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German Pages [270]
Karen Gloy
Zeit Eine Morphologie
ALBER PHILOSOPHIE
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Zu diesem Buch: Bis heute ist es nicht gelungen, die vielfältigen Aspekte der Zeit: Lage- und Modalzeit, das Problem Zeit und Ewigkeit, den Augenblick als Grenze und als nunc stans (Epiphanie der ewigen Gegenwart), die Tempora und Aktionsarten, die Erlebniszeit, die Handlungszeit, die wissenschaftlich-mentale, mathematische Zeit, die qualitative, die quantitative Zeit usw. in einer einheitlichen Theorie zusammenzubringen, ganz zu schweigen von den Zeitvorstellungen der diversen Gebiete, der Psychologie, Physik, Religion usw. In diesem Buch werden die heterogenen Konzepte der Zeit mit ihren wesentlichen Grundzügen herausgearbeitet und in einem Stufen- bzw. Schichtenmodell miteinander verbunden, angefangen von der subjektiven Erlebniszeit, wie sie im Alltag und auch in der Mystik als Dehnungsphänomen und relative Dauer begegnet, über die strukturierte Handlungszeit, die es mit Zeitgestalten (eschatologischer, oszillierender und zyklischer Form) zu tun hat, bis hin zur mathematisch homogenisierten, kontinuierlichen, unendlichen Zeit und zur suprarationalen, wie sie der Quantenphysik als einer komplementären Theorie zugrundeliegend gedacht werden muß. Die Autorin: Gloy, Karen, Prof. Dr. Dr. h. c., geb. 1941, o. Prof. für Philosophie und Geistesgeschichte an der Universität Luzern, ständige Gastdozentin an der Universität Wien; Studium der Philosophie, Germanistik, Physik, Psychologie und Kunstgeschichte an den Univ. Hamburg u. Heidelberg, an letzterer 1974 Promotion, 1980 Habilitation und Venia legendi. Seit 2002 auch an der Universität Wien. Forschungsgebiete: antike Philosophie, Kant, Idealismus, moderne Philosophie, Rationalitätstheorien, Zeittheorien, Naturphilosophie. Buchpublikationen: Bewußtseinstheorien (1998, 3. Aufl. 2004); Vernunft und das Andere der Vernunft (2001); Denkanstöße zu einer Philosophie der Zukunft (2002); Wahrheitstheorien (2004); Grundlagen der Gegenwartsphilosophie. Eine Einführung (2006) u. v. a.
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Karen Gloy
Zeit Eine Morphologie
Verlag Karl Alber Freiburg / München https://doi.org/10.5771/9783495997116 .
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Originalausgabe Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany Verlag Karl Alber GmbH Freiburg / München 2006 www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg 2006 www.difo-druck.de ISBN-13: 978-3-495-48201-8 ISBN-10: 3-495-48201-6
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Inhalt
I. 1. 2. 3.
II. 1. 2. 3. 4.
5.
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . Probleme der Zeit . . . . . . . . . . . Ziel der Untersuchung . . . . . . . . Methodologische Vorüberlegungen .
. . . .
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Zeiterleben – relative Dauer . . . . . . . . . . . Objektive – subjektive Zeit . . . . . . . . . . . . Charaktere des subjektiven Zeiterlebens . . . . . Vergleich von erlebter Zeit und erlebtem Raum . Die Grundstruktur der erlebten Zeit: Dauer . . . 4.1. Zeitentrückung . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . . 4.2. Zeitdehnung (Zeitlupenphänomen): Zeitgerinnung .
25 25 36 42 49 50 53
4.3. Zeitkontraktion (Zeitrafferphänomen): stehende Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeitempfinden in der Mystik: Ewigkeit . . . . . . . 5.1. Die weltliche Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2. Art und Weise der Konversion . . . . . . . . . 5.3. Ewigkeitserfahrung . . . . . . . . . . . . . . . 5.4. Beschreibung der Ewigkeit mit zeitlichen Mitteln
. . . . . .
57 64 65 67 69 71
. . . . . .
III. Handlungszeit – Zeitgestalten . . . . . . . . . . . . . . 1. 2.
3.
73 Abgrenzung der Handlungszeit von der gestimmten und von der mentalen Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Spezifische Eigenschaften der Handlungszeit . . . . . . 81 2.1. Intentionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 2.2. Ahistorizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 2.3. Synchronizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Realisierungen der Handlungszeit . . . . . . . . . . . . 97 3.1. Schöpfungsmythen von Weltentstehung . . . . . . 97 3.2. Der babylonische Schöpfungsmythos Enuma elisch . 105 3.3. Etymologie des Wortes a§ðn als Lebenskraft und Lebensganzheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 A
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Inhalt
4.
5.
Zeitgestalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Eschatologische Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Oszillierende Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3. Zyklische Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aktionsarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1. Aktionsarten als handlungsbezogene Zeitauffassung. 5.2. Zeitauffassung der Hopi-Indianer . . . . . . . . . .
. . . . Die absolute Zeit (das absolute Zeit-Raum-Kontinuum) . 4.1. Newtons absolute Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Kants transzendentale Zeit . . . . . . . . . . . . .
IV. Mentale Zeitauffassung – mathematische Linearzeit 1. Charakteristik der Linearzeit . . . . . . . . . . . . 2. Entstehung der Linearzeit . . . . . . . . . . . . . 3. Begründungsversuche der Zeitrichtung . . . . . . 4. 5. 6.
V. 1. 2. 3. 4.
. . . .
. . . .
119 119 129 139 143 143 152 162 162 166 171 180 181 184
Die relativistische Zeitauffassung (das relativistische Zeit-Raum-Kontinuum) . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Tempora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
Die suprarationale Zeit – Zeitexplosion und Zeitkontraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Die Quantentheorie und ihr Zeitverständnis . . . . . . . 208 Jorge Luis Borges’ Novelle Der Garten der Pfade, die sich verzweigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Hugh Everetts Mehr-Welten-Theorie . . . . . . . . . . 215 Carl Friedrich von Weizsäckers Theorie Jenseits der Quantentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
VI. Systematik der Zeittypen . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die methodischen Gliederungsprinzipien . . . . . . . 2. Das biologische Entwicklungsprinzip: die Ontogenese . 3. Die Phylogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das historische Prinzip: die soziale Entwicklung . . . . 5. Das psychisch-epistemische Prinzip: die Morphologie .
