu den katastrophischen Entwicklungen, wie sie im Mittelmeerraum zu beobachten sind, präsentiert. Grundlage des heute in Europa verbreiteten Ressentiments gegenüber den Deutschen ist also nicht mehr (nur) die historische, aus der Vergangenheit erwachsene Schuld, vielmehr sind es die Entscheidungen der Gegenwart: Deutschland, seiner Stärke bewusst, fordere – so der allgemeine Tenor – seine zur Obsession gewordenen Vorstellungen von Haushaltsdisziplin und Währungsstabilität in der materiellen Verfassung Europas zu verankern, und nehme dabei eine Bedrohung der wirtschaftlichen Stabilität einzelner Länder, ja sogar des demokratischen Systems, billigend in Kauf. Die Germanophobie, die neuerdings wieder aufflammt, geht mit der Dämonisierung der Deutschen einher und lässt auch alte Stereotype und böswillige Vorurteile wieder aufkeimen. Deutschland, so argwöhnen viele, versuchte in der Vergangenheit, seine Herrschaft über Europa mit Panzern durchzusetzen und verfolge heute das gleiche Ziel mithilfe des Euro, obwohl dieser doch eine Gemeinschaftswährung sein sollte. Unfassbare Parolen sind zu vernehmen, in denen von der Gefahr einer möglichen „Germanisierung“ Europas die Rede ist. Zugleich wirft man Deutschland mangelndes Engagement

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für ­Europa vor, ja sogar insgeheim einen Alleingang anzustreben und Europa dabei hinter sich zu lassen. Kurzum, viele Menschen in Europa wissen nicht recht, was sie mehr fürchten sollen: von Deutschland im Stich gelassen oder von Deutschland dominiert zu werden. Und während sich durch einen epochalen Wandel neue globale Machtstrukturen heraus­ bilden und die demographische Entwicklung einzelner Länder ganze Klassen und Kulturen erschüttert, sind Nationen und Regierungen des alten Kontinents versucht, ihr Heil in irrealen neoisolationistischen Szenarien wirtschaftlicher und mentaler Autarkie zu suchen – ein fataler Irrtum. Identitätsgeleitete Ressentiments bündeln sich mit antiuniversalistischen reaktionären Ideologien zu einer sozialen und politischen Empörung, die ebenso schwammig wie inkohärent ist und daher auf gefährliche Weise außer Kontrolle geraten kann. Und prompt, wie dies seit anderthalb Jahrhunderten stets der Fall ist, erscheint auf einmal der Schatten Deutschlands an der Wand, wenn Europa in die Krise gerät. Aber die Geschichte fängt nicht wirklich wieder von vorn an, auch wenn es uns manchmal so vorkommt. Der Schein trügt, weil wir mit der uns eigenen geistigen Trägheit dazu neigen, die Wirklichkeit nach altem Muster zu interpretieren. Wir geben uns die größte Mühe, unerwartet oder unvorhergesehen eingetretene Phänomene zu neutralisieren, indem wir sie in die beruhigende, aber irreführende Gewissheit bekannter Paradigmen zwingen. Was polemisch als ewige Wiederkehr der Vergangenheit (Kanzlerin Merkel mit Hitler-Schnurrbart) behauptet wird, ist ein bewusstes Täuschungsmanöver, ein Trick, um zu vermeiden, den Dingen wirklich auf den Grund zu gehen. Antworten auf Fragen zur Zukunft Europas, zur Rolle Deutschlands und zu seinen globalen strategischen Zielen finden sich gewiss nicht in den Geschichtsbüchern (geschweige denn in simplen Vorurteilen), sondern eher in der genauen Analyse der tiefgreifen­den Transformationen, die sich weltweit vollziehen. Die daraus erwachsenden Veränderungen führen zu einem radikalen Bruch mit der Vergangenheit und bewirken damit eine echte Metamorphose der europäischen Frage. Mehr noch: Was heute viele Bürger des alten Kontinents schlicht und einfach als ein altes, wiederkehrendes Problem – nämlich die Klärung der Rolle Deutschlands in Europa – erleben, ist in Wirklichkeit eine so noch nie dagewesene Situation mit völlig unerwarteten Herausforderungen. Gut hegelianisch könnte man daher sagen, die deutsche Frage sei – aus der Vergangenheit herausgelöst und in die Gegenwart transformiert – dialektisch aufgehoben. Wie hätte es auch anders sein sollen? Tatsächlich löste der Fall der Berliner Mauer eine bahnbrechende historische und geopolitische Wende aus, setzte er doch nicht nur den Machtverhältnissen der Nachkriegszeit ein Ende, sondern stand zudem auch Pate für die Globalisierung der modernen Welt. Mit dem Mauerfall ging das 20. Jahrhundert zu Ende, und zugleich fing das neue Jahrtausend an. Ein einziges Mal stimmten Geschichte und Kalender nahezu überein. Die Zukunft des alten Kontinents hängt also ganz entscheidend davon ab, ob es Europa gelingt, strategisch sein Überleben zu sichern und sich einen Platz in der Welt zu erhalten, der ihm erlaubt, seine Interessen zu wahren: Im Konzert der unzweifelhaften Weltmächte USA, China, Russland, Brasilien und Indien wird das Europa der Kleinstaaten an den Rand der Weltgeschichte gedrängt, wo ihm keinerlei Interventionsmöglichkeiten mehr

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bleiben. Wenn Europas Einigung nicht gelingt, laufen die europäischen Staaten Gefahr, in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Dann werden die Nationen des alten Kontinents (die im globalen Maßstab nur mehr ‚Natiönchen‘ sind) bei grundsätzlichen Themen wie Bioethik oder Welthandel nicht mehr mitreden können. Bedenkt man, dass im Jahr 2050 in jedem europäischen Staat nur noch jeweils weniger als ein Prozent der Weltbevölkerung lebt, dann fehlt es den europäischen Ländern „an kritischer Masse, um auf Augenhöhe mit den Supermächten und multinationalen Konzernen zu verhandeln“1. Es gibt also keine Alternative: Wenn wir als Europäer in der Welt noch eine Rolle spielen wollen, kann uns das nur gemeinsam gelingen. Als Einzelstaaten, ob Frankreich, Italien, Polen, die Niederlande, Deutschland, Dänemark oder Griechenland, bringen wir nur noch ein Gewicht auf die Waage, das sich nicht mehr im Prozent-, sondern im Promillebereich bewegt. So sieht die Welt heute aus, das sind die neuen Herausforderungen, auf die Europa eine zeitgemäße Antwort geben muss und die nach einem neuen Narrativ verlangen. Stattdessen versuchen Europas Politiker, sich zu drücken und sie verstricken sich lieber in gegenseitigen Schuldzuweisungen, wobei sie auch vor bissigen Anschuldigungen, unschönen Vorurteilen und beleidigenden Stereotypen nicht zurückschrecken. Doch die europäische Einigung ist heute wichtiger denn je. Auch wenn es um neue, andere Ziele geht, nicht mehr nur um Frieden – den wir in ­Europa glücklicherweise haben, den wir aber stets mit großer Sorgfalt und Liebe verteidigen müssen, wie Russlands Krim-Annexion bewiesen hat –, sondern um die Rolle Europas in der globalen Welt. Also um Macht, weil uns diese zu entgleiten droht. Deshalb kommt es anders als in der Vergangenheit heute weniger auf die Geschichte als auf die Geographie beziehungsweise die Geo-Ökonomie an. Nur wissen wir noch nicht, wie uns die Einigung gelingen kann. Berthold Brecht sagte einmal über den Sozialismus, er sei „das Einfache, das schwer zu machen ist“. Das können wir heute ebenso über die europäische Einigung im Zeitalter der Globalisierung sagen. Die Frage ist die gleiche wie vor 60 Jahren, in den frühen Debatten über die europäische Integration, aber der Kontext ist völlig anders. Die Frage lautet: Wie viel Souveränität wollen die Nationalstaaten zugunsten eines starken, geeinten Europas preisgeben? Damals stand der Wunsch im Vordergrund, ein friedliches Europa aufzubauen. Heute geht es um die Rolle Europas in einer Welt, die in wachsendem Maße von Volkswirtschaften dominiert wird, die erheblich größer sind als selbst die größte europäische Volkswirtschaft. Dass Amerika und Japan solche mächtigen Staaten sind, war schon lange klar. Doch nun kommen China und Russland hinzu, womöglich auch Indien und Brasilien. Insofern haben europäische Politiker einen bemerkenswerten Augenblick gewählt, sich von der wachsenden Integration abzuwenden, die Europa die Chance gibt, sich in diesem globalen System zu behaupten – einer Integration, die bislang so gut vorangekommen ist.2 1 2

Habermas, Jürgen: Più democrazia non meno, in: La Repubblica vom 12. 3. 2012. Crouch, Colin: Europa sichert unsere Autonomie, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. 8. 2012.

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Leider liegen die Dinge nicht ganz so, wie es der britische Wissenschaftler Colin Crouch beschreibt. Es wäre zu einfach, den politischen Führungskräften des alten Kontinents vorzuwerfen, sie hätten, als sie der Integration den Rücken kehrten, absichtlich zur falschen Zeit das Falsche getan. In Wirklichkeit sahen sie sich plötzlich und unerwartet (wie im Übrigen die Bevölkerung in den entsprechenden Ländern) epochalen Veränderungen ausgesetzt, die die strukturellen Unterschiede zwischen den nationalen Ökonomien und Sozialsystemen der Europäischen Währungsunion (einige Länder waren bei ihrem Beitritt vielleicht zu optimistisch oder fälschten sogar ihre Finanz- und Wirtschaftsdaten) auf dramatische Weise ans Tageslicht brachten. Und daraus mussten sie Schlüsse ziehen. Dass der Euro unter ökonomischen Gesichtspunkten, rein technisch betrachtet, ein Fehler war, hatten die Finanz- und Währungsexperten von Anfang an nicht verheimlicht. Vielmehr hatten sie betont, dass es ein Unding sei zu glauben, man könne auf unterschiedlichen Gesellschaftssystemen basierende Ökonomien in eine Gemeinschaftswährung zwingen. Wenn wir allerdings die Ursachen der aktuellen Situation verstehen wollen, ­dürfen wir nicht vergessen, dass das Projekt der Europäischen Union unter geopolitischen und historisch-universellen Gesichtspunkten zu wichtig war, um es allein dem Kalkül der Ökonomen zu überlassen. Die Geschehnisse der Vergangenheit und die zukünftigen Perspektiven verlangten danach, den großen Schritt zu wagen. Zwei Gründe waren es denn auch, die Helmut Kohl bewogen, den Abschied von der Deutschen Mark (gegen den Willen der meisten Deutschen und der mächtigen Bundesbank) durchzusetzen und durch Unterzeichnung der Maastrichter Verträge die Gemeinschaftswährung mit dem symbol­trächtigen Namen „Euro“ auf den Weg zu bringen: Nach Ansicht des Kanzlers der deutschen Einheit bewies das vereinte Deutschland mit der Einführung des Euro Europa und den westlichen Alliierten, sich unwiderruflich für den Europagedanken und für den ­Westen entschieden zu haben – eine Absicherung gegen die eigene Vergangenheit also. Doch dem Euro sollte auch die geostrategische Aufgabe zukommen, Europa gegenüber den anderen Weltmächten wie den USA und China wettbewerbsfähig zu machen. Die Einführung des Euro mag also aus währungstechnischer Sicht ein Fehler gewesen sein, aber es war ein ‚unvermeidlicher Fehler‘. Ein Fehler, den die Europäer (vor allem Deutsche und Franzosen, in friedlicher Eintracht mit den Italienern) unter dem Druck der geopolitischen Transformation, deren Dynamik sie nicht bestimmen und noch weniger steuern konnten, schlichtweg begehen mussten. Die eigentlichen Herrscher über das Geschehen waren andere: die USA, die die Macht dazu hatten, und die Sowjetunion unter Gorbatschow, die jedoch bereits ohnmächtig und in Auflösung begriffen war. Dies waren die historisch-systemischen Voraussetzungen der aktuellen Krise. Anfänglich allerdings schien sich, wie in der Vergangenheit, alles zum Guten zu wenden. Die Einführung des Euro stieß trotz der alarmierenden Kassandrarufe seitens der Ökonomen auf Begeisterung und wurde allgemein begrüßt. Gab es denn überhaupt eine

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Alternative? Nach anfänglicher trügerischer Ruhe3 – „der Euro [hielt sich] im Aufbruch der Globalisierung anfangs so gut […], dass niemandem auffiel, dass er eine politische Waise war […] und der Einheitswährung die Einheit der Europäer fehlte“4 – brach dann der Sturm los, der das europäische Haus bis in die Grundfesten erschüttern sollte. Und er spülte nicht nur tiefgreifende kulturelle Unterschiede und schwerwiegende politische Meinungsverschiedenheiten an die Oberfläche, sondern auch historisch bedingte Differenzen zwischen den Wirtschaftsregionen, vor allem zwischen Nord- und Südeuropa: „So liegt eine bösartige Ironie darin, dass sich gerade dort, wo die Union ihre ureigenste Aufgabe sah, die gefährlichsten Risse zeigten, nämlich auf dem Gebiet der Ökonomie.“5 Mehr als ein halbes Jahrhundert lang galt die europäische Einigung, allen Widrigkeiten zum Trotz, als ein Instrument des kulturell-sozialen Fortschritts, als Chance. Auf einmal jedoch wurde Europa zum Problem, das man nun, in der Krise, als das Programm einer rigorosen Finanzpolitik und der sozialen Einschnitte wahrnahm (auch wenn manche daran verdienten). Die Krise rückte zudem das historische Demokratiedefizit stärker ins Blickfeld, das die europäischen Institutionen trotz zweifellos erzielter Fortschritte (beispielsweise die Stärkung des Europäischen Parlaments im Lissabon-Vertrag) stets charakterisierte. Um die Legitimationsdefizite zu verstehen, an denen das europäische Projekt heute leidet, muss man sich Folgendes vergegenwärtigen: Beim Europagedanken hat es sich von Anfang an um ein elitäres, nur begrenzt demokratisches Projekt gehandelt. Die Demokratievorstellungen des Gründervaters Jean Monnet, der meinte, „Europas Länder sollten in einen Superstaat überführt werden, ohne dass die Bevölkerung versteht, was geschieht“, muss man als funktionalistisch und dezisionistisch bezeichnen. Volksbefragungen und Volksentscheide erachtete er als vollkommen wertlos, ebenso den Begriff der Volkssouveränität. Das Ergebnis sehen wir jetzt: In Europa blüht der Populismus gleich welcher Couleur, gleichzeitig ist Europa tief gespalten – in tugendhafte Länder, die dem deutschen Vorbild folgen, und in Verschwenderländer im Süden, für die dieses Modell der schlimmste Albtraum ist. Die europäische Einigung ist unter geo-ökonomischen Gesichtspunkten unabdingbar – und das nicht mehr (nur) aus historischen Gründen, sondern auch aus Gründen der Zukunftsfähigkeit. „Ohne Europa“ – hat Angela Merkel zu Recht bemerkt – „können wir unsere Werte, unsere Vorstellungen, unsere Ideale überhaupt nicht mehr in der Welt vertreten.“ Die europäischen Staaten sind auf sich allein gestellt unwiderruflich zum Niedergang verdammt, weil es ihnen an kritischer Masse fehlt. Das gilt selbst für Deutschland:

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Viele Länder trauten der trügerischen Ruhe, vor allem Italien und Spanien. Sie nutzten die gute konjunkturelle Lage nicht zur Umsetzung notwendiger Reformen, sondern machten, wenig tugendhaft, weiter wie bisher, während Deutschland die Agenda 2010 auf den Weg brachte. Muschg, Friedrich Adolf: Gier und Geiz. Rede bei den Feierlichkeiten zur deutschen Einheit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. 10. 2012. Enzensberger, Hans Magnus: Sanftes Monster Brüssel oder die Entmündigung Europas, Frankfurt a.M. 2011, S. 7.

