Zerbrechende Zeit: Über den Sinn der Geschichte [2 ed.] 3643145195, 9783643145192


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German Pages [378] Year 2020

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Table of contents :
Vorwort zur zweiten Auflage
Inhalt
Vorwort
SINNFRAGEN
1. Geschichte als Sinnproblem
2. Historisches Erzählen
3. Über die Sichtbarkeit der Geschichte
4. Die Zukunft der Vergangenheit
SCHRITTE INS NIEMANDSLAND
5. Krise, Trauma, Identität
6. Auschwitz - die Symbolik der Authentizität
7. Die Historisierung des Nationalsozialismus
8. Goldhagens Irrtümer
9. Holocaust-Erinnerung und deutsche Identität
10. Historisch trauern - Idee einer Zumutung
11. Epilog
Literaturverzeichnis
Personenregister
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Zerbrechende Zeit: Über den Sinn der Geschichte [2 ed.]
 3643145195, 9783643145192

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Jörn Rüsen

Was ist unter dem Sinn der Geschichte zu verstehen? Und wie ist es um diesen Sinn bestellt, wenn es um belastende und schmerzhafte historische Erfahrungen geht?

Über den Sinn der Geschichte

2.

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Jörn Rüsen

Jörn Rüsen, Prof. Dr. Dr.h.c.mult., Senior Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen, em. Prof. Univ. Witten/Herdecke. 1997 bis 2007 Präsident des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen.

Zerbrechende Zeit Zerbrechende Zeit

Aktuelle Trends der Kulturwissenschaften drohen die Sinnkategorie zu schwächen, wenn nicht gar aufzulösen. Es bedarf also einer Rückbesinnung darauf, was Sinnbildung über historische Erfahrung ist. Dazu ist eine schonungslose Wahrnehmung der sinnwidrigen historischen Erfahrungen notwendig, die die vergangenen zwei Jahrhunderte im Übermaß gezeitigt haben. Die radikale Sinnwidrigkeit historischer Erfahrungen wird aufgegriffen und in die Sinnkategorie integriert.

978-3-643-14519-2

Lit

www.lit-verlag.de

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Geschichte: Forschung und Wissenschaft

Lit

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Jörn Rüsen

Zerbrechende Zeit

GESCHICHTE Forschung und Wissenschaft Band 71

LIT

Jörn Rüsen

ZERBRECHENDE ZEIT Über den Sinn der Geschichte

LIT

Die erste Auflage erschien 2001 beim Böhlau Verlag (Köln)

½ Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier entsprechend ANSI Z3948 DIN ISO 9706

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 2., erweiterte Auflage 2020 ISBN 978-3-643-14519-2 (br.) ISBN 978-3-643-34519-6 (PDF)

©

LIT VERLAG Dr. W. Hopf

Berlin 2020

Verlagskontakt: Fresnostr. 2 D-48159 Münster Tel. +49 (0) 2 51-62 03 20 E-Mail: [email protected] http://www.lit-verlag.de Auslieferung: Deutschland: LIT Verlag, Fresnostr. 2, D-48159 Münster Tel. +49 (0) 2 51-620 32 22, E-Mail: [email protected] E-Books sind erhältlich unter www.litwebshop.de

Vorwort zur zweiten Auflage Die Texte dieses Buches sind knapp 20 Jahre alt. Dass sie wieder aufgelegt werden, verrät Einiges über die Bedeutung der angesprochenen Themen. Im Wesentlichen handelt es sich um eine Analyse dessen, was unter Sinn der Geschichte zu verstehen ist und wie es um diesen Sinn bestellt ist, wenn es um belastende und schmerzhafte Vorgänge in der Vergangenheit geht. Ein Rezensent hat die Substanz dieser Texte mit folgenden Worten zusammengefasst: „Wie ist historische Sinnbildung, verstanden als Ortsbestimmung einer als Kontingent erfahrenen Gegenwart im Kontinuum der Zeiten, möglich angesichts der traumatischen Erfahrungen unserer Zeit, die aus dem Zeitzusammenhang herausfallen und damit die Sprache des historischen Sinns verstummen lassen?“1 Er hat damit den Kern meiner Überlegungen getroffen. Es geht in der Tat darum, die „Sprache des historischen Sinns“ nicht „verstummen zu lassen. Anlass zum Verstummen gibt es schon. In der Routine des akademischen Betriebs spielt eine Reflexion auf die Logik historischer Sinnbildung keine Rolle; sie wäre bloß ein Störfaktor. Denn die Routine setzt ihren Sinn immer schon voraus. Geriete der etwa in Zweifel und würde fragwürdig, wäre sie, die Routine, gestört. Die gleiche Rezension verrät auch so etwas wie eine Möglichkeit der Störung. Sie betont nämlich eine strikte Trennung zwischen fachlicher Kompetenz des historischen Denkens auf der einen Seite und ihre geschichtskulturelle Orientierungsfunktion auf der anderen.2 Eine solche Trennung freilich ist problematisch. Ohne Erkenntnisinteressen als Ausprägung eines praktischen Orientierungsbedürfnisses gäbe es keine Erkenntnis. Deren praktische Funktion kann in der Spezialisierung der historischen Forschung unsichtbar werden, ja geradezu verschwinden. Genau das aber dürfte unvermeidlich dazu führen, dass die Sinnfrage längerfristig wieder aufgeworfen wird. Die Geschichtsdidaktik hält grundsätzliche Sinnfragen für unhintergehbar; denn was sonst als Leben kulturell ermöglichenden Sinn liegt allem Lehren und Lernen von Geschichte zu Grunde? Andreas Körber dies in seiner Rezension zustimmend hervorgehoben: Er sieht in dem Bogen, den die Kapitel diese Buches von der Historik zur Didaktik geschlagen haben, ein überzeugendes Plädoyer dafür, „in der Schule den 1 2

Muhlack, Ulrich: Historische Zeitschrift 276 (2003), S. 103–104, zit. S. 103 Ebd. S. 104.

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Vorwort zur zweiten Auflage

Blick des Geschichtsunterrichts fort von den vermeintlich festen Stoffen und hin zu den Verarbeitungsprozessen und ihren Leistungen zu lenken“.3 Die Sinnfrage im Blick auf die Geschichte veraltet nicht. Sie stellt sich immer wieder, allerdings immer wieder neu, je nachdem, worauf sie sich richtet und welche aktuellen Zeiterfahrungen historische Orientierungsfragen aufwerfen. Was soll in den Blick kommen, wenn nach historischen Sinn gefragt wird? Natürlich die mentalen Operationen, in denen die Erfahrung der Vergangenheit aufgegriffen und so gedeutet wird, dass die zeitlichen Konturen der Gegenwart sichtbar und Handlungsabsichten und Leidensverarbeitungen, die in die Zukunft gerichtet sind, erfahrungsgestützt und damit auch kommunikativ verhandelbar werden. Als Inbegriff dieser Operationen gilt das historische Erzählen. Ihm ist ein Schlüsseltext dieses Buches gewidmet. Im Unterschied zur ausgedehnten akademischen Debatte über dieses Thema wird hier aber Wert darauf gelegt, nicht-narrative Elemente und Faktoren in Theorie und Didaktik der Geschichte zu berücksichtigen. Das ist insofern mehr als ein Spiel mit logischen Varianten, als vielmehr Denkweisen hervorgehoben und auf ihre Rolle im historischen Denken hin untersucht werden, die dessen Logik nicht folgen und doch in ihm eine Rolle spielen. Das gilt zum Beispiel für das nomologische Erklären und die Rolle von Gesetzmäßigkeiten in ihm. Damit wird das historische Denken anschlussfähig an Bereiche der wissenschaftlichen Erkenntnis, die nicht-narrativ organisiert sind. Dafür kommen viele Disziplinen und Subdisziplinen der Sozialwissenschaften infrage. Auch der Text über die Sichtbarkeit der Geschichte öffnet eine eigene interdisziplinärer Perspektive: Sie bringt den Bereich der Kunst in ein produktives Verhältnis zum historischen Denken. Sinnfragen sind immer auch kontextabhängig. Hier entscheiden Erfahrungen vom zeitlichen Wandel der menschlichen Lebensverhältnisse darüber, welcher historische Blick auf die Vergangenheit sinnträchtig ist. Die Eigenart und die Konstellation solcher Erfahrungen haben sich natürlich in zwanzig Jahren verändert; aber die fundamentalen Gesichtspunkte, nach denen der Sinn der Geschichte in diesem Buch ermittelt wird, sind bis auf einen im Wesentlichen dieselben geblieben. Dieser eine Gesichtspunkt ist die immer drängender werdende Frage nach der Natur im kulturellen Verständnis des Menschen und seiner Welt. Die mit ihr sich eröffnende Problemkonstellation wird nicht eigens angesprochen. Wohl aber wird indirekt darauf Bezug genommen. Und zwar dort, wo es darum geht, was Kultur als Sinnproduktion eigentlich ist. Die wachsenden Katastrophenerwartungen im Rahmen des aktuellen Klimawandels haben dazu geführt, dass in den intellektuellen Diskursen der Kulturwissenschaften heuzutage die Dominanz der Kultur im Verhältnis des Menschen zu sich selbst und zu seiner Welt verloren zu gehen droht. Die Natur droht denjenigen zu ver3

Körber, Andreas, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Jahresband 2003, S. 299–305, zit. S. 303.

Vorwort zur zweiten Auflage

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schlingen, den sie in Herders Worten „freigelassen“ hat.4 Der Stolz des Menschen, Meister und Besitzer der Natur zu sein (Descartes) ist weggeschmolzen wie Schnee von gestern vor der heißen Sonne von heute. Das Antlitz des Menschen im Spiegel der Erkenntnis hat dämonische Züge der Zerstörung angenommen, wenn es nicht gar, wie Foucault behauptet, ganz von der Fläche des geistigen Bemühens verschwunden ist, die Welt zu verstehen, – wie ein Gesicht im Sand, über das eine Meereswelle hinweg gegangen ist.5 Aktuelle Trends der Humanisierung der Kulturwissenschaften zu Gunsten naturaler Faktoren der Weltgestaltung in neuen Denkformen drohen die Sinnkategorie zu schwächen, wenn nicht gar aufzulösen. Naturwissenschaftliche Disziplinen wie die Genetik und Gehirnforschung dienen als Bezugsgrößen einer Renaturalisierung der Kultur. In das Verstehen dessen, was in und um den Menschen herum geschieht und in dessen Licht auch die Geschichte gedeutet werden muss, nisten sich strukturelle Defizite ein. Deutlich werden sie an den apokalyptischen Zügen, die die Zukunftserwartung bei vielen public intellectuals anzunehmen beginnt. Demgegenüber wird vernünftiges Denken als Medium überzeugender Sinnbildung abgewertet. Das kann soweit gehen, dass die Natur in mythischer Form zur neuen Sinnquelle erklärt wird.6 Dass dabei die desaströsen politischen Folgen einer solchen Re-Mythisierung der kulturellen Orientierung, wie sie das 19. und 20. Jahrhundert zur Genüge aufweisen, souverän ignoriert werden, verrät eine gefährliche Ahnungslosigkeit im Bereich des politischen Denkens. Es bedarf also einer Rückbesinnung darauf, was Sinnbildung über historische Erfahrung ist. Freilich verlangt dieser Rückbesinnung eine schonungslose Wahrnehmung der sinnwidrigen historischen Erfahrungen, die die vergangenen zwei Jahrhunderte im Übermaß gezeitigt haben. Der Holocaust und andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit haben die Sinnkategorie radikal infrage gestellt. Kann und sollte sie dennoch wieder ins Spiel gebracht werden? Um diese Frage geht es im Wesentlichen im zweiten Schwerpunkt dieses Buches. Historischer Sinn kann nur überzeugend unter der Bedingung konzipiert werden, dass die Sinnwidrigkeit historischer Erfahrungen radikal aufgegriffen und in die Sinnkategorie integriert wird. 4

5

6

„Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung; er stehet aufrecht. Die Waage des Guten und Bösen, des Falschen und Wahren hängt in ihm; er kann forschen, er soll wählen.“ (Herder, Johann Gottfried: Idee zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Text (Werke, ed. Wolfgang Pross, Band II,1). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2002, S. 135. „Der Mensch ist eine Erfindung, deren junges Datum die Achäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das baldige Ende. [ . . . ] Man kann „sehr wohl wetten, dass der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.“ [Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 462. Braidotti, Rosi: Jenseits des Menschen: Posthumanismus, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Ed.): Der Neue Mensch, Schriftenreihe Band 10247. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2018), S. 153–163.

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Vorwort zur zweiten Auflage

Die hierzu in diesem Buch vorgelegten Versuche stellen erste Schritte dazu klar. Weitere müssen erfolgen. Das gilt vor allem für die notwendige Vertiefung und Erweiterung der naturalen Elemente im menschlichen Kulturverständnis. Sie sollten freilich nicht auf Kosten des kulturwissenschaftlichen Potenzial des bisherigen hermeneutischen Denkens erfolgen, sondern als deren Verstärkung und Weiterentwicklung. Dass der Mensch inzwischen lernen muss, als Mensch auch für die Natur seiner Welt Verantwortung zu übernehmen, treibt ihn ja gerade nicht aus dem Diskurs über die Kultur im kulturwissenschaftlichen Denken hinaus sondern stärkt die Position des Humanum im geistigen Umgang mit sich selbst und seiner Welt ganz erheblich. Verantwortung ist schließlich ein kultureller Begriff, der im Bereich naturwissenschaftlichen Denkens nichts zu suchen hat. Es geht also darum, unser Verständnis dessen, was Kultur ist, auf die naturalen Bereiche des menschlichen Lebens auszudehnen, in denen die Natur als bloßes Herrschaftsobjekt des Menschen betrachtet und ihre konstitutive Rolle im Leben des Menschen missachtet wurde Dieses Buch ist dem Versuch gewidmet, Kultur als Geschehen von Sinnbildung und dessen Resultate zu begreifen und im Umgang mit Zeiterfahrungen zur Geltung zu bringen, die sich auf den ersten Blick als sinnwidrig darstellen. Mit dieser Absicht dürften seine Überlegungen auch für die gegenwärtigen Diskurse der Kulturwissenschaften über ein Verständnis der menschlichen Welt anschlussfähig sein.7 Ich danke dem L IT Verlag (Verleger Dr. Wilhelm Hopf und Cheflektor Dr. Michael J. Rainer) für die großzügige Chance, diesen transdisziplinär orientierten Band wieder verfügbar zu machen, und bringe gern meine Impulse genau jetzt ein. Bochum, im März 2020 Jörn Rüsen

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Zum Themenkomplex historischer Sinnbildung siehe auch: Rüsen, Jörn: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft. Köln: Böhlau 2013; ders.: Geschichte denken – Erläuterungen zur Historik. Wiesbaden: Springer 2020.

Meinen Enkelkindern Jessica und Fabian gewidmet in der Hoffnung, daß meine Vergangenheit über den Bruch der Zeit in ihre Zukunft eingeht.

„Die Zeit war zersplittert, ich erlebte sie nicht als Kontinuum, sondern als Glas­ scherben, die die Hand verletzen, wenn man versuche, sie zusammenzufügen." Ruch Klüger

INHALT

1

Vorwort

SINNFRAGEN

1. Geschichte als Sinnproblem

Sinnloser Sinn der Geschichte Neue Fragen nach altem Sinn Was heiße Sinn? Konstruktion oder Vorgabe? Die Sinnhaftigkeit des historischen Erzählens Zwei Ausblicke: Vernunft und negativer Sinn

2. Historisches Erzählen

Narracivismus Rationalität Ein Paradigma Über den Gebrauch des Paradigmas Fragen Erfahren Deuten Darstellen Orientieren Der Status des historischen Sinns Erzählen des Nichc-Erzählbaren Vernunft

7 7

15

21

24 29 38 43 43 51 62 68 76 81 88 92 95 98 100 104

3. Über die Sichtbarkeit der Geschichte Die Fragestellung Das historische Manko der sinnlich präsenten Vergangenheit Die ästhetische Konstitution historischen Sinns Ästhetik und historischer Sinn

4. Die Zukunft der Vergangenheit

107 107 112 117 126

131

SCHRITTE INS NIEMANDSLAND

5. Krise, Trauma, Identität Herausforderungen Krise - Geschichte - Identität Trauma Geschichtsbewußtsein Identität und historisches Ereignis Historisierung des Traumas?

6. Auschwitz - die Symbolik der Authentizität Probleme Funktionen Konflikte Trauer Trauerarbeit Sinn

7. Die Historisierung des Nationalsozialismus Die Problemlage Die Dimensionen des Historischen Die metahistorische Bedeutung des Holocaust Was heißt historische Authentizität? Kontinuität und'Aneignung

145 145 148 152 157 164 171 181 181 189 199 203 208 212 217 217 228 237 242 250

Deutsche Identität Historischer Sinn zwischen 'Mythos' und Wissenschaft

256 261

8. Goldhagens Irrtümer

263

9. Holocaust-Erinnerung und deutsche Identität Die Generationenkette Beschweigen und Exterritorialisieren Moralische Distanzierung Historisierung und Aneignung

279 279 286 291 294

10. Historisch trauern - Idee einer Zumutung Trauerarbeit Generation Nation Menschheit

301 303 310 316 319

11. Epilog Viel Lärm um das Nichts der Zeit im Wechsel des Jahrtausends Die runden Zahlen Die Ordnung der Zeit im Wechsel der Dinge Wendezeiten Wir selbst im Bruch der Zeit

325 325 327 329 332

Literaturverzeichnis

337

Personenregister

355

Vorwort Die folgenden Texte wurden teilweise in ersten Fassungen schon veröf­ fentlicht und sind zur Aufnahme in dieses Buch überarbeitet worden; teil­ weise sind sie unveröffentlicht. Sie stehen in einem inneren Zusammen­ hang, der durch zwei Hinsichten bestimmt ist: die Frage nach dem Sinn der Geschichte und nach den Möglichkeiten und Grenzen, die Katastrophen­ erfahrungen des 20. Jahrhunderts historisch zu verarbeiten. Im Zentrum der Überlegungen steht im Unterschied zu früheren Arbeiten weniger die Geschichtswissenschaft, sondern der umfassendere Bereich der Geschichts­ kultur, von dem sie nur einen Teil ausmacht. Das sichere Gerüst diszi­ plinärer Methodik ist im cultural turn der Humanwissenschaften ein wenig ins Wanken geraten, und die Schreckenserfahrungen des 20. Jahrhunderts, die der Jahrrausendwechsel deutlich in den Blick gerückt hat, stellen eine Herausforderung an alle Bereiche und Praktiken des historischen Denkens dar, der nur durch eine Wendung ins Grundsätzliche entsprochen werden kann. Es ist zum Allgemeinplatz geworden, dass wir unser Urvertrauen in die geschichtliche Entwicklung verloren haben, die uns hervorgebracht hat. Die heftigen Aversionen der intellektuellen Avantgarde gegenüber Meister­ erzählungen und den mit ihnen verbundenen Ansprüchen auf Identitäts­ bi.ldung und historische Orientierung stehen für diesen Verlust. Aber weder ist die Geschichte zu Ende noch können wir uns jenseits ihrer selber ver­ stehen, geschweige denn mit anderen umgehen. Es kommt also darauf an, Möglichkeiten und Grenzen historischer Sinnbildung neu auszuloten. Das ist die Absicht dieses Buches. Es ist mir eine angenehme Pflicht, mich bei all denen zu bedanken, die mir bei der Erstellung der Texte und ihrer Bearbeitung geholfen haben. Zunächst und vor allem danke ich lngetraud Rüsen für ihre kritische Lek­ türe der Texte und viele fruchtbare Verbesserungsvorschläge; dankbar bin ich Jan-Holger Kirsch, Christian Geulen und Matthias Dornhege für zahl­ reiche Hinweise und Anregungen; lna Rateniek für eine erste redaktionelle Bearbeitung und Maria Klauwer für ihre tatkräftige Erstellung eines leser-

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Vorwort

liehen Textes aus unleserlichen Vorlagen. Besonders nachdrücklich möchte ich mich bei Sebastian Manhart für seine sorgfältige, kritische und hilfrei­ che Redaktion des ganzen Buches bedanken. Eine dankbare Erinnerung schulde ich dem Studenten der Universicy of Zululand in Südafrika, der mich nach einem Vortrag über die Menschen­ rechte in Vergangenheit und Zukunft in der Diskussion mit beein­ druckendem Ernst gefragt hatte, ob man nicht angesichts der Apartheid­ Erfahrung die Vergangenheit vergessen müsse, um eine tragfähige Zukunftsperspektive für ein neues Südafrika zu gewinnen; denn die Ver­ gangenheit stehe doch für das Gegenteil einer solchen Zukunft. Er hat mich mit dieser Frage wirklich in Verlegenheit gebracht. In welchem Ver­ hältnis zur Vergangenheit der Apartheid wird die Zukunft ihrer Überwin­ dung plausibel? Es kann nur ein Verhältnis sein, das T äter und Opfer tei­ len können, ja müssen, um die erstrebte Zukunft für sich gemeinsam zu gewinnen. Damals kam ich darauf, daß das nur eine gemeinsame Trauer über die Vergangenheit sein kann, in der die Gemeinsamkeit fehlte. Diese Antwort fiel mir ein, als ich an einer von Jonathan Webber und anderen einberufenen Konferenz in Auschwitz 1993 erleben musste, wie über den Umgang mit den Relikten heftig gestritten wurde. Ich empfand den Streit angesichts des historischen Geschehens, von dem die Relikte zeugen, als unangemessen, ja als unerhört. Er zeugte nach meiner Einschätzung von einem Mangel an gemeinsam geteilter Trauer. Ein eigener Dank gebühre dem Zentrum für interdisziplinäre For­ schung der Universität Bielefeld. Hier gab mir im akademischen Jahr 1994/95 die Forschungsgruppe „Historische Sinnbildung - Interdiszi­ plinäre Untersuchungen zur Struktur, Logik und Funktion des Geschichts­ bewußtseins im interkulturellen Vergleich" die Gelegenheit, meine Arbei­ ten im Gebiet der Geschichtstheorie und Geschichtskultur voranzutreiben und in der angenehmen und anregenden Atmosphäre des Hauses zur Dis­ kussion zu stellen. Schließlich bin ich auch dem Kulturwissenschafclichen Institut in Essen zu großem Dank verpflichtet. Die in ihm üblichen inspi­ rierenden Diskussionen und Debatten haben mich immer wieder über die Zwänge hinweg, die die Leitung des Hauses mit sich bringen, zur eigenen akademischen Arbeit motiviert. Die dabei unvermeidlichen Zeitnöte und Frustationen wurden durch die Kollegialität der Fellows und das Engage­ ment der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter moderiert. Ich habe die von

Vorwort

3

mir geleitete Studiengruppe „Sinnkonzepte als handlungsleitende Orien­ tierungssysteme" als Forum einer kritischen, anregenden und fruchtbaren Diskussion quer durch alle Fachgrenzen hindurch erfahren und bin ihren Mitgliedern für ständige intellektuelle Herausforderung und Anregung dankbar. Bochum, im September 2000

J.R.

SINNFRAGEN

,,Geschichte und Sinn gehören 2.usammen. Geschichce ist daher eine z.uriefst menschliche Angelegenheit." JanAssmann

1. Geschichte als Sinnproblem 1

„Der Sinn ist eine nicht-existierende Entität und unterhält sogar ganz besondere Beziehungen zum Unsinn." Gilles Deleuze2 „Das Problem ist nicht zu wissen, ob die Geschichte einen Sinn hat oder nicht, ob wir uns dazu herablassen können, in ihr Partei zu ergreifen oder nicht; wir stecken in jedem Falle bis zum Hals drin." Jean-Paul Sarcre3

Sinnloser Sinn der Geschichte Kaum etwas könnte unzeitgemäßer sein, als über den Sinn der Geschichte nachzudenken und ihn gar noch mit der Vernunft zu verschwistern. Bei­ des scheint so gründlich diskreditiert, daß jeder Versuch, sie als Kategorien des historischen Denkens (wieder) zu Ehren zu bringen, aussichtslos, also: sinnlos und unvernünftig erscheint. Wenn überhaupt etwas hinsichtlich der Frage nach dem Sinn der Geschichte vernünftig (im Sinne von 'allge­ mein aus guten Gründen zustimmungsfähig') erscheint, dann nur eine negative Antwort. Sinn und Vernunft scheinen nur wechselseitig auf Kosten des anderen rehabilitierbar.

1 Erste Fassung veröffentlicht unter dem Titel: Was heißt Sinn der Geschichte? {Mir einem Ausblick aufVernunft und Widersinn), in: Klaus E. Müller; Jörn Rüsen (Eds): Historische Sinn­ bildung - Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien. Reinbek 1997, S. 17-47. Gilles Deleuze: Logik des Sinns. Frankfurt am Main 1993, S. 13. 2 3 Jean-Paul Sartre: Antwort an Albere Camus, in: Les temps modernes. August 1952, zitiert bei Rossana Rossanda: Same und die politische Praxis, in dies.: Über die Dialektik von Konti­ nuität und Bruch. Frankfurt am Main 1975, S. 155-196, zit. S. 157.

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Sinnfragen

Die Geschichtstheorie ist schon seit langem damit befaßt, Vorstellungen vom Geschichtsverlauf und von der historischen Erkenntnis zu kritisieren und als unhaltbar herauszustellen, die sich mit den beiden Begriffen ver­ binden. Sinn knüpft an die Tradition der Geschichtsphilosophie an, in der die historische Erinnerung durch die Kategorie einer übergreifenden, ten­ denciell alle Kulturen und Zeiten umfassenden Entwicklung deutend ver­ arbeitet wurde; und Vernunft meinte das Vermögen des Menschen, einer solchen Entwicklung in der kulturellen Bewältigung seiner Welt und sei­ ner selbst kognitiv mächtig zu sein. 'Sinn' heiße, daß die zeitliche Erstreckung der menschlichen Welt im Schema von Subjektivität gedeutet wird:4 Veränderungen erscheinen so, als ob sie sich einer Absicht verdankten, als ob sie von einem zielgerichteten Willen bewirkt worden wären. Der Sinnbegriff hängt aufs engste mit der Absicht und Zielgerichtetheic zusammen, die menschliches Handeln als Aktivität eines denkenden und reflektierenden Subjekts auszeichnet. 'Sinn' hat daher eine teleologische Konnotation. Geschichte wird als zielgerichtet verstanden; die zeitlichen Veränderungen in der Vergangenheit werden im Lichte einer Richcungsbesrimmung gesehen und repräsentiert, an die aktu­ elles Handeln absichtsvoll anknüpfen kann. (Insofern auch Leiden sinnbe­ stimmt ist - und sei es auch nur in der quälenden Warum-Frage - kann es zur Beantwortung dieser Frage an die gleiche Richtungsbestimmung anknüpfen.) Die Erfahrung der Vergangenheit wird der Absicht auf Zukunft angepaßt und umgekehrt. 'Die' Geschichte als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft übergrei­ fendes Zeitganzes der menschlichen Welt erscheint als Synthese von Erfah­ rung und Erwartung. Die Zukunft öffnet sich in den normativen Impul­ sen der gegenwärtigen Lebenspraxis, die sich ihrerseits aus der Erfahrung vergangener Lebenspraxis und ihrer welcverändernden Kraft speisen. Die Zeit, die in den akkumulierten Erfahrungen der Vergangenheit zum siche­ ren Bestand der historischen Erkenntnis geronnen ist, verflüssige sich in den Willensimpulsen aktuellen Handelns, das durch eben diese Erkennt­ nis über die Ausrichtung seiner Absichten in die Zukunft aufgeklärt ist.

4 Vgl. dazu Günter Dux: Wie der Sinn in die Welt kam, und was aus ihm wurde, in: Klaus E. Müller, Jörn Rüsen (Eds): Historische Sinnbildung - Problcmscellungcn, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien. Reinbek 1997, S. 195-217.

Geschichte als Sinnproblem

9

Dieser Sinn ist ontogenetisch in frühen Subjektfixierungen fundierc5 und hat historisch eine religiöse Wurzel. Judentum, Christentum und Islam luden die innerwelcliche Kontingenz unverfügbarer Ereignisse mit der Sub­ jektqualität eines weltmächcig handelnden Gottes auf. Dieser Gott ging dann in der Neuzeit in die Subjektqualität einer Menschheitskonzeption ein: die Einheit der Geschichte und die zeitliche Richtung des Weltverlaufs in und durch menschliches Handeln wurde anthropologisch so gedeutet, daß alle einzelnen menschlichen Handlungen ihre sinnhafte Richtungsbe­ stimmtheit aus dem Ganzen der Geschichte gewinnen konnten, als Teil einer dynamischen zeitlichen Entwicklung der Menschheit. Das, was traditionell unter 'Sinn der Geschichte' verstanden wurde (und auch heute noch darunter verstanden wird),6 war eine Subjektqualität des zeitlichen Wandels der menschlichen Welt, die als eine und selbe die realen zeiclichen Prozesse der Menschenwelt in der Vergangenheit, die Dynamik absichcsgesceuercen Handelns oder einsichtsvollen Leidens in der Gegen­ wart und die normative Ausrichtung erwarteter und beabsichtigter Zukunft durchwalcec. Sie wurde gerade nicht mit der Bezeichnung 'Sinn' belege, sondern mit inhalclichen Attributen zum Ausdruck gebracht. Theo­ logisch hieß sie beispielsweise providencia Dei oder göcclicher Wille und konnte zu komplexen heilsgeschichtlichen Theorien ausgearbeitet werden, etwa als Weltalterlehre oder als 'typologischer' Verweisungszusammenhang

5 Vgl. dazu vor allem Günter Dux: Die Logik der Weltbilder. Sinnstrukturen im Wandel der Geschichte. Frankfurt am Main 1982. 6 Gegen diesen Begriff wird immer wieder eingewendet, daß er typisch deutsch sei, die Frage nach ihm als Schlüsselfrage der Geschichtstheorie daher einen kaum verallgemeinerungsfähigen Provinzialismus darstelle. Ich halte diesen Einwand für unberechtigt. 'Sense' im Englischen z.B. kann durchaus ähnliche kategoriale Bedeutung annehmen. So fragt z.B. das Journal of Educa­ cional Psychology 1917, S. 317: "What is ehe historic sense? How can it be developed?" (Zit. bei Samuel S. Wineburg: lnrroduction: Out of Our Past and lnro Our Fucure - The Psycholo­ gical Study of Learning and TeachingHisrory, in: Educational Psychologist 29,2 (1994), S. 5760, zit. S. 57. - Original: J. C. Bell: The Historie Sense, in: Journal of Educarional Psychology 5 (1917), S. 317-318). Ein weiterer Befund: Gaea Leinhardt (u.a.): A Sense ofHistory, in: Edu­ cational Psychologist 29,2 (1994), S. 79-88. Vgl. auch die Redewendungen von Donald P. Spence: "ehe tendency to make sense of one's life to oneself and eo one's fellows" - "eo make sense out of previously random happenings"- "make what sense we can from emerging findings" (Donald P. Spence: Narrative Truch and Hiscorical Truch. Meaning and lncerprecacion in Psy­ choanalysis. New York 1982, S. 21, 24).

10

Sinnfragen

verschiedener, bereits bedeutsamer Zeiten.? Anthropologisch tränkte sie die historische Erfahrung mit der Vorstellung einer allen zeitlichen und kulturellen Verschiedenheiten gemeinsamen Menschennatur oder Ver­ n unftqualicäc menschlicher Lebensgestaltung. Geschichtsphilosophisch trat sie in der Form einer kategorialen Bestimmung eines Zeitganzen der menschlichen Welt auf, beispielsweise als „Idee der Menschheit und der Kultur"8 , als Vernunft in zeitlicher Erstreckung, als Fortschritt, Entwick­ lung, dialektischer Prozeß, oder sie wurde - im Schattenbild der Skepsis, des Zweifels und der Enttäuschung - mit negativen Begriffen belegt: Fall, Rückschritt, Niedergang etc. Schließlich trat sie im metaphorischen Gewande unterschiedlicher historiographischer Schlüsselbegriffe auf, bei Ranke etwa im Bilde von der „Hieroglyphe" Gotces.9 Auf diese Weise sinnhaft aufgebaut, stand die Welt der Geschichte einem herrschaftsbestimmten Zugriff offen: Sie konnte durch glaubende Teilhabe an ihrer religiösen Substanz oder in säkularen Formen durch Erkenntnis angeeignet und praktisch bearbeitet werden. Man konnte im Namen der Geschichte oder der ihr konstitutiv unterstellten Kraft der Weltveränderung handeln und sich auf sie als Legirirnarionsinscanz in unterschiedlichen, ja gegensätzlichen strategischen Konstellationen beru­ fen. Ins Telos der eigenen Lebenspraxis eingegangen, stattete sie die Selbst­ behauptung der Subjekte mit der kulturellen Kraft aus, die in der Identifi­ kation mit weltbewegenden Mächten liegt. Mit dieser Qualifikation wurden 'Meistererzählungen' des historischen Denkens konzipiert und organisiere. Sie verankerten die kollektive Iden­ tität ihrer Autoren und Adressaten in den T iefen der geschichtlichen Ent­ wicklung. Die Konstellation von Erinnerungen, Einstellungen, Erfah­ rungen, Absichten und normativen Gesichtspunkten, die Zugehörigkeit bestimmt, wurde zum stimmigen Bild einer zeicübergreifenden geschicht­ lichen Entwicklung geformt. In der Vorstellung einer Entwicklung konn-

7 Vgl. dazu Wilhelm Koelmel: Typik u. Atypik. Zum Geschichtsbild der kirchenpolitischen Publi7.istik (11.-14. Jahrhundert), in: Speculum Historiale. Festschrift Johannes Spoerl. Mün­ chen 1965, S. 277-302. 8 Leopold von Ranke: Über die Epochen der neueren Geschichte, historisch-kritische Aus­ gabe, ed. Theodor Schieder u. Helmut Bcrding (Aus Werk und Nachlaß, Bd. 2). München

1971. s. 80. 9 Ders.: Das Briefwerk, ed. Walther Peter Fuchs. Hamburg 1949, S. 18.

Geschichte als Sinnprob/em

11

ten die Betroffenen sich selbst als konform mit dem Gang der menschli­ chen Welt erblicken. 'Die' Geschichte gewann ihr zeitliches Profil als lang­ fristige Erstreckung eines Großsubjektes (Christenheit, Menschheit, Nation, Abendland etc.) im übergreifenden Entwicl.:�· i;,-·�.:.,:-: ...

Abb. 19: AJcxandra Müllcr-Joncschcwa: ,,Mi11cldeucschc Rcnaissancdandschafc" ( 1975, Radierung. 34 x 48 cm)

die Abwesenheit jeder Sinnbildung zum Ausdruck bringen, heißt: Schwei­ gen. In der Tat, Schweigen wäre ein Spiegel der Sinnlosigkeit, des Ver­ zehrrseins beredter Worte gegenüber der Unermeßlichkeit des Leidens und der Enrsetzlichkeit des Tuns. Schweigen aber führte unvermeidlich zum Vergessen. In der Passivität des Nicht-Ausdrucks endet die Aktivität der Erinnerung. Gibt es aus diesem Dilemma einen Ausweg? Ein Blick auf die moderne Kunst zeigt, daß es eine sinnhafte Gestaltung von Sinnlosigkeit, eine ein­ drucksvolle Anwesenheit der Abwesenheit von Sinn gibt. Ich denke an Kafkas Romane, aber auch an Werke der bildenden Kunst wie z.B. Anselm Kiefers „Ordnung der Engel" (1983/84), der mit dem Titel Ordnung die Sinnfrage stellt, und in der Darstellung eine ne gative Ordnung sinnenfäl­ lig werden läßt.

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Sinnfragen

Abb. 20: Ansclm Kiefer: ,,Die Ordnung der Engel" ( 1983/84, 330 x 555 cm, The An lnsrirnrc of Chicago)

Eine ähnliche Symbolkraft entfaltet der Entwurf von Peter Eisen man und Richard Serra für das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas" in Ber­ lin, vor allem in seiner ersten Fassung. 25 Es ist eine heftig umstrittene Frage, ob das Medium des Ästhetischen überhaupt für die Symbolisierung traumatischer Erfahrungen infrage kommt. Wenn ihm grundsätzlich eine versöhnende Funktion zukomme, die Kunst gar nicht anders kann, als mit der Schönheit ihrer Darstellungen das Dargestellte ins Licht einer rezipierbaren Bedeutsamkeit zu tauchen, dann in der Tat raube das Medium selber - schon vor aller Gestaltung- der historischen Erfahrung den Schrecken des nicht Versöhnbaren. Jede gelun­ gene ästhetische Darstellung hat ihren Sinn im Gelingen selber, auch wenn es um dieAbwesenheic von Sinn geht. Aber eben diese Abwesenheit soll ja gegenwärtig gehalten und eingängig sichtbar gemache werden. Darin sehe ich eine Leistung moderner Kunst.

25 Ure Heimrod, Günccr Schlusche und Horst Seferens (Eds): Der Denkmalssrreir - das Denk­ mal? Die Deb:me um das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas". Eine Dokumentation. Berlin 1999, S. 881-882.

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Abb. 21: Peter Eisenmann und Ricl1ard Serra „Denkmal für die ermordeten J uden Europas"26

Ein vergleichbares hisroriographisches Paradigma negativen Sinns wüßre ich nicht zu nennen. Aber die beredte Überzeugungskraft solcher Kunst­ werke hat einen Preis: Ihre Sinnbildung ist über-geschichrlich. Sie bezieht sich in der Sprache ihrer Symbole nicht auf ein spezifisch historisches Ereig­ nis. (Dieser Bezug ist rein kontextuell und wird nicht selber darstellend zum Ausdruck gebracht.) Eine Hiscorisierung dieser Sinnbildung steht aus. Wie sie zu leisten wäre, ist unklar. Dazu fehlr es an einer theoretisch ent­ wickelten und empirisch gesättigten Ästhetik des Historischen. Für eine solche Ästherik der Sinnbildungsleisrungen des Geschichtsbe­ wußtsein wäre es wichtig, mehr darüber zu wissen, wie auf der Ebene visu­ eller Kommunikation narrativ eine Brücke zwischen differenten Zeiten geschlagen wird. Welche ästhetischen Strategien solcher historischen Sinn­ bildung gibt es? Es wäre nützlich, dazu eine empirisch gesättigte Typolo26 Aus: Die Zcic 21. 11. 1997, S. 64.

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gie zu entwickeln. Ich möchte aber dazu keine Vorschläge machen, sondern auf der Ebene von Grundproblemen einer Ästhetik des Geschichtsbewußt­ seins eine letzte - und wie ich finde: die wichtigste - Frage aufwerfen.

Ästhetik und historischer Sinn Die spezifisch-historische Sinnbildungsleistung des Geschichtsbewußtseins - also der narrative Brückenschlag zwischen den Zeiten - erfolgt immer mit der Vorstellung eines übergreifenden Zeitverlaufs, der einen bestimmten Sinn hat. Ein solcher Sinn kann z.B. Tradition sein, die Dauer einer bewährten Lebensordnung, die überzeitliche Geltung einer Regel oder anderes.27 Wir kennen solche für die historische Sinnbildungsleiscung des Geschichtsbewußtseins konstitutiven Sinnkriterien des Zeitverlaufs zumeist nur in der Form kognitiver Konstrukte, wie sie von der Geschichts­ philosophie in elaborierter Form ausgearbeitet worden sind. Es handelt sich um historische Kategorien, die aus Zeit Sinn machen, d.h. den Bereich genuin historischer Erfahrung von anderen Erfahrungsbereichen abgren­ zen, einen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umgreifenden Zeitzu­ sammenhang entwerfen und die Orientierungsfunktion der historischen Erinnerung regeln. 28 Die entscheidende Frage für die Ästhetik des Ge­ schichtsbewußtseins lautet nun: Gibt es auch genuin ästhetische Sinnkri­ terien mit einer solchen kategorialen Bedeutung? Diese Frage rückt Kunst und Geschichte in ein neues und substantielles Verhältnis. Betrachtet man Kunstwerke als historische Dokumente, dann haben sie zumeist ihren Kunstcharakter, ihre ästhetische Qualität, die mit der klassi­ schen Bezeichnung 'Schönheit' ausgedrückt wird, - außer sich. Die Kunst­ geschichte pflegt dann, wenn sie diesen Kunstcharakter hervorhebt und auslegt, Geschichte nur als Rahmenbedingung ikonologisch und ikono27 Ich eiwähne hier einige Fundamentaltypen historischer Sinnbildung. Vgl. dazu Jörn Rüsen: Die vier Typen des historischen Erzählens, in: ders.: Zeit und Sinn. Strategien historischen Denkens. Frankfurt am Main 1990, S. 153-230. 2 8 Vgl. dazu Jörn Rüsen: Der Teil des Ganzen. Über historische Kategorien, in: ders.: Histo­ rische Orientierungen. Köln 1994, S. 150-167.

