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German Pages [264] Year 2016
Wissenschaft Bildung Politik
Herausgegeben von der
Österreichischen Forschungsgemeinschaft Band 19
Zeit in den Wissenschaften
Herausgegeben von
Wolfgang Kautek Reinhard Neck Heinrich Schmidinger
BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR
Gedruckt mit Unterstützung durch:
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A–1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Redaktion: Markus Vago, Österreichische Forschungsgemeinschaft Umschlaggestaltung: Miriam Weigel, Wien Satz: Ulrike Dietmayer, Wien Druck und Bindung: Prime Rate kft., Budapest Gedruckt auf chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Printed in the EU ISBN 978-3-205-20499-2
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Mechanische Uhren, moderne Zeitordnungen und die Wissenschaften im Spätmittelalter Gerhard Dohrn-van Rossum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Landschaften der Zeit: Tages- und Nachtstunden im vormodernen Japan Brigitte Steger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Soziale Beschleunigung / Beschleunigte Arbeitswelten Christian Korunka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Entstehung, Entfaltung und Wandel und von Sprache(n) in Zeit und Raum Harald Haarmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Zeit in der Erzählkunst Ansgar Nünning . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Geformte Zeit in der Musik Werner Goebl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
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Inhalt
Zeit und sowie im Raum Stephan Günzel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Zeit in den Religionswissenschaften Anne Koch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262
Vorwort Das Problem der Zeit steht seit Menschengedenken innerhalb und außerhalb dessen, was man heute als „Wissenschaft“ bezeichnet, im Fokus vielfacher Beobachtungen und Reflexionen. Dies betrifft auch die mit dem Begriff der „Zeit“ untrennbar verbundenen Phänomene der Wandelbarkeit bzw. des Wandels praktisch aller Dinge dieser Welt. Die damit einhergehende Vielfalt kennzeichnet auch die von den verschiedenen Wissenschaften zum Thema „Zeit“ entwickelten Konzepte, Theorien und Methoden. Auf dem Wissenschaftstag 2015 der Österreichischen Forschungsgemeinschaft wurden Spezialisten aus den verschiedensten Gebieten zu einem interdisziplinären Wissens- und Gedankenaustausch zum Thema „Zeit in den Wissenschaften“ zusammengeführt. Die überarbeiteten Referate des Wissenschaftstages liegen in diesem Band gesammelt vor. Die Vielfalt insbesondere der geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Zugänge zum Tagungsthema kommt in der Breite der behandelten Thematik zum Ausdruck. Diese reicht von der historischen Analyse der Messung und Rhythmik der Zeit und ihrer Auswirkungen auf das menschliche Leben in diachroner (vormoderne, moderne und postmoderne Zeitkonzepte) und synchroner (Vergleich zwischen Abendland und Japan) Betrachtung (Dohrn-van Rossum, Steger) über die psychischen und sozialen Konsequenzen der zunehmenden Beschleunigung (Korunka) zur Entstehung und Entwicklung menschlicher Sprachen in Zeit und Raum (Haarmann). Der Bezug zu den Künsten wird anhand von Literatur (Nünning) und Musik (Goebl) dargestellt. Philosophische und medienwissenschaftliche (Günzel) sowie religionswissenschaftliche Aspekte (Koch) komplettieren das Buch, das auch zu weiterführenden Auseinandersetzungen zum Thema „Zeit“ anregen möchte. Dank für die gute Zusammenarbeit gebührt den Referentinnen und Referenten sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Österreichischen Forschungsgemeinschaft für die engagierte Betreuung des Projekts. Wolfgang Kautek Reinhard Neck Heinrich Schmidinger
Mechanische Uhren, moderne Zeitordnungen und die Wissenschaften im Spätmittelalter Gerhard Dohrn-van Rossum
Die Geschichte der Zeitmessung, speziell der Zeitmesstechnik, die Geschichte der Uhren und speziell die der mechanischen Uhren waren und sind klassische Themen der Technikgeschichte. Zugleich ist die Uhr zum Inbegriff und zu einem Symbol des modernen Zeitbewusstseins bzw. zu einem Symbol für Modernisierungsprozesse überhaupt geworden, die wir teils positiv, teils negativ bewerten. Die Entwicklung und Einführung der mechanischen Uhr und ihre vielfältige Nutzung im späten Mittelalter bedeutete eine technik- und eine sozialgeschichtliche Wende und war unbestritten einer der Faktoren auf dem Sonderweg Europas in die technisch-industrielle Zivilisation – kaum weniger bedeutend als die Erfindung der Pulverwaffen oder des Buchdrucks. Rekonstruktionen der Entwicklungsgeschichte der mechanischen Uhren begegnen zwei Schwierigkeiten. Uhr, lateinisch „horologium“, ist ein vager Ausdruck, der viele verschiedene Geräte und Techniken zur Beobachtung bzw. Messung oder der Indikation der „verfließenden“ Zeit bezeichnen konnte. Dazu zählen Schattenstäbe, Sonnenuhren aller Art, einfache Auslauf-Wasseruhren, komplizierte Wasseruhr-getriebene Automaten, Öl-Uhren, Kerzenuhren, Astrolabien und andere astronomische Beobachtungsinstrumente. Einige dieser gelegentlich primitive Zeitmesser genannten Geräte waren in den alten Hochkulturen (Zweistromland, Ägypten, China) seit Jahrtausenden bekannt. Sie dienten der Unterteilung des natürlichen (Licht-)Tages mit wechselnder Länge und entsprechend der wechselnd langen Nacht. Gleichlange Stunden waren den Astronomen geläufig, und Umrechnungen von ungleichen in gleiche Stunden wurden häufig beschrieben. Gleichlange Stunden dienten astronomischen Datierungen wie auch der Bestimmung der geographischen Breite und kalendarischen Zwecken. Die in der griechisch-römischen Antike wie auch im Neuen Testament gebräuchlichen, in der Länge mit den Jahreszeiten wechselnden sog. Temporalstunden sind in den mittelalterlichen Klöstern und Kirchen übernommen worden, und sie gliederten auch den bürgerlichen Tag in den umliegenden Siedlungen. Die mechanischen Elemente, die wir in mechanischen Uhren finden, waren im Mittelalter – z. B. in Verbindung mit Wasseruhren oder Mühlenwerken – wenigstens in einfachen Varianten bekannt:
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– Antrieb durch Gewichte über Wellen, Hebel, Seile und Umlenkrollen, – Zahnrad-Getriebe, Über- und Untersetzungen, – Zeigerwerke zur Zeitanzeige, – mechanisch-akustische Signalauslösungen auf Metallbecken oder Glocken, – zeitgesteuerte Auslösung von Figurenläufen oder Musikspielwerken. Das in unseren Augen entscheidende Merkmal einer mechanischen Uhr, die wir oft, aber ebenso ungenau als Räderuhr bezeichnen, ist ein einfaches, mithin reproduzierbares und regulierbares Zeitnormal, durch das das Gleichmaß einer Drehbewegung gesichert wird: die mechanische Uhrwerkhemmung. Wir sehen in dieser Entwicklung, die in Europa und nicht in anderen Kulturen gegen Ende des Mittelalters gelungen ist, den großen technischen Durchbruch. Bis in die Mitte des 13. Jahrhunderts waren „horologia“ ganz überwiegend als Wecker für den Beginn der nächtlichen Offizien in Klöstern und Kirchen in Gebrauch.1 Das waren meist einfache Wasseruhren, oft in Verbindung mit akustischen Wecksignalen. Vom Hörensagen wusste man von aufwendigen Automatenwerken an Herrscherresidenzen im islamischen Raum.2 Dort war die hellenistisch-byzantinische Tradition von Uhrenautomaten, die die Stunden des Tages mit Figuren- und Musikwerken anzeigten, aufgenommen und weiter entwickelt worden. Die klösterlichen Uhren waren schwierig zu regulieren3 und notorisch wartungsanfällig.4 Da sich der Weckzeitpunkt für die monastischen Gemeinschaften auch anders, etwa durch astronomische Beobachtungen, das Abbrennen von Kerzen oder durch die Zählung von Gebeten durch den Sakristan, 1 2 3
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Dazu und zum Folgenden vgl. Gerhard Dohrn-van Rossum, Geschichte der Stunde. Uhren und moderne Zeitordnungen, München (Hanser) 1992 u. ö. Vgl. z.B. Dietrich Lohrmann, Das „Himmelszelt“ des Sultans al-Kamil von 1232 für Kaiser Friedrich II., in: Historische Zeitschrift 294/2 (2012), S. 297–327. Vgl. die Regulierungsanweisungen für die Jahre 1267/68 auf den bei der Abtei Villersla-Ville (Belgien) gefundenen Schiefertafeln: Albert d‘ Haenens, La clepsydre de Villers (1267). Comment on mesurait et vivait le temps dans une abbaye cistercienne au XIII e siècle, in: Klösterliche Sachkultur des Spätmittelalters, Wien 1980, S. 321–342. Vgl. etwa Wilhelm von Auvergne, De anima, c. l, pars 7a, Opera omnia, Paris 1674, Ndr. 1963, t. II Suppl. S. 72: „ … motus horologiorum qui per aquam fiunt et pondera, quae quidem ad breve tempus et modicum fiunt et indigent renovatione frequente et aptatione instrumentorum suorum atque operatione forinseci, astrologi videlicet qui peritiam habet huius arteficii.“
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ermitteln ließ, war das kein großes Problem. Gegen Ende des 13. Jahrhunderts wächst die Zahl der Hinweise auf „horologia“ fast überall in Europa auch außerhalb der Klöster, und das ist m.E. nicht allein auf die zunehmende Schriftlichkeit v.a. im Bereich der Rechnungslegung zurückzuführen. Klöster und Kirchen beschaffen ausdrücklich „neue“, größere und teurere Uhren.5 Die Installation der neuen Uhr in der Kathedrale von Lincoln wird 1324 damit begründet, dass solche Uhren schon fast überall üblich seien.6 Wir erhalten Hinweise auf die Aufstellungsorte oder Bauformen7 wie auch auf Eisen als Material und auf Reparaturen. Gelegentlich kritisieren Visitatoren den von einzelnen Klöstern getriebenen Aufwand. Uhren sollten weniger kostbar und die Neugier befriedigend sein, sondern wahrhaftig und sicher die Zeit anzeigen.8 Ein weiteres Indiz für technische Fortschritte sind neue Berufsbezeichnungen, Uhrmacher bzw. Uhrwärter, wie sie sich v. a. in England finden („horologiarus“, „orlogista“, „orloger“ etc.). Verschiedentlich werden jetzt auch Bedürfnisse nach kontinuierlicher Darstellung zeitlicher Abläufe im Kosmos artikuliert. Der für sein Interesse an Experimenten und seine technischen Visionen berühmte Franziskanermönch Roger Bacon spricht 1267 von der Herstellung einer Armillarsphäre („astrolabium sphaericum“), die nach den Vorgaben des Ptolemäus alle wichtigen Himmelsvorgänge nach Länge und Breite darstellen könne.
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1292, Canterbury „Novum horologium magnum in Ecclesia“, J. Dart, History and Antiquities of the Cathedral Church of Canterbury, London 1726, S. III, 13; 1324 York St. Mary, „orologium novum“, H. H. E. Craster, Mary E. Thornton (Hg.), The Chronicle of St. Mary’s York (Surtees Soc. 148), Durham 1934, S. 73, 92; 1324 Glastonbury Abbey, Chronica sive historia de rebus Glastoniensibus, autore Iohanne, monacho monasterii s. Marie Glastoniensis (flor. a. 1400), Th. Hearne (Hg.), Oxford 1726, S. 263. Chr. Wordsworth (Hg), Statutes of Lincoln Cathedral, pt. l, Cambridge 1892, S. 350. Carnet des Villard de Honnecourt, v. 1235, bei der Zeichnung eines wohl hölzernen turmartigen Gehäuses für eine Uhr, Überschrift (von anderer Hand): „Ki velt faire le maizo(n) d’une ierloge ves enté ci une q(ue) io vi une fois …“; Hans R. Hahnloser, Villard de Honnecourt. Kritische Gesamtausgabe des Bauhüttenbuchs, 2. Aufl. Graz 1972, S. 29–32 und Tafel 12; Carl F. Barnes (Hg.), Portfolio of Villard De Honnecourt. Paris Bibliothèque Nationale de France Ms. fr. 19093: A New critical Edition and Color Facsimile, Ashgate 2009, S. 55 f. u. Plate 15. Ermahnung des Dominikaneroberen Humbertus de Romanis († 1278): „Porro in quolibet conventu debet esse horologium pretiositate vel curiositate non notabile, sed veritate laudabile“, Instructiones de officiis ordinis, Opera de vita regulari, J. J. Berthier (Hg.), t. II, Rom 1888, Ndr. 1956, S. 69, 248.
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„Aber dieses Gerät entsprechend dem Tageslauf zu bewegen steht außer ihrer [der Mathematik] Macht. … Erst ein Instrument, an dem die natürlichen Vorgänge abgelesen werden könnten, wäre einen Königsschatz wert und würde alle anderen Instrumente, auch Uhren, überflüssig machen. Es wäre ein wunderschönes wissenschaftliches Schaustück.“9
Beim Problem des kontinuierlichen Antriebs dachte Bacon, der auch mit der Konstruktion von Wasseruhren vertraut war10, an die in dieser Zeit vielfach diskutierten Perpetua mobilia, bezog sich aber konkret auf den von ihm bewunderten Militäringenieur Petrus de Maricourt, der bei einem Kreuzzug vor Lucera in einem Brief an den Ritter Syger de Foucaucourt eine Uhr in Form eines sich mit dem Tageslauf drehenden magnetischen Globus vorgeschlagen hat, der ebenfalls bisherige „horologia“ entbehrlich mache.11 Aus dem Bereich der akademischen Astronomie kennen wir einen allgemein akzeptierten und auch plausiblen Terminus post quem für das Auftauchen einer Uhrwerkhemmung. Dabei bleiben allerdings technische Entwicklungen im Bereich der einfachen Klosterwecker außer Betracht. Der in Montpellier und wohl auch in Paris lehrende Astronom Robertus Anglicus erwähnt im Jahr 1272 in einem Kommentar zu dem geläufigen Lehrbuch „De Sphaera“ des Johannes von Sacrobosco bei der Erörterung der ungleich langen und der gleich langen Stunden („duplex est hora in astronomia“) die bisherigen vergeblichen Versuche der Uhrmacher („artefices horologiorum“), ein „horologium“ zu bauen, das zwischen zwei Sonnenaufgängen genau eine Umdrehung mache. Gelänge die Konstruktion eines diesen Anforderungen der Astronomen genügenden Instruments, hätte man eine genaue Uhr, die für die Ermittlung der Tagesstunden wertvoller sei als das Astrolab und andere astronomische Instrumente. Was nach Robertus gesucht wird, ist ein sich gleichmäßig langsam drehender Mechanismus zur Darstellung, Verfolgung bzw. Simulation des Tageslaufs. Nach seinem Konstruktionsvorschlag soll ein möglichst homogener runder Balken durch ein Gewicht an einem Seil in Drehung versetzt werden. In der Praxis würde die Drehung stetig 9
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„Sed quod hoc corpus sic factum moveatur naturaliter motu diurno, non est in potestate mathematicae. … Et tunc thesaurum unius regis valeret hoc instrumentum et cessarent instrumenta astronomiae, et horologia, et esset pulcherrimum spectaculum sapientiae.“, ed. J. H. Bridges, The ‘Opus Majus’ of Roger Bacon, vol. II, 1897, Ndr. 1964, S. 202 f. A. a. O, vol. I, S. 230 f. Epistula de magnete (seu rota perpetua motus), ed. Loris Sturlese, Pisa 1995, S. 80; vgl. John D. North, God’s Clockmaker: Richard of Wallingford and the Invention of Time, Oxford 2005, S. 156 ff.
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Abb. 1: Skizze einer Waagbalkenhemmung. Rechte beim Autor.
beschleunigt und das Gewicht auf den Boden stürzen, weil ein Hemmungsmechanismus fehlt. Diese Stelle hat der große Wissenschaftshistoriker Lynn Thorndike schon 1941 als Zeitpunkt einer „impending invention“ der mechanischen Uhrwerkhemmung bezeichnet.12 Trotz einer klaren Problemstellung und Berichten von Lösungsversuchen für ein Uhrwerk ist von einem kontinuierlichen und regulierbaren Antrieb aus wissenschaftlichen Kreisen in den nächsten Jahrzehnten keine Rede mehr.13 Nach der gegenwärtig plausibelsten Hypothese zum Auftauchen der mechanischen Uhrwerkhemmung ist sie aus dem Mechanismus für den repetierenden Glockenschlag der Klosterwecker entwickelt worden. In beiden Mechanismen greift eine Spindel mit zwei „Lappen“ in ein sägezahnartiges „Kronrad“ auf einer gewichtsgetriebenen Welle ein. Am Ende der Spindel ist ein Waagbalken befestigt, an dem Gewichte zur Regulierung der Ablaufgeschwindigkeit angebracht sind. Es fällt allerdings auf, dass der in unseren Augen so bedeutsame technische Durchbruch, diese sog. „Erfindung“, von den Zeitgenossen um 1300 überhaupt nicht wahrgenommen worden ist.14 12
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L. Thorndike, Invention of the mechanical clock about 1271 A.D., in: Speculum 16, 1941, S. 242–3; mit verbessertem Text, ders., The Sphere of Sacrobosco and its commentators, Chicago 1949, S. 180 und S. 70. Einen Ursprung der mechanischen Uhr als wissenschaftliches Instrument vermutet Víctor Pérez Álvarez, The Role of the Mechanical Clock in Medieval Science, in: Endeavor 39 /1 (2015), S. 63–68. Gerhard Dohrn-van Rossum, Novitates – Inventores. Die Erfindung der Erfinder im Spätmittelalter, in: Tradition, Innovation, Invention. Fortschrittsverweigerung und Fortschritts-
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Damit wird m.E. wahrscheinlich, dass es sich bei der Uhrwerkhemmung nicht um eine Erfindung, sondern um eine Mehrzahl von Entwicklungen und technischen Varianten über einen gewissen Zeitraum an verschiedenen Orten gehandelt hat. Die aus späteren Zeugnissen bekannte Hemmung ist offenbar eine Variante, die sich aufgrund ihrer Einfachheit und Reproduzierbarkeit durchgesetzt hat. Für die sog. Erfindung gibt es also kein Datum, keinen Ort und keinen Erfinder. Dass diese technischen Fortschritte im Umkreis von Klöstern erreicht worden sind, ist mindestens wahrscheinlich, weil dort über lange Zeit Erfahrungen mit Weckwerken gemacht worden sind. Die Klöster als wahrscheinliche Ursprungsorte mechanischer Uhrwerke in Lateineuropa haben seit Beginn des 20. Jahrhunderts zur Verbreitung der falschen Vorstellung von den mittelalterlichen Klöstern als Prototypen der modernen Fabrik und Klöstern als „vergeistigten und moralisierten Megamaschinen“ geführt. Unter vager Berufung auf Werner Sombart15 erklärt Mumford, die Benediktiner hätten den menschlichen Unternehmungen den „regular and collective beat and rhythm of the machine“ in einem glockengesteuerten, eisernen 24-Stunden-Rhythmus verliehen. Aus der monastischen Routine sei eine neue „mechanical conception of time“ hervor gegangen.16 Auch Michel Foucault beschreibt die Klöster mit ihrem durch Glocken geregelten Tageslauf als Vorläufer moderner Zeitpläne und der Fabrikzeit.17 Dabei wird der am wechselnden natürlichen Tageslicht orientierte, intrinsisch sequentiell geordnete und sehr elastische Charakter der klösterlichen Ordnung des Tages völlig ausgeblendet.18 Eine eigene Abhandlung widmet der amerikanische Soziologe Eviatar Zerubavel der benediktinischen Ethik als Ursprung des modernen „spirit of scheduling“. Der Tageslauf nach der Regel sei das Modell aller westlichen Zeit- und Stundenpläne, und die Benediktinerklöster seien die herausragenden Beispiele für „clockwork communities“. Auch Zerubavel unterstellt ein regelmäßiges klösterliches Zeitsignal und behauptet, dass der vorgeschriebene Tageslauf die Standardisierung des Zeitwerts (hier: der absoluten Dauer) der
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bewusstsein im Mittelalter, hg. v. Hans-Joachim Schmidt (Scrinium Friburgense 18), Berlin – New York (de Gruyter) 2005, S. 27–49. Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus, Bd. 1.2, München Leipzig 1928, S. 506 f.; v. a. II.1, S. 127f. Lewis Mumford, Technics and Civilization, N.Y. (Harcourt, Brace & Company, Inc.) 1934, S. 12–18.
Michel Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt a.M. 1976, S. 192 f. Vgl. Dohrn-van Rossum (wie Anm. 1), S. 39 ff.
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Stunde erforderlich gemacht habe. Die durch den historisch älteren Gebrauch der kanonischen Stunden entstehende „awkward situation“ sei nur durch die Einführung der mechanischen Uhr zu ändern gewesen. „The Benedictine invention of a schedule … was based entirely on a mechanical timepiece.“19 Das ist leider ganz falsch, denn die Klöster sind über acht Jahrhunderte (6.–13. Jh.) ganz gut ohne mechanische Zeitmesser ausgekommen. Diese Bilder des monastischen Alltags sind sehr weit vom Text der Benedikt-Regel, von den einschlägigen Kommentaren und auch von der klösterlichen Praxis entfernt. Um die Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert tauchen mechanische Uhren auch außerhalb von Klöstern in Kathedralen, an Fürstenhöfen und in großen Städten auf. Seit Beginn des 14. Jahrhunderts sind mechanische Uhrwerke als Antriebe für Glockenspiele, Musik- und Figurenlaufwerke, astronomische und kalendarische Simulationen und für Automatenschauspiele benutzt worden. Inwieweit dabei islamische Automatentraditionen aufgenommen worden sind, lässt sich schwer sagen. Eine ungefähre Vorstellung von diesen astronomischen Uhren vermittelt die teilweise erhaltene Straßburger Münsteruhr, deren erste Fassung aus den Jahren 1352–54 stammt. Solche Uhren gab es vorher z.B. in Cambrai, Norwich und anderswo. Tagesdatum und Tageszeit wurden an diesen Schaustücken zur Erbauung der Gläubigen wohl angezeigt, aber die Stundenindikation spielte noch keine Rolle. Niemand schaute auf diese Automaten, um die Uhrzeit zu erfahren, und moderne Stundenangaben fehlen ganz. In einigen Städten Italiens und entlang der Adria-Küste (z.B. Orvieto 1307, Modena 1309, Parma 1317, Ragusa/Dubrovnik 1322) finden sich dann auch Hinweise auf einen öffentlichen Stundenschlag und auf städtische Uhrwärter. Von einer sensationellen Neuerung wird dann in einer Mailänder Chronik zum Jahr 1336 berichtet: Der Stadtfürst Azzo Visconti habe bauen lassen „eine Uhr mit einer Glocke, die in der ersten Stunde einmal, in der zweiten Stunde zweimal etc. schlägt“. Hier ging es offenbar um einen zusätzlichen, neuartigen und eher noch komplizierteren Mechanismus, eine zusätzliche Erfindung, ein Stundenschlagwerk mit Übersetzungen, die Geschwindigkeit des Läutmechanismus regulierenden Windflügeln und als Clou mit einer Schlossscheibe, auf der sich beliebige Läutsequenzen programmieren ließen. Man hat sie als Vorläufer von Lochkarte und Computer bezeichnet. Das automatische Stundenschlagwerk machte, wie die Zeitgenossen voller Staunen feststellten, die 19
Eviatar Zerubavel, The Benedictine Ethic and the Modern Spirit of Scheduling: On Scheduling Social Life, in: Sociological Inquiry 50 (1980), S. 157– 69, hier S. 159; ders., Hidden Rhythms: Schedules and Calendars in Social Life, Chicago – London 1981, S. 62.
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schwere Arbeit der Glöckner „von selbst“, „ohne menschliche Arbeit“, „scheinbar belebt“, ein, „arloy … das sich selber slach“ (in Tulln z. J. 137220). Erst diese stundenschlagenden Uhrwerke wurden als eine großartige „neue Erfindung“, als eine „novitas“ gefeiert. Sie waren auch aus der Sicht der damaligen Zeitgenossen die ersten von Europäern gebauten Automaten. Und weil die neue Schlagwerktechnik sich praktisch nicht auf unterschiedliche Tages- und Nachtstunden ständig wechselnder Dauer einstellen ließ, wurde erst durch diese Schlagwerke der Übergang zu den modernen, gleichlangen Stunden im stadtöffentlichen Leben möglich und auf lange Sicht unvermeidlich. Der Gebrauch der modernen Stunden folgte der Verbreitung der Stunden schlagenden Turmuhren in Europa fast zeitgleich. Francesco Petrarca schildert in einem Brief aus Mailand aus dem Jahr 1353, dass er einen lästigen Besucher erst beim Schlag des „horologium publicum“, wie sie – vor kurzem erfunden – schon in fast allen oberitalienischen Städten zur Messung der Zeit dienten, aus dem Hause hätte schaffen können.21 Auch andere Hinweise machen zusätzlich plausibel, dass zumindest die Schlagwerktechnik in Italien entwickelt bzw. „erfunden“ worden ist. Gleichlange Stunden wurden damals als Teile des Volltags und nicht etwa als Einheit von 60 Minuten verstanden. Dass seit dieser Zeit der Alltag in kleine Zeiteinheiten „zerhackt“ worden oder quantifizierende Zugriffe in den Wissenschaften ermöglicht worden seien, geht auf ein von Mumford popularisiertes Missverständnis einer Notiz des großen Wissenschaftshistorikers Lynn Thorndike zurück, der 1934 geäußert hatte, dass schon um 1345, also in der Frühzeit der Räderuhren, die Teilung der Stunde in 60 Minuten und 60 Sekunden – mindestens auf Papier – in Gebrauch gekommen sei.22 Die von Thorndike selbst zahlreich angeführten Zeitangaben mit Minuten und Sekunden finden sich nur bei Berichten von Himmelserscheinungen und bei Horoskopen. Das waren jedoch durchweg keine uhrengemessenen Zeiten, sondern ungefähre, Genauigkeit nur simulierende Interpolationen. Damals 20 21 22
Regest in: Anton Kerschbaumer, Geschichte der Stadt Tulln, Krems 1874, Nr. 369, S. 374 f. Epist. de rebus familiaribus et Variae, F. Francassetti (Hg.), vol. III, Florenz 1863, Var. 44, S. 419. Lynn Thorndike, A History of Magic and Experimental Science III and IV: Fourteenth and fifteenth Centuries, 2 Bde. (History of Science Society publications IV), New York (Columbia UPr) 1934 III, S. 290, 344 f., IV, S. 612: „The measurement of minute fractions of time has begun, at least on paper.“
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Abb. 2: Turmuhrwerk Wien St. Stephan 1699. Joachim Oberkircher, Turmuhrwerk von St. Stephan, © Wien Museum.
wurden Stunden, wenn überhaupt, meist proportional geteilt (Halbe, Viertel, Achtel etc.) und dann im Alltag meist mit Sanduhren befristet. Richtig ist vielmehr, dass quantifizierende Zeitmessungen mit Minuten und Sekunden erst nach der Entdeckung und Nutzung der Isochronie der Pendelschwingung im 17. Jahrhundert, also nach rund 300 Jahren, in den Wissenschaften und im Sport auftauchen. Die öffentlichen Uhren zeigten die wahre Ortszeit, wie sie mittels einer Sonnenuhr beim Sonnenhöchststand um 12 Uhr leicht festgestellt werden konnte. Entfernungen und langsame Verkehrsverbindungen machten weiter gehende zeitliche Koordination unnötig. Die Unterschiede der Ortszeiten waren auch bei Nachrichtenverbindungen kein Problem. Im Jahr 1405 wartete Heinrich III. von Kastilien in Segovia dringend auf die Niederkunft seiner Frau Katharina von Lancaster, die sich im rund 150 km entfernten Toro aufhielt. Dafür ließ er eine Stafette mit Rauchsignalen einrichten und ordnete an, dass man das Signal zwei Stunden nach Mitternacht starten und genau regi-
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strieren solle, wie schnell eine Nachricht zwischen den beiden Städten übermittelt werden könne.23 In der Folgezeit breiteten sich die öffentlichen Uhren überall in Europa von Santiago de Compostela bis Moskau aus. Dabei ist, wie sich aus ca. 650 Installationsdaten ergibt, klar eine Boomdekade mit zweistelligen Zuwachsraten von 1370–1380 auszumachen. Um 1400 hatten die größeren europäischen Städte ein öffentliches Zeitsignal. Auch Wien erhielt noch in der Boomdekade öffentliche Stundensignale. Im Kolophon – d.i. eine Schlussbemerkung, die meist den Schreiber und das Datum der Fertigstellung einer Handschrift nennt – einer Wiener Handschrift heißt es, der Priester Johannes aus Ernstbrunn habe den Text im Herbst 1375 abgeschlossen „beim Schlag einer Glocke als die Uhr die zweite Stunde schlug“.24 Außer der modernen Stundenangabe weist auch die ausdrückliche Nennung der Signalquelle auf die Neuheit der Technik hin. In den Grundbüchern der Stadt Wien wird in den Jahren 1377–79 mehrfach ein „Hanemann magister arloyorum/orloyorum“ erwähnt.25 Es gab also auch mindestens einen spezialisierten Handwerker. Kurz darauf (1380) erhält der Turmwächter auf St. Stephan Zahlungen für den Schlag der Stunden. Vielleicht hat dieser Wächter die Stunden händisch nach einer kleinen Türmeruhr geschlagen. Nach den Wiener Kammeramtsrechnungen wird dann im Jahr 1417 eine neue Uhr für St. Stephan mit Schlagwerk und Zifferblatt durch den „maister Hanns von Prag“ eingerichtet.26 Von einer Verspätung Wiens bei den Uhrenbeschaffungen, von der man gelegentlich liest, kann also keine Rede sein. Die akustische Indikation der Tagesstunden war der Normalfall, aber die öffentlichen Uhren an Kirchtürmen und Rathäusern wurden bald auch mit aufwendigen Zifferblättern und Zeigerwerken für den Lauf von Sonne und 23
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Víctor Pérez Álvarez, Mechanical clocks in the medieval Castilian royal court, in: Antiquarian Horology 34/4 (2013), S. 489–502; hier S. 494; zur Laufzeitkontrolle durch Poststundenpässe im Herzogtum Mailand vgl. Dohrn-van Rossum (wie Anm. 1), S. 303 ff. „Finite recte in pulsu campane que vocatur campane piratarum [?] cum horologium signaret duas horas …“; Wien ÖNB Theol. lat. 474 (U 287) s. 14; n.: Colophons de manuscrits occidentaux des origines au XVIe siècle, vol. III, Fribourg 1973, Nr. 9592, S. 269. 1377 Aug. 11, „pro libris VII denarium Hanemanno magistro arloyorum …“. 1379 Jun. 6., „Hannmann magister orloyorum sui heredes vendiderunt domum eorum sitam in Valle prope domum Phoedere Friderici, …“; F. Staub (Hg), Grundbücher der Stadt Wien: Die ältesten Kaufbücher (1368 –88) (= Quellen zur Gesch. d. Stadt Wien, 3. Abt., Bd. 1) W. 1898, Nr. 937, 1133, S. 150, 185. Karl Uhlirz, Zur Geschichte der Uhren in Wien (1380 –1699), in: Blätter d. Vereins für Landeskunde von Niederösterreich, NF 25, 1891, S. 177–205.
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Mond und dem Zodiakkreis mit den 12 Sternzeichen versehen. An Fürstenhöfen fanden sich auch kleinere Ausführungen astronomischer Uhren.27 Daneben hat es eine kleine Anzahl besonders komplizierter Typen gegeben, die sog. Planetarien, die über komplizierte Getriebe und Mechanismen nicht nur die sog. Fixsterne (z.B. Sonne, Mond), sondern auch die scheinbar unregelmäßigen Bewegungen der Planeten, der „stellae errantes“, der sog. „Wandelsterne“ anzeigten zeigten.28
Astronomische Uhren Richard of Wallingford (1292–1336) war der Sohn eines Grobschmieds. Nach seinem Studium in Oxford wurde er Abt des Benediktinerklosters St. Albans in Hertfordshire. Die von ihm konstruierten und beschriebenen astronomischen Beobachtungs- und Kalkulationsinstrumente (Torquetum, Kombination von Armillarsphäre Astrolab, Rectangulus zur Kalkulation von Sternhöhen und ein von ihm Albion genanntes Aequatorium29) zeigen seine hohe astronomische aber auch handwerkliche Kompetenz. Die von ihm für seine Klosterkirche konstruierte astronomische Uhr zeigte nicht nur die üblichen Sternbewegungen auf einem Astrolab-Zifferblatt, sondern auch Planetenläufe, sowie Ebbe und Flut an der Themse. Das als Antrieb dienende Uhrwerk war mit einer sehr speziellen und auch nur hypothetisch rekonstruierbaren Hemmung versehen. Diese astronomische Uhr wurde zu Richards Lebzeiten zwar nicht fertig gestellt, ist von ihm aber in seinem Tractatus Horologii Astronomici (1327) beschrieben worden.30
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Antonio Rubió y Lluch, Documents per l’ historia de la cultura catalana mig-eval I, Barcelona 1908, Nr. 284, S. 265 f., vgl. Víctor Pérez Álvarez, Mechanical clocks (wie Anm. 13) in the medieval Castilian royal court, in: Antiquarian Horology 34/4 (2013), S. 489 –502. Emmanuel Poulle, Équatoires et Horlogerie planétaire du XIIIe au XVI e siècle, 2 Bde., Genf - Paris 1980. Zur Erläuterung der Instrumente vgl. Ernst Zinner, Deutsche und niederländische astronomische Instrumente des 11. bis 18. Jahrhunderts, 2. erg. Aufl., München 1967, Ndr. 1972. John D. North, Richard of Wallingford. An edition of his writings with introductions, English translation and commentary, 3 Bde., Oxford 1976; John D. North, God’s Clockmaker: Richard of Wallingford and the Invention of Time, Oxford 2005.
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Abb. 3a und 3b: Der Abt Richard von Wallingford in der Werkstatt und mit seiner Uhr. London British Library, Ms. Cotton Claudius E. IV, f. 201r; Ms. Cotton Nero D. VII, f. 20; 14. Jahrhundert.
Die Uhrwerke mit astronomischen Indikationen und die Planetarien dienten kaum der Zeitanzeige, und in ihrem Umkreis wurden keine modernen Stundenangaben erwähnt. Sie waren als Modelle des Kosmos nach der heliozentrischen Theorie des Ptolemäus Schaustücke und lehrhafte Demonstrationsautomaten. Sie beflügelten die Vorstellung von Gott als Uhrmacher und das alte Konzept von der Welt als „machina mundi“, die man sich – ebenso wie die damals diskutierten Konzepte eines Perpetuum mobile – hinsichtlich der Regelmäßigkeit der Bewegungen als Uhrwerk vorstellte.31 Sie waren keine wissenschaftlichen Instrumente und auch keine astronomischen Zeitmesser für die Wissenschaftler. 31
Thomas Bradwardine († 1349) bei der Erläuterung des göttlichen Willens als allgemeiner Bewegungsursache „sicut pondus se habet in horologio nostro parvo, sic Deus in horologio mundi magno“ … „si imaginetur horologium habens rotam perpetuam motionis, virtute ponderis immanentis“, Thomas Bradwardine, De causa Dei contra Pelagium et de virtute causarum, ed. Henr. Saville, London 1618, Ndr. Frankfurt/M 1964, S. 193–4. Nicolaus Oresme (1382) vergleicht bei der Erörterung der Kommensurabilität der Bewegungen der Himmelskörper einen Uhrmacher mit dem Schöpfer: „Nam et si quis faceret horologium materiale nonne efficeret omnes motus rotasque commensurabiles iuxta posse ? Quanto magis hoc opinandum est de architectore illo qui omnia fecisse dicitur numero, pondere et mensura?“, Tractatus de commensurabilitate vel incommensurabilitate motuum celi III, 117–121; ed. E. Grant, Nicole Oresme and the Kinematics of Circular Motion, Madison, 1971, S. 294; in seinem Livre du ciel et du monde wird die nicht endende Bewegung der Himmelkörper mit einer Uhr verglichen, ed. A.D. Menuit u. A.J. Denomy, Madison (Wisc.), 1968, S. 288; vgl. S. 229–38.
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Abb. 4: Giovanni Dondi dall’ Orologio, „Astrarium“, Skizze des unteren Uhrwerkkäfigs, „figura ordinationis horologii communis in casamento inferioris“ mit Hemmungsrad „corona freni“ und Stundenzifferblatt „horia spera“. Windsor, Eton College Ms. 172.
Als ein Weltwunder galt schon im 14. Jahrhundert das Planetarium des Giovanni Dondi dall’Orologio († 1389), das in mehreren zeitgenössischen illustrierten Manuskripten seines „Tractatus Astrarii“ beschrieben worden ist. Giovanni Dondi war der Sohn des Stadtarztes von Chioggia, Iacopo Dondi, der 1334 das Bürgerrecht in Venedig erhielt und als Mitglied einer Gesellschaft zum Betrieb von Mühlen und auch als Salinenunternehmer tätig war. Als Arzt in Padua hat er medizinische Werke wie auch Schriften zur Balneologie und zum Gezeitenproblem verfasst. Auch eine verlorene geographische Karte der Region um Padua wird ihm zugeschrieben. Nach seinem Epitaph und nach Berichten in Chroniken war er der Konstrukteur einer Turmuhr (1344) im Padua der Carrara, die die Stunden schlug und den Lauf der Sonne und des Mondes anzeigte.32 Nicht ganz sicher ist, ob der Beiname „dall’Orologio“ schon ihm zukam oder ob er durch seinen weit berühmteren Sohn Giovanni auf den Vater übertragen worden ist. 32
Tiziana Pesenti, Iacopo Dondi dall’Orologio, in: Dizionario Biografico degli Italiani 41, 1992, S. 96 –96 mit den Quellen und der Literatur.
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Giovanni de Dondi hat in Padua studiert und lehrte dort Medizin, Astronomie/Astrologie und Logik.33 Von 1365 bis 1381 arbeitete er an der Konstruktion eines uhrwerkgetriebenen Planetariums („Astrarium“).34 Hauptthema der Manuskripte sind die komplizierten Mechanismen hinter den Zifferblättern für die Planetenläufe. Dazu kommt ein mechanisch bewegter Kalender und ein 24-Stunden-Zifferblatt. Als Antrieb dient ein „horologium commune“, dessen verschiedenartige Konstruktionen offenbar so geläufig waren, dass es Dondi keiner weiteren Erläuterung für nötig hielt.35 Bei der Hemmung mit der „corona freni“ handelt es sich um einen der erwähnten einfacheren, robusteren und leicht zu reproduzierenden Hemmungstypen. Das Astrarium, das schon Zeitgenossen als Weltwunder beschrieben haben, ist in die Residenz der Visconti-Herzöge nach Pavia verbracht worden. Giovanni Dondi hat ihnen zeitweise auch als Arzt und Astrologe gedient. Giovannis ehrender Beiname „dall’Orologio“ ist in der Familie über Jahrhunderte weiter geführt worden. Zahlreiche Nachrichten von Reparaturen des Astrariums durch verschiedene Fachleute in den folgenden Jahrzehnten lassen zweifeln, ob es je über einen längeren Zeitraum in Betrieb war. Von den gelehrten und astronomisch hoch gebildeten Konstrukteuren, die Uhrwerke als Antriebe für astronomische Modelle und Simulationen benutzt 33 34
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Zur Biographie: T. Pesenti, Giovanni Dondi dall’Orologio, in ibidem, S. 96 –144. Zu den technischen Details vgl. Poulle (wie Anm. ), S. 51–550. Von den 11 bekannten Mss des Tractatus Astrarii (bzw. Planetarium) ist nur der älteste ediert: A. Barzon, E. Morpurgo, A. Petrucci, G. Francescato, Giovanni Dondi dall’Orologio, Tractatus Astrarii (Biblioteca Capitolare di Padova, Cod. D. 39), Città del Vaticano 1960. Eine freie Übersetzung ins Englische, die sich lose auf zwei Codices (Venedig RN Marc. Cod 85, lat VIII,17 und Oxford Bodl. Ms. Laud. misc. 620) stützt und Illustrationen aus einem dritten (Eton College, Ms. 172): G.H. Baillie, H.A. Lloyd, F.A.B. Ward, The Planetarium. Planetarium of Giovanni de Dondi. Citizen of Padua, London 1974; zur Kritik: A.J. Turner, The Tragical History of Giovanni de Dondi, in: Journal for the History of Astronomy 6, 1975, S. 126 –31. Zusammenstellung der Quellen zur Geschichte des Astrariums im 14. u. 15. Jahrhundert nach Dokumenten in: S.A. Bedini, F.R. Maddison, Mechanical Universe. The Astrarium of Giovanni De‘ Dondi, in: Transactions of the American Philosophical Society n.s., vol. 56, pt. 5, Philadelphia 1966. Emmanuel Poulle (Hg.), Opera omnia Jacobi et Johannis de Dondis. Astrarium /1: Facsimile du ms. de Padoue et trad. française, Astrarium/2: Edition critique de la version A, Padua (Ed. 1+1) Paris 1987, 1988. „Huius vero horrologii constructionem particulariter sicut alia non describam, quoniam conpositio eius multiformis at comunis est et qualitercumque fiat non est in intentio huic operi fine; diverssitas dum tantum deveniatur ad rotam que in 24 horarum equalium spatio precise perficiat cursum suum, que in horrologiis communibus horraria nuncupantur.“ ed. Barzon et alii (wie Anm. 35), S. 58.
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haben, sind uns nur wenige aus überlieferten Manuskripten bekannt.36 Ihre Arbeiten, von denen Rekonstruktionen in manchen modernen Museen zu sehen sind, haben – soweit ersichtlich – zur Verbreitung der modernen Stundenrechnung nicht beigetragen. Inwieweit diese Schaustücke zeitgenössisches Zeitbewusstsein verändert haben, lässt sich kaum feststellen.
Moderne Zeitordnungen Um das Jahr 1410, am Beginn der europäischen Moderne, schlüpft ein bis heute anonymer Autor in die Rolle eines englischen Predigermönchs und beschreibt aus der Sicht seiner Gegenwart Neuerungen im Umgang mit der Zeit. Er wendet sich gegen die Künste der Astrologen und erläutert, Gott habe das Firmament erschaffen aus Licht und aus Zeit, wie eine Uhr, die nicht fehlgehe. Licht und Zeit, der gestirnte Himmel, sollten den Menschen dienen und nicht die Menschen ihnen. Vom Firmament als großer Uhr kommt er zu den damals neuen Schlaguhren und erklärt, dass ebenso wenig wie die Gestirne die irdischen Kreaturen, die Uhren in größeren und kleineren Städten die Menschen regierten. Vielmehr regierten sich in den Städten die Menschen mit Hilfe der Uhren selbst. Dabei unterscheidet er die klösterlichen Wecker („orloge“) von den relativ neuen Schlaguhren mit dem damals erst seit wenigen Jahrzehnten geläufigen, auf das Schlagwerk weisenden Begriff „clokke“.37 Was heißt nun: „sich mit Hilfe der Uhren selbst regieren“? Zu fragen ist also nach der Ausbreitung, der Akzeptanz und nach den sozialen Wirkungen des Betriebs der öffentlichen Uhren und der gleich langen Stunden. Das Eindringen der Uhrzeit in den städtischen Raum wird in manchen neueren Veröffentlichungen teils als „Veruhrzeitlichung“, teils als „Chronometrisierung“ bezeichnet. Der erste Begriff ist sprachlich fragwürdig, der zweite ist etwas irreführend, weil Chronometer seit dem 18. Jahrhundert ganz spezielle Uhren bezeichnet, niemals aber stadtöffentliche Uhren. 36
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Dazu gehört noch der studierte Arzt Jean Fusoris (ca. 1365 –1436), Sohn eines Zinngießers, der nicht nur astronomische Instrumente gebaut und verkauft, sondern auch die astronomische Uhr in der Kathedrale von Bourges konstruiert hat. Vgl. Emmanuel Poulle, Un constructeur d’ instruments astronomiques au XV e siècle. Jean Fusoris (Bibliothèque de l’École des Hautes Études, IV section, fasc. 318), Paris 1963. Dives and Pauper, ed. Priscilla Heath Barnum, vol. I, Oxford 1976, S. 120; zum Folgenden vgl. Dohrn-van Rossum (wie Anm. 1). S. 11 und Kap. 8 –10.
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Noch bevor sie überhaupt praktische Erfahrungen mit der neuen Uhrzeit machen konnten, waren die Stadtbürger vom Prestigewert und dann erst je länger je mehr auch vom zukünftigen Nutzen der öffentlichen Uhren überzeugt. Mit dem Schlagen der öffentlichen Uhren entwickeln sich in allen europäischen Städten immer komplexere Zeitordnungen. Die Komplexität steigt dabei – nicht überraschend – mit der Stadtgröße und der inneren Differenzierung der Stadt. Die städtischen Zeitordnungen waren in jeder Stadt anders, aber auch hier gilt: Je mehr man darauf schaut, desto deutlicher wird, dass die Ähnlichkeiten der vormodernen europäischen Städte auch in dieser Hinsicht größer waren als die Verschiedenheiten.
Abb. 5: Nürnberg mit den Turmwächtern für die einzelnen Stadtviertel auf dem Weißen Turm, auf St. Lorenz, auf St. Sebald, auf d. Laufer Schlagturm. Conrad Celtis, Norimberga 1502: „Die einzelnen Stunden … werden für die vier Regionen der Stadt von vier hohen Türmen aus der Reihe nach durch einen Glockenschlag angezeigt.“38 Urbs Norinberga Quadrifinia – Anno 1502, Ansicht von Nürnberg bei Conrad Celtis, Norimberga 1502; München Bayerische Staatsbibliothek Map XI, 483 da.
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Albert Werminghoff, Conrad Celtis und sein Buch über Nürnberg, Freiburg i. B. (J. Boltze) 1921, S. 131 f.
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Gremienzeit – Koordination und Kontrolle Dauerhafte Spuren der neuen Stundenrechnung lassen sich in zahlreichen Ordnungen für städtische Rats- und Gerichtsgremien verfolgen. Die Stadtbürger hatten politische Mitspracherechte erkämpft, aber zugleich hatte sich der politische und juristische Aufgabenbereich der städtischen Verwaltungen enorm ausgeweitet. Die hohe Ehre, als Handwerker in einem städtischen Gremium zu sitzen, hatte sich vielfach als eine immer zeitaufwendigere, meist unbezahlte Pflicht entpuppt. Die Folge: Seit dem Spätmittelalter wurde die Sitzungsdisziplin städtischer Gremien immer schlechter. Zahlreiche neue Rats- und Gerichtsordnungen sehen seit dem Ende des 14. Jahrhunderts nicht nur Diäten vor, sondern präzisieren die Sitzungszeiten auch durch Uhrzeitangaben und setzen Geldstrafen für unpünktliches Erscheinen fest – Zuckerbrot und Peitsche. Uhrzeitangaben für Beginn und Ende einer Gremiensitzung boten die Möglichkeit, diese zeitlich von anderen städtischen Terminen und Signalen zu entkoppeln und ihre Dauer nach Bedarf und ohne Rücksicht auf andere Termine, etwa der Kirche oder des Marktgeschehens, zu variieren. Das herkömmliche städtische Glockenensemble konnte nur funktionieren, insofern die Stadt ein noch relativ überschaubarer Schallraum war. Durch Vermehrung der städtischen Uhren konnte das abstrakte Uhrzeitsignal weitere Räume abdecken. Außerdem ließen sich von Gottesdiensten, Ratsgremien, Märkten und Toren unabhängige Termine setzen. Auch städtische Fristen ließen sich weiter differenzieren: Man hat z.B. vielerorts einheimische und fremde Marktteilnehmer zeitlich getrennt oder den Verkauf von Fisch auf die frühen Markzeiten beschränkt. Schließlich konnte eine beliebige Zahl anderer Institutionen, v.a. die Schulen mit ihren spezifischen Zeitplänen, koordiniert werden. So sind abhängig von ihrer Größe in den Städten immer komplexere Zeitordnungen entstanden. Das abstrakte Stundensignal bereicherte zunächst die akustische Umwelt der Stadt – urbaner „soundscape“, „paysage sonore“, „paesaggio sonoro“ – um ein weiteres Element. Zu den zahlreichen Glocken und Glockenzeichen – auch den Hörnern und Trompeten – der verschiedenen kirchlichen und kommunalen Institutionen trat ein weiteres Zeichen. Da dieses Signal aber eine beliebige Zahl von unterschiedlichen Bedeutungen für beliebig viele Adressaten haben kann und sich leicht über weite Strecken weiter vermitteln ließ, machte es auf lange Sicht die anderen zivilen Glockenzeichen entbehrlich. Man hört sie noch viele Jahrzehnte, aber allmählich verschwinden sie, ohne dass es recht bemerkt würde. Die sinnlich wahrnehmbaren Aspekte der
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Abb. 6: Eine der ersten Abbildungen einer Sanduhr; Tommaso da Modena, Fresken im Kapitelsaal des Dominikanerklosters S. Nicolò in Treviso, datiert 1352. Foto: Autor.
städtischen Zeitordnungen wurden weniger, die akustische Umwelt wurde ärmer, aber nicht leiser.39 Weitere Formen neuer zeitordnender Praktiken wurden durch ein anderes, neues, aber heute in seiner Bedeutung oft unterschätztes Zeitmessgerät möglich. Nicht vor, sondern zeitgleich mit der mechanischen Uhr taucht in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts die Sanduhr bzw. das Stundenglas auf. Das gleichzeitige Auftreten von Räderuhr und Sanduhr ist ganz plausibel: Sanduhren messen oder befristen immer nur gleiche Stunden oder Teile von 39
Alain Corbin, Les Cloches de la terre. Paysage sonore et culture sensible dans les campagnes au XIXe siècle, 1994; dt.: Die Sprache der Glocken. Ländliche Gefühlskultur und symbolische Ordnung in Frankreich des 19. Jahrhunderts, Frankfurt 1995.
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gleichen Stunden. Was hätte man in der Zeit der jahreszeitlich ungleichen Stunden mit Sanduhren auch anfangen sollen? Zur Sicherung der Pünktlichkeit in Gremien waren Uhrzeiten weniger gut geeignet, weil die Sitzungen natürlich nicht genau mit dem Schlag der Uhrglocke begannen und kleinere Zeiteinheiten nur selten angezeigt wurden. Daher wendete man bei Sitzungsbeginn ein „Viertelstundenglas“, nach dessen Ablauf Diätenkürzungen oder Geldstrafen fällig wurden.40 Diese Form der uhrzeitunabhängigen, aber dennoch abstrakten und objektiven Pünktlichkeitskontrolle im Dienste der Zeitdisziplin wurde in zahlreichen Gremien bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bzw. bis zur Verbreitung privater Uhren, die auch Minutenzeiger hatten, beibehalten. Das akademische Viertel erinnert heute noch daran. Frühe Stundenangaben finden sich auch in den Statuten der Universitäten. An der nach Prager Vorbild 1365 gegründeten Universität in Wien zählte man zunächst nach der Italienischen oder Großen Uhr, bei der die Zählung der 24 Stunden kurz nach Sonnenuntergang begann. In einem Eintrag in den Statuten der Artistenfakultät ist zweimal von einer Versammlung „hora 20a [= ca. 15–16 Uhr] in stuba magna magistrorum“ die Rede. Im gleichen Jahr 1385 heißt es in den Statuten des Collegium Ducale (Herzogskolleg, gegr. 1384), dass die Pforte „ad unam horam noctis“ geschlossen werden sollte.41 Seit dem 15. Jahrhundert zählt man in Wien dann nach der heutigen Teilung in zweimal zwölf Stunden. Universitäten und Schulen waren aber nicht nur „Module“ städtischer Zeitordnungen, die modernen Stunden veränderten den Betrieb und den Unterricht auch innerhalb der Institutionen. Zeitdruck ist bei humanistischen Autoren seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert zu einem Dauerthema geworden. Gerade im Kontext von Erziehung, Lernen und Studieren häufen sich bei ihnen Mahnungen und Ratschläge, mit der eigenen Zeit, verstanden als Tageszeit wie Lebenszeit, hauszuhalten, 40
41
Hinweise bei Dohrn-van Rossum (wie Anm. 1) S. 223 ff. und bei Eberhard Isenmann, Ratsliteratur und städtische Ratsordnungen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Soziologie des Rats – Amt und Willensbildung – politische Kultur, in: Pierre Monnet, Otto Gerhard Oexle (Hg.), Stadt und Recht im Mittelalter – La ville et le droit au Moyen Age (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 174), Göttingen 2003, S. 215 – 479, bes. S. 414 – 420. P. Uiblein (Hg), Acta Facultatis Artium Universitatis Vindobonensis 1385–1416, Graz 1968, S. 4; 1,26; 1,38; 2,6. Vgl. Franz Lehner, Die mittelalterliche Tagesteilung in den österreichischen Ländern (Quellenstudien aus d. hist. Seminar der Universität Innsbruck Heft 3), Innsbruck 1911.
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Zeitverschwendung zu vermeiden und über die Zeitverwendung ständig Rechenschaft abzulegen. Dabei ging es nicht nur um Ethik und Diätetik, sondern auch um das Problem, neue Fächer und Unterrichtsgegenstände (z.B. Griechisch, Musik, Sport) zu integrieren. Nach Ansicht der humanistischen Pädagogen war dem dadurch entstandenen Zeitdruck nur durch Ordnung, Methode und Planung zu begegnen. Die vorgeschlagenen Lösungen liefen vielfach auf stundenplanähnliche Arrangements hinaus: die Stunden der Arbeit und der Lektüre sollten eingeteilt werden, zeitliche Zwischenräume gemieden oder genutzt, Autoren und Themen bestimmte Stunden zugewiesen werden. In diesen Milieus tauchen die Sanduhren als Mittel zur Befristung und zur Selbstkontrolle auf. Gleiche Fristen sind gegenüber der Vielfalt der Inhalte, ihrer unterschiedlichen Bedeutung oder ihrer unterschiedlichen Schwierigkeit neutral. Befristete „Studien- oder Unterrichtseinheiten“ erlauben eine gegenüber den Inhalten abstraktere und freiere Organisation des Studiums unter der Bedingung knapper Zeit. Die seitdem üblichen Stundenpläne42 ermöglichten überdies, Schüler und getrennt davon Schülerinnen verschiedener Altersstufen in verschieden Fächern ggf. durch verschiedene Lehrer an einem Vormittag zu unterrichten.
Konstanz 1957.
42
Abb. 7: Statutenbuch des Freiburger Collegium Sapientiae 1497 /1501: Die sonntägliche Disputation soll eine volle Stunde („una hora integra“) dauern. J. H. Beckmann (Hg.): Johannes Kerer, Statuta Collegii Sapientiae. Satzungen des Collegium Sapientiae zu Freiburg im Breisgau 1497. Faksimile-Ausgabe: lat. Text besorgt und ins Deutsche übersetzt von Robert Feger, Lindau 1957.
Vgl. z.B. die Schulordnung für St. Stephan in Wien, in: P. Csendes, Die Rechtsquellen der Stadt Wien (Font. rer. Austr. 3. Abt. 9. Bd.) Wien 1986, Nr. 60, S. 223 ff.
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Abb. 8: Kanzelsanduhr: Michael Ostendorfer, Reformationsaltar, Detail 1553/55. Foto: Museum der Stadt Regenburg.
Seit dem 14. Jahrhunderts, besonders häufig seit Beginn des 16. Jahrhunderts werden abstrakte Befristungstechniken, d.h. Befristungen nach Stunden oder Stundenbruchteilen, auch auf den Kanzeln der Kirchen üblich oder vorgeschrieben. 43 An den zahlreichen Vorschriften dieser Art, v.a. in der nachreformatorischen Zeit, fällt die Vielfalt der Begründungen auf. Den Predigern sollte – meist gegen ihren Willen – eine Frist nicht nur aus didaktischen oder theologischen Gründen gesetzt werden, sondern auch, weil andernfalls die Leute von ihrer Erwerbsarbeit, von ihrem Herrendienst, ihren politischen Pflichten abgehalten würden. Die Schwangeren sollten nicht beschwert und Heizkosten für die Kirche gespart werden. Befristung sollte die Prediger auch von allen unnützen Tautologien, Historien, „Kontroversien“ und Streitpunkten fernhalten; Exempel und Zitate in fremden Sprachen sollten vermieden werden. Jeden einzelnen dieser vielfältigen Zwecke hätte man auch mit anderen Mitteln evtl. sogar besser verfolgen können. Durch abstrakte Befristung ließen sich alle zugleich und in einer für Prediger und Zuhörer leicht zu 43
Z.B. Vorschrift mit Stundenbruchteilen in Wien 1389: Statuten der theol. Fak. Titulus III, „Item in sermonibus prolixitatem vitarj volumus decernentes horam uel horam cum dimidia sufficere debere, ad maximum autem duas horas, quas nemimi liceat excedere.“ Rudolf Kink, Geschichte der kaiserlichen Universität zu Wien, II Statutenbuch der Universität, Wien 1854, S. 100.
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kontrollierenden Form erreichen. Durch ein einheitliches Mittel, die Kanzelsanduhr, ließen sich ganz verschiedenartige Zwecke verfolgen. Besonders interessante und folgenreiche Veränderungen haben sich seit dem 14. Jahrhundert im Bereich der Arbeitszeitregelungen ergeben. Besonders bei den Tagelöhnern in Textilbetrieben, an den städtischen Baustellen, bei Kathedralbauten, auf Werften und in stadtnahen Weinbergen war der in seiner Dauer mit den Jahreszeiten wechselnd lange Lichttag zum Problem geworden.44 Die Verlässlichkeit der Signale verschiedener Kirchen, die Be- bzw. Umschreibung der Hell-Dunkel-Grenzen wie auch die Frage, ob der Weg zur und von der Arbeit zum Arbeitstag gehörten, waren vielfach umstritten, gelegentlich auch Anlass von Arbeitskämpfen. Man hat damals zunächst das Arbeitszeitsignal vom städtischen Signalensemble durch die Einrichtung besonderer Werkglocken entkoppelt. Uhrzeitregelungen der Arbeitszeit haben dann für lange Zeit die Dauer des Arbeitstags nicht verändert, boten aber immerhin die Möglichkeit, z.B. im Sommer das Ende der Arbeitszeit vom Sonnenuntergang etwas in den Tag zu verschieben. Das war keinesfalls der Beginn der Geschichte der „Freizeit“, sondern bot den Arbeitern die Möglichkeit, noch eine Weile auf eigene Rechnung oder im eigenen Garten zu arbeiten. Noch im 15. Jahrhundert finden sich – sehr selten – auch Stundenlöhne als durchgearbeitete Pausenstunden, die fast überall mit Stundengläsern bemessen wurden. Dass die moderne Stundenrechnung eine wesentliche, damals aber noch keineswegs selbstverständliche Voraussetzung vernünftiger Neuordnungen war, wird im zweiten Buch von Thomas Morus „Utopia“ deutlich ausgesprochen (Antwerpen Anf. d. 16. Jh.). Darin heißt es, dass die Utopier den Tag in vierundzwanzig gleich lange Stunden teilten und nur sechs davon der Arbeit widmeten. Dies sei möglich, weil alle notwendige Arbeit durch Heranziehung der bisher Müßigen (Klerus, Adel) in weit kürzerer Zeit geleistet werden könnte.45 Mit der Kritik am unbemessenen Arbeitstag verbindet Morus den deutlichen Hinweis auf die Voraussetzungen vernünftiger sozialer Ordnung: moderne Zeitmessung und Zeitrechnung. Man übersieht also einen m.E. wesentlichen Aspekt, wenn man uhrzeitgeregelte Arbeitszeiten als repressiv beschreibt. Entscheidend ist nämlich nicht, ob eine Uhrzeit autoritär oder 44
45
Für Wien vgl. Ferdinand Opll, Zeitverständnis und Zeitbegriff im Alltag mittelalterlicher Städte. Beobachtungen anhand des spätmittelalterlichen Wiener Handwerksordnungsbuches, in: Städtisches Alltagsleben im Mittelalter vom Mittelalter bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, Bratislava 1998, S. 35– 46. Bk. II, ch. II, The Complete Works of St. Thomas More, ed. E. S. Surtz SJ und J. H. Hexter, vol. 4, New Haven 1965, S. 126.
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konsensual fixiert wird, sondern dass sich durch die abstrakte Fixierung beide Seiten an ein transparentes, schwer manipulierbares Kontrollmittel binden, das z.B. auch Veränderungen durch Verhandlungen ermöglicht. Noch im 18. Jahrhundert haben Landarbeiter zuweilen die Verwendung von Stundengläsern für die Pausenzeit eingefordert.46
Zeitmessung in den spätmittelalterlichen Wissenschaften Messung und allgemein Quantifizierung sind äußerst eng mit unserer Vorstellung von moderner Wissenschaft verbunden. Für die Zeit seit der wissenschaftlichen Revolution im 17. Jahrhundert ist das auch gut begründet. Da aber Messen und Zeitmessung für uns eng mit Uhren verbunden ist, erliegen wir leicht der Versuchung, mit dem Auftauchen der mechanischen Uhr unmittelbar auch wissenschaftliche Quantifizierungsbemühungen zu verbinden.47 Ohne Frage hat es im 14. und 15. Jahrhundert Fortschritte in Richtung der modernen Naturwissenschaften gegeben.48 Es gab Kritik an den Autoritäten, v.a. des Aristoteles, es gab rationalen Skeptizismus, und der Umgang mit Tafeln, Tabellen, Berechnungen und Instrumenten wurde geläufig. Aber bis zur Nutzung der Isochronie der Pendelschwingung und der Unruhfeder im 17. Jahrhundert kann von moderner zeitlicher Quantifizierung in den Wissenschaften oder beim Sport nicht gesprochen werden. Im 15. Jahrhundert erstreckte sich das Interesse an wahrnehmbaren, empirischen Details nicht mehr nur auf die beobachtenden Wissenschaften wie Astronomie, sondern auch auf die empirsch-experimentellen wie Medizin, Alchemie, Naturgeschichte. Man interessierte sich jetzt auch für die kontingenten Einzelheiten, die nicht deduktiv aus allgemeinen Sätzen abgeleitet werden konnten. In die lateinische Wissenschaftskultur mit ihrer Bevorzugung abstrakter Prinzipien hergeleitet aus ersten Ursachen dringt verstärkt Aufmerksamkeit für beobachtbare Erscheinungen und ihre Ursachen. An mehreren Stellen sah man jetzt die Möglichkeit, verschiedene Mess- und Vergleichsprobleme als Zeitprobleme zu formulieren und so einer Lösung näher zu bringen. Auch wenn die Uhrentechnik noch nicht sehr weit entwickelt war, bemerkt 46
47 48
1724, Amt Stargard (Pommern) „Reglement der Hoff-Dienste“ n. W. Bosse, Die Verhältnisse der Kammer als Domanialbehörde im Lande Stargard (1755–1806), 1930, S. 111 f., vgl. S. 38. Vgl. oben S. 16. Thorndike IV (wie Anm. 22), S. 611 ff.
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man aber überall noch ein Festhalten an den alten Autoritäten, und in der quantifizierenden Empirie blieb es vielfach beim vergleichenden Teilen und Wiegen und bei der Technik der Zeitmessung meist bei Wasser- und Sanduhren, die kaum abstrakte Zeitmaße lieferten und damit auch keine reproduzierbaren Messungen ermöglichten. Giovanna Fontana (1395–1455), studierter Arzt aus Venedig und Padua, benutzte und projektierte neuartige Messgeräte und technische Vorrichtungen, z.B. für die Messung des Salzgehalts des Meeres in verschiedenen Tiefen. Seine verlorenen Werke handeln von Labyrinthen, Brennspiegeln und Perpetua mobilia. Bleibenden Ruhm verdankt Fontana seinem „Bellicorum instrumentorum liber“, einem mit teilweise chiffrierten Erläuterungen versehenen Skizzenbuch, das von Hebe- und Zugmaschinen, Automaten, Raketenantrieben, Brunnen – daher vielleicht sein Beiname – und Theatertechnik handelt. Seine Frühschriften („Horalegum pulverum“, „Horalegum aqueum“, „Tractatus/Metrologum de pisce cane et volucre“), die bisher nur aus knappen Paraphrasen und Zitaten bekannt waren, sind jetzt aus einer Handschrift der Universitätsbibliothek Bologna (Cod. 2705) ediert worden.49 Sie behandeln den in der Naturphilosophie des 14. Jahrhunderts öfter diskutierten Zusammenhang von Zeit und Bewegung und die Möglichkeiten der Messungen von Entfernungen und Geschwindigkeiten. Dafür schlägt Fontana verschiedene Zeitmessinstrumente vor, die er entsprechend den drei Dimensionen des zu Messenden und den drei Elementen „Fisch“, „Hund“ und „Vogel“ nennt. Dabei handelt es sich um Beschreibungen und Bauanleitungen komplexer Varianten von Sand- und Wasseruhren, z. T. mit Zahngetrieben, Umkehrmechanismen und Stundenindikationen, und um eine mechanische Uhr. Die beigegebenen Skizzen werden in der Edition als Nachzeichnungen gegeben und durch Skizzen aus anderen Werken erläutert. Die Einleitung behandelt verschiedene Uhrentypen, ihre Antriebe, Zahnräder und Getriebe. Im Rückblick ist deutlich, dass er sich mit den Vorschlägen zu Messungen mit Hilfe von Sand- und Wasseruhren auf technischen „Holzwegen“ befand. Damit war er aber nicht allein. Verblüffend im dritten Traktat ist sein Optimismus, auch kleinste Zeiteinheiten messen zu können, etwa Stundenteile von Minuten über Sekunden, Terzen bis zu Quarten oder auch Tausendsteln von Stunden.50 49
50
Johannes Fontana, Opera iuvenalia de rotis horologiis et mensuris [Jugendwerke über Räder, Uhren und Messungen], hg. u. übersetzt v. Horst Kranz (Boethius 65), Stuttgart (Steiner) 2011. Fontana, De pisce cap. 2, ed. Kranz 409 ff.
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Wasseruhr (Klepsydra) und Waage sind die wichtigsten Instrumente in der Reihe der von dem humanistischen Philosophen, Theologen und Kardinal Nikolaus von Kues (Cusanus) vorgeschlagenen Schreibtisch-Experimente. Er gilt als einer der Vorläufer der modernen experimentellen Wissenschaften. In den in seinem Dialog ‚Der Laie über Versuche mit der Waage‘ (1450) beschriebenen Experimenten stehen stets abgewogene Wassermengen für abgelaufene Zeiten. Die Pulszahlen von Jungen und Alten, von Gesunden und Kranken sollen verglichen und dafür eine Wasseruhr jeweils für die Dauer von einhundert Pulsen geöffnet und das ausgelaufene Wasser gewogen werden. Den Puls zu zählen und nicht mehr nur qualitativ zu beschreiben ist modern, die unzureichenden technischen Mittel allerdings sind antiken Autoren entnommen. Mit derselben Methode soll die Dauer von hundert Atemzügen ermittelt werden. Nikolaus schlägt weitere Messungen vor: Für die Feststellung des Gewichts der Luft soll für verschiedene und verschiedenartig geformte Materialien die Dauer ihres Falls von einem Turm verglichen werden. Mit der Klepsydra und der Waage soll auch die Geschwindigkeit eines Schiffes, die Bewegungsenergie von Bogen und Wurfgeschossen und die Laufgeschwindigkeit von Menschen und Tieren, aber auch Tageslängen und Tageszeiten bestimmt („tempus et hora diei“), und auch Planetenbewegungen sowie das Verhältnis von Durchmesser und Bahnlänge von Sonne und Mond festgestellt werden Cusanus hat auch von einer Methode (‚ingenium‘) die Tiefe unbekannter Gewässer mittels Zeitmessung zu bestimmen gehört. Sie wird gleichzeitig aber unabhängig bei Alberti ausführlich erläutert.51 In den ‚Ludi rerum mathematicarum‘ (1452) des Kunsttheoretikers und Architekten Leon Battista Alberti soll die Tiefe unbekannter, stehender Gewässer, mittels einer Sonde, die in die Tiefe herabgelassen, dort einen Schwimmer auslöst nach einer gewissen Zeit wieder auftaucht, und einer Zeitmessvorrichtung bestimmt werden.52 Bisher kannte man dafür nur die in ihrer Länge beschränkte Lotleine. Wie bei modernen Sonarecholoten wird nun die Zeit eines Hin- und Rückwegs zur Bestimmung der Tiefe benutzt. Bei Alberti soll ein Gallapfel mit einem Lamda-förmigen Haken versehen werden, an dessen einem Arm ein Bleigewicht und an dessen anderem Arm ein dünner Draht mit einer Schlinge befestigt 51 52
,Idiota de statisticis experimentis‘, Opera V, 161–166, 180–187; vgl. Nikolaus von Kues, Philosophisch-theologische Schriften, hg. v. L. Gabriel, lat.-dt., Bd. III, S. 616 ff. Zur Ideen-Geschichte des Problems und zu frühen Versuchen vgl. Roberto Almagià, Sullo sviluppo delle conoscenze della profundita marine, in: Bollettino della Societa Geografica Italiana 4, fasc. 6–7 (1905), S. 427–444, 502–22; R.P. Multhauf, The Line-Less Sounder: an Episode in the History of Scientific Instruments, in: Journal of the History of Medicine 15 / 4 (1960), S. 390–398.
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ist. Sobald diese Sonde den Grund berührt, wird der Gallapfel freigegeben und schwimmt an die Oberfläche. Obwohl Alberti selbst für diese Methode keine Priorität beansprucht hat, wurde der Schwimmer später „bolide albertiana“ genannt. Außerdem soll ein irdenes Wassergefäß mit einer Ausflussöffnung („uas tellureum subtus perforatum“) nach Art der antiken Klepsydra angefertigt werden. An einem Gewässer mit bekannter Tiefe soll damit das während des Auftauchens der Sonde ausgeflossene Wasser in Pfunden und Gran gewogen und ins Verhältnis zur Tiefe gesetzt werden. Einmal so geeicht, sollen sich mit diesen Vorrichtungen dann andere unbekannte Tiefen messen lassen.53 Alberti fügt – nach Aristoteles – hinzu, dass sich jede Bewegung zur Messung von Zeit eignet und – ganz eigenständig –, dass sich mit diesen Vorrichtungen auch genaue Uhren konstruieren ließen.54 Abb. 9: Instrument zur Messung der Tiefe unbekannter Gewässer, in: Leon Battista Alberti, Ludi rerum mathematicarum, 15. Jahrhundert. Florenz, Biblioteca Riccardiana Ms. 2941.
Dieses Verfahren findet sich seit dem 11. Jahrhundert in verschiedenen Manuskripten öfter im Zusammenhang mit Ausführungen über den Gebrauch des Astrolabs, z.B. auch bei dem im 11./12. Jahrhundert in Katalonien tätigen jüdischen Astronomen Savasorda (Abraham bar Chija, Abraham Judaeus).55 53
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Ludi rerum mathematicarum, in: Leon Battista Alberti: Trattati d’Arte (Opere volgari III), ed. Cecil Grayson (Scittori d’Italia; 254), Bari (Laterza) 1973, S. 145– 49; Luigi Vagnetti, Considerazioni sui Ludi Matematici, in: Studi e documenti di architettura n.1 (‚Omaggio ad Alberti‘), Florenz (1972), S. 173–259, bes. S. 207–10; mit Text nach einem anderen Manuskript: Kim Williams/Lionel March/Stephen R. Wassell, The Mathematical Works of Leon Battista Alberti, Basel (Birkhäuser) 2010 S. 22–27, 94–96; Abbildungen des Geräts nach verschiedenen Manuskripten a.a.O., S. 95. „Con queste simili ragioni et vasi si fanno horologii assai gusti p[er] misurar[e] il tempo a ore et mezeore et simile a molte cose sono acomodate.“ Mathematical Works, a.a.O. Zur komplizierten Überlieferungsgeschichte vgl. Catherine Jacquemard, Recherches sur la composition et la transmission de la ,geometria incerti avtoris‘. A propos du ,De profunditate maris uel fluminis probanda‘, Avranches, BM 235, f. 36, in: L. Callebat et O. Desbordes eds., Science antique, science médiévale (Autour d’Avranches BN 235), Hildesheim et al. (Olms Weidmann) 2000, S. 81–119. Die lateinische Übersetzung des Savasorda durch Plato Tiburtinus (12. Jh.), in: Guglielmo Libri, Histoire des sciences mathématiques en Italie, depuis la rénaissanace des lettres jusqu‘ à la fin du dix-septième siècle, vol. II, Halle/S.1865, S. 484 –86; vgl. Vagnetti wie Anm. 51, S. 180.
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Die älteren Texte schlagen eine Kugel aus dünnem Metall und ein Astrolab zur Feststellung der verflossenen Zeit vor („quot horae transactae sint“). Letzteres erscheint wegen der Schwierigkeit kurze Zeiten mit dem Astrolab zu messen kaum praktikabel, macht aber eine Herkunft aus dem islamischen Raum wahrscheinlich. Eine Überlieferung aus China über Indien scheint mir weniger pausibel. In indischen und arabischen Texten wird zwar auch von Einlaufwasseruhren (sinking-bowl water-clock, bol plongeur) berichtet, nicht aber vom Wiegen des ausgelaufenen Wassers und auch nicht von ihrer Verwendung bei bathymetrischen Messungen.56 Albertis deutlich an den alten Autoren orientierter und als reine Schreibtischtechnik leicht erkennbarer Vorschlag zur Tiefenmessung ist noch bei Roberto Valturio 1482, bei Christoph Pühler 1563 und Anderen nachgeschrieben worden.57 Auch der französische Mathematiker und Ingenieur Jacques Besson nimmt sich dieses Problems an. Sein von Fortschrittsoptimismus getragener Vorschlag „Mesurer le profond de la mer sans corde ent tout lieu“ (1567) bietet eine technisch weiter entwickelte Lösung mit einem luftgefüllten Schwimmer und einem am Meeresgrund verbleibenden Gewicht. Zu Messung der Zeit des Ab- und Auftauchens bietet er unter Berufung auf den griechischen Astronomen Konon von Samos (3. Jh. n. Chr.) den Entwurf einer gleichmäßig auslaufenden, jetzt aber skalierten Wasseruhr. Mit dieser Sonde könnte man die Meere der Welt zum Nutzen der Seefahrt vermessen.58 Von tatsächlich durchgeführten Messungen finden sich aber keinerlei Spuren. Nicolò Cabeo hat dann im 17. Jahrhundert schon mit Blick auf Galileis Verwendung des Pendels als Zeitnormal auf die Unbrauchbarkeit des Messverfahrens hingewiesen, weil u.a. sowohl die Sinkgeschwindigkeit der Sonde wie der Auslauf des Wassers aus der Klepsydra viel zu ungleichmäßig seien.59 56
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Alain Hairie/Catherine Jacquemard, Les sources orientales du „De profunditate maris vel fluminis probanda“, in: Science antique, science médiévale a.a.O., S. 223–237. Hier wird S. 228 auch von erfolgreichen Versuchen bei einer Wassertiefe von bis zu 30 Metern berichtet. Z.B. bei Roberto Valturio, De re militari, Verona 1482, vgl. Vagnetti a.a.O., S. 209; Christoff Puehler, Ein kurtze vnd grundliche anlaytung zu dem rechten verstand Geometriæ, Dillingen (Mayer) 1563, ch. 44, S. 65–67; vgl. über das „sondeur de Puehler“: Alain Hairie/ Catherine Jacquemard, Étude théorique et expérimentale du sondeur sans fil décrit dans le manuscrit latin Avranches, BM 235, in: Archives Internationales d’Histoire des Sciences 2000, S. 256 –263; vgl auch Vicentino Belli: Quattro Libri Geometrici. Il primo del misurare con la vista, Venedig 1595, S. 90 –92. Jacques Besson, Le Cosmolabe ou Instrument Universel … , Paris 1567, S. 236 –242. Nicolò Cabeo (Francisco Corbeletti), In quatuor libros meteorologicorum Aristotelis commentaria, 1646, S. 73 –77.
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Trotz solcher Einwände wird Alberti noch im 18. Jahrhundert in Florenz in die Reihe großer Erfinder gestellt.60 Nach der Entdeckung der Pendelschwingung als Zeitnormal ist dieses Verfahren der Tiefenmessung von dem englischen Universalgelehrten Robert Hooke (1635 –1703), der an genauen Uhren mit Pendel und Uhrfedern gearbeitet hat, weiterentwickelt und getestet worden. Als Zeitmesser sollten dabei „a Watch having Minutes and Seconds or a good Minute-Glas, or best of all, by a Pendulum, vibrating Seconds“ eingesetzt werden. Reale Messungen in der Themse sind dann offenbar nur mit einem Pendel durchgeführt worden.61 Michele Savonarola, (1384 –1464), Arzt und Professor in Padua, ein Onkel des 1498 in Florenz als Ketzer verbrannten Girolamo Savonarola, beschreibt 1448 in seinem Traktat über Thermalbäder ein persönlich durchgeführtes, modern anmutendes Experiment, das er mit dem Francesco Bussone, Graf von Carmagnola, durchgeführt hat.62 Nach seinem Bericht taucht gelegentlich eines Aufenthalts in den Bädern von St. Helena (Battaglia) die Frage auf, ob das örtliche Wasser heißer sei als das der Bäder im ca. 8 km entfernten Abano. Sie schicken einen Boten mit einer Uhr und einer Flasche nach Abano. Zu einer verabredeten Zeit werden die Flaschen an beiden Orten gefüllt. Nachdem sie zusammengebracht waren, stellt man fest, dass die Temperatur kaum differierte.63 Hier handelt es sich vermutlich um die erste Erwähnung der Verwendung einer mechanischen und wohl tragbaren Uhr für ein wissenschaftliches Experiment.64 Rund zweihundert Jahre nachdem Astronomen ein Bedürfnis nach einer genau gehenden Uhr für ihre Beobachtungen artikuliert hatten, hören wir zum ersten Mal von einer Uhr bei astronomischen Beobachtungen. In der dem Bischof von Esztergom (Gran) um 1467 gewidmeten Schrift über das Torquetum erwähnt Johannes Müller von Königsberg (Regiomontan, 1436 –1476) ein „horarium ponderale“ mit einem Zeiger („index“), das auch die Minuten der Äquinoktialstunde genau anzeige.65 Die singuläre Bezeichnung „horarium ponderale“ zeigt m. E., 60 61 62
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Domenico Maria Manni, De florentinis inventis commentarium, Ferrara 1731, S. 68 f. Philosophical Transactions of the Royal Society of London vol. 2, 1667, S. 439– 443 mit Skizzen im Vorblatt. Marylin Nicoud, Inventio, experimentum e perizia medica nel ,De balneis‘ di Michele Savonarola, in: Chiara Crisciani e Gabriele Zuccolin eds., Michele Savonarola: medicina e cultura di corte (Micrologus’ Library, 37), Firenze 2011, S. 83 –112. De balneis et thermis naturalibus omnibus Italiae, n.d. Druck Ferrara 1485, f. 141: „secum portantem orologium et fialam, et data hora implete fuerunt due fiale“. Vgl. L. Thorndike, A History of Magic and Experimental Science, vol. IV, 1934, S. 203. „Horarium ponderale per quam verissimum, quod minutias quoque horarum aequalium enumeret, ita dispone, ut situm indicis sui pernoscas, eo articulo, quando per inspectionem Solis ordi-
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dass diese Geräte dem berühmten Astronomen noch ziemlich fremd waren. Regiomontan benutzt moderne Stunden, und Stundenteile wie Minuten finden sich in seinen Tabellen häufig, aber diese dürften in der Tradition der Astronomen/Astrologen interpoliert sein. Das gilt auch für seinen Nürnberger Kollegen Bernhard Walther (1430–1504). Sein Bericht von einer ersten echten „Uhrenmessung“, die den vor 200 Jahren formulierten Forderungen des eingangs erwähnten Robertus Anglicus etwa entspricht: 16. Jan. 1484: „Ich habe den Merkur beobachtet mit einer gut regulierten Uhr („horologio bene correcto“), die genau die Zeit von Mittag zu Mittag angab.66 Ich sah den Merkur am Morgen in Kontakt mit dem Horizont und hängte gleichzeitig ein Gewicht an die Uhr, die 56 (!) Zähne am Stundenrad hatte. Es machte eine vollständige Umdrehung und zusätzlich 35 Zähne, bis zum Erscheinen des Sonnenzentrums am Horizont, woraus folgt, dass Merkur an diesem Tag 1 Stunde und 37 Minuten vor der Sonne aufging, was mit der Berechnung fast übereinstimmt.“
Sicherheitshalber benutzt Walther noch zwei weitere astronomische Instrumente.67 Dazu bemerkt Tycho Brahe später, dass Walther, selbst wenn die Uhr so gut wäre, dass sie die Zeit von Mittag zu Mittag richtig anzeigte, er ihr nicht vertraut habe.68 Walther schaute also nicht auf eine Uhr und maß – genau genommen – auch die Durchgangszeit des Planeten nicht. Nicht um Minuten geht es, sondern um die Zählung der 56 Zähne auf dem Zahnrad. Das ermöglicht ihm zwar eine vergleichende Zählung zu anderen Zeitpunkten, gibt aber keine abstrakten Zeitmaße, mit denen andere Astronomen etwas anfangen konnten.69 Berichte über astronomische Beobachtungen mit
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nasti.“ ‚Canones Torqueti‘, in: Johannes Schöner, Scripta clarissimi mathematici M. Joannis Regiomontani, Nürnberg 1544, S. 5. „Observavi Mercurium horologio bene correcto“, Schöner 50f., vgl. 1487 Feb. 8. Donald B. Beaver, Bernard Walther: Innovator in astronomical observation, in: Journal for the History of Astronomy 1 (1970), S. 39– 43. Tycho Brahe: „Primus autem Bernardus Walther Norimbergensis horologii quae ponderibus movebatur, in observatione usus est. … Etsi hoc horologium optimum esse Waltherus addit, quod ab altero meridie ad alterum intervallum recte indicaret, intellixisse tamen videtur, fidem ei habendam non esse.“ Opera Omnia, ed. I. L. E. Dreyer/t. I., Kopenhagen, 1913, S. XXI. Ob es sich bei einer Notiz über eine Mond-Eklipse in den Akten des Kapitels der Kathedrale von Leon um einen uhrengemessene Beobachtung handelt erscheint mir unsicher. 1421 Feb. 17., „Este dia, a las seys horas despues de mediodia, començo a oscurecer la luna, e duro el eclipssy fasta las siete horas e media e mas tienpo en tanto que duro el eclipssy dos horas de rrellox.“ Perez Alvarez (wie Anm. 13), S. 4.
