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German Pages 535 [538] Year 2019
Bernd Gausemeier
Zentrale Peripherie Biologische und medizinische Forschung in Berlin-Buch, 1930–1989 Wissenschaftsgeschichte Franz Steiner Verlag
Zentrale Peripherie Biologische und medizinische Forschung in Berlin-Buch, 1930–1989 Bernd Gausemeier
Franz Steiner Verlag
Umschlagabbildung: Luftbild des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Hirnforschung, 1930. Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Abt. VI, Rep. 1, KWI für Hirnforschung I, Nr. 3. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2020 Druck: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12607-6 (Print) ISBN 978-3-515-12609-0 (E-Book)
INHALTSVERZEICHNIS EINLEITUNG ..................................................................................................... 9 Das KWI für Hirnforschung – Forschungsstand und Fragen ........ 12 Wissenschaft und Politik in der DDR – Forschungsstand und Fragen .................................................................................. 14 Die Bucher Institute in globaler Perspektive – Forschungsstand und Fragen........................................................ 19 Quellen ....................................................................................... 23 Aufbau ....................................................................................... 25 I. DAS KAISER-WILHELM-INSTITUT FÜR HIRNFORSCHUNG VON DEN ANFÄNGEN BIS 1945 ........................................................................ 33 1. Der lange Weg nach Buch.......................................................................... 35 Die Privatpraxis als „Centralstation“............................................ 35 Ein „Gehirnarchiv“ und eine Forschungsklinik suchen eine Heimat ....................................................................................... 40 Anschubhilfe aus Moskau ............................................................ 47 Neuanfang in Buch ...................................................................... 52 2. Vom multidisziplinären Experiment zum genetischen Rumpfinstitut – das KWIH nach 1933 ................................................................................. 59 Unpolitische, Schädlinge und Diplomaten ................................... 59 Vererbungsanalysen an Insekten und Gehirnen ............................ 66 Vom eugenischen Mutationsdiskurs zum Modell der Genstruktur ................................................................................. 75 Der Wert des kranken und des kämpfenden Gehirns – das KWIH im Krieg .......................................................................... 88 II. DIE AKADEMIEINSTITUTE IN BERLIN-BUCH 1947–1989. STRUKTUREN UND WENDEPUNKTE ..................................................... 99 1. Aufbauzeit. Gründung und Ausbau des Instituts für Medizin und Biologie, 1947–1957 ................................................................................ 101 Konzepte und Kompromisse ...................................................... 102 Frontstadt-Pläne ........................................................................ 106 Institutshierarchie oder Abteilungsautonomie?........................... 112 Das IMB und die Formierung der DDR-Forschungspolitik ........ 120 Projektierungszone Buch ........................................................... 124 Baustops, Stromsperren und andere „Lächerlichkeiten“ ............. 128 Vom Prestigeobjekt zum Planungsfiasko ................................... 133 Splittergruppe oder Ordnungsmacht – die Rolle der SED........... 135
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2. Zentrale Pläne, lokale Konflikte. Das IMB von den späten 1950er Jahren bis zur Akademiereform ................................................................ 141 Vom Institut zum Zentrum......................................................... 141 Ausbauvisionen und Krisenrealität ............................................ 147 „Theorie“ contra „Praxis“ .......................................................... 150 Keine Einheit in der Partei ......................................................... 157 Nationale Perspektiven, interne Richtungsentscheidungen ......... 162 Eingriffe von oben ..................................................................... 166 Institutsreform mit unklarem Ziel .............................................. 169 Staatliche Planung und wissenschaftliche Autonomie ................ 175 3. Reformzeit. Die Bucher Institute im Umbruch, 1968–1972 ...................... 178 Zentren aus Papier ..................................................................... 179 Forschung im Verbund .............................................................. 184 Zentren im Zentrum................................................................... 191 Gerätezentrum ........................................................................... 192 Rechenzentrum .......................................................................... 200 Werkstattzentrum ...................................................................... 211 Versuchstierzentrum .................................................................. 217 4. Forschungszentrum in der Dauerkrise. Die Bucher Institute und der Niedergang der DDR in den 1970er und 1980er Jahren ............................ 223 Plan und Realität ....................................................................... 223 Auf der Suche nach dem „höheren Verflechtungsniveau“ .......... 227 Kontrolle und Spielräume .......................................................... 231 Der „Weltstand“ als Leitbild und Heimsuchung ......................... 235 Forschung und Manufakturbetrieb ............................................. 241 Reparaturbetrieb der Kombinate? .............................................. 246 Biotechpark Buch? .................................................................... 250 Ein angekündigtes Ende ............................................................ 255 III. LOKALE WISSENSCHAFT IN GLOBALER PERSPEKTIVE. FALLSTUDIEN ZU FORSCHUNG UND MEDIZINISCHER PRAXIS IN BERLIN-BUCH ..................................................................................... 259 1. Effizienz vor Exzellenz. Klinische Krebsforschung zwischen sozialmedizinischem Anspruch und wissenschaftlichen Ambitionen ........ 261 Regionaler Versorgungsauftrag, internationaler Anspruch ......... 262 Leitbild Früherkennung ............................................................. 264 Diagnostik für die Massen? ....................................................... 268 Primat des Skalpells .................................................................. 273 Bessere Technik, strahlende Zukunft?........................................ 277 Therapievergleiche als klinischer Alltag .................................... 282 Vorsorge im Labor .................................................................... 285 Interdisziplinäres Zentrum für individualisierte Therapie? ......... 289
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2. Modelle, Laborkonstrukte und enttäuschte Hoffnungen. Arnold Graffi und die verzweigte Geschichte der experimentellen Krebsforschung ........ 296 Auf der Suche nach einer integrativen Krebstheorie................... 297 Auf der Suche nach einem experimentalisierbaren „Agens“ ....... 300 Kausalfaktor oder praktikables Modell?..................................... 304 Klinisch relevant oder erzwungenes Artefakt? ........................... 312 Viren im Zeitalter der Onkogenetik ........................................... 319 3. Interdisziplinärer Angelpunkt oder Hilfswissenschaft? Kontinuität und Neuorientierung in der biophysikalischen Forschung ............................... 328 3.1. Vom Mittelpunkt ins Abseits – die Biophysik bis Mitte der 1960er Jahre .................................................................................. 329 Technik als Mittel und Zweck ................................................... 332 Eine Disziplin erfindet sich neu ................................................. 335 3.2. In den Spuren der Tradition: Der Neuaufbau der Strahlenbiophysik .......................................................................... 338 Therapieorientiert oder theoriegeleitet?...................................... 341 Kein neuer Anfang .................................................................... 347 3.3. Molekulare Biophysik – Forschen mit und an Apparaten ............... 351 Hauseigene Technik für hauseigene Probleme ........................... 354 Die Methodengruppe als technisch-theoretischer Knotenpunkt .............................................................................. 359 Rückstand durch Technik?......................................................... 364 3.4. Isotopenforschung und -produktion – Vom nationalen Entwicklungszentrum zum Spezialunternehmen ............................ 366 Forschungsinstitut oder Forschungsmittelvertrieb? .................... 369 Kooperation und Profilierung .................................................... 372 4. „Im Akademieinstitut entwickelt – in der Industrie erprobt“? Neue Wege und bleibende Engpässe der Wirkstoffforschung ............................ 377 4.1. Alter Wein in neuen Schläuchen? Das Projekt Herzglykoside ....... 378 Rezeptoren – Idee und Realität .................................................. 381 Erfolge daheim, Anerkennung im Ausland ................................ 385 Wieviel Grundlagen braucht die Pharmakaforschung? ............... 387 Verbesserte Wirkungsanalysen, ausbleibende Wirkung ............. 392 4.2. Peptidhormone – Land der unbegrenzten Möglichkeiten? .............. 397 Perspektiven für die Industrie, Grundlagen für die Forschung.................................................................................. 398 Gute Strukturmodelle, komplexe Testpraktiken ......................... 402 Akademieforschung als Lückenbüßerin für die Industrie? .......... 406 5. „Utopische Zukunftsträume“ und die Mühen der Ebene. Bucher Wege in die molekularbiologische Moderne....................................................... 413 Streitsache Molekularbiologie .................................................. 414 Molekulare Maschinen verstehen ............................................... 419 Planziel Gentechnik ................................................................... 425 Mikrobiologische Laborarbeit, makroökonomische Hindernisse ............................................................................... 429
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Prinziplösung für die Produktion oder Lernobjekt für das Labor? ..................................................................................... 435 Anwendungsorientierte Forschung ohne Anwender ................... 438 „Solide“ Praxisnähe statt biotechnologischer Revolution ........... 443 6. „Perspektiven für Enzyme“. Von der Toxikologie des Hämoglobins zum Enzymtestsystem .............................................................................. 447 Vom toxikologischen Indikator zum molekularbiophysikalischen Modellobjekt ................................. 448 Enzyme in die Produktion? ........................................................ 452 Enzymologen als sozialistische Kleinunternehmer ..................... 459 7. Ärzte am Krankenbett des Sozialismus. Vom Experimentierfeld sozialistischer Medizin zum Zentralinstitut für Herz-KreislaufForschung ................................................................................................ 466 Planziel Kreislaufforschung ....................................................... 467 Sozialistische Musterklinik am Wald ......................................... 472 Bluthochdruck als Kopfsache .................................................... 478 Der maladaptierte Kreislauf in der wissenschaftlichtechnischen Revolution .............................................................. 484 Von der Nische ins Zentrum ...................................................... 489 SCHLUSS ........................................................................................................ 499 Abkürzungsverzeichnis ................................................................................ 508 Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen.................................................. 510 Quellenverzeichnis ...................................................................................... 511 Verzeichnis der Sekundärliteratur ................................................................ 513 Personenregister .......................................................................................... 527 Sachregister ................................................................................................. 531
EINLEITUNG Im März 2013 schlossen das in Berlin-Buch ansässige Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) und die Charité-Universitätsmedizin Berlin einen Vertrag zur Bildung des Berliner Instituts für Gesundheitsforschung/Berlin Institute of Health (BIH). Die Ähnlichkeit des Kürzels mit jenem der größten biomedizinischen Forschungsinstitution der Welt, der National Institutes of Health (NIH) in den USA, verdeulicht die großen Ambitionen des Projekts: die Schaffung eines national führenden und international konkurrenzfähigen Potentials in der medizinisch orientierten molekularbiologischen Forschung sowie eine engere Verknüpfung von experimenteller Wissenschaft und klinischer Praxis. Für den Forschungsstandort Berlin-Buch ist dieser Anspruch keine Neuheit. Das Großforschungsinstitut MDC ging bei seiner Gründung 1992 aus dem biologischmedizinischen Forschungszentrum der Akademie der Wissenschaften der DDR hervor, das im zentralistischen Wissenschaftssystem des sozialistischen Staates ähnliche Funktionen erfüllen sollte. 1947 wurde in den Gebäuden des vormaligen Kaiser-Wilhelm-Instituts für Hirnforschung (KWIH) das Institut für Medizin und Biologie (IMB) der Deutschen Akademie der Wissenschaften (DAW) gegründet. Ähnlich wie seine Vorläuferinstitution, die neue Maßstäbe für die außeruniversitäre neurobiologische Forschung gesetzt hatte, sollte das IMB den Leitbildern der interdisziplinären Kooperation und der Einheit von Laborforschung und Klinik folgen. Ursprünglich als klinisch-experimentelles Krebsforschungsinstitut konzipiert, erfuhr es mit dem Ausbau zum größten biologisch-medizinischen Institutskomplex der DDR eine Erweiterung um neue Projekte der biowissenschaftlichen Grundlagenforschung. Diese Ausdifferenzierung führte schließlich dazu, dass der Institutsverband 1972 in die drei „Zentralinstitute“ für Molekularbiologie (ZIM), Krebsforschung (ZIK) und Herz-Kreislauf-Forschung (ZIHK) aufgegliedert wurde. Während damit die Verbindung von experimenteller und klinischer Arbeit formal in den Hintergrund rückte, sollte die Neustrukturierung die Funktion der Bucher Institute als „Leitinstitutionen“ stärken, deren Aufgabe darin bestand, auf ihren Fachgebieten durch die Konzentration qualifizierter SpezialistInnen und erstklassiger Forschungsmittel Schlüsselthemen zu bearbeiten, Anstöße für Hochschul- und Industrieforschung zu geben und, nicht zuletzt, den Kontakt zur internationalen Entwicklung aufrechtzuerhalten. Die Geschichte eines multidisziplinären Institutsverbandes von so zentraler nationaler Bedeutung führt zwangsläufig über die Darstellung von Besonderheiten einer lokalen Wissenschaftskultur hinaus. Sie berührt Fragen nach generellen Tendenzen der Wissenschaftspolitik, nach Strukturmerkmalen moderner Naturwissenschaften sowie nach den Wechselwirkungen zwischen Forschungpraxis und ihren ökonomischen Rahmenbedingungen. Buch war – dies soll der Titel dieser
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Arbeit ausdrücken – seit 1947 ein wissenschaftliches Zentrum nicht nur in dem Sinne, dass hier verschiedene fundamentale Entwicklungen der biologischen und medizinischen Forschung nebeneinander verliefen. Es war ein Angelpunkt für die Forschungs- und Gesundheitspolitik der DDR, an dem verhandelt wurde, wie die beschränkten wissenschaftlichen Ressourcen der kleinen Planwirtschaft möglichst effektiv eingesetzt werden konnten. Dabei war das Konzept eines nationalen Zentrums, das als Schrittmacher für das gesamte Wissenschaftssystem fungierte, eng mit den Bedingungen des ökonomischen Mangels und einer gefährdeten internationalen Konkurrenzfähigkeit verbunden. Die DDR-Forschungspolitik zentralisierte Kräfte, um Voraussetzungen für ein Schritthalten mit einer immer schnelleren wissenschaftlichen Entwicklung zu schaffen. Auch wenn in Buch, wie in anderen Forschungseinrichtungen des Landes, originelle und international anerkannte Ansätze entstanden, orientierte man sich konzeptionell und methodologisch weitgehend an Standards, die in westlichen Ländern gesetzt wurden. Insofern operierte das Forschungszentrum Buch an der Peripherie des globalen wissenschaftlichen Systems, wie es auch lokalgeographisch am äußeren Rand der Hauptstadt Berlin lag – ein Umstand, der nicht völlig nebensächlich war, da die vorstädtische Isolation spezifische Entwicklungsbedingungen mit sich brachte. Buch war also nicht nur ein Ort der experimentellen Wissenschaft, sondern auch ein Experimentierfeld für die Organisation von Forschung sowie für ihre Verbindung mit medizinischen und industriellen Anwendungsfeldern. Es war ferner ein Ort, der für ein außeruniversitäres Forschungszentrum ein ungewöhnlich breites und vielschichtiges Spektrum disziplinärer Ansätze vereinte. Neben die klinische Onkologie und die experimentelle Erforschung der Krebsätiologie trat gegen Ende der 1950er Jahre als zweiter medizinischer Schwerpunkt die Kreislaufforschung, in der sich ebenfalls klinische und experimentelle Praktiken verbanden. In den Bucher Instituten wurden Projekte auf verschiedenen Gebieten der Biophysik, der Biochemie sowie der Zellbiologie verfolgt; ab Beginn der 1970er Jahre nahmen molekulargenetische und enzymologische Arbeiten mit biotechnologischer Ausrichtung einen wichtigen Platz ein. Das Institutsprogramm spiegelt damit zentrale Elemente der biologischen und medizinischen Wissenschaften wider, welche in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts das Gesundheitswesen, die Ökonomie und unser Verständnis des menschlichen Körpers radikal verändert haben. In diesem Sinne verfolgt diese Arbeit zwei übergeordnete Ziele. Erstens soll die innere organisatorische und konzeptionelle Entwicklung des IMB und seiner Nachfolgeinstitute als Beitrag zum Verständnis des Gesellschaftssystems der DDR betrachtet werden. Wann immer in Buch die gegenwärtige und zukünftige Gestaltung des Institutskomplexes verhandelt wurde, standen grundsätzliche wissenschaftspolitische Konflikte und ökonomische Probleme deutlich sichtbar im Hintergrund. Aufgrund der „zentralen“ Rolle der Institute verwiesen die lokalen Verhältnisse stets auf generelle Tendenzen der Forschungsplanung, der Gesundheitspolitik und der Intelligenzpolitik, mithin auf Kernfragen des sozialistischen Staatsaufbaus. Zweitens werden anhand von in Buch bearbeiteten Forschungsgebieten globale Entwicklungslinien der modernen biologischen und medizinischen
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Wissenschaften verfolgt. Die Bucher Institute vereinten Arbeitsgebiete, von denen einige – wie Onkologie und Molekularbiologie – wissenschaftshistorisch sehr ausführlich, andere aber kaum ihrer Bedeutung entsprechend untersucht worden sind. Dass die Bucher Projekte sich in einem „peripheren“ Wissenschaftssystem entwickelten, bedeutet nicht, dass sie nicht repräsentativ für die grundlegenden Tendenzen ihrer Disziplinen waren. Gerade infolge der Begrenztheit der materiellen Ressourcen und Kommunikationsmöglichkeiten, gerade durch die Notwendigkeit, sich an in westlichen Ländern genannten Forschungstrends zu orientieren, wurden hier die Bedingungen und Probleme bei der Umsetzung neuer Forschungszweige besonders deutlich sichtbar. Auch wenn das Wissenschaftssystem der DDR gemeinhin als autarkistisch und modernisierungsresistent gilt, wurde in ihrem führenden biologisch-medizinischen Institutskomplex beständig über Strategien der wissenschaftlichen Modernisierung nachgedacht, da die Spielräume für ihre Realisierung eingeschränkt waren. Zudem war er als nationales Zentrum ein Ort, an dem vorrangig neue Programme und Techniken erprobt wurden. Diese Studie soll das Bild einer wissenschaftlich-technischen Revolution erweitern, deren Auswirkungen heute mehr denn je spürbar sind. Sie lenkt zugleich, obwohl sie den Fall eines untergegangenen planwirtschaftlich-autoritären Systems behandelt, den Blick auf Probleme der Forschungsorganisation und der Innovationspolitik, die sehr gegenwärtig sind. Bei dieser Ausrichtung auf globale Gesichtspunkte soll die lokale Spezifität der Bucher Institutsgeschichte keineswegs übergangen werden. Auf Traditionslinien, welche die Forschungsentwicklung nachhaltig prägten, wird besonderes Augenmerk gelegt; einige von diesen waren auch über die Zeitenbrüche von 1945 und 1989 hinweg wirksam. Aus diesem Grund bezieht die Darstellung auch die Geschichte des Kaiser-WilhelmInstituts für Hirnforschung mit ein, obwohl diese bereits gut erschlossen ist und sich thematisch nicht ohne weiteres mit jener der Akademieinstitute in Beziehung setzen lässt. Das KWIH und das IMB waren bei allen programmatischen Unterschieden jedoch so sehr durch personelle und thematische Kontinuitäten miteinander verbunden, dass ein Verständnis des Neubeginns nach 1945 durch einen Abriss der Vorgeschichte wesentlich erleichtert wird. Zudem zeigen sich hinsichtlich der wissenschaftspolitischen Rahmenbedingungen sowie der Identität als klinisch-experimentelles Hybridinstitut einige interessante Parallelen. Schließlich fehlt es bei allen detaillierten historischen Studien bislang an einer ausführlichen Darstellung, welche die verschiedenen Perioden der Geschichte des KWIH zusammenfasst. Die so entstehende „lange“ Perspektive auf die Geschichte der Institute in Berlin-Buch kann nicht zuletzt Kontinuitäten und Brüche in der deutschen Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts verdeutlichen. Im Folgenden werden der Forschungsstand zu den drei beschriebenen Themenkomplexen – Geschichte des KWIH, Geschichte der Naturwissenschaften und der Forschungspolitik in der DDR und Geschichte der modernen Biowissenschaften – und die sich daraus ergebenden Fragestellungen skizziert.
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Das KWI für Hirnforschung – Forschungsstand und Fragen Wenige deutsche Forschungsinstitute haben so viel wissenschaftshistorisches Interesse erfahren wie das 1919 gegründete und ab 1930 in Buch ansässige KaiserWilhelm-Institut für Hirnforschung. Hierfür gibt es hauptsächlich drei Gründe: Die außergewöhnliche Forschungskonzeption seiner Gründer, des Wissenschaftlerpaares Cécile und Oskar Vogt, die mit dem KWIH den neuartigen Typus eines neurobiologisch-klinischen Forschungsinstitutes schufen; die Arbeiten seiner genetischen Abteilung, deren Leiter Nikolai Timoféeff-Ressovsky heute zu den „Klassikern“ der Genetikgeschichte zählt; und nicht zuletzt die Forschungen an Gehirnen von Opfern der nationalsozialistischen Krankenmorde, deren Offenlegung in den 1980er Jahren entscheidend zu der Erkenntnis beitrugen, dass in der NS-Medizin Vernichtung und Erkenntnisstreben unmittelbar miteinander verbunden waren. Die wichtigsten Etappen der KWIH-Geschichte, die bis zu ersten Planungen um die Jahrhundertwende zurückverfolgt werden kann, sind in Heinz Bielkas Gesamtdarstellung der Geschichte der Bucher Institute prägnant zusammengefasst.1 Helga Satzinger und Jochen Richter haben detailliertere Studien zur frühen institutionellen und wissenschaftlichen Entwicklung des KWIH vorgelegt.2 Größere Aufmerksamkeit erfuhr die Geschichte des Instituts erstmals in belletristischer, aber quellengestützter Form. Tilman Spenglers Roman „Lenins Hirn“ verarbeitet nicht nur den außergewöhnlichen Aufstieg des Ehepaares Vogt aus einer disziplinären Außenseiterrolle in eine akademische Machtposition, sondern berührt auch ihr schillerndes neurobiologisches Forschungsprogramm, das biologischen Grundlagen der Begabung ebenso nachspürte wie jenen der Kriminalität.3 Die vogtschen Ideen repräsentieren einen besonders ambitionierten, aber keineswegs völlig außergewöhnlichen Weg in der Frühzeit der modernen Hirnforschung. Die Stellung ihres hirnarchitektonischen Konzepts im neurobiologischen Diskurs des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts ist ebenso eingehend thematisiert worden wie seine Bezüge zu eugenischen Zielsetzungen.4 Eine Besonderheit der vogtschen Neuroanatomie war ihr breiter Ansatz, der Methoden und Ideen aus Physiologie, Genetik und Evolutionsbiologie einschloss; die Entwicklung dieses multidisziplinären Programms hat Helga Satzinger umfassend nachgezeichnet.5 Noch nicht im vollen Zusammenhang dargestellt ist dagegen die Realisierung dieses Programms nach der Ansiedlung des KWIH in Buch im Jahr 1930. Von den hier neu aufgebauten Arbeitsgebieten hat vor allem die Elektrophysiologie Aufmerksamkeit gefunden, aus welcher entscheidende Impulse zur Etablierung der Elektroence1 2 3 4
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Bielka 2002. Richter 1996; Satzinger 1998. Spengler 1991. Zur Einordnung der Vogts in die Entwicklung der Hirnforschung um die Jahrhundertwende vgl. Hagner 1994; zum Aspekt des „genialen“ Gehirns v.a. Richter 2000 und Hagner 2004; für sehr unterschiedliche Bewertungen der eugenischen Implikationen vgl. Satzinger 2003 sowie Hagner 2003. Satzinger 1998; zur wissenschaftlichen Biographie der Vogts ferner Klatzo 2002.
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phalographie (EEG) hervorgingen.6 Weitere Felder wie die Psycholinguistik, die Neurochemie und die Neurochirurgie sind bislang nur ansatzweise thematisiert worden.7 Allerdings konnten sich diese Projekte während ihrer kurzen Zugehörigkeit zum KWIH kaum entfalten; der von Oskar Vogt angestrebte interdisziplinäre Zusammenhang wurde in den wenigen Jahren bis zu seinem Ausscheiden 1937 nicht voll wirksam. Eine Sonderstellung in der Geschichte des KWIH nimmt die genetische Abteilung unter Nikolai Timoféeff-Ressovsky ein. Während der beginnenden Auseinandersetzung mit der Geschichte der deutschen Eugenik in den 1980er Jahren wurde die Bedeutung ihres Leiters für die NS-Rassenhygiene zunächst sensationalistisch überzeichnet und dann unreflektiert abgestritten.8 Die Abteilung verkörpert jedoch nicht allein die Verflechtung zwischen Vererbungswissenschaft und Eugenik, sondern allgemeine theoretische und experimentelle Tendenzen in der Genetik der Zwischenkriegszeit.9 Als Vorreiter einer biophysikalisch-theoretisch orientierten Strahlengenetik ist Timoféeff-Ressovsky mittlerweile fachhistorisch als einer der Vorreiter der Molekulargenetik kanonisiert worden.10 Diese Vergangenheitskonstruktion hat sich in der Benennung des heutigen Bucher Forschungszentrums nach Max Delbrück, Mitte der 1930er Jahre Kooperationspartner von Timoféeff-Ressovsky und späterer Vordenker der US-amerikanischen Molekularbiologie, niedergeschlagen. Nicht zuletzt aus diesem Grund verdient die Geschichte der Bucher Genetik in dieser Arbeit eine kritische Revision. Die Entwicklung des KWIH in der NS-Zeit bietet ein eindrückliches Beispiel für die Prozesse von Druck und Anpassung, die viele wissenschaftliche Institutionen unter dem neuen Regime durchliefen. Das Institut wurde 1933 zum Ziel zunächst gewaltsamer und dann politischer Angriffe, als deren Spätfolge Oskar Vogt 1937 den Direktorenposten aufgab. Es ist kontrovers diskutiert worden, ob diese Aktionen als gezielter Versuch des NS-Regimes zu werten sind, einen politisch suspekten Wissenschaftler zu beseitigen und ein großes Forschungsinstitut thematisch gleichzuschalten.11 Da diese Frage sowohl für die Institutsgeschichte als auch für das Verständnis der NS-Wissenschaftspolitik bedeutend ist, wird sie hier eingehend diskutiert. Weitgehend geklärt ist die Rolle des Instituts in den NSKrankenmorden. Seitdem Götz Aly Ende der 1980er Jahre dokumentierte, dass am KWIH systematisch Gehirne von Opfern der „T4“-Mordaktion bezogen und untersucht wurden, ist das Bucher Institut zu einem Synonym für die Verflechtung etablierter akademischer Forschung mit den „Euthanasie“-Morden geworden. Die 6 7 8
Borck 2005; ferner (v. a. zum EEG-Ingenieur J. F. Tönnies) Wunderlich 2014. Zur psychologisch-phonetischen Forschung vgl. Simon 1992 & 2000. Roth 1986; Berg 1990; Glass 1990. Ursächlich für diese Debatte war die belletristische Verarbeitung von Timoféeff-Ressovskys Leben (Granin 1988), welche wiederum durch seine legendäre Stellung als dissidenter Spiritus rector der sowjetischen Molekularbiologie motiviert war. 9 Satzinger 1999 & 2003, Gausemeier 2005; für Leben und Werk Timoféeff-Ressovskys vgl. Paul/Krimbas 1992; Satzinger/Vogt 2001. 10 Sloan 2011. 11 Richter 1996; Reindl 1999; Schmuhl 2000; Gausemeier 2005; Rürup 2008, S. 339–344.
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Einbindung des Instituts in die „T4“-Strukturen sowie der wissenschaftliche Kontext sind seitdem detailliert analysiert worden; dass Mordopfer gezielt nach den Forschungsinteressen des KWIH ausgewählt wurden, kann als gesichert gelten.12 Im Zusammenhang mit den Grenzüberschreitungen in der Neuropathologie geriet auch in den Blick, dass das KWIH seit Kriegsbeginn immer stärker in militärmedizinische Strukturen, speziell der Luftwaffe, eingebunden war und damit potentielle Berührungspunkte zu dokumentierten verbrecherischen Menschenexperimenten aufwies. Der Fall von Unterdruckversuchen an minderjährigen Patienten aus einer psychiatrischen Anstalt zeigt auf, dass zwischen den luftfahrtmedizinischen Forschungen und den Untersuchungen im Rahmen des „T4“-Programms Überschneidungen vorlagen.13 Welche Rolle das KWIH in den höhenphysiologischen Forschungen spielte, die in den mörderischen Unterdruckversuchen im KZ Dachau kulminierten, ist bislang nicht vollständig geklärt. Während der Inhalt der kriegsbezogenen Projekte nur teilweise dokumentiert ist, hat insbesondere HansWalter Schmuhl ein klares Bild des militärmedizinischen Kontexts gezeichnet, in welchem das KWIH während des Krieges operierte.14 Neue Aspekte hinsichtlich der Beteiligung des KWIH an entgrenzten neuropathologischen und militärphysiologischen Forschungen wären nur aus umfassenderen Untersuchungen der regionalen psychiatrischen sowie der luftwaffenmedizinischen Netzwerke zu erwarten, die im Rahmen dieser Studie nicht geleistet werden konnten. Angesichts einer weitgehend ausgeschöpften Quellenlage und der zahlreichen Fallstudien trägt die Darstellung zur Geschichte des KWIH zwangsläufig den Charakter einer Zusammenfassung, die insbesondere genauer auf strittige Fragen eingeht und Lücken zwischen den bestehenden Wissenbeständen schließt. Dabei wurden, neben publiziertem Material, überwiegend bereits gut bekannte Quellen wie die im Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft (Berlin) überlieferten Institutsakten herangezogen. Intensiver genutzt wurden Überlieferungen im Krupp-Archiv (Essen), welche Korrespondenzen zwischen den Vogts und ihren wichtigsten Gönnern, der Krupp-Familie, sowie zahlreiche Dokumente zur Institutsgeschichte enthalten. Auf Basis dieses bislang noch nicht voll ausgeschöpften Materials war es möglich, die Entstehungsgeschichte des Instituts um neue Facetten zu erweitern. Damit können auch die Zielsetzungen und Strukturen, mit denen das KWIH 1930 in Buch seine Arbeit aufnahm, genauer umrissen werden. Wissenschaft und Politik in der DDR – Forschungsstand und Fragen Seit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten ist die Geschichte der Wissenschaftspolitik, der Hochschulen und der naturwissenschaftlichen Forschung in der DDR in zahlreichen Studien thematisiert worden. Grundlage für dieses Interesse 12 Aly 1987; Schmuhl 2000; Peiffer 2000 & 2005; Hübener 2002; zum Umgang mit den Hirnpräparaten nach 1945 vgl. Weindling 2017. 13 Deichmann 1995, S. 308–313; Schwerin 2004, S. 281–319. 14 Schmuhl 2000; zu den höhenphysiologischen Forschungen der Luftwaffe vgl. Roth 2001.
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sind vor allem zwei Fragen – einerseits jene nach dem Verhältnis zwischen dem Herrschaftsanspruch der SED und der Autonomie der Wissenschaft, andererseits jene nach den Möglichkeiten wissenschaftlicher Leistungs- und Innovationsfähigkeit unter den Bedingungen einer autoritären Planwirtschaft mit begrenzten Mitteln. Darstellungen zur Hochschulpolitik, insbesondere Ralph Jessens umfassende und detaillierte Studie, haben gezeigt, dass die Versuche zu einer politischen Durchdringung des akademischen Systems auf erhebliche Widerstände stießen, bis um 1970 der Anpassungsdruck auf die WissenschaftlerInnen sowie die Präsenz der SED deutlich anstiegen. Verschiedene Arbeiten zur Geschichte ostdeutscher Universitäten haben dieses Bild an konkreten Beispielen erweitert und bestätigt, dass hinsichtlich der direkten Einflussnahme von Partei und Staat klare Unterschiede zwischen Natur- und Gesellschaftswissenschaften bestanden.15 Ähnlich groß war das Gefälle zwischen den Hochschulen und den naturwissenschaftlichen Instituten der Deutschen Akademie der Wissenschaften (ab 1973 Akademie der Wissenschaften der DDR, AdW), die wesentlich größere politische Freiräume boten. Dennoch lässt sich auch die Akademie als Experimentierfeld der Intelligenzpolitik betrachten, auf dem versucht wurde, ein neues Modell der sozialistischen Elitenbildung aufzubauen. Die umfangreiche Historiographie zur DAW/AdW hat diesen Aspekt eingehend diskutiert; vor allem aber behandelt sie die Akademie in jener Funktion, die seit ihrer Gründung für sie vorgesehen war: als Flaggschiff der außeruniversitären Forschung und damit als Angelpunkt staatlicher Forschungspolitik.16 An den Entwicklungen in der Akademie, die sowohl für die Durchführung strategisch wichtiger Forschungsvorhaben als auch für die Organisation von Forschungsgebieten verantwortlich war, lassen sich grundsätzliche Tendenzen der Strukturbildung und Planung in der Forschung nachvollziehen. Ihre Institute – speziell solche mit enger Industrieanbindung – sind der Ansatzpunkt für die ausführlichsten Studien zum Verhältnis zwischen den Naturwissenschaften und ökonomischen Innovationsprozessen in der DDR.17 Vor allem mit Blick auf die DAW/AdW haben einige Autoren herausgearbeitet, dass es primär das Missverhältnis zwischen akademischen Forschungspotentialen und komplementären industriellen Entwicklungskapazitäten war, das die viel beschworene Freisetzung der „Produktivkraft Wissenschaft“ für die DDR-Ökonomie hinter den Ansprüchen zurückbleiben ließ.18 Dieser Befund wird in dieser Studie genauer verfolgt, da akademisch-industrielle Wechselbeziehungen bislang nur für einzelne Forschungsbereiche näher analysiert wurden. Auch die Möglichkeit, anhand von Akademieprojekten die Ebenen der Wissenschaftsplanung und der wissenschaftlichen Praxis in direktem Zusammenhang zu betrachten, sind bislang kaum erschöpfend genutzt worden. Nur für wenige Institute liegen historische Arbeiten 15 Jessen 1999; Hänseroth 2003; Hoßfeld/Kaiser/Mestrup 2007; Tenorth 2010; Schulz 2010; für eine Zusammenfassung hochschulpolitischer Entwicklungen vgl. Malycha 2009. 16 Nötzoldt 1997; Nötzoldt 2002; Kocka/Mayntz 1998; Scheler 2000; Mayntz 2002; Kocka 2002. 17 Gläser/Meske 1996; Schramm 2008. 18 Laitko 1997; Gläser/Meske 1996; Mayntz 2002.
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vor, welche nur teilweise näher auf die Forschungspraxis eingehen.19 Die umfangreiche Literatur zur Hochschulgeschichte ist für das Verständnis wissenschaftshistorischer Entwicklungen zumeist nicht sehr ergiebig, da sie überwiegend die Auswirkungen von Staats- und Parteipolitik auf Fakultäts- oder Institutsebene behandelt.20 Insgesamt ist die Historiographie zur Wissenschaft in der DDR stark durch einen Blick „von oben“ geprägt. Dies gilt nicht nur für die Studien, welche die Grundzüge staatlicher Wissenschaftspolitik in den 1950er und 1960er Jahren umrissen haben.21 Auch die Geschichtsschreibung zur DAW/AdW betrachtet eher die politisch-strukturellen Veränderungen auf der Leitungsebene als die Forschungsrealität in den Instituten. Ansätze für eine Perspektive, die beide Momente miteinander in Verbindung bringt, fehlen keineswegs, insbesondere für das Gebiet der Biowissenschaften. Die in den 1960er und 1970er Jahren unternommenen Versuche, Strukturen und Programmatik der Akademieinstitute zu modernisieren, sind mehrfach diskutiert worden. Die Beiträge ehemaliger leitender Mitarbeiter der Bucher Institute, Heinz Bielka und Günter Pasternak, haben hierfür eine wichtige Basis geliefert.22 Das Bucher Forschungszentrum steht dabei als zentraler Schauplatz einer ambitionierten Planungspolitik zwangsläufig im Mittelpunkt.23 Allerdings dominiert auch hier ein programmatisch-politischer Fokus, neben dem Projektstrukturen und Resultate der Akademieinstitute zumeist recht oberflächlich behandelt werden; dies trifft auch auf Andreas Malychas Studie zur biowissenschaftlichen Forschungsplanung zu, die bislang ausführlichste Darstellung zu einem größeren Teilgebiet der DDR-Wissenschaft.24 Die Forderung nach einer eingehenderen Rekonstruktion der Vorhaben, Probleme und Ergebnisse der Forschung ergibt sich nicht allein aus dem Interesse am wissenschaftshistorischen Detail. Sie ist unmittelbar relevant für die Bewertung des Wechselverhältnisses von Politik und Wissenschaft unter den Bedingungen des sozialistischen Systems. Die genannten Arbeiten zur DDR-Forschungspolitik allgemein sowie zur Situation in den Biowissenschaften sind fast durchgehend von dem Tenor durchzogen, dass die Planungspolitik der 1960er und 1970er Jahre gemessen an ihren Ansprüchen und am internationalen Leistungsniveau „gescheitert“ sei. Dieses Scheitern wird teils implizit und teils explizit aus der Annahme erklärt, die Prinzipien zentralistischer Planung und das Wesen innovativer Forschung seien generell nicht miteinander vereinbar.25 Damit werden, wie Mitchell 19 Abele 1999; Stange 2001; Diesener 2002; Müntz/Wobus 2012. 20 Ein interessantes Gegenbeispiel zur klassischen Universitäthistoriographie bietet das Projekt zur Geschichte der TU Dresden, das themenbezogene wissenschaftshistorische Teilstudien umfasst; vgl. Hänseroth 2003. 21 Wagner 1992; Tandler 2000. 22 Bielka/Hohlfeld 1998; Bielka 2002; G. Pasternak 2002; Böhme/Diesener 2005. 23 Hohlfeld 1997; Reindl 1999; Tandler 2000; Thoms/Malycha 2010. 24 Malycha 2016. 25 Besonders deutlich in der Formulierung bei Malycha (2005, S. 203) der Grundfehler der Planungspolitik habe darin bestanden, dass „in modernen Gesellschaften wirtschaftliches Wachstum und die wissenschaftliche Leistungsfähigkeit auf nicht sicher planbarer und voraussehbarer Innovation beruhen“.
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Ash kritisiert hat, die gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse in der DDR a priori als defizitär betrachtet und an westlichen Verhältnissen und Begriffen von Modernität gemessen. Ash fordert eine wissenschaftshistorische Perspektive, welche die Forschung vor dem Hintergrund der Modernisierungsziele des Systems und seiner politisch-ökonomischen Rahmenbedingungen analysiert.26 Dabei müssen auch die Erkenntnisziele der wissenschaftlicher Vorhaben, lokale Voraussetzungen und internationale Vergleichsfälle mit reflektiert werden. Eine Großforschungseinrichtung wie der Bucher Institutskomplex ist für eine solche Sichtweise ein geeigneter Ansatzpunkt. Die Umsetzung wissenschaftspolitischer Projekte – und die damit verbundenen Kontroversen – lassen sich hier anhand einer guten Quellenlage ebenso nachvollziehen wie die Entwicklung von Forschungsprojekten. Die zahlreichen Einzelstudien, die im weitesten Sinne Aspekte der biologischen und medizinischen Forschung in der DDR behandeln, können hier nicht ausführlich wiedergegeben werden.27 Hervorzuheben ist ein generelles Interesse an solchen Entwicklungen, welche die Prägung der Wissenschaft durch die politischen Bedingungen des SED-Staates besonders zu verkörpern scheinen. Dazu gehört der ausgeprägte Pharmakamissbrauch im Sport, der auch eine gezielte Einbindung der Forschung mit einschloss.28 In jüngster Zeit wurde der schon seit längerer Zeit geäusserte Verdacht auf eine Häufung ethisch und medizinisch bedenklicher Medikamentenstudien thematisiert. Die Vermutung, global geltende Standards seien flächendeckend und systematisch verletzt worden, ließ sich dabei jedoch nicht bestätigen.29 Größeres Interesse hat auch die genetische Forschung erfahren, unter anderem darum, weil sie als besonders beeinträchtigt durch die Einwirkungen von Parteidogmen galt.30 Tatsächlich führte die aus der Sowjetunion übernommene Anti-Genetik des Agronomen Trofim D. Lyssenko in den 1950er Jahren zu beträchtlichen Auseinandersetzungen in der DDR; der Einfluss des Lyssenkoismus blieb indessen zeitlich eng begrenzt. Ihn als Paradigma für die „Ideologisierung“ der Biologie in der DDR zu betrachten, führt zwangsläufig zu einer Verkürzung des Wechselverhältnisses zwischen Politik und Wissenschaft auf einen – zudem mäßig erfolgreichen – Spezialfall versuchter Dogmenbildung.31 Natur- und Technikwissenschaftler waren seit den späten 1960er Jahren zwar insofern Objekt von Politisierungsversuchen, als sie regelmäßig einer Indoktrination 26 Ash 1997, S. 1–4. 27 Für Versuche einer Gesamtbewertung der Situation in der Hochschulbiologie vgl. Höxtermann 1997a & 1997b. 28 Latzel 2009. 29 Hess/Hottenrott/Steinkamp 2016. Allgemein fehlt ein umfassendes Bild der Arzneimittelregulierung und -testung in der DDR genauso wie für die BRD; für einen ersten Ansatz vgl. Klöppel/Balz 2010. 30 Weisemann/Kroener/Toellner 1997; Geißler 2010. 31 So diskutiert Hohlfeld (1997, S. 218–219) in seinen Ausführungen zur „Ideologisierung der Biologie“ den sehr intensiven Lyssenkoismus-Konflikt am DAW-Institut für Kulturpflanzenforschung, ohne dass klar wird, ob der Fall ein generelles Muster oder eine Ausnahmeerscheinung repräsentieren soll.
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in Form von Parteischulungen ausgesetzt waren; eine erkennbare Parteilinie hinsichtlich der theoretischen Formulierung von Forschungsresultaten existierte jedoch nicht. Während sich durchaus einige WissenschaftlerInnen bemühten, ihren Arbeiten eine dialektisch-materialistische Ausrichtung zu geben, war die Forschung sehr viel stärker durch Konzepte und Praktiken geprägt, die aus den westlichen Zentren übbernommen wurden. Carsten Timmermann hat die Koexistenz beider Tendenzen in einem instruktiven Beitrag über zwei kreislaufmedizinische Projekte thematisiert, die Teil des Bucher Forschungszentrums waren.32 In diesem Sinne muss der Versuch, die Wissenschaft in der DDR politisch zu kontextualisieren, breiter gefasst sein. Politische Abgrenzung gegenüber dem Westen, Überwachungsobsession und autoritative Sprachregelungen waren systemspezifische Rahmenbedingungen, die der sozialistische Staat den Wissenschaften setzte, aber sie waren nicht die allein entscheidenden. Auch seine institutionellen Strukturen sowie sozial- und wirtschaftspolitischen Ziele wirkten mittelbar auf die wissenschaftliche Produktion ein. Der Zentralismus der Planwirtschaft und die gerade im Forschungsbereich ausgeprägte Ressourcenknappheit prägten die Arbeitsformen in den Instituten stärker als die weltanschaulichen Grundsätze der Parteitagsbeschlüsse. Eine wesentliche systemische Voraussetzung, die sich in den klinischen Projekten des Bucher Forschungszentrums deutlich niederschlug, war ferner die Ausrichtung des DDR-Gesundheitswesens auf Ziele der Prävention und der Breitenversorgung, die sich an sozialhygienischen Traditionen orientierte.33 In der Geschichtswissenschaft ist in den letzten Jahren intensiv darüber diskutiert worden, ob es epistemologisch und moralisch vertretbar ist, die DDR als „normalen“ Staat zu betrachten.34 In Bezug auf ihr Wissenschaftssystem ergibt sich diese Forderung aus dem Umstand, dass die wissenschaftliche, technologische und ökonomische Entwicklung in der DDR von Problemen und Zielsetzungen bestimmt wurde, die sich nicht grundsätzlich von jenen in anderen Industriestaaten unterschieden. In einem Forschungszentrum wie Buch, das trotz aller kommunikativen Hindernisse stets in internationalen Zusammenhängen arbeitete, zeigte sich dies sehr deutlich. Dementsprechend sollen hier die Praktiken der Forschung, ihre Wechselwirkungen mit ihrem ökonomischen und technischen Bedingungen, die Herausbildung von Projekten im Vordergrund stehen. Auf dieser 32 Timmermann 2005. Die Gegenüberstellung des rein experimentell arbeitenden Instituts für Kreislauflaufforschung sowie des klinisch-experimentellen Instituts für kortiko-viszerale Pathologie und Therapie als „westlich“ und „östlich“ geprägte Institute fällt bei Timmermann allerdings etwas zu schematisch aus; vgl. hierzu Kap. III.7.. Die im letztgenannten Institut verfolgte, auf Ideen Iwan P. Pawlows beruhende materialistisch-psychosomatische Pathophysiologie war wie der Lyssenkoismus ein wissenschaftsideologischer Sowjetimport der 1950er Jahre, dessen Einfluss in der DDR bislang noch nicht adäquat reflektiert wurde; vgl. hierzu Busse 1998 und Scholz/Steinberg 2011. 33 Moser 2002; Schleiermacher/Pohl 2009; Timmermann 2005 & 2012. 34 Auf die Grundsatzdebatten zwischen einer vom Totalitarismuskonzept geprägten und einer den internationalen Kontext betonenden Position soll hier nicht genauer eingegangen werden; für eine konzise Kritik an der Herauslösung der DDR aus internationalen Zusammenhängen und dem Kontinuum deutscher Geschichte vgl. Fulbrook 2013.
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Grundlage lassen sich auch lokale und nationale Besonderheiten stärker herausarbeiten. Das Moment der politischen Kontrolle durch Staat und Partei soll mit dieser Betonung wissenschaftsinterner Prozesse keineswegs übergangen werden. Die Bucher Institutsgeschichte beinhaltet zahlreiche Beispiele dafür, wie die SED beständig versuchte, ihren Einfluss auf Leitungsstrukturen und Kaderauswahl zu erweitern. Allerdings blieb der Druck wie in anderen Akademieinstituten sehr viel geringer als etwa an den Hochschulen. Buch war insofern nicht exemplarisch für die Formen direkter Herrschaftsausübung, wie sie für andere Felder der Wissenschaft gut dokumentiert sind.35 Als Ort der Forschung soll der Institutskomplex vor allem unter dem Gesichtspunkt behandelt werden, wie sich die politischökononischen Bedingungen in seiner wissenschaftlichen Tätigkeit niederschlugen. Dafür ist es notwendig, verschiedene Gebiete seiner Forschungspraxis genauer zu betrachten und sie in einen internationalen Kontext zu stellen. Die Bucher Institute in globaler Perspektive – Forschungsstand und Fragen In der Historiographie zur Wissenschaft in der DDR ist in jüngerer Zeit der wichtige Aspekt der deutsch-deutschen Wechselwirkungen betont worden.36 Dagegen wird nur selten auf Vergleichsfälle und Anregungen aus der internationalen wissenschaftshistorischen Literatur zurückgegriffen. Damit bleiben nicht nur Möglichkeiten ungenutzt, bestimmte forschungshistorische Entwicklungen in größere Zusammenhänge einzuordnen. Studien zur Geschichte von Forschungssystemen und -institutionen in Westeuropa und den USA beinhalten auch Bezugspunkte für das Verständnis wissenschaftspolitischer Strukturen. Besonders interessante Vergleichsfälle zur Geschichte des nationalen Forschungszentrums Buch bietet JeanPaul Gaudillières Arbeit über die Rekonstruktion der französischen Biomedizin in den Nachkriegsjahrzehnten.37 Das französische Wissenschaftssystem war ähnlich wie jenes der DDR zentralistisch strukturiert und setzte ebenfalls auf Modernisierung durch nationale Zentrenbildung sowie umfassende Forschungsplanung. Parallelen bestanden auch hinsichtlich einer Orientierung an der amerikanischen Forschung, deren Leistungsfähigkeit zugleich als bedrohlich und vorbildlich wahrgenommen wurde; in dieser Beziehung bestanden Ähnlichkeiten zwischen vielen europäischen Staaten. Ab den 1960er Jahren wurde insbesondere das Zukunftsgebiet der Molekularbiologie zum Gegenstand nationaler und übernationaler Planungsinitiativen.38 Wie eine Reihe neuerer Studien über die Förderung biowissenschaftlicher Fachgebiete in der BRD verdeutlicht, galten dabei Kräftekonzentration und der Umbau veralteter disziplinärer Strukturen als Mittel der Wahl, um den Rückstand zum amerikanischen Vorbild aufzuholen – ganz ähnli-
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Jessen 1999; Malycha 2005; Malycha 2009. Niederhut 2007; Arndt 2008. Gaudillière 2002. Krige 2002; Strasser 2002; Strasser 2006.
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che Debatten prägten zur gleichen Zeit die Situation in Buch.39 Planung und Zentralisierung waren kein Alleinstellungsmerkmal der DDR-Wissenschaft, ebenso wenig waren es die steigenden Erwartungen hinsichtlich „praxistauglicher“ Ergebnisse der Biowissenschaften. Soraya de Chadarevian argumentiert in ihrer Studie zur Entwicklung der britischen Molekularbiologie, dass nach einer bis in die späten 1960er Jahre reichenden Phase liberaler Förderung der Grundlagenforschung eine klare politische Orientierung auf medizinische und industrielle Ziele einsetzte.40 Auch in dieser Beziehung lassen sich Parallelen zur Situation in der DDR feststellen. Die Arbeiten zur institutionellen Entwicklung der modernen Biowissenschaften verdeutlichen, dass die 1960er und 1970er Jahre eine Phase waren, in der sich neue Organisationsformen, Themensetzungen und Forschung-Ökonomie-Beziehungen herausbildeten, die bis heute nachwirken. Ferner zeigen sie, dass sich in diesem Zeitraum ein naturwissenschaftliches Weltsystem mit dem Zentrum USA herausbildete, welches weitgehend Trends und Praktiken in den internationalen Provinzen bestimmte. Die DDR zählte dabei eindeutig zu den Ländern der Peripherie, da sie als Ostblockstaat nur bedingt am materiellen und intellektuellen Austausch teilhatte. Zudem war sie ein kleiner Staat. Der israelische Soziologe Joseph Ben-David postulierte in den 1960er Jahren, dass kleine Wissenschaftsnationen durch einen eng begrenzten Entwicklungspielraum charakterisiert seien, welcher sie in eine intellektuelle Abhängigkeit von den „Großmächten“ bringe.41 Kleine oder periphere Staaten sind aber nicht notwendigerweise auf die Rolle passiver Rezipienten „importierter“ Konzepte beschränkt. Sie bringen oft sehr spezifische Formen globaler Entwicklungen hervor, die sich aus ihren lokalen Bedingungen ergeben. Gerade darum bieten sie einen historiographischen Ausgangspunkt, um etablierte, mit Blick auf die Zentren formulierte Narrative zu hinterfragen.42 Ein Merkmal von Kleinstaaten, das in der sozialistischen DDR besonders ausgeprägt war, ist die räumliche und thematische Konzentration von intellektuellen und materiellen Kapazitäten. Buch war der Mittelpunkt eines zentralistischen Forschungssystems, an dem versucht wurde, auf Schlüsselgebieten der Biowissenschaften konkurrenzfähige Bedingungen herzustellen. Dabei mussten beständig Entwicklungschancen abgewogen, Entscheidungen über vordringliche Ziele gefällt und die Ausnutzung vorhandener Ressourcen geplant werden. Da hierbei immer wieder interne Konflikte und zumeist ökonomisch bedingte Hindernisse 39 Moser 2011; Stoff 2012; Schwerin 2015. Diese Studien beziehen sich auf den Zeitraum 19201970; daher werden einige hier thematisierte neue Tendenzen der 1960er und 1970er Jahre leider nur am Rande berührt. 40 De Chadarevian 2002. 41 Ben-David 2012. Ich verdanke das Kleinstaatlichkeits-Konzept Sophie Meyer, die es in ihrer Studie zur Entwicklung der kleinen Disziplin Immunologie in der DDR konsequent angewendet hat, vgl. Meyer 2016. 42 Für das Konzept der Peripherie als „historiographical standpoint“ vgl. Gavroglu u. a. 2008, S. 168: „Starting from the periphery ... might offer a clearer view over the intricate ideological constructs which accompany the establishment of science and technology, and at the same time, unveil their socio-political dimensions.”
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auftraten, wird die Komplexität der Voraussetzungen für den Aufbau von Forschungsprojekten umso klarer erkennbar. Besonders deutlich werden die Probleme der Wissenschaft im peripheren sozialistischen Staat an den Schnittstellen zwischen Technik und Forschungspraxis, speziell in der Organisation forschungstechnischer Ressourcen. In den neueren science studies ist intensiv thematisiert worden, wie grundlegend wissenschaftlich-technische Systeme wie die Produktion radioaktiver Chemikalien, die industrialisierte Züchtung normierter Versuchtstiere oder die breite Anwendung von Computersystemen die Biowissenschaften des späten 20. Jahrhunderts geprägt haben.43 Während diese Studien durchweg Pionierentwicklungen in den USA verfolgen, bieten sich in Buch Beispiele für den nachholenden Aufbau entsprechender wissenschaftlich-technischer Infrastrukturen. Da diese Projekte teilweise einen zentralen Charakter für das gesamte DDR-Forschungssystem hatten oder erlangen sollten, können sie generelle Strukturprobleme verdeutlichen; ferner lassen sich im Zusammenhang des Institutskomplexes ihre Wechselwirkungen mit der Forschungsarbeit genauer beschreiben. Ein verwandter Aspekt betrifft die Rolle von Großgeräten in der biochemischen Forschung. In den 1960er und 1970er Jahren vollzog sich in der physikalisch-chemischen Strukturanalyse eine apparative Revolution, die bislang kaum gemäß ihrer Bedeutung für die gesamten Biowissenschaften gewürdigt worden ist.44 Auch hier vollzogen sich in Buch Modernisierungsversuche, die problembeladen und nur teilweise erfolgreich waren, aber sich dennoch dafür eignen, die Auswirkungen dieses Technisierungsschubes zu umreißen. Es ist ein Hauptanliegen dieser Studie, die materiellen und technischen Bedingungen biologischer und medizinischer Forschung deutlicher sichtbar zu machen. Ein weiterer Schwerpunkt liegt darauf, das Bild der modernen Biowissenschaften um neue thematische Aspekte jenseits des molekularbiologischen Mainstreams zu erweitern. Die wissenschaftshistorische Sicht auf das Feld ist bei aller Ausdifferenzierung noch immer stark durch die Entwicklungslinie von der Entdeckung der Doppelhelix zum Humangenomprojekt geprägt. Die frühe und klassische Phase der molekularen Genetik ist ausgiebig thematisiert worden;45 in jüngster Zeit hat sich der Schwerpunkt auf die Ausbildung der Gentechnologie und der Genomik verlagert.46 Diese reichhaltige Literatur bietet vielfältige Möglichkeiten, Forschungslinien in einen internationalen Kontext zu stellen und an historisch-epistemologische Fragestellungen anzuschließen. Dies gilt etwa für die Krebsvirologie, eine der prägenden Bucher Forschungstraditionen. Während dieses Feld vor allem als Beispiel für die „Molekularisierung“ der experimentellen Medizin eingehend thematisiert worden ist, kann anhand des Bucher Projekts 43 Vgl. für die Versuchstierzucht Rader 2004, für die Rechentechnik November 2012, für die Produktion radioaktiver Forschungsmittel Creager 2013. 44 Rabkin 1987; Reinhardt 2006. Für eine sehr fruchtbare Sicht auf die Transformation der modernen Medizin durch apparative Labortechniken vgl. Keating/Cambrosio 2003. 45 Olby 1974; Kay 1993; Morange 1998; Rheinberger 2001; de Chadarevian 2002. 46 Vgl. u.a. Wright 1994; Gottweis 1998; Garcia-Sancho 2012.
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seine Stellung in der Erforschung der Krebsätiologie genauer akzentuiert werden.47 Auch die in Buch verfolgten molekulargenetischen Ansätze, die sich inhaltlich wenig von westlichen Vorbildern unterschieden, bieten neue Blickwinkel an: einerseits auf die noch wenig beachtete Diffusion dieses Forschungsfeldes in den sozialistischen Block, andererseits auf seine Abhängigkeit von der Produktion spezifischer Forschungsmittel sowie auf die Probleme der biotechnologischen Nutzung von Ergebnissen, die in diesem Fall sehr genau dokumentiert sind. Ähnliches gilt für einen verwandten Forschungszweig, in dem auf die industrielle Anwendung gereinigter und manipulierter Enzymsysteme abgezielt wurde. Obwohl solche Systeme ab den 1970er Jahren eine deutlich breitere Anwendung fanden als gentechnisch veränderte Organismen, spielen sie in der historischen Wissenschafts- und Technikforschung eine viel geringere Rolle.48 Schließlich berühren auch die in Buch unternommenen Versuche zur Wirkstoffentwicklung einen wichtigen Aspekt biowissenschaftlicher Innovationsprozesse. Sie repräsentierten einen seit den 1960er Jahren global einsetzenden Paradigmenwechsel, nach dem nicht empirische Wirkungstests, sondern nur theoretisch-chemische und molekularbiologische Analysen von Wirkungsprinzipien den Weg zu neuartigen Pharmaka wiesen. Dieser folgenreiche Strategiewandel ist bei allem Interesse an der Geschichte der Pharmaindustrie und -forschung bislang zu wenig wahrgenommen worden.49 Für die Einordnung der in Buch gepflegten medizinischen Arbeitsgebiete existiert eine sehr gute Basis. Die klinische Onkologie ist ein bevorzugtes Objekt der Medizin- und Wissenschaftsgeschichte.50 Hinsichtlich der therapeutischen, diagnostischen und präventiven Strategien, aber auch der Entwicklung klinischer Studien können hier Parallelen und Unterschiede zu den vorherrschenden westlichen Mustern verfolgt werden. Die Herz-Kreislaufmedizin, der zweite klinische Schwerpunkt des Bucher Institutsverbandes, ist vor allem als ein Feld sozialmedizinischer, präventionsorientierter Konzepte wahrgenommen worden.51 Auf beiden Feldern ist so eine vergleichende Perspektive möglich, die lokale Besonderheiten und grundlegende systembedingte Differenzen verdeutlichen kann. Eine Reihe von interessanten Entwicklungen, die mehr historische Aufmerksamkeit verdienen würden, werden – zur Beschränkung des Umfanges – in dieser Monographie nicht näher behandelt. Dazu gehören auch international anerkannte Bucher Projekte auf den Gebieten der Biomathematik und der experimentellen Kreislaufforschung. Unvollständig ist auch der Blick auf Projekte an der Grenze zwischer klinischer und experimentell-medizinischer Praxis, obwohl gerade dieses Feld für das Selbstverständnis des Forschungszentrums Buch eine besondere Rolle spielte. Dieses Thema ist ausführlicher in zwei Dissertationen behandelt 47 Kevles 1993; De Chadarevian/Kamminga 1998; Van Helvoort 1999; Gaudillière 2002; Landecker 2007; Yi 2008; Creager 2014. 48 Für einen Überblick der jüngeren Biotechnologie vgl. Bud 1994; für die DDR vgl. Fraunholz 2012. 49 Für erste historische Analysen hierzu vgl. Lesch 2008; Bürgi 2011. 50 Lerner 2001; Cantor 2008; Löwy 2011; Timmermann 2014. 51 Timmermann 2012; Jackson 2013.
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worden, die im Projekt zur Bucher Institutsgeschichte entstanden sind. Josephine Jahn hat eine wissenschaftssoziologische Analyse von Versuchen geleistet, im Bereich der Krebsforschung klinische und laborwissenschaftliche Arbeit zu verknüpfen.52 Die von ihr behandelten Fälle weisen interessante Bezüge zur aktuell intensiv diskutierte Problematik der „Translation“ zwischen Labor und Krankenbett auf. Sophie Meyer analysiert die im Kontext der experimentellen Krebsforschung entstandene Immunologie, die in Buch nur einen kleinen Arbeitsbereich bildete, der in den 1970er und 1980er Jahren aber sehr produktiv war. Sie geht dabei sowohl auf die globale Entwicklung des Faches als auch auf den Kontext der DDR-Immunologie ausführlicher ein, als es in den folgenden Kapiteln möglich war.53 Beiden Studien verdankt diese Darstellung wichtige Anregungen. Diese Arbeit beschreibt Entwicklungen aus sehr verschiedenen Gebieten der biologischen und medizinischen Wissenschaften innerhalb eines klar definierten institutionellen Rahmens. In der jüngeren Wissenschaftsgeschichte sind institutionsgeschichtliche Ansätze aus der Mode gekommen; es dominieren Studien, die die Entstehung und Verbreitung von einzelnen Objekten, Versuchssystemen und Konzepten verfolgen. Anhand eines Großforschungsinstituts lassen sich einzelne Ideen und Praktiken jedoch konkreter verorten. Es lassen sich ihre Beziehungen untereinander, ihre Bedeutung im jeweiligen organisatorischen Kontext sowie Probleme bei ihrer Realisierung genauer herausarbeiten. Ferner können bei der Darstellung einer multidisziplinären Institution grundsätzliche wissenschaftshistorische Fragen auf verschiedene Forschungsgebiete bezogen und damit differenzierter entwickelt werden. Zu den wiederkehrenden Themen in den folgenden Kapiteln gehören das Verhältnis zwischen Planung und Eigendynamik der Forschung wie auch jenes zwischen Grundlagenforschung und Anwendungsorientierung. Beide Punkte zeigten sich, wie bereits betont, in der DDR stets besonders deutlich, waren aber zugleich zentral für die globale Entwicklung. Spezielle Bedeutung für die Bucher Institute als medizinisch-biowissenschaftliche Hybridinstitution hatte das Verhältnis zwischen klinischer Praxis und Laborforschung. Hier lässt sich das heute selbstverständlich erscheinende Begriffskonstrukt „BioMedizin“ hinterfragen, welches eine prästabilierte Harmonie in einem Feld suggeriert, das tatsächlich äußerst konfliktgeladen war. Schließlich wird in allen Kapiteln reflektiert, wie soziale, politische und ökonomische Rahmenbedingungen wissenschaftliche und medizinische Vorhaben prägen. Quellen Aufbau und Schwerpunktsetzung dieser Studie sind stark durch die Struktur der vorhandenen Quellen beeinflusst worden. Der wichtigste Teil des Archivmaterials, die im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften überlieferten Institutsakten und institutsbezogenen Akademieakten, ist extrem 52 Jahn 2017. 53 Meyer 2016.
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umfangreich, aber sehr heterogen in Qualität und Quantität. Während für die späten 1950er und die 1960er Jahre die Vorgänge auf der Leitungsebene und in einigen Teilinstituten sehr gut dokumentiert sind, bestehen für die Gründungsphase sowie die Zeit nach 1970 teilweise große Lücken. Wichtige Entscheidungsprozesse sind in den 1970er und 1980er Jahren nur noch teilweise nachvollziehbar. Während für einige Arbeitsbereiche ein detailreiches Material vorliegt, tun sich an anderen Stellen große Lücken auf; letzteres gilt insbesondere für die Institutsleitungen der Zentralinstitute für Krebsforschung und Herz-Kreislauf-Forschung. Überlieferungen übergeordeneter Behörden im Bundesarchiv Berlin – des Forschungsrates, des Gesundheitsministeriums, des Wissenschaftsministeriums sowie des wissenschaftspolitischen Apparats der SED – enthalten wertvolle Vorgänge zu den Hintergründen der Bucher Entwicklungen, teilweise auch detaillierte Informationen zu einzelnen Forschungsprojekten. Qualitität und Quantität differerieren allerdings zeitlich ähnlich wie bei den Institutsakten. Die Quellenlage ist ein Grund dafür, dass der zeitliche Schwerpunkt dieser Arbeit auf den 1960er und 1970er Jahren liegt, einem Zeitraum, dem für das Verständnis moderner Wissenschaftsorganisation besondere Bedeutung zukommt. Setzte in den 1960er Jahren eine zentralisierte Forschungsplanung ein, zeigten sich in den 1970er Jahren ihre ersten Auswirkungen und Hindernisse. Analog dazu lassen sich diese beide Jahrzehnte nicht nur in der DDR, sondern weltweit als eine wissenschaftshistorische Achsenzeit betrachten. Etablierten sich bis 1970 viele der grundlegenden konzeptionellen und technischen Neuerungen, die experimentelle Biowissenschaften und Medizin auf lange Zeit prägen sollten, begannen sie sich danach in Forschung und Anwendung voll zu entfalten. Das letzte Jahrzehnt des Bucher Akademiekomplexes kann nur für ausgewählte Entwicklungen genauer behandelt werden; einerseits darum, weil die Überlieferung nur stellenweise ausreichend ist, andererseits, da sich die immer weiter ausdifferenzierten Organisationsstrukturen und Forschungsprogramme nicht mehr in einem vertretbaren Rahmen darstellen ließen. Einen wertvollen Quellenfundus bilden schließlich die Erinnerungen von Bucher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die einerseits in Form zahlreicher verschriftlicher Erinnerungen vorliegen.54 Noch mehr zum Verständnis von Arbeitszusammenhängen und politischer Atmosphäre beigetragen haben die mündlichen Gespräche mit Zeitzeugen. Für ausführliche Interviews oder kurze Informationen danke ich Heinz Bielka, Volker Wunderlich, Wolfgang Schulze, Ernst-Georg Krause, Peter Oehme, Helmut Abel, Werner Scheler, Hans-Jürgen Gütz, Hannelore Haase, Ralph Plehm, Günter Pasternak und Erhard Geißler. Sie haben eine Ebene der persönlichen Erfahrungen eröffnet, die beim Blick auf die Archivquellen verborgen bleibt. Die so gewonnenen Einsichten haben als Hintergrundwissen stärker gewirkt, als es in den Fußnoten zum Ausdruck kommt.
54 Hervorzuheben sind insbesondere die von Luise Pasternak herausgegebenen Bände mit biographischen und autobiographischen Skizzen über WissenschaftlerInnen verschiedener Disziplinen und Generationen (L. Pasternak 2002; L. Pasternak 2004); für umfangreichere biographische Beiträge vgl. u. a. Oehme 2006; Reich 1992 & 2000; Geißler 2010.
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Aufbau Dieses Buch gliedert sich entsprechend den oben beschriebenen Themenstellungen in drei Hauptteile. Teil I ist der Versuch, eine konzise Zusammenfassung der Geschichte des KWIH bis 1945 zu geben. Teil II behandelt die Grundzüge der Bucher Institutsgeschichte nach 1945 unter allgemeinen wissenschaftspolitischen und sozialhistorischen Gesichtspunkten. Er verfolgt die wesentlichen den gesamten Institutskomplex betreffenden strukturellen und konzeptionellen Entscheidungen und Diskussionen und geht dabei auf deren politische und gesellschaftliche Hintergründe ein. Teil III vereint wissenschaftshistorische Perspektiven auf Arbeitsschwerpunkte des Institutskomplexes. Die Kapitel sind nicht als Gesamtdarstellung zur Geschichte einzelner Teilinstitute zu verstehen, sondern thematisieren jeweils charakteristische Entwicklungen eines Forschungsfeldes und betrachten sie im internationalen Kontext. Kapitel I.1. führt von Oskar und Cécile Vogts ersten Bemühungen um ein neurobiologisches Forschungsinstitut um die Jahrhundertwende bis zur Ansiedlung des KWIH in Buch im Jahre 1930. Dieser lange Rückgriff verdeutlicht die Genese des Institutskonzepts, wie es schließlich realisiert wurde, ebenso wie jene Faktoren, welche seine Umsetzung lange Zeit verhinderten. Hervorgehoben werden jene Aspekte, welche die Besonderheit, aber auch die Problematik des Vogtschen Konzepts ausmachten: die Idee eines „Zentralarchivs“ menschlicher Hirnpräparate sowie das Ziel einer Verknüpfung von Forschung und institutseigener Klinik. Oskar Vogts Kampf um seine Institutsidee vermittelt dabei neben Einblicken in damalige neurobiologische Debatte auch ein Bild der wissenschaftspolitischen Konstellationen der Weimarer Republik. Kapitel I.2. geht zunächst näher auf die 1933 einsetzenden nationalsozialistischen Attacken auf das KWIH ein, die 1937 schließlich zur Ablösung Oskar Vogts als Direktor und damit zu einem weitgehenden Umbau des Instituts führten. Über ihre lokale Bedeutung hinaus sind diese komplexen Vorgänge ein eindrückliches Beispiel für die Neuordnung der wissenschaftspolitischen Kräfteverhältnisse unter dem NS-Regime. Ein großer Teil des Kapitels ist der Geschichte der genetischen Abteilung gewidmet, deren Situation nach 1933 besonders charakteristisch für das Verhältnis von Druck und Selbstanpassung ist. Anhand ihrer wissenschaftlichen Entwicklung lässt sich zunächst die Stellung der experimentellen Genetik in der vogtschen Neurobiologie, und damit deren weiterer theoretischer Horizont, näher erläutern. Die im KWIH entwickelten Ideen über Mutation und Genwirkung sind zudem ein geeigneter Ansatzpunkt, die Beziehung zwischen biologischer Wissenschaft und eugenischem Diskurs in der NS-Zeit zu vermessen. Schließlich werden die strahlengenetischen Arbeiten verfolgt, die ab Anfang der 1930er Jahre in den Mittelpunkt rückten und der Bucher Genetik zu bleibender Prominenz verhalfen. Diese Entwicklung in Richtung Biophysik war das Erbe, welches die Abteilung 1945 als letzter in Buch verbliebener Teil des KWIH hinterließ und welches die Neugründung personell und konzeptionell beeinflusste. Ein letzter Abschnitt behandelt die Entwicklung in den neurobiologischen Abteilungen des KWIH nach 1937, die durch enge Beziehungen zur Militärmedizin
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sowie zu den Institutionen des Krankenmordes charakterisiert war. Während das Ausmaß der Enthumanisierung der Medizin in der NS-Zeit dabei nur angeschnitten werden kann, sollen die Zusammenhänge zwischen den beiden Bezugspunkten als lokale Besonderheit hervorgehoben werden; nicht zuletzt wird die Frage diskutiert, inwieweit die hier sichtbare Aufweichung ethischer Grenzen in der Ausrichtung des KWIH selbst angelegt war. Der zweite Hauptteil ist in vier Kapitel unterteilt. Die Periodisierung orientiert sich an Phasen der DDR-Wissenschaftspolitik, deren Übergange zugleich Wendepunkte für den Bucher Institutskomplex markieren. Alle Kapitel umreißen die wichtigsten institutionellen Entwicklungen sowie ihre politischen, ökonomischen und forschungspolitischen Hintergründe; sie setzen aber, nach den in der jeweiligen Phase besonders stark hervortretenden Problemen, unterschiedliche Schwerpunkte. Kapitel II.1. umfasst das erste Jahrzehnt der IMB-Geschichte, welches zugleich die Formierung der DAW als führender forschungspolitischer Institution und der DDR-Wissenschaftspolitik insgesamt widerspiegelt. Die Bildung des IMB wird darin als Versuch beschrieben, die in der SBZ/DDR verfügbaren Kräfte für den Neuaufbau zentral zu bündeln. Dabei zeigen auch die nicht oder nur teilweise realisierten Versuche, strukturschwache Forschungsgebiete auf dem Campus Buch fördern, die zentralistischen Ambitionen des entstehenden wissenschaftspolitischen Apparates auf. Der Ausbau des IMB selbst stieß in den 1950er Jahren immer wieder auf Grenzen, welche von den materiellen Rahmenbedingungen gesetzt wurden. Der Blick auf einige Infrastrukturprojekte soll sowohl grundsätzliche Probleme beim Aufbau des neuen Forschungssystems als auch generelle Schwachstellen der jungen DDR-Ökonomie verdeutlichen. Ferner wird näher auf die zunächst wenig erfolgreichen Versuche der SED eingegangen, politische Kontrolle über das IMB zu erlangen; dieser Aspekt wird in den folgenden Kapiteln weiter verfolgt. Kapitel II.2. setzt mit dem Jahr 1958 zu einer Zeit ein, als die DDRWissenschaftspolitik mit der Bildung des Forschungsrates neu strukturiert wurde. Diese Zäsur brachte eine Abkehr vor der bis dahin bevorzugten Behandlung der Akademieinstitute mit sich, was den Spielraum des IMB für Investitionen und die Angliederung neuer Projekte stark einschränkte. Die resultierende Ressourcenknappheit brachte schon zuvor bestehende interne Konflikte zum Ausbruch, die um die Frage kreisten, ob das IMB einer einheitlich festgelegten Programmatik folgen oder ob es ein Verbund autonomer Einheiten sein sollte. Hierbei traten Interessengegensätze zwischen klinischer Medizin und Grundlagenforschung ebenso hervor wie unterschiedliche Auffassungen darüber, wie sich das nationale Zentrum Buch angesichts radikaler internationaler Umwälzungen zukünftig positionieren sollte. Dieser Richtungsstreit verweist unmittelbar auf die zeitgleich einsetzenden Bestrebungen in Staat und Partei, die Naturwissenschaften programmatisch und organisatorisch neu auszurichten. Kapitel II.3. behandelt die kurze Periode zwischen 1968 und 1972, in der eine tiefgreifende Reform der Akademie und damit auch des Forschungszentrums Buch umgesetzt wurde. Dieser kurze Abschnitt verdient darum besonderes Interesse, weil er die Rahmenbedingungen der Forschung in jeder Beziehung verän-
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derte. Auf lokaler Ebene wurde das Modell eines Verbundes von Teilinstituten mit kollegialer Gesamtleitung durch ein hierarchisches Führungsprinzip sowie eine Trennung von medizinischen und nichtmedizinischen Aufgaben in drei „Zentralinstituten“ ersetzt. Auf nationaler Ebene führte eine neue Form der Forschungsfinanzierung zur stärkeren Anbindung von Arbeitsgruppen an die Industrie und zur Bildung überinstitutioneller Schwerpunktprogramme. Folgen und Probleme dieser Umstrukturierung werden auf zwei Ebenen beschrieben. Einerseits geht es um die Rückwirkungen einer Forschung in Projektverbünden, die eine effektivere Vernetzung nach außen sowie eine Ausrichtung auf planmäßige, praxisbezogene Ziele bezweckte. Der zweite Punkt betrifft die innere Neuorganisation des Bucher Forschungszentrums. Um 1970 kulminierten teilweise schon länger verfolgte Versuche, forschungstechnische Ressourcen – Großgeräte, Werkstätten, Rechentechnik und Versuchstiere – durch Bildung entsprechender „zentraler“ Einheiten rationaler zu nutzen. Diese Zentralisierungsprojekte verkörpern besonders deutlich die Probleme des ressourcenarmen Forschungssystems der DDR; sie waren aber zugleich charakteristisch für die biowissenschaftliche Großforschung insgesamt. Da sich an ihnen grundsätzliche Tendenzen der Technisierung, der Institutsorganisation und des Ressourcenmanagements aufzeigen lassen, werden sie jeweils ausführlich behandelt. Die in Kapitel II.4. thematisierte Zeit ab etwa 1973 war weitgehend durch die Resultate der in der Reformzeit vorgenommenen Veränderungen geprägt. Die Darstellung des langen Zeitraums bis 1989 fokussiert auf das Zentralinstitut für Molekularbiologie, den größten Teilbereich des reformierten Forschungszentrums, wobei insbesondere die Momente der Schwerpunktsetzung und der Verflechtung mit Anwendungsbezügen im Vordergrund stehen. Neben einer intensivierten politischen Einflussnahme von Partei und Staat zeichneten sich die 1970er Jahre durch einen zunehmenden Druck aus, Forschungsprojekte direkt an die Bedürfnisse von Industrie und Gesundheitswesen anzuschließen, eine Tendenz, die sich in den 1980er Jahren noch stark verschärfte. Unmittelbare Folgen hiervon waren einerseits beständige Versuche der thematischen Konzentration von Forschungspotentialen und andererseits die Übernahme industriell-technischer Aufgaben in die Akademieinstitute. Die Darstellung dieser Prozesse vermittelt einen Eindruck von den ökonomischen Erosionserscheinungen der späten DDR; der moralisch-politische Zerfall, der sich in den späten 1980er Jahren vollzog, kann indessen nur kurz gestreift werden. Die Kapitel des dritten Hauptteils sind insofern mit Teil II verknüpft, als sie teilweise dort angesprochene Probleme der Forschungsorganisation und -politik vertiefend weiterführen. In erster Linie verfolgen sie jeweils spezifische wissenschaftliche Fragestellungen und sollen als Beiträge zu diesen unabhängig lesbar sein. Kapitel III.1. ist dem größten Teilinstitut, der Krebsklinik (ab 1960 „RobertRössle-Klinik“), gewidmet. An ihrer Geschichte lassen sich langfristige Veränderungen in den diagnostischen und therapeutischen Strategien gegen die häufigsten Krebsformen nachzeichnen, insbesondere hinsichtlich des Verhältnisses der Behandlungsformen Chirurgie, Strahlentherapie und Chemotherapie. Zur Erfolgsbewertung verschiedener Therapiemodelle setzte die Klinik ab den 1960er Jahren
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auf vergleichende klinische Studien, womit sie sich in einem bestimmenden Trend der internationalen Onkologie bewegte, der besondere Beachtung verdient. Da die Klinik entscheidend auf die Formulierung von Programmen für die gesamte DDRKrebsmedizin einwirkte, zielten ihre Arbeiten nicht nur auf die Entwicklung möglichst breitenwirksamer Diagnose- und Therapiepraktiken ab, sondern schlossen stets auch die Gestaltung von Präventions- und Frühdiagnosemaßnahmen ein. Insofern verweisen ihre Konzepte auf generelle Ziele und Bedingungen des DDRGesundheitswesens; zugleich reflektierten sie stets die maßgeblichen internationalen Fachdiskurse. Kapitel III.2. verfolgt mit dem von Arnold Graffi aufgebauten Projekt zur experimentellen Erforschung der Kanzerogenese eine der prägenden Forschungstraditionen der Institutsgeschichte. Es bietet einen idealen Ansatzpunkt zur langfristigen Beobachtung eines komplexen Experimentalsystems. Graffis Gruppe leistete in den 1950er Jahren wichtige Beiträge zur damals boomenden Krebsvirologie. Diese waren jedoch Teil eines breiteren Programms zur Untersuchung der Krebsentstehung, an welchem sich allgemeine konzeptionelle und praktischexperimentelle Tendenzen der laborbasierten Krebsforschung verdeutlichen lassen. Ein zentraler Punkt ist dabei die Frage nach der Modellierbarkeit pathologischer Prozesse durch artifizielle tierexperimentelle Systeme. Sie trat insbesondere bei den Mitte der 1960er Jahren intensivierten Versuchen hervor, Krebsviren beim Menschen nachzuweisen. Der weitere Verlauf des Projekts ist beispielhaft dafür, wie der Einfluss der Molekularbiologie die gesamte experimentelle Medizin veränderte. Kapitel III.3. behandelt verschiedene Entwicklungslinien der biophysikalischen Forschung. Gemeinsam ist den vier beschriebenen Fällen, dass sie das für die Disziplin charakteristische Spannungsverhältnis zwischen ihrer technischapparativen Ausrichtung und dem Anspruch auf wissenschaftliche Eigenständigkeit widerspiegeln. In der ursprünglichen Konzeption des IMB war vorgesehen, die Biophysik, speziell die Strahlenbiologie, zu einem interdisziplinären Schwerpunkt aufzubauen. Zunächst wird erläutert, wie technisch-planerische Fehlschläge und konzeptionelle Schwächen zum Scheitern dieser Ambitionen führten. Daran anschließend wird der Mitte der 1960er Jahre einsetzende Versuch verfolgt, die Strahlenbiophysik mit neuen Themen und Methoden wiederzubeleben. Interessant ist dabei einerseits, dass hierbei bereits am KWIH diskutierte Fragen der Mutationsgenetik mit neuen molekularbiologischen Methoden wieder aufgenommen wurden. Andererseits ergab sich durch die Mitarbeit an einem Pilotprojekt zur Krebstherapie mit Neutronenstrahlen eine der wenigen effektiv wirksamen Kooperationen zwischen Krebsklinik und experimentellen Arbeitsbereichen, welche Chancen und Grenzen des transdisziplinären Austausches aufzeigt. Das längste Teilkapitel thematisiert eine weitere Neuorientierung der Bucher Biophysik, die Ende der 1960er Jahre einsetzte. Sie zielte auf den Ausbau der zuvor nur schwach entwickelten spektrometrischen Strukturforschung zu einem neuen Arbeitsschwerpunkt ab. Während die organisatorischen Aspekte dieses Projekts in Kapitel II.3. besprochen wurden, kann hier näher erläutert werden, wie die neuen apparativen Techniken die experimentellen Möglichkeiten und Arbeitszusammenhän-
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ge im Institutsverband veränderten. Der letzte Teil des Kapitels widmet sich der Entwicklung und Produktion radioaktiver Forschungsmittel für Forschung und Klinik. Mitte der 1950er Jahre wurde am IMB eine Entwicklungsabteilung gebildet, welche die gesamte DDR mit radioaktiven Tracern und kleinen Strahlenquellen versorgen sollte. Diese hybride Forschungs- und Produktionsstätte verkörpert sowohl die große Bedeutung dieser Hilfsmittel für die modernen Biowissenschaften als auch die entscheidende Rolle hochspezialisierter Versorgungsstrukturen für den technisierten Forschungsbetrieb. Kapitel III.4. umfasst zwei Forschungsprogramme, die auf die Entwicklung von Wirkstoffen ausgerichtet waren. Das erste zielte auf die Entwicklung wirkungsoptimierter Derivate aus der Klasse der herzwirksamen Digitalis-Glykoside ab und erzielte dabei weltweit anerkannte Ergebnisse zur Wirkungsweise dieser Stoffklasse. Das Projekt stand damit im Zeichen des in den 1960er Jahren einsetzenden Trends, neue Pharmaka „rational“ durch die Untersuchung molekularer Wirkungsprinzipien statt durch massenhafte Testung von Substanzen an Tiermodellen zu suchen. Die Bucher Digitalis-Forschung verdeutlicht, wie die Wirkstoffforschung verstärkt durch zell- und molekularbiologische Ansätze sowie theoretisch-chemische Struktur-Wirkungs-Analysen geprägt wurde, aber auch, dass ihre Effektivität weiterhin stark von den Kapazitäten für chemische Synthesen und pharmakologische Wirkungstests abhing, welche nur industrielle Partner zur Verfügung stellen konnten. Vergleichbare Probleme zeigt auch das Forschungsprogramm über kreislauf- und nervenaktive Peptidhormone auf. Es basierte auf einem ähnlichen theoretischen Ansatz, zielte aber von Beginn an auf einen systematisch abgestimmten Aufbau von Forschungs-, Produktions- und Testkapazitäten in Akademie und Pharmaindustrie ab. Noch eingehender als am ersten Fall können daher hier die Strukturen auf einem Feld produktorientierter Forschung beschrieben werden, das in der DDR durch ein besonders problematisches Verhältnis zwischen akademischer Wissenschaft und Industrie gekennzeichnet war. Kapitel III.5. behandelt Entwicklungen auf dem Feld der molekularen Biologie. Hier wird zunächst auf die Bedeutung des Begriffes Molekularbiologie in den institutsinternen Debatten der 1960er Jahre eingegangen, die verdeutlicht, wie sehr die molekularbiologische Revolution in den westlichen Ländern als Herausforderung für die Zukunft des IMB angesehen wurde. Obwohl die von einigen Wissenschaftlern geforderte radikale Neuorientierung zunächst nicht vollzogen wurde, entstanden aus lokalen Forschungstraditionen heraus eigenständige molekularbiologische Ansätze. Näher eingegangen wird auf die Forschungen über Struktur und Funktionsweise tierischer Ribosomen, die ein für Buch ungewöhnliches Maß an internationaler Akzeptanz erreichten. Dieses Projekt ist vor allem insofern interessant, als es verdeutlicht, dass der molekularbiologische Fortschritt nicht auf die Entschlüsselung genetischer Informationen beschränkt war, sondern eine Vielzahl von Methoden zur Aufklärung makromolekularer Prozesse einschloss. Der größere Teil des Kapitels geht auf die in den 1970er Jahren aufgenommenen Versuche ein, in das entstehende Feld der Gentechnologien einzusteigen. In ihnen zeigt sich neben einer ausgeprägten Abhängigkeit vom ständigen Import westlicher Methoden und Laborobjekte auch die Bedeutung von bio-
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chemischen und biologischen Arbeitsmitteln für dieses Forschungsfeld, welche das Forschungssystem der DDR vor große Probleme stellte. Da die gentechnologischen Projekte von Beginn an auf „praktische“ Anwendungen in Medizin und pharmazeutischer Produktion ausgerichtet waren, verkörpern sie auch die Schwierigkeiten bei der Etablierung neuartiger technowissenschaftlicher Systeme. Kapitel III.6. verfolgt mit der enzymologischen Forschung eine weiter zurückreichende Bucher Forschungstradition. Die in den 1950er Jahre aufgenommenen Strukturuntersuchungen an Hämoproteinen bieten vor allem ein Beispiel für den langfristigen Aufbau von Erfahrungen an stabilen Versuchsobjekten und apparativen Praktiken. Nach 1970 wurde diese eher anwendungsferne Forschungslinie durch Projekte erweitert und überlagert, die auf die Nutzung von Enzymen in medizinischer Diagnostik, Lebensmitteltechnologie und pharmazeutischer Produktion abzielten. Ähnlich wie die gentechnologischen Arbeiten bieten diese Einblicke in den Grenzbereich zwischen grundlagenorientierter und zielorientierter Forschung; während jene jedoch an zu weit gesteckten Vorgaben scheiterten, kam es hier teilweise zu industriell umgesetzten Resultaten. Diese Fälle zeigen daher auf, unter welchen Bedingungen erfolgreiche Transfers von der akademischen Forschung in die Industrie möglich waren. Kapitel III.7. wendet sich schließlich dem zweiten medizinischen Schwerpunktthema des Bucher Forschungszentrums zu, der Herz-Kreislauf-Forschung. Der Fokus liegt auf dem Institut für kortikoviszerale Pathologie und Therapie, das als einziges der Teilinstitute den Anspruch vertrat, einen dezidiert sozialistischen Ansatz in Forschung und Klinik zu entwickeln. Aufbauend auf aus der Sowjetunion übernommenen, an der Physiologie Iwan P. Pawlows orientierten Ideen betrachtete das Institut innere Krankheiten wie den Bluthochdruck als Folge nervlicher Überlastungen. Seine hieraus abgeleiteten Forschungs- und Behandlungskonzepte waren eigenwillige Versuche, Krankheit als umwelt- bzw. sozial bedingtes Phänomen zu fassen, die bei allem Bemühen um eine dialektisch-materialistische Deutung enge Bezüge zu westlichen Tendenzen wie Stresstheorie, Psychosomatik und Behaviorismus aufwiesen. Das „kortikoviszerale“ Programm, das in der DDR einen Sonderweg darstellte, kann insofern als realsozialistische Ausprägung eines systemübergreifenden Diskurses über die krankmachenden Potentiale der industriellen Zivilisation angesehen werden. Eine parallele, wesentlich verbreitetere Linie dieses sozialmedizinischen Diskurses, welche die Gesundheitsgefährdung durch falsche Ernährung und mangelnde Bewegung betonte, wurde durch das zweite kreislaufmedizinisch ausgerichteten Teilinstitut vertreten, die Arbeitsstelle für Kreislaufforschung. Auf die experimentelle Arbeit dieses international sehr angesehenen Instituts kann in diesem Zusammenhang nur flüchtig eingegangen werden. Wie bei den anderen Teilen des Bucher Institutsverbandes, deren Bedeutung hier nicht adäquat gewürdigt wird, impliziert dies keine Wertung, sondern ist der Notwendigkeit einer Themenbeschränkung geschuldet. Diese Studie ist durch die finanzielle Hilfe des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin in Berlin-Buch ermöglicht worden. Insbesondere der ehemalige Direktor des MDC, Walter Rosenthal, hat sich entscheidend dafür eingesetzt, das
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Projekt auf den Weg zu bringen. Hans-Jörg Rheinberger hat die Arbeit von Beginn an betreut, unterstützt und dafür gesorgt, dass sie unter vorteilhaften Bedingungen am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin-Dahlem durchgeführt werden konnte. Neben den BibliothekarInnen des MPIWG ist auch den MitarbeiterInnen des Archivs der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften dafür zu danken, dass sie erhebliche Mengen Papier für das Projekt bewegt haben. Sophie Meyer und Josephine Jahn haben mit ihren eigenständigen Promotionsarbeiten zum Thema Berlin-Buch sehr dazu beigetragen, Quellen zu erschließen, Themen zu erkennen und Fragen zu formulieren. Mitchell Ash danke ich für eine eingehende Begutachtung des Manuskripts, die für neue Anregungen gesorgt hat. Ein besonderer Anteil an der Arbeit kommt Florence Vienne für die wiederholte kritische Durchsicht von Textentwürfen zu. Alle Fehler und Unklarheiten verbleiben selbstverständlich in meiner eigenen Verantwortung. Schließlich möchte ich den bereits genannten ehemaligen Mitarbeitern der Bucher Institute danken, die mir geholfen haben, die Hintergründe der Institutsgeschichte besser zu verstehen. Ihre Hinweise haben mir auch bewusst gemacht, dass es „die“ Geschichte der Institute in Berlin-Buch nicht geben kann. Aufgrund ihrer vielfältigen Aspekte und der verschiedenen Perspektiven, die sie vermittelt, können ihr stets neue Kapitel hinzugefügt werden.
TEIL I. DAS KAISER-WILHELM-INSTITUT FÜR HIRNFORSCHUNG VON DEN ANFÄNGEN BIS 1945
I.1. DER LANGE WEG NACH BUCH Die Privatpraxis als „Centralstation“ Als sich das junge Forscherehepaar Cécile (1875–1962) und Oskar Vogt (1870– 1959) am Ende des 19. Jahrhunderts in Berlin niederließ, um einen neuen Ansatz der Hirnanatomie und -physiologie zu begründen, deutete wenig darauf hin, dass sie sich einmal als Leiter des weltweit größten Hirnforschungsinstituts etablieren würden. Oskar Vogt war ein Nervenarzt ohne Habilitation, den die therapeutische Anwendung von Hypnosetechniken an die Grenze der akademischen Respektabilität rückte. In seiner jungen Karriere hatte er sich bereits einflussreiche und entschiedene Feinde gemacht. Seine Gattin war als Französin und als promovierte Frau eine Erscheinung, die in der deutschen Medizin zu dieser Zeit nicht vorgesehen war. Sie waren insofern disziplinäre Außenseiter mit sehr geringen Aussichten, auf den üblichen akademischen Wegen aufzusteigen.1 Dennoch gelang es ihnen durch den Aufbau eines wissenschaftlich-politischen Beziehungsnetzes, ihre ungewöhnlich ehrgeizigen Pläne zu realisieren. Es waren gerade die Brüche in der frühen Karriere Oskar Vogts, welche die Knüpfung dieser Beziehungen ermöglichten. Der Werdegang von Oskar Vogt, geboren und aufgewachsen im schleswigschen Husum, wurde unmittelbar von Persönlichkeiten beeinflusst, die den Diskurs über Natur und Gesellschaft im wilhelminischen Zeitalter prägten. Noch während seiner Schulzeit wurde der Soziologe Ferdinand Tönnies, der als einer der ersten deutschen Gesellschaftstheoretiker evolutionsbiologische Ideen in seinem Werk verarbeitete, zu seinem Mentor. Als Student der Naturwissenschaften – die er bald gegen die Medizin eintauschte – führte Vogts Weg zum Großmeister des deutschen Darwinismus, Ernst Haeckel, an dessen Lehrstuhl in Jena er kurzzeitig als Forschungsassistent tätig war. In Jena machte er bei dem renommierten Psychiater Otto Binswanger den Schritt in sein späteres Fachgebiet. Binswanger vermittelte Vogt eine Stellung an der Privatklinik seines Bruders im schweizerischen Kreuzlingen; dieser öffnete ihm 1894 die Tür in die Zürcher Klinik von August Forel, einem der einflussreichsten Vordenker auf den Gebieten der Psychiatrie, Sozialreform und Eugenik. Trotz eines nur kurzen Aufenthaltes wurde Forel zu einem wichtigen Unterstützer und intellektuellen Orientierungspunkt für Vogt. Die Kehrseite des akademischen Lebens lernte der ehrgeizige Neurologe bei einem anschließenden Versuch kennen, an der Universität Leipzig eine Spezialklinik für den therapeutischen Einsatz der Hypnose zu etablieren, welchen er bei Forel erlernt hatte. Nachdem er und sein Vorgesetzter Paul Flechsig sich mit 1
Satzinger 2012, S. 180.
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gegenseitigen Plagiatsklagen überzogen hatten, gewann Vogt seinen ersten – aber keineswegs letzten – erbitterten Feind im akademischen Establishment. 2 Dieser Rückschlag führte dazu, dass er 1896 eine Tätigkeit als Arzt im oberfränkischen Kurort Alexandersbad antrat. Hier gewann er das Vertrauen eines Patienten, der nicht nur seine psychotherapeutischen Methoden schätzte, sondern auch seine Leidenschaft für die Biologie teilte – Friedrich August Krupp.3 Der Großindustrielle machte den jungen Neurologen zu seinem Leibarzt und unterstützte seine Ambitionen von nun an nach Kräften. Zwei Jahre nach diesem Wendepunkt seiner Laufbahn lernte Vogt die fünf Jahre jüngere Cécile Mugnier kennen, als er sich an der Pariser Klinik des Psychiaters und Neuroanatomen Jules Déjérine weiterbildete. Erst seine spätere Gattin erschloss ihm die Arbeitsweise, die ihr gemeinsames wissenschaftliches Unternehmen prägen sollte. Während er selbst bis dahin psychotherapeutisch gearbeitet hatte, war Cécile Mugnier in der französischen Tradition der klinischen Neuroanatomie ausgebildet, die auf die Identifizierung lokaler Krankheitsherde durch Post-mortem-Hirnsektionen abzielte. Neben diesen Fähigkeiten brachte sie auch eine von ihrem Lehrer Pierre Marie gespendete Sammlung von 30 präparierten Gehirnen mit in die Ehe, einen Grundstock für das spätere Hirnschnitt-Archiv ihres Berliner Instituts.4 Obwohl ihre Karriere in Frankreich sicherlich nicht einfach verlaufen wäre, bedeutete die Übersiedlung nach Deutschland den Wechsel in ein akademisches Milieu, das selbstständig arbeitende Frauen nicht akzeptierte. Bei ihrem ersten gemeinsamen Auftreten auf einem deutschen Fachkongress musste Oskar Vogt ihr Vortragsrecht erst mühsam durchboxen. Dementsprechend war er es, der den repräsentativen und politischen Teil ihres Projektes trug. 1898 konnte Oskar Vogt dank der finanziellen Unterstützung Krupps in einem Wohnhaus in der Magdeburger Straße (heute Kluckstraße) südlich des Berliner Tiergartens ein privates Institut einrichten. Der Name „Neurologische Centralstation“ machte deutlich, dass er sich in seinen Zukunftsplänen nicht an seiner noch sehr bescheidenen professionellen Stellung orientierte. „Central“ sollte seine „Station“ insofern sein, als er sie als Sammelstelle für bei Leichensektionen in den Irrenanstalten und Krankenhäusern Preußens entnommene Gehirne konzipierte. Dieses für das Studium von Nervenkrankheiten „sehr wertvolle Material“ wurde in den einzelnen Anstalten zwar teilweise intensiv untersucht, konnte aber – so Vogts Argumentation – aufgrund dieser Vereinzelung nicht fruchtbar, das heißt nicht systematisch vergleichend ausgewertet werden. Von einer hirnanatomisch spezialisierten „Centralstation“ sollten auch die belieferten Ärzte profitieren, indem sie Teile der fachmännisch präparierten Hirnschnitte zurückerhielten und so in den Genuss einer eigenen Lehrsammlung kamen. Nach eigenen Angaben hatte Vogt bereits entsprechende Tauschabkommen mit einigen Anstalten geschlossen. Kernstück des Plans war der Aufbau einer eigenen, umfassenden Sammlung, die nicht nur den Forschern des Instituts selbst, sondern auch in- und ausländischen 2 3 4
Ausführlich zu O. Vogts Biographie Satzinger 1998, S. 26–51. Satzinger 1998, S. 48–51; Richter 1996, S. 354–355. Satzinger 1998, S. 58–61.
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Gästen ein einzigartiges, nach einheitlichen Methoden aufbereitetes Vergleichsmaterial für neuropathologische Studien bieten würde.5 Eigentlich war Vogts Argumentationsstrategie, mit der er den Schritt vom Privatlabor zum staatlich geförderten Institut einleiten wollte, wissenschaftspolitisch klug gewählt. Die Forderung nach „Zentralisierung“ von Daten oder Forschungsmaterialien war zu dieser Zeit allgegenwärtig. Sie fügte sich in gerade umlaufende Pläne für eine internationales Netzwerk hirnanatomischer Sammelstationen ein.6 Die preußische Regierung war sehr empfänglich für die Förderung von Projekten, die den Zuschnitt von Universitätsinstituten überschritten. Für einen von Fachgenossen kritisch beäugten Außenseiter war der Plan allerdings tollkühn, zumal Vogt nicht bei der Idee einer neuropathologischen Sammlung stehenblieb, sondern auch die Begründung einer neuen Form medizinischpsychologischer Forschung verhieß, deren Fernziel die Enträtselung grundlegender psychischer Phänomene wie Schlaf, Traum, Sprache und Gedächtnis, ja der individuellen geistigen Eigenschaften war. Laut Vogt fehlten sowohl den praktisch-pathologisch ausgerichteten Neurologen wie auch den überwiegend spekulativ vorgehenden Psychologen die Voraussetzungen für ein solches Forschungsprogramm. Es ist wenig erstaunlich, dass die betroffenen Fachvertreter in ihren Stellungnahmen durchweg verschnupft reagierten, wenn sie Vogt nicht aus persönlicher Antipathie als Scharlatan attackierten. Dass das preußische Kultusministerium den Förderungsantrag trotz einhelliger Ablehnung der Ordinarien weiter verfolgte, lässt sich allein durch die Einflussnahme Krupps erklären. 1899 konnte Vogt sein Projekt direkt bei Minister Conrad von Studt vorstellen, der ein Jagdgefährte des Industriellen war. Die Einholung weiterer, positiver Gutachten führte schließlich dazu, dass der preußische Staat in die Finanzierung einstieg und das Institut 1902 unter dem bescheideneren Namen „Neuro-Biologisches Laboratorium“ formal an das physiologische Institut der Berliner Universität angegliedert wurde.7 In dieser quasi-universitären, aber de facto völlig unabhängigen Stellung sollte das Laboratorium weiterarbeiten, bis es 1930 nach Buch umzog. Während die Vorstellungen der Vogts über die Verbindungen zwischen Pathologie, Anatomie und experimenteller Psychologie zum Zeitpunkt der Gründung der „Centralstation“ noch nicht kohärent waren, entwickelten sie innerhalb weniger Jahre ein Programm, das sie in Grundzügen ihr Leben lang verfolgen sollten. Sein Ziel war eine Kartographie des menschlichen Gehirns, die zur Folie für die Lokalisierung von Nervenkrankheiten und normalen geistigen Eigenschaften werden sollte. Der Weg dorthin führte über die Identifizierung von strukturell und funktionell abgrenzbaren Feldern der Hirnrinde. Dieses Programm einer „Cytoarchitektonik“ schloss an eine lange Tradition von Versuchen an, eine „Landkarte“ geistiger Eigenschaften zu erstellen. Seitdem die phrenologische 5 6 7
Vogts Entwurf von 1899 ist auszugsweise wiedergegeben bei Satzinger 2012, S. 185–186. Vgl. auch O. Vogt, Ueber die Errichtung neurologischer Centralstationen, Zeitschrift für Hypnotismus 10 (1902), S. 170–177. Richter 1996, S. 359–363. Satzinger 2012, S. 187–192.
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Schule im späten 18. Jahrhundert die Existenz klar umrissener Hirnareale für Eigenschaften wie Ordnungsliebe oder Musikalität postuliert hatte, waren allerdings methodologisch sehr unterschiedliche Ansätze entstanden, die auf teilweise konträren Auffassungen der Hirnarchitekur beruhten. Eine wichtige Quelle für die Entwicklung von Lokalisationslehren waren Untersuchungen der Gehirne verstorbener Anstaltsinsassen, die sichtbare Hirnläsionen in Beziehung zu den klinisch beobachteten Störungen setzten. In den 1870er Jahren entstand mit den elektrophysiologischen Reizungsversuchen an Tiergehirnen ein experimenteller Ansatz, mit dem sich die Aufmerksamkeit von der Lokalisation „geistiger Eigenschaften“ auf jene messbarer motorischer und sensorischer Funktionen verschob. Parallel dazu richtete sich in der Hirnanatomie das Interesse auf die Differenzierung verschiedener Faser- und Zelltypen. Der österreichische Anatom Theodor Meynert unterschied Projektionsfasern, die Sinneseindrücke in den Cortex (Großhirnrinde) transportierten, sowie die Cortexareale verbindenden Assoziationsfasern. Während es für Meynert darüberhinaus keine spezifische histologische Bauweise bestimmter Hirnrindenfelder gab, suchten viele seiner Kollegen funktionelle Areale anhand der Zusammensetzung ihrer zellulären Elemente zu bestimmen – wobei verschiedene Deutungsmodelle in der Diskussion standen. 8 Als sich die Vogts um die Jahrhundertwende in der Hirnanatomie positionierten, war das Interesse an einer Kartierung der Hirnrinde weit verbreitet; zugleich herrschte Klarheit darüber, dass sich bislang nur ein sehr kleiner Teil der Hirnrinde einer bestimmten Funktion zuordnen ließ. Auch den Vogts ging es zunächst nur um die morphologische Differenzierung von Arealen. Dabei grenzten sie sich methodologisch von vorherrschenden Ansätzen ab, insbesondere der von Oskar Vogts Erzfeind Flechsig praktizierten „myelogenetischen“ Methode. Das Myelin, die Markscheide der Nervenfasern (nach heutiger Sprachregelung: Membran des Axons), eignete sich gut für eine Unterscheidung von Rindenfeldern, da es durch Färbetechniken leicht visualisierbar und bei verschiedenen Zelltypen und Entwicklungszuständen unterschiedlich ausgeprägt war. Flechsig behauptete, auf Grundlage der „Myelinisierung“ in Hirn Assoziationszentren und Projektionszentren unterscheiden zu können. Oskar Vogt polemisierte gegen die Vorstellung einer klaren Trennung dieser beiden Zentrentypen, zog aber auch die Methodik in Zweifel. Die Myelinisierung bot für die Vogts keine ausreichende Grundlage für eine Differenzierung von Hirnarealen. Gleiches galt für ein histologisches Vorgehen, das charakteristischen Zelltypen für spezifische neuronale Funktionen nachspürte. Ihr „architektonischer“ Ansatz zielte dagegen darauf ab, im gröberen cytologischen Bild der Hirnareale charakteristische Strukturen der Schichtung und Assoziation von Zelltypen zu finden.9 Wie es ihr erster Mitarbeiter Korbinian Brodmann ausdrückte, ging es um eine „örtliche Zerlegung der Großhirnrinde in strukturelle Rindenfelder oder was dasselbe heißt, die Einteilung nach flächenhaft 8 9
Hagner 1994, S. 124–131. Hagner 1994, S. 133 & 136; Satzinger 1998, S. 166–7, betont, dass die Vogts das gesamt Geflecht von Nervenfasern vom Sinnesorgan zum Muskel als ontogenetisch zusammenhängenden „nervösen Verband“ auffassten.
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ausgedehnten, regionär umschriebenen, in sich einheitlich, unter sich verschiedenartig gebauten räumlichen Bezirken der Hemisphärenoberfläche.“10 Brodmann, den Oskar Vogt wie Friedrich Krupp während seiner Kurarzttätigkeit kennengelernt hatte, leistete den Hauptteil der lokalisatorischen Arbeit und trug entscheidend zur Methodik des Neurobiologischen Laboratoriums bei. Er war es, der die bestehenden Schnitttechniken verfeinerte und ein neues Mikrotom entwarf, das die zerstörungsfreie Serienproduktion ultradünner Hirnschnitte erlaubte, die zum Basismaterial des vogtschen Instituts werden sollten.11 Brodmanns vergleichendmorphologische Studien deckten erstmals die strukturellen Parallelen zwischen verschiedenen Säugetiergehirnen auf und führten bis 1909 zu einer Unterscheidung von 52 Rindenfeldern im menschlichen Gehirn. Diese Pionierarbeit warf aber zugleich erhebliche Fragen auf. Ihre Feldereinteilung ließ sich nicht mit den bisher von Klinikern verzeichneten Hirnläsionen und den von experimentellen Physiologen und Anatomen vorgeschlagenen Lokalisationsschemata vereinbaren. Brodmann postulierte außerdem, dass die neurologisch viel untersuchten Aphasien (Sprachstörungen) entgegen der herrschenden Meinung nicht an eine klar lokalisierbare Läsion gebunden waren, sondern an ganze Komplexe von Rindenfeldern. Insofern liefen seine Ergebnisse einer strengen Gleichsetzung architektonisch definierbarer Felder mit physiologischen Funktionen entgegen.12 Für das Projekt war es jedoch essenziell, das architektonische Schema der Rindenfelder in irgendeiner Form mit passenden physiologischen oder pathologischen Daten zu unterfüttern. Die klinisch-anatomischen Untersuchungen an den Gehirnen von Psychiatriepatienten durch Brodmann und Max Bielschowsky, der ab 1904 die Stelle des Neuropathologen im vogtschen Labortorium ausfüllte, führten jedoch nicht zu Ergebnissen, die sich mit der Felderordnung deckten.13 Die Vogts konzentrierten sich in den Jahren nach 1900 auf den experimentellen Weg der elektrischen Reizung an Gehirnen verschiedener Säugetiere. Auf diese Weise ließ sich zwar die Auslösbarkeit von Reflexen an bestimmten Punkten des Cortex aufzeigen; allerdings waren diese „Foci“ wesentlich kleiner als die postulierten Areale und ihnen daher nicht eindeutig zuzuordnen.14 Nach Ende des Ersten Weltkrieges räumten sie offen ein, dass die architektonischen, reizphysiologischen und pathologischen Untersuchung bislang keine Einsichten in die „wirkliche Funktion“ der Rindengebiete ergeben hatte. Das war für sie aber kein Grund, vom lokalisatorischen Ansatz abzugehen. Momentan genügte die „Feststellung, daß sich architektonisch differente Gebiete fasersystematisch oder nach Zerstö-
10 K. Brodmann, Vergleichende Lokalisationslehre der Großhirnrinde in ihren Prinzipien dargestellt auf Grund des Zellenbaues, Leipzig: Barth, 1909, S. 9. 11 K. Brodmann, Zwei neue Apparate zur Paraffinserientechnik, Journal für Psychologie und Neurologie 5 (1903–1904), S. 206–210. 12 Hagner 1994, S. 138–140. 13 Satzinger 1998, S. 178. 14 Satzinger 1998, S. 172–173.
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rung oder bei Reizung verschieden, bzw. gleich gebaute Rindenstellen identisch verhalten.“15 Bis tatsächlich „für die Psychologie etwas Neues herauskam“, musste – wie die vogtschen neurophysiologischen Erkenntnisse nahelegten – die Definition der neurologischen Funktionen noch genauer aufgegliedert und diese scharf umgrenzten Rindenfeldern zugeordnet werden.16 Angesichts der 200 funktionellen Felder, die die Vogts postulierten, war das ein kaum realisierbares Projekt. Sowohl Helga Satzinger als auch Michael Hagner stellen fest, dass die Vogts zeit ihres Lebens einen schlüssigen Beweis für ihr Lokalisationskonzept schuldig blieben.17 Die genannten Schwierigkeiten trugen dazu bei, dass sie nach dem Ersten Weltkrieg ihren Schwerpunkt auf hirnanatomisch gut charakterisierbare Nervenkrankheiten und auf Beiträge zur Lokalisation außergewöhnlicher geistiger Fähigkeiten legten. Ein „Gehirnarchiv“ und eine Forschungsklinik suchen eine Heimat Der Tod ihres Gönners Friedrich A. Krupp im November 1902 bedeutete für die Vogts einen Einschnitt, aber keineswegs das Ende der Förderung durch die Industriellenfamilie. Durch die Enthüllungen über die angebliche Homosexualität Krupps und die unklaren Umstände seines Ablebens geriet Oskar Vogt als Leibarzt – nicht zum letzten Mal in seinem Leben – in einen politischen Skandal von nationaler Tragweite, den er allerdings ohne bleibenden Schaden überstand.18 Die Eingliederung seines Instituts in die Berliner Universität – und damit die Übernahme der laufenden Kosten durch den preußischen Staat – konnte trotz bleibender Widerstände vor Krupps Tod durchgesetzt werden. Nicht umsetzen konnte Vogt den Bau eines Institutsgebäudes auf einem von Krupp vermachten Grundstück in Berlin-Dahlem. 1903 reichte er vollständige Unterlagen für ein dreistöckiges Gebäude ein, dessen Realisierung mittels staatlicher Gelder offenbar nicht ernsthaft diskutiert wurde.19 Dem Fortschreiten der Arbeiten tat dies keinen Abbruch. Bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges konnten, wie beschrieben, die Grundlagen der vergleichend-anatomischen, neurophysiologischen und neuropathologischen Programmatik gelegt werden.
15 C. Vogt, O. Vogt, Allgemeine Ergebnisse unserer Hirnforschung, IV: Die physiologische Bedeutung der architektonischen Rindenfelderung auf Grund neuer Rindenreizungen, Journal für Psychologie und Neurologie, 25 (1920), S. 399–461, S. 401. 16 O. Vogt räumte 1915 gegenüber Forel ein, die eigenen Versuche hätten bis dahin nichts von psychologischer Tragweite ergeben; die weitere Aufgabe bestand für ihn darin, „die bisher lokalisierten Funktionen in viel mehr Spezialfunktionen“ zu zerlegen, die wiederum komplex ineinandergriffen. Die Vogts glaubten also keineswegs an eine so klare Zuordnung von „geistigen Eigenschaften“ zu Rinderfeldern, wie es ihr lokalisatorisches Credo vermuten lässt; vgl. O. Vogt an A. Forel, 12.1.1915, zit. n. Peiffer 2004, S. 365–366, Nr. 834. 17 Hagner 1994, S. 144; Satzinger 1998, S. 173–174. 18 Richter 1996, S. 358–359. 19 Satzinger 1998, S. 82–83.
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Der Arbeitsalltag des Neurobiologischen Laboratoriums war durch die Verarbeitung des verfügbaren Hirnmaterials bestimmt. Nach dem vogtschen Verfahren verlangte die komplette Aufbereitung eines menschlichen Gehirns die Herstellung von 30.000 Dünnschnitten, welche nach Oskar Vogts Berechnungen 200 Arbeitswochen und Gesamtkosten von 12.000 Mark beanspruchte. Diese Basisarbeit wurde unter Leitung von Cécile Vogt von einem Team von Präparatorinnen geleistet; zur Reproduktion wichtiger Schnitte beschäftigte das Institut außerdem – ebenfalls überwiegend weibliche – ZeichnerInnen sowie einen Photographen. Helga Satzinger beschriebt das NBL daher als „staatlich finanzierte Manufaktur“ für die „serielle Herstellung von Gehirnpräparaten und deren Abbildungen.“20 Die unmittelbare Nutzung dieses Materials – das um 1910 bereits eine halbe Million Einzelschnitte umfasste – war nur eine Seite des Arbeitskonzepts. Wie Oskar Vogt 1902 in seinem „Centralstation“-Konzept dargelegt hatte, war die Sammlung eines möglichst umfangreichen Materials pathologischer Fälle nicht zuletzt als Dienst an kommenden Forschergenerationen zu verstehen.21 Aufgrund der Variationsbreite des menschlichen Gehirns war die Sammlung prinzipiell niemals abgeschlossen. Durch einheitliche Prinzipien der Präparation war die Botschaft der Gehirne bis in alle Ewigkeit lesbar. Dieser Aspekt wurde von den Vogts in der Nachkriegszeit, als die Verwirklichung ihrer Institutsbaupläne greifbar wurde, in der Öffentlichkeitsarbeit verstärkt betont. Von dem geschickten PR-Manager Vogt angestoßene Zeitungsartikel beschrieben das Berliner Institut als „Bibliothek“ oder gar – mit Blick auf das steigende Interesse an der neurobiologischen Grundlage des „Genies“ – als „Pantheon“ der Gehirne. In dieser Metaphorik gehörten, wie es Michael Hagner ausdrückt, „Sammlung und Lesbarkeit ... untrennbar zusammen“.22 Zutreffender als der Begriff der Bibliothek war allerdings jener des Archivs, denn die Gehirn-„Blätter“ waren nicht der Allgemeinheit, sondern nur einem kleinen Expertenzirkel zugedacht.23 Gleich ob Archiv oder Bibliothek, als zentraler Sammlungsort für Hirnschätze war das Institut ein Speicher für das Gehirn-Wissen zukünftiger Generationen. Es unterschied sich, wie Vogt anlässlich des Umzuges seines Instituts nach Buch betonen sollte, damit grundsätzlich von den meisten anderen naturwissenschaftlichen Projekten, deren Aktualität zumeist von kurzer Dauer war und deren Organisationsform daher ständig verändert werden musste.24 Dass der Hirnforscher in „Menschenaltern“ rechnete, verlieh ihm ein markantes wissenschaftspolitisches Alleinstellungsmerkmal, das jedoch seine problematische Seite hatte: Seine Programme verlangten besonders aufwändige Investitionen und langfristige Garantien. 20 Satzinger 1998, S. 79; für die Zahlenangaben vgl. ebd. S. 80, Fn. 103. 21 O. Vogt, Ueber die Errichtung neurologischer Centralstationen, Zeitschrift für Hypnotismus 10 (1902), S. 170–177. 22 Hagner 2003, S. 113, vgl. auch ebd. S. 105. 23 So beschrieb ein Zeitungsartikel von ca. 1931 das KWIH in der für die neurobiologische Publizistik bis heute charakteristischen überdrehten Metaphorik als „Archiv gestorbener Gedanken“, vgl. MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1580. 24 Allgemeines zur Organisationsform eines Hirnforschungsinstituts, n. d. (vmtl. 1930), MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1580.
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Das stetige Anwachsen des Hirnschnitt-Archivs war auch der Grund dafür, dass Oskar Vogt während des Bestehens des NBL immer wieder auf die dringende Notwendigkeit einer räumlichen Erweiterung verweisen sollte. Die Finanzierung des Forschungsbetriebes war dagegen stabil gesichert, allerdings kaum ausbaufähig. Die materiellen Möglichkeiten wurden wohl erheblich durch die Schecks und Geschenkpakete erweitert, die von der Essener Villa Hügel nach Berlin gingen.25 Krupps Witwe Margerethe blieb den Vogts weiterhin eng verbunden und unterstützte sie regelmäßig. Die Rolle des Patrons für das vogtsche Vorhaben ging, wie die Leitung des Krupp-Konzerns, auf ihren Schwiegersohn Gustav von Bohlen und Halbach über. Im Juni 1910 teilte von Bohlen Oskar Vogt mit, dass er gedachte, sich an einer Stiftungsinitiative anlässlich des 100jährigen Jubiläums der Berliner Universität zu beteiligen. Im Sinne der Interessen seines Schwiegervaters dachte er an die Unterstützung eines biologischen Forschungsinstituts, in das möglicherweise auch das NBL integriert werden sollte.26 Vogt dürfte von der Initiative, die ein halbes Jahr später in die Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) einmünden sollte, bereits zuvor erfahren haben. Es ist wenig verwunderlich, dass er den Stahlbaron dazu bewegen wollte, die Stiftung fokussierter anzulegen – selbstverständlich primär für die Neurobiologie.27 Von Bohlen hatte sich jedoch darauf festgelegt, seine Stiftung von 400.000 RM nicht mit einer Person oder einem genauen Verwendungszweck zu verbinden.28 Der Konzernchef sollte zu einem der wichtigsten Mäzene der sich bildenden KWG werden und trug unter anderem erheblich zur Gründung des KWI für Biologie bei. Vogt scheint zunächst Verständnis dafür gehabt zu haben, dass sein Gönner schrittweise die Basis für einen Verbund außeruniversitärer Institute legen wollte, die verschiedene Aspekte der Biologie umfassten.29 Je unklarer das Schicksal seiner eigenen Pläne wurde, desto deutlicher machte er, dass er als langjähriger Freund der Familie eigentlich eine bevorzugte Förderung erwartet hatte. Im Frühjahr 1913 legte Vogt einen genauen Kosten- und Strukturplan für ein in seinem Sinne konzipiertes Institut vor.30 Dabei traten zwei Punkte hervor, die später wiederholt problematisch für seine Ambitionen wurden. Einerseits war der Bauplan auf eine weitere Ausweitung der Hirnschnittsammlung über 15 Jahre ausgelegt, zuzüglich besonderer feuerfester Räume und Mitarbeiterwohnungen, um eine Überwachung rund um die Uhr zu gewährleisten. Außerdem plante Vogt eine klinische Abteilung ein, die für sein Gesamtkonzept wesentlich, bislang aber unerreichbar gewesen war. Bei der Er-
25 Margarethe Krupp an O. Vogt, 22.12.1906, HA Krupp, FAH 3, M 285, Bl. 21; vgl. auch Satzinger 1998, S. 79. 26 Von Bohlen an O. Vogt, HA Krupp, FAH 4, E 264, Bl. 392–97. 27 O. Vogt an von Bohlen, 10.6.1910, HA Krupp, FAH 4, E 264, Bl. 385–7. 28 Von Bohlen an O. Vogt, 2.7.1910, HA Krupp, FAH 4 E 264, Bl. 388–9. 29 Von Bohlen an O. Vogt, 26.12.1912, HA Krupp, FAH 4, E 264, Bl. 352–3; O. Vogt an von Bohlen, 30.12.1912, ebd. Bl. 350–351. 30 O. Vogt, „Übersicht über die einmaligen und dauernden Kosten eines ‚Hirnforschungsinstituts’“, April 1913, HA Krupp, FAH 4, E 264, Bl. 345–49.
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richtung eines 50-Betten-Pavillons wären zu den – angeblich bereits sparsam kalkulierten – 460.000 RM für das Institut weitere 300.000 RM gekommen. Die Chancen für eine Umsetzung standen prinzipiell nicht schlecht, da die Krupps wenig später ihren KWG-Spendenanteil um 1 Mio. RM aufstockten. Von Bohlen überbrachte die frohe Botschaft aber mit der Warnung, dass damit die vogtschen Pläne kaum durchgesetzt waren. Wie es der ehemalige Diplomat ausdrückte, sei es aufgrund von „Schwierigkeiten“ nicht genauer bezeichneter „persönlicher Art“ in der KWG kaum durchsetzbar, dass Vogt ein alleiniges Direktorat übernahm.31 Das ausgedehnte Netzwerk eingeschworener Feindschaften sorgte noch immer dafür, dass das Votum der Experten ähnlich negativ ausfiel wie 15 Jahre zuvor, erst recht, da nun eine für die Disziplin einmalige Chance im Raum stand. Der Frankfurter Neuroanatom Ludwig Edinger sprach Vogt etwa rundweg die Fähigkeit zur Leitung eines wegweisenden Hirnforschungsinstituts ab und verdammte die Ergebnisse seiner über ein Jahrzehnt lang großzügig geförderten Forschungen als mager und wenig innovativ.32 Auch ein ihm wohlgesonnener Kollege wie der Leiter der Charité-Nervenklinik, Karl Bonhoeffer, hielt den Berliner Außenseiter „aus Temperamentsgründen“ für Führungsaufgaben ungeeignet und wollte ihn lieber an der Seite eines profilierteren Kollegen sehen.33 Die persönlichen Vorbehalte waren aber nur ein Teil des Problems. Einerseits lag der KWG ein Antrag auf ein sehr ähnliches Institut vor, an dessen Finanzierung wiederum von Bohlen beteiligt war – Emil Kraepelins Projekt für ein klinischpsychiatrisches Institut, aus dem die Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie in München hervorgehen sollte. Andererseits stand die KWG der Angliederung einer klinischen Abteilung sehr skeptisch gegenüber, nicht allein aus Kostengründen, sondern auch aus der Furcht, eine mit einem hirnanatomischen Institut verbundene Klinik könne „auf seiten der Betroffenen so leicht soziale Verstimmungen hervorrufen“.34 Tatsächlich gab es gegen dieses Konstrukt – trotz der Existenz universitärer Forschungskliniken – erhebliche Bedenken, die auch spätere Vorstöße Vogts bremsen sollten. Ein Psychiater reagierte auf Vogts Pläne mit der sarkastischen Frage, ob der Kollege wirklich mit freiwilligen Patienten rechne, die „darauf warten, bis sie seziert werden.“35 Oskar Vogt zeigte keine Neigung, dieser komplizierten Gemengelage Rechnung zu tragen. Den Kompromissvorschlag, in einem Komplexinstitut mit drei Abteilungen (für Anatomie, Physiologie und Pathologie) Teil-Direktor zu werden, sah er als Affront an, durch welchen er das Band zwischen ihm und der KWG endgültig „zerschnitten“ sah. Seine Einschätzung, dass eine solche Konstruktion de facto auf die Bildung autonomer Institute hinauslief, die keinem gemeinsamen 31 32 33 34
Von Bohlen an O. Vogt, 18.6.1913, HA Krupp, FAH 4, E 264, Bl. 306–8. Edinger an Schmidt(-Ott), 3.3.1913, HA Krupp, FAH 4, E 264, Bl. 208–11. K. Bonhoeffer an Schmidt(-Ott), 5.8.1913, HA Krupp, FAH 4 E 264, Bl. 196–199. Schmidt(-Ott) an Bohlen und Halbach, 22.10.1913, HA Krupp, FAH 4, E 264, Bl. 275–79; einige Zeit später scheint sich die KWG-Führung grundsätzlich darauf festgelegt zu haben, keine klinischen Einrichtungen zu fördern, vgl. Schmidt-(Ott) an Bohlen und Halbach, 13.11.1913, HA Krupp, FAH 4, E 264, Bl. 252–257. 35 Richter 1996, S. 370.
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Plan folgten, war zweifellos begründet.36 Sein Argwohn gegenüber der KWG wurde indessen seiner bereits erreichten Verhandlungsposition kaum gerecht. Die Witwe seines Gönners versuchte mit geradezu mütterlicher Geduld, ihm eine klügere Strategie der schrittweisen Kompromisse nahezubringen.37 Obwohl der impulsive Neurologe weiterhin wenig diplomatisch vorging, bemühte sich die KWG durchaus darum, seinen Plänen – und damit letztlich den Wünschen des Hauses Krupp – gerecht zu werden, konnte aber die zahlreichen Bedenken nicht ignorieren. Zur Lösung des Klinikproblems wurde etwa eine Verknüpfung mit der Charité in Betracht gezogen, durch welche man die Gesamtleitung dem etablierten Bonhoeffer hätte zuschieben können, der auch für Vogt ein akzeptabler Partner war. Trotz des mildernden Einflusses „seiner so warm für ihn eintretenden tapferen Frau“38 blieb Oskar Vogts Verhandlungsgebaren erratisch. Ende 1913 zeigte er sich „unabänderlich“ entschlossen, sich aus dem Projekt zurückzuziehen und nach Frankreich zu übersiedeln. Zu diesem Zeitpunkt gab es konkrete Pläne für einen Institutsbau den Savoyen.39 In diese Erwägungen hinein unterbreitete der innere KWG-Führungszirkel eine neue Lösung. Da dem vogtschen Konzept oft ein Mangel chemisch-physiologischen Aspekten vorgeworfen worden war, hatte Vogts früherer Lehrer Binswanger vorgeschlagen, es mit dem endokrinologisch orientierten Projekt des Hallenser Physiologen Emil Abderhalden zu verknüpfen. Daraus entstand der Plan für ein Doppelinstitut für Physiologie und Hirnforschung, worin Abderhalden als administrativer Direktor mit etwas größeren Mitteln fungieren sollte.40 Eigentlich lief die Verbindung mit einem Chemiker, zu dem er keinerlei Beziehung hatte, Vogts Wunschdenken zuwider. Dennoch willigte er ohne größere Umstände ein und passte umgehend seine Planungen einem stark gekürzten Bauetat an.41 Die Lösung gewährte ihm nicht nur das momentan größtmögliche Maß an Unabhängigkeit, sie ließ auch eine spätere Loslösung denkbar erscheinen. Mitte 1914 liefen die Bauplanungen für ein KWI für Physiologie und Hirnforschung an, die benachbarte, weitgehend baugleiche Gebäudehälften vorsahen. Vogt wies bei erster Gelegenheit darauf hin, dass eine getrennte Bauführung billiger käme als das Doppelhaus. Ein Jahr später warnte er, dass aufgrund seines lärmenden Tierbestandes keine glückliche Nachbarschaft mit seinem
36 O. Vogt an von Bohlen, 20.6.1913, HA Krupp, FAH 4, E 264, Bl. 295–305. 37 Margarethe Krupp an O. Vogt, 23.6.1913, HA Krupp, FAH 4, E 264, Bl. 291–94; Margarethe Krupp an O. Vogt, 25.10.1913, HA Krupp, FAH 4, E 264, Bl. 270–2. 38 Schmidt-(Ott) an Bohlen, 13.11.1913, HA Krupp, FAH 4, E 264, Bl. 252–257. 39 O. Vogt an M. Krupp, 6.11.1913, HA Krupp, FAH 3, D 169, Bl. 51; zum Savoyen-Plan vgl. Satzinger 1998, S. 84; danach war ein Baugelände vorhanden, das während des Krieges konfisziert wurde. 40 Harnack an von Bohlen, 25.12.1913, HA Krupp, FAH 4, E 264, Bl. 242–245. 41 O. Vogt, Vorschlag für die Verausgabung der bewilligten Summe, 30.1.1914, HA Krupp, FAH 4, E 264, Bl. 180–81; in seinem Begleitschreiben an von Bohlen, (a.a.o. Bl. 78), betonte er, „dass es jedenfalls ausschliesslich Ihr Verdienst ist, wenn meine Frau und ich unsere Thätigkeit in Berlin fortsetzen.“
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Institut zu erwarten sei.42 Möglicherweise hätte diese Abgrenzungsstrategie letztlich Erfolg gehabt. Abderhalden erhielt noch vor Kriegsende ein Angebot des Kölner Oberbürgermeisters Adenauer, sein Institut am Rhein anzusiedeln – sicherlich nicht zum Missfallen Vogts.43 Abderhalden sollte niemals zu einem eigenen KWI kommen, sondern musste sich mit permanenten KWG-Finanzspritzen für sein Hallenser Universitätsinstitut begnügen. Die Klagebriefe, die er in den 1920er Jahren an die KWG sandte, ähnelten jenen Vogts, fanden aber weniger prominente Unterstützung und blieben daher erfolglos.44 Das Hirnforschungsinstitut wäre – mit oder ohne Zwillingsinstitut, vermutlich ohne eigene klinische Abteilung – wahrscheinlich auf dem Dahlemer KWGCampus entstanden, wären die Bauarbeiten bei Kriegsbeginn bereits angelaufen gewesen. So wurde nicht nur die Bautätigkeit auf bereits begonnene Projekte wie das KWI für Biologie konzentriert, sondern auch jede weitere Planung durch die Kriegsinflation durchkreuzt.45 Da half es auch nichts, dass von Bohlen Ende 1917 die Institutsstiftung noch einmal um 350.000 RM – die er wie alle KWGFinanziers in Kriegsanleihen anlegte – aufstockte.46 Möglicherweise trifft Lothar Burchardts Einschätzung zu, dass für Vogt mehr zu erreichen gewesen wäre, hätte er nicht bei der KWG-Verwaltung durch sein konfrontatives Verhalten jedes Wohlwollen verspielt und selbst von Bohlen durch den „ständigen Zank“ so verprellt, dass sich dieser „zeitweise über das unumgängliche Mindestmaß hinaus nicht mehr für ihn einsetzte.“47 Insgesamt ertrug der vielbeschäftigte Rüstungsmanager die Volten seines Schützlings aber mit bemerkenswerter Contenance. Er war offenbar daran interessiert, das Projekt zu Ende zu bringen – schon aufgrund der bereits getätigten Investitionen, mochten sie auch verglichen mit den gigantischen Kriegsgewinnen der Krupp AG noch so marginal sein. Anfang 1918 deutete Vogt einmal wieder seinen möglichen Rückzug aus dem Projekt an und stellte von Bohlen sogar anheim, das vorhandene Kapital für Kraepelins Konkurrenzinstitut in München zu verausgaben.48 Einige Monate später entfaltete er plötzlich wieder hektische Betriebsamkeit. Der Grund hierfür war die Möglichkeit, eine enge Arbeitsgemeinschaft mit dem städtischen Siechenhaus in der Fröbelstraße (Prenzlauer Berg) einzugehen. Nach dem Ableben des bisherigen Direktors sah Vogt die Chance, durch eine geeignete Neubesetzung oder gar die Übernahme der Leitung die dort vorhandene Abteilung für Nervenkranke unter
42 O. Vogt an von Bohlen, 3.7.1914, HA Krupp, FAH 4, E 264, Bl. 147–54; O. Vogt an Harnack, 3.12.1915, MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1643, Bl. 85. 43 Schmidt(-Ott) an von Bohlen, 14.5.1918, HA Krupp, FAH 4, E 265, Bl. 359–63; von Bohlen an Harnack, 31.5.1918, ebd., Bl. 308–11. 44 Vgl. z. B. Abderhalden an Harnack, 21.9.1926, MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1642, Bl. 2–4. 45 Burchardt 1990, S. 171 & 180. 46 Von Bohlen an Valentini, 7.12.1917, HA Krupp, FAH 4, E 264, Bl. 19–21; zum Problem der Kriegsteuerung in der KWG vgl. Burchardt 1996, S. 176. 47 Burchardt 1990, S. 180–181. 48 Notiz von Bohlen 16.1.1918, HA Krupp, FAH 4, E 265, Bl. 382.
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Kontrolle zu bringen.49 Die Initiative zeigt, wie wichtig für Vogt die Verbindung mit einer klinischen Abteilung war, die sich direkt in das eigene Arbeitsprogramm einfügte. Für eine neuropathologisch fundierte Lokalisationslehre war es essenziell, eben jene Patienten genauer zu beobachten, deren Gehirne man später zu untersuchen hoffte. Die Nervenstation des Siechenhauses schien sich für Vogts Zwecke von allen neurologischen Abteilungen in Berlin am besten zu eignen, da sie Nervenkranke beherbergte, deren Leiden vermutlich auf gravierenden Hirnläsionen basierten.50 Zu diesem Zeitpunkt hatte Cécile Vogt gerade durch Untersuchungen zu derartigen Fällen für das Projekt bedeutende neuropathologische Befunde erzielt. An den Gehirnen mehrerer Patienten, die an schweren Bewegungsstörungen gelitten hatten, fand sie charakteristische Veränderungen im Corpus striatum, einer unteren Schicht der Hirnrinde. Diese Fälle trugen nichts zu der eigentlich angestrebten Kartierung der Rindenfelder bei. Im Sinne der Vogts boten sie jedoch einen morphologischen Beweis dafür, dass Störungen in den Nervenbahnen zwischen Hirnrinde und Thalamus für die Herausbildung vieler Nervenkrankheiten entscheidend waren, da sie zu „Stauungen“ der „Reizenergie“ führten.51 Derartige Krankheitsbilder boten nicht nur einen besonders deutlichen Bezug zwischen neuropathologischem Befund und klinischer Beobachtung. Sie öffneten auch eine Tür zwischen Neuroanatomie und den von Oskar Vogt weiterhin praktizierten psychotherapeutischen Verfahren – jedenfalls betonte Vogt in seinem Übernahmegesuch die guten Chancen, auf diesem Weg den betroffenen Kranken einen Teil ihrer Arbeitsfähigkeit wiederzugeben.52 Damit erhielt das Vorhaben besondere Aktualität, da ein erheblicher Teil der hirnverletzten Soldaten in diese Kategorie fiel.53 Der Hinweis auf die kriegsbedingte Dringlichkeit wurde auch bemüht, um eventuelle Bedenken gegen die Verwendung von Patienten als Forschungsobjekten zu entkräften. Schwerwiegende „humanitäre“ Einwände blieben jedoch aus; aus der sozialdemokratischen Lokalpolitik, von wo er sie erwartet hatte, erntete Vogt zu seiner Verblüffung vielmehr entschiedene Unterstützung.54 Die Einrichtung der Arbeitsgemeinschaft machte so gute Fortschritte, dass von Bohlen bereits vorschlug, „gegebenenfalls den Bau des Institutes auf einem voraussichtlich von der Stadt unentgeltlich zur Verfügung zu stellenden Grundstücke 49 O. Vogt an Kuratorium für die städtischen Hospitäler Berlin, 8.5.1918, HA Krupp, FAH 4, E 265, Bl. 380–1; Vogt an von Bohlen, 9.5.1918, ebd. Bl. 378–9. 50 Die Eignung des Siechenhauses für die neuropathologische Forschung hatte zuvor schon K. Bonhoeffer betont (an Schmidt-Ott, 5.8.1913, HA Krupp, FAH 4, E 264, Bl. 196–199); ebenso der als Kliniker involvierte Berliner Anstaltspsychiater Liepmann (Besprechung mit Prof. Liepmann-Dalldorf am 3.5.1913, HA Krupp, FAH 4, E 264, Bl. 212–214). In diesem Zusammenhang wurde auch die geringere Eignung der Anstalt Buch zu diesem Zweck erwähnt. 51 C. Vogt, O. Vogt, Zur Lehre der Erkrankungen des striären Systems, Journal für Psychologie und Neurologie 25 (1920), S. 631-846. 52 Satzinger 1998, S. 193. 53 O. Vogt an Kuratorium für die städtischen Hospitäler Berlin, 29.5.1918, HA Krupp, FAH 4, E 265, Bl. 319–22. 54 O. Vogt an von Bohlen, 28.5.1918, HA Krupp, FAH 4, E 265, Bl. 326–331.
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in der nächsten Nähe des Siechenhauses“ zu erwägen.55 Nachdem Kriegsende und Revolution die Umsetzung verzögerten, wurde die Verbindung im Herbst 1919 endgültig vom Berliner Magistrat gebilligt und Vogts Kandidat für die neurologische Abteilung installiert.56 Die Klinikfrage war nicht nur für Vogt, sondern auch seinen Mäzen ein wichtiger Schritt zur Realisierung der Institutsplanungen, ermöglichte sie doch eine Verselbstständigung in der ursprünglich geplanten Form. Der Industrielle war daher „ziemlich rathlos“, als Vogt zwischenzeitlich einen erneuten Rückzieher machte, weil die Arbeit im Siechenhaus ihn und seine Frau angeblich überlastete und von dringenderen Aufgaben abhielt.57 Wie bei vielen seiner Kehrtwendungen ist auch hier schwer auszumachen, ob Vogt aus einer depressiven Verstimmung, gekränkter Eitelkeit oder dem berechnenden Kalkül handelte, seine Partner durch seine Rücktrittsgedanken unter Zugzwang zu setzen. Vermutlich war es eine Mischung aus allen drei Komponenten zuzüglich einer Portion Hybris. Diese schien etwa dann durch, wenn er den Aufbau der „lebenswichtigen“ Klinikverbindung als letzten Dienst für einen möglichen Nachfolger beschrieb – welcher, da Neurobiologen seines Formats in Deutschland ansonsten nicht aufzufinden seien, notwendigerweise ein Kliniker sein müsse.58 Anschubhilfe aus Moskau Hinter der neuen Rücktrittsdrohung stand ein pekuniäres Problem, das für Vogt auch eine Frage der Ehre war. Obwohl seit 1914 formal ein Doppel-KWI für Hirnforschung und Physiologie bestand, entsprach das ihm und Cécile zugebilligte Gehalt nicht annähernd jenem der übrigen KWG-Direktoren. Von Bohlen versuchte die Situation zu beruhigen, indem er vorschlug, den Vogts die gesamten Zinsen des angesammelten Stiftungskapitals zur freien Verfügung zu stellen.59 Damit machte er den Weg zur eigentlichen Gründung des KWI für Hirnforschung frei. Der KWG-Senat beschloss am 3.6.1919 die „endgültige Errichtung“ des Instituts. Ein wirklicher Teil der Gesellschaft wurde es erst durch die Zubilligung eines eigenen Etats und die formale Zusammenlegung des KWI mit dem Neurobiologischen Laboratorium, die im folgenden Herbst vollzogen wurde. Obwohl der mit dem Berliner Magistrat geschlossene Vertrag über die Verbindung mit dem Siechenhaus letztlich nicht umgesetzt wurde, ist er für die weitere Institutsgeschichte von großer Bedeutung: Einerseits verdeutlicht er, wie essenziell den Vogts eine Klinikverbindung erschien, andererseits etablierte er eine enge Verbindung zum städtischen Gesundheitswesen, die später noch von Bedeu55 Von Bohlen an Harnack, 6.6.1918, HA Krupp FAH 4, E 265, Bl. 289–292; Harnack an Magistrat Berlin, 25.6.1918, ebd. Bl. 262–65. 56 O. Vogt an von Bohlen, 22.11.1919, HA Krupp, FAH 4, E 265, Bl. 91. 57 O. Vogt an KWG, 7.4.1919, HA Krupp FAH 4, E 265, Bl. 170–171; von Bohlen an O. Vogt, 10.4.1919, ebd. Bl. 164–165. 58 O. Vogt an von Bohlen, 12.4.1919, HA Krupp, FAH 4, E 265, Bl. 152–157. 59 Von Bohlen an Harnack, 17.4.1919, HA Krupp, FAH 4, E 265, Bl. 144–146.
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tung sein sollte. Neue Bündnisoptionen sollte auch, zumindest der Intention nach, ein neues Teilprojekt erbringen, das möglicherweise durch von Bohlen oder die KWG-Spitze vermittelt wurde. Unter finanzieller Beteiligung des Reichswehrund des Landwirtschaftsministeriums, von Tierfutterfirmen und Züchtervereinen wurde 1919 eine Abteilung für Hunde- und Taubenforschung gegründet und mit einem merkwürdig aufgeblähten Kuratorium versehen.60 Die experimentelle Erfahrung der Vogts mit Hundehirnen stellte eine gewisse Beziehung zum Thema her; allerdings blieb ziemlich unklar, durch welche Art von Forschung das Institut den vaterländischen Einsatz von Diensthunden und Brieftauben fördern sollte. Oskar Vogt entwarf, ganz entsprechend der Logik seiner früheren „Centralstation“-Pläne, eine tierphysiologisch ausgerichtete Forschungsstätte, die zugleich als Museum, Präparatesammlung und Spezialbibliothek für die Anatomie der Hundeund Taubenrassen fungierte.61 Es existierten tatsächlich Arbeitsbeziehungen zur Reichswehr, deren Ausbau jedoch schon nach kurzer Zeit stockte.62 Die nicht unerheblichen Zuschüsse ermöglichten es, das Institut um neue Mitarbeiter zu erweitern.63 Praktische Bezüge zu dem unklar formulierten Nutztierprojekt lassen sich dabei nicht auszumachen.64 Angesichts der ungesicherten Zukunft seines Instituts nahm Vogt jede gebotene Gelegenheit wahr, um seine Position zu verbessern. Dabei klafften Anspruch und die Realität der eigenen Arbeitsmöglichkeiten oft auseinander, wie auch die weitere Entwicklung des Siechenhaus-Projektes zeigt. Es wurde keineswegs die erhoffte „Bereicherung“ für das Institut,65 da Vogt den Krupps und der KWG weiterhin Rätsel aufgab und die Umsetzung infrage stellte, nachdem er sich innerhalb kurzer Zeit mit seinem Stationsleiter Paul Schuster überworfen hatte. Einmal mehr musste der Mäzen in Essen „ziemlich ratlos“ zusehen,66 dass sein Protegé die zugesagte Beteiligung an den Hirnsektionen nicht mehr wahrnehmen wollte, da er sich lieber auf Fragen des gesunden Gehirns konzentrieren wollte.67 Für sein Vorhaben, den mühsam ausgehandelten Vertrag mit der Stadt wieder zu lösen, konnte von Bohlen kein Verständnis aufbringen, nachdem er gerade erst wieder eine hohe Summe für einen möglichen kliniknahen Neubau gestiftet hatte.68 Die Verwendung des Geldes blieb damit 60 Harnack an von Bohlen, 25.10.1919, HA Krupp, FAH 4, E 265, Bl. 92–95. 61 1. Sitzung des KWIH am 22.11.1919, Unterabteilung Engerer Beirat für Erforschung des Seelen- und Nervenlebens des Hundes und der Brieftaube, Journal für Psychologie und Neurologie 25 (1920), S. 219–220. 62 Aufzeichnung über die Sitzung des Kuratoriums des KWIH, 15.11.1920, MPGA Abt. I, Rep.1a, Nr. 1576, Bl. 63a–d. 63 Notiz zum Vorschlag Haushaltsplan 1921, MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1592, Bl. 46; Vermerk zum Etatentwurf 1931, März 1931, MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1595, Bl. 113–115. 64 Während Richter (1996, S. 373) das Projekt als die wissenschaftliche Entwicklung belastenden Versuch zur Ausweitung des finanziellen Spielraums beschreibt, sieht Satzinger (1998, S. 88) eine mögliche verhaltensbiologische Perspektive in dem Vorhaben. 65 Richter 1996, S. 373. 66 Von Bohlen an Glum, 21.3.1921, HA Krupp, FAH 4, E 265, Bl. 6. 67 Aufzeichnung über eine Besprechung am 26.4.1921 im Büro der KWG, MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1576, Bl. 112–116. 68 O. Vogt an von Bohlen, 23.1.1922, MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1576, Bl. 142.
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ungeklärt, bis die Inflation allen Planungen vorerst ein Ende setzte. Es ist nicht genau aufzuklären, warum sich das für das KWIH angelegte Stiftungsvermögen trotz des finanzpolitischen Sachverstandes der KWG-Verwaltung völlig verflüchtigen konnte. Vermutlich trug von Bohlen selbst zu der Wertevernichtung bei.69 KWG-Generaldirektor Glum riet Ende Oktober 1922 nachdrücklich dazu, das Vermögen in Industrieaktien anzulegen, was für die meisten anderen Institutsstiftungen bereits erfolgt war.70 Der Industrielle misstraute jedoch dem Austausch einer gut verzinsten Geldanlage gegen überteuerte Aktien.71 Möglicherweise führte die Herauszögerung einer Entscheidung dazu, dass es durch den galoppierenden Kurssturz schon kurze Zeit später für eine neue Kapitalanlage zu spät war. Die Hoffnungen auf eine Besserung der Lage schienen nach der Inflation auf unbestimmte Zeit vertagt, da sich die KWG insgesamt in einer schweren Existenzkrise befand. Oskar Vogt konnte sein Lebensziel letztlich darum erreichen, weil sein Ansehen im Ausland wesentlich höher war als unter deutschen Kollegen. Anfang 1925 verbesserte sich sein wissenschaftspolitischer Marktwert schlagartig. Der sowjetische Neurologe Lasar S. Minor übermittelte Vogt das Angebot, eine dem neuesten Stand der Wissenschaft entsprechende Untersuchung des Gehirns des elf Monate zuvor verstorbenen Wladimir I. Lenin zu leiten. Die Übertragung dieser politisch heiklen Aufgabe verdankte Vogt einerseits der großen Wertschätzung, die er unter den russischen Kollegen genoss, seitdem er gemeinsam mit seiner Frau auf dem Allrussischen Kongress für Psychoneurologie 1923 das gemeinsame Forschungsprogramm vorgestellt hatte. Große Bedeutung dürfte außerdem die Fürsprache seines Breslauer Kollegen Otfried Förster gehabt haben, der während der letzten Lebensmonate Lenins ein herausragende Rolle im behandelnden Ärztekollegium eingenommen hatte. Dass Vogt führenden russischen Fachleuten wie Wladimir M. Bechterew vorgezogen wurde, war möglicherweise innersowjetischen Machkämpfen geschuldet.72 Der Umstand, dass sein Patron von Bohlen und Halbach kurz zuvor lukrative Rüstungsgeschäfte mit der Sowjetregierung eingefädelt hatte, dürfte für den Auftrag kaum entscheidend gewesen sein, verweist aber auf den für wissenschaftliche Kooperationsprojekte günstigen politischen Kontext.73 Die Beteiligung deutscher Ärzte an der Behandlung Lenins war gleichermaßen eine Folge russischer Wertschätzung für die deutsche Wissenschaft wie einer Kulturpolitik, die mit der geheimen militärischen 69 Richter 1996, S. 372–373, sieht die Schuld beim Bankhaus Mendelssohn, das die KWGVermögen verwaltete. 70 Glum an von Bohlen, 25.10.1922, HA Krupp, FAH 4, E 266, Bl. 274. 71 Von Bohlen an Glum, 29.10.1922, HA Krupp, FAH 4, E 266, Bl. 272–273. Bohlen wollte sich ausdrücklich nicht gegen die Mehrheit des Kuratoriums stellen; Glum vertagte aufgrund der Zweifel jedoch eine sofortige Entscheidung, vgl. Glum an von Bohlen, 1.11.1922, HA Krupp, FAH 4, E 266, Bl. 267–70. 72 Richter 2000, S. 47–49. 73 Zur möglichen Bedeutung der Kruppschen Geschäftsbeziehungen für den vogtschen Auftrag vgl. Weindling 1992, S. 187. Die Hintergründe der deutsch-sowjetischen Wissenschaftskooperation werden hier (S. 177–189) überzeugend dargestellt; vgl. hierzu und die Bedeutung deutscher Mediziner bei der Behandlung Lenins auch Richter 2000, S. 5–28.
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Kooperation parallel lief. In den 1920er Jahren unterstützte das Außenministerium gezielt das sowjetische Interesse, deutsche Wissenschaftler für Kooperationsprojekte zu gewinnen. 74 Oskar Vogt wollte die Untersuchung von Lenins Gehirn anfangs in Berlin durchführen, was das Politbüro aber kategorisch ablehnte. Ende Februar 1925 reisten er, Cécile und die bewährteste Präparatorin ihres Instituts nach Moskau, um die Arbeiten einzuleiten.75 Vogt wurde dabei nicht nur als verantwortlicher Leiter der Arbeiten bestätigt, er erhielt auch das Angebot, ein ganzes Institut zu leiten, das die Erforschung weiterer „genialer“ Gehirne aufnehmen sollte. Zusätzlich erhielt er von der Gesundheitsabteilung der georgischen Regierung das Angebot, die zoologisch-genetische Abteilung eines neuen Instituts zur Erforschung des Kaukasus aufzubauen. Das Außenministerium unterstützte beide Vorhaben mit Nachdruck und sicherte zu, einen Teil der Personalkosten zu übernehmen. Ferner machten die Diplomaten bei der KWG Druck, dass auch Vogts Berliner Basis endlich ausgebaut wurde, damit die Projekte möglichst schnell realisiert werden konnten.76 Die sowjetischen Angebote hatten eine merkliche Auswirkung auf Vogts heimische Verhandlungsposition. Auch hier verfolgte er meisterhaft die Taktik, zuerst neue Aufgaben zu übernehmen und sie anschließend als „Opfer“ am eigenen Lebenswerk darzustellen, das durch zusätzliche Finanzmittel kompensiert werden musste. Gegenüber der Berliner Universitätsverwaltung erweckte er den Eindruck, er habe nur zum Wohle der deutschen Außenpolitik zusätzliche Belastungen auf sich genommen, um eine bessere Stellenausstattung seines NBL zu erreichen.77 Auch gegenüber dem Botschafter in Moskau beteuerte er, er habe die „interessante, aber mein eigentliches Lebensprogramm störende Arbeit“ an Lenins Hirn sowie die Leitung des Moskauer Instituts nur auf Drängen des Ministeriums übernommen.78 War es also allein taktisches Kalkül, dass er einen beträchtlichen Teil seiner Tätigkeit nun auf das Gehirn Lenins sowie anderer „Ausnahmepersönlichkeiten“ richtete? Als Vogt vier Jahre nach Beginn der Arbeiten die ersten Ergebnisse präsentierte, betonte er, Lenins Hirn weise in vielen Rindenfeldern außergewöhnlich große und ausgeprägte „Pyramidenzellen“ auf, einen Zelltypus, der nach vogtscher Nomenklatur der dritten Rindenschicht angehörte und Assoziationsverbindungen herstellte. Er verglich dieses Bild mit der spezialisierten Muskulatur eines Athleten und kam so zu der oft zitierten Charakterisierung Lenins als „Assoziati-
74 Weindling 1992, S. 179–181. 75 Richter 2000, S. 58–59. 76 Aufzeichnung über die Besprechung, betreffend eine Verbindung des KWIH mit russischen Instituten am 23.5.1925, MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1577, Bl. 1–2. Wie Richter (2000, S. 60– 62) betont, scheint die KWG dem Aufbau einer sowjetischen Kooperation ablehnend gegenübergestanden zu haben. 77 O. Vogt an Verwaltungsdirektor der Universität Berlin, 6.7.1925, MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1577, Bl. 18–24. 78 O. Vogt an Botschafter Brockdorff-Rantzau, 14.12.1925, HA Krupp, FAH 4, E 266, Bl. 187.
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onsathleten“.79 Diese Formulierung führte dazu, dass ihn kritische Kollegen als skrupellosen politischen Opportunisten wahrnahmen; vor allem sollte sie nach 1933 in den Händen seiner nationalsozialistischen Gegner zu einem gefährlichen Denunziationsmaterial werden.80 Umstritten bleibt bis heute die Frage, ob Vogt mit dieser Verortung „genialer“ Geistesanlagen sich vor allem gegenüber seinen Auftraggebern erkenntlich zeigte oder aber eine für die Lokalisationslehre grundlegende Aussage traf. Michael Hagner sieht die Lenin-Arbeit als zentralen Bestandteil einer Neuroanatomie, in der die lokalisatorische Erklärung von Genie und Talent essenziell war. Helga Satzinger hält sie – ebenso wie weitere vogtsche Befunde zu „Ausnahmegehirnen“ aus dieser Zeit – für eine banale Aussage, die für das Lokalisationsprojekt nicht repräsentativ und letztlich folgenlos war.81 Vogts Hinweis auf eigene Befunde, nach denen die fragliche Zellschicht bei „schwachsinnigen Verbrechern“ oft verkümmert sei, weist darauf hin, dass er hier ein architektonisches Muster von prinzipieller Bedeutung sah. Allerdings kam es in der Folgezeit nicht zu einer präziseren Weiterentwicklung der These, was eventuell damit zu erklären ist, dass es den Vogts an geeigneten Untersuchungsobjekten fehlte. Dass sie der lokalisatorischen Analyse von „Elitegehirnen“ keine wesentliche Bedeutung beigemessen hätten, erscheint nicht schlüssig. Das Moskauer Institut verfügte 1929 über 13 Gehirne sowjetischer Wissenschaftler und Künstler, von denen 5 teilweise nach ihren Methoden verarbeitet waren. Hinzu kamen 113 Präparate, die als „Rassengehirne“ klassifiziert waren, das heißt von „Normalpersönlichkeiten“ verschiedener sowjetischer Nationalitäten stammten.82 Der letztgenannte Punkt scheint auf den ersten Blick mit dem erwähnten Projekt in Georgien in Verbindung zu stehen. Das „Kaukasusinstitut“, das geomedizinische, anthropologische, hygienische und genetische Abteilungen vereinen sollte, wurde von deutscher Seite als „rassenbiologische“ Einrichtung betrachtet. Obwohl sich Vogt zur gleichen Zeit auch an einem Großprojekt der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft zu einer „rassenkundlichen“ Erfassung des deutschen Volkes beteiligte, kann er kaum als treibende Kraft hinter einem Programm zur Erforschung der anatomischen, physiologischen und pathologischen Eigenschaften kaukasischer Ethnien vermutet werden. 83 Seine konkreten Vorstellungen waren bescheidener und betrafen ein privates Lieblingsprojekt – durch die 79 O. Vogt, 1. Bericht über die Arbeiten des Moskauer Staatsinstituts für Hirnforschung, Journal für Psychologie und Neurologie 40 (1929), S. 108–118, hier S. 109–111. 80 W. Spielmeyer an J. Hallervorden, 30.8.1933, zit. in Peiffer 2004, S. 492; zu den Angriffen nach 1933 Hagner 2003, S. 127 & 132. 81 Satzinger 1998, S. 265–268; Hagner 2003, S. 104–105. 82 O. Vogt, 1. Bericht über die Arbeiten des Moskauer Staatsinstituts für Hirnforschung, Journal für Psychologie und Neurologie 40 (1929), S. 108–118, hier S. 112–113. 83 In diesem Sinne Weindling 1992, S. 189–192. Zutreffend ist Weindlings Beobachtung, dass die Pläne für das „Rasseninstitut“ gut mit Vogts Beteiligung an einem Projekt zur umfassenden „rassenkundlichen“ Erhebung der deutschen Bevölkerung um 1930 harmonierten. Schon die starke Inanspruchnahme durch das Berliner Institutsprojekt macht aber wenig wahrscheinlich, dass Vogt sich in der Sowjetunion intensiv als Sachwalter deutscher Rassenkunde betätigen wollte.
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Schaffung einer „genetischen“ Außenstelle wollte er seine umfassenden Studien zur Artbildung und Variation bei Hummeln ausweiten.84 Ein Interesse an den Eigenarten des Gehirnbaus bei verschiedenen Völkern schließt das nicht aus. Es lag ganz in der Logik der Lokalisationslehre, neben individuellen Eigenschaften der Hirnrinde auch entsprechende „rassische“ Unterschiede anzunehmen.85 Die Frage war jedoch, ob ein solches Projekt durchführbar war, ohne die planmäßige Weiterentwicklung des hirnarchitektonischen Programms einzuschränken. Wenn Vogt in diesem Zusammenhang von „Opfern“ und „Störungen“ sprach, war dies also nicht nur ein wissenschaftspolitischer Schachzug, sondern drückte die reale Gefahr einer Zerfaserung seiner wissenschaftlichen Programmatik aus. Neuanfang in Buch Die gestiegene nationale und internationale Aufmerksamkeit nutzte den Vogts wenig, so lange die Suche nach einer neuen Heimat für ihr beengtes Institut auf der Stelle trat. Oskar Vogt sah sein neues Moskauer Institut zwar als eine Option an, einen Teil des Arbeitsprogramms auszulagern, sah sein Ziel aber weiter in einem möglichst in Berlin gelegenen Großinstitut. 1927 übermittelte er seinem Mäzen zum Gründungstag der KWG eine weitere Rückzugdrohung, da er hierfür keine Perspektiven mehr sah.86 Die KWG-Führung hielt eine Realisierung auf ihrem Berlin-Dahlemer Stammcampus tatsächlich für nicht durchsetzbar, versuchte Vogt aber einen Institutsbau in Breslau schmackhaft zu machen. Dafür sprach einerseits die mögliche Verbindung mit der dortigen Universitätsklinik unter Otfried Förster, mit dem die Vogts schon seit längerem gute Arbeitsbeziehungen pflegten. Andererseits hatten Investitionen in den östlichen Randgebieten des Reiches gute Chancen auf großzügige Förderung aus der Staatskasse. Vogt war an einem Umzug nach Schlesien aber ebenso wenig interessiert wie an einer Unterbringung in den ungeeigneten Räumen des Berliner Stadtschlosses. KWGGeneraldirektor Glum sah in dieser Situation die beste Möglichkeit darin, die – trotz des vogtschen Eiertanzes um das Siechenhaus – immer noch guten Beziehungen zum Berliner Magistrat zu aktivieren. Mit einer feinen Spitze gegen den Republikaner Vogt regte der konservative Forschungsmanager an, der Neurologe möge doch seine Kontakte in die Lokalpolitik, vor allem zu seinen „Freunden von der sozialdemokratischen Fraktion“, konsequenter ausnutzen.87 Für Vogt bestätigten solche Einlassungen nur die Feindseligkeit der KWG-Verwaltung. Die von dieser angebahnten Verhandlungen mit dem Stadtmedizinalrat Wilhelm von Drigalski sollten jedoch den Durchbruch zum Institutsneubau einleiten. Drigalski bot an, das seit Jahren schwebende Problem einer geregelten Klinikbeziehung des KWIH zu lösen, indem er Vogt und seinen Mitarbeitern unbürokratisch „irgend 84 85 86 87
Protokoll zur Sitzung des KWIH am 25.2.1926, zit. n. Richter 2000, S. 178–179. Für entgegengesetzte Positionen zu dieser Frage vgl. Hagner 2003 und Satzinger 2003. O. Vogt an von Bohlen, 11.1.1927, MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1577, Bl. 100–107. Glum an von Bohlen, 4.4.1927, MPGA, Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1577, Bl. 120–123.
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einen Zugang“ zu den Heil-und Pflegestätten in Buch eröffnete.88 Diese noch sehr unklaren Zielsetzungen zogen innerhalb eines Jahres die Abtretung eines ungenutzten, ursprünglich als Großfriedhof vorgesehenen Grundstücks in Nachbarschaft der städtischen Anstalt nach sich.89 Die Bucher Heil- und Pflegeanstalt wurde 1906 als III. Städtische Irrenanstalt Berlins eröffnet. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren die bestehenden städtischen Anstalten Dalldorf (in Wittenau, die spätere Karl-Bonhoeffer-Klinik), Herzberge (Lichtenberg) sowie das auf Epileptiker spezialisierte Haus Wuhlgarten (Biesdorf) dem Patientenaufkommen der rasant wachsenden Metropole nicht mehr gewachsen. Die 1895 einsetzenden Planungen sahen zunächst einen Standort in den südlichen Bezirken vor. Die Wahl des weit außerhalb gelegenen Vorortes Buch war eine Folge der parallel laufenden Erweiterung des Berliner Abwassernetzes. Durch den Ankauf des Rittergutes der Bucher Familie von Voß, der zunächst der Anlage von Rieselfeldern diente, erwarb die Stadt ein umfangreiches und günstiges Bauland, das ab 1896 zur Ansiedlung der neuen Irrenanstalt eingeplant wurde.90 Bald folgten weitere Projekte für städtische Krankenhäuser, die Buch nach dem Ersten Weltkrieg zum größten Krankenhausstandort Europas machen sollten. Das geplante Friedhofsareal im Süden Buchs, das 1928 dem KWIH überlassen wurde, erwies sich als peinliche Fehlinvestition, da man den sehr hohen Grundwasserspiegel nicht berücksichtigt hatte. Angesichts der vogtschen Konzeption, klinische Beobachtung und Hirnanatomie zu verkoppeln, erscheint die Anbindung an ein riesiges psychiatrisches Krankenhaus mit etwa 2000 Patienten als logischer Schritt. Allerdings zeigt das zuvor geringe Interesse der Vogts, in einem vornehmlich klinischen Umfeld (wie Buch oder Breslau) zu arbeiten, dass er nicht zwangsläufig war. Ihr „Hirnarchiv“ ließ sich auch ohne direkte Anbindung an ein Krankenhaus beständig erweitern. Für den Zugang zu einer spezifischen Patientengruppe – um die es in den Bemühungen um das städtische Siechenhaus gegangen war – reichte auch eine kleinere Klinik aus. Als die Ansiedlung in Buch Anfang 1929 entschieden war, blieb der Aufbau einer institutseigenen klinischen Abteilung für Oskar Vogt von grundlegender Bedeutung; für die eigenen Arbeiten „interessante“ Patienten der städtischen Anstalt sollten hier – auch durch Anreize wie bessere Betreuung und besseres Essen – für längere Zeit übernommen werden. Außerdem war die Bildung einer weiteren, größeren klinischen Abteilung unter dem Hirnchirurgen Otfried Förster geplant, dessen Berufung nach Berlin sich aber etwas später zerschlug. Vogt träumte in neu entfachtem Planungsdrang bereits von einer Ansiedlung weiterer medizinisch orientierter KWI in Buch, inklusive eines gesellschaftlichen Mittelpunktes nach dem Modell des Dahlemer Harnackhauses – ein Ausdruck dafür, dass ein wissenschaftlich hochklassiges Umfeld, in dem er und Cécile 88 O. Vogt an von Bohlen 23.6.1927, MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1605, Bl. 2a–f. 89 Etwas unklar erscheint Richters (1996, S. 382) Angabe, Vogt habe sich Drigalskis Unterstützung damit gesichert, indem er zuvor dessen Ernennung zum Stadtmedizinalrat unterstützt habe. 90 Wolff/Kalinich 2006, S. 22–24; Bielka 2002, S. 11–12.
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endlich ihren Ambitionen gemäß untergebracht waren, für ihn den eigentlich entscheidenden Standortfaktor darstellte.91 Die Errichtung eines großzügigen Institutsgebäudes war zu diesem Zeitpunkt dank eines Mischfinanzierungs-Modells gesichert. Die KWG machte 1,1 Mio. RM frei, nachdem der Großteil des Kapitals durch eine 1,3 Mio.-Spende der amerikanischen Rockefeller Foundation (RF) abgedeckt worden war. Das KWIH war nur eines von mehreren Großprojekten der deutschen Forschung, die ohne das Engagement der RF während der wirtschaftlichen Krisenjahre nicht denkbar gewesen wären. Die sehr hohe Meinung, die die RF-Manager und ihr Gutachternetzwerk deutschen Wissenschaftlern entgegenbrachten, zahlte sich für verschiedene Vorzeigeinstitute wie die KWI für Physik und für Zellphysiologie aus, aber auch für fragwürdige Projekte wie deutschlandweite „rassenbiologische“ Feldstudien. Im Zentrum der RF-Agenda stand seit Ende der 1920er Jahre jedoch die internationale Förderung von physikalisch-chemisch fundierten Ansätzen in der Biologie sowie – gleichsam als deren medizinisch-anthropologischer Zielpunkt – von Projekten, die neue Zugänge zu Problemen menschlichen Verhaltens und Denkens verhießen.92 Emil Kraepelins Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie hatte als erste deutsche Institution von der amerikanischen Begeisterung für die Neurobiologie profitiert.93 Noch viel mehr als das klinisch geprägte Institut in München beeindruckte die Abgesandten der RF jedoch, was sie in den überfüllten Räumen des „cheap apartment house“ nahe des Berliner Tiergartens sahen. Neben der Zähigkeit und Zielstrebigkeit, mit der die Vogts hier trotz eingeschränkter Mittel ihr Programm verfolgten, sprach vor allem die hohe inhaltliche Kohärenz für eine Unterstützung. Im Gegensatz zu Kraepelins Institut vermittelte ihr Programm den Eindruck, dass alle Teilprojekte ineinandergriffen und auf ein generelles Verständnis der Hirnfunktionen ausgerichtet waren. Besonders hervorgehoben wurde Vogts Interesse an der Genetik, die zwar in einer populationsstatistischen Variante auch in München gepflegt wurde, hier aber direkter an die Frage der Vererbung spezifischer Hirnfunktionen gekoppelt zu sein schien.94 Ob außenstehende Beobachter Anspruch und Wirklichkeit der vogtschen Projekte einschätzen konnten oder nicht, offensichtlich war es die interdisziplinäre Verknüpfung verschiedener biologischer Methoden, die nachhaltigen Eindruck hinterließ. In den 1920er Jahren hatte Vogt begonnen, die ursprünglich angestrebte Verbindung von Neuroanatomie, -physiologie und experimenteller Psychologie auszubauen und um neue Komponenten zu erweitern. Erst die Eröffnung des neuen Gebäudes ermöglichte den Ausbau zu jenem multidisziplinären Institut, das er schon lange angestrebt hatte. Auf Abstriche wollte sich Vogt auch angesichts des nahenden Erfolges nicht mehr einlassen; ersten Anzeichen auf mögliche Engpässe im Etat begegnete er sofort mit einer seiner üblichen Rückzugsdrohungen.95 91 92 93 94 95
Notiz A. Morsbach, 4.1.1929, MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1579, Bl. 223–226. Kay 1993, S. 39–57. Richter 1996, S. 383. A. Gregg Diary 6.11.1928, RAC 1.1. 717A–10–64. Vogt an KWG, 17.6.1929, MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1594, Bl. 45.
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Bereits vor der Realisierung des Bucher Neubaus waren die Grundlagen für mehrere neue Abteilungen gelegt, die nach Vogts Verständnis integrale Bestandteile eines einheitlichen Programms waren, aber aus dem damaligen Bereich der Neurologie und Psychiatrie herausfielen oder völlig neuartig waren. Vogt verfügte fraglos über ein gutes Gespür für junge Talente und zukunftsträchtige Methoden; mehrere der neuen Abteilungen lieferten – teils kurzfristig, teils langfristig – wichtige Beiträge für ihre jeweiligen Fachgebiete. Für den Aufbau einer experimentell-genetischen Abteilung ließ sich Vogt von seinen sowjetischen Kollegen das junge Ehepaar Elena und Nikolai Timoféeff-Ressovsky vermitteln, die 1926 das genetische Standardobjekt Drosophila mit nach Berlin brachten. Die Verbindung zwischen Psychiatrie und Genetik war zu dieser Zeit nichts Ungewöhnliches. Allerdings fragte sich selbst Vogts begeistertester Unterstützer in der RF, was eine an Insekten arbeitende Genetikergruppe zu einem Hirnforschungsinstitut beitragen sollte – einem „great mind“ wie Vogt deswegen irgendwelche Vorgaben zu machen, kam ihm dennoch nicht in den Sinn.96 Neben der Genetik, auf deren Entwicklung später noch näher einzugehen ist, sollte das erweiterte KWIH auch neue Ansätze in der Neurophysiologie, der Neurobiochemie und der Psycholinguistik fördern. Relativ begrenzt blieb die Bedeutung der chemischen Abteilung, die die Vogts mit der Älteren ihrer beiden Töchter besetzten. Marthe Vogt konnte durch ihre Aufenthalte bei Carl Neuberg am KWI für Biochemie und bei Paul Trendelenburg in der Pharmakologie der Universität Berlin eine exzellente Ausbildung vorweisen. Bei Trendelenburg trug sie zur frühen Entwicklung der Neuroendokrinologie bei, indem sie zur Regulation der Schilddrüse arbeitete (welche nach ihren Ergebnissen allerdings nicht zentralnervös, sondern allein vom Ernährungszustand beeinflusst wurde).97 Im KWIH sollte sie sich ganz in den Dienst der elterlichen Lokalisationslehre stellen. Die vogtsche Lehre implizierte, dass spezifisch veränderte Rindenfelder auch eine spezifische zellchemische Struktur aufwiesen, welche dementsprechend einer Therapie durch affine chemische Substanzen zugänglich sein sollte.98 Diese Idee war neben der Verbindung zur Genetik diejenige, welche die amerikanischen Finanziers besonders faszinierte. Da man bei der RF besorgt war, die winzige Abteilung könne ganz von klinisch-chemischen Aufgaben absorbiert werden, erhielt sie zusätzliche Förderung.99 Konkrete Ansätze zu einer „Chemotherapie“ der Nervenkrankheiten waren und blieben aber eine reine Zukunftsvision. Marthe Vogt setzte bei den noch völlig ungeklärten Grundlagen der physiologischen Verteilung nervenaktiver Stoffe (wie Atropin, Scopolamin und Mescalin) an, was zunächst die Entwicklung von Methoden zu ihrer Extraktion aus Nervengeweben sowie zur Bestimmung minimaler Mengen voraussetzte. Eine besondere Affinität dieser 96 R. A. Lambert an A. Gregg, 5.4.1932, RAC 1.1. 717A–10–64. 97 M. Vogt, Nervous Influences in Endocrine Activity, in: J. Meites, B. Donovan, S. McCann (Hg.), Pioneers in Neuroendocrinology, London/New York: Plenum Press, 1975, S. 313–322. 98 O. Vogt, Begründung des Etats für das KWIH für das Rechnungsjahr 1930/31, n.dat., MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1595, Bl. 208–208m. 99 R. A. Lambert an A. Gregg, 5.4.1932, und R. A. Lambert an A. Gregg, 4.4.1932, beide RAC 1.1. 717A–10–64.
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Substanzen zu bestimmten Teilen des Nervensystems ließ sich so wenig nachweisen wie eine bevorzugte Anreicherung im Nervengewebe. Die Wirkungsspezifität konnte demnach nicht auf einer gewebespezifischen Verteilung der Substanzen, sondern nur auf der „Reaktionsbereitschaft“ der Zellen (von Rezeptoren war noch nicht die Rede) beruhen.100 Dieser zum damaligen Zeitpunkt nicht selbstverständliche Befund bedeutete, dass der Ansatz im Sinne einer lokalisatorischen Neuroanatomie oder -pathologie nicht weiter nutzbar war. Marthe Vogts Karriere fand erst in eine vielversprechende Bahn, als sie 1935 nach England emigrierte. Im Labor des Nobelpreisträgers Henry Dale leistete sie wichtige Beiträge zur Erforschung der Neurotransmitter. Auch die Einrichtung einer physiologischen Abteilung stand im Zeichen des lokalisatorischen Kernvorhabens. Wie erwähnt hatten reizphysiologische Experimente bei der Formulierung des Programms eine wichtige Rolle gespielt. Die Versuche mit der neuen Technik der Elektroencephalographie (EEG), die in Buch aufgenommen wurden, können insofern als logische Weiterführung der vor dem Ersten Weltkrieg verfolgten Rindenreizungs-Versuche angesehen werden.101 Bei Einrichtung der Abteilung scheint Oskar Vogt jedoch recht unscharfe Vorstellungen darüber gehabt zu haben, auf welcher methodischen Basis die angestrebten elektrophysiologischen Prüfungen in der Klinik durchgeführt werden sollten.102 Die EEG-Technik wurde zu diesem Zeitpunkt nur von ihrem Entwickler, dem Jenenser Psychiater Hans Berger, angewendet. Kein Angehöriger der Abteilung unter dem Leiter Max H. Fischer verfügte beim Eintritt in das KWIH über entsprechende Erfahrungen; auch sind keine direkten Beziehungen zu Berger nachweisbar.103 Wie Cornelius Borck dargestellt hat, wurde das EEG in Buch im Geiste der vogtschen Lokalisationslehre ein zweites Mal erfunden. Entscheidend dafür waren die Entwicklungsarbeiten des Elektroingenieurs Jan F. Tönnies, dem Sohn von Vogts altem Mentor.104 Mit eigener Technik ging die Gruppe daran, nach spezifischen EEG-Mustern der Rindenfelder zu suchen. Das stand in genauem Gegensatz zu Bergers Programm, der davon ausging, dass das gesamte Gehirn eine einheitliche elektrische Grundfrequenz produzierte, die bei pathologischen Erscheinungen Abweichungen aufwies. Vor allem Fischers junger Assistent Alois Kornmüller verbiss sich mit solcher Konsequenz in die elektrophysiologische 100 F. Veit, M. Vogt, Die Verteilung subcutan verabreichter Alkaloide auf verschiedene Regionen des Zentralnervensystems, Die Naturwissenschaften 29 (1934), S. 492–494; F. Veit, M. Vogt, Die Verteilung von Arzneistoffen aus verschiedene Regionen des Zentralnervensystems, zugleich ein Beitrag zu ihrer quantitativen Mikrobestimmung im Gewebe, I. Mittlg., Naunyn-Schmiedebergs Archiv für Pharmakologie 178 (1934), S. 534–559. 101 So stellten es die Vogts nach Vorliegen der ersten Ergebnisse der EEG-Forschung dar, vgl. C. Vogt, O. Vogt, Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung Berlin-Buch, in: M. Planck (Hg.), 25 Jahre Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Bd. 2, Berlin: Springer, 1936, S. 387–400, S. 390. 102 O. Vogt, Begründung des Etats für das KWIH für das Rechnungsjahr 1930/31, n.dat., MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1595, Bl. 208–208m. 103 Borck 2005, S. 165–166. 104 Zu Biographie und Werk Tönnies’ Wunderlich 2014, S. 11–53.
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Untermauerung des vogtschen Dogmas, dass der Ansatz trotz erfolgversprechender Innovationen in Borcks Worten bald zu einem bloßen „Wurmfortsatz der Cytoarchitektonik“ wurde.105 Ein Problem des EEG-Projektes war, dass hinreichend genaue Ableitungen zunächst nur operativ an der Hirnrinde von Versuchstieren möglich waren, nicht aber an Patienten, da an der Kopfhaut gemessene Signale viel zu ungenau blieben. Tönnies ließ sich selbst ein Loch in den Schädel bohren, um eine erste direkte Ableitung vorzunehmen, und versuchte sich dann an einer Hirnchirurgie-Patientin.106 Tönnies konnte die Verstärkertechnik des EEG so weit verbessern, dass Kornmüller gegen Ende der 1930er Jahre glaubte, an der Kopfhaut lokale Spannungsunterschiede nachweisen zu können.107 Für eine wirkliche Stützung der lokalisatorischen Idee reichten die Ergebnisse aber nicht annähernd aus. Kornmüller sollte erst während des Krieges durch die Beiträge neuer Mitarbeiter und den Einfluss militärmedizinischer Kooperationen zu einem neuen Thema finden, für welches sich das EEG produktiver einsetzen ließ – die Beziehungen zwischen Hirnstoffwechsel und Hirnaktivität. Kaum beachtet wird in der Historiographie zum KWIH die psychologische Abteilung unter Eberhard Zwirner, die bei ihrem Ausscheiden 1937 unter dem Titel „Phonometrie“ lief. Zwirner kam 1928 mit einer Doppelqualifikation als Philosoph und Arzt an das Institut. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits eine eigene Methode zur Analyse von Lautmerkmalen entwickelt und dafür ein spezielles Aufnahmegerät („Telegraphon“) gebaut. Für den jungen Psychiater ging es darum, die bloß intuitive Untersuchung des sprachlichen Ausdrucks von Patienten in eine statistisch-quantifizierende Methode zu verwandeln, die auf der exakten Erfassung individueller Lautbildungen basierte.108 Vogt reizte wohl nicht nur dieser experimentell-psychologische Zugang zur Anamnese, sondern auch die von Zwirner betonte Anschlussfähigkeit zur „Normal“psychologie. Zwirner begann in Buch mit der systematischen Aufnahme und linguistischen Analyse deutscher Dialekte. Vogt sah dies zwar als Privatarbeit an, unterstützte aber den Ausbau des Projekts.109 Die Dialektaufnahmen bildeten die Grundlage für das spätere „Deutsche Spracharchiv“ (heute „Archiv für gesprochenes Deutsch“ in Mannheim). Der Germanist Gerd Simon betrachtet Zwirner nicht nur als bedeutendsten und originellsten deutschen Linguisten dieser Zeit, sondern auch als Vorreiter eines deutschen Strukturalismus. Dass er trotz seines Einflusses in der Fachhistoriographie unsichtbar geblieben ist, sieht Simon als gezielte Ausblendung des rassenbio-
105 Borck 2005, S. 175. 106 J. F. Tönnies, Die unipolare Ableitung elektrischer Spannungen vom menschlichen Gehirn, Die Naturwissenschaften 29 (1934), S. 411–414; vgl. hierzu Borck 2005, S. 172. 107 A. Kornmüller, R. Janzen, Die Methodik der lokalisierten Ableitungen hirnbioelektrischer Erscheinungen von der Kopfschwarte des Menschen, ihre Begründung und Begrenzung, Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 166 (1939), S. 287–308. 108 E. Zwirner, Zur Frage der mechanischen Aufzeichnung von Explorationen, Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 28 (1928), S. 571–575; vgl. auch E. Zwirner, K. Zwirner, Die Variation sprachlicher Merkmale, Die Naturwissenschaften 25 (1937), S. 453–455. 109 O. Vogt an KWG, 23.11.1933, MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1581, Bl. 114.
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logischen Kontextes, in dem die dialektologischen Arbeiten entstanden.110 Für Zwirner waren die für das Mundartprojekt aufgenommenen lautlichen Strukturen, ebenso wie die klinisch-psychologisch analysierten, Ausdruck physiologisch und erblich verankerter Funktionen. Als bei der Umstrukturierung des Instituts 1937 die Ausgliederung seiner Abteilung anstand, hoffte er auf eine neue Anbindung an hirnlokalisatorisch und erbbiologisch interessierte Kollegen – bevorzugte an der Universität Frankfurt, wo er mit dem Rassenhygieniker und Zwillingsforscher Otmar von Verschuer kooperieren wollte.111 Gegenüber der ursprünglichen klinisch-psychologischen Ausrichtung trat jedoch immer mehr die dialektologische Sammlungstätigkeit in den Vordergrund. Zwirner suchte daher nach Unterstützung bei an Blut-und-Boden-Ideen interessierten Institutionen wie dem SSAhnenerbe und dem Reichsbauernführer. Nachdem er sich die Rückendeckung des braunschweigischen Ministerpräsidenten Klagges gesichert hatte, konnte er 1940 die Gründung eines KWI für Phonometrie in Braunschweig durchsetzen, die jedoch kriegsbedingt aufgeschoben und schließlich ganz verhindert wurde.112 Das KWIH verfügte bei seiner Ansiedlung in den neuen Gebäuden in BerlinBuch über eine außergewöhnlich breite Palette an Projekten mit großem innovativem Potential. Es ist schwer zu entscheiden, ob diese Situation allein dem wissenschaftlichen Weitblick Oskar Vogts zu verdanken war oder dem glücklichen Zusammentreffen außergewöhnlich innovativer junger Forscher, welche die Möglichkeiten des neuen Instituts zu nutzen verstanden. Vogt sah die Abteilungsprojekte als Beiträge zu dem von ihm entworfenen Institutsprogramm an; tatsächlich aber wurden die neuen Abteilungen überwiegend erst dann besonders produktiv, nachdem sie sich vom vorgegebenen Schema der Lokalisationslehre gelöst hatten. Inwieweit unter diesen Voraussetzungen das Ideal der interdisziplinären Gemeinschaft, welche das Selbstverständnis des KWIH prägte, Chancen auf Realisierung hatte, ist ebenfalls eine nur spekulativ zu beantwortende Frage. Die Konstellation der Gründungszeit war nur von sehr kurzer Dauer. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 brachte für das Institut eine Schockwirkung mit sich, welche zwar zu keinem völligen Bruch in der wissenschaftlichen Tätigkeit führte, aber schließlich zu einer weitgehenden Umgestaltung führte.
110 Simon 2000, S. 7–8. 111 (E. Zwirner), Entwurf zur Errichtung einer eigenen Abteilung oder eines KWI für deutsche Sprachforschung, vermtl. Aug. 1937, MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1583, Bl. 99–103. 112 Zu Zwirners Vita und den Institutsgründungsplänen detailliert Simon 1992, S. 243–256.
I.2. VOM MULTIDISZIPLINÄREN EXPERIMENT ZUM GENETISCHEN RUMPFINSTITUT – DAS KWIH NACH 1933 Unpolitische, Schädlinge und Diplomaten 1933 zählte das KWIH zu den politisch exponiertesten Instituten der KWG. Das lag weniger an der pazifistischen und kosmopolitischen Haltung, welche die Vogts während des Ersten Weltkrieges gezeigt hatten, oder an Oskar Vogts angeblich guten politischen Beziehungen zur Sozialdemokratie.1 Es war vor allem sein weithin bekanntes Engagement in der Sowjetunion, das ihn zur Zielscheibe nationalsozialistischer Propaganda machte. Der später erhobene Vorwurf, das Institut beschäftige zahlreiche kommunistische Angestellte, war angesichts der großen, viele Hilfskräfte umfassenden Belegschaft kaum erstaunlich.2 Einige KWI, insbesondere solche mit jüdischen Mitarbeitern oder Direktoren, wurden in den Wochen nach der „Machtergreifung“ von wilden Aktionen einzelner Nazis heimgesucht. Keiner dieser Angriffe war jedoch mit dem Überfall einer Bucher SA-Bande vergleichbar, der sich am 15.3.1933 ereignete.3 Die Direktorenvilla der Vogts wurde unter dem bizarren Vorwand durchsucht, der ehemalige ungarische Revolutionsführer Bela Kun werde auf dem Institutsgelände versteckt. Mehrere Mitarbeiter, darunter Tönnies und der als Gast in Buch weilende amerikanische Genetiker Herman J. Muller, wurden kurzzeitig in einem SA-Quartier festgehalten und zum Teil durch Schläge verletzt. Bei einer zweiten „Durchsuchungsaktion“ der SA am 21. Juni wurden mehrere kommunistische Angestellte verschleppt und mißhandelt. Der zweite Angriff veranlasste KWG-Präsident Planck, beim Reichsinnenministerium Polizeischutz für das Institut zu verlangen. Die Gründe für die Angriffe lassen sich nicht mit völliger Sicherheit rekonstruieren. Belegt ist, dass der den Nationalsozialisten zuneigende Abteilungsleiter Max H. Fischer vor den Angriffen Kontakt zur Bucher SA-Gruppe hatte. Nach den innerhalb der SA festgehaltenen Darstellungen waren es Meldungen Fischers über angeblich im KWIH versteckte Kommunisten, die die den von der obersten SA-Führung abgesegneten ersten Überfall auslösten.4 Allerdings hatte die Parteiarmee nach dem peinlichen Fehlschlag ihrer Durchsuchungsaktion gute Gründe, einen externen Sündenbock zu suchen. Fischer bestritt seine Komplizenschaft vehement, allerdings in einer Weise, die die Verdachtsmomente gegen ihn eher 1 2 3 4
Satzinger 1998, S. 85–86. Nach einer bei Schmuhl 2000, S. 8, zitierten Klinikmitarbeiterin waren die links orientierten Mitarbeiter gegenüber den Nazis deutlich in der Mehrheit; laut Richter 1996, S. 388, waren 1932 4 Institusmitarbeiter Mitglied der KPD, 7 der NSDAP. Richter 1996, S. 388–394; Satzinger 1998, S. 93–95; vgl. auch Macrakis 1993, S. 65–66. Richter 1996, S. 389.
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erhärtete.5 Dass Fischer die Angriffe persönlich „arrangierte“, um eine „persönliche ‚Machtergreifung‘“ einzuleiten, ist reine Spekulation.6 Dasselbe gilt für Behauptungen, die Angriffe der SA seien gezielt auf die Ablösung des „liberalen“ beziehungsweise „linken“ Vogt durch einen politisch genehmeren Wissenschaftler ausgerichtet gewesen.7 Denunziatorische Attacken von Wissenschaftlern, die sich möglicherweise von einem Fall Vogts eigene Vorteile versprachen, folgten erst, als der Direktor durch die Angriffe bereits angeschlagen war.8 Es ist vielmehr anzunehmen, dass auch der Hass nationalsozialistischer Kräfte innerhalb der KWIH-Belegschaft sowie in der unmittalbaren Nachbarschaft des Instituts wesentlich zu dem gewaltsamen Ausbruchs beitrug.9 Das rosarote Bild, nach dem Mitarbeiter verschiedenster politischer Überzeugungen unter der milde-autoritären Führung Vogts „in einem durchgehend harmonischen Verhältnis zueinander“ lebten, darf schon aufgrund der Schärfe der 1933 ausbrechenden internen Fehden bezweifelt werden.10 In einem Umfeld, in dem sich Angestellte von geringem sozialen Status und eine international vernetzte Wissenschaftlerelite gegenüberstanden, ist es nicht unwahrscheinlich, dass einzelne Anhänger der Bewegung die Zeit gekommen sahen, endlich gegen „die da oben“ loszuschlagen.11 Bedrohlich für Vogts Position wurde die Gewaltbereitschaft „von unten“ erst durch ihre Verbindung mit dem Rachebedürfnis seiner Feinde unter den Wissenschaftlern, die den Vorwurf der projüdischen und prokommunistischen Tätigkeit im Nachhinein bekräftigten.12 Ihre volle wissenschaftspolitische Brisanz entfalteten die Angriffe, nachdem das Preußische Kultusministerium den aus dem Institut erhobenen Vorwurf der antinationalen Haltung übernahm und unverhohlen drohend die Entlassung jüdischer und „marxistischer“ Mitarbeiter forderte.13
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R. A. Lambert Diary, 16.9.1933, RAC RF 12.1. B 34. So Borck 2000, S. 167–168, basierend auf der etwas zurückhaltenderen Darstellung bei Richter 1996, S. 389. Eine völlig abstruse Variante hiervon liefert Klatzo (2002, S. 43), der Hitler persönlich hinter den Attacken gegen den „verhassten Feind“ Vogt stehen sieht. Neben einer Attacke von Berthold Ostertag, als Pathologe der Bucher psychiatrischen Anstalt ein Fachkollege, nennt Schmuhl (2000, S. 9–10) außerdem Denunziationen aus der medizinischen Fakultät der Berliner Universität, die aber wohl nur von geringer poltischer Bedeutung waren. In Tilman Spenglers Roman „Lenins Hirn“ (Spengler 1991) vermengen sich nach Art des Kinderspiels „Stille Post“ Informationen über die Ankunft des ausländischen Herrn Muller, zuzüglich angestauter Aversionen gegen den Direktor, in den Köpfen nazistischer Mitarbeiter zu der wilden Vision versteckter Kommunistenführer. Gerade das absurde Moment verleiht dieser freien Darstellung eine gewisse Plausibilität. Richter 1996, S. 388. Der Abgesandte der RF drückte nach seinem ersten Besuch etwas verklausuliert aus, dass es in der Bucher „neighborhood“ größere politische Spannungen gab; R. A. Lambert Diary, 29.4.1933, RAC, RG 12.1., Box 34. Zu entsprechenden Aussagen der Gestapo, die nach Protest der KWG gegenüber dem Innenministerium tätig wurde, vgl. Richter 1996, S. 390. Vahlen (RMWEV) an von Bohlen, 18.8.1933, MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1637, Bl. 32–33.
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Abb. 1: Mitarbeiter im Hörsaal des neuerrichteten KWIH. Vorne (v.l.) Oskar Vogt, Gast Lazar S. Minor, Cécile Vogt, Elena und Nikolai Timoféeff-Ressovsky; in der zweiten Reihe Jan F. Tönnies (1.v.l.), Eberhard Zwirner (2.v.l.) sowie Marguerite Vogt (2.v.r., halb verdeckt).
Obwohl der politische Druck sich letztlich gegen den Direktor richtete, war Vogt mit den Ereignissen von 1933 weder aus seiner Position verdrängt noch seine Ablösung im Jahre 1937 unausweichlich vorgezeichnet.14 Die Vorwürfe einzelner Trittbrettfahrer, er sei Philosemit und Kommunistenfreund, waren keineswegs „natürlich“ ausreichend, um Vogt zu entmachten.15 Dafür besaß er eine zu starke Rückendeckung und einen zu starken Willen, seine Position zu verteidigen. Die Strategie Vogts und des KWIH-Kuratoriums bestand zunächst darin, im Vertrauen auf die bewährten Kontakte ins Innenministerium die Wiederherstellung rechtmäßiger Verhältnisse einzufordern und ansonsten die Loyalität des „durchaus unpolitischen“ Direktors gegenüber der neuen Regierung zu beteuern.16 Der erste wirksame Gegendruck ging nicht von Vogts mächtigen deutschen Gönnern aus, sondern von der Rockefeller Foundation. Da ein plötzlicher Rückzug der RF aus Deutschland zahlreiche Projekte der KWG betroffen hätte, dürfte der Besuch ihres Präsidenten bei deutschen Wissenschaftspolitikern im Sommer 1933 sicherlich einigen Eindruck hinterlassen haben – jedenfalls war man in der RF sicher, die Position des KWIH mit klaren Signalen gestärkt zu haben.17 Der Beitrag ihrer deutschen Partner beschränkte sich darauf, zwei jüdische RF-Stipendiatinnen am 14 In dieser Weise lässt sich etwa Satzingers (1998, S. 93) Formulierung von einer 1933 beginnenden „Zerschlagung“ des KWIH interpretieren. 15 Hagner 2003, S. 126–7. 16 Von Bohlen/Cranach, Niederschrift über die Sitzung des KWIH-Kuratoriums am 6.7.1933, MPGA, Abt. I, Rep.1a, Nr. 1583, Bl. 46–48. 17 W. Weaver Diary, 24./25.5.1933, RAC RG 12.1., Box 67.
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KWIH nicht umgehend hinauszuwerfen, sondern das baldige Ende der Vertragslaufzeit abzuwarten.18 Dass sich Mitte 1933 die Lage etwas entspannte, lag aber nicht zuletzt an Vogts eigener, sehr offensiver Verteidigungspolitik, die geschickt die Spaltung der nazistischen Kräfte im Institut ausnutzte. Der vermeintliche Hauptschuldige Max H. Fischer war gleich nach den Angriffen völlig isoliert. Der gegenüber Vogt loyale Abteilungsleiter Zwirner, nach eigener Aussage ehemaliger Freikorpskämpfer, attackierte seinen Kollegen als „Schädling der nationalen Bewegung“, der sich vornehmlich mit jüdischen Mitarbeitern abgegeben habe.19 Ein NSParteigänger aus den unteren Diensträngen bezeugte, der Physiologe habe die Denunziationen, die zu dem Überfall führten, aus reinem Machtkalkül in die Welt gesetzt.20 Schließlich wälzte sogar der für den Gewaltausbruch verantwortliche Bucher SA-Führer die Schuld auf Fischer ab und entlastete Vogt.21 Der Direktor selbst unternahm alles, um den „Schädling des Deutschtums und der Wissenschaft“ aus dem Institut zu entfernen. Dabei drehte er, ähnlich wie Zwirner, die gegen ihn erhobenen Vorwürfe um und behauptete, Fischer habe mit seinem Neuropathologen („dem jüdischen Professor“) Bielschowsky sowie dessen Mitarbeiter („dem Juden“) Löwenbach paktiert.22 Vogts Ausfälle gegen Bielschowsky gingen so weit, dass er seine Entlassung betrieb, bevor das Kultusministerium die Kündigung aufgrund des Berufsbeamtengesetzes vollzog. Der Fall zeigt nicht nur, dass Vogt bei seiner Selbstverteidigung vor antisemitischen Tönen nicht zurückschreckte.23 Er verdeutlicht auch, dass hinter den Grabenkämpfen zum Teil alte Konflikte um wissenschaftliche Eigenständigkeit standen. Bielschowsky hatte als seit Jahrzehnten international anerkannter Neuropathologe schon lange Probleme mit Vogt, die schon vor 1933 öffentlich sichtbar waren.24 Dass er sich, wie er 1931 einem Kollegen schrieb, durch die „Diktatur des sich immer verrückter gebährdenden Herrn V.“ eingeengt fühlte, beruhte wohl nicht auf übertriebener Empfindsamkeit.25 Darauf weisen die zahllosen Zerwürfnisse in Vogts Karriere ebenso hin wie das frühere Urteil seines Mitarbeiters Brodmann, dass die Arbeit unter Vogt „als unumschränktem Alleinherrscher, Summus episcopus und papa infallabilis“ nicht für jedermann erträglich sei.26 Die 18 Niederschrift einer Besprechung über die Angelegenheiten des KWIH am 22.9.1933, MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1637, Bl. 35–38. 19 Zwirner an Telschow, 22.4.1933, MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1637, Bl. 5–8. 20 Aussage W. Semm, 8.7.1935, BAB BDC, OPG Oskar Vogt. 21 Eidesstattliche Erklärung Otto Saalfeld, 16.7.1935, BAB BDC, OPG Oskar Vogt. 22 Vogt an Planck, 8.5.1934, BStU HA IX/11, RHE 25/87, SU Nr.,18, Bl. 95–98. 23 Reindl 2001, S. 219–220. 24 Der Tätigkeitsbericht der KWG für 1932 (Die Naturwissenschaften 20 (1932), S. 430) vermerkte ausdrücklich, dass Bielschowskys Abteilung unabhängig von der „Arbeitsgemeinschaft“ aller anderen KWIH-Abteilungen operierte. Laut Richter (1996, S. 367) wurde B.s Anstellung im NBL 1906 vom preußischen Kultusministerium gegen Vogts Willen durchgesetzt, womit es seiner Politik folgte, qualifizierte jüdische Forscher in untergeordnete Positionen zu bringen, um sie von den Professuren fernzuhalten. 25 M. Bielschowsky an J. Hallervorden, 19.9.1931, zit.n. Peiffer 2004, S. 458. 26 K. Brodmann an A. Knauer, 14.8.1918, zit. n. Peiffer 2004, S. 397.
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oft gerühmte Einheitlichkeit des KWIH war mit einem Führungsstil verbunden, der für Wissenschaftler mit eigenständigen Ideen schnell zu Schwierigkeiten führen konnte. Die daraus entstehenden Spannungen waren sicherlich nicht die Ursache der Angriffe von 1933, trugen aber sicherlich zu den ihnen folgenden erbitterten Konflikten bei. Vogt konnte sich im Kampf gegen Fischer durchsetzen. Der Physiologe verblieb aufgrund der Protektion des Wissenschaftsministeriums in der KWG, musste aber in Dahlem weiterarbeiten, wo er wissenschaftlich isoliert und ohne klare Perspektive war.27 Seinen Feldzug gegen die inneren Gegner ergänzte Vogt durch die Annäherung an den äußeren Feind. Der Sinneswandel des Bucher SA-Führers hatte dazu geführt, dass das KWIH – nunmehr freiwillig – seine Tore den Parteisoldaten öffnete. Daraus ergab sich ab Mitte 1934 eine „besonders erfreuliche und anregende Beziehung“ zur SA-Führerschule in Bernau, die Hunderte ihrer Absolventen zu Laborbesichtigungen und Vorträgen nach Buch schickte.28 Die Durchführung eugenischer „Aufklärungsarbeit“ bereitete dem Institut keine Probleme. Fragen der „Entartung“ und „Aufartung“, die erblichen Unterschiede des menschlichen Gehirns oder einfach eine Einführung in die Grundlagen der Genetik entsprachen ganz der Ausrichtung der wissenschaftlichen Arbeit. Vogts Überzeugungsarbeit konnte aber nicht verhindern, dass er aus dem neugebildeten Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung weiter unter Beschuss genommen wurde. Der ehrgeizige Referent Rudolf Mentzel versuchte Vogts Stellung mit neuen Vorwürfen zu untergraben, unter anderem jenem, dass sich zum Zeitpunkt der Angriffe die SPD-Reichstagsabgeordnete Mathilde Wurm zu psychologischen Untersuchungen in Buch befand.29 Am 22. September 1934 erhielt Vogt die Kündigung nach dem Berufsbeamtengesetz.30 Von Bohlen intervenierte, zunächst ohne Erfolg, bei Minister Rust. Der Industrielle hatte dabei mehr zu verlieren als einen Protegé, da der Vorwurf einer kommunistischen Tätigkeit Vogts auch auf seinemn Ruf zurückfiel. Anfang 1935 kamen er, die KWG und das RMWEV zu dem Kompromiss, dass Vogt politisch entlastet wurde, aber das Institut nicht mehr alleinverantwortlich leiten durfte.31 Möglicherweise hatte von Bohlen zuvor seiner Position Nachdruck verliehen, indem er mit dem Rückzug als KWG-Funktionär und Wissenschaftsmäzen gedroht hatte.32 27 Auszug aus Sitzungsprotokoll des Verwaltungsausschusses der KWG, 9.4.1935, MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1637, Bl. 9; Fischer an RMWEV, 24.5.1935, MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1637, Bl. 17. 28 Niederschrift Kuratoriumssitzung KWIH am 17.7.1934, MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1590, Bl. 96–100. Laut Hagner 2003, S. 130 Fn. 80, hatte das KWIH zwischen November 1934 und Dezember 1935 zwölfmal Besuch aus Bernau und fünfmal vom Rassenpolitischen Amt; insgesamt wurden 35 Führungen mit etwa 2.000 Teilnehmern durchgeführt. 29 Hagner 2003, S. 127–128. Mentzels Bedeutung, der 1934 noch keineswegs der „starke Mann“ der Forschungspolitik war, wird hier aber überschätzt. 30 Zu diesen Vorgängen Richter 1996, S. 390–392; Satzinger 1998, S. 93–95. 31 Detailliert hierzu Schmuhl 2000, S. 10–11. 32 Entsprechende indirekte Hinweise machten der Biochemiker Otto Warburg und von Vogt selbst; vgl. H. M. Miller Diary, 4.12.1934 und 12.4.1935, RAC RG 12.1., Box 44.
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Ende 1935 erhielt das KWIH-Kuratorium vom Ministerium die verbriefte Bestätigung, dass die wesentlichen Vorwürfe gegen Vogt fallengelassen wurden, weil sich die Belastungszeugen als nicht glaubwürdig erwiesen hätten. Zugleich wurde jedoch Vogts Abschied zum 1.4.1937 festgelegt.33 Ein weiterer Verbleib wäre möglich gewesen, hätte Vogt den Kompromiss eines kollegialen Leitungssystems akzeptiert. Angesichts der erbitterten Kämpfe, die er schon vor zwei Jahrzehnten um die Leitungsfrage geführt hatte, erstaunt es nicht, dass sich Vogt auf dieses Angebot nicht einließ – ironischerweise unter Verweis auf das Führerprinzip.34 Vermutlich war der Entschluss der Vogts, Buch 1937 zu verlassen, nicht allein eine Frage der Ehre. Offiziell war ihre Stellung zwar geregelt, im Alltag aber wirkten die internen Kämpfe weiter nach. Vogt-feindliche nationalsozialistische Aktivisten griffen auch noch 1935 den Direktor und die ihm ergebenen Parteimitglieder an.35 Die Aussicht auf eine Fortsetzung dieser Verhältnisse konnte für das betagte Forscherehepaar nicht akzeptabel sein. Dank einer weiteren Spende von Bohlens durften sie ab Mitte 1936 darauf rechnen, die Kernvorhaben ihres Lebenswerkes in einem neuen Institut weiterführen zu können, das im April 1937 in Neustadt/Schwarzwald eröffnet wurde. Sie konnten dafür 12 handverlesene Mitarbeiter, den Großteil ihrer Hirnschnittsammlung (300 Exemplare in ca. 1 Mio. Schnitten) sowie die gesamte Ausrüstung der anatomischen Abteilung mitnehmen.36 Dennoch sah Oskar Vogt die Aufgabe „seines“ KWIH weder als ehrenhaften Abschied noch als zwangsläufige Folge der früheren politischen Attacken an. Die Schuld sah er – wie schon so oft – bei der KWG, aber auch bei der RF, der er vorwarf, nicht rechtzeitig stärkere Druckmittel eingesetzt zu haben. Seiner Meinung nach hätte sich die KWG anders für ihn eingesetzt, wenn die Amerikaner mit dem Stop ihres wichtigsten Großprojekts in Deutschland, der Finanzierung des neuen KWI für Physik, gedroht hätten.37 Der Kurs des RMWEV gegenüber Vogt scheint vor allem von Ziel geleitet gewesen zu sein, nach dem einmal erhobenen Verdikt der politischen Unzuverlässigkeit Konsequenz zu zeigen. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass hinter den Vorgängen eine klare wissenschaftspolitische Agenda stand. Dass von Seiten des Ministeriums in den Nachfolgediskussionen eine stärkere „rassenbiologische“ Ausrichtung gefordert wurde, heißt nicht, dass es ein Konzept für einen eventuellen Umbau im Sinne einer der Partei genehmeren Variante der Rassenhygiene gab.38 Ebenso unbegründet ist die Annahme, Vogt sei mit seinem speziellen Ver33 Entwurf zur Niederschrift der Kuratoriumsitzung am 12.5.1936, MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1582, Bl. 18–21. 34 Schmuhl 2000, S. 11–12. 35 H. Kreht, Politischer Bericht über das KWIH, 25.8.1935, BStU MfS HA IX/11, RHE 25/87 SU, Bd. 12, Bl. 54–55; vgl. zur Entlassung Krehts Vogt an Glum, 17.12.1935, MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1581, Bl. 194; NSDAP Kreisgericht Berlin VIII an Oberstes Parteigericht, 27.6.1936, BAB BDC, OPG Oskar Vogt. 36 Richter 1996, S. 395. 37 A. Gregg Diary, 18.1.1937, RAC RG 12.1., Box 22. 38 Satzinger 2003, S. 176, deutet an, dass der Münchener Rassenhygieniker Ernst Rüdin gegen die Vogts intrigierte und ihre Entfernung aus der KWG anstrebte. Das erscheint aufgrund der
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ständnis der Eugenik für die Nazis nutzlos und jederzeit durch einen der zahlreichen Karrieristen auf diesem Gebiet zu ersetzen gewesen.39 Dagegen spricht nicht nur, dass Vogts Ansätze zur „Kriminalbiologie“, zur Neurologie des „Schwachsinns“ sowie die Arbeiten seiner genetischen Abteilung sehr konkrete Anknüpfungspunkte zur rassenhygienischen Praxis boten. Wesentlicher ist, dass in den Diskussionen um seine Nachfolge keinerlei Anzeichen für eine Zerschlagung oder Umpolung des KWIH zu finden sind. Sie bestätigten vielmehr Vogts Anspruch, nur er allein könne die einzigartige multidisziplinäre Architektur des Instituts zusammenhalten. Die Suche nach einem geeigneten Direktor gestaltete sich äußerst schwierig, da kein Kandidat das passende Profil für die Aufgabe zu haben schien. Es war nicht das Ministerium, sondern Vogt selbst, der das letzte Wort bei der Regelung seines Erbes hatte.40 Der Neuropathologe Hugo Spatz von der Münchener DFA war ihm schon 1929 als einzig möglicher Nachfolger erschienen, auch wenn er ihm nicht zutraute, die thematische Bandbreite des KWIH weiterzuführen.41 Mit der Berufung von Spatz vollzog sich, jedenfalls gemessen an der neuen Abteilungsstruktur, das genaue Gegenteil einer rassenbiologischen Gleichschaltung. Die von den Vogts zuletzt betonten Fragen der Hoch- und Minderbegabung traten gegenüber speziellen pathologischen Problemen, speziell den neu ins Programm rückenden Hirntumoren, zurück. Die genetische Abteilung, die sich bereits weitgehend von den vogtschen Fragestellungen entfernt hatte, wurde selbstständig; ausgegliedert wurde auch Zwirners an Blut-und-Boden-Ideologeme anschlussfähige sprachpsychologische Abteilung. Für die nationalsozialistischen Wissenschaftspolitiker war die Kampagne gegen Vogt kein Triumph. Die zwischen den eigenen Parteigenossen entstandenen Zerwürfnisse waren so gravierend, dass man sich bis in die Parteispitze mit der Befriedigung der Bucher Verhältnisse beschäftigte. Anfang 1937 mahnte der Stab des „Führerstellvertreters“ an, endlich alle gegenseitigen Anklagen zu beenden und zu akzeptieren, dass Vogt als entlastet anzusehen war.42 Der neue Direktor Spatz übernahm sein Amt mit der Erblast einer vergifteten Atmosphäre. In seiner zackigen Antrittsrede forderte er seine Angestellten unmissverständlich auf, über die jüngste Vergangenheit den Mantel des Schweigens zu breiten.43 Kaum ein Teil des Instituts hatte die inneren Fehden unbeschadet überstanden. Gestärkt ging
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Differenzen zwischen beiden Lagern und Rüdins politischer Hemmungslosigkeit durchaus denkbar, kann aber ebenso wenig nachgewiesen werden wie ein konkreter Versuch, auf das KWIH Einfluss zu gewinnen. So Hagner 2003, S. 137. Aktenvermerk Glum, 18.2.1936, MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1581, Bl. 198–200. Der von Mentzel favorisierte Max de Crinis, später ein Protagonist der Euthanasieaktion, wurde von Vogt und anderen einflußreichen Fachleuten abgelehnt – nicht der einzige Fall, in dem der ehrgeizige SS-Mann mit seinen Berufungsvorschlägen scheiterte. Vogt an KWG, 17.6.1929, MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1594, Bl. 45. Zur Auswahl von Spatz Schmuhl 2000, S. 14. Stab Stellvertreter des Führers an Oberstes Parteigericht, 13.2.1937, BAB BDC, OPG Oskar Vogt. Ansprache H. Spatz bei Übernahme der Direktion am 1.4.1937, MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1582, Bl. 76–89.
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daraus nur jene Abteilung hervor, die aus alten Privatinteressen Vogts entstanden war – die Genetik, deren Entlassung aus dem Institutsverband sich als Vorteil erweisen sollte. Vererbungsanalysen an Insekten und Gehirnen Oskar Vogt sammelte seit seiner Jugend Hummeln. Die Frage der Variations- und Artbildung bei diesen Insekten war eine wissenschaftliche Leidenschaft, die er neben seinen neurobiologischen Forschungen ununterbrochen verfolgte. Die Auseinandersetzung mit verschiedenen Feldern der Wissenschaft war für Vogt ein Gebot, das sich direkt aus der Hirnphysiologie ergab. „Nur durch Wechsel der Beschäftigung“, betonte er 1921, könne „der Geistesarbeiter ... eine höchste Gesamtleistung erreichen. Er nutzt hierbei nicht bloß die gegenseitige Wechselbefruchtung aus, welche auch zwischen entferntesten geistigen Betätigungen besteht, sondern er gewährt vor allem den an der einzelnen Täitigkeit beteiligten Hirnzentren die nötige Erholung.“44 Vogts Ambitionen gingen freilich über jene der zahllosen Amateure hinaus, die in der Sammlung bestimmter Spezies Muße oder bescheidene Anerkennung suchten. Bereits in seinem ersten groben Vorschlag für das neu zu gründende Forschungsinstitut hatte er 1910 erwähnt, dass er sich eine Verzahnung von Neurobiologie und experimenteller Vererbungslehre wünschte.45 Trotz seiner Passion für das Variieren von Insekten ist es bemerkenswert, dass er dabei nicht ausdrücklich die menschliche Vererbungslehre – zumindest als Bindeglied zwischen beiden Bereichen – mit einbezog. Die Beschäftigung mit Fragen der Erblichkeit war für ambitionierte Psychiater und Neurologen eine Selbstverständlichkeit. Emil Kraepelin hatte 1917 eine erbstatistische Abteilung unter Ernst Rüdin in das Münchener Konkurrenzinstitut integriert. Es hätte nahegelegen, dass auch Oskar Vogt Erhebungen an den Familien von Patienten anstrebte.46 Dass er dies zunächst nicht mit Nachdruck tat, sondern die experimentelle Arbeit an Insekten betonte, weist darauf hin, dass er die Ergebnisse solcher Modellexperimente für direkt auf neurobiologische Fragen anwendbar hielt. 1909 und 1911 veröffentlichte Oskar Vogt zwei „Studien über das Artproblem“ anhand seiner Hummelsammlung, die zu dieser Zeit (mit ca. 75.000 Exemplaren) vermutlich die weltweit größte dieser Spezies war.47 Sein Blick auf die Variationen war ganz von den Kernfragen der Systematik geprägt, die sich seit dem Aufkommen der Darwinschen Evolutionslehre stellten: Wie war die Herausbildung neuer Arten möglich? Stellten Arten echte, streng abgrenzbare natürliche 44 O. Vogt, Ergebnisse der Analyse gewisser Merkmale einiger Insektengattungen, Die Naturwissenschaften 9 (1921), S. 350–353, S. 350. 45 O. Vogt an von Bohlen, 10.6.1910, HA Krupp, FAH 4, E 264, Bl. 385–7. 46 Vgl. zu diesem Komplex Satzinger 1998, S. 200–201. 47 O. Vogt, Studien über das Artproblem I: Über das Variieren der Hummeln, 1. Teil, Sitzungsberichte der Gesellschaft Naturforschender Freunde zu Berlin 1909, S. 28–84; Teil 2, ebd., 1911, S. 31–74; ausführlich zu den taxonomisch-evolutionsbiologischen Ideen Vogts Satzinger 1998, S. 216–239; ferner Laubichler/Sarkar 2002.
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Entitäten dar oder existierten innerhalb und zwischen ihnen graduelle Abstufungen? Hinsichtlich der Entstehung neuer Variationen hing Vogt der unter Systematikern vorherrschenden Idee einer direkten Beeinflussung durch die Umwelt an, die bis heute fälschlicherweise auf den französischen Naturforscher Jean-Baptiste de Lamarck zurückgeführt wird.48 Nach dem ersten Weltkrieg begann er, August Weismanns Theorie einer nur durch zufällige Mutationen durchbrochenen Konstanz der Erbmasse aufzunehmen. Gestützt auf seine Beobachtungen zur Hummelvariation ging er jedoch weiterhin davon aus, dass „einen Selektionswert entbehrende erbliche Eigenschaften durch Milleueinwirkungen entstehen können“.49 Auf welche Weise solche umweltbedingten Mutationen entstanden und wie sie sich vererbten, war eine Frage, die er nicht nur als zentral für das Artbildungsproblem, sondern auch als wesentlich für das Verständnis der Nervenkrankheiten ansah. Wie Helga Satzinger hervorhebt, wurden die den entomologischen Studien entnommene Ideen über biologische Variabilität grundlegend für die vogtschen Interpretationen hirnarchitektonischer Befunde.50 Biologische Funktionseinheiten, also auch Rindenfelder, hatten demnach ein spezifisch begrenztes, „gerichtetes“ Variationspotential und waren unterschiedlich empfänglich gegenüber exogenen Schädigungen, also unterschiedlich mutabel. Außerdem waren sie nach den Vogts spezifisch affin gegenüber bestimmten Subtanzen, was eine gezielte „chemotherapeutische“ Beeinflussung denkbar machte. In den 1920er Jahren gewann die Artbildungs- bzw. Vererbungsproblematik an Bedeutung für die Institutsprogrammatik. Die Idee eines Geländes für „Freizuchtversuche“ mit Insekten war schon während des Krieges aufgekommen; 1923 dachte Vogt an die Einstellung eines Entomologen, der sowohl systematische wie experimentelle Arbeiten durchführen sollte. Tatsächlich waren kurzzeitig zwei Assistenten mit klassifikatorischen Arbeiten beschäftigt.51 Einen Schub erfuhr dieses Teilprojekt erst mit dem Angebot für das „Rasseninstitut“ in Georgien. Vogt sah dieses Projekt vor allem als Chance, endlich die lange geplanten experimentellen Forschungen über regionale Hummelvariationen umzusetzen.52 Dabei geriet auch der Bau eines „Hummelhauses“ auf dem Dahlemer KWG-Gelände auf die Tagesordnung. KWG-Präsident Harnack bremste das Vorhaben allerdings, um die Realisierung des Institutsneubaus nicht zu gefährden, dessen Standort zu diesem Zeitpunkt noch nicht festgelegt war.53 Viel wichtiger für Vogts Pläne wurden die Beziehungen zur sowjetischen Genetikerschule um Nikolaj K. Kol‘cov, die er während der Verhandlungen knüpfte. Kolcov und sein Mitarbeiter Sergej S. Cetverikov empfahlen Vogt, seine immer noch virtuelle Vererbungsabteilung mit dem jungen Forscherehepaar Nikolai
48 Zur Fehlkonzeption des Lamarckismus-Begriffs vgl. Lefèvre 2009, S. 42–45. 49 O. Vogt, Ergebnisse der Analyse gewisser Merkmale einiger Insektengattungen, Die Naturwissenschaften 9 (1921), S. 350–353, S. 353. 50 Satzinger 1998, S. 225. 51 Satzinger 1998, S. 242–243. 52 Protokoll zur Sitzung des KWIH am 25.2.1926, zit. n. Richter 2000, S. 178–179. 53 Glum an von Bohlen, 4.4.1927, MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1577, Bl. 120–123.
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(1900–1981) und Elena Timoféeff-Ressovsky (1898–1973) zu besetzen.54 Mit ihrer Anstellung erhielt Vogt nicht die lange gewünschten Entomologen, die in seinem Sinne Variationsstudien betrieben, sondern erweiterte sein Institut um eine völlig neue Denk- und Arbeitsweise. Die Timoféeffs brachten aus Kol‘covs Moskauer Institut für experimentelle Biologie den neuesten Stand des genetischen Wissens über die Fliegengattung Drosophila mit, dem zu dieser Zeit konkurrenzlosen Werkzeug für die Analyse von Mutation und Variation. Die Idee einer direkt milieubedingten Entstehung neuer Erbanlagen war für sie keine Option. Von ihrem Lehrer Cetverikov übernahmen sie einen Ansatz, der die Bildung neuer Variationen und Arten aus dem zufälligen Auftreten kleinster Genmutationen erklärte. Auf Grundlage von Kreuzungsanalysen an verschiedenen DrosophilaPopulationen konnten Cetverikov und seine Mitarbeiter zeigen, dass ihr Genom einen weitaus höheren Bestand an rezessiven Anlagen aufwies, als es eine rein phänotypische Betrachtung vermuten ließ.55 Natürliche Populationen verfügten demnach über eine verborgene genetische Reserve, die im Falle einer Änderung der Selektionsbedingungen mobilisierbar war. Während Vogt an seiner Sammlung die Differenzierung von Arten in lokale „Rassen“ oder „Subspezies“ beobachtete, die er nicht anders als direkt umweltbedingt denken konnte,56 fand die russische Genetikerschule einen unsichtbaren Genbestand, der je nach Population spezifisch geprägt war. Die Timoféeffs – vor allem Elena – verfolgten die genetische Analyse von Drosophila-Wildstämmen während ihrer Berliner Jahre konstant weiter. Nach dem Umzug des KWIH nach Buch nutzten sie das dortige Parkgelände für eine Kombination von Genetik und Mikroökologie. Die Fliegen wurden regelmäßig in gleichmäßig verteilten Flaschen eingefangen, ausgezählt und durch Kreuzungsexperimente genetisch analysiert. Dabei zeigte sich, dass selbst auf relativ engem Raum Unterpopulationen vorhanden waren, deren Verhältnis von der Bindung an Mikrobiotope und von klimatischen Faktoren abhing.57 Diese Untersuchungen bestätigten die These, dass Wildpopulationen nicht nur phänotypisch, sondern auch genotypisch ein spezifisches Profil aufwiesen, das heißt jeweils bestimmte rezessive Gene anreicherten.58 Mit ihrer Freiland-Populationsgenetik unternahmen die Timoféeffs in kleinerem Maßstab das, was der Kol‘cov-Schüler Fjodor Dob-
54 Satzinger/Vogt 2001, S. 444–448. 55 S. S.. Tschetwerikoff, Über die genetische Beschaffenheit wilder Populationen, Zeitschrift für induktive Abstammungs- und Vererbungslehre Suppl. 2 (1928), S. 1499–1500; zu Cetverikov und seiner Schule vgl. Adams 1982; ferner Satzinger 1998, S. 248–249. 56 O. Vogt, Ergebnisse der Analyse gewisser Merkmale einiger Insektengattungen, Die Naturwissenschaften 9 (1921), S. 350–353, S. 353. 57 N. Timoféeff-Ressovsky, E. Timoféeff-Ressovsky, Populationsgenetische Versuche an Drosophila I–III, Zeitschrift für induktive Abstammungs- und Vererbungslehre 79 (1941), S. 28– 49. 58 N. Timoféeff-Ressovsky, Genetik und Evolution (Bericht eines Zoologen), Zeitschrift für induktive Abstammungs- und Vererbungslehre 76 (1939), S. 154–219, S. 165.
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zhansky zeitgleich mit seinen Studien über die Drosophila-Arten Nordamerikas verfolgte – eine experimentell fundierte Evolutionsbiologie.59 Nikolai Timoféeff-Ressovsky stützte allerdings in seinen Studien die vogtschen Vorstellungen über die Artbildung insofern, als auch er das Moment der „gerichteten“ Variation betonte. Genovariationen – wie er Mutationen in seinen ersten Berliner Jahren nannte – mochten zufällig entstehen, waren aber in ihrer Ausrichtung und Manifestation von der biologischen Beschaffenheit der Trägerpopulation abhängig.60 Was Vogt anhand der Analyse phänotypischer Variation behauptet hatte, konnte Timoféeff dank des reichen Materials an DrosophilaStämmen und -Mutationen experimentell untermauern. Bei der Einkreuzung bestimmter Gene in Zuchten verschiedener genetischer Konstitution zeigte sich, dass die Manifestation des Merkmals stark vom stammesspezifischen „genotypischen Milieu“ abhing.61 Gen und Merkmal waren im Denken der russischen Genetikerschule keine starren Elementareinheiten, die in einem unveränderlichen Verhältnis zueinander standen. Die Möglichkeiten, an Drosophila das Verhältnis zwischen Genotyp und Phänotyp zu studieren, eröffneten die von Vogt erhoffte Verbindung zwischen Neurobiologie und experimenteller Genetik. Welche potentielle Bedeutung das genetische Wissen des neuen Assistenten für die Weiterentwicklung der vogtschen Krankheitslehre hatte, zeigte sich in dem ersten (und erstaunlicherweise auch letzten) Artikel, den Oskar Vogt und Nikolai Timoféeff-Ressovsky 1926 gemeinsam publizierten. Der Genetiker führte dabei anhand von Beobachtungen an der Flügeladerung bei Drosophila funebris vor, wie sehr vorschnelle Gleichsetzungen von Gen und Merkmal in die Irre führten. Phänotypisch kaum unterscheidbare Merkmale konnten durch verschiedene Gene hervorgerufen werden, selbst wenn diese an ganz verschiedenen Genorten saßen. Umgekehrt manifestierten sich manche Mutationen in einer ganzen Reihe deutlich verschiedener phänotypischer Muster. Schließlich existierten phänotypische Variationen, die Mutationen vermuten ließen, tatsächlich aber rein exogen begründet waren. Dies hatte eine unmittelbare Beziehung zu dem nosologischen Problem, dass manchen scheinbar identischen Krankheitsbildern verschiedene somatische Grundlagen zugrundelagen. Laut Vogt zeigten die pathologischen Erfahrungen des Hauses zu den striären Krankheiten dies in aller Deutlichkeit. Symptomatisch sehr ähnliche Erscheinungen konnten sich als eindeutig genetisch, erblichkonstitutionell beeinflusst oder rein exogen bedingt herausstellen. Das genetische Problem der Merkmalsausbildung war demnach ebenso komplex wie das Problem des klinischen Neurologen, eine Krankheit korrekt zu definieren. Vogt und Timoféeff zogen daraus den Schluß, daß bei „erbbiologischen Untersuchungen [...] das
59 Zu Dobzhansky vgl. Adams, 1994; allgemeiner zur Drosophila-Freilandforschung Kohler 1994, S. 250–293. 60 Hierzu ausführlich Satzinger 2000. 61 N. W. Timoféeff-Ressovsky, Über den Einfluss des genotypischen Milieus und der Aussenbedingungen auf die Realisation des Genotyps. Genmutation vti bei Drosophila funebris, Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Math.-Nat. Klasse, Fachgruppe VI, N.F. 1 (1934), Nr. 6.
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Streben aufgegeben werden [muß], für große Krankheitsgruppen einen identischen Erbgang aufdecken zu wollen.“62 Die Begegnung mit der modernen Genetik russischer Prägung scheint bei den Vogts eine Umorientierung ausgelöst zu haben. Noch ein Jahr zuvor hatte Oskar Vogt behauptet, die Ergebnisse der experimentellen Genetik ließen keinen Zweifel daran, dass die Psychosen als „reelle Sippen“, mithin als klar eingrenzbare Krankheitseinheiten anzusehen seien. 63 Cécile Vogt hatte sekundiert, dass eine bestimmte Lokalisierung von Hirnschäden stets zu derselben Krankheitserscheinung führen musste.64 Die neue Betrachtungsweise schloss eine klare Beziehung zwischen Genen und bestimmten pathologischen Hirnläsionen keineswegs aus, richtete sich aber gegen eine allzu breite und vereinfachende Identifizierung von Krankheitserscheinungen als genetischen Merkmalen. Ziel der Kritik war offensichtlich der im Münchener Konkurrenzinstitut gepflegte erbstatistische Ansatz Ernst Rüdins und die mit ihm verbundene Klassifikationslehre Emil Kraepelins. Kraepelins nosologisches Schema der Nerven- und Geisteskrankheiten war seit dem späten 19. Jahrhundert eines der wirkmächtigsten Konzepte der internationalen Psychiatrie. Seine Kategorien waren aber teilweise sehr umstritten, insbesondere die Definition der Schizophrenie.65 Sein Mitarbeiter Rüdin hatte ab 1911 versucht, die Gültigkeit des Kraepelinschen Schizophreniebegriffs durch den Nachweis einer monogenen erblichen Grundlage zu untermauern. Sein hinsichtlich Umfang und Methodik bis dahin beispielloses Projekt widerlegte jedoch eindeutig die Ausgangshypothese eines einfach rezessiven Erbganges. Trotzdem hielt Rüdin an der Idee einer genetischen Einheitlichkeit fest, indem er das Zusammenwirken von zwei rezessiven Genen postulierte.66 Nikolai Timoféeff-Ressovskys Untersuchungen an Drosophila legten nahe, dass das Verhältnis von Gen und Merkmal selbst bei kleinsten morphologischen Veränderungen ungleich komplizierter war. Schon die klassische mendelistische Unterscheidung von dominanten und rezessiven Genen wurde im Experiment fragwürdig. Sich „dominant“ verhaltende Gene prägten sich nicht unbedingt voll aus, sondern konnten unter Umständen nur sehr schwach wirksam werden – nach einem von Oskar Vogt geprägten Begriff hatten sie eine unterschiedliche „Penetranz“. Auch die Form der Ausprägung („Expressivität“) konnte je nach Gen variieren und wurde von anderen Genen beeinflusst. Nach Timoféeffs Modell war jede Genmanifestierung vom gesamten genotypischen sowie vom äußeren Milieu
62 N. Timoféeff-Ressovsky, O. Vogt, Über idiosomatische Variationsgruppen und ihre Bedeutung für die Klassifikation der Krankheiten, Die Naturwissenschaften 14 (1926), S. 1188– 1190. 63 O. Vogt, Psychiatrische Krankheitseinheiten im Lichte der Genetik, Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 100 (1925), S. 26–34, S. 34. 64 C. Vogt, Die topistisch-pathoarchitektonische Forschung in der Psychiatrie, Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 100 (1925), S. 63–69. 65 Zu den damaligen Debatten um den Schizophreniebegriff vgl. Roelcke 2000; zu Geschichte und Wirkung des Kraepelinschen Systems vgl. Engstrom 2003. 66 Mazumdar 1996; Weber 2000; Gausemeier 2015.
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beeinflusst.67 Konkret konnte dies bedeuten, dass sich etwa ein variabel manifestierendes dominantes Gen unter dem Einfluss verschiedener Nebengene als eine ganze Gruppe von Merkmalen ausprägte. Für die Pathologie implizierte dies, dass innerhalb einer generativen Gruppe sich bestimmte Krankheitserscheinungen variierend manifestierten. Vogt und Timoféeff zogen hieraus in ihrem Vererbungsartikel von 1926 den Schluss, dass man stärkeres Augenmerk auf die pathologischen Besonderheiten von Familien richten müsse. Diese Zielsetzung schlug sich auch in der neuen Institutskonzeption nieder. Unter der Leitung des seit 1928 unter Vogt arbeitenden Internisten Bernhard Patzig wurde eine Abteilung für Erbbiologie und Konstitutionsforschung eingerichtet.68 Der letztgenannte Teilaspekt hatte dabei einen durchaus eigenständigen und klinisch orientierten Charakter. „Konstitutionsforschung“ bezeichnte in diesem Zusammenhang kein typologisches Vorgehen, Patienten nach Körperbautypen zu klassifizieren, denen man eine Affinität zu bestimmten Krankheitsformen zuschrieb. Vogt dachte vielmehr an eine allgemeinphysiologische Untersuchung auf Stoffwechselparamter und Organfunktionen, was verdeutlicht, dass in seinem klinischen Konzept prinzipiell alle organischen Merkmale der Patienten in Betracht gezogen werden sollten.69 Relevanter für seine theoretischen Interessen war indessen das Ziel, ausgehend von den Patienten systematisch medizinische Familienforschung zu betreiben. Dieses Programm stellte in der Geschichte der Psychiatrie ebenso wenig eine Neuigkeit dar wie Vogts pathogenetische Vorstellung der familiären Variation. Im psychiatrischen Erblichkeitsdenken es schon seit dem frühen 19. Jahrhundert die Regel, Nervenkrankheiten, soweit sie als erblich bedingt galten, als polymorph manifestierende Gruppen zu betrachten. Sie wurden nicht als unveränderlich auftretende Individuen, sondern Familien ähnlicher Symptomenkomplexe betrachtet.70 Dementsprechend galt die Rekonstruktion der Familienstammbäume Nervenkranker weniger der Auffindung konstant erblicher Leiden als von Beziehungen zwischen verschiedenen Krankheitsformen. Als Patzig erstmals mit eigenen Familienuntersuchungen an die Öffentlichkeit trat, knüpfte er an Argumentationsmuster an, die schon 30 Jahre zuvor im Umlauf gewesen waren. Um die Jahrhundertwende hatte sich unter deutschen Medizinern eine regelrechte Genealogiebegeisterung verbreitet, die mit einer Ablehnung der bereits praktizierten Ansätze verbunden war, Erblichkeitsverhältnisse auf der Basis anstaltsstatistischer Daten zu untersuchen.71 Ähnlich wie damalige Fürsprecher einer medizinischen Familienforschung betonte Patzig, die Konzentration auf gut dokumentierte Familien gewährleiste – im Gegensatz zur Massenstatistik – ein 67 N. Timoféeff-Ressovsky, Verknüpfung von Gen und Außenmerkmal (Phänomenologie der Genmanifestierung), in: W. Kolle (Hg.), Wissenschaftliche Woche zu Frankfurt/Main, Bd. I: Erbbiologie, Leipzig 1935, S. 92–118; zu Timoféeffs phänogenetischen Vorstellungen vgl. Satzinger 1999, S. 172–173 sowie Gausemeier 2005, S. 157–165. 68 Zu Patzigs Abteilung ausführlich Satzinger 2003, S. 177–188. 69 O. Vogt, Begründung des Etats 1930/31, n.d., MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1595, Bl. 208. 70 Olby 1993; Gausemeier 2009, S. 144–145. 71 Gausemeier 2009; Gausemeier 2015, S. 473–476.
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präzises und fehlerfreies Ausgangsmaterial, das idealerweise durch einen einzelnen Arzt erhoben werden könne; wo die Statistik nur ein grobes Raster anlege, eröffne die Familienstudie den Blick auf die Feinheiten der vorliegenden Krankheitsbilder sowie auf die psychologische und physische Beschaffenheit der nicht als krank klassifizierten Angehörigen.72 Vor dem Hintergrund des VogtTimoféeffschen Erblichkeitskonzeptes ergab diese Behauptung durchaus Sinn; stand nach diesem doch nicht die exakte statistische Feststellung klar umrissener mendelnder Charaktere im Vordergrund, sondern die Feststellung von Abstufungen und Zusammenhängen. Patzig stand jedoch – wie viele Anhänger einer medizinischen Genealogie vor ihm – vor dem Problem, dass nur ein außergewöhnlich detailliertes Beobachtungsmaterial für ein solches Vorgehen geeignet war. Auch der Idealzustand der neuropathologischen Familienforschung erwies sich als kaum realisierbar. Da im Sinne der Hirnarchitektonik allein die pathologische Anatomie verlässlich den Grund krankhafter Zustände erklären konnte, war es ein logischer Schritt, die Familienforschung mit der Analyse von Hirnschnitten zu verkoppeln. Selbst das vogtsche „Hirnarchiv“ gab jedoch kaum sektierte Gehirne mehrerer verwandter Personen her. Patzig musste daher auf eine für sein Projekt günstigere Zukunft hoffen – und auf die Umsetzung einer totalitären Vision, in der Familien bereitwillig persönliches Material zur späteren medizinalstatistischen Auswertung sammelten und Sektionen obligatorisch waren.73 Patzig konnte in einigen Fällen auf den Vergleich von Hirnschnitten verwandter Individuen zurückgreifen; überweigend bauten seine umfangreichen Familenstudien jedoch auf klinischen Aufzeichnungen, direkten Untersuchungen und Befragungen auf. Aufbauend auf Cécile Vogts Studien konzentrierte er sich auf Familien, in welchen mutmaßlich auf Läsionen im Corpus striatum beruhende Bewegungsstörungen vorkamen. Unter Rückgriff auf die vogt-timoféeffschen Begriffe sah er bei diesen Krankheiten teilweise „stark penetrante“ dominante Gene am Werk, in anderen Fällen „schwach penetrante“ Gene, die durch mehrere Modifikationsgene beeinflusst wurden.74 Die letztgenannte Deutung brachte er auch in eine Studie über die Schizophrenie vor – und stellte damit die von Rüdin etablierte Theorie direkt in Frage.75 Rüdins Mitarbeiter Hans Luxenburger konterte diese Ergebnisse mit einem Einwand, der für den massenstatistischen Ansatz seines Chefs grundlegend gewesen war – dass nämlich ausgewählte Familien niemals ein repräsentatives Material für eine genetische Analyse hergeben konnten.76 Auch Luxenburger hielt die ursprüngliche Rüdinsche Interpretation keineswegs für unstrittig – das Münchener KWI war längst davon abgegangen, exakte 72 B. Patzig, Die Bedeutung der schwachen Gene in der menschlichen Pathologie, insbesondere bei der Vererbung striärer Erkrankungen, Die Naturwissenschaften 21 (1933), S. 410–413. 73 B. Patzig, Zur Bedeutung der Familienforschung, Klinische Wochenschrift 13 (1934), S. 649– 651. 74 B. Patzig, Vererbung von Bewegungsstörungen, Zeitschrift für induktive Abstammungs- und Vererbungslehre 70 (1935), S. 476–484. 75 B. Patzig, Untersuchungen zur Frage des Erbganges und der Manifestierung schizophrener Krankheiten, Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 161 (1938), S. 521–531. 76 Diskussionsbeitrag Luxenburger zu Patzig 1938 (wie Fn. 75), S. 531–532.