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graphisch zu thematisieren, nicht jedoch als etwas, was mit der inneren äs­ thetischen Substanz bildlicher Kunstwerke - in den Worten Max lmdahls: mit ihrer lkonik29 - zu tun hätte. Diese Substanz wird vielmehr fast immer meta-historisch thematisiert, also als etwas, was in der Begegnung zwi­ schen Kunstwerk und Betrachter sich jeweils synchron konstituiert.3° Die entscheidende Frage nach dem spezifisch historischen Sinnpoten­ tial ästhetischer Präsentationen zielt darauf, ob und wie sich diese ästheti­ sche Qualität eines Kunstwerkes, eines Gebäudes, einer Skulptur, eines Bil­ des, seine „Leistung ikonischer Sinndichte" 3l (Max Imdahl), selber als Sinnquelle für historische Zusammenhänge, für einen narrativen Brücken­ schlag des Auges, erschließen läßt. Daß diese Frage nicht aus der Luft gegriffen ist, sondern der inneren Logik ästhetischer Sinnbildung selber entspricht, geht schon daraus hervor, daß sich diese dem Kunstwerk eigentümliche Sinnbildung ganz analog zu derjenigen des Geschichtsbe­ wußtseins als Transformation von Zeit ins Sinn analysieren läßt. Max lmdahl hat dies am Beispiel Giottos im Einzelnen dargelegt: ,,Die künstle­ rische Bewältigung der sichtbaren Welt ist die Überführung des Zufälligen, Kontingenten in ein Notwendiges, sie ist grundsätzlich eine Form von Kontingenzbewältigung. " 32 Hinzuzufügen ist: genau dies - Kontingenz­ bewältigung - ist Geschichte auch. Max Imdahl: Giotto. Arena-Fresken. Ikonographie, Ikonologie, Ikonik. München 1980. Vgl. Michael Bockemühl: Die Wirklichkeit des Bildes. Bildrezeption als Bildproduktion. Rochko, Newman, Rembrandt. Stuttgart 1985. - Gottfried Boehm hat das hier aufgeworfene Problem präzise so beschrieben: "Der Widerspruch spitzt sich zu: entweder zielt die kunsthi­ storische Analyse auf den Kunstcharakter des Werkes, dann schwindet ihr der historische Kon­ text, oder sie beschreibe es als Elemenr historischer Bedingungen, dann unterbleibe die Bestim­ mung der künstlerischen Struktur" (ders.: Kunst versus Geschichte: ein unerledigtes Problem. Zur Einleitung in George Kublers 'Die Form der Zeit', in: George Kubier: Die Form der Zeit. Anmerkungen zur Geschichte der Dinge. Frankfurt am Main 1982, S. 7-26, zit. S. 13. 31 Imdahl (Anm. 4), S. 95. 32 Ebd. S. 17; vgl. auch ebd. S. 54 zu Gioccos malerischen Umgang mit Zeit: ,.Das Zugleich von Noch und Nicht-mehr und das Zugleich von Schon und Noch-nicht sind optisch in eins gesetzt. Diese optische Koinzidenz von Noch, Nicht-mehr, Schon und Noch-nicht hat selbst­ verständlich narrative Implikationen, jedoch kann ein narrativer Text diese Koinzidenz nicht lei­ sten." Damit ist eine nur der (bildenden) Kunst eigentümliche Weise des Erzählens, der funda­ mentalen Sinnbildungsoperacion des Geschichcsbewußcseins, angedeutet. Sie müßte als genuinhiscorisch expliziert und nicht schon vorab mit dem Etikett des Ästhetischen versehen und dabei zugleich in eine vermeintliche Synchronie der ästhetischen Erfahrung enthistorisiert werden.

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Worum es gehe, hat Stephen Bann mit folgender Bemerkung über ein bildlich dargestelltes Ereignis, nämlich Goyas bekannte Erschießungsszene: „Der dritte Mai 1808" von 1814, angedeutet: "lt posesses ics own vircual power, its own capacicy eo eradiate ehe narrative sequence within which ic is replaced. "33 Ähnliches ließe sich am eingangs erwähnten Bild von Manec zeigen. Es hebt die historische Faktizität des Dargestellten in der Darstel­ lung selber auf Der faktische Augenblick wird bei Manet transformiert, und dadurch, so möchte ich vermuten, für historischen Sinn disponiere. Dies ließe sich etwa in der Darstellung des Qualms und des Feuers über den Gewehren im Einzelnen zeigen. Man könnte von einer Transsubstan­ tiation des dargestellten zeitlichen Augenblicks durch Äschetisierung spre­ chen. An diese Äschecisierung müßte angeknüpft werden, wenn der Augen­ blick historische Qualität gewinnen, also wenn Geschichtsbewußtsein den dargestellten Augenblick narrativ mit Früherem und Späterem in einen sinn- und bedeutungsvollen Zeitzusammenhang bringen soll, der tenden­ ziell auf unsere Gegenwart und deren Zukunft gerichtet ist. Die durch Kunst selbst geleistete Transformation des Augenblicks in bedeutsame Zeit müßte in der historischen Sinnbildung über die Vergangenheit aktualisiert werden, der das Kunstwerk angehört. Dann würde die Zeit des Kunstwerks nicht nachträglich von uns im narrativen Bogen vom Früherem zum Spä­ teren, von ihr zu uns, sinn- und bedeutungsvoll, sondern sie würde sich hermeneutisch vom Kunstwerk her selber mit Sinn erfüllen. Wie immer dies im einzelnen interpretatorisch geleistet werden kann, entscheidend ist das Erfordernis, Kunst als Quelle für Geschichte dort ernst zu nehmen, wo die Geschichte am geschichtlichsten ist, wo die Erfahrung der Vergangenheit Sinn und Bedeutung für die Gegenwart gewinnt. Ein genuin historischer Umgang mit der ästhetischen Qualität von Kunstwer­ ken {auch mit einer problematischen und kricikbedürfrigen Qualität) in den Prozeduren der historischen Sinnbildung würde erst die ästhetische Dimension der Geschichtskultur unserer Zeit wirklich zur Geltung brin­ gen. Ästhetik würde in der Geschichtskultur nicht, wie es immer wieder und fast naturwüchsig-zwangshaft geschieht, zur bloßen Gestaltung nicht­ äschetischen, also politischen oder kognitiven historischen Sinns verkom33 Stephen Bann: The invention of history. Essays on ehe representacion of ehe past. Manche­ ster 1990, S. 172.

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men. Die Kunst gewänne als Kunst spezifisch historischen Eigensinn.34 Die historische Erfahrung würde ästhetisch bereichert und die Erinne­ rungsarbeit des Geschichtsbewußtseins gewänne an Perspektive und kul­ turellem Reichtum. Clio würde als Muse aus dem Schlaf, in den sie die Verwissenschaftli­ chung der Historiographie versetzt hat, erwachen. Die kognitive Dimen­ sion der Geschichtskultur, für die die Geschichte als Fachwissenschaft steht, brauchte sich vom Verwirrspiel der erwachten Muse nicht betäuben zu lassen, sondern könnte sich mit ihr vermitteln, so daß für Clio das gilt, was die Musen dem Dichter Hesiod sagten, als sie ihn wachgeküßt hatten: ,,Sehe, wir reden viel Trug, auch wenn es wie Wirklichkeit klänge, sehe aber, wenn wir gewillt, verkünden wir lautere Wahrheit. «35

34 Das heiße nun freilich nicht, daß sie nicht auch politisch und kognitiv kritisiere werden könnte und müßte, etwa dann, wenn sich Ästhetik mit Entpolitisierung und lrracionalisierung der Geschichtskultur verbindet. Gottfried Korff wittert bei einer solchen Kritik sofort eine "grimmige" Einschränkung des historischen Sinnpotentials ästhetischer Kommunikation in didaktischer Absicht (Gottfried Korff und Martin Roch: Einleitung, in: dies. (Eds): Das histo­ rische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik. Frankfurt am Main 1990, S. 27). Mir geht es jedoch nur darum, den unuennbaren Zusammenhang von kognitiven, politischen und ästhe­ tischen Faktoren der historischen Erinnerung nicht aus dem Auge zu verlieren, auch und gerade dann nicht, wenn es um die Ästhetik des Historischen geht. Vgl. Jörn Rüsen: Was ist Geschichts­ kulrur?, in: ders.: Historische Orientierung (Anm. 27), S. 211-234. 35 Hesiod: Theogonie, in: Sämtliche Werke, deutsch von Thassilo von Scheffer. Bremen 1965, S. 4.

4. Die Zukunft der Vergangenheit !

„Wer sich nicht erinnert, den bestrafe die Zukunfc."2

Die gegenwärtige Debatte um die Zukunftsperspektiven moderner Gesell­ schaften im Globalisierungsprozeß ist durch eine erstaunliche Haltung gegenüber der Geschichte geprägt: Zukunft erscheint als Abschied vom Bisherigen. Die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft scheint entscheidend davon abzuhängen, ob und inwieweit sie sich von ihrer Vergangenheit lösen kann. Diese Art, Zukunft zu entwerfen, ist überaus problematisch. Ja, die Vergangenheitsblindheit der Zukunftskonstrukteure ist dazu angetan, Zukunftsunfähigkeit im Namen ihres Gegenteils zu erzeugen. Um deutlich zu machen, worum es geht, möchte ich ein interessantes Phänomen aus dem Ruhrgebiet erwähnen. Hier bündeln sich bekanntlich die Zukunftsprobleme einer Industriegesellschaft. Sie haben sogar drama­ tische Formen angenommen. In diesem Zusammenhang kommt der Tat­ sache eine symptomatische Bedeutung zu, daß das Ruhrgebiet 100 histo­ rische Museen hat. Von diesen hundert wurden etwa die Hälfte in den letzten zwanzig Jahren, also in der Krisenzeit der industriellen Umstruktu­ rierung, gegründet. Zusätzlich erhielten neunzig Prozent der alten, schon vor 1960 bestehenden Museen nach 1980 eine völlig neue Konzeption.3 Diese Tatsache spricht für sich, wenn man bedenkt, daß im Unterschied zu vergleichbaren Regionen im Ausland die Wandlungskrise des Reviers in einer beeindruckenden gemeinsamen Anstrengung von Unternehmern, 1 Zuerst veröffentlicht in: Universitas 53 (1998), Nr. 621, S. 228-237. 2 Spruch auf einer Postkarte, die auf der Ausstellung „Feuer und Flamme" über 200 Jahre Ruhrgebiet (1994) im Gasometer Oberhausen zu kaufen war (Feuer & Flamme - 200 Jahre Ruhrgebiet: Eine Ausstellung im Gasometer Oberhausen. 22. Juli bis 1. November 1994, Essen 1994). 3 Vgl. Heinrich Theodor Grüccer: Museumshandbuch Ruhrgebiet. Die historischen Museen. Essen 1989.

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Gewerkschaften und Regierung bewältigt wird. Die Museumsgründungen signalisieren, daß diese Leistung eine kulturelle Seite hat. Zur Krisenbe­ wältigung als Zukunftssicherung einer Industrieregion gehört eine kultu­ relle Mobilisierung der Vergangenheit. Ohne sie ist eine akzeptable Zukunft nicht zu haben. Das ist es, was zur Debatte um die Zukunft gehört: Wir können die wirtschaftlichen und sozialen Zukunftsprobleme unserer Gesellschaft nicht ohne eine kulturelle Anstrengung lösen, die der Vergangenheit gewidmet ist. Warum Museen - oder allgemeiner: warum Geschichte und Erinne­ rung, wenn es um Zukunft geht? Fragt man Historiker, wenn Zukunft­ sprobleme auf der Tagesordnung stehen? Gefragt sind eher die Fachleute für prognosefähiges Wissen, und das sind selten Kulturwissenschaftler. In der älteren deutschen Debatte über die Funktion der Geisteswissenschaf­ ten wurde das auch durch eine bestimmte Rollenzuweisung festgehalten: Sie hatten lediglich eine Kompensationsfunktion4 . Man schnitt ihre Zuständigkeit von den realen Veränderungsprozessen von Industrie und Wirtschaft ab. Die Zukunft der Gesellschaft im Modernisierungsprozeß wurde wie ein Schicksal hingenommen und deren Protagonisten und Experten überlassen. Man behielt die Vergangenheit für sich und nahm sie als Reservoir einer Kultur in Anspruch, mit der Modernisierungsschäden wenn nicht geheilt, so doch erträglich gemacht und entsprechende Zukunftsängste durch historische Erinnerung gebannt werden sollcen. Der Schwindel, der die modernen Gesellschaften im raschen Wandel aller Lebensverhältnisse überfällt, sollce dadurch beruhigt werden, daß die ver­ schwindende eigene Welt und mit ihr die Zugehörigkeit zu einer iden­ titätsträchtigen Kultur im Bilde ihrer Vergangenheit festgehalten wird. Ein solches Bild bedient die Sehnsucht nach Dauer des Humanen, nach Ste­ tigkeit und Vertrautheit des Eigenen, aber es kompensiert eben nur und orientiert nicht.5 4 Vgl. dazu Odo Marquard: Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften, in: ders.: Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien. Stuttgart 1986, S. 98-116; ders.: Verspätete Moralistik. Bemerkungen zur Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften, in: Kursbuch 91 (1988), s. 13-18. 5 Vgl. dazu Jürgen Mittelmaß: Glanz und Elend der Geisteswissenschaften. Oldenburg 1989; Uwe Steiner: .,Können die Kulrurwissenschaften eine neue moralische Funktion beanspru­ chen?" Eine Bestandsaufnahme, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 71 (1997), S. 5-38.

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Diese Kompensationsthese verstellt den Blick auf die Bedeutung von Kultur und Kulturwissenschaften für die Entwicklung gesellschaftlich trag­ fähiger Zukunftsperspektiven. Die kulturellen Kräfte, die für die Gestal­ tung handlungsleitender Zukunftsperspektiven unerläßlich sind, werden nämlich kompensatorisch abgelenkt, ja lahmgelegt. Zumindest werden sie um Stimulantien der Erinnerung betrogen, ohne die die Zukunft zur Spielwiese technokratischer Entwürfe im Streit der Spezialisten für pro­ gnosefähiges technisches Wissen und Nebenfolgenabschätzung wird. Zukunft allein ist nur die halbe Wahrheit. Menschliches Leben orien­ tiert sich in der Zeit grundsätzlich und immer im Wechselspiel von Erwar­ tung und Erinnerung.6 Mit der Erinnerung fehlt der Zukunft genau das kulturelle Element lebendiger Vergangenheit, das sie zu unserer Zukunft, also als handlungsleitende Zeitperspektive selber allererst lebendig macht: Es fehlt das Stück unseres Selbst, unserer Identität, ohne das jede Zukunft an Sinnleere verkümmert. Wenn wir nicht das, was wir geworden sind, in die Zukunft hinein mitnehmen können, in die hinein wir unser Leben führen wollen, dann verlieren wir uns in der Zukunft und haben sie nicht. Im schlimmsten Fall hat sie uns, ohne daß wir uns selber in ihr haben kön­ nen. Dann aber wäre es keine Zukunft für uns, sondern eher gegen uns. Eine vor wenigen Jahren in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ver­ öffentlichte und diskutierte Umfrage ? in Deutschland kann deutlich machen, was ich mit diesem Stück von uns selbst meine, das in einen akzeptablen Zukunftsentwurf hineingehört. Die übergroße Mehrheit unse­ rer Landsleute hat ein negatives Zukunftsbild. Das verbindet sich mit der Einsicht, durch aktive Veränderung der eigenen Lebensumstände eine andere Zukunft ermöglichen, wenn nicht gar herbeiführen zu müssen. Diese Aktivität wird aber zumeist als technische Anpassung an die Zwänge der Globalisierung angesehen und nicht mit den Wertvorstellungen ver­ bunden, denen man sich verpflichtet fühlt und die darüber entscheiden, ob und inwieweit eine Lebensform akzeptabel oder gar erstrebenswert ist. Überlebenswille und Sinnverlangen sind ganz erheblich auseinandergetre-

6 Vgl. dazu Jörn Rüsen: Historische Orientierung. Über die Arbeit des Geschichcsbewußt­ seins, sich in der Zeit zurechtzufinden. Köln 1994. 7 Renate Köcher: Nach der Vertreibung aus dem Paradies. Die zukunftsträchtige Verbindung von Effizienz und Humanität ist noch nicht gefunden, FAZ 12. November 1997, S. 5.

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ten. Humane Akzeptanz-Bedingungen erscheinen als Fortschrittsbremse. Reformbedarf, Sparzwänge, Strukturwandel, Standortfaktoren, Bildungs­ ziele, Globalisierung sind eines. Sie gelcen als Sachzwänge der Zukunftsge­ staltung, denen zweckrational entsprochen werden muß. Wertüberzeu­ gungen, Zugehörigkeitsgefühle und Lebensqualitätsvorstellungen sind davon abgespalten und werden einer Sinnrationalität überantwortet, in der Zukunft keine stimulierende, höchstens eine abschreckende und entmuti­ gende Orientierungsgröße abgibt. Die sinnverbürgenden Ideen, denen Max Weber die weichenstellende Kraft kultureller Deutung ökonomischer und politischer Interessen zugesprochen hatte,8 scheinen ordos im Gefüge der Zeit geworden zu sein, angesiedelt im Nirgendwo einer imaginierten verlorenen Heimat. Hier liegt ein Kulturproblem ersten Ranges. Man kann die eine, die humane Seite gegen die andere des Expertendiskurses der Ökonomen aus­ spielen und gerät damit leicht und schnell auf Bestsellerlisten.9 Aber das verschärfe nur das Problem und löst es nicht. Was ist schon humane Herzwärme auf Kosten zweckrationaler und erfahrungsgestützter Pragma­ tik wert? Aber was ist auf der anderen Seite die Pragmatik ohne stimulie­ rende Sinnvorstellengen wert? Die Kluft zwischen beiden muß überwun­ den, sie müssen in eine einzige Zukunftsperspektive verschmolzen werden. Das ist eine genuin kulturelle Leistung, die auch die Kulturwissenschaft und ihre gesellschaftlichen Aufgaben betrifft. Nur wenn diese kulturelle Leistung erbracht wird, - nur dann können wir wirklich von einer Zukunft reden, in der eine neue Ökonomie handlungsstimulierend und konsens­ fähig ist. Also: ohne eine Erinnerung, mit der wir uns selbst in die Zukunft mitnehmen können, haben wir keine. Nur aus Erinnerung ist Zukunft lebensfähig und motivierendes und mobilisierendes Element unserer Gegenwart. Gegen diesen Grundsatz wird immer dann verstoßen, wenn man eine ganz andere, eine neue Zukunft will, in der die Unzulänglichkeiten der Ver­ gangenheit ein für allemal überwunden werden. Das geschieht zumeist aus einem Grundsatz oder einer Einsicht heraus, von der her sich Zukunft

8

Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. l, 2. Aufl. Tübingen 1922,

s. 252.

9 Viviane Forrescer: Der Terror der Ökonomie. Wien 1997.

Die Zukunft der Vergangenheit

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ganz neu, ja gewisserweise uranfänglich entwerfen läßt. Das können poli­ tische Utopien sein, in denen ein neuer Mensch vorgesehen wird, der erst der wahre und eigentliche Mensch sein soll. Der alte, uns gewohnte Mensch, der wir ja in gewisserweise selber sind, muß dann um dieser Zukunft willen beseitigt werden. So hatte seinerzeit Pol Pot verkündet,, ... wir werden einen 'Neuen Menschen' schaffen, der keine Schlacken der alten Gesellschaft in sich trägt. Er sollte ein unbeschriebenes Blatt sein. "10 Wir kennen die desaströsen Folgen solcher utopischer Zukunftsentwürfe. Vor diesen Utopien sind wir gewarnt. Wir sollten aber auch sanften Uto­ pien gegenüber kritisch sein, die die Kreide der Rationalität gefressen haben und oft gar nicht als Utopien sondern als Methoden ehrenwerter Wissen­ schaften auftreten. Sie entwerfen den neuen Menschen in der Gestalt eines von allen politischen und sozialen Hemmnissen freigesetzten homo oeco­ nomicus, dessen entfesseltes Eigeninteresse im freien Wechselspiel mit den zugleich entfesselten Eigeninteressen aller anderen das höchste Gut eines dem Allgemeinwohl dienenden erfolgreichen Wirtschaftens ermöglichen soll. In beiden Fällen - natürlich gibt es noch andere Spielarten solcher Zukünfte - wird Vergangenheit abgeschnitten, zum Überwundenen abge­ tan, und dabei zerbricht der innere Zusammenhang zwischen Erinnerung und Erwartung, zwischen Erfahrung und Entwurf; ohne ihn wird Zukunft bodenlos und problematisch. Andererseits ist nicht jede Erinnerung zukunftsfähig oder gar zukunfts­ trächtig. Wir alle kennen Formen und Inhalte des Geschichtsbewußtseins, mit denen es der Zukunft den Rücken kehrt und damit ihre Perspektive verengt oder gar abschneidet: Nostalgie, verbohrtes Festhalten am Bisheri­ gen, Traditionalismus, Romantik, Fundamentalismus. Hier wird die kul­ turelle Kraft der Erinnerung benutzt, um die zeitliche Entwicklungsdyna­ mik moderner Gesellschaften stillzustellen oder umzukehren, und damit liefert man sich ihr nur hilflos oder widersinnig aus. Worauf kommt es also an? Ich möchte die Vergangenheit, die wir um der Zukunft willen brauchen, mit dem Bild der Startsituation eines Wett­ laufs charakterisieren. Früher starteten die Hundertmeterläufer im Stehen 10 Rede Pol Pocs, ausgestrahlt von Radio Phnom Penh am 30.09.1977, (zitiert in: Freitag, Nr. 46, vom 7.11.1997, S. 10).

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ohne Startlöcher oder Startblöcke. Später kniete man nieder und richtete sich in Startlöchern oder an Startblöcken auf, um schneller zu werden. Damit will ich sagen, daß wir eine kulturelle Erinnerungsleistung brau­ chen, in der die Vergangenheit ein solches Widerlager für Zukunft abgibt. Was heißt das? Wie könnte und sollte historisch gedacht und argumentiert, das kulturelle Gedächtnis gestaltet und die historische Orientierung unse­ rer Gesellschaft ausgerichtet werden, damit sich unserem Handeln und Denken eine Zukunft öffnet, die wir als unsere eigene akzeptieren können? Ich möchte diese Frage beantworten, indem ich vier Bedingungen für zukunftsfähiges Erinnern aufzähle. 1. Die erste Bedingung besteht darin, nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Historische Erinnerung und Geschichtsbewußtsein müssen der Zukunft den Boden bereiten. Sie nehmen eine - in den Worten Jan Assmanns - ,,fundierende Funktion"11 wahr. Damit ist gesagt, daß ohne tragfähige Traditionen Zukunft abgeschnitten ist. In die Zukunft hinein muß durch bewußte historische Erinnerung Bewährtes, d. h. die errungene Substanz der eigenen Lebensform, erneuert werden. Ich nenne zwei Bei­ spiele: die Tradition menschen- und bürgerrechtlicher Regelung politischer Herrschaft und die Standards sozialer Sicherung menschenwürdiger Exi­ stenzbedingungen, die vor allem durch die Arbeiterbewegung errungen wurden. Von alleine halten sich solche Traditionen nicht durch. (Das zeigt z.B. die Leichtfertigkeit, mit der kürzlich das in Deutschland politisch bewährte Prinzip des Föderalismus aus tagespolitischen Gründen in Frage gestellt wurde.) Vermeintlich selbstverständliche Prinzipien der politischen Kultur, des sozialen Lebens und der wirtschaftlichen Existenz korrodieren oder lösen sich gar auf, wenn man sie nur als selbstverständlich ansieht und sich ihrer nicht durch die kulturelle Praxis öffentlich wirksamer historischer Erinnerung versichert. Nein, solche Traditionen müssen bewußt lebendig erhalten und zukunftsfähig gemacht werden. 2. Ist die Trasse zukunftsfähiger Vergangenheit als Boden der Gegenwart begehbar, muß die Gegenwart auf Zukunft hin geöffnet werden. Das heißt schlicht, daß man nicht in den Startlöchern stecken oder an den Start­ blöcken kleben bleibt. Hierhin gehört meines Erachtens das erstaunliche 11 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992, S. 76.

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Phänomen, daß auch die bestbegründeten Vorschläge zur ökologischen Umsreuerung der Wirtschaft bei ersichtlicher Katastrophenträchtigkeit ihrer bisherigen Praxis wenig öffentliche Motivationskraft entfalten. Offen­ sichtlich ist die aktuelle Wirkung der Vergangenheit des industriellen Fort­ schritts so stark, daß sie nur sehr schwer in eine anderen Zukunft hinein überschritten werden kann. Die Vergangenheit muß also so erinnert werden, daß sie einen auch los­ läßt. Mit anderen Worten: Die Zukunftsfähigkeit einer Kultur hängt von ihrer Leistung des Vergessens ab. Nicht vergessen können heißt, die Ver­ gangenheit als niederdrückende Last auf den Schultern zu spüren, die einen an der Fortbewegung hindert. Ich meine damit weniger die ungeheure Masse des von den historischen Wissenschaften produzierten Wissens über die Vergangenheit. Davon geht ja nur ein Bruchteil in die kulturelle Ori­ entierung einer Gesellschaft ein. Freilich sollten es sich die Wissenschaften angelegen sein lassen, sich an der Selektion und Bestimmung der prakti­ schen Orientierungskraft ihres Wissens aktiv zu beteiligen. Vieles von dem, was geschah, wird von selbst vergessen, weil es nie zur Bedeutungshöhe erinnerungswürdiger Tatbestände aufgestiegen war. Um dieses Vergessen geht es nicht, sondern darum, die in der kollektiven historischen Erinne­ rung eingelagerten Tatbestände, also die noch lebendige Geschichte auf ihre Zukunftsfähigkeit hin zu überprüfen und sie den geänderten Lebens­ umständen der Gegenwart entsprechend umzuschreiben. Sedantage feiern wir nicht mehr, und die Erbfeindschaft mit den Franzosen haben wir als historische Leitlinie nationaler Politik vergessen. Auch solches Vergessen geschieht nicht von selbst, sondern muß durch aktive Deutungs- und Umdeutungsleiscungen des Geschichtsbewußtseins tätig vollzogen werden. Eine andere Vergessensleiscung ist schwieriger. In allen Geschichtskul­ turen gibt es eine Vergangenheit, die weh tut, weil sie dem Wertsystem widerspricht, mit dem sich die Menschen der Gegenwart selber einschät­ zen und ihre historische Identität bilden. Solche Vergangenheiten werden von den Betroffenen gerne beschwiegen und in gravierenden Fällen ver­ drängt. Ich denke an den Nationalsozialismus in der deutschen, an die Kollaborationszeit in der Geschichte unserer Nachbarn, an den Stalinismus und den Gulag in der russischen, an die Massaker in China in der japani­ schen Geschichte. Als beschwiegene und verdrängte ist die Vergangenheit ja gerade nicht vergessen, sondern sie führt ihr dunkles Eigenleben als Stör-

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faktor für Zukunftsentwürfe und als unbeabsichtigte Einwirkung auf deren Verwirklichung. Man könnte davon sprechen, daß V ölker und Nationen mit schweren Verdrängungslasten sich eine wichtige Zukunftsdimension abschneiden, weil sie in der Schule der historischen Erinnerung sitzenge­ blieben sind, und so lange sitzen bleiben müssen, bis sie die Lektion der Vergangenheit nachgeholt haben, die im Beschweigen und Verdrängen nicht vergehen will. Die kulturelle Leistung, die an und mit dieser Vergangenheit vollzogen werden muß, läßt sich mit den Worten von Hinderk Emrich als „erin­ nerndes Vergessen"l2 bezeichnen. Das meint, daß sie nicht durch irgend­ welche Tricks in den unbewußten Zügen des eigenen Selbst ausgetilgt, son­ dern bewußt gemacht und mit den kulturellen Möglichkeiten historischer Sinnbildung durchgearbeitet werden soll. Man wird dadurch von ihr frei, insofern sie die Zwänge des Verleugneten ausübt. Sie verschwindet aber nicht, sondern die von ihr geprägten Menschen werden zu ihr frei, indem sie zum Erfahrungsgehalt wird, an dem sich die historische Deutung abar­ beiten kann. Solche Erinnerungsarbeit ist schmerzhaft und des öffentlichen Streits und Protestes sicher, aber sie ist um der Zukunftsfähigkeit der Betroffenen willen unerläßlich. 3. Lassen einen die Startlöcher frei oder bleibt man an den Startblöcken nicht kleben, dann braucht man Kraft und Schwung zum Abstoßen nach vorne. Historische Erinnerung erfüllt hier die Bedingung, daß man sich von der Gegenwart distanzieren können muß, um Zukunft als Innovati­ onschance zu gewinnen. Der Horizont des Vorgegebenen, der in den gegenwärtigen Lebensverhältnissen geronnenen historischen Entwicklung, muß überschritten werden können, und dazu dient die kulturelle Leistung, die man Historisierung nennt. Poetisch ausgedrückt, geht es in der Hisco� risierung darum, den gegenwärtigen Lebensverhältnissen die Melodie ihrer Geschichte vorzuspielen, um sie zum Tanzen zu bringen. Um Zukunft als Neues und Anderes des Alten und Eigenen zu gewinnen, muß dieses Alte und Eigene selbst zeitlich dynamisiert werden. Die Eindimensionalität des Selbstverständlichen muß in die Mehrdimensionalität seiner Veränderung aufgebrochen werden, und das geschieht durch Hiscorisierung. Die histo­ rische Erinnerung leistet dann eine Verungleichzeicigung in der Deutung 12 Vgl. Gary $mich und Hinderk M. Emrich (Eds): Vom Nurzen des Vergessens. Berlin 1996.

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realer Lebensbedingungen. Sie mobilisiert die Erfahrung der Vergangenheit als Widerlager eines kontrafaktischen Entwurfs von Zukunft. Nur wenn die Vergangenheit die Qualität des Anderen bekommt, kann Zukunft anders werden als Gegenwart, ohne in die Praxisfalle des Utopischen zu geraten. Wie ist eine solche Mobilisierung der Vergangenheit gegen die Selbst­ verständlichkeit und Eindimensionalität gegenwärtiger Lebensverhältnisse möglich? Ganz einfach dadurch, daß die historische Erinnerung auf die neuen Orientierungsbedürfnisse der Gegenwart heuristisch bezogen wird. Sie muß von der Gegenwart her in Frage gestellt werden, um für die Gegenwart ein Bewegungsgrund von Veränderung zu werden. Maßgeblich für diese Leistung der Erinnerung ist das Element der Kritik. Es ist höch­ ste Zeit, daß der Faktor Kritik im Diskurs über Erinnerung und Gedächt­ nis ernsthaft rehabilitiert wird. Sonst verbleiben die Kulturwissenschaften im Bannkreis kompensatorischer Leistungen, und die Gesellschaft wird um wesentliche Elemente der historischen Orientierung auf ihrem Weg in die Zukunft betrogen. Das naheliegendste Beispiel einer kritischen Mobilisierung der Vergan­ genheit zur Verungleichzeicigung der Gegenwart, in der sich ein neues Ori­ entierungsbedürfnis austrägt, ist das Umweltproblem. Mit ihm gewinnt die historische Erfahrung eine Perspektive, die qualitativ über die Gegenwart hinaus in eine andere Zukunft führt. Es läßt sich leicht plausibel machen, daß die bloße Fortsetzung des bisherigen, in die kulturellen Grundzüge unserer Gesellschaft eingeschriebenen Fortschrittsbegriffs unvermeidlich in eine Katastrophe führt. Im Aufbrechen der Eindimensionalität des Gegenwartsverständnisses durch Historisierung trägt sich übrigens die Motivationskraft des Utopi­ schen aus, ohne in die schon genannte Praxisfalle zu geraten. Denn die Sehnsucht des Ganzanderswerdens wird ja im Spiegel der historischen Erfahrung auf den Boden der Wirklichkeit geholt und damit zur beflü­ gelnden Kraft einer Historisierung verwandele, die der Gegenwart eine übers Bisherige und Gewohnte grundsätzlich hinausgehende Zukunfts­ perspektive verschafft. Übrigens läßt sich aus der gleichen Geschichte ein kritisches Potential der Erinnerung entbinden, das zur qualitativen Überschreitung der bishe­ rigen Errungenschaften grundrechtlicher Regelung politischer Herrschaft

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Sinnfragen

geradezu zwingt: in den Grundgedanken bürgerlicher Gleichheit und Frei­ heit steckt implizit ein Naturverhältnis schrankenloser Ausbeutung (über die Begriffe Arbeit und Eigentum), von dem wir wissen, daß es nicht mehr zukunftsfähig isr. I 3 Was das für die Weiterentwicklung unserer Vorstellung von Grundrechten bedeutet, ist eine ganz offene Frage. Wie immer wir sie beantworten mögen - daß sie Zukunftsvisionen aus historischer Erfahrung stimuliert, dürfte außer Frage stehen. 4. Vom Widerlager der historischen Erfahrung abgestoßen und mit den Kräften der Sehnsucht nach dem ganz Anderen beflügelt, bedarf die zeitli­ che Ausrichtung der Lebenspraxis einer Richtung, um sich nicht im Ziel­ losen zu verirren. Ich plädiere nicht für die Erneuerung einer historischen Teleologie, wohl aber dafür, Zukunftsentwurf und Vergangenheitsrekon­ struktion in ein zeitlich kohärentes Verhältnis zu bringen, so daß der Schritt über die gewordenen Lebensverhältnisse der Gegenwart in eine neue Zukunft aus Entwicklungsrichtungen der Vergangenheit zur Gegenwart hin plausibel gemacht werden kann. Das kann positiv geschehen, indem der Erfahrung der Vergangenheit die Vision einer unabgegoltenen Zukunft abgewonnen wird. So etwa stellt sich die langfristige Entwicklung von Grundrechten als ein unabgeschlossener Entwicklungsprozeß dar, in dem die soziale Ermöglichung politischer Partizipation zu den ungelösten Auf­ gaben einer grundrechtlichen Regelung politischer Herrschaft gehöre. Die soziale Absicherung des Bürgerstatus, den die Subjekte einer staatlich orga­ nisierten Herrschaft in der modernen Demokratie haben (sollen), ist ein offenes Problem. Nach dem Untergang der kommunistischen Alternative zur bürgerrechtlichen Regelung politischer Herrschaft scheint uns das Bewußtsein dieses Regelungsbedarfs zunehmend abhanden zu kommen. Ein Blick in die Geschichte zeigt, daß mit der Entwicklung und Durch­ setzung politischer Grundrechte die soziale Frage aufgeworfen und bis heute in den bürgerlichen Herrschaftssystemen nicht hinreichend gelöst werden konnte. Aber auch aus negativer Erfahrung im Entstehungsprozeß gegenwärti­ ger Lebensverhältnisse lassen sich Richtungsbestimmungen der Zukunft-

13 Vgl. daz.u Jörn Rüsen: Menschen- und Bürgerrechte - Vorschläge ZUI Interpretation und didaktischen Analyse, in: ders.: Historisches Lernen. Grundlagen und Paradigmen. Köln 1994, S. 204-235, vor allem S. 226-229.

Die Zukunft der Vergangenheit

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sorientierung gewinnen und plausibel machen. Hier spielt der Holocaust eine besondere Rolle: daß so etwas nie wieder geschehen darf, ist als Impe­ rativ politischer Zukunftsgestaltung universell konsensfähig. Mit diesen vier Modi der historischen Erinnerung sind die Kulturwis­ senschaften integraler Bestandteil der Wertschöpfung des gegenwärtigen Lebens, mit denen es sich in Zukunft hinein transzendiert, und zwar so, daß im Anderswerden der Lebensverhältnisse das, was wir sind und sein wollen, weil wir es geworden sind, nicht verloren geht, sondern sich neu gewmnt. Das von mir verwendete Bild vom Start eines Wettlaufs wird einer Tat­ sache nicht gerecht: Wir bewegen uns ja nicht erst mit dem Start in die Zukunft, sondern sind immer in Bewegung im Fluß der Zeit. Ich möchte mein Bild daher verändern in die Vorstellung eines Staffellaufs, in dem eine Generation der anderen das je Eigene und Besondere, das Erinnerungs­ werte und Zukunftsfähige, auf dem die historische Identität beruhe, wei­ tergibt. Die Transzendierung unserer gegenwärtigen Lebensverhältnisse in eine neue Zukunft soll ja nicht nur das Überleben unserer Gesellschaft sichern, sondern zugleich die Kontinuität der Kultur verbürgen, mit der wir uns im tiefsten Grunde unserer selbst identifizieren, ja die wir selbst sind. Ohne die Arbeit der historischen Erinnerung, an der die Kulturwis­ senschaften maßgeblich beteiligt sind, ist eine solche Zukunft nicht mög­ lich. Es ist eine andere Frage, ob und wie die Kulturwissenschaften dieser Aufgabe gerecht werden und ob sie nicht selber eine neue Zukunftsstimu­ lation in ihrer Arbeit an der historischen Erinnerung benötigen. Wie dem auch sei: bei den Griechen war es nicht wie bei uns ein einfa­ cher Holzstab, der im Lauf weitergegeben wurde, sondern eine Fackel. Wir können unsere Zukunftvorscellungen aus den Inspirationen generieren, die die Übernahme der Fackel von den Älteren durch unsere Erinnerung an die Gegenwart auslöst. Das Ziel unseres Laufes in die Zukunft ist die nächste Generation. Unsere Zukunft muß in die Erinnerung der Nachgeborenen so eingehen können, daß sie aus ihr eine Inspiration zu ihrer eigenen Zukunft gewinnen. Unsere sinnbildende Zukunftsgestaltung aus histori­ scher Erinnerung würde sich vollenden, wenn wir mit den Nachgeborenen die Richtung des Weges gemeinsam hätten, mit der wir aus der Vergan­ genheit in die Zukunft gehen. Dann gäben wir ihnen wirklich eine Fackel in die Hand, die den Weg ins Ungewisse erleuchten könnte.

SCHRITTE INS NIEMANDSLAND

„Hätte ich doch unbekannte Worte, fremde Sprüche, in neuer Sprache, die noch nicht ent­ standen ist, ohne Wiederholung - keine Sprüche der Vergangenheit, die schon die Vorfahren gesagt haben." Lehre des Chacheperresenub, 2. Jahrtausend v.Chr.

5. Krise, Trauma, Identität

,,Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat." Friedrich Dürrenmau l

Herausforderungen Historische Fragestellungen entzünden sich an Gegenwartserfahrungen. W ill man sich im Zeitverlauf der Welt zurechtfinden, braucht man 'Geschichte' als eine kulturell notwendige Orientierungsgröße. Mit ihr rea­ gieren die Menschen grundsätzlich auf die Ur-Erfahrung, daß die Dinge ihrer Welt und sie selbst sich immer wieder verändern und diese Verände­ rungen nicht ohne weiteres in die zweckbestimmten Absichten ihrer Hand­ lungen integriert werden können. Im Gegenteil: Sie müssen eigens gedeu­ tet, ihnen muß ein Sinn abgerungen werden, der seinerseits darüber (mit-)entscheidet, welche Zwecke gesetzt und handelnd realisiert werden können und sollen. Es ist trivial, darauf hinzuweisen, daß das 20. Jahrhundert reich an sol­ chen herausfordernden Zeiterfahrungen ist. Die Weltkriege, der Kalte Krieg, das Epochenjahr 1989 und der aktuelle Globalisierungsprozeß stel­ len solche Herausforderungen dar. Weniger trivial ist die Beobachtung, daß das historische Denken auf solche Krisen höchst unterschiedlich rea­ giert hat. Vom Ersten Weltkrieg z.B. läßt sich nicht sagen, daß er als „Urka­ tastrophe des Zwanzigsten Jahrhunderts" die Grundlagen des historischen Denkens, die fundamentalen und leitenden Hinsichten der historischen Interpretation (zumindest im Bereich der etablierten historischen Fachdis1 Friedrich Dürrenmatt: 21 Punkte zu den Physikern, in: ders.: Die Physiker. Eine Komödie in zwei Akren. Neufassung 1980. Zürich 1980, S. 91.