. . . . . .
224 224 226 232 237 243
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 6
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»Was ist die Zeit? Ein Geheimnis – wesenlos und allmächtig.« Thomas Mann: Der Zauberberg, Kap. 6
I. Einleitung
1.
Probleme der Zeit
Was ist Zeit? Diese Frage beschäftigt Philosophen, Physiker, Biologen, Mediziner, Psychologen, Sprachwissenschaftler, Soziologen, Ethnologen, Historiker, Vertreter anderer Disziplinen nicht erst seit heute, sondern seitdem es theoretische Reflexion gibt, und die Tatsache, daß sie immer und immer wieder gestellt wird, dokumentiert, daß sich bis heute keine befriedigende Antwort hat finden lassen. Bekannt und vielzitiert ist Augustins Ausspruch aus dem 11. Buch der Confessiones, Kap. 14: »Si nemo a me quaerat, scio; si quaerenti explicare velim, nescio« (»Wenn niemand mich fragt, was die Zeit sei, so weiß ich’s; soll ich’s einem Fragenden erklären, so weiß ich es nicht«). Augustin ging es um eine zu seiner Zeit schon klassische Problemstellung, nämlich um die Frage nach der Realität oder Idealität der Zeit, d. h. um die Frage, ob sie eine vorgegebene objektive Struktur der Welt sei oder eine subjektiv im Geist lokalisierte, im letzteren Fall eine Struktur der Vorstellungen, der Erinnerung und der Antizipation. Vor dieser Problematik hatte bereits Aristoteles im 4. Buch seiner Physik, Kap. 10 gestanden: Da die vergangene Zeit nicht mehr ist, die zukünftige noch nicht ist und die gegenwärtige als flüchtiger Transzensus von der Vergangenheit in die Zukunft auch nicht ist, scheint eine Irrealität der Zeit unausweichlich zu sein. Weder hat sie ein substantielles noch ein akzidentielles Sein. Aristoteles’ Lösung war daher die Definition der Zeit als »Zahl der Bewegung hinsichtlich ihres Früher und Später« 1 . Sie wurde als ein Moment der an sich seienden Bewegung zugeschrieben, aber nur im Modus des BewußtAristoteles: Physik, 4. Buch, Kap. 10 (219b 1 f.): To‰to g€r ¥stin ¡ crno@, ⁄riqm@ kinffisew@ katÞ t prteron ka½ ˜sthron.
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Einleitung
seins der Zählung, der Quantifizierung der Bewegungsabschnitte. Damit war die subjektivistische Wende eingeleitet, die für die Neuzeit charakteristisch werden sollte. Für Kant war sie bereits eine Selbstverständlichkeit, so daß sich für ihn nur noch die Frage nach der Zugehörigkeit der Zeit zu den Begriffs- oder den Anschauungsformen der menschlichen Erkenntnis stellte. Neben der Frage der objektiven oder subjektiven Verortung der Zeit taucht in der Gegenwart immer wieder das Problem der Legitimität oder Illegitimität der Projektion der Zeit auf den Raum bzw. eine seiner Gestalten, die Linie, auf und, damit verbunden, die Frage der Quantifizierbarkeit und Mathematisierbarkeit der Zeit. Läßt sich die Zeit aufgrund dieser Abbildung ebenso in eine Menge von Punkten im mengentheoretischen Sinne, nämlich eine Jetzt-Folge, auflösen wie der Raum in eine Punktmannigfaltigkeit, oder ist sie prinzipiell anders zu fassen, nämlich als Weite- bzw. Extensionsphänomen 2 , basierend auf einem inneren, inhaltlich integrierenden Akt? Es war insbesondere die in der Moderne einsetzende Kritik Husserls, Heideggers, Bergsons, Merleau-Pontys, Schmitz’ und anderer Phänomenologen an der bis dahin fraglos akzeptierten Verräumlichung und Punktualisierung der Zeit, als deren Resultat in der Folge die Zeit als Dauer, als Extension, aufgefaßt wurde, mochte sie wie bei Husserl aus Präsenzzeit und einem Schweif retentionaler und protentionaler Modifikationen konstruiert werden oder wie bei Heidegger durch die Ekstasen der Gewesenheit, Gegenwart und Zukunft. Schon die Tatsache, daß sich bezüglich der Zeit sehr unterschiedliche Fragen stellen lassen, sowohl die nach dem ›wie lange‹ wie die nach dem ›wann‹, von denen die erstere auf das Zeitquantum, die Dauer, zielt, die zweite auf den Zeitpunkt, weist darauf hin, daß kein einheitliches Zeitkonzept vorliegt. Das Problem verschärft sich noch, wenn man an das Auseinanderfallen der Zeit in eine sogenannte Modalzeit, bestehend aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, und eine sogenannte Lagezeit, bestehend aus den Bestimmungen ›früher als‹, ›später als‹ und ›gleichzeitig mit‹, denkt. Setzt die erstere Deutung den je aktuellen Augenblick voraus, der auf der Zeitachse wandert und in jedem Moment ein neuer, singulärer und signifikanter ist, so geht die zweite von der Durchgängigkeit der Strukturen aus; denn was früher ist als Vgl. H. Schmitz: System der Philosophie, Bd. 3, 1. Teil, Bonn 1967, S. 131 ff., 477 ff. u. ö.