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mendelsche Erbgänge von Geisteskrankheiten feststellen zu wollen. Seine Datensammlungen, die medizinalstatistische Daten tausender Angehöriger ländlicher Populationen umfassten, dienten dem bescheideneren Zweck, absolute Häufigkeit, regionales und familiäres Vorkommen von Geisteskrankheiten festzustellen – und damit Hinweise zu erhalten, welche Krankheiten überhaupt erbbedingt waren oder ob Korrelationen zwischen Krankheitsbildern bestanden. Patzigs Familienstudien nahmen sich gegenüber den auf sehr großer Datenbasis aufgebauten Untersuchungen aus München ziemlich anachronistisch aus. Sie konnten auch im Programm des KWIH keine prägende Stellung erlangen. Sie wurden hier dennoch näher erläutert, weil sie relevant für die Frage sind, welche Bedeutung das Institut in der rassenhygienischen Politik des NS-Regimes einnahm. Die von Vogt und Timoféeff geäusserte Kritik am Kraepelin-Rüdinschen Erbkrankheitsbegriff zielte direkt auf ein Konzept, das grundlegend für das nationalsozialistische Sterilisationsgesetz wurde: Nicht nur waren Träger einer Schizophrenie unzweifelhaft Erbkranke, der von der Fortpflanzung ausgeschaltet werden mussten; auch waren seine Angehörigen als potentielle Anlagenträger eugenisch verdächtig. Das Vogt-Timoféeffsche Modell milderte die absolute Entgegensetzung zwischen Krankheit und Normalität deutlich ab. Außerdem bestand im Sinne der Vogts, wie erwähnt, kein unversöhnlicher Gegensatz zwischen Erblichkeit und Heilbarkeit. Patzigs Familienstudien zeigen jedoch auch, dass die komplexeren genetischen Vorstellungen Timoféeffs eine Möglichkeit boten, statistisch schwer fassbare Befunde nach Gutdünken zu interpretieren. Angewandt auf konkrete familiäre Beobachtungen verwandelten sie sich leicht zu Spekulationen, die sich wenig von den Versuchen der älteren psychiatrischen Familienforschung unterschieden, verschiedenste Anomalien auf eine gemeinsame Erbanlage („Diathese“) zurückzuführen. Insofern stellt Satzinger zu Recht fest, dass die Opposition gegen Rüdins eugenischen Determinismus zu einem „höchst ambivalenten“ Ergebnis führte, weil sie einer beliebigen Anpassung eugenisch unpassender Fakten an die genetische Theorie Vorschub leistete.77 Bezeichnend hierfür ist, dass der radikale Rassenhygieniker Fritz Lenz sich 1937 mit Patzig gegen Rüdin positionierte, weil die Theorie des Letzteren für die eugenische Praxis unhaltbare Implikationen hatte. War die Hypothese des doppelt rezessiven Erbganges der Schizophrenie richtig, war ein Großteil der Bevölkerung Anlagenträger und die Krankheit durch Sterilisation nicht einzudämmen. Mit einem variabel manifestierenden dominanten Erbgang schien sich die Risikogruppe dagegen stärker auf Merkmalsträger und ihre Familien einzuengen.78 Lenz war längst nicht der einzige Rassenhygieniker, der die im Sterilisationsgesetz verankerte ein-Gen-eine-Krankheit-These gegen Timoféeffs Ideen vom „genotypischen Milieu“ oder dem Zusammenwirken von Haupt- und Nebengenen 77 Satzinger 2003, S. 179. 78 F. Lenz, Mendeln die Erbkrankheiten, Zeitschrift für induktive Abstammungs- und Vererbungslehre 73 (1937), S. 559–564. Satzinger (2003, S. 184) vermutet, dass durch Lenz Parteinahme die Patzigsche Deutung der Schizophrenie grundlegend für die Entscheidungspraxis der Erbgesundheitsgerichte wurde. Das erscheint denkbar, wäre aber nachzuweisen.
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eintauschte.79 Das war der politisch-wissenschaftlichen Problemlage geschuldet und kann nicht unbedingt dem Verursacher angelastet werden. Allerdings bemühten sich Timoféeff und Vogt weder vor noch nach 1933 um Distanz zu einem Diskurs, dessen politische Implikationen offenkundig waren. Im Gegenteil nutzten sie in der Krisensituation nach 1933 gezielt ihre humangenetische Expertise, um den Vorwurf politischer Unzuverlässigkeit auszugleichen. Vogt veröffentlichte in der Zeitschrift eines zu nationalsozialistischen Ehren gekommenen Jugendfreundes markige Worte zur eugenischen Führerauslese.80 Timoféeff nutzte die 1933 angebahnten Kontakte zur SA, um Beziehungen zu dem SA-Führer Hermann Boehm aufzubauen, der in verschiedenen Parteiorganen für rassenhygienische Fragen zuständig war.81 Als er ein genetisches Forschungsinstitut an der Ärzteführerschule Alt-Rehse aufbaute, suchte Boehm Timoféeffs Unterstützung. Eine gemeinsame – fachwissenschaftlich orientierte – Publikationsreihe umfasste Handbücher von diversen engen Kollegen Timoféeffs.82 Dass Timoféeff gezielt den Anschluss an die „Erbgesundheitspolitik“ suchte, war keine bloße Überlebensstrategie, sondern auch Ausdruck davon, dass er – wie auch Oskar Vogt – eugenische Grundannahmen von der Notwendigkeit der Eindämmung pathologischer Erbanlagen teilte. Seine Ideen waren keineswegs folgenlos für den rassenhygienischen Diskurs, aber kaum ein „verdrängter Meilenstein auf den verschlungenen Wegen zur ‚Endlösung‘“, wie es Karl-Heinz Roth 1986 postulierte. Roth sieht Timoféeffs Ausführungen über das Vorkommen rezessiver Gene in wilden Insektenpopulationen als Aufforderung an die politischen Entscheidungsträger, die eugenische Bekämpfung von Erbkrankheiten (und vermeintlich erbbedingtem abweichenden Verhalten) auch auf Personen auszudehnen, die nur Träger einer rezessiven Anlage waren.83 Abgesehen davon, dass er keine Erklärung anbietet, wie diese Aussage handlungsleitend für die NSRassenpolitik geworden sein soll, bleibt unklar, welche von Timoféeffs Äußerungen für den eugenischen Diskurs Neuigkeitswert besaßen. Dass in „zivilisierten“ menschlichen Populationen die Auslese eingeschränkt war und daher eine Anhäufung pathologischer Anlagen stattfand, war ein Standardideologem. Dass rezessive, überwiegend negativ wirkende Mutationen überall im menschlichen Genom lauerten, war für keinen Eugeniker etwas Neues – es war vielmehr (wie Lenz’ 79 Vgl. als besonders einflussreiches Beispiel Otmar von Verschuer, Leitfaden der Rassenhygiene, Leipzig: Thieme, 1941. 80 O. Vogt, Politik und Lebenslehre, Der Reichswart 16 (1935), Nr. 6, S. 2–3. 81 Boehm zielte bewusst auf eine Integration nicht-nationalsozialistischer Wissenschaftler in die rassenhygienische Propaganda ab, vgl. BAB BDC, OPG H. Boehm. Zu Boehms Tätigkeit auch Weingart/Kroll/Bayertz 1992, S. 386–389. 82 Die Reihe „Probleme der theoretischen und angewandten Genetik und deren Grenzgebiete“ beeinhaltete Monographien u.a. von K.G. Zimmer, H. Stubbe, G. Schubert und W.F. Reinig. 83 Roth 1986, S. 37 & 41. Roths Ausführungen stehen im Kontext der in den 1980er Jahren aufkommenden verdienstvollen Arbeiten über die Rolle wissenschaftlicher Eliten in der NSVernichtungspolitik. Sie wirken wie ein bemühter Versuch, durch Auswahl eines bis dato noch unbekannten „Vordenkers“ eine möglichst schrille Pointe zu setzen. Intellektuell noch weniger erhebend sind dem entgegengesetzte Versuche, Timoféeff zum heroischen NSGegner zu stilisieren, vgl. Berg 1990; Glass 1990; Junker 1998.
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Ausführungen zeigen) ein Problem für eugenische Ambitionen, da ein allgegenwärtiges rezessives Gen unmöglich „ausgemerzt“ werden konnte.84 Timoféeffs Interesse an der Verbreitung kleiner, überwiegend unsichtbarer Mutationen verweist vielmehr auf einen neuen Aspekt der eugenischen Agenda – die Forderung, die Neuentstehung dieser Art von Mutationen einzuschränken. Vom eugenischen Mutationsdiskurs zum Modell der Genstruktur 1927, in Timoféeffs zweitem Jahr in Berlin, fand in der Stadt der Internationale Genetikerkongreß statt. Einen der folgenreichsten Beiträge lieferte Herman J. Muller, einer der Mitbegründer der Drosophila-Genetik. Muller berichtete über die Produktion neuer Drosophila-Mutationen durch Röntgenbestrahlung. Die Biologiegeschichte kennt zahlreiche „Vorläufer“ Mullers, die schon früher Radium- oder Röntgenquellen an biologischen Objekten erprobten. Revolutionär an Mullers Ansatz war aber nicht die physikalische Technik, sondern die Zurichtung der Versuchsobjekte. Er hatte einen Stamm gezüchtet, der das Auftreten letaler (in der Embryogenese tödlicher) Mutationen in der folgenden Generation anzeigte. Da die Weibchen auf einem X-Chromosom ein Letalgen besaßen, bedeutete die Entstehung eines Letalgens auf dem zweiten X-Chromosom, dass alle männlichen Nachkommen abstarben. Diese Technik erlaubte – ohne mühsames Auszählen sichtbarer Mutationen – quantitativ die Wahrscheinlichkeit zu ermitteln, mit welcher eine bestimmte Strahlungsart Mutationen auslöste.85 Die Strahlung war damit nicht mehr nur Forschungsmittel, das zur Produktion neuer Mutationen diente, sondern selbst Forschungsobjekt. Die Fliegen wurden zum Indikator dafür, was ein physikalischer Reiz in biologischer Materie, speziell den Genen, verursachte. Diese neue quantitative Strahlenbiologie sollte, trotz Beibehaltung der evolutionsbiologischen und phänogenetischen Fragen, zum neuen Schwerpunkt der genetischen Abteilung werden und sie thematisch immer mehr verselbstständigen. Die Timoféeff-Ressovskys verfolgten zunächst nicht allein den von Muller eröffneten rein quantifizierenden Ansatz. Elena nutzte die Technik der vereinfachten Mutationsauslösung etwa dafür, das Mutationsverhalten (beziehungsweise die „Genovariation“) beim Bucher Hausobjekt Drosophila funebris mit jenem bei Drosophila melanogaster zu vergleichen.86 Dies lieferte eine weitere Stütze für die vogtsche Annahme, dass das genetische Variationspektrum nach Arten differierte. 84 N. Timoféeff-Ressovsky, Experimentelle Untersuchungen der erblichen Belastung von Populationen, Der Erbarzt 2 (1935), S. 117–118. Ungewöhnlich war allenfalls der Ruf nach genaueren statistischen Angaben zur geographischen Verteilung möglicherweise erbbedingter Merkmale; auch dies entsprach der Vogt-Timoféeffschen Idee, dass Krankheiten „Rassen“ oder „Sippen“ darstellten, die je nach Population verschieden manifestierten (vgl. hierzu Satzinger 1999). 85 H. J. Muller, The problem of genic modification, in: Zeitschrift für induktive Abstammungsund Vererbungslehre Suppl. 1 (1928), S. 234–260, S. 235–236. 86 E. Timoféeff-Ressovsky, Röntgenbestrahlungsversuche mit Drosophila funebris, Die Naturwissenschaften 18 (1930), S. 431–434.
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Nikolai interessierte sich besonders für die „Rückgenovariation“ von bekannten Genmutationen in ihre Stammform. Diese Untersuchungen berührte die um 1930 noch nicht abgeschlossene Diskussion, ob Mutationen in einer irreversiblen Zerstörung oder in einer reversiblen Änderung der Genstruktur bestanden.87 Zu Beginn der 1930er Jahre traten jedoch Versuche in den Vordergrund, die auf die Ermittlung von Mutationsraten bei Röntgenbestrahlungen verschiedener Dosen und Wellenlängen abzielten, wobei speziell die Frage einer kritischen Untergrenze im Blickpunkt stand. Ein wichtiger Impuls für diese Arbeitsrichtung ging von den zu dieser Zeit geführten Debatte um die Gefahren der diagnostischen und therapeutischen Anwendung von Röntgen- und Radiumstrahlen aus. Es waren vor allem Genetiker, die die sehr großzügige Bestrahlungspraxis in der Medizin, speziell der Gynäkologie, als Gefahr für die „Erbgesundheit“ attackierten. 1933 konnten sie bei der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft die Finanzierung eines Gemeinschaftsprojekts zur Untersuchung von „Erbschädigung durch Strahlenwirkung“ durchsetzen.88 Da die skeptischen Mediziner die Aussagekraft von Modellstudien an Insekten anzweifelten, nahmen Studien an Säugetieren einen wichtigen Platz im Arbeitsprogramm ein. Die grundsätzlichen Aussagen des Strahlenschutzprojekts wurden aber von Timoféeffs Drosophila-Arbeiten geprägt, die allein in der Lage waren, präzise Aussagen über Dosis-Effekt-Beziehungen zu generieren. Nach den Ergebnissen der genetischen Abteilung des KWIH gab es keine Untergrenze für die mutagene Wirkung von Röntgenstrahlen. Außerdem verhielt sie sich unabhängig davon, ob die Dosis einmalig oder zeitlich gestaffelt verabreicht wurde. Die von dem Göttinger Zoologen Alfred Kühn geleitete Strahlenkommission folgerte daraus, dass Röntgenstrahlen prinzipiell in jeder Stärke das menschliche Erbgut gefährdeten.89 Diese Feststellung hatte durchaus einen alarmistischen Unterton, zumal Timoféeff und Kühn betonten, dass der Großteil der Mutationen weder deutliche phänotypische noch letale Wirkungen verursachte, sondern kleine physiologische Änderungen, welche die Vitalität des Organismus herabsetzten.90 Vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen „Erbgesundheitspolitik“ war es eine besonders bedrohliche Vision, dass eine Flut von unsichtbaren Kleinmutationen zur langsamen Degeneration des Volkskörpers führte. Gerade aufgrund ihrer Häufigkeit stand es aber außer Frage, sie im Nachhinein durch „rassenhygienische 87 N. Timoféeff-Ressovsky, Das Genovariieren in verschiedenen Richtungen bei Drosphila melanogaster unter dem Einfluß der Röntgenbestrahlung, Die Naturwissenschaften 18 (1930), S. 434–437. 88 Schwerin 2004, S. 121. 89 A. Kühn, Protokollentwurf zur Sitzung der NG-Kommission Strahlenschäden, 26.7.1934, BAK R 73, Nr. 12475, S.7: „Daß es in der Zeit keine unschädliche Dosis gibt, wird von allen Seiten anerkannt.“ Zusammenfassend zu Dosisproportionalität und Zeitfaktor vgl. N. W. Timoféeff-Ressovsky, K. G. Zimmer, M. Delbrück, Über die Natur der Genmutation und der Genstruktur, Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Math.-Nat. Klasse, Fachgruppe VI, N.F. 1 (1935) Nr. 13, S. 207. 90 N. Timoféeff-Ressovsky, Über die Vitalität einiger Genmutationen und ihrer Kombinationen bei Drosophila funebris und ihre Abhängigkeit vom "genotypischen“ und vom äußeren Milieu, Zeitschrift für induktive Abstammungs- und Vererbungslehre 66 (1934), S. 319–344.
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Maßnahmen“ zu bekämpfen. Was sich in den Forderungen des strahlengenetischen Programms zeigte, war eine neue Dimension des eugenischen Diskurses, die erst im Atomzeitalter nach 1945 volle Wirksamkeit entfalten sollte: die Verlagerung des Interesses auf den Schutz des bedrohten menschlichen Genoms vor Strahlungen und chemischer Intoxikation. Der medizinisch-eugenische Hintergrund der Bucher Strahlengenetik wird hier betont, da er bei der Behandlung ihres bekanntesten Resultates zumeist unerwähnt bleibt. 1935 fasste Nikolai Timoféeff-Ressovsky gemeinsam mit seinem Experten für Radiodosimetrie, Karl Günther Zimmer, und dem damals am KWI für Chemie arbeitenden theoretischen Physiker Max Delbrück die bisherigen Erkenntnisse in der Schrift „Über die Natur der Genmutation und der Genstruktur“ zusammen. Vor allem zwei Faktoren führten dazu, dass die Abhandlung – in Anlehnung an eine klassische Arbeit der Quantenmechanik „Dreimännerwerk“ genannt91– als „Vorläufer“ einer physikalisch fundierten Molekulargenetik kanonisiert wurde: die ausgiebige Zitierung in dem einflussreichen Essay „What is Life?“ des Nobelpreisträgers Erwin Schödinger (1944) und Delbrücks späterer Aufstieg zum intellektuellen Oberhaupt der Phagengenetik.92 Eine „Vorwegnahme“ des heutigen Genkonzepts lässt sich nur durch eine sehr freie Lesart in den Text hineininterpretieren.93 Im Gegenteil wirkt die Herangehensweise Timoféeffs und seiner Mitautoren aus heutiger Sicht teilweise sehr fremd. Das liegt vor allem an ihrer Weigerung, klare Aussagen über die chemische Natur des Gens zu machen und es stattdessen abstrakt als „Stoffstückchen“ oder „wohldefinierten Atomverband“ zu bezeichnen, den sie graphisch als gleichmäßige Anordnung kugelförmiger Elemente darstellten.94 Diese Reduktion auf eine „rein physikalische“ Perspektive war aus ihrer Sicht jedoch dringend geboten, da Aussagen über die Natur der Gene bislang allein aus den Daten strahlenbiologischer Versuchen ableitbar war.95 Nach den am KWIH sowie von amerikanischen und sowjetischen Gruppen erzielten Ergebnissen stieg die Mutationsrate linear proportional zur 91 M. Born, W. Heisenberg, P. Jordan, Zur Quantenmechanik II, Zeitschrift für Physik 35 (1926) S. 557–615. 92 Der vorherrschende Blick auf die Arbeit ist unverkennbar durch das – wissenschaftshistorisch noch immer wirksame – Narrativ geprägt, die methodisch und theoretisch unterentwickelte Biologie sei erst durch die Nachhilfe aus der Physik zur exakten Wissenschaft geworden. So stellt Olby (1974, S. 231–235) die Arbeit – wie schon zuvor Schrödinger – selbstverständlich als „Delbrücks Modell“ dar. Ähnlich erscheint auch bei Fischer (1985, S. 76–79) der Physiker als zunächst unverstandener Prophet im Lande der Biologen. 93 So wird die angebliche Inthronisation des Gens als letzter Einheit des Lebendigen (vgl. Fischer 1985, S. 79) von den Autoren ausdrücklich abgelehnt, Timoféeff/Zimmer/Delbrück 1935 (wie Fn. 89), S. 240. 94 Timoféeff/Zimmer/Delbrück 1935 (wie Fn. 89), S. 237. 95 Die strikte Ablehnung einer Spekulation über die chemische Struktur basierte auch auf der Ablehnung aller Versuche, das Gen aus seinen Produkten (strukturbildenden Molekülen) heraus verstehen zu wollen, d.h. dem Gen selbst eine hochgradig organisierte, „lebendige“ Struktur zuzuschreiben. Diese Denktradition kann zu Timoféeffs Lehrer Kol‘cov und noch weiter bis zu Wilhelm Johannsens „Elemente der exakten Erblichkeitslehre“ (Jena: Fischer, 1909, S. 319–320) zurückverfolgt werden.
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gesamten eingestrahlten Dosis, war aber unabhängig von der Wellenlänge und von der zeitlichen Streuung.96 Timoféeff, Zimmer und Delbrück zogen hieraus den Schluss, dass eine Genmutation durch einen einzigen Strahlen-„Treffer“ ausgelöst wurde. Diese Ableitung von „Treffervorgängen“ in biologischen Strukturen aus Dosis-Effekt-Kurven war keineswegs neu. Ausgehend von dosimetrischen Problemen der Radiologie hatten im vorigen Jahrzehnt verschiedene Biophysiker versucht, die Ergebnisse strahlenbiologischer Modellexperimente (vor allem zur Abtötung von Bakterien) theoretisch zu deuten.97 Offen blieb dabei nicht nur, welches Maß an Strahlungsenergie ausreichte, um in einer biologischen Struktureinheit eine irreversible Veränderung auszulösen, sondern auch, was die Strahlenenergie auf molekularphysikalischer Ebene auslöste. Führte ein „Treffer“ direkt die Zustandsänderung des getroffenen Atoms herbei, wurde die Trefferenergie in definierter Form weitergeleitet oder veränderte sich das Ladungsmuster des gesamten Atomverbandes? Diese Fragen waren nicht mehr biologischer, sondern theoretisch-physikalischer Natur. Trotz ihrer abstrakten Aussagen über die Natur der Gene enthielt die „Dreimännerarbeit“ das Versprechen, aus strahlengenetischen Versuchen ließen sich Aussagen über die Größe des Genmoleküls ableiten. Wenn die Annahme stimmte, dass ein „Treffer“ eine Genmutation auslöste, konnten aus hinreichend genauen Aussagen über die Mutabilität eines Genortes bei einer genau definierten Strahlung Rückschlüsse auf den Umfang des „Treffbereiches“ gezogen werden. Allerdings galt dies unter dem Vorbehalt, dass der „Treffbereich“ nicht identisch mit dem Genmolekül war, da nach der zugrundeliegenden Modellvorstellung die absorbierte Strahlenenergie nicht unmittelbar wirksam, sondern eventuell über mehrere Atome weitergeleitet wurde. Praktisch war der Gedanke ebenfalls schwer umsetzbar, da die Mutationsraten einzelner Drosophila-Gene variierten und kaum exakt ermittelt werden konnten. Timoféeff und Delbrück wagten sich dennoch an derartige Experimente und eine Größenberechnung, die angesichts der erwähnten Schwierigkeiten aber nicht mehr als ein Annäherungsversuch sein konnte.98 Die von Timoféeff, Zimmer und Delbrück entwickelten Vorstellungen waren also weit von einem Modell der Genstruktur entfernt. Einem solchen kamen die Bucher Genetiker erst nahe, als sie von einer „rein physikalischen“ Betrachtungsweise abgingen und zu Beginn der 1940er Jahre die treffertheoretischen Ideen auf ein Strukturmodell anwandten, das auf biochemischen Untersuchungen beruhte – nämlich die von ihren Kollegen von der Dahlemer Arbeitsstätte für Virusforschung entwickelten Ideen zum Nukleoprotein-Aufbau des Tabakmosaikvirus.99 96 Timoféeff/Zimmer/Delbrück 1935 (wie Fn. 89), S. 215–216. 97 Beyler,1994, S. 283–286. 98 N. Timoféeff-Ressovsky, M. Delbrück, Strahlengenetische Versuche über sichtbare Mutationen und die Mutabilität einzelner Gene bei Drosophila melanogaster, Zeitschrift für induktive Abstammungs- und Vererbungslehre 71 (1936), S. 322–334. 99 F. Möglich, R. Rompe, N. Timoféeff-Ressovsky, Bemerkungen zu physikalischen Modellvorstellungen über Energieausbreitungsmechanismen im Treffbereich bei strahlenbiologischen Vorgängen, Die Naturwissenschaften 30 (1942), S. 409–419. Timoféeff betrachtete das Virus allerdings schon länger als vielversprechendes Genmodell, vgl. N. W. Timoféeff-
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Was die „Dreimännerarbeit“ anbot, war ein konzeptioneller Rahmen zur Interpretation strahlenbiologischer Ergebnisse, und genau dies entsprach der biophysikalischen Ausrichtung, der die Arbeiten nach 1935 folgten. Das treffertheoretische Modell war zu diesem Zeitpunkt experimentell noch nicht völlig abgesichert. Die grundsätzliche Annahme, dass ein einziger Strahlentreffer eine Mutation auslöste, konnte durch Anwendung von Strahlungen mit einer höheren Trefferdichte untermauert werden, die ab einer bestimmten Dosis zu einem „Sättigungseffekt“ (aufgrund von „Mehrfachtreffern“) führen mussten. Eine solche dichte Trefferwirkung versprachen „weiche“ Röntgenstrahlen, die sich im Experiment aber als ungeeignet erwiesen, da sie nicht tief genug in das Gewebe eindrangen.100 Ideal für den Zweck war eine erst seit 1932 bekannte Strahlengattung, die biologische Materie ungebremst durchdrang, aber mittels indirekter Ionisierung zu einer hohen Trefferdichte führen musste – die Neutronenstrahlen.101 Für die Durchführung solcher Experimente fehlten nicht nur in Buch, sondern in ganz Deutschland die technischen Voraussetzungen. Einen ausreichend starken Neutronengenerator konnte Zimmer 1937 erstmals beim führenden europäischen Hersteller solcher Anlagen testen, der Firma Philipps in den Niederlanden. Es ist erstaunlich, dass das 75.000 RM teure Gerät, ein Kaskadengenerator mit 600 kV Leistung, im folgenden Jahr in Buch montiert wurde. Kein physikalisches oder radiochemisches Institut in Deutschland verfügte zu dieser Zeit über eine vergleichbare Anlage. Finanziert wurde das Gerät durch die Auergesellschaft, einem der führenden deutschen Produzenten für radioaktive Substanzen, Leuchtkörper und Gasschutzgeräte.102 Die persönlichen Kontakte Timoféeffs zu AuerForschungsleiter Nikolaus Riehl, einem Deutschrussen, spielten bei der Anbahnung des Kaufs sicherlich eine große Rolle. Dies allein hätte aber kaum dafür ausgereicht, eine so kostspielige Investition allein zum Zweck erweiterter Mutationsversuche an Drosophila durchzusetzen. Der Nutzen für die Auergesellschaft lag auf der Hand. Die Firma vertrieb Strahlenquellen auf der Basis natürlich radioaktiver Stoffe. Der Phillips-Generator ermöglichte eine Herstellung künstlicher Strahler, die – wie sich zu dieser Zeit deutlich abzuzeichnen begann – in absehbarer Zeit neue Anwendungen eröffnen würden. Der direkte Bezug zu den Interessen des Finanziers war aber nur ein Aspekt. Zimmer verwies in seinen ersten Arbeiten mit der Neutronenquelle auffällig deutlich auf deren strahlentherapeutisches Potential. Die Anwendung schneller Neutronen wurde in dieser Zeit als Möglichkeit gehandelt, die Grenzen der krebstherapeutischen Nutzung von Röntgenstrahlen zu überwinden. Um abschätzen zu können, ob Neutronen tatsächlich Ressovsky, Le mécanisme des mutations et la structure du géne, in: Réunion internationale de Physique-Chimie -Biologie VIII: Biologie, Paris 1938, S. 495–516. 100 E. Wilhelmy, N. W. Timoféeff-Ressovsky, K. G. Zimmer, Einige strahlengenetische Versuche mit sehr weichen Röntgenstrahlen an Drosophila melanogaster, Strahlentherapie 57 (1936), S. 521–531. 101 N. W. Timoféeff-Ressovsky, K. G. Zimmer, Neutronenbestrahlungsversuche zur Mutationsauslösung an Drosophila melanogaster, Die Naturwissenschaften 26 (1938), S. 362–365; zur Einführung von Neutronenstrahlen in die Strahlenbiologie s. Beyler 1994, S. 303–304. 102 Zur Beschaffung des Geräts vgl. Schmaltz 2005, S. 258–266; Gausemeier 2005, S. 176–178.
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bessere Wirkungen in tiefen Gewebeschichten lieferten, waren – wie Zimmer betonte – zunächst neue experimentelle und theoretische Modelle nötig.103 Die Perspektive der Krebstherapie war für die Entwicklung neuer Strahlenquellen weltweit ein bestimmendes Argument, auch in Deutschland, wo jedoch Ansätze für Großprojekte bis dahin gescheitert waren.104 Der Bezug zu Fragen der Neutronentherapie war ein Weg, die über die Deutsche Forschungsgemeinschaft vermittelte Finanzierung des Projekts außerhalb der eigenen Arbeitsgemeinschaft akzeptabel zu machen. Der Bezug auf strahlentherapeutische Fragen sollte in den folgenden Jahren zwar keine bestimmende Rolle spielen, behielt aber zumindest auf theoretischer Ebene eine gewisse Bedeutung.105 Die neue Strahlenquelle verschob die Schwerpunkte der genetischen Abteilung grundlegend. Das galt schon auf der Ebene der experimentellen Praxis. Zimmer, der bis 1939 hauptamtlich als technischer Physiker an einem Berliner Krankenhaus beschäftigt war, hatte bereits an der „Dreimännerarbeit“ einen herausragenden Anteil, da die Erarbeitung dosimetrische Verfahren für auf kleinste Objekte wirkende Röntgenstrahlen selbst ein Forschungsproblem war, dessen Komplexität jener der genetischen Versuche nicht nachstand.106 Die Neutronendosimetrie stellte völliges Neuland dar und erforderte den Aufbau neuer Messtechniken und Berechnungsmethoden.107 Damit gewann die strahlenphysikalische Seite in der Forschungspraxis ein noch größeres Gewicht. Noch einschneidender wirkte sich aus, dass ein großer Teil des Arbeitsprogramms nicht den strahlengenetischen Experimenten, sondern der Erzeugung radioaktiver Elemente und deren Anwendung galt. Die Bucher Anlage blieb bis in die letzten Kriegsjahre die leistungsstärkste Quelle für Radioisotopen in Deutschland. Unter Leitung des Radiochemikers Hans-Joachim Born, der nach dem Krieg in Buch erneut eine Isotopenproduktion aufbauen sollte, wurden einige der gängigsten Radioisotope erstmals am KWIH hergestellt.108 Das Neutronenlabor wurde damit auch zu einem Anlaufpunkt für Radiochemiker und Kernphysiker. 103 K. G. Zimmer, Dosimetrische und strahlenbiologische Versuche mit schnellen Neutronen I, Strahlentherapie 63 (1938), S. 517–527; Ders., Dosimetrische und strahlenbiologische Versuche mit schnellen Neutronen III, Strahlentherapie 68 (1940), S. 74–78. 104 Einen solchen Vorstoß hatte es etwa im Zusammenhang mit der erwähnten „Strahlenschäden“-Kommission gegeben, vgl. Vorlagen für NG-Hauptausschuß, 2.6.1934, BAK R 73, Nr. 118, Bl. 23. Zur allgemeinen Entwicklung von Strahlenquellen-Projekten an KWG-Instituten vgl. Weiss 2000. 105 K. G. Zimmer, A. Pickhan, Alte und neue Wege zu höheren Tiefendosen, Strahlentherapie 73 (1943), S. 167–180. 106 Zu den Problemen der Dosimetrie vgl. Summers 2011, S. 52–55; zu Zimmers Biographie und wissenschaftlichem Profil ausführlich Wunderlich 2014, S. 97–130. 107 K. G. Zimmer, Dosimetrische und strahlenbiologische Versuche mit schnellen Neutronen III, Strahlentherapie 68 (1940), S. 74–78. K.G. Zimmer, B. Hess, Dosimetrische und strahlenbiologische Versuche mit schnellen Neutronen IV, Strahlentherapie 75 (1944), S. 70–83. 108 N. Timoféeff-Ressovsky, Forschungsbericht für RWA, 31.3.1943, MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1584, Bl. 276–278. 1942 wurden direkte Kooperationspartner wie Arbeitsstätte für Virusforschung, aber auch weitere Institute wie die KWI für Chemie und für Eisenforschung beliefert; vgl. Lieferliste 25.3.1942, SAM, Fond 1520, Verz. 1, Nr. 7, Bl. 102–103.
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Die genetische Abteilung war außerdem – nachdem diese Arbeitsrichtung zu Beginn der 1930er erstmals durch den später emigrierten Georg von Hevesy in Freiburg angeregt worden war –109 die erste deutsche Forschungseinrichtung, in der künstlich radioaktive Indikatoren in größerem Stil als biologische Marker eingesetzt wurden. Dabei kam es zunächst zu orientierenden Versuchen über die Metabolisierung von radioaktiven Stoffen (Phosphor, Chlor, Arsen) bei Nagetieren, die keinerlei Verbindung zum genetischen Versuchsprogramm hatten.110 Nikolai Timoféeff-Ressovsky hoffte, durch die Nutzung radioaktiver Indikatoren dem chemischen Aufbau der Gene näherzukommen, indem man den Einbau bestimmter Elemente in die Chromosomen verfolgte. Dieser Ansatz war an Drosophila schwer umzusetzen.111 Als besseres experimentelles Modell erwies sich auch hier das Tabakmosaikvirus der Dahlemer Kollegen, an dem weltweit erstmals der Einbau eines Elements – Phosphor – aus dem zellulären Medium in eine „genetische“ Struktur demonstriert werden konnte.112 Versuche mit Radiophosphor sollten ab den späten 1940er Jahren entscheidend zur Entstehung der amerikanischen Molekulargenetik beitragen, insbesondere die Beiträge der von Delbrück begründeten phagengenetischen Schule.113 Dass die Nutzung der neuen Forschungstechnik in Buch bis Kriegsende einen tastenden Charakter behielt, lag wohl daran, dass die Anwendung der Indikatoren – inklusive der nötigen Isolierungs- und Messmethoden – bei biologischen Mikrostrukturen noch ganz am Anfang stand, aber auch daran, dass ein für die Einbauversuche so geeignetes Objekt wie das BakterienPhagen-System nicht zur Verfügung stand.114 Die Möglichkeiten für derartige Experimente waren nicht zuletzt durch die – im Vergleich zu den in den USA verfügbaren Zyklotrons und Nuklearanlagen – ziemlich begrenzte Kapazität der
109 Zu Hevesy vgl. Deichmann 2001, S. 145–147. 110 H.-J. Born, Versuche mit radioaktivem Phosphor an Ratten, Die Naturwissenschaften 28 (1940), S. 476; H.-J. Born, H. Timoféeff-Ressovsky, Versuche mit radioaktivem Arsen an Mäusen, Die Naturwissenschaften 29 (1941), S. 182–183; H.-J. Born, H. TimoféeffRessovsky, Versuche mit radioaktivem Chlor-Isotop an Mäusen, Die Naturwissenschaften 28 (1940), S. 253–254. 111 N. W. Timoféeff-Ressovsky, Einige chemisch-biologische Anwendungen der schnellen Neutronen und der künstlich radioaktiven Stoffe, Angewandte Chemie 54 (1941), S. 437–442, S. 440. Zu Versuchen, die Verteilung radioaktiver Stoffe in Drosophila zu analysieren vgl. Bericht Anna-Elise Stubbe an DFG, 2.12.1942, BAK, R 73, Nr. 15056; ferner H.-J. Born, Bericht über Versuche mit radioaktiven Stoffen, verm. Ende 1945, BStU HA IX/11, RHE 25/87, SU 2a, Bl. 112–119, hier 117f. 112 H.-J. Born, A. Lang, G. Schramm, K. G. Zimmer, Versuche zur Markierung von Tabakmosaikvirus mit Radiophosphor, Die Naturwissenschaften 29 (1941), S. 222–223; G. Schramm/ H.-J. Born, A. Lang, Versuch über den Phosphoraustausch zwischen radiophosphorhaltigem Tabakmosaikvirus und Natriumphosphat, Die Naturwissenschaften 30 (1942), S. 170–171. 113 Creager 2013, S. 239–258. 114 Allerdings versuchte Timoféeffs Gruppe gegen Kriegsende auch Inaktivierungsversuche an Phagen für den Ausbau der „Treffertheorie“ nutzbar zu machen; da ferner zu VirusInfektions-Vorgängen (wohl am Dahlemer TMV-Material) gearbeitet wurde, könnte der Schritt zu entsprechenden Versuchen an Bakteriophagen ins Auge gefasst worden sein. Vgl. Bericht Timoféeff an DFG (unvollständig), 23.7.1943, BAK R 73, Nr. 15216.
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Bucher Neutronenquelle eingeschränkt, zumal sie nicht allein für institutseigene Projekte genutzt wurde. Aufgrund der Einzigartigkeit der Hochspannungsanlage konnte es nicht ausbleiben, dass ihr technisches Potential auf vielfältiges Interesse stieß. Für die genetische Abteilung war die Anlage nach der 1937 erfolgten Abspaltung vom KWIH das entscheidende Werkzeug, um die institutionelle Unabhängigkeit zu sichern. Zugleich führte sie zu einer stärkeren Verflechtung mit der Industrie. Das Kuratorium, das Timoféeff für sein kleines „Institut“ aufbaute, war nicht zufällig so industriell geprägt wie das einer technowissenschaftlichen Einrichtung – neben dem wichtigsten Partner Auergesellschaft waren auch die bereits mit Vogt verbundenen IG Farben sowie die lokalen Größen Siemens, Schering und AEG vertreten.115 Das entsprach den breit gestreuten Hoffnungen in die neue Radioindikator-Methode. Die KWG-Verwaltung versuchte, sobald die Neutronenquelle voll einsatzfähig war, die Möglichkeiten radioaktiver Indikatoren verschiedenen potentiellen Anwendern schmackhaft zu machen. Beim Reichsamt für Wirtschaftsausbau wurde ihr Wert für die Untersuchung der Metabolisierung neuer Arzneimittel angedeutet.116 Leichter umsetzbar war ihre Verwendung für rein technische Fragen der Materialprüfung. Dazu gehörte die Prüfung von Auto- oder Flugzeugkabinen auf Abgasdurchlässigkeit, die dem Reichsarbeitsministerium angeboten wurde.117 Ein derartiges Problem bearbeitete man erstmals für die Gasschutzabteilung der Auergesellschaft, indem radioaktive Chlorisotopen eingesetzt wurden, um die Dichtigkeit von Gasmasken gegen Chlorgas zu prüfen.118 Die Verbindung zur Auergesellschaft durchdrang während der Kriegsjahre die gesamte Forschungspraxis der genetischen Abteilung. Sowohl Zimmer als auch Born arbeiteten in einer Doppelstellung als Wissenschaftler des Instituts und der Auer-Forschungsabteilung. Born führte dabei auch mit klinischen Partnern Versuche zur radiotherapeutischen Anwendung natürlich radioaktiver Präparate durch, die von Auer vertrieben wurden.119 Zimmers Tätigkeit umfasste verschiedene rein technische Entwicklungsarbeiten, die teilweise für Auer, teilweise im Auftrag der Luftwaffe durchgeführt wurden. Dazu gehörten Arbeiten zu StrahlenschutzApplikationen für radiotherapeutische Apparate, die immerhin einen engen Bezug zu seinen dosimetrischen und theoretisch-biophysikalischen Erfahrungen aufwiesen.120 Ihre Verbindung zu Strahlenschutzproblemen – die beim Ausbau der strah115 Aktenvermerk Forstmann für Telschow, 20.11.1939, MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1583, Bl. 203–204. 116 Forstmann, Aktenvermerk für RWA, 20.11.1939, MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1583, Bl. 205– 206. 117 Forstmann, Aktenvermerk für das RWA, 20.11.1939, MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1583, Bl. 205–206, sowie Telschow an Martineck/Reichsarbeitsministerium, 30.11.1939, ebd. Bl. 207. 118 H.-J. Born, K. G. Zimmer, Untersuchungen an Schwebstoffen-Filtern, Die Gasmaske 2 (1940), S. 1–5. Zu den Gasschutzversuchen für die Auergesellschaft vgl. Schmaltz 2005, S. 274–285. 119 Gausemeier 2005, S. 182–183. 120 K. G. Zimmer, Strahlenschutzstoffe für den Bau radiumtherapeutischer Geräte, Strahlentherapie 72 (1943), S. 527–534.
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lengenetischen Forschungsrichtung Pate gestanden hatte – war es letztlich auch, die der genetischen Abteilung die kontinuierliche Weiterarbeit bis zum Kriegsende sicherte. Als zuständiger Experte in der Auer-Forschungsabteilung erlangte Zimmer die Stellung eines Strahlenschutzbeauftragten für das gesamte Kernwaffenprojekt, in welchem die Auergesellschaft als Aufbereitungsbetrieb für Uran eine Schlüsselrolle spielte. In einem Ende 1941 verfassten Bericht über Gefährdungen durch kernphysikalische Experimente und Uranaufbereitung knüpfte er nahtlos an das in strahlengenetischen Versuchen generierte Wissen an – sicherlich kein Zeichen dafür, dass diese Daten für den Zweck hinreichend waren, aber ein Hinweis, dass es an besseren Modellen für Strahlenschutzfragen fehlte.121 Ob Zimmers Expertisen tatsächlich nennenswerten Einfluss ausübten, ist kaum einzuschätzen; jedenfalls verlieh sie ihm genügend Bedeutung, dass er gemeinsam mit Auers Chefphysiker Riehl an Besprechungen des Uranvereins teilnahm.122 Diese Einbindung bedeutete für die genetische Abteilung einen gewichtigeren Schutz als die Beteiligung an einem äußerst zweifelhaften Vorhaben der Lufwaffe, „Strahlenkanonen“ für den Luftkrieg herzustellen.123 Noch kurz vor Kriegsende stellte der Beauftragte für kernphysikalische Forschung im Reichsforschungsrat das Institut als „leitende Arbeitsstelle“ für Strahlenschutz und Dosimetrie unter besonderen Schutz.124 Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass die Abordnungen des sowjetischen Geheimdienstes, die einige Monate nach Kriegsende in Buch auftauchten, sich nicht primär für den abtrünnigen Sowjetbürger an der Institutsspitze interessierten. Sie sahen das Institut in erster Linie als Zweigstelle des deutschen Atomprojekts und seine Mitarbeiter als Quellen für wertvolle Informationen. Die Verhöre zielten jedenfalls auffallend auf Verbleib und Vertrieb nuklearer Materialien, die Inhalte militärischer Geheimprojekte und die Beziehungen zu Arbeitsstellen ab, die vermutlich an der Urangewinnung beteiligt waren.125 Bei Kriegsende, als der Rest des KWIH längst ausgelagert war, firmierte die frühere „entomologische“ Abteilung als „Institut für Biophysik und Genetik“. Dies war nicht allein die Konsequenz der fortschreitenden Überformung mit physikalisch-technischen und
121 K. G. Zimmer, Möglichkeiten der Strahlenschädigung und des Schutzes dagegen beim Arbeiten mit Uranprodukten, 16.10.1941, BStU HA IX/11 RHE 25/87 SU, Nr. 110, Bl. 3–24, hier Bl. 9. 122 Bericht Esau für Mentzel, RFR, 22.12.1943; Aktennotiz über Besprechung im KWI für Physik, 24.3.1944, Atomdokumente Deutsches Museum München, zit. nach Nagel 2002, S. 326 & 327–329. 123 Vgl. zu diesem Projekt Weiss 2000, S. 72–84. Zimmer erwähnte nach dem Krieg gegenüber dem NKWD die Durchführung entsprechender Tierversuche, vgl. Vernehmung Zimmer, 17.10.1945, BStU, HA IX/11, RHE 25/87 SU, Nr. 26, Bl. 14–17; sowie Vernehmung vom 24.10.1945, ebd. Bl. 24–26. 124 Gerlach an Kriegswirtschaftsstelle, RFR 26.2.1945, Dt. Museum, Sammlung Irving, Filmrolle 291158–59, zit. nach Faksimile bei Nagel 2002, S. 314–315. 125 Vgl. die Vernehmungen von Timoféeff am 15.7.1945, 7.12.1945 und 10.12.1945 sowie von H.-J. Born (n. d., Ende 1945) und von K. G. Zimmer am 15., 17., 18. u. 24.10.1945 in BStU HA IX/11 RHE 25/87 SU 2a, sowie am 12.12.1945, BStU HA IX/11 RHE 25/87 SU 26.
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radiochemischen Aufgaben.126 Es entsprach auch der Ausrichtung auf eine biophysikalische Genetik, die seit den Vorarbeiten zur „Dreimännerarbeit“ eingesetzt hatte. Die aus dieser Arbeit abgeleiteten Fragestellungen bildeten bis Kriegsende den Schwerpunkt der experimentell-genetischen Forschung. Seit Kriegsbeginn hatte sich das Interesse von der quantitativen Analyse von Letalmutationen zu Chromosomenbrüchen und -umlagerungen verschoben. Das Verhältnis zwischen den eigentlichen Genmutationen und den Chromosomenmutationen war noch ungeklärt; außerdem war es eine Herausforderung, physikalisch induzierte Veränderungen des Chromosomenbaues im Sinne der Treffertheorie zu erklären. Diese sowohl hinsichtlich der physikalischen als auch der biologischen Versuchstechnik äußerst anspruchsvollen Versuche liefen bis in die letzten Kriegsmonate weiter.127 Weiterverfolgt wurde auch der in der Treffertheorie angelegte Anspruch, die Analyse strahlenbiologischer Versuche zu einer „statistischen Ultramikrometrie“, das heißt einer Methode zur Größenbestimmung kleinster biologischer Elementareinheiten auszubauen.128 Vor allem aber blieben die Fragen, was einen Strahlentreffer verursachte und was strahlengenetische Versuchsdaten über die Genstruktur aussagten, zentral für die Arbeitsgruppe – und nicht allein für sie. Sie wurden zum Anknüpfungspunkt für die Bildung eines wissenschaftlichen Diskussionskreises, der über Buch hinausreichte. Die Voraussetzungen für die Genstruktur-Arbeit von 1935 waren in privaten Seminaren gelegt worden, die Delbrück in seinem Haus zu Grenzproblemen von Biologie und Physik abhielt. Das Modell für diesen Diskussionszirkel waren die informellen Treffen der internationalen Quantenphysiker-Elite um Niels Bohr, an denen Delbrück selbst teilnahm.129 Ein gemeinsamer Besuch in Bohrs Diskussionskreis bestärkte Timoféeff und Delbrück in ihrem Anliegen, ihr Modell auf der theoretisch-biophysikalischen Seite auszubauen.130 Die Berliner Kolloquien wurden auch nach Delbrücks Übersiedlung in die USA fortgeführt. Timoféeff und Zimmer wurden neben einigen deutschen Kollegen schließlich auch Teil eines elitären europäischen Genetikerzirkels, der sich mit Unterstützung der Rockefeller Foundation an wechselnden Orten traf.131 Während des Krieges erfuhr die Idee eines biologisch-physikalischen Debattierclubs eine überraschende Auferstehung. Im Sommer 1941 bildete sich ein „biophysikalisches Kolloquium“, 126 Der Physiker Robert Rompe, einer der engsten vertrauten Timoféeffs, warf Zimmer nach dem Krieg vor, er habe die Physikalisierung des Instituts „skrupellos“ ausgenutzt, um die Führung an sich zu reissen. Das war möglicherweise ein Ausdruck persönlicher Antipathie, gab aber wieder, dass Zimmer als Träger der physikalischen Aufgaben zwangsläufig eine Art heimlicher Direktor werden musste. Vgl. Bericht R. Rompe, n. d. (vmtl. 1959/60), BStU HA IX/11, RHE 25/87 SU, Nr. 10, Bl. 124–130. 127 N. W. Timoféeff-Ressovsky, K. G. Zimmer, Strahlengenetik, Strahlentherapie 66 (1939), S. 684–711. Der Bedarf an sehr starken Neutronenstrahlen führte gegen Kriegsende zur Nutzung der neuen Zyklotronanlagen in den Laboren der Reichspost und von Manfred von Ardenne, vgl. Gausemeier 2005, S. 184–185. 128 Bericht Timoféeff an DFG (unvollständig), 23.7.1943, BAK R 73, Nr. 15216. 129 Zu den Delbrück-Seminaren Sloan 2011. 130 H. M. Miller Diary, 22-23.10.1936, RAC, RG 12.1., Box 44. 131 W. E. Tisdale Diary, 28.2.1938, 8.4.1938 und 8.12.38, RAC, RG 12.1., Box 64.
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dessen Kerngruppe aus Timoféeffs Kreis, Mitarbeitern der Dahlemer KWI für Biologie und Biochemie sowie einer Gruppe von Spitzenphysikern wie Werner Heisenberg und Carl-Friedrich von Weizsäcker bestand.132 Im Mittelpunkt der Diskussionen standen zwei Problemkomplexe: die in Buch erarbeitete strahlenbiologische Treffertheorie und das in Dahlem entwickelte Strukturmodell des Tabakmosaikvirus. Beide Modelle ergänzten sich gegenseitig; die NukleoproteinStruktur des Virus bot den Strahlengenetikern ein konkretes Modell, auf das sich ihre Vorstellungen des Treffervorganges anwenden ließen. Die Virusforscher erhielten neue Anregungen für die biophysikalische Interpretation ihrer biochemischen Daten. Eine Reihe theoretisch-physikalischer und physikochemischer Fragen war an das Thema anschlussfähig. Insbesondere das für die Treffertheorie zentrale Problem der Energieausbreitung in Molekülkomplexen wurde anhand physikalischer Modellversuche diskutiert. Vor allem aber hatte die Thematik weiter reichende Implikationen, die vor allem die Physiker des Zirkels faszinierten: Welche Folgerungeren konnten aus den physikalischen Mechanismen der Mutation für die grundlegenden Lebensprozesse gezogen werden? Inwieweit konnten physikalische Denkmodelle überhaupt zur Interpretation organischer Vorgänge angewandt werden?133 Das Entscheidende an den biophysikalischen Debatten waren weniger die Antworten auf diese Fragen als die Möglichkeit des interdisziplinären Austausches. Zu diesem Zeitpunkt waren alle beteiligten Wissenschaftler in kriegsbezogene Projekte eingespannt. In den Kolloquien fanden sie sich zu einem elitären Zirkel zusammen, der ein gemeinsames Thema hatte, das weit von diesen Problemen entfernt zu liegen schien – die materiellen Grundlagen des Lebens selbst. Innerhalb der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, der die meisten Mitglieder angehörten, gab es keine vergleichbare interdisziplinäre Plattform. Die Debatten erfüllten so die wichtige soziale Funktion, den gemeinschaftlichen Zusammenhalt und das wissenschaftliche Selbstverständnis aufrechtzuerhalten. Ihre besondere Bedeutung für das Bucher Institut sollte sich erst nach Kriegsende entfalten. Hier wurden die Kontakte geknüpft, die ein gewisses Maß an instutioneller Kontinuität herstellten, obwohl die Protagonisten Timoféeff und Zimmer am Neuaufbau in Buch nicht teilhaben sollten. Das Netzwerk der beteiligten Physiker umfasste Robert Rompe, später der einflussreichste Physiker in der Deutschen Akademie der Wissenschaften und verborgener Nachlasswalter Timoféeffs, Pascual Jordan, in der Nachkriegszeit kurzfristig wichtiger Impulsgeber für eine Institutsneugründung, und Walter Friedrich, den ersten Direktor des Instituts für Medizin und Biologie. Es wird im folgenden Kapitel II.1. erläutert, wie die hier diskutierten Ideen einer theoretisch-physikalisch fundierten Forschung an biologischen Elementarstrukturen die Pläne für ein Bucher Nachfolgeinstitut des KWIH beeinflussten. Auch die 132 Programm Biophysikalisches Kollquium Sommer 1941, MPGA Abt. III, Rep. 84/1, Nr. 1346. Später entwickelte sich aus den unregelmäßigen Treffen des Kreises eine exklusive „Biophysikalische Gesellschaft“, vgl. A. Butenandt an A. Kühn, 13.11.1943, MPGA Abt. III, Rep. 84/2, Nr. 3368. 133 Gausemeier 2005, S. 251–254.
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spätere medizinische Themensetzung deutete sich in diesem Zusammenhang an, da Mitglieder der biophysikalischen Gruppe parallel eine „Arbeitsgemeinschaft für Krebsforschung“ bildeten.134 Waren all die physikalisch-technischen, anwendungsorientierten Arbeiten, die den Institutsalltag prägten, nur ein Mittel zum Zweck, um diese Diskussionen auch unter widrigen Bedingungen weiterführen zu können? Wurden nur scheinbar praxisrelevante Arbeiten „verkauft“, um den „eigentlichen“ Kern der Wissenschaft zu „retten“?135 War diese Taktik gar eine Form des politischen Widerstandes, durch welche es der „großen Familie“ der genetischen Abteilung um ihren charismatischen Leiter gelang, Bedrohten über den Krieg zu helfen?136 Diese Perspektive bietet insbesondere ein Roman an, der die Eindrücke eines Zeitzeugen widerspiegelt: „Berlin Wild“ von Elly Welt, der Witwe des Mathematikers Peter Welt, der als „halbjüdischer“ Oberschüler Unterschlupf in Buch fand.137 Teile der Darstellung sind offensichtlich erfunden, um Spannung zu erzeugen, so etwa die Rolle des Radiochemikers, der als Verräter von Widerstandsaktionen auftritt. Viele möglicherweise auf realen Vorgängen beruhende Details sind dagegen so dargestellt, dass sie sich in das Gesamtbild einer bedrohten Gemeinschaft einfügen, die sich mit List und wissenschaftlicher Kreativität in einer feindlichen Umwelt behauptet. Professor Kreutzer (alias Zimmer) setzt in der S-Bahn flügellose Drosophila-Mutanten als Flohzirkus ein, um sich kleine Nazis vom Leib zu halten; im Institut veranstaltet er an der – hier nicht gekauften, sondern selbstgebauten – Hochspannungsanlage ein blitzendes und knallendes Spektakel, um größere Nazis zu beeindrucken. Sein Direktor Avilov (alias Timoféeff) erklärt seinem jungen Eleven, der Apparat verleihe ihm Macht über die politisch Mächtigen. Die Technologie erscheint so als Zauberstab zur Abwehr des äußeren Bösen. Entsprechend wird auch die Auergesellschaft – im Roman bezeichnenderweise „Mantle Corporation“ genannt – als eine Art externer Schutzwall jenseits der Labormauern dargestellt, den die Wissenschaftler bewusst instrumentalisieren. Ähnlich verhält es sich mit dem „SS-Mann im Haus“, der an der Neutronenanlage regelmäßige Bestrahlungen gegen ein Krebsleiden erhält und dafür mit Stillschweigen zahlt. Er existierte tatsächlich – allerdings nicht als Krebspatient, sondern als wissenschaftlicher Mitarbeiter, der bei Timoféeff promovierte.138 134 Aktenotiz Telschow, 23.1.1942, MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 2398, Bl. 9. Dazu gehörten neben Timoféeff, Rajewsky und Butenandt u. a. auch der Pharmakologe Hermann Druckrey, der Biochemiker Fritz Kögl, und der Leiter der DFG-Versuchstierzuchten Friedrich Kröning. Größere praktische Bedeutung scheint die AG aber nicht mehr erlangt zu haben. 135 Diese Entgegensetzung von eigentlicher Wissenschaft und äußerlicher Andienung an die politischen Verhältnisse wird in der jüngeren Wissenschaftsgeschichte kaum noch vertreten, war aber in der Historiographie zur Forschung im NS-Staat lange vorherrschend; vgl. speziell zum KWIH Macrakis 1993, S. 121. 136 Hildegard Palm, Aussage gegenüber Major Diener/MfS, 25.5.1988, BStU HA IX/11 RHE 25/87 SU 43 Nr. 3, Bl. 9. 137 Welt 1986. 138 Gemeint ist der Biologe und SD-Mitarbeiter Karl Eberhardt; vgl. BAB BDC RuSHA K. Eberhardt; Personalbogen Eberhardt 1.4.1941, BAK R 73, Nr. 10803.
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Alle diese narrativen Elemente konstruieren eine klare Trennung zwischen der Welt der Wissenschaftler und einer barbarischen Außenwelt. Ihre intellektuelle Überlegenheit ermöglicht es den Wissenschaftlern, die prinzipiell feindlichen Nazis auf Distanz zu halten. Die in den Quellen belegten Verflechtungen mit staatlichen Institutionen und Unternehmen scheinen eine andere Realität zu zeigen. In dieser lassen sich Innenwelt und Außenwelt kaum klar voneinander trennen, geschweige denn eigentliche und uneigentliche Wissenschaft. Damit soll keineswegs in Frage gestellt werden, dass sich die Mitarbeiter der genetischen Abteilung tatsächlich im Kampf um ihre wissenschaftliche Autonomie sowie ihre persönliche Freiheit sahen. Das Moment der äußeren Bedrohung war trotz aller Einbindung real. Timoféeff war, obwohl staatenlos, als Russe spätestens seit Beginn des Feldzuges gegen die Sowjetunion in einer prekären Lage. Das zeigte sich, als 1943 unvorsichtige Äußerungen in Gegenwart eines hochdekorierten NSDAP-Funktionärs beinahe zu seiner Verhaftung führten.139 KWGGeneralsekratär Telschow gelang es, den Vorwurf prosowjetischer Propaganda zu entschärfen und den Vorgang zu einer internen Disziplinarangelegenheit zu machen.140 Ministerialdirektor Mentzel aus dem Wissenschaftsministerium, der sich schon im Verfahren gegen Vogt als Scharfmacher hervorgetan hatte, forderte eine gezielte polizeiliche Überwachung.141 Das war eine klare Drohung, dass der Schutz, den Timoféeff unter der Obhut der KWG genoss, jederzeit wieder entzogen werden konnte. Für die meisten Normalbürger, insbesondere für „feindliche Ausländer“, wäre eine ähnliche Denunziation mit großer Wahrscheinlichkeit tödlich verlaufen. Es folgte eine noch ernsthaftere Krise. Der ältere der beiden Söhne der Timoféeffs, Dimitrij, wurde Ende 1943 aufgrund seiner Mitgliedschaft in einer Widerstandsgruppe verhaftet, die sowjetische Kriegsgefangene unterstützte.142 Zur Rettung seines Sohnes versuchte Nikolai Timoféeff-Ressovsky, alle verfügbaren Beziehungen zu mobilisieren. Ein offenes Ohr fand er bei dem Biologen Ernst Schäfer, einem führenden Mitarbeiter der SS-Forschungsorganisation „Ahnenerbe“.143 Es gelang nicht, Dimitrij Timoféeff-Ressovsky aus dem SS-Lagersystem
139 Urheber war der ehemalige Gauleiter von Südhannover-Braunschweig Ludolf Haase, der vermutlich auf der Suche nach Partnern für ein neues Institut für „rassische Auslese“ war, vgl. Aktennotiz Telschow, 29.7.1942, MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 971/1. Zum Vorgang selbst vgl. OKW an RMWEV, 14.8.1943 mit hs. Notiz Rantzau; BAB R 4901, Nr. 11065, Bl. 157; Mentzel (RMWEV) an KWG, 7.9.1943; MPGA Abt. II, Rep. 1A, PA Timoféeff, Bl. 14. 140 Telschow an RMWEV, 1.10.1943, und Aktennotiz Telschow, 27.10.1943, MPGA Abt. II, Rep. 1A, PA Timoféeff, Bl. 9–10. Zur Entschärfung trug bei, dass die Wehrmacht, die zunächst in der Sache aktiv wurde, sich schließlich nicht mehr zuständig erachtete, da Timoféeff zu diesem Zeitpunkt keine direkten Wehrmachtsaufträge erhielt: vgl. OKW an RMWEV, 8.12.1943, BAB R 4901, Nr. 11065, Bl. 162. 141 Mentzel an KWG, 20.1.1944, MPGA Abt. II, Rep. 1a, PA Timoféeff, Bl. 7. 142 Satzinger/Vogt 2001, S. 461. 143 Schäfer schlug dem RSHA vor, den jungen Timoféeff in seiner Dienststelle als Häftlingsforscher mit Untersuchungen über die „Rassenentwicklung der Gemse“ zu betrauen. Der Vorstoß scheiterte aber schon an „Ahnenerbe“-Geschäftsführer Sievers. Vgl. E Schäfer an W.
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zu befreien. Gegen Kriegsende verstarb er unter ungeklärten Umständen im Außenkommando Melk des KZ Mauthausen.144 Seine Tätigkeit und seine Haft blieben ohne einschneidende Rückwirkungen auf die Position seiner Eltern. Weitere Hilfsaktionen für Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter blieben unentdeckt; sie geschahen sogar teilweise in offener Form, indem bedrohte Personen an das Institut gezogen wurde. Neben dem erwähnten Peter Welt wurde ein weiterer „Halbjude“ als wissenschaftlicher Mitarbeiter beschäftigt.145 Außerdem befand sich eine große Anzahl von Ausländern, teilweise im Status von Kriegsgefangenen, im Dienst des Instituts. Bei Kriegsende waren von den 65 registrierten Mitarbeitern – die alteingesessenen Wissenschaftler nicht eingerechnet – 13 Personen, die als feindliche Ausländer galten, überwiegend Russen, aber auch andere Osteuropäer, Franzosen und ein Grieche.146 Die Beschäftigung qualifizierter Kriegsgefangener im wissenschaftlichen Einsatz war nicht ungewöhnlich; das Ausmaß der Beschäftigung in Buch deutet jedoch auf eine gezielte Anwerbung von Ausländern in gefährdeter Lage hin. Außerdem ist zumindest in einem Fall belegt, dass Mitarbeiter verdeckte Unterstützung für Verfolgte leisteten.147 Insofern war die genetische Abteilung tatsächlich eine Insel, die es Menschen in bedrohter Situation erlaubte, das Ende des Krieges zu überstehen. Buch bot aber auch Wissenschaftlern, deren Arbeit in anderen Teilen der Stadt nicht mehr möglich war, einen Anlaufpunkt. Für den Neuaufbau nach dem Krieg sollte dies eine wichtige Rolle spielen. Der Wert des kranken und des kämpfenden Gehirns – das KWIH im Krieg Seitdem in den 1980er Jahren bekannt wurde, dass Forscher des KWIH wissentlich Gehirne von Anstaltspatienten, die dem nationalsozialistischen Krankenmord zum Opfer fielen, übernahmen und untersuchten, ist der Name des Instituts untrennbar mit dieser Überschreitung wissenschaftsethischer Grenzen verbunden. Auch wenn das KWIH mit dieser Praxis nicht alleine stand, stellt sich die Frage, inwieweit diese Ausnutzung der NS-Verbrechen mit der politischen und wissenschaftsethischen Haltung der neuen Institutsleitung zu erklären ist oder bereits in den unter den Vogts verfolgten neurobiologischen Forschungspraktiken angelegt war. Hans-Walter Schmuhl kommt zu dem ambivalenten Schluss, die Amtsübernahme durch Spatz sei „ein tiefer Einschnitt in der Institutsgeschichte“ gewesen,
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Sievers, 9.11.1944, Sievers an Schäfer, 4.12.1944, BStU, HA IX/11, RHE 25/87 SU, Nr. 6, Bl. 48–49. Vgl. Häftlingsliste des KZ Mauthausen von 1947, BStU HA IX/11, RHE 25/87 SU, Nr. 14, Bl. 22–25. Der Mediziner Alexander Catsch, der vor allem auf dem Gebiet der Isotopenversuchen arbeitete; vgl. Satzinger/Vogt 2001, S. 461. Anwesenheitslisten Institut für Genetik und Biophysik, Mai 1945, SAM Fond 1520, Verz. 1, Nr. 11, Bl. 1–17. Dabei handelte es sich um Martha Noack, die zweimal Flüchtende unterstützte; dabei versteckte sie 1943 eine Jüdin mehrere Wochen in ihrer Wohnung auf dem Institutsgelände; vgl. Sandvoß 1992, S. 250.
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zugleich habe aber die in der Beziehung zu den Mordanstalten gipfelnde „Öffnung zur psychiatrischen Praxis“ auch „keinen völligen Bruch“ dargestellt.148 Diese Einschätzung bedarf näherer Erläuterung. Wie bereits ausgeführt wurde, war das gesamte Forschungskonzept der Vogts – genau wie das anderer Neuroanatomen und -pathologen – von einem ausreichenden Zustrom von Gehirnen von Anstaltspatienten, „Normalpersonen“ oder „Hochbegabten“ abhängig. Wie das Wachstum der vogtschen Hirnsammlung zeigt, war dies auf der Basis von Absprachen mit Anstalten, aber auch durch freiwillige „Spenden“ umsetzbar.149 Schwierigkeiten traten auf, wenn eine größere Sammlung bestimmter neuropathologischer oder -anatomischer Fälle angestrebt wurde, die selten auftraten oder schwer zugänglich waren. Darauf weist das große Interesse Oskar Vogts an der Übernahme des städtischen Siechenhauses in den Nachkriegsjahren hin. Diese hätte nicht nur die Konzentration auf spezifische, hirnanatomisch gut charakterisierbare Fälle erlaubt, sondern auch eine Praxis, ohne welche das Projekt der Hirnsammlung unvollkommen gewesen wäre: eine genaue psychologische und klinische Untersuchung der Patienten vor ihrem Ableben. Insofern war die „Öffnung zur psychiatrischen Praxis“ schon immer im vogtschen Programm angelegt, wurde aber erst durch das Kooperationsabkommen mit den Bucher Anstalten, die der Neuansiedlung des KWIH vorausging, voll realisiert. In diesem Zusammenhang veränderten sich die Interessen des Direktors merklich. Kurz nach dem Bezug des neuen Instituts beteuerte Vogt, er werde den vertraglich abgesicherten Zugriff auf die sektionsfähigen Patientengehirne – nicht allein aus Buch, sondern aus allen Berliner Heil-und Pflegeanstalten – voll ausschöpfen. Was ihn an dem „ungeheuren Krankenmaterial“ reizte, waren in erster Linie die „feineren und noch wenig bekannten Veränderungen ... welche zu Geisteskrankheiten führen“ sowie die „die Aufdeckung jener Formen, welche sich kriminell äußern,“ insgesamt also die Suche nach lokalisierbaren Anzeichen „für cerebrale Über- und Unterwertigkeit“.150 Zwar war Mitte der 1920er Jahre das Interesse am „kriminellen“ Gehirn deutlich hervorgetreten, nicht aber ein so umfassendes Programm zur Erfassung pathologischer „Unterwertigkeiten“. Prinzipiell war im Sinne des vogtschen Lokalisationslehre der Zugriff auf jede Art von Gehirnen wertvoll, da jede pathologische Erscheinung auch zu neuen Befunden über Rindenfelderanomalien führen konnte. Führte also die bloße Gelegenheit zu einer stärkeren Betonung eugenischer Zielsetzungen? Auffallend an Oskar Vogts Zielsetzungen von 1931 ist weniger der Bezug zum eugenischen Diskurs – dieser war in den früheren Ausführungen zu „Genie“- und „Verbrecher“-Gehirnen offenkundig – als vielmehr die explizite Wortwahl, mit der er die Suche nach einer „objektiven Grundlage für die Lehre vom konstitutionellen Verbrecher“ sowie den hirnarchitektonischen Unterbau „für praktische Maßnahmen zur Unterdrü148 Schmuhl 2000, S. 54. 149 Eine freiwillige „Hirnspende“ hatte etwa die sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Mathilde Wurm angeboten, die sich aus diesem Grund 1933 zu psychologischen Untersuchungen zur Verfügung stellte; vgl. Hagner 2003, S. 128. 150 O. Vogt, Bericht für das Kuratorium des KWIH, 2.6.1931, BAB R 1501, Nr. 26787.
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ckung des Unterwertigen und Höherzüchtung des Vollwertigen“ versprach. Vogts nunmehr gefestigte Stellung verlangte keineswegs, dass er sich nachdrücklich auf dem Feld der „Volkshygiene“ profilierte. Dass er es trotzdem tat, verdeutlicht, dass die Identifizierung „unterwertiger“ Muster im Gehirn trotz seiner erwähnten Kritik an allzu einfachen Vorstellungen über die Geisteskrankheiten ein essenzieller Teil seines Projekts war. Die neuen Möglichkeiten in Buch versprachen, die Stagnation dieses Aspekts der Hirnarchitektonik zu überwinden.151 Die Bedeutung des neuen Programmpunktes wurde dadurch unterstrichen, dass Vogt für die Bewältigung des erwarteten Zustroms an „Verbrecher-“ und „Schwachsinnigen“-Gehirnen 14 zusätzliche Präparatoren einstellen wollte.152 Zugleich blieb aber eine bereits bestehende Schwerpunktsetzung erhalten; die KWIH-Forschungsklinik übernahm bei ihrer Eröffnung im Mai 1932 zunächst Patienten mit striären Erkrankungen, dem Spezialgebiet Cécile Vogts. Entsprechend dem schon gegen Ende des Ersten Weltkrieges entwickelten Konzept sollte durch intensive therapeutische Betreuung versucht werden, neue Wege zur Rehabilitation dieser Kranken zu entwickeln.153 Wie Schmuhl feststellt, wurden erst unter der Leitung von Spatz die festgeschriebenen Beziehungen zu den Berliner Heil- und Pflegeanstalten konsequent ausgenutzt und um neue Kooperationen, auch außerhalb Berlins, erweitert.154 Spatz betonte bei seiner Amtsübernahme ausdrücklich, dass „die planmäßige Bekämpfung der krankhaften Erbanlagen“ von nun an die Richtung vorgab. Das Ideal, das sich aus dieser Verbindung von Erbbiologie und Hirnforschung ergab, war eine „Familien-Gehirnforschung“, der Vergleich von Gehirnen mehrerer Individuen einer „Sippe“.155 Dies entsprach dem bereits in Patzigs erbbiologischer Abteilung gepflegten Ansatz und wurde durch eine Erweiterung des Kooperationsvertrags mit der Bucher Anstalt unterstrichen, nach welcher das dortige neuropathologische Institut und das KWIH gemeinsam „in den Dienst der Familienforschung“ zu stellen waren. Die beiden Sektionssammlungen der Institute sollten 151 Hagner (2003, S. 124–125), argumentiert schlüssig, dass die Arbeitspraxis der Vogts ab den 1920er Jahren um das Thema Elitegehirne kreiste; dementsprechend wären auch ihre eugenischen Vorstellungen ganz auf die „Höherzüchtung“ der Begabten gerichtet gewesen. Die Konzentration auf „Elitegehirne“ beweist aber nicht, dass die „Unterwertigkeiten“ oder auch die „Rasseneigenschaften“ des Gehirns sie grundsätzlich nicht interessierten. Ihre Interessen hingen nicht zuletzt von den gegebenen Möglichkeiten der Erfassung und Auswertung ab. In diesem Sinne kann die Programmatik des neuen KWIH als Hoffnung gelesen werden, auch für die Frage der „Unterwertigkeit“ Ansatzpunkte zu finden, die sich im Sinne der Lokalisationslehre vertiefen ließen. 152 O. Vogt, Begründung des Etats für das KWIH für das Rechnungsjahr 1930/31, n. d., MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1595, Bl. 208–208m. 153 Schmuhl 2000, S. 25. Die von Schmuhl offengelassene Frage, ob die Forschungsklinik ein „Einfallstor der Eugenik“ war, kann damit eindeutig verneint werden. Hier und im früheren Siechenhaus-Projekt ging es gerade um Fälle, die als teilweise therapierbar und keineswegs eugenisch besonders bedrohlich galten. 154 Schmuhl 2000, S. 14–21. 155 Ansprache H. Spatz bei Übernahme der Direktion am 1.4.1937, MPGA Abt. I, Rep. 1A, Nr. 1582, Bl. 76–89.
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verknüpft, neue Sektionen wechselseitig abgesprochen und begutachtet werden.156 Die Verbindung hatte aber noch einen anderen Aspekt: Sie sollte die Verbindung von Hirnpathologie zur allgemeinen Pathologie aufrechterhalten, also mögliche Verbindungen zwischen Hirnschäden und weiteren organischen Krankheiten aufdecken helfen. Dies war Aufgabe der neuen Abteilung für Allgemeine Pathologie, die durch Hans E. Anders, den Direktor des neuropatholoigschen Instituts, in Personalunion geleitet wurde. Nicht nur hierin zeigt sich, dass die Ausrichtung auf die Erbpathologie nicht so vorrangig war, wie Spatz suggerierte. Eine bedeutende Erweiterung war die Bildung der Abteilung für experimentelle Pathologie und Tumorforschung unter dem Neurochirurgen Wilhelm Tönnis. Tönnis wurde bei seiner Berufung aus Würzburg zugleich als Leiter der Neurochirurgischen Universitätklinik installiert, erhielt aber zusätzliche Unterstützung durch die Berliner Gesundheitsverwaltung, die eine Konzentration hirnchirurgischer Fälle in Buch zusicherte. Seine Abteilung erhielt eigene Betten in der KWIH-Forschungsklinik sowie einen Operationssaal. Parallel forschte sie an der Herstellung von Tiermodellen für menschliche Hirntumore.157 Die Konzentration auf Hirntumore, die auch Spatz interessierten, bedeutete die Hinwendung zu einem nicht-erblichen Problem und zugleich die Erschließung invasiver Therapien, die als in Deutschland schwach entwickelt galten. Auch Spatz’ eigenes Arbeitsprogramm stand keineswegs im Zeichen des „erblich minderwertigen“ Gehirns. Einerseits wollte er in der Tradition der Vogts die Faserarchitektonik und Pathologie der Stammganglien untersuchen. Hinzu kamen Interessen am Hirnkreislauf, an neuroendokrinologischen Fragen und vor allem an Hirnverletzungen.158 In dieser Ausrichtung auf das verletzte Gehirn deutete sich ein Prozess an, der die Entwicklung des nach-vogtschen KWIH kennzeichnete – eine „militärische Überformung“, die dazu führte, dass bald nach Kriegsbeginn die meisten Abteilungen zu zivil-militärischen Hybriden wurden.159 Seit 1937 war die Wehrmacht durch den Sanitätsinspekteur des Heeres, Anton Waldmann, im KWIHKuratorium präsent. Schon im April 1939 bereitete Spatz die Neuausrichtung des Instituts für den Kriegsfall vor. Im Zentrum stand die Umwandlung der Forschungsklinik in ein Reservelazarett für Kopfschuss-Verletzte, das chirurgisch von Tönnis geleitet werden sollte.160 Dieser Plan wurde auch umgesetzt. Die Einrichtung dieser militärmedizinischen Spezialklinik hatte auch einen Bezug zur Ausweitung der neuropathologischen Sammlungen – die Gehirne von Patienten, 156 Vereinbarung zwischen OB der Stadt Berlin und KWG, 23.12.1937, MPGA Abt.I, Rep.1a, Nr. 1583, Bl. 134–136. 157 Aufzeichnung betr. KWIH, 26.3.1936, MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1581, Bl. 206–208; Niederschrift über die Sitzung des Kuratoriums des KWIH am 20.12.1938, MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1590, Bl. 127a–j. 158 Bericht über die Sitzung des Kuratoriums des KWIH am 1.11.1937, MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1590, Bl. 111–116. 159 Schmuhl 2000, S. 35. 160 Spatz, Notiz zu Besprechung mit Telschow, 26.4.1939, MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1583, Bl. 190.
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die die Behandlung nicht überlebten, wurden der „Sonderstelle zur Erforschung der Kriegsschäden des Zentralnervensystems“ übergeben. Diese der Militärärztlichen Akademie untergeordnete Stelle stand unter der wissenschaftlichen Leitung des KWIH-Histopathologen Julius Hallervorden, der auch die Schlüsselrolle in der Beziehung zur „Euthanasie“-Aktion T4 spielte. Die Hauptaufgabe der Sonderstelle lag in der Auswertung von Organpräparaten, die durch Heerespathologen entnommen wurden; das Hauptinteresse galt viral und bakteriell bedingten Entzündungen des Gehirns. Die 1150 Gehirne, die die Sonderstelle insgesamt erhielt, stammten aber nicht ausschließlich von Heeresangehörigen, sondern teilweise aus dem Warschauer Ghetto sowie aus der jüdischen Bevölkerung des Bezirks Lublin.161 Eine noch wesentlich größere Menge an Hirnpräparaten erhielt eine dem Reichsluftfahrtministerium unterstehende Dienststelle am KWIH, die von Spatz selbst geleitete „Außenabteilung für Gehirnforschung“ des Luftfahrtmedizinischen Forschungsinstituts. Als zentrale Sammelstelle für die Gehirne im Kampf getöteter Luftwaffenangehöriger nahm sie insgesamt 3338 Präparate auf. Sie bildete die Grundlage für Spatz’ zuvor formuliertes Programm zu Hirnverletzungen. Auch in dieser militärischen Parallelinstitution fand ein Übergang zum medizinischen Missbrauch von Opfern des NS-Regimes statt: Mit großer Wahrscheinlichkeit gingen die Gehirne von Opfern der Höhenversuche des Luftfahrtphysiologen Sigmund Rascher im KZ Dachau nach Buch.162 Die Militarisierung des KWIH brachte also eine enorme Ausweitung der hirnanatomischen und -pathologischen Arbeiten mit sich. Ein entsprechendes Aufkommen wäre im Rahmen des vogtschen Ansatzes nicht zu bewältigen gewesen, da ihre hirnarchitektonische Methode bei konsequenter Anwendung eine/n Präparator/in ein Jahr lang mit einem Gehirn beschäftigte. Unter Spatz vollzog sich außerdem eine Diversifizierung der Institut-Klinik-Beziehungen. War die ursprüngliche Struktur auf dem Projekt der Kartierung des gesamten Gehirns aufgebaut, dessen „Material“ die Forschungsklinik und ein weiteres klinisches Hinterland lieferten, entwickelten sich nun verschiedene Kooperationsbeziehungen zu pathologischen Spezialproblemen. Diese Entwicklungen verdeutlichen, dass – wie Schmuhl herausgearbeitet hat – die Herausbildung militärischer Parallelstrukturen nach 1939 in einem engen Zusammenhang mit den Forschungen an „Euthanasie“-Opfern stand.163 Überschneidungen bestanden nicht nur auf dem Gebiet der Hirnpathologie. Auch die Orientierung der Neurophysiologie auf luftfahrtmedizinische Fragen führte zumindest zu Ansätzen des Missbrauchs von Anstaltsinsassen. Kornmüllers Abteilung hatte vor dem Krieg begonnen, das EEG von den Lokalisationsfragen stärker auf spezielle Probleme der Diagnostik auszurichten. Sein Mitarbeiter Richard Jung entwickelte erste Ansätze, die Technik für die Vorhersage von Epilepsien nutzbar zu machen.164 Da Kornmüller einen direkten Zusammenhang zwischen der Auslösung von Epilepsieanfällen und der Sauerstoffunterversorgung (Hypo161 162 163 164
Peiffer 2000, S. 162; Schmuhl 2000, S. 35–36. Schmuhl 2000, S. 36; zu den Rascher-Gehirnen auch Peiffer 2000, S. 155–156. Schmuhl 2000, S. 55. Borck 2005, S. 276–277.
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xämie) im Gehirn vermutete, führte von diesen Versuchen ein direkter Weg zu einem luftfahrtmedizinisch äußerst bedeutenden Problem. Nachdem Kornmüllers Gruppe die Auswirkungen des Sauerstoffmangels elektrophysiologisch erforscht hatte, wurde in Kooperation mit dem luftfahrtmedizinischen Forschungsinstitut der Militärärztlichen Akademie angestrebt, das EEG zu einem Frühwarngerät für das Auftreten von Höhenkrankheit auszubauen. Dafür wurde die Bucher Technologie mit der Unterdruckkammer der Luftfahrtphysiologen verbunden. Das Ziel war die Entwicklung eines kompakten Systems, das direkt ins Flugzeug integrierbar sein sollte.165 Dieses Vorhaben scheiterte schon daran, dass Tönnies‘ exzellente Entwicklungsabteilung im Krieg nicht mehr vorhanden war. Während die Tests an Freiwilligen der Luftwaffe durchgeführt wurden, kam es durch die Rückübertragung des Ansatzes auf die klinische Forschung zu einem Zugriff auf Anstaltspatienten. Ausgehend von Kornmüllers Arbeiten über Beziehungen zwischen Sauerstoffmangel und Epilepsieanfällen begann ein Mitarbeiter der von Spatz geführten Luftwaffen-Forschungsabteilung, Josef Gremmler, mit Versuchen, bei Epilepsiekranken durch Sauerstoffmangel Krämpfe zu provozieren. Zum Glück für die Betroffenen blieben sie ergebnislos.166 Während Gremmler danach von der These der Hypoxämie-bedingten Krampfauslösung abging, sah der Genetiker Hans Nachtsheim vom KWI für Anthropologie die Notwendigkeit, sie auf anderer Grundlage zu prüfen. Nach seinen Versuchen an „krampfbereiten“ Kaninchen ließen sich besonders bei Jungtieren Anfälle im Unterdruck auslösen. Sein Beziehungsnetz, das auch einen Mitarbeiter des KWIH umfasste, führte ihn dazu, seinen Ansatz auf sechs epilepsieveranlagte Kinder aus der Kinderabteilung der Heil- und Pflegeanstalt Brandenburg-Görden zu übertragen. Bei den Versuchen in der Unterdruckkammer des Luftfahrtmedizinischen Instituts kamen die Kinder, soweit bekannt, ohne Anfälle oder größere Schäden davon.167 Die Unterdruckversuche sind bezeichnend für das im Umkreis des KWIH herrschende moralische Klima; ebenso spiegeln sie die neuen Konstellationen wider, die der Krieg für die Institutsarbeit geschaffen hatte. Durch die Verflechtung mit militärischen Strukturen sowie den gleichzeitigen Ausbau von Klinikbeziehungen wurde das KWIH zur Schnittstelle zwischen beiden Komplexen. Einerseits schuf die Partnerschaft mit den militärmedizinischen Institutionen ein Netzwerk zuvor nicht vorhandener experimenteller Möglichkeiten. Gerade die Anbindung an die Luftfahrtphysiologie eröffnete dabei eine Hinwendung zu humanexperimentellen Praktiken, die nicht zwangläufig zur Ausnutzung wehrloser Patienten führte, diese aber in den Bereich des Denk- und Machbaren rückte.168 Andererseits bedeutete nämlich die Ausweitung des klinischen Beziehungsnetzes nicht allein eine breitere Basis für den Bezug von Hirnpräparaten, sondern auch 165 Borck 2005, S. 284–289. Kornmüllers Abteilung machte für die Luftwaffe ferner tausende klinischer EEGs an Fliegern, vgl. Schmuhl 2000, S. 39. 166 Schwerin 2004, S. 292–294. 167 Ebd., S. 308–311. 168 Karl-Heinz Roth argumentiert überzeugend, dass in diesem Gebiet ein Kult des heroischen Selbstversuches gepflegt wurde, der leicht in eine zynische Nutzung unfreiwilliger Versuchspersonen umschlagen konnte, vgl. Roth 2001.
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neue Möglichkeiten der klinischen Beobachtung. Die Experimente an Kindern aus der Anstalt Brandenburg-Görden machen dies besonders deutlich, da es diese Anstalt war, über die sich der direkte Austausch zwischen dem KWIHAbteilungsleiter Julius Hallervorden und der T4-Mordaktion vollzog. Julius Hallervorden war seit 1929 Leiter der Zentralprosektur der brandenburgischen Heil- und Pflegeanstalten. Sein Arbeitsalltag bestand damit in der regelmäßigen Sektion von Gehirnen verstorbener Patienten aus 9 Anstalten. Obwohl er auch zuvor nur im Dienst des brandenburgischen Anstaltswesens gestanden hatte, war sein Renommee als Hirnpathologe beträchtlich. Dies äußerte sich 1928 in einem Angebot Vogts, an das KWIH zu wechseln, das er aber ablehnte. Auch als Spatz ihm 1937 die Abteilungsleiterstelle anbot, wollte er zunächst lieber auf seinem Posten in Potsdam verbleiben. In dieser Situation wurde vereinbart, die Provinzial-Prosektur in die neue Bucher Abteilung für Histopathologie zu integrieren. Die Motivation war prinzipiell dieselbe wie bei der Vereinbarung zwischen dem KWIH und den Berliner Anstalten – es ging darum, weiteres umfangreiches „Hirnmaterial“ nach einheitlicher Methodik und nach einer festgelegten wissenschaftlichen Strategie zu bearbeiten.169 Von entscheidender Bedeutung für Hallervordens Arbeit wurde seine Kooperation mit dem Leiter der Potsdamer Provinzialanstalt, Hans Heinze. Hallervorden war fasziniert davon, dass der ehrgeizige junge Psychiater in der einstigen Verwahranstalt einen klinischen Betrieb aufgebaut hatte, der sich nach seinem Urteil auf dem Niveau einer Universitätsklinik bewegte. Heinzes Hauptziele waren die genauere Einteilung nach eindeutig „minderwertigen“ und noch für den „Volksaufbau“ nutzbaren Patienten sowie die Unterscheidung zwischen erblichen und exogenen Formen des „Schwachsinns“, beides zentrale Fragen der nationalsozialistischen „Erbgesundheitspolitik“. 1938 wurde die Potsdamer Anstalt aufgelöst und mitsamt der Prosektur in die Anstalt Brandenburg-Görden verlegt.170 Heinze, der 1939 in das KWIH-Kuratorium berufen wurde, stellte die direkte Verbindung zwischen KWIH und T4-Aktion her. Als Mitglied des Führungszirkels der Krankenmord-Organisation machte er Görden zu einem der wichtigsten Zentren der Selektionsströme. Insbesondere die von ihm aufgebaute Gördener Kinderfachabteilung wurde zur Nahtstelle zwischen neuropathologischen Forschungsinteressen und Krankenmord. Die Übernahme der Gehirne verstorbener Anstaltsinsassen war für das KWIH schon vor dem Krieg ein Normalfall, ja ein wesentlicher Kern seines Forschungskonzepts. Das galt für das Bucher Institut wie auch für andere neuropathologisch arbeitende Institute. Die Besonderheit der Situation ab 1940 lag darin, dass die Anzahl der Todesfälle und damit die Möglichkeiten einer gezielten Auswahl von Hirnsektionen dramatisch anstiegen. Es steht schon aufgrund der erwähnten engen Beziehungen zwischen Heinze und dem KWIH außer Zweifel, dass auch nicht in die T4-Planungen involvierte Wissenschaftler wie Spatz und Hallervorden über die Gründe für diesen Anstieg informiert waren und ihn zumindest billigend in 169 Schmuhl 2000, S. 19–20. 170 Peiffer 2002, S. 156–162.
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Kauf nahmen. Schwieriger zu beantworten ist die Frage, inwieweit Wissenschaftler direkt auf die Ermordung bestimmter Patienten hinwirkten, weil sie sich von der Sektion besonders wertvolle Einsichten für ihr Forschungsgebiet versprachen. Im Falle Hallervordens ist in einigen Fällen zumindest eine vorherige Absprache über eine Opfergruppe belegbar. Wie erstmals 1984 von Götz Aly dokumentiert wurde, bearbeitete Hallervorden die Gehirne von Kindern aus der Gördener Anstalt, die am 28.10.1940 in der Gaskammer der Tötungsanstalt Brandenburg ermordet wurden. Für eine gezielte Auswahl dieser Kinder sprach, dass es vor der Mordaktion zu einer Unterredung zwischen Hallervorden und Heinze gekommen war und dass die Häufung der Diagnosen „Schwachsinn“ und Epilepsie mit Hallervorden Forschungsinteressen korrespondierte.171 Dieses Bild konnte durch weitere Belege präzisiert und ausgeweitet werden. Hallervorden war mit höchster Wahrscheinlichkeit bei der Vergasung anwesend und entnahm die Gehirne vermutlich persönlich. Hallervorden, Heinze und der Brandenburger Tötungsarzt Irmfried Eberl hatten sich im Vorfeld in Buch direkt besprochen. Die Gehirne von 40 der 59 am 28.10.1940 getöteten Kindern gingen mit Sicherheit an das KWIH; auch bei einem Massenmord am 11.6.1940 weist die Zusammensetzung der Kinder darauf hin, dass möglicherweise eine Vorauswahl im Sinne Hallervordens getroffen wurde.172 Für die Fälle der Gördener Kinder lässt sich recht deutlich rekonstruieren, dass es sich nicht einfach um eine Übergabe von Gehirnen an die Prosektur handelte, sondern um einen Vorgang, der unter Absprachen zwischen dem verantwortlichen Anstaltsleiter, dem interessierten Wissenschaftler und der Tötungsanstalt vollzogen wurde. Dass die Kinder „auf Anweisung“ Hallervordens starben, kann daraus nicht mit Sicherheit gefolgert werden.173 In vielen weiteren Fällen lassen sich keine vergleichbaren Wechselbeziehungen nachweisen. Hallervordens Prosektur erhielt auch nach dem Abschluss der T4-Aktion eine sehr viel größere Anzahl an Präparaten, die nicht allein aus Görden beziehungsweise anderen brandenburgischen Anstalten stammten. Dabei wurde nur ein kleiner Teil der Anzahl von der Prosektur registrierten Fälle nachweislich in Buch untersucht. Nach den Erhebungen Jürgen Peiffers liegen bei insgesamt über 5000 Befundberichten (davon 1500 „militärische“ Fälle), die für Hallervorden erfasst wurden, 824 Sektionsberichte vor. Von diesen Patienten fielen 279 mit Sicherheit, 314 wahrscheinlich den Patientenmorden zum Opfer. Für die Abteilung Spatz sind 344 Sektionsberichte überliefert, von denen 16 zweifellos und 89 möglicherweise getötete Menschen betrafen.174 Für einen Fall der Gördener Kindermorde ist dokumentiert, dass Hallervorden eine Hirnhälfte an das vogtsche Institut in Neustadt schickte.
171 Aly 1987; Aly 1989. 172 Knaape 1989, S. 15; Beddies 2002, S. 137; Peiffer 2005, S. 27. 173 Zu diesem Schluss kommt Peiffer (2005, S. 29) in seiner sehr sorgfältigen Untersuchung der Krankenakten der Mordopfer, deren Gehirne nach Buch gelangten. Der Begriff der Tötung auf „Anweisung“ ist schon darum problematisch, da die Ermordung der Kinder im Rahmen der T4-Aktion schon beschlossen war. 174 Peiffer 2000, S. 161–163.
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Vermutlich wurde das Präparat dort nicht bearbeitet; ob die Vogts über Herkunft orientiert waren, ist unklar.175 Da ein großer Teil der Gehirne nicht über den „regulären“ Weg aus Brandenburg nach Buch gelangte, sondern aus weiter entfernten Anstalten, zu deren Ärzten gute Beziehungen bestanden, liegt der Schluss nahe, dass die direkte Verbindung in das regionale Mordzentrum nicht entscheidend für die Sammeltätigkeit war. Schmuhl kommt zu dem Schluss, das KWIH habe es gar nicht nötig gehabt, „sich Gehirne ‚auf Bestellung’ liefern zu lassen – ein kollegiales Beziehungsnetz sorgte dafür, daß der Nachschub an Gehirnen nach Berlin nicht abriß, ohne daß die Berliner Hirnforscher ihre Wünsche noch eigens hätten anmelden müssen.“176 Peiffer weist darauf hin, dass Hallervorden auch aus einer Reihe Berliner Kliniken Gehirne bezog, wobei nicht immer auszumachen ist, ob die Patienten eines natürlichen Todes starben – dazu gehörte etwa das Bucher Ludwig-HoffmannHospital.177 Eine klinische Beobachtung im eigenen Haus war also keineswegs notwendige Voraussetzung für eine hirnpathologische Untersuchung, da reichlich „Fälle“ mit gut dokumentierter Krankengeschichte aus anderen Anstalten übernommen werden konnten. Der Zugriff auf ein nahes klinisches Hinterland, der für Vogts Institutskonzept zentral gewesen war, blieb jedoch auch für Spatz äußerst wichtig. Buch war im Oktober 1940 die erste Berliner Anstalt, die im Zuge der T4-Aktion komplett geräumt wurde.178 Der Direktor sah dadurch die Grundlagen der Institutsarbeit „schwer erschüttert“. Die gesamte Konstruktion einer Verzahnung mit dem neuropathologischen Institut der städtischen Anstalt schien ihm damit wertlos; die in Buch verbleibende Patientenpopulation war für die eigenen Zwecke nicht geeignet. Für den Fall, dass sich die Totalauflösung nicht verhindern ließ, forderte Spatz als „Ersatz für den Ausfall“ eine Sonderstation „für wissenschaftlich besonders interessante Psychosen“.179 War also die direkte Auseinandersetzung mit den „interessanten“ Patienten der eigentliche Schwerpunkt der Arbeit und die massenhafte Sammlung hirnpathologischer Präparate Ausdruck einer Gelegenheit, die man nicht verstreichen lassen wollte? Auf jeden Fall war die Einheit von genauer klinischer Untersuchung und pathologischem Befund grundlegend für das Projekt der wissenschaftlichen Neuropathologie. In diesem Zusammenhang muss auf den klinischen Musterbetrieb hingewiesen werden, den Heinze in seiner Gördener „Kinderfachabteilung“ aufbaute. Peiffer stellt fest, dass an vielen der 1940 ermordeten Kindern zuvor ein auffällig umfangreiches Untersuchungsprogramm durch175 Laut Hagner (2003, S. 134) sind in den Aufnahmebüchern des vogtschen Institutes vier weitere Hirne aus Buch verzeichnet, die allerdings von älteren Patienten stammten, die vermutlich eines natürlichen Todes starben. Vgl. auch Beddies 2002, S. 139. 176 Schmuhl 2000, S. 48. 177 Peiffer 2005, S. 13. 178 Aly 1989, S. 140. 179 Spatz an Stadtmedizinalrat Sütterlin, 8.7.1940, MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1583, Bl. 226–228. Der Stadtmedizinalrat vertröstete Spatz, die Räumung werde sich bestimmt langsam vollziehen, versprach aber für den gegenteiligen Fall Entgegenkommen; Sütterlin an Spatz, 10.7.1940, MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1583, Bl. 232.
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geführt wurde, das psychologische Tests, klinisch-physiologische Tests sowie die riskanten Pneumoencephalographien (Schädelradiographie nach Einleitung von Luft) vorgenommen wurde.180 Für Einzelfälle ist belegt, dass nicht nur die ausführlichen Fallbeschreibungen nach Buch, sondern auch Hallervordens histopathologische Befunde zurück nach Görden gingen.181 Heinze begann ab Ende 1941 eine „Beobachtungs- und Forschungsabteilung“ aufzubauen, die auf ein entsprechend breites Testspektrum für 200 Patienten ausgelegt sein sollte. Sie war Teil eines Planes, durch die Einrichtung eines Netzes solcher Spezialabteilungen den Krankenmord mit einem abgestimmten neurologischen Forschungsprogramm zu flankieren. Die besondere Betreuung galt Patienten, die als therapierbar galten. Dass Heinze dafür den Abtransport von 200 „wertlosen“ Patienten forderte, verdeutlicht, wie eng für die Protagonisten des Krankenmordes Therapiereform und Selektion zusammenlagen.182 Der Aufbau einer solchen Forschungsklinik an einer Institution, die zuvor nur zur wissenschaftlichen Peripherie gezählt hatte, verweist auf eine weitere Entwicklung der Kriegsjahre, die für die Stellung des KWIH bedeutend war. Einerseits stand das Institut im Mittelpunkt eines verzweigten Sammlungsnetzwerkes. Andererseits kam die Verbindung von zentraler Hirnsammlung und hochspezialisierter klinischer Forschung, die als Alleinstellungsmerkmal des KWIH gedacht war, nicht in der angestrebten Weise zustande; vielmehr differenzierte sich unter dem Eindruck von Patientenselektion und Militarisierung ein Netz von spezialisierten Einrichtungen aus. Während die Vielzahl der neuen Arbeitsbeziehungen für Mitarbeiter wie Kornmüller und Hallervorden vorteilhaft gewesen sein mag, war sie für die Entwicklung einer kohärenten Programmatik ein Hindernis. Spatz selbst sah schließlich die Verkoppelung mit militärischen Strukturen, die er selbst betrieben hatte, als ernsthaftes Problem für die längerfristige Entwicklung. Weil die 21 wissenschaftlichen Mitarbeiter und Abteilungsleiter sämtlich im Dienst der Wehrmacht standen, klagte er 1943, musste er sich ausländische Mitarbeiter zusammensuchen, um seine Interessen an der Neuroendokrinologie des Zwischenhirns weiter verfolgen zu können. Damit drohe man auf einem wichtigen neuen Gebiet der Neurobiologie den Anschluss an die amerikanische Konkurrenz zu verlieren und zudem die Heranbildung des eigenen wissenschaftlichen Nachwuchses zu vernachlässigen.183 Die durch den Krieg gegebenen unbegrenzten Möglichkeiten führten demnach nicht zu der Entwicklung, die Spatz vorgeschwebt hatte. Durch die militärmedizinische Überformung blieb zu wenig Spielraum für die gezielte Einleitung 180 Peiffer 2005, S. 26. Ein ähnliches Testprogramm gab es laut Peiffer in keiner Anstalt mit Ausnahme der mit der Universität Heidelberg verbundenen Anstalt Wiesloch. 181 Beddies 2002, S. 139. 182 Ebd., S. 145–147. 183 Spatz an Telschow, 17.5.1943, MPGA Abt. I, Rep. 1a, Nr. 1584, Bl. 279. Die Versuche betrafen die Gonadotropin-Ausschüttung im Hypothalamus und wurden in Zusammenarbeit dem KWI für Biochemie und der Schering AG durchgeführt. Zu Spatz’ großem Interesse an dem Thema vgl. Korrespondenz Spatz-Butenandt Mai 1942–April 1943, MPGA Abt. III, Rep. 84, Ordner 139.
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neuer Projekte. Eine Realisierung der „Familien-Hirnforschung“, wie er sie 1937 gefordert hatte, war trotz des riesigen Aufkommens an Hirnpräparaten nicht zu erkennen. Schmuhl konstatiert, dass das Institut durch die Einbindung in die diversen militärischen Strukturen davor stand, im Friedensfalle auseinanderzubrechen.184 Dafür sorgten aber schon die Kriegsverhältnisse: Der militärische Arm der Tönnis’schen Neurochirurgie, die „Forschungsstelle für Hirn-, Rückenmarkund Nervenverletzte“, wanderte Ende 1943 ins oberösterreichische Bad Ischl ab; Hallervordens Abteilung wurde im Juli 1944 ins hessische Dillenburg verlegt. Spatz selbst machte sich erst im März 1945 auf den Weg nach Göttingen. Als Überrest der neuromedizinischen Tätigkeit des KWIH blieben nur die Stationen für Hirnverletzte. Nach dem Krieg sollte kurzfristig erwogen werden, auf dieser Basis wieder an die neurobiologischen Traditionen anzuknüpfen. Die einzige lokale Hinterlassenschaft, die einen Ansatzpunkt für ein neues wissenschaftliches Institut bot, war jedoch die genetische Abteilung.
184 Schmuhl 2000, S. 40.
TEIL II. DIE AKADEMIEINSTITUTE IN BERLIN-BUCH 1947–1989 STRUKTUREN UND WENDEPUNKTE
II.1. AUFBAUZEIT GRÜNDUNG UND AUSBAU DES INSTITUTS FÜR MEDIZIN UND BIOLOGIE, 1947–1957 Mit dem Ende des Krieges endete auch die Geschichte des Hirnforschungsinstituts. Obwohl eine Neugründung mit Ausrichtung auf die Krebsforschung seinen Platz einnahm, vollzog sich jedoch kein völliger Bruch. Während fast alle prägenden Wissenschaftler des KWIH aus der Institutsgeschichte ausschieden, beeinflussten verschiedene Akteure aus seinem Umfeld die weitere Entwicklung. Einige wesentliche Charakteristika des KWIH gingen auf das neuformierte Institut über: die Verbindung von experimenteller Forschung und spezialisierter Klinik, das Ideal einer auf ein Schwerpunktthema gerichteten interdisziplinären Struktur und die Betonung biophysikalischer Methoden, die sich während der Kriegsjahre in der Genetik herausgebildet hatte. Das neue Institut für Medizin und Biologie (IMB) unterschied sich allerdings hinsichtlich seiner wissenschaftspolitischen Bedeutung klar vom KWIH. War dieses in seiner Konzeption international einzigartig, aber keineswegs das unbestritten führende nationale Zentrum seiner Disziplin gewesen, füllte jenes eine Schlüsselposition in einem zentralistischen Wissenschaftssystem aus. Aus einem Sammelpunkt für Wissenschaftler, die in der schwierigen Nachkriegsituation einen neuen Anfang suchten, wurde es unter Ägide der neugebildeten Deutschen Akademie der Wissenschaften (DAW) zum Angelpunkt für den Wiederaufbau der experimentellen Medizin und Biologie im sowjetisch beherrschten Teil Deutschlands. Die frühe Entwicklung des IMB spiegelt daher grundsätzliche Zielsetzungen und Probleme der Wissenschaftspolitik der jungen DDR wider. Sie war einerseits von der Frage geprägt, ob das neue Institut einer einheitlichen Ausrichtung auf das medizinische Thema der Krebsbekämpfung folgen oder ob es sich zu einem Verbund unabhängiger Teilinstitute ausdifferenzieren sollte, welche Schlüsselbereiche der experimentellen Biologie und Medizin abdeckten. Andererseits zeigte sie, welche materiellen Grenzen dem Aufbau eines Forschungszentrums, das den Anschluss an internationales wissenschaftliches Spitzenniveau wiederherstellen konnte, im neuen sozialistischen Staat gesetzt waren. Aus dieser Ausgangslage ergaben sich interne Konflikte und wissenschaftspolitische Widersprüche, welche die Struktur des Bucher Institutskomplexes nachhaltig prägten und bis zur Auflösung der DDR immer wieder zu Tage traten.
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Die Akademieinstitute 1947–1989
Konzepte und Kompromisse In den Jahren nach 1945 stand die Berliner Wissenschaft zwar nicht am absoluten Nullpunkt, aber doch vor weitgehend zusammengebrochenen Strukturen. Ein großer Teil der wissenschaftlichen Institute war zerstört oder in den Westen Deutschlands abgewandert, die staatlichen und halbstaatlichen Lenkungs- und Finanzierungsorgane existierten nicht mehr oder waren funktionsunfähig. Die Preußische Akademie der Wissenschaften, im Juli 1946 als Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin (DAW) wiederbelebt, erlangte in diesem Kontext zwangsläufig eine Schlüsselstellung, da die KWG als Trägerin der außeruniversitären Forschung in Berlin nur noch dem Namen nach bestand. Schon bald nach Kriegsende bemühte sich die Akademie, die Restbestände der KWG-Institute unter ihre Obhut zu nehmen und so den von Mitgliedern schon lange geforderten Ausbau zu einer vollwertigen Forschungsorganisation zu realisieren.1 Zudem war die Akademie die organisatorische Basis jener kleinen Gruppe von Wissenschaftlern, die den Besatzungsmächten als Träger der Reorganisation der Berliner Forschung akzeptabel erschienen – international angesehenen Professoren, die ihre Reputation bereits vor der NS-Zeit errungen hatten und nicht durch Mitgliedschaft in der NSDAP kompromittiert waren. Dazu gehörten die Mediziner Theodor Brugsch und Robert Rössle, der Pharmakologe Wolfgang Heubner und der Biochemiker Karl Lohmann. Rössles Einschätzung, dass „jeder Unbelastete ... jetzt mehr als überbelastet“ werde, deutet an, dass verbliebene Akademiker zwangsläufig in die Verantwortung genommen wurden.2 Klein war auch die Gruppe der ausgewiesen sozialistischen und kommunistischen Experten, die wissenschafts- und gesundheitspolitische Schlüsselpositionen besetzten. Hierzu zählten der Mediziner Maxim Zetkin, Vizepräsident der Zentralverwaltung für Gesundheitswesen (ZVG), der Physiker Robert Rompe, leitender Mitarbeiter in der Zentralverwaltung für Volksbildung, der von der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) als KWGPräsident eingesetzte Physikochemiker Robert Havemann oder der Mathematiker Josef Naas, den Akademiepräsident Stroux im November 1946 gegen den Widerstand vieler Mitglieder zum DAW-Direktor berief. Naas, altes KPD-Mitglied und Überlebender des KZ Mauthausen, war die treibende Kraft beim Umbau der akademischen Gelehrtengesellschaft in eine Forschungsinstitution.3 Trotz seiner Parteiverbundenheit verfolgte er eine eigensinnige Politik, die seine eigenen Genossen oft ebenso irritierte wie die führenden Köpfe der Akademie.4 Naas war auch die zentrale Figur in den Verhandlungen über die Überführung des Bucher KWIH in ein neues Akademieinstitut. Buch war für die Ambitionen der DAW von entscheidender Bedeutung. War die Akademie durch das wissenschaftspolitische Vakuum der Nachkriegszeit aufgewertet worden, so bot das 1 2 3 4
Nötzoldt 1997, S. 125–126. Zit. n. Hamperl 1976, S. 6. Malycha 2002, S. 78. ZK Abt. Wissenschaft, Kontaktsitzung mit Genossen der DAW, 4.12.1953, BAB DY 30/IV 2/9.04/377, Bl. 24; zu Naas’ Eigenmächtigkeit vgl. Tandler 2000, S. 36–38.
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Bucher Institutsgelände die beste materielle Grundlage für einen Neuaufbau. Während die innerstädtischen Universitätsinstitute weitgehend zerstört oder beschädigt waren, blieben die KWIH-Gebäude funktionsfähig und wurden damit zwangsläufig zum Anlaufpunkt für heimatlose Wissenschaftler. Karl Lohmann hatte sein biochemisches Universitätsinstitut bereits 1943 in die von Spatz hinterlassenen Räume verlagert.5 Auch der Physiker Friedrich Möglich, der zum biophysikalischen Diskussionszirkel um Timoféeff-Ressovsky gehörte hatte, siedelte sich bei Kriegsende im KWIH an. Obwohl die SMAD einen Teil der Räume für ihren medizinischen Dienst requirierte, bot das Institut ausreichendes Potential für weitere Arbeitsgruppen. Bevor die DAW auf den Plan trat, wurde in der SBZ-Gesundheitsverwaltung jedoch erwogen, die KWIH-Gebäude vor allem für medizinische Aufgaben zu nutzen und dabei an die Institutstradition anzuknüpfen. Anfang 1946 stand in Aussicht, die Räume der neurochirurgischen Abteilung der Charité zur Verfügung zu stellen und in diesem Zusammenhang auch eine „Hirnforschungsabteilung“ im Institutsgebäude unterzubringen.6 Der Plan, so eine zentrale Stelle für die zahlreichen Hirnverletzten der Hauptstadt zu schaffen, hatte offenbar die Rückendeckung der SMAD, wurde allerdings nach kurzer Zeit wieder aufgegeben. Seit Kriegsende war der Kliniktrakt war von der Geburtshilfe-Station der städtischen Frauenklinik belegt. Eine Verlegung zugunsten einer forschungsorientierten Spezialklinik schien der Berliner Medizinalverwaltung angesichts der Notlage der Krankenversorgung nicht realisierbar.7 Schwerer wog vermutlich, dass die SMAD bereits ein anderes Projekt ins Auge gefasst hatte. Erste Vorbereitungen, verbliebene KWIH-Hirnpräparate für den Aufbau einer neurochirurgischen Klinik zu sichern, wurden im Frühjahr 1946 mit dem Hinweis auf die baldige Ansiedlung sowjetischer und deutscher Wissenschaftler abgebrochen.8 Drei Monate später trug die SMAD an die Gesundheitsverwaltung der SBZ den Wunsch heran, in Buch ein Krebsforschungsinstitut zu errichten.9 Diese Pläne dürften unter Berliner Medizinern und Gesundheitspolitikern einige Unterstützer gehabt haben, wenn sie nicht gar auf lokaler Ebene angestoßen wurden.10 Die Errichtung eines regionalen oder nationalen Zentrums für Krebsforschung war seit langem ein Anliegen der deutschen Onkologen, das aber nie ganz verwirklicht worden war. Auf der Tabula rasa Nachkriegs-Berlins schien es möglich, frühere Versuche der Institutionalisierung wieder aufzunehmen. Nachdem das Krebsforschungsinstitut der Charité durch die antisemitische Entlassungswelle nach 1933 praktisch zusammengebro5
MfS/HA Untersuchung, Befragungsprotokoll R. Rompe, 10.5.1988, BStU HA IX/11 RHE 25/87 SU Bd. 10, Bl. 176–181, hier Bl. 178. 6 Aktennotiz Lindenberg, Abt VI der ZVG, 11.1.1946, BAB DQ 1/39, Bl. 227. 7 Magistrat der Stadt Berlin an ZVG, 13.6.1946, BAB DQ 1/55, Bl. 224. 8 Aktennotiz Dr. Stender, 30.4.1946, BAB DQ1/55, Bl. 225. 9 M. Zetkin, Aktennotiz über Unterredung mit Prof. Grigorewsky, 13.7.1946, BAB DQ 1/55, Bl. 222. 10 So betonte ein ehemaliger Charité-Radiologe gegenüber der SMAD die Notwendigkeit, in der Onkologie endlich zentrale Strukturen aufzubauen; s. Schatter an SMAD, 23.7.1946, BAB DQ 1/39, Bl. 134–5.
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Die Akademieinstitute 1947–1989
chen war, hatte sich 1935 mit dem „Allgemeinen Institut gegen die Geschwulstkrankheiten” im städtischen Rudolf-Virchow-Krankenhaus ein neues Zentrum der klinischen Krebsforschung etabliert.11 Das Institut, das neben 100 Klinikbetten auch über biologische, chemische und physikalische Forschungsabteilungen verfügte, konnte allerdings bis Kriegsbeginn nicht annähernd seine geplante Funktion als regionales Behandlungszentrum ausfüllen.12 Einer der ersten Mediziner, die aus dem sowjetisch-deutschen Interesse an einem neuen Krebszentrum Kapital zu schlagen versuchten, war der Virologe Eugen Haagen. Haagen hatte bereits für seine tödlichen Menschenversuche mit selbstentwickelten Fleckfieberimpfstoffen im KZ Natzweiler-Struthof in amerikanischer Haft gesessen, bevor er nach seiner Mitte 1946 in Buch unterkam. Der Umstand, dass er hier unbehelligt blieb (bevor er im November in West-Berlin erneut von den Briten verhaftet wurde), ist spekulativ damit erklärt worden, das sowjetische Militär habe mit ihm hier ein Institut für biologische Kampfstoffe aufbauen wollen.13 Ob Buch für einen solchen Plan geeignet gewesen wäre, erscheint fraglich. Haagens Konzept für ein „Institut für Virus- und Geschwulstforschung“ war damit kaum vereinbar, entsprach aber um so mehr den immer deutlicher hervortretenden Bemühungen deutscher Wissenschaftler, durch eine Verbindung ihrer Forschungsinteressen mit der Krebsthematik einen Platz in Buch zu finden.14 Planungen für die Wiederbelebung des Bucher Instituts mit einem neuen wissenschaftlichen Profil hatten schon früher eingesetzt. Bereits im Dezember 1945 verfasste der prominenteste Neu-Bucher, Karl Lohmann (1898–1978), auf Wunsch eines leitenden Mitarbeiters der SMAD-Gesundheitsabteilung einen Entwurf für ein neues Forschungsinstitut in den Räumen des KWIH.15 In bemerkenswertem Vertrauen in die historische Nachsicht seiner sowjetischen Ansprechpartner schlug der Biochemiker den Namen „Kaiser-Wilhelm-Institut in Buch“ vor, was insofern begründet war, als es die vogtsche Tradition eines multidisziplinären, aber thematisch fokussierten Instituts weiterführen sollte. An die Stelle der Hirnforschung sollte indessen die Eiweißforschung treten. Lohmann sah in Deutschland keinen herausragenden Wissenschaftler, der gemäß Harnack-Prinzip die Führung übernehmen konnte, und empfahl eine vorübergehende Leitung durch ein Kuratorium. Hinsichtlich der Besetzung schlug er ausnahmslos Personen vor, die sich in seinem unmittelbaren Umfeld bewegten: die noch immer in Buch ansässige Elena Timoféeff-Ressovsky als Leiterin einer genetischen Abteilung, die noch in Dahlem arbeitenden KWG-Biologen Elisabeth Schiemann und Klaus Pätau, die mit Buch seit längerem verbundenen Physiker Robert Rompe, Friedrich Möglich und Pascual Jordan sowie den betagten Internisten Theodor Brugsch. Inhaltlich blieb Lohmanns Entwurf vage, zeichnete aber eine Richtung vor, die für 11 12 13 14
Proctor 1999, S. 35. Scheybal 2000. Weindling 2009, S. 232–249; Geißler 1999, S. 762–763. E. Haagen, „Institut für Virus- und Geschwulstforschung“, 1.9.1946, BAB DQ 1/39, Bl. 140– 144. 15 K. Lohmann, Vorschlag über den wissenschaftlichen Neuaufbau des KWI für Hirnforschung in Berlin-Buch, 16.12.1945 (hs. und ms. Version), ABBAW NL Lohmann, Nr. 192.
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die weiteren Planungen in Buch bestimmend bleiben sollte: die Zusammenarbeit biophysikalischer, biochemischer und genetischer Methoden bei der Erforschung biologischer Elementarstrukturen, zuzüglich einer recht unklar definierten Verbindung zur medizinischen Forschung. Primär aber zielte sein Vorschlag auf die Zusammenfassung in Berlin verbliebener Wissenschaftler ab. Auch dies war ein wiederkehrendes Merkmal der Gründungsphase des neuen Bucher Institutes – die gegebenen personellen und materiellen Bedingungen wogen schwerer als wissenschaftliche und organisatorische Idealvorstellungen. Lohmanns Entwurf dürfte unter Mitarbeit von Rompe und Möglich formuliert worden sein, die als frühere Mitglieder des Timoféeff-Zirkels die jüngste Tradition des Hauses verkörperten. Beide Physiker hatten während der NS-Zeit unter Repressalien gelitten und im Krieg Forschung für die Berliner Elektroindustrie betrieben. Möglich wurde, nachdem er sich in Buch mit einem kleinen Labor etabliert hatte, 1946 Professor für theoretische Physik an der HumboldtUniversität.16 Der Altkommunist Rompe nahm als Abteilungsleiter für Hochschulen und wissenschaftliche Institute in der Zentralverwaltung für Volksbildung eine wissenschaftspolitische Schlüsselposition ein. Beide Wissenschaftler waren also, ebenso wie Lohmann, geeignete Ansprechpartner für die SMAD-Gesundheitsverwaltung.17 Erstaunlich ist, dass Rompe einen weiteren früheren Teilnehmer der Bucher Kolloquien in die Diskussionen einbezog, der eindeutig auf der entgegengesetzten Seite des politischen Spektrums stand – den Physiker Pascual Jordan. Jordan legte im September 1946 unter Vermittlung Rompes der Akademie nicht nur ein erweitertes Institutsprojekt vor, sondern setzte auch unbescheiden voraus, selbst die Leitung zu übernehmen.18 Sein Konzept für ein „Institut für Biophysik und medizinische Physik“ sah vier Hauptabteilungen für Genetik, Bakteriologie, Eiweißforschung und – als „Krönung“ – für Krebsforschung vor. Inhaltlich schlug sich der letzte Punkte jedoch kaum nieder. Jordan orientierte sich, ähnlich wie Lohmann, an der Verbindung von biophysikalischen und genetischen Methoden, wie sie während des Krieges im Zirkel um Timoféeff praktiziert und diskutiert worden waren; wesentlich deutlicher als jener arbeitete er aber eine programmatische Zielrichtung heraus. Obwohl Jordan eine recht eigenwillige Interpretation der von den Bucher Genetikern beforschten „Treffervorgänge“ vertreten hatte, folgte er dem Gruppenkonsens, wenn er die Weiterführung strahlengenetischer Mutationsanalysen anhand von Bakterien, Viren und Makromolekülen als Königsweg zu einem allgemeinen Verständnis biologischer Elementarvorgänge ansah.19 Wie Lohmann entwarf er eine Personalplanung, die von den in Buch und Berlin vorhandenen Kräften ausging; allerdings spekulierte er auch auf hochkarätige Zugänge aus den Westzonen, speziell aus dem früheren Kreis der KWG-Virusforscher.20 16 17 18 19
Hoffmann/Walker 1997. F. Möglich, Das Institut für Festkörperforschung der DAW, 3.12.1948, ABBAW AKL 60. P. Jordan an R. Rompe, 20.9.1946, ABBAW AKL 46. Zu Jordans Rolle im biophysikalischen Diskussionszirkel um Timoféeff vgl. Gausemeier 2005, S. 252–254. 20 Jordan an „Rössler“(!)/DAW, 19.12.1946, ABBAW AKL 46.
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Diese Pläne waren ebenso optimistisch wie Jordans Erwartungen hinsichtlich seiner eigenen Person. Bei den ersten akademieinternen Beratungen war bereits klar, dass Jordan aufgrund seiner NSDAP-Mitgliedschaft nicht für eine Leitungsfunktion in Frage kam.21 Die Idee eines biophysikalisch orientierten Instituts, das Proteinstruktur- und Krebsforschung als Hauptrichtungen verband, war allerdings von diesem Zeitpunkt an richtungsweisend. Frontstadt-Pläne Im Februar 1947 waren die Diskussionen innerhalb der Akademie so weit gediehen, dass sich das Präsidium offiziell mit der Bitte um Übergabe des Bucher Instituts an die SMAD wandte.22 Es war aber nicht das Jordansche Konzept eines „Instituts für Biophysik und medizinische Physik“ allein, das realisiert werden sollte. Die Bucher Planungen mussten einerseits die bereits im KWIH-Gebäude ansässigen Arbeitsgruppen Lohmanns und Möglichs berücksichtigen. Andererseits hatte sich die Akademie bereits vor ihrer Neugründung auf Projekte verpflichtet, die nur am nordöstlichen Stadtrand realisiert werden konnte. Der Säugetiergenetiker Hans Nachtsheim, der als einziger Abteilungsleiter des KWI für Anthropologie in Berlin-Dahlem verblieben war, beantragte im Herbst 1946 den Aufbau eines „Instituts für vergleichende Erbbiologie und Erbpathologie“, als dessen Standort er schon einige Monate zuvor selbstverständlich Buch eingeplant hatte.23 Zur gleichen Zeit legte der Pharmakologe Heubner den Plan eines „Instituts für medizinisch-biologische Elektronenmikroskopie“ vor, das unter Leitung der Methodenpioniere Helmut und Ernst Ruska stehen sollte.24 Zudem brachte die Akademieverwaltung eine „Arbeitsstelle für biochemische und organisch-chemische Spezialaufgaben“ unter Ludwig Reichel, einem früheren Abteilungsleiter am Dresdner KWI für Lederforschung, in Buch unter. Obwohl Reichels Arbeitsspektrum nur bedingt zu den anderen Bucher Gruppen passte, wollte die DAW einen profi-lierten Forscher an sich ziehen, dem man andernorts keine Arbeitsmöglichkeiten bieten konnten. Buch wurde damit zu einem Sammelpunkt verschiedener Forschungsgruppen, die sich perspektivisch zu größeren Arbeitseinheiten der DAW entwickeln sollten. Für den Ausbau der Akademie zu einer Forschungsorganisation war dieses Vorgehen notwendig; die Profilierung eines neuen Großinstituts in Buch wurde durch die Angliederungen und Verpflichtungen indessen immer schwieriger. Entsprechend unklar war, was eigentlich in Buch gegründet werden sollte. Die Vorstel21 Auszug aus Protokoll der math.-nat. Klasse 20.2.1947 (gez Rössle); Hs. Notiz „Unterrdg. mit Rompe, Möglich u Naß (!) 10.3.47“, beide ABBAW AKL 46. 22 Präsident der DAW an Grigorewski/SMAD Abt. Gesundheitswesen, 3.2.1947, ABBAW AKL 42. 23 Nachtsheim an Stroux, 14.9.1946, ABBAW AKL 55; Nachtsheim an F. Curtius, 7.6.1946, MPGA Abt. III, Rep. 20a, Nr. 14. 24 W. Heubner, Antrag auf Errichtung eines Instituts für medizinisch-biologische Elektronenmikroskopie, 30.10.1946, ABBAW AKL 286.
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lungen über den Aufbau und das Personal des neuen Institutsgebildes veränderten sich in den ersten Monaten des Jahres 1947 ständig. Während die Projekte Nachtsheims und der Ruskas als unabhängige Einheiten behandelt wurden, blieb lange in der Schwebe, wie sich die Arbeitsgruppen Lohmanns und Möglichs zu dem neuen „biophysikalischen“ Institut verhalten sollten. Trotz dieser Probleme standen die sowjetischen Militärbeamten in Karlshorst einer Bucher Neugründung positiv gegenüber.25 Allerdings legte die SMAD Wert darauf, dass das Institut vornehmlich medizinisch ausgerichtet war und von einem Mediziner geleitet wurde.26 Das dürfte auch den Wünschen der deutschen Gesundheitsverwaltung entsprochen haben, deren Leiter Maxim Zetkin bei den Übergabeverhandlungen eine wichtige Rolle spielte. Die Konzeptionen Lohmanns und Jordans hatten dagegen der Krebsforschung zwar oberflächlich ihre Reverenz erwiesen, aber keine ernsthaften Gedanken zur Einbeziehung der klinischen Forschung beinhaltet. Der SMAD-Befehl Nr. 161 vom 27.6.1947, der die Bildung eines medizinisch-biologischen Forschungsinstituts in Buch anwies, war insofern das Resultat eines Verhandlungsprozesses, in dem verschiedene Konzeptionen und Interessen aufeinandertrafen.27 Der „Befehl“ schrieb die medizinische Ausrichtung des neuen „Instituts für Medizin und Biologie“ (IMB) fest, in dem auf Krebsprobleme ausgerichtete Forschungslaboratorien einer Klinik beigeordnet waren. Die Akademieführung und die mit ihr verbundenen Wissenschaftler verfolgten jedoch weiter ihre Linie, zunächst einen Zusammenschluss bereits vorhandener, thematisch nur lose verbundener Forschungsprojekte zu erreichen. Die Bestimmung, dass ein Mediziner zum Direktor zu berufen war, stand bereits zur Disposition, als einen Monat nach dem Gründungsbefehl erstmals das Kuratorium des neuen Instituts zusammentrat. Zu diesem Zeitpunkt vereinte das Gremium mit Ausnahme von ZVG-Leiter Zetkin nur Naturwissenschaftler, darunter jene, die bereits einen Fuß in der Bucher Tür hatten – Lohmann, Möglich, Nachtsheim, Reichel und Ernst Ruska, der mit seinem Bruder Helmut die elektronenmikroskopische Forschungsstelle aufbauen sollte.28 Außer dem Interesse, in der Akademie eine eigenständige Position aufzubauen, einte diese Wissenschaftler wenig. Die SMAD hatte durchaus nichts dagegen, dass die bestehenden Arbeitsstellen in den Institutsverband integriert wurden, beharrte aber auf dem möglichst baldigen Aufbau einer klinischen und experimentellen Krebsforschung.29 Da hierfür keine Voraussetzungen bestanden, waren Konflikte zwischen Besatzungsbehörde und deutschen Wissenschaftlern vorprogrammiert.
25 Naas an Rössle, 3.3.1947, ABBAW AKL 42. 26 Aktenvermerk Naas, 29.4.1947, ABBAW AKL 42. 27 Befehl Nr. 161 des Oberbefehlshabers der SMAD, 27.6.1947, Betrifft Übergabe des medizinisch-biologischen Instituts Berlin-Buch an die Deutsche Akademie der Wissenschaften (Abschr. 3.7.1947), ABBAW AKL 42. 28 Protokoll Sitzung zur Konstitution des Kuratoriums für das Institut der Math.-Nat. Klasse in Buch, 25.7.1947, ABBAW AKL 42. 29 Sokolov (Chef der Abt. Gesundheit der SMAD) an Präsident der DAW, 9.12.1947, ABBAW AKL 42.
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Die Berufung eines Klinikers an die Spitze scheiterte bereits daran, dass die federführenden Akademiker keinen der verfügbaren Onkologen für fähig hielten, das neue Institutskonstrukt zu leiten. Der von der SMAD favorisierte Hans Auler, zuvor Leiter des Krebsinstituts der Charité, fand ebenso wenig Anklang wie der frühere Chef des Geschwulstinstituts am Virchowkrankenhaus, Heinrich Cramer, der später die Leitung der klinischen Abteilung übernehmen sollte.30 Die aussichtsreichsten Kandidaten waren durchweg Naturwissenschaftler. Rompe unterstützte trotz aller politischen Hindernisse den ehemaligen NS-Propagandisten Jordan, der sich nach seinem Konzeptentwurf als natürliche erste Wahl betrachtete.31 Rössle gab dem Physiker kühl zu verstehen, dass seine Selbsteinschätzung, politisch rehabiliert zu sein, in Berlin nicht uneingeschränkt geteilt wurde.32 Größere Chancen hatte der ab Mitte 1946 von der Verwaltung für Volksgesundheit favorisierte Franz Bielschowsky, Sohn des vormaligen KWIH-Abteilungsleiters Max Bielschowsky. Der Pathologe war als Emigrant und Teilnehmer des spanischen Bürgerkrieges politisch hoch akzeptabel und hatte im britischen Exil weit beachtete Ergebnisse zur chemischen Karzinogenese erzielt.33 Obwohl Bielschowsky seine praktische medizinische Qualifikation eher gering einschätzte, blieb sein Name bis Mitte 1947 in der Diskussion.34 Zu diesem Zeitpunkt hatte Heubner bereits den Heidelberger Chemie-Nobelpreisträger Richard Kuhn ins Spiel gebracht, der vermutlich an den politischen Ansprüchen gescheitert wäre, aber ohnehin kein Interesse zeigte.35 Erst nach Sondierung dieser Option konzentrierten sich die Bemühungen auf den Physiker Walter Friedrich (1883–1968), den früheren Direktor des Instituts für Strahlenforschung an der Berliner Universität. Akademiedirektor Naas besuchte Friedrich im Juni 1947 in seinem Ausweichquartier in Niedersachsen und erfuhr, dass dieser gerne auf seinen Lehrstuhl zurückkehren wollte, aber auch an dem Bucher Institut interessiert war, dessen Konzeption „sich mit langgehegten eigenen Plänen decken würde“. Schon eine Woche später bat ihn die mathematisch-naturwissenschaftliche Klasse, den Direktorenposten zu übernehmen.36 Im Sinne des von Lohmann, Rompe und Jordan vorgeschlagenen biophysikalisch orientierten Institutsmodells war Friedrich ein idealer Kandidat. Im Bucher Diskussionszirkel hatte er zwar keine zentrale Rolle gespielt, sein Universitätsinstitut war dank seiner exzellenten Ausstattung jedoch seit Beginn der 1930er Jahre ein
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Lohmann an Zetkin, 11.11.1947, ABBAW NL Lohmann 193. Jordan an Rompe, 9.4.1947; Jordan an Roessle, 14.4.1947, beide ABBAW AKL 46. Roessle an Jordan, 30.4.1947, ABBAW AKL 46. Bonser 1967. F. Bielschowsky an Jäger/DZG, 22.9.1946, ABBAW AKL 46; Jäger (ZVG) an Präsident der DAW, 22.8.1947, ABBAW AKL 47; Auszug Protokoll der Sitzung der Math.-Naturw. Klasse 19.6.1947 und Anmerkung Wende/DAW, 2.10.1947, ABBAW AKL 42. Bielschowsky übernahm 1947 die Leitung eines Krebsforschungsinstituts in Neuseeland. 35 Auszug Protokoll Math.-Nat. Klasse 19.6.1947; Kuhn an Heubner, 31.5.47, beide ABBAW AKL 42. 36 Aktenvermerk Naas 17.6.1947; DAW an Friedrich, 23.6.1947, beide ABBAW AKL 42.
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Knotenpunkt der biophysikalischen Forschung in Berlin gewesen.37 Hinzu kam sein internationales Renommee. Friedrich hatte 1912, theoretischen Vorarbeiten Max von Laues folgend, erstmals experimentell die Interferenz von Röntgenstrahlen in Kristallen nachgewiesen und damit den Grundstein zur Röntgenkristallographie gelegt. Die Verleihung des Physiknobelpreises 1914 an Laue – der das Preisgeld mit Friedrich und seinem Mitarbeiter Paul Knipping teilte – machte ihn in der ganzen Fachwelt bekannt.38 Zu Beginn der 1920er Jahre war er einer der ersten Experimentalphysiker, die in einem medizinischen Kontext forschten. Dennoch war er als Nichtmediziner nach den Kriterien der SMAD für den Bucher Direktorenposten eigentlich nicht geeignet. Die harte Haltung in dieser Frage begann sich jedoch nach der Gründung des IMB zu lockern. Die sowjetischen Fachleute betrachteten bereits Lohmann als rechtmäßigen Leiter,39 was nahelag, da der Biochemiker von Beginn an der starke Mann vor Ort gewesen war. Lohmann selbst drängte aber nicht in die Verantwortung, da er als Dekan der Medizinischen Fakultät der Universität bereits stark beansprucht war. Ende 1947 war entschieden, dass Friedrich die Leitung übernehmen würde. Ferner wurden nun Lohmanns biochemisches Laboratorium sowie die projektierten Institute für Erbpathologie sowie Elektronenmikroskopie als Abteilungen des IMB geführt.40 Ungelöst war immer noch die Besetzung der experimentellen und der klinischen Krebsabteilungen. Letztere wurde aufgrund des Drängens der SMAD kommissarisch Zetkin unterstellt. Trotz dieser Vakanzen war in den Institutsplanungen mittlerweile von der Bildung mehrerer „Institute“ innerhalb eines Forschungszentrums die Rede.41 Das sorgte bei den sowjetischen Behörden für erhebliche Irritationen, da es den Festlegungen des Gründungsbefehls widersprach. Nicht akzeptabel erschien der SMAD auch, dass bereits an die Eingliederung neuer Abteilungen – etwa für Serologie oder medizinische Sozialpsychologie – gedacht wurde, während der Kernbestand des Instituts noch immer nur auf dem Papier existierte.42 Die sowjetischen Vorbehalte waren begründet. Die projektierten Abteilungen konnten angesichts ihrer bescheidenen Größe kaum als Institute bezeichnet werden. Zudem gefährdete die Tendenz der DAW, verschiedenste Forschungsgruppen noch Buch zu lotsen, das Ziel einer einheitlichen Institutsprogrammatik. Die Akademie konterte mit dem Argument, die Lage im geteilten Berlin zwinge dazu, interessierten Forschern weitgehende Zugeständnisse hinsichtlich Status und Themenwahl zu machen. Beim Wiederaufbau des Forschungsstandortes Buch habe man sich „von dem politischen Gesichtspunkt bestimmen lassen, das Institut als Anziehungs- und Sammelpunkt für bedeutende Wissenschaftler vor allem 37 Schwerin 2015, S. 161–162. 38 Schierhorn 1983, S. 16–22. 39 Aktenvermerk Naas 26.11.1947 über Besprechung mit Prof. Pschnenitschikow (SMAD) und Präsident Linser (ZVG) am 25.11.1947, ABBAW AKL 42. 40 Aktennotiz DAW (vermutl. Wende), 31.12.1947, ABBAW AKL 42. 41 Aktennotiz Linser 25.11.1947, BAB DQ 1/39, Bl. 85. 42 (Lohmann), Über den Aufbau der Forschungsstätte Buch für Medizin und Biologie, vermutlich Nov. 1947, ABBAW AKL 42.
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auch aus dem Westen Deutschlands zu benutzen.“43 Für die DAW ging es weniger um die Bildung eines Großinstituts mit kohärenter Thematik als darum, die relativ intakte Infrastruktur in Buch für den Aufbau eines eigenen Forschungspotentials zu nutzen. Vor dem Hintergrund des beginnenden Kalten Krieges war diese Strategie einleuchtend, wenn nicht zwangsläufig. Innerhalb Berlins tobte ein scharfer Konkurrenzkampf um die verbliebenen wissenschaftlichen Kräfte. Die sowjetische Seite kontrollierte zwar die Universität, sah sich aber mit den Planungen für eine „Forschungshochschule“ in der amerikanischen Zone konfrontiert. Bereits seit Frühjahr 1946 gab es Pläne, aus den Restbeständen der Dahlemer KaiserWilhelm-Institute ein KWI für Genetik zu bilden.44 Die Bucher Wiederaufbaupläne waren unmittelbar mit den Vorgängen im Südwesten Groß-Berlins verbunden. Besonders deutlich macht dies der Fall des Genetikers Nachtsheim, der sich sowohl Hoffnungen auf ein reformiertes KWI in Dahlem wie auf eine DAWgetragene Arbeitsstätte in Buch machen konnte. Angesichts seiner Vergangenheit als Abteilungsleiter am KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik könnte vermutet werden, dass die Bucher Option für Nachtsheim kaum mehr als ein strategisches Faustpfand war. Da er 1948 öffentlich gegen die in der Sowjetunion dogmatisierte Vererbungstheorie Trofim Lyssenkos Stellung bezog und anschließend seine Professur an der Humboldt-Universität aufgab, scheint es offensichtlich, dass eine Tätigkeit im sowjetischen Machtbereich für ihn nie eine ernsthafte Perspektive darstellte.45 Der Versuch der DAW, den Genetiker nach Buch zu ziehen, scheiterte aber nicht allein an ideologischer Inkompatibilität, sondern auch an den ungeklärten Fragen der inneren Organisation des neuen Akademieinstituts. Die SMAD hatte niemals Einwände gegen den Aufbau einer genetisch-pathologischen Forschungsgruppe geäußert und Nachtsheim noch Anfang 1948 zugesichert, dass seine Arbeitsstelle neben dem Krebsinstitut als eigenständiges Institut geführt werde. Der Genetiker war dem Angebot nicht abgeneigt, argwöhnte aber, dass das „russische“ Institutskonzept ihm letztlich keine volle Freiheit der Themenwahl lassen würde.46 Die Akademie ließ für Nachtsheim in Buch Tierställe errichten, während er sich selbst mehrere Monate nicht um seine neue Arbeitsstelle kümmerte. Den endgültigen Bruch mit der Akademie vollzog Nachtsheim erst Ende 1948, nachdem sein „Institut“ formal zur Abteilung des IMB erklärt worden war.47 Dass Nachtsheim seinen endgültigen Verbleib im Westteil unter Verweis auf das „Schicksal der Genetiker in Russland“ begründete, war sicherlich kein vorgeschobenes Argument.48 Sein Lavieren zeigt aber, dass Fragen des persönlichen Status und der wissenschaftlichen Perspektiven für die Entscheidung eine beträchtliche Rolle spielten. 43 44 45 46
DAW an Gen. Makarow, SMAD/Abt. Gesundheit (Entwurf), 8.12.1947, ABBAW AKL 42. K. Pätau an Shulits (OMGUS), 16.5.1946, MPGA Abt. III, Rep. 20a, Nr. 110. Kröner 1998, S. 209–217. Nachtsheim an Naas, 4.2.1948, ABBAW AKL 55; Nachtsheim an Curtius, 28.4.1948, MPGA Abt. II, Rep. 20a, Nr. 14. 47 Nachtsheim an Friedrich, 6.12.1948, ABBAW AKL 55. 48 Nachtsheim an Stroux, 10.1.1949, ABBAW AKL 55.
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Wie begründet das Drängen der Akademiespitze war, potentielle Mitarbeiter nicht durch zu enge organisatorische Vorgaben zu verschrecken, zeigte auch der Fall der geplanten elektronenmikroskopischen Abteilung. Der Entwickler des weltweit ersten Elektronenmikroskops, Ernst Ruska, war an einer Mitarbeit in Buch ebenso interessiert wie sein Bruder, der Mediziner Helmut Ruska. Gemeinsam hatten die Brüder Ende der 1930er Jahre im elektronenmikroskopischen Laboratorium der Siemens AG zu Pionierleistungen in der Darstellung biologischer Strukturelemente beigetragen, etwa der erstmaligen Abbildung von Viruspartikeln.49 Heubner hatte Ende 1946 ein eigenes Institut für die Brüder mit dem Argument gefordert, dass die methodologisch-technische Arbeit auf diesem Gebiet neu ansetzen müsse, nachdem die in Deutschland vorhandenen Geräte durch die Besatzungsmächte beschlagnahmt worden waren. Das Institut für die technische Entwicklung und medizinisch-biologische Anwendung der Elektronenmikroskopie sollte zum Anlaufpunkt für Forscher aus verschiedenen Bereichen und damit zum Motor für einen Neustart moderner Forschungspraktiken werden.50 Diese Ausrichtung wurde weiter verfolgt, als ab Mitte 1947 eine organisatorische Eingliederung in das IMB ins Auge gefasst wurde. Dabei war eine Aufteilung in zwei Abteilungen vorgesehen: Helmut Ruska sollte die Anwendung der elektronenmikroskopischen Technik auf verschiedene biologische Objekte weiterentwickeln, während Ernst Ruska eine Abteilung für Gerätebau aufbaute. Letztere war nicht als bloße Spezialwerkstatt konzipiert, sondern als technisches Entwicklungszentrum für Forschungsapparate, das eine Pionierfunktion für die gesamte Akademie ausübte.51 Dieser ambitionierte Plan scheiterte schon daran, dass es trotz der engen Beziehungen der Ruskas zur Herstellerfirma Siemens nicht gelang, im Verlauf des Jahres 1948 das bestellte Elektronenmikroskop einzurichten. Das Einsetzen der Berlin-Blockade brachte die Transaktionen zum Stillstand. Sie hielt außerdem den in Westdeutschland ansässigen Hemut Ruska davon ab, sich um den Aufbau in Buch zu kümmern.52 Ende 1948 zogen die Ruskas die Konsequenzen aus der verfahrenen Situation und verließen Buch, nicht ohne die bereits gelieferten Teile des Elektronenmikroskops mitzunehmen.53 Zwei Monate zuvor hatten die Brüder ihrem Frust durch eine sarkastische Grußpostkarte Luft gemacht, auf der sie den ersten Geburtstag ihres ersten und einzigen Institutsmikroskops feierten – eines bescheidenen Lichtmikroskops.54 Ihre Konflikte mit der Akademieleitung resultierten jedoch nicht allein aus den Versorgungsproblemen, sondern auch aus der Unklarheit ihrer Perspektiven. Ernst Ruska hatte Anfang 1948 Zweifel angemeldet, ob seine Abteilung einem medizinisch-biologischen Institut zugeord49 Zu E. Ruskas Arbeiten im internationalen Kontext vgl. Rasmussen 1997, S. 26 & 30. 50 W. Heubner, Antrag auf Errichtung eines Instituts für medizinisch-biologische Elektronenmikroskopie, 30.10.1946, ABBAW AKL 286. 51 Linser/Lohmann (an SMAD), Nov. 1947, „Über den Aufbau der Forschungsstätte Buch für Medizin und Biologie“, ABBAW AKL 42, auch ABBAW NL Lohmann 193. 52 H. Ruska an Wende, 17.7.1948, ABBAW AKL 54; H. Ruska an Naas, 17.9.1948, Buch A 999/2. 53 Auszug aus Protokoll der Gesamtsitzung (DAW), 16.12.1948, ABBAW AKL 54. 54 Kärtchen H. & E. Ruska, 1.10.1948, ABBAW AKL 54.
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net sein könne, wenn es Gerätetechnik für verschiedene Forschungsbereiche liefern sollte.55 Ähnlich wie Nachtsheim befürchtete er, dass durch die Eingliederung in das IMB seine Autonomie nicht garantiert war. Die Rückzüge Nachtsheims und der Ruska-Brüder zeigen, dass arrivierte Wissenschaftler eine Ansiedlung in der SBZ selten mit Überzeugung anstrebten, aber auch nicht ausschlossen, wenn sich vorteilhafte Bedingungen boten. Unter den Vorzeichen massiver Versorgungsprobleme und der Berlin-Blockade hatte die DAW gerade in der Phase des Institutsaufbaus große Schwierigkeiten, entsprechende Anreize zu geben. Um so schwerer wog, dass zudem die Frage des Status der Forschungseinheiten im neuen Bucher Institut ungeklärt war. War das IMB ein Verband selbstständiger Teilinstitute, die unter einem gemeinsamen Leitbild lose miteinander kooperierten, oder war es ein Institut mit einheitlicher Leitung, dessen Abteilungen einem gemeinsamen Plan folgten? Diese Frage sorgte nicht nur in der Aufbauphase für Auseinandersetzungen, sondern sollte sich zu einem bleibenden Strukturproblem entwickeln. Institutshierarchie oder Abteilungsautonomie? Mit Nachtsheims Weigerung, nach Buch zu ziehen, scheiterte der von Lohmann oder Jordan angedachte Plan, die genetische Tradition des KWIH mit neuer Stoßrichtung wiederzubeleben. Unter dem früheren KWIH-Mitarbeiter Herbert Lüers wurde zwar eine Abteilung etabliert; ein klares Profil konnte sie jedoch nicht entwickeln. Nach Lüers’ Übersiedlung nach West-Berlin 1954 sollte sie nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Wesentlich bedeutender für die Entwicklung des IMB war ohnehin der Aufbau eines Potentials auf dem Gebiet, das nach Willen der SMAD den thematischen Schwerpunkt bilden sollte, nämlich der experimentellen und klinischen Krebsforschung. Dieser begann erst ein Jahr nach der offiziellen Gründung. Das projektierte Herzstück des Instituts, die Krebsklinik, war trotz allen Drängens der Besatzungsbehörde erst Anfang 1949 arbeitsfähig.56 Der erste Leiter der klinischen Abteilung, Heinrich Cramer, war aufgrund des Mangels an profilierten Onkologen eigentlich eine Notlösung. Ende 1948 wurde ihm als einer der ersten Mitarbeiter Hans Gummel (1908–1973) zur Seite gestellt, der zunächst als Chefchirurg und ab 1954 auch als Abteilungsleiter fungierte. Gummel hatte vor dem Krieg unter anderem unter Robert Rössle, Wolfgang Heubner sowie Karl Heinrich Bauer gearbeitet, der als einflussreichster deutscher Onkologe ein besonders gewichtiger Fürsprecher war.57 Das Beziehungsgeflecht der Akademiemitglieder, die den Aufbau des IMB von Beginn an beeinflusst hatten, sollte auch bei der Anwerbung des ersten profilierten Mitarbeiters für die experimentelle Krebsforschung entscheidend sein. Arnold Graffi (1910–2006), der im Frühjahr 1948 55 E. Ruska an J. Naas, 23.2.1948, Buch A 999. 56 Zum Aufbau der Klinik vgl. ausführlich S. 258–260. 57 H. Bielka, Hans Gummel, in: Pasternak 2004, S. 78–82.
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als Leiter eines Laboratoriums für biologische Krebsforschung berufen wurde, hatte in seiner Vorkriegskarriere bereits unter Ferdinand Sauerbruch und Otto Warburg gearbeitet.58 Direkte Beziehungen nach Buch konnte er schon während des Krieges knüpfen, als er als Mitarbeiter des Prager Pharmakologen Herwig Hamperl in Kontakt mit der Arbeitsgemeinschaft für Krebsforschung kam, der auch Timoféeff-Ressovsky angehörte. Graffi hatte bereits experimentell und theoretisch originelle Arbeiten zur chemischen Kanzerogenese vorzuweisen, fungierte aber bis 1952 nicht offiziell als Abteilungsleiter, sondern als Laboratoriumsleiter in einer kommissarisch von Friedrich geführten Abteilung für Geschwulstforschung – ein Ausdruck der von den federführenden Akademiemitgliedern verfolgten Zielsetzung, die Führungspositionen durch möglichst arrivierte und prominente Wissenschaftler zu besetzen.59 Die Geschwulstforschung wurde 1949 durch ein chemisches Laboratorium unter Walter Hebekerl, einem ehemaligen Mitarbeiter in Friedrichs Strahleninstitut, sowie 1951 ein mikrobiologisches Laboratorium unter Friedrich Windisch erweitert. Beide Arbeitseinheiten konnten jedoch nicht annähernd die Bedeutung der schnell wachsenden Gruppe um Graffi erreichen. Die chemische Krebsforschung erhielt wie Graffis biologische 1952 zwar Abteilungsstatus, konnte sich aber keine eigenständige Stellung erarbeiten. Bei der ersten größeren Reform der Institutsstruktur wurde sie 1955 dem von Graffi geleiteten Arbeitsbereich Biologie zugeordnet; nachdem sich Hebekerls Nachfolger Horst Bothe nach Westdeutschland verabschiedet hatte, wurde sie 1958 kurzerhand aufgelöst, da ihre wissenschaftlichen Leistungen ohnehin als unbefriedigend galten.60 Windisch bemühte sich, im Anschluss an die Arbeiten Otto Warburgs über die Zellatmung in Krebsgeweben thematisch zu profilieren. Das Interesse hierfür blieb innerhalb des IMB sehr begrenzt; Windisch beklagte sich wiederholt, von seinen Kollegen systematisch ausgegrenzt und benachteiligt zu werden. Mitte der 1950er Jahre stand tatsächlich die Ausgliederung seiner Abteilung zur Debatte.61 Letztlich blieb sie aber zunächst im Rahmen des Arbeitsbereichs Pharmakologie bestehen; von 1958 bis zu Windischs Tod 1961 bildete sie als Arbeitsbereich Zellphysiologie die kleinste selbstständige Forschungseinheit des IMB. Nachdem in der Gründungsphase versucht wurde, einen Stab von erfahrenen Forschern an das IMB zu ziehen, führte der interne Wettbewerb bald zu einer Schwerpunktsetzung. Graffis Arbeitsgruppe konnte unter anderem darum schnell zu einer bestimmenden Kraft im Institut werden, da sie trotz ungünstiger techni-
58 Zur Biographie vgl. Wunderlich/Bielka 2006. 59 Für die Klinik hoffte man etwa Ende 1947 noch, den betagten Ferdinand Sauerbruch als Gallionsfigur zu installieren. Aktennotiz 31.12.1947 über Treffen zwischen Stroux, Linser, Heubner, Zetkin, Wende, ABBAW AKL 42. 60 Protokoll Arbeitsbesprechung des 1. Direktors am 22.8.1957, ABBAW Buch A 50; Protokoll Direktoriumssitzung am 15.11.1957, ABBAW Buch A 14. 61 F. Windisch an W. Friedrich, 28.2.1956; F. Jung an W. Friedrich, 23.3.1956, beide ABBAW Buch A 999.
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scher Voraussetzungen innerhalb relativ kurzer Zeit arbeitsfähig war.62 Graffi folgte einem klar umrissenen Arbeitsprogramm, dessen Grundzüge er bereits Ende der 1930er Jahre entwickelt hatte. Es basierte auf einer komplexen Theorie der zellulären Kanzerogenese, das die Wirkung chemischer Karzinogene ebenso in Betracht zog wie genetische Faktoren und eine mögliche Beteiligung virusartiger Agentien umfasste. Zunächst lag der Schwerpunkt auf der chemischen Krebsauslösung, die mit den vorliegenenden Mitteln und Methoden am einfachsten anzugreifen war.63 Schon in den frühen 1950er Jahren konnten Graffi und seine Mitarbeiter erste experimentelle Hinweise auf eine virusbedingte Krebsentstehung erzielen und sich so auf einem neu entstehenden Forschungsgebiet zu positionieren.64 Graffis Abteilung war damit die erste des IMB, die eigenständige neue Ergebnisse und ein beträchtliches internationales Renommee vorweisen konnte. Neben Gründungsdirektor Friedrich, dem Mitgründer Lohmann, Graffi und Klinikchef Gummel zählte auch der Pharmakologe Friedrich Jung (1915–1997) zu den Wissenschaftlern, die das Institut in den ersten beiden Jahrzehnten seines Bestehens entscheidend prägten. Jung, zuvor an der Universität Würzburg tätig, übernahm Ende 1949 die verwaiste elektronenmikroskopische Abteilung. Als früherer Mitarbeiter an Wolfgang Heubners pharmakologischem Institut in Berlin profitierte auch er von alten Verbindungen in die Akademie. Seine Anstellung in Buch war gewissermaßen ein Nebeneffekt seiner Berufung auf Heubners Lehrstuhl an der HU Berlin.65 Für ihn sprach auch seine Erfahrung mit der Elektronenmikroskopie, die eine zumindest teilweise Beibehaltung des ursprünglich geplanten Abteilungsthemas ermöglichte. Ebenso wie Graffi baute Jung seine pharmakologische Abteilung um ein Thema auf, das er in der Vorkriegszeit aufgenommen hatte, nämlich die durch Giftstoffwirkungen induzierten strukturellen und funktionellen Veränderungen der roten Blutzellen beziehungsweise des Hämoglobins. Während Graffi allerdings die Grundlinien seines Forschungsprogramms mithilfe eines festen Mitarbeiterstammes stetig weiterentwickelte, waren die Schwerpunkte in Jungs Abteilung breiter gestreut. Als Lehrstuhlinhaber überließ er seinen Wissenschaftlern viel Spielraum, sich durch Themensetzung jenseits seines „Hausthemas“ eine selbstständige Universitätskarriere aufzubauen – mit Erfolg, da mehrere seiner frühesten Mitarbeiter, so etwa der spätere Akademiepräsident Werner Scheler, von Buch aus pharmakologische Lehrstühle an DDR-Universitäten erobern konnten. Der Mangel an konzeptioneller Kohärenz bot allerdings eine offene Flanke für Kritik, die dazu führte, dass Jung ab etwa 1960 eine stärkere Schwerpunktsetzung ver-
62 A. Graffi, Tätigkeitsbericht über das Kalenderjahr 1948 der biologischen Abteilung für Geschwulstforschung des IMB, 1.3.1949, ABBAW NL Graffi, Nr. 30, Kasten 3. 63 A. Graffi, Beitrag zur Wirkungsweise kanzerogener Reize und zur Frage des chemischen Aufbaus normaler und maligner Zellen, Archiv für Geschwulstforschung 1 (1949), S. 61–117. 64 Vgl. hierzu ausfürhlich Kap. III.2., S. 292–308. 65 Zu Jungs Biographie vgl. C. Jung, G. Pasternak, Friedrich Jung, in: Pasternak 2004, S. 83–87; ferner Scheler/Oehme 2002.
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folgte.66 Noch mehr aber sollte er sich gegen den Vorwurf verteidigen müssen, dass sein Abteilungsprogramm keinerlei Nähe zur Krebsthematik aufwies. Während die Gründungsurkunde die Krebsforschung als Gemeinschaftsthema des IMB festschrieb, war Jung weniger im Sinne der Institutskonzeption, sondern primär darum rekrutiert worden, um einen vielversprechenden Fachwissenschaftler an die DAW und die DDR zu binden. Die Diskrepanz zwischen der Idee eines einheitlich ausgerichteten Instituts und der tatsächlichen thematischen Selbstständigkeit der Abteilungen sollte auch in den 1950er Jahren ein Grundproblem des IMB bleiben. Die Heterogenität das IMB wurde auch durch Walter Friedrichs biophysikalische Abteilung verkörpert, obwohl gerade ihr in der Institutkonzeption eine zentrale Rolle zukam. Die biophysikalische Methodik sollte die Brücke zwischen der Grundlagenforschung zu biologischen Elementarvorgängen und der Strahlentherapie des Krebses bilden. Diese Ausrichtung wurde erst recht deutlich, seitdem ab 1949 – wie weiter unten genauer beschrieben wird – die Aufrüstung des IMB mit multifunktionaler Strahlentechnik verfolgt wurde. Es lag nicht nur an der langwierigen und zudem verzögerten Realisierung dieser Pläne, dass der anvisierte Aufbau eines strahlenbiologischen Forschungsschwerpunkts in Ansätzen steckenblieb. Friedrich führte in seiner Abteilung das Vorkriegsprogramm seines Universitätsinstituts weiter, das zwar in enger Verbindung mit der Strahlenmedizin gestanden hatte, aber auch Randgebiete der Biophysik wie die Ultraschallforschung oder die Biometeorologie umfasste. Diese nur in kleinem Umfang gepflegten Projekte, die sich langfristig nicht in Buch etablieren konnten, trugen dazu bei, dass die Bucher Biophysik in den 1950er Jahren kein klares Profil herausbilden sollte.67 Auch das biophysikalische Teilprojekt mit dem größten Entwicklungspotential blieb nur eine Episode. Friedrich berief 1949 die österreichische Mathematikerin Katharina Boll-Dornberger als Leiterin einer Arbeitsgruppe für Röntgenstrukturanalyse, einer Technik, deren überragende Bedeutung für die Aufklärung von Protein- und Nukleinsäurestrukturen sich zu dieser Zeit bereits deutlich abzeichnete. Dornberger verfügte über in Deutschland einmalige Voraussetzungen auf diesem Gebiet, da sie die Kriegsjahre im englischen Exil verbracht und dort mit den führenden Köpfen der biochemischen Röntgenkristallographie, John D. Bernal und Dorothy Crowfoot-Hodgkin, zusammengearbeitet hatte.68 Sowohl unzureichende materielle Voraussetzungen als auch das mangelnde Interesse ihrer Kollegen verhinderten, dass die Röntgenstrukturforschung einen festen Platz in Buch einnehmen konnte. Letztlich war es die bereits zu Beginn der 1950er Jahre im Institut herrschende räumliche Enge, die Dornberger veranlasste, Buch schon 1952 wieder zu verlassen. In einer eigenen Arbeitsstelle in Adlershof, 66 Die relative Freiheit seiner Mitarbeiter stellte Jung dennoch weiterhin als bewusste und berechtigte Strategie dar, vgl. F. Jung, Aufgabengebiete des Instituts für Pharmakologie (1947– 1965), ABBAW FG 79. Zur Entwicklung seines Instituts ab den 1960er Jahren vgl. Kap. III.4.2. 67 Vgl. ausführlich Kap. III.3.1. 68 E. Höhne, Katharina Boll-Dornberger, in: L. Pasternak 2002, S. 24–28. Zu Dornberger vgl. auch diese Arbeit S. 348–350.
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in der sie sich physikochemischen Problemen mit Industriebezug widmete, sah sie bessere Entwicklungsmöglichkeiten. Schon zu Beginn der 1950er Jahre kam in der SED-Parteigruppe der DAW Kritik auf, dass es Friedrichs Abteilung an einer klaren konzeptionellen Linie fehlte. Da der betagte Physiker neben dem Direktorenposten ab 1951 auch das Präsidentenamt in der DAW bekleidete, konnte ihm die mangelnde Präsenz kaum vorgeworfen werden, wohl aber das Versäumnis, keinen profilierten Stellvertreter installiert zu haben, der eigenständige Aufbauarbeit leistete. Ähnlich kritisch wurde die Situation in Lohmanns biochemischer Abteilung betrachtet.69 Als Vizedirektor und DAW-Funktionär war auch Lohmann vorwiegend administrativ tätig. Sein wichtigster Mitarbeiter Erwin Negelein, langjähriger Assistent an Otto Warburgs Kaiser-Wilhelm-Institut für Zellphysiologie, war aufgrund seiner experimentellen Fähigkeiten ein wichtiger Ansprechpartner für Mitarbeiter anderer Abteilungen.70 Die Publikationstätigkeit der Abteilung blieb aber gering, bis sich ab Mitte der 1950er Jahre die beiden Mitarbeiter Kurt Repke und Peter Langen mit eigenen Projekten zu profilieren begannen.71 Insgesamt bewegte sich das IMB in den Jahren nach seiner Gründung kaum auf das Ideal eines Instituts mit gemeinsamer Zielsetzung zu. Auch die Möglichkeiten zur Kooperation zwischen den Abteilungen wurden nur selten genutzt. In den Anfangsjahren kam es zwar zu einigen Gemeinschaftsarbeiten, etwa zwischen Negeleins Stoffwechsellabor und der gynäkologischen Klinik oder zwischen der Biophysik und Graffis Gruppe.72 Der Methodenaustausch blieb aber eher die Ausnahme. Was in der Gründungsphase als Negativszenario befürchtet wurde – eine Verselbstständigung der Abteilungen und mangelnde thematische Koordination – wurde so schnell zu einem internen Streitpunkt. Insbesondere Chefchirurg Gummel begann noch vor seinem Aufstieg zum Klinikleiter auf der Bestimmung des Gründungsbefehls zu bestehen, dass das IMB ein Krebsforschungsinstitut mit einheitlicher Programmatik werden sollte. Während Lohmann als altgedienter Laborforscher die Position vertrat, naturwissenschaftliche Grundlagenforschung lasse sich grundsätzlich nicht planmäßig auf ein Ziel ausrichten, forderte Gummel eine regelmäßige Prüfung, inwieweit die Forschungarbeiten der Abteilungen für die praktische Krebsbekämpfung nutzbar waren.73 Er blieb nicht beim Ruf nach verstärkter „kollektiver Planung“ stehen, sondern bestand auf einer klaren Ausrichtung der experimentellen Gruppen auf die Bedürfnisse der Klinik. Gummels 69 „Bericht über die Tätigkeit der Akademie in den letzten Jahren“, n.dat. (1953 o. 1954), BAB DY 30/IV 2/9.04/372, Bl. 49–89. 70 Zur Biographie vgl. Bielka 2002, S. 177–178. 71 Vgl. Kap. III.4.1. 72 W. Eschbach, E. Negelein, Untersuchungen über den Stoffwechsel des Portioepithels und des Portiocarcinoms, Archiv für Gynäkologie 185 (1955), S. 504–512; L. Herforth, E.J. Schneider, W. Krischke, A. Graffi, Zur quantitativen Bestimmung fluoreszenzfähiger cancerogener Substanzen in tierischen Geweben, Archiv für Geschwulstforschung 6 (1953), S. 89–100. 73 Bericht zur Abteilungsleiterbesprechung 14.2.1951, ABBAW Buch A 22; Protokoll zur Vorbesprechung am 3.5.1950 im IMB Buch über Planung 1950, 1951 und Fünfjahresplan 1951– 55, ABBAW AKL 43.
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Kritik richtete sich insbesondere auf die Abteilungen Biophysik und Pharmakologie, deren Programme tatsächlich kaum mit der Krebsthematik verbunden waren.74 Diese Vorwürfe fanden bei den Parteileuten in der Akademiespitze ein Echo, die zudem in Jungs Doppelfunktion als Universitätslehrer und Abteilungsleiter ein Hemmnis für die Entwicklung der Bucher Pharmakologie sahen.75 Bis in die frühen 1960er Jahre sollten diese Kritik nicht zu grundlegenden Eingriffe in die Programmatik der Abteilungen führen. Jedoch begann sich ein latenter Konflikt zwischen den Konzepten der Gruppenautonomie und der Institutseinheit aufzubauen, der mittelfristig zum Ausbruch kommen musste. Zunächst deuteten die Zeichen auf eine weitere Verselbstständigung der Abteilungen. Dafür sorgte allein schon das schnelle Wachstum des IMB. Anfangs waren die Abteilungen nur kleine Arbeitsgruppen; 1949 hatte neben der Klinik nur Graffis Geschwulstlaboratorium mehr als zehn Mitarbeiter.76 Von 1951 bis 1955 stieg die Gesamtbelegschaft von 173 auf 496.77 Trotz der entsprechenden Aufwertung der Abteilungen waren deren Leiter formal gegenüber Friedrich als Direktor beziehungsweise Lohmann als seinem Stellvertreter weisungsgebunden. Zwar wurden Fragen von allgemeiner Bedeutung in regelmäßigen Abteilungsleitersitzungen besprochen, die Teilnehmer hatten aber immer weniger den Eindruck, dass sie damit in die wichtigen Entscheidungen eingebunden waren. Nach einem Stimmungsbericht der SED-Bezirksleitung vom Januar 1955 murrten nicht nur Parteimitglieder über einen zu autokratischen Führungsstil der beiden Direktoren. Die Arbeitsplanung und vor allem die Beschaffung von Geräten werde ohne Rücksprache mit den Abteilungsleitern festgelegt, womit ein rationeller Einsatz der Mittel unmöglich sei.78 Dass diese Missstände nicht allein durch die Parteibrille sichtbar waren, zeigte sich wenig später. Im März 1955 richteten die Abteilungsleiter eine gemeinsame Eingabe an das Präsidium, die ein ähnliches Bild der Lage am IMB zeichnete. Wesentliche Fragen der Institutsentwicklung würden ohne ihre Beteiligung „einfach von oben entschieden“. Das gelte insbesondere hinsichtlich der langsam fortschreitenden Neubauten, über deren Nutzung ständig wechselnde und widersprüchliche Angaben zirkulierten. Vor allem aber sei „der kollektive Charakter des Instituts verlorengegangen.“ Das IMB stelle „nur noch eine Gruppe isolierter Abteilungen dar, welche jede für sich ohne zielbewußte zentrale Planung eine eigene Thematik verfolgen.“79 Ohne dass die Ursache der Misere beim Namen genannt wurde, war es eindeutig, dass die Mitarbeiter Lohmanns Führungsstil dafür verantwortlich machten. Lohmann war seit Friedrichs 74 H. Gummel, Gesamtanalyse der Forschungsstätte, in: Jahresbericht 1952 des IMB, ABBAW AKL 43. 75 „Besprechung betr. Buch am 11.10.1955 im Büro des Gen. Westermann“, BAB DY 30/IV 2/ 9.04/422, Bl. 47–50. 76 Jahrbuch der DAW 1948/1949, S. 26–28. 77 Jahrbuch der DAW 1950/1951, S. 27–29; Haushaltmittel des IMB, n. d., ABBAW AKL 722. 78 Bezirksleitung SED, Abt. Schulen und Wissenschaft an Hager/Abt. Wissenschaft des ZK, 12.1.1955, BAB DY 30/IV 2/9.04/422, Bl. 21. 79 Jung, Gummel, Graffi, Windisch, Pupke u. Bothe an Präsidium d. DAW, 28.3.1955, ABBAW AKL 42.
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Ernennung zum Akademiepräsidenten 1951 de facto Institutsdirektor und kontrollierte als Sekretar der medizinischen Klasse der DAW außerdem auch die übergeordnete Leitungsebene. Vermutlich ging die Initiative zu dem Vorstoß vor allem von Jung aus, der in der Akademieparteileitung als „Oppositionsführer gegen Lohmann“ angesehen wurde.80 Der Umstand, dass die Rebellion in engem zeitlichen Zusammenhang mit der durch die SED vorangetriebenen Reform der DAW-Statuten stand, legt nahe, dass es ganz im Sinne der Partei war, die Macht eines der bürgerlichen Akademiegranden einzuschränken. Tatsächlich war aber allein die kleine Bucher SED-Grundorganisation beteiligt, während man im ZK rügte, die Mitarbeiter hätten statt des Weges der Konfrontation lieber die „kameradschaftliche Zusammenarbeit“ mit den amtierenden Direktoren suchen sollen.81 Auf jeden Fall trug die parallel laufende Reform der DAW-Strukturen dazu bei, dass die Vorschläge innerhalb kürzester Zeit umgesetzt wurden. Wie von den Abteilungsleitern vorgeschlagen, basierte die neue Institutsordnung auf der Einführung einer kollegialen Leitung durch ein Direktorium, das sich aus den Leitern der Abteilungen zusammensetzte, welche in Form von „Arbeitsbereichen“ reorganisiert wurden. Der Direktor war dabei – in der verabschiedeten Form noch deutlicher als im Entwurf – nur Erster unter Gleichen und wurde im zweijährigen Turnus aus den Mitgliedern des Direktoriums gewählt.82 Wenig Bedeutung sollte die Bestimmung haben, einen Wissenschaftlichen Rat in alle Grundsatzentscheidungen einzubeziehen, der dem anfänglich bestehenden Kuratorium nachgebildet war. Nur wenige der darin vertretenen Altmeister – der Nobelpreisträger Warburg, Rössle und Brugsch – nahmen an den Sitzungen des Gremiums teil, das nur drei Mal in fünf Jahren zusammenkam.83 Zu einer Stärkung der „kollektiven Arbeit“ beziehungsweise einer „zielbewussten zentralen Planung“, für die sich die Abteilungsleiter ausgesprochen hatten, führte das neue Leitungsmodel nicht. In den späten 1950er Jahren kam es zu keinem nennenswerten Anstieg abteilungsübergreifender Projekte, geschweige denn zu einer klareren Ausrichtung auf die Krebsforschung. Im Rahmen des Direktoriums konnten die Bereichs- bzw. Abteilungsleiter offensiv ihre eigenen Interessen vertreten und damit tendenziell noch größere Unabhängigkeit erlangen. Zudem war zu diesem Zeitpunkt keine wissenschaftspolitische Institution in der Lage, ihre Forschungskonzepte autoritativ zu beeinflussen.
80 „Besprechung betr. Buch am 11.10.1955 im Büro des Gen Westermann“, BAB DY 30/IV 2/ 9.04/422, Bl. 47–50; vgl. auch Bericht zur Abteilungsleiterversammlung am 1.9.1954, ABBAW Buch A 23. 81 SED Abt. Wiss./Propaganda an Herber/Büro Ulbricht 3.5.1955, BAB DY 30/IV 2/9.04/375, Bl. 101–102. 82 Ordnung der Aufgaben und der Arbeitsweise des Institutes für Medizin und Biologie der DAW, 26.5.1955 (überarbeitet), ABBAW AKL 42. 83 Protokolle der Sitzungen des Wissenschaftlichen Rates am 16.3.1956, 12.4.1957 und 17.2.1961, alle ABBAW Buch A 53.
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Struktur des IMB 195584 Präsident
Wissenschaftlicher Rat
& Vorsitzender des Wiss. Rates Walter Friedrich
Externe Mitglieder: T. Brugsch, J. Dobberstein, H. Knöll, K. Noack, R. Rompe, R. Schröder, O. Warburg
Direktorium Erster Direktor: 1955–1957 Karl Lohmann, 1957–1959 Arnold Graffi, 1959-1961 Walter Friedrich Arbeitsbereich
Direktor
Mitarbeiter Abteilungen / Leiter (davon Wissenschaftler)
Physik
W. Friedrich
44 (15)
Physik Biophysik
(W. Friedrich) (H. Pupke)
Biochemie
K. Lohmann
42 (12)
Biochemie Geschwulstlaboratorium Botanisches Laboratorium
(K. Lohmann) (F. Schmidt) (W. Brucker)
Biologie
A. Graffi
81 (18)
Biologische Krebsforschung (A. Graffi) Chemische Krebsforschung (H. Bothe) Genetik (H. Hertweck)
Pharmakologie
F. Jung
43 (14)
Pharmakologie & Elektronenmikroskopie Mikrobiologie
Angewandte H.-J. Born Isotopenforschung
11 (5)
Klinische Medizin
H. Gummel
156 (24)
Zentrale Anlagen & Verwaltung Gesamt
U. Kneller
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(F. Jung) (F. Windisch)
Chirurgische (H. Gummel), Innere (W. Lührs), Strahlen (H.J. Eichhorn), Gynäkologische (W. Eschbach), Poliklinik (G. Wagner), Statistik und Nachsorge (G.P. Wildner), Anästhesiologie (L. Barth)
496 (88)
*Mitarbeiterzahlen der Arbeitsbereiche geben die Zahl der besetzten Stellen wieder, entsprechen also nicht genau der Zahl der tatsächlich Beschäftigten.
84 Nach: Haushaltmittel des IMB 1955 (n. d.), ABBAW AKL 722; Jahrbuch der DAW 1955, S. 199–203 (für Zahlen der wiss. Mitarbeiter).
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Das IMB und die Formierung der DDR-Forschungspolitik Der Bildung des IMB lag die Idee zugrunde, ein Großinstitut zu schaffen, das Kräfte und Ressourcen eines weitgehend zerstörten Forschungssystems bündelte. Insbesondere für die Wissenschaftpolitiker der SMAD lag es nahe, beim Neuaufbau dem sowjetischen Modell zentraler Institute unter dem Dach einer nationalen Akademie zu folgen, die zugleich die Leitlinien der Wissenschaftspolitik bestimmte. Auch für die deutschen Akteure ergab es sich fast zwangsläufig, eine Strategie der Kräftekonzentration einzuschlagen, da das Potential an Fachkräften in der SBZ eng begrenzt war. Mit der Übernahme des Bucher Instituts in die Akademie begann eine Struktur- und Investitionspolitik, die die DAW und ihre Institute zum Motor eines neuen Forschungssystems machen sollte. Die Adaption des sowjetischen Akademiemodells war allerdings sehr problematisch, da die DAW als klassische Gelehrtengesellschaft weder über ausreichende Voraussetzungen für die Verwaltung großer Institute noch für die Lenkung des nationalen Wissenschaftssystems verfügte. Um dies zu leisten, musste sie strukturell vollständig erneuert werden.85 Das Leitungsmodell der DAW sah zunächst vor, dass die Institute durch die Akademieklassen administrativ betreut und beaufsichtigt wurden. Für das IMB bestand eine weitgehende Kongruenz zwischen Aufsichtsgremium und Leitung, da Lohmann der zuständigen medizinischen Klasse als Sekretar vorstand. Die Beurteilungen der Institutsarbeit liefen oft über den Schreibtisch von Gummel, der als medizinischer Fachreferent fungierte. Von einer „Anleitung“ der wissenschaftlichen Tätigkeit durch ein Gremium erfahrener Fachleute, wie sie die Akademiestatuten forderten, konnte kaum die Rede sein. Aus der Sicht der SEDWissenschaftsfunktionäre versagte die DAW damit nicht allein bei der Ausübung administrativer Kontrollfunktionen, sondern zeigte auch kaum Aktivität bei der Entwicklung neuer Perspektiven für die Forschung innerhalb und außerhalb der Akademie. Der Kreis der Mitglieder war überaltert und teilweise im Westen ansässig. Einige Disziplinen waren in den Klassen unterrepräsentiert, weshalb nicht nur Institute für wichtige Fachgebiete fehlten, sondern auch Initiativen für einen Aufbau neuer Projekte.86 Aus diesem Grund wurden zu Beginn der 1950er Jahre unterhalb der Klassenebene „Sektionen“ für enger definierte Fachgebiete gebildet, die vor allem jüngere Experten aufnehmen sollten, die nicht Mitglied der Akademie oder Mitarbeiter ihrer Institute sein mussten. Die Idee, dass diese Gremien Aufbaukonzepte und Forschungspläne entwarfen, die Akademieinstitute, Universitäten und außerakademische Forschungspotentiale umfassten, war nur teilweise erfolgreich. Eine Analyse der DAW-Verwaltung stellte 1954 fest, dass der Aufbau der Sektionen nur unsystematisch in bestimmten Fachgebieten erfolgt war und dass eine klare Definition ihrer Aufgaben und Pflichten fehlte.87
85 Nötzoldt 2002, S. 43. 86 Gläser/Meske 1996, S. 78–80; Nötzoldt 1997, S. 132–133. 87 H. Wittbrodt, Über die Weiterentwicklung der DAW, 6.1.1954, BAB DF 4/40228.
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Eine der wenigen Sektionen, die die Erwartungen erfüllten, war die Sektion Geschwulstkrankheiten, in der die IMB-Kliniker eine führende Rolle spielten. Anfang 1952 entwickelte sie den Plan für den schrittweisen Aufbau eines regional gegliederten Systems von Krebskliniken, in dem Buch die Rolle eines Oberzentrums einnehmen sollte.88 Die Sektion reklamierte dabei das Recht, die Befugnis zur Behandlung von Krebskrankheiten zu verleihen und Behandlungspläne zu kontrollieren. Sie betrieb außerdem die Konzeptionierung eines einheitlichen Meldesystems für Krebskrankheiten, aus dem sich das nationale Krebsregister der DDR entwickeln sollte.89 Die Bucher Kliniker waren dabei nicht allein federführend, da einige Universitätskliniken größere Erfahrungen in der Klinikorganisation und der Krankenstatistik einbringen konnten. Ihr Führungsanspruch wurde von der Charité herausgefordert, deren neue Geschwulstklinik sich ebenfalls als nationales Zentrum verstand. Nach Beschwerden über diese Kompetenzstreitigkeiten erhielten die Akademiker 1952 aber schnell die Versicherung des Gesundheitsministers, dass „Buch das Zentrum ist“. Das bedeutete einerseits, dass die Krebsklinik als Mittelpunkt ihres Fachgebiets bevorzugt ausgebaut werden sollte, und andererseits, dass Sektion und Klasse der DAW in allen Fragen der Organisation von Aufklärung, Fürsorge und Behandlung erster Ansprechpartner der Politik waren.90 Auf dem Gebiet der Onkologie bestand damit der Ansatz eines „sowjetischen“ Systems – das Akademiegremium übte eine quasi hoheitliche Beratungsfunktion in der Organisation der Gesundheitsfürsorge sowie der Forschungsplanung aus, während das Fachinstitut der DAW als Knotenpunkt der wissenschaftlichen Entwicklung galt. Konsequent umgesetzt wurde dieses Prinzip zunächst nicht; erst in den 1970er Jahren wurde die Bucher Krebsklinik offiziell zum nationalen „Leitinstitut“ der Krebsmedizin erklärt. Dennoch sollte das Konzept einer zentralen, beratenden Institution ihren Charakter prägen. Ihre klinische Forschungspraxis war auf die Erprobung von Diagnosetechniken und Therapieprotokollen für die häufigsten Krebskrankheiten orientiert, woraus teilweise Leitlinien für das gesamte DDR-Gesundheitssystem entwickelt wurden.91 Auch die Naturwissenschaftler des IMB waren oft leitend in zentralen Gremien ihres Fachgebietes tätig. Das sowjetische Modell, nach dem Akademiegremien die gesamte universitäre und außeruniversitäre Praxis eines Faches konzipieren und lenken sollten, wurde indessen nur in bescheidenen Ansätzen verwirklicht. Allgemein gelang es in den 1950er Jahren auch durch die Einführung staatlicher Lenkungsorgane nicht, eine Form der zentralen Planung in der Wissenschaft durchzusetzen. Dafür fehlten sowohl die institutionellen als auch die konzeptionellen Voraussetzungen. Formal wurden die WissenschaftlerInnen erstmals mit den Vorbereitungen für den ersten Fünfjahresplan 1950 angehalten, längerfristige 88 Sektion Geschwulstkrankheiten an MfG HA Heilwesen, 25.3.1952, BAB DQ 1/4848. 89 Protokoll Sitzung Sektion Geschwulstkrankheiten 14.3.1953, BAB DQ 1/4848. 90 Aktennotiz Steidle über Besprechung zwischen Vertretern der DAW und des Ministeriums am 4.4.1952, BAB DQ 1/1401; vgl. auch Notiz zur Besprechung über Krebsbekämpfung am 3.5.1952 (Sekretariat Steidle), BAB DQ 1/4848. 91 Vgl. hierzu Kap. III.1., besonders S. 261–269.
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Forschungspläne vorzulegen, die in die allgemeine Wirtschaftsplanung eingehen sollten.92 Damit wurde die Bewilligung von Forschungmitteln bürokratisiert, woraus aber – zumindest auf medizinisch-biologischem Gebiet – keine Beeinflussung der Forschungsthemen folgte, welche durchaus intendiert war. So strebte das Gesundheitsministerium 1951 eine ausschließliche Vergabe von Forschungsmitteln über Anträge an, um eine Konzentration der medizinischen Forschung auf vordringliche Problemfelder zu erreichen – ohne dass dabei den Wissenschaftlern bewusst werde, „dass ihre Arbeit ‚gelenkt’ wird.“93 Davon blieb man aber auch noch weit entfernt, nachdem das Ministerium 1955 einen „Fachausschuss zur Koordinierung der medizinischen Forschung“ bildete, der die in den Fachgremien anfallenden Projektvorschläge bündeln und einen umfassenden Schwerpunktplan erstellen sollte.94 Zwei Jahre später fiel weniger als die Hälfte der eingegangenen Projektvorschläge in eines der festgelegten Schwerpunktgebiete.95 Dabei waren einige Disziplinen – dank des IMB etwa die Krebsforschung – überrepräsentiert, während es anderswo – etwa in der Kreislaufforschung – deutlich an Kapazitäten fehlte. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die „Planung“ der Wissenschaft in der frühen DDR kaum dazu in der Lage war, Forschungsgebiete inhaltlich zu lenken. Ihre Aufgabe bestand vielmehr darin, die bestehenden Potentiale erst zu erfassen und zu analysieren, wie sich die größten Leerstellen des Forschungssystems ausgleichen ließen. Die erste Forderung führte 1950 zur Bildung des Zentralamtes für Forschung und Technik (ZFT) innerhalb der Staatlichen Plankommission. Sein Auftrag war, die unter der Leitung der verschiedenen Fachministerien sowie der Akademie betriebenen Forschungsaktivitäten zu koordinieren, um Forschungsergebnisse für die verstaatlichte Wirtschaft nutzbar zu machen. Das ZFT scheiterte dabei allerdings oft schon im Ansatz, da die Ministerien selten gewillt waren, der neuen Behörde ein Mitspracherecht an ihren Planungen einzuräumen. Das Gesundheitsministerium blockte etwa die Ansprüche des ZFT mit Hinweis auf dessen fehlende medizinische Kompetenz ab.96 Das relativ kleine Amt verfügte auch gegenüber der DAW kaum über Autorität. Akademiedirektor Naas begegnete dem ZFT, das als Prüfungsinstanz für Finanzpläne und Strukturentscheidungen sehr kritisch agierte, oft brüsk, bisweilen herablassend.97 Viele führende Akademiker verhielten sich ähnlich. Lohmann kanzelte einen ZFTMitarbeiter, der vor der Sektion für Geschwulstforschung eine Reorganisation der
92 Protokoll zur Vorbesprechung am 3.5.1950 im IMB über Planung 1950, 1951 und Fünfjahresplan 1951–55, 16.5.1950, ABBAW AKL 42. 93 Mendel, Entwurf eines Vorschlages über Planung der medizinisch-wissenschaftlichen Arbeit, 30.4.1951, BAB DQ 1/1401. 94 Redetzky an diverse, 10.3.1955, BAB DQ 1/4511. 95 Referat des Vorsitzenden Redetzky auf Sitzung des Fachausschusses am 5.10.1956, BAB DQ 1/6639. 96 Steidle an Rau (Vorsitzender der SPK), Feb. 1951, BAB DQ 1/1401. 97 Bericht über Sitzung betr. Wissenschaftliche Akademien am 3.3.1951, BAB DF 4/40219.
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Krebsforschung vorgeschlagen hatte, als unterqualifizierten Aufsteiger ab.98 Solche Zusammenstöße offenbarten einen verbreiteten Unwillen arrivierter Professoren, über irgendeine Form von Planung in der medizinischen Forschung auch nur zu diskutieren.99 Aufgrund dieses negativen Echos wird das ZFT von Historikern zumeist als bürokratische Fehlkonstruktion und als Inbegriff der Unmöglichkeit geplanter Forschung überhaupt betrachtet.100 Dabei wird übersehen, dass das Amt ein idealer Sündenbock war, dem sich forschungspolitische Fehlentwicklungen anlasten ließen, für die es keine Verantwortung trug. Verfehlt ist auch die Annahme, das ZFT sei ein ernsthafter politischer Konkurrent der DAW gewesen, welcher die Akademie schwächen oder unter seine „Planungshoheit“ zwingen wollte.101 Der Leiter das ZFT, der Metallphysiker Werner Lange, schlug vielmehr 1952 vor, seine eigene Behörde in den Geschäftsbereich der DAW zu überführen.102 Offensichtlich sah er die einzige Möglichkeit, seine schwache Behörde durchsetzungsfähiger zu machen, in der Anbindung an eine gestärkte Akademie, die nach sowjetischem Vorbild die Funktion einer obersten Wissenschaftsbehörde ausübte – wofür dieser, wie Lange argumentierte, eine leistungsfähige Planungsabteilung fehlte.103 Der Vorschlag, die beiden Institutionen miteinander zu verschmelzen, wurde nicht umgesetzt. Allerdings kam es zu einer gewissen Annäherung zwischen ZFT und DAW-Leitung, als der eigenwillige Naas 1953 durch den ZFTMitarbeiter Hans Wittbrodt ersetzt wurde – auch wenn Wittbrodt die Interessen der DAW gegenüber seinen Ex-Kollegen bisweilen ähnlich hartnäckig verteidigen sollte wie sein Vorgänger. Wesentlich bedeutsamer als dieser Personalwechsel war, dass die Kritik an der DAW, die zu Beginn der 1950er Jahre in den Denkschriften des ZFT formuliert wurde, zunehmend die Ausrichtung der Akademiepolitik von Partei und Staat bestimmte. Lange betonte wiederholt, dass es der DAW in erster Linie an einer ausgewogenen Institutsstruktur fehlte. Insbesondere verwies er auf die mangelnde Entwicklung von Forschungsfeldern, die für den Ausbau der heimischen Industrie unabdingbar waren, etwa der Polymerchemie.104 Damit forderte er keineswegs eine Stärkung der angewandten Forschung – im Gegenteil kritisierte das ZFT immer wieder, dass Akademieinstitute ihren Fortbestand durch die Bearbeitung technischer Probleme oder gar die Übernahme von Entwicklungsaufträgen aus der Industrie sicherten, während die DAW-Spitze kein Programm für den weiteren
98 Burghardt, Aktenvermerk zur Arbeitstagung der Sektion Geschwulstkrankheiten 13.– 14.2.1953, 19.2.1953, BAB DF 4/40220. 99 Protokoll Sitzung zur Konstituierung eines Arbeitskreises für Geschwulstforschung 24.6.1952, BAB DQ 1/4848. 100 Tandler 2000, S. 44–46, Wagner 1992, S. 44–48. 101 Nötzoldt 2002, S. 48; Nötzoldt 2009, S. 50 & 110. 102 Lange an Geyer (Chef der Regierungskanzlei), 5.4.1952, BAB DF 4/40219. 103 Stellungnahme des ZFT zur Akademiefrage, 17.3.1951, BAB DF 4/40219. 104 W. Lange an Staatssekretär Leuschner, 12.5.1950, BAB DF 4/40219.
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Ausbau der Grundlagenforschung vorweisen konnte.105 Diese Argumentationlinie wurde in der SED auch an höherer Stelle übernommen. Im November 1952 wurde sie von keinem Geringeren als Walter Ulbricht gegenüber einer Akademiedelegation vorgebracht.106 Forschungsplanung umfasste in diesem Sinne weniger inhaltliche Einflussnahme als strategische Ressourcenverteilung. Die DDR war zum Zeitpunkt ihrer Gründung nicht allein mit einem umfassenden Mangel an wissenschaftlichen Fachkräften konfrontiert, sondern mit dem Fehlen ganzer Forschungsgebiete. Eben darum wurde von Seiten des ZFT betont, dass es notwendig war, ein Gesamtkonzept für den Aufbau dringend benötigter Fachgebiete aufzustellen. Projektierungszone Buch Die Diskussionen um die Defizite der Forschungs- und Planungsstrukturen führten ab 1954 zur Ausarbeitung eines umfassenden Planungspakets für den Ausbau der DAW, das auch erhebliche Erweiterungen für Buch vorsah. Entscheidend beteiligt war die neuen Führungsgruppe der DAW um Wittbrodt und den linientreuen Verwaltungsdirektor Walter Freund, die einen engeren Austausch mit dem ZFT und der Abteilung Wissenschaft des ZK der SED pflegten. Eine der wesentlichen Forderungen war die Integration neuer biochemischer und mikrobiologischer Potentiale in die DAW; erste Schritte in diese Richtung waren die Übernahmen des Instituts für Mikrobiologie und experimentelle Therapie in Jena und des Instituts für Ernährungsforschung in Potsdam-Rehbrücke.107 Das gesamte Planungsprogramm wurde im Januar 1955 vom Politbüro besprochen und im Mai 1955 schließlich vom Ministerrat unter dem Titel „Empfehlungen zur weiteren Entwicklung und Verbesserung der Arbeit der Akademie“ verabschiedet.108 Abgesehen von den Ausführungen zur Struktur der Akademie und ihrer Gliederungen – speziell der Funktion von Klassen und Sektionen als Planungsgremien für das gesamte Wissenschaftssystem – handelte es sich dabei um den ersten Versuch, einen Gesamtplan für die Erschließung neuer Forschungsgebiete in der Akademie zu entwerfen. Dabei wurden auch Ministerien und Staatssekretariate mit eigenen Forschungskapazitäten einbezogen.109 Vor der Weiterleitung an den Ministerrat 105 (Lange), Tskr. „Naturwissenschaften und technische Wissenschaften“, vermtl. Ende 1952, BAB DF 4/40220. 106 W. Lange, Bericht zur Besprechung beim Präsidenten der DAW am 26.11.1952, 6.1.1953, BAB DF 4/40224. 107 A. Wende, Memo „Klasse für Chemie-Biologie-Geologie“, 15.7.1954; Wende an Baumbach/ZFT, 28.8.1954, beide BAB DF 4/40228. 108 Beschluß des Ministerrats „Empfehlungen zur weiteren Entwicklung und Verbesserung der Arbeit der Akademie“ vom 18. Mai 1955, Mitteilungsblatt für die Mitarbeiter der DAW 1 (1955), Nr. 4–5, S. 1–27. 109 Abt. Wissenschaft des ZK, Vorlage an das Politbüro, 29.1.1955, und „Empfehlungen des Politbüros der SED zur Verbesserung der Arbeit der DAW“, BAB DY 30/IV 2/9.04/375, Bl. 70–101.
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wurden die Vorschläge noch einmal der Akademie vorgelegt und dabei – vor allem hinsichtlich der Formulierungen – gründlich geändert. Obwohl die Grundkonzeption aus dem wissenschaftspolitischen Apparat der SED stammte, wollte man unbedingt vermeiden, dass die bürgerlichen Wissenschaftler sich als „Befehlsempfänger“ der Partei fühlten.110 Ganz ähnlich hatte sich die Formulierung der 1954 angenommenen neuen Satzung der DAW vollzogen, aus der auf Anweisung von höchster Stelle alle Formulierungen getilgt wurden, die auf eine Unterstellung der Akademie gegenüber der Regierung hätten deuten können.111 Die Parteiführung suchte zwar in der Akademiepolitik die Initiative an sich zu reißen, wollte aber Konfrontationen mit der dringend benötigten alten Wissenschaftlerelite unbedingt vermeiden. Die „Empfehlungen“ des Ministerrates werden hier einerseits erwähnt, weil sie den Anfang einer planmäßigen Forschungspolitik in der DDR bedeuteten. Andererseits veränderten sich mit ihnen für Buch die politischen Rahmenbedingungen. War der Aufbau des IMB weitgehend durch die Verfügbarkeit von Personen und Ressourcen bedingt gewesen, wurde Buch nun Anlaufpunkt für an höchster Stelle abgesegnete Strukturplanungen. Während die ursprüngliche Konzeption eines nationalen Krebsinstituts noch kaum umgesetzt war, sollte der Institutscampus um weitere „zentrale“ Projekte zum Aufbau in der DDR unterentwickelter Gebiete der Medizin und Biologie erweitert werden. Vor allem zwei Forderungen der „Empfehlungen“ beeinflussten in den folgenden Jahren die Entwicklung des Bucher Forschungszentrums: jene nach Errichtung einer Forschungsstelle für Kreislaufforschung sowie jene nach der Schaffung von Grundlagen für die Nutzung radioaktiver Isotopen in Medizin und Biologie.112 Beide Projekte wurden keineswegs von weitblickenden Staats- und Parteistellen an die Akademie herangetragen, sondern hatten ihren Ursprung in Initiativen von Forscherseite. Beide Fälle verdeutlichen allerdings die in den 1950er Jahren einsetzenden wissenschaftspolitischen Verschiebungen, da ihre Realisierung durch neue zentrale Planungsgremien getragen wurde. Der Aufbau einer Isotopenproduktion war bereits lange vor den „Empfehlungen“ eingeleitet worden. Ende 1949 wurde der Akademieleitung von der staatlichen Planbehörde signalisiert, dass die Aufnahme kernphysikalischer Forschungen als vordringliches Ziel erwünscht war. Im Zuge der Planungen für die nötige Infrastruktur war neben der Neugründung eines Instituts für Hochenergiephysik in MiersdorfZeuthen bei Berlin auch der Bau einer Hochspannungsanlage für medizinische Zwecke in Buch vorgesehen.113 Friedrich hatte vermutlich bereits entsprechende Pläne gefasst, bevor er im August 1949 von der DAW-Leitung aufgefordert wur-
110 Steinitz an Ulbricht, 17.3.1955, BAB DY 30/IV 2/9.04/375, Bl. 131–132. 111 Aktennotiz der SPK 2.6.1954, BAB DF 4/40228. 112 Beschluß des Ministerrats „Empfehlungen zur weiteren Entwicklung und Verbesserung der Arbeit der Akademie“ vom 18. Mai 1955, Mitteilungsblatt für die Mitarbeiter der DAW 1 (1955), Nr. 4/5, S. 1–27. 113 Stange 2001, S. 58–59.
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de, konkrete Pläne für eine „neutronenphysikalische Anlage“ vorzulegen.114 Im Fünfjahresplan für 1951–1955 waren die Konstruktion eines Neutronengenerators und die Einrichtung einer Spezialabteilung für die Erzeugung radioaktiver Isotopen als wichtigstes Erweiterungsprojekt vorgesehen.115 Die besondere Erwähnung in den „Empfehungen“ war nur Ausdruck dafür, dass nach dem Eindruck von DAW-Planern dieses forschungspolitisch äußerst dringende Vorhaben nicht mit dem angemessenen Tempo umgesetzt wurde.116 Die Planungen für die vorerst aufwändigste Neuinvestition in Buch waren damit keine lokale Angelegenheit mehr, sondern Bestandteil eines staatlichen Aufbauprogramms für die Kernphysik. Das erklärt, warum dem IMB innerhalb relativ kurzer Zeit ein Neubau für das Projekt bewilligt wurde, dessen technische Umsetzung sich allerdings – wie weiter hinten dargestellt wird – um mehrere Jahre verzögerte. Trotz mangelnder eigener Produktionskapazität wurde 1955 die neue Abteilung für angewandte Isotopenforschung eingerichtet. Die Suche nach einem qualifizierten Leiter wurde durch die sich abzeichnende Rückkehr der für das sowjetische Atomprogramm rekrutierten deutschen Wissenschaftler erleichtert. Der allgegenwärtige Physiker Robert Rompe bemühte sich in dieser Situation darum, seine alten Bekannten aus der KWIH/Auer-Gruppe – darunter Zimmer und Riehl – für Tätigkeiten in der DDR anzuwerben.117 Gewinnen konnte er nur Hans-Joachim Born, den früheren Radiochemiker des Bucher Arbeitskreises. Mit Borns Eintritt in das IMB wurde eine lokale Traditionslinie wiederbelebt. Während sich die Isotopenproduktion und -anwendung unter Timoféeff-Ressovsky und Zimmer allerdings aus ihrem genetisch-biophysikalischen Forschungsprojekt heraus entwickelt hatte, war die neue Abteilung von vornherein als Versorgungs-, Ausbildungs- und Beratungszentrum für die ganze DDR geplant. Bei dieser Aufgabe sollte auch eine Organisationsform zum Tragen kommen, die für die Forschungspolitik der 1950er Jahre von großer Bedeutung war – die „Zentralen Arbeitskreise“ (ZAK). Die ZAK sollten sich nach einer Definition des ZFT eng definierten Aufgaben widmen und dabei „nicht nur eine Auseinandersetzung über die wissenschaftliche Thematik“ führen, „sondern vor allem auch über die wissenschaftlich-technischen Methoden, mit denen die aufgestellten Ziele erreicht werden sollen“.118 In der Medizin begann die Bildung von ZAK etwas später als etwa in der Chemie, wo sie oft an konkreten Entwicklungsproblemen arbeitende Akademiker, Hochschulforscher und Techniker aus den Betrieben ver-
114 A. Wende an W. Friedrich 31.8.49, ABBAW AKL 44; vgl. zur Diskussion auf DAW-Ebene auch J. Naas, Protokoll der Direktorenbesprechung 17.11.1949, 21.11.1949, ABBAW AKL 602. 115 Protokoll zur Besprechung über Planung 1951 und zum Fünfjahresplan 1951–55 am 22.5.1950, ABBAW Buch A 64. 116 Das Problem der medizinischen Isotopenanwendung wurde im Vorfeld der Akademieempfehlungen wiederholt an die Politik herangetragen, vgl. Naumann, Wittbrodt und Freund an Hager/ZK, 27.10.1953, BAB DY 30/IV 2/9.04/380, Bl. 12–14. 117 Wunderlich 2014, S. 118. 118 ZFT, Begründung zum Entwurf der Verordnung über die ZAK, 5.11.1953, BAB DQ 1/6639.
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einten.119 In der jungen DDR, in der viele spezielle Forschungsprobleme nur von einem kleinen Kreis von Experten überblickt wurden, konnte dies ein sehr effektiver Weg sein, vorhandene Erfahrungen zusammenzufassen und die beschränkten Ressourcen zu mobilisieren. Der ZAK Radiologie griff etwa in die Entwicklung von Röntgentechnik ein, indem er Unterausschüsse für bestimmte Projekte bildete, in denen sich interessierte Forscher und ausführende Techniker direkt austauschen konnten.120 Innerhalb dieses ZAK bildete sich 1956 eine Arbeitsgruppe „Anwendung radioaktiver Isotope in der Biologie“, der Born, Jung und weitere IMB-Forscher angehörten.121 Die Gruppe konnte zwar die materiellen Probleme, die dem Anlaufen der geplanten Isotopenproduktion entgegenstanden, nicht beeinflussen. Ohne den Zusammenschluss der wenigen Spezialisten, die in der DDR überhaupt Erfahrungen mit der Isotopentechnik hatten, wäre es aber kaum möglich gewesen, den Bedarf an radioaktiven Substanzen in Kliniken und Forschungslabors zu ermitteln, Bau und Verteilung der notwendigen Ausrüstung zu koordinieren und die Ausbildung von Fachkräften zu organisieren – also eine Basis für die Tätigkeit der neuen Isotopenabteilung zu schaffen. Ein ähnlicher Expertenzirkel wurde auch für das andere Bucher Projekt bedeutsam, das im Ministerratsbeschluss hervorgehoben wurde, den Aufbau einer Forschungsstelle für Kreislaufforschung. Ihr späterer Leiter Albert Wollenberger bemühte sich seit 1952 aktiv bei der Akademie um eine Einstellung in Buch, musste sich aber zunächst mit einer Assistentenstelle an Jungs Universitätsinstitut begnügen.122 Wollenbergers Bewerbung war ein Glücksfall für Akademie. Als antifaschistischer Emigrant hatte er während des Krieges an der Harvard University unter dem renommierten Pharmakologen Otto Krayer über die Biochemie der Herzmuskelzellen gearbeitet. Auch seine Nachkriegsstationen am Kopenhagener Carlsberg Laboratorium und der Universität Uppsala boten erstklassige Referenzen. Trotz entschiedener Unterstützung von Jung und Gummel ließ eine Anstellung bei der DAW jedoch auf sich warten.123 Da die Ministerratsempfehlungen den Aufbau eines Instituts für Kreislaufforschung als vordringliche Aufgabe erwähnten, waren die Voraussetzungen eigentlich günstig. Mehrere einflussreiche Kliniker sahen gerade die Herz- und Kreislaufmedizin als besonders rückständiges Feld des DDR-Gesundheitswesens an. Sie forderten daher nicht allein die Förderung qualifizierter Forscher wie Wollenberger, sondern die Schaffung eines umfassenden nationalen Forschungsinstitutes. Basis entsprechender Planungen wurde auch hier ein ZAK. Unter Leitung des Charité-Internisten Richard Krautwald und des Leipziger Psychiaters Dietfried Müller-Hegemann, der zugleich als 119 Aktennotiz Becker/MfG 3.12.1953 betr. Bildung zentraler Arbeitskreise, BAB DQ 1/6639. 120 Niederschrift zur Gemeinschaftssitzung der AG Röntgentechnik u. Elektromedizin des AK Medizintechnik mit AG Standardkommission radiolog. Technik des AK Radiologie am 15.11.1956, BAB DQ 1/6639. 121 Protokolle zu Sitzungen der AG Anwendung radioaktiver Isotope in der Biologie, 20.1.1956 u. 24.2.1956, beide BAB DQ 1 /6639. 122 Wollenberger an DAW, 21.6.1954, ABBAW AKL 57. 123 Jung, Begründung für die im Protokoll der Sitzung festgehaltenen Meinungsäusserungen des Direktoriums des IMB, 8.10.1955, ABBAW AKL 57.
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Leiter der Hauptabteilung Wissenschaft im Gesundheitsministerium fungierte, plante das Gremium neben einem multidisziplinären Akademieinstitut in Buch, dessen erste Keimzelle Wollenbergers Laboratorium werden sollte, auch den schrittweisen Aufbau regionaler Herz-Kreislauf-Zentren. Es zeigte sich jedoch bald, das für eine schnelle Umsetzung dieses ambitionierten Modernisierungsprogramms eine entschlossene Unterstützung von Regierungsseite fehlte.124 Außerdem konnten weder ein Ministerratsbeschluss noch die Fürsprache eines staatsnahen Gremiums die herrschende Knappheit an geeigneten Experten und an Investitionsmitteln beseitigen. Auch Wollenbergers relativ bescheidenes Teilprojekt stagnierte einige Zeit, da in der DAW starke Vorbehalte gegen das Kreislaufzentrum bestanden.125 Seine 1956 gebildete „Arbeitsstelle für Kreislaufforschung“ konnte sich aber als Gast in den Räumen des IMB gut entwickeln, von dem sie bis 1961 offiziell unabhängig war; 1965 bezog sie ein eigenes kleines Institutsgebäude, das auf Grundlage der staatlichen Vorgaben durchgesetzt wurde.126 Das IMB wuchs damit um eine leistungsfähige Abteilung, die der ursprünglichen Institutskonzeption nicht entsprach. Die Idee eines programmatisch einheitlichen Krebsinstituts wurde damit paradoxerweise auch durch eine Planungspolitik weiter aufgelöst, die auf die Bildung thematisch klar definierter Großinstitute setzte. Das Projekt eines Kreislaufzentrums war angesichts der Möglichkeiten der DAW und der Rahmenbedingungen der DDR-Medizin eindeutig überambitioniert; die übrigen geplanten Abteilungen wurden nicht realisiert. Nicht nur in diesem Fall gingen die Hoffnungen in eine umfassende Neuplanung des Forschungssystems an den ökonomischen Realitäten vorbei. Wie eng die Grenzen waren, welche die DDR-Wirtschaft der Forschungspolitik setzte, zeigte sich nicht allein im Scheitern größerer Investitionsplanungen, sondern schon in den Problemen, die bestehenden Institutionen arbeitsfähig zu machen. Baustopps, Stromsperren und andere „Lächerlichkeiten“ Als Akademieinstitut war das IMB verglichen mit den meisten anderen wissenschaftlichen Einrichtungen der DDR privilegiert. Die Mittel für den Ausbau zum Großinstitut stiegen schnell und beständig; betrug der Haushalt 1951 2,4 Mio. Mark – rund ein Viertel des Gesamthaushalts der naturwissenschaftlichen Akademieinstitute – hatte er sich fünf Jahre später fast verdreifacht.127 Dennoch stieß die Entwicklung der wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit beständig auf Grenzen, die von der ökonomischen Gesamtsituation der DDR gezogen wurden. Ein Dauerthema der frühen Jahre war etwa die hohe Fluktuation unter den technischen 124 125 126 127
Krautwald an Müller-Hegemann, 22.5.1956, BAB DQ 1/2750. „Der Beschluss des Ministerrats ...“, Juni 1955, BAB DY 30/IV 2/9.04/375, Bl. 139–165. Ausführlich hierzu Kap. III.7., S. 463–467. DAW-Finanzabteilung an SPK, 20.6.1952, BAB DF 4/41043; U. Kneller, Zahlen zum 2. Fünfjahresplan 1956–1960, 17.10.1955, ABBAW Buch A 64.
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Kräften, die sich aus ihrer unzureichenden Entlohnung ergab. Die Gründe für den ständigen Verlust an qualifizierten Mechanikern oder Assistentinnen lagen für die Parteisekretärin des Instituts in der uneinheitlichen Gehaltspolitik der DAW, die zu Unruhe innerhalb der Belegschaft führte.128 Für technische Mitarbeiter waren die Akademieinstitute unattraktiv, da die Industriebetriebe in der DDR deutlich höhere Sätze zahlten. Einige Betriebe scheuten sich nicht, Mitarbeiter direkt aus Buch abzuwerben.129 In den frühen 1950er Jahren kam es zu Anpassungen im Tarifsystem, die das Problem jedoch nur teilweise lösen konnten, da im Westteil der Stadt weiterhin bessere Verdienste lockten. Der Verlust an Hilfskräften, insbesondere an Krankenschwestern, war für das Institut gravierender als der Abgang einzelner Wissenschaftler. Wie alle Betriebe in der DDR war das IMB mit einem ständigen Aderlass konfrontiert, der gegen Ende der 1950er Jahre stetig zunahm.130 Der Ausbau der Belegschaft, die in dieser Zeit um über 100 Mitarbeiter pro Jahr wuchs, wurde dadurch letztlich nicht beeinträchtigt. Dennoch war die Furcht, „dass die Leute weglaufen“, für die Abteilungsleiter ein ständiger Begleiter.131 Ein allgegenwärtiges Problem war auch die Versorgung mit Geräten. In der Aufbauphase setzte – wie das schon erwähnte Scheitern des elektronenmikroskopischen Projekts verdeutlichte – zunächst der Warenverkehr mit den Westzonen zunächst durch die Berlin-Blockade aus; ein nachhaltigeres Hindernis entstand indessen durch die Währungsreform. Vor seinem Ausscheiden hinterließ der Elektronenmikroskopiker Helmut Ruska die Mahnung, die DAW müsse möglichst bald eine prinzipielle Lösung für Zahlungen in Westmark finden, wenn sie ihre Institute arbeitsfähig machen wolle.132 Eine solche Lösung sollte bis zum Untergang der DDR nicht gefunden werden. Das industrielle Potential auf dem Gebiet der Forschungs- und Medizintechnologie war überwiegend im Westen beheimatet. Die Hoffnungen von Akademikern, in der SBZ verbliebene Spezialbetriebe wie Zeiss in Jena oder Koch & Sterzel in Dresden könnten sich bevorzugt auf ihre Bedürfnisse einrichten, wurde frühzeitig enttäuscht, da Massenproduktion und Exporterlöse Vorrang hatten.133 Prinzipiell schloss das Devisenproblem die Akademieinstitute nicht vom Zugriff auf neueste Importtechnik aus. Die IMBKlinik verfügte Ende der 1950er Jahre etwa über eine erstklassige strahlenmedizinische Ausrüstung. Was für den Import von Hochleistungsgeräten verfügbar war, 128 Wende an Friedrich 6.9.1949; Dornberger an Gummel, Feb. 1952, beide ABBAW AKL 45; Bericht Abteilungsleiterbesprechung 4.3.1953, ABBAW Buch A 23. 129 Lohmann an Naas, 1.12.1951, ABBAW AKL 49. 130 1956 gingen 15 Mitarbeiter (von gesamt ca. 700) in den Westen, bis 1959 stieg diese Zahl kontinuierlich auf 31 (von gesamt ca. 990); vgl. DAW Kaderabteilung, Republikflucht im Jahr 1956, BAB DY 30/IV 2/9.04/384, Bl. 85–92; Protokoll Sitzung Direktorium 2.9.1960, ABBAW Buch A 15. 131 (Abt. Wissenschaft d. SED), Aufzeichnungen von der Aussprache des Gen. Hager mit erweitertem Präsidium der DAW am 28.6.1961, 4.7.1961, BAB DY 30/IV 2/9.04/370, Bl. 98–109. 132 H. Ruska an A. Wende, 17.9.1948, ABBAW AKL 54. 133 Sekretariat Minister Steidle, Notiz über Besprechung zur Krebsbekämpfung am 3.5.1952, BAB DQ 1/ 4848.
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konnte jedoch für Verbrauchsmaterialien fehlen, die in guter Qualität oft nur im Westen zu haben waren. Die Engpässe lagen, wie es ein Bucher Mediziner ausdrückte, weniger bei den Spitzenprodukten als bei „primitiven Lächerlichkeiten“ des alltäglichen Bedarfs.134 Dazu zählten neben Operationsutensilien vor allem die Laborchemikalien. Schon in der Gründungssitzung des IMB-Kuratoriums wurde intensiv die Frage diskutiert, ob man die Versorgung mit chemischen Präparaten durch die Errichtung eines speziellen Labors in Buch sicherstellen sollte. Den erfahrenen Mitgliedern war jedoch klar, dass eine solche lokale Lösung auf die Dauer für ein Großinstitut nicht ausreichen würde und vielmehr die „Wiedererrichtung von leistungsfähigen chemischen Grundindustrien in der Ostzone absolute Vorbedingung sei, wenn in dem Bucher Institut neuzeitliche Wissenschaft getrieben werden sollte.“135 Damit erfassten sie bereits ein Grundproblem, das für die DDR-Wissenschaft zum ständigen Begleiter werden sollte. Der Mangel an Grundstoffindustrien in Ostdeutschland, der sich aus der historisch gewachsenen Kräfteverteilung des gesamtdeutschen Wirtschaftssystems ergab, wurde mit dem Zusammenbruch des innerdeutschen Austausches zu einer Strukturschwäche, die nie völlig behoben werden konnte.136 Die Ausrichtung der DDR-Chemieindustrie auf Massenprodukte sollte festschreiben, dass biochemische Spezialprodukte eine untergeordnete Rolle spielten. Schon in den frühen 1950er Jahren blickten Bucher Wissenschaftler, die einen Einblick in die Versorgung ihrer westdeutschen Kollegen nehmen konnten, deprimiert auf die selbstverständliche Verfügbarkeit von Laborpräparaten, die in der DDR nur durch Eigenproduktion zu haben waren.137 Diese Situation änderte sich in den folgenden Jahrzehnten kaum. Am deutlichsten sichtbar wurden die materiellen Probleme jedoch in der Bautätigkeit. Das IMB war in den ersten Jahren seines Bestehens beständig eine Baustelle. Der für das KWIH errichtete Klinikbau war für die Zwecke der Krebsmediziner nur bedingt geeignet und musste erst umgebaut und später erweitert werden. Aufgrund des schnellen Wachstums erwies sich auch das Haupthaus bald als zu eng für die Forschungsabteilungen. Eine zusätzliche Belastung war dabei die Anwesenheit des Instituts für Festkörperforschung, das sich aus Friedrich Möglichs kleiner Arbeitsgruppe entwickelt hatte. Der Physiker zeigte sich wiederholt unbeeindruckt von Räumungsaufforderungen der DAW. 1952 verweigerte er den Umzug auf den neuen DAW-Campus in Berlin-Adlershof, da er die dortigen Arbeitsbedingungen als ungeeignet betrachtete.138 Erst 1957 sollte die Festkörperforschung das Bucher Hauptgebäude verlassen. Unterdessen spitzte sich die 134 Protokoll über die Ausprache mit der Kommission Forschung und Lehre und den Mitarbeitern der AB Med Klinik und Mikrobiologie am 15.3.1957, BAB DY 30/IV 2/9.04/422, Bl. 80–85. 135 Protokoll Sitzung zur Konstitution des Kuratoriums für das Institut der Math.-Nat. Klasse in Buch, 25.7.1947, ABBAW AKL 42. 136 Ritschl/Vonyo 2014. 137 H. Bothe, Bericht über Teilnahme an der Hauptversammlung der Gesellschaft deutscher Chemiker, 30.10.1953, ABBAW AKL 46. 138 F. Möglich, Aktennotiz zur Sitzung des Präsidiums am 7.2.1952, BAB DF 4/40220; Aktennotiz zur Besprechung im Präsidium, 1.3.1952, BAB DF 4/40566.
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Situation zu, nachdem Anfang 1954 eine gewerkschaftliche Arbeitsschutzinspektion gefordert hatte, das Institut entweder kurzfristig umzusiedeln oder zu schließen. Die Arbeitsschutzbestimmungen wurden demnach so gründlich übertreten, dass im IMB-Hauptgebäude jederzeit akute Brandgefahr und „für die dortigen Mitarbeiter ständig Lebensgefahr“ bestand.139 Ab 1953 entspannte sich die Lage etwas durch die teilweise Freigabe des Neubaus für den geplanten Neutronengenerator. Dennoch konnte der Zufluss an Mitarbeitern sowie das Wachstum der Versuchstierzuchten nur mit Hilfe von Barackenbauten bewältigt werden. Vergleicht man die bis Ende der 1950er Jahre realisierten Erweiterungen – Vergrößerung der Klinik, Neubau eines großen Laborgebäudes, von Spezialgebäuden für radioaktive Arbeiten und eines Tierhauses – mit dem baulichen Stillstand im folgenden Jahrzehnt, verlief die Infrastrukturentwicklung des IMB in dieser Zeit positiv. Keines der Projekte verlief jedoch ohne Rückschläge. Dabei offenbarten sich stets charakteristische Probleme der DDR-Wirtschaft: Mangel an Arbeitskräften und Material, unzuverlässige industrielle Infrastruktur, scharfe Konkurrenz um Ressourcen. Einige dieser Entwicklungen sollen hier beschrieben werden, weil sie den ökonomischen Rahmen umreißen, der dem Aufbau eines Großforschungsinstituts gesetzt war. 1951 legte das IMB im Zuge der Vorbereitungen zum ersten Fünfjahresplan erstmals einen umfassenden Investitionsplan vor. Das Programm war ambitioniert, wenn nicht gewagt: Es umfasste ein Versuchstierhaus, die Erweiterung der Klinik um zwei Gebäudeteile, den Neubau eines Gebäudes für eine Hochleistungs-Strahlenquelle mit biophysikalischen Laboren, eine zentrale Heizanlage sowie Wohnhäuser mit 20 Familien- und 80 Einzeleinheiten.140 Die beiden letzten Punkte mögen für den Aufbau eines wissenschaftlichen Instituts nebensächlich erscheinen, sind aber besonders bezeichnend für die lokalspezifischen Probleme des IMB. Buch beherbergte Krankenhäuser mit mehreren tausend Betten, trug aber weiterhin dörflichen Charakter. Für neue Beschäftigte war die Chance, eine Wohnung in der Nähe ihrer Arbeitsstelle zu finden, minimal. Anfang 1951 war die Wohnungslage in ganz Ost-Berlin so angespannt, das Zuzüge untersagt wurden. Die Planung von Wohnungen in eigener Regie war in dieser Situation die einzige Möglichkeit, neue Mitarbeiter zu werben.141 Die Wohnungsfrage war ein Dauerthema der Institutspolitik. Wiederholt verließen bereits angeworbene Mitarbeiter Buch wieder, weil ihnen kein Wohnraum beschafft werden konnte.142 Gummel betonte bei jeder Gelegenheit, dass seine Klinik ohne den ausreichenden Bau von Schwesternwohnungen nicht konkurrenzfähig bleiben könne.143 Es dauerte bis 1959, bis ein Wohnhaus für medizinisches Personal in unmittelbarer
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Aktenvermerk W. Freund, 27.2.1954, ABBAW AKL 60/1. Lohmann an Naas, 11.9.1951, ABBAW AKL 44. Aufzeichnung zur Abteilungsleiterbesprechung 3.1.1951, ABBAW Buch A 22. Beitrag Sydow in: Protokoll über die Ausprache mit der Kommission Forschung und Lehre und den Mitarbeitern des AB Biologie am 28.2.1957, BAB DY 30/IV 2/9.04/422, Bl. 66–71. 143 (Abt. Wissenschaft d. SED), Aufzeichnungen von der Aussprache des Gen. Hager mit erweitertem Präsidium der DAW am 28.6.1961, 4.7.1961, BAB DY 30/IV 2/9.04/370, Bl. 98–109.
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Nachbarschaft des Instituts fertiggestellt war. Die Wohnungskrise war damit aber keineswegs gelöst. Die Planungen für nichtwissenschaftliche Gebäude hatte Rückwirkungen auf die gesamte Investitionspolitik der DAW. Was für Mitarbeiterwohnungen verausgabt wurde, fehlte für Forschungsbauten. Angesichts der langsamen öffentlichen Bautätigkeit gab es aber keine andere Möglichkeit, als die Infrastrukturentwicklung selbst zu forcieren. Noch mehr als für das Wohnungswesen galt dies für die Energieversorgung, deren Qualität sich unmittelbar auf die alltägliche klinische und wissenschaftliche Arbeit auswirkte. Das IMB hatte etwa mit starken Temperaturabfällen seiner Heizanlage zu kämpfen, die am Ende des stark belasteten Fernwärmenetz lag, welches die Bucher Krankenhäuser versorgte. Besonders gravierend war dies für die Klinik, da neben Patienten und Mitarbeitern auch die Reputation des Hauses litt.144 Das Problem galt als so wichtig, dass der Bau eines eigenen Heizhauses 1952 nicht nur weit oben auf der Wunschliste des IMB stand, sondern sogar zu den „außerordentlich dringlichen“ Akademievorhaben gezählt wurde.145 Diese Option galt trotz sehr hoher Kosten als ökonomischer als die Erweiterung des bestehenden Netzes, erwies sich aber letztlich als unrealistisch. Die Umsetzung wurde, wie einige andere kleinere Bauvorhaben, während der 1950er und 1960er Jahre immer wieder verschoben. Die Frage, ob man die lokale Energiekrise in Eigenregie oder in Kooperation mit benachbarten Nutzern lösen sollte, blieb bis zum Anlaufen eines umfassenden Bucher Wohnungsbauprogramms in den 1970er Jahren ungelöst.146 Ein ähnlicher Dauerbrenner der Institutspolitik war das überlastete Stromnetz auf dem Campus. Zu Beginn der 1950er Jahre waren die Installationen in einem so schlechten Zustand, dass jederzeit mit einem völligen Zusammenbruch zu rechnen war. Zeitweise wurde dem Problem durch die turnusmäßige Abschaltung von Gebäudeteilen oder die Einschränkung des Betriebs verbrauchsintensiver Geräte begegnet.147 Mit dem Ausbau der strahlenphysikalischen Anlagen schien die einzige Möglichkeit darin zu liegen, selbst für eine neue Anbindung an das Berliner Hochspannungsnetz sowie ein institutseigenes Umspannwerk zu sorgen.148 Auch dieses Vorhaben sollte im Wettbewerb um Materialien und Planprioritäten scheitern. In den folgenden Jahrzehnten blieben Stromausfälle eine ernsthaftes Problem, das sich durch die zunehmende Bedeutung von Hochleistungsgeräten
144 So sorgte für Aufregung, dass sich Ende 1952 eine erboste Patientin beim Berliner Oberbürgermeister über das eisige Klima im Bucher Vorzeigekrankenhaus beschwerte; vgl. Referat med. Wissenschaft der DAW an Gesundheitsministerium, 20.3.1953, ABBAW AKL 43. 145 Baumbach/ZFT, Niederschrift Besprechung in DAW über Zusatzplan 1952, 26.6.1952, DF 4/40220; Bericht Nipkow/Bauabteilung DAW, 13.10.1952, ABBAW AKL 44. 146 Protokoll zur Direktoriumssitzung am 6.11.1959, ABBAW Buch A 14; Ministerium für Gesundheit, Protokoll zur Beratung zur Wärmeversorgung des ZI für Blutspendewesen, 22.2.1967, ABBAW Buch A 21. 147 Berichte zu den Abteilungsleiterbesprechungen 5.12.1950, 7.2.1951, 28.2.1951, ABBAW Buch A 21; Kaatzke an DAW 15.1.1954, ABBAW AKL 42. 148 Nipkow/Aufbauabteilung DAW an Präsident DAW, 21.1.1953, ABBAW AKL 44.
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nicht verkleinerte.149 Über solche technischen Dauermängel wirkten allgemeine Schwächen der Infrastruktur als limitierender – und demoralisierender – Faktor auf die alltägliche wissenschaftliche Arbeit zurück. Auch als privilegierte Institutionen hatten DAW und IMB nur sehr begrenzte Möglichkeiten, diese Bedingungen zu verbessern. Vom Prestigeobjekt zum Planungsfiasko Das wichtigste Neubauvorhaben des jungen IMB war der Aufbau eines Hochspannungsgenerators zur Produktion von Neutronen- und Röntgenstrahlen. Mit dem Projekt wurde eine Tradition der genetischen Abteilung des KWIH wieder aufgenommen. Die dort zuvor genutzte Strahlenquelle war im Herbst 1946 demontiert und mit unbekanntem Ziel in die Sowjetunion gebracht worden.150 In den folgenden Jahren war an eine Neuanschaffung nicht zu denken, da die alliierten Bestimmungen kernphysikalische Großforschungsanlagen in Deutschland verboten. Jordan war in seinem Aufbauprogramm von 1946 davon ausgegangen, dass ein Einsatz biophysikalischer Großgeräte schon aus ökonomischen Gründen nicht realisierbar war.151 Ende 1949 wurde, wie erwähnt, von staatlicher Seite der Aufbau kernphysikalischer Forschungsanlagen in der Akademie eingeleitet. Das IMB war in diesem Rahmen als Standort einer „neutronenphysikalischen Anlage“ vorgesehen, die vor allem der Erzeugung radioaktiver Isotopen dienen sollte. Wurde zunächst noch mit Schwierigkeiten aufgrund der alliierten Abmachungen gerechnet, gab die SMAD nach kurzer Zeit grünes Licht für den Bau eines „Zyklotrons“ in Buch.152 Dass es Unklarheiten hinsichtlich der Bauart des Bucher Projekts gab, ist nicht verwunderlich. Die Zyklotrontechnik hatte während des Krieges in den USA so große Fortschritte gemacht, dass sie als logische Wahl für strahlenbiologische und strahlentherapeutische Anwendungen erscheinen musste. Geplant wurde jedoch ein Kaskadengenerator, der technisch der alten KWIH-Anlage verwandt war. Nachdem zunächst eine 800 kV-Anlage eingeplant wurde – eine Leistung, die etwas über jene des alten Bucher Gerätes hinausging – wurde Anfang 1951 ein 1,5 mV-Kaskadengenerator mit zwei Entladungsrohren zur Neutronen- und Röntgenstrahlenerzeugung bestellt, der neben der Isotopenproduktion auch eine therapeutische Nutzung sehr harter Röntgenstrahlung ermöglichen sollte.153 Für die 149 Protokoll zur Sitzung des Rates der Direktoren 30.10.1964, ABBAW Buch A 18. Der zunehmende Einsatz von Hochleistungsgeräten wurde nicht nur durch die Strom-, sondern auch die ebenso labile Wasserversorgung behindert, vgl. G. Etzold, Leistungsbericht 1972 des Themenkollektivs Physikochemisches Zentrum, Teil II., 28.11.1972, ABBAW Buch A 752. 150 Russischsprachiges Notizblatt, 9.4.1946, BAB DQ 1/55, Bl. 229. 151 P. Jordan, Plan Institut für Biophysik und medizinische Physik, 20.9.1946, ABBAW AKL 46. 152 J. Naas, Protokoll der Direktorenbesprechung 17.11.1949, 21.11.1949, ABBAW AKL 602; Minister für Volksbildung (Wandel) an W. Friedrich, 14.12.49, ABBAW Buch A 999. 153 Vorentwurf und Kostenvoranschlag eines Neutronengenerators und einer Röntgenanlage für 800 kV Beschleunigungsspannung, n. d. (ca. Mitte 1950); Otterbein (Referat für technische
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Planungen musste Friedrich nur auf einige Jahre ältere Entwürfe zurückgreifen. Im Rahmen der megalomanischen „Germania“-Stadtplanung war auch mit Entwürfen für ein neues Charité-Hochhaus mit Seitenflügeln für die medizinischen Institute begonnen worden.154 Friedrich ließ in diesem Zusammenhang detaillierte Pläne für ein erweitertes Institut für Strahlenforschung entwickeln, in dessen Zentrum ein neuer Kaskadengenerator stehen sollte. Die Wahl dieser Technik hatte er nach Studien über die Vor- und Nachteile der damals erhältlichen Geräte zur Erzeugung verschiedener Strahlenarten hinsichtlich Anwendungsbereich, Wirtschaftlichkeit und Sicherheit getroffen.155 Der Bau der etwa sieben Meter hohen Anlage erforderte einen Hallenbau, der möglichst direkt mit den biophysikalischen Laboratorien verbunden war. Die Projektierung sah vor, den Generator im Kuppelbau der im Zentrum des Bucher Parkgeländes stehenden Friedhofskapelle aufzustellen und die Seitenflügel für Laborräume auszubauen. Die Bauarbeiten waren bereits angelaufen, als im Sommer 1951 die genauen technischen Daten der Anlage vom Hersteller Trarö Dresden geliefert wurden. Eine Überprüfung ergab, dass der Generator zwar in die Halle passte, aber ohne Sicherheitsrisiko nicht zur vollen Leistung ausgefahren werden konnte, was insbesondere die Ausbeute der Neutronenstrahlung erheblich herabsetzte.156 Angesichts der peinlichen Fehlplanung wurde umgehend entschieden, die Kapelle abzureißen und an ihrer Stelle einen Neubau zu errichten.157 Dass diese plötzliche und selbstverschuldete Erweiterung des Investionsvorhabens von der DAW in so kurzer Zeit durchgesetzt wurde, deutet an, welche Bedeutung der physikalisch-technischen Aufrüstung beigemessen wurde. Die Eile, mit der die DAW-Bauabteilung das neue „Neutronenhaus“ entwerfen ließ, trug aber dazu bei, dass das Projekt von einer langen Reihe von Fehlschlägen begleitet wurde. Der Bau lief zwar schnell an, stockte aber ausgerechnet an seiner zentralen Stelle, der Generatorenhalle, als die Anlage Mitte 1952 schon lieferbereit war. Die durch Lieferengpässe bei Stahlbauteilen bedingten Probleme waren nur der Auftakt zu einer Pannenserie, die die Inbetriebnahme des Generators um weitere vier Jahre verzögerte.158 Die Baustelle Neutronenhaus wurde in der Zwischenzeit zu einem Schlachtfeld, auf dem sich die DAW-Bauabteilung, die Institutsleitung, die ausführenden Firmen und der allseits unbeliebte Bucher Bauleiter gegenseitig Inkompetenz, Planungsfehler oder mangelnde Kommunikationsbereitschaft vorwarfen. Lohmann hatte bereits zu Beginn der Bauarbeiten Fehlschläge vorausgesagt, da die Akademieleitung angeblich ohne Einbeziehung des IMB vorging.159
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Wissenschaften der DAW), Betriebswirtschaftliches Gutachten zum Investitionsplan 1951, 17.3.1951, beide ABBAW AKL 709. Schleiermacher/Schagen 2010, S. 186–187. Dokument „Hochspannungsanlage“, vermutlich 1941, ABBAW Buch A 546. Notiz Otterbein, 3.8.1951, BAB DF 4/40580. Friedrich an Regierungskanzlei, 9.8.1951, BAB DF 4/41043. DAW an Staatssekretär Mayer, Staatssekretariat für Bauwirtschaft, 10.7.1952, ABBAW AKL 51; Bericht Abteilungsleiterbesprechung 17.12.1952, ABBAW Buch A 23. Lohmann an J. Naas, 11.9.1951, ABBAW AKL 44.
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Allerdings wären die Probleme kaum ohne Fehleinschätzungen der lokalen Experten, inklusive Friedrichs, entstanden. Wer auch immer für die einzelnen technischen Probleme verantwortlich war – ihre Häufung zeigt, dass die DAW mit der Durchführung größerer Bauvorhaben strukturell überfordert war. Alle Bauprojekte der 1950er Jahre, speziell der Ausbau der Klinik, wurden durch Planungsmängel zurückgeworfen.160 Oft sorgten auch die Engpässe in der Bauwirtschaft für Stillstand, wenn etwa die wenigen für spezielle Installationsarbeiten qualifizierten Brigaden überlastetet waren oder seltene Bauteile monatelang ausblieben. Um solche Ressourcen tobte in der Planwirtschaft ein harter Konkurrenzkampf, in dem die DAW nicht immer zu den Gewinnern zählte. Während das Neutronenhaus immerhin die Raumkapazitäten des IMB erweiterte, führte die stockende Freigabe der Labor- und Büroteile zu Unruhe und zu steigenden Spannungen zwischen den Abteilungen.161 Der Aufbau des Kaskadengenerators selbst zog sich aufgrund von Lieferengpässen und technischen Schwierigkeiten bis 1957 hin. Bis die Anlage produktiv genutzt werden konnte, sollten weitere Jahre vergehen; eine wirklich tragende Bedeutung für die Biophysik erlangte sie nie.162 Für die Entwicklung des IMB hatte dies erhebliche Folgen. Der Generator war nicht nur bauliches Herzstück des erneuerten Institutscampus, er trug das Konzept einer strahlenbiologischen Schwerpunktsetzung. Diese sollte ebenso wenig zustandekommen wie die Zusammenarbeit zwischen Biophysik und Strahlentherapie, die für die Idee eines medizinisch-experimentellen Austausches so zentral war. Splittergruppe oder Ordnungsmacht – die Rolle der SED Beim Aufbau des IMB zeigte sich, wie sehr die SED-Führung darauf bedacht war, alte wissenschaftliche Eliten in die DDR zu integrieren. Das galt für die gesamte DAW, die zunächst gesamtdeutsch ausgerichtet war und in ihrer Mitgliederstruktur nicht wesentlich verändert wurde. Die in den frühen 1950er Jahre einsetzende „zielbewußte Politisierung der Wissenschaften“163 berührte die Hochschulen in einem viel stärkeren Maße als die Akademie. Sie ließ aber auch diese nicht unberührt. Im Januar 1953 tagte das Plenum der Volkskammer zu den „Aufgaben der DAW beim Aufbau des Sozialismus.“ Im Vorlauf zu dieser Sitzung wurde den Akademievertretern deutlich gemacht, dass die Partei nicht nur eine leistungsfähigere Organisation, sondern auch einer klare Ausrichtung an weltanschaulichen 160 So musste ein Teil des Klinikanbaus aufgrund mangelhafter Planungsunterlagen wieder abgerissen werden; vgl. VEB Lehrlingsbau „Friedrich Ebert“ an Friedrich, 28.6.1954, ABBAW AKL 49. Der Bau der Röntgenabteilung stand zwischen 1957 und 1960 immer wieder still, vgl. Gummel an Vorsitzenden der Zentralen Kommission für Staatliche Kontrolle, 23.7.1959, ABBAW B 1975. 161 Bericht Abteilungsleiterbesprechung 21.11.1952, ABBAW Buch A 23. 162 Ausführlich hierzu Kap. III.3.1. 163 Malycha 2002, S. 51.