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Schritte im Niemandsland

ziplinen) im Ernst erschüttert und gewandelt hätte.2 Er ließ zwar die modernitätsspezifische Vorstellung von Fortschritt und Entwicklung nicht unberührt, veränderte aber letztlich nicht die Grundüberzeugung, daß 'Geschichte' ein zeit- und kulturübergreifender Prozeß ist, der methodisch erforscht und begriffen und so dargestellt werden kann, daß die von ihm betroffenen Subjekte (vom Individuum bis zur Großgruppe einer ganzen Kultur) sich ihrer Identität im Spiegel dieses Entwicklungsprozesses verge­ wissern, ihre Zugehörigkeit zu und ihrer Abgrenzung von anderen bestim­ men können. Die Möglichkeit einer solchen historischen Selbstvergewisserung ist aber nichtsdestoweniger in einem längerfristigen Erosionsprozeß fragwür­ dig geworden. Die Meistererzählungen (master oder meta-narratives) kul­ tureller Zugehörigkeit sind schließlich einer postmodernen grundsätzli­ chen Kritik unterzogen worden. Deren Plausibilität beruht vor allem auf der unübersehbaren Erfahrung, daß sich die nicht-westlichen Kulturen den traditionellen universalhistorischen Deutungsschemata des Westens bewußt entziehen wollen, 'Eigensinn' beanspruchen und zugleich der Westen sein eigenes historisches Selbstverständnis, das fundamental durch die Fortschrittskategorie geprägt war, als nicht mehr zukunftsfähig ansehen kann. Die bloße Fortschreibung traditioneller Zukunftsvorstellungen · moderner (westlicher) Gesellschaften hat eine katastrophische Färbung angenommen, die den postmodernen Versuch unausweichlich machte.3 Es mußte eine andere Situierung des historischen Selbstverständnisses gesucht werden, aus dem Bann dieser Fortschreibung mußte ausgebrochen und ihm die Urgewalt einer zugleich naturwüchsig kräftigen und kulturell sti­ mulierenden Entwicklungsrichtung genommen werden. Es gehört zu diesem Bruch des historischen Selbstverständnisses moder­ ner Gesellschaften, daß sie ihre Geschichtskulturen zunehmend einer Kata­ strophenerfahrung öffnen, die die Überzeugungskraft des älteren moder­ nen Geschichtsdenkens zerstöre. Die Postmoderne hatte geglaubt, das menschliche Geschichtsbewußtsein anders konzipieren zu können. Die 2 Vgl. Wolfgang Künler, Jörn Rüsen, Ernst Schulin (Eds): Globale Konflikte, Erinnerungs­ arbeit und Neuorientierungen. (Geschichtsdiskurs S) Frankfurt am Main 1999. 3 Cf. Jörn Rüsen: Fortschritt. Geschichtsdidaktische Überlegungen zur Fragwürdigkeit einer historischen Kategorie, in: ders.: Historisches Lernen. Grundlagen und Paradigmen. Köln 1994,

s. 188-203.

Krise, Trauma, Identität

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objektivistischen Züge einer vermeintlich wissenschaftlichen historischen Erkenntnis sollten aufgelöst (Novick) und das historische Denken als poe­ tische Leistung einsichtig gemache und gestärkt werden. Mit dieser neuen Ausrichtung sollten die verhängnisvollen Zwänge des zeit- und kulturü­ bergreifenden Prozesses der Modernisierung außer Kraft gesetzt werden. Dabei wurde aber die Übermacht der historischen Erfahrung ausgeblendet, mit der sich die realen Vorgänge der Vergangenheit in diejenigen Züge der gegenwärtigen Lebensverhältnisse immer schon eingeschrieben haben, in denen das Geschichtsbewußtsein seine orientierenden Praktiken der Zeit­ deutung entfaltet. Das Verhängnis ungeheuerlicher Verbrechen, die sich in das historische Antlitz des 20. Jahrhunderts eingeprägt haben, werden durch das freie Spiel schöpferischer historischer Einbildungskraft eher ver­ schleiere als aufgeklärt. Richter sich freilich die Deutungskrafc des mensch­ lichen Geschichcsbewußcseins auf dieses Verhängnis, dann drohe ihm eine Sinnkrise, die die Prinzipien des historischen Denkens in der Tiefe seiner Selbscverscändlichkeic betreffen. Es geht dann um die grundsätzlichen Vor­ aussetzungen einer deutenden Aneignung der Vergangenheit als Geschichte selber, es geht um den 'Sinn' des Historischen überhaupt. 'Trauma' ist ein Schlüsselbegriff dieser Herausforderung.4 Mit ihm wird zum Ausdruck gebracht, daß in der historischen Erfahrung eine Kraft der Sinnzerscörung beschlossen liege, die auf das historische Denken selber

4 Vgl. Jörn Rüscn, Jürgen Scraub (Eds): Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalyti­ sche Zugänge zur Geschichte (Erinnerung, Geschichte, ldenticär Bd. 2) Frankfurt am Main 1998 (darin die Beiträge von Roch, Bohleber und Laub und Podcll); Saul Friedländer: Trauma, Memory, and Transference, in: Geoffrey H. Harcrnan (Ed.): Holocaust Remembrance: ehe Sha­ pes of Memory, Oxford, Cambridge 1994, S. 252-263; Elisabeth Bronfen, Birgir R. Erdle, Sigrid Weigel (Eds): Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deurungsmuster. Köln 1999; Cathy Carurh: Unclaimed Experience. Trauma, Narrative, and Hiscory. Baltimore 1996; Marein Bergmann: Fünf Sradien in der Entwicklung der psychoanalytischen Trauma-Konzep­ tion, in: Miccelweg 36, 5 (1996), H.2, S. 12-22; Werner Bohleber: Traumata und deren Bcar­ beirung in der Psychoanalyse, in: Bios 11 (1998); Krisrin Plan: Gedächtnis, Erinnerung, Verar­ beitung. Spuren traumatischer Erfahrung in lebensgeschichdichen Interviews, in: Bios 11 (1998); Dori Laub: Knowing and noc-knowing. Massive psychic rrauma: Forms of traumacic memory, in: lnrernacional Journal of Psyche-Analysis, 74 (1993), S.287-302; Bessel A. van der Kolk: T he body keeps ehe score: Memory and ehe evolving psycho-biology of posc-craumacic scress, in: Harvard Review of Psychiatry I (1994), S. 253-265; Bessel A. van der Kolk, Onno van der Harth: T he incrusive pasc. T he flexibili cy of memory and ehe ingraving of crauma, Ameri­ can Imago, 48 (1991), S. 425-454.

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Schritte im Niemandsland

durchschlägt. Es kann die historische Erfahrung nur um den Preis dieser 'objektiven' Qualität im Bannkreis einer Gegenständlichkeit belassen, der es sich mit den Mitteln fachwissenschafdich institutionalisierter Erkennt­ nisleistungen bemächtigt. Zum Ensemble von Forschungsgegenständen verdinglicht, wird die Geschichte kognitiv gezähmt. Die 'Wildheit', die sich gegen diese Zähmung sperrt, wandert in die Untergründe des Unbe­ griffenen ab und entfaltet dort eine anonyme Macht der Verdrängung. Erst dann, wenn das historische Denken sich der traumatischen Qualität der historischen Erfahrung öffnet, die mit dem Begriff des 'Zivilisationsbruchs' bezeichnet worden ist, bewegt es sich auf der 'Höhe' der Zeit, die durch die Schreckenserfahrungen dieses Jahrhunderts vorgezeichnet ist. Der Holo­ caust ist ein Paradigma dieser Schreckenserfahrung, neben das sich in ande­ ren kulturellen Kontexten andere Paradigmen stellen lassen. In ihrer nicht zu leugnenden Unterschiedlichkeit haben diese Paradigmen aber eines gemeinsam: Sie fordern das historische Denken zu Deutungsanscrengun­ gen heraus, die es nur leisten kann, wenn es über die kulturellen Vorgaben seiner modernen Deucungsmöglichkeicen und deren postmoderner Kritik hinausgehe.

Krisen - Geschichte - Identität Für das Geschichtsbewußtsein ist eine Krise nichts besonderes. Im Gegen­ teil, es beruht auf Krisen; es gäbe gar kein Geschichtsbewußtsein, wenn es keine Krisen gäbe. Ich verstehe unter 'Krise' die Zeiterfahrung der Kon­ tingenz. Kontingenz ist die Art und Weise, wie ein Ereignis oder Vor­ kommnis im menschlichen Lebenszusammenhang geschehen kann, näm­ lich so, daß es nicht in einen vorgegebenen Deucungszusammenhang paßt, in dem es für die Zwecke des menschlichen Lebens verständlich gemacht werden soll. W ürde es passen, wäre es nicht weiter bemerkenswert und setzte keine eigenen mentalen Prozeduren der Deutung und lnterprecacion in Bewegung. Kontingenz ist eine Zeicqualicäc, die quer zur Perspektive der Erwartung liege. So sind viele Ergebnisse des menschlichen Handelns kon­ tingent, insofern sie die Absichten dieses Handelns nicht realisieren, son­ dern als etwas erfahren werden, das so, wie es geschehen ist, gar nicht beab-

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sichtige war, ja sogar den Absichten geradezu zuwiderläuft. In Hinsicht auf die geordnete Welt des menschlichen Verstehens und Deutens ist Kontin­ genz chaotisch und störend. Weil das so ist, weil Kontingenz in der menschlichen Welt als Störfaktor auftritt, ist sie grundsätzlich eine Her­ ausforderung, die vom menschlichen Geist beantwortet werden muß. Hamlet hat diesen herausfordernden Charakter von Kontingenz als zeitli­ chem Geschehnis in die bekannten Worte gefaßt, mit der er das Erschei­ nen des Geistes seines Vaters kommentiere: "The world is out ofjoinc; - 0 cursed spiee chac ever I was born eo sec ic righc".5

Spezifischer im Blick auf die Zeit formuliere Shakespeare diese Kontingen­ zerfahrung so: "O God! chac one might read ehe book of face, And see ehe revolution of ehe times, ... how chances mock, And changes fill ehe cup of alceracion Wich divers liquors! 0, if chis were seen, The happiest youch, viewing his progress chrough, Whac peril past, whac crosses eo endure, Would shuc ehe book, and sie him down and die."6

Kontingenz gefährdet die kulturelle Zeitordnung, in der menschliches Leben geschieht; sie stürzt sie (tendenziell) ins Chaos. Kontingenz fordert den menschlichen Geist dazu heraus, das Verhältnis zwischen Handeln und Leiden auf der einen und dem zeitlichen Wandel auf der anderen Seite so zu bestimmen, daß beide miteinander vereinbare werden können. Mit diesem Charakter einer Herausforderung hat Kontingenz als erfahrener Zeitverlauf für das historische Denken immer einen 'kritischen' Charakter. Denn sie kann nie hinreichend verstanden werden als Ergebnis einer Ver­ änderung, die den bewußten Absichten des menschlichen Handelns nicht

5 6

Shakespeare: Hamlet, Akt I, Szene V, l 89ff. Shakespeare: King Henry IV, Second Pan, Ace 3, Scene 1, Vers 46ff.

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nur geschuldet ist, sondern ihnen auch entspricht. Deshalb wurde zur Erklärung solcher kontingenten Abweichungen zwischen Erfolg und Absicht immer wieder die göttliche Welt bemüht. Euripides drücke das so aus: ,,In vielerlei Weise erscheinen die Götter. Vieles führen die Götter unverhofft zu einem Ende, und das Erwartete vollendet sich nicht, fur das Unerwartete fand der Gott den Weg. So fand auch dieses Geschehen sein Ziel und Ende. ,q

Man kann sich menschliches Leben ohne eine solche Erfahrung beunruhi­ gender oder gar zerstörender zeitlicher Veränderungen, die quer zu den Hoffnungen, Erwartungen und Absichten geschehen sind, nicht denken und deshalb auch nicht ohne die dauernden Bemühungen des Menschen, sie zu überwinden, mit ihnen fertig zu werden. Geschichtsbewußtsein ist die mentale oder geistige Antwort auf die Herausforderung der Kontingenz.8 Deshalb reagiert der Kanzler Warwick auf das oben zitierte Lamento König Heinrichs des IV über "The revolu­ cion of ehe times" mit einer klaren und unmißverständlichen Antwort: "There is a hiscory in all men's lives, Figuring the nature of ehe times deceased..."9

Geschichte setzt Kontingenz in eine narrative Ordnung von Zeitsequenzen, innerhalb deren sie Sinn und Bedeutung gewinnen, und mit diesem Sinn und dieser Bedeutung kann das menschliche Handeln auch und gerade angesichts des kontingenten Geschehens in einem kulturellen Orientie­ rungsrahmen geschehen, in dem die Zeit „in Ordnung" ist. Ein chinesischer Text drückt dieses Verhältnis zwischen Kontingenz­ und Zeitordnung hinsichtlich der zentralen Bedeutung der „Frühling- und Herbstannalen" (die keinem geringeren als Konfuzius zugeschrieben wur7 Alkescis 1159-1163 8 V gl. Rüsen, Jörn: Historische Orientierung. Über die Arbeit des Geschichcsbewußcseins, sich in der Zeit zurechrz.ufinden. Köln 1994, S. 3ff. 9 Shakespeare: King Henry IV, Second Part, Ace 3, Scene 1, V. 80f.

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den) so aus: ,,Um die Dinge in Ordnung zu bringen, die ins Chaos geraten sind, und um die Weltordnung wiederherzustellen, gibt es nichts Besseres als die 'Frühlings- und Herbstannalen!"IO Geschichte beruht also auf einer bestimmten Zeiterfahrung: Sie ist eine Antwort auf eine 'Krisis', die durch Interpretation bearbeitet und über­ wunden werden muß. Daraus läßt sich umgekehrt folgern, daß ein Ver­ ständnis des historischen Denkens dann gegeben ist, wenn man es als Ant­ wort auf eine 'kritische' Zeiterfahrung deutet. Kontingenz ist keine Erfahrungsqualität an sich. Sie hängt von vorge­ gebenen und kulturell wirksamen Orientierungen des menschlichen Lebens im Zeitverlauf ab. Sie wird dann erfahren, wenn Ereignisse sich zu diesen Orientierungen 'kritisch' verhalten, sie also stören, irritieren, beun­ ruhigen. Die kulturellen Orientierungsrahmen der menschlichen Leben­ spraxis ermöglichen den Menschen, im Zeitverlauf ihres Lebens ihre Ziele und Vorstellungen zu entwickeln und zu verfolgen. Die Sicherheit des menschlichen Lebens im Verhältnis zwischen Zielen, Mitteln und Ver­ wirklichungen seiner Handlungen ist permanent und grundsätzlich durch die Erfahrung gefährdet oder gestört, daß Dinge, die für dieses Handeln wichtig sind, sich so ereignen, daß sie nicht hinreichend im Lichte seiner Absichten und Selbstdeutungen verstanden werden können. Der entschei­ dende, für die Geschichtsphilosophie geradezu konstitutive anthropologi­ sche Sachverhalt ist die Tatsache, daß der zeitliche Wandel der menschli­ chen Welt grundsätzlich nicht verstanden werden kann, wenn er im Rückgriff auf Handlungsabsichten erklärt werden soll (etwas geschah, weil jemand es als solches wollte und durch sein willentliches Handeln auch so tat). 11 Diese fundamentale Zeiterfahrung von Kontingenz schlägt sich in der weitverbreiteten Vorstellung nieder, daß die menschliche Welt durch ihre Zeitlichkeit allein sich schon in einem Zustand permanenter oder zumin­ dest potentieller Auflösung ihrer Ordnung befindet, wenn der Mensch nicht durch dauernde eigene Anstrengungen symbolischen Handelns die­ sem Verfall entgegenwirkt und die für sein Leben notwendige Geordnet10 Kung-yang chuan, Ai-kung 14th year (freundlicher Hinweis von Achim Mittag). l l Zu den Erklärungsproblemen des historischen Denkens vgl. Jörn Rüsen: Rekonstruktion der Vergangenheit. Grundzüge einer Historik II: Die Prinzipien der historischen Forschung. Göttingen 1986, S. 22ff.

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heit der inneren und äußeren Umstände durch eigene Anstrengungen auf­ recht erhält oder wiederherstellt. Der menschliche Geist ist geradezu dadurch definiert, daß er Sinn und Bedeutung im Umgang mit der Welt hervorbringt, und dieser Sinn und diese Bedeutung folgt einer anderen Logik als die Logik der instrumentellen Rationalität, in der es um die Ange­ messenheit von Mitteln zu gegebenen Zwecken geht. Es ist die Logik des Erzählens einer Geschichte, die die kontingenten Ereignisse als sinn- und bedeutungsvoll erscheinen läßt.12 Historische Erzählungen bringen die zeitliche Veränderung menschlicher Lebenssituationen in eine Ordnung, in der die Kontingenz 'kritischen' Geschehens aufgelöst wird in ein sinn- und bedeutungsvolles Konzept des zeitlichen Wandels der menschlichen Welt im Ganzen. Krisis konstituiert also, wie gesagt, Geschichtsbewußtsein. Ich behaupte nicht, daß 'Krisis' eine Erfahrung ohne Sinn und Bedeutung ist. Kontin­ genz geschieht immer in einer schon kulturell gedeuteten Welt und nicht vollständig außerhalb oder negativ gegen diese Deutung (dann wäre es der besondere Fall eines massiven Traumas). Der kontingente Charakter eines Ereignisses oder Vorkommnisses zeigt sich daran, daß die vorgegebenen Deutungsmuster eigens mobilisiert und appliziert werden müssen, wenn man das, was da der Fall ist oder war, verstehen will, ja, daß man sie auch in dieser Applikation verändern muß, um mit dem Befremdlichen des Geschehens deutend fertig zu werden.

Trauma Trauma ist eine Krise, die den Bezugsrahmen der historischen Sinnbildung zerstört und seine Erneuerung in einen anderen hinein verhindert, der die gleiche Funktion wie der zerstörte erfüllen könnte. Trauma kann als 'kata­ strophische' Krise bezeichnet und mit dieser Bezeichnung von anderen Krisentypen unterschieden werden.

12

Siehe oben Kap. 2.

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Man kann drei Typen von Krisen unterscheiden, die unterschiedliche Weisen der historischen Sinnbildung konstituieren. Diese Typen sind 'Ide­ altypen' im Sinne Max Webers, d.h. sie lassen sich logisch klar auseinan­ derhalten, kommen aber in der Historiographie und allen anderen Arten des historischen Denkens und der historischen Sinnbildung in Mischfor­ men vor und können nur in seltenen Fällen in 'reiner' Form beobachtet werden. Eine 'normale' Krise kann mir kulturell vorgegebenen Möglichkeiten des Geschichrsbewußrseins überwunden werden. Die herausfordernde Kontingenzerfahrung wird in eine Erzählung integriert, innerhalb deren sie Sinn macht, so daß das menschliche Handeln mit ihr zu Rande kommt, weil das schon vorgegebene kulturelle Potential der Sinnbildung über Zeit­ erfahrung ausreicht. Die Sinnbildungsmusrer, die in einer solchen Erzäh­ lung verwendet werden, sind nicht neu. Tatsächlich stellen sie nur Neuar­ rangements schon entwickelter Elemente dar, die in der Geschichtskultur vorgegeben sind. Man kann die deutsche Wiedervereinigung in konserva­ tiver Deutung als Beispiel für diese Art und Weise, mir einer Krise fertig zu werden, wählen. In diesem Fall wird ein traditionelles Konzept nationaler Geschichte benutzt, um der herausfordernden Erfahrung der deutschen Vereinigung die Bedeutung einer normalen 'Krise' zu geben. In dieser Per­ spektive bedeutet die Wiedervereinigung nur eine 'Rückkehr' Deutsch­ lands auf den Weg der nationalen Entwicklung, dessen Paradigma das 19. Jahrhundert liefert. Eine 'kritische' Krise kann nur dann gelöst werden, wenn neue Ele­ mente ins Spiel gebracht werden, die die vorgegebenen Deurungspotentiale der Geschichtskultur wesentlich überschreiten. In diesem Falle werden neue Deurungsmuster zum Verständnis der Vergangenheit gebildet; das historische Denken entwickelt neue Paradigmen. In diesem Fall würde die deutsche Wiedervereinigung mir einer neuen Vorstellung von nationaler Identität interpretiert werden, die den traditionellen Nationalismus in eine offenere und inklusivere Konzeption überführt und verändert, - eine Kon­ zeption, die den neuen Gegebenheiten im Prozeß der europäischen Eini­ gung entspricht. Eine 'katastrophische' Krise zerstört die Möglichkeit des Geschichrsbe­ wußrseins, Kontingenz in eine sinn- und bedeutungsvolle Geschichte zu verarbeiten. In diesem Fall werden die fundamentalen Prinzipien der Sinn-

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bildung selber herausgefordert, die für die Kohärenz des historischen Erzählens stehen. Sie müssen in ein kulturelles Niemandsland hinein über­ schritten oder ganz einfach aufgegeben werden. Daher ist es unmöglich, einer solchen Krise einen Plan in der Erinnerung derjenigen zu geben, die unter ihr zu leiden haben. Wenn die katastrophische Krise sich ereignet, verstumme die Sprache des historischen Sinns. Die Krise wird traumatisch. Es bedarf Zeit (manchmal über Generationen), um eine Sprache zu finden, die diese Krise zum Ausdruck bringc.13 Um das Beispiel der deutschen Ver­ einigung aufzugreifen: Es kann sein, daß ein überzeugungstreuer Funk­ tionär der ehemaligen DDR eine solche traumatische Erfahrung gemache hat, als im November 1989 die Mauer fiel. Seine Grundüberzeugungen wurden zerstört, und er verliert den Sinn seines bisherigen Lebens. Der traumatische Charakter eines Ereignisse haftet ihm nicht wie eine objektive Qualität an. Das gleiche Ereignis kann für den einen traumatisch sein, für jemand anderen nicht - je nachdem, welche Deucungspocenciale zur Verfügung stehen. Es gehört zum Trauma, daß es als Erfahrung nachträglich ist, d.h. seine katastrophische Herausforderung an die Sinn­ bildung der Betroffenen erst in einer späteren Zeit als derjenigen des Geschehnisses auftritt. Aber natürlich ist der Holocaust die radikalste Erfahrung einer solchen katastrophischen Krise in der Geschichte, mindestens für die europäischen Juden und in unterschiedlicher Weise auch für die Deutschen. Für beide ist er einzigartig in seinem genozidalen Charakter und seiner radikalen Negation und Destruktion der grundlegenden Werte der modernen Kul­ tur, die sie teilen. Diese Negation und Destruktion erstrecke sich auch auf die Prinzipien der historischen Deutung, solange diese Prinzipien ein Teil der modernen Kultur sind. Deshalb wurde der Holocaust auch oft als 'schwarzes Loch' von Sinn und Bedeutung charakterisiert, das jeden Ansan einer historischen Interpretation auflöse. Als Dan Diner den Holocaust als 'Zivilisacionsbruch' 14 charakterisierte, meinte er, daß er als ein historisches 13 Das heiße nicht, daß es keine Versuche gibt, dieser Krise Sinn zu geben und ihren Bann über die Erinnerung zu brechen. Der katastrophische Charakter der Krise wird daran sichtbar, daß solche Versuche scheitern. 14 Dan Diner: Zwischen Aporie und Apologie. Über Grenzen der Historisierbarkeit des Natio­ nalsozialismus, in: ders. (Ed.): Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Hiscorisierung und Hiscorikersrreit. Frankfurt am Main 1987, S. 62-73.

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Ereignis angesehen werden muß, das durch sein bloßes Geschehen die kul­ turellen Möglichkeiten zerstöre hat, es in eine geschichtliche Zeitordnung einzugliedern, innerhalb deren er so verstanden werden kann, daß das Leben der Gegenwart auch im Blick auf diese Erfahrung gelebt werden kann. Der Holocaust problematisiert, ja verhindert jeden ungebrochenen Sinnzusammenhang mit der Zeit vor und nach ihm. Es handelt sich um eine 'Grenzerfahrung' der Geschichte, die ihre Integration in ein kohären­ tes Deutungsmuster der Geschichte verweigere. Jeder Versuch, umgrei­ fende Entwicklungsvorstellungen auf ihn anzuwenden, verfehlen ihn. Nichtsdestoweniger muß der Holocaust als historisches Ereignis ange­ sehen und ihm ein Platz in den historiographischen Deutungsmustern der modernen Geschichte angewiesen werden, innerhalb dessen wir uns selbst verstehen, unsere Hoffnungen und Befürchtungen zum Ausdruck bringen und unsere Kommunikationsstrategien mit anderen entwickeln. Würden wir den Holocaust jenseits der Geschichte ansiedeln und ihm eine 'mythi­ sche' Bedeutung zusprechen, würde er seinen Charakter als tatsächliches Ereignis mit Erfahrungscharakter verlieren. Zugleich würde das geschicht­ liche Denken in seinem Zugang zur Erfahrung der Vergangenheit begrenzt. Das widerspricht der Logik des historischen Denkens fundamental, denn ein Mythos weist nicht den gleichen Erfahrungsbezug auf, den das histori­ sche Denken als notwendige Bedingung seiner Vertrauenswürdigkeit ansiehe. Deshalb stellt der Holocaust ein 'Grenzereignis' dar. Er läßt sich im Objektbereich des historischen Denkens gar nicht halten, hat ihn immer schon überschritten und reicht ins Zentrum der mentalen Prozeduren des historischen Denkens selber hinein. Meine Unterscheidung zwischen einer 'normalen', einer 'kritischen' und einer 'katastrophischen' Krise ist ein Versuch, diesen besonderen Charak­ ter des Holocaust als Trauma der historischen Erfahrung begrifflich zu fas­ sen. Diese Unterscheidung ist natürlich künstlich. Die strenge Aufteilung der jeweils charakteristischen Elemente der historischen Kontingenzerfah­ rung ist ein Gedankenkonstrukt, das aus methodischen Gründen erfolgt. So lassen sich katastrophische Elemente nicht auf den dritten Typ beschränken; denn ohne sie würde es überhaupt nicht zu einer herausfor­ dernden Krise der historischen Erfahrung kommen. Umgekehrt würde keine kritische oder katastrophische Krise ohne Elemente des Normalen

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überhaupt als besondere Herausforderung charakterisiert werden können und damit hätte auch nicht die Möglichkeit einer radikalen Veränderung der Wahrnehmung und Interpretation der Geschichte. Es ist dieser künstliche Charakter der Unterscheidung, die sie brauch­ bar macht für Vergleichszwecke. Sie überschreitet die Einzigartigkeit des Holocaust und ähnlicher Ereignisse als historische Tatsachen in einen abstrakten Begriff. Er kann dazu verwendet werden, Modi der historischen Erfahrung und ihnen entsprechende Deutungsmuster zu identifizieren, zu charakterisieren und zu interpretieren. Die verschiedenen Begriffe von 'Krise' können heuristisch benutzt werden, um konkrete Beziehungen zwi­ schen Erfahrungen des zeitlichen Wandels und den Strategien ihrer Bewäl­ tigung durch narrative Verknüpfung mit andern Ereignissen zu untersu­ chen. Die Typ ologie mache unterschiedliche Ausprägungen der Vorstellung des zeitlichen Wandels unterscheidbar. Solche Vorstellungen vom Zeicverlauf, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft übergreifen, machen das wichtigste intellektuelle Mittel des historischen Denkens aus, seine interne und oft verborgene 'Philosophie'. Sie geben der herausfordernden Erfahrung zeitlichen Wandels eine histo­ rische Bedeutung, indem sie sie in eine Zeitordnung bringen, der gemäß das menschliche Handeln vollzogen werden und das menschliche Selbst­ verständnis in ein lebbares Konzept von Identität gebracht werden kann. Alle drei Typen von Kontingenz als Krisenerfahrung führen zur Geschichte, jedoch zu sehr unterschiedlichen Formen der historischen Interpretation. Im ersten Fall integriere die narrative Ordnung die heraus­ fordernde Kontingenzerfahrung, indem sie sie im hegelschen Sinne des Wortes 'aufhebt' (negiere und konserviert zur gleichen Zeit). Im zweiten Fall der 'kritischen' Krise kann eine solche Integration nur dadurch erreicht werden, daß die narrative Ordnung selber geändert wird. Im Falle eines Traumas wird die herausfordernde Erfahrung ebenfalls 'historisiere', aber das historische Deurungsmuscer wird auf ganz andere Weise verändere: Es relativiert seine Ansprüche auf eine kohärente narrative Ordnung, die das traumatische Ereignis übergreift oder 'bedeckt', oder es wird Sinnlosigkeit selber ins Zentrum dieser Ordnung hineingenommen. Die traumatische Krise hinterläßt Spuren des Unbegreifbaren in den Zügen der Geschichte. Sie prägt den historischen Zügen der zeitlichen Ordnung Störungen und Brüche auf. Sie markiere die Grenzen des Sinns in der Behandlung der

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Erfahrung der Zeit. Sie versiehe die Kohärenz zwischen Erfahrung und Deutung von Zeitverläufen mit der Signatur der Ambivalenz und der Ambiguität. Geschichtsbewußtsein Die Deucungsleistung des Geschichtsbewußcseins ist immer auch ein Vor­ gang der Identitätsbildung. Das gilt für Individuen genauso wie für Grup­ pen. Identität heiße Kohärenz eines Selbst im Verhältnis zu anderen und zu sich selber. Diese Kohärenz hat eine synchrone und eine diachrone Dimen­ sion. In synchroner Hinsicht integriere Identität unterschiedliche Verhält­ nisse eines individuellen oder kollektiven 'Selbst' zu Anderen in eine Ein­ heit, in der es sich seiner bewußt ist. Es 'reflektiert' seine Beziehungen zu Anderen zurück auf sich selbst und forme eine innere Einheit in der Viel­ falt seiner mannigfaltigen Beziehungen zu Anderen. In diachroner Hinsicht ist diese Selbscreflekciercheic bezogen auf die Veränderung des Selbst und seiner Verhältnisse zu Anderen im Fluß der Zeit. In dieser Hinsicht ist Identität eine im Widerspiel von Erinnerung und Erwartung gebildete Vor­ stellung der Selbigkeic des Selbst in den Wandlungen, die jede Person und jede Gruppe im Laufe der Zeit durchmachen muß. Wenn man in einer solchen abstrakten Weise über Identität spricht, dann stellr sich schnell eine falsche Vorstellung von ihr ein. Identität ist keine faktische Einheit wie ein Ding oder eine feste Linie des Selben und Gleichen, sondern ein bestimmtes Verhältnis zwischen verschiedenen und sich verändernden Dimensionen des eigenen {individuellen und sozialen) Selbst. Diese Dimensionen schließen Geschlecht, Nation, Religion, Region, Fundamentalüberzeugungen, Befürchtungen, Ängste, Hoffnun­ gen, Sehnsüchte und dergleichen ein. Sie erstrecken sich in den unbewuß­ ten und in den bewußten Raum von Wahrnehmung, Deutung, Orientie­ rung und Motivation. Identität enthält mannigfaltige Gesichtspunkte und mischt verschiedene Bewußtseinsbereiche, Werte, Normen und Erfahrun­ gen. Begründet ist sie in einer fundamentalen Selbstbezüglichkeit des menschlichen Bewußtseins, aber diese Selbstbezüglichkeit ist zugleich bestimmt durch Beziehungen zu anderen Personen und Gruppen. Identität besteht also aus einer komplexen und oft widersprüchlichen Mixtur von

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Beziehungen, die auf Emotionen und Imaginationen genauso beruht wie auf kognitiven Vorgängen. Es handelt sich nicht um eine Einheit, die durch verschiedene Elemente innerhalb eines einzigen Deutungsmusters gebildet wird. Es ist vielmehr eine Meta-Einheit verschiedener Einheiten der Zugehörigkeit. Sie ist flüssig, nicht starr, vielfältig, nicht uniform, wider­ sprüchlich und nicht harmonisch. Ihre Kohärenz kann Brüche, Verwer­ fungen, Spannungen einschließen. Das gilt für die synchrone genauso wie für die diachrone Perspektive. Wenn man sich diese Komplexität vor Augen hält, scheine die Frage unvermeidlich zu sein, ob es überhaupt noch Sinn mache, nur von einer Identität einer Person oder einer Gruppe zu sprechen. Natürlich kann soziale Identität durch Klasse, Religion, Geschlecht und eine ganze Reihe anderer Faktoren definiert werden, und in jedem Falle handele es sich um etwas Verschiedenes mit verschiedener Bedeutung und Wirkungskraft. Aber nichtsdestoweniger wäre es mißverständlich, wenn man den Begriff 'Identität' durch einen anderen ersetzen würde, der Vielfalt und Unter­ schiedlichkeit anstelle von Einheit ausdrücke. Identität ist eine Beziehung zwischen diesen verschiedenen 'Identitäten', die durch ein bestimmtes Minimum an Kohärenz definiert ist (als Modus der Selbscbezüglichkeic). Diese Kohärenz brauchen Individuen oder Gruppen, um ihr Leben führen zu können. In den folgenden Überlegungen werde ich das Verhältnis zwischen der synchronen und diachronen Dimension von Identität vernachlässigen und mich ausschließlich mit der diachronen beschäftigen. Dabei werde ich mich auf zwei Themenbereiche konzentrieren: die intergeneracionelle Aus­ dehnung von Identität und ihre Begründung in Ereignissen der Vergan­ genheit, die durch kausale Folgen und durch erinnernde Deutung gegen­ wärtig gehalten werden. Kollektive Identität ist verwurzelt in einer erinnerungsstarken Verge­ genwärtigung von Ereignissen. Ereignisse können diese Rolle als Wurzeln von Identität nur spielen, wenn sie den spezifischen Charakter von 'histo­ rischen' Ereignissen haben. 'Historisch' heiße, daß sie eine besondere Bedeutung in der praktisch wirksamen Lebensorientierung der Menschen haben. Diese Bedeutung bestehe darin, daß man sich auf sie beziehen muß, wenn man darüber nachdenke und sich selbst und anderen sagen will, wer man ist, und damit indirekt auch das Anderssein der Anderen charakceri-

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siert. Ein in diesem Sinne 'historisches' Ereignis hat daher immer zwei Bestandteile: Es ist eine Synthese von Faktizität, die auf Erfahrung beruht, und von Intentionalität, die auf Werten, Normen und Interessen beruht. Traditionell nannte man diese Intentionalität 'Geist'; heute wird sie zumeist als 'Fiktionalität' bezeichnet. In ihr liegen die schöpferischen Kräfte des menschlichen Geistes beschlossen. Beide Elemente muß man streng aus­ einanderhalten, wenn man den Identitätsbildungsprozeß analysiert, der durch Geschichtsbewußtsein vollzogen wird. Nichtsdestoweniger ist daran festzuhalten, daß der historische Charakter eines Ereignisses grundsätzlich, von Anfang an, eine Synthese von Fakten und Normen darstellt, welche als Synthese erfahren und erinnert wird. Die Unterscheidung zwischen Fakti­ zität und Intentionalität oder Fiktionalität ist künstlich, aber erhellend, denn die Dynamik der Identitätsbildung besteht aus einem mentalen Pro­ zeß, in dem ein Ereignis historisch wird und in dem die Erfahrung der Ver­ gangenheit in eine sinn- und bedeutungsvolle Geschichte durch Interpre­ tation und Repräsentation transformiert wird. Das Geschichtsbewußtsein ist insofern von der Vergangenheit bestimmt, als es sich in einem realen Lebenskontext ausbildet, der durch das, was in der Vergangenheit geschehen ist, entstanden ist. Diese durch die Vergangenheit selbst im Prozeß der historischen Entwicklung hervorge­ brachten Voraussetzungen für Identitätsbildung durch Geschichtsbewußt­ sein sind nicht frei disponibel. Sie sind kein bloßes Material für Be-deu­ rungen, die ihnen von anderswoher zuteil ('eingeschrieben') werden, sondern sie müssen wahrgenommen und akzeptiert werden. Nur dann kann die mentale Prozedur der Sinnbildung über die Erfahrung der Ver­ gangenheit geschehen und die Orientierungsfunktion des historischen Bewußtseins erfüllt werden. Diese Bedingungsfaktoren des Geschichtsbe­ wußtseins sind das Ergebnis von Entwicklungen in der Vergangenheit, die das Leben der Menschen in der Gegenwart bestimmen und von den Betroffenen wie ein Schicksal angesehen werden müssen. Die Abhängigkeit der historischen Identitätsbildung läßt sich also mit Hegels Worten als „Kausalität des Schicksals" bezeichnen. 'Kausalität' läßt sich konkretisieren als die vorgängige Gegebenheit des Ortes, den die Menschen in der Gegenwart in der Kette der Generationen einnehmen neben und unab­ hängig von ihrer Wahrnehmung und ihrer absichtsvollen Interpretation ihres Verhältnisses zu dieser Kette, deren Teil sie sind. Sie sind gebunden

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durch oder geradezu 'geworfen' (Heidegger) in diese Kette. Mit ihr ist die Vergangenheit wirkungsvoll gegenwärtig in den externen und internen Voraussetzungen und Umständen des gegenwärtigen Lebens, ohne das die­ ses dazu gefragt worden wäre und manchmal geradezu gegen den Willen derjenigen, die sich ihr Leben unter diesen Bedingungen und Umständen einrichten müssen. In dieser Hinsicht hängt das Geschichtsbewußtsein von der Vergangenheit ab, die es in eine sinn- und bedeutungsvolle Geschichte verarbeitet. Diese 'kausale' oder 'schicksalhafte' Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist nicht auf äußere Lebensbedingungen beschränke, son­ dern schließe innere, geistig-mentale Bedingungen ein, also auch die Bedin­ gungen, unter denen der historische Umgang mit der Vergangenheit selber erfolge. Die schicksalhafte Kette der Generationen hat eine mentale Dimension, die in Traditionen, Vorurteilen, Ressentiments, Ängsten, Hoff­ nungen, Wertsystemen, fundamentalen Überzeugungen und - nicht zu vergessen - in den Mächten unbewußter Einstellungen und Absichten, die durch zwanghaftes Vergessen in Kraft gesetzt werden, wirksam sind. Sche­ matisch läßt sich dieses 'objektive' Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart so darstellen: Vergangenheit

bjekcive Beziehung, 'Kausalität des Schicksals'

Geschichte

Gegenwart Schema l

In der anderen Hinsicht hängt die Vergangenheit in ihrer Gestalt als sinn- und bedeutungsvolle Geschichte von der interpretierenden Zuwendung durch die­ jenigen ab, für die sie wichtig ist. In dieser Hinsicht sind die vergangenen Ereignisse sozusagen Rohmaterial, das in ein Konzept zeitlicher Veränderung hineingeformc wird, mit dem der gegenwärtige menschliche Lebensprozeß kulturell zeitlich - und das heißt immer auch: auf Zukunft hin - orientiere

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wird. Die Last der Vergangenheit, die die menschliche Identität mit der Ver­ antwortung für Vorgänge in der Vergangenheit belädt, die außerhalb der eige­ nen Handlungskompetenz liegen, wird nun zu einer Angelegenheit geistiger Kreativität. Die Vergangenheit wird in eine Entwicklungsperspektive ge­ bracht. Sie mündet in einer Zukunftsprojektion, die das einschließt, was die Menschen nach den Direktiven ihrer Selbsteinschätzung sein wollen. Die Kausalität des Schicksals wird durch eine wertegeleitete Verpflichtung ersetzt, die sich auf die Ereignisse der Vergangenheit bezieht. Sie werden behandelt, als könne man sie im zukünftigen Gang der zeitlichen Veränderung der men­ schlichen Welt gleichsam erlösen. Schematisch läßt sich dieses 'subjektive' Verhältnis zwischen Gegenwart und Vergangenheit so darstellen:

Vergangenheit

subjektive Beziehung

Geschichte

Gegenwart Schema 2

Im Rahmen dieser Spannung zwischen Kausalität des Schicksals und wer­ tegeleiteter Verantwortung vollzieht das Geschichtsbewußtsein seine Ope­ rationen der Identitätsbildung.15 15 Olick und Lcvy haben diesen Doppelcharakter der historischen Erinnerung unterstrichen Qeffrey K. Olick and Daniel Lcvy: Collective Memory and Cultural Constrainc: Holocaust Myth and Rationalicy in German Politics, in: American Sociological Review 62 (1997), S. 921936). Sie unterscheiden beim Umgang der Westdeutschen mit dem Holocaust eine mythische und eine rationale Dimension. In der mythischen gibt die Vergangenheit wie ein Tabu Hand­ lungsmuster vor, die sich jeder argumentativen Erörterung entziehen. Hier herrscht die Ver­ gangenheit über die Gegenwart. In der rationalen Dimension ist es umgekehrt: Die Bedingtheit gegenwärtigen Denkens und Handelns durch die Vergangenheit wird zu einer Angelegenheit erwägender Überlegungen; sie wird instrumentell behandelbar, und die Gegenwart herrscht über die Vergangenheit. Historisierung ist dann der Wechsel von der mythischen in die ration­ ale Dimension des Gcschichtsbewußtseins. In einer solchen Fassung verschwindet die Spezifik

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Die zeitliche Kohärenz des menschlichen Selbst ist nicht auf die Lebens­ spanne von Individuen eingeschränkt. Soziale Einheiten, innerhalb deren die Individuen ihre kollektive Identität ausbilden, dehnen ihr zeitliches Selbstverhältnis in eine intergenerationelle Dauer und Kontinuität aus. Die persönliche Identität bezieht sich sehr oft auf solch einen ausgedehnten Zeitraum. Das Bewußtsein, zu einem intergenerationellen Selbst zu gehören, stattet die individuellen Mitglieder mit der Gewißheit einer lan­ gen Dauer aus. Religiöse oder religionsähnliche Gemeinschaften scheuen sich nicht, diese Dauer als 'Ewigkeit' zu qualifizieren. Die Menschen trans­ formieren die biologische Generationenkette, innerhalb derer sie leben, in eine kulturelle Zeiteinheit, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft über die individuelle Lebensspanne hinaus umgreife. In dieser zeitlichen Einheit fühlen und wissen sie ihr kollektives Selbst jenseits der Grenzen ihrer Geburt und ihres Todes, und damit definieren sie die kulturelle Qua­ lität ihrer sozialen Beziehungen. Diese übergreifende zeitliche Einheit wird durch das Geschichtsbe­ wußtsein hervorgebracht und lebendig gehalten. Sie besteht aus einer Syn­ these von Erfahrungen der Vergangenheit und Erwartungen der Zukunft. In dieser Synthese ist die Vergangenheit gegenwärtig als eine geistig bewe­ gende Kraft, die mit all den Mächten aufgeladen ist, mit denen sich der menschliche Geist absichtsvoll (in Furcht und Hoffnung) auf Zukunft richtet. Es ist die Kraft der Erinnerung, die die Züge von Identität ausprägt und die Vergangenheit zur Projektion von Zukunft macht. Vergangenheit und Geschichtsbewußtsein sind also eng miteinander verbunden, aber nicht miteinander identisch. Das Geschichtsbewußtsein wurzelt in den geistigen Kräften der Erinnerung, aber es übersteigt die Erinnerung in einem entscheidenden Punkt: Es hält oder es macht die Ver­ gangenheit, die jenseits der Erinnerung der sozialen Gruppe oder der ein­ zelnen Personen liegt, lebendig. Es beeinflußt und gestaltet die Erinnerung der Menschen durch verarbeitete Erfahrungen, die diese selber gru- nicht des Historischen. Daß und wie sich 'mythische' und 'rationale' Elemente des historischen Den­ kens überschneiden und dynamisch aufeinander bezogen sind, läßt sich in der klaren ideal typ i­ schen Trennung der beiden Dimensionen nur schwer ausmachen, und die Viclschichcigkeic der Hiscorisierung wird zu einem einlinigen Racionalisierungsprozeß vereinfache. (Dabei kann Rationalisierung als Gewinn von Aufklärungs- und Kritikchancen unversehens zur 'Rationali­ sierung' als Verdunklung von Widersinn werden).