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Abb. 10a: Leonardo da Vinci, Uhrwerk mit 24-Stunden-Schlagwerk, Federhaus mit Spiralfeder für ein Uhrwerk.
mechanischen Uhren, z.T. mit Minuten und Sekundenanzeige, gibt es erst wieder seit der Mitte des 16. Jh. Auch Leonardo da Vinci (1452–1518), oft und zu Recht als Figur an der Schwelle von Mittelalter bzw. Renaissance und Moderne bezeichnet, hat sich intensiv mit Zeitmessungstechniken, mit Sonnen-, Wasser-, Sand- und Quecksilberuhren, mit mechanischen Uhren, mit Uhr- und Glockenschlagwerken und mit Weckern befasst.70 Weit über hundert Skizzen und Beschreibungen finden sich in den in den großen Bibliotheken Europas verstreuten Notizheften Leonardos. Es handelt sich um modern anmutende Konzepte zu damals existierenden und uns auch anderweitig bekannten Uhrwerken, 70
Silvio A. Bedini / Ladislao Reti, Leonardo und die Uhr, in: Leonardo, Künstler, Forscher, Magier, Frankfurt/M 1974, S. 240 –263; Carlo Pedretti, Il „Tempo degli Orilogi“, in: Studi Vinciani: Documenti, analisi e Inediti Leonardeschi, Genf 1957, S. 99–108; Marisa Addomine: Ancora sull’orologio astronomico di Chiaravalle, in: La Voce die Hora 23 (2007), S. 1–14; John A. Robey, Leonardo da Vinci und die ersten schlagenden Uhren mit Warnung, in: Deutsche Gesellschaft für Chronometrie 52 (2013), S. 63–72; Pamela O. Long, The Cultural Uses of Invention in Early Modern Europe, in: Liliane Hilaire-Pérez / Anne-Françoise Garçon eds., Les chemins de la nouveauté innover: inventer au regard de l‘ histoire, Paris (Éditions du CTHS) 2004, S. 293 –311.
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Leonardo da Vinci Skizzen im Codex Madrid I.I, f °27v° und 4r°; n. www.codex-madrid.rwth-aachen.de mit den Erläuterungen.
Läutemechanismen und Stundenschlagwerken, nicht alle „Leonardos geniale Erfindungen“, oft nur Verbesserungen bekannter Technik in Entwürfen und vielleicht praktischen Versuchen, nicht aber Phantasietechnik wie bei Giovanni Fontana am Anfang des Jahrhunderts. Leonardo beschäftigten vor allem theoretische Reflexionen über Maschinenelemente (Zahnräder, Triebe, Getriebe sogar mit Zahnzahlen (!), Schrauben, Hebel, Federn und ihre Herstellung) und die zugrundeliegenden mechanischen Prinzipien. Schon am Anfang des 15. Jahrhunderts hatte sich Filippo Brunelleschi mit der Verwendung von Stahlfedern als Antrieb für Uhrwerke beschäftigt.71 Leonardo konzipiert Mechanismen zum Ausgleich der nachlassenden Kraft der Metallfedern in tragbaren Uhren. Bei seinen Zeichnungen von Uhrwerken überlegt er, welches die Gründe für deren Unregelmäßigkeiten sind (Temperatur, Luftdruck, Feuchtigkeit, Reibung) und wie man Uhren regulieren und, in unseren Worten, „präziser“ machen könnte. Öfter sieht man eine Hemmung mit Waagbalken („tempo“). „Tempo“ kann aber bei ihm auch symbolisch 71
„E fatto alcuno oriuolo e destatoio, doue sono uarie e diuerse generationj di mole“, Antonio di Tuccio Manetti, Vita di Filippo di Ser Brunellschi, geschr. um 1480, ed. H. Saalman, University Park – London 1970, S. 50 ff.
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für Zeit überhaupt stehen. Betrachtet man die dazu gehörigen, bekanntlich schwer entzifferbaren Notizen, dann werden Traditionen, aber eben auch Unterschiede und die Neuartigkeit der Zugriffe Leonardos sichtbar. Reichtum und Differenziertheit der einschlägigen Arbeiten Leonardos sind theoretisch-mechanisch und zeichnerisch ohne Beispiel; es verwundert aber, dass bei der Behandlung der Uhrwerke Stunden- und Glockenschlag zwar öfter behandelt werden, dass aber die praktische Zeitmessung offenbar nur selten eine Rolle spielt. Eine Ausnahme ist der Bezug auf Leonardo in Luca Paciolis Projekten zur Messung von Schiffgeschwindigkeiten zur See und auf dem Land mit Hilfe einer Sanduhr („arlogio pratico marinaresco“), deren Herstellung auch beschrieben wird (1498/1509).72 Uhrzeiten werden bei Leonardos technischen Skizzen nicht erwähnt und in diesen Kontexten auch keine Stunden oder Stundenteile, Minuten, Sekunden, obwohl es schon damals Getriebe für Minutenindikationen gab.73 Bei Leonardo finden sich gelegentlich Tageszeitangaben nach der italienischen Uhr 74, und er erwähnt auch einmal bei der Beschreibung einer Turmuhr im Zisterzienserkloster Chiaravalle Milanese (heute in Mailand) eine technische Minutenindikation.75 Kleine Zeiteinheiten spielen bei Leonardo in einem ganz andern Zusammenhang jedoch eine große Rolle, und dieser weist – historisch zurück – in 72
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Luca Pacioli, De viribus quantitatis,, trascrizione di Maria Garlaschi Peirani dal codice n. 250 della Biblioteca Universitaria di Bologna, Milano (Ente Raccolta Vinciana) 1997; S. 263 –63; die Skizzen im Facsimile im Internet, 196r–199r; Tiago Wolfram Nunes dos Santos Hirth: Luca Pacioli and his 1500 book de Viribus Quantitatis, MA Diss., Lissabon 2015, S. 85–86. Z.B. Uhr Nr. 4 im Almanus-Manuskript: Uhr des Bf.s von Mantua und Kardinal von S. Maria Nuova, vor 1477, ed. Leopold, London 1971, S. 58–69; S. 63, ohne das Wort zu gebrauchen „rota pro orto solis“. Vgl. Jean Paul Richter, The Literary Remains of Leonardo da Vinci, 2 vols. Oxford 1883, II, 41?, 1022, 1044, 1372,1373; in Rom „Finita addì 7 luglio a ore 23 a Belvedere nello studio fattomi dal Magnifico 1514“, Cod. Atl. 90v; n. Solmi 1911, S. 81. „Oriolo della torre di Chiaravalle, il quale mostra luna, sole, ore e minuti“ (Codex Atlanticus fol. 1111v, 399v); weitere Variante: Atlanticus fol. 1106r (397–b); Antonio Simoni, Leonardo and the Chiaravalle Abbey Clock, Antiquarian Horology 1975; Bert S. Hall: Reply: Leonardo, the Chiaravalle clock and epicyclic gearing; a reply to Antonio Simoni, in: Antiquarian Horology 9 (1975), S. 910 –17; Codex Madrid I (http://www.codex-madrid.rwth-aachen.de) v .a bei Erläuterung zu 10v. Bedini /Reti (wie Anm. 70) fanden in einer Chronik der Abtei eine Beschreibung dieser Uhr, die genau Leonardos Zeichnungen im Atlanticus entspräche. Maßgebend dafür dürften die im Atlanticus mitgeteilten Getriebezahlen sein (Transkription bei Pedretti, Codice Atlantico 3, S. 1967). Marisa Addomine, Ancora sull’or logio astronomico di Chiaravalle, in: La Voce die Hora 23 (2007), S. 1–14.
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die v. a. im 15. Jahrhundert lebhaften Erörterungen der musikalischen Zeitmaße in der neuen Mensuralmusik, wo man sich unter Begriffen wie „tactus“ – nicht zu verwechseln mit „Takt“ – „tempus“, „mensura“ oder „battuta“ um verallgemeinerbare, wenn auch noch nicht um abstrakte musikalische Zeitmaße bemühte. In seiner Schrift über den Rangstreit der Künste76 (Paragone) vergleicht Leonardo die Poesie, die Malerei und die Musik. Weil das Auge als Fenster der Seele dem Ohr überlegen ist, ist die Malerei der Poesie und der Musik überlegen. Während die Poesie durch die Trennung der Wörter durch Zeit und mithin durch die Proportionen störende Lücken beschränkt ist, erzeugt die (polyphone) Musik Harmonie durch die Zusammenfügung proportionierter Teile, die gleichzeitig erklingen. Die Musik ist aber dadurch beschränkt, dass sie erklingt und verklingt nach einem oder mehreren Takten [Übers. H. Ludwig „Zeitmaßen“], „tempi armonici“.77 Die Malerei überragt sie, weil die nach ihrer Schöpfung nicht verschwindet und das Auge überdies das Ganze gleichzeitig erfassen kann. Musik entfaltet sich anders als die Poesie in der Zeit in ihrem harmonischen Takt.78 In anderen Kontexten sind die sonst nicht belegten „tempo armonico“ und „tempo musicale“ ein Zeitmaß, erzeugt aus regelmäßigen Takten. Leonardo benutzt es um die Geschwindigkeit bewegter Objekte etwa von Schiffen oder die Fließgeschwindigkeit von Gewässern zu berechnen, weil es präziser sei als die natürliche rhythmische Einheit des menschlichen Pulses. Der Puls als eine Art Taktgeber spielte in der damaligen Musiktheorie eine große Rolle. In einem Beispiel: Wie weit fließt Wasser in einem Kanal in einer Stunde? „Dazu benutzt man ‚tempo armonico‘. Man könnte den Puls benutzen, wenn seine Schläge gleichmäßig wären. Aber in seinem solchen Fall ist ‚tempo musicale‘ sicherer, mit dem man ermittelt, über welche Entfernung ein Gegenstand in dem Gewässer während zehn oder zwölf solcher ‚tempi‘ befördert wird, und kann man für jeden gleichartigen Kanal eine allgemeine Regel bilden.“79 76
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Rudolf Kuhn, Leonardo’s Lehre über die Grenzen der Malerei gegen andere Künste und Wissenschaften, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, vol. 33, 1988, 215–246, Anm. 9; an ein Metronom ist sicher noch nicht zu denken. A.a.O., bes. S. 58f.; dazu: Bonnie Blackburn, Leonardo and Gaffurio on Harmony and the Pulse of Music, in: Barbara Haggh (ed.), Essays on Music and Culture in Honor of Herbert Kellman, Paris 2002, S. 128–149. „La musica anchora fa nel suo tempo armonico le soavi melodie composte delle sue varie voci“, a. a. O., S. 66 „Modo di sapere quanto un‘acqua corre per ora. – Questo si fa col tempo armonico, e potrebbesi fare col polso, se ‚l tempo del suo battere fussi uniforme; ma è più sicuro, in tal caso, il tempo musicale, col quale si noterà quanto spazio cammina una cosa portata
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Einen Versuch, diese „tempi“ weiter zu präzisieren, unternimmt Leonardo gelegentlich eines Entwurfs für die Eichung der Zahnräder eines Hodometers, indem er sie als Teile einer (gleich langen) Stunde definiert. Leonardo geht von 1.080 Atemzügen in der Stunde aus, und das würde nach heutiger Rechnung 3,33 Sekunden für einen Atemzug ergeben. An späterer Stelle ersetzt er die Zahl 1.080 durch 3.000 (…), womit vielleicht der menschliche Pulsschlag gemeint ist. Leonardo macht dann aber auch einen technisch unbrauchbaren Vorschlag zur Ermittlung dieser kleinen Einheiten: „Nimm’ eine in 3.000 Teile geteilte Stunde, und das kannst Du mit einer [mechanischen] Uhr machen, indem du das Gegengewicht leichter oder schwerer machst.“ 80
So lässt sich eine Uhr natürlich nicht regulieren. Für Berechnungen menschlicher Arbeitsleistungen und die damit verbundenen Kostenkalkulationen, also für die Entfaltung der Zeit-Geld-Gleichung waren Leonardos eigentümliche Zeitgliederungen offenbar hinreichend. Im Zusammenhang mit dem von Machivavelli und Leonardo um 1503 entwickelten, aber letztlich gescheiterten Projekt, den Arno an Pisa vorbei ins Meer zu leiten, um der Stadt Florenz u.a. einen eigenen Seehafen zu verschaffen,81 berechnet Leonardo die Kosten durch Kalkulationen, wie viele Schaufeln feuchter Erde ein Arbeiter in einer Stunde ausheben und hinter sich werfen könnte. Er geht unter Berücksichtigung von Erholungspausen von 500 Schaufeln pro Stunde (7,2/Sek = 6 tempi armonici) aus und will damit die Möglichkeit nachweisen, ca. 1 Million Tonnen Erde zu bestimmten Kosten zu bewegen. Ferne Vorläufer tayloristischer Überlegungen werden hier sichtbar, ohne dass dabei schon Uhren benutzt worden wären.
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da essa acqua per dieci o dodici d’essi tempi e conquesto tal modo si farà regola generale in qualunche canale equale (Codex Leicester, 1505–8, f. 13 v.), n. Augusto Marinoni: Tempo armonico o musicale di Leonardo da Vinci, in: Lingua nostra 16/2 (1955), S. 45– 48, hier S. 46. „Fa che un’ora sia divisa in 3000 parti, e questo farai coll’oriolo allegerendo e aggravando il contrappeso“ (Codex Arundel, BL Ms. 263 171.) = Richter II, 918. Edmondo Solmi, Leonardo e Machiavelli, in: Archivio Storico Lombardo 39 (1912), S. 219 –244; Roger D. Masters Fortune is a River: Leonardo da Vinci and Niccolo Machiavelli’s magnificent dream to change the course of Florentine history, N.Y. u.a. 1998; dt.: Fortuna ist ein reissender Fluss: wie Leonardo da Vinci und Niccolò Machiavelli die Geschichte verändern wollten, München (List) 1999. Zu Kanalprojekten vgl. Richter II, Nr. 1001–17 u. ö.
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Leonardos kleine Zeiteinheiten sind noch keine distinkten Einheiten, sondern verdanken sich einerseits den alten Proportionalteilungen und sind anderseits noch eng mit naturalen Rhythmen wie Atmung und Puls verbunden.82 Bei aller technischen Kompetenz und Avanciertheit hat Leonardo Uhren für seine Experimente noch nicht benutzt. Im Rückblick setzte die noch nicht sehr weit entwickelte und unzuverlässige Technik der Aufnahme moderner Zeitmesstechnik in den Wissenschaften im 15. Jahrhundert ebenso Grenzen wie das Festhalten an alten Proportionalteilungen und Wiegetechniken, die die Entwicklung abstrakter kleiner Zeitmaße behinderten. Erst mit der Nutzung des Pendels und der Uhrfeder als Zeitnormal seit dem 17. Jahrhundert wird technische Zeitmessung zu einem zentralen Element neuzeitlicher Wissenschaften.
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Rudolf Kuhn, Leonardo’s Lehre über die Grenzen der Malerei gegen andere Künste und Wissenschaften,in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft vol. 33, 1988, 215 – 246, Anm. 9; an ein Metronom ist sicher noch nicht zu denken.
Landschaften der Zeit: Tages- und Nachtstunden im vormodernen Japan1 Brigitte Steger
Einleitung Vor der Erfindung von mechanischer Uhr und Gaslicht oder Glühbirne folgten die Menschen dem Rhythmus der Natur; sie gingen bei Einbruch der Dunkelheit zu Bett und standen natürlicherweise früh auf und aßen, wann sie Hunger hatten. Sie folgten der „Naturzeit“; ihr Tagesablauf war an Sonnenauf- und -untergang gebunden, und genauso ihre Stundenunterteilung, wodurch die Dauer der Stunde saisonal unterschiedlich lang war (Astronomen nennen dies Temporalzeit2). Die Verbreitung mechanischer Uhren ab dem Mittelalter führte langsam zur Übernahme von Äquinoktialzeit, wobei nun jede Stunde gleich lang war, unabhängig von der Jahreszeit. Gleichzeitig eroberten die Menschen mit zunehmender Industrialisierung und vor allem mit Hilfe von Erfindungen wie Thomas Edisons Glühbirne die Nacht,3 was eine zunehmende Entfremdung von der Natur bewirkte. Wir modernen Menschen sind von der Uhrzeit getrieben, wie es Charlie Chaplin im Film Modern Times (1936) so eingängig dargestellt hat. Uhrzeit und Industriali1
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Ich möchte mich an dieser Stelle bei Angelika Koch und Katja Schmidtpott für ihre Zeit und ihre Kommentare zu früheren Fassungen dieses Beitrages bedanken. In diesem Beitrag werden japanische Namen in der in Ostasien üblichen Schreibweise dargestellt, Familienname steht vor Eigenname. In der wissenschaftlichen und vor allem populärwissenschaftlichen Literatur werden häufig Temporalstunden mit „Naturzeit“ und Äquinoktialstunden mit „Uhrenzeit“ gleichgesetzt. Jedoch sind sowohl Temporalzeit als auch Äquinoktialzeit in der Natur zu finden. Temporalzeit bezieht sich auf den Sonnentag mit wechselnden Tageslängen über das Jahr. D.h. der Tag dauert von (vor) Sonnenaufgang bis (nach) Sonnenuntergang. Die Zeit dazwischen wird jeweils in gleich lange Abschnitte eingeteilt, wodurch sich die Stundenlänge je nach Jahreszeit ändert, je weiter weg vom Äquator desto mehr. Im Vergleich dazu ist die Dauer einer Äquinoktialstunde jeweils gleich lang, unabhängig von der Jahreszeit. Diese Zeit wird durch Sternenbeobachtung gemessen. Sowohl Temporalstunden als auch Äquinoktialstunden können mit Hilfe von Geräten (Uhren) gemessen werden, wie ich weiter unten beschreiben werde. Z.B. S. Coren, Sleep thieves. An eye-opening exploration into the science and mysteries of Sleep, New York, 1–11 (besonders Kapitel: „Edison’s Curse“).
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sierung haben aber auch Fortschritt und Wohlstand gebracht. Deshalb übernehmen außereuropäische Gesellschaften unsere westliche Zeitordnung als Motor für ihre eigene Modernisierung.4 So oder ähnlich lauten die populären Annahmen zur tageszeitlichen Zeitverwendung in unserer eigenen Geschichte sowie in Gesellschaften vor der Einführung der „modernen westlichen Zeitordnung“. Es ist jedoch unvorstellbar, dass diese Gesellschaften vor der Übernahme „zeitlos“ waren. Wie sehen oder sahen diese „Landschaften der Zeit“ aus? In einem geplanten Forschungsprojekt an der Universität Cambridge über die Landschaften der Zeit in Japan vor der Einführung des Gregorianischen Kalenders 1873 und der internationalen Standardzeit in den folgenden Jahrzehnten, „Timing day and night – timescapes in premodern Japan“5, wollen wir genau dies untersuchen. Im vorliegenden Beitrag möchte ich einige Fragen andiskutieren und den aktuellen Forschungsstand sowie erste Forschungsergebnisse vorstellen, die als Grundlage für unser Forschungsprojekt dienen. Wie koordinierten und kontrollierten Menschen in der vormodernen Geschichte Japans ihre Zeit? Woher wussten sie, wie „spät“ 6 es war? Nicht erst seit Michel Foucaults Forschungen über Gefängnis und Disziplinierung7 wissen wir, dass Kontrolle über die Zeitverwendung und Planung der Zeitabläufe ein wichtiges Machtmittel sein kann. Wer hatte in der japanischen Geschichte das Recht, die Zeitplanung anderer zu regeln? Welche Tätigkeiten wurden davon betroffen? Wie wurde die Zeit gemessen, und wie wirken sich Uhren auf das Zeitbewusstsein aus? Wurde Temporalzeit oder Äquinoktialzeit beachtet, und von wem, für welche Tätigkeiten? Ab wann gab es Vorstellungen von Zeit als etwas, das eine Dauer hat, das man wertschätzen, sparen oder verschwenden und eventuell sogar mit Geld bewerten beziehungsweise kaufen kann? Welche zeitbezogenen Tugenden wurden gefördert, und wo gab es eventuell auch Widerstand? 4
5 6
7
Nishimoto I., The “civilization” of time: Japan and the adoption of the Western time system, Time & Society 6/2–3 (1997); B. Anderson, Imagined communities: Reflections on the origin and spread of nationalism, London und New York 2006, 28–40. J. Postill, Clock and calendar time. A missing anthropological problem, Time & Society 11/2–3 (2002), 251–270. https://timescapesjapan.wordpress.com. Es ist eine interessante Frage, was wohl der Ausdruck „wie ‚spät‘ ist es?“ über das Zeitbewusstsein im deutschen Sprachraum (inkl. niederländisch) aussagt. Im Englischen, Französischen, Italienischen, Spanischen, Malaysischen oder Japanischen etwa fragt man nach der Zeit oder der Stunde. M. Foucault, Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses, übers. von W. Seitter. Frankfurt 1992 (original 1975).
Landschaften der Zeit: Tages- und Nachtstunden im vormodernen Japan
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Vor dem Hintergrund der Frage, welchen Einfluss westliche Zeitordnungen und Zeitmessgeräte wie mechanische Uhren auf Japan hatten, möchte ich in diesem Beitrag auch den als selbstverständlich angesehenen Zusammenhang von mechanischen Uhren und Äquinoktialzeit sowie auch von Äquinoktialzeit und Modernisierung untersuchen. Die europäische Zeitforschung kommt ja zum Schluss, dass die Erfindung und Verbreitung der mechanischen Uhren eine wichtige Voraussetzung der Modernisierung war.8 Was für die europäische Geschichte empirisch zutrifft, gilt meist auch als theoretische Schlussfolgerung. Mehr noch, nicht selten hört man, dass die mechanische Uhr die Modernisierung herbeigeführt habe. Der Vergleich mit der japanischen Geschichte erlaubt uns, diese theoretischen Schlussfolgerungen zu bestätigen oder zu hinterfragen. Dazu versuche ich auch erstmals eine „Geschichte der Stunde in Japan“ zu skizzieren. Anders als Gerhard Dohrn-van Rossum oder vor ihm Gustav Bilfinger habe ich nicht „die Geschichte der Uhren im Zusammenhang ihres sozialen Gebrauchs“ 9 untersucht, sondern bin von sozialen Tätigkeiten im Alltag ausgegangen – wie Arbeit, Freizeit, Essen, Schlafen – und habe versucht zu verstehen, wie diese zeitlich „verortet“ (man müsste hier wohl „verzeitlicht“ schreiben) wurden. Ziel ist es, zeitliche Muster und Strukturen im Alltag sowie Werthaltungen zu verstehen, auch wenn sie nicht von Uhren gemessen werden. Dieser sozialanthropologische Forschungsansatz, auf historische Quellen angewendet, soll ermöglichen, die Bedeutung temporaler Ordnungen aus der Sicht und Logik der Menschen von damals zu begreifen, wobei Uhren und offizielle Zeitordnungen nicht unbedingt die zentrale Rolle gespielt haben. Diese sind aber am besten dokumentiert und strukturiert, weshalb ich auch im folgenden zunächst die offiziell geltenden Zeitordnungen vorstellen möchte. Ich habe eine große Bandbreite an Texten und Bildern vom siebenten bis zum zwanzigsten Jahrhundert durchgesehen und sie auf die Themen soziale Tätigkeiten und Zeit hin durchsucht und interpretiert. Dazu gehören sowohl Chroniken als auch verschiedene Arten von Regeltexten, religiöse Schriften, literarische Abhandlungen und Tagebücher. Es ist unbestritten, dass Verordnungen und erzieherische Texte Forderungen aufstellen und nicht die Realität widerspiegeln, dass sich die Autor/innen von Tagebüchern und Erzählungen literarische Freiheiten nehmen und jeweils bekannte Metaphern verwenden 8 9
G. Dohrn-van Rossum, Die Geschichte der Stunde. Uhren und moderne Zeitordnungen, München 1995 und im vorliegenden Band. G. Bilfinger, Die Mittelalterlichen Horen und die Modernen Stunden. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte, Stuttgart 1892. G. Dohrn-van Rossum, 1955, op. cit. 23.
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und dass deshalb die Informationen nicht eins zu eins übernommen werden können. Aber um für die Leser/innen überzeugend zu sein, ist es für Literat/ innen wichtig, dass gerade Nebensächlichkeiten authentisch und nachvollziehbar sind. Konzepte und Vorstellungen, die es zur jeweiligen Zeit nicht gab, konnten auch nicht beschrieben werden. Darüber hinaus interessiert uns insbesondere das stille kulturelle Wissen, welches in solchen Darstellungen vermittelt wird. Neben Texten sind für uns auch Bilderquellen sowie materielle Kultur wie Zeitmessgeräte und deren Gebrauch von Interesse.
Die Taika-Reform und die Einführung des chinesischen Kalenders Das erste uns bekannte Kalender- und Stundensystem Japans wurde zusammen mit Verwaltungsstruktur, Schrift, Wissenschaften, Konfuzianismus und Buddhismus im siebenten Jahrhundert aus Tang-China eingeführt im Rahmen der sogenannten Taika-Reform.10 Startpunkt dieses neuen Kalenders war das Jahr Taika 1 (645). Innerhalb der damaligen Staatsverwaltung war das sogenannte Yin-YangInstitut (onmyōryō) für Astronomie, Astrologie, Zeitmessung und Kalenderberechnungen zuständig. Der Name „yin-yang“ weist darauf hin, dass nicht der Astronomie, sondern der Astrologie und Weissagung dabei der höchste Stellenwert zukam, denn yin und yang waren Teil einer komplexen Kosmologie. Es galt, mit Hilfe korrekter Vorhersagen wichtiger Naturereignisse, wie etwa Sonnen- oder Mondfinsternisse, zu zeigen, dass die Herrschaft des Kaisers im Einklang mit dem „Willen des Himmels“ steht. Darüber hinaus mussten die Beamten glücksverheißende oder problematische Zeiten und Himmelsrichtungen berechnen, als Grundlage für Vertragsunterzeichnungen, Reisen und andere Regierungsgeschäfte. Immer mehr Menschen, zunächst in adeligen Kreisen, konsultierten die Kalender bald auch im Alltagsleben regelmäßig, um zu wissen, wann sie bestimmte Dinge tun sollten, und
10
Taika bedeutet „die große Veränderung“ und ist gleichzeitig eine sogenannte Jahresdevise (nengō) zur Jahreszählung; Taika 1 entspricht dem Jahr 645 n. Chr. Jahresdevisen ändern sich üblicherweise beim Wechsel der Herrschaft des Kaisers, vor 1868 aber auch bei besonders glücksverheißenden oder unheilvollen Vorkommnissen. Diese Jahresdevisen werden noch heute zur Jahreszählung verwendet. 2016 ist das Jahr Heisei 28.
Landschaften der Zeit: Tages- und Nachtstunden im vormodernen Japan
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wann nicht.11 Die Konstellation von Tierkreiszeichen und Elementen im Kalender untersagte zum Beispiel, das Haus zu einer bestimmten Stunde in eine bestimmte Richtung zu verlassen, schrieb den geeigneten Tag zum Haareschneiden oder Baden vor und zögerte wichtige Schlachten teils um Wochen hinaus. Da diese Tabus auch von der Sternenkonstellation bei der eigenen Geburt abhingen, mussten alle Angehörigen der adeligen Oberschicht individuell jeden Morgen den Kalender konsultieren, um herauszufinden, was sie an diesem Tag tun sollten und was es zu vermeiden galt.12 Der sino-japanische Kalender ist ein Lunisolarkalender, kein reiner Mondkalender, wie oft fälschlich behauptet wird; das heißt er verbindet Mond- und Sonnenelemente. Jeder Monat beginnt bei Neumond, wobei Monate abwechselnd 29 (kleine Monate) oder 30 Tage (große Monate) dauern.13 Daneben gibt es etwa alle zwei Wochen sogenannte jahreszeitliche „Knotenpunkte“ (sekki, chūki), insgesamt 24, die sich nach dem Sonnenjahr richten, wie etwa Winter- und Sommersonnenwende. Das neue Jahr beginnt jeweils am letzten Neumondtag vor dem usui genannten Knotenpunkt, der mit dem 19. oder 20. Februar zusammen fällt.14 Etwa alle drei Jahre wird ein Schaltmonat eingefügt, um das Neujahr an das Sonnenjahr anzupassen, denn zwölf Monate dauern 354 Tage, auf ein volles Sonnenjahr fehlen also noch etwas mehr als 11 Tage. Grundlage für Jahres-, Tages- und Stundenzählung ist der Sechzigerzyklus, eine Kombination aus den zwölf chinesischen Tierkreiszeichen (die „zwölf irdischen Zweige“) mit den fünf Elementen in yin- oder yangForm (die zehn himmlischen Stämme), wobei allerdings für die Stunden nur die Tierkreiszeichen relevant sind. Die Zählung hat zu Neujahr Taika 1 begonnen und wird seither weithergeführt. Angesicht der Rolle der Kontrolle der Zeitordnung als Herrschafts- und Machtinstrument bedeutet die Übernahme des chinesischen Kalenders und Stundensystems im siebenten Jahrhundert eine kulturelle Unterordnung Japans unter das Reich der Mitte und dessen Anerkennung als überlegene 11 12 13 14
B. Scheid, Der eine und einzige Weg der Götter. Yoshida Kanetomo und die Erfindung des Shinto, Wien 2001, 74. I. Morris, The world of the shining prince. Court life in ancient Japan, New York 1997 (original 1964), 126–127. Astronomisch ist ein Mondmonat 29 Tage, 12 Stunden 44 Minuten und 2,8 Sekunden. Die sino-japanische Monatseinteilung ist also genauer als die im gregorianischen Kalender. Usui bedeutet wörtlich: Niederschlag in Form von Regen. D.h. der Winter geht zu Ende, der Schnee schmilzt um diese Jahreszeit. Auf diese Art wird auch heute noch das chinesische Neujahr festgelegt.
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Graphik 1: Das Drachenstundensystem zur Einteilung der Tageszeit
kulturelle Macht. Gleichzeitig bemühte sich das japanische Kaiserhaus damit, seine Eigenständigkeit hervorzuheben und seine Macht innerhalb Japans zu festigen. Mit Hilfe des neu eingeführten Kalenders war es möglich, eine Geschichtsschreibung in Auftrag zu geben, die 720 fertiggestellt wurde. In dieser „Chronik von Japan“, Nihon Shoki, wurde die „Geschichte“ Japans festgehalten, inklusive der mythologischen Gründung und der genealogischen Rückbeziehung des Kaiserhauses (Tenno) auf die Sonnengöttin Amaterasu. Die Position des Tenno innerhalb dieser Ordnung wird dadurch festgeschrieben. Ob diese Kontrolle auch bis in die Organisation der Alltagstätigkeiten hineinreicht, welche Tätigkeiten welcher Gesellschaftsgruppen durch das Zeitsystem kontrolliert werden, ist deshalb bedeutend. Als Teil des Kalenders wird im chinesisch-japanischen Stundensystem ein Volltag (24 Stunden nach heutiger Zeitrechnung) in zwölf gleich lange Einheiten eingeteilt, die mit den chinesischen Tierkreiszeichen bezeichnet werden. Die Zählung beginnt mit der Stunde der Ratte, deren Mitte auf Mitternacht fällt. Diese Einheiten waren also Äquinoktialstunden und werden von Astrono-
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Landschaften der Zeit: Tages- und Nachtstunden im vormodernen Japan
men toki oder shinkoku genannt, wörtlich übersetzt sind das „Drachenstunden“. Zur Unterscheidung von den uns gebräuchlichen Stunden nach dem 24-stündigen Volltag verwende ich deshalb diesen Begriff. Diese Drachenstunden wurden wieder in jeweils vier koku (je eine halbe Stunde) unterteilt. Auch bu (je drei Minuten) waren bekannt, spielten allerdings im Alltag keine Rolle.15 Tierkreiszeichen
Stundenschläge*
„westliche“ Zeit
子
ne
Ratte
九
9
23–1 Uhr
丑
ushi
Rind, Ochse
八
8
1–3 Uhr
寅
tora
Tiger
七
7
3–5 Uhr
卯
u
Hase
六
6
5–7 Uhr
辰
tatsu
Drache
五
5
7–9 Uhr
巳
mi
Schlange
四
4
9–11 Uhr
午
uma
Pferd
九
9
11–13 Uhr
未
hitsuji
Schaf, Ziege
八
8
13–15 Uhr
申
saru
Affe
七
7
15–17 Uhr
酉
tori
Vogel
六
6
17–19 Uhr
戌
inu
Hund
五
5
19–21 Uhr
亥
i
Schwein
四
4
21–23 Uhr
* Anmerkungen: Die „Stundenschläge“ beziehen sich auf ein System der Stundenangabe, das im Zeremonienbuch Engishiki 16 festgeschrieben und später von den Tempeln übernommen wurde. Jede Stunde wurde dabei mit einer bestimmten Zahl von Glockentönen bekannt gegeben. Dabei galten die Stunde der Ratte und des Pferdes jeweils als neunte Stunde und dann wurde 15
16
Hashimoto M., Nihon no jikoku seido [Japanische Zeitsysteme], Erweiterte Neuauflage, Tōkyō 1978; Saitō K., Nihon, Chūgoku, Chōsen. Kodai no jikoku seido. Ko-tenmongaku ni yoru kenshū [Japan, China, Korea. Das Stundensystem im Altertum. Untersuchung auf Grundlage der alten Astronomie], Tōkyō 1995, 143 –145. Zeremonien der Ära Engi; 927; Kuroita K. und Kokushi Taikeihen S. (Hg.), Kōtaishiki, Kōninshiki, Engishiki [Die Zeremonienbücher Kōtaishiki, Kōninshiki, Engishiki], Tōkyō 1965, 443.
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rückwärts gezählt bis vier. Dies gab der Stunde später auch einen zweiten Namen, zum Beispiel war die „fünfte Abendstunde“ gegen 20 Uhr.
Das „Drachenstundensystem“ im Altertum17 Die erste Erwähnung der chinesischen Tierkreiszeichen als Stundenangabe findet sich im Nihon Shoki für das Jahr 636.18 Über die Dienstzeit der Staatsdiener ist dort folgendes zu lesen: „Ōmata no Ōkimi sagte zu Staatsminister [Soga no] Emishi: ,Die Minister und Funktionäre vernachlässigen ihre Regierungspflichten. Lasst uns von nun an festlegen, dass die Arbeit zu Beginn der Stunde des Hasen anfängt und mit Ende der Stunde der Schlange aufhört. Die Stunden sollen mit der Glocke bekanntgegeben werden.‘ Der Minister war aber nicht einverstanden.“ 19
Die Stunde des Hasen dauert von 5 bis 7 Uhr, die Stunde der Schlange von 9 bis 11 Uhr. Die hohen Beamten sollten also nunmehr von 5 bis 11 Uhr, täglich sechs Stunden, ihren Dienst versehen, was offensichtlich auf Widerstand stieß. Wesentlicher als die Dauer der Arbeitszeit ist aber, dass die hohen Be17
18 19
Als Altertum gilt gemeinhin die Zeit von der Taika Reform (oder von 710) bis zum Ende der Heian-Zeit (spätes zwölftes Jahrhundert). 710 wurde erstmals versucht, nach Chinas Vorbild eine permanente Hauptstadt zu gründen, Heijōkyō, das heutige Nara. Eine Reihe unglückseliger Ereignisse veranlasste die Regierung jedoch, die Hauptstadt 794 neuerlich zu verlegen. Heiankyō (das heutige Kyoto) blieb bis 1868 die Hauptstadt und Sitz des Kaiserhauses. Die Heian-Zeit (794–1185) war die Blütezeit höfischer Kultur. Vor allem die Erzählungen (monogatari), Tagebücher (nikki) und Gedichte der Hofdamen gehören zur Weltliteratur und geben auch teils detaillierte Informationen über das Leben des Adels. In der darauffolgenden Periode – oft als Mittelalter bezeichnet – blieb der Tenno zwar in Amt und Würden, die politische Macht ging aber in der Kamakura-Zeit (1185–1333; Kamakura liegt südlich von Yokohama und Tokyo) und der Muromachi-Zeit (1336–1573; Muromachi ist ein Stadtteil von Kyoto) an den Shogun. Durch die Ōnin-Kriege (1467–1477) fand diese Herrschaft ein jähes Ende, das ganze Land fiel in einen über hundert Jahre dauernden Bürgerkrieg, aus dem letztendlich die Familie Tokugawa siegreich hervorging. In der Edo-Zeit (1600–1867; Edo ist das heutige Tokyo) gelang es den Tokugawa-Shogunen, das Land zu beherrschen und kriegerische Auseinandersetzungen zu vermeiden. In Japan gibt es verschiedene Arten der Jahreszählung. Hier werden alle Jahresangaben nach dem Gregorianischen Kalender angegeben. Ujitani T., Zengendaigo-yaku. Nihon shoki (ge) [Chronik von Japan. Übertragung ins Gegenwartsjapanische 2], Tōkyō 1993 [1988], 130.
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amten ihren Dienst zu einer bestimmten, durch eine Glocke bekanntgegebenen Drachenstunde, und zwar gemeinsam, beginnen und beenden mussten. Noch aufschlussreicher ist die zweite Erwähnung von Drachenstunden in der Chronik für das Jahr Taika 3 (647). Die Staatsdiener im neuerrichteten Palast von Ogōri20 erhalten folgende Anweisung: „Personen von Rang müssen sich zur Stunde des Tigers (3–5 Uhr morgens) einfinden und links und rechts außerhalb des Südtores aufstellen. Sie müssen auf den Sonnenaufgang warten. Im Hof sollen sie sich zweimal verbeugen und dann in die Diensträume eintreten. Zuspätkommenden wird der Eintritt verweigert. Wenn die Glocke die Stunde des Pferdes (11–1 Uhr)21 ankündet, mögen sie sich zurückziehen. Der für das Schlagen der Glocke zuständige Beamte soll eine rote Schürze tragen. Der Glockenturm ist im Inneren Hof aufzustellen.“22
In dieser Quelle sind sehr unterschiedliche Zeitgeber erwähnt. Einerseits sollen die Drachenstunden mit dem Signal der Glocke verkündet werden, was sowohl visuell als auch akustisch erfahrbar war. Diese Stunden waren theoretisch Äquinoktialstunden. Andererseits gibt es auch einen Bezug zum Sonnenaufgang und damit zu einem visuellen Zeitmarker und zur Temporalzeit. Beide sind laut dieser offiziellen Regel zu beachten. Japan ist das Land der aufgehenden Sonne, der Kaiser ist der direkte Nachkomme der Sonnengottheit und soll somit verehrt werden. Damit wird die chinesische Zeitordnung in eine japanische uminterpretiert. Bemerkenswert ist, dass ein Morgenritual eingeführt und Zuspätkommenden kein Einlass gewährt wird. Wir können hier also schon erste Ansätze eines Pünktlichkeitstrainings für Staatsdiener erkennen, wobei ein Regelverstoß sanktioniert wurde. Es ist allerdings unklar, inwieweit die Anweisungen befolgt wurden oder ob den Staatsdienern tatsächlich der Eintritt verweigert wurde, wenn sie sich verspäteten, und was das für sie bedeutete. Derartige Quellen wurden oft schlichtweg aus dem Chinesischen kopiert. Erst ab etwa dem neunten Jahrhundert gibt die Literatur zunehmend Einblicke in das Alltagsleben des Hofadels.
20 21 22
Vor 710 wurde die japanische Hauptstadt häufig verlegt. Ogōri befindet sich in der Nähe von Osaka. Die Glocke wird entweder zu Beginn (shokoku) oder in der Mitte der Stunde (seikoku) geschlagen. Hier ist nicht eindeutig, was gemeint ist. Ujitani T. 1993 op. cit., 181; cf. A. W. George: Nihongi. Chronicles of Japan from the earliest times to A.D. 697, Teil II, London 1956, 227.
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Zeitmessung: Äquinoktialstunden oder Temporalstunden? Waren Drachenstunden im Altertum tatsächlich Äquinoktialstunden, und wie wurden sie gemessen? Für das Jahr 647 haben wir darüber keine genauen Hinweise, aber die Chronik berichtet von einer Wasseruhr, die 660 aus China gebracht und 661 aufgestellt wurde.23 Die Beamten des Yin-Yang-Instituts konnten die Stunden auch mit Hilfe astronomischer Tabellen und numerischer Zyklen errechnen, was in der Praxis eine größere Rolle gespielt haben dürfte.24 Vereinzelt gibt es auch Hinweise auf das Beobachten der Konstellation der Gestirne durch Yin-Yang-Meister. Eine Geschichte im 31-bändigen Konjaku monogatari (Erzählungen von einst und jetzt) aus der späten HeianPeriode beschreibt die Probleme bei der Zeitmessung anlässlich einer buddhistischen Gedenkfeier für den Begründer der mächtigsten Adelsfamilie, Fujiwara no Kamatari, im Jahr 1048 in Heijōkyō (dem heutigen Nara): Das Totengedenken sollte zur Stunde des Tigers (3–5 Uhr) stattfinden, aber da es regnerisch und der Himmel bewölkt war, konnte selbst der anwesende YinYang-Meister nichts ausrichten. Doch dann riss die Wolkendecke kurz auf, das Sternbild des Großen Bären wurde im Norden sichtbar, und der Meister konnte feststellen, dass man sich gerade im zweiten koku der Stunde des Tigers (3 Uhr 30 bis 4 Uhr) befand. Damit konnte die Feier ihren Lauf nehmen. Sofort danach zog sich der Himmel wieder zu.25 Welche technischen Hilfsmittel der Meister für seine Beobachtungen verwendete, wissen wir nicht, da keine Astrolabien aus dieser Zeit erhalten sind.26
23
24 25 26
Lange Zeit wurde die Historizität dieser Angaben in Zweifel gezogen, da die Chronik der einzige Hinweis auf deren Existenz im siebenten und achten Jahrhundert war, aber 1981 wurden Reste einer Wasseruhr in Asuka (ca. 25 km südlich von Nara gelegen), wo im siebenten Jahrhundert die Verwaltung war, ausgegraben (http://www.asukanet. gr.jp/ASUKA4/mizutokei/mizutokei.html). Sugimoto M. und D. Swain, Science and culture in traditional Japan, Cambridge 1978, 56. Atsutani K., Heian jidai kokiroku to jikoku ni tsuite [Quellen und Stundenterminologie der Heian Zeit], Nihon rekishi 583 (August 1993), 32–41, 33. Im Jahr 1127 brannte das Yin-Yang-Institut ab; nur wenige Gegenstände konnten aus dem brennenden Gebäude gerettet werden. Zu dieser Zeit hatte das Kaiserhaus bereits stark an Macht verloren; die Beamten saßen meist auf Versorgungsposten. Ihr Wissensniveau reichte nicht aus, Forschung zu betreiben, und der offizielle Kontakt zu China war abgebrochen. Siehe Sugimoto und Swain 1978, op. cit., 124.
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Aus der Verwendung von Wasseruhren und der Sternenbeobachtung lässt sich schließen, dass die von den japanischen Astronomen beobachteten und festgehaltenen Stunden Äquinoktialstunden waren. Diese Schlussfolgerung wird auch durch die guchūreki genannten annotierten Almanache bestätigt. In diesen wurden täglich die Wetterverhältnisse, Zeitpunkte von Sonnenauf- und -untergang, Mittag und Mitternacht sowie Sonnen- und Mondphasen und gegebenenfalls Sonnen- und Mondfinsternisse vermerkt. Da Sonnenauf- und -untergang täglich zu einer anderen Zeit stattfinden, ist offensichtlich, dass tatsächlich zumindest bei Hof und in dessen Umgebung Äquinoktialzeit galt.27 Wie erwähnt, sollten Beginn und Ende der Dienstzeiten mit Hilfe einer Glocke verkündet werden. Das Verkünden der Stunden war im Altertum aber nicht einheitlich, wie die Hofdame Sei Shōnagon in ihrem Kopfkissenbuch (vor 1000 AD) amüsiert bemerkt: Im Palast in Heiankyō (Kyoto) wurden einerseits Tafeln mit der Zeitangabe im Innen-Garten aufgestellt, andererseits wurden die Drachenstunden und koku von den Palastwachen gerufen oder mit Hilfe einer Glocke oder Trommel bekanntgegeben. So waren sich alle Personen in der Umgebung dieser Ankündigungen Tag und Nacht jeweils der Zeit bewusst. In den Provinzpalästen war es hingegen üblich, jeweils nur die vollen Stunden mit dem Namen und einer Zahl von vier bis neun anzugeben, wie in Graphik 1 (S. 50) beschrieben.28 Wie wir aus den bisher analysierten Quellen schließen können, spielte die Tageszeiteinteilung des sino-japanischen Kalenders eine wichtige Rolle in der Organisation des Lebens am Hof. Wie Norbert Elias hervorhebt, dienen (gemeinsame) Zeitindikatoren „Menschen als Mittel der Orientierung im Nacheinander sozialer und natürlicher Abläufe. Vielfach dienen sie ihnen zugleich auch als Mittel der Regulierung ihres Verhaltens im Sinne einer Abstimmung aufeinander.“29 Die koordinierende und kontrollierende Rolle des Drachenstundensystems beschränkte sich im Altertum auf die Dienstzeiten der Staatsdiener sowie offizielle Zeremonien; in Bezug auf Mahlzeiten (abgesehen von offiziellen Banketten), Schlaf oder Freizeit gibt es hingegen keine Indizien für einen geregelten Tagesablauf. Nur vereinzelt finden sich Angaben von Drachenstunden im Zusammenhang mit Alltagstätigkeiten, und zwar dann, wenn die Heldinnen und Helden offenbar stark von einem 27 28 29
Die ältesten erhaltenen Almanache stammen aus dem Jahr 764, die jüngsten von 1684. Saitō K., 1995 op. cit., 135–136; siehe auch Sugimoto und Swain 1978, op. cit., 128. Makura no sōshi ge [Kopfkissenbuch, verfasst von Sei Shōnagon. Teil 2]. Annotiert und herausgegeben von Hagitani B., Tōkyō 1977, 217. N. Elias, Über die Zeit, Frankfurt 1997, VIII.
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„normalen“ Rhythmus abwichen. So heißt es etwa im Ochikubo monogatari (spätes zehntes Jahrhundert), dass die Heldin Ochikubo bis zur Grenze zwischen der Stunde der Schlange und des Pferdes, also bis circa 11 Uhr vormittags, im Bett bleibt oder zu dieser Stunde noch nicht die Hände gewaschen hat.30 Offenbar war dies länger als gewöhnlich, aber diese Abweichung wird moralisch nicht bewertet. Andererseits wurden die Tage im Kalender – wie oben beschrieben – sehr genau beachtet und waren sogar für relativ banale Tätigkeiten wie das Haarewaschen oder Baden von Bedeutung. Wie weit der Einfluss der Drachenstunden außerhalb der Höfe reichte, ist mangels schriftlicher Quellen schwer zu sagen. Im Jahr 2000 haben Archäologen im Gebiet der heutigen Präfektur Ishikawa, das in der Heian-Zeit mehrere Tagesreisen von der Hauptstadt entfernt war, ein öffentliches Edikt aus der Kashō-Ära (848–851) gefunden. Demzufolge mussten die Bauern von der Stunde des Tigers (3–5 Uhr) an bis zur Stunde des Hundes (19–21 Uhr) auf den Feldern arbeiten,31 was zeigt, dass die Regierung auch damals schon die Arbeitszeit der Bauern zu regeln versuchte und dabei auf das Drachenstundensystem zurückgriff. Es gibt allerdings keine Aufzeichnungen darüber, was das für ihren Alltag tatsächlich bedeutete. Da die Bauern nicht lesen konnten, wurden ihnen die Anweisungen wahrscheinlich von niederen Staatsbeamten nahegebracht. Glocken oder ähnliche Zeitsignale, die die Drachenstunden angaben, waren aber sicherlich nicht in allen Dörfern zu hören. Vermutlich wurden diese Zeitangaben für die bäuerliche Bevölkerung als Morgen- und Abenddämmerung übersetzt, was heißen würde, dass die Bauern zwar offiziell einer Äquinoktialzeitordnung folgten, tatsächlich aber einer vagen Temporalzeit. Es gibt Zeitgeber, die in der Literatur wesentlich häufiger vorkommen als Wasseruhren und Zeitglocken. Allen voran ist das Krähen der Hähne am Morgen zu nennen. Der „erste Hahnenschrei“ (keimei) am Morgen galt im Altertum nicht nur metaphorisch als Tagesbeginn, was der Literaturhistoriker Tsujino Kanji damit erklärt, dass man glaubte, dass die kami (Gottheiten im Shinto) bei Nacht anwesend seien und bei Anbruch der Morgendämme30
31
Ochikubo monogatari (Name der Autorin unbekannt) ist die erste Geschichte der Weltliteratur mit einem „böse Stiefmutter“ Motiv, in der die Heldin letztendlich Erfolg und Glück findet. In Shinpen koten bungaku zenshū, herausgegeben von Mitani E. und Mitani K., Tōkyō 2000, 135, 162. Ishikawa-ken [Maizō Bunka-Zai Sentā], Saishin hakkutsu jōhō 2000 [Informationen zum neuesten archäologischen Fund 2000], http://www.ishikawa-maibun.or.jp (9. 9. 2000), 8.
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rung in den Himmel aufstiegen. Der Hahnenschrei war ein Zeichen dafür, dass die kami heimgekehrt seien.32 Daher wurde das Krähen – unabhängig von einer eventuell objektiv festgelegten Tageszeit – als Signal für das Ende der Nacht angesehen. Das Ende der Nacht war aber – jedenfalls für die Adeligen – nicht das Signal zum Aufstehen; vielmehr beendete der Hahnenschrei Liebesnächte. Am Beginn einer romantischen Beziehung besuchten Männer ihre Geliebte für die Nacht und mussten sie zwischen dem ersten und zweiten Hahnenschrei verlassen. Zu Hause angekommen, schickten sie per Boten ein Liebesgedicht und legten sich häufig wieder schlafen. Die Frau verlieh in ihrer poetischen Antwort der Zuneigung dadurch Ausdruck, dass sie beispielsweise den Hahn verfluchte, der ihren Liebhaber noch in der Dunkelheit und viel zu früh vom gemeinsamen Lager vertrieben hatte. Deshalb sind viele Gedichte erhalten, die auf den Hahnenschrei Bezug nehmen. Bei aller Unzuverlässigkeit des ersten Hahnenschreis handelt es sich dabei in jedem Fall um eine Zeitangabe, die sich nach dem Sonnenlicht, also der Temporalzeit richtet. Das heißt also, dass der Adel im Altertum sowohl Äquinoktialzeit als auch Temporalzeit beachtete. Anstelle des Hahns werden häufig auch der hototogisu, eine kleine Kuckucksart, oder andere Vogelstimmen erwähnt. Hototogisu wird mit den chinesischen Schriftzeichen für „Zeit“ und für „Vogel“ geschrieben. Es ist deutlich, dass er als Zeitsignal sehr wichtig war. Akatsuki, Morgengrauen,33 ist ein äußerst wichtiger poetischer Terminus in der klassischen Literatur, da mit dem morgendlichen Zeitraum zahlreiche Emotionen der Liebenden verbunden sind. Solche Gedichte sind also nicht immer wörtlich zu verstehen, sondern als ein poetisches Genre, das sich bestimmter Bilder bedient.34 Die Regel, dass Männer ihre Geliebte beim ersten Hahnenschrei verlassen mussten, war aber offenbar sehr streng; einem Mann im Morgentau zu begegnen war 32 33
34
Tsujino K., Manyōjidai no seikatsu [Leben zur Zeit des Manyōshū], Tōkyō 1978, 339. Kobayashi T., Akatsuki no kenkyū. Heianbito no jikan [Forschungen zum Morgengrauen. Zeit der Menschen von Heian], Osaka 2003. Weniger bekannt ist das Gegenstück ōmagatoki, die Abenddämmerung. Solche Gedichte sind mit einer Alba, einem Morgenlied, in der mittelalterlichen deutschsprachigen Literatur vergleichbar. Siehe G. Klug, Dangerous Doze: Sleep and Vulnerability in: Medieval German Literature, L. Brunt und B. Steger (Hg.), Worlds of Sleep, Berlin 2008, 31–52, 37. Siehe auch: G. Klug, „Wol ûf, wir sullen slâfen gan!“ Der Schlaf als Alltagserfahrung in der deutschsprachigen Dichtung des Hochmittelalters, Frankfurt et al. 2007.
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gleichbedeutend damit, ihn in flagranti bei einem Liebesabenteuer zu ertappen. In einer Szene im Genji Monogatari (Geschichten vom Prinzen Genji) der Hofdame Murasaki Shikibu (um 1000) besucht Prinz Yūgiri die Dame Ochiba zu nächtlicher Stunde. Nach einer Unterhaltung fordert sie ihn auf, das Haus zu verlassen. Er jedoch weist dieses Ansinnen zurück. Die Leute würden glauben, es hätte etwas zwischen den beiden gegeben, wenn sie ihn im Morgentau draußen sehen würden.35 Mit dem Schwinden der politischen Macht des Kaisers, sowie dem Brand des Yin-Yang-Instituts gegen Ende der Heian-Zeit (1227) ging astronomisches Wissen verloren. Der Einfluss der Yin-Yang-Meister beschränkte sich zunehmend auf astrologische Vorhersagen für einen kleinen Kreis bei Hof. Die Tierkreiszeichen als Stundenbezeichnungen wurden beibehalten, die Dauer von Tag und Nacht wurde allerdings an die Länge des Sonnentages angepasst. Das heißt, im Alltagsgebrauch lagen die Grenzen zwischen Tag und Nacht nicht mehr gegen 6 und 18 Uhr nach der heutigen Zeiteinteilung, sondern jeweils eine gute halbe Stunde vor Sonnenaufgang bzw. nach Sonnenuntergang. Die Drachenstunden änderten sich von Äquinoktialstunden zu Temporalstunden.36 Dadurch änderte sich die Dauer der Stunden je nach Jahreszeit. Im Sommer waren die Tagesstunden länger, die Nachtstunden kürzer, im Winter war es umgekehrt. In Heiankyō/Kyoto, beispielsweise, das am 35. nördlichen Breitengrad liegt, schwankt die Länge eines Tages um zweieinhalb Stunden westlicher Zeitrechnung innerhalb eines Jahres.
Zeit der Tempel Ein Gedicht aus der im achten Jahrhundert kompilierten Gedichtsammlung Manyōshū von einer Frau namens Kasa no Iratsume gibt uns einen Hinweis auf eine weitere Art von Stundensystem.
35
36
Kapitel 38, „Yūgiri“ (Abendnebel); Abe A., Akiyama K. and Imai G. (Hg.), Genji Monogatari 4. Tōkyō 1974, 398–99; O. Benl (Übersetzung, Einleitung, Herausgeber), Genji Monogatari. Die Geschichte vom Prinzen Genji. Altjapanischer Liebesroman aus dem 11. Jahrhundert, verfaßt von der Hofdame Murasaki. 2 Bände, Zürich 1966, 2. Band, 273. Saitō K., 1995, op. cit., 156–157.
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1
Mina hito o
Die Glocke ertönt
neyo to no kane wa
und ermahnt alle Menschen,
utsunaredo
begebt euch zur Ruh’!
kimi o shimoeba
Doch wenn ich an dich denke,
inekatenu kamo
find’ ich keinen Schlaf 1
59
Takagi I. et al. 1957. Manyōshū 1. Tōkyō (= Nihon koten bungaku taikei 4).
Die Kommentatoren verschiedener Editionen der Gedichtsammlung erklären – allerdings ohne Quellenangabe – dass die hier erwähnte Glocke zu einem Tempel oder Kloster gehörte. Ob das im konkreten Fall tatsächlich zutrifft, ist schwer zu bestätigen, aber jedenfalls führt uns dieses Gedicht zu einer anderen Zeitordnung, die im Alltagsleben über Jahrhunderte hinweg eine sehr große Rolle gespielt haben dürfte, aber aus der sozialwissenschaftlichen „Geschichte der Stunde“ bisher weitgehend ausgeklammert wurde. Es handelt sich hierbei um eine Einteilung des Volltages in sechs gleich lange Einheiten zu je vier Stunden zu liturgischen Zwecken, genannt rokuji (sechs Stunden/Zeiten). Diese stammt ursprünglich aus Nordwest-Indien und fand ihren Weg durch buddhistische Schriften, insbesondere des Reinen Land-Buddhismus, über China nach Japan. Die Bezeichnung für diese Einheiten waren „früher Morgen“, „Tagesmitte“, „Sonnenuntergang“, „beginnende Nacht“, „Mitternacht“ und „späte Nacht“, wobei es allerdings Abweichungen in der Terminologie gab.37 Aus den Quellen geht nicht eindeutig hervor, ob das rokuji-System Temporal- oder Äquinoktialstunden hatte; theoretisch ist beides möglich. Einige japanische Mönche verfügten über Astronomiekenntnisse und konnten Äquinoktialzeit berechnen.38 Der Begründer des Sōtō-Zen, Dōgen (1200–1253), beispielsweise rechnet die Stunden im Tempel in seinen „Lebensregeln“ Eihei shingi (1227–1249) direkt in Drachenstunden um.39 Außerdem wurden für das Messen kleinerer Zeiteinheiten Räucherwerksuhren benutzt. So meditierten Mönche und Nonnen solange, bis beispielsweise drei Räucherstäbchen 37
38 39
Die detaillierte Terminologie findet sich in: J. F. Pas, Six Daily Periods of Worship: Symbolic Meaning in Buddhist Liturgy and Eschatology, Monumenta Serica 37 (1986–87), 49–82, besonders 52–66. Hashimoto M., 1978, op. cit., 190–195; Tsukamoto Z. (Hg.), Mochizuki bukkyō daijiten, Tōkyō and Kyōto 1967 [1 1933], 5057–5058, Band 5, Stichwort: Rokuji. Sugimoto und Swain, 1978, op. cit. 49, 51, 125. Andō B., Eihei daishingi tsūkai [Annotierte Übertragung ins Modernjapanische von Dogens Eihei daishingi], Tōkyō 1978, 150; Taigen D. Leighton (Hg.), Dogen’s Pure Standards for the Zen Community – a Translation of the Eihei Shingi, Albany 1996, 72.
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abgebrannt waren40, was nicht nur – zumindest für diese Tätigkeiten – auf Äquinoktialzeit hinweist, sondern auch auf eine Erfahrung von Zeit als Dauer (siehe Diskussion weiter unten). Die Terminologie hingegen deutet eher auf eine Anlehnung an den Sonnentag hin. De facto orientierte sich vom 12. bis in das späte 19. Jahrhundert hin der für das Verkünden der Zeit zuständige Mönch an der Tageshelle: Wenn es hell genug war, dass der Glöckner die starken Linien seiner Handinnenfläche erkennen konnte, die schwachen aber noch nicht, gab er den Tagesanbruch durch sechs Schläge bekannt, was dann auch als die sechste Stunde im Morgengrauen (akegata mutsu) bekannt war. Am frühen Abend schlug er die Glocke wieder sechsmal, wenn die schwachen Linien seiner Handfläche nicht mehr zu sehen waren, die sechste Stunde. Für die Festlegung der Grenzen zwischen den Tagund Nachtstunden waren also Temporalstunden maßgebend.41 Das rokuji-System konnte sich also problemlos sowohl an Äquinoktialzeit als auch an Temporalzeit anpassen und wurde individuell gemessen. Ähnlich wie in Europa waren in Japan die Tempel und Klöster Orte, in denen der Tagesablauf verhältnismäßig genau geregelt war. Die Mönche hielten nicht nur ihre Lobeshymnen (rokuji gongyō) nach den rokuji ab, der gesamte Tagesablauf wurde durch diesen Rhythmus bestimmt. Das trifft vor allem auf die Zen-Klöster zu, die ihre Meditations-, Essens- und Schlafenszeiten genau festlegten. Lehren, Meditieren, Studieren und das Abhalten von religiösen Zeremonien sind vom Tageslicht oder objektiven Zeitpunkt weitgehend unabhängig. Eine gemeinsame Zeitstruktur sollte vielmehr den Tagesablauf der klösterlichen Gemeinschaft aufeinander abstimmen und dadurch auch das Gefühl der Zusammengehörigkeit verstärken. Dōgen forderte: „Wenn die Gemeinschaft sitzt [= meditiert], sitz zusammen mit ihr; wenn die Gemeinschaft sich niederlegt, leg auch du dich schlafen. Bei Aktivität und Ruhe sei eins mit der Gemeinschaft; trenne dich weder im Tode noch in den Wiedergeburten vom Kloster.“ 42
Anders als in der Yin-Yang-Tradition, wo die Qualität der Stunden die Handlungen bestimmte, ging es bei der klösterlichen Zeitrechnung vorrangig dar40 41
42
Informationen vom Priester Matsunami Taiun, 1995. Matsunami Taiun, 1995; dieselbe Methode ist auch bei den buddhistischen Mönchen in Burma bekannt, siehe E.P. Thompson, Time, work-discipline, and industrial capitalism, Past & Present 38, 1967, 56 –97, 58. Andō, 1978, op. cit., 99; Leighton, 1996, op. cit., 63.
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um, die Aktivitäten der Mönche zu synchronisieren. Wichtiger als das Messen und Beachten einer möglichen objektiven Zeit, die für alle Klöster Gültigkeit hätte, war das Abstimmen der Tagesrhythmen innerhalb der klösterlichen Gemeinschaft und die Disziplinierung des Lebenswandels. Der Einfluss des rokuji-Systems auf das tägliche Leben der Bevölkerung außerhalb der Tempel und Klöster lässt sich nicht genau bestimmen. Aber an mehreren Nebenbemerkungen etwa im Tagebuch der Hofdame Murasaki Shikibu43 oder dem oben zitierten Gedicht von Kasa no Iratsume lässt sich erkennen, dass bereits während der Heian-Zeit die Tempelglocken auch außerhalb der klösterlichen Gemeinschaft als Zeitindikatoren wahrgenommen wurden und deren Bedeutung als Signal für die verschiedenen Gebetszeiten und Tätigkeiten bekannt waren. Aufgrund der größeren Verbreitung der Klöster übte deren Zeitstruktur offenbar de facto einen größeren Einfluss auf die Strukturierung des täglichen Lebens der Bevölkerung aus als das Drachenstunden-System des Hofes, insbesondere ab dem Mittelalter. Bezeichnungen wie „Mitternacht“ oder „früher Morgen“ sind jedoch nicht eindeutig als buddhistische Stundenindikatoren zu erkennen. Mönche übernahmen zunehmend die Bezeichnungen der Drachenstunden. Dies ist beispielsweise in den 41 Gelübden (Klosterregeln) des Mönches Genshin (942–1017) erkennbar, die nur in einer mittlelalterlichen Enzyklopädie erhalten sind. Die 38. Regel legt die Schlafenszeiten der Mönche mittels Drachenstunden fest: „Während der Stunde des Wildschweines, der Ratte und des Tigers sollt Ihr schlafen, außerhalb dieser Zeiten dürft Ihr nicht schlafen.“ 44
Da Drachenstunden und rokuji nicht im Widerspruch zueinander stehen – eine „Stunde“ nach dem rokuji sind zwei Drachenstunden – ist wohl anzunehmen, dass sie im Erleben der meisten Menschen zu einem Zeitsystemamalgam verschmolzen sind. Im Laufe des Mittelalters wurden beide Zeitsysteme zu Temporalzeiten, aber einzelne Tätigkeiten – wie etwa Meditation 43
44
Die zweiten Szene des Tagebuches beginnt mit: „Es ist noch mitten in der Nacht“ (mada yofukaki hodo), als sie wörtlich „von der Glocke der späten Nacht überrascht“ (goya no kane uchiodorokashite) wird und die religiöse Zeremonie beginnt. Murasaki Shikibu nikki, editiert und annotiert von Nakano K., Shinpen Nihon koten bungaku 26, Tōkyō 1994, 124. Englische Übersetzung siehe: R. Bowring, Murasaki Shikibu: Her Diary and Poetic Memoirs, a translation and study by Richard Bowring, Princeton: 1982, 43– 45. Kurokawa M. (Hg.), Enshin sōzu shijūikkajō, abgedruckt in Nihōn kyoiku [Band Religion], Tōkyō 1977, 463.
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– wurden mit Hilfe von Räucherwerksuhren gemessen; deren Dauer blieb das ganz Jahr über unverändert. Auch wenn für den Alltag der meisten Menschen also Drachenstunden und rokuji gemeinsam und oft vermischt verwendet wurden, ist eine Unterscheidung theoretisch bedeutend. Denn die verschiedenen Zeitsysteme weisen auf die zwei wichtigsten Machtzentren in der japanischen Geschichte hin. Nach dem Ende der Heian-Zeit im späten zwölften Jahrhundert ging die reale politische Macht vom kaiserlichen Hof in Heian (Kyoto) zu wechselnden Militärherrschern, den Shogunen (oberster Militärführer Japans) und Daimyos (Landesfürsten) über. Von der Mitte des fünfzehnten bis zur Mitte des sechzehnten Jahrhunderts war das ganze Land im Krieg, da die verschiedenen Landesfürsten um die Vorherrschaft stritten. Allerdings hatten sie nach derzeitigem Wissensstand wenig Kontrolle über die zeitliche Organisation der Bevölkerung. Eine Koordinierung und Kontrolle der Bevölkerung durch gemeinsame Zeit lag de facto hauptsächlich in den Händen dezentraler buddhistischer Klöster. Ab dem Ende der Heian-Zeit bis zum späten sechzehnten Jahrhundert waren die Tempel und Klöster die einzigen öffentlichen Zeitgeber. Die Klöster stellten die Stunden individuell fest und verkündeten sie mit dem Glockenschlag. Insgesamt sind in den schriftlichen Quellen dieser Jahrhunderte Angaben zu den Drachenstunden sehr selten. Aber auch der Hinweis auf eine Pflanze, die zu einer bestimmten Tageszeit aufblüht, wie etwa die blaue Prunkwinde, die auf japanisch asagao, Morgengesicht heißt, kann als Zeitangabe gewertet werden. Ähnlich ist auch yūgiri, der Abendnebel, zu verstehen. Die Bedeutung der Vögel und Pflanzen als Zeitsignale als Handlungsanweisung dürfte aber abhängig von der Gesellschaftsschicht sehr unterschiedlich gewesen sein. So beklagt sich eine Gruppe einfacher Frauen auf dem Land gegenüber Fushimi Tokiwa (12. Jhd.), die mit ihren drei kleinen Söhnen aus Kyoto fliehen musste, über ihr hartes Leben. In der Hauptstadt, so meinen die Frauen, wird das Signal eines Vogels als kigo (poetischer Hinweis auf die Jahreszeit) verwendet, während wir früh morgens von den Krähen aus dem viel zu kurzen Schlaf geweckt werden, um die Feldarbeit zu beginnen. Erst um Mitternacht können wir uns schlafen legen.45 In der Hauptstadt bei den Adeligen galt das Krächzen der Krähen auch als Signal für den Beginn des Morgens, jedoch mussten diese bei Tagesbeginn nicht mit der Arbeit beginnen.46 Gelegentlich 45 46
Asahara Y. und Kitahara Y. (Hg.). Mai no hon [Tanz-Narrative]. Tōkyō: Iwanami Shoten (= Shin Nihon koten bungaku taikei 59) 1994, 281–282. Brewster, J., Sanuki no Suke Nikki. A Translation of the Emperor Horikawa Diary. Canberra 1977, 62.
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wird die Morgen- oder Abendglocke erwähnt sind, so etwa im Kaidōki (1223), einem Reisetagebuch, in dem der unbekannte Autor erwähnt, dass er in einer Herberge auf der Reise von Kyoto nach Kamakura betrunken eingeschlafen war und von der Morgenglocke aus dem Schlaf geschreckt wurde.47 Vielzitiert ist das Gedicht aus der Gedicht-Serie über die Provinz Ōmi (um 1500), das von der Glocke des Mii-Tempels am Fuße des Berges Hiei nordöstlich von Kyoto handelt: Omou sono akatsuki chigiru hajime to zo mazu kiku Mii no iri-ai no koe
Schon an die morgendlichen Liebesschwüre denkt man beim Klang der Abendglocke des Mii-Tempels
Der Klang der Glocke vom Mii-Tempel war berühmt als einer der drei schönsten Glockentöne Japans. Diese Schönheit ruft aber auch ein Gefühl von Wehmut hervor, weil die Liebenden schon beim Zusammenkommen daran erinnert werden, dass sie sich bei Tagesanbruch wieder trennen müssen. Diese Wehmut verstärkt das Gefühl der Liebe und der Schönheit. In der späteren Edo-Zeit ist die Abendglocke deshalb ein häufiges Motiv auf Blockdrucken und anderen bildlichen Darstellungen, wenn landschaftliche oder weibliche Schönheit sowie wehmütige Liebe betont werden.48 Die Regel, sich im Morgengrauen zu trennen, spielte zu dieser Zeit in der Realität noch in den Vergüngungsvierteln eine Rolle49 und war auch aus der Literatur des Altertums bekannt. Der Hahnenschrei wurde offenbar durch die Morgenglocke ersetzt, auch wenn der Hahn als Symbol noch weiterhin verwendet wird. Der genaue Zeitpunkt für die Glockenschläge war dabei weniger von Relevanz.
Reichseiniger – Zeiteiniger Um 1550, also um die Zeit der Veröffentlichung des Gedichts über die Liebenden, die dem Ton der Mii-Glocke lauschen, begannen politisch-militäri47 48
49
Kaidoki, annotiert von Nagasaki K., in Shinpen Koten bungaku zenshū, Band 48: Chūsei nikki kigyō-shū, Tōkyō 1994, 77. Sie wird noch heute täglich geschlagen. Unter dem Suchbegriff „bansho“ finden sich zahlreiche Darstellungen auf dieser Webseite: http://ukiyo-e.org/search?q=bansho. 1996 wurde der Glockenton in die Liste der 100 „Soundscapes of Japan“ des japanischen Umweltministeriums aufgenommen. https:// en.wikipedia.org/wiki/100_Soundscapes_of_Japan. A. Koch, Nihon Kyōiku bunko. 2017 (in Vorb.), op. cit.
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sche Führer ein zunehmendes Interesse an genauer Zeitmessung und Kontrolle der Zeitverwendung als Machtmittel zu zeigen. Einer, der die Wichtigkeit von zeitlicher Organisation offenbar früh erkannt hatte, war Hōjō Sōun (1432–1519), der Begründer der Späteren Hōjō-Dynastie. Seine Familie eroberte 1495 die Burg Odawara und kontrollierte bis zur Niederlage gegen Toyotomi Hideyoshi im Jahre 1590 weite Teile des Kantō-Gebietes. Sein um 1500 entstandener Kodex Sōunjidono nijūikkajō (die 21 Artikel des Herrn zu Sōunji), eine Art Grundgesetz oder Hausordnung für seine Familie, ist ein frühes und für damals äußerst seltenes Beispiel, das Alltagsleben außerhalb der Klöster bis ins Privatleben hinein zeitlich zu regeln. Über das Schlafengehen und Aufstehen heißt es darin beispielsweise: „Am Abend soll man spätestens zur fünften Stunde (nach Sonnenuntergang, je nach Jahreszeit zwischen 19:20–21 Uhr) schlafen gehen. Die Nachtdiebe schleichen sich immer zur Stunde der Ratte (gegen Mitternacht) oder des Rindes (nach der Stunde der Ratte) ein. Wenn man ohne besonderen Anlass bis in die Nacht hinein schwätzt und erst zur Stunde der Ratte oder des Rindes schlafen geht, werden die Wertgegenstände im Haus gestohlen. Es schadet auch dem Ruf. Nachts soll man ohne wichtigen Grund kein Brennholz oder Öl verbrauchen. Am Morgen soll man zur Stunde des Tigers (Morgendämmerung) aufstehen, die Shinto-Gottheiten und Buddha verehren, die Morgentoilette verrichten; man soll der Frau, den Kindern und den Gästen die Angelegenheiten des Tages erklären und sich vor der sechsten Stunde (kurz vor Sonnenaufgang; der Zeitpunkt der Morgenglocke) zum Dienst begeben. Ein alter Spruch sagt, dass man zur Stunde der Ratte (um Mitternacht) schlafen gehen und zur Stunde des Tigers aufstehen soll, aber das ist nicht jedes Menschen Sache. Im allgemeinen ist es vorteilhaft, zur Stunde des Tigers aufzustehen. Wenn man bis zur Stunde des Drachen (7–9) oder der Schlange (9–11) schläft, kommt man weder mit den Arbeiten für den Herrn noch mit den eigenen Angelegenheiten zurecht. Welchen Sinn hat [das Langschlafen], wenn man sein Tagewerk nicht erledigen kann?“50
Dieser Abschnitt verdeutlicht nicht nur, wie wichtig ein von der „Uhr“ geregelter Tagesablauf und das Frühaufstehen für den Militärherrscher war, sondern gibt auch Aufschluss darüber, wie die Stunden angegeben wurden. Sōun wechselt scheinbar beliebig zwischen den verschiedenen Systemen der Zeitangaben. Zum einen spricht er von der fünften Stunde, zu der man sich spätestens schlafen legen solle, oder von der sechsten Stunde als Arbeitsbeginn, zum anderen von der Stunde der Ratte oder des Rindes, in der die Diebe 50
Kurokawa M. (Hg.), Nihon kyōiku bunko. Kakun [Japanische Erziehungsbibliothek], Tōkyō 1977, 215.
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einschleichen, oder der Stunde des Tigers als idealem Zeitpunkt des Aufstehens. Meine These ist, dass die Angaben von Drachenstunden einen ungefähren Zeitpunkt innerhalb eines etwa zweistündigen Zeitraumes indizieren, während sich die Glockenschläge auf einen expliziten Zeitpunkt beziehen, zu dem man spätestens oder frühestens eine Aktivität angehen soll. Die Anzahl der Trommelschläge selbst bezieht sich auf das in Graphik 1 (S. 50) beschriebene System. Das gesteigerte Interesse an Astronomie und Zeitrechnung um 1500 hat vermutlich auch mit der Situation auf See zu tun, wo zahlreiche Piraten (wakō) den Verkehr und Handel dominierten.51 Wer Japan beherrschen wollte, musste auch die umliegenden Meere unter Kontrolle bringen. Feldherr und Reichseiniger Toyotomi Hideyoshi (1592–1598) versuchte sogar, wenn auch erfolglos, Korea und China zu erobern.52 Deshalb war es für die politischen Führer wichtig, neben großen Schiffen auch präzise Navigationsgeräte wie Quadranten und Astrolabien zu besitzen und mit ihnen umgehen zu lernen. Im 16. Jahrhundert drangen auch europäische Händler und Missionare nach Ostasien vor. Ihre Zeitmess- und Navigationsgeräte waren zum damaligen Zeitpunkt am weitesten entwickelt. Der Jesuit Franz Xaver brachte 1551 die erste mechanische Uhr nach Japan, um Erlaubnis zur Missionierung zu erhalten. Offenbar machten Räderwerkuhren mit Schlagwerk in Ostasien einen großen Eindruck, weil sie die Stunden automatisch schlagen konnten.53 Deshalb wurden Uhren zu verbreiteten Geschenken der Europäer an politische Führer und einflussreiche Persönlichkeiten, um sich Zugang zu Handel und Missionierung zu verschaffen; die Uhr des ersten Shoguns Tokugawa Ieyasu (1543–1616), dem es nach Jahrhunderten von kriegerischen Auseinandersetzungen gelungen war, Japan unter seiner Herrschaft zu einen, gilt als die älteste erhaltene.54 51
52 53 54
Diese meine Hypothese muss im Detail noch untersucht werden, aber Sasamoto Shōji argumentiert – allerdings nur aufgrund weniger Quellen –, dass die Daimyos dieser Periode ein hohes Zeitbewusstsein hatten, vor allem auf dem Schlachtfeld. Sasamoto S., Chūsei no oto, kinsei no oto. Kane no oto no musubu sekai [Geräuschkulissen des Mittelalters, Geräuschkulissen in der Frühmoderne. Die Welt durch die Glockenklänge verbunden], Tōkyō 2008, 242. S. Turnbell, Fighting ships of the Far East (2) Japan and Korea AD 612–1639, Oxford 2003, 10. C. Cipolla, Die gezählte Zeit. Wie die mechanische Uhr das Leben veränderte, Übersetzt von F. Hausmann, Berlin 1997 [1 1981], 100, 107–208. Die Uhr eines flandrischen Uhrenmachers im sechzehnten Jahrhundert war ein Geschenk des spanischen Königs Philipp III. und ist im Museum des Kunozan Toshogu
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Das heißt, um 1600 hatten die japanischen Machthaber (der Shogun) ein Interesse daran, das ganze Reich unter ihre Zeitordnung zu bringen. Ebenso verfügten sie über Instrumente, die eine vergleichsweise präzise und regelmäßige Stundenmessung erlaubten, sowie einen ausgeprägten Machtapparat. Anders als in Europa führte dies aber nicht dazu, dass die Temporalstunden nach und nach zugunsten von einem Äquinoktialstundensystem aufgegeben wurden.
Mechanische Uhren und Landschaften der Zeit während der Edo-Periode Die Japaner/innen passten während der Edo-Zeit (1600–1867) nicht ihre Tageszeiteinteilung an die mechanische Räderwerkuhr und Äquinoktialstunden an. Vielmehr adaptierten sie die Räderwerkuhren, um sie für die eigenen Verhältnisse einsetzbar zu machen und an jahreszeitlich variierende Temporalstunden anzupassen. Das hatten sie bereits zuvor mit der Räucherwerkuhr getan. Mit Hilfe von Stöckchen oder ähnlichen Markierungen konnte der zuständige Mönch die abzubrennende Räucherwerksmenge alle zwei Wochen an die saisonale Stundenlänge anpassen,55 wenn er die ganze Nacht hindurch die Zeit messen wollte. Bekanntlich wurden die meisten ausländischen Missionare und Händler im frühen siebzehnten Jahrhundert aus Japan ausgewiesen. Ab 1641 war der internationale Schiffsverkehr auf den Hafen von Nagasaki beschränkt, wo nur chinesische Schiffe und eine beschränkte Zahl von Handelsschiffen der Niederländischen Vereinigten Ostindien Kompanie (VOC)56 an Land gehen durften. Auf der Liste der importierten Güter dieser Schiffe waren während der Edo-Zeit zahlreiche Uhren zu finden, wobei Uhrmacher die wichtigsten Abnehmer der importierten Uhren waren. Sie zogen es vor, europäische Uhren zu verändern anstatt mechanische Uhren selbst herzustellen.57 Wie gesagt, wurden die Uhren mit Hilfe technischer Innovationen an die Temporalzeit angepasst. Solche angepassten mechanischen Uhren wer-
55 56 57
Schreins in Shizuoka aufbewahrt. http://www.toshogu.or.jp/kt_museum/english/index.html. Vergleiche die Räucherwerksuhr in Abb. 1 aus dem Zeit-Museum von Nara-machi. (Erklärung des Direktors Gotō Akio, 12. 3. 1995). Das Museum ist derzeit geschlossen. Zeitweise waren nur zwei Schiffe pro Jahr zugelassen. Nach dem Bankrott der VOC, 1795, waren das Schiffe der Niederländischen Regierung. Y. Frumer, Translating time in Edo Japan, Science and Culture, 2014, 795–801.