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ein anderes, bleibt dies, gleichgültig, ob es in der Zukunft, in der Gegenwart oder in der Vergangenheit angesetzt wird. Ebenso verhält es sich beim Später- und Gleichzeitigsein. Was gleichzeitig ist mit einem anderen, ist dies durch die gesamte Zeit hindurch. Lassen sich diese heterogenen Strukturen, die seit McTaggarts Untersuchungen als »A-Reihe« und »B-Reihe« 3 bekannt sind, überhaupt vereinen? Die Problematik der Zeit ist damit noch nicht erschöpft. Eine weitere wichtige Frage betrifft das Verhältnis der Zeit zur Ewigkeit, das sich mit der Aufspaltung der Welt in einen sinnlichen, durch Entstehen, Vergehen und Wandel charakterisierten Bereich, die sogenannte Werde-Welt, und einen übersinnlichen, intelligiblen, dem Entstehen und Vergehen enthobenen Bereich stellt und nicht nur in der Theologie eine Rolle spielt, sondern auch in der Philosophie, besonders in der Ontologie seit den Griechen: Parmenides, Platon, Aristoteles u. a. Damit verbindet sich im metaphorischen Sinne die Unterscheidung von ›oben‹ und ›unten‹, die offensichtlich trotz aller Kulturentwicklung ein hartnäckiges Relikt aus einer magisch-mythischen Epoche darstellt. Seit mehr als hundert Jahren belehren uns Ethnologen und Sprachwissenschaftler darüber, daß die Zeit in der uns vertrauten Form, in der wir sie als Fließen und Verfließen, als einen aus der Zukunft in die Vergangenheit gerichteten Prozeß vorstellen, keine anthropologische Konstante sei, sondern ein Kulturprodukt, indem sie von verschiedenen Völkern und Kulturen und zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich aufgefaßt werde. Frühe, archaische Völker – auch wir Europäer in unserer Frühzeit – kennen gar keine Zeitvorstellung im Sinne von Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit mit entsprechenden Temporalformen, sondern verwenden sogenannte Aktionsarten wie die des Durativs und Ingressivs, so in der Unterscheidung von ›blühen‹ und ›erblühen‹, ›welken‹ und ›verwelken‹, ›steigen‹ und ›ersteigen‹, oder auch sogenannte Aspekte, bei denen zwischen perfektivem und imperfektivem Charakter des Verbalinhalts unterschieden wird, also darüber, ob ein Vorgang vollendet ist oder noch andauert. Aus der Sicht der Zeitmodi betrachtet, würde man sagen, daß diese Völker in einer Präsenzzeit leben, gegebenen-
J. E. McTaggart: The Nature of Existence, 2 Bde., Cambridge 1921 und 1927, 2. Aufl. 1968, Bd. 2, S. 10, § 306; ders.: The Unreality of Time, in: Mind, New Series, Bd. 17, Nr. 68 (1908), S. 457–474, bes. S. 458.
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falls mit geringer Ausbildung der Vergangenheit, nicht aber mit Ausblick auf die Zukunft. Zukunft ist sprachgeschichtlich die jüngste Temporalform, oft hervorgegangen aus Wünschen, Sehnsüchten, aus dem Optativ oder Irrealis. Naturethnien leben häufig in Rhythmen der Natur, etwa der Jahreszeiten, mit der Vorstellung eines Auf und Ab, einer periodischen Wiederkehr des Gleichen, wobei Zeitgestalten wie Pendel- und Kreisbewegung eine Rolle spielen. Das jüdische Volk hat die Vorstellung einer eschatologischen Zeit ausgebildet, die von einem absoluten Anfang bis zu einem absoluten Ende reicht, das zugleich Vollendung bedeutet, und sich aus einem göttlichen Handlungsplan und seiner Durchführung erklärt. Diesbezüglich verbietet sich zu fragen, was vor dem Anfang gewesen sei und was nach dem Ende kommen werde, da mit dem über die Handlungslogik definierten Geschehen alles gesagt ist, was sich sagen läßt. Seit Newton präferieren wir in Wissenschaft und Alltag die lineare Zeit, die sich geradlinig von der Vergangenheit in die Zukunft erstreckt oder umgekehrt von der Zukunft in die Vergangenheit. Die kulturell ausgeprägten Zeitgestalten sind vielfältig. Abgesehen davon, daß Medizin, Psychologie, besonders Psychiatrie, nicht weniger Religion, was Mystik betrifft, eigene Zeiterlebnisse eruiert haben, angefangen von Zeitdehnung und Zeitraffung bis hin zu Zeitstillstand und stehender Gegenwart in außergewöhnlichen, negativ wie positiv konnotierten Situationen, Reduplikationen, Déjà-vu-Erlebnissen oder der Lebensbilderschau, dem Revue-Passierenlassen des gesamten Lebens, der Beschleunigung und Verlangsamung bei Halluzination und Drogeneinnahme, hat insbesondere auch die Physik in der Konstruktion von Zeiten ganz eigene Wege beschritten. Während in der Urknalltheorie mit der räumlichen Expansion auch eine zeitliche Dehnung unterstellt wird – G. Thiercy von der Universitätssternwarte Genf hat anläßlich der Generalversammlung der »Schweizerischen Astronomischen Gesellschaft« in Lausanne im Frühjahr 1951 unter dem Thema »Ist die Zeit konstant?« behauptet, daß sich die Zeit pro Jahrhundert um 5,3 Sekunden verlangsame 4 –, gehen andere Physiker aufgrund der Reversibilität der Naturgesetze von einem zeitlosen, ewigen Kosmos aus, der nur in der menschlichen Interpretation als zeitlich er-
Vgl. J. Gebser: Ursprung und Gegenwart, 2 Teile und Kommentarbd., Schaffhausen 1986, 2. Aufl. 1999, 2. Teil, S. 380.