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gemacht, vergessen oder verdrängt haben.16 Das Geschichtsbewußtsein erweitert den Horizont der Zeiterfahrung. Es fügt der Erinnerung Wissen hinzu und vergrößert natürlich die zeitliche Erstreckung des Gedächtnis­ ses in eine intergenerationelle Kontinuität und Dauer des persönlichen und kollektiven Selbst. Die Idee dieser Dauer, die dem Bedürfnis nach Überschreitung von Geburt und Tod entspricht, treibt die kulturellen Pro­ zeduren und Praktiken an, in denen eine Gesellschaft ihre Zusammen­ gehörigkeit und ihre Unterscheidung von Anderen reflektiert und bestätigt. Hinsichtlich der drei Arten von Krisis unterscheidet sich die jeweilige Konzeption von Kontinuität ganz erheblich. Im Falle einer 'normalen' Kri­ sis bindet sie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in eine schon bekannte solide und ungebrochene Einheit des jeweiligen Selbst. Die Wun­ den, die die Kontingenz der historischen Identität geschlagen hat, werden durch die Vorstellung vom Zeitverlauf geheilt, wie sie in der lebendigen Geschichtskultur der Betroffenen als Deutungs- und Orientierungsmuster wirksam ist. Im Falle einer 'kritischen' Krise gibt es keine schon bereitste­ hende Heilung der Zeitordnung. Sie muß 'erfunden' werden durch neues Durcharbeitens dessen, was geschehen ist. Diese 'Erfindung' ist keine Schöpfung aus dem Nichts, sondern sie restrukturiert die Elemente des historischen Erzählens in ein neues Konzept der Zeitordnung oder bringt neue Elemente in dieses Konzept ein. Im neuen Deutungsmuster werden die Schrecken der verstörenden Ereignisse überwunden und der Bruch der Zeit geheilt. Im Fall einer 'katastrophischen' oder 'traumatischen' Krise wird die grundlegende Zeitverlaufsvorstellung, die sinnträchtige Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in ihrem Kern zerstört, und die Wunden der historischen Identität bleiben offen.

16 Zum Verhältnis von Erinnerung, Vergessen und Geschichtsbewußtsein vgl. Paul Ricoeur: Gedächtnis - Vergessen - Geschichte, in: Klaus E. Müller, Jörn Rüsen (Eds): Historische Sinn­ bildung. Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien. Reinbek 1997, S. 433-454; ders.: Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern - Vergessen - Verzei­ hen. (Essener Kulrurwissenschaftliche Vorcrägc, Bd. 2) Göttingen 1998.

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Identität und historisches Ereignis In den Prozeduren und Praktiken der Identitätsbildung durch Geschichts­ bewußtsein spielen Ereignisse eine entscheidende Rolle. Sie werden in einer solchen Weise erinnert und repräsentiere, daß ihre faktische Besonderheit (kontingente Ereignishafcigkeit) für die Besonderheit und Einzigartigkeit des persönlichen oder sozialen Selbst sceht.17 Diese philosophischen Aus­ drücke beschreiben vertraute Phänomene: Verheiratecsein zum Beispiel ist ein Faktor sozialer und persönlicher Identität, und es ist begründet und konstituiert in einem einzelnen Ereignis, in der Zeremonie, in der ein Mann und eine Frau ein Ehepaar werden. Das menschliche Leben ist voll von solchen konstitutiven Ereignissen: Eine Taufe bestimmt eine Person zum Christentum; in frühen Gesellschaften wurde jedes sozial wichtige Stadium im Lebenszyklus durch eine Zeremonie eingeleitet und beendet, die als konkreter einzelner und besonderer Vorgang die Identität der jewei­ lig Betroffenen konstituiert. Die Erinnerung hält diese Ereignisse lebendig, und auf diese Weise wird die ereignishafc konstituierte Identität aufrecht erhalten und dauernd bestätigt in sozialen Interaktionen und Kommuni­ kationen, wo sie dauernd (direkt oder indirekt) verhandelt wird.18 Das gleiche gilt für den Zeitraum des Geschichcsbewußtseins jenseits der Grenzen der persönlichen und generacionellen Erinnerung. Auch hier spielen Ereignisse eine konstitutive Rolle in der Formung kollektiver Iden­ tität. Das Geschichtsbewußtsein bearbeitet sie mit der geistigen Kraft von Normen und Werten, die das menschliche Handeln durch kulturelle Ori­ entierung und Willensabsichten regulieren. Jürgen Straub hat in einer glücklichen Formulierung solche Ereignisse „die Mitte einer Erzäh­ lung" genannt (ders.: Temporale Orientierung und narrative Kompetenz, in: Jörn Rüsen (Ed.): Geschichtsbewußtsein. Psychologische Grundlagen, Encwicklungskonzepte, empirische Befunde. Köln 2001, S. 15-44, zit. S. 28). 18 Vgl. Klaus E. Müller: Das magische Universum der Identität. Elementarformen sozialen Ver­ haltens. Ein ethnologischer Grundriß. Frankfurt am Main 1987. Diese eindrucksvolle Synthese ethnologischen Wissens arbeitet die wichtige Rolle, die Zeitordnungen für Identitätsbildungen spielen, heraus. Vgl. auch ders.: Zeitkonzepte in traditionellen Kulruren, in: Klaus E. Müller, Jörn Rüsen (Eds): Historische Sinnbildung - Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshori­ zonte, Darstellungsstrategien. Reinbek 1997, S. 221-239.

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Das heißt nicht (wie man zumeist meint), daß das Geschichtsbewußt­ sein einfach gegenwärtige Werte und Normen auf die Vergangenheit appli­ ziert. Die Sache ist viel komplizierter. Die Ereignisse, um die es geht, sind geistig immer schon mit normativer Kraft und Bedeutung für die Gegen­ wart lebendig gewesen. Indem sie durch die Erinnerung von der Vergan­ genheit in die Gegenwart übertragen werden, gewinnen sie Bedeutung, aber nicht ausschließlich nachträglich; denn sie haben sich gleichsam schon in die inneren und äußeren Umstände eingeschrieben, unter denen und aufgrund deren sie erinnert werden. Und das ist geschehen, bevor diese Umstände selber noch von denen, deren Leben sie bestimmen, interpretiert werden. Schon bevor die Vergangenheit durch Deutung zur Geschichte für eine spätere Gegenwart wird, ist sie bereits in den Prozeduren ihrer Deu­ tung zur Geschichte wirksam. Deshalb ist Identität nicht einfach eine Angelegenheit von 'Erfindung' durch absichtsvolle kulturelle Prozeduren im Bereich der Geschichtskultur. Dieser Bereich selber ist vielmehr schon vorbestimmt durch Ereignisse der Vergangenheit selber, bevor deren histo­ rische Bedeutung kulturell verhandelt wird. Auf der anderen Seite ist natür­ lich diese Bedeutung nichtsdestoweniger eine Angelegenheit der histori­ schen Erinnerung und deren kreativer geistiger Potentiale. Die soziale Gruppe, um deren Identität es geht, bezieht sich auf eine Vergangenheit, die jenseits der Lebensspanne ihrer Mitglieder liegt. Sie fühlen sich dieser Vergangenheit in einer bestimmten Weise verpflichtet: Sie benutzen sie, um das kulturelle Gebilde von sich selber als Gruppe, die in ihr wirksame und für ihre Mitglieder identitätsbildende Zugehörigkeit und Abgrenzung von Anderen, zum Ausdruck zu bringen und dadurch zu aktualisieren und zu bestätigen. Sie machen damit sich selbst und den Anderen klar, was sie gemeinsam haben, was ihren spezifischen Charakter ausmacht und was sie von Anderen unterscheidet und trennt. So betrach­ ten beispielsweise im Bereich der religiösen Identität Christen ihr Leben in einer grundsätzlichen Beziehung zu dem vergangenen Geschehen mit und durch Jesus von Nazareth. In der gleichen Weise beziehen sich die Muslime auf die Ereignisse des Lebens von Mohammed. Im Bereich des Geschichtsbewußtseins ist menschliche Identität kon­ stituiert durch Ereignisse mit normativer Kraft und durch die individuelle und soziale Erinnerung an sie. Wenn sie für den Gesamtbereich der menschlichen Welt, für menschliches Leben überhaupt und im Ganzen

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relevant sind, dann können sie jenseits des Horizonts angesiedelt sein, innerhalb dessen die Menschen ihre eigene Lebenswelt erfahren. In diesem Falle hat ein Ereignis einen 'mythischen' Charakter. Das heiße aber nicht, daß in diesem Fall die Menschen denken, es habe nicht wirklich stattge­ funden. Im Gegenteil: Die Realität eines solchen Ereignisses jenseits des Erfahrungshorizonts alltäglichen menschlichen Lebens wird als höher angesehen, als realer als die sogenannte wirkliche Welt. Der Unterschied zwischen Mythos und Geschichte kann im Hinblick auf diese Unterscheidung von Realität folgendermaßen beschrieben wer­ den: Mythen erzählen Geschichten von Ereignissen, deren ontologischer Status ein anderer ist als der Status von Ereignissen, die innerweltlich an einem bestimmten Orte und zu einer bestimmten Zeit geschehen sind. Ereignisse geschehen mythisch in einer 'höheren' Wirklichkeit, in der Zeit der göttlichen Welt. Im Lichte solcher Geschichten erfahren die Vor­ kommnisse der menschlichen Welt ihre Deutung durch 'Aufhebung' ihrer Tatsächlichkeit. Diese 'Enttatsächlichung' ist notwendig, damit die histo­ rische Erzählung mit der Bedeutung und Kraft der Wahrheit aufgeladen wird, mit der sie das menschliche Handeln durch eine Vorstellung der gött­ lichen Weltordnung orientieren. Ich benutze den Ausdruck 'historisch' in meinen Überlegungen über den Zusammenhang von Krise, Ereignis und Identität im weiteren Sinne, so daß er den gesamten Bereich der identitätskonstituierenden Erinnerung von Ereignissen umgreife, also der Unterscheidung von Mythos und Geschichte (im engeren Sinne) noch vorausliegt. Im engeren Sinne meint Geschichte, daß die identitätskonstituierenden Ereignisse den gleichen Sta­ tus haben wie Ereignisse innerhalb des Erfahrungshorizonts der Menschen, die sich auf sie beziehen. Natürlich wird Identität nicht durch ein einzelnes Ereignis konstituiert, sondern durch eine zeitliche Verbindung von einem Ereignis mit anderen, innerhalb deren es seine besondere Bedeutung, seine konstituierende Kraft, gewinnt. Es handele sich immer um eine Kette von Ereignissen, die die gegenwärtige Lebenssituation mit dem besonderen Ereignis verbindet, auf das sich die Menschen beziehen, wenn sie sich selbst und den Anderen, mit denen sie zusammenleben, klarmachen wollen, wer sie sind, wie ihre Lebensordnung beschaffen isc und wie sie das Anderssein der Anderen ver­ stehen. 'Geschichte' (im weiteren Sinne) als Inhalt des Geschichtsbewußt-

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seins besteht aus dieser zeitlichen Kette von Ereignissen. Sie hat die kultu­ relle Kraft der Identitätsbildung. Historische Identität formiert sich in der Repräsentation historischer Ereignisse, die sich in der Kette der Genera­ tionen auf Dauer stellen. Diese Ereignisse können hinsichtlich ihrer Kraft der Identitätsbildung auf unterschiedlichen Bedeutungsebenen liegen. In einer künstlichen ide­ altypologischen Auflistung kann man folgende Möglichkeiten unterschei­ den: (a) Ereignisse mit einer positiven Gründungs- oder Konstitutionsfunktion. Bekannte Beispiele sind die Unabhängigkeitserklärung mit ihrer Bedeu­ tung für die politische Identität der Bürgerinnen und Bürger der Vereinig­ ten Staaten, die Auferstehung Christi für die Christen, der Auszug aus Ägypten für die Juden. (b) Ereignisse, die Identität negativ konstituieren. In diesem Falle bildet sich Identität gegen ein Ereignis, das die Geltung der eigenen Selbstachtung schlicht negiert. Das paradigmatische Beispiel für ein solches Gegen-Ereig­ nis ist natürlich der Holocaust und seine Rolle in der historischen Identität von Juden, Deutschen und Anderen, die in ihn verwickelt sind. Er spielt z.B. eine wichtige Rolle im Selbstverständnis und in der Legitimität des Staates Israel, und er war immer ein historisches Ereignis, gegen das die Deutschen mit sich selbst ins Reine kommen mußten.19 Für viele säkulare Juden ist er das historische Zentrum ihrer Identität.20 Eine andere Art von Gegen-Ereignis ist durch seine Bedeutung für die Identität von Anderen charakterisiert. In diesem Falle wird die eigene Identität gegen eine andere konzeptualisiert, also nicht dadurch, daß man mit der Negation der eige­ nen Selbstachtung fertig werden muß. Dies war beispielsweise eine lange Zeit und in hohem Maße der Fall in Deutschland. Die deutsche Identität wurde in ihrer modernen nationalen Form gegen das westliche Modell

19 Vgl. Moshe Zuckermann: Zweierlei Holocaust. Der Holocaust in den politischen Kulturen Israels und Deutschlands. Göttingen 1998. 20 Vgl. Jonathan Webber: Erinnern, Vergessen und Rekonstruktion der Vergangenheit. Über­ legungen anläßlich der Gedenkfeier zum 50. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. aus jüdi­ scher Perspektive, in: Fritz Bauer Institut (Ed.): Auschwitz.. Geschichte, Rezeption und Wir­ kung. Frankfurt am Main 1996, S. 23-53. Webber sagt, "that to a cercain degree ehe Holocaust has replaced God" in Jewish sr.:lf-understanding (S. 49). Vgl. auch Peter Novick: The Holocausr in American Life. Boston 1999.

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nationaler Identität (vor allem des französischen) ausgeprägt. Die Deut­ schen konzipierten ihr verpflichtendes politisches Wercsyscem gegen die 'Ideen von 1789'. Sie beanspruchten einen 'Sonderweg' für sich und ihre politische Kultur, der durch seine Abweichung vom wesclichen Paradigma der Modernisierung definiere isc. 21 Im Laufe der Entwicklung des deut­ schen Nationalismus gab es kein einzigartiges Ereignis, das die normative Kraft gehabe hätte, das deutsche nationale Selbstverständnis in der gleichen Weise zu begründen, wie es die amerikanische oder die Französische Revo­ lution für die Amerikaner und Franzosen vermocht hatte. Statt dessen spielten verschiedene historische Ereignisse eine Rolle als Bezugsgröße des nationalen Selbstverständnisses - die Reformation, der Befreiungskrieg, der Sieg über Frankreich 1871 (hier wurde die siegreiche Schlacht von Sedan als nationales Symbol gewählc), die nationale Begeisterung im August 1914 (,,Die Ideen von 1914"). Diese Ereignisse waren explizit gegen die 'Ideen' der nationalen Identität Anderer, vor allem der Franzosen mit ihrer uni­ versalistischen Ausrichtung, gerichtet. Dies hatte u.a. zur Folge, daß die Menschen- und Bürgerrechte sich im deutschen Sonderweg nicht recht verorcen ließen und demgemäß lange Zeit in ihrer Bedeutung für die poli­ tische Kultur moderner Gesellschaften heruntergespielt wurden. (c ) Ereign isse oder Ketten von Ereignissen, die ältere Ausprägungen kollek­ tiver Identität zu anderen und neueren verwandeln. In diesem Fall führt der idencitätscrächtig erinnerte historische Wandel zu einer Ordnung des eige­ nen Selbst (individuell und sozial), die im Blick auf die gegenwärtige Lebenssicuacion der Menschen und ihrer Zukunftserwartungen mehr Überzeugungskraft hat, als die Vorstellung eines verpflichtenden Ursprungs. Ein Beispiel für eine solche Veränderung stellt der Prozeß der Säkularisierung dar, der eine religiöse Identität in eine nicht-religiöse ver­ ändere, die dann 'kulcurell' genannt wird, oder die Ersetzung einer alten Verfassung durch eine neue. Für die gegenwärtig wirksame deutsche Iden­ tität kann man als Kette solcher Ereignisse die folgende Sequenz zusam­ menfassend erwähnen: Zusammenbruch der Naziherrschaft, Neue Verfas­ sung in Westdeutschland, Wiedervereinigung. Im Hinblick auf die Wiedervereinigung ist es bemerkenswert und durchaus typisch für die Bernd Faulenbach: Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Histo­ riographie zwischen Kaiserreich und Nacionalsozialismus. München 1980.

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Besonderheit der aktuellen Ausprägung nationaler Identität in Deutsch­ land, daß es im Einigungsprozeß kein Ereignis gab, das als 'Gründung' oder als 'konstitutiver Akt' angesehen wird. Dem sich anbietenden Datum des 9. November, des Falls der Mauer, wurde wegen seiner historischen Ambi­ valenz diese Bedeutung verweigert. So erscheint das neue Deutschland objektiv als eine vergrößerte Version der alten Bundesrepublik, - subjektiv wird dies freilich bei vielen anders wahrgenommen. Dieser Unterschied erzeugt Probleme in der heutigen deutschen Identität. 22 Man kann diese Eigentümlichkeiten von Ereignissen, die als entschei­ dende Schritte im historischen Prozeß der Bildung kollektiver Identität erinnert werden, noch nach folgender Typologie weiter ausdifferenzieren: - Ereignisse als Wendepunkte. Auch hier kann die deutsche W iedervereinigung als Beispiel dienen. Sie hat die deutsche nationale Identität nach 1945 in eine neue Form gebracht. Ursprünglich gab es ein unspezifi­ sches Gefühl der Zusammengehörigkeit, die die Bundesrepublik Deutschland und die deutsche demokratische Republik verband. Die­ ses Gefühl schwächte sich allmählich ab durch eine stärker werdende westdeutsche Identität, aber auch durch eine wachsende ostdeutsche. Beide verschmolzen nach 1989 in eine klare nationale Dimension der politischen Identität. Andere Wendepunkte, die die deutsche Identität beeinflussen, sind die Ereignisse der europäischen Einigung. - Ereign isse, die ausgebildete Muster kollektiver Identität in Frage stellen. Beispiele dafür sind die deutsche Niederlage 1945 hinsichtlich des tra­ ditionellen deutschen Nationalismus, der Zusammenbruch des kom­ munistischen Systems 1989 hinsichtlich der bis dahin vorherrschenden Vorstellung russischer Identität. - Ereignisse, die ausgebildete Formen kollektiver Identität erneuern. Dafür mag als Beispiel der amerikanische Bürgerkrieg stehen. Diese Liste ist unvollständig, kann also weiterentwickelt und ausdifferen­ ziert werden. Für die Zwecke meiner Argumentation reicht sie aber aus, denn sie zeige, daß historische Ereignisse, die kollektive Identität ausprägen, 22 Vgl. Rüsen, Jörn: Historische Erinnerung - zweideutig - eindeutig. Zum 5. Jahrestag der Deutschen Wiedervereinigung, in: Schulverwaltung. Zeitschrift für Schulleitung und Schulauf­ sicht. Ausgabe Nordrhein-Westfalen, 6. Jg., Nr. 9, September 1995, S. 239-240.

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dies in sehr unterschiedlicher Weise leisten können. Es gibt nicht nur eine Art, historische Ereignisse mit der normativen Kraft der Ausprägung kol­ lektiver Identität zu präsentieren, sondern man kann von einer breiten Skala verschiedener Möglichkeiten sprechen. Als letzte Überlegung zur Typologie identitätsbildender historischer Ereignisse möchte ich die Unterscheidung zwischen 'normalen', 'kritischen' und 'katastrophischen' Ereignissen aufgreifen und sie auf den kulturellen Prozeß der Identitätsbildung beziehen. - Eine 'normale' Krise führt zu einem GeschichtskonZ(!pt, mit dem ein Ereignis, das diese Krise repräsentiert (z.B. der Sturm auf die Bastille in der Französischen Revolution) Identität wie in einem Gründungsakt konstituieren. In diesem Falle stehen Ereignisse für den Ursprung. - Eine ' kritische' Krise erzeugt eine komplexere Identität, in der Verän­ derung selber wesentlich wird. In diesem Fall stehen Ereignisse für Ver­ änderung und Entwicklung. Ein Beispiel dafür ist die französische Revolution als 'Großereignis' für die kulturelle Idemität Europas: Es konstituiert seine innere Verzeitlichung.23 - Eine 'katastrophische' Krise wird demgegenüber von Ereignissen aus­ gelöst, die eine positive Konstitution oder Entwicklung historischer Identität verhindern und die Möglichkeit zerstören, Identität auf einem werccaften Ereignis zu begründen, das im Zusammenhang mit der zu bewältigenden Krise geschehen ist. In diesem Falle !haben Ereignisse einen 'traumatischen' Charakter und entfalten eine zerstörerische Kraft in der menschlichen Selbsteinschätzung. Mit dieser Kraft bleiben sie eine permanente Bedrohung der Identität und eine unübersteigbare Grenze von Kohärenz in der zeitlichen Ordnung des menschlichen Lebens. Beispiele sind der Terror in der Französischen Revolution und dann natürlich - paradigmatisch - der Holocaust.

23 Vgl. dazu Friedrich Jaeger und Jörn Rüsen: Geschichte des Historismus. Eine Einführung. München 1992, S. 2lf.

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Hiscorisierung des Traumas?24 Traumatisch ist eine Erfahrung, die sich nicht in den Interpretationszu­ sammenhang integrieren läßt, der das menschliche Handeln kulturell ori­ entiert. Sie macht grundsätzlich keinen Sinn. Im Gegenteil: Sie zerstört die wirksamen Sinnkonzepte als lebenspraktische Orientierungssysteme. Ein Trauma wirkt sich als schwere Störung des praktischen Lebensvollzugs aus. Diese Störung muß überwunden werden. Daher ruft eine traumatische Erfahrung einen schweren Kampf um Interpretation hervor. Sie muß so gedeutet werden, daß sie Sinn macht, d.h. in die wirksamen Verstehens­ und Interpretationszusammenhänge der praktischen Lebensorientierung paßt. Solch ein Sinn besteht zunächst darin, daß alles das an der traumati­ schen Erfahrung ausgelassen oder unterdrücke wird, was die Wirksamkeit und Sicherheit dieser Deurungsmuster gefährdet. Lebensnotwendige Sinn­ bildung über Traumata bedeutet zunächst einmal eine Verfremdung, ja Verfälschung von Erfahrung in der Absicht, mit ihr zu Rande zu kommen. Jeder kennt diese Zerstörung und Verfremdung. Sie treten immer dann ein, wenn man über eine Erfahrung zu sprechen versucht, die einzigartig ist oder war und einen rief erschüttert hat. Das gilt nicht nur für negative Erfahrungen mit traumatischer Qualität, sondern auch für positive (z.B. überwältigende Glückserfahrungen). Wer solche Erfahrungen macht, wird über die Grenzen des Alltagslebens hinausgetrieben und damit auch über die für dieses Alltagsleben maßgeblichen Weltdeutungen und Selbstver­ ständigungen. Nichtsdestoweniger aber können ohne Worte auch die Dinge nicht im Horizont der Wal1rnehmung und der Erinnerung gehalten werden, die solch eine erschütternde, ins Ungedeutete und Undeutbare hinauskatapultierende Qualität haben. Denn nur in diesen Horizonten gedeuteter Wahrnehmung und erinnerbarer Erfahrung kann man mit ihnen zu Rande kommen. Sogar im dunklen Gefängnis der Verdrängung tendieren solche Erfahrungen dazu, sich auszudrücken: Wenn die Betrof-

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Die folgenden Überlegungen sind angeregt von einer Konferenz über "Colleccive Idenricy, Experienccs of Crisis, and Trauma" im Rahmen des incernacionalen Forschungsprojekts "Chi­ « nese Hiscoriography and Hiscorical Culcure in a Comparacive Perspeccive . im Kulrurwissen­ schafclichen lnscicuc Essen 17.-20.6.1998. Besonders dankbar bin ich Susanne Weigelin­ Schwiedrzik für inspirierende Hinweise.

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fenen nicht über sie sprechen können, dann werden sie den Mangel an Sprache und mit ihr möglicher Deutung zwanghaft durch ein Verhalten kompensieren, das sich als Mangel und Bruch der Lebensführung manife­ stiert. Sie müssen über sie 'sprechen' in dieser 'Sprache' der Zwangshand­ lungen ohne Worte, denn sie sind mit ihnen verbunden und müssen mit dieser Verbundenheit mental umgehen und zu Rande kommen. Historisierung ist eine allgemein verbreitete kulturelle Strategie, mit den verstörenden Konsequenzen traumatischer Erfahrungen fertig zu wer­ den. In dem Augenblick, wo man damit beginnt, eine Geschichte darüber zu erzählen, was geschehen ist, wird der erste Schritt auf den Wege getan, die zerstörerischen Ereignisse ins Welt- und Selbstverständnis zu integrie­ ren. Am Ende dieses Weges gibt die historische Erzählung dem Trauma einen Platz in der zeitlichen Kette von Ereignissen. In dieser Kette mache es dann Sinn und hat die Kraft verloren, Sinn und Bedeutung zu zerstören. In dem Augenblick, wo ein Ereignis 'historischen' Sinn und Bedeutung bekomme, löst sich sein traumatischer Charakter auf. Diese Enttraumatisierung durch Historisierung kann durch unterschied­ liche Strategien, traumatische Ereignisse in einen historischen Kontext zu stellen, erfolgen: Anonymisierung, Kategorisierung, Normalisierung, Moralisierung, Ästhetisierung, Teleologisierung, T heoretisierung, Speziali­ sierung. Anonymisierung ist weit verbreitet. Anstelle von Mord und Verbrechen, von Leid durch Untaten anderer Menschen und entsprechender Schuld spricht man von einer 'dunklen' Periode, von 'Schicksal', von einem „Ein­ bruch dämonischer Kräfte" in die mehr oder weniger geordnete Welt.25 Durch Kategorisierung wird ein Trauma verständlichen Vorkommnissen und Entwicklungen gleichgesetzt. Es verliert seine zerstörerische Einzigar­ tigkeit für diejenigen, die von ihm bestimmt sind (meistens, aber nicht aus­ schließlich die Opfer), indem es mit abstrakten Termini bezeichnet wird. Durch solche Termini werden Traumata in sinn- und bedeutungsvolle zeit­ liche Entwicklungen integriert. 'Tragödie' ist ein prominentes Beispiel. Der

25 Ein Beispiel dafür ist die Art und Weise, wie Leopold von Wiese auf dem ersten deutschen Soziologentag nach Kriegsende die Zeit davor angesprochen hatte (s. unten S. 289).

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Ausdruck verweist auf schreckliche Dinge, aber das Schreckliche geschieht als Teil einer Geschichte, die eine Botschaft für diejenigen hat, denen sie erzählt wird oder die sie sich selber erzählen.26 Durch Normalisierung wird die destruktive Qualität der traumatischen Geschehnisse aufgelöst. In diesem Fall erscheint das, was geschehen ist, als etwas, das immer und zu allen Zeiten wieder und wieder geschieht. Man erklärt es dann, indem auf die menschliche Natur verwiesen wird, die bei allen zeitlichen Unterschieden letztlich doch die gleiche sei. Als eine solche normalisierende Kategorie wird sehr oft das 'Böse' im Menschen oder in der menschlichen Natur verwendet. Durch Moralisierung wird die destruktive Kraft historischer Traumata zivilisiert. Das traumatische Ereignis bekommt den Charakter eines Falles, der für eine allgemeine Regel des menschlichen Verhaltens steht: nämlich die, daß man so etwas nicht tun solle. Das Trauma wird dann mit Bedeu­ tung einer Botschaft versehen, die die Herzen wegen seiner Schrecklichkeit anrührt. Das beste Beispiel dafür ist der Film „Schindlers Liste" von Ste­ phen Spielberg (1994). V iele Holocaustmuseen in den Vereinigten Staaten folgen der gleichen Strategie der Sinnbildung. Am Ende des Rundgangs durch den Schrecken, den die Juden zu erleiden hatten, werden die Besu­ cher mit einer klaren moralischen Botschaft entlassen. Durch Ästhetisierung werden traumatische Erfahrungen anschaulich und den Sinnen faßlich gemacht. Sie fügen sich in die Wahrnehmungska­ tegorien ein, die die Welt erschließen und handhabbar machen. Der Schrecken moderiert zum Bild, in dem er eingefangen und - im schlimm­ sten Fall - konsumierbar wird. Die Filmindustrie liefert zahlreiche Beispiele dafür. Der vielgepriesene Film „Das Leben ist schön" von Roberta Begnini ( 1997) löst eine verstörende Erfahrung mit den Mirceln des Slapsticks und einer anrührenden Familiengeschichte auf. Ein anderes Beispiel stellt die

26 Ein interessantes Beispiel ist die Are und Weise, wie der bekannte und einflußreiche deut­

sche Historiker Theodor Schieder mir seiner eigenen Verstrickung in die Nazi-Verbrechen, die erst kürzlich entdeckt wurde, fertig zu werden versuchte. Vgl. dazu Jörn Rüsen: Koncinuicäc, Innovation und Reflexion im späten Historismus: Theodor Schieder, in: ders.: Konfigurationen d es Historismus. Studien zur deutschen Wissenschafcskulcur. Frankfurt am Main 1993, S. 357397, bes. 380ff.

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Musealisierung der Relikte dar. Sie können so aufbereitet werden, daß die Unheimlichkeit des Ortes sich in die Überschaubarkeit einer historischen Lektion verwandelt.27 Durch Teleologisierungwird die traumatische Vergangenheit mit gegen­ wärtigen (oder zumindest späteren) Lebensformen versöhnt, die überzeu­ genden Vorstellungen von Legitimität und Akzeptanz entsprechen. Eine verbreitete Art und Weise dieser Teleologisierung besteht darin, die bela­ stende Vergangenheit dazu zu benutzen, historisch eine Lebensordnung zu legitimieren, die für sich beansprucht, ihre Wiederkehr verhindern zu kön­ nen oder für das Gegenteil zu stehen. Diese historische Perspektive tritt als Lektion auf, die man aus der historischen Erfahrung gelernt hat; das Trauma löst sich in einem Lernprozeß auf. Ein bekanntes Beispiel gibt das historische Museum in Israels Gedenkstätte Yad Vashem ab. Die Besucher folgen dem Gang der Zeit buchstäblich, indem sie in die Tiefe des Schreckens der Konzentrationslager und Gaskammern gehen; dann führt sie ihr Weg hinauf zur Gründung des Staates Israel. Eine ähnliche Symbo­ lik weist die Gedenkstätte in Buchenwald in der Form auf, die sie in der DDR erhalten hat. Durch geschichtstheoretische Reflexion kann die schmerzende Tatsäch­ lichkeit traumatischer Ereignisse sich in der dünnen Luft der Abstraktion auflösen. Der herausfordernde Bruch der Zeic, der durch traumatische Vor­ gänge erfolgt ist, ruft kritische Fragen danach hervor, was Geschichte im Allgemeinen ist, welche Sinnprinzipien gelten und wie die Modi der Reprä­ sentation dieser Vergangenheit aussehen. Solche Fragen zu beantworten heißt, den Bruch im Konzept des historischen Wandels zu überwinden. Der traumatisch aufgestaute Fluß der Zeit28 in der Kette der Ereignisse fließt erneut und fügt sich in die Orientierungsmuster des gegenwärtigen Lebens ein, - wenn solche geschichtstheoretischen Fragen mit einem ent­ sprechenden Geschichrskonzept übergreifender Entwicklungen beantwor­ tet werden. 27

Siehe unten Kap. 6. Ich beziehe mich hier auf Metaphern von Dan Diner: Zwischen Aporie und Apologie. Über Grenzen der Historisierbarkeit des Nationalsozialismus, in: ders. (Ed.): Ist der Nationalsozialis­ mus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit. Frankfurt am Main, S. 62-73. - In einer Diskussion hat er die Sinnlosigkeit des Holocaust als seine Unerzählbarkeit durch die For­ mulierung unterstrichen, der Holocaust sei keine Erzählung, sondern eine Statistik. 28

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Spezialisierung schließlich ist eine genuin akademische Art und Weise, traumatischen Erfahrung den Stachel der Sinnlosigkeit zu ziehen. 29 Der Sachverhalt wird in Einzelthemen zerlegt, die je für sich einem Speziali­ stendiskurs überantwortet werden; die verstörende Dissonanz im übergrei­ fen (sinnträchtigen) historischen Zusammenhang wird dabei ausgeblendet. Das beste Beispiel dafür ist die Einführung von Holocaust Studies als eige­ nes Lehr- und Forschungsgebiet. Ins Spezialgebiet von Experten einge­ grenzt, verliert er seinen Schrecken als Herausforderung ans historische Denken im Ganzen. Alle diese historiographischen Strategien gehen zumeist mit mentalen Prozeduren einher, die aus der Psychoanalyse gut bekannt sind und in denen es darum geht, die beunruhigenden Züge biographischer Erfahrung auszublenden oder zumindest erträglicher zu machen. Die wirksamste Pro­ zedur ist natürlich die Verdrängung. Aber es ist zu leicht, nur darauf zu schauen, ob und inwieweit eine historische Erzählung Verdrängungsme­ chanismen benutzt, und danach zu fragen, was sie nicht erzählt. Fruchtba­ rer ist die Frage, ob und wie eine Erzählung die Vergangenheit so zur Spra­ che bringt, daß sie ihre erschreckenden Züge in Schweigen hülle. Die Psychoanalyse kann die Historiker darüber belehren, daß es eine ganze Anzahl von Möglichkeiten gibt, die Sinnlosigkeit oder den beunru­ higenden Charakter von Erfahrungen der Vergangenheit in historischen Sinn zu verwandeln, indem sie nachträglich in einer entlastenden Weise vergegenwärtigt werden. Diejenigen z.B., die wissen, daß sie in die Verbre­ chen der Vergangenheit verwickelt waren und dafür verantwortlich sind, entlasten sich von dieser Vergangenheit, indem sie sie aus dem Bereich ihrer eigenen Geschichte exterritorialisieren und in den Bereich der Geschichten verschieben, die für die J\nderen' maßgebend ist. Solche psy­ choanalytischen Prozesse der Exterritorialisierung belastender 'Ich-Anteile' (man spricht auch vom 'Schatten') lassen sich in Historiographie überset­ zen. Eine solche Exterritorialisierung kann auch dadurch zustande gebracht werden, daß man die Rolle der Täter und der Opfer vertauscht oder Täter­ schaft und Verantwortung auf andere verschiebt. Eine 'Verschiebung' die­ ser Art kann auch dadurch erfolgen, daß man ein Bild der Vergangenheit

2 9 In der Psychologie der Verdrängung spricht man von 'spliccing off'.

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zeichnet, in dem das eigene Gesicht in der Darstellung der Tatsachen ver­ schwunden ist, obwohl diese Tatsachen objektiv zu den Ereignissen gehören, die die eigene Identität konstituieren. Man kann alle diese Strategien beobachten, wenn man nach den Spu­ ren fragt, die vergangene Traumata in der Geschichtsschreibung und ande­ ren Formen der Geschichtskultur hinterlassen haben, die der lebensprakti­ schen Orientierung der Gegenwart dienen. Die Spuren werden durch Erinnerung und Geschichte gleichsam bedeckt, und manchmal ist es sehr schwierig, die verstörende Realität unter der glatten Oberfläche der kol­ lektiven Erinnerung und der historischen Interpretation auszumachen. Solche enttraumatisierenden Strategien der historischen Sinnbildung zu diagnostizieren, führt unausweichlich zu der Frage, wie sich das Werk der Historiker zu ihnen zu verhalten hat. Ist es möglich, die verfremdende und verfälschende Transformation sinnverzehrender Traumata in sinnha&e Geschichte zu vermeiden? Die verstörende Antwort auf diese Frage lautet: nein, solange das historische Denken zu sinnvollen Geschichten führt. Das muß es wohl. Damit bestreite ich natürlich nicht, daß eine sorgfältige historische Forschung die verdrängenden Verfälschungen schmerzha&er Zusammenhänge (einschließlich belastender Verantwortung) überwinden kann. In dieser Hinsicht hat die Geschichtswissenschaft die notwendige Funktion einer aufklärenden Kritik, mit dem die Tatsachen ans Licht gebracht werden. Aber indem die Historiker diese Tatsachen interpretieren (und das müssen sie ja wohl) können sie gar nicht anders als narrative Deu­ tungsmuscer zu verwenden, die den traumatischen Tatsachen historischen Sinn geben. In dieser Hinsicht ist die Geschichtswissenschaft aus rein logischen Gründen eine kulturelle Praxis der Enttraumatisierung. Sie verwandelt Trauma in Geschichte. Heiße das aber nun, daß das Trauma unvermeidlich in die Geschichte seiner Repräsentation verschwindet? Die Fülle traumatischer Erfahrungen im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat einen Wandel im historischen Verhältnis zu Traumata hervorgerufen. Eine weichzeichnende Überformung ihrer verletzenden Züge ist nicht (mehr) möglich, zumindest solange die Opfer und ihre Nachkommen ebenso sehr wie die T äter und deren Nachkommen und alle diejenigen, die in die Verbrechen gegen die Menschlichkeit verwickelt waren, objektiv von dieser verletzenden Verkehrung menschheitlicher Normen bedingt und subjektiv mir der Aufgabe konfrontiere sind, ihr ins Gesicht zu sehen.

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Die Probleme einer solchen Sicht ins Antlitz des absoluten Schreckens sind ausführlich im Hinblick auf den Holocaust diskutiere worden. In die­ ser Diskussion wird immer wieder versucht, die Besonderheit dieses trau­ matischen Ereignisses dadurch aufrecht zu erhalten, daß man es in der Erinnerung getrennt von Strategien der historischen Sinnbildung behält. Diese Trennung wurde mit dem begrifflichen Gegensatzpaar 'mythisch' und 'historisch' bezeichnet. Nur ein 'mythisches' Verhältnis zum Holo­ caust stelle die Form dar, in der sein traumatischer Charakter vor seiner Auflösung durch Historisierung bewahre werden kann.30 Aber wenn man den Holocaust auf diese Weise dehistorisiert, dann beraubt man ihn seiner explosiven Kraft in der Negation üblicher Prozeduren der Historisierung. Wenn man diesem Trauma ein Asyl neben der Normalität der üblichen historischen Welcsicht zuweist, dann schneidet man es von den etablierten Praktiken der Geschichtskultur ab. Es lebt dann sein eigenes Leben in einem separaten Bedeutungsraum. Diese Separierung erlaubt es dann, im üblichen Verfahren Geschichte zu schreiben, so als ob nichts geschehen wäre. (Das ist die Gefahr, wenn man 'Holocaust-Studies' als ein eigenes und das heißt eben: separiertes - Feld der akademischen Forschung und 'Holocaust-teaching' als eigenes und ebenfalls separiertes Feld der Erzie­ hung einrichtet. Getrennt von den anderen Bereichen der akademischen Forschung und der Erziehung stabilisiert diese fundamental abweichende historische Erfahrung indirekt und unfreiwillig eine Weise des Denkens und Lehrens, die zumindest problematisiere würde, wenn der Holocaust ein integraler Teil ihrer Gegenstandsbereiche wäre.) Aus diesen Gründen führt der Versuch, den traumatischen Charakter historischer Ereignisse durch Zubilligung eines transhistorischen 'mythischen' Charakters in die Irre; denn letztlich legitimiere, ja verstärkt er die Enttraumatisierungs­ funktion des 'normalen' historischen Denkens. Wie aber kann diese Enttraumatisierung durch historisches Denken dann verhindert werden? Ich möchte die Strategie der 'sekundären Trau­ matisierung' vorschlagen. Damit meine ich, daß die Art und Weise, Geschichte zu betreiben, geändert werden muß. Ich denke an eine neue Art des historischen Erzählens, in dem die erzählten traumatischen Ereignisse ihre Spuren im Deurungsmuster und in der Darstellungsform der Erzäh30 Vgl. dazu uncen Kap. 7.