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Über sein Schicksal wird der demographische Wandel entscheiden, der sich nur teilweise durch eine aktive Einwanderungspolitik kompensieren lässt. Doch wie entwickelt man eine Gemeinschaft, die im Wettbewerb mit anderen globalen Regionen bestehen kann, ohne dass man die sozialen, kulturellen und rechtlichen Errungenschaften aufgibt, auf die das europäische Modell zu Recht stolz ist und die seine Daseinsberechtigung ausmachen? Europa hat also nur dann eine Zukunft, wenn ihm einerseits eine Strukturreform gelingt und es sich andererseits auch künftig als Alternative zum Manchester-Kapitalismus (zum angloamerikanischen Liberalismus) und zu einem mit Asian Values bewehrten konfuzianischen Kapitalismusmodell profilieren kann. Nach 1945 war die Botschaft relativ einfach. Angesichts der furchtbaren Kriege konnte Europa glaubhaft versprechen, Frieden und Freiheit zu sichern. Heute können die europäischen Völker nur dann Frieden und Wohlstand garantieren, wenn sie als Gemeinschaft auftreten und den Einigungsprozess so weit vorantreiben, dass sie eine Antwort auf die Herausforderungen der globalen Welt geben können. Andernfalls ist Europa geopolitisch dazu verurteilt, von neuen Playern und Schwellenländern, die wie China schon heute mächtiger sind als Europa als Ganzes, machtpolitisch an den Rand gedrängt zu werden. Wenn Europa im globalen Machtspiel mitreden und seine Interessen und Wertvorstellungen aussichtsreich verteidigen will, muss es mit einer Stimme sprechen. Dann muss es eine ‚Schicksalsgemeinschaft‘ bilden und noch vor einer politischen Union die Entwicklung zu einer sozial und wirtschaftlich homogenen, wettbewerbsfähigen Region anstreben. Meiner Ansicht nach ist die Entwicklung zu einer Haushalts-, Finanz- und Politikgemeinschaft, die auch die Schaffung neuer überstaatlicher Institutionen beinhaltet, unvermeidlich. Die dadurch bedingte Übertragung von Souveränitätsrechten – oder wie ich lieber sage, eine gemeinsam verantwortete Souveränität – steht in manchen Ländern mehr und in anderen weniger im Fokus der Aufmerksamkeit. Doch gerade die gemeinsam verantwortete Souveränität gibt den Ländern in den heutigen Zeiten der Globalisierung am ehesten die Möglichkeit, ihre Souveränität zu wahren. Langfristig muss der Euro auf einer stärkeren europäischen Integration beruhen.6 Doch genau das ist die Krux am europäischen Einigungsprozess: Einerseits hängt er von der entscheidenden Frage, sozusagen der Überlebensfrage, ab, ob die strukturelle Einheit gelingt. Andererseits entpuppen sich gerade die kulturellen, historischen und sozio­ökonomischen Unterschiede, die diesen Einigungsprozess erst erforderlich machen, als Hindernisse, die die Einheit verkomplizieren und nach Meinung einiger sogar verhindern. Die nationalen Unterschiede in der Fiskalpolitik und Wettbewerbsfähigkeit waren schon zu Beginn der Europäischen Währungsunion allgemein bekannt, nur wurden ihre Folgen weithin unterschätzt. Völlig verkannt wurde hingegen, dass es sich dabei nicht nur um ökonomische Faktoren, sondern auch um gesellschaftlich fest verankerte kulturelle Traditionen und Lebensstile handelte. Dass die Wirtschaftsmodelle ebenso auf kulturelle

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Draghi, Mario, in: La Repubblica vom 23. 7. 2013.

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Muster und Paradigmen verwiesen, die wiederum auf historischen Gegebenheiten bei der ökonomischen Entwicklung der verschiedenen Gesellschaften gründeten. Die Inseln des Archipels Europa sind durch das Meer der Geschichte verbunden, doch sie grenzen sich durch ihre Kultur ebenso voneinander ab wie durch ihre sozioökonomischen Strukturen. Der europäische Einigungsprozess trifft also nicht nur auf kulturelle Hindernisse, wie sie Johann Gottfried Herder sah, sondern auch auf die von Karl Marx beleuchteten historisch-materiellen Unterschiede in den Produktionsverhältnissen. Ein Problem bleibt jedoch bestehen, weil es in der Natur der Sache liegt. Zwischen Deutschland und den anderen europäischen Ländern besteht eine Asymmetrie der Macht. Eine wirtschaftliche und strategische Asymmetrie, die zu bedrohlichen Meinungsverschiedenheiten zwischen den europäischen Gründungspartnern führt, vor allem zwischen Frankreich oder Italien auf der einen und Deutschland auf der anderen Seite. Gleichzeitig sind „die Erwartungen vieler Länder an eine stärkere Rolle Deutschlands in Europa, aber auch weltweit, immens“7 und würden neue Mächte wie Indien und China, die am Konzept der nationalstaatlichen Souveränität festhalten, mit Blick auf Europa am liebsten allein bilaterale Beziehungen zu Deutschland pflegen. Versuchen wir an dieser Stelle aufzuzeigen, warum die Asymmetrie der Macht zwischen Deutschland und den anderen europäischen Staaten heute die eigentliche Krux der politischen europäischen Einigung ist und warum Deutschland dieses Problem zu lösen in der Lage ist, sollte es die Führungsrolle annehmen, die ihm aufgrund seiner Geschichte, seiner Geographie und seiner Wirtschaftsmacht zukommt. Genau genommen hat diese Asymmetrie der Macht schon immer bestanden: Eben daraus erwuchs historisch die deutsche Frage. Deutschland war zu stark, um in Europa Gleicher unter Gleichen zu sein, doch gleichzeitig zu schwach, um den anderen Staaten seine Herrschaft aufzuzwingen und sie zu seinem Hinterhof zu machen, wie es die Monroe-Doktrin der USA mit Lateinamerika betreibt. Hier liegt denn auch der wahre Grund für die europäischen Tragödien zwischen 1870 und 1945. Und darum war die deutsche Teilung bis 1989 eine Vorbedingung für die europäische Einigung und Garant für das europäische Gleichgewicht.8 Doch mit dem großen Wandel, den der Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 auslöste, hat sich die Lage radikal verändert: Deutschland, das einst Europa zu destabilisieren drohte, ist vor dem Hintergrund der Globalisierung – einem geopolitischen Umfeld, das so ganz anders ist als der Eurozentrismus, in dem die deutsche Frage entstand – zu einer wichtigen Ressource geworden, die es zu nutzen lohnt: Denn in der Globalisierung liegt heute die neue Bedrohung Europas. Versuchen wir, unsere Betrachtungen zu einem Abschluss zu bringen. In der Krise, die Europa durchgemacht hat, deren Ursachen in einem epochalen, weltumspannenden 7 8

Frankenberger, Klaus-Dieter: Starkes Deutschland, gutes Deutschland, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. 9. 2012. Stürmer, Michael: Kein Eigentum der Deutschen: die deutsche Frage, in: Die Identität der Deutschen. Hrsg. von Werner Weidenfeld, München 1983, S. 92.

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Wandel liegen, hat sich Deutschlands Rolle neu definiert, weil der alte Europagedanke keine befriedigende Antwort bereithält. Wie wir alle wissen, darf nur ein vereintes Europa (vielleicht) hoffen, den Herausforderungen der Globalisierung erfolgreich die Stirn zu bieten. Nur so können wir nicht nur die materiellen Privilegien eines weltweit einzigartigen Sozialstaatsmodells schützen, was schon an sich kein verachtenswertes Ziel wäre, sondern auch die rechtlichen und kulturellen Errungenschaften unserer Geschichte verteidigen und als konstituierendes Element eines kosmopolitischen, universell bedeutsamen Projekts geltend machen, das wir im Übrigen ohne jeden Herrschaftsanspruch, der heute ja unmöglich wäre, aber auch ohne falsch verstandene political correctness in den Dialog mit den anderen Kulturen einbringen. Aber wie? Das Projekt Europa, das von der öffentlichen Meinung des alten Kontinents noch nie so stark in Frage gestellt wurde wie heute, kann seine Legitimität nur dann zurückgewinnen, wenn ein ökonomisch nachhaltiger und sozial gerechter Wirtschaftsaufschwung das solide Fundament dafür bildet. Ein Wirtschaftsaufschwung, der der momentan ‚verlorenen‘ Generation dieselben Perspektiven bietet wie das Europa der Römischen Verträge meiner, nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen Generation: „Der Weg in eine weitere Neuverschuldung ist versperrt, weil diese zulasten künftiger Generationen erfolgt. Ein ständig wachsender Schuldenberg kann nicht das Fundament für soziale Gerechtigkeit sein.“9 Daraus werden sich Reformen auf institutioneller Ebene ergeben, die den bisher nur eingeschränkten Demokratisierungs- und Repräsentativitätsgrad der europäischen Institutionen schrittweise erhöhen müssen. Die Debatte darüber braucht allerdings Zeit. Schneller erforderlich ist hingegen eine neue substanzielle Verfassung für Europa, die sich das einzige Modell zum Vorbild nimmt, das unter Gesichtspunkten der sozialen Gerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit nachweislich überzeugen kann: das deutsche Wirtschafts- und Sozialsystem. Eine Wirtschaftsform also, die, wie im Lissaboner Vertrag vorgesehen, „eine nachhaltige Entwicklung in Europa ermöglicht, weil sie auf ausgewogenem Wirtschaftswachstum, Preisstabilität und einer wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft basiert, die nicht nur Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt, sondern auch einen stärkeren Umweltschutz und bessere Umweltbedingungen anstrebt“.10 Die Alternative? Jeder für sich und die Krise gegen alle. Deutschland fällt daher die Führungsrolle zu – eine Aufgabe, die Klugheit und Weitsicht verlangt, denn: „Hegemonie ist etwas anderes als Herrschaft: Sie nimmt ihre Führungsrolle nicht dadurch wahr, dass sie anordnet oder kommandiert, sondern sie lebt davon, dass sie den Konsens der anderen organisiert“11.  9 10 11

Draghi, Mario: Rede bei der Katholischen Akademie in Bayern, München 27.2.2013. Monti, Mario: Le conseguenze sociali della globalizzazione e il modello europeo, in: Vigoniane 1, Stuttgart 2010, S. 32. Schoch, Bruno: Vergesst es nie: Europa ist aller Zukunft – wir haben keine andere, in: Friedensgutachten der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), Berlin 2011, S. 86. Siehe

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Europa ist nicht mehr der Nabel der Welt: Zum ersten Mal in seiner Geschichte muss es sich nicht gegen, sondern für etwas zusammenschließen – mit dem Ziel einer gemeinsamen Zukunft. Jedoch wird dies nur schwer möglich sein „wenn Deutschland es an Engagement und politischem Willen, also an Hegemoniestreben fehlen lässt. Man kann doch nicht so tun, als würde man dieses eigentliche Problem nicht sehen. Es geht hier nicht um eine Option, es geht hier um ein Muss“12. Und darum hat es auch keinen Sinn, die Gefahr eines „deutschen Europas“13 heraufzubeschwören. Als Thomas Mann die berühmte und dramatische Alternative zwischen europäischem Deutschland oder deutschem Europa formulierte, hatte er die tragische Geschichte des alten Kontinents vor Augen. Heute können wir mit Fug und Recht sagen, dass Europa in gleichem Maße deutsch wird, wie Deutschland vollständig und überzeugt europäisch14 geworden ist. Die Lösung der deutschen Frage macht endlich den Weg für die europäische Einigung frei. Und diesen Weg auch zu gehen, liegt nicht nur in Deutschlands Macht und Interesse, sondern ist auch historische und moralische Verpflichtung.

Literatur Beck, Ulrich: Das deutsche Europa: neue Machtlandschaften im Zeichen der Krise, Berlin 2012. Crouch, Colin: Europa sichert unsere Autonomie, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. 8. 2012. Draghi, Mario: Rede bei der Katholischen Akademie in Bayern, München 27. 2. 2013. Hrsg. Katholische Akademie in Bayern. Draghi, Mario, in: La Repubblica vom 23. 7. 2013. Enzensberger, Hans Magnus: Sanftes Monster Brüssel oder die Entmündigung Europas, Frankfurt a. M. 2011. Frankenberger, Klaus-Dieter: Starkes Deutschland, gutes Deutschland, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. 9. 2012. Habermas, Jürgen: Più democrazia non meno, in: La Repubblica vom 12. 3. 2012. Maull, Hanns W.: Dove va la Germania? In: Il Mulino 2, Bologna 2011. Monti, Mario: Le conseguenze sociali della globalizzazione e il modello europeo, in: Vigoniane 1, Stuttgart 2010, S. 31–36. Muschg, Friedrich Adolf: Gier und Geiz. Rede bei der Feierlichkeiten zur deutschen Einheit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. 10. 2012. Scalfari, Eugenio, in: La Repubblica vom 20. 5. 2012.

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auch Maull, Hanns W.: „Eine wirksame Führung verlangt also eine gewisse Führungsfähigkeit und die richtige Haltung“, in: Dove va la Germania? Il Mulino 2, Bologna 2011, S. 279. Scalfari, Eugenio, in: La Repubblica vom 20.5.2013. Beck, Ulrich: Das deutsche Europa: neue Machtlandschaften im Zeichen der Krise, Berlin 2012. Das deutsche Grundgesetz von 1949 ist die einzige europäische Verfassung, die sich in ihrer Präambel auf Europa bezieht, indem proklamiert wird, das deutsche Volk sei vom Willen beseelt, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“; außerdem heißt es in dem nach der Wiedervereinigung modifizierten Artikel 23: „Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit.“

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Schoch, Bruno: Vergesst es nie: Europa ist aller Zukunft. Wie haben keine andere, in: Friedensgutachten der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (HSFK). Hrsg. von Margaret Johannsen [u. a.], Berlin 2012. Stürmer, Michael: Kein Eigentum der Deutschen: die deutsche Frage, in: Die Identität der Deutschen. Hrsg. von Werner Weidenfeld, München 1983, S. 83–101.

Die Europäische Union behandelt alle Sprachen E ­ uropas gleich und fördert das Erlernen von Fremdsprachen ­ungeachtet ihrer Verbreitung. Eine privilegierte Förderung des Englischen als „Lingua Franca“ wäre aber sinnvoller. Sie würde die Mobilität und Kommunikation der Bürger be­günstigen, zu mehr ökonomischer Integration und der Ent­­­stehung einer europäischen Öffentlichkeit beitragen, die kulturelle Selbständigkeit und Vielfalt der Länder aber nicht beeinträchtigen.

Jürgen Gerhards

Verständigung trotz sprachlicher Vielfalt

Plädoyer für eine stärkere Förderung des Englischen in Europa

Die Europäische Union ist bekanntlich ein Zusammenschluss von 28 souveränen Natio­ nalstaaten. Albanien, Island, Mazedonien, Montenegro, Serbien und die Türkei haben den Status von Beitrittskandidaten. Nach den Europäischen Verträgen sind die Amtssprachen der Mitgliedsländer zugleich die Amtssprachen der Europäischen Union. Da in manchen Mitgliedstaaten die gleiche Amtssprache gesprochen wird und Luxemburg darauf verzichtet hat, dass Luxemburgisch eine europäische Amtssprache wird, gibt es in der Europäischen Union im Moment nicht 28, sondern 24 verschiedene Amtssprachen. In der Vergangenheit hat jede EU-Erweiterung die Sprachenvielfalt erhöht und dies wird auch zukünftig so sein. Die Sprachenvielfalt innerhalb Europas wird weiterhin durch die Existenz von ca. 60 sogenannten autochthonen Minderheitensprachen erhöht, Sprachen also, die von in Nationalstaaten lebenden Minderheiten gesprochen werden. Diese Minderheitensprachen haben zum Teil den Status einer zweiten Amtssprache innerhalb des Nationalstaates. Hinzu kommen die Sprachen derjenigen Minderheiten, die aus außereuropäischen Ländern in die EU-Mitgliedsländer migriert sind und keine der in Europa gesprochenen Sprachen sprechen. Diese babylonische Sprachenkonstellation in Europa wird von der Europäischen Union und auch von den Nationalstaaten unterstützt.1 Während die EU in vielen Po1

Kraus, Peter A.: Europäische Öffentlichkeit und Sprachpolitik – Integration durch Anerkennung, Frankfurt a.M., New York 2004; Ammon, Ulrich: Language Conflicts in the European Union. On Finding a Politically Acceptable and Practicable Solution for EU Institutions that Satisfies Diverging Interests, in: International Journal of Applied Linguistics 16 (2006), S. 319–338.

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litikbereichen auf eine Homogenisierung und Konvergenz der Mitgliedsländer drängt, gilt dies für die Sprachenpolitik gerade nicht. Sie betreibt keine Politik der sprachlichen Homogenisierung durch eine Förderung einer einheitlichen „Lingua franca“. Alle Gesetze, Dokumente und Verordnungen müssen in allen Amtssprachen abgefasst werden. Die Bürger und die Nationalstaaten können sich in ihrer Sprache an die EU wenden und haben das Recht, in ihrer Sprache eine Antwort zu erhalten.2 Die Nationalstaaten bestehen auf einer Anerkennung ihrer nationalen Amtssprache als EU-Amtssprache. In dieser Frage sind sich auch alle politischen Parteien innerhalb der Länder einig, die bei anderen Themengebieten in der Regel unterschiedliche Positionen einnehmen. Der Deutsche Bundesrat und der Bundestag haben zum Beispiel parteiübergreifend gegenüber der Kommission immer wieder angemahnt, dass Deutsch gleichberechtigt neben allen Amtssprachen und vor allem mit Englisch und Französisch als Verkehrssprache innerhalb der Kommission zu behandeln sei. Zugleich ist sich die EU der enormen Reibungsverluste beim Umgang mit 24 Amtssprachen bewusst. Um eine grenzüberschreitende Kommunikation trotz der vielen Amtssprachen zu ermöglichen, verfolgt sie mit verschiedenen Programmen das Ziel der Förderung der Mehrsprachigkeit in Europa. Jeder Bürger, so die Vorstellung, soll neben seiner Muttersprache zwei andere EU-Sprachen sprechen, um die Offenheit Europas auch nutzen und mobil sein zu können. Ähnlich wie bei der Gleichbehandlung aller Amtssprachen gibt es allerdings auch in der Förderung der Fremdsprachenkompetenz keine Präferenz für eine bestimmte Sprache. Der Erwerb der kleineren Sprachen wird von der EU genauso gefördert wie das Erlernen der weit verbreiteten Sprachen. Unterstützung erfährt die Sprachenpolitik der Europäischen Union durch viele Sprach-, Kultur- und Sozialwissenschaftler.3 Sprachenvielfalt gilt hier per se als etwas Wünschens- und Schützenswertes, das man gegen den Trend der Globalisierung, der Vereinheitlichung und Standardisierung sowie den Vormarsch des Englischen erhalten und

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Von der externen kann man die interne Sprachenpolitik unterscheiden, die sich auf die Kommunikation innerhalb der EU-Institutionen bezieht. Die verschiedenen europäischen Institutionen haben diesbezüglich unterschiedliche Regelungen getroffen. So ist am Europäischen Gerichtshof die Arbeitssprache Französisch, während die EU-Kommission Englisch, Französisch und Deutsch als interne Arbeitssprachen festgelegt hat. In informellen Beratungen hat sich darüber hinaus die Anzahl der gesprochenen Sprachen häufig auf zwei (Englisch und Französisch) reduziert. Vgl. z. B. Krauss, Michael E.: The World’s Languages in Crisis, in: Language 68 (1992), S. 4–10; Hale, Ken: On Endangered Languages and the Importance of Linguistic Diversity, in: Endangered Languages: Language Loss and Community Response. Hrsg. von Leonora A. Grenoble u. Lindsay J. Whaley, Cambridge 1998, S. 192–216; Crystal, David: Language Death, Cambridge, New York 2000; Phillipson, Robert: English-only Europe? Challenging Language Policy, London, New York 2003; Kymlicka, Will: Multicultural Odysseys. Navigating the New Institutional Politics of Diversity, Oxford 2007; Nic Craith, Máiréad: Europe and the Politics of Language. Citizens, Migrants and Outsiders, Houndmills 2008; Shuibhne, Niamh N.: EC Law and Minority Language Policy: Some Recent Developments, in: Respecting Linguistic Diversity in the European Union. Hrsg. von Xabier Arzoz, Amsterdam 2008, S. 123–144.