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scheint. 5 Und wieder andere wie Minkowski und Palágyi nehmen für jeden Raumpunkt eine Zeitlinie und für jeden Zeitpunkt einen Weltraum an, wodurch sich ein fließender Raum oder, in Beziehung auf die Zeit, eine Vielzahl von Zeitlinien ergibt. Die Vielzahl von Zeitvorstellungen mag als Hinweis dienen, daß die Zeit weder eine anthropologische noch eine physikalische Konstante ist. Um so mehr muß angesichts der Vielzahl von Zeitauffassungen und der Fülle von Zeitproblemen die Frage virulent werden, was alle diese Strukturen noch als Zeit bzw. Zeiten anzusprechen und sie als zeitliche zu qualifizieren erlaubt. Gibt es überhaupt einen gemeinsamen Oberbegriff ›Zeit‹ mit übereinstimmenden Kriterien, unter den sich die ansonsten heterogenen Zeitvorstellungen subsumieren lassen, oder ist Zeit nur ein Sammelbegriff, ein Konstrukt ohne Realitätsbezug? Sind die diversen Zeitvorstellungen vielleicht nur in einer historisch oder genealogisch sukzessiven Aufeinanderfolge zu begreifen? Existieren die diversen Zeitphänomene auf den verschiedenen Gebieten der Physik, Psychologie, Religion usw. unverbunden nebeneinander? Was erlaubt in diesem Fall noch, sie als Zeitphänomene zu qualifizieren? In der sprachanalytischen Philosophie seit Wittgenstein wird die Legitimität der alten sokratisch-platonischen tffl ¥sti-Frage, die dem Wesen einer Sache – hier der Zeit – nachforscht, eo ipso bestritten und für obsolet erklärt mit der Begründung, daß Substantive wie das Sein, das Nichts, die Wahrheit, der Raum, die Zeit kein objektives, reales Korrelat besäßen und daher auf ihre umgangssprachliche Verwendung zu reduzieren seien, so z. B. das Substantiv ›die Wahrheit‹ auf das Adjektiv ›wahr‹ – entsprechend bei der Zeit. Sie seien nur innersprachlich durch Vernetzung mit anderen Begriffen des Sprachsystems zu erklären. Der Definitionsversuch abstrakter Begriffe, zu denen auch die Zeit gehört, soll sich damit als Scheinproblem decouvrieren. Die sprachanalytische Betrachtungsweise sieht sich jedoch vor ein Grundproblem gestellt, das mit Wittgensteins Abbildtheorie im Tractatus logico-philosophicus evident wird, nämlich vor die Entscheidung, entweder das Sprachsystem auf die reale Welt zu beziehen und als deren Abbild zu betrachten oder auf den Bezug zur Realität gänzlich zu verzichten, da über den sprachlichen Standpunkt Vgl. B. Suchan: Die Zeit – eine Illusion?, in: Information Philosophie, Jg. 2004, Nr. 4, S. 16–25.
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nicht hinausgegangen werden kann zu einem außersprachlichen, quasi archimedischen Punkt, der Sprache und Wirklichkeit miteinander zu vergleichen erlaubte. Die Bedeutung der Wörter kann im Fall der Suspendierung der Abbildbeziehung nur sprachimmanent durch Verwebung und Beziehung der Wörter untereinander innerhalb eines bestimmten Sprachspiels erklärt werden. 6 Unabhängig von der Beantwortung der epistemologischen Frage, ob Begriffe auf Sachhaltiges zu beziehen sind oder nur aufeinander, unabhängig auch davon, ob sich ein genereller Zeitbegriff findet, unter den sämtliche heterogene Zeitvorstellungen subsumierbar sind, oder es bei einem Nebeneinander irreduzibler Zeitvorstellungen bleibt, soll zunächst ganz allgemein an der Frage nach dem Phänomen der Zeit bzw. der Zeiten festgehalten werden.
2.
Ziel der Untersuchung
Angesichts der Tatsache, daß es trotz einer übergroßen, ja überschwappenden Zeitliteratur besonders von seiten der Physik und Psychologie und neuerdings auch der vergleichenden Kulturwissenschaft und Kulturgeschichte bis heute keine umfassende, einheitliche Zeittheorie gibt, was wegen der Vielzahl von Aspekten und Problemen bezüglich Gestalt, Zugangsweisen, Status nicht überrascht, muß es vordringliche Aufgabe sein, eine solche zu erstellen. Dies ist offensichtlich kein leichtes Unterfangen, und so erscheint es ratsam, das Projekt über eine negative Abgrenzung anzugehen. Es ist in dieser Untersuchung nicht beabsichtigt, die Geschichte der Zeitbegriffe von der Antike bis zur Gegenwart aufzurollen, da hier nur der europäische Geschichtskreis in den Blick käme und kaum außereuropäische Zeitbegriffe berücksichtigt würden, die aber für das Verständnis und den Umfang möglicher Zeitkonzeptionen genauso relevant sind und insbesondere dort, wo sich die europäischen Zeitbegriffe im geschichtlichen Dunkel verlieren, zur Aufhellung beitragen könnten. Vermieden werden muß jeglicher Eurozentrismus. Ebensowenig ratsam erscheint es, eine Zusammenstellung und Aneinanderreihung diverser Zeitbegriffe aus heterogenen Feldern Zur Kritik an Wittgensteins Abbildtheorie vgl. K. Gloy: Denkanstöße zu einer Philosophie der Zukunft, Wien 2002, S. 111–124, bes. S. 117 ff.
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wie der Medizin, Psychologie, Physik, Religion vorzunehmen, da aus dem heterogenen empirischen Material induktiv kaum ein einheitlicher Zeitbegriff zu gewinnen ist. Unterstellt man hingegen hypothetisch einen einheitlichen Begriff, so dürfte seine Spezifikation in derart unterschiedlichen Feldern wie den genannten kaum nachweisbar sein. Wie sollten sich so heterogene Phänomene wie der quantitative Zeitbegriff aus der Mathematik und Physik und die qualitative Erlebniszeit aus der Psychologie oder die Vorstellung des nunc stans aus der Mystik, d. h. die Epiphanie der ewigen Gegenwart, und die Momentaneität des Augenblicks unter einen gemeinsamen Zeitbegriff subsumieren lassen? Eine solche Subsumtion verbietet sich schon deshalb, weil das Spezifikations- bzw. Klassifikationssystem der Logik entstammt, also ein begriffliches ist, hier aber nicht nur Zeitbegriffe, sondern auch Zeiterlebnisse und zeitbezogenes Handeln zum Zuge kommen, mithin die gesamte Palette der Zugangsweisen, die der Begrifflichkeit teilweise vorausliegen. Auszuschließen ist zum dritten eine Behandlung von Einzelproblemen wie denen des Verhältnisses von Zeit zu Ewigkeit, von Modalzeit zu Lagezeit, des objektiven zum subjektiven Status der Zeit, des Realitäts- oder Irrealitätsproblems, da auf diese Weise niemals eine Gesamtschau des Zeitlichen in den Blick käme. Welchem dieser Begriffe sollte man den Vorzug geben, von welchem die anderen ableiten? Die Erörterung bliebe vom jeweiligen metaphysischen oder epistemologischen Standpunkt abhängig. Und auch eine kulturgeschichtliche und kulturvergleichende Untersuchung der Zeit ist nicht intendiert. Zwar scheint festzustehen, daß die Zeit weder eine anthropologische noch eine physikalische Konstante ist, vielmehr ein Kulturprodukt, das mit den Kulturen und Epochen wechselt, so daß es nahegelegen hätte, die Beziehung der Zeitvorstellung zur jeweiligen Gesellschaft zu erörtern und ihre Wandlung zu verfolgen. Mit einer solchen Absicht ist Rudolf Wendorff in seinem Buch Zeit und Kultur angetreten. Er beansprucht aufzuzeigen, »welches die Voraussetzungen für einen Wandel des Zeitbewußtseins waren, was in der Kultur parallel lief und was als Folge der Veränderungen im Zeitbewußtsein angesehen werden« 7 kann. Wendorff zielt auf »eine Gesamtschau all jener Phä-