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Vorgaben erwartete, was insbesondere eine gründliche „Aneignung der Sowjetwissenschaft“ – etwa der Agrobiologie Lyssenkos – beinhaltete.164 Damit war die politische Zuverlässigkeit der Akademiemitglieder noch nicht grundsätzlich infrage gestellt. Für die zuständigen ZK-Mitarbeiter um Kurt Hager stand die schrittweise Besetzung der Verwaltung mit bewährten Parteileuten und die gezielte Entwicklung der DAW-Parteigruppe in Vordergrund. Letztere umfasste zwar einige einflussreiche Wissenschaftler, war in den frühen 1950er Jahren aber nur von bescheidenem Umfang.165 Die SED-Wissenschaftspolitiker wussten, dass der Aufbau einer leistungsfähigen Akademie ohne weitgehende Zugeständnisse an die etablierten bürgerlichen Wissenschaftler nicht möglich war. Soweit sie ihre Führungsrollen professionell ausfüllten, wurden von ihnen keine übertriebenen Anpassungsleistungen erwartet. Friedrich, der als Präsident des „Deutschen Friedensrates“ eine gewisse Bedeutung für die internationale politische Propaganda erreichte, wurde wohlwollend als „fortschrittlich-sympathisierender“ Akademiker eingeschätzt. Lohmann, der keine Auseinandersetzung mit den Behörden des sozialistischen Staates scheute, galt als „sehr kritisch, aber loyal“. Ihm wurde zugute gehalten, dass es – vermeintlich dank seiner Autorität – während des Aufstandes vom Juni 1953 in Buch weitgehend ruhig geblieben war.166 Die Stellung der beiden IMB-Direktoren blieb unangetastet, obwohl klar war, dass sie einer Entwicklung ihres Instituts im Sinne des sozialistischen Staates eher ablehnend als gleichgültig gegenüberstanden. Das IMB galt zu Beginn der 1950er Jahre als eines jener Akademieinstitute, in denen die Partei kaum genügend aktive Anhänger besaß, um spürbaren Einfluss auf die Institutspolitik ausüben zu können. Innerhalb der DAW war diese Situation nicht ungewöhnlich; es war vielmehr die Regel, dass Akademieforscher, besonders in den naturwissenschaftlichen Instituten, keinem hohen politischen Druck unterlagen und der Partei fernblieben.167 Mit einem SED-Mitgliederanteil von 22% bei den wissenschaftlichen Kadern lag das IMB Mitte der 1950er Jahre noch über dem DAW-Durchschnitt.168 Dies bedeutete aber nicht unbedingt politisches Gewicht, wenn die SED nicht auf der Führungsebene verankert war und die meisten Mitglieder inaktiv blieben. In Buch war die Remigrantin Käthe Dornberger zunächst die einzige offensiv auftretende SED-Vertreterin unter den Abteilungs- und Gruppenleitern. Als erste Leiterin der Instituts-Parteigruppe legte sie nach Meinung ihrer Genossen in der DAWZentrale eher zu viel als zu wenig Elan an den Tag. Dornberger wurde von ihnen 1953 beschuldigt, eine „sektiererhafte“ Haltung etabliert zu haben, die zur Isola164 Abt. Wissenschaft des ZK (Hager), Beschluß über die Durchführung der Session d. Akademie am 22.–23.1.1953 (Entwurf), 8.1.1953; Entwurf Brief des ZK an den Präsidenten der DAW, n. d., beide DF 4/40224. 165 Teil III zu: Entwurf „Beschluß des Politbüros über Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeit der DAW“, n. d. (1953), BAB DF 4/40224. 166 Bericht über die Tätigkeit der Akademie in den letzten Jahren, 1953, BAB DY 30/IV 2/9.04/372, Bl. 49–89. 167 Jessen 1999, S. 164. 168 Statistik zur Parteizugehörigkeit der wiss. Kader, 15.11.1957, BAB DY 30/IV2/9.04/383, Bl. 190–194.
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tion der Genossen vom Rest des Institutes führe.169 Das war zu dieser Zeit eine schwerwiegende Anschuldigung, da die Parteipresse regelmäßig Parteileute als „Sektierer“ attackierte, die mit ihren Machtansprüchen bürgerliche Experten vergraulten.170 Das harte Urteil beruhte wohl hauptsächlich auf den Einschätzungen von Naas, dem die Bucher Genossen zu sehr in die Belange der Direktoren eingriffen. Die Parteigruppe warf ihrerseits Naas vor, mit diktatorischen Allüren jede Diskussion über Fehlentwicklungen zu ersticken, die die Autorität der Institutsleitung beschädigen konnten. Das Verhältnis zwischen den wenigen SED-Leuten in Buch und der DAW-Zentrale war daher nachhaltig vergiftet.171 Diese Situation schwächte die kleine Parteigruppe zusätzlich. Dornberger suchte, da sie der DAW-Parteigruppe nicht vertraute, die SED-Führung direkt zu überzeugen, dass es zwingend notwendig war, Druck auf das IMB auszuüben. Der geringe Einfluss der Partei ergab sich aus ihrer Sicht nicht einfach aus dem Desinteresse der Mitarbeiter, sondern aus einer gezielten Personalauswahl, die von einer reaktionären Verwaltungsleitung gesteuert und von den Direktoren zumindest geduldet wurde.172 Dass im Institut sehr offen parteikritische Meinungen geäußert wurden und dabei ausgerechnet der Verwaltungsleiter als lautstarker „Sprecher der unzufriedenen Elemente“ auftrat, war schon Ende 1951 von einem SEDSchulungsleiter vermeldet worden.173 Dornberger leitete ihre Beschwerden über die inneren Verhältnisse in Buch Ende 1952 direkt an das ZK weiter, wo sie vermutlich auch auf dem Schreibtisch Ulbrichts landeten. Der ZK-interne Bericht verschärfte ihre Einschätzungen noch einmal und sprach von „Schädlingsarbeit“ des Verwaltungsleiters und der gezielten Sammlung „reaktionärer Kräfte“. Die Beschwerden über die Kommunikationsstörungen zwischen Bucher Parteigruppe und DAW schlugen sich in der Forderung nach Einsetzung eines professionellen Parteisekretärs im IMB, aber auch nach einer Ablösung von Akademiedirektor Naas nieder.174 Die Anklageschrift führte auch einen Katalog von Unregelmäßigkeiten und kleinen Skandalen auf, die sich im Institut angesammelt hatten. Im Fall des Leiters der Abteilung für chemische Krebsforschung, der nach einer moralischen Verfehlung im Kollegenkreis Ende 1952 entlassen wurde, hatte die Institutsleitung laut Parteibericht gezielt dafür gesorgt, das eine gerichtliche Untersuchung unterblieb. Reichlichen Stoff für Beschuldigungen bot auch das Durcheinander bei den Bauprojekten, das Bucher SED-Kreise als Beweis für das Mismanagement der DAW-Verwaltung anführten.175
169 Bericht über die Tätigkeit der Akademie in den letzten Jahren, 1953, BAB DY 30/IV 2/9.04/372, Bl. 49–89. 170 Vgl. „Sektierertum in der Wissenschaft“, Neues Deutschland, 7.6.1953. 171 Gedächtnis-Protokoll über eine Besprechung der BPO mit Naas am 6.12.1952, BAB DY 30/IV 2/9.04/422, Bl. 6. 172 (BPO Buch), Die Situation in Buch, Ende 1952, BAB DY 30/IV 2/9.04/422, Bl. 1–14. 173 Pohl, Bericht über Besuch im IMB am 13.12.1951, 15.12.1951, ABBAW AKL 42. 174 Szekular an Erpel (ZK-Revisionskommission), 14.12.1952, BAB DY 30/IV 2/9.04/422, Bl. 3–5. 175 Enterling an BPO Buch, 6.11.1952, BAB DY 30/IV 2/9.04/422, Bl. 8–10.
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Den Vorwürfen begegnete die Akademiespitze durch die Zuweisung eines neuen Verwaltungsdirektors, wodurch aber für Dornberger kein Problem gelöst wurde, da die alten Kräfte an ihrem Platz blieben.176 Auch der neue DAWVerwaltungschef Walter Freund stellte einige Monate später fest, dass die Machtverhältnisse im IMB unverändert seien.177 Die Gelegenheit, die ungeliebte Verwaltung umzubilden, ergab sich Ende 1954, als die endlosen Klagen über Unregelmäßigkeiten auf den Baustellen zu einer polizeilichen Untersuchung führten, die unorthodoxe Geschäfte des Verwaltungsleiters aufdeckte.178 Zudem brachte eine Überprüfung der Bücher eine chaotische Haushaltsführung zutage.179 Die Parteigruppe nutzte die Gelegenheit, eine Neustrukturierung in der Institutsleitung zu fordern, die aus ihrer Sicht bis dahin undurchsichtig arbeitete.180 Die SED bemühte sich Mitte der 1950er Jahre zunehmend darum, unter Ausnutzung innerer Schwächen einen direkten Einfluss auf die Leitung des IMB aufzubauen. Die Versuche blieben jedoch verhalten und führten nicht ansatzweise zu einer „Durchherrschung“ des Instituts. Das bedeutet nicht, dass die repressive politische Atmosphäre in Buch keinen Niederschlag fand. Für erhebliche Unruhe in der Belegschaft, aber auch in der Akademieleitung sorgte Ende 1953 die Entlassung eines Mitarbeiters der Biophysik, dem subversive Westkontakte vorgeworfen wurden. In der DAW-Parteiorganisation nährte der Fall den Argwohn gegenüber den vermeintlichen reaktionären Umtrieben im IMB. Letztlich verstand man jedoch die Mahnung der Bucher Genossen, nach der Angelegenheit auf zu offensive politische Propaganda im Institut zu verzichten, da die Mitarbeiter stark verunsichert seien.181 In den folgenden Jahren zeigte sich immer wieder, dass im Institut neben allgemeiner Unzufriedenheit auch deutliche Kritik in politischen Grundsatzfragen geäussert werden konnte, ohne dass die Partei persönliche Sanktionen forderte. Im Herbst 1956 verbreitete ein Arbeitsgruppenleiter eine Erklärung, dass sich ein ZK-Vertreter einer offenen Diskussion über den auf mehr Autonomie von der UdSSR abzielenden Kurs des polnischen Parteichefs Wladyslaw Gomulka stellen solle. Der Aufruf erhielt zahlreiche Unterschriften, hatte aber keine nachhaltigen Folgen für den Urheber.182 Noch alarmierender erschien den DAW-Parteifunktionären, dass wenig später eine Gruppe von Bucher Wissenschaftlern, unter ihnen Arnold Graffi, aus Ungarn zurückkehrte und ihre eigene Sicht auf den Beginn des dortigen Aufstandes verbreitete. Als Maßnahme gegen die vermeintlich von „konterrevolutionären Kräften“ eingeflüsterten Be176 Dornberger an Rust (ZK-Revisionskommission), 27.1.1953, BAB DY 30/IV2/9.04/422, Bl. 15. 177 Freund an Gummel, 25.6.1953, ABBAW AKL 42. 178 Bericht Grün (Revierkriminalstelle Buch) 6.10.1954, ABBAW AKL 735; siehe auch Bericht zur Abteilungsleiterbesprechung 6.10.1954, ABBAW Buch A 23. 179 Prüfungsbericht der Revisionsgruppe, 30.10.1954, ABBAW AKL 722. 180 Leitungen BPO und BGL an Präsidium DAW, 2.12.1954, ABBAW AKL 42. 181 Jahresbericht Kaderarbeit in der DAW, 22.12.1953, BAB DY 30/IV 2/9.04/383, Bl. 3–10; Naumann, Bericht über die Situation der DAW am 26.–28.1.1954, BAB DY 30/IV 2/9.04/ 380, Bl. 19–20. 182 Resolution F. Schmidt, Okt. 1956 (Abschrift), BAB DY 30/IV 2/9.04/422, Bl. 54.
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richte forderte man, die Mitarbeiter zu „isolieren“ und anschließend „Aussprachen“ mit ihnen abzuhalten.183 Wirklich eindämmen ließ sich der Dissens durch solche Aktionen nicht. Die Partei konnte nur zur Kenntnis nehmen, dass Kritik an der Praxis der Volkskammerwahlen oder Zweifel an der sowjetischen Politik selbst in der lokalen Parteiorganisation verbreitet waren.184 Trotz dieser Stimmungslage meinte die ZK-Abteilung Wissenschaft 1957 feststellen zu können, dass der einstige reaktionäre Problemfall Buch – vor allem dank der Einsetzung eines hauptamtlichen Parteisekretärs – über die beste Parteiorganisation aller Akademieinstitute verfügte.185 Das bedeutete nur, dass die Partei der Arbeiterklasse im IMB nun organisatorisch besser aufgestellt war, aber keineswegs, dass sie entscheidenden Einfluss auf die Institutspolitik erlangt hatte. Auch nach der Neuorganisation der Leitung 1955 existierte keine effektive Mitsprache der Betriebsparteileitung im Direktorium. Außer Gummel war damals kein Abteilungsleiter Parteimitglied. Schwerer wog aus Sicht der SED, dass es kaum aktive Mitglieder unter den Nachwuchsforschern gab. Der Versuch, die Abteilungsleiter Konzepte zum Aufbau „sozialistischer Forschungsstätten“ erstellen zu lassen, führte 1957 kaum zu fühlbaren Ergebnissen.186 Ein weitaus erfolgversprechenderer Ansatz, die jüngere Generation zu gewinnen, ging im gleichen Jahr von Gewerkschaftsseite aus. Sogenannte „Kommissionen für Forschung und Lehre“ organisierten Diskussionen über Probleme des Forschungsalltags und die zukünftige wissenschaftliche Entwicklung. Die dabei geäußerten Wahrnehmungen der Lage im IMB unterschiedenen sich je nach Abteilungszugehörigkeit, aber vor allem nach der Position in der Institutshierarchie stark. Drückten die leitenden und älteren Wissenschaftler ganz offen ihre Abneigung gegen jede Art von Forschungsplanung und politischen Aktivitäten aus, gab es aus der Belegschaft zahlreiche Stimmen, die unklare wissenschaftliche Perspektiven, fehlende Selbstständigkeit und autoritäre Führungspraktiken beklagten.187 Die Partei sollte in den folgenden Jahren versuchen, diese Unzufriedenheit der bereits weitgehend in der DDR sozialisierten Wissenschaftlergeneration zu nutzen, um sie als neue Führungselite für sich zu gewinnen. Vorerst blieb jedoch die Loyalität der jüngeren Kader begrenzt und die Position des alten Führungszirkels unangetastet. Bis weit in die 1960er Jahre sollten die Mitglieder des Direktoriums die Entwicklung ihrer Abteilungen bestimmen, ohne dass ihre Kaderpolitik und Forschungsplanung von innen oder von außen entscheidend beinflusst wurde.
183 Situationsbericht (vermtl. PO der DAW, Okt./Nov. 1956), BAB DY 30/IV 2/9.04/380, Bl. 105–107 & 110–11. 184 Stimmungsbericht 30.5.1957, BAB DY 30/IV 2/9.04/380, Bl. 137–139. 185 Model (Abt. Wissenschaft des ZK), Über die Lage und über offene Fragen im Bereich der DAW, 27.12.1957, BAB DY 30/IV 2/9.04/372, Bl. 135–161, abgedruckt in Meinel 1997, S. 74–99. 186 Ebd. 187 Protokolle über Ausprachen mit der Kommission Forschung und Lehre und den Mitarbeitern des IMB, Februar/März 1957, BAB DY 30/IV 2/9.04/422, Bl. 80–85.
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Abb. 2: Bebauungsplan für das Bucher Institutsgelände von 1955. A: Altes Hauptgebäude, B: Klinik, C: Neutronenhaus, D: der zu dieser Zeit geplante fünfflügelige Neubau.
Abb. 3: Abteilungsleiterbesprechung, vermutlich 1952. Am Tischende v.l. K. Lohmann, BiophysikMitarbeiter H.-W. Kölle, W. Friedrich, rechts daneben K. Dornberger, E. Negelein, A. Graffi (stehend), im Hintergrund H. Lüers und H. Gummel.
II.2. ZENTRALE PLÄNE, LOKALE KONFLIKTE DAS IMB VON DEN SPÄTEN 1950ER JAHREN BIS ZUR AKADEMIEREFORM Ende der 1950er Jahre fand ein grundlegender Wandel der forschungspolitischen Strukturen in der DDR statt. Innerhalb der Akademie wurde 1957 die „Forschungsgemeinschaft der naturwissenschaftlichen, technischen und medizinischen Institute der DAW“ (FG) gebildet. Damit vollzog die DAW nicht nur eine klare Trennung zwischen ihren natur- und gesellschaftswissenschaftlichen Tätigkeiten, sondern auch zwischen der Verwaltung ihres naturwissenschaftlichen Forschungspotentials und der klassischen Form der akademischen Gelehrtengesellschaft. Einschneidender war die Gründung des Forschungsrates (FR), der als regierungsunmittelbares Expertengremium die zuvor der DAW zugedachte Stellung einer höchsten forschungspolitischen Lenkungsinstanz übernahm. Der FR strebte eine planmäßige Neustrukturierung des gesamten DDR-Wissenschaftssystems an: Einerseits sollte eine langfristige Programmatik den Anschluss an zukunftsträchtige internationale Entwicklungen ermöglichen, andererseits das geringe Innovationspotential der heimischen Industrie durch eine bessere Verzahnung von Forschung und Produktion gehoben werden. Im Sinne der letzteren Forderung initiierte der FR einen wissenschaftspolitischen Kurswechsel, der den Aufbau produktionsnaher Forschungs- und Entwicklungskapazitäten auf Kosten der bis dahin privilegierten Akademie stärkte. Diese Entwicklungen hatten unmittelbare Folgen für das Bucher IMB. Der durch den Sparkurs verschärfte interne Kampf um Ressourcen ließ schwelende Konflikte aufbrechen. Verstärkt durch die Forderungen nach einer „perspektivischen“ Forschungplanung führten diese zu einer kontroversen Debatte darüber, welche Probleme für den Institutskomplex vordringlich waren, welche Forschungsinhalte man zukünftig integrieren sollte und welche Organisationsstruktur den neuen Gegebenheiten am besten entsprach. Dabei zeigte sich in voller Deutlichkeit, dass die Selbstdefinition als „medizinischbiologisches“ Hybridinstitut eine äußerst labile Konstruktion war. Die 1960er Jahre standen so im Zeichen eines Richtungsstreits, in dessen Hintergrund die Frage stand, wie der kleine zentralistische Staat DDR auf die wachsenden Herausforderungen auf den Gebieten der Medizin und Biowissenschaften reagieren konnte. Vom Institut zum Zentrum Wie im vorigen Kapitel dargestellt, zielte die Akademiepolitik der 1950er Jahre darauf ab, in der DAW solche Fachgebiete und Forschungsstrukturen zu entwi-
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ckeln, die an den Hochschulen unzureichend vertreten waren und denen besondere strategische Bedeutung für das gesamte Forschungssystem beigemessen wurde. Der Standort Buch wurde dabei nach Gründung des IMB zum Anlaufpunkt für weitere Projekte, die als Motor für die Modernisierung der biologischen und medizinischen Wissenschaft fungieren sollten. Erste erfolgreiche Beispiele waren die in das IMB integrierte Isotopenabteilung und die als selbstständiges Vorhaben geplante Arbeitsstätte für Kreislaufforschung. 1958 erfuhr der medizinische Sektor der DAW einen weiteren Zuwachs durch Eingliederung einer bereits bestehenden Institution. Im Städtischen Krankenhaus in Buch-Nord, etwa zwei Kilometer vom IMB entfernt, hatte sich der Internist Rudolf Baumann eine Forschungsklinik aufgebaut, deren Therapieprogramm für innere Krankheiten (vor allem Diabetes) auf der Neurophysiologie Iwan P. Pawlows beruhte. Als einer der aktivsten SEDGenossen der Bucher Krankenanstalten konnte Baumann 1956 den Neubau eines Labor- und Stationsgebäudes sowie die Gründung eines „Forschungsinstituts für Kortikoviszerale Pathologie und Therapie“ durchsetzen.1 Mitte 1958 wurde von den städtischen Gesundheitsbehörden die Übergabe des Instituts an die Akademie vorgeschlagen und erstaunlich schnell realisiert. Die Eingliederung des neuen Instituts unterschied sich deutlich von der Bildung des Kreislaufprojekts: Folgte diese einer Entwicklungskonzeption zentraler Gremien, wurde mit Baumanns Abteilung ein bereits voll ausdifferenziertes Projekt übernommen, das für seinen Träger zu teuer und zu spezialisiert geworden war. Der Berliner Magistrat begründete sein Übergabeangebot damit, dass es nach neueren Bestimmungen nicht mehr vorgesehen war, Einrichtungen von überregionaler Bedeutung in der Verantwortung lokaler Behörden zu belassen.2 Baumanns Forschungsklinik entsprach zwar insofern dem DAW-Entwicklungskonzept, als die erwähnten Ministerratsempfehlungen von 1955 forderten, die damals in hohem ideologischen Kurs stehende pawlowsche Physiologie im Akademieprogramm zu verankern. Allerdings kann ihre Übernahme nicht als Konsequenz dieser Vorgabe angesehen werden.3 Sie war vielmehr Ausdruck einer Wissenschaftspolitik, nach der die DAW der gegebene Träger für profilierte außeruniversitäre Forschungspotentiale war. Das bereits über mehr als 120 Mitarbeiter verfügende Institut für kortikoviszerale Pathologie und Therapie (IkvPT) war thematisch und räumlich so klar vom IMB getrennt, dass eine administrative Verbindung zwischen beiden Bucher Akademieinstituten keineswegs zwangsläufig war. Eine Tendenz hierzu zeichnete sich allerdings bald ab, da Baumann in die Investitionsplanungen des IMBDirektorats einbezogen wurde. Der Vorsitzende der FG, Hans Frühauf, hatte zuvor darum gebeten, die Interessen beider Institute sowie der Arbeitsstätte für Kreislaufforschung im Zusammenhang zu beraten und „die Entwicklung der Forschungskapazität im Medizinisch-Biologischen Bereich in Berlin-Buch als einen
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Wolff/Kalinich 2006, S. 176–178. Magistrat von Groß-Berlin, Beschluss 250/58, Übergabe des Instituts für kortiko-viszerale Pathologie und Therapie, 15.8.1958; anliegende „Vorlage“, n. d., beide ABBAW AKL 58. Genauer zur Bildung und Eingliederung des IkvPT vgl. S. 477–479.
Zentrale Pläne, lokale Konflikte
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Gesamtkomplex“ darzustellen.4 Aus der Verwaltungsperspektive ergab sich aus dem Nebeneinander der Bucher Institute fast zwangsläufig die Forderung nach einer stärkeren Verflechtung, zumindest hinsichtlich der Nutzung von Ressourcen und der weiteren Infrastrukturentwicklung. Aus Sicht des IMB implizierte die externe Verflechtung mit thematisch verschieden orientierten Arbeitseinheiten jedoch innere Entflechtung. Im November 1959 diskutierte das Direktorium eine neue Institutsordnung, nach welcher die bisherige Bereichs- und Abteilungsstruktur durch „Institute mit größerer Selbstständigkeit“ ersetzt werden sollte.5 Der Entwurf, der auch die Einbeziehung der Nachbarinstitute vorsah, blieb einige Monate liegen, was vor allem daran lag, dass mit ihm die ursprüngliche Definition des IMB aufgegeben wurde. Ein Institutskomplex mit zwei weiteren medizinischen Schwerpunkten war offenkundig kein reines Krebsforschungszentrum mehr.6 Ein Zusammenschluss der Bucher DAW-Arbeitsstellen erforderte es jedoch, aus der fortgeschrittenen Verselbstständigung der Arbeitsbereiche Konsequenzen zu ziehen. Am 1. Oktober 1961 wurde das IMB mit dem IkvPT und der Arbeitsstelle für Kreislaufforschung zum „Medizinisch-Biologischen Forschungszentrum“ der DAW – in der Praxis zumeist Institute für Medizin und Biologie genannt – vereinigt. Die bisherige IMB-Arbeitsbereiche wurden damit – ebenso wie die „Arbeitsstelle“ inklusive ihrer weiterhin im Krankenhaus Friedrichshain beheimateten herzchirurgischen Gruppe – in den Rang selbstständiger Institute erhoben. Das Prinzip der kollegialen Gesamtleitung durch das Direktorium – nunmehr „Rat der Direktoren“ – blieb erhalten. Mit der Gründung des „Forschungszentrums“ wurde noch eine weitere Eingliederung vollzogen. Wie im Fall des baumannschen Instituts handelte es sich um die Übernahme einer bestehenden Abteilung des Städtischen Krankenhauses Buch. Der Leiter der I. Kinderklinik, Hans-Wolfgang Ocklitz, stellte im Juni 1960 einen Antrag auf Errichtung eines Institutes für Infektionskrankheiten im Kindesalter.7 Ocklitz hatte bereits eine Arbeitsgemeinschaft mit den Leitern der drei weiteren Kinderkliniken des Krankenhauskomplexes aufgebaut, wodurch klinische Beobachtungen an insgesamt 1000 Betten ausgewertet werden konnten. Nach der Übernahme in die DAW plante er einen Anbau zum bestehenden Stationspavillon, um neue Laborkapazitäten sowie eine bislang fehlende Isolierstation einzurichten. Mit sieben wissenschaftlichen und 35 technischen Mitarbeitern hatte das bakteriologisch ausgerichtete Forschungsprojekt einen bescheidenen Umfang. Die Übernahme der Arbeitsstelle wurde schnell vollzogen. Gummel und Baumann, die als Mitglieder der medizinisch-biologischen Vorstandkommission der Forschungs4 5 6 7
Frühauf an Friedrich 28.1.1959, ABBAW Buch A 64. Protokoll Direktoriumssitzung am 6.11.1959; U. Kneller, Entwurf „Ordnung der Aufgaben und der Arbeitsweise der Institute für Medizin und Biologie“, Nov. 1959, beide ABBAW Buch A 14. Protokolle zu Sitzungen des Direktoriums vom 22.3.1960 und 6.5.1960, beide ABBAW Buch A 15. W. Ocklitz, Memorandum über ein klinisches Forschungsinstitut für Infektionskrankheiten im Kindesalter, 16.6.1960, ABBAW FG 184/1; zu Ocklitz und seiner Klinik vgl. Wolff/ Kalinich 2006, S. 179–180 & 215–217.
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gemeinschaft ein gewichtiges Wort mitzureden hatten, unterstützten sie ebenso wie das Gesundheitsministerium, das die pädiatrische Infektiologie in der DDR für dringend entwicklungsbedürftig hielt. Die Realisierung von Ocklitz’ Bauplänen wurde allerdings, wie fast alle Projektierungen in dieser Zeit, um vier Jahre verschoben und später ganz aufgegeben.8 Die Aufnahme der klinischen Arbeitsstelle sollte den vorläufigen Schlusspunkt der Expansion der Bucher Akademieinstitute darstellen. Zu diesem Zeitpunkt umfassten die Entwicklungspläne des Forschungszentrums noch weitere Vorhaben, die das expansive Akademieprinzip des vergangenen Jahrzehnts widerspiegelten, nach dem wissenschaftliches Neuland vor allem durch Pionierprojekte in der DAW erschlossen werden sollte. Dass diese auf dem Bucher Campus angesiedelt werden sollten, verdeutlicht, wie sehr die DDR-Wissenschaftspolitik dem kategorischen Imperativ der Zentralisierung folgte. Dabei existierten für die Gründungsprojekte – in den Plänen finden sich Hinweise auf Institute für Arzneimittelforschung, Virusforschung, Blutforschung, Neurophysiologie sowie Geriatrie – teilweise weder ausgearbeitete Konzeptionen noch Personalpläne. Einige davon hatten allerdings einen längeren Vorlauf, den auch IMB-Wissenschaftler beeinflusst hatten. Ein Institut für Virusforschung, das sich speziell dem Poliomyelitiserreger und anderen neurotropen Viren widmen sollte, tauchte bereits 1952 in den Planungen auf. Der vorgesehene Leiter, der Jenenser Pathologe Wilfried Rohde, genoss die entschiedene Fürsprache Lohmanns konnte sich auch die Unterstützung von Gesundheitsministerium und ZFT sichern.9 Bereits angelaufene Bauplanungen wurden im folgenden Jahr plötzlich gestoppt, als das MfG sich die Position von Gutachtern zu eigen machte, die Rohdes virologische Qualifikation in Frage stellten. Die Zielstellung, die Erforschung humanpathogener Viren in der DAW zu fördern, tauchte jedoch auch später noch in Plandiskussionen auf. Die Idee des virologischen Instituts war ein Beispiel dafür, dass Bucher Wissenschaftler durchaus selbst Interesse zeigten, den Institutsverband um neue Projekte zu erweitern, von denen sie überzeugt waren – auch wenn sie, wie etwa Wollenbergers Kreislauf-Biochemie, nicht in das ursprüngliche IMB-Schema passten. Zugleich zeigt der Fall, wie schnell Initiativen in der kleinen DDRWissenschaftswelt untergehen konnten, wenn sich ernsthafte persönliche oder materielle Hürden auftaten. Anders verhielt es sich mit dem Plan für ein „Instituts für Arzneimittelforschung“, dessen Unterbringung in IMB-Räumen ebenfalls 1952 erstmals diskutiert wurde, ohne dass der Vorstoss spürbare Konsequenzen hatte.10 Friedrich Jung, der als leitender Angehöriger mehrerer pharmakologischer Fachgremien eine kaum zu umgehende Position auf seinem Gebiet innehatte, musste sich 1959 mit einer Neuauflage dieser Gründungsidee auseinandersetzen, wobei ihm völlig unklar war, welche Interessen und Zielsetzungen überhaupt 8
Protokolle zu Sitzungen der Kommission Sektor Medizin und Biologie des Vorstandes FG 14.10.1960 und 25.11.1960, BAB DY 30/IV 2/9.04/422, Bl. 187–190 & 195–200. 9 Rohde an Lohmann, 29.1.1953, ABBAW AKL 59; Baumbach/ZFT an Friedrich, 30.4.1953, ABBAW Buch A 999. 10 Bericht zur Abteilungsleiterbesprechung am 11.6.1952, ABBAW Buch A 23.
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hinter dem Projekt standen. Ein weiteres akademisches Institut für pharmakologische Grundlagenforschung war nach seiner Ansicht schon darum sinnlos, weil in der DDR das nötige Potential an qualifizierten Fachkräfte fehlte. Ein Institut für die Produktentwicklung und Prüfung von Wirkstoffen war dagegen notwendig, fiel aber eher in den Aufgabenbereich der pharmazeutischen Industrie und befand sich dort bereits im Aufbau.11 Jungs Kritik zeigte grundsätzliche Mängel der vorherrschenden Projektierungspolitik auf. Sie ging zu schematisch von der Feststellung einer organisatorischen Leerstelle aus, ohne die gegebenen Potentiale sowie die Frage zu berücksichtigen, an welcher Stelle eines Forschungsgebietes die Situation am effektivsten verbessert werden konnte. In den Jahren nach den Ministerratsempfehlungen hatten mehrere Beispiele deutlich gemacht, dass das Konzept der Zentrenbildung in der DAW die vorhandenen Ressourcen und Strukturen überforderte. Die Idee, in Buch ein breiteres Spektrum biologisch-medizinischer Initiativprojekte aufzubauen, war insofern das Relikt einer bereits gescheiterten Politik. Zum Zeitpunkt der Neuorganisation des Forschungszentrums zeichnete bereits eine Neuausrichtung der Forschungspolitik ab, die auf eine stärkere thematische Fokussierung und eine strengere Prüfung von Investitionen abzielte. Aufbau, Mitarbeiterzahlen und Etat der Institute für Medizin und Biologie 196312 Institut
Direktor
Mitarbeiter
Ausgaben
(davon wiss. Kräfte)
Robert-Rössle-Klinik Experimentelle Krebsforschung Biochemie Pharmakologie Zellphysiologie Biophysik Isotopenforschung Kreislaufforschung (Abt. Exp. Herzchirurgie)* Kortikoviszerale Pathologie und Therapie Infektionskrankheiten im Kindesalter Zentrale Einrichtungen und Verwaltung Gesamt
H. Gummel A. Graffi K. Lohmann F. Jung E. Negelein F.Lange G. Vormum A. Wollenberger H.-J. Serffling R. Baumann
390 (43) 84 (19) 37 (10) 54 (16) 19 (6) 83 (22) 68 (18) 28 (7) 20 158 (47)
H.-W. Ocklitz
16 (3) 225 1182 (191)
5.644.100 1.129.800 584.200 753.100 384.400 1.235.000 873.600 522.700 331.800 2.297.600 313.400 3.413.800 17.483.600
*Abteilung wurde Ende 1963 aus dem FZ Buch ausgegliedert
11 Jung an ZFT 4.4.1959, BAB DF 4/40607. 12 Kalkuliert nach „Aufteilung der Mittel des medizinisch-biologischen Forschungszentrums Buch 1963 und 1964“, ca. März 1964, ABBAW Buch A 18 sowie (für Arbeitskräfte) „Entwurf zur Vorbegutachtung der volkswirtschaftlichen Aufgabenstellung des FZ Buch“, n. d. (1963), BAB DQ 109/205.
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Abb. 4: Zum großen Teil auf Sand gebaut: Bebauungsplan für den Campus der Institute für Medizin und Biologie 1963. Bestehende Bauten: A. Robert-Rössle-Klinik, A1. Röntgenhaus, B. Hauptgebäude, C1. Warmtierhaus, C2. Tierställe, D1 Alte Direktorenvilla, D2–4 Mitarbeiterwohnhäuser, E. Neutronenhaus, F. Gewebezuchtpavillon, G.1–2 Radiumhaus & Isotopenkläranlage, H. Isotopenverteilstation. Im Bau: A2. Klinik-OP-Trakt, G3. Kryptonlabor, H. Institut für Kreislaufforschung, K. Provisorisches Heizhaus. Geplante Bauten bis 1970: A3. Betatron, I1–3. Institute Biochemie, Pharmakologie und Krebsforschung, I4–5. Sozialgebäude und Tierställe, J. Technik/Werkstätten. Planungen für die Zeit nach 1970: G4. Dosimetriepavillon, I6. weitere Institutsgebäude, L. „Zentralgebäude“, M. Linearbeschleuniger, N. Isotopentier- und -gewächshaus.
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Ausbauvisionen und Krisenrealität Mit dem Beginn der 1960er Jahre änderten sich die Bedingungen der Investitionsund Forschungsplanung erheblich. Auch zuvor mussten Bauprojekte im Fünfjahresplan festgelegt und mit geltenden Bebauungsplänen abgestimmt werden. Nun aber reichte es nicht mehr, einzelne Investitionsschritte der Akademieleitung absegnen zu lassen. Gebäudeplanungen mussten in ein langfristiges Gesamtkonzept integriert sein, das durch eine inhaltliche Entwicklungskonzeption begründet war. Diese „volkswirtschaftlichen Aufgabenstellungen“, die den Planwerken der Industrie nachempfunden waren, hatten wissenschaftliche Zielsetzungen und angestrebte Erträge ebenso zu definieren wie den Bedarf an Arbeitskräften und technischen Mitteln; dabei war nachzuweisen, dass letztere im Planzeitraum tatsächlich zugänglich waren.13 Einzelne Planschritte konnten nur realisiert werden, wenn das Rahmenkonzept von der Staatlichen Plankommission (SPK) bestätigt wurde. Das bedeutete neben erhöhtem Verwaltungsaufwand auch ein erhöhtes Planungsrisiko. Das Bauprogramm, das das IMB-Direktorium für den Fünfjahresplan 1961– 1965 vorlegte, war schon darum äußerst ambitioniert, weil sich in ihm zuvor nicht realisierte Projekte mit neuen Erweiterungsvorhaben verbanden. Vorrangig waren das Kreislaufinstitut – für das es durch die Ministerratsempfehlungen von 1955 weiterhin einen klaren staatlichen Auftrag gab – und ein Neubau für den Großteil der experimentellen Laboratorien des IMB.14 Letzteres stand im Zentrum aller Planungen, seitdem die Nutzung des alten KWIH-Haupthauses für chemische und bakteriologische Arbeiten 1955 baupolizeilich scharf gerügt worden war und nur dank permanenter Ausnahmegenehmigungen weitergeführt werden konnte15 Zwischenzeitlich hatte das Direktorium den Plan für einen nördlich des Altbaus am Lindenberger Weg gelegenen Komplex gefasst, der die potentiell heimatlosen IMB-Abteilungen sowie die noch in Planung befindliche Kreislaufforschung beherbergen sollte. Durch die Zusammenfassung konnten die Planungskosten deutlich gedrückt werden; das Konstruktionsprinzip von fünf baugleichen Seitenflügeln eröffnete die Option einer abschnittsweisen Errichtung.16 Auch durch diese planerische Taktik konnte jedoch der für 1958 geplante Baubeginn nicht durchgesetzt werden. Nach 1960 wurden die Pläne unter anderem dahingehend überarbeitet, dass das Kernprojekt der Umsiedlung aus dem Altbau durch drei identische Blockbauten für Teilinstitute (Biochemie, Pharmakologie und experimentelle Krebsforschung) gelöst werden sollte. Die Projektierungen wurden immer wieder umgestoßen, weil sie neuen bürokratischen Vorgaben nicht gerecht wurden. Dazu gehörte etwa die Verordnung, bei Bauprojekten nur noch standardisierte Einheits13 14 15 16
Protokoll zur Sitzung des Direktoriums am 4.3.1960, ABBAW Buch A 15. Kneller, Protokoll Kommission zur Perspektive des IMB, 17.3.1959, ABBAW Buch A 64. Kneller/IMB an Rothkirch /DAW, 19.12.1955, ABBAW AKL 44. Vorlage für Direktoriumssitzung am 6.6.1956, betr. Institutsneubau 58/59, ABBAW Buch A 13.
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typen zu verwenden, für welche es aber auf dem Gebiet der Laborbauten noch keine Modelle gab.17 Die „volkswirtschaftliche Aufgabenstellung“, die 1962 schließlich fertiggestellt wurde, verlagerte den Großteil der Projekte in den folgenden Fünfjahresplan ab 1965. Das bis 1970 veranschlagte Investitionsvolumen belief sich auf insgesamt 100 Millionen Mark. Neben kostspieligen großtechnischen Anlagen (einen Linearbeschleuniger und ein Betatron für die Strahlentherapie) enthielt der erweiterte Plan einige schon lange angestrebte Versorgungsbauten (Heizstation, Tierhaus, Gemeinschafts- und Kantinengebäude) sowie die Neubauten für die beiden neu integrierten klinischen Institute. Hinzu kamen außerdem die oben erwähnten, allein als Wunschvorstellungen existierenden medizinischen Institutsprojekte (Arzneimittelforschung, Blutforschung, Virologie, Pathologie und Geriatrie).18 Der Campus Buch sollte sich nach diesem Programm mittelfristig in einen Forschungspark verwandeln, der den größten Teil der außeruniversitären medizinischen Forschung der DDR vereinigte. Angesichts der planerischen Erfahrungen, die die Direktoren bis dahin gemacht hatten, dürften sie kaum an eine auch nur annähernde Realisierung geglaubt haben. Selbst die Erfüllung der dringendsten eigenen Bedürfnisse – also der neuen Laborgebäude – war zu diesem Zeitpunkt innerhalb des laufenden Fünfjahresplans mehr als fragwürdig. 1962 wurde der Investititonsetat der FG so stark gekürzt, dass in Buch vorerst keine neuen Bauvorhaben möglich waren.19 Im folgenden Jahr musste das Direktorium das Programm auf die Hälfte der ursprünglichen Gesamtsumme zusammenstreichen, da es mit den der FG perspektivisch zugesagten Mitteln unmöglich umzusetzen war.20 Dabei handelte es sich nicht um eine jener plötzlichen Etatschwankungen, die in den 1950er Jahren die Investitionsplanungen schwer kalkulierbar gemacht hatten. Die Kürzungen entsprachen vielmehr einem grundsätzlichen Kurswechsel der Wissenschaftspolitik. Der Forschungsrat, dem mehrere Wissenschaftler angehörten, die zuvor im sowjetischen Atomprojekt mitgearbeitet hatten, ging bei seinen Analysen des DDR-Forschungssystems vor allem der Frage nach, wie Akademieund Hochschulforschung zu besseren Innovationseffekten in der Produktion beitragen konnten. Den Hauptgrund für die bislang geringe Verknüpfung von Wirtschaft und Wissenschaft sahen sie darin, dass es den Industriebetrieben an Forschungs- und Entwicklungskapazitäten fehlte, um Anstöße aus der Grundlagenforschung aufzunehmen und umzusetzen. Strukturbildende Investitionen sollten daher vorläufig weniger der Akademie als den Forschungsabteilungen der volkseigenen Betriebe zugute kommen. 21 Im Herbst 1963 stimmten die Mitglieder der Gruppe Grundlagenforschung des FR – die Physiker Max Steenbeck und Robert Rompe, der Biochemiker Samuel M. Rapoport und der Mathematiker Kurt Schröder – die Akademiker mit einem Blut-Schweiß-und-Tränen-Brief in der 17 Protokoll zur Sitzung des Direktoriums am 11.11.1960, ABBAW Buch A 15 . 18 Volkswirtschaftliche Aufgabenstellung für das medizinisch-biologische Forschungszentrum Buch, n. d. (vmtl. März 1962) ABBAW Buch A 57. 19 Wittbrodt an Wollenberger, 9.1.1962, ABBAW Buch A 64. 20 Protokoll zur Sitzung des Direktoriums am 8.2.1963, ABBAW Buch A 17. 21 Laitko 1997, S. 44.
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DAW-Zeitschrift Spektrum auf den neuen Kurs ein. Wenn sie dabei erläuterten, dass in der Vergangenheit „mehr Aufgaben in Angriff genommen [wurden], als bei der nun einmal begrenzten wirtschaftlichen und geistigen Kapazität unseres Landes sinnvoll war“, bezeichneten sie ein Problem, das bei einem Blick auf die Bucher Planunterlagen augenfällig wurde.22 Mit Investitionen für die Neuschaffung oder wesentliche Erweiterung von Forschungseinrichtungen konnte nach ihrer Ankündigung in den folgenden Jahren nicht mehr gerechnet werden – abgesehen von Projekten, die kurzfristig wirtschaftlich rentable Ergebnisse versprachen. Ein Stillstand bei den Stellenplänen und Streichungen bei den Westimporten war ebenfalls zu erwarten. Ein neuer Ministerratsbeschluss, der auf den FRVorgaben aufbaute, gab zudem die Devise aus, dass die Zusammenarbeit zwischen DAW-Instituten und Betrieben nicht mehr auf zeitweilige Kooperation beschränkt bleiben dürfe und verstärkt durch das Mittel der Vertragsforschung gestaltet werden müsse. Als Option zur Stärkung des Praxisbezuges wurden ferner Übernahmen von DAW-Instituten oder -Abteilungen durch Industrie oder staatliche Stellen empfohlen.23 Tatsächlich fand 1962 das bis dahin stetige Wachstum des Akademiehaushaltes ein Ende. Die Investitionssummen sanken bis 1967 stetig; betroffen war vor allem der Bauetat, der bis auf einen Tiefpunkt von 4 Mio. Mark absank, während die Ausgaben für Technik relativ konstant blieben.24 Nach diesen Ankündigungen musste den Wissenschaftlern in Buch klar sein, dass die Erweiterungen auf dem Campus bestenfalls in Ansätzen umzusetzen waren. Noch gravierender für die laufende Forschungsarbeit war, dass die FG ihren Etat zur Beschaffung von Geräten um 10% kürzte und erwartete, dass die Institute von nun an ihren technischen Bedarf verstärkt durch eigene Entwicklungen deckten.25 Dies war auch eine Folge der nach Mauerbau und westlichen Embargoandrohungen verfolgten Politik der „Störfreimachung“, also der möglichst weitgehenden Ersetzung westlicher Importe durch Eigenentwicklungen. Damit zeichnete sich ab, dass sich die nach dem Gefühl vieler Forscher bereits herrschende Stagnation des forschungstechnischen Niveaus fortsetzen würde; zudem musste sich der Wettbewerb um die schon immer knappen Devisen für Westimporte weiter verschärfen. Die Krebskliniker beklagten etwa 1961, dass sie in der strahlentherapeutischen Technik nicht nur gegenüber dem internationalen Topniveau immer weiter zurückfielen, sondern auch gegenüber der CharitéGeschwulstklinik, die angeblich durch das MfG bevorzugt gefördert wurde. Eine flexiblere Importpolitik wurde aus ihrer Perspektive vor allem durch das Fehlen eines eigenen Devisenetats der FG unmöglich gemacht.26 Dieser Zustand wurde
22 Gruppe Grundlagenforschung des FR, Die Themenauswahl von Forschungsvorhaben, Spektrum 9 (1963), S. 383–385. 23 Beschluss des Ministerrates über Rolle, Aufgaben und die weitere Entwicklung der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Spektrum 9 (1963), S. 374–377. 24 Scheler 2000, S. 264. 25 H. Klare, Aufwand und Nutzen gewissenhaft prüfen. Die Bedeutung der technischen Einrichtungen für die experimentelle Forschung, Spektrum 9 (1963), S. 20–25, S. 21. 26 Gummel/Eichhorn an Frühauf, 4.12.1961, BAB DF 4/35.
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auch von der FG-Leitung immer wieder als Schwachpunkt benannt, konnte aber in den 1960er Jahren nie entscheidend geändert werden. Die Einschnitte bei den Bauinvestitionen und die Stagnation bei der Forschungstechnik wirkten sich um so einschneidender aus, als sie in eine Zeit fielen, in der Hochschulen und Forschungsinstitute in der BRD einen rasanten Ausbau erfuhren. Bucher Wissenschaftler, die nach dem Mauerbau einen direkten Blick in westdeutsche Institute werfen konnten, waren bisweilen schockiert darüber, wie schnell sich das Niveau in beiden deutschen Staaten voneinander entfernte. Der Chefradiologe der Klinik konstatierte 1966, dass mittlerweile nicht nur Universitätskliniken, sondern auch größere Krankenhäuser „in ihrer apparativen Ausrüstung in den letzten Jahren einen so erheblichen Vorsprung gewonnen [hätten], daß wir in der DDR – auch in den wenigen Spitzeninstituten – damit nicht mehr Schritt halten können.“27 Dies galt nicht nur für größere technische Systeme wie Bestrahlungsanlagen, sondern auch für kleinere technische Neuerungen, die alltägliche Arbeitsabläufe erleichterten. Für einen Mitarbeiter der experimentellen Krebsforschung wurde der Rückstand in der Arbeitsorganisation greifbar, wenn er an einer westdeutschen Universität erlebte, dass sich Laborchemikalien innerhalb eines Tages bestellen ließen, Einweg-Plastik-Petrischalen oder Kopiergeräte jederzeit verfügbar waren und Glasgeräte durch eine automatisierte Spülanlage gereinigt wurden, für deren Arbeit in Buch drei Hilfskräfte eingesetzt wurden.28 Während sich der wissenschaftspolitische Diskurs in der DDR um das Ideal der „Rationalisierung“, „Automatisierung“ und „intelligenzintensiven“ Organisation der Forschung drehte, konnten die Wissenschaftler die Realisierung dieser Forderungen oft nur auf Auslandsreisen erleben. Die Eingrenzung der Möglichkeiten, der dynamischen internationalen Entwicklung zu folgen, hatte nicht nur Konsequenzen für die alltägliche Arbeit. Sie führte auch, zusammen mit dem Stillstand bei den Bauinvestitionen, zu steigender Konkurrenz um die verfügbaren Ressourcen. In Buch brachte diese Situation vorhandene interne Spannungen zum Ausbruch. „Theorie“ contra „Praxis“ Nachdem das Planungspaket für das Bucher Forschungszentrum mehrmals umgearbeitet worden war, wurde es im Frühjahr 1963 der Staatlichen Plankommission vorgelegt. 29 Voraussetzung für die grundsätzliche Freigabe des Programms war eine positive fachliche Begutachtung, die an den „Rat für Planung und Koordination der medizinischen Wissenschaft“ (RPKmW) des MfG delegiert wurde. Obwohl bei der Beratung des Antrages am 5.7.1963 kritische Stimmen laut wurden, 27 H. J. Eichhorn, Bericht über Reise nach Erlangen-Nürnberg 28.2.–3.3.1966, 10.3.1966; BAB DY 30/IV A2/9.04/362. 28 T. Schramm, Bericht über Besuch im Institut für Virologie Würzburg 10.–22.10.1966, 6.11.1966; BAB DY 30/IV A2/9.04/362. 29 Entwurf zur Vorbegutachtung der volkswirtschaftlichen Aufgabenstellung des FZ Buch, n. d. (1963), BAB DQ 109/205.
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kam es für die Direktoren unerwartet, dass der Rat die Befürwortung ablehnte. Das Protokoll hielt als wichtigsten Kritikpunkt fest, dass zwei konkurrierende Zielsetzungen hinsichtlich der Entwicklung des Forschungszentrums sichtbar geworden seien: einserseits eine vornehmliche Orientierung der gesamten Forschung auf das Krebsproblem, andererseits eine Verselbstständigung und bevorzugte Förderung der Grundlagenforschung. Als Argument für die letztere Position wurde vorgebracht, dass bislang eine bevorzugte Förderung der klinischen Einrichtungen „die Entwicklung insbesondere der Biochemie und der Biophysik sowie der experimentellen Krebsforschung und der Pharmakologie gehemmt haben“.30 Allen Bucher Direktoren musste klar sein, dass dieser Kritikpunkt auf Samuel M. Rapoport zurückging, Professor für Biochemie an der HU Berlin und einflussreichstes FR-Mitglied in biomedizinischen Fragen. Tatsächlich hatte Rapoport dem Präsidenten des RPKmW vorab eine schonungslose Kritik des Entwurfs übersandt, die in dem Vorwurf gipfelte, die Mängel des „theoretischen Niveaus“ im IMB seien auf die Unterordnung der Grundlagenforschung unter die Ziele der Klinik zurückzuführen.31 Für Rapoport boten die vorgelegten Kapazitätsplanungen keinerlei Gewähr, dass sich dies ändern würde, da in seinen Augen bis 1970 nur ein völlig unzureichender Zuwachs an wissenschaftlichen Mitarbeitern in den „theoretischen“ Instituten vorgesehen war. Diese Kritik war überzogen, da die „Grundlageninstitute“ Biochemie, Pharmakologie und experimentelle Krebsforschung nicht nur, wie erwähnt, jeweils eigene Institutsgebäude erhalten, sondern auch personell teils erheblich aufgestockt werden sollten.32 Nachvollziehbar war allerdings Rapoports Kritik am Fehlen einer echten programmatischen Vision. Die thematischen Abrisse boten überwiegend eine Zusammenstellung der bereits eingeschlagenen Forschungswege, aber kaum konkrete Hinweise darauf, wie man sich auf neuen Schlüsselgebieten wie Molekulargenetik und Enzymologie profilieren wollte. Genau dies musste ein Ausbaukonzept für das größte biologische Forschungszentrum der DDR für Rapoport aber zwingend leisten – einen Weg aufzeigen, wie das Land Anschluss an die internationale Entwicklung der Molekularbiologie finden konnte. Die Ablehnung des Planentwurfs wurde aber kaum allein durch Rapoports Einspruch, sondern paradoxerweise auch durch Kritik verursacht, die aus einer entgegengesetzten Richtung kam. Der RPKmW setzte sich weitgehend aus Universitätsmedizinern zusammen, unter denen erhebliche Vorbehalte gegenüber der Akademie insgesamt und speziell ihren klinischen Einrichtungen vorherrschten. Besonders deutlich wurden diese Konflikte nach der Übernahme der Arbeitsstelle für Infektionskrankheiten. Akademiepräsident Werner Hartke erhielt Anfang 1961 alarmierende Hinweise, dass die Eingliederung der Arbeitsgruppe unter den Charité-Klinikern eine bereits vorherrschende Feindseligkeit gegenüber der DAW verschärfte. Für die Universitätskliniker waren die Akademiemediziner unange30 Protokoll der Präsidiumssitzung des Rates am 5.7.1963, BAB DQ 109/205. 31 Rapoport an Kraatz, 2.7.1963, BAB DQ 109/205. 32 Entwurf zur Vorbegutachtung der volkswirtschaftlichen Aufgabenstellung des FZ Buch, n. d. (1963), BAB DQ 109/205.
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messen privilegiert, während ihnen selbst Mittelkürzungen und Lehrverpflichtungen eine regelmäßige Forschungstätigkeit unmöglich machten. Ferner hatten sie den Eindruck, dass besonders interessante Patientengruppen zu ihrem Nachteil von außeruniversitären Kliniken monopolisiert wurden.33 Gummel betrachtete die Kritik als Vorsitzender des medizinischen Sektors der FG als reine Eifersüchtelei, die nur die eigene Unfähigkeit überdeckte, zielgerichtete klinische Forschungsprojekte zu entwickeln.34 Hartke nahm den Unmut über die vermeintliche Bevorzugung der Akademie jedoch sehr ernst, weil er eine weitere Zuspitzung des Konflikts mit den Universitäten verhindern wollte. Baumanns IkvPT stand bereits unter sehr heftigem Druck der Fachkollegen. Der Charité-Kreislaufspezialist Harald Dutz griff 1963 auf einer Perspektivkonferenz des MfG die großzügige Unterstützung für die Bucher Forschungsklinik als unverantwortlich an, da sie bei hohem Aufwand an Fachkräften und Ausrüstung nur ein Spezialproblem von begrenzter gesundheitspolitischer Bedeutung bearbeite. Dutz forderte stattdessen ein schlankeres Organisationsmodell, in dem sich experimentelle Arbeitsgruppen zeitweise an Abteilungen von Großkliniken ansiedelten, die über ein für ihre Ziel geeignetes Patientengut verfügten.35 Letztlich konnte diese Kritik das Konzept der akademieeigenen Spezialkliniken nicht erschüttern. Die Vorbehalte der Universitätsmediziner gegenüber den Akademieprivilegien konnten jedoch nicht einfach ignoriert werden, zumal die Charité-Mediziner über Gremien wie den RPKmW beträchtliche Einflussmöglichkeiten besaßen. Wie spannungsgeladen das Verhältnis zwischen DAW und Hochschulen blieb, zeigte sich etwa 1967 auf dem vom RPKmW veranstalteten Symposium „Sozialismus, wissenschaftlich-technische Revolution und Medizin”, auf dem auch Laborwissenschaftler sehr deutlich ihre Unzufriedenheit mit dem Konzept artikulierten, die Spitzenforschung in den Akademieinstituten zu konzentrieren. 36 Die Ablehnung des Investitionsplans war indessen kein bloßes Machtspiel externer Interessengruppen. Sie machte offensichtlich, dass die in der Begründung angeführten konzeptionellen Differenzen tatsächlich bestanden. Jung, der den Antrag als amtierender Erster Direktor zu verantworten hatte, und Klinikchef Gummel attackierten zwar gemeinsam den Bescheid, der angeblich auf einer verzerrenden protokollarischen Widergabe der Diskussion beruhte.37 Intern schob Gummel die Schuld für den Fehlschlag jedoch Jung zu, dessen gute Beziehungen zu Rapoport allgemein bekannt waren. Während Jung seine Kollegen aufforderte, den Entwurf im Sinne des Gutachtens zu überarbeiten, legte Gummel eine ausführliche Stellungnahme vor, um den Vorwurf der Bevorzugung der klinischen
33 Aktennotizen Hartke („Streng Vertraulich“) 14.2. und 18.2.1961, ABBAW AKL 64. 34 Gummel an Hartke, 14.3.1961, ABBAW AKL 64. 35 Rat für Planung und Koordination der medizinischen Wissenschaft, Zur Vertiefung des Perspektivplanes der medizinischen Wissenschaft und des Gesundheitswesens der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin: Volk und Gesundheit, 1963, S. 76–77. 36 G. Misgeld (Red.), Sozialismus, wissenschaftlich-technische Revolution und Medizin: Nationales Symposion, Berlin: Volk und Gesundheit, 1969, v.a. S. 203–206. 37 Jung an Misgeld/RPKmW 6.8.1963; Gummel an Misgeld 6.8.1963, BAB DQ 109/205.
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Einrichtungen zu entkräften.38 Die besonders bemängelte Entscheidung, dass die Erweiterung der Klinik um einen OP-Trakt vor den Laborgebäuden in Angriff genommen worden war, konterte er mit der Behauptung, seine Verwaltung habe sich im Gegensatz zu den Grundlagenforschern eben um die fristgerechte Einreichung korrekter Planunterlagen gekümmert. Im Direktorium warfen neben Gummel auch Graffi und Baumann Jung vor, die negative Bewertung des Perspektiventwurfs provoziert zu haben, da die von ihm vorgelegten Statistiken ein Ungleichgewicht zwischen den Ausgaben für Klinik und Forschungsinstitute suggeriert hätten.39 In derselben Sitzung wurde der Pharmakologe außerdem – nicht zum ersten Mal – für seine fehlende Verbindung zu Krebsthemen attackiert. Gummel und Graffi begnügten sich aber nicht mit einer weiteren Diskussion um die thematische Einheitlichkeit des Forschungszentrums. Sie schufen Fakten, indem sie den Zusammenschluss der Klinik, die seit 1960 nach einem der IMBGründerväter „Robert-Rössle-Klinik“ benannt war, und des Instituts für Experimentelle Krebsforschung zu einem „Institut für Krebsforschung“ ankündigten. Damit bekräftigten sie nicht nur symbolisch die Einheit von klinischer und laborbasierter Krebsforschung, sondern forderten programmatisch die Wiederherstellung der „ursprünglichen“ Zielsetzung des IMB ein – nötigenfalls durch Einverleibung von Teilen der restlichen Institute. Der Entscheid des RPKmW wurde nach den Einsprüchen aus Buch wenig später rückgängig gemacht, womit ein prinzipieller Planungs- und Investitionsstop abgewendet war.40 Die nun anbrechenden Streitigkeiten ließen sich dadurch nicht mehr bremsen. Im August 1963 legten Jung und Gummel jeweils eigene Entwürfe zur Perspektive des Forschungszentrums Buch vor. Genauer gesagt handelte es sich um wissenschaftspolitische Manifeste, deren Aussagen zum Verhältnis von experimenteller Forschung und Medizin, zum Stellenwert der modernen Biowissenschaften und zu den Prinzipien der Wissenschaftsorganisation sich jeweils diametral widersprachen. Jung ging von der gewagten Behauptung aus, alle wichtigen Erkenntnisse der modernen Medizin seien reiner Grundlagenforschung entsprungen. Er bestritt zwar nicht, dass in Kliniken, auch in Buch, stellenweise gute wissenschaftliche Arbeit geleistet wurde, stellte aber grundsätzlich den Wert experimenteller Forschung in einem klinischen Kontext in Frage, da sie nur selten über das Niveau von „Schmalspur- oder Bastelarbeit“ hinauskomme.41 Hinsichtlich seiner Zukunftsvorstellungen für das FZ ist vor allem bemerkenswert, dass er die Robert-Rössle-Klinik neben dem ebenfalls in Buch beheimateten Institut für Tuberkuloseforschung und den städtischen Kliniken zum „besonders umfangreichen klinischen Hinterland“ des Forschungszentrums zählte. Damit forderte er zwar nicht explizit eine Ausgliederung der Krebsklinik, warf aber die Frage auf, warum eine Akademieklinik gegenüber anderen medizinischen Versorgungsein38 Jung an Lohmann, 12.7.1963, ABBAW Buch A 57; Gummel/Voigt an RPKmW, 2.8.1963, BAB DQ 109/205. 39 Protokoll zur Sitzung des Direktorium am 6.9.1963, ABBAW Buch A 17. 40 Präsidium des RPKmW 20.9.1963, ABBAW Buch A 57. 41 F. Jung, Ausarbeitung zur Perspektive des FZ Buch, 28.8.1963, BAB DY 30/IV A2/9.04/362.
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richtungen einen hervorgehobenen Status haben sollte. Im Gegensatz zu Gummel, Parteimitglied aus Pragmatismus, setzte Jung, Sozialist aus intellektueller Überzeugung, ferner die Bildung eines sozialistischen Forschungsinstituts auf die Tagesordnung, Mit der – unzutreffenden – Behauptung, die Urkonzeption des IMB gehe auf den erklärten Nazi Pascual Jordan zurück und verkörpere daher eine typisch faschistische Unterordnung der Grundlagenforschung unter die Praxis, forderte er, „das Problem der Demokratisierung, d. h. Überwindung von ‚Führerprinzip‘ und Autoritätsüberziehung“ endlich offensiv anzugehen. Um diesen Punkt zu unterstreichen, schreckte er auch nicht vor dem Hinweis auf eine Häufung „gesellschaftlich sehr negativ qualifizierter Mitarbeiter“ und von Republikfluchten in der Klinik zurück. Gummel betonte ebenfalls die Notwendigkeit, in der Krebsforschung klinische und „theoretische“ Forschung zu verflechten, stellte aber klar, dass die Forschungsthematik letztlich „von den Bedürfnissen des kranken Menschen diktiert werden“ müsse.42 Er bemühte sich kaum, den von Jung und Rapoport vorgebrachten Vorwurf des Praktizismus zu entkräften. Den Wert der Teilinstitute bemaß er lediglich daran, wo praktisch wirksame Beiträge zu Krebsdiagnostik und -therapie erbracht wurden. In dieser Hinsicht schnitt, kaum verwunderlich, die Pharmakologie besonders schlecht ab. Wie schon während der 1950er Jahre interpretierte Gummel den sowjetischen Gründungsbefehl als nicht hinterfragbaren Auftrag, das gesamte Institut auf Krebsfragen auszurichten. In diesem Sinne sollte endlich der alte Name „Institute für Medizin und Biologie“ durch „Institut für Krebsforschung“ ersetzt werden; die für das Hauptziel nicht verwertbaren Teile der Institute für Biochemie, Biophysik und Pharmakologie hatten dementsprechend aus dem Verband auszuscheiden. Bemerkenswerterweise zog Gummel keine entsprechenden Schlussfolgerungen hinsichtlich der medizinischen Arbeitsrichtungen, die zuvor in das Forschungszentrum integriert worden waren. Während Gummel beständig die Gefahr beschwor, dass seine Klinik aus dem Institutsverband ausgeschlossen werde, wusste er selbst das entgegengesetzte Ziel in bisweilen aggressiver Weise zu verfolgen. Seine wichtigste Machtposition war dabei der Vorsitz in der Kommission für Medizin und Biologie beim FGVorstand. Die Kommission, der neben IMB-Vertretern auch die Direktoren der weiteren biologischen Akademieinstitute angehörten, bildete seit Formierung der FG eine Art Paralleldirektorium, über das alle wichtigen Beschlüsse des Bucher Rates der Direktoren an den Vorstand weitergeleitet wurden. Seine Gegner warfen Gummel vor, kraft seiner Funktion wichtige IMB-Beschlüsse gezielt zu verdrehen – so im November 1963, als ein Vorstandsbeschluss den Fortbestand der Institute für Biophysik, Isotopenforschung und Zellphysiologie zumindest fragwürdig erscheinen ließ.43 Ein halbes Jahr später Jahr verabschiedete die Vorstandskommission den Vorschlag, das bisherige Institut für Zellphysiologie dem Institut für Krebsforschung anzuschließen und das Institut für Biochemie teilweise der Krebs42 H. Gummel, Zur Perspektive des Krebsforschungszentrums Buch, 9.9.1963, BAB DY 30/IV A2/9.04/362 (auch ABBAW AKL 61). 43 Protokoll zur außerord. Sitzung des Direktoriums am 8.11.1963, ABBAW Buch A 17.
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und teilweise der Kreislaufforschung zuzuordnen – was ganz Gummels Konzept einer Unterordnung der experimentellen Disziplinen entsprach.44 Der Zeitpunkt für eine solche Offensive war günstig, da 1964 Lohmann, der Biophysiker Fritz Lange sowie Erwin Negelein, seit 1961 Leiter des Instituts für Zellphysiologie, ihre Direktorenposten aus Altersgründen abgeben mussten. Gummels Vorstöße fielen in eine Zeit, in der eine organisatorische Spaltung des Forschungszentrums durchaus denkbar erschien. Im Februar und März 1964 bildeten sich im Rat der Direktoren zwei Arbeitsgemeinschaften für „theoretische und experimentelle Medizin und Biologie“ sowie für „klinische Medizin und klinisch-experimentelle Forschung“. Letztere umfasste neben den Klinikleitern Gummel, Baumann und Ocklitz auch Graffi und Wollenberger, erstere Lohmann, Jung, Lange, Negelein und den Direktor des Instituts für Isotopenforschung, Günther Vormum.45 Verstärkt wurde diese Spaltungstendenz noch durch eine zeitgleiche Umstrukturierung auf FG-Ebene. Als Anfang 1964 der Fachbereich Chemie in Bereiche für reine und angewandte sowie für organische und biologische Chemie aufgeteilt wurde, wechselten die Institute für Mikrobiologie und Ernährungsforschung in den letzteren.46 Da auch noch Jung dem biochemischen Bereich zugeteilt wurde, herrschte der absurde Zustand vor, dass das FZ in der Vorstandskommission für Medizin und Biologie nur noch durch eine reine Kliniker-Gruppe repräsentiert wurde. Die Gruppe der „Theoretiker“ attackierte diesen Zustand umgehend und vehement.47 Tatsächlich versuchte die Vorstandskommission, die Orientierung auf die medizinischen Schwerpunkte im IMB-Perspektivplan festzuschreiben – wobei sie sich auf das Argument stützte, dass die molekularbiologische Forschung nunmehr in die Zuständigkeit des neuen chemisch-biologischen Fachbereichs fiel.48 Als es Gummel Mitte 1964 gelang, seine Vorstellungen in einer neuen Grundkonzeption der FG unterzubringen, protestierte Lohmann beim Vorsitzenden ausführlich dagegen, dass „infolge der Tätigkeit des zuständigen Vorstandsmitglieds“ regelmäßig die Ergebnisse gemeinsamer Beratungen in ihr Gegenteil verkehrt wurden.49 Lohmanns Vorwurf, der Klinikchef warte nur auf sein und Langes Ausscheiden, um seine Ziele endgültig zu erreichen, war kaum nur eine haltlose Unterstellung. Es wirkt daher wie der Versuch eines finalen Rettungsschlages, dass Lohmann mit seinen Bundesgenossen Lange und Jung schließlich beim Staatssekretär für Forschung und Technik, Herbert Weiz, Gummels Absetzung von der Leitung der Kommission verlangte. Erstaunlicherweise schloss sich auch Walter Friedrich, der als Präsident der IMB ansonsten eine 44 Protokoll zur Sitzung der Kommission des FB Medizin am 5.6.1964, BAB DY 30/IV A2/9.04/362. 45 Protokoll zur Beratung zur Konstitutierung der Arbeitsgruppe f. theoretische u. experimentelle Medizin und Biologie beim Rat der Direktoren 13.2.1964, BAB DY 30/IV A2/9.04/362. 46 Klare an Hartke, 31.1.1964, ABBAW AKL 368. 47 Jung, Lange, Lohmann, Negelein und Vormum an unbekannt, 28.4.1964, ABBAW Buch A 83. 48 Anlage 1 zu Protokoll 3/64 der Kommission des FB Medizin, 24.4.1964, BAB DY 30/IV A2/9.04/362. 49 Lohmann an Klare, 3.7.1964; ABBAW Buch A 999.
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zurückgezogene Moderatorenrolle einnahm, dem Angriff an.50 Das Schreiben zeigt, an welchem Tiefpunkt die Verhältnisse zwischen den Direktoren mittlerweile angelangt waren. Gummel wurde neben einer Reihe vergangener Verfehlungen ein „unbegreifliches Fehlen der Fähigkeit wissenschaftlichen Denkens“ sowie ein Mangel an allen für Leitungsfunktionen erforderlichen Charaktereigenschaften vorgeworfen. Mit ihrer Attacke stellte sich die Gruppe auch gegen die FG-Leitung, die nach ihrer Darstellung Vorgaben von Forschungsrat und MfG missachtete. Die Eingabe führte vorerst nicht zur Absetzung Gummels. Dieser konnte aber ebensowenig die Auflösung beziehungsweise Umbildung von Instituten erreichen. Die Biochemie wurde mit Lohmanns profiliertestem Abteilungsleiter Kurt Repke besetzt, die Zellphysiologie mit dem bisherigen Graffi-Mitarbeiter Heinz Bielka. Repke konnte den bereits etablierten Schwerpunkt in der Forschung über herzaktive Wirkstoffe ausbauen, die Zellphysiologie wurde – ganz gegen den ursprünglichen Plan Gummels – zu einer Plattform für molekularbiologische Projekte.51 Keine Seite konnte also entscheidende Geländegewinne verzeichnen. Die Situation blieb jedoch unvermindert angespannt, auch nachdem mit Lohmann Ende 1964 ein konfliktfreudiger Protagonist die Szenerie verließ. Der FG-Vorsitzende Hermann Klare sah Buch ein Jahr später als wissenschaftspolitischen Krisenherd ersten Ranges an, an dem „sich in steigendem Maße Dinge ereignen, die jedem menschlichen Anstand, allen üblichen Gepflogenheiten des Umganges unter Wissenschaftlern und den Normen der wissenschaftlichen und wissenschaftsorganisatorischen Arbeit widersprechen.“52 Für Klare, der eindeutig Rapoport und Jung als Verursacher der Unruhe ansah, konnte die Entwicklung des Forschungszentrums nur wieder in geordnete Bahnen gelenkt werden, wenn das ZK der SED vermittelnd eingriff. Gummel hatte in dem Konflikt nicht nur die Leitung der FG hinter sich, sondern auch die Mehrheit der Direktoren. Das ist erstaunlich, da er im Verlauf der Auseinandersetzung immer offener ausdrückte, dass er nicht unmittelbar an die Klinik gebundene Grundlagenforschung für eine Verschwendung von Zeit und Geld hielt. „Wissenschaft um ihrer Selbst Willen“, verkündete er im April 1964 von der IMB-Parteigruppe, sei in einem kleinen Land wie der DDR nicht machbar, denn „dazu reicht das Geld nicht.“ Einziges Kriterium für die Bewertung der Forschung könne sein, welchen praktischen Nutzen die investierten Forschungsmittel für den kranken Menschen hätten.53 Dafür bekam er nicht nur den starken Beifall der Versammlung, sondern auch die Unterstützung Albert Wollenbergers, der ebenfalls darauf drängte, die Forschungsgruppen um die klinischen Arbeitsgebiete herum neu zu organisieren. Dass sich Forscher wie Wollenberger und Graffi Gummels Mission anschlossen, war trotz der medizinischen Ausrichtung ihrer 50 Friedrich, Jung, Lohmann und Lange an Weiz, 21.8.1964, ABBAW Buch A 999. 51 Vgl. hierzu auch S. 410–415. 52 Abt. Wissenschaft des ZK, Gedächtnisprotokoll über Gespräch zwischen Hörnig, Schubert und Klare am 8.4.1965, 12.4.1965, BAB DY 30/IV A2/9.04/362. 53 Protokoll zur Mitgliederversammlung der Parteileitung Buch am 6.4.1964, BAB DY 30/IV A2/9.04/304.
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Projekte nicht selbstverständlich. Weder Wollenbergers Forschungen über die molekularen Funktionen von Herzmuskelzellen noch Graffis Suche nach Krebsviren ließen bis dahin Ergebnisse erkennen, die streng angelegten gummelschen Kosten-Nutzen-Kriterien genügt hätten. Wenn auch in der FG-Leitung immer deutlicher Forderungen ausgedrückt wurden, dass die Forschung „den unmittelbaren Bedürfnissen der Gesellschaft entsprechen“ solle54 oder „alles Überflüssige in der Forschung aufzugeben“ sei,55 war es eine naheliegende Strategie, die Anlehnung an die klinische Medizin zu suchen. Aber war dies ein Grund, eine Position, die die Autonomie der Grundlagenforschung betonte, vehement abzulehnen? Die Gründe der Parteinahme lagen wohl weniger in konzeptionellen Überlegungen als in persönlichen Sympathien und Antipathien. Wie Klare sah die Mehrheit der Direktoren in einer Einflussnahme Rapoports und des FR die größte Gefahren für die Einheit und Selbstständigkeit des IMB. In den Akademiegremien war der Rapoport als autoritär und rücksichtslos verrufen.56 Da Jung in dem Ruf stand, das Sprachrohr seines HU-Kollegen zu sein,57 wurden seine Aktionen als Versuche wahrgenommen, die Interessen des FR durchzusetzen. Diese Tendenz verstärkte sich mit dem Ausscheiden von Lohmann, Lange und Negelein, das Jung isoliert in der Oppositionsrolle zurückließ. Obwohl Jung dezidiert der SEDLinie folgte, die Position der Nachwuchskräfte gegenüber den bürgerlichen Autoritäten zu stärken und „sozialistische“ Leitungsformen durchzusetzen, konnte er weder unter den jungen Wissenschaftlern noch in der Partei ausreichende Unterstützung gewinnen. Weder Jung noch seine Gegner vertraten in den inneren Konflikten also die Position „der Partei“ beziehungsweise „der Politik“. Sie verfügten vielmehr über unterschiedliche Machtbasen innerhalb des wissenschaftspolitischen Apparates. Die SED-Leitung spielten dabei kaum eine eigenständige Rolle, da ihr Einfluss in den IMB weiterhin gering war. Keine Einheit in der Partei Die innere Führungskrise gab den Wissenschaftsfunktionären in ZK und Akademieleitung eigentlich genügend Anlässe, sich in die Institutspolitik einzuschalten und die Machtstellung der Partei auszubauen. Eine klare Positionierung hinsichtlich der wissenschaftspolitischen Grundsatzfragen blieb aber ebenso aus wie das Durchsetzen einer bestimmten Linie in Personal- und Strukturfragen. Auch die 54 Protokoll zur Sitzung der Kommission des FB Medizin am 5.6.1964, BAB DY 30/IV A2/9.04/362. 55 Protokoll zur Sitzung der Kommission des FB Medizin am 3.4.1964, BAB DY 30/IV A2/9.04/362. 56 Bericht über geschäftlichen Teil der Sitzung der Klasse Medizin der DAW, 5.5.1966, BAB DY 30/IV A2/9.04/362. 57 Persönliche Mitteilung Heinz Bielka, 7.5.2012; persönliche Mitteilung Peter Oehme, 25.4.2014. Jung versuchte Ende 1963, Rapoport als Nachfolger Lohmanns ins Spiel zu bringen, scheiterte aber umgehend; vgl. Aktennotiz Klare, 16.10.1963; Jung an Klare, 1.11.1963, beide BAB DY 30/IV A2/9.04/362.
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Parteileitung des FZ Buch spielte dabei keine entscheidende Rolle; 1964 machte sie sich Gummels Positionen zu eigen, ohne dabei aber erkennbare eigene Akzente zu setzen.58 Der Grund hierfür war, dass die SED-Funktionäre in Buch und auf höherer Ebene selbst durch die Auseinandersetzungen gespalten waren. Zu Beginn der 1960er Jahre konnten Wissenschaftsfunktionäre der SED mit Wohlwollen feststellen, dass die Bucher Parteileitung „allmählich die frühere ideologische Windstille“ überwand und langsam einen stabilen Einfluss auf die Institutsleitung aufbaute. Dazu gehörte auch die Konfrontation mit „opportunistischen“ und „liberalistischen“ Kräften im eigenen Lager, der nach ihrem Geschmack jedoch noch nicht weit genug ging.59 In der Verwaltung begannen die SED-Kader die Kontrolle zu übernehmen; der von der DAW-Parteileitung bestellte hauptamtliche Parteisekretär und die Kaderleiterin waren ständig in die Direktoriumssitzungen einbezogen. 1961 ging auch die Verwaltungsleitung, die nach Einschätzung des SED-Sympathisanten Jung bis dahin ausnahmslos fehlbesetzt war, an einen Parteimann.60 Die Parteigruppe bemühte sich, durch ein Eingreifen in die 1960 einsetzenden Perspektivplandiskussion erstmals auch die Forschungspolitik des Instituts nachhaltig zu beeinflussen.61 Auf der Führungsebene konnte aus Parteisicht ein Geländegewinn erzielt werden, als 1959 der Hochenergiephysiker Fritz Lange, Altkommunist und langjähriger UdSSR-Exilant, im Bereich Physik die Nachfolge Friedrichs übernahm. Bei der Berufung dürfte Robert Rompe, unbestrittene Führungsfigur der DAW-Physik und ZK-Mitglied, einmal mehr in die Bucher Institutspolitik eingegriffen haben.62 Die Biophysik entwickelte sich unter Lange neben der Pharmakologie und dem Institut für kortikoviszerale Pathologie und Therapie zu dem Bereich mit der stärksten Parteibasis. In anderen Institutsteilen blieb die SED dagegen kaum existent. Im Institut für Biochemie hatte der Abteilungsleiter Kurt Repke nach Einschätzung der Kaderleitung zu Beginn der 1960er Jahre ein faktisches Verbot politischer Betätigung durchgesetzt. Die Verwaltung reagierte mit einem stillen Einstellungsstop, hielt aber „drastische Maßnahmen“ aufgrund der fachlichen Erfolge Repkes nicht für angebracht.63 Die Parteiorganisation war nicht nur außerstande, die Entwicklung in allen Teilinstituten zu beeinflussen, sie musste auch besorgt feststellen, dass die eigenen Genossen die wissenschaftspolitische Linie der Partei – speziell den Rationalisierungskurs gegenüber der DAW – nur halbherzig vertraten oder sogar ablehnten. Als noch größere Gefahr als die offenen Gegner und die passiven Parteimitglieder
58 Scholze/Seltner an ZK der SED, Thesen über die weitere Entwicklung des medizinischbiologischen Forschungszentrums Buch, 12.5.1964, BAB DY 30/IV A2/9.04/304. 59 (APL), Bericht über die Parteiarbeit und die Entwicklung der wissenschaftlichen Arbeit an der DAW im Berliner Raum, n.dat. (1960), BAB DY 30/IV 2/9.04/380, Bl. 208–237. 60 Jung an Friedrich, 6.6.1961, ABBAW Buch A 466. 61 BPO IMB Buch, Entwurf einer Empfehlung für den Perspektivplan der Akademieinstitute Buch, Jan. 1960 ABBAW Buch A 50. 62 Hoffmann 2009, S. 63. 63 M. Steinert, Einschätzung der kaderpolitischen Situation vom 13.8.1961, (Eingang 15.11.1961), BAB DY 30/IV A2/9.04/304.
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galten die zahlreichen Ex-Genossen, deren starke Stellung am Institut mit ohnmächtiger Entrüstung konstatiert wurde.64 Wie fragil die Loyalität gegenüber Staat und Partei insgesamt war, stand auch optimistischen Parteikadern durch die in den späten 1950er Jahren extreme Massenflucht von Fachkräften vor Augen. Die an die wissenschaftlichen Leiter gerichteten Appelle zu bewussterer „politisch-ideologischer Arbeit“ blieben dagegen so wirkungslos wie in allen Bereichen der Gesellschaft. Jährlich wanderten 2–3% der Arbeitskräfte in den Westen ab, was etwa dem Akademiedurchschnitt entsprach.65 Der Mauerbau zog einen letzten großen Exodus nach sich, der insbesondere den Ärztebestand der Klinik schlagartig reduzierte.66 In den folgenden Monaten wurden gegen zwei Mitarbeiter des IMB Prozesse wegen angeblicher Fluchthilfe geführt; der Versuch, die Fälle der Belegschaft als mahnendes Beispiel darzulegen, fiel offenbar nicht nach den Vorstellungen der anwesenden Behördenvertreter aus.67 Alle öffentlichen Akklamationen zu den „Maßnahmen unserer Regierung vom 13. August 1961“68 konnten nicht verdecken, dass Mitarbeiter wie Leitung nachhaltig verunsichert waren. Eine einschneidende Folge des allgemeinen Misstrauens war der fast völlige Zusammenbruch direkter internationaler Beziehungen. Forschungsaufenthalte im westlichen Ausland wurden für mehrere Jahre auch für profilierte Mitarbeiter fast unerreichbar. Wenn es für die Parteileute in der DAW-Bürokratie eine Gelegenheit gab, die in den Personalakten gesammelten politischen Einschätzungen disziplinarisch umzusetzen, lag sie in der Reisepolitik. Zahlreiche Mitarbeiter hatten in dieser Zeit Einladungen in erstklassige westliche Institute, scheiterten aber daran, dass ihr „staatsbürgerliches Bewußtsein nicht allzuweit entwickelt“ war69 oder ihre „gesellschaftliche Haltung … nicht die Gewähr [bot], die DDR in den USA in würdiger Weise zu repräsentieren.“70 Die Durchdringung der Verwaltung mit SED-Mitgliedern führte keineswegs dazu, dass die Partei im Forschungszentrum als geschlossen agierende Führungsmacht auftrat. Anfang 1963 führte der seit etwas mehr als einem Jahr amtierende Verwaltungsdirektor des FZ Buch in einem Brandbrief an das ZK eine heftige Attacke gegen den gesamten Verwaltungsapparat. Nach seinen Angaben hatten Parteisekretär und Kaderleiterin eine Kungelwirtschaft etabliert, in der administrative Unfähigkeit, Mittelvergeudung und parteiwidrige Kaderauslese systematisch
64 N.N., Einschätzung der politisch-ideologischen Lage und der Wirksamkeit der massenpolitischen Arbeit der Grundorganisation am med.-biol. FZ Berlin-Buch, 20.10.1962, BAB DY 30/IV A2/9.04/362. 65 Protokoll zur Sitzung des Direktorium am 2.9.1960, ABBAW Buch A 15. 66 M. Steinert, Einschätzung der kaderpolitischen Situation vom 13.8.1961 (Eingang 15.11.1961), BAB DY 30/IV A2/9.04/304. 67 Protokoll zur erweiterten Sitzung des Rates der Direktoren 19.1.1962, ABBAW Buch A 16. 68 F. Jung, Unsere Verantwortung als Wissenschaftler für die Gesellschaft, Spektrum 8 (1962), S. 230–234, S. 234. 69 Schmidt/Abt. auswärtige Anlegenheiten der DAW an Zapf/FB Medizin, 1.3.1965; Zapf an Wollenberger 1.4.1965, beide ABBAW FG 79/1. 70 Wittbrodt an Rienäcker 22.1.1965, ABBAW FG 40.
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betrieben oder gedeckt wurden.71 Die Vorwürfe ähnelten jenen, die etwa zehn Jahre zuvor gegen die damalige Verwaltungsspitze gerichtet worden waren. Angesichts der Maßlosigkeit der Kritik verwundert es nicht, dass die Attacken auch von Parteimitgliedern mit gleicher Münze beantwortet wurden.72 Der forsche Bürokrat wurde schon nach kurzer Zeit entfernt; das Konfliktpotential innerhalb der Parteigruppe, das in seinem Angriff aufschien, war damit jedoch nicht aus der Welt geschafft. Die parteiinternen Spannungen verbanden sich zwangläufig mit den wachsenden Differenzen zwischen den wissenschaftlichen Leitern. Mitte 1963 wandten sich Biophysik-Direktor Lange und einer seiner Mitarbeiter direkt an die ZKAbteilung Wissenschaft, um die „unbefriedigende Leitungstätigkeit und unsaubere Atmosphäre“ im Direktorium anzuprangern. Intern glaubten sie sich mit ihrer Kritik nicht durchsetzen zu können, da die Parteigruppe ihres Instituts „als linksradikal verschrieen“ und Anfeindungen ausgesetzt sei. Die auch die Verwaltung beherrschende BPO-Spitze erledigte nach ihrer Darstellung „alles unter der Hand“ im Sinne Gummels.73 Die institutspolitischen Auseinandersetzungen wurden also auch zwischen den Parteigruppen ausgetragen. Sie waren zusätzlich aufgeladen mit persönlichen Animositäten, Andeutungen über unrechtmäßig gezahlte Prämien und andere „moralische Verfehlungen“. Die Betriebsparteileitung des FZ konnte sich unter diesen Voraussetzungen auf keine klare Haltung zum Konflikt der Direktoren einigen.74 Die Selbstzerfleischungstendenzen unter den Bucher Genossen führten dazu, dass Vertreter der Kreisleitung vermittelnd eingriffen, die sich aber hüteten, sich in wissenschaftliche Grundsatzfragen einzumischen.75 Im Spätsommer 1963 waren die Bucher Akten des ZK mit so vielen internen Streitereien und „Unsauberkeiten“ gefüllt, dass kurzerhand verfügt wurde, die internen Diskussionen der Betriebsparteiorganisation zu beenden.76 Am Ende standen einige Parteiverfahren; der amtierende Parteisekretär musste wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten in seinem Umfeld seinen Posten räumen.77 Die zahlreichen Hinweise auf Gruppenbildungen zwischen Parteifunktionären und leitenden Wissenschaftlern wurden von der SED aber nicht genutzt, Druck auf die Institutsspitze auszuüben oder sich direkt in Führungsfragen einzuschalten. Die Partei hielt sich weitgehend aus den Streitigkeiten an der Institutsspitze heraus und war vor allem damit beschäftigt, die Implosion der eigenen Organisation in Buch zu verhindern. Auch auf die Neubesetzung der Direktorenposten 1964 konnte die 71 M. Kühn, „Was meine Tätigkeit als Verwaltungsdirektor im med.-biol. FZ Berlin-Buch der DAW behindert“, 12.2.1963, BAB DY 30/IV A2/9.04/362. 72 H. Drost an Bezirksvorstand Gew. Wissenschaft, 8.2.1963, BAB DY 30/IV A2/9.04/362. 73 Aktennotiz zu Aussprache mit Prof Lange, Dr. Malz, Gen. Rätz, Gen. Stiebritz am 17.6.1963, BAB DY 30/IV A2/9.04/362. 74 BPL FZ Buch, Protokoll zur Leitungssitzung 1.8.1963, BAB DY 30/IV A2/9.04/304. 75 Babeliowsky (SED Kreisleitung), Stellungnahme zur ideologisch-politischen Auseinandersetzung der Parteiorganisation Berlin-Buch 1.8.1963, BAB DY 30/IV A2/9.04/304. 76 (Abt. Wissenschaft), Information zum gegenwärtigen Stand der Auseinandersetzungen über die Parteiarbeit am med.-biol. FZ Buch, 26.8.1963, BAB DY 30/IV A2/9.04/304. 77 „Information“, (Sept. 1963), BAB DY 30/IV A2/9.04/304.
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SED, wie einige Genossen vor Ort mit Missfallen registrierten, keinen entscheidenden Einfluss nehmen.78 Mit Kurt Repke wurde ein Wissenschaftler berufen, dessen Distanz zum sozialistischen Staat offenkundig war; Heinz Bielka zählte zur kritisch beäugten Gruppe derer, die nach den Ereignissen vom Juni 1953 der SED den Rücken gekehrt hatten. Während an den Hochschulen die Parteimitgliedschaft ab Mitte der 1960er Jahre immer mehr zur obligatorischen Voraussetzung für Neuberufungen wurde, konnte die SED an der Akademie vorerst keine gelenkte Kaderauslese durchsetzen.79 Nur die Biophysik bildete in Buch als Parteidomäne einen Sonderfall. ZK-Mitglied Robert Rompe entzog das Institut 1964 kurzerhand Gummels Angriffen, indem er es seinem physikalischen Fachbereich unterstellte, und installierte mit dem Leipziger Toxikologen Karlheinz Lohs einen Direktor, der allen Kriterien eines SED-Musterkaders entsprach. Die inneren Streitigkeiten hatten zur Folge, dass sich die Position der SED im Forschungszentrum deutlich veränderte. Die Institutsparteileitung wurde unter Führung eines neuen Parteisekretärs reorganisiert, der sich umgehend in die Institutspolitik einschaltete und gegenüber den Direktoren, im Gegensatz zu seinen Vorgängern, den politische Kontrollanspruch der Partei offen hervorkehrte.80 Während spürbarer Einfluss auf die Leitungsebene zunächst ausblieb, durfte sich die Belegschaft einer intensivierten Agitationsarbeit erfreuen. Die Diskussionsveranstaltungen zu aktuellen Themen entwickelten sich allerdings, wie schon in früheren Jahren, so wenig nach dem vorgesehenen Drehbuch, dass der neue Sekretär eine nachhaltige „Erziehungstätigkeit“ verordnete. Kein Versammlungsbericht kam ohne die inflationäre Anwendung des Begriffs „ideologische Unklarheit“ auf die protokollierten Meinungsäußerungen aus. So mangelte es etwa an Verständnis für die Wiederbelebung preußischer Militärtraditionen im Namen des Antimilitarismus, die aggressive Berichterstattung der DDR-Medien gegenüber Israel oder die historische Notwendigkeit des Hitler-Stalin-Paktes.81 Ein arrivierter Wissenschaftler wie Arnold Graffi konnte es sich leisten, offen die Unglaubwürdigkeit von Volkskammerdebatten und von 99-prozentigen Wahlergebnissen zu kritisieren, ohne dass dies ernste Folgen für ihn hatte. Bedenkt man, wie wenig später an dem altgedienten Parteimitglied Robert Havemann ein Exempel aufgrund ideologischer Abweichung statuiert wurde – das unter Bucher Parteileuten für einige Nervosität sorgte82 – wird deutlich, dass die Partei offene Konflikte mit der alten Führungselite der Akademie vermied, solange keine offene Kritik an den Grundlinien der Parteipolitik geäußert wurde. Ihre Ablösung durch eine jüngere, politisch zuverlässigere Generation stand noch nicht auf der Tagesordnung. Aus der Funktionärsperspektive musste man vielmehr die bereits parteigebundenen leitenden Wissenschaftler in die Pflicht nehmen. So lange diese den Parteilosen das Feld der wissenschaftspolitischen Auseinandersetzung überließen, nicht poli78 W. Malz, Notiz betr. Parteileitungssitzung am 29.8.1963, BAB DY 30/IV A2/9.04/304. 79 Zur Entwicklung an den Hochschulen vgl. Jessen 1999, S. 120–123. 80 R. Scholze, Protokoll zur Sitzung des Rates der Direktoren 20.3.1964; R. Scholze an Jung, Zapf und Sellner, 23.4.1964, beide BAB DY 30/IV A2/9.04/304. 81 R. Scholze, Informationsberichte für Mai, Juni und Juli 1965, BAB DY 30/IV A2/9.04/304. 82 R. Scholze, Notiz zum Akademieplenum, 28.3.1966, BAB DY 30/IV A2/9.04/304.
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tisch aktiver und gemäß dem Ideal der „sozialistischen Führungspersönlichkeit“ auftraten, erschien der Führungsanspruch der SED nicht umsetzbar.83 Nationale Perspektiven, interne Richtungsentscheidungen Während die Parteigremien die Perspektivdiskussionen kaum direkt beeinflussten, stieg Mitte der 1960er Jahre der Druck, der vom Forschungsrat auf die IMB ausgeübt wurde. Entsprechend den Grundideen des „Neuen Ökonomischen Systems“, die Planung der Wirtschaftszweige auf eine langfristigere Basis zu stellen, war der FR beauftragt worden, auch für die naturwissenschaftliche Forschung einen Perspektivplan zu erstellen, der Schwerpunkte für die Zeit bis Ende der 1970er Jahre definierte.84 Mitte 1965 lagen erste Entwürfe vor, die allerdings nur der Ausgangspunkt eines längeren Diskussionsprozesses waren.85 Für das Gebiet der biologischen Forschung wurde mit der sogenannten Biologieprognose der Versuch unternommen, die zukunftsträchtigsten disziplinären Schwerpunkte festzulegen, inklusive der Kaderpotentiale, Zentrenbildungen und methodischen Voraussetzungen, die für eine erfolgversprechende Entwicklung bis zum Ende des nächsten Jahrzehnts nötig erschienen. Damit setzte erstmals eine langfristige Forschungsplanung im Sinne eines zentralisierten Aufgaben- und Ressourcenmanagements ein.86 In Buch wurden im Zuge der Bildung des Forschungszentrums erstmals „Perspektivpläne“ entworfen. Dabei handelte es sich zunächst weniger um Entwicklungsplanungen als um Versuche, die bestehenden Institutsthemen in ein Begriffsschema zu bringen, das der von FR und FG geforderten Setzung von Schwerpunktthemen entsprach. Das Resultat waren merkwürdig schiefe Definitionen von „Hauptproblemen“, die nur insofern Relevanz hatten, als sie die Grundkonflikte der Institutspolitik widerspiegelten. In einem Konzeptentwurf von 1962 rangierten etwa die Infektionskrankheiten im Kindesalter als eigenständiger Komplex, während die gesamte Grundlagenforschung als Anhängsel der Krebsthematik geführt wurde.87 Die Diskussionen über die „Biologieprognose“ konnten jedoch nicht mehr als bloße Formalien angesehen werden, sondern hatten als Projekt des Forschungsrates potentiell Auswirkungen auf die Zukunft des IMB. Als der Rat der Direktoren im März 1965 feststellen musste, dass der Themenpunkt „Kanzerogenese“ aus einem Planentwurf gestrichen worden war, folgte sofort eine aufgeregte Protestaktion. Durch die Änderung der Nomenklatur drohte nämlich ein großer Teil der Bucher Projekte in den Bereich der angewandten medizinischen For83 R. Scholze, Vorlage zur Einschätzung der Mitgliederversammlung am 25.5.1964, BAB DY 30/IV A2/9.04/304. 84 Laitko 1997, S. 43; Tandler 2000, S. 215–227. 85 SFT, Beratungsmaterial f. d. Tagung der Zentralen Gruppe zur Ausarbeitung des Perspektivplanes d. naturwissenschaftlichen Forschung, Disziplin Biologie, 12.5.1965, BAB DF 4/3447. 86 Malycha/Thoms 2010, S. 113–114. 87 Protokoll Sitzung Kommission Medizin und Biologie 30.11.1962 und Anlage „Neufassung des Tagesordnungspunktes 2“, ABBAW Buch A 85.
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schung verschoben worden wäre, was die Mehrheit der Direktoren, allen Bekenntnissen zur Praxisorientierung zum Trotz, als gefährliche Einschränkung ansahen.88 Dass sich allein Jung dem Protest nicht anschloss, dürfte den Eindruck seiner Kollegen bestätigt haben, der Pharmakologe operiere als Statthalter des FR. Einige Zeit später tauchte in einer Perspektivplandirektive die Forderung auf, für die Institute Biochemie, Zellphysiologie, Biophysik und Pharmakologie ein gemeinsames Leitungsgremium zu schaffen, also quasi den Bereich Grundlagenforschung im IMB zu verselbstständigen – eine Art Gegenangriff auf Gummel frühere Versuche, die Institute zu zerlegen und medizinisch zu orientieren. Das Direktorium reagierte mit einer merkwürdig verklausulierten Ablehnung und der Versicherung, die molekularbiologische Forschung besonders zu fördern.89 Letzteres war kein reines Ausweichmanöver. Alle biologisch-medizinischen Zukunftplanungen des FR, deren Grundzüge von Rapoport geprägt wurden, kreisten um den Aufbau eines Schwerpunktes Molekularbiologie. Der Bucher Rat der Direktoren sowie die Leitung der FG sahen durchaus die Notwendigkeit, auf die molekularbiologische Herausforderung aus dem Westen zu reagieren. Graffi legte der DAW 1962 eine von Gummel mitgetragene Denkschrift zum zukünftigen Ausbau der medizinisch-biologischen Akademieforschung vor, deren gewagtes und weit gefasstes Programm in einem verblüffendem Kontrast zu der Beschränkung auf das klinisch Nützliche stand, die die beiden Krebsforscher in der Folgezeit vertraten. Zentraler Punkt war die Entwicklung einer molekularen Genetik, die Graffi unter dem Eindruck euphorischer westlicher Zukunftsvisionen gleich um die Perspektive einer medizinischen Gentechnologie erweiterte. Ferner fanden sich Punkte zu weiteren in der DDR kaum existenten Feldern wie der Tumorimmunologie und der „biologischen Kybernetik“.90 Die Vorlage wurde in einen Aufruf der DAW zum VI. Parteitag der SED übernommen.91 Zwei Jahre später erarbeitete Graffi im Auftrag der FG-Leitung zusammen mit dem Direktor des Jenenser Instituts für Mikrobiologie, Hans Knöll, eine Expertise über Grundlagen und Möglichkeiten molekularbiologischer Forschung in der DDR. Graffis Vorstellungen darüber, welche Methoden dringend erforderlich und welche Entwicklungen denkbar erschienen, waren sehr konkret, hielten sich aber in einem bescheidenen Rahmen.92 Obwohl sein tumorvirologisches Projekt enge Bezüge zur neuesten molekulargenetischen Entwicklung aufwies, wollte sich Graffi nicht der von Jung vertretenen Position anschließen, dass man keine echten Fortschritte mache, wenn man Grundsatzfragen weiterhin „angehängt an praktische Probleme“
88 Protokoll zur außerord.Sitzung des Rates der Direktoren 15.3.1965, ABBAW Buch A 19. 89 Protokoll zur außerord.Sitzung des Rates der Direktoren am 27.8.1965, ABBAW Buch A 19; R. Scholze, Informationsbericht August 1965, 6.9.1965, BAB DY 30/IV A2/9.04/304. 90 Gummel/Graffi an Hartke, 12.11.1962, „Entwurf zur theoretisch-medizinischen Forschung“, ABBAW AKL 61. 91 Erklärung und Aufruf der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin zum VI. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Spektrum 8 (1962), S. 283–286. 92 Protokoll zur Sitzung des Direktoriums am 5.4.1964, ABBAW Buch A 17; A. Graffi, Vorschläge zur Thematik der Molekularbiologie, März 1963, BAB DY 30/IV A2/9.04/362.
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behandelte.93 Auch hier stand ein institutioneller Konflikt im Hintergrund. Graffi und andere Akademiker hatten sich bereits den schulmeisterlichen Vorhaltungen Rapoports aussetzen müssen, in der Entwicklung molekularbiologischer Ansätze versagt zu haben.94 Jeder Vorstoß des FR-Funktionärs, die Molekularbiologie thematisch zu verselbstständigen, wurde von ihnen daher als Versuch wahrgenommen, in ihre Planungsbefugnisse einzugreifen und das Bucher Zentrum zu spalten. Forderungen nach einem molekularbiologischen Schwerpunkt hatten aber auch insofern Sprengkraft, als sie die bestehende Struktur der IMB infragestellten. Das junge, immer noch etwas amorphe Forschungsfeld lag sozusagen quer zu den disziplinär gezogenen Institutsgrenzen. Es forderte entweder Organisationsformen, die diese Grenzen auflösten, oder die Bildung neuer Teilinstitute. Eben hier lag ein weiterer Kritikpunkt, den der FR dem Bucher Direktorium wiederholt entgegenhielt, nämlich die mangelnde Kooperationswilligkeit innerhalb des Forschungszentrums. Als der FR Ende 1966 den FG-Vorstand mit einer Evaluation des FZ Buch beauftragte, wurde die Frage der Gemeinschaftsarbeit besonders betont.95 Im Rat der Direktoren nahm man dies als einen neuen Akt bürokratischer Feindseligkeit auf; allerdings glaubte man ihm durch den Verweis auf positive Entwicklungen leicht begegnen zu können, da das Thema seit einigen Jahren ständig in der inneren Debatte stand.96 1962 machte das Direktorium drei „Problemkommissionen“ zu offiziellen Institutsgremien, in denen vornehmlich jüngere Forscher verschiedener Teilinstitute sich zu den Themengebieten Nukleinsäuren und Viren, Eiweiß- und Immunbiologie sowie Strahlenbiologie austauschten.97 Entstanden waren diese Gruppen aus „Assistentenkolloquien“, die durch auf Initiative von Mitarbeitern gebildet und durch die gewerkschaftliche „Kommission Forschung und Lehre“ gefördert wurden. Die Betriebsgewerkschaftsleitung verbuchte es daher als einen ihrer wichtigsten Erfolge, „gewissermaßen von unten her den Kontakt zwischen den Instituten“ geknüpft zu haben.98 Diese Art der fachlichen Mobilisierung auf der unteren Ebene war kein Einzelfall. Sie traf sich mit der ab Beginn der 1960er gezielt verfolgten SED-Linie, jüngere Wissenschaftler politisch zu gewinnen, indem man ihre Hoffnung auf Eigenständigkeit ideell und organisatorisch unterstützte. Die Idee der disziplinäre Grenzen überwindenden „Gemeinschaftsarbeit“ war ein Hebel, um die Generationenkonflikte zwischen den zumeist noch allmächtigen Institutschefs und den subalternen Fachleuten in politische Energie zu verwandeln.99 Die Bucher Gruppenbildungen weisen darauf hin, dass tatsächlich viele Mitarbeiter mit den starren Institutsgrenzen unzufrieden waren. Aufgrund der immer schnelleren Entwicklung 93 94 95 96 97 98
Protokoll Sitzung Kommission Medizin u. Biologie 22.3.1963, BAB DY 30/IV A2/9.04/362. A. Graffi an H. Klare, 3.7. 1963, ABBAW NL Graffi, Nr. 46. Steenbeck an Klare, 26.11.1966, ABBAW Buch A 20. Protokoll Sitzung Rat der Direktoren 14.2.1967, ABBAW Buch A 21. Protokoll Sitzung des Direktorium 23.2.1962, ABBAW Buch A 16. Diskussionsbeitrag Segel in Protokoll über Delegiertenkonferenz der Akademieparteileitung 5.5.1962, BAB DY 30/IV 2/9.04/378, Bl. 583–638. 99 Zu entsprechenden Auseinandersetzungen an den Hochschulen vgl. Jessen 1999, S. 104–109.
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neuer Methoden und Theorien ist es nicht verwunderlich, dass die junge Forschergeneration gegenüber den überwiegend in der Vorkriegszeit geprägten Direktoren einen wachsenden Informationsvorsprung hatte. Neue Projekte fanden innerhalb der gegebenen Institutsgrenzen nicht unbedingt den nötigen Raum zur Entfaltung. Die IMB-Leitung sah in den Problemkommissionen nicht allein die Möglichkeit, in den Institutsprogrammen nicht fest verankerte Themen zu fördern, sondern ihnen auch Planungsfunktionen zu übertragen. Es war beabsichtigt, die Zahl der Problemkommissionen auszuweiten und sie zur Pflege von Querverbindungen mit anderen Instituten des Fachbereichs heranzuziehen. Die neuen Gremien wurden zudem durch organisatorische Aufgaben wie die Planung der Chemikalienversorgung und der Gerätebeschaffung eingebunden.100 Die Planungsgremien gingen jedoch weiter und forderten, dass die Kommissionen bei der Perspektivplanung eine tragende Rolle spielten.101 Das entsprach den Vorstellungen der Partei, dass auch die Prognosearbeit keine rein wissenschaftsorganisatorische, sondern eine politische Tätigkeit war, durch die man die junge Forschergeneration gegenüber ihren bürgerlichen Oberen stärkte und mobilisierte. Die Planungsdokumente des FR betonten stets, dass die konkreten Zielsetzungen durch Arbeitsgruppen jüngerer Wissenschaftler formuliert wurden.102 Der Drang nach einer Stärkung innerer Querverbindungen verdeutlicht ein Paradox der seit 1961 geltenden Institutsstruktur. Einerseits gab die Ordnung des Forschungszentrums den Einzelinstituten entsprechend dem klassischen deutschen Modell akademischer Arbeitsorganisation volle Autonomie. Andererseits stand diesem Anspruch von Beginn an das Ziel entgegen, durch gemeinsame Strukturen die Bearbeitung „komplexer Probleme“ zu gewährleisten.103 Sobald eine Planung auf nationaler Ebene einsetzte, die übergeordnete Themenschwerpunkte definierte, musste sich dieser Widerspruch weiter verstärken. Allerdings bestand noch ein weiterer, konkreterer Grund, eine engere Kooperation zwischen den Bucher Instituten einzufordern. Wie erwähnt schränkte die Sparpolitik den Erwerb größerer Forschungsgeräte – die mit fortschreitender technischer Entwicklung zudem immer teurer wurden – empfindlich ein. Die Anschaffung fiel in die Zuständigkeit der Teilinstitute, musste bei größeren Investitionen aber im Direktorat besprochen werden. Teure, importierte Geräte waren zumeist nur einmal zu haben, aber für Gruppen im ganzen Forschungszentrum interessant. Fragen der Aufstellung und Auslastung führten daher zwangsläufig zu Diskussionen, in denen die „großen“ Konflikte um Konzepte und Ressourcen ihre alltägliche Form annahmen. Auch bei der Nutzung von Großgeräten neigte die Robert-Rössle-Klinik dazu, mit dem Verweis auf den Vorrang der Patientenversorgung besondere Ansprüche anzumelden.104 Eine koordinierte Nutzungsplanung der technischen Infrastruktur 100 Bericht der PK Nukleinsäuren, 30.11.1962, ABBAW Buch A 16. 101 Stellungnahme z. Gutachten des SBBI vom 29.2.1964, vmtl. Juni 1964, ABBAW Buch A 18. 102 Bericht über die Arbeit der Zentralen Gruppe zur Ausarbeitung des Perspektivplanes der naturwissenschaftlichen Forschung, Oktober 1965, BAB DF 4/3447. 103 E. Malz, H. Hellwig, E. Geißler, Perspektiv-Plan der Akademie-Institute des medizinischbiologischen Forschungszentrums in Berlin-Buch, Berlin 1961. 104 Protokoll zur außerord.Sitzung des Rates der Direktoren am 30.7.1965, ABBAW Buch A 19.
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wurde daher teilweise unausweichlich. Mitte der 1960er Jahre wurde eine Reihe solcher Einrichtungen aus den Instituten herausgelöst und zu zentralen Laboratorien erklärt. Zunächst wurden die Tierhaltungen mehrerer Institute zusammengefasst.105 Es folgte die Umwandlung des elektronenmikroskopischen Labors des Instituts für Pharmakologie sowie des ebenfalls in Jungs Institut bestehenden Labors für Mikroanalysen zu „Zentrallaboren“.106 Auch bei technischen Serviceeinrichtungen wie der Gerätereparatur sowie der Glasgeräte– und Chemikalienversorgung konnte sich der zerstrittene Rat der Direktoren auf zentrale Lösungen einigen.107 Solche Rationalisierungsmaßnahmen waren im Interesse einer ökonomischen Betriebsführung nicht zu umgehen, wenn sie auch zumeist nicht ohne Widerstände umgesetzt wurden. Allerdings sollte sich zeigen, dass diese Maßnahmen den Wissenschaftsfunktionären nicht weit genug gingen. Vor dem Hintergrund einer auf totale Rationalisierung ausgerichteten Wirtschaftspolitik und einer Tendenz zur planerischen Neugestaltung der Forschungslandschaft stand letztlich das Modell der Institutsautonomie selbst zur Disposition. Eingriffe von oben Anfang 1967 gewann der Machtkampf um das Bucher Forschungszentrum erneut an Intensität. Die FG-Leitung erhielt Kenntnis, dass Rapoport die Forderung nach einer Abspaltung der IMB-Kliniken in den Unterlagen zur Biologieprognose untergebracht hatte. Der Punkt wurde nach Protesten gestrichen, um umgehend wieder in einem Resolutionsentwurf des FR für den 7. SED-Parteitag aufzutauchen.108 Entsprechend groß war die Unruhe, als die Leitung der FG durch das Staatssekretariat für Forschung und Technik und den FR beauftragt wurde, eine Überprüfung der „Leitungstätigkeit“ in Buch durchzuführen.109 Eine Evaluation in Eigenregie der FG stellte prinzipiell keine große Gefahr dar, auch wenn die Leitung des Fachbereichs Medizin mittlerweile von Gummel auf einen Außenstehenden, den HU-Pathologen Louis Heinz Kettler, übergegangen war. Tatsächlich stellte der Bericht die Reformansätze des Direktorats sehr wohlwollend dar; vor allem sprach er sich deutlich dagegen aus, die „Kardinalfrage“ der Zusammenarbeit zwischen „theoretischen“ und klinischen Bereichen durch eine „Amputation“
105 Beschluss 4/64 des Rates der Direktoren vom 24.3.1964, ABBAW Buch A 18. 106 Protokolle zu Sitzungen des Rates der Direktoren am 26.2.1965 und am 26.10.1965, beide ABBAW Buch A 19. 107 Protokoll zur Sitzung des Rates der Direktoren am 11.3.1966, ABBAW Buch A 20. 108 Böhme an Klare, 10.2.1967; Baumann an Klare, 14.2.1967, beide ABBAW FG 191. 109 Steenbeck/Weiz an Hartke, 8.2.1967; und Klare an Kettler, 18.2.1967, beide ABBAW FG 191.
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von Teilen zu lösen.110 Dies fand auch die Zustimmung der Wissenschaftsabteilung des ZK der SED.111 Dennoch verursachte die Überprüfung einigen Ärger, da jedem externen Eingriff mit großem Misstrauen begegnet wurde. Besondere Aufregung verursachte der Versuch des FR-Vorsitzenden Max Steenbeck, sich in die Untersuchung einzuschalten. Steenbeck hatte den Eindruck, dass die jungen Mitarbeiter nicht genügend an der Evaluierung beteiligt wurden und bat, vor einem ausgewählten Kreis Bucher Wissenschaftler über dieses Problem sowie das Thema „sozialistischen Gemeinschaftsarbeit“ sprechen zu dürfen. Die FG-Leitung akzeptierte, sagte den Termin dann aber kurzfristig ab.112 Die Akademieparteileitung begründete diese offene Brüskierung des ranghöchsten Wissenschaftspolitikers damit, dass man eine unvorbereitete und möglicherweise unkontrollierbare Diskussion über die noch laufende Überprüfung verhindern wollte. Bemerkenswerterweise missbilligte das ZK den Affront nur verhalten und schloss auch einige kritische Worte zu Steenbecks Vorgehen an.113 Der Vorgang war daher alles andere als eine „Machtdemonstration“ des FR.114 Allerdings markierte er den Übergang zu einem aktiveren Vorgehen der obersten Wissenschaftsbehörden, die sich nicht mehr mit der bloßen Diskussion von Perspektivplänen zufrieden gaben, sondern in Buch und in der gesamten Akademie wirksame Umstrukturierungen durchsetzen wollten. Bald nach der FG-internen Überprüfung trat das neugebildete Ministerium für Wissenschaft und Technik (MWT) auf den Plan, das eine eigene Kommission nach Buch schickte. Die Belegschaft wurde durch die erneute Evaluation weiter verunsichert. Bei einem vorbereitenden Kolloquium Mitte 1967 traten Steenbeck, Klare und andere Forschungsmanager „umgehenden Gerüchte“ entgegen, die Zukunft Buchs sei im FR bereits entschieden. Die auch vom MfG unterstützte Beteuerung, dass niemand die Absicht habe, eine Mauer durch das Institut zu errichten, konnte die Gemüter nicht beruhigen.115 Die Wissenschaftler des Instituts für Krebsforschung wandten sich anschließend in einem Brief an Steenbeck, in dem sie die angeblichen Trennungspläne scharf kritisierten und Jung namentlich angriffen.116 110 Protokoll zur außerordentlichen Sitzung des Rates der Direktoren am 9.5.1967, ABBAW Buch A 21; „Bericht über Fragen der Leitungstätigkeit im med.-biol. Forschungszentrum Berlin-Buch der DAW“, Vorlage zur FR-Sitzung 30.6.1967, BAB DF 4/20311. 111 Abteilung Wissenschaft des ZK, Stellungnahme zum FG-Bericht über Fragen der Leitungstätigkeit in Buch, 27.6.1967, BAB DY 30/IV A2/9.04/362. 112 M. Steenbeck an G. Mittag, 7.4.1967, BAB DY 30/IV A2/9.04/304. 113 Scholze/APL, Bericht über Gründe die zum Absetzen des vom FB Medizin/Biologie angesetzten Kolloquiums mit Prof. Steenbeck, 6.5.1967; ZK Abt. Wissenschaften, Information für G. Mittag, 2.6.1967, beide BAB DY 30/IV A2/9.04/304. 114 Tandler 2000, S. 254–255. Tandlers stellt den Vorganges entsprechend dem verbreiteten Denkschema „Politik contra Wissenschaft“ als Angriff des FR gegen das FZ Buch insgesamt dar, ohne in Erwägung zu ziehen, dass innerhalb „der Wissenschaft“ selbst sehr verschiedene Zukunftsvorstellungen existierten. 115 „Kolloquium mit Prof Steenbeck am 11.7.1967 in den medizinisch-biologischen Instituten in Berlin-Buch“, 1.8.1967, BAB DY 30/IV A2/9.04/362. Zur Ablehung der Überprüfungsaktion vgl. auch Scheler 2000, S. 226. 116 Mitarbeiter des IfK an Steenbeck, 18.7.1967, ABBAW FG 70.
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Die von einem Teil des Direktoriums seit langem befeuerten Spaltungsgerüchte waren zum Selbstläufer geworden. Für die von dem Berliner Biophyiker Klaus Buchmüller und dem Magdeburger Pharmakologen Hansjürgen Matthies geleitete MWT-Kommission war das Verhältnis zwischen experimenteller und klinischer Forschung eine wichtige, aber keineswegs die einzige Frage. Ihr Auftrag war Bestandteil des beginnenden Großprojekts, die Strukturen der Akademieinstitute sowie der Hochschulen einer umfassenden Reform zu unterziehen. Das bereits zuvor verfolgte Ziel, jüngeren, parteigebundenen Wissenschaftlern stärkere Geltung auf den Leitungsebenen zu verschaffen, nahm dabei eine besondere Stellung ein. Dementsprechend sollte die Kommission die „politischideologische Leitungstätigkeit“ und die Kaderentwicklung in Buch überprüfen. Nicht weniger wichtig waren die Fragen der ökonomischen Nutzung forschungstechnischer Ressourcen und einer Verbesserung der Koordination und Kooperation zwischen den Akademieinstituten.117 Mit der Betonung des Kaderproblems wurde eine Grundlinie der SED-Wissenschaftspolitik nun auch für Buch akut. Seit Jahren suchte die Partei nach Wegen, die als Diktatur oder Feudalherrschaft gebrandmarkte Position des allmächtigen Institutsdiektors in den Universitäten zu unterminieren.118 Dies war jedoch nicht allein durch neue Organisationsformen – wie die mit der Hochschulreform verfolgte Ersetzung von Instituten durch dem amerikanischen Department-System nachempfundene „Sektionen“ – zu realisieren. Qualifizierte Nachwuchskräfte mussten langfristig in wissenschaftspolitische Prozesse eingebunden werden, um die ältere Generation ablösen zu können. Genau dies war nach Ansicht des ehemaligen Jung-Mitarbeiters Matthies in den von den Direktoren dominierten IMB bislang weigehend versäumt worden. Einen Großteil der Verantwortung hierfür trugen aus seiner Sicht die Parteifunktionäre der FG-Leitung, da sie ihre Bucher Genossen „in einer unverantwortlichen Weise, die schon als parteischädigend bezeichnet werden muss, einseitig auf die Behandlung ‚politisch-ideologischer‘ Probleme orientiert“ und damit eine Einflussnahme auf die internen Konflikte verhindert hätten.119 Der Ausbau der „sozialistischen Leitungstätigkeit“ – also die systematische Heranziehung jüngerer, parteiverbundener Kader in Leitungspositionen – war daher eine der deutlichsten Forderungen der Kommission. Die befürchtete Empfehlung zur Ausgliederung der Kliniken blieb aus; die Kommission unterstrich jedoch die frühere FR-Forderung, anstelle der angeblich unverhältnismäßigen Förderung der klinischen Einrichtungen den Schwerpunkt zukünftig auf die molekularbiologische „Erkundungsforschung“ zu legen. Deutliche Kritik richtete sich auf die geringe Ausnutzung der Möglichkeiten zur internen Kooperation. 120 Trotz der erwähnten Ansätze zu einer gemeinsamen Nutzung von Geräten und Hilfsmitteln sah der Bericht eine wirklich ökonomische Forschungsorganisation durch 117 118 119 120
Konzeption für die Überprüfung des FZ Buch, ca. August 1967, ABBAW Buch A 50. Jessen 1999, S. 193–206. Matthies an Hilbert/MWT & Abt. Forschung d. ZK, Okt. 1967, BAB DY 30/IV A2/9.04/362. K. Buchmüller, Kurzbericht über die Arbeit der Kommission zur Überprüfung des Forschungszentrums (der DAW) in Berlin-Buch, 27.9.1967, BAB DY 30/IV A2/9.04/362.
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einen ungemindert herrschenden „Institutspartikularismus“ behindert. Gleiches galt für die intellektuelle Zusammenarbeit, die zwar durch den Ansatz der Problemkommissionen verbessert worden sei, aber oft nicht über die Grenzen von Instituten oder Arbeitsgruppen hinausging. In diesem Punkt konnte sich die Kommission auf die Beschwerden von Mitarbeitern stützen, die nicht nur ein mangelndes Interesse der Direktoren beklagten, sondern auch ein Klima der Geheimniskrämerei, das bisweilen selbst den Austausch zwischen benachbarten Arbeitsgruppen verhinderte.121 Während sich die Befürchtungen hinsichtlich einer Spaltung des Forschungszentrums nicht bewahrheiteten, leitete die Evaluation gleichwohl einen wissenschaftspolitischen Entscheidungsprozess ein, den die Bucher Leitung nur noch teilweise kontrollieren und beeinflussen konnte. Das kündigte sich schon damit an, dass die Bucher Direktoren den eigentlichen Kommissionsbericht niemals zu Gesicht bekamen.122 Die Schlussfolgerungen aus dem Bericht wurden im Februar 1968 in einer illustren Runde aus Gesundheitsminister Sefrin, Wissenschaftsminister Prey und seinem Stellvertreter Hilbert, dem FR-Vorsitzendem Steenbeck und Klare diskutiert und in eine „Staatliche Aufgabenstellung“ für das FZ eingearbeitet.123 Die darin enthaltenen Forderungen nach Strukturveränderungen sollten sich größtenteils als verhandelbar erweisen. Nicht zu umgehen waren allerdings zwei Anordnungen, die nicht allein Buch betrafen, sondern die Basis der beginnenden Akademiereform bildeten. Erstens waren mit den Ministerien „Koordinierungsvereinbarungen“ abzuschließen, „die die Basis für die Auftragserteilung und Auftragsbindung für die Aufgaben der Grundlagenforschung bilden, die im Auftrage der genannten zentralen Organe in Berlin-Buch durchzuführen sind.“ Hinter der ungelenken Formel verbarg sich die Weisung an alle Forschungsinstitute der DAW, auch die vornehmlich im Bereich der „Erkundungsforschung“ tätigen, bis Jahresende den Großteil ihrer Projekte über Forschungsaufträge der Ministerien oder von Industriebetrieben zu finanzieren. Zweitens sollten die Leitungsstrukturen gemäß dem „Prinzip der Einzelleitung“ umgebildet werden. Das bedeutete nicht weniger als die Abschaffung des bestehenden kollegialen Leitungssystems und die Einsetzung eines hauptamtlichen, alleinverantwortlichen Direktors für das gesamte Forschungszentrum Buch. Institutsreform mit unklarem Ziel Die Prinzipien der „Auftragsbindung“ und der „Einzelleitung“ markierten den Rahmen, in dem sich die Reorganisation der Bucher Institute in der Folgezeit vollziehen sollte. Die Planungen bezüglich der Forschungskonzeptionen nahmen 121 „Kolloquium mit Prof Steenbeck am 11.7.1967 in den medizinisch-biologischen Instituten in Berlin-Buch“, 1.8.1967, BAB DY 30/IV A2/9.04/362. 122 (K. Zapf), Aktennotiz zur Sitzung des Vorsitzenden des FB Medizin und Biologie zur Koordination der Beiträge für die Feinkonzeption am 1.8.1968, ABBAW Buch A 647. 123 Aktennotiz MWT 29.2.1968, BAB DY 30/IV A2/6.07/98; vgl. auch Kettler an Klare 25.3.1968, ABBAW Buch A 647.
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jedoch zunächst einen verwirrenden Verlauf. Die thematischen Vorgaben, die der FG-Vorsitzende Klare den Direktoren im April 1968 überbrachte, standen in völligem Widerspruch zu den Folgerungen der MWT-Evaluation. Sie entsprachen vielmehr fast völlig den Vorstellungen der Gruppe um Gummel: Forschungsschwerpunkte waren allein die medizinischen Themen Krebsforschung, HerzKreislauf-Forschung und nervliche Regulation (im Sinne der baumannschen „kortikoviszeralen Pathologie“); die Institute für Pharmakologie und Biochemie sollten in ihrer bisherigen Form aufgelöst und auf die medizinischen Schwerpunkte „orientiert“ werden sollten.124 Geradezu provozierend musste den Vertretern einer nichtklinischen Ausrichtung erscheinen, dass der Katalog der sekundären Forschungsaufgaben die Strahlenbiophysik, Immunbiologie, Isotopenforschung und biomedizinische EDV-Technik umfasste, aber die Molekularbiologie nicht erwähnte. Um so erstaunlicher ist, dass der Beschluss den heftigsten Widerspruch nicht von Jung erfuhr, sondern von Repke, der zuvor eher auf der Seite der Mediziner gestanden hatte. Abgesehen von der inakzeptablen Form der Beschlussfassung hinter verschlossenen Türen beklagte der Biochemiker, dass mit der Konzeption „Mißverhältnisse der Vergangenheit“ zwischen Grundlagenforschung und Klinik konserviert würden. Möglicherweise artikulierte er seine Opposition so deutlich, weil er seine frühere Position als taktischen Fehler erkennen musste. Repke Forschungen zu herzmuskelwirksamen Pharmaka hätte sich gut in einen medizinischen Schwerpunkt Herz-Kreislauf-Medizin integrieren lassen. Er hatte aber wohl nicht erwartet, dass eine medizinisch orientierte Konzeption tatsächlich zu einer Herabstufung von Instituten zu – wie es nun explizit hieß – „Dienstleistungseinrichtungen“ führen würde. Aber auch bei den ursprünglichen Verfechtern dieser Konzeption herrschte keinesfalls Zufriedenheit. Das lag einerseits daran, dass die Rückführung des Instituts für Infektionen im Kindesalter in das Städtische Klinikum gefordert wurde. Die Proteste seines Leiters Wolfgang Ocklitz wurden zwar von seinen Kollegen unterstützt, allerdings ohne besondere Entschlossenheit. Angesichts der Konzentrationsbestrebungen war es offensichtlich, dass das kleine klinische Institut das schwächste Glied in der Kette war; da half es auch nicht, dass sich Ocklitz zuvor auffallend bemüht hatte, Arbeitsbeziehungen zu den Nachbarinstituten aufzubauen. Konfliktpotential barg auch die Forderung, das Institut für Krebsforschung wieder in seine ursprünglichen Bereiche zu teilen. Allerdings attackierte Gummel diesen Punkt wesentlich entschiedener als Graffi, der einräumte, „daß wegen der Spezifik beider Bereiche ... nicht unerhebliche Schwierigkeiten bei der gemeinsamen Verwaltung bestanden.“125 Die Einheit von labor- und klinikbasierter Krebsforschung war offenbar eher ein organisatorisches Postulat als eine praktische Realität. 124 Protokoll zur außerordentlichen Sitzung des Rates der Direktoren am 15.4.1968, ABBAW Buch A 21. 125 Änderungsnotiz zum Protokoll der Sitzung des Rates der Direktoren am 15.4.1968, ABBAW Buch A 21.
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Die geforderte Ausarbeitung von „Feinkonzeptionen“, die das wissenschaftliche Programm der Institute im Rahmen der neuen Forschungsschwerpunkte festlegen sollte, begann daher unter ungünstigen Vorzeichen. Der Parteisekretär des Forschungszentrums warnte das ZK vorab, die Direktoren würden durch eine Hinhaltetaktik versuchen, auch diese Reforminitiative ohne wirkliche Veränderungen zu überstehen.126 Die FG-Verwaltung übertrug daher die Konzeptarbeiten teilweise jüngeren Forschern aus Buch, was den Unmut einiger Direktoren weckte.127 Die Ergebnisse der „Feinkonzeptionen“ zeigten, dass die Schwierigkeiten weniger in der Abwehrhaltung einiger Leiter als in der widersprüchlichen Situation des Forschungszentrums lagen: Einerseits wurden übergreifende Schwerpunktkonzeptionen erwartet, andererseits bestanden die alten Institutsstrukturen fort. So lagen im August 1968 sowohl Konzeptionen für die drei medizinischen Hauptthemen als auch für einige der Teilinstitute vor, die sich teilweise überschnitten.128 Tatsächlich war das aufwändige Planungspaket bereits bei seiner Fertigstellung obsolet: einerseits, weil es das bereits erwähnte Prinzip der „Vertragsbindung“ nicht berücksichtigte; andererseits, weil die kalte Absetzung des Projektes Molekularbiologie gegen Rapoport und seine Verbündeten nicht durchsetzbar war. Jung, der sich zunächst in taktischer Zurückhaltung geübt hatte, wies darauf hin, dass die neuen Programme die Festlegungen der Biologieprognose ignorierten, die eine nachhaltige Entwicklung molekularbiologischer Methoden forderten. Noch stichhaltiger war der Einwand, dass sie völlig an den Forschungsverträgen mit dem MWT, dem MfG und der pharmazeutischen Industrie vorbeigingen, die die Teilinstitute Mitte 1968 bereits abgeschlossen oder vorbereitet hatten.129 Das Prinzip der „Auftragsbindung“ beinhaltete nämlich nicht allein die projektbezogene Finanzierung einzelner Institutsarbeiten, sondern auch die Bildung von Projektverbänden aus Arbeitsgruppen verschiedener Akademieinstitute und Hochschulen. Da die Teilnehmer ihre Arbeitsprogramme aufeinander abstimmten und mit dem Träger verbindliche Zielvereinbarungen trafen, entstand eine Ebene überinstitutioneller Planung, an denen die institutsbezogene Planung nicht vorbeigehen konnte. Während die höchstinstanzliche Festlegung noch medizinische Schwerpunkte vorsah, hatte sich ein Großteil der Bucher Arbeitsgruppen 1968 bereits vertraglich für molekularbiologisch orientierte Programme in Trägerschaft des MWT verpflichtet. Die durch das „Auftragsprinzip“ geschaffenen Fakten wurden letztlich entscheidend für die Umstrukturierung auf Akademieebene. Ende 1968 wurde der Fachbereich Medizin und Biologie unter Leitung von Helmut Böhme, zugleich designierter Direktor des Instituts für Kulturpflanzenforschung in Gatersleben, 126 Aktennotiz Zillmann 8.5.1968, BAB DY 30/IV A2/6.07/98. 127 Beschlußprotokoll der ständ. Arbeitsbesprechung beim Leiter des FB Medizin/Biologie am 17.7.1968; Zapf an Kettler, 13.8.1968, beide ABBAW Buch A 456. 128 Feinkonzeption der wissenschaftlichen Aufgabenstellung für das medizinisch-biologische Forschungszentrum Berlin-Buch, August 1968, ABBAW Buch A 456. 129 F. Jung, Stellungnahme zur Feinkonzeption der wissenschaftlichen Aufgabenstellung für das medizinisch-biologische Forschungszentrum Berlin-Buch, 13.8.1968, ABBAW Buch A 456.
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neu gebildet. Die vorgeschlagene Aufbaukonzeption orientierte sich klar an den Einflussbereichen der neuen „Auftraggeber“; die weitaus größte Hauptforschungsrichtung entsprach dem noch in Planung befindlichen Großforschungsprogramm „Molekulare Grundlagen der Entwicklungs-, Vererbungs- und Steuerungsprozesse“, in dem das MWT die von ihm geförderten Verbundprojekte zusammenfasste. Einen weiteren Themenkomplex bildeten die auf die pharmazeutische Industrie ausgerichteten Projekte („Gewinnung, Struktur und Funktion biologisch-aktiver Verbindungen“). Die vom MfG finanzierten Gruppen fielen in die medizinischen Hauptforschungsrichtungen Geschwulstforschung sowie zentralnervöse Regulations- und Kreislaufforschung; hinzu kam als eigenständiges Aufbauprogramm die in Buch bislang nur in sehr kleinem Rahmen verfolgte Immunbiologie.130 Durch dieses Konzept war im Prinzip eine klare Grenzziehung zwischen der medizinischen und der experimentell-biologischen Forschung vorgezeichnet, auch für das Forschungszentrum Buch. Da in Buch jedoch die Grenze zwischen den Instituten, teilweise sogar innerhalb der Institute verliefen, war unklar, welche Konsequenzen für die innere Organisation zu ziehen waren. Nachdem sich abzeichnete, dass die lange umkämpfte Auseinandersetzung „Molekularbiologie oder Medizin“ mit einem Unentschieden endete – allerdings mit Feldvorteilen für die erstere – war es eine mögliche Option, die Medizin strukturell zu verselbstständigen. Gummel und Baumann versuchten bald nach Bildung des neuen Fachbereichs – hinter dem Rücken des Leiters – eine entsprechende Trennung zu erreichen, mussten aber erkennen, dass sie hierfür kaum Unterstützung bekamen. Gummels unverminderte Attacken gegen das „Ausweichen in die Unverbindlichkeit der reinen Grundlagenforschung” stießen nunmehr ins Leere und selbst bei Kollegen wie Graffi auf Unverständnis.131 Ende 1968 stand die RRK mit ihren Forderungen nach medizinischer Ausrichtung aller Institutsthemen weitgehend allein.132 Von Seiten des MWT wurde unmissverständlich deutlich gemacht, dass molekularbiologische Grundlagenforschung nicht nur ein Schwerpunkt, sondern zentrales Leitmotiv in der neuen Bucher Gesamtkonzeption sein würde.133 Die anderen Institute des biologisch-medizinischen Fachbereichs der DAW – Mikrobiologie in Jena, Kulturpflanzenforschung in Gatersleben, Ernährungsforschung in Potsdam-Rehbrücke und Biochemie der Pflanzen in Halle – durchliefen zur gleichen Zeit entsprechende Reformprozesse. In der Mikrobiologie und in der Kulturpflanzenforschung waren ebenfalls kontroverse Diskussionen vorausgegangen, inwieweit ihre Forschungsprogramme auf die Grundlagenforschung oder auf 130 Diskussionsmaterial „Wissenschaftliche Hauptaufgaben des FB“ für Direktorenberatung des FB Medizin und Biologie am 14.11.1968; Entwurf „Gliederung und Konzeption des FB Biowissenschaften, 28.1.1969, beide ABBAW Buch A 87. 131 Protokoll zu Sitzungen des Rates der Direktoren am 15. & 21.11.1968, ABBAW Buch A 21. 132 K. Zapf Analyse der bisher vorliegenden schriftlichen Diskussionsbeiträge zur Akademiereform, 21.11.1968; ferner Stellungnahmen der Institute/Bereiche Pharmakologie, Biochemie, Kreislaufforschung, kortikoviszerale Pathologie, exp. Krebsforschung, Robert-Rössle-Klinik, Nov. 1968 alle ABBAW Buch A 801. 133 Protokoll zur Sitzung der mit der Ausarbeitung einer Feinkonzeption für das medizinischbiologische FZ beauftragten Kommission, 22.1.1969, ABBAW Buch A 21.
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Produktionsbedürfnisse (der pharmazeutischen Industrie beziehungsweise der Landwirtschaft) orientiert werden sollten. Die Reform führte jedoch nicht zu einer grundlegenden Umwandlung ihrer Struktur und Zusammensetzung. Die Institute in Jena, Gatersleben und Rehbrücke wurden entsprechend den Vorgaben der Akademiereform in „Zentralinstitute“ umgewandelt; dies beinhaltete eine hierarchische Führung nach dem Prinzip der „Einzelleitung“, eine stratifizierte Gliederung in größere Bereiche und untergeordnete Arbeitsgruppen sowie eine klare Trennung von wissenschaftlichen und technischen Aufgaben.134 In Buch verlief die Akademiereform wesentlich stockender und chaotischer als in anderen Zentren der DAW, da trotz des Nebeneinanders von sehr unterschiedlich profilierten Teilinstituten das hergebrachte Konstrukt IMB weiterhin als Einheit betrachtet wurde. Das alte Spannungsverhältnis zwischen klinisch-medizinischer und experimentell-biologischer Wissenschaft bestand weiter fort. Die Lösung des Problems, wie man die bestehenden komplexen Verhältnisse an die neuen administrativen Modelle anpassen sollte, blieb auch dann noch den lokalen Wissenschaftlern überlassen, als der Rat der Direktoren als Forum für Kontroversen und Kompromisse ausgedient hatte. Bei seiner letzten Sitzung im Februar 1969 beschloss der Rat die Bildung des „Zentralinstituts für Biologie und Medizin“.135 Der zu diesem Zeitpunkt 1300 Mitarbeiter umfassende Komplex sollte danach einem „Einzelleiter“ unterstellt werden, der von den bisherigen Bucher Kontroversen möglichst unberührt sein sollte. Wie das Organigramm unterhalb der Leitungsebene aussehen sollte, war jedoch – abgesehen davon, es nicht den alten Institutsgrenzen entsprechen würde – alles andere als geklärt. Im Januar 1969 war eine Gruppe von jüngeren Wissenschaftlern unter Leitung des Pharmakologen Peter Oehme auf eine Klausurtagung geschickt worden, um mögliche Lösungen zu diskutieren. Die erarbeiteten Alternativvorschläge zeigten, wie schwierig es angesichts der Vielzahl an Projektzuordnungen, potentiellen Querverbindungen und internen Antipathien war, ein tragfähiges Organisationsmodell zu finden. In Anlehnung an die parallel laufende Hochschulreform favorisierten die Autoren eine Aufteilung des Gesamtinstituts in Sektionen, welche ein hohes Maß an Autonomie unterhalb der gemeinsamen Leitung erhalten sollten. Empfohlen wurde eine Lösung mit drei großen Sektionen. Sie entsprach in etwa der Aufteilung, die drei Jahre später mit der Gründung der Zentralinstitute (ZI) für Molekularbiologie, Krebsforschung und Herz-Kreislauf-Forschung realisiert wurde. Da sich diese Sektionen inhaltlich klar abgrenzen ließen und mit der bereits festgelegten administrativen Zuordnung zu den Großprojekten von MWT und MfG übereinstimmten, war es naheliegend, sie gleich als drei selbstständige ZI zu konstituieren. Diese Lösung wurde jedoch insbesondere im Akademiepräsidium ausgeschlossen, weshalb eine weitgehende Verselbstständigung, die die Option einer späteren Aufspaltung offenließ, das gewagteste denkbare Modell 134 Zu Gatersleben und Jena vgl. Malycha 2016, S. 188–202; zu Gatersleben ferner Boehme/Diesener 2005. 135 Beschluss des Rates der Direktoren vom 25.2.1969 zur Bildung des Zentralinstituts für Biologie und Medizin, ABBAW Buch A 21.
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darstellte.136 Prinzipiell wurde die Dreiteilung auch an der Akademiespitze erwogen.137 Es standen aber auch andere Lösungen im Raum, etwa die Trennung der experimentellen und klinischen Bereiche in zwei ZI.138 An einer solchen Variante war speziell die Zuordnung der Institute Graffis und Wollenbergers problematisch, deren Profil an der Grenze von biologischer und medizinischer Forschung lag. Die Idee einer Kreislauf-Sektion, die die Institute Baumanns und Wollenbergers zusammenfasste, war nur hinsichtlich der Zuordnung zum gleichen MfGProjekt sinnvoll. Die beiden Direktoren selbst hatten an der Verbindung nicht das geringste Interesse.139 Dieses Problem war ein wichtiger Grund dafür, dass bei der Gründung des ZIBM zunächst eine weitere Lösung angenommen wurde, nämlich eine Aufteilung in vier Sektionen. Zwei davon entsprachen dem bisherigen Institut für Krebsforschung sowie dem Institut für kortikoviszerale Pathologie und Therapie; der nichtmedizinische Bereich zerfiel in eine molekularbiologische – mit den größten Teilen der Pharmakologie und Biophysik – und eine zellbiologische Sektion, der neben den bisherigen Abteilungen der Biochemie und Zellphysiologie auch Wollenbergers Kreislaufinstitut angehörte. Fest stand, dass das Institut für angewandte Isotopenforschung, welches seit Jahren immer mehr die Sonderrolle einer republikweit agierenden Versorgungsinstitution angenommen hatte, aus dem Bucher Verband ausscheiden würde; es wurde als Außenstelle dem Leipziger Zentralinstitut für Isotopen- und Strahlenforschung angegliedert.140 Mit dem Ende der alten Organisationsform traten die früheren Grundsatzkonflikte in den Hintergrund. Das hatte sicherlich auch damit zu tun, dass nach Jahren der Prognosearbeiten und Konzeptdiskussionen in der Bucher Führungsriege eine gewisse Konfliktmüdigkeit eingetreten war. Der Aufwand für die mit der Debatte verbundene bürokratische Arbeit wurde langsam zu einem ähnlich großen Problem wie ihr Gegenstand selbst. Der Frust über den oft leerlaufenden Aufwand für Perspektiv- und Organisationsplanungen einte alle Parteien.141 Die Gründung des ZIBM sollte ein weiteres Papierkonstrukt bleiben, neben welchem die alten Strukturen zunächst weitgehend erhalten blieben. Trotz unklarer Führungsverhältnisse 136 Oehme und andere, Variantenstudie einer Grundkonzeption für das institutionelle Profil eines künftigen Zentralinstituts in Berlin-Buch, 20.1.1969, ABBAW Buch A 87. 137 Kommission zur Fortführung der Akademiereform beim Generalsekretär, „Konzeption zur künftigen akademieeigenen Forschung auf dem Gebiet der Medizin“, n. d. (1969), ABBAW Buch B 1144. 138 Protokoll zur Sitzung des Rates der Direktoren am 31.1.1969, ABBAW Buch A 21. 139 Protokoll zur Sitzung des Rates der Direktoren am 21.11.1968, ABBAW Buch A 21; H. Böhme an A. Wollenberger, 5.8.1969, ABBAW Buch A 448. 140 Protokoll zur Sitzung des Rates der Direktoren, 18.2.1969, ABBAW Buch A 21. 141 So begleitete Baumann als Direktoriumsvorsitzender Anfang 1967 die Lieferung eines neuen Dokumenten-Konvoluts an den FR mit dem sarkstischen Hinweis auf die vielen „umfangreichen Perspektivpläne, Programmentwürfe, Forschungskonzeptionen etc.“, die das IMB bereits für verschiedene Institutionen vorgelegt hatte, vgl. Baumann an Steenbeck, 18.1.1967, ABBAW Buch A 50. Der Pflanzengenetiker Hans Stubbe kritisierte direkter, die DDRWissenschaft drohe „in Reorganisation regelrecht verbluten“, vgl. Niederschrift einer Unterredung zwischen Präsident und einigen Akademiemitgliedern zu Fragen der Stellung der Biologie am 23.6.1966, BAB DY 30/IV A2/9.04/354.
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vollzogen sich in den folgenden zwei Jahren aber erhebliche Veränderungen in der Organisation und Arbeitsweise des Bucher Forschungszentrums. Sie werden im folgenden Kapitel beschrieben. Staatliche Planung und wissenschaftliche Autonomie Der zunehmende Einfluss staatlicher Planungsinstanzen auf die Entwicklung der Bucher Institute, der in diesem Kapitel beschrieben wurde, war kein ausschließliches Merkmal der DDR-Planwirtschaft. In vielen Ländern Westeuropas waren in den 1960er Jahren ähnliche Entwicklungen zu verzeichnen. Angesichts eines als dramatisch wahrgenommenen amerikanischen Vorsprungs in der naturwissenschaftlichen Forschung erschienen wissenschaftspolitische Eingriffe als zwingend notwendig. Die Molekularbiologie galt dabei neben der Kernphysik als das entscheidende Gebiet für die Modernisierung des Forschungssystems. Der Glaube an die Zukunftsversprechungen der neuen Biologie wirkte systemübergreifend: In der DDR und in der Bundesrepublik entstanden in den 1960er Jahren sehr ähnlich orientierte „Prognosen“, die – aus amerikanischen Quellen schöpfend – die im kommenden Jahrzehnt erwarteten Durchbrüche in biologisch-chemischer Praxis und Medizin ebenso reflektierten wie die Weichenstellungen, die zu ihrer Realisierung nötig erschienen.142 Die wissenschaftspolitischen Folgen dieser Analysen fielen indessen je nach politischen Rahmenbedingungen unterschiedlich aus. Frankreich, das hinsichtlich seiner zentralistischen Wissenschaftsstruktur mit der DDR vergleichbar war, verfolgte in den 1960er Jahren im Rahmen einer planification der Forschungspolitik eine Umgestaltung staatlicher Institutionen nach amerikanischen Vorbildern.143 Länder wie Großbritannien, die Schweiz und die Bundesrepublik, in denen die Förderung der Molekularbiologie zunächst von Forschungsstiftungen getragen wurde, setzten auf die Bildung nationaler Zentren, von denen die neuen Ansätze aus Übersee auf die Hochschulen übergreifen sollten. Die Molekularbiologie wurde einerseits darum zum Gegenstand zentrenorientierter Planungen, weil die benötigten Investitionen kostspielig und ausreichend qualifizierte Kräfte selten waren. Andererseits hatte das Feld der Molekularbiologie, das an der Schnittstelle etablierter Disziplinen wie Biochemie, Biophysik, Mikrobiologie und Genetik entstanden war, innerhalb der bestehenden akademischen Strukturen keinen festen Platz und benötigte daher eine neuartige institutionelle Basis. 144 Dies galt, wie gesehen, auch im zentralistischen Kleinstaat DDR, in dem allerdings bereits ein biologisch-medizinisches Zentrum bestand, auf welches sich folglich die Debatten um eine Neuorientierung konzentrierten. Insofern kann der DDR-Forschungspolitik der 1960er Jahre nicht dieselbe Stoßrichtung zugeschrieben werden wie der parallel einsetzenden restriktiven Kulturpolitik, welche dezidiert auf die Abschottung von westlichen Einflüssen 142 Malycha/Thoms 2010, S. 117–121. 143 Gaudillière 2002, S. 292–317. 144 Strasser 2002, S. 527.
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abzielte.145 Ebenso greift es zu kurz, die Planungspolitik dieser Zeit primär als Versuch der SED zu betrachten, die Wissenschaft ideologisch und organisatorisch unter Kontrolle zu bringen.146 Die Partei sah in der Prognose- und Planungsoffensive zwar ein Mittel zur Schaffung einer neuen sozialistischen Wissenschaftlerelite; in erster Linie lag ihr aber der Befund zugrunde, dass das eigene Forschungssystem den Bedürfnissen der Wirtschaft und internationalen Standards nicht mehr gewachsen war. Etablierte Wissenschaftler standen dem Kurs radikaler Strukturreformen zwangsläufig skeptisch gegenüber, da er einen Verlust institutioneller Autonomie implizierte, der als fachfremde „politische“ Einflussnahme wahrgenommen wurde. Die Konflikte im Forschungszentrum Buch zeigen, dass die Planungspolitik jedoch in erster Linie innerwissenschaftliche Auseinandersetzungen um die zukünftige Entwicklung hervorrief. Den beteiligten Leitungskadern war bewusst, dass angesichts eingeschränkter Ressourcen der Aufbau neuer Großvorhaben zu einer risikoreichen Umverteilung führen musste. Wenn Bucher Mediziner die Forderung nach einer Aufwertung der experimentellen Biowissenschaften mit der Betonung des klinisch „Nützlichen“ beantworteten, folgten sie damit nicht einfach einem provinziellen Konservativmus, sondern der planerischen Logik der Kräftekonzentration. Auch viele Biologen und Biochemiker kritisierten die FR-Pläne für ein molekularbiologisches Schwerpunktprogramm, da sie einen Anschluss an das westlichen Spitzenniveau mit den in der DDR gegebenen Möglichkeiten für schlichtweg unrealisierbar hielten.147 Solchen Bedenken zum Trotz sollte um 1970 ein ambitioniertes Programm für die Biowissenschaften eingeleitet werden, dessen Grenzen jedoch nach kurzer Zeit sichtbar wurden.
145 So etwa Weber 2000, S. 250f. Weber schränkt zwar ein, die Abschottungspolitik sei aufgrund der Notwendigkeit, Kontakt mit der internationalen Entwicklung zu halten, letztlich kaum umsetzbar gewesen; dennoch zeigt sich hier die Tendenz, die Forschungspolitik als bloßen Nebenaspekt der SED-Linie gegenüber den Intellektuellen und in der Hochschulorganisation zu betrachten. 146 Malycha 2005, S. 196; Schulz 2010, S. 109. 147 Malycha 2016 , 219–224.
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Aufbau/Personal des Forschungszentrums Buch Ende 1968148 Zuordnung nach 1971 ZIM
Institut
Biophysik Biochemie Zellphysiologie Pharmakologie ZIK Krebsforschung ZIHK KvPT Kreislaufforschung Zentrale Einrichtungen ausgeIsotopenforschung schieden Infektionen FZ Buch / ZIBM gesamt FB Medizin & Biologie gesamt DAW gesamt
Leiter
Mitarbeiter
Frauen %
Hochschulkader
K. Lohs K. Repke H. Bielka F. Jung H. Gummel R. Baumann A. Wollenberger H. J. Sellner
129 46 54 48,5 486 186 35,5 298,5
42 56 61 57 66 74 66 40
43 14 18 17 81 54 14 9
G. Vormum H.-W. Ocklitz
67,5 33 1384 3225 12726
39 76 59 58
11,5 8 269 624
148 Nach: DAW Bereich Ökonomie, Beschäftigte im FZ Buch Stand 31.12.1968, 18.3.1969, ABBAW Buch A 455. Zahlenangaben beziehen sich auf Planstellen (gerundet), können daher unterhalb der tatsächlichen Mitarbeiterzahlen liegen.
II.3. REFORMZEIT DIE BUCHER INSTITUTE IM UMBRUCH, 1968–1972 Im April 1969 verabschiedete der Ministerrat der DDR die „Konzeption für die systematische Entwicklung der sozialistischen Großforschung sowie zur Aus- und Weiterbildung von Führungskräften für die Großforschung und Wissenschaftsorganisation“. Nicht zufällig wurden in derselben Sitzung Beschlüsse über den volkswirtschaftlichen Perspektivplan der Jahre 1971–1975 und die Grundsätze der „Gestaltung des ökonomischen Systems des Sozialismus“ abgesegnet.1 Ziel der zunächst zwölf geplanten „sozialistischen Großforschungsvorhaben“ (SGFV) war die systematische Nutzung des Forschungspotentials der Akademie und der Hochschulen durch die industriellen Großbetriebe. Die Forschungsvorhaben wurden jeweils von Industrieministerien beziehungsweise den ihnen untergeordneten Kombinaten als Auftraggebern und Kontrollinstanzen geleitet. Ihre Organisationsprinzipien orientierten sich dementsprechend an betriebswirtschaftlichen Praktiken. Insbesondere Vertragsabschlüsse und Bilanzierungspraktiken sollten gewährleisten, dass die Teilprojekte der Programme ineinandergriffen und im Sinne einer volkswirtschaftlichen Aufwand-Nutzen-Abschätzung kontrollierbar waren. Der Großteil des Bucher Forschungszentrums arbeitete im Rahmen des Programms „Molekulare Grundlagen der Entwicklungs-, Vererbungs- und Steuerungsprozesse” (MOGEVUS), das unter den SGFV eine Sonderstellung einnahm. Die Leitung lag, unter der Obhut des Wissenschaftsministeriums, bei der Akademie selbst; die Forschungsinhalte wurden also nicht von externen Partnern vorgegeben. Der Handlungsrahmen der Forschungsarbeit änderte sich dennoch beträchtlich, da sie von nun an in nationalen Projektgruppen stattfand, die gemeinsame Planziele festlegten. In der Literatur werden die um 1970 durchgeführten forschungspolitischen Reformen und insbesondere das MOGEVUS-Programm pauschal als „gescheitert“ beurteilt.2 Nimmt man die überzogenen Zielsetzungen hinsichtlich der angestrebten Forschungskapazitäten und ökonomischen Resultate zum Maßstab, ist dies sicherlich berechtigt. Betrachtet man jedoch die Entwicklung der technischen Ausstattung, der inneren und externen Kooperationen und das Profil der Forschungsprojekte, zeigen sich deutliche Veränderungen, die sich ohne die Planungsoffensive der Akademiereform vermutlich nicht oder wesentlich langsamer ergeben hätten. Zudem war die Umstrukturierung des Bucher Forschungszentrums mehr als ein nur formaler Akt. Neben der Bildung von drei „Zentralinstituten“ beinhaltete sie auch die Zusammenfassung wissenschaftlich1 2
Konzeption für die systematische Entwicklung der sozialistischen Großforschung sowie zur Aus- und Weiterbildung von Führungskräften für die Großforschung und Wissenschaftsorganisation, Sitzung des Ministerrates am 30.4.1969, BAB DC 20-I/3/726, Bl. 176–199. Reindl 1999, S. 358; Thoms/Malycha 2010, S. 127; Tandler 2000, S. 272–344.
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technischer Funktionen, die teilweise schon früher eingesetzt hatte: eine Zentralisierung des Betriebs wissenschaftlicher Großgeräte, des Apparatebaus, der Rechentechnik, sowie der Versuchstierzüchtung und -haltung. Obwohl kaum eine dieser Umstrukturierungen plangemäß umgesetzt werden konnte, verdienen sie besondere Beachtung. Sie werden sie in diesem Kapitel genauer beschrieben, weil sie die Zielsetzung der Akademie- und Institutsreform verdeutlichen, durch eine Rationalisierung von Forschungsressourcen eine Erhöhung der wissenschaftlichen Produktivität zu erreichen. Dieser Prozess war nicht spezifisch für die ressourcenarme DDR, sondern spiegelt eine grundlegende Tendenz in der Entwicklung der modernen Großforschung wider. Zentren aus Papier Wie im letzten Kapitel ausgeführt, blieb die Verfassung des Bucher Forschungszentrums nach der Auflösung des alten Leitungssystems Anfang 1969 unklar. Mit der Gründung des „Zentralinstituts für Biologie und Medizin“ wurde zwar eine neue Organisationsstruktur eingeführt, die aber nicht konsequent umgesetzt wurde. Die alten IMB-Institute bestanden de facto noch immer, als Anfang Februar 1971 von der DAW das „Forschungszentrum für Molekularbiologie und Medizin“ (FZMM) gegründet wurde. Das FZMM war nicht allein eine neue Verwaltung für den gesamten Bucher Institutskomplex, sondern trat auch an die Stelle des kurzlebigen DAW-Fachbereiches Biologie und Medizin, fungierte also auch als Führungsinstanz für die biologischen Akademieinstitute in Potsdam-Rehbrücke, Gatersleben, Jena und Halle.3 Zudem übernahm das FZMM die wissenschaftliche Leitung der vom MWT getragenen molekularbiologischen Forschungsprojekte, die nunmehr zum sozialistischen Großforschungsprojekt „MOGEVUS“ vereinigt waren. Erst Ende 1971 kam es unterhalb dieser Leitungsebene zu jener Neueinteilung der Bucher Institute, die bereits drei Jahre zuvor im Raum gestanden hatte: Aus dem größten Teil der Institute (Biophysik, Biochemie, Zellphysiologie, Pharmakologie) wurde das Zentralinstitut für Molekularbiologie (ZIM) gebildet, aus der bereits bestehenden Verbindung von Robert-Rössle-Klinik und Graffis Krebsforschungsabteilung das Zentralinstitut für Krebsforschung und aus Baumanns Klinik sowie Wollenbergers Kreislaufinstitut das Zentralinstitut für Herz-Kreislauf-Regulationsforschung (ZIHK).4 Warum folgte auf die IMB-Auflösung eine dreijährige Phase unklarer Verhältnisse, in der nach dem Urteil eines Beteiligten „alles ziemlich rat- und planlos durcheinanderging“?5 Ein wesentlicher Faktor war das Vakuum, das der Rat der Direktoren hinterlassen hatte. Der neue „Einzelleiter“ übernahm keine fertige Struktur, sondern eine unübersichtliche Baustelle; dies zeigte sich auch darin, dass 3 4 5
H. Klare, Anweisung über die Gründung des Forschungszentrums für Molekularbiologie und Medizin, 29.1.1971, ABBAW Buch A 766. Aktennotiz über ein Gespräch beim Stellvertreter des Präsidenten für Forschung, Prof. Hofmann, 14.10.1971, ABBAW Buch A 902. Bielka 2002, S. 91.
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die Führungsposition nicht den Titel eines Direktors, sondern eines „Beauftragten für die Bildung des ZIBM“ trug. Da die alte Führungsgruppe als weiterhin zerstritten und wenig reformwillig galt, suchte die Akademieleitung einen Kandidaten von außerhalb. Neben dem zwischenzeitlichen Fachbereichsleiter Kettler und dem an der vorausgehenden Evaluation beteiligten Madgeburger Pharmakologen Matthies stand auch der altgediente DAW-Verwaltungsfachmann Wittbrodt in der Diskussion.6 Ein zur Ausrichtung des FZ Buch passendes wissenschaftliches Profil war kein ausschlaggebendes Kriterium. Ein solches hatte auch der Hygieniker und ehemalige NVA-Mediziner Kurt Geiger nicht aufzuweisen, der im Mai 1969 schließlich den Posten übernahm. Die Gründe für Geigers Nominierung sind schwer nachzuvollziehen. Möglicherweise wurde seine Berufung durch ehemalige NVA-Kader in der Akademieführung gefördert.7 Im Gesundheits- und im Wissenschaftsministerium, aber auch im ZK bestanden deutliche Zweifel, ob sich der ExMilitärmediziner für eine so wichtige zivile Position eignete.8 Einen ausgesprochen autoritären Führungsstil hatte er in seiner früheren Funktion als Bezirksarzt in Halle an den Tag gelegt, wo er in die Neubauplanungen der Universitätsklinik eingegriffen und das Vorhaben kurzerhand als städtisches Krankenhaus neu ausgerichtet hatte.9 Auch in Buch geriet er wegen seiner wenig kollegialen Amtsführung bald in die Kritik, die durch häufige Abwesenheiten weitere Nahrung erhielt. Seine Ablösung leitete der Parteikarrierist schließlich damit ein, dass er unbedacht einen Konflikt mit der alten Führungsriege vom Zaun bracht. Anfang 1970 attackierte Geiger einen in der Berliner Zeitung erschienenen Artikel über das Krankheitskonzept Rudolf Baumanns, das sich stark an den westlichen Stressdiskurs anlehnte. Geiger klagte zwar den Autor der ideologischen Anbiederung an den Klassenfeind an, traf damit aber die Position des hochdekorierten Direktors. Baumann reagierte umgehend und forderte wegen Schädigung des Rufes der Akademie die Aufnahme eines Disziplinarverfahrens gegen Geiger.10 Vermutlich hatte sich der eifrige Parteikader durch die politische Großwetterlage ermutigt gefühlt, sich in das ideologische Scharmützel zu stürzen. Nachdem in der Forschungspolitik der 1960er Jahre unter dem Schlagwort der „wissenschaftlichtechnischen Revolution“ zunächst der Prämisse gefolgt worden war, dass sich die Probleme der industrialisierten Gesellschaften in Ost und West ähnelten und folglich ähnliche wissenschaftlich-technische Lösungsstrategien erforderten, griffen Vordenker der Partei diese „Konvergenztheorie“ seit Ende des Jahrzehnts als ideologische Abweichung an.11 Die Stellung der etablierten Akademiker war jedoch weiterhin so gefestigt, dass ein Außenseiter wie Geiger sie nicht ohne weiteres
6 7 8
Aktennotiz Zillmann 8.5.1968, BAB DY 30/IV A2/6.07/98. Mdl. Informationen W. Scheler 13.4.2014, und P. Oehme, 25.3.2014. Gespräch Hilbert-Mecklinger zum „Einsatz Prof. Geiger“, 20.8.1968, Aktennotiz Hilbert, BAB DY 30/IV A2/6.07/98. 9 Janssen 2012. 10 Baumann an Lauter, 2.2.1970, ABBAW Buch A 448; vgl. hierzu Bielka 2002, S. 90–91. 11 Schulz 2010, S. 107.
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untergraben konnte. Der „Beauftragte“ wurde Mitte 1970 verabschiedet, ohne entscheidend in die Umgestaltung des Forschungszentrums eingegriffen zu haben. Danach war der Bucher Komplex zunächst formal ohne gemeinsame Leitung. De facto wurden die administrativen Geschäfte von einer „Führungsgruppe“ jüngerer Wissenschaftler um den Pharmakologen Peter Oehme geleitet. Die spätere Dreiteilung zeichnete sich bereits ab; neben den beiden medizinischen Bereichen Klinische Geschwulstforschung und Zerebro-viszerale Regulationsforschung, weiterhin geführt von Gummel und Baumann, bestand ein Bereich Zell- und Molekularbiologie unter Kurt Repke. Während diese Umstrukturierungen provisorischer Art waren, vollzogen sich zugleich organisatorische Neuerungen, die den Charakter des Forschungszentrums nachhaltig prägten. Einerseits wurde, gemäß dem von der DAW vorgegebenen Modell für Zentralinstitute,12 eine klarere Trennung zwischen administrativen, versorgungstechnischen sowie wissenschaftlichtechnischen Funktionen und den Forschungsgruppen eingeleitet. Dieser Prozess, der eine Verstärkung des apparativen Potentials und eine Angliederung neuer Methodengruppen beinhaltete, wird weiter hinten genauer beschrieben. Daneben führte die erwähnte Anwendung des Prinzips der „Auftragsforschung“ zur Herausbildung von neuartigen Projektstrukturen, die über die bisherigen institutionellen Zusammenhänge hinausgingen. Mit der Bildung des FZMM im Februar 1971 wurde der Pharmakologe Werner Scheler als Direktor eingesetzt, der seine Karriere im Institut Jungs begonnen hatte. Durch seine vorige Tätigkeit als Rektor der Universität Greifswald verfügte er über einschlägige Erfahrung in der Durchsetzung des wissenschaftspolitischen Reformkurses. Scheler wurde sowohl aus dem Kreis der Bucher Direktoren als auch durch die Akademieleitung die Leitung des FZMM angetragen.13 Er übernahm neben einem heterogenen Institutskomplex auch die Verantwortung für die ambitionierten Pläne des „Großforschungsverbandes“ MOGEVUS. Der Perspektivplan des Programms sah zu diesem Zeitpunkt drei Hauptteile vor: den eigentlichen molekularbiologischen Forschungsschwerpunkt (mit dem technizistischneobarocken Titel „Erforschung der Prinzipien der biologischen Prozeßsteuerung zur Optimierung des Einsatzes bekannter und der Vorbereitung des Einsatzes neuartiger biologischer Systeme in der stofferzeugenden und stoffwandelnden Produktion sowie der Imitation biologischer Wirkprinzipien in technischen Systemen“), einen auf die praktische Verwertung für die pharmazeutische Industrie ausgerichteter Nebenschwerpunkt („Erforschung der Prinzipien der biologischen Prozeßsteuerung zur Entwicklung neuer biologisch aktiver Verbindungen zur gezielten Beeinflussung der Leistungen von Organismen einschließlich der Entwicklungsvorgänge“) sowie ein Aufbauprogramm für die Neurobiologie („Erforschung der Prinzipien der biologischen Informationsübertragung und -verarbeitung im Nervensystem mit der Zielstellung, Lern- und Gedächtnisprozesse sowie Funktionsstörungen des Gehirns gezielt zu beeinflussen, und wissenschaftlicher Vorlauf 12 H. Faulstich, R. Münze, A. Grabner, Prinzipien eines Leitungsmodells für Zentralinstitute der DAW, Spektrum 14 (1968), S. 336–342. 13 Mündliche Information Werner Scheler, 13.4.2014.
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für neuartige Prinziplösungen in der Informationselektronik und für Grundlagenmodelle zur Weiterentwicklung der elektronischen Rechentechnik und Datenverarbeitung zu erarbeiten“).14 Der letzte Punkt, für den in der DDR kaum solide Grundlagen vorhanden waren, war von Beginn an unrealistisch konzipiert. Weder erschien die Schaffung der nötigen Investitionen im Forschungszentrum Buch in absehbarer Zeit möglich, noch konnte das Hochschulwesen den Bedarf an Fachkräften annähernd decken. Bei einer stärker an den real existierenden Ressourcen orientierten Planvariante, die die Neurobiologie ganz fallen ließ und auch die beiden übrigen Bereiche zusammenkürzte, ließen sich nach Einschätzung der Planer die angestrebten „Grundsätze der sozialistischen Großforschung“ ebenfalls nur bedingt umsetzen. Zielte der Maximalplan auf eine Aufstockung allein des Bucher Zentrums auf über 500 Wissenschaftler ab, war die Sparvariante mit 343 Hochschulkadern bis zum Jahr 1975 noch immer gewagt. 1969 verfügte das gesamte ZIBM über 1300 Planstellen, von denen 265 auf Wissenschaftler mit Hochschulabschluss entfielen. Von diesen arbeiteten nur etwa 100 in den später in das ZIM eingegliederten Teilinstituten.15 Alle mehr oder weniger optimistischen Personalpläne hingen vom Ausbau der Infrastruktur ab. Um 1970 herrschte in dieser Beziehung trotz reger Planungstätigkeit weiterhin Stillstand. Nach dem Scheitern seines Bauprogramms hatte das IMB-Direktorium, allen inneren Zerwürfnisse zum Trotz, seine Planungen neu aufgestellt. 1965 entwarf eine Arbeitsgruppe um die neu bestellten Direktoren Repke und Bielka eine völlig überholte Fassung des wichtigsten Teilprojekts. War zuvor der Neubau von drei identischen Laborbauten für die „theoretischen“ Institute vorgesehen gewesen, schlug die Planungsgruppe nun ein auf 340 Arbeitsplätze veranschlagtes Laborhochhaus vor.16 Da sich abzeichnete, dass die der FG zur Verfügung stehenden Investitionsmittel für das gewünschte Vorhaben weiterhin nicht ausreichten,17 setzte das Direktorium auf ein Interessenbündnis mit dem Gesundheitsministerium, das in Buch Neubauten seiner Institute für Hygiene sowie für Blutspendewesen plante. Obwohl erhebliche Zweifel bestanden, dass eine Verknüpfung mit medizinisch ausgerichteten Instituten praktikabel sein würde,18 setzte ein neuer Bebauungsplan die benachbarte Errichtung der drei Projekte fest, wodurch sich die Nutzungskosten der zusätzlich geforderten Versorgungseinrichtungen (Tierhaus, Werkstattgebäude, Sozialgebäude) reduzieren sollten. 1966 sicherte die FG-Verwaltung zu, das neue Hauptgebäude an die Spitze ihrer Inves14 Perspektivplan für das sozialistische Großforschungsvorhaben „Molekulare Grundlagen der Entwicklungs-, Vererbungs- und Steuerungsprozesse“, n. d. (Ende 1970), ABBAW Buch A 1001. 15 Beschluss des Rates der Direktoren vom 25.2.1969 zur Bildung des Zentralinstituts für Biologie und Medizin, ABBAW Buch A 87; vgl auch DAW Bereich Ökonomie u. Technik, Entwicklung Arbeitskräfte u. Lohnfonds 1968, 18.3.1969, Anlage 6, ABBAW Buch A 455. 16 Protokoll Sitzung des Rates der Direktoren 1.6.1965, ABBAW Buch A 19. 17 Protokoll Sitzung des Rates der Direktoren 26.10.1965, ABBAW Buch A 19. 18 Ackermann/Abt. Planung MfG, Protokoll Sitzung 24.9.1965 im MfG über Institutsprojekte Buch, ABBAW Buch A 69; Protokoll zur Sitzung des Rates der Direktoren, 21.10.1966, ABBAW Buch A 20.
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titionsliste zu setzen und einen Baubeginn im Jahr 1969 zu ermöglichen.19 Die Direktoren betrachteten solche Zusagen mit Skepsis, und das zu Recht: Einmal mehr sorgte die fehlende Zustimmung des RKPmW für eine Verzögerung und schließlich die Verschiebung des Projekts in den folgenden Fünfjahresplan.20 Der mit Hilfe einer Architektengruppe erstellte Entwurf für das neue Hauptgebäude ist nicht nur insofern bemerkenswert, als er den Angelpunkt der Ausbauplanungen bildete. Er zeigt auch, dass Bucher Wissenschaftler, bei aller Distanz zu den von außen vorgegebenen Großforschungsplanungen, wesentliche Zielsetzungen derselben mittrugen: die Orientierung an westlichen Modernisierungsmodellen sowie am Ideal der Ökonomisierung der Forschungsabläufe. Die Hoffnung, mit einer Realisierung zumindest hinsichtlich der baulichen Infrastruktur eine internationale Pionierrolle einzunehmen, deutete sich bereits in dem Projektnamen „Biozentrum“ an. Das gleichnamige Vorhaben der Universität Basel, das für molekularbiologische Zentren in ganz Europa vorbildgebend werden sollte, befand sich zu diesem Zeitpunkt ebenfalls noch in der Planungsphase.21 Nicht allein die Größe des fünfgeschossig geplanten Blockbaues war für Gebäude der akademischen Biowissenschaften außergewöhnlich; neuartig war vor allem die Anwendung eines Kernbauprinzips, bei dem technische Labore und Versorgungseinrichtungen im Gebäudeinneren untergebracht waren. Auf diese Weise wurden sowohl möglichst kurze Wege für die MitarbeiterInnen als auch eine vertikale Anordnung der technischen Installationen erreicht, die den Konstruktionsaufwand erheblich herabsetzte – angeblich lagen die Gesamtkosten etwa um ein Drittel niedriger als bei den zuvor geplanten kleineren Institutsblockbauten.22 Die konzeptionellen Grundlagen dieser Bauform stammten, wie fast alle Modernisierungsmodelle, aus dem Westen – allerdings war das Kernbauprinzip gegen Ende der 1960er Jahre in Westeuropa nur vereinzelt und in kleineren Formen verwirklicht.23 In der öffentlichen Präsentation konnte der Entwurf als Ausdruck eines sozialistischen Modernisierungsprojekts dargestellt werden – er stand für eine Rationalisierung der Arbeitsabläufe und für eine Zentralisierung technischer und ökonomischer Funktionen.24 Vom Organisationsideal der Akademiereform unterschied er sich allerdings insofern, als die Etageneinteilung den alten Institutsgrenzen entsprach. Mit den Großforschungs-Plänen erweiterten sich zwangsläufig auch die baulichen Zielsetzungen. Während der Umbruchphase wurden von der Akademie19 Protokoll zur Sitzung des Rates der Direktoren am 21.10.1966, ABBAW Buch A 20. 20 Protokoll zur Sitzung des Rates der Direktoren am 19.12.1967; Protokoll zu den Sitzungen des Rates der Direktoren am 15. und 21.11.1968, beide ABBAW Buch A 21. 21 Engel 2010. 22 Begründung und Erläuterung der Konzeption für die Gliedrung des Laborgebäudes „Biozentrum“, (für Sitzung des Rates der Direktoren am 19.7.1966) ABBAW Buch A 64. 23 Für einen Überblick des westlichen Diskussionsstandes vgl. W. Schramm, Chemische und biologische Laboratorien: Planung, Bau, Einrichtung, Weilheim: VCh, 1969 (3. Aufl.); R. Thomas, New Biochemistry Buildung, Imperial College of Science and Technology, London, Nature 209 (1966), Nr. 5022, S. 444–445. 24 K. Repke, H. Bielka, H. J. Sellner, J. Richter, G. Zilling, Konzeption des Biozentrums BerlinBuch - Modell einer modernen Forschungsstätte, Spektrum 14 (1968), S. 159–165.
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Leitungsebene großzügigere Konzeptionen vorgelegt, welche die schon zuvor verfolgte Idee überinstitutioneller Gemeinschaftsinvestitionen noch weiter radikalisierten. 1971 lag ein Plan für ein Ensemble aus vier achtgeschossigen Türmen vor, von denen zwei das molekularbiologische Zentrum der DAW beherbergen sollen; die weiteren waren für das Zentralinstitut für Hygiene des MfG sowie das Institut für Gärungsindustrie und Enzymologie des Ministeriums für Lebenmittelindustrie vorgesehen. 25 Neben Bibliotheks- und Versorgungsressourcen sollten die Nachbarinstitute auch die Forschungstechnik gemeinsam nutzen; allerdings hob der Entwurf diese im „Biozentrum“-Plan angelegte Idee auf eine höhere Ebene. Großgeräte, Rechen- und Informationszentrum waren in einem gemeinsamen Sockelgeschoss untergebracht. Auch dieses Muster verweist auf westeuropäische Vorbilder, die sich zunächst in der Klinikarchitektur niederschlugen. Da in den Kliniken zentralisierte Forschungs-, Behandlungs- und Versorgungseinrichtungen einen immer größeren Raum gegenüber den Patientenbetten einnahmen, bildete sich ab den 1950er Jahren das von Peter Keating und Alberto Cambrosio als „platform architecture“ beschriebene Modell heraus, in dem erstere in Basisgebäuden und letztere in Bettentürmen zusammengefasst wurden.26 Es war nur konsequent, diesen Ansatz auf Großforschungseinrichtungen zu übertragen. Die Bucher Vernetzungspläne scheiterten jedoch schnell daran, dass jedes einzelne der Investitionsvorhaben zu ambitioniert angelegt war. Ähnlich wie die Ende der 1950er Jahre umlaufenden Pläne, Buch zu einem Ensemble mehrerer nationaler Zentralinstitute auszubauen, zwischen denen sich Synergieeffekte einstellen sollten, blieben die neuen Entwürfe einer Zentren-Zentralisierung reines Wunschdenken. Wenige Monate später waren nicht nur die Nachbarinstitute aus dem Investitionsplan verschwunden, sondern auch so wichtige Nebenprojekte wie eine überinstitutionell nutzbare Versuchstierzentrale.27 Der Plan des Biozentrums wurde, mit einigen Modifikationen, weiter verfolgt, aber erst Ende der 1970er Jahre realisiert. Forschung im Verbund Die von den Reformplanern ausgegebenen Ziele der „Rationalisierung“ und Effektivitätssteigerung der Forschungsarbeit konnten bei einem nur eingeschränkten Ausbau von Personal und Infrastruktur nicht wie geplant erreicht werden. Dennoch blieb der Übergang zur „Großforschung“ kein rein nomineller Akt. Durch die übergeordnete MOGEVUS-Struktur traten organisatorische Änderungen ein, die sowohl auf die Inhalte der Forschung als auch auf die Art der inneren und äußeren Arbeitsbeziehungen zurückwirkten. Die auf dem VII. Parteitag 1967 eingeleitete Politik, alle akademischen Forschungsaktivitäten durch „gesellschaftliche Partner“ beauftragen und finanzieren 25 Dokumentation zur Investitionsvorentscheidung für das Investitionsvorhaben „Forschungskomplex Berlin-Buch“, 30.5.1971, ABBAW Buch A 905. 26 Keating/Cambrosio 2003, S. 30–39. 27 Dokumentation zur Investitionsvorentscheidung für das Investitionsvorhaben „Forschungskomplex Berlin-Buch“, 2.11.1971, ABBAW Buch A 905.
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zu lassen, implizierte eine „Unterordnung unter die Interessen der Industrie“.28 Eine tatsächliche „Unterordnung“ der Wissenschaft setzte allerdings voraus, dass Industriebetriebe klar definierte Interessen an sie herantrugen. Dass dies nur selten der Fall war, machte gerade eines der Strukturprobleme aus, welche die Reformen beseitigen sollten. Die Großbetriebe hatten sich bis dahin nicht besonders stark in der akademischen Forschung engagiert, und auch nach dem Anlaufen der Großforschungsplanung machten die Industrieministerien zum Teil nur wenig Anstalten, die zur Verfügung stehenden Fonds für den gezielten Aufbau von Forschungsschwerpunkten zu nutzen.29 Wenn Forschungsinstitute von der Industrie kontaktiert wurden, standen sie regelmäßig vor dem Problem, dass produktreife Entwicklungen erwartetet wurden, ohne dass die Betriebe zu unterstützenden Zuarbeiten oder Weiterentwicklungen bereit waren.30 Die Bucher Institute waren von dieser Situation nur in relativ geringem Maße – vor allem in der Wirkstoff- und Geräteentwicklung – betroffen. Während etwa das Institut für Mikrobiologie in Jena bereits vor Einsetzen der Akademiereform gedrängt wurde, die Hälfte seiner Kapazitäten für Aufträge der pharmazeutischen Industrie freizuhalten,31 kamen Industriekontakte am IMB fast immer durch Initiative der Forscher zustande. Dies änderte sich auch mit der „Auftragsbindung“ nicht grundlegend, da infolge der Zuordnung der meisten Arbeitsgruppen zu den Programmen des MWT kein Weisungsrecht potentieller industrieller Nutzer bestand. Dennoch bedeutete das Einsetzen des Auftragsprinzips im Frühjahr 1968 einen Einschnitt für alle Institute und Arbeitsgruppen. Ihre Projekte waren in größere Programme einzugliedern, die als Wissenschaftliche Konzeptionen (WK, Querschnittskomplexe von „strategischer“ wissenschaftlicher Bedeutung) oder Wissenschaftlich-Technische Konzeptionen (WTK, industrienahe, produktorientierte Projekte) bezeichnet wurden. Die Bildung der WK und WTK vollzog sich unter beträchtlichem Druck, da sie innerhalb weniger Monate abzuschließen war. Die verantwortlichen Institutsdirektoren hatten erst monatlich, später wöchentlich über den Stand zu berichten.32 In Buch verliefen die Vertragsabschlüsse erstaunlich schnell. Während industrieabhängige Institute oft nur eigentlich unerwünschte kurzfristige Kleinverträge erhielten und etwa die Naturwissenschaftler der HU Berlin nur weniger als die Hälfte ihrer Projekte termingerecht abdecken konnten, war Buch Anfang 1969 voll in das neue Auftragssystem integriert.33
28 Gläser/Meske 1996, S. 100. 29 Tandler 2000, S. 288–90. 30 H. Klare, Zur Rolle der Forschungsgemeinschaft bei der Realisierung des Perspektivplanes der naturwissenschaftlichen Forschung in der zweiten Etappe des neuen ökonomischen Systems (Referat in der Direktorenkonferenz der Forschungsgemeinschaft am 2.3.1966), Spektrum 12 (1966), S. 152–158, S. 157. 31 Tandler 2000, S. 212–215. 32 Leibnitz an Direktoren der DAW, 23.8.1968; Klare an Direktoren der DAW, 19.11.1968, beide ABBAW Buch A 645. 33 Bericht über die Durchführung der Akademiereform, Dokument zur Sitzung des MR am 4.6.1969, BAB DC 20-I/3/735, Bl. 68–95, Bl. 73; zur Situation an der Berliner Universität vgl. Schulz 2010, S. 276.
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Die von der Akademieleitung vorgebrachte Aufforderung, bei der Vertragsgestaltung nicht auf Vorgaben von oben zu warten, sondern selbst die Initiative zu ergreifen34, verstand sich für die Bucher Forscher von selbst. Eine Möglichkeit, sich weitgehende Gestaltungsfreiheit zu sichern, lag in der Bildung eines eigenen Forschungsverbundes. Der Biochemiker Kurt Repke gründete mit einigen universitären Partnern die WK Membranbiologie.35 Der Pharmakologe Peter Oehme, der in Jungs Institut den Schwerpunkt Peptidforschung leitete, konzipierte zusammen mit mehreren Kollegen aus dem Umfeld des VVB Pharmazeutische Industrie die WK Wirkstoffforschung.36 Der Handlungsspielraum war jedoch nicht unbeschränkt. Samuel Rapoport, der eigentliche Initiator des molekularbiologischen Forschungsprogramms, versuchte eine eigene Groß-WK als dessen Kern zu bilden. Arnold Graffi konnte sich erfolgreich gegen eine Zwangstaufe als Molekularbiologe zur Wehr setzen und führte sein tumorvirologisches Programm unter dem Schirm des Gesundheitsministeriums weiter.37 Die Projekte des Instituts für Zellphysiologie wurden dagegen in die Rapoportsche WK integriert; die stärker molekulargenetisch ausgerichteten Arbeitsgruppen wurden Teil einer durch das ZI für Genetik in Gatersleben geleiteten WK. Erster Effekt der Vertragsbindung war also weniger die Unterordnung gegenüber dem ministeriellen „Auftraggeber“ als die Einordnung in ein Projektsystem, das die etablierten Institutsstrukturen unterlief. Die Arbeitsgruppen der Institute für Biochemie und für Biophysik fielen jeweils in den Einflussbereich von zwei WKs. Problematischer waren noch die möglichen Konflikte, die sich zwischen Institutsleitungen und der federführenden WK-Leitungen ergeben konnten. Sowohl Jung als auch seine Gegenspieler aus der Krebsforschung erkannten sofort, dass sich hier zwei Organisationsprinzipien gegenüberstanden, die nicht ohne Weiteres koexistieren konnten. Während ersterer den Widerspruch jedoch nutzte, um die Unmöglichkeit der 1968 noch im Raum stehenden medizinischen Schwerpunktbildung zu unterstreichen, sahen letztere darin einen Schritt zur endgültigen Trennung der krebsbezogenen Grundlagenforschung von der klinischen Forschung.38 Dieser Einwand war fraglos berechtigt. Die Auftragsprinzip sollte dazu beitragen, ähnlich orientierte Arbeitsgruppen in der ganzen Republik auf gemeinsame Zielsetzungen auszurichten. Damit verringerte sich zwangläufig der Spielraum für weitere Kooperationen, selbst zwischen benachbarten Institutionen. Arbeitsgruppen, die ihre Kapazitäten weitgehend für ihre WK verplanen mussten, konnten sich nur eingeschränkt auf spontane Arbeitsbeziehungen einlassen – oder konnten die Vertragslage als willkommendes Argument benutzen, ungewollte Gesuche abzublocken. Repke lehnte nach Bildung seiner WK etwa die Forderung nach
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H. Klare, Grundzüge der Akademiereform, Jahrbuch der DAW 1968, S. 48–53, S. 51. Vgl. hierzu auch diese Arbeit S. 385f. Vgl. zu den Hintergründen auch S. 404f. Rapoport an Graffi, 20.6.1968, ABBAW NL Graffi, Nr. 48. Jung, Stellungnahme zur Feinkonzeption, 13.8.1968, ABBAW Buch A 456; N.N. (vermtl. Gummel/Graffi), zur Feinkonzeption Buch, 22.7.1968, ABBAW Buch A 456.
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stärkeren Verbindungen in Richtung Kreislaufforschung kategorisch ab, obwohl sie inhaltlich durchaus begründet war.39 Das Prinzip der Auftragsbindung begründete neue Machtverhältnisse und neue Arbeitsverbindungen, es konnte aber auch Trennungen verstärken, insbesondere jene zwischen klinischer und nichtklinischer Forschung. Nicht weniger folgenreich war es für die alltägliche Organisation der Forschungsarbeit. Mit dem Vertragssystem hielten der Betriebswirtschaft entlehnte Verfahren der Abrechnung und terminierter Verpflichtungen Einzug in der Wissenschaft. Wie es in der mit kybernetischem Vokabular aufgeladenen Planersprache hieß, sollte der „Systemmechanismus von Plan, Vertrag, Preis, Finanzen, Fonds und Rechnungslegung auf der Ebene der Forschungseinrichtung“ zum Knotenpunkt werden, „in dem die hierfür vorgesehenen zentralen Teilsystemregelungen zur Wirksamkeit gelangen und zu hohen wissenschaftlich-technischen Ergebnissen anregen.“40 Nicht allein „gesellschaftlicher Auftraggeber“ und Forschungsinstitution waren vertraglich aneinander gebunden, auch Projektgruppen gingen untereinander Leistungsverpflichtungen ein und rechneten sie wie Dienstleistungen ab. Die neuen Verbundprojekte setzten sich so aus terminlich festgelegten, aufeinander aufbauenden „Teilleistungen“ zusammen. Seinen Ausdruck fand dieses Konzept in den „Netzwerkplänen“, die in Form kybernetischer Diagramme die Abfolge und Verkettung aller Arbeitsschritte zusammenfassten.41 Während diese Sinnbilder des Glaubens an die völlige Steuerbarkeit der Wissenschaft schon bald nach der Reform verschwanden, hatte das Vertragsprinzip praktische Konsequenzen auf allen Ebenen des Forschungsprozesses. Einerseits kam es zu einer Formalisierung von Kooperationen. Die Nutzung von größeren Geräten wie Elektronenmikroskopen wurde etwa als Dienstleistung definiert. Auch Arbeitsgruppen, die eine technische Einrichtung schon längere Zeit routinemäßig nutzten, mussten mit dieser eine vertragliche Vereinbarung eingehen und die benötigte Zeit abrechnen.42 Während damit alltägliche Arbeitsprozesse bürokratisiert wurden, kam es im Rahmen der Projektorientierung auch zur Vorgabe von Arbeitsschritten, die nicht den selbstgewählten Zielen der Forschungsgruppen entsprachen. Eine besondere Rolle spielte dabei das „Moltest“Projekt, ein Kernstück des MOGEVUS-Programms. „Moltest“ tauchte in den MOGEVUS-Planungen relativ spät als „Querschnittsaufgabe“ auf. Es bildete also keine WK (die seit 1970 als „Hauptforschungsrichtungen“ – HFR – bezeichnet wurden), sondern ein Gemeinschaftsprojekt, dessen Ziel die Entwicklung von Testverfahren zur Auffindung und Prüfung neuer Wirkstoffe war, die in der
39 Protokoll zur Sitzung des Rates der Direktoren am 21.11.1968, ABBAW Buch A 21. 40 Ministerrat der DDR, Diskussionsmaterial über Maßnahmen zur Verwirklichung der auftragsgebundenen Finanzierung und ökonomischen Stimulierung wissenschaftlich-technischer Aufgaben (Broschüre), Juni 1968, ABBAW Buch A 813. 41 Einige 100 Seiten Beispiele finden sich etwa in Anlage zur „Konzeption des Forschungszentrums für Molekularbiologie und Medizin Berlin-Buch“, 15.5.1970, ABBAW Buch A 1001. 42 Löwe an Zapf, 9.11.1971; Vereinbarung Löwe/Wangermann/Zapf, 18.1.1972, beide ABBAW Buch A 817.
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pharmazeutischen Industrie zum Einsatz kommen konnten.43 Die Organisation – und die Überleitung der Ergebnisse an die Industrie – lag in der Zuständigkeit der HFR Wirkstoffforschung.44 Alle HFR des MOGEVUS-Programms waren zur Erbringung von Leistungen „für Moltest“ verpflichtet und hatte einen „Moltestbeauftragten“. Das Konzept dieses in vieler Hinsicht schwammig definierten Teilprojekts spiegelte besonders deutlich die übertriebenen Erwartungen wider, die an MOGEVUS herangetragen wurden – das übergeordnete Endziel im Fünfjahresplan war eine 170%ige Produktivitätssteigerung in der Pharmaindustrie. Die Grundidee bestand darin, zunächst die von den beteiligten Arbeitsgruppen verwendeten In-vitro-Verfahren auf ihre Eignung für eine routinemäßige Pharmakatestung zu untersuchen. Für Rapoport, der auch bei „Moltest“ den Ton angab, verkörperte das Projekt den eigentlichen Wert der Großforschung in den Biowissenschaften. Gemäß seiner Losung „die Methode ist das Revolutionierende“ führte der Weg zu höherer Effizienz über die Ausarbeitung von Standardmethoden, sprich von Standardgeräten, biologischen Standardobjekten und StandardAuswertungsverfahren.45 Es war prinzipiell ein schlüssiges Konzept, die Suche nach Wirk- oder Schadstoffen, bei welcher stets ein hoher Durchsatz an Substanzen zu bewältigen war, durch aus wenigen Verfahren und Geräten zusammengesetzte einheitliche „Testhierarchien“ zu vereinfachen. So rational der Gedanke war, hierfür ein großangelegtes Methodenscreening durchzuführen, so wenig rationell war die Forderung an die Forscher, ihre für spezifische Fragen entwickelten Laborverfahren zu leicht handhabbaren Routinetests umzubauen. So musste die neue ZIM-Zellgenetik-Gruppe ihre angestrebten Gentransfer-Versuche stark einschränken, um die dafür adaptierten Hamsterzellkulturen in ein Mutagenitätstestsystem zu verwandeln – obwohl sich abzeichnete, dass diese hierfür nur wenig geeignet waren.46 Auch für andere molekularbiologische Arbeitsgruppen brachte Moltest unproduktive Zusatzaufgaben mit sich. Die Verpflichtungen erwiesen sich schnell als wenig effektiver Weg, aus der Grundlagenforschung praxisrelevante Resultate abzuzweigen. Das „Moltest“-Modell verlor schnell an Bedeutung.47 Das Prinzip der wechselseitigen „Zuarbeit“ innerhalb der einzelnen HFR galt jedoch weiterhin. Die Zugehörigkeit zu einer HFR bedeutete nicht nur, dass gemeinsame Ziele abgesprochen wurden; die beteiligten Arbeitsgruppen verständigten sich auch über den Aufbau bestimmter Labormethoden und ihre Bereitstellung für die Partner. Dem Rationalisierungsvisionär Rapoport schwebte auch hier eine möglichst 43 Auszug aus „Grundsatzmaterial zur Entwicklung des (FZMM) und Grundzüge der Entwicklung des (FV) Mogevus bis 1975“ vom 14.7.1971, ABBAW Buch A 766. 44 Scheler, Protokoll der Arbeitsbesprechung Mogevus mit HFR-Leitern, 27.5.1971, ABBAW Buch A 766. 45 Auszüge aus den Diskussionsbeiträgen zur „Aktivtagung Mogevus“, April 1971, ABBAW Buch A 902 46 E. Geißler, Jahresendbericht 1973 der Abt. Zellgenetik des ZIM, 11.11.1973, ABBAW Buch A 751. 47 Vgl. auch diese Arbeit S. 403–405.
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weitgehende Vereinheitlichung von Versuchsobjekten und Arbeitsstrategien vor, welche sich aufgrund der Verschiedenheit der Ansätze aber selten durchsetzen ließ.48 Die regelmäßigen Arbeitstreffen sorgten immerhin für einen ständigen Kontakt zwischen den HFR-Partnern. Das bedeutete einen wesentlichen Unterschied zur Situation vor 1970, als einzelne Gruppen zwar Arbeitsbeziehungen zu Institutionen außerhalb Buchs unterhielten, die aber kaum fest organisiert waren. Hinzu kam, dass die HFR als Ganzes auch mit anderen Forschungsverbünden Vereinbarungen über die Bereitstellung von „Vorlaufs“arbeiten oder methodologische Hilfestellungen abschlossen. Ähnlich wie die „Moltest“- Beteiligung sorgte dies für Unruhe, da die Kapazitäten für die eigenen Forschungsziele teilweise erheblich eingeschränkt wurden.49 Auch eine Ebene höher, zwischen den Großforschungsprogrammen, existierten formalisierte Austauschbeziehungen. Sie verkörperten den für die Akademiereform charakteristischen Anspruch, Alles mit Allem zu vernetzen. MOGEVUS erhielt Kooperationsgesuche aus so entfernten Gebieten wie der Werkstoffforschung, die eher symbolischer Natur waren.50 Praktisch relevant war dagegen eine Anfrage des von der chemischen Industrie finanzierten Forschungsprogramms zur mikrobiologischen Erzeugung von Eiweißstoffen.51 Kapazitäten in der mikrobiellen Genetik und der Enzymologie fehlten dem industrienahen Programm fast völlig. Der Versuch, diese durch Anleihen bei den in MOGEVUS organisierten Akademieinstituten in Buch oder Jena auszugleichen, implizierte eine Beschneidung der dortigen Ressourcen. Solche Reibungen offenbarten das Grundproblem eines Planungsansatzes, der auf die maximale Ausnutzung aller verfügbaren Potentiale abzielte. In einem Forschungssystem, in dem gerade zukunftsträchtige Schlüsselkompetenzen und -techniken knapp waren, brachte er für die Spitzenforschung die Gefahr einer permanenten Überforderung mit sich. Für die Bucher Institute galt dies in besonderem Maße. Sie sollten als „Zentrum“ eines Großforschungsvorhabens Zugpferd und Anlaufpunkt für die ganze Biowissenschaft der DDR sein und zugleich international wettbewerbsfähige Wissenschaft betreiben. Dieses Spannungsverhältnis manifestierte sich auch in den Versuchen, ihr forschungstechnisches Potential neu zu organisieren.
48 Vgl. z.B. Kurzprotokoll über die Vorbereitung zur Ideenkonferenz „Steuerung der Membranfunktion“ am 19.2.1970 in Leipzig; Protokoll zur Ideenkonferenz über die Zielfunktion der Membranforschung in Mogevus am 13.3.1970 in Buch, beide ABBAW Buch A 766. 49 Repke an Scheler, 2.5.1972, ABBAW Buch A 766. 50 W. Scheler, Stellungnahme zur Konzeption: Forschung für das Gebiet der Werkstoffe in der DDR seitens des SGFV Mogevus, 29.3.1971, ABBAW Buch A 902. 51 Festlegungsprotokoll über die Beratung der „Anforderungen an die biologische Grundlagenforschung aus der Sicht der Entwicklung einer mikrobiologischen Eiweißindustrie in der DDR“ am 16.4.1973 im ZIMET in Jena, ABBAW Buch A 901.
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Abb. 5: Neubauplanung von 1971 (Ausschnitt). Unten ein Hochbaukomplex mit zwei Blöcken für das FZMM sowie je einem für die Institute für Hygiene und Enzymforschung, dazwischen ein Sockel für gemeinsame forschungstechnische Einrichtungen. Rechts daneben zwei dreistöckige Tierhäuser.
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Zentren im Zentrum Zentralisierung war der Kerngedanke der Akademiereform. Die Bildung von „Zentralinstituten“ zielte dabei nicht nur auf eine Konzentration der besten Fachkräfte und Forschungsbedingungen ab. Die Zentren erhielten selbst eine zentralisierte Struktur, in welcher Großgeräte, multifunktionale Speziallaboratorien, Materialsammlungen und technische Serviceeinrichtungen in besonderen administrativen Einheiten zusammengefasst wurden. Diese sollten nicht nur den Abteilungen des Zentralinstituts selbst, sondern auch den Teilnehmern der mit diesem verbundenen Forschungsprogramme als Dienstleister zur Verfügung stehen. Der tragende Gedanke dieses Ressourcenmanagements war, die wissenschaftliche Arbeit durch Entkoppelung von ihren technischen Voraussetzungen zu rationalisieren.52 In dem zu Beginn der Akademiereform vorgeschlagenen Modell für Zentralinstitute war vorgesehen, neben den thematisch definierten Forschungsbereichen die Bereiche „Wissenschaftliche Dienste“ sowie „Ökonomie und technische Versorgung“ zu bilden, welche die genannten Funktionen aufnahmen.53 Nach Gründung des ZIBM wurde dieses Organisationsprinzip formal auch in Buch eingeführt.54 Eine radikale Neuerung war dies nicht. Die Verwaltung hatte inklusive der betriebstechnischen Dienste, der Bibliothek und der Zentralwerkstatt bereits zuvor eine von den Teilinstituten unabhängige Einheit gebildet. Wie im vorigen Kapitel dargestellt, „zentralisierte“ das Direktorium in den 1960er Jahren verschiedene wissenschaftliche Gruppen wie die Versuchstierhaltung, einzelne Gerätegruppen und Speziallabors. Viele apparative und technische Kapazitäten waren jedoch bei den Teilinstituten verblieben. Mit der Umstrukturierung um 1970 wurde die konsequente Zusammenfassung solcher Arbeitseinheiten zum organisatorischen Prinzip erhoben. Die damit ausgelösten Zentralisierungsversuche können nicht einfach als Ausdruck eines aus der Wirtschaftspolitik importierten, übersteigerten Rationalisierungswillens angesehen werden. Sie entsprachen einem internationalen Trend der Großforschung, die aufgrund ihrer steigenden Abhängigkeit von immer teureren Spezialgeräten, hochspezifischen Versuchsmaterialien und von Großrechenanlagen auf neue Formen der Arbeitsökonomie angewiesen war. Im von Ressourcenknappheit geprägten DDR-Wirtschaftssystem war dieser Rationalisierungsdruck allerdings besonders ausgeprägt. In den folgenden Abschnitten werden vier Ansätze der „Zentrenbildung“ verfolgt, die in Buch um 1970 entweder einsetzten oder besonders intensiviert wurden: erstens auf dem Gebiet der physikochemischen Großgeräte, zweitens in der Rechentechnik, drittens im wissenschaftlichen Gerätebau sowie viertens in der Versuchstierzucht und -haltung. Alle diese Entwicklungen hatten, auch wenn sie nur teilweise plangemäß umgesetzt wurden, tiefgreifende Konsequenzen für die Arbeitsweise des Bucher Forschungszentrums. Sie werden auch darum genauer erörtert, weil sie auf grundlegende Probleme moderner Großforschung verweisen. 52 Tandler 2000, S. 324–330. 53 H. Faulstich, R. Münze, A. Grabner, Prinzipien eines Leitungsmodells für Zentralinstitute der DAW, Spektrum 14 (1968), S. 336–342. 54 Protokoll der 3. Leitungssitzung des ZIBM, 16.6.1969, ABBAW Buch A 728/1.
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Spätestens seit den 1970er Jahren war international konkurrenzfähige Biowissenschaft ohne die apparategestützte Aufklärung von Molekularstrukturen, ohne leistungsfähige Computer, ohne die quasi-industrielle Bereitstellung von Versuchstieren und ohne engen Austausch zwischen Ingenieuren und Wissenschaftlern kaum noch denkbar. Die in Buch verfolgten Zentralisierungsansätze zeigen die Bedeutung dieser Ressourcen auf, verdeutlichen aber noch mehr, auf welche Widersprüche und Hindernisse ihre Neuordnung stoßen konnte. Gerätezentrum Für große biomedizinische Forschungszentren ist es heute selbstverständlich, vielgenutzte Großgeräte wie NMR- oder Massenspektrometer, Protein- und Nukleinsäuresequenzierer in Serviceeinheiten („core facilities“) zu organisieren. Um 1970 war dieses Organisationsprinzip noch sehr ungewöhnlich. Das Deutsche Krebsforschungszentrum in Heidelberg stellte in der BRD mit der Bildung einer „Zentralabteilung“ für spektroskopische Techniken eine Ausnahme dar.55 In Buch gehörte es zu den primären Zielen der Institutsreform, bereits bestehende und projektierte Gerätegruppen zu einer Organisationseinheit zusammenzufassen, die ab 1970 unter der Bezeichnung „Physikochemisches Zentrum“ (PCZ) firmierte. Dieses Projekt folgte dem Grundsatz der Akademie- und Hochschulreform, „Methodisch-diagnostische Zentren“ (MdZ) aufzubauen, die Forschungstechnologien für ganze regionale Forschungsverbünde unterhielten. Das PCZ trug also einen für die Großforschungsplanung typischen Doppelcharakter – es war zugleich als wissenschaftlich-technischer Knotenpunkt für den Bucher Institutsverband sowie für das gesamte MOGEVUS-Programm konzipiert.56 Welche Bedeutung dieser Idee von den Planern beigemessen wurde, kam deutlich in den erwähnten Bauplanungen zum Ausduck, welche die FZMM-Neubauten und ihre Nachbarinstitute durch ein Sockelgeschoss verbanden, das neben einer Zentralbibliothek auch die gemeinsam zu nutzende Forschungstechnik aufnehmen sollte.57 Auch wenn diese räumliche Zentralisierung nur auf dem Papier vollzogen wurde, stellte die Bildung des PCZ eine der einschneidendsten Neuerungen der Reformzeit dar – schon darum, weil die beteiligten Gerätegruppen aus ihren bisherigen institutionellen Zusammenhängen herausgerissen wurden. Dies sorgte für Reibungen, die dadurch verstärkt wurden, dass in der Umbruchsphase lange unklar blieb, wie das ominöse Zentrum genau aufgebaut sein sollte und wie es sich zu den bestehenden Struktu55 G. Wagner, T. Wieland, Deutsches Krebsforschungszentrum Heidelberg, Die Naturwissenschaften 60 (1973), S. 539–547, S. 546. In der biologisch-medizinischen Sektion der MaxPlanck-Gesellschaft war das MPI für Systemphysiologie das erste, das „zentrale“ Methodenlabors einrichtete, vgl. Tätigkeitsbericht der MPG für die Zeit vom 1.1.1972 bis 31.12.1973, Die Naturwissenschaften 61 (1974), S.537–680, v.a. S.659–665. 56 G. Wangermann, Bemerkungen zum Entwurf „Methodisch-diagnostische Zentren“ zur Vorbereitung der Dienstbesprechung beim Präsidenten am 24.3.1971, ABBAW Buch A 720. 57 Dokumentation zur Investitionsvorentscheidung für das Investitionsvorhaben „Forschungskomplex Berlin-Buch“, 2.11.1971, ABBAW Buch A 905.
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ren verhielt. Besonders groß war der Unmut im Institut für Biophysik, das im Zentrum der Umbildungen stand, da es außer seinen spektroskopischen Gruppen auch sein Werkstattpersonal an den neuen wissenschaftlich-technischen Bereich abgeben musste. Wie es der geschäftsführende Direktor des Instituts, Helmut Abel, in einer heftigen Beschwerde an die Akademieleitung ausdrückte, war es für seine Mitarbeiter nach zwei Jahren Reformprozess nicht mehr nachvollziehbar, dass bestehende Strukturen zerlegt wurden, während weder eine konkrete Aufgabenstellung für das PCZ noch eine eindeutige Strukturordnung für das gesamte Forschungszentrum vorlagen.58 Für die beteiligten ForscherInnen gab es jedoch noch einen weiteren Grund, der Zentrenbildung skeptisch gegenüberzustehen. Als Angehörige einer zentralen Serviceeinheit mussten sie mit einem hohen Aufkommen an externen Aufträgen rechnen, das die Verfolgung eigener wissenschaftlicher Interessen hemmen musste. Die Zentralisierung forschungstechnischer Ressourcen war schon während der 1960er Jahre innerhalb und außerhalb der IMB immer wieder gefordert worden. Bei der Begutachtung des Investitionsplans von 1963 wurde eine unzureichende Koordination bei der Beschaffung und Nutzung von Forschungsgeräten ebenso bemängelt wie bei der MWT-Überprüfung von 1967.59 Zweifellos wurden mögliche Kooperationen zwischen den Instituten nicht immer ausgenutzt. Repke etwa beklagte 1964 den fehlenden Zugriff auf Infrarot- und UV-Spektrokopie, obwohl die Biophysiker zu dieser Zeit bereits über Erfahrungen mit diesen Methoden verfügten.60 Andererseits hatte das Direktorium bereits einige Laboratorien zu zentralen Dienstleistungsstellen erklärt und Abmachungen zur Nutzung von Geräten eingeleitet. Eine besondere Rolle spielten dabei die Elektronenmikroskope. Zu Beginn der 1960er Jahre verfügten bereits mehrere Teilinstitute über eigene Geräte, die überwiegend aus DDR-Produktion stammten. 1964 gelang es nach langen Bemühungen, den Import eines Siemens-Elmiskop durchzusetzen, das als das beste Gerät auf dem Markt galt. Hauptnutzer war die elektronenmikroskopische Arbeitsgruppe unter Kurt Zapf, die dem Institut für Zellphysiologie angehörte, aber einen weitgehend unabhängigen Status hatte. Um den Zugang für alle Institute zu regeln, erhielt sie den Status eines „Zentrallabors“ für das gesamte FZ, der ihre Institutszugehörigkeit allerdings nicht aufhob.61 Die Evaluierungskommissionen des FR und des MWT forderten dagegen 1968, die Elektronenmikroskopiker aller Institute in einem eigenständigen zentralen Bereich zusammenzufassen, der als Anbieter wissenschaftlicher „Dienstleistungen” auftrat.62 Da zu diesem Zeit58 H. Abel an H. Böhme, 10.9.1970, ABBAW Buch A 448. 59 Aufzeichnung zur Sitzung des Staatlichen Büros zur Begutachtung von Investitionsvorhaben am 23.2.1964, ABBAW Buch A 18; K. Buchmüller, Kurzbericht über die Arbeit der Kommission zur Überprüfung des Forschungszentrums (der DAW) in Berlin-Buch, 27.9.1967, BAB DY 30/IV A2/9.04/362. 60 Jahresbericht 1963 des Instituts für Biochemie, ABBAW FG 40. 61 Vorschlag zur Bildung eines Zentrallboratoriums für exp. Zytologie und Elektronenmikroskopie im med.-biol. FZ, 1.12.1964; Protokoll zur Sitzung des Rates der Direktoren am 26.2.1965, beide ABBAW Buch A 19. 62 Kettler an Zapf, 18.6.1968, ABBAW Buch A 21.
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punkt ein Abbau des Strahlengenerators erwogen wurde, kam der Plan auf, alle acht vorhandenen Elektronenmikroskope in der Generatorenhalle zu konzentrieren, was hinsichtlich der räumlichen und elektrotechnischen Situation deutliche Vorteile erbracht hätte. Auf eine organisatorische Ausgliederung wollten sich die Direktoren aber nicht einlassen, weil die Geräte integraler Bestandteil der jeweiligen Institutsprojekte waren.63 Die IMB-Leiter sahen die rationellere Nutzung von Großgeräten, die von den Planungsgremien immer wieder angemahnt wurde, zwar als wichtige Aufgabe an, wollten aber eine Herauslösung aus ihren Verantwortungsbereichen nach Möglichkeit verhindern. Das kam auch in den Planungen für das „Biozentrum“ zum Ausdruck, in dem die Gerätegruppen zentral im Gebäudekern platziert wurden. Diese Anordnung sollte aber, wie Planungsleiter Repke betonte, auf keinen Fall dazu führen, dass sich die betreffenden Labore organisatorisch verselbstständigten.64 Genau dies wurde aber nach der Auflösung der alten IMB-Struktur angestrebt, indem „methodische Zentren“ der neuen „wissenschaftlich-technischen“ Sektion angegliedert und damit von den thematisch definierten Arbeitsbereichen getrennt wurden. Der Entwurf für das ZIBM sah zunächst vor, die Elektronenmikroskopie sowie die vorhanden proteinanalytischen Methoden zusammenzufassen.65 Das Programm des PCZ, das sich aus diesem Ansatz entwickelte, schloss jedoch einen größeren Kreis von physikochemischen Methoden ein. Dazu gehörten die gängigsten Methoden der optischen Spektroskopie (UV- und Infrarot-Spektroskopie, optische Rotationsdispersion), die überwiegend im Instituts für Biophysik aufgebaut worden waren. Eine lokale Spezialität war die ElektronenspinresonanzSpektroskopie (ESR), die sowohl in der Biophysik als auch in der Pharmakologie gepflegt wurde. Dem PCZ wurden ferner das Ultrazentrifugen-Labor des Instituts für Krebsforschung sowie die bereits früher verselbstständigte Gruppe für Elementaranalytik angegliedert.66 Die Idee der Zentrenbildung zielte jedoch nicht allein auf die Konzentration vorhandener Ressourcen ab. Es ging auch um die Anschaffung von neuen Spitzentechnologien, die in der DDR bis dahin nicht oder kaum vorhanden und daher für einen großen Nutzerkreis attraktiv waren. Zum Programm der Akademiereform gehörte eine Importoffensive, die die Institute nach Jahren der Sparsamkeit zumindest auf Schwerpunktgebieten wieder an das Weltniveau heranbringen sollte. Die Idee, die dringend notwendige apparative Aufrüstung durch eine zentral abgestimmte Initiative anzugehen, war in der Akademie schon einige Jahre zuvor diskutiert worden. 1964 hatte der Direktor des Instituts für Biochemie der Pflanzen, Kurt Mothes, in einem Brandbrief auf den alarmierenden Rückstand bei den 63 Zapf, Arbeitsgemeinschaft Ultrastrukturforschung (Elektronenmikroskopie) am (ZIMB) Berlin-Buch, 21.1.1969, ABBAW Buch A 801. 64 Repke an Abt. Planung der DAW, 31.5.1967, ABBAW FG 40; vgl. auch Protokoll Sitzung Rat der Direktoren 19.7.1966, ABBAW FG 75. 65 Beschluss des Rates der Direktoren vom 25.2.1969 zur Bildung des Zentralinstituts für Biologie und Medizin, ABBAW Buch A 21 (auch ABBAW Buch A 87). 66 G. Etzold‚ Übersicht über die Ausstattung und den gegenwärtigen Leistungsstand des Physikochemischen Zentrums in Berln-Buch, 5.1.1971, ABBAW Buch A 1001.
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modernen strukturanalytischen Verfahren wie Massenspektrometrie, Kernspinresonanz oder Röntgenstrukturanalyse hingewiesen.67 Sein Vorschlag, einen zentralen Gerätepark für die biologischen Akademieinstitute zu schaffen, wirkte sich zwangsläufig auch auf das Bucher Institut für Biophysik aus, das unter seinem neuen Direktor Karlheinz Lohs gerade in der Neuorientierung begriffen war. Für Lohs war der Umbau zu einem Zentrum für Techniken der physikochemischen Strukturanalyse eine von mehreren Entwicklungsoptionen, aber keineswegs eine Wunschlösung, da sie auf eine Herabstufung zu einem bloßen „Hilfsinstitut“ ohne eigenes thematisches Profil hinauszulaufen drohte.68 Erst in den Reformjahren wurde ein Importprogramm für westliche Spitzengeräte aufgelegt, deren Anschaffungs- und Betriebskosten so hoch waren, dass von vornherein eine möglichst maximale Ausnutzung durch die Einbeziehung von Interessenten aus verschiedenen Institutionen angestrebt wurde. Diese Art der Nutzungsplanung war keineswegs spezifisch für den devisenarmen Planungsstaat DDR. Die leistungsstärksten Geräte für Kernresonanzspektroskopie (Nuclear Magnetic Resonance, NMR), eine der Schlüsseltechnologien der neuen Apparatechemie, waren Ende der 1960er Jahre so teuer, dass die ersten westeuropäischen Exemplare in den Forschungsabteilungen der größten Chemiekonzerne standen. In der gewiss nicht notleidenden Schweiz entstand das erste akademische Hochleistungs-NMR-Labor dank einer Interessengemeinschaft von Universitäts- und Industrielaboren, deren Mitglieder sich vertraglich abgesicherte Nutzungsanteile sicherten.69 Unter ähnlichen Vorzeichen sollten auch die Vorbereitungen für die Anschaffung eines NMR-Spektrometers für das PCZ verlaufen. Zuerst realisiert wurde 1970 jedoch der Ankauf eines Massenspektrometers der britischen Firma AEI. Die hochauflösende Massenspektrometrie ermöglichte nach rasanten Fortschritten in den 1960er Jahren eine schnelle Strukturaufklärung von Substanzen aus chemisch gut erschlossenen einfacheren Substanzklassen wie etwa Steroiden. Sie war potentiell für einen breiten Kreis von Naturstoffchemikern interessant und sollte sich zu einem Anlaufpunkt für externe Nutzer entwickeln. Für das Bucher Forschungszentrum war der neue Apparat zunächst nicht nur darum eine Herausforderung, weil keine Erfahrungen in der Handhabung bestanden. Der Raumbedarf sowie der Strom- und Wasserverbrauch bedeutete angesichts der bereits angespannten Situation eine nicht unerhebliche Belastung.70 Nicht ohne Grund war die Idee der apparativen Aufrüstung stets mit Planungen für neue bauliche Strukturen verbunden. Dass diese nicht realisiert wurden, erklärte aber nicht allein, warum der Ausbau nach dieser Investition stockte. Vielmehr wurde bald deutlich, dass die Devisenfonds der DAW auch weiterhin nicht gut genug gefüllt waren, um die Kaufwünsche des PCZ realisieren zu können.71 Zum Opfer der 67 68 69 70
Mothes an Leibnitz, 30.11.1964, ABBAW FG 75. Lohs an Rompe, 8.1.1966, ABBAW FG 75. Reinhardt 2006, S. 327–332. G. Etzold, Maßnahmeplan zur Aufstellung des Massenspektrometers, 7.8.1970, ABBAW Buch A 721. 71 G. Etzold, Kurzbericht über die Beratung am 5.4.1971 bezüglich der Importplanung 1972 für das PCZ, 12.4.1971, ABBAW Buch A 720.
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Knappheit wurde das kostspieligste Objekt, das Hochleistungs-NMRSpektrometer, das von Fachgremien als Schlüsseltechnologie dringend gefordert worden war. 1973 wurde entschieden, ein 2,5 Mio. Valutamark teures Gerät deutsch-schweizerischen Firma Bruker für das FZMM Buch zu bestellen. Das war keineswegs selbstverständlich, da das PCZ zwar bereits mit einem von den Akademiewerkstätten produzierten, wenig leistungsfähigen NMR-Spektrometer arbeitete, aber über weniger Erfahrungen mit der Methode verfügte als konkurrierende Gruppen in Leipzig und Adlershof. Buch konnte sich schließlich durch Berufung auf seine zentrale Stellung im MOGEVUS-Programm durchsetzen.72 Trotz dieser Alleinstellung wurde der Import jedoch wiederholt verschoben und scheiterte schließlich ganz. Ein entscheidender Faktor war dabei, dass die Akademiewerkstätten hofften, mit einer neuen Eigenentwicklung zum westlichen Spitzenniveau aufschließen zu können. Die Aussicht darauf, durch ein DDR-Produkt einen größeren Devisenposten einsparen zu können, führte schließlich dazu, dass eine der leistungsfähigsten Methoden der physikalischen Molekülstrukturanalyse nur ein Schattendasein führte. Die Bucher NMR-Gruppe wurde ohne konkurrenzfähige Ausstattung zum Sorgenkind des Gerätezentrums.73 Die Orientierung auf neue westliche Hochleistungsgeräte war nicht allein darum eine problematische Strategie, weil die Devisenengpässe die Anschaffungspläne schwer kalkulierbar machten. Bestanden keine praktischen Erfahrungen – oder nur Erfahrungen mit Geräten mit wesentlich engerem Anwendungsspektrum – konnte es lange dauern, bis sich das volle Potential der Technik entfaltete. In den USA blieben etwa die Pioniergruppen der chemisch-analytischen Massenspektroskopie auch nach der Verbreitung von Hochleistungsapparaten Anlaufpunkte größerer Nutzerkreise, da sie hinsichtlich des technischen und chemischmethodologischen Know-hows einen großen Vorsprung hatten.74 Schnelleren Mehrwert versprach daher der Ansatz, Arbeitsgruppen an das PCZ zu ziehen, die selbstständig für biochemische und molekularbiologische Fragen nutzbare Techniken aufgebaut hatten. Eine solche Perspektive ergab sich für die leistungsfähigste Methode zur Aufklärung komplexer Molekülstrukturen, die Röntgenkristallstrukturanalyse (RKSA). Wie bereits erwähnt, war in den frühen 1950er Jahren durch Katarina Boll-Dornberger eine RKSA-Gruppe in Buch etabliert worden, die nach kurzer Zeit nach Adlershof abwanderte. Dornbergers Institut für Strukturforschung war seitdem der einzige Ort in der DDR geblieben, an dem die Technik gepflegt wurde. Die Initiative, einen Teil des Instituts nach Buch zu verlegen oder zumindest eine dauerhafte Kooperation einzugehen, ging von der Abteilung des Instituts für Pharmakologie aus, die sich mit der Strukturaufklärung und Reaktionskinetik von Hämoproteinen beschäftigte. Mit ihrer langjährigen Erfahrung in der chemisch-physikalischen Erforschung von Proteinkomplexen, die unter anderem auf selbstentwickelten Ansätzen der ESR-Spektroskopie beruhte, stand die Gruppe in besonders engem Kontakt mit der internationalen Entwicklung der 72 Laßmann, Protokoll einer Beratung über Einsatzmöglichkeiten der hochauflösenden magnetischen Kernresonanzspektroskopie (h-NMR), 25.11.1973, ABBAW Buch A 1156. 73 Weiteres hierzu diese Arbeit S. 358–360. 74 Reinhardt 2006, S. 260–261.
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Molekularbiophysik. 1968 fasste sie im Rahmen der WK-Bildungen den Plan, gemeinsam mit externen Partnern ein „Zentralinstitut für Eiweißforschung“ zu gründen, für das eine RKWS-Abteilung unerlässlich gewesen wäre.75 Die Abgabe von Röntgenkristallographie-Spezialisten ließ sich jedoch nicht realisieren, da das Institut für Strukturforschung fest in physikalisch-chemische Projektzusammenhänge eingebunden waren. Nachdem in den 1970er Jahren zunächst eine vertraglich abgesicherte Mitnutzung der Adlershofer Kapazitäten erreicht wurde, gelang nach längeren Verhandlungen erst 1977 die Übernahme eines RKSA-Teams, das in Ermangelung eines eigenen Hochleistungsgeräts zunächst weiter in Adlershof arbeitete.76 Die Zentralisierungsstrategie scheiterte hier zunächst an einem extremen Engpass an Technik und – vor allem – an hochspezialisierten Fachkräften. Erfolgreicher verlief die Eingliederung einer Gruppe, die über in der DDR einzigartige Erfahrungen mit der Röntgenkleinwinkelstreuung (RKWS) verfügte. Diese international eher randständige Methode hatte gegenüber der RKSA den Vorteil, keine kristallisierten Objekte zu erfordern, sondern Strukturdaten für native Makromoleküle zu liefern. Im Physikalischen Institut der Universität Jena baute im Verlauf der 1960er Jahre ein Team um Gregor Damaschun eine eigene Gerätebasis auf, die es auch für die Untersuchung biologischer Makromoleküle einsetzte.77 Die Entwicklung eines auch international außergewöhnlichen forschungstechnischen Potentials an der akademischen Peripherie der DDR war ein ausgesprochener Ausnahmefall, der während der Reformjahre zwangsläufig zum Objekt von Zentralisierungsbemühungen wurde. 1969 konnte die Bucher Leitung gegen Konkurrenz aus Adlershof die Angliederung von Damaschuns Gruppe erreichen. Einige Monate nach dem Umzug schienen die Neuankömmlinge den Übergang in die Akademie bereits zu bereuen. Die zugesicherten Wohnungen aus dem Kontingent der DAW ließen ebenso auf sich warten wie geeignete Laborräume sowie die bestellten Importgeräte.78 Die Vorgänge waren typisch für den Aufbau des „Zentrums“, der nach der Planungslogik zwar höchste Priorität genoss, aufgrund fehlender eigener Raumkapazitäten jedoch improvisiert und nur teilweise erfolgreich verlief. Im Falle des RKWS-Teams konnten die anfänglichen 75 K. Ruckpaul, Entwurf „Wissenschaftliche Konzeption für ein Zentralinstitut für Eiweißforschung in Berlin“, Dez. 1968, ABBAW Buch A 813; vgl. auch Konzeption des Zentralinstituts für Biologie und Medizin, Anfang 1969, ABBAW Buch B 1144; Aufgabenstellung für die Forschungsrichtung „Biophysik der Eiweiße“, Feb. 1969, ABBAW Buch A 878. 76 Protokoll zur Beratung der HFR-Leiter am 5.10.1971, ABBAW Buch A 766; Jung an Schirmer (ZIPC), 29.7.1976 sowie Schirmer an Jung, 21.9.1976, beide ABBAW Buch A 1089; E. Höhne, Vorlage zur Entwicklung der RKSA in der HFR 1, 11.1.1977, ABBAW Buch A 1156. 77 G. Damaschun, Ein lichtstarker Monochromator zur Untersuchung der Kleinwinkelstreuung von Röntgenstrahlen, Die Naturwissenschaften 51 (1964), S. 378–379; G. Damaschun, J.J. Müller, H.V. Pürschel, Über die Meß-Strategie bei der Untersuchung der Röntgenkleinwinkelstreuung von verdünnten monodispersen Lösungen von Makromolekülen, Monatshefte für Chemie 99 (1968), S. 2343–2348 und ebd. 100 (1969), S. 274–279. 78 G. Etzold, G. Damaschun, Aktennotiz zur Röntgen-Kleinwinkelstreuung, 10.11.1970, und „Chronologische Übersicht über Maßnahmen zum Aufbau der RKWS in Buch”, 25.8.1970; ABBAW Buch A 721.
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Schwierigkeiten die Integration aber nicht verhindern. Als die HFR-Leiter zwei Jahre später den Einfluss des PCZ auf ihre Arbeit evaluierten, erhielt keine Einheit ähnlich positive Kritiken.79 Allgemein zeigen die ersten Resonanzen, dass insbesondere jene PCZGruppen als produktiv galten, die bereits eigene Erfahrungen mit komplexen molekularbiophysikalischen Problemen gesammelt hatten und diese in neue Projekte übertragen konnten. Dazu gehörte neben der RKWS auch die erwähnte ESRGruppe sowie die ebenfalls im Zusammenhang mit der Hämoprotein-Forschung aufgebaute Circulardichroismus (CD)-Spektroskopie. Die Spezialisten sahen sich auf diesen Gebieten auf höchstem internationalem Niveau operieren. Auch hinsichtlich der Geräteausstattung schätzten die meisten Labors die Situation bei Gründung des PCZ als gut ein.80 Trotz des Scheiterns wichtiger Modernisierungsvorhaben – auf den Gebieten der RKSA- und der NMR-Technik – entstand mit der Bildung des PCZ eine Kombination von Techniken, die die zuvor gegebene Lage deutlich verbesserte und zu dieser Zeit nicht alltäglich war. Arbeitsgruppen, die zuvor wenig Gebrauch von spektroskopischen Methoden gemacht hatten – etwa jene des vormaligen Instituts für Biochemie – verwendeten diese nach 1970 regelmäßig. Auch die „komplexe Anwendung“ verschiedener Methoden auf bestimmte Probleme, welche die PCZ-Konzeptionen stets als potentiellen Optimierungseffekt hervorhoben, blieb keine reine Wunschvorstellung.81 Das PCZ-Projekt war insofern kein Fehlschlag, auch wenn die ursprünglichen Zielsetzungen in den folgenden Jahren nicht eingelöst wurden. Die im Fünfjahresplan vorgesehene Verdreifachung der wissenschaftlichen Kräfte – das „Methodenzentrum“ war in dieser Beziehung das mit Abstand ambitionierteste Projekt im FZMM – war schon aufgrund des eingeschränkten Kaderpotentials unrealistisch.82 Sie wurde ferner durch die unzureichende bauliche Infrastruktur verhindert, die eine räumliche Zusammenfassung des Zentrums unmöglich machte. Für die leistungsfähigen Einheiten des PCZ stellte sich jedoch vor allem die Frage, ob sie durch die Anforderungen, die sich aus der Aufgabenstellung des Zentrums ergaben, überfordert wurden. Vor der Institutsreform war immer wieder als Argument gegen das Konzept auftragsorientierter Methodengruppen angeführt worden, dass Gerätelabors, die nicht mehr primär selbstgestellte Projekte verfolgten, keine eigenen wissenschaftlichen Impulse mehr geben konnten und daher zu „sterilen
79 Protokoll zur Verteidigung des Leistungsberichtes 1972 des Bereiches Methodik und Theorie, 6.12.1972, ABBAW Buch A 1272. 80 G. Etzold, Leistungsbericht 1972 des Themenkollektivs Physikochemisches Zentrum, Teil II., 28.11.1972, ABBAW Buch A 752. 81 Konzeption für das Methodisch-diagnostische Zentrum in Berlin-Buch, 13.5.1971, ABBAW Buch A 1096. 82 Bis 1975 sollte die Anzahl der im Methodenzentrum (inclusive Rechenzentrum, Gerätebau und Versuchstierzucht) beschäftigten Hochschulkader 47 auf 135 steigen, vgl. Konzeption des Forschungszentrums für Molekularbiologie und Medizin Berlin-Buch, 15.5.1970, ABBAW Buch A 1001.
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Dienstleistungsstellen“ herabsinken mussten.83 Die Diskussion setzte sich mit der Durchsetzung des Servicemodells nahtlos fort. Selbst der Leiter des dem PCZ übergeordneten Arbeitsbereiches für Methoden und Theorie, Gerd Wangermann, warnte, dass man die Apparatespezialisten in Buch nicht zum bloßen „Messknecht“ für Auftraggeber aus dem MOGEVUS-Programm degradieren dürfe.84 Das Zentrum hatte für ihn eine wichtigere Funktion: Durch die Konzentration von Spezialisten und als Anlaufpunkt für verschiedene Projekte war es ein Umschlagplatz für Erfahrungen und Ideen, auf dem Anregungen für den Aufbau der molekularbiologischen Forschung entstehen konnten. Dies setzte aber voraus, dass die Methodengruppen im Austausch mit qualifizierten molekularbiologischen Gruppen eigene Schwerpunkte verfolgen konnten. Letztlich stellte sich das Problem nicht ganz so zwingend dar, wie es erwartet worden war. Im dritten Jahr seines Bestehens wurde das Verhältnis zwischen langfristig orientierter Projektarbeit und kurzfristigen Messaufgaben im PCZ auf 60:40 geschätzt. Dabei entfiel ein großer Teil der letzteren auf ältere Techniken, die ohnehin einen ausgesprochenen Servicecharakter hatten, vor allem die chemische Elementaranalyse.85 Geräte wie Ultrazentrifugen, IR- und UV-Spektrometer, die in größeren Instituten verbreitet waren, wurden weitgehend innerhalb des ZIM genutzt. Die Nachfrage seitens auswärtiger Institute stieg zwar an, war aber je nach Technologie sehr unterschiedlich ausgeprägt. Das Massenspektrometer war aufgrund seiner Einmaligkeit in der DDR ein ausgesprochenes Servicegerät; dabei spielte auch eine Rolle, dass es kaum mit hauseigenen Forschungsprojekten verflochten war. Auch NMR und RKWS waren aufgrund ihres spezifischen Leistungsprofils gesuchte Anlaufpunkte externer Nutzer.86 Methoden, die zuvor im Kontext von Institutsprojekten aufgebaut worden waren, blieben weitgehend mit diesen verbunden. Als größtes Problem stellte sich mit der Zeit heraus, dass die doppelte Beanspruchung für Auftrags- und Projektarbeiten eine Erhöhung der Nutzungszeiten erforderte, was wiederum den Verschleiß beschleunigte. Generell wurde eine mehrschichtige Arbeitszeit angestrebt, aber nur teilweise erreicht, da es an Bedienungspersonal und Wartungskapazitäten fehlte.87 Die Stillstandszeiten verlängerten sich im Verlauf der 1970er Jahre, da die Werkstattkapazitäten unzureichend waren, viele geplante Zukäufe ausblieben und gerade bei Importgeräten Probleme oft nur stark verzögert durch den Firmenservice behoben werden konnten. Angesichts dieser Ausgangslage war es völlig illusorisch, von den Methodengruppen 83 Repke an Abt. Planung der DAW, 31.5.1967, ABBAW FG 40; vgl. auch Protokoll Sitzung Rat der Direktoren 19.7.1966, ABBAW FG 75, sowie Lohs an Graffi, 25.2.1969, ABBAW Buch A 87. 84 Auszüge aus den Diskussionsbeiträgen der Mogevus-Aktivtagung April 1971, ABBAW Buch A 902. 85 G. Etzold, Leistungsbericht 1972 des Themenkollektivs Physikochemisches Zentrum, Teil II., 28.11.1972, ABBAW Buch A 752. 86 G. Etzold, Jahresabschlußbericht 1973 für die komplexe Aufgabe „Struktur und zwischenmolekulare Wechselwirkungen von Proteinen (Biophysik der Eiweiße)“, 24.11.1973, ABBAW Buch A 751. 87 Tskr. „MdZ Buch“, Aug. 1973, ABBAW Buch A 728.
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außerdem noch technische Weiterentwicklungen ihrer Geräte zu erhoffen, die dann von den Akademiewerkstätten bis zur Produktreife weiterbearbeitet werden konnten.88 Das Gerätezentrum war von Beginn an mit Erwartungen überladen. Es sollte zugleich als nationale Serviceeinheit, technisches Entwicklungslabor und eigenständige Forschungseinrichtung agieren. Hinzu kam noch die Funktion eines Ausbildungszentrums, das Hochschulabsolventen in physikochemischen Arbeitsweisen schulte, die in den Universitäten wenig verbreitet waren.89 Angesichts der in der DDR teilweise einmaligen technischen Möglichkeiten ergab sich diese Situation fast zwangsläufig. Bei stagnierender technischer Ausstattung musste eine maximale Ausnutzung ebenso zwangsläufig zu einer Überlastung führen. Für das Bucher Forschungszentrum hatte das PCZ-Projekt dennoch positive Effekte. Das ZIM konnte auf seiner Grundlage einen Schwerpunkt in der Untersuchung komplexer molekularer Strukturen und ihrer Reaktionsmechanismen setzen. Der Zugewinn neuer Methoden, insbesondere der RKWS, lieferte wichtige Impulse für die neuen molekularbiologischen Projekte.90 Gerade solche positiven Interaktionen verdeutlichten jedoch, dass die Apparategruppen ihr Potential dann gut entfalten konnten, wenn sie sich intensiv mit einer bestimmten, auf ihr Profil passenden Thematik auseinandersetzten. 1976 wurden daher die Einheiten des vormaligen PCZ zum Bereich Molekularbiophysik innerhalb des ZIM umgebildet.91 Die Übernahme von „Aufträgen“ für externe Nutzer blieb danach weiterhin Teil ihrer Arbeit. Das Prinzip eines dienstleistungsorientierten Methodenzentrums wurde damit jedoch zugunsten eines „regulären“ Forschungsbereiches mit eigener Programmatik aufgegeben. Rechenzentrum Das PCZ war zunächst Teil des zentralen FZMM-Bereichs „Wissenschaftlichtechnische Einrichtungen“, der im März 1971 in „Methodik und Theorie“ umbenannt und schließlich in das ZIM integriert wurde. Ein wesentlicher Aspekt im Konzept dieses Bereichs war, den Aufbau des physikalisch-technischen Potentials durch entsprechende theoretische Kräfte zu ergänzen; zu diesem Zweck wurde eine von dem Mediziner Jens Reich geleitete biomathematische Gruppe von Jena nach Buch überführt. Das materielle Kernstück des Bereichs sollte jedoch das neue Rechenzentrum bilden.92 Ebenso wie die biomathematische Arbeit war das Gerätezentrum zwingend auf den Ausbau von Computertechnik angewiesen, da 88 G. Wangermann, Jahresabschlußbericht 1973, Querschnittskomplex Methodik und Theorie 1973, Nov. 1973, ABBAW Buch A 751. 89 Konzeption für das Methodisch-diagnostische Zentrum in Berlin-Buch,13.5.1971, ABBAW Buch A 1096 90 Vgl. hierzu auch S. 356f. sowie S. 419. 91 Anlagen zum Bericht des Institutdirektors ZIM vor der ZPL am 4.5.1976, ABBAW Buch A 1032 92 „Bereich wissenschaftlich-technische Einrichtungen (WTE) im FZMM”, 18.3.1971, ABBAW Buch A 720.
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das Potential der neuesten physikochemischen Apparate nur durch Rechnerunterstützung voll nutzbar war. Das Rechenzentrum sollte nach den Intentionen seiner Planer aber weit umfassendere Funktionen übernehmen. Es war insofern die einschneidendste Neuerung der Reformjahre, als es den Rahmen der bestehenden Institutsstrukturen sprengte und mit der größten Investition dieser Jahre, einer Rechenanlage vom Typ Robotron 300, verbunden war. Wie keine andere Neuerung verkörperte das Computerprojekt die Ziele der Akademiereform: Zentralisierung, Automatisierung und Rationalisierung. Obwohl die Einrichtung des Rechenzentrums von vielen Forschern mit Skepsis betrachtet wurde und in technischer Hinsicht die Erwartungen nur sehr eingeschränkt erfüllen konnte, veränderte es die Architektur des Forschungszentrums erheblich. Es wurde zum technischen Knotenpunkt für die Arbeiten vieler Bereiche und damit zu einer treibenden Kraft der inneren Integration. Während die Computertechnologie nach der Einrichtung des Rechenzentrums zunächst vorwiegend durch experimentell arbeitende – speziell molekularbiophysikalische – Gruppen genutzt wurde, gingen die ersten Initiativen für einen Ausbau der Rechentechnik von den Klinikern aus. Ende 1966 legte Gummel den Plan für die Bildung einer Abteilung für medizinische Kybernetik innerhalb der Klinik vor. Dafür sollten einige Kleinrechner sowie eine größere Zentralanlage angeschafft werden.93 Der Einsatz von Computertechnik war für die Krebsmediziner zu diesem Zeitpunkt kein völliges Neuland. Seit Beginn der 1960er Jahre entwickelten die Nuklearmediziner für die individualisierte Strahlentherapie mit der Kobaltbombe eigene Planungsprogramme, die auf der Rechenanlage eines Industriebetriebes ausgeführt wurden.94 Auch ihre Kollegen am Institut für kortikoviszerale Pathologie und Therapie ließen die im Rahmen ihrer elektrophysiologischen Versuche anfallenden EEG-Daten maschinell auswerten, in diesem Fall in Kooperation mit dem Rechenzentrum der Humboldt-Universität.95 Die unter dem hochtrabenden Titel „medizinische Kybernetik“ geführten Pläne waren aber nicht auf diese Ansätze beschränkt, sondern sahen auch ein Projekt zum Aufbau einer computergestützten Diagnostik vor.96 Noch bevor die Ideen der RRK genauer präzisiert waren, erfuhren sie eine erhebliche Erweiterung. Mitte 1967 wurde bereits die mögliche Anschaffung eines Robotron R 300-Rechners diskutiert, des damals größten und leistungsfähigsten Computers aus DDR-Produktion. Wie war es möglich, dass eine solche Investition für ein biologisch-medizinisches Institut in Erwägung gezogen wurde, das bis dahin kaum Bedarf an größerer Rechenleistung angemeldet hatte? Die Entscheidung hierüber war nicht im Bucher Direktorenrat, sondern an der Spitze der Forschungsgemeinschaft vorbereitet worden. Der Vorstand der FG ließ seit 1965 eine 93 Protokoll zur Sitzung des Rates der Direktoren 20.12.1966, ABBAW Buch A 20; Gummel/ Wangermann, Vorlage zur Gründung einer Abteilung für Medizinische Kybernetik in der RRK, 2.11.1966, ABBAW Buch A 20. 94 Weiteres hierzu S. 274. 95 Weiteres hierzu S. 473f. 96 G. Wangermann, Notwendigkeiten und Möglichkeiten der Anwendung elektronischer Rechenautomaten in der Medizin, Das Deutsche Gesundheitswesen 23 (1968), S. 673–679.