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Abbildung 1: Räuchwerksuhr. Zeit-Museum von Nara-machi. Die kleinen Fähnchen zeigen die Stunde an (Beginn des abgebrannten Räucherwerks ist die sechste Stunde, am Ende ist die fünfte Stunde).
den seit der Meiji-Zeit (1868–1912) als wadokei (wörtlich: japanische Uhren) bezeichnet. Die ersten Modelle solcher wadokei waren europäische Uhren, bei denen die römischen Zahlen am Ziffernblatt mit den zwölf chinesischen Tierkreiszeichen ausgetauscht und die Geschwindigkeit einer Umdrehung halbiert wurde, da eine Drachenstunde ja etwa doppelt so lang ist wie eine westliche. Außerdem wurde das Schlagwerk geändert, um die gewohnte Anzahl an Schlägen, also von vier bis neun Schläge anstelle von eins bis zwölf, wiederzugeben.58 Diese ersten wadokei halfen den Benützer/inne/n zwar, den Zweck der komplizierten mechanischen Geräte zu erfassen, aber die Uhren zeigten nur Mittag und Mitternacht einigermaßen zuverlässig an. Ansonsten stimmte die Uhr nur zur Zeit der Äquinoxe. Die zweite Phase der japanischen Uhrentechnik begann im Laufe des siebzehnten Jahrhunderts und war durch die Einführung einer neuen Mechanik gekennzeichnet. An die Stelle des Ziffernblattes mit einem sich im Mittelpunkt drehenden Zeiger trat ein Ziffernblatt mit veränderbaren Stundenabschnitten, das sich um einen festen Uhrzeiger drehte. Diesen Uhren58
W. Brandes: Alte japanische Uhren, Braunschweig 1976, 59–60.
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typus gab es auch in länglicher Form; ein Zeiger bewegt sich gleichmäßig nach unten, während das längliche Ziffernblatt alle zwei Wochen verändert wird. So konnten die am Ziffernblatt angezeigten Stunden an die Länge des Sonnentages angepasst werden. Vor allem in dieser länglichen Form basiert dieser Uhrentypus offenbar auf dem Prinzip der Räucherwerkuhren. Anstelle des Räucherwerks, das langsam herunterbrennt, bewegt hierbei eine Mechanik einen Zeiger vom einen Ende des Ziffernblattes zum anderen. Gegen Ende des Jahrhunderts ersannen die Schmiede eine Uhr mit einer doppelten Hemmung, eine für den Tag und eine für die Nacht. Sie hatten also einen eigenen Uhrentypus entwickelt, der sich an die variable Zeitdauer anpasste, verwendeten dabei aber das westliche Grundprinzip Spindelhemmung mit Waagbalken.59 Wie die Japanologin Yulia Frumer hervorhebt, lernten die Uhrmacher, Astronomen und Technikbegeisterten durch ihre Auseinandersetzung mit den eingeführten Uhren, wie das westliche Zeitsystem funktionierte. Noch während der Edo-Zeit, verstärkt ab dem Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, wurden darüber hinaus auch immer mehr astronomische und technische Fachbücher eingeführt, meist in niederländischer oder chinesischer Übersetzung, wenn diese auch mangels sprachlichen und/oder fachlichen Wissens schwer verständlich waren, und aufgrund eines päpstlichen Verbotes, ein heliozentrisches Weltbild zu vertreiben, waren die von Jesuiten hergestellten Übersetzungen teils nicht auf dem neuesten Wissensstand.60 Für die allgemeine Bevölkerung waren auch populäre Bücher im Umlauf, die die Uhren erklärten.61 Ab den 1820er Jahren wurde es dann auch modern und schick, unveränderte westliche Uhren mit sich herumzutragen, auch wenn solche nur von Astronomen verstanden und verwendet werden konnten.62 Trotz dieser Kenntnisse und entsprechender Zeitmessgeräte gab es in der Edo-Zeit aber keinen Versuch, Temporalstunden auf Äquinoktialstun59
60 61 62
Eine genaue Darstellung der verschiedenen Uhrentypen und ihrer Mechanismen in deutscher Sprache findet sich in Brandes, 1976, op. cit. In vielen Museen sind Uhren zu finden, insbesondere im Daimyo-Uhren-Museum, Nezu (http://www.japanvisitor. com/japan-museums-art-galleries/daimyo-clock-museum) und im Museum der Firma Seiko (http://museum.seiko.co.jp/en/), beide in Tokyo), im Nara-machi Time Museum, Matsumoto Time-piece Museum (http://matsu-haku.com/guide/tokei/), und Technologisches Museum Tokyo (Ueno Park, Tokyo). Y. Frumer, Before words: Reading western astronomical texts in early nineteenth-century Japan, Annals of Science, 73/2, 2016, 170–194. http://www.kodokei.com/dt_011_1.html. Y. Frumer, 2014, op. cit. 800.
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den zu ändern. Im Gegenteil, die Änderungen geschahen in die umgekehrte Richtung. In den Schriften der Astronomen (die Astronomen des Shoguns und des Kaisers kooperierten in dieser Hinsicht) war bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein Äquinoktialzeit angegeben, da sie sich ja nach den Sternen orientierten. Da aber die Zeitglocken im Alltagsleben Temporalstunden läuteten, führte das vielfach zu Verwirrung. Deshalb entschloss man sich 1844, also neun Jahre vor der Öffnung Japans, die offizielle Tageszeiteinteilung an die Alltagspraxis anzupassen und auch in den Kalendern Temporalstunden als die offizielle Zeit anzuführen.63
Alltagspraxis: Wie spät ist es? Wie sah diese Alltagspraxis im Detail aus? Wer hatte Uhren und wie wussten die Menschen, wie spät es war? Mechanische Uhren waren sehr teuer. Sie waren zunächst hauptsächlich in den Burgen der Daimyo und des Shoguns zu finden. Schon im siebzehnten Jahrhundert sind aber auf zahlreichen Blockdrucken Uhren abgebildet, meist aus Szenen in den Vergnügungsvierteln. Dass die meisten Bilder mit Uhren in den Vergnügungsvierteln entstanden sind, hängt natürlich mit der Tatsache zusammen, dass auf Blockdrucken insgesamt sehr oft Szenen aus den Vierteln und schöne Frauen dargestellt wurden und die exotischen Uhren ein willkommenes Motiv waren, diese Schönheiten interessant zu machen. Andererseits gehörten die Vergnügungsviertel tatsächlich zu den ersten, die sich diese neuen technischen Errungenschaften leisteten, wie ich weiter unten noch ausführen werde. Nach wie vor wurden Stunden mit Hilfe von Glocken öffentlich bekannt gegeben. Neben den Tempeln waren nunmehr aber auch die Burgen oder Stadtbezirke am Verkünden der Stunden beteiligt. In Edo (heute Tokyo) gab es insgesamt zumindest neun städtische Zeitglocken (toki no kane ), als deren älteste die Zeitglocke von Nihonbashi gilt.64 Diese war also in einem Wohngebiet der Händler und Handwerker und deutet auf deren Interesse hin, eine gemeinsame Zeit zu beachten. Die meisten Zeitglocken waren aber in Tempeln, wie etwa in Ueno oder Asakusa, aufgestellt. Als oidashi no kane (Herausläut63 64
G. Leinss, Japanische Lunisolarkalender der Jahre Jōkyō 2 (1685) bis Meiji 6 (1873), Japonica Humboldtiana, 10 (2006), 78. Sawada T., 1996, op. cit., 90; Sakauchi S.: Edo saisho no toki no kane monogatari [Geschichte der ersten Zeitglocke in Edo], Ryūtsū Keizai Daigaku Shuppankai 1999. Yoshimura H., Ōedo toki no kane oto-aruki [Klang-Spaziergänge auf Spuren der Zeitglocken in Groß-Edo], Tōkyō 2002.
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Glocke) bekannt ist die Zeitglocke im Tempel Tenryūji in Shinjuku, die die Samurai in der Residenz der Familie Naitō etwa eine halbe Stunde (ein koku) zu früh aus ihren Schlafstätten riss, damit diese auch pünktlich zum Dienst erschienen.65 Auch am Land blieb die Verkündung der Stunden meist Aufgabe der Tempel. Mancherorts richteten sich kleinere Tempel nach dem Haupttempel und trugen damit die Zeit einigermaßen synchron weiter. Andernorts aber waren die Glöckner auf sich selbst gestellt, was abhängig von ihrer Sehkraft und den Wetterverhältnissen teils zu beträchtlichen Unterschieden geführt hatte. Bisweilen manipulierten sie die Stunden offenbar nach Bedarf. Aber, wie wir auch aus der Meiji-Zeit noch wissen, waren es die Menschen durchaus gewohnt, sich nach unterschiedlichen Zeitangaben zu richten.66 Diese Zeitglocken waren nicht die einzigen Zeitsignale. Einzelne Stadtteile (machi; in Wien etwa mit einem Grätzl vergleichbar) in Edo und anderswo waren durch Tore (kido) getrennt, die während der Nacht, zwischen der vierten Abendstunde (gegen 10 Uhr nachts) und der sechsten Morgenstunde (wenn die Morgenglocke ertönt; im Hochsommer gegen 4 Uhr, im Winter um halb 7), geschlossen und von einem Nachtwächter (kidoban) bewacht wurden.67 Während der Nacht sorgten die Nachtwächter für Sicherheit in ihrem Stadtteil und verkündeten dabei die Stunden. Der deutsche Engelbert Kaempfer, der als Arzt der niederländischen Handelsdelegation von 1690 bis 1692 in Deshima bei Nagasaki lebte und auch Gelegenheit hatte, Japan zu bereisen, beobachtete, dass in Nagasaki Nachtwächter patrouillierten, die „mit zween Höltzern an einander schlagen und mit lautem verdrislichem geklapper ihre wachtsamkeit und die Zahl der Nachtstunden anmelden“.68 Tagsüber war mit den verschiedenen Verkäufern, die rufend ihre Runden drehten und ihre Waren anpriesen, ein gewisser Tagesrhythmus gegeben. Angefangen von Tofu und Natto am Morgen über Fisch, Gemüse und gebratene Süßkartoffel 65
66 67
68
Jinbunsha H., Kiriezu, gendaizu de aruku. Edo Tōkyō sanpō [Spaziergänge in Edo-Tokyo, mit Hilfe von historischen und aktuellen Stadtplänen], Tōkyō: Jinbunsha (= Kochizu raiburarii bessatsu), 98. Goto Akio, Leiter des Zeitmuseums, Nara. 12.3.1995. Sugiura H., Edo no fūryū sanpo [Spaziergänge durch das elegante Edo], Tōkyō 2005, 83. Kikuchi H., Hana no Ōedo fūzoku annai [Einführung zu den Freudenvierteln von Edo], Tōkyō 2002, 141. Originalrechtschreibung. E. Kaempfer, Heutiges Japan, Werke 1/1, Hg. von W. Michel und B. J. Terwiel, München 2001, 226–227. Zit. n. R. Zöllner, Zeit und die Konstruktion der Moderne im Japan des 19. Jahrhunderts, Historische Anthropologie, 11 (2001), 68.
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bis hin zu Nudelsuppe in der Nacht waren ihre Rufe deutlich voneinander unterscheidbar. Da alle in der Nachbarschaft ihre Rufe hörten, waren diese ein brauchbares Mittel, den Tag zu strukturieren, auch wenn die Straßenverkäufer objektiv gesehen nicht jeden Tag genau zur selben Zeit bei der Arbeit waren. Diese Runden waren so regelmäßig, dass gewisse Berufsgruppen und ihre Tätigkeiten – ebenso wie Pflanzen oder Tiere – in bildlichen Darstellungen ikonographisch verwendet wurden, um eine bestimmte Tages- oder Nachtzeit anzudeuten. So stehen der blinde Masseur und der Soba-Verkäufer beispielsweise für Mitternacht. Die Landschaft der Zeit bestand also aus einer Vielzahl und großen Vielfalt von Zeitgebern, innerhalb der sich die Menschen orientierten. Diese Darstellungen deuten auch darauf hin, dass es so etwas wie einen „normalen“ Tagesablauf gab, der aber je nach sozialer Gruppe unterschiedlich war. In der Blockdruckserie „Yoshiwara tokei“ (Die Uhr des Vergnügungsviertels Yoshiwara, 1818) stellt Utagawa Kunisada (auch Toyokuni III, 1786–1865) nicht nur die Tätigkeiten der Kurtisanen während der zwölf Stunden dar, sondern stellt dies in einem kleineren Bild im Zimmer der Kurtisane auch dem Tagesablauf der städtischen Bevölkerung außerhalb der Viertel gegenüber.69
Abbildung 2: Papiersonnenuhr. Aus: http://www.kotono8.com/wiki/近江八景. 69
http://www.kunisada.de/Kunisada-bijin-series/series31/series31.htm. Vgl. C. Segawa Seigle (Hg.), A courtesan’s day: Hour by hour, Amsterdam 2004.
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Hervorzuheben ist, dass während der Edo-Zeit öffentliche Zeitgeber akustisch waren und die Zeit vorwiegend über das Gehör erfahrbar war. Natürlich war die Tageshelligkeit und der Sonnenstand allgemein zu beobachten, aber es gab keine Turmuhren oder ähnliche öffentliche visuelle Zeitgeber. Bei individuellen Messgeräten war dies anders. Neben mechanischen Uhren wurden Sonnenuhren vermutlich zur selben Zeit ebenfalls von Missionaren nach Japan gebracht. Davor war zwar das Sonnenlicht – etwa durch den Hahnenschrei oder das „Handlesen“, wie beschrieben – als Indikator für Tagesbeginn und Ende gesehen worden, es hatte aber keine Messgeräte gegeben, die die „heiteren Stunden“ des Tages angaben. Anders als in Europa gab es aber in Japan keine großen öffentlichen Sonnenuhren, alle bekannten Modelle waren tragbar und für den individuellen Gebrauch bestimmt. Neben wenigen mechanischen Exemplaren waren sie meist aus Papier. Solche einfachen tragbaren Uhren waren offenbar fast universell verfügbar.70 Reiseführern beigefügt ermöglichte das Mitführen einer Uhr es den Reisenden, die Zeit bis zur nächsten Unterkunft zu berechnen, wenn auch nur bei Schönwetter, und in ihren Reisetagebüchern Eintragungen mit Zeitangaben zu machen. In Japan gibt es auch eine lange Tradition des Tagebuchschreibens. Darin sind Stundenangaben zwar nicht unbedingt notwendig, aber gegen Ende der Edo-Zeit finden sich zahlreiche Tagebücher, sowohl von Frauen als auch Männern, die auch z.B. festhalten, um welche Zeit Besuch kommt oder geht. Sogar die Ankunftszeit eines Briefes wurde festgehalten. Das berühmteste Tagebuch mit Stundenangaben ist das des Reisebegleiters vom Dichter Matsuo Bashō.71 Soziale Tätigkeiten – wie die Verkaufsrunden der Händler – strukturierten nicht nur den Tag in den Stadtvierteln, sondern boten auch im Privaten eine Möglichkeit zeitlicher Orientierung. Ein Beispiel aus der Schlafforschung ist das heute nicht sehr gebräuchliche Wort issui, was „ein bisschen Schlaf“ bedeutet. Ursprünglich wurde aber der Wortteil „sui“ nicht mit dem chinesischen Schriftzeichen für „Schlaf“, sondern für „Reis kochen“ geschrieben. Er kommt von einer chinesischen Geschichte aus der Tang-Zeit, in der ein junger Mann unverhofft eingeschlafen war und seinen gesamten Lebenslauf träumte. Als er jedoch vermeintlich im hohen Alter wieder aufwachte, war gerade erst 70
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Frumer, 2014, op. cit., 791–792. W. Brandes, 1976, op. cit., 29. Papiersonnenuhren finden sich im Heimatmuseum von Kempten im Allgäu. Diese wurden von Schäfern benutzt und auf der Alm – außerhalb der Reichweite der Kirchenglocken – verwendet. Siehe etwa das Tagebuch der Nishitani Saku aus dem Jahr 1860. Zit. in Tsunoyama S., Jikan kakumei (Revolution der Zeit), Tokyo 1998, 126–127. oder: Kōsaka J., Genroku otatami bugyō no nikki. Owari hanshi no mita ukiyo, Tōkyō 1984, 11, 12, 19, 174.
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der Reis am Herd fertiggekocht. Diese Geschichte war in Japan sehr bekannt, und etwa ab 1600 wurde dann das „Kochen eines Topfes Reis“ mit „ein bisschen Schlaf“ gleichgesetzt. Issui ist ein Beispiel für eine soziale Zeiteinheit, basierend auf einer allen bekannten Tätigkeit, deren ungefähre Dauer gemeinhin bekannt ist.72 Gleichzeitig ist issui aber auch ein Hinweis auf einen dehnbaren Zeitbegriff; durch das Schlafen bzw. Träumen wird der kurze Zeitraum des Reiskochens über den Zeitraum eines Menschenlebens ausgedehnt.
Haltungen zur Zeit – wie ausgeprägt war das Zeitbewusstsein in der Edo-Zeit? In den japanischen Büchern über vormodernes Zeitbewusstsein, etwa bei Tsunoyama Sakae oder Sawada Taira73, finden wir immer wieder die These, dass die Bevölkerung in der Edo-Zeit ein außergewöhnlich hohes Zeitbewusstsein hatte, wobei üblicherweise auf die genannten Tagebücher von Bashō verwiesen wird. Es gibt aber keine systematische Untersuchung von Tagebüchern. Welche Alltagsdinge wurden von wem und wann festgehalten? Welche Zeit wurde für welche Tätigkeiten beachtet? Gab es Unterschiede zwischen sozialer Schicht, Geschlecht, Alter, Region oder Periode? Und was bedeutet es, ein (ausgeprägtes) „Zeitbewusstsein“ zu haben? Um all diese Fragen im Detail beantworten zu können, ist noch sehr viel Forschung notwendig, was eines der Ziele unseres Forschungsprojektes ist; im folgenden wage ich aber erste Hypothesen. Wie erwähnt waren offenbar mechanische Uhren ebenso wie Räucherwerkuhren in den Freudenvierteln besonders stark verbreitet. In seinem 1682 veröffentlichten Roman Kōshoku ichidai otoko (Ein Mann, der die Liebe liebt) beschreibt Ihara Saikaku die Abenteuer eines Don Juan-ähnlichen Protagonisten. Dieser kauft die Kurtisane Yoshino aus dem Bordell frei, um sie zu heiraten, sie wird aber von den Verwandten abgelehnt. Yoshino kann seine weiblichen Verwandten aber mit ihrer Kultiviertheit beeindrucken, indem sie nicht nur ergreifend singt, Gedichte rezitiert und die Teezeremonie mit viel Grazie zelebriert oder exzellent Go spielt, sondern ihnen auch zeigt, wie 72
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Solche sozialen Zeiteinheiten gibt es auch in anderen Kulturen. Im Englischen etwa die „Paternoster-Weile“ (paternoster while), die Zeitdauer, die es braucht, ein Vaterunser zu beten. Vgl. E.P. Thompson, 1967, op. cit., 56–97. Tsunoyama S., 1998, op. cit., 126. ; Sawada T., 1996, op. cit., 90.
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die Gewichte an einer mechanischen Uhr anzupassen seien.74 Diese Szene ist ein Hinweis darauf, dass die Uhren in den Vergnügungsvierteln tatsächlich früher verbreitet waren als selbst in den wohlhabenden Schichten. Dies kann vielleicht auch damit erklärt werden, dass mechanische Uhren in den Vergnügungsvierteln wohl als Attraktion für die Kunden angeschafft wurden, aber tatsächlich waren die Öffnungs- und Schließzeiten der Vergnügungsviertel relativ streng gehandhabt. Der Alltag in den Vierteln gehörte offenbar zu den zeitlich am stärksten geregelten.75 In den Vergnügungsvierteln finden sich auch die ältesten japanischen Beispiele für einen Stundenlohn. Sexarbeiterinnen niedriger Ränge, quasi Stundenmädchen, wurden nicht für den ganzen Abend vermietet oder nach bestimmten Dienstleistungen bezahlt, sondern nach Zeit. Für die Zeitmessung wurden aber nicht die mechanischen Uhren verwendet; Kunden bezahlten eine bestimmte Menge an Räucherwerk und mussten nach Hause gehen, wenn dieses abgebrannt war.76 Der Begriff jikan (wörtlich „Zeitraum“) ist eine westlich beeinflusste Wortneuschöpfung der Meiji-Zeit, erstmals in den Schulbüchern gebraucht, und auch das Schlagwort von „Zeit ist Geld“ (toki wa kane nari) tauchte erstmals dort auf.77 Das Beispiel der Stundenmädchen zeigt aber, dass sowohl das Messen von Zeitdauer – „Arbeitszeit“ als auch die Gleichsetzung von Zeit mit Geld in der Edo-Zeit bereits Praxis war. Vergnügungsviertel waren also innovativ, und lange vor Einführung westlicher Zeitmodelle gab es damit eine Vorstellung von Zeit als Dauer, der ein bestimmter Wert zugeordnet war. Auch Zeitverschwendung war als Thema bekannt. In einer satirischen Erzählung von Ihara Saikaku etwa beschwert sich ein junger Schuldeneintreiber, dass man ihn warten habe lassen, obwohl er sehr beschäftigt sei und daher zu Schaden gekommen sei.78 In den O-An Geschichten (Oan monogatari, Mitte siebzehntes Jahrhundert), in denen aus der Sicht einer älteren Frau 74 75 76 77
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Zitiert nach Shirane Ha. (Hg.), Early modern japanese literature. An anthology 1600 – 1900, New York 1983, 54. Segawa Seigle, 2004, op. cit. A. Koch, Nightless cities. Timing the pleasure quarters in early modern Japan, Kronoscope in Vorb. (2017) Nishimoto I., Teaching punctuality: inside and outside school, In: Kuriyama S. und Hashimoto T. (Hg.), The birth of tardiness. The formation of time consciousness in modern Japan, (= Nichibunken Japan Review 14), 2002, 126, 129 –130. In einer Kurzgeschichte aus der späten Erzählsammlung Seken Muneyanyō (Weltliches Kopfrechnen, 1692); zitiert nach Shirane, 2002, op. cit, 177.
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der Alltag während der Zeit der Schlacht von Sekigahara (1600) beschrieben wird, den sie als junges Mädchen erlebt hat, schließt die Erzählerin: „Die jungen Leute heutzutage, sie verschwenden ihre ganze Zeit und vergeuden ihr ganzes Geld, sich modisch zu kleiden. Sie sind auch sehr heikel beim Essen. Es ist unbeschreiblich.“79 Der Ausdruck, etwas vergeht so schnell „wie der Pfeil der Zeit“ (kōin’ya no gotoshi), wurde bereits in der Populärkultur des siebzehnten Jahrhunderts verwendet, und so ist deutlich, dass Eile auch in der Edo Zeit kein Fremdwort war.80 Natürlich gab es große Unterschiede im Zeitbewusstsein innerhalb der Bevölkerung. Für Beamte und Kaufleute war es wichtiger, „mit der Zeit zu gehen“, als für Bauern, die weitgehend unabhängig arbeiteten.81 Aber selbst in der Landwirtschaft war der Gedanke, Zeit zu sparen, nicht gänzlich unbekannt, wenn auch der folgende Abschnitt aus dem Nōgyō mōkun (Landwirtschaftliche Unterweisungen, 1840) des Itō Masanari nicht als repräsentativ für das Zeitbewusstsein der Bauern gelten kann, denn die hier dargestellten Kalkulationen sind mir ansonsten nur aus der Meiji-Zeit (1868–1912) oder später bekannt: „Wenn die Bauernfamilie der Armut entkommen will, muss sie mit Zeit sparsam umgehen. Durch Frühaufstehen und Kürzen der Pausen kann man täglich zwei Stunden mehr arbeiten. Das sind 720 Stunden pro Jahr oder 60 Tage. Das sind zwei Monate, in denen kein Essen konsumiert, kein Lohn gezahlt und kein Lampenöl verbraucht wird. … Auf diese Weise kann eine Bauernfamilie der Armut entkommen, sich selbst weiterbringen, die Taten der Ahnen hochhalten und die Nachkommen segnen.“82
Itō Masanari (auch Itō Shōsaku, 1779−1864) war kein Bauer, sondern ein Gelehrter und Landwirtschaftsexperte. Die Idee, die gesparte Zeit durch Frühaufstehen genau auszurechnen und zu addieren, hatte er offenbar aus seiner fremdsprachlichen Lektüre, und sie dürfte für die Bauern schwer nachzuvollziehen gewesen sein. Es ist nicht klar, inwieweit diese Anregung überhaupt rezipiert 79
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O-An war die Tochter von Ishida Mitsunari, der gegenüber Tokugawa Ieyasu in der entscheidenden Schlacht von Sekigahara unterlegen war. Kurze Zeit später wurde Ieyasu Shogun. Zit. n. Shirane, 2002, op. cit. 41. Etwa im Otogi monogatari, in: Shinpen kotenbungaku zenshū (Kanazōshishū), editiert von Oka M., Tōkyō, 562. Vgl. Frumer, 2014, op. cit. 791. Zit. nach T. Smith, Peasant time and factory time in Japan, Past & Present 111 (Mai 1986), 165–197, 167.
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wurde. Sogar Jahrzehnte nach der Öffnung Japans und der Meiji-Restauration war es für die meisten eine befremdliche Idee, dass Zeit zusammengespart werden konnte.83 Mit anderen Zeitkonzepten in seinen Anweisungen waren seine Zeitgenoss/inn/en aber durchaus vertraut. So findet sich Frühaufstehen als eine wichtige Tugend bereits in den ältesten japanischen Quellen. Konfuzianisch beeinflusste Werke verwenden „früh aufstehen und spät zu Bett gehen“ sogar als Metapher für einen tugendhaften Lebensstil.84 Verschwenden von Zeit und Geld war – wie schon erwähnt – ebenfalls ein Thema. Ein Grund, den Kalender und genauen Zeitpunkt zu konsultieren, war offenbar auch, den rechten Zeitpunkt für bestimmte Tätigkeiten auszuwählen. Vergleichbar mit dem Beachten von Horoskop oder Mondphasen spielte der „Weg des Yin und Yang“ (onmyōdō) einschließlich der Beachtung der weiter oben dargestellten Drachenstunden eine große Rolle. Das wurde aus praktischen Gründen in den meisten Fällen nicht so streng gehandhabt wie bei den Adeligen im Altertum, aber in der Edo-Zeit war es offenbar auch für die niederen Schichten wichtig, den Kalender mit seinen Anleitungen für jeden Tag zu beachten, besonders bei wichtigen Ereignissen. Forschungen des Kulturhistorikers Yokoyama Toshio85 haben ergeben, dass von den Haushaltsenzyklopädien, die es in beinahe jedem Dorf gab, vor allem die Seiten über die Bestimmung des besten Zeitpunktes konsultiert wurden. Diese Forschungsergebnisse weisen auf einen möglichen Grund für ein von manchen Wissenschaftler/inne/n konstatiertes hohes Zeitbewusstsein. Die Menschen mussten wissen, zu welchem Zeitpunkt es glücksverheißend war, wichtige Dinge zu tun oder zu unterlassen. Wie oben beschrieben, gab es in der Heian-zeitlichen Literatur die klare Regel, dass sich Liebende nach dem ersten Hahnenschrei trennen mussten. Die Praxis solcher Besuche hatte sich in der Edo-Zeit außer in den Vergnü83
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Kuriyama S., The enigma of ‚time is money‘, In: Kuriyama S. und Hashimoto T. (Hg.), The birth of tardiness. The formation of time consciousness in modern Japan (= Nichibunken Japan-Review 14), 2002, 217–230; K. Schmidtpott, Die Propagierung moderner Zeitdisziplin in Japan, 1906–1931, in: A. Geppert und T. Kössler, Obsession der Gegenwart: Zeit im 20. Jahrhundert, Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 25. Göttingen 2015, 144. Zum Frühaufstehen als Tugend in der japanischen Geschichte siehe B. Steger, Early to rise: Making Japanese healthy, wealthy, wise, virtuous, and beautiful, In: L. Brunt und B. Steger (Hg.), Worlds of sleep, 2008, 211–235; für China siehe A. Richter ibid., 24– 44. Yokoyama T., Die Rolle der Setsuyōshū im Zivilisations- und Kulturprozess, S. Formanek und S. Linhart (Hg.), Buch und Bild als gesellschaftliche Kommunikationsmittel in Japan einst und jetzt, Wien 1995, 85–86.
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gungsvierteln wohl für den Großteil der Bevölkerung geändert, aber das Motiv der morgendlichen Trennung war aus der Literatur wohlbekannt. Der Hahnenschrei konnte aber manipuliert werden. Ein Blockdruck Suzuki Harunobus (circa 1767) etwa stellt ein Liebespaar dar, die noch in der Nacht dem Hahn Sake einflößen, damit er betrunken einschläft und die Sommernacht länger dauert.86 Als Hypothese zum Edo-zeitlichen Zeitbewusstsein möchte ich deshalb vorbringen, dass es offenbar wichtig war, den rechten Zeitpunkt (oder Zeitraum) zu beachten und den verschiedenen Zeitsignalen zu lauschen, allerdings wurde dieser Zeitpunkt individuell gemessen und war deshalb nicht unbedingt synchron. Den Menschen war es bewusst, dass die Zeitsignale auch manipuliert werden konnten, aber sie wurden trotzdem einigermaßen streng eingehalten. Es gab auch ein Verständnis dafür, dass Zeit verschwendet werden konnte. Um den Tag zum Arbeiten ausnützen zu können, aber auch als spirituelles Training zur Einstellungsänderung zum Arbeiten war Frühaufstehen oft das wichtigste. Zeit konnte auch mit Geld aufgewogen werden, wenn auch nur selten Arbeitszeit in Stunden (bzw. Räucherstäbchen) bezahlt wurde.
Die Einführung des Gregorianischen Kalenders und Verbreitung westlicher Zeitkonzepte Wenn während der Edo-Periode Zeit mit Geld bewertet wurde, dann dachte man aber üblicherweise an längere Zeiträume. So wurden beim Geldverleih und Einkommen für Staatsdiener Zinsen und Lohn nach Monaten berechnet. Dabei waren Schaltmonate ein Problem, denn in Schaltmonaten mussten die Schuldner keine Zinsen zahlen, Arbeitgeber aber Löhne.87 Das Problem mit dem Schaltmonat für Entlohnung und Zinsberechnung war ein wesentlicher Grund, warum am 9. Tag des 11. Monat des Jahres Meiji 5 (9. Dezember 1872) fast überfallsartig ein kaiserlicher Erlass erging, wonach der 3. Tag des 12. Monats gleichzeitig der 1. Jänner 1873 sein sollte und damit der Gregorianische Kalender und die westlichen Zeitrechnung übernommen wurden. Die offizielle Begründung war, dass es für den internationalen 86 87
http://ukiyo-e.org/image/mia/8739. G. Leinss, Erläuterung der Kalenderreform von Fukuzawa Yukichi, In: M. Kinski et al., En 縁 – Nexus. Japanische Episoden übersetzt für die Ökumene, Klaus Kracht zu Ehren aus Anlass seiner Emeritierung, Wiesbaden 2013, 134, 136.
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Handel und Verkehr äußerst unpraktisch sei, am Mondkalender festzuhalten, während alle übrigen Länder sich nach dem Sonnenkalender richteten. Aber die Eile hatte noch einen anderen Grund: Die Staatskassen waren leer. Nach dem alten Kalender hätte 1873 einen Schaltmonat gehabt, und für die Beamten wären 13 Gehälter zu zahlen gewesen, was die Staatsausgaben beträchtlich erhöht hätte. Mit der raschen Einführung des Gregorianischen Kalenders sparte sich die Regierung auch die Gehälter für den letzten Monat des Jahres 1872, was wiederum zumindest buchhalterische Einsparungen ermöglichte.88 Die weitreichende Änderung des Kalenders war also in erster Linie eine finanzpolitische Entscheidung zur Budgetkonsolidierung. Es gab zwar verstreut Proteste, da es natürlich auch Verlierer der Reform gab, aber die Änderung führte nicht zu größeren Ausschreitungen. Die Bevölkerung war an Kalenderreformen gewöhnt, wenn die Umstellung auch diesmal radikaler ausfiel.89 In der frühen Meiji-Zeit wurden in kurzer Zeit auch andere weitreichende Reformen verfügt, sodass die meisten Menschen vermutlich nicht einmal Zeit hatten, sich eine Meinung darüber zu bilden, was dieser neue Kalender für sie bedeutete. Sie hatten genug damit zu tun, sich unter den neuen Umständen zurechtzufinden. Für die Mehrheit der Bevölkerung war die größte Umstellung, dass das Neujahr jetzt etwa einen Monat früher stattfand, was beim Bestimmen von geeigneter Zeit für Säen und Pflanzen oder für das Festlegen von traditionellen Feiertagen bisweilen für Verwirrung sorgte. Manche jahreszeitlichen Feste fielen im Jahr der Umstellung aus. Das Argument, dass Japan sich an die „westliche Zeit“ anpassen musste, um wettbewerbsfähig zu sein, und dass es nunmehr einfacher sei, Zinsen und Gehälter gerecht zu berechnen und zu bezahlen, überzeugte die Bevölkerung letztlich. Außerdem verwendeten sie mehrere Jahrzehnte hindurch den alten und neuen Kalender parallel.90 Die Einführung der Siebentagewoche91 und der äquinoktialen Tageszeitrechnung mit dem 24-Stunden-Volltag waren quasi automatisch Teil der Kalenderreform, aber die Regierung versäumte es, diese Umstellung vorzubereiten und die Bevölkerung aufzuklären. Der Gelehrte, Übersetzer und Staatsmann Fukuzawa Yukichi machte sich mit einem kleinen Büchlein daran, 88 89 90 91
R. Zöllner, 2001, 49, 71. Leinss, 2006, op. cit. Zöllner, 2001 op. cit.; Leinss in Vorb. F. Coulmas, Japanische Zeiten: Eine Ethnografie der Vergänglichkeit, Reinbek bei Hamburg 2000, 130–130. Den fünf Elementen (Feuer, Wasser, Holz, Metall und Erde) der Tageszählung wurden der Sonn-tag und der Mon(d)-tag hinzugefügt.
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als „einer aus dem Volk“ das neue Zeitsystem verständlich zu machen. Sein Kairekiben (Erklärung zur Kalenderreform, publiziert am 1. Jänner 1873) wurde ein Bestseller.92 Aber auch wenn die neue Tageszeit offiziell ab sofort galt, brauchte die Umsetzung einige Zeit. Nicht einmal Behörden und Schulen verfügten anfangs über geeignete Uhren. Mit dem Bau von Telegraphenleitungen hatte man erst begonnen,93 und so waren noch über Jahre hinweg die Stundenangaben im Land nicht unbedingt synchron. Bis zumindest in die 1920er Jahre waren Schautafeln im Umlauf, in denen die neuen den alten Stunden gegenübergestellt wurden, um so den Alltag zu erleichtern.94 Andererseits bereitete die Umrechnung des Volltages von 12 Drachenstunden in 24 westliche Stunden keine große Schwierigkeit, zumal die japanische Zeitrechnung auch eine Unterteilung in „halbe Stunden“ kannte. Diese praktische Übereinstimmung war aber kein Zufall. Forschungen weisen darauf hin, dass eine wichtige Wurzel sowohl der westlichen95 als auch der chinesisch-japanischen96 Tageszeiteinteilung in der alt-babylonischen Astronomie in Mesopotamien zu finden ist, dem heutigen Irak. Bei der japanischen Reform der Tageszeiteinteilung handelt es sich daher de facto nicht um eine Verwestlichung, sondern quasi eine Wiederzusammenführung eines Systems, das über Jahrtausende hinweg unterschiedliche Entwicklungen durchgemacht hatte, auch wenn dies den Beteiligten nicht bewusst war. Auch übernahm Japan nicht einfach die Zeitordnungen „vom Westen“, sondern beteiligte sich von Anfang an aktiv an einer Standardisierung der Zeit auf internationaler Ebene. Um 1873 hatten sich die Länder international nicht geeinigt, nach welchem Null-Meridian man sich richten sollte und wo die Datengrenze zu ziehen sei. Nicht einmal Großbritannien richtete sich zu diesem Zeitpunkt einheitlich nach der Greenwich Meantime.97 Auch war nicht einheitlich, ob man sich nun nach den nautischen Tagen (Tagesbeginn ist zu Mittag, was in der Seefahrt einfacher zu berechnen ist) oder zivilen Ta92 93 94 95 96 97
Eine kommentierte deutschsprachige Übersetzung findet sich in G. Leinss, 2013, op. cit., 127−138. K. Yasar, Electrified voices. Media technologies and discourse in modern Japan, Unveröff. Doktorarbeit. Columbia University 2009. http://www.jcwa.or.jp/etc/wadokei.html Dohrn-van Rossum, 1995, op. cit., 24–27. Vgl. D. Pankenier, Did Babylonian astrology influence early Chinese astral prognostication xing zhan shu? Early China 37/1 (2014), 1–13. Der Statutes (Definition of Time) act vom 2. August 1880 legte fest, dass alle Zeitangaben in offiziellen und juristischen Dokumenten in England und Schottland sich auf Greenwich time beziehen. https://www.polyomino.org.uk/british-time/1880c9/.
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gen (Tagesbeginn ist um Mitternacht, wie wir das heute gewohnt sind) richtete, was bisweilen zu Verwirrung sorgte. Die sogenannte Meridiankonferenz im Oktober 1884 in Washington sollte diese Fragen klären. Als Ergebnis einigten sich die Delegierten auf die Empfehlung, die Welt in 24 Zeitzonen einzuteilen. Beim Observatorium von Greenwich bei London sollte der Nullmeridian und die Datengrenze im Pazifik festgelegt werden. Darüber hinaus sollte der Tagesbeginn einheitlich auf Mitternacht festgelegt werden. Interessanterweise war die japanische Regierung die erste, die all diese Empfehlungen per Anfang 1888 gesetzlich umsetzte. In Europa waren hingegen die Interessenskonflikte groß. Zwar hatten sich Großbritannien und die Vereinigten Staaten bereits seit längerem weitgehend auf die Ausrichtung nach der Greenwich Meantime geeinigt, aber bei der Vereinheitlichung des Tagesbeginns auf Mitternacht gab es Widerstände. Erst als 1912 nach dem Untergang der Titanic bekannt wurde, dass bei Informationen über die Lage der Eisberge die Koordinaten teils nach nautischer, teils nach ziviler Tageszeit angegeben worden waren, was zumindest theoretisch zu dieser großen Katastrophe geführt haben könnte (es wurde aber nicht behauptet, dass dies tatsächlich die Unfallursache war), beschlossen die europäischen und die meisten internationalen Regierungen, die Empfehlungen der Meridiankonferenz anzunehmen.98 Die offizielle Übernahme der internationalen Standardzeit verlief in Japan also ohne große Widerstände. Das bedeutet aber nicht, dass die Bevölkerung keine Schwierigkeiten hatte, sich an die neuen Zeitstrukturen zu gewöhnen. Allerdings ist fraglich – und die Forschung dazu muss noch im Detail weitergeführt werden –, ob diese Umstellung für sie schwieriger war als für die Menschen in Europa. Wie der Kulturhistoriker Stephen Kern hervorhebt,99 kam es nicht nur in Japan, sondern auch in Europa zwischen 1880 und 1918 zu grundlegenden Veränderungen im Raum- und Zeitgefühl. Die Veränderungen der Zeitordnungen in Japan während dieser Periode erscheinen auf den ersten Blick radikal, sie konzentrierten sich aber zunächst auf die „modernen“ Lebensbereiche und blieben auf Schulen, Fabriken, Militär, 98
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http://www.thegreenwichmeridian.org/tgm/articles.php?article=10. Japan hatte seit 1910 die koreanische Halbinsel besetzt und passte dort 1912 die Zeit ebenfalls an Greenwich Zeit an, wobei Korea Teil derselben Zeitzone wie Japan wurde. Per 15. August 2015, zum 70. Jahrestag der Kriegsniederlage Japans, hat nun Nordkorea beschlossen, seine Uhren um einen halbe Stunde zurückzudrehen und „Pjöngjang Zeit“ einzuführen. Vgl. North Korea welcomes new time zone to break from ,imperialism‘, BBC 14 August 2015, http://www.bbc.co.uk/news/world-asia-33942111. S. Kern, The Culture of Time and Space 1880–1918, Cambridge, MA, London.
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Eisenbahnen und das Radio (ab 1925) beschränkt. Man könnte daraus schließen, dass diese Zeitordnung integraler Bestandteil dieser modernen Institutionen war.100 Andererseits macht aber vor allem auch die Kampagne des Erziehungsministeriums zur Erhöhung des Zeitbewusstseins der Bevölkerung in den 1920er Jahren deutlich, dass die Behörden noch lange der Meinung waren, dass sich die Bevölkerung noch ungenügend an das moderne Zeitbewusstsein angepasst hatte. Interessanterweise griffen sie dabei aber auf vormoderne Tugenden wie Frühaufstehen und Vermeidung von Zeitverschwendung zurück.101
Landschaften der Zeit im vormodernen Japan – Hypothesen und Fragen Zusammenfassend können wir die Entwicklung, wie Japaner/innen ihre Zeit über die Jahrhunderte hinweg koordinierten und kontrollierten, folgendermaßen skizzieren: Ab dem siebenten Jahrhundert gab es prinzipiell zwei Zeitordnungen, beide aus China importiert, die von unterschiedlichen Machtzentren ausgingen: das Drachenstundensystem durch die Astronomen des Tenno-Palastes sowie das liturgische Stundensystem der buddhistischen Tempel. Zeitmessgeräte waren Wasseruhren, Sternenbeobachtungen und Räucherwerk; die Stunden konnten also nur von wenigen festgestellt werden, wurden aber im Yin-Yang-Institut des Palastes sowie von Tempeln mit Hilfe von Glocken verkündet, wodurch sie auch für die Menschen aus der Umgebung erfahrbar wurden. Die zeitlichen Ordnungen gingen also von unterschiedlichen Orten aus und beeinflussten jeweils nur bestimmte Lebensbereiche. Darüber hinaus wurden aber auch Zeitsignale aus der Natur – wie Vogelstimmen, Pflanzenphasen – und soziale Tätigkeiten beachtet, um sich im täglichen Leben zu orientieren und zu wissen, wie „spät“ es war. Dieses Wissen gab den Menschen Handlungsanleitungen, wobei vor allem beim Adel für viele Tätigkeiten sehr wichtig war, sich nach der Zeit zu richten. Die Staatsdiener durften sich bei der Arbeit nicht verspäten und Liebende mussten sich beim ersten Hahnenschrei trennen. 100
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Zu den Änderungen im japanischen Zeitbewusstsein nach der Einführung des Gregorianischen Kalenders siehe Kuriyama S. and Hashimoto T., The birth of tardiness. The formation of time consciousness in Modern Japan (= Nichibunken Japan Review 14), 2002 eds., Nishimoto I., 1997 und 2002, op. cit., R. Zöllner, 2001, F. Coulmas, 2000, op. cit., K. Schmidtpott, 2015, op. cit. K. Schmidtpott, 2015, op. cit.
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Ab dem 12. Jahrhundert kam es zum Niedergang des Yin-Yang-Instituts und der politischen Macht des Tenno. Drachenstunden wurden beibehalten, finden in der Literatur aber wenig Erwähnung. Die Tempel hatten die Tätigkeiten der Mönche und Nonnen weitgehend koordiniert, meist mit Hilfe von Räucherwerkuhren. Im Mittelalter hatten die Tempel über die klösterliche Gemeinschaft hinaus auch einen Einfluss auf den Rhythmus der Bevölkerung aus der Umgebung, aber in den Quellen sind kaum Angaben zur Tageszeit zu finden, meist beschränkten sich die Zeitangaben auf das Läuten der Abend- oder Morgenglocke. Der Wille, den Tagesablauf im Detail zu strukturieren, war etwa um 1500 bei den Militärmachthabern, wie etwa Hōjō Soun, vereinzelt erkennbar. Sie verstanden offenbar, dass die Kontrolle über die zeitliche Ordnung sehr eng mit der sozialen Kontrolle verbunden war. Zu dieser Erkenntnis waren sie bereits Jahrzehnte vor Einführung der ersten mechanischen Uhren aus Europa gekommen. Äquinoktialzeit messende Uhren mit Schlagwerk waren also wohl nicht zufällig ein beliebtes Geschenk der Europäer, um Zugang zu Handel und Missionierung zu erhalten, sondern es bestand aktives Interesse an diesen Zeitmessgeräten. Andererseits sah offenbar niemand die Notwendigkeit oder den Bedarf, die Zeitstrukturen im Alltagsleben an die Äquinoktialzeit anzupassen. Aus Dohrnvan Rossums Befund, dass die Einführung der mechanischen Uhren eine wichtige Voraussetzung für eine alle Bereiche des privaten und sozialen Lebens durchdringende Reglementierung war (siehe Beitrag Dohrn-van Rossum in diesem Band), kann nicht der theoretische Schluss gezogen werden, dass die Erfindung der mechanischen Uhrenwerke quasi automatisch zur Übernahme einer äquinoktialen Tageszeiteinteilung führt. Anders als in Europa verhalfen die mechanischen Uhren in Japan nicht, ein Äquinoktialstundensystem durchzusetzen, obwohl die Astronomen – sowohl des Tenno als auch des Shoguns – diese Äquinoktialstunden beachteten. Im Gegenteil änderten die Uhrmacher die Uhren dahingehend, dass sie Temporalstunden angaben. Mehr noch, 1844 führten die Astronomen sogar offiziell ein Temporalstundensystem ein. Während der Edo-Zeit nahm die Bedeutung von Uhren, Zeitglocken und Drachenstunden zu. Die Tagesabläufe der Bevölkerung, vor allem in den Städten, wurden mehr und mehr zeitlich strukturiert und geregelt. Verschiedene Zeitglocken, Vogelstimmen und Pflanzenzyklen sowie das kontrollierte Öffnen und Schließen der Stadtteiltore gaben klare, allgemein beachtete Zeitsignale. Darüber hinaus waren Zeitstrukturen sozialer Tätigkeiten wie die regelmäßigen Runden der Straßenverkäufer oder zeitliche Abläufe be-
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stimmter Tätigkeiten Teil der Landschaften der Zeit. Die Menschen waren daran gewöhnt, verschiedene Zeiten und vor allem akustische Zeitsignale zu beachten. Die Edo-Zeit war allerdings auch durch eine stabile politische Situation gekennzeichnet, und so ist anzunehmen, dass nicht nur die zeitlichen Strukturen die politische Ordnung unterstützt haben, sondern auch umgekehrt die stabilen politische Strukturen es ermöglicht haben, dass der Tagesrhythmus für die meisten Menschen in geregelten Strukturen verlief. Die Einführung des Gregorianischen Kalenders zu Beginn der Meiji-Zeit bedeutete zwar theoretisch eine radikale Änderung des Systems, im Alltag fiel diese Änderung aber offenbar weit weniger radikal aus. Die Menschen waren es gewohnt, eine Reihe von – teils nicht sehr synchron verkündeten – akustischen Stundenangaben zu beachten, und es dürfte wohl auch keine unüberwindliche Hürde gewesen sein, sich nach den Glocken und Sirenen der sich etablierenden öffentlichen Schulen, Fabriken oder Eisenbahnen zu richten. Obwohl das Argument damals oft war, man müsse den Westen einholen und seine Ordnungen übernehmen, ging es bei dem neuen Zeitsystem nicht so sehr um eine Verwestlichung als um eine internationale Standardisierung von Zeitordnungen, wobei Japan teils eine Vorreiterrolle einnahm. Vorläufig können wir den vorsichtigen Schluss ziehen, dass für viele Tätigkeiten es zwar klare Vorstellungen von einem angemessenen Zeitpunkt/Zeitraum gab, wann diese durchzuführen seien. Mit Hilfe von einer Vielzahl an – mehrheitlich akustischen – öffentlichen Zeitgebern und privaten Zeitmessgeräten waren die Menschen sich dieser Stunden auch bewusst. Gleichzeitig war dieser Zeitpunkt/Zeitraum aber nicht unbedingt objektiv feststellbar, sondern wurde individuell gemessen und konnte auch manipuliert werden. Die Einschätzung der zeitbezogenen Tugenden in Bezug auf ihre Umsetzung im Alltagsleben im vormodernen Japan steht derzeit noch auf einer sehr bruchstückhaften empirischen Basis. Wir finden Hinweise auf ein Pünktlichkeitstraining für Staatsdiener schon seit dem Altertum, es ist aber unklar, was es bedeutete, pünktlich zu sein, oder was passierte, wenn jemand sich verspätete oder jemanden warten ließ. Die Forderungen nach Frühaufstehen, die Zeit nicht zu verschwenden oder ohne Unterlass tätig zu sein, sind in der Literatur wesentlich prominenter. Wozu Zeit in welcher Gesellschaftsschicht verwendet oder verschwendet werden durfte oder sollte, wissen wir ebenfalls nur in Ansätzen; die Erforschung wird uns noch viele Jahre beschäftigen. Eines ist aber sicher: Die Landschaften der Zeit im vormodernen Japan waren genauso von Machtverhältnissen, sozioökonomischen Notwendigkeiten und Werthaltungen geprägt, wie sie das heute sind.
Zeit und Arbeit: Von der sozialen Beschleunigung zu den beschleunigten Arbeitswelten Christian Korunka1
Zusammenfassung Arbeit und Zeit stehen in einer engen Beziehung. Während wir arbeiten, „verbrauchen“ wir Lebenszeit, die uns vielleicht erfüllt, aber möglicherweise in anderen Bereichen fehlt. In diesem Beitrag werden einige grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis von Arbeit und Zeit angestellt. Ein Schwerpunkt liegt dabei in einer Analyse der Veränderungen der letzten Jahrzehnte, die unter dem Begriff der „Sozialen Beschleunigung“2 zusammengefasst werden können. Es finden sich auch empirische Hinweise darauf, dass sich Arbeit intensiviert und die Belastungen an vielen Arbeitsplätzen steigen. Dazu werden einige Ergebnisse eigener Studien präsentiert. Die Intensivierung von Belastungen in der Arbeitswelt kann sich negativ auswirken, beispielsweise in einer Zunahme von Burnout. Grundsätzlich ist jedoch festzuhalten, dass Arbeit immer auch das Potential für positive Auswirkungen auf das Individuum besitzt. Bei Veränderungen in der Arbeitswelt stellt sich daher immer wieder die Frage nach Bewertungskriterien, um positive Potentiale bzw. mögliche negative Effekte verstehen zu können und um rechtzeitig positiv gestalterisch zu reagieren. Eine bedürfnisorientierte Arbeitsgestaltung bildet die Grundlage für hohe Produktivität und eine hohe Qualität des Arbeitslebens.
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2
Univ.-Prof. Dr. Christian Korunka, Institut für Angewandte Psychologie: Arbeit, Bildung Wirtschaft, Fakultät für Psychologie der Universität Wien (christian.korunka@ univie.ac.at). – Dieser Beitrag entstand mit Unterstützung des FWF-Projekts P22661. H. Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt am Main 2005.
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Vorbemerkung: Die beiden Seiten der Arbeit Ein wissenschaftliches Verständnis von Arbeit basiert immer auf einem spezifischen Menschenbild.3 Wenn man sich mit den Zusammenhängen von Arbeit und Zeit beschäftigt, ist es daher als Vorbedingung unerlässlich offenzulegen, wie Arbeit hier zu verstehen ist bzw. welches Menschbild der Betrachtung zugrunde liegt. In den folgenden Ausführungen geht es vor allem darum was Arbeit psychologisch bedeutet. Dazu hat Kurt Lewin4 bereits vor knapp 100 Jahren eine treffende Beschreibung abgegeben. Er spricht davon, dass Arbeit dem Einzelnen mit „Zwei Gesichtern“ entgegentritt. Arbeit ist einerseits Mühe, Last und Kraftaufwand. Diese Seite der Arbeit ist nach Lewin unentbehrliche Voraussetzung zum Leben, aber sie selbst ist noch nicht das wirkliche Leben. Dieses „wirkliche Leben“ ist die andere Seite der Arbeit. Arbeit ist ein hoher intrinsischer Wert, sie schafft Sinn und Freude und bildet die Grundlage für Selbstentfaltung. Bei der Bewertung von Arbeit ist daher zu berücksichtigen, inwieweit einerseits ihre Rahmenbedingungen eine optimale Ausübung der Tätigkeiten ermöglicht und inwieweit die Inhalte der Arbeit selbst zu Freude und Sinnstiftung im Leben beitragen. Andererseits ist daran zu erinnern, dass gesellschaftliche Vorstellungen das Bild der Arbeit stark beeinflussen. Im Taylorismus bzw. Fordismus5 wird Arbeit als rational gestaltbar und der Mensch als Teil eines industriellen Systems betrachtet. Die problematischen Auswirkungen eines derartigen Verständnisses von Arbeit wurden bereits 1933 von Charlie Chaplin im Film „Modern Times“ verdeutlicht. Der arbeitende Mensch wird hier dargestellt als getrieben von den Maschinen und ohne jegliche Gestaltungsmöglichkeit. Dieses Bild der Arbeit gilt zwar als überholt; die moderne Arbeitswelt in einer postindustriellen Gesellschaft hat allerdings erneut das inhärente Potential für ein derartiges dehumanisiertes Verständnis von Arbeit. Eine Betrachtung der Beziehungen von Arbeit und Zeit muss daher auf einem kritischen Blick auf die vorherrschenden Menschenbilder in der modernen Arbeitswelt basieren.
3 4 5
E. Ulich, Arbeitspsychologie. Zürich 2011. K. Lewin, K. Die Sozialisierung des Taylorsystems. Eine grundsätzliche Untersuchung zur Arbeits- und Berufspsychologie. In: Praktischer Sozialismus 4 (1920) 3–36. B. Doray, From Taylorism to Fordis. London 1988.
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Arbeit und Zeit Das herkömmliche Zeitmodell der Arbeit beschreibt treffend der populäre Begriff „9/5“. In vielen Tätigkeitsfeldern war (ist) der Arbeitsalltag klaren und regelmäßigen zeitlichen Abläufen unterworfen. Ein typischer herkömmlicher Arbeitstag beginnt zu jeweils gleichen Zeiten um etwa 9 Uhr und endet um 17 Uhr. Dazwischen liegt eine geordnete Pausenstruktur mit regelmäßiger Mittagspause. Über fünf Arbeitstage verteilt resultiert daraus eine etwa 40-stündige Arbeitswoche. Die Lebensarbeitszeit beginnt nach der Ausbildung und endete in vielen Fällen vor dem gesetzlich vorgesehenen Pensionseintrittsalter. In Relation zu einer durchschnittlichen Lebenserwartung von etwas über 80 Jahren bedeutet dies, dass wir rund 10% unserer Lebenszeit arbeiten. Während diese Gesamtrelation in den letzten Jahrzehnten weitgehend stabil bleibt, haben sich gleichzeitig zeitliche Aspekte in der modernen Arbeitswelt deutlich verändert. Aufgrund von veränderten Ausbildungen, längeren Lebenserwartungen und der daraus resultierenden Pensionsproblematik arbeiten viele Menschen in der westlichen Welt um einige Jahre länger, als dies noch vor einigen Jahrzehnten der Fall war. Gleichzeitig sind Tendenzen zur Verringerung von Arbeitszeiten (Teilzeitarbeit), aber auch zu zeitlich verlängerten Arbeitszeiten (beispielsweise im Rahmen sogenannter „All-In“-Verträge) zu beobachten. Häufig wird in diesem Zusammenhang auch von einer Polarisierung der Arbeitszeit gesprochen.6 Solche Polarisierungen können beispielsweise innerhalb von Partnerschaften, zwischen Männern und Frauen, zwischen Älteren und Jüngeren, aber insbesondere auch zwischen Gruppen unterschiedlicher Qualifikation stattfinden. Im deutschsprachigen Raum werden bei höher qualifizierten oft längere Arbeitszeiten registriert, während geringer qualifizierte oft geringere Arbeitszeiten haben. Eine wichtige Rolle in diesem Zusammenhang spielt das Phänomen der „Leiharbeit“, die im Extremfall auch „Arbeit auf Abruf“ sein kann, was nicht nur zu zusätzlichen Belastungen aufgrund der damit verbundenen Unsicherheit führt, sondern auch, beispielsweise Zeiten schlechter Wirtschaftsentwicklung, zu verringerter Arbeit mit allen damit verbundenen negativen Folgen. Verschärft werden die Auswirkungen zeitlicher Veränderungen durch die zeitliche und räumliche Entgrenzung der Arbeit. Aufgrund der technischen Möglichkeiten moderner Informations- und Kommunikationstechnologi6
Vgl. z.B. H. Seifert, Arbeitszeit – Entwicklungen und Konflikte. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 04–05 (2007), 17–24.
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en ist es an immer mehr Arbeitsplätzen möglich, zu weitgehend beliebigen Zeiten und an verschiedenen Orten zu arbeiten. Diese neue Form der Arbeit wird als „blended working“7 oder als „New ways of working“8 bezeichnet. Derartig „entgrenzte“ Arbeit bietet einerseits viele Möglichkeiten zur individuellen Gestaltung der Arbeit, kann aber gleichzeitig auch zu neuen Belastungen führen. Seit der Einführung von Telearbeitsplätzen, bereits in den 1980er Jahren, wurden zahlreiche Studien zu den Auswirkungen dieser Arbeitsform durchgeführt. Die Studien zeigen, dass Telearbeit, in Abhängigkeit von unterschiedlichen Merkmalen der Tätigkeit, hohes Potential für sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf Wohlbefinden, Gesundheit und Produktivität haben kann. Mit den „New ways of working“ entstehen nun neue Formen und Möglichkeiten der Entgrenzung der Arbeit, die sich auch für eine steigende Zahl von Arbeitsplätzen umsetzen lassen. Zeitliche Aspekte der Arbeit unterscheiden sich sowohl auf nationaler bzw. kultureller Ebene, als auch über längerfristige Entwicklungen hinweg. Beispielsweise unterscheidet sich sogar innerhalb der Europäischen Union die durchschnittliche Jahresarbeitszeit in den Mitgliedsländern um rund 15%. Frankreich liegt mit rund 1500 Stunden Jahresarbeitszeit am unteren Ende der Bandbreite, während in Großbritannien rund 1700 Stunden jährlich gearbeitet werden. Österreich und Deutschland liegen hier in etwa in einem mittleren Bereich von ca. 1650 Stunden.9 In diesem Zusammenhang sollte auch daran erinnert werden, dass derartige Arbeitszeiten in den westlichen Ländern seit rund einem halben Jahrhundert weitgehend konstant sind. Während die mittlere Arbeitszeit am Beginn des 20. Jahrhunderts noch rund 60 Stunden pro Woche betrug (im Jahrhundert davor oft sogar noch länger!) hat sich die 40-Stunden Woche in den frühen 1960er Jahren auch auf gesetzlicher Basis durchgesetzt. Seit damals sind nur noch geringe Reduktionen der Wochenarbeitszeit zu beobachten, wobei in den letzten Jahren erstmals auch wieder geringe Zunahmen, zumindest in einigen Bereichen, zu verzeichnen sind. Zunahmen der Arbeitszeit können zumindest teilweise auf steigende persönliche Ansprüche und Bedürfnisse zurückgeführt werden. So zeigen Ver7 8 9
N. W. Van Yperen, E. F. Rietzschel, K. M. M. De Jonge, Blended Working: For Whom It May (Not) Work. In: PLoS ONE 9 (2014). L. L. ten Brummelhuis, A. B. Bakker, J. Hetland, L. Keulemans, Do new ways of working foster work engagement? In: Psicothema 24 (2012), 113–120. OECD, Hours Worked: Average annual hours actually worked. In: OECD Employment and Labour Market Statistics (database) (2014).
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laufsanalysen von Einschätzungen zu Verdienst und Arbeitszeit in den repräsentativen Sozio-ökonomischen Panel (SOEP)-Datensätzen10, dass ein höheres Ausmaß von Arbeitszeit (nicht unerwartet) auch mit einem höheren Einkommen in Verbindung steht. Für die Veränderungen in den Arbeitszeitstrukturen und die möglichen Intensivierungen von Arbeitsbelastungen bedeutsamer sind jedoch gesellschaftliche Entwicklungen der letzten Jahrzehnte.
Arbeit im Wandel – ein kurzer historischer Abriss Einer der großen relevanten Entwicklungsprozesse für die Veränderungen der Arbeitswelt im letzten Jahrhundert war der Übergang einer vorwiegend produktionsorientierten Arbeitsweise zur Wissensarbeit bzw. zu neuen Formen der Dienstleistungen. Soziolog/innen vergleichen das Ausmaß dieser Veränderungen hinsichtlich quantitative und qualitativer Veränderungen mit der Transformation von der Agrar- zur Industriegesellschaft bereits einige Jahrhunderte zuvor.11 Der Wandel von der Industrie- zur Wissensarbeit hat innerhalb nur einiger Jahrzehnte des letzten Jahrhunderts stattgefunden; er hatte zahlreiche Auswirkungen. So bildeten beispielsweise materielle Ressourcen und Produktionsmittel eine wesentliche Grundlage für die Industriearbeit, während im Bereich der Dienstleistungen Wissen eine zunehmende Bedeutung erlangt. Industrielle Massenproduktion wurde von Kleinserien- und „Just in time“ Produktion abgelöst. Für die hier behandelte Thematik der Relation von Zeit und Arbeit relevant ist die Ablösung einer oft rigiden Arbeitsteilung und standardisierten Prozessabwicklung durch flexibilisierte Strukturen und Prozesse. Dezentralisierung und De-hierarchisierung begleiten diese Entwicklungen, die eine wesentliche Basis für die zeitlichen Flexibilisierungsprozesse der letzten Jahrzehnte bilden. In diesem Zusammenhang sollte es nicht unerwähnt bleiben, dass der Wandel von der Industrie- zur Wissensarbeit auch in zeitlichem Zusammenhang mit der Ausbreitung des Neoliberalismus steht, der ebenfalls massive Auswirkungen auf die Arbeitswelt hat. Im Primat der freien Märkte treten Formen der gesellschaftlichen Absicherung in den Hintergrund, was sich auch insbesondere in der Arbeitswelt zeigt. Die Entwicklung der Globalisierung spielt hier ebenfalls eine große Rolle. Die rasch zunehmende Internationalisierung von Märkten hat einen wach10 11
Sozio-ökonomisches Panel (SOEP), Daten für die Jahre 1984–2014, Version 31, 2015. G. Kneer, A. Nassehi, M. Schroer, Soziologische Gesellschaftsbegriffe. Stuttgart 2000.
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senden Wettbewerb auf staatlicher Ebene zur Folge, der sich letztlich als eine Zunahme des Konkurrenzdrucks in allen wirtschaftlichen Bereichen niederschlägt. Durch Deregularisierungsprozesse kommt es zu einem verschärften Wettbewerb der Sozialstaaten und letztlich zu einer massiven Reduktion sozialer Leistungen und Absicherungen. Diese Prozesse werden durch die rasch entwickelte und umfassende weltweite Vernetzung zwischen Unternehmen und Personen, bedingt durch die technischen Möglichkeiten von modernen Informations- und Kommunikationstechnologien, weiter beschleunigt. Auf den globalisierten Märkten ist gleichzeitig eine Zunahme unerwarteter Marktentwicklungen (Wirtschaftskrisen) zu beobachten. Für Personen in der Arbeitswelt bedeuten all diese Entwicklungen eine Zunahme von direkter Konkurrenz (mit all ihren positiven, aber auch negativen Konsequenzen) und eine z.T. drastische Zunahme von Verunsicherung. Der deutsche Philosoph Hermann Lübbe fasst solche Phänomene unter dem Begriff der „Gegenwartsschrumpfung“ zusammen. Dieser Begriff „… konzeptionalisiert den Vorgang fortschreitender Verkürzung […] des Zeitraums, für den wir in einer dynamischen Zivilisation mit einigermaßen konstanten Lebensbedingungen rechnen können“.12 Eine weitere Ursache für dieses Phänomen sieht Hermann Lübbe in den steigenden Innovationsraten in Forschung, Entwicklung und Produktion, die sich beispielsweise in der abnehmenden „Halbwertszeit“ der wissenschaftlichen Literatur (also der Veralterungsrate von Forschungsliteratur in Abhängigkeit der forschungspraktischen Innovationsdynamik), aber auch in den verkürzenden Produktlebenszyklen, bedingt durch die raschen technologischen Neuerungen und den Steigerungen des Tempos der Distribution neuer Erkenntnisse über neue Formen von Informations- und Kommunikationstechnologien, ausdrücken. Damit in enger Beziehung steht das Phänomen der „Zukunftsexpansion“13. Gemeint ist damit, dass eine Zukunft, in der wir mit veränderten Lebensverhältnissen rechnen müssen, der Gegenwart immer rascher näher rückt. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Zukunft der Gegenwart gleicht, wird geringer, und damit auch die Zukunft undurchschaubarer. Gleichzeitig weiten sich die Zukunftszeiträume, auf die wir unser gegenwärtiges Handeln und Entscheiden beziehen müssen, rasch aus. All dies ist von einer subjektiven Zunahme von Verunsicherung begleitet. Interessant in diesem Zusammenhang ist übri12 13
H. Lübbe, Zeit-Erfahrungen: sieben Begriffe zur Beschreibung moderner Zivilisationsdynamik. Mainz 1996, 12. Ibid.
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gens, dass seit den Veröffentlichungen von Hermann Lübbe vor rund 20 Jahren weitere Beschleunigungsprozesse in diesen Phänomenen zu verzeichnen sind. Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht erstaunlich, dass die Überlegungen zur „sozialen Beschleunigung“ von Hartmut Rosa14 auf ausgesprochen hohe Resonanz in Wissenschaft und Gesellschaft gestoßen sind. In seinem umfassenden Konzept beschreibt er drei zusammenhängende Aspekte sozialer Beschleunigung in spätkapitalistischen Gesellschaften: Technische Beschleunigung: Darunter versteht Rosa15 die intentionale, zielgerichtete Beschleunigung von Prozessen, wie z.B. die Steigerung der Transport-, Kommunikations- und Produktionsgeschwindigkeiten. Ein markantes Beispiel für technische Beschleunigung ist die Veränderung von (sehr langsamer) Kommunikation mittels Postkarte und Brief hin zur extrem schnellen E-Mail Kommunikation innerhalb nur weniger Jahrzehnte. Beschleunigung des sozialen Wandels: Darunter versteht Rosa16, mit Bezugnahme auf Lübbe17, die Steigerung der Verfallsraten von Praxisformen, Normen, Erwartungen und Beziehungsmustern. Ein Beispiel dafür ist die Zunahme von notwendigen Lernprozessen aufgrund rascher technologischer Entwicklung. Beschleunigung des Lebenstempos: Unter dieser Facette der sozialen Beschleunigung subsummiert Rosa18 die Steigerung der Handlungs- bzw. Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit. In der Arbeitswelt sind in diesem Zusammenhang objektive Veränderungen, wie z.B. die (messbare) Erhöhung der Handlungsgeschwindigkeit, und die Verringerung von Pausen, aber auch subjektiv erlebte Phänomene wie z.B. Einschätzungen der Zunahme von Zeitnot und Zeitdruck, sowie die Angst, mit Veränderungsprozessen nicht mehr mitzukommen, zu nennen. Die technische Beschleunigung ist in vielen Fällen auch die Ursache für die beiden letztgenannten Facetten der sozialen Beschleunigung. Eine Folge des sozialen Wandels in der Arbeitswelt ist, dass arbeitende Menschen aufgrund fehlender Vorgaben und des Rückgangs von sozial ab14 15 16 17 18
H. Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main 2005. Ibid. Ibid. H. Lübbe, Zeit-Erfahrungen: sieben Begriffe zur Beschreibung moderner Zivilisationsdynamik. Mainz 1996. H. Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main 2005.
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sichernden Rahmenbedingungen in ihren arbeitsbezogenen Entscheidungen auf sich selbst zurückgeworfen werden. Arbeitnehmer/innen müssen vermehrt Verantwortung über die zeitliche und räumliche Rahmenbedingungen, Wege der Zielerreichung in der Arbeit, aber auch für ihre eigene soziale Absicherung übernehmen. Voß und Pongratz19 formulieren in diesem Zusammenhang den Begriff des „Arbeitskraftunternehmers“, also einer neuen Form der arbeitenden Person, die sich durch Selbstkontrolle im Sinne der verstärkten selbständigen Planung, Steuerung und Überwachung der eigenen Tätigkeit, Selbstökonomisierung im Sinne einer zunehmend aktiv zweckgerichteten Produktion und Vermarktung der eigenen Fähigkeiten und Leistungen auf dem Arbeitsmarkt, aber auch innerhalb der Unternehmen, und Selbstrationalisierung im Sinne der wachsenden bewussten Durchorganisation von Alltag und Lebensverlauf und der Tendenz zu Verbetrieblichung ihrer eigenen Lebensführung, beschreiben lässt. All diese Veränderungen führen auch zu neuen Anforderungen an das Individuum in der Arbeitswelt. Der französische Psychiater Alain Ehrenberg20 spricht in diesem Zusammenhang vom „erschöpften Selbst“, wenn die herkömmlichen Vorgaben von Disziplin und Gehorsam durch persönliche Initiative, Flexibilität und Verantwortung abgelöst werden und wenn sich aus dem Gefühl der Schuld (beispielsweise durch die Verletzung oder Nicht-Einhaltung von externen Vorgaben) das Gefühl der Unzulänglichkeit (beispielsweise durch die Unmöglichkeit, den ständig wachsenden Anforderungen in vielen Alltagsbereichen) entwickelt. So betrachtet sind Depression, Erschöpfung und Burnout nur logische Folgen einer sich im raschen Wandel befindlichen Arbeitswelt.
Die neuen Anforderungen in der Arbeitswelt In dem im Jahr 2012 gestarteten Forschungsprogramm „Arbeit im Wandel“ untersuchen wir neue Anforderungen in der Arbeitswelt und deren Auswirkungen auf das Wohlbefinden und die Motivation von Mitarbeiter/innen. Wesentliche Teile dieses Forschungsprogramms wurden durch ein Projekt 19 20
H. J. Pongratz, G.G Voß, Arbeitskraftunternehmer: Erwerbsorientierungen in entgrenzten Arbeitsformen, Berlin 2003. A. Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst: Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt/Main 2004 (Orig.: La fatigue d‘ être soi – dépression et société, Paris 1998).
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des Österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF, Projekt: „Auswirkungen sozialer Beschleunigungsprozesse in der Arbeitswelt“) gefördert. In einem ersten Schritt in diesem Projekt erfolgte auf der Grundlage theoretischer Überlegungen die operationale Definition neuer Anforderungen in der Arbeitswelt als Folge des sozialen Wandels. Es konnten drei voneinander abgrenzbare Aspekte neuer Anforderungen formuliert werden.21 Die drei Aspekte können als direkte Folge der Beschleunigung des sozialen Wandels und der Beschleunigung des Lebenstempos beschrieben werden: Arbeitsintensivierung: Darunter wird eine Zunahme der wahrgenommenen Intensität der Arbeit verstanden. Merkmale von Arbeitsintensivierung sind beispielsweise eine Zunahme von Zeitdruck, das Erfordernis, immer rascher zu arbeiten oder die Zunahme von knappen (und letztlich unerreichbaren) Deadlines. Im Sinne des Challenge /Hindrance-Frameworks von Stressoren22 ist Arbeitsintensivierung als ein „Hindrance“-Stressor zu verstehen, der in der Regel als belastend erlebt wird. Intensiviertes Lernen: Damit wird die ständige Zunahme und das vermehrte Erfordernis nach Lernen in der Arbeitswelt beschrieben. Dazu zählt einerseits die laufende Aktualisierung von (Fach-)wissen und andererseits auch die ständige Erfordernis der Aneignung von neuen Fähigkeiten. Intensivierte Lernanforderungen sind als „Challenge“-Stressoren zu bezeichnen, da sie zwar belastend sein können, aber gleichzeitig mit einer Zunahme der Arbeitsmotivation einhergehen. Intensivierte Autonomieanforderungen: Autonomie im Sinne von Handlungs- und Entscheidungsspielräumen ist einer der wichtigsten Ressourcen in der Arbeitswelt. Mit der zeitlichen und räumlichen Flexibilisierung von Arbeit und den damit einher gehenden Entgrenzungsphänomenen an der Schnittstelle von Arbeit und Familie kann ein hohes Ausmaß von Autonomie allerdings auch zu einer neuen Anforderung werden. Intensivierte Autonomieanforderungen betreffen dabei nicht nur die aktive Gestaltung der Tätigkeit bei hoher zeitlicher und/oder räumlicher Flexibilität, sondern auch karrierebezogene Anforderungen im Sinne der Notwendigkeit der proaktiven 21
22
C. Korunka, B. Kubicek, Beschleunigung im Arbeitsleben: Neue Anforderungen und deren Folgen. In: M. Morschhäuser, G. Junghanns (Hg.), Immer schneller, immer mehr – Psychische Belastungen bei Wissens- und Dienstleistungsarbeit, Wiesbaden 2013, 17–39. J.A. LePine, M.A. LePine, C. L. Jackson, Challenge and hindrance stress: Relationships with exhaustion, motivation to learn, and learning performance. In: Journal of Applied Psychology 89 (2004), 883–891.
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Planung und Gestaltung der eigenen Laufbahn. Diese Anforderungen können ebenfalls als „Challenge“-Stressoren bezeichnet werden. Die intensivierten Anforderungen können empirisch auf verschiedene Arten nachgewiesen werden. Bei indirekten Messungen, also bei Einschätzungen der Veränderungen von spezifischen Merkmalen der Tätigkeit über längere Zeiträume, bieten sich internationale Datensets für Sekundäranalysen an. Ein bekanntes Beispiel für ein solches Datenset sind die „European Working Conditions Surveys“, die von der „European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions“ alle fünf Jahre durchgeführt werden.23 Dabei werden repräsentative Datensets der arbeitenden Bevölkerung in den Mitgliedsländern erhoben. Die Zustimmung zu einzelnen Fragen kann über den Verlauf von Jahrzehnten analysiert werden. So ist beispielsweise bei der Frage „Wie häufig müssen Sie in hohem Tempo arbeiten“ ein signifikanter Anstieg seit dem Jahr 2000 in der Gruppe der Personen mit Pflichtschulabschluss zu verzeichnen. Bei der Frage „Wie oft müssen Sie nach knappen Deadlines arbeiten“ finden sich signifikante Anstiege über die Zeit sowohl bei Personen mit Pflichtschulabschluss als auch bei Arbeitnehmer/innen mit einem Universitätsabschluss. Beides kann als zumindest indirekter Hinweis für Arbeitsintensivierung interpretiert werden. Auch in internationalen Panel-Datensätzen, wie beispielsweise dem deutschen sozioökonomischen Panel24, können Hinweise auf Arbeitsintensivierung gefunden werden. So finden sich bei der Zustimmung zur Frage „Wie oft fühlen Sie sich unter Zeitdruck“ spezifische Verlaufsmuster in Abhängigkeit vom Alter und dem Ausbildungsgrad der Befragten.25 Eine Gruppe von jüngeren und höher gebildeten Arbeitnehmer/innen weist hier sehr hohe und relativ stabile Zustimmungswerte im Verlauf des ersten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts auf. Eine weitere Gruppe von älteren Personen mit etwas geringerer Ausbildung zeigt Zunahmen bei der Zustimmung, die allerdings von einem geringeren Ausgangswert ausgehen. Aus den Sekundäranalysen dieses Datensatzes kann daher auf das Vorhandensein spezifischer „Risikogruppen“ 23 24 25
Eurofound, Fifth European Working Conditions Survey, Publications Office of the European Union, Luxembourg 2012. Sozio-oekonomisches Panel (SOEP), Daten für die Jahre 1984–2014, Version 31, SOEP, 2015. B. Kubicek, C. Korunka, M. Paškvan, R. Prem, C. Gerdenitsch, Changing Working Conditions at the Onset of the Twenty-First Century: Facts from International Data Sets. In: C. Korunka, P. Hoonakker (Hg.), The Impact of ICT on Quality of Working Life, Heidelberg 2014, 25–42.
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im Zusammenhang mit der Zunahme von Arbeitsintensivierung geschlossen werden. Insbesondere sind dies Personen am unteren und oberen Ende des Ausbildungsspektrums, wobei ältere in stärkerem Ausmaß betroffen sind.
Das Forschungsprojekt „Arbeit im Wandel“ In unserer Wiener Arbeitsgruppe beschäftigen wir uns mit den Fragen der empirischen Erfassung von Veränderungen in der Arbeitswelt und den Auswirkungen auf die Mitarbeiter/innen. Ein zentraler Teil des Forschungsprogramms „Arbeit im Wandel“ ist das vom Österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) geförderte Projekt „Auswirkungen sozialer Beschleunigungsprozesse in der Arbeitswelt“, das in den Jahren 2011–2016 durchgeführt wurde. In einem ersten Schritt wurde in diesem Projekt ein Messinstrument zur Erfassung sozialer Beschleunigung in der Arbeitswelt entwickelt.26 Das Fragebogeninstrument erlaubt die valide Erfassung beschleunigungsrelevanter Anforderungen in der Arbeitswelt. Die drei zentralen neuen Anforderungen: Arbeitsintensivierung, intensivierte Autonomieanforderungen (tätigkeits- und karrierebezogen) und intensiviertes Lernen (Aktualisierung von Wissen und Fähigkeiten) werden dabei direkt durch entsprechende Einschätzungen erfasst. Die Skalen wurden an mehreren Stichproben ausgetestet und liegen nun in Deutscher und Englischer Sprache vor. Die zentralen neuen Anforderungen lassen sich empirisch eindeutig von „herkömmlichen“ Anforderungen (wie beispielsweise Zeitdruck) abgrenzen. Zur Einordnung der Bedeutung dieser neuen Anforderungen eignet sich die in der letzten Zeit in der Arbeitspsychologie populäre Unterscheidung von „Challenge“- und „Hindrance“ Stressoren.27 „Hindrance“Stressoren können als herkömmliche Belastungsfaktoren bezeichnet werden. Das erhöhte Auftreten eines „Hindrance“-Stressors führt typischerweise zu erhöhter Aktivierung (also letztlich zu erhöhtem Verbrauch von Energie) und zu einer Verringerung der Motivation. Daher gehen „Hindrance“-Stressoren 26
27
B. Kubicek, M. Paškvan, C. Korunka, Development and validation of an instrument for assessing job demands arising from accelerated change: The intensification of job demands scale (IDS). In: European Journal of Work and Organizational Psychology 24 (2014), 898–913. J.A. LePine, M.A. LePine, C.L. Jackson, Challenge and hindrance stress: Relationships with exhaustion, motivation to learn, and learning performance. In: Journal of Applied Psychology 89 (2004), 883–891.
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meist mit einer Zunahme von emotionaler Erschöpfung und einem Rückgang von Arbeitsengagement einher. „Challenge“-Stressoren sind ebenfalls von vermehrtem Energieaufwand und damit einer Zunahme von emotionaler Erschöpfung begleitet. Im Unterschied zu den „Hindrance“-Stressoren gehen diese Stressoren allerdings mit einer Zunahme von motivationalen Prozessen und damit einer Zunahme von Arbeitsengagement einher. Sie sind also herausfordernd in einem positiven Sinn. Die neuen Anforderungen lassen sich in das Challenge-Hindrance-Framework einordnen: Arbeitsintensivierung ist als „Hindrance“-Stressor zu bezeichnen, da sie typischerweise mit einer Zunahme von emotionaler Erschöpfung und einem Rückgang von Arbeitsengagement einhergeht. Sowohl intensivierte Autonomieanforderungen als auch intensivierte Lernanforderungen sind hingegen „Challenge“-Stressoren; sie gehen mit einer Zunahme an emotionaler Erschöpfung, aber vor allem auch mit einer Zunahme von Arbeitsengagement, einher. In beiden Fällen stellt sich allerdings die Frage, bis zu welcher Höhe der neuen Anforderung die positiven Effekte überwiegen und unter welchen Bedingungen auch diese Anforderungen eher negative Auswirkungen haben. Die neu entwickelten Skalen wurden in einer großen empirischen Studie eingesetzt. Dazu wurden zahlreiche Unternehmen aus dem Dienstleistungsbereich kontaktiert und zur Mitwirkung an der Studie eingeladen. Insgesamt 13 große Unternehmen haben sich bereit erklärt, an der Studie mitzuwirken. Die Unternehmen sind aus den Bereichen Telekommunikation, Informationstechnologien, öffentliche Verwaltung, Gesundheit und öffentlicher Verkehr. Eine große Anzahl an Mitarbeiter/innen hat an Befragungen zu zwei Zeitpunkten mit ca. 14 Monaten Abstand teilgenommen. Die folgende Abbildung (S. 95) zeigt die Ergebnisse zu den Einschätzungen der Arbeitsintensivierung: In allen Unternehmen berichten die Arbeitnehmer/innen über Arbeitsintensivierung. Das Ausmaß dieser Intensivierung wird im Mittel relativ ähnlich eingeschätzt, es finden sich aber auch Unternehmen mit vergleichsweise hohen Werten. Relativ unterschiedlich ist dabei die Verteilung der Einschätzungen; während in einigen Unternehmen die Streuungen eher gering sind (also vergleichsweise homogene Einschätzungen zur Arbeitsintensivierung zu verzeichnen sind) finden sich in anderen Unternehmen größere Bandbreiten der Einschätzung und damit auch Hinweise auf spezifische „Risikogruppen“ mit erhöhten Werten. Beispielsweise ist dies bei (meist männlichen und jüngeren) Technikern in Telekommunikationsunternehmen zu beobachten. Weitgehend homogen sind die Einschätzungen
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Ausmaß Intensivierung
Telecommunikation 1 Telecommunikation 2
100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0
IT1 IT 2 IT 3 Public Service 1 Public Service 2 Public Service 3 Public Service 4 Health Service 1 Health Service 2
0
20
40
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80
100
Public traffic 1 Public traffic 2
Abbildung: Arbeitsintensivierung in den untersuchten Betrieben (Endpunkte der X-Achse: Wahrnehmung als Belastung/Hindrance (0) bzw. Herausforderung/Challenge (100).
dahingehend, dass Arbeitsintensivierung in der Regel als (zum Teil massive) Belastung erlebt wird. Das bestätigt die Annahme, dass es sich hier eher um einen „Hindrance“-Stressor handelt. Wir konnten allerdings auch bereits in einer früheren Querschnittstudie zeigen, dass Arbeitsintensivierung auch ambivalente Auswirkungen haben kann. In einer Querschnittstudie mit Verwaltungsangestellten konnten wir nachweisen, dass erhöhte Arbeitsintensivierung mit einer signifikanten Zunahme von emotionaler Belastung einhergeht, aber gleichzeitig auch eine etwas erhöhte Einschätzung subjektiver Kompetenz zu verzeichnen ist. Die Soziologin Nicole Aubert28 beschreibt in diesem Zusammenhang die Ambivalenzen der Individuen in der aktuellen Gesellschaft. Für den „Kick“ eines Lebensgefühls des schnellen Rhythmus und dem erlebten Gefühl der Leistungsfähigkeit und des Empowerments, verbunden mit dem Bedürfnis, ständig „am Anschlag“ unserer Möglichkeiten zu leben, zahlen wir den Preis von erhöhter Gereiztheit und Nervosität, extremer Müdigkeit und Erschöpfung und letztlich einer Zunahme von Angst und Depression. Die Bedeutung von Arbeitsintensivierung als eine neue Form einer Anforderung in der Arbeitswelt konnte also empirisch bestätigt werden. Es stellt sich nun die Frage, ob es auch möglich ist, Zunahmen von Arbeitsintensivie28
N. Aubert, Dringlichkeit und Selbstverlust in der Hypermoderne. In: V. King, B. Gerisch (Hg.), Zeitgewinn und Selbstverlust, Frankfurt am Main 2009, 87–100.