Verständigung trotz sprachlicher Vielfalt

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retten muss. Jürgen Trabant4 hat sich jüngst mit großer Verve gegen eine Anglisierung Europas und den Siegeszug des von ihm als „Globalesisch“ bezeichneten globalen Englisch ausgesprochen und ein deutliches Plädoyer für den Erhalt der sprachlichen Vielfalt und der Mehrsprachigkeit gehalten. Ist die Sprachenpolitik der Europäischen Union im Zeitalter der Globalisierung und einer zunehmenden europäischen Vertiefung noch sinnvoll und sind die sie unterstützenden Argumente der Linguisten sowie der Kultur- und Sozialwissenschaftler hinreichend überzeugend? Ist es nicht sinnvoller, systematischer als bisher geschehen, Englisch als Fremdsprache zu fördern? Ich diskutiere im Folgenden einige Argumente, die begründen sollen, warum eine Abkehr vom Prinzip der Förderung mehrerer Fremdsprachen und eine Förderung der „Lingua franca“ Englisch sinnvoll sein kann.5

Verbessert man die Verständigung in Europa durch die Förderung mehrerer Fremdsprachen oder durch die Förderung einer Fremdsprache? Folgt man der EU-Sprachenpolitik, dann sollen die Menschen in den 28 Ländern möglichst zwei unterschiedliche Fremdsprachen lernen. Dadurch würden sich sicherlich die bilateralen Verständigungsmöglichkeiten innerhalb Europas deutlich verbessern. Ein sprachlich grenzenloses Europa lässt sich dadurch aber nicht erreichen. Ein Deutscher, der Flämisch gelernt hat, und ein Pole, der jetzt des Lettischen mächtig ist, haben jeweils ihre Fremdsprachenkompetenz erhöht, sie können sich deswegen aber zu zweit nicht miteinander verständigen. Je mehr Sprachen es gibt, desto höher ist die Kombinationsvielfalt an Sprachen, die Menschen als Fremdsprachen wählen können, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Menschen mit gleicher Fremdsprachen-Kombination aufeinandertreffen. Philippe Van Parijs6 hat für verschiedene Mengen an Sprachen die Kombinationsmöglichkeiten berechnet und gezeigt, dass in einem Europa der 24 Amtssprachen die freie Wahl von zwei Fremdsprachen zu einer Erhöhung der Verständigungsmöglichkeit in ganz Europa nicht entscheidend beitragen kann. Die Förderung einer

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Trabant, Jürgen: Globalesisch oder was? Ein Plädoyer für Europa, München 2014. Ich beziehe mich dabei u. a. auf folgende Autoren: Kibbee, Douglas A.: Language Policy and Linguistic Theory, in: Languages in a Globalising World. Hrsg. von Jacques Maurais u. Michael A. Morris, Cambridge 2003, S. 47–57; De Swaan, Abram: Endangered Languages, Sociolinguistics, and Linguistic Sentimentalism, in: European Review 12 (2004), S. 567–580; Van Parijs, Philippe: Linguistic Justice for Europe and for the World, Oxford 2011 und auf eigene Arbeiten (Gerhards, Jürgen: Mehrsprachigkeit im vereinten Europa. Transnationales Kapital als Ressource in einer globalisierten Welt, Wiesbaden 2010 (englische Übersetzung Gerhards 2012), Gerhards, Jürgen: Der Kult der Minderheitensprachen, in: Leviathan 39 (2011), S. 165–189). Van Parijs, Philipp: Europe’s Linguistic Challenge, in: Archives Européennes de Sociologie 45 (2004), S. 111−152; Van Parijs 2011 (wie Anm. 5).

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Jürgen Gerhards

Fremdsprache würde hingegen die Verständigungsmöglichkeit innerhalb Europas deutlich verbessern. Es besteht wenig Zweifel, dass der Kandidat für eine „Lingua franca“ aufgrund der bereits existierenden dominanten Stellung nur Englisch sein kann. In einer Eurobaro­ meterumfrage aus dem Jahr 2012 wurden die Bürger in den damals 27 EU-Ländern gefragt, welche Fremdsprache sie gut genug sprechen, um sich in dieser verständigen zu können.7 Addiert man zu der Anzahl derer, die eine bestimmte Fremdsprache sprechen, diejenigen hinzu, die die jeweilige Sprache als Muttersprache beherrschen, dann erhält man den Anteil der EU-Bürger, der sich in einer bestimmten Sprache verständigen kann. 51,1 % der EU-Bürger sagen, dass sie Englisch als Fremdsprache so gut beherrschen, dass sie in dieser Sprache ein Gespräch führen können bzw. Englisch als Muttersprache sprechen. Mit deutlichem Abstand nimmt Deutsch mit 27,1 % den zweiten Rang ein, gefolgt von Französisch mit 24,4 % und Italienisch mit 15,1 %. Der kommunikative Vorteil des Englischen erhöht sich nochmals entscheidend, wenn man die Anzahl der Menschen, die außerhalb Europas Englisch als Mutter- oder als Fremdsprache sprechen, mit berücksichtigt. Zwar ist Englisch nicht die am häufigsten als Muttersprache gesprochene Sprache, es ist aber mit Abstand diejenige, die am häufigsten als Fremdsprache gesprochen wird.8 Und folgt man der Argumentation von Abram de Swaan,9 wird sich das Englische exponentiell weiter ausdehnen: Geht man davon aus, dass die erste Funktion des Fremdsprachenerwerbs in der Verständigung mit anderen besteht, dann ist es für jeden Bürger, der überlegt, welche Fremdsprache er lernen will, nur rational, zuerst einmal Englisch zu lernen, weil es schon so viele Personen gibt, die Englisch sprechen. Auf der Basis der getroffenen Entscheidung für eine bestimmte Fremdsprache entsteht im nächsten Schritt eine neue Konstellation für all diejenigen, die sich zu einem späteren Zeitpunkt für eine Fremdsprache entscheiden. Die Menge der englischsprachigen Personen hat sich mittlerweile erhöht, sodass es für diejenigen, die sich nun für eine Sprache entscheiden, noch rationaler wird, Englisch als Fremdsprache zu wählen, weil die Menge der damit erreichbaren Personen zwischenzeitlich gestiegen ist. Dieser Mechanismus kann erklären, warum sich Unterschiede im Gebrauch von bestimmten Sprachen im Zeitverlauf zu immer größeren quantitativen Differenzen ausdehnen. Einen Eindruck von der Dynamik der Ausdehnung des Englischen erhält man, wenn man die verschiedenen Generationen in der oben erwähnten Befragung in den EU-Ländern miteinander vergleicht. Der Anteil der Personen, die von sich behaupten, sie sprächen Englisch gut genug, um darin ein Gespräch zu führen, steigt von Generation zu Generation kontinuierlich und stark an.10  7

 8  9 10

Die Zahlen beruhen auf einer Auswertung des Eurobarometer-Datensatzes Nr. 77.2, der für Analysezwecke öffentlich zur Verfügung steht. Eine Eurobarometerumfrage aus dem Jahr 2005, in der die gleiche Frage gestellt wurde, habe ich an anderer Stelle genauer ausgewertet (vgl. Gerhards 2010, wie Anm. 5). Van Parijs 2011 (wie Anm. 5). De Swaan, Abram: Words of the World – The Global Language System, Cambridge 2001. Gerhards 2010 (wie Anm. 5), S. 181.

Verständigung trotz sprachlicher Vielfalt

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Ist die Englischkompetenz in Europa nicht bereits hinreichend gut, sodass es keiner weiteren Förderung bedarf? Kann man aus der Tatsache, dass Englisch im Vergleich zu anderen Sprachen die meist-­ gesprochene Sprache in den Ländern der Europäischen Union ist, schlussfolgern, dass eine weitere Förderung obsolet geworden ist, wie Jürgen Trabant11 vermutet? Zwei Argumente sprechen dagegen. 1. In der bereits zitierten Eurobarometerumfrage sind es insgesamt 51 % der Bürger der Mitgliedsländer der EU, die entweder Englisch als Muttersprache sprechen oder es als Fremdsprache so gut beherrschen, dass sie zumindest ein Gespräch führen können. Dies bedeutet umgekehrt, dass knapp die Hälfte der Bevölkerung der EU kein Englisch spricht und entsprechend weitgehend aus einer Kommunikation mit anderen Europäern exkludiert bleibt. Zudem zeigen sich zwischen den Ländern der EU enorme Unterschiede in der Anzahl der Bürger, die Englisch sprechen können. Während zum Beispiel ca. 80 % der Schweden und Niederländer angeben, Englisch im Alltag sprechen zu können, liegt der Anteil in Ungarn, Spanien oder Portugal zwischen 21 und 29 %. Neben diesen Länder­unterschieden dokumentieren die eigenen Analysen12 deutliche Unterschiede zwischen den sozialen Schichten. Personen mit höherer Bildung sind zum Beispiel deutlich häufiger in der Lage, sich auf Englisch zu unterhalten als Personen mit niedriger Bildung. Während höhere soziale Schichten an den Vorteilen einer Öffnung der europäischen ­Länder untereinander partizipieren können, bleibt den unteren sozialen Schichten dies aufgrund einer deutlich schwächeren Fremdsprachenkompetenz weitgehend verwehrt. Konzentriert man sich allein auf die Eliten, so mag man zu dem Schluss kommen, dass die Verbreitung des Englischen als Fremdsprache hinreichend weit fortgeschritten ist. Dies gilt aber nicht, wenn man aus demokratischer Perspektive die Inklusion der Bevölkerung insgesamt mit in den Blick nimmt. Die Verbesserung der Englischkompetenz ist damit auch eine Frage der Reduktion der sozialen Ungleichheit in Bezug auf die Teil­ habe­chancen der Menschen am Prozess der Europäisierung und Globalisierung. 2. In der zitierten Eurobarometerbefragung wurden die Menschen gefragt, ob sie in der Lage seien, in Englisch ein Gespräch zu führen. Mit dieser Frageformulierung kann man natürlich nicht die Qualität des gesprochenen Englisch erfassen. Leider liegen keine komparativen Studien zur Bestimmung der Qualität des gesprochenen Englisch vor. Die Ergebnisse einer Studie aus Deutschland, die sich allein auf Abiturienten aus Hamburg und Baden-Württemberg beziehen, sind aber bezüglich der Qualitätseinschätzung der Englischkompetenz sehr aufschlussreich. Nur ca. 25 % der Abiturienten in den beiden Bundesländern erreichen die hinreichende Punktzahl im sogenannten Toefl-Test, um an einer US-amerikanischen Universität aufgenommen zu werden. Und nur ca. 5 % erreichen die erforderliche Punktzahl in Englisch, um an einer der sehr guten amerikanischen 11 12

Trabant 2014 (wie Anm. 4), S. 53ff. Gerhards 2010 (wie Anm. 5).

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Universitäten die Aufnahmeprüfung zu bestehen.13 Bedenkt man, dass Abiturienten in der Regel zehn und mehr Jahre in Englisch unterrichtet wurden, dann fällt das Ergebnis eher ernüchternd aus. Es dient uns hier allein als Beleg für die These, dass die Englischkompetenz weder in der Breite im Hinblick auf die Anzahl der Bürger in Europa, die etwas Englisch sprechen, noch in der Tiefe bezüglich der Qualität des gesprochenen Englisch hinreichend gut ist, um schlussfolgern zu können, dass es diesbezüglich keinen Nachholund Handlungsbedarf gäbe.

Kann man nicht zugleich Englisch und andere Fremdsprachen fördern und erlernen? Sicherlich ist es wünschenswert, wenn die Bürger Europas nicht nur eine Fremdsprache sprechen, sondern neben Englisch zugleich eine oder mehrere andere Fremdsprachen erlernen. Dies ist zum Beispiel der Wunsch von Jürgen Trabant,14 den man auf die Formel „M+ E + 1“ (Muttersprache, Englisch und eine andere Sprache) bringen kann. Die Umsetzung des legitimen Wunsches mag aber scheitern, wenn man die real existierenden Bedingungen des Fremdsprachenerwerbs mitberücksichtigt. Im Unterschied zum Erwerb der Muttersprache, die gleichsam im Prozess der Sozialisation automatisch miterworben wird, ist das Erlernen einer Fremdsprache an eine Unterrichtung gebunden. Zwar sind die individuellen Lerngeschwindigkeiten des Spracherwerbs sehr unterschiedlich und variieren je nach Vorkenntnis und Schwierigkeitsgrad der zu erlernenden Sprache, ingesamt betrachtet ist der Fremdsprachenerwerb aber ein zeitlich sehr aufwendiges Unterfangen. Die dürftigen Resultate der im letzten Absatz zitierten Studie über die Englischkompetenz der Hamburger und Baden-Württemberger Abiturienten, die ja immerhin viele Jahre und in der Regel mehrere Stunden in der Woche in Englisch unterrichtet wurden, können davon Zeugnis ablegen. Während eine neue Sprache im Kindes- und Jugend­ alter aus verschiedenen Gründen besonders schnell erlernt wird, steigt der Aufwand des Spracherwerbs mit dem Alter des Lernenden exponentiell an. Wissenschaftler nennen die besondere Disposition des Spracherwerbs in jungen Jahren die „critical period of second language acquistion“. Bereits ab dem 10. Lebensjahr findet allerdings ein kräftiger Abfall der Effizienz des Lernens einer Zweitsprache statt.15 Gerade weil der Fremdsprachenerwerb aber in der Regel so aufwendig ist, steht er in Konkurrenz zu anderen Lernaktivi-

13

14 15

Jonkmann, Kathrin [u. a.]: Englischleistungen am Ende der Sekundarstufe II, in: Schulleistungen von Abiturienten: Regionale, schulformbezogene und soziale Disparitäten. Hrsg. von Ulrich Trautwein, Olaf Köller, Reiner Lehmann u. Oliver Lüdtke, Münster 2007, S. 130. Trabant 2014 (wie Anm. 4), S. 32ff. Bleakley, Hoyt [u. a.]: Age at Arrival, English Proficiency, and Social Assimilation among US Immigrants, in: American Economic Journal: Applied Economics 2 (2010), S. 165–192; Esser, Hartmut: Sprache und Integration. Die sozialen Bedingungen und Folgen des Spracherwerbs von Migranten, Frankfurt a. M. 2006.

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täten, sodass man abwägen muss, welchem Ziel man den Vorzug gibt. Räumt man der Englischkompetenz die oberste Priorität ein und stellt die im letzten Absatz berichteten Befunde einer mangelnden Verbreitung sowie Qualität der Englischkompetenz in Europa in Rechnung, dann gibt es wenig Anlass, sich auf die Vermittlung einer zweiten Fremdsprache zu konzentrieren. Im Hinblick auf den schulischen Unterricht stellt sich zudem die praktische Frage, in welchen Fächern man die Anzahl der Stunden reduzieren möchte, um mehr Zeit für den Erwerb einer zweiten Fremdsprache zu gewinnen, vorausgesetzt, man erhöht die Anzahl der Stunden nicht insgesamt.