R. Wendorff: Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa, 2. Aufl. Wiesbaden 1980, S. 11.
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Einleitung
nomene […], die das Zeitbewußtsein formen« 8 . Tatsächlich jedoch konzentriert er sich auf die Phänomene der europäischen Geschichte, also der westlichen Kultur und ihrer Vorläufer. Gegenüber anderen kulturell ausgeprägten Zeitformationen wie denen Afrikas und Asiens zeigt er sich absolut blind, und auch wenn er ein Kapitel »Ägypten« einfügt und Cassirer zitiert, der zumindest zwei heterogene Zeitvorstellungen anführt, die gerichtete, lineare Kontinuität und die gegliederte, meßbare Rhythmik, legt er seinem Buch von Anfang bis Ende einseitig die lineare, zukunftsgerichtete und metrisierbare Zeit zugrunde. Bevor der Gesellschaftsbezug der Zeit, der Einfluß von Mentalität, Religion, Politik, Ökonomie, Geographie usw. auf die Zeitvorstellungen geklärt werden kann, sind die Zeitphänomene selbst in den Blick zu rücken, und genau dieser Aufgabe widmet sich die vorliegende Arbeit. Intendiert ist – positiv ausgedrückt – eine Systematisierung der diversen überhaupt möglichen und entwickelten Zeitvorstellungen. Eine solche kann niemals direkt auf die Phänomene zusteuern, sondern muß stets die spezifischen Zugangsweisen zu denselben seitens des Subjekts bedenken. Phänomene sind niemals schlicht gegeben und einfach zu rezipieren, sondern vermittelt, und zwar vermittelt durch die je besonderen methodischen Zugangs- und Auslegungsweisen des Subjekts, so daß der Rückbezug auf dasselbe gewährleistet sein muß. Außer der Sachbezogenheit ist daher die Subjektfundiertheit mit zu berücksichtigen. In dieser Spanne zwischen Sach- und Subjektbezug hat sich die Untersuchung zu halten. Ebensosehr wie die Methode eine Angelegenheit der Sachen ist, die es zu erfassen gilt, ebensosehr ist sie eine Methode des Fragenden, der das Seiende nach seinem Sinn befragt. Da die Zugangsweisen des Subjekts zum Sachbereich heterogen sind, vom Erleben, Empfinden, Gestimmtsein, von der Befindlichkeit über praktische Verhaltensweisen, Handlungen, bis hin zum Verstehen und Begreifen, zur kognitiven Erkenntnis, reichen, ist zu fragen, ob eine Rangordnung besteht. Ob zu Recht oder Unrecht hat sich bei der Aufstellung der Erkenntnisvermögen – Erkenntnisvermögen im weitesten Sinne genommen – seit der Antike 9 über Kant 10 bis heute ein Stufenmodell herausgebildet, das einen unteren, emotionalen, A. a. O., S. 12. Vgl. Platon: Theaitet; Aristoteles: De anima, 3. Buch. 10 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft: Transzendentale Deduktion A. 8 9
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leiblich verankerten Teil vorsieht und einen oberen, verstandesmäßigen, zwischen denen eine Zwischenstufe eingeschaltet ist, die der Vermittlung dient. So verschiedenartig letztere auch interpretiert wird, so laufen die verschiedenen Interpretationen doch auf ein synthetisierendes, gestaltendes, veranschaulichendes Vermögen hinaus: Vorstellungsvermögen, Einbildungskraft, gestaltende Handlung u. ä. genannt. Unterstellt wird also ein Stufen- oder Schichtensystem, das von der primären, unmittelbaren Erlebnisweise, der sinnlich-leiblichen Befindlichkeit, ausgeht und über die praktische Zugangsweise, die gestaltende Handlung, bis hin zu dem begreifenden Verstehen, der Kognition, reicht, wie sie die Wissenschaften kennzeichnet. Diesen Zugangsweisen entsprechen im Sachbereich die Seinssinne oder Seinsdeutungen. Bezieht man dieses Modell auf das Objekt – in unserem Fall auf die Zeit –, so entspricht der untersten Stufe, dem Zeiterleben, die Erlebniszeit (erlebte Zeit), dem gestaltenden Handeln die Zeitgestalt und dem Begreifen und kognitiven Verstehen die wissenschaftliche, mathematische Zeit. In dieselbe Richtung zielt die Husserlsche Auffassung und die seiner Anhänger, nach der die objektive, wissenschaftliche Erkenntnis in der subjektiven, vorwissenschaftlichen Lebenspraxis gründet, kurzum, die Wissenschaft in der Lebenswelt fundiert ist und in ihren Geltungsansprüchen stets auf diese bezogen bleibt. In bezug auf dieses Verhältnis wissenschaftlicher Objektivität und vorwissenschaftlicher Fundierung formuliert Husserl seine Aufgabe in der Krisis der europäischen Wissenschaften folgendermaßen: »Es muß völlig aufgeklärt, also zur letzten Evidenz gebracht werden, wie alle Evidenz objekt-logischer Leistungen, in welcher die objektive Theorie (so die mathematische, die naturwissenschaftliche) nach Form und Inhalt begründet ist, ihre verborgenen Begründungsquellen in dem letztlich leistenden Leben hat, in welchem ständig die evidente Gegebenheit der Lebenswelt ihren vorwissenschaftlichen Seinssinn hat, gewonnen hat und neu gewinnt. Von der objektiv-logischen Evidenz (der mathematischen ›Einsicht‹, der naturwissenschaftlichen, der positiv-wissenschaftlichen ›Einsicht‹, so wie sie der forschend-begründende Mathematiker usw. im Vollzug hat) geht hier der Weg zurück zur Urevidenz, in der die Lebenswelt ständig vorgegeben ist.« 11
E. Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (Husserliana, Bd. 6), 2. Aufl. Haag 1976 (photomechanischer Nachdruck), § 34 d, S. 131; vgl. auch § 38, S. 146 ff.