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rung über die Zeit hinweg als kausale Ursache für Zunahmen von emotionaler Erschöpfung (einer zentralen Facette von Burnout) nachzuweisen. Um dies zu überprüfen, haben wir eine Stichprobe von Arbeitnehmer/ innen im Bereich der Altenbetreuung zu zwei Zeitpunkten, in einem Abstand von etwa 15 Monaten, hinsichtlich ihrer Einschätzungen von neuen Arbeitsanforderungen und emotionaler Erschöpfung befragt. Wie erwartet29 zeigte sich eine relativ hohe Stabilität bei den Beurteilungen von emotionaler Erschöpfung über die Zeit hinweg. Wir konnten aber auch zeigen, dass Zunahmen von Arbeitsintensivierung über die Zeit hinweg zu zusätzlichen Zunahmen von emotionaler Erschöpfung und Abnahmen von Arbeitsengagement führen. Eine Zunahme von intensivierten Lernanforderungen geht hingegen mit einer Abnahme von emotionaler Erschöpfung und einer Zunahme von Arbeitsengagement einher. Dies bestätigt also einerseits die unabhängige Wirkung von Arbeitsintensivierung als ein „Hindrance“-Stressor. Für die intensivierten Lernanforderungen konnte hingegen in dieser Studie sogar ein eindeutig positiver Effekt bestätigt werden. Dies kann auch als ein Hinweis dafür gewertet werden, dass Lernanforderungen – zumindest bis zu einem gewissen Ausmaß – als eindeutig positiv und motiviert erlebt werden. Sollte das Ausmaß der erforderlichen Lernanforderungen allerdings zu hoch werden, und mit einer wahrgenommenen Überforderung einhergehen, dann ist anzunehmen, dass sich diese positiven Effekte umkehren. Nachdem nun gezeigt werden konnte, dass Arbeitsintensivierung zusätzlich zu konventionellen Stressoren potentielle negative Effekte auf die betroffenen Personen haben kann, stellt sich die Frage, wie solche Effekte vermieden bzw. zumindest verringert werden können. In den bisherigen Studien konnten vorwiegend direkte Effekte des wahrgenommenen Ausmaßes von Arbeitsintensivierung nachgewiesen werden. In aktuellen Studien, die sich mit „Challenge“- und „Hindrance“ Stressoren beschäftigen,30 wurde nachgewiesen, dass sich die Stressoren zwar grundsätzlich anhand ihrer möglichen Auswirkungen klassifizieren lassen, dass aber zusätzlich individuelle Bewertungen der Stressoren eine große Rolle spielen. Diese Studien greifen die transaktuelle Stresstheorie von Lazarus31 erneut auf und verweisen auf die 29
30 31
W.B. Schaufeli, M. Salanova, Burnout, boredom and engagement in the workplace. In: M.C.W. Peeters, J. de Jonge, T.W. Taris (Hg.), An Introduction to Contemporary Work Psychology, Hoboken 2013, 293–320. Vgl. z.B. M.G. González-Morales, P. Neves, When stressors make you work: Mechanisms linking challenge stressors to performance. In: Work & Stress 29 (2015), 213–229. R.S. Lazarus, S. Folkman, Stress, appraisal and coping. New York 1984.
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hohe Bedeutung subjektiver Bewertungen im Stressprozess. Auf der Grundlage dieser Theorie kommt den subjektiven Einschätzungen von belastenden Situationen eine größere Bedeutung zu als die Situation selbst. Im Extremfall können sehr belastungswirksame Situationen von bestimmten Personen als höchst belastend, von anderen hingegen sogar als positiv herausfordernd beurteilt werden. Mit unseren Längsschnittdaten konnten wir nun zeigen, dass subjektive Bewertungsprozesse in dem Sinne, inwieweit eine Belastung als persönliche Behinderung (also „Hindrance“) beurteilt wird, auch für die Arbeitsintensivierung eine Rolle spielen.32 Es konnte nachgewiesen werden, dass die subjektive Bewertung der Arbeitsintensivierung als vollständiger Mediator (also vermittelnd) zwischen dem eingeschätzten Ausmaß der Intensivierung und ihren Folgen nachweisbar ist. Dies ist auch als ein Indiz für eine empirische Bestätigung von Subjektivierungsphänomenen in der Arbeitswelt33 zu werten. Auch in Bezug auf neue Formen der Belastungen werden die Personen offensichtlich weitgehend auf die Möglichkeiten ihrer eigenen individuellen Bewältigung zurückgeworfen. Es hängt also vorwiegend von ihren individuellen Möglichkeiten und Einschränkungen ab, inwieweit neue Anforderungen beanspruchungswirksam werden. Dies kann zwar für bestimmte Personen vorteilhaft sein, aber es kann auch bedeuten, dass andere Personen aufgrund bestimmter persönlicher Vorbedingungen besonders starke negative Effekte von Arbeitsintensivierung erleben. Es stellt sich daher die Frage nach den situativen Ressourcen in der Arbeitswelt, die es ermöglichen, die potentiell negativen Auswirkungen von Arbeitsintensivierung zu verhindern oder zumindest abzuschwächen. In der oben genannten Studie34 konnten wir zeigen, dass partizipatives Klima im Unternehmen mögliche negative Folgen von Arbeitsintensivierung verhindern oder zumindest abschwächen kann. Partizipatives Klima kann sowohl die Einschätzungen einer negativen Bewertung von Arbeitsintensivierung verringern, als auch die negative Beziehung zwischen der Bewertung von Arbeitsintensivierung und emotionaler Erschöpfung abschwächen. Positive Auswirkungen von Mitentscheidungsmöglichkeiten im Unternehmen wurden ja bereits in zahlreichen Studien nachgewiesen. Im Hinblick auf die neuen Anforderun32 33 34
M. Paskvan, B. Kubicek, R. Prem, C. Korunka, Cognitive appraisal of work intensification. In: International Journal of Stress Management (2015). Vgl. H. J. Pongratz, G.G Voß, Arbeitskraftunternehmer: Erwerbsorientierungen in entgrenzten Arbeitsformen. Berlin 2003. M. Paskvan, B. Kubicek, R. Prem, C. Korunka, Cognitive appraisal of work intensification. In: International Journal of Stress Management (2015).
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gen in einer veränderten Arbeitswelt kann nun festgehalten werden, dass diese klassischen Ressourcen auch weiterhin ihre hohe Bedeutung behalten. Daraus sind klare Hinweise für die Arbeitsgestaltung abzuleiten.
„New Ways of Working“ Durch den weit verbreiteten Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien hat sich unsere Arbeitswelt verändert. Beispielsweise haben sich durch die umfassende Verwendung von Emails in fast allen Unternehmen die Kommunikationsstrukturen grundlegend verändert. Vor diesem Hintergrund finden durch die technologische Weiterentwicklung der Kommunikationstechnologien laufend weitere Veränderungen statt. Beispielsweise ist es durch den Einsatz von Smart Phones in den Unternehmen möglich, dass Mitarbeiter/innen weitgehend ohne örtliche und zeitliche Einschränkungen kommunizieren können. Diese Technologien schaffen daher die Basis für eine umfassende Flexibilisierung in vielen Bereichen der Arbeitswelt. Während eine herkömmliche Arbeitsform durch klare zeitliche Begrenzungen („9 to 5“) beschrieben werden kann, lösen sich diese Grenzen nun auf. Die Einführung von Gleitzeit und die Zunahme von Teilzeitarbeit sind dabei nur erste Schritte einer zeitlichen Flexibilisierung. Viele Tätigkeiten, insbesondere im Bereich neuer Dienstleistungen, sind durch nahezu völlige zeitliche Flexibilisierung gekennzeichnet. Mitarbeiter/innen haben dort die Möglichkeit, zu beliebigen Zeiten zu arbeiten. Mit einem hohen Ausmaß an zeitlicher Flexibilisierung geht häufig auch eine Flexibilisierung des Arbeitsortes einher. Mitarbeiter/innen haben die Möglichkeit, an nahezu beliebigen Orten zu arbeiten. Im Unterschied zur Telearbeit, die in der Regel auf zwei Arbeitsorte (Büro und daheim) begrenzt ist, weiten sich die örtlichen Möglichkeiten zur Arbeit weiter aus. Die drei beschriebenen Aspekte einer modernen Arbeitswelt – massive Unterstützung durch Informations- und Kommunikationstechnologien, zeitliche und örtliche Flexibilisierung – werden in der Fachliteratur unter den Begriffen „New Ways of Working“35 oder auch „Blended Working“36 zusam35
36
Vgl. z.B. E. Demerouti, D. Derks, L.L. ten Brummelhuis, A. Bakker, New Ways of Working: Impact on Working Conditions, Work–Family Balance, and Well-Being. In: C. Korunka, P. Hoonakker (Hg.), The Impact of ICT on Quality of Working Life, Heidelberg 2014, 123–141. N.W. Van Yperen, E. F. Rietzschel, K.M.M. De Jonge, Blended Working: For Whom It May (Not) Work. In: PLoS ONE 9 (2014).
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mengefasst. Diese neue Form der Organisation der Arbeit bringt neue Anforderungen an die Individuen mit sich. Eine weitgehende zeitliche und räumliche Flexibilisierung bedeutet, dass die Arbeitnehmer/innen selbst entscheiden können (und müssen), wann und wo sie arbeiten. In hoch flexibilisierten Arbeitswelten werden Ziele vorgegeben, wobei der Weg der Zielerreichung, insbesondere in Hinblick auf die zeitliche und örtliche Gestaltung, den Mitarbeiter/innen überlassen bleibt. Dieser Gestaltungsaufwand bietet zwar auch die Möglichkeit einer flexiblen und bedürfnisorientierten Organisation der Arbeit, ist jedoch auch mit neuen (und oft hohen) Selbstkontrollanforderungen verbunden. Zu den drei Einzelaspekten von „New Ways of Working“ – zeitliche Flexibilität, örtliche Flexibilität und die Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien – finden sich zahlreiche Befunde in der Literatur, die ein heterogenes Bild zeichnen. In einigen Studien finden sich eindeutig positive Effekte von zeitlicher Flexibilität. Hohe zeitliche Flexibilität geht beispielsweise mit einer effektiveren Nutzung der Arbeitszeit einher. Aktive persönliche Tätigkeitszeiten können beispielsweise an interne Zeitabläufe gekoppelt werden, bzw. mit privaten Bedürfnissen optimal abgestimmt werden.37 Damit kann auch grundsätzlich eine bessere Balance zwischen Arbeit und Freizeit hergestellt werden, indem beispielsweise Arbeitszeiten mit Zeiten des Erfordernisses von Kinderbetreuung abgestimmt werden.38 Auf der anderen Seite ist aber eindeutig eine Zunahme von Arbeitsintensivierung nachweisbar.39 Der in einigen Fällen besseren Verbindung der Anforderungen aus dem Berufsleben mit denen des Privatlebens steht der empirische Nachweis einer Zunahme von Konflikten zwischen Arbeit und Freizeit entgegen.40 Diese widersprüchlichen Ergebnisse zeigen einerseits das hohe Potential von zeitlicher Flexibilität hinsichtlich möglicher Auswirkungen auf die gesamte Lebensqualität, andererseits liegt der Schluss nahe, 37
38 39 40
C. Kelliher, D. Anderson, For better or for worse? An analysis of how flexible working practices influence employees’ perceptions of job quality. In: The International Journal of Human Resource Management 19 (2008), 419–431. L.L. ten Brummelhuis, A.B. Bakker, J. Hetland, L. Keulemans, Do new ways of working foster work engagement? In: Psicothema 24 (2012), 113 –120. C. Kelliher, D. Anderson, Doing more with less? Flexible working practices and the intensification of work. In: Human Relations 63 (2010), 83–106. N.K. Frye, J.A. Breaugh, Family-friendly policies, supervisor support, work-family conflict, family-work conflict, and satisfaction: A test of a conceptual model. In: Journal of Business and Psychology 19 (2004), 197–220.
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dass die konkreten Bedingungen hinsichtlich Tätigkeiten, Arbeitsgestaltung und privaten Anforderungen für mögliche Auswirkungen hochrelevant sind. Ein ähnliches Spektrum an Befunden erbrachten Studien zur örtlichen Flexibilität. Auch hier finden sich deutliche Hinweise auf mögliche positive Auswirkungen. Beispielsweise kann durch örtliche Flexibilität eine bessere Balance zwischen den Anforderungen des Berufs- und des Privatlebens erreicht werden. Ursachen dafür können einerseits die optimale und bedürfnisorientierte Wahl des Arbeitsortes und andererseits die Vermeidung von unnötigen Wegzeiten zum Arbeitsort sein. Die Wahl eines optimalen und ungestörten Arbeitsorts kann auch mit einem Rückgang an Arbeitsunterbrechungen (beispielsweise durch Anfragen von Kolleg/innen) einhergehen. Andererseits finden sich ebenfalls zahlreiche Befunde, die auf das Potential für eine Verschlechterung der Qualität des Arbeitslebens hindeuten. So wird beispielsweise bei hoher örtlicher Flexibilität von Arbeitsintensivierung und überlangen Arbeitszeiten, sozialer Isolation und verringerten beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten berichtet41. Die Ursachen für negative soziale Folgen sind unter anderem darin begründet, dass bei einem hohen Nutzungsgrad von örtlicher Flexibilität die Anwesenheitszeiten am eigentlichen Arbeitsplatz reduziert und damit der Kontakt zu den Kolleg/innen und Führungskräften reduziert ist. Auch hier kann festgehalten werden, dass ein hohes Potential für positive und/ oder negative Auswirkungen zu verzeichnen ist und der konkreten Gestaltung der Arbeitssituation sowie den individuellen Bedürfnissen eine hohe Bedeutung zukommt. Das Potential für positive und/oder negative Effekte von zeitlicher und örtlicher Flexibilität ist vergleichbar; in der Praxis findet sich auch oft eine Kombination der beiden Formen der Flexibilität. Hohe Flexibilität impliziert ein hohes Ausmaß an Autonomie. Flexibilität ist im eigentlichen Sinne selbst immer dann eine Form von Autonomie, wenn die Wahl der Nutzung von Arbeitszeit und Arbeitsort von den Individuen selbst getroffen werden. In unseren zuvor skizzierten theoretischen Überlegungen haben wir Autonomie, bzw. ein Übermaß an Autonomie, als eine neue Form einer Anforderung in der modernen Arbeitswelt beschrieben. Das bedeutet, dass bestimmte Formen der Autonomie nicht unbedingt nur positive Effekte auf die Qualität des Arbeitslebens haben können. In einer ersten empirischen Studie konnten wir diese Annahme bestätigen. An einer 41
C. Kelliher, D. Anderson, For better or for worse? An analysis of how flexible working practices influence employees’ perceptions of job quality. In: The International Journal of Human Resource Management 19 (2008), 419–431.
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Stichprobe von rund 600 Pflegekräften konnten wir einen kurvilinearen Zusammenhang zwischen dem Ausmaß an wahrgenommener Autonomie und emotionaler Erschöpfung nachweisen: Bis zu einem bestimmten Ausmaß an wahrgenommener Autonomie besteht eine negative Beziehung zwischen Autonomie und emotionaler Erschöpfung; eine Zunahme an Autonomie geht hier mit einem Rückgang an emotionaler Erschöpfung einher. Erreicht die wahrgenommene Autonomie allerdings eine bestimmte Höhe, dann kehrt sich diese Beziehung um. Eine weitere Erhöhung von Autonomie geht nun mit einer Zunahme von emotionaler Erschöpfung einher. Diese Studie zeigt also, dass es tätigkeitsabhängig bei neuen Dienstleistungen einen „optimalen“ Wert an wahrgenommener Autonomie zu geben scheint. Bei diesem (durchaus hohen, aber nicht extrem ausgeprägten) Wert ist das geringste Ausmaß an emotionaler Erschöpfung zu verzeichnen. Derartige kurvilineare Beziehungen sind allerdings auch aus statistischen Gründen nur schwer nachweisbar. Die Effektstärken in dieser Studie waren relativ gering. Wir gehen davon aus, dass im Bereich dieser spezifischen Autonomieanforderungen noch weitere Forschungsanstrengungen notwendig sind, um empirisch fundierte Hinweise für die optimale Gestaltung von Tätigkeiten abzuleiten. Der dritte Aspekt von „New Ways of Working“ ist, neben zeitlicher und örtlicher Flexibilität, die intensive Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien (ICT). Die ständige Weiterentwicklung dieser Technologien ist eine wesentliche Grundlage für die Möglichkeit des Angebots und der Nutzung von zeitlicher und örtlicher Flexibilität. Moderne Informations- und Kommunikationstechnologien ermöglichen den Zugriff auf arbeitserforderliche Daten von nahezu beliebigen Arbeitsorten. Auch werden alle berufsnotwendigen Formen der Kommunikation durch ICT unterstützt. ICT sind hier aber nicht nur als Unterstützung für örtliche und zeitliche Flexibilität relevant, sondern sie haben selbst direkte Effekte auf arbeitende Personen. Zu diesen Effekten liegen bereits zahlreiche Studien vor. Viele Tätigkeiten sind ohne die Nutzung von ICT nicht mehr vorstellbar. Die grundsätzlich positiven Effekte sind unbestritten. Neben der Unterstützung der Ausführung von Tätigkeiten finden sich Studien, die beispielsweise eine erhöhte Produktivität oder eine bessere Nutzung von Warte- und Fahrzeiten belegen.42 Andererseits zeigen mehrere empirische Studien, dass insbesonde42
L.L. ten Brummelhuis, A.B. Bakker, J. Hetland, L. Keulemans, Do new ways of working foster work engagement? In: Psicothema 24 (2012), 113–120.
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re die Nutzung von neuen Kommunikationstechnologien von zahlreichen negativen Effekten begleitet werden kann. Die Nutzung von Emails am Arbeitsplatz kann beispielsweise eine Zunahme von Arbeitsdruck und Arbeitsintensivierung durch die wechselseitige Erwartung von sehr hohen Antwortgeschwindigkeiten auslösen. In vielen Unternehmen gibt es keine klaren Vereinbarungen dazu, wie rasch auf eine Email – innerhalb, aber auch außerhalb der Arbeitszeit oder am Wochenende – reagiert werden soll. Hoher Druck, möglichst rasch auf eine Email zu antworten ist die Folge. Damit in enger Verbindung steht das sogenannte „Crackberry“-Phänomen43, also das häufige und zwanghafte Kontrollieren von Emails, beispielsweise auch früh morgens oder spät in der Nacht. Die aus der Nutzung von ICT resultierende steigende Menge an Informationen kann ebenfalls zu einem neuen Belastungsfaktor werden.44 Weiters wird häufig von einer Zunahme von Arbeitsunterbrechungen berichtet.45 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass „New Ways of Working“ als eine neue Form der Arbeit, die in immer mehr Tätigkeitsbereichen umgesetzt wird, durch die Ausweitung von zeitlicher und örtlicher Flexibilität ein hohes Potential für Verbesserungen von Arbeitssituationen besitzt. Gleichzeitig belegen zahlreiche Studien neue Anforderungen, die ein beträchtliches Potential für negative Auswirkungen auf die Qualität des Arbeitslebens, und damit letztlich auf Wohlbefinden und Gesundheit, besitzen.
Burnout in der „neuen Arbeitswelt“ Aufgrund der hier angestellten Überlegungen erscheint es wenig verwunderlich, dass vielerorts von einer Zunahme von Burnout gesprochen wird. Burnout wird medial so häufig thematisiert wie nie zuvor. Dabei hat sich das Bild 43
44
45
M.A. Mazmanian, W.J. Orlikowski, J. Yates, Crackberries: The social implications of ubiquitous wireless e-mail devices. In C. Sørensen, Y. Yoo, K. Lyytinen, J. DeGross (Hg.), Designing ubiquitous information environments: Socio-technical issues and challenges, Cleveland Ohio 2005, 337–343. E. Demerouti, D. Derks, L.L. ten Brummelhuis, A. Bakker, New Ways of Working: Impact on Working Conditions, Work–Family Balance, and Well-Being. In: C. Korunka, P. Hoonakker (Hg.), The Impact of ICT on Quality of Working Life, Heidelberg 2014, 123–141. Vgl. z.B. J. Rennecker, L. Godwin, L., Delays and interruptions: A self-perpetuating paradox of communication technology use. In: Information and Organization 15 (2005), 247–266.
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von Burnout in den letzten Jahren deutlich gewandelt. Während es früher vorwiegend im Bereich von Gesundheitsdienstleistungen thematisiert wurde, wird es heute besonders häufig im Bereich von Management und Tätigkeiten und Dienstleistungen außerhalb des Gesundheitsbereichs diskutiert. Burnout ist schick geworden. Zahlreiche Darstellungen im Internet belegen dies. Burnout wird dort häufig mit Büroarbeit und insbesondere mit Führung und Management in Verbindung gebracht. Rösing46 spricht in diesem Zusammenhang von einer „legitimen Belastungsstörung“ als (adäquate) Reaktion auf das derzeitige gesellschaftlich-organisatorische Umfeld, also von einer „gesunden“ Reaktion auf „kranke“ Verhältnisse. Damit einher gehen häufig übertriebene Schätzungen der Prävalenz von Burnout. So wird vermutet, dass mehr als ein Viertel aller arbeitenden Menschen am Arbeitsplatz ungesunden Stress erleben und Burnout gefährdet sind. Es wird von mindestens 500.000 Burnout-Betroffenen in Österreich und mehr als 1.100.000 Burnout-Gefährdeten berichtet. Basis solcher Zahlen sind meist Selbsteinschätzungen. Seriöse Schätzungen, wie die vom Robert Koch Institut in Berlin47 gehen von einer Prävalenz von etwa 4% für Deutschland aus. Auf Österreich umgelegt wären das etwa 155.000 Personen. Ob es im Lauf der letzten Jahre zu einer signifikanten Zunahme von Burnout kam, ist ebenfalls nur sehr schwer zu beurteilen, da sich auch die Gepflogenheiten im Bereich der Diagnose ständig ändern. Es ist anzunehmen, dass in der Öffentlichkeit sehr oft diskutierte Phänomene (und dies ist bei Burnout der Fall) einen Anstieg von diagnostizierten Fällen zur Folge haben. Vor dem Hintergrund der hohen gesellschaftlichen Kosten und des massiven persönlichen Leidensdrucks muss auch auf der Basis von realistischen Einschätzungen das Phänomen Burnout in seiner individuellen und gesellschaftlichen Bedeutung sehr ernst genommen werden. Die hier skizzierten Veränderungen in der neuen Arbeitswelt besitzen ein inhärentes Potential für die Zunahme von konventionellen Belastungen und das Auftreten von neuen Anforderungen wie beispielsweise Arbeitsintensivierung. Es stellt sich daher abschließend die Frage nach den Kriterien der Beurteilung von neuen Formen der Arbeit hinsichtlich ihres Potentials für erhöhte und neue Belastungen.
46 47
I. Rösing, Ist die Burnout-Forschung ausgebrannt? Analyse und Kritik der internationalen Burnout Forschung, Heidelberg 2003. Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland. Robert Koch Institut, Berlin 2012
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Die Erfüllung von Grundbedürfnissen Auf der Grundlage humanistischer Bedürfnistheorien besitzen Menschen Grundbedürfnisse, die im Rahmen ihrer Erfahrungen und Interaktionen mit der Umwelt mehr oder weniger befriedigt werden können. Die Erfüllung von Grundbedürfnissen ist die Grundlage für Wohlbefinden und Weiterentwicklung. Basierend auf der Bedürfnistheorie von Abraham Maslow entwickelten Richard Ryan und Edward Deci die Selbstbestimmungstheorie der Motivation, die auch in der aktuellen Arbeits- und Organisationspsychologie eine weite Anerkennung fand.48 Die Selbstbestimmungstheorie postuliert drei Grundbedürfnisse, die in der Arbeitswelt erfüllt werden können. Der Grad der Bedürfniserfüllung kann dabei als ein Indikator für die Qualität eines Arbeitsplatzes angesehen werden. Die drei Bedürfnisse sind angeboren und bei allen Menschen in einer mehr oder weniger starken Ausprägung vorhanden. Das Bedürfnis nach Kompetenz bzw. Wirksamkeit drückt sich im Bestreben einer Ergebniskontrolle und im Verständnis und in der Möglichkeit der Beeinflussung der Zusammenhänge, die zu einem gewünschten Ergebnis führen, aus. Das Bedürfnis nach Autonomie bzw. Selbstbestimmung beschreibt den Wunsch, sich als persönlich autonom, initiativ, und selbstbestimmt handelnd zu erfahren. Menschen wollen sich als den eigenverantwortlichen „Ursprung“ ihrer Handlungen erfahren und zumindest die Möglichkeit der Mitbestimmung bei Entscheidungen, die das eigene Verhalten bestimmen, haben. Das Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit bzw. nach Zugehörigkeit beschreibt die motivationale Tendenz, sich in einer sozialen Umgebung eingebunden zu fühlen, sich um andere zu kümmern und Zugehörigkeit und Anerkennung zu erfahren. Die drei menschlichen Grundbedürfnisse sind umfassend und helfen bei der Erklärung eines wesentlichen Teils der Varianz von menschlichem Verhalten und menschlichen Erfahrungen. Sie können dementsprechend auch für die Bewertung von Arbeitsplätzen und Arbeitsumgebungen herangezogen werden. Es stell sich daher die Frage, inwieweit die drei Grundbedürfnisse in der modernen Arbeitswelt befriedigt werden. In einer sich rasch verändernden Arbeitswelt ist es häufig notwendig, sich die jeweils erforderlichen Fähigkeiten und Kompetenzen anzueignen. Verän48
Vgl. z.B. M. Gagné, E.L. Deci, Self-determination theory and work motivation. In: Journal of Organizational Behavior, 26 (2005), 331–362.
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derte Prozesse und Abläufe und der Einsatz von neuer Soft- und Hardware fordern die Arbeitnehmer/innen an modernen Arbeitsplätzen. Das Bedürfnis nach Kompetenz wird damit ohne Zweifel erfüllt. Es stellt sich aber die Frage nach dem Ausmaß an Kompetenzanforderungen. Eine hohe Veränderungsrate in Unternehmen kann auch zu hohe Kompetenzanforderungen an die Arbeitnehmer/innen stellen. Die zuvor skizzierten gesellschaftlichen Veränderungen lösen häufig extrem hohe Veränderungsraten in den Unternehmen aus. Prozesse werden laufend an veränderte Bedürfnisse angepasst. Weiterentwicklungen im Bereich der ICT beschleunigen das Veränderungstempo oft weiter. Das Bedürfnis nach Kompetenz, das an sich eine positive Ressource darstellt, wird „übererfüllt“ und dadurch zu einer neuen Anforderung. Unsere eigenen Studien zeigen allerdings, dass in den von uns untersuchten Unternehmen solche Kompetenzanforderungen im Mittel positiv, also als Herausforderung, bewertet werden. Eine Überforderung, die sich darin äußert, dass Kompetenzanforderungen als bedrohlich und überfordernd eingestuft werden, war kaum zu beobachten. Es scheint also der Schluss zulässig, dass Kompetenzanforderungen in der modernen Arbeitswelt als eine positive Möglichkeit der Erfüllung eines Grundbedürfnisses darstellen. Trotzdem ist darauf zu achten, dass bei hohen Kompetenzanforderungen entsprechende Rahmenbedingungen in den Unternehmen geschaffen werden. Dazu gehören beispielsweise gute und ausreichende Schulungen und vor allem entsprechende zeitliche Gestaltungsmöglichkeiten und Unterstützung an den Arbeitsplätzen, um gut mit Lernanforderungen umgehen zu können. Es ist zu vermuten, dass bei guter Unterstützung langfristig die positiven Effekte von Kompetenzentwicklung erhalten bleiben. Die Erfüllung des Bedürfnisses nach Autonomie ist eine wesentliche Basis für Selbstaktualisierung. Autonomie in der Arbeitswelt besitzt verschiedene Ausprägungen. Ulich49 unterscheidet in diesem Zusammenhang HandlungsGestaltungs- und Entscheidungsspielräume in der Arbeit. Unter Handlungsspielraum beschreibt er die Summe der Freiheitsgrade in Bezug auf Verfahrenswahl, Mitteleinsatz und zeitliche Organisation von Aufgaben.50 Er umfasst also die mögliche Flexibilität bei der Ausführung von Tätigkeiten. Im Unterschied dazu umfasst der Gestaltungsspielraum die Möglichkeiten zur selbständigen Gestaltung von Vorgehensweisen nach eigener Zielsetzung. Im 49 50
E. Ulich, Arbeitspsychologie, Zürich 2011. W. Hacker, Psychological analysis and design of working activities. In: Nordisk Psykolgi 2 (1978), 114–126
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Unterschied dazu beschreibt der Entscheidungsspielraum das Ausmaß einer Entscheidungskompetenz einer Person zur Festlegung bzw. Abgrenzung von Tätigkeiten oder Aufgaben. In der Arbeits- und Organisationspsychologie ist Autonomie eine zentrale Ressource und eine wesentliche Grundlage für Arbeitsmotivation51. Ein wesentliches Ziel von Arbeitsgestaltungsmaßnahmen besteht in der Erweiterung von Autonomie, also von Handlungs- Gestaltungs- und Entscheidungsspielräumen. Inzwischen als „klassisch“ zu beschreibende Maßnahmen der Arbeitsgestaltung, wie „Job Enrichment“, „Job Enlargement“ und „Job Rotation“ setzen hier an. Betrachtet man die Möglichkeiten der neuen Arbeitswelt, dann wird allerdings deutlich, dass insbesondere die Handlungsspielräume in vielen Bereichen in einem (Über-)maß vorhanden sind. Hohe Zeitliche und örtliche Flexibilität kann eine extreme Ausweitung von Handlungsspielräumen beinhalten. Bei sehr hoher zeitlicher und örtlicher Flexibilität ist es weitgehend den Arbeitnehmer/innen überlassen, wann und wo sie arbeiten, um ihre vorgegebenen Ziele zu erreichen. Ein derart hohes Ausmaß an Handlungsspielräumen kann auch überfordernd sein. Peter Warr52 hat in diesem Zusammenhang bereits vor einigen Jahrzehnten sein sogenanntes „Vitamin“-Modell vorgestellt. In diesem Modell beschreibt er neun Faktoren, die die psychische Gesundheit von arbeitenden Menschen beeinflussen können. Einer dieser Faktoren ist die Möglichkeit der Kontrolle der eigenen Lebensbedingungen, also die Autonomie. Nach Warr handelt es sich dabei um einen sogenannten „Additional Decrement“-Faktor, der analog zur Wirkung von Vitamin D nur in einem definierten mittleren Bereich seine optimale Wirkung entfalten kann. Sowohl ein zu geringes Ausmaß, aber insbesondere auch ein zu hohes Ausmaß an Autonomie wäre dann schädlich. Für Tätigkeiten mit einem besonders hohen Ausmaß an zeitlicher und/oder örtlicher Flexibilität würde dies bedeuten, dass diese Formen der Flexibilität zwar weiterhin grundsätzlich positiv sind, aber dass es auch ein Zuviel an Flexibilität geben kann. Im Sinne einer positiven Arbeitsgestaltung kann es daher erforderlich sein, Grenzen der Flexibilität zu beachten. Diese Grenzen könnten bei der Planung der Möglichkeiten zeitlicher und örtlicher Flexibilität bedacht, bzw. durch die Arbeitnehmer/innen selbst in ihrer eigenen Arbeitswelt umgesetzt werden. In der Praxis könnte dies zum Beispiel bedeuten, dass bestimmte Tage arbeitsfrei gehalten werden. Die völlige Auslagerung derartiger Entscheidungen ist 51 52
J. R. Hackman, G. R. Oldham, Work Redesign. Reading 1980. P. Warr, Work, Unemployment, and Mental Health. Oxford 1987.
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allerdings ein weiterer Schritt der Subjektivierung in der Arbeitswelt53 und ist auch mit Selbstkontrollanforderungen54 verbunden, die selbst wieder zu einem Belastungsfaktor werden können. Ein drittes Grundbedürfnis ist das Bedürfnis nach sozialer Einbindung. Es bildet ebenfalls, jedoch vielleicht in einem etwas geringerem Ausmaß als die beiden anderen Grundbedürfnisse55, eine zentrale Grundlage für intrinsische Motivation. Vergleichbar mit den Bedürfnissen nach Kompetenz und Autonomie sind in der neuen Arbeitswelt ebenfalls deutliche Veränderungen im Grad der Bedürfniserfüllung zu diagnostizieren. Neue Formen der Arbeit verbunden mit dem Einsatz neuer Kommunikationstechnologien erhöhen potentiell die Möglichkeiten nach sozialer Einbindung, indem beispielsweise über weite Distanzen hinweg kommuniziert werden kann. Zusammenarbeit in Teams ist in der Form von virtueller Teamarbeit über weite räumliche und zeitliche Distanzen hinweg erst durch neue Kommunikationstechnologien möglich geworden. Gerade ein solches Beispiel zeigt allerdings auch, dass zwar die Quantität sozialer Interaktionen potentiell zunehmen, aber deren Qualität sich deutlich verändern kann. Virtuelle Kommunikation kann nicht immer die persönliche Kommunikation ersetzen. Unsere eigenen Studien zeigen, dass bei der Einführung eines „flexible Office Konzepts“ zwar die Quantität der Interaktionen zugenommen hat, die Qualität allerdings – zumindest nach der Einschätzung der Betroffenen – abgenommen hat56. Zahlreiche Studien aus dem Bereich der Telearbeit berichten von einer Zunahme an sozialer Isolation bei einem hohen Ausmaß an örtlicher Flexibilität57. Für die Arbeitsgestaltung bedeutet dies, dass bei neuen Formen der Arbeit nicht nur die Möglichkeiten, sondern auch die Qualität der sozialen Interaktionen bedürfnisorientiert gestaltet werden sollten. Technische und virtuelle Möglichkeiten der Kommunikation sollten immer nur als Ergänzung zu persön53 54 55 56
57
Vgl. H. J. Pongratz, G.G Voß, Arbeitskraftunternehmer: Erwerbsorientierungen in entgrenzten Arbeitsformen, Berlin 2003. R. F. Baumeister, K. D. Vohs, D. M. Tice, The Strength Model of Self-Control. In: Current Directions in Psychological Science 16 (2007), 351-355. R. M. Ryan, E. L. Deci, Intrinsic and Extrinsic Motivations: Classic Definitions and New Directions. In: Contemporary Educational Psychology 25 (2000), 54–67. Ch. Korunka, C. Gerdenitsch, New ways of working and quality of working life: a macroergonomic approach. In: Human Factors in Organisational Design and Management, Nordic Ergonomics Society Annual Conference (2014), 267–272. Vgl. z.B. R. S. Gajendran, D. A. Harrison, The good, the bad, and the unknown about telecommuting: meta-analysis of psychological mediators and individual consequences. In: Journal of Applied Psychology 92 (2007), 1524–1541.
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licher Kommunikation eingesetzt werden. In virtualisierten und entgrenzten Arbeitsumgebungen ist darauf zu achten, dass Möglichkeiten für den persönlichen Austausch geschaffen werden. Aber auch hier ist die Eigenverantwortung der betroffenen Arbeitnehmer/innen gefordert, indem sie in zeitlich und örtlich entgrenzten Formen der Arbeit Möglichkeiten der sozialen Interaktion nach ihren eigenen Bedürfnissen gestalten.
Resümee und Ausblick Arbeit und Zeit stehen nicht nur in untrennbaren, sondern in sich stark veränderten Beziehungen. Die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte hatten in vielen Bereichen der Arbeit eine Aufweichung der klaren zeitlichen und örtlichen Grenzen der Arbeit zur Folge. Viele Arbeitsplätze zeichnen sich durch ein hohes Maß an zeitlicher und örtlicher Flexibilität aus. Diese strukturellen Veränderungen führen zu neuen Anforderungen in der Arbeitswelt. Arbeitsintensivierung, neue Autonomie- und Kompetenzanforderungen sind empirisch nachzuweisen. Diese neuen Anforderungen können durchaus positive Auswirkungen haben, sie können aber auch Zunahme von Beanspruchung und Stressreaktionen bedeuten. Die vermuteten Zunahmen von Burnout können ihre Ursache in diesen neuen Anforderungen haben. Arbeitsgestaltung mit den Zielen von hoher Produktivität und Leistungsfähigkeit und einer hohen Qualität des Arbeitslebens sollte sich an der Erfüllung von menschlichen Grundbedürfnissen orientieren. Die Bedürfniserfüllung in den drei Aspekten Kompetenz, nach Autonomie und nach sozialer Einbindung bilden eine grundlegende Leitlinie für die Gestaltung von Arbeit. In einer entgrenzten Arbeitswelt ist das Ziel allerdings nicht mehr eine Maximierung der Bedürfniserfüllung, sondern ein optimales Ausmaß. Wir befinden uns in einer Situation, wo die Festlegung von Grenzen auch positiv sein kann.
Sprachen und Kulturen im Zeit-Raum-Kontinuum: Der lange Weg zur komplexen Sprache Harald Haarmann In welcher Beziehung stehen Sprache und Zeit zueinander? Auf den ersten Blick scheint es sich dabei um eine einfache und direkte Relation zwischen zwei klar definierbaren Begriffen zu handeln. Bei näherem Hinschauen entpuppt sich diese Beziehung als ein äußerst komplexes Netzwerk mit einer Vielzahl von Faktoren, die miteinander interagieren. Sprache ist ursächlich an ihre Benutzer gebunden, d.h. an die, die sie sprechen und/oder an diejenigen, die sie schreiben. Sprache existiert nicht außerhalb von Kultur, sondern – im Gegenteil – Sprache ist das Mittel, mit dem Kultur aufgebaut wird. Sprache ist ebenso ein Besitz des Individuums wie auch der Gemeinschaft, in der die Individuen interagieren, die am Sprachbesitz teilhaben. Die Inhalte und die Wertzuweisungen dessen, was wir mit Kulturerbe bezeichnen, werden im kulturellen Gedächtnis gespeichert, über unsere Sprache abgerufen und über die Sozialisation jeweils der nachfolgenden Generation tradiert. Die Beziehung zwischen Sprache und Zeit ist auch aus dem Grund nicht einfach, weil wir es hierbei mit gänzlich ungleichen Begriffen zu tun haben. Eine natürliche Sprache ist eine Entität, deren Infrastruktur (d.h. Lautsystem, grammatische Strukturen, Syntax, Wortschatz, soziale sowie geographische Differenzierungen) beschrieben werden kann, und Sprache existiert konkret in auditiver wie auch visueller Form (gesprochene Sprache vs. geschriebene Texte). Zeit dagegen ist eine Abstraktion. Vom philosophischen Standpunkt ist es bedenklich, davon zu sprechen, dass die Zeit eine Entität sei, die „existiert“, und Astrophysiker geben zu bedenken, dass Zeit keine kosmologische Größe sei. Viele Kosmologen weigern sich auch, von der Zeit im Singular zu sprechen, denn für sie gibt es das Phänomen nur in der Mehrzahl. Auch für Archäologen und Historiker ist der Umgang mit Zeit„perioden“ oder Zeit„epochen“ geläufiger als mit dem singulären Ausdruck. Die historische Sprachwissenschaft operiert ebenso mit dem Zeitbegriff im Plural, wie beispielsweise bei der Spezifizierung sprachlicher Entwicklungsstadien; z.B. ALThochdeutsch – MITTELhochdeutsch – NEUhochdeutsch. Will man nachvollziehen, wie sich das Deutsche zwischen zwei Zeitstadien, u.zw. im Übergang vom Mittelzum Neuhochdeutschen, verändert hat, so ist der Vergleich früher Bibelübersetzungen sehr lehrreich (Abbildung 1).
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Abbildung 1: Frühe deutsche Bibelübersetzungen im Vergleich1
1
H. Haarmann, Die Sprachenwelt Europas. Geschichte und Zukunft der Sprachnationen zwischen Atlantik und Ural, Frankfurt 1993, 221.
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Uns Menschen als biologischer Spezies fehlt ein spezieller Sinn, um zeitliche Prozesse in ihrem Verlauf wahrzunehmen. Wir können das Wirken von Zeit lediglich an Veränderungen erkennen, die sich „im Lauf der Zeit“ eingestellt haben. Dass Zeit auf alles, womit wir Menschen zu tun haben, einwirkt, ist unumstritten, angefangen mit unseren eigenen Altersprozessen. Sprache begleitet uns vom Stadium des Spracherwerbs bis hin zum Endstadium, wenn unsere Sprachfähigkeit zum Erliegen kommt, womit man metaphorisch den physischen Tod umschreiben kann. Es muss nicht unbedingt ein und dieselbe Sprache sein, die uns auf unserem Lebensweg begleitet, obwohl dies bei der Mehrheit der Weltbevölkerung der Fall ist. Minoritätssprachen können unter den situationellen Druck einer Majoritätssprache geraten – eine Konfliktsituation in vielen Staaten der Welt –, und ihre Sprecher werden unfreiwillig zu einem Sprachwechsel gedrängt, in dessen Verlauf die Minoritätssprache außer Gebrauch kommt und die Sprache einer Majorität als Kommunikationsmedium angenommen wird. Sprachverlust, d.h. die Aufgabe einer Muttersprache mit Minoritätsstatus, ist ein weit verbreitetes Phänomen in der globalen Sprachenlandschaft2. Die sprachlichen Kontaktbedingungen für die Menschen zu ihren Lebzeiten können sehr verschieden sein, und auch die Chancen, über die erlernte(n) Sprache(n) das eigene Leben zu gestalten, können extrem divergieren. Allen gemeinsam ist eigentlich nur die „Initialzündung“, und dies ist die Aktivierung der angeborenen Sprachfähigkeit3. Diese Fähigkeit ist, genau betrachtet, eine Kombination zweier Kapazitäten, einer biologisch-physiologischen und einer kognitiven. Die eine Kapazität steuert die Produktion von Sprachlauten (Sprachmotorik), die andere den Regelapparat der Verknüpfung von Sprachlauten mit sinntragenden sprachlichen Einheiten, den Wörtern. Die kognitive Fähigkeit, Symbole zu verwenden, d.h. zu produzieren, zu erkennen und für kommunikative Zwecke zu selektieren, war bereits in früheren HominidenSpezies angelegt, ihr intensiver Einsatz für die Wissensbildung, für den Aufbau von Kultur und für die Interaktion in sozialen Gruppen ist aber erst charakteristisch für unsere Spezies, den modernen Menschen. Die angeborene Sprachfähigkeit des kleinen Menschen, der auf die Welt kommt, wird schon bald mit der babylonischen Sprachenvielfalt konfrontiert (Abbildung 2). 2
3
Vgl. M. Brenzinger (Hg.), Language diversity endangered, Berlin 2007 und Harrison, K. David, When languages die. The extinction of the world’s languages and the erosion of human knowledge, Oxford 2007. R. Jackendoff, Foundations of language. Brain, meaning, grammar, evolution, Oxford & New York 2002, 19ff.
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Abbildung 2: Die Menschen und ihre babylonische Sprachverwirrung (Collage von Joan Marler; Illustration des Buchcovers zu Haarmann4)
Wenn dieser Mensch Glück hat, wächst er/sie in einem Land ohne Sprachkonflikte auf und er/sie wird in einer Sprache sozialisiert, die nicht diskriminiert, sondern staatlich anerkannt ist (z.B. eine Staatssprache oder eine geschützte Minoritätssprache). Wenn er/sie Glück hat, besucht er/sie eine Schule, und ihm/ihr wird die Haube der traditionellen Literalität aufgesetzt, die es lohnt, ein Leben lang auf zu behalten. Früher oder später wird dieser privilegierte Mensch die Welt der digitalen Literalität kennen lernen, und die Kommunikation in dieser Sphäre wird ihn/sie bis ans Ende seiner/ihrer Tage begleiten. Wenn der kleine Mensch Pech hat, wächst er inmitten von Konflikten auf, seine sprachliche Sozialisation bleibt unvollkommen, ihm/ihr bleibt eine 4
H. Haarmann, Foundations of culture. Knowledge-construction, belief systems and worldview in their dynamic interplay, Frankfurt, Berlin, Oxford & New York 2007.
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schulische Ausbildung versagt, er/sie findet keinen Anschluss an die Welt der Schriftlichkeit, weder die traditionelle noch die digitale. Ein solcher Mensch wird ohne eigenes Verschulden auf die Seite der Verlierer abgedrängt, und das Leben bietet ihm/ihr keine Chance, mit den Privilegierten mitzuhalten. Manchen Menschen, die scheinbar aussichtslos ihr Leben fristen müssen, wird aber eine zweite Chance gegeben, wie einem Mädchen aus Syrien, das als Flüchtlingskind im Oktober 2015 mit den Eltern nach Finnland kam. Das Mädchen hatte in ihrer früheren Heimat keine Möglichkeit, eine Schule zu besuchen und konnte daher weder schreiben noch rechnen. Auf die Frage des Grenzpolizisten im Aufnahmelager, wie alt sie sei, antwortete das Mädchen: „Mama sagt, zwei Hände voll Jahre“. Die Antwort war klar: 10 Jahre. Wenn dieses Mädchen erst einmal die Sprachbarriere des Finnischen überwunden hat, wird sie teilhaben an der finnischen Schulausbildung, die laut PISA-Studien zu den Spitzenmodellen in der Welt zählt, sie wird sehr früh digital vernetzt sein, in einem Land mit der höchsten Internetbenutzerrate in der Welt, und ihr werden beruflich alle Türen offen stehen in einem Land, das auf Platz 1 in der Rangliste der Staaten im Hinblick auf Frauenemanzipation steht. Um den hohen Lebensstandard zu erreichen, den sich Finnland im Verbund mit den anderen Staaten Skandinaviens geschaffen hat, und um eine Gesellschaft ohne Sprachkonflikte aufzubauen, brauchte es eine Entwicklungszeit von rund zwei Jahrhunderten. Wenn man sich die Sprachkulturen der Welt vergleichend anschaut, erweitert sich der zeitliche Horizont von deren Entwicklung erheblich. Aus Jahrhunderten werden Jahrtausende. Und in manchen Sprachen von heute kann man die Nachwirkungen von Entwicklungen ablesen, die vor langer Zeit stattgefunden haben. Als ein Beispiel sei hier auf das Saamische (Lappische) hingewiesen, das in insgesamt zehn regionalen Varianten im hohen Norden Europas (u.zw. in Norwegen, Schweden, Finnland und in Russland) verbreitet ist. Die Saamen sind das einzige Volk in Europa, dessen Vertreter mehrheitlich jenseits des Polarkreises leben. Die Vorfahren der Saamen sind schon bald nach dem Ende der letzten Eiszeit (um 8000 v. Chr.) nach Fennoskandien eingewandert. Seither haben die Saamen unter arktischen Bedingungen gelebt, und seit etwa 4500 v. Chr. ist die Rentierhaltung die Haupterwerbsquelle für ihren Unterhalt. Wenn Menschen Jahrtausende lang in derselben Region und unter gleichbleibenden ökologischen Bedingungen leben, wie die Saamen in der Arktis, dann spiegeln sich diese Verhältnisse früher oder später in der Sprache. Im Saamischen haben sich über lange Zeiträume zwei Spezialterminologien herausgebildet, die einzigartig und ohne Vergleich im Kreis der Sprachen Europas
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bleiben. In den Spezialterminologien für Schnee und Rentierhaltung haben sich langzeitige Erfahrungen auskristallisiert, und historische Zustände der Lebensbedingungen der Menschen im hohen Norden haben ihre bleibenden Spuren hinterlassen. Diese linguistischen „Unikate“ sind die zahlreichen Ausdrücke für den Kollektivbegriff „Schnee“ und ein differenziertes Vokabular der Rentierhaltung5. Aus Platzgründen kann hier nur die Schneeterminologie vorgestellt werden. Im Wortschatz des Inari-Saamischen findet man mehr als zwanzig Spezialausdrücke für verschiedene Aggregatzustände des allgemeinen Begriffs „Schnee“. Für die Saamen ist Schnee nicht gleich Schnee, sondern die Konsistenz dieses kristallinen Stoffes wechselt mit den Witterungsbedingungen (Abbildung 36,7) Was hat nun aber die Schneeterminologie mit dem Vokabular für die Rentierhaltung zu tun? Sehr viel, und unter den Spezialtermini sind einige, die auf eine direkte Verkoppelung der beiden Terminologien hinweisen: ceeyvi, lavkke, syeyngis. Es war wichtig zu wissen, wie sich Menschen und Tiere im Gelände bewegen konnten. Noch wichtiger aber war die Relation zwischen Schneesituation und Futterangebot für die Rentiere. Ob Rentiere im Winter unter dem Schnee Futter finden oder nicht, hängt von der Härte der Schneedecke ab. Wenn die Decke zu hart ist und die Tiere diese mit ihren Hufen nicht aufbrechen können, wird es höchste Zeit, dass der Besitzer der Herde die Tiere auf eine andere Weide treibt, wo Futter zu finden ist. Es ist also im Interesse des Züchters, genaue Informationen über die Qualität des Schnees in seinem Umfeld zu bekommen. Wenn jemand ins Gelände fährt (mit dem Schlitten oder heutzutage mit dem Snowmobil), die Schneelage prüft und diese Information weitergibt, ist die Wahl des Spezialausdrucks hilfreich, der eben die vorgefundene Schneequalität exakt beschreibt. In den lebenden Sprachen findet man unter Umständen noch viel ältere Spuren der menschlichen Symboltätigkeit, u.zw. in vorwissenschaftlichen Weltbildvorstellungen und wie diese sprachlich zum Ausdruck gebracht werden. Menschen haben seit jeher den Lauf der Himmelskörper beobachtet, insbesondere von Sonne und Mond, und die Konturen der Sternformationen haben die 5 6 7
U.-M. Kulonen, I. Seurujärvi-Kari, R. Pulkkinen (Hg.), The Saami – A cultural encyclopedia, Helsinki 2005, 331 f. E. Itkonen, Inarilappisches Wörterbuch, 3 Bde., Helsinki 1986–89. H. Haarmann, Weltgeschichte der Sprachen. Von der Frühzeit des Menschen bis zur Gegenwart, München 2006 (3. Aufl. 2016), 59 f.
Abbildung 3: Die über einen langen Zeitraum ausgebildete Spezialterminologie für Schnee im Inari-Saamischen (zusammengestellt nach den Eintragungen im Wörterbuch von Itkonen
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Abbildung 4: Die Sternkonfiguration des Großen Wagens als Ausschnitt des Großen Bären – https://fi.wikipedia.org/wiki/Otava_(tähtikuvio).
Menschen zu mythopoetischen Ausdeutungen und vielfältigen Bildmetaphern angeregt. Eines dieser Sternbilder ist „Der Große Wagen“, und die Konfiguration der Sterne in diesem Sektor des Himmels hat die Fantasie der Menschen in der nördlichen Hemisphäre seit der Antike beschäftigt (Abbildung 4). Bemerkenswerterweise ist die Vorstellung vom Großen Wagen als Teilausschnitt einer größeren Konfiguration sowie deren Identifikation als „Großer Bär“ sowohl bei antiken Völkern wie bei Griechen (Arktos) und Römern (Ursa Major) als auch bei den Finno-Ugriern im nördlichen Europa verbreitet. Die Konfiguration der Sterne im „Großen Wagen“ stellt man sich auch als Schwanzteil des großen Bären vor. In der Mythologie der uralischen Völker (der Finno-Ugrier im östlichen Europa und der Samojeden im nördlichen Sibirien) spielt der Bär, der „König des Waldes“8, seit ältesten Zeiten eine zentrale Rolle. Die Eltern des mythischen Bären sind der Himmelsgott und Mutter Sonne. Sie schicken ihren Sohn auf die Erde, damit er nachsehen soll, wie es um die Schöpfung steht. Der Bär irrt eine Weile allein herum und stellt fest, dass dort etwas fehlt. Er nimmt sich einen der weiblichen Schutzgeister, der allen lebenden Dingen innewohnt, zur Frau und sie gründen eine heilige Familie. Die Nachkommen 8
Vgl. J .Pentikäinen, Golden king of the forest. The lore of the northern bear, Helsinki 2007.
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aus diesem Bund sind die ersten Menschen, und der Bär wird zum mythischen Begründer der Menschensippe. Die Mansen (Wogulen) und Chanten (Ostjaken) in Westsibirien verehren den Urvater ihrer Völker bis heute, und Bärenfeste werden bis in unsere Tage veranstaltet9. Dieser Ursprungsmythos mit dem Bären als Urvater der Menschheit weist auf totemistische Ursprünge, auf Vorstellungen von der innigen Beziehung aller Lebensformen, insbesondere von Tieren und Menschen, zueinander. Totemismus gehört zu den elementaren Deutungen vom Ursprung der Welt im eurasischen Schamanismus, und die Anfänge dieser Weltanschauung gehen laut den Erkenntnissen der modernen Religionsforschung auf das Jungpaläolithikum, auf die Periode gegen Ende der letzten Eiszeit zurück. Der Ursprungsmythos mit dem Bären ist wahrscheinlich bereits vor 13.000 bis 15.000 Jahren entstanden. Die ursprüngliche Scheu der Menschen vor dem König des Waldes und seine Verehrung kommen in der volkstümlichen Dichtung zum Ausdruck, wo vielerlei Tabunamen verwendet werden. Auch finnische Ausdrücke für den Bären (karhu in der Normalsprache und otso in der Volkspoesie) sind ursprünglich Tabuausdrücke. In der Sprache der sibirischen Völker findet man bis heute Dutzende von Tabuausdrücken für alles, was mit dem Bären und seinen Aktivitäten zu tun hat10.
Grundzüge der Sprachevolution Noch viel größere Distanzen zur Jetztzeit muss man in Betracht ziehen, wenn man nach den Ursprüngen menschlicher Sprache sucht. Sprache ist wohl das effektivste Zeichensystem, das sich der Mensch für die Konstruktion seiner kulturellen Umwelt geschaffen hat. Die Geschichte von Sprache beginnt nicht erst mit dem modernen Menschen (Homo sapiens sapiens), obwohl dies von manchen Archäologen und Anthropologen bis heute behauptet wird. Unsere Hominiden-Spezies taucht nach humangenetischen Rekonstruktionen ungefähr 170.000 Jahre vor der Jetztzeit auf. Die Fähigkeit, sprachliche Laute zu produzieren, ist allerdings wesentlich älter. Sprachfähigkeit hat der archaische Mensch (Homo sapiens neanderthalensis) mit Sicherheit besessen. Dies kann man allein aus der Existenz des sogenann9 10
Vgl. H. Haarmann, J. Marler, Introducing the mythological crescent. Ancient beliefs and imagery connecting Eurasia with Anatolia, Wiesbaden 2008. Vgl. M. Bakró-Nagy, Die Sprache des Bärenkultes im Obugrischen, Budapest 1979.
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ten Sprachknochens schließen, ein Charakteristikum des Skelettbaus sowohl des modernen als auch des archaischen Menschen. Diese spezielle Komponente im Skelettbau des Neandertalers wurde im Jahre 1989 in Kebara (Israel) entdeckt. „Dieser kleine Knochen in U-Form liegt zwischen der Zungenwurzel und dem Kehlkopf (Larynx) und ist verbunden mit den Muskeln des Kiefers, der Larynx und der Zunge. Nach Größe und Form ist der Sprachknochen von Kebara praktisch identisch mit dem des modernen Menschen“11.
Auch das Gehirnvolumen des Neandertalers, das sich nicht wesentlich von der Gehirnmasse des modernen Menschen unterscheidet, deutet auf eine für die Sprachverwendung ausreichende Kapazität. Dem Neandertaler, der zwischen ca. 400.000 und ca. 30.000 Jahren vor der Jetztzeit lebte, fehlte allerdings eine entscheidende physiologische Komponente, der Vorderlappen im Gehirn. Gerade diese Gehirnregion ist verantwortlich für spezialisierte organisatorische und planerische Aktivitäten. Der Neandertaler mochte sich auf seine Jagdzüge eingestellt haben, ein vorausschauendes strategisches Denken blieb ihm allerdings versagt. Zweifellos war die Sprache, die der Neandertaler verwendete, weniger komplex als die des modernen Menschen. Die Artikulationsbasis für die Produktion von Sprachlauten war beim Neandertaler beschränkter als beim modernen Menschen. Dies bedeutet, dass das Lautsystem der Neandertalsprache weniger differenziert war als selbst die einfachsten Lautsysteme moderner Sprachen. Was die sprachlichen Welten des archaischen und modernen Menschen voneinander trennt, ist die organisatorische Infrastruktur ihrer Kommunikationsmedien. Der moderne Mensch hat von Anbeginn komplexe Sprache (engl. complex language) verwendet, der Neandertaler dagegen eine Art rudimentäre Sprache. Nach neueren neurobiologischen Erkenntnissen konnte der Neandertaler insgesamt 11 Sprachlaute unterscheiden, was eine Kommunikation in einer rudimentär entwickelten Proto-Sprache ermöglichte. Die Anfänge der Sprachtätigkeit liegen aber noch weiter zurück. Es gibt keinen Grund, dem Homo erectus, der in der Zeit zwischen ca. 1,9 Mio. und 0,4 Mio. Jahren Afrika, Asien und Europa besiedelte, die Fähigkeit abzusprechen, Sprachlaute zu artikulieren. Dazu war diese Hominiden-Spezies anatomisch in der Lage. Allerdings darf man bei der Rekonstruktion kommunikativer Fähigkeiten im Fall des Homo erectus keine großen Erwartungen 11
R. Lewin, R. A. Foley, Principles of human evolution, Oxford & Malden, Massachusetts (2. Aufl.), 2004, 467.
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stellen. Was diese Hominiden zum Zweck ihrer Interaktion produzierten, war bestenfalls ein rudimentäres, an menschlichen Stimmtönen orientiertes Signalsystem. Dieses Kommunikationssystem war aber wohl doch komplexer als die wenigen Lautzeichen, die Affen als Warnsignale verwenden. Und vom Standpunkt der Fähigkeit, eine Skala differenzierter Laute mit symbolischer Bedeutung zu produzieren, erfüllt die Kommunikation des Homo erectus die Minimalanforderungen für Sprache. Der Homo erectus hat seine Fähigkeit zu symbolischer Tätigkeit unter Beweis gestellt, und dies ist eine elementare Vorbedingung für den Gebrauch von Sprache. Wenig bekannt selbst in Expertenkreisen, für die Beurteilung mentaler Kapazitäten früher Hominiden-Spezies aber von enormer Bedeutung ist die Entdeckung abstrakter Zeichenverwendung im kulturellen Horizont des Homo erectus. In einer Höhle (Azych-Höhle) in der Region Berg-Karabach im westlichen Teil Aserbaidschans wurden in den 1980er Jahren Siedlungsspuren des Homo erectus gefunden. Auffallend an dem Fund war die Anordnung der Artefakte um eine Feuerstelle, auf deren einen Seite ein Bärenschädel platziert war, bei dem der Unterkiefer fehlte. An anderer Stelle lagen zwei Unterkieferknochen in Kreuzform übereinander. Der Bärenschädel verdient besondere Aufmerksamkeit, denn in dessen Oberfläche sind abstrakte Zeichen eingekerbt. Der sowjetische Archäologe, der die Höhle untersucht hat, sagt zur Entstehung der eingekerbten Zeichen auf dem Schädel: „Sämtliche Kerben sind mit einem spitzen Werkzeug mit beidseitigen Kanten gemacht worden. Die Kerben scheinen im Zusammenhang mit bestimmten religiösen Ideen der Azych-Leute zu stehen12.“
Diese Fundanalyse wird zur Sensation, wenn man das Alter der Höhlensiedlung dazu in Beziehung setzt. Die Datierung ergab einen Zeithorizont von vor ca. 430.000 Jahren. Dieser visuelle Beweis für intentionale symbolische Tätigkeit stammt demnach aus der Spätphase der Existenz des Homo erectus. Gleichzeitig ist dieser Fund geeignet, das hohe Alter des Bärenkults zu demonstrieren. Auffassungen vom Höhlenbären als verehrungswürdigem Wesen haben offensichtlich eine lange Tradition, die in der kulturellen Evolution weit über die ältesten mythischen Vorstellungen des modernen Menschen zurückreichen. Die Fundlage in der Azych-Höhle mochte selbst von Kulturforschern jahre12
M.M. Gusejnov, Drevnij paleolit Azerbajdžana (Kul’tura Kuručaj i etapy ee razvitija), Baku 1985, 68.
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lang für eine Ausnahmeerscheinung gehalten werden. Kürzlich sind weitere Objekte mit intentionalen Ritzungen als Beweis für die Fähigkeit des Homo erectus zu symbolischer Tätigkeit gefunden worden, u.zw. an dem ältesten bisher bekannten Wohnplatz des Homo erectus in Europa (in der Höhle von Kozarnika in Nordwestbulgarien). Die Ritzungen sind in Gruppen von zwei und drei Einzelzeichen auf dem Schienbeinknochen einer altsteinzeitlichen Bovina-Spezies (Auerochse?) platziert. Das Alter der Kulturschicht mit dem Knochenfund wird mit 1 Mio. Jahren vor der Jetztzeit angegeben13. Die Ritzungen des Homo erectus lassen keinen Zweifel an dessen Fähigkeiten zu symbolischer Aktivität. Damit ist auch geklärt, dass diese Hominiden-Spezies die Voraussetzung für andere als nur visuelle Manifestationen symbolischer Ausdrucksformen besaß. Wer die Kapazität besitzt, abstrakte visuelle Symbole zu produzieren, der ist auch fähig, abstrakte lautliche Symbole (d.h. Sprache) zu verwenden. Diese Fähigkeit, sich von den Gegebenheiten der realen Umwelt zu lösen, symbolische Vorstellungen zu entwickeln und diese an akustische und/oder visuelle Bedeutungsträger zu binden, ist auf der evolutiven Entwicklungsschiene vom Homo erectus zu anderen HominidenSpezies (zum archaischen und modernen Menschen) transferiert worden und hat sich mit jedem „Artensprung“ verfeinert. Vergleichsweise am effektivsten ausgeprägt ist die symbolische Aktivität bei unserer Spezies14. Kommunikation fängt nicht erst mit Sprache an. Wir modernen Menschen setzen – begleitend zum akustischen Sprachgebrauch – ebenso unsere Körper„sprache“ ein, um uns verständlich zu machen. Es gibt viele Mittel der nonverbalen Kommunikation, die Haltung unseres Körpers, verschiedene Posen, intentionale Veränderungen unseres Gesichtsausdrucks, Gesten, u.ä.15. Ein Augenaufschlag oder -zwinkern kann bereits eine Botschaft sein. Auch ohne ein Wort zu sagen, kann man mit Gesten und Posen kommunizieren. Gesten und Posen sind ursprünglicher als die Produktion von Sprachlauten. Die evolutiven Anfänge sprachlicher Kommunikation sind eingebunden in nonverbale Interaktionsstrategien, aus deren Vielfalt sich sprachliche Mittel als selbständiges System ausgliederten und spezialisierten. 13
14 15
Vgl. A. Guadelli, Étude des incisions du plus ancien os gravé découvert dans la grotte Kozarnika (Bulgarie du Nord-Ouest). Une preuve de l’existence du symbolisme au Paléolithique Inférieur, in: Archaeologia Bulgarica 3, 1–7, 2004. Vgl. D. Lewis-Williams, The mind in the cave: Consciousness and the origins of art, London & New York 2002. Vgl. J. K. Burgoon, D. B. Buller, W. G. Woodall, Nonverbal communication. The unspoken dialogue, New York, St. Louis & San Francisco 1996.
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Der moderne Mensch verwendet „komplexe“ Sprache mit einer entsprechend verfeinerten Ausdifferenzierung des Lautsystems, der grammatischen Strukturen, des Wortschatzes und der Strategien verbalen Handelns. Vorstellungen von der Existenz „primitiver“ Sprachen beruhen auf einem Vorurteil, denn selbst die Kommunikationsmedien von Jägern und Sammlern der Neuzeit (z.B. der Yanomami in der Amazonas-Region, der Veddah in Sri Lanka oder der Are in Papua-Neuguinea) sind hochspezialisierte mentale Werkzeuge, die sich lokalen ökologischen Bedingungen ideal anpassen. Die Fähigkeit, komplexe Sprache zu verwenden, ist aufs Engste mit einer Reihe anderer mentaler Kapazitäten und neurologischer Zustände verkoppelt, von denen einige bereits im evolutiven Profil früherer Hominiden auftreten, aber erst in unserer Spezies eine hochgradige Effektivität erreicht haben. Hierzu gehören die folgenden Phänomene: – Symbolische Tätigkeit (mindestens 1 Mio. Jahre alt; nachgewiesen für Homo erectus, für den archaischen Menschen und für den modernen Menschen); – Bewusstsein (als Primärbewusstsein postuliert für den archaischen Menschen; als Bewusstsein höherer Ordnung entwickelt im modernen Menschen); – Identität (als Prozess der Identifizierung des „Selbst-Seins“ vom „AndersSein“ sowie der Differenzierung kognitiver Zeitdimensionen wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, gebunden an ein Bewusstsein höherer Ordnung); – Intentionalität (als Strategie der Wissensbildung auf zwei Bahnen – Lernen aus Erfahrung und Planen für die Zukunft – voll ausgebildet nur beim modernen Menschen). Auf dem Kontinuum kultureller Evolution haben sich diese Fähigkeiten und Zustände – einschließlich der Sprachfähigkeit – nicht in Aufeinanderfolge entfaltet, sondern synchron in evolutiven Schüben, als Reaktion auf die Herausforderungen, die die Umwelt an die Anpassungsfähigkeit des Menschen gestellt hat. Für die Evolution von Sprache sind neuerlich vier Grundstadien, von der Proto-Sprache zur komplexen Sprache, postuliert worden16.
16
H. Haarmann, Weltgeschichte der Sprachen. Von der Frühzeit des Menschen bis zur Gegenwart, München 2006 (3. Aufl. 2016), 34 ff.
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Abbildung 5: Die vier Grundstadien der Sprachevolution
Stadium 1 Am Anfang der Sprachverwendung standen wahrscheinlich elementare Benennungsmechanismen. Dazu gehören onomatopoetische Ausdrucksformen wie „bums!“ als Lautnachahmung für ein Fallgeräusch oder das Attribut „platsch-“ in platschnass als Lautnachahmung für Wasserbewegung, elementare Zählweisen (bis 2 oder 3 wie noch in einigen Aborigine-Gemeinschaften Nordaustraliens) und Ein-Wort-Sätze. Dieses Sprachstadium ist wahrscheinlich vom Homo erectus erreicht worden, und es war die Ausgangsbasis für die Sprachentwicklung beim archaischen Menschen (Neandertaler). Auch in der Frühphase des Neandertalers war dieser Kommunikationstyp dominant. In der Spätphase allerdings ist mit einer Entwicklung sprachlicher Fähigkeiten des Neandertalers in Richtung auf das Stadium 2 zu rechnen. Wenn der Homo erectus nachweislich die Fähigkeit zu symbolischer Tätigkeit und daher auch Sprachvermögen besaß, welche Bedeutung kann dann die Revolutionierung der Werkzeugindustrie gehabt haben, die vor 1,4 Mio. Jahren zu beobachten ist? Lange Zeit waren nur einfache Steinwerkzeuge in Gebrauch, bevor ein neuer Typ von Werkzeug auftritt: der beidseitig behauene Faustkeil17. Mit diesem Werkzeug, das wie eine Axt verwendet wurde, konnte man auch solche Objekte bearbeiten, die sich bis dahin der Verwendung durch den Menschen entzogen, einfach deshalb, weil Objekte bestimmter Härte oder Größe mit kleineren Werkzeugen nicht zu bearbeiten sind.
17
R. Lewin, R. A. Foley, Principles of human evolution, Oxford & Malden, Massachusetts (2. Aufl.), 2004, 346 f.
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Das beidseitige Abschlagen der Kanten eines Faustkeils lässt eine weitere Fähigkeit des Homo erectus erkennen, den Sinn für Symmetrie. Vielleicht war diese Fähigkeit schon aktiviert zur Zeit des ersten Auftretens von Faustkeilen. Sind die Anfänge der Verwendung einer rudimentären Protosprache vom Typ 1 in jener Periode zu suchen? Hat die Revolution der lithischen Industrie auch einen Innovationsschub in der Kommunikationstechnologie ausgelöst, der den Homo erectus zur Aktivierung seiner Sprachfähigkeit inspirierte?
Stadium 2 Im Zuge einer Erweiterung der Kapazität, Dinge des kulturellen Umfelds zu „worten”, vergrößerte sich das Repertoire sprachlicher Ausdrücke, die in der Interaktion eingesetzt werden konnten. Bereits in diesem Entwicklungsstadium zeigte sich der Vorteil der Sprachfähigkeit des Menschen, denn Sprache ist im Vergleich zu den Mitteln der nonverbalen Kommunikation ein insgesamt leistungsfähigeres Instrument. In diesem Stadium erweitert sich zwar der Bestand an Lauten, dennoch blieb das Lautsystem der Sprache des Neandertalers wenig differenziert. Folgt man der Rekonstruktion der für die Produktion und Artikulation von Sprachlauten verantwortlichen Bereiche von Mundraum und Kehle beim Neandertaler18, so war die Mundhöhle größer als beim modernen Menschen, die Zungenposition tiefer, die Stimmritze war länger und der Kehlverschluss lag flacher. Durch die Verkleinerung der Mundhöhle hat sich beim modernen Menschen eine Wölbung der Zunge als Normallage eingestellt, was – zusammen mit einer intensiveren Steuerungskapazität des Gehirns – eine verfeinerte Motorik und damit eine variantenreichere Artikulation von Sprachlauten bedingt hat. Für die Sprache des Neandertalers kann die Variation zweier Vokalqualitäten rekonstruiert werden. Dies war die Opposition von [a] und einer e-Qualität. Der Neandertaler konnte insgesamt acht Konsonanten differenzieren, darunter die stimmlos-stimmhaften Lautpaare [p] und [b] sowie [t] und [d]. Außerdem gehörten zum Lautrepertoire des archaischen Menschen der Zischlaut [s], der Reibelaut [h], der Dental [n] und der Labial [m]. Anatomisch war der Neandertaler in der Lage, einen Stimmritzenverschlusslaut bzw. Knack18
P. Lieberman, Toward an evolutionary biology of language, Cambridge, Massachusetts & London 2006, 246 ff.
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laut (engl. glottal stop) zu produzieren. Dieser Laut findet sich in zahlreichen modernen Sprachen wie im Deutschen, Dänischen und Finnischen. Es gibt eine moderne Sprache, deren Vokalopposition sich ebenfalls auf [a] : [e] beschränkt, u.zw. das Ubychische, eine nordwestkaukasische Sprache. Die geringe Variationsbreite im Vokalismus findet aber im Fall des Ubychischen ihr Gegengewicht in einer Vielzahl an Konsonanten, insgesamt 82. Trotz des geringen Spielraums lautlicher Variation im Vokalismus ist im Ubychischen die Bildung einer Vielzahl verschiedener Silbenstrukturen mit Hilfe des reichen Konsonantismus möglich. Das Ubychische ist mit seinem Kontrast von extrem geringer Vokalzahl und extrem differenziertem Konsonantismus eine Ausnahmeerscheinung in der modernen Sprachenwelt19. Der Konsonantismus des Hawaiianischen, einer polynesischen Sprache, ist ähnlich begrenzt wie der der Protosprache des Neandertalers. Die Zahl der Konsonanten im Hawaiianischen ist ebenfalls auf acht Laute beschränkt. Dies sind p, k, h, l, m, n, w sowie der Knacklaut. Die relative Begrenztheit des Konsonantismus wird ausgeglichen durch einen voll entwickelten Vokalismus mit den Einheiten a, e, i, o und u. Das Lautsystem des Hawaiianischen umfasst demnach 13 Einzellaute20. Das Hawaiianische besitzt noch wegen einer zusätzlichen Eigenschaft große Flexibilität in der Kombinatorik von Vokalen mit Konsonanten. Bei den Vokalen werden Kürze und Länge unterschieden, und diese Unterschiede sind phonematisch, d.h. sie bewirken Bedeutungsunterschiede; z.B. hawaiianisch kanaka „Mann (Sg.)“ : kaanaka „Männer (Pl.)“, hio „blasen“ : hioo „lehnen“. Die Wörter der Protosprache vom Typ 2 waren wahrscheinlich sämtlich einsilbig. In Abhängigkeit vom Kontext konnten einzelne Wörter die Funktion von Ein-Wort-Sätzen haben. Auf dieser Ebene entfalten sich die elementaren Interrelationen zwischen Lautsequenzen, Wortbedeutungen und lexikalischen Strukturen. Der Bestand an Signalen und Interjektionen wird durch onomatopoetische Ausdrücke erweitert. Grammatische Beziehungen werden noch nicht bezeichnet. Wortarten werden noch nicht unterschieden. Der Zustand dieses Stadiums ist „asyntaktisch“21, d.h. es gab noch keine Satzbaupläne. Das Stadium 2 der Sprachentwicklung findet sich als Kommunikationstyp nur beim Neandertaler. 19 20 21
Vgl. H. Vogt, Dictionnaire de la langue oubykh avec introduction phonologique, index français-oubykh, textes oubykhs, Oslo 1963. S. H. Elbert, M. K. Pukui, Hawaiian grammar, Honolulu 1979, 10 ff. A. Carstairs-McCarthy, The origins of complex language. An inquiry into the evolutionary beginnings of sentences, syllables, and truth, Oxford & New York 1999, 15 f.
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Stadium 3 Dies ist die sprachliche Frühform des modernen Menschen. Parallel zur Entwicklung kognitiver Fähigkeiten verfeinert sich auch das sprachliche Instrument und damit die Kapazität des Menschen, seine Ideenwelt aufzubauen, über Beziehungen zwischen den Mitgliedern in der Familie, im Clan und in der Jagdgemeinschaft zu reden und Handlungsstrategien sprachlich zu artikulieren. In diesem Stadium kommt es zur vollständigen Ausbildung binärer Oppositionen im Lautsystem (z.B. stimmlose versus stimmhafte Laute). Wörter sind ein- oder mehrsilbig. Die elementaren Wortarten (Nomen versus Verb, Pronomen) werden formal unterschieden. Die Verwendung pronominaler Systeme (Personal-, Possessivpronomen usw.), also von deiktischen (hinweisenden) Elementen als Ersatz für Personen („sie“ für „Mädchen“, „Frau“, „Großmutter“, u.a.) oder Dinge („jene“ für „Feuerstelle“, „Flussbiegung“, „Gruppe von Jägern“), setzt abstraktes Denken voraus. Die formale Differenzierung von Wortarten erleichtert die funktionale Unterscheidung sprachlicher Ausdrücke im Satz. Es sind Sätze mit mehreren Gliedern in Gebrauch. Im syntaktischen Bereich bildet sich die Dualität von Agens, dem handelnden Subjekt, und seiner Tätigkeit, der verbalen Handlung, aus. Über dieses Sprachstadium führt die Entwicklung zu den spezialisierten Sprachfähigkeiten des modernen Menschen. Die sprachlichen Eigenschaften, die für das Stadium 3 postuliert worden sind, sind das Ergebnis interner Rekonstruktion. Keine der rezenten Sprachen der Welt und auch keine der historisch dokumentierten Sprachen repräsentiert das Stadium 3. Dennoch spricht der Rhythmus der Kulturevolution dafür, dass ein solches frühes Entwicklungsstadium komplexer Sprachen existiert hat. Hinweise darauf findet man u.a. in archaischen Satzbauplänen (s.u.). Als Zeitrahmen für die Existenz des Stadiums 3 ist die Frühphase der Evolution und Verbreitung der jüngsten hominiden Spezies, des modernen Homo sapiens, anzusetzen. Die Anfänge liegen bei ca. 100.000 Jahren vor der Jetztzeit oder früher. Das Stadium 3 der Sprachevolution hat bis in die Zeit etwa 70.000 Jahre vor der Jetztzeit angedauert.
Stadium 4 Dieses Stadium kennzeichnet den Entwicklungsstand komplexer Sprachen, und es ist in allen historischen Sprachen (z.B. Sumerisch) und modernen Spra-
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chen vertreten. Für dieses Entwicklungsstadium gilt die Ausbildung komplexer phonetischer, grammatischer und syntaktischer Systeme. Der Wortschatz komplexer Sprachen ist weit verzweigt, und das Repertoire lexikalischer Elemente ist praktisch unbegrenzt. So verzeichnet das „Oxford English Dictionary“ mehr als 1 Mio. Wörter. Das evolutive Stadium 4 ermöglicht das Panorama sprachlicher Komplexität und Differenziertheit, mit dem wir umgehen. Komplexe Sprache ist eines von vielen kulturspezifischen Zeichensystemen, die wir verwenden, nach seiner Gesamtleistung aber sicherlich das leistungsstärkste Informationsverarbeitungssystem. Dessen Kapazitäten haben sich im Prozess der Evolution sukzessive entwickelt und sind vom modernen Menschen für die verschiedensten kommunikativen Zwecke eingesetzt worden. Komplexe Sprache ist dasjenige von Menschen verwendete Zeichensystem mit den differenziertesten und variantenreichsten Organisationsformen. Dieses Stadium wurde in jedem Fall früher als vor 60.000 Jahren erreicht. Vor rund 63.000 Jahren gelangten Menschen vom Festland Südostasiens nach Neuguinea und nach Australien (in dieser Reihenfolge). Die Präsenz des Menschen ist für den Süden Australiens um 62.000 vor der Jetztzeit durch Knochenfunde bezeugt. In den Sprachen Australiens lassen sich zwar einzelne archaische Eigenschaften identifizieren, die auf das Sprachstadium 3 hindeuten, der generelle Ausbildungsgrad der Sprachstrukturen bei den Aborigines Australiens (ebenso bei den Altamerikanern) weist aber das Stadium 4 aus. Selbst wenn die hier rekonstruierten älteren Hauptstadien (d.h. Stadium 1 bis 3) nicht in reiner Form erhalten sind, so existieren doch bis heute weiterhin archaische Strukturfragmente in allen Sprachen der Welt. Beispielsweise gibt es lautnachahmende Ausdrücke in jeder Sprache, in einigen sogar auffällig viele (z.B. im Finnischen oder Japanischen22). Ebenso haben sich Ein-Wort-Sätze bis heute erhalten (z.B. „halt!“ oder „komm!“). Syntaktische Strukturen, die über das Niveau von Einwortsätzen hinausgehen, entwickeln sich erst im Stadium 3. In diesem Stadium ist aber noch nicht mit der vollständigen Ausbildung distinktiver Wortfolgemuster zu rechnen. Die funktionalen Differenzierungen zwischen Subjekt (S), Verb (V) und Objekt (O) im Satz bilden sich im Stadium 4 aus. In den Sprachen der 22
Marttila, Annu, A cross-linguistic study of lexical iconicity and its manifestation in bird names. Helsinki, 2010.
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Welt sind sechs Grundmuster von Wortfolgen vertreten, von denen drei deutlich häufiger als die anderen auftreten. Es ergeben sich folgende Proportionen für die Verteilung von Wortfolgemustern (Abbildung 6):
Abbildung 6: Elementare Wortfolgemuster in den Sprachen der Welt23
Die Varianten von Wortfolge mit dem Objekt in Anfangsposition (vertreten durch OSV- und OVS-Sprachen) zeigen in ihrer geographischen Verbreitung klare Konzentrationen, zum einen in einer Region, die Südostasien, Neuguinea und Australien umfasst, zum anderen im nördlichen Teil Südamerikas, insbesondere in Brasilien. Das geographische Profil der peripheren Verbreitung macht den Eindruck eines Rückzugsgebiets. Dieser Eindruck sowie der Umstand, dass diese Sprachen von Kleinvölkern mit vorwiegend nicht agrarischer Lebensweise gesprochen werden, fordert unwillkürlich zu der Annahme heraus, dass es sich bei der Objekt-initialen Wortfolge um eine archaische Konfiguration des Stadiums 4 handelt, die heutzutage wie das Relikt einer ehemals viel ausgedehnteren Zone anmutet. Einen ähnlichen Eindruck macht die Verteilung der Verb-initialen Sprachen, von denen die meisten ebenfalls in zwei geographischen Hauptzonen, u. zw. in Südostasien sowie in Mittelamerika, auftreten. Auch diesbezüglich ist die Vermutung nicht abwegig, dass diese Varianten von Wortfolge (vertreten durch VSO- und VOS-Sprachen) ehemals weiter verbreitet waren. Darauf scheint auch das Vorkommen von Sprachen mit Verb-initialer Wortfolge in anderen Regionen der Welt hinzudeuten (z.B. die berberischen Sprachen in Nordafrika, die keltischen Sprachen in Westeuropa, die polynesischen Sprachen im Pazifik). 23
H. Haarmann, Elementare Wortordnung in den Sprachen der Welt, Hamburg 2004, 4.
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Die beiden Haupttypen der Wortfolge mit dem Verb in finaler sowie medialer Position können ebenso alt sein wie die anderen Wortfolgen, der Evolutionsschub hat aber die SOV- und SVO-Sprachen ganz offensichtlich begünstigt, so dass sich diese Wortfolgen auf Kosten der anderen erfolgreich durchgesetzt haben. Die Begünstigung dieser beiden Wortfolgetypen mit der Subjektkomponente in Anfangsposition mag mit dem Sachverhalt zusammenhängen, dass sich in der kognitiven Evolution des Menschen die Kategorie des Subjekts als handelnde Person zum Schlüsselbegriff seines Kulturschaffens entwickelt hat. Im Licht der Sprachevolution ist denkbar, dass der Typ einer freien Wortfolge als Manifestation einer archaischen Ordnung aufgefasst werden kann, die sich nur mehr in einigen historischen und wenigen peripheren Sprachen der Neuzeit erhalten hat. Der Kreis der Sprachen, für die eine freie Wortfolge gilt, ist in der Tat klein: Altkirchenslawisch, Aramäisch, Dyirbal, Inuit (ostkanadisches Inuktitut), Lakisch, Polabisch, Poturu, Sundanesisch.
Die Entstehung früher sprachlicher Makrogruppierungen Die Ausgliederung der historischen Sprachfamilien und von deren Einzelsprachen ist ein lang andauernder Prozess, der sich kontinuierlich bis in die Neuzeit fortsetzt. Die Ausgliederungen waren ursächlich mit den prähistorischen Migrationsbewegungen von Populationen unserer Spezies assoziiert, aus Afrika über den Nahen Osten nach Südasien, dann weiter nach Australien, ins Innere Asiens und nach Europa (Abbildung 7, S. 129). Die Anfänge der Besiedlung Amerikas werden traditionell auf die Zeit vor rund 15.000 Jahren (d.h. ca. 13.000 v. Chr.) angesetzt. Es gibt auch Hypothesen, wonach die Besiedlung – und damit auch die Sprachverbreitung – möglicherweise aus zwei Richtungen erfolgte. Eine ältere Migration hätte Einwanderer aus dem Osten (an die Nordostküste Amerikas) gebracht, eine spätere Migration aus dem Westen (nach Alaska). Demnach wären die ersten Einwanderer aus östlicher Richtung gekommen, aus Europa, dessen westliche Küsten während der Eiszeit noch wesentlich weiter in den Atlantik vorgeschoben waren.