Welche Vorteile sind mit einer gemeinsamen Fremdsprache ­Englisch verbunden? Die dominante Funktion einer Sprache besteht darin, sich mit anderen Menschen zu verständigen. Verständigung bedeutet, mit anderen interagieren und Handlungen koordinieren zu können. Diese fast trivial anmutende Aussage enthält eine Vielzahl von Implikationen, da der Begriff der Interaktion und Koordination ein Statthalter für sehr unterschiedliche Formen des Austauschs zwischen Menschen ist. Eine gemeinsame Mutter­sprache wie auch eine gemeinsame Fremdsprache ermöglicht erst die Kommunikation im Alltag und auf Reisen, das Eingehen von Freundschaften und Beziehungen, die Koordination und Verständigung im Beruf, den Austausch von Waren und Dienstleistungen, die Beschaffung von Informationen und dergleichen mehr. Die Forschung hält eine Vielzahl an Belegen bereit, die zeigen, dass eine gemeinsame Sprache zu einer erheblichen Verdichtung des gesellschaftlichen Austauschs führt. Eine weite Verbreitung einer gemeinsamen Fremdsprache innerhalb Europas würde die Mobilität der Bürger, die innerhalb Europas trotz der Freizügigkeitsregelungen der EU weiterhin sehr gering ist, deutlich erleichtern. Der Landeswechsel kann dabei zur Knüpfung privater Kontakte, zu Ausbildungszwecken, aber vor allem zur Berufstätigkeit genutzt werden. Die Verbesserung der Fremdsprachenkompetenz in einer Sprache wäre aber nicht nur mit Vorteilen für die Individuen, sondern auch mit positiven kollektiven Folgen verbunden. In einer Meta-Analyse von 81 verschiedenen Studien, die den Zusammenhang zwischen einer gemeinsamen Sprache und dem Handel zwischen zwei Nationen analysiert haben, kommen Peter Egger und Andrea Lassmann16 zu dem Ergebnis, dass der Handel zwischen zwei Ländern um 44 % höher ist, wenn in beiden Ländern die gleiche Sprache gesprochen wird, und dies bei Kontrolle aller anderen den Handel beeinflussenden Faktoren. Eine durch Englischkenntnisse erleichterte geographische Mobilität würde zudem zu einer besseren Balance von Arbeitsangebot und -nachfrage innerhalb der EU führen. Während in den von der Euro- und Wirtschaftskrise sehr hart getroffenen südlichen Ländern der EU die Zahl der Arbeitslosen insgesamt, vor allem aber unter den 16

Egger, Peter [u. a.]: The Language Effect in International Trade, in: Economics Letters 116 (2012), S. 221–224.

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Jugendlichen enorm angestiegen ist, deutet sich in den eher wohlhabenden Mitglieds­ ländern immer mehr ein Fachkräftemangel an. Eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst die Mobilität von Arbeitskräften. Die Sprache ist aber eines der zentralen Hindernisse. Eine gemeinsame Fremdsprache würde aber nicht nur zu einer deutlichen Erleichterung des ökonomischen Austauschs innerhalb Europas beitragen, sondern auch die Chancen der politischen Partizipation der Bürger Europas und die Herstellung einer europäischen Öffentlichkeit deutlich verbessern. Die EU-Bürger besitzen seit dem Maastrichter Vertrag von 1992 neben ihrer nationalen Staatsbürgerschaft zusätzlich eine Unionsbürgerschaft; sie können von den damit verbundenen rechtlichen Möglichkeiten aber nur vollen Gebrauch machen, wenn sie sich europaweit verständigen können. Eine verbesserte europäische Verständigungsmöglichkeit würde auch die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit und damit eine Demokratisierung der EU von unten befördern. Die öffentliche Debatte über die Banken-, Euro- und Wirtschaftskrise in den letzten Jahren hat einen Befund der Forschungen zur Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit nochmals nachdrücklich bestätigt. Eine europaweite Öffentlichkeit ist nur schwach ent­wickelt; öffentliche Debatten finden weitgehend in nationalstaatlich voneinander getrennten Öffent­lichkeiten statt.17 Die Debatte über die Eurokrise, ihre Ursachen und Lösungen war in Griechenland eine ganz andere als in Spanien, in Deutschland oder in Finnland. Und dies ist in erster Linie darauf zurückzuführen, dass die nationalen Öffentlichkeiten in den jeweiligen Nationalsprachen diskutieren und gegeneinander abgeschottet sind. Ein grenzüberschreitender Austausch von Argumenten (Deliberation) kann unter diesen Bedingungen nicht stattfinden. Dies wiederum stabilisiert das Denken in nationalstaatlichen Interessen und Einhegungen. Zur Entwicklung einer europäischen Öffentlichkeit bedarf es entsprechend einer einheitlichen Sprache, sonst kommt sie nicht zustande. Und auch die Chancen der Entwicklung einer Weltöffentlichkeit und Weltzivilgesellschaft hängen entscheidend von der Möglichkeit der Kommunikation in einer Sprache, die von vielen verstanden wird, ab. Protestierende im Gezi-Park in Istanbul, die ein auf Englisch geschriebenes Transparent mit der Aufschrift „Help defend democracy“ in die Luft halten, Bürger in Tunesien, die im Kontext des Arabischen Frühlings „Game over“ skandieren oder Protestierende in Brasilien, die anlässlich der Fußballweltmeisterschaft 2014 forderten „We don’t need the World Cup, we need money for hospitals and education“, kommunizieren nicht in erster Linie mit ihrer nationalen Öffentlichkeit, sondern mit den Menschen außerhalb ihres Landes. Und sie tun dies in einer Sprache, die von vielen gesprochen wird. Englisch bietet insofern auch die Möglichkeit der Konstitution einer Weltöffentlichkeit. Inhaltlich ähnliche Transparente auf Türkisch, Arabisch oder Portugiesisch würden in der Welt in einem deutlich geringeren Maße verstanden werden.

17

Gerhards, Jürgen: Westeuropäische Integration und die Schwierigkeiten der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit, in: Zeitschrift für Soziologie 22 (1993), S. 96–110.

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Schließlich zeigen psychologische Studien,18 dass die Kommunikation in einer gemeinsamen Sprache Vertrauen zwischen Personen schafft und zu einem Gefühl der Verbundenheit beiträgt. Während sprachliche Vielfalt im hegemonialen Diskurs der Sprach- und Kulturwissenschaftler fast ausschließlich positiv bewertet und interpretiert wird, unterschätzen diese die negativen Seiten der Vielfalt. Sprachliche Verschiedenheit erschwert Kommunikation, trennt Interaktionspartner, erhöht die Wahrscheinlichkeit der Ausbildung von Gruppenidentitäten entlang von Sprachgrenzen und führt häufig zu Spannungen und Konflikten zwischen den Sprechern unterschiedlicher Sprachen. Die Verfügung über eine gemeinsame Sprache kann hingegen existierende Unterschiede zu überwinden helfen.

Bedroht eine Förderung der „Lingua franca“ Englisch die ­sprachliche und kulturelle Vielfalt in Europa? Ein gewichtiger Einwand gegen eine Förderung des Englischen als „Lingua franca“ ­eines vereinten Europas betont die Bedrohung anderer Sprachen und somit auch Kulturen durch die Vorherrschaft einer Sprache. Mit der Hegemonie des Englischen sei, so die These, zugleich eine Dominanz anglo-amerikanischer Weltsichten und Werte verbunden, weil Sprache und Weltsichten miteinander verwoben seien.19 Die Förderung einer „Lingua franca“ Englisch für alle Europäer bedeutet keinesfalls, dass die sprachliche Souveränität der Nationalstaaten innerhalb der Länder und damit die sprachliche Vielfalt angegriffen wird. Die Muttersprachen der Länder bleiben natürlich erhalten und dienen auch weiterhin als Bezugspunkte der Identifikation; sie werden nur ergänzt um eine forcierte Förderung einer Fremdsprache. Weiterhin gilt es zu beachten, dass die These vom Einfluss der Sprache auf das Denken und damit die Weltaneignung und die Kultur zumindest recht umstritten ist. Es fehlt hier der Raum, um das Pro und Kontra genauer zu diskutieren.20 Einige Kognitionspsychologen gehen davon aus, dass das Denken in einer speziellen, mentalen Sprache stattfindet. Und weil das Denken in dieser inneren Sprache stattfindet, ist der Einfluss der natürlichen Sprachen auf das Denken gering. All das, was Menschen in einer bestimmten natürlichen Sprache ausdrücken, kann im Grundsatz in eine andere Sprache übersetzt werden. Wenn aber Sprache und Kultur nicht so eng miteinander verzahnt sind, wie dies häufig unterstellt wird, dann hat dies Folgen für die Sprachenpolitik. Ein Kernargument gegen eine einheitliche Fremdsprache in Europa ist damit zumindest aufgeweicht. ­Philippe Van Parijs bringt die These von der Unabhängigkeit von Sprache und Kultur präzise auf den Punkt: 18 19 20

Vgl. z. B. Kinzler, Katherine D. [u. a.]: Accent Trumps Race in Guiding Children’s Social Preferences, in: Social Cognition 27 (2009), S. 623– 634. Für viele andere Phillipson 2003 (wie Anm. 3); Trabant 2014 (wie Anm. 4). Vgl. Gerhards 2011 (wie Anm. 5).

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There is nothing intrinsically „pro-capitalist“, or „anti-poor“, or „market-imperialist“ about the English language, just as it is not because Marx wrote in German that there is something intrinsically „anti-capitalist“ or „pro-proletarian“ or „state-fetishist“ about the German language. Like all other languages in the world, English and German have the means of expressing negation, so that whatever Marx wrote in German you can also deny in German and whatever Bush said in English you can also deny in English.21

Wie lässt sich die Englischkompetenz der Bürger verbessern? Sprachen werden vor allem in der Schule, durch längere Auslandsaufenthalte und durch den Konsum von fremdsprachigen Medienprodukten gelernt. Vor allem der zuletzt genannte Weg wird in vielen Ländern, so auch in Deutschland, nicht genügend beschritten. Fast alle Sendungen aus dem Ausland werden synchronisiert. Dabei ist der Anteil der ausländischen Filme und Sendungen und damit die Chance, fremden Sprachen zu lauschen, in den meisten Ländern erheblich: Von den im Jahr 2009 insgesamt ausgestrahlten 83.049 Fernsehstunden fielen 87,5 % der Stunden auf Sendungen, die aus dem Ausland kommen, also vor der Synchronisation in einer anderen Sprache abgefasst wurden. Mehr als die Hälfte der Sendestunden (nämlich 47.721) fallen dabei allein auf amerikanische und damit englischsprachige Produktionen.22 Würden diese Sendungen in der Originalsprache ausgestrahlt werden, dann käme dies einem kostenlosen Fremdsprachenunterricht gleich. Und dieser „Unterricht“ würde von sehr vielen Menschen auch wahrgenommen werden. Das Fernsehen ist weiterhin das meistgenutzte Medium der Deutschen. Vier Stunden täglich verbringen die Menschen in Deutschland vor dem Fernseher.23 Hinzu kommt, dass eine Ausstrahlung von Medienimporten in der Originalsprache im Unterschied zu anderen Maßnahmen zur Verbesserung der Fremdsprachenkompetenz wie zum Beispiel einer Erhöhung der Stundenzahl für Fremdsprachen im Schulunterricht oder in Sprachschulen mit sehr geringen Kosten verbunden ist, weil die Sendungen ja schon in der Originalsprache bereitstehen. Nun kann man einwenden, dass das Fernsehen keine Volkshochschule ist und die Menschen ein Recht auf Bequemlichkeit und ihre Mutter21

22

23

Die Durchsetzung von Englisch als „Lingua franca“ und ein Plädoyer, diesen Prozess politisch zu fördern, führen zu Ungerechtigkeiten zwischen den verschiedenen Sprachen. Im Fall der Einführung von Englisch als „Lingua franca“ wären diejenigen Sprecher, die Englisch bereits als Muttersprache sprechen, insofern bevorteilt, da sie selbst keine neue Sprache lernen, alle anderen aber die Zeit und die Mühe aufbringen müssten, sich Englisch anzueignen. In der Literatur werden verschiedene Maßnahmen diskutiert, solche Ungerechtigkeiten zu kompensieren, auf die ich hier aber nicht genauer eingehen kann. Vgl. Van Parijs 2011 (wie Anm. 5), Van Parijs 2004 (wie Anm. 6), S. 138. Media Consulting Group: Study on the Use of Subtitling. The Potential of Subtitling to Encourage Foreign Language Learning and Improve the Mastery of Foreign Languages. http://eacea.ec.europa. eu/llp/studies/study_on_the_use_of_subtitling_en.php (06.10.2014). Van Eimeren, Birgit [u. a.]: Rasanter Anstieg des Internetkonsums – Onliner fast drei Stunden täglich im Netz, in: Media Perspektiven 7/8 (2013), S. 371.

Verständigung trotz sprachlicher Vielfalt

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sprache haben. Für dieses Problem gibt es eine einfache Lösung. Seit der Umstellung vom analogen auf das digitale Fernsehen gibt es die technische Möglichkeit, die synchronisierte und die nicht synchronisierte Originalfassung als Alternativen anzubieten, sodass die Zuschauer die Wahl haben. Und da der Fremdsprachenerwerb vor allem bei Kindern und Jugendlichen relativ schnell erfolgt, sollte man bei den Kinder- und Jugendsendungen mit einer Veränderung des Fernsehangebots ansetzen. Die Bedingungen sind hierfür überaus günstig. Über 90 ­Minuten täglich verbringen Kinder im Alter von 3–13 Jahren im Durchschnitt vor dem Fernseher; dies sind zwei Schulstunden pro Tag und dies bei einer Siebentagewoche. Die Gruppe der 14- bis 29-Jährigen verbringt sogar 134 Minuten täglich vor dem Fernseher.24 Hinzu kommt, dass vor allem die Drei- bis Siebenjährigen eine besondere Vorliebe für den Kanal KIKA haben. Und KIKA wird bekanntlich vom ZDF und der ARD betrieben und gehört damit zu den öffentlich-rechtlichen Anstalten. Über die Rundfunkräte hat die Politik hier Einfluss auf das Programm und die Ausrichtung des Senders, eine überaus günstige Konstellation. Die Multilingualität der Bürger ließe sich längerfristig einfach verbessern, wenn man die fremdsprachigen Fernsehsendungen für Kinder und Jugend­ liche in Zukunft nicht alle in deutscher Synchronisierung, sondern in der Originalsprache ausstrahlen würde.

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Van Eimeren [u. a.] 2013 (wie Anm. 23).

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portance of Transnational Linguistic Capital. http://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/38916 (06.10.2014)). Hale, Ken: On Endangered Languages and the Importance of Linguistic Diversity, in: Endangered Languages: Language Loss and Community Response. Hrsg. von Leonora A. Grenoble u. Lindsay J. Whaley, Cambridge 1998, S. 192–216. Jonkmann, Kathrin, Olaf Köller u. Ulrich Trautwein: Englischleistungen am Ende der Sekundarstufe II, in: Schulleistungen von Abiturienten: Regionale, schulformbezogene und soziale Disparitäten. Hrsg. von Ulrich Trautwein, Olaf Köller, Reiner Lehmann u. Oliver Lüdtke, Münster 2007, S. 113–142. Kibbee, Douglas A.: Language Policy and Linguistic Theory, in: Languages in a Globalising World. Hrsg. von Jacques Maurais u. Michael A. Morris, Cambridge 2003, S. 47–57. Kinzler, Katherine D., Kristin Shutts, Jasmine DeJesus u. Elisabeth S. Spelke: Accent Trumps Race in Guiding Children’s Social Preferences, in: Social Cognition 27 (2009), S. 623–634. Kraus, Peter A.: Europäische Öffentlichkeit und Sprachpolitik – Integration durch Anerkennung, Frankfurt a. M., New York 2004. Krauss, Michael E.: The World’s Languages in Crisis, in: Language 68 (1992), S. 4–10. Kymlicka, Will: Multicultural Odysseys. Navigating the New Institutional Politics of Diversity, Oxford 2007. Media Consulting Group: Study on the Use of Subtitling. The Potential of Subtitling to Encourage Foreign Language Learning and Improve the Mastery of Foreign Languages. http://eacea.ec.europa.eu/ llp/studies/study_on_the_use_of_subtitling_en.php (06.10.2014). Nic Craith, Máiréad: Europe and the Politics of Language. Citizens, Migrants and Outsiders, Houndmills 2008. Phillipson, Robert: English-only Europe? Challenging Language Policy, London, New York 2003. Shuibhne, Niamh N.: EC Law and Minority Language Policy: Some Recent Developments, in: Respecting Linguistic Diversity in the European Union. Hrsg. von Xabier Arzoz, Amsterdam 2008, S. 123–144. Trabant, Jürgen: Globalesisch oder was? Ein Plädoyer für Europa, München 2014. Van Eimeren, Birgit u. Beate Frees: Rasanter Anstieg des Internetkonsums – Onliner fast drei Stunden täglich im Netz, in: Media Perspektiven 7/8 (2013), S. 358–371. Van Parijs, Philippe: Europe’s Linguistic Challenge, in: Archives Européennes de Sociologie 45 (2004), S. 111–152. Van Parijs, Philippe: Tackling the Anglophone’s Free Ride. Fair Linguistic Cooperation with a Global Lingua Franca, in: Towards More Linguistic Equality in Scientific Communication (Special Issue of AILA Review). Hrsg. von Ulrich Ammond u. Augusto Carli, Amsterdam, Philadelphia 2007, S. 72–86. Van Parijs, Philippe: Linguistic Diversity as Curse and as By-product, in: Respecting Linguistic Diversity. Hrsg. von Xabier Arzoz, Amsterdam, Philadelphia 2008, S. 17–46. Van Parijs, Philippe: Linguistic Justice for Europe and for the World, Oxford 2011.