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„Ständige Kommission Maschinelle Datenverarbeitung“ Konzepte für den Einsatz von Computern in der DAW entwickeln. Zunächst waren weder die Bucher Institute noch der medizinisch-biologische Fachbereich in diese Planungen einbezogen. Ende 1966 bildete auch der Fachbereich unter dem Vorsitz von Gummels „Kybernetik“-Experten Gerd Wangermann seine eigene EDV-Unterkommission.97 Zugleich war Wangermann bereits Mitglied einer „Problemkommission Medizinische Datenverarbeitung“ des RPKmW, also auch in die rechentechnischen Planungen des Gesundheitsministeriums involviert. Die DAW-Kommission plante ein hierarchisch gegliedertes Rechnernetz, in das schrittweise alle Akademieinstitute integriert werden sollten. Zu diesem Zeitpunkt gab es in der Akademie zwar einige Rechenzentren, aber kaum Groß- und Mittelklasserechner, wie sie in Industrie- und Verwaltungsbetrieben bereits zum Einsatz kamen. Ein großer Teil der anfallenden Datenverarbeitung wurde auftragsweise bei Industriebetrieben erledigt. Nach den Planungen sollte das Rechenzentrum des physikalisch-chemischen Institutskomplexes Adlershof mit einem sowjetischen Hochleistungsrechner den Kern des Rechnernetzes bilden; im Kernforschungszentrum Dresden-Rossendorf sowie in Leipzig waren jeweils regionale Zentren mit Computern der mittleren bis oberen Leistungsklasse vorgesehen.98 Kleinere Computer in den einzelnen Instituten sollten über ein Datenübertragungsnetz mit diesen Zentralrechnern verbunden werden. Weil die vorhandene EDV-Technik überaltert war und viele Institute noch ganz ohne nennenswerte Rechentechnik auskommen mussten, sollten ausgewählte Zentren bereits vor der Anschaffung der Großrechner aufgerüstet werden. Während der Import sowjetischer Spitzentechnik gegen Ende der 1960er Jahre erheblich stockte, bestand bei den leistungsmäßig der Mittelklasse zuzurechnenden einheimischen Robotron300-Anlagen immerhin die Aussicht, innerhalb der nächsten Jahre zwei oder drei Geräte für die Akademie sichern zu können. Das IMB stand so 1967 relativ unvermittelt in der Reihe der ersten Anwärter neben dem Institut für angewandte Mathematik in Berlin und dem Astrophysikalischen Observatorium in Babelsberg. Auch wenn angesichts der hohen Nachfrage nach dem Flaggschiff der DDRComputerproduktion Lieferverzögerungen vorprogrammiert waren, sollte Buch nach Vorstellungen der Akademiekommission bis zum Beginn des neuen Jahrzehnts über eines der leistungsfähigsten Rechenzentren der Akademie verfügen.99 Die Chance auf die Übernahme des Mittelklasserechners war für das von jahrelanger Investitionsdürre gebeutelte IMB eigentlich ein unverhoffter Glücksfall. Dennoch hielt sich die Begeisterung in Grenzen. Aufgrund ihrer Erfahrungen mit der Durchsetzung eigener Bauprojekte hegten einige Direktoren die begründete Befürchtung, dass eine schnelle Realisierung des Rechenzentrums den dringend benötigten Laborneubau noch weiter verzögern würde. Die experimentellen Biologen sahen außerdem keinen ausreichenden Bedarf für eine so umfangreiche 97 H. Meier an G. Wangermann, 6.10.1966, ABBAW Buch A 723. 98 Maßnahmeplan zur technischen und organisatorischen Entwicklung der elektronischen Datenverarbeitung in der FG der DAW (Entwurf), Februar 1967, ABBAW Buch A 723. 99 Protokoll der Sitzung der Ständigen Kommission Maschinelle Datenverarbeitung am 12.5.1967; und Nachtrag zum Protokoll 1/67, 19.5.1967, ABBAW Buch A 723.
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Rechenkapazität, da sie kaum über Forschungsgeräte verfügten, die für den Anschluss an eine automatisierte Datenverarbeitung geeignet waren. Das Projekt R 300 war aber keine rein interne, sondern eine strukturpolitische Angelegenheit. Wie ein EDV-Experte der FG die Direktoren aufklärte, verfügte die DDR in der Rechentechnik etwa über ein Zweihundertstel der westdeutschen Kapazitäten und rangierte damit im europäischen Vergleich noch hinter Schwellenländern wie Portugal. Um den Sprung in die technische Moderne zu vollziehen, sollten daher allein in der Akademie in den folgenden Jahren etwa 130 Millionen Mark in neue Computeranlagen investiert werden.100 Tatsächlich schien in Buch kaum ausreichender Bedarf zu bestehen, um die Kapazität eines R 300 in absehbarer Zeit auszulasten. Wangermann stellte 1967 gegenüber seinen EDV-Kollegen fest, „daß sich kaum ein Wissenschaftler des Forschungszentrums ernstlich bemüht, Probleme der Institute mit den Mitteln der modernen Rechentechnik zu bearbeiten.“101 Bis der Rechner in Buch installiert wurde, musste folglich das Interesse an der Computertechnik mittels Vorträgen und Schulungen systematisch geweckt werden. Erste Sondierungen zeigten immerhin, dass einige Teilinstitute wie die Isotopenforschung und die kortikoviszerale Therapie bereits recht klare Nutzungsvorstellungen hatten.102 Aufgrund der kaum entwickelten Computerkapazität in der Wissenschaft war es allerdings nicht nötig, auf Anwendungswünsche aus dem Forschungszentrums zu warten. Die Planungen für den Bucher Zentralrechner weckten schnell Interessen im Bereich des Gesundheitswesens. Die EDV-Kommission des RPKmW musste sich bei der Verteilung der technischen Ressourcen weiter hinten anstellen als die Kollegen von der DAW. Der einzige für die Universitätsmedizin eingeplante Mittelklasserechner sollte in Dresden für ein Modellprojekt auf dem Gebiet der Klinikadministration und -rationalisierung eingesetzt werden. Die Planer des RPKmW hofften aber auch darauf, mittelfristig eine elektronische Infrastruktur zur Auswertung von Patientendaten für diagnostische Zwecke aufzubauen, insbesondere für das Gebiet der Herz-Kreislauf-Krankheiten.103 Das Bucher Rechenzentrum schien hier ein geeignetes und noch unausgeschöpftes Potential zu eröffnen. Zudem verfügte die Bucher RRK durch ihre jahrelangen Erfahrungen beim Aufbau eines nationalen Krebsregisters selbst über gute Grundlagen für computerdiagnostische Ansätze. Trotz völligen Fehlens praktischer Erfahrungen auf diesem Gebiet mündeten die Überlegungen bald in gewagte Zukunftsvisionen, in denen die anamnestischen, diagnostischen und therapeutischen Daten aller Patienten im Land gespeichert und direkt für die Aufstellung von Prophylaxe- und Behandlungskonzepten
100 Protokoll zur Sitzung des Rates der Direktoren 11.4.1967; Protokoll zur Sitzung des Rates der Direktoren 13.6.1967, beide ABBAW Buch A 21. 101 Protokoll der Sitzung der Ständigen Kommission Maschinelle Datenverarbeitung am 8.12.1967, ABBAW Buch A 723. 102 Vormum an Wangermann, 26.8.1966; K. Treptow an Wangermann, 18.8.1966, beide ABBAW Buch A 724. 103 Protokoll Beratung PK Medizinische Datenverarbeitung des RPKmW, 1.6.1967, ABBAW Buch A 724.
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genutzt wurden.104 Bis dieses utopische Ziel in Reichweite kam, sollten für ausgewählte Krankheitsformen versuchsweise Patientendaten aufgearbeitet werden. Ab 1968 führte das Gesundheitsministerium das noch computerlose Bucher Institut für Krebsforschung als Leitinstitution für sein virtuelles ComputerdiagnostikProjekt. In dem Ende 1967 vorliegenden Planungskonzept für den Robotron-Rechner war bereits vorgesehen, dass neben den Instituten des Forschungszentrums auch weitere Akademieinstitute im Berliner Raum wie das Potsdamer Institut für Ernährung, das Klinikum Buch, die Berliner Forschungsinstitute des Gesundheitsministeriums sowie die Charité die Anlage mitnutzten.105 Es ist fraglich, ob all diese Institutionen tatsächlich über klare Nutzungsideen verfügten. Die Liste drückte wohl eher die forschungspolitische Erwartung aus, dass das neue Rechenzentrum als regionales Zugpferd der EDV-Entwicklung wirkte. Der Computer stand zudem für die Hoffnung auf verstärkte Vernetzung zwischen den Institutionen. Ähnlich wie der zentrale Gerätepark sollte auch der zentrale Großrechner nicht nur einen ökonomischen, sondern auch einen kommunikativen Mehrwert in Form interdisziplinärer Verknüpfungen mit sich bringen.106 Diese Vision war keine Kopfgeburt sozialistischer Planungsideologen. Auch in den USA war der Aufbau wissenschaftlicher Computerzentren stets mit der Forderung nach engeren Kooperationen zwischen Disziplinen und Institutionen verbunden.107 Der Drang nach einer multifunktionalen Ausnutzung ergab sich zumeist zwangsläufig aus den hohen Anschaffungskosten großer Rechenanlagen. Dass sich auf diese Weise auf verschiedene Anwenderinteressen harmonisieren ließen, war allerdings eine idealisierende Vorstellung. Hochleistungscomputer waren nur selten für wissenschaftliche Anwendungszwecke ausgerichtet. Der R 300 war primär ein Verwaltungs- und Planungsinstrument, das in Produktions-, Verkehrs- und Dienstleistungsbetrieben eingesetzt wurde.108 Es war absehbar, dass der neue Zentralcomputer für viele Ziele des Forschungszentrums nicht optimal geeignet sein würde. Zugleich stand zu befürchten, dass er durch eine steigende Anzahl an Nutzungswünschen bald an seine Leistungsgrenze kommen würde. Einer der ersten Vorschläge bestand darin, eine Datenbank zur Erfassung des gesamten Literaturbestandes des biologisch-medizinischen Fachbereichs aufzubauen.109 Dafür war, ebenso wie für größere computerdiagnostische Datenerhebungen, die Koppelung an eine leistungsfähigere Anlage wie den sowjetischen BESM-6-Großrechner notwendig, der in den übergeordneten DAW-Rechenzentren zum Einsatz kommen 104 Überarbeitung durch die Problemkommission Med. Datenverarbeitung zur Konzeption „Die Herausbildung der Grundlinie für den wirksamsten Einsatz der EDV für den Bereich Medizin“ vom 4.3.1968, ABBAW Buch A 724. 105 Technisch-wiss. Zielstellung (TWZ) für den Aufbau des Rechenzentrums im FZ (Beschlussvorlage zur Sitzung des Rates der Direktoren am 14.12.1967, ABBAW Buch A 21. 106 Protokoll zur Sitzung des Rates der Direktoren am 13.6.1967, ABBAW Buch A 21. 107 Stevens 2013, S. 18–19. 108 Liegert 2006. 109 G. Wangermann, Protokoll zur Sitzung der Unterkommission „Maschinelle Datenverarbeitung“ im FB Medizin und Biologie am 9.9.1967 (hs.), ABBAW Buch A 724.
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sollte.110 Für Anwendungen auf experimentelle Probleme erschien die Geschwindigkeit des R 300 zu gering. Für diese mussten zusätzliche Prozessrechner eingeplant werden, mit denen der R 300 – trotz bereits ausgereifter Planungen für einen gemeinsamen Netzwerkstandard für alle EDV-Systeme der sozialistischen Staaten (ESER) – nicht kompatibel war.111 Die Anlage wurde in kurzer Zeit von einer überdimensionierten Investition zu einer Zwischenlösung, die bald durch ein schnelleres Nachfolgemodell ersetzt werden sollte. Solche Hoffnungen waren allerdings mehr als optimistisch. Dass Buch auch zu den ersten Empfängern des für die Mitte der 1970er Jahre vorgesehenen Nachfolgemodells R 40 gehören würde, war angesichts der Wartelisten innerhalb der Akademie sehr unwahrscheinlich.112 Die Anschaffung des Computers selbst vollzog sich jedoch mit einer – gemessen an der Umsetzung anderer Infrastrukturprojekte – erstaunlichen Geschwindigkeit. Als 1971 die inklusive eines Fertigbaupavillions gelieferte R 300Anlage eröffnet wurde, verwandelte sich Buch schlagartig vom rechentechnischem Niemandsland in ein technisches Zentrum – eigentlich eine absurde Situation, da die physikalisch-technischen Großinstitute in Adlershof und Rossendorf noch einige Jahre auf vergleichbare Geräte warten mussten. Als übergeordneter DAW-Zentralrechner diente provisorisch ein BESM-6-Großrechner im Zeuthener Institut für Hochenergiephysik.113 Während das Rechenzentrum in der Vorbereitungsphase vornehmlich als medizinisches Projekt – insbesondere für die Zwecke der Computerdiagnostik und der Klinikverwaltung – konzipiert worden war, stellten sich die Verhältnisse in den Jahren nach der Inbetriebnahme völlig anders dar. Mehr als zwei Drittel der Laufzeit wurden von Gruppen des ZIM beansprucht, davon allerdings ein erheblicher Teil für die Methodenentwicklung durch das Rechenzentrum selbst. Das ZIK nutzte nur ein Zehntel der Rechenzeit, das ZIHK noch weniger. Auf einen höheren Anteil kam das Bucher Städtische Klinikum als einziger nennenswerter Fremdnutzer.114 Gummel hatte sich schon bald nach Betriebsaufnahme beschwert, dass das Rechenzentrum zu sehr durch die Biologen beansprucht werde. Aus der Sicht der RZ-Leitung gab es jedoch noch keinen Kampf um knappe Rechnerkapazitäten, sondern ein erhebliches Missverhältnis zwischen den technischen Möglichkeiten und der Anzahl der für die Nutzung qualifizierten Kader. Dies galt nicht nur für Buch, sondern für die gesamte DDR. Die interessierten Projektbereiche mussten sich ihre EDV-Spezialisten selbst heranziehen.115 Gerade für die medizinisch-statistische Nutzung des Rechners bestand beim Fachpersonal ein 110 Technisch-wiss. Zielstellung (TWZ) für den Aufbau des Rechenzentrums im FZ (Beschlussvorlage zur Sitzung Rat der Direktoren 14.12.1967), ABBAW Buch A 21. 111 G. Wangermann, Rechnerhierarchie für SGFV Mogevus, 26.10.1970, ABBAW Buch A 721; zu ESER vgl. Donig 2009, S. 95–98. 112 H. Meier, Protokoll der Sitzung der Ständigen Kommission Maschinelle Datenverarbeitung vom 17.12.1969, ABBAW Buch A 723. 113 Konzeption der DAW für den Ausbau des Rechennetzes der Forschung im Perspektivplanzeitraum 1971–1975, März 1969, ABBAW Buch A 723. 114 Bedarfermittlung EDV-Leistungen 1973, 29.7.1972, ZIM-Jahresplan 1973, Teil III, ABBAW Buch A 750; J. Pilgrim, Leistungsbericht des RZ 1973, 26.11.1973, ABBAW Buch A 751. 115 Protokoll der Dienstbesprechung des Direktors d. FZMM 23.12.1971, ABBAW Buch A 902.
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entscheidender Engpass. Bereits in der Vorbereitungsphase hatten die Planer des Gesundheitsministeriums die Frage aufgeworfen, woher man die zahlreichen für den Betrieb eines R 300-Rechners nötigen Kader nehmen sollte, gerade für ein neuartiges Projekt wie die Computerdiagnostik, für das speziell weitergebildete Fachmediziner benötigt wurden, die ohnehin knapp waren.116 Für ein wirklich umfassendes Projekt zur Krebsdiagnostik fehlten außerdem medizinisch-statistische Voraussetzungen. Der Leiter des ComputerdiagnostikProjekts sah nur die Möglichkeit, die Arbeit zunächst auf spezielle diagnostische Probleme zu beschränken, weil es für die verbreitetesten Krebsformen noch an ausreichendem epidemiologischen Datenmaterial fehlte.117 In den frühen 1970er Jahren wurden rechnergestützte Analysemethoden auf Daten angewandt, die gezielt an geeigneten Patientenpopulationen erhoben wurden, etwa in einer Studie zur Pathogenese des Magenkrebses. 118 Hierbei reichte für die Auswertung jedoch ein Kleinrechner aus, genau wie bei einem Projekt der RRK-Radiologen, die ein westliches Programm für die schwierige Differentialdiagnostik von Lungentumoren adaptierten.119 Kleinere Spezialcomputer wurden auch in Baumanns Klinik verwendet, um EEG-Daten auszuwerten.120 Es gab im medizinischen Bereich also durchaus Anwendungen von Rechentechnik, die direkt für die klinische Arbeit nutzbar gemacht wurden, speziell dort, wo zahlreiche diagnostische Parameter zu erheben und zu verarbeiten waren. Größere Rechnerleistungen waren hierfür jedoch nicht nötig, da die Voraussetzungen für medizinische „big data“-Erhebungen nicht gegeben waren. Der erhoffte große Schritt nach vorn blieb aus. Mitte der 1970er Jahre galt der Einsatz der EDV in Klinik- und Forschungsbetrieb des ZIK weiterhin als „ungenügend“; von der Computerdiagnostik als eigenständigem Projektgebiet war nicht mehr die Rede.121 Auf den apparateintensiven Gebieten der biologischen Forschung sprach die Situation noch deutlicher gegen das Konzept multifunktional genutzter Zentralrechner. In den amerikanischen Zentren der Computerentwicklung hatte sich schon frühzeitig die Inkompatibilität zwischen dem Leistungsprofil von Großrechnern und den Bedürfnissen der experimentell arbeitenden Nutzer gezeigt. Physiologische oder chemische Messdaten durch einen Großrechner zu verarbeiten bedeutete, in einem zugewiesenen begrenzten Zeitraum zunächst spezielle 116 Buchmüller u. a., Ergänzung zur Grobprognose und Prognose zur Entwicklung der medizinischen Datenverarbeitung in der DDR bis zum Jahre 1980, 15.12.1966–3.3.1967, ABBAW Buch A 724. 117 Berndt an Wangermann, 6.2.1970, ABBAW Buch A 720. 118 G. Wolff, J. Läuter, Zur Epidemiologie des Magenkrebses I., Archiv für Geschwulstforschung 46 (1976), S. 1–14. 119 K.-H. Rotte, H.Schwarz, Zur Anwendung des CALM-Systems als mathematisches Verfahren in der Diagnostik peripherer Lungenprozesse, Archiv für Geschwulstforschung 43 (1974), S. 60–67. 120 H. Baumann, R. Baumann, J. Läuter, Anwendung von Computer-Methoden und multivariaten Diskriminanzanalysen zur statistischen Charakterisierung der evozierten kortikalen Aktivität unter Einfluß von Insulin, Glukose und Stress, Acta Biologica et Medica Germanica 23 (1969), S. 145–171. 121 Konzeption des ZIK (Vorlage z. Beratung im Präsidium), 18.12.1974, ABBAW Buch A 905.
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Programme zu installieren und dann die zuvor generierten Daten einzulesen. Dieses Vorgehen war bei stark beanspruchten Anlagen extrem unökonomisch und erlaubte keine direkte Wechselwirkung zwischen Nutzer und Computer. Die Unzufriedenheit mit dieser Situation führte zu Beginn der 1960er Jahre zur Entwicklung des ersten Kleincomputers, der mit seinen interaktiven Eigenschaften Ähnlichkeiten mit heutigen PCs aufwies – des am MIT in Boston speziell für die Ansprüche experimentell arbeitender Biologen und Mediziner entworfene LINCRechners.122 Den Planern des RPKmW war diese Entwicklung nicht entgangen. Der Import solcher Kleinrechner galt als unverzichtbar für die Weiterentwicklung datenintensiver Messtechniken, insbesondere in der Physiologie.123 Solange keine ähnlichen Systeme im sozialistischen Wirtschaftsgebiet produziert wurden, kam eine breitere Anwendung aber nicht in Betracht. Während der Planung des Bucher Rechenzentrums wurde als Alternative die Anschaffung von Prozessrechnern diskutiert, Computern, die speziell auf die Verarbeitung von Daten eines oder mehrerer Messgeräte ausgerichtet waren. Nachdem die Akademie zunächst die ungarischen TPA-Rechner favorisiert hatte, legte sich das ZIM 1972 auf das kostengünstigere Robotron-System KRS 4200 fest.124 Das Gerät war ebensowenig eine Wunschlösung wie der R 300. Der Leiter des PCZ meinte, dass der Prozessrechner zwar einen großen Fortschritt für die Nutzung des Geräteparks, aber längst nicht den Anschluss an das internationale Spitzenniveau bedeuten würde. Der Idealzustand war die Koppelung je eines Messgerätes mit einem Kleinrechner. Im Westen war dies dank sinkender Kosten für kleinere Systeme möglich, nicht aber in der devisenarmen DDR.125 Ähnliche Einschätzungen wurden während der 1970er Jahre wiederholt abgegeben; der Ansatz, mehrere Geräte mit dem KRS 4200 zu verbinden, war ökonomisch und nicht technologisch begründet. Das „Kleinrechensystem“ – das allein durch seine kleiderschrankgroße Einheit zur Umwandlung analoger in digitaler Signale einen ganzen Raum einnahm – war bereits bei seiner Anschaffung dem westlichen Leistungsniveau deutlich unterlegen.126 Zudem sollte es mehrere Jahre dauern, ehe funktionstüchtige Verbindungen zu den wichtigsten Geräteeinheiten eingerichtet waren. Das Problem des Mehrgerätesystems lag darin, dass der Zugriff der verschiedenen Nutzereinheiten auf den Rechner durch ein Betriebssystem gesteuert werden musste, das die Funktionsfähigkeit der Geräteprogramme stark einschränken konnte. Die Einrichtung einer komplikationsfreien Programmstruktur war mithin selbst eine Forschungsaufgabe. Ein kompletter gleichzeitiger Online-Betrieb aller angeschlossen Geräte war nicht umsetzbar. Bei sehr datenintensiven Aufgaben war aufgrund der begrenzten Speicherkapazität 122 November 2013, S. 124–170. 123 Überarbeitung durch die Problemkommission Med. Datenverarbeitung zur Konzeption „Die Herausbildung der Grundlinie für den wirksamsten Einsatz der EDV für den Bereich Medizin“ vom 4.3.1968, ABBAW Buch A 724. 124 Wangermann an Jung, 19.2.1973, ABBAW Buch A 1272. 125 G. Etzold, Leistungsbericht 1972 des Themenkollektivs Physikochemisches Zentrum Teil II, 28.11.1972, ABBAW Buch 752. 126 G. Wangermann an W. Schulze/FB Mathematik 2.12.1975, ABBAW Buch A 1085.
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nur Ein-Gerät-Betrieb möglich.127 Bestimmte sehr langwierige Messreihen erforderten den Einsatz des Zentralrechners, der nicht über eine Online-Verbindung, sondern über den Umweg gestanzter Lochstreifen gefüttert wurde – so wie es in den mehr als 20 Jahre zurückliegenden Anfangstagen elektronischer Messdatenverarbeitung der Fall gewesen war.128 Trotz aller Probleme beeinflusste das Prozessrechnersystem die Entwicklung der Gerätegruppen erheblich. Erst durch die Computeranbindung konnten durch spektroskopische Methoden generierte Daten international konkurrenzfähig aufbereitet werden. Das Hauptproblem bestand darin, die bei allen Gerätesystemen auftretenden Störsignale auszufiltern, indem aus mehrfachen Aufnahmen Mittelwerte errechnet wurden. Entsprechend der in der Akademiereform ausgegebenen Maxime „Automatisierung der Forschung“ hatte die Entwicklung eigener Methoden auf diesem Gebiet großen Stellenwert. Als 1974 die Onlinekopplung für das ESR-Spektrometer und das RKWS-Diffraktometer erreicht wurden, galt dies als „herausragende Leistung“ des Mogevus-Programms.129 Die hierfür nötigen Spezialprogramme wurden überwiegend von Forschern der Gerätegruppen selbst geschrieben; die Entwicklung und Weitergabe von Spezialsoftware zählte von da an ebenso zu den wissenschaftlichen Aufgaben des Methodik-Bereichs wie die Produktion von Messdaten. Geräteanwendung, Programmentwicklung und der Blick auf die wissenschaftlichen Objekte waren dabei eng miteinander verbunden. Ende der 1970er Jahre gelang etwa der elektronenmikroskopischen Gruppe der Abteilung Zellphysiologie des ZIM in Kooperation mit den Prozessrechnerexperten erstmals in der DDR die Glättung elektronenmikroskopischer Aufnahmen; die Qualität der Darstellung subzellulärer Strukturen stieg damit deutlich.130 Der R 300-Zentralrechner, der durch seine Präsenz auf dem Campus die Bedeutung der Computerisierung verkörperte, wurde teilweise für solche MessdatenOptimierungen eingesetzt, war aber für anspruchsvolle wissenschaftliche Aufgaben immer weniger geeignet. Datenintensive Aufgaben wurden von einigen Anwendern des Forschungszentrums bereits den Großanlagen in Adlershof oder Zeuthen übertragen; so stellten etwa die Strahlentherapeuten des ZIK ab 1974 ihre Bestrahlungsplanungsprogramme auf den sowjetischen BESM 6 um.131 Dieser Großrechner sollte Ende 1976 auch den R 300 in Buch ersetzen. Schon zuvor hatte für die EDV-Aufgaben des ZIM eine direkt mit einem der AkademieGroßrechner gekoppelte Satelliteneinheit (ES 1010) immer größere Bedeutung erlangt. 132 Als der BESM 6 schließlich in Buch installiert wurde, bedeutete dies 127 R. Wessel, K. P. Pleißner, Rechnergestützte Meßwerterfassung und Verarbeitung. Ein Beitrag zur Automatisierung von Meßeinrichtungen der molekularbiologischen Forschung, Diss. A., AdW Berlin 1978, S. 64–66. 128 De Chadarevian 2002, S. 98–135. 129 Jahresabschlußbericht 1974 FV Mogevus, ABBAW Buch A 901. 130 G. Lutsch, K. P. Pleißner, G. Wangermann, F. Noll, Studies on the structure of animal ribosomes VIII.: Application of a digital image processing method to the enhancement of electron micrographs of small ribosomal subunits, Acta Biologica et Medica Germanica 36 (1977), S. K59–62. 131 Jahresbericht 1974 des ZIK, S. 36, ABBAW Buch A 910. 132 Jung an Klare, 22.3.1976, ABBAW Buch A 1084.
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für das Rechenzentrum zunächst einen erhöhten Druck, die Anlage vollständig auszunutzen. Wider Erwarten reichten die auswärtigen Aufträge aber nicht immer aus, um die erwartete 24-Stunden-Auslastung zu erreichen.133 Für die Projekte des FZMM konnte nun zwar auf höhere Rechenleistungen zugegriffen werden, jedoch war das System den Anforderungen des Forschungszentrums ebensowenig angepasst wie sein Vorgänger. Wiederholt monierten EDV-Experten, dass die Leistung des Zentralrechners vor allem aufgrund fehlender oder mangelhafter Peripheriegeräte wie Drucker und Terminals nur unzureichend genutzt werden konnte. Die Schwächen der Hardware hatten zur Folge, dass ein Großteil der SoftwareEntwicklung von der „Milderung von Strukturmängeln“, etwa der Lösung von Kompatibilitätsproblemen, absorbiert wurde.134 Zu Beginn der 1980er galt die Anlage, die technisch dem Höchstniveau der späten 1960er Jahre entsprach, als „moralisch und physisch verschlissen“; die Vernetzung mit den Geräten des Forschungszentrums und anderen Rechenzentren der Akademie war weiterhin weit vom angestrebten Stand entfernt. Zudem machte die technische Entwicklung die Kluft zwischen Großrechentechnik und Anwenderinteressen noch deutlicher spürbar. Da in den Instituten mittlerweile verschiedene Kleinrechner zugänglich waren, nahmen viele Nutzer lieber deren längere Rechenzeiten in Kauf, als auf zugewiesene Benutzungszeiten zu warten.135 Das ZIM verfügte Mitte der 1980er Jahre über einige amerikanische Tischrechner, deren Preise zu diesem Zeitpunkt kein unüberwindliches Importhindernis mehr darstellten.136 Diese benutzerfreundlicheren Computer konnten den steigenden Bedarf ebenso wenig befriedigen wie die neue Generation von „Kleinrechensystemen“, welche neben die mittlerweile veralteten und störanfälligen Prozessrechner traten. Um die Nutzung dieser Systeme entbrannten teilweise heftige Konflikte, weil die Ansprüche aller Interessenten auf ein Exklusivgerät nicht erfüllbar waren. Das Robotron-System K 1630, mit dem die theoretischen Biophysiker des ZIM die grafische Darstellung und Analyse von Molekülstrukturen erprobten, wurde etwa auch durch das Rechenzentrum für Programmentwicklungsarbeiten reklamiert. Die Biophysiker argumentierten, dass die Anlage durch ihren Einsatz überhaupt erst für das Institut gewonnen worden war, die Informatiker, durch ihre Hardware- und Softwarearbeiten den Computer erst voll leistungsfähig gemacht zu haben. Letztlich wurde die Nutzungszeit geteilt, was keine der Parteien zufriedenstellen konnte.137 Bezeichnenderweise fiel der Streit in einen Zeitraum, in dem das Rechenzentrum in einem neu gebildeten ZIM-Bereich Biomathematik aufging. Die Verklei133 F. Jung/J. Pilgrim an G. Pasternak, 18.10.1979, ABBAW Buch A 1084. 134 J. Reich u. a., Entwicklungskonzeption der molekularen und zellulären Biophysik der DDR, Aug. 1981, ABBAW Buch A 1096. 135 Konzeption des Bereiches Biomathematik/Rechentechnik des ZIM (Entwurf), Okt. 1983, ABBAW Buch A 1096. 136 Lucius an Grosse, 27.9.1984, ABBAW Buch A 1089. 137 M. Zinke an G. Pasternak, 18.10.1984; Stellungnahme Höhne/Sklenar, 25.10.1984, beide ABBAW Buch A 1089; G. Pasternak, Festlegung zur Auslastung von Rechentechnik, 27.11.1984, ABBAW Buch A 1087.
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nerung der technischen Systeme und die Diversifizierung der Aufgaben hatte dazu geführt, dass die Rechentechnik nicht mehr als zentralisierte Aufgabe behandelt werden musste, die unter der Kontrolle von Spezialisten stand. Aufgrund des eingeschränkten Angebotes an Geräten war sie aber immer noch so exklusiv, dass nicht jede Nutzergruppe ihre eigene technische Basis hatte. Gegen Ende der 1980er Jahre zeichnete sich die Möglichkeit ab, die Computernutzung zu individualisieren, da Robotron an IBM-PCs orientierte Desktop-Rechner herausbrachte, die den Akademieinstituten in größeren Stückzahlen zur Verfügung gestellt wurden.138 Die bevorzugte Lieferung an das ZIM war mit der Abmachung verknüpft, für Robotron speziell auf biomedizinische Anwender zugeschnittene Softwarepakete zu entwickeln. Durch Funktionen wie Literaturverwaltung oder grafische Ergebnisauswertung, die zuvor an zentralisierte Geräte gebunden waren, sollte damit ein Schritt in Richtung individualisierter EDV-Nutzung made in GDR getan werden.139 Die Computeranwendung in Buch bewegte sich von Beginn an im Spannungsfeld zwischen dem technisch-ideologischen Imperativ der Zentralisierung und dem Interesse der Nutzer an individuell angepassten Lösungen. Diese Situation entsprach grundsätzlich der globalen Entwicklung – was wenig erstaunlich ist, da die DDR und andere sozialistische Staaten nicht nur den Großteil der Computertechnik aus dem Westen kopierten, sondern auch die damit verbundenen Rationalisierungs- und Organisationskonzepte übernahmen.140 An einer wesentlich größeren und materiell besser ausgestatteten westlichen Institution wie der ETH Zürich koexistierten um 1980 ein der Universitätsverwaltung unterstelltes Rechenzentrum, das als Dienstleistungsbetrieb mit eigener Mannschaft die Aufträge von „Kunden“ abarbeitete, und ein „Zentrum für interaktives Rechnen“, in dem Nutzergruppen an kleineren, flexibleren Systemen Programme für ihre speziellen Projektbedürfnisse entwickeln konnten.141 Auch das letztgenannte Organisationsmodell war insofern ein „zentralisiertes“, als es vom interessierten Wissenschaftler forderte, „zum Rechner hinzugehen“, da die Geräte weiterhin unter Kontrolle des „Zentrums“ standen. Ein wesentlicher Unterschied zur Situation in Buch bestand darin, dass die ETH-Informatiker ihre Arbeitsorganisation ständig dem sich rasant entwickelnden Stand der westlichen Rechentechnik anpassen mussten, während man im FZMM dazu gezwungen war, veraltete Technik auf einem einigermaßen produktiven Stand zu halten. In Buch zeigte sich der Widerspruch zwischen Zentralisierungsparadigma und Nutzerinteressen darum besonders deutlich, weil dem Forschungszentrum ein 138 Schulmeister/Andert, Zwischenbericht zum Stand, den Problemen und der Perspektive des Einsatzes von PC am FBBM, März 1987, ABBAW Buch A 1153. 139 Zinke an Pasternak, „Beratung zur inhaltlichen Gestaltung der Zusammenarbeit zwischen dem VEB Robotron und dem ZIM”, 15.1.1985, ABBAW Buch A 1153. 140 Wie es Simon Donig pointiert fomuliert, war die „Aneignung westlicher Technologie durch die sozialistischen Staaten ... nur möglich, weil auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs grundlegende Vorstellungen wie Effizienz, Kosten-Nutzen-Relationen oder Rationalität geteilt wurden.“ Donig 2009, S. 100. 141 Gugerli/Kupper/Speich 2005, S. 348–351.
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Zentralrechner von höherer Stelle geradezu aufgedrängt wurde, der dem volkswirtschaftlichen Interesse an leistungsfähigen Rechnernetzen, aber nicht dem lokalen Anwenderprofil entsprach. Ohne diesen Eingriff von oben wäre es aber kaum zu einer Konzentration von Fachkräften und Techniken gekommen, die es erlaubte, die Computertechnik in verschiedene Forschungsprozesse einzubeziehen und eigenständige bioinformatische Ansätze zu entwickeln. Der Leiter des Bereiches Methodik und Theorie betrieb kein übermäßiges Eigenlob, wenn er formulierte, man habe bei der Einführung der EDV einen „gelinden Druck ausgeübt, und das hat die Biowissenschaften in Bezug auf die Nutzung mathematischer Möglichkeiten schneller weitergebracht, als wenn man es den persönlichen Ambitionen einzelner Mitarbeiter überlassen hätte.“142 In einer Zeit großer Maschinen war die Computerisierung das Feld der Planung, Zentralisierung und Rationalisierung par excellence. Werkstattzentrum Bau und Wartung von Geräten sind ein wesentlicher Bestandteil der Ökonomie naturwissenschaftlicher Institute. Auch in Einrichtungen, in denen technische Innovationen keine bestimmende Rolle spielen, ist es notwendig, Labortechniken beständig besonderen Versuchsanforderungen anzupassen oder Hilfsapparate zu konstruieren. Das galt um so mehr in den 1950er und 1960er Jahren, als die gebrauchsfertige Produktion von Forschungstechnik weit weniger entwickelt war als heutzutage, zumal in einem ökonomischen System, das aufgrund planmäßiger Konzentration auf Grundstoff- und Konsumindustrien eine nur sehr beschränkte Kapazität auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Gerätefertigung unterhielt. Zusammen mit der allgegenwärtigen Beschränkung von Devisenimporten ergab dies eine Situation, in der technische Selbstversorgung ein bestimmendes Moment der alltäglichen Arbeit war. In Buch zählte die Frage der Organisation und Ausrichtung des Gerätebaus zu den stetig wiederkehrenden und nie gelösten Streitfragen. Schon seit der Institutsgründung existierten abteilungseigene neben zentralen Werkstattgruppen; von Beginn an gab es Fürsprecher der Stärkung sowohl der einen wie der anderen Organisationsform. Die ursprüngliche Institutskonzeption sah den Aufbau einer eigenständigen Abteilung für Gerätebau unter dem ElektronenmikroskopiePionier Ernst Ruska vor. Die Hoffnungen, dass diese Abteilung eine Vorreiterrolle beim Wiederaufbau einer ostdeutschen Apparateindustrie einnehmen könnte, hatte außer einer kleinen Institutswerkstatt keine materielle Basis.143 1949 beschäftigte die „Abteilung“ gerade einen Ingenieur und 11 sonstige Kräfte, war also eher eine Werkstatt als ein Entwicklungsbüro.144 Nach dem baldigen Ausstieg Ruskas wur142 Beitrag Wangermann in „Miteinander das Leben erkennen“, Spektrum 5 (1974), Nr. 8, S. 5–8, S. 8. 143 Linser/Lohmann (an SMAD), Nov. 1947, Über den Aufbau der Forschungsstätte Buch für Medizin und Biologie, ABBAW AKL 42 sowie ABBAW NL Lohmann Nr. 193. 144 Aufstellung „Institut M. B.“, 8.3.1949, ABBAW AKL 42.
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de der Gerätebau noch bis 1954 als Abteilung geführt, war aber kaum in der Lage, eigenständige technische Entwicklungen durchzuführen.145 In den frühen 1950er Jahren beklagten sich die Abteilungsleiter regelmäßig über die schlechte Organisation der Werkstatt sowie die unklare Definition ihrer Kompetenzen. Ein immer wiederkehrendes Problem war, dass Arbeitsgruppen mit hohem technischen Bedarf die Werkstattkapazitäten langfristig für spezielle Entwicklungen in Beschlag nahmen.146 Produktfähige Geräteentwicklungen, die in den 1950er Jahren aus dem IMB hervorgingen, wurden überwiegend mit den Mitteln einzelner Abteilungen realisiert, vor allem der Biophysik und der Pharmakologie.147 Mitte der 1950er Jahre war sich die IMB-Führung einig, dass die technischen Kapazitäten dringend ausbaubedürftig waren. Die Frage des Umfanges und des Aufgabenbereichs war allerdings umstritten. Nach den Plänen der Akademieleitung sollte die Fertigung produktionsreifer Geräte zukünftig den Zentralwerkstätten der DAW vorbehalten sein. Vielen der Abteilungsleiter schien es aber notwendig, dass die Institutswerkstätten imstande waren, selbst kleine Geräteserien zu produzieren.148 Das galt erst recht nach den Importeinschränkungen und den Kampagnen zur „Störfreimachung“ der frühen 1960er Jahre. Im Investitionskonzept von 1963 wurde mit Verweis auf die geringe Industriekapazität für Spezialentwicklungen ein Ausbau der Werkstätten gefordert, der auch eine serienweise Herstellung von Eigenentwickungen für andere Institute ermöglichte.149 Dieses Vorhaben stieß bei den Planbehörden auf eindeutige Ablehnung.150 Das Direktorium hielt dennoch am Plan eines Werkstattneubaus – wenn auch in kleineren Dimensionen – fest, ohne sich aber festzulegen, ob aus der räumlichen Zusammenlegung der Abteilungswerkstätten auch eine organisatorische resultieren sollte. Vor allem Jung positionierte sich gegen eine zu starke Zentralisierung, stand in dieser Frage aber nicht allein.151 Auch die anderen Abteilungen mit größeren Werkstattkapazitäten – vor allem die Biophysik – stemmten sich wiederholt gegen Versuche, Kräfte zusammenzulegen oder Entwicklungsarbeiten zentral zu steuern.152 Das Reparatur- und Entwicklungspotential innerhalb der IMB blieb entsprechend der in den Anfangsjahren entstandenen Situation sehr unterschiedlich verteilt. Die Pharmakologie verfügte durch ihren ursprünglichen elektronenmikro145 Protokoll zur Besprechung 22.5.1950 über Planung 1951 und zum Fünfjahresplan 1951–55, ABBAW Buch A 64. 146 Bericht zur Abteilungsleiterbesprechung 20.5.1953, ABBAW Buch A 23. 147 Lohmann an Wittbrodt, 15.1.1955, ABBAW Buch A 999. 148 Bericht zur Abteilungsleiterbesprechung 9.11.1955, ABBAW Buch A 23. 149 Entwurf zur Vorbegutachtung der volkswirtschaftlichen Aufgabenstellung des FZ Buch, n. d. (1963), BAB DQ 109/205. 150 DAW Abt. Investitionen, „Hauptgesichtspunkte des Gutachtens des SBBI vom 2.3.1964“, ABBAW Buch A 18. 151 Protokoll zur Besprechung der Kommission zur Überarbeitung der Grundkonzeption am 23.4.1964, ABBAW Buch A 18. 152 Protokoll über die Ausprache mit der Kommission Forschung und Lehre und den Mitarbeitern der AB Physik und Angewandte Isotopenforschung am 21.1.1957, BAB DY 30/IV 2/ 9.04/422, Bl. 55–60.
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skopischen Arbeitsschwerpunkt über eine große Werkstatt, die 1962 14 technische Fachkräfte umfasste.153 Die noch stärker gerätetechnisch orientierte Biophysik beschäftigte 1966 17 Mitarbeiter allein in ihrer Elektronikabteilung.154 Andere Institute wie die experimentelle Krebsforschung, die Biochemie und die Zellphysiologie mussten mit einer sehr kleinen oder ganz ohne Werkstätten auskommen. Diese Ungleichgewichte führten zwangsläufig zu Forderungen der unterprivilegierten Institute. Einzelne Kapazitäten wie die Elektronikergruppe der Biophysik waren seit Beginn der 1960er Jahre Objekt von Zentralisierungswünschen.155 1966 gerieten die Biophysik und die Pharmakologie verstärkt unter Druck, ihre angeblich überdimensionierten Werkstätten planmäßig dem Bedarf des Gesamtinstitutes unterzuordnen.156 Dabei waren etwa 60% der gerätetechnischen Kapazitäten des IMB bereits in den zentralen Institutswerkstätten vereint. Nicht nur die Krebsklinik und die Isotopenforschung wickelten ihren großen Entwicklungs- und Reparaturbedarf fast vollständig durch diese ab, auch in der Biophysik reichten die eigenen Mittel nur für den kleineren Teil der anfallenden Arbeiten. Die Zentralwerkstätten waren dem stetig wachsenden Zustrom an konkurrierenden Aufträgen jedoch kaum gewachsen. Trotz aller wohlmeinenden Ausbaupläne standen sie im Wettbewerb um Arbeitsräume am unteren Ende der Nahrungskette und stagnierten infolgedessen auch in der Personalentwicklung. Zwischen 1955 und 1966 hatte sich der Personalbestand – bei einer Verdoppelung der Gesamtbelegschaft – kaum erweitert, war überaltert und schlecht entlohnt.157 Aus der Werkstatt selbst wurde aufgrund dieser Engpässe angeregt, die Nachentwicklung von Geräten sowie den Bau von Kleinserien grundsätzlich auszusetzen, um sich auf den Bau unikaler Geräte und Reparaturen konzentrieren zu können. Die Direktoren einigten sich darauf, Reparatur und Instandhaltung stets den Vorrang zu geben, lehnten aber mehrheitlich einen grundsätzlichen Verzicht auf komplexere Eigenentwicklungen ab.158 Das Probleme innerhalb des Forschungszentrums waren also weniger auf eine ungleiche Verteilung als auf einen generellen Mangel von Wartungs- und Entwicklungskapazitäten zurückzuführen. Der eigentliche Grund der Dauerkrise lag jedoch auf einer höheren Ebene. Wenn die Institute auf der Möglichkeit bestanden, eigene technische Ansätze bis zur Produktreife zu entwickeln, lag dies nicht zuletzt am Fehlen geeigneter Partner, an die man Teile solcher Arbeiten abgeben konnte. Innerhalb der Akademie existierte eine zentrale Gerätebauwerkstatt, die idealerweise komplexere Projekte übernehmen sollte. Dieses Modell funktionierte aber niemals reibungslos. Aufträge wurden aufgrund der hohen Nachfrage zumeist verzögert oder unvollkommen ausgeführt. Das zeigte sich Mitte der 1950er 153 154 155 156
Jung, Institutsdokument Institut für Pharmakologie, 16.10.1962, ABBAW FG 79. Lohs an Rompe, 10.8.1966, ABBAW FG 75. Protokoll zur Sitzung des Direktoriums 15.12.1961, ABBAW Buch A 15. Protokolle zu Sitzungen des Rates der Direktoren 19.7.1966 und 21.10.1966, ABBAW Buch A 20. 157 Sellner, Bericht über die Arbeit der Zentralwerkstätten (Vorlage zur Direktoriumssitzung 20.12.1966), ABBAW Buch A 20. 158 Protokoll zur Sitzung d. Rates der Direktoren 20.12.1966, ABBAW Buch A 20.
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Jahre erstmals beim Bau von Zubehör für elektronische Strahlungsmessgeräte, die für die Ausbildung von Fachleuten für die Anwendung radioaktiver Isotopen benötigt wurden. Die Geräte waren durch eine Gruppe der biophysikalischen Abteilung entworfen und auch – in Zusammenarbeit mit einem Berliner Kleinproduzenten – in einigen Mustern produziert worden. Der Bau einer größeren Serie sollte von den DAW-Werkstätten übernommen werden, scheiterte aber kurzfristig, weshalb die Produktion auf die bereits überlastete Institutswerkstatt zurückfiel.159 Fälle wie dieser waren keine Seltenheit. Die Versuche der DAW, Entwicklungen zur Produktreife und Kleinserien-Produktionen zu zentralisieren, scheiterten immer wieder an ihren eigenen Ansprüchen. 1956 wurde ein Berliner Betrieb als „Institut“ für Gerätebau, also als eigenständige Entwicklungsstelle, in die Akademie übernommen; 1963 wurde er bereits wieder unter der Bezeichnung „Akademiewerkstätten“ zu einer Serviceeinheit heruntergestuft, die primär die technische Umsetzung von Aufträgen aus den Instituten gewährleisten sollte. Die dabei auftretenden Engpässe wurden nicht allein durch die begrenzten Möglichkeiten der DAW verursacht. Gerade die Ausarbeitung forschungstechnischer Neuerungen zu gebrauchsfertigen Mustern wurde durch das Schwinden kleinindustrieller Fertigungskapazitäten erschwert; in den 1970er Jahren suchten die Akademiewerkstätten diesen Mangel durch den Aufbau eigener Produktionsstätten auszugleichen.160 Die in den 1960er Jahren forcierte Eingliederung kleinerer Produzenten in die VEBs hatte auch für Entwickler an der Basis direkte Konsequenzen. Das zeigt sich etwa am Beispiel eines Ende der 1950er Jahre in der Krebsklinik entwickelten Scintiscanners, einem Gerät für die Tumordiagnostik mittels intravenös verabreichter Radioisotopen. Musterbau und Produktion des Ende 1957 patentierten Geräts sollten von einem thüringischen Kleinunternehmen übernommen werden, was auch durch den führenden Spartenbetrieb VEB Vakutronik unterstützt wurde. Mitte 1959 musste der Betrieb seine Zusage zurückziehen, da aufgrund der bevorstehenden Übernahme in einen Staatsbetrieb die Produktionskapazitäten verplant waren. Das Fehlen eines voll funktionsfähigen Musters behinderte auch die Verhandlungen mit anderen Produzenten. Die Serienfertigung musste schließlich aufgegeben werden, als sich ein weiterer Kleinbetrieb wegen mangelnder Unterstützung durch Vakutronik zurückzog.161 Solche Erfahrungen führten dazu, dass die Institute bei der Durchführung von Eigenentwicklungen sehr vorsichtig wurden. Als die Radiodiagnostik-Spezialisten der Klinik einige Jahre später die neuesten Entwicklungen der Scintillationstechnik beobachteten, zielten sie lediglich darauf ab, solche Gerätekomponenten für die Produktion vorzuschlagen, die nach dem technischen Stand der DDR-Industrie machbar erschienen.162 Freilich musste man damit rechnen, dass die heimischen Technologieproduzenten auch dann nur langsam oder gar nicht mitzogen, wenn man ihnen im Westen erprobte Muster zur 159 Born an Wittbrodt, 28.1.1956, ABBAW AKL 51. 160 Langhoff 1992, S. 152. 161 Kaufmann, Werdegang der Weiterentwicklung des Scintiscanners aus Berlin-Buch, Okt. 1961, BAB DF 1/1537. 162 Gummel und Altenbrunn an Misgeld/MfG, 12.11.1965, ABBAW FG 70.
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„Nachentwicklung“ frei Haus lieferte. Für ökonomisch denkende Forschungsleiter war außerdem klar, dass Westimporte für die DDR-Volkswirtschaft unter dem Strich günstiger sein konnten als Eigenentwicklungen im Namen der Deviseneinsparung, die Ressourcen absorbierten und am Ende nur verspätet einsatzfähig waren. Im Zuge der Institutsreform konnte der langwierige Streit um die Organisation der Werkstattkapazitäten nur im Sinne einer weiteren Zentralisierung entschieden werden. 1970 wurden die zentralen Werkstätten als Abteilung Wissenschaftliche Geräte dem neuen ökonomisch-technischen Bereich zugeordnet und verblieben auch nach Gründung der Zentralinstitute im Verwaltungs- und Dienstleistungsbereich (VDE) des FZMM. Eine Auflösung der bestehenden Institutswerkstätten war damit jedoch nicht verbunden. Ähnlich wie das PCZ sollte auch die Geräteabteilung eine zentrale Funktion für das gesamte FZMM ausüben und dafür erheblich verstärkt werden. Die 41 bestehenden Stellen sollten innerhalb von 5 Jahren auf über 100 anwachsen; dabei sollte der Anteil an Hoch- und Fachschulkadern um ein Mehrfaches steigen.163 Wie in anderen zentralen Bereichen stand großzügigen Plänen reale Zersplitterung und Überlastung gegenüber. In den Instituten herrschte keinerlei Begeisterung für die organisatorische Abkopplung der Zentralwerkstätten, die schon zuvor als unflexibler Partner galten. Im ZIM gab es frühzeitig Bemühungen, die in einigen Bereichen bestehenden Entwicklungskapazitäten zu erweitern. Da die Stellenpläne ausgereizt waren, wurde erwogen, Arbeitsgruppen der Akademiewerkstätten nach Buch zu ziehen, die nun als Zentrum für Wissenschaftlichen Gerätebau (ZWG) wieder organisatorisch aufgewertet waren.164 Das ZWG war hierfür aber durch die vielfältigen Verpflichtungen gegenüber den Akademieinstituten viel zu überlastet. Die Überforderung zeigte sich auch deutlich in den direkten Kooperationen, die das ZIM mit ihm einging. Das ESR-Labor des Bucher Gerätezentrums verzichtete 1974 auf den Import eines neuen amerikanischen Spitzengerätes, da das ZWG die Produktion eines eigenen ESR-Spektrometers ankündigte. Die Eigenbau-erfahrenen Spezialisten ließen eigene Entwürfe für Zusatzgeräte in die Entwicklung einfließen und delegierten zeitweise Techniker zur Unterstützung ans ZWG.165 Trotz dieser direkten Kooperation verliefen die Fortschritte so schleppend, dass die ZIM-Gruppe Ende 1976 mit ihrer Geduld am Ende war.166 Als bald darauf eine angeblich marktreife Produktvariante vorgeführt wurde, bestätigten sich schon länger gehegte Befürchtungen. Das Gerät lieferte solide Ergebnisse bei physikalisch-chemischen Modelluntersuchungen, war aber für gelöste Proteine, auf die es in Buch angewendet werden sollte, praktisch nicht zu gebrauchen.167 Der Ansatz einer direkten Verknüpfung zwischen der national führenden Anwendergruppe und dem nominellen 163 Rechenschaftsbericht Abt. Wiss. Geräte, 15.12.1970; W.Rogala, Perspektivplan 1971–1975 der Abteilung Wiss. Geräte (Entwurf), 19.10.1970, beide ABBAW Buch A 721. 164 Protokoll z. Dienstbesprechung d. ZIM-Bereichsdirektoren 6.8.1973, ABBAW Buch A 728/1. 165 Wangermann und Jung an Langhoff/ZWG, 4.4.1975, ABBAW Buch A 1156. 166 Jung an Langhoff, 22.10.1976, ABBAW Buch A 1156; Langhoff an Jung 15.11.1976, ABBAW Buch A 1089. 167 Laßmann, Damerau und Ebert an Jung, 21.12.1976, ABBAW Buch A 1089.
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Zentrum für wissenschaftliche Spezialgeräte wurde somit zum schlimmsten anzunehmenden Fehlschlag. Die eigene Entwicklungsarbeit verpuffte wirkungslos, weil das ZWG auf eine Mehrzwecklösung für einen größeren Markt hingearbeitet hatte. Die Gruppe stand ohne hochwertige Importtechnik da und konnte ihre Arbeitsfähigkeit nur durch notdürftige Reparaturen an ihrem völlig überalterten Spektrometer erhalten. Den hauseigenen Zentralwerkstätten traute man bei komplexeren Aufgaben noch weniger über den Weg. Mitte der 1970er Jahre waren sich die gerätetechnischen Experten der ZIM-Bereiche einig, dass eine Verbesserung nur durch die Verstärkung der institutseigenen Kapazitäten oder idealerweise durch die völlige Abkehr vom Zentralisierungsprinzip zu erreichen war.168 Die Zentralwerkstätten sollten nach ihren Vorstellungen bestenfalls der Haltung von Werkzeugmaschinen dienen, die für die Bereichswerkstätten zu teuer waren, die Fachkräfte aber ganz auf Bereichs- und Abteilungsbasis arbeiten, um eine dauernde Ausrichtung auf spezifische Probleme zu erreichen. Die Verhältnisse änderten sich in den nächsten Jahren aber nicht wesentlich. Jung stellte 1978 in einer Entwicklungskonzeption für den Gerätebau fest, dass am FZMM das Verhältnis zwischen Forschern und technischem Entwicklungspersonal mit 20:1 nicht nur im internationalen Vergleich, sondern auch gegenüber anderen Akademiebereichen dramatisch unterentwickelt war. Nach dem Entwurf ging es vor allem darum, jene Bereiche zu stärken, die bislang über keine Werkstätten verfügten. Nach wie vor war das geringe mechanische und elektronische Potential fast ausschließlich in den biophysikalischen Bereichen konzentriert.169 Trotz scharfer Kritk an der unzureichenden Unterstützung durch VDE-Zentralwerkstätten übernahm die Vorlage nicht die radikale Forderung, die Entwicklungskapazitäten ganz auf die Institutsebene zu ziehen, sondern blieb dem hierarchischen Modell verpflichtet, dass Geräte von „zentraler“ Bedeutung sowie der Bau von Kleinserien Sache der VDE-Ingenieure waren und Apparate auf „internationalem“ Niveau, die das Potential für die Überführung in die Produktion hatten, vom ZWG übernommen wurden. In der Praxis zeigte sich jedoch, dass für Forschungsgruppen, die einen besonderen Bedarf an spezifischen technischen Weiterentwicklungen hatten, die dauernde Integration von entsprechend qualifizierten Fachkräften die produktivste Lösung war. Daraus konnten sich scharfe Konflikte ergeben. Ende der 1970er Jahre kämpften zwei enzymologische Arbeitsgruppen des ZIM um die Zuordnung von Mechanikern, mit denen sie bereits regelmäßig zusammenarbeiteten. Die etablierte Hämoprotein-Gruppe war für ihre Untersuchungen zur Enzymkinetik dringend auf die ständige Anpassung eigener Spezialapparate angewiesen. Ein jüngeres Projekt, das auf die Herstellung von Enzymtestsystemen ausgerichtet war, verfügte zwar über einen mächtigen industriellen Partner, war bei der Ausarbeitung der technischen Prinzipien aber weitgehend auf sich gestellt. Obwohl die Leitung dieser Gruppe deutlich das Vorrecht der Praxis gegenüber der Grundla168 Lucius, Inhaltsprotokoll der Diskussion zur Entwicklung des wissenschaftlichen Gerätebaus im ZIM am 17.6.1976, ABBAW Buch A 1089. 169 Jung, Konzeption für die Entwicklung des wissenschaftlichen Gerätebaus im ZIM, Juni 1978, ABBAW Buch A 1089.
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genforschung anmeldete, ordnete ZIM-Direktor Jung beiden Konfliktparteien jeweils Mitarbeiter der Zentralwerkstätten langfristig zu.170 Diese Lösung verdeutlichte, dass die dauerhafte Integration von Technikern eigentlich als wünschenswerte Organisationsform galt. Sie bot aber kein tragfähiges Modell, da die Zahl der verfügbaren Kräfte eine völlige Dezentralisierung nicht zuließ. Wie in der Geräte- und Computernutzung bestanden im Gerätebau Kapazitätsprobleme, die durch Umstrukturierungen nicht gelöst, sondern nur verlagert werden konnten. Dies galt auch, als bei einer Umstrukturierung des ZIM im Jahr 1982 durch Zusammenfassung technischer Gruppen aus den Bereichen Strahlenbiophysik und Molekularbiophysik der Bereich „Forschungstechnik“ gebildet wurde.171 Dass dabei zugleich der thematisch klar profilierte Bereich Strahlenbiophysik verschwand, war ein drastisches Zeichen für die in dieser geforderte Zeit Konzentration des Themenspektrums. Zugleich zeigte dieser Schritt, der gewissermaßen eine Rückkehr zur ursprünglichen Konzeption des IMB bedeutete, dass das Grundproblem der wissenschaftlichen Geräteentwicklung ungelöst blieb. Da die DDR-Industrie nur selten in der Lage war, Forscher bei technischen Problemen zu unterstützen oder selbst Impulse zu geben, wurde die Erarbeitung neuer Lösungen den Instituten selbst aufgebürdet. Versuchstierzentrum Während bei der Nutzung von Großgeräten stets die Autonomie von Forschergruppen auf dem Spiel stand, gab es scheinbar weniger Gründe, einer Zentralisierung der Haltung und Züchtung von Versuchstieren skeptisch gegenüberzustehen. Genetisch standardisierte Versuchstiere waren seit der Zwischenkriegszeit zu einer unabdingbaren Voraussetzung für die tierexperimentelle Forschung, insbesondere in der Krebsforschung, geworden. Der Genetiker Clarence C. Little entwickelte am Jackson Laboratory im US-Bundesstaat Maine Mausmodelle für die Tumorforschung, die sich international als experimenteller Standard durchsetzten. In den 1930er Jahren wurde das Jackson Laboratory zum ersten Massenproduzenten normierter Labortiere und setzte damit die Spezialisierung und Kommerzialisierung der Versuchstierproduktion in Gang, die eine völlig neuartige Form der Ökonomisierung der experimentellen Medizin und Biologie nach sich zog.172 In Deutschland wurde zur gleichen Zeit versucht, Großzuchtanstalten zur Versorgung der akademischen Forschung aufzubauen, ohne dass allerdings der hohe Ausstoß der amerikanischen Tierfabriken erreicht wurde. In den 1930er Jahren entstanden mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft zwei größere Zuchtprogramme, eine von dem Göttinger Genetiker Alfred Kühn initiier-
170 Rein und Ruckpaul an Jung 26.3.1980 und 29.4.1980, beide ABBAW Buch A 1089; Jung an Mohr, Ruckpaul, Rein, Lucius, Höhne und Pittelkow, 16.6.1980, ABBAW Buch A 1158. 171 Konzeption des Bereiches Forschungstechnik, n. d. (1982), ABBAW Buch A 1089. 172 Rader 2004, S. 97–134.
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te Kleintierzucht sowie die „Zentrale Zuchtanstalt für Tumortiere“ am Krebsinstitut des Berliner Virchow-Krankenhauses.173 Da das letztgenannte Projekt unter der Leitung des ersten Klinikchefs am IMB, Heinrich Cramer, aufgebaut worden war, ist es nicht überraschend, dass sich das Modell der „Tumorfarm“ auch in den Bucher Planungen niederschlug. 1951 forderte das IMB unter Bezugnahme auf die frühere Bedeutung dieser Anlage ein neues Tierhaus mit Züchtungskapazitäten für mindestens 10000 Mäuse, 3000 Ratten, 500 Meerschweinchen sowie Raum zur Unterbringung etwa der doppelten Anzahl von Tieren im Versuch. Das Vorhaben hatte, hinter dem NeutronenhausNeubau, höchste Priorität.174 Tatsächlich war die Züchtung und Unterbringung von Versuchstieren zu Beginn der 1950er Jahre ein ernsthaftes Problem. Graffis Krebsforschungsabteilung, die besonders stark auf Nagetiere angewiesen war, ließ ihre Inzuchttiere von einem Landwirt im Berliner Umland vermehren. Als sich der Züchter wegen eines Veruntreuungvorwurfs nach West-Berlin absetzte, veranlasste das Institut umgehend die Volkpolizei zur Bewachung des Betriebes, um einer möglichen Republikflucht der Labormäuse zuvorzukommen. Die Akademie nahm die verbliebenen Zuchten schließlich in ihre Obhut.175 Versuchstiere waren auf die Dauer ein zu wichtiges Gut, als dass man sie zweifelhaften Lieferanten hätte überlassen können. Verzichten konnte man auf den Kleinzüchtermarkt jedoch nicht. Die verfügbaren reingezüchteten Standardstämme – etwa die verbreiteten Mäuseund Rattenlinien der Berliner Biologin Agnes Bluhm –, die von einigen deutschen Instituten in Eigenregie weitergezüchtet wurden, reichten für den Bedarf nicht aus. Im IMB musste daher häufig auf Tiere zurückgegriffen werden, die aufgrund ihrer genetischen Uneinheitlichkeit eigentlich den geltenden Standards nicht mehr entsprachen und oft die Dauer größerer Versuchsreihen nicht überlebten.176 Dies änderte sich auch nicht völlig, nachdem 1955 das Warmtierhaus auf dem Bucher Campus eröffnet wurde, das den Abteilungen die Möglichkeit bot, Produktion, Haltung und Versuch in eigener Kontrolle durchzuführen. Eine koordinierte Tierzucht und –haltung war damit ebenfalls nicht erreicht. Selbst mit ähnlichen Stämmen arbeitende Gruppen hielten jeweils ihre eigenen Zuchtlinien. Der Krebsforscher Ferdinand Schmidt, der parallel mit Graffi zu onkogenen Viren forschte, beklagte 1960 öffentlich, dass durch solche Doppelarbeiten viel Zeit und Raum verschwendet wurde. Mit seinem Vorschlag, ein nationales Zuchtzentrum zu gründen, stand er nicht allein.177 Jung sprach sich für zwei regionale Zentren aus, wobei ihm als Standort für den Berliner Raum das Ernährungsinstitut in 173 Schwerin 2004, S. 136–177; Moser 2011, S. 158–160. 174 N.N. an DAW Abt. Aufbau, n. d. (vermtl. 1951); Lohmann an Naas, 11.9.1951, beide ABBAW AKL 44. 175 Friedrich an Maikowski, 22.4.1952, ABBAW AKL 47. 176 Graffi, Tätigkeitsbericht Abt. biol. Geschwulstforschung für 1948, Graffi 1.3.1949, NL Graffi 30, Katsen 3; A. Graffi, W. Hebekerl, Über chemische Frühveränderungen der Rattenleber nach Verfütterung cancerogener Azofarbstoffe, Archiv für Geschwulstforschung 5 (1953), S. 1–24 & 101–110, S. 3. 177 F. Schmidt, Probleme der Zucht und Haltung von Versuchstieren in der DDR, Das Deutsche Gesundheitswesen 15 (1960), S. 1486–1492.
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Potsdam-Rehbrücke vorschwebte, das bereits als Produzent der besten Kleintierzuchten in der DDR galt. Für Graffi war es hingegen keine Frage, dass eine Zuchtzentrale auch im zentralen biologisch-medizinischen Institut, also in Buch, liegen musste.178 Diese Ideen waren sowohl in Sinne des sozialistischen Zentralismus wie auch vom Blickpunkt tierexperimentell arbeitender Forscher aus naheliegend. Es sollte sich jedoch zeigen, dass es Ansätze zur Rationalisierung der Versuchstiernutzung nicht leicht hatten, da die betroffenen Forscher ungern die Kontrolle über ihre Stämme aufgaben. Schon auf lokaler Ebene war es schwer, eine Einigung über eine Vereinheitlichung der Tierhaltung zu erzielen. Als 1959 die Bezirksverwaltung von Berlin-Pankow angesichts vorliegender Tierhauspläne des IkvPT sowie des nahen staatlichen Instituts für Tuberkuloseforschung vorschlug, ein gemeinsames Tierhaus für alle Bucher Institute zu errichten, lehnte ein Mitarbeiter Graffis dies unter Hinweis auf die sehr unterschiedlichen Verwendungszwecke und die langen Wege zwischen den Instituten ab. Was für ihn Not tat, war eine räumliche Trennung von Haltung und Züchtung innerhalb des IMB, so lange die optimale Lösung einer zentralen staatliche Zucht nicht in Reichweite war. 179 Generell sollte das Ziel, eine Zentralisierung auf nationaler Ebene zu errichen, immer wieder auf die lokalen Bucher Pläne für einen Ausbau der Tierhauskapazitäten zurückwirken. Im Investitionskonzept von 1963 ging man davon aus, dass die Zuchten in absehbarer Zeit durch eine zentrale Anstalt übernommen würden, veranschlagte aber dennoch eine großzügige Haltungskapazität, die möglichst nach Anwendungsprofil (vor allem zur Trennung von virusinfizierten und nichtinfizierten Tieren) in Pavillions untergebracht werden sollten.180 Für die Gutachter hatte der für 45000 Mäuse, 20000 Ratten, 4000 Hamster sowie Kaninchen, Hühner, Meerschweinchen, Hunde, Katzen und Amphibien kalkulierte Raumbedarf eher den Umfang einer zentralen Tierfarm für den gesamten Berliner Raum.181 Die Direktoren reagierten auf diesen Einwand offensiv und bezogen, allen finanziellen Engpässen zum Trotz, zusätzlich eine Zuchtanlage für den Eigenbedarf des Forschungszentrums ein. Tatsächlich rechneten sie weder mit einer baldigen Realisierung einer zentralen Züchtungsanstalt noch mit der Möglichkeit, dass irgendeine andere Stelle in der DDR die von ihnen benötigten Spezialstämme werde liefern können.182 Ein Jahr später wurden die Anforderungen sogar noch heraufgeschraubt, indem ein Tierhaus mit Zuchtmöglichkeiten für pathogenfreie Tiere in den Plan gesetzt wurde.183 Keimfrei gehaltene Versuchstiere waren zu diesem 178 Protokoll zur Direktoriumssitzung 3.6.1960, ABBAW Buch A 15. 179 Aktennotiz Gröger/IMB, 26.3.1959, ABBAW Buch A 50. 180 Entwurf zur Vorbegutachtung der volkswirtschaftlichen Aufgabenstellung des FZ Buch, n.d. (1962), BAB DQ 109/205. 181 Gutachten zur Aufgabenstellung im medizinisch-biologischen Forschungszentrum Buch, 23.2.1964, ABBAW Buch A 18. 182 Besprechungsprotokoll Kommission zur Überarbeitung der Grundkonzeption, 23.4.1964, ABBAW Buch A 18. 183 Technisch-ökonomische Zielstellung für die Investitionsmaßnahmen bei der Rekonstruktion des medizinisch-biologischen Forschungszentrums Buch (Entwurf), 15.10.1965, ABBAW Buch A 64.
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Zeitpunkt international bereits eine Selbstverständlichkeit, in der DDR aber nur eine Wunschvorstellung. Ähnlich wie im Falle der Forschungstechnik erschien es erfolgversprechender, nicht auf die großangelegten Pläne übergeordneter Institutionen zu vertrauen, sondern selbst die Initiative zu ergreifen, um wenigstens ansatzweise mit der internationalen Entwicklung Schritt zu halten. Während die Planung des Tierhauses im Investitionsstau keine Aussicht auf Erfolg hatte, ging man 1964 zumindest daran, die Bestände der tierhaltenden Institute – RRK, experimentelle Krebsforschung, Pharmakologie und Kreislaufforschung – zu einer zentralen Abteilung zusammenzufassen.184 Der Gruppe unter der Leitung des Graffi-Mitarbeiters Karl-Heinz Horn wurde allerdings zunächst nur die Haltung der Versuchstiere übertragen, während die Züchtung spezieller Stämme bei den jeweiligen Arbeitsgruppen verblieb. Dieser Zustand veränderte sich in den folgenden Jahren nicht wesentlich. Da das Tierhaus von vielen Gruppen auch experimentell genutzt wurde, war nicht einmal eine Konzentration der Tierbestände möglich. Die Institute waren nicht bereit, die Kontrolle über ihre speziellen Tiermodelle abzugeben, weshalb Horn zunächst keine Planungshoheit über die Tierhaltungs- und Zuchtkapazitäten erringen konnte.185 Im Rahmen der Institutsreform wurde aber auch die Tierzuchtabteilung durch die allgemeine Zentralisierungswelle aufgewertet; 1969 wurde sie dem neuen wissenschaftlichtechnischen Bereich zugeordnet und erhielt die volle Verantwortung für die gesamte Versorgung. Das Vertrauen in diese Maßnahme war sehr begrenzt. Ein Jahr später beschwerten sich mehrere Bereichsleiter darüber, dass die Versuchstierzentrale das glatte Gegenteil ihres Zieles – Rationalisierung und Einsparung – bewirkt hatte. Die veranschlagten Kosten pro Tier lagen durchgehend weit über den von der Staatlichen Zentralstelle für Versuchstierzucht und -versorgung geforderten Preisen; teilweise kosteten die in Buch gezüchteten Mäuse, Ratten und Hamster gar das Doppelte des Einheitspreises.186 Horn reagierte einerseits mit dem Hinweis, dass sich unter seiner Leitung, trotz akuten Personal- und Raummangels, die hygienischen Verhältnisse beträchtlich verbessert hätten und die institutseigenen Zuchten erstmals frei von vielen gängigen Seuchen seien. Das Auftauchen von Infektionen war für ihn eindeutig darauf zurückzuführen, dass seine beschwerdeführenden Kollegen durch den Einkauf von ungeprüftem Kleinzüchtermaterial immer wieder neue Erreger einschleppten. Die Preisfrage beantwortete er mit einer bemerkenswerten Lektion in Sachen sozialistischer Ökonomie. Die Preisberechnungen mussten nach Verwaltungsgrundsätzen einen erheblichen Anteil an Gemeinkosten – also institutseigene Lohn- und Verbrauchskosten – einbeziehen. Die staatliche Vertriebsorganisation bot dagegen ihre überwiegend von Kleinzüchtern erworbenen Tiere zu einem festgelegten Handelspreis feil, der kaum die Selbstkosten der Produzenten deckte. Um die Verluste auszugleichen, verkaufte die Zentralstelle ihre Futtermittel zu einem weit überteuerten Preis, der 184 Beschluss 4/64 des Rates der Direktoren 24.3.1964, ABBAW Buch A 18. 185 K.-H. Horn, Vorschläge zur weiteren Entwicklung der Abteilung Versuchstierhaltung, 23.1.1969, ABBAW Buch A 801. 186 Gummel, Graffi, Bielka u. Pasternak an Oehme, 3.8.1970, ABBAW Buch A 721.
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sich wiederum in den Produktionskosten der Bucher Tierhaltung niederschlug.187 Es handelte sich um das für die DDR-Ökonomie charakteristische Problem, dass künstlich niedrig gehaltene Handelspreise auf die Produktion zurückschlugen. Die Ausgliederung der Versuchstierhaltung hatte das Problem nicht geschaffen, sondern nur sichtbar gemacht. Die Versuchsttierabteilung sollte auch weiterhin einen schweren Stand haben. Viele Forscher waren enttäuscht von der sinkenden Qualität der Stämme, die sie zwecks Rationalisierung abgegeben hatten. Der Immunbiologe Günter Pasternak bemängelte, dass nicht einmal die Anzahl der gelieferten Stämme für die geplanten Versuchsumfänge ausreichte. Die von ihm mühevoll gezüchteten Mäusestämme unterlagen nach seinem Eindruck außerdem keiner ausreichend sorgfältigen Kontrolle, welche die notwendige immunogenetische Einheitlichkeit der Tiere garantierte.188 Die Tierzuchtabteilung verfügte offensichtlich nicht über die Möglichkeiten, bei allen Stämmen die von den Nutzern geforderten Standards aufrecht zu erhalten. Wie andere Zentralisierungsexperimente blieb auch die Trennung der Tierhaltung vom Tierexperiment eine Umstrukturierung ohne wirkliche materielle Basis. Neubauten waren ebensowenig durchsetzbar wie für die Gerätelabors oder die Werkstätten. Das ehrgeizige Ziel, Voraussetzungen für die Züchtung keimfreier Stämme aufzubauen, war so nur in Ansätzen realisierbar.189 Selbst die während der Reformphase unternommenen Versuche, alle Zuchten im teilweise noch von Arbeitsgruppen der Teilinstitute belegten Warmtierhaus zu konzentrieren, führten nur dazu, dass verstreut liegende tierexperimentelle Laboratorien hin- und hergeschoben wurden. Zugleich zeichnete sich ab, dass der lokale Bedarf stark ansteigen würde; dafür sorgte insbesondere ein Programm zur Prüfung chemischer Substanzen auf karzinogene Wirkungen, das im Institut für Krebsforschung aufgenommen wurde.190 Ende der 1970er Jahre konnten die langgehegten Pläne für eine nationale Zentralstelle für Versuchstierzucht mit dem VEB Versuchstierproduktion im nahen Schönwalde realisiert werden. In Buch blieben dennoch die altbekannten Probleme bestehen. Die Kapazitäten des neuen Zuchtbetriebes reichten nicht aus, um alle in Buch benötigten Spezialstämme bereitzustellen.191 Auch gelang es dem Schönwalder VEB nicht, den Bau einer modernen Anlage für keimfreie Tiere durchzusetzen. Wieder blieb dem Forschungszentrum nur die Möglichkeit, auf einen Umbau des eigenen Tierhauses zu setzen, der international üblichen Hygienestandards entsprach.192 Auf dem Gebiet der Versuchstierversorgung zeigte sich 187 K.-H. Horn, Stellungnahme zum Problem der Tierhygiene in der Abt. Versuchstiere, n. d., und Stellungnahme zu den von der Abt. Versuchstiere bekanntgegebenen Verrechnungssätzen für Versuchstiere, 27.8.1970, beide ABBAW Buch A 721. 188 Pasternak an Wangermann, 1.2.1970, ABBAW Buch A 720. 189 K.-H. Horn, Schwerpunktaufgaben und Rationalisierungsmaßnahmen der Abt. Versuchstiere im Perspektivzeitraum 1971 bis 75, n. d. (1971), ABBAW Buch A 720. 190 Horn an Oehme, Wangermann, Wollenberger und Sellner, 9.11.1970, ABBAW Buch A 721. 191 Pasternak an Tanneberger, 20.3.1985, ABBAW Buch A 1091. 192 Pasternak/Tschirschwitz, Festlegungsprotokoll über eine Beratung zur Versuchstierproduktion und -haltung der VDE Buch am 20.6.1979, ABBAW Buch A 1085.
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also ein ähnliches Dilemma wie im Fall des Gerätebaus. In der kleinen DDR war es in ökonomischer Hinsicht sinnvoll, die Produktion wichtiger Forschungsmittel auf nationaler Ebene zu zentralisieren. Verlief der Aufbau dieser Kapazitäten schleppend – was aufgrund der hohen Investitionsanforderungen fast zwangsläufig eintrat – hatte dies nicht nur negative Rückwirkungen auf den Forschungsprozess, sondern auch auf alternative Lösungen auf lokaler Ebene. Die Möglichkeit, entsprechende Strukturverbesserungen in Buch durchzusetzen, wurde geringer, wenn ein übergeordnetes Projekt im Raum stand. Wurde eine zentrale Struktur etabliert, konnte sie kaum die Bedürfnisse des gesamten Forschungssystems abdecken. Dies galt in besonderem Maße für so hochspezifische, am „Weltstand“ orientierte Projekte, wie sie im Bucher Forschungszentrum verfolgt wurden. Diese Probleme lagen nicht einfach in der Unzulänglichkeit der beteiligten Institutionen und der getroffenen Maßnahmen begründet. Sie entsprachen dem Zustand des gesamten wissenschaftlich-technischen Umfeldes. Die Labortierproduktion etwa wurde in der westlichen Hemisphäre seit den 1950er Jahren zum Gegenstand einer ganze Industrie. In den USA existierten neben großen Zuchtfabriken auch Hunderte von Spezialbetrieben, die eine breite Palette an Haltungsutensilien oder Spezialfutter anboten.193 Es war undenkbar, in der kleinen DDR eine ähnlich komplexe Infrastruktur aufzubauen. Ähnliches galt für die Gebiete der Geräteentwicklung und der Gerätenutzung, die davon gehemmt wurden, dass weder in der DDR noch den sozialistischen Nachbarstaaten ausdifferenzierte Kapazitäten für den Bau von technischen Teilsystemen sowie Gebrauchsmustern oder für die Reparatur und Weiterentwicklung von Apparaten bestanden. Durch das Zentralisierungsmodell konnten die verfügbaren Ressourcen im besten Fall effektiver genutzt, das Grundproblem aber nicht beseitigt werden.
193 Institute of Laboratory Animal Resources, Laboratory Animals: A Directory of Sources of Laboratory Animals, Equipment, and Materials, NAS/NRC Publication 1199, Washington/DC 1964.
II.4. FORSCHUNGSZENTRUM IN DER DAUERKRISE DIE BUCHER INSTITUTE UND DER NIEDERGANG DER DDR IN DEN 1970ER UND 1980ER JAHREN Mit der am 3. Februar 1972 endgültig vollzogenen Auftrennung des Bucher Institutskomplexes in die Zentralinstitute für Molekularbiologie, Krebsforschung und Herz-Kreislauf-Regulationsforschung war scheinbar eine organisatorisch tragfähige Form für das seit Gründung des Forschungszentrums umstrittene Verhältnis zwischen experimenteller Forschung und medizinischer Praxis gefunden. Die grundlegenden Probleme des Forschungssystems, welche die Akademiereform lösen sollte, blieben jedoch bestehen: die Rückstände auf den besonders schnell expandierenden Gebieten der Biowissenschaften, die mangelnde Verflechtung zwischen Grundlagenforschung und pharmazeutischen, agrarischen oder medizinischen Anwendungsbereichen sowie die Abhängigkeit des Forschungsbetriebes von Westimporten. Der Versuch, diese Probleme auf dem Wege der Zentralisierung kontrollierbar zu machen, verlagerte ihre Auswirkungen stärker als zuvor in die Institute und machte sie damit zum Spiegel ökonomischer und politischer Widersprüche, die das gesamte gesellschaftliche System der DDR charakterisierten. In diesem Kapitel wird vor allem dargestellt, wie sich diese Prozesse im Zentralinstitut für Molekularbiologie niederschlugen, das einerseits den Anschluss an das wissenschaftliche Weltniveau verfolgen und andererseits die Nutzbarmachung von Forschungsergebnissen in der industriellen Produktion sowie im Gesundheitswesen absichern sollte. Die letztgenannte Zielsetzung entsprach dem weltweiten Trend, molekularbiologische und mikrobiologische Verfahren in neue Biotechnologien zu übersetzen. Unter den Bedingungen der zentralisierten Planwirtschaft mit ihrem begrenzten Innovationspotential ergab sich daraus jedoch eine Erwartungsüberlastung, die zu ständigen Versuchen der weiteren Konzentration und Umstrukturierung der verfügbaren Ressourcen führten. Plan und Realität Kurz nachdem die Bucher Zentralinstitute mit der Zielsetzung konstitutiert worden waren, als Leitinstitutionen großangelegter Forschungsprogramme zu fungieren, machten sich schon deutliche Diskrepanzen gegenüber den ambitionierten Planzielen bemerkbar. Am ZIM waren die Konsequenzen besonders einschneidend, da kurzfristig der schon teilweise realisierte Personalausbau zusammengestrichen wurde, der in den Plänen für das Großforschungsprogramm MOGEVUS festgeschrieben war. Zum Zeitpunkt der Neugründung waren 25 Planstellen mehr besetzt als bewilligt; der Lohnfonds war bei noch ausstehenden Zugängen bereits
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überzogen.1 Die Akademieleitung mahnte daher an, das vermeintlich zu hohe Lohnniveau zu überprüfen und eventuell ganze Gruppen einzusparen. Diese Situation betraf nicht nur Buch, sondern das gesamte MOGEVUS-Programm, dessen Umfang in den ersten beiden Laufjahren jeweils kräftig nach unten korrigiert werden musste.2 Die Finanz- und Personalprognosen genügten also schon im Ansatz nicht dem Anspruch einer volkswirtschaftlich fundierten Gesamtplanung. Diese Planungsfehler hatten für das ZIM langfristige Konsequenzen, da das Institut den zu hoch gesteckten Ansprüchen jahrelang hinterherlief. Die Personalprobleme standen dabei in unmittelbarem Zusammenhang mit den weiterhin ungelösten Raumproblemen. In den Entwicklungskonzeptionen der 1960er Jahre waren personelle und bauliche Entwicklung als Einheit behandelt worden. Die in diesem Zusammenhang entwickelten Pläne für einen Laborneubau bildeten nach der Bildung des FZMM noch immer den Kern der Strukturplanungen. Nachdem sich die Aufnahme der Vorarbeiten immer wieder verschob, wurde bald klar, dass die angestrebte Fertigstellung im Fünfjahresplan 1971–1975 völlig illusorisch war. Selbst unter der optimistischen Annahme, dass der Neubau zur Mitte des Jahrzehnts zur Verfügung stand, konnte der anstehende Ausbau nur durch den Bau von Provisorien bewältigt werden.3 Die vorherrschende räumliche Zersplitterung konnte damit kaum entzerrt und die angestrebte Bildung von „Zentraleinheiten“ weitgehend nur auf dem Papier realisiert werden. Neben dem Zuzug neuer Arbeitsgruppen belastete der Erwerb neuer Forschungstechnik die Kapazitäten. Ein Großgerät wie das 1970 angeschaffte Massenspektrometer erforderte nicht nur zusätzliche Baumaßnahmen, sondern setzte auch eine Kettenreaktion in Gang, die kleinere Labors oder Werkstatträume in die auf dem Gelände genutzten Baracken oder Altbauten spülte. Die Folge waren eine weitere Belastung der ohnehin labilen Strom- und Wasserversorgung und das Murren von Mitarbeitern, die ihren Arbeitsraum gegen einen neuen – oft schlechteren – tauschen mussten.4 Selbst die Errichtung eines Notbehelfs kam nur mit Verzögerung zustande. Anfang 1971 wurde beschlossen, die bedrängte Lage durch die Aufstellung eines zweistöckigen Fertigbaus zu entlasten. Obwohl eine kleine Serie solcher „Leichtbauhallen“ für Berliner Bauprojekte zur Verfügung stand, sollte der Behelfsblock erst 1974 nutzbar sein. Die Bewilligung der Bausumme von 1 Mio. Mark war dabei ein wesentlich geringeres Problem als der altbekannte Mangel an Montagekräften.5 Für eine Konzentration der neuen Gerätegruppen eignete sich der Bau 1 2 3 4 5
Kurzprotokoll zur Direktorenberatung beim Direktor des FZMM am 15.3.1972, ABBAW Buch A 902; Protokoll zur 1. Beratung mit den Direktoren der Bereiche des ZIM am 17.1.1972, ABBAW Buch A 728. Scheler, Bericht über die Ergebnisse der Arbeit im FV Mogevus im Jahre 1971, n.d., ABBAW Buch A 902. Konzeption für das Methodisch-diagnostische Zentrum in Berlin-Buch,13.5.1971, ABBAW Buch A 1096. Etzold, Maßnahmeplan zur Aufstellung des Massenspektrometers, 7.8.1970; Protokoll Werkstattversammlung ZW II, 16.9.1970, beide ABBAW Buch A 721. Protokoll zur Beratung der Führungsgruppe im FZ Buch, 18.1.1971; dito Beratung vom 1.2.1971, beide ABBAW Buch A 449.
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nicht; er trug aber durch die Unterbringung der FZMM-Leitung und eines Teils des neuen Bereichs Methodik und Theorie dazu bei, dass biophysikalische Gerätegruppen im Neutronenhaus zusammengelegt werden konnten.6 Bis zur Eröffnung des Neubaukomplexes im Jahre 1980 blieb der Fertigbau – neben dem für den neuen Zentralrechner errichteten Flachbau – die größte bauliche Erweiterung in Buch. Wichtig für den Betrieb des Forschungszentrums war auch die Entscheidung der Akademie, im Zuge der Umstrukturierungen ihr traditionsreiches Institut für vergleichende Pathologie aufzulösen. Das Institutsgebäude in BerlinFriedrichsfelde wurde zunächst von der aus Rostock zugezogenen zellgenetischen Abteilung um Erhard Geißler bezogen, die auch die dort verbliebenen ZellzuchtSpezialisten übernehmen wollte.7 Schließlich wurde der Komplex jedoch dem Bereich Wirkstoffforschung zugeschlagen, der neben physikochemischen Methodenzentrum personalstärksten Arbeitseinheit des ZIM. Die Bildung der Außenstelle brachte nicht nur Vorteile, da sie von der Bucher Infrastruktur getrennt war, was zu Problemen bei der Zuteilung von technischem Personal und Forschungstechnik führte.8 Für Bereichsleiter Peter Oehme war die in den Planungen verankerte Perspektive, nach Fertigstellung des ZIM-Neubaus nach Buch zurückzukehren, jedoch weder erstrebenswert noch realistisch. Der Rückzug hätte die geplante Verknüpfung mit den Forschungsabteilungen der VVB Pharmazeutische Industrie in Gefahr gebracht, die in Buch kaum umsetzbar gewesen wäre.9 Der Schritt zum selbstständigen Institut für Wirkstoffforschung, der 1976 vollzogen wurde, war durch die räumliche Trennung bereits vorgezeichnet. Trotz der Herauslösung des größten Teilbereichs reichten die Kapazitäten in Buch für die angestrebte „Zentralisierung“ der neuen Kräfte nicht aus. Viele der aus dem biochemischen Institut der HU Berlin übernommenen Molekulargenetiker arbeiteten bis zum Bezug des Neubaus 1980 weiter im Stadtzentrum. Die räumliche Enge führte zu einer ständigen Konkurrenzsituation, die sich immer wieder in Streitigkeiten um Laborkapazitäten entlud. Diese Probleme blieben auch in den 1980er Jahren virulent, da sich einige Arbeitsgruppen bei der Neuverteilung der Kapazitäten weiterhin benachteiligt sahen.10 Dabei war die Situation seit der Eröffnung des sechsgeschossigen Laborhochhauses keineswegs beengt. Den westdeutschen Experten, die das Institut 1991 evaluierten, erschien es viel zu weiträumig, obwohl nach ihren Einschätzungen die 600 Köpfe umfassende Belegschaft um ein Dreifaches größer war als die eines vergleichbaren westlichen Instituts.11 Der Grund hierfür lag in dem hohen Anteil an materieller Eigenversorgung sowie an Leistungen für externe Auftraggeber. Diese Belastungen führten auch dazu, dass viele Arbeitseinheiten nach den Neuzuteilungen um 1970 über Jahre 6
Dokumentation zur Grundsatzentscheidung für das Investitionsvorhaben „Gebäude für theoretisch-wissenschaftliche Arbeitsgruppen“, 17.9.1971, ABBAW Buch A 905. 7 Geißler 2010, S. 85–87. 8 Oehme an Jung, 21.3.1972; Oehme an Jung, 3.11.1972, beide ABBAW Buch A 817. 9 Oehme an Scheler, 3.11.1972; Oehme an Scheler, 27.11.1972, beide ABBAW Buch A 817. 10 Langen an ZIM-Leitung, 8.3.1989, ABBAW Buch A 1153. 11 Wissenschaftsrat, Stellungnahme zu den außeruniversitären Forschungseinrichtungen in der ehemaligen DDR im Bereich Biowissenschaften und Medizin, Düsseldorf 1991, S. 9–20.
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kaum Zuwächse verzeichneten, während die Anforderungen durch Kooperationsprojekte anstiegen. Dementsprechend verliefen die Konflikte um Personalzuteilungen ähnlich scharf wie jene um Raumkapazitäten. Den Mangel versuchte man teilweise durch Übernahme von Hochschulabsolventen mit befristeten Verträgen auszugleichen. Diese Praxis lief allerdings den Prinzipien einer auf berufliche Sicherheit ausgerichteten Kaderpolitik zuwider. Sie führte wiederholt zu Auseinandersetzungen zwischen ZIM-Direktor Jung und seinen Abteilungsleitern, die auf den zugesicherten Ausbau bestimmter Projektbereiche pochten oder die Unmöglichkeit der Planerfüllung beschworen, wenn sie für Spezialaufgaben eingearbeitete Absolventen wieder abgeben mussten. Jung musste dagegen für die Einhaltung der geltenden Stellenpläne sorgen und insistierte, dass Absolventen nicht beschäftigt wurden, um Lücken im Aufgabenprofil zu füllen.12 Jung war dabei nicht allein von der Sorge um den Werdegang des wissenschaftlichen Nachwuchses getrieben. Er musste auch auf die Einhaltung der Vorgabe achten, dass ein Großteil der ZIM-Absolventen in die Hochschulen oder in die Industrieforschung weiterwanderte. Da es für neue molekularbiologische Praktiken keine geeigneten Ausbildungsgänge an den Universitäten gab, war das Institut nicht nur einziger Anlaufpunkt für viele Forschungsaufgaben, sondern auch zentraler Träger der Kaderproduktion. Die Ziele wurden zunächst nicht annähernd erreicht; von den ersten 17 ZIM-AbsolventInnen ging niemand in die Industrie, obwohl versucht wurde, sie gezielt auf „Überführungsaufgaben“ anzusetzen.13 Das lag auch an der geringen Motivation der jungen Mitarbeiter, das Spitzeninstitut in der Hauptstadt gegen die akademische Provinz oder gar einen Chemiebetrieb einzutauschen.14 Wer einmal in der Akademie arbeitete, versuchte mit allen Mitteln, dort zu bleiben. Mit der steigenden Bedeutung von industriefinanzierten Projekten sollte sich das Problem der befristeten Arbeitsverhältnisse noch verschärfen. Die „auftraggebenden“ Betriebe beschränkten ihren Anteil an den Projekten oft darauf, befristetete Stellen in Buch zu finanzieren. Jung sah Ende der 1970er Jahre die Notwendigkeit, diese Entwicklung einzudämmen, da sie die Kapazitäten des Instituts überlastete und arbeitsrechtliche Behelfslösungen zur Regel zu machen drohte.15 Die heute in der Forschung vorherrschende Befristungspraxis wurde also schon unter den Bedingungen des Plansozialismus zu einem Problem, ohne dass sie jedoch zu einer nennenswerten Fluktuation führte. Die Kernbelegschaft der Abteilungen blieb größtenteils über Jahrzehnte konstant. Die neugewonnenen Nachwuchskader – oft im Institut selbst ausgebildet – hatten wenige angemessene Karriereoptionen außerhalb von Buch. Bis zum Ende der DDR gab es an den Hochschulen kaum eigenständige Lehrstühle für Molekularbiologie oder Biophysik. 12 Jung an Abel, 22.11.1976, ABBAW Buch A 1169/1; Jung an Langen, 8.9.1976, ABBAW Buch A 1155. 13 ZIM Kaderabteilung, Information über Probleme und den Erfüllungsstand bei der Vorbereitung des weiteren Einsatzes der jüngeren Wissenschaftler mit befristetem Arbeitsrechtsverhältnis (Absolventen), 16.9.1974, ABBAW Buch A 728/1. 14 Jung an SED-Kreisleitung 19.11.1976, ABBAW Buch A 1096. 15 Jung an Landmann/Arzneimittelwerk Dresden, 21.4.1977 ABBAW Buch A 1172.
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Struktur des ZIM, Stand 1972 Abteilungsparteiorganisation Betriebsgewerkschaftsleitung Abt. Kader u. Bildung Bereich Bioregulation S. Rosenthal Abteilungen Zellgenetik E. Geißler Zellregulation R. Lindigkeit Zellphysiologie H. Bielka Zellkinetik P. Langen
Zentralinstitut für Molekularbiologie Direktor F. Jung Stellv. P. Oehme Wiss. Sekretariat
Abt. Ökonomie
Bereich Molek. u. zellbiol. Wirkstoffforschung P. Oehme Abteilungen
Bereich
Moltest Zelltest Zellzüchtung
Strahlenbiochemie Strahlenbiologie Theoret. Biophysik Strahlenphysik
Selbststd. Abt. Biomembranen K. Repke
Selbststd. Abt. Biokatalyse P. Mohr
Strahlenbiophysik H. Abel Abteilungen
Fachkommissionen (Information, EDV, Rationalisierung, Geräte) Informationszentrum Bereich Methoden und Theorie G. Wangermann Abteilungen Physikochemisches Zentrum G. Etzold Ultrastruktur K. Zapf Theorie J. Reich Stofftransport E. Kahrig Automatisierung Rechenzentrum
Auf der Suche nach dem „höheren Verflechtungsniveau“ Das ZIM stand trotz dieser materiellen Beschränkungen vor der Aufgabe, die Modernisierung der Biowissenschaften in der DDR anzuführen. Wie im vorigen Kapitel beschrieben, erweiterte sich durch die Stärkung der biophysikalischen Methodengruppen das Arbeitsspektrum beträchtlich. Die bereits laufenden Projekte, die sich mit makromolekularen Strukturen – wie Ribosomen und Hämoproteinen – befassten, profitierten stark von dem verbesserten Angebot an Technologie und Expertise.16 Ein noch deutlicherer Einschnitt war die – von Rapoport und Jung lange geforderte – Angliederung neuer Gruppen mit molekulargenetischer Ausrichtung, die von der HU Berlin und der Universität Rostock übernommen wurden. Dass dieser Schritt als Setzung eines neuen Schwerpunkts verstanden wurde, verdeutlicht die Bildung des Großbereiches „Bioregulation“ unter Leitung der Rapoport-Schülerin Sinaida Rosenthal, dem neben den neuen Gruppen auch 16 Vgl. dazu Kap. III.3.3. und Kap. III.5.
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die Abteilungen des früheren Instituts für Zellphysiologie sowie die zuvor in der Biochemie beheimatete Arbeitsgruppe unter Peter Langen angehörten. Für die bereits etablierten Arbeitsgruppen veränderte sich durch die verordnete Bildung überinstitutioneller Themenkomplexe zwar der organisatorische Kontext ihrer Forschung, aber kaum die inhaltliche Konzeption. Die neue wissenschaftspolitische Linie, die Akademieforschung systematischer für die Interessen der Industrie nutzbar zu machen, wirkte sich je nach Abteilung sehr unterschiedlich aus. Das bereits erwähnte Moltest-Programm, das dem Entwicklungspotential der pharmazeutischen Industrie zugute kommen sollte, hatte bei den molekularbiologisch orientierten Gruppen überwiegend nur kurzfristige Anpassungsleistungen zur Folge. Zu größeren konzeptionellen Veränderungen führte die Verbindung der Hämoproteinforschung mit Fragen der technischen Enzymologie, ohne dass es zu einer völligen theoretischen und experimentellen Neuausrichtung kam.17 Es ist noch näher darauf einzugehen, dass erst gegen Ende der 1970er Jahre Vorgaben aus Industrie, Landwirtschaft und Gesundheitswesen deutlichere Spuren im Institutsprogramm hinterließen. Mit dem MOGEVUS-Programm war keine zwangsweise Unterordnung der Forschung unter ökonomisch definierte Interessen verbunden, sondern vielmehr das Ziel der Erschließung neuer Grundlagenbereiche, die freilich mittelfristig praxisrelevante Entwicklungen einleiten sollten. Dass dies nicht immer den Interessen der Forscher entsprach, zeigt der Fall der Membranbiologie. Während der offizielle Schwerpunkt dieser Abteilung auf der strukturellen Charakterisierung des membranständigen Rezeptorenzyms der Herzglykoside lag, sah Projektleiter Kurt Repke diese eher als methodologischen Nebenaspekt der Entwicklung neuer Wirkstoffe an. Den immer wieder an ihn herangetragenen Forderungen, die aufwändige Synthese und Testung neuer Herzglykosid-Derivate zugunsten einer Ausweitung der Membranenzymforschung fallen zu lassen, widersetzte er sich bis in die 1980er Jahre.18 Die Debatten um die Weiterentwicklung der Forschungskonzeption, die während der 1970er Jahre im ZIM geführt wurden, standen keineswegs völlig im Zeichen des Postulats möglichst effektiver Nutzenorientierung. Das Leitbild war vielmehr die Herausbildung eines kohärenten Gesamtprogramms. Die optimale Ausnutzung der gegebenen wissenschaftlichen Ressourcen sollte so die Setzung international konkurrenzfähiger Schwerpunktprojekte ermöglichen, ohne dass dabei die anwendungsorientierten Aufgaben vernachlässigt wurden. Diese Zielsetzung schlug sich in andauernden Konzeptdiskussionen nieder, welche die leitenden Wissenschaftler zusätzlich zu ihren sonstigen Planungsarbeiten belasteten. Das ZIM entwarf nach seiner Gründung zunächst eine „Entwicklungskonzeption“ mit langfristiger Perspektive bis 1990,19 der vor dem Übergang von MOGEVUS zum Nachfolgeprogramm „Biowissenschaften“ 1976 eine „Intensivierungskon-
17 Näheres hierzu Kap. III.6., v. a. S. 448–454. 18 Vgl. Kap. III.4.1., v. a. S. 388–393. 19 Wiss. Sekretariat ZIM, Entwicklungskonzeption des ZIM bis 1990 (Entwurf), 5.10.1973, ABBAW Buch A 728.
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zeption“ folgte.20 Ende der 1970er Jahre kreisten die Aktivitäten der Institutsbürokratie um die Neufassung einer „Führungskonzeption“, die 1980 verabschiedet wurde. Alle diese Planungsdokumente hatten einen monate-, teilweise jahrelangen Vorlauf, der zahllose Vorlagen auf Gruppen- und Bereichsebene, Klausurtagungen und Rücksprachen mit Akademieleitung und Parteigremien beinhaltete. Das Ziel einer weiteren Konzentration der personellen und materiellen Ressourcen musste angesichts der materiellen Engpässe zwangsläufig darauf hinauslaufen, Projektbereiche umzuorientieren oder gar aufzulösen. Während Jung verlautbarte, dass die Perspektivplanungen möglichst „demokratisch“ unter Einbeziehung der unteren Leitungsebene ablaufen sollten, suchte er die Diskussion von vornherein so zu beeinflussen, dass nur die Strahlenbiophysik als Dispositionsmasse für eine Umstrukturierung infrage kam.21 Bereichsleiter Helmut Abel hielt dem entgegen, dass seine Gruppen größtenteils an eukaryotischen In-vitro-Systemen zu molekulargenetischen Fragen forschten, was ganz der Linie der Institutskonzeption entsprach. Er musste aber feststellen, dass inhaltliche Argumente nur bedingt weiterhalfen. 1975 regte Jung an, einen Teil des Bereichs gemeinsam mit den Strahlentherapie des ZIK in einem unabhängigen Komplex auszugliedern, ohne bereits vorliegende Planungsunterlagen des Bereichs zu berücksichtigen. Angesichts seiner umfangreichen Vorarbeiten erschien es Abel wie ein Hohn, dass sein Direktor von einer „beginnenden“ Debatte über die Zukunft seines Bereichs sprach.22 Einige Jahre später wurde der Bereich erneut aufgefordert, sich stärker in die „Hauptaufgaben“ des ZIM zu „integrieren“, ohne dass seine Vorschläge zuvor ernsthaft diskutiert worden waren.23 Nicht alle Abteilungen waren einem so starken Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Jedoch machten alle leitenden WissenschaftlerInnen ihre Erfahrungen mit dem Hamsterrad der dauernden Neukonzeptionierung, das sie in beständiger und frustrierender Weise mit der Frage nach der Passförmigkeit ihrer Projekte konfrontierte. Die Auflösung der Strahlenbiophysik, die 1980 vollzogen wurde, ließ sich auch durch Anpassungsleistungen nicht abwenden. Ihr eigentlicher Grund lag in dem Bedürfnis, Kapazitäten für die hauseigene Geräteentwicklung freizumachen.24 In Jungs Argumentation dienten solche Opfer dem Ziel, dem ZIM eine international einzigartige Struktur zu verleihen. Für ihn kam es darauf an, die über einen längeren Zeitraum entwickelten Stärken des Instituts mit neuen Projekten zu verknüpfen. Die international anerkannten Arbeiten über tierische Ribosomen, die in den 1970er Jahren erschlossenen Ansätze zur Chromatinstruktur und die Fortschritte bei der Identifizierung von Vorstufen der Messenger-RNS bildeten seiner Ansicht nach ein „sehr schön kohärentes“ Themenspektrum, das sich idealerweise zu einem Schwerpunkt „Genexpression bei Eukaryoten“ zusammenfügte.25 Ende 20 Intensivierungskonzeption des (ZIM) für den Zeitraum 1976–1980, n.d., ABBAW Buch A 1032. 21 Jung an Rosenthal, 2.12.1974, ABBAW Buch A 1155. 22 Abel an Jung, 2.7.1975, ABBAW Buch A 1169/1. 23 Abel an Jung, 31.1.1978, ABBAW Buch A 1169/1. 24 Vgl. Kap. III.3.2. 25 Jung an S. Rosenthal, 22.10.1976, ABBAW Buch A 1155.
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der 1970er Jahre wurde dieses Thema zur bestimmenden „Komplexaufgabe“ erklärt und die Erreichung eines „höheren Verflechtungsniveaus“ zum organisatorischen Ideal.26 Nicht alle leitenden WissenschaftlerInnen sahen ein, dass Verflechtung größere Leistungsfähigkeit und Schwerpunktsetzung Profilierung bedeutete. Das gestand die ZIM-Leitung indirekt ein, als sie während der Ausarbeitung der „Führungskonzeption“ von 1978 meldete, man habe es – dank entschlossenen Einsatzes der lokalen SED-Organisation – geschafft, „zunehmend Meinungen zu korrigieren, welche die Festlegung einer komplexen wissenschaftlichen Aufgabe für das Gesamtkollektiv als eine Monothematik mit negativer Auswirkung auf die wissenschaftliche Leistung der Forschungskollektive sahen.“27 Zumindest bei dem eigensinnigen Biochemiker Repke hatte die Überzeugungsarbeit nicht gefruchtet. Ohne die Idee einer Gesamtkonzeption grundsätzlich zu attackieren, kritisierte er die vorgeschlagene Kernthematik als zu diffus formuliert und zu wenig auf die Entwicklungsperspektiven im internationalen Wettbewerb bezogen. Dabei spielte offensichtlich eine Rolle, dass sein eigener Themenbereich, die Membranbiologie, in der Konzeption nur am Rande vorkam. Das zeigte sich besonders in seiner süffisanten Bemerkung darüber, dass man über das Streben nach einem international repräsentativen Schwerpunkt „nicht von heute auf morgen oder gar komplett auf die Talsohle des Ringens um den Anschluß an das internationale Niveau geworfen werden“ dürfe. Seine eigene Gruppe zählte nach seinem Selbstverständnis zu den wenigen, die sich aus eigener Kraft eine Spitzenposition erarbeitet hatten.28 Auf die neuen molekulargenetischen Projekte, die sich noch in der Aufbauphase befanden und völlig abhängig vom Ideenimport waren, traf dies eindeutig nicht zu. Der Grundgedanke eines übergeordneten, langfristig planbaren Gesamtkonzepts war also höchst umstritten, wenn nicht unvereinbar mit dem Beharren von ForscherInnen auf Eigenständigkeit und Eigeninitiative. Wenn Jung als Maxime der Konzeptionsarbeit ausgab, dass sich „Strukturen von Aufgaben ableiten und nicht umgekehrt“, 29 war damit die Autonomie der bestehenden Forschungseinheiten bereits prinzipiell in Frage gestellt. Der Begriff der „Aufgabe“ selbst hatte einen autoritären Charakter. Die Formulierungen der Plandokumente, nach denen sich die Einzelprojekte hierarchisch aus „Hauptaufgaben“ oder „Komplexthemen“ „ableiteten“, stellten indessen die Realität auf den Kopf – die konkreten Inhalte bestimmten weiterhin die Forscher selbst. Der Raum für eine flexible Anpassung von Themen und Kooperationsverhältnissen war durch die Einbindung in durchgeplante Programme allerdings stark eingeschränkt. Dasselbe galt für die hierarchische Struktur des ZIM. Die Gliederung in Bereiche und untergeordnete Abteilungen sollte die Abgeschlossenheit der früheren Institutsautonomie überwinden, 26 Rosenthal u. a.; Beitrag zur Führungskonzeption des ZIM für die wissenschaftliche Aufgabenstellung „Regulation der Genexpression bei Eukaryonten“, 28.1.1978, ABBAW Buch A 1154. 27 N.N. (Leitung ZIM), Vorlage für die SED-Kreisleitung zur Verteidigung der Leistungen des ZIM 1977 am 2.2.1978, ABBAW Buch A 1096. 28 K. Repke, Stellungnahme zu dem am 1.2.1978 eingegangenen „Entwurf der Führungskonzeption des ZIM“, 6.2.1978, ABBAW Buch A 1172. 29 Jung an Rosenthal, 2.12.1974 ABBAW Buch A 1155.
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engte aber den Handlungsspielraum der Abteilungen für eine Selbstorganisation schon dadurch ein, dass die wesentlichen administrativen Vorgänge über die Bereichsleitung liefen. Probleme entstanden so insbesondere im Groß-Bereich Bioregulation, der den Zusammenhang zwischen den im weitesten Sinn molekulargenetisch arbeitenden Abteilungen gewährleisten sollte. Gegen Ende der 1970er Jahre wurde offensichtlich, dass diese Konstruktion für die selbstständigen und durchweg von profilierten Wissenschaftlern geleiteten Abteilungen nicht akzeptabel war. 1979 begründete Erhard Geißler die Forderung nach Verselbstständigung seiner Abteilung damit, dass seine organisatorische Zuordnung gespalten war – als Abteilungsleiter war er dem Bereich nachgeordnet, als Projektleiter im Rahmen des biowissenschaftlichen Schwerpunktprogramms jedoch einer anderen HFR zugeordnet als der Rest des Bereichs.30 Sein Kollege Heinz Bielka wurde wenig später etwas grundsätzlicher, indem er die Trennung von wissenschaftlicher (beim Abteilungsleiter) und ökonomischer Verantwortung (beim Bereichsleiter) als nicht funktionsfähig kritisierte. Zudem merkte er an, dass die bereichsinterne Kooperation für seine Abteilung praktisch keine Rolle spielte31 – ein Hinweis darauf, wie wenig das Modell der internen Vernetzung und Schwerpunktbildung in der Praxis griff. Die Unzufriedenheit mit dem Bereichsmodell war nicht auf die konzeptionell unabhängigen Abteilungen beschränkt. Der Leiter der Abteilung Elektronenmikroskopie suchte zur selben Zeit um Verselbstständigung nach und begründete dies dem mit Überhandnehmen administrativer Belastungen durch die Bereichsunterstellung.32 Ein Mitarbeiter der Institutsverwaltung mahnte, das Gesuch erst gar nicht zu diskutieren, „da eine Reihe anderer Abteilungen mit der gleichen Grundauffassung ... eine Herauslösung aus dem Verband eines Bereiches fordern können“ und das Beispiel zu einer „Invasion ähnlicher Forderungen“ führen würde.33 Indirekt brachte er damit zum Ausdruck, dass die Gruppen gute Gründe hatten, die bestehende Hierarchie abzulehnen. Völlig aufhalten ließen sich die Unabhängigkeitsbestrebungen nicht. 1980 wurden alle fünf Abteilungen des Bereiches Bioregulation verselbstständigt. Die Grundsätze der administrativen Hierarchie blieben dennoch unangetastet. Kontrolle und Spielräume Die Durchsetzung solcher organisatorischer Veränderungen vollzog sich nicht auf der Grundlage externer Vorgaben, sondern in einem internen Diskussionsprozess, dem durch die Knappheit der Mittel und wissenschaftspolitische Rahmenbedingungen indessen enge Grenzen gesetzt waren. Im Gegensatz zur Situation vor 1970 übte die Partei jedoch eine ständige politische Kontrolle aus, da die wissenschaftlichen Leiter bei allen wesentlichen Entscheidungen berichtspflichtig waren. 30 31 32 33
Geißler an Jung, 19.2.1979, ABBAW Buch A 1154; vgl. Geißler 2010, S. 110. Bielka an Jung, 6.8.1979, ABBAW Buch A 1158. Wangermann an Jung, 2.5.1979, ABBAW Buch A 1156. Notiz Rohland/ZIM-WS, 3.5.1979, ABBAW Buch A 1156.
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Auf Institutsebene war der Parteisekretär des FZMM bei Beratungen der „staatlichen Leiter“ stets präsent, in der AdW liefen alle externen wissenschaftlichen Kontakte über die „Abteilung für Auswertung und Kontrolle“, die als Außenposten der Staatssicherheit in der Akademieleitung alle Auslandsreisen überwachte und die ausländischen Gäste der Institute beobachtete.34 Unter den Mitarbeitern war man sich im Klaren, dass jeder Besuch aus westlichen Ländern von intensiver Observation durch die Stasi begleitet wurde.35 Die „Kontrolltätigkeit“ der Stasifunktionäre konnte durchaus zu Problemen in der Planung von Projekten führen, wenn ihnen diese politisch heikle Fragen zu berühren schienen.36 Einschneidende Rückwirkungen auf die Forschung hatte dies aber kaum. Ein Ausnahmefall, in dem die Staatssicherheit operativ in die wissenschaftliche Leitungstätigkeit des ZIM einzugreifen suchte, betraf ausgerechnet das treue SED-Mitglied Sinaida Rosenthal, die 1984 wegen angeblich mangelhafter Führung des Staatsauftrages Gentechnik denunziert wurde.37 Ein größeres Risiko bestand, wenn das Eingreifen von durch Erfolgsversprechungen geblendeten Parteifunktionären zu einer Überplanung führte. Ein Beispiel bietet ein Verbundprojekt zum Aufbau eines neuartigen Krebstestsystems (MEM-Test), das große Teile der Kapazität der DDROnkologie sowie des Gerätebaus im VEB Carl Zeiss beanspruchte, obwohl die beteiligten Immunologen des ZIK frühzeitig starke Zweifel an der Effizienz anmeldeten.38 Im biomedizinischen Bereich bildete es jedoch eine Ausnahme. Wo die SED wichtige Projekte anzutreiben versuchte, indem sie sie der „Parteiaufsicht“ unterstellte, schlug sich dies vor allem in regelmäßigen Rapporten der verantwortlichen Leiter nieder. Die Parteikontrolle über die „praxisorientierten“ biotechnologischen Projekte, die in den 1980er Jahre zum Schwerpunkt der ZIMForschung wurden, brachte ein von alarmistischen Fehlermeldungen charakterisiertes Berichtswesen hervor.39 Die dahinter stehenden materiellen Probleme ließen sich auch durch die Einschaltung der SED nicht beseitigen. Einen wirklich bestimmenden Einfluss auf die wissenschaftliche Arbeit übte die Staats- und Parteimacht vor allem durch die Regulierung der Auslandskontakte aus. Einerseits führte die extreme Beschränkung des Reiseverkehrs dazu, dass der direkte Austausch mit international führenden Kollegen auf ein Maß eingeschränkt wurde, das eine lebendige wissenschaftliche Kommunikation kaum erlaubte. Andererseits schuf die Trennlinie zwischen Reisekadern und Nichtreisekadern eine Zweiklassengesellschaft, die von den Wissenschaftlern als fundamentale Ungerechtigkeit des Systems wahrgenommen wurde.40 Das Problem der Auslandskontakte trug auch wesentlich dazu bei, dass sich Konflikte zwischen den 34 Bielka 2002, S. 115; Bielka/Hohlfeld 2002, S. 102. 35 Mdl. Information Wolfgang Schulze und Ernst Georg Krause, 6.3.2013. 36 Geißler 2010, S. 202. Zu den speziellen Problemen um Geißlers Projekt um die mögliche Karzinogenität eines sowjetischen Polioimpfstoffes vgl. auch diese Arbeit, S. 324f. 37 Buthmann 2000, S. 221. 38 Bielka/Hohlfeld 2002, S. 102–103; Meyer 2016, S. 228–244. 39 Weber/von Broen an Sekretariat der SED-Kreisleitung, Information zum Stand der Bearbeitung der Staatsaufträge Gentechnik Immuntechnik, 21.10.1982, ABBAW Buch A 1096. 40 Bielka/Hohlfeld 2002, S. 99; vgl. auch Hohlfeld 1997, S. 231.
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Leitungsebenen häuften. Unter dem gestrengen Blick der Parteikontrolleure verfolgte die Institutsleitung immer wieder Verstöße gegen geheiligte Prinzipien des geordneten Informationsflusses. Einen besonders schwerwiegenden Fehltritt bedeutete es, Einladungen und Anfragen westlicher Institute unabhängig vom vorgesehenen Dienstweg über die AdW-Leitung zu beantworten. Der Fall eines Forschers, der gegenüber einem amerikanischen Kollegen durchblicken ließ, dass sein seit langem unbeantworteter Besuchswunsch in den bürokratischen Mühlen der AdW festhing, war für den zuständigen Vizepräsidenten ein Sakrileg, das nicht allein eine Missbilligung, sondern auch eine „Auswertung“ innerhalb der Institutsleitung erforderte.41 Oft war der Anlass für solche Maßregelungen banaler. Ein Bereichsleiter kassierte 1975 ein Disziplinarverfahren, weil sich einer seiner Arbeitsgruppenleiter für eine Veranstaltung in der BRD gemeldet hatte, die nicht – wie von ihm gemeldet – von der akzeptablen Internationalen Atomenergiekommission, sondern von der feindlichen Europäischen Gemeinschaft finanziert wurde.42 Auch Reisen in die Bruderländer waren voller Fallstricke. Der nicht protokollgemäße Versuch, einen verlorenen Reisepass zurückzuerhalten, konnte für den Verlust des Reisekaderstatus ausreichen.43 Auch die Durchsetzung mehr oder weniger sinnfreier interner Regularien führte häufig dazu, dass Bereichs- und Abteilungsleiter zurechtgewiesen wurden. Übermäßiger Arbeitseifer, der Mitarbeiter außerhalb der genehmigten Arbeitszeiten ohne Spezialgenehmigung in die Labore führte, war suspekt.44 Die paranoide Weltsicht der Sicherheitsorgane beeinflusste den Arbeitsalltag auf verschiedene Weise. Seit den frühen 1960er Jahren war dieser Einfluss in Buch überdeutlich sichtbar, da das Gelände des Instituts für Isotopenforschung als sicherheitsrelevanter Bereich durch einen Zaun und eine Wachabteilung der Volkspolizei abgeriegelt war.45 Passierscheine und Zugangskontrollen waren zu dieser Zeit auch für den Rest des Institutsgeländes vorgesehen, wurden aber erst ab den 1970er Jahren verschärft durchgesetzt. Zu speziellen Anlässen wie dem 25-Jahres-Jubiläum der DDR erreichte die Sorge um Ordnung und Sicherheit ihren Höhepunkt. Westliche Besucher galten während der Feierlichkeiten als unerwünscht; die für staatsfeindliche Aktivitäten nutzbaren Kopiergeräte, deren Nutzung ohnehin streng reglementiert war, wurden für das freudige Ereignis ganz unter Verschluss gehalten.46 Während solche oft absurden Einschränkungen den Alltag durchzogen, war das Forschungszentrum – wie die Akademie insgesamt – in Fällen ernsthafter Konfrontation mit der Staatsmacht ein relativ geschützter Raum. Der Affront eines Mitarbeiters, der bei der Volkskammerwahl 1971 – zudem noch während eines Auslandsbesuchs – offen gegen die Einheitsliste stimmte, brachte dem Tabubrecher und seinem Abteilungsleiter gewaltigen Ärger ein, führte aber „wun41 42 43 44 45 46
Grote an Pasternak, 21.9.1984, ABBAW Buch A 1086. Jung an W. Malz, 23.9.1975; Jung an Mohr, 16.9.1975, beide ABBAW Buch A 1169/1. AdW-Kaderabteilung an Scheler, 1.10.1984, ABBAW Buch A 1086. Jung an Langen, 21.10.1977, ABBAW Buch A 1154. Vgl. hierzu auch diese Arbeit S. 366. Festlegungsprotokoll zur Dienstbesprechung des Direktors des ZIM am 16.9.1974, ABBAW Buch A 728/1.
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dersamerweise“ nur zu einem dauerhaften Entzug des Reisekaderstatus. 47 Ein anderer Abteilungsleiter, der eine Denunziation einer unzufriedenen sowjetischen Doktorandin überstand, sah dies rückblickend nicht als Wunder, sondern als charakteristisch für die „liberale Haltung“ in der ZIM-Leitung an.48 In der Tat kam es, obwohl einzelne Bucher Wissenschaftler unter Beobachtung der Stasi standen, kaum zu gravierenden politisch motivierten Eingriffen in die Karrieren von Wissenschaftlern. Der Fall von Jens Reich, der 1984 auf Betreiben der Stasi seine Stellung als Leiter der Abteilung mathematische Biologie am ZIM verlor, bildete eine Ausnahme. Eine Erklärung hierfür bietet Reichs bittere Einschätzung, dass Naturwissenschaftler in einer vom politischen Bekenntniszwang wenig berührten Nische lebten und selbst nach dem Aufkommen der ersten oppositionellen Gruppen politisch „stillhielten“.49 In den 1960er Jahren hatten die Bucher Institute aus ZK-Sicht noch als eine weitgehend autonome Zone gegolten, innerhalb derer nur wenige parteitreue Leiter wie Jung oder Lohs einen punktuellen Einfluss der SED sicherten. Die Akademiereform brachte neben dem bereits erprobten Leitungskader Werner Scheler auch jüngere Wissenschaftler wie Peter Oehme und den späteren FZMM-Direktor Günter Pasternak in Führungspositionen, die beide erst gegen Ende der 1960er Jahre der SED beigetreten waren. Der Aufbau der neuen Abteilung Bioregulation aus Kräften des biochemischen Instituts der HU Berlin bedeutete für das ZIM einen erheblichen Zuwachs an überzeugten SED-Kadern. Dennoch blieb Buch innerhalb der Akademie ein Forschungszentrum mit einem weit unterdurchschnittlichen Anteil an Parteimitgliedern. Zum Zeitpunkt der ZI-Neugründungen 1972 lag er bei 8% (AdW: 15%), bis 1979 stieg er auf 12% (AdW: 19%).50 Unter diesen Umständen war es kaum möglich, die Besetzung von Leitungspositionen mit der Art von verlässlichen Kadern zu erreichen, die sich die Parteigremien wünschten. Ähnlich wie in den 1960er Jahren verzeichneten Lageanalysen einen stetig wachsenden Einfluss der Partei – was angesichts der obligatorischen Beteiligung von SED-Leuten in Leitungsgremien auch kaum verwunderlich war – selbst in den noch immer bestehenden „Gruppen mit mangelhafter Vertretung der Partei“. Die Einheit von politischer und fachlicher Führung ließ dennoch weiterhin zu wünschen übrig. Die ZIM-Spitze vermisste etwa bei den fachlich und organisatorisch profiliertesten Wissenschaftlern des Bereiches Molekularbiophysik ein „genügendes gesellschaftliches Engagement“, das sie als Bereichsleiter qualifizierte, wollte ihnen aber eine Chance geben, „falls in ihrem Kollektiv durch Parteigruppe und Genossen in führenden Positionen die führende Rolle der Partei der Arbeiterklasse gewährleistet werden kann.“51 Letztlich fiel die Position an den Leiter einer neu „importierten“ Arbeitsgruppe. Die Führungspositionen am ZIM verblieben aber weitgehend innerhalb der Gruppe von Wissenschaftlern, die sich innerhalb des Institutes qualifiziert hatten. In den 1980er Jahren konnte mit Heinz 47 48 49 50 51
Geißler 2010, S. 88. Autobiographie F. Scheller in: Pasternak 2004, S. 225–229, S. 227. Reich 1992, S. 431. Reindl 1999, S. 343. Thesen zur Entwicklungskonzeption des ZIM, Mai 1976, ABBAW Buch A 1032.
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Bielka ein Nicht-Parteimitglied als stellvertretender und zeitweise als geschäftsführender Direktor amtieren. Die bürokratischen Routinen des SED-Staates prägten also den Forschungsalltag, ohne dass es zu einer „Durchherrschung“ im Sinne einer Kontrolle der wissenschaftlichen Arbeit selbst kam, geschweige denn einer „Ideologisierung“ ihrer Inhalte. Rainer Hohlfeld spricht in diesem Zusammenhang von dem „Dilemma“ der SED-Forschungspolitik, dass die Partei einerseits zur Erzielung ökonomisch nutzbarer Spitzenleistungen Raum für Autonomie und Kreativität gewähren musste, andererseits aber ihren absoluten Führungsanspruch durchsetzen wollte.52 Damit wird ein kategorischer Gegensatz zwischen autoritären Herrschaftszielen und einem inhärenten Freiheitsdrang der Wissenschaft als Hauptgrund dafür angenommen, dass sich die Forschung nicht voll entfalten konnte. Sicherlich wurde der Machtanspruch der SED von den Wissenschaftlern – in der Form bürokratischer Bevormundung – oft als Hemmnis ihrer Arbeit wahrgenommen. Die entscheidenden Schwierigkeiten des Forschungsalltags lassen sich aber kaum allein aus kleinlichen Reisevorschriften, verordneten politischen Schulungen oder der Kontrollwut misstrauischer SED-Funktionäre erklären. Sie entstanden vor allem aus den Widersprüchen, mit denen das gesamte wissenschaftlich-ökonomische System der DDR belastet war. Die WissenschaftlerInnen sollten kreativ und international konkurrenzfähig sein, zugleich aber praxisorientiert und im Bewusstsein der nationalen Ressourcenlage forschen; sie sollten ihre eigenen Forschungsmittel weiterentwickeln und zugleich die Produktionsmittel der „Praktiker“ verbessern. Und nicht zuletzt standen sie als Träger der „wissenschaftlich-technischen Revolution“ in der Pflicht, die Erzielung und Nutzung innovativer Ergebnisse selbst konzeptionell und planerisch vorzubereiten. Der „Weltstand“ als Leitbild und Heimsuchung In der Historiographie wird die DDR-Wissenschaftspolitik der 1970er Jahre überwiegend als isolationistisch und einseitig zweckorientiert beschrieben. Agnes Tandler konstatiert, dass man sich statt an internationalen Standards an einem „autarken Bezugsrahmen“ orientiert habe;53 Bielka und Hohlfeld sprechen von einer „selbstauferlegten, politisch bedingten Isolierung der DDR-Wissenschaften von westlichen Forschungsergebnissen.“54 In der Tat war die DDR hinsichtlich des Bezuges von Forschungsmitteln sowie des persönlichen Austausches weitgehend vom wissenschaftlichen Weltmarkt abgekoppelt. Die Gründe hierfür waren überwiegend ökonomischer Art. Der Anspruch einer technisch-wissenschaftlichen Autarkisierung, der zum Aufbau der Großforschungsvorhaben führte, war weniger die Folge einer „selbstgewählten“ Isolation als einer chronisch negativen Außenhandelsbilanz. Betrachtet man dagegen die Konzeptionierung der in den 1970er 52 Hohlfeld 1997, S. 228. 53 Tandler 2000. 54 Bielka/Hohlfeld 2000, S. 84.
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Jahren begonnenen biowissenschaftlichen Forschungsvorhaben, wird deutlich, wie vollständig Planer und Praktiker von westlichen Ansätzen und Zukunftsvorstellungen abhängig waren. Das zeigte sich auf dem Gebiet der molekularbiologischen Grundlagenforschung ebenso wie in der Auswahl anwendungsorientierter Projekte, die stets in der westlichen Industrie diskutierten Vorbildern folgten. Selbst der Glaube an einen großen industriellen Innovationssprung durch Anwendung biotechnologischer Produktionsprinzipien beruhte auf aus dem kapitalistischen Lager importierten Prognosen. Während man sich in internen Einschätzungen an den vorgegebenen Trends des „Weltstandes“ orientierte, bestand auf wissenschaftspolitischer Ebene durchaus der Anspruch, andere Wege zu gehen als das kapitalistische Forschungssystem. Für einen ausgesprochen politisch argumentierenden Leitungskader wie Jung war die Forschung unter den Bedingungen des Sozialismus zumindest potentiell überlegen, da sie sich systematisch auf gesellschaftlich vordringliche Probleme anstatt auf Entwicklungen mit maximalen Profiterwartungen ausrichten ließ. Dass die Realität der DDR-Biowissenschaften weitgehend vom Diktat des „Nachholbedarfs“ geprägt war, war ihm indessen voll bewusst. Er mokierte sich öffentlich darüber, dass viele Forschungsaktivitäten den Eindruck erweckten, „ein Gartenzwerg spiele Gärtner“.55 Das Planungssystem der 1970er Jahre sollte diese Tendenz noch verstärken, da sich seine neuen Zielstellungen an den Fortschritten westlicher Molekularbiologie orientierten, deren nachholender Aufbau vollständig vom Import westlicher Verfahren und Ideen abhängig war.56 Grundsätzlich zeichnete sich die Forschung am ZIM, aber auch an den beiden medizinischen Zentralinstituten, durch ein hohes Maß an thematischer Kontinuität aus. Dem entsprach eine mitunter über Jahrzehnte stabile Zusammensetzung von Arbeitsgruppen, die in vergleichbaren westlichen Zentren unvorstellbar gewesen wäre. Aus Sicht westlicher Experten war es gerade dieser Mangel an struktureller Flexibilität, der ein schnelles Aufgreifen neuer Ansätze erschwerte, wenn nicht verhinderte.57 Die Forschungspolitik der 1970er Jahre ignorierte dieses Problem keineswegs. Das zeigte sich in der beschriebenen Tendenz zur permanenten Umstrukturierung wie auch in den für die Reformphase charakteristischen Forderungen an die Arbeitsgruppen, die eigenen Praktiken auf andere Probleme anzuwenden oder völlig neue Themen aufzunehmen. Entsprechende Versuche mussten aber einen komplexen Planungsprozess durchlaufen. Inhaltlich zielten sie darauf ab, zukünftige neue Schwerpunkte der internationalen Forschung auszumachen, zugleich aber auf Felder zu setzen, auf denen die Gefahr, von westlicher Konkurrenz überrannt zu werden, nicht zu groß war. Ein Beispiel bietet der Aufbau eines neuen Projekts in der Abteilung Zellkinetik unter Peter Langen, die sich bereits eine international anerkannte Position auf dem Gebiet der DNS-Antimetaboliten erarbeitet hatte – Analoga von Bausteinen der Nukleinsäuresynthese, die großes 55 F. Jung, Über Möglichkeiten und Aufgaben einer sozialistischen Großforschung in der Medizin, Spektrum 15 (1969), S. 283–285. 56 Weiteres hierzu Kap. III.5. 57 Wissenschaftsrat 1991 (wie Fn. 11), S. 11.
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Potential als Krebsmedikamente zu haben schienen. Gegen Ende der 1960er Jahre begann sich Langen auch für körpereigene cancerostatische Substanzen zu interessieren.58 Grundlage dafür waren die Befunde britischer Forscher, die bei Versuchen zum Problem der Wundheilung auf gewebeeigene Faktoren gestoßen waren, die vermutlich hemmend auf die Mitose einwirkten, also möglicherweise als physiologischer Kontrollmechanismus des Tumorwachstums fungierten. Zu Beginn der 1970er Jahre wurden zahlreiche dieser Wachstumsinhibitoren – beziehungsweise entsprechende Wirkungen von Extrakten – in verschiedenen Geweben identifiziert. Unter dem Begriff „Chalone“ wurden diese Faktoren zu einem Modethema der Krebsforschung, das allerdings noch auf einen relativ kleinen Interessentenkreis beschränkt war.59 1972 bereitete Langen seinen Einstieg in das Feld vor, indem er mehrere führende Experten zu einem Symposium einlud. Prinzipiell passte das Objekt ideal zu den Innovationserwartungen der Forschungsplaner: Es schien einen völlig neuen Weg der Krebstherapie zu eröffnen und war noch so neuartig, dass die führenden westlichen Gruppen keinen uneinholbaren Vorsprung hatten. Allerdings war es experimentell noch keineswegs gesichert, ob die postulierten Substanzen tatsächlich eine therapeutisch nutzbare Wirkung auf das Tumorwachstum hatten. Es war außerdem noch unklar, auf der Grundlage welcher Gewebe und auf welchem Weg eine chemische Charakterisierung machbar war. Die Bucher Gruppe benötigte für einen erfolgversprechenden Ansatz neue Kräfte, speziell qualifizierte Proteinchemiker.60 Die ersten Schritte bestanden in der Entwicklung neuer Testsysteme, die eine genauere Einschätzung der Wirkungsstärke von Gewebeextrakten erlaubten. Auch wenn die erfahrensten Gruppen mit denselben Schwierigkeiten zu kämpfen hatten, drängte Langen auf einen schnellen Ausbau des Themas, bevor immer mehr Spitzeninstitute in das Gebiet einstiegen und die seltene Chance, „eine perspektivreiche Entwicklung von Anfang an mitzubestimmen“, vertan war.61 Der Weg dorthin führte über eine Problemberatung im Rahmen der zuständigen Hauptforschungsrichtung, an der auch ein Kreis interessierter Fachleute aus dem ZIK und dem ZIM sowie eine auf dem Gebiet aktive klinische Gruppe aus Halle teilnahmen.62 Der Prozess entsprach dem idealen Muster der kollektiven Projektplanung: zunächst mussten alle potentiell interessierten Experten überzeugt werden, dass das gewählte Objekt überhaupt eine Entwicklungsperspektive hatte – was keineswegs selbstverständlich war, da das Konzept der „Chalone“ nicht unumstritten war. In allen derartigen Projektdiskussionen spielte der Begriff der „Risikoabschätzung“ eine zentrale Rolle. Hatte ein Vorhaben eine Chance, international vorzeigbare oder praktische umsetzbare 58 Langen, Arbeitsprogramm der interinstitutionellen Arbeitsgemeinschaft „Cancerostatika“, Juni 1968, ABBAW Buch A 801. 59 Elgjo/Reichelt 2004. 60 Langen/Lindigkeit, Bericht zum Symposium „Active Control of Nucleic Acid Metabolism“, 16.6.1972, ABBAW Buch A 817. 61 Langen, Jahresendbericht der Abteilung Zellkinetik, 7.11.1973, ABBAW Buch A 751. 62 Protokoll zur Problemberatung „Chalone“ im Rahmen der langfristigen Forschungsplanung der HFR I und des ZIM, Juli 1974, ABBAW Buch A 1155.
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Ergebnisse zu erbringen, und waren die dafür nötigen personellen und technischen Möglichkeiten vorhanden? In einer relativ kleinen wissenschaftlichen Fachgemeinschaft war dieses Vorgehen realisierbar und auch notwendig, da die Verteilung der begrenzten Ressourcen alle Beteiligten mittelbar betraf. Es barg allerdings die Gefahr, dass Projekte aus kollegialem Neid verzögert wurden – oder dass umgekehrt die kollegiale Nähe konstruktive Kritik verhinderte. Einem begrenzten Expertenkreis konnte ferner die Kompetenz fehlen, die Perspektiven und Probleme spezieller Planangebote hinreichend zu überblicken. Führende Biowissenschaftler der AdW sahen es als grundlegendes Problem der gesamten DDRWissenschaft an, dass sich viele Expertengruppen ohne äußeres Korrektiv de facto selbst kontrollierten.63 Erfolgreiche Initiativen schloss das nicht aus. Das genannte Projekt war langfristig erfolgreich, obwohl die „Chalon“-Forschung insgesamt nie die erhoffte Bedeutung erlangte. In den 1980er Jahren wurde die Identifizierung eines aus Rindereuterzellen isolierten „Wachstumsinhibitors“ eines der international meistrezipierten Ergebnisse des ZIM.64 Bei der Auflösung des Instituts galt das Projekt als eines derjenigen, das die besten Zukunftsperspektiven hatte.65 Stellt man die Frage, welchen wissenschaftlichen „Erfolg“ die Bucher Gruppen erzielten und inwiefern sie dabei die gegebenen Voraussetzungen ausnutzen konnten, muss berücksichtigt werden, dass die Maßstäbe hierfür allein durch die internationale Anerkennung gesetzt wurden. Und diese erhielten Wissenschaftler aus der DDR in der Regel nur, wenn sie über gute Beziehungen zu einflussreichen westlichen Kollegen verfügten. Westkontakte waren den ersten beiden Jahrzehnten der Institutsgeschichte einfacher aufzubauen als in den 1970er und 1980er Jahren – nicht allein, weil die restriktive Reisepolitik den direkten Austausch drastisch einschränkte, sondern auch, weil zuvor noch alte internationale Netzwerke wirksam und die weltweiten Fachgemeinschaften noch übersichtlicher waren. Arnold Graffi konnte etwa durch seine frühen Erfolge auf dem noch wachsenden Gebiet der Krebsvirologie bis Ende der 1950er Jahre exzellente, zum Teil freundschaftliche Beziehungen zu Fachpionieren wie Ludwik Gross, Peyton Rous, Joseph W. Beard und Wilhelm Bernhard aufbauen. Graffi wurde für seine amerikanischen Kollegen zum ersten Anlaufpunkt in Europa, während sie ihm – vor allem durch eine von Beard 1961 organisierte USA-Rundreise – Türen auf der anderen Seite des Atlantiks öffneten.66 Während die Forscher seiner Generation Graffi als vielfältig gebildeten klassischen Gelehrten schätzten, fiel es ihm offensichtlich wesentlich schwerer, sich in der neuen, von harter Konkurrenz geprägten Welt der amerikanischen Biowissenschaften zurechtzufinden.67 Exzellent vernetzt war auch 63 Konzeption zur Entwicklung der Biochemie als Wissenschaftsdiszipln in der AdW der DDR, Version 8.1.1980, ABBAW Buch A 1032, S. 14. 64 F. D. Böhmer u. a., Identification of a polypeptide growth inhibitor from bovine mammary gland. Sequence homology to fatty acid- and retinoid-binding proteins, Journal of Biological Chemistry 262 (1987), S. 15137–15143. 65 Wissenschaftsrat 1991 (wie Fn. 11), S. 18. 66 J.W. Beard an A. Graffi, 12.12.1960; J.W. Beard an A. u. I. Graffi, 12.1.1962, ABBAW NL Graffi, Nr. 58. 67 P. Rous an G. Hirst, 25.8.1967, ABBAW NL Graffi, Nr. 62.
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Albert Wollenberger, der seine in der amerikanischen Emigration gewonnenen Kontakte und Erfahrungen weiter ausnutzte. Der ehemalige Harvard-Forscher richtete auch in Buch seine Forschung ganz auf die internationale Rezeption seiner Arbeiten aus und bemühte sich, die wichtigsten Ergebnisse seiner Gruppe auf den großen internationalen Fachtagungen zu präsentieren.68 Die meisten Bucher Gruppen bemühten sich, ihre wichtigsten Resultate in westlichen Zeitschriften zu platzieren. In DDR-Zeitschriften publizierte Arbeiten hatten kaum Chancen, international wahrgenommen zu werden. Veröffentlichungen in westlichen Publikationen wurden stets deutlich öfter zitiert; herausragende Werte erzielten aber fast durchweg solche Arbeiten, die gemeinsam mit westlichen Kooperationspartnern eingereicht wurden.69 Quantitativ feststellbares „Weltniveau“ ließ sich also nur mit Hilfe des kulturellen Kapitals von Forschern erreichen, die in den USA und Westeuropa anerkannt waren. Die geringe internationale Präsenz von DDR-Wissenschaftlern war allerdings nicht nur ein Kommunikationsproblem. Eine Gruppe von AdW-Biochemikern beklagte 1980 in einer schonungslosen Bestandsaufnahme, dass es kaum einmal gelang, durch die Entwicklung neuer, praktikabler Experimentaltechniken grenzüberschreitende Aufmerksamkeit zu erlangen. Aus ihrer Sicht markierte dieser Umstand den mangelhaften Zustand ihres Faches, den sie nicht allein auf das Fehlen von Forschungsmitteln, sondern vor allem auf zu geringe Freiräume für die Grundlagenforschung zurückführten.70 Möglichkeiten, mit einfachen Mitteln weltweit verbreitete Techniken zu etablieren, gab es durchaus. Die meistzitierte Arbeit aus dem IMB, in der Wollenbergers Gruppe 1959 eine Gefrierzangen-Technik zur ultraschnellen Einfrierung von Gewebestücken vorstellte, beruhte auf einem relativ einfachen Aufbau.71 In der Folgezeit fanden Methodenentwicklungen aus Buch kaum vergleichbare Verbreitung.72 68 Persönliche Information Ernst Georg Krause, 6.3.2013; vgl. auch Timmermann 2005. 69 Das galt vor allem für die ersten Genisolierungs- und Klonierungsarbeiten der ZIM-Gruppen (mit britischen und französischen Partnern) sowie die Virusstrukturarbeiten des ZIK (mit belgischen Partnern). Der herausragende „Erfolg“ auf den Zitationshitlisten der 1980er Jahre waren die von dem Biomathematiker Heinz Sklenar mit einem französischen Partner publizierten Modelle zur Interpretation irregulärer Nukleinsäure-Raumstrukturen, die für dieses Arbeitsgebiet erstaunliche Werte von bis zu über 850 Zitationen erreichten; R. Lavery, H. Sklenar, The definition of generalized helicoidal parameters and of axis curvature for irregular nucleic acids, Journal of Biomolecular Structure & Dynamics 6 (1988), S. 63–91. 70 Konzeption zur Entwicklung der Biochemie als Wissenschaftsdiszipln in der AdW der DDR, Version 8.1.1980, ABBAW Buch A 1032, S. 13. 71 A. Wollenberger, O. Ristau, G. Schoffa, Eine einfache Technik der extrem schnellen Abkühlung größerer Gewebestücke, Pflügers Archiv für die gesamte Physiologie der Menschen und Tiere 270 (1960), S. 399–412. 72 Eine gewisse Verbreitung fand eine von Wollenbergers Mitarbeiter Uwe Karsten anfangs der 1970er Jahre entwickelte Technik zur quantitativen Bestimmung von Nukleinsäuren in Zellpräparaten, die auf der (bereits zuvor bekannten) Färbewirkung der Chemikalie Ethidiumbromid basierte; vgl. U. Karsten, A. Wollenberger, Determination of DNA and RNA in homogenized cells and tissues by surface fluorometry, Analytical Biochemistry 46 (1972), S. 135–148. Die Arbeit hatte allerdings nicht annähernd die Breitenwirkung der zeitgleich von einer niederländischen Gruppen vorgestellten Methode, welche Ethidiumbromid in die gel-
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Der internationale Siegeszug molekularbiologischer Standardtechniken und Standardthemen machte es zunehmend schwierig, mit eigenständigen methodologischen und theoretischen Ansätzen wahrgenommen zu werden. Das zeigt der Fall des Chromatinprojekts, das zu den nach 1970 neu aufgenommenen Forschungslinien zählte. Im Rahmen von Arbeiten über die chromosomale RNS-Synthese gelang es der Arbeitsgruppe von Ruth Lindigkeit, reine Präparate von eukaryotischem Chromatin (also von Protein-Nukleinsäure-Komplexen, wie sie in Zellkernen vorliegen) herzustellen, die sich aus ihrer Sicht vorteilhaft von den bis dahin zugänglichen Chromatinen unterschieden.73 Sie erschienen daher als ein ideales Objekt, die noch ungelösten Probleme der In-vivo-Organisation der Erbmasse und der Produktion von mRNS (Transkription) im Zellkern zu lösen. Der Kontakt mit westlichen Experten zeigte, dass das spezielle Objekt und die daraus abgeleiteten Strukturmodelle durchaus Interesse weckten, aber auch mit sehr viel Skepsis behandelt wurden. Die Konformationsuntersuchungen mittels der international wenig verbreiteten Röntgenweitwinkelstreuung (RKWS) erhielten Anerkennung für ihr technisches Niveau, lagen aber außerhalb des anerkannten Methodenkanons. Das im ZIM verwendte Verfahren zur Bestimmung der Chromatinbestandteile mittels Ultrazentrifuge galt als veraltet, die so generierten Daten daher als unzuverlässig. Für Lindigkeit zeigten diese Erfahrungen deutlich, „daß man ohne die Anwendung der zum gegenwärtigen Zeitpunkt verbindlichen Standardmethoden neue Ergebnisse nicht verkaufen kann.“74 Neben der von westlichen Forschern favorisierten Hypothese zur Chromatinstruktur hatte das Bucher Modell damit kaum eine Chance, ernstgenommen zu werden. Es war das Dilemma aller grundlagenorientierten Forscher in der DDR, dass sie Leistungen für die sozialistische Gesellschaft erbringen sollten, sich aber an im Westen gesetzten Maßstäbe orientieren mussten. Insofern stellte ein parteitreuer ZIM-Mitarbeiter nur ein reales Kräfteverhältnis dar, wenn er gegenüber der Parteileitung das „ideologische Problem“ beklagte, selbst für viele Leitungskader zählten Publikationen in führenden westlichen Zeitschriften oder ein „anerkennendes Schulterklopfen“ bekannter westlicher Kollegen „mehr als alles Andere“.75 Die Anerkennung vom Klassenfeind war auch intern der entscheidende Ausweis „internationaler Spitzenleistungen“. Ein vergleichbar wichtiger Gradmesser waren nur die zählbaren Auswirkungen, die Resultate auf den Laborbetrieb, das Gesundheitswesen, die industrielle Produktion oder die Devisenerwirtschaftung hatten. Aber selbst dabei war es letztlich der Weltmarkt, der die Rahmenbedingungen für den Erfolg setzte.
elektrophoretische Nukleinsäurentrennung einführte; vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Ethidiumbromid, Stand 30.12.2016. 73 Der Vorteil bestand darin, dass die Präparate ohne enzymatische Verfahren gewonnen wurden, salzlöslich waren und keine genetisch inaktive Heterochromatine enthielten; vgl. Autobiographie R. Lindigkeit, in: L. Pasternak 2002 S. 31–36, S. 31 74 R. Lindigkeit, Beantwortung der 4 Fragen zu den Ergebnissen des FEBS-Kongresses für das Chromatin-Projekt, 3.10.1978, ABBAW Buch A 1154. 75 H.G. Müller an H. Klemm und W. Scheler (ZK der SED), 16.7.1984, ABBAW Buch A 1161.
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Struktur des ZIM 1980 Zentralinstitut für Molekularbiologie AbteilungsDirektor F. Jung parteiorganisation Stellv. W. Zschiesche Betriebsgewerkschaftsleitung KaderWiss. Abt. PatentRechenabteilung Sekretariat Ökonomie abteilung zentrum Bereich Bereich Bereich Angewandte Biomembranen Strahlenbiophysik Enzymologie K. Repke H. Abel P. Mohr Abteilungen Abteilungen Abteilungen
Fachkommissionen (Information, EDV, Rationalisierung, Geräte) Informationszentrum Bereich Molekularbiophysik E. Höhne Abteilungen
Energiekonvertierung K. Repke Informationserkennung R. Schön Informationsübertragung R. Grosse Bereich Analytik & Biotechnologie G. Etzold
RKSA E. Höhne RKWS G. Damaschun Ultrastruktur F. Vogel HF-Spektroskopie G. Laßmann Opt. Spektroskopie R. Wetzel Math. Biologie J. Reich Hydrodynamik J. Behlke Geräteentwicklung E. Lucius
Abteilungen Proteinchemie Biotechnologie
Strahlenbiochemie W. Malz Strahlenbiologie K. Regel Theoret. Biophysik K. Günther Phys.-exp. Technik H. Abel
Ang. Enzymologie P. Mohr Elektrochemie F. Scheller Analytik H. Müller Biokatalyse K. Ruckpaul
Selbststd. Abt. Virologie E. Geißler
Selbststd. Abt. Zellphysiologie H. Bielka
Selbststd. Abt. Zellregulation R. Lindigkeit Selbststd. Abt. Zelldifferenzierung S. Rosenthal
Selbststd. Abt. Zellkinetik P. Langen Selbststd. Abt. Immunologie W. Zschiesche
Wiss. Gerätebau
Forschung und Manufakturbetrieb Ökonomische Probleme wie der Mangel an Geräten, Forschungsmitteln und Arbeitskräften bestimmten auch in den 1970er und 1980er Jahren das Tempo, ja die gesamte Konzeptionierung der Forschung. Wie im letzten Kapitel ausgeführt, wurde im Verlauf der Akademiereform versucht, diesen Problemen durch eine Strategie der Zentralisierung zu begegnen, die teilweise notwendige Fortschritte erbrachte (Ausbau von Methodengruppen, Rechentechnik), teilweise aber wegen ausbleibender materieller Verbesserungen in unproduktiven organisatorischen
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Verschiebungen stecken blieb (Versuchstierhaltung, Gerätebau). Für das größte Alltagsproblem konnte indessen niemals eine grundsätzliche Lösung realisiert werden: die lückenhafte Versorgung mit Laborchemikalien und biologischen Spezialpräparaten. Dieses Problem begleitete die Forscher in Buch – und anderswo in der DDR – seit den Anfangstagen, ohne dass auf der Ebene der industriellen Produktion und der Wissenschaftsorganisation entscheidende Verbesserungen erreicht worden wären. An Lösungsvorschlägen mangelte es nicht. Allen Beteiligten war klar, dass die Wurzel des Übels im geringen Interesse der eigenen Chemieindustrie an der Produktion kleiner Mengen von Spezialpräparaten lag, welche wiederum zu hoher Importabhängigkeit und den damit verbundenen Lieferungsverzögerungen und Devisenproblemen führten. Der notgedrungen beschrittene Weg einer Selbstversorgung durch Eigenproduktion konnte die bestehenden Lücken nicht schließen, band aber zahlreiche Arbeitskräfte. Sachverständige des Forschungsrates gingen 1967 davon aus, dass in pharmazeutischen Forschungslaboratorien bis zu 50% der Laboranten damit beschäftigt waren, auf dem Weltmarkt erhältliche Ausgangs- und Zwischenprodukte herzustellen.76 Einige Forscher glaubten, das Problem sei durch bessere Koordinierung auf der Vertriebsebene zu entschärfen.77 Da viele Institute unter verspäteten Lieferungen litten, andererseits aber überschüssige Bestände an Laborchemikalien horteten, erschien auch ein (eventuell von Akademie gehaltenes) Zentrallager als gangbarer Weg. Der Mangel betraf jedoch nicht allein gängige Standardpräparate, sondern auch nur von wenigen Speziallabors benötigte Biochemikalien sowie neu entwickelte Wirkstoffe, die für eine pharmazeutische oder labortechnische Nutzung in Frage kamen. Gerade die biologische Testung solcher Substanzen setzte die Herstellung größerer Mengen voraus, die von Forschungslaboratorien nicht mehr getragen werden konnte. Die Übernahme selbst kleinerer und wenig anspruchsvoller Aufträge durch Pharma- und Chemiebetriebe scheiterte jedoch immer wieder, da diese erst bei größeren Produktionsumfängen kooperationsbereit waren. Wie ein Mitarbeiter der Bucher Krebsklinik Mitte der 1960er Jahre resigniert feststellte, war es formal unmöglich, neue Substanzen in die klinische Erprobung zu bringen, da die Betriebe vor der Kleinproduktion einen fertigen Produktionsplan sowie eine Bedarfsermittlung forderten – welche allerdings eine klinische Erprobung voraussetzte.78 Ähnlich stand es um Zwischenprodukte und Hilfsmittel für die Synthese von Substanzen, die Potential für die industrielle Anwendung erkennen ließen. Die wiederholt an die wissenschaftspolitischen Leitungsgremien gerichteten Forderungen, die pharmazeutischen Betriebe zur Freihaltung entsprechender Kapazitäten aufzufordern, sollten auch in den folgenden Jahrzehnten fruchtlos bleiben.79 Selbst in den produktorientierten Projekten der 1970er Jahre konnten die Forscher zumeist nicht auf die Rückendeckung ihrer industriellen Vertragspartner zählen. Bei ihren Forschungen über die Bindung 76 Forschungsrat, Perspektivprogramm mit Maßnahmen zur Vergrößerung der Kapazität der Arzneimittelforschung, Vorlage zur Sitzung am 14.12.1967, BAB DF 4/20311. 77 R. Baumann, Jahresbericht IkvPT 1963, 13.1.1964, ABBAW FG 62. 78 E. Magdon an Scholze (Parteisekretär des FZ Buch), 21.1.1964, BAB DY 30/IV A2/9.04/362. 79 F. Jung an H. Klare, 23.11.1966 (auszugsweise Abschrift), ABBAW FG 79.
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technisch nutzbarer Enzyme an polymere Trägersubstanzen mussten sich die Akademieexperten mit Substanzen begnügen, die bereits im Sortiment der Chemiebetriebe der DDR (oder benachbarter sozialistischer Länder) vorhanden waren. Die spezielle Anfertigung neuer Materialien scheiterte daran, dass die Betriebe kein Interesse an Produkten hatten, deren Umsatzwert unterhalb von 1 Mio. Mark lag.80 Für die Lösung solcher Probleme hatte die Akademie in den 1960er Jahren das Konzept der „Technika“ entwickelt, labornahen Produktionseinheiten, die sowohl den speziellen Forschungsbedarf eines Instituts – oder mehrerer Institute – sichern als auch die Entwicklung „überführungsfähiger“ Forschungsobjekte umsetzen sollten.81 In Buch existierten Ende der 1960er Jahre Pläne für ein Technikum, das insbesondere für die letztere Aufgabe vorgesehen war. Eine Realisierung stand jedoch in weiter Ferne, weil sie erst nach Fertigstellung des ZIM-Neubaus durchsetzbar war.82 Aufgrund der Zunahme anwendungsorientierter Projekte und der anhaltenden Innovationsschwäche der Pharmaindustrie erhielt das Projekt in den 1970er Jahren neue Dringlichkeit. Der Bau von Technika im Bereich der akademischen Biowissenschaften – die bis dahin kaum von dieser Organisationsform profitiert hatten – zählte zu den wesentlichen Zielsetzungen der MOGEVUSPlaner.83 Ende der 1970er Jahre wurde der Aufbau eines „Biotechnikums“ in Buch beschlossen, die 1980 mit der Gründung des Bereichs „Analytik und Biotechnologie“ zumindest organisatorisch vollzogen wurde.84 Ebenso wie die parallele Gründung des Bereiches Forschungstechnik zeigt diese Entwicklung, wie sehr sich der Zwang zur Selbstversorgung in der Struktur der Forschung selbst niederschlug. Ein Zuwachs an Personal und Produktionskapazitäten, der dem Aufbau eines biochemischen Kleinbetriebes ermöglicht hätte, blieb aus. Das „Biotechnikum“ war eine Zusammenfassung chemischer Gruppen, die bereits an der Präparation und Synthese von Spezialprodukten arbeiteten. Dazu gehörte etwa die Präparationsgruppe der Abteilung Zellkinetik, die über einschlägige Erfahrungen in der Synthese von Nukleosiden verfügte. Besondere Bedeutung kam ihren Fähigkeiten bei der Produktion radioaktiv markierter Nukleoside zu, die zu den wichtigsten Werkzeugen molekulargenetischer Forschung zählten. Die Bucher Außenstelle des Leipziger Zentralinstituts für angewandte Radioaktivität und seine Handelorganisation Isocommerz, die für die Versorgung mit radioaktiven Präparaten zuständig waren, konnten den inländischen Bedarf an solchen speziellen Verbindungen nicht decken. Die radiochemische Produktionsgruppe des „Technikums“ hatte auf diesem Gebiet in der DDR eine absolute Ausnahmestellung. Ihr Syntheseverfahren für das viel verwendete wasserstoffmarkierte Thymidin wurde serienmäßig im Kernforschungszentrum Rossendorf 80 Zum Erfüllungsstand des Maßnahmeplanes der Jahresabschlußverteidigung 1974 des FV Mogevus, 10.1.1976, ABBAW Buch A 766. 81 Für einen Überblick vgl. Scheler 2000, S. 227–230. 82 Protokoll zur Sitzung des Rates der Direktoren am 14.2.1967, ABBAW Buch A 21. 83 Ergebnisse des Jahres 1972 des (FV Mogevus) sowie Einschätzung des gegenwärtigen Standes der Entwicklung und der weiteren Aufgaben, 18.1.1973, ABBAW Buch A 901. 84 Führungskonzeption des ZIM, 15.4.1978, ABBAW Buch A 1032.
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umgesetzt und sorgte für Exporterträge. Prinzipiell wäre es möglich gewesen, die Produktpalette um eine Reihe verwandter Verbindungen zu erweitern. Im Sinne einer optimalen Ausnutzung der Laborkapazitäten erschien es jedoch nötig, sich auf einige Spitzenprodukte zu konzentrieren.85 Es war weder möglich noch ökonomisch sinnvoll, das gesamte Spektrum der von inländischen Molekularbiologen benötigten Spezialpräparate „auf Bestellung“ zu bedienen, um eine komplette „Importablösung“ zu erreichen. Rationale Produktion erforderte die Beschränkung auf wenige besonders effiziente Verfahren, möglichst solche, die einen – wenn noch so kleinen – Devisengewinn versprachen. Die Abdeckung der gesamten, ja nur von großen Teilen der Produktpalette molekularbiologischer Forschung war völlig illusorisch. Die schnellen Fortschritte auf diesem Gebiet basierten auf molekularen Werkzeugen, die in den westlichen Ländern innerhalb kürzester Zeit marktfähig gemacht wurden.86 Diese neue Klasse anspruchsvoller biochemischer Arbeitsmittel – vor allem natürliche Enzyme und Nukleinsäurebausteine – verschärften die materiellen Anforderungen an die biowissenschaftliche Spitzenforschung und damit auch die Abhängigkeit der DDR-Laboratorien von westlichen Importen. Seit Beginn der 1970er Jahre hatte man auf RGW-Ebene versucht, die Versorgung mit für den Einstieg in gentechnologische Arbeiten unerlässlichen Enzymen durch internationale Kooperationen abzusichern. Der Effekt war gering, weshalb in Buch und anderen Akademieinstituten spezielle Präparationsgruppen eingerichtet wurden.87 Diese Ansätze einer Arbeitsteilung auf Akademieebene linderten bis Ende der 1970er Jahre die Importabhängigkeit kaum. Ein besonderes Problem war der schwache Entwicklungsstand der Nukleinsäuresynthese; speziell die Herstellung kurzer Sequenzen (Oligonukleotide), die für die Isolierung von Genabschnitten benötigt wurden, stand weit oben auf der Wunschliste der Gentechnologie-Gruppen.88 Die Experten des Biotechnikums machten deutlich, dass eine Verbesserung nicht allein von der Beherrschung der Synthesepraktiken abhing. Da es in der DDR keine Bezugsquelle für Nukleinsäure-Rohmaterial gab, hätte man zudem für eine Eigenversorgung zunächst Lieferanten in der heimischen Lebensmittelindustrie gewinnen und dann den Prozess der Verarbeitung und Extraktion selbst organisieren müssen.89 Der molekularbiologischen und biochemischen Forschung in der DDR fehlten also nicht allein Synthesekapazitäten, sondern selbst die darunter liegende produktionstechnische Basis. Die Konsequenzen zeigt auch ein weiterer Fall aus dem Bereich der zellbiologischen Forschungspraktiken, die in den 1970er Jahren am 85 D. Bärwolff, Konzeption für die AG Radiochemische Synthese, 5.5.1980, ABBAW Buch A 1032. 86 Allerdings war der Bereich der biochemischen Spezialprodukte in den 1970er Jahren in Westeuropa noch recht schwach entwickelt. Als Lieferant für Enzympräparate hatte das Boehringer-Mannheim-Zweigwerk Biochemica in Tutzing damals eine internationale Ausnahmestellung, vgl. Fischer 1991, S. 304. 87 Vgl. auch diese Arbeit S. 428f. 88 Konzeption zur Weiterentwicklung des Methoden-Komplexes „Genetic Engeneering“, 21.2.1979, ABBAW Buch A 1032. 89 Vorlage D. Bärwolff, ohne Titel, 15.11.1979, ABBAW Buch A 1032.
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ZIM bedeutender wurden. Die Fortschritte in der Züchtung von normierten Zellkulturen, die die schnelle Entwicklung der virologischen und zellgenetischen Forschung erst ermöglicht hatten, basierten weitgehend auf der Ersetzung biologischer Nährmedien durch einheitlichere synthetische Medien. Zu Beginn der 1980er Jahre boten Betriebe der DDR-Serumindustrie im Westen entwickelte Standardmedien an, erreichten dabei aber keinen konstanten Qualitätsstandard, der die Anwender befriedigte. International bereits übliche Medien mit chemisch definierten Wachstumsfaktoren waren für sie außer Reichweite.90 Trotz der „Chemisierung“ der Zellzüchtung waren tierische Seren weiterhin unabdingbar für In-vitro-Ansätze, insbesondere das fötale Kälberserum, das weitgehend unter hohem Devisenaufwand aus dem Westen importiert werden musste. Die begrenzte und unregelmäßige Verfügbarkeit sorgte bei verschiedenen Projekten für ernsthafte Verzögerungen. Teile der virologischen Arbeiten waren durch den SerumMangel gefährdet; die ersten Ansätze für ein Gentransfersystem mit eukaryotische Zellen scheiterten teilweise daran.91 Auch hier sahen die Forscher nur den Ausweg, den Produktionsprozess selbst in die Hand zu nehmen. Das war aber nicht einfach, da die Gewinnung von Kälberföten für die Zuchtbetriebe einen empfindlichen Tierverlust bedeutete. Die Möglichkeit, Bestände gesunder, aber nicht mehr in der Reproduktion stehender Muttertiere zu erschließen, war kaum realisierbar; außerdem war zu erwarten, dass der Erzeugungspreis dabei noch oberhalb der Importkosten liegen würde. Eine Alternative bot das Serum von neugeborenen Kälbern, das nach Ansicht einiger Forscher fast gleichwertig war.92 Das ZIM baute auf die Basis eine eigene Produktionslinie auf, suchte aber – wie auch andere Forscher in der DDR – weiter nach Ersatzlösungen wie etwa den Umstieg auf ein Pferdeserum, das von den Immunologen des ZIK mit gutem Erfolg getestet wurde.93 Der Fall des Kälberserums steht exemplarisch für den Unterschied zwischen den Forschungssystemen des kapitalistischen und des sozialistischen Lagers. Während die Forschung in den westlichen Ländern ein eigenständiges ökonomisches System bildete, in dem selbst biologische und chemische Luxusgüter schnell zu verfügbaren Waren – und damit zu „unsichtbaren“ Faktoren des Forschungsprozesses – wurden, war in einem auf Grundversorgung ausgerichteten, kapitallosen Wirtschaftssystem für solche Entwicklungen kein Raum. Darum mussten die Forschungsinstitute der sozialistischen Länder erhebliche Ressourcen auf quasiindustrielle Versorgungsaufgaben verwenden. Dies erklärt nicht allein, 90 Vorlage „Zelltechnik (Nutzensfeld Veterinärmedizin)“ für Studie „Biowissenschaftliche Basisinnovationen“, Okt. 1983, ABBAW Buch A 1096. 91 Mikrobielle Synthese BLV-Proteine, n.d. (1979), ABBAW Buch A 1158; Protokoll der Beratung beim Institutsdirektor zu operativen Leitungsfragen am 30.11.1981, ABBAW Buch A 1021; Geißler 2010, S. 90. 92 Bericht zum laufenden Erfahrungsaustausch über die Gewinnung von fötalem Kälberserum mit dem Ziel einer höheren Serumausbeute, Stand Juni 1977, 16.6.1977; hs. Vermerk W. Malz, n. d., beide ABBAW Buch A 1073. 93 Urbaneck/Institut für Immunseren Dessau an Zschiesche/ ZIM, 23.4.1982; Zschiesche an Urbaneck, 20.5.1982, ABBAW Buch A 1086.
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warum ihr Innovationspotential im internationalen Vergleich gering blieb. Die ungewollte Autarkisierung hatte aber nicht nur eine materielle Dimension. Sowohl der stets mit Problemen verbundene Import als auch der Zwang zur „Ablösung“ von Importprodukten stellten den Mitarbeitern auf allen Ebenen ständig vor Augen, wie sehr man sich materiell und ideell in den Spuren des Klassenfeindes bewegte. Friedrich Jung wies 1975 auf einer Direktorenkonferenz unter Vorsitz des obersten SED-Wissenschaftsfunktionärs Kurt Hager eindringlich darauf hin, dass es für die Moral des wissenschaftlichen Nachwuchses nicht ohne Folgen bleiben konnte, „wenn sie immer wieder erleben, dass sie im Grunde, trotz der Vorzüge des sozialistischen Systems, abhängig sind von kapitalistischen Firmen – und zwar auch abhängig an Stellen wo es partout nicht nötig ist – dass die scheinbar besser arbeiten.“94 Reparaturbetrieb der Kombinate? Dem Zwang zur Selbstversorgung konnte auch ein positiver Aspekt abgewonnen werden: Die ForscherInnen mussten ein genaues Bewusstsein für ihr ökonomisches Umfeld entwickeln und wurden so nicht selten zu Kleinunternehmern in eigener Sache. Auf materielle Gewinne konnten sie dabei, im Gegensatz zu westlichen Start-up-Gründern, kaum hoffen. Für die Institute hatten erfolgreiche Eigenentwicklungen einen erheblichen Prestigewert; entsprechend gebührend wurden sie in den Leistungsberichten hervorgehoben. Bezeichnenderweise bemaß sich ihr Wert zumeist nicht nach dem möglichen Gewinn beim Vertrieb des Produkts, sondern an der eingesparten Summe an Valutamitteln, die für ein entsprechendes Importprodukt verausgabt worden wäre. Eine besondere Note erhielten Entwicklungen immer dann, wenn tatsächlich einmal Aussicht auf einen Export gegen Valuta bestand. Die Bedeutung, die solchen Exportverträgen beigemessen wurde, stand bisweilen in keinem Verhältnis zum erzielbaren materiellen Ertrag. 1979 stand etwa der Verkauf der für das erste gentechnologische Projekt des ZIM gewonnenen Präparate von Globin-mRNS (d. h. Matrizen für die gentechnologische Klonierung der Eiweißkomponente des roten Blutfarbstoffes) an den westdeutschen Marktführer auf dem Laborpräparatesektor zur Diskussion. Jung hoffte darauf, dass das Geschäft neben Devisen für die AdW-Kasse auch die verbilligte Lieferung schwer erhältlicher Biochemikalien erbringen würde. Während der ZIM-Direktor bereits über weitere potentielle Tauschobjekte nachdachte, zog die Firma ihr über Monate schwebendes Angebot zurück, da die Qualität des Präparats angeblich nicht ausreichend war.95 Ironischerweise hatte Jung einige Jahre zuvor denselben Konzern als Beispiel für die Mechanismen des kapitalistischen Biochemikalienmarktes angeführt, auf dem Großproduzenten abernteten und ver-
94 Beratung in der AdW mit Kurt Hager, 25.11.1975, BAB TonY 1/2434. 95 Jung an Rosenthal, 27.2.1980; Boehringer Mannheim an Intermed Export-Import, 26.2.1980, beide ABBAW Buch A 1158.
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markteten, was in zahlreichen molekularbiologischen Labors isoliert wurde.96 Die Chance, selbst einen (bescheidenen) Gewinn aus dieser Situation zu ziehen, wollte er dennoch nicht verstreichen lassen. Offensichtlich war dabei nicht allein die Aussicht auf verbesserte Einfuhrchancen entscheidend – die ohnehin fragwürdig waren, da Exporterlöse nicht zur Disposition der Institute standen – sondern auch der Wunsch, durch etwas Präsenz auf den westlichen Märkten die eigene Leistungsfähigkeit zu beweisen. Mitte der 1980er Jahre bestand erneut Aussicht auf den devisenträchtigen Verkauf eines Laborwerkzeugs, nachdem Mitarbeiter einer molekulargenetischen Arbeitsgruppe ein neuartiges Trägerpapier für die chromatografische Auftrennung von DNS-Fragmenten entwickelt hatten. Es handelte sich um eine wirkungsvolle Modifikation einer breit anwendbaren Technik, die vergleichbaren westlichen Produkten überlegen zu sein schien. Trotzdem zeigten die potentiellen Industriepartner auch hier nur mäßiges Engagement, weshalb das Institut Entwicklungsarbeit und Pilotproduktion allein tragen musste. Mehr Interesse zeigte eine westdeutsche Firma, die einen Teil des Ausstoßes abnahm.97 Obwohl das ZIM das Geschäft aus eigener Initiative eingeleitet hatte, erhielt es von der Akademieführung keine Erlaubnis, die Verhandlung mit dem Vertriebspartner eigenständig zu führen.98 Es gehörte zu den Grundproblemen von AdW-Forschergruppen, wie ein Kleinbetrieb agieren zu müssen, ohne bei der Vermarktung volle Handlungsfreiheit zu haben. Die von der Verwaltung gesetzten Schranken verhinderten in diesem Fall das Exportgeschäft nicht; ob die dabei erzielten Erlöse den durch das Institut betriebenen Aufwand rechtfertigten, ist unklar. Vermutlich traf auch hier zu, was für für die DDR-Wirtschaft im Großen galt – dass für den Fetisch der Devisenerwirtschaftung ein Entwicklungsaufwand betrieben wurde, der den realen Valutaertrag deutlich überstieg.99 Versuche zur „Importablösung“ stellten eine Belastung des Forschungsbetriebs dar, waren allerdings für dessen Aufrechterhaltung unerlässlich. Zum einem strukturbestimmenden Problem wurden sie dadurch, dass die auf diesem Gebiet tätigen Betriebe den Instituten zumeist die gesamte Entwicklungsstrecke bis hin zur Produktion überließen, weil ihnen das Interesse oder die notwendigen Kapazitäten fehlten. Dies galt auch für Entwicklungsaufgaben, die auf eine industrielle Anwendung ausgerichtet waren. Der nach der Akademiereform eingeschlagene wissenschaftspolitische Kurs zielte darauf ab, die Akademieinstitute stärker für volkswirtschaftliche Planziele zu mobilisieren. Für ein relativ industriefernes Institut wie das ZIM bedeutete dies zunächst keine einschneidenden Veränderungen, da seine potentiellen Auftraggeber in der Pharmaindustrie schwache Partner waren, die eher zu neuen Entwicklungen gedrängt werden mussten, als dass sie selbst aktiv wurden.100 In den 1980er Jahren bestimmten Forschungsaufträge der 96 Beratung in der AdW mit Kurt Hager, 25.11.1975, BAB TonY 1/2434. 97 Pasternak an Oettel/Germed, 17.8.1984, ABBAW Buch A 1086. 98 Pasternak an Grote/Präsidium AdW, 7.11.1985; Grote an Pasternak, 6.12.1985; beide ABBAW Buch A 1088 99 Staritz 1996, S. 321–322. 100 Vgl. hierzu die Beispiele in Kap. III.4.
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Kombinate jedoch zunehmend das Institutsprogramm. Auch diese „Kooperationsprojekte“ waren weitgehend dadurch charakterisiert, dass die Industriebetriebe versuchten, ihren Entwicklungsbedarf möglichst vollständig auf das Forschungsinstitut abzuwälzen. Die Folgen dieser unfreiwilligen Übernahme industrienaher Aufgaben waren so tiefgreifend, dass sie der Wissenschaftsrat der BRD 1991 bei seiner Evaluierung der biomedizinischen Akadmieinstitute als hervorstechendes Strukturmerkmal nannte, welches das Potential der Institut entscheidend gehemmt habe.101 Vermutlich war den Kommissionsmitgliedern dabei nicht bewusst, dass es sich bei den als „Anwendungsforschung“ gekennzeichneten Projekten nicht immer um „bestellte“ Forschung nach den Plänen der Kombinate oder Ministerien gehandelt hatte, sondern häufig um Drittmittelprojekte, deren Ausrichtung die Forscher selbst definierten. „Praxisorientierung“ bedeutete nicht unbedingt Fremdbestimmung, sondern bestand weitgehend in der Anpassung eigener Forschungsansätze an übergeordnete Zielsetzungen der volkswirtschaftlichen Entwicklungsplanung. In der biowissenschaftlichen Forschung wurde die Orientierung auf praxisorientierte Ansätze zunächst weniger durch externe Aufträge als durch interne Maßnahmen gefördert. Dazu gehörte etwa die erwähnte Einbindung der Forschungsbereiche in das Wirkstoff-Suchsystem „Moltest“. Ein wichtiger Aspekt war ferner, dass seit der MOGEVUS-Bildung die patentrechtliche Absicherung neuer Entwicklungen gezielt gefördert und erwartet wurde. Das FZMM erhielt einen professionellen Sachbearbeiter, der sich auch um die Institute in Jena, Gatersleben, Rehbrücke und Halle kümmerte, die selbst bestenfalls über nebenamtliche Patentbeauftragte verfügten.102 Die FZMM-Leitung sah es nicht nur als notwendig an, das geringe Interesse ihrer Mitarbeiter an Patentanmeldungen zu steigern; sie zielte darauf ab, dass die Forscher die schutzrechtliche Tätigkeit als integralen Teil ihrer Arbeit begriffen. Sie sollten diese Aufgabe auch nicht an die kooperierenden Großbetriebe abgeben, sondern aktiv ihren eigenen Entwicklungsanteil markieren.103 Zu Beginn der 1970er Jahre war die verbriefte „Neuerertätigkeit“ auf wenige Gruppen beschränkt; im ZIM verzeichneten die biochemischen Arbeitsgruppen von Langen und Repke mit Abstand die meisten Anmeldungen.104 Beide synthetisierten seriell neue Derivate der von ihnen bearbeiteten Stoffgruppen; beide standen in einer organisch-chemischen Forschungstradition, in der es selbstverständlich war, neue Synthesemethoden abzusichern. Ziel der Planer war es, diesen Arbeitsstil auch bei den gerätebauenden Biophysikern oder den an biologischen Objekten arbeitenden Abteilungen zu verbreiten. Das gelang in den folgenden Jahren nur langsam. Die Abschlussberichte vermerkten alljährlich, dass die „Neuerertätigkeit“ am ZIM (und noch mehr an den beiden medizinischen Instituten) den Ansprüchen hinterherhinkte, die Gruppen sich zu wenig an 101 Wissenschaftsrat 1991 (wie Fn. 11), S. 13. 102 FZMM AG Patent- u. Neuererwesen, Memo „Modell der Leitung und Koordinierung der Schutzrechtsarbeit im FZMM“, 2.11.1971, ABBAW Buch A 728. 103 W. Scheler, Bericht über die Ergebnisse der Arbeit im FV Mogevus im Jahre 1971, n.d., ABBAW Buch A 902, S.22f. 104 Baumbach an Jung, Zur Schutzrechtstätigkeit des (ZIM), 26.9.1972, ABBAW Buch A 753.
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der Patentliteratur orientierten und es an entsprechenden Entwicklungsstrategien fehlte. Dabei garantierte ein Patentverfahren noch lange keine praxisrelevanten Erfolge. 1974 war keines der seit Gründung des ZIM angemeldeten Patente in praktischer Nutzung.105 Der Sicherung von Patentrechten wurde so große Bedeutung beigemessen, weil sie als quantifizierbarer Indikator praxisrelevanter Innovation galt. Sie hatte aber auch die Funktion, das Bewusstsein der Forscher für das Entwicklungspotential ihrer Ergebnisse zu schärfen. Diese Politik trug dazu bei, dass auch für grundlagenorientierte AdW-Wissenschaftler, wie es Jochen Gläser und Werner Meske ausdrücken, die „Einbeziehung von Anwendungsaspekten auch eine Art Kollektivnorm“ wurde, „die zwar wissenschaftsspezifische Kriterien wie Originalität nicht substituierte und auch nicht in ihrer Bedeutung minderte, aber doch ein Umfeld schuf, in dem ein Rekurs auf Anwendungsmöglichkeiten etwas Selbstverständliches war.“106 Die Situation am ZIM wurde dabei entscheidend durch ein volkswirtschaftliches Projekt beeinflusst, in das eine Reihe von Forschungsgruppen hineingezogen wurden, das den Wissenschaftlern aber erheblichen gestalterischen Spielraum ließ: das Planziel des Aufbaus einer mikrobiologischen Industrie. Diese Perspektive wirkte sich im Programm des ZIM einerseits durch die Aufwertung der enzymologischen Forschung aus, die den Vorlauf für eine großtechnische Nutzung biokatalytischer Prozesse liefern sollte. Andererseits schlug sie sich in dem gentechnologischen Schwerpunktprojekt nieder, das in den frühen 1970er Jahren neu aufgebaut wurde. Die Entwicklung dieser Arbeitsrichtungen wird in den Kapiteln III.5. und III.6. genauer beschrieben. Hier soll nur eine Gemeinsamkeit der beiden Felder betont werden: Sie waren von Beginn an auf definierte industrielle Produktionsziele aufgerichtet, wurden aber inhaltlich völlig von den Akademiewissenschaftlern bestimmt, da die potentiellen Partner weder konkrete Nutzungskonzepte noch die technologischen Voraussetzungen besaßen, um notwendige Vorleistungen zu erbringen. Das galt insbesondere für das erste gentechnologische Projekt am ZIM, das mit der Klonierung eines Insulingens ein Objekt betraf, in das verschiedene Gruppen Hoffnungen setzten. Dass die ZIMForscher kaum damit rechneten, mit ihrer Arbeit den Grundstein für eine mikrobielle Insulinproduktion durch die DDR-Pharmaindustrie zu legen, zeigte schon die Auswahl des Ausgangsmaterials. Mit den Inselzellen des Karpfens nutzte man ein experimentell gut zugängliches Objekt, das als Grundlage für eine Humaninsulinproduktion kaum in Frage kam. Das Projekt lief zwar formell in Kooperation mit der Industrie, hatte aber Charakter eines Pilotvorhabens, mit dem die Grundlagen der neuen Methoden erst erschlossen werden sollten. Die Zielsetzung, die enzymologische Forschung direkt für Produktionsziele nutzbar zu machen, hatte demgegenüber eine reale Basis. Das ambitionierte Programm, biologische Enzyme als technische Katalysatoren in der chemischen Industrie, für Reinigungsprozesse oder für Isolierungsverfahren einzusetzen, mobilisierte Interessenten mit klaren Nutzungsvorstellungen. Die Initiative und die Definition der Arbeitsinhalte lag 105 Baumbach, hs. Notizen ‚Dienstbesprechung 8.4.74‘, n.d., ABBAW Buch A 753. 106 Gläser/Meske 1996, S. 275.
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dennoch ganz in den Händen der ZIM-Enzymologen, die auf diesem Gebiet verschiedene Kooperationen eingingen. Forschungsstrategien und Objekte ergaben sich weitgehend aus den eigenen Interessen und Erfahrungen, die man seit den 1960er Jahren gesammelt hatte. Die Industrie konnte die Aktivitäten auf diesem Gebiet finanziell und teilweise auch materiell unterstützen; zur Übernahme neuer Techniken kam es aber kaum, da hierfür sowohl Entwicklungs- als auch Produktionskapazitäten fehlten. Lediglich ein Zweig der technischen Enzymologie führte zu einer direkten Berührung mit der Produktion. Mitte der 1970er Jahre reagierte das ZIM auf Anregungen aus dem Gesundheitswesen, enzymologische Methoden in die medizinische Diagnostik einzuführen. Die Entwicklung von Teststreifen und Messgeräten für die schnelle Messung wichtiger physiologischer Marker wie Blutzucker wurde zu einer außergewöhnlichen Erfolgsgeschichte. Allerdings konnten diese Techniken nur in die Produktion eingeführt werden, weil die ZIMForscher nicht allein die Entwicklung der Grundprinzipien, sondern auch ingenieurtechnische Arbeiten, Patentrecherchen, Testläufe und teilweise auch die Vorbereitung der Fertigung vorantrieben. Ähnlich stellte sich die Situation für die ZIM-Gruppen dar, die an der Entwicklung von Pharmaka arbeiteten – sie mussten gegenüber ihren Industriepartnern eine sehr aktive Rolle einnehmen, um Aussichten auf eine Realisierung ihrer Projekte zu erhalten. Das geringe Engagement der Industriepartner hatte für die Akademieforscher also nicht nur den positiven Effekt einer weitgehenden Freiheit in der Ausgestaltung der „praxisorientierten“ Projekte. Es bedeutete auch, das die Unterstützung, die man von diesen Vorhaben erhoffte, oft ausblieb. Diese Situation sollte sich bis zum Ende der DDR nicht grundlegend ändern; die Erwartungen bezüglich der Zuarbeiten für Industrie, Landwirtschaft und Gesundheitswesen wuchsen dagegen in den 1980er Jahren erheblich. Biotechpark Buch? Der geringe Realisierungsgrad von „praxisorientierten“ Projekten in den 1970er Jahren war zum Teil durch den Entwicklungsstand der neuen Schwerpunktthemen zu erklären. Insbesondere die Gentechnologie war noch in einem Erprobungsstadium und konnte aufgrund der zahlreichen Hindernisse nur langsame Fortschritte machen. Um 1980 waren die Erfahrungen so weit ausgebaut worden, dass eine Bearbeitung produktionsrelevanter Objekte möglich wurde. Während die Umsetzung der für das Insulin erreichten Ergebnisse stagnierte, wurde zu dieser Zeit in Kooperation mit den Veterinärmedizinern der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften ein Folgeprojekt begonnen, das auf die gentechnologische Herstellung von Impfstoffen gegen das Rinderleukosevirus (BLV), den Auslöser einer verbreiteten Rinderseuche, abzielte. Ein besonderer Aspekt an diesem Vorhaben war, dass das BLV damit in Buch nicht zum ersten Mal genutzt wurde. Zu Beginn der 1970er Jahre wurde es für die Isolierung des Enzyms reverse Transkriptase
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erschlossen, das für gentechnologische Arbeiten unerlässlich war.107 Die Krebsvirologen des ZIK nahmen es als Modellobjekt in ihr Programm auf, da BLV starke strukturelle Ähnlichkeit mit den bereits erforschten RNS-Krebsviren aufwies.108 Zudem versuchte der Bereich Biomembranen Ende der 1970er Jahre, durch die Rinderleukosezellen in die Forschung über tumorspezifische Membranantigene einzusteigen. Dabei sollten einerseits Antigene isoliert werden, die als Grundlage eines immunologischen Früherkennungstests dienen konnten.109 Andererseits schien das neue zellbiologische Material aber auch ein „interessantes Objekt für die Analyse epigentischer Regulationsphänomene“ zu sein, mit dem man die bereits laufenden Arbeiten über membranständige Transportenzyme weiterentwickeln konnte.110 Das Virus sollte also die Rolle eines Standardobjekts spielen, das sowohl der Herstellung von thematischen Querverbindungen innerhalb des Forschungszentrums als auch einer rationelleren Nutzung von Forschungsmaterial diente. Der Aufbau von Beziehungen zu den Tierseuchenexperten des FriedrichLöffler-Instituts auf der Insel Riems versprach eine wesentlich bessere Zugänglichkeit, als sie bei anderen virustragenden Geweben gegeben war. Das in den organisatorischen Diskussionen beschworene Ideal der inneren Verflechtung sollte so eine Grundlage auf der Ebene der Methoden und Objekte erhalten. Die Versuche zur Klonierung von BLV-Genen bewiesen, dass die ZIMGruppe trotz fortdauernder Probleme produktorientierte Klonierungsversuche realisieren konnte. Mitte der 1980er Jahre bot man den Veterinärmedizinern biotechnisch hergestellte BLV-Virusproteine für Impfversuche an. Die „auftraggebenden“ Betriebe hatten jedoch weiterhin kein klares Konzept für den Einsatz der angebotenen Resultate. Das Dessauer Impfstoffkombinat, welches die Versuche finanzierte, ließ den Akademikern zwar Raum für eine eigenständige Gestaltung des Projekts, beteiligte sich aber kaum an einer möglichen Überführung in die Produktion.111 Frustriert über die Fruchtlosigkeit der eigenen Vorarbeiten entschied man 1989 schließlich, aus dem Projekt auszusteigen und die gesamte Abteilung auf Fragen der medizinischen Gentherapie umzuorientieren.112 Weitere Aufträge mit dem Ziel einer gentechnologischen Wirkstoffproduktion ereilte ein gleiches Schicksal, da entsprechende Übernahmekapazitäten fehlten. Auf dem technisch-enzymologischen Gebiet war die Situation ähnlich. Mitte der 1980er Jahre waren mikrobielle Enzymsysteme für die Produktion von Steroidderivaten
107 Vgl. hierzu auch diese Arbeit S. 312 und S. 428f. 108 Vgl. hierzu S. 322. 109 R. Schön, Pflichtenheft 1978 zur wiss. Aufgabenstellung „Membran-Erkennungsmechanismen der Zell-Zell-Wechselwirkung“ der Abt. Membranmechanismen im Bereich Biomembranen, ABBAW Buch A 925. 110 Repke/Schön, Zur Planung der Arbeiten im Rahmen der Aufgabenstellung ‚Membranregulation der Zellproliferation‘, 25.9.1979, ABBAW Buch A 1032. 111 Pasternak, Zuarbeit für die Vorbereitung der gemeinsamen Präsidiumssitzung AdW/AdL, 14.8.1986, ABBAW Buch A 1153. 112 Pasternak, Maßnahmeplan zur Umgestaltung der Abt. Zelldifferenzierung, Januar 1989, ABBAW Buch A 1153.
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entwickelt worden.113 Das System hatte aber keine Realisierungschance, so lange die Industrie nicht über geeignete Pilotanlagen verfügte. Als der Aufbau einer solchen Anlage 1989 in Aussicht stand, befand sich das System der Auftragsforschung, wie das gesamte ökonomische System, bereits vor dem Zusammenbruch.114 In diesen Fehlschlägen manifestierte sich das Scheitern der in den 1980er Jahren verfolgten wirtschafts- und forschungspolitischen Grundlinie, aus dem Potential der AdW-Institute herauszuholen, was effizient für Gesundheitswesen, Landwirtschaft und Industrie nutzbar war. Die Forschung am ZIM wurde dabei immer mehr durch die konzeptionelle Trias „Gentechnik“, „Enzymtechnik“ und „Zell“- beziehungsweise „Immuntechnik“ geprägt.115 Die drei „technischen“ Schwerpunkte wurden 1985 in der vom Politbüro verordneten „Komplexen Forschungsaufgabe Biotechnologie“ zusammengefasst, welche die Erhöhung des Anteils industriefinanzierter Aufträge in den Instituten auf 50% festschrieb.116 Innerhalb dieses „Komplexes“ war es insbesondere das jüngste Feld, die „Zelltechnik“, das kurzfristig „überführbare“ Ergebnisse erbrachte. Hinter dem Begriff verbarg sich jenes Verfahren, das für den wohl größten biotechnologischen Innovationsschub des späten 20. Jahrhunderts verantwortlich war, die Produktion monoklonaler Antikörper. Die Mitte der 1970er Jahre eingeführte Technik beruhte auf der Hybridisierung von in vitro schnell wachsenden Krebszellen (Myelomzellen) mit den antikörperbildenden Zellen des Immunsystems, den B-Lymphozyten. Durch Verwendung der Immunzellen von Versuchstieren, die mit bestimmten Antigenen behandelt werden, können unbegrenzt vermehrungsfähige Kulturen von Hybridzellen gewonnen werden, die höchst spezifische Antikörper produzierten. Das größte Hindernis auf dem Weg zur Massenproduktion hochreiner Antikörperpräparate war die sehr schwierige und arbeitsintensive Aufgabe, aus Hunderten von Hybridzellen Stämme mit der „richtigen“ Antigenkomponente zu isolieren.117 Der immunologische Bereich des ZIK begann ab 1979, sich der rasend schnellen Entwicklung auf diesem Gebiet anzuschließen. Für die Arbeitsgruppe um Günter Pasternak waren die monoklonalen Antikörper vor allem eine Möglichkeit, nach jahrelange ungewollter Mitarbeit an einem fruchtlosen Krebstest-Projekt wieder Anschluss an die Spitze der internationalen Krebsimmunologie zu finden.118 Sie boten einen neuen methodologischen Schlüssel für das schon länger bearbeitete Gebiet der Tumorantigene; sie eröffneten darüber hinaus aber
113 Pasternak/Liebscher, Protokoll zur Beratung zwischen Direktor ZIM und Direktor FZB am 14.11.1986, ABBAW Buch A 1074. 114 ZIM/Bereich Enzymologie, Aktennotiz zur Besprechung mit FZB am 1.4.1989, ABBAW Buch A 1074. 115 N.N., Disposion zur Studie „Biowissenschaftliche Basisinnovationen, Gentechnik, Zelltechnik, Enzymtechnik und ihre Nutzung“, Okt. 1983, ABBAW Buch A 1096. 116 G. Pasternak 2002, S. 153–154. 117 Keating/Cambrosio 1995, S. 3–45; Meyer 2016, S. 251–252. 118 Meyer 2016, S. 250.
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auch neue Perspektiven auf Feldern wie der Transplantationsimmunologie.119 Neben dem ZIK richtete parallel auch das ZIM eine Abteilung für die Hybridomtechnik ein; beide Gruppen bildeten umgehend ein Verbundprojekt, „um von der Grundlagenforschung bis zur Anwendung in der klinischen Praxis eine effektiv arbeitende Kooperationskette aufzubauen.“120 Tatsächlich eröffnete die Produktion großer Mengen hochspezifischer Antikörper völlig neue Perspektiven für die immunologische Grundlagenforschung, da sich die antigene Struktur von Tumorzellen, Virusproteinen oder Proteinwirkstoffen wesentlich genauer als zuvor kartieren ließ. Pasternaks Gruppe erzielte so international beachtete Ergebnisse zur Feinstruktur des Alpha-Fetoproteins, einem Molekül, das als Indikator für Tumorerkrankungen, aber auch als Marker für pränatale Fehlentwicklungen medizinisch interessant war.121 In der Folgezeit wurde die Auswahl der Forschungsobjekte jedoch immer stärker durch die Nachfrage nach effizienteren Testverfahren auf diagnostisch wichtige Biomarker geprägt. Konzentrierten sich die Aktivitäten zunächst auf Antikörper gegen krebsdiagnostisch relevante Substanzen wie den körpereigenen Immunstimulator Interferon alpha, erweiterte sich der Aufgabenkatalog schnell um Testverfahren auf verschiedene Hormone.122 Die Mitarbeiter selbst sahen die Erfolge dieser Auftragsarbeiten keineswegs positiv, da sie ihre Möglichkeiten, auf dem angestammten Gebiet der Krebsimmunologie selbstbestimmt und grundlagenorientiert zu arbeiten, empfindlich einschränkte. Dazu trug auch bei, dass sie wie die meisten industriefinanzierten Forscher von ihren Auftraggebern selbst mit administrativen Aufgaben wie der Marktanalyse und der Patentanmeldung alleingelassen wurden.123 Nachdem Pasternak 1984 den Direktorenposten am ZIM übernommen hatte, wurde auch der größte Teil seiner Arbeitsgruppe dorthin überführt und mit den dortigen Fachleuten vereinigt, die teilweise aus dem zuvor aufgelösten Bereich Strahlenbiophysik stammten. Ein deutlicher Ausdruck für die Produktorientierung war, dass ein steigender Anteil der Ergebnisse nicht mehr in Form wissenschaftlicher Publikationen, sondern durch Patente festgehalten wurde.124 Diese Tendenz 119 V. Wunderlich, G. Pasternak, Kongreßbericht: 12. FEBS-Meeting Dresden 1978 - eine Nachlese aus der Sicht der Krebsforschung, Archiv für Geschwulstforschung 49 (1979), S. 272– 273; G. Pasternak, Revolutionierende Technik der Immunologie - Monoklonale Antikörper durch Zellfusion, Spektrum 11 (1980), Nr.6, S. 12–14. 120 G. Pasternak, Protokoll zur Beratung zum Projekt „Hybridzelltechnik zur Herstellung und Nutzung monoklonaler Antikörper“, 5.5.1980, ABBAW Buch A 1084. 121 B. Micheel, H. Fiebach, U. Karsten, A. Goussev, A. Jasova, J. Kopp, Monoclonal antibodies to different epitopes of human alpha-fetoprotein (AFP), European Journal of Cancer & Clinical Oncology 19 (1983), S. 1239–1246. 122 Protokoll über die Beratung zur Vorbereitug der weiteren wiss. Zusammenarbeit zwischen IfI Dessau und ZIM am 16.11.84, 29.11.1984, ABBAW Buch A 1086. 123 Meyer 2016, S. 256. 124 Autobiografie F. Noll, in: Pasternak 2004, S. 185–190, S. 189. Die Praxis der Patentierung war eigentlich erstaunlich, weil die technischen Grundlagen kaum verändert wurden. Aus diesem Grund wurden mAK-Patente vor amerikanischen Gerichten zumeist abgelehnt, vgl. Keating/Cambrosio 1995, S. 172–182.
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bestand auch bei den gentechnologischen Projekten, obwohl auf beiden Gebieten keine methodologischen Neuerungen, sondern nur für die DDR neuartige biotechnologische Objekte entwickelt wurden. Verglichen mit den anderen anwendungsnahen Schwerpunkten gelangen in der Hybridomtechnik schnelle Erfolge; Betriebe des Gesundheitswesens konnten in relativ kurzer Zeit mit direkt einsetzbaren diagnostischen Werkzeugen versorgt werden. 1988 waren in der DDR 470 Linien monoklonaler Antikörper verfügbar, der überwiegende Teil davon aus der Produktion des Bucher „Referenzlabors“. Zu diesem Zeitpunkt wuchs die Anzahl der international verfügbaren Linien jährlich um etwa 20000.125 Im Gegensatz zu den gen- und enzymtechnologischen Projekten benötigten die monoklonalen Antikörper nur eine kurze Übersetzungsstrecke und waren damit weniger anfällig für Dysfunktionen des Produktionssystems. Das „immuntechnische“ Programm verdeutlicht außerdem, dass in der DDR Verfahren Erfolgsaussichten hatten, die weniger auf aufwändiger Technologie als auf anspruchsvoller Handarbeit beruhten. Die Auffindung der gewünschten Hybridzellklone war, wie erwähnt, ein Prozess, der viel Geduld und Erfahrung verlangte. Dem Hybridomlabor des ZIM fehlte es nicht an qualifizierten Mitarbeitern, jedoch an Möglichkeiten, seine Kapazitäten zu erweitern. Die 1980er Jahre standen nicht nur in Buch, sondern im ganzen biowissenschaftlichen Bereich der AdW im Zeichen der „Biotechnologie“. Diese Schwerpunktsetzung zeigte sich in den Forschungsplänen, in der öffentlichen Selbstdarstellung sowie darin, dass 1985 der Direktor des Leipziger Instituts für Biotechnologie, Manfred Ringpfeil, zum Leiter Forschungsbereichs Biowissenschaften und Medizin (des vormaligen FZMM) ernannt wurde. Der Begriff „Biotechnologie“ stand für die Hoffnung, durch „weiche“, wenig investitionsintensive Techniken einen dringend benötigten Innovationsschub in der chemischen und pharmazeutischen Industrie zu erreichen. Den Verantwortlichen in der Akademie war völlig klar, dass die Vision selbst dann kaum zu realisieren sein würde, wenn ihre Institute tatsächlich das vielbeschworene internationale Spitzenniveau erreichen sollten. Wenn Ringpfeil 1981 erklärte, die „Verbindung zur Industrie [werde] sich in dem Maße weiterentwickeln, wie die Kombinate biotechnologische Aufgabenstellungen in ihre langfristigen Entwicklungsstrategien einordnen und bereit sind, einen bestimmten Anteil Grundlagenforschung selbst zu tragen,“126 war dies eher als Mahnung zu verstehen denn als Beschreibung einer anlaufenden Entwicklung. Jung betonte, dass alle Hoffnungen auf praxisfertige molekularbiologische Ergebnisse eine „schöne Seifenblase“ bleiben würden, wenn die Industrie nicht ihren Beitrag zur Versorgung mit den nötigen biochemischen Arbeitsmitteln leistete. Dabei stand er voll hinter der Zielsetzung, die Forschung an konkreten Lösungen zu messen. „Auf dem Gebiet herumzuspielen, dann die Klonierung irgend eines 125 National List of Monoclonal Antibodies GDR, Dez. 1988, ABBAW Buch B 1986. Im Vergleich zur „First Annual National List“ von 1984 (ebd.), auf der 33 von 67 Produkten aus dem ZIK stammten, war die Anzahl der Produktionsstätten von 5 auf 18 angewachsen. Für die internationalen Vergleichszahlen vgl. Keating/Cambrosio 1995, S. 97. 126 Biotechnologie (Interview mit G. Pasternak, S. Rosenthal, M. Ringpfeil, F. Bergter, H. Franz, D. Meyer), Spektrum 12 (1981), Nr. 3, S. 6–11, S. 11.
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Proteingens in Coli als ‚Spitzenleistung‘ herauszustellen, bringt uns nicht weiter, es geht um die Verifikation in der Praxis, mit klaren Ablaufplänen und einem konkreten Ziel.“127 Die „Verifikation in der Praxis“ hing aber nicht allein vom Niveau der wissenschaftlichen Leistung oder der Klarheit der Planung ab, sondern vor allem vom Zustand der Strukturen, die aus biologischen Objekten eine wirksame Technologie machen konnten. Und dieser bewegte sich zur fraglichen Zeit von der Stagnation zum Niedergang. Ein angekündigtes Ende Das grundsätzliche Missverhältnis zwischen dem Anspruch einer forschungsgeleiteten Innovationsstrategie und den fehlenden strukturellen Voraussetzungen konnte in der finalen Krisenphase der DDR-Wirtschaft nur organisatorisch überdeckt, aber nicht gelöst werden. Während die Anforderungen an die Wissenschaftler damit weiter angehoben wurden, schrumpfte ihr Entscheidungsspielraum immer weiter zusammen. ZIM-Direktor Pasternak, der seiner Unzufriedenheit bisweilen durch resigniert-sarkastische Randbemerkungen in den Planungsdokumenten Luft machte, beantwortete 1987 eine AdW-Anfrage, inwieweit die Eigenverantwortung der Institute für die Aufgabenerfüllung ausreichend war, rundweg mit „nein“. Die Gründe hierfür unterschieden sich kaum von jenen, die seine Vorgänger 20 Jahre zuvor kritisiert hatten, speziell der fehlende „Einfluss auf die materiell-technische Sicherung der Aufgabenbearbeitung“, das heißt die Planung des Bezugs von heimischen Produkten und NSW-Importen.128 Der Vorschlag, das Problem durch Übertragung der nötigen Finanzmittel in die Verantwortung der Institute zu lösen, blieb freilich ein frommer Wunsch, da er angesichts der Devisenkrise den Gegebenheiten der Planwirtschaft noch weniger entsprach als je zuvor. Die „Einschränkung des Informationsbedarfs“ auf solche Leitungsgremien, die tatsächlich etwas zu entscheiden hatten, wäre nur dann realisierbar gewesen, wenn Parteiund Sicherheitsstellen Einschränkungen ihres allumfassenden Wissensanspruchs hingenommen hätten. Unter den gegebenen Umständen führte die vorgegebene Intensivierung der Industriebindung zu einer weiteren Überflutung mit kleineren Auftragsprojekten. Die geforderte Marke von 50% Fremdfinanzierung konnte das ZIM nicht mehr erreichen. 1987 hingen immerhin knapp 38% der Projekte und 190 der etwa 600 Mitarbeiterstellen von Aufträgen aus Industrie, Landwirtschaft und Gesundheitswesen ab.129 Der Projektkatalog las sich wie das Auftragsbuch eines Servicezentrums für forschungstechnische Dienstleistungen. Neben den großen Kooperationspartnern aus der Pharma- und Serumindustrie, deren Anforderungen tatsächlich strukturbestimmend waren, fand sich eine Reihe von Kleinaufträgen für 127 F. Jung, Biotechnologie in der Medizin, in: M. Ringpfeil (Hg.), Biotechnologie: 2. Symposium der sozialistischen Länder, Abhandlungen der AdW Abt. N, Nr. 2 (1982), S. 43–52, S. 51. 128 G. Pasternak, Notizen zum Fragenkatalog „Fragen für Institutskonsultationen“, April 1987, ABBAW Buch A 1153. 129 Ringpfeil an Pasternak, 13.8.1987, ABBAW Buch A 1074.
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Betriebe aus der Nahrungsmittel- und Kosmetikbranche, die oft nur den Charakter labortechnischer Dienstleistungen trugen.130 In den klinischen Instituten äußerte sich die Reduzierung der staatlichen Forschungsunterstützung, die hiermit verbunden war, in einem verstärkten Bemühen um den Ausbau des „immateriellen Exports“, das heißt des Verkaufs klinischer Leistungen gegen Devisen. Die Durchführung klinischer Medikamentenstudien für westliche Pharmakonzerne, die im ZIK und im ZIHK betrieben wurde, war ein Aspekt dieser Strategie, die nachdrücklich gefördert wurde.131 Ein weiterer bestand in „Betreuungsleistungen für ausländische Patienten“. Das ZIHK nutzte seine vielfältigen Behandlungmöglichkeiten für Kreislauferkrankungen gezielt für die Anwerbung zahlungskräftiger Patienten aus dem Nahen Osten; 1985 erzielte man so knapp 300.000 Mark Valutaeinnahmen. Auch die Durchführung epidemiologischer Studien in Zusammenarbeit mit der WHO erbrachte Westgeld.132 Die ökonomische Krise des Staates durchdrang so den gesamten Alltag des Forschungszentrums. Die Abhängigkeit von den industriellen Geldgebern sollte auch vorzeitig das Ende des Plansozialismus ankündigen. Im März 1989 informierte das pharmazeutische Kombinat Germed die Akademie, dass es aufgrund finanzieller Engpässe seine Ausgaben für die Vertragsforschung drastisch zusammenstreichen musste. Bereits im Vorjahr hatte das Kombinat seine Verpflichtungen nur mit Hilfe eines Kredits der Staatsbank begleichen können und stand nun vor einem Finanzloch von 20 Millionen Mark. Da die Leitung die internen Forschungs- und Entwicklungsabteilungen nicht antasten wollte, wurden die meisten Verträge mit Akademie- und Hochschulinstituten aufgekündigt. Von den insgesamt 18 Projekten in Akademieinstituten sollen nur die größten drei in gekürzter Form weitergeführt werden; das ZIM stand damit vor dem Verlust eines Großteils seiner nichtstaatlichen Forschungsgelder. Es ist bezeichnend für die Situation, dass der für Ökonomie zuständige AdW-Vizepräsident verständnisvoll kommentierte, der Aufwand der Germed-Finanzierung stehe tatsächlich in keinem Verhältnis zum wirtschaftlichen Ertrag – als ob der fehlende Erfolg allein in der Verantwortung der Forscher gelegen hätte.133 Der immer größere Widerspruch zwischen Anspruch und Realität, der die Situation in der DDR insgesamt kennzeichnete, zeichnete sich also auch im Bucher Arbeitsalltag deutlich ab. Zu einer offenen Artikulation der verborgenen Unzufriedenheit kam es aber erst, als durch die ersten Leipziger Massendemonstrationen die Erosion der Parteiherrschaft bereits im vollen Gange war. Die Gewerkschaftsgruppe des ZIK sah am 13. Oktober 1989 die Notwendigkeit, die zahlreichen Eingaben aus den Bereichsgruppen zu diskutieren, „in denen die Sorge und 130 AdW Abt. Forschungsorganisation, Liste Kooperationsbeziehungen des ZIM, Juli 1988, ABBAW Buch A 1074. 131 Hess/Hottenrott/Steinkamp 2016, S. 54–59. 132 Vorlage Stand-Probleme-Perspektiven des ZIHK, Berlin-Buch, Juli 1987, Anlage 13, ABBAW Buch A 1091. 133 Aktennotiz über die Beratung im VEB Pharmazeutisches Kombinat GERMED DresdenRadebeul am 8.3.1989; Noack/Germed an Scheler, 1.3.1989 mit Auftragsliste, alle ABBAW Buch A 1074.
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der Unmut über die derzeitige poltiische Situation zum Ausdruck gebracht wird“. Während sich einige Mitglieder beschwerten, dass ihr bereits geäußerter Unmut nicht adäquat zu Protokoll genommen worden sei, riet die Führung zur Mäßigung. ZIK-Direktor Tanneberger mahnte, man müsse sich in der Krise „gemäß einem Akademieinstitut positionieren“, nämlich auf den üblichen Wegen über Gewerkschaft, Partei und staatliche Leitung – „ein anderes, neues Forum [!] (brauchen) wir nicht.“134 Nachdem die bewährten Führungsorgane ein äußerst zahmes Schreiben an den neuen Generalsekretär der SED entworfen hatten, zeigte sich, wie schnell sich der Respekt vor der bestehenden Ordnung auflöste. Die Note wurde fast einhellig als Ergebenheitsadresse abgelehnt, die in keiner Weise den völligen Verlust an Vertrauen in die Staats- und Parteiführung zum Ausdruck bringe. Man wollte vor allem keine Appelle zur Reform nach außen, sondern konkrete Ansätze der Demokratisierung im Inneren.135 Wenig später wurde Tannebergers eigene Position von einem großen Teil der Mitarbeiter angegriffen. Im Januar 1990 musste er seinen Posten räumen. Der Direktor des ZIHK, Horst Heine, hielt sich noch bis zu einem deutlichen Misstrauensvotum im April 1990.136 Im ZIM vollzog sich die Abkehr von der alten Ordnung ironischerweise durch eine Leitungsentscheidung, die sich der Form nach nicht von früheren Direktiven unterschied. Am 8. November 1989 verabschiedeten Direktor, Bereichs- und Abteilungsleiter einen Maßnahmenkatalog, dessen erster Punkt in der klaren Trennung von Staats- und Parteifunktionen bestand. Der Entscheid, dass „Vertreter gesellschaftlicher Organisationen“ zur wöchentlichen Dienstberatung des Direktors hinzugezogen werden konnten, bewegte sich nur unmerklich jenseits der bestehenden Verhältnisse. Die rasende Erosion der Machtverhältnisse zeigte sich vor allem in der radikalen Maßnahme, das Instituts-Parteibüro zu schließen und für eine wissenschaftliche Nutzung freizumachen. Die restlichen Forderungen verdeutlichen, in welchen Punkten des wissenschaftlichen Alltagsleben sich die Wissenschaftler zuvor besonders gegängelt und eingeschränkt sahen. Das betraf insbesondere die restriktiven Regelungen für Auslandsreisen (deren Rahmenbedingungen sich schon am folgenden Tag stärker verändern sollten, als es der Entschluss in Betracht zu ziehen wagte), die Auswahl und Förderung der Nachwuchskader, die Verleihung des Professorentitels an der Akademie sowie den Post- und Telefonverkehr ins Ausland (der trotz des Wegfalls inhaltlicher Kontrolle weiterhin über die Bereichsleiter laufen sollte).137 Für ein Nachdenken über eine innere Demokratisierung blieb indessen kaum Zeit. Auf den Zusammenbruch der alten politischen Ordnung folgte fast nahtlos die Aufgabe, sich in einem neuen 134 Tanneberger, Rüdiger, Pötzsch u. Schramm an E. Krenz, Okt. 1989, ABBAW Buch B 1987; BGL ZIK, Protokoll außerordentlicher BGL-Sitzung vom 13.10.1989, ABBAW Buch B 1987. 135 BGL ZIK, Protokoll über die Vertrauensleutevollversammlung vom 24.10.1989, ABBAW Buch B 1987 136 Bielka 2002, S. 121. 137 G. Pasternak, Erste Maßnahme der Institutsleitung zu Leitungs- und Organisationsprozessen am ZIM, vorgestellt und beraten in der Dienstberatung des Direktors mit Bereichs- und Abteilungsleitern am 8.11.1989, 9.11.1989, ABBAW Buch A 1021.
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Abb. 6: Ansicht des alten Hauptgebäudes aus südlicher Richtung, 1991.
politischen System zu verorten. Der Leiter des Fachbereichs Biowissenschaften, der sich trotz starken politischen Drucks noch im Amt halten konnte, instruierte die Institute Anfang März 1990 über die Vorbereitungen auf die „Entwicklungen zur Demokratisierung, Marktwirtschaft und zum Zusammenwachsen beider Teile Deutschlands“, als handele es sich um einen weiteren Parteitagsbeschluss. Er konnte darauf setzen, dass die Mitarbeiter vorbereitet waren. Evaluationen, die Suche nach neuen Quellen für Forschungsgelder und die Frage engerer „Bindungen an die Industrie“ waren für sie altbekannte Phänomene.138 Auch der Ausgleich der „teilweise gegenläufigen Faktoren soziale Sicherheit, Leistungsprinzip, Motivation und Wettbewerbsfähigkeit“ war prinzipiell kein neues Problem. Die Gestaltung der Rahmenbedingungen für diesen Prozess sollte jedoch schon bald nicht mehr in den Händen der Mitarbeiter liegen.
138 M. Ringpfeil an Direktoren, Vorsitzende der Wiss. Räte u. BGL-Vorsitzende im FBBM, 1.3.1990, ABBAW Buch A 1153.
TEIL III. LOKALE WISSENSCHAFT IN GLOBALER PERSPEKTIVE FALLSTUDIEN ZU FORSCHUNG UND MEDIZINISCHER PRAXIS IN BERLIN-BUCH
III.1. EFFIZIENZ VOR EXZELLENZ KLINISCHE KREBSFORSCHUNG ZWISCHEN SOZIALMEDIZINISCHEM ANSPRUCH UND WISSENSCHAFTLICHEN AMBITIONEN Die Besonderheit der Bucher Institute lag in der engen Verknüpfung von Klinik und Forschungsinstituten – jedenfalls nach dem in der Öffentlichkeit von Beginn an gepflegten Idealbild. Wie die inneren Konflikte der 1960er Jahre zeigten, sah die Realität anders aus.1 Die „theoretischen“ Teilinstitute traten nur in wenigen Fällen in einen direkten Austausch mit der ärztlichen Praxis. Die Leitung der Krebsklinik um Hans Gummel brachte nur ein sehr begrenztes Verständnis für Forschungen auf, die nicht in unmittelbarer Beziehung zu den von ihnen verfolgten Problemen der Krebstherapie und -diagnostik standen. Für den onkologischen Praktiker, so Gummel 1963, zählten keine Zukunftsversprechungen auf kausale Therapien, sondern nur solche Arbeiten, „die dem Krebskranken bereits heute und morgen zugute kommen.“2 Der Klinikchef schloss keineswegs aus, dass die Fortschritte der molekularbiologischen Forschung eines Tages zu völlig neuen Diagnose- und Therapietechniken führen konnten. Nach seiner Überzeugung war eine auf solche Fernziele gerichtete experimentelle Forschung jedoch ein Luxus, den sich weder das IMB noch das DDR-Gesundheitswesen insgesamt leisten konnten. Für den klinischen Leiter eines multidisziplinären Zentrums, das mit dem Anspruch auf erstklassige Forschung gebildet worden war, erscheint diese Haltung erstaunlich kurzsichtig und praktizistisch. Um sie zu verstehen, ist es nötig, die Patientenstruktur und die organisatorische Stellung der IMB-Klinik zu berücksichtigen. Sie war keine hochspezialisierte Forschungsklinik, welche durch Konzentration auf eine klar umrissene Patientengruppe die Entwicklung avancierter Diagnose- und Therapietechniken anstrebte. Sie hatte sich als regionales Behandlungszentrum vorwiegend mit den häufigsten Krebsformen – Lungen-, Brust- und Magenkrebs – auseinanderzusetzen, die im dritten Viertel des 20. Jahrhunderts nur selten effektiv behandelbar und schwer zu diagnostizieren waren. Außerdem war sie eine Institution mit leitenden und beratenden Funktionen für die gesamte Krebsmedizin des Landes. Ihr gesamter Handlungsrahmen war daher von dem Ziel bestimmt, breitenwirksame Vorsorge- und Behandlungskonzepte zu entwickeln, die mit den Möglichkeiten des DDR-Gesundheitssystems zu einer spürbaren Senkung der Krebsmorbidität und -mortalität führen konnten. Die Entwicklung der Bucher Krebsklinik verdeutlicht daher die Probleme, die den alltäglichen Kampf gegen den Krebs prägten. Spektakuläre therapeutische 1 2
Vgl. Kap. II.2., v. a. S. 145–150. H. Gummel, Die biologischen Grenzen der Operabilität maligner Tumoren, Das Deutsche Gesundheitswesen 18 (1963), S. 2217–2222, S. 2222.
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Fortschritte waren in der Onkologie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Ausnahme. Die Regel war – wie neuere Einzelstudien über Teilgebiete des Faches gezeigt haben3 – der langwierige Versuch, die verfügbaren therapeutischen Mittel zu optimieren und die Diagnostik effektiver und breitenwirksamer zu gestalten. Eben diese Prozesse lassen sich am Bucher Beispiel über einen längeren Zeitraum darstellen. Dabei treten die Konflikte zwischen den von verschiedenen onkologischen Teildisziplinen favorisierten Therapiekonzepten ebenso hervor wie die Schwierigkeiten, die Effektivität dieser Konzepte zu bemessen. Regionaler Versorgungsauftrag, internationaler Anspruch In der Gründungsphase des IMB ging es zunächst weniger um den Aufbau einer international konkurrenzfähigen Forschungsklinik als darum, die onkologische Versorgung in Berlin zu zentralisieren und auf ein gutes Niveau zu bringen. Der Wiederaufbau einer Geschwulstklinik an der Charité stieß aufgrund der Lage im Stadtzentrum auf große Probleme.4 Aber auch in Buch bestanden trotz der geringeren Zerstörungen keineswegs ideale Voraussetzungen. Obwohl die SMAD wiederholt auf die Vordringlichkeit des klinischen Teils des neuen Instituts verwies, blieb ihre Unterstützung für das Projekt begrenzt. Das Gebäude war nach dem Auszug der Geburtshilfe-Abteilung des Hufeland-Krankenhauses Anfang 1948 in schlechtem Zustand und praktisch ohne fachgerechte Einrichtung. Für den neuen Nutzungszweck musste es innerlich praktisch komplett umgebaut werden; das Material hierfür wurde zunächst, da kein entsprechender SMAD-Befehl vorlag, auf Akademieebene organisiert.5 Erst im April 1949, 21 Monate nach dem sowjetischen „Gründungsbefehl“, war das Haus baulich und technisch so weit ausgestattet, dass der Klinikbetrieb aufgenommen werden konnte.6 Danach folgte ein rascher und beständiger Ausbau; die Anzahl der anfänglich 55 Betten verdoppelte sich bereits nach drei Jahren und stieg bis 1960 auf 195. Der Mitarbeiterstab wuchs bis 1955 von 40 auf 200 und erreichte 1963 die 400.7 Integraler Bestandteil des Klinikkonzepts war die Poliklinik, die gegen Ende der 1950er Jahre über 9000 Konsultationen und über 4000 Untersuchungen und Behandlungen pro Jahr durchführte. Durch die poliklinischen Untersuchungen sollte nicht nur eine qualifizierte Diagnosestellung für den gesamten Berliner Raum gewährleistet werden; sie sorgten auch für einen ständigen Zulauf neuer Patienten und erweiterten, in späteren Jahren, das Beobachtungsmaterial für klinische Studien. Trotz der ständigen Erweiterung von Räumen und Ausstattung herrschte unter den Bucher Ärzten keine unbedingte Zufriedenheit mit dem Versorgungsstandard 3 4 5 6 7
Lerner 2001; Löwy 2011; Timmermann 2014. W. Friedrich an J. Naas, 9.12.1948, ABBAW AKL 48. G. Wildner, Übersicht über den Aufbau der Geschwulstklinik Berlin-Buch im 1. Hj 1948, 19.7.1948, ABBAW Buch A 62. H. Cramer, Tätigkeitsbericht über das Kalenderjahr 1948, 4.3.1949, ABBAW AKL 48. Tskr. „Entwicklung des Instituts für Medizin und Biologie 1949–1959“; Statistik zur Entwicklung der RRK, Aug. 1964, beide ABBAW Buch A 93.
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des Hauses. Personell war es nach Ansicht von Mitarbeitern schlechter gestellt als andere Großkliniken des Landes; laut Gummel hatte man große Probleme, erstklassige Fachkräfte zu gewinnen, weil die besten Nachwuchsärzte von den Universitätskliniken abgeworben würden.8 Ein besonders dringendes Problem war die Beschäftigung von Krankenschwestern, die wegen des schlechten Lohnniveaus häufig in den Westen abwanderten. Bis zum Mauerbau war Gummels größte Sorge, dass der Bau eines modernen Westberliner Universitätsklinikums wie ein Magnet auf das eigene Personal wirken würde.9 Auch später blieb die Versorgung mit medizinischem Hilfspersonal so schwierig, dass das IMB-Direktorium erwog, sich selbst an einem Ausbildungszentrum für Krankenschwestern zu beteiligen.10 Die große Bedeutung, die den Personalproblemen beigemessen wurde, zeigt deutlich, dass die Sicherstellung einer guten Patientenversorgung für die Ärzte der IMB-Klinik ein wesentlich vitaleres Problem war als die Erzielung guter Forschungsergebnisse. Ohne ausreichend qualifizierte Pflegekräfte nützten die avanciertesten Behandlungstechniken wenig. Dies galt auch für die Versorgung mit alltäglichen Arbeitsmitteln. Wie ein Chirurg 1957 feststellte, fehlte es weniger an Spitzentechnologie als an einer Vielzahl von Werkzeugen, „die Grundlage für unsere Arbeit sind.“11 Insbesondere bei hochwertigem OP-Besteck, das überwiegend aus Westdeutschland importiert werden musste, kam es ständig zu Engpässen. Für eine Klinik, die international erstklassig sein wollte, wogen solche Einschränkungen schwer, da der operative Eingriff die Basis der therapeutischen Arbeit bildete. Hinsichtlich der Diagnoseund Therapietechnik war das Haus Ende der 1950er Jahre im Vergleich mit den meisten DDR-Kliniken sicherlich exzellent ausgerüstet. Seit 1957 war sie auf strahlentherapeutischem Gebiet mit einer kanadischen Kobalt-60-Bestrahlungseinheit auf dem modernsten Stand der Technik. Aus der Sicht britischer Besucher hatte die radiologische und chirurgische Ausstattung ein Niveau, das den Vergleich mit westlichen Großkliniken aushielt.12 Um Anschluss an die internationalen Zentren der Krebsmedizin zu halten, war aber angesichts einer immer schnelleren technischen Entwicklung eine ständige Nachrüstung des Geräteparks notwendig. Im Zeichen der Investitionskrise der 1960er Jahre wurde dies immer schwieriger. Bereits 1961 drohte laut Klinikspitze der Verlust der Wettbewerbsfähigkeit in der Radiomedizin, da das Gesundheitsministerium angeblich bei der Beschaffung neuer Apparate die Charité-Geschwulstklinik bevorzugte.13 Entscheidende Fortschritte sollte die technische Basis der Bucher Radiomedizin im 8 9 10 11 12 13
Protokoll über die Ausprache mit der Kommission Forschung und Lehre und den Mitarbeitern der AB Klinik und Mikrobiologie am 15.3.1957, BAB DY 30/IV 2/9.04/422, Bl. 80–85. Tskr. „Überblick über die Entwicklung der Klinik 1949 bis 1955”, ABBAW Buch A 62. Protokoll zur Sitzung des Rates der Direktoren am 16.12.1965, ABBAW Buch A 19. Protokoll über die Ausprache mit der Kommission Forschung und Lehre und den Mitarbeitern der AB Med. Klinik und Mikrobiologie am 15.3.1957, BAB DY 30/IV 2/9.04/422, Bl. 80–85. Auszug aus dem Bericht einer britischen Delegation über den Besuch von Krankenhäusern der DDR, Dez. 1959, BAB DY 30/IV 2/9.04/422, Bl. 134–141. Gummel und Eichhorn an Frühauf/SFT, 4.12.1961, BAB DF 4/35.
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folgenden Jahrzehnt nicht mehr machen. Gerade in diesem Bereich war es schon aus Gründen der internationalen Reputation wichtig, über neueste Hochleistungsgeräte zu verfügen. Für die Leistungsfähigkeit der Klinik war dieser Punkt allerdings keineswegs so entscheidend, wie es die empörten Beschwerden ihrer Leiter suggerierten. Bis in die 1960er Jahre hatten auch nach optimistischen Einschätzungen weder radiotherapeutische Spitzentechnologie noch neue Medikamente die Krebssterblichkeit wesentlich gesenkt. Die Fortschritte in der Therapie konnten nach Überzeugung der Bucher Kliniker erst dann greifen, wenn eine breitenwirksame Diagnose eine durchschnittlich frühere Erkennung der Krebskrankheiten ermöglichte. Leitbild Früherkennung Das Konzept der Klinik sah vor, dass vornehmlich vier der häufigsten Krebsformen behandelt wurden, nämlich die Geschwulste der Lunge, der Brustdrüse, des Magens und des Gebärmutterhalses. Die Herausbildung dieser Schwerpunkte vollzog sich in den Anfangsjahren nur schleppend, da die Patientenstruktur der hauseigenen Poliklinik breiter gestreut war.14 Bis Mitte der 1950er Jahre wurden etwa 30% der Klinikpatienten wegen anderer Leiden behandelt.15 Auch wenn es in der Folgezeit nie zu einer vollständigen Beschränkung auf die genannten Krankheiten kam, konzentrierten sich doch Therapie und Forschung schließlich auf die in der Mortalitätsstatistik führenden Geschwulstarten. Die Lungenkrebskranken bildeten dabei mit großem Abstand zu den Brust- und Magenkrebspatienten die größte Gruppe.16 Diese Schwerpunktsetzung bedeutete, dass ein großer Teil der Patienten in einem unheilbaren Zustand oder kaum therapierbar war. Lungenkrebs war in den 1950er Jahren weltweit nicht nur die häufigste, sondern auch hoffnungsloseste Krebsdiagnose. Nur 15% der Fälle wurden in einem Zustand erkannt, der überhaupt noch operabel war.17 In den 1950er Jahren überlebten von den in die Bucher Klinik eingewiesenen Lungenkrebskranken – die zu einem überdurchschnittlich hohen Anteil unter das Messer kamen – nur 28% die ersten drei Jahre nach der Behandlung; im folgenden Jahrzehnt stieg dieser Wert immerhin auf 40%.18 Bei den Magenkrebspatienten lag die Überlebensquote nach dem ersten Jahr sogar nur 14 Jahrbuch der DAW 1950/1951, S. 116 15 Tskr. „Überblick über die Entwicklung der Klinik 1949 bis 1955“, ABBAW Buch A 62 16 1949–64 gab es 2400 stationäre Fälle von Bronchial-Carcinomen, vgl. T. Matthes u. a., 20jährige Erfahrungen in der Behandlung des Bronchialkarzinoms aus chirurgischer Sicht II., Archiv für Geschwulstforschung 34 (1969), S. 336–363, S. 337; beim Mamma-Carcinom waren es 1040 Fälle, vgl. H. Berndt, R. Landmann, Zwei epidemiologische Typen des Mammakarzinoms, Archiv für Geschwulstforschung 33 (1969), S. 157–168; beim MagenCarcinom 940 Fälle, vgl. H. Gummel, G. Wittig, H. Berndt, Therapieresultate und Prognose des Magenkrebses, Archiv für Geschwulstforschung 29 (1967), S. 274–291. 17 Timmermann 2014, S. 120. 18 Matthes u. a. 1969 (wie Fn. 16), S. 338.
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bei 23%.19 Angesichts dieser Situation spielte es für die Ärzte des IMB eine bestenfalls untergeordnete Rolle, ob sich durch neue strahlen- oder chemotherapeutische Methoden die Überlebenschancen erhöhen ließen. An eine Verbesserung der Gesamtsituation konnte erst dann gedacht werden, wenn der durchschnittliche Patient erheblich früher zur Behandlung kam als bisher. Der Ausbau der Frühdiagnostik wurde damit zum Angelpunkt der Onkologie. Eine effektivere Erkennung von Krebsfällen hing für Gummel und seine Kollegen nicht allein von verfeinerten Diagnoseverfahren ab, sondern war in erster Linie eine Frage von Organisation und Aufklärung. Eine der ersten statistischen Studien der Klinik widmete sich einem Thema, dessen Bedeutung Gummel immer wieder hervorheben sollte – der „Verschleppung“, das heißt der Verzögerung des Behandlungsbeginns durch verspätetes Aufsuchen eines Arztes oder eine Fehleinschätzung des untersuchenden Mediziners. Nach der Erhebung waren 71% der in den ersten zwei Jahren der Kliniktätigkeit behandelten Fälle „verschleppt“ eingewiesen worden – entweder mehr als 3 Monate nach dem Eintreten deutlicher Symptome oder mehr als einen Monat nach Stellung einer ärztlichen Diagnose. Gummel und der Klinikpathologe Gustav Paul Wildner sahen die „Schuld“ dabei überwiegend auf Seiten der Ärzte.20 Die Therapiemöglichkeiten des Spezialisten blieben begrenzt, solange die krebsdiagnostischen Kenntnisse der Allgemeinmediziner mangelhaft waren. Die IMB-Kliniker legten daher in den Anfangsjahren besonderen Wert darauf, über die Akademie-Sektion für Geschwulstbekämpfung Einfluss auf die ärztliche Fortbildung zu nehmen. Gummel predigte unermüdlich den Wert der Früherkennung, stand aber angesichts der ständigen Konfrontation mit sehr fortgeschrittenen Karzinomen, die von Kollegen falsch diagnostiziert worden waren, oft am Rand der Resignation. Als ein sächsischer Kollege Gummel 1958 vorschlug, seinen nächsten Tagungsvortrag statt dem Problem der Früherkennung dem Thema „vom Operationstisch zum Sarg“ zu widmen, nahm der Chirurg den bitteren Scherz durchaus ernst.21 Noch in einem seiner letzten Artikel betonte Gummel, dass sich viele tödliche Fälle nicht aus einem Mangel an modernem diagnostischem Instrumentarium ergaben, sondern aus ärztlicher Unfähigkeit, die eigenen „Augen, Ohren und Finger“ richtig einzusetzen.22 Pessimismus stellte sich vor allem bei Betrachtung der Situation in der Lungenkrebsbehandlung fast zwangsläufig ein. Nach einer Bestandsaufnahme vom Ende der 1960er Jahre kamen etwa 70% der Lungenkrebspatienten „viel zu spät“, das heißt inkurabel zur Behandlung; fast 30% der Fälle galten als mehr als 6
19 H. Gummel, G. Wittig, H. Berndt, Therapieresultate und Prognose des Magenkrebses, Archiv für Geschwulstforschung 29 (1967), S. 274–291, S. 281. 20 H. Gummel, G. Wildner, Die Bestimmung der Verschleppungszeit bei bösartigen Geschwülsten – ein Gradmesser für den Stand der Krebsbekämpfung, Das Deutsche Gesundheitswesen 6 (1951), S. 619–625. 21 Chefarzt Ziegler/Kirchberg an Gummel, 17.10.1958; Gummel an Ziegler, 28.10.1958, ABBAW Buch B 1976. 22 R. Wilhelm, H. Gummel, G. Marx, Krebsdiagnostik im Jahre 1973 – Wunsch und Wirklichkeit, Das Deutsche Gesundheitswesen 28 (1973), S. 1002–1005, S. 1002.
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Monate „verschleppt“.23 Dabei bestand in der DDR mit den flächendeckenden Röntgenreihenuntersuchungen der Lunge eine scheinbar gute Voraussetzung für die Früherkennung. Die Reihenuntersuchungen dienten ursprünglich dem Kampf gegen die Tuberkulose, wurden mit dem starken Rückgang der Krankheit aber zunehmend für die Lungenkrebs-Früherkennung eingesetzt. Auch wenn in Westdeutschland und den USA sehr ausgedehnte Röntgenscreenings unternommen wurden, nahmen die Röntgenreihenuntersuchungen in der DDR international eine Ausnahmestellung ein. Durch das zentralistische Gesundheitssystem wurden in den 1950er Jahren regelmäßig etwa 86% der Bevölkerung erfasst. Nach Ansicht der IMB-Kliniker bot dieses Beobachtungsnetz eine einmalige Gelegenheit, einen erheblichen Teil der Lungenkrebse in einem noch symptomlosen und daher besser heilbaren Stadium zu erfassen. Um 1960 wurden laut Statistik 40% der stationär behandelten Lungenkrebsfälle in der DDR durch die Reihenuntersuchung aufgefunden.24 In der Bucher Klinik, die viele schwere Fälle aufnahm, lag dieser Anteil niedriger, jedoch schnitten die so diagnostizierten Patienten hinsichtlich Operabilität und Überlebensquoten deutlich besser ab als der Rest. Die Bucher Lungenspezialisten erhoben daher Einspruch, als 1965 eine Umstellung der Untersuchungen auf einen zweijährigem Rhythmus erwogen wurde, da die Chancen auf eine Auffindung operabler Karzinome gegenüber einem Ein-Jahres-Rhythmus erheblich absinken würden.25 Der Wert der Reihenuntersuchungen, das mussten auch ihre engagiertesten Anhänger zugeben, wurde jedoch durch erhebliche praktische Schwierigkeiten beschränkt. Die Erkennung eines malignen Wachstumsherdes war auch für erfahrene Röntgendiagnostiker kaum ohne Weiteres möglich. Für die sichere Unterscheidung eines bösartigen Tumors von gutartigen Gewächsen oder Entzündungen war eine mehrwöchige Beobachtung nötig, die wiederum das Risiko einer Verschleppung beinhaltete.26 In manchen Teilen der Lunge waren kleine Tumore röntgenologisch nicht erkennbar. Hierfür waren isotopendiagnostische Verfahren geeignet, für die seit Ende der 1950er Jahre in Buch eigene Ansätze entwickelt wurden. Mittels eines Radiogoldkohlepräparats ließen sich szintigrafisch lokale Durchblutungsstörungen darstellen, die mit großer Sicherheit als Hinweise auf Tumore gedeutet werden konnten. Jedoch erlaubte dieses Verfahren nur eine
23 T. Matthes u. a., 20jährige Erfahrungen in der Behandlung des Bronchialkarzinoms aus chirurgischer Sicht I., Archiv für Geschwulstforschung 34 (1969), S. 227–239, S. 228. 24 G. Wolff, G. P. Wildner, H. Berndt, Die Früherkennung des Lungenkrebses durch die Röntgenreihenuntersuchung, Das Deutsche Gesundheitswesen 17 (1962), S. 768–774. 25 H. Schwarz, G. Wolff, H. Berndt, Über die Wirksamkeit der Röntgenreihenuntersuchung zur frühzeitigeren Diagnose des Bronchialkarzinoms, Das Deutsche Gesundheitswesen 20 (1965), S. 1889–1893. 26 K. H. Rotte, H. J. Eichhorn, Zum Problem der Differentialdiagnose und der TherapieIndikationen bei sogenannten peripheren Rundherden, Das Deutsche Gesundheitswesen 20 (1965), S. 1783–1790.