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Einleitung
Wenn daher in dieser Arbeit versucht wird, eine einheitliche Zeittheorie zu entwerfen, so geschieht dies über ein Stufenmodell aus der Überzeugung heraus, daß alle abstrakten, entwickelten Formen aus ursprünglich konkreten der Lebenswelt erwachsen und in ihr fundiert bleiben. Ob diese Rekonstruktion einer rein simultan zu verstehenden Stufung ein Pendant in der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit hat, bleibt einer späteren Diskussion vorbehalten. Kulturhistorisch und soziologisch gesehen waren nicht unerhebliche Anstrengungen des generalisierenden, abstrahierenden und beziehenden Denkens notwendig, um die wissenschaftliche Auffassung und hier die mathematische Zeitauffassung zu entwickeln, wozu die gesellschaftliche Differenzierung und der Komplexitätszuwachs, nicht weniger die Urbanisierung und Kommerzialisierung sowie die immer intensiver werdenden politischen und gesellschaftlichen Verflechtungen beigetragen haben, die entsprechend größere Bezugsrahmen mit fortlaufendem Ordnungsmuster verlangten. Die sozialen Bezüge sind nicht zu übersehen.
3.
Methodologische Vorberlegungen
Die behauptete Schichtentheorie bedarf einer methodologischen Absicherung. Spricht man von ineinandergreifenden und fundierten Schichten oder aufeinander aufbauenden Stufen, so meint man, daß sie irgendwie zusammengehören, auf jeden Fall nicht gänzlich losgelöst und unabhängig voneinander existieren; denn in diesem Fall hätten sie nichts miteinander zu tun. Andererseits ist der Bezug auch nicht als bloße Explikation des auf der jeweils früheren Stufe Implizierten durch die jeweils spätere zu verstehen; denn in diesem Fall wäre der Prozeß der einer zunehmenden Selbstexplikation auf der Basis eines selbstreferentiellen Modells, aber nicht der eines Stufenmodells. Zwischen dieser Skylla und Charybdis gilt es hindurchzuschiffen. Folglich kann der methodische Aufstieg nur als modifizierte Explikation verstanden werden, bei der zwar Momente der späteren Stufe als Ansätze in der vorhergehenden zu erkennen sind, aber nicht als implizite, die einfach zu explizieren sind, sondern als präformative, die auf den höheren Stufen weiterbestimmt werden. Es handelt sich also um einen Prozeß zunehmender Strukturierung. Während die unterste, elementare Stufe, die erlebte Zeit, unbestimmt, ungestaltet, relativ diffus und vage ist und in relativer Dauer 16
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besteht, wie sie im Alltag in der Langeweile oder in der Mystik in der unendlichen Dauer vorliegt, erfolgt in der Handlungszeit eine erste Strukturierung und Gestaltung durch einen Handlungsentwurf, der einen Anfang und ein Ende hat und damit zu einer ersten geschlossenen Gestalt führt, der »Zeitgestalt«, wie sich Ernst Cassirer 12 ausgedrückt hat und wie sie u. a. die Struktur des Mythos bildet. Von der einzelnen, individuellen Zeitgestalt ist es dann noch ein weiterer Schritt zur unbegrenzten, homogenen, kontinuierlichen Zeitauffassung der Mathematik, und dieser Schritt läßt sich so erklären, daß die einzelnen, disparaten Zeitgestalten der mittleren Ebene zunächst aggregiert, dann homogenisiert und kontinuiert und schließlich der Topologisierung und Metrisierung unterworfen werden. Zu diesem Schritt bedarf es also zunächst der Egalisierung der disparaten und distinkten Zeitgestalten sowie ihrer Kontinuierung, um sie anschließend der Quantifizierung unterwerfen zu können, kurzum, es bedarf generalisierender und abstrahierender Akte. Was die Herausarbeitung der verschiedenen Zeitauffassungen auf den verschiedenen Ebenen und ihren Bezug zum Subjekt betrifft, weiß sich die vorliegende Analyse im Grundsatz mit der Phänomenologie einig. Das Vorbild für diese Art von Behandlung haben die phänomenologischen Arbeiten von Husserl und Heidegger, Bergson und Merleau-Ponty abgegeben sowie die darauf basierenden, mehr oder weniger freien von Oskar Becker, Elisabeth Ströker und Hermann Schmitz. Allerdings beschäftigen sich Oskar Becker in seinem Buch Beiträge zur phänomenologischen Begründung der Geometrie und ihrer physikalischen Anwendungen 13 und Elisabeth Ströker in ihrem Buch Philosophische Untersuchungen zum Raum 14 ausschließlich mit dem Raum, nicht mit der Zeit. Ebenso widmet sich Hermann Schmitz in seinem mehrbändigen Werk System der Philosophie 15 vorrangig dem Raum. Diese Arbeiten konnten aber insofern als Vorbild fungieren, als sie in bezug auf Raumarten und Räumlichkeit eine Schichtung bzw. Konstitution vornehmen, was hier für die Zeit intendiert wird. So unterscheidet Becker folgende Stufen: E. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, 2. Teil: Das mythische Denken, 8., unveränderte Aufl. Darmstadt 1987, S. 133. 13 In: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Bd. 6 (1923), S. 385–560; als selbständige Arbeit, 2. Aufl. Tübingen 1973. 14 Frankfurt a. M. 1965. 15 Bes. Bd. 3, 1. Teil, Bonn 1967. 12