„Europas Zukunft ist ein nach-nationales Europa, in dem starke, unabhängige und kulturell vielfältige Regionen und Metropolen als konstitutive Elemente einer Europäischen Republik in einer neugestalteten Demokratie politisch zusammenfinden - und auf der Grundlage des allgemeinen politischen Gleichheitsgrundsatzes ein politisches Gemeinwesen begründen: eine transnationale Europäische ­Republik.“

Ulrike Guérot

Res Publica Europaea: Europa anders1 Europa in der Krise: nicht zum ersten Mal! Im Moment wird sehr viel über Europa in der Krise diskutiert. Es ist wahrlich nicht das erste Mal, dass Europa in der Krise ist. Ich antworte darauf inzwischen nur noch mit dem Mythos von Sisyphus: Der europäische Stein wird nach oben gerollt. Und wenn der Stein fast oben ist, rollt er wieder herunter. Und wenn er unten ist, fängt Sisyphus wieder an, ihn nach oben zu rollen. Das gilt auch für das krisengeplagte Europa. Indes: Alle, die Albert Camus und seinen Mythos des Sisyphus gelesen haben, wissen ja, dass Sisyphus ein sehr glücklicher Mensch war. Das heißt: Es gilt, Europa immer wieder aus der Krise zu holen, also immer wieder „nach oben“ zu rollen, selbst wenn dies noch nicht gelingt. Aber wir dürfen den europäischen Gipfel nicht aus den Augen verlieren. Auch werde ich oft gefragt, was mich denn persönlich treibt, warum mir die europäische Integration so am Herzen liegt. Dann erzähle ich gerne, wie alles anfing: 1992 hatte ich für vier Jahre das große Glück, bei dem damaligen außenpolitischen Sprecher der CDU, Karl Lamers, zu arbeiten, zum Zeitpunkt des Maastrichter Vertrags. In dieser Zeit, ich war damals 27 Jahre alt, sagte Karl Lamers – wahrscheinlich, weil er zunächst einfach eine Beschäftigung für seine neue Mitarbeiterin suchte – im April 1992 zu mir: „Schreiben Sie mal was zu Europa auf. Die Fraktion muss demnächst ein Papier über ­Europa schreiben. Es gibt jetzt den Maastrichter Vertrag und da müssen wir mal abschätzen, was das überhaupt bedeutet.“ Nach unzähligen Beratungen und Fassungen wurde dann zwei

1



Dieser Text beruht auf einer (nicht wortgetreuen) Verschriftlichung eines Vortrages vom 25. März  2014. http://www.lisa.gerda-henkel-stiftung.de/visionen_fuer_europa_wissenschaft_trifft_­nachwuchs? nav_id=4871(abgefragt am 10. 09. 2014). Der Vortragsstil wurde beibehalten. Abbildung Nr. 2 ist von Valeska Peschke, aus dem Werk „Botschaft von Amikejo“.

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Ulrike Guérot

Jahre später daraus das Schäuble/Lamers-Papier2, ein Papier zu Kerneuropa, das heute nicht aktueller sein könnte und das schon damals eine unglaubliche Dringlichkeit ge­ äußert hat, den europäischen Integrationsprozess vollenden zu müssen. Einer der Sätze aus diesem Papier zur deutschen Rolle in Europa – ich zitiere sinngemäß – lautet, dass Deutschland zwar größer ist als alle seine Nachbarn, aber nicht größer als seine Nachbarn zusammen und sich daher in Europa integrieren muss, da jede deutsche Ambition, eine Vormachtstellung in Europa zu haben, scheitern muss. Dies erinnert ziemlich genau an die heutige Hegemoniedebatte, die wir im Zusammenhang mit der Eurokrise über die deutsche Dominanz in Europa – besonders in der Wirtschaftspolitik – geführt haben und führen. Auch kann man in diesem Papier von 1994 bereits nachl­esen, dass eine Währungsunion natürlich eine vereinheitlichte Finanz-, Haushalts- und Sozial­ politik haben muss; und über die Zeit auch eine gemeinsame Regierung, die aus der Euro­ päischen Kommission hervorgehen muss. Heute würde sich niemand trauen, von einer gemeinsamen europäischen Regierung zu sprechen!

Der Verlust der europapolitischen Ambition: Wir wollten damals mehr! Meines Erachtens wird die heutige Europadiskussion entlang falscher Fragestellungen geführt. Die Frage „mehr oder weniger Europa“, die in der heutigen Diskussion oft gestellt wird, ist insofern fehlgeleitet, als dass für alle, die 1992 dabei waren, klar war: Wir brauchen ein politisches Gemeinwesen. Eine Währungsunion kann ohne eine gemeinsame Fiskal- und auch Sozialunion nicht funktionieren. Und darum bekommen wir diese Aufgabe heute noch einmal ganz aktuell gestellt. Wir haben damals gewusst, dass wir ins offene Messer laufen, wenn wir die Währungsunion gleichsam nur halb machen. Das soll heißen, die heutige Post-Krisen-Diskussion – machen wir jetzt eine europäische Fiskalunion oder eine Bankenunion mit gemeinsamer Einlagenhaftung oder nicht –, in der dann oft das Argument kommt, „nein, nein, das wollen wir nicht, so haben wir den Euro nicht gewollt, Karlsruhe muss uns schützen“ – diesen Diskurs halte ich in weiten Teilen für heuchlerisch, da es ja bedeuten würde, niemand hätte 1992 gewusst, worauf wir uns einlassen. Ich sage aber, als jemand, der – wenn auch auf kleiner Ebene – dabei war: Wir haben es gewusst. Wir haben gewusst, was wir machen. Wir wollten 1992 eine politische Union! Damit komme ich zur heutigen Situation, zwanzig Jahre später. Wo stehen wir jetzt? In diesen zwanzig Jahren ist einiges passiert, aber eben nicht das Entscheidende. Wir haben die politische Union immer noch nicht: Wir sind vom Maastrichter Vertrag 1992 zum Amsterdamer Vertrag 1997, von da zum Vertrag von Nizza 2000 und dann zum euro­ päischen Verfassungskonvent 2003 gekommen. Der Verfassungsentwurf ist dann 2005 2

Vgl. Lamers, Karl u. Wolfgang Schäuble: Überlegungen zur Europäischen Politik, 1. September 1994, https://www.cducsu.de/upload/schaeublelamers94.pdf (abgefragt am 14. 09. 2014).

Res Publica Europaea: Europa anders

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am französischen und niederländischen Referendum gescheitert. Und schließlich gab es dann 2007 den Lissabonner Vertrag. Diese Verträge sind zwar alle ein Fortschritt, aber zwanzig Jahre später haben wir es de facto immer noch nicht geschafft, die politische Union zu gründen und eine europäische Demokratie zu schaffen, die diesen Namen verdient hätte.

Der europäische „Catch 22“ Wahrscheinlich haben wir heute eine schwierigere Situation als 1992. Man kann sie als Catch-22-Situation bezeichnen. Europa befindet sich in einem permanenten Teufelskreis: Was wir bräuchten, um das Euro-System funktional zu machen, ist politisch nicht durchsetzbar. Wenn man sich umschaut, führen die Briten eine Exit-Diskussion; die Franzosen wollen kein neues Referendum und auch in vielen anderen europäischen Staaten hat man beim Thema Europa Angst vor den Wählern. Weil nicht durchsetzbar ist, was für ein transnationales, demokratisches und soziales Europa notwendig wäre, bleibt der Euro dysfunktional und führt zu sozialen und damit politischen Spannungen. Und weil es die gibt, wollen wir am Ende „weniger Europa“. Wir sind also in einem System, das so sehr unter Druck ist – wirtschaftlich wie auch sozial und politisch –, dass wir die vernünftigen Lösungen nicht durchsetzen können. Die vernünftigen Lösungen, oder zumindest das, was auf Expertenebene immer wieder gefordert wird, sind im Wesentlichen zwei Dinge, nämlich ein sogenannter fiscal backstop und ein monetäres backstop, eine gemeinsame fiskalische und geldpolitische Klammer. Es geht also im Grunde um ein gemeinsames EU-Budget und eine Zentralbank, die Staatsanleihen kaufen darf und damit die Funktion des letzten Geldgebers (lender of last resort) erfüllen kann – wie eigentlich alle Zentralbanken auf der Welt außer der EZB. Eine Ebene darunter und aufgrund der Verknüpfung von Staatsverschuldung und Bankenschulden wäre ein wichtiger Schritt in solch eine gemeinsame Haftung bereits ein gemeinsamer Einlagensicherungsfond (common deposit scheme) innerhalb der Bankenunion, über den ja auch gerade verhandelt wird.3 Bildlich gesprochen geht es also darum, ob wir im Bereich der Geld- und Fiskalpolitik endlich ein gemeinsames Regendach über die Eurozone spannen oder ob alle Euroländer sich jeweils nur alleine eine Regenjacke überstreifen. Momentan sind wir noch bei den Regenjacken.

3

ausf. dazu Hufeld, Ulrich: Staatsleistungen in der Eurozone, in: Bieling, Hans-Jürgen/ GrosseHütte­mann, Martin (Hrsg.): Europäische Staatlichkeit: zwischen Krise und Integration, VS-­Springer Buchreihe Staat – Souveränität – Nation, hrsg. von Rüdiger Vogt und Samuel Salzborn, 2015, S. 135–157, S. 145ff; sowie die Verhandlung über die OMT-Anleihen der EZB vor dem EuGH am 16. Juni 2015.

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Ein gemeinsames Dach für das Euro-Haus Denn genau das, was wir brauchen – das gemeinsame Regendach – wirft ja diese massiven juristischen und verfassungsrechtlichen Probleme auf, die da im Kern lauten, dass deutsches Steuergeld de facto nicht transnational über die deutschen Landesgrenzen hinaus verwandt werden darf, solange die politische Kontrolle über die Verwendung dieser Steuergelder nicht sichergestellt ist, jedenfalls nicht innerhalb des bestehenden Rechtsrahmens. Und das ist ein fundamentales Problem, das niemand leugnet und das auch ich nicht negiere. Die ‚guten‘ Lösungen stoßen sich also an dem Prinzip der nationalen Haushaltssouveränität. Anders formuliert, wir müssen den Begriff der nationalen Haushaltssouveränität gleichsam europäisch erweitern: Wir brauchen fiskalische Solidarität jenseits der nationalen Haushaltsgrenzen. Aber wie können wir das Prinzip no taxation without representation von der nationalen auf die europäische Ebene heben? Das ist in erster Linie eine politische, keine (nur) juristische Frage. Was ich bei diesem Diskurs beanstande, ist, dass, wenn wir ein politisches Problem haben, wir es bitte auch politisch lösen sollten und uns bei dieser Diskussion nicht hinter ‚Karlsruhe‘ verstecken. Es gibt keinen Grund, dass (nicht-gewählte) Richter in Karlsruhe über die europäische Fortentwicklung Deutschlands letztverbindlich entscheiden, denn diese europäische Entwicklung Deutschlands hat noch ganz andere als juristische Dimensionen, zum Beispiel historische, politische oder sicherheitspolitische. Darum dürfen wir diese Entscheidung nicht dem Diktum von Karlsruhe überlassen, dass etwas nicht sein soll, was rechtlich nicht sein darf, sondern die Fortentwicklung des Rechts wäre eigentlich die angemessene Reaktion auf diese politische Situation. So aber hört man im augenblicklichen Diskurs sehr oft die Ablehnung einer ‚Transfer­ union‘ und den Unmut darüber, für andere Länder ‚bezahlen zu müssen‘. Das kann man natürlich lange diskutieren. Der Punkt ist nur, dass eine Währungsunion eben nicht ohne gewisse fiskalische Transferzahlungen auskommt und darum habe ich mit dem Schäuble/ Lamers-Papier angefangen: Wir wussten es! Insofern ist es unehrlich, sich dieser Tat­ sache heute nicht politisch zu stellen! Dieses Biedermann-und-die-Brandstifter-Argument – wir sind da in etwas gestolpert, was wir nicht wollten – das halte ich für unehrlich! Ganz abgesehen davon profitiert Deutschland durch seine kontinentale Mittellage ökonomisch am meisten von Binnenmarkt und Euro und sogar – durch die Negativver­ zinsung seiner Staatsanleihen – in jüngster Zeit von der Eurokrise selbst. Wir sind nicht der Zahlmeister Europas, der wir oft vorgeben zu sein. Deutschland hat sich hier diskursiv in eine Opferrolle manövriert, die nicht den ökonomischen Tatsachen entspricht.4 Was machen wir nun in dieser Situation? ‚Europa neu denken‘ ist in der Tat schwer. Ich persönlich bin indes davon überzeugt, dass das institutionelle System Europa in seiner derzeitigen Form mittel- und langfristig nicht zu halten ist. Es ist derartig dysfunktional und unter politökonomischer Spannung, dass es über kurz oder lang implodieren 4

Schieder, Siegfried: Zwischen Führungsanspruch und Wirklichkeit: Deutschlands Rolle in der Eurozone, in: Leviathan Hft. 3/2014, S. 363–398

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oder explodieren wird, natürlich nicht in drei Tagen, drei Wochen oder drei Monaten. Wann, kann niemand sagen. Aber die Frage ist doch, wie lange wir in sehr suboptimalen und dysfunktionalen Strukturen bzw. in einer mangelhaften europäischen Demokratie leben wollen oder wie lange es braucht, bis sich ein (rechts-)populistischer Druck so stark macht, dass Europa ernsthaft gefährdet ist. Wir machen natürlich permanent kleine, pfadabhängige Schritte und institutionelle Verbesserungen, aber wir haben vor allem in Deutschland die Tendenz, zu übersehen, wie schlecht es in den anderen Euro-Ländern derzeit aussieht, da Deutschland verhältnismäßig gut durch die Krise gekommen ist und haben darum nicht ausreichend demokratischen Reformdruck. Wir übersehen vor allem, wie sehr der politische und soziale Druck in Frankreich derzeit anschwillt. Insofern darf man, milde formuliert, sagen, dass wir in einem europäischen System leben, das politisch nicht stabil ist. Nun bin ich die Letzte, die eben dieses europäische System verteidigt. Ich sage nicht, wir brauchen „mehr Europa“ und schon gar nicht „mehr“ von diesem Europa. Sondern im Grunde bin ich der Meinung, dass wir bei dem, was die AfD, Le Pen, Syriza oder Beppe Grillo vorbringen, vielleicht einmal ein bisschen genauer hinhorchen sollten. Nicht etwa, weil ich deren politische Forderungen teilen würde. Aber in der Analyse ist eben nicht alles, was diese Parteien und Personen vorbringen, falsch, sondern vieles ist berechtigte Kritik an den mangelnden demokratischen Strukturen des EU-Systems, aus der dann aber die falschen Schlussfolgerungen gezogen werden.

Die europäische Post-Demokratie Wir sind in Europa tatsächlich in einer technokratischen Struktur, nämlich in der institutionellen Trilogie aus Europäischem Parlament (EP), Rat und Kommission, die wir dann gerne als sui-generis-Struktur wie eine Monstranz vor uns hertragen. Natürlich wurde dieses System demokratisch geschaffen und errichtet; die europäischen Nationalstaaten haben es ja verhandelt und ratifiziert, es beruht also gleichsam auf delegierter Legitimität. Und dennoch ist das europäische System intuitiv, also gefühlt, für viele EU-Bürger nicht demokratisch: Es funktioniert eben nicht wie eine nationale Demokratie. Tatsächlich hat zum Beispiel das Europäische Parlament kein Initiativrecht, das Parlament ist also nicht der eigentliche (oder alleinige) Gesetzgeber. Die europäische Demokratie ist ein inter-institutionelles Gefüge, bei dem die Bürger-Parlament-Beziehung weitgehend fehlt. Das Europäische Parlament stimmt meist mit Zweidrittelmehrheit ab, um den Rat zu überstimmen5, ist also fast permanent in einer Art großen Koalition, weswegen eine politische Opposition kaum existiert und die europäischen Bürger daher das Gefühl haben, dass es keine politische Alternative zur augenblicklichen Politik gibt. Das EP kontrolliert 5

Maurer, Andreas: The costs of power, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. 10. 2013. http:// www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/europa-der-preis-der-staerke-12625868.html (abgefragt am 14. 09. 2014).

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den Rat, macht aber nicht die eigentlichen Politikvorschläge. Und wenn die Bürger das, was dabei herauskommt, nicht gut finden, dann gelten sie gleich als Populisten! Das umreißt fast das ganze Problem der derzeitigen Europa-Diskussion: Wer prinzipiell für europäische Integration, aber gegen die augenblickliche Politik in Europa ist, hat in der Diskussion keinen Platz. Anders formuliert: Wer heute gegen die derzeitige europäische (Austeritäts-)Politik ist, muss gleichsam gegen das System sein. Zwischen Euro-Technokratie und Populismus gibt es keinen Platz, keinen dritten Weg. Sie kennen das Zitat von Carl Schmitt6: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“. Souverän nach dieser Definition ist (oder war zumindest) der Zentralbankchef Mario Draghi mit seinem geflügelten Ausspruch vom Juli 2012 – „everything it takes and it will be enough“ –, der im Ausnahmezustand der Eurokrise die Märkte mehr als jede politische Entscheidung es hätte tun können, beruhigt hat. Das war gut, aber ­eigent­lich können wir das nicht wollen, dass dieser Spruch von der EZB kommt, denn es ist ja der Ausdruck dafür, dass dieses Euro-System nicht im klassischen Sinn demokratisch, sondern eben technokratisch ist. Wir haben nicht nur keine richtiggehende Opposition im europäischen System, sondern auch keine Reversibilität von Entscheidungen. Im Grunde genommen haben wir durch die verschiedenen Krisenmaßnahmen – Europakt-Plus, SixPack, Schuldenbremse7 – eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik im Regelwerk der Europäischen Union verfassungsrechtlich etabliert, aber eben kein gemeinsames Budget zum fiskalischen Ausgleich geschaffen. Im Euro-System ist also (fast) kein Korrektiv für die Wirtschaftspolitik vorgesehen. Daran kann im Grunde kein Kommissionspräsident etwas ändern. Mit dem Prinzip der „Spitzenkandidaturen“ haben wir bei den Wahlen zum Europäischen Parlament 2014 versucht, eine gewisse Politisierung des Systems zu erreichen. Indes, selbst wenn Martin Schulz als Sozialdemokrat EU-Kommissionspräsident geworden wäre, hätte er an der wirtschaftspolitischen Ausrichtung der Union kaum etwas ändern können. Auch er wäre noch an die Schuldenbremse und die anderen Krisenbeschlüsse gebunden, auch er könnte keine europäischen Kredite für europäische Infrastrukturmaßnahmen aufnehmen usw. Wir haben also (fast) keine Reversibilität im europäischen politischen System, und das ist nicht demokratisch. Genau das merken die Bürger! Das Problem ist, dass dem, der dagegen ist, de facto fast keine andere Wahl bleibt, als zur AfD oder zu Le Pen zu laufen, weil es die politische Option eines anderen Europas nicht gibt. Auch wenn die meisten Wähler die systemischen Mängel des Eurosystems nicht im Einzelnen benennen können, so fühlen sie doch intuitiv: „Das passt nicht für mich, das will ich nicht, da bin ich da­ gegen“. Ergo wählen sie populistisch.