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lung selber hinterlassen, die die Interpretationsarbeit der Historiker und die Rezeption ihrer Ergebnisse bestimmen. Die historische Erzählung hat ihre Geschlossenheit, ihre glatte Decke über der Kette der Ereignisse aufzuge­ ben. Sie hat ihre 'Verstörung' innerhalb der methodischen Prozeduren der Interpretation und in den narrativen Prozeduren der historischen Reprä­ sentation auszudrücken. Auf der Ebene fundamentaler Prinzipien der historischen Sinnbildung durch Interpretation von Ereignissen muß Sinnlosigkeit selber ein konstitu­ tives Element des historischen Sinnes werden. Das heißt im Einzelnen: - Eine Anonymisierung des Schreckens läßt sich vermeiden, wenn klar gesagt wird, was geschehen ist, in der schockierenden Nacktheit kruder Faktizität. - Anstatt die verstörenden Ereignisse unter sinnträchtige Kategorien zu subsumieren, müssen sie in interpretierende Bezugsrahmen integriert werden, die die traditionellen Kategorien des historischen Sinnes selber problematisieren. - An die Stelle einer normalisierenden Geschichte, die verstörende Erfah­ rungselemente auflöst, hat die Geschichte die Erinnerung an die „Nor­ malität der Ausnahme" aufrecht zu erhalten. Sie hat den Schrecken unter der dünnen Decke des alltäglichen Lebens zu erinnern, die Bana­ lität des Bösen systematisch in Rechnung zu stellen etc. - Anstatt zu moralisieren, hat die historische Interpretation die Grenzen der Moralität zu bezeichnen, oder noch besser, die innere Brüchigkeit der Moralität selber. - Anstatt zu ästhetisieren, sollte die historische Repräsentation die brutale Häßlichkeit der Dehumanisierung betonen. - An die Stelle einer Glättung von Zeitbrüchen durch Teleologi.e hat die Geschichte zu zeigen, wie der Fluß der Zeit sich aufstaut im Verhältnis zwischen der Vergangenheit traumatischer Ereignisse und der Gegen­ wart ihrer Erinnerung. Diskontinuität, das Zerbrechen von Verbin­ dungen, Gebrochenheit ist eine Gestalt des historischen Sinns selber

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geworden. Ruch Klüger hat diese Gebrochenheit mit der Metapher von ,,Glasscherben, die die Hand verletzen, wenn man versucht, sie zusam­ menzufügen," charakterisiere. 31 Die geschichtstheoretische Reflexion hat die verstörenden Elemente der historischen Erfahrung in ihrer traumatischen Dimension aufzuneh­ men und in die Abstraktion von Begriffen und Ideen einzuarbeiten. Die Spezialisierung schließlich muß systematisch an ein "compelling overall interpretative framework"32 zurückgebunden, also reflexiv in übergreifende Zusammenhänge der Geschichte und ihrer Interpretation und Repräsentation zurückgebunden werden. Die Schreie der Opfer, das Gelächter der T äter, und das beredte Schweigen der Zuschauer sterben weg, wenn der Lauf der Zeit seine normale histori­ sche Gestalt kultureller Orientierung bekommt. Sekundäre Traumatisie­ rung ist eine Chance, dieser Dehumanisierung ihre Stimmen zurückzugeben. Indem der Schrecken in dieser Weise erinnert wird, gewinne das historische Denken eine Chance, seine Fortsetzung zu verhindern.

31 Ruch Klüger: Weiter leben. Eine Jugend. Göttingen 1992, S. 278. 32 Saul Friedländer: Trauma, memory, and transference, in: G. H. Hartman (Ed.): Holocaust remembrance: The shapes of memory. Oxford 1994, S. 252-263, zit. S. 258; vgl. ders.: Writing the history of ehe Shoa: Some major dilemmas, in: Horst-Walter Blanke, Friedrich Jaeger, Tho­ mas Sandkühler (Eds): Dimensionen der Historik. Geschichtstheorie, Wissenschaftsgeschichte und Geschichtskultur heute. Jörn Rüsen zum 60. Geburtstag. Köln 1998, S. 407-414.

6. Auschwitz - die Symbolik der Authentizität 1

„Ich starre auf die Bilder und suche mir die Augen wund nach dem alles entscheidenden Stück meines Lebens. Aber nur die verlöschenden Leben der anderen sind zu erkennen, wozu soll ich von Empörung oder Mitleid reden, ich möchte zu ihnen hinabsteigen und finde den Weg nicht." Jurek Becker2

Probleme Es ist notwendig und unmöglich zugleich, sich an den Holocaust historisch

zu erinnern.3 Notwendig, weil er eine der erschütterndsten, wenn nicht wegen ihrer Einzigartigkeit die herausragendste Erfahrung des 20. Jahr­ hunderts darstellt. Diese Erfahrung nicht systematisch, ja kategorial in jedem Umgang mit der Vergangenheit zu berücksichtigen, würde jedes historische Bewußtsein unterhalb des Niveaus der objektiven Vorgaben aus

Erste Fassung: Über den Umgang mit den Orten des Schreckens - Überlegungen zur Sym­ bolisierung des Holocaust, in: Detlef Hoffmann (Ed.): Das Gedächtnis der Dinge. KZ-Relikte und KZ-Denkmäler 1945-1995. Frankfurt am Main 1997, S. 330-343. 2 Jurek Becker: Die unsichtbare Stadt, in: ,,Unser einziger Weg ist Arbeit". Das Ghetto in Lodz 1940-1944. Frankfurt am Main 1990, S. 11. 3 Die folgenden Überlegungen beruhen auf einer Argumentation, die ich im Rahmen einer von Detlef Hoffmann und Jonathan Webber geleiteten Tagung in Auschwitz ( 1993) über Pro­ bleme der Konservierung entwickeln konnte. Eine erste Gedankenskizze erschien unter dem Tttel: Auschwitz: How to Perceive the Meaning of the Meaningless - A Remark on the Issue of Preserving the Remnants, in: Kulturwissenschafdiches Institut: Jahrbuch 1994, S. 180-185 (deutsche Übersetzung in: Gewerkschaftliche Monatshefte 46, H.11 (1995), S. 657-663). - Ich danke Jan-Holger Kirsch fur Kritik und Ergänzungen.

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der Vergangenheit ansiedeln, unter denen das historische Selbstverständnis der Gegenwart erworben wird. Unmöglich, weil jede historische Erinne­ rung eine Sinnbildungsleistung bedeutet, die am Holocaust scheitert.4 Ich verstehe unter Sinnbildung jeden mentalen Vorgang, in dem Erfah­ rung so gedeutet wird, daß sie als Orientierung und Motivation in Han­ deln und Leiden fungieren kann. Es geht um die innere Aktivität des menschlichen Subjekts als notwendige Bedingung seines äußeren Lebens. Welt muß deutend angeeignet werden, und zugleich müssen sich die menschlichen Subjekte über sich selbst, mit sich selbst und mit den ande­ ren verständigen. Kultur ist als Lebensbereich und Erfahrungsdimension durch diese Aktivität konstituiert (und zugleich von anderen Bereichen unterschieden). Historisch ist eine Sinnbildung dann, wenn sie im Medium der Erinnerung vollzogen wird, die über die Grenzen der eigenen Biographie hinausgehe. Hier wird Vergangenheit als Erfahrung in einen zeitlichen Zusammenhang mir der Gegenwart gebracht, so daß sie als Geschichte gegenwärtige Lebensverhältnisse orientiert und eine hand­ lungsrelevante Zukunftsperspektive eröffnet. Um den Holocaust historisch deuten und vergegenwärtigen zu können, muß er als komplexe Tatsache in eine solche Zeirvorstellung integriert wer­ den. Er wird dann sinnbildend mit Ereignissen verbunden, die hinter ihn zurückgehen und über ihn hinaus (tendenziell bis zur Gegenwart) führen (z.B. in eine Geschichte des Antisemitismus oder in eine vergleichende Darstellung des V ölkermords). Genau diese kategoriale Einordnung, diese Vorbedingung jeder historischen Interpretation, wird durch die besondere Erfahrungsqualität, die den Holocaust als Tatsache auszeichnet, also durch den unvorstellbaren Schrecken, der an ihm haftet, grundsätzlich gestört. Es ist eben nicht so, daß die historische Sinnbildung eine mentale Konstruk­ tionsleistung darstellt, der sich die in den Quellen aufbewahrten Informa­ tionen zu fügen haben. Historischer Sinn spinnt sich eben nicht einzig und allein von der Gegenwart her entlang der Zeitlinie über die Vergangenheit, so daß diese sich den Sinn- und Orientierungsbedürfnissen der Gegenwart zu fügen hätte. Es gibt einen Eigensinn und - im Falle des Holocaust und ähnlicher Geschehnisse - einen Widersinn, mit dem sich die Vergangenheit 4 Aus der unübersehbar gewordenen Literatur vgl. dazu Saul Friedländer (Ed.): Probing the limits of representation: Nazism and rhe "Final Solution". Cambridge, Mass. 1992.

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immer schon in die Deutungs- und Orientierungsmuster der Gegenwart eingeschrieben hat, bevor diese in den kulturellen Praktiken der histori­ schen Erinnerung eigens konzipiert und interpretierend auf den Erfah­ rungsbestand der Vergangenheit bezogen werden. Es ist dieser vorgängige ('objektive') Widersinn, der die Erinnerung an den Holocaust und seine symbolische Präsentation zu einer paradoxen Angelegenheit macht. Das mentale Paradigma für diesen Widersinn, das inzwischen Eingang in die Geschichtstheorie gefunden hat, ist das Trauma.5 Diese Paradoxie wird geradezu sinnenfällig, wenn es um die Ausgestal­ tung der Schreckensorte nationalsozialistischer Konzentrationslager zu Gedenkstätten geht. Die besondere Eindringlichkeit, die die unmittelbare sinnliche Präsenz dieser Orte für das historische Gedächtnis auszeichnet, verlangt nach entsprechend eindringlichen Symbolen, die die Bedeutung der hier mit Händen zu greifenden Vergangenheit zum Ausdruck bringen. Welche Sinnbilder können und sollen das Geschehen, das an diesen Orten sich ereignete, für die Nachgeborenen festhalten? Wie können und sollen diese Bilder sich so in unser Geschichtsbewußtsein einprägen, daß wir nicht nur wissen, sondern auch sehen können, wie und warum diese Ver­ gangenheit gegenwärtig gehalten werden muß? Wie kann es sinnenfällig gemacht werden, daß diese Vergangenheit nicht nur für die Nachkommen der Opfer und der Täter gegenwärtig gehalten werden muß, sondern auch für alle diejenigen, die dem puren Menschsein des Menschen eine eigene unverletzliche Würde zuschreiben und die zugleich um die Gefährdung, Verletzbarkeit und Verkehrung dieser Würde in schlechthinnige Unmenschlichkeit wissen wollen? Viele Gedenkstätten an den Orten der ehemaligen Konzentrationslager verdanken ihre Entstehung einer fatalen Dialektik: Die Zeichen der Erin­ nerung ersetzten die Relikte. Die nachträgliche Deutung trat an die Stelle der Präsenz des zu Deutenden. Die Orte wurden so zu historischen Erin­ nerungsstätten ausgestaltet, daß zugleich die Überreste beseitigt wurden, in denen die schreckliche Vergangenheit gegenwärtig geblieben war. In den

5 Vgl. Cachy Caruch: Incroduccion, in: Psychoanalysis, Culcure, and Trauma, in: American Imago, Vol.48, No. 1 (1991), S. 1-12; Saul Friedlander:Trauma, Memory, and Transference, in: G. H. Harcman (Ed.): Holocausc Remembrance: The Shapes of Memory. Oxford 1994, S. 252263.

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sichtbaren Zeichen der historischen Erinnerung wurde die erinnerte Ver­ gangenheit unsichtbar. Nichts erhellt diese fatale Dialektik deutlicher als das physische Verschieben von Asche ermordeter Opfor in Buchenwald, um Platz für die Ausgestaltung der Gedenkstätte zu ma,chen.6 Die Relikte störten, sie paßten nicht ins Bild. Die Bilder des Gedächtnisses brauchten anscheinend eine leere Projektionsfläche, die durch die Relikte der Ver­ gangenheit nicht unscharf und schwankend, nicht zur Irritation werden durfte. Die Eindeutigkeit der jeweils erwünschten historischen Botschaft konnte durchaus auf Kosten einer irritierenden Authentizität der Überre­ ste hergestellt werden.7 In Anschluß an Droysen kann man im Blick auf die empirische Gegen­ wart der Vergangenheit zwischen Tradition und Überrest unterscheiden.8 Tradition sind die Überbleibsel der Vergangenheit, in denen sie als Erfah­ rungsinhalt gegenwärtig da ist, wenn sie selber eine Sinngehalt haben, d.h. wenn sie Deutungen oder Symbolisierungen enthalten (wie z.B. historio­ graphische Texte), an die angeknüpft werden kann, wenn später die Zeit, die sie dokumentieren, historisch vergegenwärtigt werden soll. Überreste sind sie dann, wenn sie keine solche Anknüpfungen erlauben (z.B. Mauer­ reste oder Bodenverfärbungen). Die Relikte des Holocaust sind zumeist Überreste. Die Trümmer einer Gaskammer in Auschwitz z.B. enthalten keine Deutungsangebote. Und doch sind sie nicht frei und leer von Sinn. Zunächst einmal zeugen sie als Überrest einer Sprengung indirekt davon, daß ihre Erbauer und Benutzer sie dem Gedächtnis der Nachwelt entzie­ hen wollten, weil sie deren Verurteilung ihrer (Un-)Taten antizipierten. Aber auch der Trümmercharakter selber bietet eine Metapher, mit der die Erinnerung an die industrielle Massentötung gedeutet werden kann. Über­ reste können also eine eigene Symbolkraft entfalten, die neben und unab­ hängig von den Deutungen wirkt, mit denen die Menschen der Vergan­ genheit in den Objektivationen ihres Geistes sich zur Erinnerung anbieten oder deren Verhinderung sie bewirken wollen. Im Falle des Holocaust tra6 Hinweis von Volkharc Knigge. Vgl. ders.: Buchenwald, in: Hoffmann (Ed.): Gedächtnis (Anm. 1), S. 92-134. 7 Vgl. dazu Reinhard Matz: Die unsichtbaren Lager. Das Verschwind,:n der Vergangenheit im Gedenken. Reinbek 1993. 8 Johann Gustav Droysen: Hiscorik, hiscorisch-kricische Ausgabe, ed. Peter Leyh, Bd. l. Stutc­ gart-Bad Cannstacc 1977, S. 426 u.ö.

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gen die Überreste die symbolstarke Signatur des Widersinns. Mit ihm mischen sie sich in die Erinnerungsarbeit ein, die das, wovon sie zeugen, so vergegenwärtigen will, daß es interpretiert und verstanden und als gedeu­ tete Erfahrung orientierend wirken kann. Der Widersinn der Überreste kann sich gegen den Sinn der Deutung sperren, für den sie zeugen sollen. Das Verschwinden der Relikte im Wachsen der Erinnerungsbilder ist ein quasi-natürlicher Vorgang: In dem Maße, in dem die Vergangenheit 'historisch' wird, d.h. im Wechsel der Generationen aus dem Horizont der je eigenen Erfahrung verschwindet, also erst richtig Vergangenheit wird, muß sie als diese Vergangenheit durch die besondere kulturelle Tätigkeit des spezifisch historischen Erinnerns gegenwärtig gehalten werden. In dieser besonderen Erinnerungsarbeit gewinne die Vergangenheit ihren Sinn als 'Geschichte'; sie rückt in der Abständigkeit des Vergangenen in einen auf Zukunft gerichteten zeitlichen Zusammenhang mit der Gegenwart, in dem die gegenwärtig Lebenden sich selbst und ihre Welt verstehen. Bloße Relikte des Vergangenen zeigen an, daß etwas der Fall war, was nicht mehr unmittelbar in den Lebenszusammenhang der Gegenwart gehört. Dieses Nicht-mehr-Dazugehören, diese Dysfunktionalität macht die Spuren der Vergangenheit interessant und auffällig für die Gegenwart und verleiht den materiellen Objekten vergangenen menschlichen Lebens eine eigene ästhetische Faszination.9 Als bloßes Relikt aber ist die Vergan­ genheit noch nicht historisch, hat sie noch keinen inneren Sinn- und Bedeutungszusammenhang mit Gegenwart und Zukunft, in dem sie erst zur Geschichte wird; dazu bedarf es des deutenden und interpretierenden Umgangs mit ihr. Dieser Umgang schließt die Relikte mit ein. Sie dienen zum Erweis der Tatsächlichkeit des Geschehenen, das erzählend vergegen­ wärti gt wird. Nirgendwo wird diese innere Spannung zwischen Sinn und Widersinn der historischen Deutung greifbarer als in Auschwirz.10 Denn hier ist im Unterschied zu allen anderen Konzentrationslagern (aufgrund einer frühen Entscheidung der polnischen Regierung, das Lager in seiner hinterlassenen 9 Vgl. dazu die Beiträge von Heinrich Theodor Grücter und Gottfried Korff in: Klaus Füß­ mann, Heinrich Theodor Grütter, Jörn Rüsen (Eds): Historische Faszination. Geschichtskultur heute. Köln 1992; ferner: Michael Fehr, Stefan Grohe (Eds): Geschichte, Bild, Museum. Zur Darstellung von Geschichte im Museum. Köln 1989. 10 Teresa Swiebocka (Ed.): Auschwitz. A History in Photographs, English edition prepared by

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Form zum nationalen Denkmal zu machen) die Erinnerung an den Holo­ caust untrennbar mit der Erhaltung der Relikte verbunden. Ihr natürlicher Verfall wirft heute die unumgängliche Frage auf, welche Symbolsprache der historischen Erinnerung an und mit ihnen gesprochen werden kann und soll. Die Konservierungsfrage scheine zunächst nur technischer Natur zu sein. Folgt man aber der praktischen Notwendigkeit, die symbolträchtigen Relikte nicht einfach verfallen oder (buchstäblich) Gras über sie wachsen und sie im extremen Falle sich auflösen zu lassen, dann kommt man in unausweichlicher Konsequenz zu grundsätzlichen und nur in der Form theoretischer Reflexion diskutierbaren Fragen. Denn jeder Eingriff - und sei es auch nur einer, der vor dem Verfall schütze, - verändere den Gesam­ teindruck. Will man daher vermeiden, daß dieser Eindruck unabsichtlich entstehe, indem schrittweise jeweils drängende Einzelprobleme der Kon­ servierung gelöst werden, ohne daß ihr Stellenwert im symbolischen Gesamteindruck micreflekciert wird, dann bedarf es eines umfassenden Konzeptes, in welcher Form die Überreste des Holocaust hier gegenwärtig gehalten werden sollen. Um einen solchen Konservierungs- und Restauracionsplan zu ent­ wickeln, sind Entscheidungskriterien notwendig, die die Angemessenheit des visuellen Eindrucks der Gegenwart im Verhältnis zur gegenwärtig gehaltenen Vergangenheit betrifft. Meine folgenden Überlegungen sollen zur Entwicklung und Begründung solcher Kriterien beitragen. Sie gehen von zwei Grunderfordernissen aus: Einmal muß der Besonderheit von Auschwitz Rechnung getragen werden, daß nämlich hier im Unterschied zu allen anderen Konzentrationslagern in der Symbolik der Präsentation die Überreste dominieren. Die Überreste selber bieten sich gebieterisch als 'Tradition' an, sie sind in sich selbst sinnträchcig. Daher muß die Frage erörtere werden, wie die Überreste als Symbole für die historische Bedeu­ tung der in ihnen gegenwärtigen Vergangenheit angesehen und behandele werden können und sollen. Die zweite Frage betrifft diese Bedeutung sei-

Jonathan Webber and Connie Wilsack. Auschwitz-Birkenau 1993; Doosry, Yasmin (Ed.): Represencacion of Auschwitz. 50 Years of Phocographs, Paincings, and Graphics. Oswiecim 1995.

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her: Jede Artikulation von Bedeutung, in der Vergangenheit als Geschichte vergegenwärtigt wird, ist ein Vorgang der Sinnbildung. Welche Sinnbil­ dung wird dem Holocaust gerecht? Zur Lösung dieser Probleme bieten sich drei Präsentationsstrategien an: diejenigen eines Museums, eines Denkmals und - nicht zu vergessen - die­ jenige eines Friedhofs. In allen drei Fällen handele es sich um Gedenkstät­ ten, aber jeder einzelne Fall hat seine eigene Logik der historischen Sinn­ bildung. Wie immer im einzelnen diese Logiken unterschieden und miteinander kombiniert werden können, - sie sind auf ihre je verschiedene Weise dem Erfordernis verpflichtet, die Vergangenheit augenfällig zu ver­ gegenwärtigen. Es gelten also die Sinnkricerien der sinnlichen Wahrneh­ mung, der Anschauung (Aischesis). Insofern führen die aufgeworfenen grundsätzlichen Probleme des historischen Umgangs mit dem Holocaust noch zusätzlich in die Schwierigkeit einer Ästhetik des Hiscorischen.11 Alle Gesichtspunkte des Denkens und Erkennens und alle politischen Implika­ tionen und Absichten der Erinnerung an den Holocaust müssen in ästhe­ tische Formen gegossen werden, wenn sie die Besucher als Betrachter errei­ chen sollen. Das wirft die Frage nach den Dimensionen auf, in denen die Vergangenheit als Geschichte vergegenwärtige wird und sinnenfällig da ist. In der Geschichtskultur moderner Gesellschaften lassen sich drei wesentliche Dimensionen unterscheiden: die kognitive, die politische und die ästhetische. Jede folgt ihren eigenen Direktiven, hat einen eigenen Racionalitätstypus und ist anthropologisch unterschiedlich verwurzelt: die kognitive im Denken, die politische im Willen und die ästhetische im Fühlen und Anschauen. Zugleich hängen alle systematisch miteinander zusammen; sie bedingen sich gegenseitig in unterschiedlichen Konstella­ tionen. Differenz und Zusammenhang der Regulative in diesen verschie­ denen Dimensionen machen es schwierig, die besondere Rolle von Gedenkstätten herauszuarbeiten und Kriterien zu ihrer Gestaltung und Beurteilung zu finden, die dieser Rolle entsprechen. Unvermeidlich mischen sich politische, moralische, didaktische, religiöse und weltan-

11 Siehe oben Kap. 3. Zur Ästhetik der Holocaust vgl. die grundlegenden Arbeiten von James Young: Mahnmale des Holocaust. Motive, Rituale und Stä«en des Gedenkens. München 1994; ders.: Formen des Erinnerns. Gedenkscänen des Holocaust. Wien 1997.

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schauliche Imperative in die Symbolisierung ein, und auch die von der historischen Forschung erbrachten wissenschaftlichen Erkenntnisse for­ dern ihr Recht. Vor allem kommt es darauf an, die in der ästhetischen Dimension des Historischen maßgebenden Quellen und Kriterien von Sinn zu entdecken und zu explizieren. Das ist deshalb unbedingt erforderlich, weil der politi­ sche Gehalt, den jede historische Vergegenwärtigung der Vergangenheit aufweist, mehr oder weniger gebieterisch danach dränge, die ästhetische Gestaltung zum bloßen Darscellungsmiccel, zum bloßen Transportmedium politischer Botschaften zu instrumentalisieren und sie damit in ihren eige­ nen schöpferischen Möglichkeiten der Sinnbildung einzuschränken. Das ist um so mehr der Fall, als die infrage stehende Vergangenheit zum zen­ tralen Erfahrungsbestand des kollektiven Gedächtnisses gehört. Wissens­ bestände, moralische und politische Normen und auch religiöse und welt­ anschauliche Gesichtspunkte spielen natürlich in der Gestaltung von Gedenkstätten eine wesentliche Rolle. Die für sie spezifischen Medien und die ihnen eigentümlichen Regulative und Diskursformen bringen sich alle­ mal zur Geltung (in unterschiedlicher Stärke und wechselnden Mischungs­ und Spannungsverhältnissen). Um die Symbolisierung des Holocaust wird immer gestritten und gekämpft: um Wahrheit durch Argumentation, um Mache durch Legitimation, um Glauben durch Heilsgewißheit, um Orien­ tierung durch umfassende Weltdeutung. Alles dies aber spielt sich auf der Ebene der ästhetischen Wahrnehmung nur hilfsweise ab; es geschieht nur erläuternd und ergänzend, ist nicht das Eigentliche. Es dominiert vielmehr die visuelle Kommunikation mit ihren eigenen ästhetischen Regulativen. Gehen freilich auf der anderen Seite die kognitiven und politischen Ele­ mente (und auch die religiösen, weltanschaulichen und welche immer für Sinnbildung jeweils kulturell infrage kommen) nicht in die ästhetische Kommunikation ein, drohen sie also übersehen oder zumindest in ihrer Bedeutung erheblich geschwächt zu werden, dann wird die ästhetische Dimension des Historischen einseitig und hybrid.

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Funktionen Was aber ist den Besuchern vor Augen zu bringen? Welche historische Bedeutung ist ihnen sinnfällig zu präsentieren? Um diese Fragen beant­ worten zu können, möchte ich verschiedene Funktionen von Gedenkstät­ ten unterscheiden: (1) Dokumentation, (2) Interpretation und Erklärung, (3) politischer und moralischer Appell, (4) Lernchance, (5) ästhetische Repräsentation. 12 Diese Funktionen decken die wichtigsten Dimensionen der Geschichtskultur ab, die kognitive (1 und 2), die politisch-moralische (3) und die ästhetische (5); die vierte, die moralische, verbindet Elemente der anderen und liegt quer zu ihnen. Ich möchte die fünf Funktionen ein­ zeln ansprechen und je funktionsspezifisch nach der Anschaulichkeit histo­ rischer Repräsentationen fragen. (1) Jede Gedenkstätte erfüllt eine Dokumentationsfunkcion; sie hat eine klare und zuverlässige Information über die Tatsächlichkeit der erinnerten Vergangenheit zu geben. Das klingt trivial, aber auf der Ebene der visuel­ len Kommunikation bekommt diese Dokumentationsfunktion eine beson­ dere Bedeutung, nämlich diejenige der Authentizität.13 Der Ort selber und erst recht die Relikte sprechen im Gesamtbild der Gedenkstätte die Spra­ che der Authentizität. Diese Sprache ist genuin ästhetisch. Materielle Objekte, die der erinnerten Vergangenheit direkt entstammen, haben eine J\.ura' des Authentischen, die ihnen eine eigentümliche Überzeugungskraft im Medium der sinnlichen Wahrnehmung verleiht.14 Jeder kann diese

12 Ich beschränke mich auf Funktionen für die Nachgeborenen. Für die überlebenden gibt es noch die wichtigen Funktionen ihrer persönlichen Erinnerung, ihrer Kommunikation mitein­ ander und ihrer Repräsentation als Opfer. 13 Dabei gehe ich davon aus, daß es sich um Orte handelt, wo die Geschehnisse, an die erin­ nert werden soll, statrgefunden haben. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu historischen Museen klammere ich aus meinen Überlegungen aus. Museen verfremden die Authentizität der Objekte durch artifizielle Kontexte. Nichts zeugt eindringlicher für die artifizielle Authentizität musealisierter Relikte als die halbe Baracke aus Auschwin im Washingtoner Holocaust­ Museum. Die Lücke, die sie in Auschwitz läßt, signalisiert den Abstand, der zwischen einer Ver­ gegenwärtigung durch Musealisierung und der 'auratischen' Gegenwart der Relikte an den Orten des Geschehens selber besrehr. 14 In den Objekten steckt mehr, als ihnen durch nachträgliche Bedeutungszumessung wider-

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Erfahrung machen. Bekommt man z.B. ein Dokument im Original zu Gesicht, mit dem man sich (in Form einer kritischen Edition) intensiv beschäftigt hat, dann kommt zur kognitiven Aneignung des Informations­ gehaltes die 'auratische' Erfahrung hinzu, in diesem Objekt da vor aller Ver­ standesarbeit der Erkenntnis den Vorschein der 'Sache selbst' zu haben. In prä-narrativer Gegenwärtigkeit drängt sich die Vergangenheit als sinn­ trächtig auf - überwältigend, erschütternd, erschreckend, verlockend, ansprechend und in vielen anderen Modi einer Wahrnehmung, die in sich selbst schon Bedeutung hat. Natürlich setzen diese Modi immer auch einen Sinn-Input voraus, den die Betrachtenden kulturell mitbringen, - aber die Wirkung des Objekts kann über diese subjektive Sinnvorgabe, über den deutenden Erwartungs­ horizont der Betrachtenden, grundsätzlich hinausgehen. Kognitiv sind Relikte nur Informationsträger; ästhetisch kann ihnen aber bereits ein Ele­ ment der Bedeutung anhaften, das im Denk- und Erkenntnisprozeß erst im interpretierenden Überschreiten des Informationsgehaltes in einen sinn­ und bedeutungsvollen Zeitzusammenhang mit anderen Informationen hergestellt wird. Kognitiv und politisch-moralisch spielt diese Authentizität der unmittelbaren Wahrnehmung der Vergangenheit nur eine untergeord­ nete Rolle. Der Reiz, den die Spur der Zeit im Angesicht der Vergangen­ heit hinterlassen hat, verflüchtigt sich im Wissen um das, was geschah. Auch der politische Gebrauch des authentischen Materials geht an seiner ästhetischen Qualität vorbei; er drückt ihm den Stempel eines praktischen Gegenwartsinteresses auf, der die eigensinnigen Züge der Vergangenheit verwischt. Der ästhetische Reiz wird letztlich zum Propagandamittel ver­ dinglicht und verstimmt. Authentizität als Qualität ästhetischer Erfahrung des Historischen heißt, daß die Vergangenheit sich selbst zur Erinnerung präsentiert, sich selbst be-deutet, also der Überrest sich zur Tradition prädestiniert. Diese führe. Theordor Foncane hat das einfühlsam in seinen Erinnerungen an seinen Besuch des Tower in London beschrieben: ,,Im allgemeinen geht es freilich auch bei historischen Punkten ohne Zuhülfenahme von Vorstellungen, ohne Heraufbeschwörung bestimmter Bilder nicht gut ab; es gibt aber doch Örtlichkeiten, denen man ihre historische Bedeutung auch ohne Kommentar sofort abfiihlt" (Von Zwanzig bis Dreissig, in: Sämtliche Werke, ed. Walter Keitel: Aufsätze, Kri­ tiken, Erinnerungen Bd. 4: Autobiographisches. Darmstadt 1973, S. 306. Zum Begriff der Aura vgl. die klassische Beschreibung von Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner ästhe­ tischen Reproduzierbarkeit. Gesammelte Schriften, Bd. 1,2. Frankfurt am Main 1991, S. 440.

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prä-kognitive und meta-politische Bedeutung ist außerordentlich wichtig. Sie sollte dadurch weder verhindert noch geschwächt werden, daß die Relikte in den Kontext von Kommentaren und Interpretationen gestellt werden, deren Deutung den unmittelbaren Eindruck der Überreste über­ lagert und mediatisiert. Die Überreste sprechen ihre eigene Sprache der Bedeutung. Es ist diejenige einer offenen, unbestimmten und unmittelba­ ren Sinnhaftigkeit, die aus der imaginativen Kreativität der Betrachter spontan entspringt (oder zumindest entspringen kann). Diese genuin ästhetische Sprache sollte in den Gedenkstätten eine Arti­ kulationschance bekommen und nicht schon durch die Sprache der Inter­ pretation verfremdet oder unterdrückt werden, die gegenüber der Sponta­ neität ästhetischer Imagination durch vorgegebene Konzepte historischer Deutung und politischer Inanspruchnahme bestimmt ist. Gerade die Unbestimmtheit oder zumindest die Unter-Bestimmtheit des unmittelba­ ren Eindrucks von Überresten als authentischen Zeugnissen der erinnerten Vergangenheit stelle eine noch wenig genutzte Chance der historischen Sinnbildung dar. Was sich im Hinblick auf gedanklich durchgearbeitete Erkenntnisleistung und politisch plausibel gemachte normative Appelle als defizitär ausnehmen mag, muß in der ästhetischen Dimension der histori­ schen Sinnbildung, in der Vorbegrifflichkeit und normativen Unbe­ stimmtheit unmittelbarer sinnlicher Wahrnehmung, als Quelle eigener Bedeutung angesehen und ernstgenommen werden. Diese Bedeutung verschwindet übrigens in den Rekonstruktionen, in denen eine vermeintliche Wirklichkeit wiederhergestellt wird (etwa in der Rekonstruktion des 'ursprünglichen Zustandes' einer Baracke). In dieser Vergegenwärtigung schlägt die Unmittelbarkeit der ästhetischen Erfahrung wirklicher, in den Objekten gegenwärtiger Vergangenheit ins Fiktionale um. Was dann als authentisch zu gelten hat, ist arbiträr und kann (z.B. in Spielbergs Film „Schindlers Liste") bis zur Verfälschung der Tatsachen (um der ästhetischen Stimmigkeit im dramatischen Aufbau der Handlung wil­ len) gehen. Die Authentizität der Relikte stehe für die Tacsächlichkeic des Holocaust. Sie sollte als solche, also diesseits aller Erklärung und Deutung ihre eigene Form der Repräsentation erhalten. Man könnte vom Pathos der Tatsächlichkeit sprechen.

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Es gehört zur Dialektik dieses Pathos, daß in der präsenten Tatsäch­ lichkeit der Relikte der Holocaust zugleich abwesend ist. Das Geschehnis selber, der unmittelbare Vollzug des Mordens und Sterbens und das unge­ heuerliche Ausmaß des Leidens, die Abgründigkeit der Dehumanisierung 'normaler' Menschen, auch die Verstrickung der Unbeteiligten in die Tat durch Nichttun und Nichtleiden, sind vergangen. Die Qualität der Tacsächlichkeit aber, die die authentischen Relikte haben, eröffnet eine exi­ stenzielle Dimension, in die hinein das Geschehnis erinnert werden kann. Freilich wird es hier als eines erinnert, das sich der Präsenz des Tatsächli­ chen entzieht und nur als abwesend erfahrbar ist. Diese Abwesenheit sel­ ber sollce sichtbar gemacht werden. Dazu bedarf es allerdings einer subti­ len Koncexcualisierung und Dekoncextualisierung der authentischen Objekte. In der Kontexcualisierung kommen die Erinnerungen der Über­ lebenden der Authentizität des Abwesenden am nächsten. Dekontextuali­ siert sollre der ruinöse Charakter der Überreste erhalten bleiben und nicht im falschen Schein der fiktionalen Anwesenheit des abwesenden Gescheh­ nisses untergehen. (2) Die zweite Funktion, die unmittelbar an die erste anschließt, ja von dieser gar nicht vollständig getrennt werden kann, ist eine spezifisch histo­ rische; die lnterpretati.on und Erklärung der mit den materiellen Objekten präsentierten Informationen über die Vergangenheit. Die Objekte stehen dafür, daß etwas der Fall war. Der historische Zusammenhang, in den wir das, was der Fall war, rücken müssen, um sie zu verstehen, um sie in unsere Vorstellung von der Vergangenheit und ihrer Bedeutung für uns heute ein­ rücken zu können, kann den Objekten nicht einfach abgelesen werden; sondern er erfordert eine eigene Weise des Umgangs mit ihnen, eben Inter­ pretation und historische Erklärung. Bei der Erfüllung dieser Funktion entsteht unvermeidlich das Problem der historischen Perspektive. Es stelle sich in einer komplizierten Doppel­ heit dar: Die Objekte selber lassen sich nie neutral darstellen, sondern sie können im Arrangement ihrer Präsentation -willentlich oder unwillendich - den Standpunkt der Opfer oder der T äter präsentieren. Dieser Stand­ punkt schreibe sich dann in die historische Perspektive ein, in der die Objekte gedeutet werden. Ich nenne ein Beispiel: Eine der verbreitetsten und wirksamsten bildlichen Repräsentationen des Holocaust ist die Masse der den Opfern abgeschnittenen Haare.

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Abb. 2215

Zum bloßen Stoff industrieller Bearbeitung verkommen, signalisiert sie in der nackten Präsenz ihrer Massenhafrigkeit und Objektqualität eine für den Holocaust typische Dehumanisierung des Menschen zum dinglichen Objekt purer Verwertung. Werden die Haare nun in dieser Form ausge­ stellt, dann erhebt sich unvermeidlich die Frage, ob sich nicht in dieser Prä­ sentationsweise der Blick der Täter in den der heutigen Betrachter hinein fortsetzt. Wir nehmen die Opfer in der Perspektive ihrer völligen Ent­ menschlichung, ihrer puren Dinghaftigkeit, walu und berauben sie ihrer Würde durch den Blick auf ihre Haare. Das Erschrecken über die unmit­ telbare Ansicht von Entmenschlichung erfolgt in dieser Präsentationsform in der Täterperspektive. Ob die Wahrnehmung der Unmenschlichkeit an eine solche Präsentation ihrer dinglichen Überreste gebunden sein muß,

15 Ausschnitt aus einem Bild (Neg.-N r. 14446) des Pansrowe Muzeum Auschwitz 81rke11n11 w Oswiecimiu.

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steht dahin. Gebrochen kann die Täterperspektive nur durch den Betrach­ ter selbst werden, indem er sein Sehen selber reflektiert. Dieser Bruch ist jedoch in der Präsentation selber nicht schon angelegt. Man hat sich angewöhnt, in der historischen Perspektivierung des Holocaust zwei einander entgegengesetzte und sich wechselseitig negie­ rende Perspektiven zu unterscheiden: die der Täter und die der Opfer. Bei­ des sind Perspektiven, die zunächst einmal gar nicht spezifisch historisch sind, sondern Horizonte der aktiven und passiven Betroffenheit vom Holo­ caust in der Vergangenheit selber. (Zu dieser vor-historischen, zeitgenössi­ schen Perspektive käme diejenige der Zuschauer noch hinzu.) Nun bindet aber jede historische Perspektive den Sinn und die Bedeutung der erinner­ ten Vergangenheit immer auch an Modi der subjektiven Betroffenheit der Beteiligten. Hermeneutische Elemente, die die Subjektivität der Betroffe­ nen - der Täter, der Opfer und der Zuschauer - in den historischen Zusam­ menhang des Geschehens integrieren, gehören zum interpretierenden Ent­ wurf historischer Perspektiven selber. Insofern macht die Unterscheidung von Täter- und Opferperspektive auch im Blick auf die spezifisch histori­ sche Dimension Sinn. In diese Dimension rückt der Holocaust für die Nachgeborenen ein - allerdings nur, wenn 'Täter' und 'Opfer' sich in die Genealogie ihrer Nachfahren hinein gleichsam verlängern und deren je gegenwärtige und zukunftsgerichtete Orientierungen durch diese Genea­ logie bestimmt werden. So geht z.B. in eine um die Opfer zentrierte histo­ rische Perspektivierung des Holocaust der moralische und politische Impuls des „nie wieder!" ein und wirkt an der Akzentuierung rekonstru­ ierter Zeitverläufe mit. Dann wird beispielsweise der Widerstand betont, die Unbeugsamkeit, der Heldenmut, die Solidarität und andere humane Auszeichnungen der Opfer. Daran kann dann angeknüpft werden, wenn aus der Erfahrung dieser Vergangenheit Lehren für die Gegenwart gezogen werden sollen. Die Leidensperspektive der historischen Vergegenwärtigung sollte aber auch einen Blick auf die Täter einschließen: Auch die systema­ tische Dehumanisierung der Täter sollte erklärend und interpretierend ver­ gegenwärtigt und als eine Leidenserfahrung der Nachgeborenen ermöglicht werden. Solche 'Lehren', solche direkten normativ aufgeladenen Gegenwartsbe­ züge, stehen zwar nicht im Zentrum spezifisch historischer Interpretatio­ nen und Erklärungen, nichtsdestoweniger lassen sie sich von ihnen nicht

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trennen.16 Denn in jeder historischen Perspektive erscheint der Holocaust in einem übergreifenden zeitlichen Zusammenhang, der sich auf die Gegenwart und ihre Zukunft erstreckt und über ihn zurück Voraussetzun­ gen und Bedingungen seiner 'Vorgeschichte' aufweist. Jede solcher Per­ spektiven ist durch bedeurungsverleihende Gesichtspunkte der historischen Sinnbildung bestimmt, die mit solchen 'Lehren' innerlich verbunden sind. Deshalb ist eine historische Interpretation des Holocaust, die im wesentli­ chen die Täterseite hervorhebt, problematisch: Das Leiden der Opfer rückt in den Hintergrund, obwohl es doch gerade dieses Leiden ist, das dem Holocaust seine herausfordernde historische Bedeutung verleiht. Umgekehrt ist die Opferperspektive auch einseitig. Die Lehren, die zu ziehen sind, treten als Handlungsanweisungen auf, richten sich also auf Taten der Zukunft, die den Holocaust aus den Bedingungen und Absich­ ten ihres Tuns ausschließen wollen. Um das plausibel zu machen, kann auf die 'Täterperspektive' in der historischen Erklärung und Interpretation nicht verzichtet werden. Also ist auch eine Interpretation, die das Leiden (allein) hervorhebe, zu eng. Es fehlt schließlich noch ein dritter Aspekt, den man den 'systemischen' nennen kann. Er liegt quer zu den beiden anderen und betrifft die struk­ turellen Bedingungen, unter denen der Holocaust entstand und ohne die er historisch nicht erkläre werden kann: der Kontext des Krieges, mentale Dispositionen der Täter und Opfer, die industriellen Mechanismen der Töcungsmaschinerie, ihre bürokratischen Voraussetzungen und die innere Dynamik der Entwicklung zum Massenmord, die aus den Intentionen der Täter und den Reaktionen der Opfer nicht hinreichend plausibel gemacht werden kann. Hier liegen die berechtigten Ansätze für eine historische Interpretation des Holocaust, die auf seinen Zusammenhang mit funda­ mentalen Tendenzen der Modernisierung hinweisen. 17 Modernisierung ist

16 Insofern ist die oft geäußerte Kritik am Moralismus im Umgang mit dem Holocaust, er ver­ stelle den Blick auf die Geschichte und behindere eine genuin historische Interpretation, ein­ seitig und problematisch. Diese Kritik leistet ungewollt dem Eindruck Vorschub, Historisierung bedeute, daß die Vergangenheit uns nichts mehr angehe. 17 Vgl. Norbert Frei: Wie modern ist der Nationalsozialismus? in: Geschichte und Gesellschaft

19 (1993), s. 367 - 387.