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Absicherung bereits gefundener Verdachtsfälle.27 Eine weitere Möglichkeit der diagnostischen Absicherung bot die Bronchoskopie, die Entnahme von Lungengewebe durch ein operativ eingeführtes Abstichrohr. Bis zur Entwicklung flexibler Bronchoskope gegen Ende der 1960er Jahre war dieses Verfahren nur bei lokaler Betäubung möglich und nicht ganz ohne Risiken. Es lag daher in den Händen der Anästhesisten, die nach eigener Methode zwischen 1950 und 1967 etwa 10000 Bronchoskopien – hauptsächlich an Patienten der Poliklinik – vornahmen.28 Das Verfahren war jedoch nicht universal anwendbar; es versagte bei Geschwulsten der Lungenperipherie. Ein großer Teil der Lungentumore konnte erst bei der Operation sicher erkannt werden. Wie in vielen Forschungszentren weltweit wurden in der Bucher Klinik Versuche unternommen, mit der Auffindung serologischer Lungenkrebs-Marker einen neuen diagnostischen Weg zu finden. Die Veränderungen im Bluteiweißspiegel sowie das Auftreten glykolytischer Enzyme, die als deutliche Hinweise auf Lungenkarzinome erkannt worden waren, ließen sich jedoch nicht in Methoden übersetzen, die allein zur sicheren Differentialdiagnostik ausreichten.29 Selbstentwickelte enzymdiagnostische Methoden fanden dennoch ihren Weg in die Praxis; sie wurden in der Nachsorge angewandt, um die mögliche Entstehung von Metastasen zu überwachen.30 Insgesamt hatte sich in den 1970er Jahren die deprimierende Lage hinsichtlich der Erkennung und Behandlung der Krankheit nicht grundlegend verändert. Wie in den 1950er Jahren konnten – in der DDR wie in anderen Industrieländern – nur 15% der Patienten operativ behandelt werden; ebenfalls 15% der Fälle wurden erst durch Sektion nach dem Tod erkannt.31 Obwohl eigene Bucher Statistiken vermuten ließen, dass sich seit Mitte der 1960er Jahre auch die symptomfreie Erkennung der Lungenkrebse nicht mehr verbessert hatte, blieben die leitenden Onkologen des IMB bei der Ansicht, dass eine systematischere Nutzung des Röntgenscreenings die besten Chancen auf Fortschritte bot. 1973 nahmen zwei Mitarbeiter von einem Kongress in Italien den Eindruck mit, dass die Statistiken über die positiven Effekte der Röntgenreihenuntersuchungen im Ausland nicht länger skeptisch
27 W. Gibel, T. Matthes, E. Spode, Der „Radiogoldkohletest“, eine Methode zur Diagnostik pulmonaler Zirkulationsstörungen sowie neoplastischer Lungenerkrankungen, Das Deutsche Gesundheitswesen 18 (1963), S. 433–436. 28 L. Barth, S. Siegel, M. Lüder, H. Ritzow, E. Ritzow, Die endoskopische Diagnose des Bronchialkarzinoms, Archiv für Geschwulstforschung 32 (1968), S. 81–94; zur Methode auch L. Barth, Die Anwendung der Allgemeinbetäubung bei der Bronchoskopie, Thoraxchirurgie 2 (1954), S. 23–30. 29 H. Berndt, H. Schwarz, Das Bluteiweißbild des Bronchialcarcinoms und der chronischen Pneumonie, Archiv für Geschwulstforschung 18 (1961), S. 206–208; G. Sydow, G.P. Wildner, Glykolytische Enzyme und Glykolyse in Lunge und primären Lungenkarzinomen des Menschen, Acta Biologica et Medica Germanica 27 (1971), S. 651–654. 30 R. Ziegenbein, K. Rieche, LDH-Isoenzyme im Serum in der Verlaufskontrolle bei Tumorkranken, Das Deutsche Gesundheitswesen 26 (1971), S. 1337–1340. 31 H. J. Eichhorn, Erfolge der Hochvolttherapie bei inoperablem Bronchialkarzinom, Das Deutsche Gesundheitswesen 32 (1977), S. 2456–2458, S. 2456.
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betrachtet, sondern sogar „allgemein als richtungsweisend anerkannt“ wurden.32 Tatsächlich bestätigten amerikanische Studien in den 1970er Jahren, dass durch Röntgenscreenings gefundenen Patienten durchschnittlich besser operabel waren als solche, die erst nach dem Auftreten von Symptomen eine Klinik aufsuchten. Zugleich wurde jedoch sichtbar, dass sich die durchschnittlichen Überlebenszeiten beider Gruppen nicht wesentlich unterschieden. Eine Erklärung für diesen erstaunlichen Befund, der durch analoge Ergebnisse über den Brustkrebs bestärkt wurde, lag darin, dass das radiodiagnostische Screening lediglich zur vermehrten Auffindung langsam wachsender Tumore führte, die sich sonst nicht oder erst viel später gefährlich entwickelten.33 Diese Vermutung erschütterte die Hoffungen in die Früherkennung insgesamt, denn wenn die Heilbarkeit von Tumoren nicht vom Zeitpunkt ihrer Entdeckung abhing, war auch das Paradigma der Rettung durch möglichst frühzeitige Operation hinfällig. Auch in Buch zeichnete sich ein Umdenken ab. Als Mitte der 1970er Jahre die Reihenuntersuchungen aus Kostengründen auf einen zweijährigen Rhythmus zurückgefahren wurden, warnte der zuständige Bucher Experte, dass sich die Maßnahme unmittelbar negativ auf die Auffindung operabler Lungenkarzinome auswirken werde.34 Letztlich konnte man sich aber nicht der Einsicht einziehen, dass die Massenscreenings weniger effektiv als erhofft und zudem zu aufwändig waren. Diagnostik für die Massen? Die Orientierung am Prinzip der Früherkennung zeigt, wie sehr die Bucher Vorstellungen von Krebsbekämpfung durch die Bedingungen des DDR-Gesundheitssystems geprägt waren. Der zentralisierte Apparat erlaubte flächendeckende Untersuchungen. Zugleich waren die Mittel für kostenintensive diagnostische und therapeutische Ansätze sehr begrenzt – zwar nicht unbedingt in Buch, aber doch in den meisten Kliniken der DDR. Das Ideal eines optimalen Einsatzes der vorhandenen Mittel durchzog alle öffentlichen Ausführungen der Bucher Kliniker zur Organisation der Krebsmedizin. So betonten Gummel und seine Mitarbeiter 1965, dass „alle bisherigen Erfolge der Krebsbehandlung auf Fortschritten der Diagnostik beruhen und deshalb unsere Bemühungen auf die weitere Verbesserung der Erfassung gerichtet sein müssen.“35 Den sich zu diesem Zeitpunkt bereits abzeichnenden Paradigmenwechsel in der Bewertung der Früherkennung ignorierten 32 T. Schramm, W. Widow, H. Hermann, Kongreßbericht: 2. Internationales Symposium für Krebsfrüherkennung und Krebsprävention, Bologna, Italien, 9.–12.4.1973, Archiv für Geschwulstforschung 42 (1973), S. 244–252. 33 Timmermann 2014, S. 131. 34 S. Tanneberger, Protokoll der Sitzung des Wissenschaftlichen Beirates des Forschungsverbandes Geschwulsterkrankungen 20.5.1976, ABBAW Buch A 909. 35 H. Berndt, H. Gummel, G. P. Wildner, Zur Problematik und weiteren Entwicklung der Krebsbekämpfung in der Deutschen Demokratischen Republik, Das Deutsche Gesundheitswesen 20 (1965), S. 786–798, S. 790.
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sie dabei keineswegs. Neuere westliche Beobachtungen zum Brustkrebs hatten gezeigt, dass eine frühe Diagnose nicht unbedingt eine günstige Prognose bedeutete. Es hing demnach von Lokalisation und Beschaffenheit des Tumors ab, ob er sich langsam oder aggressiv entwickelte. Man sprach in diesem Zusammenhang von der individuellen biologischen Wertigkeit der Tumore.36 Gummel und Kollegen nahmen diese Interpretation ebenso auf wie die damit verbundene Annahme, dass man durch umfassende Frühdiagnostik vielleicht mehr Krebserkrankungen erkannte, aber nicht notwendigerweise die Krebssterblichkeit senkte. Sie warnten aber energisch vor dem Schluss, deshalb die Wirksamkeit jeglicher Früherkennung anzuzweifeln. Der Fall der Lungendiagnostik hatte jedoch gezeigt, dass den Möglichkeiten, die Heilungsergebnisse durch eine lückenlose und regelmäßige Untersuchung der Gesamtbevölkerung zu verbessern, enge Grenzen gesetzt waren – allein schon aus ökonomischen Gründen. Für die Bucher Ärzte war es selbstverständlich, dass die Bewertung neuer diagnostischer Techniken stets von der Kalkulation des Verhältnisses von Aufwand und Nutzen auszugehen hatte – und zwar nicht nur bezogen auf die eigene Klinik, sondern auf das ganze Land. Wie der Leiter der Poliklinik, Hans Berndt, 1971 betonte, war auch in der Gesundheitsfürsorge stets die ökonomische Gesamtsituation der DDR zu berücksichtigen, die es erforderte, „Prioritäten zu setzen, die beschränkten Mittel mit größter Aussicht auf einen meßbaren Erfolg einzusetzen.“37 In diesem Sinne kam es etwa nicht in Frage, das erfolgreichste Modell präventiver Diagnostik zu übernehmen – den flächendeckenden Einsatz von Magenspiegelungen, durch den in Japan eine wesentliche Verbesserung im Kampf gegen den Magenkrebs erreicht worden war. Angesichts der in Mitteleuropa viel geringeren Magenkrebsraten erschien der hohe Aufwand für ein solches Projekt nicht tragbar. Anders lagen die Voraussetzungen beim Gebärmutterhalskrebs, der mittels eines relativ einfachen zytologischen Testverfahrens frühzeitig diagnostiziert werden konnte. Nach einer Kosten-Nutzen-Analyse konnte ein umfassendes Vorsorgeprogramm in der DDR so viele Frauen vor Tod und Arbeitsunfähigkeit retten, dass der Aufwand mehr als gerechtfertigt war.38 Der Fall der Zervixkarzinom-Diagnose war ein Positivbeispiel der Früherkennung, aus dem man, wie Berndt betonte, jedoch keine zu optimistischen Schlüsse auf die Aussichten der gesamten Krebsvorsorge ziehen durfte. Die Erkennung früher Stadien der Krankheit in Abstrichen verbreitete sich bereits in der Zwischenkriegszeit. Das zytologische Standardverfahren, nach seinem Entwickler George Papanicolaou „Pap-Test“ genannt, wurde in der Nachkriegszeit in größeren Untersuchungsreihen angewendet und wurde in den 1960er Jahren, etwa in Großbritannien, zum Standardverfahren nationaler Gesundheitssysteme.39 Am IMB bestanden für die Entwicklung eines eigenen Vorsorgeprogramms eigentlich 36 Lerner 2001, S. 98–106. 37 H. Berndt, Grundsätzliche Probleme der Früherkennung des Krebses, Archiv für Geschwulstforschung 38 (1971), S. 287–309, S. 294. 38 Ebd., S. 297 39 Löwy 2011, S. 107–128.
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gute Voraussetzungen. In der gynäkologischen Abteilung der Klinik verfolgte Walter Eschbach einen eigenständigen Weg der zytologischen Erfassung früher Kanzerisierungsstufen im Uterus. Dabei ging es ihm nicht allein um die Entwicklung eines praxistauglichen Früherfassungs-Verfahrens, sondern um ein allgemeines Modell der Krebsentstehung. Während die Kanzerisierung nach seiner Auffassung überwiegend entsprechend einem „Alles-oder-Nichts-Schema“ gedeutet wurde, glaubte er durch seine auf Hunderten von Patientinnen-Abstrichen beruhenden Untersuchungen erstmals gezeigt zu haben, dass sich die Tumorentstehung in mehreren, zytologisch klar unterscheidbaren Stufen vollzog.40 Als wegweisend für die gesamte Onkologie betrachtete er auch seinen Befund, dass in der Pathogenese des Zervixkarzinoms „onkogen-infektiöse Nukleoproteide“ auftraten. In den 1960er Jahren, lange bevor eine virusbedingte Entstehung der Krankheit von anderen Forschern in Betracht gezogen wurde, konzentrierte sich Eschbach, allerdings ohne entscheidenden Erfolg, vor allem auf die Identifizierung dieses onkogenen Virus.41 Obwohl große Erfahrungen mit der zytologischen Untersuchung auf Frühformen des Zervixkarzinoms bestanden, ging die Initiative zum Massenscreening nicht von Buch aus. Ein erster Modellversuch wurde zu Beginn der 1970er Jahre im Bezirk Rostock durchgeführt;42 erst dann begann ein entsprechendes Programm für den Berliner Raum unter Beteiligung der Bucher Klinik. Die Erfolge des Rostocker Programms führten zu Überlegungen, eine jährliche Pflichtuntersuchung für alle Frauen zwischen dem 20. und dem 60. Lebensjahr einzuführen. Berndt hielt solche Zwangsmaßnahmen weder für ratsam noch für durchführbar. Die Reichweite der Screeningprogramme war nämlich keineswegs durch fehlendes Interesse der potentiellen Teilnehmerinnen limitiert, sondern durch einen Mangel an zytologischen Laboratorien.43 Dieser Engpass wurde wiederholt als eines der wesentlichen Hindernisse für die Krebsvorsorge beklagt – nicht nur in Bezug auf das Zervixkarzinom, sondern auch auf Lungen- oder Harnwegserkrankungen. Außerhalb von Zentren wie Buch fehlte es dem Gesundheitswesen an zytologisch geschultem Fachpersonal. Aus diesem Grund wurden der Ausbau und die Zentralisierung entsprechender Laborkapazitäten das eigentliche Kernstück des Programms.44 Abgesehen von diesem Manko waren die Zervixkarzinom40 W. Eschbach, R. Huber, U. Bergmann, Gegenwartsfragen der Diagnostik, Ausbreitung und Therapie des Zervixkarzinoms und seiner Vorstufen I., Archiv für Geschwulstforschung 41 (1973), S. 336–358, S. 338. 41 Vgl. hierzu auch diese Arbeit S. 309f. 42 H.G. Neumann u. a., Modell zur Reihenuntersuchung einer weiblichen Population auf Computerbasis zwecks Früherfassung des Zervixkarzinoms, Das Deutsche Gesundheitswesen 27 (1972), S. 1762–1770. 43 H. Berndt, Zur Problematik der Früherfassung des Zervixkarzinoms in einem Landkreis – Erwiderung, Das Deutsche Gesundheitswesen 30 (1975), S. 2105 44 T. Matthes u. a., 20jährige Erfahrungen in der Behandlung des Bronchialkarzinoms aus chirurgischer Sicht I, Archiv für Geschwulstforschung 34 (1969), S. 227–239, S. 230; Konzeption zur weiteren Entwicklung der Geschwulstbekämpfung in der Hauptstadt Berlin, Juli 1976, ABBAW Buch A 909.
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Untersuchungen geradezu ideal für ein Screeningprogramm geeignet. Der weibliche Teil der Bevölkerung stand auch ohne besondere Pflichttermine oder „Aufklärungsmaßnahmen“ unter regelmäßiger ärztlicher Beobachtung; die Untersuchungen konnten in die gynäkologische Grundversorgung integriert, das heißt auch durch Hausärzte durchgeführt wurden. In einigen „Modellbezirken“ wurde so Ende der 1970er Jahre eine nahezu vollständige Erfassung erreicht.45 Ganz anders stellte sich die Situation auf dem Gebiet der Brustkrebsfürsorge dar. In den 1960er Jahren verbreitete sich mit der Mammographie international ein radiologisches Diagnoseverfahren, das eine Früherkennung von Tumorherden zu garantieren schien, die durch Tastbefunde nicht erkennbar waren. Großangelegte Screeningprogramme wurden vor allem in den USA begonnen, gerieten aber im folgenden Jahrzehnt zunehmend in die Kritik. Nach Annahme der Kritiker war bei regelmäßigen Untersuchungen die Strahlenbelastung so hoch, dass potentiell mehr neue Tumore ausgelöst als zusätzlich erkannt wurden.46 An der DDR ging diese Risikodebatte zwar nicht völlig vorbei, war aber eher nebensächlich. Aufgrund des materiellen Aufwandes stand der Aufbau eines engmaschigen Screeningsystems nicht zur Diskussion. Die Bucher Klinik nutzte zwar frühzeitig mammographische Verfahren, setzte sie aber vor allem ein, um bereits diagnostizierte Tumore genauer zu charakterisieren.47 Die wichtigste Vorsorgetechnik blieb der Tastbefund. Eine genauere Untersuchung der Effektivität mammographischer Reihenuntersuchungen als Früherkennungsverfahren setzte erst in den späten 1970er Jahren ein, als der Streit um ihr Gefahrenpotential im Westen bereits wieder abflaute. Die Ergebnisse legten zwar nahe, die Mammographie nicht mehr nur als Hilfsmethode einzusetzen; eine routinemäßige Anwendung erschien aufgrund weiterhin begrenzter Kapazitäten sowie der Frage der Strahlenbelastung aber nicht durchführbar.48 Die eigenen und internationalen Erfahrungen deuteten immer deutlicher darauf hin, dass umfassende Früherkennungsprogramme nur selten die Fortschritte erbrachten, die man sich von ihnen erhofft hatte. Außerdem überforderten sie die Möglichkeiten des Gesundheitssystems. So war selbst nach der Einschränkung der Röntgenreihenuntersuchungen, gegen welche die Bucher Kliniker protestiert hatten, kaum ausreichend Personal vorhanden, um das anfallende Material ausreichend auszuwerten. Um das Programm den Ressourcen anzupassen, wurde eine „differenzierte prophylaktische Betreuung auf Grund der Höhe des Tabakkonsums und der beruflichen Exposition für bestimmte Altersklassen“ vorgeschlagen.49 Damit ging man zu einer Einschränkung der Screeningaktivitäten auf „Risiko45 K. Ebeling u. a., Screening zur Verhütung und Früherkennung des Zervixkarzinoms in der DDR – eine Analyse, Archiv für Geschwulstforschung 51 (1981), S. 663–671. 46 Lerner 2001, S. 196–222. 47 J. Hüttner, H. Berndt, H. J. Eichhorn, The value of mammography for clinical TNM staging of breast cancer, Archiv für Geschwulstforschung 41 (1973), S. 228–231. 48 E. Kriedemann, E. Noffke, Die Bedeutung der Mammographie für die Frühdiagnostik des Mammakarzinoms, Archiv für Geschwulstforschung 51 (1981), S. 691–703. 49 S. Tanneberger, Protokoll der Sitzung des Wissenschaftlichen Beirates des Forschungsverbandes Geschwulsterkrankungen am 20.5.1976, ABBAW Buch A 909.
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gruppen“ über, wie sie in der internationalen Kreislaufmedizin seit längerer Zeit etabliert war.50 Dieser Schwenk war weniger ein Ideenimport als die logische Folge der eigenen negativen Erfahrungen. Eine so breit anwendbare und präzise Untersuchungsmethode wie das zytologische Zervixscreening war für andere Krebserkrankungen nicht in Sicht. Zu Beginn der 1980er Jahre stellten die Spitzen der DDR-Onkologie fest, dass „der Mangel an in größerem Umfang anwendbaren Untersuchungsverfahren zur Aufdeckung präinvasiver oder kleinster invasiver Krebse den Erfolg derzeit stärker limitiert als das Wissen über die formale Entwicklung des Krebses,“ weshalb international wie national die „Einstellung zu ungezielten Massenscreeningaktivitäten kritischer geworden“ sei.51 Aber auch die Beschränkung auf kleinere Risikopopulationen war problematisch. Selbst bei einer Gruppe mit großer Erkrankungswahrscheinlichkeit musste ein höherer diagnostischer Aufwand nicht unbedingt umsetzbar und effektiv sein. Männliche Raucher über 50 Jahren zeigten etwa ein so deutlich erhöhtes Aufkommen von Lungenkarzinomen, dass regelmäßige Röntgenuntersuchungen geboten schienen. Allerdings war diese Gruppe so groß und die Heilungsaussichten so gering, dass man keine Rückkehr zur Reihenuntersuchung erwog, sondern nur eine intensivere Diagnostik im Rahmen der haus- und betriebsärztlichen Betreuung.52 Beim Brustkrebs war eine Reihe von Risikofaktoren bekannt – Kinderlosigkeit, familiäre Belastung, ausgeprägte Mastopathien – die aber nach den statistischen Befunden das Erkrankungsrisiko nicht so weit heraufsetzten, dass eine scharfe Gruppendefinition möglich war. Ähnlich stand es bei den Magenkrebsen, deren Auftreten zudem im Rückgang begriffen war, weshalb der Sinn größerer Screeningprogramme zweifelhaft erschien. Trotz dieser Probleme schlug sich das Konzept der gruppenspezifischen Vorsorge in den gesundheitspolitischen Programmen nieder – so etwa in den Ende der 1970er Jahre in der DDR und auf RGW-Ebene diskutierten Versuchen, die Früherkennungs-Praktiken für die wichtigsten Tumorformen zu vereinheitlichen.53 Die früheren Hoffnungen, dass eine systematische Nutzung der vorhandenen Diagnosetechniken eine deutliche Verbesserung der Behandlungsergebnisse ergeben würde, waren zu dieser Zeit jedoch verblasst. Parallel schwanden auch alte Gewissheiten hinsichtlich der Behandlungsmethoden.
50 Timmermann 2012. 51 T. Schramm u.a., 6. Krebskongreß der DDR mit internationaler Beteiligung. Berlin, 2.–5. März 1981, Archiv für Geschwulstforschung 51 (1981), S. 551–560, S. 551. 52 H. Berndt, Screening und Risikogruppenkonzeptionen in der Onkologie, Archiv für Geschwulstforschung 51 (1981), S. 655–661, S. 659. 53 RGW-Komplexprogramm „Maligne Neubildungen“, Thesen zur Diagnostik bösartiger Geschwülste (Brustdrüsenkrebs, Magenkrebs, kolorektale Tumoren, Urogenitaltumoren), Archiv für Geschwulstforschung 50 (1980), S. 72–80.
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Primat des Skalpells Für die Mehrheit der Bucher Kliniker war die Früherkennung darum essenziell, weil nur bei einem jungen Tumor der Lunge, der Brustdrüsen oder des Magens Aussicht auf eine erfolgreiche operative Entfernung bestand. Dass der Königsweg zu einer wirklichen Heilung über das Skalpell führte, stand für die Chirurgen außer Frage. Obwohl die Spezialisierung der Krebstherapie eng mit der Bildung von Zentren für Radiotherapie verbunden war, befand sich die Krebsbehandlung doch überwiegend in den Händen von Chirurgen.54 In Buch war nach den ursprünglichen Plänen für die medizinische Nutzung des Neutronen- und Röntgengenerators eigentlich eine starke Stellung der Strahlentherapie vorgesehen. Gegen Ende der 1950er Jahre verfügte die Klinik über eine gut ausgerüstete Radiologie. Dennoch wurden die Behandlungspläne weitgehend von den Herren des Operationssaales bestimmt. Die Strahlentherapie – die Chemotherapie wurde bis in die späten 1960er Jahre nur als drittrangige Option wahrgenommen – galt zwar in Einzelfällen als erfolgversprechender Ansatz, wurde aber nur dort als Methode der Wahl zugelassen, wo eine radikale operative Entfernung des Tumors nicht möglich erschien. Diese Verhältnisse waren weder typisch für Buch noch für die DDR insgesamt. Auch in Großbritannien und den USA dominierten in den Nachkriegsjahrzehnten die Chirurgen die Krebstherapie und erschwerten dabei das Aufkommen neuer Behandlungsformen.55 Die Radiologen akzeptierten diese Machtverhältnisse keineswegs. Konflikte gab es insbesondere auf dem Gebiet, das auch international Schauplatz heftiger Kontroversen war: der Brustkrebs-Therapie. Obwohl die Fortschritte der Strahlentherapie gerade hier neue Möglichkeiten eröffnete, blieb die möglichst radikale Brustamputation bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts die international vorherrschende Methode. Die zu Beginn des 20. Jahrhundert von William S. Halsted etablierte Radikaloperation, bei der neben der befallenen Brust auch das angrenzende Muskelgewebe und die axilliaren Lymphknoten entfernt wurden, wurde von einigen Chirurgen mit der Begründung ausgeweitet, dass eine möglichst weitgehende Entfernung von Metastasen erreicht werden müsse. Barron Lerner hat gezeigt, dass in den USA die Tendenz zur chirurgischen Rücksichtslosigkeit durch die militärmedizinischen Erfahrungen vieler Ärzte und das politische Klima des Kalten Krieges verstärkt wurde.56 Auch wenn man in der DDR martialische Formulierungen wie jene vom „Krieg gegen den Krebs“ tunlichst vermied, befand sich die Behandlung des häufigsten weiblichen Krebses in der Hand von Männern, für die entschlossenes Zupacken erstes Gebot war. Dies schloss die Einbeziehung radiologischer Techniken keineswegs aus. Eine 1955 von Hans Gummel und einigen Kollegen der Akademie-Sektion für Geschwulstkrankheiten veröffentlichte Stellungnahme empfahl für die operablen Stadien des Mamma-Karzinoms eine Vorbestrahlung; 54 Van Helvoort 2001. 55 Lerner 2001, S. 69–91; Timmermann 2014, S. 93–117. 56 Lerner 2001, S. 71–76.
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die Operation selbst sollte allerdings nach dem radikalen Halsted-Schema durchgeführt werden. Dringend wurde davon abgeraten, sich bei der Operation von „kosmetischen Gesichtspunkten“ leiten zu lassen.57 Dass das möglichst weitgehende Ausschneiden des an die Brust angrenzenden Gewebes der beste Schutz gegen eine Ausbreitung der Tumors war, wurde offenbar von keinem der an der Diskussion beteiligten Chirurgen infrage gestellt. Zweifel wurden nur vom IMBChefradiologen Hans-Jürgen Eichhorn angemeldet. Aus seiner Sicht war es sinnlos, auf eine operative Entfernung möglicher Metastasen zu hoffen, da auch in den operativen Stadien das Krebswachstum in den Lymphgeweben bereits zu weit fortgeschritten sei. Eichhorn propagierte das Verfahren des schottischen Chirurgen Robert McWhirther, bei dem eine immer noch vollständige Brustamputation mit einer gründlichen Vorbestrahlung der Lymphgewebe kombiniert wurde. Für viele Chirurgen war die Vorbestrahlung trotz dieser Argumente ein überflüssiger Arbeitsschritt. Ein Mitglied der Geschwulst-Sektion der DAW beschwerte sich etwa, sie mache die chirurgische Therapie unpraktikabel, da sie die nötige Operation um einige Wochen verzögere, was weder in therapeutischer Hinsicht noch für die Psyche der Patientin akzeptabel sei.58 Dennoch war die Kombination von Vorbestrahlung und Radikaloperation laut Heinrich Cramer, dem ersten IMB-Klinikchef, in den Nachkriegsjahren in ganz Deutschland verbreitet.59 In der Bucher Krebsklinik wurde dieses Verfahren bis in die späten 1950er Jahre regelmäßig praktiziert. Dann jedoch vollzogen Gummel und seine Chirurgen-Kollegen einen radikalen Sinneswandel. 1960 publizierten sie eine heftige, geradezu militante Attacke gegen die Vorstellung, dass allein die Kombinationsbehandlung akzeptable Ergebnisse garantiere. Grundlage ihrer Kritik war eine Revision der verfügbaren Statistiken. Internationale Zahlen zeigten zwar, dass sich die Überlebensquoten seit der Einführung der Vorbestrahlung verbessert hatten. Für Gummel und Kollegen bewiesen diese Angaben aber nicht die Überlegenheit der Kombinationsbehandlung, da sich seit der Vorkriegszeit die Früherkennung, folglich also auch die Prognose der durchschnittlichen Patientin klar verbessert habe.60 Ihr eigenes Zahlenmaterial reichte zwar noch nicht aus, die Gleichwertigkeit – oder Überlegenheit – der alleinigen Radikaloperation zu beweisen; sie sahen jedoch keinerlei Grund, am Glauben an die Überlegenheit der Vorbestrahlung festzuhalten. Es schien ihnen vielmehr naheliegend, dass die Strahlenbehandlung tatsächlich mehr schadete als nutzte, da sie die Resistenz der überlebenden Metastasenherde steigere. Alle Aussagen über die effektivste Form der Brustkrebstherapie waren weitgehend spekulativ, da es an experimentellen Grundlagen ebenso mangelte wie an verlässlichen statistischen Vergleichen der Ergebnisse verschiedener Behand57 F. Gietzelt, H. Gummel, F. Mörl, Zur Frage des Mammacarcinoms, Das Deutsche Gesundheitswesen 10 (1955), S. 1493–1500. 58 A. Fromme/Dresden an W. Felix 13.7.1956, ABBAW Buch B 1978. 59 H. Cramer Aufgaben und Möglichkeiten moderner Krebstherapie, Archiv für Geschwulstforschung 1 (1949), S. 166–181, S. 180. 60 H. Gummel, W. Widow, R. Huber, Kritische Betrachtungen zur präoperativen Bestrahlung des Brustdrüsenkrebses, Das Deutsche Gesundheitswesen 15 (1960), S. 329–337.
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lungsformen. So lange verschiedene Kliniken jeweils nur bestimmte Verfahren anwandten – zudem an unterschiedlich strukturierten Patientengruppen – stand jeder Vergleich auf unsicheren Füßen. Da die bestrahlungskritische Haltung intern auf Widerspruch stieß, entschied die Klinikleitung 1962, kontrollierte vergleichende Versuchsreihen durchzuführen.61 Kontrollierte klinische Versuche – im englischen Sprachgebrauch als „randomized clinical trials“, von den Bucher Klinikern als „alternierende Reihen“ bezeichnet – basierten auf dem Gedanken, zufällig ausgewählte, aber in ihrer Zusammensetzung vergleichbare Patientenkollektive nach verschiedenen Therapieprotokollen zu behandeln. Zu Beginn der 1960er Jahre war dieser Ansatz weltweit eher ein methodologisches Ideal als eine etablierte Praxis. Seine Umsetzung stellte auch spezialisierte Kliniken vor Probleme. Einerseits erforderten sie hohe Patientenzahlen. Gummel begründete seine Forderung, die Klinik müsse auf mindestens 250 Betten ausgebaut werden, wiederholt mit dem Argument, dass nur so klinische Studien mit aussagekräftigen statistischen Ergebnissen möglich seien.62 Andererseits mussten das Patientengut und die Behandlungsformen langfristig auf die Erfordernisse vergleichender Studien ausgerichtet werden. Laut Gummel hatte die Klinik durch die Konzentration auf die vier häufigsten Krebsformen zwar eine hervorragende Ausgangsposition; jedoch waren „alternierende Reihen“ damit noch nicht ohne Weiteres möglich, da „qualitative Unterschiede in der Zusammensetzung des Krankengutes, die sich im Verlaufe der Jahre aus äußeren Umständen und aus den sich mit der zunehmenden eigenen Erfahrung wandelnden Selektionsmethoden ergaben, wichtige systematische Vergleiche behindern, wie z.B. den Vergleich zwischen verschiedenen Behandlungsmethoden beim gleichen Tumorstadium usw.“63 Selbst bei konsequenter Auswahl der Patienten war ein solcher Vergleich für eine einzelne Klinik ein Wagnis. Die Sammlung eines statistisch aussagekräftigen Materials dauerte mehrere Jahre und schloss zudem eine Nachbeobachtung von mindestens fünf Jahren ein. Das IMB entschied daher 1962, seine Vergleichsreihen in Kooperation mit fünf weiteren Kliniken durchzuführen. Der Grundsatz der zufälligen Patientenauswahl stellte auch ein ethisches Problem dar. War es vertretbar, eine größere Anzahl an Patienten einer Therapie zu unterziehen, die möglicherweise unzureichend war? Unter britischen Onkologen stand diese Frage im gleichen Zeitraum im Zentrum einer äußerst kontroversen Debatte um die Durchführung von „randomized controlled trials“.64 Gummel und sein Chemotherapie-Experte Giovanni Bacigalupo sahen keinen Grund, an der ethischen Vertretbarkeit des Verfahrens zu zweifeln, „solange der positive Wert einer Zusatzbehandlung nicht unumstritten bewiesen ist.“65 Strahlen- oder Chemotherapie 61 H. Gummel, Jahresbericht 1962 der RRK, 7.2.1963, ABBAW Buch A 11. 62 ZFT, Bericht über Besprechung zum Projektierungsvorhaben Röntgenstation des IMB, 29.3.1956, BAB DF 4/40566. 63 Gummel, Jahresbericht 1961 der RRK, 10.2.1962, ABBAW Buch A 11. 64 Timmermann 2014, S. 104–108. 65 G. Bacigalupo, H. Gummel, Zur Frage der Rezidiv- und Metastasierungsbeeinflussung beim Mammakarzinom durch Kombination der Radikaloperation mit zytostatischer Therapie, Das Deutsche Gesundheitswesen 17 (1962), S. 1839–1845, S. 1844.
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wurden also nur als therapeutische Ergänzungen wahrgenommen, deren Wert vorläufig zweifelhaft war. Die Vorrangigkeit der bewährten Operationsverfahren – jedenfalls bei operablen Fällen – stand nicht zur Debatte. Dass man nicht in jedem Fall bereit war, bewährte Therapieformen auf die Probe zu stellen, zeigt die gleichzeitige Diskussion um die Behandlung des Bronchialkarzinoms. Obwohl es auch hier Hinweise auf den Wert einer Zusatzbestrahlung gab, lehnten die Chirurgen die Durchführung einer alternierenden Serie ab, „um eine Beeinträchtigung der bisher erzielten operativen Ergebnisse durch die Kombinationsbehandlung zu vermeiden.“66 Die Radiologen mussten sich mit der Beobachtung von Einzelfällen begnügen, in denen ihnen Patienten zur Vorbestrahlung überlassen wurden. Da allerdings nur etwa ein Viertel der Lungenkrebspatienten überhaupt als operabel eingeschätzt wurde, wurde hier ein großer Teil ausschließlich strahlentherapeutisch versorgt. Ein Vergleich mit den Ergebnissen der chirurgischen Behandlung war so freilich nicht möglich. Eichhorn wies wiederholt darauf hin, dass bei mit modernen Hochleistungsapparaten vorbestrahlten Lungentumoren die Operateure oft auf vollständig zerstörte Primärtumore und Lymphknoten-Metastasen stießen.67 Diese Beobachtungen konnten die Chirurgen aber nicht davon überzeugen, dass mittels Vorbestrahlung tatsächlich bessere Überlebensraten erreicht wurden als bei alleiniger Radikaloperation an der Lunge. Aus ihrer Sicht verursachte die Vorbestrahlung beim Bronchialkarzinom vor allem übermäßige Risiken. So lange operabel erscheinende Lungenkrebspatienten in der Bucher Klinik – bis 1962 – vorbestrahlt wurden, wurde dabei oft eine Verschlechterung des Zustandes beobachtet. Nach Ansicht der Chirurgen erhöhte die Radiotherapie hier allein das Risiko von Komplikationen beim Eingriff sowie die postoperative Sterblichkeit.68 Ihre angeblich negative Auswirkungen erklärten Gummel und seine Kollegen damit, dass die Strahlenwirkung das körperliche Immunsystem schwäche. Da durch einen operativen Eingriff im Körper Krebszellen freigesetzt würden, die sich über die Blutbahn verteilten, erhöhe sich so die Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Krebszellen an anderer Stelle festsetzten und neue Metastasen bildeten.69 Mit diesem Konzept des „Zellschauers“ wurde auch begründet, warum der Eingriff möglichst umfassend und in einem Schritt durchgeführt werden sollte. Die Bucher Chirurgen lehnten daher auch Probeexstirpationen ab, die zur präoperativen Charaktierisierung der Geschwulst durchgeführt wurden, da schon kleinere Schnitte im Verdacht standen, Metastasierungen zu begünstigen.70
66 H. Gummel, Jahresbericht 1962 der RRK, 7.2.1963, ABBAW Buch A 11. 67 H. J. Eichhorn, Die Stellung der Strahlentherapie in der Behandlung des inoperablen und des operablen Bronchialkarzinoms, Deutsche Medizinische Wochenschrift 90 (1965), S. 1157– 1164. 68 T. Matthes u. a., 20jährige Erfahrungen in der Behandlung des Bronchialkarzinoms aus chirurgischer Sicht II., Archiv für Geschwulstforschung 34 (1969), S. 336–363, S. 349–350. 69 H. Gummel, Die biologischen Grenzen der Operabilität maligner Tumoren, Das Deutsche Gesundheitswesen 18 (1963), S. 2217–2222. 70 W. Widow, H. Gummel, Zur frühen Erfassung des Mammakarzinoms mit einfachen Untersuchungsmethoden, Das Deutsche Gesundheitswesen 20 (1965), S. 2053–2060.
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So lange den Radiologen, wie im Falle des Bronchialkarzinoms, nur die hoffnungslosen Fälle zur Behandlung blieben, waren sie kaum in der Lage, diese Vorstellungen zu widerlegen. Eine Übersicht, die Eichhorn und seine Mitarbeiter 1966 veröffentlichten, machte deutlich, dass dies nicht nur für ihre eigene Institution galt. Für die alleinige Strahlenbehandlung des Lungenkrebses gab es weltweit kaum aussagekräftige Zahlen, die sich auf operable Fälle bezogen. Bei den inoperablen Fällen waren die Überlebensziffern verschwindend gering; angesichts der Hoffnungslosigkeit bei den fortgeschrittenen Lungenkrebsfällen wurde die Bestrahlung hier ohnehin eher als palliative Maßnahme angesehen. Die Behandlung mit Hochvolttechnologien wie der Kobaltbombe, über welche die Klinik seit 1957 verfügte, war zu diesem Zeitpunkt noch so neuartig, dass kaum langfristige Beobachtungen vorlagen.71 Für das Mammakarzinom existierten indessen erste westliche Beobachtungen zur alleinigen Strahlenbehandlung operabler Stadien, die nahelegten, dass mittels neuester Technik ähnliche Überlebensquoten wie durch Radikaloperation erreicht werden konnten. Auch für den in Buch behandelten Gebärmutterhalskrebs sowie einige weitere Krebse äußerer Organe lagen ähnliche Zahlen vor, die Wasser auf die Mühlen der Radiologen lieferten. Für Eichhorn und Kollegen war dies Grund genug zu fordern, „verstümmelnde Radikaloperationen ... zurückzustellen, wo die Strahlenbehandlung die gleichen Heilungschancen bietet, zumal solche Eingriffe als ultima ratio auch danach noch eingesetzt werden können.“72 Bessere Technik, strahlende Zukunft? Die schwache Stellung der Strahlentherapie, die in solchen Appellen ihren Niederschlag fand, war repräsentativ für die gesamtdeutsche Situation in den Nachkriegsjahrzehnten. Laut Ton van Helvoort konnten die deutschen Radiologen keine vergleichbar starke Position in der Onkologie aufbauen wie ihre Kollegen in anderen Industrieländern, da die Bildung von nationalen Krebszentren mit leistungsfähiger Bestrahlungstechnik ausblieb.73 Buch war als ein solches Zentrum konzipiert, und doch blieb der Anwendungsbereich der Strahlentherapie beschränkt. Dies lag nicht allein am beherrschenden Einfluss der Chirurgen. Bei den Magen- und Ösophaguskarzinomen bot die Strahlentherapie kaum Aussichten auf Erfolg. Für die operablen Bronchialkarzinome wurde sie von den Chirurgen, wie dargestellt, kategorisch abgelehnt. Eichhorn organisierte daher gemeinsam mit einer Lungenklinik in Sommerfeld/Brandenburg eine eigene Vergleichsreihe. Von 1963–1971 wurde die Hälfte von 200 in Sommerfeld operierten Patienten in Buch mit dem Kobalt-60-Gerät vorbestrahlt. Die Ergebnisse boten nicht das erhoffte 71 H.J. Eichhorn u. a., Die 5-Jahres-Ergebnisse in der Krebsbehandlung bei Strahlentherapie als einziger Behandlungsmethode (nach Berichten der Jahre 1953-1965), Strahlentherapie 131 (1966), S. 227–254, S. 229–230. 72 Ebd., S. 250. 73 Van Helvoort 2001, S. 34–36.
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Bild; obwohl bei den vorbestrahlten Fällen weniger Rezidive (Tumorneubildungen) auftraten, unterschieden sich beide Gruppen hinsichtlich der Überlebensquoten nach drei bzw. fünf Jahren nicht wesentlich. Die von den Bucher Chirurgen behauptete Steigerung von Komplikationen und Sterblichkeit trat zwar nicht deutlich, aber leicht zutage.74 Für Eichhorn und Mitarbeiter sprachen diese ernüchternden Ergebnisse aber nicht grundsätzlich gegen präoperative Bestrahlungen. Einerseits argumentierten sie, dass das Patientengut zu viele Fälle im fortgeschrittenen Stadium enthielt, um ein positives Bild zu liefern; andererseits war die Bestrahlungstechnik noch immer entwicklungsfähig. Die Geschichte der Strahlentherapie scheint in erster Linie durch die Entwicklung immer leistungsfähigerer Apparate geprägt zu sein. Bessere Strahlentechnik konnte jedoch nur dann effektiv werden, wenn es gelang, die Wirkung der Strahlung auf den Tumor zu maximieren und die Belastung für das umliegende Gewebe zu minimieren. Die „Kobaltkanone“ war nicht nur darum ein großer Fortschritt gegenüber früheren Hochleistungs-Röntgengeräten, weil sie eine hohe Tiefendosis ermöglichte, sondern auch, weil sie über eine bewegliche Strahlungseinheit verfügte. Um einen möglichst schonenden Einsatz der Dosis zu errreichen, entwickelten die Bucher Radiologen Anfang der 1960er Jahre ein Computerprogramm, das die Dosisverteilung aus den Körperdaten des Patienten ableitete.75 Eichhorn hoffte seit den 1950er Jahren darauf, sein Arsenal durch ein Betatron zu erweitern, mit dem zu diesem Zeitpunkt erst sehr wenige Spitzenkliniken arbeiteten. Die Elektronenstrahlung des Betatrons erlaubte hohe Wirkungen bei begrenzter Eindringtiefe, was eine weitgehende Schonung tieferliegender Gewebe garantieren sollte.76 Das Projekt sollte erst Ende der 1970er Jahre realisiert werden. Zuvor ergab sich eine andere Möglichkeit, das Spektrum der Strahlentherapie zu erweitern. Mitarbeiter der Radiologie hatten bereits 1967 gemeinsam mit dem Biophysiker Helmut Abel ein Forschungsprojekt zur biologischen Wirkung von Neutronen vorgeschlagen, das den Einstieg in die klinische Neutronentherapie vorbereiten sollte.77 Neutronen unterschieden sich hinsichtlich ihrer Tiefenwirkung nicht grundlegend von harter Röntgenstrahlung, ließen aber aufgrund ihres strahlenbiologischen Wirkungsmechanismus einen Schadeffekt auf anoxische Tumorzellen erwarten, die auf herkömmliche Strahlung nicht reagierten. Eichhorn ließ sich auf das Projekt erst ein, als Radiologen des Hammersmith Hospital in London auf einem internationalen Kongress erstmals über klinische Ergebnisse
74 H.J. Eichhorn, H. Eule, A. Lessel, W. Menze, Ergebnisse eines kontrollierten klinischen Versuches über den Wert der intensiven präoperativen Bestrahlung beim operablen Bronchialkarzinom, Archiv für Geschwulstforschung 45 (1975), S. 376–384. 75 H. J. Eichhorn, J. Richter, Einsatz von programmgesteuerten elektronischen Rechenautomaten in der modernen Strahlentherapie, Spektrum 12 (1966), S. 159–164. 76 H. J. Eichhorn, Die Bedeutung neuer Strahlenqualitäten (Betatron und Kobaltbombe) in der Röntgentherapie für die Behandlung der Geschwulstkrankheiten, Das Deutsche Gesundheitswesen 11 (1956), S. 1636–1642; (Eichhorn), Aufgabenstellung für ein 25 MeV Betatron der Institute für Medizin und Biologie, 22.8.1963, ABBAW Buch A 57. 77 S. Matschke, E. Magdon und H. Abel an K. Lohs, 14.7.1967, ABBAW Buch A 61.
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der Neutronentherapie berichteten.78 Die einzige Möglichkeit, das Pilotprojekt in der DDR durchzuführen, bot das Zyklotron des Kernforschungszentrums in Rossendorf. Da die Bestrahlungszeiten kostbar waren, konnte nur ein zeitlich begrenztes Programm durchgeführt werden.79 Wie in vielen strahlentherapeutischen Studien war auch hier die Probandengruppe auf Patienten begrenzt, bei denen kaum Chancen auf echte Heilungseffekte bestanden – in der ersten, im Frühjahr 1972 durchgeführten Bestrahlungsserie kamen überwiegend Fälle inoperabler Bronchialkarzinome zu Behandlung, bei denen bestenfalls mit einer geringen Verlängerung ihrer Lebenszeit zu rechnen war. Die ersten Sektionen verstorbener Patienten, die zusätzlich zur Behandlung an der Bucher Kobaltkanone in Rossendorf bestrahlt worden waren, wiesen darauf hin, dass bei der Anwendung von Neutronen die Tumore wesentlich stärker geschädigt waren als bei reiner Co60Bestrahlung. Es zeigte sich aber auch, dass die Neutronentherapie eine größere körperliche Belastung mit sich brachte.80 Diese Tendenz erhärtete sich mit der Anzahl der ausgewerteten Sektionen. Die zusätzliche Anwendung schneller Neutronen wirkte stark auf Primärtumore, brachte jedoch keinen Fortschritt für die Patienten – im Gegenteil: Während in der Vergleichsgruppe immerhin die Hälfte der Patienten das erste Jahr überlebte, waren es bei Neutronenbestrahlung nur 10%.81 Auch bei späteren Serien mit reiner Neutronenbestrahlung, die vor allem an Patienten mit Weichteilsarkomen durchgeführt wurden, stand das Kriterium der Tumorzerstörung im Vordergrund.82 Es war eine angemessene Wortwahl, wenn Eichhorn diese Serien als „Experimente“ bezeichnete. Da der Zustand der Patienten kaum wirkliche therapeutische Fortschritte erwarten ließ, war ihr Ziel die Ermittlung der biologischen Wirkung, nicht die Erhöhung der medizinischen Wirksamkeit. Hinsichtlich der ethischen Vertretbarkeit dieses Vorgehens bestanden auf der Leitungsebene des nationalen Krebsprojekts offenbar einige Zweifel, die allerdings 1976 als „völlig ausgeräumt“ galten.83 Die Frage des Anwendungsbereichs und der Methodik strahlentherapeutischer Verfahren sollte jedoch weiterhin zu Konflikten zwischen dem neuen Institutsdirektor Tanneberger und Eichhorn führen, welcher auf Einwände von „Nicht-Fachleuten“ äußerst gereizt reagierte.84
78 Mündliche Information H. Abel, 25.4.2014; H. J. Eichhorn, A. Lessel, Klinische Erfahrungen mit Neutronentherapie, Archiv für Geschwulstforschung 43 (1974), S. 268–216, S. 270. 79 Abel, Scheler und Eichhorn an Flach/ZfK Rossendorf, 7.7.1971, ABBAW Buch A 902. 80 H. J. Eichhorn, A. Lessel, Klinische Erfahrungen mit Neutronentherapie, Archiv für Geschwulstforschung 43 (1974), 268–216. 81 H. J. Eichhorn, A. Lessel, S. Matschke, Comparison between Neutron Therapy and 60Co Gamma Ray Therapy of Bronchial, Gastric and Oesophagus Carcinomata, European Journal of Cancer 10 (1974), S. 361–364. 82 H. J. Eichhorn, Results of a Pilot Study on Neutron Therapy with 600 Patients, International Journal of Radiation Oncology, Biology, Physics 8 (1982), S. 1561–1565. 83 Jung/Tanneberger, Stellungnahme zur inhaltlichen und organisatorischen Entwicklung der Strahlenbiologie im FZMM, Feb. 1976, ABBAW Buch A 1169/1. 84 Eichhorn an Tanneberger, 24.10.1977 und 28.12.1977, beide ABBAW Buch B 1982.
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Aus rückblickender Sicht war die Leistungsstärke des Rossendorfer Zyklotrons – ebenso wie jene der Geräte in den ersten westdeutschen Behandlungszentren – zu gering, um ein günstiges Verhältnis zwischen Wirkung und Nebenwirkungen zu erreichen. Gerade bei Lungenkrebsen, in deren Behandlung besondere Hoffnungen gesetzt worden waren, erwies sich die Technik als ungeeignet.85 Große therapeutische Fortschritte waren von den Neutronenexperimenten allerdings auch nicht erwartet worden; sie sollten in erster Linie Hinweise für einen möglichen späteren Ausbau mit besseren technischen Mitteln geben. Als eine der ersten derartigen Versuchsserien weltweit waren sie außerdem ein Prestigeprojekt, von dem sich die immer noch um eine eigenständige Rolle kämpfende Strahlentherapie eine stärkere Position erhoffen konnte. So forderte Eichhorn 1973 auf einer Tagung der DDR-Krebsforscher, dass die Leistungsfähigkeit der Strahlentherapie grundlegend neu bewertet werden müsse. Für triumphalistische Versprechungen bestand dabei kein Anlass; Eichhorn räumte ein, dass radiotherapeutische Mittel allein nur bei wenigen Tumorarten erfolgversprechend waren.86 Die entscheidende Aufgabe lag für ihn darin, für bestimmte Krankheitsbilder jeweils die optimale Kombination aus chirurgischen, strahlentherapeutischen und chemotherapeutischen Verfahren zu finden. Außerdem wies Eichhorn darauf hin, dass beim gegenwärtigen Stand der Krebstherapie nicht allein auf Heilungserfolge, sondern verstärkt auf die Palliativbehandlung und die kurzfristige Lebensverlängerung bei unheilbaren Fällen zu achten sei – und eben hier sah er in der Strahlentherapie ein besonderes, kaum ausgeschöpftes Potential. Seine Abteilung nahm ein in Kanada entwickeltes Verfahren der Ganzkörperbestrahlung auf, das der Theorie nach metastasenbildende Stammzellen im Knochenmark zerstörte und so einen zeitweiligen Regenerationsprozess einleitete. 87 Nach eigenen Ergebnissen wirkte die Methode bei inoperablen Fällen ohne Nebenwirkungen schmerzlindernd.88 Was der Strahlentherapie neuen Rückenwind verschaffte, war weniger die Verfügbarkeit neuer technischer Mittel als vielmehr der internationale Trend, die Vorherrschaft des chirurgischen Vorgehens in Frage zu stellen – vor allem auf dem Konfliktfeld der Brustkrebstherapie. 1973 berichtete Eichhorn mit unverkennbarer Genugtuung von einem internationalen Symposium, dass die „nichtverstümmelnde“ Behandlung des Brustkrebses in Westeuropa auf dem Vormarsch sei. Mehrere Studien hatten die Effektivität alleiniger Strahlenbehandlung oder brusterhaltender Operationen mit Zusatzbestrahlung gezeigt, so dass es an der Zeit schien, vom Dogma der Radikaloperation abzugehen und „die individuelle Situation der Patientinnen zum Ausgangspunkt der Entscheidung über das therapeuti85 K. Schwarz u. a., Present results of neutron therapy. The German experience, Acta Oncologica 33 (1994), S. 281–287. 86 H. J. Eichhorn, Verhütung und Behandlung von Tumor-Wiedererkrankungen aus der Sicht des Radiologen, Das Deutsche Gesundheitswesen 29 (1974), S. 337–342. 87 Eichhorn an Tanneberger, 6.4.1979, ABBAW Buch B 1982. 88 J. Hüttner, H. J. Eichhorn, K. H. Dallüge, H. Grunau, Zur Behandlung inoperabler kleinzelliger Bronchialkarzinome mit lokaler Strahlentherapie und zusätzlicher hochdosierter einzeitiger oberer und unterer Halbkörperbestrahlung, Archiv für Geschwulstforschung 54 (1984), S. 239–242.
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sche Vorgehen“ zu machen.89 Diese Ansatz begann sich in den westlichen Ländern nicht zuletzt deswegen durchzusetzen, weil die Praxis der Radikaloperation von Seiten der Frauenbewegung stark angegriffen wurde, wodurch auch die Kritiker innerhalb der Onkologie Auftrieb erhielten.90 Dieser Anschauungswandel ging auch an der Robert-Rössle-Klinik nicht vorbei. 1970 wurden auf einer Chirurgentagung britische Ergebnisse diskutiert, nach denen mit weniger radikalen Operationsmethoden ähnliche Ergebnisse zu erzielen waren wie mit den klassischen. Die Effektivität der frühzeitigen Radikaloperation schien damit noch nicht grundsätzlich in Frage gestellt, wohl aber die Vorstellung, dass diese den besten Schutz vor Neubildungen und Metastasierungen bot. Die Lösung der therapeutischen Probleme, vermerkt der Referent, müsse „offenbar von anderer Seite kommen.“91 Die altgedienten Chirurgen blieben dennoch bei der Überzeugung, dass Zusatzbehandlungen, insbesondere die Bestrahlung, bei Mamma- sowie BronchialKarzinomen kaum Vorteile, aber ein erhebliches Risiko von Neubildungen mit sich brachten.92 Die weltweite Tendenz, den chirurgischen Eingriff beim MammaKarzinom einzuschränken und den Anteil der Radiotherapie zu erhöhen, veranlasste einen der Bucher Chirurgen 1980 zu einer flammenden Solidaritätsadresse an Jerry Urban, einen führenden Vertreter der „ultraradikalen“ amerikanischen Chirurgenschule.93 Zu diesem Zeitpunkt waren die Anhänger des radikalen Skalpelleinsatzes auch in der DDR bereits in der Defensive. In Buch hatten Vertreter der jüngeren Chirurgengeneration eingeschränkte Mastektomien eingeführt.94 Auf dem DDR-Krebskongress 1981 galt klassische Radikaloperation noch immer als unumgängliches Verfahren bei großen Tumoren; es wurde aber in Zweifel gezogen, ob sie „noch als universelles Behandlungsverfahren des operablen Mammakarzinoms angesehen werden kann.“95 Eng mit diesem Sinneswandel verbunden war, dass an der RRK bereits seit Längerem Vergleichsstudien zu verschiedenen Formen der Kombinationsbehandlung im Mittelpunkt der klinischen Forschungsarbeit standen. Eine noch größere Bedeutung als der Einsatz der Strahlentherapie spielten dabei die erweiterten Möglichkeiten der Chemotherapie.
89 H. J. Eichhorn, Symposium über nichtverstümmelnde Behandlungen des Brustkrebses (Straßburg, Juni 1972), Archiv für Geschwulstforschung 41 (1973), S. 271–275. 90 Lerner 2003, S. 115–169. 91 H. Berndt, Tagungsbericht VIII. Wissenschaftliche Chirurgentagung der DDR, Berlin vom 21. bis 25. September 1970, Archiv für Geschwulstforschung 37 (1971), S. 188–191. 92 W. Widow, Preoperative Irradiation of Bronchial Carcinoma, Cancer 28 (1971), S. 798–801; H. Gummel, G. Wittig, Gegenwartsprobleme und kommende Aufgaben der Krebsforschung, Das Deutsche Gesundheitswesen 27 (1972), S. 337–350, S. 349. 93 W. Widow an J. Urban, 16.4.1980, ABBAW Buch B 1982. 94 Persönliche Information H.J. Gütz, 30.9.2014. 95 T. Schramm u. a., 6. Krebskongreß der DDR mit internationaler Beteiligung. Berlin, 2.–5. März 1981, Archiv für Geschwulstforschung 51 (1981), S. 551–560.
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Therapievergleiche als klinischer Alltag Die Möglichkeiten der Chemotherapie wurden in Buch lange Zeit ziemlich gering eingeschätzt. In ihrem Grundsatzentwurf zur Krebsbekämpfung von 1965 stellten Berndt, Gummel und Wildner fest, dass sie in bestimmten Fällen zwar die einzige Behandlungsoption darstelle, insgesamt aber zu unsichere und unbefriedigende Ergebnisse liefere. Auch hier spielten ökonomische Fragen eine wichtige Rolle. Nach Einschätzung der Kliniker war es sinnlos, in der DDR mit den kapitalintensiven Programmen konkurrieren zu wollen, die die westliche Pharmaindustrie der Zytostatikaentwicklung widmete. Angesichts bescheidener therapeutischer Erträge sahen sie auch keinen Grund, für große Devisenbeträge überteuerte Medikamente zu importieren, die in ihren Augen oft nur das Gefühl befriedigten, überhaupt etwas für einen Patienten getan zu haben.96 Die medikamentöse Therapie wurde darum nicht völlig vernachlässigt. In den 1950er Jahren wurden sowohl tentative tierexperimentelle Arbeiten zum Wirkungsmechanismus bestimmter Substanzklassen als auch klinische Studien durchgeführt, deren Umfang allerdings sehr beschränkt blieb. Ähnlich wie die strahlentherapeutischen Maßnahmen wurden sie jedoch hauptsächlich bei inoperablen Fällen eingesetzt, insbesondere bei den Bronchialkarzinomen, wobei die Ergebnisse zwangsläufig wenig ermutigend waren.97 Größere Bedeutung kam der Chemotherapie bei der Behandlung des Mammakarzinoms zu. Zytostatika wurden als Zusatzbehandlung zur Radikaloperation eingesetzt, um die nach den Vorstellungen der Chirurgen durch den Eingriff freigesetzten Krebszellen zu neutralisieren.98 Da allerdings bei allen kanzerostatischen Substanzen eine immunsuppressive Wirkung anzunehmen war, stellte sich jedoch die Befürchtung ein, dass dieses Vorgehen ähnlich wie die Zusatzbestrahlung Metastasierungen eher begünstigte. Tatsächlich ergaben hauseigene Tierversuche, dass bei operierten Tumormäusen nach zusätzlicher Zytostatikabehandlung verstärkt Metastasen auftraten.99 Zudem widmeten die Kliniker den Nebenwirkungen der Chemotherapeutika große Aufmerksamkeit. Untersuchungen über das in der RRK am häufigsten genutzte Mittel, das von dem Kampfgas Lost abgeleitete Cyclophosphamid, zeigten bei geringer Verlängerung der Lebenserwartung einiger Patientengruppen auch schwer
96 H. Berndt, H. Gummel, G.P. Wildner, Zur Problematik und weiteren Entwicklung der Krebsbekämpfung in der Deutschen Demokratischen Republik, Das Deutsche Gesundheitswesen 20 (1965), S. 786–798. 97 W. Lührs, Problematik in der Biochemotherapie des bösartigen Wachstums, Archiv für Geschwulstforschung 12 (1958), S. 226–233. 98 G. Bacigalupo, H. Gummel, Zur Frage der Rezidiv- und Metastasierungsbeeinflussung beim Mammakarzinom durch Kombination der Radikaloperation mit zytostatischer Therapie, Das Deutsche Gesundheitswesen 17 (1962), S. 1839–1845. 99 C. Nowak, B. Elbe, W. Arnold, E. Bender, Untersuchungen über den Einfluß einer Vorbehandlung mit Cyclophosphamid, Ribo-Azauracil und Mercaleukin auf die experimentelle Metastasierung im syngenen Tumor-Wirts-System I.&II., Archiv für Geschwulstforschung 41 (1973), S. 1–11 & 137–145.
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erkennbare Schädigungen des Dünndarms, die die Belastung der Patienten zusätzlich erhöhte.100 Wie auf dem Gebiet der Strahlentherapie existierten lange Zeit keine klinischen Statistiken, die die skeptische Sichtweise der Chirurgen hätten stützen können. In den USA begann das National Cancer Institute Ende der 1950er Jahre mit der Organisation großangelegter Versuchsreihen zur Effektivität der adjuvanten Chemotherapie beim Mammakarzinom.101 Auch in Buch wurden einige Jahre später langfristige Beobachtungen eingeleitet. Zunächst schienen sie die Befürchtungen hinsichtlich negativer Nachwirkungen nicht zu bestätigen. Mit Cyclophosphamid nachbehandelte Patientinnen entwickelten deutlich weniger Metastasen als solche, die nur operativ behandelt wurden. Als gegen Ende der 1970er Jahre die langfristigen Überlebensquoten verglichen werden konnten, zeigte sich jedoch, dass die Zahlen fünf Jahre nach Abschluss der Behandlung annähernd identisch waren – dies galt auch für die Patientinnen, die nach der Operation bestrahlt wurden.102 Die gegenüber der Zusatzbehandlung skeptischen Chirurgen konnten sich durch diese Ergebnisse nachträglich bestätigt fühlen. Als die Vergleichsstudie abgeschlossen wurde, war sie jedoch kaum mehr repräsentativ für die Möglichkeiten der Chemotherapie. Die in den Nachkriegsjahrzehnten vorherrschenden Lostderivate waren durch weniger toxische Substanzen verdrängt worden. Ferner hatte die therapeutische Erfahrung gezeigt, dass entscheidende Fortschritte überwiegend durch die Kombination verschiedener Präparate erzielt werden konnten, die sich je nach Tumortyp stark unterscheiden konnte. Zu Beginn der 1970er Jahre erschien bei bestimmten Krebsformen, insbesondere den kindlichen Leukosen, erstmals eine medikamentöse Heilung durch kombinierte Chemotherapien erreichbar.103 Auch bei den für den Bucher Klinikbetrieb wichtigen inoperablen Mammakarzinomen zeichneten sich neue Wege mit bekannten Mitteln ab. Ende der 1960er Jahre begannen kontrollierte Versuchsreihen zur Kombination von Zytostatika mit Östrogenpräparaten. Trotz einiger Forschungen zur Bedeutung von Hormonen in der Brustkrebsentstehung und -therapie war ihr klinischer Einsatz an der RRK nach Ansicht des zuständigen Arbeitsgruppenleiters bis dahin weit hinter den international üblichen Standards zurückgeblieben.104 Die Studien blieben, ähnlich wie die strahlentherapeutischen Erhebungen, auf eine relativ kleine Gruppe von Patientinnen mit schlechten Überlebenschancen beschränkt. Dennoch zeigten sie, dass durch die Kombination verschiedener Hormonpräparate mit nachträglicher Gabe von Cyclophosphamid eine deutliche Steigerung der Überle100 „Einige der wichtigsten Ergebnisse aus der Arbeit der Robert-Rössle-Klinik/IfK 1966“, ABBAW FG 70. 101 Lerner 2001, S. 136f. 102 H. Berndt, H. J. Eichhorn, W. Widow, Ein kontrollierter klinischer Versuch zur Zusatztherapie des operablen Brustdrüsenkrebses mit Vorbestrahlung oder Cyclophosphamid, Archiv für Geschwulstforschung 50 (1980), S. 468-479. 103 M. Matthias, K. Rieche, Chemotherapie maligner Neubildungen 2., Das Deutsche Gesundheitswesen 29 (1974), S. 865–873. 104 E. Heise, Jahresbericht 1972 für AG endokrine Geschwulstforschung, ABBAW Buch B 1961.
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benszeiten erreicht wurde.105 Solche Vergleichsserien trugen nicht nur dazu bei, dass sich die Bedeutung der Chemotherapie in der klinischen Praxis vergrößerte. Die Methodik der kontrollierten Medikamentenstudien begann, den gesamten klinischen Alltag zu prägen und in den Mittelpunkt der Forschungstätigkeit zu rücken. Es war bezeichnend für den steigenden Stellenwert chemotherapeutischer Testserien, dass nach dem plötzlichen Tod Hans Gummels im Mai 1973 mit Stephan Tanneberger ein Chemotherapie-Experte die Leitung des neugebildeten Zentralinstituts für Krebsforschung (ZIK) übernahm. Die Bedeutung durchgeplanter und normierter Vergleichsstudien stieg in den 1970er Jahren analog zur internationalen Entwicklung. War in Buch zunächst nur ein kleiner Teil der chemotherapeutisch behandelten Patienten unter den Bedingungen kontrollierter Vergleichsstudien versorgt worden, traf dies in den 1980er Jahren auf den größten Teil der Behandlungen zu. Bei der Erprobung neuer Mittel war das ZIK dabei als Leitinstitut der DDR-Krebsmedizin in ein Netz von Kliniken im ganzen RGWBereich eingebunden, deren Patientendaten zentral ausgewertet wurden.106 Neben den erwähnten Studien zur Kombination bereits erprobter Medikamente führte das Institut Serien mit neuen, im Ostblock entwickelten Mitteln wie dem sowjetischen Zytostatikum Ftorafur oder dem von Jenapharm produzierten Hormonpräparat Turisteron durch. Da solche Eigenentwicklungen Seltenheitswert hatten, kam der überwiegende Teil der verwendeten Medikamente jedoch aus dem kapitalistischen Ausland. Im Zeichen des steigenden Drucks zur Devisenerwirtschaftung nahmen die Testreihen immer mehr den Charakter einer vertraglich abgesicherten Auftragsforschung an. Ende der 1980er Jahre liefen im ZIK sieben klinische Studien im Auftrag westlicher Pharmaunternehmen sowie drei weitere für Partner aus sozialistischen Ländern.107 Diese Auftragsorientierung führte dazu, dass das ZIK nach 1990 von westdeutschen Medien beschuldigt wurde, Klinikpatienten als Versuchskaninchen für riskante Menschenexperimente verschachert zu haben.108 Eine daraufhin von der Berliner Ärztekammer durchgeführte Erhebung konnte indessen keine wesentlichen Unterschiede zwischen den in der DDR angewandten Testpraktiken und den in Westdeutschland üblichen ausmachen – was das Auftreten unerwarteter Nebenwirkungen oder unterdurchschnittlicher Therapieerfolge keineswegs ausschloss.109 Wie eine jüngere Studie zum Thema feststellt, entspra105 G. Wolff, B. Prahl, Kontrollierter klinischer Versuch zur Hormon- und kombinierten Cyclophosphamid-Hormon-Behandlung des inkurablen Mammakarzinoms, Das Deutsche Gesundheitswesen 41 (1973), S. 363–372; K. Rieche, G. Wolff, Comparison of Testosterone Decanoate, Drostanolone and Testololactone in Disseminated Breast Cancer – A Randomized Clinical Study, Archiv für Geschwulstforschung 45 (1975), S. 485–488. 106 Jahn 2017, S. 157–158. 107 U. Müller, Institute for Cancer Research, Department of Clinical Pharmacology, vermutlich Aug. 1990, ABBAW Buch B 1983. 108 „‚Das ist russisches Roulett‘. Schmutzige Geschäfte mit westlichen Pharmakonzernen brachten dem SED-Regime Millionen.“, Der Spiegel Nr. 6/ 1991, S. 80–90. 109 Untersuchungskommission der Senatsverwaltung Berlin, Arzneimittelprüfungen in OstBerlin. Bericht der Untersuchungskommission, Berliner Ärzte Nr. 10 (1991), S. 16–18.
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chen Einwilligungsverfahren und Studienaufbau nicht den heutigen, jedoch den in den 1980er Jahren geltenden internationalen Standards. Sie widerspricht außerdem der Annahme, DDR-Kliniken seien für westliche Pharmakonzerne vor allem darum ein geeigneter Partner gewesen, weil sie in ihrer Abhängigkeit von Devisen, westlicher Medikamente und anderen medizinischen Importmaterialien leicht käuflich waren. Das zentral geplante Kliniksystem bot auch besonders gute Grundlagen für einheitliche Durchführung und bürokratische Kontrolle, die für die Praxis der Patientenstudien wesentlich waren.110 Hinzu kam ein „weicher“ Standortvorteil: Durch die Zentralisierung bestimmter Krankheitsbilder in Kliniken wie jener in Buch lag ein großes Beobachtungsmaterial vor, das durch die Hände weniger erfahrener Spezialisten ging und daher einheitlich bewertet wurde.111 Die steigende Bedeutung der Medikamentenstudien ist kein Beleg dafür, dass sich die ZIK-Klinik aufgrund eines besonderen Mangels an therapeutischen Mitteln und ethischen Standards in die Abhängigkeit von externen Auftraggebern begab. Sie vollzog vielmehr frühzeitig die Orientierung auf eine klinischexperimentelle Praxis, die seit den 1990er Jahren zum Standard in der westlichen Krebsmedizin geworden ist: clinical trials sind heute nicht Sonder-, sondern Regelfall im Alltag von Großkliniken.112 Sowohl die „experimentelle“ Anwendung verschiedener Behandlungsprotokolle sowie die enge Kooperation mit der Pharmaindustrie waren insofern charakteristisch für einen Prozess, der heute noch andauert. Vorsorge im Labor Während der Akademiereform um 1970 war die Robert-Rössle-Klinik, wie alle Teile des vormaligen IMB, mit Erwartungen auf eine „Neuprofilierung“ konfrontiert. Die Bildung des „Zentralinstituts für Krebsforschung“ Anfang 1972 implizierte – ähnlich wie auf dem Gebiet der Molekularbiologie – den Anspruch, dass das neue Gebilde sowohl die wichtigsten Linien der Forschung auf seinem Fachgebiet repräsentierte als auch Leitungs- und Koordinationsfunktionen in einem entsprechenden nationalen Forschungsprogramm einnahm. Allerdings hatte die Klinik, wie erwähnt, bereits zuvor eine wichtige Rolle bei der Formulierung nationaler Präventions-, Diagnose- und Therapieprogramme ausgeübt. Auch strukturell unterschied sich das ZIK nur wenig von dem seit 1964 bestehenden „Institut für Krebsforschung“, in dem die RRK und der von Arnold Graffi geleiteten experimentellen Krebsforschung vereinigt waren. Eine organisatorische Neuerung bestand darin, dass Chirurgie und Radiologie, ebenso wie Graffis Abteilung als „Bereiche“ geführt wurden. Daneben bestanden mehrere „Selbstständige Abteilun110 Hess/Hottenrott/Steinkamp 2016, S. 180 & 192. 111 Mündliche Information Hans-Jürgen Gütz, 30.9.2014. 112 Keating/Cambrosio 2012, S. 8; zur jüngeren Globalgeschichte der clinical trials vgl. Petryna 2009.
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gen“. Unter dem Namen Mikrobiologie und Chemotherapie wurden etwa die Arbeitsgruppen für Chemotherapie, klinische Zellbiologie, Endokrinologie und Mikrobiologie zusammengefasst. Letztere, von dem Abteilungsleiter Ulrich Schneeweiß aufgebaut, bemühte sich seit den frühen 1960er Jahren, das rätselhafte schnelle Auskeimen des Tetanuserregers Clostridium tetani in Tumorzellen für die Diagnostik nutzbar zu machen.113 Die kleine Gruppe verfolgte das profilierteste unter den experimentellen Projekten, die sich im Rahmen der Klinik herausgebildet hatten. Deren organisatorische Zusammenfassung zeigt, dass die kliniknahe Laborforschung formal aufgewertet werden sollte, auch wenn eine wirksame personelle Verstärkung ausblieb. Ähnliches galt für die Selbstständige Abteilung Immunbiologie unter dem späteren FZMM-Direktor Günter Pasternak, eine Ausgliederung aus dem Bereich experimentelle Krebsforschung. Die Immunologie war in Graffis krebsvirologischem Programm zunächst als Methode zur Charakterisierung von Virusstrukturen und dann als Weg zur Differenzierung von Krebszellen etabliert worden. Ihre Verselbstständigung war eine logische Konsequenz ihrer Loslösung von ihrem ursprünglichen thematischen Bezugspunkt, wurde aber gegen die Wünsche der Institutsoberen durchgesetzt. Die Immunologie rangierte in den Planungen der Reformzeit als eigenständiges Schwerpunktgebiet neben den großen Themenkomplexen Molekularbiologie und Krebsforschung. Sie wurde von Planern in Forschungsrat und Ministerien als besonders zukunftsträchtiges Gebiet betrachtet. Dabei spielte eine wichtige Rolle, dass sie als Schnittstelle zwischen Krebsforschung, Virologie und Transplantationsmedizin galt; letztere galt als besonders entwicklungsbedüftiges Feld der klinischen Medizin.114 Pasternaks Abteilung beteiligte sich in den 1970er Jahren an einem Großprojekt zur Schaffung eines immunologischen Krebstests, der jedoch spektakulär scheiterte.115 Sie wandte sich danach wieder der Grundlagenforschung sowie der Produktion von monoklonalen Antikörpern zu, die in den 1980er Jahren die Möglichkeiten immunologischer Testverfahren revolutionierten. Zu einer intensiven Verflechtung mit der benachbarten Klinik kam es ebensowenig wie in der Krebsvirologie. Schließlich umfasste das ZIK auch eine Selbstständige Abteilung für Präventive Onkologie. Obwohl auch diese vor allem durch Umstrukturierung und nicht durch Neueingliederungen entstand, repräsentierte sie in besonderem Maße die Ambitionen, das neue Institut zum Träger „zentraler“ Regelungsfunktionen zu entwickeln. Präventionsmaßnahmen hatten von Beginn an eine wichtige Rolle im gesundheitspolitischen Denken der Bucher Kliniker gespielt. Mitarbeiter der experimentellen Krebsforschung und der Klinik beteiligten sich in den 1950er Jahren an ersten zaghaften Versuchen, eine Nichtraucherkampagne in die Öffentlichkeit
113 Dabei sollten durch Einspritzung nicht pathogener Clostridien gebildete Antikörper als Tumormarker genutzt werden. Nachdem in den frühen 1970er Jahren gute Erfolgsaussichten auf einen Krebstest zu bestehen schienen, sollten Versuche einer Überführung in die Praxis in den 1980er Jahren scheitern; vgl. hierzu Jahn 2017, S. 219–230; zu den im Schneeweißschen Projekts angelegten immunologischen Vorstellungen vgl. Meyer 2016, S. 181–201. 114 Meyer 2016, S. 169–175. 115 Ebd., S. 214–244.
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zu tragen.116 Die neue Abteilung beschränkte sich aber nicht auf die Gesundheitspropaganda, sondern konzentrierte sich auf die Erkennung der in der industrialisierten Umwelt lauernden potentiellen Krebsauslöser, das hieß von kanzerogenen Substanzen. Die Thematik war gegen Ende der 1960er Jahre von verschiedenen Stellen des IMB in die Diskussion gebracht. Der toxikologisch tätige BiophysikDirektor Karlheinz Lohs sah die „rapide ansteigende Verunreinigung unserer Biosphäre“117 ebenso als unvermeidliches Zukunftsthema der biologischen Grundlagenforschung an wie Arnold Graffi, in dessen Forschungsprogramm die Wirkung chemischer Kanzerogene zwar eine wichtige Rolle spielte, aber nicht im Sinne eines breiten Testprogramms verfolgt werden konnte.118 Erste Versuche, das kanzerogene Potential von Nahrungsbestandteilen mittels einfacher mikrobiologischer und tierexperimenteller Testsysteme zu bemessen, führten zu einem der seltenen Beispiele interdisziplinären Austausches zwischen Klinikern und experimentellen Gruppen.119 Die Anstöße für ein systematisches Programm der Testung von Nahrungsbestandteilen, Werkstoffen, Abgasen oder Arzneimitteln kamen also aus dem IMB; seine Umsetzung war indessen ein typisches Produkt der Reformplanungen. Der Aufbau eines „Siebtestsystems für onkogene Stoffe“ in Buch wurde 1970 in den Planungen für das MfG-Großprojekt „Geschwulstforschung“ festgeschrieben.120 Die Parallelen zu den Plänen, im Rahmen des Großforschungsprogramms MOGEVUS ein standardisiertes Versuchssystem für die Suche nach pharmazeutisch verwertbaren Wirkstoffen aufzubauen, sind augenfällig.121 Großangelegte „Siebteste“ waren ein Schlüsselelement der biowissenschaftlichen Forschungsplanung, und das mit gutem Grund: Allein die Durchforstung neuer Produkte der chemischen Industrie auf kanzerogene Wirkungen forderte einen Aufwand, der nur durch konzertierte Aktionen oder die Bildung spezieller Zentren tragbar war. Auch wenn zu Beginn der 1970er Jahre international diskutiert wurde, den Testprozess durch Einschaltung mikrobiologischer Verfahren zur Auffindung mutagener Substanzen zu vereinfachen,122 ließen sich abschließende Bewertungen nur durch langwierige und kostspielige Tierversuche erreichen. In der Bundesrepublik hatte diese Situation dazu geführt, dass 1969 auf Initiative der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Freiburg ein Zentrallaboratorium für die Prüfung von Substanzen auf mutagene Wirkungen eröffnet wurde. Nach116 Vgl. Protokolle der Sitzungen des Komittees zur Verhütung des Krebses, Dez. 1957 und Feb. 1958, ABBAW Buch B 1975. 117 Lohs an Graffi, 1.4.65, ABBAW NL Graffi Nr. 46. 118 Graffi an FB Medizin der FG, Konzeption Forschungskomplex Cancerogenese, August 1965, ABBAW FG 70. 119 W. Gibel, G. P. Wildner, K. Lohs, Untersuchungen zur Frage einer kanzerogenen und hepatotoxischen Wirkung von Fuselöl, Archiv für Geschwulstforschung 32 (1968), S. 115–125; W. Gibel u. a., Untersuchungen zur Frage einer möglichen mutagenen Wirkung von Fuselöl, Archiv für Geschwulstforschung 33 (1969), S. 49–54. 120 Leistungsangebot der DAW-Einrichtungen, die im (FZMM) in der Arbeitsrichtung I arbeiten, 1971 bis 1976, ABBAW Buch A 1001. 121 Zu Moltest vgl. Kap II.3., S. 184-186. 122 Zu den Diskussionen um die Aussagekraft solcher Systeme vgl. Creager 2014.
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dem das Laboratorium zunächst als Pionierleistung gefeiert worden war, geriet es aufgrund von Problemen, die sich auch in Buch bemerkbar machen sollten, schnell in die Kritik. Wissenschaftlergruppen stritten um die Aussagekraft der verwendeten mikrobiologischen Systeme und Zellkulturen; die hohen Kosten für Versuchstiere und die immer größere Anzahl potentieller Schadstoffe sorgten für eine enorme Belastung des Prüflabors.123 In der Akademie kam es zum Aufbau eines zentralen Mutagenitätsprüfungslabors im Gaterslebener ZI für Genetik und Kulturpflanzenforschung, das hierfür ein eigenes zellbiologisches System entwickelt hatte.124 Das Karzinogen-Screening am ZIK war also Teil eines breiteren Programms zur Kontrolle von Umweltgiften. Zum gleichen Zeitpunkt bildete die DAW eine ihrer neuen „problemgebundenen Klassen“ zum Thema „Optimale Gestaltung der Umweltbedingungen (Mensch und Umwelt)“, die ein Zeichen dafür war, dass sowohl in der Wissenschaft als auch in der Parteiführung die Notwendigkeit gesehen wurde, der aufkommenden Umweltschutzproblematik durch eine eingehegte Debatte zu begegnen.125 Mitarbeiter der Präventionsabteilung trugen zu dieser wiederholt mit semipopulären Publikationen über die Gesundheitsgefahren der intensivierten Industrialisierung bei.126 Politische Bedeutung hatte ihre Arbeit noch in einer anderen Hinsicht. Der Projektleiter wurde Mitglied einer Fachkommission der World Health Organisation (WHO), die Empfehlungen für Schadstoff-Testverfahren ausarbeitete. Aufgrund des außenpolitischen Minderwertigkeitskomplexes der DDR erschien solche wissenschaftspolitische Anerkennung wichtig genug, in jedem Bericht gebührend hervorgehoben zu werden, ebenso wie die Tatsache, dass die DDR dank der ZIK-Abteilung über einen international erstklassigen „Katalog kanzerogener Noxen“ verfügte. Die Abteilung konnte sich allerdings weniger auf die Weiterentwicklung möglichst effektiver Testmethoden konzentrieren als erwünscht, da „bisher andernorts weder geeignete Kader noch Testkapazitäten zur Verfügung stehen“. Ein wichtiger Teil ihrer Tätigkeit bestand daher in Auftragsarbeiten für Industriebetriebe, welche eine große Anzahl von Versuchstieren erforderten.127 Wie für alle Karzinogen-Tester weltweit stellte sich für die Bucher Gruppe die Frage, inwieweit diese zeit- und kostenintensiven Verfahren durch molekular123 Schwerin 2010. 124 Information über einige wissenschaftliche Ergebnisse, die im Bereich der DAW im Jahre 1969 erzielt wurden, 13.8.1969, BAB DY 30/IV A2/6.07/98; J. Schöneich, R. Rieger, Experimentelle Mutationsforschung, Spektrum 4 (1973), Nr.6, S. 22–23. 125 N. N., Mensch und Umwelt im Sozialismus, Spektrum 2 (1971), Nr. 5, S. 18. Wie Alexander Amberger (2014, S. 49) feststellt, war die Umweltproblematik in der DDR keineswegs ein reines Dissidententhema, sondern ein wichtiges Problem für die SED, welche es „mit einer taktischen Kombination aus Vertuschung und Einbindung in den Griff zu bekommen“ versuchte. 126 W. Gibel, T. Schramm, Umweltschutz aus der Sicht der Krebsforschung, Spektrum 3 (1972), Nr. 6, S. 8–10. 127 S. Tanneberger, Jahresbericht 1974 des Forschungsverbandes Geschwulsterkrankungen, n.d. (1975), ABBAW A 910. Nach dem Bericht umfasste der Krebsnoxenkatalog 1600 Verbindungen, die Zahl der im Jahr durch In-vitro-Methoden getesteten Verbindungen belief sich auf 80.
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und mikrobiologische In-vitro-Methoden ersetzt werden konnten. Die in den USA sehr erfolgreichen Bakteriensysteme zur Auffindung mutagener Substanzen wurden zwar adaptiert, galten aber nicht als hinreichend zuverlässig, um „im Sinne von Screening-Methoden zur Vorauswahl suspekter und nachträglich im Tierversuch zu prüfender Substanzen“ verwendet zu werden.128 Vor allem weil viele bekannte Karzinogene ihre Wirkung erst durch Abbau im Stoffwechsel entfalteten, schienen verlässliche Aussagen über die Verhältnisse beim Menschen nur durch Langzeit-Tierstudien oder Methodenkombinationen möglich zu sein.129 Die Abteilung stand damit wie alle auf diesem Gebiet tätigen Institutionen vor dem Problem, beständig neue Verfahren erproben und Testprotokolle revidieren zu müssen – in dem Bewusstsein, dass ihre Expertisen zur Krebsgefahr stets ein Moment der Unsicherheit enthalten würden. Interdisziplinäres Zentrum für individualisierte Therapie? Das Testlabor übte eine typische Zentralfunktion aus – es betrieb Routineuntersuchungen, für welche sowohl in der die fraglichen Substanzen produzierenden chemischen und pharmazeutischen Industrie als auch im akademischen Forschungsbetrieb die Kapazitäten fehlten. Angesichts einer stagnierenden personellen Ausstattung bedeutete die Übernahme einer solchen ressourcenintensiven Serviceaufgabe eine Einschränkung des Potentials, das für neue Forschungsaufgaben zur Verfügung stand. Wie grundlegend dieses Problem war, zeigte sich darin, dass wenige Jahre nach Bildung des ZIK schon wieder eine Strukturdiskussion geführt wurde, welche um eben dieses Thema kreiste. Auf dem Gebiet der „onkologischen Grundlagenforschung“ stand man offensichtlich hinter vergleichbaren internationalen Krebsforschungszentren zurück. Dies galt nicht nur für neue Ansätze der molekularen Medizin, sondern namentlich auch für Grundlagenuntersuchungen zur chemischen Kanzerogenese, die eine logische Ergänzung des Prophylaxe-Programms gewesen wären. Graffis Arbeitsbereich hatte auf diesem Gebiet Erfahrungen, sich aber auf den Schwerpunkt Krebsvirologie festgelegt.130
128 T. Schramm, W. Widow, H. Hermann, Kongreßbericht: 2. Internationales Symposium für Krebsfrüherkennung und Krebsprävention, Bologna, Italien, 9.–12.4.1973, Archiv für Geschwulstforschung 42 (1973), S. 244–252. Die von den ZIK-Forschern mitverantworteten WHO-Ratschläge (vgl. WHO Scientific Group on the Assessment of the Carcinogenicity and Mutagenicity of Chemicals, WHO Technical Report Series Nr. 546, 1974) machten ebenfalls deutlich, dass diese Verfahren nur im Verbund mit anderen Methoden empfehlenswert waren, vor allem darum, weil das Verhältnis zwischen Mutagenität und Kanzerogenität noch nicht ausreichend geklärt war. 129 T. Schramm, B. Teichmann, G. Butschak, Kurzzeit-Tests als eine Stufe im Rahmen der Prüfung von Substanzen auf kanzerogene Wirkungen, Archiv für Geschwulstforschung 47 (1977), S. 567–580. 130 Konzeption des Zentralinstituts für Krebsforschung, 18.12.1974, ABBAW Buch A 905. Graffis Bereich hatte auch ein Projekt zur Entwicklung gewebespezifisch wirksamer Chemotherapeutika aufgenommen, dessen geringe Erfolgsaussichten Mitte der 1970er Jahre sichtbar
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Obwohl festgestellt wurde, dass „die entscheidenden Impulse für Fortschritte im Kampf gegen den Krebs aus der Grundlagenforschung kommen werden“, setzte sich die Perspektive durch, dass die einzige Option darin bestand, das Erneuerungspotential innerhalb der Praxis besser zu nutzen. Trotz des erfolgten Führungswechsels wurde weiterhin Gummels Position verfolgt, dass medizinisch relevante Verbesserungen auf absehbare Zeit vor allem aus der Klinik zu erwarten waren, speziell in einem kleinen Land wie der DDR, in dem die Chancen „etwas wirklich Weltstandsgemäßes“ zu leisten „aufgrund der technischen Voraussetzungen ... in der klinischen Onkologie viel besser als in der onkologische Grundlagenforschung“ erschienen.131 Damit wurde der Anspruch, das Profil der RRK als Forschungsklinik zu stärken, aber nicht ganz aufgegeben. Zur gleichen Zeit wurde versucht, die direkte Verkoppelung von klinischer und experimenteller Praxis zu einem identitätsstiftenden Merkmal der Klinik zu machen. Grundlagen hierfür kamen aus der Chemotherapie. Die wenig befriedigenden Ergebnisse auf diesem Gebiet zeigten in den 1960er Jahren immer deutlicher, dass die Wirksamkeit bestimmter Mittel sowohl von Patient zu Patient als auch abhängig von Wachstumsort und -stadium eines Tumors sehr stark variieren konnte. In der RRK wurde daher ein Ansatz aufgenommen, der seine Wurzeln in der Antibiotikatherapie hatte. Bestimmte man dort bisweilen die individuelle Ansprechbarkeit eines Patienten anhand seiner Bakterienfauna in vitro, ergab sich für die Chemotherapie die Idee einer Wirksamkeitsprüfung anhand operativ entnommener Tumorgewebe.132 1965 wurde der spätere ZIK-Direktor Tanneberger an eine der wenigen europäischen Institutionen delegiert, die auf diesem Gebiet schon Erfahrungen gesammelt hatten, die Frauenklinik der Universität des Saarlandes in Homburg. Nach dortigen Erfahrungen ließ sich an Tumorzellkulturen aus Operationspräparaten mit 75%iger Sicherheit eine Substanz bestimmen, die bei dem betroffenen Patienten gut wirkten.133 Tanneberger lernte aber auch, dass sich nur etwas über die Hälfte der Explantate problemlos kultivierbar war. Seine eigenen Versuche zeigten, dass die Erfolgsquoten je nach Tumortyp sehr unterschiedlich ausfielen. Gerade bei den MammaKarzinomen, bei denen die chemotherapeutische Nachbehandlung hauptsächlich eingesetzt wurde, blieb nur ein sehr kleiner Teil des Operationsmaterials in vitro lebensfähig. Ferner stellte sich heraus, dass die Tumorkulturen generell unterschiedlich gegen verschiedene Substanzklassen reagierten. In den ersten Jahren erbrachte die klinische Anwendung keine sichtbare Verbesserung der Resultate.134
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wurden und in der genannten Vorlage auf offene Kritik stießen. Zu diesem Projekt vgl. Jahn 2017, S. 248–266. Konzeption des Zentralinstituts für Krebsforschung, 18.12.1974, ABBAW Buch A 905, S. 12–13. Jahn 2017, S. 196–205. S. Tanneberger, Bericht über Studienaufenthalt an Unifrauenklinik Homburg/Saar 15.6.– 26.6.1965, 3.8.1965, BAB DY 30/IV A2/9.04/362. S. Tanneberger, G. Bacigalupo, Einige Erfahrungen mit der individuellen zytostatischen Behandlung maligner Tumoren nach prätherapeutischer Zytostatika-Sensibilitätsprüfung in vitro (Onkobiogramm), Archiv für Geschwulstforschung 35 (1970), S. 44–53.
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Tierversuche wiesen darauf hin, dass die spezifische Sensibilität bestimmter Tumore im In-vitro-Test prinzipiell gut bestimmbar war, die Aussagekraft aber stark von der Züchtungsmethode abhing.135 Tanneberger und seine Kollegen sahen darum begründete Aussichten, dass Fortschritte der Zellzucht-Technik und größere praktische Erfahrungen in absehbarer Zeit zu einem wirkungsvollen klinischen Einsatz führen würden. Das in Buch als „Onkobiogramm“ bezeichneten Verfahren war nicht der einzige Ansatz, Therapieprotokolle durch In-vitro-Tests zu optimieren. In der Hormontherapie der Mammakarzinome waren seit Ende der 1950er Jahre die individuellen Wirkungsunterschiede von Steroidpräparaten damit erklärt worden, dass weibliche Gewebe über eine sehr unterschiedliche Anzahl spezifischer Östrogenrezeptoren verfügten. Messbar gemacht wurde die Präsenz dieser Rezeptoren durch einen Test, bei dem die Bindung radioaktiv markierten Östradiols im Karzinomgewebe als positives Resultat galt.136 Als erste nachweisbare Marker für die Ansprechbarkeit auf eine bestimmte Therapieform zogen die Östrogenrezeptoren weltweit starkes Interesse auf sich137 – so auch bei den endokrinologisch orientierten Klinikern in Buch. Wie so oft folgte auf anfängliche Erfolge die Ernüchterung in der Praxis – das Testverfahren ermöglichte zwar eine einfache Differenzierung von Patientengruppen, es war jedoch keineswegs klar, welche klinischen Schlüsse aus positiven und negativen „Rezeptor“-Befunden zu ziehen waren. Negative Befunde schlossen bestimmte Formen der Hormontherapie aus, positive lieferten jedoch keinen klaren Hinweis auf die beste Medikation.138 Die Bucher Gruppe suchte nach Zusammenhängen zwischen Rezeptorbefunden und Wachstum, Differenzierung oder Metastasierung der Tumore, ohne eindeutige Korrelationen zu finden.139 Die bis in die 1980er Jahre gesammelten Erfahrungen deuteten darauf hin, dass Rezeptor-negative Patientinnen ein höheres Risiko der Wiedererkrankung aufwiesen; für die Auswahl der Therapie erlangte der Rezeptorstatus jedoch keine entscheidende Bedeutung.140 Auch das Onkobiogramm konnte die in es gesetzten Erwartungen nicht erfüllen. Die geringen Erfolgsquoten bei der In-vitro-Züchtung konnten angehoben werden, indem man nach anfänglicher Orientierung auf Einzelzellkulturen auf die
135 M. Matthias, S. Tanneberger, H. Gummel, Vergleichende Untersuchungen klinisch äquivalenter Dosen verschiedener Zytostatika am Ehrlich-Asziteskarzinom der Maus und WalkerKarzinosarkom 256 der Ratte in vivo und in der Zellkultur, Archiv für Geschwulstforschung 36 (1970), S. 240–246. 136 M. Görlich, E. Heise, Die Bestimmung der Östradiolrezeptoren in menschlichen Mammakarzinomen, Archiv für Geschwulstforschung 38 (1971), S. 139–149. 137 EORTC Breast Cancer Cooperative Group, Standards for the assessment of estrogen receptors in human breast cancer, European Journal of Cancer 9 (1973), S. 379–381. 138 M. Görlich, E. Heise, Die Bestimmung der Östradiolrezeptoren in menschlichen Mammakarzinomen, Archiv für Geschwulstforschung 38 (1971), S. 139–149. 139 M. Görlich, E. Heise, Estradiol Receptor Activity in Tissues of Human Breast Cancer, Archiv für Geschwulstforschung 45 (1975), S. 444–452. 140 R. Gürtler, M. Görlich, Clinical relevance of steroid hormone receptors, Archiv für Geschwulstforschung 55 (1985), S. 387–397, S. 393.
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Kultur von Gewebestücken umsteuerte. 141 Die Bemessung der „biologischen Aktivität“ der Zellen wurde durch neue molekularbiologische Techniken die Messung der DNS-Synthesetätigkeit verfeinert. Es deutete jedoch nichts darauf hin, dass durch Anwendung der Onkobiogramme tatsächlich bessere Therapieergebnisse erzielt wurden. Zu Beginn der 1980er Jahre räumten Tanneberger und seine Kollegen ein, dass bislang kein Testverfahren „für eine klinische Anwendung allgemein empfohlen werden könnte, da keiner der bisher vorgeschlagenen Tests die In-vivo-Verhältnisse ausreichend widerspiegelt.“142 Die aufwändige Methode wurde zu diesem Zeitpunkt bereits durch neue Tests auf molekulargenetische und biochemische Marker an den Rand gedrängt; dennoch wurden bis in die jüngste Zeit vereinzelt Hoffnungen in die zellbiologische Vorab-Wirkungsbestimmung gesetzt.143 Trotz der enttäuschenden Erträge nahm das „Onkobiogramm“ für die Entwicklung der Klinik in den 1970er Jahren eine besondere Rolle ein – und zwar als Ansatzpunkt für ein neues konzeptionelles Selbstbild. Tanneberger propagierte die Arbeit am „Onkobiogramm“ – beziehungsweise sein Arbeitsgebiet, das er als „klinische Zellbiologie“ definierte – als „Brücke zwischen experimenteller und biologischer Grundlagenforschung und Klinik“. Ihr praktisches Ziel, die „individualisierte Krebstherapie“, wurde mit seiner Übernahme der Leitung des ZIK zum Leitbild des Instituts.144 In dieser Rhetorik war der Anspruch auf eine am Weltstand orientierte klinischen Forschung ebenso aufgehoben wie der Imperativ der ständigen Verbindung mit der therapeutischen Praxis. Zugleich enthielt sie einen programmatischen Hinweis auf ein Verbesserungspotential in der Krebsmedizin, das sich ohne revolutionäre Neuerungen in Chemotherapie oder physikalischer Technik realisieren ließ. Da Geschwulste, wie es zu dieser Zeit herrschende Meinung wurde, eine hohe biologische Variabilität besaßen, mussten generalisierende Behandlungsschemata durch individuell angepasste ersetzt werden. Der Denkansatz entsprach dem heute allgegenwärtigen Konzept der personalized medicine, auch wenn sich die hierfür erprobten zellbiologischen Ansätze deutlich von den heutigen pharmakogenetischen unterschieden. Ohne praktisch wirksame methodische Grundlage musste der Anspruch auf „individualisierte“ Therapie jedoch ein Schlagwort bleiben. Dafür schlug sich der andere Aspekt des Programms, der „Brückenbau“ zwischen Laborforschung und Klinik, in der Organisation der Klinik nieder. 1976 wurde die ZIK-Struktur erneut durch die Bildung „klinischexperimenteller Bereiche“ für die Fachgebiete Chirurgie, Strahlentherapie, Chemotherapie, Endokrinologie und Immunologie umgestaltet. Wie die hybride 141 S. Tanneberger, A. Mohr, Biological characterization of human tumours by means of organ culture and individualized cytostatic cancer treatment, Archiv für Geschwulstforschung 42 (1973), S. 307–315. 142 A. Projan, S. Tanneberger, U. Peek, E. Nissen, Prätherapeutische Testung von antineoplastischen Pharmaka in vitro, Archiv für Geschwulstforschung 52 (1982), S. 1–7, S. 6. 143 Lu 2015, S. 5–6. 144 S. Tanneberger, Prognose Klinische Zellbiologie, ca. 1972, ABBAW Buch B 1961; vgl. auch ders., Clinical Cell Biology and Cancer, Archiv für Geschwulstforschung 39 (1972), S. 44–47.
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Namensgebung andeutet, sollte die Maßnahme die Verbindungen zwischen Labor und Krankenbett verbessern.145 Wie alle ambitionierten Umstrukturierungen war auch dieser Schritt nicht frei von Widersprüchen. Nach der dem Konzept zugrundeliegenden „Weltstandsanalyse“ bestand der vorherrschende Trend in der internationalen Onkologie im „multidisziplinären Denken und Handeln“, konkret dem „Einsatz kombinierter Behandlungsverfahren“. Wenn dieser Abschied von der früheren „Dominanz einzelner Fachdisziplinen in der Tumor-Therapie“ als in Buch noch kaum vollzogen beschrieben wurde, traten darin die anhaltenden Differenzen zwischen den Fachgebieten zutage.146 Wie aber konnte das in den ZIKDokumenten inflationär gebrauchte Schlagwort „Multidisziplinarität“ reale Gestalt annehmen, wenn im Sinne der Einheit von experimenteller und klinischer Praxis das disziplinäre Organisationsprinzip noch verschärft wurde? In der Theorie sollte eine einheitliche „multidisziplinäre“ Behandlung durch standardisierte Therapieprotokolle und ein regelmäßiges klinisches Konsilium gesichert werden. Dass dieses Modell nicht allgemein akzeptiert wurde, zeigte sich in dem Dauerkonflikt zwischen dem jungen Institutsdirektor und seinem altgedienten Chefradiologen. Aus Eichhorns Sicht endeten die „multidisziplinären Beratungen“ in kontroversen Fällen zu oft mit der „diktatorischen Festlegung der Behandlung durch den Vertreter eines Faches“, sprich den Direktor. Für den Radiologen war damit die autonome Entscheidungsfähigkeit des Fachmanns sowie die Verantwortung gegenüber „seinen“ Patienten nicht mehr gegeben.147 Für Tanneberger verkörperte diese Haltung eben jenen rückwärtsgewandtem Fachabteilungs-Egoismus, der dem multidisziplinären Fortschritt entgegenstand. Der Direktor sah sich in dieser Frage als Anwalt der Patienten, die „ein Recht darauf (haben), nicht wie ein Pingpong-Ball zwischen den Disziplinen hin- und hergeschickt zu werden.“148 Der Konflikt war somit kein rein persönlicher. So rational die Idee einer gemeinschaftlichen Festlegung individueller Therapiekonzepte war, so begründet war das Interesse der Fachspezialisten an einem möglichst umfassenden Zugriff auf Patienten, um die eigenen Methoden und Erfahrungen weiterentwickeln zu können.149 Das Ziel des „klinisch-experimentellen“ Modells, praxisbezogene Forschungen zu fördern, konnte nicht erreicht werden. Ein wichtiger Faktor dabei war, dass die Spezialisten mit ihren alltäglichen Tätigkeiten – welche die klinischen Vergleichsstudien mit einschlossen – so weit ausgelastet waren, das für zusätzliche Arbeiten wenig Raum blieb. Zusätzlich spielte eine Rolle, dass das Zauberwort „Kooperation“ in der Praxis nicht die gleiche Wertschätzung genoss wie auf dem Papier. Tanneberger bremste etwa Initiativen von Mitarbeitern seines Bereichs für gemeinsame Projekte mit Abteilungen des ZIM, obwohl mögliche Synergie145 146 147 148 149
Zu den Umstrukturierungen Mitte der 1970er Jahre vgl. Jahn 2017, S. 134–136. Konzeption des Zentralinstituts für Krebsforschung, 18.12.1974, ABBAW Buch A 905, S. 6. Eichhorn an Tanneberger, 20.10.1977, ABBAW Buch B 1982. Tanneberger an Scheler, 7.3.1979, ABBAW Buch B 1982. Das prekäre Verhältnis zwischen fachlicher Spezialisierung und der Komplexität der meisten Krankheitsbilder hat in den letzten Jahrzehnten dazu geführt, dass Großkliniken neben immer stärker ausdifferenzierten Fachkliniken auch eine steigende Anzahl von problemorientierten, interdisziplinären „Zentren“ unterhalten, gerade auf dem Gebiet der Onkologie.
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Lokale Wissenschaft in globaler Perspektive
effekte zwischen den beiden Zentralinstituten gerne in den Planunterlagen beschworen wurden.150 Der profilierteste Ansatz einer praxisorientierten interdisziplinären Kooperation, die Zusammenarbeit zwischen den ZIK-Radiologen und den ZIM-Strahlenbiophysikern bei der Neutronentherapie, erfreute sich ebenfalls keiner besonderen Förderung durch die Institutsleitungen, wurde aber auch stark durch Spannungen zwischen beiden Gruppen belastet.151 Die Ausdifferenzierung kliniknaher experimenteller Forschung wurde also einerseits durch soziale Barrieren für die interdisziplinäre Kooperation und andererseits durch einen begrenzten Spielraum für Forschungsarbeiten in der Klinik selbst eingeschränkt. Der letztgenannte Umstand resultierte daraus, dass die Bucher Krebsklinik trotz aller gegenläufigen Initiativen blieb, was sie von Beginn an gewesen war: ein regionales Zentralkrankenhaus mit einem breiten Patienten- und Leistungsspektrum. Wo der Schwerpunkt lag, machen die Bauplanungen der 1970er Jahre deutlich, die einen Klinikneubau vorsahen, der die Bettenkapazität um 150 erhöhen sollte. Auf diese Weise sollte auch die Situation der klinischen Labors und der reinen Forschungsabteilungen verbessert sowie der Rückstand gegenüber den modernen Standards der medizinischen Versorgungstechnik ausgeglichen werden. Primär wurde das Vorhaben aber mit dem Status als Anlaufstelle für die häufigsten Krebserkrankungen begründet. Da alle Versuche gescheitert seien, gezielte Überweisungen entsprechend dem eigenen Leistungsprofil zu organisieren, schien nur der Weg zu bleiben, eine größere Konzentration von Krebspatienten im Haus zu erreichen.152 Offensichtlich sahen viele Mitarbeiter darin eine Richtungsentscheidung, die eine Weiterentwicklung der RRK zu einer Forschungsklinik ausschloss, welche sich auf wenige wissenschaftlich interessante Krankheitsbilder fokussierte. Die Betriebsgewerkschaftsleitung sprach sich in diesem Sinne dafür aus, dass die Klinik konsequent zu einem „Zentrum für die Betreuung der Geschwulstkrankheiten“ für Berlin und Umgebung ausgebaut wurde.153 Die Planungen für das hauptstädtische Gesundheitswesen gingen Mitte der 1970er Jahre in eine entsprechende Richtung. Das ZIK fungierte darin als „Bezirksklinik“, die unter anderem die „hochspezialisierte Diagnostik und Stadienabklärung für Verdächtsfälle“ für ganz Berlin, aber auch ein Aufsichts- und Beratungsfunktion für alle onkologische Stationen übernahm. Die „spezialisierte Therapie“ sollte zwar arbeitsteilig mit der Charité und den städtischen Kliniken organisiert werden, stand aber in bei den meisten Krebsformen unter Führung des ZIK. Da eine komplette Versorgung der Fälle seine Kapazitäten überlastet hätte, war eine Unterbringung ZIK-betreuter Fälle im benachbarten Stadtklinikum vorgesehen. Als Begründung für den neuen Zentralisierungsschub wurde auch hier das Ideal der „multidisziplinären Onko150 Jahn 2017, S. 147–148. 151 Vgl. Kap. III.3.2. 152 A. Graffi, Langfristige Planung „Geschwulstforschung an der AdW“, n. d. (1973), ABBAW Buch B 1144. Bald nach den Planungen schien bereits klar, dass der Klinikbau bestenfalls nach 1980 eingeleitet werden konnte und auch dann unsicher war; vgl. Tröger an Wolff/BGLZIK, 11.2.1974, ABBAW Buch A 910. 153 (BGL des ZIK) „Betr.: Entwicklung des ZIK bis und nach 1980“, n. d. (Ende 1974), ABBAW Buch A 910.
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logie“ angeführt, das in Berlin zwar weit besser verwirklicht war als im Rest der DDR, aber dennoch so unzureichend, dass angeblich nur 40% der Erstbehandlungen „nicht unter Bedingungen moderner klinischer Onkologie abgewickelt“ wurden.154 Es blieb damit bei der Linie, die Gummel vertreten hatte: Im Zweifelsfall hatte die Klinik nicht dem Ziel internationaler klinischer Spitzenforschung, sondern einer breitenwirksamen Gesundheitsversorgung zu dienen. Die weitere Entwicklung verlief entsprechend. Die westdeutschen Mediziner, die das ZIK nach der Auflösung der DDR evaluierten, sahen die RRK eher als Spezialkrankenhaus denn als Forschungsklinik, als welche sie nach ihren Maßstäben mit 223 Betten viel zu groß ausgelegt war. Interessante Forschung fand in ihren Augen vor allem in den klinikfernen Bereichen statt. Die Leistungen für die Patienten nötigten dagegen Respekt ab; die radiologische Therapieplanung galt trotz teilweise veralteter Technik als international konkurrenzfähig, die besonders gepflegte Nachsorge als „vorbildlich“.155 Für eine „Routine-Krankenversorgung auf einem hohen Niveau“ in Buch sahen die westdeutschen Planer im vereinigten Berlin jedoch keinen Bedarf. Die Weichen sollten auf erstklassige Forschung gestellt werden, und dies setzte für sie eine Entkoppelung von klinischer Routine voraus. Struktur des ZIK, Stand 1973 Zentralinstitut für Krebsforschung Direktor: H. Gummel Stellvertreter: A. Graffi Robert-Rössle-Klinik Bereich Experimentelle Bereich Chirurgie Bereich Radiologie Krebsforschung A. Graffi H. Gummel H.-J.Eichhorn Abteilungen Abteilungen Selbstständige Abt. Immunbiologie Chirurgie Strahlentherapie G. Pasternak H.-J. Eichhorn Intensivtherapie Röntgendiagnostik OP B. Mateev G. Wittig Gynäkologie Nuklearmedizin J. Altenbrunn W. Eschbach Strahlenbiologie Anästhesie E. Magdon M. Lüder Pathologische Anatomie u. Klinische Strahlenphysik Histologie S. Matschke G. P. Wildner Selbstständige Abt. Poliklinik H. Berndt
Selbstständige Abt. Präventive Onkologie W. Gibel Selbstständige Abt. Mikrobiologie u. Chemotherapie U. Schneeweiß
154 Konzeption zur weiteren Entwicklung der Geschwulstbekämpfung in der Hauptstadt Berlin, Juli 1976, ABBAW Buch A 909. 155 Wissenschaftsrat 1991, S. 23–24.
III.3. MODELLE, LABORKONSTRUKTE UND ENTTÄUSCHTE HOFFNUNGEN ARNOLD GRAFFI UND DIE VERZWEIGTE GESCHICHTE DER EXPERIMENTELLEN KREBSFORSCHUNG Kein anderes Forschungsprojekt prägte die Geschichte der Bucher Institute nach 1945 so nachhaltig wie das von Arnold Graffi (1910–2006) konzipierte Programm zur Aufklärung von Faktoren der Krebsentstehung. Graffis Abteilung war in den 1950er Jahren die erste des IMB, die weltweit beachtete Ergebnisse produzierte. Ihre internationale Reputation erlangte sie vor allem durch Beiträge zur Krebsvirologie, einem Arbeitsgebiet, das auf eine lange Geschichte zurückblickt und in den letzten Jahrzehnten eine Renaissance erlebte.1 Das Forschungskonzept, mit dem Graffi 1948 in Buch begann und das in den folgenden Jahrzehnten trotz inhaltlicher Veränderungen für seine Gruppe bestimmend blieb, war jedoch wesentlich breiter angelegt. Es umfasste neben der Suche nach viralen Auslösern der Malignisierung auch Fragen der Wirkungsweise chemischer Karzinogene, der Rolle genetischer Mutationen und des Stoffwechsels der Krebszelle. Graffi griff damit verschiedene der Mitte des 20. Jahrhunderts diskutierten Theorien der Krebsentstehung auf und versuchte, sie zu einem umfassenden Konzept zusammenzuführen. Sein Forschungsprogramm bietet daher eine vielschichtige Perspektive auf die experimentelle Krebsforschung der 1950er und 1960er Jahre. Es zeigt, dass die vorherrschenden virologischen, genetischen und biochemischen Denkansätze keineswegs so unvereinbar waren, wie es die Literatur zum Thema nahelegt.2 Es verdeutlicht außerdem, mit welchen Problemen die Versuche behaftet waren, den Prozess der Krebsentstehung experimentell beherrschbar darzustellen. Von der Tumorauslösung am speziell zugerichteten Versuchstiermodell bis zur Beobachtung der zellulären Transformation am In-vitro-Modell stellte sich immer wieder die Frage, inwieweit die gängigen Experimentalsysteme reale pathologische Prozesse repräsentierten oder Artefakte produzierten. Besonders deutlich zeigten dies die ab Ende der 1960er Jahre intensivierten Versuche, den tierexperimentellen Ergebnissen zur Virusätiologie „praxisrelevante” Befunde über humanpathogene Viren folgen zu lassen. Schließlich lassen sich am Beispiel der 1
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Eine „Wiederentdeckung“ der Krebsviren gab es nur hinsichtlich ihrer Rolle als diagnostisch und therapeutisch relevanten Faktoren, nicht hinsichtlich ihres Status als Experimentalobjekten. Sie war vor allem mit dem Nachweis der virusbedingten Auslösung des Zervixkarzinoms durch Harald zur Hausen verbunden, der 2008 mit dem Medizinnobelpreis gewürdigt wurde; vgl. zur Hausen 2006, S. 1–16. Zu den Gegensätzen zwischen endogener und exogener Auslegung der Virustheorie sowie zwischen genetischen, virusbezogenen und chemisch-toxikologischen Ansätzen vgl. van Helvoort 1999, S. 323.
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experimentellen Krebsforschung in Buch die Entwicklungen darstellen, die das Arbeitsgebiet ab den 1970er Jahren veränderten. Während die ursprünglichen Hoffnungen in das diagnostische und therapeutische Potential der Krebsvirologie enttäuscht wurden, begann sich auf ihrer Basis eine molekularbiologische Perspektive auf den Krebs durchzusetzen. Für die Bucher Gruppe ergab sich daraus die Herausforderung, sich in einem von der schnell fortschreitenden westlichen Molekularbiologie dominierten Feld neu zu orientieren. Auf der Suche nach einer integrativen Krebstheorie Arnold Graffi studierte nach dem Abitur, das er 1928 in seiner Heimatstadt Bistritz in Siebenbürgen ablegte, Medizin in Tübingen, Leipzig, Marburg und Berlin. Auf dieser letzten Station erhielt er unter anderem seine chirurgische Fachqualifikation unter Ferdinand Sauerbruch. Ab 1939 führte ihn sein beruflicher Weg jedoch in verschiedene Institutionen der pathologischen und experimentellen Forschung.3 Richtungsweisend wurde dabei ein Aufenthalt am Frankfurter Staatsinstitut für Experimentelle Therapie. Graffi fand in dieser mikrobiologischbakeriologisch orientierten Umgebung ein Instrument, das sich ideal für die Umsetzung seines Interesses am Prozess der chemischen Krebsauslösung eignete: ein Fluoreszenzmikroskop.4 Nachdem in den 1930er Jahren entdeckt worden war, dass bestimmte Kohlenwasserstoffe sehr starke kanzerogene Wirkungen ausüben, wurden diese Substanzen zu einem der bevorzugten Objekte der experimentellen Krebsforschung. Einige besonders kanzerogene Stoffe wie das Benzpyren zeichneten sich auch durch eine starke Fluoreszenz aus. Graffis erste originelle Leistung als Forscher bestand darin, diesen Effekt zu nutzen, um die Angriffspunkte von Kanzerogenen in der Zelle zu lokalisieren. Durch die Applikation von Benzpyren und verwandten Substanzen an verschiedene Krebs- und Normalzellen konnte er zunächst zeigen, dass sich diese Stoffe im Zellplasma, nicht aber im Kern anreicherten. Eine genauere Analyse wies darauf hin, dass die Fluoreszenz in den Mitochondrien besonders intensiv war.5 Diese Befunde setzten Graffi auf eine Spur, die er sein Leben lang verfolgen sollte. Graffi zog aus ihnen den Schluss, dass die kanzerogenen Stoffe primär in den Mitochondrien angriffen, welche sich dann in transformierter Form vermehrten und damit die maligne Umwandlung der Zelle einleiteten. Die Morphologie der Mitochondrien sowie ihre entscheidende Rolle für den zellulären Energiestoffwechsel waren zu diesem Zeitpunkt noch weitgehend unklar und sollten erst im folgenden Jahrzehnt – dank der Fortschritte der elektronenmikroskopischen Technik – in den Focus der Zellphysiologie rücken.6 Obwohl 3 4 5 6
Wunderlich/Bielka 2006; G. Pasternak, Arnold Graffi, in: L. Pasternak 2004, S. 74–77. Graffi an Frederick W. Kasten, 17.5.1982, ABBAW NL Graffi Nr. 46. A. Graffi, Zelluläre Speicherung cancerogener Kohlenwasserstoffe, Zeitschrift für Krebsforschung 49 (1939), S. 477–495. Bechtel 2006, S. 192–209.
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auch die Frage, ob sie Träger von Erbmaterial waren, völlig im Dunkeln lag, implizierte Graffis Theorie einer Vermehrungs- und Umwandlungsfähigkeit eben dies. Damit ergab sich für ihn eine Verbindung zu einer weiteren vieldiskutierten Theorie der Krebsauslösung. Nachdem der US-Amerikaner Peyton Rous bereits vor dem Ersten Weltkrieg gezeigt hatte, dass sich Hühnersarkome durch zellfreie Sarkomextrakte übertragen ließen, stützten in den 1930er Jahren ähnliche Beobachtungen an Kaninchenpapillomen sowie Mäuse-Mammatumoren die Hypothese, dass sich die Übertragung von Krebskrankheiten durch Viren vollzog. Graffi stellte zur Diskussion, dass diese Tumor-„Viren“ die Kanzerogenese nicht als exogene Agenzien auslösten, sondern vielmehr endogen entstanden – genauer, dass es sich bei ihnen „um maligne abgewandelte, kleinste Zellorganellen (Mitochondrien oder eventuell auch Lipochondrien) bzw. vielleicht eine granuläre, kleinste Vorstufe derselben handeln könnte.“7 Mit der Annahme, dass sich in den „Zellorganellen“ eine Art Mutationsvorgang vollzog, schlug Graffi die Brücke zu einer weiteren, gerade in Deutschland weit verbreiteten Krebstheorie, nämlich der Idee, dass die maligne Umwandlung mit einer somatischen Mutation im Zellgenom begann. Indem er diesen Vorgang in die Mitochondrien verlegte und ihre mögliche Transformation in virusartige Partikel andeutete, verband Graffi drei verschiedene Denkansätze zu einem umfassenden Programm, das seine Arbeiten in Buch strukturieren sollte. Neben der Virus- und der Mutationstheorie gehörte dazu auch die Idee einer Krebsauslösung durch eine irreversible Veränderung des Zellatmungsprozesses, die von dem Berliner Nobelpreisträger Otto Warburg postuliert wurde, an dessen Institut Graffi in den frühen 1940er Jahren hospitiert hatte. Graffi sollte auch in den folgenden Jahrzehnten wiederholt betonen, dass es ihm um einen integrativen Ansatz ging, der die Einseitigkeit der vorherrschenden Krebstheorien überwand. Statt den Prozess auf einen kausalen Auslöser zurückzuführen, sollte erwogen werden, „daß der Cancerisierungsvorgang der Zelle auf qualitativ verschiedene Weise und, zumindest in den ersten Phasen des Vorganges, auch auf verschiedenen Wegen zustande kommen kann.“8 Graffis Arbeitsprogramm war dementsprechend darauf ausgerichtet, verschiedene Aspekte der Krebsentstehung in den Blick zu nehmen und mögliche Verbindungen zwischen ihnen aufzuzeigen. Welche Momente dabei in den Vordergrund traten, war primär eine Frage der experimentellen Möglichkeiten. Während des Krieges arbeitete Graffi in Prag zunächst weiter am Problem der Krebsauslösung durch Kohlenwasserstoffe in der Mäusehaut. Später führte er seine Forschungen über Zellorganellen in den gut ausgestatteten Betriebslaboratorien der Schering AG in Berlin weiter, wo er erstmals mit Hilfe einer Ultrazentrifuge Mitochondrien isolieren und chemisch analysieren konnte.9 Dabei konnte er bestätigen, dass diese 7 8 9
A. Graffi, Einige Betrachtungen zur Ätiologie der Geschwülste speziell zur Natur des wirksamen Agens der zellfrei übertragbaren Hühnertumoren, Zeitschrift für Krebsforschung 50 (1940), S. 501–551, S. 517. A. Graffi, H. Bielka, Probleme der experimentellen Krebsforschung, Leipzig: Geest & Portig, 1959, S. 515. A. Graffi, K. Junkmann, Beitrag zum chemischen Aufbau normaler und maligner Zellen, Klinische Wochenschrift 24/25 (1946), S. 78–81.
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Organellen Nukleinsäuren sowie die erstmals von Warburg gefundenen Atmungsfermente enthielten. Demnach erschien denkbar, dass ein Angriff auf die Mitochondrien zugleich eine Mutation und – im Sinne Warburgs – eine irreversible Schädigung des Zellstoffwechsels auslöste. Der Ablauf dieses Prozesses stand im Mittelpunkt des Arbeitsprogramms, das Graffi im Oktober 1948 auf der ersten Berliner Onkologen-Tagung nach dem Krieg präsentierte.10 Zunächst konzentrierte seine neuformierte Abteilung ihre noch beschränkten experimentellen Möglichkeiten auf die zuverlässigste Technik zur Auslösung experimenteller Tumore, die direkte Applikation kanzerogener Kohlenwasserstoffe auf die Haut von Mäusen. Dabei interessierte Graffi vor allem der zeitliche Ablauf der malignen Umwandlung sowie ihre Abhängigkeit von Dosis und Struktur des auslösenden Agens. Nach seinem Verständnis konnte nur ein spezifisch dosierter und unter bestimmten biologischen Bedingungen wirkender Reiz karzinogen sein, während zu schwache oder zu starke chemische Reize nur allgemein gewebeschädigenden Charakter hatten.11 Nachdem der israelische Forscher Isaac Berenblum entdeckt hatte, dass die kanzerogene Wirkung von Kohlenwasserstoffen durch das an sich nicht krebserregende Reizmittel Crotonöl erheblich gesteigert wurde, konzentrierte sich Graffi auf die Untersuchung dieser Wirkstoffkombination. Tatsächlich führte die Crotonöl-Nachbehandlung zu Tumorquoten, die um ein Mehrfaches über jener der allein durch starke Kanzerogene verursachten lag. Für Graffi zeigte dies, dass die Krebsentstehung als stufenweiser Prozess verlief. Die kanzerogenen Stoffe allein konnten, abhängig von der Dosis, in der Zelle die irreversible Bildung von Substanzen auslösen, die er als „Tumorkeimanlage“ bezeichnete. Diese „Anlage“ wirkte sich erst dann voll aus, wenn bestimmte äußere Reize ihre Aktivierung und Vermehrung einleiteten.12 Unter der „Tumorkeimanlage“ verstand Graffi, entsprechend seinen früheren Arbeiten, eine genetische Einheit innerhalb der Mitochondrien oder der Mikrosomen.13 Die Transformation der Mitochondrien war der Angelpunkt seiner frühen experimentellen Ansätze. Das zeigte sich etwa in seinen Versuchen, die Beobachtungen anderer Forscher zu vertiefen, nach denen die Mitochondrien in Tumorzellen häufig in strukturveränderten, „degenerierten“ Formen und außerdem in geringerer Konzentration als in Normalzellen auftraten.14 Bezeichnend für die Idee einer Kanzerogenese mittels transformierter Mitochondrien war auch die 10 A. Graffi, Beitrag zur Wirkungsweise kanzerogener Reize und zur Frage des chemischen Aufbaus normaler und maligner Zellen, Archiv für Geschwulstforschung 1 (1949), S. 61–117. 11 A. Graffi, Tätigkeitsbericht über das Kalenderjahr 1948 der biologischen Abteilung für Geschwulstforschung des IMB, 1.3.1949, ABBAW NL Graffi, Nr. 30, Kasten 3. 12 A. Graffi, Untersuchungen über den Mechanismus der Cancerogenese und die Wirkungsweise cancerogener Reize, in: Probleme der Krebsforschung und Krebsbekämpfung, Abhandlungen der Deutschen Akademie der Wissenschaften Klasse Med. Wiss. Nr.1 (1953), S. 1–28. 13 Unter Mikrosomen verstand man zu diesem Zeitpunkt die bei der Zentrifugation anfallende Fraktion plasmatischer Partikel unterhalb der Größenordnung der Mitochondrien; später kristallisierten sich als Hauptbestandteil derselben die Ribosomen heraus. 14 Graffi/Bielka 1959 (wie Fn. 8), S. 256–269; A. Graffi, L. Puhr, Beitrag zur Morphogenese des Benzpyrenkrebses der Mäusehaut, Archiv für Geschwulstforschung 2 (1950), S. 1–41.
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Herstellung von Kaninchen-Antisera gegen Mitochondrien- und Mikrosomenfraktionen aus dem Ascites-Karzinom der Maus, durch welche es erstaunlicherweise gelang, Zellen derselben Krebsart in vitro abzutöten und ferner bei Tumormäusen therapeutische Effekte zu erzielen.15 Die Organellen wurden jedoch nicht nur als vermeintliche Träger der „Tumorkeimanlage“ behandelt, sondern auch hinsichtlich ihrer Funktion im Zellstoffwechsel. Nach den klassischen Arbeiten Otto Warburgs war der oxydative Stoffwechsel in Krebszellen deutlich herabgesetzt, der damit gekoppelte Prozess der Energiegewinnung durch Glykolyse (Zuckerabbau) dagegen abnorm gesteigert. Graffi und seine Mitarbeiter untersuchten die noch unklare Rolle der Mitochondrien in diesen Prozessen, indem sie die glykolytische Aktivität verschiedener Zellfraktionen unter dem Einfluss gereinigter Mitochondrien-Präparate maßen. Da die Zugabe der Organellen die Aktivität zunächst steigerte, aber bei sehr hohen Konzentrationen zu einer Hemmung führte, folgerte Graffi, dass der optimale Zustand der Glykolysetätigkeit „ein ganz bestimmtes Gleichgewicht zwischen den Gärungsfermenten des Grundplasmas und bestimmten Bestandteilen der Mitochondrien“ erforderte.16 Verminderte sich durch die pathologische Umwandlung der Mitochondrienanteil der Zelle, wurde die normalerweise bestehende Hemmung der Glykolyse aufgehoben. Mit dieser Interpretation war auch eine Verbindung zwischen Graffis eigener Theorie der plasmatischen Krebsentstehung und der zu dieser Zeit in Deutschland vorherrschenden Theorie der physiologischen Spezifität der Krebszellen hergestellt. Graffis Programm bestand in den 1950er Jahren also aus mehreren miteinander verketteten Ansätzen, den Prozess der Krebsentstehung auf zelulärer Ebene zu modellieren. Die Forschungen über krebsauslösende Viren, die zum Schwerpunkt in Graffis Arbeitsprogramm werden sollten, waren zunächst nur ein Teilaspekt, der experimentell besonders schwer zugänglich war. Auf der Suche nach einem experimentalisierbaren „Agens“ Die Suche nach krebsauslösenden „Viren“ war gewissermaßen eine Folgeerscheinung der frühesten Form (tier-)experimenteller Krebsforschung, der Tumortransplantation, deren Anfänge in die 1870er Jahre zurückverfolgt werden können.17 Erst die erfolgreiche „Verimpfung“ von Tumorgeweben auf andere Tiere zeigte, dass Geschwulste aus der Vermehrung spezifischer Zellstämme entstanden, und erst durch sie konnten – vor der Entdeckung starker Kanzerogene wie dem Benzpyren – verlässlich tierische Geschwulste ausgelöst und für die experimentelle Beobachtung verstetigt werden. Damit ergab sich auch die Möglichkeit, bakteriologische und virologische Versuchsansätze auf Gewebehomogenate oder -filtrate 15 Jahrbuch der DAW 1950/1951, S. 114. 16 A. Graffi, E. J. Schneider, Über die Beziehungen der Mitochondrien zur anaeroben Glykolyse, Die Naturwissenschaften 43 (1956), S. 376–377, S. 377. 17 L. M. Shabad, Zum hundertjährigen Jubiläum der experimentellen Onkologie, Archiv für Geschwulstforschung 47 (1977), S. 1–6.
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anzuwenden, um eine Mitwirkung subzellulärer Agenzien bei der Krebsentstehung zu untersuchen. Diese Forschungslinie führte zu den bereits erwähnten Entdeckungen der zellfreien Auslösung von Hühnersarkomen, Kaninchenpapillomen und Mäuse-Mammakarzinomen.18 Diese an sehr speziellen Objekten gewonnenen Beobachtungen sorgten schon in der Vorkriegszeit für ein großes Interesse an der Virushypothese der Krebsentstehung. Eine wirkliche Welle krebsvirologischer Forschungen setzte jedoch erst Mitte der 1950er Jahre ein, als es einer Reihe von Forschern, darunter auch Graffi, gelang, neue praktikable Versuchsobjekte zu etablieren. Jean-Paul Gaudillière sieht in diesem Boom der Krebsvirologie, getragen vor allem durch die großen Forschungsorganisationen der USA, einen entscheidenden Schritt zur „Molekularisierung“ der biomedizinischen Forschung. Die seit den 1930er Jahren verfügbaren Werkzeuge für die Isolierung von Zellbestandteilen – die Ultrazentrifuge – und zur Visualisierung subzellulärer Strukturen – das Elektronenmikroskop – erreichten in der Nachkriegszeit, zumindest in Nordamerika, eine Verbreitung und einen technischen Reifegrad, der eine neue Qualität der Identifizierung biologischer Mikrostrukturen erschloss. Welches Objekt eignete sich zur Nutzung dieser Techniken besser als ein bislang unzugängliches Makromolekül, das genähnliche Eigenschaften aufwies und möglicherweise den Schlüssel zum Verständnis jener Krankheiten bot, die im Zentrum der amerikanischen Nachkriegs-Forschungspolitik standen?19 Auch für Graffis Arbeitsgruppe war – obwohl sie an der Peripherie des neuen wissenschaftlichen Weltsystems operierte und technischen Einschränkungen unterworfen war – der Einsatz von Ultrazentrifuge und Elektronenmikroskop ein unverzichtbarer Bestandteil der Arbeit. Der Einsatz dieser Techniken beschleunigte und prägte die Krebsvirus-Forschung zweifellos. Dass vermeintlich krebsauslösende Viren überhaupt aufgefunden und zu handhabbaren exprimentellen Dingen entwickelt werden konnten, basierte jedoch primär auf „weichen“ Methoden. Wie Graffis Arbeiten der Nachkriegsjahre exemplarisch zeigen, war die Entstehung dieses Forschungsfeldes ein langwieriger, geradezu unwahrscheinlicher Prozess. Obwohl sich die Veröffentlichungen der Abteilung in den Anfangsjahren ganz um die chemische Kanzerogenese und die Transformation der Mitochondrien drehten, waren frühzeitig Versuche zur Auslösung experimenteller Geschwulste durch zellfreie Tumorextrakte eingeleitet worden. Dabei wurde nach einiger Zeit tatsächlich die Auslösung vom Mäuse-Ascites-Tumoren durch gereingte Extrakte desselben Gewebes erreicht; dies gelang indessen nicht nach Anwendung bakteriendichter Mikrofilter.20 Es sollte weitere fünf Jahre dauern, bis ein in Graffis Augen zweifelsfrei positives Resultat erzielt wurde. Die Suche nach einem subzellulären Tumorauslöser stieß nicht nur in Buch auf massive Probleme. Der pol18 Zur Geschichte dieser Versuchssysteme vgl. Creager/Gaudillière 2001. 19 Gaudillière 1998. 20 Graffi, Tätigkeitsbericht über das Kalenderjahr 1948 der biologischen Abteilung für Geschwulstforschung des IMB, 1.3.1949, ABBAW NL Graffi, Nr. 30, Kasten 3; A. Graffi, Einige Ergebnisse der experimentellen Krebsforschung, Urania 14 (1951), S. 150–160, S. 158.
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nisch-amerikanische Mediziner Ludwik Gross hatte kurz vor dem Abbruch seiner jahrelangen Versuche zur zellfreien Übertragung von Tierkrebsen gestanden, bevor ihm 1951 die Auslösung von Leukämien bei Mäusen gelang. Sein Erfolg, der die Renaissance der Krebsvirushypothese einleitete, verdankte sich einer Anregung aus einem Gebiet, das von weit größerer Bedeutung für die Humanvirologie war, nämlich der in den USA intensiv geförderten Forschung zu neurotropen Viren aus dem Umkreis des Poliomyelitis-Erregers. Hier hatte man gute Ergebnisse erzielt, indem nicht mehr adulte, sondern nur neugeborene Tiere beimpft wurden.21 Auch in Graffis Abteilung wurden die Versuche unter dem Eindruck von Gross’ Ergebnissen auf neugeborene Mäuse umgestellt. Ferner wurden die Übertragungen von Beginn an von Zusatzbehandlungen flankiert, die die Abwehrkraft der Versuchstiere herabsetzen sollten, vor allem Tuschepinselungen an der Injektionsstelle und teilweise auch Röntgenbestrahlungen.22 Es war unwahrscheinlich, dass eine Labormaus (vor allem eine erwachsene) im Verlauf ihres kurzen Lebens sichtbare Geschwulste zeigte, wenn man den Prozess nicht gezielt forcierte. Die Wirkung von Tumorviren, sichtbar nur durch recht grobe biologische Versuchsansätze, war nichts, was die Natur ohne Weiteres darbot. Sie war ein Laborkonstrukt, das durch geradezu gewaltsame Eingriffe evoziert werden musste. Als Graffi und seine Mitarbeiter im September 1954 erstmals berichteten, dass sie durch zellfreie Filtrate Leukämien bei Labormäusen ausgelöst hatten, trugen sie der Künstlichkeit des Versuchsansatzes durchaus Rechnung. Sie zogen in Erwägung, dass angesichts der „massiven Verabfolgung“ an Extrakten, die zur Erzielung positiver Befunde nötig war, eventuell eine unspezifische Reaktion des Organismus, etwa eine Schädigung des Immunsystems vorlag. Für wahrscheinlicher hielten sie indessen die Auslösung durch ein virusartiges Agens, dessen biologische Natur noch völlig unklar war. Die wirksamen Filtrate stammten nicht aus Leukämien, sondern aus Mäuse-Ascites-Sarkomen. Demnach fuhr entweder ein Leukämieerreger als blinder Passagier auf den Sarkomzellen, oder das Sarkomvirus wirkte sich unter bestimmten Umständen leukämieerzeugend aus.23 Wenn hinter den Beobachtungen tatsächlich ein Virus stand, war es offensichtlich nicht so eindeutig einzuordnen wie die experimentell gut erschlossenen Viren, welche die Tabakmosaik-Krankheit oder die Kinderlähmung auslösten. Die Entdeckung des leukämieauslösenden Faktors fiel in eine Zeit, in der weltweit nur sehr wenige Forscher eine virale Krebsübertragung für wahrscheinlich hielten, geschweige denn über einen eigenen experimentellen Zugang zu Krebsviren verfügten. In den USA gelang es noch vor Graffi Sarah Stewart, bei Versuchen in Gross’ Spuren positive Resultate zu erzielen; allerdings führte sie derselbe Ansatz nicht zu Leukämien, sondern zu soliden Tumoren.24 Auch das 21 Morgan 2014, S. 203. 22 Graffi, Tätigkeitsbericht über das Kalenderjahr 1948 der biologischen Abteilung für Geschwulstforschung des IMB, 1.3.1949, ABBAW NL Graffi, Nr. 30, Kasten 3. 23 A. Graffi, H. Bielka, F. Fey, F. Scharsach, R. Weiss, Gehäuftes Auftreten von Leukämien nach Injektion von Sarkom-Filtraten, Die Naturwissenschaften 41 (1954), S. 503–504. 24 Morgan 2014, S. 204.
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von Graffis Gruppe gefundene Agens unterschied sich hinsichtlich seiner pathogenen Wirkung deutlich von Gross’ Leukämiefaktor. Sehr ähnliche experimentelle Ansätze konnten offenbar sehr unterschiedliche Ergebnisse erbringen – das zeigte nicht nur der internationale Vergleich, sondern auch die hausinterne Erfahrung. Der Nachweis einer zellfreien Krebsauslösung war nämlich innerhalb des IMB gleich zweimal gelungen. Der Biologe Ferdinand Schmidt beteiligte sich zu Beginn der 1950er Jahre an den Übertragungsversuchen in Graffis Abteilung, operierte aber mit eigenem Tiermaterial. Seine wissenschaftliche Unabhängigkeit markierte Schmidt auch dadurch, dass er eigenständig theoretische Überlegungen zur Auslösung von Krebs durch subzelluläre Agenzien publizierte. Seine Ideen deckten sich insofern mit jenen Graffis, als er unter virusähnlichen Agenzien endogene Strukturen verstand, die auch durch chemische Reize entstehen konnten. Allerdings unterschied sich sein Begriff des Krebs-„Induktors“ von Graffis „Tumorkeimanlage“ darin, dass er diesen als einheitliches Agens verstand, das jeweils abhängig von einer lokalen Organdisposition verschiedenste Krebsformen auslösen konnte.25 Nachdem Schmidt und Graffi 1954 zunächst noch uneindeutige Ergebnisse zellfreier Übertragungen zusammen publiziert hatten,26 machte Schmidt am 1. September 1954 – eine Woche vor Erscheinen der Resultate der Graffi-Gruppe – im IMB-Kolloquium klar, dass er sich als alleinigen Entdecker der ersten positiven Ergebnisse betrachtete. Mehr noch – er reklamierte, dass er seine Versuche nicht nur unabhängig von jenen Graffis, sondern schon vor Kenntnis der grossschen Ergebnisse konzipiert hatte. Auch in methodischer Hinsicht sah er seinen Ansatz als überlegen, ja als vorbildgebend für seine Kollegen an.27 Tatsächlich waren seine Resultate umfassender als jene Graffis. Während hier bestimmte Sarkomstämme spezifische Leukämieformen ausgelöst hatten, erzielte Schmidt durch Verimpfung von Filtraten aus fünf verschiedenen tierischen Karzinom-, Sarkom- und Leukämieformen sowohl Leukämien als auch Lymphosarkome – für ihn eine klare Bestätigung seiner Theorie eines universell wirksamen „Induktors“. Der selbstbewusste Auftritt führte unvermeidlich zu Konflikten. Gummel forderte umgehend, den unbotmäßigen Nachwuchsforscher „einer Aufsicht zu unterstellen“.28 Der Streit wurde zunächst eingedämmt, indem Schmidt in die Abteilung Lohmanns wechselte, der ihn entschieden unterstützte und förderte. Er eskalierte 1959 erneut, als Schmidt seine Habilitation fertigstellte und ein populärwissenschaftliches Buch zum Krebsproblem vorbereitete, welches auf Betreiben der Akademie wegen „verunglimpfender“ Angriffe gegen Graffi zunächst zurückgehalten wurde. Eine zur Prüfung der Vorwürfe eingesetzte Kommission verwarf Schmidts Vorwürfe, Graffis Gruppe verdanke ihre Ergebnisse nur seinen vertrau25 F. Schmidt, Über die Virustheorie (Induktionstheorie) der Krebsentstehung, Kolloquium des IMB 13.5.1953, Das Deutsche Gesundheitswesen 8 (1953), S. 1166–1167. 26 A. Graffi, F. Schmidt, Methodische Versuche zur Frage einer subzellulären Übertragung von Mäusetumoren Das Deutsche Gesundheitswesen 9 (1954), S. 1309–1319, S. 1319. 27 F. Schmidt, Versuche zur Induktionstheorie der Krebsentstehung, Das Deutsche Gesundheitswesen 9 (1954), S. 1319–1327. 28 Protokoll zur Abteilungsleiterbesprechung am 1.9.1954, ABBAW Buch A 23.
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lichen Mitteilungen, und wies ihm so die Rolle des Störenfrieds zu.29 Lohmann attackierte die einseitige Verurteilung seines Mitarbeiters erbost als unheilvollen Präzedenzfall akademieinterner Zensur.30 Dank Lohmanns Unterstützung konnte das Buch schließlich in den Druck gehen und Schmidt ab 1960 als Leiter einer eigenen Arbeitsstelle am Akademieinstitut für Ernährung in Potsdam-Rehbrücke weiterarbeiten. Fachlich war Schmidt freilich fortan isoliert. Er konnte bei der Charakterisierung des krebserzeugenden Agens nicht mehr mit den Fortschritten von Graffis Gruppe mithalten. Die Feindschaft gegenüber seinen früheren Bucher Vorgesetzten kam ein letztes Mal zum Tragen, als er sich 1967 einer von der FG verordneten Umorientierung auf eine institutsgemäße Thematik widersetzte. Schmidt verließ nach heftiger Auseinandersetzung die DDR und fand eine neue Stellung am Deutschen Krebsforschungsinstitut in Heidelberg.31 Wer auch immer in dem Prioritätsstreit Recht hatte – die parallele Entdeckung ähnlicher krebsauslösender Effekte unter verschiedenen biologischen Bedingungen zeigt, dass die Suche nach biologischen Kanzerogenen ein Forschungsgebiet war, auf dem eindeutige und leicht reproduzierbare Ergebnisse eher eine Ausnahme darstellten. Die postulierten Krebsviren zeigten sich nur unter sehr speziellen Versuchsbedingungen und produzierten selten die biologischen Effekte, die nach ihrer Herkunft zu erwarten gewesen wären. Eben diese Uneindeutigkeit ihrer Objekte sollte das Gebiet der Krebsvirologie auch in den folgenden Jahrzehnten charakterisieren. Kausalfaktor oder praktikables Modell? Angesichts des prekären, instabilen Status der Krebsviren bildet es nur einen Teil ihrer Realität ab, sie als Beispielfall der „Molekularisierung“ der biologischen Forschungspraxis anzuführen.32 Zweifellos war die Hoffnung, mit den Viren einen isolierbaren, visualisierbaren und klar definierten „Auslöser“ der Krebskrankheit an die Hand zu bekommen, entscheidend für die Bedeutung, die das Forschungsgebiet ab den 1950er Jahren – ausgehend von den USA – einnahm. Allerdings waren Krebsviren alles andere als ideale Objekte für die Anwendung „harter“ physikalischer Techniken wie Elektronenmikroskopie und Hochleistungszentrifugation. Sie widersetzten sich einer einfachen Umwandlung in greifbare molekulare Entitäten und erwiesen sich als ausgesprochen komplexe und unberechenbare Experimentalsysteme. 29 Bericht über Sitzung der Kommission zur Prüfung des Prioritätsstreits am 14.10.1960, ABBAW AKL 47. 30 Lohmann an Frühauf, 21.11.1960, ABBAW AKL 47. 31 Welches Aufsehen der Konflikt in der Akademieleitung erregte, lässt sich daran ermessen, dass der ehemalige Akademiepräsident Hermann Klare die finale Konfrontation mit „Mäuseschmidt“ gegenüber Graffi als besonders bemerkenswertes Ereignis ihrer gemeinsamen akademischen Vergangenheit anführte; vgl. H. Klare an A. Graffi, 14.6.1985, ABBAW NL Graffi, Nr. 46. 32 Gaudilliere 1994, van Helvoort 1999.
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Eine Isolierung war etwa wesentlich weiter entfernt als bei Standardobjekten wie dem Tabakmosaikvirus oder dem Poliomyelitis-Virus. Durch die Auftrennung der Gewebehomogenate mittels der Ultrazentrifuge konnten in Buch zwar molekulare Fraktionen des Leukämiefaktors gewonnen werden, die eine relativ hohe leukämieauslösende Wirkung zeigten.33 Die Gewinnung einer Fraktion, die ansatzweise als „reine“ Viruspräparation gelten konnte, war jedoch ein langwieriger Prozess, der ein Jahrzehnt nach Aufnahme der Versuche immer noch nicht abgeschlossen war.34 Graffis Gruppe konnte durch Anwendung neuer Methoden zur Darstellung von Nukleoprotein- oder Nukleinsäurefraktionen frühzeitig zeigen, dass das leukämogene Agens ein proteinbehülltes RNS-Virus war.35 Allerdings lag schon darum, weil ein rein viraler Ursprung der geprüften Fraktionen nicht gesichert werden konnte, eine genauere molekulargenetische Analyse außer Reichweite. Die elektronenmikroskopische Darstellung, in den 1950er Jahren obligatorisches Nachweisverfahren in virologischen Arbeiten, konnte zwar die Existenz von Krebsviren wahrscheinlich machen, aber keineswegs unzweideutig ihre auslösende Rolle im Krankheitsgeschehen beweisen. Frühe Abbildungen mutmaßlicher Viruspartikel in Krebszellen wurden von erfahrenen Nutzern der Technik mit Skepsis betrachtet, da unklar blieb, ob die zumeist undeutlichen Spuren tatsächlich mit dem kanzerogenen Virus identisch waren – um so mehr, als die Ausweitung virologischer Beobachtungen zu Beginn der 1950er Jahre verdeutlichte, dass tierische Zellen ständig von verschiedensten Viruspopulationen bevölkert waren.36 Graffis Abteilung, die zu dieser Zeit in Ermangelung eines eigenen Gerätes ihre Aufnahmen gastweise an der elektronenmikroskopischen Arbeitsstelle der Technischen Universität in West-Berlin durchführte,37 näherte sich der visuellen Identifikation entsprechend vorsichtig. Als Graffi seine Befunde 1957 erstmals in den USA präsentierte, konnte er Bilder von „virus-like particles“ vorweisen, die er noch nicht als zwingenden Nachweis werten wollte.38 Je mehr Vergleichsmaterial die wachsende internationale Gemeinschaft der Krebsvirologen produzierte, desto bestimmter wurden die Aussagen, dass es sich bei den ungewöhnlichen Partikeln tatsächlich um die gesuchten Viren handelte. Für die elektronenmikroskopischen Arbeiten der Graffi-Gruppe war diese Frage jedoch nicht allein entscheidend. Es ging vielmehr darum, wie sich das Gesamtbild der 33 A. Graffi, W. Krischke, G. Sydow, L. Venker, Versuche zur Anreicherung des filtrierbaren leukämogenen Agens aus Mäusetumoren, Die Naturwissenschaften 44 (1957), S. 284–285. 34 F. Fey, M. Rudolph, D. Bierwolf, Anreicherung des Virus der myelotischen Mäuseleukämie (Graffi et. al.) aus Leukämie-Aszites, Archiv für Geschwulstforschung 29 (1967), S. 47–53. 35 H. Bielka, A. Graffi, W. Krischke, Zur Frage der Beteiligung von Nucleinsäuren an der chemischen Zusammensetzung des leukämogenen Agens aus filtrierbaren Mäusetumoren, Die Naturwissenschaften 44 (1957), S. 381–382; H. Bielka, A. Graffi, Untersuchungen über die leukämogene Wirkung von Nukleinsäuren aus virusinduziertem Leukämiegewebe, Acta Biologica et Medica Germanica 3 (1959), S. 515–517. 36 Scheffler 2014, S. 235. 37 Autobiographie Dieter Bierwolf, in: Pasternak 2004, S. 175–179, S. 176. 38 A. Graffi, Chloroleukemia of mice, Annals of the New York Academy of Sciences 68 (1957), S. 540–558, S. 551–552.
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virustragenden Zellen von Normalzellen oder anderen Tumorzellen unterschied, wobei Graffi – entsprechend seiner theoretischen Vorliebe für diese Organellen – Strukturveränderungen an den Mitochondrien besonderes Interesse entgegenbrachte.39 Grundlegender als die Isolierungs- und Darstellungsprobleme war für die Praxis der Krebsvirologie die Weiterentwicklung der „weichen“ Laborpraktiken, die ihre Objekte erst hervorbrachten. Bedurfte es spezieller Manipulationen, durch zellfreie Geschwulstextrakte malignes Wachstum in Versuchstieren zu evozieren, so war die Domestizierung der so entstandenen Krebsgewebe keine geringere Herausforderung. Für den biologischen Nachweis vermeintlich virusbedingter Geschwulste war es erforderlich, die experimentell erzeugten Krebskrankheiten auf weitere, nicht vorbelastete Versuchstiere zu übertragen. Im Falle der graffischen Mäuseleukämien blieben zunächst über 100 derartige Versuche erfolglos. Dafür führte die erste erfolgreiche Weiterverimpfung zu Leukämien, die sich mit hundertprozentiger Sicherheit weiter übertragen ließen. Mit diesem als SOV-16 bezeichneten neuen Stamm war endlich ein stabiler Träger des leukämogenen Agens gefunden. Er gab jedoch auch ein neues Rätsel auf: Die verimpften SOV16-Leukämien entwickelten sich nicht wie die ursprünglichen in den Lymphknoten, sondern überwiegend im Thymus.40 Warum war das Agens der SOV-16Linie virulenter und hatte ein verändertes Wirkungsspektrum? Lag eine Mutation vor oder existierten zwei verschiedene Viren? Die Haltung virustragender Tierstämme war aufwändig und störanfällig. Am ganzen Tier konnte zwar das Krebsgeschehen in verschiedenen Organen, nicht aber die unmittelbare Wirkung eines Virus im infizierten Gewebe beobachtet werden. Das Ziel aller Krebsvirologen war daher die verlässliche Züchtung ihrer Objekte in der Zellkultur. Die Entwicklung ihrer Arbeitsrichtung war daher untrennbar mit den Fortschritten der Gewebe- und Zellkulturtechnik verbunden. In den 1950er Jahren war die In-vitro-Züchtung von virusinfizierten Krebsgeweben nur rudimentär entwickelt. Die seit der Vorkriegszeit verwendeten Hühnerembryonen-Gewebe eigneten sich nur für wenige Viren. Die Versuche, Krebsviren in Säugetier-Zellkulturen zu züchten, machten erst durch eine methodologische Innovation Fortschritte, die abermals aus der Forschung zur Kinderlähmung importiert wurde, die von John Enders entwickelte Züchtung in langsam drehenden Reagenzgläsern („roller tube“-Technik).41 In Graffis Abteilung wurden Gewebekulturen in den frühen 1950er Jahren für Beobachtungen zur zellulären Wirkung kanzerogener Substanzen eingesetzt,42 während Ansätze, den Erreger der Mäu39 A. Graffi, U. Heine, J.G. Helmcke, A. Randt, Elektronenmikroskopische Befunde an der myeloischen Leukose SOV 16 der Maus, Archiv für Geschwulstforschung 15 (1959), S. 158– 168. 40 H. Bielka, F. Fey, A. Graffi, Über mögliche Eigenschaftsänderungen eines onkogenen Agens nach zellfreier Passage, Die Naturwissenschaften 42 (1955), S. 563–564. 41 Kevles 1993, S. 423–429. 42 A. Graffi, Beitrag zur Wirkungsweise kanzerogener Reize und zur Frage des chemischen Aufbaus normaler und maligner Zellen, Archiv für Geschwulstforschung 1 (1949), S. 61–117, S. 69; A. Krüger, Die quantitative Schädigungswirkung verschiedener cancerogener Kohlen-
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seleukämien auf Hühnerei- oder Mäusegewebe-Grundlage zu züchten, lange ohne Erfolg verliefen. Auch der Einsatz der neuen Kulturtechnik führte zunächst nicht zur Produktion krebsaktiver Gewebe; die aus ihnen gewonnenen Extrakte zeigten stattdessen eine unerwartete toxische Wirkung auf die Versuchstiere.43 Erste Erfolge erbrachte die direkte Kultivierung des stark virushaltigen Gewebes, das heißt von Lymphknotenzellen, die zwar in vitro schnell „degenerierten“, aber über mehrere Wochen leukämogen wirken konnten. Die zunächst vergeblich versuchte Kultivierung auf homologen Embryonalzellkulturen gelang schließlich, indem man eine einfache, aber für die Zellkulturtechnik höchst bedeutsame Neuerung adaptierte. Durch Behandlung der Gewebe mit dem Verdauungsenzym Trypsin ließ sich das Anwachsen der Zellen am Kulturgefäß verhindern, welches das Wachstum der meisten Kulturen in kurzer Zeit bremste.44 Der Übergang zu einer ständigen In-vitro-Züchtung vollzog sich also sehr mühsam, führte aber 1959 zu einer Entdeckung, die Graffis Experimentalsystem erheblich erweiterte. Bei der Kultivierung ganzer Zellen aus leukämischen Organen auf Embyronalzell-Grundlage wurde nach zweimaliger Passage ein Filtrat gewonnen, das in den Basis-Zellkulturen zytopathogene Effekte hervorrief. Im biologischen Test an Ratten traten bei über 90% der Tiere auffallende Sarkome in Schädel, Rippen, Wirbelsäule und anderen Stützgeweben auf, die von tödlichen Nierentumoren begleitet wurden.45 Graffi behauptete rückblickend, das Auftreten dieses als „polyvalentes Sarkomvirus“ bezeichneten zweiten Krebsvirus habe sich bereits zuvor abgezeichnet, da man bei den Übertragungsversuchen neben Leukämien auch immer wieder Sarkome beobachtet hatte.46 In ihren ersten Publikationen diskutierten Graffi und seine Mitarbeiter allerdings auch die Möglichkeit, der aggressive Sarkomfaktor könne aus dem Leukämievirus entstanden sein, indem dieser in der Gewebekultur seinen „Histotropismus“, also seine gewebespezifische Wirksamkeit geändert habe. Es wurde also in Betracht gezogen, dass die Interaktion zwischen Virus und Zelle gerichtete Mutationen oder die Aktivierung verwandter Virustypen hervorbrachte. Das drückte sich auch in der Zielsetzung aus, „durch Adaption des Virus an bestimmte Gewebsarten in der Kultur neue Virustypen mit spezifischer onkogener Wirkung in vivo auf ganz bestimmte Organe herauszuzüchten.“47 Entsprechende Eigenschaftsänderungen waren schon bei
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wasserstoffe auf die Gewebekultur, IMB-Kolloquium 9.9.1953, Das Deutsche Gesundheitswesen 8 (1953), S. 1575–1576. A. Graffi, Chloroleukemia of mice, Annals of the New York Academy of Sciences 68 (1957), S. 540–558, S. 547–548. A. Graffi, L. Baumbach, T. Schramm, D. Bierwolf, Untersuchungen zur Frage der Züchtbarkeit des Virus der myeloischen Leukämie der Maus in der Gewebekultur, Zeitschrift für Krebsforschung 65 (1963), S. 385–395, S. 386–389. A. Graffi, J. Gimmy, L. Krause, Über ein polyvalentes Sarkomvirus der Ratte, Die Naturwissenschaften 46 (1959), S. 330. A. Graffi, Untersuchungen zur Krebsentstehung durch Viren, Spektrum 6 (1975), Nr.7/8, S. 52–54, S. 53. A. Graffi, Untersuchungen zur Virusätiologie maligner Tumoren, Monatsberichte der DAW 1 (1959), S. 628–636, S. 635.
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verschiedenen krebsvirologischen Arbeiten beobachtet worden und auch in eigenen Versuchen mit dem Leukämieerreger aufgetreten, der nach erfolgreicher Passage auf Ratten eine verstärkte Wirkung bei der Maus zeigte.48 Als Graffi Ende 1959 einen großen Teil der internationalen KrebsvirologenGemeinschaft in Berlin zu einem Symposion versammeln konnte, legte er sich eindeutig darauf fest, dass er ein neues Virus gefunden hatte, welches zu einer wachsenden Familie polyvalent wirksamer Krebsviren gehörte. Ein ähnliches Agens war ein Jahr zuvor von den Amerikanerinnen Sarah Stewart und Bernice Eddy entdeckt und als „Polyoma“-Virus bezeichnet worden. Der Methodenpionier Ludwik Gross wies Graffi im Vorfeld der Tagung nachdrücklich darauf hin, dass er vermutlich dasselbe Virus schon einige Jahre zuvor beschrieben hatte.49 In weiteren Arbeiten zu diesem scheinbar unbegrenzt wirksamen Virus kristallisierte sich die Interpretation heraus, dass es sich um ein von den murinen Leukämieviren verschiedenes Virus, möglicherweise eine ganze Gruppe davon handelte. Graffi taufte die hauseigene Variante der Polyomaviren „BB T2“.50 Die Polyomaviren spielen in der Geschichte der Krebsvirologie darum eine so wichtige Rolle, weil sie hervorragend für die In-vitro-Züchtung geeignet waren. Diese Eigenschaft machte sie auch für jene Molekularbiologen interessant, die ihre an Bakterien-Phagen-Systemen gewonnenen Erfahrungen auf tierische und humane Viren in der Zellkultur übertragen wollten. Einige der wichtigsten Beiträge dieser molekulargenetisch geprägten Krebsvirologie entstanden unter maßgeblicher Beteiligung von Marguerite Vogt, der in Buch aufgewachsenen jüngeren Tochter von Cécile und Oskar Vogt. Vogt entwickelte am California Institute of Technology zusammen mit dem späteren Nobelpreisträger Renato Dulbecco eine neue Methode zur In-vitro-Beobachtung der Wirkungsweise von Krebsviren. Anhand der Infektion von Hamsterzellen mit Polyomavirus konnten sie zeigen, dass die Viren sich nicht mehr reproduzierten, sobald eine Transformation der Zellen einsetzte. Nach den Erfahrungen der Phagengenetik war es naheliegend, dieses Phänomen auf die Integration der Virus-DNS in das zelluläre Erbmaterial zurückzuführen.51 Damit war nicht nur eine Erklärung für das offensichtlich verbreitete „versteckte“ Vorkommen kanzerogener Viren gefunden, sondern auch eine Begründung für eine Interpretation, nach der Krebsviren nicht exogene Erreger, sondern onkogene Bestandteile des Genoms waren. Betrachtete man Viren als „genetische, für den Transfer spezialisierte Elemente“, formulierte der Phagengenetiker Salvador Luria, gab es auch einen Ansatzpunkt, „sinnvolle Fragen über Latenz, Beständigkeit, erbliche Übertragung, und sogar die Neuentstehung von Viren zu 48 F. Fey, J. Gimmy, A. Graffi, Hämatologische und histologische Untersuchungen an Mäuseleukämien, die durch zellfreie Filtrate aus leukämischen Rattengeweben induziert wurden, Acta Biologica et Medica Germanica 3 (1959), S. 598–607, S. 606. 49 L. Gross an A. Graffi, 3.12.1959, ABBAW NL Graffi, Nr. 61. 50 A. Graffi, Über einen neuen Polyoma-Virusstamm und einige biologische Eigenschaften desselben, in: A. Graffi, H. Gummel, H. Kraatz (Hg.), Berliner Symposium über Fragen der Carcinogenese, 11.–16.12.1959, Abhandlungen der Deutschen Akademie der Wissenschaften Nr. 3 (1960), S. 323–325. 51 Kevles 1993, S. 439.
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formulieren, ebenso wie über die Übertragbarkeit genetischer Elemente, die nicht über spezielle Übertragungsmechanismen verfügen.“52 Für Graffi, der Viren immer als endogene genetische Elemente – wenn auch nicht als integralen Teil des Zellkerngenoms – betrachtet hatte, war dies keine völlig neue Perspektive. Dennoch sollte sich das Programm seiner Abteilung weiterhin deutlich von der neuen molekulargenetischen Richtung unterscheiden, obwohl durch die phagengenetischen Arbeiten seines Mitarbeiters Erhard Geißler durchaus entsprechendes Know-how vorhanden war. Für molekulargenetisch geprägte Forscher wurden Krebsviren erst dadurch zu einem lohnenswerten Objekt, dass eine quantitative Analyse viraler Wirkungen anhand von Zellkulturen möglich wurde, wie man sie zuvor für Bakterien-Phagen-Systeme etabliert hatte. Genau wie andere domestizierte tierische Viren waren sie Modellobjekte, an denen sich bestimmte Aspekte von Speicherung, Expression und Transfer genetischer Information studieren ließen.53 Für Graffi blieben Viren in erster Linie ein Objekt zur Modellierung der zellulären Krebsentstehung. Das neue Virus BB-T2 war für sein Projekt vor allem darum interessant, weil es die Beobachtung zytopathologischer Effekte in vitro ermöglichte und in allen gängigen Labortieren verschiedenste Krebsformen auslöste – 2 Jahre nach der Entdeckung hatte man über 1000 Formen experimentell erzeugt und histologisch ausgewertet.54 Ein erheblicher Teil der krebsvirologischen Arbeiten betraf Fragen der unterschiedlichen Manifestierung in den verschiedenen Spezies und Organen sowie die histologische Analyse der entstehenden Tumorgewebe.55 Während die Arbeiten von Vogt und Dulbecco von quantitativen Analysen der zytopathogenen oder transformativen Viruswirkungen in der Zellkultur geprägt waren, blieb die Bilderwelt der graffischen Publikationen pathologisch bestimmt: in Form von Aufstellungen der in verschiedenen Tierstämmen ausgelösten Tumorraten, elektronenmikroskopierten Gewebeschnitten und Aufnahmen von Geschwulstbildungen in sezierten Versuchstierkörpern. Krebsviren waren in diesem Zusammenhang Werkzeuge zur Analyse der Kanzerogenese und zur Produktion biologischer Variabilität. Eben diese Eigenschaft begründete auch ihren Vorrang vor den chemischen Karzinogenen, die in den frühen 1950er Jahren noch einen gleichrangigen Platz im Abteilungsprogramm gehabt hatten. Wie Graffi 1965 betonte, war die Krebsauslösung durch Viren einfach das bessere Versuchsmodell als jene durch karzinogene Substanzen, da sie schneller ablief und an In-vitro-Ansätzen studiert werden konnte. Außerdem versprach er sich von der Existenz verschiedener Krebsvirusarten mit unter52 S. Luria, Viruses, Cancer cells and the genetic concept of virus infection, Cancer Research 20 (1960), S. 677–688, S. 679. 53 R. Dulbecco, Basic mechanisms in the biology of animal viruses, Cold Spring Harbor Symposia on Quantitative Biology 27 (1962), S. 519–525. 54 Jahresbericht 1961 des Instituts für exp. Krebsforschung, 10.2.1962, ABBAW Buch A 11. 55 J. Gimmy, A. Graffi, Zur Histologie der durch BB-T2-Polyoma-Virus beim Goldhamster erzeugten Tumoren, Archiv für Geschwulstforschung 18 (1961), S. 37–49; J. Gimmy, A. Graffi, Zur Transplantabilität der durch den BB/T2-Polyoma-Virusstamm induzierten Tumoren, Archiv für Geschwulstforschung 20 (1963), S. 1–21.
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schiedlicher Wirkungsweise einen Zugang zu der Frage, ob die maligne Entartung auf einem einheitlichen oder auf verschiedenen molekularen Prozessen beruhte. Das Interesse an der chemischen Kanzerogenese hatte Graffi darum keineswegs verloren. Das Thema wurde für ihn zu diesem Zeitpunkt wieder aktuell, da sich neue methodische Möglichkeiten für Untersuchungen in der Gewebekultur eröffneten, „womit eine ähnliche Vereinfachung der Versuchsanordnung wie bei der viralen Zelltransformation gegeben wäre.“56 Die Konzentration auf kanzerogene Viren resultierte also nicht aus der Festlegung auf ein pathogenetisches Prinzip, sondern aus der Wahl eines produktiven Modellsystems. Sie verdeutlicht, dass experimentelle Modelle, wie Hans-Jörg Rheinberger betont, „ihre privilegierte Stellung nicht von den Dingen ab[leiten], die sie modellieren sollen, sondern aus dem Vergleich mit anderen Modellsystemen.“57 Graffi hatte wiederholt Versuche zur Übertragbarkeit chemisch induzierter Tumore durchführen lassen, um ein den viral induzierten Geschwulsten vergleichbares Versuchssystem zu etablieren. Eine zellfreie Weiterverimpfung gelang jedoch nur in Ausnahmefällen.58 Die neuen Perspektiven, die Graffi 1965 andeutete, ergaben sich durch die Anwendung stark kanzerogener Nitrosoverbindungen, deren Wirkung Ähnlichkeiten mit den virusinduzierten Prozessen aufwies. Bei der Testung dieser arbeitsmedizinisch relevanten Substanzen an der Haut von Versuchstieren hatte sich nicht nur eine direkt kanzerogene, sondern teilweise auch eine leukämogene Wirkung eingestellt, die mit dem Auftreten von Viruspartikeln verbunden war. Zugleich gelang es erstmals, chemisch induzierte Sarkome beim Hamster auf Zellkulturen zu übertragen, die eine sarkomauslösende Wirkung behielten.59 Für Graffi waren solche Hinweise auf Zusammenhänge zwischen chemischer Induktion und dem Auftreten von Viruspartikeln von großer Bedeutung, da die Verbindung zwischen beiden Prozessen weiterhin einen zentralen Aspekt seiner Überlegungen bildete. Untrennbar hiermit verbunden war die Frage eines mutativen Prozesses in den Mitochondrien. Graffis Aufzeichnungen der späten 1960er Jahre weisen darauf hin, dass die „Vereinigung von Gen- und Mitochondrientheorie“ weiterhin im Mittelpunkt seiner Überlegungen stand.60 Ein erheblicher Teil der Institutsarbeit galt den Stoffwechselleistungen der Mitochondrien normaler und maligner Gewebe; dabei spielte auch die Möglichkeit eine Rolle, dass Störungen ihrer Syntheseleistungen direkte Rückwirkungen auf
56 Graffi an FB Medizin der FG, Konzeption Forschungskomplex Cancerogenese, Aug. 1965, ABBAW FG 70. 57 Rheinberger 2001, S. 96. 58 A. Graffi, W. Krischke, Versuche zur Frage der zellfreien Übertragbarkeit chemisch induzierter Mäuseleukämien, Acta Biologica et Medica Germanica 5 (1960), S. 29–303; F. Hoffmann, A. Graffi, Über negative Ergebnisse zellfreier Übertragungsversuche chemisch induzierter Sarkoma, Archiv für Geschwulstforschung 29 (1967), S. 315–323. 59 Graffi, Wissenschaftlicher Bericht für das Jahr 1966, 9.1.1966, ABBAW FG 70. 60 Kleines blaues Notizbuch 1967–1969, Eintrag Nov. 1967, ABBAW NL Graffi, Nr. 30, Kasten 4.
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den Zellkern haben könnten.61 Der Schwerpunkt lag aber auf der noch immer strittigen Frage, ob die Mitochondrien über autonomes genetisches Material verfügten und damit zu einer vom Zellkern unabhängigen Proteinsynthese befähigt waren. Mit dem Nachweis, dass in den Mitochondrien verschiedener Embryonalgewebe eigene Messenger-RNS sowie DNS synthetisiert wurden, sah Graffi Mitte der 1960er Jahre einen entscheidenden Einwand gegen die vorherrschende Vorstellung erbracht, dass die Produktion der Nukleinsäuren allein im Zellkern konzentriert war. Mit diesen Arbeiten war auch ein Ansatzpunkt gegeben, Graffis alte Idee einer mutativen Umwandlung des mitochondrialen Erbmaterials weiterzuverfolgen.62 Die hierzu nötige Isolierung mitochondrialer DNS war experimentell äußerst anspruchsvoll, da sie nur in winzigen Mengen vorlag und die Wahrscheinlichkeit einer Verunreinigung durch Zellkern- oder Bakterien-DNS hoch war.63 1969 gelang der Nachweis, dass radioaktiv markierter Nitrosomethylharnstoff – eines der starken Karzinogene, die bereits zuvor in vivo verwendet worden waren – in deutlich stärkerem Maße an der mDNS angriff als an chromosomaler DNS.64 30 Jahre nach Graffis Experimenten mit fluoreszierenden Kohlenwasserstoffen war damit der weltweit erste Befund erbracht, der seine Hypothese der mitochondrialen Mutation auf molekulargenetischer Ebene stützte. Dennoch wurde diese theoretisch bedeutsame Forschungslinie – die in jüngerer Zeit wieder verstärktes Interesse findet65 – in der Folgezeit nicht weiter ausgebaut. Graffi begründete dies zehn Jahre später einem amerikanischen Kollegen gegenüber damit, dass „die molekularbiologischen Techniken und Methoden, die dazu erforderlich gewesen wären, mir nicht ausreichend verfügbar waren.“66 Dies war aber kaum der entscheidende Grund dafür, dass Graffi zu diesem Zeitpunkt die vorhandenen Kräfte auf Probleme mit engerem Praxisbezug zu konzentrieren begann. Während der Institutsreform leitete er ein Projekt ein, das vom bisherigen Arbeitsprogramm deutlich abwich: die Entwicklung neuartiger Chemotherapeutika, die spezifisch auf Krebszellen wirken sollten. Graffi spekulierte dabei darauf, sich die (nach damaliger Vermutung) unterschiedlichen pH-Werte von Krebs- und Normalzellen zunutze zu machen, indem man Wirkstoffe an Enzyme koppelte, die erstere nur 61 A. Graffi, G. Butschak, E. J. Schneider, W. Kuhn, Über die Proteinsynthese in vitro von Mitochondrien aus Normal- und Tumorgeweben, Acta Biologica et Medica Germanica 15 (1965), S. 826–853, S. 851. 62 Graffi, Bericht über die wiss. Tätigkeit des Bereichs exp. Krtebsforschung 1964, ABBAW FG 70; A. Graffi, W. Butschak, E. J. Schneider, W. Kuhn, Über die Proteinsynthese in vitro von Mitochondrien aus Normal- und Tumorgeweben, Acta Biologica et Medica Germanica 15 (1965), S. 826–853, S. 827. 63 V. Wunderlich, M. Schütt, A. Graffi, Über Differenzen im DNS-Gehalt von Mitochondrien aus Tumor- und Normalgeweben, Acta Biologica et Medica Germanica 17 (1966), S. K27– 32. 64 V. Wunderlich, M. Schütt, M. Böttger, A. Graffi, Preferential alkylation of mitochondrial deoxyribonucleic acid by n-methyl-n-nitrosourea, Biochemical Journal 118 (1970), S. 99– 109; vgl. Wunderlich 2007. 65 Ähnlich wie im Fall der Krebsvirologie bleibt Graffi auch hier ein Platz in der fachwissenschaftlichen Ahnenreihe verwährt, vgl. Owens/Modica-Napolitano/Singh 2009. 66 Graffi an J. Hartung, 30.9.1980, ABBAW NL Graffi, Nr. 45.
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unter den Bedingungen der Krebszelle in eine zytostatische Form überführten. Nach vermeintlichen Anfangserfolgen stagnierte das Projekt bald und lief langsam aus.67 Der Vorstoß in die Krebspharmakologie verdeutlicht, dass es Graffi ein dringendes Bedürfnis war, nach Jahrzehnten grundlagenorientierter Forschung noch etwas „Praxisrelevantes“ zu leisten.68 Dies führte auch dazu, dass die krebsvirologischen Arbeiten in den 1970er Jahren ganz auf die Suche nach humanpathogenen Viren konzentriert wurden. Klinisch relevant oder erzwungenes Artefakt? Angesichts des artifiziellen Charakters der Versuchsmodelle, durch welche die Wirkungsweise tierischer Tumorviren untersucht wurde, erscheint es erstaunlich, dass sich Graffi in den internen Auseinandersetzungen der 1960er Jahre stets entschieden auf die Seite einer praktisch-medizinisch orientierten Institutskonzeption stellte. Obwohl die Arbeiten zur viralen und chemischen Kanzerogenese ätiologische Modellvorstellungen lieferten, war ein konkreter diagnostischer oder therapeutischer Mehrwert nicht in Sicht. Graffi betrachtete die Virusarbeiten jedoch nicht allein als Modelle, sondern auch als Vorarbeiten für den Nachweis entsprechender Strukturen in menschlichen Tumoren. Obwohl klar war, dass dieser Nachweis erheblich schwieriger und aufwändiger sein würde als bei den speziell zugerichteten Tiermodellen, betrachtete er die Suche nach menschlichen Krebsviren als unaufschiebbare Schlüsselfrage der Onkologie. Wie er 1969 in verblüffender Offenheit formulierte, erschien es „im Hinblick auf die Prophylaxe sowie eine allgemeine Krebsdiagnostik und –therapie geradezu wünschenswert, wenn ein möglichst großer Teil der malignen Tumoren des Menschen viraler Ätiologie wäre, da ein exogenes Agens, wie es ein Virus darstellt, sicher bedeutend wirksamere Angriffsmöglichkeiten bietet, etwa auf dem Wege einer aktiven und passiven Immunisierung.“69 Graffi hatte zum Zeitpunkt dieser Feststellung bereits begonnen, sein Forschungsprogramm auf die Suche nach Humanviren zu auszurichten. Erste Versuche hierzu hatte er schon ein Jahrzehnt zuvor eingeleitet. Sein Labor erhielt regelmäßig Tumormaterial aus der Robert-Rössle-Klinik, aber auch aus der Charité, dem Bucher Städtischen Klinikum und auswärtigen Kliniken – vor allem solche Geschwulste, die nach tierexperimentellen Erfahrungen einen hohen Virusgehalt aufwiesen, etwa Warzen und Papillome. Die Zellhomogenate wurden entweder direkt elektronenmikroskopisch untersucht oder auf Versuchstiere oder Zellkulturen verimpft, also entsprechend den experimentell erprobten Übertragungstechniken behandelt.70 Besondere Hoffnungen setzte Graffi in die Untersuchung von 67 68 69 70
Zu diesem Projekt ausführlich Jahn 2017, S. 248–266. Mündliche Information V. Wunderlich, 27.2.2013. A. Graffi, Viren als Krebsursache, Jahrbuch der DAW 1969, S. 53–61, S. 59–60. D. Bierwolf an Graffi, 26.6.1959, ABBAW NL Graffi, Nr. 43; W. Krischke an R. Zahnert, 26.5.1959, ABBAW Buch B 1976.
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Leukämien, nicht allein wegen der bereits gewonnenen Erfahrungen, sondern auch, weil ihre Ätiologie beim Menschen noch völlig ungeklärt war.71 Mit diesen Überlegungen stand er nicht allein. Zum gleichen Zeitpunkt war die Suche nach menschlichen Leukämieviren – und daraus abzuleitenden Impfstoffen – Gegenstand des größten koordinierten Forschungsprogramms, das die US-Krebsforschung bis dahin gesehen hatte.72 Die Erträge blieben bei Graffi wie bei seinen amerikanischen Kollegen zunächst enttäuschend. 1958 fand man im elektronenmikroskopischen Bild von Zellen eines Lymphgranulomatose-Patienten virusartige Partikel, aber die einmalige visuelle Darstellung anhand von Tumorpräparaten war nur ein flüchtiger Hinweis, der sich nicht weiter verfolgen ließ.73 Fünf Jahre später schien die Ausweitung der Virusjagd erstmals greifbare Resultate zu produzieren. Nachdem man Gewebe von Patienten mit myelotischer Leukämie ohne Erfolg untersucht hatte, zeigten sich in Gewebekulturen, die mit Tumorextrakten beimpft waren, verdächtige Partikel in den Zellkernen. Es blieb zunächst unklar, ob die elektronenmikroskopisch sichtbaren Gebilde vielleicht auf Degenerationen der Kernstruktur zurückgingen; außerdem unterschieden sie sich deutlich von anderen bis dahin gemeldeten Beobachtungen vermeintlicher menschlicher Leukämieviren.74 Dennoch vermuteten Graffi und seine Mitarbeiter die Präsenz eines Virus. Aber auch diese Vermutung ließ sich nicht präzisieren, denn während das Virus der myelotischen Mäuseleukämie immer genauer charakterisiert wurde, entzog sich sein vermeintlicher menschlicher Verwandter einer dauerhaften Weiterzüchtung. Ohne geeignete Kultivierungsmethoden konnten menschliche Krebsviren nicht zu einem stabilen Laborobjekt werden. Bei dieser schwierigen Ausgangslage ist es bemerkenswert, dass Graffi nicht auf Beobachtungen zurückgriff, die in seiner unmittelbaren Nachbarschaft gemacht wurden. In der gynäkologischen Abteilung der Robert-Rössle-Klinik behandelte Walter Eschbach überwiegend Patientinnen mit Gebärmutterhals(Zervix-)Krebs. Das Zervixkarzinom war mehr als alle anderen Krebsformen Objekt intensiver zellularpathologischer Untersuchungen, da Gewebeabstriche relativ leicht zu gewinnen waren und sich in diesen charakteristische Vorstufen der Malignisierung erkennen ließen.75 Eschbachs Forschung galt hauptsächlich der verfeinerten Erkennung von Frühstadien, die für ihn nicht nur ein Weg zur exakten Frühdiagnose, sondern auch Modell für den schrittweisen Charakter der Malignisierung war. Die irreversible Umwandlung nur „verletzter“ bzw. „entzündeter“ Zellen war nach einer eigenwilligen Idee Eschbachs mit einer Freisetzung von Nukleinsäuren und ihrem Einbau in das Genom der Krebszellen verbunden,
71 A. Graffi, Viren als Ursache von Leukämien, Blut 6 (1960), S. 1–7, S. 6. 72 Scheffler 2014, S. 232. 73 U. Heine, A. Krautwald, J. G. Helmcke, A. Graffi, Zur Ätiologie der Lymphgranulomatose, Die Naturwissenschaften 45 (1958), S. 369–370. 74 Graffi, Jahresbericht 1963, 17.1.1964, ABBAW FG 70; A. Graffi u.a., Viruspartikel in Zellen myelotischer Leukämien des Menschen, Das Deutsche Gesundheitswesen 19 (1964), S. 1576–1580. 75 Zur Entwicklung der zellpathologischen Zervixfrühdiagnose vgl. Löwy 2011, S. 79–106.
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von denen das weitere Krebswachstum ausgehen konnte.76 1960 glaubte er eine Bestätigung für die Existenz solcher „induzierender“ DNS-Bausteine gefunden zu haben, da zellfreie Filtrate aus Zervixgewebe im Zustand beginnender Malignisierung auf entsprechendem gesunden Gewebe in vitro zu krebsartigem Wachstum führten.77 Eschbach zog neben seiner DNS-Trümmer-Hypothese auch den Einbau eines exogenen Virus bzw. „Prävirus“ in das Krebszellgenom in Betracht. Graffi hatte gegenüber den recht spekulativen Ideen seines Kollegen klare Vorbehalte.78 Er ließ dennoch einen Mitarbeiter Vorschläge für eine genauere Charakterisierung und Isolierung der vermuteten DNS-Induktoren unterbreiten. Der Kooperationsversuch mit dem auch innerhalb der Klinik als eigenwillig geltenden Eschbach scheiterte jedoch schon in der Diskussionsphase. Der Gynäkologe hatte offensichtlich wenig Verständnis für Vorschläge von Laborwissenschaftlern und hegte erhebliche Antipathien gegenüber Graffi und seinem Team.79 Der apodiktische Ton seiner Publikationen – die fast durchweg ohne Zitation fremder Ergebnisse auskamen – legt außerdem nahe, dass er das pathogenetische Problem durch seine zellpathologischen Studien und seine Übertragungsversuche als grundsätzlich gelöst ansah. Zu Beginn der 1970er Jahre setzte er die nähere Charakterisierung des „onkogen-infektiösen Agens“ zeitweise mit externen Kooperationspartnern fort.80 Dies führte ebensowenig zu wesentlichen Fortschritten wie ein erneuter Versuch in Graffis Abteilung, in Eschbachs Material Spuren von RNS-Viren zu entdecken.81 Das Projekt blieb so ohne Einfluss auf die wenig später in Westdeutschland einsetzenden Arbeiten, die zur Identifizierung von Papillomviren als Auslösern des Zervixkarzinoms führten, dem bis heute einzigen präventivmedizinisch relevanten Ergebnis der Krebsvirologie.82 Graffi und seine Mitarbeiter hätten ein pathologisch so gut untersuchtes und gut zugängliches Objekt wie das Zervixkarzinom durch intensivere Arbeiten vielleicht zu einem erfolgversprechenden Versuchssystem weiterentwickeln können. Ähnlich wie in der experimentellen Krebsvirologie waren histologische Beobachtungen oder die Auslösung zytopathogener Effekte durch Krebszellfiltrate indessen keine ausreichende Basis. Auch hier lag das Hauptproblem darin, langfristig kultivierbare menschliche Krebszellstämme zu finden, die sich eventuell als Träger kanzerogener Viren erwiesen oder auf die sich fremde Virusfiltrate übertragen 76 W. Eschbach, W. Brucker, Betrachtungen zur Genese und Klinik des Carcinoma colli uteri, Das Deutsche Gesundheitswesen 14 (1959), S. 2186–2191. 77 W. Eschbach, W. Brucker, Zur zellfreien Übertragung von Carcinoma colli uteri in statu nascendi, Die Naturwissenschaften 47 (196), S. 165. 78 W. Eschbach, Fragen zur Entstehung und Klinik des Carcinoma colli uteri (mit Diskussionsbeitrag A. Graffi), Das Deutsche Gesundheitswesen 16 (1961), S. 1277–1280. 79 Ausführlich zu diesem Fall Jahn 2017, S. 181–194, bes. S. 185. 80 W. Eschbach, H. Glathe, B. Nöbel, Onkogen-infektiöses Nukleoproteid aus „Statu-nascendiStufen“ des Carcinoma colli uteri und Herpesvirus hominis, Archiv für Geschwulstforschung 43 (1974), S. 364–376; 81 Jahresbericht 1975 zum Thema „Onkogene Viren“, ABBAW NL Graffi, Nr. 16. 82 Der Entdecker dieses Zusammenhangs, Harald zur Hausen, erwähnt in seiner Selbstdarstellung weder die Arbeiten Eschbachs noch die Beiträge der Graffi-Gruppe zur generellen Entwicklung der Krebsvirologie, vgl. zur Hausen 2006, S. 1–16.
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ließen. In der Krebsforschung war die In-vitro-Untersuchung von Tumorgeweben zwar Routine, die Gewinnung konstant kultivierbarer Zelllinien aber ein seltener Glücksfall. Der Fall des aus einem Zervixkarzinom gewonnenen HeLa-Zellstammes, der sich in den 1950er Jahren von den USA aus als multifunktionales Laborwerkzeug verbreitete, war eine absolute Ausnahmeerscheinung.83 Mitte der 1960er Jahre begann Graffis Arbeitsbereich, systematisch die Arbeit mit humanen Zellkulturen zu erschließen. Krebsgewebe verschiedenster Art wurden aus Kliniken übernommen und auf Züchtbarkeit überprüft. In der ersten Hälfte der 1970er Jahre wurden fast 300 Tumoren angezüchtet, von denen sich nur 30 als in Langzeitkultur passagierbar erwiesen und 10 als permanente Kulturen weitergeführt wurden. Wie Graffi betonte, bedeutete diese Praxis eine „radikale Umorientierung“, da man die bisher gehaltenen Ratten-, Hamster- und Mäusezellkulturen weitgehend aufgeben musste, um eine Kontamination mit tierischen Viren auszuschließen.84 Neben den Tumorpräparaten wurden ab 1973 auch Hunderte von Plazenten elektronenmikroskopisch untersucht. Dieses Gewebe war über Geburtskliniken sehr leicht zugänglich und erschien als geeigneter Ansatzpunkt, um die Frage einer möglichen uterinen Übertragung von Krebsviren zu untersuchen. Mehrere elektronenmikroskopische Beobachtungen „verdächtiger“ Partikel hatten keine entscheidenden Folgen, da die Konzentration der vermeintlichen Viren äußerst gering und die Weiterzüchtung besonders problematisch war.85 Besondere Aufmerksamkeit wurde ferner der Züchtung von Mamma-Karzinom-Zellen gewidmet, bei denen eine virale Ätiologie oft vermutet, aber nie nachgewiesen worden war. Mit der Etablierung eines unbegrenzt wachstumsfähigen Zellstammes gelang ein für diese Gewebeart seltener Erfolg, der jedoch keinen Virusnachweis nach sich zog.86 Mit diesen Fehlschlägen stand man in Buch nicht allein. Die in den späten 1950er Jahren einsetzenden Bemühungen, die an Tiermodellen gewonnenen Erfahrungen auf menschliche Gewebe zu übertragen, führten lange Zeit nur zu vereinzelten elektronenmikroskopischen Beobachtungen „virusähnlicher“ Strukturen, denen gescheiterte Kultivierungsversuche an tausenden von Zellkulturtypen gegenüberstanden.87 Erfolge konnten erst erzielt werden, als es möglich wurde, auf biochemischem oder immunologischem Wege eine verstärkte Virusproduktion zu induzieren oder latent vorhandene Virusstrukturen nachzuweisen. Graffis Team bemühte sich Anfang der 1970er Jahre, Techniken zur Fusionierung von Krebs83 Zur Verbreitung von HeLa vgl. Landecker 2007, S. 135–139. 84 Fünfjahresplanbericht 1971–1975, Thema „Onkogene Viren“, 1.12.1975, ABBAW NL Graffi, Nr. 16. 85 Forschungsbericht 1973 zum Thema „Onkogene Viren“, 15.12.1973, ABBAW NL Graffi, Nr. 16; D. Bierwolf u.a., C-Typ-ähnliche Partikel in normalen menschlichen Plazenten, Archiv für Geschwulstforschung 45 (1975), S. 3–15. 86 R. Widmaier, G. P. Wildner, G. Papsdorf, I. Graffi, Über eine neue, in vitro unbegrenzt wachsende Zellinie, MaTu, von Mamma-Tumorzellen des Menschen, Archiv für Geschwulstforschung 44 (1974), S. 1–10. 87 M. Bierwolf, The Possible Role of Retroviruses in Human Tumors, Archiv für Geschwulstforschung 53 (1983), S. 303–313, S. 304.
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und Normalzellen zu adaptieren, die eine Freisetzung latenter Viren ermöglichen sollten, stieß dabei jedoch auf erhebliche Probleme.88 Größere Bedeutung sollte für sie, und die gesamte Krebsvirologie, eine für die gesamte Molekularbiologie bahnbrechende Entdeckung erlangen. 1970 wiesen Howard Temin und David Baltimore nach, dass RNS-Viren ein Enzym enthielten, welches ihre genetische Information in DNS-Sequenzen „übersetzen“ konnte, die „reverse Transkriptase“. Diese Entdeckung bedeutete zunächst einen Einschnitt für das molekulargenetische Denken, widerlegte sie doch das von Francis Crick formulierte „zentrale Dogma“ der Molekularbiologie, wonach der Weg von der DNS zur RNS (und weiter zum Protein) eine Einbahnstraße war. Sie war zugleich der entscheidende Anstoß für die Entstehung der Gentechnologie, da sie die Möglichkeit eröffnete, aus isolierter Boten-RNS produktspezifische DNS-Sequenzen zu gewinnen, also gezielt Genabschnitte zu vervielfältigen. Die sowjetischen Molekularbiologen stellten aufgrund dieser Möglichkeiten die Gewinnung des Enzyms, das von ihnen „Revertase“ genannt wurde, in den Mittelpunkt ihrer Forschungsprogramme. Einige DDR-Kollegen, darunter auch die Bucher Krebsvirologen, wurden ab 1973 in das Programm einbezogen.89 Für die Krebsvirologen barg die Revertase ebenfalls revolutionäres Potential, da der Test auf die Enzymaktivität einen praktikablen und sicheren Weg zur Identifizierung auch latenter RNS-Viren bot. Die Hoffnungen einiger Molekularbiologen waren noch weiter gespannt; der RevertaseAktivitätstest sollte auch als genereller Krebstest oder für die In-vitro-Testung mutmaßlich kanzerogener Substanzen genutzt werden. Diese Erwartungen erwiesen sich ebenso wie die Idee, eine Hemmung der Revertase therapeutisch einzusetzen, nach anfänglichem Enthusiasmus schnell als unrealisierbar.90 In Graffis Arbeitsbereich zeigte der „Revertasetest“ dagegen nach kurzer Zeit sein Potential, indem er eine Entdeckung beeinflusste, die das Forschungsprogramm über Jahre prägen sollte. Bei den ersten Kultivierungsversuchen an Humanzellen, die gemeinsam mit einem Berliner Partnerinstitut durchgeführt wurden, hatte man 1965 erfolgreich Stämme aus Nierenzellen und Lungenfibroblasten angelegt, die aus dem verstorbenen Embryo einer wegen Gebärmutterhalskrebs operierten Patientin stammten. An beiden Stämmen wurden morphologische Transformationen beobachtet, die eine auffällige Wachstumsaktivität sowie eine starke Kanzerogenität im Tierversuch nach sich zogen. 91 Dieser Befund war schon an sich wertvoll, da maligne Umwandlungen menschlicher Zellen in vitro selten beobachtet wurden. Vor allem 88 Jahresbericht 1972 zum Thema „Onkogene Viren“, 20.12.1972, ABBAW NL Graffi, Nr. 16. 89 Protokoll der 1. Arbeitstagung der Vertreter von Akademien der Wissenschaften der sozialistischen Länder zum Projekt „Rücktranskriptase (Revertase)“, 28.2.–2.3.1973 in Moskau, ABBAW Buch A 1155. 90 S. Rosenthal, Protokoll einer Problemberatung zur Entwicklung von Tests „Onkogene Viren“, 28.11.1975, ABBAW Buch A 1155. 91 Graffi, Bericht über Erfüllung des Planes der naturwiss. Forschung, 11.1.1966, ABBAW FG 70; W. Belian, M. Käppel, R. Widmaier, T. Schramm, A. Graffi, Über spontane Umwandlungen von menschlichen Zellen in vitro, II.: Fetale Herz-Lunge-Fibroblasten, Archiv für Geschwulstforschung 28 (1966), S. 213–233.
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aber ließ ein mutierter Zellstamm Virusaktivität erwarten. Tatsächlich zeigten sich 1973 in dem PMF (permanente menschliche Fibroblasten) genannten Lungenfibroblastenstamm schließlich Partikel, die bekannten Primatenviren ähnelten. Im Unterschied zu früheren flüchtigen Beobachtungen wuchs das Virus – nach seiner Trägerlinie PMFV genannt – auf einem leistungsfähigen Laborstamm und konnte zudem auf weitere permanente Standardlinien übertragen werden. Außerdem ließ sich, unter Einbeziehung des Revertasetests, eine biochemische Identifizierung einleiten.92 Graffis Gruppe hatte damit ein neues stabiles „Hausobjekt“, das trotz des internationalen Booms der Tumorvirologie etwas Besonderes war – nur eine sowjetische und eine westdeutsche Gruppe verfügten zu diesem Zeitpunkt über ähnliche Objekte. So lange es aber nicht gelang, eine für die biochemische Charakterisierung ausreichende Menge an reinem Virus zu isolieren, konnte das Objekt nicht ähnlich produktiv werden wie vergleichbare tierische RNS-Viren. Das größte Problem in den Jahren nach der Identifizierung bestand darin, dass der sehr geringe Virusgehalt der Zellkulturen das Arbeitstempo bremste.93 Es war daher notwendig, die Produktion der Virusstämme auszuweiten und die Züchtungsmethoden entsprechend anzupassen. Zur Verbesserung der Produktion wurden mehrfach neue Trägerstämme eingesetzt, die Methoden der Isolierung und Reindarstellung in jahrelangen Versuchen mühsam verbessert. Es gab auf diesem Gebiet kein universell wirksames Standardverfahren, da jedes neue Objekt andere biologische Bedingungen verlangte.94 Das PMFV war als menschliches RNS-Krebsvirus eine Ausnahmeerscheinung und stand damit im Schatten der zahlreichen bekannten Primatenviren. Seine Identität gewann es ursprünglich durch die Ähnlichkeit mit dem Mason-Pfizer Monkey Virus (MPMV), das seit seiner Isolierung 1970 zum Goldstandard der Krebsvirologie wurde. Immunologische Vergleiche mit diesem Standardvirus ermöglichten die ersten Schritte einer Charakterisierung, auch folgende Arbeiten zur Protein- und RNS-Struktur orientierten sich am MPMV. Die Verwandtschaft warf zugleich Fragen darüber auf, was – wenn überhaupt etwas – das PMFV war. Warum zeigte sich das Virus erst so viele Jahre nach der Kultivierung? War es etwa spontan neu entstanden? Oder war es doch das Ergebnis einer Kontamination mit tierischen Viren, etwa den MPMV? Gegen die letztere Möglichkeit sprach nach Ansicht der Forscher, dass das Virus parallel in mehreren Linien aufgetreten war, von denen einige strikt von Labortieren oder tierischen Zellkulturen getrennt gehalten wurden.95 Völlig ausgeräumt wurden die Zweifel bezüglich der Herkunft des Virus nie. 92 A. Graffi u.a., In der Gewebekultur züchtbares Oncorna-Virus in einer malignen permanenten menschlichen Zellinie vom Embryo einer krebskranken Frau, Das Deutsche Gesundheitswesen 29 (1974), S. 1489–1498. 93 Jahresbericht 1977 für ZIK und FV Geschwulsterkrankungen, ABBAW Buch A 907. 94 W. Uckert, G. Sydow, I. Hertling, M. Rudolph, V. Wunderlich, Comparison of different methods for large-volume concentration of a type D retrovirus (PMFV), Archiv für Geschwulstforschung 52 (1982), S. 541–549. 95 A. Graffi u. a. 1974 (wie Fn. 92), S. 1496–1497.
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Die bloße Anwesenheit des PMFV in menschlichem Gewebe sagte noch nichts über seine Bedeutung für die Pathogenese aus. Die einzige Möglichkeit, es wissenschaftlich produktiv zu machen, bestand im Vergleich seiner Struktur mit jener ähnlicher tierischer Viren. Die Konstruktion von Verwandtschaften mittels immunologischer Methoden wurde zum bestimmenden Einsatzfeld des neuen Hausvirus. Dabei trafen selbst hergestellte PMFV-Antigene auf Antiseren der gebräuchlichsten Laborviren, die in den 1970er Jahren bereits als Fertigprodukte durch die Welt zirkulierten.96 Das Wachstum der Familie der RNS-Viren – aufgrund ihrer Fähigkeit zur „Rückübersetzung“ ihrer Erbinformation auch „Retroviren“ genannt – und die Verfeinerung der immunologischen Techniken erlaubten es, immer genauere und umfassendere Unterscheidungen und Genealogien aufzustellen. Als besonders sensibles Kriterium nutzte die Bucher Gruppe hierfür die immunologische Spezifität der Revertase-Enzyme der verschiedenen Viren.97 Die von Graffi als praxisrelevante Perspektive genannte Nutzung von VirusAntisera für die Krebsdiagnostik oder gar eine prophylaktische Immunisierung stand aufgrund der weiterhin ungeklärten ätiologischen Rolle der Viren nicht mehr zur Debatte. „Praxisrelevant“ wurden die vorhandenen Viruspräparate nur auf Laborebene, nämlich bei der Suche nach weiteren Krebsviren in menschlichen Geweben. Ende der 1970er Jahre deuteten Screenings mit MPMV-Antiseren darauf hin, dass verwandte Viren in verschiedenen menschlichen Tumoren, auch in Mammakarzinomen, vorkamen.98 Durch immunologische Methoden, die in der Bucher Krebsvirologie immer mehr an Bedeutung gewannen, wurde dieses Bild jedoch stark relativiert. Nach einem umfassenden Fischzug nach entsprechenden Antigenen in verschiedenen normalen und malignen Geweben schien festzustehen, dass das Vorkommen von Viren des PMFV-Typus beim Menschen eine Ausnahmeerscheinung war.99 Damit war die früher von Graffi formulierte „Hoffnung“ auf eine allgemeine Verbreitung menschlicher Tumorviren zumindest in Bezug auf die meisterforschte Gruppe von RNS-Viren erledigt. Das PMFV und seine Verwandten wurden als erprobte Laborobjekte weiterhin für Versuche zum Wirkungsmechanismus viraler Agenzien eingesetzt. Dabei erzielte Ergebnisse über die immunsuppressive Wirkung der Viren in In-vitro-Systemen blieben zwar ohne unmittelbare Auswirkungen auf die Onkologie,100 erhielten in den 1980er Jahren aber unverhofft besondere Aktualität durch die Entdeckung einer Immun96 B. Micheel u. a., Serological analysis of an oncornavirus (PMF Virus) detected in malignant permanent human cell lines, Acta Biologica et Medica Germanica 34 (1975), S. K39–45. 97 V. Wunderlich, G. Sydow, B. Micheel, Interrelationship of reverse transcriptase of primate type D retroviruses, Archiv für Geschwulstforschung 50 (1980), S. 214–219. 98 B. Micheel, V. Wunderlich, D. Bierwolf, G. Pasternak, RNA-Tumorviren des Menschen aus immunologischer Sicht, DDR-Medizin-Report 8 (1979), S. 675–691, S. 686. 99 B. Micheel, V. Wunderlich, I. Hertling, Search for retrovirus expression in men – Failure to demonstrate retrovirus-specific antigens in normal and malignant tissue, Archiv für Geschwulstforschung 52 (1982), S. 169–173. 100 J. Denner, V. Wunderlich, D. Bierwolf, Suppression of human lymphocyte mitogen response by disrupted primate retroviruses of type C (Baboon Endogenous Virus) and type D (PMFV), Acta Biologica et Medica Germanica 39 (1980), S. K19–26.
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schwächekrankheit, die durch ein Retrovirus ausgelöst wurde. Die einschlägigen Erfahrungen der Graffi-Gruppe, keineswegs medizinische Notwendigkeit, führten dazu, dass der AIDS-Erreger HIV auch in Buch zum Forschungsobjekt wurde.101 Die genaue biologische Identität und Funktion des PMFV sollte trotz all dieser Forschungen im Dunkeln bleiben, auch wenn dank verbesserter molekulargenetischer Methoden 1989 die Klonierung des Virusmoleküls gelang.102 Das war charakteristisch für die gesamte Krebsvirologie, die gegen Ende der 1970er Jahre unverkennbar in die Krise geriet. Ihre Objekte waren nach wie vor schwer zugänglich, Befunde oft nicht reproduzierbar. Die einst verbreiteten Aussichten auf neue diagnostische und prophylaktische Techniken hatten sich nicht erfüllt. „Krebsviren“ konnte als Experimentalobjekte zwar neue Strukturdaten und pathologische Einsichten generieren, aber repräsentierten diese tatsächlich etwas, das der „realen“ Welt der Krebserkrankungen entsprach? Howard Temin, der mit der Entdeckung der reversen Transkriptase erheblich zum Boom der Krebsvirologie in den 1970er Jahren beigetragen hatte, rief seinen Kollegen 1980 eindringlich ins Gedächtnis, dass es sich bei ihren Versuchssystemen um „laboratory constructs or even artifacts“ handelte. Die gängigen Viren wurden überwiegend in Zellkulturen beobachtet, die nicht der ursprünglichen Wirtsspezies entstammten; die Zellstämme wuchsen unter künstlichen Bedingungen, weshalb man ihre morphologischen Veränderungen nur bedingt mit der natürlichen Malignisierung vergleichen konnte. Nicht zuletzt war eine pathogenetische Rolle von Viren nur für weniger verbreitete Krebsformen nachgewiesen worden, während für Lungen-, Mammaoder Magenkrebs keine entsprechenden Hinweise vorlagen.103 Für Temin stellten diese Kritikpunkte den Wert des Forschungsgebiets nicht völlig in Frage. Es musste aus seiner Sicht jedoch in das Programm einer molekularen Krebsgenetik integriert werden, um wissenschaftlich und medizinisch weiterhin relevant zu bleiben. Viren im Zeitalter der Onkogenetik Wie fast alle Zweige der experimentellen Biowissenschaften wurde die Krebsvirologie in den 1960er und 1970er Jahren durch die Molekularbiologie transformiert und schließlich kolonisiert. Diese Entwicklung hatte sich erstmals mit der erwähnten Umdeutung von onkogenen Viren zu in das Zellgenom integrierbaren Genbeständen abgezeichnet. Daraus sollte sich die Idee entwickeln, dass alle Zellgenome ein Potential für die Auslösung malignisierender Prozesse enthielten. Nachdem Ende der 1960er Jahre auf dem altehrwürdigen Rous-Virus ein Gen 101 J. Denner, Retrovirus hemmt Immunaktivität, Spektrum 17 (1986), Nr. 5, S. 8–9. 102 Mdl. Information V. Wunderlich, 27.2.2013; H. Krause, V. Wunderlich, W. Uckert, Molecular cloning of a type D retrovirus from human cells (PMFV) and its homology to simian acquired immunodeficiency type D retroviruses, Virology 173 (1989), S. 214–222. 103 H.M. Temin, Viral oncogenes, Cold Spring Harbor Symposia on Quantitative Biology, 44 (1980), S. 1–7.
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identifiziert wurde, das die Transformation der befallenen Zellen auslöste, konnte 1976 gezeigt werden, dass eben dieses „Onkogen“ zum normalen Bestand menschlicher Zellen gehörte.104 In der Folgezeit konzentrierte sich die experimentelle Krebsforschung weltweit auf die Identifizierung von Onkogenen, auf ihre Hemmung durch Repressorgene sowie ihre Aktivierung durch Viren, chemische Kanzerogene oder mutative Veränderungen im Genom. Graffi erkannte die Konsequenzen dieser Neuerungen frühzeitig. Bereits zu Beginn der 1960er Jahre sah er die Notwendigkeit, in seinem Institut Methoden der Nukleinsäuresequenzierung aufzubauen, um weiterhin mit der internationalen Entwicklung Schritt halten zu können.105 Mitte der 1970er Jahre befand er sich völlig in Übereinstimmung mit dem internationalen Mainstream, wenn er die Erforschung der Krebsentstehung als ein „Sonderproblem der Zell- und Molekulargenetik“ bezeichnete, „ganz unabhängig davon, durch welche ... Noxe ... der einzelne Krebs ausgelöst wurde.“106 Die molekulargenetische Erklärung des Krebses lieferte genau das, was Graffi in seinem ganzen Forscherleben gesucht hatte – eine einheitliche Basis, die Krebsauslösung durch physikalische, chemische und virale Faktoren zu verstehen. Gerade dieser integrative Aspekt erklärt, warum sich das Onkogen-Konzept in kurzer Zeit als beherrschendes Paradigma der Krebsforschung etablieren konnte.107 Für Graffi war es indessen keine Option, die molekulargenetische Wende selbst zu vollziehen, da die methodischen Grundlagen hierfür weiterhin nicht ausreichend waren. Dies war jedoch nicht der einzige Grund. Nachdem sein Arbeitsbereich 1972 Teil des Zentralinstituts für Krebsforschung geworden war – womit die bestehende Verbindung zur Robert-Rössle-Klinik lediglich eine neue Form erhielt – betonte ein hauseigenes Planungskonzept, dass im Sinne der bewährten Beziehung zwischen Krebsvirologie und Klinik „Fragen der molekularbiologischen Wirkungsmechanismen onkogener Viren bisher ausgeklammert wurden und auch weiterhin ausgeklammert werden.“108 Diese Ausrichtung zeigte sich deutlich in der Nutzung eines neuen Versuchsobjekts, das noch vor der Entdeckung des ersten menschlichen Virus in der Mittelpunkt des Forschungsprogramms gerückt war. 1967 wurde bei Hamstern, denen Filtrate aus Hamster-Embryonalgewebe appliziert wurde, eine neuartige Form eines Hauttumors beobachtet, der die gesamte Kopf-, Nacken- und Rückenhaut der Tiere infiltrierte. Noch erstaunlicher als die aggressive Form des Wachstums war, dass die elektronenmikroskopisch gefundenen Viruspartikel in einer Dichte vorgefunden wurden, die jene der früheren Viren deutlich übertraf.109 Damit war ein drittes „hauseigenes“ Virus entdeckt, das sich im Gegensatz zu den früheren 104 Morange 1997, S. 1–5; Van Helvoort 1999, S. 320–321. 105 A. Graffi, Vorschläge für ein Nukleinsäureprogramm des Institutes für experimentelle Krebsforschung, 5.10.1962, ABBAW NL Graffi, Nr. 30, Kasten 3. 106 A. Graffi, Krebs – die Seuche des 20. Jahrhunderts (Interview), Spektrum 8 (1977), Nr. 9, S. 20–25, S. 22. 107 Van Helvoort 1999, S. 323. 108 NN (vermtl. Graffi), Prognose Allgemeine Virologie, 1973, ABBAW Buch B 1144. 109 A. Graffi, T. Schramm, E. Bender, D. Bierwolf, I. Graffi, Über einen neuen virushaltigen Hauttumor beim Goldhamster, Archiv für Geschwulstforschung 30 (1967), S. 277–283.
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Funden als DNS-Virus aus der Gruppe der Papovaviren erwies.110 Aufgrund der guten Zugänglichkeit war das neue Objekt prinzipiell gut für eine genauere molekulare Charakterisierung geeignet. Die Untersuchungen konzentrierten sich jedoch auf seine ungewöhnliche biologische Wirkungsweise. Bei der zellfreien Weiterverimpfung der durch das Hamstervirus ausgelösten Tumore traten in hohem Prozentsatz Leukosen auf, was angesichts der früheren Erfahrungen nicht völlig überraschend war. Unerwartet kam dagegen, dass die Zellen keine Papovaviren, sondern Partikel enthielten, die den Leukämieviren von Mäusen und Hühnern ähnelten. Bemerkenswert war auch, dass die Übertragung nur bei einer institutsfremden, von Leukosen unbelasteten Hamsterzucht gelang. Graffi und seine Mitarbeiter vermuteten daher, dass die eigenen Hamster aufgrund vollständiger Infizierung gegen die Manifestierung des Leukosevirus immun waren, welches demnach in verborgener Form zusammen mit dem Hauttumorvirus übertragen wurde.111 Diese Interpretation wurde bald durch weitere Experimente mit gereinigten Nukleinsäuren aus den Hauttumoren erschüttert. Der leukämogene Effekt wurde dabei durch DNS-spaltende, nicht aber durch RNS-spaltende Enzyme aufgehoben, wonach die Wirkung offenbar von dem Polyoma-Virus selbst ausging. Ferner zeigten parallele Versuche, dass auch Filtrate aus verschiedenen menschlichen Tumoren die Leukosen auslösten. Demnach waren die Leukoseviren bereits in den scheinbar infektionsfreien Hamstern vorhanden und wurden durch Polyomavirus oder andere biologische Agenzien aktiviert.112 Mit diesen Befunden setzte sich endgültig die Interpretation durch, dass Viren nicht als „‘Krebserreger‘ im Sinne der klassischen Mikrobiologie” anzusehen waren, sondern als Teil eines „molekularen Wechselspiels“ mit dem Zellgenom, in welchen „das onkogene Virus sowohl Agens als auch Produkt sein kann.“113 Sie lenkten die weitere Forschung auf ein wichtiges Teilproblem der neuen molekularen Krebsgenetik, auf die „Induktion“ verborgener Virus-DNS im Zellgenom. Allerdings betrafen die weiteren Arbeiten nicht die Mechanismen des „molekularen Wechselspiels“ selbst, geschweige denn die Lokalisierung der krebsregulierenden Teile des Genoms. Das Hamstervirus wurde in erster Linie zum Ausgangspunkt von Versuchen, die biologischen Bedingungen und spezifischen Auswirkungen der Virusinduktion auszuloten. So zeigten Übertragungen auf verschiedene Hamsterzuchten, dass die biologische Reaktion auf das Papovavirus je
110 M. Böttger, A. Graffi, D. Bierwolf, V. Wunderlich, W. Kuhn, Zirkularität und weitere Eigenschaften der DNS eines multiple Hauttumoren erzeugenden Papovavirus, Acta Biologica et Medica Germanica 23 (1969), S. K23–29. 111 A. Graffi u.a., Cell-free transmissible leukoses in Syrian hamsters, probably of viral aetiology, British Journal of Cancer 22 (1968), S. 577–581. 112 A. Graffi, E. Bender, T. Schramm, W. Kuhn, F. Schneiders, Induction of transmissible lymphomas in Syrian hamsters by application of DNA from viral hamster papovavirus-induced tumors and by cell-free filtrates from human tumors, Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 64 (1969), S. 1172–1175. 113 S. Tanneberger, T. Matthes, A. Graffi, Grenzen und Möglichkeiten der experimentellen und klinischen Onkologie, Spektrum 5 (1974), Nr. 8, S. 21–24, S. 24.
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nach Stamm unterschiedlich ausfiel.114 Versuche an Tieren mit ausgeschaltetem Thymus – einer gängigen Methode zur Deaktivierung des Immunsystems – führten erstaunlicherweise nicht zu einer verstärkten Induktionswirkung, aber zu einem verstärkten Auftreten von Leukosen ganz ohne Einwirkung von Papovaviren.115 Spontan aktivierte Leukoseviren wurden auch in Mesotheliomen – einer Tumorform der inneren Organe – beobachtet. Insgesamt ergaben die Hamsterversuche, dass es von „humoralen, hormonellen, genetischen oder konstitutionellen Faktoren [und] vom Alter der Tiere und möglicherweise auch vom Einwirken exogener Noxen“ abhing, welche Tumortypen entstanden.116 Das neue Experimentalsystem zeigte also keine eindeutigen Kausalketten auf, sondern ließ den Prozess der Krebsinduktion immer komplexer erscheinen. Es setzte insofern die eher pathologische als molekularbiologische Orientierung des Forschungsprogramms fort – es dokumentierte die biologische Variabilität der Geschwulstbildung, ohne die Gründe dafür genauer spezifizieren zu können. Diese Orientierung hatte nicht allein mit den Rückständen bei den molekularbiologischen Methoden zu tun, sondern ergab sich auch aus den über Jahrezehnte aufgebauten Erfahrungen mit Tiermodellen. Dennoch bestimmte der neue theoretische Rahmen der Molekularbiologie auch Graffis Vorstellungen über die zukünftige Entwicklung seines Arbeitsfeldes. Kurz nach seiner Emeritierung im Jahr 1976 äußerte er sich ganz im Sinne des noch jungen Onkogen-Paradigmas, wenn er die Krebsgene als den „Angelpunkt“ aller weiteren experimentellen und therapeutischen Bemühungen bezeichnete.117 Schon zuvor hatte er zumindest als theoretische Option die international verbreitete Perspektive übernommen, dass Krebsviren – als die kleinsten isolierbaren genetischen Funktionseinheiten – ideale Kandidaten für die ersten umfassenden molekulargenetischen Sequenzanalysen waren. Für die onkologische Praxis beinhaltete dies die Möglichkeit, durch einen Vergleich verschiedener Virussequenzen die für die Malignisierung verantwortlichen Teilsequenzen zu identifizieren. Ein solcher Ansatz erschien auch dem zumeist vorsichtig argumentierenden Graffi als entscheidender Schlüssel zum Krebsproblem.118 Während er eine maßgebliche Aktivität seines Arbeitsbereiches auf diesem Forschungsfeld ausschloss, unterstützte er Planungen für eine „grundlagenorientierte“ molekular-virologische Arbeitsgruppe, die mittelfristig zu einem eigenen virologischen Akademieinstitut ausgebaut werden sollte.119 Eine Basis hierfür hatte sich im Zuge der Institutsreformen durch die Rückkehr seines ehemaligen Mitarbeiters Erhard Geißler aus 114 I. Graffi, E. Bender, T. Schramm, A. Graffi, Viren vom C-Partikel-Typ in zellfrei erzeugten Hamstersarkomen, Archiv für Geschwulstforschung 39 (1972), S. 281–292. 115 M. Rudolph, A. Graffi, Aktivierung eines latenten Leukämievirus des Goldhamsters durch Thymektomie, Archiv für Geschwulstforschung 30 (1973), S. K1–8. 116 E. Bender u.a., Mesotheliome beim Goldhamster II., Archiv für Geschwulstforschung 42 (1973), S. 1–16. 117 A. Graffi, Krebs – die Seuche des 20. Jahrhunderts (Interview), Spektrum 8 (1977), Nr. 9, S. 20–25, S. 24. 118 Graffi 1969 (wie Fn. 69), S. 61; A. Graffi u.a. 1974 (wie Fn. 92), S. 1489. 119 NN (vermtl. A. Graffi), „Prognose Allgemeine Virologie“, 1973, ABBAW B 1144.
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Rostock ergeben, der am ZIM eine Abteilung für somatische Zellgenetik aufgebaut hatte. Geißlers Pläne hatten ursprünglich nur indirekten Bezug zur Krebsvirologie. Sie betrafen das spektakulärste Zukunftsversprechen der Molekulargenetik, den Gentransfer mit therapeutscher Zielrichtung. Als erfolgversprechendes System zur Einschleusung fremder Gene in eukaryotische Zellen galt das Primaten-Krebsvirus Simian Vacuolating Virus 40 (SV 40), welches die Fähigkeit besaß, sich mit bakterieller DNS zu verbinden.120 Das Projekt zielte zunächst auf Modellexperimente ab, mittels SV 40 als „Genvektor“ ein bakterielles Gen in Zellen des chinesischen Hamsters einzubauen, das eine enzymatische Mangelerscheinung ausgleichen konnte.121 Es drängte sich allerdings bald ein anderer Aspekt in den Vordergrund. SV 40 verdankte seine wissenschaftliche Prominenz seiner Entdeckung in den Ende der 1950er Jahre produzierten Poliomyelitis-Impfstoffen, die mit Hilfe von PrimatenZellkulturen gewonnen wurden. Seine mögliche Rolle als Auslöser menschlicher Krebskrankheiten war in diesem Zusammenhang in die Diskussion geraten, aber nach der Einführung SV 40-freier Impfstoffe wieder in den Hintergrund getreten. Bei ihren Vorarbeiten fand eine der neuen Bucher Arbeitsgruppen Hinweise auf eine Beteiligung von SV 40 an der Entstehung von Hirntumoren, die durch internationale Beobachtungen bekräftigt wurden. Ein Teil des Projekts wurde daraufhin auf ein Virusscreening ausgerichtet, das ähnlich wie jenes in Graffis Arbeitsbereich durch Kooperationen mit verschiedenen Kliniken innnerhalb und außerhalb der DDR abgesichert wurde.122 Tatsächlich konnten in einigen der über 100 untersuchten Hirntumorgewebe Spuren von SV 40 festgestellt werden, unter anderem eine neuartige Variante.123 Wie im Falle anderer Virusfunde sagte die Präsenz des SV 40 noch nichts über seine Rolle in der Pathogenese aus. Da mit den verunreinigten Polio-Impfstoffen eine Quelle für die Verbreitung des Virus feststand, gab es prinzipiell die Möglichkeit, Korrelationen zwischen Kontamination und Krebshäufigkeit festzustellen. Geißler erweiterte die experimentelle durch eine epidemiologische Ebene und ließ durch die Mitarbeiter des DDR-Krebsregisters eine Gegenüberstellung der Jahrgänge erstellen, die mit der kontaminierten und der gereinigten Poliovakzine geimpft wurden. Es zeigte sich jedoch kein nennenswerter Unterschied zwischen den Gruppen.124 Die Aufarbeitung und Veröffentlichung dieser scheinbar harmlosen Daten war mit erheblichen politischen Schwierigkeiten verbunden, da das Gesundheitsministerium befürchtete, ein nega-
120 Geißler 2010, S. 70–71; zum SV 40-Transduktionsprojekt vgl. Yi 2008, S. 608–10; vgl. auch ausführlicher diese Arbeit S. 423f. 121 E. Geißler, Jahresendbericht 1973 der Abteilung Zellgenetik des ZIM, 11.11.1973, ABBAW Buch A 751. 122 Geißler 2010, S. 137–138; Autobiographie S. Scherneck, in: Pasternak 2004, S. 230–235, S. 232. 123 S. Scherneck u. a., Isolation of a SV40-like papovavirus from a human glioblastoma, International Journal of Cancer 24 (1979), S. 523–541. 124 E. Geißler, SV40 and SV40-like viruses as possible risk factors, Archiv für Geschwulstforschung 53 (1983), S. 217–226.
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tiver Befund über den aus der UdSSR bezogenen Impfstoff könne Material für antisowjetische Propaganda liefern.125 Aus der Zielsetzung, ein krebsvirologisches Versuchssystem für gentechnologische Arbeiten zu nutzen, entwickelte sich also paradoxerweise ein Vorhaben, dass zur ursprünglichen Zielstellung der Krebsvirologie zurückführte – dem Nachweis von Viren als Markern oder Auslösern spezifischer Krebsformen. Dennoch verdeutlichen die Arbeiten mit dem neuen Objekt, wie sehr sich die Bedeutung der Krebsviren seit den 1950er Jahren verändert hatte. Im Zeitalter der molekularen Biologie ging es nicht mehr primär darum, neue Viren aufzufinden und ihr Auftreten in verschiedenen Organen oder ihre morphologischen Manifestationen zu verfolgen. Vielmehr konzentrierte sich die Forschung auf einige gut handhabbare Modellobjekte, die sich für die Untersuchung der Interaktionen zwischen Virus und Zellgenom sowie der damit verbundenen molekularbiologischen Prozesse eigneten. SV 40 war ein klassisches Modellobjekt der Krebsvirologie, an welchem die grundlegenden Erkenntnisse über den Einbau von Virus-DNS in das Zellgenom erarbeitet worden waren. Um 1970 wurde es zu einem bevorzugten Werkzeug von Molekulargenetikern, die sich von den bewährten BakteriophagenSystemen abwandten und in einer „Massenmigration“ das Feld der eukaryotischen Zellgenetik besetzten, das sowohl wissenschaftliches Neuland als auch eine Verbindung zu medizinischen Problemen versprach.126 Die besondere Eignung von SV 40 für den Gentransfer spielte dabei ebenso eine Rolle wie die Möglichkeit, mit dem Virus den Prozess der Malignisierung auf der molekulargenetischen Ebene zu untersuchen. Da sich die Perspektive des Gentransfers als überaus problematisch erwies, wandte sich Geißlers Gruppe vor allem dem letztgenannten Feld zu, und zwar einem Spezialproblem, das in direkter Beziehung zu den genannten Arbeiten zur SV 40-Epidemiologie stand. Während als gesichert galt, dass das Virus spezifische Gene für die maligne Transformation enthielt, war es in den späten 1970er Jahren ungeklärt, ob es darüber hinaus die Mutabilität der Zellen erhöhte. An ihrem zellgenetischen Standardsystem, den Ovarienzellen des chinesischen Hamsters, fand die Gruppe eine unabhängig vom Genlocus deutlich erhöhte Mutationsrate, und zwar nicht nur unter dem Einfluss von SV 40, sondern auch des graffischen Hamstervirus. Das Auftreten dieser Mutationen stand offenbar im Zusammenhang mit der Transformation zur Krebszelle. Onkogene Viren schienen demnach nicht allein durch ihre Krebsgene zu wirken, sondern auch eine generelle genetische Instabilität im Wirtsgenom auszulösen.127 Für die Krebsvirologen am ZIK war es wesentlich schwieriger als für ihre Kollegen am ZIM, Ergebnisse zu erzielen, die an den molekularbiologischen Mainstream anschlussfähig waren. Ihre Domäne waren weiterhin die RNS125 Geißler 2010, S. 140–143. 126 Yi 2008. 127 M. Theile u. a., SV40-induced somatic mutations: Possible relevance to viral transformation, Cold Spring Harbor Symposia on Quantitative Biology 44 (1980), S. 377–382; M. Theile, S. Scherneck, H. Waehlte, E. Geißler, Are transforming and mutagenic activities of oncogenic papovaviruses correlated?, Archiv für Geschwulstforschung 53 (1983), S. 227–237.
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Retroviren, die gegenüber den DNS-Viren in der internationalen Diskussion einen zunehmend schweren Stand hatten. Angesichts ihrer immer unklarer werdenden pathogenetischen Funktion drängte sich – wie es ein renommierter Tumorimmunologe spöttisch ausdrückte – der Eindruck auf, dass der Großteil der bekannten Retroviren „freaks or even monsters generated by laboratory experimentation“ seien.128 Auch die Mitarbeiter des früheren Graffi-Kreises räumten ein, dass die von ihnen in den 1950er und 1960er Jahren bearbeiteten Viren durch Verwendung ingezüchteter Tierstämme hervorgebrachte Artefakte waren. Um 1980 war es internationaler Konsens, dass der größte Teil der früher als Krebsauslöser betrachteten Retroviren gar nicht onkogen war, sondern nur ein Beiprodukt der Zelltransformation.129 Eine Möglichkeit, die aus der Mode gekommenen Hausobjekte für molekularbiologische Grundlagenfragen fruchtbar zu machen, bot die Hypothese, dass sie Funktionen in der Embryogenese und der Zelldifferenzierung einnahmen. Die Retroviren wären dabei ebenfalls nicht mehr als „Agens“ der Onkogenese, sondern als „gutes Werkzeug“ für das Studium der Genexpression behandelt worden.130 Zu einer entsprechenden Neuorientierung sollte es allerdings nicht mehr kommen. Auch neue molekularbiologische Zugänge zur Wirkung chemischer Karzinogene auf das Genom wurden nicht systematisch verfolgt, sondern nur aufmerksam beobachtet.131 Im Mittelpunkt blieb die Charakterisierung von Viren. Dank des Ausbaus molekularbiologischer Methoden am ZIM und internationaler Kontakte bestanden ab Ende der 1970er Jahre Möglichkeiten, dabei zumindest ansatzweise an das internationale Spitzenniveau anzuschließen. Das Hamstervirus bot hier besonders gute Voraussetzungen, da es eng mit dem SV 40 verwandt war, das 1978 als erstes Virus komplett gensequenziert wurde. Geißlers Gruppe am ZIM, die das „Graffi-Virus“ adoptierte, konnte mit Hilfe der Methoden und Erfahrungen eines französischen Kooperationspartners Fortschritte bei der Charakterisierung der Virus-DNS erzielen.132 Die komplette Sequenzierung gelang – als erste Virussequenzierung in der DDR – jedoch erst 1985. Es ist bezeichnend für die Verhältnisse in der internationalen Molekularbiologie, dass es dabei als „neues Mitglied der Polyomavirus-Familie“ betitelt wurde: Nur ein vollständig gensequenziertes Objekt war ein voll anerkanntes Objekt.133 Beim Hausobjekt der ZIK128 So der ungarisch-schwedische Forscher George Klein (1994) zit. nach van Helvoort 1999, S. 320. 129 B. Micheel, V. Wunderlich, D. Bierwolf, G. Pasternak, RNA-Tumorviren des Menschen aus immunologischer Sicht, DDR-Medizin-Report 8 (1979), S. 675–691, S. 688; D. Bierwolf, The possible role of retroviruses in human tumors, Archiv für Geschwulstforschung 53 (1983), S. 303–313, S. 307. 130 Bierwolf 1983 (wie Fn. 129), S. 309. 131 V. Wunderlich, Molekulare Aspekte der Karzinogenese, Archiv für Geschwulstforschung 49 (1979), S. 551–564. 132 S. Scherneck, M. Böttger, J. Feunteun, Studies on the DNA of an oncogenic papovavirus of the Syrian hamster, Virology 96 (1979), S. 100–107. 133 V. Delmas, C. Bastien, S. Scherneck, J. Feunteun, A new member of the polyomavirus family: the hamster papovavirus. Complete nucleotide sequence and transformation properties, EMBO Journal 4 (1985), S. 1279–1286.
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Virologen, dem menschlichen Retrovirus PMFV, wurde dieser Prestigeerfolg vier Jahre später erreicht. Zuvor war mittels elektrophoretischer, chromatographischer und immunologischer Verfahren eine Kartierung der Proteinhülle erarbeitet worden, die auf Strukturvergleichen mit bereits vorliegenden Daten zu verschiedenen Primaten-Retroviren basierte.134 Ähnliche Untersuchungen wurden auch an einem Verwandten der Mäuseleukämieviren durchgeführt, dem 1969 in den USA isolierten Bovinen Rinderleukosevirus (BLV). Dieses Retrovirus war nicht aufgrund seiner Beziehung zum früheren graffischen Leukämieprojekt ins Programm genommen worden, sondern fungierte ähnlich wie SV 40 als multifunktionales Standardobjekt. Es war zu Beginn der 1970er Jahre einerseits als geeignete Basis für die Gewinnung des Laborenzyms Reverse Transkriptase ausgemacht worden. Andererseits galt es als aussichtsreich, neue Verfahren zum Nachweis des Virus bei Rindern zu entwickeln, deren Leukosen ein ernsthaftes veterinärmedizinisches, das heißt volkswirtschaftliches Problem darstellten. Das BLV war also im Gegensatz zu früher beforschten Mäuseviren, die Produkte und integrale Bestandteile eines kohärenten Projekts waren, ein Objekt plangeführter Verbundwissenschaft, das verschiedene Forschungsprojekte im FZMM verbinden, rationalisieren und anwendungsrelevant ausrichten sollte.135 BLV wurde ab Ende der 1970er Jahre am ZIM zum Ansatzpunkt erster Versuche, Virusproteine für Impfstoffe gentechnisch zu klonieren. Die ZIK-Virologen standen am grundlagenorientierten Ende der BLV-Forschung. Aufbauend auf ihren biochemischen Erfahrungen mit Leukämieviren, aber mit maßgeblicher Unterstützung einer international führenden belgischen Gruppe, konnten sie 1984 ein Modell der räumlichen Anordnung von Protein-, Lipid- und RNS-Komponenten im BLV präsentieren, das auch international Aufmerksamkeit fand.136 Mit diesen Arbeiten waren die Bucher Forscher in der neuen Welt der molekularisierten Krebsforschung angekommen, ohne allerdings in der Lage zu sein, eine eigenständige Position zu erobern, wie es Graffi in den 1950er und 1960er Jahren noch möglich gewesen war. Wenn eine Institutsbroschüre 1989 feststellte, die Konzentration auf Retroviren habe sich rückblickend als „strategisch richtig erwiesen“, da diese Objekte entscheidend zur Entdeckung der reversen Transkription und der Onkogene beigetragen hätten, wurde die lokale Tradition damit ganz im Sinne eines internationalen Mainstreams interpretiert, durch den sie marginalisiert worden war.137 Durch die völlige Konzentration des Fachdiskurses auf die genetische Kontrolle des Krebses gerieten die in Graffis Arbeitsbereich verfolgten Fragen und Ansätze in den Hintergrund; selbst originelle Arbeiten wie jene zur Mutationsauslösung in der mitochondrialen DNS hatten dabei immer weniger 134 V. Wunderlich, W. Uckert, G. Sydow, Biochemical studies of primate retroviruses, Archiv für Geschwulstforschung 53 (1983), S. 267–278. 135 Zu BLV-Versuchen vgl. auch S. 248 & S. 436f. 136 W. Uckert, V. Wunderlich, J. Ghysdael, D. Portetelle, A. Burny, Bovine leukemia virus (BLV): A structural model based on chemical crosslinking studies, Virology 133 (1984), S. 386–392. 137 Akademie der Wissenschaften der DDR (Hg.), Zentralinstitut für Krebsforschung BerlinBuch der AdW 1947–1988, Berlin 1989, S. 34.
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Chancen, wahrgenommen zu werden. Insofern erschien es als alternativlos, den Anschluss an die molekulare Onkologie zu vollziehen. Auf dieser Grundlage konnte man in Buch nach 1990 in das Rennen um die Identifizierung spezifischer Krebsgene einsteigen.138 Auch Resultate des graffischen Programms wie das Hamstervirus blieben in diesem Kontext aktuell; allerdings galt es nunmehr als potentielles Werkzeug für das Studium molekularer Signalprozesse oder für den Transport bestimmter Peptidsequenzen.139 Diese Transformation verkörpert gleichermaßen die seit den 1950er Jahren eingetretene komplette Veränderung der begrifflichen und methodischen Verhältnisse in der experimentellen Biologie wie den kontingenten Charakter ihrer Objekte.
138 Palfner 2009, S. 39–42. 139 S. Scherneck, R. Ulrich, J. Feunteun, The hamster polyomavirus – A brief review of recent knowledge, Virus Genes 22 (2001), S. 93–101.
III.3. INTERDISZIPLINÄRER ANGELPUNKT ODER HILFSWISSENSCHAFT? KONTINUITÄT UND NEUORIENTIERUNG IN DER BIOPHYSIKALISCHEN FORSCHUNG Bei der Gründung des IMB war beabsichtigt, die biophysikalische Forschung entsprechend der im KWIH begründeten Tradition als Schwerpunktthema zu etablieren. Diese Ausrichtung drückte sich in der Wahl Walter Friedrichs zum ersten Direktor aus und wurde durch den Bau einer Hochspannungsanlage für strahlenbiologische Versuche unterstrichen. Obwohl die Biophysik über den höchsten Etat unter den experimentellen Abteilungen des IMB verfügte, gelang es ihr nach Ansicht interner und externer Kritiker nicht, ein kohärentes und eigenständiges Programm hervorzubringen. Die Gründe hierfür lagen teilweise – aber nicht ausschließlich – in den technischen Problemen beim Aufbau der Strahlentechnik. Infolge dieser Situation erfuhr der biophysikalische Forschungsbereich ab Mitte der 1960er Jahre eine komplette Umstrukturierung: Einerseits wurde ein neuer Versuch unternommen, die ursprünglich angestrebte Verbindung zwischen strahlenbiologischer Forschung und Strahlentherapie herzustellen, andererseits wurde das bis dahin in Buch kaum gepflegte Gebiet der spektroskopischen Strukturforschung aufgebaut. Anhand dieser Entwicklungen sollen in diesem Kapitel wesentliche Merkmale und historische Umbrüche des biophysikalischen Feldes in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erläutert werden. Zunächst wird auf die Gründe für das Scheitern des ursprünglichen Institutskonzeptes eingegangen, die verdeutlichen, wie eng die klassische strahlenbiologische Forschung mit der Entwicklung leistungsstarker Strahlentechnik verbunden war. Dies galt auch für das Ende der 1960er Jahre begonnene Projekt, die Strahlenbiophysik auf veränderter technologischer Grundlage und mit molekulargenetischen Versuchsmodellen wiederzubeleben. Da hierbei auf die während des Krieges im Bucher KWIH entwickelten strahlengenetischen Ideen zurückgegriffen wurde, lässt sich an diesem Fall verdeutlichen, wie grundlegend sich das Verständnis von Genstruktur und Mutation in diesem Zeitraum veränderte. Ferner kam es zwischen den Strahlenbiophysikern und den Strahlentherapeuten des ZIK zu einer kurzen, aber effektiven Kooperation bei der Anwendung von Neutronenstrahlen in der Krebstherapie. Da solche Labor-KlinikBeziehungen in Buch selten realisiert wurden, verdient dieses Projekt besondere Beachtung. Das größte Teilkapitel behandelt mit dem Aufbau eines molekularbiophysikalischen Schwerpunktes ein Thema, das für die allgemeine Entwicklung der Biowissenschaften in den 1960er und 1970er Jahren von zentraler Bedeutung war, da der Einsatz neuer spektroskopischer Techniken sowohl für die Strukturaufklärung
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von Makromolekülen als auch für die Analyse von Reaktionsprozessen völlig neue Möglichkeiten erschloss. Während die organisatorischen Implikationen der Bildung eines biophysikalischen Gerätezentrums bereits in Kapitel II.3. umrissen wurden, wird hier näher verfolgt, wie die neuen Methoden die Forschungspraxis im Bucher Institutsverband veränderten. Schließlich soll ein Aspekt der biophysikalischen Forschung beschrieben werden, der innerhalb des Bucher Forschungszentrums eine Sonderstellung einnahm, aber für die biomedizinische Forschung in der DDR von größter Bedeutung war. Mitte der 1950er Jahre wurde im IMB eine Abteilung für angewandte Isotopenforschung eingerichtet, die medizinische und biologische Laboratorien des ganzen Landes mit radioaktiven Forschungsmitteln versorgen sollte. Dieses Teilinstitut war von Beginn an ein Hybrid zwischen einem nutzerorientierten Entwicklungslungslabor und einem hochspezialisierten Produktionsbetrieb; seine Fokussierung auf national wie international besonders erfolgreiche medizinisch-technische Produkte führte dazu, dass es nach 1970 aus dem Bucher Forschungszentrum ausgegliedert wurde. Seine Entwicklung bis zu diesem Zeitpunkt ist ein Beispiel für die Bedeutung wissenschaftlich-technischer Dienstleistungsstrukturen in der modernen Forschungslandschaft. Sie verkörpert zugleich ein generelles Dilemma vieler biophysikalischer Fachgebiete, die zwar innovative Forschung hervorbringen, aber aufgrund ihrer methodisch-technischen Ausrichtung immer wieder auf den Status von Hilfswissenschaften zurückgeworfen werden. 3.1. VOM MITTELPUNKT INS ABSEITS – DIE BIOPHYSIK BIS MITTE DER 1960ER JAHRE Die Biophysik hatte zum Zeitpunkt der Gründung des IMB noch keine klare disziplinäre Kontur. Der Begriff wurde im 19. Jahrhundert zunächst auf die physikalisch-messenden Aspekten der Physiologie, insbesondere die Elektrophysiologie, bezogen. Später beschrieb er vor allem die theoretischen Grundlagen der Strahlentherapie und -diagnostik. In den 1930er Jahren entstand mit dem Aufkommen neuer Technologien für die Erforschung biologischer Ultrastrukturen – Elektronenmikroskopie, Elektrophorese, Ultrazentrifuge – ein neuer Zweig physikalischer Verfahren in der Biologie. Einige Forscher und Wissenschaftsmanager sahen hierin den Ansatzpunkt für eine neuartige, auf exakt messenden Methoden aufbauende physikalische Biologie.1 Auf diesem Gebiet arbeitetende Wissenschaftler wie die KWIH-Strahlengenetiker Timoféeff-Ressovsky und Zimmer betonten, dass diese neue „Biophysik“ nicht einfach durch die Anwendung aus der Physik importierter Apparate auf biologische Objekte charakterisiert war, sondern vor allem durch die physikalisch-theoretische Analyse biologischer Elementarstrukturen und -vorgänge.2 1 2
Kay 1993, S. 233; de Chadarevian 2002, S. 52. N. W. Timoféeff-Ressovsky, K. G. Zimmer, Biophysik Bd. I: Das Trefferprizip in der Biologie, Leipzig: Hirzel, 1947, S. X.