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Abbildung 7: Die Ausgliederung von Populationen und sprachlichen Makrogruppierungen24
Die ältesten Steinwerkzeuge auf dem amerikanischen Kontinent (der ClovisKultur) ähneln den Werkzeugen des Stadiums kultureller Entwicklung im paläolithischen Europa, das als das Solutrean bekannt ist. Dieses Stadium wird zeitlich auf die Periode von ca. 24.500 bis 18.000 v. Chr. angesetzt. Dies wäre der Zeitraum, während dessen arktische Jäger mit ihren Booten am Rande des nordatlantischen Eises bis nach Neufundland und an die Nordostküste des nordamerikanischen Kontinents gelangt sein könnten. Für frühe Kontakte mit Europa sprechen auch Besonderheiten im Genpool der Altamerikaner im Nordosten sowie Sonderentwicklungen der Algonkinsprachen im 24
H. Haarmann, Weltgeschichte der Sprachen. Von der Frühzeit des Menschen bis zur Gegenwart, München 2006 (3. Aufl. 2016), 82.
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Vergleich zu anderen Sprachen Amerikas25. Hier öffnet sich für die Sprachund Kulturforschung ein weites Feld. Mit dem methodischen Instrumentarium der historischen Sprachwissenschaft reicht man in zeitliche Tiefen bis zu 10.000 Jahren zurück. Über die Sprachentwicklung in noch tieferen Zeiträumen können keine exakten Angaben gemacht werden. Rekonstruktionen wie die Ausgliederungen der frühen Makrogruppierungen (s. Abb. 7) beruhen auf plausiblen Rückschlüssen anhand historisch fassbarer Zustände. Aussagen über konkrete Einzelheiten dieser frühen Ausgliederungsprozesse sind allerdings nicht möglich. Zu den ältesten Makrogruppierungen, deren Rekonstruktion weitgehend anerkannt wird, gehören die eurasische (euroasiatische), die nostratische und die paläoasiatische Familie. Unter der nostratischen Familie als Oberbegriff werden u.a. die historischen Familien der indoeuropäischen, uralischen und altaischen Sprachen zusammengefasst26. Mit Ausnahme des Baskischen, einer genealogisch isolierten Sprache, gehören alle Sprachen Europas zu einer der genannten Gruppierungen. An der südöstlichen Peripherie Europas sind die autochthonen Sprachen des Kaukasus verbreitet.
Ursprünge und Entwicklung der indoeuropäischen Sprachfamilie Von allen Sprachfamilien der Welt ist die der indoeuropäischen Sprachen die am besten erforschte und auch diejenige mit der längsten Forschungsgeschichte. Die Herkunft der Indoeuropäer war lange Zeit umstritten. Von den Hypothesen zur Urheimat sind in den vergangenen Jahrzehnten nur noch zwei ernsthaft diskutiert worden, die Hypothese der Migration von Viehnomaden aus der eurasischen Steppe nach Westeuropa und nach Zentralasien (die KurganHypothese von Maria Gimbutas), und die Hypothese der Migration von frühen Ackerbauern aus Anatolien nach Südosteuropa (die Diffusionshypothese von Colin Renfrew). Inzwischen haben sich die Erkenntnisse der historischen Sprachwissenschaft im Verbund mit den Befunden der humangenetischen Forschung und der modernen Archäologie von Nomadenkulturen dahingehend verdichtet, dass die Kurgan-Hypothese der Nomadenmigrationen von Spre25 26
Vgl. D. J. Stanford, B. A. Bradley, Across Atlantic ice. The origins of America’s Clovis culture, Berkeley, Los Angeles & London 2012. Vgl. A. R. Bomhard, Reconstructing Proto-Nostratic. Comparative phonology, morphology, and vocabulary, 2 Bde, Leiden 2008.
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chern des Proto-Indoeuropäischen die größte Wahrscheinlichkeit als Erklärungsmodell bietet und damit den Wert einer eigentlichen Theorie annimmt27. Die Ausgliederung der indoeuropäischen Regionalkulturen steht im Zusammenhang mit Prozessen der Akkulturation von Viehnomaden an agrarische Lebensweisen und an die Wirtschaftsform des Ackerbaus. Diese Prozesse setzen um 4500 v. Chr. in Südosteuropa ein und ziehen sich über mehrere Jahrtausende hin, bis schließlich im Verlauf des 2. und 1. Jahrtausends v. Chr. das Profil der historischen Sprachzweige erkennbar wird (germanische, keltische, italische, baltische, anatolische, iranische, indo-arische u.a. Sprachen, alte Balkansprachen). Der slawische Sprachzweig gliedert sich erst im 1. Jahrtausend n. Chr. aus. Ausgliederungsprozesse setzen sich kontinuierlich bis heute fort. In einem sekundären Schub sprachlicher Ausgliederung entstanden die romanischen Sprachen auf der Basis des Sprechlateinischen28.
Abbildung 8: Die Ausgliederung der indoeuropäischen Sprachen (Anthony 2007, mit Ergänzungen)29 27 28
29
Vgl. H. Haarmann, Auf den Spuren der Indoeuropäer. Von den neolithischen Steppennomaden bis zu den frühen Hochkulturen, München 2016. H. Haarmann, Finnish, In: T. Roelcke (Hg.), Variationstypologie. Ein sprachtypologisches Handbuch der europäischen Sprachen in Geschichte und Gegenwart, Berlin & New York 2003, 339 ff. Vgl. D. W. Anthony, The horse, the wheel and language. How Bronze-age riders from the Eurasian steppes shaped the modern world, Princeton, New Jersey 2007.
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Deren Entstehung geht auf die Zeit des frühen Mittelalters zurück. Die Anfänge des Altromanischen datieren in die Zeit zwischen 600 bis 800 n. Chr.). Zur indoeuropäischen Sprachfamilie gehören mehr als 400 alte und neue Sprachen. Auch heute noch entstehen neue Sprachen. Als Anfang der 1990er Jahre das alte Jugoslawien in den Balkankriegen zerfiel, war die Konsequenz eine sozialpolitische Segregation und Ausdifferenzierung einer ursprünglichen sprachlichen Einheit. Das Serbokroatische löste sich auf und es profilierten sich drei neue Nationalsprachen: Serbisch, Kroatisch, Bosnisch. Als sich Montenegro im Jahre 2006 politisch von Serbien löste, ging die lokale Sprachpolitik auf einen nationalen Kurs. Es bleibt abzuwarten, ob das Montenegrinische einen eigenen Sprachstandard entwickelt und sich definitiv vom Serbischen löst. In bestimmten Sprachzweigen des Indoeuropäischen zeigt die Lautentwicklung mehrere periodische Veränderungen, wo es zu sukzessiven Umstrukturierungen kam. Beispielsweise ist das Lautsystem des Germanischen durch zwei regelhafte Umwandlungsprozesse (die germanischen Lautverschiebungen) in einer Weise umstrukturiert worden, dass ursprüngliche (proto-indoeuropäische) Sprachzustände verdeckt werden (Abbildung 9).
Abbildung 9: Entwicklung des Konsonantismus vom Indoeuropäischen zum Germanischen (bis zum Neuhochdeutschen)30
30
W. Schmidt (Hg.), Geschichte der deutschen Sprache, Berlin 1970, Tafel 2.
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Wortbeispiele für Lautwechsel vom Indoeuropäischen (IE) zum Germanischen (Deutschen): IE *phater
> dt. Vater;
IE *dheubos
> dt. tief;
IE *deiuos „Gott“; > althochdt. Ziu „Kriegsgott Mars“; IE *kmtom
> dt. hundert;
IE *kap-
> dt. haben;
IE *ghordhos
> dt. Garten;
IE *gwhermos
> dt. warm;
IE *uehintos
> dt. Wind;
IE *bhrehater
> dt. Bruder;
IE *haegros
> dt. Acker
Die sprachliche Einteilung von Zeitabläufen, mythische Zeitkonzepte und kultureller Relativismus In den Sprachen der Welt hat sich eine Vielfalt von grammatischen Kategorien zur Bezeichnung von Zeitstufen ausgebildet. Einige Verbsysteme sind äußerst komplex (z.B. das System der Tempora im Lateinischen), andere wiederum sehr einfach strukturiert (z.B. die Zeitstufenunterscheidung im Russischen). Es gibt nur eine grundlegende Differenzierung, die in allen Sprachen zu finden ist, u.zw. sowohl in historischen als auch in rezenten Sprachen, und dies ist die Unterscheidung zwischen einer Form zum Ausdruck der Jetztzeit und einer anderen, um Ereignisse in der Vergangenheit zu bezeichnen. Die Existenz der fundamentalen Unterscheidung von Präsens und Vergangenheit scheint plausibel. Auch die Unterscheidung zwischen Präsens und Futur mag plausibel erscheinen, aber dies ist keine linguistische Universalie, denn es gibt Sprachen, die keine gesonderte Form zum Ausdruck zukünftigen Geschehens kennen. Das Finnische ist ein Beispiel dafür. Ein Satz wie ostan auton kann bedeuten „ich kaufe ein Auto“ oder „ich werde ein Auto kaufen“. Die Bedeutung erschließt sich jeweils aus dem Kontext, in den dieser Satz eingebettet ist. Das Fehlen einer Futurkategorie in der Sprache bedeutet nun nicht, dass die Finnen keine Vorstellung hätten von dem Unterschied zwischen der erlebten Jetztzeit und der noch nicht erlebten Zukunft. Die Unterscheidung zwischen den beiden Zeitbegriffen erfolgt mit zusätzlichen Mitteln, z.B. mit Adverbien („jetzt“, „gerade“, „heute“ zur Bezeichnung des Präsens, „demnächst“, „irgendwann“, „morgen“ zur Bezeichnung des Futurs). Kognitiv unterscheiden die Finnen – wie andere Menschen auch – das Jetzt vom Zukünftigen, obwohl sie keine sprachlichen Mittel zur
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Bezeichnung dieser Differenzierung einsetzen. Finnen sind sehr pragmatisch orientiert, wenn es um Zeitplanung für die Zukunft geht. Die finnische Gesellschaft der Moderne verdankt ihren Aufschwung eben diesem pragmatischen Sinn31. Wir haben tagtäglich mit den Unterscheidungen zwischen Zeitstufen zu tun, und wir sind daran gewöhnt, Zeitabläufe kognitiv zu gliedern. Allerdings begegnet man besonderen Herausforderungen, die Erfahrungswerte im Umgang mit bestimmten periodischen Zeitabläufen als regelhafte Muster zu erkennen und diese Kenntnis für den Wiedergebrauch „aufzuzeichnen“. Der moderne Mensch assoziiert hier wie selbstverständlich den Begriff „Zeitmessung“, aber bevor sich die Menschen früherer Zeit mit eigentlichen Messungen beschäftigt haben, galt es noch vielerlei kognitive Zwischenstadien im Umgang mit der Zeit zu durchlaufen. Die Menschen sind nicht erst in den frühen Zivilisationen Altägyptens und Mesopotamiens auf die Idee gekommen, Zeitabläufe zu gliedern, sondern viel früher. Es gilt als gesichert, dass bereits während des Paläolithikums, d.h. vor 20.000 – 25.000 Jahren, die Intervalle von Mondphasen beobachtet und notiert wurden, mit Hilfe von Kerbzeichen auf Tierknochen. Allerdings war der Weg noch weit von den einfachen Kerbzeichen zu systematisch angeordneten Zahlensystemen. Inzwischen ist bekannt, dass auch solche ganzheitlichen Systeme zur Notation von Zahlenwerten längst vor den mathematischen Traditionen Mesopotamiens und Ägyptens entstanden sind. In der ältesten Hochkultur der Welt, in der Donauzivilisation (die in Anlehnung an die englische Bezeichnung der neolithischen Ackerbauerkultur in Südosteuropa – Old Europe – auch Alteuropa genannt wird), war ein von einem archaischen Schriftsystem verschiedenes System zur Zahlennotation in Gebrauch. Dieses Zahlensystem datiert ins 5. Jahrtausend v. Chr.32. Die Funktionen dieser Numeralnotation sind bisher nur fragmentarisch bekannt. Zahlencodes treten in der Beschriftung von Ritualobjekten auf, und man findet sie auf Gewichten aus Stein oder gebranntem Ton. Es gibt Hinweise darauf, dass das alteuropäische Zahlensystem auch zur Aufzeichnung saisonaler Zeitabläufe verwendet wurde. Für die frühen Ackerbauern Südosteuropas war die Kenntnis des Vegetationszyklus der Natur von großer Bedeutung, insbesondere der Saison für Hortikultur und Feldbestel31 32
Vgl. H. Haarmann, Modern Finland: Portrait of a flourishing society, Jefferson, North Carolina 2016. H. Haarmann, Einführung in die Donauschrift, Hamburg 2010, 44.
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lung. Zu den archäologischen Fundstücken jener Ära zählen auch Artefakte, die als Kalender gedeutet werden (Abbildung 10)33
Abbildung 10: Kalendarische Deutung einer Tonscheibe mit Punktreihen aus der Kupferzeit (Dolnoslav, Bulgarien; 4. Jahrtausend v. Chr.) 33
T. Stoytchev, Regional sun-based calendar: New interpretation of a late Eneolithic find, in: Archaeology in Bulgaria 1, 30–38, 1997, 33.
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Dass die Alteuropäer die Abfolge der Wachstumsperiode genau beobachteten und Beobachtungen zum Zeitablauf für den Wiedergebrauch notierten, kann man trotz des großen chronologischen Abstandes zur Jetztzeit an den Spuren ablesen, die ihre Sprache in Gestalt von Substratelementen in den Balkansprachen hinterlassen hat. Im Altgriechischen gab es verschiedene Ausdrücke für Zeitbegriffe. Einer davon ist kairos, ein Lehnwort alteuropäischer Herkunft34. Die Bedeutungsskala von kairos fächert sich folgendermaßen aus: (i) „der richtige Zeitpunkt“; (ii) „periodischer Zeitraum; Saison“; (iii) „das richtige Maß“. In der Kultur und in der Sprache des antiken Griechenland setzten sich vielerlei Langzeittraditionen früherer Populationen fort. Die Griechen der Antike waren sich bewusst, dass vor ihnen andere Völker in dem Land gelebt hatten, das sie Hellas nannten. Die Präsenz vorgriechischer Populationen (von den Griechen Pelasgoi „Pelasger“ genannt) wird von Historiographen (z.B. Herodot) und Philosophen (z.B. Platon) angesprochen, und diese historische Präsenz kommt in vielerlei sprachlichen und kulturellen Einflüssen des Griechentums zum Ausdruck. Als die Griechen in die Region von Athen kamen, nahmen sie sowohl den Namen für die Landschaft (Attika) als auch der Stadt (Athenai) von den Einheimischen an. Die Akropolis hieß anfangs auch nicht so. Der alte vorgriechische Name dafür war kranaa, was in der Sprache der Pelasger „Felsen“ bedeutete. Die Akropolis war nicht irgendein Felsen, sondern „DER heilige Felsen“ mit der Kultstätte der vorgriechischen Göttin Athene. In den alten Quellen wurden die Griechen der Region Kranaoi genannt, „die Leute vom (heiligen) Felsen“. Erst im Verlauf des 4. Jahrhunderts v. Chr. setzte sich der Name Akropolis („Oberstadt“) durch. Die Griechen hatten keine andere Möglichkeit, Stadien ihrer Vor- und Urgeschichte zu periodisieren, als mittels der überlieferten Geschichten. Das heißt, die Periodisierung der alten Geschichte gründete sich auf mythische Erzählungen, die von den Dichtern der Frühzeit (Homer, Hesiod) überliefert worden waren. Das was später als „Vorgeschichte“ (Geschichte vor dem Gebrauch von Schrift) von der „Geschichte“ (Geschichte seit Beginn der schriftlichen Überlieferung) getrennt wurde, gehörte für die Griechen der Antike zur Welt der Mythen. Und die Anfänge der Historiographie, der wissenschaftlichen Reflexion und der Philosophie waren aufs Engste verknüpft mit den Bemühungen der Intellektuellen in der Antike, den Wahrheitsgehalt der alten
34
R. S.P. Beekes, Etymological dictionary of Greek, 2 Bde, Leiden 2010, 617.
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Mythen zu rationalisieren35. Die von den antiken Denkern entwickelte Periodisierung der Geschichte war auf einem Kontinuum zwischen Mythos und Realität angesiedelt: –
–
–
–
–
Das goldene Zeitalter, die Zeit des Göttervaters Kronos; das Epithet „golden“ wird von Platon in seinem Dialog Kratylos (397e) als „vornehm, hehr“ gedeutet; das silberne Zeitalter, das mit Zeus assoziiert ist; Hesiod erzählt in seiner Theogonie, dass viele Menschen jener Zeit die Götter nicht ehrten, so dass Zeus erzürnte, die Frevler vernichtete und ihre Seelen in die Unterwelt (Hades) verbannte; das bronzene Zeitalter, eine Zeit der Unrast und der Kriegswirren; Zeus vernichtet die Menschheit in einer Flut, bis auf Deukalion und Pyrrha, mit deren Nachkommen sich die Welt erneut bevölkert; das heroische Zeitalter, die Zeit der Helden und ihrer Taten; diese Zeit im Besonderen hat die Aufmerksamkeit von Dichtern, Historiographen und Philosophen auf sich gezogen; das eiserne Zeitalter, die Zeit des frühen Griechentums.
Es ist bemerkenswert, dass die moderne Archäologie und Geschichtswissenschaft die Assoziation historischer Perioden mit dem Gebrauch bestimmter Metalle adaptiert hat. Man spricht von der Kupfer-, Bronze- und Eisenzeit als chronologische Aufeinanderfolge. Wir Europäer verdanken mit unserer Zeitrechnung und -messung vielerlei Informationen dem griechisch-jüdischen Kulturaustausch im Zeitalter des Hellenismus. Der griechische wie der jüdische Kulturkreis sind eigentliche Mosaikkulturen, in denen einheimische und fremdadaptierte Elemente symbiotisch miteinander verbunden sind. Auf jüdischer Seite war es das Tor nach Mesopotamien, das für die Griechen aufgestoßen wurde. Die zivilisatorischen Errungenschaften, die die Sumerer der Nachwelt hinterlassen haben, würden ohne die Vermittlung der Bibel wohl nur Experten vertraut sein. Die biblische Geschichte, insbesondere die Erzählungen und Berichte des Alten Testaments, haben die Kunde von den alten Kulturen Mesopotamiens in alle Welt verbreitet. Die Bibel vermittelt auch ein eindrucksvolles Bild der enormen Ausstrahlung Sumers, Akkads und Babylons auf die Nachbarkulturen. 35
Vgl. H. Haarmann, Myth as source of knowledge in early western thought. The quest for historiography, science and philosophy in Greek antiquity, Wiesbaden 2015.
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Verschiedene kulturelle Einrichtungen unserer modernen Welt setzen mesopotamische Traditionen über jüdische Vermittlung fort36: – –
die Siebentage-Woche Die Aufteilung des Monats in vier Wochen zu je 7 Tagen geht auf jüdisch-babylonische Tradition zurück.
– –
Sexagesimale Zeitmaße Die Sexagesimal-Zählung strukturiert die Einteilung des Tagesrhythmus in kleinere Zeiteinheiten: Tag + Nacht (24 = 4 x 6 Stunden), 1 Stunde (60 = 6 x 10 Minuten), 1 Minute (60 = 6 x 10 Sekunden).
– –
Sexagesimale Bogen- und Winkelmaße z.B. Gradeinteilung (360° = 6 x 60 Gradeinheiten)
Die Zeitmessung in den frühen Zivilisationen war kein Selbstzweck, wie wir dies seit der Neuzeit gewohnt sind. Zeitmessung stand im Dienst des religiösen Ritualwesens. Diejenigen, die sich mit Zeitmessung auskannten und das Wissen über Zeitabläufe hüteten, waren Priester im Dienst polytheistischer Kulte. Die Kenntnis des periodischen Laufs der Gestirne wurde zur Bestimmung geeigneter Zeitpunkte von Festlichkeiten ebenso für wichtig erachtet wie die zeitliche Fixierung wichtiger Ereignisse während der Regentschaft von Herrschern und ihrer dynastischen Abfolge. In allen alten Kulturen sind auf diese Weise die praktischen Mittel der Zeitmessung von den Inhalten eines mythischen Weltbildes durchdrungen. Ein besonders ausgeklügeltes Kalenderwesen mit sowohl profaner als auch sakraler Infrastruktur ist für die klassische Zivilisation der präkolumbischen Maya rekonstruiert worden, deren mathematisches Können sogar die Leistungen der Babylonier übertraf37. Die Zählweise der Maya basiert auf der Einheit 20, repräsentiert also das Vigesimalsystem. Das Zahlwort für 20 heißt im klassischen Maya uinic. Dies war auch die Bezeichnung für die Monatseinheit des Ritualkalenders mit jeweils 20 Tagen, u.zw. in der Bedeutung „Mensch“ (mit seinen insgesamt 20 Fingern und Zehen). Das Schriftzeichen für diesen zentralen Zahlbegriff ist die Glyphe für „Mond“. Die für die Maya-Kosmologie bedeutsamen Jahreszyklen werden sämtlich auf der Basis 20 berechnet:
36 37
H. Haarmann, Weltgeschichte der Zahlen, München 2008, 85 f. H. Haarmann, Weltgeschichte der Zahlen, München 2008, 60 ff.
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Sprachen und Kulturen im Zeit-Raum-Kontinuum Name
Bedeutung
Zähleinheit
tun
„Jahr“
Grundbegriff
katun baktun
„20-Jahres-Zyklus“ „20 x 20Jahres-Zyklus“ „20 x 20 x 20Jahres-Zyklus“ „20 x 20 x 20 x 20Jahres-Zyklus“ „20 x 20 x 20 x 20 x 20Jahres-Zyklus“ „20 x 20 x 20 x 20 x 20 x 20-Jahres-Zyklus“
20 tun 20 katun (400 Jahre) 20 baktun (8.000 Jahre) 20 pictun (160.000 Jahre) 20 calabtun (3.200.000 Jahre) 20 kinchiltun (64.000.000 Jahre)
pictun calabtun kinchiltun alautun
Anzahl der Tage 360 7.200 144.000 2.880.000 57.600.000 1.152.000.000 23.040.000.000
Die bloße Existenz von Bezeichnungen für die höchsten Zyklen (kinchiltun, alautun) in der sogenannten „Langen Zählung“ (engl. Long Count) lässt darauf schließen, dass mit den damit assoziierten extrem hohen Zahlwerten auch gerechnet wurde. Ein Bedarf für den Umgang mit extremen Zahlwerten bestand für die Priesterelite der Maya, die Experten der mythischen Weltordnung, um den Zustand der Welt im Rahmen der Aufeinanderfolge kosmologischer Zyklen zu beobachten und die zyklische Dynamik mit Festivitäten und Opferritualen im menschlichen Lebensrhythmus zu begleiten. Für diese Zwecke brauchte man ein ausgeklügeltes Kalenderwesen, und das schufen sich die Maya in perfektionistischer Hingabe. Multivalent waren nicht nur die Zeichen der Maya-Schrift, auch für die Zeitmessung waren parallele Kalendersysteme in Gebrauch. Unterschieden wurde zwischen einem Zeremonial- bzw. Ritualkalender, Tzolkin („Heilige Runde“), und einem Sonnenkalender, Haab („unscharfes Jahr“). Die Zyklen des Tzolkin und des Haab weichen erheblich voneinander ab: Kalendersystem
Anzahl der Monate
Anzahl der Tage pro Monat
Gesamtzahl der Tage pro Jahr
Tzolkin
13
20
260
Haab
18
20
360 (+ 5) (+ 1) (5)
Die Rechnung von 18 Monaten zu je 20 Tagen ergibt eine Summe von 360 Tagen für das Haab. Am Ende des Zyklus stand Uayeb, ein Kurzmonat mit 5 Tagen. Jeder Tag hatte seinen individuellen Namen, ebenso die Monate.
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Datumsangaben wurden jeweils in Form von Dubletten gemacht, nach der Berechnung des Tzolkin (an erster Stelle) und des Haab (an zweiter Stelle); z.B. 4 Ahau (Tzolkin) 8 Cumku (Haab). Wie relativ die Vorstellungen über zyklische Zeiträume sein können, dies wird im Kalenderwesen der Maya besonders deutlich. Europäer sind seit der Antike daran gewöhnt, Zeitzyklen in Zehnerpotenzen zu messen, u.zw. 10 Jahre (Jahrzehnt), 100 Jahre (Jahrhundert), 1.000 Jahre (Jahrtausend), 10.000 Jahre, 100.000 Jahre, 1 Million Jahre, usw. In der Kosmologie der Maya ist der Anfang der Zeitrechnung, das Nulldatum, auf den 11. August 3114 v. Chr. festgesetzt. Den Zeitverlauf stellte man sich zyklisch vor, wobei sich chronologische Zyklen an den Variationsmustern der Tagesangaben in den beiden Kalendersystemen orientieren. Alle 52 Jahre wiederholte sich die Kombinatorik der Tages- und Monatsnamen. Diese Einheit der Zeitmessung, der 52-Jahres-Zyklus (bzw. die Kalenderrunde), ist die elementare Orientierungsgröße der Maya-Historiographie und der darin repräsentierten Herrschergenealogien. Für die mythisch-kosmologisch gegründete Zeitrechnung bezog man sich auf die Zyklenberechnung nach der Zwanziger-Potenz (katun, baktun, usw.); (Abbildung 11, S. 141). Nach der traditionellen Zeitvorstellung der Maya hat die Jahrtausendwende keine nennenswerte Bedeutung. Das weltweit gefeierte MillenniumDatum, der 1. Januar 2000, war ein 9 Ahau (nach dem Tzolkin) und ein 8 Kankin (nach dem Haab) in der Kalenderrunde. Ein bedeutendes Datum in der Zeitrechnung der Maya ist dagegen der 23. Dezember 2012. An diesem Tag (13.0.0.0.0 4 Ahau 3 Kankin) vollendete sich ein Zyklus von 13 baktun (5.200 Jahre) in der Langen Zählung und ein neuer langer Zyklus beginnt. Dieser Termin markierte den Wechsel von Zeitepochen, hatte aber in den mythischen Vorstellungen der Maya nichts mit Weltuntergang zu tun. Die Sensationslust vieler moderner Menschen, denen der Sinn für Metaphorik fehlt, hat uns die Katastrophenszenarien in Film und Literatur beschert. Sofern besondere Termine der kosmologischen Zeitmessung mit der erlebten Zeit der präkolumbischen Maya kongruierten, wurden diese festlich begangen, als Reaktualisierungen der Weltordnung im kulturellen Gedächtnis.
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Ausblick Für die Berechnung ihrer mythischen Zeitalter sind die Mathematiker der präkolumbischen Maya mit Zahlenwerten bis in die Millionen (für Jahre) und in die Milliarden (für Tage) umgegangen. So hohe Berechnungen für Zeitperioden haben weder die Babylonier noch die Ägypter angestellt. Niemand konnte damals wissen, dass sich die Maya mit ihren hohen Zeitrechnungen dem Niveau der modernen Astrophysik angenähert haben, die das Alter von Galaxien nach Jahrmillionen und das Alter des Universums nach Milliarden von Jahren ansetzt. Unabhängig davon, ob wir es mit mythischen Zeitbegriffen oder mit absoluter Zeitmessung zu tun haben, die Frage bleibt offen, wie rasant und in welche Richtung sich die Spezies Mensch mit ihren Sprachen und Kulturen entwickeln wird.
Abbildung 11: Die große Kalenderrunde in der Maya-Kosmologie38 38 L. Schele, D. Freidel, Die unbekannte Welt der Maya. Das Geheimnis ihrer Kultur entschlüsselt, München 1991, 72.
Zeit in der Erzählkunst: Literarische Repräsentationen von Multitemporalität, Achtsamkeitstempo und … kulturellen Zeitvorstellungen Ansgar Nünning
1. „Zeit in der Erzählkunst“? Literarische Erzählkunst in einem Zeitalter von Beschleunigung, Digitalisierung, 24/7, Twitterature und „Weltliteratur to go“ Der von den Herausgebern vorgegebene Obertitel meines Beitrags legt es nahe, mit jener narratologischen und poetologischen Grundsatzfrage zu beginnen, die Thomas Mann den auktorialen Erzähler seines Zeitromans Der Zauberberg zu Beginn des siebenten Kapitels stellen lässt und die der Erzähler dankenswerterweise auch gleich selbst beantwortet: „Kann man die Zeit erzählen, diese selbst, als solche, an und für sich? Wahrhaftig, nein, das wäre ein närrisches Unterfangen!“ Die Zeit, so räsoniert der Erzähler, sei vielmehr „das Element der Erzählung, wie sie das Element des Lebens ist, – unlösbar damit verbunden, wie mit den Körpern im Raum.“1 Auch wenn man die Zeit selbst nicht erzählen könne, so sei doch „von der Zeit erzählen zu wollen, offenbar kein ganz so absurdes Beginnen, wie es uns anfangs scheinen wollte“.2 Auch wenn man die Zeit als solche demnach nicht erzählen kann und Zeit als abstraktes Phänomen nicht in der Erzählkunst steckt, ist das Erzählen doch eine der wichtigsten Kulturtechniken, um den Verlauf der Zeit und temporale Phänomene wie die Anordnung von Ereignissen, Dauer, Frequenz und Veränderungsgeschwindigkeit darzustellen und damit beobachtbar und erfahrbar zu machen. In Analogie zu den Worten des Schweizer Philosophen Peter Bieri, der unter dem Pseudonym Pascal Mercier auch großartige Romane wie Nachtzug nach Lissabon (2004) veröffentlicht und einen literarischen Text sehr treffend als „eine kunstvolle sprachliche Vergegenwärtigung von Erfahrung“3 definiert hat, ließe sich Erzählkunst vorläufig als eine kunstvolle sprachliche Repräsentation bzw. Vergegenwärtigung von Zeiterfahrungen und Zeitvorstellungen beschreiben. 1 2 3
Thomas Mann, Der Zauberberg, Frankfurt a.M. 1988 [1924], 570. Mann, Der Zauberberg, 571. Pierre Bieri, Wie Wollen Wir Leben?, Salzburg 2011, 48.
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Zeit ist jedoch nicht nur neben dem Raum, den Figuren und der Handlung eines der konstitutiven Elemente der Erzählkunst, sondern der Begriff ,Zeit‘, wandelndes Zeitbewusstsein und unterschiedliche Zeiterfahrungen sind in vielen Romanen des 20. und 21. Jahrhunderts selbst zu zentralen Themen avanciert. Daher sind viele Werke der Erzählkunst als ,Zeitromane‘ in jenem doppelten Sinne zu betrachten, in dem Thomas Mann diesen Gattungsbegriff zur Charakterisierung seines Romans Der Zauberberg abwandelte: Zum einen entwerfen sie ein Bild der zeitgeschichtlichen Situation der jeweils erzählten Gegenwart, das oftmals mit anderen Epochen und deren Zeitvorstellungen kontrastiert wird. Zum anderen avanciert das Phänomen der Zeit selbst zu einem zentralen Gegenstand, der mit literarischen Mitteln thematisiert, inszeniert und reflektiert wird. Viele Romane sind daher nicht bloß ,tales of time‘, in denen die Schilderung von Ereignisabfolgen Zeit (,Erzählzeit‘) beansprucht und temporale Relationen auf der Ebene der Geschichte (der ‚erzählten Zeit‘) implizit voraussetzt. Sie sind auch ,tales about time‘ in dem Sinne, dass Zeit und der Wandel des Zeitbewusstseins in ihnen als thematischer Schwerpunkt fungiert und dass sie selbst zu einem Medium literarischer Zeitreflexion werden.4 Nicht nur in Klassikern der Weltliteratur wie Marcel Prousts À la recherche du temps perdu (1913 –1927) oder internationalen Bestsellern wie Sten Nadolnys Die Entdeckung der Langsamkeit (1987), sondern auch in vielen zeitgenössischen Romanen wie Martin Amis’ Time’s Arrow (1991), Ian McEwans The Child in Time (1987), Martin Suters Die Zeit, die Zeit (2012) und Ruth Ozekis A Tale for the Time Being (2013) bringen bereits die Titel zum Ausdruck, dass das komplexe Phänomen der Zeit thematisch im Zentrum steht. Da es zu dem Thema Zeit in der Erzählkunst eine lange Forschungstradition gibt, die mit den Namen und einschlägigen Arbeiten bedeutender Gelehrter wie Günther Müller, Franz Karl Stanzel, Gérard Genette und Paul Ricœur verbunden ist, stellen sich die Fragen, warum man sich erneut mit dem Thema „Zeit in der Erzählkunst“ beschäftigen sollte, welche Desiderate es in der lite4
Zu dieser Unterscheidung sowie zu den Begriffen ,tales about time‘ bzw. ,Zeitroman‘ vgl. A. A. Mendilow, Time and the Novel, London 1952, 16 sowie – darauf aufbauend und in Anknüpfung an Thomas Manns Aussagen über den Zauberberg – Paul Ricœur, Time and Narrative, Bd. 2, Chicago, London 1985, 101: “All fictional narratives are ‘tales of time’ inasmuch as the structural transformations that affect the situations and characters take time. However, only a very few are ‘tales about time’ inasmuch as in them it is the very experience of time that is at stake in these structural transformations.”
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ratur- und kulturwissenschaftlichen Erzähl- und Zeitforschung gibt und warum diese Thematik gerade in der heutigen Zeit von Beschleunigung, Digitalisierung und 24/7 von besonderer Bedeutung und Dringlichkeit ist. Eine erste und thesenhaft verkürzte Antwort auf die letzte Frage könnte lauten, dass die Erzählkunst gerade in der heutigen Zeit, in der unsere Zeiterfahrungen zunehmend von digitalen Medien und permanenter Beschleunigung geprägt werden, ein dringend notwendiges Korrektiv darstellt, um wieder einen Sinn für die Vielfalt von Zeitdimensionen und Zeitvorstellungen zurück zu gewinnen. Obgleich es inzwischen zu den Gemeinplätzen der Gesellschafts- und Kulturkritik gehört, dass im Zeitalter von Globalisierung und digitaler Informationstechnologie Phänomene wie Zeitdruck, Zeitmangel und rasante Beschleunigung in fast allen Lebensbereichen zum Alltag gehören und für viele Menschen zu einem spürbaren Verlust von Lebensqualität geführt haben, hat sich die Literaturwissenschaft diesem Problemkomplex bislang allenfalls sehr zögerlich angenommen. Während es eine Vielzahl von Studien zur Zeitdarstellung in literarischen Texten sowie ein differenziertes Instrumentarium für die Analyse von Zeit in der Erzählkunst gibt, fehlt es bislang an Untersuchungen zum Verhältnis von Literatur und den jeweils vorherrschenden Zeiterfahrungen, Zeitvorstellungen und Zeitkulturen. So werden grundlegende Fragen zum Verhältnis von Erzählliteratur und Zeitkulturen bisher von literaturwissenschaftlicher Seite kaum gestellt, geschweige denn beantwortet. In welchem Verhältnis steht Literatur zur jeweils herrschenden Zeitkultur ihrer Entstehungszeit bzw. der in einem Werk dargestellten Zeitepoche? Welche Zeiterfahrungen, Formen von Zeiterleben und Zeitkulturen können literarische Texte evozieren und ästhetisch vermitteln? Worin besteht der besondere Wert der Erzählkunst im Hinblick darauf, welche besonderen ästhetischen Zeiterfahrungen sie ermöglicht und welche Vorstellungen von Zeit und Zeitkulturen sie vermittelt? Welchen Beitrag kann die Beschäftigung mit Erzählliteratur leisten, um ein differenzierteres Verständnis von Zeit zu gewinnen als das, was in der heutigen Zeitkultur der universellen Beschleunigung vorherrscht, und um ein höheres Maß an Zeitsouveränität sowie eine neue Zeitkultur zu entwickeln? Zugespitzt formuliert: Ist literarische Erzählkunst im Zeitalter von 24/7, Twitterature und „Weltliteratur to go“5 5
Vgl. dazu: Jonathan Crary, 24/7. Late Capitalism and the Ends of Sleep, London, New York 2014; Alexander Aciman, Emmett Rensin, Twitterature. The World’s Greatest Books Retold Through Twitter, Harmondsworth 2009. Michael Sommer spielt in seinem YoutubeKanal „Sommers Weltliteratur to go“ Werke der Weltliteratur in stark geraffter Form mit Playmobil-Figuren nach.
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ein obsoletes Relikt aus einer Epoche, in der die Menschen zwar noch keine so genannten Smartphones, aber noch mehr Zeit hatten, oder hat sie gerade in unserer heutigen „smarten neuen Welt“6 noch einen besonderen Wert, und wenn ja: welchen? Damit sind bereits einige der Fragen umrissen, auf die die weiteren Abschnitte dieses Beitrags vorläufige Antworten zu geben versuchen. Die Diskrepanz zwischen einem Kulturthema ersten Ranges, das alle Lebensbereiche prägt, und dem Mangel an literaturwissenschaftlicher Beschäftigung damit bildet den Ausgangspunkt dieses Aufsatzes, der vor allem drei Ziele verfolgt: Erstens soll das Verhältnis zwischen Erzählliteratur und Zeitkulturen, die ebenso wie die Literatur selbst durch synchrone Vielfalt und diachrone Variabilität gekennzeichnet sind, aus theoretischer und phänomenologischer Sicht beleuchtet werden (Abschnitt 2). Zweitens soll anhand der Analyse ausgewählter „tales about time“ zumindest exemplarisch angedeutet werden, welche ästhetischen Zeiterfahrungen Literatur ermöglicht und inwiefern Literatur dazu beitragen kann, den Sinn für Zeitdimensionen, Zeitkulturen und Formen des Zeitempfindens zu schärfen, die von der Literaturwissenschaft bislang kaum erfasst werden, und „existentielles Wissen über die Zeit“7 zu erwerben (Abschnitte 3 und 4). Drittens verfolgt dieser Aufsatz die Absicht, zumindest einen kleinen Beitrag zu dem sehr viel umfassenderen Ziel zu leisten, den Wert der Literatur und der ästhetischen Zeiterfahrung für unsere individuellen und kollektiven Wahrnehmungen und Vorstellungen von Zeit, aber auch für unseren alltäglichen Umgang mit der so kostbaren Zeit zu erschließen. Der Aufsatz geht von drei zugespitzten Thesen aus, die im Folgenden genauer erläutert und argumentativ zumindest in Grundzügen entfaltet werden sollen. Die in der Literaturwissenschaft bislang entwickelten Modelle und Kategorien der Zeitdarstellung, so die erste der Thesen, sind nicht nur relativ stark an einem bestimmten Zeitmodell, nämlich der Vorstellung einer linear verlaufenden, mechanischen und messbaren Zeit orientiert. Sie sind auch nicht dazu geeignet, um das breite Spektrum der Möglichkeiten, mit denen Erzählliteratur Zeiterfahrungen und Zeitvorstellungen narrativ inszenieren kann, und den besonderen Wert der Literatur – gerade in der gegenwärtig herrschenden Zeitkultur – zu erfassen. Die Art und Weise, wie literarische Erzählkunst Zeitempfinden, Zeitmodelle und Zeitkulturen darstellen kann, 6
7
So lautet der Titel der deutschen Übersetzung des Buches von Evgeny Morozov, To Save Everything, Click Here. Technology, Solutionism and the Urge to Fix Problems That Don’t Exist, London, New York 2013. Olaf Georg Klein, Zeit als Lebenskunst, Berlin 2007, 179.
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eröffnet, so die zweite These, vielfältige Möglichkeiten, um den Sinn für zusätzliche Zeitdimensionen, differenzierte Zeiterfahrungen und alternative Zeitkulturen zu schärfen. Die dritte These besagt, dass es der Entwicklung einer differenzierteren Semantik und neuer Konzepte bedarf, um die von Erzählliteratur ermöglichten ästhetischen Zeiterfahrungen und die von literarischen Erzähltexten insbesondere seit dem Modernismus evozierten Zeitmodelle und Zeitkulturen angemessen erfassen zu können. Zwei Beispiele für solche neuen Konzepte sind die im Untertitel dieses Aufsatzes verwendeten Begriffe ‚Multitemporalität‘ und ‚Achtsamkeitstempo‘. Während das Konzept der ‚Multitemporalität‘ meines Wissens von Robert Levine eingeführt wurde,8 hat Olaf Georg Klein den Begriff ‚Achtsamkeitstempo‘ in seinem ebenso originellen wie gerade auch für Literaturwissenschaftler anregenden Buch Zeit als Lebenskunst geprägt.9 Wie im Folgenden gezeigt werden soll, besitzen beide Begriffe ein großes und bislang ungenutztes heuristisches Anwendungspotential für die Theorie, Analyse und Interpretation literarischer Erzähltexte, um dem Verhältnis zwischen Erzählkunst und dem Phänomen der Zeitvorstellungen auf die Spur zu kommen. Die im Zentrum dieses Aufsatzes stehende Frage nach dem Verhältnis zwischen Erzählliteratur und Zeitkulturen sowie die vorangestellten Thesen zielen darauf ab, einen Beitrag zu der seit einigen Jahren kontrovers diskutierten Frage nach dem Wissen der Literatur sowie nach der Debatte um Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft zu liefern.10 Im vorliegenden Fall geht es dabei zum einen um das Wissen der Erzählliteratur über Zeit und Zeitkulturen. Zum anderen stellt sich die weiter reichende Frage, inwiefern Literatur und Literaturwissenschaft im Zeitalter von 24/7 und Digitalisierung dazu beitragen können, ein differenzierteres Verständnis von Zeit wiederzugewinnen und eine neue Zeitkultur zu entwickeln, die „das Nebeneinander verschiedener Temperamente und Zeitordnungen“11 zur Geltung bringen könnte und die mehr Lebensqualität ermöglicht als die auf Effizienz, Rastlosigkeit und Unruhe fokussierte Unkultur der Beschleunigung und Taylorisierung aller Lebensbereiche. 8 9 10 11
Vgl. Robert Levine, Eine Landkarte der Zeit – Wie Kulturen mit der Zeit umgehen, München 1997, 283–287. Vgl. Olaf Georg Klein, Zeit als Lebenskunst, Berlin 2007, 163 bzw. 199. Vgl. dazu die Beiträge in Wolfgang Asholt, Ottmar Ette (Hg.), Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Programm – Projekte – Perspektiven, Tübingen 2009. Vgl. das brillante Buch von Ralf Konersmann, Die Unruhe der Welt, Frankfurt a. M. 2015, 277.
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2. Zeitdiagnosen, Zeitromane, Zeitforschung: Zum Verhältnis von lebensweltlichen Zeitkulturen und literarischer Repräsentation von Zeit und Zeitvorstellungen Bevor die vorangestellten Fragen und Thesen näher erörtert werden, mag zunächst eine kurze Bestandsaufnahme sinnvoll sein, um die eingangs aufgestellte Behauptung, es bestehe eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen dem breiten gesellschaftlichen Interesse an den Kulturthemen „Zeit“ und „Beschleunigung“ und der Art und Weise, wie sich die Literaturwissenschaft bislang vornehmlich mit dem Phänomen der Zeit beschäftigt, zumindest ansatzweise zu erläutern. Angesichts der Vielzahl der Publikationen, die sich allein mit dem Thema der Beschleunigung beschäftigen, versteht es sich von selbst, dass eine solche knappe Bestandsaufnahme keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann oder will, sondern lediglich andeuten möchte, dass die Literaturwissenschaft im Begriff ist, den Bezug zu allgemeinen gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen aus dem Auge zu verlieren, die alle Lebensbereiche – und inzwischen auch die Universitäten und die Wissenschaft – grundlegend verändert haben. Schlagwortartig verkürzt kann man die heutzutage vorherrschende Zeitkultur, also die Art und Weise, wie die heutigen westlichen Gesellschaften „mit der Zeit umgehen“,12 als eine Epoche der fortschreitenden und allumfassenden Beschleunigung, des Zeitdrucks und des Zeitmangels charakterisieren. Stellvertretend für eine Vielzahl anderer Studien seien Peter Borscheids Das TempoVirus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung und Hartmut Rosas Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne genannt,13 deren Titel bereits prägnante Charakterisierungen der in der Moderne dominanten Zeitkultur liefern. Auch der Philosoph Wilhelm Schmid beschreibt die Moderne als „eine Kultur der Zeit“, die gekennzeichnet sei „von einer dramatischen Dynamik der Entwicklung und einer immer genaueren Messung der Zeit“.14 Diese seit der Moderne vorherrschende Zeitkultur ist gekennzeichnet durch eine einseitige Orientierung an einem linearen Modell der chronologischen Uhrzeit, eine ständig zunehmende Beschleunigung, ein weit verbreitetes Ge12 13
14
Vgl. den Untertitel von Robert Levine, Eine Landkarte der Zeit – Wie Kulturen mit der Zeit umgehen, München 1997. Vgl. Peter Borscheid, Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung, Frankfurt a.M., New York 2004; Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M. 2005. Wilhelm Schmid, Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung, Frankfurt a.M. 1998, 98.
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fühl des Zeitdrucks, der Zeitnot, der „Zeitknappheit und Versäumnisangst“15 sowie durch ein Interesse an möglichst effizientem ‚Zeitmanagement‘ und ein (natürlich vergebliches) Bemühen, möglichst viel Zeit zu ‚sparen‘. Da sich die ebenso differenzierten wie gehaltvollen Studien des Zeitsoziologen Hartmut Rosa jedem Versuch entziehen, sie in wenigen Sätzen zusammenzufassen, sei zumindest seine zentrale These in seinen eigenen Worten zitiert: „Die These, die ich hier begründen möchte, lautet, dass die soziale Beschleunigung in der Moderne zu einem sich selbst antreibenden Prozess geworden ist, der in gleichsam zirkulärer Form die drei Beschleunigungsbereiche [d.h. die technische Beschleunigung zielgerichteter Prozesse, die Beschleunigung des sozialen Wandels und die Beschleunigung des Lebenstempos, A.N.] in ein wechselseitiges Steigerungsverhältnis setzt.“16
Auch andere Zeitdiagnosen haben das Bewusstsein dafür geschärft, dass Beschleunigung, Modernisierung und technischer Wandel nicht zwangsläufig Fortschrittsgeschichten sind, sondern auch mit hohen Folgekosten einhergehen, wie unlängst der Wissenschaftsjournalist Marcel Hänggi in seinem Buch Fortschrittsgeschichten überzeugend gezeigt hat.17 Welche Folgekosten die Instrumentalisierung von Beschleunigung, Geschwindigkeit und Zeit haben, hat etwa der französische Medientheoretiker und Philosoph Paul Virilio in seinen Arbeiten seit 30 Jahren herausgearbeitet. So konstatiert er in seinem Essay Der große Beschleuniger: „Dieses Leben von Tag zu Tag, im Rhythmus der Jahreszeiten ist durch die nanochronologische Beschleunigung des interaktiven Augenblicks unmöglich geworden.“18 Auch der amerikanische Kunsthistoriker Jonathan Crary zeichnet in seiner scharfsinnigen Analyse der dominanten Zeitkultur des Spätkapitalismus ein sehr düsteres Bild von den Folgen, die die globale Jetztzeit und das inhaltsleere Zeitregime des 24/7 haben, das mit seiner Forderung nach Erreichbarkeit, Kommunikation, Produktion und Konsum rund um die Uhr zum zentralen Kennzeichen der Zeitunkultur des 21. Jahrhunderts avanciert ist:
15 16
17 18
Olaf Georg Klein, Zeit als Lebenskunst, Berlin 2007, 32. Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M. 2005, 243. Zum Phänomen der sozialen Beschleunigung vgl. auch den Beitrag von Christian Korunka zu beschleunigten Arbeitswelten im vorliegenden Band. Vgl. Marcel Hänggi, Fortschrittsgeschichten. Für einen guten Umgang mit Technik, Frankfurt a.M. 2015. Paul Virilio, Der große Beschleuniger, Wien 2012 [2010], 48. (Orig.: Le Grand Accélérateur, Paris 2010, Übersetzt von Paul Maercker).
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“Behind the vacuity of the catchphrase, 24/7 is a static redundancy that disavows its relation to the rhythmic and periodic textures of human life. It connotes an arbitrary, uninflected schema of a week, extracted from any unfolding of variegated or cumulative experience. […] 24/7 announces a time without time, a time extracted from any material or identifiable demarcations, a time without sequence or recurrence.”19
Zu ganz ähnlichen Zeitdiagnosen kommt eine Reihe von Büchern aus den letzten Jahren, die sich kritisch mit den Folgen bzw. Auswüchsen der auf permanente Beschleunigung fixierten vorherrschenden Zeitkultur auseinandersetzen und die für Entschleunigung, Muße und die Entwicklung einer neuen bzw. alternativen Zeitkultur plädieren. Wiederum nur exemplarisch seien drei ebenso bedenkens- wie lesenswerte Monographien genannt, die eine Vielzahl interessanter Ansatzpunkte für die Literaturwissenschaft bieten, von dieser aber bislang noch nicht aufgegriffen worden sind: Fritz Reheis’ Die Kreativität der Langsamkeit – neuer Wohlstand durch Entschleunigung, Olaf Georg Kleins Zeit als Lebenskunst und Ulrich Schnabels Muße. Vom Glück des Nichtstuns.20 Obgleich diese drei Titel den Fokus jeweils auf ein anderes Thema (Kreativität und Langsamkeit, Lebenskunst bzw. Muße) legen, stimmen sie nicht nur in ihrer kulturkritischen Grundhaltung überein, sondern auch in ihrem teils expliziten, teils impliziten Eintreten für eine Rückbesinnung auf die Vorzüge eines anderen Umgangs mit Zeit. Überblickt man hingegen die auf das Phänomen der Zeit bezogene Forschung in der Literaturwissenschaft, so stellt man fest, dass sich das Interesse dabei weder auf grundlegende Fragen der heutzutage vorherrschenden Zeitkultur noch auf das Verhältnis zwischen Literatur und Zeitvorstellungen oder Zeitkulturen richtet. Im Zentrum des Erkenntnisinteresses stehen vielmehr nach wie vor Fragen der Zeitdarstellung in literarischen Texten sowie die Entwicklung von Kategorien zur Analyse der temporalen Ordnung narrativer und dramatischer Texte. Während es eine Vielzahl von Studien zur Zeitdarstellung in literarischen Texten sowie ein differenziertes narratologisches Instrumentarium für die Analyse von Zeit in der Erzählkunst gibt,21 19 20
21
Jonathan Crary, 24/7. Late Capitalism and the Ends of Sleep, London, New York 2014, 8–9 bzw. 29. Vgl. Fritz Reheis, Die Kreativität der Langsamkeit – neuer Wohlstand durch Entschleunigung, Darmstadt 1996; Ulrich Schnabel, Muße. Vom Glück des Nichtstuns, München 2010; Olaf Georg Klein, Zeit als Lebenskunst, Berlin 2007. Vgl. stellvertretend für eine Vielzahl anderer Studien erzähltheoretische Klassiker zur Zeitdarstellung wie die Aufsätze von Günther Müller, Die Bedeutung der Zeit in der Erzählkunst
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mangelt es an Studien, die die anthropologischen, semantischen und sozialen Dimensionen von Zeit in der Erzählkunst untersuchen. Die beiden Herausgeber eines unlängst erschienenen erzähltheoretischen Sammelbandes zum Zusammenspiel von Zeit und Erzählen haben diese Defizite und Desiderate prägnant umrissen, indem sie konstatieren: „Aber temporale Besonderheiten, die jenseits dieses basalen, aber simplen Konzepts von Zeit [„einem gleichsam Newtonschen Konzept der ‚mathematischen Zeit‘“, A.N.] liegen, kommen so weder in den Blick noch spielen sie für das terminologische Rüstzeug der Erzählforschung eine Rolle. Zugleich verschließt sich die Erzählforschung bislang der semantischen Dimension temporaler Phänomene.“22 Obgleich vor allem narratologische Studien zur Poetik der literarischen Zeitgestaltung nicht nur außerordentlich verdienstvoll sind, sondern auch eine wichtige Grundlage für jede Untersuchung des Verhältnisses zwischen Literatur und Zeitkulturen bilden, ist doch unübersehbar, dass die Frage nach diesem Verhältnis bislang von literaturwissenschaftlicher Seite kaum berücksichtigt worden ist. Vor allem fehlt es an Studien, die sich mit den Konsequenzen auseinandersetzen, die sich aus der ubiquitären Beschleunigung aller Lebensbereiche für den Stellenwert der literarischen Erzählkunst und die Problemstellungen der Literaturwissenschaft ergeben. Von daher kann der in der Germanisch-Romanischen Zeitschrift 2010 erschienene Aufsatz von Herbert Grabes mit dem schönen Titel „Wo langsam und wo schnell?“ durchaus den Rang einer kleinen Pionierstudie beanspruchen, stellt er doch erstmals die Frage danach, welche Konsequenzen sich aus der Debatte um Schnelligkeit vs. Langsamkeit bzw. Beschleunigung vs. Entschleunigung für die Arbeit bzw. die unterschiedlichen Tätigkeiten des Literaturwissenschaftlers selbst ergeben. Grabes gibt nicht nur einen knappen Überblick über die Vielzahl meist kulturkritischer Publikationen, die sich mit den Veränderungen der Zeitstrukturen in der Moderne, der ständig zunehmenden Beschleunigung und der Entdeckung des Wertes der Langsamkeit auseinandersetzen, sondern er beantwortet auch die im Titel seines Aufsatzes aufgeworfene Frage, indem er zwischen Theorie, Wissen, Können und ästhetischer
22
[1946/7] und Erzählzeit und erzählte Zeit [1948]. In: Ders., Morphologische Poetik. Gesammelte Aufsätze, Tübingen 1968, 247–268 bzw. 269–286, die einschlägigen Monographien von Gérard Genette sowie die Aufsätze in Jan Christoph Meister, Wilhelm Schernus (Hg.), Time. From Concept to Narrative Construct: A Reader, Berlin – Boston 2011. Lukas Weixler, Antonius Werner, Zeit und Erzählen – eine Skizze. In: Lukas Weixler, Antonius Werner (Hg.), Zeiten Erzählen. Ansätze – Aspekte – Analysen, Berlin, Boston 2015, 1–24, hier: 13.
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Erfahrung unterscheidet und diese vier Bereiche auf einer Skala abnehmender Geschwindigkeit bzw. zunehmender Langsamkeit anordnet. Während es angesichts des anhaltenden Booms der Theorieproduktion geradezu unumgänglich sei, über eine schnelle Auffassungsgabe und die Fähigkeit zu verfügen, sich in relativ kurzer Zeit in neue Ansätze einzuarbeiten und sich einen Überblick zu verschaffen, erfordere die Erarbeitung neuen Wissens und – in noch stärkerem Maße – der Erwerb von Fähigkeiten und Können mehr Zeit, mithin geringere Geschwindigkeitsstufen und (noch) größere Geduld. Für den Bereich der Lektüre literarischer Texte und der ästhetischen Erfahrung hebt Grabes in Anknüpfung an Roman Ingarden zu Recht hervor, es sei „eine besonders sorgfältige und somit auch unausweichlich langsamere Lektüre notwendig, um die für eine ästhetische Wirkung wichtigen Besonderheiten auf allen Ebenen des Textes […] überhaupt erfassen zu können“.23 Obgleich sich Grabes auf die Metaebene der Tätigkeiten des Literaturwissenschaftlers konzentriert, gehört sein Essay ebenso zu der kleinen Zahl von Arbeiten, an die Untersuchungen des Verhältnisses von Zeit und Erzählkunst bzw. Literatur und Zeitkultur(en) anknüpfen können wie Ursula Heises ausgezeichnete Studie Chronoschisms, die die Frage in den Mittelpunkt stellt, inwiefern die Zeitstrukturen des postmodernen Romans als eine Form der ästhetischen Auseinandersetzung mit einer grundlegend veränderten Zeitkultur („culture of time“) aufgefasst werden können: “The temporal structure of the postmodernist novel, then is a way of dealing aesthetically with an altered culture of time in which access to the past and especially to the future appears more limited than before in cultural awareness.”24 Diese Feststellung entspricht auch der Zeitdiagnose des Stanforder Literaturwissenschaftlers Hans Ulrich Gumbrecht: „Zwischen der Zukunft endlich, die uns bedroht, und der Vergangenheit, die uns überflutet, ist aus der kaum wahrnehmbaren kurzen Gegenwart eine sich immer stärker verbreitende Gegenwart der Simultaneitäten geworden.“25 Wichtige Anregungen für eine literaturwissenschaftliche Zeitforschung, die das Augenmerk von der Poetik der Zeitdarstellung auf die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Zeitkultur(en) erweitert bzw. verlagert, geben
23 24 25
Herbert Grabes, Wo langsam und wo schnell? Theorie, Wissen, Können und ästhetische Erfahrung. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 60,3 (2010), 351–360, hier: 359. Ursula Heise, Chronoschisms. Time, Narrative and Postmodernism, Cambridge 1997, 67. Hans Ulrich Gumbrecht, Unsere breite Gegenwart. Frankfurt a.M. 2010, 104 –105.
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auch Paul Ricœurs dreibändige Monumentalstudie Time and Narrative 26 sowie der Band Zeit und Roman 27. Weitere Ansatzpunkte, um den Zusammenhang zwischen lebensweltlicher Zeiterfahrung, ihrer literarischen Aneignung in Erzähltexten und ihrer Rekonfiguration im Akt des Lesens theoretisch zu konzeptualisieren, bietet ein mehrdimensionales prozesshaftes Mimesismodell, das sich an Ricœurs Konzept eines „Kreises der Mimesis“ mit seinen drei Stufen der Präfiguration, Konfiguration und Refiguration anlehnt.28 Demzufolge ist Literatur erstens bezogen auf und präformiert durch eine vorgängige, außerliterarische Wirklichkeit (Präfiguration): Literarische Werke entstehen im Kontext von Kulturen, in deren symbolischen Ordnungen bereits bestimmte Konzepte, Vorstellungen und Modelle von Zeit (objektiviert in sozialer Interaktion, Texten der literarischen Tradition und Medien anderer Symbolsysteme) kursieren. Zweitens können literarische Texte unterschiedlichste Aspekte von Zeit und verschiedene Formen von Zeiterfahrungen und Zeitkulturen darstellen (Konfiguration): Individuelle und kollektive Erfahrungen und Vorstellungen von Zeit, kulturell vorherrschende Zeitmodelle, aber auch ausgeschlossene und verdrängte Formen von Zeitempfindungen und Zeitvorstellungen können im als fiktional ausgezeichneten Raum der Erzählkunst durch eine Reihe von spezifisch ästhetischen Verfahren modellhaft und probeweise zur Anschauung gebracht werden. Solche literarischen Inszenierungen von Zeitauffassungen und Zeitkulturen vermögen drittens auf die außerliterarische Wirklichkeit zurückzuwirken (Refiguration): Literatur war und ist an der Ausformung und Reflexion von kollektiven Vorstellungen von Zeit in nicht unwesentlichem Maße beteiligt. Diese drei Stufen einer prozesshaft gedachten Mimesis beziehen sich somit auf die lebensweltlichen Voraussetzungen, die literarischen Verfahren der Vertextung von Zeit 29 bzw. des emplotment (im Sinne 26 27
28 29
Vgl. Paul Ricœur, Time and Narrative, Bd. 1 und 2, Chicago, London 1984 [1983] bzw. 1985 [1984]. Vgl. Martin Middeke (Hg.), Zeit und Roman. Zeiterfahrung im historischen Wandel und ästhetischer Paradigmenwechsel vom achtzehnten Jahrhundert bis zur Postmoderne, Würzburg 2002; vgl. auch Martin Middeke, Die Kunst der gelebten Zeit. Zur Phänomenologie literarischer Subjektivität im englischen Roman des ausgehenden 19. Jahrhunderts, Tübingen 2001. Vgl. dazu ausführlicher Paul Ricœur, Time and Narrative, Bd. 1, Chicago, London 1985, 52–87. Ansgar Nünning, Roy Sommer, Die Vertextung der Zeit. Zur narratologischen und phänomenologischen Rekonstruktion erzählerisch inszenierter Zeiterfahrungen und Zeitkonzeptionen. In: Martin Middeke (Hg.), Zeit und Roman. Zeiterfahrung im historischen Wandel und ästhetischer Paradigmenwechsel vom achtzehnten Jahrhundert bis zur Postmoderne, Würzburg 2002, 33–56.
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Hayden Whites) und die kulturellen Rückwirkungen der narrativen Repräsentation von Zeit, Zeitauffassungen und Zeitkulturen: “I propose to […] show the mediating role of the time of emplotment between the temporal aspects prefigured in the practical field and the refiguration of the temporal experience by this constructed time. We are following therefore the destiny of a prefigured time that becomes a refigured time through the mediation of a configured time.”30
Mit seiner Frage nach der literarischen Aneignung und Verarbeitung lebensweltlich präfigurierter Zeit fokussiert der vorliegende Beitrag sowohl den Repräsentations- als auch den Konstruktionsaspekt von Literatur als einem aktiven Medium der Generierung bzw. Produktion von kulturellem Wissen über Zeit. Damit rücken die Schnittstellen in den Blick, die einerseits zwischen Präfiguration bzw. lebensweltlichen Zeitkulturen und narrativer Konfiguration von Zeit und andererseits zwischen Konfiguration und Refiguration bestehen. Erstens wird gefragt, wie, d.h. mit welchen Verfahren, in literarischen Texten kulturelle Vorstellungen von Zeit sowie bestimmte Zeiterfahrungen, Zeitmodelle und Zeitkulturen repräsentiert werden. Aus dieser Perspektive kommt Literatur als ein Medium der Repräsentation von vorherrschenden Zeiterfahrungen und Zeitkulturen in den Blick. Als ein Medium der Konstruktion von kulturellem Wissen über Zeit erscheint Literatur hingegen zweitens, wenn sich das literaturwissenschaftliche Interesse auf den Zusammenhang zwischen narrativer Konfiguration von Zeit und kultureller Refiguration richtet und funktionsgeschichtlich nach dem Wirkungspotential literarischer Werke in der jeweiligen Gesellschaft bzw. Zeitkultur gefragt wird. Daraus leitet sich die Frage ab, welche Funktionen Literatur für die Herausbildung, Modellierung, Veränderung, Revision und Dekonstruktion von vorherrschenden bzw. neuen Zeitmodellen und Zeitkulturen erfüllen kann. Zwei Dimensionen des Bezugs literarischer Werke zu außerliterarischen Formen von Zeit und kulturellem Wissen über Zeit – und damit auch zwei grundlegende Richtungen des besonderen Leistungsvermögens von Literatur in der jeweiligen Zeitkultur – sollen damit in den Blick gerückt werden: Erstens geht es um die spezifischen Möglichkeiten der Erzählkunst, individuelle und kollektive Zeiterfahrungen, Zeitmodelle und Zeitvorstellungen durch Selektionsverfahren und ästhetische Formen zu thematisieren, zu inszenieren und zu problematisieren. Zweitens ist das (sich aus der ästhetischen Gestaltung bzw. narrativen Konfiguration ableitende) Potential der Erzählliteratur 30
Paul Ricœur, Time and Narrative, Bd. 1, Chicago, London 1985, 54.
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von Interesse, Zeit, kulturelle Zeitauffassungen sowie kollektive Zeitvorstellungen aktiv zu konstruieren und damit Zeitkulturen selbst mitzuformen. Kurzum, es geht um literarische Erzählkunst als Medium der Darstellung und Reflexion, der Modellierung und Konstruktion von Zeit und Zeitkulturen. Anknüpfend an Ricœurs Modell und an die oben genannten Studien sowie in Fortführung von Überlegungen aus einem früheren Aufsatz zum Zusammenhang von innovativen Zeitstrukturen und dem Wandel von Zeiterfahrungen in zeitgenössischen englischen „Zeitromanen“31 möchte ich im Folgenden zu zeigen versuchen, für welche von der seit der Moderne vorherrschenden Zeitkultur der Beschleunigung überdeckten oder marginalisierten Formen von Zeiterfahrung und für welche alternativen Zeitvorstellungen und Zeitkulturen literarische Erzählkunst den Sinn schärfen kann. Zugleich sollen dabei einige der Konzepte für die Literaturwissenschaft fruchtbar gemacht werden, die in den Debatten über die heutige Zeitkultur bzw. in anderen disziplinären Zusammenhängen vorgeschlagen worden sind. Um welches Ziel es dabei geht, haben die Literaturwissenschaftler Michael Gamper und Helmut Hühn, zwei der Initiatoren des DFG-Schwerpunktprogramms „Ästhetische Eigenzeiten“, prägnant umrissen: „Methodisch erschlossen und aufgewiesen werden soll, wie komplex Artefakte mit der Vielzeitigkeit und Heterogenität der Zeitvorstellungen umgehen: wie sie unterschiedliche Ordnungen von Zeit konfigurieren, differente Ordnungsmuster der Zeit miteinander und mit den Formen der alltäglichen Zeiterfahrung in Beziehung setzen und wie sie die Veränderungen geschichtlicher Temporalitätsstrukturen reflektieren.“ 32
3. Die Mannigfaltigkeit von „Zeiten erzählen“: Zur Wiedergewinnung komplexer Zeitvorstellungen durch die literarische Inszenierung von „Multitemporalität“ Wie sowohl der Plural „Zeiten erzählen“33 als auch der Begriff „Multitemporalität“ in der Überschrift dieses Abschnitts signalisieren sollen, gehen die 31
32 33
Vgl. Ansgar Nünning, ‚Time is variable‘. Innovative Zeitstrukturen und der Wandel von Zeiterfahrungen in zeitgenössischen englischen ‚Zeitromanen‘. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 51,4 (2001), 447–465. Michael Gamper, Helmut Hühn, Was sind Ästhetische Eigenzeiten? Hannover 2014, 11. Vgl. den Titel des sehr gelungenen Bandes von L. Weixler, A. Werner (Hg.), Zeiten Erzählen. Ansätze – Aspekte – Analysen, Berlin, Boston 2015.
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folgenden Überlegungen zur literarischen Repräsentation von Zeitvorstellungen von der auf Johann Gottfried Herder zurückgehenden Einsicht aus, dass es die Zeit nicht gibt, sondern nur eine Vielzahl unterschiedlicher Zeiten. Gamper und Hühn haben den von Herder eingeleiteten Prozess der Historisierung, Individualisierung, kulturellen Relativierung und Pluralisierung von Zeit bzw. Zeitvorstellungen in groben Zügen nachgezeichnet und festgestellt: „Die Zeit wird über ihre Transzendentalisierung subjektiviert, sie wird in der Folge pluralisiert, d.h. in Zeiten aufgespalten, und sie wird – die Auflösung in viele Zeiten wiederum unterlaufend – universalisiert.“34 Anstatt einfach Zeit darzustellen, zeichnet sich literarische Erzählkunst gerade dadurch aus, dass sie durch die literarische Inszenierung von „Multitemporalität“ heterogene und sogar inkommensurable Zeitvorstellungen repräsentieren, evozieren und unvermittelt nebeneinander stellen kann. Der Begriff der „Multitemporalität“, der meines Wissens von dem amerikanischen Psychologen Robert Levine in einem sehr spezifischen Sinne zur Charakterisierung des jeweils angemessenen Lebenstempos eingeführt wurde, bezieht sich bei ihm und auch in anderen Disziplinen auf die menschliche Fähigkeit, sich je nach Kontext und Situation flexibel verhalten und schnell oder langsam sein zu können.35 Der auch in der Archäologie, den Wirtschaftswissenschaften und den Postkolonialen Studien verwendete Begriff der „Multitemporalität“ entspricht in etwa dem der Soziologie. So „[…] haben eine Reihe von Zeitsoziologen vorgeschlagen, die Zeitstrukturen der Gegenwartsgesellschaften mithilfe des Konzepts der ‚Multitemporalität‘ zu deuten, das ein situationsflexibles Hin- und Herwechseln zwischen planbarer, linearer und ereignisoffener, ‚verzeitlichter‘ Zeit meint und die neu gewonnenen Gestaltungsspielräume und Zeitsouveränitäten der Subjekte betont.“36 Im Gegensatz zu einer solch relativ engen Definition soll der Begriff der Multitemporalität im Folgenden in einem weiteren Sinne verwendet werden, um das Nebeneinander unterschiedlicher historischer und kultureller Vorstellungen von Zeit in literarischen Texten zu bezeichnen. Während Levine und andere überzeugend nachgewiesen haben, wie sehr Zeitformen und Lebenstempo kulturell variabel sind und wie unterschiedlich Menschen
34 35 36
Michael Gamper, Helmut Hühn, Was sind Ästhetische Eigenzeiten?, Hannover 2014, 10. Vgl. Robert Levine, Eine Landkarte der Zeit – Wie Kulturen mit der Zeit umgehen, München 1997, 283–285. Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt 2005, 277.
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in verschiedenen Kulturen mit der Zeit umgehen,37 haben der Althistoriker Alexander Demandt in seiner brillanten Kulturgeschichte der Zeit und der Historiker Gerhard Dohrn-van Rossum detailreich herausgearbeitet, wie sehr Zeitbegriffe, Zeitempfinden und Zeitvorstellungen historischem Wandel unterliegen.38 Von daher erscheint es sachlich wohl begründet, statt von Zeit im Singular von Zeiten, Zeitvorstellungen bzw. Multitemporalität zu sprechen, eine Einsicht, der auch einige englische Neuerscheinungen zum Thema temporalities gewidmet sind.39 Viele Werke der Erzählkunst tragen sowohl der historischen Wandelbarkeit als auch der kulturellen Variabilität von Zeitvorstellungen dadurch Rechnung, so die erste der beiden Thesen in diesem Abschnitt, dass sie ganz unterschiedliche Zeiterfahrungen und Zeitkonzeptionen unvermittelt gegenüberstellen. Durch die strukturelle Überlagerung verschiedener Zeitebenen und Zeitmodelle kommt es zu einer narrativen Inszenierung der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen bzw. Heterogenen. Darin manifestiert sich die Einsicht, dass Zeit ein historisch und kulturell variables, vom Beobachter abhängiges soziales Konstrukt ist. Trotz der Vielfalt ästhetischer Erscheinungsformen, die Verallgemeinerungen über die großen Werke der Erzählkunst naturgemäß erschweren, zeichnen sich moderne und postmoderne Zeitromane, so die zweite These, außerdem durch eine Reihe von thematischen und strukturellen Merkmalen aus, die als Ausdruck eines sich wandelnden Zeitbewusstseins gedeutet werden können und die zugleich repräsentativ sind für innovative Formen der Zeitdarstellung in Romanen des 20. und 21. Jahrhunderts. Im Gegensatz zu der These von Elizabeth Ermarth, dass in postmodernen Romanen ein neues Konzept einer „rhythmic time“ an die Stelle des lange unangefochtenen Paradigmas des chronologischen Schemas rückt,40 wird in der Romanliteratur der Moderne nicht einfach eine überkommene Zeitvor37 38
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Zur kulturellen Variabilität von Zeit und Zeitvorstellungen vgl. auch den Beitrag von Brigitte Steger im vorliegenden Band. Alexander Demandt, Zeit. Eine Kulturgeschichte, Berlin 2015. Zur historischen Wandelbarkeit von Zeitordnungen und Zeitvorstellungen vgl. auch den Beitrag von Gerhard Dohrn-van Rossum im vorliegenden Band. Vgl. stellvertretend für einige andere z.B. Tyros Miller (Hg.), Given World and Time. Temporalities in Context, Budapest, New York 2008; Michael Gamper, Helmut Hühn, Russel West-Pavlov, Temporalities, London 2013. Vgl. Elizabeth Deeds Ermarth, Sequel to History. Postmodernism and the Crisis of Representational Time, Princeton 1992, 14: “My thesis is this: postmodern narrative language undermines historical time and substitutes for it a new construction of temporality that I call rhythmic time. This rhythmic time either radically modifies or abandons
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stellung – das bis zum Ende des 19. Jahrhunderts vorherrschende chronologisch-lineare Modell einer objektiven historischen bzw. sozialen Zeit – durch ein bestimmtes neues Zeitkonzept ersetzt. Die Besonderheit von modernistischen und zeitgenössischen Zeitromanen besteht vielmehr gerade darin, dass in ihnen die Vielfalt und der historische Wandel ganz unterschiedlicher Zeiterfahrungen und Zeitkonzeptionen mittels neuer Formen der narrativen Gestaltung nebeneinander gestellt werden. Ganz im Sinne von Gumbrechts These, dass an die Stelle der linear-chronologischen Zeitkonfiguration des historischen Denkens des 19. Jahrhunderts „eine sich immer stärker verbreitende Gegenwart der Simultaneitäten“ 41 gerückt ist, zeichnet sich die Erzählkunst des 20. und 21. Jahrhunderts dadurch aus, dass sie zu einer Echokammer vergangener, gegenwärtiger und neuartiger Zeitvorstellungen geworden ist, die als kritisches Korrektiv zur dominanten Zeitkultur der Moderne fungiert. Ein solches Nebeneinander heterogener Zeitvorstellungen ist jedoch nicht erst für den zeitgenössischen Roman kennzeichnend, sondern lässt sich schon in den großen Zeitromanen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beobachten, wie sich allein schon an ihren oftmals ebenso expliziten wie extensiven Reflexionen über Zeit erkennen lässt. Zu den typischen Beispielen zählen neben Thomas Manns Der Zauberberg (1924), Marcel Prousts À la recherche du temps perdu (1913–1927) und Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften (1930/2–1952) auch die Romane der englischen Autorin Virginia Woolf, in denen innovative Formen der Repräsentation von und Reflexion über Zeit eine große strukturelle und semantische Bedeutung zukommt. Besonders eindrückliche und auch eingehend erforschte Beispiele dafür sind etwa das Nebeneinander von den strukturierenden Glockenschlägen des Big Ben und dem subjektiven Zeiterleben der Figuren in Mrs Dalloway (1925), die experimentelle Zeitdarstellung in dem „Time Passes“ betitelten Mittelteil ihres modernistischen Romans To the Lighthouse (1927) und die Überschreitung von Raum- und Zeitgrenzen in der fiktiven Biographie Orlando (1928). Typische Merkmale der Zeitdarstellung in Woolfs Werken sind die häufige Durchbrechung der Chronologie (z.B. durch ausgedehnte Rückwendungen), die Ersetzung des zeitraffenden Erzählerberichts durch zeitdeckende und zeitdehnende Darstellungsweisen sowie die Akzentuierung des subjektiven Zeitempfin-
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altogether the dialectics, the teleology, the transcendence, and the putative neutrality of historical time.” Hans Ulrich Gumbrecht, Unsere breite Gegenwart, Frankfurt a.M. 2010, 104 –105.
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dens der Figuren.42 Wichtiger als die äußere Uhrzeit (clock time) ist in ihren Werken die subjektiv erlebte Zeit (mind time) im Bewusstsein der Figuren. “But Time, unfortunately, though it makes animals and vegetables bloom and fade with amazing punctuality, has no such simple effect upon the mind of man. The mind of man, moreover, works with equal strangeness upon the body of time. An hour, once it lodges in the queer element of the human spirit, may be stretched to fifty or a hundred times its clock length; on the other hand, an hour may be accurately represented on the timepiece of the mind by one second. This extraordinary discrepancy between time on the clock and time in the mind is less known than it should be and deserves fuller investigation.” 43
Obgleich die Zeitdarstellung in Woolfs 1937 erschienenem Roman The Years im Vergleich zu ihrer zunehmenden Experimentierfreudigkeit während der 1920er Jahre auf den ersten Blick relativ konventionell erscheint, zeichnet sich auch dieses Spätwerk, dessen Titel bereits das große Interesse der Autorin an temporalen Phänomenen andeutet, durch die Überlagerung heterogener Zeitvorstellungen aus. Ebenso wie in ihrem Frühwerk Night and Day (1919), mit dem Woolf den als Familienchronik angelegten Roman einige Male verglich,44 versuchte sie in The Years, die äußere Welt der Chronologie und Fakten, das subjektive Zeiterleben der Figuren und die zyklischen Zeitmuster der Natur in gleichem Maße darzustellen. Obwohl das Thema des Romans, der den Niedergang viktorianischer Konventionen im Leben des englischen Bürgertums in der Phase des Übergangs vom Spätviktorianismus bis in die 1930er Jahre schildert, die chronologische Anordnung des Geschehens und die Fokussierung auf sozialgeschichtliche Veränderungen an traditionelle Vorbilder anknüpfen, durchbricht The Years etablierte Konventionen bei der Zeitdarstellung.
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Zu Woolfs Zeitbegriff vgl. Mark Hussey, The Singing of the Real World. The Philosophy of Virginia Woolf ’s Fiction, Columbus/Ohio 1986, 116–129. Zur Semantisierung der Zeitdarstellung in Woolfs Werken vgl. Vera Nünning, ,Increasing the bounds of the moment‘. Die Vielschichtigkeit der Zeiterfahrungen und Zeitdimensionen in den Werken Virginia Woolfs. In: Martin Middeke (Hg.), Zeit und Roman, Würzburg 2002, 297–312; Caroline Lusin, Virginia Woolf und Anton P. Čhekov. Die Semantisierung von Raum und Zeit, Trier 2007. Virginia Woolf, Orlando. A Biography, London 1978 [1928], 91. Vgl. Virginia Woolf, Moments of Being, Jeanne Schulkind (Hg.), London 1985, 70; The Diary of Virginia Woolf, Volume IV: 1931–35, Anne Olivier Bell (Hg.), Harmondsworth 1983, 129, 151–152.
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Während in The Waves (1931) die Bedeutung der äußeren Chronologie und Welt der Fakten auf ein Minimum reduziert ist, wendet sich Woolf in The Years bewusst der historischen Realität zu. Mit der Durchbrechung der chronologischen Ordnung, der Variation der Dauer bzw. des Erzähltempos und der Gegenüberstellung unterschiedlicher Zeitvorstellungen trägt dieser Roman der Tatsache Rechnung, dass auch alltägliche Verrichtungen und gewöhnliche Beobachtungen konstitutive Bestandteile des menschlichen Lebens sind und dass die Bewusstseinstätigkeit durch den ständigen Zufluss von Wahrnehmungen und Gedächtnisinhalten gespeist wird. Er entspricht daher Woolfs Einschätzung, dass die vereinzelten moments of being stets eingebettet sind „in many more moments of non-being“.45 Um die menschliche Wirklichkeits- und Zeiterfahrung in ihrer Komplexität darstellen zu können, hielt Woolf eine harmonische Kontrastierung verschiedener Ebenen für notwendig: “Anyhow, in this book I have discovered that there must be contrast: one strata, or layer can’t be developed intensively, as I did I expect in The Waves, without harm to the others. Thus a kind of form is, I hope, imposing itself, corresponding to the dimensions of the human being.” 46 Diese Einschätzung verdeutlicht, dass sich für Woolf die viktorianische Welt der faktischen Chronologie und die für die Moderne charakteristische Akzentuierung intensiv erlebter Augenblicke und Bewusstseinszustände nicht als sich gegenseitig ausschließende Faktoren darstellen, sondern als zwei konstitutive und eng aufeinander bezogene Bestandteile menschlicher Lebens- und Zeiterfahrung, die in einem ausgewogenem Verhältnis stehen müssen. Ähnlich wie in Woolfs postum erschienenem Roman Between the Acts (1941), in dem sich verschiedene Zeitebenen und Zeitkonzeptionen überlagern, lässt sich am Beispiel der Zeitdarstellung in The Years exemplarisch aufweisen, wie sie in diesem Roman, der keinesfalls ein bloßer Schritt zurück in die Tradition ist, ihr Bemühen um eine neue Synthese erzählerisch umsetzt. Einerseits werden die Ereignisse in ihrer natürlichen historischen Zeitfolge wiedergegeben; die Anordnung des äußeren Geschehensablaufs des Romans, in dem Jahreszahlen als Kapitelüberschriften fungieren, folgt somit den Konventionen mittelalterlicher Chroniken und der realistischen Erzähltradition. Andererseits wird dieses lineare Kontinuum der chronologischen Zeit (clock time) überlagert durch das subjektive Zeitempfinden der Figuren 45 46
Woolf, Moments of Being, 70. Vgl. Diary of Virginia Woolf, Volume IV, 347. Vgl. auch ebd. 274: “The discovery of this book, it dawns upon me, is the combination of the external & the internal.”