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ein geschichtlicher Prozeß, der Täter und Opfer und Zuschauer kennt und sie zugleich über alle ihre Subjektivität hinaus umgreife und bestimmt; insofern stellt sie eine synthetisierende historische Perspektive dar. (3) Die dritte Funktion der Gedenkstätte ist politisch und moralisch. Mit ihr erstreckt sich die historische Erinnerung in die mentalen Bereiche der Betrachter, wo es um deren wertbestimmte Einstellung zur Lebenpra­ x.is und um ihre wertbestimmte willentliche Beteiligung an ihr geht. Auf den ersten Blick erscheint diese Funktion angesichts des Übermaßes von vergegenwärtigtem Leid und Inhumanität einfach und leicht zu erfül1en zu sein: als Appell zur Aufrechterhaltung und Verstärkung fundamentaler Normen humaner Lebensführung. Es scheint, als gebe es hier wenig Dis­ sens. Doch läßt sich die Normenfrage von der konfliktträchtigen Iden­ titätsfrage nicht abkoppeln. Im Gegenteil: In ihrer appellativen Funktion mobilisieren die Gedenkstätten Gefühle von Zugehörigkeit und Abgren­ zung, die die symbolischen Formen der historischen Erinnerung ganz unvermeidlich mit normativer Kraft aufladen. Unvermeidlich erstreckt sich die durch die Erinnerung an den Holo­ caust mobilisierte Dynamik moralischen Urteils in die genealogische Zurechnung der Nachgeborenen. Die erinnernd entfesselte Betroffenheit durch das Ausmaß von Tod und Vernichtung schlägt auf das Selbstver­ ständnis der Betroffenen durch. Es erschüttert ihre Subjektivität so, daß sie sich neu 'fassen' muß, und dabei kommen identitätsbildende historische Zuordnungen schmerzhaft ins Spiel. Im Spiegel des Holocaust schreibt sich die Frage „Wer bin ich?" schneidend in die Befindlichkeit der Betrach­ ter ein. Die jüngste Debatte über Goldhagens Interpretation des Holo­ caust l 8 gewann ihre Konturen und Frontstellungen aus dieser Frage und überhaupt nicht aus den fachlichen Ansprüchen der vorgetragenen Deu­ tung. Mit seiner vollmundigen Erklärung, das deutsche Volk sei im Ganzen in der Tiefe seiner Kultur von einem mörderischen Antiseminitismus beses­ sen gewesen und der Holocaust eine notwendige Konsequenz daraus, rührte das Buch vielmehr an traumatische Elemente der jüdischen und deutschen Identität. Zumindest die Deutschen sahen sich mit einer histo-

18 Daniel Jonah Goldhagen: Hicler's Willing Execucioners. Ordinary Germans and ehe Holo­ caust. New York 1996. Siehe dazu unten Kap. 8.

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rischen Vorgabe ihrer Identität konfrontiert, die sie sich nicht zurechnen lassen wollten. Die Reaktion fiel entsprechend heftig aus (obwohl sie die Identitätsfrage eher nur am Rande berührte).19 Dieses Beispiel steht für etwas Grundsätzliches in der historischen Ver­ gegenwärtigung des Holocaust: Jede moralische und politische Zuspitzung, die die Erinnerung an den Holocaust erfährt, betrifft zentrale Positionen des Selbstverständnisses von besonders hoher existentieller Bedeutung und entsprechender Sensibilität und Verletzlichkeit. Immer stehen in der Tiefe der Subjektivität verankerte Standpunkte im Machtkampf der Gegenwart mit auf dem Spiel, wenn eine Vergangenheit symbolisch wirkungsmächtig auf die Gegenwart bezogen und mit einer appellativen Botschaft verge­ genwärtigt wird. Im beweglichen Medium verbaler Kommunikation lassen sich diese Spannungen und Gegensätze austragen und im Für und Wider des Argumentierens offenhalten. In der Symbolsprache einer Gedenkstätte ist das nur in engen Grenzen möglich. Hat erst einmal eine Deutung ihren Platz und ihre Form gefunden, dann steht sie mit dem Schwergewicht der Monumentalität vor Augen, und es ist schwer und nur um den Preis einer erheblichen Anstrengung möglich, sie zu ändern. Ein eindrucksvolles Bei­ spiel für diesen politischen Kampf um das normative Gewicht der Erfah­ rung des Holocaust stellen die leidenschaftlichen Auseinandersetzungen darüber da, wer mit welcher Legitimation im Namen der Opfer sprechen und ihr Leiden als Handlungsimpuls auf sich beziehen kann. (Und natür­ lich geht es auch um einen entsprechenden Kampf um die normative Zurechnung der Täterschaft; hier greifen dann Gesichtspunkte der Ver­ antwortung und der Scham.)20

19

Vgl. aber Gulie Ne' eman Arad: Ein amerikanischer Alptraum. Zum kulturellen Kontext von Daniel Goldhagens „Hit!er's Willing Executioners", in: Frankfurter Rundschau 14. Mai 1996.; dies.: Der Holocaust in der amerikanischen Erinnerung, in: Getrud Koch (Ed.): Bruchlinien. Tendenzen der Holocaustforschung. Köln 1999, S. 231-252. 20 Zum Scham-Diskurs in der deutschen Nachkriegszeit vgl. lrmgard Wagner: Ein psycho­ analyt ischer Blick auf die Geschichte der Literaturwissenschaft im Nachkriegsdeutschland: der Schamdiskurs, in: Jörn Rüsen, Jürgen Scraub (Eds): Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psy­ choanalytische Zugänge zum Geschichtsbewußtsein. (Erinnerung, Geschichte, Kulturen, Bd. 2) Frankfurt am Main 1997, S. 375-396.

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(4) Die vierte Funktion von Gedenkstätten ist pädagogisch oder didak­ tisch: Hier soll die Vergangenheit eine 'überzeugende Botschaft' an die Besucher adressieren, insbesondere an Jugend.liehe. Diese Botschaft soll ihnen sagen, was sie (vermittele durch die Symbole der Vergegenwärtigung) aus der ihnen präsentierten Vergangenheit für sich selbst, für ihre gegen­ wärtigen Lebensverhältnisse und die Zukunftsperspektive ihrer Leben­ spraxis, lernen können. In den Schreckensorten des Nationalsozialismus ist diese Botschaft eindeutig: Die Besucherinnen und Besucher sollen die Überzeugung gewinnen, durch ihr eigenes Leben zu einer Welt beitragen zu müssen, in der ein Schrecken von der Art des erinnerten sich nicht mehr ereignen darf und kann. (5) Schließlich gibt es noch eine fünfte Funktion, eine ästhetische. Sie überschneidet sich mit den anderen und integriere sie in die Einheit einer visuellen Präsentation des Holocaust. Die Gedenkstätten müssen den Besu­ chern eine historische Anschauung bieten, durch die sich die vergegen­ wärtigte Vergangenheit in ihr Bildgedächtnis einschreibe. Diese Funktion ist selbstverständlich. Die Frage aber, wie sie erfüllt werden soll und kann, führt zu durchaus offenen und schwierigen Problemstellungen. Welche Rolle spielt die visuelle Wahrnehmung im menschlichen Geschichtsbe­ wußtsein; was trägt sie zu seiner Entwicklung und Ausgestaltung bei? Nur zu oft wird der formalen Gestaltung im Bereich der historischen Erinne­ rung eine bloß untergeordnete Rolle zugewiesen. Sichtbarkeit gilt dann nur als eine Art Transportmittel oder Verstärker für kognitive Einsichten und politische, moralische und pädagogische Botschaften. Natürlich müssen solche Einsichten und Botschaften 'illustriert', d.h. sinnenfällig gemache werden; aber die ästhetische Funktion von Gedenkstätten gehe in dieser Illustration nicht auf. Es gibt nämlich auf der Ebene der visuellen Wahrnehmung und Kom­ munikation durchaus eigenständige und spezifische Vorgänge der histori­ schen Deutung, durch die die Vergangenheit für die Gegenwart wichtig wird und in und mit denen sie sich als Geschichte in das Bewußtsein der Besucherinnen und Besucher einschreibt. Die Ästhetik des Geschichtsbe­ wußtseins hat eine eigene Logik und eine eigene Strategie der historischen Sinnbildung. In dieser Logik und Strategie liegt der Schlüssel zur Ent­ scheidung über alle Fragen der visuellen Symbolisierung und damit auch des restaurierenden Umgangs mit Relikten. Für die Gedenkstättenarbeit ist

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die ästhetische Funktion fundamental; nur durch sie hindurch können die anderen erfüllt werden und nicht jenseits ihrer. Wird die Logik des Ästhe­ tischen mißachtet - und das ist immer und grundsätzlich dann der Fall, wenn die formale Gestaltung und die visuelle Symbolisierung der verge­ genwärtigten Geschichte einen bloß instrumentellen Stellenwert bekommt -, dann verfehlen die Gedenkstätten ihre besondere Rolle in der öffentli­ chen historischen Erinnerung.

Konflikte Der Holocaust ist eine historische Erfahrung, die auf unüberbietbare Weise irritiert und verstört. Er spielt in den kognitiven, politischen, moralischen und didaktischen Strategien der Geschichtskultur eine unterschiedliche und sehr oft auch umstrittene und kontroverse Rolle. Dies ist ganz unver­ meidlich so; denn er betrifft unterschiedliche Gruppen unterschiedlich, nämlich je nachdem, in welchen zeitlichen Zusammenhängen sie mit die­ ser Vergangenheit stehen. Nachkommen der Täter sind anders betroffen als Nachkommen der Opfer. Aber nicht nur zwischen diesen beiden Haupt­ gruppen von Betroffenen gibt es grundsätzliche Divergenzen, sondern auch innerhalb der einzelnen Gruppen. Man denke nur an den Streit zwischen jüdischen Gruppen und der katholischen Kirche Polens über religiöse Sym­ bole und Praktiken als Erinnerungszeichen in Auschwitz. Christliche Sym­ bole z.B. erscheinen jüdischen Besuchern so, als würden sie als Juden ihres spezifischen Bezuges zum Holocaust beraubt, als würde er ihnen entfrem­ det. Ein anderes Beispiel sind Debatten in Israel um die Angemessenheit der Erinnerungsstätte Yad Vashem für jüdisches Gedenken. Die ultra­ orthodoxe Bewegung Agudat Israel will eine eigene Gedenkstätte, weil sie mit der Symbolisierung des Holocaust in Yad Vashem nicht einverstanden ist. AJs Beispiel für heftige Divergenzen bei den Nachkommen der Täter sei auf den Historikerstreit und die Debatte um Goldhagen in Deutschland verwiesen.2 1

21 Siehe unten Kap. 8.

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In diesen Divergenzen und Spannungen geht es um die erinnernde Zuschreibung des Holocaust zur Identität der Nachgeborenen. Eine solche Zuschreibung ist der historischen Erinnerung nicht äußerlich, sondern gehört fundamental und unaufhebbar zu den elementaren Prozeduren, mit denen das Geschichtsbewußtsein die Vergangenheit als Geschichte gegen­ wärtig hält (oder auch vergessen macht) und damit auf Zukunft hin als ori­ entierende Erfahrungsgröße entwirft. Identität ist etwas, mit dem sich Menschen voneinander unterscheiden, und diese Unterschiede sind untrennbar mit je spezifischen Interessen und damit grundsätzlich auch mit Machtimpulsen imprägniert. In jeder historischen Erinnerung steckt ein Vorgang des Machtkampfes darum, jemand sein zu können, der man sein will, oder auch darum, Zugehörigkeiten, die andere einem selber ansinnen, abzuweisen, zu relativieren, zu mildern oder in Frage zu stellen. Hinzu kommt, daß der innere Zusammenhalt und die mentale Stärke einer Gruppe davon abzuhängen scheinen, wie stark sie sich von 'den Anderen' abgrenzen kann. Der Holocaust kann als historischer Bezugs­ punkt einer solchen Abgrenzung eine unvergleichliche Schärfe verleihen. Dafür mag beispielhaft die 'Besetzung' des Orces Birkenau durch den Davidstern stehen, (in einer mir unklaren Beziehung zum chrisclichen Kreuz), die ich 1995 gesehen habe (Abb. 23). Seine identitätsbildende Kraft erstrecke sich übrigens auch auf diejeni­ gen, die in keiner direkten Nachkommenschaft zu den Beteiligten stehen. Auch sie können gar nicht anders, als ihre je spezifische Identität ins Spiel zu bringen, wenn sie den Holocaust wegen seiner das Menschsein des Men­ schen betreffenden historischen Bedeutung auch auf sich beziehen, - weil er allgemeine Grundsätze des Umgangs von Menschen mit Menschen und der Abgrenzung von Selbstsein und Anderssein radikal in Frage stelle. Man ist ja nie abstrakt Mensch überhaupt, sondern man ist Mensch immer nur in besonderen Ausprägungen einer je eigenen individuellen oder kollekti­ ven Identität. Die Menschheitskategorie ist ein Regulativ dieser Ausprä­ gung, aber nicht selber eine.

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Abb.

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23

Ich erwähne dazu ein Beispiel: 22 Als vor einigen Jahren eine Gruppe japa­ nischer Buddhisten den Verancworrlichen in Auschwitz den Plan unter­ breitete, im Gelände des KZ eine Friedenspagode zu errichten, gab es eine höchst kontroverse Debatte darüber, ob ein solches weder jüdisches noch chrisrliches religiöses Symbol der Erinnerung an den Holocaust angemes­ sen isc. 23 Warum war eine Erweiterung des kulturellen Bezugsrahmens des Holocaust-Gedenkens überhaupt kontrovers? Letztlich ging es um die Frage, wer berechtigt ist, sich mir seiner je spezifischen kulturellen (also auch religiösen) Sinnbildung erinnernd auf den Holocaust zu beziehen und seine symbolische Präsenz zu beeinflussen (in diesem Falle gerade dort, wo er mit der Erfahrungswucht aurhencischer Relikte gegenwärtig ist). Die Buddhisten signalisierten eine Betroffenheit durch den Holocaust, die die 22 Ich verdanke die folgenden lnformacionen Jonachan Webber. (Mic einem der erwähncen Buddhiscen konnce ich ein längeres Gespräch führen.)

23 Bis hcuce gibr es meines Wissens kein Symbol in Auschwir-L, mic dem nichc-wesdiche Kul­ curen eine historische Bedeucung des Holocausc für sich zum Ausdruck bringen.

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Grenzen genealogischer Verbindungen überschreitet und seine historische Bedeutung ins Allgemein-Menschliche hinein ausdehnt. Das ist insofern einleuchtend, als es in der Erfahrung des Holocaust, wie gesagt, um das Menschsein des Menschen in Form seiner radikalen Negation gehe. Aber diese Negation trägt bei Opfern und Tätern eine unterschiedliche Signa­ tur, die je unterschiedliche idencitäcsbildende Kräfte bei den Nachgebore­ nen entfaltet. Ist damit ein je unterschiedlich privilegierter Zugang zur Symbolisierung der historischen Bedeutung verbunden? Wenn ja, wird damit nicht eine allgemeine Bedeutung des Holocaust als 'Geschichtszei­ chen' (im Sinne Kancs,24 aber mit negativem Vorzeichen) infrage gestellt? In ihrem inneren und unaufhebbaren Bezug auf die Identität der Betrachter wird jede universelle historische Bedeutung spezifiziert und konkretisiere; zugleich damit aber wird die erinnerte Vergangenheit unver­ meidlich in die spannungsreichen Beziehungsgeflechte kollektiver Zugehörigkeiten und wechselseitiger Abgrenzungen all derjenigen hinein­ gezogen, die sich an sie erinnern (oder sie vergessen) müssen, um sie selbst zu sein (genauer: um diejenigen zu sein, die sie im Zusammenhang mit der Vergangenheit sein wollen). Solche Spannungen und der Austrag der in ihnen angelegten Konflikte sind gegenüber dem Holocaust prekär. Eigent­ lich verbietet sich angesichts der überwältigenden Wucht seiner Erfahrung jeder Streit, in dem er ja immer (beabsichtigt oder nicht) für partikulare Zwecke in Anspruch genommen wird. Ein solcher Anspruch führt unver­ sehens und fase unvermeidlich zur politischen Instrumentalisierung des Holocaust. Mit ihr würde er in eine historische Legitimationsfunktion ein­ rücken, die ihm einen höchst problematischen historischen Sinn verleiht: als ginge der Mord an Millionen gleichsam nachträglich in die Legitima­ tion politischer Positionen und (Macht-)Ansprüche auf, wo doch das Aus24

Streit der Fakultäten A 143. Bei Kant isc ein Geschichcszeichen eine Begebenheit, an dem die „Tendenz des menschlichen Geschlechts im ganzen" abgelesen werden kann kann. Ein sol­ ches Zeichen sah Kant in der enchusiascischen Teilnahme des Publikums an der Französischen Revolution (ebd. 144): ., ... ein solches Phänomen in der Menschengeschichte vergisst sich nicht mehr, weil es eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Nacur zum Besseren aufge­ deckt hat, dergleichen kein Policiker aus dem bisherigen Lauf der Dinge herausgeklügelt häcce ... " Negativ gtwtndtt zur Anlage und zum Vermögen des Menschen zum Schlechteren, gilt diese Charakteristik für das allgemeine Encseczen über den Holocaust, das ebenso wenig aus dem historischen Verlauf der Zeit hätte erwartet werden können, selbst nicht für die Zeitgenossen des Geschehens.

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maß des Leidens diesen Sinnzusammenhang nur zerbrechen oder ihn erst gar nicht zulassen kann. Eine politisch folgenreiche Beanspruchung, in der der Holocaust zum Mittel eines Kampfes werden kann, ist aber, wie gesagt, unvermeidlich, zugleich aber auch unerträglich. Daraus ergibt sich die dringende Frage: Wie kann der Holocaust seine bewegende Kraft der historischen Erinnerung behalten, ohne zugleich zum disponiblen Mittel in den permanenten Konflikten über Zugehörigkeit und Abgrenzung, zum Kampfmittel um Identität zu werden? Gibt es über­ haupt eine Möglichkeit, der (negativen) 'Größe' dieser Erfahrung dadurch gerecht zu werden, daß sie dem Für und Wider um ihre historische Bedeu­ tung für die Gegenwart entzogen wird, ohne zugleich aus den lebendigen Kämpfen um historische Identität herausgenommen zu werden, in denen allein die Vergangenheit wirklich lebendig und historisch wirksam ist?

Trauer Eine Antwort auf diese Frage steht und fällt damit, ob es gelinge, eine Funktion der historischen Vergegenwärtigung des Holocaust zu finden, die dem unvermeidlichen Streit im Beziehungsgeflecht historischer Iden­ titätsbildung enthoben ist, zugleich aber von der kulturellen Wirkungskraft der historischen Erinnerung im Leben der Gegenwart bestimmt bleibt. Eine solche Funktion gibt es, und sie ist zugleich nicht nur geeignet, die aufgelisteten verschiedenen Funktionen der Gedenkstätten zu integrieren, sondern überdies der ganz besonderen Bedeutungsschwere der Holocau­ sterfahrung Rechnung zu tragen. Ich sehe eine solche integrative Funktion in der Trauer. 25 Eigentlich ist das selbstverständlich - wie sonst sollten wir uns verhal­ ten, und wer könnte im Ernst etwas anderes vorschlagen? Und doch wirft diese Antwort viele neue Fragen auf. Zunächst die, ob Trauer nicht eine rein emotionale Angelegenheit ist, die die kognitive und politische Seite der Geschichtskultur nicht tangiert. Ich meine: nein. Trauer reiche in diese

25 Ausführlicher unten Kap. 10.

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Dimensionen hinein und hat kognitive und politische Elemente und Funk­ tionen; sie kann spezifische Mittel des Denkens und Erkennens und des Machtgebrauchs und politischer Einstellungen nahelegen. Ein weiterer Einwand ist grundsätzlicher: Können wir mehr als nur über Verluste trauern, die uns direkt und persönlich betreffen, also (nur) über den Tod uns nahestehender Menschen? Die ganze Anstrengung der Verlustverarbeitung ('Trauerarbeit' ist der psychologische Terminus dafür) ist ohne diesen direkten lebensgeschichclichen und persönlichen Verlust nicht zu verstehen. Verbindet uns eine solche Verlusterfahrung mit dem Holocaust? Wenn wir nicht nahe Angehörige verloren haben, was für einen Verlust uns vergleichbar in den Tiefen unserer Subjektivität berührt, haben wir dann zu beklagen und trauernd durchzuarbeiten, zu 'bewältigen'? Ich meine, daß es tatsächlich etwas zutiefst Subjektives in der Erfahrung des Holocaust gibt, das auch diejenigen trauern läßt, die keine Angehörigen unter den Opfern hatten: nämlich den Verlust einer elementaren und fun­ damentalen Qualität unseres Menschseins, die im Massenmord des Holo­ caust negiert und radikal infrage gestellt wurde. Wir verbinden mit dem Menschsein des Menschen eine grundsätzliche Werthaftigkeit und einen moralischen Anspruch, die der Holocaust in ihr Gegenteil verkehrt hat; eine von uns als selbstverständlich vorausgesetzte kulturelle Größe der Selbstverständigung und des Umgangs mit anderen wurde negiert. In der gemeinsamen Trauer über diesen uns selbst in unserem puren Menschsein betreffenden Verlust kann der Streit über die symbolisierende Integration des Holocaust in je unterschiedliche kollektive Gedächtnisse verstummen, weil alle Betroffenen diese Trauer teilen können. Zugleich bleibt ein fundamentaler, ja jetzt geradezu existentieller Bezug auf die Gegenwart erhalten, der sich quer durch die unterschiedlichen Interessen­ lagen und Lebensumstände der vom Holocaust Betroffenen oder der sich an ihn Erinnernden hindurchzieht. Nur mit Trauer kann grundsätzlich und umfassend der Einzigartigkeit des Holocaust historisch erinnernd begegnet werden. Trauer ist 'existentiell', schließt also die religiösen und moralischen Ele­ mente der Erinnerung an den Holocaust in sich. Zugleich ist Trauer 'tiefer' angesetzt als die kognitive, politische und didaktische Funktion der histo­ rischen Erinnerung. Sie betrifft eine Tiefenschicht der menschlichen Sub­ jektivität, in der die Grenzziehungen von Zugehörigkeiten noch unter-

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schritten werden und die den Grund des Menschseins schlechthin ausma­ chen. Mit Trauer wird die schlechthinnige Betroffenheit jedes menschli­ chen Wesens durch den Holocaust als historische Erfahrung der Negation seines Menschseins angesprochen. Für Auschwitz bedeutet dies, daß die Relikte in die Form einer Gedenk­ stätte gebracht werden müßte, die alle Besucherinnen und Besucher dazu befähigt, über den Holocaust als radikale Herausforderung von Inhuma­ nität, Leiden und Sinnlosigkeit zu trauern. Trauer sollte daher die Leitidee jedes symbolisierenden Umgangs mit den Relikten, also auch ihrer Kon­ servierung werden. Das hat unmittelbar praktische Folgen. Zunächst einmal sollte die historische Symbolisierung den Gedenkstätten des Holocaust den Charak­ ter eines Friedhofi geben. Damit würde den Opfern im Modus des Geden­ kens die Würde zuteil, die sie in den Lagern verloren haben.26 Zugleich aber müßte der Eindruck von Versöhnung und Frieden unbedingt vermie­ den werden, den Friedhöfe üblicherweise ausstrahlen, indem sie die geläu­ figen Symbole benutzen, die dem Tod der Beerdigten einen Sinn für die Lebenden geben. Ein solcher Eindruck und der ihm entsprechende Sym­ bolgebrauch würde die industrielle mörderische Massenvernichtung im Nachhinein normalisieren und damit die Erinnerung an die Toten völlig verfälschen. Der Holocaust hat keinen Sinn, der in geläufiger Friedhofs­ symbolik ausgedrückt werden könnte. Die Trauer über den Tod der in den Mordmaschinen der Konzentrationslager vernichteten Millionen kann niemals mit dem Schein der Versöhnung einhergehen, der die Symbolik eines normalen Friedhofs auszeichnet. Das müßte sich in der Symbolik der Gedenkstätten ausdrücken: Deren Friedhofscharakter sollte die scharfe Differenz zur symbolischen Todesbewältigung eines normalen Friedhofs unmißverständlich zum Ausdruck bringen. Auschwitz als der größte Fried­ hof der Welt müßte zugleich die Einzigartigkeit des Sterbens, das dort historisch der Fall war (und indirekt damit auch des T ötens) in der Trau­ ersymbolik sichtbar machen. Die Friedhofssymbolik des Holocaust müßte einerseits den Toten ihre Würde im Gedenken wiedergeben und zugleich

26 Es ist unerträglich, wenn bei Führungen in Birkenau die Asche der Opfer unter den Füßen der Besucher demonstrativ - 7.ur Sensationssteigerung - gezeigt wird.

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das Fehlen dieser Würde, ihre schlechthinnige Negation, sichtbar machen, die zur historischen Signatur des Sterbens in den Konzentrationslagern gehört. Damit ist eine historische Trauersymbolik gefordert, die über die bisher verfügbaren kulturellen Ressourcen hinausweist. Hinzu kommt eine zusätzliche Schwierigkeit. Trauer ist ja nicht nur im Angedenken an die Opfer gefordert. So sehr sie im Zentrum trauernden Gedenkens stehen müssen, - auch die in den Tätern vernichtete (genauer: von den Tätern durch ihr Tun und an ihnen selbst vernichtete) Menschheiclichkeit muß betrauert werden. Eine solche Überlegung setzt sich sofort dem Vorwurf aus, mit der Trauerkategorie die schneidende Differenz zwischen Tätern und Opfern in der historischen Perspektive der Vergegenwärtigung ihres Tuns und Leidens zuzudecken und damit mindestens indirekt und im gün­ stigsten Falle unbeabsichtigt zu einer enclastenden Beschwichtigungsstra­ tegie in der deutschen Geschichtskultur der Gegenwart beizutragen. (Die Neugestaltung der Neuen Wache in Berlin ist ein zu Recht kritisiertes Bei­ spiel für diese Beschwichtigung.)27 Es geht nicht darum, Trauer als grauen Mantel der historischen Erinnerung zu etablieren, in dem alle Unterschiede zwischen Tätern, Opfern und Zuschauern verschwinden. Wohl aber geht es darum, die Vernichtung einer fundamentalen Menschheitsqualität in der Vielfältigkeit und Unterschiedlichkeit zu betrauern, in der sie sich histo­ risch ereignet hat und in der sie auch historisch-genetisch auf die Gegen­ wart bezogen werden muß. Eine solche historische Trauerarbeit würde eine ganze andere Art der 'Täterperspekcive' im historischen Verhältnis zum Holocaust entwickeln als diejenige, in der sich ihre Untat ungebrochen durch den Blick auf die Opfer fortschreibe. Es gibt keinen Tradicionsbescand der historischen Symbolisierung, auf die für die Zwecke einer solchen Trauerarbeit zurückgegriffen werden könnte. Der Verfall der Relikte, der museologische und konservatorische

Reinhart Koselleck: Stellen uns die Toten einen Termin?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. August 1993; abgedruckt in: Akademie der Künste: Srreit um die Neue Wache. Zur Gestaltung einer zenrralen Gedenkstätte. Berlin 1993, S. 34. Vgl. Christoph Stölzl (Ed.): Die Neue Wache unter den Lin­ den. Ein deutsches Denkmal im Wandel der Geschichte. Berlin 1993; T homas E. Schmidt u.a.: Natio­ naler Totenkult. Die Neue Wache. Eine Srreitschrift zurzenrralen deutschen Gedenkstätte. Berlin 1995; Viktoria Schmidt-Linsenhoff. Kohl und Kollwitz. Staats- und Weiblichkeicsdiskurse in der Neuen Wache 1993, in: Anette Graczyk (Ed.): Das Volk. Abbild, Konsuukcion, Phanmsma, Berlin 199S.

27

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Entscheidungen unausweichlich mache, fordert nicht nur gebieterisch nach einer Strategie der historischen Symbolisierung, wie ich sie zu skizzieren versuche habe, sondern bietet selber schon Ansätze dazu: Der Eindruck, den Birkenau heutzutage auf die Besucherinnen und Besucher mache, die Leere und Einsamkeit des Platzes, der Verfall der Relikte, die überwähi­ gende Verlorenheic des Platzes und die beeindruckende Sinnleere, die er ausstrahle, - könnte dies nicht als Ansatz zum Ausdruck der spezifischen Trauer werden, die historisch einzig am Platze ist?

Abb. 2428

Sollte nicht der ruinöse Charakter konserviert werden, statt einen 'ursprünglicher Eindruck' im Namen der Authentizität des Ortes wieder­ herzustellen? Die Authentizität der Relikte sollte ihren Verfall umschließen: Die Überreste symbolisieren ihre historische Bedeutung bereits selber. Inso-

28 Aus: Auschwitz - Verbrechen gegen die Menschheit. Staatliches Auschwirz-Museum in Oswiecim. 1991 (Ausschnitt).

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fern würde ich nachdrücklich dafür plädieren, Auschwitz und insbesondere Auschwitz/Birkenau nicht museologisch so aufzubereiten, daß sein jetziger Charakter der überwältigenden Sinnlosigkeit in denjenigen einer ange­ strengten Erinnerungsarbeit über- und untergeht. Warum z. B. läßt man die Wachtürme nicht im Zustand der Verfallenheit, in dem sie die Trostlo­ sigkeit des Lagers eindrücklich präsentieren, anstatt sie zum Anschein ihrer vollen Funktionstüchtigkeit wiederherzustellen? Trauer als Grundfunktion der historischen Erinnerung kann, wie gesagt, die unterschiedlichen Zugänge zur historischen Erinnerung des Holocaust bei verschiedenen Gruppen in eine Gemeinsamkeit unterlaufen, die die Konfliktträchtigkeit der historischen Identitätsbildung durch Erin­ nerung an den Holocaust zumindest moderiert, wenn nicht gar außer Kraft setzt. Dabei geht es nicht um eine Rücknahme von Differenz in das Ein­ erlei einer diffusen Grundstimmung, sondern um eine Ausprägung der unterschiedlichen Funktionen der historischen Erinnerung durch die Sym­ bolik einer Gedenkstätte, die einen Konsens in den Unterschieden und Gegensätzen erfordert. Trauer verbindet, ohne vorschnell zu versöhnen. Es komme darauf an, diese 'Verbindlichkeit' in der Ausprägung der verschie­ denen Dimensionen der historischen Erinnerung zur Geltung zu bringen.

Trauerarbeit Dazu möchte ich im folgenden die aufgelisteten Funktionen noch einmal durchgehen, um zu prüfen, wie in ihrer Erfüllung der Trauergesichtspunkt ausgeprägt werden kann und sollte. Er gehe in der Differenz dieser Funk­ tionen nicht auf, sondern Trauer bleibe eine eigene Operation der Erinne­ rung neben der dokumentarischen, interpretatorisch-kognitiven, politi­ schen, moralischen, pädagogischen und ästhetischen. Dem sollte unter anderem dadurch Rechnung getragen werden, daß in der Gestaltung der Gedenkstätten die Erfüllung der Funktionen an verschiedenen Orten statt­ findet, also nicht alle zugleich und am selben Ort. Anderenfalls können sie sich wechselseitig behindern oder abschwächen; die Authentizität der

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Relikte stehe dann (im visuellen Eindruck) gegen die historische Erläute­ rung, mag diese auch noch so symbolträchtig gestylt sein. Die museologi­ sche Bearbeitung oder Erschließung Birkenaus liefert dafür Beispiele. -

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Abb.2529

So könnte z.B. die Erfüllung der 1nformacionspf1ichc gegenüber den Besu­ chern in Birkenau zu einer ungewollten Einschränkung der symbolischen Kraft führen, die dieser Ort in seiner Öde und Verlassenheit heute auhveist. Dokumentation und Interpretation müssen ja nicht an den Ürten statt­ finden, an denen die Überreste ihre eigene eindringliche Sprache der Sinn­ leere sprechen, sondern können in eigenen Räumlichkeiten, etwa in sepa­ raten Museumsbereichen stattfinden. Wie aber kann Trauer als Sinnbestimmcheit der historischen Erinne­ rung in den verschiedenen Funktionen zum Ausdruck gebracht werden? (1) Die Dokumentation sollte den authentischen Eindruck radikaler Vernichtung jeder Art von Menschlichkeit vermitteln. Daher müßte sie um Leben und Leid der Opfer herum organisiere werden und keine Restriktion

29 ßirkenau, eigene Aufnahme 1995.

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von Informationen über die Dimensionen des Leides und der Erniedrigung kennen. Zugleich sollte auch kein falsches Bild davon erzeuge werden, daß auch an Orten totaler Entmenschlichung die Menschlichkeit nicht unter­ geht. Martyrium, Widerstand und andere Zeugnisse menschlicher Größe dürfen natürlich nicht fehlen, sollten aber den überwältigenden Gesam­ teindruck der Unmenschlichkeit weder relativieren noch gar die Vorstel­ lung einer falschen Versöhnung, letztlich siege doch die Menschlichkeit, in der Authentizität der Schreckenserfahrung nahelegen. Kein Dokument der Aufopferung, der Hilfe, der Solidarität, der Tapferkeit, des Mitleids und der Liebe sollte die Trostlosigkeit der Vernichtung des Menschlichen außer Kraft setzen können, die den Holocaust als historische Erfahrung aus­ zeichnet und unsere ganz besondere Are des Trauerns im Gedächtnis an ihn erforderlich mache. (2) Bei der historischen Erklärung und Interpretation bedeutet Trauer keine Reduktion kognitiver Strategien, sondern genau das Gegenteil: Das ganze Arsenal der Deutung, das die methodische Rationalität der moder­ nen Wissenschaften zur Verfügung stellt, sollte ausgeschöpft werden, um an der Grenze seiner Möglichkeiten die lnkommensurabilität des Holo­ caust zu erweisen. Durch Erklären und Interpretieren selber muß der Ein­ druck erzeuge werden, daß es hier um eine historische Erfahrung geht, die über die Grenzen menschlicher Erklärungs- und Interpretationsfähigkeit hinausweise. Es wäre unbefriedigend, lediglich zu behaupten, der Holocaust entziehe sich letztlich jedem Versuch der Erklärung und der Interpretation. Das ist inzwischen zur stehenden Redensart in vielen wissenschaftlichen Texten geworden, die doch durch ihre ganze Anlage und durch den Duktus ihrer Argumentation das Gegenteil dokumentieren. Es kommt vielmehr darauf an, diese meta-explanatorische Qualität des Holocaust im Vollzug des Erklärens und der Interpretation selber einsichtig zu machen, also im histo­ rischen Verstehen und Erklären dessen eigene Grenzen aufzuweisen. Wo liegen sie? Historisches Verstehen und Erklären nimmt der Vergan­ genheit den Schrecken der Kontingenz; sie verwandeln Irritationen der zeitlichen Veränderung in Vorstellungen von Zeitverläufen, die in die Sinn­ konscrukre der eigenen Lebenspraxis eingebaut werden können. Genau hier, wo die Rationalität historischen Erklärens, die auch im Hinblick auf den Holocaust nichts von ihrer kognitiven Kraft einbüßt, in den Bezug auf

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die Identität der Betrachter und auf ihre Lebensorientierung eingeht, liegt die Grenze. Jenseits ihrer kann und darf der Holocaust diesen Schrecken in den Anstrengungen seiner historischen Interpretation nicht verlieren, son­ dern im Gegenteil: An ihm müssen die kulturellen Ressourcen der histori­ schen Kontingenzbewältigung so abgearbeitet werden, daß sie zuschanden werden und eben dadurch der Holocaust sein historisches Profil erhält. Eine solche Erkenntnisleistung, die sich im Schritt von historischen Zurechnungen zum (epistemologisch notwendigen) Gegenwartsbezug selbst radikal in Frage stellt, könnte eine Leistung von Trauer im Medium des Denkens und Erkennens selber sein. (3) Hinsichtlich der politischen Funktion des historischen Gedenkens moderiert Trauer die Schärfe der Gegensätze. Die Differenz von Interessen hebt sich in die Gemeinsamkeit der Trauer auf, und von ihr her können sie eine symbolische Gestaltung finden, die diese Gemeinsamkeit zum Aus­ druck bringt. Trauer liegt grundsätzlich jenseits der macht- und herrschafts­ bestimmten politischen Interessen, obwohl diese sie natürlich instrumen­ talisieren und - umgepolt auf Rache und Vergeltung - als psychische Kraft auf die Mühlen des Machtkampfes leiten können. Um so notwendiger ist es, die meta-politische Funktion des Trauerns in der historischen Symboli­ sierung aufrechtzuerhalten. Trauer erfüllte damit eine moralische Funktion: Sie hält an der Universalität und Unteilbarkeit der Bedeutung des Holo­ caust im Gegenwartsbezug seiner Symbolisierung fest. (4) Hinsichtlich der pädagogischen und didaktischen Funktion entlastet die Trauer von den Zwängen einer Betroffenheitszumutung in Lernprozes­ sen. Darüber hinaus mobilisiert sie die Psyche der Besucherinnen und Besucher fundamentaler und nachhaltiger, als dies erzieherische Strategien (sofern diese die Grenzen zur Indoktrination und Manipulation nicht über­ schreiten) vermöchten. Die Authentizität der Relikte kann aus pädagogi­ schen Motiven mit klaren Botschaften befrachtet werden; aber damit würde ihnen die (ja durchaus pädagogisch relevante) Überzeugungskraft einer eigenen Symbolisierung genommen. Das Schweigen und die Verlo­ renheit Birkenaus kann eine deutlichere Botschaft sein als eine noch so didaktisch differenzierte und reflektierte Strategie der visuellen Ansprache der Besucherinnen und Besucher.

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(5) In der ästhetischen Dimension schließlich würde die Trauer ihre ganze emotionale Kraft entfalten und von ihr her in die anderen Bereiche der historischen Sinnbildung ausstrahlen können. Dazu müßte ein Höchstmaß an ästhetischer Autonomie gegen kognitive, politische, mora­ lische, pädagogische und auch religiöse Bedeutungsfestlegungen in der Symbolik der Erinnerung gewährleistet sein.

Sinn Trauer ist als Kategorie der historischen Sinnbildung bislang wenig disku­ tiert und expliziert worden.30 Das heißt aber nicht, daß mit ihr ein gänz­ lich neues Element in die Geschichtskultur eingeführt werden sollte. Trau­ errituale haben ihren festen Platz im öffentlichen Leben.31 Nicht zuletzt wird kollektive Zugehörigkeit durch öffentlich inszenierte Trauer doku­ mentiert und legitimiert. Dennoch wirft der Vorschlag, Trauer als funda­ mentales und dominantes Sinnkriterium in der historischen Symbolisie­ rung des Holocaust zur Geltung zu bringen, eine ganze Reihe ungelöster Probleme auf. Insbesondere ist es noch unklar, wie die psychische Kraft des Trauerns, die jeder aus der Erfahrung des Verlustes nahestehender Men­ schen kennt, so aktualisiert und kanalisiert werden kann, daß sie auch das Geschichtsbewußtsein bewege, dessen zeitlicher Horizont grundsätzlich über die Erfahrungsbereiche des eigenen Lebens hinausreicht.