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Die lokale Tradition war von Beginn an bestimmend für die Ausrichtung der Biophysik im IMB. Die ersten Institutskonzeptionen beruhten auf der Idee einer strahlenbiophysikalisch fundierten Forschung zur Struktur von Eiweißen und Nukleoproteinen, wie sie während des Krieges im Kreis um Timoféeff-Ressovsky diskutiert worden war.3 Sie wurde letztlich überwiegend durch das Programm geprägt, das Walter Friedrich aus seinem früheren Universitätsinstitut für Strahlenforschung mitbrachte und die Analyse der Wirkung verschiedener Strahlenqualitäten auf chemische, genetische und bakteriologische Objekte umfasste.4 Auch wenn Friedrich die Bedeutung spektroskopischer Methoden nicht übersah und die Integration der Röntgenkristallographie anstrebte, war seine Abteilung in methodologischer Hinsicht auf die Anwendung möglichst starker Röntgen- und Neutronenstrahlen ausgelegt. Das deutlichste Zeichen hierfür war die Planung der Hochvoltanlage, die zum technologischen Angelpunkt des gesamten Instituts werden sollte. Die geplante Multifunktionalität des Kaskadengenerators – zugleich experimentell-strahlenbiologisches Forschungsgerät, Produktionseinheit für radioaktive Isotopen und Mittel für die Krebs-Tiefentherapie – symbolisierte die Einheit von Grundlagenforschung, klinischer Medizin und technologischer Modernisierung, die das IMB auszeichnen sollte. Da Friedrichs wissenschaftliche Konzeption weitgehend auf der Nutzung der Anlage basierte, bedeutete das Planungsdesaster, das die Fertigstellung des 1950 begonnen Vorhabens auf 1957 hinauszögerte, eine schwere Belastung für seine Abteilung. Die strahlenbiologische Arbeit war damit aber keineswegs unmöglich. In den Anfangsjahren wurden Versuche zur Auslösung von Hautgeschwulsten durch UV-Bestrahlungen sowie die Mutationsauslösung durch UV-Licht und Ultraschall an pflanzlichen Objekten aufgenommen, die an Vorkriegsprojekte anschlossen.5 Friedrichs besonderes Interesse galt der Frage, innerhalb welchen Wirkungsspektrums des Lichts kanzerogene oder mutagene Effekte auftraten. Frühere Versuche an seinem Institut hatten ergeben, dass bei mikrobiellen Objekten letale Wirkungen bei Wellenlängen eintraten, die dem Absorptionsspektrum der Proteine entsprachen, während Mutationen im Absorptionsspektrum der Nukleinsäuren beobachtet wurden. Ebenso wie der Botaniker Edgar Knapp, der während des Krieges ähnliche Ergebnisse erzielt hatte, wagte es Friedrich jedoch nicht, hieraus auf eine genetische Funktion der Nukleinsäuren zu schließen.6 Eine kohärentes Programm, um diese Verbindung zwischen biophysikalischer Krebsforschung und Strahlengenetik weiterzuführen, kam nicht zustande. Die zunächst begonnenen Forschungen an pflanzlichen Modellobjekten wurden etwa von einer botanischen Arbeitsgruppe durchgeführt, die sich thematisch zunehmend verselbstständigte, bis sie zu Beginn der 1960er Jahre ausgegliedert wurde.7 3 4 5 6 7
Vgl. diese Arbeit, S. 101f. Zu Friedrichs Vorkriegsprogramm vgl. Schwerin 2015, S. 159–162. Wissenschaftliche Arbeitsplanung 1951 der Abteilung Biophysik, 24.5.1950, ABBAW Buch A 61. W. Friedrich, Licht und Krebs, Archiv für Geschwulstforschung 1 (1949), S. 137–143. F. Lange an F. Jung, 24.11.1961, ABBAW NL Graffi, Nr. 46.
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Die genetische Abteilung unter dem ehemaligen Timoféeff-Mitarbeiter Herbert Lüers war zwar ein potentieller Kooperationspartner, konzentrierte sich bei ihren Mutationsversuchen an Drosophila aber auf chemische Agenzien.8 Die Herausbildung eines thematischen Schwerpunktes gestaltete sich auch darum schwierig, weil Friedrichs Abteilung neben den strahlenbiophysikalischen Vorhaben eine breitere Palette von Projekten aus dem Institut für Strahlenforschung fortführte.9 Dazu gehörten Forschungen zur Ultraschallwirkung, die teilweise analog zu den strahlenbiologischen Versuchen an mikrobiellen Testobjekten durchgeführt wurden. Bis Mitte der 1950er Jahre war die mögliche therapeutische Nutzung des Ultraschalls ein wichtiges Thema der Abteilung.10 Die Thematik verschwand mit dem Abgang der beteiligten Kräfte jedoch spurlos. Etwas länger hielten sich die bioklimatologischen Arbeiten, die in den 1930er Jahren im Rahmen eines DFGProgramms begonnen worden waren und die Beeinflussung des Strahlungsklimas durch die städtische Luftverschmutzung betrafen.11 Messungen der atmosphärischen Strahlung wurde bis 1962 betrieben und dann vom Meteorologischen Dienst der DDR übernommen.12 Ein weiteres Erbe der Vorkriegszeit war die Eichung von in radiologischen Kliniken genutzten Radiumpräparaten. Während das Universitätsinstitut diese Funktion nur für die Hauptstadt ausgeübt hatte, betreute die IMB-Abteilung alle Kliniken der DDR, zusammen mit einer beratenden Funktion für den klinischen Strahlenschutz.13 Die Übernahme solcher regulativer Aufgaben belastete das Forschungspotential der Abteilung in den Anfangsjahren ebenso wie die Entwicklungsarbeiten, welche für die strahlenbiologischen Arbeiten notwendig waren. Ein erheblicher Teil der Kapazität wurde auf Entwurf und Bau von Laborapparaten verwendet, speziell Zählgeräten für die Arbeit mit radioaktiven Isotopen. 1956 fertigte die Abteilung 33 elektronische Geräte verschiedenster Art, neben Zählgeräten auch dosimetrische und spektrografische Techniken für die Auswertung von Bestrahlungsversuchen, die mit dem Röntgen- und Neutronengenerator geplant waren.14 Eine enge Verzahnung von Experimentalpraxis und Gerätebau konnte in der biophysikalischen Forschung eigentlich ein Schlüssel zu wissenschaftlicher Produktivität sein.15 In Buch wurden jedoch nicht allein Neuentwicklungen für den Eigenbedarf gefertigt, sondern zu einem großen Teil Apparate nachgebaut, die 8 9 10
11 12 13 14 15
H. Lüers, Bericht ü. die wichtigsten fachlichen Arbeiten d. Abteilung (Genetik), 7.1.1954, ABBAW AKL 43. Schierhorn 1983, S. 89. W. Kölle, Zur Bedeutung des Ultraschalls in der Geschwulstforschung, Archiv für Geschwulstforschung 6 (1954), S. 197–208; H. Winter, Eine Einführung in die Methodik der experimentellen Ultraschalltechnik für Biologen und Mediziner, Das Deutsche Gesundheitswesen 10 (1955), S. 287–292. Schwerin 2015, S. 115–116. Lange, Jahresbericht Institut für Biophysik 1962, ABBAW Buch A 10. Schwerin 2015, S. 233; Jahrbuch der DAW 1952/1953, S. 140–141. H. Pupke, Arbeitsprogramm Biophysik, 14.2.1956, ABBAW AKL 51; Jahrbuch der DAW 1956, S. 302. De Chadarevian 2002, S. 79.
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von der heimischen Industrie nicht oder nur in unzureichender Qualität geliefert werden konnten. Die Abteilung musste auch für den Bedarf anderer Forschungsinstitute produzieren.16 Vor allem die Werkstattkapazitäten des IMB wurden hierdurch bis aufs Äußerste belastet, zumal es kaum gelang, Komponenten von externen Produzenten fertigen zu lassen.17 Auch für den Forschungsprozess selbst war es ein Hemmnis, wenn bereits verbreitete Techniken nachentwickelt werden mussten. Das Institut füllte damit quasi als Handwerksbetrieb eine der zahlreichen Lücken, die in der forschungsnahen Industrie bestanden. Technik als Mittel und Zweck Wesentlich gravierendere Folgen als diese kleintechnischen Zwänge hatten jedoch die Probleme mit dem technischen Herzstück der Abteilung, dem Kaskadengenerator. Als die Hochspannungsanlage 1957 funktionsfähig war, bedeutete das noch lange nicht, dass auch der Forschungsbetrieb an der Röntgen- und der Neutroneneinheit aufgenommen werden konnte – jedenfalls nicht in biophysikalischer Richtung. Bis weit in die 1960er Jahre hinein waren die technischen Physiker der Abteilung überwiegend damit beschäftigt, die Anlage zu modifizieren, umzubauen, zu kalibrieren und zu reparieren. Zunächst blieb die Einrichtung der beiden Verbrauchseinheiten dem Institut überlassen. Dazu gehörte auch der Aufbau von Strahlenschutz- und Sicherheitsmaßnahmen. Im Probebetrieb auftretende Probleme wie die Überhitzung von Anlagenteilen oder winzige Verschiebungen des Beschleunigungsrohres erforderten jeweils eigenständige technische Zusatzentwicklungen. Eine automatische Regelungstechnik, die die verschiedenen Kühl-, Evakuierungs- und Pumpfunktionen miteinander verkoppelte, musste ebenfalls eigenständig entwickelt werden. Bei den in Buch häufig vorkommenden Ausfällen des Strom- und Wassernetzes waren diese Absicherungen unerlässlich.18 Aufgrund der Labilität des Stromnetzes stellte sich eine konstante Betriebsspannung – die eigentlich ein Vorzug des Generators sein sollte – selten ein; sie bedingte auch, dass bevorzugt im Nachtbetrieb gearbeitet wurde.19 Auch nach mehreren Jahren technischer Ausbesserungsarbeit galt die Anlage noch als so „empfindlich“, dass eine Verwendung in der Strahlentherapie, die von den Medizinern ohnehin bereits ad acta gelegt worden war, als nicht ratsam erschien.20
16 Zusammenfassender Arbeitsbericht 1953 Abt. Biophysik, Labor Dr. Herforth, 31.12.1953, ABBAW AKL 43. 17 Born an Wittbrodt, 28.1.1956, ABBAW AKL 51. 18 R. Schneiderreit, E. Witt, Die Automatisierung der Vakuumanlage der 1,5-MVRöntgenanlage des Institutes für Biophysik der DAW, Experimentelle Technik der Physik 12 (1964), S. 238–239. 19 J. Krumbiegel in: Jahresbericht des Instituts für Biophysik 1963, ABBAW Buch A 10, S. 6; W. Biener, Die 1,5-MV-Gleichspannungsanlage im DAW-Institut für Medizin und Biologie, IMB-Kolloquium 8.11.1957, Das Deutsche Gesundheitswesen 14 (1959), S. 135–136. 20 Jahresbericht Institut für Biophysik 1962, ABBAW Buch A 10.
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Mitte der 1960er Jahre wurden sowohl Röntgen- wie Ionenrohr regelmäßig für strahlenchemische und –biologische Arbeiten genutzt, waren aber nur zu 20% ausgelastet. Die Techniker versuchten weiterhin, die Neutronenausbeute und die Strahlstärke der Röntgeneinheit zu erhöhen, hatten aber kein klares Nutzungskonzept. Da es nicht in Frage kam, eine Investition dieser Größenordnung einfach abzuschreiben, wurde verzweifelt nach Wegen gesucht, die Anlage ökonomisch zu amortisieren. So wurde erwogen, den Generator für Auftragsarbeiten wie die Bestrahlung von Lebensmitteln oder Materialprüfungen zu nutzen. Die technischen Voraussetzungen der Anlage waren hierfür allerdings nicht optimal. Auch ein Vorschlag, das Gerät zu einem riesigen Elektronenmikroskop umzubauen, wurde schnell wieder fallengelassen.21 Trotz aller Probleme waren lokale Experten weiterhin der Meinung, dass die Anlage für den ursprünglich geplanten strahlenbiologischen Einsatz sehr gut geeignet war. Für den Leiter der Isotopenabteilung, Günther Vormum, zeichnete sich der Generator gegenüber anderen Strahlenquellen durch ein großes Wirkungsspektrum, die stufenlose Regelbarkeit und die Kontinuität der Strahlenleistung aus. Die Leistungsparameter erschienen ihm bestens geeignet für Arbeiten über die Wirkungen verschiedener Strahlenarten auf Moleküle und komplexere biologische Systeme; dafür bedurfte es allerdings des gezielten Aufbaus geeigneter Modellsysteme und Messmethoden.22 Diese Einschätzung legt nahe, dass die Biophysik nicht allein aufgrund technischer Mängel, sondern auch wegen eines unzureichenden Nutzungsprogramms stagnierte. Die biophysikalische Abteilung war bereits seit den frühen 1950er Jahren heftiger Kritik innerhalb des IMB sowie von Seiten der Wissenschaftspolitik ausgesetzt. Fachleute der Partei betrachteten die Bucher Biophysik als profillos und wissenschaftlich unproduktiv. Die Ursache sahen sie vor allem bei Friedrich selbst, der zu dieser Zeit als Akademiepräsident kaum in der Lage war, entscheidend in die Forschungsarbeit einzugreifen. Zudem galten die von ihm berufenen leitenden Mitarbeiter als nicht eigenständig und qualifiziert genug, um der wissenschaftlichen Entwicklung neue Impulse geben zu können.23 Auch in der Belegschaft baute sich erhebliche Frustration auf. Wissenschaftler monierten fehlende Beziehungen zu den anderen Abteilungen, Nachwuchskräfte beschwerten sich über mangelnde Betreuung seitens der Leitung. Eine Verbesserung der Lage erhofften sich einige Mitarbeiter von einer Unterstellung unter die physikalische Klasse der DAW. 24 Das war auch das Anliegen der DAW-Parteigruppe, die Friedrichs alleinige Kontrolle über den Bereich einzuschränken wollte. Durch eine Zuordnung zur physikalischen Klasse hätte einer der einflussreichsten SED-Kader 21 Institut für Biophysik, Perspektiv-Vorschläge für eine wissenschaftlich sinnvolle und wirtschaftliche Verwendung der 1,5 MV-Beschleunigeranlage, 26.7.1965, ABBAW FG 76. 22 G. Vormum, Situation und Perspektive der Hochspannungsanlage Berlin-Buch unter dem Gesichtspunkt der Strahlenchemie, 7.3.1966, ABBAW FG 73. 23 Bericht über die Tätigkeit der Akademie in den letzten Jahren, n.d. (1953 o. 1954), BAB DY 30/IV 2/9.04/372, Bl. 49–89. 24 Protokoll über die Ausprache mit der Kommission Forschung und Lehre und den Mitarbeitern der AB Physik und Angew. Isotopenforschung, (am 21.1.1957 im IMB), BAB DY 30/IV 2/9.04/422, Bl. 55–60.
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in der Akademie in die Planung eingreifen können – der seit der Vorkriegszeit eng mit Buch verbundene Robert Rompe.25 Obwohl die Zuordnung zum physikalischen Bereich der DAW erst 1964 durchgesetzt werden sollte, begannen die Physiker bereits Ende der 1950er Jahre, die Ausrichtung der Buch Biophysik zu beeinflussen. Die Einsetzung Fritz Langes, eines der zahlreichen deutschen Experten im sowjetischen Atomprogramm, als Nachfolger Friedrichs im Mai 1959 wurde zweifellos durch den Kreis um Rompe durchgesetzt. Die Rückkehr Langes war durch einen früheren Mitarbeiter vorangetrieben worden, der Rompe und den Leiter des Amtes für Kernforschung, Karl Rambusch, in die Suche nach einer geeigneten Stelle einspannte.26 Letzten Endes dürfte Rompes Einfluss als führender Kopf in der DAW-Parteiorganisation den Ausschlag für Langes Einsatz in Buch gegeben haben. Dabei spielte die Aussicht, einen politisch immer noch als unzuverlässig geltenden Arbeitsbereich einem altgedienten Parteimann anzuvertrauen, zweifellos eine Rolle. Im Gegensatz zu den meisten Wissenschaftlern, die gegen Ende der 1950er Jahre aus der Sowjetunion in der DDR übersiedelten – und dort oft schnell wissenschaftpolitisch Karriere machten – war Lange nicht erst nach dem Krieg verpflichtet worden, sondern als überzeugter Kommunist bereits 1935 in die Sowjetunion gekommen. Am Ukrainischen Physikalisch-Technischen Institut in Charkow arbeitete er an der Entwicklung von Hochspannungsanlagen, die er bereits in Deutschland verfolgt hatte. 1940 waren Lange und seine Charkower Kollegen die ersten sowjetischen Experten, die Stalin vom Bau einer Uranbombe überzeugen wollten. Mit diesem Ziel entwickelte Lange das erste Verfahren zur Anreicherung waffenfähigen Urans 235 durch Zentrifugation.27 Lange gehörte zu den führenden Experten im Bau von Hochspannungsanlagen, besaß aber keine biophysikalischen Erfahrungen. Es war daher nicht zu erwarten, dass sich die vorherrschende Konzentration auf die technischen Aspekte der Strahlenbiophysik grundlegend ändern würde. Tatsächlich brachte er ein Projekt zur Entwicklung eines Impuls- bzw. Stoßspannungsgenerators mit, einer Technik zur Erzeugung von Elektronenstößen, zu deren Entstehung er selbst wesentlich beigetragen hatte. Im Kontext der zunehmenden Spannungen zwischen den Instituten verwundert es nicht, dass die Mediziner ein so physikalischtechnisch ausgerichtetes Projekt nicht mehr akzeptieren wollten; es wurde 1963 jedoch nach Intervention der FG-Sektion Physik weitergeführt.28 Laut Lange hatte der Impulsgenerator großes Potential für das Studium ionisierender Strahlenwirkung auf biologische und chemische Objekte, da die extrem kurzen Entladungszeiten eine Analyse der zeitlichen Abläufe strahleninduzierter molekularer
25 (DAW-Parteigruppe), Besprechung betr. Buch 11.10.1955, BAB DY 30/IV2/9.04/422, Bl. 47–50. 26 Hoffmann 2009, S. 63. 27 Ebd., S. 61. 28 Protokoll zur Sitzung der Kommission Medizin und Biologie am 22.2.1963, BAB DY 30/IV A2/9.04/362.
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Prozesse ermöglichen würden.29 Entsprechend sollte die Dauer der Elektronenstöße auf wenige Mikrosekunden, perspektivisch sogar in den Nanosekundenbereich gesteigert werden. Das Projekt hatte allerdings noch eine weitere Dimension. Impulsgeneratoren wurden überwiegend industriell verwendet, vor allem für die Prüfung von Isolatoren für Hochspannungsnetze. Da sich die technischen und räumlichen Anforderungen für diese Anlagen immer mehr steigerten, sollte die sehr kompakte Bauweise Hinweise für eine ökonomisch günstigere Konstruktion liefern.30 Lange zielte also, zumindest argumentativ, zugleich auf eine wissenschaftliche Aufgabe und einen ökonomisch-technischen Mehrwert ab. Letztlich konnte die Anlage jedoch keines der technischen Ziele ganz erfüllen. Sie wurde zu Beginn der 1970er Jahre für strahlenbiophysikalische Experimente genutzt, konnte aber die erhofften ultrakurzen Entladungszeiten nicht erreichen und wurde schließlich aus ökonomischen Erwägungen abgebaut.31 Das Projekt war zwar keineswegs zentral für das Institut, zeigt jedoch beispielhaft, wie sehr das Profil auch noch nach der Ägide Friedrichs durch technische Entwicklungsvorhaben geprägt war, die Ressourcen banden und damit eine Neuausrichtung erschwerten. Eine Disziplin erfindet sich neu Die starke physikalisch-technische Ausrichtung der Biophysik sowie ihr fehlender Bezug zur Strahlentherapie führten zwangsläufig dazu, dass sie während der Konflikte der 1960er Jahre weiter unter Druck geriet. Lange vermutete Ende 1963, dass Gummel seine Machtposition im FG-Vorstand ausnutzte, um die Zerschlagung seines Instituts vorzubereiten.32 Als altgedienter Parteikader wusste er sich gegen solche Angriffe zu wehren; nach der Erinnerung eines Kollegen reagierte er auf einen vermeintlichen Auflösungsbeschluss mit einem direkten Anruf bei Walter Ulbricht.33 Vermutlich führten diese Konflikte dazu, dass das Institut 1964 in den Geschäftsbereich des Fachbereichs Physik Nord der FG überging. Es war damit organisatorisch quasi exterritorial, konnte sich aber nicht dem Druck entziehen, im Rahmen des Forschungszentrums eine neue wissenschaftliche Konzeption zu entwickeln. Die Biophysiker mussten dabei nicht allein die lokale Funktion ihres Faches definieren, sondern auch seinen Beitrag zur langfristigen Perspektivplanung der biologischen Forschung – dies alles vor dem Hintergrund, dass es bis dahin an den Hochschulen der DDR kaum verankert war.
29 E. Nicolai, F. Lange, Über die Einsatzmöglichkeiten einer gepulsten Elektronenstrahlquelle für ein Megavolt Summenladespannung, Studia Biophysica 10 (1968), S. 161–167. 30 E. Nicolai, Abschlussbericht zur Forschungsarbeit „Fertigstellung einer Impulsstrahlungsquelle zur Bestrahlung biologischer und chemischer Objekte“, 1.12.1967, ABBAW Buch A 45. 31 Abel/Sternberg, Anlage zur Stellungnahme der Parteigruppe des Bereichs Strahlenbiophysik, Feb. 1976, ABBAW A 1169/1. 32 Protokoll außerordentliche Sitzung des Direktorium 8.11.1963, ABBAW Buch A 17. 33 Mündliche Information H. Abel, 25.4.2014.
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Die Probleme der Selbstbestimmung wurden in einer Denkschrift deutlich, welche eine Kommission der DAW-Sektion für Physik unter Beteiligung Friedrichs 1964 vorlegte. Sie stellte das Fach als Querschnittsdisziplin dar, die mit praktisch allen biologischen und medizinischen Forschungsproblemen verbunden war. Eine so breite Definition war vor dem Hintergrund der Perspektivplanung aber ebenso wenig produktiv wie die Aufzählung „praxisrelevanter“ Erträge biophysikalischer Forschung.34 Im Sinne der Planer im Forschungsrat ging es um ein scharfes Profil, das den verfügbaren Kapazitäten und der wissenschaftspolitischen Rahmenplanung Rechnung trug. Besser verstanden hatten dies die Mitarbeiter Langes, die gegenüber der Vorstandskommission Medizin der FG betonten, dass aufgrund der Ausdifferenzierung der Biophysik auch große Institute nur ein kleines Teilgebiet abdecken konnten. Konkret kreisten ihre Vorstellungen jedoch weiterhin primär um die Nutzung des Röntgen- und Neutronengenerators.35 Für die Zukunft des Instituts zeichneten sich zu diesem Zeitpunkt bereits weit weniger konservative Konzepte ab. Dabei gerieten die Defizite bei den physikochemischen Techniken zur Analyse von Biomolekülen immer mehr in den Mittelpunkt der Diskussion. Kurt Mothes, der Direktor des Hallenser Instituts für Biochemie der Pflanzen, warnte Ende 1964, dass die DDR dabei war, auf diesem für Biochemie und Molekularbiologie entscheidenden Gebiet endgültig den Anschluss zu verpassen. Während es bei älteren Methoden wie der UV- und IRSpektroskopie einzelne gute Zentren gab, waren neuartige Techniken wie Massenspektrometrie, Kernresonanz- und Spinresonanzspektrokopie kaum oder gar nicht vorhanden. Den besten Weg sah er darin, möglichst bald junge Kräfte in westlichen Instituten ausbilden zu lassen und mit ihnen ein entsprechendes Spezialinstitut aufzubauen.36 Diese Vorschläge mussten zwangsläufig auch die Zukunftsplanungen für die Bucher Biophysik beeinflussen. Als 1965 die Emeritierung Langes anstand, entschieden sich die DAWPhysiker abermals für einen Nachfolger, der kein ausgewiesener Biophysiker war, aber geeignet schien, die Institutsstrukturen gründlich umzubauen. Der Toxikologe Karlheinz Lohs, bis dahin Abteilungsleiter am Leipziger Akademieinstitut für chemische Verfahrenstechnik, verkörperte als junger Aufsteiger mit proletarischem Hintergrund das ideale Modell eines sozialistischen Wissenschaftlers. Als Vollwaise von einem kommunistischen Arbeiterehepaar im Erzgebirge großgezogen, machte er nach einer Lehre als Chemielaborant 1948 das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg. Nach dem Chemiestudium arbeitete er sich vom wissenschaftlichen Mitarbeiter in der Farbfabrik Wolfen zum Dozenten für chemische Toxikologie hoch, wobei er sich auch als Fachmann für die Beseitigung chemi-
34 W. Friedrich/W. Eschke, Denkschrift „Allgemeine Bedeutung der Biophysik“, 24.8.1964, ABBAW FG 75. 35 Pupke/Drost, Einige Bemerkungen zur gegenwärtigen Situation in der Biophysik, Anlage 2 zum Protokoll der Sitzung der Kommission des Fachbereichs Medizin 5.6.1964, BAB DY 30/IV A2/9.04/362. 36 Mothes an Leibnitz, 30.11.1964, ABBAW FG 75.
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scher Kampfstoffe profilierte.37 Seine Musterkarriere wurde sicherlich von seiner Parteiverbundenheit, möglicherweise auch von seiner langjährigen Tätigkeit als Zuträger der Staatssicherheit beschleunigt. Die Einschätzung seiner StasiFührungsleute, sie hätten die Berufung nach Buch „vermittelnd“ beeinflusst, sollte jedoch mit Vorsicht betrachtet werden.38 Lohs hatte zudem durch seine enge Bindung an die NVA einen wissenschaftspolitisch relevanten Rückhalt. Während seiner Bucher Zeit diente Lohs der Armee weiterhin als C-Waffen-Experte. Es ist allerdings nicht zu vermuten, dass diese Orientierung für die Berufung entscheidend war. Lohs erwog zwar kurzzeitig die Option, seine industrie- und militärtoxikologische Forschung nach Buch zu ziehen; letztlich verblieben diese Arbeiten aber in der Leipziger Abteilung, die als Außenstelle des IBP geführt wurde.39 Der neue Direktor zielte von Beginn an darauf ab, die rein physikalischtechnischen sowie dosimetrischen Arbeiten auszugliedern. Ferner sollte eine Gruppe von theoretischen Physikern aufgebaut werden, um die mathematische Modellierung strahlenbiologischer Ergebnisse zu vertiefen.40 Alle diese Pläne waren von Beginn an mit Rompe abgesprochen. Bei der Umstrukturierung hatte aber nicht allein der einflussreichste Physiker der DAW mitzureden. Nach Lohs’ Amtsübernahme wurde eine größere Gruppe von Fachleuten in die Planungen einbezogen, vor allem auf der organisatorischen Basis des ZAK Biophysik und der Biophysikalischen Gesellschaft. Insbesondere für die jüngeren Wissenschaftler boten die Perspektivdiskussion um die Biologieprognose eine Gelegenheit, die Disziplin neu auszurichten. Dabei zeigte sich eine klare Tendenz, von der bisherigen Konzentration auf die Strahlenbiologie abzugehen und Gebiete zu erschließen, die an die Molekularbiologie anschlussfähig waren – insbesondere die molekularbiophysikalischen Methoden, deren Bedeutung Mothes hervorgehoben hatte. Zugleich war man hinsichtlich der Investitionen in dieses Gebiet sehr vorsichtig, da die Rückstände bei bestimmten Techniken – etwa der Röntgenkristallographie – so groß waren, dass Arbeiten auf internationalem Niveau auf absehbare Zeit kaum möglich schienen.41 Bei der Entwicklung der Biophysik in der DDR sowie dem Umbau ihres größten Fachinstituts durfte nicht auf eine besonders freigiebige Unterstützung gezählt werden. Lohs ging von Beginn an davon aus, dass ein umfassender Neuaufbau aus ökonomischen Gründen kaum durchsetzbar war. Sein Institut war bereits das personal- und finanzintensivste unter den Bucher Teilinstituten, die in eine molekularbiologische Richtung gesteuert werden sollten; die Perspektivpläne 37 Lohs’ wurde 1967 in dem DEFA-Kurzfilm „Prof. Dr. rer. nat. habil.“ porträtiert, s. Bundesarchiv Film, BSP 18179-2; zur Biographie vgl. Martinetz 1997. 38 Staadt 2005. 39 Lohs an Rompe, 8.1.1966, ABBAW FG 75. 40 Lohs, Notwendige Maßnahmen in Zusammenhang mit der Umgestaltung des Instituts für Biophysik, Dez. 1964, ABBAW FG 75; Flemming/FB Physik, Aktennotiz zur Besprechung „Weitere Maßnahmen zu Reorganisierung des Instituts für Biophysik“, 28.11.1964, ABBAW FG 76. 41 Lohs u. a., Exposé zum Stand der biophysikalischen Forschung in der DDR, 20.11.1965, ABBAW FG 75.
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der frühen 1960er Jahre sahen größere Personalzuwächse vor allem in der Biochemie und Pharmakologie vor. Da auch nicht damit gerechnet werden konnte, dass ausreichend Devisen für eine umfassende Ausrüstung mit neuen physikochemischen Technologien mobilisiert werden konnten, zog er mehrere alternative Konzepte in Erwägung: eine Entwicklung der bestehenden strahlenbiologischen Arbeiten in Richtung Strahlenchemie und -toxikologie, was eine Verbindung mit seiner eigenen Arbeitsrichtung bedeutet hätte; ein strahlen- und molekularbiophysikalisches Hilfsinstitut für die gesamte DAW entsprechend den Anregungen von Mothes; oder eine völlige Neuausrichtung als Institut für Molekulargenetik mit Schwerpunkt Phagen- und Bakteriengenetik.42 Lohs schloss auch nicht aus, dass aufgrund mangelnder Unterstützung noch das völlige Ende für das Institut kommen könnte. Sein Pessimismus dürfte dadurch genährt worden sein, dass er in Buch als Quereinsteiger eine besonders umkämpfte Position einnahm und nicht mit offenen Armen empfangen wurde. Als er mit seinen Umgestaltungsplänen nach Buch kam, musste er feststellen, dass schon der Kampf um eigene Arbeitsräume eine erhebliche Herausforderung darstellte.43 Die Zuordnung seines Instituts zum Fachbereich Physik garantierte eine gewisse Handlungsautonomie, sorgte aber bei den anderen Direktoren für Misstrauen und Unverständnis. Als 1966 der Druck, das Institut umgehend wieder in den FB Medizin einzugliedern, immer stärker wurde, reagierte er mit einem unklaren Schlingerkurs, der die Vorbehalte seiner Kollegen noch verschärfte.44 Mit den Vorbereitungen zur Akademiereform verlor dieser Konfliktpunkt aber an Bedeutung, da die bestehende Bereichseinteilung ohnehin vor der Revision stand.45 1968 stand das IBP wie die anderen Bucher Institute vor der Aufgabe, seine Aufgaben innerhalb des neuen molekularbiologischen Großprogramms zu definieren. Dabei ergab sich die Herausbildung von zwei unabhängigen Arbeitsbereichen: einerseits eines Schwerpunktes Strahlenbiophysik mit völlig erneuerter Konzeption, andererseits eines Zentrums für molekularbiophysikalische Techniken, dessen Möglichkeiten auf das gesamte Forschungszentrum ausstrahlen sollten. 3.2. IN DEN SPUREN DER TRADITION: DER NEUAUFBAU DER STRAHLENBIOPHYSIK Die 1968 vorgelegte Feinkonzeption des Instituts für Biophysik sah eine Konzentration auf Fragen der Strahlenschäden am Modellobjekt DNS vor.46 Diese 42 Lohs an Rompe, 8.1.1966, ABBAW FG 75. 43 Lohs an Flemming/FB Physik, 17.12.1964, ABBAW FG 75. 44 Protokoll zur Sitzung des Rates der Direktoren 19.7.1966, ABBAW FG 75; Lohs an Baumann, 4.8.1966; Protokoll zur Sitzung des Rates der Direktoren 21.10.1966, beide ABBAW Buch A 20. 45 Lohs, Stellungnahme zur Frage der Fachbereichszugehörigkeit des Instituts für Biophysik, 26.11.1967, ABBAW FG 75. 46 Feinkonzeption für die wissenschaftliche Arbeit des Institutes füt Biophysik, 31.7.1968, ABBAW Buch A 456.
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strahlenbiologische Ausrichtung hatte sich in den vorausgegangenen Diskussionen nicht klar angedeutet. Grundlage der Konzeption war eine Initiative aus dem Institut für Kernforschung in Rossendorf, dessen Leitung Anfang 1966 Lohs vorschlug, die Arbeit der dort bestehenden dosimetrischen Gruppe mit jener der Bucher Biophysiker zu koordinieren. Daraus wurde schließlich das konkrete Angebot, die Gruppe dem Institut für Biophysik als Außenstelle anzuschließen.47 Diese Verbindung ermöglichte einerseits die Nutzung des einzigen Zyklotrons der DDR und andererseits die Integration einer Gruppe theoretischer Physiker, die Lohs als unbedingt notwendig erachtete.48 Beziehungen zwischen Buch und Rossendorf hatten schon zuvor bestanden. Der erste Leiter der Bucher Isotopenabteilung, Hans-Joachim Born, war auch für den Aufbau der Rossendorfer Radiochemie verantwortlich. Bereits 1957 existierten Vorschläge, die Neutronenquellen des Kernforschungszentrums für die Biophysik nutzbar zu machen.49 Der Leiter der Rossendorfer Dosimetrie-Gruppe, Helmut Abel, hatte zu Beginn der 1950er Jahre unter Friedrich gearbeitet. Bei seinen Plänen zum Umbau der Abteilung hatte er die Unterstützung führender DAW-Physiker. Neben Rompe war vor allem Klaus Fuchs beteiligt, der als Leiter der Rossendorfer Theorieabteilung grünes Licht für die Übernahme gab. Abel entwickelte 1967 die Grundzüge eines gemeinsamen Programms für die Gruppen in Buch und Rossendorf, in dem es nicht allein darum gehen sollte, die unzureichenden strahlentechnischen Möglichkeiten in Buch zu erweitern. Das Zyklotron des ZfK bot wesentlich bessere Voraussetzungen zur Arbeit mit Neutronen; außerdem verfügte Abels Arbeitsgruppe nach eigener Einschätzung über zumindest im sozialistischen Lager einzigartige mikrodosimetrische Fähigkeiten, die eine produktive biophysikalische Nutzung erst ermöglichten. Worauf es ankam, war aber weniger die Messung strahleninduzierter Veränderungen in „biogenen Elementarstrukturen“ als vielmehr ein mathematisch-physikalisches Konzept, um sie zu analysieren.50 Damit kritisierte Abel die bisherige theoretische Schwäche der Strahlenbiologie am IMB und griff zugleich auf die Bucher Tradition zurück. Die Forschungsfrage, wie genau die von einer Zelle beziehungsweise von biologischen Elementarteilchen absorbierte Strahlenenergie aufgenommen und weitergeleitet wurde, hatte zu Beginn der 1940er Jahre im Zentrum der Diskussionen im Timoféeff-Ressovsky-Zirkel gestanden. Dieser thematische Rückgriff war kein reiner Zufall. Abel hatte sich im Vorfeld bemüht, Kontakt zum Altmeister der Strahlengenetik aufzubauen, aber der Aufenthaltsort der Timoféeff-Ressovskys war zu diesem Zeitpunkt noch ein heikles Thema, zu dem sich sowjetische Kollegen nicht oder nur verklausuliert äußern wollten. Schließlich ergab ein Hinweis, dass das Forscherehepaar im Akademieinstitut für medizinische Radiologie in 47 Lohs an Rompe, 25.2.1966; Aktenvermerk Lohs 21.6.1966, beide ABBAW FG 75. 48 Lohs an Rompe 10.11.1966, ABBAW FG 75. 49 Spode/IMB, Arbeitsplanung einer biologisch-medizinischen Gruppe beim Kernreaktor der DDR (Dresden), 9.10.1957, BAB DF 1/1503; vgl. Autobiographie H. Abel in: L. Pasternak 2004, S. 212–216, S. 213. 50 Abel an Rompe, 16.10.1967, ABBAW FG 75.
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Obninsk, südlich von Moskau, arbeitete. Wahrscheinlich spielte Rompe, als allgegenwärtiger Organisator und Verbindungsglied in die Bucher Vergangenheit, bei der Anbahnung der Kontakte eine Rolle.51 Obninsk wurde zu einem wichtigen Kooperationspartner für Abels Projekt. Die Timoféeff-Ressovskys tauchten Ende der 1960er Jahre wieder auf internationalen Kongressen sowie auf den Seiten der neugegründeten DDR-Fachzeitschrift „Studia Biophysica“ auf. Wie die strahlengenetischen Arbeiten der 1940er Jahre basierte Abels Projekt auf der Annahme, dass die zelluläre DNS als entscheidender Angriffsort aller Strahlenwirkungen zu betrachten war. Diese Hypothese war keineswegs selbstverständlich, aber inzwischen durch Ergebnisse von Bestrahlungsstudien an Bakteriophagen-DNS sowie an tierischen Zellkulturen erhärtet worden.52 Während Timoféeff und seine Mitarbeiter ihre treffertheoretischen Analysen noch am komplizierten Modell Drosophila durchgeführt hatten, also von der umständlichen Ermittlung von Genmutationsraten oder von Chromosomenbrüche ausgehen mussten, war es in den 1960er Jahren möglich, mit isolierter DNS zu operieren. Das Auftreten von Strangbrüchen konnte direkt durch viskosimetrische oder spektroskopische Messungen ermittelt werden.53 Eine weitere Technik, die von Abels Gruppe angewandt wurde, war die Einbringung bestrahlter isolierter DNS in den genetischen Apparat von Bakterien, wodurch sich auch die biologische Wirkung der Strahlenschäden analysieren ließ.54 Das Instrumentarium der Molekulargenetik erlaubte, was die Bucher Strahlengenetiker schon in den 1930er Jahren postuliert hatten, aber experimentell nicht wirklich umsetzen konnten: eine Behandlung der Erbsubstanz als „wohldefiniertes“ Modellobjekt für die Strahlenwirkung in Makromolekülen und damit eine quantitative Analyse von Messergebnissen. Nach den klassischen strahlenbiologischen und -genetischen Versuchen gab es klare Korrelationen zwischen dem auslösenden Reiz – der die Zelle treffenden Strahlenenergie – und dem biologischen Resultat – der Mutation oder Zelltötung. Diese Ergebnisse hatten zur Aufstellung von „Treffertheorien“ wie jener von Timoféeff-Ressovsky und Kollegen geführt, nach welcher eine Mutation stets auf einen Strahlentreffer in einem sensiblen molekularen Bereich zurückging. Wie dargestellt, hatten die KWIH-Genetiker versucht, aus den Bestrahlungsversuchen an Drosophila die Größe des „Treffbereiches“ abzuleiten, welcher nach ihrer
51 Mündliche Information H. Abel, 25.4.2014; Autobiographie Abel in: L. Pasternak 2004, S. 212–216, S. 214. 52 H. Abel, Strahleninduzierte Veränderungen an isolierter DNS und deren funktionelle Konsequenzen, Studia Biophysica 18 (1969), S. 191–197. 53 I. Körner, M. Hartwig, A. Rakow, Strahleninduzierte Veränderungen an isolierter DNS und deren funktionelle Konsequenzen II., Studia Biophysica 18 (1969), S. 197-204; M. Hartwig, Strahleninduzierte Veränderungen an isolierter DNS und deren funktionelle Konsequenzen III., Studia Biophysica 18 (1969), S. 205–210. 54 K. Günther et al., Inaktivierung der Transformationsaktivität durch Strahlung mit unterschiedlichem LET, Studia Biophysica 30 (1972), S. 150–151.
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Konzeption nicht mit der mutierenden genetischen Einheit identisch sein musste.55 Ferner leiteten sie aus ihren Ergebnissen Rückschlüsse auf Fragen des Strahlenschutztes, speziell der Bestimmung von Schwellenwerten für die radiologische Praxis ab. Mehr als zwei Jahrzehnte später gab es immer noch kein generalisierbares Modell für die Strahlenwirkung in biologischen Elementarstrukturen. Das Grundproblem war, dass die Leit- beziehungsweise Bremsfähigkeit gegenüber auftreffender Strahlenenergie – der sogenannte lineare Energietransfer (LET) – bei biogenen Objekten, ebenso wie bei physikalischen Modellsubstanzen, sehr unterschiedlich ausfallen konnte. Entsprechend fehlten auch theoretisch belastbare Konzepte zur Bestimmung von Toleranzdosen im Strahlenschutz sowie für die Ableitung optimaler Bestrahlungspläne in der Strahlentherapie. Abels Programm basierte auf dem Postulat, dass nur durch Erweiterung der physikalischtheoretischen Basis ein wirklicher Fortschritt auf diesen beiden praktischen Feldern erzielt werden konnte. Im Strahlenschutz bestand etwa die Schwierigkeit, dass empirische Werte aus Tierversuchen gewonnen wurden, in denen sichtbare biologische Effekte nur durch Strahlendosen erzielt wurden, die wesentlich höher lagen als jene, die in der Praxis relevant waren. Eine exakte Grundlage, um aus diesen Daten Grenzwerte abzuleiten, konnte es laut Abel erst dann geben, wenn ein theoretisches Konzept der biologischen Strahlenwirkung vorlag. 56 Eine umfassende Theorie, die alle Wirkungen verschiedenster Strahlungsarten und -dosen auf biologische Objekte erklären konnte, war angesichts der Problemlage nicht denkbar, wohl aber ein theoretisches Modell, das eine annäherungsweise Vorhersage für unter bestimmten Bedingungen auftretende strahlenbiologische Effekte erlaubte. Therapieorientiert oder theoriegeleitet? Obwohl Abel in seinen Konzeptionen Wert darauf legte, die theoretisch orientierte Strahlenbiophysik klar von der klinischen Strahlenbiologie abzugrenzen,57 war sein Projekt von Beginn auf eine enge Kooperation mit den Radiologen der Robert-Rössle-Klinik ausgelegt. Mitte der 1960er Jahre wurde in verschiedenen Krebsforschungszentren erwogen, die Strahlentherapie durch den Einsatz von Neutronenquellen zu verbessern. Entsprechende Überlegungen hatte es bereits in 1940er Jahren – auch in Buch – gegeben. Diese Ansätze waren zunächst verworfen worden, da schnelle Neutronen hinsichtlich ihrer Tiefendosisleistung keinen
55 N. W. Timoféeff-Ressovsky, K. G. Zimmer, M. Delbrück, Über die Natur der Genmutation und der Genstruktur, Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Math.-Nat. Klasse, Fachgruppe VI, N.F. 1, 1935, Nr. 13. 56 H. Abel, Aspekte der Strahlenqualität für den Strahlenschutz, die Strahlentherapie und die Strahlenbiophysik, Studia Biophysica 8 (1968), S. 13–27, S. 15. 57 Abel an Rompe, 16.10.1967, ABBAW FG 75.
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Vorteil gegenüber Röntgenstrahlen boten.58 Sie wurden wieder aufgenommen, weil zu vermuten war, dass schnelle Neutronen aufgrund ihres Wirkungsmechanismus besonders stark auf sauerstoffarme Tumorzellen wirkten, die gegen herkömmliche Strahlungen resistent waren. Die Rossendorfer Biophysiker-Gruppe wollte die Frage der zellspezifischen Wirkung in ihr Forschungsprogramm aufnehmen; zugleich sollten Radiologen und Biophysiker gemeinsam an Modellen die Tiefendosisverteilung und die Energieverteilung bei Neutroneneinstrahlung analysieren.59 Zu Beginn der 1970er Jahre wurde auch die therapeutische Anwendung des Zyklotrons möglich. Das Projekt war als Pilotstudie ausgelegt, die einer eventuellen Anschaffung einer neuen Neutronenanlage für Buch vorausgehen sollte. Die technischen Voraussetzungen am Rossendorfer Zyklotron waren für Patientenbestrahlungen, schon aufgrund der fehlenden Beweglichkeit des Strahlenkegels, nur bedingt geeignet. Die starke Auslastung der Anlage ließ nur sehr begrenzte Begleitversuche und kurze Bestrahlungsperioden zu.60 Für die Biophysiker war die Kooperation eine wertvolle Absicherung ihres Programms. Der praktische Nutzen war für die Kliniker bedeutender, da die technischen und dosimetrischen Aspekte der Bestrahlungsserie nur von den lokalen Experten beherrscht werden konnten.61 Für die Ausarbeitung der Bestrahlungsplanung waren theoretische Vorarbeiten allein nicht ausreichend. Die Dosisverteilung wurde, wie beim Einsatz anderer Strahlenquellen, an Körpermodellen mit gewebeäquivalenter Dichteverteilung (Phantomen) ermittelt.62 Diese Messungen wurden durch experimentelle Ansätze flankiert, die tatsächliche biologische Wirksamkeit unter Therapiebedingungen zu simulieren. Dazu wurden Tumor- und Normalzellkulturen innerhalb eines Phantoms bestrahlt oder Krebszellen aus zuvor bestrahlten Tumormäusen in ihrem Wachstumsverhalten untersucht.63 Diese Versuche wurden mit der Rossendorfer Neutronenanlage sowie mit der in Buch verwendeten Kobaltkanone durchgeführt, um die „relative biologische Wirksamkeit“ beider Bestrahlungstechniken, das heißt die jeweils für einen bestimmten 58 K. G. Zimmer, A. Pickhan, Alte und neue Wege zu höheren Tiefendosen, Strahlentherapie 73 (1943), S. 167–180. 59 S. Matschke, G. Magdon, H. Abel, Konzeption zur Entwicklung der Gemeinschaftsarbeit bei Untersuchungen zur Analyse der biologischen Wirksamkeit von Neutronen, 14.7.1967, ABBAW Buch A 61. 60 Abel/Scheler/Eichhorn an Flach/ZfK, 7.7.1971, ABBAW Buch A 902. 61 H. Abel, S. Matschke, K. Regel, Dosimetry of 9 Be (d,n)10B neutrons for radiotherapeutic applications at the cyclotron in Rossendorf, European Journal of Cancer 10 (1974), S. 313; K. Regel, Neutronentherapie in der DDR VII.: Strahlenphysikalische Grundlagen zur Durchführung der Neutronentherapie, Archiv für Geschwulstforschung 46 (1976), S. 276–280. 62 S. Matschke, K. Welker, Neutronentherapie in der DDR III.: Ermittlung der Dosisverteilung im Phantom, Archiv für Geschwulstforschung 45 (1975), S. 737–745. 63 E. Magdon, Neutronentherapie in der DDR IV.: Zellbiologische Untersuchungen zum RBW schneller Neutronen in unterschiedlicher Phantomtiefe, Archiv für Geschwulstforschung 45 (1975), S. 746–752; I. Ehm, E. Magdon, K. Regel, Neutronentherapie in der DDR V.: Vergleichende impulszytophotometrische Untersuchungen zur Redistribution von Lymphomzellen in vivo nach Einwirkung von 60Co-g-Strahlen und schnellen Neutronen, Archiv für Geschwulstforschung 45 (1975), S. 753–766.
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biologischen Effekt nötige Dosisleistung zu bestimmen. Das entsprach auch dem Ansatz der klinischen Studie, in der die bisherigen Erfahrungen mit der Co60Technik als Referenzgröße genommen wurden.64 Die Strahlenbiologen der RRK führten ihren Teil der Versuche überwiegend unabhängig von jenen der Biophysiker aus. Sie stützten sich auf tierische sowie menschliche Tumorzellen und orientierten sich direkter an der Frage, bei welchen Strahlendosen das Wachstum tierischer Zellkulturen irreversibel geschädigt wurde.65 Dabei spielte auch die Perspektive eine Rolle, Patientengewebe vor der Behandlung auf seine individuelle Strahlenempfindlichkeit zu testen – gewissermaßen in Analogie zu den gleichzeitig in der Klinik laufenden Versuchen zur Invitro-Bestimmung der Chemotherapeutika-Sensibilität.66 Bevor dieses Unterfangen praktische Bedeutung erlangen konnte, sollten die Vorversuche allerdings auf grundlegende Probleme des Therapieansatzes hinweisen. Bei Bestrahlungen in vitro erwiesen sich Normalgewebe als empfindlicher für Neutronenstrahlung als Tumorproben. 67 Damit deuteten sich bereits die starken Nebenwirkungen an, die sich in der Auswertung der klinischen Versuche offenbaren sollten. Die Frage, warum verschiedene Zellpopulationen so unterschiedlich auf identische Strahlenqualitäten reagierten, war eng mit dem Verständnis eines Phänomens verbunden, das in den 1960er Jahren zu einem Paradigmenwechsel in der Strahlenbiologie und in der gesamten Molekularbiologie führte. Die treffertheoretischen Ideen Timoféeff-Ressovskys, auf die sich Abel bezog, entstammten einem Kenntnisstand, der in einem zentralen Punkt überholt war. Timoféeff-Ressovsky selbst betonte 1968, dass es ihm damals wie heute nicht um eine „Theorie“, sondern um die Feststellung eines „Prinzips“ ging – nämlich dem Grundsatz, dass ein Strahlentreffer in einem molekularen Bereich immer einen Schaden auslöste, ganz gleich, ob dieser biologische Folgen nach sich zog oder nicht.68 Während die Strahlengenetiker der 1930er und 1940er Jahre jedoch davon ausgegangen waren, dass Treffer in der Erbsubstanz zwangsläufig zu Mutationen führten, hatte sich mittlerweile die Erkenntnis durchgesetzt, dass der größte Teil der Strahlenschäden durch zelleigene Reparaturmechanismen korrigiert wurde. Die klassischen DosisEffekt-Kurven, die eine Zwangsläufigkeit und Irreversibilität des Mutationsvorganges suggerierten, waren also irreführend und hatten für die an der Entdeckung der DNS-Reparatur beteiligten Wissenschaftler zunächst ein erhebliches Erkenntnishindernis dargestellt.69 Die Existenz von DNS-Reparaturenzymen war in den 1950er Jahren durch die Entdeckung der „Photoreaktivierung“ bei Bakterien wahrscheinlich geworden, das heißt der Regeneration nach durch UV-Bestrahlung 64 Vgl. hierzu auch S. 273–276. 65 E. Magdon, E. Schröder, Untersuchungen zur intrazellulären Reparatur von DNSEinstrangbrüchen an Säugerzellen, Studia Biophysica 30 (1972), S. 163–164. 66 Vgl. hierzu S. 286–288. 67 Zusammenfassung des Berichts zur Vereinbarung „Mikrotest“ zwischen dem Direktor des FZMM W. Scheler und dem Direktor des ZIK H. Gummel, 1973, ABBAW Buch B 1961. 68 N.W. Timoféeff-Ressovsky, On Hit and Target Principles in Radiobiology, Studia Biophysica 15/16 (1969), S. 39–46. 69 Friedberg 1997, S. 74–75.
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ausgelösten Mutationen unter dem Einfluss von Licht. In den 1960er Jahren wurden auch an Säugetierzellen verschiedene Reparaturmechanismen nachgewiesen und damit gezeigt, dass DNS-Reparaturenzyme ein universeller Bestandteil des genetischen Apparats waren.70 Fragen der genetischen Reparatur wurden damit zentral für das Verständnis strahlenbiophysikalischer Vorgänge. Abels Gruppe räumte der Thematik von Beginn an großen Stellenwert ein und verfolgte sie in den 1970er Jahren verstärkt. Es ging dabei darum zu verstehen, inwieweit und unter welchen physiologischen Bedingungen Zellen in der Lage waren, von Strahlenschäden zu regenerieren.71 Die Strahlenmediziner aus der RRK brachten dem Thema ebenfalls großes Interesse entgegen. Das Verständnis der DNS-Reparatur schien ihnen einerseits unmittelbar relevant für die Bestrahlungspraxis zu sein. Wenn die Strahlenempfindlichkeit von Tumorgeweben von ihrem Reparaturvermögen abhing, ließ sich auch durch In-vitro-Analysen der Reparaturkapazität abschätzen, welche Tumore gegenüber einer Bestrahlung besonders resistent oder zugänglich waren. Andererseits konnte die DNS-Reparatur auch neue Perspektiven auf die Krebsentstehung eröffnen. Wenn die Reparaturenzyme somatische Mutationen verhinderten, waren sie möglicherweise der Ansatzpunkt der malignen Umwandlung von Zellen. Experimentelle Ergebnisse, die die altbekannte Wirkung kanzerogener Kohlenwasserstoffe mit der Störung von Reparaturenzymen in Verbindung brachten, deuteten in diese Richtung. War der Reparaturmechanismus negativ beeinflussbar, gab es möglicherweise auch Wege zu seiner chemischen Unterstützung, die sich positiv auf die Bestrahlungswirkung auswirkten.72 Die letztere Option entsprach dem in der RRK bereits bestehenden Interesse an Substanzen, die biologische Strahlenwirkungen beeinflussten. Unter dem Eindruck des nuklearen Wettrüstens hatte dieses Thema international große Bedeutung gewonnen; in der westdeutschen Strahlenbiologie wurde es in den 1950er Jahren zu einem Schwerpunktgebiet.73 Für die Strahlentherapie ergaben sich vor allem zwei Perspektiven – einerseits die Möglichkeit, dass bestimmte strahleninduzierte enzymatische Prozesse den Schadeffekt von Strahlentreffern erhöhten oder dass Wirkstoffe durch Absorption von Strahlenenergie deren Wirkung herabsetzten. Die Bucher Radiologen waren nach eigenen Tierversuchen auf diesem Gebiet vorsichtig optimistisch, dass man durch chemotherapeutische Zusatzmaßnahmen die Wirksamkeit von Bestrahlungen verbessern konnte.74 Ende der 1960er Jahre wurden die im Institut für Biochemie untersuchten DNS70 Ebd., S. 48–50 & 63–65. 71 ZAK Biophysik, Angebot eines Forschungsprojekts „Untersuchungen zur Analyse der physikalischen, biochemischen und biologischen Ursachen der relativen biol Wirksamkeit ionisierender Strahlen an Modellsystemen (Nukleinsäuren und SH-Verbindungen)“, März 1968, ABBAW FG 75. 72 E. Magdon, H. Gummel, Die intrazelluläre Reparatur der DNS – ein neuer Aspekt der Krebsforschung, Das Deutsche Gesundheitswesen 27 (1972), S. 385–397. 73 Schwerin 2015, S. 380–384. 74 R. Huber, E. Magdon, Zur Prophylaxe des Strahlenschadens mit SH-Verbindungen – Untersuchungen mit Cysteamin, Acta Biologica et Medica Germanica Suppl. 3 (1964), S. 334–339.
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Antimetabolite als mögliche „Strahlensensibilisatoren“ ins Auge gefasst.75 Dieser Ansatz wurde zwar fallengelassen, nicht aber die Versuche über RadioChemotherapeutika. In den 1980er Jahren brachte das ZIK Substanzen aus eigener Entwicklung bis in die klinische Prüfung. Wie viele Präparate dieser Klasse scheiterten sie jedoch an ihren toxischen Nebenwirkungen.76 Für die Biophysiker kam es darauf an, das Moment der Schadensreparatur in ihre Modelle der Trefferwirkung zu integrieren. Aus Bestrahlungsergebnissen mit verschiedenen Strahlenqualitäten wurde einerseits – wie zu Timoféeffs Zeiten – versucht, die Größe des Treffbereichs beziehungsweise des DNS-Moleküls und andererseits die Reparaturkapazität der Zelle abzuleiten.77 Wurden diese Versuche zunächst an Bakterien durchgeführt, begann die Abteilung ab 1972 auf Säugetierzellen umzusatteln.78 Sie folgte damit sowohl dem internationalen Trend der Molekularbiologie als auch der Zielsetzung auf Ergebnisse, die an Fragen der Strahlentherapie anschlussfähig waren. Dafür war es zunächst nötig, bis dahin im ZIM kaum vorhandene Techniken der Zellzüchtung zu adaptieren. Als Standardobjekt wurden Zellen des chinesischen Hamsters etabliert, die sich international bereits als geeignetes Modell für Reparaturstudien durchgesetzt hatten. Die Analyse von Strahlenschäden in Säugerzellen war technisch anspruchsvoll und bedurfter einiger Erfahrung. Speziell die Gewinnung reiner DNS-Fraktionen bereitete zunächst größere Probleme als bei den Bakterienkulturen, da einer großer Teil der Zellen durch Bestrahlung völlig zerstört wurde. Mitte der 1970er Jahre war der Bereich in der Lage, eigenständige Ergebnisse zu produzieren. Unter anderem reklamierte eine Arbeitsgruppe den ersten klaren Beweis dafür, dass Säugetierzellen in der Lage waren, DNS-Doppelstrangbrüche zu reparieren.79 Durch den Aufbau der Erfahrungen mit Hamsterzellkulturen wurde der Bereich – neben der Abteilung Zellgenetik unter Erhard Geißler – zum Zentrum der molekularen Zellbiologie in Buch. Die Nutzung der Technik blieb daher nicht auf Fragen der Strahlenwirkung und der DNS-Reparatur beschränkt. Sie wurde etwa für die Selektion von Mutationsstämmen eingesetzt, die als In-vitro-Modelle für verschiedene genetische oder zellphysiologische Probleme genutzt werden konnten.80 Die Erfahrungen mit der Isolierung und Analyse zellulärer DNS wurden für 75 E. Magdon, G. Winterfeld, Über die Wirkung von Desoxyuridin-Monophosphat auf die strahleninduzierte Mutationsrate, Archiv für Geschwulstforschung 32 (1968), S. 207–214; vgl. auch P. Langen, Arbeitsprogramm der interinstitutionellen Arbeitsgemeinschaft „Cancerostatika“, Juni 1968, ABBAW Buch A 801. 76 Autobiographie Ellinor Schröder, in: L. Pasternak 2004, S. 62–66; VEB Sächsisches Serumwerk Dresden, Protokoll der Verteidigung der Vertragsforschung mit dem ZIK, 3.1.1989, ABBAW Buch B 1921. 77 G. Kampf, G. Abel, Die Strahlenempfindlichkeit von Bacillus subtilis in Abhängigkeit von der Strahlenqualität, Studia Biophysica 41 (1973), S. 1–10. 78 (H. Abel), Jahresbericht 1972 der Gruppe Strahlenbiophysik HFR 2, 14.11.1972, ABBAW Buch A 752. 79 M. Hartwig, W. Handschack, Rejoining of double-strand breaks in the DNA of irradiated mammalian cells, Studia Biophysica 50 (1975), S. 203–211. 80 C. Pitra, I. Gram, Cellular resistance to ouabain in Chinese hamster cells in vitro: Cross resistance and cell-electrophoretic studies, Studia Biophysica 49 (1975), S. 177–186.
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die Entwicklung von Modellen der DNS-Raumstruktur in vivo eingesetzt, womit sich ein Anschluss an eines der molekularbiologischen Schwerpunktthemen des ZIM ergab.81 Die Erfahrungen mit der Reparaturthematik eröffneten eine ungeplante Verbindung zur klinischen Forschung, indem mit der seltenen Hautkrankheit Xeroderma pigmentosum ein Projekt zu einer Krankheit aufgenommen wurde, die auf Störungen des DNS-Reparatursystems beruhte.82 Der Schwerpunkt blieb jedoch die Modellierung von Strahlenwirkungen auf Körperzellen. In diesem Zusammenhang wurden gegen Ende der 1970er Jahre statt Einzelzellkulturen zunehmend sogenannte Spheroide eingesetzt, kleine Zellaggregationen, die sich aus verschiedenen Zelltypen zusammensetzten. Für diese Technik sprachen Aufwand und Fehleranfälligkeit der Einzelzell-Klonierung, die zudem bei vielen Zelllinien nicht erfolgreich war; zudem konnte hier durch Verwendung einer Faserstoffunterlage – in Buch nahm man das bekannteste aller DDR-Chemieprodukte, Dederon – das bei Einzelzellkulturen störende Anwachsen am Kulturglas vermieden werden.83 Auch weil Spheroide als Zellgemische weitaus eher den „natürlichen“ Gewebeverhältnissen entsprachen als Reinkulturen, wurden sie in den 1970er Jahren, ausgehend von den Arbeiten einer kanadischen Gruppe, vor allem bei Krebsforschern beliebt.84 Die Arbeit mit der neuen Züchtungstechnik eröffnete neue Perspektiven: Die Zellcluster wiesen eine geringere Mutationsquote auf als Einzelzellen, sie konnten Einzelstrangbrüche schneller und vollständiger reparieren. Offensichtlich verstärkte ein „Kontakteffekt“ die Regenerationsfähigkeit; zudem bewirkte eine unterschiedliche Radiosensitivität in größeren Zellkolonien, dass bei Bestrahlungen überlebende Subpopulationen ein Neuwachstum einleiten konnten.85 Während die Versuche mit Zellaggregaten den Blick auf Zell-ZellInteraktionen als mögliche Schutzmechanismen lenkten, erwies sich das Programmziel, anhand einfacherer Modelle eine theoretische Basis für die Berechnung biologischer Strahlenwirkungen zu erstellen, als sehr ambitioniert. Auf einem vom ZIM organisierten internationalen Symposium zur DNS-Reparatur resümierte Abel 1979, dass man zwar „ziemlich exakte Daten“ über DNSStrangbruchraten und ihre Beziehungen zu den linearen Energietransfers der erprobten Strahlungsarten sowie einige Erkenntnisse über das Auftreten verschiede81 M. Hartwig, Organization of mammalian chromosomal DNA: Supercoiled and folded circular DNA subunits from interphase cell nuclei, Acta Biologica et Medica Germanica 37 (1978), S. 421–432. 82 Autobiographie I. Körner in: L. Pasternak 2002, S. 125–132, S. 126; I. Körner, H. Fender, W. Malz, Repair processes in normal numan cells and in Xeroderma Pigmentosum cells, Studia Biophysica 76 (1979), S. 17–18. 83 W. Handschack, J. Kopp, C. Pitra, A simple method for cloning and replica plating of mammalian cells using multicellular spheroids, Acta Biologica et Medica Germanica 36 (1977), S. 1429–1434. 84 R. Sutherland, J. Carlsson, R. Durand, J. Yuhas, Spheroids in cancer research, Cancer Research 41 (1981), S. 2980–2984. 85 H. Abel u. a., Radiation Biological Investigations with multicellular spheroids: Survival, DNA repair and mutagenesis, Studia Biophysica 76 (1979), S. 27–28.
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ner Reparaturmechanismen erzielt habe, jedoch nicht in der Lage sei, quantitative Korrelationen zwischen diesen Beobachtungen zu formulieren. Trotz aller methodologischen Fortschritte seit den Zeiten Timoféeffs bestand weiterhin eine Lücke zwischen der physikalisch-chemischen Analyse der Absorption von Strahlenenergie und dem Verständnis der sich in biologischen Systemen manifestierenden Folgen. Einen aussichtsreichen Ansatzpunkt, diese Lücke weiter zu schließen, sah er in den im ZIM erarbeiteten Möglichkeiten, die DNS in ihrer In-vivo-Struktur innerhalb des Chromatins zu untersuchen.86 Der Plan, sich auf diese Weise weiter auf die molekularbiologischen Schwerpunkte des ZIM zuzubewegen, war jedoch aufgrund der prekären Stellung der Strahlenbiophysik im Institut bereits gefährdet. Kein neuer Anfang Die Abgabe eines wichtigen Teils der biophysikalischen und radiomedizinischen Arbeiten an eine Einrichtung außerhalb Buchs verdeutlicht, wie sehr dieses Forschungsgebiet von der Verfügbarkeit von Großtechnologien abhängig war. Nach dem gescheiterten Versuch, in Buch selbst eine geeignete multifunktionale Strahlenquelle aufzubauen, blieb für Arbeiten auf international konkurrenzfähigem Niveau nur das einzige nationale Zentrum für kerntechnische Anlagen. Mitte der 1970er Jahre begannen Planungen, die Basis der Strahlenquellen in der DDR zu verbreitern. Nach den – keineswegs eindeutig erfolgreichen – Rossendorfer Pilotversuchen zur Neutronentheapie wurde erwogen, in den 1980er Jahre drei entsprechend ausgestattete Zentren in der DDR zu errichten, das erste davon in Buch.87 Die Frage des geeigneten technischen Systems war dabei sehr strittig. Für die Therapie geeigneter erschienen DT(Deuteriumquelle/Tritiumtarget)-Generatoren, die eine Bewegungsbestrahlung erlaubten, aber als technisch unausgereift galten. Neuere Zyklotrone waren wesentlich teurer, aber multivalent nutzbar; in der Produktion kurzlebiger Isotopen erreichten sie bereits eine ähnliche Effektivität wie Reaktoren. Durch die Entwicklung neuer Konstruktionsprinzipien war auch hier noch eine erhebliche Leistungssteigerung zu erwarten, weshalb Abel empfahl, die Entscheidung einige Jahre zurückzustellen. 88 Wie bei vielen Bucher Investitionsprojekten, so auch der ersten Hochspannungsanlage, zeigte sich hier der ökonomische Imperativ, eine Großanlage auf eine möglichst vielfältige Nutzung hin zu planen – was jedoch mit dem Risiko verbunden war, dass nicht die für den primären Zweck optimale Lösung gewählt wurde.
86 H. Abel, Cell damage and DNA repair - Introductory remarks, Studia Biophysica 76 (1979), S. III–IV. 87 Andert/FZMM, Aktennotiz zu einer Problemdiskussion Beschleuniger in der AdW am 12.1.1976, ABBAW A 911. 88 H. Abel, Zum Einsatz von Beschleunigern in der DDR für die biomedizinische Strahlenforschung und -anwendung, 1975, ABBAW A 1169/1.
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Die Radiomediziner des ZIK hatten stets angestrebt, die bestmöglichen strahlentherapeutischen Techniken an das Institut zu ziehen – so war in den 1960er Jahren neben dem lange verfolgten Betatronprojekt auch der Bau eines Linearbeschleunigers in die Pläne gedrückt worden.89 In den späten 1970er Jahren machten sie sich für den Ankauf eines sowjetischen Zyklotrons stark, das von den Kliniken im Berliner Raum gemeinsam genutzt werden sollte. Abel sah diese Konzeption nicht als tragfähig an. Angesichts der fehlenden wissenschaftlich-technischen Erfahrung rechnete er damit, dass es mehrere Jahre dauern würde, bis ein Bucher Zyklotron produktiv arbeitete. Die neue Anlage war für ihn in Rossendorf besser aufgehoben, wo man die begrenzte Anzahl an Patienten in einer kleinen klinischen Station hätte unterbringen können.90 Die Direktoren der Bucher Zentralinstitute übernahmen diese Position weitgehend, vor allem aufgrund der naheliegenden Befürchtung, dass sich das Forschungszentrum als verantwortlicher Träger einer solchen Investition übernehmen würde.91 Auf ähnliche Skepsis stieß die schließlich auf Akademieebene angestoßene Variante, den therapiegeeigneten DT-Generator nicht aus dem Westen zu importieren, sondern in der DDR zu entwickeln. Der Leiter der ZIK-Radiologie rechnete damit, dass das Projekt einen ähnlichen Verlauf nehmen würde wie viele „Nachentwicklungen“ – es würde hohe Entwicklungskosten schlucken, aber auf lange Zeit kein einsatzfähiges Gerät liefern.92 Die Frage der Zyklotroninvestition war nicht die einzige, in der die Meinungen zwischen Radiologen und Biophysikern auseinandergingen. Obwohl beide Seiten von der – oberflächlich betrachtet – gelungenen transdiszipinären Zusammenarbeit profitieren konnten, verlief die Kooperation alles andere als harmonisch. 1975 sahen sich die Biophysiker durch eine Publikation der Strahlenmediziner ohne Rücksprache wichtiger Ergebnisse beraubt, was zu einem Konflikt zwischen beiden Seiten führte, dessen Heftigkeit die Direktoren des ZIK und des ZIM alarmierte.93 Die Streitigkeiten waren insbesondere für die Biophysiker problematisch, da sich abzeichnete, dass die nachdrückliche Praxisorientierung die Stellung des Bereichs im ZIM keineswegs gestärkt hatte. Abel musste 1975 feststellen, dass Jung hinter seinem Rücken an Planentwürfen zur Perspektive seines Bereichs arbeitete.94 Neben einer völligen Umbildung oder Auflösung der Strahlenbiophysik stand dabei die Lösung im Raum, die Radiologen und Biophysiker ähnlich dem neuen Institut für Wirkstoffforschung in einem eigenständigen Institut zusammenzuschließen – eine Variante, die man in der Klinik kaum akzeptiert
89 Volkswirtschaftliche Aufgabenstellung für das med.-biol. FZ Buch, n.d. (1961), ABBAW Buch A 57. 90 Abel an Jung, 13.11.1978; vgl. auch H. Abel, Zuarbeit zur MR-Vorlage „Die weitere effektive Mitarbeit der DDR im VIK Dubna“, Teil Biowissenschaften, März 1979, beide ABBAW A 1169/1. 91 Jung/Tanneberger/Faulhaber an Pasternak, 23.4.1979, ABBAW A 1169/1 92 Eichhorn an Pasternak, 8.12.1980, ABBAW B 1982. 93 Jung an Abel, 29.10.1975; Jung an Tanneberger, 12.11.1975, beide ABBAW Buch A 1169/1. 94 Abel an Jung, 2.7.1975, ABBAW Buch A 1169/1.
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hätte, aber verdeutlichte, dass Jung die Zukunft des Bereichs eher in der radiomedizinischen Orientierung sah.95 Dies zeigte sich auch in der Stellungnahme, die Jung und ZIK-Direktor Tanneberger Anfang 1976 zur Zukunft der Bucher „Strahlenbiologie“ vorlegten. Lobend erwähnt wurde vor allem, dass insbesondere die ZIK-Gruppe ihre „Probleme direkt von am Krankenbett auftretenden Fragestellungen ableitet und an diesem konsultativ wirksam wird.“ Während sich die Direktoren von diesem Ansatz überdurchschnittliche medizinische Leistungen versprachen, räumten sie einer „mit unvollkommenen Mitteln durchgeführte Grundlagenforschung“ wenig Chancen ein. Beide Gruppen sollten sich also auf die „Vorlaufforschung“ für die therapeutische Neutronenanwendung konzentrieren. Die ZIM-Biophysiker kamen in der Vorlage ansonsten als Dispositionsmasse vor, deren Personal- und Raumkapazitäten man zukünftig für wichtigere Schwerpunktaufgaben nutzen wollte.96 Entsprechend deutlich fiel die Reaktion von Abel und seinen Mitarbeitern aus, die den Direktoren radiobiologische Inkompetenz und Desinteresse vorwarfen. Die Biophysiker stießen sich an den Plänen, die immer noch funktionsfähige Generatoranlage endgültig zu demontieren, um den Raum für ein geplantes „Biotechnikum“ zur Produktion von Laborchemikalien und in der Entwicklung befindlicher Pharmaka zu nutzen. Die Anlage wurde noch immer für einige biophysikalische Versuchsreihen genutzt; außerdem hätte ein kompletter Umbau der Generatorenhalle die Möglichkeit versperrt, hier später ein Zyklotron zu installieren.97 Während sich der Verlust des Generators notfalls durch Nutzung anderer technischer Kapazitäten auffangen ließ, konnten die Biophysiker die Ausführungen zum Verhältnis zwischen ihrer Grundlagenforschung und den medizinischen Aspekten des Projekts nicht hinnehmen, wenn sie ihre Unabhängigkeit bewahren wollten. Sie betonten, dass ihre theoretisch-strahlenbiophysikalischen Arbeiten die Neutronentherapie-Versuche erst ermöglicht hatten und keineswegs bloß deren Anhängsel waren. Sie wiesen auch darauf hin, dass sich ihr Arbeitsschwerpunkt in den Bereich zell- und molekularbiologischer Techniken verschoben hatte, die nicht allein strahlenbiologisch nutzbar waren.98 Obwohl der Mangel an zellbiologischen Kapazitäten immer wieder in den Strukturdiskussionen des ZIM angemerkt wurde, fand dieses Argument merkwürdig wenig Widerhall. Als im folgenden Jahr FZMM-Direktor Scheler als Schlichter in den Konflikt eingriff, befürwortete er zwar die Weiterführung der strahlenbiophysikalischen Forschung, wies aber zugleich darauf hin, dass die Institutsbereiche keine abgeschlossenen Einheiten
95 Jung an S. Rosenthal, 2.12.1974, ABBAW Buch A 1155; zur Wirkstoffforschung vgl. Kap. III.4.2. 96 Jung/Tanneberger, Stellungnahme zur inhaltlichen und organisatorischen Entwicklung der Strahlenbiologie im FZMM, Feb. 1976, ABBAW Buch A 1169/1. 97 Jung, Aktennotiz zu Aussprache mit der Parteigruppe Strahlenbiophysik, 19.2.1976, ABBAW Buch A 1169/1. 98 Abel/Steinberg, Stellungnahme der Parteigruppe des Bereiches Strahlenbiophysik zum Entwurf der Genossen Prof. Jung und Prof. Tanneberger, Feb. 1976, ABBAW Buch A 1169/1.
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seien und ihre Aufgabenstellungen aus dem „Gesamtprofil“ des Zentralinstituts „abzuleiten“ hatten.99 Das war unter den gegebenen Bedingungen nicht eben ein positives Signal. Der Bereich war durch die Annäherung an die molekularbiologischen Themen der Nachbarabteilungen sowie das Neutronenprogramm bereits ausgesprochen kooperationsorientiert. Er hatte außerdem mit einer Beteiligung am InterkosmosProgramm eine internationale Verbindung aufgebaut, die eine strategische Absicherung versprach. Die Begleitforschung zum sowjetischen Raumfahrtprogramm bot den Biophysikern die Möglichkeit, die Frage der biologischen Wirksamkeit kosmischer Strahlung – wiederum ein bereits in den 1930er Jahren in Buch diskutiertes Thema – sowie die Auswirkungen der Schwerelosigkeit auf Zellwachstum und DNS-Reparaturmechanismen zu untersuchen.100 Der Kosmonaut Sigmund Jähn wurde auf der Saljut-6-Mission 1978 von Hamsterzellkulturen aus dem ZIM begleitet.101 Im Vorfeld der Mission waren bereits die Lymphozyten des Fliegerhelden für einen in Buch entwickelten Test genutzt worden, mit dem Reparaturaktivität der Zellen gemessen wurde. Den Luftfahrtmedizinern der NVA wurde das Verfahren als möglicher Gradmesser für physiologische Stressreaktionen angeboten.102 Die Verpflichtungen gegenüber den Interkosmos-Partnern konnten ebenso wenig die sich abzeichnende Auflösung des Bereiches verhindern wie der Anlauf, einen neuen strahlentherapeutischen Weg einzuschlagen. 1981 legte der Bereich ein Konzept für die Entwicklung der Neutroneneinfangtherapie vor, die bereits in den 1960er Jahren als mögliches Ziel erwogen wurde. Die Grundidee dieser bis heute nur ansatzweise realisierten Technik war, tumorspezifische Verbindungen mit Elementen wie Bor oder Lithium anzureichern, die nach Neutronenbeschuss eine lokal begrenzte Strahlung abgaben.103 Dieses Projekt war nicht nur hinsichtlich der biochemischen Vorarbeiten anspruchsvoll, sondern erforderte auch die Produktion thermischer Neutronen, die erst durch spezielle Umbauten am Rossendorfer Kernreaktor realisiert werden konnte. Die Leitungen des ZIK und des ZIM ließen sich nicht überzeugen, dass der mögliche therapeutische Nutzen den Aufwand rechtfertigen würde.104 Das Ende des Bereichs war damit besiegelt. Ein Teil der Strahlenbiophysik wurde 1982 in den neuen Bereich Forschungstechnik unter Abels Leitung integriert. Nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl konnte Abel, nun als Abteilungsleiter im ZIK, die Thematik der DNS-Reparatur in
99 Scheler an Abel, 30.6.1977, ABBAW Buch A 1169/1. 100 Abel/Günther, Molekularbiologie und kosmische Strahlenbiologie, verm. 1978, ABBAW Buch A 1169/1. 101 S. Jähn, Wohl an die 30 Elektroden am Körper, Spektrum 14 (1983), Nr.7, S. 26–27; Autobiographie I. Körner in: L. Pasternak 2002, S. 125–132. 102 Mündliche Information H. Abel, 25.4.2014; F. Jung an Generalleutnant Reinhard/NVA, 24.1.1979, ABBAW Buch A 1169/1. 103 NN, Projekt „Nukleare Krebstherapie“ 1981–1990, 1. Entwurf, vermtl. 1981, ABBAW Buch A 1085. 104 Zschiesche an Pasternak, 15.7.1981, ABBAW Buch A 1084.
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menschlichen Zellen wieder aufnehmen.105 Die Radiomediziner sahen nach dem Wegfall des Forschungspartners keine Veranlassung, das Neutronenprojekt aufzugeben. Die Planungen für die Aufstellung eines Neutronenbeschleunigers in Buch liefen weiter und wurden mit einer breiten Forschungskonzeption verbunden, die suggerierte, dass in Buch weiterhin ein entsprechendes fachliches Potential bestehen würde.106 Abels Reaktion auf die Planungen ließen durchblicken, dass er die im ZIK vorhandenen Kräfte nicht für annähernd ausreichend hielt, um eine moderne strahlenbiologische Forschung zu tragen.107 Die Verbindung der strahlenbiophysikalischen Forschung mit der Neutronentherapie, die das Projekt absichern sollte, hatte sich letztlich als Bumerang erwiesen. Der Arbeitsbereich war aber nicht nur dadurch in einer prekären Lage, dass seine Forschung vor allem an ihren Beiträgen zur medizinischen Praxis gemessen wurde, sondern auch darum, weil er von technologischen Bedingungen mit einen hohen Investitionsrisiko abhängig war. 4.3. MOLEKULARE BIOPHYSIK – FORSCHEN MIT UND AN APPARATEN Neben der Schwerpunktsetzung im Gebiet der Strahlenbiophysik war seit Mitte der 1960er Jahre auch der Ausbau physikochemischer Methoden für die Molekularstrukturforschung erwogen worden. Wie bereits beschrieben, wurde dieser Plan während der Akademiereform durch die Bildung eines „Physikochemischen Zentrums“ umgesetzt, das als Gerätezentrale für den gesamten Institutskomplex sowie für das MOGEVUS-Programm konzipiert war.108 Damit wurde versucht, auf dem Wege der Zentralisierung Anschluß an eine technologische Revolution zu finden, die seit den 1960er Jahren weltweit die biochemische Forschung veränderte. Nachdem in den 1930er Jahren mit Ultrazentrifuge, Elektrophorese und Röntgenstrukturanalyse Methoden aufgekommen waren, die den Weg zur Isolierung und Strukturanalyse von Makromolekülen wie Proteinen geebnet hatten, wurden in der Nachkriegszeit neue apparative Ansätze aus der Physik aufgegriffen, die weitere Gebiete der Chemie eroberten. Sie erlaubten einerseits – wie die Massenspektroskopie – eine vereinfachte Ermittlung molekularer Strukturformeln und andererseits die Analyse des Reaktionsverhaltens komplexer Moleküle. Der Aufbau dieser molekularbiophysikalischen Methoden in Buch spiegelt wider, wie schwierig es auch für ein privilegiertes Akademieinstitut war, mit der in den westlichen Forschungszentren voranschreitenden Technisierung Schritt zu halten. Er zeigt ferner, dass es bei der Nutzung der neuen Technologien nicht allein auf die Verfügbarkeit
105 Autobiographie H. Abel in: L. Pasternak 2004, S. 212–216, S. 215f. 106 Standpunkte der Akademie der Wissenschaften der DDR zur strahlenbiologischen Forschung in der DDR, April 1984, ABBAW Buch A 1087. 107 H. Abel, Stellungnahme zur Vorlage „Strahlenbiologie“ (hs.), April 1984, ABBAW Buch A 1087. 108 Siehe. S. 189–197.
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der avanciertesten Apparate ankam, sondern auch auf ein produktive Verbindung zwischen Methoden, technischen Erfahrungen und Forschungsobjekten. Das IMB verfügte bereits in den Jahren nach seiner Gründung über die Möglichkeit, sich eine in Deutschland einzigartige Stellung in der biophysikalischen Strukturforschung aufzubauen. Mit Katharina Boll-Dornberger gewann die biophysikalische Abteilung eine erstklassig qualifizierte Expertin auf dem Gebiet Röntgenkristallstrukturanalyse (RKSA). Während ihres Exils in Großbritannien hatte Dornberger mit zwei Pionieren der biochemischen Röntgenkristallographie, John D. Bernal in London und Dorothy Crowfoot Hodgkin in Oxford, zusammengearbeitet. Die britischen Kristallographengruppen hatten schon vor dem Krieg neue Perspektiven der Aufklärung von Proteinstrukturen aufgezeigt; ihre entscheidenden Beiträge zur Entdeckung der DNS-Doppelhelix machten die RKSA schließlich zur Schlüsseltechnologie der entstehenden Molekularbiologie.109 In Deutschland war die Anwendung der Methode auf Biomoleküle bis dahin kaum verfolgt worden, obwohl hier ihre physikalischen Grundlagen entwickelt worden waren – insbesondere durch Walter Friedrich, der mit seiner 1912 veröffentlichten Dissertation den Anstoß zur Methodenentwicklung gegeben hatte.110 Neben praktischen Erfahrungen mit Präparation und Messung kristallisierter Makromoleküle erforderte die Röntgenkristallographie vor allem mathematische Analysetechniken. Nicht zufällig waren die Arbeiten britischer Kristallographen zur Struktur des Hämoglobins die ersten chemischen Forschungen überhaupt, die mit Hilfe eines Großrechners durchgeführt wurden.111 Entsprechend widmete sich auch Dornbergers Gruppe zunächst überwiegend der Entwicklung von mathematischen Verfahren und Rechenapparaten.112 Die Anzahl geeigneter Untersuchungsobjekte war sehr begrenzt, da reine, kristallisierte Proteinstrukturen zu dieser Zeit keine Selbstverständlichkeit waren. Dornberger entschied sich für das bereits als kristallographisches Standardobjekt etablierte Tabakmosaikvirus (TMV), ein relativ leicht zugängliches Nukleoproteid.113 In Ermangelung experimenteller Möglichkeiten unterzog Dornberger zunächst die zum TMV vorliegenden kristallographischen Daten einer kritischen Revision. Die Virusstruktur war ein höchst wichtiges und umstrittenes Problem der frühen Molekularbiophysik. Sie galt als Schlüssel zum Verständnis der Proteinorganisation im Allgemeinen sowie zum Problem der Selbstreplikation biologischer Elementareinheiten. Während der amerikanische Chemiker Wendell Stanley das TMV als einheitliches Makromolekül beschrieben hatte, postulierten Dornbergers ehemaliger Chef Bernal sowie die Virusforschungsgruppe der Berlin-Dahlemer Kaiser-Wilhelm-Institute einen Aufbau aus identischen Untereinheiten.114 Die Modelle beider Gruppen orientierten
109 110 111 112
Kay 1993, S. 157–161; De Chadarevian 2002, S. 100–107; Olby 2013, S. 253–263. Schierhorn 1983, S. 6–22. De Chadarevian 2002, S. 125–132. Dornberger/Heide, Bericht zur Entwicklung eines Rechengerätes zur Vereinfachung von Fourier-Summationen, Februar 1949, ABBAW AKL 709. 113 Arbeitsbericht Dornberger, n. d., Ende 1949, ABBAW AKL 709. 114 Creager 2002, S. 251–258; Brandt 2004, S. 144–149; Gausemeier 2005, S. 137–144.
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sich am Bild eines geordneten kristallinen Körpers, indem sie diese Untereinheiten parallel und bausteinartig zu einen sechseckigen Stäbchen zusammenfügten. In einem 1949 in dem Annalen der Physik erschienenen Beitrag kritisierte Dornberger dieses und andere Virusmodelle als „primitiv mechanistisch“, da es suggerierte, die Teilmoleküle würden unter realen Verhältnissen linear und streng getrennt nebeneinanderliegen.115 Nach ihrer Interpretation ließen sich die vorliegenden Messdaten besser dadurch erklären, dass die Viruseinheiten jeweils eine spiralförmige Struktur aufwiesen und somit ineinandergreifen konnten. Damit stellte sie erstmals das Modell einer helikalen Anordnung von Proteinkomplexen zur Debatte, mehr als zwei Jahre, bevor Linus Pauling sein Konzept der ProteinAlpha-Helix vorstellte. Ihr Vorschlag kann dennoch nicht als vergessener „Vorläufer“ dieser bahnbrechenden Idee und des daran anschließenden DNSDoppelhelixmodells angesehen werden. Dornbergers Modell bot keine genaue theoretische Erklärung für die strukturbildenden Bindungskräfte, wie sie Pauling später vorlegte, und enthielt keine klare Aussage über das Verhältnis von Proteinen und Nukleinsäuren innerhalb der Viruseinheiten. Es unterschied sich deutlich von dem Mitte der 1950er Jahre etablierten TMV-Modell, nach dem um eine zentrale RNS-Schleife eine Helix aus Proteineinheiten angeordnet war.116 Dennoch ist es erstaunlich, das seine Grundidee so wenige Spuren hinterließ. Durch ihre Verbindungen nach England war Dornberger keineswegs international unsichtbar. Einige ihrer Beiträge für die internationale Fachzeitschrift Acta Cristallographica fanden Berücksichtigung in den britischen Diskussionen um die Deutung von Hämoglobinkristallen, ohne dass die Neuigkeit ihrer Strukturidee besonders erwähnt wurde.117 Expliziten Bezug auf Dornbergers Modell nahm nur James Watson in einem Artikel zur TMV-Struktur – allerdings nur, um auf die Unterschiede zu seinem RNS-Helix-Modell hinzuweisen.118 Dornberger hatte wie alle deutschen Forscher in der Nachkriegszeit nur sehr begrenzte Chancen, international wahrgenommen zu werden. Entscheidender war, dass ihre Arbeiten in Buch keinen Resonanzraum fanden. Die Situation hätte sich wohl kaum wesentlich geändert, wenn sie ihren Ansatz konsequent weiter verfolgt hätte. Angesichts kaum entwickelter Erfahrungen mit isolierten Proteinkomplexen konnte das Laboratorium in Buch, wie es Dornberger selbst ausdrückte, „naturgemäß nur eine beigeordnete Rolle“ spielen.119 Auch Jung, dessen Hämoglobinarbeiten am ehesten von einer Kooperation mit der RKSA hätten profitieren können, unterstützte ihren Verbleib nicht entschieden, als sich aufgrund steigender Raum115 K. Dornberger-Schiff, Zur Deutung der Röntgendiagramme gewisser Eiweißstoffe I., Annalen der Physik 5 (1949), S. 14–32, S. 24. 116 Creager 2002, S. 276–278 & S. 300–302. 117 W. L. Bragg, M. F. Perutz, The external form of the haemoglobin molecule I., Acta Crystallographica 5 (1952) S. 277–283; H. E. Huxley, J. C. Kendrew, Discontinuous lattice changes in haemoglobin crystals, Acta Crystallographica 6 (1953), S. 76–80. 118 J. D. Watson, The structure of tobacco mosaic virus I.: X-ray evidence of a helical arrangement of sub-units around the longitudinal axis, Biochimica et Biophysica Acta 13 (1954), S. 10–19. 119 Dornberger an DAW, 4.11.1951, ABBAW AKL 99.
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knappheit ihr Abschied abzeichnete. Für die übrigen Abteilungsleiter war Dornbergers Gruppe ein Fremdkörper, der dringend benötigte Laborflächen besetzte. Dornbergers Vorschlag, nur bei einer Erweiterung ihrer Gruppe weiter in Buch und mit biologischer Zielrichtung zu arbeiten, wurde daher strikt abgelehnt.120 Für sie selbst erschien es perspektivisch sinnvoller, sich zunächst einfacheren Objekten zuzuwenden und die Zusammenarbeit mit industriechemisch ausgerichteten Projekten zu suchen. 1953 siedelte die Gruppe in den physikalisch-chemischen Institutskomplex nach Adlershof um.121 Dort sollte sich Dornberger auch wieder Fragen der Proteinstruktur zuwenden, ohne aber Anschluss an die internationale Diskussion zu finden. Ihre gemeinsam mit Berliner Kollegen entwickelten Ideen zur Struktur globulärer Proteine fielen so unorthodox aus, dass Dornbergers ehemalige Chefin Dorothy Hodgkin sie zu absurd fand, um diskutiert zu werden.122 Hauseigene Technik für hauseigene Probleme Die RKSA war die präziseste Methode zur Ermittlung der Raumstruktur von Makromolekülen. Ohne sie war das IMB in der Proteinforschung international nur eingeschränkt konkurrenzfähig. Die Technik ist jedoch nur auf hochreine, kristallisierte Objekte anwendbar. In den 1950er und 1960er Jahren verbreiteten sich daneben chemische und biologische Anwendungen von Methoden, die neue Wege der Analyse nativer Molekülstrukturen eröffneten, etwa die optische Spektroskopie mittels ultraviolettem (UV) und infrarotem (IR) Licht. Chemiker und Biochemiker hatten sich diesen auf der physikalischen Forschung importierten Methoden zumeist nur zögerlich genähert, da sich ihr Gebrauch erheblich von den Praktiken chemischer Strukturanalyse mittels Synthese und Abbau unterschied und oft durch technische Probleme limitiert war. Die biochemische Anwendung wurde vor allem durch Forscher vorangetrieben, die in einem industriellen Umfeld an der Analyse von Naturstoffen arbeiteten. Für die physikalisch-technisch geprägten Gerätebauer waren diese Wissenschaftler wichtige Ansprechpartner, um die Apparate an ein neues Anwendungsfeld anzupassen und so neue Märkte zu erschließen.123 In den USA konnten auf der Grundlage einer leistungsfähigen Gerätebauindustrie optisch-spektrokopische Methoden seit den 1950er Jahren schnell an Bedeutung gewinnen; um 1960 beinhaltete bereits mehr als die Hälfte der dort publizierten chemischen Arbeiten den Gebrauch von UV- oder IR-Spektrographen.124 In der DDR gab es etwa mit Zeiss immer noch leistungsfähige Produzenten optischer Spezialgeräte, aber kaum gebrauchsfertige Anordnungen für biochemi120 Protokoll Abteilungsleiterbesprechung 21.11.1952; Protokoll Abteilungsleiterbesprechung 7.3.1953, beide ABBAW Buch A 23. 121 E. Höhne, Käte Dornberger, in: L. Pasternak 2002, S. 24–28. 122 D. Hodgkin, Rev. „Globular protein molecules: Their structure and dynamic properties“ von Segal/Dornberger/Kalaidjiev, Berlin 1960, Acta Cristallographica 17 (1964), S. 74–75. 123 Reinhardt 2006, S. 14 & 157–163. 124 Rabkin 1987, S. 33.
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sche Anwendungen. In Buch verlief die Anschaffung von Geräten, die weltweit bereits Standard waren – wie etwa eines leistungsstarken UV-Spektrometers – nur unter langen Verzögerungen.125 Teilweise versuchten die Bucher Biophysiker, die experimentellen Möglichkeiten durch Eigenentwicklungen zu erweitern, etwa im Falle eines IR-Spektrometers, der für Untersuchungen über die Sekundärstruktur der RNS gedacht war.126 Durch eine Kooperation mit Zeiss trug dieses Projekt dazu bei, dass ein serienreifes Produkt auf den DDR-Markt kam. Ansonsten waren die Geräteentwicklungen der Biophysiker jedoch kaum geeignet, die auf spektroskopischem Gebiet herrschenden Lücken zu stopfen. Ihre technischen Projekte waren auf die Forschungsschwerpunkte des Bereichs ausgerichtet, die überwiegend strahlenbiologischer Art waren. Der Mitte der 1960er Jahre verfolgte Bau eines Massenspektrometers hatte etwa nichts mit der Nachentwicklung jener Geräte zu tun, wie sie in den USA zunehmend bei der Strukturaufklärung bestimmter Klassen von Biomolekülen verwendet wurde.127 Das Modell war vielmehr darauf ausgerichtet, Ionisierungen in bestrahlten Molekülen zu messen. Die Entwicklungsarbeit war durch viele Rückschläge gekennzeichnet und führte zu einem Gerät, das die Bearbeiter selbst kaum zufriedenstellte; mit der Aufgabe des strahlenchemischen Projekts wurde es schnell bedeutungslos.128 Fehlschläge wie dieser waren nicht notwendigerweise Zeichen eines „Mangels“ an Möglichkeiten, auf käufliche Produkten zuzugreifen. Der Eigenbau von Geräten war auf dem Gebiet der Spektroskopie ein integraler Bestandteil des Forschungsprozesses. Auch die von westlichen Produzenten zu dieser Zeit angebotene Apparate entsprachen oft nicht den speziellen Bedürfnissen biochemischer Forschergruppen und konnten diese dazu verleiten, ihre Arbeit den Möglichkeiten des Geräts anzupassen, anstatt problemgerechte Ansätze zu entwickeln.129 Der Aufbau eigener technischer Entwicklungskapazitäten war auf diesem Gebiet also unabdingbar; er konnte dann besonders produktiv werden, wenn er sich längerfristig im Zusammenhang mit einem konkreten wissenschaftlichen Problem vollzog. Sehr deutlich macht dies der Fall einer Methode, die in Buch besondere lokale Bedeutung erlangte, die Elektronenspinresonanz-Spektroskopie (ESR). Die ESR ist speziell zur Untersuchung von Substanzen geeignet, die über ungepaarte Elektronen (Radikale) und damit ein magnetisches Moment verfügen. Durch die Bestrahlung mit Mikrowellen werden die Aktivitätszustände der Radikalen messbar, woraus sich gegebenenfalls Rückschlüsse über ihr molekulares Umfeld ableiten lassen. Aufgrund ihres recht spezifischen Einsatzbereiches spielte die ESR im internationalen chemischen Methodenkanon bis in die 1960er Jahre nur eine Nebenrolle.130 Trotz technischer Weiterentwicklungen galt sie noch zwei Jahrzehnte 125 126 127 128
Lange an Hellwig, 7.8.1962, ABBAW FG 76. Jahresbericht Institut für Biophysik 1962, S.75, ABBAW Buch A 10. Reinhardt 2006, S. 157–163. H. Drost, Abschlussbericht zur Forschungsarbeit „Untersuchungen der Elementarprozesse bei der biologischen Strahlenwirkung mit Hilfe der Massenspektrometrie“, 11.4.1968, ABBAW Buch A 45. 129 Rabkin 1987, S. 48. 130 Ebd., S. 33.
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später als „veraltete, etwas sonderbare Methode“.131 Buch war noch 1980 das einzige Institut in der DDR, in dem die Technik für biologisch-medizinische Fragen genutzt wurde.132 Es war gewissermaßen ein lokaler Sonderweg, dass die ESR hier eine führende Rolle im biophysikalischen Methodenkanon spielte. Der Grund hierfür lag darin, dass sich die Methode gut für die Untersuchung von Hämoproteinen eignete, die im Zentrum des Forschungsinteresses der Bucher Pharmakologen stand. Ende der 1950er Jahre begannen die Pharmakologen mit technischer Hilfe aus der Biophysik, die Methode für Fragen der katalytischen Oxydation am Hämoglobin anzuwenden. Es ging dabei zunächst um die Prüfung einer älteren Theorie, dass bei Oxydationen organischer Moleküle stets freie Radikale auftraten. Die ESR war ideal dafür geeignet, das Auftreten solcher Reaktionsprodukte direkt zu messen. 133 Das Projekt erscheint wie ein seltenes Beispiel gelungener Kooperation zwischen verschiedenen Abteilungen. Tatsächlich aber war das Verhältnis zwischen den beteiligten Gruppen äußerst gespannt. Die Kommunikation war derartig gestört, dass die Arbeitsbeziehungen 1959 vor den Abbruch standen.134 Jungs Projektleiter hatte schon zuvor dafür plädiert, die technische Seite nicht ganz den Biophysikern zu überlassen, da er deren Ausrüstung für die geplanten enzymkinetischen Arbeiten als keineswegs ausreichend ansah.135 Die Spaltung führte dazu, dass parallel zwei ESR-Gruppen mit jeweils eigener Gerätebasis entstanden. Die Pharmakologen bauten ein eigenes Spektrometer, um die Veränderungen des Blutfarbstoffs unter bestimmten Reaktionsbedingungen zu verfolgen. Die ESR lieferte Daten über die magnetischen Eigenschaften des HämoglobinEisenatoms, aus denen Rückschlüsse auf die Konformation des gesamten Moleküls gezogen werden konnten.136 Die Pharmakologen konnten mangels proteinchemischer Methoden nicht in den internationalen Wettlauf um die Auffindung neuer Hämoglobinvarianten eingreifen, verfügten mit der ESR aber über ein Werkzeug, um spezifische Informationen über die räumliche Organisation des Moleküls zu generieren. Die biophysikalische Gruppe entwickelte währenddessen einen Ansatz, der mit der strahlenbiologischen Thematik des Instituts verbunden war. Dabei wurde die ESR genutzt, um das Auftreten von Radikalen in Modellsubstanzen nach Strahleneinwirkung zu beobachten. Diese Arbeiten hatten einen 131 Drescher 2012, S. 150. 132 G. Laßmann, Auswertung einer Analyse zur gesellschaftlichen Bedeutung der EPRSpektroskopie in der DDR, 9.10.1981, ABBAW Buch A 1089. 133 B. E. Wahler, G. Schoffa, H. G. Thom, Nachweis von Radikal-Zwischenstufen bei der Hämoglobinoxydation nach Einwirkung aromatischer Hydroxylamine, Archiv für experimentelle Pathologie und Pharmakologie 236 (1959), S. 20–22. 134 Jung an Pupke, 13.2.1959, ABBAW Buch B 1976; Jung an Lange, Juni 1959, ABBAW Buch A 468. 135 Schoffa an Jung, 9.12.1958, ABBAW Buch A 468. 136 G. Schoffa, O. Ristau, F. Jung, Elektronenspinresonanz des Hämins, Die Naturwissenschaften 47 (1960), S. 227–228; O. Ristau, H. Rein, Vergleichende Untersuchungen an Häminverbindungen mit Hilfe der Elektronenspinresonanz, Acta Biologica et Medica Germanica Suppl. 2 (1963), S. 176–181.
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direkten Bezug zur Krebsthematik, da sie einer viel diskutierten Theorie folgten, nach welcher sich kanzerogene Stoffe durch bestimmte Radikalstrukturen auszeichneten.137 Die ESR-Spektrokopie war in Buch bis zum Ende der 1960er Jahre also keine universell eingesetzte Technik, sondern Bestandteil zweier unterschiedlich orientierter Projekte. Mit der Akademiereform wurde auch hier versucht, die technischen Möglichkeiten rationeller zu nutzen. Die biophysikalische Gruppe, die ein modernes amerikanisches Importgerät erhielt, wurde Teil des PCZ und weitgehend in die enzymkinetischen Arbeiten eingespannt, die von den Pharmakologen und ihren HFR-Partnern durchgeführt wurden. Die ESR ließ sich auf alle Enzymsysteme anwenden, die über ein Metallatom in ihrem aktiven Zentrum verfügten. Sie bot ferner die Möglichkeit, durch die Messung von in enzymatischen Reaktionen auftretenden freien Radikalen Aufschlüsse über den zeitlichen Ablauf dieser Reaktionen zu gewinnen. Dazu war es aber notwendig, die Messmethodik um Techniken für Aufnahmen in extrem kurzen Zeitintervallen zu erweitern.138 Ferner war die ESR prinzipiell auch für Konformationsstudien an Makromolekülen geeignet, die im Normalzustand keine Radikale enthielten. Um die Technik generell auszunutzen, waren sogenannte Spinmarker nötig, Substanzen mit ungepaarten Elektronen, die sich spezifisch an bestimmte Aminosäuren anhängen ließen. Solche Arbeiten erforderten spezielle methodologische Erfahrungen, über die man bis Ende der 1960er Jahre kaum verfügte.139 Die anspruchsvolle Herstellung hochspezifischer Spinmarker stellte ein nicht unerhebliches Problem dar. Da Importmittel ebenso begrenzt waren wie chemische Fachkräfte, waren weder der Ankauf amerikanischer Fertigware noch der Aufbau einer spezialisierten Präparationsgruppe leicht realisierbare Optionen.140 Untersuchungen an spinmarkierten Molekülen erforderten zudem neue theoretische Auswertungsmethoden, da sich aus den gemessenen Signalen nicht ohne weiteres Rückschlüsse auf konformative Änderungen des Moleküls „herauslesen“ ließen. Wie im Falle anderer biophysikalischer Messmethoden wurde hier zu Beginn der 1970er Jahre eine verbesserte Datenanalyse durch ein Computerprogramm erreicht.141 Die Produktivität einer biophysikalischen Forschungstechnologie wie der ESR hing also nicht allein vom Stand der apparativen Ausstattung ab. Sie war in ein System von biochemischen, technischen und theoretischen Praktiken eingebettet.
137 Jahresbericht Institut für Biophysik 1963, 24.1.1964, ABBAW Buch A 10; W. Damerau, G. Laßmann, Über die Rolle von Elektronendonatoreigenschaften cancerogener Verbindungen in chemischen Cancerogenese, Archiv für Geschwulstforschung 22 (1963/64), S. 200–208. 138 Jung an Hofmann/Leipzig, 17.6.1968, ABBAW Buch A 813. 139 Etzold, Übersicht über die Ausstattung und den gegenwärtigen Leistungsstand des PCZ, 5.1.1971, ABBAW Buch A 1001. 140 P. Mohr, Leistungsbericht Abt. Biokatalyse Planjahr 1973, 13.11.1973, ABBAW Buch A 751; ZIM Ber. Molekularbiophysik/ZIMeT, Expertise Dynamik von Biopolymeren, 1. Fassung, n. d. (1975), ABBAW Buch A 1156. 141 D. Schwarz, G. Laßmann, Determination of conformational parts of proteins by computer analysis of composite spin-label-ESR spectra, Studia Biophysica 39 (1973), S. 55–62.
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Der Fall der ESR zeigt auch, wie ein Untersuchungsobjekt die Integration biophysikalischer Methoden antrieb. Aus den Interessen an Struktur und Funktion des Hämoglobins ergab sich ein spezifisches Anforderungsprofil für die spektroskopische Messtechnik. In diesem Zusammenhang wurde eine weitere Technologie adaptiert, die in den 1970er Jahren das Bild der Bucher Molekularbiophysik prägte, die Circulardichroismus-(CD-)Spektroskopie. Die CD-Spektroskopie konnte Aufschlüsse über die Stereochemie optisch aktiver Stoffe liefern und war insbesondere dafür geeignet, die Sekundärstrukturen (d. h. die Anteile an a- und b-Helices sowie weiteren Raumstrukturen) von Proteinen aufzuklären. Die Technik eröffnete nicht allein den Hämoglobinforschern einen neuen Weg, die Veränderung molekularer Raumstrukturen unter verschiedenen äußeren Bedingungen zu untersuchen.142 Sie fand auch schnell den Weg in andere Institutsprojekte. Zunächst wurde sie im Bereich Membranbiologie zu Versuchen genutzt, erste Aufschlüsse über den Aufbau der seit Längerem biologisch charakterisierten membranständigen Herzglykosid-Rezeptoren zu gewinnen;143 später wurde sie auch auf die Erforschung der Ribosomenstruktur144 sowie für die in den 1970er Jahren intensiv verfolgten Versuche verwendet, neue Modelle der DNS-Faltung in vivo zu entwickeln.145 Als relativ wenig aufwändige Methode, die nur geringe Substanzmengen erforderte, wurde die CD-Spektroskopie zu einem der ersten tatsächlich universell genutzten Bestandteile des Gerätezentrums. Während die technische Basis in einem Importgerät bestand, wurde durch technische Modifikationen der Anwendungsbereich erweitert; auf diese Weise wurden die technisch verwandten Methoden der optischen (ORD) und der magnetoptischen Rotationsdispersion (MORD) erschlossen.146 Hauseigene Entwicklungsarbeiten wurden auch unternommen, das zeitliche Auflösungsvermögen der Apparate zu verbessern. In der Hämoprotein-Forschung ging es vor allem um die Frage, wie das Molekül unter dem Einfluss bestimmter Reaktionspartner seine Konformation änderte. Das Interesse an solchen sehr kurzfristigen Reaktionszuständen, die mit den Mitteln der klassischen chemischen Analyse nicht zugänglich waren, war generell ein wichtiger Antrieb für die Verbreitung physikochemischer Methoden in der Chemie und Biochemie.147 Eine Apparatur zur Messung schnell ablaufender kinetischer Vorgänge, in der die reagierenden Substanzen direkt an Messgeräte 142 K. Ruckpaul, H. Grill, F. Jung, pH-Abhängigkeit des Zirkulardichroismus des Hämoglobins von Mensch und Rind sowie des Pferdemyoglobins, Acta Biologica et Medica Germanica 24 (1970), S. 25–32. 143 R. Grosse, J. Malur, K. Repke, Zur Bestimmung der Sekundärstruktur von Proteinen in Biomembranen mit Hilfe des Circulardichroismus, Acta Biologica et Medica Germanica 27 (1971), S. K25–31. 144 M. Becker, D. Zirwer, R. Wetzel, H. Bielka, H. Theise, Circular dichroism studies on proteins and 18S-RNA of rat liver ribosomes, Acta Biologica et Medica Germanica 33 (1974), S. 555– 557. 145 D. Zirwer, G. Damaschun, M. Becker, E. Buder, R. Misselwitz, Folding crystallization of DNA. Circular dichroism studies, Acta Biologica et Medica Germanica 35 (1976), S. 1729– 1735. 146 Rein an Wangermann, 16.1.1972, ABBAW Buch A 1272. 147 Reinhard 2006, S. 181; vgl. auch Beinert 1994.
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gekoppelt wurden (stopped-flow-Verfahren), hatte die Bucher HämoproteinGruppe Ende der 1960er Jahre gebaut.148 Auch nachdem es gelang, ein wesentlich leistungsstärkeres amerikanisches Spitzenprodukt anzuschaffen, wurde weiter nach eigenen Lösungen gesucht. Die Enzymforscher hofften durch eine Kooperation mit dem ZI für Optik und Spektroskopie in die beginnende Entwicklung lasergestützter Systeme einzugreifen, die eine Vervielfachung des zeitlichen Auflösungsvermögens versprach.149 Obwohl der Qualitätsvorsprung der westlichen Gerätebauer größer wurde, blieb es für die Methodengruppen nicht nur aufgrund der Importengpässe notwendig, selbst im Apparatebau aktiv zu bleiben. Eigene elektronische und mechanische Kapazitäten boten die Möglichkeit, auf neue experimentelle Anforderungen einzugehen oder fremde Lösungen zu adaptieren. Die Kehrseite der technischen Ausrichtung war, dass gerade aufgrund der Fähigkeiten der Gerätegruppen Importe zurückgestellt wurden, da man eigene Innovationen erhoffte.150 So führte der Versuch der Akademiewerkstätten, mit Unterstützung aus Buch ein Hochleistungs-ESR-Gerät zu bauen, zu einer mehrjährigen Stagnation der apparativen Ausstattung.151 Die Methodengruppe als technisch-theoretischer Knotenpunkt Auf dem Gebiet der ESR- und CD-Spektroskopie konnte man hauseigene Erfahrungen aufbauen, da die Gerätetechnik nicht so aufwändig war, dass konkurrenzfähige Ergebnisse nur mit äußerst kostspieligen Importgeräten erzielbar waren. Die ESR war eine biochemisch wenig genutzte Technik, mit der man eine methodologische Nische besetzen konnte. Ähnliches galt für ein Verfahren, das im Rahmen der Institutsreform nach Buch gelangte und schnell eine wichtige Rolle im neuen Gerätezentrum einnahm, die Röntgenkleinwinkelstreuung (RKWS). Diese seit den 1950er Jahren vor allem durch den österreichischen Biophysiker Otto Kratky erschlossene Methode ließ sich wie die ESR- und die CDSpektroskopie zur Ermittlung von Strukturdaten an gelösten Molekülen oder Molekülkomplexen einsetzen. Für biochemische Anwendungen galt sie lange Zeit als wenig attraktiv, obwohl sie mittels Bestimmung der Elektronendichte genaue Aufschlüsse über Volumen, Größe und Struktur komplexer Biopolymere liefern konnte. Ihr Einsatz erforderte große experimentelle Erfahrung und war äußerst zeitaufwändig – die Messung eines Spektrums konnte sich über einen ganzen Tag erstrecken – und setzte durch andere Methoden (etwa Röntgenkristallographie oder Elektronenmikroskopie) generierte Zusatzinformationen über die Molekül148 F. Jung an Sellner/Geiger 19.6.1969; Ruckpaul an E. Hofmann, 7.7.1969, ABBAW Buch A 813. 149 Rahmenvertrag ZIM (Abt. Biokatalyse) – ZI Optik u. Spektroskopie, 19.12.1972, ABBAW Buch A 1272. 150 Abt. Optische Spektroskopie des ZIM, Planvorschlag für 1976–80, ABBAW Buch A 1089. 151 Näheres hierzu S. 215f.
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struktur voraus.152 Da die technische Entwicklung in den 1960er Jahren noch im Fluss war, kamen erfolgreiche Beiträge nur von wenigen Gruppen, die selbst eigene apparative und theoretische Ansätze entwickelten.153 Zu diesen gehörte auch die Arbeitsgruppe um Gregor Damaschun im Physikalischen Institut der Universität Jena. Obwohl das Team aus Jena nach seinem Umzug nach Buch mit verschiedenen technischen und räumlichen Hindernissen konfrontiert war, konnte es seine Möglichkeiten in kurzer Zeit weiter ausbauen. Hinsichtlich der mathematischen Auswertungsmethoden, die die Bestimmung von Quartärstrukturen an Biopolymeren ermöglichten, sah man sich zu Beginn der 1970er Jahre an der Weltspitze; die Entwicklung eines entsprechenden Computerprogramms galt als weltweit einmalig.154 Aufgrund der anspruchsvollen Messtechnik gehörte die Gruppe zu den ersten in Buch, die eine Steuerung ihres Gerätes durch einen Prozessrechner realisierten.155 Importbedingte Probleme hinsichtlich der Gerätebeschaffung konnte das RKWS-Labor durch eigene Entwicklungsarbeiten kompensieren; nach Einschätzung eines amerikanischen Experten bewegte sich die Ausstattung Anfang der 1980er Jahre auf internationalem Spitzenniveau.156 Die RKWS-Gruppe wurde schnell zu einem Aktivposten des biophysikalischen Methodenzentrums und zum interessanten Kooperationspartner für verschiedene Arbeitsbereiche.157 Ihre Methoden erlaubten es, für gelöste Enzympräparate präzise Strukturmodelle abzuleiten, wie sie ansonsten mit Hilfe der Röntgenkristallographie bestimmt wurden. 158 Die Aussagekraft der RKWS für solche Strukturuntersuchungen war zu dieser Zeit keineswegs unumstritten, weshalb auch vergleichende Untersuchungen über kristalline und gelöste Proteinstrukturen unternommen wurden.159 Die Methode ließ sich auch auf Fragen der Wechselwirkungen zwischen Proteinen anwenden. Arbeiten zum Reaktionsverhalten von Hämoglobin bei bestimmten Lösungsdichten galten den ZIM-
152 G. Damaschun, J. J. Müller, H. V. Pürschel, Über die Meß-Strategie bei der Untersuchung der Röntgenkleinwinkelstreuung von verdünnten monodispersen Lösungen von Makromolekülen I., Monatshefte für Chemie 99 (1968), S. 2343–2348. 153 G. Damaschun, Ein lichtstarker Monochromator zur Untersuchung der Kleinwinkelstreuung von Röntgenstrahlen, Die Naturwissenschaften 51 (1964), S. 378–379. 154 G. Etzold, Leistungsbericht 1972 des Themenkollektivs Physikochemisches Zentrum zur Teilaufgabe phys.-chem. Untersuchungen von Protein-Protein- und Protein-LigandWechsewirkungen (‚Biophysik der Eiweiße‘)“, Nov. 1972, ABBAW Buch A 752. 155 G. Etzold, Jahresabschlußbericht 1973 für die komplexe Aufgabe „Struktur und zwischenmolekulare Wechselwirkungen von Proteinen (Biophysik der Eiweiße)”, 24.11.1973, ABBAW Buch A 751. 156 Paul W. Schmidt/University of Missouri an Zschiesche, 25.9.1981, ABBAW Buch A 1085. 157 Protokoll zur Verteidigung des Leistungsberichtes des Bereichs Methoden und Technik, 6.12.1972, ABBAW Buch A 1272. 158 G. Damaschun, H. Damaschun, H. Hanson, J. J. Müller, H. V. Pürschel, Zur Quartärstruktur der Leucinaminopeptidase, Studia Biophysica 35 (1973), S. 59–60. 159 G. Damaschun, H. Damaschun, J.J. Müller, K. Ruckpaul, M. Zinke, Vergleich der Struktur von Proteinen im Kristall und in Lösung, Studia Biophysica 47 (1974), S. 27–39.
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Enzymologen als äußerst wichtiger Schritt, um die Bedeutung intermolekularer Interferenzen unter physiologischen Bedingungen zu verstehen.160 Wie keine andere der neuen Methodengruppen erweiterte die RKWSAbteilung die analytischen Möglichkeiten bereits laufender Forschungsprojekte. Damaschun brachte seine Technik in die Arbeiten über tierische Ribosomen ein. Sie halfen das bereits erstellte Strukturmodell zu verfeinern und um neue Erkenntnisse über ihre Funktion in vivo zu erweitern. Er selbst baute die Befunde zu einem Modell des Mechanismus der Ablesung von Messenger-RNS aus, das er – ganz im Trend betont lässiger westlicher Wissenschaftskommunikation – „Rackand-Roll-Modell“ taufte.161 Ähnlich ambitioniert war sein Beitrag zu den Strukturuntersuchungen an Chromatinpräparaten, die im ZIM für die Ableitung neuer Vorstellungen über die Organisation der Erbmasse unter natürlichen Bedingungen genutzt wurden.162 Damaschuns Modell der dreidimensionalen Faltung der DNS im Chromatingerüst war, ebenso wie das Ribosomenmodell, einerseits ein Nachweis der universellen Leistungsfähigkeit seiner Methode, die international noch immer skeptisch beäugt wurde.163 Andererseits verdeutlichte es, dass seine Gruppe auch zu einer Schnittstelle der Theoriebildung geworden war. Während der Umbildung der Bucher Molekularbiologie war etwa von Lohs betont worden, dass die Rolle der Biophysik nicht darauf beschränkt sein dürfe, den Biologen und Chemikern apparative Hilfestellung zu leisten, sondern vor allem darin bestehen müsse, theoretische Denkansätze in die biologische Forschung zu tragen. Die Anwendung anspruchsvoller Messtechniken wie der RKWS, deren Ergebnisse nur durch computergestützte mathematische Verfahren verständlich wurden, führte die oft geäußerten Befürchtungen einer „Knechtsrolle“ der Physik164 ad absurdum. Sie war Teil der beginnenden Entwicklung der Biologie zu einer Datenwissenschaft, in der der Weg zu Strukturmodellen nur über physikalisch-theoretisches Spezialwissen führte. Während Methodengruppen wie ESR und RKWS, die sich ihre Fertigkeiten und teilweise auch die ihre Ausrüstung über Jahre aufgebaut hatten, die ihnen zugedachte Funktion als Impulsgeber ausfüllen konnten, erwies sich die Adaption völlig neuartiger Forschungstechnologien als problematischer. Die geringen methodologischen Erfahrungen und teilweise auch die unklaren Erwartungen von 160 G. Damaschun, H. Damaschun, J.J. Müller, H.V. Pürschel, K. Ruckpaul, Zwischenmolekulare Wechselwirkungen in konzentrierten Hämoglobinlösungen, Studia Biophysica 33 (1972), S. 223–228; P. Mohr, Leistungsbericht Abt. Biokatalyse für das Planjahr 1973, 13.11.1973, ABBAW Buch A 751. 161 G. Damaschun, J. J. Müller, H. Bielka, M. Böttger, Studies on the structure of animal ribosomes V., Acta Biologica et Medica Germanica 33 (1974), S. 817-823; G. Damaschun, Rack and Roll mechanism of the ribosome in protein synthesis, Acta Biologica et Medica Germanica 33 (1974), S. K55–56. 162 G. Damaschun, Die Faltung der DNS im Chromatin, Acta Biologica et Medica Germanica 34 (1975), S. K47–56, S. 55. 163 R. Lindigkeit, Beantwortung der 4 Fragen zu den Ergebnissen des FEBS-Kongresses für das Chromatin-Projekt, 3.10.1978, ABBAW Buch A 1154. 164 Vgl. hierzu die Debatte zwischen G. Damaschun und F. Jung in: Biologie und Physik heute, Spektrum 14 (1983), Nr. 6, S. 10–13, S. 13.
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Nutzern führten dazu, dass die neu gebildeten Gerätegruppen im Forschungszentrum keine so aktive Rolle spielten wie die bereits etablierten. Das weitaus teuerste Importgerät der Zentrums, das hochauflösende Massenspektrometer, war hinsichtlich seiner Laufzeiten und seiner Beanspruchung durch auswärtige Nutzung ausgesprochen produktiv.165 Die sehr hohe Effektivität für die Strukturanalyse von Naturstoffen, speziell solcher Stoffklassen, für die bereits zahlreiche Strukturdaten vorlagen, kam auch der Arbeit einiger Gruppen des ZIM zugute – dies allerdings nach einiger Anlaufzeit, die den geringen praktischen Erfahrungen mit der Methode geschuldet war. Für den Bereich Membranbiologie, der beständig neue Herzglykosid-Derivate synthetisierte, erlaubte die Massenspektrometrie eine zuverlässige Nachprüfung der Molekülstrukturen.166 Während diese Anwendungen reine Routine darstellten, kam es auch zu genuinen Forschungsarbeiten, das heißt Untersuchungen zu Stoffklassen, für die bis dahin noch keine Erfahrungswerte mit der Massenspektrometrie vorlagen.167 Diese Ansätze gingen aber vor allem auf die Initiative auswärtiger Forscher zurück, etwa aus dem Hallenser Akademieinstitut für die Biochemie der Pflanzen.168 Für die Projekte, die für das ZIM prägend waren – also etwa jene zur Ribosomen-, Hämoprotein- und Chromatinstruktur – hatte das Gerät keine Bedeutung. Es war also, durchaus im Sinne der Konzeption des Methodenzentrums, in erster Linie eine Serviceeinheit. Wenig integriert in die Institutsarbeit war auch die Röntgenkristallographie, die 1976 durch die Delegation von Mitarbeitern Katharina Dornbergers wieder ihren Weg zurück nach Buch fand. Auch die RKSA-Einheit führte zunächst überwiegend Aufträge für auswärtige Institute durch. Das große Potential der Methode für die Proteinstrukturforschung blieb zum Ärger der Bucher Molekularbiologen lange ungenutzt.169 Etwas anders gestaltete sich die Problemlage im Fall jener Technik, die für die Entwicklung der Molekularstrukturforschung in den 1970er Jahre die wohl wichtigste Rolle spielte, die Kernresonanz-(NMR-)Spektrographie. Die NMR erlaubt für Isotopen mit einem magnetischen Moment, etwa 1H, 13C und 15N, die präzise Positionsbestimmung innerhalb eines intakten Moleküls. Da die Isotopen jeweils abhängig von ihrer atomaren Umgebung unterschiedliche Spinresonanzwerte produzieren, lassen sich etwa aus NMR-Spektren für Wasserstoffatome 165 Tskr. „MdZ Buch“, Aug. 1973, ABBAW Buch A 728. 166 P. Franke, C. Lindig, K. Repke, Synthese von Ring D-anellierten CID-cis-Steroidlactonen, Journal für praktische Chemie 317 (1975), S. 86–98; B. Streckenbach, P. Franke, R. Hintsche, H. J. Portius, K. Repke, Partialsynthesen von Cardenoliden und Cardenolid-Analogen. VIII. Lactonring-alkylierte Cardenolide, Journal für praktische Chemie 325 (1983), S. 599– 606. 167 R. Kraft u. a., Anwendung der Massenspektroskopie zur Identifizierung isomerer AminoOxadiazole, Organic Mass Spectroscopy 11 (1976), S. 304–308. 168 D. Voigt, G. Adam, J. Schmidt, P. Franke, Mass spectroscopy of natural products II.: Allogibberic acid, Organic Mass Spectroscopy 13 (1978), S. 599–603. 169 S. Rosenthal u. a., Anlage 1 zu „Beitrag zur Führungskonzeption des ZIM für die wiss. Aufgabenstellung ‚Regulation der Genexpression bei Eukaryonten’“, 28.1.1978, ABBAW Buch A 1154.
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komplette Strukturformeln ableiten. Die Methode eignet sich aber auch für kinetische Untersuchungen, das heißt für Messungen zu reaktionsbedingten Strukturveränderungen. Aufgrund der sehr komplexen Technik waren Eigenentwicklungen von Nutzern (anders als etwa bei der ESR) kaum erfolgversprechend. Um 1970 beherrschten wenige westliche Produzenten mit sehr kostspieligen Apparaten die Szenerie.170 Das Bucher Methodenzentrum musste jedoch auf diese Spitzengeräte verzichten, da die Akademiewerkstätten Mitte der 1960er Jahre ein eigenes Modell auf den Markt gebracht hatten. In den Importplänen des Physikochemischen Zentrums stand das Hochleistungsgerät des westdeutschen Marktführers weiterhin ganz oben; trotz der relativ starken Stellung des FZMM gelang es jedoch nie, die Investition in den akademieinternen Verteilungskämpfen durchzusetzen.171 Mit dem unzulänglichen DDR-Produkt konnten die zu dieser Zeit bereits erreichbaren Anwendungsmöglichkeiten der NMR-Technik nicht annähernd erreicht werden. Die komplette Strukturbestimmung von einfacheren Molekülgruppen wie Steroiden oder die Analyse von Sekundärstrukturen komplexer Peptide, wie sie in westlichen Instituten bereits üblich waren, setzte neue Applikationen – insbesondere die Erkennung von Kohlenstoffisotopen – voraus, über die nur Importgeräte verfügten.172 Die NMR-Technik blieb dennoch nicht völlig bedeutungslos. Messungen mit dem eigenen Gerät wurden zumeist durch die Mitnutzung westlicher Apparate flankiert, die in den Adlerhofer Akademieinstituten oder im sowjetischen Biophysik-Zentrum Puschtschino zur Verfügungen standen. Der Leiter der NMR-Gruppe erfüllte 1971 gar einen Teil seiner Planaufgaben, indem er auf der Leipziger Messe mit dem Spitzengerät der Firma Bruker experimentierte.173 Durch diese Strategie gelang es etwa, die NMR für die bis dahin mit der ESR untersuchten Fragen der Komplexbildung im Hämoglobin nutzbar zu machen.174 Auch auf dem Gebiet der Strukturuntersuchung einfacherer Wirkstoffe gewann die NMR nach und nach einige Bedeutung. Eines ihrer ersten Einsatzgebiete waren die von der biochemischen Arbeitsgruppe Langens als potentielle Cancerostatika synthetisierten Nukleoside.175 Gegen Ende der 1970er Jahre wurde 170 Zur NMR-Entwicklung allgemein Reinhard 2006, S. 175–178. 171 Laßmann, Protokoll einer Beratung über Einsatzmöglichkeiten der hochauflösenden magnetischen Kernresonanzspektroskopie (h-NMR), 25.11.1973, ABBAW Buch A 1156; Festlegungsprotokoll Dienstbesprechung des Direktors mit Bereichsdirektoren des ZIM 6.11.1974, ABBAW Buch A 728/1. 172 R. Hintsche, Studie zum Beitrag der hochauflösenden magnetischen Kernresonanzspektroskopie bei der Lösung molekularbiologischer Probleme, 1973, ABBAW Buch A 1156. 173 Aktennotiz Etzold/Lassmann/Hintsche, 25.3.1971; Stellungnahme Hintsche, 25.3.1971, beide ABBAW Buch A 720. 174 W. Schössler, R. Hintsche, K. Pommerening, P.Mohr, 1H-NMR-spektroskopische Charakterisierung von Hämin-Komplexen in wässrigem Milieu, Studia Biophysica 39 (1973), S. 25– 31. 175 G. Etzoldt, R. Hintsche, G. Kowollik, P. Langen, Nucleosides of fluoro sugars, 6: Synthesis and reactivity of 3'-fluoro-3'-desoxythymidine and 3'-chloro-3'-desoxythymidine, Tetrahedron 27 (1971), S. 2463–2472; R. Hintsche, D. Bärwolff, D. R. Petzold, G. Etzold, P. Langen, Charakterisierung der tautomeren Struktur des 6-Amino-Thymins durch NMR- und UVSpektroskopie, Studia Biophysica 44 (1974), S. 7–16.
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die Technik auch für die Überprüfung neu synthetisierter Herzglykoside eingesetzt.176 Sie konnte auch erstmals für komplexere molekularbiologische Fragestellungen der DNS- und Chromatinstruktur nutzbar gemacht werden.177 Insgesamt aber blieb die Bedeutung der NMR weit hinter ihrem eigentlichen Potential zurück. Ihre begrenzte Bedeutung innerhalb der Bucher Molekularbiophysik äußerte sich darin, dass sie mit der ESR in einer Abteilung zusammengefasst war. Je länger die Bemühungen um eine technische Aufrüstung der NMRGruppe fehlschlugen, desto schärfer wurden die Konflikte mit der von ESRLeuten dominierten Abteilungsleitung. Der frustrierte NMR-Gruppenleiter führte die eigene Stagnation 1979 schließlich auf dunkle Machenschaften von Kollegen zurück, die angeblich auf die Auflösung seines Labors hinwirkten.178 Starke Spannungen existierten jedoch nicht nur zwischen den Gerätegruppen, sondern jeweils auch innerhalb des NMR- und des ESR-Arbeitskreises.179 Die Konflikte ergaben sich sowohl aus der Konkurrenz um die begrenzten technischen Ressourcen als auch aus Fragen der wissenschaftlichen Autonomie. Verschärft wurden diese durch die Vorgabe, dass die Gerätegruppen einen Teil ihrer Arbeit als Dienstleistungen für andere Gruppen zu erbringen hatten. Es ist bezeichnend, dass die NMR-Spezialisten als Konsequenz der bereichsinternen Konflikte forderten, an die Hämoprotein-Arbeitsgruppe angeschlossen zu werden, für die sie ohnehin den Großteil ihrer Messungen durchführten.180 Für die Forscher erschien es produktiver und berechenbarer, fest in ein Projekt eingebunden zu sein, in welchem sie ihr Potential weiterentwickeln konnten, denn als bloße Apparatefachleute auf wechselnde externe Anforderungen reagieren zu müssen. Rückstand durch Technik? Der Fall der NMR verdeutlicht, wie schwierig es angesichts technologischer Rückstände und Importbeschränkungen war, in der DDR auf hochtechnisierten Gebieten internationales Niveau zu erreichen. Es war aber keineswegs unmöglich, eigene Maßstäbe zu setzen, inbesondere in der Anwendung von Methoden wie der ESR und der RKWS, die außerhalb des westlichen Mainstreams lagen. Wissenschaftliche Produktivität war also nicht allein eine Frage der Leistungsparameter oder der Nutzungsbreite einer Technologie. Sie hing vielmehr von der Eignung für ein bestimmtes Forschungsproblem und den Erfahrungen der mit ihr arbeitenden Wissenschaftler ab. Für die Bucher Molekularbiophysik wurden nicht die 176 C. Lindig, K. Repke, Partialsynthesen von Cardenoliden und Cardenolid-Analogen. I. α,βund β,γ-ungesättigte Lactonring-methylierte Cardenolide, Journal für praktische Chemie 322 (1980), S. 991–1002. 177 D.R. Petzold, A. Weihe, R. Lindigkeit, Studies on isolated cell nuclei and related systems by 31P-NMR, Studia Biophysica 79 (1980), S. 19–20. 178 Hintsche an Scheler, 9.9.1979, ABBAW Buch A 1089. 179 Protokoll der Kollektivberatung in der Abteilung HF-Spektroskopie 14.12.1979, ABBAW Buch A 1089. 180 Hintsche/Petzold/Heinrich an Zschiesche, 17.12.1979, ABBAW Buch A 1089.
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teuersten Importgeräte prägend, sondern jene Methoden, die sich längerfristig in Projektzusammenhängen entwickelt hatten. Das Konzept der Bildung eines gerätetechnischen „Zentrums“ war darum nicht nutzlos. Ohne die gezielte Konzentration der Kräfte wäre es kaum zu der Aufrüstung und Verknüpfung der bestehenden Potentiale gekommen, die für die Aufwertung des Arbeitsgebiets notwendig war. Auch der in den Konzeptionen für das Physikochemische Zentrum stets betonte Ansatz, durch die „komplexe Anwendung“ verschiedener Methoden könne das Fehlen einzelner Spitzentechnologien wettgemacht werden, blieb keine bloße Wunschvorstellung.181 Insbesondere am Modellobjekt Hämoglobin wurde gezielt die kombinierte Anwendung von ESR, CD-Spektroskopie, RKWS und anderen Methoden erprobt.182 Dies ermöglichte nicht nur einen Vergleich von Messergebnissen, sondern auch eine wechselseitige Kalibrierung der Instrumente. Ein so vielfältiges Arsenal an Techniken war zu dieser Zeit, aufgrund der hohen Kosten für erstklassige Instrumente, auch für westliche Institute nicht immer realisierbar.183 Gegen Ende der 1970er Jahre existierte in Buch ein molekularbiophysikalisches Potential, das einen deutlichen Unterschied zu der Situation markierte, die zehn Jahre zuvor geherrscht hatte. Den beteiligten Wissenschaftlern war freilich klar, dass die technischen Möglichkeiten nur gemessen an der Situation der Biophysik und Molekularbiologie in der DDR außergewöhnlich waren. 1981 vermerkten Biophysiker des FZMM in einer Lagebeurteilung, dass der Entwicklungsstand der Biophysik in der DDR insgesamt immer noch niedriger war, „als man es von einem Land unseres Leistungsvermögens erwarten sollte.“184 Die Stellung der Disziplin an den Hochschulen erschien ihnen marginal, die Auswahl an biophysikalisch ausgebildeten Fachkräften unzureichend und die Forschungsplanung als zu wenig interdisziplinär orientiert. Die Gründe hierfür ließen sich nach Ansicht der Experten teilweise bis in die Nachkriegszeit zurückverfolgen, als die Biophysik in westlichen Ländern in ihre entscheidende Entwicklungsphase eintrat, während in Deutschland „ursprünglich anregende und fortschrittliche Fragestellungen“ wie die Strahlenbiophysik „zu sehr dominierten und neue Zweige hemmten.“ Dies war ein ebenso deutlicher Rekurs auf die Bucher Institutsgeschichte wie der Hinweis, dass „die bis in die 60er Jahre hinein herrschende institutsorientierte Vergabe von Forschungsthemen einen gewissen Konservatismus“ begünstigt habe. Erschien unter diesem Gesichtspunkt der planerische Eingriff in die Forschungsstrukturen als notwendiger Fortschritt, sorgte deren Kehr181 Konzeption für das Methodisch-diagnostische Zentrum in Berlin-Buch,13.5.1971, ABBAW Buch A 1096. 182 P. Mohr u. a., Untersuchungen zur Natur der Ligand-Rezeptor-Beziehungen in Methämoglobin-Komplexen mit Imidazolen, 1,2,4,-Triazol und Pyridinen, Acta Biologica et Medica Germanica 28 (1972), S. 221–235; K. Ruckpaul u. a., Interaction of haemoglobin with ions. The effect of heparin on the oxygen affinity of adult human haemoglobin, Studia Biophysica 34 (1972), S. 81–96. 183 Rabkin 1987, S. 48. 184 J. Reich u. a., Entwicklungskonzeption der molekularen und zellulären Biophysik der DDR, Aug. 1981, ABBAW Buch A 1096.
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seite, die ständige Einbeziehung unikaler Gerätegruppen in übergeordnete Planaufgaben, immer wieder für Frustrationen. Zusätzlich führten materielle Einschränkungen und galoppierende Überalterung der Geräte dazu, dass während der 1980er Jahre in der molekularen Biophysik der Unmut über mangelnde Entwicklungsmöglichkeiten wuchs.185 Verglichen anderen Arbeitsfeldern stand das Fach jedoch innerhalb des Forschungszentrums jedoch gut da; jedenfalls sahen lokale Experten die Situation bei den für die molekulargenetische Forschung notwendigen Synthesemöglichkeiten und Analysemethoden, speziell der Sequenziertechniken, als wesentlich weiter vom Weltstand entfernt an in der biophysikalischen Strukturforschung.186 Auch dank geeigneter makromolekularer Modellobjekte verfügte das ZIM hier über ein ausgeprägtes und international sichtbares Profil. Genau wie auf allen Gebieten der Biowissenschaften wurde es hier jedoch in den 1980er Jahren durch die Beschleunigung der technologischen Entwicklung immer schwieriger, den Anschluss an das internationale Spitzenniveau zu halten. 3.4. ISOTOPENFORSCHUNG UND -PRODUKTION – VOM NATIONALEN ENTWICKLUNGSZENTRUM ZUM SPEZIALUNTERNEHMEN Obwohl die ostdeutsche Forschung nach dem Krieg weitgehend von der internationalen Entwicklung abgeschnitten war, musste allen Wissenschaftsorganisatoren klar sein, dass in naher Zukunft kaum ein Zweig von Forschung und Technik ohne die Anwendung künstlich radioaktiver Elemente auskommen würde. In den USA wurde nach Kriegsende eine breite Masse an Kliniken, Forschungsinstituten und Industriebetrieben ins nukleare Zeitalter katapultiert, nachdem die Produktionsmaschinerie des Atomwaffenprogramms auf zivile Nutzungen umsteuerte. Hatte es in der Medizin der Vorkriegszeit zaghafte Versuche mit der krebstherapeutischen Anwendung von Radiophosphor oder Radiojod gegeben, die sehr uneffektiv durch Zyklotrons produziert wurden, waren solche Elemente nun allein durch die Freigabe des Reaktors Oak Ridge massenhaft verfügbar. Bereits 1951 belieferte die Atomic Energy Commission in den USA regelmäßig 800 Institutionen und Firmen mit Radioisotopen.187 Westdeutsche Wissenschaftler blieben trotz des alliierten Verbots kerntechnischer Produktions- und Forschungseinrichtungen nicht lange Zuschauer der rapide verlaufenden internationalen Entwicklung. Ab 1949 verteilte die Medizinische Forschungsanstalt der MPG in Göttingen aus den USA und vor allem aus Großbritannien importierte Radioisotopen. Drei Jahre später belieferte das Institut 101 Kunden, mehr als die Hälfte davon Krankenhäuser. Schnell entwickelte sich auch eine damit verbundene Infrastruktur aus Spezialfirmen und Speziallaboratorien.188 185 Pasternak an Damaschun, 31.8.1984, ABBAW Buch A 1089. 186 F. Jung u. a., Konzeption zur Entwicklung der Biochemie als Wissenschaftsdiszipln im Rahmen der AdW, 8.1.1980, ABBAW Buch A 1032. 187 Creager 2013, S. 180–216; Schwerin 2015, S. 316. 188 Schwerin 2015, S. 315–321.
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Die DDR fand an diese Entwicklung erst ein halbes Jahrzehnt später Anschluss, als radioaktive Produkte aus der Sowjetunion zugänglich wurden. In diesem Zusammenhang wurde 1955 der Aufbau der Abteilung für angewandte Isotopenforschung im IMB vom Ministerrat zu einem der erstrangigen Vorhaben der DAW erklärt und ein Expertengremium gebildet, das die biologische und medizinische Anwendung von Radioisotopen in der DDR vorbereitete.189 Die Verteilung der zugänglichen radioaktiven Elemente und markierten Verbindungen verlief über das Amt für Kerntechnik und Kernforschung (AKK). Auch nachdem die Bucher Isotopenabteilung Verarbeitung und Versendung des radioaktiven Materials übernommen hatte, mussten alle Transaktionen durch das Amt genehmigt werden. Zusammen mit der Unzuverlässigkeit der Lieferungen aus der UdSSR führte der bürokratische Weg über das AKK zu Verzögerungen, die die Geduld der interessierten Forscher oft auf eine harte Probe stellten.190 Es ist offensichtlich, dass die Pläne für den Aufbau einer Isotopenproduktion und -forschung in Buch direkt durch die Pionierarbeiten der Genetischen Abteilung des KWIH beeinflusst waren. Die Berufung des ehemaligen KWIHRadiochemikers Hans-Joachim Born zum Leiter der 1955 gebildeten Isotopenabteilung war ein deutlicher Ausdruck dieser Kontinuität. Dennoch ist erstaunlich, dass die Planungen auch hinsichtlich der multifunktionalen Nutzung (zugleich Isotopenproduktion, Krebstherapie und strahlenbiologische Forschung) und der Technik der Anlage an die früheren Erfahrungen anknüpften. Friedrichs Planungen für den 1,6-MV-Kaskadenbeschleuniger stammten, wie schon ausgeführt, noch aus der Vorkriegszeit.191 In den USA war die Isotopentechnik von Beginn an mit dem Einsatz leistungsfähiger Zyklotrons verbunden gewesen, deren Produktivität mittlerweile durch die Reaktoren der Atomenergiebehörde weit übertroffen wurde.192 Die Produktion am Standort Buch wurde in der Planungsphase mit dem Bedarf der medizinischen Forschung und Therapie begründet, für die teilweise sehr kurzlebige Isotope erforderlich waren.193 Allerdings hatten nur sehr wenige der damals klinisch relevanten Elemente – etwa das Radiogold – eine Halbwertzeit, die eine Produktion am Ort verlangte, während das viel genutzte Jod 131 und Phosphor 32 durchaus über längere Strecken transportfähig waren. Die Produktionspläne scheiterten am jahrenlangen Aufschub des Betriebsbeginns, hätten sich aber vermutlich ohnehin als undurchführbar erwiesen. Die Einschätzung von Friedrichs Mitarbeitern, dass sich mit der Anlage 35 überwiegend sehr kurzlebige Isotopen herstellen ließen, erscheint gemessen an den späteren Erfahrungen geradezu grotesk optimistisch.194 Für eine rentable Isotopenproduktion war die Anlage 189 Vgl. diese Arbeit S. 123f. 190 Born an AKK, 12.7.1956; Wollenberger an Winde, 13.2.1956; Matthes an AKK, 16.4.1956, alle BAB DF 1/543. 191 Vgl. diese Arbeit S. 130–132. 192 Creager 2013, S. 21–22. 193 ZFT, Bericht über die Abteilung für Strahlenforschung des IMB, 27.3.1952, BAB DF 4/40580. 194 H. Kölle, Über die Darstellung radioaktiver Isotope (Vortrag IMB-Kolloquium 1.4.1953), Das Deutsche Gesundheitswesen 8 (1953), S. 1099.
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ebenso wenig geeignet wie für den therapeutischen Einsatz. 1960 gelangen nach längeren Vorversuchen erstmals gute Ausbeuten bei viel genutzten Isotopen wie Jod 129, Natrium 24 und Phosphor 32; eine praktische Bedeutung hatte dies nicht mehr.195 Die Grundstoffe der Bucher Produktion kamen zu diesem Zeitpunkt bereits überwiegend aus dem 1958 angelaufenen Forschungsreaktor des Akademieinstituts für Kernforschung in Rossendorf. Auch in der Zentrale der DDRKernforschung waren die Produktionsbedingungen durch vielfältige – vor allem strahlenschutztechnische – Probleme eingeschränkt, weshalb die Produktpalette vor allem auf kurzlebige Isotopen konzentriert wurde.196 Der Rossendorfer Reaktor konnte aber schließlich einen großen Teil des Inlandsbedarfs decken. Buch übernahm die Verarbeitung und den Versand der Quellen. Zu Beginn der 1960er Jahre wurde nicht weiter erwogen, in Buch eigene Produktionskapaziäten für radioaktive Elemente aufzubauen.197 Bevor die Isotopenabteilung tatsächlich zu einem Produktionszentrum werden konnte, bestand ihre Aufgabe hauptsächlich in der Schaffung von Voraussetzungen für die Anwendung ihrer Produkte. In der DDR gab es nur einen sehr kleinen Kreis an Medizinern und Biologen, die mit der Handhabung von Radioisotopen auch nur rudimentäre Erfahrungen hatten. Als Forum des Austausches zwischen den Interessenten wurde 1956 eine „Arbeitsgruppe Anwendung radioaktiver Isotope in der Biologie“ innerhalb des ZAK Radiologie gebildet, der neben dem IMB-Abteilungsleiter Hans-Joachim Born unter anderem auch Jung, Wollenberger und der HU-Biochemiker Samuel M. Rapoport angehörten. Rapoport und Wollenberger waren durch ihre Arbeiten in der amerikanischen Emigration wohl die einzigen Mitglieder der Gruppe, die praktisch mit dem Stand radioaktiver Tracer-Techniken vertraut waren. Die AG sah ihre Aufgabe unter anderem darin, Umfragen zum Bedarf an Isotopenarbeiten durchzuführen sowie Neulinge bei der Anwendung zu beraten und zu kontrollieren.198 Sie vermittelte auch die Verteilung der Strahlungszählgeräte, die im IMB produziert wurden. Durch die Bildung des Gremiums war die Isotopenabteilung von Beginn an mit den potentiellen Nutzern ihrer Produkte verbunden; sie konnte Nutzerinteressen sowohl aufnehmen als auch beeinflussen. Große Bedeutung hatte in diesem Zusammenhang, das sie auch als Ausbildungszentrum für Isotopentechnik fungierte. Es war eine wesentliche Voraussetzung für die Verbreitung und Kontrolle der risikobehafteten Methodik, einen Stamm von Fachkräften aufzubauen, der über ausreichendes Wissen über den Umgang mit Radioisotopen und Zählertechniken verfügte. Auch in den Vorreiternationen übten die zentralen Produktionsstätten auf diese Weise zugleich eine Ausbildungs- und Kontrollfunktion aus. Das US-Kernforschungszentrum Oak 195 Jahrbuch der DAW 1960, S. 657. 196 R. Münze, Zehn Jahre Produktion radioaktiver Nuklide in der DDR, Isotopenpraxis 4 (1968), S. 413–416. 197 Isotopenkommission des Wissenschaftlichen Rates für die friedliche Anwendung der Atomenergie, Protokoll und Vorlage zur Sitzung am 12.9.1962, BAB DQ 1/1917, Bl. 315–338. 198 Protokoll zur Sitzung der AG „Anwendung radioaktiver Isotope in der Biologie“ 24.2.1956, BAB DQ 1/6639.
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Ridge begann Mitte 1948 mit der Durchführung solcher Kurse, die während der ersten zwei Jahre von 600 Teilnehmern durchlaufen wurden; das britische Forschungszentrum Harwell, das zum Anlaufpunkt für Wissenschaftler aus ganz Westeuropa wurde, begann damit 1951.199 In Buch wurden ab Anfang 1956 Praktika angeboten, die zunächst überwiegend von IMB-Forschern, bald aber auch durch Mitarbeiter von Kliniken und Industriebetrieben frequentiert wurden.200 Aufgrund des Mangels an geeigneten Ausbildungsstätten konnte sich die Isotopenabteilung zunächst nicht auf Interessenten aus dem medizinisch-biologischen Bereich beschränken. Der Teilnehmerkreis des vierwöchigen Kurses war durch den Mangel an technischen Mitteln sowie die beengte Raumsituation beschränkt.201 In den ersten zehn Jahren durchliefen 950 Wissenschaftler das Bucher Isotopenpraktikum.202 Für die Bucher Isotopenforscher war die Ausbildungstätigkeit mehr als eine routinemäßige Belastung, sondern wesentlicher Bestandteil ihrer Funktion als nationales Entwicklungs- und Beratungszentrum. Durch die Kurse knüpfte das Institut direkte Kontakte zu allen Anwendern, erhielt einen Überblick über laufende Arbeiten und eventuell auch Informationen über methodologische Probleme.203 Forschungsinstitut oder Forschungsmittelvertrieb? Hauptaufgabe der Isotopenabteilung war die Weiterverarbeitung und Verteilung offener und geschlossener Strahlenquellen. Damit übernahm sie ökonomischtechnische Aufgaben, die über den Tätigkeitsbereich eines Forschungsinstitutes hinausgingen. Bald nach dem Einsetzen der praktischen Arbeit wurde klar, dass diese Arbeiten organisatorisch und räumlich vom Forschungsbetrieb getrennt werden mussten. Da der Vertrieb radioaktiven Materials unter der Aufsicht des AKK stand, übernahm die Behörde die Finanzierung und Kontrolle der neugebildeten „Isotopenverteilungsstelle“. Praktisch bildeten die IMB-Abteilung und Verteilungsstelle eine miteinander verzahnte Struktur, da Entwicklung, Produktion und Verteilung eng verbunden waren. Die Leitung beider Institutionen lag in Personalunion bei Born und später bei seinem Nachfolger Günther Vormum.204 Der hybride Charakter der Abteilung begründete eine Sonderstellung innerhalb des IMB, die noch durch die speziellen Anforderungen in puncto Arbeitssicherheit verstärkt wurde. Herstellung, Lagerung und Verpackung großer Mengen von Radiochemikalien konnten nicht innerhalb eines anderweitig genutzten 199 200 201 202
Herran 2006, S. 576–578. Teilnehmerlisten des Isotopenkursus, Feb.-Mai 1956, ABBAW AKL 51. Born an Wittbrodt, 28.1.1956; Born an Wittbrodt, 12.1.1957, beide ABBAW AKL 51. G. Vormum, Das Institut für angewandte Isotopenforschung in Berlin–Buch der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Isotopenpraxis 2 (1966), S. 140–145, S. 140. 203 Leistungsangebot des Bereiches Strahlenquellen und Nuklearpharmaka zu Perspektivplan 1971–1975, 1970, ABBAW Buch A 1001. 204 Dokument über die Zusammenarbeit der (DAW) mit dem Amt für Kerntechnik und Kernforschung bei der Regierung der DDR, 25.6.1956, ABBAW AKL 51.
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Laborgebäudes erfolgen. Für die Forschungsarbeiten wurde 1957 neben dem Neutronenhaus ein Spezialgebäude, das Radiumhaus, errichtet. Für die Produktions- und Lieferaufgaben der Verteilungsstelle war ein zusätzlicher Barackenbau nötig. Auch die Projektleitung durch eine leitende staatliche Behörde verhinderte nicht, dass die Umsetzung durch die üblichen Arbeitsausfälle und Planungspannen verzögert wurde.205 Die besonderen Schwierigkeiten der Materie, etwa die Konstruktion einer Spezialkläranlage für kontaminierte Flüssigkeiten, führten dazu, dass die Präparateproduktion erst Anfang der 1960er Jahre voll arbeitsfähig war.206 Noch eine andere „Sicherheitsfrage“ verfestigte den Sonderstatus der Isotopenforschung. Als kerntechnische Anlage unterlag sie besonderen Zugangskontrollen, die unter polizeistaatlichen Bedingungen einen festungsähnlichen Charakter annahmen. Die Gebäude der Isotopenabteilung und der Verteilstelle waren durch einen Zaun abgesichert und ständig durch Kräfte der Volkspolizei bewacht; 1963 veranschlagte man zur Erreichung einer „ständigen Rundumsicherung” eine „Garnison” in Gesamtstärke von 23 Mann.207 Die Isotopenproduktion war damit auch äußerlich ein quasi exterritorialer Teil des Bucher Institutsgeländes und zugleich beredter Ausdruck staatlicher Paranoia. Die Isotopenabteilung war, als Teil des IMB, primär als Forschungseinrichtung definiert. Der bestimmende Teil ihrer Tätigkeit, die Entwicklung von Applikationsformen oder Synthesewegen markierter Verbindungen, stellte zwar eine Herausforderung dar, war aber eindeutig anwendungsorientiert. Born plante darüber hinaus ein strahlenbiologisches Programm, das unter anderem radiotoxikologische Probleme therapeutisch nutzbarer Strahler, Fragen der Anwendung strahlenschützender Substanzen sowie grundlegende Untersuchungen zur Wirkungsweise verschiedener Strahlenqualitäten auf Elementarstrukturen (also ein klassisches Bucher Thema) umfasste.208 Die Abteilung sollte also auch Fragen der radiobiologischen Grundlagenforschung aufnehmen, die im Bereich der gegebenen technischen Möglichkeiten lagen. Die Abteilung beheimatete auch eines der ersten Projekte des IMB, das sich methodologisch an die Ansätze der Molekulargenetik annäherte, die Untersuchungen der Biologin Ruth Lindigkeit zur Bildung und Struktur bakterieller RNS. Die Gründe dieser Zuordnung lagen nicht in der Nutzung von Tracertechniken, sondern in Lindigkeits Lehrfunktionen in den Isotopenkursen begründet.209 Längerfristig konnte die Abteilung aber keine Gruppen halten, die nicht unmittelbar im Kontext der Produktion radioaktiver Präparate arbeiteten. Lindigkeit wechselte 1963 ans Institut für Zellphysiologie. Günther Vormum, der 1957 nach Born überhastetem Abgang nach Westdeutschland die Leitung übernommen hatte, sah sich zu Beginn der 1960er Jahre auch gezwungen, eine radiobiologische 205 Bericht Gies/AKK Nov. 1957, BAB DF 1/37; Bringer/IVS an Rambusch/AKK, 17.10.1958, BAB DF 1/685. 206 Vormum, Arbeitsbericht 14.1.1961, BAB DF 1/685. 207 Volkspolizei Pankow, Sicherungs-Protokoll für die Isotopenverteilstelle Berlin-Buch, 30.10.1963, ABBAW Buch A 90. 208 Born an Rambusch/AKK, 12.3.1957, BAB DF 1/1503. 209 Autobiographie R. Lindigkeit in: L. Pasternak 2002, S. 31–36, S. 32.
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Gruppe auszugliedern, die nach seiner Einschätzung in der DDR einmalige und international erstklassige Forschung zur Verstoffwechselung und Wirkung strahlender Substanzen im Tierkörper betrieb.210 Die „sehr enge Verknüpfung von Forschung, Entwicklung und Produktion“, die auch die bloße experimentelle Anwendung von Radioisotopen einschloss, war nach Vormums Ansicht anfangs sinnvoll gewesen, da der Entwicklungsstand biologischer Isotopentechniken in der DDR gering war und in direkter Fühlung mit der Präparateproduktion effektiver gehoben werden konnte. Nun aber war eine klare Orientierung auf die Entwicklung und Produktion spezieller Präparate unumgänglich, da nur so die steigende Nachfrage bedient werden konnte.211 In Vormums Arbeitsbereich – wie die anderen Bereiche des IMB 1961 zum „Institut“ aufgewertet – waren Forschung und Produktion untrennbar miteinander verbunden, da sowohl die Herstellungstechniken als auch die Produktpalette ständig erweitert und modifiziert werden mussten. Dies schlug sich auch in der Reorganisation des Instituts nieder, mit der ein Teil der Forschungsgruppen abgestoßen wurde: Der Produktionsteil, der bislang der erwähnten staatlichen Verteilungsstelle angegliedert war, wurde 1963 mit dem Institut vereinigt; für den kaufmännischen Teil wurde das eigenständige Handelsunternehmen Isocommerz GmbH gebildet, das Export- und Importgeschäfte mit östlichen und westlichen Ländern abwickelte.212 Zu diesem Zeitpunkt hatte Vormums Institut trotz der immer noch schwierigen materiellen Lage beachtliche Erfolge erzielt. Zu seinem Spezialgebiet entwickelte sich die Produktion geschlossener Präparate, das heißt kleinen, in Metallkapseln oder anderen Trägersubstanzen verpackten Strahlenquellen für technische und medizinische Anwendungen. Auf diesem Gebiet konnte das Institut schon 1962 weitgehend den Inlandsbedarf decken.213 Es trug entscheidend dazu bei, dass die Isotopentechnik zu einem der wenigen technowissenschaftlichen Gebiete wurde, deren Entwicklung die Wissenschaftsplaner überwiegend positiv einschätzten. Vom Beginn der Eigenproduktion 1959 bis 1964 konnte die Importabhängigkeit auf die Hälfte des Bedarfs gedrückt werden, der Export von Spezialprodukten in die Bruderländer stieg rapide. Nach Angaben der Isocommerz waren die Transport- und Verpackungskosten wesentlich günstiger als in der BRD.214 Ende der 1960er Jahre hatten Produktionsumfang und Produktivität nach Einschätzung des Wissenschaftsministeriums einen Stand erreicht, der sich mit dem Großbritanniens und Frankreichs messen konnte. Die Isocommerz-Umsätze wiesen zu dieser Zeit angeblich Steigerungsraten auf, die über dem internationalen Durchschnitt lagen – möglicherweise eine durch die schwache Ausgangslage bedingte statistische Verzerrung. Zur besonderen Freude der Forschungspolitiker 210 G. Vormum, Stand und Perspektive der Forschung in der radiobiologischen Arbeitsgruppe, Mai 1961, ABBAW Buch A 83 211 G. Vormum, Thematische Profilierung des Institutes für Angewandte Isotopenforschung, 21.12.1962, ABBAW Buch A 17 212 G. Vormum, Jahresbericht IfaI für 1963, ABBAW FG 73; W. Merz, Die Isocommerz GmbH, Isotopenpraxis 1 (1965), S. 25–29. 213 G. Vormum, Jahresbericht 1962 des IfaI, ABBAW Buch A 11. 214 W. Merz, Die Isocommerz GmbH, Isotopenpraxis 1 (1965), S. 25–29.
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wurde dies alles ohne Erweiterung der Kapazitäten in den DAW-Instituten erreicht und führte nicht nur zu Exporten in die sozialistischen Länder, sondern auch in den Westen.215 Das Bucher Institut zeichnete 1967 für etwas mehr als ein Drittel der gesamten DDR-Isotopenproduktion verantwortlich.216 Kooperation und Profilierung In der Leitung des IMB erntete Vormum für diese ökonomisch-technischen Erfolge aber keineswegs Glückwünsche. Seine Direktorenkollegen betrachteten sein Institut als Hilfsabteilung, die in erster Linie die Bedürfnisse des Forschungszentrums zu decken hatte. Das geringe Ansehen zeigte sich schon darin, dass Vormum vier Jahre nach seiner Amtsübernahme immer noch als kommissarischer Leiter geführt wurde. Dieser Umstand veranlasste den Direktor des Leipziger DAWInstituts für angewandte Radioakivität, nachdrücklich darauf hinzuweisen, wie „grotesk unterbezahlt“, unterbewertet und entsprechend verstimmt sein Kollege sei. Weder im IMB noch in der FG-Leitung werde begriffen, gegen welche enormen Hindernisse er seine Leistungen erbracht hatte und welche ökonomische und wissenschaftliche Bedeutung ihnen zukam.217 Er erkannte allerdings auch einen konkreten Grund für die mangelnde Anerkennung: Vormum habe „den Unwillen einer Reihe von maßgebenden Persönlichkeiten der Bucher Institutionen“ erregt, da er seine Arbeit „mehr auf die Stillung technischer Bedürfnisse“ orientiert habe. Tatsächlich nannte Jung die Isotopenforschung in seinem Perspektiventwurf von 1963 als Musterbeispiel mangelhafter Planung, die er allerdings der DAWLeitung und dem „Republikflüchtling“ Born anlastete. Letzterer habe eine Verselbstständigungspolitik eingeleitet, die die eigentlich vorgesehene unterstützende Rolle untergraben habe – mit dem Resultat, dass „die einzelnen Institute sich eigene Isotopenlaboratorien schaffen“ mußten.218 Auch andere Direktoren forderten, die Isotopenforschung müsse stärker mit den Nachbarinstituten verknüpft werden.219 In der Sache war die Kritik nicht unberechtigt. Der von Vormum gesetzte Schwerpunkt bei der Produktion geschlossener Quellen betraf teilweise Applikatoren wie Cobalt-60-, Strontium-90- und Cäsium-137-Kapseln, die für spezifische innere oder äußere strahlentherapeutische Anwendungen entworfen waren. Das Institut entwickelte und produzierte in seinen Anfangsjahren aber auch zahlreiche Quellen für industriell-technische Anwendungen. Vormum arbeitete dabei eng mit dem Dresdener Nukleartechnik-Spezialbetrieb Vakutronik zusammen und über215 MWT, Ministerratsvorlage „Beschluss über weitere Maßnahmen zur Sicherung der bedarfsgerechten Produktion und Versorgung der Volkswirtschaft mit radioaktiven und stabilen Isotopen“, 19.6.1968, BAB DF 1/180. 216 R. Münze, Ökonomische Aspekte der Herstellung radioaktiver Präparate, Spektrum 13 (1967), S. 212–216, S. 213. 217 C. F. Weiss an Vorstand der FG, 28.2.1961, ABBAW Buch A 999/2. 218 Jung, Stellungnahme zur Perspektive des FZ Buch, 28.8.1963, BAB DY 30/IV A2/9.04/362. 219 Protokoll zur außerordentlichen Sitzung des Direktoriums, 8.11.1963, ABBAW Buch A 17.
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nahm Aufträge von Firmen wie Zeiss oder von der NVA. Es konnte seinen Bucher Kollegen nicht gefallen, wenn er angesichts absehbarer Kapazitätsengpässe erwog, nicht diese Projekte, sondern die für den klinischen Gebrauch produzierten offenen Präparate nach Rossendorf abzugeben.220 Besondere Bedeutung hatte dabei das durch Uranspaltung entstehende Krypton 85, das als Füllgas in Leuchtstoffröhren und Geigerzählern genutzt wurde. Kr-85-Quellen wurden für so viele technische Anwendungen erprobt, dass dafür eine eigene Arbeitsbaracke errichtet wurde. Dazu gehörten neben der Verfeinerung von Leuchtkörpertechnik auch die Entwicklung von Prüfverfahren für die Halbleiterindustrie, Systemen zur Erkennung von Wetterströmen im Bergbau oder für spektroskopische Verfahren.221 Vormum begründete die Konzentration auf technische Quellen später damit, dass „die industriellen Anwender in ihren Wünschen und Forderungen entschlossener und weniger zurückhaltend“ waren als die klinischen.222 Das wirkt wie eine Replik auf die früheren internen Vorwürfe. Das Isotopeninstitut war keine Hilfswerkstatt für alltäglichen Laborbedarf, sondern ein Technologiebetrieb, der seine Arbeit auf besonders anspruchsvolle Aufgaben focussierte. Und für die Entwicklung innovativer Produkte war ein wechselseitiger Austausch mit potentiellen Anwendern nötig. Der erste Entwicklungserfolg auf dem Gebiet der medizinischen Applikatoren wurde bezeichnenderweise nicht in Verbindung mit der IMB-Krebsklinik, sondern auf eine Initiative der CharitéAugenklinik erreicht. Zu Beginn der 1960er Jahre suchte diese nach einem geeigneten Verfahren der inneren Bestrahlung von intraokularen Tumoren. Gute Erfahrungen mit Strontium-90-Kapseln bei Bindegewebsgeschwulsten veranlassten die Mediziner, diesen Betastrahler anstelle der problematischen Kobalt-60Applikatoren ins Auge zu fassen. Vormum empfahl stattdessen Ruthenium 106, das intensivere Strahlung lieferte und zudem deutlich leichter und sicherer zu verarbeiten war. Die „Rutheniumkalotten“ wurden zu einem nachhaltigen Erfolg; bis zu seiner Auflösung war das Institut das weltweit einzige Produzent dieser verbreiteten Spezialapplikatoren.223 Die Einführung solcher neuer Prinziplösungen erforderte theoretisches Wissen, war aber vor allem ein produktionstechnisches Problem. Die Techniken zur Verkapselung verschiedener Nuklide erforderten stets neue Lösungen, gerade bei einer Risikotechnologie wie den medizinischen Applikatoren, deren Transfer in die Praxis nicht ohne Pannen und Kontaminationen ablief.224 Die besonderen Anforderungen erklären zum Teil, warum die medizinischen Anwendungen zunächst hinter den rein technischen zurückstanden – sie benötigten einen längeren technischen Vorlauf. Zudem kamen aus dem medizinischen Bereich wenig Entwicklungsanreize. Die nukleartechnischen Gremien 220 G. Vormum, Jahresbericht IfaI für 1963, ABBAW FG 73. 221 G. Vormum, Jahresbericht 1963 des Instituts für angewandte Isotopenforschung, ABBAW FG 73; vgl. auch G. Vormum, Das Institut für angewandte Isotopenforschung in Berlin–Buch der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Isotopenpraxis 2 (1966), S. 140–145, S. 144. 222 G. Vormum, Umschlossene Strahlungsquellen, Isotopenpraxis 5 (1969), S. 46–53, S. 46. 223 Bornfeld/Lommatzsch 2014. 224 Moldenhawer/AKK an Vormum, 18.7.1963, BAB DF 1/1537.
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beklagten beständig, dass das Gesundheitswesen, vermeintlich aufgrund fehlender Initiative des Fachministeriums, der allgemeinen Entwicklung deutlich hinterherlief.225 1967 lag der Anteil medizinischer Institutionen am Isotopen-Gesamtverbrauch in der DDR bei 10%, während er im internationalen Durchschnitt weit über die Hälfte ausmachte.226 Wenn sich Direktoren des IMB über das angeblich fehlende Engagement des Isotopeninstituts vor der eigenen Haustür beschwerten, zeigte sich darin eine merkwürdig überzogene Vorstellung von Zentralisierung. Bei der fortschreitenden Differenzierung seines Arbeitsgebietes konnte es unmöglich die nukleartechnischen Alltagsaufgaben der Teilinstitute übernehmen. Eine Dissemination solcher Techniken war unausweichlich. Das zeigt etwa der Fall der Krebsklinik, die nach Einschätzung des Gesundheitsministeriums zu Beginn der 1960er die einzige Klinik im Land war, die über eine „voll leistungsfähige“ Isotopenabteilung verfügte.227 Als die Kliniker mit der diagnostischen Anwendung von Isotopen begannen, nutzten sie Elemente wie Jod 131 und Phosphor 32, die in den USA bereits seit zwei Jahrzehnten im klinischen Gebrauch waren.228 Die technische Schwierigkeit bestand hier im radiographischen Nachweis der organischen Anreicherung, die zur Identifizierung bestimmter Tumore nutzbar war. Diese Aufgabe nahmen die Kliniker mit eigenem technischen Personal in die Hand. Ihr „Scintiscanner“, der die Strahlenemissionen zeilenweise am Körper abtastete und automatisch ein Strahlungsprofil generierte, hätte zu dieser Zeit auch auf dem internationalen Markt ein Spitzenprodukt werden können, wäre das Projekt nicht wie so viele Geräteentwicklungen an mangelnder Unterstützung der Spezialbetriebe gescheitert.229 Diese Arbeiten wurden durch das Isotopeninstitut unterstützt, das aus der Klinik ansonsten wenig Anregungen für neuartige diagnostisch oder therapeutisch nutzbare Isotopenverbindungen erhielt. Eine wirklich enge interne Zusammenarbeit bestand nur mit der kurzzeitig ins IMB integrierten Arbeitsstelle für Infektionskrankheiten im Kindesalter.230 Dabei wurden etwa neue Formen der Markierung von Serumalbuminen erprobt, die perspektivisch auch für die Krebsdiagnostik interessant erschienen. Aus der Zusammenarbeit mit den Kinderklinikern 225 Isotopenkommission des Wissenschaftlichen Rates für die friedliche Anwendung der Atomenergie, Protokoll und Vorlage zur Sitzung am 12.9.1962, BAB DQ 1/1917, Bl. 315–338. Hiernach fanden sich unter den insgesamten 390 Isotopenanwendern der DDR nur 19 medizinische Institutionen. 226 R. Münze, Ökonomische Aspekte der Herstellung radioaktiver Präparate, Spektrum 13 (1967), S. 212–216, S. 212; Arbeitsbericht der Isotopenkommission (des AKK) 1963, 26.2.1964, BAB DQ 1/1917, Bl. 14–23. 227 Unbetitelte Stellungnahme, vermutlich MfG, 1963, BAB DQ 1/1917, Bl. 267–272. 228 H. Ernst, Bericht über die Einrichtung der Isotopenstation und die bisher durchgeführten Arbeiten mit radioaktiven Isotopen in der Geschwulstklinik des IMB (Kolloquium des IMB 19.6.1957), Das Deutsche Gesundheitswesen 12 (1957), S. 1598; zu den Anfängen isotopendiagnostischer Verfahren vgl. Creager 2013, S. 333. 229 H. Ernst, D. Kaufmann, Eine neuartige Methode der klinischen Scintigraphie, Probleme und Ergebnisse aus Biophysik und Strahlenbiologie II (1960), S. 143–146; zur Entwicklung in den USA vgl. Creager 2013, S. 344–346. 230 G. Vormum, Rechenschaftsbericht des IfaI 1966, ABBAW FG 73.
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ergaben sich ferner erstmals Ansätze zur Verwendung radioaktiv markierter Antikörper. Die Technik, ursprünglich zum Nachweis kleinster Mengen von Biomolekülen wie Hormonen eingesetzt, wurde dabei auf bakterielle Krankheitserreger übertragen. Während diese Anwendung zunächst hinter den Erwartungen zurückblieb,231 bildete das Projekt eine Grundlage dafür, dass Vormums Institut in den 1970er Jahren die Produktion radioaktiver Immunkörper als Schwerpunkt erschließen konnte. Auf Gebieten, die für biochemische und molekularbiologische Arbeiten wichtig waren, blieben durchschlagende Erfolge aus. Die Forscher des IMB, die sich entsprechende Fortschritte erhoffte hatten, waren nicht ohne Grund enttäuscht. Wollenberger plante schon bald nach Einrichtung seiner Arbeitsstelle 1957 Versuche mit durch Tritium (radioaktivem Sauerstoff) markierten Herzglykosiden.232 Ohne derartige Techniken war biochemisches Arbeiten auf Weltniveau schon zu dieser Zeit kaum denkbar. Tritiummarkierungen wurden entsprechend frühzeitig in das Programm der Isotopenabteilung aufgenommen, blieben jedoch lange, vor allem aufgrund unzureichender strahlenschutztechnischer Voraussetzungen, ein Mangelprodukt.233 Die Überwindung dieser Probleme brachte für die Bucher Biochemiker immer noch keinen großen Sprung. 1966 musste Vormum einräumen, dass es auf große Probleme stieß, bestimmte stellungsspezifisch markierte Substanzen mit der geforderten hohen Aktivität herzustellen. Die entsprechenden Substanzen mussten weiter aus dem Westen importiert werden.234 In den 1970er Jahren wurden entsprechende Synthesen von einer Arbeitsgruppe des ZIM übernommen, die bei der Herstellung bestimmter Radionukleoside international erstklassige Resultate erzielte; sie wurde schließlich selbst zu einem nationalen Produktionszentrum für diese Gruppe von Radiochemikalien.235 Diese Entwicklung war bezeichnend für die Ausdifferenzierung der nuklearen Biochemie. Ein komplexes Problem wie die Synthese molekularbiologisch interessanter Marker ließ sich nur von hochspezialisierten Gruppen voll beherrschen. Für das Isotopeninstitut war es schon im Sinne einer optimalen Nutzung der eigenen Kapazitäten nicht sinnvoll, ein solches Gebiet zu erschließen, das nicht seinen gewachsenen Stärken entsprach. Es agierte nicht wie ein nationales Versorgungszentrum, als das es bei seiner Gründung geplant war, sondern eher wie ein mittelständisches kapitalistisches Unternehmen, das sich an seinem Produktionsprofil und seiner Marktposition orientierte. Es war nur folgerichtig, dass im Rahmen der Akademiereform die von Vormum bereits 1962 angeregte Angliederung an das Leipziger Zentralinstitut für
231 H. Herzmann, H. W. Ocklitz, C. Weppe, Radiojodmarkierte Antikörper und Möglichkeiten ihrer Anwendung zum Nachweis bakterieller Infekte, Isotopenpraxis 5 (1969), S. 14–16. 232 Wollenberger an AKK, 8.4.1957; Wollenberger an AKK, 13.5.1958, beide BAB DF 1/543. 233 N.N., Berichtsteil „4.2. Materielle Kapazität“, 1959, ABBAW Buch A 64. 234 G. Vormum, Bericht über Erfüllung des Planes naturwiss. Forschung 1965, 12.1.1966, ABBAW FG 73. 235 Vgl. hierzu auch S. 240f.
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Isotopen- und Strahlenforschung vollzogen wurde.236 Als räumlich benachbarter, aber vom FZMM unabhängiger „Bereich Strahlenquellen und Nuklearpharmaka“ pflegte es – etwa bei der Produktion von Radioimmunkörpern – weiter Arbeitsbeziehungen zum ZIM. Die Entwicklungsstrategie konzentrierte sich aber auch nach 1970 auf medizinische Anwendungen – die Hausspezialität geschlossene Strahlenquellen, radioimmunologische In-vitro-Tests sowie Radiopharmaka.237 Diese Felder sollten nach 1990 das Profil einer aus den Kapazitäten des Bereichs aufgebauten Firma prägen, die sich in kurzer Zeit eine führende Position auf dem Weltmarkt eroberte.238
236 G. Vormum, Thematische Profilierung des Institutes für Angewandte Isotopenforschung, 21.12.1962, ABBAW Buch A 17. 237 N.N., Leistungsangebot des Bereiches Strahlenquellen und Nuklearpharmaka zu Perspektivplan 1971–1975, n. d. (1970), ABBAW Buch A 1001. 238 http://www.ezag.com/de/startseite/produkte/, Stand 17.7.2018.
III.4. „IM AKADEMIEINSTITUT ENTWICKELT – IN DER INDUSTRIE ERPROBT“? NEUE WEGE UND BLEIBENDE ENGPÄSSE IN DER WIRKSTOFFFORSCHUNG In der ursprünglichen Konzeption des IMB spielte die Entwicklung von Pharmaka keine tragende Rolle. Ab Ende der 1950er Jahre rückten in den Instituten für Pharmakologie und für Biochemie Projekte in den Mittelpunkt, welche auf die Entwicklung neuer Wirkstoffe für die heimische Industrie abzielten. Kurt Repke, ab 1955 Arbeitsgruppenleiter in Lohmanns Arbeitsbereich, erforschte mit den herzwirksamen Digitalis-Glykosiden eine altbekannte Pharmaka-Gruppe. Relativ isoliert arbeitend konnte er sich auf diesem Gebiet eine internationale Spitzenstellung erarbeiten und die Überführung neuer Präparate in die Produktion verbuchen. Friedrich Jungs pharmakologisches Institut stieg dagegen in ein damals noch junges, aber bereits stark umkämpftes Forschungsgebiet ein, die kreislauf- und nervenwirksamen Peptidhormone. War die Pharmaindustrie für Repke zunächst ein notwendiger, aber ungeliebter Kooperationspartner, baute Jung das Peptidprojekt von Beginn an als Gemeinschaftsprojekt mit der pharmazeutischen Industrie auf, das die Basis für eine systematische Entwicklung neuer Pharmaka legen sollte. Während sich die Ausgangslage beider Vorhaben sehr unterschiedlich gestaltete, bestanden hinsichtlich des konzeptionellen Anspruchs deutliche Parallelen. Beide Arbeitsbereiche orientierten sich an einem Forschungsansatz, der sich in den 1960er Jahren als neues Paradigma der Wirkstoffentwicklung durchzusetzen begann. Nach diesem als „rationale Wirkstoffforschung“ oder „rational drug design“ bezeichneten Konzept waren grundlegende pharmazeutische Innovationen nicht mehr auf dem üblichen Weg der massenhaften Testung neuer synthetischer oder natürlicher Substanzen zu erwarten, sondern nur durch ein grundlegendes Verständnis der molekularen Reaktionsmechanismen, die von dem gesuchten Pharmakon beeinflusst wurden. Im Vordergrund standen dabei die Identifizierung der zellulären Angriffspunkte (Rezeptoren) von Wirkstoffen sowie die theoretische Modellierung der Beziehungen zwischen chemischer Struktur und biologischer Wirkung.1 Westliche Pharmakonzerne begannen in diesem Sinne in die Grundlagenforschung zu investieren, als sie nach der Markteinführung zahlreicher neuartiger Pharmakaklassen in den 1950er Jahren – etwa der mikrobiellen Antibiotika, der Neuroleptika und blutdrucksenkender Mittel – mit einer Innovationskrise konfrontiert waren.2
1 2
Lesch 2008; Bürgi/Strasser 2010, S. 410–411. Chandler 2005, S. 180.
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In diesem Kapitel wird diese für die Pharmakaforschung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts grundlegende Entwicklung anhand der beiden Bucher Projekte genauer betrachtet. Während die Forschungskonzepte eindeutig grundlagenorientierter und theoriebasierter wurden, konnte der Anspruch einer effektiveren Produktentwicklung nur ansatzweise eingelöst werden. Dies lag teilweise daran, dass sich die Erwartungen hinsichtlich einer Optimierung der untersuchten Substanzklassen als zu optimistisch erwiesen, aber auch daran, dass die Möglichkeiten der Pharmakaforschung noch immer weitgehend von Faktoren außerhalb des Forschungslabors abhingen: der Zuarbeit bei der Synthese und Testung neuer Präparate, den Voraussetzungen für eine vorklinische und klinische Erprobung sowie den Kapazitäten für eine Produktionseinführung. Die pharmazeutischen Betriebe boten in dieser Hinsicht wenig Unterstützung und noch weniger Anreize für Neuerungen. Für die akademischen Forscher reichte es vor diesem Hintergrund nicht aus, wissenschaftlich innovativ zu sein; sie mussten versuchen, auf neue Strukturen in der Wirkstoffentwicklung hinzuarbeiten, welche die Chancen auf die praktische Umsetzung ihrer Projekte erhöhten. 4.1. ALTER WEIN IN NEUEN SCHLÄUCHEN? DAS PROJEKT HERZGLYKOSIDE Die Biochemie unter Karl Lohmann war in den 1950er Jahren neben der Biophysik die Abteilung des IMB, welche die schärfste Kritik aus Akademie- und Parteigremien auf sich zog. Sie produzierte wenige Publikationen und galt aufgrund der fehlenden Präsenz ihres Leiters als struktur- und konzeptionslos. Lohmann wurde, ähnlich wie Friedrich, fehlendes Engagement bei Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses vorgeworfen.3 Einige Jahre später hatte sich das Bild deutlich gewandelt. Die Abteilung stand zwar immer noch in dem Ruf, sich dem Einfluss der Partei der Arbeiterklasse gezielt zu verweigern, hatte aber Erfolge aufzuweisen, die an praktischen Ergebnissen interessierte Wissenschaftsbürokraten beeindrucken mussten. Der Arbeitsgruppe des Mediziners und Biochemikers Kurt Repke, die Lohmann 1955 aus Greifswald nach Buch geholt hatte, war es gelungen, ein halbsynthetisches Derivat eines Digitalis-Glykosides für die Produktion vorzubereiten, das hinsichtlich seiner Verträglichkeit neue Maßstäbe bei der Behandlung der Herzinsuffizienz zu setzen schien. Nach Repkes Eigendarstellung war dieser Erfolg kein Zufallsprodukt, sondern logische Folge einer systematisch entwickelten Forschungsstrategie, die völlig neue Perspektiven für die seit langem pharmakologisch beforschte Stoffklasse eröffnete. Die aus Pflanzen der Gattung Digitalis isolierbaren Glykoside, strukturell verwandt mit den Steroidhormonen, gehören zu den ältesten bei Herzkrankheiten angewendeten Medikamenten, allerdings auch zu den problematischsten. Wegen ihrer starken Nebenwirkungen auf das Nervensystem war der Einsatz am herzkranken Patienten äußerst riskant und erforderte große ärztliche Erfahrung. Wünschenswert war daher ein Derivat, bei 3
Memo „Besprechung betr. Buch“, 11.10.1955, BAB DY 30/IV 2/9.04/422, Bl. 47–50.
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dem die toxischen Effekte minimiert waren und die therapeutische Wirkung mit größerer Sicherheit eintrat. Laut Repke hatten noch vor kurzer Zeit kaum Aussichten auf die Entwicklung eines solchen Präparates bestanden, da „bis zum Beginn unserer Arbeiten ein tieferes Verständnis der Beziehungen zwischen chemischer Struktur und biologischer Wirkung nicht erreicht war.“4 Erst die Forschungen seiner Gruppe hätten es ermöglicht, gezielt ein Glykosidderivat zu identifizieren, das eine weniger riskante Anwendung am Menschen erlaubte. Die dabei entwickelten methodischen Grundlagen würden es erlauben, die therapeutische Breite der Digitalis-Pharmaka weiter zu optimieren. War Repke wirklich auf einem seit Jahrzehnten beforschten Gebiet der Pharmakologie der entscheidende Durchbruch gelungen? Und waren seine Versprechungen berechtigt? Repke hatte sich in Greifswald mit der Verstoffwechselung von Steroidhormonen beschäftigt. Auf diesem für die Pharmaindustrie interessanten Gebiet waren in den 1950er Jahren bereits zahllose Wirkstoffe und Zwischenprodukte bekannt.5 Es existierten verschiedene industriell genutzte, teilweise mikrobiologische Verfahren zur Umwandlung leicht zugänglicher in hochwirksame Steroide; jedoch war das Wissen über die enzymatischen Grundlage dieser Prozesse sowie des Steroidabbaus im menschlichen Körper noch sehr beschränkt. Repkes Greifswalder Arbeiten führten zur Identifizierung eines Enzymsystems, das Oestron zum weiblichen Zyklushormon Oestradiol umwandelte.6 In Buch begann Repke, seine Erfahrungen auch auf die Herzglykoside anzuwenden. Grundlegend hierfür war die Entwicklung eines neuen chemischen Verfahrens zur Bestimmung kleinster Herzglykosid-Mengen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Wirkungsprüfung dieser Substanzen noch ganz auf biologischen Methoden basiert, etwa der Prüfung am lebenden Versuchstier, an isolierten Tierherzen oder Herz-Lungen-Präparaten. Auf diese Weise ließ sich die cardiotonische Wirkung einer bestimmten Dosis untersuchen, aber kaum quantitativ analysieren, wie sie sich in verschiedenen tierischen Organen anreicherten. In Repkes Verfahren wurden Gewebehomogenate zunächst durch eine Adsorptionstechnik gereinigt und dann mit Substanzen versetzt, die spezifisch mit den Glykosiden reagierten. Die Reaktionsprodukte ließen sich durch spektralphotometrische Analyse klar identifizieren.7 Die Entwicklung war charakteristisch für einen Arbeitsstil, der auf gründlicher chemischer Handarbeit beruhte. Der international bereits routinemäßig genutzten Möglichkeit, den Weg von Wirkstoffen mittels radioaktiv markierter Moleküle zu verfolgen, stand Repke skeptisch gegenüber – einerseits, weil am IMB die Voraussetzung hierfür
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K. Repke, Entwurf „Perspektiven für die weitere Forschung in der DDR über die Biochemie der herzwirksamen Steroide”, 14.12.1963, BAB DY 30/IV A2/9.04/362. Zur Entwicklung der Steroidhormone vgl. Gaudillière 2006; Rasmussen 2002; Ratmoko 2005. K. Repke, Der Einfluß des Glucose-Dehydrogenasesystems aus Rinderleber auf Oestron und Oestradiol-17ß, Archiv für experimentelle Pathologie und Pharmakologie 226 (1955), S. 219–224. K. Repke, Die chemische Bestimmung von Digitoxin in Geweben und Ausscheidungen, Archiv für experimentelle Pathologie und Pharmakologie 233 (1958), S. 261–270.
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schwach entwickelt waren; andererseits, weil sich radioaktive Signale nicht mit Sicherheit dem gesuchten Wirkstoff zuordnen ließen. Die Anwendung dieses chemisch-physikalischen Verfahrens ermöglichte es, Aufnahme, Abbau und Ausscheidung von Digitalis-Stoffen im Tierkörper genauer zu untersuchen. Repke und seine Mitarbeiter konnten durch aufwändige Untersuchungen über die Pharmakodynamik des klinisch genutzten Digitoxins die herrschenden Vorstellungen über den Abbau dieser Stoffklasse revidieren.8 Weitere neue Erkenntnisse ergaben sich aus vergleichenden Untersuchungen zur Toxizität verschiedener Herzglykoside. Während nach vorherrschender Meinung bei allen Vertretern dieser Stoffklasse die therapeutische Breite – die Differenz zwischen heilender und toxischer Dosis – ähnlich eng bemessen war, fand Repke bei Tests an Ratten, dass das therapeutisch nicht genutzte Gitoxin eine wesentlich höhere Toleranzdosis aufwies als das Digitoxin. Nach weiteren Versuchen unterschieden sich auch die Auswirkungen beider Substanzen auf das zentrale Nervensystem entsprechend.9 Gitoxin war demnach prinzipiell verträglicher als das klinisch angewandte Digitoxin, eignete sich aufgrund seiner schlechten Löslichkeit jedoch nicht für höhere Dosierungen. Eigene Untersuchungen über die Transporteigenschaften der Glykoside hatten jedoch Hinweise darauf gegeben, durch welche synthetischen Modifikationen sich Lipoidlöslichkeit und Resorption der Moleküle erhöhen ließen.10 Auf diese Weise gelangte Repke zu dem Derivat PentaacetylGitoxin, das sich im Tiertest sowohl durch gute Resorbierbarkeit als auch eine geringe Toxizität auszeichnete. Die Entwicklung des neuen Präparats basierte also nicht auf Erkenntnissen über den eigentlichen Wirkungsmechanismus und den Angriffsort der Herzglykoside, sondern auf sorgfältigen Studien über ihr physiologisches Schicksal und ihre toxischen Effekte. Der neue Wirkstoff übte seine eigentliche Funktion an der Herzmuskelzelle nicht effektiver aus als die gebräuchlichen Präparate – tatsächlich zeigten spätere Tests, dass seine Wirksamkeit auf das Rezeptorsystem eher gering war – sondern gelangte besser und unter geringeren Nebenwirkungen zum Wirkungsort. 1963 wurde das Pentaacetyl-Gitoxin unter dem Namen „Pentagit“ vom VEB YSAT Wernigerode auf dem Markt gebracht. YSAT war an der Einführung des Präparats weit mehr beteiligt, als es der von der DAW verbreitete Slogan „im Akademieinstitut entwickelt – in der Industrie erprobt“ vermuten ließ.11 Das Glykosidprojekt wurde teilweise als Vertragsforschung für YSAT durchgeführt. Die Forschungsabteilung des Betriebs hatte reiche Erfahrungen in der Herstellung und Abwandlung von Molekülen der Digitalis-Familie; ein großer Teil der in Repkes 8
K. Repke, S. Klesczewski, L. Roth, Über Spaltung und Hydroxylierung von Digitoxin bei der Ratte, Archiv für experimentelle Pathologie und Pharmakologie 237 (1959), S. 34–48. 9 K. Repke, R. Megges, Die Entwicklung eines neuen Herzglykosid-Präparats mit großer therapeutischer Breite (Penta-acetyl-gitoxin), Das Deutsche Gesundheitswesen 18 (1963), S. 1325–1333, S. 1326. 10 R. Megges, K. Repke, Über Faktoren, welche die orale Wirksamkeit von Herzglykosiden bestimmen, Archiv für experimentelle Pathologie und Pharmakologie 241 (1961), S. 534. 11 N. N., Entwicklung eines neuen Mittels gegen Herzschwäche PENTAGIT, Spektrum 11 (1965), S. 7.
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Labor verwendeten Derivate wurde bei YSAT hergestellt.12 Ohne die Hilfe eines Spezialbetriebes, der Extraktions- und Aufbereitungsmethoden beherrschte, waren umfassende biochemische Arbeiten über Naturstoffe wie die Digitalis-Glykoside schlechthin nicht möglich. Allerdings entwickelte sich die Arbeitsteilung in einer Weise, die keinen der Vertragspartner zufriedenstellte. Während der YSATForschungsleiter den größeren Anteil an den chemischen Arbeiten für sich reklamierte, legte Repke Wert auf die Feststellung, dass die Eröffnung einer auf dem bisherigen Nebenprodukts Gitoxin beruhenden Produktionslinie auf seine Initiative zurückging. Aufgrund der Streitigkeiten stockte auch die Anmeldung eines gemeinsamen Patents für das Herstellungsverfahren des Pentagit, dessen Molekülstruktur bereits in den 1920er Jahren beschrieben worden war.13 Für Repke verlief die Kooperation mit YSAT so negativ, dass er Mitte der 1960er Jahre mit dem Arzneimittelwerk Dresden (AWD) einen neuen Partner suchte.14 Rezeptoren – Idee und Realität Obwohl der schnelle praxisrelevante Erfolg auf dem effektivem Einsatz von Methoden zum Nachweis der Glykoside sowie einer Kombination von Tierversuchsmodellen beruhte, betonte Repke in seinen Berichten der 1960er Jahre stets einen Aspekt, der die Pentagit-Entwicklung nicht beeinflusst hatte: die Identifizierung eines membranständigen Enzyms, das nach seiner Überzeugung als Rezeptor der Herzglykoside fungierte. Die Entwicklung dieser Hypothese war gleichwohl mit seinen Untersuchungen über den physiologischen Abbau verbunden. Bei Versuchen mit zwei strukturell ähnlichen Glykosiden, deren Abbau nach Repkes Ergebnissen identisch verlaufen musste, hatten sich deutlich verschiedene Wirkungen gezeigt. Der Unterschied musste demnach in der direkten Wirkung auf die Herzzelle begründet liegen. Wie aber ließ sich dieser Wirkungsmechanismus untersuchen? Es war naheliegend, die unmittelbare Interaktion der Substanzen mit den Zellen des Herzmuskels zu untersuchen. Repke fand jedoch einen Ansatzpunkt in einer amerikanischen Arbeit, nach welcher Digitalis-Glykoside die Aktivität eines ATP-spaltenden Enzyms in der Membran von Erthyocyten hemmten. Repkes Gruppe konnte diesen Effekt am Erythrocytenmodell reproduzieren und dabei zwischen den verschiedenen Substanzen ähnliche Wirkungsunterschiede wie im Tierversuch feststellen. Für Repke war das ein klarer Hinweis, dass „derartige ATPasen einen Angriffspunkt der Herzglykoside darstellen“.15 Im August 12 K. Repke, R. Megges, Die Entwicklung eines neuen Herzglykosid-Präparats mit großer therapeutischer Breite (Penta-acetyl-gitoxin), Das Deutsche Gesundheitswesen 18 (1963), S. 1325–1333, S. 1331. 13 Repke, Abschlussbericht zur Forschungsarbeit cardiotonisch wirksame Substanzen, 25.3.1963, ABBAW Buch A 221. 14 Repke/Schön an Kettler, 31.8.1967, ABBAW FG 40. 15 K. Repke, H. J. Portius, Untersuchungen zur Ursache der Wirkungsunterschiede zwischen Digitoxin und Dihydrodigitoxin, Archiv für experimentelle Pathologie und Pharmakologie 241 (1961), S. 535–536.
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1961 – nur wenige Tage nach dem Mauerbau – präsentierte er seine Hypothese auf dem Internationalen Pharmakologischen Kongress in Stockholm, auf dem er ursprünglich mit einem Vortrag zum Stoffwechselschicksal der Herzglykoside gemeldet war.16 In Repkes Darstellung erschien der Schritt von der Erforschung des Stoffwechselschicksals der Herzglykoside zur Beschreibung des Rezeptors als völlig logisch. Er war aber nur möglich, weil das entsprechende Enzymsystem bereits seit längerer Zeit von Zellphysiologen als wichtiger Bestandteil der Energiehaushaltes verschiedener Zelltypen erforscht wurde. Die erwähnten ErythroctenArbeiten des US-Biologen Robert Post, die einen Zusammenhang zwischen der enzymatischen Spaltung des allgegenwärtigen Energielieferanten ATP, dem Natrium-Kalium-Transport durch die Zellmembran und der Hemmungswirkung von Herzglykosiden aufzeigten, waren nur die neueste Entwicklung einer Reihe von Arbeiten zu diesem Themenkomplex. Die Bedeutung der Spaltung des ATP als energieliefernder Mechanismus der Zelle war seit der Vorkriegszeit unter anderem an Herzmuskelzellen intensiv untersucht worden.17 Es ist erstaunlich, dass Repke seine Anregungen zum Thema aus der überseeischen Literatur beziehen musste, da einer seiner Bucher Nachbarn zu den besten Kennern der Materie gehörte. Albert Wollenberger hatte während seines Aufenthaltes in den USA zu diesem Thema gearbeitet und 1949 den Kenntnisstand in einen Überblick verarbeitet, in dem die Beziehungen zwischen der Wirkung cardiotonischer Substanzen und der enzymatischen Spaltung des ATP in der Herzmuskelzelle bereits eingehend reflektiert wurden.18 Zusammenhänge mit der zellulären Konzentration an Natrium-, Kalium- und Magnesiumionen waren zu diesem Zeitpunkt ebenfalls bekannt, wurden aber noch nicht im Sinne eines mit der Enzymaktivität verbundenen Transportprozesses interpretiert. Diese Interpretation wurde 1957 durch den dänischen Physiologen Jens C. Skou vorgeschlagen, der in den Nervenzellen von Krebsen ein ATP-spaltendes Enzym identifizierte, das den aktiven Transport von Natrium- und Kaliumionen durch die Zellmembran bewirkte. Diese 40 Jahre später mit dem Nobelpreis für Chemie gewürdigte Arbeit leitete die Entdeckung einer Reihe von „Ionenpumpen“ in verschiedenen Zellarten ein. Es war also naheliegend anzunehmen, dass der Na+-K+-Austausch auch in der menschlichen Herzmuskelzelle durch eine membranständige ATPase verlief und dass Herzglykoside diesen Prozess durch Bindung an das Enzym hemmten. Auch Wollenberger bezeichnete dieses Modell 1960 auf einer DDRPharmakologen-Tagung – die ohne Repkes Teilnahme stattfand – als sehr wahr-
16 K. Repke, Metabolism of cardiac glycosides, Proceedings of the First International Pharmacological Meeting, Aug. 22–25, 1961, Vol. 3: New Aspects of Cardiac Glycosides, Oxford 1963, S. 47–73. 17 Balaban 2012. 18 A. Wollenberger, The energy metabolism of the failing heart and the metabolic action of the cardiac glycosides, Pharmacological Reviews 1 (1949), S. 311–352.
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scheinlich. Er bezweifelte jedoch, dass dieser Mechanismus allein erklären konnte, warum diese Substanzen die zelluläre Kontraktionskraft steigerten.19 Repke war sich hingegen sicher, dass mit der „NaK-ATPase“ der Herzglykosid-Rezeptor und damit der Referenzpunkt für die Erforschung des Wirkungsmechanismus dieser Stoffklasse gefunden war. In Stockholm stellte er fest, dass „die Frage der Natur der Herzglykoside mit der Frage der Natur und Funktion der Digitalisrezeptoren zusammenzufallen scheint“.20 Obwohl ein großer Teil des Programms seiner Gruppe weiterhin die chemische Modifikation der Glykosidmoleküle oder Fragen ihres Transports im Körper betraf, veränderte das Rezeptormodell die Ausrichtung seiner Forschung grundlegend. Gegen Ende der 1960er Jahre richtete er sie auf das Ziel aus, die Feinstruktur des Rezeptors aufzuklären und die chemische Natur seines eigentlichen „regulativen Zentrums“ zu identifizieren.21 Den Rezeptor zu verstehen, hieß, das Bauprinzip des idealen Wirkstoffes zu verstehen – das entsprach der Idee einer theoretisch fundierten „rationalen“ Wirkstoffforschung ebenso wie der während der Akademiereform ausgegebenen Maxime, praxisrelevante Ergebnisse durch verstärkte Grundlagenforschung zu erreichen. Von einem Strukturmodell, ja selbst von einer Reindarstellung des „Rezeptors“ war man aber noch weit entfernt. Die NaK-ATPase lag nur in Form von Präparaten fragmentierter Herzmuskelzell-Membranen vor, an denen sich die postulierten Stoffwechelprozesse – ATP-Spaltung und Kationenaustausch – beobachten ließen. Die Isolierung und Verwendung dieser Membranfragmente selbst war ein ausgesprochen problematischer Aspekt des Versuchssystems. Das anfangs adaptierte Verfahren erlaubte keine völlige Trennung der Membran- von der Mikrosomenfraktion. Es musste daher durch zusätzliche Prüfverfahren sichergestellt werden, dass die Mikrosomenenzyme nicht die Testresultate verfälschten.22 Auch die Membranpräparate enthielten neben dem gesuchten „Rezeptor“ als Störfaktor eine weitere ATPase. Die Suche nach einer Präparationsmethode, die ein günstigeres Verhältnis zwischen NaK-ATPase und Begleitenzymen sowie eine signifikant verbesserte spezifische Aktivität ergab, zog sich über mehrere Jahre hin.23 Eine Ausbereitung annähernd „reiner“ Rezeptorpräparate wurde dabei nicht erreicht und auch nicht unbedingt angestrebt, da die verwendeten Reagenzien die Membran- und damit eventuell auch die Enzymstruktur verändern konnten. Eine
19 A. Wollenberger, Herzstoffwechsel und Herzglykoside, Acta Biologica et Medica Germanica Suppl. 1 (1961), S. 135–156, S. 151. 20 Repke 1961 (wie Fn. 16), S. 64. 21 Feinkonzepion der wissenschaftlichen Aufgabenstellung für das med.-biol. Forschungszentrum Berlin-Buch, Teil Institut für Biochemie, Aug. 1968, ABBAW Buch A 456. 22 H. J. Portius, K. Repke, Über die Ionenpumpen-ATPase in der Zellmembran des Herzmuskels, Monatsberichte der DAW 5 (1963), S. 193–196. 23 H. J. Portius, K. Repke, Darstellung des Na+ & K+-aktivierten, Mg++-abhängigen ATPPhospohydrolase-Systems des Herzmuskels durch Isolierung der Zellmembran, Acta Biologica et Medica Germanica 19 (1967), S. 879–906.
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schonende Präparation galt als wichtiger als möglichst hohe Reinheit.24 Wenn in Repkes Gruppe vom Glykosid-Rezeptor die Rede war, waren Membranpräparate gemeint, die eine möglichst praktikable Bemessung der direkten Hemmungswirkung erlaubten. Es ging also in erster Linie um ein effektives In-vitro-Testsystem, das eine wesentlich schnellere Analyse neuer Derivate erlaubte als die gängigen Tierversuche.25 Da sich die physiologische Wirkung mitunter deutlich von der „Rezeptorwirkung“ unterschied, war es zur Einschätzung des Wirkungsspektrums allerdings weiterhin notwendig, die Methode durch Tierversuche zu flankieren.26 Es wäre auch möglich gewesen, den Primäreffekt an intakten Herzmuskelzellen zu testen. Wollenberger plante beim Aufbau seiner Arbeitsstelle für Kreislaufforschung, seine Erfahrungen mit der Pharmakologie der Herzglykoside weiter auszubauen. Dazu war neben der Synthese radioaktiver Modellverbindungen27 auch die Nutzung von Zellkulturen vorgesehen. Noch bevor Repkes Gruppe das Membransystem beherrschte, hatte seine Arbeitsstelle internationales Spitzenniveau in der Züchtung pulsierender Herzmuskelzellen erreicht und nutzte dieses Invitro-System, um den zellphysiologischen Effekt von Substanzen zu messen. Nach Versuchen der Kreislaufforscher ließen sich anhand der Pulsationsrate der Kulturen Wirkungsunterschiede zwischen verschiedenen Herzglykosiden ebenso sicher feststellen wie an isolierten Tierherzen.28 Wollenberger bot seine Kulturen als effektives Testsystem für Cardiotonika an. Zusammen mit dem Einsatz radioaktiv markierter Moleküle sah er sie außerdem als idealen Ansatzpunkt, die zellulären Angriffsorte der Wirkstoffe genauer zu charakterisieren.29 Trotz dieser Überschneidungen mit den Interessen Repkes liefen die beiden Projekte zunächst beziehungslos nebeneinander her. Der völlige Mangel an Kooperation, der sich auch in den jeweiligen Zitationspraktiken zeigte, ist in diesem Fall nur durch einen ausgesprochenen Abgrenzungswillen erklärbar. Repke hielt sich bis zu Beginn der 1960er Jahre auffallend von Veranstaltungen innerhalb der DDR fern und präsentierte seine Arbeiten bevorzugt auf den westdeutschen Pharmakologentagungen. Wollenberger ließ das Thema der HerzglykosidWirkung nach den Erinnerungen eines Mitarbeiters bewusst fallen, da er kein Interesse daran hatte, mit dem als ehrgeizig und durchsetzungsfähig geltenden Repke in Konkurrenz zu geraten.30 Die Differenzen lagen auch in verschiedenen 24 R. Schön, K. H. Menke, K. Repke, Bedeutung der Präparationsmethode für die Eigenschaften der (Mg)- und (NaK)-ATPase der Herzmuskel-Zellmembran vom Meerschweinchen, Acta Biologica et Medica Germanica 26 (1971), S. 51–65. 25 K. Repke an Vorstand der FG, Notwendigkeit und Bedeutung der partialsynthetischen Weiterentwicklung der Herzglykoside, 23.12.1961, ABBAW FG 192/2. 26 K. O. Haustein, F. Markwardt, K. Repke, Über die Darmwirksamkeit von Digitoxin, Pentaacetyl-gitoxin und anderen Acetyl-gitoxinen, Archiv für experimentelle Pathologie und Pharmakologie 252 (1966), S. 424-432, S. 430. 27 Wollenberger, Antrag auf Genehmigung zum Arbeiten mit radioaktiven Präparaten, 31.8.1956, ABBAW AKL 57. 28 A. Wollenberger, W. Halle, Specificity of the effects of cardiac glycosides on the rhythmic contraction of single cultured cardiac muscle cells, Nature 188 (1960), S. 1114–1115. 29 Wollenberger an Hellwig/IMB-Verwaltung, 2.7.1963, ABBAW Buch A 76. 30 Persönliche Information Ernst-Georg Krause, 6.3.2013.
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Forschungsstilen begründet. Wollenberger interessierte sich für die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen molekularen Mechanismen, die die Aktivität der Herzmuskelzelle – insbesondere im Zustand ihres Versagens – regulierten; für Repke ging es dagegen primär um die Nutzung der Grundlagenerkenntnisse für die Wirkstoffentwicklung. Zwischen den Mitarbeitern beider Abteilungen entwickelten sich mit der Zeit durchaus Arbeitsbeziehungen. Repkes Gruppe konnte vom exzellenten histochemischen und elektronenmikroskopischen Know-how der Kreislaufforscher profitieren, welches die Lokalisation verschiedener ATPaseAktivitäten in der Herzmuskelzelle ermöglichte.31 Das Institut für Biochemie hatte hervorragende Erfahrungen bei der Bestimmung von Enzymaktivitäten anzubieten.32 Eine geregelte Kooperation sollte jedoch nie entstehen. Erfolge daheim, Anerkennung im Ausland Schon vor seinem Stockholmer Auftritt hatte sich Repke eine Spitzenstellung in der internationalen Gemeinschaft der Herzglykosidforscher erobert. 1961 verbrachte er drei Monate in den USA, wo er neben einem Arbeitsaufenthalt bei dem Pharmakologen Leo T. Samuels in Salt Lake City auch die Möglichkeit erhielt, Kontakte mit mehreren führenden Biochemikern und Pharmakologen zu knüpfen.33 Eine Folge der Reise war, dass ihn der Altmeister Otto Krayer auf eine einjährige Gastprofessur in Harvard einlud.34 Mit dem Mauerbau sanken die Chancen auf längere Auslandaufenthalte jedoch rapide; trotz eindringlicher Unterstützung der IMB-Spitze verfügte der FG-Vorstand die Ablehnung des Angebots. 35 Die Entscheidung war sicherlich nicht nur der „gegenwärtigen politischen Lage“ geschuldet, sondern auch Bedenken gegen Repkes Person. Der aufstrebende Biochemiker galt bei den Kaderbürokraten als politischer Problemfall. Laut IMBParteileitung verbot er seinen Mitarbeitern ausdrücklich jegliche politische Betätigung und vergraulte mit seinem Verhalten junge Bewerber. Die Kaderleitung teilte daher weder ihm noch seinem Vorgesetzten Lohmann neue Arbeitskräfte zu, sah sich aber angesichts seines wissenschaftlichen Renommees gezwungen, keine „drastischen Maßnahmen“ zu ergreifen.36 Jung und Lohmann sahen sich aufgrund dieser politischen Reibereien in der Pflicht, einem drohenden Abgang Repkes durch Verbesserung seiner beruflichen 31 W. Schulze, A. Wollenberger, Zur feinstrukturellen und histochemischen Lokalisation von Adenosintriphosphatase-Aktivität in den Mitochondrien und anderen Zellelementen des Herzmuskels, Acta Biologica et Medica Germanica 11 (1963), S. 918–928. 32 R. Schön, K.H. Menke, Isolierung und enzymatische Eigenschaften der Zellmembran von Ehrlich-Aszites-Tumorzellen, Acta Biologica et Medica Germanica 18 (1967), S. 43–55; persönliche Information Ernst-Georg Krause, 6.3.2013. 33 K. Repke, Bericht über Reise nach Salt Lake City 4.5.–1.8.61, 25.10.1962, ABBAW AKL 62. 34 Repke an Vorstand der FG, 20.12.1961, ABBAW FG 192/2. 35 Klare an Jung, 19.3.1962, ABBAW FG 192/2. 36 M. Steinert, Einschätzung der kaderpolitischen Situation vom 13.8.1961, Nov. 1961, BAB DY 30/IV A 2/9.04/304.
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Perspektive entgegenzuwirken. Ende 1961 schlugen sie ihn für eine Leitungsposition im projektierten Institut für Arzneimittelforschung vor.37 Ferner schien es unumgänglich, seine isolierte Stellung im heimischen Wissenschaftsbetrieb zu überwinden. Auf Jungs wohlmeinenden Ratschlag, zum Abbau kollegialer „Mißverhältnisse” beizutragen, indem er ausnahmsweise auf einer DDR-Fachtagung auftrat, reagierte Repke jedoch mit einem kühlen Hinweis auf seine unklare Karriereperspektive.38 Repke wusste zu gut, dass er bei seinem internationales Ansehen von der Akademie mehr erwarten konnte als eine bloße Abteilungsleiterstelle. 1963 stieg sein Marktwert durch ein Angebot des Berner Pharmakologen Walther Wilbrandt, für drei Jahre eine Gastprofessur zu übernehmen, noch einmal erheblich. Während sich dieses Mal das IMB-Direktorium gegen eine so lange Abwesenheit wandte, sah der Präsident der DAW keinen Grund, Repke einen weiteren Auslandaufenthalt zu verwähren, wenn es für ihn in Buch keine Aussicht auf Verbesserung gab.39 Repke war aber keineswegs darauf aus, Buch und die DDR zu verlassen. Der Parteisekretär des Forschungszentrums stellte bei einer ausführlichen Unterredung überrascht fest, dass er es keineswegs mit einem abwanderungwilligen bürgerlichen Reaktionär zu tun hatte.40 Auch die IMB-Kaderleitung entwickelte Verständnis dafür, dass sich Repke aus Enttäuschung über die ausbleibende Verbesserung seiner Lage politisch zurückhielt.41 Mit der Annäherung an die Parteiorganisation gelang es Repke, sich für die anstehende Nachfolge Lohmanns in Stellung zu bringen. Die mögliche Abwanderung des erfolgreichen Biochemikers war mittlerweile ein Politikum. Akademiepräsident Hartke, der den Stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrates, Alexander Abusch, in die Sache einbezog, dekretierte unmissverständlich, dass der Verlust von Forschern seines Rages unbedingt zu verhindern war.42 Im Januar 1964 wurde Repke zum stellvertretenden Direktor des Instituts für Biochemie und damit zum designierten Nachfolger Lohmanns ernannt. Überlegungen, das Institut in seiner bestehenden Form aufzulösen, wurden nach einer Drohung Repkes, doch noch die Schweizer Option zu ziehen, schnell zu den Akten gelegt.43 Sicherlich hatten nicht allein die internationalen Angebote Repkes politischen Marktwert gesteigert, sondern auch die Markteinführung des neuen Herzglykosids. „Überführungsleistungen“ und praktische Erfolge bei der „Störfreimachung“ waren, trotz dauernder Verlautbarungen, eine Seltenheit in den Instituten der DAW, erst recht solche, die mit relativ geringem Aufwand erzielt wurden. Pentagit war ein Pfund, mit dem sich wuchern ließ. Repke vermerkte regelmäßig das 37 Jung an Vorstand der FG, 28.12.1961; Lohmann an Vorstand der FG 20.12.1961, beide ABBAW FG 192/2. 38 Jung an Repke, 11.5.1962; Repke an Jung, 18.5.1962, ABBAW Buch A 86. 39 Hartke an A. Abusch, 7.11.1963, ABBAW AKL 62. 40 Scholze an Hörnig/Abt. Wissenschaften beim Politbüro, 23.12.1963, ABBAW AKL 62. 41 Steinert/Kaderabteilung IMB, Beurteilung zu Repke, 23.12.1963, ABBAW AKL 62. 42 Aktennotiz W. Richter, Sekretariat des Präsidenten der DAW, 10.1.1964, ABBAW AKL 62. 43 Rienäcker, Notiz zu Gespräch mit Repke am 30.6.1964, 3.7.1964; Wittbrodt an Rienäcker, 14.7.1964, ABBAW AKL 62.
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schrittweise Vordringen des Präparats auf dem heimischen Markt und ausländische Lizenznahmen in seinen Arbeitsberichten.44 Seine Beteuerungen, dass das Derivat eine neue Qualität in der Therapie der Herzschwäche garantierte, fanden bei den heimischen Praktikern jedoch nur sehr begrenzte Zustimmung. Die ersten klinischen Erprobungen des Pentagit in der Medizinischen Akademie Erfurt wollten Fachleute nicht als klaren Nachweis eines überlegenen Nutzeffektes deuten. Auch Repkes tierexperimentelle Untersuchungen, nach denen die therapeutische Breite des Pentagit jene aller bekannten Herzglykoside übertraf, stießen auf Kritik.45 Der ZAK für Herz-Kreislaufforschung erwartete nach diesen Urteilen vom Pentagit keinen entscheidenden Durchbruch, obwohl in DDR-Kliniken noch immer vorwiegend Mischpräparate verwendet wurden, die schrittweise durch reine Glykosidpräparate ersetzt werden sollten. Allerdings zeigte die Lageeinschätzung der Kardiologen auch, dass es äußerst schwierig war, neue Präparate einzuführen und ihre Brauchbarkeit nachzuweisen. Die Kapazitäten für die klinische Erprobung neuer Herz- und Kreislaufmittel galten als völlig unzureichend.46 Insofern bedeutete es nur ein vorläufiges Urteil, wenn die klinischen Praktiker 1968 festhielten, dass „die partialsynthetischen Präparate ... die in sie gesetzten Erwartungen bisher nicht in jedem Falle erfüllt“ hätten.47 Für Repke stand die Entwicklung der partialsynthetischen Digitalisderivate ohnehin erst am Anfang. Dank seines theoriegeleiteten Ansatzes waren Derivate mit noch besseren Eigenschaften für ihn nur eine Frage der Zeit. 1965 hatte sein Institut bereits mit dem 16-epi-Gitoxin ein mögliches Nachfolgeprodukt des Pentagit identifiziert, das nach den Tierversuchen günstigere Wirkungseigenschaften versprach.48 Die klinische Prüfung des Präparats sollte jedoch einige Jahre in Anspruch nehmen. Wieviel Grundlagen braucht die Pharmakaforschung? Die Kritik der Kliniker dürfte dazu beigetragen haben, dass während der Akademiereform die Forderung an das FZ Buch herangetragen wurde, das Thema Herzglykoside einzustellen.49 Angesichts der zuvor getroffenen Grundsatzentscheidung, das gesamte Bucher Forschungsprogramm auf die Krebs- und Kreislaufforschung auszurichten, kam dieses Dekret überraschend. Repke hatte bei seinen Versuchen, die Entscheidung zu revidieren, die Rückendeckung von IMB44 Repke, Rechenschaftsbericht 1966, 4.1.1967, ABBAW FG 40. 45 W. Förster, W. Sziegoleit, I. Guhlke, Zur Frage der therapeutischen Breite von Pentaacetylgitoxin (’Pentagit’), Das Deutsche Gesundheitswesen 19 (1964), S. 1649–1651. 46 Geißler, Protokoll zur Sitzung des ZAK Herz- und Kreislauffragen am 17.3.1965 in der II. Med. Klinik der Charité, BAB DQ 1 /22518. 47 Niederschrift über die Beratung zu Problemen der Herzglykosidforschung im MWT am 25.7.1968, ABBAW Buch A 915. 48 Repke, Jahresbericht 1965 des Instituts für Biochemie, 12.1.1966, ABBAW FG 40; C. Lindig, R. Megges, K. Repke, 16-epi-Gitoxin, ein neues partialsynthetisches Herzglykosid, Naunyn-Schmiedeberg’s Archiv für experimentelle Pathologie und Pharmakologie 253 (1966), S. 66–67. 49 Klare an Prey (MWT), 18.6.1968, ABBAW Buch A 456.
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Kollegen, der DAW-Spitze sowie der pharmazeutischen Industrie, die weiterhin großes Potential in dem Projekt sah. Die Initiative für den Entschluss dürfte, wie so viele Reformvorschläge, von Rapoport als Leiter der FR-Gruppe für Biologie ausgegangen sein. Rapoport stellte den Wert von Repkes Arbeit keineswegs in Frage, auch wenn er die Kritik der Kreislaufmediziner am bisherigen therapeutischen Mehrwert übernahm. Nach seiner Vorstellung sollte sich Repkes Gruppe jedoch auf die Grundlagenaspekte des Projekts, also die Struktur und Funktion der Rezeptorenzyme, konzentrieren und die chemisch-synthetischen Arbeiten an das Industrielabor von AWD abgeben. 50 Eine Herauslösung der arbeitsintensiven, wenig prestigeträchtigen Synthesearbeiten kam Repkes Interessen eigentlich entgegen. Sein Projekt wurde stark durch die Erwartung der FG belastet, dass die Institute patentfähige Erfindungen möglichst weitgehend zur Anmeldung vorbereiteten. Das bedeutete, dass die Untersuchungen zu einer erfolgversprechenden Substanz sich auf die Optimierung von Ausbeuten und eine möglichst weitgehende Absicherung des Verfahrens erstrecken mussten. Frühere Versuche, solche Arbeiten an die Industrie abzugeben, waren „wegen mangelnder Kapazität oder äußerst unbefriedigender Resultate gescheitert“.51 Repkes Vorschläge, die eigenen Kapazitäten an verfahrenstechnisch ausgebildeten Chemikern zu erweitern, blieben jedoch ohne Erfolg, weshalb „wir zugunsten der industriebezogenen Forschung unsere international absolut führenden Arbeiten auf dem Gebiet des Stoffwechsels der herzwirksamen Steroide in den letzte zwei Jahren weitgehend haben einschränken müssen mit dem Ergebnis, daß amerikanische Arbeitsgruppen anfangen, auf dem von uns erschlossenen Felde zu ernten.“52 Repke wünschte also eine Entlastung bei den chemischen Routinearbeiten, dürfte aber aufgrund seiner Erfahrungen berechtigte Zweifel gehabt haben, dass die Entwicklungsabteilungen des VVB Pharmazeutische Industrie die für ihn notwendigen Vorarbeiten in qualitativ und quantitativ ausreichender Weise leisten konnten. Als anwendungsnah operierender Forscher wusste er, dass es angesichts der Defizite der Industrieforschung notwendig war, möglichst weitgehend die Kontrolle über seinen Projektbereich zu behalten. Dass er sich von der chemischen Seite des Projekts nicht trennen wollte, lag auch daran, dass er sich trotz aller Verlautbarungen über den grundlagenbasierten Charakter seiner Erfolge weiterhin eher als Mann der medizinischen Praxis denn als „reinen“ Forscher betrachtete. Sehr deutlich kam dies 1967 in seinem Beitrag zur Tagung „Sozialismus und wissenschaftlich-technische Revolution“ zum Ausdruck, in dem er sich nachdrücklich gegen die von der DAW angewandte Einteilung der wissenschaftlichen Tätigkeit in Erkundungforschung, gezielte Grundlagenforschung und angewandte
50 Niederschrift über die Beratung zu Problemen der Herzglykosidforschung im MWT 25.7.1968 (Zillmann), ABBAW Buch A 915. 51 Repke an Gummel, Antrag auf Einrichtung einer chemisch-technischen Abteilung am Institut für Biochemie, 29.11.1965, ABBAW Buch A 86. 52 Repke und Schön (für IGL) an Kettler, 31.7.1967, ABBAW FG 40.
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Forschung wandte.53 Für Repke implizierte diese Kategorierung ein hierarchisches Verständnis des Forschungsprozesses, nach dem die „reine Forschung“ richtungsweisende Ideen lieferte, denen die angewandte zu folgen hatte. Dieses in der Wissenschaftssoziologie als „lineares Modell“ bezeichnete Bild des Forschungsprozesses führte nach seiner Überzeugung völlig an der Realität vorbei. Die „Grundlagenforschung“ konnte nur dann einen „Vorlauf“ für die Praxis liefern, wenn die anwendungsnahe Forschung ausreichend entwickelt war, um neue Anregungen aufzunehmen und selbst Impulse zu liefern. Repke reagierte auf die Forderungen des FR, indem er selbst die Initiative ergriff. Die anstehende Einführung der auftragsgebundenen Forschung eröffnete die Möglichkeit, die eigene Position durch den Aufbau eines größeren Projektrahmens abzusichern. Nachdem er seit Übernahme des Direktorenpostens im IBC bereits eine erstaunliche Aktivität auf institutspolitischer Ebene entwickelt hatte, bildete er 1968 mit Kooperationspartnern von den Universitäten Berlin, Leipzig und Jena die WK „Molekulare Grundlagen des Membrantransports“. Als Leiter dieses Projekts, das später zur kleinsten HFR des MOGEVUS-Programms wurde, hatte Repke nicht nur bessere organisatorische Einflussmöglichkeiten. Er positionierte sich auf einem Feld, das zu den zukunftsträchtigsten der Molekularbiologie zählte: Die Erforschung von Membranstrukturen war wesentlich für das Verständnis von Immunreaktionen, des zellulären Wachstums, der Virusinfektion oder des neuralen Signaltransfers. Das war jedenfalls die Vision, die er in der Gründungsphase der Projekts anbot.54 Tatsächlich waren die Möglichkeiten in Buch und in den anderen beteiligten Instituten viel zu beschränkt, um ein wirklich umfassendes membranbiologisches Programm aufzubauen. Außerdem kam in den Diskussionen über die Konzeptionierung der HFR klar zum Ausdruck, dass Repke keineswegs gewillt war, seine bisherige starke Praxisorientierung aufzugeben. Als einige seiner Kollegen meinten, im Sinne einer konsequenten Grundlagenorientierung solle die NaK-ATPase nicht mehr „als Enzym oder als Wirkort biologischaktiver Verbindungen, sondern als funktionellen Baustein der biologischen Membran“ erforscht werden, führte Repke dagegen das in den Reformjahren allgegenwärtige Schlagwort „Primat der Ökonomie“ ins Feld.55 Die Entwicklung neuer Cardiotonika blieb sein übergeordnetes Forschungsziel; entsprechend wurde auch die Kooperation mit AWD bei der Synthese und Testung neuer Glykosidderivate fortgeführt. Dennoch verschob sich die Forschungspraxis seines Arbeitsbereichs nach 1970 deutlich auf Fragen der Struktur und Funktionsweise des Rezeptormoleküls, die mit der Wirkstoffentwicklung allenfalls indirekt in Beziehung standen. Die methodologischen Voraussetzungen hierfür waren zunächst nur rudimentär vorhanden. Wie erwähnt, war man von einer Reindarstellung der Membranenzyms 53 Beitrag K. Repke, in: G. Misgeld (Red.), Sozialismus, wissenschaftlich-technische Revolution und Medizin: Nationales Symposion, Berlin: Volk und Gesundheit, 1969, S. 128–33. 54 N.N., Einführung zur Ideenkonferenz über die Zielfunktion der Membranforschung, März 1970, ABBAW Buch A 766. 55 Kurzprotokoll über die Vorbereitung zur Ideenkonferenz „Steuerung der Membranfunktion“ am 19.2.1970 in Leipzig, ABBAW Buch A 766.
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weit entfernt. Das galt nicht nur für die Herzmuskel-NaK-ATPase. Zu Beginn der 1970er Jahre war noch keines der Enzyme, die als zelluläre Pharmaka-Rezeptoren bekannt waren, rein isoliert und strukturell untersucht worden. Durch die Verbesserung von Reinigungs- und Trennmethoden, die sich zu dieser Zeit auf allen Teilgebieten der Molekularbiologie niederschlugen – neue Zentrifugations- und Elektrophoresetechniken, radioaktive und immunologische Markierung, Affinitätschromatografie – geriet dies jedoch schnell in den Bereich des Möglichen. 1973 gelang im Labor des französischen Biochemikers J.-P. Changeux erstmals die Reindarstellung des Rezeptors des Neurotransmitters Acetylcholin.56 Ein entsprechender Entwicklungsstand wurde bei den NaK-ATPasen erst um 1980 erreicht.57 Für die Bucher Gruppe mit ihren beschränkten proteinchemischen Mitteln war vorerst an eine Bestimmung der Primärstruktur, also der Aminosäuresequenz, nicht zu denken. Jedoch boten die in Buch bereits etablierten sowie im Aufbau begriffenen biophysikalischen Methoden Möglichkeiten, die Konformation der Moleküle – beziehungsweise deren Änderung unter Einfluss eines Reaktionspartners – in ihrem quasi-natürlichen Zustand zu untersuchen. Repke hatte während der Institutsreform auf eine engere Verbindung zu den physikochemischen Methodengruppen wie auch auf ihre Erweiterung hingearbeitet.58 Für die Charakterisierung der Raumstruktur der in den Membranpräparaten enthaltenen Enzyme nutzte man Methoden wie die Circulardichroismus (CD)- und die Infrarot (IR)Spektroskopie, welche aber erst durch die Entwicklung spezieller Computerprogramme zur Filterung der gemessenen Signale fruchtbar wurden.59 Auf diese Weise konnten Einblicke in die Sekundärstruktur der Membranproteine gewonnen werden;60 die Ergebnisse waren aber nicht ausreichend, um die Frage nach dem Rezeptorareal des Enzyms zu beantworten. Die hierfür nötigen Ansätze zur weiteren Reinigung des Rezeptorproteins machten in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre zwar Fortschritte, führten aber nicht zur Reindarstellung. Versuche, den Rezeptorbereich mit Hilfe radioaktiv markierter Glykoside einzukreisen, blieben – anders als in westlichen Konkurrenzgruppen – erfolglos. Repke musste eingeste-
56 Prüll/Maehle/Halliwell 2009, S. 152–53. 57 J. C. Skou, The identification of the sodium-potassium pump. Nobel Lecture, December 8, 1997, www.nobelprize.org, Stand 23.2.2015. Die Bucher Gruppe näherte sich gegen Ende der 1970er Jahre ebenfalls hochgereinigten Präparaten an, vgl. F. Vogel, H. Meyer, R. Grosse, K. Repke, Electron microscopic visualization of the arrangement of the two protein components of (Na+-K+)-ATPase, Biochimica et Biophysica Acta 470 (1977), S. 497–502. 58 Repke an Lohs, 6.3.1969, ABBAW Buch A 86. 59 R. Grosse, J. Malur, K. Repke, Zur Bestimmung der Sekundärstruktur von Proteinen in Biomembranen mit Hilfe des Circulardichroismus, Acta Biologica et Medica Germanica 27 (1971), S. K25–31; R. Grosse, J. Malur, K. Repke, Zur Bestimmung der Sekundärstruktur von Proteinen aus Infrarotspektren, Acta Biologica et Medica Germanica 28 (1972), S. K11– 17. 60 K. Eckert, R. Grosse, J. Malur, K. Repke, Calculation and use of protein-derived conformation-related spectra for the estimate of the secondary structure of proteins from their infrared spectra, Biopolymers 16 (1977), S. 2549–2563.
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hen, dass er in diesem Fall das eigene Leistungsvermögen klar überschätzt hatte.61 Laut der mit der Arbeit betreuten Mitarbeiterin kostetete es einige Bemühungen, den Bereichsleiter davon zu überzeugen, dass die Identifizierung des Bindungsareals mit den verfügbaren Methoden nicht erreichbar war.62 Bessere Möglichkeiten bot das vorhandene Experimentalsystem, um die Funktion des Transportenzyms im Zellstoffwechsel zu untersuchen. Das NaKATPase-System bot sich hier tatsächlich, wie es die Konzeptionen des Membranprojektes postulierten, als Modell für ein allgemeines zellbiologisches Problem an, da es sich in der Zellmembran verschiedenster Zelltypen wie Nerven- und Blutzellen fand. Es war zwar seit Längerem geklärt, dass diese Enzyme den Austausch von Natrium- und Kaliumionen leisteten und dabei die Spaltung von ATP als Energiequelle nutzten; es gab aber keine gesicherten Erkenntnisse darüber, auf welche Weise der Ionentransport geregelt und in welchem quantitativen Verhältnis die ATP-Spaltung dazu stand.63 Die Funktionsweise von „Ionenpumpen“ wie den NaK-ATPasen waren eines der prestigeträchtigsten Gebiete der Molekularbiologie. Eine der umstrittenen Fragen war, ob die Na+- und K+-Ionen in abwechselnder Folge durch das Enzym geschleust oder parallel durch zwei verschiedene Kanäle transportiert wurden. Der Transportmechanismus konnte anhand der Membranpräparate untersucht werden, indem ihr Bindungsverhalten unter Einfluss von verschiedenen ATP- und Ionenkonzentrationen analysiert wurde.64 1973 leiteten Repke und seine Mitarbeiter daraus ein Struktur- und Funktionsmodell ab, das den Ablauf des Ionentransports, die dabei ablaufenden energieliefernden Prozesse sowie die Konformationsänderungen des aktiven Moleküls zusammenhängend erklären sollte. Gestützt auf die Arbeiten einer französischen Gruppe bezeichneten sie das Schema als „Flip-Flop-Modell“.65 Die bildliche Darstellung des Membranenzyms und seiner verschiedenen Beziehungen zum Zellstoffwechsel gehörten eindeutig der Symbolik und Logik der Molekularbiologie an. Die weiteren Arbeiten griffen weiter auf allgemeine Fragen der zellulären Energiekonversion aus.66 Die Gruppe entfernte sich also von der eigentlichen Rezeptorproblematik und fand Anschluss an ein international boomendes Gebiet der molekularen Zellphysiologie. Entsprechend präsentierte Repke die Ergebnisse das „Flip-FlopModell“ offensiv als „weltstandsbestimmenden“ Beitrag zu einem Schlüsselproblem der Molekularbiologie.67 Die Arbeiten ernteten tatsächlich ein gewisses internationales Echo, jedoch weit weniger Zuspruch, als seine Berichte suggerierten.68 61 62 63 64 65 66 67 68
Jahresbericht 1976, Bereich Biomembranen, 3.12.1976, ABBAW Buch A 930. Autobiographie Eva Spitzer, Pasternak 2002, S. 153–157, S. 153. Skou 1997 (wie Fn. 57). K. Repke, F. Dittrich, P. Berlin, H. J. Portius, On physical forces governing cardiac glycoside activity, Annals of the New York Academy of Sciences 242 (1974), S. 737–739. K. Repke, R. Schön, Flip-flop model of (NAK)-ATPase function, Acta Biologica et Medica Germanica 31 (1973), S. 19–30. K. Repke, R. Schön, F. Dittrich, Flip-Flop-Modell der Energieumwandlung durch die (Na,K)ATPase, Ergebnisse der experimentellen Medizin 24 (1977), S. 157–176. Repke, Jahresbericht 1976 des Bereichs Biomembranen, 3.12.1976, ABBAW Buch A 930. M. Klingenberg, Membrane protein oligomeric structure and transport function, Nature 290 (1981), S. 449–454.
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Auch Repke selbst scheint der vermeintlichen theoretischen Spitzenleistung keineswegs eine bahnbrechende Bedeutung beigemessen zu haben, konnte sie doch keinen Beitrag zur pharmakologischen Verbesserung der Herzglykoside liefern. Verbesserte Wirkungsanalysen, ausbleibende Wirkung Auch nachdem zu Beginn der 1970er Jahre die Struktur und Funktion der NaKATPase zum offiziellen Arbeitsschwerpunkt der Gruppe wurde, betonte Repke, dass es weniger darum ging, ein umfassendes Modell für die Aktivität der Herzmuskelzelle zu entwickeln, sondern dass das Membranenzym weiterhin primär als molekulares Werkzeug zur Analyse von Struktur-Wirkungsbeziehungen bei Herzglykosiden dienen sollte.69 Rückblickend stellte er den ersteren Aspekt als eher zweitrangige Seite der Wirkstoffstudien dar, die man allein darum in den Vordergrund gehoben habe, um den „Anordnungen“ der Wissenschaftsbehörden nachzukommen, sich auf membranbiologische Grundlagenprobleme zu konzentrieren.70 Sie waren demnach ein taktisches Manöver, um unter der Firmierung der zellbiologischen Grundlagenforschung die eigentlich als vorrangig betrachteten Herzglykosidarbeiten weiterzuführen – eine bemerkenswerte Umkehrung des gängigen Bildes der DDR-Wissenschaftspolitik, demzufolge die freie Forschung Opfer erzwungener Praxisorientierung wurde. Aus der Perspektive der Wirkstoffentwicklung waren die Arbeiten zur Funktion des Rezeptorenzyms tatsächlich keine Notwendigkeit. Um Hinweise auf die optimale Wirkstoffstruktur zu erarbeiten, waren vergleichende Tests am bewährten Membran-Testsystem völlig ausreichend. Das In-vitro-Modell war geeignet, die unmittelbare Wirkungsstärke einer großen Anzahl von Derivaten zu vergleichen. Auf diese Weise konnte festgestellt werden, welche Modifiktionen des Struktur – etwa Abwandlungen in einer bestimmten Molekülregion oder das Anhängen bestimmter Seitenketten – die Wirksamkeit positiv oder negativ beeinflussten.71 Ausgehend von den so gesammelten Daten richtete sich seit Beginn der 1970er Jahre die Aufmerksamkeit auf den an das Steroidgerüst anschließenden Laktonring. Bestimmte Substituierungen in dieser Region zeigten im molekularbiologischen Test eine besonders günstige Veränderung der Hemmwirkung.72 Anscheinend war die Stelle gefunden, an welcher der Wirkstoff an das Rezeptorenzym band. Nachdem zunächst angenommen wurde, dass sich die Komplexbildung über eine Wasserstoffbrücke vollzog, wurde nach weiteren Untersuchungen mit Modellsubstanzen die These einer Dipol-
69 K. Repke, F. Dittrich, P. Berlin, H. J. Portius, On physical forces governing cardiac glycoside activity, Annals of the New York Academy of Sciences 242 (1974), S. 737–739, S. 737. 70 Repke/Megges/Weiland/Schön 1995, S. 282. 71 Repke, Jahresbericht 1965 Institut für Biochemie, 12.1.1966; Repke, Rechenschaftsbericht 1966, 4.1.1967, beide ABBAW FG 40. 72 Leistungsbericht 1972 des Themenkollektivs Bereich Biomembranen, November 1972, ABBAW Buch A 752.