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(mind time) und durch zyklische Zeitvorstellungen wie die Abfolge der Jahreszeiten. Die für die meisten Romane Virginia Woolfs charakteristische Form der Multitemporalität zeichnet sich somit dadurch aus, dass unterschiedliche Zeitmodelle und Zeitvorstellungen auf komplexe Weise miteinander verknüpft werden. Die lückenlose Kontinuität des chronologischen Zeitschemas bzw. das in der Moderne dominante Modell der linearen Zeit wird in The Years zum einen durch die willkürliche Auswahl der Jahre, aus denen Episoden aus der Familiengeschichte der Pargiters berichtet werden, und durch die Aussparung langer Zeiträume zwischen den erzählten Ereignissen relativiert. Zum anderen wird die zeitliche Progression, die sich im Nacheinander der Augenblicke auf der Zeitachse manifestiert, immer wieder im Bewusstsein der Figuren zumindest temporär aufgehoben. Es ist kennzeichnend für das subjektive Zeitempfinden der meisten Figuren, dass in ihren Bewusstseinsprozessen das vermeintlich Vergangene, das Gegenwärtige und das Zukünftige zu einer Einheit und umfassenden Gleichzeitigkeit integriert werden. Außerdem tragen die leitmotivische Wiederholung zyklisch wiederkehrender Elemente sowie die Erfahrung der scheinbaren Zeitlosigkeit von Momenten intensiven Erlebens dazu bei, das lineare Zeitmodell und die Vorherrschaft der clock time zu unterminieren. Schließlich folgt die ungeordnete Abfolge der Naturbilder zu Anfang jedes Kapitels weder dem chronologischen Schema noch dem regelmäßigen Tages- und Jahreszeitenzyklus. Dieses Nebeneinander verschiedener Zeitkonzeptionen, das im Gegensatz zu Woolfs frühen Romanen neben dem linear verlaufenden Zeitfluss auch die Fragmentarisierung und Diskontinuität von Wirklichkeits- und Zeiterfahrung erzählerisch vermittelt, verdeutlicht, dass The Years keine Rückkehr zu viktorianischen Erzählkonventionen darstellt, sondern durch eine Synthese von traditionellen und experimentellen Komponenten die Komplexität menschlicher Zeiterfahrung evoziert. Die Struktur des Romans orientiert sich an einem chronologischen Rahmen, ohne das subjektive Zeitempfinden der Figuren zu ignorieren und ohne zu verleugnen, dass sich die episodischen Einheiten des Lebens nicht mehr zu einer kohärenten Geschichte verknüpfen. In noch stärkerem Maße als in Woolfs Romanen und in anderen Werken des Modernismus zeichnen sich viele zeitgenössische Romane dadurch aus, dass sie den Sinn für Multitemporalität dadurch schärfen, dass sie eine Vielzahl historischer und kultureller Zeitvorstellungen unvermittelt nebeneinander stellen. Viele Werke der zeitgenössischen Erzählkunst werden allein schon
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dadurch zu Zeitromanen, dass in ihnen erstens die für die Postmoderne charakteristische Vielfalt inkommensurabler Zeitkonzeptionen, -dimensionen und -erfahrungen immer wieder in selbstreflexiver Weise thematisiert und problematisiert wird. Zweitens schlagen sich der Wandel und die Diversifizierung unterschiedlicher Zeitkonzeptionen darin nieder, dass durch die Aufwertung der Erinnerung und der subjektiven Zeiterfahrung der Figuren das traditionelle Erzählmuster der Sukzession bzw. linearen Abfolge und die damit verknüpfte Vorstellung von Kausalität durch das Prinzip der Koexistenz, des gleichzeitigen Bestehens verschiedener Zeitdimensionen, überlagert werden. Die Einsicht in die Subjektivität individueller Zeiterfahrungen geht in vielen Zeitromanen der Gegenwart drittens einher mit einer Relativierung und Durchbrechung des linear-chronologischen Verlaufsschemas der realistischen Erzähltradition durch achronische und diskontinuierliche Darstellungsformen. Darüber hinaus wird der Wandel des Zeitbewusstseins und der Zeiterfahrung viertens durch die Kontrastierung von Epochen, die Spiegelung von mehreren Handlungssträngen auf unterschiedlichen Zeitebenen und die Durchdringung von Vergangenheit und Gegenwart inszeniert. Fünftens fungiert Intertextualität in vielen Romanen als ein Medium, um die Koexistenz verschiedener Zeiten zu illustrieren und um die Präsenz vergangener Zeitvorstellungen in der Gegenwart zu unterstreichen. Zwei weitere typische Verfahren der Semantisierung von Zeit sind schließlich die Verzeitlichung des Raumes und die Verräumlichung der Zeit, wobei der Wandel temporaler Vorstellungsbilder oftmals durch den Rekurs auf Zeitmetaphern veranschaulicht wird. Da ich an anderer Stelle anhand einer repräsentativen Auswahl englischer „Zeitromane“ exemplarisch gezeigt habe, was für diese innovativen Zeitstrukturen im Einzelnen kennzeichnend ist und wie durch sie der Wandel von Zeiterfahrungen in zeitgenössischen englischen Romanen zur Anschauung gebracht wird, sei hier lediglich auf diesen Aufsatz verwiesen.47 Damit sind bereits viele der innovativen Formen von Zeitdarstellung genannt, die für zeitgenössische Zeitromane kennzeichnend sind und mit Hilfe derer sie Multitemporalität literarisch evozieren. Die Vielfalt der darin zum Ausdruck kommenden Zeitvorstellungen werden in Jeanette Wintersons experimentellem historischen Roman Sexing the Cherry (1989) in einem Kapitel 47
Vgl. Ansgar Nünning, „Time is variable“: Innovative Zeitstrukturen und der Wandel von Zeiterfahrungen in zeitgenössischen englischen „Zeitromanen“. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 51,4 (2001), 447–465.
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über „The Nature of Time“ in expliziten Reflexionen als komplementäre Formen postmoderner Zeiterfahrung charakterisiert: “Thinking about time is to acknowledge two contradictory certainties: that our inward lives are governed by the seasons and the clock; that our outward lives are governed by something much less regular – an imaginative impulse cutting through the dictates of daily time, and leaving us free to ignore the boundaries of here and now and pass like lightning along the coil of pure time, that is, the circle of the universe and whatever it does or does not contain. […] We have dreams of moving backward and forward in time, though to use the words backward and forward is to make nonsense of the dream, for it implies that time is linear, and if that were so there would be no movement, only a forward progression. But we do not move through time, time moves through us. […] If all time is eternally present, there is no reason why we should not step out of one present into another.” 48
Sowohl diese klare Absage an die linear-chronologische Konzeption der thermodynamischen und historischen Zeit sowie an die darin implizierte Vorstellung von Fortschritt als auch der Hinweis, dass sich nicht der Mensch durch die Zeit, sondern die Zeit durch den Menschen bewege, umreißen prägnant einige der Besonderheiten, die für innovative Zeitstrukturen und die darin zum Ausdruck kommenden gewandelten Auffassungen von Multitemporalität in vielen Zeitromanen der Gegenwart kennzeichnend sind. Es sind gerade die fiktionalen Privilegien der Erzählliteratur bei der Zeitgestaltung wie Aussparungen und Pausen sowie eine Beschleunigung oder Verlangsamung des Erzähltempos, durch die Multitemporalität nicht bloß explizit thematisiert, sondern auch mit Mitteln der Erzählkunst literarisch inszeniert und erfahrbar gemacht wird. Neben der diskursiven Auseinandersetzung mit dem Problem der Zeit, die sich in vielen Romanen in ähnlich expliziter Form wie in dem Zitat aus Wintersons Roman findet, ist es gerade kennzeichnend für die „Konstruktionen zeitlichen Erlebens“ 49 in zeitgenössischen Romanen, dass diese durch solche und andere Techniken der Zeitdarstellung und narrativen Strukturierung die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, das unvermittelte Nebeneinander ganz unterschiedlicher Zeitkonzeptionen 48 49
Jeanette Winterson, Sexing the Cherry, London 1990 [1989], 89–90. Astrid Wagner, Konstruktionen zeitlichen Erlebens im zeitgenössischen britischen Roman der achtziger Jahre. Studien zu Romanen von Martin Amis, Ian McEwan, Graham Swift sowie zu Becketts ‚Molloy‘ und Butors ‚L’Emploi du Temps‘, Trier 1996.
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und Zeiterfahrungen in der breiten Gegenwart, akzentuieren. Kennzeichnend für die Repräsentation von Multitemporalität in vielen Zeitromanen des 20. und 21. Jahrhunderts ist es, dass sie die unüberbrückbaren Divergenzen hervorheben, die zwischen dem subjektiven Zeiterleben der Figuren und zyklischen Zeitvorstellungen auf der einen Seite und dem Zeitregime der abstrakten, sozialen und chronologischen Zeit auf der anderen Seite bestehen. Wie Stella Butter in ihrer Studie Kontingenz und Literatur im Prozess der Modernisierung überzeugend herausgearbeitet hat, können Romane durch eine solche „Desynchronisation von verschiedenen Zeitdimensionen“ nicht nur die „Pluralität von verschiedenen Zeitformen“, sondern auch die „Kontingenz des Inkommensurablen in den Vordergrund“ 50 rücken. Allein schon dadurch erfüllt die Erzählkunst insofern eine wichtige Funktion, als sie mit der Darstellung von Multitemporalität als ein wichtiges kulturelles Korrektiv des vorherrschenden Zeitregimes der Beschleunigung und des 24/7 fungiert.
4. „Ästhetische Eigenzeiten“: Zur Wiedergewinnung von „Multitemporalität“ und eines „Achtsamkeitstempos“ durch ästhetische Zeiterfahrung Neben diesem Beitrag zur Wiedergewinnung von „Multitemporalität“ kann die literarische Repräsentation von Zeiterfahrungen und Zeitvorstellungen in der Erzählkunst noch eine weitere wichtige Funktion erfüllen, die man als Sensibilisierung für die Bedeutung eines „Achtsamkeitstempos“ umschreiben kann. Aufgrund der besonderen Merkmale und Privilegien, die für ästhetische Eigenzeiten kennzeichnend sind, kann die Erzählkunst, so die im Folgenden zu erläuternde These, maßgeblich dazu beitragen, Leserinnen und Lesern ästhetische Zeiterfahrungen zu ermöglichen, die sie so in anderen gesellschaftlichen Handlungsbereichen in der Regel nicht machen, und sie dadurch für einen anderen Umgang mit der existentiellen Dimension ihrer Zeit bzw. Lebenszeit sensibilisieren. Wie im vorigen Abschnitt sollen zunächst die zentralen Begriffe, d.h. ästhetische Eigenzeiten und Achtsamkeitstempo, ganz kurz erläutert werden. Der erste Begriff ist von den Initiatoren des DFG-Schwerpunktprogramms „Ästhetische Eigenzeiten“ wie folgt eingeführt und definiert worden: „Ästhetische Eigenzeiten 50
Stella Butter, Kontingenz und Literatur im Prozess der Modernisierung. Diagnosen und Umgangsstrategien im britischen Roman des 19.–21. Jahrhundert, Tübingen 2013, 108.
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werden als exponierte und wahrnehmbare Formen komplexer Zeitgestaltung, -modellierung und -reflexion verstanden, wie sie einzelnen Gegenständen bzw. Subjekt-Ding-Konstellationen eigen sind.“51 Dieses programmatische Konzept, das den von der österreichischen Soziologin Helga Nowotny durch ihr Buch Eigenzeit 52 popularisierten Begriff für die Literatur- und Kunstwissenschaften fruchtbar zu machen versucht, hebt hervor, dass durch künstlerische Darstellung und formale Gestaltung temporaler Phänomene Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft anders konfiguriert werden als in dem jeweils dominanten Zeitregime und dass auf diese Weise alternative Zeitvorstellungen generiert werden: „Es werden so Zeitdimensionen mobilisiert, die zur Funktionszeit quer liegen, umgekehrt können Ästhetische Eigenzeiten aber auch auf als ‚chaotisch‘ erfahrene Zeiterscheinungen ordnend und strukturierend reagieren.“53 Wie im Folgenden gezeigt werden soll, kann Erzählkunst aufgrund dieser Besonderheiten ästhetischer Eigenzeiten andere Zeiterfahrungen ermöglichen und Zeitdimensionen evozieren, die in der heutigen Zeitkultur der Beschleunigung allenfalls eine untergeordnete Rolle spielen. Insbesondere können ästhetische Zeiterfahrungen dazu beitragen, die Aufmerksamkeit und Achtsamkeit von Rezipienten auszuprägen und diese die Vorzüge eines Achtsamkeitstempos erleben lassen. Der für die buddhistische Psychologie und Philosophie grundlegende Begriff der Achtsamkeit (mindfulness) umschreibt der Autor und Mönch Henepola Gunaratana in einfachen Worten: „Achtsamkeit ist nicht-wertende Beobachtung. Sie ist die Fähigkeit des Geistes, ohne Kritik zu beobachten. […] Achtsamkeit ist Bewusstheit der Gegenwart. Sie ereignet sich im Hier und Jetzt. Sie ist Beobachtung dessen, was gerade jetzt, im gegenwärtigen Moment, geschieht.“54 Bei der Erörterung der Frage, was neben einer Balance zwischen Beständigkeit und Veränderung für eine angemessene Veränderungsgeschwindigkeit kennzeichnend sei, erläutert Olaf Georg Klein die meines Wissens von ihm geprägte Wortneuschöpfung „Achtsamkeitstempo“ so: 51
52 53 54
Michael Gamper, Helmut Hühn, Was sind Ästhetische Eigenzeiten?, Hannover 2014, 23–24; diese Definition wird wörtlich genau so in Michael Gamper, Helmut Hühn, Einleitung. In: Michael Gamper, Helmut Hühn, (Hg.), Zeit der Erzählung. Ästhetische Eigenzeiten in Kunst, Literatur und Wissenschaft, Hannover 2014, 7–23, hier: 16 abgedruckt. Helga Nowotny, Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls, Frankfurt a.M. 1993. Michael Gamper, Helmut Hühn, Was sind Ästhetische Eigenzeiten?, Hannover 2014, 24. Bhante Henepola Gunaratana, Die Praxis der Achtsamkeit. Eine Einführung in die Vipassana-Meditation, Heidelberg 1996 [1991], 151 bzw. 152.
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„Ein wichtiges Kennzeichen aber könnte ein sogenanntes ‚Achtsamkeitstempo‘ sein: Solange es uns gelingt, unsere Achtsamkeit für den Augenblick, die Situation und uns selbst aufrechtzuerhalten – wir also weder gehetzt und getrieben noch gelangweilt sind –, haben wir die richtige Veränderungsgeschwindigkeit.“ 55
Die natürlich nahe liegende Frage, warum gerade Erzählkunst geeignet sei, um ein solches „Achtsamkeitstempo“ auszuprägen, lässt sich zunächst einmal durch den Hinweis beantworten, dass bei der Lektüre literarischer Erzählungen Leserinnen gar nichts anderes übrig bleibt, als ihre Aufmerksamkeit dem Augenblick, der Situation und dem Buch zu widmen und dass das Lesen ein äußerst komplexer und relativ langsamer Prozess ist. Wie Herbert Grabes in seinem Pionieraufsatz mit dem schönen Titel „Wie aus Sätzen Personen werden …“ gezeigt hat,56 müssen Leserinnen Worte zu Sätzen zusammenfügen und aus Sätzen Bedeutung, Ereignisabfolgen und Personenvorstellungen erzeugen, bevor sich im Geist mentale Repräsentationen literarischer Figuren ergeben. Bezogen auf das Thema der Zeitdarstellung in der Literatur könnte man den Titel abwandeln zu „Wie aus Sätzen Zeiten und Zeitvorstellungen werden“, um nochmals zu betonen, dass Zeit nicht in einer Erzählung enthalten ist, sondern dass die Erzählkunst Welten, Zeiten und Zeitvorstellungen überhaupt erst hervorbringt, indem sie mit literarischen Mitteln Ereignisse, Zustandsveränderungen und Veränderungsgeschwindigkeiten darstellt. Die Narratologie hat ein detailliertes Raster von Kategorien entwickelt, um Verfahren zu beschreiben, mit deren Hilfe der Eindruck von Zeitraffung, Zeitdeckung oder Zeitdehnung evoziert werden kann, ohne indes der Frage nachzugehen, welche Besonderheiten und Privilegien für ästhetische Zeiterfahrungen kennzeichnend sind und welche Alternativen sie dadurch zu der seit der Moderne vorherrschenden Zeitkultur der Beschleunigung repräsentieren und evozieren kann. Stellt man die durch die Überschrift dieses Abschnitts nahe liegende oder gar provozierte Frage, welche Art von Erzählungen geeignet seien, um zur Wiedergewinnung von „Multitemporalität“ und „Achtsamkeitstempo“ beizutragen, so denken wohl die meisten zunächst an solche Romane, die die inzwischen zu einem kulturellen Schlachtruf avancierte Formel der Entdeckung der Langsamkeit bereits im Titel tragen: allen voran natürlich Sten Nadolnys 55 56
Olaf Georg Klein, Zeit als Lebenskunst, Berlin 2007, 166. Vgl. Herbert Grabes, Wie aus Sätzen Personen werden …: Über die Erforschung literarischer Figuren. In: Poetica 10 (1978), 405–428, der wichtige Einsichten des Ansatzes der kognitiven Narratologie vorwegnimmt.
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Bestseller Die Entdeckung der Langsamkeit (1987), aber auch Romane wie Milan Kunderas Die Langsamkeit (1995), Kazuo Ishiguros The Remains of the Day (1989) oder Slow Man (2005), in dem der Nobelpreisträger J. M. Coetzee das grundlegend veränderte Lebensgefühl und verlangsamte Zeiterleben eines nach einem Unfall beinamputierten Mannes eindringlich schildert. Einen Beitrag zur Entdeckung eines Achtsamkeitstempo können jedoch nicht nur Romane leisten, in denen es thematisch um Langsamkeit geht, sondern die Erzählkunst ist generell vorzüglich dazu geeignet, die Achtsamkeit von Rezipienten zu schulen. Ein Hauptgrund dafür besteht darin, dass Lesen ein äußerst komplexer Vorgang ist, der ein hohes Maß an Aufmerksamkeit beansprucht und der aufgrund der Plastizität des Gehirns maßgeblich zur Ausprägung von dessen Struktur und zur Ausbildung der kognitiven Fähigkeiten des reading brain beiträgt.57 Einen weiteren Grund dafür, dass Lesezeit mit einer für Achtsamkeit förderlichen Verlangsamung einhergeht, hat der französische Roman- und Kinderbuchautor Daniel Pennac in seiner unterhaltsamen Liebeserklärung an das Lesen genannt: „Die Zeit zum Lesen dehnt, wie die Zeit zum Lieben, die Lebenszeit. […] Die Frage ist nicht, ob ich Zeit zum Lesen habe oder nicht […], sondern ob ich mir das Glück, Leser zu sein, leiste oder nicht.“58 Zumindest zwei kurze Beispiele mögen exemplarisch verdeutlichen, wie die Erzählkunst nicht nur die auf der Ebene der Handlung erzählte Zeit, sondern auch die Lesezeit und Lebenszeit dehnen und Leserinnen dabei zugleich für ein höheres Maß an Achtsamkeit sensibilisieren kann. Die beiden Zitate stammen aus Kurzgeschichten der englischen Autorin Virginia Woolf, die in ihren modernistischen Romanen, wie im vorigen Abschnitt gezeigt wurde, durch die Privilegierung des subjektiven Zeitempfindens der Figuren die Diskrepanz zwischen time on the clock und time in the mind hervorhebt. Besonders deutlich wird diese Diskrepanz zwischen chronologischer Zeit und erlebter Zeit in jenen sehr seltenen und intensiv erlebten Augenblicken, die als moments of being bezeichnet werden und in denen sich die Sinnhaftigkeit des Lebens erschließt. Kennzeichnend für Woolfs Erzählkunst ist außerdem die Häufung von Zeitdehnungen (d.h. von Passagen, in denen die Erzählzeit länger ist als die erzählte Zeit) bei der Wiedergabe von Bewusstseinsprozessen. Ein typisches Beispiel dafür bildet Woolfs 1917 erstmals erschienene Kurzge57 58
Vgl. Maryanne Woolf, Proust and the Squid. The Story and Science of the Reading Brain, New York 2007. Daniel Pennac, Wie ein Roman, Köln 2011 [1992], 138.
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schichte „The Mark on the Wall“, in der auf mehreren Seiten die Wahrnehmungen, Erinnerungen und Reflexionen einer Figur geschildert werden, die einen Fleck an der Wand sieht und zu identifizieren versucht, was es damit auf sich hat. Bereits in den ersten Sätzen dieser Kurzgeschichte wird erkennbar, wie Erzählkunst die Achtsamkeit erhöhen kann, indem sie die Aufmerksamkeit auf den Wahrnehmungsprozess und damit auf den gegenwärtigen Moment lenkt: “Perhaps it was the middle of January in the present year that I first looked up and saw the mark on the wall. In order to fix a date it is necessary to remember what one saw. So now I think of the fire; the steady film of yellow light upon the page of my book; the three chrysanthemums in the round glass bowl on the mantelpiece. Yes, it must have been the winter time, and we had just finished our tea, for I remember that I was smoking a cigarette when I looked up and saw the mark on the wall for the first time.”59
Im Zentrum dieser Passage und der gesamten Kurzgeschichte steht eine detaillierte Repräsentation eines Akts der Erinnerung und Beobachtung, der durch die Häufung der Verben der Wahrnehmung zusätzlich betont wird („to remember what one saw“, „remember“, „looked up and saw“). Die Lektüre eines solchen Werkes der Erzählkunst gibt Rezipienten Gelegenheit, die Fähigkeit des Geistes zu schulen, ohne Kritik oder Wertung eine bestimmte Situation möglichst genau zu beobachten. Durch die Zeitdehnung bzw. Verlangsamung des Erzähltempos tragen solche Werke außerdem dazu bei, Achtsamkeit bzw. Bewusstheit der Gegenwart auszuprägen. Genau wie sich die Wahrnehmung der Figur im Hier und Jetzt der erzählten Welt ereignet, vollzieht sich die Lektüre, die gleichsam eine Beobachtung einer Wahrnehmung, mithin eine Beobachtung zweiter Ordnung, ist, im Hier und Jetzt des Rezeptionsvorgangs. In beiden Fällen geht es um die möglichst genaue und unvoreingenommene Beobachtung dessen, was jeweils gerade jetzt, im gegenwärtigen Moment, in der erzählten Welt bzw. während der Lektüre geschieht. Auch die zweite Textstelle aus Woolfs Kurzgeschichte „Kew Gardens“ (1919) ist ein typisches Beispiel dafür, wie durch Zeitdehnung die Aufmerksamkeit der Rezipienten auf jedes Detail der Situation gelenkt, das Erzähltempo durch Zeitdehnung verlangsamt und die Achtsamkeit geschärft wird. Der Titel der Geschichte verweist auf den Schauplatz des ähnlich ereignis59
Virginia Woolf, The Mark on the Wall [1917]. In: Susan Dick (Hg.), The Complete Shorter Fiction of Virginia Woolf, San Diego, New York, London 1985, 83–89, hier: 83.
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armen Geschehens, den botanischen Garten im Londoner Bezirk Richmond. Anstatt jedoch diese berühmte Sehenswürdigkeit mit ihren Gewächshäusern, Museen, einer Orangerie sowie einem reichem Bestand an alten Bäumen und seltenen Pflanzen zu beschreiben, werden fragmentarische Eindrücke und Gesprächsfetzen aus einer ungewohnten Perspektive geschildert: “In the oval flower-bed the snail, whose shell had been stained red, blue and yellow for the space of two minutes or so, now appeared to be moving very slightly in its shell, and next began to labour over the crumbs of loose earth which broke away and rolled down as it passed over them. It appeared to have a definite goal in front of it, differing in this respect from the singular high-stepping angular green insect who attempted to cross in front of it, and waited for a second with its antennae trembling as if in deliberation, and then stepped off as rapidly and strangely in the opposite direction.” 60
Indem die Aufmerksamkeit auf die extrem langsamen Bewegungen und mutmaßlichen Beweggründe einer Schnecke gelenkt wird, die als perspektivisches Orientierungszentrum fungiert, kommt es auch in dieser Geschichte zu einer als Zeitdehnung bezeichneten Verlangsamung des Erzählens. Auch die Lese- und Zeiterfahrung, die sich durch die Lektüre von „Kew Gardens“ vollzieht, ist ein sehr anschauliches Beispiel dafür, wie Erzählkunst zur Wiedergewinnung eines Achtsamkeitstempos beitragen kann. Doch nicht nur durch solche Geschichten, sondern durch die Erzählkunst generell wird die Aufmerksamkeit auf die jeweils evozierte Welt, die geschilderte Situation und den gegenwärtigen Augenblick gelenkt und damit die Achtsamkeit gefördert. Gerade in der gegenwärtigen Medienkulturgesellschaft und „Ökonomie der Aufmerksamkeit“, in der Aufmerksamkeit zu einer ebenso knappen wie begehrten Ressource und gleichsam zu einer neuen Währung geworden ist, könnte die Erzählkunst durch die von ihr ermöglichten ästhetischen Zeiterfahrungen einen wichtigen Beitrag zur Wiedergewinnung einer zunehmend in Vergessenheit geratenen „Selbstaufmerksamkeit“61 und eines Achtsamkeitstempos leisten, das sich als ein überlebensnotwendiges Korrektiv zur ansonsten vorherrschenden sozialen Beschleunigung erweisen könnte. Damit ist zugleich die grundsätzliche Frage angesprochen, worin der besondere Wert der Erzählkunst besteht und welche Funktionen sie im Hinblick auf den Umgang mit Zeit und Zeitkulturen erfüllen kann. 60 61
Virginia Woolf, „Kew Gardens“ [1919]. In: S. Dick (Hg.), The Complete Shorter Fiction of Virginia Woolf, San Diego, New York, London 1985, 90–95, hier: 91. Vgl. dazu im Einzelnen Georg Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf, München 1998, hier: 237–247.
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5. Faszination und Wert der Erzählkunst: Literatur als Zeit-Maschine, als Medium zur Entschleunigung und als Beitrag zur Entwicklung einer anderen Zeitkultur Blickt man abschließend zurück auf die eingangs aufgeworfenen Fragen, so lässt sich trotz des notgedrungen unvollständigen Charakters dieser exemplarischen Untersuchung des Verhältnisses von Erzählliteratur und impliziten Zeitvorstellungen und Zeitkulturen folgendes vorläufiges Fazit ziehen. Vor allem seit der Moderne beschränkt sich Literatur keineswegs darauf, die immer stärker vorherrschende Zeitkultur der Beschleunigung mimetisch darzustellen, wiewohl es auch dafür zahllose – oftmals satirisch zugespitzte – Beispiele gibt, von denen stellvertretend für eine Vielzahl anderer etwa der Anfang von Sinclair Lewis’ Roman Babbitt (1925) genannt seien. Vielmehr zeichnet sich die Erzählkunst des 20. und 21. Jahrhunderts vielfach vor allem dadurch aus, dass sie den gesellschaftlich vorherrschenden Zeitkulturen alternative Zeitvorstellungen gegenüberstellt und Rezipienten reichhaltige Möglichkeiten eröffnet, ästhetische Zeiterfahrungen zu machen, die ihnen in der Lebenswelt zunehmend verwehrt werden. Wenn man die Faszination und den Wert der Erzählkunst prägnant zusammenfassen möchte, so liegen vier Funktionshypothesen nahe, die man verkürzt so auf den Begriff bringen kann: Ausprägung des Möglichkeitssinns, Erzählkunst als Zeit-Maschine bzw. Zeit-Experiment, Literatur als Medium zur Entschleunigung bzw. Entdeckung des Achtsamkeitstempos und Erzählkunst als Beitrag zur Entwicklung einer anderen Zeitkultur. Zunächst einmal schärft die Erzählkunst jenen Sinn für alternative Optionen und Welten, die in Musils monumentalem Roman Der Mann ohne Eigenschaften als „Möglichkeitssinn“ bezeichnet wird: „So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“ 62 Das Leistungsvermögen der Erzählkunst besteht nicht zuletzt darin, dass sie die Kontingenz der jeweils dominanten Interpretationsrahmen, kulturellen Modelle und vorherrschenden Zeitvorstellungen nicht nur bewusst macht, sondern durch die Inszenierung von Multitemporalität zugleich implizit die kritische Frage aufwirft, welche alternativen Regeln und Schemata für den Umgang mit Zeit eventuell besser geeignet wären, um zentrale Probleme einer Gesellschaft oder Kultur zu lösen. Zwar mag dies in einer Zeit, in der führende Politiker ihre eigenen Entscheidungen und folgenreiche 62
Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek bei Hamburg1978 [1930/2–1952], 16.
Zeit in der Erzählkunst
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Maßnahmen gerne als „alternativlos“ bezeichnen und in der die permanente Beschleunigung aller Lebensbereiche zum Nachdenken immer weniger Zeit zu lassen scheint, schwieriger denn je sein. Doch es ist gleichwohl auch wichtiger denn je, sich einen Sinn für Alternativen und die Kontingenz der in der Moderne vorherrschenden Zeitregimes zu erhalten, das im Rahmen der heutigen Fortschritts- und Wachstumsideologie eine nahezu unbefragte Gültigkeit erlangt zu haben scheint. Dieser Möglichkeitssinn wird durch die Erzählkunst vor allem dadurch geschärft, dass sie der in der heutigen Lebenswelt vorherrschenden Zeitkultur der Beschleunigung und des 24/7 eine Vielfalt alternativer Zeiterfahrungen und Zeitvorstellungen gegenüberstellt. In dieser Hinsicht erfüllen viele Romane eine weitere wichtige Funktion, die darin besteht, neue Metaphern und marginalisierte Vorstellungen von Zeit zu generieren. In Analogie zu sehr prägnanten Formulierungen von Konstanze Fliedl, die treffend von „WeltExperimenten“ und von Literatur als „Weltbild-Maschine“ gesprochen hat,63 könnte man daher von literarischen Zeit-Experimenten und von Erzählkunst als Zeit-Maschine sprechen. Mit dem Begriff der Zeit-Maschine sind keineswegs nur jene Erzählungen gemeint, die zu den Genres des Zeitreiseromans, des historischen Romans und der Science Fiction zählen. Vielmehr generiert jeder Roman nicht nur eine eigene Welt, sondern damit auch ein Raum-ZeitKontinuum sowie bestimmte Vorstellungen von Zeit. Darüber hinaus setzen sich einige Zeitromane auch so intensiv und selbstreflexiv mit dem Phänomen der Zeit auseinander, dass man sie mit Fug und Recht als Gedankenexperimente oder eben als literarische Zeit-Experimente bezeichnen könnte. Das vielleicht einschlägigste Beispiel dafür ist wohl der Zeitroman Einstein’s Dreams (1993) des amerikanischen Astrophysikers Alan Lightman, in dem Albert Einsteins Theorie der Zeit und seine Träume über mögliche Welten geschildert werden, in denen die Zeit langsamer oder schneller vergeht, stillsteht, springt, rückwärts läuft oder allerlei andere Kapriolen schlägt. Über diese kulturellen Funktionen hinaus verweisen gerade Zeitromane aber auch auf die große Bedeutung, die der Beschäftigung mit Geschichte und Zeit in der Erzählkunst zugeschrieben werden. Darin gründet zugleich die dritte der oben formulierten Hypothesen, die als das „anthropologische Funktionspotential“ der Erzählkunst bzw. des Zeitromans bezeichnet werden kann. 63
Konstanze Fliedl, Weltbilder in der Literatur – Konstrukte der Literaturwissenschaft. In: Emil Brix, Gottfried Magerl (Hg.), Weltbilder in den Wissenschaften, Wien, Köln, Weimar 2005, 129–146, hier: 129 bzw. 134.
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Mit ihren vielfältigen Überschreitungen von Zeitgrenzen illustrieren gerade Genres wie Dystopien, historische Romane, Science Fiction und Zeitromane Hans Ulrich Gumbrechts Thesen über die Anthropologie der Geschichtsschreibung, die gerade auch für Zeitromane zutrifft. Gumbrecht zufolge ist „die Faszination durch Historiographie […] fundiert in einem vorreflexiven anthropologischen Bedürfnis, die Grenzen eigener Lebenszeit zu transzendieren.“ 64 Er fasst damit die von der Historiographie eröffnete Möglichkeit zusammen, sich imaginativ in vergangene Erlebnisstrukturen zurückzuversetzen und damit die eigene Lebenszeit in Richtung auf die Vergangenheit hin zu überschreiten. Ebenso wie historische Romane erfüllen auch Zeitromane nicht nur in vorzüglicher Weise die dafür nötigen Bedingungen, sondern auch noch Bedürfnisse nach weiteren Grenzüberschreitungen. Zeitromane können sowohl die lebensweltlichen Grenzen überwinden, die der „räumlichen Reichweite unseres Handelns“ und „unserer Fähigkeit zum Nachvollzug der Bewusstseinsabläufe anderer Menschen“ 65 gesetzt sind, als auch die Grenzen der eigenen Lebenszeit, indem sie den Akzent von der bloßen Abbildung der vorherrschenden Zeitkultur auf die Reflexion über Erfahrungen und Vorstellungen von Zeit verlagern. Darüber hinaus sind die Faszination und der Wert der Erzählkunst gerade in der heutigen Zeit ganz maßgeblich darin begründet, dass Literatur als ein wichtiges Medium zur Entschleunigung und damit als Korrektiv zu den von der Zeitsoziologie detailliert herausgearbeiteten Mechanismen des Akzelerationszirkels der sozialen und technischen Beschleunigung fungieren kann. Wie ich im vorigen Abschnitt zu zeigen versucht habe, verlangt die Lektüre komplexer literarischer Erzähltexte nicht nur ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und Konzentration, sondern sie kann auch eine Art Schule zur Entdeckung der Kreativität von Langsamkeit und von Achtsamkeit sein. Wer einmal die vielen Vorzüge des Achtsamkeitstempos entdeckt hat, ohne das niemand einen Roman lesen oder verstehen kann, wird vielleicht auch in anderen Lebensbereichen häufiger innehalten und sich die Eigenzeit lassen, die bestimmte Ereignisse und kluge Entscheidungen benötigen.
64
65
Hans Ulrich Gumbrecht, „Das in vergangenen Zeiten Gewesene so gut erzählen, als ob es in der eigenen Welt wäre“. Versuch zur Anthropologie der Geschichtsschreibung. In: Reinhart Koselleck, Heinrich Lutz, Jörn Rüsen (Hg.), Formen der Geschichtsschreibung, München 1982. 480–513, hier: 507. Hans Ulrich Gumbrecht, „Das in vergangenen Zeiten Gewesene so gut erzählen, als ob es in der eigenen Welt wäre“, 512.
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Aufgrund des Potentials der Erzählkunst, mit ihren literarischen Zeitexperimenten als Zeit-Maschine, als Medium zur Wiedergewinnung marginalisierter Zeitdimensionen oder vergessener Zeitqualitäten sowie als Medium zur Entschleunigung zu fungieren, kann sie auch einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung einer anderen Zeitkultur leisten, wie sie der Philosoph Wilhelm Schmid in seiner sehr lesenswerten Philosophie der Lebenskunst im Kontext der Grundlegung einer anderen Moderne skizziert hat. Wenn Schmid dafür plädiert, Zeit sinnvoll zu gebrauchen statt sie zu verbrauchen und „nicht dem Diktat einer herrschenden Auffassung von Zeit nur zu folgen, sondern sich die Zeit selbst anzueignen“,66 dann ist man als Literaturwissenschaftler geneigt hinzuzufügen, dass einem die Erzählkunst genau diese Möglichkeit eröffnet. Aufgrund ihrer Privilegien bei der Gestaltung von Multitemporalität und bei der Variation temporaler Qualitäten wie Anordnung, Dauer, Frequenz und Erzählrhythmus ist gerade die Erzählkunst vorzüglich dazu geeignet, um jene „zeitliche Erweiterung des geistigen Horizonts“67 durch Vergangenheit und Zukunft sowie durch Zeitdimensionen und Zeitvorstellungen, die in der Gegenwart allenfalls noch eine untergeordnete Rolle spielen, zu begünstigen. Auf diese Weise kann die Literatur Leserinnen und Lesern nicht nur zu Unrecht vernachlässigte Zeitqualitäten wie Beständigkeit, Pausen, Ruhe, Wiederkehr ins Bewusstsein bringen, sondern auch zu jener neuen Zeitkultur beitragen, die Schmid für eine andere Moderne entwirft: „Der andersmoderne, autonome Gebrauch der Zeit lässt sich nicht mehr von der Dominanz der modernen, heteronomen Zeitkonzeption einschüchtern, sondern spielt mit den Erscheinungsformen der präzise gemessenen technischen Zeit ebenso wie mit der ganz anders gelagerten zyklischen Zeit der subjektiven Phasen und Befindlichkeiten.“68
Indem viele Werke der Erzählkunst sowohl die historische Wandelbarkeit als auch die kulturelle Variabilität von Zeitvorstellungen darstellen, tragen sie maßgeblich zur Wiedergewinnung von Multitemporalität sowie zu einem elastischeren und flexibleren Umgang mit Zeit bei. Besonders deutlich wird diese überfällige Erinnerung an in Vergessenheit geratene Zeitqualitä66 67 68
Wilhelm Schmid, Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung, Frankfurt a.M. 1998, 355 bzw. 356. Wilhelm Schmid, Philosophie der Lebenskunst, 356. Wilhelm Schmid, Philosophie der Lebenskunst, 359.
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ten in Zeitromanen wie Ruth Ozekis A Tale for the Time Being (2013), in dem buddhistische Zeitvorstellungen, intertextuelle Anspielungen auf Prousts À la recherche du temps perdu und Reflexionen über alternative Zeitvorstellungen als Korrektiv für das Zeitregime der westliche Moderne fungieren. Die „Bedeutung der Zeit in der Erzählkunst“ liegt somit nicht zuletzt darin begründet, dass die Erzählliteratur mit ihren variationsreichen Erzählrhythmen ästhetische Zeiterfahrungen ermöglicht, die „den rhythmischen Verläufen der Lebenszeit und der Erlebniszeit aufs nächste verwandt“ 69 sind und ihnen sehr viel mehr entsprechen als das eindimensionale Zeitregime der Beschleunigung und des digitalen 24/7, das die gegenwärtige Zeitunkultur zwar prägt, aber nicht auszeichnet. Für die Literaturwissenschaft leitet sich aus dem Gesagten nicht nur die Chance, sondern auch die Verpflichtung ab, in stärkerem Maße als sie es bislang getan hat, nicht nur das besondere Leistungsvermögen und den Wert der Literatur herauszuarbeiten, sondern auch auf die Folgeschäden hinzuweisen, die mit dem Siegeszug von Beschleunigung und Taylorisierung aller Lebensbereiche – in den letzten Jahren gerade auch des „modularisierten“ Studiums – unweigerlich einhergehen. Anstatt es klaglos hinzunehmen, dass durch so genannte „Modulhandbücher“ und „Workloads“ vorgegeben und festgeschrieben wird, wie lange komplexe und in der Regel gar nicht messbare Prozesse des Erwerbs von wissenschaftlichem Wissen und Können – ganz zu schweigen vom individuellen Prozess der Bildung – zu dauern haben, wäre es höchste Zeit, Konzepte wie Eigenzeit, Ereigniszeit und Achtsamkeitstempo in die hochschulpolitischen Debatten einzuführen und das Studium (wieder) an solchen der Bildung ungleich besser entsprechenden Konzepten zu orientieren. Doch die letzten Worte und Sätze möchte ich lieber Friedrich Nietzsche überlassen, der in seiner 1887 erschienenen „Vorrede“ zu Morgenröte, Gedanken über die moralischen Vorurteile schon vor mehr als 125 Jahren sehr bedenkenswerte Überlegungen darüber angestellt hat, worin die Eigenart und die Bedeutung der Philologie besteht. Was Nietzsche über die Philologie schreibt, gilt nicht nur gleichermaßen für die Erzählliteratur und den kunstvollen Umgang mit Zeit, den sie nahe legt, sondern könnte auch die Literaturwissenschaft daran erinnern, worin auch heute noch bzw. gerade heute wieder ein keineswegs unwichtiger Teil ihrer gesellschaftlichen Bedeutung beste69
Günther Müller, Die Bedeutung der Zeit in der Erzählkunst [1946/7]. In: Ders., Morphologische Poetik. Gesammelte Aufsätze, Tübingen 1968, 247–268, hier: 254.
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hen könnte – in ihrem Potential, Studierenden die Vorzüge eines achtsamen, langsamen und sorgfältigen Lesens zu vermitteln und damit ganz wesentlich zu ihrer Bildung beizutragen: „Man ist nicht umsonst Philologe gewesen, man ist es vielleicht noch, das will sagen: ein Lehrer des langsamen Lesens. […] Philologie nämlich ist jene ehrwürdige Kunst, welche von ihrem Verehrer vor allem eins heischt, beiseite gehn, sich Zeit lassen, still werden, langsam werden –, als eine Goldschmiedekunst und -kennerschaft des Wortes, die lauter feine vorsichtige Arbeit abzutun hat und nichts erreicht, wenn sie es nicht lento erreicht. Gerade damit aber ist sie heute nötiger als je, gerade dadurch zieht sie und bezaubert sie uns am stärksten, mitten in einem Zeitalter der „Arbeit“, will sagen: der Hast, der unanständigen und schwitzenden Eilfertigkeit, das mit allem gleich „fertig werden“ will, auch mit jedem alten und neuen Buche: sie selbst wird nicht so leicht irgend womit fertig, sie lehrt gut zu lesen, das heißt langsam, tief, rück- und vorsichtig, mit Hintergedanken mit offengelassenen Türen, mit zarten Fingern und Augen lesen …“70
70
Friedrich Nietzsche, „Vorrede“ zu Morgenröte, Gedanken über die moralischen Vorurteile. In: Karl Schlechta (Hg.), Werke in drei Bänden, Erster Band, München 1958 [1887],
Geformte Zeit in der Musik Werner Goebl
Die Musik ist eine Kunstform, die über die Zeit abläuft. Zeit in der Musik ist in einer ganz speziellen Weise geformt: Sie wird von mehr oder weniger gleichmäßig wiederkehrenden periodischen Ereignissen bestimmt, die als Takt, als „Beat“, als Puls wahrgenommen werden. Innerhalb dieses Pulsgefüges erleben wir die rhythmische Komplexität der einzelnen Töne und können diese intuitiv in hierarchische, metrische Strukturen einteilen, wodurch etwa auch musikalische Laien ohne Weiteres imstande sind, den Beat eines Musikstückes mit zu klopfen oder sich im Takt dazu zu bewegen. Vor allem in der Aufführung „klassischer Musik“ spielt die zeitliche Ausformung der einzelnen Töne eine zentrale Rolle, denn sie ist c neben beispielsweise Dynamik, Artikulation, Intonation – einer der wichtigsten Ausdrucksparameter der musikalischen Interpretation, also der künstlerischen Deutung und klanglichen Realisation eines musikalischen Werkes. Die empirische Performance-Forschung versucht, den musikalischen Ausdruck als eine „ästhetische Abweichung von der Regularität“ der Partitur zu definieren und diese durch möglichst genaue Messungen zu quantifizieren. Zur Vorstellung eines solchen empirischen Zuganges möchte ich im Folgenden drei Aspekte der musikalischen Zeitgestaltung anhand von expliziten Beispielen darlegen. (1) Die musikalische Interpretation wird hier durch eine animierte Visualisierungsmethode beschrieben, die die Entwicklung der beiden prominentesten Ausdrucksparameter, nämlich lokales Tempo und Lautheit im Ablauf eines Musikstückes darstellt: der sogenannte „PerformanceWurm“. Mithilfe dieses „Wurmes“ können wesentliche Unterschiede (und Gemeinsamkeiten) zwischen der Interpretation berühmter Pianisten (etwa Alfred Brendel versus Friedrich Gulda) augenfällig aufgezeigt werden. (2) Ein weiterer zeitlicher Aspekt der musikalischen Interpretation ist die Synchronisation einzelner Stimmen mit- bzw. deren bewusste Asynchronizität zueinander als eine Form des künstlerischen Ausdrucks (Stichwort „Tempo Rubato in seinem früheren Sinne“ nach Richard Hudson1). Diese künstlerische Asynchronizität findet man in der Musik des 18. und 19. Jahrhunderts ebenso wie in anderen (heutigen) Genres, z.B. im Jazz. (3) Und zuletzt diskutiere ich kurz zeitliche 1
Richard Hudson, Stolen Time: The History of Tempo Rubato. Oxford, 1994.
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Werner Goebl
Adaptierungsprozesse, die Musizierende anwenden, wenn sie miteinander einen gemeinsamen musikalischen Ausdruck umsetzen. Dabei stelle ich einen Ausstellungsbeitrag zu einer wissenschaftsvermittelnden Wanderausstellung, den „Tapping Friend”, vor, der auch auf dem Österreichischen Wissenschaftstag 2015 am Semmering ausprobiert werden konnte.
Zeitgestaltung als musikalischer Ausdruck “The artistic expression of feeling in music consists in esthetic deviation from the regular — from pure tone, true pitch, even dynamics, metronomic time, rigid rhythms etc.”2
Diese frühe Definition von musikalischem Ausdruck durch Carl Emil Seashore als eine ästhetische Abweichung von der Regularität der Partitur bildet seither die Grundlage für empirische Performance-Forschung.3 Die musikalischen Ausdrucksparameter, die Musizierende steuern können und die somit in dieser Forschung betrachtet werden, sind Timing und Tempo auf einer globalen und lokalen Ebene, Lautstärke oder Dynamik der einzelnen Töne, Artikulation (Verbindung der Töne), Vibrato, Intonation, um nur die wichtigsten zu nennen. Mit der Evolution digitaler Tonaufzeichnung und der leichteren Verfügbarkeit von Computerflügeln4 entstanden im späten 20. Jahrhundert zahlreiche Forschungsbeiträge, die sich besonders mit Klavier-Performance beschäftigten.5 2
3 4
5
Carl E. Seashore, Psychology of Music. New York, 1938, 9. „Der künstlerische Ausdruck von Gefühl in der Musik besteht aus der ästhetischen Abweichung von der Regularität – vom reinen Tone, wahrer Tonhöhe, gleichförmiger Dynamik, metronomischem Timing, starren Rhythmen etc.“ (Meine Übersetzung.) Vgl. dazu z.B. A. Gabrielsson, I. Bengtsson, and B. Gabrielsson, Performance of Musical Rhythm in 3/4 and 6/8 Meter. In: Scandinavian Journal of Psychology, 24 (1983), 193–213. Für eine Übersicht über Aufnahme- und Messtechnologien siehe W. Goebl, S. Dixon, G. De Poli, Anders Friberg, R. Bresin und G. Widmer, „Sense“ in Expressive Music Performance: Data Acquisition, Computational Studies, and Models. In: P. Polotti and D. Rocchesso, Sound to Sense – Sense to Sound: A State of the Art in Sound and Music Computing, Berlin 2008, 195–242. Vgl. dazu z.B.: B. H. Repp, Diversity and Commonality in Music Performance: An Analysis of Timing Microstructure in Schumann’s „Träumerei“. In: Journal of the Acoustical Society of America, 92 (1992), 2546–2568; C. Palmer, Music Performance. In: Annual Review of Psychology, 48 (1997), 115–138; oder A. Gabrielsson, Music Performance. In: D. Deutsch (Hg.), Psychology of Music. San Diego (1999), 501– 602.
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Chopin Etude op. 10/3, E-Dur
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9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 Partitur-Zeit (Takt)
Abbildung 1: Lautheits- (oben) und Tempo-Verlauf (unten) einer Interpretation von Chopins dritter Etüde aus Opus 10 durch einen Klavierstudierenden der Wiener Musikuniversität.
Da in der Musik sich Klang über die Zeit entwickelt, sind mit den Parametern Tempo und Dynamik die beiden wichtigsten Dimensionen der musikalischen Interpretation erfasst. In Abbildung 1 ist die Lautheits- (oben) und Tempo-Entwicklung (unten) jeder einzelnen Sechzehntel über die PartiturZeit aufgetragen. Das Tempo wird angegeben in Anzahl der Viertelnoten pro Minute in Analogie zu Mälzels Metronom (M.M.), wie es in der Musikpraxis oft verwendet wird. Wir bestimmen das Tempo einer Note, indem wir den zeitlichen Abstand zur vorhergehenden Note messen und dann, je nach symbolischer Länge dieser Note in der Partitur (also Sechzehntel, Achtel, …) einen lokalen Tempowert in Viertelnoten pro Minute errechnen. Bei mehreren Noten an einer Partiturstelle nehmen wir die jeweils höchste (meistens die Melodienote). Der abgebildete Lautheitswert spiegelt die jeweilige Gesamtdynamik aller Einzelstimmen einer Sechzehntelnote wider. Abgebildet ist die ganz persönliche Interpretation eines Konzertfachstudierenden der Wiener Musikuniversität aus dem Jahr 1999, aufgezeichnet mit einem Bösendorfer
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Partitur-Zeit (Takt)
Abbildung 2. Lautheits- (oben) und Tempo-Verlauf (unten) einiger Interpretationen von Chopins dritter Etüde aus Opus 10 durch 22 Klavierstudierende und -professoren der Wiener Musikuniversität (in blau) sowie 8 weitere, berühmte Pianisten (rot): Claudio Arrau, Vladimir Ashkenazy, Shura Cherkassky, Vladimir Horowitz, Murray Perahia, Maurizio Pollini, Swjatoslaw Richter (zweimal). Die Tonaufnahmen der 22 Interpretationen können online nachgehört werden: http://iwk.mdw.ac.at/goebl/mp3.html
Computerflügel SE290, einem akustischem Konzertflügel, der die Anschlagszeit und Anschlagstärke jedes einzelnen gespielten Tones mit höchster Präzision aufzeichnet.6 In der Lautheits-Kurve kann man den dynamischen Höhepunkt in Takt 17 nachverfolgen, in der Tempokurve sind auf den ersten Blick kaum Regelmäßigkeiten zu erkennen, manchmal spielt dieser Studierende schneller, manchmal langsamer – eben eine ganz persönliche Interpretation. Sieht man sich dagegen aber die selbe Information von 22 Klavierstudieren6
Die Aufnahmen sind hier genau dokumentiert: W. Goebl, Melody Lead in Piano Performance. Expressive Device or Artifact? In: Journal of the Acoustical Society of America, 110 (2001), 563 –572.
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den und -professoren der Wiener Musikuniversität an (Abbildung 2, 22 blaue Linien), gemeinsam mit den Interpretationen von Claudio Arrau, Vladimir Ashkenazy, Shura Cherkassky, Vladimir Horowitz, Murray Perahia, Maurizio Pollini, Swjatoslaw Richter (zweimal) (Abbildung 2, rote Linien), so wird klar, dass hier nicht nur persönliche Interpretationsentscheidungen eine Rolle spielen, sondern auch grundlegende Gesetzmäßigkeiten existieren, denen alle Pianisten gehorchen. Man erkennt gut, dass nach Takt 6 alle langsamer werden und nach Takt 9 sogar noch stärker. Wenn man das mit der Phrasen-Struktur dieses Stückes vergleicht (Klammern unten) wird klar, dass zwischen Tempogestaltung und Phrasenstruktur ein Zusammenhang besteht: Am Beginn einer Phrase beschleunigt sich das Tempo, um am Ende wieder abzubremsen, und das sogar mehr, je strukturell wichtiger die Phrasengrenze ist. Beispielsweise nach 8 Takten verlangsamen alle Pianisten deutlich mehr als nach 5 Takten, wo nur eine Phrase auf einer kleineren Ebene zu Ende war. Man sieht auch einen ähnlichen Effekt in der Dynamik (Abbildung 2 oben): Am Beginn einer Phrase entwickelt sich die Lautheit nach oben, an deren Ende wieder nach unten. Dieses Prinzip wurde beispielsweise von Neil Todd in einem einfachen Computermodell beschrieben: Er koppelte einfach Tempo und Dynamik direkt an die hierarchische Phrasenstruktur der Partitur und erzeugte somit zwar keine sehr kreative musikalische Interpretation, aber immerhin eine wesentlich überzeugendere als eine komplett mechanische, wie sie ein Computer leicht erzeugen kann.7 Dieser direkte Zusammenhang ist auch in uns Menschen sehr tief verankert: Wenn man beispielsweise Musiker bittet, ein Stück möglichst ohne Variationen komplett mechanisch zu spielen, erhält man trotzdem diese typischen phrasenabhängigen Kurven, nur in einem etwas geringerem Ausmaß.8 Sogar wenn Musiker zu einem komplett regelmäßigen Metronom dazuklopfen und sie werden gebeten, sich ein gewisses Musikstück nur im Geiste vorzustellen, entstehen diese Tempokurven.9 Trotz dieser Automatismen gibt es natürlich einen enormen Freiraum zur persönlichen Interpretation von musikalischen Werken, die wir jeden Tag im Kon7 8 9
N. P. McAngus Todd, The Kinematics of Musical Expression. In: Journal of the Acoustical Society of America 97 (1995), 1940–1949. C. Palmer, Mapping Musical Thought to Musical Performance. In: Journal of Experimental Psychology: Human Perception and Performance 15 (1989), 331–346. B. H. Repp, The Embodiment of Musical Structure: Effects of Musical Context on Sensorimotor Synchronization with Complex Timing Patterns. In W. Prinz and B. Hommel (Hg.), Common Mechanisms in Perception and Action: Attention and Performance. Oxford 2002, 245–265.
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Werner Goebl
zertsaal erleben können. Somit kann man die musikalische Interpretation in dem Spannungsfeld zwischen normativer Vorgabe (die intuitive Umsetzung einiger Eigenschaften des Notentextes) und individueller Gestaltung sehen, also zwischen Commonality and Diversity, wie Bruno Repp es beschreibt.10 Im Folgenden soll eine integrative Visualisierung dieser beiden Parameter – Tempo und Lautheit – gezeigt werden, ein Ansatz, der von Jörg Langner und mir umgesetzt wurde.11 Diese animierte Visualisierung von musikalischem Ausdruck vereint die beiden prominentesten und gleichzeitig wichtigsten Ausdrucksparameter (lokales) Tempo und Lautheit, um die idiosynkratischen Eigenschaften individueller Interpretationen intuitiv aufzuzeigen. 12 Die Animation entwickelt sich am Bildschirm synchron zur Audioaufnahme und stellt den Messwert des aktuellen Tempos und jenen der aktuellen Lautheit (gemessen in dem psychoakustischen Maß Lautheit in Sone nach Eberhard Zwicker, welches die Energie der einzelnen Bark-Bänder summiert13) als einen roten Kreis im Tempo-Lautheitsraum dar. Während sich die Musik über die Zeit entfaltet, folgt der rote Kreis der Entwicklung des Tempos und der Lautheit und passt seine Position permanent den jeweils aktuellen Messwerten an. Gleichzeitig hinterlässt er eine kontinuierlich verblassende und kleiner werdende Spur im Tempo-Lautheitsraum, die die individuelle Interpretation der Musizierenden widerspiegelt. Aus naheliegenden Gründen wurde diese animierte Darstellungsweise als der „Performance-Wurm“ bezeichnet.14 Beispiele dieser animierten Visualisierung mitsamt der Audioaufnahme sind online zugänglich.15 10 11 12
13 14
15
Siehe Repp 1992 (Fußnote 5). J. Langner und W. Goebl, Visualizing Expressive Performance in Tempo–Loudness Space. In: Computer Music Journal, 27 (2003), 69–83. B. H. Repp, A Microcosm of Musical Expression. I. Quantitative Analysis of Pianists’ Timing in the Initial Measures of Chopin’s Etude in E Major. In: Journal of the Acoustical Society of America, 104 (1998), 1085–100 und ders., A Microcosm of Musical Expression: II. Quantitative Analysis of Pianists’ Dynamics in the Initial Measures of Chopin’s Etude in E Major. In: Journal of the Acoustical Society of America, 105 (1999), 1972–1988. E. Zwicker und H. Fastl, Psychoacoustics. Facts and Models. 3. Auflage, Berlin, Heidelberg 2007. S. Dixon, W. Goebl und G. Widmer, The Performance Worm: Real Time Visualisation Based on Langner’s Representation. In: Mats Nordahl (Hg.), Proceedings of the 2002 International Computer Music Conference, Goteborg, Sweden, San Francisco, International Computer Music Association, 2002, 361–364; S. Dixon, W. Goebl und G. Widmer, Real Time Tracking and Visualisation of Musical Expression. In: Ch. Anagnostopoulou, M. Ferrand und A. Smaill (Hg.), Proceedings of the Second International Conference on Music and Artificial Intelligence (ICMAI 2002), Edinburgh – Berlin 2002, 58–68. http://iwk.mdw.ac.at/goebl/animations/.
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Geformte Zeit in der Musik
Ein wichtiger Verarbeitungsschritt für diese Animationen ist das glättende Interpolieren der Tempo- und Lautheits-Profile, das ein kontinuierliches Fortschreiten und die geschwungenen Formen der Wurmspuren nach sich zieht. Wir verwendeten zur Glättung ein Gauß-Fenster (also eine Glättungsfunktion, die auf der Gaußschen Normalverteilung basiert), dessen Breite bestimmt, welches Detail der Interpretation sichtbar wird. Die Visualisierungen in Langner und Goebl16 verwenden zum Beispiel eine Fensterbreite, die der durchschnittlichen Dauer eines Taktes entspricht; somit zeigen sie also die Tempo- und Lautheitsentwicklung auf Taktebene. Wird das Fenster kleiner gemacht, werden feinere, lokalere Entwicklungen sichtbar, bei einem größeren Glättungsfenster werden langfristigere Interpretationsentwicklungen deutlich. a)
b)
c)
d)
e)
f)
Abbildung 3. Fotos der Wurm-Trajektorien der Interpretation von Chopins Etüde Op. 10/3 durch Pianist 9 und 18 (von den 22 Klavierstudierenden und -professoren, siehe Abbildung 2) sowie jener von Maurizio Pollini. In der oberen Reihe (a, b, c) befinden sich alle drei Pianisten am Ende von Takt 8, in der unteren (d, e, f) am Ende von Takt 20. Videos dieser Animationen können online abgerufen werden unter: http://iwk.mdw.ac.at/goebl/animations.html.
In Abbildung 3 sieht man Fotos von Wurmspuren, die die Interpretationen der Pianisten 9 und 18 (aus der Sammlung der 22 von Abbildung 2) sowie je16
Siehe Fußnote 11.
186
Werner Goebl
ner von Maurizio Pollini hinterlassen haben. In der oberen Reihe (Abb. 3 a, b, c) haben die Pianisten gerade den Takt 8 fertiggespielt, in der unteren (Abb. 3, d, e, f) sind sie schon fast im Takt 21 angekommen. Man kann auch in diesen Fotos deutlich erkennen, wie Pianist 18 die 8-taktige Phrase in zwei Unterphrasen von 5+3 Takten einteilt (b), indem er jeweils eine Phrase leise und langsam beginnt, zuerst das Tempo steigert und leicht verzögert die Intensität, um dann gegen Ende der Phrase wieder langsamer und leiser zu werden. Dies ist ganz im Gegensatz zu Pianist 9 (a), der in diesen Abschnitt eine 8-taktige Einheit packt und ohne eine Verlangsamung nach Takt 5 auskommt. Maurizio Pollini hingegen nimmt diese Stelle deutlich leiser17 und gestaltet sie zwar ähnlich wie Pianist 18, jedoch ohne die großen Linksrotationen zu erzeugen. Die anfängliche Zurückhaltung Pollinis stellt sich aber als professionelle Interpretationsentscheidung heraus, wenn man sich seine Wurmspur des Ausbruchs von Takt 14–21 ansieht (f): dort erreicht er dadurch einen enormen Dynamikumfang von sehr leise bis extrem laut und macht somit diesen Ausbruch wesentlich prominenter, als das die beiden Musikstudenten tun. Diese Animationen stellen die beiden wichtigsten Parameter musikalischen Ausdrucks integriert dar (Musik ist schließlich Klang über Zeit) und verdeutlichen somit – wenn mehrere dieser Animationen nebeneinander gezeigt werden – die Unterschiede zwischen individuellen Interpretationen in sehr prägnanter Weise. Dies hat sich mehrfach in öffentlichen Einführungsvorträgen vor Konzertpublikum gezeigt, das diese Darstellungsweise sofort intuitiv verstand und zu schätzen wusste. Diese animierte Darstellungsweise wurde mehrfach aufgegriffen und weiterentwickelt. Unter diesen Weiterentwicklungen findet sich etwa ein System, das Würmer in Echtzeit aus Audioinput darstellt,18 oder ein anderes, das die zwei-dimensionale Fläche als Eingabesteuerung verwendet, um diese beiden Parameter Tempo und Lautstärke in Echtzeit zu manipulieren (auch genannt: der „Air Worm“).19 17
18
19
Die geringeren Sone-Werte bei Pollini hängen natürlich von der Aufnahme-Aussteuerung ab und sind zwar innerhalb der 22 Pianisten vergleichbar, da diese mit denselben Einstellungen aufgenommen wurden, aber nicht zwischen unterschiedlichen Aufnahme-Labels. S. Dixon, W. Goebl und G. Widmer, Real Time Tracking and Visualisation of Musical Expression, In: Proceedings of the Second International Conference on Music and Artificial Intelligence (ICMAI 2002), Edinburgh, Berlin 2002, 58–68. S. Dixon, W. Goebl, und G. Widmer, The “Air Worm:” An Interface for Real-Time Manipulation of Expressive Music Performance. In: Proceedings of the 2005 International Computer Music Conference, Barcelona, Spain, 2005.
Tempo (bpm)
Chopin Op. 27 gespielt von Nikita Magaloff 240
Rechte Hand Linke Hand
160 120 80 60 40 30
Asynchronie (ms)
522
524
526
528
530
532
534
536
538
536
538
Melodie vor Begleitung
200 100
Tempo rubato
0
Tempo rubato
−100 −200
Melodie nach Begleitung 522 524
Tonhöhe (MIDI pitch)
110
526
528
530 )
532
534
100 90
−265
226
80
−157 224
70
255 264
−228
60 50
Bass
Bass Antizipation
Bass Antizipation
40 Antizipation 30 20
522
524
526
528
530
532
534
536
538
Zeit (s) 50
51
52
53
Abbildung 4. Nikita Magaloff spielt die Takte 50–54 von Chopins Nocturne Op. 27/2. In der oberen Graphik ist das Expressive Timing der beiden Hände separat aufgetragen. Im mittleren Graph ist die Asynchronie zwischen den beiden Händen gezeichnet; die graue Zone entspricht Asynchronizitäten, die nicht als asynchron wahrgenommen werden (+/–30 ms). Die beiden dicken Striche deuten die quantitativ ermittelte Zonen von Tempo Rubato im früheren Sinne an. In der unteren Graphik befindet sich eine „PianoRoll“ Notation der Magaloffschen Einspielung (mit zahlenmäßigen Angaben besonders großer Asynchronien und Bass-Antizipationen). Darunter befindet sich der Notentext (vom Autor gesetzt).
Diese Wurm-Visualisierung wurde in einigen anderen Forschungsvorhaben eingesetzt, beispielsweise um eine 28 Stunden dauernde Aufführung von Erik Saties Vexations zu analysieren.20 In einer anderen systematischen Studie verwendeten wir ein Clustering- und Visualisierungs-Verfahren, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Interpretationen von sechs Stücken von Chopin (die Nocturnes op. 15/1 und op. 27/1, 2 sowie die Préludes 4, 8 und 20
R. Kopiez, M. Bangert, W. Goebl und E. Altenmüller, Tempo and Loudness Analysis of a Continuous 28-Hour Performance of Erik Satie’s Composition “Vexations”. In: Journal of New Music Research 32 (2003), 243–258.
54
188
Werner Goebl
17 aus op. 28) durch sechs berühmte Interpreten (Arrau, Ashkenazy, Harasiewicz, Pires, Pollini und Rubinstein) aufzuzeigen.21 Die Wurmtrajektorien aller 36 Aufnahmen wurden nach der musikalischen Struktur der Stücke automatisiert vom Computer in einzelne Phrasen von jeweils wenigen Takten zerteilt. Diese 1216 Wurmabschnitte wurden mit Hilfe von Self Organizing Maps (SOM) nach Ähnlichkeit ihrer zwei-dimensionalen Form so in die 4 mal 6 Zellen eines Codebuchs eingeordnet, dass sich in einer Zelle jeweils sehr ähnliche Wurmabschnitte befinden und der Unterschied zwischen den Zellen möglichst groß ist. Jede Zelle beinhaltet also jeweils ähnliche Interpretationsstrategien einer musikalischen Phrase und ist visuell durch eine prototypische, mittlere Wurmform und ihre Varianz dargestellt. Die Häufigkeit einzelner musikalischer Phrasen und Interpreten innerhalb dieser 24 Zellen sowie die einzelnen Wurmformen und die dazugehörige Aufnahme können mit Hilfe einer interaktiven Website erkundet und angehört werden.22 Diese Art, einen größeren Performance-Korpus zu analysieren, bietet sowohl allgemeine wie individuelle Einblicke in die Interpretationskonventionen verschiedener Pianisten. Wurmformen wie aus dieser Studie wurden auch in weiteren computerwissenschaftlichen Untersuchungen eingesetzt, um mit Hilfe von maschinellem Lernen Computeralgorithmen zu trainieren, deren Ziel es ist, einzelne Pianisten zu identifizieren.23 So konnten solche Algorithmen mit überzufälliger Gewissheit anhand von einzelnen kurzen Wurmformen erkennen, welcher Pianist diese Interpretationen gespielt hat, obwohl der Algorithmus diese speziellen Formen zuvor noch nie gesehen hatte, sondern an anderen Wurmformen trainiert worden war. Das Abstraktionsniveau dieser Wurmdarstellung enthält also genügend Informationen, um musikalische Persönlichkeiten gut identifizieren zu können.
21
22 23
W. Goebl, E. Pampalk und G. Widmer, Exploring Expressive Performance Trajectories: Six Famous Pianists Play Six Chopin Pieces, In: Proceedings of the 8th International Conference on Music Perception and Cognition, Evanston 2004, 505–509. http://iwk.mdw.ac.at/goebl/icmpc8/. C. Saunders, D. R. Hardoon, J. Shawe-Taylor und G. Widmer, Using String Kernels to Identify Famous Performers from Their Playing Style. In: Machine Learning: ECML 2004, Lecture Notes in Computer Science LNCS 3201, Berlin, 2004, 384–395; T. Søren Madsen und G. Widmer, Exploring Pianist Performance Styles with Evolutionary String Matching. In: International Journal of Artificial Intelligence Tools 15 (2006), 495–514.
Geformte Zeit in der Musik
189
Synchronisation in Solo-Performance In diesem Abschnitt möchte ich Zeitphänomene aufzeigen, welche innerhalb der einzelnen Teile einer Performance auftreten, also beispielsweise Asynchronizitäten zwischen den einzelnen Stimmen bzw. Händen der Spielenden in einer Solo-Interpretation eines romantischen Klavierstückes oder auch bei Improvisation im Jazz. Ein besonderes Phänomen im Klavierspiel betrifft das relative Timing der einzelnen Akkordtöne zueinander und dabei ganz besonders die Realisierung einer dynamisch hervorgehobenen Melodiestimme. Es stellte sich in systematischen Untersuchungen an Einspielungen von professionellen Pianisten heraus, dass die Melodie nicht nur deutlich lauter, sondern auch um einige Millisekunden früher erklingt als die anderen Akkordtöne.24 Dieser Effekt war bereits früher als „Melody Lead“ bezeichnet worden25, allerdings wurde sein Auftreten auf sehr subtile Wahrnehmungseffekte (Stream segregation) zurückgeführt.26 Ich konnte damals allerdings klar zeigen, dass der Melody Lead ursächlich mit der dynamischen Differenzierung der einzelnen Akkordtöne zusammenhängt, da der lauter gespielte Melodieton notwendigerweise einen schnelleren Anschlag bedingt und damit einen früher erklingenden Ton erzeugt27. Dieser Effekt kann somit als Artefakt der dynamischen Differenzierung der einzelnen Stimmen bezeichnet werden und wird in den allermeisten Fällen von den Spielenden nicht bewusst eingesetzt. Er tritt besonders deutlich zu Tage, wenn die betreffenden Stimmen innerhalb einer Hand auftreten (so wie im Beginn der Chopin-Étude op. 10/3 in der rechten Hand).28 Im Folgenden steht allerdings ein anderes Synchronisationsphänomen im Mittelpunkt, eines, das sehr vom Spieler kontrolliert werden kann, nämlich das relative Timing der beiden Hände eines Spielenden zueinander.29 24 25 26 27 28 29
W. Goebl, Melody Lead in Piano Performance: Expressive Device or Artifact? In: Journal of the Acoustical Society of America, 110 (2001), 563–572. B. H. Repp, Patterns of Note Onset Asynchronies in Expressive Piano Performance. In: Journal of the Acoustical Society of America, 100 (1996), 3917–3932. C. Palmer, On the Assignment of Structure in Music Performance. In: Music Perception, 14 (1996), 23–56. W. Goebl, R. Bresin und A. Galembo, Touch and Temporal Behavior of Grand Piano Actions. In: Journal of the Acoustical Society of America, 118 (2005), 1154–1165. Siehe Goebl, 2001 (Fußnote 24). W. Goebl, S. Flossmann und G. Widmer, Investigations into Between-Hand Synchronisation in Magaloff’s Chopin. In: Computer Music Journal, 34 (2010), 35–44.
190
Werner Goebl
Die Töne, die in einer Partitur auf einer Schlagzeit notiert sind, also zum selben „Partiturereignis“ gehören, werden üblicherweise ungefähr zur selben Zeit gespielt, außer wenn es explizit anders verlangt ist, wie beispielsweise bei einem Arpeggio oder einer Appoggiatura. Wir alle kennen allerdings Aufnahmen, in denen berühmte Interpreten vielfältigste Formen von Asynchronizitäten zwischen Akkordtönen realisieren, allen voran Bass-Antizipationen (wenn der Basston etwas manieriert vor dem höherliegenden Melodieton erklingt). Weniger häufig ist ein anderes Phänomen, das man als „Tempo Rubato im früheren Sinne“ bezeichnen kann.30 Mit Tempo Rubato wird eine Aufführungspraxis bezeichnet, bei der eine Melodiestimme (eine Solostimme) in Bezug auf eine Begleitstimme in der zeitlichen Gestaltung abweicht, meist hinter dem Schlag zurückfällt, um dann die „gestohlene“ Zeit (italienisch „rubare“ – rauben) nach einigen Tönen wieder „zurückzugeben“ und den Schlag, den die Begleit-Stimmen halten, wieder einzuholen. Für diese seinerzeit wohl gängige Aufführungspraxis gibt es zahlreiche verschriftlichte Zeugnisse in den Partituren des 18. und 19. Jahrhunderts,31 wo solche zeitlichen Abweichungen von Melodiestimmen explizit notiert zu finden sind. Besonders zu Chopins Klavierspiel gibt es zahlreiche Berichte seiner Schüler, die von seiner enormen Fähigkeit, die beiden Hände bisweilen zeitlich unabhängig agieren zu lassen, berichten. So schreibt etwa die Pianistin Friederike Müller, die bei Chopin in den Jahren 1839–1840 intensiven Unterricht genoss, ihren Tanten in Wien nach einer Unterrichtsstunde mit der Grande Polonaise brillante op. 22: „Er sagt, die linke Hand ist der Capelmeister, die Rechte die Sängerinn, ersterer dirigirt das Ganze, die letztere muß frei und ungebunden die Melodien hören lassen, steigen und fallen, ohne den Bass zu stören (29. Feb. 1840, Orthographie und Hervorhebungen im Original).“32
In einer umfassenden quantitativen Studie33 wurden solche zwischen den Händen des Spielenden auftretenden Asynchronizitätsphänomene anhand eines besonders umfangreichen Korpus von Einspielungen ein und desselben 30 31 32 33
“Tempo rubato in the earlier meaning.” Vgl. R. Hudson, Stolen Time: The History of Tempo Rubato, Oxford 1994. Ibid., 113ff. U. Goebl-Streicher (Hg.), Die Briefe der Chopin-Schülerin Friederike Müller. Paris 1839−1841, 1844−1845, in Vorbereitung. Goebl et al, 2010; Vgl. Fußnote 29.
Geformte Zeit in der Musik
191
Konzert-Pianisten erforscht. Der untersuchte Korpus besteht aus Einspielungen, die im Jahre 1989 bei einer Konzertserie im Wiener Konzerthaus entstanden sind. Damals spielte der berühmte Pianist Nikita Magaloff (1912–1992) 77-jährig das komplette Werk für Klavier solo von Frédéric Chopin an sechs Abenden, streng geordnet nach aufsteigender Opus-Nummer. Er hat diese Konzerte auf einem Bösendorfer Computerflügel realisiert, einem Konzertflügel mit einer eingebetteten optischen Messeinrichtung, welche sowohl die Onsets (Beginn), Offsets (Ende) und Dynamik (Anschlagsstärke) der einzelnen gespielten Töne als auch die Stellung der drei Pedale misst und diese Daten auf einer Computer-Festplatte abspeichert. Dieser „Magaloff-Korpus“ besteht aus über 336.000 gespielten Tönen, mehr als 150 Einzelstücken oder fast zehn Stunden ununterbrochener Musik und wurde mit Einverständnis von Magaloffs Witwe zu diesem Zweck systematisch aufbereitet und analysiert.34 Die quantitative Auswertung dieses Korpus in Hinblick auf Asynchronizitäten zwischen den Händen des Interpreten ergab zahlreiche Bassantizipationen und Stellen von Tempo Rubato in Magaloffs Chopin. Diese Stellen wurden in Bezug auf Spieltempo (event rate) eines Stückes oder der Stückgattung ausgewertet. Die meisten Stellen mit Tempo Rubato konnten in den Nocturnes nachgewiesen werden und gar keine in seinen Walzern und Etüden35. Ein Beispiel einer Stelle von Tempo Rubato im früheren Sinne ist in Abbildung 4 abgebildet. Magaloff spielt die Takte 50 bis 54 des zweiten Nocturnes aus Op. 27 in Des-Dur. Er beginnt diese Passage kurz nach der letzten Wiederkehr des Hauptthemas mit einem sehr späten Melodieton, wobei die beiden folgenden Sechzehntel-Triolen vor der Begleitung platziert werden. Im Zuge der großen Girlande in Takt 52 (eigentlich 64tel-Noten) fällt er zeitlich immer mehr zurück, bis er auf der Eins von Takt 53 wieder wesentlich der Begleitung nachhinkt, dann aber die folgende, abphrasierende melodische Figur wiederum wesentlich zu früh präsentiert. Somit ist er über einen Zeitraum von ungefähr 15 Sekunden nur wenige Töne synchron mit der Begleitstimme. Derartige großangelegte Computer-gestützte Performance-Analysen liefern zuvor unbekannte Blickwinkel auf enorme Performance-Korpora, die ohne Computerhilfe nicht bewältigbar wären. Die Zuordnung der über dreihundertausend gespielten Töne zu ihren Noten in der Partitur (score-performance matching) hat Sebastian Flossmann über ein Jahr vollzeitig beschäftigt, wobei da34 35
S. Flossmann, W. Goebl, M. Grachten, B. Niedermayer und G. Widmer, The Magaloff Project: An Interim Report. In: Journal of New Music Research, 39 (2010), 363–377. Goebl et al, 2010; Vgl. Fußnote 29.
192
Werner Goebl œ œ
2.7 2.9
Swing-Ratio
2
3
3
3
3
3
3
2.6
3
2.9
3
2.2 2.0 2.1
3.4
3
3
2.8 2.1 2.2
1.9 1.9
3 3 3 œ œ œ œ ∫œ ‰Œ œ œ œ œj œ ‰ Œ œj œ œ œ œj œ œ œ œj œ œ œ œj œ œ œ b œJ œ œj œ œj œj ¿ Œ œ œ œ œ œj œ œ œj œ j œ ‰ Œœj b œ œ œj œ jœj ‰ Œ œj œ œ œn œ œ œn œ œ œ œb œ œ Jœœ œ œ œ œ œj œ œ J J J J J J J J œJ œ J J 3
3
3
3
4
5
3
3
6
3
7
3
3
3
3
8
3
3
3
3
Œ
3
3
9
10
11
œ œ œ
12
1
100
0.2 0.1
150
50
Wahrnehmungsschwelle
0
0 Wahrnehmungsschwelle
−0.1
−50
Takte (Bass Einsatzzeiten) Rechte Hand Solo (Beats) Rechte Hand Solo (Einzelnoten)
−0.2
−0.3 Hinter dem Beat −0.4
Asynchronie (ms)
Phase relativ zum Beat (%)
3.1 2.8
Solo q=138 bb 4 j œ j & b b b 4 œ œ œJ œ Jœ ‰ Œ œJ 3 3 3 0.4 5. Chorus Vor dem Beat Takt 1 0.3
−100 −150
90
92
94
96
98
Zeit (s)
100
102
104
106
108
Swing-Ratio
3
3
3
3
3
6. Chorus
0.3 Takt 1 Phase relativ zum Beat (%)
3
3
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
œ œ
3 3 œ œ œ j j œ œ œ œ Œ Œ Œ n œ Jœ œ œ œ œ Œ Œ 3
7. Chorus
1
2
150 3
4
100
0.2 0.1
50
Wahrnehmungsschwelle
0
0 Wahrnehmungsschwelle
−0.1
−50
−0.2
−100
−0.3 Hinter dem Beat −0.4
5
Asynchronie (ms)
0.4 Vor dem Beat
2.8
1.1 1.0
1.2 0.9 1.0 1.0 1.0 1.0 0.7
0.8 0.9 1.0
0.9 0.9 0.9
1.1 0.8 1.2
2.6
1.2 0.8 1.0 0.9 1.1 0.9 1.0 0.9 1.1 1.1
√ in Block-Akkorden œ œ 3 Œ j œ n œ œ œ œ œ œ œ œ n œ œ œ œ œ œ œ œœ œ œ œ œ œœ œœb œœœ∫ œ œœ œœ œœ œ œ œ œ œœb œœœ∫ œœœ œ b nœ œ œ œ œ œ n œ n œb œœ∫ œœœb œ œn œ# œn œn œJ‰‰n œJ b œ œ œ œ œ ¿ Œ n œœ b n œœœ & b bbb Œ J œ œ œ Œ ŒJ Ó. Œ J
−150 110
115
120
Zeit (s)
125
130
135
Abbildung 5. Ausschnitt aus „Red Top” aus dem Album „Concert by the Sea” des Erroll Garner Trios (1995) mit Eddie Calhoun am Bass und Denzil Best am Schlagzeug. Die beiden Graphiken zeigen die Asynchronien zwischen Garners rechter Hand und dem Beat, welcher von seiner linken Hand, dem Bass und dem Schlagzeug gespielt wird. Die rote Linie vergleicht nur Asynchronien zum Schlag (Beat), die graue alle gespielten Töne des Solos. Der graue Bereich um +/–30 ms deutet Asynchronizitäten an, die nicht als asynchron wahrgenommen werden, also innerhalb der Wahrnehmungsschwelle für Ungleichzeitigkeiten liegen. Über den beiden Graphiken ist die (einstimmige) Transkription des Solos skizziert (angefertigt vom Autor). Der Ausschnitt kann online mitgehört werden: http://iwk.mdw.ac.at/goebl/ErrollGarner1955-RedTop-part.wav.
bei eine eigens dafür entwickelte Spezialsoftware eingesetzt wurde;36 es besteht allerdings die Hoffnung, dass in Zukunft ähnliche Projekte deutlich schneller umgesetzt werden können. Somit würde die wissenschaftliche Auswertung von noch umfangreicheren Performance-Korpora und mit der Verbesserung der 36
Flossmann et al. 2010 (Fußnote 34).
Geformte Zeit in der Musik
193
Analysewerkzeuge für Audio-Aufnahmen auch die wissenschaftliche Erschließung des akustischen Erbes des vergangenen Jahrhunderts möglich.37 Ein weiteres Beispiel von Tempo Rubato im Sinne Chopins finden wir in einem ganz anderen Musikstil, nämlich in Jazz-Aufnahmen des Erroll-GarnerTrios aus den 1950ern. Der Pianist Erroll Garner ist bekannt für die virtuose rhythmische Unabhängigkeit seiner Hände. Typisch für seinen Spielstil ist, dass seine linke Hand in Blockakkorden den Takt gemeinsam mit Bass und Schlagzeug hält, während seine rechte darüber teilweise rhythmisch scheinbar völlig losgelöst improvisiert, um dann zum nächsten Turn-Around wieder in den Takt zurückzukehren. Ein kennzeichnendes und zugleich aufregendes Beispiel für ein Tempo Rubato in Jazz-Improvisation ist in Abbildung 5 (S. 190) zu sehen.38 Zunächst wurden die Onsets, also die akustischen Anfänge der einzelnen Blockakkorde von Garners linker Hand (die gemeinsam mit Bass und Schlagzeug auftreten) gemessen, und dann die Onsets von Garners Solo, gespielt von seiner rechten Hand. Um das Timing von Garners rechter Hand relativ zum Beat ausrechnen zu können, wurde zunächst eine rhythmische Transkription der Solo-Improvisation erstellt (siehe die Notation in Abbildung 5, S. 188).39 Man sieht (und hört), dass Garner im ersten Zwölftakter (5. Chorus) beide Hände ziemlich synchron hält (mit einem leichten laid-back feeling), aber dann im zweiten Zwölftakter (6. Chorus) mit der rechten Hand über eine Dauer von 15 Sekunden (oder zehn Takte) bis zu 150 ms hinter dem Beat bleibt (das entspricht ungefähr einem Drittel eines Beats), um dann die so aufgebaute Spannung virtuos beim nächsten Turn-Around einzulösen. Neben der dynamischen Zeitgestaltung würzt Garner sein Solo mit zwei musikalischen Zitaten: einerseits baut er das Thema von Charlie Parkers „Now’s the time” (5. Chorus Beginn) und später den bekannten englischen Kinderreim „Pop! Goes the Weasel” (6. Chorus, Takte 5–8) in sein Solo ein.
37 38
39
N. Cook, The Ghost in the Machine: Towards a Musicology of Recordings. In: Musicae Scientiae, 14 (2010), 3–21. W. Goebl, Temporarily out of Sync: Momentary Temporal Independence of a Solo Voice as Expressive Device. In: Forum Acusticum, Aalborg, European Acoustics Association, 2011, 615–619. Das Audio dieses Ausschnitts kann online nachgehört werden unter http://iwk.mdw. ac.at/goebl/ErrollGarner1955-RedTop-part.wav.