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Schmitt, Carl: Soziologie des Souveränitätsbegriffs und politische Theologie, in: Hauptprobleme der Soziologie. Erinnerungsgabe für Max Weber. Hrsg. von Melchior Palyi, Bd. 2, München, Leipzig 1923. Die intergouvernementalen Verträge im Verlauf des Eurokrisenmanagements, die wachstumsfördernde Maßnahmen im Rahmen der wirtschaftspolitischen Koordinierung beinhalten.

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Ein anderes Europa – statt mehr oder weniger Das ist also die Schieflage im augenblicklichen Europa-Diskurs. Anstatt aber diesen Diskurs aufzubrechen, dieses Problem zu benennen, neue Fragen zu stellen und andere Antworten zu geben, ermüden wir uns in einem „Mehr-oder-weniger“-Europa-Diskurs, stellen als einzige Frage, ob wir mehr oder weniger Integration wollen, anstatt konsequent mit dem Nachdenken über ein anderes Europa zu beginnen – und darüber, wie ein solches möglich sein könnte. Wenn wir in dieser Dichotomie von „mehr“ und „weniger“ Europa verbleiben, haben wir die Diskussion über Europa schon verloren, denn so ist diese Diskussion nicht für Europa zu gewinnen: In dieser Matrix von „mehr oder weniger“ gewinnt „weniger Europa“ und das „Mehr-Europa“-Argument verliert! Denn „mehr Europa“ – more of the same – ist angesichts eklatanter systemischer Mängel des institutionellen Euro-Systems, vor allem aber wegen des Fehlens einer richtiggehenden europäischen Demokratie auf der Grundlage des klassischen Prinzips der Gewaltenteilung im Montesquieu’schen Sinn und damit letztlich des Fehlens einer validen gemeinsamen Legitimitätsbasis kaum zu verteidigen. Dieses Demokratiedefizit artikuliert sich dann in einem paneuropäischen, sozialen Distributionsproblem, das notwendigerweise zu politökonomischen Spannungen führt, wie wir sie während der Eurokrise beobachten konnten. Anders formuliert: Deutschland hat das Krisenmanagement des Euro dominiert und zwar mit negativen Auswirkungen in vielen EU-Ländern; aber nicht alle europäischen Bürger können in Deutschland wählen: das ist der Kern des europäischen Demokratieproblems. Wir diskutieren über europäische Verteilung immer noch entlang von Landesgrenzen, und nicht transnational und politisch. Das europäische Problem ist mithin nicht die Tiefe der Integration („mehr oder weniger“), sondern die – mangelhafte – Qualität der europäischen Demokratie.8 Wir brauchen darum keine vertikale – Nationalstaat versus Europa – Debatte, sondern eine horizontale Debatte über die Ausgestaltung einer europäischen Demokratie. Die Frage ist, wie wir in der Zukunft eine starke europäische Legislative – bestehend aus den nationalen Parlamenten, die auf intelligente Weise mit dem Europäischen Parlament ‚verschränkt‘ werden – einer europäischen Exekutive, einer zukünftigen europäischen Regierung, gegenüberstellen können.9

8 9

Priester, Karin: Governance in Europa: Auf dem Weg in die Postdemokratie? In: Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2014, S. 99–110. Die Frage nach der Möglichkeit einer europäischen Demokratie stellt auch Dieter Grimm. Er analysiert das europäische Demokratiedefizit, vor allem die fehlenden parlamentarischen Strukturen, kommt aber zu dem Schluss, dass die Schaffung einer transnationalen europäischen Demokratie de facto – z. B. aufgrund einer fehlenden europäischen Öffentlichkeit – ausgeschlossen ist. Dies ist wenig überzeugend. Auch muss angeführt werden, dass eine solche Argumentation sehr juristisch und deutsch ist und im Diskurs in anderen europäischen Arenen auch aufgrund seiner mangelnden Generationendynamik als wenig anschlussfähig erscheint. Grimm, Dieter: ­Euro­pa ja, aber welches?, in: Merkur Hft. 12/2014, S. 1045–1058.

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Anders formuliert: Die wirtschafts- und währungspolitische Integration ist längst Realität und ein Rückbau dieser Integration wird nicht stattfinden. Darum ist die ­heutige Aufgabe, jetzt eine Demokratie für eine verwaiste Währung,10 also eine Demokratie für Euroland zu gestalten. Europäische Integration, das war gestern; europäische Demokratie, das ist heute der Begriff der Stunde! Ein anderes Europa, statt „weniger oder mehr“! Und damit komme ich zur Zukunft: Was wollen wir denn eigentlich, welches andere Europa könnten wir uns vorstellen, wie müsste es aussehen?

Das andere Europa – und wie es aussehen könnte Nun zu der Skizze eines anderen Europas. Ich sage aber gleich dazu: Skizzen sind so eine Sache, denn Geschichte passiert, sie ist event-getrieben, man kann sie nicht immer so steuern, wie man will. Aber man darf schon darüber nachdenken, was denn eigentlich für Europa optimal wäre, eben jene Vision, genauer: eine konkrete europäische Utopie entwickeln, was und wie Europa denn sein könnte, eine Erzählung finden, nach der wir ja alle suchen.

Res Publica Europaea Aus diesem Impuls heraus habe ich Postkarten entwickelt, die ich derzeit in öffentlichen Diskussionen austeste. Darauf steht „The European Republic is under Construction“. Worum geht es mir dabei? Ich möchte durch das Setzen anderer Begriffe zum Nachdenken anregen und das Denken möglicherweise ändern; und ich möchte mit diesen Republik-Postkarten einen Effekt der Neugierde erzielen, damit man beim Thema ­ ­Europa nicht einfach abwinkt, sondern wieder zuhört. Ich möchte einen semantischen Wechsel vornehmen, da die Sprache das Denken konfiguriert („Toute est Langue“, sagte die französische Psychoanalytikerin Françoise Dolto einmal, „alles ist Sprache“11) und mithin die Diskussion weg von den „Vereinigten Staaten von Europa“ und hin zur „Euro­päischen Republik“ bewegen. Denn es geht nicht darum, europäische Staaten zu integrieren, sondern darum, europäische Bürger zu einen, und zwar auf dem allgemeinen politischen Gleichheitsgrundsatz, der zwangsläufig über kurz oder lang auch gleiche soziale und steuerliche – eben staatsbürgerliche – Rechte und Pflichten für alle europäi­

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11

Pisany-Ferry, Jean: La Monnaie orpheline, in: Le Monde vom 27. 5. 2008. http://www.­lemonde.fr/ idees/article/2008/05/27/la-monnaie-orpheline-par-jean-pisani-ferry_1050264_3232.html (abgefragt am 10. 09. 2014). Françoise Dolto: Tout est langage, Paris 1995

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Abb. 1  Die Botschaft von Amikejo. Splitter der Vergangenheit – Fragment der Zukunft, © Valeska Peschke Peschke, Valeska, geb. 1964, ist bildende Künstlerin und Dozentin mit Schwerpunkt räumliche Transformation und hat internationale Ausstellungserfahrung und Auslandsaufenthalte in den USA (Kalifornien) und Mexiko. Valeska Peschke ist Meisterschülerin der Universität der Künste (UdK), Berlin.

schen Bürger zur Folge haben muss. Es geht also um eine europäische Bürgerunion12, eine res publica europaea als transnationales Rechts- und Gemeinwesen, das ist die Idee. Die Kernidee ist, dass wir uns als Bürger einer res publica europaea und mithin ­Europa als ein politisches Gemeinwesen verstehen lernen, das wir gemeinsam verwalten und verteilen, jenseits einer nationalen, territorial fixierten und limitierten (Haushalts-) Souveränität.13 Der normative Kerninhalt des Republikbegriffes – res publica – ist näm12 13

Bogdandy, Armin von: Die Europäische Republik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 36 (2005), S. 21–27. Menasse, Robert: Der Europäische Landbote, München 2012; Habermas, Jürgen: Zur Verfassung Europas, Berlin 2011; bzw. Beck, Ulrich: Das deutsche Europa, Berlin 2012, der deutlich macht, dass deutsche Hegemonieambitionen in Europa fehlgeleitet sind.

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lich der des Gemeinwohls.14 Republik steht für ein gemeinsames Rechts- und Gemeinwesen. Es geht darum, Europa einmal ganz neu und anders zu denken, und das ist zunächst einfach nur ein Diskussionsangebot.

Die politische Integration der Eurozone: eine Spaltung Europas? Die Eurozone braucht eine andere Demokratie.15 Das ergibt sich aus der gemeinsamen Währung, der Abschaffung der Wechselkurse und dem, was sich dadurch für die Länder der Eurozone als Notwendigkeit an wirtschaftspolitischer, fiskalischer und sozialer Integration ableitet. Was nun könnte ein Szenario sein, wenn sich die Eurozone tatsächlich auf den Weg einer transnationalen europäischen Demokratie machen würde, sich also ernsthaft an die Ausgestaltung einer politischen Union, an ein demokratisches System der Gewaltenteilung im Sinne von Montesquieu herantasten und die bisherige institutionelle „Trilogie“ überwinden würde? Muss das den Bruch Europas in ein Euro-Europa und die ‚restliche‘ EU-28 bedeuten? Ich denke das nicht. Ich halte es angesichts des Integrationsdrucks der Eurozone für nicht ganz unwahrscheinlich, dass die Eurozone tatsächlich auf eine Demokratisierung, also eine politische Union zusteuert und, sollte dies passieren, die meisten der EU-28-Staaten dann dieser Neuformierung der Eurogruppe auf einer höheren Stufe der politischen Integration – also einer transnationalen, demokratischen Euro-Union – auch beitreten wollen. Es würde also wahrscheinlich nicht, wie oft befürchtet, ein Europa der zwei Geschwindigkeiten entstehen, sondern die „Euro-Union“ könnte tatsächlich zu einer Art demokratischem Kern werden, da keiner der anderen Staaten (Großbritannien mag hier eine Ausnahme sein) gerne zurückbleiben möchte.16 Sollte sich eine konsolidierte Eurozone auf der Basis der augenblicklich 19 Staaten tatsächlich entscheiden, einen demokratischen Sprung zu machen – jüngere Papiere liegen dazu ja bereits vor17 – so würde ich persönlich darauf setzen, dass Polen zum Beispiel ein unmittelbares Bemühen entwickeln würde, auch dabei zu sein, um den ‚Zug‘ 14 15 16

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Nowrot, Karsten: Das Republikprinzip in der Rechtsordnungengemeinschaft, Jus Publicum, Tübingen: Mohr/ Siebeck 2014. So auch Habermas, Jürgen: Im Sog der Technokratie, Berlin: Suhrkamp 2013. Piris, Jean-Claude: The Future of Europe: Towards a Two-Speed EU? Cambridge 2011; Buras, Piotr: The EU’s silent revolution, Policy Paper ECFR, September 2013. http://www.ecfr.eu/­publications/ su (abgefragt am 12. 09. 2014). Der Beitrag wurde vor den britischen Wahlen 2015, also vor der Entscheidung zur Durchführung eines Referendums verfasst. Glienicker Gruppe: Aufbruch in die Euro-Union, ZEIT Online, Oktober 2013. http://www.glienicker gruppe.eu/ (abgefragt am 10. 09. 2014); sowie von französischer Seite: Groupe Eiffel: Pour une communauté politique de l’Euro, Februar 2014. http://www.groupe-eiffel.eu/ (abgefragt am ­ 10. 09. 2014). Ein internes spanisches Papier zur Vertiefung und Integration der Eurogruppe zir-

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dieser politischen Integration nicht zu verpassen. In Dänemark sieht es derzeit ähnlich aus; das Land bewegt sich gerade eher auf den Euro zu. Wenn das gesamte Baltikum und Polen in vielleicht gar nicht allzu langer Zeit Euromitglieder werden sollten, dann dürfte auch Schweden seine distanzierte Haltung revidieren, weil es ökonomisch zu sehr mit diesen Staaten verwoben ist. Das alles sind natürlich nur Einschätzungen, die nicht validierbar sind. Worauf ich indes hinaus will: Ein Szenario, in dem sich die Eurozone politisch vertieft und zugleich auf 22 – 23 Staaten erweitert, ist nicht ganz illusorisch. Die einzigen Staaten, die Probleme mit einer solchen demokratischen Euro-Unionsbildung haben, sind, wie schon erwähnt, Großbritannien (aus politischen Gründen) und die Südostschiene der EU, namentlich Tschechien (mit einer in der Tat momentan problematischen Europa-Diskussion und einer komplizierten politischen Landschaft), Ungarn (aus derzeit offensichtlich politischen Gründen) sowie Bulgarien und Rumänien, die tatsächlich ökonomisch über längere Zeit nicht anschlussfähig an die Eurozone sein dürften, und gegebenenfalls Kroatien, das wirtschaftlich auch sehr hinterherhinkt. Mit Ausnahme dieser fünf bis sechs erwähnten Staaten wäre aber konkludent eine politisch sehr viel stärker integrierte Euro-Union – bestehend aus bis zu 23 Staaten, mit einer veritablen transnationalen Demokratie und einer gemeinsamen fiskalischen Basis, zum Beispiel in Form einer gemeinsamen Arbeitslosenversicherung18 –, also ein europäisches politisches Gemeinwesen, das auf dem allgemeinen politischen Gleichheitsgrundsatz aller Bürger basiert, politisch wie wirtschaftlich durchaus vorstellbar. Die nationalen Volkswirtschaften in der Eurozone sind bereits weitgehend homogen und auch die kulturellen Voraussetzungen für die Akzeptanz des Prinzips der politischen Gleichheit in Europa sind, wie eine Studie jüngst gezeigt hat, mehrheitlich gegeben: Die europäischen Bürger sind mehrheitlich für einen europäischen Gleichheitsgrundsatz inklusive des ­gleichen Zugangs zu Sozialleistungen.19 Diese Euro-Union würde sich dann in Richtung einer richtiggehenden Demokratie mit Gewaltenteilung im Montesquieu’schen Sinn bewegen, in dem eine starke Legislative die Exekutive kontrolliert; das würde die Überwindung der Trilogie und des sui-­generisCharakters der derzeitigen EU-Institutionen bedeuten: der Embryo einer Europäi­schen Republik.

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kuliert seit Juni 2015. Diese Papiere stehen in Zusammenhang mit den laufenden Beratungen des Papiers der vier Präsidenten der EU zur GMEU (Genuine Monetary and Economic Union.) Siehe dazu auch Dullien, Sebastian: Eine europäische Arbeitslosenversicherung als Stabilisator für die Eurzone, Arbeitspapiere der Friedrich Ebert-Stiftung, Juni 2014, http://library.fes.de/pdf-files/ wiso/10821.pdf ; sowie die offiziellen Vorschläge und Papiere der EU-Kommission zum Thema. Gerhards, Jürgen und Holger Lengfeld: Wir, ein europäisches Volk? Sozialintegration Europas und die Idee der Gleichheit aller europäischen Bürger, Wiesbaden 2013.