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Dipol-Wechselwirkung vertreten.73 Repke sah mit diesem theoretischen Modell erstmals die Möglichkeit gegeben, die Wirkungsstärke eines Moleküls vorauszuberechnen. Für Substanzen, deren Raumstruktur röntgenstrukturanalytisch genau analysiert war, ließ sich auch das Dipolmoment bestimmen. Obwohl es in der Reihe der Herzglykoside nur wenige entsprechende Daten gab, fand die Gruppe eine Korrelation zwischen diesen Werten und ihrer Aktivität im Rezeptortest. Auf einer Tagung in New York Ende 1973 wagte Repke selbstbewusst die Voraussage, dass man auf Grundlage dieser Ergebnisse bald in der Lage sein werde, die biologische Aktivität einer Substanz vorherzusagen, ohne sie synthetisiert zu haben.74 Hatte man erst genug Daten über die Geometrie verschiedener Herzglykoside gesammelt, sollte es auch möglich sein, die Bindungskräfte für noch unbekannte Verbindungen abzuleiten. Repke sah seine Gruppe für diese Aufgabe ausreichend vorbereitet. Während des Umbaus hatte er seinen Bereich um quantenchemisch vorgebildete Fachkräfte erweitert. Seine Theoretikergruppe erarbeitete in den folgenden Jahren ausgehend von der strukturanalytischen Ableitung der Wechselwirkungsstärken zahlreicher Digitalisderivate einen Algorithmus, der „die grobe Vorabschätzung der Wirkstärke von Derivaten vor ihrer Synthese“ erlauben sollte, und zwar nicht nur hinsichtlich ihrer Aktivität am Rezeptor, sondern auch ihrer physiologischen Wirksamkeit.75 1977 gelang es nach eigener Aussage mittels eines Computerprogramms erstmals, die biologische Aktivität einer neu synthetisierten Substanz mit großer Genauigkeit vorauszuberechnen.76 Die Vorstellungen über die Grundlagen der Wirkungsspezifität veränderten sich im Verlauf dieser biophysikalischtheoretischen Arbeiten wesentlich. Die Bindung zwischen Wirkstoff und Rezeptor hing demnach nicht einfach von der Anwesenheit bestimmter Seitenketten in einer bestimmten Position ab, sondern war eine Frage räumlicher Dynamik, nämlich der Rotationsfähigkeit der Bindungsstelle zwischen dem Laktonring und dem Steroidgerüst.77 Hinweise darauf, warum gerade Moleküle mit hoher „konformationeller Flexibilität“ besonders wirksam waren, kamen aus den Arbeiten zur Konformation der Rezeptoren. Die Transport-ATPasen lagen nach diesen in der Membran stets – abhängig von ihrem Reaktionszustand – in verschiedenen Konformationen vor.78 Demnach trafen die Wirkstoffe im Herzmuskel nicht einfach auf den Herzglykosid-Rezeptor, sondern vielmehr auf „Enzympopulationen“ mit verschiedener Verteilung an ATPasen unterschiedlicher Isoenzymcharakteristiken 73 J. Malur, K. Repke, Modelluntersuchungen über die Beteiligung einer WasserstoffBrückenbindung an der Komplexbildung zwischen Cardenolidverbindungen und (Na+-K+)aktivierter, Mg2+-abhängiger ATPase, Acta Biologica et Medica Germanica 24 (1970), S. K67–72; Jahresabschlußbericht 1973 des Bereichs Biomembranen, 12.11.1973, ABBAW Buch A 751. 74 Repke u.a. 1974 (wie Fn. 64), S. 737. 75 Jahresbericht 1976, Bereich Biomembranen, 3.12.1976, ABBAW Buch A 930. 76 Jahresbericht 1977, Bereich Biomembranen, 2.12.1977, ABBAW Buch A 931. 77 P. Berlin, Konformationsberechnungen von Effektoren der (Na,K)-ATPase, Ergebnisse der experimentellen Medizin 24 (1977), S. 181–183. 78 Repke, Expertise „Partialsynthetische Weiterentwicklung der herzwirksamen Digitalissteroide“, 29.3.1978, ABBAW Buch A 1172.
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und Aktivitätszustände. Hohe Wirksamkeit entfalteten nach dieser Idee solche Moleküle, die mit möglichst vielen dieser Rezeptorkonformationen interagieren konnten. Vorteilhaft war also nicht strenge Spezifität, sondern „mangelnde Rezeptordiskriminierung“ beziehungsweise eine „Unschärfe in der Informationsverschlüsselung.“79 Die Grundidee dieses Konzepts war keine völlig Neuheit, sondern durch die Arbeiten einer US-amerikanischen Steroidchemikergruppe inspiriert. Auf dem Herzglykosid-Gebiet sah Repke seine Gruppe jedoch als die weltweit einzige an, die über einen wirklich theoretischen Zugriff auf das Struktur-Wirkungs-Problem verfügte. Die internationale Konkurrenz war für ihn zu Beginn der 1970er noch immer nicht über reine „trial-and-error“-Ansätze hinausgekommen. Dennoch malte er beständig die Gefahr an die Wand, dass westliche Gruppen dank technischer Überlegenheit in kurzer Zeit vorbeiziehen würden, wenn sie einmal die Grundlagen der theoretischen Konformationsanalyse aufgriffen. Aus diesem Grund wurde die systematische Analyse der 300 bis dahin im Membran-ATPase-System getesteten Substanzen nicht veröffentlicht.80 Als sein Bereich 1980 erstmals Besuch von dem australischen Pharmakologen E. R. Thomas erhielt, mit dem sich eine langfristige und enge Zusammenarbeit entwickeln sollte, zog es Repke vor, mit verdeckten Karten zu spielen. Er vermerkte mit einiger Genugtuung, dass der Gast von den eigenen „schon vor geraumer Zeit erreichten, aber konsequent geheimgehaltenen” Ergebnissen über Struktur-Wirkungsbeziehungen noch weit entfernt war und offensichtlich auch über keine erfolgversprechende Synthesestrategie verfügte.81 Das Ziel der Entwicklung neuer Cardiotonika mit überlegener therapeutischer Breite war für Repke so vorrangig, dass er dafür auch bereit war, Einbußen an wissenschaftlicher Reputation hinzunehmen. Mitte der 1970er Jahre begann das Syntheseprogramm der Repke-Gruppe jenen „theoriegeleiteten“ Charakter anzunehmen, der in den Anfängen als Zielsetzung ausgegeben worden war. Die materiellen Probleme der Wirkstoffentwicklung verringerten sich damit nicht. Auch wenn man die Herstellung neuer Derivate zielgerichteter angehen konnte, blieb die chemische Synthese ein besonders aufwändiger Teil der Institutsarbeit. Herzglykoside waren für den synthetischen Chemiker besonders anspruchsvoll; der Arbeitsaufwand galt als etwa zehnmal so hoch wie bei den verwandten Steroidhormonen.82 Eine Erweiterung des Substanzspektrums wurde durch den Austausch mit westlichen Chemikern erreicht, die seltene Derivate anzubieten hatten.83 Zur seriellen Darstellung von Glykosidderivaten kam die routinemäßige Testung der Substanzen; so gingen etwa 1973 41 neue Derivate durch den In-vitro-Test. Diese Arbeiten waren nicht rein empirischer Natur, weil die Befunde ständig das Datenmaterial für die Struk79 (Repke), Thesen für die Dienstbesprechung am 5.5.1980, ABBAW Buch A 1172. 80 Leistungsbericht 1972 des Themenkollektivs Bereich Biomembranen, November 1972, ABBAW Buch A 752. 81 Repke, Besucherbericht zu E.R. Thomas, 4.11.1980, ABBAW Buch A 1085. 82 Repke, Expertise „Partialsynthetische Weiterentwicklung der herzwirksamen Digitalissteroide“, 29.3.1978, ABBAW Buch A 1172. 83 Repke/Megges/Weiland/Schön 1995, S. 288.
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tur-Wirkungs-Analyse erweiterten. Bisweilen wurden auch als pharmakologisch unbrauchbar geltende Substanzen genauer analysiert, wenn sie etwa für Fragen der Bindungskinetik besonders geeignet erschienen.84 Die Notwendigkeit, ständig einen großen Teil der Ressourcen für die Herstellung des Forschungsmaterials herzustellen, bedeutete für den Bereich Membranforschung eine erhebliche Belastung. Die Möglichkeiten einen Teil der Arbeiten an den Kooperationspartner AWD auszulagern, waren eng begrenzt, da die Industrielabore ihre Arbeitskraft auf die wichtigsten Produktionsgebiete konzentrieren mussten. Mit dem zunehmendem politisch-ökonomischen Druck, die Produktpalette einzuschränken, schwanden diese Kapazitäten weiter. 1977 kündigte die Forschungsabteilung von AWD das Ende der eigenen synthetischen Arbeiten an. Gestiegene Anforderungen auf dem Gebiet der Produktsicherheit und die Konzentration auf Produkte mit großen Exportaussichten ließen die Herzglykoside nicht mehr vorrangig erscheinen.85 Der Vorschlag der AWD-Direktion, befristete Stellen für spezialisierte Chemiker in Buch zu finanzieren, lehnte ZIM-Direktor Jung ab, da sich durch ähnliche Konstruktionen bereits zahlreiche Nachwuchskräfte ohne feste Zukunftsperspektive im Institut angesammelt hatten.86 Die mit der Einführung von Pentagit verbundenen Hoffnungen auf halbsynthetische Herzglykoside erschienen für die Verantwortlichen in der Pharmaindustrie also nicht mehr realistisch – oder als ökonomisch aussichtslos. Aus der Forscherperspektive war zu diesem Zeitpunkt das Ziel einer theoretisch fundierten Synthesekonzeption gerade erst erreicht, eine weitere Verbesserung innerhalb dieser Pharmakaklasse demnach noch möglich. Bei den bereits erprobten Substanzen waren sichtbare Fortschritte jedoch ausgeblieben. Das Mitte der 1960er Jahre als neuer Hoffnungsträger gehandelte 16-epi-Gitoxin konnte in klinischen Tests kaum überzeugen; gleiches galt für das 16-alpha-Gitoxin, das Repke zu Beginn der 1970er Jahre als erste echte Frucht theoriegestützter Produktfindung anpries, die in pharmakologischer sowie produktionsökonomischer Hinsicht „international konkurrenzlos“ sein sollte.87 In vergleichenden Probandenstudien an der Medizinischen Akademie Erfurt schnitten beide Neuentwicklungen nicht deutlich besser ab als bereits etablierte Glykosidpräparate.88 Weitere Tests wiesen zwar die vorhergesagte gute Verträglichkeit des 16-epi-Gitoxin nach, aber auch eine bescheidene Wirksamkeit bei der chronischen und akuten Herzinsuffizienz. Die Möglichkeit, das heimische Mittel in der Infarkttherapie zu erproben, wurde
84 Repke, Jahresabschlußbericht 1973 des Bereichs Biomembranen, 12.11.1973, ABBAW Buch A 751. 85 Landmann/AWD an Jung, 7.4.1977, ABBAW Buch A 1172. 86 Jung an Landmann, 21.4.1977, ABBAW Buch A 1172. 87 Leistungsbericht 1972 des Themenkollektivs Bereich Biomembranen, November 1972, ABBAW Buch A 752; Repke, Jahresabschlußbericht 1973 des Bereichs Biomembranen, 12.11.1973, ABBAW Buch A 751. 88 H. Fiehring, Herzglykosidtherapie bei akuter Herzinsuffizienz, Das Deutsche Gesundheitswesen 27 (1972), S. 2024–2027.
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schnell fallengelassen, da es hier mit den Betablockern bereits eine effektive und preisgünstige Alternative gab.89 Die Entwicklung neuer Herzglykoside hatte in wissenschaftlicher Hinsicht zweifellos einen hohen Stand erreicht, war aber in ökonomischer Hinsicht ohne Perspektive. Das therapeutische Potential der altehrwürdigen Pharmaka ließ sich, entgegen Repkes Erwartungen, nicht entscheidend steigern. 1978 signalisierte die ZIM-Leitung gegenüber der Parteibürokratie, dass das bei der Cardiotonikaentwicklung verfolgte Ziel „offensichtlich zu hoch gesetzt war. Es werden zwar wesentliche Synthesekonzeptionen und Strukturprinzipien entwickelt; es wird aber nach heutiger Sicht nicht gelingen, jetzt oder auch im kommenden Fünfjahresplan ein produktionswirksames neues Produkt vorzulegen.“90 Zu diesem Zeitpunkt war bereits vorgesehen, das Programm während des Fünfjahresplanes 19761980 auslaufen zu lassen. Wie schon zehn Jahre zuvor fand Repke Wege, seine Beziehung zu den Herzglykosiden allen Planungen zum Trotz fortzuführen. Er versuchte dem Bedeutungsverlust „seiner“ Wirkstoffe entgegenzuwirken, indem er Studien zu ihren möglichen psychopharmakologischen sowie kanzerostatischen Wirkungen in Aussicht stellte.91 Die neuen Themen sollten zunächst in kleinem Rahmen als „Initiativforschung“ verfolgt werden und schrittweise die laufenden chemischen und membranbiologischen Arbeiten ablösen.92 Jungs argwöhnte frühzeitig, dass es sein Kollege darauf anlegte, sein Steckenpferd auch im folgenden Jahrzehnt weiterreiten zu können.93 Tatsächlich wurde ihm dies durch seinen Industriepartner ermöglicht, der dem ZIM 1980 überraschenderweise einen neuen Kooperationsvertrag vorlegte. Das entsprach zwar nicht den Vorstellungen Jungs, war aber ein Angebot, das er kaum ablehnen konnte;94 dafür war das Institut von der Finanzierung durch Industriepartner bereits zu abhängig. Dass eine Weiterführung der Synthesekonzeption und der Strukturuntersuchungen am Rezeptorenzym tatsächlich noch zur Auffindung verbesserter Herzglykoside führten, glaubte in der Institutsleitung kaum noch jemand – wohl aber Repke, der auf entsprechende Kritik zunehmend pikiert reagierte.95 Zu diesem Zeitpunkt hatte sich längst ein neuer Arbeitsschwerpunkt in seinem Bereich etabliert. Nachdem zu Beginn der 1970er Jahre in der HFR Membranbiologie die Forderung aufgekommen war, die Forschung über das Rezeptorthema hinaus zu entwickeln, schwenkte die Konzeption auf das Thema „Erkennungsmechanismen der Zell-Zell-Wechselwirkung“ ein. Die gewonnenen Erfahrungen mit Membranenzymen sollten dabei auf immunologische Aspekte des normalen und 89 Zusammenfassende Darstellung der bisherigen Ergebnisse der pharmakologischen und klinischen Untersuchungen von 16-epi-Gitoxin, August 1979, ABBAW Buch A 1172. 90 Vorlage für die SED-Kreisleitung zur Verteidigung der Leistungen des ZIM 1977 am 2.2.1978, ABBAW Buch A 1096. 91 Repke an Landmann/AWD, 2.10.1974, ABBAW Buch A 925. 92 Repke an Scheler, 20.7.1976, ABBAW Buch A 925. 93 Jung an Repke, 30.10.1975, ABBAW Buch A 925. 94 Jung an Strätling/Germed Dresden, 1.3.1980, ABBAW Buch A 1172. 95 Jung an Repke, 18.6.1980, ABBAW Buch A 1172; Repke an Jung, 1.7.1980, ABBAW Buch A 1085.
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malignen Zellwachstums angewandt werden.96 Nachdem das Thema zunächst eher untergeordnete Bedeutung hatte, wurden Ende der 1970er Jahre neue experimentelle Systeme adaptiert – insbesondere die von mehreren ZIM-Gruppen genutzten viral transformierten Rinderleukosezellen – und mit der Charakterisierung von Tumorantigenen begonnen.97 Das war eine Folge des steigenden planerischen Drucks, neue Projekte anzubieten, die sich in übergeordnete Programme eingliederten. Es wäre aber nicht zu diesem Richtungswechsel gekommen, wenn die Grundlagenaspekte des Herzglykosidprojekt nicht zuvor eine Eigendynamik entwickelt hätten, die es an zellbiologische Probleme anschlussfähig machten. 4.2. PEPTIDHORMONE – LAND DER UNBEGRENZTEN MÖGLICHKEITEN? Die pharmakologische Abteilung des IMB verfügte in den 1950er Jahren über kein klares Profil in der Wirkstofftestung und –entwicklung. Friedrich Jung etablierte nach seiner Berufung die Untersuchung toxischer Einflüsse auf die Struktur von Erythrocyten und Hämoglobin als Schwerpunktthema, die bereits seit seiner Zeit als Assistent unter Wolfgang Heubner sein bevorzugtes Arbeitsgebiet war. Ansätze zu Studien über bestimmte Wirkstoffklassen blieben in einem begrenzten Rahmen. Das galt etwa für Arbeiten über die Wirkungsweise der entzündungshemmenden Wirkstoffe der Kamille, der Azulene, die ebenfalls ihren Ursprung in Heubners Berliner Universitätsinstitut hatten.98 Die Studien über neue synthetische Derivate aus dieser Stoffklasse, die Jung aus seiner Würzburger Tätigkeit mitbrachte, waren ein Beispiel für industrienahe Testarbeiten, die zur Routine pharmakologischer Institute gehörten. Jung und seine Mitarbeiter führten in den 1950er Jahren beständig toxikologische Auftragsstudien über neu in den Handel gehende Chemikalien durch. Da Jung seinen Mitarbeitern bei der Themenauswahl viel Freiraum ließ, umfasste das Programm seiner Abteilung eine Reihe von Projekten, die teilweise nur kurzfristig verfolgt wurden.99 Schon frühzeitig wurde die pharmakologische Abteilung innerhalb des Instituts, vor allem von Seiten der Kliniker, für ihren fehlenden Bezug zu Krebsfragen kritisiert. Jung hielt es für wenig erfolgversprechend, bei der bestehenden Ausrichtung und den begrenzten Mitteln der Abteilung in die Krebspharmakologie einzusteigen, war aber bereit, seinen Kritikern entgegenzukommen.100 Eine erste Möglichkeit boten die Arbeiten über Azulene. Da Entzündungsprozesse nach der 96 Repke, Konzeption zur langfristigen Planung 1976–80, Bereich Biomembranen, 1. Entwurf, 30.5.1973, ABBAW Buch A 925. 97 Repke/Schön, Zur Planung der Arbeiten der Aufgabenstellung „Membranregulation der Zellproliferation“, 25.9.1979, ABBAW Buch A 1032. 98 F. Jung, W. Schoetensack, G. Bruno, Synthetische Azulene I., Archiv für experimentelle Pathologie und Pharmakologie 213 (1951), S. 1–7. 99 F. Jung, Aufgabengebiete des Instituts für Pharmakologie (1947–1965), ABBAW FG 79. 100 Scheler/Oehme 2002, S. 112; vgl. Jung, Wiss. Planung Abt. Pharmakologie 1951, ABBAW Buch A 89.
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Krebstheorie Graffis einen Ausgangspunkt der malignen Umwandlung von Zellen bilden konnten, bot sich an, die Beeinflussung der Kanzerogenese durch diese Substanzen zu untersuchen. Die gemeinsamen Versuche blieben jedoch kurzlebig und folgenlos.101 Ende der 1950er Jahre begann Jungs Institut einen größer angelegten Versuch, auf dem Gebiet der Cytostatika Fuß zu fassen. In den Räumen des Universitätsinstituts begann eine Arbeitsgruppe mit synthetischen und pharmakologischen Versuchen an Benzimidazol-Derivaten. Aufgrund ihrer strukturellen Verwandtschaft mit den im Zellkernstoffwechsel bedeutenden Purinen erschien diese Substanzklasse als möglicher Lieferant wirksamer Antimetabolite. Jung verband mit dem Projekt möglicherweise längerfristige Pläne. Er hoffte, mit der Arbeitsgruppe den Grundstock für eine Abteilung eines neuen Instituts für Arzneimittelforschung aufzubauen, das damals als Erweiterung des für die Pharmaindustrie nutzbaren Forschungspotentials in der Akademie diskutiert wurde.102 Mit den begrenzten Mitteln der Gruppe war jedoch nur ein sehr eingeschränktes Programm möglich. Die Entwicklung von Derivaten war aufwändig und verlangte teure Ausgangsstoffe. Außerdem waren nur geringe Möglichkeiten vorhanden, die Substanzen zu testen. Bei den ersten Versuchen wurden zwar einzelne Derivate gefunden, die an bestimmten Tierversuchsmodellen kanzerostatische Effekte zeigten; die Ergebnisse waren aber an verschiedenen Geschwulstmodellen sehr uneinheitlich.103 Die Benzimidazol-Versuche wurden trotz unklarer Erfolgsaussichten nur schrittweise aufgegeben. Nach 1960 wurden sie um entsprechende Versuche mit Aminosäuren und kleinen Peptiden erweitert104 – und damit in ein Programm integriert, das zu diesem Zeitpunkt als zweiter Schwerpunkt des Instituts aufgebaut wurde: die Synthese und pharmakologische Prüfung von Peptidwirkstoffen. Perspektiven für die Industrie, Grundlagen für die Forschung Die Festlegung auf dieses Thema war das Ergebnis einer konzertierten Aktion von akademischen Wissenschaftlern, Wissenschaftsbehörden und pharmazeutischer Industrie. 1959 nahm Jungs Abteilung auf „Empfehlung“ des Forschungsrates einen Forschungsauftrag an, der vorsah, in Kooperation mit dem VEB Berlin101 H. Barton, U. Heine, A. Graffi, F. Jung, Versuche zur Beeinflussung der Cancerogenese durch 1-Isopropyl-5-methyl-azulen, Archiv für experimentelle Pathologie und Pharmakologie 223 (1954), S. 443–449; H. Barton, W. Krischke, F. Jung, A. Graffi, Die Wirkung des 1Isopropyl-5-methyl-azulens auf Stoffwechsel, Wachstum und Metastasierung des Mäuseascitescarcinoms, Archiv für experimentelle Pathologie und Pharmakologie 225 (1955), S. 260– 268. 102 Knobloch an Graffi, Rechenschaftsbericht über die Arbeit des Chemischen Laboratoriums der Arbeitsgruppe „Chemotherapie“ in der Abt. Pharmakologie, 10.9.1957, ABBAW Buch A 466; Jung an Friedrich, 6.6.1961, ABBAW Buch A 466. 103 K. Rintelen, W. Knobloch, Beeinflussung von Mäuse-Ascites-Tumoren durch Benzimidazolderivate, Acta Biologica et Medica Germanica 1 (1958), S. 109–113. 104 Jung/Wiegershausen/Knobloch, Themenvorschlag zum Plan neue Technik, Thema Pharmakologie der Peptide, 30.5.1961, ABBAW Buch A 474.
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Chemie die methodischen Grundlagen für die Strukturanalyse von Peptiden aufbauen.105 Die Aufnahme des Projekts fiel in eine Zeit, in der versucht wurde, die größten Forschungs- und Produktionslücken in der Pharmaindustrie durch systematische Entwicklungsprogramme zu schließen. Im Verlauf der 1950er Jahre war der Rückstand der DDR-Pharmaindustrie auf fast allen Produktionsgebieten immer deutlicher geworden. Um die Abhängigkeit von Importen aus Westdeutschland einzuschränken, nahmen einzelne Betriebe die Produktion von Generika verbreiteter Wirkstoffe auf. Da in den chemischen Betrieben zumeist wissenschaftlich qualifizierte Mitarbeiter fehlten, spielten bei der Projektentwicklung Hochschulpharmakologen eine führende Rolle.106 Die Entwicklung neuer Produkte war jedoch stark durch den Mangel an grundlegenden Materialen und Methoden eingeschränkt. Versuche, Forschung und Grundstoffproduktion für die wichtigsten Stoffklassen voranzubringen, gingen von den ZAK sowie von im Rahmen des Forschungsrates gebildeten „Forschungsgemeinschaften“ aus. Entsprechende Gruppen wurden etwa für die Gebiete Steroide und Peptide gegründet. Auf Initiative der letzteren wurde ab 1961 die industrielle Produktion von Aminosäuren aufgenommen, ohne welche größere Forschungsprojekte auf dem Peptidgebiet kaum möglich gewesen wären.107 Für Jung war die Teilnahme an einem praxisorientierten Programm eine Frage sozialistischer Pflichterfüllung. Auf einer Arbeitstagung drei Monate nach dem Mauerbau erinnerte er seine Kollegen daran, dass es im Moment darauf ankam, die bestehende Importabhängigkeit in der Arzneimittelwirtschaft zu begrenzen. Es war zwar offensichtlich, dass die DDR weder allein noch im Verbund mit ihren sozialistischen Bruderländern „arzneimittelautark“ werden konnte. Dennoch konnte und sollte man nicht alles importieren, „was tüchtige Vertreter und Propagandisten der westdeutschen Industrie im Verlaufe langer Jahre unseren Ärzten als lebensnotwendige Therapie aufgeschwatzt haben.“108 Die Begrenzung des Arzneimittelsortiments konnte Jung als Vorsitzender des „Zentralen Gutachterausschusses für den Arzneimittelverkehr“, über den alle Genehmigungsverfahren liefen, selbst entscheidend gestalten.109 Er wurde dabei nie müde, westdeutsche Fehlentwicklungen wie die Überflutung des Marktes mit wirkungsgleichen Produkten und zweifelhaften Naturheilmitteln zu geißeln.110 In seiner wissenschaftspolitischen Funktion konnte er freilich auch beobachten, dass der Abstand zwischen den Innovationsgeschwindigkeiten der westlichen und der eigenen Industrie immer größer wurde. Mit der Chemie der Peptide – Verbindungen aus kurzen Sequenzen von Aminosäuren – betrat man ein Gebiet, das international in starkem Wachstum 105 106 107 108
Jung an Direktorium IMB, 7.12.1959, ABBAW Buch A 89. Für das Gebiet der Psychopharmaka vgl. exemplarisch Klöppel 2009. Protokoll Sitzung Gruppe Medizin 23.3.1961 im ZFT, BAB DQ 1/4511. F. Jung, Begrüßung zu: Pharmakologie der Peptide, Diuretika und zentralwirksamen Stoffe. 4. Arbeitstagung der AG der Industrie- und Hochschulpharmakologen der DDR 22.– 25.11.1961, Acta Biologica et Medica Germanica Suppl. 2 (1963), S. 7–8. 109 Scheler/Oehme 2002, S. 121–126. 110 F. Jung, Rote Liste 1959, Das Deutsche Gesundheitswesen 14 (1959), S. 1198–1199.
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begriffen, dessen Anwendungsprofil jedoch alles andere als klar definiert war. Anfangs der 1960er Jahre war bereits eine Reihe physiologisch bedeutsamer Peptidhormone erforscht und synthetisiert worden, etwa das vielfältig wirksame Oxytocin, das „Stresshormon“ ACTH und die blutdruckwirksamen Hormone Angiotensin, Bradykinin und Eledoisin. Ermöglicht wurden diese Fortschritte durch die Entwicklung neuer proteinchemischer Methoden seit den 1940er Jahren, die es erlaubten, den Aufbau von Eiweißen aus Aminosäuren durch schrittweisen Abbau dieser molekularen Bausteine zu analysieren. Bei den kurzkettigen Verwandten der Proteine, den Peptiden, eröffneten diese Techniken völlig neue strukturanalytische Perspektiven. 1953 konnte Vincent Du Vigneaud in den USA das aus neun Aminosäuren bestehende Oxytocin sequenzieren, 1955 gelang Frederick Sanger mit der Aufklärung der Struktur des Insulins (51 Aminosäuren) ein spektakulärer Durchbruch. In den späten 1950er Jahren gelangen erste Synthesen von Peptidsequenzen, die geeignet schienen, bislang auf dem Wege der Isolierung gewonnene körperliche Hormone zu ersetzen.111 Nach diesen Fortschritten war es keine Zukunftsvision mehr, einfacher aufgebaute Peptidwirkstoffe komplett zu synthetisieren oder durch Variation ihrer Aminosäuresequenz Derivate mit veränderter Wirkung herzustellen. Peptidhormone wurden daher zu einem neuen Forschungsschwerpunkt westlicher Pharmakonzerne. Der tschechische Peptidchemiker Josef Rudinger, der das internationale Spitzenniveau nicht nur aus der Literatur kannte, machte seinen DDR-Kollegen klar, dass das Gebiet „einige Ähnlichkeit etwa mit einem Klondike zur Zeit des Goldfiebers gewonnen“ hatte. Bei der schnellen Entwicklung der analytischen und synthetischen Methoden schien es möglich, dass „sogar sozusagen nach Wunsch des Kunden gebaute Peptide ... als Träger von pharmakologisch wirksamen Gruppen praktisch zugänglich“ wurden.112 Wenn die eigentliche pharmakologische Wirksamkeit eines Peptidmoleküls in einer Teilsequenz begründet lag, war es etwa denkbar, ausgehend von dieser Sequenz einen Wirkstoff aufzubauen, der günstigere Eigenschaften aufwies als das Naturprodukt. Als weitere Perspektive bot sich die Ersetzung schwer zugänglicher Substanzen durch halbsynthetische Produkte. Wie Rudinger einräumte, waren trotz aller methodologischen Fortschritte solche praktischen Erfolge bis dahin kaum eingetreten. Es gab für Peptidhormone – abgesehen vom Insulin – keine klare medizinische Indikation. Ähnlich wie im Fall der Steroidhormonforschung der 1930er Jahre stimulierte die synthetische Zugänglichkeit dieser Naturstoffe zunächst die physiologische Forschung. Das erstmals 1957 synthetisierte Angiotensin wurde etwa zum Angelpunkt der Erforschung der Blutdruckregulation.113 Während Repkes Herzglykosidprojekt von Beginn an mit einem klar definierten therapeutischen Ziel verbunden war, war die Peptidforschung eine langfristige Investition in ein Methodenfeld, dessen Bedeutung für die Pharmamarkt noch 111 Bürgi 2011, S. 91–94. 112 J. Rudinger, Peptidsynthesen, Acta Biologica et Medica Germanica Suppl. 2 (1963), S. 27– 37, S. 27. 113 Bürgi 2011, S. 94.
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unklar war. Die scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten, in die Kombinatorik der Aminosäureketten einzugreifen, verbanden die Peptidpharmakologie aber von Beginn an mit der Idee einer „rationalen“ Wirkstoffentwicklung. Dabei spielte auch eine wesentliche Rolle, dass man eine direkte Beziehung zwischen den Aminosäuresequenzen der Wirkstoffe und jenen der Hormonrezeptoren vermutete, welche zu dieser Zeit noch völlig unbekannt waren, aber aller Erfahrung nach Proteincharakter haben mussten. Peptide erschienen, wie ein Mitarbeiter Jungs die Diskussion zusammenfasste, „wegen ihrer Ähnlichkeit zu den ProteinRezeptoren“ als ideales Modell für die Erforschung von Wirkstoff-RezeptorBeziehungen.114 Es war zu diesem Zeitpunkt naheliegend, sich diese Beziehungen ähnlich direkt und regelmäßig vorzustellen wie die Sequenzanalogien zwischen Nukleinsäuren und Proteinen, die in der Molekularbiologie diskutiert wurden. Das Peptidprogramm war, bei allen grundlegenden wissenschaftlichen Ambitionen, primär ein strategisches Vorhaben, das auf eine geregelte Aufgabenteilung zwischen pharmazeutischer Industrie und Forschungsinstituten abzielte. Zunächst musste die Industrie für die materielle Absicherung der synthetischen Arbeiten sorgen. Die Aufnahme der Produktion von Aminosäuren bei Berlin-Chemie war dafür ein wichtiger Schritt, der allerdings nicht zur Deckung des Forscherbedarfs ausreichte. Noch zehn Jahre nach Beginn des Projekts war die Verfügbarkeit hochwertiger Aminosäuren in der DDR und im ganzen sozialistischen Lager so eingeschränkt, dass man bei der Auswahl neuer Syntheseprojekte darauf achtete, möglichst viele bereits vorhandene Verfahren und Vorprodukte nutzen zu können.115 Die Arbeitsteilung des Programms wies keineswegs der industriellen Seite allein die technischen Aufgaben und der akademischen Seite die experimentellen Aufgaben zu. Die ersten Peptidsynthesen wurden nicht in Buch, sondern in der Entwicklungsabteilung von Berlin-Chemie durchgeführt, wobei man größtenteils nach Rezepten der westlichen Pioniere verfuhr.116 Das Institut für Pharmakologie übernahm spezielle, anspruchsvolle Syntheseaufträge; bei den ersten Versuchen zum Oxytocin und seinen Analoga erhielt es dabei Anschubhilfe aus dem Akademieinstitut für Biochemie und Pharmazie in Prag, dem einzigen Institut im Ostblock, das zu dieser Zeit auf peptidchemischem Weltniveau operierte.117 Für die analytischen Arbeiten wurde das IfP mit einem Aminosäureanalysator der USFirma Phoenix ausgestattet, einer zu diesem Zeitpunkt neuartigen Technologie.118 Die Analysegruppe führte damit nicht nur Aufträge für die Industriechemiker aus, sondern für Institute in der ganzen DDR. Im Verlauf der 1960er Jahre bildete sich eine feste Arbeitsteilung heraus, in die auch Jungs Universitätsinstitut als Träger
114 B. Wiegershausen, Zur Pharmakologie einiger Polypeptide, Acta Biologica et Medica Germanica Suppl. 2 (1963), S. 11–26, S. 14. 115 (H. Niedrich), Entwurf Feinkonzeption der Arbeitsgruppe „Peptidsynthese“ bis 1970,17.7.1968, ABBAW Buch A 813. 116 R. Häussler, W. Reichwald, L. Bilk, H. Walz,Die Synthese von Angiotensin, Angiotensinanalogen und Bradykinin, Acta Biologica et Medica Germanica Suppl. 2 (1963), S. 47–48. 117 Jung, Jahresbericht 1962 des Instituts für Pharmakologie, 13.2.1963, ABBAW Buch A 12 118 Jung, Jahresbericht 1961 des Instituts für Pharmakologie, 10.2.1962, ABBAW Buch A 12
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von biologischen Testverfahren und klinischen Prüfungen integriert war.119 Produktiv konnte diese Struktur nur durch die Festlegung auf ein Teilgebiet des internationalen Peptid-„Rausches“ werden, das zugleich ein eigenständiges wissenschaftliches Profil und praktisch umsetzbare Ergebnisse versprach. Gute Strukturmodelle, komplexe Testpraktiken Um 1960 hatten die international führenden Arbeitsgruppen bereits Dutzende von Analoga der pharmakologisch interessantesten Peptidwirkstoffe hergestellt. Indem man die Aminosäureketten von beiden Ende her kürzte, konnte festgestellt werden, dass oft ein Teilstück in der Sequenz dieser Moleküle ausreichte, um eine spezifische Wirkung auszulösen. Zur Analyse des Wirkungsspektrums war es ferner möglich, Bausteine innerhalb der Aminosäuresequenz gezielt zu ersetzen. Dabei konnten auch den Aminosäuren analoge Substanzen zum Einsatz kommen, die in das Peptidgerüst integrierbar waren. Dies war der Weg, auf den sich Jungs Mitarbeiter konzentrierten. Der Einbau von „Heterobestandteilen“ war bereits von verschiedenen westlichen Gruppen betrieben worden und hatte Peptide mit überraschenden antibiotischen Wirkungen ergeben. In Buch versuchte man, eine eigenständige Position aufzubauen, indem man eine bis dahin in der Peptidchemie kaum genutzte synthetische Stoffklasse verwendete, die Hydrazinverbindungen. Einerseits zeichneten sich diese Substanzen durch eine pharmakologische Eigenwirkung aus, die entsprechende Wirkungsveränderungen an den Syntheseprodukten erwarten ließen. Andererseits schien es wahrscheinlich, dass ihre chemischen Eigenschaften die Struktur des Peptidmoleküls in einer Weise modifizierte, die geringere Spaltbarkeit durch proteolytische Enzyme und damit ein verändertes Stoffwechselverhalten bewirkte.120 Die Hydrazinopeptide wurden also nicht primär als potentielle Wirkstoffe, sondern als „sehr gute Modellverbindungen“ untersucht.121 Das galt auch für die zumeist verwendete Ausgangssubstanz, das in dem Kraken Eledone moschata vorkommende Eledoisin. Dieses Peptidhormon war als die am stärksten blutdrucksenkende Substanz im Tierreich bekannt, aber vor allem dadurch interessant, dass an ihm weitgehende chemische Modifikationen ohne Änderung der physiologischen Wirkung möglich waren.122 119 Aufstellung „Arbeitsteilung mit Koordinierungsvereinbarung“ in Anlage zu „Forschungsvorhaben 1968 des Instituts für Pharmakologie“, Februar 1968, ABBAW Buch A 21. 120 H. Niedrich, W. Knobloch, Über Peptidderivate der Hydrazinoessigsäure, Acta Biologica et Medica Germanica Suppl. 2 (1963), S. 43–46. 121 P. Oehme, H. Rex, A. Wergin, F. Jung, Zur Pharmakologie von Hydrazinokarbonsäuren, Hydrazinopeptiden und anderen Hydrazinderivaten I., Acta Biologica et Medica Germanica 21 (1968), S. 635–647, S. 646. 122 H. Niedrich, Hydrazinverbindungen als Heterobestandteile in Peptiden IX.: Synthese des Eledoisin-(4-11)-Octapeptides Lys-Asp(NH2)-Ala-Phe-Ile-Gly-Leu-Met-NH2 und seines Heterologen mit Hydrazinoessigsäure statt Glycin, Chemische Berichte – Recueil 100 (1967), S. 3273–3282, S. 3274; vgl. auch G. Stopp, F. Jung, Der Einfluß der Wasserstoffionenkonzentration, der Kalziumkonzentration und der Temperatur auf die durch Eledoisin und Eledoisin-
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Vom Beginn der 1960er bis in die frühen 1970er Jahre synthetisierte und testete die Arbeitsgruppe zahlreiche Hydrazinopeptide, die überwiegend auf der Basis des Eledoisins aufgebaut waren. Dabei bestätigte sich die Vermutung, dass das „Rückgrat“ des Peptidmoleküls, und nicht allein seine Seitenketten, die Wirkungsweise des Moleküls bestimmte.123 Dieser Teil des Peptidprojekts war eindeutig darauf orientiert, grundsätzliche Beiträge zum Struktur-Wirkungs-Problem zu liefern. Trotz – oder gerade wegen – des eigenständigen Ansatzes gelang es aber nicht, die internationale Diskussion nachhaltig zu beeinflussen. Peter Oehme, der das Projekt seit Ende der 1960er Jahre als eigenständigen Bereich des IfP leitete, musste auf einem Pharmakologenkongress in San Francisco 1972 feststellen, dass man mit Studien an Modellsubstanzen wie Eledoisin kaum Aufmerksamkeit erregen konnte. Der Trend ging zur Suche nach körpereigenen menschlichen Peptidhormonen mit Wirkung auf das zentrale Nervensystem. Um in diesen Forschungszweig einsteigen zu können, ohne eine völlige Neuorientierung vollziehen zu müssen, begann sich seine Gruppe auf ein menschliches Peptidhormon zu konzentrieren, das ein ähnliches Wirkungsspektrum wie das Eledoisin aufwies – die bereits in den 1930er Jahren entdeckte „Substanz P“.124 Auch die Arbeiten zu diesem Peptidwirkstoff hatten zunächst eher Grundlagencharakter. Seit Ende der 1970er Jahre konnte sich Oehmes Gruppe durch die Substanz-P-Forschungen, insbesondere Untersuchungen zum Wirkungsmechanismus, internationale Anerkennung in der Peptidforscherszene erarbeiten.125 Im Mittelpunkt blieben die Versuche, neue Wege der Analyse von StrukturWirkungs-Beziehungen zu erarbeiten. Die methodologische Entwicklung der Peptidforschung wies dabei zu Beginn der 1970er Jahre einige Parallelen zu jener des Herzglykosid-Projekts auf. Einerseits wurden verstärkt die in Buch vorhandenen biophysikalischen Messmethoden einbezogen, um die Raumstruktur der Wirkstoffe zu untersuchen; andererseits wurden Schritte zu mathematischen Bearbeitung biologischer Versuchsergebnisse unternommen. Nach den Erfahrungen aus der Proteinbiochemie war es naheliegend anzunehmen, dass die Wirkungsweise eines Peptidhormons von seiner Konformation, das heißt seiner räumlichen Anordnung abhing. Die bis dahin bekannten Angaben über die Raumstruktur nativer Peptidwirkstoffe waren jedoch spärlich und teilweise widersprüchlich. Nach den ersten CD-spektroskopischen Studien, die Oehmes Gruppe unternahm, traten bei Strukturveränderungen, die zu deutlichen Wirkungsverlusten führten, auch Änderungen der Konformation auf.126 Spektroskopische Messungen an gelösten Peptiden
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peptide hervorgerufene Kontraktion des Meerschweinchenileums, Acta Biologica et Medica Germanica 20 (1968), S. 345–363. P. Oehme u. a., Zur Pharmakologie von Hydrazinokarbonsäuren, Hydrazinopeptiden und anderen Hydrazinderivaten VIII., Acta Biologica et Medica Germanica 28 (1972), S. 109– 120. Oehme 2006, S. 71. P. Oehme, H. Hilse, E. Morgenstern, E. Göres, Substance P – Does it produce analgesia or hyperalgesia?, Science 208 (1980), Nr. 4441, S. 305–307. P. Oehme u. a., Zur Pharmakologie von Hydrazinokarbonsäuren, Hydrazinopeptiden und anderen Hydrazinderivaten IX., Acta Biologica et Medica Germanica 28 (1972), S. 121–131.
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waren jedoch äußerst schwer zu interpretieren. Klare Zusammenhänge zwischen spektrokopischen Ergebnissen und biologischer Wirksamkeit konnten zunächst ebenso wenig gefunden werden wie Hinweise auf geordnete Raumstrukturen, denen man ein bestimmtes Bindungsverhalten hätte zuschreiben können.127 Ähnlich wie in den Versuchen zur Konformation des aktiven Herzglykosid-Rezeptors zeigte sich, dass die in Buch vorhandenen physikalisch-chemischen Methoden nicht für Ergebnisse ausreichten, die für das Verständnis von Struktur-WirkungsBeziehungen relevant waren. Auch die mathematische Analyse der vorhandenen biologischen Wirkungsprüfungen stand in dieser Beziehung noch am Anfang. Wie die Biomembran-Gruppe integrierte auch Oehmes Bereich nach 1970 ein kleines Theoretiker-Team. Anders als in den Anfangstagen der Peptidstrukturforschung konnte man nicht mehr davon ausgehen, dass sich die Spezifität eines Wirkstoffs einfach aus den Aminosäuresequenzen herauslesen ließ oder – wie es der Leiter der Gruppe ausdrückte –„durch bloßes Anschauen von Listen“ erkannt werden konnte.128 Sie war ohne Rechentechnik nicht denkbar. Auch das beste Computerprogramm war jedoch nutzlos, wenn belastbare Daten fehlten. Die theoretischpharmakologischen Versuche bezogen sich in den ersten Jahren auf verschiedene Stoffgruppen, aber nicht auf Peptidhormone.129 Das hing damit zusammen, dass die Bestimmung der Wirkungsstärke dieser Substanzen besonders komplex war. Während die Wirkung der Herzglykoside von Beginn an einem organischen System – dem pulsierenden Herzen beziehungsweise der Herzmuskelzelle – und später auch anhand ihrer Interaktion mit den Membranrezeptoren bemessen wurde, zeichnete sich die Klasse der Neuropeptide durch ein vielfältiges Wirkungsspektrum aus, das sich durch verschiedene Tier- und Organtests charakterisieren ließ. Die Bemessung der biologischen Wirkungsstärke erfolgte zumeist durch eine Kombination mehrerer Verfahren. Für das Oxytocin, für das neben seiner Rolle für die Laktation eine Reihe weiterer physiologischer Effekte auslöste, wurde etwa die Wirkung auf den Milcheinschuss bei Kaninchen, den Blutdruck von Hühnern und die Auslösung von Kontraktionen am isolierten Rattenuterus bestimmt. Dabei konnten die Ergebnisse an verschiedenen Organen und Spezies teilweise sehr unterschiedlich, wenn nicht konträr ausfallen.130 Die Neuropeptide mit Heterobestandteilen, die in Oehmes Abteilung untersucht wurden, wurden auf verschiedene Wirkungen auf das Kreislauf- und Nervensystem getestet; zum Standardrepertoire gehörten etwa Blutdruck und Körpertemperatur bei Ratten und anderen Säugetieren sowie der verbreitete Kampffischtest, bei dem die Auswir127 H. G. Müller, B. Mehlis, H. Niedrich, P. Oehme, Intramolekulare Wechselwirkungen in linearen Oligopeptiden I., Studia Biophysica 34 (1972), S. 201–220; H. G. Müller, B. Mehlis, H. Niedrich, M. Bienert, P. Oehme, Intramolekulare Wechselwirkungen in linearen Oligopeptiden III.- CD-Untersuchungen an Teilsequenzen des Eledoisins, Studia Biophysica 39 (1973), S. 33–45. 128 R. Franke, Ein neuer Weg in der Wirkstofforschung, Spektrum 4 (1973), Nr. 5, S. 26–27. 129 R. Franke, On the parabolic relationship between biological activity and hydrophobicity of drugs: Transport or protein binding?, Experientia Suppl. 23 (1976), S. 25–30. 130 B. Wiegershausen, Zur Pharmakologie einiger Polypeptide, Acta Biologica et Medica Germanica Suppl. 2 (1963), S. 11–26, S. 13–15.
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kungen einer Substanz auf das Aggressionsverhalten von Labyrinthfischen beobachtet wurde.131 Um die direkte Wirkung auf die glatte Muskulatur zu bestimmen, kam vor allem ein etabliertes pharmakologisches Standardverfahren, die Messung der Kontraktionen am Ileum (Krummdarm) des Meerschweinchens zum Einsatz. Um den primären Effekt der Substanzen bestimmen zu können, wurde aber beständig versucht, neue Testmodelle an isolierten Organen und Geweben aufzubauen. Auch die isolierten Herzmuskelzellen der Wollenberger-Gruppe wurden als In-vitro-Modell ins Auge gefasst.132 Die Erschließung solcher Wirkungsmodelle war auch eine Möglichkeit, den Angriffspunkt der untersuchten Peptide einzukreisen. Ende der 1960er Jahre stand die Identifizierung von Peptidrezeptoren im Mittelpunkt des Institutsprogramms – jedenfalls auf dem Papier. Anders als im Fall der Herzglykosidforschung gab es kaum konkrete Anhaltspunkte hinsichtlich der Lokalisierung und Struktur von Peptidrezeptoren. Jung schlug vor, dass man die „Wechselwirkungen zwischen Proteinen und Peptiden” zunächst an einem Modellmolekül, nämlich „vorzugsweise am Hämoglobin als einem gut zugänglichen und in Eigenschaften und Funktionsweise repräsentativen Eiweißmodell“ untersuchte.133 Dies war wohl in erster Linie ein Versuch, die beiden inhaltlich sehr unterschiedlichen Schwerpunkte seines Instituts – die Strukturforschung an Hämoproteinen und die Peptidhormonforschung – in einen konzeptionellen Zusammenhang bringen. Angesichts der Schwierigkeiten bei der Suche nach spezifischen Peptidrezeptoren war es aber naheliegend, nach Ausweichmöglichkeiten zu suchen. Die ersten Versuche der Rezeptorisolierung wurden 1969 zunächst abgebrochen; um Erfahrungen aufzubauen, wurden Modellversuche zur Bindung mit Steroidhormonen in Uterusgeweben unternommen. 134 Das Ziel, an Rezeptoren gebundene Peptidhormone zu isolieren, bereitete zu dieser Zeit auch besser ausgestatteten westlichen Gruppen große Probleme. Ein Grund hierfür lag in der Schwierigkeit der Herstellung radioaktiver Peptide, welche ermöglicht hätten, entsprechende Zellfraktionen zu identifizieren.135 Da komplexe radiochemische Synthesen zu den Engpässen des DDRForschungssystems zählten, waren die Möglichkeiten der Bucher Peptidgruppe hier besonders eingeschränkt. 1972 gelang zwar die Isolierung peptidbindender Proteine aus Rattenskelettmuskel, die Identifzierung einer spezifischen EledoisinRezeptor-Aktivität im Meerschweinchen-Ileum ließ jedoch weiter auf sich warten. Neben dem Mangel an radioaktiv markierten Wirkstoffen bremste auch – genau wie in der Herzglykosid-Forschung – der Stand der Methoden für die Isolierung von Proteinen aus Membranen die Suche nach Rezeptoren. Aus diesem Grund 131 P. Oehme u.a., Zur Pharmakologie von Hydrazinokarbonsäuren, Hydrazinopeptiden und anderen Hydrazinderivaten I., Acta Biologica et Medica Germanica 21 (1968), S. 635–647, Teil II. ebd. 22 (1969), S. 345–358. 132 Jung/Löwe, Feinkonzeption des Instituts für Pharmakologie, Anhang, 26.7.1968, ABBAW Buch A 456. 133 Protokoll Sitzung Rat der Direktoren 14.2.1968, ABBAW Buch A 21. 134 Oehme an Grisk, 13.9.1969, ABBAW Buch A 813. 135 J. Roth, Peptide Hormone binding to receptors: A review of direct studies in vitro, Metabolism 22 (1973), S. 1059–1073.
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setzte man weiter auf Ileum-Präparate als Teststandard. Das schien nicht unbedingt ein Nachteil zu sein, da „das Rezeptor-Bindungsverhalten von Peptidhormonen nicht notwendigerweise mit dem Effekt am Organ korrelieren“ musste.136 Nicht die Reindarstellung des Rezeptorproteins – wie auch Repke betonte – war der Königsweg zu einer exakten Struktur-Wirkungs-Analyse, sondern ein möglichst repräsentatives und effektives Testsystem. Die Versuche, membranständige Rezeptoren aus verschiedenen tierischen Herzgeweben zu gewinnen, waren nur ein Teil eines Komplexes von Arbeiten an In-vitro-Testverfahren – parallel liefen auch Versuche an HerzmuskelzellKulturen, zur Gewinnung von Synaptosomen (Neurotransmitter-speichernden Organellen der Nervenzellen) oder zum Ausbau der Verfahren an isolierten Organen.137 Wenn in den Planentwürfen „der Rezeptor“ als Angelpunkt der Wirkstoffforschung dargestellt wurde, war dies der Ausdruck einer wissenschaftlichen Ideologie, die sich besonders deutlich in der kybernetisch-molekularbiologischen Sprache der MOGEVUS-Konzeption niederschlug. Indem hier die Wirkstoffforschung als Projekt zur Erkennung der „Prinzipien der biologischen Prozeßsteuerung“ mit dem Ziel einer „gezielten Beeinflussung“ organischer Vorgänge firmierte, wurde suggeriert, der Weg zur Konstruktion des idealen Wirkstoffs sei frei, sobald man seinen molekularen Angriffspunkt experimentell kontrollieren konnte. In der Realität stellten sich den Pharmakologen wesentlich vielschichtigere Probleme. Selbst ein umfassendes Verständnis des Wirkungsmechanismus einer Substanzklasse garantierte keinen Fortschritt in der Pharmakaentwicklung, wenn nicht ein ganzes System von Testverfahren den Weg von der Substanzfindung bis zur klinischen Erprobung ermöglichte. Akademieforschung als Lückenbüßerin für die Industrie? Das ursprüngliche Ziel des Peptidprojekts war die engere Verknüpfung zwischen Akademieforschung und Industrie. Die erhofften Fortschritte in Richtung einer eigenständigen, forschungsbasierten Produktentwicklung hatten sich aus Sicht der VVB Pharmazeutische Industrie am Vorabend der Akademiereform jedoch kaum eingestellt. Die Produktionsstrategie war weiterhin von der Nachentwicklung westlicher Produkte geprägt. Dieser Weg war schon darum nicht weiter gangbar, da im internationalen Patentrecht der Schutz von Produktionsverfahren – welcher sich durch technische Modifikationen umgehen ließ – durch den Schutz der Substanzen selbst verdrängt wurde. Den dringend benötigten Innovationsschub erhoffte sich die VVB von einer konsequenteren Ausrichtung auf thematische Schwerpunkte – und von einer noch direkteren Einbeziehung der akademischen Grundlagenforschung in die eigenen Projekte, obwohl davon auszugehen war, 136 Jahresabschlussbericht der HFR 7/3 für 1972, 14.12.1972, ABBAW Buch A 752. 137 Jahresplan ZIM 1973 (Entwurf), Teil III/1: Rahmenplan für Bereich Wirkstoffforschung, August 1972, ABBAW Buch A 750; H. Löwe, Bericht zur Planerfüllung 1973 im Bereich (Wirkstoffforschung des ZIM), Nov. 1973, ABBAW Buch A 751.
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dass sich das hier verfügbare Fachkräftepotential mittelfristig kaum vergrößern würde.138 Jung hatte dieses Problem bereits in den späten 1950er Jahren als Grund dafür benannt, dass ein wirklicher struktureller Ausbau, etwa durch Bildung neuer anwendungsorientierter Forschungseinrichtungen, in der Arzneimittelforschung nicht umsetzbar war.139 Durch das in der Akademiereform implementierte Prinzip der Vertragsforschung erhielt die VVB die Möglichkeit, die für sie interessanten Forschungsstellen direkt zu kontrollieren. Es waren jedoch hauptsächlich die Hochschul- und Akademieforscher selbst, die die Initiative für ein koordiniertes Programm ergriffen. Anfang 1968 hatte sich die peptidpharmakologische Abteilung des IfP bereits mit Kollegen in Greifswald und Rostock zu einer Projektgruppe mit dem programmatischen Titel „Struktur-Wirkung-Rezeptor“ zusammengeschlossen.140 Gleichzeitig liefen Vorbereitungen für ein „Siebtestprogramm“, in dem Kapazitäten für pharmakologische und toxikologische Wirkstofftests zusammengefasst werden sollten. Die Parallelität der beiden Projekte zeigt, dass durch einen theoretisch fundierten Zugang zur Wirkstoffentwicklung die routinemäßige Testung neuer Verbindungen keineswegs ersetzt werden konnte. Vielmehr sahen die Beteiligten den Hauptgrund für die Innovationsschwäche der DDR-Pharmaindustrie gerade darin, dass die empirische Suchstrategie, das heißt das pharmakologische Screening großer Mengen von Syntheseprodukten und Naturstoffen, bislang völlig unzureichend entwickelt war. Oehme bemängelte 1971, dass die Betriebe ihre Testaufträge unkoordiniert an die pharmakologische Institute verteilten. Ebenso fehlte es an einem einheitlichen System verschiedener Testmethoden, das „komplexe Aussagen“ über das Wirkungsspektrum einer Substanz erlaubte.141 Ein entsprechendes „Siebtest“-System war wiederum kein Garant für einen höheren Durchsatz an medizinischen Wirkstoffen, so lange die Kapazitäten für klinische Vortests äußerst beschränkt waren. Nach Oehmes Vorstellungen musste das Siebtestprogramm durch den Aufbau eines Netzes pharmakologischklinischer Versuchsabteilungen an den Hochschulen flankiert werden.142 Das Siebtestprogramm und das Struktur-Wirkungs-Projekt sollten in ein „integriertes System der Arzneimittelforschung“ eingehen, das sowohl die Entwicklung von Pharmaka als auch jene von Wirkstoffen für die Landwirtschaft umfasste.143 Für Jung war dieses Vorhaben ein Testfall für die Möglichkeiten „sozialistischer Großforschung“. Selbst in seinen öffentlichen Verlautbarungen schien aber durch, dass er angesichts des Zustandes der DDR-Pharmakaforschung starke Zweifel 138 (R. Thren), Vorlage zu Sitzung FR: Perspektivprogramm mit Maßnahmen zur Vergrößerung der Kapazität der Arzneimittelforschung (Entwurf), 14.12.1967, BAB DF 4/20311. 139 F. Jung, Gutachten zur Gründung eines Instituts für Arzneimittelforschung, 4.4.1959, BAB DF 4/40607. 140 (F. Jung), Notiz betr. Projekt Struktur-Wirkung-Rezeptor, 16.1.1968, ABBAW Buch A 813. 141 Beitrag Oehme in Protokoll zur Aktivtagung MOGEVUS, April 1971, ABBAW Buch A 902. 142 P. Oehme, Entwurf „Siebtestprogramm. Unterprogramm: Klinisch-pharmakologischer Vorfeldversuch“, 25.11.1968, ABBAW Buch A 813. 143 A. Grisk, Protokoll zur Sitzung des Wiss. Rates des Forschungsprojekts Struktur-WirkungRezeptor 28.7.1969, ABBAW Buch A 813.
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daran hatte, dass ein effektives Gegenmodell zur profitorientierten Großforschung der westlichen Pharmakonzerne realisierbar war. Um den schleppenden Fortschritt der sozialistischen Ökonomie zu erklären, griff er auf das beliebte Narrativ zurück, dass „historische Entwicklungen aus der bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Industriekonzernen, ihrer Kleinstaaterei“ weiterhin „wie Blei“ am realen Sozialismus hingen.144 Jung dürfte aber klar gewesen sein, dass sich die Engpässe des DDR-Forschungssystems nicht allein durch einen überkommenen institutionellen Egoismus erklären ließen, sondern vielmehr damit, dass die volkseigenen Pharmabetriebe sehr viel weniger Interesse an eigenen Forschungsaktivitäten aufbrachten als die profitgetriebenen westlichen Konzerne. Wenn die VVB Pharmazeutische Industrie die Einrichtung pharmakologischer Testkapazitäten in den Akademie- und Hochschulinstituten unterstützte, gab sie damit Aufgaben ab, die eigentlich in den Tätigkeitsbereich ihrer Forschungslabore fielen. Nachdem die Bucher Pharmakologen 1969 zunächst ihre Beteiligung am VVB-Siebtestprogramm zurückzogen, da sie den FR-Forderungen nach Konzentration auf die Grundlagenforschung zuwiderlief, übernahmen sie im Großforschungsvorhaben MOGEVUS eine führende Rolle bei der systematischen Wirkstoffsuche. Der Projektverbund „Struktur-Wirkung-Rezeptor“ wurde als Hauptforschungsrichtung Träger des „Moltest“-Programms, das durch Beteiligung aller Teilprojekte eine vollständige Palette neuer Methoden zur Erkennung von Wirk- und Schadstoffen hervorbringen sollte.145 Die Erwartungen an das Moltest-Programm waren erheblich und von Beginn an erkennbar überzogen. Oehme schwor die MOGEVUS-Mitarbeiter als verantwortlicher Projektleiter darauf ein, dass es innerhalb des kommenden Vierjahresplanes gelingen müsse, „das Testsystem auf molekularer und zellulärer Ebene zur Auffindung neuer Wirkstoffe aufzubauen und es zu verflechten mit den Testsystemen der VVB Pharmazie und Agronomie“. Andernfalls scheitere nicht nur das ökonomische Herzstück des Großforschungvorhabens, sondern auch die Modernisierung „unserer sozialistischen Gesellschaftsordnung ... auf den entscheidenden Gebieten des Gesundheitswesens, der Land- und Nahrungsgüterwirtschaft.“146 Entsprechend wuchs die Bedeutung der peptidpharmakologischen Abteilung, die mit Bildung des ZIM zum selbstständigen Bereich „Wirkstofforschung“ wurde. Nachdem der Bereich 1971 in die Räume des aufgelösten Akademieinstituts für vergleichende Pathologie in Berlin-Friedrichsfelde umgezogen war, wurde sie um Methodengruppen des alten Friedrichsfelder Instituts, aus dem Institut für kortikoviszerale Pathologie und Therapie sowie aus Wollenbergers Institut verstärkt. Ein großer Teil der von diesen Gruppen geleisteten Arbeiten an Zellkultur- oder Einzeller-Testsystemen war von Beginn an für den multifunktionalen Einsatz in Industrielaboren gedacht. Die Entwicklungen des Bereichs und anderer Moltest-Teilnehmer fanden jedoch weit seltener den Weg in die Praxis als erhofft. Der Grund hierfür war nicht nur, 144 F. Jung, Über Möglichkeiten und Aufgaben einer sozialistischen Großforschung in der Medizin, Spektrum 15 (1969), S. 283–285, S. 285. 145 Vgl. auch diese Arbeit S. 184f. 146 Beitrag Oehme in Protokoll zur Aktivtagung MOGEVUS, April 1971, ABBAW Buch A 902.
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dass die Verfahren unausgereift oder unpassend waren. Dass 1972 nur etwa die Hälfte der 43 angebotenen Testverfahren durch die Industriepartner akzeptiert wurde, lag auch an der begrenzten Aufnahmekapazität der Industrieforschung. Das Angebot an anschlussfähigen F/E-Kapazitäten, die in der Lage waren, neue Labortechniken produktiv einzusetzen, war nach Ansicht der Akademieexperten in der Pharmaindustrie schlicht „unzureichend“, auch im Vergleich mit den Verhältnissen in der Pflanzenzüchtung, Agrochemie und Lebensmittelindustrie.147 Andererseits entsprach das, was mehr oder weniger unfreiwillig für Moltest arbeitende Grundlagenforscher anzubieten hatten, nicht unbedingt den Anforderungen von Industriepharmakologen. Die ZIM-Gruppen präsentierten etwa ausnahmslos Verfahren, die auf molekulare Prozessen wie der DNS- und RNSSynthese oder Schritten der zellulären Atmungskette beruhten.148 Solche Tests entsprachen zwar der Grundidee, die Screeningtechniken möglichst zu miniaturisieren, waren aber sehr problemspezifisch – die ZIM-Methoden waren überwiegend krebsorientiert – oder für ungeübte Nutzer zu anspruchsvoll. Vor allem ließ sich durch ein Angebot vorwiegend molekularbiologischer Techniken nicht jene „kontinuierliche Forschungskette“ von der Grundlagenforschung bis zum Nutzer aufbauen, die Oehme und Jung gefordert hatten. Oehme stellte 1974 fest, dass bei allen Fortschritten auf der molekularbiologischen Ebene die Voraussetzungen für Arbeiten auf „höheren Organisationsstufen des Lebens“, also an Tiermodellen, weiterhin unzulänglich waren. Aber auch der Versuch, durch systematische Sichtung geeigneter Laborverfahren die erste Ebene der Pharmakaprüfung effektiver zu gestalten, hatte noch nicht die erhoffte Wirkung gezeigt. Das WirkstoffScreening-Testung war noch immer „der größte Engpaß im Industriezweig.“ 149 Die gesamte DDR-Pharmaindustrie testete nach seinen Angaben pro Jahr 6–700 Substanzen auf ihr Wirkungsspektrum – allein der Schweizer Roche-Konzern kam bereits in den 1960er Jahren auf einen Screening-Durchsatz von mehr als 2000 Substanzen, wovon es etwa jede Hundertste in die klinische Testphase schaffte.150 Oehme folgte weiter dem Grundgedanken der „rationalen Wirkstoffforschung“, wenn er betonte, dass erfolgreiche Struktur-Wirkungs-Analysen dazu beitragen würden, die für ein breites Screening nötigen Synthese- und Testkapazitäten erheblich einzuschränken. Die Erfahrungen des „Moltest“-Programms zeigten indessen, dass ein guter experimenteller Stand kein hohes Entwicklungstempo garantierte, wenn entsprechende Kapazitäten für die pharmakologische und klinische Erprobung fehlten. Oehme und seine Kollegen aus dem wissenschaftlichen Bereich der VVB Pharmazeutische Industrie versuchten die Situation zumindest für das Peptidgebiet zu verbessern, indem sie die akademische und industrieeigene Forschung in 147 Ergebnisse des Jahres 1972 des (FV Mogevus) sowie Einschätzung des gegenwärtigen Standes der Entwicklung und der weiteren Aufgaben, 18.1.1973, ABBAW Buch A 901. 148 Rüstow/ZIM, Protokoll über die Arbeitstagung „Moltest“ am 17.10.1972 in Buch, ABBAW Buch A 752 149 Konzeption zum Aufbau eines wissenschaftlich-industriellen Komplexes Arzneimittelforschung, März 1974, ABBAW Buch A 728/1. 150 Bürgi 2011, S. 129.
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Friedrichsfelde direkt miteinander verkoppelten. Eine ähnliche Verbindung existierte bereits seit den 1950er Jahren zwischen der Forschungsabteilung des VEB Jenapharm und dem ZI für Mikrobiologie in Jena, war dort allerdings lange Zeit durch starke Spannungen zwischen beiden Seiten belastet.151 In Friedrichsfelde wurde das „Institut für Wirkstofforschung“, nachdem es 1976 endgültig vom ZIM selbstständig geworden war, mit den pharmakologischen Laboratorien der VVB Pharma zu einem „Akademie-Industrie-Komplex“ zusammengelegt. Die VVBGruppen sollten unter anderem das schon lange gewünschte geschlossene „Siebtestprogramm“ für die in der DDR synthetisierten Substanzen aufbauen, um endlich diesen „Fundus bisher nicht genutzter chemisch-synthetischer Ergebnisse“ für die Pharmaforschung nutzbar zu machen. Das Akademieinstitut übernahm, daran anschließend, das „Feinscreening“ für auf das Herz-Kreislauf-System wirkende Substanzen.152 Teil des Plans war auch der Aufbau eines Peptid-Technikums für die Synthese von Wirkstoffen, die für die klinische Testung vorgesehen waren. Das Konzept zielte damit auf eine Bündelung wissenschaftlich-technischer Prozesse ab, die weitgehend in das Leistungsspektrum von Betriebslaboratorien gehörten, von diesen bis dahin aber nur ansatzweise abgedeckt werden konnten. Der „Akademie-Industrie-Komplex“ war insofern ein Versuch, die Lücke, die zwischen dem Produktionspotential der VVB Pharmazeutische Industrie und dem Innovationspotential der Forschung klaffte, auf dem Weg der Kräftekonzentration zu schließen. Das Institut für Wirkstofforschung übernahm dabei, als Träger des Screeningprogramms, die Funktion einer Plattform für wissenschaftlich-technische Dienstleistungen. Seine eigenständige Forschungsarbeit musste es darum nicht einschränken oder umdefinieren; allerdings wurde die Ausrichtung der Peptidhormon-Forschung immer stärker von den Produktionsstrategien der VVB beeinflusst. Das von Beginn an verfolgte Ziel, die erworbenen synthesechemischen Erfahrungen für die Produktion therapeutisch und diagnostisch nutzbarer Peptidhormone einzusetzen, wurde ab Ende der 1960er Jahre Gegenstand konkreter Überlegungen – und zog damit die Wissenschaftler direkt in die Produktionsplanungen der Industrie herein. Neben einer Herstellung des kreislaufwirksamen Angiotensin und des wehenauslösenden Oxytocin war es insbesondere die Möglichkeit einer teilsynthetischen Produktion von Insulin, die im Zentrum der wissenschaftlich-ökonomischen Perspektivdiskussionen stand.153 Mitte der 1960er Jahre gingen die Experten des ZAK Pharmakologie noch davon aus, dass die DDR für die nächsten 25 Jahre mit natürlichem tierischem Insulin auskommen würde und vor allem eine Verbesserung der Isolierungsmethoden wirtschaftlich sinnvoll sei.154 Jung riet einige Jahre später davon ab, in die Insulinforschung zu investieren, da er es für aussichtlos hielt, auf diesem umkämpften Gebiet eigen151 Schramm 2008, S. 193. 152 Konzeption zum Aufbau eines wissenschaftlich-industriellen Komplexes Arzneimittelforschung, März 1974, ABBAW Buch A 728/1, S. 9. 153 Jung, Forschungsprojekt Peptide, 16.1.1968, ABBAW Buch A 813. 154 Jung/Zapf, Direktive für die DDR-Delegation zur Fachkonferenz über das Thema „Notwendigkeiten und Möglichkeiten für eine synthetsiche Herstellung von Insulin in Zusammenarbeit der Mitglieder des RGW“, 9.2.1965, ABBAW FG 79.
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ständige Fortschritte zu erzielen.155 Dennoch begann VEB Berlin-Chemie zu Beginn der 1970er Jahre ein Insulin-Syntheseprojekt, für das der Betrieb stärkere Unterstützung aus dem MOGEVUS-Programm einforderte. Der Wirkstoffbereich des ZIM nahm Versuche zur Identifizierung von Insulin-Rezeptoren auf und unterstützte die synthetischen Arbeiten des Betriebslabors.156 Eine industrielle Umsetzung der teilsynthetischen Insulinproduktion wurde erst Mitte der 1980er Jahre spruchreif, nachdem ein westdeutscher Pharmakonzern ein aus Schweineinsulin hergestelltes Humaninsulin auf den Markt gebracht hatte.157 Das Institut für Wirkstoffforschung nahm dabei aufgrund seiner in der DDR einmaligen peptidchemischen Expertise zwangsläufig eine tragende Rolle ein. Zu diesem Zeitpunkt war es bereits federführend an der Produktionseinführung einiger diagnostisch genutzter Peptidhormone beteiligt.158 Das Institut war mit seinen experimentellen und chemisch-synthetischen Erfahrungen nicht allein für die Industrie unverzichtbar, sondern auch für die akademische Forschung. Mit der steigenden Nachfrage nach definierten Teilsequenzen von zellulären oder viralen Proteinen in der molekularbiologischen Forschung wurde es zu einem zentralen – und darum tendenziell überlasteten – Anlaufpunkt für die Kollegen des ZIM und anderer Institute in der DDR.159 Das IWF füllte damit jene Funktionen aus, die bei Beginn des Peptidprogramms als entscheidende Schwachstellen des wissenschaftlich-pharmazeutischen Komplexes in der DDR definiert worden waren: Es betrieb eigenständige Forschung in einem Wachstumszweig der internationalen Wirkstoffforschung, es trug die Anwendung vielseitig nutzbarer Labormethoden, und es stellte eine direkte Verbindung zwischen anwendungsorientierter Forschung und Produktentwicklung her. Dieser Erfolg eines auf Ressourcenkonzentration beruhenden Programms verdeutlichte allerdings zugleich, wie wenig sich die grundsätzlichen Strukturprobleme des Forschungs- und Entwicklungssystems seit den 1950er Jahren geändert hatten. Mit seinem peptidchemischen Niveau war das IWF zwar international konkurrenzfähig, national aber eine Ausnahmeerscheinung. Die Versuche des Instituts, ein kohärentes Testsystem für Wirkstoffe aufzubauen, reichten nicht aus, um das Angebot neuer Produkte für die Pharmabetriebe entscheidend zu erhöhen. Der Grund hierfür lag weniger in den begrenzten Anregungen aus der Forschung als vielmehr in der passiven Haltung einer Pharmaindustrie, die nicht zwingend an einer ständigen Erweiterung der Produktpalette interessiert war und daher wenig tat, um entsprechende Forschungspotentiale zu fördern oder selbst aufzubauen. Der Spielraum für die akademischen Forscher, Ergebnisse auf den 155 Jung, Forschungsvorhaben 1968 des Instituts für Pharmakologie, Vorlage zur Sitzung des Rates der Direktoren 14.2.1968, ABBAW Buch A 21. 156 Protokoll Beratung beim Direktor FZMM 29.11.1971, ABBAW Buch A 902; (Oehme), Berichterstattung in Direktorenbesprechung 30.1.1973, ABBAW Buch A 818; vgl. auch Scheler an Oehme 8.11.1972, ABBAW Buch A 817. 157 G. Pasternak, Breitere Insulinpalette, Spektrum 13 (1982), Nr. 8, S. 4. 158 W. Spickermann, Damit Wirkstoffe schneller wirksam werden, Spektrum 8 (1977), Nr. 10, S. 26–29. 159 Oehme an Pasternak, 7.3.1985, ABBAW Buch A 1091.
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Weg der Produktentwicklung zu bringen, war damit von vornherein begrenzt, selbst wenn ihre Forschungsansätze effektiv waren. Die Idee, dass ein genaueres Verständnis pharmakologischer Wirkungprozesse zwangsläufig auch die Chancen auf neuartige und bessere Wirkstoffe erhöhte, konnte vor diesem Hintergrund nicht praxisrelevant werden. Allerdings standen die in Buch und Friedrichsfelde verfolgten Ansätze noch am Beginn einer globalen Entwicklung, durch welche Wirkungsmessungen an „Targetenzymen“ und die Computermodellierung von Substanzen zum Standard in der Wirkstoffforschung wurden. Dennoch sind diese Praktiken des „rational drug design“ auch heute kaum das bestimmende Moment in der Pharmakaentwicklung, die in erster Linie einer industriellen Logik der Ressourcennutzung und des Marketings folgt.160
160 Lesch 2008, S. 138.
III.5. „UTOPISCHE ZUKUNFTSTRÄUME“ UND DIE MÜHEN DER EBENE BUCHER WEGE IN DIE MOLEKULARBIOLOGISCHE MODERNE Seit 1971 firmierten die Bucher Institute unter dem Namen „Forschungszentrum für Molekularbiologie und Medizin“; 1972 wurden die vormaligen Institute für Biophysik, Biochemie, Pharmakologie und Zellphysiologie zum „Zentralinstitut für Molekularbiologie“ zusammengeschlossen. Die Neuetikettierung verdeutlicht, welche konzeptionelle Idee mit der im Rahmen der Akademiereform vollzogenen Umstrukturierung verbunden war: eine Orientierung an den neuesten Entwicklungen der internationalen, speziell der westlichen molekularen Biologie. Wie in Kapitel II.2. erläutert, hatte im Bucher Forschungszentrum Mitte der 1960er Jahre eine Debatte eingesetzt, wie den schnellen Fortschritten auf den Gebieten der Molekulargenetik, der molekularen Biophysik und der Enzymologie begegnet werden sollte. Dabei war umstritten, ob die unübersehbaren Rückstände allein durch methodologische Anpassungen innerhalb der etablierten Projektstrukturen ausgeglichen werden konnten oder ob der Anschluss an die neue westliche Biologie völlig neuartige Organisationsformen und Programme erforderte. In diesem Kapitel werden nach 1970 verfolgte Ansätze einer molekularbiologischen Neuorientierung behandelt. Auch wenn das ZIM aufgrund beschränkter personeller und technischer Ressourcen vom angestrebten Weltniveau auf vielen molekulargenetischen Schlüsselgebieten weit entfernt blieb, durchdrangen neue molekularbiologische Praktiken und Konzepte weite Teile des Bucher Forschungsprogramms und machten es damit zu einem Beispielfall für die radikalen Veränderungen, welche die Biowissenschaften in diesem Zeitraum durchliefen. Nachvollziehen lassen sich diese unter anderem anhand der Arbeiten über tierische Ribosomen, einem Forschungsgebiet, auf dem sich langjährige Erfahrungen mit einem Objekt mit der Adaption verschiedener neuer Methoden zur Isolierung und Charakterisierung makromolekularer Strukturen verbanden. Das Projekt veranschaulicht das Ausmaß der labortechnischen Innovationen, auf welchen der molekularbiologische Boom der 1970er Jahre basierte, ebenso wie die thematische Breite des molekularbiologischen Feldes: Es war nicht auf die vielbeachteten Erfolge in der Identifizierung und Manipulation von Genabschnitten beschränkt, sondern umfasste auch neuartige Perspektiven auf zelluläre Regulationsprozesse. Konnten in der Ribosomenforschung international beachtete Ergebnisse erzielt werden, da die internationale Konkurrenz noch überschaubar war, wurde mit der Einleitung von Projekten zum Gentransfer der riskante Schritt auf ein junges und umkämpftes Gebiet gemacht, auf dem in Buch wie in der ganzen DDR fast jegliche materiellen und personellen Voraussetzungen fehlten. Gerade darum ma-
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chen die Versuche, eigene gentechnologische Experimentalsysteme aufzubauen, die ganze Komplexität der materiellen und immateriellen Faktoren sichtbar, von denen die neue Forschungspraxis abhängig war. Da sie von Beginn an mit dem Ziel einer Überführung von Ergebnissen in die medizinisch-klinische beziehungsweise pharmazeutisch-industrielle Nutzung verbunden waren, spiegeln sie außerdem die Probleme des DDR-Forschungs- und Entwicklungssystems wider, grundlegende technowissenschaftliche Neuerungen umzusetzen. Obwohl der Anspruch, mit entsprechenden Projekten in den USA und Westeuropa Schritt zu halten, daher nicht einlösbar war, kann das molekulargenetische Modernisierungsprogramm der 1970er Jahre nicht pauschal als gescheitert betrachtet werden.1 Auch in Buch vollzog sich in dieser Zeit eine Revolution der Forschungsmethoden, die sowohl die wissenschaftlichen Ziele als auch den Horizont möglicher Praxisbezüge erheblich veränderte. Die dorthin führende Entwicklung verdeutlicht, wie sehr sich Forscher und Forschungsmanager in der DDR an westlichen Konzepten orientierten – und zugleich, wie wenig die ökonomisch-technische Basis für deren volle Realisierung ausreichte. Streitsache Molekularbiologie Im November 1962 sandten Hans Gummel und Arnold Graffi dem Präsidenten der DAW ein Konzeptpapier über die zukünftige Entwicklung der „theoretischmedizinischen“ Forschung in der Akademie zu. Während die kurz zuvor vom IMB vorgelegten Perspektiventwürfe kaum über das bisherige Themenspektrum des Forschungszentrums hinausgingen, umriss die Vorlage solche Themengebiete, die in der DDR bislang nicht oder nur ansatzweise verfolgt worden waren. Neben der Einführung kybernetischer Ansätze in Biologie und Medizin sowie verstärkten Forschungen zur Immunbiologie und zur Organtransplantation forderten sie vor allem Bemühungen, Anschluss an die internationale Entwicklung in der Molekularbiologie zu finden.2 Auch wenn der Entwurf nicht allein auf das IMB, sondern die gesamte DAW bezogen war, unterschied er sich augenfällig von den Positionen, welche die beiden Direktoren in den internen Auseinandersetzungen der folgenden Jahre vertraten. Warum operierten sie hier mit Zukunftsvisionen wie dem therapeutischen Eingriff in das menschliche Erbgut, während sie in der Institutspolitik auf einer Konzentration auf klinisch relevante Probleme bestanden? Es ist anzunehmen, dass der Perspektiventwurf weitgehend auf den Ideen Graffis beruhte. Wie bereits dargestellt, wurde sein wichtigstes Arbeitsgebiet, die Krebsvirologie, zu Beginn der 1960er immer mehr durch Praktiken und Konzepte aus der Molekularbiologie geprägt.3 Er registrierte daher sehr genau, wie schnell die technischen Möglichkeiten der molekularen Charakterisierung genetischer 1 2 3
Malycha/Thoms 2010, S. 127; Reindl 1999, S. 358–359. Gummel/Graffi, Entwurf zur theoretisch-medizinischen Forschung, 12.11.1962, ABBAW AKL 61. Vgl. Kap. III.2..
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Elemente in den westlichen Ländern voranschritten. Im Vorlauf zu seiner Akademie-Denkschrift hatte er bereits ein Programm für den Aufbau neuer Methoden zur Isolierung und Sequenzierung spezifischer Nukleinsäureabschnitte aufgestellt, die ihm für die weitere krebsvirologische Arbeit unabdingbar erschienen. Er formulierte aber auch mit der „kausalen Therapie mit genetischen Matrizen“ ein potentielles Fernziel, das weit über die Ausrichtung seines Institut hinausging.4 Mit diesem gewagten Ausblick befand sich Graffi in bester Gesellschaft. In den Jahren nach der „Entzifferung“ des genetischen Basencodes schien es vielen Experten – trotz noch ungeklärter Grundlagen für wesentliche Arbeitsschritte wie den gezielten Transfer von Genabschnitten – nur eine Frage der Zeit, bis die genetische Zusammensetzung von Organismen gezielt verändert werden konnte. Erstaunlicherweise bezogen sich diese Diskussionen mehr auf die Ausschaltung genetisch bedingter Krankheiten oder Visionen von „Menschenzüchtung“ als auf die wesentlich näher liegenden Anwendungen in Mikrobiologie und Pflanzenzüchtung.5 Vermutlich rechnete Graffi nicht damit, dass die Umsetzung dieser science fiction für sein Institut jemals relevant sein würde. Sie bot ihm aber eine starke Argumentationsbasis, um zumindest grundlegende Bemühungen auf molekulargenetischem Gebiet einzufordern.6 Mit diesem Anliegen stand Graffi in der Akademie nicht alleine. Auch in den Instituten für Mikrobiologie und für Kulturpflanzenforschung sah man die Notwendigkeit, das Problem systematisch anzugehen. Anfang 1963 beschloss die medizinisch-biologische Vorstandskommission der FG, eine Bestandsaufnahme der in den Akademieinstituten vorhandenen Methoden der Nukleinsäureforschung vorzunehmen.7 Dass sie zugleich – entgegen der zuvor geforderten Ausrichtung auf medizinische Anwendungsgebiete – die „Eiweiß- und Nukleinsäureforschung“ als eigenständiges Schwerpunktgebiet anerkannte, war allerdings der Einflussnahme des Forschungsrates zu verdanken. Im Zeichen der beginnenden Perspektivplanungen war es vor allem FR-Mitglied Samuel Rapoport, der eine Verselbstständigung der molekularbiologischen Grundlagenforschung im IMB einforderte.8 Sein wenig diplomatischer Stil dürfte entscheidend dazu beigetragen haben, dass auch an einer Stärkung der molekularbiologischen Forschung interessierte Akademiker dazu neigten, die bestehenden fachlichen Strukturen zu verteidigen. Graffi und viele seiner Kollegen waren entsetzt darüber, dass Rapoport in einer Diskussion zum Thema die bestehenden molekularbiologischen Aktivitäten der Akademieinstitute sämtlich als unzureichend und unkoordiniert abqualifizierte.9 Angesichts dieser konfrontativen Haltung ist es kein Wunder, dass das
4 5 6 7 8 9
A. Graffi, Vorschläge für ein Nukleinsäureprogramm des Institutes für experimentelle Krebsforschung, 5.10.1962, ABBAW NL Graffi, Nr. 30, Kasten 3. Bud 1993, S. 171–173; Wright 1994, S. 66–70. Protokoll zur Sitzung des IMB-Direktoriums 4.1.1963, ABBAW Buch A 17. Protokoll zur Sitzung der Kommission Medizin und Biologie des FG-Vorstandes 25.1..1963, BAB DY 30/IV A2/9.04/362. Vgl. diese Arbeit S. 160f. A. Graffi an H. Klare, 3.7.1963, ABBAW NL Graffi, Nr. 46.
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Schlagwort „Molekularbiologie“ vor allem als Chiffre für den drohenden Verlust eigener Forschungsautonomie wahrgenommen wurde. Der Streit um die Erneuerung der biologischen Forschung drehte sich jedoch nicht allein um persönliche Animositäten. Er betraf auch die grundsätzliche Frage, ob die Molekularbiologie eine eigenständige Disziplin neuen Typs oder nur ein Ensemble neuer Methoden war – das hieß konkret, ob die Entwicklung des neuen Feldes im Rahmen der bestehenden institutionellen Strukturen umsetzbar war oder völlig neue organisatorische Lösungen erforderte. Die letztere Position wurde im FG-Vorstand von Rapoports Mitstreiter Friedrich Jung vertreten, der bei seinen Arbeiten zur Hämoglobinstruktur auf ähnliche Probleme traf wie Graffi. Konnte dieser ohne Aufbau einer spezialisierten Gruppe von Nukleinsäurechemikern nicht in die weitere Strukutraufklärung von Krebsviren einsteigen, fehlte es Jung an Techniken der Proteinstrukturforschung, die einen Anschluss an den internationalen Wettbewerb um die Identifizierung neuer Varianten des Blutfarbstoffes ermöglicht hätten. Für Jung war ein Aufbau entsprechender Methodengruppen allein aber nicht ausreichend, um die Rückständigkeit der DDRWissenschaft zu überwinden. Wirklich produktiv konnten sie nur werden, wenn sie sich als Teil einer eigenständigen molekularbiologischen Grundlagenforschung, das hieß unabhängig von medizinischen Zielstellungen, entwickelten. Mit dieser Haltung stieß er zwangsläufig auf entschiedenen Widerspruch bei seinem Gegner Gummel.10 Auch bei Graffi konnte er keinen Rückhalt finden, obwohl dieser zur gleichen Zeit einen Aktionsplan für die molekularbiologische Aufrüstung der Akademieinstitute entwarf. Während Graffi darin deutlich machte, wie viele methodologische Bausteine zur Erreichung des Weltniveaus fehlten, betonte er zugleich, dass es um „relativ einfache aus nur wenigen Komponenten bestehende“ und mit „relativ geringen Investitionen“ realisierbare Versuchssysteme ging.11 Eine Modernisierung erforderte in diesem Sinne keine Reform der existenten Institutsstrukturen. Die grundsätzlichen Konflikte hinter dem Streit um die Definition und die Perspektiven der Molekularbiologie unterschieden sich wenig von jenen, die zeitgleich in Westeuropa ausgetragen wurden. Wie in der DDR verkörperte der Begriff Molekularbiologie in den westeuropäischen Wissenschaftsnationen – selbst in Großbritannien und Frankreich, wo frühzeitig wichtige Beiträge zu diesem Gebiet erbracht wurden – die Frage, durch welche strukturellen Anpassungen man dem Rückstand begegnen sollte, der seit Kriegsende gegenüber der USamerikanischen Forschung entstanden war. In der Bundesrepublik schlugen Experten seit Ende der 1950er Jahre Alarm, dass man in der Biologie auf lange Zeit den Anschluss an die internationale Entwicklung verliere, wenn nicht durch systematische Maßnahmen dagegengehalten werde. Die wichtigste forschungspolitische Organisation, die DFG, konnte in den 1960er Jahren jedoch keine systemati10 Protokoll zur Sitzung der Kommission Medizin und Biologie des FG-Vorstandes 22.3.1963, BAB DY 30/IV A2/9.04/362. 11 A. Graffi, Vorschläge zur Thematik der Molekularbiologie, März 1963, BAB DY 30/IV A2/9.04/362, S. 7&10.
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sche Förderungsstrategie für die Molekularbiologie etablieren, da ihre Gremien durch Vertreter etablierter Fachgebiete wie Biochemie und Strahlenbiologie dominiert wurden; wichtige Anstöße kamen zunächst vor allem von der neugegründeten Volkswagenstiftung.12 Auch in der föderalistischen Schweiz waren Industrieunternehmen und private Stiftungen entscheidend am Aufbau der ersten molekularbiologischen Institute beteiligt.13 Die Bildung eigenständiger molekularbiologischer Strukturen vollzog sich in Europa weitgehend gegen den Widerstand der etablierten Institutionen. Für die beteiligten Forscher und Wissenschaftspolitiker ging es dabei nicht einfach um die Etablierung einer neuen Disziplin, sondern eines neuen Wissenschaftsmodells. Als Königsweg galt dabei die Bildung leistungsfähiger Zentren, von denen nach und nach Reformimpulse für das Hochschulsystem ausgehen sollten.14 In der zentralistisch verfassten DDR lag eine solche Strategie auf der Hand. Dennoch bestand in den Akademieinstituten ein Hindernis, das auch die Situation in westlichen Ländern prägte, nämlich ein auf die klassischen Biowissenschaften ausgerichtetes Institutssystem und eine Dominanz seiner Vertreter – vor allem der Mediziner – in den maßgeblichen Gremien. Ein schwerwiegender Unterschied bestand in den personellen Voraussetzungen: während in Westeuropa ein ausreichender Stamm junger Forscher vorhanden war, die Erfahrungen von längeren Aufenthalten in den USA mitbrachten, bestanden in der DDR nur minimale Möglichkeiten des Austausches, insbesondere in den Jahren nach dem Mauerbau. Angesichts der gespannten Lage der Forschungsfinanzierung waren außerdem zu Beginn der 1960er Jahre die Chancen gering, im Rahmen der Akademie ein völlig neues Projekt aufzubauen. Der Blick in die 1965 vom FR entworfenen Perspektivplanvorschläge bestätigt dies: Für den Zeitraum bis 1970 sollte der Zuwachs in der Molekularbiologie republikweit mit 44 zusätzlichen Fachkräften deutlich bescheidener ausfallen als in anwendungsorientierten Bereichen wie Pflanzenzüchtung, Mikrobiologie oder Krebsforschung. Zudem war die Aufstockung hauptsächlich an Universitätsinstituten vorgesehen.15 Skeptiker konnten sich damit in der Befürchtung bestätigt fühlen, dass die Zielstellung „Molekularbiologie“ zu oberflächlichen strukturellen Verschiebungen – etwa einer Reorganisation des Bucher Institutsverbandes –16 aber nicht zu einer wirksamen Erweiterung des Forschungspotentials führen würde. Auch Jung musste vor diesem Hintergrund zugeben, dass für eine gesonderte Institutionalisierung des Gebietes Molekularbiologie am IMB keine ausreichende Grundlage bestand. Die Mehrheit seiner Kollegen im Direktorenrat war der Auffassung, dass dem Anliegen der Modernisierung dadurch Genüge getan wurde, dass man den molekularbiologisch orientierten Forschern mehr Freiraum und 12 13 14 15
Rheinberger 2002, S. 197–198; Stoff 2012, S. 94–112. Stettler 2002, S. 161–162. Strasser 2002; Krige 2002, S. 560–561. Beratungsmaterial der Zentralen Gruppe zur Ausarbeitung des Perspektivplanes der naturwiss. Forschung, Disziplin Biologie, 12.5.1965, BAB DF 4/3447. 16 SFT, Einschätzung des Perspektivplanvorschlages der Disziplin 4 Biologie und biologische Grundlagen der Medizin und Agrarwissenschaft (1965), BAB DF 4/3447.
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mehr Mitspracherechte gewährte. Zu Beginn der 1960er Jahre hatten sich jüngere Mitarbeiter verschiedener Teilinstitute zu einer „Problemkommission Nukleinsäuren“ zusammengeschlossen, die 1962 den Rang eines Beratungsgremiums erhielt.17 Sie bestand überwiegend aus den Mitgliedern von Arbeitsgruppen, die sich thematisch und methodologisch weitgehend von den Arbeitsschwerpunkten ihrer Institute gelöst hatten.18 In Graffis Institut traf dies auf die phagengenetischen Forschungen Erhard Geißlers zu, die zwar potentiell Modellcharakter für die Wirkungsweise von Krebsviren besaßen, aber einer eigenständigen Zielsetzung folgten. Einen direkteren Bezug zur Krebsforschung hatten Heinz Bielkas Arbeiten über eukaryotische Ribosomen, da denkbar erschien, dass sich diese Organellen bei Normal- und Krebszellen funktionell und strukturell unterschieden. Die Arbeitsgruppe von Peter Langen am Institut für Biochemie zielte auf die Entwicklung von Antimetaboliten des Nukleinsäurestoffwechsels als Kanzerostatika ab, wobei sie von der Untersuchung der DNS-Synthese in Normal- und Krebsgeweben ausging. Ohne direkte medizinische Ausrichtung waren die Untersuchungen zur Bildung bakterieller RNS, die Ruth Lindigkeit im Institut für angewandte Isotopenforschung verfolgte. Alle diese Projekte zeigen, dass ambitionierte jüngere WissenschaftlerInnen bei der Suche nach neuen Themen in den 1960er Jahren fast zwangsläufig mit molekulargenetischen Techniken in Verbindung kamen. Die Aufnahme innovativer Ansätze in einzelnen Instituten bot aber noch keine Garantie für eine nachhaltige Entwicklung des gesamten molekularbiologischen Feldes. Die einzelnen Gruppen verfolgten kein gemeinsames Programm und konnten ihr Methodenspektrum nicht beliebig erweitern. Graffi hatte in seinen Entwürfen betont, dass die neuen chemischen, immunbiologischen sowie mikro- und zellbiologischen Verfahren, die zur Isolierung, Charakterisierung und Manipulierung von DNS- und RNS-Sequenzen notwendig waren, nur von spezialisierten Gruppen getragen werden konnten. Außerdem verlangten sie spezielle Enzympräparate, die nach dem damaligen Stand nur durch Import verfügbar waren.19 Sollte man für solche multivalenten Aufgaben zentrale (möglicherweise nationale) Laboratorien bilden? Wo war es angesichts einer noch längst nicht abgeschlossenen internationalen Methodenentwicklung sinnvoll, eigene Wege zu versuchen?20 Hinsichtlich dieser Fragen 17 Parteileitung IMB (R. Scholze), Informationsbericht 6.9.1965, BAB DY 30/ IV A2/9.04/304; Protokoll zur außerordentlichen Sitzung des Rates der Direktoren 27.8.1965, ABBAW Buch A 19. 18 Bericht der PK Nukleinsäuren und Viren gem. Direktoriumsbeschluss vom 26.10. über Arbeitsprogramm, Kader- und Gerätesituation, 30.11.1962, ABBAW Buch A 16. 19 Graffi, Vorschläge zur Thematik der Molekularbiologie, März 1963, BAB DY 30/IV A2/9.04/362. 20 Ein solcher Versuch wurde Mitte der 1960er Jahre im Institut für Biophysik mit Vorversuchen eingeleitet, die elektronenmikroskopische Sichtbarmachung von Nukleinsäurebasen durch spezifische Koppelung an Metallkomplexe zu erreichen. Diese Technik wurde zu dieser Zeit ernsthaft als Sequenzierungsverfahren diskutiert, verschwand aber schnell aus dem Programm; vgl. D. Kirstein, E. Kahrig, F. Lange, Über Modelluntersuchungen zur elektronenmikroskopischen Aufklärung von Sequenzen in Makromolekülen, Studia Biophysica 2 (1967), S. 121–125.
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konnte man sich im IMB auf keine gemeinsame Linie einigen. Insgesamt blieb in der DDR umstritten, ob es angesichts der personellen und materiellen Situation überhaupt sinnvoll war, den Anschluss an das molekularbiologische Weltniveau anzustreben. So konstatierte eine Expertengruppe, die 1965 die Möglichkeiten einer molekulargenetischen Neuorientierung des Instituts für Biophysik diskutierte, in der DDR fehlten „zur Zeit“ die Voraussetzungen, „einen entscheidenden Beitrag“ zu Fragen der genetischen Codierung zu leisten – und hegte offenbar keine Hoffnungen, diese Situation ändern zu können.21 Auch während der Akademiereform erfuhr dieses Gebiet keinen entscheidenden Ausbau. Die Methoden der DNS- und Proteinsequenzierung sollten noch Ende der 1970er Jahre eine entscheidende Schwachstelle des Bucher Forschungszentrums bilden; seine Arbeitsgruppen waren damit aus dem internationalen Rennen um die Identifizierung von Genorten und Proteinsequenzen ausgeschlossen.22 Deutliche Verbesserungen ergaben sich dagegen, wie im vorigen Kapitel dargestellt, bei den Methoden der biophysikalischen Strukturforschung. Dies sollte dazu beitragen, dass auf einem Teilgebiet der Molekularbiologie, der Erforschung von Raumstrukturen und Funktionen makromolekularer Komplexe, der Anschluss an internationales Niveau gelang. Molekulare Maschinen verstehen Die Leitung des IMB kam den Anforderungen, der molekularbiologischen Forschung mehr Eigenständigkeit zu gewähren, insofern nach, als sie 1964 eines der Teilinstitute neu ausrichtete. Gummel hatte angestrebt, das kleine Institut für Zellphysiologie nach der Emeritierung seines Direktors Erwin Negelein dem Institut für Krebsforschung einzuverleiben.23 Schließlich behielt das Institut unter der Leitung von Heinz Bielka jedoch nicht nur seine Eigenständigkeit, sondern entfernte sich auch zunehmend aus der Verbindung zur experimentellen Medizin, die es unter Negelein noch gehabt hatte. Bereits zuvor war dem Institut die Abteilung von Ruth Lindigkeit angegliedert worden, die wie jene Bielkas über Ribosomen forschte.24 Die Zellphysiologie vereinte damit zwei hauseigene Forschungsgruppen, die sich mit einem der wichtigsten molekularbiologischen Objekte dieser Zeit befassten. Bielkas Projekt war im Rahmen der experimentellen Krebsforschung entstanden. Die Ribosomen waren ihm erstmals bei Versuchen zur Fraktionierung von Tumorzelle begegnet, die auf die Reindarstellung des graffischen MäuseLeukämievirus abzielten. Gegen Ende der 1950er Jahre verwandelte sich dieses Nebenprodukt der Krebsvirologie in einen neuen Forschungsgegenstand, nachdem nachgewiesen wurde, dass die Nukleoproteine Träger der Proteinbiosynthese wa21 Lohs u. a., Exposé zum Stand der Biophysik in der DDR, 20.11.1965, ABBAW FG 75. 22 Führungskonzeption des ZIM, 15.4.1978, ABBAW Buch A 1032. 23 Protokoll zur Sitzung der Kommission Medizin und Biologie des FG-Vorstandes 5.6.1964, BAB DY 30/IV A2/9.04/362. 24 Perspektivplan des Instituts für Zellphysiologie, 25.11.1963, ABBAW FG 41.
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ren.25 Die Voraussetzungen zu dieser Entdeckung waren ebenfalls auf dem Boden der Krebsforschung gelegt worden. Mitte der 1940er Jahre begann der Biochemiker Paul C. Zamecnik am Massachusetts General Hospital in Boston, die Proteinsynthese an Krebs- und Normalgeweben zu studieren. Da ungehemmtes Wachstum ein Charakteristikum der Tumorzelle darstellte, erschien es ihm denkbar, dass ihre funktionelle Besonderheit im Mechanismus der Proteinsynthese begründet lag. Nachdem sich herausgestellt hatte, dass radioaktiv markierte Aminosäuren, die Rattenleberzellen zugeführt wurden, sich bevorzugt in der als „Mikrosomen“ bezeichneten Zellfraktion wiederfanden, konnte Zamecniks Gruppe Mitte der 1950er Jahre nachweisen, dass sich die Synthese von Proteinen in den RNShaltigen Partikeln der Mikrosomenfraktion vollzog. Parallel zu diesen Untersuchungen schritt die strukturelle Charakterisierung der Mikrosomen mittels Ultrazentrifuge und Elektronenmikroskop voran; ab 1958 wurden die RNS-haltigen Bestandteile dieser Organellenfraktion als „Ribosomen“ bezeichnet. 26 Für die Entwicklung der Molekularbiologie war die Identifizierung des Ortes der zellulären Proteinsynthese von größter Bedeutung, da zu diesem Zeitpunkt zwar Strukturmodelle für DNS und Proteinkomplexe vorlagen, aber keine experimentell greifbare Vorstellung darüber, wie Nukleinsäuren Proteine produzierten. Zamecniks Team hatte sich mit der Hinwendung zur Aminosäuren-Aufnahme in den Mikrosomen von der Krebsthematik verabschiedet. In der Folgezeit verlagerte sich die Ribosomenforschung fast vollständig auf das Standardobjekt der Molekularbiologie, Escherichia coli. Die Verwendung des Bakteriums brachte nicht nur eine leichtere experimentelle Handhabbarkeit mit sich, sie bedeutete auch eine Ablösung von den schwerfälligen Praktiken der Biomedizin – speziell der Haltung von Tumorzellkulturen und Versuchstieren – und eine Übernahme der Logik und des Vokabulars der Molekulargenetiker.27 Bielka stand insofern außerhalb des internationalen Mainstreams, als er sich mit seiner Gruppe zu Beginn der 1960er Jahre auf die Ribosomen tierischer Zellen orientierte. Er erschloss damit jedoch ein Feld, auf dem die internationale Konkurrenz überschaubar war. Seine Kollegin Lindigkeit begann zur gleichen Zeit, sich auf Fragen der Biosynthese von E.coli-Ribosomen zu konzentrieren, speziell auf das Vorkommen von Vorstufen der ribosomalen RNS und ihrer Verbindung mit Aminosäuren – ein Aspekt der expandierenden Ribosomen- und Proteinsyntheseforschung, der auch von prominenten Molekularbiologen wie James Watson verfolgt wurde. Lindigkeit und ihre Mitarbeiter fanden Hinweise darauf, dass die Synthese der Ribosomen in E.coli – wie es später allgemein akzeptiert werden sollte – an den Zellmembranen stattfand.28 Die Arbeiten ihrer Gruppe sollten jedoch niemals annähernd die internationale Akzeptanz erreichen, die jenen Bielkas zuteil wurde. Das 25 26 27 28
Autobiographie Heinz Bielka in: Pasternak 2004, S. 112–117, S. 115. Rheinberger 2001, S. 35–75. Ebd., S. 216–219. R. Lindigkeit, Über die Rolle der Aminosäuren bei der Synthese der Ribosomen-RNS, In: H. Stubbe, H. Böhme (Hg.), Struktur und Funktion des genetischen Materials: Erwin-BaurGedächtnisvorlesungen III, Abhandlungen der Deutschen Akademie der Wissenschaften, Med. Klasse, Nr. 4 (1964), S.177–183.
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lag sicherlich an der größeren Konkurrenz auf dem E.coli-Feld, aber auch daran, dass Bielka enge Kontakte in der noch kleinen Gemeinschaft von Forschern aufbauen konnte, die sich mit eukaryotischen Ribosomen beschäftigten. Bielkas ersten Schritte waren noch deutlich durch das zellphysiologische Programm des graffischen Instituts geprägt, das heißt der Suche nach funktionellen Differenzen zwischen Normal- und Krebszellen. Mittels der bei den Virusarbeiten erprobten Techniken der Nukleinsäure-Isolierung wurde ribosomale RNS rein dargestellt und auf ihre Stabilität unter dem Einfluss physiologischer Faktoren untersucht. Tatsächlich erwies sich die rRNS von Hepatomen als weniger temperatursensibel als jene aus Normalzellen; da sich beide Fraktionen gegenüber nukleinsäurespaltenden Enzymen gleich verhielten, erschien ein wesentlicher Unterschied in der molekularen Organisation aber ausgeschlossen.29 Wie bei vielen Versuchen zur biochemischen Charakterisierung von Krebszellen blieb es auch hier bei einem vagen Hinweis auf eine strukturelle Besonderheit. Die Vergleichsperspektive war jedoch nur ein Einstieg in ein Projekt zur Struktur eukaryotischer Ribosomen, das sich bald völlig von der Krebsthematik löste. Die Ribosomen waren, abgesehen von ihrer Funktion als „Übersetzer“ genetischer Information in Proteinstrukturen, für die Molekularbiologie auch darum von Bedeutung, weil sie als relativ kleiner Molekülkomplex die Möglichkeit boten, den kompletten Aufbau einer zellulären Funktionseinheit aufzuklären. Bei Mitte der 1960er Jahre existierten bereits recht genaue Vorstellungen über die Morphologie und die Proteinmuster der Ribosomen von E. coli. Die Struktur der Eukaryoten-Ribosomen war dagegen fast völlig ungeklärt, weil die Aufspaltung ihrer Bestandteile auf große Probleme stieß.30 Bielka und seine Mitarbeiter betraten daher Neuland, als sie bei einem internationalen Ribosomen-Symposium im Akademie-Tagungszentrum Schloss Reinhardsbrunn 1967 erstmals Analysen von Proteinmustern der Leberzell-Ribosomen sieben tierischer Spezies präsentieren konnten.31 Die seit den 1930er Jahren verwendete Technik zur Auftrennung von Proteingemischen im elektrischen Feld – die Elektrophorese – erlaubte zu diesem Zeitpunkt bereits eine Unterscheidung molekularer „Fingerabdrücke“, aber noch keine scharfe Trennung der einzelnen Proteinkomplexe. Die Aufnahme der Arbeiten fiel jedoch in eine Zeit, in der sich die proteinchemischen Analysemethoden rapide verfeinerten. Während man in Bielkas Labor bereits den Kunststoff Polyacrylamid als Trennmedium verwende29 H. Bielka, I. Schneiders, A. Henske, Untersuchungen zur Struktur ribosomaler RNS aus Normal- und Tumorgeweben I., Acta Biologica et Medica Germanica 13 (1964), S. 13–23; H. Bielka, J. Stahl, A. Henske, Untersuchungen zur Struktur ribosomaler RNS aus Normal- und Tumorgeweben IV., Acta Biologica et Medica Germanica 14 (1965), S. 21–29. 30 A. Tissières, Ribosome Research: Historical Background, in: M. Nomura, A. Tissières, P. Lengyel (Hg.), Ribosomes, Cold Spring Harbor 1974, S. 3–12, S. 9 31 H. Bielka, H. Welfle, On ribosomal proteins charaterized by polyacrylamide gel electrophoresis and serological methods, in: R. Lindigkeit, P. Langen, J. Richter (Hg.), Biochemistry of Ribosomes and Messenger-RNA: International Symposium, Castle Reinhardsbrunn, May 23– 26, 1967, Abhandlungen der Deutschen Akademie der Wissenschaften, Med. Klasse, Nr. 1 (1968), S. 55–58.
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te, der die Trennschärfe der Elektrophoresetechnik wesentlich heraufsetzte, hatte eine amerikanische Arbeitsgruppe – die zur Proteinstruktur von Polioviren forschte – mit der zusätzlichen Verwendung von Natriumdodecylsulfat bereits einen weiteren Qualitätsschub erreicht.32 Unter der Bezeichnung SDS-PAGE wurde das Verfahren zu einer der meistgenutzten Methoden der Biochemie und Molekularbiologie, da es auch eine genaue Ermittlung der Molekulargewichte ermöglichte. Neben den neuen Elektrophoresetechniken adaptierten Bielka und Mitarbeiter auch neue chromatographische Verfahren zur Auftrennung von Molekülfraktionen.33 Zu Beginn der 1970er Jahre wurde so schrittweise eine steigende Anzahl von Ribosomen-Proteinen identifiziert.34 Als Bielka 1974 die internationale Ribosomenforscher-Elite erneut nach Reinhardsbrunn einlud, konnte er selbstbewusst behaupten, dass man bei der Erforschung der Topografie und Funktion tierischer Ribosomen eindeutig an der Weltspitze rangierte.35 Es war abzusehen, dass diese Position nur verteidigt werden konnte, wenn man sich auf dem schnell wachsenden Gebiet auf Teilaspekte konzentrierte, für welche die eigenen technischen Möglichkeiten geeignet waren. Die Ermittlung der Primärstrukturen einzelner Proteine, wie sie für E.coli-Ribosomen am West-Berliner MPI für Molekulare Genetik durchgeführt wurde, war aufgrund weiterhin unzureichender Techniken für die Proteinsequenzierung keine Option.36 In Buch lag der Schwerpunkt darauf, die räumliche Anordnung der zuvor separierten molekularen Bestandteile zu analysieren und damit Rückschlüsse auf die Funktion einzelner Proteine in Aufbau und Syntheseleistung der Ribosomen zu gewinnen. Eine Möglichkeit hierfür bestand darin, unter Verwendung chemischer Marker die Reaktivität von Proteinen gegenüber Teilen des Ribosomenkomplexes zu bestimmen. Auf diese Weise entstand ein erstes grobes Modell der Anordnung von Teilproteinen in den beiden Funktionseinheiten des Ribosoms.37 In ähnlicher Weise wurden immunchemische Methoden eingesetzt, die auf der Gewinnung spezifischer Antisera gegen isolierte Proteine beruhten. Konnte so zunächst gezeigt werden, dass die Ribosomenproteine allesamt immunologische Unikate waren, wurde der Ansatz im Verlauf der 1970er Jahre zur „Immunelektronenmikroskopie“ weiterentwickelt, bei der man die Bindung spezifischer Antikörper zur visuellen Identifizierung bestimmter
32 Pederson 2016. 33 H. Welfle, H. Bielka, M. Böttger, Studies on proteins of animal ribosomes II.: Separation of ribosomal proteins from rat liver by preparative polyacrylamide gel electrophoresis and some properties of the protein fractions, Molecular and General Genetics 104 (1969), 165–171. 34 H. Welfle, J. Stahl, H. Bielka, Studies on proteins of animal ribosomes: XIII. Enumeration of ribosomal proteins of rat liver, FEBS Letters 26 (1972), 228–232. 35 H. Bielka, Bericht zu Symposium Ribosomen und Proteinbiosynthese in Reinhardtsbrunn 13– 16.5.1974, 7.6.1974, ABBAW Buch A 1155. 36 H.G. Wittmann, B. Wittmann-Liebold, Proteinchemical studies on proteins of bacterial ribosomes, Acta Biologica et Medica Germanica 33 (1974), S. 571–590. 37 P. Westermann, B. Gross, W. Heumann, Studies on proteins of animal ribosomes XXII.: Localization and function of ribosomal proteins studied by chemical substitution with iodoacetamide and methyl-acetimidate, Acta Biologica et Medica Germanica 33 (1974), S. 699– 707.
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Proteine an der Außenseite des Ribosoms nutzte.38 Die Arbeiten trugen so zu einer dreidimensionalen Kartierung des Molekülkomplexes bei. Neben dieser Rekonstruktion der Molekülarchitektur versuchte Bielkas Gruppe ferner, eine Antwort auf die zentrale Frage der Ribosomenbiologie zu entwickeln – nämlich durch welchen Mechanismus die kleinen Proteinfabriken die Messenger-RNS aufnehmen, „ablesen“ und in strukturbildende Moleküle „übersetzen“ konnten. Dabei wurde die verbesserte forschungstechnische Ausrüstung des ZIM maßgeblich. Auf elektronenmikroskopischem Weg konnten Strukturveränderungen bei verschiedenen Ionenkonzentrationen beobachtet und so Rückschlüsse auf mögliche Funktionszustände des Ribosoms gezogen werden.39 Darüber hinausgehende Möglichkeiten bot die international ungewöhnliche neue Hausspezialität der Bucher Biophysiker, die Röntgenkleinwinkelstreuung (RKWS). Die RKWS erlaubte eine sehr genaue Ermittlung des Volumens von Molekülkomplexen; sie konnte so Daten über Form und Größe der RibosomenBestandteile unter verschiedenen Bedingungen liefern, die die elektronenmikroskopischen Befunde komplementär erweiterten.40 Aus Beobachtungen an E.coliRibosomen war seit Längerem bekannt, dass die Organellen aus einer größeren und einer kleineren Subeinheit bestanden; es war daher naheliegend anzunehmen, dass sich der Transkriptionsvorgang im Raum zwischen den beiden Einheiten vollzog. Nach einer vorliegenden Interpretation klappte die kleinere Untereinheit auf, um die RNS aufzunehmen. Bielka und seinen Kollegen erschien dieses Modell zu einfach, da es nicht erklärte, wie der RNS-Strang während der „Ablesung“ transportiert wurde. Auf Grundlage ihrer Daten entwickelten sie die Idee, dass die kleine Funktionseinheit wiederum aus zwei Teilen bestand, welche durch Konformationsänderungen die mRNS-Stränge aufnahmen und in einen Bereich des Ribosomenkomplexes weiterschoben, in dem sich die Transfer-RNS-Stränge anlagerten und für die Verknüpfung der codierten Aminosäuren sorgten.41 Bielka betonte, dass mit diesem von dem RKWS-Experten Gregor Damaschun „Rack-and-Roll-Mechanismus“ getauften (und von ihm selbst als „Zahnstangen-Abroll-Mechanismus“ eingedeutschten) Schema erstmals ein „dynami-
38 F. Noll, H. Theise, H. Bielka, Studies on proteins of animal ribosomes XVIII.: Reaction of ribosomes and ribosomal proteins with antibodies against ribosomal proteins, Acta Biologica et Medica Germanica 33 (1974), S. 547-553; G. Lutsch, F. Noll, H. Theise, G. Enzmann, H. Bielka, Localization of proteins S1, S2, S16 and S23 on the surface of small subunits of rat liver ribosomes by immune electron microscopy, Molecular and General Genetics 176 (1979), S. 281–291. 39 G. Lutsch, H. Bielka, K. Wahn, F. Noll, Studies on the structure of animal ribosomes III.: Electron microscopic investigations of isolated rat liver ribosomes and their subunits, Acta Biologica et Medica Germanica 29 (1972), S. 851–876. 40 G. Damaschun, J. J. Müller, H. Bielka, M. Böttger, Studies on the structure of animal ribosomes V.: Studies on the size and structure of rat liver ribosomes by small angle X-ray scattering, Acta Biologica et Medica Germanica 33 (1974), S. 817–823. 41 G. Damaschun, J. J. Müller, H. Bielka, Untersuchungen zur Struktur tierischer Ribosomen VI.: Ein dynamisches Modell der Ribosomenstruktur, Acta Biologica et Medica Germanica 34 (1975), S. 229–239.
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sches“ Modell der Ribosomenfunktion vorlag.42 Es bot nicht allein ein Bild des molekularen Morphologie, sondern eine Erklärung der räumliche Veränderbarkeit und damit zugleich der funktionalen Wirkung. Die Entwicklung solcher Modelle wurde in den 1970er Jahren zu einer Spezialität des ZIM. Ähnliche „dynamische“ Interpretationen von Molekülstruktur und Wirkmechanismus wurden – allerdings auf sehr unterschiedlicher Grundlage – zur gleichen Zeit auch für das membranständige NaK-Transportenzym sowie das Hämoglobin erarbeitet.43 In allen diesen Fällen verbanden sich jahrelange Erfahrungen mit einem Molekülsystem mit neu zugänglichen biophysikalischen Techniken. Die Konzentration auf solche Struktur-Funktions-Modelle war für ein Institut, das auf absehbare Zeit in der Nukleinsäuren- und Protein-Sequenzierung nicht konkurrenzfähig werden konnte, eine naheliegende Strategie. Sie bedeutete keineswegs, dass man sich auf zweitrangige Nischenthemen des schnell wachsenden molekularbiologischen Feldes festlegte, auch wenn die Erfolgsgeschichte der Molekularbiologie heute zumeist mit der schrittweisen „Entzifferung“ linearer Botschaften – Genabschnitten, Proteinsequenzen und ganzen Genomen – gleichgesetzt wird. Aus der Sicht der 1970er Jahre waren jedoch gerade die Fragen, wie aus linearen Botschaften komplexe Raumstrukturen entstanden und wie diese wiederum komplexe zellphysiologische Prozesse ausführen konnten, die offenen und entscheidenden der Molekularbiologie. James Watson – der wesentlich zur Verbreitung des „Entzifferungs“Narrativs beitrug – hob hervor, dass die Gesamtstruktur der Ribosomen, ihre Proteinarchitektur und insbesondere ihre Interaktion mit der mRNS sowie der Aminosäure-tragenden tRNS eines der großen Rätsel aufgebe, die seine Wissenschaft von einem wirklichen Verständnis der Proteinsynthese trennte.44 Für Watson schien es selbstverständlich, dass ein genaueres Bild dieser Vorgänge anhand der Ribosomen des Standardbakteriums E.coli erzielt werden würde. Bielka verwendete mit Eukaryonten-Ribosomen ein Objekt, das vielen Molekularbiologen als zu umständlich und unergiebig erschien, aber gerade darum WissenschaftlerInnen an der Peripherie eine Chance bot, sich international zu positionieren. Watson ging außerdem davon aus, dass die Proteinsynthese auf „atomarer Ebene“ erst dann verstanden werde, wenn Ribosomen der Königsdisziplin der Strukturforschung, der Röntgenkristallographie, zugänglich wurden. In Buch wurde ein wichtiger Schritt in diese Richtung ohne den Weg über die Kristallisierung vollzogen, sondern über eine Kombination biochemischer Verfahren mit einer ungewöhnlichen biophysikalischen Methode. Der Fall der Ribosomenforschung macht deutlich, dass sich die molekularbiologische Moderne nicht allein auf jene Techniken reduzieren lässt, durch die sich „Botschaften“ sequenzieren, dechiffrieren und manipulieren ließen. Sie beruhte auf der parallelen Entwicklung einer Vielzahl proteinchemischer, immunologischer, enzymatischer und biophysikalischer Verfahren, die auf verschiedene Weise kombinierbar waren. Der kreative Einsatz dieser Techniken ermöglichte es auch Forschern jenseits der 42 H. Bielka, Eiweißsynthese im Ribosom, Spektrum 7 (1976), Nr. 2, S. 16. 43 Vgl. Kap. III.4.1. und III.6.. 44 J. Watson, Molecular Biology of the Gene, New York: Benjamin, 2. Aufl. 1970, S. 391–94.
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das Feld definierenden Zentren, sich mit eigenen theoretischen Lösungen zu positionieren – vorausgesetzt, sie fanden die dafür nötige internationale Anerkennung. Planziel Gentechnik Während die Ribosomenforschung als modellorientiertes Projekt ausgesprochen anwendungsfern war, betonten die um 1970 formulierten Zielsetzungen für das Bucher Forschungszentrum vor allem den nutzungsorientierten Charakter molekularbiologischer Forschung. Im technizistischen Jargon der MOGEVUS-Planer war die „Erforschung der Prinzipien der biologischen Prozeßsteuerung“ die Voraussetzung für den „Einsatz neuartiger biologischer Systeme in der stofferzeugenden und stoffwandelnden Produktion sowie der Imitation biologischer Wirkprinzipien in technischen Systemen“ oder für die „Entwicklung neuer biologisch aktiver Verbindungen zur gezielten Beeinflussung der Leistungen von Organismen“.45 Prozess, System, Steuerung, Produktion – die kybernetischen Schlüsselworte des Planungsdiskurses suggerierten, dass das kausale Verständnis natürlicher Vorgänge zwangsläufig den Weg zu ihrer gezielten Beeinflussung oder gar ihrer technischen Nachahmung eröffnete. Das dahinterstehende „lineare“ Wissenschaftsverständnis wies der Grundlagenforschung eine privilegierte Stellung gegenüber der anwendungsbezogenen Forschung zu, bürdete ihr aber zugleich die Last der Verantwortung für den technischen Fortschritt auf. Die Umsetzung des MOGEVUSProgramms zeigte deutlich, wie wenig dieses wissenschaftspolitische Konstrukt den Realitäten der biomedizinischen Forschung entsprach. Soweit während des Programmlaufzeit überhaupt eine „Überführung“ von Forschungsresultaten stattfand, betraf sie nicht neuartige theoriebasierte „Prinziplösungen“, sondern labortechnische Verfahren, die in medizinisch-diagnostischen Systemen oder als Tests auf Wirk- und Schadstoffe verwendbar waren. Der Versuch einer organisierten Abschöpfung von experimentellen Praktiken für Klinik, Industrie und Landwirtschaft ließ auch das Ribosomenprojekt nicht ganz unberührt. Dass es dabei beinahe einen volkswirtschaftlichen Mehrwert erbrachte, hatte nur mittelbar damit zu tun, dass der ursprüngliche Bezug zur Krebsforschung Mitte der 1970er Jahre wiederbelebt wurde. Bielkas Gruppe nahm mit verfeinerten Methoden die Frage nach den funktionellen und morphologischen Unterschieden zwischen Normal- und Tumorzellen wieder auf, konnte jedoch nur Differenzen in der Verteilung membrangebundener und freier Ribosomen, nicht aber hinsichtlich der RNS- und Proteinmuster finden. Als möglicher Grund für die unterschiedliche Proteinsyntheserate wurde die Existenz unbekannter Faktoren im Zellsaft angenommen, die das Tempo der ribosomalen Arbeit steuerten.46 Bei der Suche nach diesen „Translationsfaktoren“ zeigte sich, dass Zellsaft aus Tumorzellen tatsächlich stärker auf die Ribosomenaktivität wirkte als jener aus Normal45 Perspektivplan für das SGV MOGEVUS, n. d. (1970), ABBAW Buch A 1001. 46 H. Bielka, Eigenschaften von Ribosomen aus Normal- und Tumorgeweben, Archiv für Geschwulstforschung 45 (1975), S. 209–218.
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zellen.47 Eine Erklärung für diese Beobachtung fand sich vorerst nicht. Jedoch konnten die dabei verwendeten Methoden, die ribosomale Syntheseleistung in vitro zu bemessen, zu einem technischen System für die Wirkungsprüfung biologischer Agenzien ausgebaut werden. Im Rahmen der Suche nach „Praxispartnern“ für Akademieprojekte meldete sich ein Interessent für das Ribosomen-Testsystem, das Forschungszentrum für Tierzucht der Akademie für Landwirtschaftswissenschaften in Dummersdorf/Mecklenburg. Von der Anwendung der In-vitroMessung der Proteinsynthese-Rate auf die Gewebe junger Nutztiere erhofften sich die Agrobiologen eine tragfähige Prognose über deren zukünftiges Muskelwachstum, also ihren „Zuchtwert“. ZIM-Direktor Jung ging 1975 davon aus, dass dieser neuartige Weg der „Leistungsfrüherkennung“ auch dank „leitungsmäßig guter Zusammenarbeit“ innerhalb weniger Jahre praxistauglich sein werde.48 Die ZIMAbteilung konnte nachweisen, dass der Test bei Mäusen den erhofften prognostischen Wert hatte; Ergebnisse aus Dummersdorf legten nahe, dass dies auch bei Rindern der Fall war.49 Nach mehr als einem Jahrzehnt der Zusammenarbeit ließ der praktische Durchbruch jedoch immer noch auf sich warten. Bielka zeigte sich enttäuscht darüber, dass Agrobiologen viel zu wenig dafür taten, das Testsystem praxisfest zu machen, aber ohne Rücksprache Ergebnisse von zweifelhafter Qualität publizierten.50 Der Fall war charakteristisch für die Form von Forschung-„Praxis“Beziehungen, wie sie durch das MOGEVUS-Teilprojekt „Moltest“ hergestellt werden sollten. Es ging um einen Transfer von Forschungstechniken, der auf der Laborebene verblieb.51 Für die Grundlagenforscher verliefen die Versuche, auf ihre spezifischen Methoden in einen neuen Anwendungskontext zu überführen, häufig unfruchtbar, da auf Seiten der „Praktiker“ klare Zielvorstellungen und ausreichende Übernahmekapazitäten fehlten. Für Projektgruppen wie jene Bielkas, die bereits vor der Institutsreform in Buch etabliert waren, bedeuteten solche Kooperationen jedoch keinen entscheidenden Eingriff in ihre Themenstellung und Objektwahl. Anders verhielt es sich mit den Forschungslinien, die nach 1970 das Institutsprogramm aufgenommen wurden. Die beiden neuen Schwerpunkte in der technischen Enzymologie – die im folgenden Kapitel behandelt wird – sowie der Gentechnologie waren von Beginn an mit der Zielsetzung verbunden, neue biotechnologische Produktionssysteme für die chemische und pharmazeutische Industrie zu entwickeln. Mit der Adaption der neu aufkommenden Techniken der DNS-Manipulation, die nach der Gründung des ZIM einsetzte, wurde nicht nur die zuvor erhobene Forderung nach einem molekulargenetischen Neuanfang 47 H. Bielka, Regulation der Translation in eukaryotischen Zellen I., Acta Biologica et Medica Germanica 32 (1974), S. 175–180. 48 Jung an Scheler, Einschätzung der bisherigen Zusammenarbeit mit Einrichtungen der AdL und des Ministeriums für Landwirtschaft, 20.9.1978, ABBAW Buch A 1073. 49 B. Evers, C. Hückel, I. Junghahn, Untersuchungen zur Erfassung unterschiedlicher Eiweißansatzleistungen bei Mäusen mit Hilfe zellfreier Proteinsynthesesysteme, Acta Biologica et Medica Germanica 38 (1979), S. 1565–1571. 50 Bielka an Erzgräber (WS-ZIM), Juli 1986, ABBAW Buch A 1073. 51 Vgl. zu Moltest auch S. 184f.
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umgesetzt, sondern auch ein Prototyp für längerfristig geplante, von den potentiellen Nutzern mitgetragene Projekte etabliert. Vor der Restrukturierung des Instituts bestand eine allenfalls vage Vorstellung davon, wie der „molekularbiologische“ Aufbruch gestaltet werden sollte. In den ersten Planungen für das neue Bucher Forschungszentrum nahm der Programmpunkt „Eingreifen in genetische Informationsbestände“ eine prominente Stellung ein, erwies sich aber bei näherem Hinsehen als eher oberflächliches Modernisierungsversprechen. Die unter ihm zusammengefassten bereits laufenden Arbeiten zur DNS-Reparatur, zur Krebsvirologie sowie zu DNS-Antimetaboliten berührten zwar molekularbiologische Fragen, zielten aber keineswegs auf eine „gezielte“ Manipulation genetischen Materials ab.52 Konkrete Ansätze hierzu wurden erst durch zwei neue Gruppen entwickelt, die nach 1970 in das ZIM integriert wurden: Die von der Universität Rostock übernommene Abteilung Zellgenetik des ehemaligen Graffi-Mitarbeiters Erhard Geißler sowie die von Sinaida Rosenthal geleitete Abteilung Zellregulation, die sich aus jungen Forschern aus Samuel Rapoports biochemischem Institut an der HU Berlin zusammensetzte. Insbesondere die Aufnahme der HU-Gruppe stieß, wie es eines ihrer Mitglieder ausdrückt, auf „alle Arten von Widerstand aus verschiedenen Richtungen“.53 Dass dabei „politische und persönliche Aversionen“ eine wesentliche Rolle spielten, kann nicht verwundern, da die Furcht vor einer direkten Einflussnahme Rapoports im Bucher Forschungsinstitut ein bestimmendes Moment der vorangegangenen Reformdebatten gewesen war. Es gab aber auch grundsätzliche Vorbehalte gegenüber dem Vorhaben, das Feld des Gentransfers zu erschließen – und dies nicht unbegründet. In Buch und im Rest der DDR war es bis dahin kaum gelungen, Anschluss an das molekulargenetische Weltniveau zu finden. Welche Chancen sollte man sich im Wettbewerb um die Produktion genetisch veränderter Zellen und Organismen ausrechnen, deren methodische Grundlagen bis dahin nur in Ansätzen erkennbar waren? Um 1970 beherrschten nur einzelne internationale Spitzeninstitute eine Reihe von Techniken, die den gentechnologischen Optimismus befeuerten. Es waren mehrere Enzyme bekannt, die DNS an spezifischen Genorten spalteten; der Biochemiker H. Gobind Khorana erreichte mit seinem Team an der University of Wisconsin die erste komplette Synthese eines Genabschnitts. Der Transfer fremder Erbsubstanz in Bakterien war mittels bakterieller Plasmide oder Viren möglich.54 Hinzu kam die Entdeckung der „reversen Transkriptase“ in RNS-Viren, eines Enzyms, welches die Rekonstruktion von DNS-Abschnitten aus MessengerRNS ermöglichte. Es lag also eine Palette von Methoden vor, deren Kombination es greifbar erscheinen ließ, Teile zellulärer Genome zu isolieren, sie zu vervielfältigen und in fremde Zellen einzuschleusen. Welche Praktiken bei welchem Objekt tatsächlich umsetzbar sein würde, war allerdings noch nicht abzusehen. Wissen52 Konzeption des Forschungszentrums für Molekularbiologie und Medizin Berlin-Buch, 15.5.1970, ABBAW Buch A 1001 53 Autobiographie C. Coutelle, in: Pasternak 2004, S. 257–262, S. 259 54 Wright 1994, S. 71–72.
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schaftler, die an der Peripherie des globalen Forschungsnetzes arbeiteten und keinen Zugang zu den amerikanischen Zentren hatten, mussten damit rechnen, nicht auf alle bekannten experimentellen Komponenten zurückgreifen zu können. Ein Weg, den man in Buch von Beginn an als aussichtslos ansah, war die chemische Herstellung von DNS-Abschnitten. Ebenso wie die Nukleinsäure-Sequenzierung bildeten die synthetischen Techniken eine methodische Leerstelle, die bis in die 1980er Jahre nicht völlig ausgefüllt werden konnte. Geißler beabsichtigte, bei einem neu entwickelten Experimentalsystem zum Transfer von DNS in tierische Zellen mittels des Primaten-Krebsvirus SV 40 anzusetzen. Die Transferfähigkeiten von SV 40 waren kurz zuvor von dem StanfordBiochemiker Paul Berg entdeckt worden, der damit das aus Bakterien-PhagenSystemen bekannte Prinzip der genetischen Transformation auf eukaryotische Zellen übertrug. Dieser Objektwechsel war charakteristisch für die Situation der amerikanischen Molekulargenetik in den späten 1960er Jahren, als viele Bakteriengenetiker begannen, sich auf tierische Zellen zu orientieren.55 Geißlers Projektidee war unmittelbar durch die amerikanische Pionierarbeit beeinflusst. Bei einem der seltenen Konferenzbesuche in den USA, die DDR-Wissenschaftlern zuteil wurden, wohnte er 1970 Bergs ersten informellen Hinweisen auf Versuche bei, bakterielle Gene durch Anheftung an SV 40 in tierische Zellen einzuschleusen.56 Sein eigenes Programm sah vor, mittels SV 40 als „Genvektor“ ein bakterielles Gen in Zellen des chinesischen Hamsters einzubauen, das die fehlende Produktion des Enzyms HGPRT (Hypoxanthin-Guanin-Phosphoribosyltransferase) ausgleichen konnte.57 Beim Menschen führt der Mangel an diesem Enzyms zum Lesch-Nyhan-Syndrom, einer sehr seltenen Erbkrankheit mit gravierenden körperlichen und psychischen Folgen. Es handelte sich also um Modellexperimente mit gentherapeutischer Ausrichtung, die weniger wegen ihrer medizinischen Bedeutung als aufgrund der gegebenen experimentellen Möglichkeiten aufgenommen wurden. Zellkulturen vom chinesischen Hamster hatten sich als Standardobjekt der Eukaryoten-Genetik etabliert, da sie außerordentlich gut kultivierbar und manipulierbar waren und ein breites Spektrum funktionsspezifischer Defektmutationen boten. Die Übertragbarkeit eventueller Erfolge mit diesem Modellobjekt auf menschliche Zellen war keineswegs selbstverständlich. Dennoch prognostizierte Geißler 1972, „gerichtete Eingriffe in das genetische Material des Menschen“ seien „bei in vitro kultivierten Zellen heute bereits reproduzierbar möglich und dürften in naher Zukunft auch beim menschlichen Organismus praktiziert werden können“.58 Grundlage dieses Optimismus – mit dem er zu diesem Zeitpunkt nicht allein stand – war eine Reihe scheinbar bahnbrechender Ergebnisse in den vorangegangenen Monaten. Neben dem Gentransfer mittels Viren waren angeblich 55 Yi 2008. 56 Geißler 2010, S. 70–71; zum SV 40-Transduktionsprojekt vgl. Yi 2008, S. 608–610. 57 E. Geißler, Jahresendbericht 1973 der Abteilung Zellgenetik des ZIM, 11.11.1973, ABBAW Buch A 751. 58 E. Geißler, Einführung, in: E. Geißler, A. Kosing, H. Ley, W. Scheler (Hg.), Philosophische und ethische Probleme der Molekularbiologie : III. Kühlungsborner Kolloquium (Okt. 1972), Berlin: Akademie, 1974, S. 1–7, S. 4–5.
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auch die Aufhebung eines Gendefekts durch die Fusion von Säugetierzellen und sogar die Substitution einer Mangelmutante in menschlichen Zellen durch ein eingeschleustes Bakteriengen gelungen. Die letztgenannten Versuche erwiesen sich jedoch bald als nicht reproduzierbar. Ein Jahrzehnt später lagen zwar einige erfolgreiche in-vitro-Ansätze mit Eukaryoten vor, die jedoch versuchstechnisch so instabil waren, dass selbst eine Umsetzung am lebenden Versuchstier weit entfernt schien.59 Das Projekt verlief nicht allein aufgrund versuchstechnischer Schwierigkeiten anders als geplant. Die Frage der möglichen Kanzerogenität des Genvektors SV 40 führte zu einer Umorientierung auf Untersuchungen zur Krebsepidemiologie sowie zur mutagenen und onkogenen Wirkung des Virus. Das geplante Gentransfersystem wurde weiter bearbeitet, bis sich 1979 herausstellte, dass in Bergs Labor eine analoges Projekt verfolgt wurde.60 Die erhofften Erfolge blieben aber nicht nur darum aus, weil man sich nicht auf einen Konkurrenzkampf mit übermächtigen westlichen Spitzeninstituten einlassen konnte. Die Schwierigkeiten des Gentransfers bei tierischen Zellen erwiesen sich allgemein als weit größer, als viele Molekulargenetiker in der Goldgräberstimmung um 1970 angenommen hatten. Das zeigten auch die Versuche, die Geißlers Abteilung in den 1980er Jahren mit neuen Zellkulturmodellen und neuen Vektoren durchführte. Es war zwar möglich, Genabschnitte mittels bakterieller Plasmide in Säugerzellen einzuführen, jedoch waren die Quoten erfolgreicher Transfektionen minimal. Im ZIM erzielte Befunde, wonach die Transfektionsquoten sowohl je nach Transfermethode als auch nach transferiertem Gen stark differieren konnten, verdeutlichten, dass verlässlich umsetzbare Genmanipulationen an menschlichen Zellen – wenn überhaupt – erst nach sehr viel Feinarbeit erreichbar sein würden.61 Ganz anders stellte sich zu diesem Zeitpunkt die Lage in dem Zweig der Gentechnologie dar, der nicht auf die Anwendung in der Klinik, sondern in der Wirkstoffproduktion abzielte. Mikrobiologische Laborarbeit, makroökonomische Hindernisse Lange bevor eine gezielte Manipulation menschlicher Genbestände greifbar wurde, machte die Aussicht auf ihre Möglichkeit das „genetische Ingenieurswesen“ zu einem wissenschaftspolitisch wirkmächtigen Konzept. Graffis biowissenschaftlicher Entwurf von 1962 stand ebenso im Bann international verbreiteter gentechnologischer Visionen wie spätere Bucher Verlautbarungen zur Zukunft der Molekularbiologie. Jung warnte 1974 zwar vor allzu konkreten Versprechungen auf medizinisch-genetischem Gebiet, zeigte sich aber gleichwohl überzeugt, dass eine 59 F. Vogel, A. Motulsky, Human Genetics. Problems and Approaches, Berlin: Springer, 1982, S. 540–541. 60 Geißler 2010, S. 102. 61 M. Strauss u. a., The efficiency of genetic transformation of mammalian cells by transfection and microinjection depends on the transferred gene, Biomedica Biochimica Acta 42 (1983), S. K27–34.
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„echte Therapie gegen Erbkrankheiten“ eines Tages möglich werde.62 Die Betonung dieser utopischen Perspektive, welche den Gentechnologie-Diskurs bis heute prägt, ist erstaunlich, da sich zu diesem Zeitpunkt bereits ein weniger spektakulärer, aber ökonomisch potentiell revolutionärer Anwendungsbereich für Gentransfers abzeichnete: in der Produktion genetisch veränderter Mikroorganismen für die Wirkstoffherstellung. Zu Beginn der 1970er Jahre existierten zwar noch keine funktionsfähigen Modelle für diese Option; angesichts der für die – fast ausschließlich in den USA beheimatete – genchirurgische Avantgarde verfügbaren Techniken zeichnete sich aber recht deutlich der Weg ab, der zu industriell nutzbaren, genmanipulierten Mikroorganismen führen sollte: Auswahl wirkstoffproduzierender tierischer Zellen, „Herausfischen“ von mRNS, die den gesuchten Wirkstoff codierte, „Umschreibung“ der mRNS in DNS und schließlich deren Einbau in ein geeignetes Bakterium, aus dessen Kulturen sich der Wirkstoff erheblich leichter extrahieren ließ als aus natürlichem Gewebe. An diesem Schema orientierte sich auch die vom biochemischen Institut der HU Berlin ans ZIM übernommene Arbeitsgruppe, als sie erste Pläne zur Etablierung eines Gentransfer-Systems entwickelte. Obwohl die Durchführbarkeit der einzelnen Arbeitsschritte ebenso ungeklärt war wie Interesse und Fähigkeit der Pharmaindustrie, ein derartiges biotechnologisches Verfahren zu übernehmen, war das Projekt von Beginn an mit dem Versprechen der großtechnischen Umsetzung verbunden. Als Gruppenleiterin Sinaida Rosenthal im April 1972 in einer MOGEVUS-Besprechung die Klonierung eines tierischen Insulingens vorschlug, vermerkte FZMM-Direktor Scheler sofort die potentiell „große volkswirtschaftliche Bedeutung“ des Themas.63 Insulin zählte zu den ökonomisch wichtigsten biologischen Wirkstoffen; außerdem fügte sich das Projekt gut in die Forschungslandschaft ein, da sich mit dem Diabetesinstitut Karlsburg eines der profiliertesten medizinischen Spezialinstitute der DDR als Kooperationspartner anbot. Die Anwendungsperspektive wurde auch betont, als Rosenthals Gruppe Anfang 1974 zusammen mit weiteren Mitarbeitern des ZIM und des Karlsburger Instituts eine ausführliche Studie über den geplanten Weg zu einer biotechnischen Produktion des Insulins vorlegte. Durch den Verweis auf Kalkulationen, nach denen die konventionelle Gewinnung aus tierischem Gewebe mittelfristig den nationalen Bedarf nicht mehr decken konnte, versahen die Autoren ihren Ansatz mit volkswirtschaftlicher Dringlichkeit.64 Dennoch suggerierte die Studie keineswegs, dass die Einführung des In-vitro-Insulins ein rein technisches, genau planbares Problem darstellte. Bei allem Bezug auf das ökonomische Endziel schien durch, dass es zunächst um ein Pilotprojekt ging, mit dem die Grundlagen für ein gentechnische Praxis ausgelotet werden sollten. Schon die Auswahl des Versuchsobjekts zeigte, dass weniger die Logik der Produktorientierung als Kriterien der experimentellen Praktikabilität das Konzept bestimmten. Im Vorlauf hatte man versucht, die insu62 F. Jung, Molekularbiologie: beherrschtes Leben, glücklicheres Leben, Spektrum 5 (1974), Nr. 8, S. 17–20, S. 20. 63 Handschriftliche Notizen W. Scheler, anliegend zu „Programm der Arbeitsgruppe der HFR 1 am 26.4.72“, ABBAW Buch A 902. 64 S. Rosenthal u. a., Studie Biosynthese des Insulins, Anfang 1974, ABBAW Buch A 728/1.
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linbildenden Zellen (Langerhans-Inseln) aus Schweinepankreas – das auch für die industrielle Insulin-Extraktion verwendet wurde – als Ausgangsmaterial zu erschließen. Dabei hatte sich gezeigt, dass Schweinegewebe bei denkbar aufwändigen Isolierungsverfahren nur einen geringen Ertrag an produktiven Inselzellen erbrachten.65 Bei Fischen, deren Insulin sich wesentlich stärker vom menschlichen unterschied, waren die Inselzellen erheblich besser zugänglich. Die Option, auf Seefisch zurückzugreifen, wurde aufgrund der unsicher erscheinenden Versorgung durch die DDR-Hochseefischerei nicht gezogen; stattdessen setzte man auf einen heimischen Süßwasserfisch – den Karpfen. Auch bei der weiteren Auswahl von Komponenten des Versuchssystems spielte stets die Verfügbarkeit von Techniken, Materialien sowie experimentellen Fähigkeiten eine entscheidende Rolle. Die Frage der Umsetzung der entscheidenden Schritte – Isolierung von Insulin-codierender mRNS, Herstellung von DNSKopien und Transfer in Bakterien – war zum Zeitpunkt der Projektierung allein anhand von Literaturstudien zu entscheiden. Rapoports Institut verfügte wie die ZIM-Gruppen kaum über praktische Voraussetzungen. Die HU-Biochemiker arbeiteten zuvor fast ausschließlich am Modellobjekt Erythrocyten und hatten keine Erfahrungen mit bakterieller Genetik. Sie konnten ihr Hausobjekt jedoch als Übungsmodell für die Suche nach genetischen Elementen verwenden. Die Isolierung einer spezifischen mRNS war zu Beginn der 1970er Jahre auch für die fortgeschrittensten Gruppen eine Herausforderung. Erythrocyten boten als hochspezialisierte Zellen, die fast ausschließlich bestimmte Proteine – die Globine – synthetisierten, einen relativ einfachen Ansatzpunkt. Wie viele Forscher auf dem Feld des Gentransfers begann Rosenthals Abteilung mit Versuchen zur GlobinmRNS. Dies geschah in enger Kooperation mit dem mRNA-Experten Georgi Georgiev vom Moskauer Akademieinstitut für Molekularbiologie.66 Dabei übernahmen sie auch ein spezielles Forschungsinteresse Georgievs, den Nachweis der zu diesem Zeitpunkt noch umstrittenen Vorläuferform der mRNS, der fadenförmigen Prä-mRNS. Mit der Isolierung und elektronenoptischen Darstellung proteinfreier mRNS und Prä-mRNS erreichten sie erstmals molekulargenetische Ergebnisse, die auch im internationalen Maßstab neuartig waren.67 Die Arbeiten zur GlobinmRNS waren insofern kein bloßer Vorlauf, sondern ein eigenständiges Grundlagenprojekt. Die Nutzung der gewonnenen mRNS-Präparate als DNS-Matrizen lief neben den Insulinarbeiten weiter. Der enge Austausch mit dem sowjetischen Institut war nur ein Beispiel für die Bedeutung direkter Beziehungen zu methodologisch fortgeschrittenen Laboratorien. Geißlers Mitarbeiter verdankten ihre Grundkenntnisse der neuen zellgenetischen Techniken Gastaufenthalten in der CSSR, deren Akademieinstitute auf 65 S. Rosenthal, Einschätzung der Forschungsarbeiten der Abteilung Zelldifferenzierung, 2.12.1976, ABBAW Buch A 1154. 66 Autobiographie C. Coutelle, in: Pasternak 2004, S. 257–262, S. 258. 67 A. M. Ladhoff, B. Thiele, C. Coutelle, S. Rosenthal, On the electronmicroscopic structure of mRNA and pre-mRNA from rabbit reticulocytes and bone-marrow cells, Acta Biologica et Medica Germanica 33 (1974), S. 771–777.
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vielen Gebieten dem westlichen Niveau näher waren als jene der DDR.68 Die gentechnologische Forschung war noch weit mehr als andere Gebiete der Biomedizin eine „Importwissenschaft“, die ohne die Erlernung des nötigen Handwerkszeuges in internationalen Zentren kaum entwicklungsfähig gewesen wäre. Auch die rapide qualitative und quantitative Entwicklung der westlichen Molekularbiologie war nicht zuletzt das Resultat eines intensiven transatlantischen Personalaustausches, durch den Ideen und praktisches Wissen zwischen den größeren und kleineren Zentren zirkulierten. In Westeuropa wurde versucht, die interinstitutionellen Kontakte durch die Bildung der European Molecular Biology Organization (EMBO) zu fördern.69 In der DDR verhinderten Devisenmangel und fehlender wissenschaftspolitischer Wille regelmäßige Besuche in Westeuropa oder in den USA. Neben den Kooperationen mit den wenigen osteuropäischen Erfahrungsträgern spielten jedoch in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre Studienbesuche in westeuropäischen Instituten, insbesondere in Belgien und Großbritannien, eine immer wichtigere Rolle. Anfang der 1980er Jahre kam eine parteiinterne Einschätzung zu dem Schluss, dass man erstklassige Ergebnisse fast ausschließlich der kleinen Gruppe von Reisekadern verdankte, die für längere Zeit in westlichen Spitzeninstituten gearbeitet hatten.70 Erfahrungen allein reichten für Forschung auf internationalem Niveau jedoch nicht aus. Ebenso entscheidend war die ständige Verfügbarkeit spezieller biochemischer Werkzeuge. Besonders deutlich kam diese Abhängigkeit in der Bezeichnung des Programms zum Ausdruck, mit dem die Anfänge gentechnologischer Forschung in der Sowjetunion und in der DDR verbunden waren. 1973 startete die sowjetische Akademie ihr RGW-übergreifendes „Revertase“-Programm, das auf die Gewinnung und Anwendung der 1970 entdeckten reversen Transkriptase ausgerichtet war – des Enzyms, das die Übersetzung von RNS in DNS ermöglichte und hoffnungsfrohen Beobachtern daher als Basis „fast utopisch klingender Zukunftsträume“ erschien.71 Das sowjetische Verbundprojekt sah vor, die Gewinnung des Enzyms zu zentralisieren, um die molekulargenetische, aber auch die experimentell-onkologische Forschung in den RGW-Staaten anzukurbeln.72 Für die Bucher Arbeitsgruppen bedeutete die Einbindung in das Programm einen wichtigen Anschub; die geplante regelmäßige Versorgung aus sowjetischen Quellen kam jedoch nie zustande. Als Alternative wurde eine interne Produktion für das ZIM und die Nachbarinstitute angestrebt, die jedoch nicht leichthin umsetzbar war. Für die benötigte Züchtung großer Mengen von RNS-Viren fehlten in Buch sowohl das geeignete zellbiologische Material als auch Labore mit ausreichenden 68 Autobiographie S. Scherneck, in: Pasternak 2004, S. 230–235, S. 231. 69 Krige 2002, S. 562. 70 Weber/von Broen an SED-Kreisleitung, Information zum Stand der Bearbeitung der Staatsaufträge Gentechnik/Immuntechnik, 21.10.1982, ABBAW Buch A 1096. 71 F. Jung, Molekularbiologie: beherrschtes Leben, glücklicheres Leben, Spektrum 5 (1974), Nr.8, S. 17–20, S. 20. 72 Protokoll der 1. Arbeitstagung der Vertreter von Akademien der Wissenschaften der sozialistischen Länder zum Projekt „Rücktranskriptase (Revertase)“, 28.2.–2.3.1973 in Moskau, ABBAW Buch A 1155.
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Sicherheitsstandards.73 Es dauerte etwa drei Jahre, bis ein funktionierendes Produktionssystem etabliert war, in dem das Ausgangsmaterial (Vogel-Myeloblastose-Viren) in der Veterinärmedizin der HU Berlin gezüchtet wurde.74 Zu diesem Zeitpunkt konnte reverse Transkriptase in den USA bereits kostenlos bezogen werden. Das Transkriptions-Enzym war nur eine von vielen biologischen Zutaten für ein Gentransfer-System. Die gesamte genetische Technologie beruhte auf einem Arsenal enzymatischer Reagentien, die zum größten Teil erst im Verlauf molekulargenetischer Arbeiten der späten 1960er Jahre entdeckt worden waren. HansJörg Rheinberger hat darauf hingewiesen, dass sich damit ein grundlegender Umschlag in der Geschichte der molekularen Biologie vollzog. War ihre frühe Phase durch die Anwendung „harter“ Techniken wie Elektrophorese, Ultrazentrifugation oder Elektronenmikroskopie charakterisiert, mittels derer makromolekulare Objekte aus biologischen Systemen isoliert und dargestellt wurden, traten nun Makromoleküle selbst als Werkzeuge zur Manipulation zellulärer Vorgänge in den Vordergrund.75 Die schnelle Kommerzialisierung dieser enzymatischen Werkzeuge war ein entscheidender Faktor dafür, dass es in den 1970er Jahren zu einer Explosion molekulargenetischer, speziell gentechnologischer Arbeiten kam.76 Möglich wurde dies, weil sich in den USA und anderen westlichen Ländern die biomedizinische Forschung bereits ihren eigenen Markt geschaffen hatte, auf dem kleine Spezialfirmen auch hochspezifische biologische Präparate wie Nukleinsäuren-schneidende und -vervielfältigende Enzyme erfolgreich absetzen konnten. Für die Pharma-, Serum- und Chemiebetriebe der östlichen Planwirtschaften, die bereits an der Produktion gängiger Laborchemikalien wenig Interesse zeigten, waren diese Produkte zu wenig lukrativ und zu aufwändig in der Herstellung. Da dem Import – auch den informellen „Rucksackimporten“ – enge Grenzen gesetzt waren, mussten die Forschungsinstitutionen die Produktion selbst arbeitsteilig organisieren oder auf Kooperationen mit geeigneten Spezialbetrieben setzen. Der Aufbau der gentechnologischen Forschung in der DDR vermittelt daher ein Bild, das beim Blick auf die westlichen Zentren oft verborgen bleibt: Die Praxis der Molekularbiologie, die ihrem Selbstverständnis nach eine „elegante“, mit einfachen Versuchsansätzen operierende Wissenschaft war, setzte tatsächlich ein komplexes System mikrobiologischer und organisch-chemischer Produktionsverfahren voraus. Der Bedarf an Biochemikalien führte dazu, dass sich in molekulargenetisch arbeitenden Instituten des FZMM – nicht nur in Buch, sondern auch in Jena und Gatersleben – eine interne Arbeitsteilung für spezielle Präparationsaufgaben herausbildete. Für eine Eigenversorgung reichte diese Strategie nicht annähernd aus. Aufgrund der Engpässe bei den Restriktionsenzymen schlug Rosenthal 1976 etwa vor, in Kooperation mit der ungarischen Firma Reanal, dem einzigen 73 R. Lindigkeit, Jahresabschlussbericht 1973 der Abteilung Zellregulation, 15.11.1973, ABBAW Buch A 751. 74 S. Rosenthal an H. Böhme/ZIGuK, 19.11.1976; S. Rosenthal an F. Jung, 2.10.1976, ABBAW Buch A 1155. 75 Rheinberger 1998, S. 661. 76 Morange 1998, S. 197.
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osteuropäischen Hersteller solcher Enzyme, eine nationale Produktionsgruppe aufzubauen.77 In der Folgezeit wurde am Jenenser ZIMeT eine Präparationsgruppe für einige der wichtigsten DNS-Scheren gebildet, die den Bedarf des Bucher Partnerinstituts jedoch nur teilweise und unregelmäßig befriedigen konnte; der Großteil der Restriktionsenzyme musste weiterhin von westlichen Marktführern wie Böhringer bezogen werden.78 Später einsetzende Versuche, eine eigene Basis für die Synthese spezifischer DNS- und RNS-Abschnitte zu entwickeln – speziell von Oligonukleotiden, die zur Auslösung enzymatischer Genreplikationen oder zur Auffindung spezifischer Sequenzen verwendet wurden – verliefen noch weniger erfolgreich. Der 1980 beschlossene Aufbau einer eigenen Produktion im ZIM wurde vier Jahre später als glatter Fehlschlag verbucht.79 Selbst für die Belieferung mit den für solche Verfahren nötigen Nukleinsäure-Bausteinen fehlte eine industrielle Basis. Es wurde daher zeitweilig erwogen, auch diesen Produktionsschritt mitsamt der hierfür nötigen Extraktion von Roh-DNS selbst zu organisieren, indem man Fischsperma als Ausgangsmaterial von der Seefisch-Industrie bezog.80 Auch bei der Gewinnung der eigentlichen Versuchskomponenten war eine Verarbeitung von erheblichen Mengen organischen Materials nötig. Für die ersten orientierenden Versuche, Proinsulin-mRNS der Karpfen-Inselzellen, also den Ausgangspunkt für Gentransferversuche zu isolieren, wurde Zellmaterial von mehreren hundert kleineren Karpfen extrahiert; bis zur erfolgreichen Isolierung ausreichender Mengen mRNS ging die Zahl in die Tausende.81 Die Herstellung der für die molekularbiologische Arbeit erforderlichen biochemischen Werkzeuge und Objekte, die nur im Mikrogramm-Maßstab verwendet wurden, führte mithin weit über den Rahmen der experimentellen Laborpraxis hinaus. Den WissenschaftlerInnen am ZIM war diese materielle Dimension stets gegenwärtig, da sie – mangels einer unterstützenden Infrastruktur – die Beschaffung dieser Ressourcen selbst vorausplanen und organisieren mussten.
77 S. Rosenthal, Einschätzung der Forschungsarbeiten der Abt. Zelldifferenzierung, 2.12.1976, ABBAW Buch A 1154. 78 „Beitrag des ZIM zur Schaffung von methodischen und materiell-technischen Voraussetzungen für die Entwicklung einer nationalen Technologie des ‚Genetic Engeneering‘”, 10.1.1979, ABBAW Buch A 1154. 79 (S. Rosenthal), Konzeption zur Weiterentwicklung des Methoden-Komplexes „Genetic Engeneering“ und seines Einsatzes für Aufgabenstellungen der molekularbiologischen Grundlagen- und Anwendungsforschung in der DDR, April 1980, ABBAW Buch A 1032; Pasternak/Rosenthal/Müller, Vorlage für die Sitzung der SED-Kreisleitung am 25.5.84: Bericht des Direktors des ZIM über den Stand der Realisierung der Staatsplanaufgaben Gentechnik, ABBAW Buch A 1096. 80 D. Bärwolff, Konzeption o.T., 15.11.1979, ABBAW Buch A 1032. 81 S. Rosenthal, Jahresbericht 1973 der Arbeitsgruppe Transcriptionsregulation (ZIM/IPBC), 4.11.1973, ABBAW Buch A 751.
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Prinziplösung für die Produktion oder Lernobjekt für das Labor? Trotz der materiellen Hindernisse startete das Insulinprojekt nicht völlig hoffnungslos in den internationalen Wettbewerb. In der ersten Hälfte der 1970er Jahre waren auch in den USA nur wenige Pioniergruppen – die mit den ersten Start-upUnternehmen wie Genentech verbunden waren – auf dem Gebiet aktiv. Die großen Pharmakonzerne verhielten sich bis zum Ende des Jahrzehnts zurückhaltend; ein breiter Forschungsboom setzte erst 1976 durch ein massives Förderungsprogramm der National Institutes of Health ein.82 Im gleichen Jahr war die ZIMAbteilung eine von weltweit 5 Gruppen, die zur gentechnischen Replikation von Insulin-DNS forschten. Nach Rosenthals Einschätzung hatte noch keine von diesen einen entscheidenden Vorsprung bei der Suche nach einer geeigneten mRNS erlangt. Grund für Optimismus sah sie dennoch nicht, da die „Diskrepanz zum rapiden internationalen Fortschritt nicht überwunden werden“ konnte. Der Aufbau der Methoden hatte sich zwar bis dahin zwar plangemäß vollzogen, jedoch war nicht abzusehen, wie die entscheidenden Schritte zum genetisch veränderten Produkt erbracht werden konnten – und „in der endgültigen Einschätzung“ galt „nur das erbrachte Resultat eines geglückten Transfers.“83 Die Maßstäbe des Projekts waren der internationale Wettbewerb und die ökonomische Verwertbarkeit – obwohl, wie Rosenthal mittlerweile offen einräumte, sich das Karpfeninsulin kaum für ein biotechnologisches Produktionssystem, sondern bestenfalls für die Herstellung diagnostisch nutzbarer Genmatrizen eignen würde. Ein Grund für die zurückhaltende Prognose war, dass es bis dahin nicht gelungen war, die Vorstufen-Insulin codierende mRNS in einer Reinheit zu isolieren, die für die Konstruktion eines entsprechenden DNS-Abschnitts ausreichte. Darüber hinaus waren die für die folgenden Schritte verschiedene Praktiken nötig, die sich noch in der Erprobung befanden. Allein für die Prüfung der Spezifität der gewonnenen mRNS war ein In-vivo-Testsystem nötig, dessen Adaption einen Studienaufenthalt in Westeuropa voraussetzte.84 Der Schritt der Umschreibung in einen spezifischen DNS-Abschnitt (cDNS) war mit Hilfe des sowjetischen Partners am Testobjekt Globin-mRNS bereits gelungen, allerdings nicht in der angestrebten Form einer doppelsträngigen cDNS. Noch völlig offen war die Frage des eigentlichen Gentransfers. Eine Nutzung der von Geißler beforschten Hamsterzellen wurde erwogen, als aussichtsreichstes System erschien jedoch die in der Phagengenetik erprobte Methode der Transfektion von E.coli mit LambdaPhagen.85 Dieser Ansatz erforderte eine Reihe jener molekularen Hilfsmittel, die in der DDR äußerst schwer zugänglich waren – Enzyme zum „Aufschneiden“ der viralen DNS und zum „Ankleben“ des fremden Genabschnitts sowie spezifische 82 Wright 1994, S. 78–83. 83 S. Rosenthal, Einschätzung der Forschungsarbeiten der Abt. Zelldifferenzierung, 2.12.1976, ABBAW Buch A 1154. 84 S. Rosenthal, Jahresbericht 1973 der Arbeitsgruppe Transcriptionsregulation (ZIM/IPBC), 4.11.1973, ABBAW Buch A 751. 85 Bereich Bioregulation, Forschungsprogramm „Transfer tierischer und prokaryonter DNS in Bakterien und tierische Zellen“, 1976, ABBAW Buch A 1154.
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Nukleotidsequenzen, die die enzymatische Reaktion am richtigen Ort einleiteten („Primer“). Da insbesondere letztere Mangelware waren, wurde ein eigenes System angestrebt, das mit einem geringen Verbrauch an Primern auskam.86 Die Vorarbeiten sollten jedoch von der internationalen Entwicklung überholt werden, bevor sie abgeschlossen waren. Führende amerikanische Gruppen waren nach mäßigen Erfolgen mit dem Lambda-System dazu übergegangen, genetische Faktoren direkt in Plasmide, die extrachromosomalen Erbträger der Bakterien, zu übertragen. Mitarbeiter von Herbert Boyer von der University of California in San Francisco, der bei der Kommerzialisierung der Gentechnik eine zentrale Rolle spielte, konstruierten 1977 mit dem E.coli-Plasmid pBR322 ein Standardobjekt, das eine leichte Einführung klonierter Genabschnitte ermöglichte.87 Gegenüber den viralen Vektoren hatte dieses Plasmid außerdem den Vorteil, Resistenzfaktoren gegen Antibiotika zu enthalten, so dass erfolgreich transfizierte Bakterien durch entsprechende Behandlung der Kulturen leicht ausgelesen werden konnten. Rosenthal setzte einige Hoffnungen darauf, statt des Imports aus der kalifornischen Gentech-Hochburg ein Vektorsystem einzusetzen, das in einem sowjetischen Institut entwickelt worden war.88 Dennoch wurde umgehend – begüngstigt durch einen Westaufenthalt des zuständigen Mitarbeiters – auch die Adaption des amerikanischen Plasmidsystems begonnen.89 Der erste erfolgreiche Transfer von KarpfenProinsulin-DNS in einen bakteriellen Wirt wurde Ende 1978 durch Verwendung eines pBR322-Plasmids erreicht.90 Der Aufbau des gentechnischen Versuchssystems erforderte ständige Anpassungen an neue Entwicklungen im kapitalistischen Ausland. Häufig war ein Weiterkommen nur durch den direkten Zugriff auf die Erfahrungen westlicher Partner möglich. Das zeigte speziell der Fall der eigentlichen Gentransfer-Experimente. Nicht nur war das dabei verwendete Plasmid eine Gabe des britischen Kooperationspartners, der Arbeitsgruppe von Bob Williamson an der Medizinischen Fakultät der University of London, mit deren Hilfe ZIM-Mitarbeiter Charles Coutelle bereits die Umschreibung der Globin-mRNS gelungen war.91 Die entscheidenden Arbeitsschritte wurden auch in London durchgeführt. Bei den Versuchen mit Proinsulin-codierender mRNS hatte sich gezeigt, dass sich die Umwandlung in eine transferfähige cDNS noch schwieriger gestaltete als im Falle der Globin-mRNS, da das Produkt nur funktionsfähig blieb, wenn es nach der Synthese sofort in ein bakterielles Plasmid eingebaut wurde.92 Beide Schritte mussten folglich in einem 86 D. H. Liebscher, Studie „Zur Kopplung von lambda-Phagen- und tierischer DNS“, 5.5.1974; C. Coutelle/D. H. Liebscher, Vorschläge für ein Forschungsprogramm „Transfer tierischer Gene in Bakterien“, Nov. 1974, beide ABBAW Buch A 1154. 87 Wright 1994, S. 72–75; Morange 1998, S. 198. 88 S. Rosenthal, Aktennotiz betr. Zusammenarbeit ZIM, Abt Zelldifferenzierung/Prof. Bajew, Pustschino, 13.7.1978, ABBAW Buch A 1154. 89 Memo S. Rosenthal/D. H. Liebscher, 27.7.1977, ABBAW Buch A 1154; Autobiographie D. H. Liebscher, in: Pasternak 2004, S. 236–240, S. 237. 90 D. H. Liebscher, C. Coutelle, T. A. Rapoport, V. Hahn, S. Rosenthal, R. Williamson, Cloning of carp preproinsulin cDNA in the bacterial plasmid PBR322, Gene 9 (1980), S. 233–246. 91 Autobiographie C. Coutelle, in: Pasternak 2004, S. 257–262, S. 259. 92 S. Rosenthal an Jung, 21.10.1977, ABBAW Buch A 1154.
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Labor vollzogen werden, das über die nötigen Erfahrungen und Techniken verfügte. Allerdings reichten auch die Bedingungen des Londoner Universitätslabors nicht für das Vorhaben aus, da die für bakteriengenetische Arbeiten vorgeschriebenen Sicherheitslabors fehlten. Die Versuche führten Coutelle daher in die britische Dependance eines US-Pharmakonzerns. In der Bucher Institutsleitung löste es einige Aufregung aus, dass ein Reisekader wichtige Projektarbeiten an der Werkbank des amerikanischen Monopolkapitals durchführte.93 Rosenthal konnte schließlich vermitteln, dass ihre Mitarbeiter ohne Zugang zu erstklassigem westlichem Know-how keine Chance hatten, das Projekt erfolgreich abzuschließen. Nachdem die ersten Versuche erfolglos blieben, wurde sogar erwogen, die Klonierung der Berlin-Bucher Karpfen-mRNA ganz dem britischen Partner zu überlassen.94 Der Erfolg gehörte schließlich doch den Gastforschern aus der DDR; außerdem brachte Coutelle aus London die Beteiligung an einer vielbeachteten Arbeit zur Konstruktion rekombinanter Plasmiden mit menschlichen Globingenen mit.95 Auch ein zweiter wichtiger Strang des Projekts wurde zeitgleich durch eine Ost-West-Kooperation realisiert. Der Gruppe um Tom Rapoport gelang es gemeinsam mit Kollegen der Freien Universität Brüssel, in den Oocyten des afrikanischen Krallenfrosches Xenopus laevis – der auch als bevorzugtes Objekt zellbiologischer Klonierungsversuche diente – durch Karpfen-mRNS die Synthese von Proinsulin auszulösen.96 Zuvor hatten sie mit ihrem mRNS-Material bereits die Bildung eines Insulin-Vorläufers in zellfreien In-vitro-Systemen erreicht.97 Diese Experimente dienten nicht allein der Prüfung der gewonnenen mRNSPräparate. Sie eröffneten auch neue Perspektiven auf die Biosynthese des Insulins, die mit konventionellen Methoden nicht erreichbar gewesen wären. Außerdem wurden in ihrem Verlauf molekularbiologische Standardmethoden eingeübt, die dem Forschungszentrum bis dahin gefehlt hatten. 1982 gelang am Karpfeninsulin erstmals in der DDR die komplette Sequenzierung eines bislang unbekannten Proteins.98 Etwas später gelang auf Grundlage der in Plasmide geklonten cDNS für das Vorprodukt Präproinsulin erstmals eine Gensequenzierung.99 Diese Erfolge waren im internationalen Wettlauf um die Strukturaufklärung von Biomolekülen und den ihnen zugeordneten Genorte keineswegs spektakulär, für die Forscher in Buch aber von großer Bedeutung. Durch das Insulinprojekt baute das ZIM ein 93 S. Rosenthal an Grote/Scheler/Jung, 5.1.1977; Jung an Rosenthal, 12.1.1977, ABBAW Buch A 1155. 94 S. Rosenthal an Jung, 21.10.1977, ABBAW Buch A 1154. 95 P. Little, P. Curtis, C. Coutelle u. a., Isolation and partial sequence of recombinant plasmids containing human a-, b- and g- globin cDNA fragments, Nature 273 (1978), I. 5664, S. 640– 643. 96 T. A. Rapoport u.a., Synthesis of carp insulin in Xenopus oocytes, European Journal of Biochemistry 87 (1978), S. 229–232. 97 T. A. Rapoport, W. E. Höhne, D. Klatt, S. Prehn, V. Hahn, Evidence for synthesis of a precursor of carp proinsulin in a cell free translation system, FEBS Letters 69 (1976), S. 32–36. 98 A. Markower u.a., Carp insulin: Amino acid sequence, biological activity and structural properties, European Journal of Biochemistry 122 (1982), S. 339–345. 99 V. Hahn, W. Winkler, T. A. Rapoport u. a., Carp preproinsulin carrier DNA-sequence and evolution of insulin genes, Nucleic Acids Research 11 (1983), S. 4541–4552.
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Repertoire an Techniken auf, ohne die konkurrenzfähige biologische Grundlagenforschung nicht mehr möglich war. In der Folgezeit konnten die Praktiken der Genisolierung und –sequenzierung auch auf andere Projektbereiche des Forschungszentrums, etwa die Krebsvirologie, übertragen werden. Wie es die Leitung des ZIM 1984 formulierte, hatte das gentechnologische Projekt bis dahin primär der Arbeit an „Lernobjekten für die Ausbildung von Kadern der Anwendungsbereiche“ sowie dem „besseren Erkennen ökonomischer, technischer und anderer Probleme“ gedient.100 Während die industrielle Nutzung des Karpfeninsulins längst nicht mehr zur Debatte stand, sollte die gezielte Entwicklung genetisch manipulierter Produkte jetzt erst beginnen. Den beteiligten WissenschaftlerInnen war jedoch klar, welche Probleme diesem Unterfangen entgegenstanden. Sie hatten nicht nur in methodologischer, sondern auch in ökonomischer Hinsicht erheblich dazugelernt: Für die Ausnutzung von Gentransfer-Produkten war ein „Hinterland“ an Experten und Techniken auf der Anwenderseite nötig, das in der DDR kaum existierte. Anwendungsorientierte Forschung ohne Anwender Bereits zu Beginn des Insulinprojektes dürfte den Verantwortlichen klar gewesen sein, dass selbst im Falle unerwartet schneller Fortschritte eine Verwertung durch industrielle Partner nicht zwangsläufig zu erwarten war. Die pharmazeutische Industrie erwog zu diesem Zeitpunkt bereits, ihre Produktion auf semisynthetisches Humaninsulin aus Schweineinsulin umzustellen. Zu Beginn der 1980er Jahre war dieses Vorhaben durch die Mitarbeit des früheren Bucher Bereichs Wirkstoffforschung umsetzungsreif.101 Die DDR-Pharmaindustrie musste angesichts ihres beschränkten produktionstechnischen Niveaus konservative Strategien bevorzugen. Da biotechnologische Verfahren wenig entwickelt waren, hätte die Übernahme genetisch veränderter Organismen einen doppelten Innovationsschritt bedeutet. Eine Lageeinschätzung aus dem Jenenser Akademie-Industrie-Komplex von 1983 zeigt deutlich, dass die Industrie kaum in der Lage war, eine solche Risikostrategie zu verfolgen. Selbst wenn die Akademieinstitute über gebrauchsfertige Systeme verfügt hätten – was noch nicht der Fall war – wäre zunächst eine Pilotproduktion notwendig gewesen, um über die Effizienz eines Verfahrens und die Marktchancen des Produktes befinden zu können. Auf die Arbeit mit genetisch veränderten Bakterienkulturen waren die Betriebe aber in keiner Weise vorbereitet. Außerdem entsprachen die gentechnologischen Angebote aus der Forschung – neben den Bucher Insulinarbeiten war im Jenenser ZIMeT ein Gen für das klinisch relevante Enzym Streptokinase geklont worden – kaum dem Produktionsprofil der Betriebe. Für eine Modernisierung der Produktion von Steroid100 Pasternak/Rosenthal/Müller, „Vorlage für die Sitzung der SED-Kreisleitung am 25.5.84: Bericht des Direktors des ZIM über den Stand der Realisierung der Staatsplanaufgaben Gentechnik“, ABBAW Buch A 1096. 101 Vgl. diese Arbeit S. 407f.
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hormonen und Antibiotika, die dringend erwünscht war, boten sie keine Ansätze.102 Aus Sicht der Betriebe war es daher sinnvoller, auf eine konventionelle Verbesserung der wichtigsten etablierten Produktionslinien zu setzen. Den ZIM-Experten waren diese Probleme bewusst. Die Konzeptionen von Rosenthal und ihren Mitarbeitern zeichneten sich durch genaue Analysen der ökonomischen Voraussetzungen in der DDR wie auch der schnellen Entwicklung in den kapitalistischen Ländern aus. Dass letztere kaum noch Raum für originelle eigene Lösungen lassen würde, war gegen Ende der 1970er Jahre unübersehbar. Ende 1978, als das Karpfeninsulinprojekt die ersten entscheidenden Fortschritte auf Laborebene machte, plante die US-Firma Genentech bereits eine Pilotanlage für Humaninsulin, welche die National Institutes of Health aufgrund von Sicherheitsbedenken zunächst aber nicht genehmigten.103 Trotz dieses Rückstandes wollten die ZIM-Wissenschaftler die Idee einer eigenen mikrobielle Humaninsulinproduktion noch nicht aufgeben. Für die heimische Industrie, argumentierten sie, mochte das ambitionierte Projekt nicht dringlich erscheinen, da nur ein Zehntel der Nutzer in der DDR hochreines Insulin benötigte. Diese Situation könne sich aber mit der Verfügbarkeit von Gentech-Humaninsulin schnell ändern. Sobald die Preise für die neuen westlichen Präparate sanken, werde auch die Akzeptanz für konventionell oder halbsynthetisch hergestellte tierische Insuline schwinden und damit auch der bestehende Export gefährdet, der die Hälfte der DDR-Produktion umfasste.104 Der vorausschauende Vorschlag fand wohlwollende Aufnahme beim VEB Berlin-Chemie, ohne dass der Betrieb konkrete Aussagen über die Umsetzung des Projekts machte. 105 Das war charakteristisch für das Verhältnis zu den Pharmabetrieben, die immer häufiger als Förderer neuer Akademieprojekte auftraten, ohne dabei über ein klares Konzept für die Übernahme der Ergebnisse zu verfügen. Es waren in der Regel die Wissenschaftler selbst, die nicht nur die Forschungs- und Entwicklungsstrategien entwarfen, sondern auch Möglichkeiten der Vermarktung eruierten. Dies galt ganz besonders auf dem Feld der Gentechnik, deren potentielle Anwendungen Neuland für die Industriechemiker waren. Für die beteiligten Wissenschaftler ergab sich die Berücksichtigung ökonomischer Aspekte quasi zwangsläufig aus ihrer Forschungspraxis, die durch den Wettlauf um Erst-Isolierungen und Erst-Sequenzierungen, die patentrechtliche Absicherung von Techniken und Produkten sowie das Bemühen um praktikable biotechnische Lösungen gekennzeichnet war. Mit dem Einstieg in das genetic engeneering wurden nicht nur westliche Laborverfahren, sondern auch die Konkurrenzlogik des wachsenden kapitalistischen Biotech-Marktes importiert. Die Hoffnungen, die Ergebnisse des Insulinprojekts praktisch umzusetzen, scheiterten letztlich sowohl am mangelnden Interesse des potentiellen Partners als 102 N.N., Gentechnik für das Nutzungsfeld Pharmazeutische Industrie (Fermentationsverfahren), Okt. 1983, ABBAW Buch A 1096. 103 Wright 1994, S. 342–343. 104 N.N. Entscheidungsvorbereitung für eine mikrobielle Bioproduktion von Humaninsulin in der DDR, 1979, ABBAW Buch A 1158. 105 S. Rosenthal u. a., „Forschungsprogramm 1980-1985, ‚Prinziplösung für eine mikrobielle Synthese von Human- und Virusproteinen‘“, 15.8.1980, ABBAW Buch A 910.
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auch an versuchstechnischen Problemen. Versuche zur Klonierung der Humaninsulin-mRNS, die ungleich schwieriger zu isolieren war als jene aus KarpfenGewebe, blieben erfolglos.106 Rosenthals Idee, die eigene Karpfen-PräproinsulinRekombinante – auf die eines der ersten Gentech-Patente in der DDR angemeldet war – zum „Fischen“ nach menschlichen Insulingenen zu nutzen, erwies sich als nicht fruchtbar.107 Die Hoffnung, das Projekt in Kooperation mit dem Biologischen Forschungszentrum der Ungarischen Akademie voranzutreiben, zerschlug sich schnell, da der Kooperationspartner keineswegs über das erhoffte fortgeschrittene Know-how auf dem Feld bakterieller Wirtsstämme verfügte. Für Rosenthal war es unverständlich, warum die ungarische Akademie das unreife Projekt mit großem Nachdruck förderte, während in den USA bereits gentechnisch produziertes Humaninsulin die vorklinische Testphase durchlief.108 Auch in der ungarischen Pharmaindustrie schien es ihr keine Voraussetzungen dafür zu geben, die Ergebnisse aus Buch noch produktiv umzusetzen. Zu Beginn der 1980er Jahren wurden Versuche eingeleitet, die bereits gewonnenen Erfahrungen für die Produktion von Substanzen einzusetzen, für welche in der heimischen Industrie oder im Gesundheitswesen tatsächlich Bedarf angemeldet wurde. Die in den Zentralinstituten in Buch, Jena und Gatersleben verfolgten gentechnischen Projekte wurden von der Akademieleitung in den Rang eines zentral koordinierten „Staatsauftrages“ erhoben. Dies geschah in dem vollen Bewusstsein, dass das vorhandene Fachkräftepotential hierfür nicht ausreichend und der Rückstand gegenüber dem internationalen Spitzenniveau kaum aufholbar war. Dennoch galt „für die Befriedigung nationaler Interessen, aber auch aus prinzipieller strategischer Sicht“ eine Intensivierung als unbedingt erforderlich.109 Für die weitere Entwicklung der biowissenschaftlichen Forschung reichte es nicht mehr aus, wenn nur ein kleiner Kreis von Akademiespezialisten die gängigen Techniken der Genmanipulation beherrschte. Die Förderung der neuen Projekte durch „gesellschaftliche Auftraggeber“ bot dabei zumindest eine gewisse materielle Absicherung. Eine Garantie für eine konsequente Umsetzung bedeutete sie keineswegs. Das erste Folgeprojekt galt der Herstellung von Impfstoffen für die Nutztierwirtschaft. Das Rinderleukosevirus (BLV) war bereits seit Beginn der 1970er Jahre Gegenstand des „Revertase“-Programms. In Kooperation mit dem FriedrichLöffler-Institut für Tierseuchenforschung (FLI) auf der Ostseeinsel Riems wurde ein Testsystem zur Schnellerkennung des Virus aufgebaut.110 Das BLV – beziehungsweise die durch dieses transformierten Zellen – wurden auch von den 106 Autobiographie D. H. Liebscher, in: Pasternak 2004, S. 237–238. 107 Rosenthal an Zschiesche, 10.6.1980, ABBAW Buch A 1153. 108 S. Rosenthal, Besucherbericht zu Dr. Pal Venetianer, 17.–19.3.1980, 24.3.1980, ABBAW Buch A 1153. 109 Weber/von Broen an SED-Kreisleitung, Information zum Stand der Bearbeitung der Staatsaufträge Gentechnik/Immuntechnik, 21.10.1982, ABBAW Buch A 1096. 110 S. Rosenthal, Protokoll einer Problemberatung zur Entwicklung von Tests „Onkogene Viren“, 28.11.1975, ABBAW Buch A 1155; Tünge/ZIM, Stand der Zusammenarbeit mit der AdL, 29.11.1976, ABBAW Buch A 1073.
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Tumorvirologen des ZIK sowie den Membranbiologen des ZIM als Modellobjekte übernommen. Der Vorschlag, BLV in den Mittelpunkt der gentechnischen Versuche zu stellen, wurde primär mit den hohen Verlusten begründet, die die nationale Viehwirtschaft durch das Virus erlitt. Der westliche Forschungstrend ließ erkennen, dass die Klonierung von Genen für Virus-Hüllproteine in absehbarer Zeit zu einem zentralen Anwendungsgebiet der Gentechnologie werden würde.111 Ähnlich wie zuvor beim Insulinprojekt spielten auch forschungsstrategische Argumente eine Rolle. Rindeleukosezellen und Virus waren leicht zugänglich und eigneten sich als multifunktionale Modellobjekte. Außerdem bestanden durch die langjährigen krebsvirologischen Arbeiten im ZIK umfangreiche Erfahrungen mit tierischen Leukoseviren. Die Aneigung spezieller molekulargenetischer Methoden wurde wiederum durch den Austausch mit einem westlichen Partner – der auf ihrem Gebiet weltweit führenden BLV-Forschergruppe der Freien Universität Brüssel – angeschoben.112 Bis 1982 gelang es, 12 Plasmid-Rekombinanten zu konstruieren und zu analysieren, die 30% des BLV-Genoms enthielten.113 Die Versuche, aus diesen die Sequenz für ein immunogenes Hüllprotein zu isolieren, schienen sich gut zu entwickeln, bis sich herausstellte, dass man ein Protein erwischt hatte, dessen Funktion ungeklärt war.114 Trotz dieses Rückschlags gelang 1985 die Exprimierung des gesuchten Immunproteins in E.coli sowie in Hefestämmen; außerdem konnten die veterinärmedizinischen Institute mit Antigenpräparaten für die BLV-Diagnostik beliefert werden.115 Dennoch waren weder die Leitungsorgane noch die Forscher selbst mit den Fortschritten zufrieden. Laut Rosenthal verlief die Zusammenarbeit mit dem FLI nicht wie erhofft, weil die Tiermediziner schon bald nach dem Start des Projekts Zweifel am Endziel einer modernisierten Impfstoffproduktion hegten. Sie tendierten stattdessen zur Seuchenbekämpfung durch die Aussonderung kranker Tiere, die in vielen Ländern praktiziert wurde. Zum Ärger der Projektleiterin kommunizierte das FLI weder diese Strategieänderung noch seine Absicht, stattdessen die gentechnologische Herstellung eines Impfstoffes für die Maul- und Klauenseuche anzustreben.116 Es war den Wissenschaftlern keineswegs gleichgültig, ob ihre Fähigkeiten zu ökonomisch greifbaren Ergebnissen führten oder nicht; schließlich war ihre ganze Strategie praxisorientiert ausgelegt. Die Frage der „Überführung“ war jedoch letztlich von Richtungsentscheidungen ihrer Partner abhängig, die sie weder voraussehen noch beeinflussen konnten. 111 „Mikrobielle Synthese BLV-Proteine“ (Anlage 2 zu Konzeption Weiterentwicklung des Methoden-Komplexes Genetic Engeneering), 1979, ABBAW Buch A 1158. 112 Jung an Pasternak, 25.7.1980, ABBAW Buch A 1158. 113 Zschiesche an Pasternak, Einschätzung zur Zusammenarbeit mit der AdL, 6.9.1982, ABBAW Buch A 1073. 114 Pasternak/Rosenthal/Müller, Vorlage für die Sitzung der SED-Kreisleitung am 25.5.1984: Bericht des Direktors des ZIM über den Stand der Realisierung der Staatsplanaufgaben Gentechnik, ABBAW Buch A 1096. 115 S. Rosenthal, Stand BLV-Projekt 06/85, 1.7.1985, ABBAW Buch A 1073. 116 Zschiesche an Pasternak, Einschätzung zur Zusammenarbeit mit der AdL, 6.9.1982, ABBAW Buch A 1073.
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Prinzipiell war das Institut Mitte der 1980er Jahre in der Lage, der Industrie die Grundlagen für rekombinante mikrobielle Systeme anzubieten. Das zeigte auch das als Vertragsarbeit begonne Projekt zum Labenzym Chymosin. Das für die Käseproduktion unentbehrliche Enzym galt als teuerste in der biotechnologischen Massenproduktion verwendete Biochemikalie. Da die für die Isolierung erforderlichen Kälbermägen teilweise gegen Devisen importiert werden mussten, hatte die milchverarbeitende Industrie der DDR ein vitales Interesse an einer Eigenversorgung und unterstützte die Suche nach Chymosin-RNS mit dem notwendigen Rohmaterial.117 Zwar verlief der Aufbau, insbesondere die vorgesehene Arbeitsteilung mit einem Institut der tschechoslowakischen Akademie, nicht wie gewünscht; dennoch gelang nach drei Jahren durch Anwendung der erprobten Methoden die Konstruktion eines Plasmids mit dem Gen für das Vorläufermolekül Prochymosin.118 Ende der 1980er Jahre meldete das ZIM eine Reihe von Patenten auf Lösungen für eine mikrobiologische Produktion des Labenzyms an.119 Für die Umsetzung dieser Systemkomponenten fehlten aber weiterhin die Voraussetzungen. Daran änderte auch nichts, dass das FZMM ab Mitte der 1980er Jahre einen von der Pharmaindustrie unterstützten Partner für die Weiterentwicklung biotechnologischer Produkte hatte, das durch den früheren ZIM-Mitarbeiter Dierck H. Liebscher geleitete Forschungszentrum für Biotechnologie in BerlinStralau. Das ZIM und das ZIMeT in Jena wurden zu diesem Zeitpunkt immer stärker durch Auftragsprojekte beansprucht, etwa für biotechnologische Produktionsverfahren für Interferon – das zu diesem Zeitpunkt als Wundermittel der Krebstherapie gehandelt wurde – und den gewebespezifischen Plasminogenaktivator (tPA), einen körpereigenen Blutgerinnungs-Hemmer.120 Die Möglichkeiten, hierfür kleine Testproduktionen oder Pilotanlagen aufzubauen, konnten sich in der finalen Krise der DDR-Ökonomie nicht mehr verbessern. Eine kurz vor dem endgültigen Zusammenbruch projektierte Mehrzweckanlage für biotechnologische Produktionssysteme wurde nicht mehr realisiert.121
117 Pasternak/Rosenthal/Müller, Vorlage für Sitzung der SED-Kreisleitung am 25.5.1984 : Bericht des Direktors des ZIM über den Stand der Realisierung der Staatsplanaufgaben Gentechnik, ABBAW Buch A 1096. 118 D. H. Liebscher u. a., Molecular cloning and identification of cDNA recombinants of the prochymosin gene of the calf, Acta Biotechnologica 6 (1986), S. 9. 119 Patent DD253641-A, Jan. 1988, Chymosin prodn. by culturing Bacillus cells contg. plasmid pCHYA 7 – including complete cDNA sequence for prochymosin; Patent DD264454-A, Feb. 1989, Microbial synthesis of chymosin, useful in cheese-making – by expression from recombinant plasmid contg. prochymosin sequence linked to secretory sequence. 120 Pasternak/Liebscher, Protokoll zur Beratung zwischen Direktor des ZIM und Direktor des FZ Biotechnologie am 14.11.1986, ABBAW Buch A 1074. 121 Aktennotiz ZIM/Bereich Enzymologie über Besprechung mit FZB am 1./6.4.1989, ABBAW Buch A 1074.
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„Solide“ Praxisnähe statt biotechnologischer Revolution Das zu Beginn der 1970er Jahre anvisierte Ziel eines industriellen Modernisierungsschubes durch rekombinante Bakterienstämme erwies sich als zu ehrgeizig. Konsequenzen hatte das Projekt vor allem für das ZIM selbst, das sich in weiten Teilen in ein produktorientiertes Institut verwandelt hatte, und zwar mit Zielsetzungen, die im kapitalistischen Ausland bereits weitgehend durch Start-UpUnternehmen oder Institute der pharmazeutischen Industrie verfolgt wurden. Ohne den expliziten Praxisbezug wäre es allerdings kaum zu dem Methodenausbau gekommen, der das Institut in der Molekulargenetik zwar nicht international erstklassig, aber immerhin auf Spezialgebieten konkurrenzfähig machte. Außerdem fanden die gentechnischen Werkzeuge Anwendung auf einem Gebiet, das nicht in den ursprünglichen Perspektiven auftauchte, nämlich in der humangenetischen Diagnostik. Sie trat zu Beginn der 1980er Jahre als neuer Schwerpunkt neben die Konstruktion mikrobieller Wirkstoffproduzenten. Während produktionsorientierte gentechnologische Projekte aufgrund der Unwägbarkeiten des Überführungsprozesses stark risikobehaftet waren, vollzog sich in der Humangenetik der Weg von der Forschung bis zur Umsetzung kürzer und kalkulierbarer. Von therapeutischen Eingriffen, die noch zu Beginn der 1970er Jahre als realistische Perspektive gehandelt worden waren, war in diesem Zusammenhang keine Rede mehr. Das Ziel war der Aufbau von pränatalen Screeningtests, wobei darauf geachtet werden sollte, dass der Forschungsaufwand in einem „vernünftigen Verhältnis zu dem in unserem eigenen Land sehr begrenzten Einsatzfeld“ stand.122 Der Focus lag also nicht auf schweren, aber seltenen genetisch bedingten Krankheiten, sondern auf Problemen, die für das DDR-Gesundheitssystem vorrangig waren. Erstes Ziel war die Konstruktion einer eigenen „Genbank“ aus menschlichem Lebergewebe. Leberzellen waren darum attraktiv, weil sie in hoher Konzentration wichtige Stoffwechselenzyme des Körpers – etwa das im ZIM intensiv beforschte Cytochrom P 450 – sowie diverse Enzyme enthielten, die bei schweren erblichen Stoffwechselkrankheiten fehlerhaft synthetisiert wurden. Seit 1979 wurde versucht, aus von Unfallopfern entnommenen Lebergeweben mRNS zu isolieren und diese in Form von cDNS in E.coli zu klonieren.123 Fünf Jahre später gelang es – mit Unterstützung der bewährten britischen Partner – die gesamte „Bibliothek“ an Lebergenen über ein Plasmid in bakteriellen Trägern zu klonieren. Damit war aber erst die Grundlage für die wesentlich schwierigere Suche nach spezifischen Genabschnitten gegeben. Waren Teilsequenzen eines Genprodukts bekannt, konnte das entsprechende Gene über synthetische „Primer“-Sequenzen aktiviert werden. Das führte aber nicht immer zum erwarteten Ergebnis, sondern bisweilen zu Über122 Konzeption zur Weiterentwicklung des Methoden-Komplexes „Genetic Engeneering“ und seines Einsatzes für Aufgabenstellungen der molekularbiologischen Grundlagen- und Anwendungsforschung in der DDR, April 1980, ABBAW Buch A 1032, S. 4. 123 N.N., „Genbank für Lebereiweiße des Menschen“ (Anlage 3 zu Konzeption „Weiterentwicklung des Methoden-Komplexes Genetic Engeneering“), 1979, ABBAW Buch A 1158; A. Speer, B. Thiele, D. H. Liebscher, C. Coutelle, Isolation and characterization of human liver mRNA, Acta Biologica et Medica Germanica 40 (1981), S. 1095–1100, S. 1095.
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raschungsfunden.124 Medizinisch relevant wurde nicht das Fischen nach neuen Genmarkern in der hauseigenen Genbibliothek, sondern die Konzentration auf genbedingte Krankheiten, die molekularbiologisch schon charakterisiert waren. Die Enzymmangelkrankheit Phenylketonurie (PKU) war eine naheliegende erste Wahl. PKU war international bereits als Paradebeispiel für die Möglichkeiten eines genetischen Screenings etabliert. Den schwerwiegenden Folgen für das Nervensystem konnte bei frühzeitiger Entdeckung durch eine spezielle Diät entgegengewirkt werden. Die DDR verfügte bereits über ein Vorsorgesystem sowie eine flächendeckende Untersuchung der Neugeborenen.125 In Kooperation mit einer Spezialistengruppe der Charité wurden für PKU ab 1986 erstmals in der DDR pränatale Diagnosen gestellt.126 Für die häufigste geschlechtsgebundene Erbkrankheit, die Duchenne-Muskeldystrophie, wurden zum gleichen Zeitpunkt neue genetische Nachweisverfahren entwickelt.127 Auf Spezialgebieten der humangenetischen Früherkennung gelang damit, was in der biotechnologischen Anwendung rekombinanter Mikroorganismen zu diesem Zeitpunkt unmöglich gewesen wäre – den Weltstand „zumindest mitzubestimmen“. Möglich war dies, wie der Projektleiter einräumte, weniger aufgrund des Standes der molekulargenetischen Methoden, sondern aufgrund der guten Basis, die verschiedene Universitätskliniken der DDR in der populationsgenetischen Erfassung und Betreuung von Patienten mit genetisch bedingten Stoffwechselkrankheiten aufgebaut hatten.128 In der Humanmedizin existierte jenes institutionelle „Hinterland“, das in der industriellen Biotechnologie fehlte. Die Anwendung des gentechnologischen Handwerkzeuges in der humangenetischen Diagnostik war außerdem nicht mit den überzogenen Modernisierungsansprüchen belastet, die mit den Planungen für eine mikrobiologische Massenproduktion verbunden waren. In der öffentlichen Darstellung des Projekts wurde nüchtern eingeräumt, dass man kaum den Anschluss an die Spitzenlabors der Welt erreichen werde, aber darauf hoffen konnte, „auf einem kleinen Gebiet der molekularen Humangenetik eine anerkannte Position einzunehmen und die Ergebnisse für Probleme unseres Landes nutzbar zu machen.“129 Das entsprach ganz dem bescheidenen Ton, der in der Wissenschaftspublizistik der 1980er Jahre angeschlagen wurde. Das Leitbild war nun eine „solide Forschung“, die den gegebenen Möglichkeiten des nationalen Pro124 C. Coutelle u.a., Construction and partial characterization of a human liver cDNA library, Biomedica Biochimica Acta 44 (1985), S. 421–431. 125 S. Rosenthal u. a., Forschungsprogramm 1980–1985, „Prinziplösung für eine mikrobielle Synthese von Human- und Virusproteinen“, 15.8.1980, ABBAW Buch A 910, S. 31; zur Geschichte der PKU-Diagnose und -Behandlung vgl. Paul 2013. 126 O. Riess, A. Michel, A. Speer, G. Cobet, C. Coutelle, Introduction of genomic diagnosis of classical phenylketonuria to the health-care system of the German Democratic Republic, Clinical Genetics 32 (1987), S. 209–215. 127 A. Speer u. a., Possibilities and problems in genomic diagnosis of Duchenne muscular dystrophy with molecular probes, Biomedica Biochimica Acta 45 (1986), S. K19–27. 128 C. Coutelle, A. Speer, H. D. Hunger, Humangenetik – humane Genetik (Interview), Spektrum 18 (1987), Nr. 3, S. 10–13, S. 11; vgl. auch Autobiographie C. Coutelle, in: Pasternak 2004, S. 257–262, S. 260. 129 G. Lange, Woran arbeiten Sie?: Charles Coutelle, Spektrum 13 (1982), Nr. 2, S. 16–17, S. 17.
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duktions- und Gesundheitssystems angepasst war. Auftrumpfende Versprechen einer Revolutionierung der Therapie und der Produktivkräfte waren mit den in Labor und Büro gesammelten Erfahrungen auch bei größtem Optimismus nicht mehr vereinbar. Jung konnte 1974 die Molekularbiologie noch als Generalschlüssel zur „Lenkbarkeit des Lebens“ darstellen, der Lösungswege für verschiedene technische und soziale Probleme der sozialistischen Gesellschaft eröffnete. Mehr noch, er präsentierte sie als die endgültige Verwirklichung dialektischmaterialistischen Denkens, als ein Feld, in dem alle bisherigen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse aufgehen würden und den finalen Beweis „unserer Auffassung über die Materialität des Lebens, über die Dialektik von Zufall und Notwendigkeit“ lieferten. Während sich die krisengeplagte westliche Welt an der Grenze ihrer Wachstumsmöglichkeiten sah, würde die moderne Biologie unter den Bedingungen des Realsozialismus „die Zukunft unserer Welt, eine Welt des Lebens mit menschenwürdigen Prinzipien miterbauen”.130 Rosenthal schrieb der biomedizinischen Entwicklung einige Jahre später noch immer das revolutionäre Potential zu, dem Menschen zur Entscheidungsgewalt „auch über sein persönliches biologisches Schicksal“ verhelfen zu können, war in ihrem Fortschrittsoptimismus aber deutlich vorsichtiger. Sie hielt dabei auch eine Debatte über das Missbrauchspotential der Gentechnologie für notwendig, wenngleich sie umgehend einschränkte, dieses werde nur dort virulent, wo es „Kräfte gibt, die von ihm profitieren“.131 Tatsächlich wurden die durch das neue Forschungsfeld aufgeworfenen Fragen nach versuchstechnischen Risiken und medizinisch-ethischen Grenzen in der DDR-Wissenschaftspublizistik intensiv und bisweilen kontrovers diskutiert, wenn auch nur in Form eines halböffentlichen Austausches, in den neben Fachwissenschaftlern auch Philosophen und Schriftsteller einbezogen wurden.132 Aber selbst diese Ansätze einer kritischen Auseinandersetzung mit den möglichen Kehrseiten von Zukunftstechnologien zeigten, wie sehr das DDR-Wissenschaftssystem von den im Westen gesetzten Trends abhängig war. Auch sie war letztlich ein – ausnahmsweise devisenfreier – Import, bezeichnend für ein System, das die technologischen Revolutionen des Kapitalismus eher in der Reflexion als in der Praxis nachvollziehen konnte.133 130 F. Jung, Molekularbiologie: beherrschtes Leben, glücklicheres Leben, Spektrum 5 (1974), Nr. 8, S. 17–20, S. 17. 131 S. Rosenthal, Postulate, Versuche und Nutzen des „genetic engeneering“, Spektrum 9 (1978), Nr. 6, S. 9–12. 132 Neben den von Geißler zu Beginn der 1970er Jahre organisierten „Kühlungsborner Kolloquien“ war insbesondere die 1987 abgehaltene „Gaterslebener Begegnung“ ein Indikator für das Interesse an dieser Thematik, vgl. „Gaterslebener Begegnung“, Spektrum 18 (1987), Nr. 3, S. 16–20; zur gentechnologisch-ethischen Debatte in der DDR vgl. Hohlfeld 1997, S. 226–228. 133 Die relativ offene, aber eingehegte Diskussion über wissenschaftlich-ethische Fragen kann auch als Ersatz für breitere Debatten über grundsätzliche gesellschaftliche Probleme betrachtet werden. Christa Wolf deutete diese Surrogatfunktion an, wenn sie hinsichtlich der Auseinandersetzungen um ihr Tschernobyl-Buch „Störfall“ bemerkte, dass „bei uns die Literatur in Ermanglung anderer Gelegenheiten häufig als Vehikel für öffentliche Auseinandersetzungen benutzt werden muss.“ C. Wolf, Mangel an Angst ist lebensgefährlich, Spektrum 20 (1989), Nr. 10, S. 21.
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War die aufholende Modernisierung auf dem Gebiet der anwendungsorientierten Molekularbiologie also eine der für die DDR-Planwissenschaft typischen Sackgassen, die – wie es Heinz Bielka und Rainer Hohlfeld formulieren – den angestrebten Praxisnutzen fast immer verfehlten, aber stets den Raum für eigenständige wissenschaftliche Innovationen einengten?134 Es spiegelte eine gewisse Hybris wieder, gerade auf einem der am schnellsten fortschreitenden wissenschaftlich-technischen Gebiete den Stand in den Zentren der kapitalistischen Forschung zum Maßstab zu nehmen. Auch wenn sich diese Zielsetzung im Labor und erst recht in der industriellen Praxis schnell als völlig unrealistisch erwies, war das Aufspringen auf den gentechnologischen Zug nicht völlig fruchtlos. Ohne ein größeres Programm wäre das führende biowissenschaftliche Zentrum der DDR vermutlich noch weiter hinter der internationalen Entwicklung zurückgeblieben und kaum in der Lage gewesen, in den 1980er Jahren auf molekulargenetische Standardmethoden zurückzugreifen. Insofern waren die gentechnologischen Zukunftsvisionen nicht einfach Ausdruck einer unrealistischen Forschungsplanung. Sie spiegelten wider, dass im Zeichen einer beschleunigten globalen Entwicklung die Forscher an der Peripherie kaum eine Wahl hatten, als die in den Zentren vorgegebenen Wege mitzugehen.
134 Bielka/Hohlfeld 1998, S. 88.
III.6. „PERSPEKTIVEN FÜR ENZYME“ VON DER TOXIKOLOGIE DES HÄMOGLOBINS ZUM ENZYMTESTSYSTEM Wenn in den MOGEVUS-Plänen die praktische Nutzung „biologischer Wirkprinzipien“ als Ziel ausgegeben wurde, war damit nicht allein der Aufbau gentechnologischer Ansätze gemeint. Die größten Hoffnungen auf dem Gebiet der Biotechnologie galten dem Einsatz von mikrobiellen Fermentationstechniken sowie gereinigten Enzympräparaten in der chemischen und pharmazeutischen Produktion. In den 1960er Jahren zeichneten sich weltweit neue Möglichkeiten ab, biologische Enzyme als Katalysatoren in großtechnischen Synthese- und Reinigungsverfahren zu nutzen oder sie in Waschmitteln und Lebensmitteln einzusetzen.1 Im Kontext wirtschaftspolitischer Pläne zum Aufbau einer mikrobiologischen Industrie erlangten diese biotechnologischen Visionen einen hohen Stellenwert. Zugleich wurde in biowissenschaftlichen Perspektivkonzepten die Notwendigkeit betont, die Rückständigkeit der enzymologischen Grundlagenforschung zu beheben. In Buch wirkte sich dies auf die seit den 1950er Jahren im Institut für Pharmakologie verfolgten Untersuchungen zu Struktur-Funktionsbeziehungen an Hämoglobinen aus. Während die hier gesammelten Erfahrungen zunächst in Modellstudien zu Problemen der technischen Enzymologie einflossen, kamen in den 1970er Jahren neue industriebezogene Versuchsobjekte sowie Forschungen zu medizinischdiagnostischen Enzymtestsystemen hinzu. Die in diesem Kapitel beschriebenen Entwicklungen zeigen einerseits eine erstaunlich langfristige Kontinuität auf dem Gebiet der Grundlagenforschung. Sowohl am Hämoglobin als auch – ab den 1970er Jahren – an dem multifunktionalen Enzym Cytochrom P-450 wurde in Buch ein Forschungsstil verfolgt, der darauf abzielte, mittels spektroskopischer Techniken die molekularphysikalischen Grundlagen zellulärer Stoffwechselprozesse zu analysieren. Der Einfluss planwirtschaftlicher Nutzungserwartungen transformierte die hiermit verbundenen Forschungspraktiken, ohne die wissenschaftlichen Zielsetzungen völlig zu verändern. Der Aufbau eines technisch-enzymologischen Schwerpunktes konnte teilweise an den hierbei gesammelten Erfahrungen ansetzen, führte andererseits aber auf eine völlig neue Ebene der wissenschaftlichen Arbeit, die direkte Orientierung auf produktionstaugliche technische Systeme. Dabei konnten die Akademieforscher, anders als auf dem zuvor behandelten Gebiet der Gentechnologie, das oft von ihnen geforderte technische „Weltniveau“ teilweise erreichen und in ökonomische Erfolge umsetzen. Möglich wurde dies dort, wo sie alle Ebenen des Entwicklungsprozesses beeinflussen oder steuern konnten – was allerdings einen 1
Bud 1993, S. 107–111.
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Aufwand mit sich brachte, der den Spielraum für die grundlagenorientierte Forschung einengte. Der Fall der Enzymologie verdeutlicht damit ein Dilemma, das für die letzten zwei Jahrzehnte der Geschichte des Bucher Forschungszentrums sowie der DDR-Wissenschaft insgesamt essenziell war. Vom toxikologischen Indikator zum molekularbiophysikalischen Modellobjekt Die Reaktionsweise der Hämoglobine gehört zu den ältesten Forschungsproblemen der experimentellen Pharmakologie. Die im späten 19. Jahrhundert einsetzenden Beobachtungen, dass sich Vergiftungen in farblichen Veränderungen des Blutfarbstoffes niederschlugen, bildeten einen ersten Ausgangspunkt für die optisch-spektroskopische Untersuchung biologischer Substanzen. Die Frage, welche molekularen Prozesse zur Bildung pathologischer Derivate führte, machte die Hämoglobine zum Modellobjekt einer physikalisch-chemisch orientierten Pharmakologie.2 Sie war auch die Grundlage für die Arbeiten, die in Friedrich Jungs pharmakologischer Abteilung in den 1950er Jahren aufgenommen und an wechselnden Objekten bis in die 1980er Jahre verfolgt wurden. Jung übernahm die Thematik als Assistent in Wolfgang Heubners pharmakologischem Institut an der Universität Berlin, dessen Forschungsprogramm von der Idee geprägt war, pharmakologische und toxikologische Vorgänge auf physikalisch-chemische Prozesse zurückzuführen.3 Heubners besonderes Interesse galt dem Methämoglobin, einer inaktiven Form des Hämoglobins, die vor allem infolge von Vergiftungen mit Schwefelverbindungen verstärkt im Blut auftritt. Zu einem wichtigen Gegenstand der Toxikologie wurden diese molekularen Vergiftungserscheinungen durch ihr häufiges Auftreten bei Arbeitern der Rüstungsindustrie sowie bei den Opfern des Gaskrieges.4 Jung entwickelte 1939 gemeinsam mit seinem Institutskollegen Robert Havemann ein optisches Nachweisverfahren für Methämoglobin, das weite Verbreitung fand.5 Er arbeitete experimentell über die Entstehung des Derivats, zugleich aber auch über vergiftungsbedingte Veränderungen der ganzen Blutzelle. Durch Zusammenarbeit mit dem Entwicklungslabor der Siemens AG konnte er 1942 als erster Forscher elektronenmikroskopische Aufnahmen der Struktur geschädigter Erythrocyten anfertigen.6 Die Untersuchung von durch verschiedene hämolytische Gifte erzeugten „deformierten“ Formen wurde in der Folgezeit sein
2 3 4 5 6
Für eine kurze Zusammenfassung früher Arbeiten vgl. F. Jung, Über das sogenannte Sulfhämoglobin, Archiv für experimentelle Pathologie und Pharmakologie 194 (1939), S. 16–30. Ruckpaul 2003, S. 65; Scheler/Oehme 2002, S. 27–33. W. Heubner, Die Erkrankungen durch Kampfgase, Die Naturwissenschaften 8 (1920), S. 247–256. R. Havemann, F. Jung, B. von Issekutz, Die Bestimmung von Methämoglobin im Blute mit dem lichtelektrischen Kolorimeter, Biochemische Zeitschrift 301 (1939), S. 116–124. F. Jung, Degenerationserscheinungen am Erythrocyten, Die Naturwissenschaften 30 (1942), S. 472–472.
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Spezialgebiet, das er auch in Buch weiterführte.7 Für Jung war die mikromorphologische Betrachtung pathologischer Blutzellen jedoch nur Teilaspekt eines größeren Problemkreises, der die biochemische Ebene der Hämoglobinfunktion und das physiologische Verständnis des Blutstoffwechsels beinhaltete. Nach seinem Selbstverständnis gehörte er in den 1950er Jahren einer kleinen Minderheit von Hämatologen an, die eine „funktionale“ Perspektive auf das Stoffwechselgeschehen der Blutzellen anstrebten, während die große Mehrheit das Problem einseitig morphologisch betrachtete.8 Später definierte er sein Arbeitsgebiet als „molekulare Zellphysiologie“, die nicht allein die „wechselseitigen Zusammenhänge zwischen Struktur und Funktion“ der subzellulären Elemente – etwa des Hämoglobins – thematisierte, sondern letztlich klären sollte, „wie diese Prozesse nicht nur zusammenwirken, sondern wie in diesem Zusammenspiel durch eine Art Integration die funktionelle Einheit Zelle zustandekommt.“ 9 Dieses Ziel war weit gesteckt, insbesondere für ein einzelnes Institut. Zu Beginn der 1960er Jahre begannen die zellphysiologischen Aspekte in Jungs Institut bereits in den Hintergrund zu rücken, während die physikalisch-chemische Analyse molekularer Mechanismen immer mehr an Bedeutung gewann. In den 1950er Jahren wurde die Thematik des pathologisch veränderten Blutfarbstoffes zunächst in Bezug auf Fragen der Sauerstoff-Bindungsfähigkeit des Methämoglobinbelasteten Blutes und seiner Rückverwandlung in normales Hämoglobin weitergeführt.10 In der Folgezeit konzentrierte sich die Arbeitsgruppe des späteren Akademiepräsidenten Werner Scheler auf die Charakterisierung der physikochemischen Eigenschaften des Moleküls, speziell des sauerstoffbindenden Hämins (also des Nicht-Protein-Anteils der Hämoglobine). Entscheidend dafür waren spektroskopische Methoden, die Aufschluss über den magnetischen Zustand des zentralen Eisenatoms im Hämin vermittelten. Bei diesen Untersuchungen zeigte sich, dass entgegen der bis dahin herrschenden Meinung in Hämoproteinen nicht nur ein einzelner, sondern verschiedene magnetische Zustände vorliegen konnten, die sich unter bestimmten Versuchsbedingungen nachweisen ließen.11 Der weitere Ausbau dieser Befunde führte zu einer Revision der vorherrschenden Vorstellungen über die elektronische Struktur des Hämins, speziell der Bindungsweise des Eisenatoms.12 Die Bearbeitung dieses biophysikalischen Spezialproblems hing wesentlich von der Variation der Präparationsmethoden und der schrittweisen Anpassung der 7
F. Jung, Über toxische Schädigungen an Erythrocyten, Klinische Wochenschrift 24/25 (1947), S. 459–468. 8 Jung an DAW 5.10.1954, ABBAW AKL 50. 9 F. Jung, Eröffnungsansprache zu: Internationales Symposium über molekulare Zellphysiologie, Berlin 13.-17.8.1963, Acta Biologica et Medica Germanica Suppl. 3 (1964), S. 7. 10 W. Scheler, F. Jung, Zur Häm-Häm-Wechselwirkung beim roten Blutfarbstoff, Archiv für experimentelle Pathologie und Pharmakologie 221 (1954), S. 152–159. 11 W. Scheler, G. Schoffa, F. Jung, Über Zusammenhänge zwischen Lichtabsorption und paramagnetischer Suszeptibilität bei Methämoglobin-Komplexen, Die Naturwissenschaften 43 (1956), S. 159–160; vgl. hierzu Ruckpaul 2003, S. 65. 12 G. Schoffa, O. Ristau, F. Jung, Elektronenspinresonanz des Hämins, Die Naturwissenschaften 47 (1960), S. 227–228.
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aus der Experimentalphysik stammenden Messmethoden ab. Die Methode der Elektronenspinresonanz (ESR), die für das Projekt bestimmend war, wurde laufend mit eigenen Mitteln verbessert.13 Bei Messungen an Hämoglobinmolekülen lieferte sie nur unbefriedigende Ergebnisse, da das von den Eisenatomen ausgehende Signal durch das molekulare Protein abgedämpft wurde. Die Messungen konzentierten sich daher zunächst auf isoliertes Hämin, wobei sich Zustandsänderungen unter Einfluss von Reaktionspartnern messen ließen, die direkt am zentralen Eisenatom angriffen.14 Die Verfeinerung der Methode erlaubte schließlich auch Messungen an „ganzen“ Hämoglobinen, aus denen abgeleitet wurde, dass auch nur an der Proteinkomponente angreifende Reaktionspartner Rückwirkungen auf den Zustand der Hämingruppe hatten.15 Mittels optischer Methoden hatte man schon zuvor nachweisen können, dass dies auch umgekehrt galt: Änderte sich der Reaktionszustand des Hämins, hatte dies auch Konsequenzen für die Konfiguration des Globin-(d.h. Protein-)Anteils.16 In den 1960er Jahren wurde eben dieses Problem – die Wechselwirkungen zwischen der sauerstoffübertragenden Häm-Gruppe und der Proteinstruktur unter verschiedenen Reaktionsbedingungen – zum thematischen Schwerpunkt der Bucher Hämoglobin-Forscher. Die Fragestellung hatte sich damit weit von der ursprünglichen toxikologischen Thematik entfernt. Hämoglobin – beziehungsweise Methämoglobin – wurde nicht mehr unter medizinischen Gesichtspunkten behandelt, sondern als Modellobjekt, das zusammen mit der zur Verfügung stehenden biophysikalischen Methodik ein produktives Experimentalsystem bildete. Der dabei verfolgte Ansatz, seine Reaktionsweise auf die Ebene der molekularen Konfiguration zurückzuverfolgen, war nicht völlig außergewöhnlich, entsprach aber nicht jener Forschungslinie, die das Hämoglobin zu Beginn der 1950er Jahre zum Schlüsselobjekt der Proteinchemie gemacht hatte. Hämoglobine boten aufgrund ihrer leichten Isolierbarkeit einen idealen Ansatzpunkt für die leistungsfähigsten Verfahren der biophysikalischen Strukturforschung: Einerseits wurden sie zum Standardobjekt der Röntgenkristallographie, welche erstmals dreidimensionale Modelle eines Proteins lieferte. Andererseits wurde Hämoglobin zum ersten menschlichen Makromolekül, auf das die neuen Möglichkeiten der Proteinsequenzierung angewandt wurden. Die große Variabilität der Hämoglobine machte sie dabei zum Testfall für die neuen Vorstellungen molekulargenetischer Codierung. Als Vernon Ingram 1956 zeigen konnte, dass das Hämoglobin der Träger der Sichelzell-Anämie vom Normalmolekül in einer einzigen Aminosäure abwich, war dies ein erster Beweis für die Annahme, dass Genmutationen sich in punktuellen Sequenzänderungen des Proteinproduktes niederschlagen.17 Die Suche nach 13 Vgl. hierzu Kap. III.3.3.. 14 H. Rein, O. Ristau, Der Nachweis der High-Spin- und Low-Spin-Form von Hämoproteiden mit der Elektronenspinresonanz, Biochimica et Biophysica Acta 94 (1965), S. 516–524. 15 H. Rein, O. Ristau, G. R. Jänig, F. Jung, On the influence of ATP on the electronparamagnetic spectrum of methemoglobin, FEBS Letters 15 (1971), S. 21–23. 16 K. Ruckpaul, J. Krumbiegel, F. Jung, Strukturuntersuchungen an Hämoproteiden I., Acta Biologica et Medica Germanica 8 (1962), S. 157–166. 17 De Chadarevian 1996, S. 379.
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neuen Hämoglobinanomalien wurde von diesem Zeitpunkt an zu einer biowissenschaftlichen Massenbewegung, die entscheidend zur Globalisierung molekularbiologischer Praktiken beitrug. Im Sinne der molekulargenetischen Informationstheorie war jeder Fund einer Sequenzabweichung ein möglicher Hinweis auf die Zusammenhänge zwischen molekularer Struktur und Funktion. Die Funktionsweise eines komplexen Proteins, das war auch den Anhängern dieses Ansatzes klar, erschloss sich aber noch nicht aus der Sequenz allein, sondern war auch eine Frage der dreidimensionalen Faltung des Moleküls. Für einen molekularbiologischen Vordenker wie Francis Crick war die systematische Ermittlung von Sequenzen dennoch der vorerst einzig produktive Weg, da ihm die Methoden zur Bestimmung der Proteinkonformation noch zu unpräzise erschienen.18 An Buch ging der internationale Wettlauf um neue menschliche oder tierische Hämoglobin-Sequenzen vorbei, da es nicht gelang, die nötigen Methoden zu adaptieren. Das lag nicht an mangelndem Interesse. Das Institut für Pharmakologie hatte als zentrales hämatologisches Labor Zugang zu Blutproben von Anämiepatienten aus der ganzen DDR. Jung hoffte, über dieses Material in das neuartige Gebiet der „Molekularpathologie“ einzusteigen. Ab Mitte der 1960er Jahre bemühte er sich, Mittel für den Aufbau einer eigenen Proteinsequenzierungs-Gruppe zu erhalten. Der Verweis auf die internationale Bedeutung der Suche nach neuen Hämoglobin-Anomalien war in den Jahren des Investitionsstaus jedoch nicht erfolgreich.19 Auch der Stand proteinchemisch nutzbarer chromatographischer und elektrophoretischer Techniken blieb zunächst bescheiden. Entsprechend ihrer Orientierung auf spektroskopische Methoden bauten Jung und seine Mitarbeiter eine Messtechnik mittels UV-Absorption auf, die ebenfalls einen Weg zur sicheren Unterscheidung der Hämoglobine verschiedener tierischer Spezies bot.20 Das rasante Anwachsen des internationalen Humanhämoglobin-Katalogs konnten sie indessen nur als Zuschauer beobachten. Das wachsende Wissen über Varianten der Primärstruktur kam letztlich auch ihnen zugute, da die Daten Rückschlüsse darauf zuließen, welche Positionen des Proteingerüsts das Reaktionsverhalten der Hämingruppe beeinflussen konnten.21 Zu Beginn der 1970er Jahre erschien es kaum noch sinnvoll, sich am weltweiten Rennen um neue Sequenzanomalien zu beteiligen. Einerseits war das Feld ausgereizt – 1972 waren 129 menschliche Hämoglobinvarianten bekannt, etwa doppelt so viele wie sieben Jahren zuvor – und andererseits hatte das Vorhaben für das Gesundheitssystem der DDR praktisch kaum eine Bedeutung, da die Manifestationsrate pathologischer Hämoglobine in
18 Ebd., S. 377. 19 Jung an unbekannt (vmtl. FG) und an Misgeld/MfG, 15.9.1966, ABBAW Buch A 813; Jung an Scheuch, 3.12.1968, ABBAW Buch A 813. 20 F. Jung, G. Stopp, K. Ruckpaul, Ultra-violet absorption spectra of haemoglobins from various vertebrates, Nature 207 (1965), S. 990–991. 21 K. Ruckpaul, Abnorme Hämoglobine, eine Übersicht, Das Deutsche Gesundheitswesen 16 (1961), S. 2120–2125; K. Ruckpaul, G. Stopp, Vergleichende Betrachtung über normale und abnorme menschliche Hämoglobine, Das Deutsche Gesundheitswesen 19 (1964), S. 1580– 1585.
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Mitteleuropa minimal war.22 Zu diesem Zeitpunkt hatte man sich bereits darauf festgelegt, das erworbene Wissen über das Reaktionsverhalten von Hämoproteinen weiter auszubauen und als Modell für die technische Anwendung von Enzympräparaten zu nutzen. Enzyme in die Produktion? Wie alle Institutsprojekte wurden auch die Hämoprotein-Arbeiten bald nach Beginn der Akademiereform in das neue System überinstitutioneller Forschungsprojekte eingebunden. 1968 lag bereits ein Programm für eine Wissenschaftliche Konzeption (WK) Enzymologie vor, die die Bucher Pharmakologen gemeinsam mit dem physiologisch-chemischen Institut der Universität Halle und weiteren Partnern bildeten.23 Der Forschungsrat maß dem Ausbau dieses Forschungsgebietes solche Bedeutung bei, dass kurzzeitig angeregt wurde, in Buch oder Halle ein Zentralinstitut für Eiweißforschung zu gründen, in das neben Kräften aus enzymologisch orientierten Universitätsinstituten eventuell auch die Immunbiologen des Instituts für Krebsforschung sowie die Bucher Wirkstoffforscher integriert werden sollten.24 Während die Idee bald in der Versenkung verschwand, schlug sich eine wesentliche Zielsetzung des Plans in der späteren Struktur des FZMM nieder – nämlich der zentralisierte Aufbau strukturanalytischer und reaktionskinetischer Methoden, ohne welche international konkurrenzfähige Arbeit auf diesem Gebiet nicht möglich war. Für die Bucher Hämoprotein-Gruppe wurde die Bildung eines biophysikalischen Methodenzentrums die wichtigste Neuerung der Reformjahre. Ihre Arbeiten behielten, auf erweiterter apparativer Basis, nach 1970 zunächst weitgehend ihren Grundlagencharakter. Die Konzeption der neuen ZIM-Abteilung Biokatalyse sah jedoch eine verstärkt technisch-ökonomische Ausrichtung vor. Im Sinne der Planungsdokumente war es ihre Aufgabe, das Verhalten „von Enzymen, Enzymträger-Systemen und Enzymmodellen“ aufzuklären, um „prinzipiell neue Wege für die Technologie und Ökonomie der Stofferzeugung und Stoffwandlung sowie für die Beherrschung und gezielte Beeinflussung des menschlichen Stoffwechsels zu liefern.“25 Die Idee einer Revolutionierung „stoffwandelnder Produktionsprozesse“ durch natürliche Katalysatoren war, ähnlich wie die gentechnologischen Ziele, eher eine wissenschaftspolitische Wunschvorstellung als ein Programm, für das konkrete Nutzungskonzepte auf Seiten der Industrie vorlagen. Sie war jedoch mit technischen Lösungsprinzipien verbunden, die sich in der Forschungspraxis niederschlugen. Während der Konzeptionierung des enzymologischen Verbundpro22 K. Ruckpaul, G. R. Jänig, Beziehungen zwischen Struktur und Funktion abnormer Hämoglobine, Das Deutsche Gesundheitswesen 27 (1972), S. 1057–1063, S. 1062. 23 Jung an Hofmann, 17.6.1968, ABBAW Buch A 813. 24 K. Ruckpaul, Entwurf „Vorstellungen für ein Zentralinstitut (Molekularbiologie von Eiweißen) im Forschungszentrum Berlin-Buch“, 19.12.1968, ABBAW Buch A 813. 25 Dokumentation zur Grundsatzentscheidung für das Investitionsvorhaben „Gebäude für theoretisch-wissenschaftliche Arbeitsgruppen, 17.9.1971, ABBAW Buch A 905.
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jekts hatte die Bucher Hämoprotein-Gruppe begonnen, Verbindungen zum DAWInstitut für chemische Verfahrenstechnik aufzubauen. Das Leipziger Institut verfügte bereits über Erfahrungen mit der Koppelung biologisch aktiver Verbindungen an hochmolekulare Trägermaterialien.26 Die Bindung von Enzymen an synthetische Polymere bot die Möglichkeit, ihre Aktivität zu stabilisieren und damit ihre technische Nutzbarkeit zu erhöhen. Entsprechend den eigenen Möglichkeiten wurde als erstes Projekt erwogen, trägerfixiertes Hämoglobin für die Herstellung eines sauerstoffübertragenden Blutersatzmittels zu testen.27 Die Anwendung trägerfixierter Enzyme war nicht notwendigerweise auf großtechnische Systemlösungen ausgerichtet. Einerseits hatte das Trägerprinzip auch eine hohen methodologischem Wert für die enzymologische Grundlagenforschung selbst. So wurden die 1973 einsetzenden Untersuchungen am Hämoprotein Cytochrom P-450 dadurch erschwert, dass die Enzyme in Lösung oft aggregierten und daher schlechte Messergebnisse lieferten. Durch die Koppelung an Trägermaterialien – deren Eignung für das Enzym wiederum eine Forschungsfrage für sich war – konnte dieses Problem behoben werden.28 Andererseits bestand eine realistische Perspektive, die Methode kurzfristig für präparativ-chemische Zwecke im kleintechnischen Maßstab zu nutzen. In den frühen 1970er Jahren wurden große Hoffnungen in die Affinitätschromatographie gesetzt, ein Verfahren zur Isolierung schwer zugänglicher Biomoleküle aus Stoffgemischen, bei dem spezifisch mit der gesuchten Substanz reagierende Moleküle an ein Trennmaterial geheftet werden. Die Herstellung entsprechender Enzym-Träger-Systeme waren die ersten „überführungsfähigen“ Produkte des Bereichs Biokatalyse. Für das Institut für Immun- und Nährbodenforschung in Berlin-Weißensee wurden Methoden für Isolierung bestimmter Globine bearbeitet.29 Solche Aufgaben waren nicht rein technischer Natur. Die Auffindung geeigneter Koppelungsverfahren stellte ein nicht unerhebliches Problem dar; für die ZIM-Forscher stand jedoch die Frage im Vordergrund, inwieweit die Bindung an Trägermaterialien die Reaktionsweise der Enzyme veränderte. Untersuchungen zu diesem Thema machten in den frühen 1970er Jahren einen großen Teil des Bereichsprogramms aus. Das geschah durch Erweiterung der bewährten Versuchsanordnungen um die Komponente der Trägersubstanz – das bedeutete, dass trägerfixiertes Hämoglobin etwa auf seine Sauerstoff-Bindungsfähigkeit sowie seinen Konformationszustand untersucht wurde.30 In diese Studien wurden nach und nach auch Enzyme einbezo26 Ruckpaul an Gabert/Institut für chemische Verfahrenstechnik Leipzig, 30.6.1969, ABBAW Buch A 813 27 Ruckpaul an Gabert, 17.12.1969, ABBAW Buch A 813. 28 „Studie zum Entwicklungsstand und zur weiteren Perspektive des Themenkomplexes ‚Oxidoreduzierende Enzyme und Enzymsysteme‘“, n. d. (1977), ABBAW Buch A 1158. 29 Leistungsbericht der Abteilung Biokatalyse 1972, 24.11.1972, ABBAW Buch A 752. 30 J. Lampe, K. Pommerening, Untersuchungen zur Bindung von Sauerstoff an trägerfixiertes Hämoglobin, Studia Biophysica 39 (1973), S. 19–24, J. Lampe, O. Ristau, Die Bindung von Sauerstoff an trägerfixiertes Hämoglobin. Einfluß allosterischer Effektoren und der Hämoglobin-Konformation bei Fixierung, Acta Biologica et Medica Germanica 33 (1974), S. K49– 54.
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gen, die aus Partnerinstituten übernommen wurden. Die Arbeiten vollzogen sich damit in einem überinstitutionellen Austausch, in welchen das ZIM methodologische Erfahrungen und seine in der DDR einmalige Kombination biophysikalischer Methoden einbrachte.31 Unter der Vorgabe der Nutzungsorientierung hatten sich die Praktiken, nicht aber die ursprünglichen wissenschaftlichen Zielsetzungen der Bucher Hämoprotein-Forscher verändert. Die Autonomie der Grundlagenforschung wurde bei der Neuausrichtung der Pläne Mitte der 1970er Jahre nicht in Frage gestellt, auch wenn die Forderung im Raum stand, dass die enzymologische Forschungsrichtung auch kurzfristig zu ökonomisch nutzbaren Ergebnissen führen müsse. Dies war im Sinne eines Wissenschaftsverständnisses, nach dem neue Grundlagenerkenntnisse quasi zwangsläufig praxisrelevante Innovationen hervorbrachten, nicht unbedingt ein Widerspruch. Die Projektkonzeptionen orientierten sich weiter an dem früher von Jung formulierten Ziel, durch die Untersuchung von Enzymen als integrierten subzellulären Systemen die Lücke zwischen der Kinetik einzelner Moleküle und der Biologie der Zelle zu schließen.32 Schritte in diese Richtung hatte man bereits durch Untersuchungen an Hämoglobinen in hochkonzentrierter Lösung erzielt, also unter Bedingungen, die etwa den Verhältnissen in der lebenden Zelle entsprechen sollten. Aufbauend auf Befunden, nach denen die Bindungfähigkeit des Hämoglobins vom Konzentrationsgrad abhängig war, zeigten die Untersuchungen, dass die Dichte der Moleküle Auswirkungen auf ihre Konformation hatte.33 Demnach spielten Wechselwirkungen zwischen Hämoglobinen eine wichtige Rolle für ihren Funktionszustand; generell schien jedes Protein auf eine bestimmte Entfernung Nachbarmoleküle beeinflussen zu können. Wie viele Arbeiten über Struktur-Wirkungs-Beziehungen basierten diese Erkenntnisse auf der Nutzung der Röntgenkleinwinkelstreuungs-Technik.34 Den Ergebnissen über diese „Nahordnungseffekte“ wurde auch eine praxisrelevante Bedeutung beigemessen, da sie einen neuen Zugang zum Verständnis intermolekularer Wechselwirkungen unter physiologischen Bedingungen boten.35 Nachdem auf dieser Basis ein neues Modell der Anordnung des Hämoglobins im Erythrocyten vorgeschlagen worden
31 W. Damerau, G. Lassmann, C. Flemming, Nachweis radikalischer Reaktionen an trägergebundener Peroxidase, Studia Biophysica 35 (1973), S. 39–44; G. Lassmann, J. Lasch, B. Ebert, W. Damerau, W. Kudernatsch, Spektroskopische Untersuchungen zur Thermostabilität höherer Strukturen von Leuzinaminopeptidase. ESR-, CD- und Fluoreszenzstudien, Acta Biologica et Medica Germanica 35 (1976), S. 343–352. 32 P. Mohr, Aktennotiz über Beratung des Leiters der HFR 4 Hofmann und Mitarbeitern der selbstst. Abteilung Biokatalyse am ZIM, 19.3.1974, ABBAW Buch A 1158. 33 G. Damaschun, H. Damaschun, J.J. Müller, H.V. Pürschel, K. Ruckpaul, Zwischenmolekulare Wechselwirkungen in konzentrierten Hämoglobinlösungen, Studia Biophysica 33 (1972), S. 223–228. 34 G. Damaschun, Ein Regulationsmechanismus bei Enzymen unter in-vivo-Verhältnissen, Acta Biologica et Medica Germanica 32 (1974), S. 711–712. 35 G. Etzold, Jahresabschlussbericht 1973 für komplexe Aufgabe Biophysik der Eiweiße, 24.11.1973; P. Mohr, Leistungsbericht Abt. Biokatalyse für 1973, 13.11.1973, beide ABBAW Buch A 751.
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war, wurden die Arbeiten aber nicht weiter verfolgt.36 Mitte der 1970er Jahre wurde beschlossen, die Hämoglobine als Standardobjekt aufzugeben und durch ein Enzym zu ersetzen, das mehr Entwicklungsmöglichkeiten bot und größere Relevanz für pharmakologische Fragestellungen besaß, das Cytochrom P-450. Dieses in allen Organismen verbreitete Enzym wurde erstmals 1958 im Labor von Britton Chance, einem der Pioniere der Enzymkinetik, an der University of Pennsylvania entdeckt. Der deutsche Gastforscher Martin Klingenberg beobachtete in Lebermikrosomen ein Kohlenmonoxid-bindendes Pigment mit einer charakteristischen optischen Absorbtionsbande bei 450 nm. Erst einige Jahre später wurden Struktur und Funktion der Substanz genauer charakterisiert. Zunächst zeigte sich, dass Cytochrom P-450 von großer Bedeutung für den Stoffwechsel der Steroidhormone war.37 In Folgezeit wurde deutlich, dass das Enzym an der Metabolisierung der meisten für den Menschen relevanten Hormone und Arzneistoffe beteiligt war. P-450 war daher von größtem Interesse für Pharmakologen. Die Bucher Gruppe entschied, in die bereits intensive Forschung an diesem Objekt einzusteigen, nachdem zu Beginn der 1970er Jahre neue Isolierungsverfahren vorlagen und eine große Anzahl gewebespezifischer Varianten bekannt war, wodurch ähnlich wie beim Hämoglobin vergleichende Untersuchungen zur Beziehung zwischen Stuktur und Funktion möglich erscheinen.38 Da P-450 ebenfalls um eine Hämin-Gruppe aufgebaut war, konnten auch die gesammelten versuchstechnischen Erfahrungen übertragen werden. Ein entscheidendes Argument für eine langfristige Schwerpunktsetzung bot aber vor allem die quasi universelle Bedeutung des Enzyms für den Arzneimittelstoffwechsel.39 Die Perspektive war jener verwandt, die auch von den Bucher Peptidhormon- und HerzglykosidPharmakologen eingenommen wurde: die Wirkungsweise von Pharmaka zu verstehen, indem man die Funktionsweise ihrer „Zielenzyme“ analysierte. Die Ausgangslage für eine genaue Strukturanalyse gestaltete sich jedoch ähnlich komplex wie bei anderen Rezeptorenzymen, da sich die membranständigen P-450-Spezies tierischer Gewebe nur schwer isolieren ließen. Noch zu Beginn der 1990er Jahre war nur für eine mikrobielle Spezies die komplette Raumstruktur erfasst.40 Während der 1980er Jahre konnten international aber bereits substratspezifische Funktionen bestimmter P-450-Spezies aufgeklärt werden. Durch die Verbindung mit gentechnologischen Methoden schien es möglich, auf dem Weg der Modifikation der Proteinsequenz die Wirkungsspezifität bestimmter Aminosäuren zu erkennen oder sogar wirkungsspezifische Moleküle zu konstruieren. Die Entwicklung solcher „maßgeschneiderter Enzyme“ blieb jedoch vorerst Zukunfts36 G. Damaschun u. a., Über die supramolekulare Organisation des Oxyhämoglobins im Erythrozyten. Eine Röntgen-Kleinwinkelstreuungs-Studie, Acta Biologica et Medica Germanica 34 (1975), S. 391–398. 37 Estabrook 2003, S. 1465–1471. 38 Ruckpaul 2003, S. 66. 39 Studie zum Entwicklungsstand und zur weiteren Perspektive des Themenkomplexes „Oxidoreduzierende Enzyme und Enzymsysteme“, n. d. (1977), ABBAW Buch A 1158. 40 K. Ruckpaul, Cytochrome P450-abhängige Enzyme – Targetenzyme für die Arzneistoffentwicklung?, Pharmazie in unserer Zeit 22 (1993), S. 296–304, S. 296.