194
Werner Goebl
Synchronisation zu zweit Im Vorhergegangenen wurden die komplexen zeitlichen Phänomene beschrieben, die einen Musiker allein betreffen (wenn wir die beiden Kollegen von Garners Rhythmusgruppe einmal beiseite lassen). Wie schaffen es nun zwei oder mehrere Musiker, trotz dieser vielen künstlerischen Schwankungen präzise miteinander zu spielen? Musikalische Ensemble-Performance – also jede musikalische Besetzung mit zwei oder mehr Musizierenden – verlangt präzise und akkurate Koordination von Timing und Ausdruck zwischen den einzelnen Mitgliedern eines Ensembles. Die vielfältigen Möglichkeiten reichen vom Vierhändigspiel zweier Pianisten über ein Streichquartett und eine Jazz-Combo bis hin zum Symphonieorchester mit Chor und Soli. Jede einzelne Besetzung hat ihre eigene Dynamik im zwischenmenschlichen Zusammenspiel: von der „Demokratie“ kleiner Ensembles, in der einzelne Individuen zuweilen führen, um dann wieder geführt zu werden, bis hin zu mehr „diktatorischen“ Systemen, in denen sich die einzelnen Orchestermitglieder den Gesten eines Dirigenten unterzuordnen haben. Eine fundamentale Fähigkeit, die für das Ensemblespiel unablässig ist, ist die Fähigkeit zur Synchronisation, wobei es darum geht, mit einem Finger einen externen Schlag, beispielsweise eines Metronoms, klopfend zu begleiten. Was auf den ersten Blick einfach scheint, erweist sich auf den zweiten als relativ problematisch. Um über einen längeren Zeitraum wirklich gleichzeitig, also mit Asynchronizitäten von wenigen Millisekunden, mit einem Metronom zu klopfen, muss man seine (Finger-)Bewegungen mit einem auditorischen Signal synchronisieren (sensomotorische Synchronisation, SMS40). Dazu muss der Klopfende eine Vorstellung entwickeln, wann der jeweils nächste Schlag des Metronoms kommen wird, um danach seine eigenen Klopfbewegungen entsprechend zu planen und auszuführen. Es entsteht also eine Vorstellung über das Tempo des Metronoms. Wenn man das Tempo zu langsam annimmt, tappt man immer später und später, bis man Synkopen zum Metronom klopft, plant man es zu schnell, klopft man zunehmend früher. Ein weiterer Faktor ist die Variabilität unseres Bewegungsapparates, wonach jede Klopfbewegung ein bisschen anders ausfallen wird und der Finger manchmal etwas früher oder später auf der Unterlage ankommt. Um also Abweichun40
B. H. Repp und Y.-H. Su, Sensorimotor Synchronization: A Review of Recent Research (2006–2012), In: Psychological Bulletin and Review 20 (2013), 403–452.
Geformte Zeit in der Musik
195
gen im angenommenen Tempo und der Unregelmäßigkeit unseres Klopfens auszugleichen, muss man direkt nach dem Klopfen den Erfolg des Klopfens überprüfen können, ob man zu früh oder zu spät geklopft hat, um solcherart diesen „Fehler“ beim nächsten Schlag wieder wettzumachen. Jene kognitiven Mechanismen, die bei SMS in uns Menschen zum Einsatz kommen, wurden mit einem zweistufigen adaptiven Zeitmodell gut beschrieben, welches einerseits Phasenkorrektur und andererseits Periodenkorrektur mit unterschiedlicher Parametrisierung vornimmt.41 Als Phasenkorrektur bezeichnet man die Korrektur einer Asynchronizität im nächsten Schlag zu einem angegeben Ausmaß. Wenn also ein Schlag zu früh geklopft wurde, muss der nachfolgende entsprechend verzögert werden, um nicht erneut wieder zu früh zu sein. Dieser Vorgang läuft beim Menschen weitestgehend automatisch ab, da wir gar nicht anders können, als Phasenkorrekturen einzubringen, auch wenn wir es gar nicht wollten. Der zweite Prozess, die Periodenkorrektur, beseitigt auf längere Sicht einen Teil der Asynchronizität dadurch, dass er die Tempovorstellung modifiziert. Dieser Prozess ist weitgehend bewusst steuerbar, d.h. wir können willentlich unser Tempo anpassen oder verändern. Dieses lineare Timing-Model wurde in der Literatur an tausenden Probanden getestet und erklärt diesen einfachen Fall von SMS sehr gut. Wie steht es nun aber mit sensomotorischer Synchronisation zu zweit? Und: funktioniert dieses Synchronisations-Modell auch im komplizierteren Fall der musikalischen Synchronisation? In einer systematischen Studie42 untersuchten wir den Einfluss von musikalischen Rollen und der Kommunikationsmodalität auf die Synchronisation von Klavierduos. Dabei wurden einfachen Melodien von zwei nebeneinander sitzenden Spielern auf einer Klaviatur realisiert. Die beiden Spieler wurden gebeten, abwechselnd musikalische Rollen als „Führende“ (ich bin Solist) oder „Begleitende“ (ich folge dem Solisten) anzunehmen. Darüber hinaus wurde experimentell manipuliert, was die beiden voneinander zu hören bekamen (auditives Feedback): In einer beidseitigen Bedingung hörten beide sich und einander vollständig, in einer einseitigen Bedingung hörte der Begleitende den Führenden, aber nicht umgekehrt, und in einer weiteren Versuchsbedingung wurde das auditive Feedback völlig unterbrochen. Es wurden das Timing ihrer 41
42
D. Vorberg und H.-H. Schulze, Linear Phase-Correction in Synchronization: Predictions, Parameter Estimation, and Simulations, in: Journal of Mathematical Psychology 46 (2002), 56–87. Werner Goebl und Caroline Palmer, Synchronization of Timing and Motion among Performing Musicians. In: Music Perception 26 (2009), 427–438.
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Performance und Bewegungen von Kopf und Finger mit einem Digitalklavier und mittels eines aktiven Bewegungserfassungssystems aufgezeichnet. Mit Kreuzkorrelationen zwischen jeweils um ein Element verschobenen Zeitdauersequenzen der beiden Spielenden (lag-1 cross correlations on interonset interval patterns) überprüften wir, wie stark die beiden Spielenden zeitlich aufeinander reagierten, also Phasenkorrektur verwendeten, und welchen Einfluss die musikalische Rolle und das Feedback dabei spielten. Es zeigte sich, dass die Klavierduos immer zeitlich aufeinander reagierten, unabhängig davon, welche Rolle ihnen zugeteilt war. Einzig in der einseitig auditiven Bedingung, wenn also der Begleitende den Führenden hören konnte aber nicht umgekehrt, konnte festgestellt werden, dass nur der Begleitende, nicht aber der Führende reagiert, ein Ergebnis, das eigentlich bereits von der Zuweisung der musikalischen Rollen zu erwarten gewesen wäre. Dieser interessante Befund zeigt, dass die auditive Modalität (die Musizierenden hören einander) der eigentliche „Klebstoff“ von Ensemble-Performance ist und dass zeitliche Adaption, die Phasenkorrektur, ein automatisch ablaufender Prozess ist, der nicht unter willentlicher Kontrolle der Ausführenden steht. Mit anderen Worten: Musizierende verhalten sich immer kooperativ, auch wenn sie es gar nicht explizit vorhaben. Die Analyse der Bewegungsdaten ergab, dass, je weniger die beiden voneinander hörten, desto mehr ihre Oberkörperbewegungen synchronisiert waren, d.h. die Musizierenden kompensierten ein Defizit in einer Modalität mit erhöhter Aktivität in der anderen. Gerade in der Musikpraxis wird immer wieder von Situationen berichtet, in denen Musiker einander nicht hören können, aber trotzdem exakt miteinander synchronisieren müssen (beispielsweise im Orchester hört ein Streicher nur seine direkte Umgebung und muss anhand der Bewegungen seines Stimmführers und der des Dirigenten das Timing visuell übernehmen). Durch eine Aufforderung des Science Center Netzwerkes43 entwickelten wir auf Basis des soeben beschriebenen Hintergrundes ein Ausstellungsstück zu der aktuellen Wanderausstellung „Wirkungswechsel“, das einem breiten, nicht unbedingt musikalischen Publikum im Selbstversuch die Möglichkeit bieten sollte zu erleben, wie sich erfolgreiche Synchronisation anfühlt. Dazu wurde ein virtueller Partner (der Maestro) geschaffen, mit dem die Benutzer allein oder auch zu zweit interagieren können. Die Spielenden sollen dabei in ihrem eigenen Synchronisationserleben den Einfluss der Kooperationsbereitschaft des Maestros erfahren und unterschiedliche Strategien entwickeln und 43
http://www.science-center-net.at/.
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erproben, um möglichst gut mit den Mitspielenden und dem virtuellen Partner im Takt zu bleiben. Das Ausstellungsobjekt selbst wurde „Im Takt bleiben“ (auf Englisch: „Tapping Friend“) benannt. Die Spielenden klopfen auf kleinen Trommeln zum Schlag des Maestro, während das Exhibit in Echtzeit visuelles Feedback über ihren Synchronisationserfolg gibt: Es werden die Schläge des Maestro und der beiden Spielenden in einer Graphik relativ zu einander dargestellt. Dazu wird für jeden Spielenden die Anzahl jener Schläge gezählt, die gegenüber dem Maestro im Takt, zu früh oder zu spät erfolgten.
Abbildung 6. Bildschirmfoto der graphischen Benutzeroberfläche der interaktiven Experimentieranordnung „Im Takt bleiben“.
Die graphische Umsetzung soll für ein breites Publikum intuitiv klar machen, ob jetzt der eigene Schlag zu früh oder zu spät gesetzt wurde, ohne zu sehr auf wissenschaftliche Darstellungsweisen zu rekurrieren. Nach langer Diskussion hat sich herausgestellt, dass sich die Zeitachse nicht, wie von Musikern und Wissenschaftlern oft angenommen, von links nach rechts entfaltet (so wie die Musiknotation, die Zeitachsen auf wissenschaftlichen Abbildungen, etc.),
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sondern von oben nach unten (also in Analogie zu einem Stundenglas, worin feiner Sand, durch die Schwerkraft angezogen, durch eine schmale Öffnung rieselt). Es ergab sich, dass sowohl Musiker als auch Nicht-Musiker eindeutig die Stundenglas-Analogie der Musiknotations-Logik vorzogen. Zusätzlich zur Darstellung jedes einzelnen Taps gibt es noch eine Echtzeit-Bewertung der Schläge: es werden die Taps eingeteilt in jene, die im Takt erfolgten, und jene, die einen Drittelschlag zu früh oder zu spät lagen. Jene Taps, die in keine dieser Kategorien fallen (also in dem mittleren Drittel eines Schlages lagen), werden nicht gezählt. In musikalischer Hinsicht wären diese Taps als Synkopen zu bezeichnen. Am Ende jedes Spieles sehen die Spielenden ihren Tap-Erfolg direkt dargestellt und können in einem weiteren Spiel ihre Klopf-Strategie verändern. „Im Takt bleiben“ bietet vier unterschiedliche Spielmodi zur Auswahl. Der Maestro verhält sich je nach Spielmodus unterschiedlich kooperativ: Einmal hält er starr den Takt und reagiert wie ein Metronom gar nicht auf die Taps der Mitspielenden (erster Spielmodus), ein anderes Mal ändert er stark sein Klopftempo und wird schneller oder langsamer, reagiert aber ebenfalls etwa wie ein Dirigent nicht auf die Mitspielenden (zweiter Spielmodus). In diesen Spielmodi muss also der Klopfende alleine reagieren, um mit dem Maestro, der sich wie ein Metronom verhält, im Takt zu bleiben. Die einzige Kooperation muss also vom Klopfenden ausgehen. Wenn es dieser nicht schafft, sich mit Hilfe seiner internen Phasen- und Periodenkorrektur-Prozesse erfolgreich zu synchronisieren, dann kommt keine Synchronisation zustande. Im dritten Spielmodus hingegen verhält der Maestro sich kooperativ: Er „hört“ auf die Taps der Mitspielenden und verändert seinen Schlag, um möglichst gut gemeinsam im Takt zu sein. Hier wurde das oben beschriebene Zeitmodell in den Maestro implementiert, so dass dieser nach jedem Tap des Mitspielenden die Asynchronizität zu seinem Schlag ermittelt und den Zeitpunkt für seinen nächsten Schlag entsprechend anpasst. Es werden also sowohl Phasen- als auch Periodenkorrektur implementiert.44 Wenn man einige Zeit versucht hat, mit dem Metronom-Maestro (erster Spielmodus) Synchronizität herzustellen, erscheint es wesentlich leichter, mit dem kooperativen Maestro (dritter Spielmodus) im Takt zu klopfen. Es ist sogar möglich, das Tempo und damit die Reaktion des Maestro sehr stark zu verändern, in dem man entweder immer zu früh (oder zu spät) klopft. 44
W. Goebl und D. Guggenberger, Tappingfriend – an Interactive Science Exhibit for Experiencing Synchronicity with Real and Artificial Partners. In: Proceedings of the 3rd Vienna Talk on Music Acoustics, Vienna: Institute of Music Acoustics, University of Music and Performing Arts Vienna 2015, 227–230.
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Geformte Zeit in der Musik
Im vierten Spielmodus gibt es noch die Möglichkeit, zu zweit ohne den Maestro zu klopfen, um zu erleben, wie zwei Menschen mit einander synchronisieren. In einem solchen Fall verhalten sich, wie in der oben erwähnten Klavier-Duett-Studie, zwei Klopfende zueinander (normalerweise) immer kooperativ. Man kann sich allerdings auch völlig andere Strategien ausdenken und dabei Rhythmen statt gleichmäßige Schläge zu klopfen. Das Versuchsgerät wurde gemeinsam mit einem professionellen ExhibitDesigner unter dem Namen „Im Takt bleiben“ (auf Englisch „Tapping Friend”) realisiert.45 Auf der Wanderausstellung „Wirkungswechsel“46 wird dieses Exhibit noch an mehreren Stationen zu erleben sein. Dieses interaktive Spiel speichert die Klopfdaten aller auf ihm getätigten Spiele in anonymer Form, was eine grobe quantitative Auswertung ermöglicht. Es soll aber auch in Zukunft unter kontrollierten Bedingungen experimentell eingesetzt werden.
Fazit Musik als Kunstform, die konstitutiv von Zeit und zeitlicher Organisation abhängt, ist ein ganz spezieller Forschungsgegenstand, der durch diese Zeitlichkeit auch spezielle Forschungsmethoden benötigt. Ich hoffe, in diesem Beitrag einige dieser Methoden anschaulich dargestellt zu haben, sei es durch Graphiken, die gemessene Parameter – mit musikalischen Partituren visuell verknüpft – anschaulich darstellen, durch animierte Visualisierungen, die mehrere Parameter integriert veranschaulichen und sich mit der Musik über die Zeit entwickeln, oder durch eine interaktive Spielanordnung, bei der man die Wirksamkeit zeitlicher Phänomene „am eigenen Leib“ ausprobieren kann.
Danksagung Die hier erwähnten Arbeiten wurden unter anderem vom FWF – Der Wissenschaftsfonds (P 24546, P 23248, Y 99-INF), der Wirtschaftsagentur Wien (Technologie Awareness 1304967), und der Kapsch AG unterstützt. Mein herzlichster Dank geht an Hans Goebl für wertvolle Hinweise zu einer früheren Version dieses Textes.
45 46
http://www.ofai.at/music/imtaktbleiben http://www.wirkungswechsel.at
Zeit und sowie im Raum Stephan Günzel
Einleitung Ziel dieses Beitrags ist es nicht nur zu zeigen, inwiefern Zeit und Raum sich zueinander verhalten, sondern auch, dass Zeit zumeist als etwas modelliert wird, das sich im Raum befindet oder sich räumlich ausdrückt. Seitens der Philosophie wurde hieraus oftmals der Schluss gezogen, dass es sich bei der Zeit um eine höherwertige Entität handeln müsse, die sich der Anschaulichkeit entzieht. Für diesen Schluss gibt es jedoch kaum rationale Argumente. Vielmehr deuten Beweise und Darlegungen zum Problem der Zeit darauf hin, dass es sich bei der Zeit um ein Scheinproblem handelt. Gar kann der Raum in anthropologischer Hinsicht selbst als Grundlage der Theoriebildung begriffen werden: Bereits 1922 legte der Paläontologe Paul Alsberg entsprechend dar, dass deren Ursprung von Theorie im Werfen eines Steins zu suchen ist, insofern hierfür eine Vorausschau auf das Ziel des Wurfs notwendig ist.1 So bedeutet theoria im Griechischen denn auch „Schau“. Bevor diese als platonische Ideenschau ins Jenseits gerichtet wird, zielte sie im archaischen Kontext auf das Beutetier ab.2 Solcherart geht Theorie wesentlich aus dem Problem des Raums hervor: Das Zur-Strecke-Bringen setzt die Überwindung der Distanz (des spatium) voraus. – Philosophie ist solcherart immer Theorie des Raums, und auch jede Theorie der Zeit führt letztlich auf diesen zurück.
1. Irrealität der Zeit Die grundsätzliche Unmöglichkeit, einen Zeitbegriff philosophisch zu begründen, wurde 1908 durch den Sprachphilosophen John McTaggart 1908 nachgewiesen, indem er argumentierte, dass alle Zeitkonzeptionen entweder auf die Relation „früher/später“ (als die von ihm sog. A-Reihe) rekurrieren 1 2
Vgl. P. Alsberg, Das Menschheitsrätsel. Versuch einer prinzipiellen Lösung. Gießen 1979 [1922], 149. Vgl. P. Sloterdijk, Das Menschentreibhaus. Stichworte zur historischen und prophetischen Anthropologie. Weimar 2001, 35 f.
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oder von dem Modell „Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft“ (als die von ihm sog. B-Reihe) ausgehen und erstes dabei zweites voraussetzt, da ohne den Bezug auf den Unterschied von Vergangenheit und Zukunft zur Gegenwart auch „früher“ und „später“ keinen Sinn haben. Vergangenheit und Zukunft können sprachlich aber wieder nur in Verbindung mit dem Präsens artikuliert werden, als vergangenes „ist gewesen“ (eingedenk der Abwandlung „war gewesen“, die ihrerseits auf die Grundform „sein“ zurückführt) oder zukünftiges „wird sein“. Die Gegenwart bleibt damit die stets vorausgesetzte Zeit, die als solche aber zeitlos ist; weshalb auch immer wieder Konzepte von Augenblick und Dauer an deren Stelle gesetzt werden, ohne das Zeitproblem lösen zu können. McTaggart schließt daraus, dass allein eine der A-Reihe zugrundeliegende (räumliche) Ordnung Realität besitzt: „Aber diese andere Reihe – nennen wir sie die C-Reihe – ist nicht zeitlich, denn sie schließt keine Veränderung, sondern nur eine Reihenfolge [order] ein. Ereignisse haben eine Reihenfolge. […]. Unsere Schlussfolge ist also, dass weder die Zeit als ganze noch die A-Reihe und die B-Reihe wirklich existiert. Aber das lässt die Möglichkeit offen, dass die C-Reihe wirklich existiert.“3
Über McTaggart hinaus gibt es letztlich noch zwei weitere, ineinandergreifende Lösungen des Zeitproblems: eine kulturhistorische und eine begrifflich-phänomenologische. – Die erste besteht darin, die Einsicht zu gewinnen, dass Zeitvorstellungen zumeist ein Effekt der Zeitmessung sind, die damit ihr „Objekt“ hervorbringen. Die metrische Teilung oder rhythmische Taktung durch Uhren und Notationsweisen ist ein Mittel zur Erzeugung des Glaubens an Zeit. Vor allem die Geschichte der Uhr (von der Sonnenuhr über die mechanische Uhr bis zur Einführung der Standardzeit) ist hierfür Beleg.4 Die begrifflich-phänomenologische Lösung des Zeitproblems liegt darin, Einsicht in deren Metaphorizität zu gewinnen:5 So gibt es kein originäres Zeitwort, 3
4
5
J. McTaggart Ellis McTaggart, Die Irrealität der Zeit. In: Walther Ch. Zimmerli/M. Sandbothe (Hg.), Klassiker der modernen Zeitphilosophie. Darmstadt 1993 [engl. 1908], 67–86, 72. Vgl. dazu einschlägig W. Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. München, Wien 1977; sowie M. Burckhardt, Metamorphosen von Raum und Zeit. Eine Geschichte der Wahrnehmung. Frankfurt a.M., New York 1994. Vgl. J. Derrida, Der Entzug der Metapher. In: Volker Bohn (Hg.), Romantik, Internationale Beiträge zur Poetik. Bd. 1: Literatur und Philosophie. Frankfurt a.M. 1987 [frz. 1978], 317–355.
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Zeit und sowie im Raum
das nicht auf einen räumlichen Umstand verweist. Selbst das Wort „Zeit“ von ahd. zit – zurückgehend auf die indogermanische Wurzel *dá[i] – bedeutet schlichtweg „teilen“, was unleugbar ein räumliches Phänomen bzw. eine räumliche Handlung ist.
2. Metaphorik der Zeit Zeitphilosophen, die an der Existenz ihres Gegenstands festhalten wollen, haben dieser sprachlich-phänomenalen Einsicht entgegen nicht die Metaphorizität der Zeitbegriffe – und damit ihren räumlichen Ursprung – anerkannt, sondern in einem regelrechten Salto mortale der Vernunft geschlussfolgert, dass es sich eben nur um (räumliche) Metaphern handle, die nicht wörtlich zu nehmen sind. Diese Widersinnigkeit wurde unter anderem von keinem geringeren als Immanuel Kant vertreten, der in der Kritik der reinen Vernunft von 1781 die Zeit als den „innere[n] Sinn“ (A 22/B 37) bezeichnet und – nach Kant in fälschlicher Weise – von der Vorstellung einer „ins Unendliche fortgehenden Linie“ (A 33/B 50) begleitet würde, was unleugbar ein räumliches Phänomen ist. Anstatt dies aber als Widerlegung der Zeitvorstellung zu akzeptierten, beharrt Kant auf die Existenz des Zeitsinns, und zwar als die von den äußeren Dingen abgezogene Bewegung, und bezeichnet Zeitvorstellungen wie diejenige der Linie als bloße „Analogien“, und zwar: „weil diese innere Anschauung keine Gestalt gibt“ (ebd.). Kant hätte an dieser Stelle nur sein eigenes Diktum reflexiv wenden müssen, dass Anschauungen ohne Begriffe blind sind und Gedanken ohne Inhalte leer, um zu erkennen, dass er wohl das Hybrid eines „blinden Gedanken“ erzeugt hat, also einen Begriff gebildet hat, dem keine Anschauung entsprechen kann. Was soll denn reine Bewegung sein, wenn sich nicht etwas bewegt? – Es ist die Abstraktion (von) der Zeitmessung selbst – in Nicht(an)erkennung ihres begriffskonstitutiven Effekts. Die negativen Folgen des kantischen Diktums können kaum unterschätzt werden und hallen noch bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno nach, wenn diese schreiben, „Raum ist die absolute Entfremdung“6. Der philosophische Weg ist in Umkehrung der Raumzuwendung demnach die Flucht ins Geistige – und in der Folge zu Begriffsgeistern. (Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an die Arbeit von Hartmut und Gernot Böhme, die gerade 6
M. Horkheimer, T.W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M. 1969 [1947], 189.
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die physikalischen Annahmen Kants auf seine Berührungsangst oder Scheu vor dem „Äußeren“ und „Materiellen“ zurückgeführt haben.7) Wäre die Rezeption seiner Schrift anders verlaufen, hätte die Kritik an der kantischen Trennung von „außen Raum“ und „innen Zeit“ schon vor einem Jahrhundert greifen können, als Oswald Spengler im ersten Band von Der Untergang des Abendlandes darauf hinwies, dass es keineswegs notwendig und phänomenal geradezu falsch ist, Raum als starr zu denken, sondern dass es keinen Grund gibt, Raum nicht als dynamisch oder aktiv und die Bewegung als einen Aspekt desselben zu denken.8 Die zeitgenössische Physik hatte im Anschluss an Hermann Minkowski dafür zwar den Begriff der „Raumzeit“ ersonnen, hielt damit aber auch (zu Zwecken der Messbarkeit) weiterhin an einer Vorstellung fest, die Zeit gegenüber Raum priorisiert.9 Zugegeben überhöht Spengler seine Einsicht derart, dass er sich zu der Aussage versteigt, der von ihm sogenannte faustische Raum – also der Raum der Handlung oder „Tat“ – sei kulturspezifisch und hatte eben nur im Deutschen entstehen können (was Horkheimer und Adorno unter anderem zu ihrer raumablehnenden Aussage gebracht haben mag), doch die Kritik Spenglers an Kant ist ungeachtet dessen zutreffend. Vor allem schießt Spengler philosophisch nicht derart über das Ziel hinaus wie Ludwig Wittgensteins philosophischer Vorläufer Fritz Mauthner in seinem erstmals 1910/11 erschienen Kritischen Wörterbuch der Philosophie, worin er zwar Zeit als Scheinproblem der Philosophie identifiziert, aber zugleich auch Raum. Seine lapidare Begründung ist die für die sprachanalytische Philosophie auf lange Sicht typisch werdende Argumentation, dass alle philosophischen Probleme stets nur Sprachprobleme sind; und so ist die Annahme der Zeit der Existenz oder Verwendung von Verben und die Annahme von Raum der Existenz oder Verwendung von Substantiven geschuldet.10 (Schon Nietzsche hatte in diesem Sinne philosophische Probleme als Folgen der 7 8 9
10
Vgl. H. Böhme, G. Böhme, Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants. Frankfurt a.M. 1983. Vgl. O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Bd. 1: Gestalt und Wirklichkeit. München 1972 [1918], 210–234. Obwohl auch schon Minkowskis Theorie sich durch seine Beschreibung des Ereignisses als eines „Weltpunkts“ unterläuft, der sich zusammensetze aus einem „Raumpunkt“ und einem „Zeitpunkt“ (H. Minkowski, Raum und Zeit. In: Ders., Gesammelte Abhandlungen. Hg. von D. Hilbert, Bd. 2, Leipzig, Berlin 1911 [1909], 100–113. Vgl. F. Mauthner, Raum. In: Ders., Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd. 2, Zürich 1980 [1911], 284–294.
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Grammatik ausgegeben und vom „leeren Raum“ gesagt, dass vom Glauben daran „viel Unsinn“11 stammt.) So sieht auch Mauthner dabei nicht, dass er in seiner Sprachkritik die phänomenal nicht gegebene Scheidung des Objekts von seiner Bewegung bereits wieder voraussetzt – will heißen: perpetuiert. Dagegen formuliert Martin Heidegger im Sinne Spenglers tautologisch, dass „Raum räumt“12 und verweist damit auf die Einsicht, dass der Raum selbst in den Phänomenen besteht, die mit Begriffen (und gerade auch den Verben) bezeichnet werden; und vor allem, dass es phänomenologisch völlig unangebracht ist, den Raum mit unbewegter Materie gleichzusetzen.
3. Topologie der Präpositionen Es nimmt daher also kaum Wunder, dass Zeit immer nur als eine Figur existiert, die notwendig räumlich ist. Die Zeit als Unräumliches gibt es nicht; es sind eben nur Figurationen und deren philosophische Fehlinterpretation. In diesem Sinne ist es eine noch ausstehende Aufgabe, die Philosophiegeschichte raumtheoretisch derart zu rekonstruieren, dass deren raumpoetischen Grundzüge deutlich werden. Instruktiv hierfür ist vor allem ein topologisches Bewusstsein, welches erfordert, Raum bereits anders als starre Ausdehnung zu denken, sondern in Relationen oder als Zugehörigkeiten. Sprachliches Indiz für die Basalität topologischer Räumlichkeit sind dabei die Präpositionen. Dies hat schon Johann Gottfried Herder 1799 im Blick auf Kant betont, wenn er entgegen dessen Apologie der Newtonschen Physik an der Raumkonzeption von Gottfried Wilhelm Leibniz festhält; nicht jedoch, weil seine Analysis situ mathematisch besser begründet sei, sondern weil sie die Konsequenz dessen ist, dass Raum lebensweltlich als Ordnung erscheint und eben die Verwendung von Präpositionen wie „vor“ und „nach“ mit sich bringt – die gerade auch in den Zeitbegriffen (vor-her/nach-her) eingegangen sind: „Wenn also die Begriffe von Raum, räumen, aufräumen, von vor, über, unter, in, außer, neben, miteinander den Begriff der Ordnung mit sich führen, wohin konnte Leibniz in seiner Verstandeswelt den Raum stellen, als unter den Begriff der Ordnung?“13 11 12 13
F. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1884 –1885 (Kritische Studienausgabe. Bd. 11). Hg. von G. Colli und M. Montinari, Berlin, New York, München 1988, 252. M. Heidegger, Das Wesen der Sprache. In: Ders., Unterwegs zur Sprache. Frankfurt a.M. 1985, 147– 204, [1959] 201. J. G. Herder, Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft. Berlin 1955 [1799], 59 f.
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Mit dem epistemologischen Ansatz von Gaston Bachelards in La poétique de l‘espace von 1957,14 aber auch zuvor in La formation de l’esprit scientifique von 193815 kann von Herder ausgehend nun in der Konsequenz ein Blick auf die von Kant (und anderen Philosophen und Physikern) vorgenommene – implizite – Raumerzeugung metatheoretisch reflektiert werden, insofern Raum und Räumlichkeit selbst je schon der Theorie zugrunde liegen und strukturieren, die Raum (oder Zeit) erklären möchte. Eben an Kants Vernunftarchitektur wird dies augenfällig, wenn sie nicht länger durch den Metaphorizitätsumkehrschluss gegen Kritik immunisiert wird. So ist im zweiten Paragraphen der Transzendentalen Ästhetik zu lesen: „Vermittels des äußeren Sinns (einer Eigenschaft des Gemüts) stellen wir uns Gegenstände als außer uns, und diese insgesamt im Raume vor.“ (A 22/B 37) Dieser Satz und die damit einhergehende Raumkonzeption ist von Generationen an Philosophiestudenten mantraartig nachgebeten worden – und anders geht es auch nicht, denn sinnvoll ist die Aussage kaum. Nicht vorstellbar ist es nämlich, dass Gegenstände sich im Raum befinden sollen, der dabei selbst außen ist (als „äußere“ Anschauungsform im Gegensatz zur „inneren“ der Zeit); der sich dann zudem auch im Subjekt (als Eigenschaft des Gemüts) befindet; und obendrein vor der Erfahrung (als deren Grund) lokalisiert ist. Vielmehr kann mit Herder konstatiert werden, dass die – mithin hilflos wirkenden – Verortungsversuche von „außen“, „im“, „vor“ etc. als Präpositionen die Unhintergehbarkeit des Raums im topologischen Sinne belegen. Kant erzeugt also einen Beschreibungsraum mit topologischen Zuordnungen, durch die der Zeit ein Platz zugewiesen wird („innen“), an dem Raumlosigkeit behauptet wird.
4. Spatial Turn Der Skandal der philosophischen Missachtung dieses offenkundigen Aberglaubens an die Zeit (die damit nicht nur das einzig echte Scheinproblem ist, sondern wohl auch die letzte metaphysische Instanz nach der Abschaffung des Cogito) wird noch verschärft, wenn bedacht wird, dass die Philosophie bis heute auf dem Standpunkt steht, keinen „spatial turn“ vollziehen zu müssen, da sie sich ja schon immer – d.h. in der Weise Kants – mit dem Raum 14 15
Vgl. G. Bachelard, Die Poetik des Raumes. München 1960 [frz. 1957]. Vgl. Ders., Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Beitrag zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis. Frankfurt a.M. 1978 [frz. 1938], 127–139.
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(aber eben immer auch mit der Zeit) befasst hat. So kann exemplarisch die Ansicht von Bernhard Waldenfels zitiert werden, der gegenwärtige Debatten in den Sozial-, Kultur- und Geschichtswissenschaften wie folgt auf die Errungenschaften der philosophischen Tradition hinweist: „Die Rede von der Wiederkehr des Raumes legt den Gedanken nahe, der Raum sei etwas neu zu Entdeckendes. Dies mag für die Umorientierung in bestimmten Disziplinen und Techniken zutreffen […]. Doch bei all dem sollten wir nicht übersehen, dass Raum und Ort, was immer wir darunter verstehen, […] seit jeher zu den Grundmotiven und Streitobjekten der Philosophie gehören. […]. Was insbesondere die neuere Phänomenologie betrifft, so ist nicht zu übersehen, dass sich […] eine höchst differenzierte Raumphänomenologie und Zeitphänomenologie herausgebildet hat.“16
So der Anfang des Vorworts zu Waldenfels Aufsatzsammlung Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen, in dem ganz im Sinne des überholten Dualismus von Raum und Zeit diese weiterhin als unbezweifelbare Entitäten oder Phänomene vorausgesetzt werden, anstatt dass der Dualismus selbst bedacht wird. Entsprechend heißt es weiter: „Der Titel unserer Untersuchungen nimmt Bezug auf Verschiebungen, die Ort und Raum ebenso angehen wie die Zeit.“17 – Doch genau das vermeintlich unproblematische Hinzusetzen von „ebenso […] wie die Zeit“ ist das eigentlich Problematische, das in der Philosophie bislang kaum realisiert wird. Die notwendige Kehre (gleich wie sie genannt werden möge) der Philosophie kann vielmehr im Ausgang eines postphänomenologischen Autors genommen werden, auf den sich gerade auch Phänomenologen wie Waldenfels des Öfteren beziehen: Jacques Derrida, dessen Arbeiten in der Summe darauf zielten, die Präsenz vor der Präsenzmetaphysik zu schützen; oder deutlicher gesagt: die Raumerfahrung vor der Zeitphilosophie.18 So etwa bereits, wenn er die Differenz als den in Waldenfels Buchtitel zitierten „Aufschub“ denkt, das heißt als ein räumliches Phänomen; um zu zeigen, dass jedes zeitlich gesetzte „vor“ oder „nach“ sich eben räumlich dekonstruiert. Derrida kann sich im Blick auf diese unvordenkliche Verräumlichung auf die zentrale Existenzbestimmung in Heideggers Schrift Sein und Zeit stützen, welche (in Nähe zu Alsbergs vor16 17 18
B. Waldenfels, Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrung. Frank furt a.M. 2009, 9. Ebd., 10. Vgl. D. Quadflieg, Differenz und Raum. Zwischen Hegel, Wittgenstein und Derrida. Bielefeld 2007.
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laufender Behauptung des Ursprungs von Theorie im Zur-Strecke-Bringen des Tiers) das Dasein als „Erstreckung“19 bezeichnet, das heißt als AufgespanntSein oder Zwischen von Geburt und Tod, das seinerseits die Ermöglichungsbedingung der zeitlichen „Extasen“ von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist.20 Damit belegt Heidegger McTaggarts Kritik an der A-Reihe der Zeitphilosophie, weil er die Zeitlichkeitsformen in ihrer Räumlichkeit als eine jeweiliges Herausstehen (von gr. ex-histasthai, für „aus sich heraustreten“) begreift, die in der topologischen Ordnung der Präpositionen von „vor“ und „nach“ gründet. Gar könnte auf diese Weise Kant gegen sich selbst gewendet werden, wenn man in McTaggarts Beweis des Gründens der relationalen Zeitreihe in derjenigen dreier Zeiten das räumliche Argument entdeckt, mit dem Kant meinte, Leibniz wiederlegt zu haben: So zeigt Kant in dem kleinen Text Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raum aus dem Jahr 1768, dass die Relationen (wie rechts und links) ein Subjekt als Bezugspunkt voraussetzen: „Da wir alles, was außer uns ist, durch die Sinne nur insofern kennen, als es in Beziehung auf uns selbst stehet, so ist es kein Wunder, dass wir von der [sic!] Verhältnis dieser Durchschnittsflächen [drei Abmessungen in dem körperlichen Raume] zu unserem Körper den ersten Grund hernehmen, den Begriff der Gegenden zu erzeugen.“21
19 20
21
M. Heidegger, Sein und Zeit. Tübingen 1993 [1927], 371. Sloterdijk hat entsprechend darauf hingewiesen, Heidegger verfolgt in Sein und Zeit letztlich das „subthematisch eingeklemmte Projekt Sein und Raum (P. Sloterdijk, „Im Dasein liegt eine wesenhafte Tendenz auf Nähe“. Marginalie zu Heideggers Lehre vom existentialen Ort. In: Ders., Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger. Frankfurt a.M. 2001 [1998], 396 – 403. I. Kant, Von dem ersten Grunde des Unterschieds der Gegenden im Raume. In: Ders., Werkausgabe. Hg. von W. Weischedel, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1986 [1768], 993–1000; kursiv St.G. – Woraus Kant jedoch sogleich auf die Richtigkeit des absoluten Raumbegriffs schließt: „[N]icht die Bestimmungen des Raumes [sind] Folge von den Lagen der Teile der Materie gegeneinander, sondern diese [sind] Folgen von jenen […], und […] in der Beschaffenheit der Körper [können also] Unterschiede angetroffen werden […] und zwar wahre Unterschiede, die sich lediglich auf den absoluten und ursprünglichen Raum beziehen, weil nur durch ihn das Verhältnis körperlicher Dinge möglich ist, und […] weil der absolute Raum kein Gegenstand einer äußeren Empfindung, sondern ein Grundbegriff ist, der alle dieselbe zuerst möglich macht, [können] wir dasjenige, was in der Gestalt eines Körpers lediglich die Beziehung auf den reinen Raum angehet, nur durch die Gegenhaltung mit anderen Körpern wahrnehmen […].“ (Ebd., 1000.)
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Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft figurieren solcherart notwendig als „Da“, „Hier“ sowie „Dort“ und sind räumliche Metaphern der selbst nicht – anderweitig denn als Effekt – existenten Zeit. Gar hätte Kant und all diejenigen, die weiterhin sich auf ihn berufend die Zeit als innere Form der Anschauung behaupten, eine Definition in der Kritik der reinen Vernunft aufmerksamer lesen und diese vor allem wörtlich nehmen sollen: „Sie [die Zeit] hat nur Eine [sic!] Dimension: verschiedene Zeiten sind nicht zugleich, sondern nacheinander […].“ (A 30/B 47; kursiv St.G.) – Was soll diese eine Dimension als Nacheinander sein, wenn nicht eine räumliche Ordnung!? Nicht das gegenseitige Ausspielen von Raum und Ort, das die Philosophie seit Platon bzw. Aristoteles betreibt und das Waldenfels exemplarisch für viele Phänomenologen mit dem Raumthema nur verbinden zu können scheint22 – seit Heidegger dies 1951 in seinem Darmstädter Vortrag Bauen Wohnen Denken folgenreich vorgab23 –, ist hier also von Relevanz; sondern die geradezu reflexhaft-unreflektierte Hinzufügung von „ebenso […] wie auch Zeit“ zeigt auf, wie groß der Abstand zum Erkenntnisstand in den „bestimmten Disziplinen“ geworden ist und kein Fach eine Raumwende so nötig hat wie die Philosophie, will sie etwas anderes tun als sich nur ihre eigene Geschichte immer wieder von Neuem zu erzählen.
5. Mediale Formen Gerade von phänomenologischer Seite wird bis heute kaum Marshall McLuhans mediengeschichtliche Rückführung der teleologischen Geschichtsvorstellung auf die hierfür konstitutiven Figur der von Kant angeführten Linie zur Kenntnis genommen, die in den Medienformen des zentralperspektivischen Tafelbildes und der mechanisch reproduzierbaren Druckschrift gründet. Mit beiden vollzieht sich das, was McLuhan als Eintritt in die GutenbergGalaxis bezeichnet: Perspektivisches Bild und lineare Schrift wenden sich an einen anderen Sinn als das zuvor dominierende Kommunikationsmittel der
22
23
Vgl. in ähnlicher Weise etwa auch die Rekonstruktion der Philosophiegeschichte durch E. S. Casey, The Fate of Place. A Philosophical History. Berkeley, Los Angeles, London 1997. „Räume [empfangen] ihr Wesen aus Orten und nicht aus ‚dem‘ Raum.“ (M. Heidegger, Bauen Wohnen Denken. In: Ders., Vorträge und Aufsätze. Stuttgart 1954 [1952], 139– 156 .
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menschlichen Stimme:24 dieses an das Ohr, jene an das Auge. Mit dieser Präferenz des Gesichtssinns kommen nicht nur neuer Möglichkeiten der Politik auf (Beherrschung großer Territorien durch Gesetzesniederschrift und -distribution25), sondern auch die Vorstellung von Zeit. Dies ist zunächst kontraintuitiv, da gerade das perspektivische Bild ja einen Raum zur Darstellung bringt. Doch deren Gerichtetheit verstärkt eben den Eindruck von „Hier“ und „Dort“, so dass die im Sehen allemal herrschende Distanz zu den Dingen in eine Richtung umgewandelt wird: nach vorn, in die Zukunft. Dass auch hier die Zeit (nur) als eine räumliche Figur auftritt, gerät in Vergessenheit und wird eben im Sinne des kantischen Geisterglaubens zunehmend ausgeblendet. Abermals kann ein Beispiel aus der neueren Phänomenologie genannt werden, in dem dieser Mechanismus kurz vor der Aufdeckung stand: So hat Johannes Linschoten in seiner Phänomenologie der Straße die Aussage eines Schizophrenen nach einer Untersuchung von mit den Worten zitiert „Die Straße ist die Zukunft“26, aber die Straße dabei als Symbol der Zeit qualifiziert und nicht etwa – was ihn hätte die Wende zum Raum in der Phänomenologie einläuten lassen können – Zeit als Symbol der Straße, wie etwa mit McLuhan im Sinne des Spatial Turn zu denken wäre.27 Zeit figuriert in der Gutenberggalaxis eben als Linie, Weg oder Vektor. Zeit ist so gesehen nichts anderes als die visuelle Form wahrgenommenen Raums, während seine akustische Form in der Kultur vor und nach Gutenberg den Raum als Präsenz zur Erscheinung kommen lässt; vor Gutenberg unmittelbar durch die menschliche Stimme und nach Gutenberg (oder vielmehr nach dem Endes des Buches als maßgeblicher Kommunikationsform) mittelbar durch elektronische Medien.
24 25 26 27
Vgl. M. McLuhan, B. R. Powers, The Global Village. Der Weg der Mediengesellschaft in das 21. Jahrhundert. Paderborn 1995, 63 –76. Vgl. H. A. Innis, Das Problem des Raumes. In: Ders., Kreuzwege der Kommunikation. Ausgewählte Texte. Hg. von K. Barck, Wien, New York 1997 [1951], 147–181. R. Kuhn zit. n. J. Linschoten, Die Straße und die unendliche Ferne. Teil 1: Die Straße als Ausdruck transzendierender Zielsetzung. In: Situation 1 (1956), 235–260, 238. Bedenkenswert ist in diesem Zusammenhang eine Feststellung Jean-Paul Sartres, wonach es zwei Arten von Philosophie gibt: eine „Ernährungsphilosophie“, die sich die Welt einverleibt und nach innen verlegt, und die Phänomenologie, welche „uns auf die Landstraße [wirft], mitten in Gefahren, unter ein grelles Licht“ (J.-P. Sartre, Eine fundamentale Idee der Phänomenologie Husserls: die Intentionalität. In: Ders.: Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays 1931–1939. Reinbek bei Hamburg 1994, 33–38 [frz. 1939].
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Etwas komplexer als Kants lineare Figur der Zeit ist die, welche bei den an ihn anschließenden Idealisten zu finden ist. Vor allem in Georg Wilhelm Friedrich Hegels erstmals 1817 erschienener Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse finden sich Beschreibungen, welche die Zeit als ein Ergebnis der Negation der Negation der Negation der Negation des Unräumlichen ausgibt: als Folge der Nichtung des Punktes durch die Linie, deren Nichtung durch die Fläche, deren Nichtung durch den Raum und schließlich dessen Nichtung durch die Zeit.28 Hegels wesentlicher Trick ist dabei, nicht eine Aufhebung des Raums durch die Zeit zu behaupten (was auch geschichtsphilosophisch bei ihm ausbuchstabiert ist und auf die philosophische Interpretation von McLuhans These hinausläuft, welche die Zeit dazu aber gerade nicht als existent annehmen muss), sondern schon dem Punkt als Anfang seine Räumlichkeit abzusprechen, die dann freilich im Ende als Bewahrung „aufgehoben“ sein muss.29 Um die Figürlichkeit dieser Raumleugnung zu erkennen, genügt ein Blick in Wassily Kandinsky Essay Punkt und Linie zu Fläche von 1926, wo zwar die anfängliche Dialektik beibehalten wird (und auch ein Restglaube an die Zeit anzutreffen ist), in dem der vermeintlich ausdehnungslose Punkt aber in seinen vielen Darstellungsformen vorgeführt wird. Ein Punkt ist eben nicht Nichts, sondern allenfalls dessen Symbol.30
28
29
30
„Aber der Unterschied [der Dimensionen; St.G.] ist wesentlich bestimmter, qualitativer Unterschied. Als solcher ist er 1. zunächst die Negation des Raums selbst, weil dieser das unmittelbare unterschiedslose Außersichsein ist, der Punkt. 2. Die Negation ist aber Negation des Raums, d.i. sie ist selbst räumlich; der Punkt als wesentlich diese Beziehung, d.i. als sich aufhebend, ist die Linie, das erste Anders –, d. i. Räumlichsein des Punktes; 3. die Wahrheit des Andersseins ist aber die Negation der Negation. Die Linie geht daher in Fläche über, welche einerseits eine Bestimmtheit gegen Linie und Punkt, und so Fläche überhaupt, andererseits aber die aufgehobene Negation des Raums ist, somit Wiederherstellung der räumlichen Totalität, welche nunmehr das negative Moment an ihr hat; – umschließende Oberfläche, die einen einzelnen ganzen Raum absondert.“ (G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. 1830. Zweiter Teil: Die Naturphilosophie. Frankfurt a.M. 1986, 44 f. Vgl. dazu bereits J. Derrida, Ousia und gramme. Notizen über eine Fußnote in „Sein und Zeit“. In: Ders., Randgänge der Philosophie. Wien 1999, 57–92 [frz. 1939] – Derrida zeigt darin auch, wie Heideggers Kritik an Hegels Zeitvorstellung als „vulgär“ (will heißen: als „zu anschaulich“ oder eben räumlich) letztlich auf seine eigene, existentialistische Zeitkonzeption zutrifft, die solcherart von Raumvergessenheit zeugt. Vgl. W. Kandinsky, Punkt und Linie zu Fläche. Beiträge zur Analyse der malerischen Elemente. Bern 1955 [1926].
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6. Kulturelle Formen Gerade mit Hegel lässt sich zeigen, dass der philosophische Glaube an die Zeit und ein dadurch zum Vorschein kommender „Wille zur Geschichte“ nicht nur innerphilosophische Konsequenzen hat, insofern Raum als Thema zwar zur Kenntnis genommen wird, nicht aber die Folgen der Raumkehre realisieren werden; die Konsequenzen reichen weiter. So hat Claude Lévi-Strauss 1952 in seiner Antirassismus-Schrift für die UNESCO ganz gegenteilig zu Horkheimer und Adorno argumentiert, dass nicht das Raumdenken für „Blut und Boden“-Politik verantwortlich ist, sondern das Zeit- als Geschichtsdenken eine Ursache des Völkervernichtung im 20. Jahrhundert ist, weil erst Fortschrittsdenken ethnische Hierarchien legitimiert.31 Lévi-Strauss setzt dem in all seinen Untersuchungen die Vernünftigkeit von Strukturen entgegen, die vor allem in den vermeintlich primitiven Kulturen anzutreffen sind und in denen das, was Philosophen „Zeit“ nennen, in der Wiederkehr von Praktiken an Orten besteht, an die sie geknüpft sind (wobei zu bedenken ist, dass die Orte erst sekundär geographischer Art sind; primär handelt es sich um Strukturstellen). Die von philosophischer Seite gegen Lévi-Strauss in diesem Zusammenhang formulierte Kritik spricht abermals dafür, wie wenig Kenntnis von topologischen Raumvorstellungen bis heute besteht: So lautet ein ins Feld geführter Vorwurf, den vor allem Poststrukturalisten an Lévi-Strauss übten, Strukturen seien eben zu starr, als dass sie Veränderung denkbar machten. Aber genau das ist nicht der Fall (und kann eben nur in den Sinn kommen, wenn das Räumliche auf Starrheit reduziert ist): Vielmehr lässt eine topologische Betrachtung, wie sie Lévi-Strauss etwa in seiner kleinen Untersuchung Die Sage von Asdiwal aus dem Jahr 1958 vorlegt,32 zu, dass zwischen zwei Arten von Veränderung und Bewegung unterschieden werden kann, die das Zeitdenken eben nicht differenzieren kann. Mit Juri Lotman gesprochen handelt es sich um Bewegungen, die eine Struktur affirmieren und daher kein Ereignis sind, und Bewegungen, welche die Struktur transzendieren und echte Ereignisse sind, weil sie die Struktur aufbrechen und verändern oder in eine andere Struktur überführen.33 Für all das ist keine Annahme von Zeit erforderlich und in der 31 32 33
Vgl. C. Lévi-Strauss, Rasse und Geschichte. Frankfurt a.M. 1972, 66–81 [frz. 1952]. Vgl. Ders., Die Geschichte von Asdiwal. In: Edmund Leach (Hg.), Mythos und Totemismus. Beiträge zur Kritik der strukturalen Analyse. Frankfurt a.M. 1973, 27–81 [frz. 1952]. Vgl. J. M. Lotman, Zur Metasprache typologischer Kultur-Beschreibung. In: Ders., Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur. Hg. von K. Eimermacher, Kronenberg i. Ts. 1974, 338–377 [russ. 1969].
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Beschreibung auch überhaupt nicht hilfreich, wenn überhaupt – eingedenk der spatialen Metaphorik jeglicher Zeitvorstellung – gegeben. Um Philosophen zu überzeugen, hat der Sozialgeograph und Hauptvertreter des Spatial Turn, Edward Soja, ein bemerkenswertes Experiment vorgeschlagen: Angesichts des Vorwurfs (einer weiteren Variation der Annahme, dass Zeit eigentlich und Raum uneigentlich-metaphorisch sei), dass, wenn „alles räumlich“ sei, die fehlende Distinktion eine solche Behauptung überflüssig mache, solle gleichfalls auf die Aussage verzichtet werden: „alles ist zeitlich“ oder geschichtlich.34 Hinzuzufügen wäre noch: „alles ist sozial“ (also ist „sozial“ eine überflüssige Kategorie), „alles ist kulturell“ (also ist „kulturell“ eine überflüssige Kategorie), und freilich: „alles ist sprachlich“ (also ist „sprachlich“ eine überflüssige Kategorie)…
7. Bewegungs-Bild Doch die von Soja in Anschlag gebrachte Ironie könnte darüber hinwegtäuschen, dass es keine Anderes des Raums gibt. – Dies gilt gerade für die Zeit: Bemerkenswert ist hier, dass derjenige Philosoph, der zunächst die kantische „Innerlichkeit“ der Zeit und die Behauptung von deren „unanschaulicher Anschauung“ teilt und philosophiegeschichtlich perpetuiert, das Zeit- als eine dem Raumdenken gegenüberstehende Form überwindet. Nachdem Henri Bergson 1889 in seiner Abhandlung über die unmittelbaren Bewusstseinstatsachen (auf Deutsch als Zeit und Freiheit erschienen) von einem inneren Zeiterleben der „Dauer“ (frz. durée) noch als „ursprüngliche Reinheit“ spricht, deren Vorstellung „unglaublich schwer“35 falle, legt er 1896 mit Materie und Gedächtnis einen epochalen Vorschlag zur Neukonzeption der Zeit vor, die letztlich auch entscheidend war für Martin Heideggers Verräumlichung des Zeitdenkens. Zwar beginnt Bergsons Text noch mit der (von Spengler dann kritisierten) Zuteilung, wonach „[d ]ie Wahrnehmung […] den Raum genau in dem Verhältnis [beherrscht], in dem die Tat die Zeit beherrscht“36, doch führt. Bergson in seiner neuen Abhandlung die Kategorie des Bildes ein. Streng ge34
35 36
Vgl. E. Soja, Vom „Zeitgeist“ zum „Raumgeist“. New Twists on the Spatial Turn. In: J. Döhring, T. Thielmann (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld 2008, 241–262. H. Bergson, Zeit und Freiheit. Hamburg 1994 [frz. 1896], 82. Ders., Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg 1991 [frz. 1896], 17.
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nommen gibt es die Annahme eines (transzendentalen) Schemas schon bei Immanuel Kant, welches der Kritik der reinen Vernunft zufolge zwischen Anschauung und Begriffsbildung vermittelt,37 bei Bergson wird „Bild“ jedoch viel deutlicher in einem protomedialen Sinne gedacht. Und genau hierin besteht nicht nur Bergsons Beitrag zur aktuellen Medientheorie, sondern auch die eigentliche Innovation zur Zeitdebatte: Ohne es explizit zu thematisieren, zeigt Bergson, dass jedwede Vorstellung – und damit Realität – von Zeit eine räumliche Vorstellung derselben impliziert – und nimmt nicht weniger vorweg als das Verdikt Minkowskis. Herausgearbeitet wurde das räumliche Moment von Bergsons Zeittheorie durch den französischen Philosophen Gilles Deleuze, der sowohl eingehende Exegesen und Zusammenstellungen von Bergsons Texte unternahm38 als auch dessen Denken an Medien explizierte. Konkret ist dies für Deleuze der Film, den er in zwei Bänden aus den frühen 1980er Jahren zum Kino behandelt. Jeder Band ist einer anderen Darstellungsform gewidmet: der erste dem sogenannten Bewegungs-Bild, der zweite dem sogenannten Zeit-Bild. In beiden stehen Raum und Zeit in einem anderen Verhältnis zueinander: Im ersten wird Zeit im Raum visualisiert, im zweiten als Raum. Unter medialen Gesichtspunkten wird damit der kantische Dualismus von Raum und Zeit selbst als zwei Raumformen gedacht: Was Kant die äußere Anschauungsform nennt, ist mit dem späten Bergson gedacht nach Deleuze die Wahrnehmung (respektive Darstellung) von Bewegung, so dass Zeit nicht mehr etwas von den ausgedehnten Dingen Getrenntes ist, sondern diese immer (auch wenn sie ruhen) in einer Weise der Bewegung zu sehen sind. Film realisiert dies auf dem Wege einer Synthese von Einzelbildern, die dem Sehen so dargeboten werden, dass die 16 bis 24 Frames als Bewegung wahrgenommen werden. Ganz ausdrücklich spricht Deleuze daher nicht von „bewegten Bildern“, sondern von einem „Bewegungs-Bild“.39 Technisch gesehen ist das Kino tatsächlich Ergebnis der sogenannten Chronophotographie als der Innovation von Eadweard Muybridge, der (wenngleich es auch schon Vorläufer gab) 1872 die Tradition der Serienfotografie begründet. In seiner berühmten ersten Sequenz eines galoppierenden Pferdes, das die Stellung der Beine (besonders in der Luft, wo sie nach innen und zueinander gerichtet sind) zeigt. In dem experimentellen Aufbau wurden zwölf Kameras 37 38 39
Vgl. S. Günzel, Raum/Bild. Zur Logik des Medialen. Berlin 2012, 47 ff. Vgl. H. Bergson, Philosophie der Dauer. Textauswahl von Gilles Deleuze. Hamburg 2013 [frz. 1957]. Vgl. G. Deleuze, Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Frankfurt a.M. 1989 [frz. 1983].
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Abb. 1: Eadweard Muybdrige, Das Pferd in Bewegung (1872)
mit Schlitzverschlüssen durch das vorbeireitende Motiv selbst ausgelöst, indem gespannte Schnüre durchtrennt wurden. Sechs Jahre nach seinen ersten Aufnahmen entwickelte er die bereits existierenden Zootrope, mit denen eine rekursive Bildserie in einer umlaufenden Trommel betrachtet werden können, zu einem Projektionsgerät weiter, dem sogenannten Zoopraxiskops, mit dem es nun möglich war, nach Art einer Laterna Magica die Bilder für mehrere Betrachter zugleich sichtbar auf einer (Lein-)Wand darzustellen. Für Deleuze ist dieses Setting im Wesentlichen das Wahrnehmungsdispositiv des frühen Kinos: Mithilfe dieser Medientechnik werden photographische Einzelbilder so gezeigt, dass den Betrachtern das Bild einer Bewegung im Raum gegeben ist. Zeit wäre demnach die Sichtbarkeit dieser Bewegung im Kino.
8. Zeit-Bild Während die Filmgeschichte zumeist unterteilt wird zwischen Schwarz-Weiß und Farbe oder Stumm- und Tonfilm, so ist für Deleuze die große Zäsur das Jahr 1945, mit dem das Zeit-Bild auf den Plan tritt. Im Anschluss an Bergson ist die zweite Form der Zeit neben der Bewegung für Deleuze die Erinnerung
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oder das Gedächtnis: das heißt mehrere Zeitschichten oder -räume, die in der Introspektion „gesehen“ werden. Das Auftauchen dieser Bildform erklärt sich mit der einsetzenden Vergangenheitsaufarbeitung nach dem Zweiten Weltkrieg und der Frage, wie es zum Faschismus und Nazismus kommen konnte. – Ganz unabhängig nun vom Inhalt inspiriert diese Rückschau die neue Darstellungsform des Kinos: An die Stelle der Bewegung im Raum tritt der Wechsel zwischen Räumen der Erinnerung. Eben diese Darstellungsweise nennt Deleuze (wiederum im Singular) „Zeit-Bild“.40 Damit führt Deleuze das Bergsonsche Zeittheorem der Dauer nicht nur auf den Raum zurück, sondern ermöglicht die Auslegung der populärsten Zeitphilosophie der Antike: diejenige des Augustinus, dessen Bekenntnisse oft mit den Worten zitiert werden: „Was ist also die Zeit? Wenn mich niemand darüber fragt, so weiß ich es; wenn ich es aber jemandem auf seine Frage erklären möchte, so weiß ich es nicht.“ (XI/14) – Das Zitat dient in der Tradition der Zeitphilosophie zumeist als Beleg für die Unanschaulichkeit der Zeit; vor allem, wenn missachtet wird, wie Augustinus selbst weiter argumentiert: „Weder Vergangenheit noch Zukunft gibt es, sondern es gibt eine Gegenwart der vergangenen Dinge, ferner eine Gegenwart der gegenwärtigen Dinge, schließlich eine Gegenwart der zukünftigen Dinge. Diese drei Zeitformen nehmen wir in unserem Geiste wahr, aber sonst nirgendwo.“ (XI/20) Augustinus bestärkt zwar damit die Annahme, dass Zeit etwas „Inneres“ ist, aber er zeigt auch, dass die Formen der Zeit – besonders Vergangenheit und Zukunft – nur selbst wieder als Vergegenwärtigungen existieren. Bis zur Erfindung zeitbasierter Medien mussten solche Vergegenwärtigung tatsächlich als rein inneres Erleben gewertet werden; doch mit dem Entstehen des Kinos wurde es nun möglich, dass die Vergegenwärtigung kollektiv erlebt wird – und vor allem: dass sie selbst anschaulich und „äußerlich“ vonstattengeht. Ein einschlägiger Film der Epoche des Zeitbildes nach Deleuze ist der französisch-italienische Letztes Jahr in Marienbad von Alain Resnais nach einem Drehbuch von Alain Robbe-Grillet aus dem Jahr 1961. Der Film handelt von der Möglichkeit einer Beziehung, die zwischen einer liierten Frau und einem Mann, die beide Gäste im Grand Hotel Marienbad sind, im Jahr vor dem gezeigten Aufeinandertreffen bestand. Die beiden könnten sich aber auch noch nie begegnet sein oder die „Beziehung“ bestand in einer (nun verdrängten) Vergewaltigung. Der Film wendet wie das klassische Kino des BewegungsBildes das Verfahren der Kontinuitätsmontage an, zu deren Kernbestand es 40
Vgl. Ders., Das Zeit-Bild. Kino 2. Frankfurt a.M. 1991 [frz. 1985].
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etwa gehört, dass in Dialogen sehr häufig das Schuss-Gegenschuss-Verfahren verwendet wird, bei dem die Protagonisten abwechselnd aus der gegenüberliegenden Position unter Beibehaltung der Orientierung von rechts und links in einem Verhältnis von nicht mehr als 180° zueinander gezeigt werden. Im Unterschied zur ersten Epoche des Spielfilms wechselt in den zentralen Dialogen zwischen dem Mann und der Frau beim Einstellungswechsel der Hintergrund, sprich: der Raum oder die Kulisse, in bzw. vor der sie sich befinden.
Abb. 2a-c: Alain Resnais, Letztes Jahr in Marienbad (1961)
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Beide Personen befinden sich dabei im Stillstand, so dass die einzige Bewegung die durch Räume ist, zwischen denen allerdings keinerlei Kontinuität besteht. Vielmehr handelt es sich um Zeitschichten der Vergangenheit. Das Bemerkenswerte ist an diesem Film aber nicht nur der innovative Darstellungsmodus von Vergangenheit und Erinnerung (im Sinne Bergsons), sondern dass diese zugleich in die Schwebe versetzt, wenn nicht gar außer Kraft gesetzt wird: Es war so, es hätte so sein können, es war ganz anders oder es hat nie stattgefunden – alle diese Möglichkeiten bestehen. Bereits vor dem Zeitalter der Digitalisierung virtualisiert Resnais damit allein durch die Darstellungsweise den Film als Zeit-Bild.
9. Virtualität Zumeist wird Virtualität im technischen Sinne verstanden: „Virtuell“ ist dann das, was nicht materiell ist, wie etwa das, was auf Bildern zu sehen ist. In einem gesteigerten Maße wird darüber hinaus von virtuellen Bildern gesprochen, womit mögliche Fixierungen von Erscheinungen in einem Bild gemeint sind. Hierzu gehören neben dem Spiegelbild, das für Jacques Lacan als Mittel der Ichidealisierung der Inbegriff der Selbstverkennung ist,41 insbesondere die noch nicht aufgezeichnete Informationsdarstellung im Sucher oder auf dem Display der analogen bzw. digitalen Videokamera oder am Überwachungsmonitor der Closed Circuit Television.42 Vor allem aber wird und wurde vor allem gegen Ende des letzten Jahrhunderts das Virtuelle als das Trügerische, als das Nichtwahre begriffen. Unter den Verdacht einer Täuschung oder Lüge gerieten damit zunächst Simulationstechniken, insbesondere computerbasierte. Ein maßgeblicher Vertreter dieses Medienpessimismus, der gleichsam von einem Realitätsfatalismus getragen wurde, war Jean Baudrillard, der den Verlust jedweder Wirklichkeit durch Virtualisierung prophezeit.43 Dagegen kann ein anderer Begriff des Virtuellen vorgebracht werden, der durchaus auch mit dem Computer oder vielmehr mit seinen Anwendungen in Zusammenhang steht. So wird all das virtuell genannt, was außerhalb des Rah41 42 43
Vgl. J. Lacan, Die Topik des Imaginären. In: Ders.: Freuds technische Schriften. Das Seminar I. Weinheim, Berlin 1986, 97–116 [frz. 1954]. Vgl. T. Y. Levine, U. Frohne, P. Weibel (Hg.), CTRL [Space]. Karlsruhe, Cambridge, London 2002. Vgl. J. Baudrillard, Die Illusion und die Virtualität. Wabern-Bern 1994.
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mens einer Anwendung liegt und momentan nicht sichtbar ist, aber potentiell zur Ansicht kommen kann. Nicht der Text in einem Editorprogramm ist damit insgesamt virtuell (weil er „nur“ als Datensatz im Speicher und nicht etwa auf Papier materialisiert vorliegt), sondern nur der – zumeist größere – Teil, welcher eben nicht im Fenster der Anwendung zu sehen ist und erst durch Scrollen „ins Bild“ kommen kann, d.h. im Rahmen des Bildschirms sichtbar wird. Diese Art von Virtualität ist dabei jedoch nicht auf Computeranwendungen beschränkt, sondern kann auch in anderen Medien angetroffen werden, deren virtueller Aspekt jedoch erst mit den grafischen Nutzerschnittstellen des Rechners offensichtlich geworden ist. Der Gedanke einer nicht negativ besetzten und zugleich auf Medien anwendbaren Konzeption von Virtualität liegt auch dem Denken von Deleuze zugrunde, der in Kritik der aristotelischen Ontologie einen modernen Virtualitätsbegriff entwickelt:44 Aristoteles hatte Wirklichkeit (gr. „energeia“) und Möglichkeit (gr. „dynamis“) unterschieden und nach Deleuze letzteres nur vom ersten, also einer Ins-Werk-Setzung gedacht. Jede Möglichkeit ist denkbar nur im Blick auf die Verwirklichung. Das Mögliche kann dabei zwar auch nichtverwirklicht bleiben, aber eben nicht auf andere Weise umgesetzt werden als verwirklicht. Deleuze dagegen unterscheidet im Anschluss an die scholastische Differenz von actualitas und realitas, d.h. zwischen der Verwirklichung als Aktualisierung und der Sachhaltigkeit als Realgehalt. Somit kann etwas real sein, ohne jemals verwirklicht worden zu sein.45 Eben dies trifft auf das Virtuelle im Sinne der Bildschirmansicht zu: Es hat keine physische Wirksamkeit, insofern es nicht der Welt der Kausalzusammenhänge angehört, kann aber dennoch sachlich bestimmt sein. Dieser Gedanke ist etwa auch bei Immanuel Kant anzutreffen, der 1781 in Kritik der reinen Vernunft die Vorstellung von Geld – in seinem Fall „gedachte 100 Taler“ – für nicht weniger real hält als das Geld in der Hand.46 Tatsächlich eignet sich Geld als von der Ware abstrahierter Tauschwert als Beispiel für eine virtuelle Existenz. Dass mit (anderweitig nicht existenten) Werten spekuliert wird, ist zwar ein gegenwärtiges Phänomen, dem Geld aber sozusagen wesensmäßig, da die Abstraktion von der Ware zugleich eine Abstraktion von dem reinen Gebrauchswert mit sich bringt und bereits eine „Verkörperung“ der Wertschätzung oder des nach Karl Marx sogenannten Warenfetischismus bedeutet. Geld als Wertvorstellung ist 44 45 46
Vgl. G. Deleuze, Differenz und Wiederholung. München 1997 [frz. 1968], 264 ff. Ders., Woran erkennt man den Strukturalismus? In: Ders.: Die einsame Insel. Texte und Gespräche 1953 –1974. Frankfurt a.M. 2003 [frz. 1968], 248–281 [frz. 1973], 261. KrV A 599/B 627.
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somit auch ein Beispiel dafür, dass es im Hinblick auf die Gültigkeit eine virtuelle Existenz geben kann, die gar nicht anderweitig realisierbar ist denn als Wertvorstellung. Aktualisierungsversuche, wie beispielsweise die Repräsentation durch Gold, können dahingehend als von vornherein zum Scheitern verurteilt angesehen werden und sind auch historisch gescheitert.47 Auch spricht die Genese des Geldes aus dem Tauschhandel nicht dagegen, dass die Virtualität des Wertes ursprünglicher ist als der Warentausch, da – dies haben vor allem die ethnologischen Studien zum Potlatsch gezeigt48 – das Wesentliche an ihm nicht die Bedürfnisbefriedigung sein muss, sondern die Möglichkeit bietet, Konflikte nicht in der Wirklichkeit, sondern in Form des Opfers eben virtuell auszutragen. – Überhaupt ist der Bereich der Werte oder allgemein von Geltungen ein virtueller. So hat Giorgio Agamben im Anschluss an Deleuze die Gesetzgebung als Virtualität begriffen.49 Er nimmt dabei auch eine weitergehende Unterscheidung von Deleuze zwischen der reinen und der realisierten Virtualität auf:50 Reine Virtualität wäre damit die „Möglichkeit“ zur Gesetzgebung durch einen Souverän im Sinne Carl Schmitts51, realisierte Virtualität die erfolgte Gesetzgebung, die ihrerseits Einfluss auf physische Möglichkeiten der Verwirklichung hat. Agambens radikales Beispiel ist die Etablierung von Lagern im zwanzigsten Jahrhundert, wo gerade mit einem Entzug der Geltung des Gesetztes (also dem nichtreal sein der Virtualität) eine räumliche Konkretisierung erfolgt. Nicht der Ort des Lagers bedingt damit die Ausnahme vom Gesetz, sondern das Lager ist die Materialisierung der Ausnahme, die aus der Souveränität als reiner Virtualität resultieren kann.52
47 48 49 50 51 52
Vgl. J. Vogl, Das Gespenst des Kapitals. Zürich, Berlin 2010, 83 ff. M. Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. In: Ders.: Soziologie und Anthropologie. Bd. 2, Frankfurt a.M. 1989 [frz. 1923/24]. 9–144. G. Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a.M. 2002 [ital. 1995], 27 ff. Vgl. G. Agamben, Die absolute Immanenz. In: Ders., Bartleby oder die Kontingenz. Berlin 1998, 77–127 [ital. 1996], 87 ff. Vgl. C. Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. Berlin 1934, 11 ff. Vgl. G. Agamben, Ausnahmezustand. Frankfurt a.M. 2004 [ital. 2003].
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10. Medium Bild Im Zuge dessen kann also eine Umwertung der Hierarchie zwischen der von der Wirklichkeit her gedachten Möglichkeit und der von der Virtualität her gedachten Realisation erfolgen: Nicht ist das Virtuelle deviant gegenüber der Wirklichkeit, sondern Wirklichkeit ist dem Virtuellen unterstellt. Nicht von ungefähr können daher Geld und Gesetz auch als Medien angesprochen werden, wie dies für den ersten Fall vor allem der Strukturfunktionalismus mit Talcott Parsons und im Anschluss daran die Systemtheorie Niklas Luhmanns angenommen hat:53 Geld als Virtualität oder Medium stabilisiert demzufolge das System Wirtschaft, doch nicht die Münzen oder Scheine leisten dies, sondern der vorgestellte Realgehalt des Wertes. Während Luhmann unter Rückgriff auf Fritz Heider von Medium in einem weiten Sinne spricht,54 lasse sich im engeren Sinne auch technischen Medien hinsichtlich ihrer Virtualität bestimmen: So stellt etwa Lambert Wiesing im Rückgriff auf den Phänomenologen Edmund Husserl gar die Behauptung auf, dass sich Medien nur solcherart definieren lassen, insofern etwas immer dann die Funktion eines Medien erfüllt, wenn sich an ihm die Unterscheidung von aktueller Geltung (also: Virtualität) und physischer Genese (also: Wirklichkeit) selbst vornehmen lässt:55 So können zwei unterschiedliche (oder nur „gleiche“) Ausgaben eines Romans doch dieselbe „Geschichte“ vermitteln. Das heißt nicht, dass alle Rezipienten zur selben Interpretation der Erzählung kommen müssen, sondern allein, dass die Möglichkeit unterschiedlicher Interpretationen ein und derselben Geschichte gegeben ist, belegt deren virtuelle Existenz als, so Wiesing, „artifizielle Selbigkeit“. Hierbei wird bereits offensichtlich, dass Virtualität über eine Differenz und damit einhergehend negativ bestimmt ist: Zu denken ist etwa an die Bestimmung des Bildes nach Husserl, der davon spricht, dass das Bild ein „Nichts“ sei, da seine Erfahrung die Betrachter zwischen der materiellen Genese in Form des Bildträgers und seiner vorgestellten Geltung in Form der Bildobjekte
53 54 55
Vgl. N. Luhmann, Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation. In: Ders.: Soziologische Aufklärung 3. Soziale Systeme, Gesellschaft, Organisation. Opladen 1980, 229–240. Vgl. F. Heider, Ding und Medium. Berlin 2005 [1926]. Vgl. L. Wiesing, Virtuelle Realität. Die Angleichung des Bildes an die Imagination. In: Ders., Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes. Frankfurt a.M. 2005, 107– 124.
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oszilliert.56 Die veranschlagte Differenz kann nun aber im Blick auf Medien nicht nur für deren grundsätzliche Bestimmung genutzt werden, sondern auch für eine weitergehende Beschreibung der bildlichen Wahrnehmung. So besteht nicht nur eine Differenz zwischen Bildträger und Bilderscheinung (oder der von Husserl auch angenommenen Differenz zwischen Bilderscheinung und Bildbedeutung), sondern auch die zwischen Bildobjekten. Hans Dieter Huber hat in seinem Vorschlag zu einer allgemeinen Bildwissenschaft darauf hingewiesen,57 dass keineswegs alle Elemente eines Bildes gleichermaßen den Betrachtern bewusst sind, sondern dass innerhalb des Bildes (als virtueller Welt) eine Differenzierung vorgenommen wird. Mit George Spencer Brown kann von einer weitergehenden Unterscheidung zwischen markiertem Raum (marked space) und unmarkiertem Raum (unmarked space) gesprochen werden:58 Nicht nur kann die materielle Welt in der Bildbetrachtung zugunsten der Bilderscheinung zurücktreten, sondern es können auch im Bild Ebenen der Differenzierung im Sinne der Gestaltwahrnehmung unterschieden sein: Wird die Landschaft betrachtet, bleiben die Menschen im Vordergrund unberücksichtigt, werden diese fokussiert, tritt die Landschaft zurück.
11. Raum-Bild Für die Frage der Virtualität entscheidend ist aber noch eine andere Differenz: und zwar diejenige von Innerhalb und Außerhalb des Bildes, jedoch nicht das materielle Außerhalb, wie es durch den Bildträger bestimmt ist, sondern das Außerhalb im Bild oder der von Noël Burch sogenannte offscreen-space.59 Gemeint ist damit ein in der Bildererscheinung oder in der Diegese implizierter Bereich, der gegenwärtig nicht ansichtig ist, sondern bereits sichtbar war, sichtbar werden wird oder auch nie zur Erscheinung kommt. Es ist diese Virtualitätskonzeption, die mit dem eingangs genannten Virtualitätsbegriff der Informationstechnik zusammenfällt: Virtuell ist, was am Bildschirm realisiert werden kann, aber nicht muss, und wenn eine Realisierung erfolgt, 56 57 58 59
Vgl. E. Husserl, Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigung. Den Haag, Boston, London 1980, 15 ff. Vgl. H. D. Huber, Bild – Beobachter – Milieu. Entwurf einer allgemeinen Bildwissenschaft. Ostfildern-Ruit 2004, 38 ff. Vgl. G. Spencer Brown, Gesetze der Form. Lübeck 1997 [engl. 1969], 60 ff. Vgl. N. Burch, Nana, or the Two Kinds of Space. In: Ders., Theory of Film Practice. Princeton 1981, 17–31.
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bedeutet diese noch keine Materialisierung, die erst im Falle des Ausdruckens eines virtuell ansichtigen Textes auf bzw. mit dem Rechner erfolgt. Jedem (realistisch darstellenden) Bildmedium ist solcherart eine reine Virtualität eigen, insofern außerhalb des Rahmens, aber in der Bildwelt ein Bereich als existent gesetzt ist, zu dem der Rahmen eines Bildes die Grenze bildet. Vor allem Film und Fotografie als Werkzeuge virtualisieren solcherart Raum, weshalb der Differenz von Bewegungs- und Zeit-Bild das allgemeinere Raum-Bild vorausliegt, zu dessen Ausformungen sowohl diese gehören wie auch die möglichen Verhältnisse zwischen Innen und Außen. Dieses Raum-Bild tritt mit der Fotografie auf, da diese im Unterschied zur Malerei, die das Innere des Rahmens füllt, ein Abtrennen des Außen vornimmt.60 Die Fotografie und in der Folge der Film bilden in solcher Weise zwar die Wirklichkeit im Rahmen ab, treffen aber – willentlich oder nicht – eine Unterscheidung zwischen dem, was von der Wirklichkeit im Rahmen erscheint und was nicht.
Abb. 3: Paul Delaroche, Karfreitag (1853–1856)
60
Vgl. P. Dubois, Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv. Amsterdam, Dresden 1998 [frz. 1990], 174 ff.
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Und dieses Nichts eröffnet gerade aufgrund der unterstellten Wirklichkeitswiedergabe die Möglichkeit, mit dem Außerhalb zu arbeiten und es als (reine) Virtualität zu verwenden. Zwar kann dies bei der Malerei auch erfolgen (und erfolgt vor allem in der Malerei nach der Fotografie, wie etwa in der Kreuzwegdarstellung von Paul Delaroche61), doch zeigen Gemälde zumeist all das, was dargestellt werden soll, im Bild oder als realisierte Virtualität.
Abb. 4: Alfred Stieglitz, Paula (1889)
61
Vgl. W. Kemp, Die Räume der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto. München 1996, 189 ff.
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Umgekehrt kann die Fotografie auch eine malerische Bildpraxis hinsichtlich des Rahmens pflegen. Dies kam etwa bei Alfred Stieglitz, einem der Hauptvertreter des sogenannten Piktorialismus oder des im Deutschen auch „bildmäßige Fotografie“ genannten Versuchs der Etablierung von Fotografie als Kunst vor:62 Während die frühen Fotografien von Stieglitz eine geschlossene Gestaltung im Inneren des Rahmes aufweisen, treten bei späteren Bildern die Bezüge auf das Außen in den Vordergrund. So hat Stieglitz im Übergang von der Fotografie Paula aus dem Jahr 1889 zur aus mindestens 220 Aufnahmen bestehenden Bildserie der Äquivalente, die zwischen 1925 und 1934 entstanden, den Übergang von der Malerei zur Fotografie innerhalb der Fotografie selbst vollzogen: Beim ersten Bild sind alle Elemente nicht nur in einem architektonischen Innenraum arrangiert, sondern dieser ist zugleich das Innen des Bildes oder seines Rahmens.
Abb. 5: Alfred Stieglitz, Äquivalente (1926) 62
A. Sekula, Vom Erfinden fotografischer Bedeutung. In: B. Stiegler, Texte zur Theorie der Fotografie. Stuttgart 2010, 302–337 [engl. 1982].
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Einzig das Fenster auf der linken Seite stellt einen Bezug zum Außen (des Zimmers und des Rahmens) her, wobei die Lamellenschatten auch als Hinweis auf den Innenraum des Fotoapparats als einer Camera obscura interpretiert werden können, so dass Paula bereits eine Medienreflexion auf die Fotografie im Spannungsfeld mit der Malerei beinhaltet und nicht einfach ein Beispielbild des Piktorialismus, sondern bereits dessen Infragestellung ist. (Hinzu kommen ferner die Fotografien als Offbereiche im Bild, welche die in der Rückansicht zu sehende Paula – deren Gesicht damit also auch außerhalb des Bildes ist – an einem anderen Ort zeigen; zudem ist eine Fotografie von Paula doppelt, was wiederum auf das Reduplikationsverfahren der Fotografie durch Negativabzüge hinweisen kann.) Einen eindeutigeren Außenbezug weisen aber die Wolkenbilder von Stieglitz auf, in denen der Rahmen als Übergang und zugleich Schnitt fungiert: Die Bildgrenze ist die Markierung des fotografischen Ausschneidevorgangs, der eine raumzeitliche Trennung vollzieht, wobei im Falle dieser Bilder der von Dubois sogenannte fotografische Akt in seinem Resultat die Beziehung zum Außen auch erhält – insofern es sich um die vorfotografische Wirklichkeit handelt – oder erst herstellt – insofern es sich auch um eine durch das Bild konstituierte Virtualität oder Virtualisierung der Wirklichkeit handelt. So lässt sich kaum die Orientierung der Bilder bezüglich des Raumniveaus angeben, das heißt Oben und Unten wollen hier nichts mehr besagen, wohl aber Außen und Innen: Innen ist nur ein Ausschnitt: Die sichtbaren Wolken sind der Rest der Welt außerhalb – jenseits des Bildes, aber als Bild. Wie bei Paula ist in den späten Fotografien abermals eine weitergehende Medienreflexion zu finden: Für Dubois etwa sind die Wolken in ontologischer Hinsicht mit den Fotografien insofern gleichgestellt, als beide mehr oder minder dauerhafte Reflexionen bzw. Fixierungen von Lichtspuren sind. Wie das erste Bild also eine Camera obscura als Mittel der Fotografie zeigt, so die Äquivalente die Reaktionen von (flüchtiger) Materie auf Licht. Viel entscheidender für die Frage der Virtualität ist aber der Umstand, dass Stieglitz mit diesen Bilder ein Hilfsmittel der Fotografie zum zentralen Motiv erhebt, da piktorialistische Fotografen Wolken oder auch Landschaften zumeist (und vorrangig aufgrund der erforderlichen unterschiedlichen Belichtungszeit) getrennt von Personen fotografiert haben.63 Was also traditioneller Weise als Hintergrund und gleichsam unmarkierter Bereich der (noch der Malerei nacheifernden) Fotografie fungierte, wird mit Stieglitz zur vordergründigen 63
Vgl. B. Stiegler, Theoriegeschichte der Fotografie. München 2006, 170 ff.
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Gestalt erhoben, die aber ihrerseits nur ein Fragment des Himmels, Weltganzen oder Universums als Offscreenraum des Bildes ist.
12. Reine Virtualität Anders als die Malerei tendieren Fotografie und Film somit dazu, das Nichtansichtige, dessen Existenz aber gleichwohl als möglich angenommen werden kann, zu implizieren und mit der Unterstelllung zu arbeiten, dass die im Bild erscheinende Welt auch außerhalb des Rahmens weitergeht. Die partielle Wiedergabe von Objekten oder das Anschneiden von Körpern etwa führt nicht dazu, dass diese als halbiert wahrgenommen werden, sondern als teilansichtige, deren weiteres Aussehen extrapoliert wird. Nachrichtensprecher können so etwa eine Anzugjacke tragen und dazu eine Jeans oder auch gar keine Hose, wenn sie die Kamera in der Halbtotalen zeigt oder – auch das wäre die Etablierung eines fotografisch/filmischen Offs – den Unterleib verborgen hinter einem Tisch. Erwartet werden kann, dass die Zuschauer ein „Immer so weiter“ unterstellen, wobei die Entbergung des Offs – also die Realisation der reinen Möglichkeit – zur retrospektiven Umdeutung und damit weitergehenden Entvirtualisierung des Offs führt. In Ingmar Bergmans Persona von 1966 ist in einer dramaturgisch zentralen Szene die Figur der eine schweigende und vermeintlich psychisch kranke Schauspielerin pflegenden Krankenschwester aus der Rückansicht zu sehen. Sie tritt aus dem Off in das Bild hinein in Richtung des Offs an der gegenüberliegenden Seite, wo sich eine Tür befindet, die nach außen führt. Das Kleidungsstück der Frau kann aufgrund des sukzessiven Ansichtigwerdens aufgrund der Träger zunächst als ein Abendkleid interpretiert werden, bis die rückwärtige Ganzkörperansicht offenbart, dass es sich um einen Badeanzug handelt. Vermutungen über das Off können jedoch nicht nur partiell, sondern auch gänzlich enttäuscht werden: So hat bereits Adorno gegen die von Husserl angenommene Kontinuitätsunterstellung (in diesem Fall in der Wirklichkeit) eingewendet, dass etwa bei einem im Krieg bombardierten Haus nur die Fassade stehen geblieben sein kann.64 In diesem Fall wird das Urvertrauen, von außen durch eine Tür stets in das Innere eines Hauses eintreten zu können, 64
T. W. Adorno, Zur Dialektik der erkenntnistheoretischen Begriffe. In: Ders., Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Studien über Husserl und die phänomenologischen Antinomien, Frankfurt a.M. 1990, 130–189 [1956].