30 Erste Überlegungen daz.u habe ich in einem Argumentationszusammenhang, dem der hier vorgetragene verpflichtet ist, entwickelt in: Trauer als historische Kategorie. Überlegungen zur Erinnerung an den Holocaust in der Geschichtskultur der Gegenwart, in: Hanno Loewy (Ed.): Erinnerung, Gedächtnis, Sinn. Authentische und konstruierte Erinnerung. Frankfurt am Main 1996. S. 57-78. Vgl. ferner Micha Brumlik: Trauerrituale und politische Kultur nach der Shoah in der Bundesrepublik, in: Hanno Loewy (Ed.): Holocaust: Die Grenzen des Verstehens. Eine Debatte über die Besetzung der Geschichte. Reinbek 1992, S. 191-212. 31 Phillipp Jenningers Rede im Bundestag zum fünfz.igjährigen Gedenken an die Reichspo­ gromnacht konnte deshalb eine Welle öffentlicher Empörung, die zu seinem Rücktritt führte, auslösen, weil sie gegen fundamentale Regeln öffentlichen Trauerns verstieß. Vgl. daz.u Katherina Oehler: Glanz und Elend der öffentlichen Erinnerung. Die Rhetorik des Historischen in Richard von Weizsäckers Rede zum 8. Mai und Philipp Jenningers Rede zum 9. November, in: Klaus Fröhlich u.a. (Eds): GeschichcskuJrur Oahtbuch für Geschichtsdidaktik 3, 1991/92), S. 121-136.

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Ein weiteres komme hinzu: Tradicionellerweise wird die öffentlich ins­ zenierte Trauer so konzipiere, daß der betrauerte Tod positiv auf Errun­ genschaften des Gemeinwesens bezogen werden kann, also in den Formen seiner öffentlichen Inszenierung versöhnenden Sinn findet. Dies ist beim Holocaust ausgeschlossen. Insofern müssen auch die öffentlichen Trauerri­ tuale eine neue Qualität erhalten, die der Sinnlosigkeitserfahrung des Holocaust entspricht. Hier könnte der historischen Erinnerungsarbeit der Gedenkstätten die Aufgabe einer wichtigen kulturellen Innovation zufal­ len. Der Holocaust stellt eine historische Erfahrung dar, die nur um den Preis des Zerbrechens historischer Sinnzusammenhänge zwischen Vergan­ genheit und Gegenwart symbolisch präsentiere werden kann. Historischer Sinn verbindet Vergangenheit und Gegenwart in einen Zeitzusammen­ hang, der aktuelles Handeln und menschliches Selbstverständnis im gegenwärtigen Zeitfluß, in den geschehenden (getätigten und erlittenen) Veränderungen von Mensch und Welt, orientieren kann. Wenn der Holo­ caust in einen solchen Zeitzusammenhang deutend eingefügt wird, mache er Sinn. Das ist dauernd der Fall und sollce auch so bleiben.32 Sinn wäre z.B. eine moralische Schlußfolgerung, etwa die Mahnung, so etwas solle nie mehr geschehen. Sinn könnte auch, wenn man den Holocaust als Produkt der Modeme interpretiert, eine radikale Modernitätskritik mit postmo­ dernen Konsequenzen sein. Sinn bekommt er also immer in übergreifen­ den interpretierenden Zeitkonzepten und Deutungsmuscern, etwa des Totalitarismus, Faschismus, der Modernisierung, der Rationalisierung, der Austreibung von Transzendenz. Solche Sinnbildungen sind unvermeidlich, aber sie haben eine systematische Grenze ihrer Überzeugungskraft: Es ist so, als würde in ihnen von einer entscheidenden Qualität der historischen Erfahrungsschwere des Holocaust abgesehen. Daraus wird dann häufig die Konsequenz gezogen, ihn aus der Geschichte herausnehmen und ihm einen meta-historischen Status zu ver­ leihen. Dann aber wird er zur einer quasi-mythischen Größe enthiscorisiert.

32 Insofern würde ich auch Saul Friedländer widersprechen, wenn er die Applikation der vier Typen historischer Sinnbildung auf den Holocaust bestreitet: The 'Final Solution': On the Un­ ease in Historica1 Interpretation, in: History and Memory. Smdies in der Represemacion of ehe Past, voll, no. 2, Fall/Winter 1989, S. 61-73, bes. S. 72.

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Er wird inkommensurabel und bekomme eine negative Transzendenz, von der nicht zu sagen ist, wo ihr Ort in der menschlichen Welcdeucung und im menschlichen Selbstverständnis liegt {wenn man sie nicht genau dort plazieren will, wo früher religiöse Sinnscifcung die Welt erschloß und Han­ deln orientiere, - aber was wäre das für ein Sinn?). Eine solche Abseitsstel­ lung nimmt den Holocaust aus den Zeitzusammenhängen heraus, aus denen und in denen er allein gedeutet werden kann und in denen er als Möglichkeit latent beschlossen bleibt. Daraus ist der Schluß zu ziehen, den Holocaust in den sinnbildenden Zeitvorstellungen eines historischen Zusammenhangs zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu belassen. Dort freilich ist er nicht vollständig integrierbar, sondern läßt die deutenden Sinnkonzepte zerbrechen, wenn sie existentiell auf die Tiefen­ schicht menschlicher Subjektivität bezogen werden, in der Identität wur­ zele. Auf dieser Ebene (und d.h. eben: nicht auf allen Deucungsebenen!) zerbrechen die Sinnkonzepte und Deucungsmuster. Mit dem Holocaust zerbricht also die Vorstellung von zeitlicher Ord­ nung in der menschlichen Praxis, im Selbstverhältnis und im Umgang mit anderen. Diese Störung ist schwer auszuhalten. Und doch muß sie zum Teil der Geschichtskulcur werden, wenn diese nicht unterhalb der Erfahrungs­ schwelle angesiedelt werden soll, die der Holocaust im erinnernden Rück­ griff auf die Erfahrung der Vergangenheit zur Orientierung der Gegenwart und zur Perspektivierung von Zukunft objektiv vorgibt. Trauer könnte ein Modus historischer Sinnbildung sein, der dieser Erfahrung gerecht wird und den Bruch historischen Sinns in ihm selbst vollziehe. Trauer baue den Verlust zeitlicher Gradlinigkeit in die Dimension historischer ldencicäc, den Schatten des Selbst, - den die verlorene Gewißheit seiner Menschheiclichkeic33 wirft, - in die Fundamente der Gewißheit ein, die unser Menschsein als normatives Potential träge. Her-

33

Mit Menschheiclichkeit meine ich etwas Grundsätzliches im menschlichen Selbstverhälmis. Das Wort Menschheit ist zu neutral, 'Humanität' greift zu kurz und ist traditionell besetzt. 'Menschheiclichkeit' meine eine eigentümliche Selbstzuschreibung von Menschen, insofern sie als Menschen zusammengehören. Es meine, daß es etwas Besonderes und Wertvolles ist, ein Mensch zu sein. Vgl. Jörn Rüsen: Trauer als historische Kategorie. Überlegungen zur Erinne­ rung an den Holocaust in der Geschichtskultur der Gegenwart, in: Hanno Loewy (Ed.): Erin­ nerung, Gedächtnis, Sinn. Authenrische und konstruierte Erinnerung. Frankfurt am Main 1996, S. 57-78, insbesondere S. 77f.

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ausgerissen aus der Sicherheit eines historischen Urvertrauens auf den Sinn der Zeit stellt sie die praktische Probe aufs Exempel unserer Grundüber­ zeugung vom Wert des Menschseins auf die Kontingenz zeiclicher Umstände dar. Ihnen müssen wir im Angesicht der erinnerten Sinnlosig­ keit des Holocaust immer von neuem die Züge abringen und handelnd und leidend aufprägen, in denen wir uns selbst erblicken wollen und kön­ nen.

7. Die Historisierung des Nationalsozialismus l

„Das ganze Leben besteht doch nur aus verschleierten Bildern. Wenn der Schleier weg ist, stirbt der Mensch vor Entsetzen." Peter Handke2 „I.:hiscoire nous die coujours comment on meurc, jamais commenc on vit."

Jules Michclec3

„Das Tabu, das für uns auf Auschwitz liegt, wird sich erst lockern, wenn wir ... uns bereit finden, jeden inneren Widerstand gegen die Anerken­ nung des ganzen Ausmaßes der namenlosen Untaten und gegen die Tat­ sache, daß es deutsche Untaten waren, aufzugeben . ... Wir müssen aus unserer Geschichtserinnerung ein Geschichtsbewußtsein machen." Christian Meier 4

Die Problemlage Die Debatte um die Historisierung des Nationalsozialimus hat gewichtige Theorieprobleme aufgeworfen, die der weiteren Erörterung harren. Der Historikerstreit war hauptsächlich politisch ausgerichtet, so daß die ihm inhärenten Prinzipienfragen der historischen Erkenntnis unentdeckt und

Erste Fassung: The Logic of Historization - Metahistorical Reflections on ehe Debate bet­ ween Friedländer and Broszat, in: History and Memory, vol. 9, no. l &2 , fall 1997: Passing inco Hiscory: Nazism and ehe Holocaust beyond Memory. In Honour of Saul Friedländer on His Sixcy-Fifth Birchday, ed. Gulie Ne'eman Arad. Bloomingcon 1997, S. 11 3-144, erweiterte deut­ sche Fassung: Die Logik der Hiscorisierung. Meta-historische Überlegungen zur Debatte zwi­ schen Friedländer und ßroszat, in: Gemud Koch (Ed.): Bruchlinien. Tendenzen der Holo­ caustforschung. Köln 1999, S. 19-60. Peter Handke in einem Interview mit Andre Müller, in: Die ZEIT Nr.10, 3 .3.1989, S. 77. 2 3 Jules Michelet: Oeuvres Complcces, ed. P. Viallaneix, Paris 1971 ff., vol. XXI, S. 462. (Die Geschichte sagt uns immer nur, wie man stirbt, nie wie man lebe.) 4 Christian Meier: Vierzig Jahre nach Auschwitz. Deutsche Geschichtserinnerung heute. 2 . Aufl. München 1990, S.10.

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zumeist auch unerörtert blieben oder nur eine marginale Bedeutung erhiel­ ten. Es gab aber auch Auseinandersetzungen, die Grundprobleme der historischen Interpretation des Nationalsozialismus betrafen und die bis heute aktuell geblieben sind. Das gilt vor allem für den Briefwechsel zwi­ schen Martin Broszat und Saul Friedländer, der sich an Broszats „Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus" anschloß.5 Zwar ging es auch hier um politische Konstellationen in der deutschen Geschichtskul­ tur, um den Stellenwert, den der Nationalsozialismus im Gedächtnis der Deutschen einnimmt. Aber diese Debatte unterschied sich vom Histori­ kerscreit nicht nur durch eine wohltuende Sachlichkeit und Fairneß der Kontrahenten im Umgang miteinander, sondern vor allem dadurch, daß sie die Grundzüge einer Problemlage sichtbar werden ließ, die das histori­ sche Denken zugleich in seiner kulturellen und gesellschaftlichen Funktion und in seiner fachwissenschaftlichen Ausprägung kennzeichnet. Auch in dieser Debatte wurde ausschließlich um die historische Interpretation der Epoche des Nationalsozialismus gestrittern, aber dessen Historisierung stellte sich als eine Herausforderung an das historische Denken überhaupt dar. Dieser Herausforderung muß auch auf der Ebene der Historik, einer Prinzipienreflexion des historischen Denkens, begegnet werden. Das ist die Absicht dieses Kapitels Broszat und Friedländer haben Fragen bewege, die die Grenzen der fachlichen Zuständigkeit der Zeitgeschichte weit überschreiten. Es geht um sehr viel mehr als um spezielle Orientierungs- und Identitätsprobleme ihrer Generation, die auf der Grenzscheide zwischen persönlicher und exi5 Ich zitiere mit folgenden Abkürzungen: Plädoyer= Martin Broszat: Plädoyer für eine Histo­ risierung des Nationalsozialismus, zuerst in Merkur 39. Jg. (1985), Hefe 235, S. 373-385, dann in: ders.: Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte, zuerst München 1986, zitiert nach der Taschenbuchausgabe München 1988, S. 266-281; Überlegungen= Saul Fried­ länder: Überlegungen zur Hiscorisierung des Nationalsozialismus, in: Dan Diner (Ed.): Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Hisrorikerstreit. Frankfurt am Main 1987, S. 34-50; Briefe= Martin Broszat und Saul Friedländer: Um die „Hiscorisierung des Nationalsozialismus". Ein Briefwechsel, in: Vierreljahrshefre für Zeirgeschichre 36 (1988), S. 339-372; Hisrorisierung = Martin Broszat: Was heißt Historisicrung des Nationalsozialis­ mus?, in: Historische Zeitschrift 247 (1988), S. 1-14. - Vgl. Chris Lorenz: Is her Derde Rijk al geschiedenis? Martin Broszat als historicus en pedagog, in: Oologsdocumenratie '40-'45 8 (1997), S. 236-252; Berlekamp, Brigitte: Rassismus, Holocaust und die 'Hiscorisierung' des Nationalsozialismus. Zu einem nicht beendeten Disput, in: Werner Röher (Ed.): Faschismus und Rassismus. Kontroversen um Ideologie und Opfer. Berlin 1992, S. 96-107.

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scemieller Erinnerung an den Nationalsozialismus auf der einen und histo­ risch-fachlicher Bearbeitung des Erinnerten auf der andern steht. 6 Freilich gibt ihre lebensgeschichcliche Plazierung in der Generacionenkecce den Theorieproblemen ihres historischen Denkens eine geradezu schneidende Pointe: In ihrer Debatte geht es um eine genealogische Zurechnung der historischen Perspektive, die von den Tätern und von den Opfern ausgeht. Die Perspektive der historischen Interpretation ist bei Deutschen und Juden realhiscorisch mit dem genealogischen Zusammenhang verknüpft, der die Interpreten mir der Zeit des Nationalsozialismus zusammen­ schließe. Saul Friedländer hat unmißverständlich klar gemache, daß Broszacs Plä­ doyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus die Zeitgeschichte ,,mit einem der theoretisch wie methodisch bedeutendsten Probleme" kon­ frontiere.? Ich meine, daß das nicht nur für die Zeitgeschichte als Histo­ riographie des Nationalsozialismus gilt, sondern viel grundsätzlicher zu sehen ist: An der Hiscorisierung des Nationalsozialismus lassen sich Züge des historischen Denkens wie in einem Brennpunkt aufweisen und betrachten, die seine Aufgaben, Leistungen und Grenzen im Ganzen am Ende des Jahrhunderts betreffen. Mir gehe es daher in den folgenden Über­ legungen darum, das Hiscorisierungsproblem aus der Zeitgeschichte und ihrer Verankerung im Wechsel der Generationen zu entgrenzen, um seine beunruhigenden und strittigen Züge auf die gesamte Geschichtskultur der Gegenwart zu übertragen. Was heiße es eigentlich, daß Hiscorisierung ein Problem darstelle? Ist das nicht nur dann der Fall, wenn ein existentielles Becroffenheicsverhälrnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart vorliegt, das durch wachsenden Zeitabstand eine dezidiere historische Perspektive gewinne? Die unmittel­ bare Gegenwärtigkeit dieser Vergangenheit löst sich auf und gerät in eine zeitliche Abständigkeic, die sie neu und in einer existentiell enclasceteren Weise interpretierbar macht. Historisierung scheint Abstand, Entfernung, Schwächung von Betroffenheit zu bedeuten. Auf jeden Fall wird der Ver-

6 Broszat spricht das Generationsproblem in Briefe S. 361 sehr deutlich an. Friedländer hat seine Sicuierung im historischen Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus autobiogra­ phisch eindrucksvoll dargelegt: Wenn die Erinnerung kommt... Stuttgart 1979. 7 Friedländer: Überlegungen (Anni. 5), S. 35.

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gangenheit ein anderer Stellenwert in der Geschichcskulcur der Gegenwart verliehen als der, der in einer unmittelbar moralischen, von Schuld und Scham bestimmten Beziehung beschlossen liegt. Die Historisierung des Nationalsozialismus wurde und wird deshalb als problemgeladen angese­ hen, weil eine 'normale' Historisierung, die eine frühere Zeit betrifft, als unproblematisch und selbstverständlich gilt. Diese Annahme verdient aber eine kritische Rückfrage. Heißt Historisierung allemal Relevanzverlust? Ich möchte den Spieß der Argumentation umdrehen und im historischen Blick auf die Besonderheit des Holocaust die Annahmen darüber, was Histori­ sierung eigentlich bedeutet und worin die Eigenart des historischen Den­ kens besteht, in Frage stellen. Meine Frage lautet: Wird die bisherige Art des 'historischen' Umgangs mit der Vergangenheit nicht durch die Schwie­ rigkeiten einer historischen Interpretation des Nationalsozialismus selber schwieriger und problemgeladener, als das bisher ins allgemeine Bewußt­ sein, aber auch in das Selbstverständnis der professionellen Historikerinnen und Historiker gedrungen war? Die Herausforderung, die die Hiscorisie­ rung des Nationalsozialismus an das historische Denken stelle, bestehe doch darin, daß diese Vergangenheit nicht so vergehen will und kann, wie sie sonst, im 'normalen' historischen Denken immer schon vergangen ist. Bis­ lang ging es darum, die Unvergänglichkeit der einen Vergangenheit gegenüber der Vergänglichkeit der anderen als Problem anzusehen. Wie aber wäre es im umgekehrten Fall? Es gehe mir also im folgenden darum, das Historisierungsproblem in den Kontext einer Grundlagenreflexion der Geschichtswissenschaft zu rücken. Dabei möchte ich allerdings die Fachgrenzen auf prinzipielle Fra­ gen der historischen Sinnbildung überschreiten. Die Zeitgeschichte war immer schon ein Problem der Historisierung. Ihr fachlicher Status wurde immer daraufhin befragt, ob und wie die besondere zeitliche Nähe ihres Gegenstandes zu einer grundsätzlichen Schwächung der historischen Erkenntnis führe, zu einem Objektivitätsmangel, der aus der fehlenden zeitlichen Distanz herrühre. Dabei wurde unterstellt, daß der Zeitabstand selber schon eine Objektivierungschance darstelle, die die Zeitgeschichte nicht nutzen könne. In der Historisierungsdebatte, die sich auf den Natio­ nalsozialismus bezieht, wird die gleiche Frage aufgeworfen, aber schärfer gestellt: Der wachsende Zeitabstand wird in der Tat als Eröffnung neuer Erkenntnischancen angesehen; zugleich aber wird in ihm auch ein dro-

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hender Verlust ausgemacht, der die Bedeutung der abständiger werdenden jüngeren Vergangenheit für das Selbstverständnis der Gegenwart betrifft. Erkenntnisgewinn und Relevanzverlust scheinen sich wechselseitig zu bedingen. Genau dieses Bedingungsverhältnis aber muß in Frage gestellt werden: Es ist eine unzulässige Vereinfachung, den 'historischen' Charakter der Ver­ gangenheit in ihrer zeitlichen Differenz zur Gegenwart alleine zu sehen. Dann würde die Historizität der Vergangenheit um so größer werden, je ferner sie von der Gegenwart ist. 'Historisch' ist aber eine Vergangenheit nicht einfach schon deshalb, weil sie bloß vergangen ist, also Abstand von der Gegenwart gewonnen hat, sondern zugleich auch insofern, als sie mit der Gegenwart in einem Sinn- und Bedeucungszusammenhang steht. Der zeitliche Abstand bedeutet eben gerade nicht automatisch einen Bedeu­ tungsverlust, im Gegenteil kann er auch einen Bedeutungsgewinn bringen. Geschichtstheoretisch macht es guten Sinn zu sagen, daß nur eine Vergan­ genheit, die nicht vergehen will oder kann, Geschichte ist und bleibt. Das alles überragende Problem der Historisierungsdebatte ist der histo­ rische Stellenwert des Holocaust. Er stellt ganz offensichtlich eine Grenz­ erfahrung des Historischen dar, die das Verständnis und die Auffassung dessen, was Geschichte ist, grundsätzlich berührt. Der Holocaust stellt den Charakter des Historischen selber auf radikale Weise in Frage. Er geht in der Gegemtändlichkeit eines Forschungsobjektes der Geschichtswissemchaft nicht auf, sondern schlägt metahistorisch aufdie Kategorien und Methoden der For­ schung selber komtitutiv zurück. Dieser metahistorische Charakter des Holo­ caust ist geradezu zum Topos der ihm gewidmeten Historiographie gewor­ den, ohne daß - von bedenkenswercen Ausnahmen abgesehen8 - die damit verbundenen Theorie- und Methodenprobleme der historischen Erkennt­ nis und die ästhetischen und rhetorischen Probleme der Historiographie schon hinreichend expliziert, geschweige denn gelöst worden wären. Die Hiscorisierungsdebatte spricht also Grundsatzprobleme der Geschichtstheorie an. Ich möchte sie folgendermaßen charakterisieren: Im Vordergrund steht die Frage nach dem Verhältnis von Moralität und Histo­ rizität. Damit wird die Konstitutionsebene des historischen Denkens ange­ sprochen, die Ebene also, die Droysen mit der Frage, wie aus Geschäften 8

Ich verweise beispielhaft auf die Arbeiten von Saul Friedländer und Dan Diner.

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Geschichte wird, bezeichnet hat.9 Bekanntlich lautet die bohrende Frage, die die wachsende zeitliche Distanz der Gegenwart zum Nationalsozialis­ mus und die aus ihr unvermeidlich folgende Historisierung unseres Ver­ hältnisses zu ihm aufwirft, ob diese Historisierung eine ·Entmoralisierung unseres Verhältnisses zum Nationalsozialismus und damit auch zum Holo­ caust bedeute. Martin Broszats Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialis­ mus steht beispielhaft für diese Problemlage. Es entzündet sich an einem Befund, den er immer wieder anspricht und der sich auch sonst häufig fin­ det: Es geht um die Erkenntnisverhinderung durch moralische Verurteilun g. Die Vergangenheit müsse aus dem Bann ihrer moralistischen Vergegen­ wärtigung befreit werden, damit sie überhaupt in eine zeitliche Perspektive gebracht werden könne, in der sich die Erkenntnismöglichkeiten der histo­ rischen Forschung entfalten können. Die Notwendigkeit einer Historisie­ rung, die solche Erkenntnischancen eröffnet, läßt sich nicht bestreiten. Er weist jedoch zugleich auf die Gefahr hin, daß die Erfahrung des National­ sozialismus und insbesondere des Holocaust durch Historisierung genau diejenige Qualität verlieren kann, die ihre besondere geschichtliche Bedeu­ tung ausmacht. Broszat hat diesem Bedenken durch eine komplexere Argu­ mentation hinsichtlich der moralischen Qualität des historischen Verhält­ nisses zum Nationalsozialismus Rechnung getragen: Er hielt daran fest, daß ein präsentistischer Moralismus eine unerwünschte Erkenntnis­ schranke bedeutet, hat aber andererseits unmißverständlich betont, daß die von ihm intendierte Historisierung nicht eine Entmoralisierung, sondern eine neue, qualifiziertere und überzeugendere Moralisierung des histori­ schen Verhältnisses zu dieser Vergangenheit bedeutet. Er will sie also in der von ihm intendierten Historisierung gerade nicht vergehen lassen. Sie soll vielmehr so in die Abständigkeit der Vergangenheit rücken, daß sie auf neue, überzeugendere - eben: historische - Weise wieder angeeignet werden kann. Man könnte von einer dialektischen Bewegung im Verhältnis von Moral und Geschichte reden: Sie müssen getrennt und unterschieden wer-

9 Johann Gusrav Droysen: Hiscorik, hiscorisch-kricische Ausgabe ed. Pecer Leyh, Bd.1. Scucr­ garc 1977, S. 69.

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den, um so miteinander vermittelt werden zu können, daß sie sich wechsel­ seitig ergänzen und befruchten. Es ging ihm um eine „moralische Sensibi­ lisierung der Historie überhaupt" .10 Was das eigentlich genau bedeutet, ist unklar. Moral soll einerseits Erkenntnisschranke sein. Friedländers bohrende Fragen und Argumente haben Broszat jedoch dazu bewogen, die „inzwischen fest etablierte Bewer­ tung des politisch-moralischen Grundcharakters der NS-Herrschaft" als ,,Grundlage" der Historisierung zu qualifizieren. 11 Hier sehe ich eine Unge­ reimtheit, die sich freilich im Lichte einer Analyse des Konstitutionszu­ sammenhangs des historischen Denkens aufklären und überwinden läßt. Nutznießer dieser Ungereimtheit waren diejenigen, die aus Broszats Plä­ doyer nur den Ruf nach distanzierender Objektivität und Entmoralisierung des deutschen Verhältnisses zum Nationalsozialismus und zum Holocaust herausgehört haben.12 Broszats Bemerkung, daß die Historisierung im Blick aufdie NS-Zeit 'anti-thetisch' zu verstehen sei, also eine Synthese von distanzierender Objektivierung und subjektiver Aneignung, von Urteil und Verstehen darstelle, 13 verdient eine grundsätzliche geschichtstheoretische Fundierung. Diese Antithetik gilt nämlich nicht nur speziell für unser historisches Verhältnis zum Nationalsozialismus, sondern für den Sinn­ und Bedeutungszusammenhalt zwischen Vergangenheit und Gegenwart überhaupt, den wir 'Geschichte' nennen. Es bedarf eines durch die beson­ dere Lage der Historikergeneration, für die Broszat und Friedländer reprä­ sentativ sind, geschärften Blicks, um die Konstitution des historischen

lO Broszat: Plädoyer (Anm. 5), S. 28 l. Broszat: Historisierung (Anm. 5), S. 5 (Hervorhebung von mir). So z.B. Uwe Backes, Eckhard Jesse, Rainer Zitelmann: Was heißt: 'Historisierung' des Nationalsozialismus?, in: dies. (Eds): Der Schatten der Vergangenheit. Impulse zur Historisie­ rung des Nationalsozialismus. Frankfurt am Main 1990, S. 25-57. Die Autoren lehnen eine moralische Bewertung des Nationalsozialismus nicht ab, verzichten aber darauf, der von Bro­ szat zumindest aufgeworfenen Frage nachzugehen, wie sich die Historisierung auf den Modus normativer Beurteilung des Nationalsozialismus auswirkt. Bei ihnen bedeutet Historisierung nicht mehr als Distanzierung und Verobjektivierung, verstanden als Abkopplung des histori­ schen Denkens von normativen Gesichtspunkten. Ob und inwieweit eine solche Abkopplung erkenntistheoretisch möglich ist, wird nicht gefragt. Sie wird vielmehr durch eine geradezu ritu­ elle Beschwörung des Popanzes eines 'volkspädagogischen' Umgangs mit der NS-Zeit legiti­ miere, ja als selbstverständlich unterstellt. 13 Broszat: Historisierung (Anm. 5), S. 2f.

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Charakters der Vergangenheit dort aufzuklären, wo sie in der Abständigkeit des Vergangenen zugleich als Geschichte im Modus von Erinnerung, Gedächtnis, Erkennen und Gedenken gegenwärtig bleibt. Damit ist ein zweiter Problemkomplex angesprochen, dessen Brisanz sich ebenfalls aus der Überschneidung von Zeitzeugenschaft mit existenti­ eller Teilhabe auf der einen und historischem Blick auf die Besonderheit der Vergangenheit auf der anderen Seite ergibt: die Konstitution des Histori­ schen in der Erinnerung. Mit der Kategorie der Erinnerung und des kul­ turellen Gedächtnisses l4 wurde und wird ein Verhältnis zur Vergangenheit thematisiert und analysiert, dem wesentliche Elemente und Faktoren des für die Geschichte als Fachwissenschaft typischen Verhältnisses zur Ver­ gangenheit fehlen: methodische Rationalität, Erkenntnisfortschritt durch Forschung, strikte Erfahrungskontrolle und theoretische Konsistenz histo­ rischer Deutungen. Erinnerung stand und steht für die Lebendigkeit der Vergangenheit in den kulturellen Orientierungen aktueller Lebenspraxis. Erinnerung läßt die Vergangenheit nicht vergehen (freilich um den Preis des schwachen Erfahrungs- und eines starken retrospektiven Normenbe­ zuges: ,,»Das habe ich getan«, sagt mein Gedächtnis. »Das kann ich nicht getan haben« - sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich - gibt das Gedächtnis nach."15). Im geschichtswissenschaftlichen Umgang mit der Vergangenheit scheint es umgekehrt zu sein. 'Historisierung' des Natio­ nalsozialismus bedeutet die Transformation dieser Vergangenheit vom Modus der Erinnerung des Gedächtnisses in den der wissenschaftlichen Erkenntnis. Nimmt man die lange Zeit geradezu als selbstverständlich angesehene Entgegensetzung von Erinnerung und Geschichte als gegeben an, dann bedeutet diese Transformation in der Tat die Überführung einer bedeutungsscarken Erfahrungsarmut in eine erfahrungsreiche Bedeutungs­ losigkeit. Diese zugespitzte Formulierung macht deutlich, daß die unter­ stellte Entgegensetzung unzulässig ist. Sie verdunkele den Konstitutions­ zusammenhang von Erinnerung und historischer Erkenntnis. Broszat hat eine Erfahrungsqualität besonders betont, die durch den Moralismus discanzloser Vergegenwärtigung des Nationalsozialismus aus-

14 Siehe dazu oben Kap. 1. 15 Nieczsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse, § 68 (Kritische Studienausgabe, ed. Gior­ gio Colli u. Mazzino Momanari, Bd. 5. München 1988, S. 86).

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geblendet werde. Er nannte sie die '.Authentizität'l6 des Vergangenen und plädierte dafür, diese Authentizität durch hermeneutische Erkenntnis und narrative Darstellungsverfahren zu gewährleisten. Damit hat er einerseits den allgemeinen Trend in der Geschichtswissenschaft zur Etablierung neuer hermeneutischer Methoden für die Zeitgeschichte sanktioniere und gefördert, andererseits aber auch zugleich - und das wurde durch die Kri­ tik und das bohrende Nachfragen Friedländers unübersehbar - eine offene Flanke dieser Hermeneutik sichtbar werden lassen: Sie steht in einem unge­ klärten Verhältnis zu den Kriterien von Sinn und Bedeutung, die die Gegenwart von sich aus in das historische Verhältnis der Vergangenheit und zwar konstitutiv - einbringt. Diese Unklarheit kennzeichnet auch die gegenwärtige Wende der Humanwissenschaften zur Kulturwissenschaft. Wenn es um die Schatten­ seite der Vergangenheit geht, distanziere man sich vom Historismus und seinem Verstehensprinzip (man könne und dürfe die Vergangenheit nur aus sich selbst heraus verstehen). Das hat Broszat deutlich gemacht und darauf hingewiesen, daß zum Verstehen aus dem Horizont der vergangenen Welt Kritik und Erklärung hinzukommen müssen, die diesen Horizont über­ schreiten. Friedländer argumentiert in der gleichen Richtung, indem er normative Prinzipien des historischen Urteils verteidigt. Das kann und muß kritisch auf die kulturwissenschaftliche Ausrichtung des historischen Denkens auf den ,Eigensinn' der Vergangenheit und die ästhetische Faszi­ nation fremder und anderer Lebensformen der Vergangenheit bezogen wer­ den. Der Eigensinn der Vergangenheit, den die jüngere Historiographie so eindrucksvoll präsentiert, ist historisch ambivalent. Broszat hat keinen Zweifel daran gelassen, daß sein Plädoyer für die Historisierung des Nationalsozialismus eine dezidiert politische und didak­ tische Absicht verfolgt. Dies konnte deshalb übersehen werden, weil er den Gewinn an historischer Erkenntnis und geschichtlicher Authentizität gegen eine politische und didaktische Behandlung dieser Zeit eingeklagt harte. So konnte der Eindruck entstehen, Historisierung bedeute eine Erleichterung des politischen und didaktischen Drucks, den die Erfahrung des Natio­ nalsozialismus zumindest für diejenigen darstelle, die mit den Tätern und Opfern in einem objektiven genealogischen Zusammenhang stehen. Hisro16 Broszac; Frieclländer: Briefe (Anm. 5), S. 364f.

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risierung im Sinne Broszats ist ein Versuch, den Nationalsozialismus aus dem moralistischen und politischen Anathema einer schlechthin abzuwei­ senden und zu negierenden Vergangenheit zu befreien. Diese Vergangen­ heit soll zu einer historischen Erfahrung werden, die ihren Platz in einem idencitätsbildenden geschichtlichen Zusammenhang von Vergangenheit und Gegenwart findet. Mit dem Historisierungsthema stellt sich immer die Identitätsfrage. Das bedeutet nun alles andere als eine Entakcualisierung dieser Vergangenheit. Man könnte sagen, daß diese Vergangenheit zur 'Geschichte' vergehen muß, damit sie in den kulturellen Prozessen der Identitätsbildung angeeignet - und das heißt eben: vergegenwärtigt - wer­ den kann. Die objektive Genealogie, die uns Nachgeborene mit dieser Ver­ gangenheit verbindet, soll aus der Entäußerung eines abstrakt-negativen moralischen Verhältnisses zu einem Stück unserer eigenen Subjektivität werden. Mit der Hiscorisierung des Nationalsozialismus soll die historische Verfremdung, die die deutsche Identität im Verhältnis zu ihm aufweist, überwunden werden. Friedländer stellt an diesen Versuch die kritische Frage, ob eine solche Überwindung nicht nur um den Preis einer Norma­ lisierung in den historischen Zügen deutscher Identität möglich ist, der die besondere Erfahrungsqualität des Nationalsozialismus zum Opfer fallen muß.17 Diese besondere Qualität ist nicht nur in der Debatte zwischen Broszat und Friedländer mit der Kategorie des Mythischen bezeichnet worden. Mit ihr werden diejenigen Züge an der historischen Erfahrung des Nationalso­ zialismus, zugespitzt auf den Holocaust, bezeichnet, mit der sie sich grund­ sätzlich, geradezu transzendental als Bedingung der Möglichkeit für ihre Vergegenwärtigung, über den Status oder die Grenzen einer erforschbaren und interpretierbaren Gegenständlichkeit der Vergangenheit hinaus erstreckt. 'Mythisch' soll genau das am Verhältnis zum Nationalsozialismus sein, was die fundamentale und konstitutive Sinn- und Bedeutungsrelation zwischen Vergangenheit und Gegenwart bestimmt, in der die Vergangen­ heit für die Gegenwart zur Geschichte wird und in der die Gegenwart die Erfahrung der Vergangenheit zu Orientierungszwecken der eigenen Lebenspraxis verarbeitet.

17 Brozsac ; Friedländer: Briefe (Anm. 5), S. 369 u.ö.

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Mit der Entgegensetzung von Mythos und Erkenntnis wird der Cha­ rakter des Holocaust als Grenzerfahrung bezeichnet und zur Geltung gebracht. Zugleich aber verdunkelt diese Entgegensetzung, Sinnprobleme, die die Holocausterfahrung nicht nur für die Zeitgeschichte, sondern für das historische Denken überhaupt aufwirft. Es geht um ein Grundproblem der historischen Erkenntnis im allgemeinen, dem sich niemand entziehen kann, wenn historisches Denken in einem bestimmten Sinne 'objektiv' sein will, d.h. wenn es dem Eigengewicht der Holocausterfahrung als Gren­ zerfahrung des Historischen entsprechen will. Man kann auch sagen, daß die Emgegenseczung von Erkenntnis und Mythos zwar von der histori­ schen Verarbeitung der Holocausterfahrung ausgeht, aber letztlich jedes historisches Denken tangiert, das auf dem Erfahrungs- und Deutungsni­ veau operieren will, das der Holocaust 'objektiv' - als herausfordernde Erfahrung - vorgibt. Man wird (wie Friedländer) Martin Broszats Plädoyer für eine Hisrori­ sierung des Nationalsozialismus nicht im Grundsatz widersprechen. Aller­ dings muß es sich die bohrende Frage gefallen lassen, wie es verhindert wer­ den kann, daß die Historisierung zu einer Deutung des National­ sozialismus führt, die seine spezifische historische Signatur nicht mehr zum Ausdruck bringt. Führt Historisierung nicht unvermeidlich zur Normali­ sierung? Wird die nationalsozialistische Herrschaft nicht unter 'normale' historische Kategorien subsumiert, die im Blick auf ihn gerade problema­ tisiert werden müssen? Friedländer klagt daher „zureichend präzise Diffe­ renzierungskategorien" l 8 ein, die eine solche 'Normalisierung' verhindern. Um diese Differenzierung zu erreichen, möchte ich zunächst analytisch klären, worin die Besonderheit des 'Historischen' im Verhältnis zu einer bestimmten Art des Moralisierens im Umgang mit Vergangenheit besteht. Danach möchte ich fragen, ob und wie das Thema Nationalsozialismus und insbesondere der Holocaust sich in dieser Dimensionierung des Histo­ rischen ausnimmt, worin also seine Spezifik, seine Eigenart, besteht. Von dieser Spezifik her möchte ich dann die Frage nach der Authentizität der NS-Zeit aufwerfen und hinsichtlich ihrer hermeneutischen, insbesondere ihrer alltagshistorischen Erschließung und narrativen Darstellung disku­ tieren. Danach möchte ich die kategorialen Probleme behandeln, die die 18 Friedländer: Überlegung en (Anm. 5), $. 47.

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Plazierung des Nationalsozialismus mit dem Holocaust in übergreifende historische Entwicklungszusammenhänge aufwirft. Das alles soll in engem Anschluß an das Widerspiel der Auseinandersetzung zwischen Martin Broszat und Saul Friedländer geschehen. Es geht um Schlüsselfragen des historischen Denkens in der gegenwär­ tigen Geschichtskultur Deutschlands: Gelingt es, deutsche Geschichte mit Einschluß des Nationalsozialismus so zu kategorisieren, daß der National­ sozialismus zum historischen Erfahrungsbestand deutscher Identität wer­ den kann? Die Diskussion dieser Frage führt dann abschließend zu einer Analyse der Sinnqualität, die die Zeit des Nationalsozialismus im Kulmi­ nationspunkt des Holocaust zur radikalen Herausforderung der methodi­ schen Rationalität wissenschaftlicher Erkenntnis macht. Kann dieser Her­ ausforderung nur dadurch begegnet werden, daß eine mythische Sinnqualität der Vergangenheit konstatiert werden muß, die über alle Erkenntnis hinausgeht? Kann die Erfahrungsqualität des Holocaust, die die wissenschaftliche Rationalität in Frage stellt, nur mythisch zum Ausdruck gebracht werden? Müßte das zugegeben werden (und ich lese den Brief­ wechsel zwischen Broszat und Friedländer so), dann würde die Historisie­ rung des Nationalsozialismus in ihrem Gegenteil enden: Genau dort näm­ lich, wo seine historische Spezifik ausgemacht werden müßte, entzöge er sich dem Erkenntnisvermögen, das doch gerade dafür in Anspruch genom­ men werden soll, seinen spezifisch historischen Charakter zu entschlüsseln und ihn für die Geschichtskultur der Gegenwart rezipierbar zu machen.

Die Dimensionen des Historischen Nicht jeder Bezug zur Vergangenheit ist schon historisch. Erst dann, wenn die Vergangenheit eine bestimmte Vergangenheitsqualität erhalten hat und in und mit dieser durch eine besondere mentale Operation des Geschichts­ bewußtseins auf Gegenwart bezogen wird, kann man von einem 'spezifisch historischen' Verhältnis zur Vergangenheit reden. Diese Abständigkeit der Vergangenheit als notwendige (allerdings nicht hinreichende) Bedingung des Historischen ist auf der lebensweltlichen Ebene menschlicher Daseins­ führung zumeist dann gegeben, wenn über die Grenzen der persönlichen

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(autobiographischen) Erinnerung hinaus auf Vergangenheit zurückgegrif­ fen wird, um gegenwärtige Lebensumstände zu deuten und Zukunftsper­ spektiven des eigenen Handelns entwerfen zu können. Historisch ist eine Vergangenheit dann, wenn sie jenseits der Grenzen der erinnerbaren eige­ nen Lebensspanne liegt. Aber auch Erinnerungen, die auf Vorkommnisse in der eigenen Lebensspanne Bezug nehmen, können 'historisch' sein, immer dann nämlich, wenn ihnen eine Bedeutung zugemessen wird, die üblicherweise erst dieser anderen 'vergangeneren' Vergangenheit zukommt {etwa wenn man Zeuge eines folgenreichen Attentats war). Es ist genau diese Definition des Historischen durch 'vergangene' Ver­ gangenheit, die im Historisierungsbegriff gemeint ist: Der Nationalsozia­ lismus gehört zunächst zum festen Erinnerungsbestand der Miclebenden und wandert dann über den Wechsel der Generationen in eine zeitliche Abständigkeit jenseits der Lebensspanne derjenigen, die sich mit ihm beschäftigen. In dieser Abständigkeit gewinnt die Vergangenheit bestimmte Qualitäten, mit der sie zugleich vergangen und gegenwärtig ist. Dieser histo­ rische Charakter entfaltet sich in unterschiedlichen Dimensionen, und er wird durch unterschiedliche Prinzipien, Kriterien und mentale Operatio­ nen realisiert. Soll der Historisierungsbegriff in der zeitgeschichtlichen Debatte von Mißverständnissen befreit und konzeptionell geklärt werden, dann empfiehlt es sich, diese Differenzierung soweit zu explizieren, wie sie seinen besonderen Deutungsbedarf betreffen. (Die entsprechenden Unter­ scheidungen sind natürlich künstlich, aber sie müssen getroffen werden, um die Komplexität des Historischen als mentales Gebilde durchsichtig zu machen.) Für die folgenden Überlegungen möchte ich zwischen einer Konstituti­ ons- und Fundierungsebene und einer Entfaltungs- oder Funktionsebene unterscheiden und das Historisierungsproblem als Konsticutionsproblem analysieren. Auf der Konstitutionsebene geht es um letzte Sinnkriterien im Umgang mit der Vergangenheit und um die grundsätzliche Verflochtenheit der menschlichen Subjektivität in diesen Umgang. Auf der Entfaltungs­ oder Funktionsebene differenziert sich das historische Denken in eine komplexe Vielfalt von Sinnkriterien, Deutungsmustern, methodischen Strategien, normativen Faktoren, ästhetischen Elementen und unter­ schiedlichen Wirkungen der historisch angeeigneten Vergangenheit in den Orientierungssystemen der aktuellen Lebenspraxis aus.