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musik, speziell für die Bucher Gruppe, der die Voraussetzungen hierfür fehlten.41 Es gelang ihr jedoch, wichtige funktionale Gruppen des Enzyms aufzuklären, indem etwa durch den Einsatz spezifischer Reagentien ein Aminosäureabschnitt identifiziert wurde, an welchem das P-450-Molekül an eine mit ihm funktionell verbundene Reduktase gekoppelt war.42 Diese Befunde galten als entscheidend dafür, den Elektronentransfer zwischen den beiden Komponenten des Enzymsystems zu verstehen, einen wesentlichen Aspekt seiner sauerstoffspaltenden Funktion. Ein weiterer Untersuchungszweig galt der Struktur des substratbindenden Zentrums des P-450-Moleküls, für welches mittels der hauseigenen ESR-Technik eine große konformationale Flexibilität nachgewiesen werden konnte, womit eine konkrete Erklärung für seine Fähigkeit zur Bindung einer großen Bandbreite strukturell unterschiedlicher Stoffe gefunden war.43 Über längere Zeit verfolgt wurde außerdem die Beeinflussung dieser molekularen Mechanismen durch die in Membransystemen vorliegenden Phospholipide, die anhand von in vitro aggregierten P-450-Lipid-Komplexen untersucht wurde.44 Die Gruppe setzte damit einen international eher ungewöhnlichen Schwerpunkt auf die intermolekularen Wechselwirkungen des Enzymsystems, wie sie in der lebenden Zelle zu vermuten waren. Alle diese Arbeiten konnten als Beiträge zu einem Funktionsmodell des P450-Systems präsentiert werden, das mittelbar auch den Weg zu seiner technischen Beherrschbarkeit eröffnete – etwa durch gezieltere Entwicklung von Substanzen, die seine Wirkung als zellulärer Entgiftungsmechanismus beeinflussten, oder durch die Konstruktion optimierter mikrobiologischer Systeme für die großtechnische Wirkstoffsynthese.45 Während solche Perspektiven in der Selbstdarstellung eine große Rolle spielten, blieb die Forschungspraxis auf Grundlagenfragen ausgerichtet, die mit den erarbeiteten Methoden und Erfahrungen fassbar waren. Die oft beschworene Verbindung zur „stoffwandelnden Großindustrie“ blieb dennoch nicht bedeutungslos für die P-450-Forschung. In der Frühphase des Projekts hatte man bei der Suche nach einem geeigneten Ausgangsmaterial für das 41 K. Ruckpaul, H. Rein, Cytochrom P-450 auf dem Weg zur praktischen Nutzung, Spektrum 16 (1985), Nr. 11, S. 27. 42 R. Bernhardt, A. Makower, G. R. Jänig, K. Ruckpaul, Selective chemical modification of a functionally linked lysine in cytochrome P-450 LM2, Biochimica et Biophysica Acta 785 (1984), S. 186–190. 43 D. Schwarz, J. Pirrwitz, H. Rein, K. Ruckpaul, Motional dynamics of a spin labeled substrate analogue bound to cytochrome P450: Saturation transfer EPR studies, Biomedica Biochimica Acta 43 (1984), S. 295–307. 44 G. Smettan, P. A. Kisselev, M. A. Kissel, A. A. Akhrem, K. Ruckpaul, Effect of the gelliquid crystalline phase transition of the reduction of cytochrome P-450 reconstituted into dimyristoyl-phosphatidylcholine liposomes, Biomedica Biochimica Acta 43 (1984), S. 10731082. Die Betonung der „konformationalen Freiheit“ – statt Spezifität – als Erklärung für die Wirkungsbreite eines Enzyms charakterisierte auch die theoretische Perspektive der Arbeiten zum Na-K-Transportenzym, die im Bereich Biomembranen durchgeführt wurden; vgl. hierzu auch Kap. III.4.1.. 45 K. Ruckpaul, H. Rein, Der Januskopf des Cytochrom P-450, Spektrum 17 (1986), Nr. 10, S. 24.
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Enzym auch die Hefe Candida guilliermondii ins Auge gefasst.46 Die Versorgung mit gereinigten Enzympräparaten war – ähnlich wie auf molekulargenetischem Gebiet – kein nebensächliches Problem. Die Präparation von P-450 verlangte aufwändige Vorstudien und wurde durch ein Abkommen mit dem Leipziger Institut für technische Chemie abgesichert.47 Die Kulturen mit Candida guilliermondii erwiesen sich als nicht besonders ergiebig, wurden jedoch weiter bearbeitet, da sie eine Verbindung zur Industrieforschung herstellten. Die Spezies gehört zu den Hefen, die allein auf Grundlage der in Erdöl und Erdgas enthaltenen Alkane wachsen. Sie eignete sich daher als Basis für ein Projekt, mit dem die Forschungsplaner der DDR-Chemieindustrie einer in den 1960er Jahren gewachsenen Lieblingsidee westlicher Biotechnologie-Visionäre folgten – der Produktion von Nahrungsstoffen aus Erdöl. Im Rahmen des biotechnologischen Großforschungsvorhabens „Eiweiße für die tierische und menschliche Ernährung“ hatte das Petrochemische Kombinat (PCK) Schwedt eigene Candida-Stämme angelegt, um die Verwandlung fossiler Energieträger in mikrobiologische Futtereiweiße zu erproben. In den 1980er Jahren setzte das PCK dieses Ziel mit der Produktion des mikrobiellen Eiweißpräparats „Fermosin“ um.48 Eine Verbesserung dieses mikrobiellen Produktionssystems durch Ergebnisse der experimentellen Enzymologie wurde indessen niemals eine realistische Option. Tatsächlich war die Kooperation weniger durch einen Wissenstransfer vom Akademieinstitut in die Industrie gekennzeichnet als vielmehr durch die Übernahme industrieller Praktiken ins Forschungslabor. Für die Candida-Zucht mussten mit erheblichem Aufwand Fermentoren installiert werden.49 Auf dieser Grundlage konnten ein spezifisches P-450-Enzymsystem der Hefe charakterisiert und seine Stoffwechselfunktionen analysiert werden.50 Ende der 1980er Jahre, als das ZIM über die nötigen molekularbiologischen Techniken verfügte, gelang an der Hefe Candida maltosa erstmals in der DDR die Aufklärung der Gensequenz und der Aminosäuresequenz eines P-450-Enzyms.51 Zuvor war auch die Bedeutung des Enzymsystems für die Metabolisierung der Alkane untersucht worden, ohne dass dies praktische Bedeutung für die industrielle Verwendung der Stämme gehabt hätte. Während sich das Projekt öffentlich als Beispiel für die Kooperation zwischen enzymologischer Grundlagenforschung und Futterstoffproduktion darstellen ließ,52 blieben die Candida-Hefestämme letztlich ein Modellobjekt. Der Industriepartner zeigte zwar Interesse an der wissenschaftlichen Kooperation, war 46 „Studie zum Entwicklungsstand und zur weiteren Perspektive des Themenkomplexes ‚Oxidoreduzierende Enzyme und Enzymsysteme‘“, n. d. (1977), ABBAW Buch A 1158. 47 P. Mohr, Leistungsbericht Abt. Biokatalyse für 1973, 13.11.1973, ABBAW Buch A 751. 48 Fraunholz 2012, S. 108–110. 49 P. Mohr an F. Jung 1.11.76, ABBAW Buch A 1158. 50 W. H. Schunck, P. Riege, R. Blasig, H. Honeck, H. G. Müller, Cytochrome P-450 and alkane hydroxylase activity in Candida guilliermondii, Acta Biologica et Medica Germanica 37 (1978), S. K3–7. 51 W. H. Schunck u.a., Molecular cloning and characterization of the primary structure of the alkane hydroxylating cytochrome P-450 from the yeast Candida maltosa, Biochemical and Biophysical Research Communications 161 (1989), S. 843–850. 52 P. Mohr, Perspektiven für Enzyme, Spektrum 11 (1980), Nr. 2, S. 15–17, S. 17.
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aber wenig geneigt, das etablierte Fermentationsverfahren durch neue Hefestämme zu ersetzen.53 Ähnlich wie im Fall der gentechnologischen Projekte waren der „Überführung“ dadurch Grenzen gesetzt, dass es für den beteiligten Betrieb nicht ökonomisch sinnvoll erschien, riskante Eingriffe in ein bewährtes Produktionssystem zu unternehmen. Während dieser Ansatz der Praxisorientierung ohne praktisches Resultat blieb, hatte er negative Konsequenzen für die innere Struktur der enzymologischen Forschung. Innerhalb des Forschungsbereichs gab es große Vorbehalte gegenüber der Strategie, für einen neuen Projektzweig mit äußerst zweifelhaften Erfolgschancen große Fermentationskapazitäten aufzubauen, welche die bereits angespannten personellen und räumlichen Ressourcen belasteten.54 Diese Kritik berührte die forschungspolitischen Grundlinien der Akademieleitung, in denen die Entwicklung praxisnaher enzymologischer Potentiale hohe Priorität hatte. Dies schlug sich etwa in den Plänen für ein Institut für Enzymologie und Biokatalyse nieder, das in den 1980er Jahren neben entsprechenden Instituten für Virologie und für Immunologie in Neubrandenburg entstehen sollte.55 Blieb die thematische Eigenständigkeit der Cytochrom-P-450-Forschung durch diese Politik letztlich unberührt, führte die Zuführung neuer praxisorientierter Arbeitsgruppen zu ernsthaften Konflikten um Forschungskapazitäten. 1980 wurde versucht, diese Spannungen dadurch aufzulösen, indem die P-450-Gruppe als unabhängige Abteilung Biokatalyse aus dem neuen Bereich „Angewandte Enzymologie“ herausgelöst wurde. Der Schritt schien die Probleme zunächst zu vergrößern. Die Grundlagengruppe sah sich durch die Neuaufteilung der Raumkapazitäten und technischen Kräfte schlechter gestellt als zuvor.56 Die anwendungsorientierten Gruppen, die ihre Ansprüche ganz offen mit der Vorrangigkeit ihrer industriefinanzierten Überführungsaufgaben begründten, beschwerten sich ihrerseits vehement, dass die ZIM-Leitung ihre Raum- und Geräteanforderungen nicht entschieden genug durchsetzte.57 Tatsächlich hatten einige ihrer Arbeiten zu diesem Zeitpunkt einen Stand erreicht, der die kurzfristige Umsetzung produktionsreifer Ergebnisse möglich erschienen ließ – obwohl sie dabei kaum auf Unterstützung aus der Industrie rechnen konnten.
53 P. Mohr an W. Zschiesche, 18.5.1981, ABBAW Buch A 1089. 54 Studie zum Entwicklungsstand und zur weiteren Perspektive des Themenkomplexes „Oxidoreduzierende Enzyme und Enzymsysteme“, Punkt 5.3., n. d. (1977), ABBAW Buch A 1158. 55 Anlagen zum Bericht des Institutdirektors ZIM vor der ZPL am 4.5.1976, Teil Institut für Enzymologie und Biokatalyse der AdW der DDR, ABBAW Buch A 1032. 56 Rein/Ruckpaul an Jung, 26.3.1980 und 29.4.1980, beide ABBAW Buch A 1089. 57 Jung an Pasternak, 13.6.1980, Scheler an Scheller/Müller 30.6.1980, beide ABBAW Buch A 1158; Mohr an Zschiesche 1.6.1981, ABBAW Buch A 1089.
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Enzymologen als sozialistische Kleinunternehmer Die Zielsetzung, Enzyme in Form neuer mikrobieller Fermentationsverfahren oder trägerbasierter Systeme in die industrielle Produktion zu bringen, wurde schon bald nach ihrer Festlegung von Experten angezweifelt. 1972 brachte ein ZIM-Mitarbeiter von einem internationalen Fachtreffen in Dublin die Botschaft mit, die westlichen Experten seien einhellig der Meinung, „daß in absehbarer Zeit biokatalytische Prozesse in der stoffwandelnden Großindustrie keine Bedeutung erlangen werden.“ Konkreter seien die Chancen dagegen in der kleintechnischen Isolierung von Biomolekülen mittels der Affinitätschromatographie sowie vor allem der Einsatz für trägerfixierter Enzyme in der medizinischen Diagnostik und Therapie.58 Für das ZIM sollte in den folgenden Jahren die letztere Option bestimmend werden. Während die Hefeenzyme eher ein Symbol für die Beziehungen zur chemischen Industrie blieben, zeichneten sich in der 1975 aufgenommenen Staatsplanaufgabe „Einsatz eines oder mehrerer trägerfixierter Enzyme für diagnostische Zwecke in der Medizin“ schnell realisierbare Lösungsmöglichkeiten ab.59 Zu Beginn der 1970er Jahre waren in den USA Ansätze entwickelt worden, durch die Verbindung trägerfixierter Enzyme mit einem elektrochemischen Messsystem den Gehalt von Substanzen in Lösungen – etwa von Glukose im Blut – zu bestimmen. Das Grundprinzip war, dass das an einer Elektrode fixierte Enzym mit dem gesuchten Substrat reagierte und an einer weiteren Elektrode ein Reaktionsprodukt – etwa Sauerstoff oder eine Veränderung des pH-Wertes – gemessen wurde. 1975 waren bereits einige westliche Systeme für die Bestimmung von Glukose, Harnstoff und Laktat auf dem Markt, die allerdings noch nicht als technisch reif für den Routineeinsatz galten.60 Die Entwicklung einer Glukoseelektrode made in GDR wurde in diesem Jahr der Arbeitsgruppe von Frieder Scheller übertragen, der 1970 als Verstärkung an das neugebildete Bucher PCZ gekommen war und sich dort unplanmäßig zum Experten für Polarographie weitergebildet hatte.61 Diese elektrochemische Methode war seit den 1920er Jahren als unkomplizierter Weg verbreitet, einfachere Analyten in Lösung qualitativ und quantitativ zu bestimmen. Schellers Gruppe gelang es, das Verfahren auch für enzymkinetische Untersuchungen an Hämoproteinen fruchtbar zu machen. Dabei wurden durch elektrochemische Reduktion an der Arbeitselektrode des Polarographen die Aktivierung des Enzyms eingeleitet und die bei der Reaktion mit verschiedenen Substraten auftretenden Produkte direkt gemessen.62
58 Bericht über Teilnahme an FEBS Special Meeting ‚Industrial Aspects of Biochemistry‘ in Dublin, in: P. Mohr, Leistungsbericht Abt. Biokatalyse für 1973, 13.11.1973, ABBAW Buch A 751. 59 Staatsplanaufgaben des FZMM, Stand März 1975, Punkt 14.05, ABBAW Buch A 905. 60 Renneberg u. a. 2008, S. 1–3. 61 Autobiographie F. Scheller in: Pasternak 2004, S. 225–229, S. 226. 62 F. Scheller u. a., Studies on electron transfer between mercury electrode and hemoprotein, Biochimica et Biophysica Acta 412 (1975), S. 157–167.
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Das Verfahren erbrachte unter anderem neue Aufschlüsse über die bis dahin unklare Rolle von Peroxiden im Reaktionszyklus von P-450.63 Der Übergang von diesem Versuchssystem zu einer diagnostischen Technik war fließend. Für den Laborgebrauch ließ sich etwa eine mit einem P-450-Präparat gekoppelte Elektrode nutzen, um die Konzentration von Substraten zu messen.64 Die Umwandlung dieser Anordnung in ein marktfähiges Testgerät hatte weitgehend den Charakter einer technischen Entwicklungsarbeit, da sie an einem bereits bekannten System ansetzen konnte. Das Kernproblem bildete die Herstellung einer leistungsfähigen – und vor allem wenig störanfälligen – Enzymelektrode. Die ZIM-Forscher mussten darüber hinaus aber auch elektrotechnische Aufgaben lösen, da die benötigten Messinstrumente zwar in der DDR erhältlich waren, aber der speziellen Aufgabe angepasst und weiterentwickelt werden mussten.65 Obwohl es sich um eine plangemäße „Überführungsaufgabe“ handelte, war die Gruppe bei der Durchsetzung der technischen Arbeitsschritte weitgehend auf sich gestellt. Der Umbau des experimentell verwendeten Polarographen in ein für den Routinebetrieb geeignetes einfacheres Gerät wurde von den zentralen Akademiewerkstätten (ZWG) übernommen, die aufgrund ihrer chronischen Überlastung aber schon bei der Produktion einer kleinen Testserie in Probleme gerieten.66 Obwohl sich Ende der 1970er Jahre abzeichnete, dass das Projekt tatsächlich ein marktfähiges Produkt auf „Weltniveau“ erbringen konnte, musste die FZMM-Leitung durch Intervention auf ministerieller Ebene sicherstellen, dass die benötigten Sauerstoffelektroden für die Herstellung der ersten Verkaufsserien bereitsgestellt wurden.67 1979 war eine funktionsfähige Version des Systems fertiggestellt und bereit für Testläufe in der klinischen Praxis. Die Präsentation machte deutlich, dass es hier weniger um wissenschaftliche Originalität ging als die Optimierung der Verlässlichkeit, des Probendurchsatzes und des Kostenfaktors.68 Durch die Modifikation der Trägermaterialien und die Anordnung des Elektrodensystem leistete das Gerät einen Probendurchlauf in wesentlich kürzerer Zeit als das beste vergleichbare amerikanische Produkt; außerdem blieb das verwendete Glukoseoxidase (GOD)-Präparat deutlich länger funktionsfähig, was Verbrauchskosten und Wartungaufwand erheblich senkte. Als das Gerät 1982 unter der Typenbezeichnung „Glukometer“ in die Produktion ging, war dies für das praxisorientierte Programm des ZIM eigentlich ein Meilenstein – ein in überschaubarer Zeit entwickeltes System mit großem Marktpotential, das allen westlichen Konkurrenzprodukten überlegen war. Dennoch führte der Direktor des ZIM den Glukometer als Paradebeispiel für die Mängel der Kooperation mit der Industrie an. Die erste Serie wurde 63 F. Scheller, R. Renneberg, P. Mohr, G.-R. Jänig, K. Ruckpaul, Peroxidatic activity of liver microsomal cytocrome P450, FEBS Letters 71 (1976), S. 309–312. 64 F. Scheller u. a., Electrochemical investigations on the oxygen activation by cytochrome P450, Acta Biologica et Medica Germanica 38 (1979), S. 503–509. 65 P. Mohr, Korrektur zum Jahresbericht 1977 des ZIM, Jan. 1978, ABBAW Buch A 1158. 66 Mohr an Scheler, 2.2.1978, ABBAW Buch A 1158. 67 Pasternak an Jung, 21.12.1979, ABBAW Buch A 1158. 68 F. Scheller u.a., Glukosemessung in verdünntem Vollblut mit einer Enzymelektrode, Acta Biologica et Medica Germanica 39 (1980), S. 671–679.
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in einem Zweigbetrieb der ZWG gefertigt, weil keiner der volkseigenen Gerätehersteller Interesse angemeldet hatte.69 Auch die bereits laufende Weiterentwicklung der Hardware musste von ZWG übernommen werden, wobei die wichtigste Verbesserung – der Einbau eines elektronischen Dosierungsmoduls – von einem der Bucher Ingenieure geleistet wurde.70 Der Bau einer weitgehend automatisierten Version mit vereinfachter Bedienungsweise, eigentlich eine Aufgabe für industrielle Entwicklungsabteilungen, sowie die damit verbundenen klinischen Testserien basierte fast vollständig auf der Initiative von Schellers Gruppe. Entsprechend konnte sie die zahlreichen angemeldeten Patente ebenso für sich reklamieren wie den ultimativen Erfolg für ein akademisches Überführungsprojekt – eine Reihe von Lizenzanfragen westlicher Firmen.71 Der Verkauf von 400 Glukometern in die klinischen Einrichtungen der DDR führte dazu, dass das Land zumindest auf einem Spezialgebiet zeitweise unbestrittener Weltspitzenreiter in Sachen medizinisch-technischer Automatisierung war.72 Mitte der 1980er Jahre konnte nicht nur eine industrielle Übernahme der Produktion erreicht werden. Da das System im Gegensatz zu den meisten Konkurrenzprodukten den flexiblen Einbau neuer Enzymelektroden erlaubte, mehrten sich auch Anfragen und Entwicklungen für neue Gebrauchsvarianten. Dazu gehörte etwa die Herstellung einer Harnstoffelektrode, die speziell für die Koppelung an Dialyseapparate angepasst war.73 Die Sportmedizin interessierte sich für Laktat-Elektroden, die auf dem internationalen Markt bereits erhältlich waren.74 Eine verstärkte Nachfrage kam auch aus der Lebensmittelindustrie. Ende der 1980er Jahre schien sich auf diesem Gebiet dank verbesserter Versionen des Analyseautomaten ein kaum begrenztes Feld aufzutun.75 Allerdings war die Entwicklung neuer Enzymelektroden keine bloße Routinearbeit. Versuche mit neuen Anordnungen führten stets zu neuen, teilweise unerwarteten Ergebnissen. Wie Scheller betonte, waren umsetzbare Fortschritte hier nicht allein durch handwerkliche Erfahrung zu erzielen, sondern erforderten ein hohes Maß an „theoretischer Durchdringung“. Der enzymologische Wissensstand nutzte im harten internationalen Wettbewerb aber nichts, wenn die Ergebnisse nicht patentrechtlich abgesichert werden konnten.76 Auch dieser Aspekt war der Initiative der Forscher überlassen und wurde so zu einem bestimmenden Moment ihrer alltäglichen Praxis. 69 Zschiesche (an Hoffmann), „Zuarbeit zur Vorlage ‚Einschätzung der Wirksamkeit der Zusammenarbeit von Akademie und Industrie und davon abgeleitete Orientierungen für die weitere Entwicklung dieser Kooperationsbeziehungen‘“, 16.9.1982, ABBAW Buch A 1073. 70 Skalweit (ZWG) an Langhoff (ZWG), 30.7.1981, ABBAW Buch A 1089. 71 Scheller „Enzymanalysatoren für die klinische Diagnostik und Fermentationskontrolle“, n.d. (1984), ABBAW Buch A 1073. 72 Renneberg u.a. 2008, S. 9. 73 Pasternak an Simon/ Meßgerätewerk Zwönitz, 24.7.1984, ABBAW Buch A 1086. 74 Zschiesche an Pasternak, 3.2.1983, ABBAW Buch A 1089; Pasternak & Hannemann (sportmed. Dienst), Vertrag über wissenschaftlich-technische Leistungen, 30.6.1987, ABBAW Buch A 1066. 75 P. Liebs u. a., Biosensoren für die Lebensmittelindustrie, Acta Biotechnologica 9 (1989), S. 534–541. 76 F. Scheller, Suche nach patentfreien Räumen, Spektrum 18 (1987), Nr. 4, S. 10–11.
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Ohne hervorragende theoretische und methodologische Voraussetzungen wäre es kaum gelungen, auf einem von technologisch besser gestellten westlichen Forschern bearbeiteten Gebiet eine weltweit führende Position aufzubauen. Das war aber nicht der Hauptgrund dafür, dass bei den Enzymelektroden gelang, was etwa in der gentechnologischen Wirkstoffproduktion auf halber Strecke steckenblieb. Zu einem Erfolg konnte der Glukometer deshalb werden, weil seine Entwicklung weder zwingend von der Kooperation mit Großbetrieben noch vom Aufbau eines komplexen Großproduktionssystems abhängig war. Die Komponenten des Systems waren, wenn auch nur unter besonderen Anstrengungen, mit den Mitteln des ZIM und seiner Partnerinstitute beherrschbar und konnten so weit entwickelt werden, dass sie komplett ausgetestet und produktionsreif – und damit für die Produktionsbetriebe kaum noch risikobehaftet – waren. Eine solche vollständige Übernahme der Entwicklungskette setzte voraus, dass eine entsprechende Kombination von Fachkräften und technischen Mitteln vorhanden war. Sie hatte für ein Forschungsinstitut allerdings den Nachteil, dass sie qualifizierte Forscher weitgehend mit ökonomisch-technischen Alltagproblemen eindeckte. Außerdem beanspruchte sie Ressourcen, die eventuell für andere Projekte nicht zur Verfügung standen. Welche Konsequenzen die Auslagerung produktionstechnischer Probleme von der Industrie an die Akademie haben konnte, zeigte der Vorschlag des ZWG, seinen auf die Glukometer-Produktion spezialisierten Zweigbetrieb direkt an das ZIM zu koppeln. Obwohl das Institut stets um die Ausweitung seiner technischen Kapazitäten kämpfte, war die Leitung von dieser Aussicht auf eine Manufaktur für hauseigene Gerätemuster keineswegs begeistert.77 Die Angliederung hätte bedeutet, dass man nicht mehr allein für die Produktentwicklung, sondern auch noch für die Produktionsergebnisse verantwortlich gewesen wäre. Für ein Institut, das immer noch an Forschungsresultaten gemessen wurde, war das keine gesunde Perspektive. Der Schritt wäre aber angesichts der vorausgegangenen Entwicklung durchaus konsequent gewesen. Wie Scheller in der Rückschau sarkastisch feststellte, hatte sein Projekt bewiesen, dass die Wissenschaft tatsächlich eine „Triebkraft des Sozialismus“ war – in dem Sinne, dass die Wissenschaftler den Betrieben auch die Produktionseinführung abnehmen mussten, wenn sie eine innovative Technik durchsetzen wollten.78 Insofern war die GlukometerEntwicklung die realsozialistische Variante eines forschungsbasierten start-upUnternehmens. Andere Projekte des Bereichs Angewandte Enzymologie waren mit ähnlichen Problemen konfrontiert, allerdings bei etwas stärkerer Verbindung mit industriellen Interessenten. Neben den anspruchsvollen Testgeräten verfolgte man auch die Entwicklung enzymbehafteter Teststreifen, die ohne den Einsatz komplexer Laboreinrichtungen für Schnelldiagnosen, etwa bei der Blutzuckerbestimmung von Diabetes-Patienten, genutzt werden konnten. Auch hier ging es um die Umsetzung bereits verbreiteter Lösungsprinzipien, wobei die Planvorgaben vor allem die Orientierung auf die heimischen Marktbedingungen sowie die Verwendung von 77 R. Grosse, Protokoll zu Gesprächen mit Schneider/ZWG, 30.6.1982, ABBAW Buch A 1089. 78 Autobiographie F. Scheller, in: Pasternak 2004, S. 225–229, S. 226.
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Trägermaterialien aus DDR-Produktion betonten.79 Dieser Ansatz erbrachte einen relativ schnellen Erfolg in Form eines Testpapiers für den Nachweis okkulten Blutes im Stuhl („Krytohaem“), dem vielversprechendsten Ansatz zu einer frühzeitigen Darmkrebs-Diagnose. Dazu trug bei, dass die nicht immer reibungslose Zusammenarbeit zwischen Bucher Laboren und Kliniken aktiviert wurde. Testreihen im ZIK und der benachbarten Regierungs-Poliklinik wiesen darauf hin, dass die Teststreifen eine Übereinstimmung mit klinischen Befunden erbrachten, die bereits verbreiteten Produkten überlegen war.80 Die Entwicklung des „Kryptohaem“-Tests profitierte von den Erfahrungen des Hämoprotein-Kollektivs. Das Grundprinzip – eine Reaktion trägergebundenen Haemoglobins, welche in Verbindung mit einem Chromogen einen Farbumschlag auslöste – war allerdings nicht neu, sondern beruhte auf einem westdeutschen Produkt, das in einer Komponente modifiziert wurde.81 Wie im Fall des Glukometers wurde eine marktgängige, aber sehr problembehaftete Patentlösung als Ausgangspunkt genommen. Ähnlich verhielt es sich mit dem Projekt eines Blutzucker-Teststreifens. Im Unterschied zu Schellers Enzymelektroden musste das Planziel „Enzymteststreifen“ den potentiellen Anwendern nicht angedient werden, sondern wurde von Gesundheitswesen und pharmazeutischer Industrie mit klarer Zielvorgabe angefordert. Zu Beginn der 1980er Jahre machte das Gesundheitsministerium Druck, den Blutzuckertest möglichst schnell für die klinische Praxis zugänglich zu machen, unter Umständen um den Preis qualitativer Abstriche.82 Das Ministerium hatte das Projekt durch Beteiligung seines Forschungsinstituts für medizinische Diagnostik gefördert, das auch die Bedarfseinschätzungen, die Produktionsplanung sowie die Bereitstellung von Geräte und Chemikalien übernahm.83 Das Chemiekombinat ORWO Wolfen, dessen Filmfolien die Grundlage des Testsystems bildeten, unterstützte die Arbeiten zum Erstaunen der ZIMForscher aktiv.84 Der Teststreifen, genannt „Glukoprofil“, konnte so tatsächlich Produktionsreife erreichen, wies allerdings gegenüber vergleichbaren Systemen keine herausragenden Leistungsparameter auf. Immerhin erfüllte er die wichtigste Vorgabe – er kam komplett ohne Importkomponenten aus. Bei der Produktionseinführung zeigte sich, das die autarke Herstellung, wie so oft, mit Nachteilen verbunden war. Die klinische Prüfung verschleppte sich, weil der beteiligte Fachbetrieb für Feinchemikalien trotz rechtzeitiger Vorplanung die nötigen Enzymprä79 Planentwurf 1976–1980 des Forschungsprogramms „Biowissenschaften“, Teil HFR Enzymologie, n.d. (1975), ABBAW Buch A 905. 80 Jung an Spieß (MfG), 4.3.1976, ABBAW Buch A 1158; Vorlage für die SED-Kreisleitung zur Verteidigung der Leistungen des ZIM 1977 am 2.2.1978, ABBAW Buch A 1096. 81 K. Uhlig, J. Lampe, K.H. Jacobasch, F.H. Wiedemann, Nachweis von okkultem Blut im Stuhl zur Früherkennung von Kolon-Rektum-Tumoren, Das Deutsche Gesundheitswesen 33 (1978), S. 2359–2364. 82 Aktennotiz Rohland/ ZIM über Treffen zwischen MfG und ZIM zu Problemen der Entwicklung von Filmtesten am 17.8.1982, 19.8.1982, ABBAW Buch A 1089. 83 Protokoll über Beratung zum Zielprojekt Enzymtestfolien am 15.6.1979, ABBAW Buch A 1158. 84 Jung an Jäger/ ORWO, 11.7.1979; Jung an Klare, 12.5.1978, beide ABBAW Buch A 1158.
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parate nicht termingerecht und ausreichend liefern konnte.85 Andererseits wurden die Teststreifen letztlich ein realer ökonomischer Erfolg, weil derselbe Betrieb ungewöhnliche Eigeninitiative bei der Weiterentwicklung zeigte. Dem Ingenieur des Partnerbetriebes gelang es durch kleine Modifikationen der Rezeptur, die Vorteile des „Glucoprofil“-Streifens – vor allem die lange Haltbarkeit nach der Reaktion – weiter zu optimieren. Das Produkt konnte 1984 auch ins kapitalistische Ausland exportiert werden. Für die Bucher Entwickler war das ein schöner Prestigeerfolg, der allerdings etwas dadurch geschmälert wurde, dass sie durch den Umbau des Produktionsprinzips um ihre Prämien für die ursprünglich patentierte Lösung gebracht wurden.86 Trotz dieser plangemäßen Produktüberführung herrschte in der Institutsleitung keine ungeteilte Freude über die Leistungen des Bereichs Angewandte Enzymologie. Heinz Bielka schätzte als Interimsdirektor das wissenschaftliche Niveau, speziell in den Teststreifenprojekten, so kritisch ein, dass er die Notwendigkeit sah, die Struktur des Bereichs von oben zu reformieren. Neben generellen Mängeln auf der Leitungsebene und unklaren Vorstellungen über die zukünftige Programmatik sah er offenbar besonders die von Scheller betonte „theoretische Durchdringung“ als Schwachpunkt, da er eine Verstärkung durch biomathematisch qualifizierte Kräfte vorschlug.87 Die Konzentration auf technische Fragen wie die Anpassung von Trägermaterialien brachte die Gefahr mit sich, dass das Niveau der eigentlichen enzymologischen Forschungsinhalte stagnierte. Diese Gefahr nahm in den 1980er Jahren zu, da die Industriefinanzierung immer größere Bedeutung erlangte. In diesem Zusammenhang stand auch wieder im Raum, dass das ZIM verstärkt in den geplanten Aufbau mikrobiologischer Industrien hineingezogen wurden. Bezeichnend für den ungebrochen großen Stellenwert dieses Vorhabens war, dass der Forschungsbereich Biowissenschaften in den späten 1980er Jahren vom ehemaligen Direktor des Leipziger Instituts für Biotechnologie geleitet wurde, das in diesem Programm eine Schlüsselstellung einnahm. Ebenso charakteristisch ist, dass der neue Leiter dem ZIM 1989 nahelegte, sich an Zuarbeiten für eine projektierte Enzymfabrik zu beteiligen, für die das Institut in keiner Weise vorbereitet war – und sich dabei konsequenterweise den Lapsus leistete, seinen Bucher Kollegen als Direktor des ZI für „Mikrobiologie“ zu bezeichnen.88 Auch kurz vor dem politisch-ökonomischen Zusammenbruch der DDR war das Institut keineswegs gezwungen, alle ihm angedienten Aushilfsarbeiten für Industrieprojekte zu übernehmen. Der Fall der Enzymologie zeigt aber, wie die Akademieforschung immer weiter in produktionsnahe Projekte hineingezogen wurde. Das musste sich, wie der Erfolg der Enzymelektroden verdeutlicht, nicht unbedingt negativ auswirken, da der Mangel an Innovationsinteressen in der Industrie den Forschern umfassende Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen konnte. Generell tragfähig war das Modell einer weitgehend von Wissenschaftlern ange85 86 87 88
Zschiesche an Oettel/ Germed, 28.1.1983, ABBAW Buch A 1089. H.G. Müller, Information zum Glucose-Filmtest, 9.11.1984, ABBAW Buch A 1073. Bielka an Pasternak, 21.9.1983, ABBAW Buch A 1086. Ringpfeil an Pasternak, 28.4.1989, ABBAW Buch A 1074.
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triebenen Produktentwicklung jedoch nicht. Es war Ausdruck eines Kernproblems der DDR-Wissenschaft, das bereits in den 1950er Jahren bestand und bis zuletzt ungelöst blieb – der unzureichenden Strukturen für einen effektiven Wissenstransfer zwischen akademischer Forschung und industrieller sowie medizinischer Praxis.
III.7. ÄRZTE AM KRANKENBETT DES SOZIALISMUS VOM EXPERIMENTIERFELD SOZIALISTISCHER MEDIZIN ZUM ZENTRALINSTITUT FÜR HERZ-KREISLAUF-FORSCHUNG Ähnlich wie die Onkologie war die Herz-Kreislauf-Medizin in Deutschland um die Mitte des 20. Jahrhunderts noch kaum institutionalisiert. In den Nachkriegsjahrzehnten setzte sich unter dem Einfluss der internationalen Diskussion die Einschätzung durch, dass die Herz- und Gefäßkrankheiten im Begriff seien, zur häufigsten Todesursache neben dem Krebs und damit zu einem bestimmenden sozialmedizinischen Problem aufzusteigen. Ab Mitte der 1950er Jahre bemühten sich führende Gesundheitspolitiker der DDR, für dieses Gebiet ein dem Bucher Krebsforschungsinstitut vergleichbares nationales Zentrum in der Akademie aufzubauen. Aufgrund der begrenzten Möglichkeiten der DAW konnten diese ehrgeizigen Pläne nur ansatzweise realisiert werden. 1956 wurde in Buch die Arbeitsstelle für Kreislaufforschung unter dem Biochemiker Albert Wollenberger eingerichtet, die als Keimzelle für ein größeres Institut gedacht war, das mehrere experimentelle und klinische Abteilungen umfassen sollte. Dieser Ausbau kam ebenso wenig zustande wie eine erwogene Verknüpfung mit den Bucher Kliniken. Unabhängig davon wurde 1958 das von dem Internisten Rudolf Baumann gegründete Institut für kortiko-viszerale Therapie (IkvPT) aus dem Städtischen Krankenhaus Buch in die DAW übernommen. Obwohl frühzeitig eine Verbindung zwischen beiden Projekten erwogen wurde, war es alles andere als zwangsläufig, dass die beiden Institutionen 1972 zum Zentralinstitut für Herz-Kreislauf-Regulationsforschung (ZIHK) vereinigt werden würden. Die beide Institute repräsentierten denkbar unterschiedliche Zugänge zum Problem kardiovaskulärer Krankheiten. Wollenbergers Arbeitsstelle war ein rein experimentelles Institut, das sich mit den molekularen Prozessen des Herzinfarktes befasste, das IkvPT dagegen eine hochspezialisierte Forschungsklinik, die durch ein abgestimmtes Programm klinischer und experimenteller Ansätze sehr eigene Modelle der Entstehung und der Behandlung des Bluthochdrucks erarbeitete. Beiden Ansätzen war jedoch gemeinsam, dass sie sich im Kontext einer Gesundheitspolitik entwickelten, in welcher die Kreislaufkrankheiten als Experimentierfeld präventivmedizinischer sowie klinischer Konzepte immer größere Bedeutung erlangten. In diesem Kapitel werden zunächst die zur Bildung der Arbeitsstelle für Kreislaufforschung führenden Planungsprozesse dargestellt. Sie veranschaulichen, dass die DDR-Wissenschaftspolitik auch auf diesem Gebiet frühzeitig zentralistische Ambitionen verfolgte, die nur ansatzweise realisierbar waren. Der größte Teil des Kapitels verfolgt die Entwicklung der pathologischen und therapeutischen Konzeption des IkvPT von den 1950er bis in die 1970er Jahre. Die Forschungsklinik verdient nicht nur darum besondere Aufmerksamkeit, weil sie
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sich deutlich stärker als andere Arbeitsgemeinschaften des Bucher Institutsverbandes an dem Anspruch orientierte, eine genuin sozialistische Form medizinischer Wissenschaft zu schaffen. Ihr Programm verweist auch auf einen grundlegenden Diskurs der Medizin des späten 20. Jahrhunderts – einen Diskurs, in dem der gefährdete Kreislauf zum Angelpunkt von Fragen der sozialhygienischen Prävention, der gesundheitspolitischen Organisation und letztlich der Bedingungen gesunden Lebens in der spätindustriellen Gesellschaft wurde. Planziel Kreislaufforschung Zu Beginn der 1950er Jahre sprach wenig für den Aufbau eines kreislaufmedizinischen Akademieinstituts, das Grundlagenforschung und klinische Forschung miteinander verband. Als die Sektion für Innere Medizin der DAW 1953 erstmals die Neuorganisation des Gebietes diskutierte, waren ausschließlich Kliniker beteiligt, die kein Interesse daran zeigten, ihr Spezialgebiet durch neue Forschungsstellen bei der Akademie zu erweitern.1 Eine entsprechende Initiative ging von einigen außerakademischen Medizinern mit starkem politischen Einfluss aus. Eine Schlüsselrolle spielte der Leipziger Psychiater Dietfried Müller-Hegemann, der als Abteilungsleiter für Wissenschaft im Gesundheitsministerium fungierte. Müller-Hegemann betrieb seit 1954 die Gründung eines ZAK für Kreislaufforschung, um die Bildung eines zentralen Instituts für dieses Arbeitsgebiet unabhängig von den Akademiegremien vorzubereiten.2 Vermutlich sorgten Müller-Hegemann und sein Kreis dafür, dass die Errichtung eines Kreislaufinstituts in den programmatischen Empfehlungen des Ministerrates für den Ausbau der DAW vom Mai 1955 auftauchte. Dass dieses Projekt Gestalt annahm, war aber auch einem Biochemiker zu verdanken, der nach seiner Rückkehr aus dem Exil einen Neuanfang in der DDR suchte. Albert Wollenberger (1912–2000), 1933 als Jude und Kommunist aus Deutschland emigriert, hatte während des Krieges unter dem Pharmakologen Otto Krayer an der Harvard University über den Energiestoffwechsel der Herzmuskelzellen geforscht. In den Nachkriegsjahren arbeitete er in renommierten schwedischen und dänischen Instituten. Seit 1952 bemühte er sich um eine Übersiedlung in die DDR, konnte jedoch trotz Unterstützung durch Jung und Lohmann keine Einstellung bei der DAW erreichen. Wollenberger nutzte eine Assistentenstelle an Jungs Universitätsinstitut, um ein eigenes Institutsprojekt vorzubereiten.3 Ende 1954 kontaktierte er Müller-Hegemann, um sich in die Planungen für das Kreislaufinstitut einzuschalten.4 Die DAW-Spitze fasste die Forderung, die Verantwortung für ein neues medizinisches Großinstitut zu übernehmen, keineswegs als politischen Vertrauens1 2 3 4
A. Krautwald (Hg.), Arbeitstagung über Kreislauffragen am 30./31.Oktober 1953, Abhandlungen der DAW, Klasse für medizinische Wissenschaften 1954, Nr. 1. Müller-Hegemann (MfG) an Schulz (Med. Klinik Uni Leipzig), 22.10.1954, BAB DQ 1/2570; Müller-Hegemann an Burghardt/ZFT, 5.11.1954, BAB DQ 1/6639. Wollenberger an DAW, 21.6.1954, ABBAW AKL 57. Wollenberger an Müller-Hegemann, 27.12.1954, BAB DQ 1/2570.
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beweis auf. Karl Lohmann, als Sekretar der medizinischen Klasse in einer Schlüsselposition, hielt den Plan für unrealistisch, wenn nicht gar für eine riskante Bürde. Seiner Ansicht nach konnte sich die DAW „nicht mit Instituten belasten, die mit einer größeren Klinik ... verbunden“ waren.5 Diese Einschätzung entsprach der generellen Situation der mit Projekten und Erwartungen überlasteten DAW ebenso wie den lokalen Möglichkeiten in Buch, wo die Grenze der räumlichen Aufnahmefähigkeit bereits erreicht war. Wollenberger nutzte die staatliche Direktive indessen, um seine Einstellung in der DAW einzufordern, wobei er auf die Zielsetzung verweisen konnte, in Buch die Keimzelle für das geplante Kreislaufinstitut aufzubauen.6 Während Jung und Gummel seine Eingliederung in das IMB entschieden unterstützten, 7 stellte sich die Institutsleitung quer. Lohmann und Friedrich lehnten als führende Mitglieder der medizinischen Klasse zwar nicht die Gründung der neuen Arbeitsstelle ab, wohl aber die vom DAWPräsidium geforderte Berufung Wollenbergers als Leiter. Damit drückten sie weniger Bedenken hinsichtlich der Eignung des Biochemikers aus als ihren Unmut darüber, dass sich das Präsidium mit der Umsetzung der Ministerratsempfehlung über die Kompetenzen der Klasse hinweggesetzt hatte. Lohmann erklärte verärgert, dass er den Beschluss als „Misstrauensantrag“ gegen sich als Klassensekretar auffasste und die Verantwortung für die Umsetzung ablehnte.8 Das Kreislaufprojekt verschärfte so die Spannungen, die bereits zwischen der IMB-Spitze und der DAW-Zentrale, aber auch mit den eigenen Abteilungsleitern bestanden. Die Gründung der neuen Arbeitsstätte, die formal unabhängig vom IMB war, konnte Lohmann nicht verhindern. Die fehlende Unterstützung der medizinischen Klasse sollte indessen eine schwere Hypothek für Wollenberger werden. Lohmann war besonders erbost darüber, dass ohne sein Wissen die zusätzliche Bildung einer Arbeitsgruppe für Herz-Kreislauf-Chirurgie in die Ministerratsempfehlungen aufgenommen worden war.9 Die Erweiterung des Projekts um eine klinische Seite war unter organisatorischen Gesichtspunkten ein gravierendes Problem, da somit die Anbindung weiterer Klinikbetten an das IMB praktisch festgeschrieben wurde. Es war abzusehen, dass die Bucher Krankenhäuser kaum in der Lage sein würden, der Akademie die benötigten Raumkapazitäten zu überlassen. Lohmann schlug vor, den chirurgischen Teil des Projekts an einer entsprechend profilierten Universitätsklinik, vorzugsweise in Leipzig, anzusiedeln.10 Für Wollenberger war das nicht akzeptabel, da er sein Projekt in enger Verbindung mit dem designierten Leiter der klinischen Abteilung, dem griechischen Chirurgen Petros Kokkalis, verfolgte. Kokkalis war 1946 als führendes Mitglied der griechischen kommunistischen Partei in die DDR geflüchtet, also politisch überaus profi5 6 7
Lohmann an Wittbrodt 14.7.1954, ABBAW AKL 57. Wollenberger an Präsidium der DAW, 30.6.1955, ABBAW AKL 57. Jung, Begründung für die im Protokoll der Sitzung festgehaltenen Meinungsäusserungen des Direktoriums des IMB, 8.10.1955, ABBAW AKL 57. 8 Protokoll zur Sitzung des Präsidiums der DAW am 1.12.1955 (Abschrift), ABBAW AKL 57. 9 „Der Beschluß des Ministerrats ... und die Maßnahmen zu seiner Durchführung“, Juni 1955, BAB DY 30/IV2/9.04/375, Bl. 139–165. 10 Vermerk o. A. (vermutlich Wittbrodt), 19.8.1955, ABBAW AKL 57.
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liert.11 Er und Wollenberger nutzten Kontakte zur Parteispitze, um den Aufbau der Arbeitsstelle in der DAW zu forcieren.12 Die konzeptionellen Planungen wurden vor allem durch den neugebildeten ZAK für Herz-Kreislauf-Forschung vorangetrieben, der auf ein Komplexinstitut abzielte, das neben Wollenbergers Gruppe und der chirurgischen Station auch hämatologische, elektrophysiologische, pharmakologische und gerätetechnische Abteilungen umfassen sollte. Für die meisten dieser Teilprojekte existierten keine konkreten personellen oder konzeptionellen Planungen. Die in dem Gremium vertretenen Kliniker hielten den Laborforscher Wollenberger nicht für die Gesamtleitung geeignet, hatten jedoch selbst keinen geeigneten Kandidaten an der Hand.13 Die angestrebte Umsetzung dieses Projekts in Buch war, wie Lohmann klar gesehen hatte, aufgrund des bereits herrschenden Investitionsstaus illusorisch. Schon durch die Übernahme von Wollenbergers Arbeitsstelle war das IMB an die Grenze der Belastbarkeit geraten. 1965 lagen ihre 20 Labors auf sechs verschiedene Gebäuden des Institutscampus verstreut.14 Kokkalis’ chirurgische Abteilung wurde provisorisch im Krankenhaus Friedrichshain untergebracht, wodurch die geplante Kooperation zwischen beiden Abteilungen kaum wirksam werden konnte.15 Kurz nach Bildung der Arbeitsstelle war erwogen worden, die beide Projektgruppen in dem damals geplanten IMB-Neubau unterzubringen. Nachdem sich dieses Vorhaben bald zerschlagen hatte, begannen Wollenberger und Kokkalis bereits 1956 damit, ein selbstständiges Bauprojekt zu entwickeln.16 Die Vorbereitungen nahmen erst wirklich Fahrt auf, als sich 1958 der neugebildete Forschungsrat einschaltete und gemeinsam mit Gesundheitsministerium und dem ZAK auf eine möglichst kurzfristige Realisierung drängte.17 Zu diesem Zeitpunkt sah das von Wollenberger und Kokkalis vorgeschlagene Programm weiterhin die Ergänzung ihrer Abteilungen durch zusätzliche Grundlagengruppen vor, aber keine eigene Forschungsklinik.18 Auf Betreiben des FR-Mitglieds Samuel Rapoport wurde der Plan um die Forderung nach Integration einer Abteilung für „biochemische Blutforschung“ erweitert.19 Rapoport hatte seine wissenschaftlichen Meriten 11 U. Schiller, Prof. Dr. Petros Kokkalis +, Das Deutsche Gesundheitswesen 17 (1962), S. 416; A. Wollenberger, Petros Kokkalis, Spektrum 8 (1962), S. 45–46. 12 Kokkalis an Freund, 7.7.1955, ABBAW AKL 57. 13 Krautwald an Lohmann 22.5.1956; Krautwald an Müller-Hegemann, 22.5.1956, beide BAB DQ 1/2570. 14 „7 Jahre Arbeitsstelle für Kreislaufforschung, 1.1.1956-31.12.1963“, ABBAW FG 79/1. 15 Allerdings übernahm Wollenbergers Gruppe experimentelle Operationstechniken an Hunden, die der sowjetische Herzchirurgie-Pionier Wladimir Demichow während eines Gastaufenthaltes bei Kokkalis einführte; persönliche Information W. Schulze, 6.3.2013. 16 Vorlage Direktoriumssitzung am 6.6.1956, betr. Institutsneubau 58/59, 5.6.1956, ABBAW Buch A 13; Protokoll zur Besprechung zwischen Lohmann, Wollenberger, Kokkalis und Gündel am 19.6.1956, ABBAW AKL 57. 17 Aktenvermerk Burghardt/ZFT zu Besprechung zur Bildung eines Instituts für Kreislaufforschung am 26.3.1958, BAB DF 4/40607. 18 Wollenberger/Kokkalis, Plan für die Bildung des Instituts für Kreislaufforschung, 14.5.1958, BAB DF 4/40607. 19 Aktenvermerk Burghardt, 4.6.1958, BAB DF 4/40607.
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während seines Exils in den USA durch Forschungen über Blutersatzstoffe erworben und betrieb zeitgleich dem Aufbau einer zentralen Blut- und Gewebebank. In der Akademie sah man keine Möglichkeit, ein derartig erweitertes Bauprojekt auf dem IMB-Gelände zu realisieren. Stattdessen wurde ein Neubau in Nachbarschaft des „Instituts für kortiko-viszerale Pathologie und Therapie“ auf dem nördlichen Bucher Krankenhausgelände vorgeschlagen, das kurz vor der Eingliederung in die DAW stand.20 Rapoport fühlte sich brüskiert, da diese Lösung ohne vorherige Absprache vorgebracht wurde.21 Der Vorschlag fand letztlich dennoch Anklang, da er durch die Nähe der Inneren Abteilungen des Stadtkrankenhauses die Lösung des Klinikproblems ermöglichte. Ende 1960 Pläne lagen für einen Institutsneubau vor, der unmittelbar an das IkvPT und die Stationen des Klinikums angrenzen sollte.22 Vermutlich wurde das Projekt jedoch in der DAWBürokratie, wie Wollenberger und Kokkalis befürchtet hatten, ohne den nötigen Nachdruck verfolgt.23 Ein Jahr später richteten sich die Planungen wieder auf dem IMB-Campus. Wollenberger und Kokkalis drängten darauf, dass ihre Abteilungen gesonderte Gebäude erhielten.24 Sicherlich war ihnen klar, dass nur durch einen schrittweisen Aufbau des auf 180–200 Mitarbeiter angelegten Großprojekts eine Behebung ihrer Raumprobleme möglich war. Für Kokkalis, dessen Außenstelle im Krankenhaus Friedrichshain schon seit 1959 nur widerwillig geduldet wurde, war die Situation besonders kritisch.25 Die Räumlichkeiten waren dort so beengt, dass eine Arbeitsschutzinspektion 1961 aufgrund unhaltbarer hygienischer Bedingungen den tierexperimentellen Betrieb stark einschränkte.26 Der kleine Arbeitsgruppe fehlte sowohl die direkte Anbindung an Wollenbergers Abteilung als auch eine geeignete klinische Partnerinstitution. Insofern war die Weiterführung des Teilprojekts bereits gefährdet, als Kokkalis im Januar 1962 an einem Herzanfall starb. Nur wenige Monate später beschloss die FG, die Abteilung an das Herzzentrum der Charité anzugliedern.27 Sie wurde noch weitere drei Jahre von der FG finanziert und dann engültig aufgelöst. Das Projekt eines größeren Komplexinstituts war damit vorerst vom Tisch. Der Neubau für Wollenbergers Gruppe war zu diesem Zeitpunkt bereits in die Planung aufgenommen. Ein durch die Kürzungs-
20 Wittbrodt an Burghardt, 30.7.1958, BAB DF 4/40607. 21 Rapoport an Thiessen, 15.8.1958, BAB DF 4/40607. 22 VEB Hochbau- und Messeprojektierung, Entwürfe für Institutsbau (Blut- und) Kreislaufforschung, 15.11.1960, ABBAW Buch A 69; Sommerfeld/VEB Hochbau, Erläuterungsbericht zum Institut für Kreislaufforschung, 18.11.1960, ABBAW AKL 57. 23 Wollenberger und Kokkalis an ZK-SED/Abt. Wissenschaft, 12.2.1960, BAB DY 30/IV2/9.04/422, Bl. 271–275. 24 Wollenberger an Hellwig/IMB, 2.10.1961; „Vorplanung des Instituts für Kreislaufforschung, politische und ökonomische Zielsetzung‘, 2.10.1961, beide ABBAW Buch A 76. 25 Bertram/Bezirk Friedrichshain an Kneller/IMB, 15.1.1960, ABBAW Buch A 76. 26 Paschke/FDGB an Kokkalis, 23.11.1961, ABBAW AKL 57; Kokkalis an Vorstand der FG, 12.6.1961, ABBAW Buch A 76. 27 Auszug aus Protokoll zur Sitzung des Vorstandes der FG am 4.4.1962, ABBAW Buch A 16.
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welle der frühen 1960er Jahre verursachter Baustopp verzögerte die Eröffnung bis 1965.28 Gemessen an den Verhältnissen des IMB war die gesonderte Unterbringung ein Privileg. Wollenberger war dieser Erfolg nicht zugefallen, sondern hatte ihn durch hartnäckige wissenschaftspolitische Aktivität erreicht. Das ist erwähnenswert, weil sich sein späterer Leitungsstil durch geringes Interesse an partei- und wissenschaftspolitischen Verpflichtungen auszeichnete.29 In der Aufbauphase hatte er sich jedoch in der Fachpresse mit Artikeln zur Epidemiologie und Prävention der Kreislaufkrankheiten zu Wort gemeldet, die deutlich außerhalb seines sonstigen Tätigkeitsfeldes lagen.30 Als stellvertretender Vorsitzender des ZAK war er stets in alle Entscheidungen involviert. Möglicherweise trugen gerade die mühsamen Auseinandersetzungen um die Institutsplanung, aber die Erfahrungen im bürokratisierten Forschungsalltag dazu bei, dass er eine innere Distanz zu seiner sozialistischen Wahlheimat entwickelte. Deutlich wird dies schon in einem Bericht, den er 1956 über einen Kurzaufenthalt in den Kopenhagener CarlsbergLaboratorien verfasste. Wollenberger pries das dänische Institut als eine Art wissenschaftliches Elyseum, in die Forscher von aller Verwaltungslast befreit waren, mit Kaffee und Bier ad libitum versorgt wurden und trotz beschränkter Arbeitszeiten äußerst produktiv waren. Dass er damit ein Gegenbild zu seiner Situation in Buch zeichnete, macht auch seine Bemerkung deutlich, er habe während seiner sechs Wochen in Dänemark mehr fruchtbare Fachdiskussionen erlebt als in dem halben Jahr zuvor.31 Als elder statesman der DDR-Biochemie konnte Wollenberger ein Vierteljahrhundert später ganz offen den Laissez-faire-Stil, den er in jungen Jahren in Harvard kennengelernt hatte, als positives Gegenbild zur vorherrschenden Realität der durchgeplanten Großprogramme preisen. Unabhängigkeit für Arbeitsgruppen, die Möglichkeit zu häufigen Themen- und Ortswechseln, ausreichende zeitliche Spielräume für den informellen Austausch – die Ideale, die er formulierte, gehörten nicht unbedingt zu den Merkmalen des DDRForschungsalltages.32 Wollenberger dürfte klar gewesen sein, dass die gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen, die diesem Ideal einer ungezügelten Forschung entgegenstanden, dieselben waren, die den Ausbau seines Instituts zu einem international respektierten Forschungsstandort erst ermöglicht hatten.
28 Kramer/IMB, Zusammenstellung von Terminen für die Vorbereitung und Durchführung neuer Investitionsvorhaben, 24.11.1961; Wittbrodt an Wollenberger, 9.1.1962, beide ABBAW Buch A 64. 29 Timmermann 2006, S. 253. 30 A. Wollenberger, Verbreitung der Herz- und Kreislaufkrankheiten in der Deutschen Demokratischen Republik, Das Deutsche Gesundheitswesen 11 (1956), S. 1401–1404; A. Wollenberger, Kreislaufkrankheiten und Ernährung, Das Deutsche Gesundheitswesen 11 (1956), S. 1410–1416. 31 A. Wollenberger, Bericht zum Studienaufenthalt im Carlsberg-Laboratorium, 16.1.1957, ABBAW AKL 57. 32 A. Wollenberger, Erleben, Erfahren, Erkennen, Spektrum 14 (1983), Nr. 4, S. 14–17, S. 15.
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Sozialistische Musterklinik am Wald Im Gegensatz zum Aufbau des Kreislaufinstituts ergab sich die Aufnahme des Instituts für kortiko-viszerale Pathologie und Therapie (IkvPT) in die DAW nicht aus einer staatlich abgesegneten Entwicklungsstrategie. Sie entsprach vielmehr der in den 1950er Jahren verfolgten Politik, leistungsfähige außeruniversitäre Institute unter der Obhut der größten Forschungsorganisation des Landes zu bringen.33 Das IkvPT hatte sich unter Leitung von Rudolf Baumann bereits im Rahmen des Städtischen Krankenhauses Buch zu einer gut ausgestatteten Spezialklinik mit einem eigenständigen Forschungsprogramm entwickelt. Baumann verdankte diesen Erfolg ebenso seinen organisatorischen Fähigkeiten wie seinem Gespür für politische Konjunkturen. Dies äußerte sich nicht nur in der Annäherung an die sowjetische Pathophysiologie, durch welche sich seine Klinikabteilung in den frühen 1950er Jahren profilierte, sondern auch in der Verbindung ihres klinisch-experimentellen Programms mit einer auf politische Wirksamkeit ausgerichteten sozialmedizinischen Agenda. Der 1911 als Sohn einer großbürgerlichen Familie in Düsseldorf geborene Rudolf Baumann verbrachte den Krieg als Leiter der inneren Abteilung eines Berliner Reservelazaretts. Nach Kriegsende nutzte er die beim Wiederaufbau des zerstörten Berliner Gesundheitswesens gegebenen Möglichkeiten für einen schnellen Aufstieg, wobei sein frühzeitiger Eintritt in die SED sicherlich nicht unwichtig, aber kaum allein entscheidend war. Nachdem er eine kleine Privatklinik zu einer funktionsfähigen 180-Betten-Abteilung des Krankenhauses Friedrichshain ausgebaut hatte, gelangte er 1948 als Chefarzt der inneren Klinik des Hufelandhospitals nach Buch. 1951 wechselte er als ärztlicher Direktor an das Städtische Krankenhaus Buch, wo er begann, seine eigene Forschungsabteilung aufzubauen.34 Baumanns ärztliche Tätigkeit war bis dahin durch die Erfordernisse der Krisenjahre geprägt, insbesondere die Tuberkulosebehandlung. In Buch wandte sich Baumann vor allem den Diabetespatienten zu. Als neuen therapeutischen Weg praktizierte er dabei ein Verfahren, das besonders geeignet war, seinen Ruf als sozialistischer Arzt zu stärken – die Schlaftherapie. Mit seinem Ansatz positionierte sich Baumann in einem der am stärksten ideologisch aufgeladenen Felder der frühen DDR-Wissenschaftspolitik. Die Heilung durch Schlaf war ein zentrales Moment der pathophysiologischen Lehren, die zu dieser Zeit unter Berufung auf die Arbeiten Iwan P. Pawlows in der Sowjetunion propagiert wurden. Die Erhebung des berühmtesten russischen Physiologen in den Kreis der Parteiheiligen hatte im Vorfeld der Feier seines hundertsten Geburtstages 1949 begonnen. Im Folgejahr wurden auf einer durch die KPdSU-Führung sorgfältig orchestrierten Pawlow-Konferenz die Machtverhältnisse in der sowjetischen experimentellen Medizin neu geordnet – zwar mit weit weniger schwerwiegenden Konsequenzen als die früheren Attacken der Lyssenko-Gruppe auf die 33 Vgl. auch S. 124f. 34 H. Baumann, Rudolf Baumann, in: Pasternak 2004, S. 164–169, S. 165; Kurzbiographie R. Baumann, Mai 1965, ABBAW FG 62.
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„reaktionär-bürgerlichen“ Genetiker, aber doch auf eine Weise, die nur noch eine bestimmte Lesart der pawlowschen Ideen zuließ.35 Entsprechend der Konzeption des Pawlow-Schülers Konstantin Bykow lag der Schlüssel zu allen Fragen der Pathogenese in der Großhirnrinde. Entsprechend den realen politischen Hierarchien des stalinistischen Systems waren unter der „Diktatur des Cortex“ keine autonomen endokrinen oder neuralen Regelungssysteme vorgesehen, sondern nur der Weg über die „Eingabe“ an die Hirnzentrale.36 Der neue Kurs wurde mit einiger Verzögerung auch in der DDR wirksam. 1953 forderte das ZK der SED die DAW unmissverständlich auf, eine engere Verbindung zur Sowjetwissenschaft zu suchen – das bedeutete, neben den Lyssenkoschen Vererbungslehren und den linguistischen Ideen des genialsten aller Wissenschaftler, Stalin selbst, auch das neue pawlowistische Dogma in ihr Programm aufzunehmen.37 Auf einer nationalen Pawlow-Tagung im Januar 1953 wurden Physiologen und Kliniker darauf eingeschworen, die pawlowschen Grundsätze in Therapie und Lehre umzusetzen.38 Maxim Zetkin kritisierte als Vertreter des Gesundheitsministeriums das fehlende Engagement der DAW und forderte den Aufbau eines „Pawlow-Instituts“.39 Wie die „umwälzenden Erkenntnisse“ des russischen Physiologen in der Praxis umgesetzt werden sollten, blieb dabei ziemlich vage. Die Schlaftherapie bot hierfür einen konkreten Ansatz. Baumann war nicht der einzige Mediziner, der sich an der Einführung der Schlaftherapie versuchte. Der Psychiater Müller-Hegemann, neben seiner Aktivität im Kreislaufprojekt auch ein führender Kopf der Pawlow-Kampagne, nutzte sie als Mittel der Psychotherapie.40 Baumann hatte bereits mit ihrer Anwendung auf innere Krankheiten begonnen, bevor er sie auch propagandistisch einsetzte. Nachdem er 1953 eine schlaftherapeutische Einrichtung der Sowjetischen Medizinischen Akademie in Moskau besucht hatte, begann er, ein Haus der Klinik im Bucher Norden entsprechend dem neuen Ansatz umzugestalten. Die Räume wurden unter Mitarbeit von Akustikern möglichst weitgehend schallisoliert und mit Klimaanlagen zur Herstellung eines indiviuell anpassbaren „Schlafmilieus“ versehen. Während die über 16stündigen Schlafphasen bis dahin durch Narkotika eingeleitet wurden, wollte Baumann verstärkt zum „bedingt-reflektorischen Schlaf“, eingeleitet durch individuell gewählte akustische Reize, übergehen.41 Über Aufbau und Eröffnung der Schlafklinik wurde in der Presse intensiv berichtet. Bald nach Inbetriebnahme erhielt Baumanns Projekt den Ritterschlag. Bykow 35 36 37 38
Pollock 2006, S. 136–158; Todes 1995. Rüting 2002, S. 279–282, S. 286. Entwurf Brief ZK der SED an Präsident der DAW, vmtl. Anfang 1953, BAB DF 4/40224. L. Pickenhain, Bericht über die Pawlow-Tagung in Leipzig am 15. und 16. Januar 1953, Das Deutsche Gesundheitswesen 8 (1953), S. 218–233. 39 M. Zetkin, Gesundheitswesen und Akademie der Wissenschaften, Das Deutsche Gesundheitswesen 8 (1953), S. 233–235. 40 Scholtz/Steinberg 2011. 41 R. Baumann, Klinische Forschungsabteilung für Schlaftherapie in Berlin-Buch, Das Deutsche Gesundheitswesen 9 (1954), S. 1001–1002; zur Pawlowkampagne allgemein sowie zu den Anfängen der baumannschen Schlaftherapie vgl. auch Wolff/Kalinich 2006, S. 175–177.
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lobte nach einem Besuch die 40-Betten-Forschungsklinik als vorbildliche Umsetzung pawlowscher Therapieideen, die auch in der Sowjetunion ihresgleichen suchte.42 Das ambitionierte Projekt passte zeitlich perfekt in die politische Konjunktur der Pawlow-Kampagne. Mit der Benennung als „Institut für kortiko-viszerale Pathologie und Therapie“ lehnte sich Baumann direkt an die Begrifflichkeiten Bykows an. Dennoch ist die am 1.10.1958 vollzogene Übernahme in die DAW nicht als Erfüllung der Ministerratsempfehlung zu sehen, ein „Pawlow-Institut“ zu errichten.43 Der Berliner Magistrat hatte selbst die Ausgliederung betrieben, da die Forschungsklinik über den Zuschnitt einer Krankenhausabteilung hinauswuchs.44 Baumann sah sein primär klinisch orientiertes Institut keineswegs als geeigneten Schrittmacher einer pawlowianisch orientierten Pathophysiologie an und drängte nach der Übernahme, zusätzlich eine physiologisch-experimentelle Forschungsstelle in der DAW aufzubauen.45 Mit diesem Ziel war in den frühen 1950er Jahren an der HU Berlin eine „Arbeitsstelle für Physiologie der höheren Nerventätigkeit“ gegründet worden, die für den Anschluss an das IMB vorgesehen war. Der Plan wurde jedoch aufgegeben, da sowohl die medizinische Klasse der Akademie als auch die Pawlow-Aktivisten des Gesundheitsministeriums die wissenschaftliche Qualität der verfügbaren Kader als nicht ausreichend ansahen.46 Als Baumanns Klinik zum Akademieinstitut wurde, hatten diese Pläne kaum noch Relevanz, da die Pawlow-Bewegung ihren politischem Zenit bereits überschritten hatte. Für das IkvPT war die Orientierung an den Konzepten der Pawlow-Schule damit kein politischer Pluspunkt mehr, sondern eher ein Faktor, der sie innerhalb der DDRMedizin isolierte. Die Behandlung nervöser und körperlicher Leiden durch Schlaf hatte eine lange Vorgeschichte, die nicht allein von Pawlow und seiner Schule geprägt wurde. Sie war eng verbunden mit der Verbreitung von Schlafmitteln – insbesondere der Barbiturate, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg auf den Markt kamen – sowie der therapeutischen Anwendung hypnotischer Techniken. Größere Bedeutung erlangte die Schlaftherapie zunächst in der Psychiatrie; seit den 1920er Jahren wurde sie in der Zürcher Nervenklinik Burghölzli bei Schizophreniepatienten getestet. Auch die pawlowianische Schlaftherapie fand ihre erste größere Umsetzung in den psychiatrischen Anstalten der Sowjetunion.47 Nach ihrem Konzept ging es nicht einfach darum, Patienten ruhigzustellen und damit Erregungszustände abzumildern. Im Sinne der pawlowianischen Pathophysiologie entstanden nervöse und psychische Erkrankungen durch die Überlastungen bestimmter reizverarbeitender Kortexareale, auf die das Organ mit einer „Hemmung“ als Schutzmechanismus antwortete. Eine „Enthemmung“ durch Schlaftherapie wurde 42 „Alle Erwartungen übertroffen“, Berliner Zeitung 2.11.1955, S. 2. 43 Diesen Eindruck erweckt die Darstellung bei Timmermann 2006, S. 252. 44 Magistrat Groß-Berlin, Beschluss 250/58, Übergabe des Instituts für kortiko-viszerale Pathologie und Therapie, 15.8.1958, mit „Vorlage“ (n.d.), ABBAW AKL 58. 45 Baumann an Kneller/IMB, 18.3.1959, ABBAW Buch A 64. 46 Aktennotiz Mendel /MfG 25.8.1955, ABBAW AKL 57. 47 Kroker 2007, S. 188–189.
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zunächst bei schweren neurophysiologischen Blockaden sowie bei Neurosen angestrebt, bald aber auch bei inneren Krankheiten wie dem Bluthochdruck angewandt.48 Die Idee, dass neben psychischen Krankheiten auch Störungen des Stoffwechsels eine zentralnervöse Grundlage hatten, war keine exklusive Errungenschaft der Pawlow-Schule. In den USA vertrat der Physiologe Walter B. Cannon seit den 1920er Jahren ein pathogenetisches Konzept, nach dem emotionale Belastungen zu Störungen im zentralen Nervensystem und mittelbar auch im endokrinen System führten.49 Der Internist Edmund Jacobson, der in den 1930er Jahren die medizinische Anwendung von Entspannungtechniken popularisierte, baute in Chicago eine Privatklinik auf, die in ihrer Einrichtung Ähnlichkeiten mit Baumanns Schlafabteilung aufwies – mit möglichst heimelig eingerichteten Räumen, die mit elektrophysiologischer Technik zur Überwachung der Patienten versehen waren.50 Baumann suchte den pawlowianischen Ansatz einer schlaftherapeutischen „Enthemmung“ neurologisch verfestigter Störungen auf eine Krankheit auszuweiten, die in seiner Klinik intensiv behandelt wurde, den Diabetes mellitus. Mit der Annahme, die Zuckerkrankheit beruhe auf einer neuro-endokrinen Regulationsstörung, berief er sich nicht allein auf Pawlow und seine Adepten, sondern auch auf deutsche Internisten wie den in der DDR hochgeehrten Diabetesspezialisten Gerhard Katsch. Baumann behauptete nicht, dass die Schlaftherapie geeignet war, bei allen Diabetikern die gestörte Insulinproduktion zu normalisieren. Sie kam nur für solche Patienten in Betracht, bei denen die Stoffwechselstörung als vorwiegend zentralnervös bedingt und die kortikale Hemmung noch nicht vollständig verfestigt galt – dies traf nach seiner Theorie vor allem auf junge Diabetiker in einem frühen Krankheitsstadium zu, die nicht hereditär vorbelastet waren.51 Beim Aufbau eines geeigneten Patientenstammes musste sich Baumann nicht auf die lediglich 30 Betten des IkvPT beschränken. Bei der Eingliederung in die DAW war festgeschrieben worden, dass er als Chefarzt der I. Medizinischen Klinik des Städtischen Krankenhauses weiterhin die Ausrichtung und Belegung der benachbarten Stationen bestimmen konnte.52 Entsprechend bemühte er sich, die für ihn interessanten Diabetesfälle der Berliner Krankenhäuser in Buch zu konzentrieren. Dasselbe Ziel verfolgte er ab Ende der 1950er Jahre auch für die Hypertonie (Bluthochdruck), die bald zum Schwerpunkt der klinischen Tätigkeit werden sollte.53 Die Konzentration dieser Patientengruppe sollte eine genauere Differenzierung pathologischer Typen ermöglichen, speziell die bessere Identifizierung jener Patienten, die schlaftherapeutisch behandelbar waren.
48 R. Baumann, Erfahrungen mit der Schlaftherapie bei Diabetes mellitus, Das Deutsche Gesundheitswesen 8 (1953), S. 985–95, S. 987. 49 Jackson 2013, S. 70–75. 50 Kroker 2007, S. 245. 51 R. Baumann, Erfahrungen mit der Schlaftherapie bei Diabetes mellitus, Das Deutsche Gesundheitswesen 8 (1953), S. 985–95. 52 Vertrag zur Übernahme des IkvPT, 1.10.1958, ABBAW FG 191. 53 Baumann an Scheidler/Magistrat der Stadt Berlin, 19.6.1959, ABBAW B 1975.
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Obwohl das IkvPT aus Baumanns Sicht vornehmlich ein klinisches Institut war, verfügte es über ungewöhnlich umfangreiche Forschungskapazitäten. Zu Beginn der 1960er Jahre, als die hauseigene Klinik im Schnitt weniger als 30 Patienten parallel behandelte und die Poliklinik nur einige hundert Fälle pro Jahr beobachtete, hatte das Institut mehr als 150 MitarbeiterInnen, davon etwa 50 wissenschaftliche Kräfte.54 Neben klinischen Spezialabteilungen für Pathophysiologie, Psychologie, Hämatologie und Elektrophysiologie sowie klinisch-chemischen Laboratorien umfasste es mehrere Arbeitsgruppen, die überwiegend tierexperimentell forschten. Außerdem verfügte es mit einem physikalischen Entwicklungslabor und einer radiochemischen Gruppe über eine von den restlichen Bucher Instituten unabhängige forschungstechnische Infrastruktur. Das Institut war in der Lage, einen großen Teil seiner elektrophysiologischen Technik selbst zu entwickeln; aus Eigenbau stammten teilweise auch Systeme für die telemetrische Übermittlung physiologischer Messwerte von Versuchstieren und Patienten.55 Während die Klinik mit der Schlafbehandlung sowie psycho- und physiotherapeutischen Verfahren ein nichtinvasives, sanftes Therapiekonzept vertrat, waren klinische und experimentelle Forschung hochtechnisiert. Da nach der „kortikoviszeralen“ Theorie die Herausbildung von Krankheiten mit Funktionsstörungen im Kortex verbunden war, kam insbesondere der Elektroencephalographie große Bedeutung zu. Bereits die frühe Entwicklung der EEG-Technik in den 1920er und 1930er Jahre war von der Hoffnung getragen gewesen, bestimmten neurologischen Erkrankungen spezifische neuroelektrische Reaktionsmuster zuzuordnen. Nach ersten Fortschritten hinsichtlich der Vorhersage von Epilepsien blieben vergleichbare Erfolge jedoch aus.56 Im IkvPT wurde nicht nur das Projekt einer elektrophysiologischen Charakterisierung von Krankheiten wieder aufgenommen, sondern auch versucht, die Theorie der zentralnervösen Bedingtheit pathologischer „Disregulationen“ auf eine neue Basis zu stellen. Dabei stand das Institut zunächst vor ähnlichen Problemen wie die Bucher EEG-Pioniere der 1930er Jahre, die die Technik für die Lokalisation funktioneller Hirnzentren adaptierten. So wie am KWIH neue Maßstäbe der Verstärkung und Aufzeichnung von EEG-Signalen gesetzt worden waren, entwickelte auch Baumanns Institut ein eigenes Gerätesystem. Durch Verschaltung mit einem Elektronenstrahloszillographen, der kurz zuvor in Manfred von Ardennes Dresdener Gerätelabor entwickelt worden war, konnte eine zeitliche Auflösung von EEG-Signalen erreicht werden, die angeblich jene der bis dahin gebräuchlichen Techniken um ein Vielfaches übertraf.57 Baumann und seine Mitarbeiter glaubten damit in neue Dimensionen der Reizphysiologie vorzustoßen. Bei Versuchen zu nervösen Effekten von Insulingaben 54 Leistungen der Klinik kvPT 1960–64, ABBAW Buch A 93; für die Mitarbeiterstruktur vgl. Jahrbücher der DAW. 55 R. Baumann, Perspektivplan des IkvPT für die Jahre 1963 bis 1965, 8.2.1963, ABBAW AKL 58. 56 Borck 2005, S. 230. 57 R. Baumann, Ergebnisse über die Größenordnung schneller Abläufe elektrobiologischer Hirnpotentiale im ,passiven’ und ,aktiven’ EEG mit einem Präzisions-Elektronenstrahloszillographen, Acta Biologica et Medica Germanica 2 (1959), S. 534–551.
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bei Ratten zeigten sich etwa schnelle Reaktionen im EEG, die nahelegten, dass nicht nur eine indirekte Verkopplung von Kohlenhydratstoffwechsel und Gehirnfunktionen, sondern eine direkte Wirkung des Insulins auf das ZNS vorlag.58 Baumann und seine Mitarbeiter beschränkten sich nicht auf die für die kortikoviszerale Theorie zentralen Wechselwirkungen zwischen endokrinen und neurologischen Prozessen. Sie versuchten, die elektrische Aktivität des zentralen Nervensystems insgesamt neu zu vermessen. Bei Katzen und Hunden wurden vergleichend Aktivitätspotentiale in der Hirnrinde sowie an verschiedenen Stellen des Subcortex abgeleitet. Durch die Verwendung der neuen Verstärkertechnik sowie eigens entwickelter Mikroelektroden fanden sie dabei Entladungen in sehr viel schnelleren Frequenzen, als sie zuvor bekannt waren. Im Subkortex herrschten demnach sehr viel kürzere Impulsdauern vor als im Kortex. Der Unterschied zeigte sich besonders in Schlafphasen, während derer im Subcortex weiterhin starke Entladungen gemessen wurden. Baumann interpretierte dies im Sinne der kortikoviszeralen Regulationstheorie als klaren Hinweis darauf, dass die Hirnrinde für die gesamte Gehirntätigkeit eine „Bremsfunktion“ ausübte, die das ZNS auf ein gleichmäßiges Erregungsniveau einstellte.59 Mit diesen Arbeiten bewegte sich Baumanns Institut in Richtung einer allgemeinen Hirnfunktionslehre, wie sie auch im Bucher KWIH angestrebt worden war. Tatsächlich bezog sich Baumann in den elektrophysiologischen Arbeiten der 1960er Jahre ausdrücklich sowohl auf Kornmüllers EEG-Arbeiten wie auch auf das lokalisatorische Projekt der Vogts. Auch Marthe Vogt wurde als Patin für die anlaufenden neuropharmakologischen Arbeiten „wiederentdeckt“.60 Zu dieser Rückbesinnung auf die lokale Tradition passte auch, dass Baumann mit dem Aufbau von Beziehungen zu Vogts Ex-Mitarbeiter Semen Sarkissow begann, der noch immer das Hirnforschungsinstitut der sowjetischen Akademie leitete. Auch der Umstand, dass er die führende Rolle seiner Frau Hannelore bei den elektrobiologischen Arbeiten hervorhob, wirkt wie ein Bezug auf das partnerschaftliche Rollenmodell der Vogts.61 Dennoch wurde das IkvPT nicht zu einem neurobiologischen Institut. Möglicherweise trug dazu bei, dass internationale Resonanz auf die Erkenntnisse über kortikale und subkortikale Hirnströme ausblieb. Vor allem aber blieben die elektrophysiologischen Arbeiten stets in das Projekt der kortikoviszeralen Pathologie eingebunden. Die EEG-Studien der frühen 1960er Jahre wurden zur Grundlage großangelegter tierexperimenteller (und später auch klinischer) Untersuchungen über die Zusammenhänge von kortikaler Reizverarbeitung und Stoffwechselgeschehen. 58 R. Baumann, H. Mitschke, K. Hecht, K. Treptow, Elektro-zelebrale und zentrale-nervöse Dysfunktion unter Insulin-Hypoglykämie, Das Deutsche Gesundheitswesen 18 (1963), S. 1937–1949. 59 R. Baumann, Neue Erkenntnisse über Form und Charakter impulsförmiger Signale der elektrobiologischen Aktivität in Neo-, Allo- und Subkortex, Monatsberichte der DAW 6 (1964), S. 944–960. 60 E. Scheer, „Aktivitätszustand des ZNS und Psychopharmaka“, Bericht für das IMBDirektorium, 21.6.1963, ABBAW Buch A 17. 61 Baumann an DAW-Auslandsabteilung, 2.6.1967, BAB DY 30/IV A 2/9.04/362.
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Charakteristisch für diese Versuchsserien war ein sehr hoher technischer Aufwand. Die vergleichende Analyse von EEG-Frequenzen, Hämodynamik und Blutzuckerspiegel unter bestimmten Reizsituationen erforderte neben avancierter Messtechnik auch komplexe mathematische Modelle. Neben den rechnergestützten Bestrahlungsprogrammen der RRK-Radiologen waren diese Arbeiten die ersten in Buch, für die die damals verfügbaren Mittelklasserechner verwendet wurden.62 Der Mathematiker Jürgen Läuter entwickelte hierfür Auswertungsverfahren, die er später in ein international verbreitetes Lehrbuch zur multivariaten Statistik einfließen ließ.63 Durch Anwendung des Rechenprogramms auf die an Hypertoniepatienten gewonnenen Meßergebnisse – bei insgesamt 86 verschiedenen biochemischen und physiologischen Parametern – wurde erstmals ein computerdiagnostisches Modell für den Bluthochdruck erarbeitet.64 Mit der massiven elektronisch gestützten Generierung von EEG-, EKG- und Stoffwechseldaten bewegte sich die Forschungs- und Diagnosepraxis des IkvPT ganz im Technisierungstrend der internationalen Medizin, wenn nicht an dessen Spitze. Auf der therapeutischen Seite setzte das Institut jedoch nicht auf die Nutzung neuer medikamentöser und invasiver Möglichkeiten, sondern vielmehr auf Verfahren, durch welche die Patienten selbst der Krankheitsentwicklung aktiv entgegenarbeiten sollten. Bluthochdruck als Kopfsache Seit den frühen 1960er Jahren verschob sich der klinische und experimentelle Schwerpunkt des IkvPT vom Diabetes auf die Hypertonie. Für Baumann war dies kein abrupter Wechsel des Tätigkeitsfeldes, sondern ein Übergang zwischen zwei verwandten Phänomenen. Er ging davon aus, dass zwischen beiden Krankheiten eine enge Beziehung bestand, da „Entgleisungen“ des Kohlenhydratstoffwechsels zur Entstehung überhöhten Blutdruckes beitragen konnten. Dies sollte später durch die in der Klinik gesammelten Stoffwechseldaten untermauert werden, nach denen fast die Hälfte der jungen Hypertoniepatienten diabetische Defekte aufwies.65 Mit der Hypertonie wandte sich das Institut einem Problem zu, das sozialhygienisch größeres Gewicht hatte. Baumann betonte diese Bedeutung immer wieder, indem er die schleichende Verbreitung des überhöhten Blutdrucks als Grundlage von Infarkten und Erschöpfungssyndromen beschrieb, die die Volksgesundheit immer stärker belasteten. Im Sinne des baumannschen Regulations62 Autobiographie Hannelore Baumann, in: Pasternak 2002, S. 47–51, S. 49; vgl. H. Baumann, R. Baumann, J. Läuter, Anwendung von Computer-Methoden und multivariaten Diskriminanzanalysen zur statistischen Charakterisierung der evozierten kortikalen Aktivität unter Einfluß von Insulin, Glukose und Stress, Acta Biologica et Medica Germanica 23 (1969), S. 145–171. 63 H. Ahrens, J. Läuter, Mehrdimensionale Varianzanalyse, Berlin: Akademie-Verlag, 1974. 64 Rechenschaftsbericht IkvPT 1966, 17.1.1967, ABBAW FG 62. 65 Feinkonzeption der wissenschaftlichen Aufgabenstellung für das med.-biol. Forschugnszentrum Berlin-Buch, 1968, ABBAW Buch A 456, S. III/2.
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konzepts konnte bestimmten Formen der Hypertonie, ähnlich wie beim Diabetes, präventiv und therapeutisch wirksam begegnet werden, so lange die Störung noch nicht im pawlowianischen Sinne zentralnervös „fixiert“ war. Die Klinik konzentrierte sich daher auch hier auf jüngere Hypertoniker, bei denen dieser Prozess vermeintlich noch nicht abgeschlossen war. Parallel dazu setzte das Institut auf die experimentelle Erforschung der Faktoren, die zur Verfestigung der BlutdruckDysregulation führten. Zu Beginn der 1960er Jahre begann das IkvPT, Tiermodelle zu entwickeln, um einerseits die Entstehung des Bluthochdrucks und andererseits die Eigenheiten des Stoffwechsel- und Nervensystems im hypertonischen Organismus zu untersuchen.66 Die Herstellung experimenteller Hypertonien wurde bereits von Arbeitsgruppen in der ganzen Welt praktiziert, indem man operativ blutdruckregulierende innere Nerven ausschaltete oder eine Funktionseinschränkung der Niere herbeiführte. Die letztgenannte Methode wurde in modifizierter Form auch im IkvPT adaptiert.67 Stoffwechseluntersuchungen an zu Hypertonikern gemachten Versuchstieren konnten die Annahme eines kausalen Zusammenhanges zwischen Bluthochdruck und gestörtem Kohlenhydratstoffwechsel stützen. Das Versuchsmodell konnte aber nichts zu einem „kortikoviszeralen“ Verständnis der Pathogenese beitragen, nach welchem die nachhaltige Einwirkung bestimmter äußerer Reize zu Neurosen und schließlich zu überhöhten Bluckdruck führte. Die experimentelle Modellierung dieses Vorganges gestaltete sich wesentlich schwieriger als die Auslösung organischer Hypertonien. Nach dem klassischen pawlowianischen Konzept war eine Vergleichbarkeit zwischen humanen und tierischen Neurosen nicht unbedingt zu erwarten, da sich der Mensch durch eine höhere Ebene der Nerventätigkeit – ein „zweites Signalsystem“ – auszeichnete. Die experimentellen Erfahrungen schienen das zu bestätigen. Ratten reagierten auf intensiven Schallterror zwar mit neurotischem Verhalten, entwickelten aber nur selten einen dauerhaft erhöhten Blutdruck. Etwas besser – zumindest im Sinne der Experimentatoren – verfing ein akustisch-optisches Reizchaos bei Hunden; noch eindeutiger wirkten direkte Elektroreizungen am Hirn von Kaninchen und Katzen. 1970 mussten Baumann und seine Mitarbeiter jedoch ernüchtert feststellen, dass sich bei höheren Säugetieren allenfalls Zustände erzeugen ließen, die nur sehr bedingt mit der nervlich verursachten Hypertonie beim Menschen vergleichbar waren.68 Experimentell besser modellierbar erschienen dagegen die Prozesse, die an der Entstehung neurotisch bedingter Hypertonien beteiligt waren. Dabei wurde das klassische Verfahren der pawlowschen Reflexphysiologie genutzt: die Konditionierung von Versuchstieren auf ein akustisches oder optisches Signal (den „bedingten Reiz“), das mit einem „unbedingten“ positiven oder negativen Reiz 66 Perspektivplan IkvPT 1963–1965, 8.2.1963, ABBAW AKL 58. 67 S. Nitschkoff, G. Schönfelder, Beitrag zur Methodik der experimentellen nephrogenen Hypertonie bei Kaninchen mit laufender Blutdruckregistrierung, Das Deutsche Gesundheitswesen 16 (1961), S. 2285–2291. 68 S. Nitschkoff, M. Grüner, R. Baumann, U. Gnüchtel, C. Kreher, Über arteriell-hypertone Dysregulationen auf der Grundlage experimenteller Neurosen am Tier I.&II., Das Deutsche Gesundheitswesen 25 (1970), S. 1876–1885 & 1965–1969, S. 1968.
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gekoppelt war. Die experimentell-physiologische Abteilung entwickelte für die bevorzugten Versuchstiere, weiße Ratten, eine 50 cm breite und 40 cm hohe „Pawlowkammer“, die durch einfache Umbauten für verschiedene Reiz-ReflexSituationen – von Stromstößen in der Bodenplatte bis zur Gabe versteckter Futterrationen – eingerichtet werden konnte. Der Ablauf eines bestimmten Reflexverhaltens konnte jeweils unmittelbar gemessen und registriert werden.69 Das automatisierte Vivarium war multifunktional einsetzbar. Die Kammer wurde etwa für die Wirkungsbestimmung von Psychopharmaka genutzt. Aus Sicht ihrer Entwickler erlaubte die quantifizierbaren Reflextests eine wesentlich präzisere Einschätzung der Einwirkung von Substanzen auf das zentrale Nervensystem als die üblichen experimentell-pharmakologischen Verfahren.70 Vor allem aber diente die Pawlowkammer dazu, den nervlichen Faktor in der Pathogenese des Bluthochdrucks zu modellieren. So etwa in Versuchen zur Wirkung von Insulingaben an Ratten – wurden in der Kammer negativ konnotierte Reize zugeschaltet, reagierte der Stoffwechsel deutlich anders als bei unbelasteten Tieren.71 Das sprach für die von Baumann postulierte Verkoppelung von nervösen Störungen mit der endokrinen „Disregulation“ des Kohlenhydratstoffwechsels. Wurden bei der Einübung eines Abwehrreflexes die negativen unbedingten Reize intensiviert, begannen die Tiere, nicht nur verfehlte oder übersteigerte Reaktionsmuster auszubilden, sondern auch einen chronisch überhöhten Blutdruck.72 In der Pawlowkammer wurden Situationen nervlicher Überforderung simuliert, die sich direkt in einer gestörten Kreislaufregulation niederschlugen. Mit ihren Versuchen zur Lern- oder Lärmüberlastung folgten die IkvPT-Forscher keineswegs einem pawlowianischen Sonderweg, sondern befanden sich mitten im internationalen Mainstream. Nach westlichen Begriffen waren die Bucher Laborratten einem Phänomen ausgesetzt, das immer mehr als zentraler pathogener Faktor der modernen Industriegesellschaft wahrgenommen wurde: Stress. Das Stresskonzept hatte sich seit den 1950er Jahren zunächst in Nordamerika und dann in Westeuropa als Erklärungsmuster für die steigende Verbreitung von Herz- und Kreislauferkrankungen etabliert. Für den ungarisch-kanadischen Mediziner Hans Selye, den maßgeblichen Stichwortgeber des Diskurses, war die Betonung der pathogenen Aspekte der modernen Arbeits- und Kommunikationsverhältnisse nicht mit einer grundlegenden Kritik derselben verbunden. Mit seiner Idee, durch die Einhegung von „Stress“ die destruktive Dynamik der modernen Industrie69 K. Hecht, F. Bielecke, Eine neue Mehrzweckkammer mit polygraphischer Registrierung zur Untersuchung bedingter motorischer Nahrungs- und Abwehrreaktionen an Ratten und ihre methodische Verwendung, Acta Biologica et Medica Germanica 4 (1960), S. 71–89. 70 K. Hecht, Die Bedeutung der bedingt-reflektorischen Methodik bei der Untersuchung zentral wirkender Pharmaka, Acta Biologica et Medica Germanica Suppl. 2 (1963), S. 121–127. 71 K. Hecht, T. Hecht, R. Baumann, Die Bedeutung der biologischen Situation für die Entstehung und Intensität des Insulin-Schock-Syndroms, Acta Biologica et Medica Germanica 15 (1965), S. 433–441. 72 K. Hecht, K. Treptow, M. Poppei, T. Hecht, Ein Modell für die Entwicklung hyperton ausgelenkter Blutdruckdysregulationen durch fehlgesteuertes Lernen, Acta Biologica et Medica Germanica 27 (1971), S. 869–883.
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gesellschaft zu kontrollieren, erfuhr er breite Unterstützung aus Kreisen des konservativen amerikanischen Establishments.73 Seit den 1960er Jahren entfaltete das Stresskonzept in Sozialmedizin und -psychologie jedoch eine starke zivilisationskritische Wirkung. In dieser Zeit begann sich der Stress über internationale Foren wie die WHO als Paradigma einer präventionsorientierten Medizin zu verbreiten.74 Baumanns theoretischer Ansatz zeigte mit seiner Betonung von Überreizung und Überarbeitung schon starke Parallelen zum Stressdiskurs, bevor er den Begriff verwendete. Ab Mitte der 1960er Jahre tauchte der Stressbegriff in den Fachpublikationen und dann auch zunehmend in der Außendarstellung des Instituts auf, ohne dass dabei eine nähere Auseinandersetzung mit westlichen Stresskonzepten wie jenem Selyes stattfand. In den 1970er Jahren bezog sich Baumann verstärkt auf Selyes Ideen, kritisierte jedoch zurückhaltend dessen pathogenetische Vorstellungen, die aus seiner Sicht zu einseitig auf endokrinologische Faktoren fixiert waren. Baumann sah es als wesentliches Verdienst seines Instituts an, die Idee der stressbedingten Entgleisung hormonaler Regelungsmechanismen durch die Verbindung mit dem pawlowianischen Konzept der zentralnervösen Steuerung auf die Füße (was in diesem Fall bedeutete: auf den Kopf) gestellt zu haben.75 Während er sich mit seinem Modell umweltbedingter Regulationskrankheiten dem Diskurs der westlichen Psychosomatik annäherte, blieb er durch ihre Zurückführung auf spezifische zentralnervöse Prozesse zugleich auf dem harten Boden einer materialistischen Medizin.76 Trotz dieser Abgrenzungsbemühungen mag es erstaunlich erscheinen, dass ein zunächst so stark an der Sowjetwissenschaft orientierter Mediziner ein Krankheitskonzept übernahm, das unverkennbar von der Realität der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft geprägt war. Baumann tauschte aber keineswegs ein Modekonzept gegen ein anderes aus.77 Der Anschluss an den Stressdiskurs drückte einen Wunsch nach internationaler Anerkennung aus, dem nicht allein Baumann, sondern der Großteil der DDR-Medizin folgte. Er bedeutete aber keinen Bruch in Baumanns Programm einer sozialistischen Medizin – im Gegenteil: Wie zuvor lag sein Augenmerk auf den sozialen, speziell den arbeitsweltlichen Bedingungen chronischer Krankheiten. Damit hatte sein pathologisches Konzept eine sozialpolitische Dimension, die über eine effektivere Erfassung und Behandlung einer großen Patientengruppe hinausging. Noch ohne den Stressbegriff zu bemühen, 73 Viner 1999, S. 398 & 401–2. 74 Hofer 2014, S. 10. 75 Barrieren gegen Stress und Herzinfarkt. Gespräch mit R. Baumann, Spektrum 9 (1978), Nr. 11, S. 24–27; zu Selyes endokrinologischen Konzepten vgl. Jackson 2013, S. 84–87. 76 Baumann fand gleichwohl bei den psychosomatischen Medizinern eine Möglichkeit, Westkontakte aufzubauen. 1966 übernahm er erstmals Funktionen auf dem Internationalen Kongress für psychosomatische Medizin; vgl. Baumann an Hörnig/ZK-SED, 5.10.1966, BAB DY 30/IV A 2/9.04/362. 77 Das lässt sich aus der Darstellung Timmermanns (2006, S. 253) herauslesen, wonach sich Baumann ab den 1970er Jahren nicht mehr an Pawlow, sondern an Selye orientierte. Pawlows Name war in den Publikationen zwar weitgehend (aber nicht völlig) abwesend, jedoch blieben pawlowsche Begrifflichkeiten und Experimentalpraktiken weiterhin bestimmend.
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umriss er 1965 die weiteren Perspektiven einer kortikoviszeral fundierten Sozialpathologie: „Infolge der sich gegenwärtig vollziehenden technischen Revolution und der damit verbundenen neuen Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Produktionsmittel erfahren die Umweltbedingungen in einer sehr kurzen Zeitspanne so große Veränderungen, wie sie der menschliche Organismus in seiner Phylogenese noch nie erlebt hat. Daraus erwächst für das Gesundheitswesen der DDR die Aufgabe, die Adaption des menschlichen Organismus zu unterstützen und der zunehmenden Reizüberflutung prophylaktisch entgegenzuwirken, damit die Arbeits- und Leistungsfähigkeit des Menschen aufrechterhalten und daraus resultierende krankhafte Erscheinungen vermieden werden.“78
Die Forderung nach sozialmedizinischer Eindämmung der „Reizüberflutung“ hatte weitreichende politische Implikationen, auf die noch näher einzugehen ist. Zunächst schlug sie sich im experimentellen Programm des Instituts in einer deutlichen Hinwendung zu Fragen der Stressentstehung durch die soziale und technologische Umwelt nieder. Es ging dabei nicht mehr allein um die Frage, wie sich „Stress“faktoren beim Versuchstier neurophysiologisch und endokrinologich auswirkten und zur Ausbildung des Krankheitsbildes der Hypertonie beitrugen. Anhand von Tierpopulationen wurde Stress selbst als kollektiv vermitteltes Phänomen modelliert. Ein Teil dieser Experimente wurde an Primaten durchgeführt, die vor allem elektrophysiologischen Testpraktiken ausgesetzt wurden. Das Institut unterhielt eine Arbeitsbeziehung mit dem sowjetischen Akademieinstitut für experimentelle Physiologie in Suchumi, das über einen weltweit einzigartigen Affenbestand verfügte, besaß seit den 1960er Jahren aber auch eine eigene Gruppe von Makaken.79 „Sozialer Stress“ wurde in den Affenkollektiven simuliert, indem die Tiere während der Bewältigung von Aufgaben durch elektrische Schläge für „Fehler“ anderer Tiere bestraft wurden.80 In anderen Versuchen wurden Eifersuchtsaffekte bei männlichen und weiblichen Tieren provoziert, zugleich physiologische und biochemische Parameter kontrolliert.81 Damit wurde nicht mehr allein eine künstliche negative Reizsituation, sondern gestörte soziale Interaktion direkt mit neuro-endokrinen Regulationsstörungen in Verbindung gebracht. Etwas deutlicher wurde der Bezug auf die biologische Bedeutung von Gruppenverhalten in den Rattenversuchen des Leiters der experimentellphysiologischen Abteilung, Karl Hecht. Er variierte bei „Lernversuchen“ in seiner „Pawlowkammer“ die Anzahl der beteiligten Tiere und den ihnen gewährten 78 R. Baumann, Bericht einiger ausgewählter Forschungsarbeiten des IkvPT, 7.12.1965, BA DY 30/IV A 2/9.04/362. 79 Es kam vor, dass die Tiere bei günstiger Gelegenheit ihre eigenen Konsequenzen aus der Stressbelastung zogen und sich in den benachbarten Bucher Stadtwald absetzten; persönliche Information Ralph Plehm, 1.2.2013. 80 H. Baumann, G. Martin, T. Urmanschteeva, G. Degen, F. Wolter, W.A. Chasabova, C. Gurk, I. Hinays, J. Läuter, Neurophysiologische Mechanismen der arteriellen Hypertonie unter chronisch-experimentellem Emotionalstress, Acta Biologica et Medica Germanica 35 (1976), S. 889–913. 81 M. Michailov, U. Gnüchtel, S. Nitschkoff, R. Baumann, G. Gnauck, Verhalten von Fettsäuren im Blutplasma von Affen nach Einwirkung kurzfristiger Stressoren, Acta Biologica et Medica Germanica 32 (1974), S. 675–680.
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Bewegungsraum. Ratten in größeren Gruppen schnitten dabei besonders gut ab, wurden aber stark negativ beeinflusst, wenn sie zwischen den Lernphasen in enge Käfige gesperrt wurden. Die Rattenkammern lehrten, dass die pawlowschen ReizReaktions-Konditionierungen nicht allein durch die individuelle Reaktionsweise, sondern auch durch die Gruppensituation beeinflusst wurden – oder, allgemeiner gefasst, dass „die sozialen Kommunikationsbeziehungen der Gruppenhaltung wesentlich zur Optimierung der Adaption des Organismus beitragen“.82 Hechts Versuche wiesen gewisse Parallelen zu Arbeiten amerikanischer Soziobiologen auf, die Rattenkolonien als Miniaturmodelle für die moderne Stadt mit ihrer Übervölkerung und ihren Gewaltkonflikten aufbauten.83 Die Studien nahmen aber nie einen rein verhaltensbiologischen Charakter an. Hechts Ratten waren lernende Teile einer Gemeinschaft, keine potentiellen Gangmitglieder oder Repräsentanten der dunklen Potentiale tierisch-menschlicher Instinkte. Nach seinem Verständnis waren die Versuche ein Beitrag zu einer „marxistischen Sozialpsychologie“; sie blieben aber immer auf die medizinische Frage der Entstehung pathologischer Maladaptionen bezogen. Die Tierversuche illustrierten die soziale Dimension der „Regulationskrankheiten“, ließen aber kaum direkte Rückschlüsse auf die stressbedingte Entstehung von Kreislaufstörungen beim Menschen zu. Weltweit betrachteten Stressforscher derartige Tiermodelle mit wachsender Skepsis und suchten konkretere Anhaltspunkte in klinischen Studien.84 Dabei war die Engführung auf bestimmte Stressauslöser unabdingbar; das Interesse richtete sich insbesondere auf einen Faktor, der als Inbegriff der schnelllebigen technisierten Welt galt: den Lärm. Ende der 1960er Jahre wurden in der BRD großangelegte Erhebungen in mehreren Ortschaften im Einflußbereich größerer Flughäfen durchgeführt, um die lärmbedingte Hypertoniegefährdung zu bestimmen; flankiert wurden dies durch Lärmversuche an Testpersonen.85 Auch in Buch hatte der Risikofaktor Lärm einen besonderen Stellenwert. Entsprechende Stresssimulationen, die schon gesunden Versuchspersonen nur in einem begrenzten Rahmen zugemutet werden konnten, kamen aber bei Patienten mit starker Hypertonieanlage nicht in Betracht. Um reale pathogene Zusammenhänge zu erkunden, ohne den therapeutischen Erfolg zu gefährden, kamen nur milde Formen von Belastungsstress in Frage. So wurden etwa Gruppen junger, männlicher Hypertoniker moderatem Leistungsstress durch eine simulierte mathematische Prüfungssituation ausgesetzt. Dass dabei neben Blutdruckerhöhungen auch Anomalien des Kohlenhydrat- und Fettstoffwechsels auftraten, bestätigte, was nach zahlreichen Tierversuchen zu erwarten war.86 Eine im Tier82 K. Hecht, K. Treptow, S. Choinowski, T. Hecht, M. Poppei, Interindividuelle Kommunikationsbeziehungen und motorisches Training in ihrer Bedeutung für Lern- und Gedächtnisleistungen von Albinoratten, Acta Biologica et Medica Germanica 32 (1974), S. 35–42. 83 Ramsden 2011. 84 Jackson 2013, S. 162. 85 Hofer 2014, S. 12–13. 86 R. Baumann u.a., Theoretische und klinische Aspekte der zerebro-viszeralen Regulationskrankheit arterielle essentielle Hypertonie, 2., Das Deutsche Gesundheitswesen 29 (1974), S. 721–733.
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versuch nicht zugängliche Stresssituation war die Konfrontation mit dem Risikofaktor Fernsehen. Krimi- und Sportprogramme lösten bei Hypertonikern nicht nur stärkere Blutdruckerhöhungen aus als bei Kreislaufgesunden, sie führten auch zu längerfristig erhöhten Werten. Keine Gefahr ging von Reportagesendungen des DDR-Fernsehens aus, die bei einigen Vergleichsspersonen sogar sedativ wirkten.87 Solche Beobachtungen erhärteten die Annahme, dass es Risikopersönlichkeiten gab, die entweder aufgrund hereditärer Disposition oder nachhaltiger Umweltbelastungen bei jeglicher Form von Reizüberlastung irreversible Regulationsstörungen entwickeln konnten, die sie für schwerere organische Kreislaufschäden prädestinierten. Welche Implikationen hatte dies für die baumannschen Vorstellungen von Prävention und Therapie? Der maladaptierte Kreislauf in der wissenschaftlich-technischen Revolution Da sich nach Baumanns pathogenetischem Konzept körperliche Krankheiten durch Störungen im zentralen Nervensystem herausbildeten, lag der Schlüssel zur Therapie ebenfalls dort – jedenfalls für die in der Klinik behandelten „nicht verfestigten“ Diabetes- und Hypertoniefälle. Die anfangs bevorzugte Schlaftherapie verlor in den 1960er Jahren ihre zentrale Bedeutung. Sie ging in einem therapeutischen Methodenspektrum auf, das physiotherapeutische, psychotherapeutische und medikamentöse Maßnahmen umfasste. Die medikamentöse Behandlung spielte bis in die 1970er Jahre eine auffallend geringe Rolle. Das entsprach dem Denkansatz, dass die Wurzel der behandelten Kreislaufstörungen nicht in den Gefäßen, sondern in der Hirnrinde zu finden war. Aus diesem Grund beschränkte sich das pharmakologische Interesse zunächst auf einen ungewöhnlichen Weg, nämlich den Einsatz von Psychopharmaka. Die ersten Substanzen dieser Gruppe kamen erst in den späten 1950er Jahren auf den Markt und waren hinsichtlich ihrer physiologischen Wirkungen noch nicht voll erforscht. Versuche zu ihren Einflüssen auf das EEG und das Verhalten der Blutgefäße sollten klären, ob Psychopharmaka therapeutisch nutzbare Effekte bei Kreislaufkrankheiten erwarten ließen.88 Bestimmend wurde dieses Programm jedoch nicht. Klinisch wurde vor allem die Effektivität verschiedener psychotherapeutischer Verfahren getestet. Eine psychotherapeutische Abteilung wurde am IkvPT schon vor dessen Aufnahme in die DAW gebildet. Ihr Leiter Alfred Katzenstein war in der amerikanischen Emigration ausgebildet worden und profilierte sich nach seiner Rückkehr als vehementer Kritiker „bürgerlich-idealistischer“ Bestände in der DDR-Psychologie.89 Für Katzenstein durfte sich die klinische 87 S. Nitschkoff, Über die Wirkung des Fernsehens auf den arteriellen Blutdruck, Das Deutsche Gesundheitswesen 26 (1971), S. 146–150. 88 R. Baumann, Perspektivplan des Instituts KVPT für die Jahre 1963 bis 1965, 8.2.1963, ABBAW AKL 58; E. Scheer, „Aktivitätszustand des ZNS und Psychopharmaka“, Vortrag in Sitzung Direktorium 21.6.1963, ABBAW Buch A 17. 89 Ash 1998, S. 402.
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Psychotherapie nicht auf die verbale Beeinflussung beschränken, sondern musste ein „aktives Üben“ des Patienten beinhalten. Er setzte besondere Hoffnungen in das autogene Training, das bei Kreislaufkrankheiten – selbst bei organisch bedingten Herzkrankheiten – helfen sollte, eine Verschlechterung des Zustandes aufzuhalten.90 Einen universell wirksamen Ansatz konnte die Psychotherapie jedoch nicht liefern. 1971 resümierte Katzenstein, dass nachhaltige Erfolge bei der Hypertonie bislang nur durch die Schlaftherapie erzielt wurden, während andere Methoden nur in Einzelfällen effektiv seien. Er sah aber gute Perspektiven für Kombinationen von psychotherapeutischen mit physiotherapeutischen, physikalisch-diätetischen und pharmakologischen Ansätzen.91 Die Klinik erprobte in jahrelangen Testserien verschiedene Therapiekonzepte, deren Effektivität auch mit medikamentös behandelten Patientengruppen abgeglichen wurde: Atementspannungstraining, Stressbewältigungstraining in Gruppen, das durch individuelle psychotherapeutische Maßnahmen ergänzt wurde, sowie die regelmäßige Selbstkontrolle des Blutdrucks. Alle Methoden schienen eine gewisse Wirksamkeit zu entfalten, soweit die Patienten nicht bereits an verfestigten Gefäßschäden litten.92 Viele der Therapiekonzepte waren durch Verfahren psychosomatisch orientierter amerikanischer Schulen inspiriert. Dennoch spielten auch hier weiterhin die Schlüsselbegriffe der pawlowianischen Physiologie eine wichtige Rolle, vor allem „Konditionierung“ und „Lernen“. „Instrumentell konditioniert“ wurden etwa die Patienten, die zur Beobachtung ihres Blutdrucks angehalten waren. Ein eingeübter visueller Reiz fungierte als erfolgsbestätigendes Signal im Falle einer Blutdrucksenkung. Nach hauseigenen Ergebnissen steigerte diese Art der „Konditionierung“ durch positive Rückmeldungen tatsächlich den körperlichen „Lerneffekt“.93 Als Form der Konditionierung galten auch die parallel angewandten physiotherapeutischen Verfahren. Der Erfolg individueller Trainingsprogramme, die vor allem jungen Hypertonikern verordnet wurden, galt nicht allein als Folge eines physischen Trainingseffekts. Er wurde auch psychophysiologisch als Korrektur einer Ausschaltung von Funktionsfeldern des Zentralnervensystems interpretiert, die sich bei geistiger Arbeit ohne motorische Betätigung einstellte.94 Charakteristisch für Baumanns Institut war, dass solche klinischen Verfahren experimentell
90 R. Baumann, Jahresbericht des IkvPT 1963, 13.1.1964, ABBAW FG 62; A. Katzenstein, S. Nitschkoff, Über suggestive Beeinflussung des partiellen AV-Blocks, Das Deutsche Gesundheitswesen 16 (1961), S. 1380–1383. 91 A. Katzenstein, E. Kriegel, Zum gegenwärtigen Stand der psychophysiologischen Beeinflussung maladaptiver Verhaltensschablonen bei Hypertonikern, Das Deutsche Gesundheitswesen 26 (1971), S. 1517–1521. 92 Autobiographie E. Richter-Heinrich, in: Pasternak 2002, S. 57–61, S. 60. 93 U. Knust, E. Richter-Heinrich, Blutdrucksenkung durch instrumentelle Konditionierung bei arteriellen essentiellen Hypertonikern, Das Deutsche Gesundheitswesen 30 (1975), S. 1014– 1018. 94 U. Priebe, V. Homuth, I. Hajdu, Der Einfluß einer 4wöchigen physischen Konditionierung auf den Blutdruck und auf die kardio-zirkulatorische Leistungsfähigkeit bei Hypertoniepatienten im Frühstadium der Erkrankung, Das Deutsche Gesundheitswesen 31 (1976), S. 1549– 1555.
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flankiert wurden. Auch Hechts Ratten konnten ihre Stresserfahrungen besser verarbeiten, wenn sie Gelegenheit zu regelmäßigen Runden im Laufrad erhielten. 95 Mit ihrer fast klösterlichen Anlage um einen anspruchsvoll begrünten Innenhof bot die Musterklinik des IkvPT einen idealen Hintergrund für die individualisierten Anti-Stress-Programme. Im Sinne des Therapiekonzeptes ging es aber nicht um einen erholsamen Kuraufenthalt, sondern um eine psychophysische Umprogrammierung des Patienten. Wie der Leiter der Kreislaufabteilung im IkvPT, Stefan Nitschkoff, betonte, half es bei den oft übermäßig ehrgeizigen oder selbstkritischen Stressgeschädigten nicht weiter, sie nur zu mehr sportlicher Betätigung oder zu Spaziergängen aufzufordern. „Die Einstellung solcher Menschen zu ihrer jeweiligen konkreten Situation muß sich grundlegend ändern, sie müssen psychisch ‚umkonditioniert’ und dazu angehalten werden, zwischendurch auch mal etwas Anderes zu tun.“96 Es war Aufgabe des Arztes, eine der individuellen psychischen Disposition angemessene Form der „Konditionierung“ zu finden. Er hatte damit nicht nur eine klinische, sondern eine in die Lebensführung eingreifende Funktion. Im Sinne einer breiten Bekämpfung des Bluthochdrucks konnte diese Funktion nicht auf die Patienten beschränkt bleiben, sondern musste auf die gesamte Gesellschaft ausgreifen. Die Hypertonieforschung des IkvPT war ein ausgesprochen öffentlichkeitsorientiertes Projekt. Nicht nur informierten zahlreiche Zeitungsartikel die Bürger über die bedrohlichen Folgen von Lärmbelastung, sozialem Stress und Bewegungsarmut. Auch unterstrichen Kalkulationen zum Hypertonie-bedingten Krankenstand die unmittelbar ökonomische Bedeutung von Prävention und frühzeitiger Therapie. Leser des Neuen Deutschland erfuhren 1969, schon eine nur einprozentige Senkung des Arbeitsausfalls durch Kreislaufleiden könne das jährliche Nationaleinkommen um 1,7 Mrd. Mark heben.97 Mitte der 1970er Jahre bezifferte Baumann die jährlichen Ausfälle durch Hypertoniekranke auf 670 Mrd. Mark; in einem Vortrag vor dem ZK-Wissenschaftsaufseher Kurt Hager illustrierte er dies mit dem spektakulären Vergleich, der kranke Kreislauf koste die DDR pro Jahr so viel, wie ihre beiden größten Chemiekombinate erwirtschafteten.98 Ob diese Schätzungen realistisch waren oder nicht – sie verdeutlichten, dass die Arbeit an der kleinen Bucher Patientengruppe nur ein Teilaspekt einer wesentlich größeren gesundheitspolitischen Mission war, die nur wirksam werden konnte, wenn die Erkenntnisse über Regulationskrankheiten präventive sozialhygienische Maßnahmen nach sich zogen. Damit zielte Baumann auf eine Strategie der Eindämmung von Risikofaktoren ab, die international ebenso verbreitet war wie der Stressbegriff. Falsche Ernäh95 K. Hecht, T. Hecht, S. Choinowski, M. Poppei, K. Treptow, Der Einfluß von motorischem Training auf die Entwicklung einer neurotisch induzierten hypertonen Blutdrucksdysregulation, Acta Biologica et Medica Germanica 32 (1974), S. 331–340. 96 Anon., Eine Krankheit oder das Salz des Lebens? Berliner Zeitung 3.12.1972, S. 13. 97 C. Graff, Lärm – ein Abfall der Technik? Neues Deutschland 15.2.1969, S. 12. 98 Konzeption des Zentralinstituts für Herz- und Kreislauf-Regulationsforschung, 21.6.1976, S.4-5, ABBAW A 905; Beratung in der Akademie der Wissenschaften mit Kurt Hager, 25.11.1975, BAB TonY 1/2434.
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rung, Rauchen und Bewegungsmangel waren schon lange als Auslöser von Kreislaufkrankheiten erkannt und in den Mittelpunkt sozialmedizinischer Propaganda gestellt worden. Es war vor allem Baumanns Bucher Kollege Albert Wollenberger, der diesen internationalen Trend in der DDR etablierte. Während seiner Versuche, sich institutionell zu etablieren, hatte Wollenberger 1956 nachdrücklich auf die Faktoren hingewiesen, die nach epidemiologischen Erhebungen aus den USA die neue Volkskrankheit Nummer Eins beförderten: übermäßig fettige Ernährung, starke nervliche Belastung und Bewegungsmangel.99 Die statistische Untermauerung dieser Zusammenhänge war mehr als eine Strategie, sich politische Unterstützung für sein Institutsprojekt zu sichern. Wollenberger arbeitete zwar ohne engeren Bezug zu klinischen Institutionen und konzentrierte sein Forschungsprogramm auf die molekulare Regulation der Herzmuskelzelle, baute in seine frühen Arbeitsprogramme aber tierexperimentelle Versuche über die Beziehungen zwischen Ernährung und Herzgesundheit ein. Die Ausrichtung war deutlich amerikanisch geprägt – das Interesse galt vor allem den Auswirkungen fettreicher Kost auf den Zustand der Herzkranzgefäße sowie der Rolle des Cholesterinspiegels als Indikator für die Gefäßgesundheit. Auch die mögliche schadensbegrenzende Wirkung körperlichen Trainings wurde, lange vor entsprechenden Versuchen in Baumanns Institut, in die Versuche einbezogen.100 Die Arbeiten zur ernährungsbedingten Gefäßverengung blieben in der Institutsprogrammatik eine Episode. Wollenberger sollte aber auf die Befunde zur Bedeutung diätetischer und sportlicher Prävention zurückgreifen, als er sich Ende der 1960er Jahre im praktischen Kampf gegen den Herzinfarkt profilierte.101 Als Schirmherr der vom Deutschen Turn- und Sportbund gestarteten Kampagne „Lauf Dich gesund“ wurde er zum bekanntesten Joggingaktivisten der DDR.102 Baumanns Vorstellungen guter Gesundheitsführung waren weiter gespannt. Einerseits war die körperliche Betätigung für ihn kein ausreichender Schutz gegen den Stress, wenn nicht eine gezielte psychische Beeinflussung hinzukam. Andererseits setzten er und seine Mitarbeiter den Akzent dort, wo für einen guten sozialistischen Wissenschaftler der Kern des Problems zu vermuten war – in den Produktionsverhältnissen. Dazu wurden die tierexperimentellen Befunde über die neurologischen und stoffwechselphysiologischen Folgen der Lärmbelastung durch Stichproben in der sozialistischen Arbeitswelt ergänzt. Blutdruck- und EKG-Messungen in einem Großbetrieb wiesen darauf hin, dass lärmgeplagte Beschäftigte 99 A. Wollenberger, Kreislaufkrankheiten und Ernährung, Das Deutsche Gesundheitswesen 11 (1956), S. 1410–1416. 100 A. Wollenberger, Vorplanung der Forschungsarbeit für das 2. Halbjahr 1955 und 1956, Laboratorium für Herz- und Kreislaufforschung, 21.5.1955, ABBAW AKL 57; A. Kössler, A. Wollenberger, W. Halle, Einfluß von Bewegungseinschränkung auf Serumlipoide und Ausbildung von Koronar- und Aortensklerose bei Hähnen, Acta Biologica et Medica Germanica 7 (1961), S. 172–189. 101 A. Wollenberger, Sport rettet oft Menschen das Leben, Neues Deutschland 27.5.1967, S. 8. 102 Auch in diesem Fall orientierte man sich an westlichen Vorbildern, in diesem Fall allerdings nicht an einer US-amerikanischen, sondern an einer neuseeländischen Kampagne. Vgl. „Renne um Dein Leben – Lauf Dich gesund“, Neues Deutschland 22.6.1968, S. 15.
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deutlich hypertoniegefährdeter waren als körperlich schwer, aber lärmfern arbeitende Kollegen. Die Beobachtungen lieferten aber auch eine positive Botschaft: Der Kreislauf der belasteten Werktätigen konnte sich normalisieren, wenn sie eine längere Lärmpause erhielten. Hier wurde die baumannsche Regulationstheorie unmittelbarer politisch, als sie es in ihren Anfängen während der Pawlowkampagne gewesen war: Wissenschaftlich gestütztes Stressmanagement der Betriebe war nicht nur eine Frage sozialistischer Fürsorge, es brachte auch ökonomische Vorteile, weil es krankheitsbedingte Ausfälle durch Kreislauferkrankungen herabsetzte. Das Lärmproblem war jedoch, wie es die mit der Studie betraute Mitarbeiterin ausdrückte, nicht auf die Werkhalle beschränkt, sondern Teil der „ständig zunehmenden Automatisierung und Industrialisierung des täglichen Lebens“, die auch vor der heimischen Küche nicht halt machte.103 Die Aufgabe der „Regulationsforschung“ war also, die in der technisierten Welt anwachsenden Herausforderungen an den Organismus zu verstehen und ihnen präventiv zu begegnen. Ein so weitgehender sozialpolitischer Anspruch barg Konfliktpotential. Der von Baumann gern verwendete Begriff der „wissenschaftlich-technischen Revolution“, in der Phase der Neuen Ökonomischen Politik allgegenwärtig, wurde mit dem Scheitern der Ulbrichtschen Wirtschaftsreformen zum Reizbegriff, da er den Unterschied zwischen sozialistischer und kapitalistischer Gesellschaftsform zu verwischen schien. Konnte vor diesem Hintergrund ein westliches Konzept wie Stress auf die unentfremdet arbeitenden DDR-Werktätigen übertragen werden? Die Frage führte 1970 zu einem heftigen Zusammenstoß zwischen Baumann und dem damaligen Leiter des Bucher Forschungszentrums, Kurt Geiger.104 Der Auslöser der Affäre, ein in der Berliner Zeitung erschienener Artikel, der unautorisiert ein älteres Interview mit Baumann verarbeitete, barg auf den ersten Blick kaum ideologischen Sprengstoff. Sie enthielt Baumanns übliche Feststellungen über die rapide Veränderung des äußeren Milieus und die daraus folgenden steigenden Ansprüche an die „Adaptionsfähigkeit“ des Einzelnen. Provokativ konnte allenfalls die Forderung wirken, dass es Aufgabe der medizinischen Wissenschaft war, den Gefahren durch die „Umerziehung“ der psychophysischen Natur des Individuums zu begegnen. Was auch immer sich Baumann unter einer „ökonomischen Steuerung der Informationsverarbeitung der Umweltreize“ vorstellte – dass der Mensch den technischen Gegebenheiten der modernen Welt anzupassen war und nicht etwa umgekehrt, entsprach nicht unbedingt der Idee einer sozialistischen Gesellschaft, die nach ideologischem Selbstverständnis den „Menschen in den Mittelpunkt“ stellte.105 Es ist unklar, was genau Geiger dazu bewog, per Leserbrief einem verdienten Institutsdirektor ideologisches Unverständnis vorzuhalten. Baumanns dagegen eingelegte Proteste leiteten das Ende des unbeliebten Funktionärs ein. Der Klinikdirektor hielt es dennoch für notwendig, etwaige ideologische Missverständnisse 103 C. Graff, Lärm – ein Abfall der Technik? Neues Deutschland 15.2.1969, S. 12. 104 Vgl. auch diese Arbeit S. 180. 105 J. Mann, Modellexperimente in Berlin-Buch. Beziehungen Mensch-Umwelt erforschen, Berliner Zeitung 7.1.1970, S. 4.
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in der Öffentlichkeit auszuräumen. Einige Wochen später folgte an gleicher Stelle ein vollständiges Interview, das auffällig auf die Besonderheiten ökonomischtechnischen Wandels im Sozialismus abhob. Die Grundlagen des Problems waren nach Baumanns Ausführungen in Ost und West kaum verschieden – Automatisierung der Produktion, Übergang von körperlicher zu geistiger Tätigkeit, Informationsüberschuss, Intensivierung des Straßenverkehrs. Den wirksamsten Weg, die hieraus entstehenden Stressschäden zu bekämpfen, nämlich auf eine psychosozial günstige Gestaltung der Umwelt hinzuwirken, konnte allerdings nur die sozialistische Medizin wirksam beschreiten – unter der Herrschaft des Monopolkapitals blieb dem Arzt nur die Aufgabe, die Arbeitskraft des Einzelnen im Sinne des Profitinteresses zu erhalten.106 Der sozialistische Arzt hatte bei der Hypertoniebekämpfung auch den sozial-erzieherischen Auftrag, Hochdruckkranke zu einer „gesunden und optimalen Lebensgestaltung“ durch Sport, kulturelle Aktivitäten und Hinwendung zur Natur zu bewegen. Eine grundsätzliche Kritik der Lebensweise in der industrialisierten Gesellschaft bedeutete das nicht. Ähnlich wie Selye glaubte Baumann nicht, dass der Mensch den Herausforderungen der Moderne physiologisch nicht gewachsen sei und eine möglichst stressfreie Umwelt anzustreben wäre. Nach seiner Theorie der Hypertonikerpersönlichkeit waren es Menschen mit genetisch prädestiniertem oder temporär überlastetem Nervensystem, bei denen Belastungssituationen zu sich schrittweise verfestigenden, fehlgeleiteten Reaktionsmechanismen („Maladaptionen“) führten.107 Die klinische Arbeit mit dieser „stresssensiblen“ Risikogruppe sollte demonstrieren, dass das „Erlernen“ von Techniken der Selbstkontrolle bei frühem Eingreifen den Einsatz medikamentöser und invasiver Therapien überflüssig machen konnte. Der nächste Schritt bestand idealerweise darin, die Risikopersönlichkeiten durch psychophysiologische Testverfahren rechtzeitig zu erkennen.108 Diese Forderung fügte sich gut in das für das DDR-Gesundheitswesen konstitutive Konzept ein, den Schwerpunkt auf präventive Maßnahmen zu legen. Sie deckte indessen nur einen kleinen Teil der Probleme ab, die sich der Herz- und Kreislaufmedizin stellten. Von der Nische ins Zentrum Als Wollenbergers Institut für Kreislaufforschung 1965 sein eigenes Laborgebäude erhielt, waren die ursprünglichen Pläne für ein größeres Kreislaufzentrum der DAW praktisch ad acta gelegt. Die Angliederung der kleinen experimentellchirurgischen Abteilung war nach dem Tod von Kokkalis aufgegeben worden; vom Aufbau physiologischer, hämatologischer oder gerätetechnischer Gruppen war keine Rede mehr. In dieser Situation wurden die Pläne für ein nationales 106 Umwelt im Interesse einer optimalen Lebensgestaltung, Berliner Zeitung 1.3.1970, S. 13. 107 R. Baumann u. a., Theoretische und klinische Aspekte der zerebro-viszeralen Regulationskrankheit arterielle essentielle Hypertonie 1 & 2, Das Deutsche Gesundheitswesen 29 (1974), S. 673–676 & 721–733. 108 R. Baumann, Training gegen den Herzinfarkt, Neues Deutschland 29.4.1972, S. 12.
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Herz-Kreislauf-Zentrum durch die Universitätsmediziner reanimiert, allerdings in Form eines polyzentrischen Netzwerks, dessen Schwerpunkt auf der klinischen Versorgung akuter Zustände liegen sollte. Für den neuen Vorsitzenden des ZAK Herz-Kreislaufforschung, den Charité-Kardiologen Harald Dutz, konnte es beim „gegenwärtigen Stand der ökonomischen Entwicklung“ nicht mehr darum gehen, „ein neues Institut mit den entsprechenden Fachabteilungen neu [zu] bauen und aus[zu]rüsten“, sondern darum, „die vorhandenen Arbeitsstellen zusammenzuschließen und durch Umprofilierung anderer Kapazitäten neue Möglichkeiten zu schaffen.“109 Das entsprach dem damaligen wissenschaftspolitischen Kurs, der den Aufbau neuer Kapazitäten in der DAW praktisch ausschloss. Für die den ZAK dominierenden Universitätsmediziner hatte der Aufbau eines flächendeckenden Systems der intensivmedizinischen Versorgung Priorität, da insbesondere die herzchirurgischen Kapazitäten als nach internationalen Maßstäben absolut unzureichend galten. Ähnlich den Plänen, die die Onkologen ein Jahrzehnt zuvor entworfen hatten, wollte man das Problem durch Bildung fünf regionaler Herzzentren lösen – in Leipzig, Halle, Rostock, im thüringischen Bad Berka sowie, als Oberzentrum, an der Berliner Charité. Wollenbergers Institut, dessen wissenschaftliche Bedeutung nie in Frage gestellt wurde, sollte in diesem System nach Willen des Gesundheitsministeriums enger mit dem Charité-Herzzentrum verknüpft werden.110 Ob solche Pläne tatsächlich Auswirkungen auf die Arbeit in Buch hätten haben können, ist fraglich, da Wollenbergers Institut als rein experimentell arbeitender Teilbereich fest in das IMB integriert war. Keine Rede war zu dieser Zeit von einer Einbeziehung des baumannschen Instituts in den neuen Verbund. Ebenso wenig waren die 1958 ernsthaft erwogenen Pläne, Wollenbergers und Baumanns Institute zu verkoppeln und stärker an das städtische Klinikum anzubinden, noch eine reale Option.111 Das in der DDRPresse häufig als weltbekannte Musterklinik dargestellte IkvPT hatte unter den heimischen Fachkollegen nicht viele Bewunderer. Zu Beginn der 1960er Jahre wurden seine Forschungspläne in Gremien wie dem RPKmW heftig kritisiert.112 Grundsätzliche Ablehnung schlug baumannschen Ansatz nicht nur aus dem ZAK Kreislauf, sondern auch aus der Sektion Physiologie der DAW entgegen.113 Die pawlowianisch orientierte Pathophysiologie wurde trotz – oder gerade wegen – der Kampagnen der 1950er Jahre von vielen DDR-Medizinern als unwissenschaftliches Sektenphänomen wahrgenommen. Verstärkt wurde der Konflikt durch die in dieser Zeit starken Spannungen zwischen Universitätsmedizinern und Akademie. Dutz zitierte 1963 auf einer Planungskonferenz das IkvPT – ohne es namentlich zu erwähnen, aber deutlich erkennbar – als Beispiel für gesundheitspolitische Ressourcenverschwendung durch Bildung überspezialisierter und über109 N.N. (H. Dutz?), Tskr. „Die Herz- und Kreislaufkrankheiten ...“, vermutlich 1965, BAB DQ 1/22518. 110 Gehring MfG an SPK, Abt. Kultur/Gesundheit/Soziales, 6.7.1962, BAB DQ 109/205. 111 Protokoll zur Besprechung der Mitglieder des FR/Bereich Medizin am 20.10.1958, BAB DF 4/40607. 112 F. Jung, Ausarbeitung zur Perspektive des FZ Buch, 28.8.1963, BAB DY 30/IV A2/9.04/362. 113 Baumann an Klare, 9.11.1965; ders. an Leibnitz, 27.9.1965, beide ABBAW FG 191.
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dimensionierter Forschungskliniken.114 Dahinter stand der Vorwurf, Baumanns Institut richte einen großen Apparat hochgezüchteter, aber wissenschaftlich weitgehend unproduktiver Forschungsgruppen auf das Luxusproblem leichter Hypertoniefälle aus, während die Behandlung schwerer Herz- und Kreislaufkrankheiten stagnierte. Für Baumann stellte die Kritik aus der Charité ein ernsthaftes Problem dar, da Dutz’ ZAK das Recht auf fachliche Evaluation seiner Mitarbeiter beanspruchte.115 Baumann pochte seinerseits darauf, ein Institut sui generis geschaffen zu haben, dessen Arbeiten reine Kreislaufkliniker, Endokrinologen oder Elektrophysiologen nicht angemessen beurteilen konnten. Als kompetentes Kontrollgremium wollte er allein den Arbeitskreis nervale Regulation der Gesellschaft für experimentelle Medizin akzeptieren – dem er selbst vorstand.116 Carsten Timmermann führt die prekäre Stellung des IkvPT darauf zurück, dass Baumanns Akademieinstitut – im Gegensatz zur Robert-Rössle-Klinik – nicht den Status einer nationalen Leitinstitution hatte.117 Allerdings hatte Baumann keineswegs den Anspruch, die kardiovaskuläre Medizin in der DDR zu leiten; er betrachtete sein Institut nicht einmal als Kreislaufinstitut, sondern als Trägerin eines eigenständigen. nichtinvasiven Behandlungskonzepts. Als 1969 aus den Reihen des Forschungsrates der Vorschlag aufgebracht wurde, seinen Bereich unter dem Namen „Herz-Kreislauf-Forschung“ laufen zu lassen, betrachtete er dies als Affront.118 Die Charité-Kliniker ließen ihrerseits die Arbeiten vom Bucher Waldrand kaum als nennenswerte Beiträge zu Teilproblemen ihres Faches gelten. Als wertvolle Grundlagenforschung der DAW sahen sie nur Wollenbergers und Repkes Arbeiten zur Biochemie und Pharmakologie der Herzmuskelzelle an. Nach Einschätzung des ZAK war aber auch in der Pharmakotherapie noch kein Anschluss an das internationale Niveau erreicht; eigenständige Beiträge zur Physiologie der Blutdruckregulation fehlten demnach völlig. Als weiteres Desiderat galt der Aufbau einer für klinische Fragen nutzbaren Epidemiologie – die klinischen Reihenuntersuchungen des IkvPT zu den Frühstadien der Hypertonie wurden in diesem Zusammenhang ebenfalls als irrelevant übergangen.119 Vor dem Einsetzen der Akademiereform bestanden also keinerlei Grundlagen dafür, die beiden nominell „kreislaufbezogenen“ Institute der Akademie zusammenzufassen, geschweige denn sie in einen Verband mit den führenden universitären Fachinstituten einzugliedern. Weder Wollenberger noch Baumann zeigten während der Strukturdiskussionen der Jahre 1968–1969 irgendeine Neigung zu einem Zusammenschluss. Wollenberger machte sehr deutlich, dass eine Verbindung mit dem IkvPT das letzte Organisationsmodell war, das er wünschte.120 Die 114 Zur Vertiefung des Perspektivplanes der medizinischen Wissenschaft und des Gesundheitswesens der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1963, S. 76–77. 115 Klare an Kraatz, 8.10.1963, ABBAW FG 191. 116 Baumann, Jahresbericht IkvPT 1963, 13.1.1964, ABBAW FG 62. 117 Timmermann 2006, S. 255. 118 H. Abel an K. Lohs, 23.4.1969, ABBAW Buch A 87. 119 „Ergänzung zum Programm ‚Herz- und Kreislauferkrankungen“, k.A. (vermtl. Dutz), n.d. (1966), BAB DQ 1/22518. 120 Protokoll zur Sitzung des Rates der Direktoren vom 21.11.68, ABBAW Buch A 21.
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Abstoßungsreaktionen zwischen den beiden Direktoren bildeten eines der größten Probleme der damaligen Umstrukturierungsdiskussion. Sie waren der Hauptgrund dafür, dass der Direktorenrat Anfang 1969 eine Vier-Sektionen-Lösung als mögliches Organisationsmodell erwog, in der Wollenbergers Institut in eine von zwei molekular- und zellbiologischen Sektionen integriert wurde, während Baumanns Forschungsklinik selbstständig blieb.121 Diese Variante stand aber der vorgegebenen Zielsetzung entgegen, klinische und experimentelle Bereiche enger zu verknüpfen, wie es in der Krebsforschung bereits geschehen war. Die 1968 erhobene Forderung, die Bucher Institute ganz um die medizinischen Schwerpunkthemen Krebs und Kreislauf herum zu gruppieren,122 machte noch eine ganz andere Lösung denkbar. 1968 wurde eine „Querschnittkonzeption“ vorbereitet, nach der IkvPT und Kreislaufforschung mit den zu kreislaufpharmakologischen Problemen arbeitenden Abteilungen der Biochemie und der Pharmakologie sowie der anästhesiologischen Abteilung der Robert-Rössle-Klinik verbunden werden sollten. Die Initiative ging von jüngeren Mitarbeitern der unteren Führungsebene aus, die einräumten, dass „trotz mannigfacher Berührungspunkte eine nicht zu übersehende Heterogenität der speziellen Fragestellungen der verschiedenen Institute“ bestand und die wichtigsten Kooperationen bislang nicht innerhalb des Forschungszentrums, sondern mit externen Partnern unterhalten wurden.123 Es verdeutlicht die Distanz zwischen Baumanns Institut und dem Rest des IMB, dass die Diskussionen bald ohne Beteiligung aus Baumanns Institut weiterliefen.124 Das dabei entworfene Programm für eine auf Herz-Kreislauf-Probleme konzentrierte Grundlagenforschung ging im August 1968 in die Zukunftskonzeptionen des FZ Buch ein,125 war jedoch schon kurze Zeit später obsolet, da die Politik des Primats der medizinischen Praxis am Widerstand einzelner Direktoren und des Forschungsrates scheiterte. Die Mitte 1969 schließlich von der Akademieleitung verfügte Zusammenlegung der beiden Institute war organisatorisch insofern folgerichtig, als die Forschungen beider durch das kreislaufmedizinische Programm des MfG finanziert wurden.126 1972 besiegelte die Gründung des Zentralinstituts für Herz-KreislaufRegulationsforschung unter Leitung Baumanns den Zusammenschluss. Aus Sicht Wollenbergers bedeutete er eine ungewollte Übernahme.127 Schon die räumliche Trennung vom Rest des ZIHK sollte indessen gewährleisten, dass sein Bereich für 121 Beschluss des Rates der Direktoren vom 25.2.1969 zur Bildung des Zentralinstituts für Biologie und Medizin, ABBAW Buch A 87. 122 Vgl. diese Arbeit S. 166–168. 123 Entwurf einer Querschnittkonzeption der an der Herz-Kreislaufforschung beteiligten Bucher Institute der DAW, 30.7.1968, Buch A 456. 124 Entwurf der wissenschaftlichen Feinkonzeption Herz-Kreislauf, Ende Juli 1968, ABBAW Buch A 456. 125 „Feinkonzeption der wissenschaftlichen Aufgabenstellung für das medizinisch-biologische Forschungszentrum Berlin-Buch“, Aug. 1968, ABBAW Buch A 456. 126 Boehme an Wollenberger, 5.8.1969,ABBAW Buch A 448; Kommission zur Fortführung der Akademiereform beim Generalsekretär, „Konzeption zur künftigen akademieeigenen Forschung auf dem Gebiet der Medizin“, n.d. (1969), ABBAW Buch B 1144. 127 Vgl. Timmermann 2006, S. 257.
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„zelluläre und molekulare Kardiologie“ seine weitgehend selbstständige Stellung behielt.128 Die Zusammenlegung konnte ohnehin nur eine Übergangslösung sein. Nach der zentralistischen Logik des neuen Wissenschaftssystems musste ein „Zentralinstitut“ eine Leitungs- und Schrittmacherfunktion für die wichtigsten Gebiete einer Disziplin ausüben. Während das ZIK schon vor 1970 eine große Bandbreite an Problemen der klinischen Onkologie abdeckte, war dies im ZIHK nur eingeschränkt der Fall. In den folgenden Jahren ging es daher nicht allein darum, die beiden ungleichen Teilinstitute zumindest konzeptionell-semantisch aneinander anzugleichen, indem behauptet wurde, ihr Potential erlaube das „Studium aller Regulationsebenen des Organismus“ bezüglich der „beiden wichtigsten Herz-KreislaufKrankheiten (arterielle Hypertonie und ischämische Herzkrankheiten)“.129 So lange es dem Institut an herz- und kreislaufphysiologischen Forschungspotentialen sowie an invasiven therapeutischen Möglichkeiten fehlte, blieb diese Konstruktion lückenhaft. Um eine effektive Leitung des Forschungsverbandes HerzKreislauf-Erkrankungen des Gesundheitsministeriums übernehmen zu können, sollte das Bucher Doppelinstitut um neue klinische Abteilungen erweitert werden. Da diese überwiegend von Personal aus der Charité geleitet wurden, war die Umbildung de facto eine Übernahme durch den früheren Gegner. Horst Heine, der nach Baumanns Emeritierung 1978 den Direktorenposten übernahm, kam aus Dutz’ Klinik nach Buch. 1980 wurde der baumannsche Begriff „Regulation“ aus dem Namen des Instituts getilgt; es firmierte von da an unter dem Namen ZI für Herz-Kreislauf-Forschung. Nach den 1976 abgeschlossenen Planungen kam als neuer Schwerpunkt ein Bereich für Infarktforschung mit intensivmedizinischer Betreuung hinzu; neu waren außerdem die Abteilungen für radiologische Diagnostik, Angiologie, Gerinnungsphysiologie und klinische Pharmakologie. Der 1980 fertiggestellte Neubau für diese Abteilungen umfasste auch eine Klinik von 60 Betten.130 Das ZIHK war damit noch keine vollständig ausgestattete Herzklinik; das regionale Zentrum der Herzchirugie verblieb in der Charité. Der Schwerpunkt verschob sich jedoch in Richtung eines nationalen Diagnose- und Therapiezentrums für akute Fälle. Ähnlich wie am ZIK wurde das Niveau der klinischen Versorgung am ZIHK 1990 von den westdeutschen Experten sehr hoch eingeschätzt, insbesondere die poliklinische Versorgung. Die Forschungsergebnisse galten nur teilweise als konkurrenzfähig. Hervorgehoben wurden dabei besonders die alteingesessenen Gebiete
128 Persönliche Information E.-G. Krause und W. Schulze, 6.3.2013. 129 Konzeption des Zentralinstituts für Herz- und Kreislauf-Regulationsforschung, 21.6.1976, S.13, ABBAW A 905. 130 Zur neuen Struktur des ZIHK vgl. Bielka 2002, S. 102–103; Konzeption des Zentralinstituts für Herz- und Kreislauf-Regulationsforschung 21.6.1976, ABBAW A 905; ferner „Zentralinstitut für Herz-Kreislauf-Forschung der Akademie der Wissenschaften der DDR BerlinBuch“, Broschüre der AdW, 1984. Für die Überlassung des letztgenannten Dokuments danke ich Ralph Plehm.
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Hypertonieforschung und molekulare Kardiologie.131 Beide Bereiche folgten auch nach den Emeritierungen von Baumann (1978) und Wollenberger (1977) den zuvor eingeschlagenen Forschungslinien. Der Umbau des ZIHK brachte nicht nur eine Verstärkung der intensivmedizinischen Seite mit sich, sondern auch eine weitere Entwicklung der schon bestehenden sozialmedizinischen und epidemiologischen Aspekte. Wie bereits dargestellt, waren epidemiologische Daten für den Aufbau des kreislaufmedizinischen Feldes konstitutiv. Ohne statistische Basis war die Behauptung, die Kreislauf- und Herzerkrankungen stellten gleichberechtigt mit den Krebserkrankungen die neue Seuche der modernen Gesellschaft dar, in den Nachkriegsjahren alles andere als selbstverständlich. Wollenberger hatte seine Tätigkeit in der DDR mit dem ersten Versuch einer nationalen Kreislauf-Mortalitätsstatistik begonnen.132 Sein Bild eines rasanten Verfalls der Herzgesundheit war auf den entschiedenen Widerspruch des führenden Sozialhygienikers Kurt Winter gestoßen. Das Ansteigen der hierdurch verursachten Todesfälle ließ sich ebenso durch die seit den Vorkriegsjahrzehnten deutlich veränderte Altersstruktur, die sinkende Sterblichkeit durch Infektionskrankheiten sowie die verbesserte Zuverlässigkeit der Todesstatistiken erklären.133 Ebenso wenig überzeugend erschien im Jahre 1956 die aus den USA importierte Annahme, die Kreislaufgesundheit verschlechtere sich durch Ernährungsgewohnheiten wie einen gesteigerten Fettverbrauch.134 Die Risiken des modernen Konsumgesellschaft waren zu diesem Zeitpunkt kaum ein plausibles sozialhygienisches Bedrohungsszenario. Aufgrund der unzureichenden medizinalstatistischen Grundlagen sollte das Institut für Kreislaufforschung nach den ursprünglichen Plänen auch eine epidemiologische Abteilung umfassen.135 Da die Pläne scheiterten, entstand keine zentralisierte Kreislaufepidemiologie, die mit dem Meldesystem der Krebsforscher vergleichbar war. Mitte der 1960er Jahre begann der ZAK Kreislauf, diese Lücke durch epidemiologische Studiengruppen an den Universitäten zu füllen, die stichprobenartige Regionalstudien durchführten.136 Damit orientierte er sich am internationalen Trend zu Untersuchungen kleiner Durchschnittbevölkerungen, die eine genauere Bestimmung von Risikofaktoren und -gruppen ermöglichen sollte. Das Modell hierfür lieferte die 1948 in Framingham/Massachusetts begonnene 131 Wissenschaftsrat, Stellungnahme zu den außeruniversitären Forschungseinrichtungen in der ehemaligen DDR im Bereich Biowissenschaften und Medizin, Düsseldorf 1991, S. 25–30. 132 A. Wollenberger, Verbreitung der Herz- und Kreislaufkrankheiten in der Deutschen Demokratischen Republik, Das Deutsche Gesundheitswesen 11 (1956), S. 1401–1404. 133 K. Winter, Verbreitung der Herz- und Kreislaufkrankheiten in der DDR, Das Deutsche Gesundheitswesen 12 (1957), S. 327–331. 134 A. Wollenberger, Kreislaufkrankheiten und Ernährung, Das Deutsche Gesundheitswesen 11 (1956), S. 1410–1416. Wie Timmermann (2012, S. 159 & 162) ausführt, waren auch in den USA, von wo Wollenberger seine Vorstellungen mitbrachte, die meisten Exponenten des Risikofaktoren-Diskurses Laborwissenschaftler und epidemiologische Autodidakten. 135 Wollenberger/Kokkalis, Plan für die Bildung des Instituts für Kreislaufforschung, 14.5.1958, BAB DF 4/40607. 136 Protokoll Sitzung ZAK Herz- u Kreislauffragen 17.3.1965, BAB DQ 1/22518; vgl. hierzu Timmermann 2012, S. 163–164.
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Herzstudie, deren Ansatz unter maßgeblicher Beteiligung der WHO in viele Länder transferiert wurde.137 In der DDR wurden gegen Ende der 1960er Jahre erste Pilotstudien an kleinen Gruppen eingeleitet. Die Charité-Kardiologen begannen mit einer Gruppe von 622 zufällig ausgewählten, 50–54 Jahre alten Männern aus Berlin-Mitte, die einer Reihe klinisch-physiologischer Tests unterzogen und zu ihren Lebens- und Nahrungsgewohnheiten befragt wurden.138 Baumanns Klinik hatte bis dahin keine Durchschnittspopulationen untersucht, sondern umfangreiche Beobachtungen an überwiegend leichteren Hypertoniefällen gesammelt. Auch wenn Baumann sich gelegentlich darüber beschwerte, dass es für eine erschöpfende Auswertung dieses Materials an Personal fehlte,139 wurden die Massen physiologischer und klinisch-chemischer Messdaten genutzt, um die Stadieneinteilung der Hypertonie zu verfeinern und daraus computergestützte Diagnosemodelle abzuleiten. Wie erwähnt, begann das IkvPT mit seiner Fabrikstudie auch, Risikopotentiale für die gesunde Bevölkerung in den Blick zu nehmen. Es fehlten jedoch größere Erhebungen darüber, wie weit die von Baumann postulierten HypertonieRisikopersonen oder die Frühstadien der Hypertonie verbreitet waren. An dieser Stelle begannen sich die Interessen des baumannschen Hypertonieprogramms und der epidemiologisch vorgehenden Charité-Kliniker erstmals zu überschneiden. 1973 wurde unter Leitung des Internisten Hans-Dieter Faulhaber eine Modellstudie im Berliner Bezirk Pankow begonnen. Faulhaber war der erste Mitarbeiter der Dutz-Klinik, der in leitender Funktion nach Buch wechselte. Die Pankow-Studie stellte den Versuch dar, das Auftreten der Hypertonie an einer möglichst repräsentativen größeren Bevölkerung zu ermitteln. Die Durchführung einer solchen Studie war auch im Rahmen des engmaschigen DDRGesundheitssystems nicht einfach; von den ausgewählten 7572 Bürgern verweigerte sich ein Drittel, insbesondere jüngere Probanden.140 Die im Wesentlichen auf das Mittel der Blutdruckmessung beschränkte Untersuchung erbrachte keine Zahlen, die bedeutend von den bereits im Ausland oder in der DDR ermittelten abwichen. Sie verdeutlichten vor allem, dass die Dunkelziffer bei der Hypertonie erheblich war. 41% Männer und 32% der Frauen, bei denen chronisch erhöhter Blutdruck gefunden wurde, hörten die Diagnose zu ersten Mal. Wichtiger noch: 30 bzw. 26% der bereits diagnostizierten Personen waren noch nicht behandelt worden. Diese dem „humanitärem Anliegen unserer sozialistischen Gesundheitspolitik“ widersprechenden Zahlen wurden als Warnruf an die weitere Entwicklung der Kreislaufmedizin in der DDR wahrgenommen. 137 Aronowitz 1998; Giroux 2012. 138 S. Böthig, W. Barth, H. Hutzelmann, Programm und Organisation der epidemiologischen Herz-Kreislauf-Studie Berlin-Mitte, Das Deutsche Gesundheitswesen 25 (1970), S. 1203– 1207. 139 Protokoll zur Sitzung der Arbeitsgruppe für klinische Medizin und klinisch-experimentelle Forschung beim Rat der Direktoren, 4.3.1964, BAB DY 30/IV A 2/9.04/362, auch ABBAW Buch A 18. 140 H.D. Faulhaber u.a., Hypertonie-Bekämpfungsprogramm in der DDR. Modellstudie BerlinPankow - erste Ergebnisse und Schlußfolgerungen, Das Deutsche Gesundheitswesen 31 (1976), S. 1537–1542.
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Die Zukunftskonzeption des ZIHK von 1976 hielt fest, dass die unbehandelten Hypertoniker keine sozialmedizinische Randerscheinung, sondern ein Problem von existenzieller politisch-ökonomischer Bedeutung waren: „Ohne eine effektive Bekämpfung der sich zu einer Seuche des 20. Jahrhunderts ausweitenden HerzKreislauf-Krankheiten ist eine ungefährdete Entwicklung aller Bereiche unseres sozialistischen Lebens undenkbar.“141 Die Lösung des Problems konnte offensichtlich nicht eine bessere klinische Betreuung der bekannten Fälle liefern, sondern nur ein integriertes Früherkennungs- und Behandlungsprogramm. Die Kreislaufmediziner schwenkten damit auf einen Screening- und Präventionsansatz ein, den die Krebskliniker schon wesentlich früher verfochten hatten. Ironischerweise geschah dies zu einer Zeit, in der das Vertrauen in den Wert großangelegter Früherkennungskampagnen bei den Onkologen bereits merklich schwand.142 Zum neuen Kernpunkt der Hypertonieforschung des ZIHK wurde in der Folgezeit ein großangelegtes diagnostisches Programm, durch das für ausgewählte Bevölkerungsgruppen Häufigkeit und Erscheinungsformen der Hypertonie ermittelt werden sollten. Der Untersuchungskatalog reichte von der üblichen Anamnese (mit besonderer Berücksichtigung der Familienanamnese, da dem hereditären Faktor immer größere Bedeutung beigemessen wurde) über EKG und Thoraxröntgenaufnahme bis zu biochemischen Blutanalysen.143 Bis Anfang der 1980er Jahre durchliefen 160000 Menschen in verschiedenen Regionen dieses Untersuchungsprogramm, das zugleich den klinischen Datenschatz vergrößerte und an eine Therapiekonzeption gekoppelt war.144 Für den neuen ZIHK-Direktor Heine konnte dieses spezielle Hypertonieprogramm nur der Ausgangspunkt für ein umfassenderes „komplexes Bekämpfungsprogramm“ der chronischen HerzKreislauf-Krankheiten sein. Insbesondere das bis dahin in der DDR wenig verfolgte Problem des Schlaganfallrisikos wurde epidemiologisch und präventivmedizinisch verstärkt bearbeitet.145 Damit lag das Augenmerk nicht allein auf der Verfeinerung der therapeutischen Leistungsfähigkeit des Zentralinstitutes selbst, sondern noch mehr auf der Knüpfung eines engeren Netzes von Präventions- und Behandlungskapazitäten, die nach in Buch entwickelten Standardmethoden verfuhren. Das ZIHK wuchs damit in eine Rolle hinein, die das ZIK schon länger ausfüllte – als Angelpunkt eines Gesundheitssystems, dessen Ideal die frühzeitige Bekämpfung chronischer Erkrankungen durch ein flächendeckendes Diagnoseund Therapieangebot war.
141 Konzeption des Zentralinstituts für Herz- und Kreislauf-Regulationsforschung, 21.6.1976, ABBAW Buch A 905, S. 4. 142 Vgl. auch diese Arbeit S. 263–265. 143 H.D. Faulhaber, R. Baumann, R. Gohlke, Programm zur Bekämpfung der arteriellen Hypertonie 1., Das Deutsche Gesundheitswesen 30 (1975), S. 721–723. 144 H.D. Faulhaber, Gegen den hohen Blutdruck, Spektrum 12 (1981), Nr. 5, S. 8–9. 145 H. Heine, L. Heinemann, B. Seidel, H. Kant, Aufgaben und Probleme eines bevölkerungswirksamen Programms zur Bekämpfung chronischer Herz-Kreislauf-Krankheiten unter besonderer Berücksichtigung der zerebrovaskulären Insuffizienz, Das Deutsche Gesundheitswesen 33 (1978), S. 1623–1626.
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Dieser Ansatz unterschied sich insofern von der westlichen Realität, als etwa durch obligatorische Betriebsuntersuchungen eine große Screeningbreite erreichbar war, nicht aber in konzeptioneller Hinsicht. Im Gegenteil zeigte sich – abermals wie in der Onkologie – eine geradezu bedingungslose Orientierung an westlichen Begriffen und Methoden. Wie die Außenpolitik der DDR war auch die Wissenschaft von dem Ziel durchdrungen, auf internationaler Ebene anerkannt und – möglichst als Musterschüler – wahrgenommen zu werden. Die Hypertoniestudien wurden im Zusammenhang mit dem Programm MONICA (Monitoring Cardiovascular Diseases) der WHO durchgeführt. Nicht nur in den epidemiologischen Standards, auch in der Betonung der alltäglichen Risikofaktoren für die Kreislaufgesundheit orientierte man sich ganz an den auf internationalen Ideenbörsen gehandelten Begriffen. Die Warnung vor zu fettiger Ernährung sowie vor der Kohlenhydrat-Überversorgung gehörte ab den 1970er Jahren zu den Standards der ZIHK-Gesundheitspropaganda, verbunden mit der Selbstverpflichtung, der Bevölkerung diese Risiken durch intensivere Aufklärungsarbeit klarzumachen.146 In der starken Betonung der Gefahren falscher Ernährung – verbunden mit dem Rauchen und fehlender Bewegung – lag ein deutlicher Unterschied zu dem unter Baumann verfolgten Ansatz. Das kortikoviszerale Regulationskonzept legte seinen Focus auf die soziale Bedingtheit des Bluthochdruckes und enthielt so ein zumindest implizites Moment der Kritik an der realsozialistischen Arbeitswelt. Auch wenn die Abhilfe in einem autoritären Modell einer pawlowschen „Umkonditionierung“ gesucht wurde, war doch eine Umgestaltung der Lebensumwelt stets als Perspektive in diesem Konzept vorhanden. Indem sich der Akzent auf den Überkonsum von Risikosubstanzen verschob, trat auch die Rolle des individuellen Fehlverhaltens stärker in den Vordergrund. Wenn gefordert wurde, dass sich im „Kampf gegen den Bluthochdruck .... jeder einzelne der eigenen Verantwortung gegenüber seiner Gesundheit bewußt sein” sollte, konnte dabei leicht die „gesellschaftliche Aufgabe“ des Mediziners zur Pflicht des Konsumenten werden.147 Der Sozialmediziner Jens-Uwe Niehoff, schon zu DDR-Zeiten ein ausgesprochender Kritiker dieser Kehrseite des Riskofaktoren-Ansatzes, hat diese diskursive Verschiebung als charakteristisch für die gesamte DDR-Medizin in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre beschrieben. Den Grund hierfür sieht er sowohl in der Übernahme international vorherrschender Deutungsmuster als auch in einem „abnehmenden politischen Vermögen, Prävention durch soziale und lebensweltliche Modernisierungsprozesse zu bewirken“. Die Hinwendung zu einer Prävention durch paternalistische Erziehung zum Verzicht ist in diesem Sinne ein „symbolischer Ausdruck sozialer Stagnation“.148 In anderen Worten: Wenn die Kreislaufgesundheit ein soziales Problem war, hing ihre Verbesserung weniger von der Effektivität des Gesundheitssystems ab als von einer Veränderung der allgemeinen Arbeits- und Lebensverhältnisse. Dieser Zusammenhang schien durch, wenn 146 H. Heine, Barrieren gegen den Herzinfarkt, Spektrum 14 (1983), Nr. 7, S. 5–7. 147 H. Baumann, H.D. Faulhaber, Wenn der Blutdruck neu geregelt wird, Neues Deutschland 8./9.4.1978, S. 12. 148 Niehoff 1999, S. 105.
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Heine bemerkte, die Verbesserung der Gesundheitslage ließe sich nicht allein durch Appelle zu einer gesünderen Ernährung erreichen, sondern müsse auch eine bessere Versorgung mit „gesundheitsfördernden Nahrungsmitteln in allen Territorien“ beinhalten.149 Auch diese scheinbare Verpflichtung des Staates implizierte jedoch letztlich eine Tendenz zur paternalistischen Konsumentenbevormundung; wie Niehoff feststellt, kam es durch den Einsatz von Medizinern tatsächlich dazu, dass in einer Region der DDR zeitweilig alle „krankmachenden“ Lebensmittel von Süßwaren bis zum Rauchfleisch aus den Kaufhallen verschwanden, sehr zum Unwillen der Bevölkerung.150 Die leitenden Wissenschaftler des ZIHK schienen es als persönliche Niederlage zu betrachten, dass sich trotz ihrer Bemühungen die Ernährungsgewohnheiten in der DDR nicht änderten, sondern entgegen den Entwicklungen in vielen westlichen Nationen während der 1980er Jahre Tabak- und Alkoholgenuß, Cholesterinspiegel und Blutdruck weiter anstiegen.151 Auch die umfangreichsten Präventions- und Diagnoseprogramme konnten die Optimierung der persönlichen Gesundheit nicht erzwingen. In dieser Hinsicht machte die DDR dieselben Erfahrungen wie die kapitalistischen Länder, deren Lösungsansätze sie, wie auf so vielen Gebieten, auch in der Kreislaufmedizin kopierte.
149 H. Heine, Speisekarte – Fahrkarte zur Arteriosklerose?, Spektrum 18 (1987), Nr. 10, S. 10– 12. 150 Niehoff 1999, S. 122. 151 L. Heinemann, Gesundheit – auf dem Weg zur Trendwende?, Spektrum 18 (1987), Nr. 7, S. 1–3.
SCHLUSS War die Geschichte der Bucher Institute zwischen 1945 und 1989 eine Erfolgsgeschichte? Nimmt man die Entwicklung nach 1989 zum Maßstab, die nur für wenige Institutionen der DDR positiv verlief, scheint das der Fall zu sein. Buch ist weiterhin Standort eines der größten molekularbiologisch-medizinischen Forschungszentren der Republik. Bei der Transformation spielte eine wichtige Rolle, dass führende Vertreter des neuen Wissenschaftssystems nicht nur die Konzentration von qualifiziertem Personal und Infrastruktur, sondern auch das Bucher Organisationsmodell als erhaltenswert ansahen. Als der westdeutsche Wissenschaftsrat den Institutskomplex evaluierte, kamen die oft geäußerten Vorbehalte gegenüber dem DDR-Wissenschaftssystem zum Tragen: veraltete technische Ausrüstung, teilweise veraltete Forschungsthemen, aufgeblähter Personalstamm – vor allem aufgrund einer Vielzahl rein technischer und auftragsbezogener Projekte – sowie, in den Kliniken, ein Übermaß an Betten und reinen Therapieaufgaben.1 Das Expertengremium war aber der Meinung, dass der bestehende Zusammenhang verschiedener Projektgebiete und vor allem die lokale Verbindung zwischen Laboren und Kliniken ein unbedingt erhaltenswertes Potential darstellten. Entsprechend lief das Projekt für den Neuanfang unter dem Namen „molekulare Medizin“. Die Vorschläge der WissenschaftlerInnen vor Ort gingen in eine ähnliche Richtung. Die Wissenschaftlichen Räte der Zentralinstitute – weitgehend zusammengesetzt aus bereits zuvor leitend tätigen ForscherInnen und ÄrztInnen – entwarfen Mitte 1990 zunächst ein Konzept für eine Großforschungseinrichtung „Gesundheitsforschung“, das später in „Biomedizinische Forschung“ umbenannt wurde.2 Es war keineswegs selbstverständlich, dass diese etablierten Leitbilder während des politischen Umbruchs aufrechterhalten wurden. Die Idee einer Forschung mit medizinischer Zielsetzung hatte, wie gesehen, über Jahrzehnte immer wieder zu Problemen und Konflikten geführt; außerdem hatten sich viele Bucher Projektbereiche von klinischen Bezügen längst entfernt. Der Begriff der „Großforschung“ war mit dem Zentralismus des DDR-Planungswesens konnotiert. Es wäre durchaus nicht überraschend gewesen, wenn man sich lieber von den alten Konzepten getrennt und eine organistorische Entflechtung vorgezogen hätte. Offensichtlich sah man das etablierte Bucher Modell der Kräftekonzentration in der Krisensituation als geeignete Überlebensstrategie an, während von westlicher Seite das oft belächelte DDR-System der „Großforschung“ als zukunftsfähige Ergänzung der eigenen eher dezentralen Forschungslandschaft betrachtet wurde. Die früheren Organisationsformen wurden jedoch nicht einfach weiterge1 2
Wissenschaftsrat, Stellungnahme zu den außeruniversitären Forschungseinrichtungen in der ehemaligen DDR im Bereich Biowissenschaften und Medizin, Düsseldorf 1991. Bielka 2002, S. 120–128.
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führt. Das neue Forschungszentrum MDC, dessen thematisches Profil zunächst noch weitgehend von dem des ZIM geprägt war, unterschied sich mit seinem Aufbau, der auf kleineren autonomen Arbeitsgruppen basierte, klar von dessen hierarchischer Struktur. Das bisherige Modell von mit Forschungsinstituten verbundenen Fachkliniken fand keine Fortführung. Die Robert-Rössle-Klinik sowie der vormalige klinische Bereich des ZIHK wurden (letztere unter dem Namen Franz-Volhard-Klinik) zunächst in die Berliner Universitätmedizin eingegliedert, um 2001 an einen privaten Betreiber abgegeben zu werden, der die alten Standorte schließlich aufgab. Sie fielen damit einer Umstrukturierung des Berliner Krankenhauswesens zum Opfer, die konsequenter als die frühere DDR-Politik eine Rationalisierung therapeutischer Kapazitäten durchsetzte. Eine Kontinuität zur Zeit der Akademieinstitute bestand aber darin, dass Buch ein Experimentierfeld für den Aufbau effektiver medizinisch-biologischer Forschungsstrukturen blieb. Wie in dieser Arbeit ausgeführt wurde, kann die gesamte Entwicklung seit 1945 als Suche nach einer geeigneten Strategie angesehen werden, dieses Wissenschaftsfeld entsprechend den Möglichkeiten des kleinen, ressourcenarmen Staates DDR zu optimieren. Das war ein Unterschied zur Rolle der Vorläuferinstitution KWIH, welche ein durch staatliche und privatwirtschaftliche Interessen ermöglichtes Pionierinstitut war, das neuartige interdisziplinäre Verbindungen erprobte, aber auf die sehr spezifische Forschungskonzeption eines einzelnen Forschers (beziehungsweise Forscherpaares) ausgerichtet war. Die Gründung des IMB in den Gebäuden des früheren KWIH ergab sich aus einer Situation, in der alle wissenschaftlichen Institutionen zusammengebrochen und die meisten Wissenschaftler heimatlos waren. Bot der relativ intakte Standort Buch zunächst eine Basis, um im Zeichen des beginnenden Systemwettkampfes qualifizierte Forscher zum Verbleib in der SBZ zu verlocken, entwickelte sich der Campus schnell zum Schrittmacherprojekt eines neuen Forschungssystems. Angesichts der schwierigen Ausgangslage war es eine rationale Strategie, die verfügbaren Kräfte zu bündeln und so auf Modernisierung durch Zentralisierung zu setzen. Das Projekt IMB entwickelte sich aber zunächst nicht, wie intendiert, zu einem Großinstitut, das eine einheitliche Zielsetzung auf dem Gebiet der Krebsforschung verfolgte. Es wurde vielmehr zu einem Institutsverbund, dessen Arbeitseinheiten sich relativ unabhängig entprechend den Vorstellungen ihrer Leiter ausdifferenzierten. Versuche, in Buch zusätzliche Institute anzusiedeln, die als Modernisierungslokomotive für schwach entwickelte Gebiete in Medizin und experimenteller Biologie fungieren sollten, erwiesen sich als nur ansatzweise realisierbar. Die DDR verfügte in den 1950er Jahren nicht über die personellen und materiellen Ressourcen, den Aufbau eines umfassenden nationalen Forschungszentrums in Buch umzusetzen. Ebenso fehlten die organisatorischen Voraussetzungen für die Bildung nationaler Forschungsprogramme, in deren Zentrum ebenfalls Bucher Einrichtungen stehen sollten. Im folgenden Jahrzehnt zielte eine neue forschungspolitische Führung darauf ab, diese Situation zu ändern. Die Versuche, eine langfristige Konzeption für den Aufbau nationaler Schwerpunktprogramme aufzubauen, wirkte direkt auf die Bucher Institute zurück. Der Grund lag weniger in programmatischen Vorgaben –
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die zunächst aufgrund der starken Stellung der Bucher Institutsdirektoren kaum Aussicht auf Durchsetzung hatten – als in der Einschränkung des Akademieetats zugunsten der industrienahen Forschung. Damit endete die bis dahin anhaltende Expansion des Institutskomplexes und es begann ein verschärfter Konflikt um Ressourcen, der bereits schwelende interne Gegensätze aufbrechen ließ. Dabei zeigte sich, dass die interdisziplinäre Zusammenarbeit im IMB eher Ideal als Realität war und dass „medizinische Praxis“ und „biologische Grundlagenforschung“ nicht in naturgegebener Harmonie koexistierten, sondern in einem grundsätzlichen Interessenkonflikt standen. Die 1960er Jahre wurden so zwangsläufig zur Zeit einer scharfen Auseinandersetzung um die Fragen, was das IMB war und was es zukünftig sein sollte – insbesondere im Hinblick darauf, wie man der Herausforderung der molekularbiologischen Revolution begegnen wollte. Gegenwärtig wurde die Zukunft dann gegen Ende des Jahrzehnts, als Partei und staatliche Institutionen erstmals direkt in die Leitungsstrukturen und die Programmatik der Institute eingriffen. In der Reformperiode wurde mit den Anliegen, die zuvor eher als wissenschaftspolitische Ideale diskutiert worden waren, Ernst gemacht: Konzentration wissenschaftlicher Spitzenkapazitäten im Zentrum Buch, Bildung größerer nationaler Forschungskomplexe, gezielte Einbindung der akademischen Forschung in volkswirtschaftlich wichtige Entwicklungsvorhaben, straffere institutionelle Organisation unter ständiger Kontrolle der Partei. Auch wenn gerade die materiellen Aspekte dieses Umbaus nicht annähernd so umgesetzt werden konnten wie beabsichtigt, änderten sich damit die Voraussetzungen der wissenschaftlichen Arbeit komplett. Hatten zuvor die Direktoren fast unbeschränkt über ihre Teilinstitute geherrscht und die Politik des Institutsverbundes kollegial (in der Sache aber oft konfrontativ) ausgehandelt, wurden nun Strukturen installiert, welche die interne Zusammenarbeit fördern sollten, aber ein formal hierarchisches Leitungsmodell vorgaben. Vertragsbeziehungen mit Betrieben, die in den 1960er Jahren selten und stets auf eigene Initiative zustandegekommen waren, wurden nun alltäglich; die Forschung war in Projektverbünden organisiert, die den ständigen Austausch mit externen Partnern erforderten. Die neue Situation führte nicht dazu, dass Arbeitsgruppen die souveräne Bestimmung über ihre Forschungsinhalte aufgeben mussten – im Gegenteil, in Buch wurden ausgesprochen grundlagenorientierte Projekte über außergewöhnlich lange Zeiträume verfolgt. Allerdings stand die gesamte wissenschaftliche Praxis unter dem Vorzeichen der politischen Erwartung wirtschaftlich verwertbarer Ergebnisse. Konnten die Wissenschaftler ihre „Überführungsaufgaben“ zunächst weitgehend selbst ausgestalten, weil ihren potentiellen Industriepartnern zumeist Expertise und Innovationsinteresse fehlten, nahmen die „praxisorientierten“ Kooperationen immer größeren Raum ein. Die Lage im Forschungszentrum Buch wurde damit zu einem Abbild der Situation der DDR insgesamt: Die Forschung sollte Beiträge zur Linderung einer ökonomischen Systemkrise liefern, welche ihre eigenen Möglichkeiten zunehmend einschränkte. In dieser Hinsicht ist der Weg vom improvisierten Komplexinstitut IMB zum planwirtschaftlichen Großvorhaben FZMM keine Erfolgsgeschichte. In der vorherrschenden Sichtweise der DDR-Historiographie ist er das Beispiel eines voll-
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kommenen Scheiterns einer realitätsfremden Forschungspolitik, die wiederum nur ein Aspekt der Unfähigkeit der SED-Führung war, eine effektive Modernisierung des Wirtschaftssystems umzusetzen. Aus dieser Perspektive gelang es der Partei auch nicht, ihr Ziel einer Steuerung beziehungsweise einer durchgehenden „Politisierung“ der Wissenschaft zu erreichen, weil die Forscher trotz aller institutionellen Einbindung die Inhalte letztlich selbst gemäß ihrer eigenen Interessen festsetzten, wozu oft die bloße „Zuhilfenahme verbaler Tricks“ ausreichte.3 In einer solchen Darstellung schrumpft das Verhältnis von Politik und Wissenschaft auf ein Räuber-und-Gendarm-Spiel zusammen, in dem die eine Seite ohne Sachverstand, aber mit viel Machtbewusstsein auf die Einhaltung formalisierter Sprech- und Handlungsweisen achtet, während sich die andere mit schwejkscher List im Reich des reinen Erkenntnisstrebens einrichtet. Es ist nicht zu bestreiten, dass in einem autoritären Einparteienstaat der Antagonismus zwischen politischem Herrschaftsanspruch und den Interessen der Wissenschaft stark ausgeprägt war und von Beteiligten entsprechend deutlich wahrgenommen wurde. Die Wissenschaftspolitik der SED zielte eindeutig darauf ab, den gesamten Wissenschaftsbetrieb durch Stärkung parteitreuer Kräfte sowie Beteiligung an Leitungsentscheidungen unter Kontrolle zu bekommen. Wie dargestellt wurden dahingehende Versuche in Buch, ähnlich wie in anderen Akademiezentren, jedoch über zwei Jahrzehnte nur mit wenig Nachdruck und mit geringem Erfolg durchgeführt. Als sich die Verhältnisse um 1970 durch die obligatorische Einsetzung von SED- und Stasi-Kontrolleuren deutlich änderten, stellte dies aus Sicht der Betroffenen einen mindestens so tiefgreifenden Bruch dar wie der zeitgleiche Umbau der Forschungsstrukturen. Hatten Beschränkungen von Reisemöglichkeiten und Aufstiegschancen schon zuvor existiert, vermittelte nun die Dauerpräsenz der Partei das Gefühl, ständig den oft nicht nachvollziehbaren Interventionen einer fachfremden Macht ausgeliefert zu sein.4 Diese Politisierung der Forschungslenkung war ein integraler Teil des Plansystems, aber keineswegs der entscheidende Grund dafür, dass sich zwischen den Zielsetzungen und der Realität der Forschung wachsende Diskrepanzen auftaten. Wesentlich hierfür waren die ökonomischen Bedingungen eines nichtkapitalistischen, zentralistischen Systems, das nur sehr begrenzten Raum für den internationalen materiellen und intellektuellen Austausch sowie für dynamische Beziehungen zwischen Forschung und Industrie ließ. Eine intensivierte Steuerung der Forschung war in diesem Rahmen der zum Scheitern verurteilte Versuch, diese Erscheinungen auszugleichen, nicht aber die Ursache aller forschungsinternen Dysfunktionen. Indem es das Phänomen der Planung auf einen wissenschaftsfremden Bürokratismus reduziert, geht das Narrativ des „politisch bedingten Scheiterns“ letztlich an den grundlegenden Problemen des planwirtschaftlichen Staates DDR vorbei. Der Begriff des „Scheiterns“ beinhaltet eine weitere problematische Setzung. Er suggeriert, mit dem Zurückbleiben gegenüber dem internationalen Spitzenniveau seien in der DDR generell die Normen guter wissenschaftlicher Arbeit 3 4
Malycha 2016, S. 295. Bielka 2002, S. 114–115 & 118–119.
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verfehlt worden. Die Verhältnisse in der molekularbiologischen Großforschung, wie sie ab den 1960er Jahren in Nordamerika und Teilen Westeuropas vorherrschten, waren aber nicht „normal“, sondern ein Ausdruck von politischen und ökonomischen Umschichtungen, wie es sie in der Geschichte der Wissenschaften zuvor nicht gegeben hatte. Nicht nur investierten die großen Industriemächte erheblich in die Zukunftversprechen der Biowissenschaften, es entstand auch ein eigenständiges ökonomisches Feld, auf dem Spezialfirmen für die Bedürfnisse einer wachsenden biomedizinischen Fachgemeinschaft produzierten, deren Entwicklungen immer breitere Möglichkeiten der Finanzierung und der marktorientierten Umsetzung fanden. Die sozialistischen Länder konnten dieser dynamischen Entwicklung unmöglich folgen, standen aber zugleich im Bann der im Westen gesetzten Standards. Ab den 1970er Jahren verschärfte sich die schon zuvor ausgeprägte Abhängigkeit der DDR-Wissenschaft vom materiellen und vom geistigen Import. Die Zukunftsprognosen, auf denen die in Buch verfolgten Projekte beruhten, folgten westlichen Vorbildern. Da man sich der mangelnden Konkurrenzfähigkeit auf den meistbeachteten Arbeitsgebieten bewusst war, wurden oft Projekte auf weniger umkämpften Feldern ausgewählt. Auch hier galt aber, dass die direkte Kooperation mit dem Klassenfeind der beste Anschub für die sozialistische Wissenschaft war. Die begrenzten Möglichkeiten für den Import oder inländischen Erwerb modernster Arbeitsmittel führten dazu, dass die Institute immer mehr wissenschaftlich-technische Aufgaben übernahmen – die Entwicklung von Laborgeräten, die Produktion hochspezifischer chemischer und biologischer Versuchsmaterialien, die Durchführung routinemäßiger Testverfahren, die Weiterentwicklung produktreifer Prinziplösungen. Sie füllten damit Lücken im heimischen Entwicklungs- und Produktionssystem und emulierten so Funktionen, die im Westen von einer ausdifferenzierten wissenschaftsnahen Industrie oder von Start-Ups übernommen wurden. Diese Situation kostete nicht nur Kräfte, sie durchdrang den ganzen Arbeitsprozess und die Organisation der Forschung. Die naturwissenschaftliche Forschung war in dieser Beziehung den widersprüchlichen Folgen des Systemwettbewerbs ebenso unterworfen wie alle gesellschaftlichen Bereiche: Während der sozialistische Staat beanspruchte, in jeder Beziehung ein Gegenmodell zum kapitalistischen System zu sein, übernahm er doch dessen ökonomische und technologische Strategien, ohne über dessen Mechanismen des Wettbewerbs und des freien Kapitalflusses zu verfügen. Die Schwierigkeiten, den selbstgesetzten Maßstäben wissenschaftlicher Produktivität gerecht zu werden, sollen damit keineswegs allein auf die materiellen Forschungsbedingungen zurückgeführt werden. Die beteiligten Forscher neigten und neigen eher dazu, das intellektuelle Klima als Hemmnis für neuartige und eigenständige Ideen zu betonen. Von wissenschaftlichen Führungskräften wurde der fehlende Austausch mit dem Ausland sehr offen und wiederholt kritisiert; ebenso war man sich der Beschränktheit eines nationalen Wissenschaftssystems bewusst, das nur sehr wenig Fluktuation zwischen Institutionen und Fachgebieten zuließ und den Rahmen für externe Kontrolle und qualifizierte Kritik eng eingrenzte. Rückblickende Selbsteinschätzungen über die in Buch oder in anderen Instituten der DDR erbrachten Leistungen, die zumeist sehr nüchtern ausfallen,
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verweisen oft ebenfalls auf diese Problemlage. Der Biomathematiker Jens Reich konstatiert schonungslos, vor allem der fehlende direkte Ideenaustausch mit führenden westlichen Kollegen habe dazu geführt, dass man internationales Spitzenniveau, und damit den einzigen Maßstab für wissenschaftliche Leistungen, verfehlt habe.5 Diese Einschätzung lenkt den Blick auf die intellektuelle Isolation und Unbeweglichkeit der DDR. Sie deutet aber zugleich an, dass es in einem peripheren Land kaum möglich war, selbst die Standards guter Wissenschaft zu definieren. Spätestens seit den 1960er Jahren wurden Entwicklungstempo und maßgebliche Trends der Biowissenschaften und Medizin fast ausschließlich in den USA und einigen Zentren in Westeuropa vorgegeben. Das schloss eigenständige, erstklassige Ergebnisse an der Peripherie nicht aus. Vor allem in den 1960er und 1970er Jahren konnten die Bucher Forschungsgruppen um Graffi, Wollenberger, Bielka und Repke auf ihren Fachgebieten eigene Maßstäbe setzen und wurden als Teil der internationalen Spitzenforschung anerkannt. Alle diese Projekte hatten frühzeitig Felder erschlossen, auf denen die Entwicklung noch fließend war. Die Technisierung der biowissenschaftlichen Forschung machte es in der Folgezeit immer schwieriger, mit den Zentren mitzuhalten oder eigene Akzente zu setzen – und mit diesen wahrgenommen zu werden. Dass die Arbeiten, die in Kooperation mit westlichen Partnern publiziert wurden, stets eine weit höhere Rezeption erfuhren als solche aus reiner DDR-Produktion, zeigt, wie gering die Chancen in dieser Hinsicht waren. Ohne Zweifel war die zunehmende planerische Regulierung der Forschung ab den 1970er Jahren ein Faktor, der den Spielraum für Flexibilität und Kreativität einengte. Sie sorgte auch für ausgesprochen dysfunktionale Überplanungen – wie etwa das Moltest-Programm – und konnte auf Institutsebene zur Opferung vielversprechender Forschungslinien im Namen der Schwerpunktbildung führen. Auch diese Entwicklungen müssen allerdings in einem internationalen Kontext betrachtet werden. Eine Tendenz zu staatlich geförderten Großprogrammen und stärkerer Praxisorientierung zeichnete sich im gleichen Zeitraum auch in den westlichen Wissenschaftsgroßmächten ab. In der DDR wurde dieser Ansatz mit dem Prinzip der zentralisierten „Großforschung“ auf die Spitze getrieben – wenn sich dieses auch oft viel mehr auf dem Papier niederschlug als in der Praxis. Aufgrund des starken ökonomischen Drucks, eine Rationalisierung der verfügbaren wissenschaftlichen Ressourcen zu erreichen, gelang in dieser Beziehung, was der DDR-Wissenschaft bezüglich der Forschungsinhalte zumeist verwehrt war – Avantgarde zu sein. Die Frage danach, was die spezifische sozialistische Prägung der Bucher Entwicklung ausmachte, führt also keineswegs ins Leere, aber überwiegend zu ambivalenten Antworten. Inwiefern lassen sich lokale Besonderheiten des Bucher Großforschungszentrums ausmachen, die es von ähnlichen Institutionen unterscheiden? Es gehört zum Selbstbild des heutigen Forschungsinstituts, dass seine Struktur und Programmatik an lokale Traditionen anknüpfen. Das gilt in erster Linie für die gewachsene Verkoppelung von Laborforschung und klinischer Praxis, die als ideales Startkapital für eine moderne Grundlagenforschung mit klarem 5
Reich 1992, S. 416
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Anwendungsbezug gesehen wird.6 Die Verbindung zwischen Klinik und Labor ist fraglos insofern ein charakteristisches Merkmal des Standortes Buch, als während seiner gesamten Geschichte mit Modellen für eine wirksame Wechselbeziehung experimentiert wurde. Das Programm, mit dem sich das KWI für Hirnforschung 1930 in Buch ansiedelte, sah ein zu dieser Zeit außergewöhnliches Verhältnis von multidisziplinärer Forschung und Spezialklinik vor. Dieser kaum realisierte Ansatz folgte dabei einem sehr spezifischen Ziel, nämlich einer Verbindung von klinischen Beobachtungen an einer eng definierten Patientengruppe mit möglichen hirnanatomischen Untersuchungen post mortem. Dies war eine deutlich andere Form der Klinik-Forschung-Beziehung als später in der Robert-Rössle-Klinik, deren Studien an großen Patientengruppen dem Vergleich von verschiedenen, nicht in jedem Fall neuartigen Krebsbehandlungsmethoden dienten. Ein Transfer von der Grundlagenforschung in die klinische Praxis (und umgekehrt), der ein Hauptziel bei der IMB-Gründung war, fand nur selten statt, da Arbeitsweisen und Erkenntnisinteressen von Klinikern und Experimentalforschern zu sehr differierten. Was die Bucher Institutsgeschichte verdeutlicht, ist vor allem, dass die vielbeschworene Einheit von Laborbank und Krankenbett ein Idealbild war, dessen Realisierung zumeist gravierende Probleme und Konflikte aufwarf. Die hervorstechendste historische Konstante, die sie widerspiegelt, besteht in der wiederkehrenden Wahrnehmung, das Verhältnis von Forschung und Praxis sei defizitär und müsse durch einschneidende Strukturreformen intensiviert werden – eine Sichtweise, die heute durch das Programm der „translationalen“ Medizin repräsentiert wird, welches bei der Gründung des Berlin Institute of Health Pate gestanden hat. Einen genius loci des Standortes Buch zu definieren, ist schon angesichts der Heterogenität seiner Forschungstraditionen kaum möglich. Die Institutsgeschichte zeigt jedoch auf, wie sehr Traditionen auf das Selbstverständnis von Institutionen zurückwirken können. Bei der Gründung des IMB spielte der Bezug auf noch lebendige Forschungsansätze des KWIH – die Verbindung von strahlenbiophysikalischen Methoden und strukturbiologischen Fragestellungen – eine wichtige Rolle. Diese Programmatik trat bald so sehr in den Hintergrund, dass das IMBDirektorat 1960 keine institutionelle Kontinuität mit dem KWIH mehr sah – oder sehen wollte.7 In der Folgezeit kam es aber zu Rückbesinnungen auf KWIHTraditionen – indem man sich etwa im kortikoviszeralen Institut auf die vogtsche Hirnarchitektonik berief oder indem die Person und die Arbeiten Nikolai Timoféeff-Ressovskys beim Neuaufbau der molekularen Genetik „wiederentdeckt“ wurden. Damit setzte die Konstruktion einer Traditionslinie ein, die TimoféeffRessovsky zu einem lokalen Spiritus rector und seinen Diskussionspartner Max 6
7
„Das MDC wurde 1992 mit einer weit vorausschauenden Vision gegründet. Wir wollten die Erkenntnisse über die fundamentalen Bausteine des Lebens für neue Verfahren der Diagnostik und der Therapie nutzbar machen. ..... Kaum ein Ort ist für ein Institut mit dieser Mission besser geeignet als Berlin-Buch. Die Forschungsgeschichte dieses Campus sowie die Spezialkliniken, die für das Projekt zusammengeführt wurden, sprachen für diese Überzeugung: Hier ist der Ort, Gesundheit und Krankheit grundlegend zu erforschen.“ W. Birchmeier, Vorwort in MDC Research Report 2008, S. VII-XII, S. VII Protokoll zur Sitzung des Direktoriums am 10.3.1961, ABBAW Buch A 15.
506
Schluss
Delbrück zum Namenspatron des erneuerten Bucher Instituts machen sollte.8 In diesem werden neben den KWIH-Gründern Oskar und Cécile Vogt auch die IMBGründungsdirektoren Walter Friedrich und Karl Lohmann sowie Begründer lokaler wissenschaftlicher Schwerpunkte wie Arnold Graffi und Albert Wollenberger mit Plastiken und Gebäudebenennungen gewürdigt. Diese Erinnerungskultur ist in der heutigen Welt der Großforschungszentren nicht einzigartig, aber doch ungewöhnlich ausgeprägt. Ein entscheidender Grund hierfür liegt zweifellos in der starken personellen Kontinuität, welche die Akademieinstitute charakterisierte. Nicht nur begründeten Wissenschaftler der ersten Generation wie Graffi, Jung und Wollenberger Forschungsschulen, die über Jahrzehnte kohärente Projekte verfolgten und das wissenschaftliche Führungspersonal der folgenden Generation hervorbrachten. Auch herrschte eine langjährige stabile Zusammensetzung von Arbeitsgruppen vor, wie sie im zeitgenössischen westdeutschen Wissenschaftsbetrieb nicht üblich war und in der heutigen flexibilisierten Forschungswelt völlig undenkbar wäre. Damit entstand ein hohes Maß an lokaler Identifikation und eine besondere Tendenz zur Orientierung an lokalen Traditionen. Die Konstruktion einer institutionellen Vergangenheit ist wesentlich für die Herausbildung institutioneller Identität. Sie ist nicht nur Reminiszenz an vergangene Leistungen, sondern soll Leitbilder vorgeben und ein angestrebtes wissenschaftliches Profil ausdrücken. Die kritische Auseinandersetzung mit einer Institutionsgeschichte kann mehr vermitteln als Aufklärung darüber, ob dabei die historischen Vorbilder richtig gewählt wurden oder wie ihre Rolle in der Geschichte ihrer Wissenschaften zu bewerten ist. Sie eröffnet Perspektiven auf die Gegenwart, bisweilen andere, als auf den ersten Blick zu erwarten sind. Obwohl das Wissenschaftssystem der DDR gemeinhin mit Provinzialismus, verfehlter Modernisierung oder innovationshemmender Organisation assoziiert wird, spiegelt die Geschichte des Bucher Forschungszentrums erstaunlich viele Entwicklungen wider, die direkt auf die heutige Realität der entfalteten globalen Wissenschaftsökonomie verweisen. Die sehr ambitioniert angelegten, aber selten voll umgesetzten Ansätze für einen planmäßigen Einsatz wissenschaftlicher Ressourcen dürften heutigen Forschungsmanagern kaum irrational vorkommen. Mit den Versuchen zur Bildung von Zentraleinrichtungen für apparative Schlüsseltechniken, Geräteentwicklung oder Tierhaltung machte das Großforschungszentrum einen frühen Schritt in Richtung des heute allgegenwärtigen Organisationsprinzips der core facilities. Die in den 1970er einsetzende Verbundforschung mit ihren „Hauptforschungsrichtungen“ weist erstaunliche Parallelen zu den heute üblichen nationalen und internationalen Schwerpunktprogrammen auf. Gleiches gilt für die Ausrichtung auf technisch verwertbare Ergebnisse und die damit verbundenen wechselseitigen Verpflichtungen innerhalb der Forschung sowie gegenüber den 8
Neben dem in Kap. III.3.2. beschriebenen strahlenbiophysikalischen Projekt spielte dabei die DDR-Edition des Sammelbandes „Phage and Molecular Biology“ durch den Genetiker Erhard Geißler eine Rolle, ein Buch, dass zur Kanonisierung Max Delbrücks als Vordenker der Molekulargenetik beitrug. Vgl. E. Geißler (Hg.), Phagen und die Entwicklung der Molekularbiologie, Orig. hg. von J. Cairns, G. S. Stent, J. D. Watson, Berlin : Akademie-Verlag, 1972.
Schluss
507
„Praxispartnern“. Der entfaltete planungsbasierte Forschungsbetrieb in der DDR nahm also paradoxerweise Formen der Vertraglichung und Ökonomisierung vorweg, die sich seit den 1980er Jahren als Wesensmerkmale des neoliberalen Wissenschaftssystems etabliert haben.9 Kritisiert man die starren Verhältnisse und die überzogene Organisation, mit der die Forschung in Buch konfrontiert war, muss auch die Frage gestellt werden, welche damals sichtbaren Strukturprobleme und Entwicklungen heute fortdauern oder sich sogar verstärkt haben – und wohin sie die Wissenschaft in Zukunft führen werden.
9
Mirowski 2011, S. 87–193.
ABKÜRZUNGEN ABBAW
Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften AdW Akademie der Wissenschaften der DDR AKK Amt für Kerntechnik und Kernforschung der DDR APL Akademieparteileitung ATP Adenosintriphosphat AWD Arzneimittelwerk Dresden BAB Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde BAK Bundesarchiv Koblenz BGL Betriebsgewerkschaftsleitung BLV Bovines Leukämievirus BPO Betriebsparteiorganisation BStU Archiv des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR DAW Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin DFG Deutsche Forschungsgemeinschaft DNS Desoxyribonukleinsäure EDV Elektronische Datenverarbeitung EEG Elektroencephalographie EKG Elektrokardiographie ESR Elektronenspinresonanz FG Forschungsgemeinschaft der naturwissenschaftlichen, technischen und medizinischen Institute der DAW FLI Friedrich-Löffler-Institut für Tierseuchenforschung FR Forschungsrat der DDR FZMM Forschungszentrum für Molekularbiologie und Medizin HFR Hauptforschungsrichtung IkvPT Institut für kortiko-viszerale Therapie IMB Institut/ Institute für Medizin und Biologie IR Infrarot IWF Institut für Wirkstoffforschung KWG Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft KWI Kaiser-Wilhelm-Institut KWIH Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung MfG Ministerium für Gesundheitswesen der DDR MfS Ministerium für Staatssicherheit der DDR MWT Ministerium für Wissenschaft und Technik der DDR MOGEVUS Molekulare Grundlagen der Entwicklungs-, Vererbungs- und Steuerungsprozesse (Forschungsprogramm)
Abkürzungen
MPGA MPI NBL NMR NSDAP PCZ RF RGW RMWEV RKSA RKWS RNS RPKmW RRK SBZ SED SFT SMAD SPK UV VDE VEB VVB WHO ZAK ZfK ZFT ZIBM ZIHK ZIK ZIM ZIMeT ZK ZNS ZVG ZWG
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Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft Max-Planck-Institut Neuro-Biologisches Laboratorium Nuclear Magnetic Resonance (Kernspinresonanzspektroskopie) Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Physikochemisches Zentrum Rockefeller Foundation Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Röntgenkristallstrukturanalyse Röntgenkleinwinkelstreuung Ribonukleinsäure Rat für Planung und Koordination der medizinischen Wissenschaft Robert-Rössle-Klinik Sowjetische Besatzungszone Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Staatssekretariat für Forschung und Technik Sowjetische Militäradministration in Deutschland Staatliche Plankommission Ultraviolett Bereich Verwaltung und Dienstleistungen des FZMM Volkseigener Betrieb Vereinigung volkseigener Betriebe World Health Organisation Zentraler Arbeitskreis Zentralinstitut für Kernforschung Zentralamt für Forschung und Technik Zentralinstitut für Biologie und Medizin Zentralinstitut für Herz-Kreislauf-Forschung Zentralinstitut für Krebsforschung Zentralinstitut für Molekularbiologie Zentralinstitut für Mikrobiologie und experimentelle Therapie, Jena Zentralkommitee (der SED) Zentrales Nervensystem Zentralverwaltung für Gesundheitswesen Zentrum für wissenschaftlichen Gerätebau der AdW
VERZEICHNIS DER ABBILDUNGEN UND TABELLEN
Abbildungen Cover Abb. 1: (S. 61) Abb. 2: (S. 140) Abb. 3: (S. 140) Abb. 4: (S. 146) Abb. 5 (S. 190)
Abb. 6: (S. 258)
MPGA Abt. VI, Rep. 1, KWI für Hirnforschung I, Nr. 3. MPGA Abt. VI, Rep. 1, KWI für Hirnforschung III, Nr. 4. ABBAW Buch A 79, Bebauungsplan „DADW Institut Berlin-Buch“, 8.11.1955. MPGA Abt. VI, Rep. 1, KWI für Hirnforschung III, Nr. 18. BAB DQ 109/205, „Lageplanstudie C, Juni 1963“. ABBAW Buch A 905, Dokumentation zur Investitionsvorentscheidung für das Investitionsvorhaben „Forschungskomplex Berlin-Buch“, 30.5.1971, Bautechnische Konzeption, S. 59. MPGA Abt. VI, Rep. 1, KWI für Hirnforschung I, Nr. 29.
Tabellen S. 119 S. 145 S. 177 S. 227 S. 241 S. 295
Struktur des IMB, 1955 Aufbau, Mitarbeiterzahlen und Etat der Institute für Medizin und Biologie, 1963 Aufbau/Personal des Forschungszentrums Buch, Ende 1968 Struktur des ZIM, 1972 Struktur des ZIM, 1980 Struktur des ZIK, 1973
QUELLENVERZEICHNIS
Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (ABBAW), Berlin Bestand AKL Bestand FG Bestand Buch A/B Nachlass Nachlass
Akademieleitung 1945–1969 Forschungsgemeinschaft der naturwissenschaftlichen, technischen und medizinischen Institute 1957–1968 Medizinische Institute und Einrichtungen 1945–1991 Arnold Graffi Karl Lohmann Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (BAB)
DC 20 DF 1 DF 4 DQ 1 DQ 109 DY 30
BDC R 1501 R 4901
Ministerrat der DDR Amt für Kernforschung und Kerntechnik Wissenschaftsministerium der DDR und Vorläufer (Zentralamt für Forschung und Technik, Staatssekretariat für Forschung und Technik, Forschungsrat) Ministerium für Gesundheitswesen der DDR Rat für medizinische Wissenschaften beim Ministerium für Gesundheitswesen Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Bestand Sozialistische Einheitspartei Deutschlands; Teilbestände DY 30/ IV(A)2/6.07 (Abt. Forschung und technische Entwicklung beim ZK der SED) DY 30/IV(A)2/9.04 (Abt. Wissenschaften beim ZK der SED) Ehemaliges Berlin Document Center Reichsministerium des Innern Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung
512
Quellen
Bundesarchiv Koblenz (BAK) R 73
Deutsche Forschungsgemeinschaft
Archiv des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Berlin (BStU) MfS HA IX/11, RHE 25/87 SU
Vorgang N.W. Timoféeff-Ressovsky
Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin (MPGA) Abt. I, Rep. 1A Abt. II, Rep. 1A Abt. III, Rep. 84
Generalverwaltung der KWG Generalverwaltung der MPG, Personalakten Nachlass Adolf Butenandt Historisches Archiv Krupp, Essen (HA Krupp)
Bestand FAH 22 Bestand FAH 23
Friedrich Alfred und Margarethe Krupp Gustav und Bertha Krupp von Bohlen und Halbach
Rockefeller Archive Center, North Tarrytown/ New York, USA (RAC) Record Groups 1.1. & 12.1.:
Diaries
Ehemaliges Sonderarchiv Moskau (SAM) Fond 1520
KWI für Hirnforschung
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PERSONENREGISTER Abderhalden, Emil 44f. Abel, Helmut 24, 193, 227, 229, 241, 278, 339–341, 343, 346–351 Abusch, Alexander 386 Adenauer, Konrad 45 Aly, Götz 13, 95 Anders, Hans E. 91 Ardenne, Manfred von 84, 476 Ash, Mitchell 17, 31 Baltimore, David 316 Bauer, Karl H. 112 Baumann, Hannelore 477 Baumann, Rudolf 142f., 145, 147, 152f., 155, 170, 173f., 179–181, 206, 466, 472–481, 484f., 487–495, 497 Beard, Joseph W. 238 Bechterew, Wladimir M. 49 Ben-David, Joseph 20 Berenblum, Isaac 299 Berg, Paul 428f. Berger, Hans 56 Bernal, John D. 115, 352 Berndt, Hans 269f., 282, 295 Bernhard, Wilhelm 238 Bielka, Heinz 12, 16, 24, 156, 161, 177, 181, 227, 231, 235, 241, 418–426, 446, 464 Bielschowsky, Max 39, 62, 108 Bielschowsky Franz 108 Binswanger, Otto 35, 44 Bluhm, Agnes 219 Boehm, Hermann 74 Böhme, Helmut 171 Bohr, Niels 84 Bonhoeffer, Karl 43f. Borck, Cornelius 56f. Born, Hans J. 80, 82, 119, 126f., 339, 367– 370, 372 Bothe, Horst 113 Boyer, Herbert 436 Brodmann, Korbinian 39, 62 Brucker, Wolfgang 119 Brugsch, Theodor 102, 119 Buchmüller, Klaus, 168 Burchardt, Lothar 45 Bykow, Konstantin 473f.
Cambrosio, Alberto 184 Cannon, Walter B. 475 Cetverikov, Sergej S. 67f. Changeux, Jean-Pierre 390 Chance, Britton 455 Coutelle, Charles 336f. Cramer, Heinrich 108, 112, 274 Crick, Francis 316, 451 Crowfoot-Hodgkin, Dorothy 115, 352 Dale, Henry 56 Damaschun, Gregor 197, 241, 360f., 423 De Chadarevian, Soraya, 20 Déjérine, Jules 36 Delbrück, Max 13, 77f., 81, 84, 505 Demichow, Wladimir P. 469 Dobberstein, Johannes 119 Dobzhansky, Fedor 69 Dornberger (Boll-), Katharina 115, 136–138, 140, 196, 352–354, 362 Drigalski, Wilhelm von, 52 Dulbecco, Renato 308f. Dutz, Harald 154, 490f., 493 Du Vigneaud, Vincent 500 Eberl, Irmfried 95 Eddy, Bernice 308 Edinger, Ludwig 43 Eichhorn, Hans J. 119, 274, 276–280, 293, 295 Enders, John 306 Eschbach, Walter 119, 270, 295, 313f. Etzold, Gerhard 227 Faulhaber, Hans-Dieter 495 Fischer, Max H. 56, 60, 62f. Flechsig, Paul 35f., 38 Förster, Otfried 49, 52f. Forel, August 35f. Friedrich, Walter 85, 108f., 113–119, 125, 134–136, 140, 155, 158, 230, 330–335, 339, 352, 368, 378 Frühauf, Hans 142 Gaudillière, Jean-Paul 19, 301 Geiger, Kurt 180, 488 Geißler, Erhard 24, 225, 227, 231, 241, 309, 322–325, 345, 418, 427–429, 431, 435, 445, 506
528 Georgiev, Georgi P. 431 Gibel, Wilhelm 295 Gläser, Jochen 248 Glum, Friedrich 49, 52 Gomulka, Wladyslaw 138 Graffi, Arnold 28, 112–114, 117, 119, 138, 140, 145, 153, 155–157, 161, 163f.,170, 172, 174, 180, 218f., 238, 285–287, 289, 296–327, 398, 414–416, 418, 429 Gremmler, Josef 93 Gross, Ludwik 238, 302f. Gütz, Hans-Jürgen 24 Gummel, Hans 112, 114, 117, 119f., 127, 131, 139f., 142, 145, 147, 152–158, 160f., 163, 165, 170, 172, 177, 181, 197, 201f., 205, 261, 263, 265, 268f., 273–276, 282f., 290, 295, 303, 335, 414, 416, 419, 468 Haagen, Eugen 104 Haase, Hannelore 24 Haeckel, Ernst 35 Hager, Kurt 136, 246, 486 Hagner, Michael 40f., 51 Hallervorden, Julius 92, 94–98 Halsted, William S. 273f. Hamperl, Herwig 113 Harnack, Adolf von 67 Hartke, Werner 151f., 386 Havemann, Robert 102, 161 Hebekerl, Walter 113 Hecht, Karl 482f., 486 Heine, Horst 257, 493, 496f. Heinze, Hans 94–97 Heisenberg, Werner 85 Hertweck, Heinrich 119 Heubner, Wolfgang 102, 106, 108, 111f., 114, 396, 448 Hevesy, Georg von 79 Hilbert, Fritz 169 Höhne, Ernst 241 Hohlfeld, Rainer 235, 446 Horn, Karl-Heinz 220 Ingram, Vernon 450 Jacobson, Edmund 475 Jähn, Siegmund 350 Jahn, Josephine 23, 31 Jessen, Ralph 15 Johannsen, Wilhelm 77 Jordan, Pascual 85, 104–108, 112, 133, 154 Jung, Friedrich 114f., 117–119, 127, 144f., 152–157, 163, 166, 170f., 177, 181,
Register 186, 212, 216–218, 226f., 229f., 234, 236, 241, 246, 254f., 349, 353, 368, 372, 377, 385f., 395–399, 405, 407– 410, 416, 426, 445, 448f., 451, 454, 467f. Jung, Richard 92 Katsch, Gerhard 475 Katzenstein, Alfred 484f. Keating, Peter 184 Kettler, Louis-Heinz 166, 180 Khorana, H. Gobind 427 Klagges, Dietrich 58 Klare, Hermann 146, 156f., 167, 169f. Klingenberg, Martin 455 Kneller, Ulrich 119 Knipping, Paul 109 Knöll, Hans 119, 163 Kokkalis, Petros 468–470, 489 Kol’cov, Nikolai K. 67, 77 Kölle, Hans-Wolfgang 140 Kornmüller, Alois 56f., 92f., 97, 475 Kraepelin, Emil 43, 45, 54, 66, 70, 73 Krause, Ernst-Georg 24 Krautwald, Richard 127 Krayer, Otto 127, 385, 467 Krupp, Friedrich A. 36f., 39–42 Krupp, Margarethe 42 Krupp von Bohlen und Halbach, Gustav 43– 49, 63f. Kühn, Alfred 76, 216 Kuhn, Richard 108 Lange, Fritz 145, 155, 157f., 160, 334–336 Lange, Werner 126 Langen, Peter 116, 227f., 237, 241, 248, 363, 418 Laßmann, Günter 241 Laue, Max von 109 Läuter, Jürgen 478 Lenin, Wladimir I. 49–51 Lenz, Fritz 73f. Lerner, Barron 272 Liebscher, Dierck H. 442 Lindigkeit, Ruth 227, 240f., 370, 418–420 Little, Clarence C. 217 Lohmann, Karl 102–109, 112, 114–120, 122, 134, 137, 140, 155–157, 303f., 377f., 385f., 467–469 Lohs, Karlheinz 161, 177, 195, 234, 287, 336–338, 361 Lüder, Manfred 295 Lüers, Herbert 112, 140, 331 Lührs, Walter 119
Personenregister Luria, Salvador 308 Lyssenko, Trofim D. 17, 110, 136, 472f. Malycha, Andreas 16 Marie, Pierre 36 Matthies, Hansjürgen, 168, 180 McWhirther, Robert 274 Meske, Werner 248 Meyer, Sophie 23, 31 Meynert, Theodor 38 Minor, Lasar S. 49, 61 Mothes, Kurt 194, 336–338 Muller, Herman J. 59, 75 Müller-Hegemann, Dietfried 127, 467, 473 Mentzel, Rudolf 63, 87 Möglich, Friedrich 103–107, 129 Naas, Josef 102, 108, 122f., 137 Nachtsheim, Hans 93, 106f., 110, 112 Negelein, Erwin 116, 140, 145, 155, 157, 159, 419 Neuberg, Carl 55 Niehoff, Jens-Uwe 497f. Nitschkoff, Stefan 486 Noack, Kurt 119 Ocklitz, Hans-Wolfgang 143–145, 148, 155, 170, 177 Oehme, Peter 31, 173, 181, 186, 225, 227, 234, 403f., 407–410 Patzig, Bernhard 71–73, 90 Pasternak, Günter 16, 24, 221, 234, 252f., 255, 286, 295 Pätau, Klaus 104 Pawlow, Iwan P. 30, 142, 472f., 475 Peiffer, Jürgen 95f. Planck, Max 60 Plehm, Ralph 24 Post, Robert 382 Prey, Günter 169 Pupke, Herbert 119 Rapoport, Samuel M. 148, 151f., 154, 157f., 163f., 166, 171, 186, 188, 227, 368, 388, 415f., 427, 431, 469f. Rapoport, Tom 437 Reich, Jens 200, 234, 503 Reichel, Ludwig 106f. Repke, Kurt 116, 156, 158, 161, 170, 177, 181f., 186, 193f., 227f., 230, 248, 377– 396, 400, 406, 491 Rheinberger, Hans-Jörg 31, 310, 433 Richter, Jochen 12 Riehl, Nikolaus 79, 83, 126 Ringpfeil, Manfred 254, 258 Rohde, Wilfried 144
529
Rompe, Robert 85, 102, 104f., 108, 119, 126, 148, 158, 161, 334, 337, 339f. Rosenthal, Sinaida 227, 232, 241, 427, 430f., 433, 439–441, 445 Rosenthal, Walter 30 Rössle, Robert 102, 108, 112, 118 Roth, Karl-Heinz 74 Rous, Peyton 238, 297 Ruckpaul, Klaus 241 Rüdin, Ernst 66, 70, 72f. Rudinger, Josef 400 Ruska, Ernst 106f., 112, 211 Ruska, Helmut 106f., 112, 128 Rust, Bernhard 63 Samuels, Leo T. 385 Sanger, Frederick 396 Sarkissow, Semen 477 Satzinger, Helga 12, 51, 63, 77 Sauerbruch, Ferdinand 113, 297 Scheler, Werner 24, 114, 181, 234, 349, 430, 447 Scheller, Frieder 459–464 Schiemann, Elisabeth 104 Schmidt, Ferdinand 119, 218, 303f. Schmuhl, Hans-Walter 14, 88, 90, 92, 96, 98 Schneeweiß, Ulrich 286, 295 Schröder, Robert 119 Schröder, Kurt 168 Schrödinger, Erwin 77 Schulze, Wolfgang 24 Schuster, Paul 36 Sefrin, Max 169 Selye, Hans 480f., 489 Simon, Gerd 58 Sklenar, Heinz 239 Skou, Jens C. 382 Spatz, Hugo 65, 88, 90–98 Spengler, Tilman 12 Stanley, Wendell 352 Stalin, Josef 334, 473 Steenbeck, Max 148, 167, 169 Stewart, Sarah 302, 308 Stroux, Johannes 102 Stubbe, Hans 174 Studt, Konrad von 37 Tanneberger, Stephan 257, 279, 284, 290– 293 Temin, Howard 316, 319 Thomas, E. R. 394 Timmermann, Carsten 18, 491 Timoféeff-Ressovsky, Dimitri 87f.
530 Timoféeff-Ressovsky, Nikolai W. 12f., 55, 61, 68–79, 81–87, 103, 113, 329–331, 339f., 343 Timoféeff-Ressovsky, Elena 55, 61, 68f., 75f., 104 Tönnies, Friedrich 35 Tönnies, Jan F. 56f., 60f., 93 Tönnis, Wilhelm 91, 98 Trendelenburg, Paul 55 Ulbricht, Walter 124, 137, 335, 488 Urban, Jerry 281 Van Helvoort, Ton 277 Verschuer, Otmar von 58 Vienne, Florence 31 Vogt, Cécile (geb. Mugnier) 12f., 26, 35f., 41, 47, 50, 53, 61, 70, 72, 90, 477 Vogt, Marguerite 61, 308f. Vogt, Marthe 55f., 477 Vogt, Oskar 12f., 26, 35–75, 82, 87–92, 94– 96, 104, 477 Vormum, Günther 145, 155, 177, 333, 369– 373, 375 Waldmann, Anton 91 Wangermann, Gerd 199, 202f., 227 Warburg, Otto 113, 118f., 298–300 Watson, James D. 353, 420, 424 Weiz, Herbert 153 Weizsäcker, Carl-F. von 85 Welt, Elly 86 Welt, Peter 86 Wetzel, Rolf 241 Wilbrandt, Walther 386 Wildner, Gustav P. 119, 265, 282, 295 Williamson, Bob 436 Windisch, Friedrich 113 Winter, Kurt 494 Wittbrodt, Hans 123f., 180 Wollenberger, Albert 127f., 144f., 155–157, 174f., 179, 239, 367, 382, 384f., 405, 408, 466–471, 487, 489–494 Wolf, Christa 445 Wunderlich, Volker 24 Wurm, Mathilde 63 Zamecnik, Paul C. 420 Zapf, Kurt 193, 227 Zetkin, Maxim 102, 107, 109, 473 Zimmer, Karl G. 77–80, 82–86, 126, 329 Zschiesche, Wolfgang 241 Zwirner, Eberhard 57f., 61f., 65
Register
SACHREGISTER AEG 80 Agrarbiologie 250f., 407, 425f., 440–442 Akademieinstitut für Biochemie der Pflanzen, Halle 172, 179, 248, 336, 362 für chemische Verfahrenstechnik/Biotechnologie, Leipzig 254, 336, 453 für Ernährungsforschung, PotsdamRehbrücke 124, 155, 172f., 179, 204, 218, 248, 304 für Festkörperforschung, Berlin 130 für Hochenergiephysik, Zeuthen 125, 205 für Isotopen- und Strahlenforschung/ angewandte Radioaktivität, Leipzig 174, 243, 372, 375f. für Kernforschung, Rossendorf 200, 202f., 205, 241, 243, 279, 339, 342, 347f., 368, 373 für Kulturpflanzenforschung/Genetik, Gatersleben 171–173, 179, 186, 248, 288, 415, 433, 440 für Mikrobiologie und experimentelle Therapie, Jena 124, 155, 163, 172f., 179, 185, 189, 248, 410, 415, 434, 438, 442 für Optik und Spektroskopie, Berlin 359 für vergleichende Pathologie, Berlin 225, 408 für Wirkstoffforschung, Berlin 225, 348, 410–412 Akademiereform 27, 141, 168–173, 181, 183–185, 189, 191f., 197, 201, 208, 223, 234, 241, 247, 285f., 338, 351, 375, 383, 387, 406f., 419, 491 Akademiewerkstätten/ZWG 196, 212–216, 460–462 Amt für Kernforschung 334, 367, 369 Auslandsreisen 155, 232f., 235, 238, 257, 290, 385, 428, 432, 436 Bauplanungen 41f., 125–127, 130-135, 142, 144, 147f., 182, 190, 192, 218f., 224f., 244, 294, 470 Belgien 326, 432, 437, 441
Betatron 148, 278, 348 Biotechnologie 223, 236, 252, 254, 435, 447f., 442–444, 447, 457f. Biozentrum 183f., 190, 194 Bundesrepublik Deutschland Blick auf DDR 225, 248, 285, 295, 493, 499 Im-/Export 246f., 264, 363 Vergleich mit 130, 150, 175, 192, 203, 280, 285, 287f., 321, 344, 366, 371, 399, 411, 416, 463, 483 Wissenschaftsbeziehungen mit 233, 290, 384 Carlsberg-Laboratorien 127, 471 Charité 5, 43, 103, 108, 121, 127, 134, 145, 151f., 204, 263f., 294, 312, 373, 444, 470, 490f., 493, 495 Chemotherapie 55, 67, 268, 273, 279, 281– 284, 290–292, 311, 343f., 398 Chirurgie 57, 91, 98, 143, 266, 274–279, 281–283, 285, 297, 468f., 489f., 493 Chromatin 229, 240, 347, 361f., 364 Chromatographie 247, 326, 390, 422, 451, 453, 459 Computer 192, 200–211, 225, 279, 357, 360, 390, 393, 404, 412, 478, 495 CSSR 298, 400f., 431, 442 Cytochrom P450 443, 447, 453, 455–459 Deutsche Forschungsanstalt/ KWI für Psychiatrie 43, 54, 65 Deutsche Forschungsgemeinschaft 80, 218, 289, 331, 416 Deutsches Spracharchiv 57 Devisenwirtschaft 129, 195f., 211, 215, 240, 242, 244–247, 255f., 282, 284, 338, 432, 442 Diabetes 142, 462, 472, 475, 478f., 484 DNS 237, 247, 292, 308, 311, 314, 316, 321, 324f., 338, 340, 343–347, 350, 353, 361, 364, 409, 418f., 426–438, 443 Elektroencephalographie (EEG) 12, 56f., 92f., 201, 206, 476–478, 484 Elektrokardiographie (EKG) 478, 487, 496 Elektronenmikroskopie 106f., 109, 111, 114, 119, 129, 166, 187, 193f., 208, 211,
532 213, 231, 301, 304–306, 312f., 315, 320, 333, 359, 385, 418, 420, 422f., 433, 448 Elektrophorese 326, 329, 351, 390, 421f., 433, 451 Elitegehirne 51, 65, 90 Endokrinologie 44, 55, 91, 97, 283f., 286, 291, 473, 475, 477, 481f. Enzymelektroden 250, 459–464 Enzymologie 151, 189, 217, 228, 249–252, 361, 426, 447–464 Enzymteststreifen 251, 462–464 Epidemiologie 206, 256, 324, 429, 471, 487, 491, 494–497 Eugenik 12f., 35, 63–65, 73–77, 89f. Forschungsrat der DDR 26, 141, 148f., 156, 162–169, 242, 288, 336, 398f., 415, 452f., 491 Forschungszentrum für Biotechnologie, Berlin 442 Forschungszentrum für Molekularbiologie und Medizin 179, 181, 192, 196, 198, 200, 209, 215f., 227f., 231, 234, 248, 254, 286, 326, 349, 363, 376, 433, 442, 452, 460, 501 Forschungszentrum für Tierzucht 426 Friedrich-Löffler-Institut 251, 440f. Frankreich 19, 36, 44, 175, 326, 371, 390f., 416 Genetik Bakterien-/Phagen- 77, 81, 255, 308f., 324, 338, 340, 417, 420–424, 429, 431, 435f., 443, 506 Drosophila- 55, 68–81, 331, 340 Human- 71–74, 251, 415, 428, 443–445 Strahlen- 76–79, 83–85, 105, 328–330, 339f., 343 Zell- 188, 225, 245, 323f., 345–347, 427f., 431 Gentechnik 163, 232, 239, 244, 246, 249– 252, 316, 323f., 414, 425– 446, 455, 461 Großbritannien 108, 175, 195, 237, 269f., 273, 275, 281, 352f., 366, 369, 371, 416, 432, 437, 443 Hämoglobin 114, 352–354, 358f., 360, 363– 365, 397, 405, 416, 424, 447–455 Heil- und Pflegeanstalt Brandenburg-Görden 93–97 Heizanlage 131f., 146, 148 Herzglykoside (Digitalis) 29, 228, 261, 363, 375, 377–397, 400, 403f., 455
Register Herzmuskelzellen 127, 157, 170, 380–385, 390, 404–406, 487, 491, 493, 495f., 498 Hirnanatomie 35–40, 46, 48, 51–54, 56, 64, 67, 72, 89, 92 Hirnarchiv 36, 40–42, 53, 72 Hirnpathologie 45–47, 56, 65, 69–72, 90–95 Hypertonie 475, 478f., 482–489, 493–497 IG Farben 80 Immunologie 23, 163, 232, 245, 252f., 286, 293, 317f., 326, 390, 396, 422, 424, 458 Institut(e) für Biologie und Medizin, Abteilung/Institut für Biochemie 106f., 116, 119, 145, 147, 151, 154, 156, 158, 163, 170, 174, 177, 179, 186, 198, 213, 344, 377– 389, 413, 418 Biophysik 115–117, 119, 135, 138, 145, 151, 154f, 158–161, 163, 174, 177, 179, 186, 193–195, 213f., 328–358, 413, 419 Exp. Krebsforschung 113f., 117, 119, 145, 147, 151, 153, 163, 167, 174, 177, 179, 219f., 286f., 289, 296– 327, 418f. Infektionen im Kindesalter 143, 145, 151, 162, 170, 177, 374 Isotopenforschung 119, 125f., 145, 154f., 177, 203, 213, 233, 329, 366–376 IkvPT 142f., 152, 158, 201, 203, 219, 408, 466, 470–492 Kreislaufforschung 125–127, 142–145, 147, 155, 174, 177, 179, 220, 384f., 466–471, 487 Pharmakologie 114f., 117, 119, 145, 147, 151–154, 158, 163, 166, 174, 177, 179, 194, 197, 212f., 338, 356f., 377, 397–407, 447–452 Robert-Rössle-Klinik 112f., 120f., 129– 132, 135, 149, 153, 165, 179, 213f., 262–295, 314, 320, 341f., 491 Zellphysiologie 113, 145, 154–157, 163, 174, 177, 179, 186, 193, 208, 227, 241, 370, 413, 419 Institut für Blutspendewesen 182 Institut für Gärungsgewerbe 184, 190 Institut für Hygiene des MfG 182, 184, 190 Institutswerkstätten 111, 146, 182, 191, 193, 199, 211–217, 222, 331
Sachregister Insulin 249f., 400, 410f., 430f., 434–441, 475–477, 480 Ionenpumpen 382f., 389–393 Isocommerz GmbH 243, 371 Kanzerogene Stoffe 287–289, 297–306, 310f., 344 Klinische Studien 256, 269, 276f., 280f., 282–285, 344f., 395f., 477f., 483–485 Kobaltbombe 201, 263, 277–279, 342 Krebs Brust- 262, 265, 269f., 272–277, 280– 284, 290f., 298, 301, 315, 318f. Lungen- 265–268, 277–282 Magen- 205, 262, 265, 270, 273f., 277, 319 Zervix- 270–273, 277, 313f. Krebsregister der DDR 121, 203, 323 Krebstest 232, 286, 316, 463 Krebsviren Hamster 310, 320–322, 324–327 Maus 298–302, 306f., 314f., 321, 326, 419 Mensch 312f., 315–319, 326 Primaten 317f., 323–326, 419f. Ratte 308 Rind 250f., 326, 441f. Laborchemikalien 130, 145, 165f., 242, 246, 349, 433, 463 Lebensmitteltechnik 442, 456f. Linearbeschleuniger 148, 348 Linguistik 53 Luftfahrtphysiologie 83, 92f., 350 Mammographie 272 Massenspektrometrie 196, 336 Medikamententests klinisch 256, 284–286, 344, 395f., 484f. experimentell 380, 407, 409 Medizinische Akademie Erfurt 387, 395 Membranbiologie 186, 228, 230, 251, 358, 362, 381–384, 390–396, 404–406, 420, 425, 441, 456 Metastasierung 267, 273f., 276, 280–283 Militärärztliche Akademie 92f. Ministerium für Gesundheitswesen der DDR 24, 121f., 128, 144, 149f., 152, 156, 167, 169, 171–174, 184, 187, 202, 204f., 264, 289, 324, 374, 467, 470, 473f., 490, 492f. Ministerium für Wissenschaft und Technik der DDR 167f., 170, 171–173, 178– 180, 185, 193, 371
533
Mitochondrien 297–301, 306, 310f. MOGEVUS 178f., 181, 184, 187–189, 192, 196, 199, 208, 223f., 228, 242, 247, 287, 351, 371, 389, 408, 410, 425f., 430, 447 Moltest 186–189, 227f., 248, 408f., 426, 504 Monoklonale Antikörper 254–257, 286 MPI für Molekulare Biologie, Berlin 432 Neubrandenburg 458 Neurobiochemie 53f., 477 Neurophysiologie 35, 38–40, 48, 55f., 66, 92f., 143, 475, 482 Neutronenhaus 134f., 140, 146, 218, 227, 370 Neutronengenerator 79–83, 86, 126, 131, 133f., 273, 330–336, 342, 347–351 Onkogene 308, 319–322, 326 Onkobiogramm 291f. Patente 214, 248–250, 253, 381, 388, 406, 439f., 442, 461 Peptide 186, 327, 363, 377, 397–412, 455 Petrochemisches Kombinat Schwedt (PCK) 457 Phonometrie 57f. Polarographie 459f. Psychosomatik 481, 485 Psychotherapie 36, 46, 473, 484f. Radioisotopen Produktion 79f., 125–127, 133, 243, 330, 347, 367–376 medizinische/biologische Anwendung 79f., 214, 266, 291, 311, 366–376, 379, 384, 390, 405, 420 technische Anwendung 82, 372–376 Radiumhaus 146, 370 Rassenforschung 51, 54, 57, 64, 67f., 90 Reichsamt für Wirtschaftsausbau 82 Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 63f., 87 Republikflucht 129, 154, 159, 304, 370 Rezeptoren 53, 228, 291, 358, 377, 380– 384, 388–394, 396, 401, 404–406, 411, 455 Ribosomen 227, 229, 358, 361f., 413, 418– 426 RNS 240, 311, 316–321, 326, 353, 355, 361, 370, 409, 418, 420–425, 427, 430–437, 442f. Rockefeller Foundation 54f., 561, 64 Röntgendiagnostik 267–269, 272f.
534 Röntgenkleinwinkel-Strukturanalyse (RKWS) 197f., 200, 208, 240, 359– 361, 364f., 423, 454 Röntgenkristallographie 109, 115, 196f., 330, 337, 352f., 359f., 362, 424, 450 SA 59f., 62f. Schering AG 82, 298 Schlaftherapie 472–476, 484f. Schweiz 35, 175, 183, 195, 386, 409, 417 SED Parteigruppe/-leitung Akademie 116, 137, 167, 333 Parteigruppe/-leitung Buch 118, 136f., 156, 158, 160 Parteisekretäre 137f., 155, 158–161, 171, 232, 386, 410 ZK 118, 124, 136–139, 156–161, 167, 171, 180, 234, 252, 486 Sektion Geschwulstkrankheiten der DAW 121f. Sequenzierung Nukleinsäuren- 192, 320, 325, 366, 415, 418, 419, 424, 428, 437 Protein- 192, 366, 400, 419, 422, 424, 451f. Siemens AG 82, 111, 193, 448, 451 Sowjetische Militäradministration in Deutschland 102–112, 120, 133, 263 Sowjetunion Beziehungen zu 49– 51, 55, 59, 67, 83, 104, 126, 133, 316, 334, 339, 350, 363, 367, 432, 435, 469, 477, 482 Orientierung an 17f., 110, 120f., 123, 139, 148, 154, 323, 432, 472–474, 481 Spektroskopie 192–194, 198, 208, 241, 328, 330, 340, 355, 365, 373, 390, 447f. CD- 198, 358f., 365, 390, 403 ESR- 194, 196, 198, 355–359, 363f. IR- 194, 336, 354f., 390 NMR- 195f., 199, 362–364 UV- 194, 336, 354f., 451 Staatliches Institut für Immun- und Nährbodenforschung, Berlin 453 Staatssicherheit 234, 236, 337, 502 Städtisches Krankenhaus/Klinikum Buch 142f., 153, 170, 205, 294f., 312, 466, 470, 472, 475, 490 Städtische Nervenklinik Buch 53, 61, 89f., 96 Städtisches Siechenhaus Berlin 45–47, 52f., 89
Register Steroidhormone 195, 251, 291, 363, 378f., 394, 399f., 405, 438f. Strahlenschutz 76, 80, 82f., 331f., 341, 368, 375 Strahlentherapie 27, 79f., 115, 133, 135, 149f., 201, 209, 229, 264, 274, 276, 277–281, 293, 328, 332, 335, 341, 344f., 350, 372 Stress 180, 350, 400, 480–489 Stromversorgung 132, 195, 224, 332 Technikum 240, 243f., 410 Toxikologie 287, 336, 338, 370, 397, 407, 448, 450 Ultrazentrifuge 194, 199, 240, 298, 301, 304f., 329, 334, 351, 420, 433 Ungarn 138, 434, 440 Universität Berlin 40, 42, 50, 103, 105, 108, 110, 127, 330f., 389, 397f., 448, 468, 500 Berlin FU 264 Berlin TU 305 Frankfurt a. M. 58 Greifswald 182, 378f., 407 Halle 45, 180, 237, 452, 488 Homburg/Saar 290 Jena 35, 197, 200, 202, 360, 389 Leipzig 35, 389, 467f., 490 Rostock 225, 227, 271, 323, 407, 427, 490 Würzburg 91, 114, 397 USA Beziehungen zu 54f., 59, 233, 238f., 283, 305, 368, 382, 385, 428, 484 Import aus 209, 215, 357 Orientierung an 19–21, 97, 168, 175, 269, 315, 388, 414, 417, 430, 459, 470, 480, 487, 494, 504 Vergleich mit 81, 133, 196, 204, 217, 222, 253, 267, 275, 301, 313, 354, 360, 374, 435, 440, 475 VEB Arzneimittelwerk Dresden 381, 388f., 395 Berlin-Chemie 401, 411, 439 Carl Zeiss Jena 129, 232, 354f., 373 Jenapharm 284, 410 Orwo Wolfen 336, 463 Robotron 201f., 204, 207–210 Trarö Dresden (vorm. Koch & Sterzel) 129, 134 Vakutronik Dresden 214, 372
Sachregister Versuchstierproduktion Schönwalde 221 YSAT Wernigerode 380f. Versuchstiere 131, 179, 184, 191, 217–222, 252, 282, 287–289, 302f., 306–310, 315f., 320–322, 379f., 420, 429, 476f., 479f., 482f., 486 VVB Pharmazeutische Industrie 186, 225, 388, 406–411 Wirkstofftestung 188, 287f., 384, 392, 405– 410 Wohnungsbau 42, 131f., 146 World Health Organization 256, 288, 481, 495, 497 Zellkulturen 188, 288, 290–292, 306–310, 312, 315, 317, 319, 323, 340, 342f., 345f., 350, 384, 392, 408, 420, 428f. Zentralamt für Forschung und Technik 122– 124, 126, 144 Zentrale Arbeitskreise 126f., 399 Biophysik 337 Kreislauf 127, 387, 467, 469, 471, 490f., 494 Pharmakologie 411 Radiologie/Isotope 127, 368
535
Zentraler Gutachterausschuss für den Arzneimittelverkehr 399 Zentralinstitut für Biologie und Medizin 173, 179 für Herz-Kreislauf-Forschung 9, 173, 177, 179, 205, 223, 256f., 466, 492–498 für Krebsforschung 9, 27, 173, 177, 205f., 209, 223, 225, 232, 235, 245, 251–253, 256f., 285–295, 324–326, 328, 345, 348–351, 441, 463, 493, 496 für Molekularbiologie 9, 27, 173, 177, 182, 188f., 199f., 205, 207–210, 215–217, 232, 234–241, 245–258, 293f., 323–326, 345–350, 361f., 366, 375f., 395–396, 408–413, 423–427, 429–432, 434–443, 452– 454, 462–464, 500 Zentralverwaltung für Gesundheitswesen 102 Zentralverwaltung für Volksbildung 102, 105 Zyklotron 81, 133, 279f., 339, 342, 347– 349, 366f.
Fabian Waßer
Von der „Universitätsfabrick“ zur „Entrepreneurial University“ Konkurrenz unter deutschen Universitäten von der Spätaufklärung bis in die 1980er Jahre WissenschAfTskUlTUren | reihe iii: PAllAs AThene – BAnD 53 2020. 352 Seiten 978-3-515-12486-7 geBUnDen 978-3-515-12487-4 e-BOOk
Wettbewerb unter Hochschulen ist seit der Exzellenzinitiative auch in Deutschland in aller Munde. Bei der interuniversitären Konkurrenz handelt es sich jedoch keineswegs um ein neues Phänomen: In einem historischen Längsschnitt von der Spätaufklärung bis in die 1980er Jahre hinein zeichnet Fabian Waßer kompetitive Praktiken deutscher Universitäten nach. Aufbauend auf Georg Simmels triadischem Konkurrenzmodell stehen dabei Fragen nach den am Wettbewerb beteiligten Akteuren, den Prämien der Konkurrenz und den schiedsrichterlichen Instanzen, die über die Verteilung derselben entscheiden, im Vordergrund. Im Fokus der Untersuchung stehen Umbruchphasen, in denen sich neue Wettbewerbsordnungen etablierten: die Epoche von der Gründung der Aufklärungsuniversität Göttingen bis zu den Humboldtschen Bildungsreformen
sowie das Kaiserreich und das „Dritte Reich“, aber auch die „langen 1960er Jahre“ und der Beginn der „Ära Kohl“ in den 1980er Jahren. Im Vergleich wird deutlich, dass sich der Wettbewerb bei einer Verknappung der Prämien verschärfte und Zeiten starken Konkurrenzdrucks mit Phasen eines nur schwach ausgeprägten Wettbewerbs abwechselten. Der AUTOr Fabian Waßer studierte Neuere und Neueste Geschichte, Politikwissenschaft und Geschichte Ost- und Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Von 2013 bis 2016 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Zeitgeschichte der LMU München beschäftigt. Seither ist er als Bibliothekar an der Bayerischen Staatsbibliothek tätig.
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Berlin-Buch ist seit fast 90 Jahren ein Zentrum der biomedizinischen Forschung in Deutschland. 1930 siedelte sich hier das Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung (KWIH) an, das mit seinem Programm interdisziplinärer Neurobiologie international wegweisend, aber auch beispielhaft für die Selbstmobilisierung medizinischer Wissenschaft im NS-Staat war. 1947 wurde in den Gebäuden des KWIH das Institut für Medizin und Biologie (IMB) der Deutschen Akademie der Wissenschaften gegründet, das schrittweise zum Mittelpunkt der biowissenschaftlich-medizinischen Forschung in der DDR ausgebaut wurde. Die Entwicklung dieses multidisziplinären Institutskomplexes spiegelt die grundsätzlichen Merkmale und Probleme des realsozialistischen Wissenschaftssystems ebenso wider wie den Wandel von Konzepten und Praktiken auf wesentlichen Feldern der experimentellen Biologie und der klinischen Medizin. Bernd Gausemeier verfolgt anhand der Geschichte des Wissenschaftsstandortes Buch die Wechselbeziehungen von Wissenschaft und Politik in drei politischen Systemen sowie globale Entwicklungstendenzen der Lebenswissenschaften im 20. Jahrhundert.
ISBN 978-3-515-12607-6
9 783515 126076
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