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1. die präspatialen (vor- oder quasiräumlichen) Felder oder Ausbreitungsfelder, 2. den orientierten Raum, 3. den homogenen (unbegrenzten) Raum, wobei allerdings die präspatialen Felder noch weiter unterteilt werden in Sinnesfelder (präspatiale Felder erster Stufe) und Organbewegungsfelder (präspatiale Felder zweiter Stufe). 16 Ströker differenziert in 1. den gestimmten Raum, 2. den Aktionsraum, 3. den Anschauungsraum mit der Unterteilung von visuellem Feld bzw. Sehraum und Tastraum, 4. den mathematischen Raum mit weiteren Unterteilungen in euklidischen Raum und nicht-euklidische Räume von der Art des Riemannschen Raumes oder der hyperbolischen Geometrie (Kleinsches Modell). Methodenbewußter noch als Becker legt sie das Subjekt als Leitfaden zugrunde, geht von der Leiblichkeit desselben als präreflexiver Sphäre aus, um die praktischen Aktivitäten und schließlich die geistigen anzuschließen, wobei ein Wandel in der Beziehung des Subjekts zum Objekt stattfindet vom Aufgehen des Subjekts im Objekt (im Räumlichen) zum Verfügen des Subjekts über den Raum. Vom Verhalten des Subjekts im Raum, seiner Integration in diesen, wird fortgeschritten zum Urteil über den Raum, bei dem das Subjekt sich bewußtseinstheoretisch dem Raum und der Welt gegenüber weiß. 17 Zwar ist die Orientierung am Paradigma des Raumes für die Untersuchungen der Zeit nicht ganz ungefährlich und problemlos und darf nicht einfach im Sinne einer Übertragung der Ergebnisse von jenem auf diese verstanden werden. Das zeigt sich besonders, wenn man eine Parallelbehandlung des Anschauungs- bzw. Wahrnehmungsraumes mit der Zeitanschauung, der Linearzeit, intendiert. Obwohl die letztere auf den Anschauungsraum abbildbar ist, ist sie in ihrer Anschaulichkeit nur als mentale, nämlich quantifizierbare, nicht als rein sinnlich wahrgenommene, erlebte Zeit verständlich. Die Analyse muß sich stets der Eigenständigkeit und Eigenart des Zeitphänomens bewußt bleiben, wobei sich allerdings zeigen Vgl. O. Becker: Beiträge zur phänomenologischen Begründung der Geometrie und ihrer physikalischen Anwendungen, a. a. O., S. 446 ff., 2. Aufl. S. 62 ff. 17 Vgl. E. Ströker: Philosophische Untersuchungen zum Raum, a. a. O., S. 18. 16
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wird, daß auf jeder Stufe Verwandtschaften zu den entsprechenden Raumstrukturen bestehen. Die von den genannten Autoren angeschnittene Frage der Konstitution der Gegenständlichkeit aus fundamentaleren, primitiveren Schichten, auf denen sich die höherstufigen, differenzierteren, reicher organisierten Formen aufbauen, soll hier außer acht bleiben. Sie wäre erst nach der Explikation der verschiedenen Zeit- und Raumvorstellungen zu thematisieren. Zunächst wird es darum gehen, unvoreingenommen, frei von ideologischen, ontologischen und metaphysischen Erwägungen, die Zeitvorstellungen rein phänomenologisch zu thematisieren ohne vorgängige Wertung. Begonnen wird mit dem Zeiterleben, das in der erlebten, gestimmten Zeit zum Ausdruck kommt, deren Grundstruktur die relative Dauer ist, die sich in Zeitdehnung und Zeitraffung bekundet und bis zum Extrem entweder des Zeitstillstands oder der ewigen Gegenwart reichen kann. Angeschlossen wird die Handlungszeit mit den diversen Zeitgestalten der Eschatologie (Teleologie), Oszillation (Rhythmik) und Zyklik. Es folgt die mentale, mathematische Zeitauffassung, die unendliche, einsinnig gerichtete Linearzeit, und ihre Infragestellung durch das relativistische Zeitkontinuum sowie als letztes die nur durch Suprarationalität verstehbare Zeitexplosion und Zeitkontraktion. Zum Schluß – nach Durchgang durch die diversen Stufen – wird die Methodendiskussion nochmals aufgenommen und die gewählte Methode gegen andere abgegrenzt. Angesichts der geradezu erdrückenden Fülle von Literatur über die Zeitthematik, die aus verschiedenen Blickwinkeln, unter verschiedenen Fragestellungen und in verschiedener Absicht die Zeitproblematik erörtert – historisch, kulturvergleichend, psychologisch, religiös, physikalisch usw. –, kann es hier nicht Aufgabe sein, in eine Detailauseinandersetzung mit dieser einzutreten, zumal in unserer Untersuchung ein bestimmtes Programm verfolgt wird, das allenfalls die Auseinandersetzung mit ähnlich gelagerten Arbeiten verlangt. In diesem Kontext ist auf zwei Bücher zu verweisen, die aufgrund ihrer Multiperspektivität und ihres reichen Materials für die vorliegende Untersuchung von Bedeutung sind. Bei dem einen handelt es sich um das Buch von Günter Dux Die Zeit in der Geschichte 18 . Es zeichnet sich durch eine ungeheure Stoffülle aus, sei es durch Hinweise auf Mythen und Epen wie das Gilgamesch-Epos, die Bha18