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Auf der Konstitutionsebene sind Geschichtsbewußtsein und historisches Denken in Erinnerung verwurzelt, und Erinnerung ist ein elementarer Bestandteil menschlicher Subjektivität.19 Auf dieser Ebene ist das angesie­ delt, was Broszat und Friedländer das 'Mythische' nennen. Hier ist die Ver­ gangenheit schon vor aller Qualifikation ihres historischen Charakters immer schon gegenwärtig; hier hat sie sich in die Züge der Subjektivität der Erinnernden immer schon eingeschrieben; hier ist menschliche Lebens­ praxis immer schon zeitlich orientiere, bevor diese Orientierung zu einer eigenen reflexiven kulturellen Anstrengung (des historischen Denkens) wird. Und genau hier läßt sich von 'Authentizität' der Vergangenheit reden. Denn hier ist sie vor aller denkenden Bearbeitung da und wirskam. Da 'Geschichte' keine Eigenschaft der Vergangenheit ist, die ihr als objektive Gegebenheit anhaftet und von dem, was von ihr noch empirisch gegenwärtig da ist (durch welche methodischen Operationen auch immer) einfach abgelesen werden kann, wäre es verfehlt, diese in der abständigen Gegebenheit empirischer Bekundungen gegenwärtige Vergangenheit als 'authentisch' anzusehen. Authentizität gewinne sie nur auf der hier ange­ sprochenen Konstitutions- und Fundierungsebene. Authentisch ist die Ver­ gangenheit als Geschichte dann, wenn sie in ihrem Gewesensein zugleich in der lebendigen Gegenwärcigkeit der sich ihrer Erinnernden anwesend und lebendig ist. Authentizität ist eine existentielle Qualität der Erinnerung. Mit ihr hat sich die Vergangenheit immer schon vorgängig in die Gegen­ wart eingeschrieben, und zwar in einer durch reflexive und methodisch 19 Der Erinnerungsdiskurs, der von Halbwachs ausgeht, betont eine grundsätzliche Differenz. zwischen Erinnerung und Geschichte. Letztere wird als Erkenntnisbereich der historischen Wis­ senschaften verstanden und als objektiver Tatbestand angesehen, während die Erinnerung als durchgängig subjektiv konstituiert aufgefaßt wird. Friedländer folgt dieser Unterscheidung, z.B. in: Memory, Hiscory, and ehe Excerminacion of ehe Jews of Europe. Bloomingcom 1993, S. VIII). Er weist aber darauf hin, daß Erinnerung und Geschichte miteinander zusammen­ hängen: Sie seien durch Geschichtsbewußtsein vermittelt. Ähnlich argumentiert Paul Ricoeur: Gedächtnis - Vergessen - Geschichte, in: Klaus E. Müller, Jörn Rüsen (Eds}: Historische Sinn­ bildung - Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien. Reinbek 1997. Die Unterscheidung von 'Mythos' und 'wissenschaftlicher Erkenntnis' knüpft an diese Trennung zwischen Erinnerung und Geschichte an. Aus dem Blick geblieben und der Ana­ lyse entzogen ist das Konstirucionsverhälmis zwischen ihnen. Das liegt m.E. daran, daß Halb­ wachs die Geschichtswissenschaft positivistisch mißverstehe und das disz.iplinäre Selbstver­ ständnis der Geschichcswissenschaft mit ihrem Objektivitätsanspruch den Schritt zur Einsicht in ihre lebcnspraktischen Wurz.ein und Funktionen erschwert.

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geregelte Operationen des Geschichtsbewußtseins nicht ein- oder über­ holbare Art und Weise. Hier liegt die W ürde der vor-historischen Erinne­ rung. Es wäre falsch, diesen Charakter des Vor-Historischen so zu verstehen, als verflüchtigte er sich mit wachsendem Zeitabstand und der mit ihm notwendigen Historisierung. Es ist im Gegenteil so, daß sich diese exis­ tentielle Sinnqualität der Erinnerung in die Historisierung hinein entfaltet und manifestiert, wobei sie allerdings ihren Charakter verändert. Sie geht in die Reflexivität und in die besonderen Operationen des Geschichtsbe­ wußtseins ein. Diese 'Eingängigkeit' wird in der Historisierungsdebatte mit den Gesichtspunkten der Opfer- und der Täterperspektive angespro­ chen. Damit wird ein innerer genealogischer Zusammenhang zwischen der Vergangenheit des Nationalsozialismus und der Gegenwart der sich seiner Erinnernden oder sich mit ihm historisch Beschäftigenden zum Ausdruck gebracht, der mehr ist als ein bloß subjektives Konstrukt. Hier, in dieser Perspektive, sind radikale Subjektivität und ebenso radikale Objektivität identisch. Die in der jüngeren Holocaustdebatte eine wichtige Rolle spie­ lende Trauma-Kategorie 20 bringt dies zum Ausdruck: Ob es die in der Genealogie der Täter oder der Opfer Lebenden wissen oder nicht, - sie sind immer schon durch diese Vergangenheit in ihrer lebendigen Gegenwärtig­ keic bestimmt (freilich zumeist unbewußt und in einer im einzelnen noch wenig geklärten Weise).21 Die psychoanalytischen Befunde in der ersten und zweiten Generation nach den Tätern und Opfern sind klare Belege für diese Einheit von Subjektivität und Objektivität der historischen Erinne­ rung durch den Wechsel der Generationen hindurch.22 Diese Authentizität ist zeitübergreifend und insofern prä-historisch, als sie die für den historischen Charakter der Vergangenheit konstitutive Zeit­ differenz noch nicht aufweise. Sie geht aber in die Historizität des Vergan20

Vgl. z.B. Saul Friedländer: Trauma, Memory, and Transference, in: Geoffrey H. Harrman (Ed.): Holocaust Remembrance: the Shapes ofMemory, Oxford, Cambridge 1994, S. 252-263; Mittelweg 36, Zeitschrift des Hamburger Instituts f. Sozialforschung 1992 Heft 3: Trauma; Dominick LaCapra: Represencing ehe Holocaust: History, T heory, Trauma, Ichaca, London 1994. 21 Vgl. dazu Jörn Rüsen, Jürgen Scraub (Eds): Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psycho­ analytische Zugänge zum Geschichcsbewußcsein. Frankfurt am Main 1998. 22 Ich greife einige T itel beispielhaft heraus: Nicolas Abraham: Aufzeichnungen über das Phan­ tom. Ergänzungen zu Freuds Metapsychologie, in: Psyche 45 (1991), S. 691-698; Dan Bar-on:

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genheitsbezuges konstitutiv ein, da mit ihr die für diese Historizität not­ wendige Bedingung erfülle werden kann, die Zeitdifferenz zwischen Ver­ gangenheit und Gegenwart (narrativ) zu überbrücken, d.h. zwischen dem Differenten genau den Sinn- und Bedeutungszusammenhang herzustel­ len, in dem und durch den Vergangenheit als Vergangenheit Geschichte isc.23 Die Authentizität konstitutiver Erinnerungen, wie sie vor allem den überlebenden Opfern zugebilligt wird, ist eine mecahistorische Größe. Diese Metahistorizicäc wird mit dem Begriff des Mythischen zum Aus­ druck gebracht. Da aber im normalen Sprachgebrauch mythisch als nicht­ historisch verstanden wird, ist diese Bezeichnung irreführend. Diese Aut­ hentizität ist prä-historisch, aber nicht nicht-historisch, im Gegenteil: Sie geht als notwendiges Element der historischen Sinnbildung in die Histori­ zität selber ein. Broszat hat unter Authentizität im historischen Verhältnis zum Natio­ nalsozialismus etwas anderes verstanden: Er dachte an die Eigenschaft, die die Vergangenheit unter der Kategorie des Historischen als Differenzbe­ scimm ung von Gegenwart gewinnt. Authentizität steht für 'Alterität'. Damit ist zweierlei gemeint: Einmal die realen Vorgänge in der Vergan­ genheit, durch historische Forschung festgestellt und von den Verformun­ gen ihres moralischen und politischen Gebrauches gereinigt. Zweitens aber, und dies gibt dem Begriff der Authentizität erst sein Gewicht, heißt Authentizität die innere subjektive Beteiligung der Akteure an diesen Vor­ gängen, das, was sie bewegte - im Unterschied zu dem, was uns später im erinnernden Umgang mit ihrem Handeln und Leiden bewegt. Diese Authentizität verdankt sich einer Übertragung der Subjektivität der sich Erinnernden auf die Subjektivität derjenigen, deren Handeln und Leiden Inhalt der Erinnerung ist. In der Tat: Broszat 'historisiere' die konstitutive Die Last des Schweigens. Gespräche mit Kindern von Nazi-Tätern. Reinbek 1996; Werner Bohleber: Das Fortwirken des Nationalsozialismus in der zweiten und dritten Generation nach Auschwitz, in: Babylon 4 (1990), S. 70-83; Helmut Dahmer: Derealisierung und Wiederho­ lung, in: Psyche 44 (1990), S.133-143; Anita Eckstaedt: Der Nationalsozialismus in der »Zwei­ ten Generation". Psychoanalyse von Hörigkeitsverhältnissen. Frankfurt am Main 1989; Jlany Kogan: Vermitteltes und reales Trauma in der Psychoanalyse von Kindern von Holocaust-Über­ lebenden, in: Psyche 44 ( 1980), S. 533-544; Z. Ryn: Der Alptraum geht weiter. Das Nachleben der Okkupationszeit in den überlebenden und ihren Nachkommen, in: Psyche 44 (1990), S.100-117. 23 Siehe dazu oben Kap. l und 6.

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Subjektivität der sich Erinnernden hinein in deren historischen Zusam­ menhang mit den anderen, an die sie sich erinnern. Damit gerät der genea­ logische Zusammenhang mit den Tätern und Opfern und die in ihm beschlossene Kraft der historischen Identitätsbildung durch Erinnerung und Gedenken in den Blick. Dieser Blick auf die Konstitutionsebene des Historischen kann deutlich machen, daß Historisierung keine Entmoralisierung bedeutet. Im Gegen­ teil: Wenn 'Moral' die existentielle Innenseite des Vergangenheitsverhält­ nisses anspricht, in dem Subjekte durch Erinnerung Vergangenheit vor deren zeitlicher Abständigkeit selber sind, dann bedeutet Historisierung Ent­ faltung von Moral in die zeitliche Abständigkeit der Vergangenheit hinein. Das soll heißen, daß die moralische 'Besetzung', die die Erinnerungsinhalte als konstitutive Elemente der je eigenen Identität immer schon erfahren haben, mit dem Vergehen dieser gegenwärtigen Vergangenheit in ihre zeit­ liche Absrändigkeit hinein gleichsam mitgenommen wird. Sie prägt sich im nun spezifisch historisch gewordenen Verhältnis als Faktor historischen Sinns aus. Im Konstitutionszusammenhang des historischen Denkens blockiert Moral nicht nur nicht den Zugang zur Vergangenheit, sondern sie begründet Geschichte, insofern sie die Erfahrungsbestände der Vergangen­ heit mit den Sinn- und Bedeutungsqualifikationen des Zeitverhältnisses ausstattet, mit denen allein sie spezifisch historisch sind. Moral blockiert also nicht die Zugänge zur Geschichte, sondern macht sie allererst möglich, sie ist gleichsam das Tor zur spezifisch historischen Dimension der Ver­ gangenheit (die eben immer mehr ist als bloß die schlichte Gegebenheit, daß etwas in der Vergangenheit der Fall war).24 Broszat hat das Blockadeargument ständig wiederholc.25 Es spiele für sein Historisierungsplädoyer eine geradezu entscheidende Rolle. So wie er es vorbringt, halte ich es (im Blick auf die Konstitutionsebene des Histori­ schen) für nicht haltbar. Broszat thematisiert eher die Ebene des ausdiffe­ renzierten, insbesondere des wissenschaftsspezifischen Denkens. Dennoch bringt er etwas Wichtiges in den Blick. Er spricht eine moralische Beset24 Über den Zusammenhang von Moral und Geschichcsbewußcsein vgl. Jörn Rüsen: The Oeve­ lopment of Narrative Competencc in Hist0rical Learning - An Ontogcnetical Hypothesis Con­ ccrning Moral Consciousness, in: History and Memory vol. l no.2 (1989), S. 35-60, auch in: ders.: Studies in Metahist0ry. Pretoria (Human Science Research Council) 1993. 25 Broszat: Plädoyer S. 266, 269; Historisierung S. 3, ders.; Friedländer: Briefe S. 348 (alle Anm. 5).

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zung der Zeit des Nationalsozialismus an, die die Transformation morali­ scher Unmittelbarkeit in ein historisches Sinn- und Bedeutungsverhältnis verhindert. Leider bleibt er bei Andeutungen darüber stehen, was genau gemeint ist, und nennt keine konkreten Beispiele, die sich im einzelnen analysieren lassen. Um der Sache näherzukommen, möchte ich zwei verschiedene mentale Vorgänge unterscheiden, in denen eine Entfaltung des Moralischen ins Historische verhindere bzw. stillgescellt wird. Einmal handele es sich um die Authentizität der Erinnerung der überlebenden, also um die vorgängige Gegenwärcigkeit der Vergangenheit des Nationalsozialismus in den trau­ matischen mentalen Konscellacionen, die sich über die Genealogie der Täter und Opfer in die Gegenwart hinein erstrecken. Dieser Stillstand der Historisierung hebt sich naturwüchsig im biologischen Wechsel der Gene­ rationen auf (ohne daß freilich die genealogische Vorgängigkeit dieser Ver­ gangenheit in der Gegenwart verschwände). Der andere Phänomenbestand isc völlig unterschiedlich geartet: Hier handelt es sich um eine moralische Verurteilung, mit der die Vergangenheit des Nationalsozialismus als Nega­ tivfolie eines gegenwärtigen politischen und auch existentiellen Wertsy­ stems gegenwärtig gehalten wird, ohne daß sie genealogisch vermittelt wäre. Die Genealogie wird durch moralische Verurteilung ersetzt, und damit wird die eigene Subjektivität von der Schwere ihres inneren Zusam­ menhangs mit dieser Vergangenheit enclascet.26 Es ist diese abwehrende Aneignung im negativen Moralismus, die eine Hiscorisierung auf der Kon­ sticutionsebene des Geschichcsbewußtseins verhindere. Broszat hat diesen Konstitutionszusammenhang im Blick, wenn er den Moralismus abweh­ render Verurteilung in die Erkenntnis 'authentischer' historischer Erfah­ rung aufheben will.27 Auf der gleichen Ebene spielt die Debatte über den historischen Stel­ lenwert von Auschwitz. Wenn Broszat ausführt, daß „der Stellenwert von Auschwitz im ursprünglichen geschichclichen Handlungskontext (...) ein 26 Als idencitätsbildender Zusammenhang bleibt freilich - dem Denkmuster exemplarischer Sinnbildung verpflichtet - die Regelkompetenz. moralischer und politischer Wertung. Ausführ­ licher daz.u unten Kap. 9. 27 Man sollte freilich nicht übersehen, daß auch dieser Moralismus substantiell historisch ist, - nur in einem Deutungsmuster, das für die gegenwärtige Geschichtskultur z.u eng ist, nämlich dem Exemplarischen. Natürlich läßt sich der Holocaust exemplarisch interpretieren, als 'Fall'

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extrem anderer" gewesen sei „als seine Bedeutung in der nachträglichen historischen Sichc", 28 dann gehe es ihm um eine 'Verblendung' des histo­ rischen Blicks, die ähnlich erkenntnishemmend wirke wie der aburteilende Moralismus. Auschwitz blende den heutigen Blick so sehr, daß die dama­ lige Zeit gar nicht mehr so wahrgenommen werden könne, wie sie den mei­ sten Menschen damals erschienen sei. Um diese �uthentizicäc' plausibel zu machen, verweise Broszat auf einen grundlegenden Unterschied: Man könne die Epoche des Nationalsozialismus retrospektiv betrachten, also von seinem katastrophalen Ende her, und dann werde Auschwitz zum „alleinigen Maßstab der geschichclichen Perzeption dieser Zeit" gemachc.29 Man könne aber auch einen „von der Zeit her denkenden" Zugang ent­ wickeln.30 Er spitzt diesen Unterschied zu einem „Gegensatz von authen­ tischer historischer Rekonstruktion und Pädagogisierung" zu, so daß kein Zweifel bleibt, welcher der einzig plausible sei.3 1 Folgt man aber einer Argumentationslinie, die den Konstitutionszu­ sammenhang des historischen Denkens in der Erinnerung zum Ausgangs­ punkt nimmt, dann hebe sich dieser Gegensatz in der ursprünglichen Aut­ hentizität auf, in der der Holocaust sich über die Erinnerung der Opfer und Täter in das Bewußtsein oder zumeist in das Unbewußte der mit ihnen genealogisch Verbundenen eingeschrieben hat. Es ist dann eine andere Frage, wie sich diese konstitutive Authentizität auf die Lösung des Pro­ blems auswirke, den Holocaust so in einer Vorstellung zeiclicher Entwick­ lung der deutschen Geschichte zu integrieren, daß diese Entwicklungsvor­ stellung zur Bildung deutscher historischer Identität beitragen kann. Der Gegensatz von authentischer Rekonstruktion und Pädagogisierung ist insofern keiner, als die Authentizität einer historischen Einsicht nicht ohne retrospektive Elemente gedacht werden kann. Die von Arthur Danto aufgeklärte Logik der historischen Erklärung32 läßt die 'Prospektion' des

menschlicher Barbarei oder ähnliches. Er verliert in dieser Interpretation seine (nur generisch zu konzipierende) Singularität und zugleich, wie gesagt, seinen genealogischen Stellenwert. 28 Broszat; Friedländer: Briefe (Anm. 5), S. 353. 29 Ebd. 30 ßroszat: Plädoyer (Anm. 5), S. 274. 31 Broszat: Plädoyer (Anm. 5), S. 277f. 32 Vgl. dazu Jörn Rüsen: Rekonstruktion der Vergangenheit. Grundzüge einer Historik II: Die Prinzipien der historischen Forschung. Göttingen 1986, S. 37 ff.

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argumentativen Fortschreitens vom Früheren zum Späteren als Antwort auf eine Frage erscheinen, die sich am Späteren, am 'Ende' entzündet, genauer: an einer das historische Denken herausfordernden Differenz zwischen Früherem und Späterem. Konstitutiv für die historische Erkenntnis ist die Frage: wie konnte es dazu kommen? Sie entzündet sich daran, daß in der zeitlichen Erstreckung eines menschlichen Gebildes (beispielsweise: des Deutschen Reiches) etwas aufgetreten ist (beispielsweise: der Holocaust und das katastrophale Ende dieses Reiches), das sich auf höchst erklärungs­ bedürfcige Weise von einer früheren Gestalt dieses Reiches (beispielsweise: der Gründung einer parlamentarischen Demokratie nach dem Ersten Welt­ krieg) unterscheidet. Dieser Unterschied wird nun historisch erklärt, indem 'prospektiv' eine Geschehenskette unterschiedlicher Stadien der zeitlichen Entwicklung dieses Reiches konstruiert (aus den Erfahrungsbeständen der Vergangenheit ermittelt) wird, die von diesem früheren zum späteren Zustand führe. Angesichts dieser logischen Struktur der historischen Erklärung hebt sich die von Broszat apostrophierte Entgegensetzung von Retrospektion und Prospektion auf Wo liegt dann aber das Problem? Es liegt darin, daß diese erklärend­ erzählend aus der Erfahrung erhobene Kette von Geschehnissen grundsätz­ lich immer bis in die Gegenwart reicht, zumindest dann, wenn es um lden­ ti tätsfragen geht. Dann sind in der Tat Holocaust und die „Deutsche Katastrophe" nicht das Ende der Zeitgeschichte, sondern ein Glied in einer längeren zeitlichen Kette. Dann muß die Prospektion im Zeirverlauf nach einer Entwicklungslinie organisiert werden, die die Katastrophe zu einem Moment eines übergreifenden Ganzen herabsetzt und nicht zum Ende macht, in das dieses Ganze mündet. Diese 'Herabsetzung' des Holocaust zum Einzelglied einer Zeitkette von Geschehnissen, die in der Gegenwart, genauer: im Selbstkonzept, in der Selbstdeutung derjenigen mündet, die sich an ihn erinnern müssen, um zu wissen, wer sie sind, stellt das Eigent­ liche, das Fundamentalproblem der Hiscorisierung dar. Friedländers Einwände gegen Broszat sind hier begründet: Er argu­ mentiert gegen diese 'Herabsetzung' des Holocaust mit Gründen, die im Konscitutionszusammenhang dieser Geschichte selber, in der Authentizität ihrer vorgängigen Gegenwärtigkeit liegen: Der Holocaust sperrt sich gegen diese Einfügung in übergreifende Entwicklungszusammenhänge, ja man

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kann noch radikaler argumentieren: Er zerreißt und zersprengt jedes Kon­ zept eines solchen Zusammenhangs. Diese T hese hat am entschiedensten Dan Diner vertreten.33 Es ist nicht möglich, diejenigen Elemente der historischen Erfahrung des Nationalsozialismus, die sich gegen ihre Einordnung in identitätsbildende übergreifende historische Zusammenhänge sperren, aus dem Bereich des Historischen in den des Mythischen hinein zu exkommunizieren. Es ist des­ halb nicht möglich, weil die 'mythischen' Elemente ein wesentlicher Bestand­ teil des Sinnzusammenhangs zwischen der Vergangenheit des Nationalsozia­ lismus und unserer Gegenwart darstellen, in dem er allein 'historisch' gedacht werden kann. Hielte man daran nicht fest, dann hätten wir einen histori­ schen Zusammenhang ohne Sinn und einen Sinn ohne historischen Zu­ sammenhang. Beides läßt sich weder gedanklich plausibel machen noch als Formation von Geschichtskultur ohne erhebliche Orientierungsstörungen und aus ihnen resultierende Kommunikationsprobleme praktisch realisieren. Daraus erfolgt unabweisbar die Frage, ob und wie sich die besonders sinnträchtige Qualität des Nationalsozialismus, die in der Debatte zwi­ schen Broszat und Friedländer mit der Kategorie des Mythischen bezeich­ net wurde, geschichtscheoretisch so fassen läßt, daß diese Trennung zwi­ schen konstitutiver Authentizität der Erinnerung und notwendiger Historisierung ihres Inhalts überwunden wird.

Die merahistorische Bedeutung des Holocaust Der Holocaust hat eine Signifikanz für Erinnerung, Gedächtnis und histo­ rische Erkenntnis, die es verbietet, ihn als historische Erfahrung in den üblichen Deutungsmustern der historischen Interpretation aufgehen zu lassen. Ich bezweifle, daß man diese Signifikanz von der Spezifik des Histo­ rischen als mythisch abspalten kann. Denn dann schneidet man seine Bedeutung herunter. Er wird mit Zeicverlaufsvorstellungen vereinbar, die

33 Dan Diner: Zwischen Aporie und Apologie. Über Grenzen der Historisierbarkeit des Natio­ nalsozialismus, in: ders. (Ed.): Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit. Frankfurt am Main, S. 62-73.

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die Zeit des Nationalsozialismus in einen übergreifenden und identitäts­ bildungsfähigen Zeitzusammenhang mit der Gegenwart zurückholen. Das ,,metahistorische Ereignis" 34 kann nur um den Preis seiner metahiscori­ schen Qualität historisiert werden. Dagegen argumentiert Friedländer vehement: Die Nazi-Zeit könne nicht so behandelt werden wie jede andere Geschichte auch (etwa wie diejenige Frankreichs des 16. Jahrhundercs).35 Ich halte dieses Argument nicht für stichhaltig. Es greift den oben skiz­ zierten authentischen Charakter der Holocaust-Erinnerung auf und trans­ portiert ihn auf die Ebene des entfalteten historischen Denkens. In diesem Schritt aber geschieht etwas mit der besonderen Qualität dieser prä-histo­ rischen Authentizität: Sie wird zu einem operativen Faktor der historischen Erkenntnis, der moralischen und politischen Urteilsbildung und der ästhe­ tischen Repräsentation. In diesem Transformationsprozeß wird sie zu einem Ferment 'normalen' historischen Denkens. Sie löst sich in diese Nor­ malität auf und bringt sich eben dadurch in ihr zur Geltung. Nur dann, wenn man den Holocaust behandelt wie jede andere normale Geschichte auch, etwa die Frankreichs im 16. Jahrhundert, gewinne er seine eigene historische Kontur, so wie ja auch seine Einzigartigkeit nur durch kogni­ tive Operationen des Vergleichs plausibel gemacht werden kann. Und damit gewinne dann auch das historische Denken eine neue Qualität der Sinnbildung. Sie müßte zur Folge haben, daß das T hema Frankreich im 16. Jahrhundert anders behandelt wird als vorher. Friedländer charakterisiere völlig zurecht den Holocaust als „histori­ sches Grenzereignis"36 und siehe darin einen „ungelösten theoretischen Aspekt" der Hiscorisierung. Dieses T heorieproblem besteht darin, daß den forschend ermittelten Tatbeständen der Vergangenheit die interpretieren­ den Deutungsmuscer nicht einfach nachträglich übergescülpt werden kön­ nen, sondern daß sie in der prä-historischen Gegenwärtigkeit der Vergan­ genheit an der Formierung dieser Deucungsmuscer selber beteiligt sind.37 Natürlich handele es sich bei dieser vorgängigen Auswirkung der Vergan­ genheit auf die Gegenwart, die sich ihr historisch zuwendet, nicht um die 34 Broszac: Nach Hicler (Anm. 5), S. 345. 3 5 Friedländer: Überlegungen (Anm. 5), S. 47 f. 36

Broszac; Friedländer: Briefe (Anm. 5), S. 371.

37 Vgl. hierzu die Bemerkung von Christian Meier: Die mythische Qualität, die Broszac den Erinnerungen der Opfer zubilligt, ,,haftet an dem Ereignis selbst" (Christian Meier: Der Histo-

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Tatsachenbestände der Forschung. Es geht um die Erinnerungsqualität des Erforschten, die sich vor aller Forschung schon in der Formierung for­ schungsleitender Bedeutungshinsichten zur Geltung bringe. Man könnte von einer nicht-gegenständlichen theoretischen Qualität der historischen Erfahrung sprechen. Das ist gemeine, wenn man sagt, daß sich der Holo­ caust nicht auf der Ebene eines Forschungsgegenstandes halten läßt. Das gilt aber nicht ausschließlich für den Holocaust, sondern im Prinzip für jede mögliche historische Erfahrung, und zwar in dem Maße, in dem sie vorgängig in die historische Erinnerung eingegangen ist und dort sinnbil­ dend, genauer: als Sinn selber, als vorgeprägte Konzeption möglicher histo­ rischer Bedeutung, wirke. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß die operativen Prozeduren der historischen Erkenntnis diesen Vorgaben einfach nur zu folgen, sie gleich­ sam kognitiv nur zu ratifizieren hätten. Im Gegenteil: Es gehört zur sinn­ bildenden Auszeichnung der kognitiven Prozeduren des historischen Erkennens, daß sie sich zu Sinnkonzepten und Bedeutungsqualifikationen der Vergangenheit in Erinnerung und kollektivem Gedächtnis grundsätz­ lich kritisch verhalten können. Die prä-historisch konstitutive Bedeucungs­ zumessung von Vergangenheit durch Erinnerung muß sich in den entfal­ teten Operationen des Geschichtsbewußtseins gleichsam bewähren. Sie erfährt dort zumeist nicht unwesentliche Korrekturen. Das gilt auch für den Holocaust. Genau hier aber, in dieser 'Bewährung' seiner Tatsächlich­ keit in einer rational-methodischen Kritik erfahrungsfundiercer, begrifflich gefaßter und methodisch geregelten Erkenntnis, realisiert der Holocaust seine metahistorische Sinnqualität. Um es paradox zu formulieren: Wenn man die Nazi-Zeit so behandeln will wie Frankreich im 16. Jahrhundert, dann ermittelt die historische Forschung Tatbestände, die die heuristisch vorentworfenen Deutungen und Interpretationen selber kritisieren. Wenn denn Interpretationsansätze und Deucungsversuche durch historische Erfahrung kritisiere, modifiziere und natürlich auch falsifiziere werden kön­ nen, dann gilt dies in ganz besonderer Weise für den Holocaust: Er sperrt sich in seiner schieren Tatsächlichkeic, in der Faktendürre der Quellenbe­ funde, gegen an ihn herangetragene Deucungsversuche. riker Martin Broszat, in: Klaus-Dietmar Henke und Claudio Nacoli (Eds): Mit dem Pathos der Nüchternheit. Martin Broszar, das Institut für Zeicgeschichce und die Erforschung des Nario­ nalsozialismus. Frankfurt am Main 1991, S. 11-38, zic. S. 31.

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Man kann es auch so formulieren: Die historische Eirfahrung hat ein Wort mitzureden bei ihrer Interpretation. Das ist deshalb der Fall, weil sie - wie vermittelt auch immer - an und in sich selber schon Elemente genau derjenigen Sinnhaftigkeit und der Bedeutung trägt, die ihr post fescum historisch interpretierend abgewonnen wird. Genau darauf beruht die Her­ meneutik der historischen Methode. Dan Diner hat diese metahistorische Qualität des Holocaust als Zivili­ sationsbruch beschrieben.38 Er meine damit, daß die für moderne Gesell­ schaften konstitutiven zivilisatorischen Elemente der Weltdeutung und des Selbstverständnisses durch den Holocaust faktisch negiert werden. Da nun aber die Deutungsmuscer der historischen Interpretation selber Bestand­ teile dieser Zivilisation sind, kann der Holocaust mit ihnen nicht nur nicht gedeutet werden, sondern er zerstört sie geradezu im Bemühen einer Deu­ tung, die sich nach den methodischen Gesichtspunkten der Erfahrungsof­ fenheit und -koncrolle des historischen Denkens organisiert. (Man kann wie Goldhagen diesem Dilemma dadurch entgehen, daß man den Holo­ caust als einen Entwicklungsstand der Deutschen gegenüber den zivilisier­ ten Nationen versteht, aber damit verliert er seine historische Kontur und seine Zeitgenossenschaft mit der Modeme.) Selbst wenn man die spezifi­ sche Ausprägung von Diners These nicht teilt, die Logik :seiner Argumen­ tation bleibt dennoch erhalten: Genau in dem Maße, iin dem man den Holocaust historisch interpretieren will, muß er in einer zeitlichen Sequenz von Ereignisfolgen und Geschehnissen, in denen sich menschliches Leben vollzieht, die also durch menschliche Subjektivität geprägt und bestimmt sind, verstanden werden können. Verstehen heißt: dii e Zeitfolge der Geschehnisse im Blick auf die Absichten und Deutungen der an ihnen Beteiligten nachvollziehen. In diesen Nachvollzug treten ,die für die histo­ rische Deutung maßgeblichen Gesichtspunkte (ein komplexes Gemisch von Kriterien der Sinn- und Zweckrationalität) in ein inneres Verhältnis zum analogen Kriterienbestand der Täter und Opfer in der Vergangenheit. Nur dann, wenn dieses innere Verhältnis ein gewisses Ausmaß an Kohärenz erreiche, kann man von Geschichte als Sinn- und Bedeut:ungszusarnmen­ hang zwischen Vergangenheit und Gegenwart reden.

38 Diner: Zwischen Aporie und Apologie (Anm. 33), S. 7lf

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Eben diese Kohärenz aber wird in Bezug auf den Holocaust prekär. Darin liegt sein metahistorischer Charakter, und mit diesem ist er in der Tat ,,Angelpunkt des Geschehens",39 aber gerade nicht in dem Sinne, wie Bros­ zat es zurückweist, nämlich ein Geschehnis, auf das hin gleichsam teleolo­ gisch oder kausal alle anderen Geschehnisse der zeitlichen Sequenz hin organisiert werden müssen, sondern ein Geschehnis, dessen kulturelle Sig­ nifikanz, dessen negative Sinnhaftigkeit zu einem Faktor der deutenden Organisation der Kette der Geschehnisse selber wird. Die konstitutive Irritation, die das historische Denken (nicht nur der Zeitgeschichte) in den Versuchen erfährt, den Holocaust historisch zu deu­ ten, beruht darauf, daß jede historische Deutung (wie vermittelt auch immer) sich auf die Subjektivität der Deutenden selber bestimmend (iden­ titätsbildend) bezieht. Eben dieser Bezug ist ja für Broszat der Grund dafür, den Nationalsozialismus zu historisieren, ihn als Teil der deutschen Geschichte in die identitätsbildenden Vorstellungen historischer Entwick­ lungen zu integrieren, aus denen er bisher um den Preis einer strukturellen Irritation, Gebrochenheit oder Unvollständigkeit oder wie immer man die­ sen Ausfall einer ganzen Epoche in der zeitlichen Erstreckung deutscher Identität bezeichnen mag, ausgeschlossen war. Historischer Sinn ist zeitlicher Widerschein personaler und sozialer Identität. Die Handlungsfähigkeit menschlicher Subjekte ist an die Lei­ stung einer Selbstverständigung gebunden, mit der sich wesentliche Fak­ toren ihrer Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit über den Wechsel von Generationen auf Dauer stellen und sich jeweils in Grundüberzeugungen von Zugehörigkeit und Fremdheit, von Selbst- und Anderssein realisieren. Geschichte ist die zeitliche Erstreckung dieser Identität in die Vergangen­ heit, die um der Zukunft derjenigen willen durch Erinnerung, Gedächtnis und Geschichtsbewußtsein erarbeitet und gebildet werden muß, die sie gemeinsam haben, genauer: die sie gemeinsam sind und als kulturelles Lebenselexier ihrer sozialen Formation nicht aufgeben können, wenn sie sich nicht selbst preisgeben wollen. Die metahistorische Qualität des Holo­ caust träge sich in dieser inneren, subjektiven Dimensionierung von Ver­ gangenheit als idencitätsbildender Geschichte aus.

39

Broszac: Hiscorisierun g (Anm. 5), S.

13.

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Zukunftsträchtige Gemeinsamkeit pflegt sich durch positive historische Erinnerungen und einer ihnen gewidmeten kulturellen Praxis des öffentli­ chen Gedächtnisses zur Geltung zu bringen. Der Holocaust ist ein Tatbe­ stand und Erfahrungsinhalt, der solche positiven Identifikationen verbie­ tet und doch zugleich in die eigentümlichen Konstellationen von Weltverständnis und Selbstdeutung prägend eingegangen ist, die gegen­ wärtige historische Identitätsbildung bei all denen ausm,llcht, die von ihm (zeitlich vermittelt) objektiv betroffen sind. Das ist für die jüdische Iden­ tität evident. Man pflegt hier von einer identitätsbildenden Opferperspek­ tive zu reden und die einschlägigen kulturellen Praktiken und Auseinan­ dersetzungen darüber sind bekannt.40 Die Historisierung des Nationalsozialismus zielt auf eine historische Interpretation, mit der diese Epoche der deutschen Geschichte für die Deutschen identitätsbildend angeeignet werden kann. Damit geht es letzt­ lich für die Deutschen um die Täterperspektive. Sie muß: so eröffnet wer­ den, daß sich die Deutschen ihr nicht mehr durch abst:rakte moralische Abweisung entziehen, sondern sie auf sich beziehen können. Dazu bedarf es einer inhaltlichen Ausstattung dieser Perspektive, mit der sie zur zeitli­ chen Erstreckung der Subjektivität werden kann, die die Deutschen in den Formen und Inhalten, in den Konzepten und Prozeduren ihrer Zugehörig­ keit und ihrer Unterscheidung von anderen definiert. Broszats Antwort auf die Frage, in welchen Konturen der Nationalsozialismus in die historischen Züge deutscher Identität übernommen werden kann, lautet: Authentizität und übergreifende Kontinuität. Was bedeutet das?

Was heißt historische Authentizität:� Eine moralistische Pauschalverurteilung des Nationalsozialismus verhin­ dert nach Broszat historische Authentizität. In der Tat, er muß ,authentisch' im Sinne von historisch konkret werden, wenn er als Epoche in die deut­ sche Geschichte integriert und in ihr auch zu einer historischen Erfahrung werden soll, die sich die Deutschen in ihrem Selbstverständnis, in den 40

Vgl. etwa Peter Novick: The Holocaust in American life. Boston 19$>9.

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Konzepten ihrer historischen Identität, wirklich zurechnen. In der Tat: durch Moralismus wird der Nationalsozialismus lediglich aus den inneren Bereichen deutschen historischen Selbstverständnisses ausgeschlossen und außenvor gehalten. Authentizität wird also als eine notwendige Bedingung historischer Aneignung und Verarbeitung genannt. Dagegen erhebt Friedländer einen gewichtigen Einwand: Unter der Hand und gegen die Absiehe einer kriti­ schen Aneignung werde der Nationalsozialismus lediglich normalisiert: Er verliere seine spezifisch historische Signatur; seine verbrecherische Seite würde zu einem Moment neben anderen. Auf diese anderen, 'normaleren' Seiten käme es dann letztlich an, um wirklich aneignungsfähige historische Erfahrung zu gewinnen. Worum es in diesem Plädoyer und seiner kritischen Zurückweisung gehe, läßt sich vielleicht durch eine Analogie zur Freudschen Psychoanalyse verdeutlichen: In deren Termini ließe sich Broszats Vorhaben deuten als Beseitigung einer neurotischen Erscheinung in der deutschen Geschichts­ kultur, nämlich die moralistische Abwehr einer schweren narzißtischen Kränkung deutschen Selbstbewußtseins durch die NS-Erfahrung. Diese Kränkung soll durch Historisierung so durchgearbeitet werden, daß die moralistisch verdrängte Erfahrung der Deutschen mit sich selbst über­ wunden und aufgehoben und das, was „eigentlich gewesen" war, nunmehr unter Beseitigung des neurotischen Verhaltens (der moralistischen Abwehr) angeeignet werden könne. Das Analogon zum 'Durcharbeiten' wäre dann das 'Verstehen', das ein 'Einfühlen' in die Subjektivität der Deutschen im historischen Prozeß des Nationalsozialismus impliziere. Friedländers Einwand ließe sich in dieser Analogie zu der Gegenthese zuspitzen, daß der behauptete Wiedergewinn von Authentizität und die behauptete Aneignung des Verdrängten durch historisches Durcharbeiten lediglich ein neuer Modus des Verdrängens sei, in dem die narzißtische Kränkung - der Schatten eines Kollekcivverbrechens - gerade nicht ange­ nommen, sondern aufs neue und mit neuen mentalen Strategien der Ver­ kehrung, Spaltung, Projektion, Umwertung und Transformation verdrängt werde. Beide Kontrahenten rücken das gleiche Phänomen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Es gehe um die Subjektivität derjenigen, die im Herr­ schaftssystem des Nationalsozialismus lebten und um ihren historischen

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Zusammenhang mit der Subjektivität derjenigen, die sich dem National­ sozialismus erinnernd zuwenden, insbesondere, aber nicht nur der Deut­ schen. Broszat kritisiert den bisherigen Moralismus im Umgang mit dem Nationalsozialismus als einen Modus der Subjektivität der Betrachter, der die Subjektivität der Betrachteten nicht in den Blick bringe. Sie würden moraliscisch post fesrum stumm gemacht. Demgegenüber soll ihnen her­ meneutisch die Stimme wiedergegeben werden, mit der sie als Beteiligte an der hermeneutischen Produktion historischen Sinns im historischen Zeit­ verhältnis mit der Gegenwart ernstgenommen werden sollen. Friedländer knüpft an diesen inneren subjektiven, identitärsbildenden Zusammenhang zwischen Damals und Heure die Bedingung, daß in ihm der Holocaust zur Sprache gebracht werden kann, also in den Horizont verstehbarer und ver­ stehender Subjektivität eingebracht werden muß. Die moralisch-negative Qualität des Holocaust gehöre für ihn in die innere subjektive Dimension der Zeitgenossenschaft mir dem Nationalsozialismus ebensosehr hinein wie in die verstehende Aneignung dieser Zeit. (In dem Zusammenhang sei daran erinnere, daß a.U'ÖeV'tll