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Abb. 6a – c: Ingmar Bergmann, Persona (1966)
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notwendig enttäuscht. Die Tür führt vielmehr vom Außen ins Außen und ist in einem existentiellen Sinne Nichts. Auf das Bild gewendet, kann aus dem Off als Negation des On so dessen weitergehende Destabilisierung erfolgen oder die mediale Differenz selbst zur Disposition gestellt werden, indem etwa das Außerhalb des Bildes von einem diegetischen Bruch innerhalb der Bilderscheinung markiert wird. Unfreiwillig geschieht dies durch das Hineinragen von Mikrofonen in die Szene. Absichtlich geschieht dies in Filmen wie Jean-Luc Godards Die Verachtung von 1963, bei denen am Ende des Films umgekehrt eine Kamerabewegung vom extradiegetischen Bereich, in dem selbst das Kameraset für einen Film zu sehen ist, auf den Odysseus darstellenden Schauspieler geschwenkt und an ihn herangefahren wird, bis nur mehr diegetische Elemente für den Zuschauer im Rahmen oder vielmehr auf der Leinwand sichtbar werden. Gar geht die Kamerafahrt noch weiter und verlässt wieder den Schauspieler, um letztendlich nur noch das Meer vor Capri zu zeigen, mit dem Resultat einer blauen Fläche, die durch eine Horizontlinie geteilt ist. – Es lässt sich hierin durchaus eine Darstellung der Bilddifferenz selbst erkennen, ganz im Sinne der Annahme Hesiods in der Theogonie, dass der Anfang aller Dinge das Chaos sei, also eine Trennung, aus der dann erst der Unterschied von Meer und Himmel (oder auch Erde) hervorgeht. Besagte Schlusseinstellung ist so letztlich ein (onscreen) Bild der (offscreen) Virtualität: der reinen Möglichkeit zur Unterscheidungen. Die Umstellung, die durch das Denken einer nicht-devianten Virtualität für die Analyse von Medien folgt, kann kaum zu unterschätzen sein: Das Virtuelle muss nicht länger als ausschließlich technisch begründet angesehen werden; vor allem Bilder sind nicht nur dann virtuell oder haben virtuelle Anteile, wenn es sich um digitale Fotografien oder computergenerierte Darstellungen handelt. Der Begriff von Virtualität als einer solch „positiven Negativität“ macht vielmehr einen medienübergreifenden Vergleich möglich und erlaubt gerade so, technisch distinkte Bildmedien wie etwa Film und Computerspiel in Beziehung zu setzen: Einer der Pioniere auf diesem Gebiet war der Bordwellschüler Mark Wolf, der 1997 erstmals analoge Filmbilder und digitale Computerspielbilder hinsichtlich der durch sie konstituierten Offscreenräume miteinander parallelisiert.65
65
Vgl. M. J. P. Wolf, Inventing Space. Toward a Taxonomy of On- and Off-Screen Space in Video Games. In: Film Quarterly 51/1 (1997), 11–23.
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Abb. 7 a – c: Jean-Luc Godard, Die Verachtung (1963)
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Abb. 8: Louis und Auguste Lumière, Arbeiter verlassen die Lumière-Werke (1895)
Mit Wolf wird ersichtlich, dass die Geschichte der Computerspiele nicht nur eine Zunahme an Freiheitsgraden der Bewegung66 sowie der Bildauflösung ist,67 sondern dass gerade technische Einschränkungen im frühen Computerspieldesign eine stärkere Virtualisierung des Raums in nicht-technischer Hinsicht bedingten. Umgekehrt bringt die Zunahme der Menge virtualisierten Raums in technischer Hinsicht deren Abnahme mit sich. Anders gesagt: Je leistungsfähiger die sogenannten Offscreenbuffer der Grafikkarten sind, desto weniger paradoxal fällt die Gestaltung des Offscreensraums aus, der nun schlichtweg die kontinuierliche Fortsetzung des Onscreenraums nach Maßgabe der nichtbildlichen Wirklichkeit ist. Mit Deleuze gesprochen wird das Computerspielbild also tendenziell entvirtualisiert und die reine Möglichkeit wird zu einer realen Möglichkeit, die sich ihrerseits von der Wirklichkeit her bestimmt. 66
67
C. Fernández-Vara, J. P. Zagal, M. Mateas, Evolution of Spatial Configurations in Videogames. In: Proceedings of DiGRA 2005 Conference. Changing Views – Worlds in Play. http://www.digra.org/dl/db/06278.04249.pdf. J. Steuer, Defining Virtual Reality. Dimensions Determining Telepresence. In: Journal of Communication 42/4 (1992), 73–93.
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13. Raumbildentwicklung des Computerspiels Frühe Computerspiele gleichen nach Wolf dem frühen Film, insofern beide Epochen durch einen quasi-fotografischen, d.h. statischen Bildausschnitt charakterisiert sind, indem dennoch eine Bewegung aus dem Rahmen heraus sichtbar ist. Im Unterschied zur Fotografie sind beide Medien durch die Bildobjektbewegung also bereits gegenüber Fotografien wie denjenigen von Stieglitz entvirtualisiert, aber sind dennoch im hohen Maße noch bildlich durch ein virtuelle Außen bestimmt. So lassen sich hier die Filme der Lumière-Brüder, wie Arbeiter verlassen die Lumière-Werke aus dem Jahr 1895 mit dem Spiel PONG von 1972 vergleichen. Wie die Personen den Bildraum rechts und links am Rahmen verlassen, so kann bei dem Spiel der Ball das rechte oder linke Seiten aus überschreiten. In beiden Fällen existiert das Off rein virtuell und nicht als realisierte Virtualität, wie etwa das sichtbare Werkstor oder das Tischtennisfeld. Ein solches Off und die damit einhergehende Virtualität sind also nur im Zuge einer negativen Ästhetik vergleichbar und abermals nicht hinsichtlich einer technischen Virtualität, insofern hier der Unterschied zwischen beiden Bildern absolut ist: Der Film ist eine Aneinanderreihung von Fotos, das Spiel eine computergenerierte Darstellung (bzw. im Falle von PONG noch das Resultat analoger Schaltungen). Dennoch gibt es auch einen ästhetischen Unterschied zwischen den beiden Medien, da nur bei Computerspielen über das visuelle Außerhalb hinaus auch ein interaktives Außerhalb besteht: So ist das interaktive On bei PONG letztlich auf die zwei vertikalen Bereiche beschränkt, in denen die „Schläger“ auf und ab bewegt werden können; alles rechts und links davon ist zwar sichtbar, aber interaktiv im Off. In der Bilderfahrung ist somit nicht nur die Möglichkeit gegeben, außerhalb des Rahmens zu sein, sondern auch innerhalb des Bildes an anderer Stelle zu agieren. Diese Interaktionsdifferenz besteht bei vielen Computerspielen bis heute, in denen nicht alles, was sichtbar ist, auch bespielt werden kann. Vielmehr besteht sehr oft eine Tunnelung durch Wegführungen und kann nur mit ausgewählten Objekte „gehandelt“ werden: In 3D-Computerspielen bis Mitte der 1990er Jahre wie DOOM von 1993 konnte etwa zwar durch seitliche Bildschwenks das Off in ein On überführt werden, oben oder unten aber nur indirekt durch Vor- und Zurückweichen. Erst mit Spielen wie Descent von 1995 oder Quake von 1996 war eine direkte Blickhebung oder -senkung gegeben. In allen Fällen war die Zahl interaktiver Objekte minimal, was gerade neuere Spiele wie FarCry von 2004 oder Crysis von 2007 zu erweitern suchen.
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Abb. 9: Allan Alcorn, PONG (1972)
Um die Differenz zwischen dem visuellen und interaktiven Off regelrecht zu kaschieren, sind bei den frühen dieser sogenannten Egoshooter die visuellen Grenzen als Wände eines Innenraums dargestellt, der allenfalls Hinweise oder partielle Durchsichten auf ein Außen ermöglicht. Eine besondere Bedeutung kommt in dieser Hinsicht den „Cheats“ als Betrugscodes zu: In DOOM war es durch deren Eingabe möglich, die visuelle Grenze der Wand interaktiv aufzuheben und durch dieselbe hindurch zu gehen. Dies sind damit die ersten Fälle, in denen das interaktive Off nicht dem visuellen Off unterstellt ist. Mittlerweile ist daraus mit Portal von 2007 ein eigenes Interaktionsprinzip entstanden, bei dem durch das (interaktive) Setzen von Türen in der visuell zunächst als absolute Grenze zum Off erscheinenden Begrenzung der Wand eine Verbindung hergestellt werden kann.68 Die Tür führt jedoch nicht wie bei der Verwendung von Cheats in älteren Spielen zu einer schlichten Durchschreitung der Wand auf einen dahinterliegenden Raum, sondern 68
Vgl. M. J.P. Wolf, Theorizing Navigable Space in Video Games. In: S. Günzel, M. Liebe, D. Mersch (Hg.), DIGAREC Keynote-Lectures. Potsdam, 18–49.
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Abb. 10: John Carmack und John Romero, DOOM (1993)
Abb. 11: John Carmack und John Romero, Quake (1996)
Abb. 12: John Carmack und John Romero, DOOM (1993) im „Noclip“-Modus
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Abb. 13: Erik Wolpaw und Chet Faliszek, Portal (2007)
führt in denselben Raum an einer anderen Stelle zurück. Es handelt sich also um einen Kurzschluss des visuellen wie des interaktiven Raums. Damit scheint also zufolge der Offscreenlogik jegliche ästhetische Virtualität getilgt oder als Möglichkeit realisierbar, da das Außen zugleich das Innen ist. Und dennoch wird eine neue Virtualität eröffnet: Es ist nicht mehr diejenige des Sehens oder der Interaktion, sondern die des Denkens selbst, das sich auf die Möglichkeit einer vierten Raumdimension hin öffnen muss. Zum Virtuellen werden nun die Ordnungen von Räumen selbst, von denen der 3D-Raum eben nur eine Realisation darstellt.
Gegenwärtige Ökonomien der Zeit aus Sicht der Religionswissenschaft Anne Koch
Einführung Religionen sind nach wie vor für unsere heutigen Zeitvorstellungen hoch bedeutsam. Sei es, dass sie als religiöse Tradition und Kulturbestand ihre Wirkung entfalten, sei es, dass bestimmte heutige religiöse Organisationen markante Beiträge einbringen. Dabei ist einerseits in der ausdifferenzierten Spezialisierung postindustrieller Gesellschaften auf den gesellschaftlichen Teilbereich Religion mit seinen Kirchen, Religionsgemeinschaften und pluralen Gruppierungen zu achten. Sie pflegen einen gewissen Zeitumgang, bewerten Zeit und entfalten von hier her ihre Wirkkraft in die Gesamtgesellschaft hinein. Andererseits ist zu untersuchen, welche religiösen Traditionen aus dem Teilsystem Religion in andere Teilbereiche der Gesellschaft ausgewandert sind (oder auch „einwandern“). Solche ehemals religiösen Praktiken und Anschauungen verändern sich in dem neuen Kontext und lassen sich ihre Herkunft oftmals nicht mehr anmerken. Diese Prozesse „vagabundierender Praktiken“ prägen ebenfalls Vorstellungen von Zeit. Ausschnitte der apokalyptischen biblischen Erzählung zum Beispiel über das Ende der Zeit tauchen im Kulturbereich auf und werden als ästhetische Bilder in Film oder Theater umgesetzt. Es sind allgemeine ästhetische Figuren geworden, die häufig keine religiösen Implikationen mehr in sich tragen. Oder die Versenkung in die Gegenwart, wie sie in christlicher Gebetspraxis vorkommt,1 wird attraktiver als ostasiatisch-religiöse Achtsamkeit und von Angestellten und gestressten Führungskräften geübt. Soll also die Bedeutung von Zeit aus Sicht der Religionswissenschaft eruiert werden, so ist über den Teilbereich Religion hinauszuschauen auf weitere Orte der Gesellschaft. In dieser Perspektive scheinen dann Ökonomien der Zeit auf. Mit Ökonomien der Zeit wird angesprochen, dass Zeit in Gesellschaften immer bewirtschaftet wird. Unter dem abstrakten Singular Zeit ist an 1
M. v. Brück, Wo endet Zeit? Erfahrungen zeitloser Gleichzeitigkeit in der Mystik der Weltreligionen. In: K. Weis (Hg.), Was ist Zeit? Zeit und Verantwortung in Wissenschaft, Technik und Religion. München 1995, 207–262.
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eine Vielzahl von Zeitmodellen, Zeitvorstellungen und praktischen Umgangsweisen mit Zeit zu denken. Zeit in diesem Sinne wird bewirtschaftet: Sie wird behaushaltet, eingeteilt, verausgabt, verbraucht, aufgeschoben, zugespitzt und aufgehoben. Diese Formulierung von Ökonomien der Zeit ist ideengeschichtlich nicht neu. Der protestantische Theologe Johann G. Zedler verwendet zum Beispiel dieses Konzept für eine Strukturierung der geschichtlichen Zeit durch den „Hausvater“ der Schöpfung: „Zeit-Oeconomien sind gewisse Ordnungen der Zeit, in welchen Gott der Herr, als der Himmlische Hausvater, seine besondere Gnaden-Besuchungen und Berufungen ergehen lassen, und also seinen Willen und Geheimnisse, seiner Kirchen von Zeit zu Zeiten immer mehr und mehr, und immer herrlicher und klärer geoffenbahret hat. Sie werden eingeteilt in die Oeconomien des Alten und des Neuen Testaments“2. In jüngster Zeit wird die Gegenwart weniger als Schöpfung denn als Anthropozän verstanden: der Mensch hat seinen unauslöschlichen Fußabdruck bis in die geologische und galaktische Formation seines Planeten hinterlassen: Erosion, Erderwärmung, gigantische Tagebauten und umkreisender Elektroschrott.3 Der Mensch hat als Gestalter Wetter und brodelndes Magma überholt. Und diese Spuren werden bleiben, selbst wenn Menschen vielleicht nicht mehr diesen Planeten besiedeln – eine unerhörte Vorstellung, die in jüngster Zeit viele Kulturproduktionen beflügelt hat.4 Was in der Bewirtschaftung von Zeit an gesellschaftlicher und auch interkultureller Brisanz angelegt ist, soll im Folgenden deutlich werden. Dass dies aus der Sicht der Religionswissenschaft geschieht, bedeutet, dass Religion, Religionen, religiöse Gruppierungen, Strömungen und Einzelanbieter, Spiritualität, Ideologien – kurz: hoch normative Ordnungen thematisiert 2
3 4
J. H. Zedler, Grosses vollständiges Universal-Lexikon, Bd. 61, Leipzig, Halle 1749, col. 880. Ich danke Gerhard Dohrn-van Rossum für dieses Zitat! Ich danke David Atwood für den Hinweis, dass Giorgio Agamben von der Haushaltung („Oikonomia“) der Weltgeschichte und gleichzeitig als Verherrlichungsgeschichte Gottes spricht: Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung. Homo sacer, Band 2.2, Frankfurt: Suhrkamp 2010. J. Renn, B. Scherer (Hg.), Das Anthropozän. Zum Stand der Dinge, Berlin 2015. Die neuen Varianten einer „Rückkehr zu Natur“ nach dem Ende der Städte und der Menschheit: vgl. zur Analyse fiktionaler klassischer Literatur auf ihre Motive von Katastrophe hin E. Horn, Zukunft als Katastrophe. Fiktion und Prävention, Frankfurt 2014. Sie legt Narrative der Prävention ebenso offen wie der Verkettung unglückseliger Ereignisse. Auch von Horn zum selben Thema: „Enden des Menschen“, in: R. Sorg, B. Würffel (Hg.), Apokalypse und Utopie in der Moderne. München 2010, 101–118.
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werden. Dieser Gegenstandsbereich der Religionswissenschaft hängt mit ihrer 140-jährigen Fachgeschichte zusammen, in der sie „Religion“ ideengeschichtlich aufgearbeitet und in Religionsdiskursen und Religionstheorien zu verordnen gelernt hat.5 Durch den kulturellen Vergleich und mit den Erkenntnissen aus vielen Debatten wie um Eurozentrismus, Postkolonialismus und Sozialkonstruktivismus fand Religionswissenschaft zu ihrem heutigen Selbstverständnis als Kulturwissenschaft. Sie fasst ihren Gegenstandsbereich „Religion“ als Teil von Kultur. Vor diesem Hintergrund ist die Frage dieses Beitrages, welche Bedeutung normativen Ordnungen in ausgewählten gegenwärtigen Ökonomien der Zeit zukommt.6 Nach klassischer Vorstellung geben Religionen Zeitmodelle vor. Für das Altertum und in Bezug auf indigene Religion wird meist an kosmologische und vegetative Zeitmodelle gedacht: Die Gottheit stirbt so oft, wie die Sonne sinkt und wiederkehrt, die Götterfamilie gebiert im Frühjahr ihre Kinder zur Aussaat und feiert Feste im Herbst zur Ernte. Jedoch auch bei diesem Zeitplan spielt schon nicht nur der Faktor Vegetation eine Rolle – etwa klimatische Bedingungen, die die Anzahl der Ernten bestimmen –, sondern selbst die frühen Gesellschaften und ihr Zeitmodell können von Technologien abhängig sein, wie zum Beispiel der Art der Landwirtschaft, wie ausgereift etwa Bewässerungssysteme sind und damit frühere oder mehr Ernten ermöglichen. Solche Rhythmen und ihre Zäsuren bilden sich dann auch im Überbau ab, den die religiösen Erzählungen und Rituale und ihre Symbole bereitstellen, oder auch in den politischen Erzählungen der Dynastie. Das hat sich heute nicht wirklich geändert: Auch in sogenannten säkularen Gesellschaften sagt das geltende Zeitmodell einiges über das Wert- und Machtsystem dieser Gesellschaft aus wie auch die geschichtliche Selbsteinordnung einer Gruppe oder einer Zivilgesellschaft etwas über deren Befindlichkeit. Beginnen wir mit der „Stunde null“? Sind wir in den „wilden Jahren“ dieser oder jener Revolte, inmitten einer Wendezeit, in der Krise oder auf dem Weg der Konsolidierung? Und selbst die Abhängigkeit von Technologien und klimatischen Bedingungen kann immer noch mit einer Vehemenz zum Problemfall und Sonderfall werden, dass sie in die Zeitdeutung einfließen.
5 6
R. T. McCutcheon, The Discipline of Religion. Structure, Meaning, Rhetoric, London 2003. H.-G. Kippenberg, K. v. Stuckrad, Einführung in die Religionswissenschaft, München 2003.
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Wir wollen uns anschauen, welche Zeitmodelle es im Moment im Angebot gibt, wie sie konkurrieren oder koexistieren und welche religiösen, ideologischen und moralischen Gebote mit ihnen verbunden sind. Nach zwei Vorbemerkungen werden drei Schlaglichter auf das virulente Feld jüngster Zeitund-Religionsmodelle geworfen: 1 Neue Endzeiten aufgrund der vernetzten Zeit 2 Die Schließung der Zukunft im Hier und Jetzt 3 Geburten: Innovationszwang am weltanschaulich versorgenden Dienstleistungsmarkt
Vorbemerkungen Zeit religionsästhetisch: Korngröße, Zeiterwartungssystem und Zeitintervallsystem Zunächst eine Vorbemerkung zur Zeit aus der Sicht der Religionsästhetik, die ihre Aufmerksamkeit auf die sinnliche Seite von Religion richtet, auf die Verkörperung, Sinnessysteme, Haut und Haare, die Mediennutzung für religiöse Kommunikation, auf virtuelle Umwelten und ästhetische Kanones, und die auch von kognitionswissenschaftlichen Erkenntnissen profitiert.7 Aus dieser Perspektive, insbesondere der ökologischen Erkenntnistheorie, bieten sich Konzepte zu Zeit an, wovon nur drei herausgegriffen seien: Korngröße, Zeiterwartungssystem und Zeitintervallsystem. Die zeitliche Abgrenzung von Ereignissen aus dem plätschernden Strom der Wahrnehmungen ist eine Leistung, die wir permanent vollbringen. Die Korngröße ist die ungefähre lebensweltliche Normaldauer eines Ereignisses: Der Vorgang, Wasser zum Kochen zu bringen, dauert wenige Minuten, das Ergrauen von Haaren mindestens Monate.8 Somit sind ihre Korngrößen unterschiedlich. Auch die Plötzlichkeit eines Ereignisses hängt von der Korngröße eines Ereignisses ab. Unterschieden werden weiterhin periodische und aperiodische Ereignisse. Viele religiöse Techniken zielen gerade darauf ab, 7 8
A. Grieser, Aesthetics. In: K. v. Stuckrad, R. Segal (Hg.), Vocabulary for the Study of Religion, Leiden 2015 , 14–23. A. Koch, Körperwissen. Grundlegung einer Religionsästhetik, München 2007, 160 – 61.
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unsere kognitive Abgrenzungsarbeit auszuhebeln, rückgängig zu machen. Viele adaptierte sogenannte buddhistische Meditationstechniken zum Beispiel leiten dazu an, wieder ganz einzutauchen ins Geschehen und nicht anzuhaften an einzelne Ereignisse, sondern die Dinge ziehen zu lassen. Die Korngröße hat wichtige Folgen für das Konzept von Zeit: Zum einen ist kulturwissenschaftlich nur diese lebensweltliche Zeit wichtig und nicht etwa eine arithmetische Zeit. Zum anderen ist sie mit spezifischen erlernten Zeiterwartungs- und Zeitintervallsystemen verknüpft. Damit ist gemeint, dass wir über implizites wie explizites Wissen in Bezug auf Korngröße, Dauer und Rhythmik bestimmter Ereignisse verfügen. Zum Beispiel wird die nach einer Tür ausgreifende Hand nicht drei Minuten brauchen, um sie zu öffnen. Selbst einzelne Sinnessysteme verfügen über solche basalen Zeiterwartungsund Zeitintervallsysteme. Lebensweltliche Zeit ist alltagspraktisch und relational auf historisch-kontingente Ereignisse hin. Aufgrund dieser Relationalität unterscheidet sie sich auch kulturell in dem Maße, wie sich Praktiken unterscheiden. Wenn ich Kaffee innerhalb von zwei Minuten aus meiner Dampfhochdruck-Maschine gedüst bekomme, ist das ein anderes Zeitintervall als das einer hippen Hongkong-Studentin, die sich ihren Kaffee als Teil der Slow-food-Bewegung durch einen Porzellanfilter aufgießt. Diese kulturellen Korngrößen, Zeiterwartungs- und Zeitintervallsysteme finden sich auch bei komplexeren diskursiven Mustern: Wie lange erwarten wir, dass Flüchtende brauchen, um sich zu integrieren? Zwei Jahre zum Sprachelernen, – so wie neuberufene akademische Ausländer/innen in Dänemark oder Schweden zwei Jahre bekommen, um die Landessprache zu erlernen? Es ist immer eine interessante Frage, woher wir die meist impliziten Zeiterwartungssysteme nehmen. Für die religionswissenschaftliche Forschung sind die Zeitintervalle zum Beispiel mit Blick auf millenaristische Vorstellungen bedeutsam. Was ist die Korngröße des Weltuntergangs: der sekundenschnelle Vernichtungsschlag eines extraterrestrischen Raumschiffes oder die Jahre des Irakkrieges als Vorbote weiterer Verschlimmerungen? Solche Erwartungen werden kulturell fabriziert, und sofort stellt sich die Machtfrage: Welche gesellschaftlichen Instanzen oder Diskurse üben hier den größten Einfluss aus?
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Gesellschaftliche Selbstverständigungen im Medium Zeit – Masternarrative Zeitmodelle, in denen Religionen eine zentrale Rolle spielen, sind auch in der Moderne, Postmoderne, zweiten Moderne, der reflexiven, multiplen oder Spätmoderne weiter vertreten. Spätmoderne nach Anthony Giddens ist gekennzeichnet durch Diskontinuität, da die Dynamik moderner Institutionen einzelne von ihren Traditionen abschneidet.9 Religionstheorie ist der Diskurs in der Religionswissenschaft, der große Narrative zum Verhältnis von Religion und Gesellschaft unter die Lupe nimmt. In den jüngsten Religionstheorien finden sich durchaus Narrative, die für Zeiterleben und Zeitauffassung in den letzten Jahrzehnten höchst wirksam sind. Sie sind lokalisiert an der Schnittstelle von Religion, Gesellschaft, Technologie und Politik, und das ist in der Form neu: auch an der Schnittstelle Wirtschaft. Die historische Wirtschaftszeit ist ein immens wichtiger Bezugspunkt für jüngste religiöse Zeitmodelle. Das ist ein erster Befund, dass die Wirtschaft und ihre Zeiten eine große Rolle spielen für religiöse Narrative und nicht wie erwähnt die Landwirtschaft mit dem jahreszeitlichen Wechsel als vegetativer Rahmenordnung. Wirtschaftszeit ist akteursinduzierte Zeit. Zu ihrem Inventar gehören zyklische Konjunkturen, schwarze Freitage und ökonomische Krisen. Die jüngste Religionstheorie kennt gleich diverse normierende Rahmen, um Epochen ein Selbstverstehen zu liefern, und die alle gesellschaftlich breit über viele Länder hinweg diskutiert wurden: _ Achsenzeit – Säkularisierung – Rückkehr der Religion – 9/11 Die berühmte Achsenzeit ist eher die Suche nach den Werten der Achsenzeit und dem Wunsch ihres Wiedererstarkens.10 Gemeint ist mit Achsenzeit ein Zeitraum von einigen Jahrhunderten des 1. Jahrtausends vor der christlichen 9 10
A. Giddens, Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern Age, Stanford 1991, 15–16. Zur Geschichte dieses ganzen Diskurses über Achsenzeit: R. Bellah, H. Joas (Hg.), The Axial Age and its Consequences, Harvard 2012.
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Zeitrechnung, meist vom neunten oder achten bis zum zweiten Jahrhundert, in denen die großen Religionen und Philosophien sich formiert hätten: Hindu-Religion, Buddhismus, griechischer Rationalismus, Taoismus, Konfuzianismus und monotheistisches Judentum. Der Philosoph Karl Jaspers hat im Nachgang zum Zweiten Weltkrieg dieses Konzept eingebracht, das dann auch schwärmerische Varianten eines neuen Bewusstseins und Einheitsethos gefunden hat wie bei der britischen Soziologin Karen Armstrong, als Beginn von Abstraktionsfähigkeit und Transzendenzbezug gesehen wird (beim deutschen Soziologen Hans Joas) und von dem amerikanischen Soziologen Robert Bellah in die Evolutionsgeschichte eingeordnet wird. Eine weitere berühmte Rahmung ist das Säkularisierungsnarrativ, das ab den 1950er Jahren besagte, wir gingen einer nach-religiösen Zeit, dem Säkularen entgegen, - damit sind dann auch viele Vorstellungen verbunden wie die von einer autonomen, rationalen und effizienteren Epoche. Religion verschwände mit der Zeit und zwar schon sehr bald aus den industrialisierten Gesellschaften, so dass der Anbruch einer religionslosen, säkularen Epoche kurz bevorstünde. Die Wissens- und Religionssoziologen Thomas Luckmann und der frühe Peter L. Berger sind bekannte Vertreter dieser Auffassung.11 Andere sprechen dagegen gerade von einer Rückkehr der Religion als öffentlicher Religion und medialer Religion, einer Rückkehr nach dem Kalten Krieg, als die OstWest Entgegensetzung von Kapitalismus und Kommunismus die Grenzen zog, und jetzt sollen es die christliche Welt und der Islam sein, die die Geschicke lenken. Ein anderes ist das Narrativ vom Postsäkularismus, welches das erstere fortführt: es spricht von dem Nach-Säkularen. Es ist geprägt von einer Wiederkehr der Ideologien oder der Werte – ganz wie man will – des Irrationalismus, der in diesem Kontext oft mit Religion und mit Religionen in gewandelter Form etwa in „Spiritualität“ oder in islamistischen „Schurkenstaaten“ verknüpft wird.12 Ein weiteres in seinen Folgen immer noch nicht abzuschätzendes Narrativ ist durch den 11. September 2001 in Erscheinung getreten, den manche für eine Epochenschwelle halten und zu dem andere sich gerade im Gegenteil Gedanken machen, wie die Rede von der Wende unterbrochen werden könne.13 11 12 13
P. L. Berger, The Sacred Canopy. Elements of a Sociological Theory of Religion, New York 1967. T. Hjelm (Hg.), Is GOD Back? Reconsidering the New Visibility of Religion, London, New York 2015. U. Hennigfeld, St. Packard (Hg.), Abschied von 9/11. Wie man aufhört, von der Katastrophe zu erzählen, Berlin 2013.
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Auch hier gehören Religionen zum Inventar der Geschehnisse: als gewalttätiger Dschihadismus, als jüdische Weltverschwörung oder christlicher Superioritätsspuk. Schon die zeitlichen Markierungen der Attentate in Washington und auf die Zwillingstürme des New Yorker World Trade Centers, die bei dem Angriff mit zwei Passagierflugzeugen zum Einsturz kamen, sprechen für den temporalen Einschnitt, der hier von Zeitgenossen empfunden wird und für Zeitgenossen inszeniert wird. Neben „11. September“ ist „nine eleven (9/11)“, die anglophone Datumsbezeichnung, eingebürgert und zum kulturellen Icon bzw. Meme geworden. „Vor diesem Hintergrund nimmt der Topos von der Zäsur automatisch eine politische Bedeutung an. Er ist Teil einer Konzeption von 9/11 als Unheil, das aus heiterem Himmel über die USA hereinbrach und dabei schlagartig neue Tatsachen schuf.“14 Diese Arbeit am temporalen Zäsurdiskurs wird zum Legitimierungsdiskurs für die folgenden militärischen Interventionen der USA im Irak. Für Slavoj Zizek zum Beispiel hat sich mit diesem 9/11 „Globalereignis“, das es in der und durch die Rezeption wurde, das Symbolische und das Reale gedreht: die Medienbilder hätten sich in der Epoche „zuvor“ (vor 9/11) mit den vielen digitalen Technologien und Kulturproduktionen virtualisiert. Ihr Wahrheitsgehalt im Sinne eines Abbildungsgehaltes sei entkoppelt gewesen vom Realen. Nun mit den Bildern der einstürzenden Türme seien die medialen Bilder als das Reale schlechthin wirksam geworden. Bilder, mehr als die Geschehnisse, präsentierten Wirklichkeit.15 Deshalb ist es auch nicht einfach eine „Rückkehr des Realen“. Martin Endres schreibt unter dem Titel „‘still to come’. Das kommende Trauma (…)“ über 9/11, dass das Eigentliche des Ereignisses noch verdrängt sei und erst sichtbar gemacht und bearbeitet werden müsse.16 Womit sich die USA auseinanderzusetzen hätten, sei die Erschütterung ihres Selbstbildes. Für Endres ist die „Zäsur“ somit nicht, wie in einer möglichen alternativen Geschichtsschreibung, ein Attentat in einer ganzen Reihe von Anschlägen, sondern ein Diskurs, der zum Selbstverständnis eröffnet werden müsse. Eine Eröffnung von Zukunft stehe an, in der zentrale Konzepte wie Demokratie, 14
15 16
M. C. Frank, 9/11 als Zäsur. Zur Karriere eines Topos in Politik, Medien und akademischem Diskurs, in: U. Hennigfeld, St. Packard (Hg.), Abschied von 9/11. Wie man aufhört, von der Katastrophe zu erzählen, Berlin 2013, 15–34, 29. S. Zizek, Welcome to the Desert of the Real: Five Essays on September 11 and Related Dates, London, New York 2002. M. Endres, „Still to come”. Das kommende Trauma oder Die Affirmation des Symbolischen, In: U. Hennigfeld, St. Packard (Hg.), Abschied von 9/11. Wie man aufhört, von der Katastrophe zu erzählen, Berlin 2013, 133–151.
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Freiheit und kapitalistische Wirtschaftsordnung aufzuarbeiten seien. Eben diesen Bewältigungsprozess sieht er in den USA nicht am Werke.17 In diese Richtung wünscht sich Judith Butler als US-amerikanische Intellektuelle par excellence eine Erinnerungskultur um diese Ereignisse und fordert zum Trauern um die Opfer auf.18 Gerade in der Verletzlichkeit, die auch mit der Körperlichkeit verbunden ist, drücke sich die psychisch-soziale Verstrickung jedes Menschen mit seiner Gemeinschaft aus und in ihr liege der ethische Imperativ, alles Verletzende zu verhindern. Zugrunde liegt eine exzentrische Anthropologie, wonach jeder Mensch entwicklungspsychologisch sowie durch existenzielle Bezüge mit dem Leben, der Sprache, dem Körperraum und den Gefühlen anderer Menschen und seiner bzw. ihrer Gesellschaft vorgängig kontingent verbunden ist. Daraus folgen die Kriterien ihrer politischen Philosophie. Ich möchte nun nur drei Schlaglichter setzen, die verdeutlichen, wie sich derzeitige Rahmenbedingungen zum Zeitverständnis in einigen entscheidenden Merkmalen geändert haben.
1. Neue Endzeiten aufgrund der vernetzten Zeit Beginnen wir mit der ungebrochenen Faszination am Ende der Zeit 19 und fragen: was ist neu an den neuen Apokalypsen? Seuchen wie Pest und Cholera gehören schließlich schon lange zum Repertoire religiöser Endzeitvorstel17
18 19
Die Zäsur war schon ein Ordnungsmuster in der Ökonomie der Zeiten durch den himmlischen Hausvater des eingangs erwähnten Zedler: An anderer Stelle werden noch genauere Abschnitte unterteilt als mit der Nennung von Altem und Neuem Testament, nämlich Christi Geburt, Christenverfolgung, Konstantin der Große, Erscheinen des Anti-Christ, Waldenser, Reformation Luthers (Zedler 1749, col. 831). Um den Sinn dieser Kette von Ereignissen zu verstehen, muss man den machtpolitischen Code dieser spezifischen Bewirtschaftung von Zeit kennen. In Falle Zedlers ist er in den Beständen biblischen Wissens zu suchen, in der neuen Enzyklopädisierung von Wissen, in christlich-theologischem Expertenwissen und seinen damals aktuellen Fragen. J. Butler, Violence, Mourning, Politics. In: Precarious Life. The Powers of Mourning and Violence, London, New York 2004. Ein ganzes Forschungskolleg beschäftigt sich interdisziplinär mit dem Thema „Zwischen Apokalyptik und ‚unsichtbarer Hand‘. Krisenantizipation und transformative Innovation in Modellen negativer Zukunftsentwicklung“. Zentrum für Religion, Wirtschaft und Politik, Universität Basel/CH 2014-15, Publikation der Abschlusstagung voraussichtlich 2016.
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lungen, so dass HIV, Vogelgrippe, SARS und jüngst die mediale Aufmerksamkeit für multiresistente Keime als Bestandteile von Untergangsszena rien nicht neu sind. Auch die Sintflut spielt im Klimawandelszenario der Nachhaltigkeitsbewegung eine zentrale Rolle als Anstieg des Meeresspiegels. Und doch haben sich die beiden biblischen Katastrophen von Sintflut und Weltenende seit der Aufklärung vervielfältigt und Natur bringt eigenständige Endzeiten hervor. 20 Was heute in dem Maße neu ist, das sind die vernetzte Zeit und die durch diese Verwobenheit möglich gewordenen Wechselwirkungen und systemischen Totalausfälle als stets lauernde Gefahr und Folge.
Firewall von Henning Mankell Nachdem der sogenannte Soziokrimi tief in unsere Gesellschaften blicken lässt, eignet er sich hervorragend, zur Zeitdiagnostik hinzugezogen zu werden. Im achten Kriminalroman von Mankells berühmter Kommissar Kurt Wallander-Serie spricht der englische Titel „Firewall“ am besten aus, worum es geht: Die Firewall, die unsere Daten und digitale Kommunikation schützt, hält nicht, was sie verspricht.21 Das ist das Drama dieses Krimis und das der digitalen Gesellschaft. In dem Roman führt der fehlende Schutz zum Ende der Zeit. Das Ende der Zeit wird vorstellig als Ende des Finanzmarktes: Das Einführen einer Kreditkarte an einem ganz bestimmten ECAutomaten an der Peripherie der globalen Welt, nämlich im Heimatort Wallanders, der Kleinstadt Ystad in Schweden, wird nichts Geringeres als das Ende der Welt auslösen, denn es führt zum Zusammenbruch des weltweiten, vernetzten Finanzmarktes, zum Stillstand des Marktes.22 Apokalypse als Stillstand. Das zweite Motiv neben dem Stillstand ist, dass die Wirtschaftsordnung ganz eindeutig das Weltherrschaftssystem und damit der Feind ist. Nicht die Politik von Nationalstaaten bildet den Systemrahmen oder transnationale politische Zusammenschlüsse, sondern die Ordnung schlechthin ist eine andere: Der gierige, anonyme, sich immerfort aufblähende Markt 20 21 22
E. Horn, Zukunft als Katastrophe. Fiktion und Prävention, Frankfurt 2014, 16. H. Mankell, Brandmauer, München 2001. Es ist nicht mehr der Computervirus, sondern der Hacker, von dem die Gefahr ausgeht. Das Resultat ist ziemlich gleich: Nichts geht mehr. Doch die Diskurse unterscheiden sich: nicht mehr ein epidemiologischer, sondern Vernetzungsdiskurs. Der Hacker als Vernetzungsakteur und oft sogar ethischer Held, und Robin Hood übt Gouvernementalität aus (vgl. Hacker Manifest, Computer Chaos Club).
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wird zum Erliegen gebracht. Und der postmodern ambivalente Täter tut dies nach seinem Selbstverständnis als Retter, um mehr Gerechtigkeit einzuläuten, als es sein ehemaliger Arbeitgeber, die Weltbank mit ihren Programmen, vermochte.23 Der Soziokrimi ist so ein markantes Bestsellerfeld, da er komplexe gesellschaftliche Vorgänge radikal vereinfacht. Eine Strategie der Vereinfachung ist die Personalisierung: Statt der eingangs skizierten Strukturen, die Handlungsmacht ausüben, anstelle von intentionalen Organisationen oder gar Subjekten, tritt ein Helden-Ermittler, eine Ermittlerin oder ein Ermittlerteam hervor und auf der anderen dunklen Seite der eventuell durchaus ambivalente Schurke, Bösewicht, Mörder oder die Mörderin. Hier haben Akteure Namen. Das bedeutet, so hilfreich der Soziokrimi zur Diagnostik ist, so wenig hilfreich ist er für die ethische Bewertung und das Generieren von Lösungswegen. Und doch transponiert Mankell in die Gattung Krimi, was auch in soziologischer Literatur zum Beispiel über das Aufblähen der Geldmenge in den letzten Jahrzehnten beschrieben wird, von 10 Billionen US-$ weltweitem Finanzvermögen im Jahre 1980 zu 200 Billionen US-$ 2007. 24 Die monetäre Integration bei sozialer Differenzierung ist aus dem Gleichgewicht geraten und produziert neue Klassen in der Gesellschaften des Geldes. Mit dem Ende des Keynesianismus seit den 1970er Jahren entsteht der Finanzmarktkapitalismus mit den Zentralbanken als der monetativen und vierten Gewalt im Staate. Vernetzung nicht nur der Finanztransaktionen ist eine Schlüsselvorstellung in einer „näher zusammenrückenden“ Welt, in der das Lokale und das Globale zum „Glokalen“ zusammengeführt werden. Wenden wir uns dem religiösen Feld zu und wie dort diese Endzeitvorstellungen mit dem Motiv der Vernetzung neue Formen hervorgebracht haben. Eine gängige Imagination der vernetzten Zeit wird deutlich in der Meditationstimer-App namens Insight Timer: Sie stellt auf einer Weltkarte alle mithilfe der App Meditierenden dar. Durch die Digitalisierung der Medien ist eine neue Geschwindigkeit, um nicht zu sagen Synchronizität in die Kommunikation getreten. 23
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Zu weiteren religiösen Motiven, etwa dem altarähnlichen Arbeitsplatz des Täters, siehe A. Koch, Religion und Literatur als Medien einer Sozialethik und -kritik. Ein religionswissenschaftlicher Vergleich der christlichen Apokalypse mit Henning Mankells Krimi „Brandmauer“. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 60.2 (2007) 155– 174. A. Paul, Die Gesellschaft des Geldes. Entwurf einer monetären Theorie der Moderne, Wiesbaden 2004, 20122.
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Doch wichtiger noch scheint die hohe Dichte in der Repräsentation dieses Austausches zu sein: Auf einer Weltkarte werden mit gelben Tupfen die in diesem Moment Meditierenden pro Kopf angezeigt. In der Folge haben wir neuartig dauer-verbundene Subjekte. Eine virtuelle Vergemeinschaftung über zeitlich aufeinander bezogenes Zeiterleben findet statt. Dieser Timer bringt einen weiteren Punkt sehr schön zum Ausdruck, der ebenfalls für diese Zeit spricht: die unglaubliche Disziplinierung der Subjekte, die sich dieser Psychotechniken bedienen und sich genau an Gongschläge halten, um die Atmung zum Beispiel zum anderen Nasenloch zu wechseln oder von der Fürbitte zum Danksagen überzugehen. Die Vorstellung einer vernetzten Zeit hat einen kultur- und religionsgeschichtlichen Vorspann. Wichtig sind die kulturellen Gegenbewegungen der 1968er Revolte, die Vernetzung zu ihrem zentralen Element machen, das in der Kosmologie des New Age verankert ist. In der New Age-Vorstellung sind die grob- und feinstoffliche Welt in einem Kontinuum verbunden und letztlich ist alles Bewusstsein, alles ist eins wie im Vedanta Brahman. Die Transformation, die aus dieser Selbstoptimierung resultiert, geht mit einem neuen Zeitalter einher: dem Wassermannzeitalter als einem Luftelement nach dem Zeitalter der Fische.25 So unterschiedlich in Detail diese Zeitalterlehre ausgeführt wird in der sehr heterogenen Bewegung des New Age, so sehr ist ihr die Vision und der Wunsch einer friedvolleren Kultur gemeinsam etwa dadurch, dass die „Christusenergie“ sich voll ausdrücke (auch als „second coming“ des kosmischen bzw. Wassermann-Christus bezeichnet. Dafür gab es zum Teil konkrete Daten – z.B. Weihnachten 1967 oder 16./17. August 1987, vor allem aber die Jahrtausendwende –, zum Teil wurde genau diese auf die kalendarische, „physische“ Zeit schauende Haltung kritisiert). Wouter Hanegraaff konstatiert ein Pathos des Wandels in Teilen der Bewegung, das sich als ein begeistertes, wenn auch vages Erwarten ungeahnter Lebensoptionen für die Menschheit ausdrückt.26 Ein kleinerer Teil der Bewegung hat im engeren Sinne millenaristische Vorstellungen eines Zeitalter des Lichtes, das nicht nur eine veränderte Gesellschaft, sondern eine spirituell erneuerte Gemeinschaft hervorbringt, die dann oft durch eine äußere Einwirkung hervorgerufen wird. Für letztere Vorstellungen nehmen Krisenszenarien eine größere Bedeutung ein. Auch in der Anthropologie der neuen Esoterik spielt 25 26
W. Hanegraaff, The New Age. In: New Age Religion and Western Culture. Esotericism in the Mirror of Secular Thought, New York 1998, 331–361. Ebd., 336.
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die Vernetzung eine große Rolle, da sie sich Subjekte vorstellt, die aus vielen immer feinstofflicheren Körperhüllen bestehen und auf diese Weise mit der Welt verknüpft und verwoben sind: Astralkörper, ätherischer Körper, Lichtkörper. In dieser Verbundenheit mit anderen Menschen und der Welt ist auch ein ethischer Interaktionsraum eröffnet. Jede erhöhte Schwingung eines Bewusstseins hat Auswirkungen auf die Substanzialität der anderen Wesen. Diese aus der Vernetzungsidee resultierende Vorstellung wechselseitiger Abhängigkeit setzt sich fort in der Ökologiebewegung von LOHAS bis hin in die Diskurse um Nachhaltigkeit und Post-Wachstum.27 Mittlerweile seit Anfang der 1990er Jahre wird die Transformation des New Age zum Next Age beschrieben, das sich unter anderem dadurch kennzeichnet, dass die „Potentiale“ des einzelnen flexiblen Subjekts noch wichtiger werden als gesamtgesellschaftliche Veränderungen. Das impliziert einiges an gestiegenen Erfordernissen für das Zeitmanagement des unternehmerischen Selbst. Vernetzung, dass man voneinander abhängig ist in guten wie in schlechten Zeiten, zieht sich durch diese Bewegungen hindurch. Generationenverträge sind häufig ein Argument, das im Verantwortungsdiskurs herangezogen wird, und in den Körper-, Heilungs- und Kommunikationsvorstellungen der Next Ager hat die Vernetzung und Erstreckung der Subjekte ihren festen Ort. Sie ist der Normalfall.
2. Die Schließung der Zukunft im Hier und Jetzt In diesem Abschnitt geht es um Schließungen der Zukunft, die auf mehrfache Weise geschehen können. Nachdem die wirtschaftliche Rahmenordnung schon in ihrem immensen Einfluss auf derzeitige Zeitvorstellungen thematisiert wurde, sei mit der wirtschaftssoziologischen Analyse des Finanzmarktes von Elena Esposito begonnen, die sie bereits 2009 vorgelegt
27
Die transpersonale Meditation hier der Gruppe shift, New York/US, ist eines aus vielen Beispielen für die anhaltende Faszination an der Verbundenheit und sozial-visionären Transformation (http://shift.is, Zugriff: 01.11.2015). Neue Medien mit dem jungen Kulminationspunkt der Internet-Technologie tragen zum Vernetzungsverständnis wesentlich bei. Systemische, kybernetische und Netzwerktheorien haben sich multipliziert. Ein eindringlicher Film, der mit diesen Motiven spielt, ist AVATAR (James Cameron 2009).
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hat. 28 Ihr englischsprachiger Titel spricht Bände: The Future of Futures, die „Zukunft der Zukünfte“ ist so leider nicht übersetzbar. Futures sind die englische Bezeichnung für bestimmte Finanzprodukte, die Optionsscheine für Termingeschäfte. Optionen verbriefen das Recht, zu einem bestimmten Zeitpunkt zu kaufen oder zu verkaufen (zu einem bestimmten (Mindest-) Preis). Sie greifen damit schon zum Zeitpunkt ihres Erwerbs aus auf die Zukunft und sichern eine Handlungsmöglichkeit in dieser. Damit schließen sie selbstverständlich andere Handlungen zu jenem zukünftigen Zeitpunkt aus bzw. machen ein Produkt in diesem zukünftigen Moment knapper oder ausreichender für andere. Jetzt ist also schon festgelegt, was in Jahren passiert. Das ist ein unerhörter Einschnitt in der Geschichte, dass die Zukunft geschlossen wird, dass Gesellschaften durch den in sie eingebetteten Finanzsektor eingeschränkt werden in ihrer zukünftigen Freiheit des Handelns. Die neuartigen Finanzprodukte verschließen im Bereich der Modalität. Schließungen der Zukunft tauchen religionsgeschichtlich immer wieder auf mit fatalen Folgen. Ein prominenter Typus sind Endzeiterwartungen, die in manchen Fällen auch ein böses Ende nehmen, wie 1978 in Jonestown, wo sich Anhänger des Peoples Temple kollektiv das Leben nehmen bzw. in die Massentötung gezwungen werden. Auch die Sonnentempler, die sich in der Nachfolge von Kreuzrittertum und Rosenkreuzern sahen, begingen Anfang der 1990er Jahre Morde und Selbsttötungen in Kanada und der Schweiz, und schließlich die Giftgasanschläge auf die Tokioter U-Bahn durch die Aum Shinrikyo sind allesamt Teile eines endzeitlichen Narrativs, das hier in Handlungen folgenreich wirksam wird. Vergleichen wir die Schließungen der Zukunft im Finanzsektor und in den religiösen Gruppierungen, so wird Zeit in der Wahrnehmung der Anhänger geschlossen. Sie sehen keine Zukunft des geltenden Systems oder haben eine absurde Rettung vor Augen wie die Sonnentempler, die von einer bevorstehenden Evakuierung zum „Planeten Sirius“ ausgingen oder Investmentbanker, die komplexe Algorithmen als Formelmagie anwenden zur Prognose. Die Schließung der Zukunft kann auch darin liegen, keine Chance für sich als einzelne Person zu sehen, meistens vorhergehend viel verloren zu haben oder durch strukturell-soziale Benachteiligung ohnehin schon am Rande der Gesellschaft zu stehen. Aus diesem Existenzgefühl heraus finden die Betroffenen alternative Zeitsysteme plausibel. Die Schließung einer Zukunft in dem Sinne, dass diese kein 28
E. Esposito, The Future of Futures. The Time of Money in Financing and Society, Cheltenham 2011.
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Glück für die eigene Person, Familie, Volksgruppe verheißen kann, ist brisant für die Gesamtgesellschaft, da sie häufig in Gewalt mündet. Aus der Verhaltensökonomie ist bekannt, dass erlebter großer Verlust bei vielen Teilnehmern von Spielexperimenten nicht dazu führte, dass sie aufhören zu spielen, sondern im Gegenteil immer risikofreudiger werden.29 Gregory Alles hat diese Handlungssequenz von Verlusterleben und Risikosuche auf religionsgeschichtliche Fälle übertragen wie Harvey Whitehouses Pomio Kivung-Ethnographie mit seinen Cargokulten, den Freiheitskampf nordamerikanischer Ureinwohner gegen die Siedler oder den aktuelleren Konflikt zwischen Hindu-Nationalisten und Muslimen in Kaschmir. 30 Je aussichtsloser die Lage gesehen wird, desto eher plausibilisieren sich Überzeugungen, die nicht rational sind oder der praktischen Vernunft entgegenstehen, wie etwa dass bestimmte Baumwoll-Zauberhemden kugelsichere Schutzwesten seien.
Die Vertunnelung der Achtsamkeit In den letzten Jahren ist Achtsamkeit in den Fokus gerückt. Achtsamkeit taucht in therapeutischen, klinischen, unternehmensberatenden und spirituellen Kontexten auf. Sie vereinigt den christlichen Mönch Anselm Grün, den vietnamesischen Zenmönch Thich Nhat Hanh und den Atemlehrer. Diese Praktik und Psychotechnik scheint sich besonders zu eignen, ein Bedürfnis moderner Subjekte zu beantworten. Sie kann im religiösen wie im säkularen, dann meist wissenschaftlichen Sprachspiel auftauchen. Untermauert wird Achtsamkeit häufig als säkulare Technik von neuropsychologischen und psychosomatischen Studien, die ihr eine Stressreduktion bescheinigen. In dieser Richtung ist sie als normative Ordnung der allgemeinen Achtsamkeit ein sogenannter Säkularismus, insofern sie im säkularen Sprachspiel beheimatet ist. Zugleich breitet sie sich auch global in bestimmten Milieus aus und gehört zur kosmopolitischen Spiritualität. Ohne die Religionsgeschichte der Achtsamkeit en detail zu rekonstruieren, sei sie in ihrer Fokussierung auf das Hier und Jetzt untersucht. 29
30
R. H. Thaler, Behavioral economics. In: NBER Reporter (1995), 9–13; A. Tversky, D. Kahneman, Judgment under uncertainty: Heuristics and biases. In: Science 185 (1975), 1124–1131. G. Alles, Speculating on the Eschaton: An Economic Re-Reading of Harvey Whitehouse’s Inside the Cult. In: Method and Theory in the Study of Religion 16 (2004), 266–291, 279.
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Zu den Techniken der Achtsamkeit („mindfulness“) gehören diverse Atemübungen, Leere-Meditationen, sogenannte Bodyscans, in denen Aufmerksamkeit durch die Körperteile und Körperregionen geführt wird, und Übungen der Wertschätzung, zu denen sprachlich angeleitet wird und die eine veränderte Haltung zum Ziel haben. Die Wertschätzung des Kleinen, Alltäglichen, Unscheinbaren, Vor-Mir-Befindlichen und die Entschleunigung durch diese Verankerung in einer konkreten Umwelt gehören zur veränderten Haltung. Die Zeit der Achtsamkeit ist die punktuelle Gegenwart. Diese wird sozusagen entleert und Gegenwart wird zu Präsenzerfahrung inszeniert und stilisiert. Im gleichen Zuge findet am religiösen Dienstleistungsmarkt (s.u.) eine Zukunft verschließende Instantanisierung des Heils statt: „Awake now!“, „Donate now!“, „Get your free offer!“ oder „Sei Teil der weltweit jetzt Meditierenden!“. Erlösung, Sinn, Nähe werden zu einem Stückgut, das sofort eingelöst oder erworben wird. Eine Strategie, die mit dieser Verdiesseitigung zusammenhängt, ist die Kommodifizierung von Religion. Die Verdiesseitigung zeigt sich zum Beispiel darin, dass eine ganze Lebensform wie die klösterliche Lebensform zu einer Ware werden kann, die in der Form des Klosterretreats wie in „Kloster auf Zeit“ erworben wird.31 Kritiker zeitgenössischer Spiritualitätsformen haben der Achtsamkeit Ent-bettung (disembeddedness) vorgeworfen.32 Sie lösten Subjekte aus ihrer sozialen Angewiesenheit auf andere heraus. Trotz der Konzentration auf die Körperlichkeit etwa des Atmens und bewussten Wahrnehmens entstünden durch diese Praktik seltsam unverordnete Subjekte. Indem sie aus den Beziehungsgefügen herausgelöst sind, lastet ihnen wieder an, in die soziale Welt zurückzufinden. Die Praxis setze an der individuellen Befindlichkeit an, versuche hier eine Verbesserung herzustellen und nehme das Subjekt aus der systemisch-strukturellen Dimension heraus, in der ebenfalls Veränderungen der modernen Arbeitsbedingungen stattzufinden hätten. Die Frage ist, in wieweit das sich im Hier und Jetzt idealerweise aufhaltende Subjekt damit nicht auch aus der moralischen Sphäre der stützenden Solidarität herausgenommen ist. Freilich heißt es in den Erläuterungen der Achtsamkeitsanleitungen, dass diese Praxis, am Subjekt ansetze und von dorther die Erneuerung stattfinde und 31 32
Vgl. die Portalseite im Internet, die die vielen Angebote koordiniert: www.kloster-aufzeit.de, Zugriff 27.20.2015. Zum Beispiel der Ethnologe Simon Coleman, Economy and Religion. In: J. G. Carrier (Hg.), A Handbook of Economic Anthropology. Cheltenham 2005. 339–352, hier 340, ganz in der ethnologischen Karl Polanyi-Tradition, die Einbettung stark macht.
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etwaige Missstände angegangen würden. Dies wäre für eine gesellschaftliche Robustheit angesichts von Herausforderungen dann bedenklich, wenn vereinzelte Subjekte mehr geschwächt würden in der Vereinzelung der punktuellen Gegenwart und selbstreferenziellen Praxis als dass sie bestärkt würden, sich den Herausforderungen zu stellen. Das muss vielleicht angesichts unterschiedlicher Subjekte gefragt werden. Ist ein Selbst so beschädigt, dass es zunächst sich selbst spüren, begrenzen und verankern lernen muss, um psychische Integrität zu erzielen, ist Achtsamkeit positiver zu bewerten, als wenn eine „achtsame Theorie von Subjekten“ allgemein entwickelt wird und jedem diese Kur verschrieben wird. Dann könnte vermutet werden, dass es den Interessen dieser Achtsamkeits-Institution eher um eine Schwächung der politischen Kräfte geht, die sie mit der Strategie verfolgen, Subjekte mit sich selbst auf Dauer zu beschäftigen. In diesem Sinne verbesserten Übungen der Achtsamkeit nicht die Welt, sondern das Selbst. Darin kann in diesem Falle eine moralische Schließung von Zukunft gesehen werden.
3. Geburten Zunächst war dieser Abschnitt mit „neue Geburten“ überschrieben. Doch ist eine Geburt nicht immer neu? Mir kamen Wiedergeburten in den Sinn, die der neuen Geburt eine gewisse Exklusivität nehmen dürften. Denn für ein sinnvolles Konzept von Wiedergeburt bedarf es ja einer minimalen Identität, da sonst der Sinn einer Wiedergeburt und ihres moralischen Zusammenhangs mit dem neuen Leben nicht gegeben wäre, ein philosophisches Problem, das philosophische Schulen in Indien herausfordert. Allerdings, wenn man sich nicht erinnern kann oder nur unter Zuhilfenahme anspruchsvoller divinatorischer oder spirituell-therapeutischer Techniken wie den Seelenrückführungen, welchen Stellenwert hat dann das vorhergehende Leben? Also ist vielleicht auch das eine neuartige Geburt. Doch bevor ich mich in diesen philosophischen Feinheiten verliere, sei der Blick auf einige konkrete Geburtsmomente gerichtet: auf Geburt als „birth“ auf der Lebenslinie von Facebook, genannt „timeline“, und damit kommt eine neue Form von Kommunikation ins Spiel: die sozialen Medien und ihr Effekt auf die Zeitbewirtschaftung. Jede/r Nutzer/in von Facebook hinterlässt mit seiner und ihrer Nutzung eine Zeitleiste, die in der rechten Randleiste abgebildet ist. Sie ist ein Archiv, das von den ersten Einträgen bis zum heutigen Tag reicht. Ist ein Geburtsda-
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tum hinterlegt, so wird dieses als erster Eintrag von der Software dort eingefügt als „birth“. Sind weitere Daten wie Ausbildungsabschlüsse oder Hochzeiten hinterlegt, so werden sie dort ebenfalls symbolisiert und automatisch aus dem Profil an die Stelle der Zeitleiste übertragen. Im rechten Seitenbalken findet sich auf Facebook-Seiten ein Überblick über Zeit, gegliedert in Jahre der christlichen Zeitrechnung und der Kategorie „Aktuell“. Sie zeigt die Relevanz der jeweiligen Gegenwart an, umfasst einen weiteren Informationszeitraum als ein „heute“ und wandert als Korngröße von Ereignissen. Zeit hat „Höhepunkte“, die über ein eigenes Symbol auf- und eingeklappt werden können. Verdichtung, Sortierung und Sichtbarkeit werden hier für Erlebnisinhalte vorgegeben. Über die erwähnte Jahreslinie im rechten Seitenbalken ist eine Navigation möglich anstelle eines Scrollens in die Tiefen der Vergangenheit, die aus dem unteren Bildschirmende materialisiert. Als Beispiel sei der Geburtsmoment der globalen Yoga charity-Veranstaltung namens Yoga Aid gewählt. Er führt die Begegnung des Gründerehepaares, eines Australiers und einer Japanerin, mit einem indischen Swami an. 33 Anlass ist eine Yogakonferenz in dem berühmten Yogaort Rishikesh, Indien, auf der Swami Saraswatiji sagte, es sei „Zeit, an die Welt zurückzugeben“. Dieses Zitat von März 2006 ist Slogan und Geburtsmoment der Bewegung, das zusammen mit der folgenden Geburtslegende über einem Foto des Swami steht: „Swamiji (known more formally as Pujya Swami Chidanand Saraswatiji) spoke at the International Yoga Festival. He said, very simply, that we are here to give back to the world. So when we got home to Sydney, we started building a not for profit platform for giving back and called it Yoga Aid.“34 Dieses wohltätige Event fand von 2006 an bis 2012 in zuletzt über 35 Ländern der Erde statt. Die timeline beginnt 2006 mit dem ersten Eintrag „geboren 2006“ und dem Piktogramm eines Säuglings. Diese Einträge sind erst 2012 hinzugefügt worden, wie ein Symbol der Eintragung preisgibt. Der Einfluss dieser neuen Medien auf die Zeitvorstellung der Nutzer ist nicht zu unterschätzen und bedarf zugleich einer Rezeptionsforschung im und außerhalb des Netzes. Soziale Medien sind ganz und gar in zeitliche Interaktion erstreckt und visualisiert. Es ist ein Zeitmodell, das die Ereignisse strukturiert. Die „Lebenslinie“ besteht aus Events und aus vielen Stimmen, eine Polyphonie (James Clifford). Die Hegemonie hat der Betreiber oder die 33 34
Facebook Yoga Aid, https://www.facebook.com/YogaAid, Zugriff 10.11.2015. Ebd.
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Betreiberin der jeweiligen Seite, doch sie wird kommentiert, „ge-liked“,35 verlinkt oder auch nicht. All diese aufgezählten Reaktionsweisen sind nicht lediglich die Rhetorik der Beschreibung dessen, was eine solche Seite an Bedienungsmöglichkeiten hergibt, sondern die Aktionen sind ganze soziale Interaktionswelten des sozialen Ausschlusses, der Zusammengehörigkeit oder des Anteilnehmens. Angesehen zu werden, die „klicks“ der dahinterliegenden versteckten Zählmaschinerie, können sich als bare Münze auszahlen, vor allem wenn ich einen Fernsehkanal betreibe und meine Werbung mich nach digital-sozialer Beliebtheit entlohnt. In dem Symbol „teilen“ wird hier wieder an der Vernetzungsdichte gearbeitet. Geburten zeigen sich nicht nur in den neuen Medien. Die vielen Geburten von Gruppen sind ein Phänomen, das wieder eng mit dem Markt und der Ökonomisierung unserer Lebenswelt zusammenhängt. Geburten sind das Resultat einer Marktdynamik. Dass unsere Zeit auch viele religiöse Neuanfänge kennt, ist das Ergebnis des Innovationsdrucks am spirituellen Dienstleistungsmarkt.36 Die stete Suche nach Absatz lässt ein ausgeklügeltes System entstehen, um Aufmerksamkeit von potentiellen Abnehmern zu generieren. Die Sättigung der Märkte oder die Befriedigung der Bedürfnisse der Nutzer führen nicht zu einem Ende der Kommunikation, sondern dazu, die Abnehmer und Abnehmerinnen mit stets neuen Produkten zu konfrontieren. Zu den spezifischen Dynamiken gehören u.a.: • Die starke Indigenisierung der Produkte: es werden regional-native Traditionen zu Marken für Heilung, Massage, Heilpflanzen und Weisheit. Man denke an tibetische, hawaiianische oder ostmongolische Regionen, die auch in diesem Kontext einen Aufschwung erlebt haben. Damit einher geht oft eine Hybridisierung der Produkte: ayurvedische Rezepturen werden mit der Hildegard-Medizin gekreuzt, Therapie mit spirituellem Tanz, Zen mit Wellness, Spiritismus mit Theosophie usw. Eine damit verbundene Ökonomie der Zeit ist eine Alternativzeit: Raunächte, Walpurgis, Sonn35
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C. Gerlitz, Die Like Economy. Digitaler Raum, Daten und Wertschöpfung, In: O. Leistert, T. Röhle (Hg.), Generation Facebook. Über das Leben im Social Net, Bielefeld 2011, 101–122. Der spirituellen Dienstleistungsmarkt ist extrem heterogen in vielerlei Hinsicht: In Bezug auf seine Angebote gibt es die unterschiedlichsten Produkte von Beratung, Heilung, ganzheitlichem Reisen, Gegenstände zur Ernährung, Raumreinigung etc., von den Organisationsformen reicht es von Versandhandelshäusern, Heilpraktikerpraxen, Bildungshäusern zu selbstständigen Einzelanbietern.
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wende, Neumond und andere indigene Bestände werden zelebriert. Alternativzeiten kehren häufig zur kosmologischen Zeit (Mondzyklus) zurück 37 oder wünschen sich eine kosmische oder zumindest transhistorische Zeit (von alters her, das 8000 Jahre alte Wissen des Veda). • Damit hängt auch die Diversifizierung des Dienstleistungsmarktes zusammen. In der modernen westlichen Schamanismustradition zum Beispiel finden sich spezielle Angebote zur Männerinitiation neben dem Coaching-Schamanen, dem Heilungsschamanen und dem Reiseorganisator für ganzheitliche Reisen zu Schamanen weltweit. 38 • Das Bedürfnis nach mehr Information in einer sich als unübersichtlich darstellenden Zeit führt zu einer größeren Wissensproduktion und zu gestiegenen Ansprüchen an das Wissensmanagement mit entsprechenden Anbietern. Ein großer Bereich spirituellen Coachings ist in dieser Hinsicht zum Beispiel entstanden. • Fragen der Qualitätsprüfung. Auch entstehen neue Intermediäre und Prüfinstitutionen, um Märkte zu überwachen, in Portalen abzubilden und zu regulieren. Dies sind in der Mehrheit am spirituellen Markt keine staatlichen Einrichtungen. Zu nennen wären die Organisatoren spezieller Events wie Esoterikmessen, Heilertage, Pancha Karma Camps, Reiseveranstalter und Betreiber von Internet-Portal-Seiten, auf denen ganze Partialmärkte repräsentiert und organisiert werden wie zum Beispiel die erwähnte Portal-Webseite „Kloster auf Zeit – Klosterurlaub“, die unzählige Klöster und Häuser nicht nur der christlichen Tradition zusammenbringt (http://www.kloster-auf-zeit.de), die Seite Reiki info, die ein Magazin und Anbieterlisten führt (http://www.reiki-magazin.de), oder die Seite Spirituelle Info, die diverse Angebote zusammenführt.39 Diese Geburten von neuen Produkten, Ausbildungen, Praktiken stellen auch zum Teil neue Ökonomien der Zeit dar: Sehr deutlich zieht sich die ayurvedische Kur nicht mehr über Wochen dahin, sondern ist in nachindustrialisierten Ländern in das Format der Sieben-Tage-Woche gerückt als 7-TageKur, so dass Berufstätige es als Urlaub nutzen können. Das gleiche lässt sich 37 38 39
Selbstverständlich im Sinne eines Nativismus: als habe es diese Zeitordnung einmal in einer Gesellschaft schon genauso gegeben. M. Hero, Die neuen Formen des religiösen Lebens. Eine institutionentheoretische Analyse neuer Religiosität, Würzburg 2010. A. Rebmann, Portal „Spirituelle Info“, Waldenburg, URL: http://www.spirituelle.info/index.php, Zugriff 16.11.2015.
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feststellen angesichts von Mittagspausen-Yoga, Wochenend-Retreat und der Doppelbelegung von Urlaub mit Spiritualität (Wandern mit Gebet, Romreise auf den Spuren von Ignatius, Eine spirituelle Reise Südindien – der Berg Arunachala). Der „Weisheitslehrer und Mystiker Thomas Young“ zum Beispiel offeriert die Zeitformate: „3 H Workshop“ (drei Stunden), „Weekends“ (zwei Tage), Retreats (eine Woche), Events und ein Jahrestraining aus vier Modulen von jeweils mehreren Tagen.40 Neben dieser Anpassung an die Zeiten der Arbeitswelt stoßen wir auf Anpassungen an Konsumgewohnheiten wie die Serialität. Die Vervielfältigung eines Produktes in eine ganze Serie (z.B. „Momentum Mastery 1–4“) dient auch der längerfristigen Kundenbindung an einen ansonsten sehr kurzfristigen Geld-gegen-Ware-Markt, der aus Einzelepisoden besteht. Die Entfaltung einer verpflichtenden Zeit über die Serie hinweg zeigt sich überaus deutlich im Ausbildungssektor des spirituellen Dienstleistungsmarktes. Viele Ausbildungseinrichtungen wie auch Einzelanbieter bieten Basis-, Vertiefungs- und Expertenkurse an. Bei manchen ist dies noch im Sinne einer Initiation und Mystagogie zu lesen, bei anderen geht es um Wissensproduktion und Marketing. Eine Wertschöpfungskette soll etabliert werden, in welcher der Kunde verliert, wenn er nicht weiter nachfragt. Dazu gehört auch die Veralltäglichung von Suggestion, Hilfe oder Botschaft im täglichen Horoskop oder zum Beispiel den „hochenergetischen“ täglich ge-channelten „Tagessätzen“ aus der geistigen Welt online unter www.shimaa.de.41 Hier geht es darum, zeitlich engmaschige Konsumgewohnheiten zu etablieren.
Fazit: Ökonomien der Zeit als normative Ordnungen Zeit wird somit bewirtschaftet Wer Zeit strukturieren und deuten darf, ist ein umstrittenes Feld. Zeitgenössische Zeitvorstellungen speisen sich durchaus aus religiösen Traditionsbeständen, aber nicht nur. An die Stelle des religiösen Sprachregisters können ein säkularistischer, ein postsäkularistischer und ein moralischer Diskurs treten. Folgenreich wird dieser Wandel, wenn sich die konkurrierenden Zeit40
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Prisma. Magazin für Bewusstheit & Lebensfreude. Ausgabe Südbayern 12. Jg. Nov./Dez. 2015, ganzseitige Werbeanzeige Innencover S.2. Siehe auch: Thomas Young, Homepage, URL: www.thomasyoung.com, Zugriff 16.11.2015. S. S. Wenig, Homepage „Shimaa“, Rosenheim, URL: www.shimaa.de, Zugriff 16.11.2015.
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vorstellungen institutionalisieren und in eine gewisse Dauerhaftigkeit übergehen. Denn dann entwickeln sie externe und unintendierte Effekte und dehnen sich aus: Für bestimmte Handlungsherausforderungen bieten sie dann routiniert die Lösung. Die Fallbeispiele konnten dies für mehrere Zeitdimensionen im gegenwärtigen religiösen und normativen Feld verdeutlichen. Zunächst ging es um Endzeitszenarien aufgrund der Instabilität, die aus einer hochgradig vernetzten Zeit unter Führung des globalen Finanzmarktkapitalismus herrührt. Ein kriminalistisches Beispiel führte vor, wie sehr sich hier ethische Fragen der gerechten Verteilung neu aufdrängen und aufgrund der vernetzten Technologie eine Angriffsfläche bieten. Doch Vernetzung wurzelt auch in Vorstellungen des kosmisch-feinstofflichen Kontinuums des New Age und neuer Esoterik und des spirituellen wie säkularen Nachhaltigkeitsdiskurses, der die „eine“ Erde als gemeinsamen Lebensraum begreift. Der zweite Abschnitt beschrieb die Schließung der Zukunft auf verschiedene Weisen und in verschiedenen Bereichen unserer Gegenwartsgesellschaften. Auch hier ist wieder der Finanzmarktkapitalismus, der mit neuartigen Finanzprodukten wie den Optionen einen Bereich, der Zeit in seiner Verfügbarkeit und „alt-gewohnten“ Offenheit entzieht. Eine weitere Verschließung ist die schon in früheren Religionstheorien benannte Verdiesseitigung. Dieser Trend, der auch schon von Max Weber mit einer gewissen modernen Wirtschaftsordnung zusammengebracht wird, setzt sich mit der Neoliberalisierung fort. Subjekte sind an SelbstVerwirklichung, Selbst-Management und Selbst-Optimierung (gezwungenermaßen) interessiert. Für dieses Interesse stehen religiöse Angebote ein, wozu die Fokussierung auf den Moment gehört. Die Schließung der Zukunft in den vielen spirituellen Techniken des ganz „im Hier-und-Jetzt“-Aufgehens wurde relativ auf die Zielsubjekte bewertet. Schließlich wurden „Geburten“ des Innovationszwangs am weltanschaulich versorgenden Dienstleistungsmarkt ausgeführt und wie diese Dynamik im institutionellen (religiösen) Feld der Gegenwart Zeitwahrnehmung verändert.
Multiple temporalities und normative Ordnungen Wie sehr an unterschiedliche Zeitmodelle und den Umgang mit Zeit auch normative Ordnungen geknüpft sind, sollte deutlich geworden sein.42 Der 42
Zum Konzept normativer Ordnung vgl. die Open Access-Publikation des DFG Exzellenzclusters der Universität Frankfurt „The Formation of Normative Orders“: R. Forst,
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gesellschaftliche Normalfall ist somit, dass mehrere temporal konnotierte normative Ordnungen um Durchsetzung streiten, – ein Streit der multiple temporalities.43 Wenn das der Normalzustand ist, geht damit eine gewisse zeitliche Labilität einher. Jede zeitliche Ordnung ist stets herausgefordert, sich zu bewähren. In den jüngsten Jahrzehnten scheint es die wirtschaftliche Rahmenordnung eines Finanzmarktkapitalismus zu sein, die das Rennen gemacht hat und unsere Zeitvorstellung, Zeitpraktiken und Zeitnachfrage mächtiger beeinflusst als jede andere. Zu diesem Einfluss gehören die Monetarisierung von Zeit, die Gliederung von Zeiteinheiten unter Marktaspekten und weitere dargelegte ästhetische Figurationen. Damit gehe eine Beschleunigung einher mit kürzeren Halbwertszeiten von Produkten, dem Zwang zur Innovation und auch der steten Neuerfindung der Subjekte. Doch die vor allem soziologische Beschleunigungsdiagnose muss sich fragen lassen, an welchen Stellen sie nicht dem Neoliberalismus in die Hand arbeitet. Inszeniert sie nicht eine Verknappung des Gutes Zeit und unterwirft so Lebenszeit der neoliberalen Verknappungsideologie, und das obwohl die behandelten Gesellschaften noch nie so viel Freizeit besaßen wie heute? Wo erhebt die Soziologie Befindlichkeit und wo verallgemeinert sie diese Aussagen zu Zeitdiagnosen? Krisen haben in der Deutung des Kapitalismus und seiner grundständigen Erneuerungen prominent eine Rolle gespielt. Weber hatte ja schon darauf hingewiesen, dass ein Wirtschaftssystem eine Trägerideologie braucht, was seiner Meinung nach für den Kapitalismus nicht allein, aber wesentlich ein bestimmter „Geist des Protestantismus“ war. Luc Boltanski und Eve Chiapello führen diese strukturelle Idee fort 44 und beschreiben, wie dieser „Geist“ seit den 1980er Jahren eine veränderte Gesellschaft und veränderte Subjektivitätsform ist: die ge-managte Gesellschaft und das Projekt-Selbst. Kapitalismus wird von ihnen als extrem flexible Ideologie angesehen, die bereits mehrfach überlebte, weil sie sich Kritik, den Anti-Kapitalismus sozusagen, einverleiben konnte und nicht nur einverleiben, sondern auch für einen neuen Innovationsschub nützlich machen konnte. Diese jeweilige Ideologie der Wirtschaftsform,
43
44
K. Günther (Hg.), Die Herausbildung normativer Ordnungen: Interdisziplinäre Perspektiven, Normative Orders Bd. 1, Frankfurt 2011. Betont und untersucht werden die sozialintegrativen Leistungen vieler kursierender Narrative anstelle der Vorstellung eines sozialen Raums von Gründen und konsensualer Rationalität. Nicht ganz analog zu S. N. Eisenstadts multiple modernities, die ja nebeneinander stehende Modernen, also eine Vervielfältigung von Moderne meint, während multiple temporalities schon die gesellschaftsinterne Vervielfältigung meint. L. Boltanski, E. Chiapello, The New Spirit of Capitalism. London 2005.
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die Wirtschaftskultur gleichsam, ist höchst moralisch. Boltanski und Chiapello schildern drei Krisen der letzten hundert Jahre, die alle moralische Krisen waren und für die der Kapitalismus sich institutionell neu erfinden musste, um die moralischen Infragestellungen zu meistern: Bis in die 1930er Jahre war der Kapitalismus unternehmerisch geprägt mit den Verheißungen von Kreativität und Initiative. Diese Legitimation ging mit der Wirtschaftskrise der weltweiten großen Depression in den 1930er Jahren unter und die Kritik an den sozialen Ungleichheiten wurde in eine Kapitalismusvariante umgebaut, die auf Sicherheit und Stabilität aus war, in den Keynesianismus und Fordismus. Deren Legitimation wurde in den erneuten Wirtschaftskrisen der späten 1960er bis Anfang 1970er Jahre („Ölkrise“/ „Ölboom“) untergraben. Der daran anschließenden Phase widmet sich die Untersuchung von Boltanski und Chiapello. Sie sei geprägt von einer eher akademisch-bürgerlichen Kritik an der Bürokratie und Verfahrensrationalität des Keynesianismus als einer Kritik an der sozialen Ungerechtigkeit wie noch im Anti-Kapitalismus der 1930er Jahre. So sind die neuen Werte jene der 1968er Generation wie Selbstverwirklichung und Authentizität, die den moralischen Grund des neuen Geistes des Kapitalismus seit den 1970er Jahren bildeten. Aus einer Analyse von Management-Theorie, -Ratgebern und allgemein Management-Literatur gewinnen Boltanski und Chiapello als zentrale Kompetenzen die Fähigkeit zu sozialen Netzwerkbildungen, also ein sehr hohes Sozialkapital, das dann auch in allen Möglichkeiten opportunistischer Ausnutzung diskutiert wird.45 Die hohe Vernetzung findet sich in diesem Beitrag im Spiegel der vernetzten Zeit. Die Frage bleibt, wie es heute aussieht. Wie bewirtschaftet die „Kette an Krisen“ des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts die Zeit? Die ökonomischen Krisen von neuem Technologiemarkt, Hypothekenkrise, Eurokrise und die politische Krise der Attentate des 11. Septembers? Aus dem Vorhergehenden kann abgeleitet werden, dass die Bewirtschaftung von Zeit da besonders gesellschaftsrelevant wird, wo sie in Subjektivierungsprozesse eingreift. Die Bewirtschaftung von Zeit ist somit durchaus auch als ein moralischer Markt zu verstehen Ganz besonders folgenreich ist, wie mit den veränderten Zeittechniken neue Subjektivitätsformen und „Humankapital“ in den Zeitökonomien entste45
Boltanski, Chiapello, 1999, 417– 422.
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hen. Wie verhalten sich einerseits die traumatisierten Subjekte, von denen immer häufiger die Rede ist, und andererseits nachhaltige, solidarisch sich gegenseitig entschuldende Subjekte zueinander? Globalisierungsgegner waren Anti-Konnektivisten – inwieweit ist das jetzt noch zentral? Welche Vision einer besseren Zukunft formiert sich in den TTIP-Gegnern? Mit den neuen imaginierten und beschworenen Weltenenden wird die Verwundbarkeit der verflochtenen Gesellschaften sehr deutlich. Verletzbarkeit und unfaire Aufteilung von Ressourcen sind ein Dauerthema. Die Fragilität unserer Kommunikation ist extrem. Man stelle sich eine Welt vor, in der tagelang kein Strom mehr fließt – die Akkus der Handys sind leer, Internet funktioniert nicht mehr. Als ich ein Jahr nach der „Dreifach-Katastrophe“ von Fukushima (Erdbeben, Tsunami, Reaktorunfall) nach Tokyo übersiedelte, wurden immer noch, um Strom zu sparen, reihum Stadteile abends für ein paar Stunden vom Strom genommen, Klimaanlagen niedriger geschaltet und Vorortzüge gekürzt. Vor diesem Hintergrund ist die Katastrophe nicht nur ein gesättigtes Wohlstandsszenario,46 sondern sofort vorstellbar. Die Verwundbarkeit der Gesellschaft ist das eine und das zweite Thema, das ich angesprochen habe, ist die Verwundbarkeit des Subjekts. Daraus resultieren Dynamiken wie der große und verzweifelte Bedarf an stabilisierenden Psychotechniken, die dieses Subjekt dennoch auf Dauer erschöpfen.47 „Müdigkeitsgesellschaft“ nennt das der Berliner Kulturwissenschaftler Byung Chul Han.48 Auf ein Zeitalter der viruellen Bedrohung, das sich Krankheit als Eindringling von außen vorstelle, sei nun das neuronale Zeitalter gefolgt: Die „Überproduktion, Überleistung oder Überkommunikation“ 49 drücken sich als Krankheit in einer neuronalen Reaktion aus: als Erschöpfung und „Ausbrennen“ des unternehmerischen Selbst. Das Heimtückische dieser Verletzbarkeit unserer Gesellschaft wie der zeitgenössischen Subjektivität liegt darin, dass sie unsichtbarer ist als die Bedrohung der älteren Metaphern von Ansteckung durch den viruellen Eindringling. Die neuen Herausforderungen, Zeit zu bewirtschaften, sind innerhalb von permissiven, gesättigten und reflexiven Gesellschaften entstanden. Die Frage, die in Zukunft zu lösen sein wird, ist, ob wir von der kapitalistischen Produktion und ihrem Zeitregime abrücken möchten. 46 47 48 49
Wie Zizek schreibt: Willkommen in der Wüste des Realen, S. 25. Und spielt sich auch in einem überfordernden Verantwortungsdiskurs ab: F. Vogelmann, Im Bann der Verantwortung. Frankfurt 2012. B. C. Han, Müdigkeitsgesellschaft, Berlin 2010. Ebd., 12.
Autorenverzeichnis
em. Prof. Dr. Gerhard Dohrn-van Rossum, Fachbereich Europa im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, Technische Universität Chemnitz, D – 09107 Chemnitz Assoz.-Prof. Dr. Werner Goebl, Institut für musikalische Akustik – Wiener Klangstil (IWK), Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, Anton-von-Webern-Platz 1, A – 1030 Wien Prof. Dr. phil. Stephan Günzel, Medientheorie, BTK – Hochschule für Gestaltung, Dessauer Str. 3 –5, D – 10963 Berlin Prof. Dr. Harald Haarmann, Vice President of the Institute of Archaeomythology, European Office, Länsikaari 7, FIN – 54530 Luumäki Prof. Dr. Anne Koch, Religious Studies, Universität Salzburg, Universitätsplatz 1, A – 5020 Salzburg Univ.-Prof. Dr. Christian Korunka, Institut für Angewandte Psychologie: Arbeit, Bildung, Wirtschaft, Universität Wien, Universitätsstraße 7, A – 1010 Wien Prof. Dr. Ansgar Nünning, Fachbereich English and American Literature and Culture, Universität Gießen, Otto-Behaghel-Straße 10 B, D – 35394 Gießen Dr. Brigitte Steger, Faculty of Asian & Middle Eastern Studies, University of Cambridge, Sidgwick Avenue, Cambridge CB3 9DA, UK
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