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Ein institutionelles Design für Euroland Für diese Euro-Union wäre dann relativ klar, was institutionell zu passieren hätte: Es gäbe ein Eurozonen-Parlament (wie zum Beispiel von Wolfgang Schäuble und JeanClaude Trichet mehrfach prominent gefordert20) und dieses Parlament müsste volles ­legislatives Initiativrecht haben. Wir müssten aber in der Tat konstruktiv und kreativ darüber nachdenken, wie wir dieses Eurozonenparlament mit den nationalen Parlamenten der Euro-Union verschränken bzw. wie ein neugestalteter europäischer Bi-Kameralismus in der Euro-Union aussehen könnte. Wir müssten eine Struktur finden, in der zumindest die Haushalts- und Finanzausschüsse der nationalen Parlamente mit dem Eurozonenparlament verzahnt werden, im Übrigen alle Ausschüsse, sodass die Europapolitik sich nicht nur auf den Europaausschuss beschränkt, sondern zunehmend erkannt wird, dass letztlich alle nationalen Politiken europarelevant sind bzw. eine europäische Dimension haben. Ungelöst ist die Frage nach der Zweiten Kammer im zukünftigen politischen System der Euro-Union. Ich bin nicht davon überzeugt, dass der Europäische Rat diese Zweite Kammer sein muss, auch wenn das aktuelle System ihn gleichsam als „Länderkammer“ nahe­ legt und die derzeitige Diskussion ja auch so verläuft.21 De facto geht es um die Frage der Proportionalität, also darum, welches der beiden parlamentarischen Organe das „proportionale“ Organ sein soll (und bei welcher Gewichtung). Ferner geht es um die Frage der Verschränkung der Kompetenzen der beiden Legislativkörper, wobei die Diskussion in Deutschland immer sehr dazu tendiert, das deutsche parlamentarische Modell als einzige Richtschnur anzunehmen. Derzeit ist das Europäische Parlament proportional zusammengesetzt, was dem Bundesverfassungsgericht ja auch als einschlägiges Argument dient, um dem EP immer wieder seine ‚demokratische Natur‘ im Kern abzusprechen, da es den europäischen Demos, besser: den europäischen Demoi22, nicht gemäß dem Prinzip „one man one vote“ abbildet.23 Zusammengefasst hätte man dann ein Eurozonenparlament, ein richtiggehendes Parlament für eine demokratische Euro-Union, das für das Budget der Euro-Union, also einen ‚Euro-Unionshaushalt‘, verantwortlich wäre, wobei dann auch der Budget-Zyklus 20

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Vgl. respektive die Reden der beiden anlässlich der Verleihung des Karlspreises für Wolfgang Schäuble; http://www.karlspreis.de/en/laureates/2012/speech_extract_by_wolfgang_schaeuble.html und für Jean-Claude Trichet: http://www.karlspreis.de/en/laureates/2011/speech_extract_by_jean_ claude_trichet.html (abgefragt am 29. 11. 2014). zur „heterarchischen Aufwertung“ der Bürger in der europäischen Demokratie vgl. auch Habermas, Jürgen: Warum der Ausbau der Europäischen Union zu einer supranationalen Demokratie nötig und wie er möglich ist, in: Leviathan, Heft 4/ 2014, S. 524–538. Nikolaidis, Kalypso: European Demoicracy and its crisis, in: Journal of Common Market Studies (JCMS) 51 (2013), S. 352. http://www.sant.ox.ac.uk/people/knicolaidis/00NicolaidisJCMS-2013 Demoicracy.pdf (abgefragt am 14. 09. 2014). Guérot, Ulrike: Europa zwischen Demokratie und Legitimationsdefizit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 6–7 2013, Februar 2013. http://www.bpb.de/apuz/154376/zur-zukunft-der-europaeischendemokratie?p=all (abgefragt am 10. 09. 2014).

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der Eurozone mit dem Legislativ-Zyklus dieses Eurounionsparlamentes synchronisiert werden müsste (was ja im derzeitigen EU-System nicht der Fall ist). Haftung (liability) und Rechenschaftspflicht (accountability) wären so wieder auf der gleichen legitimatorischen Ebene. Der Kernpunkt ist: Wir brauchen ein parlamentarisches Zweikammersystem in Europa, denn der Rat ist das zentrale Problem in der europäischen Politik. Ferner müsste dann der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) zum Ausgangspunkt für die Schaffung eines zukünftigen europäischen Finanzministeriums werden. Dies steht sogar schon – indirekt – im deutsch-französischen Vorschlag vom 31. Mai 2013 für eine „politische Union“, das einen Präsidenten für die Eurozone vorschlägt, also, wenn man so will, eine Art europäischen Finanzminister. Dann wären alle zentralen Elemente zusammen, um aus der Eurozone den Keim einer europäischen Regierung und diese mithin zu einer politischen Union zu machen: ein Parlament mit Legislativrecht, ein Budget, ein Finanzminister. Einer klar definierten Legislative (die nicht mehr zwischen EP, Kommission und Rat verteilt wäre) stünde der Kern einer klaren Exekutive gegenüber, die beide über ein Kontrollrecht miteinander in Beziehung stünden. Aus e­ iner zugleich intransparenten und oft technokratischen europäischen Governance-Struktur würde eine Government-Struktur mit klaren politischen Verantwortlichkeiten. Eine so konzipierte Euro-Union würde sich einer Demokratie mit klarer Gewaltenteilung im Montesquieu’schen Sinne nähern, wie es übrigens schon das Papier der elf europäischen Außenminister, bekannt als „Westerwelle-Report zur Zukunft der EU“, vom 17. September 2012 andenkt.24 Papiere, die derzeit schon im Europäischen Ratssekretariat zirkulieren und die das zukünftige Eurozonenbudget modellieren, kommen zu der Aussage, dass man schon mit 8–10 % (und sogar weniger: ab ca. 3%25) des BIP der Eurozone einen beachtlichen fiskalischen Puffer für die Eurozone hätte, mit dem man zum Beispiel die bereits erwähnte europäische Arbeitslosenversicherung finanzieren könnte, für die es jetzt ja auch schon eine offizielle Kommissionsvorlage gibt.26 Die Ökonomin Beatrice Weber di Mauro rechnet vor, dass man diese schon mit einem Eurohaushalt von nur ca. 3 % des BIP der Eurozone beginnen könnte.27 24 25 26

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http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Europa/Aktuell/120918-Zukunftsgruppe_Warschau_node. html (abgefragt am 19. 11. 2014). Eine Aufstockung der derzeitigen 0,9 % des EU-Haushaltes auf 3–4 % würde, grob gerechnet, in Zahlen ca. 450 Mrd. als Start für ein Eurounionsbudget bedeuten. Vgl. die Rede von EU-Sozialkommissar László Andor: Social dimension of the Economic and Monetary Union: What lessons to draw from the European elections? Lecture at Hertie School of ­Governance, Berlin, 13. Juni 2014. Vortrag in Frankfurt, Hallstein-Kolloquium, 25. März 2014. Vergleiche mit der US-amerikanischen Geschichte zeigen übrigens auch, dass sich der Anteil des federal budgets der USA über die 150 ­Jahre seit dem Bürgerkrieg auch nur sehr langsam von zunächst unter 10 % des BIP auf derzeit über 40 % – im Wesentlichen über Medicare und Medicaid – hochgeschraubt hat, und zwar hauptsächlich im Moment des „New Deal“. Gemeinsame Sozialsysteme sind also ein wichtiges Element, die wiederum über institution building (in erster Linie durch den Supreme Court) promoviert

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Damit in engem Zusammenhang steht natürlich das Thema der europäischen ­Steuern. Hier sollten wir langsam intellektuell redlich werden: Eine politisches Gemeinwesen ohne irgendeine Form der Steuerhoheit kann es nicht geben. Wir werden also auf die eine oder andere Art und Weise über die Steuerhoheit der Eurounion nachdenken müssen, auch wenn das politisch unbeliebt ist.28 Einen Einstieg dazu könnte man über eine Änderung von Art. 114, Absatz 2, EUV finden, den man ausdrücklich auf Steuern ausdehnen müsste, worüber ja auch diskutiert wird. In Frage kommt natürlich die Finanztransak­ tions­steuer, die ja nichts anderes ist als eine Mehrwertsteuer auf Finanztransaktionen, wie sie ansonsten auf alle Warentransaktionen erhoben wird. Andere Vorschläge avisieren eine Art ‚Kommunikationssteuer‘, zum Beispiel ein Tausendstel auf jedes Telefongespräch oder jede Email.

Europa als Bürgerunion Meine letzte Bemerkung gilt nun der Idee einer res publica europaea, der (Wieder-) Entdeckung der republikanischen Bürgeridee in Europa.29 Schon Immanuel Kant schrieb 1795: „Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate sollte republikanisch sein“.30 Kern ist, dass wir kein Europa der Staaten (‚Vereinigte Staaten von Europa‘), sondern ein Europa der Bürger (wofür der Begriff einer ‚Europäischen Republik‘ stehen könnte) brauchen. Zusammen mit Robert Menasse habe ich diese Idee in einem Manifest31 bereits angerissen. Und damit komme ich jetzt zu meinem letzten Punkt, nämlich Europa als Republik, Europa als politisches Gemeinwesen, als res publica europaea, wie es ja auch schon Bundespräsident Joachim Gauck formuliert hat.32 Wir würden viel dabei gewinnen,

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­ urden. Gleichzeitig haben die USA natürlich über die Federal Reserve ein monetary backstop (also w einheitliche Staatsbonds) und de facto auch eine überstaatliche, gemeinsame Bankenhaftung, also eine Bankenunion, an der die EU – trotz Fortschritten – derzeit noch mühsam bastelt. Zur Notwendigkeit einer Steuerunion und eines ‚right to tax‘ ausf. Hufeld, Ulrich: Staatsleistungen in der Eurozone, in: Bieling, Hans-Jürgen/Grosse-Hüttemann, Martin (Hrsg.): Europäische Staatlichkeit: zwischen Krise und Integration, VS-Springer Buchreihe Staat – Souveränität – Nation, hrsg. von Rüdiger Vogt und Samuel Salzborn, 2015, S. 135–157. Thiel, Thorsten: Republikanismus und die Europäische Union. Eine Neubestimmung des Diskurses um die Legitimität europäischen Regierens, Baden-Baden 2012. Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden, Zweiter Abschnitt, 1795 (Reclam-Ausgabe) Guérot, Ulrike u. Robert Menasse: Manifest zur Begründung einer Europäischen Republik, in: FAZ und Die Presse vom 24. 3. 2013. http://diepresse.com/home/presseamsonntag/1379843/Manifest-­ fur-die-Begrundung-einer-Europaeischen-Republik (abgefragt am 10. 09. 2014). Gauck, Joachim: Speech on the prospects for the European idea, February 2013. http://www. bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/EN/JoachimGauck/Reden/2013/130222-Europe.html;jsessionid=6D36AA095CD36559E9DEB306A4F3E644.2_cid379?nn=1891680 (abgefragt am 14. 09. 2014).

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Abb. 2: Postkarte The European Republic is under Construction, © Ulrike Guérot

­ uropa als Ausgestaltung einer europäischen res publica zu denken33, und ich möchte Sie E hier einfach etwas mitnehmen in diese Gedankengänge. Denn würden wir Europa wahrhaftig transnational demokratisch verstehen, also bei unserem „Europa denken“ mit dem nationalen Paradigma brechen, dann würden wir wahrscheinlich bemerken, dass viele unserer augenblicklichen EU-Politiken gerade durch das nationalstaatliche Paradigma, dem wir bei der europäischen Politikgestaltung immer noch anhängen, falsch designt und dadurch ineffizient sind. Wir hatten zum Beispiel hierzulande viele Monate eine Diskussion, dass vermeintlich hart arbeitende Deutsche faule Griechen finanzieren müssen; oder dass hart arbeitende Finnen für Italien zu zahlen haben. Denn auch die EU-Budgetverhandlungen – wer zahlt was für wen – verlaufen entlang nationaler Grenzen. Dabei ist nicht ganz Deutschland reich und nicht ganz Griechenland arm. So konnten wir während der Eurokrise nur ‚national‘ verhandeln, wer für was (oder wen) zahlt, aber nicht (transnational) politisch auflösen, ob reich oder arm, Arbeit oder Kapital für die Eurokrise zahlen muss. Gelitten haben letztlich der Hafen­ arbeiter in Griechenland genauso wie der Jugendliche in Spanien oder der Niedriglöhner und Kleinsparer in Deutschland – während sowohl griechische Reeder als auch deutsche Banken ‚verdient‘ haben.

Europa: transnational, regional und solidarisch Die an nationalen Grenzen entlanggeführte Diskussion ist problematisch. Wir machen daher immer wieder pfadabhängig ein falsches Politikdesign, vor allem im Bereich der Wirtschaftspolitik34, weil wir auch diese immer noch entlang nationaler Grenzen konzipieren. Dabei sind beispielsweise die Produktions- und Wertschöpfungsketten längst

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Bogdandy, Armin von u. Ulrike Guérot: Eine neue Leitidee – die europäische Republik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.9.2013. http://www.faz.net/aktuell/politik/staat-und-recht/­ europaeische-union-und-deutschland-eine-neue-leitidee-die-europaeische-republik-12581462.html (abgefragt am 10.09.2014). Zur konstitutionellen Ausgestaltung der Europäischen Union als Republik vgl. ausf. Bogdandy, Armin von: Die Konstitutionalisierung des europäischen öffentlichen Rechts in der europäischen Republik, in: Juristen Zeitung, 11/2005, S. 529–539. Prominent Streeck, Wolfgang: Gekaufte Zeit, Berlin 2013, der ausführt, dass diese Politik unter anderem aufgrund der Handelsungleichgewichte für die südlichen Länder Europas nicht gut und nicht sozial verträglich ist.

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transnational, allein der Begriff ‚nationale Volkswirtschaft‘35 ist innerhalb der Währungsunion problematisch geworden. Um es auf den Punkt zu bringen: Der deutsche BMW ist nicht deutsch. Im deutschen BMW sind französische Reifen, italienische Ledersitze oder slowenische Schrauben, und nur am Ende der Wertschöpfungskette kommt ein deutsches Produkt für den Exportmarkt dabei heraus. Es ist aber ein europäisches Produkt. Und die gleiche Durchlässigkeit, die gleiche transnationale Fluidität wie bei der Wertschöpfung bräuchten wir auch im steuerlichen und sozialpolitischen Bereich bzw. bei den Arbeitsbeziehungen, zumindest ansatzweise. Würde man eine solche Diskussion – jenseits des nationalstaatlichen Paradigmas – überhaupt erst einmal zulassen, dann könnte man zu einem ganz anderen Europa-­Diskurs und damit vielleicht zu neuen Denkansätzen für die europäische Politikgestaltung kommen, vor allem in der Wirtschaftspolitik. Man würde zum Beispiel feststellen, dass die immer noch nationalstaatlich gedachten (und damit auch national eingehegten) makro­ ökonomischen Politiken innerhalb der EU (Six-Pack, Two-Pack etc.) durch die die ‚nationalen Volkswirtschaften‘ innerhalb der Eurozone gleichsam in einen Wettbewerb gegen­einander antreten müssen, wenig zielführend sind. Denn das eigentliche Wirtschaftsgefälle liegt nicht zwischen Deutschland und Griechenland, sondern einerseits zwischen Zentrum und Peripherie, andererseits zwischen Stadt und Land, und zwar überall in Europa, und das hat sehr wenig mit nationalen Grenzen zu tun.36 Wenn wir an­fangen könnten, Europa ohne nationale Grenzen zu denken, wenn die nationalen Grenzen unser Denken nicht mehr strukturieren, dann könnten wir andere, transnationale Politiken entwickeln, die dieser Analyse besser gerecht werden. Es geht vielmehr um regionalen, als um nationalstaatlichen Ausgleich. Das zweite, wesentliche Wirtschaftsgefälle innerhalb Europas ist ein Zentrum-Peripherie-Gefälle, wobei Deutschland durch seine Mittellage wirtschaftlich begünstigt wird. Wir müssten die europäische Geographie viel mehr berücksichtigen als nationale Grenzverläufe. Eine Einteilung der EU/Eurozone in (städtische) Wachstumsregionen und (meist ländliche) strukturschwache Regionen jenseits nationaler Grenzverläufe könnte dann vielleicht zu einem neuen Design und Zuschnitt europäischer Wirtschaftspolitik führen, weil eben nicht mehr innerhalb von Ländergrenzen gedacht würde, in denen jeder Nationalstaat für seine Wirtschaftspolitik selbst verantwortlich ist und die einzelnen Länder – auf Kosten ihrer Bürger – untereinander wettbewerbsfähig sein sollen. Die ländlichen, strukturschwachen Regionen sind in allen Euro-Staaten wirtschaftlich rückständig, können aber unter Wettbewerbsbedingungen in einem nationalstaatlichen Rahmen nicht mehr angemessen gefördert werden. Dieser Staatenwettbewerb ist umso absurder, 35

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Es gibt Volkswirte, die sagen, dass man bei kleineren (osteuropäischen) EU-Staaten wie etwa Slowenien eigentlich gar nicht mehr von unabhängigen Volkswirtschaften sprechen könne; diese seien de facto ein ‚riesiger Zulieferbetrieb‘ für (meist deutsche) Exportunternehmen, vgl. z. B. Zoltán Pogátsa, „Hungary: From Star Transition Student to Backsliding Member State“, in: Journal of Contemporary European Research, December 2009. Ballas, Dimitris, Danny Dorling u. Benjamin D. Hennig: The Social Atlas of Europe, Bristol 2014.

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als dass die Euro-Staaten nicht einmal die gleichen sozialen und steuerrechtlichen Rahmenbedingungen haben – es ist also ein unfairer Wettbewerb! De facto wird ein Marktbzw. Unternehmenswettbewerb innerhalb des Binnenmarktes auf die Bürger verlagert bzw. zu Lasten der europäischen Bürger ausgetragen, wenn Unternehmen innerhalb des Binnenmarktes Steuer- und Lohnshopping machen. Gleiche Binnenmarktregeln müssten also um den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz der Bürger dieses Binnenmarktes ergänzt und erweitert werden, genau dies hieße politische Union. Man könnte eine regionale Zusammenschau der oftmals geographisch induzierten wirtschaftlichen Bedingtheit in den einzelnen ‚Landesteilen‘ der Eurozone erstellen, ohne sich – wiederum entlang nationaler Grenzen – im Rahmen der EU-Budgetverhandlungen darüber zu streiten, wie hoch die ‚Nettozahlerposition‘ Deutschlands im Verhältnis zu den Empfängerländern ist, bzw. wer welchen ‚nationalen‘ Rabatt bekommt. Wir müssen also lernen, uns Euroland als eine aggregierte Volkswirtschaft vorzustellen. Kurz: Die Euro-Union bräuchte eine Art volkswirtschaftliche Gesamtrechnung. Und dazu eine gemeinsame, originär europäisch finanzierte Strukturförderung, die nicht vorgängig durch ‚nationale‘ Haushalte kanalisiert zu werden braucht. Diskussionen zum Beispiel über den Tiefbahnhof in Stuttgart bekämen eine neue Dimension: Es ginge dann um ein europäisches Infrastrukturprojekt, nämlich um einen Drehkreuz-Bahnhof auf der Strecke von Paris nach Budapest. Mit dem Ausbau von Breitbandkabeln auf dem gesamten, auch ländlichen Territorium der EU verhielte es sich ähnlich: Es wäre eine gesamteuropäische, keine nationale Aufgabe mehr, die auch kaum irgendwo gelingt, zumal die derzeitigen EU-Strukturfonds auch noch einer personengebundenen Faktorkalkulation unterliegen, die dazu führt, dass Strukturfondgelder eher in bevölkerungsreichere Regionen und eben nicht in die dünn besiedelten Landstriche fließen, in denen die Infrastruktur bröckelt.37 Dies spiegelt sich dann politisch insofern als Problem wider, als dass populistische Parteien (z. B. die UKIP in Großbritannien oder der FN in Frankreich) in ländlichen Regionen besonders gut abschneiden.38 37

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Ein früherer CEO der Deutschen Telekom hat mir einmal in einem Gespräch gesagt, de facto ­brauche Europa z. B. für ICT (Information and Communication Technology)-Politik eine Art ‚europäisches Oligopol‘, um mit China mithalten zu können. Als Telekom könne man die Breitbandnetze nicht flächendeckend in ländlichen Regionen verlegen, das sei als Investition zu teuer und nicht rentabel und ginge nur über europäisch finanzierte Kredite. Man müsse dies etwa in der Art machen, wie zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Investitionen in die damaligen (staatlichen) Netze betrieben wurden: Post, Telegraphen, Wasser, Energie. Nur mit einer Liberalisierungs- und Deregulierungs­ agenda der EU-Kommission käme man hier nicht zum Ziel, da dies Billiganbieter (O2, Verizon etc.) begünstigen würde. Auf der Strecke blieben die strukturschwachen Regionen, in denen niemand in den Netzausbau investieren würde; und dann könne sich eben auch keine Industrie in diesen Regionen ansiedeln. Selbst Deutsche Bank Research (DB Research) hat jüngst das Stadt-Land-Gefälle als eigentliches Problem für Strukturprobleme ausgemacht; vgl. Heng, Stefan [u. a.]: Fortschritt braucht Breitband: Private Investitionen benötigen mehr staatliche Impulse, DB Research, 31. 7. 2014, wobei die Deutsche Bank leider den europäischen Kontext übersieht. Zu Frankreich vgl. Guérot, Ulrike: Marine Le Pen und die Metamorphose der französischen Republik, in: Leviathan, Heft. 2/2015, S. 139–174.

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Ausblick Es liegt an uns, uns in eine solidarische, transnationale, demokratische Europäische Republik hinein zu denken, anstatt – wie häufig im aktuellen Europadiskurs – nationale Volkswirtschaften und damit ihre Bürger gegeneinander auszuspielen. Exportvergleiche innerhalb einer Währungszone sind de facto unsinnig. Wir sollten die Exportstatistiken zwischen Spanien und Deutschland ebenso wenig vergleichen wie die zwischen dem Saarland und Hessen. Und würden wir diese Exporte vergleichen, dann wäre das Saarland – ähnlich wie Griechenland – auch nicht Exportweltmeister. Im Grunde bräuchten wir innerhalb der EU oder zumindest innerhalb der Eurozone eine Diskussion über eine Art ‚Zonenrandausgleich‘, wie wir sie in der damaligen Bundesrepublik hatten, als niemand verlangt hat, dass im Thüringer Wald das Herzstück der deutschen Wertschöpfungskette liegt, weil allen klar war, dass dies angesichts des Eisernen Vorhanges nicht sein kann. Jeder möchte schöne griechische Inseln als Urlaubsparadies und fruchtbare Olivenbäume und kein „Thyssen-Siemens-Krupp“ auf Kreta – was wiederum kein Freibrief für griechischen Steuerschlendrian und fehlende Katasterämter sein soll. Aber es kann und soll nicht jeder „Exportweltmeister“ innerhalb der Eurozone werden. Ein solches europäisches Bürgerkonzept, basierend auf dem allgemeinen politischen Gleichheitsgrundsatz und auf einer tatsächlich gleichen und gemeinsamen Staatsbürgerschaftsidee, eben der Idee einer res publica europaea, würde zum Beispiel auch be­deuten, dass es, ganz im Sinne gleicher Bedingungen bzw. Anspruchsgleichheit mit Blick auf die sozialen Sicherungssysteme innerhalb der Eurounion über eine europäische ­Kranken- und Arbeitslosenversicherung hinaus39 auch die gleichen bürgerlichen Steuern (z. B. Einkommensteuer, Vermögensteuer …) und – perspektivisch – den gleichen Sozial­ hilfesatz geben müsste. Das wiederum bedeutet nicht, einer europäischen Nivellierung der Lebens­verhältnisse das Wort zu reden: In Deutschland haben wir auch die gleiche Einkommensteuer und den gleichen Hartz-IV-Satz von Rügen bis München, obgleich die Lebensverhältnisse sicherlich nicht die gleichen sind; die sinnvolle (!) regionale Diffe­ renzierung könnte über andere Steuern (oder bei Hartz-IV über die Wohngeldzulage) stattfinden. Es geht tatsächlich um die Wirkungsmächtigkeit des Prinzips der politischen Gleichheit aller europäischen Bürger, ohne die ein politisches Gemeinwesen letztlich nicht vorstellbar ist! Die Idee einer res publica europaea, eines gemeinsamen europäischen Gemein­ wesens, verlangt also zunächst den gedanklichen Sprung in ein transnationales Denken, die Überwindung des nationalstaatlichen Paradigmas, und zwar sowohl beim institutionellen Design einer europäischen Demokratie wie auch beim wirtschaftlichen Design einer solidarischen Eurounion. Und dies verlangt eben eine andere Sprache, eine andere Begrifflichkeit, wenn wir über das Europa von morgen reden. Darum als Vorschlag der Begriff der Europäischen Republik! 39

Die allein für die Portabilität der sozialen Sicherungssysteme und damit für die berufliche Mobilität der Generation Erasmus unabdinglich sind!

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Es verlangt auch die Einsicht in die Tatsache, dass wir in Europa alle schon längst in transnationalen Lebens- und Sozialzusammenhängen stehen, denen wir aber auf der europäischen Ebene (sozial-)politisch noch nicht Rechnung tragen,40 die indes den europäischen Alltag heute ausmachen, vor allem für die nachrückende Erasmus-Generation: Ein französischer Student, der für ein Praktikum in einem deutschen Unternehmen eine deutsche Krankenversicherung braucht, weil die französische nicht reicht – das ist nicht Europa, das muss sich ändern! Lassen wir uns also als europäische Bürger in solchen Diskussionen nicht entlang ­nationaler Grenzen auseinanderdividieren! Wir brauchen die De-Homogenisierung von nationalen Diskursen, die entlang europäischer Bürgerinteressen artikuliert werden sollten. Denn Europa kann nicht funktionieren, wenn wir permanent das europäische Ganze in allen Politikbereichen – ganz egal ob Außenpolitik, Migrationspolitik, Datenschutz oder Energiepolitik – an den verschiedenen nationalstaatlichen (und oft Lobby-getriebenen) Eigeninteressen scheitern lassen, obgleich die oftmals gleichen Interessen der euro­ päischen Bürger, der europäischen constituante im Sinne einer res publica europaea, dadurch möglicherweise nicht angemessen ganzheitlich vertreten oder sogar beeinträchtigt werden.41 Dies wäre ein Ansatz, die nationalstaatliche Struktur der EU und damit das nationalstaatliche Paradigma im Denken zu überwinden, da genau dieses Paradigma im Grunde der größte institutionelle Hemmschuh auf dem Weg zu einem wirklich demokratischen und solidarischen Europa ist. Zentral für die Entfaltung dieses nach-nationalen, republikanischen Europa wäre die Verwirklichung des Prinzips der allgemeinen politischen Gleichheit aller europäischen Bürger42 – also Wahlrechtsgleichheit, Steuergleichheit und gleicher Zugang zu sozialen Rechten –, die für alle europäischen Bürger individuell erfahrbar wäre.43 Eine solche Republikanisierung und Demokratisierung der Europäischen Union lässt sich natürlich nicht über Nacht bewerkstelligen. Sie ist schwierig und langwierig. Indes ist es in europäischen Prozessen das Wichtigste, zukünftige Ziele zu Verschriftlichen und auf die „Zeitschiene“ zu setzen, wie Jacques Delors immer gesagt hat: 40

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Thomas Faist: „Zur transnationalen sozialen Frage: Soziale Ungleichheiten durch soziale Sicherung in Europa. Grenzübergreifende soziale Sicherung und Mobilität“, in Leviathan 2013/ Heft 4, S. 574–598. Dazu ausführlich: Brunkhorst, Hauke: Das doppelte Gesicht Europas. Zwischen Kapitalismus und Demokratie, Frankfurt/M. 2013, Kindle Edition Pos. 570ff. Dies müsste politisch „auf die Zeitschiene“ gesetzt werden, so wie man beim Maastrichter Vertrag den Euro auf eine „Zeitschiene“ von 10 Jahren gesetzt hat, die in drei konkrete Schritte geteilt war. Genauer geht es darum, den Begriff der Souveränität im Sinne von Jean Bodin wieder als individualisierbares Prinzip zu verstehen, so wie auch schon von Hans Kelsen beschrieben, anstatt – wie auch das Bundesverfassungsgericht – immer wieder den Begriff der Volkssouveränität zu bemühen, der eine ohnehin immer nur fingierte Annahme eines Kollektivsubjektes insinuiert, vgl. dazu Somek, Alexander: Kelsen lives, in: The European Journal of International Law 3 (2007), S. 409–451 und Somek, Alexander: From emancipation to empowerment, in: LSE „Europe in Question“ ­Discussion Paper Series 60/2013, London 2013, S. 12. http://www.lse.ac.uk/europeanInstitute/LEQS/LEQS Paper60.pdf (abgefragt am 13. 09. 2014).

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auch die Ausgestaltung der Währungsunion hat vom Werner-Plan 1972 bis zu ihrer Realisierung 2002 dreißig Jahre gebraucht und überdies einen historischen Auslöser, nämlich die deutsche Wiedervereinigung, gebraucht. Es wäre daher in dieser europäischen Krisen­ zeit und angesichts der populistischen Herausforderung wichtig, jetzt durch die Fest­ legung auf weitreichende normative Ziele – eben das Prinzip der politischen Gleichheit aller europäischen Bürger – mit Blick auf die europäische Demokratie ein klares Zeichen für eine demokratische und soziale Ausgestaltung Europas zu setzen, zumal derzeit bis September 2015 ganz aktuell über die Neufassung des Berichtes der vier europäischen Präsidenten zur Genuine Economic and Monetray Union (GMEU), insbesondere über die Ausgestaltung der politischen Union beraten wird.44 Die wahre Emanzipation Europas nach innen wie außen würde mit einem solchem Schritt erst wirklich beginnen – und zugleich eine Chance bieten, die Bürger in eine neue europäische Erzählung mitzunehmen!

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Vgl. Jean-Claude Juncker, in close cooperation with Donald Tusk, Jeroen Dijsselbloem and Mario Draghi: Preparing for Next Steps on Better Economic Governance in the Euro Area, Analytical Note, Informal European Council, 12 February 2015, http://ec.europa.eu/priorities/docs/analytical_ note_en.pdf

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Autorenverzeichnis Angelo Bolaffi, geb. 1946 in Rom, ist Professor emeritus für politische Philosophie an der römischen Universität „La Sapienza“ und Humboldt-Stipendiat. Von 2007 bis 2011 war er Direktor des italienischen Kulturinstitutes in Berlin. Rémi Brague, geb. 1947 in Paris, promovierte 1976 in griechischer Philosophie und war von 1990–2010 Professor für arabische Philosophie an der Universität Paris I. Von 2002–2012 war er zudem Professor für Philosophie der Religionen Europas an der LMU München. Tilman Brück, geb. 1970, promovierte 2001 in Volkswirtschaftslehre an der Universität Oxford und war Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin und Direktor des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI. Als Ökonom untersucht er die Wechsel­ wirkungen von Frieden und wirtschaftlicher Entwicklung. Derzeit leitet er das ISDCInternatio­nal ­Security and Development Center in Berlin. Andreas Eckert, geb. 1964, hat den Lehrstuhl für die Geschichte Afrikas an der Humboldt-Universität zu Berlin inne. Seit 2009 leitet er zudem das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Käte Hamburger Kolleg „Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive“. Jürgen Gerhards, geb. 1955, promovierte 1986 an der Universität Köln und habilitierte sich 1992 an der Freien Universität Berlin. Er hat den Lehrstuhl für Makrosoziologie an der Freien Universität Berlin inne. Zudem ist er Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Dieter Grimm, geb. 1937, ist Professor für Öffentliches Recht an der Humboldt-Universität zu Berlin und lehrt zudem an der Yale Law School. Von 1987–1999 war er Richter des Bundesverfassungsgerichts. Von 2001 bis 2007 stand er dem Wissenschaftskolleg zu Berlin als Rektor vor. Er ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Ulrike Guérot, geb. 1964, ist Politikwissenschaftlerin und arbeitete in verschiedenen Think-Tanks zu Fragen der europäischen Integration. Derzeit ist sie Direktorin des European Democracy Lab der European School of Governance Berlin und lehrt an der Viadrina Universität in Frankfurt (Oder).

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Autorenverzeichnis

Susanne Hauer, geb. 1984, studierte Europäische Ethnologie, Kunst- und Bildwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin, sie war Koordinatorin des Jahresthemas 2013|14 „Zukunftsort: EUROPA“ an der BBAW und ist derzeit als Projektleiterin für den Bereich Europa in der Allianz Kulturstiftung tätig. Hartmut Kaelble, geb. 1940, ist emeritierter Professor für Sozialgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sein Spezialgebiet umfasst vor allem die Sozialgeschichte Europas, insbesondere die Geschichte der sozialen Ungleichheit und des Wohlfahrtsstaats sowie die Krisen der europäischen Integration. Jürgen Kocka, geb. 1941, ist Sozialhistoriker, dessen Schwerpunkt auf der europäischen Geschichte vom 18. bis 21. Jahrhundert liegt. Er ist Professor (i.R.) für Geschichte an der FU Berlin und Permanent Fellow am Kolleg „Arbeit und Lebenslauf in globalgeschicht­ licher Perspektive“ der Humboldt-Universität zu Berlin. Zudem ist er Mitglied der Berlin-­ Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Claus Leggewie, geb. 1950, ist Professor für Politikwissenschaft und lehrte in Göttingen, Gießen, Wien, New York und Paris. Derzeit leitet er das Kulturwissenschaftliche Institut in Essen und das Centre for Global Cooperation Research in Duisburg. Christoph Markschies, geb. 1962, ist evangelischer Theologe, mit dem Schwerpunkt Geschichte des antiken Christentums. Er hat einen Lehrstuhl an der Humboldt-Universität zu Berlin inne und war von 2006 bis 2010 Präsident der Humboldt-Universität zu ­Berlin. Seit 2011 ist er Vizepräsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissen­schaften. Er war Sprecher des Jahresthemas 2013|14 „Zukunftsort: EUROPA“. Krzysztof Ruchniewicz, geb. 1967, studierte Geschichte und osteuropäische Geschichte an der Universität Wrocław, Saarbrücken und Marburg und promovierte 2000. Seit 2009 ist er Professor am Historischen Institut der Universität Wrocław. Zudem ist er Direktor des dortigen Willy Brandt Zentrums für Deutschland- und Europastudien. Günter Stock, geb. 1944, war bis 1983 als Physiologe an der Universität Heidelberg und danach über zwanzig Jahre für die Schering AG tätig, zuletzt als Mitglied des Vorstands. Seit 2006 ist er Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und seit April 2012 Präsident der All European Academies (ALLEA). Barbara Stollberg-Rilinger, geb. 1955, promovierte 1985 und habilitierte sich 1994 an der Universität Köln im Fach Geschichte. Seit 1997 ist sie Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Münster. Sie ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

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Holm Sundhaussen, geb. 1942, gest. 21. Februar 2015, studierte in München und habi­ litierte sich in Göttingen. Von 1999–2007 war er Professor für Südosteuropäische Geschichte am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin. Andreas Voßkuhle, geb. 1963, studierte Rechtswissenschaften in Bayreuth und München. Seit 1999 ist er Direktor des Instituts für Staatswissenschaft und Rechtsphilosophie der Universität Freiburg. 2010 wurde er zum Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts ernannt. Er ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.