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gavadgita, das Tao-te-king, ebenso durch entwicklungs-psychologische, historische und ethnologische Verweise und nicht zuletzt empirische Experimente, die Dux und seine Kollegen selbst angestellt haben. Allerdings hat das Buch meines Erachtens eine Schwäche, die darin besteht, daß sämtliche Zeitphänomene über die Handlungszeit definiert werden und damit dieser eine Exquisitheit konzediert wird, die ihr als einer unter anderen nicht zusteht. Die einseitige Privilegierung der Handlungszeit hängt mit der Grundüberzeugung und der wiederholt ausgesprochenen These von Dux zusammen, daß die Zeit ein historisch-genetisches Produkt in Anpassung an den biologischen Organismus des Menschen und im weiteren an die menschliche Stellung innerhalb der Gesellschaft sei. Im Anschluß an die Naturgeschichte mit der Evolution des Lebens habe sich die Geistesgeschichte ausgebildet, die die anthropologischen Voraussetzungen des Menschen in Richtung auf die soziokulturellen Welten und die damit zusammenhängenden geistigen Kompetenzen der Lebensführung weiterentwickelt habe. Da das Sozialverhalten jeder Gesellschaft eine gewisse Höhenlage von kompetenten Handlungen erreicht haben muß, wenn die Gesellschaft überleben können soll 19 , auch wenn sich verschiedene, primitivere und entwickeltere Gesellschaften unterscheiden lassen wie Sammler- und Jägergesellschaften, Ackerbauern und Viehzüchter, Industriegesellschaften, stellt für Dux die Handlungskompetenz die Grundlage dar, die menschliches und gesellschaftliches Leben und Überleben allererst garantiert. Seine methodische Maxime läßt sich folgender Aussage entnehmen: »Über die Anfänge der Geschichte, insbesondere der Geistesgeschichte, und also auch über die Anfänge der Zeit, läßt sich trefflich spekulieren. Denn die Anfänge verlieren sich in dem weiten Raum der ein bis zwei Millionen Jahre, in denen sich die Gattung homo entwickelte. Und selbst wenn man die uns vordringlich interessierende Geschichte des homo sapiens unseres Schlages ins Auge faßt, liegen die Anfänge ca. 40 000 Jahre zurück. Wenig von ihnen ist übriggeblieben. Nicht so für eine historisch-genetische Theorie, die auf eine Rekonstruktion der Strukturen aus der Ontogenese heraus abzielt. Denn uns interessiert weniger das langsame Werden im Verlauf der Urgeschichte, als vielmehr der Entwicklungsprozeß der Strukturen. Den aber können wir aus den Bedingungen rekonstruieren. Denn die Bedingungen liegen in der anthrozeit. Mit kulturvergleichenden Untersuchungen in Brasilien (J. Mensing), Indien (G. Dux / K. Kälble / J. Meßmer) und Deutschland (B. Kiesel), Frankfurt a. M. 1992. 19 Vgl. a. a. O., S. 103.
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pologischen Verfassung, sind uns also bekannt. Ebenso wie die Biologen aus der Rekonstruktion der Bedingungen, unter denen das Leben sich bildete, den Prozeß, in dem es sich bildete, rekonstruieren, rekonstruieren wir aus den Bedingungen der anthropologischen Verfassung die Strukturen einer Ontogenese, deren historische Formen wir nicht gesehen haben und niemals sehen werden. Führt man die kognitiven Strukturen aus der Ontogenese heraus, ergibt sich eine Entwicklungslinie der Evolution, die der Entwicklungslogik folgt, der diese Strukturen verhaftet sind. Diese Entwicklung muß in allen Gesellschaften bis zu einer Höhenlage vorangetrieben werden, die ein kompetentes Handeln ermöglicht.« 20
Diese Entwicklungsthese opponiert er der gängigen Kulturthese von der Singularität jeder Epoche und Kultur, der zufolge jede ihr ganz eigenes Weltbild und ihr ganz eigenes Zeitverständnis hat. 21 Für Dux hingegen muß in jeder Gesellschaft eine gewisse kognitive Operationalität zur Gesellschaftskonstitution erfüllt sein, und diese verlangt nach ihm die Definition über die Handlungslogik. Die Grundlage dieser Überlegung, die Verständnis wie auch Kritik ermöglicht, bildet der systemtheoretische Ansatz, der in späteren Schriften unter dem Stichwort »kostruktiver Realismus« 22 von Dux weiter ausgebaut wird. Danach ist jeder Organismus – ob das biologische Individuum oder die Gesellschaft – ein autonomes System, das nicht nur seine Umwelt gemäß seinen immanenten, genuinen Organisationsstrukturen bestimmt, also konstruiert, sondern auch noch sein Verhältnis und seine Interaktion mit der Umwelt aus der internen Operationalität erklärt. Gleichwohl soll diese Konstruktion der Realität selbst real sein nach einem Passungsverhältnis, da der Organismus auf die Interaktion mit der jeweils konstruierten Umwelt angelegt ist, und das soll auch noch für den evolutionären Prozeß nach darwinistischen Gesichtspunkten gelten, der zur Ausbildung der Handlungskompetenz und der ihr entsprechenden Zeitstruktur führt. Darin aber bekundet sich ein naturalistischer Fehlschluß, bei dem das, was bewiesen werden soll, der evolutive Hervorgang der Handlungskompetenz und Handlungszeit in ihrer Anpassung an die Umwelt, bereits als Prämisse vorausgesetzt wird. Die Erklärung des A. a. O. Vgl. a. a. O., S. 19 ff. 22 Vgl. G. Dux: Die Wissensformen der Gesellschaft. Konstruktivität und Wahrheit in der prozessualen Logik der Moderne, in: K. Gloy/R. zur Lippe (Hrsg.): Weisheit – Wissen – Information, Göttingen 2005, S. 195–216. 20 21
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evolutiven Prozesses geschieht unter Bedingungen, die aus dem Prozeß selbst erst hervorgehen und nun retrospektiv zu dessen Erhellung und Strukturierung benutzt werden. Die Evolution könnte aber von ganz anderen Prämissen ausgehen und zu ganz anderen Ergebnissen führen als zu der universell unterstellten Handlungskompetenz und ihrer Zeit. Im Sinne dessen, was gewöhnlich die »Entwicklung der Menschheit« 23 genannt wird, unternimmt Jean Gebser in seinem zweiteiligen Werk Ursprung und Gegenwart die Darstellung der Bewußtseinsstadien oder, wie er zu sagen präferiert, der Bewußtseinsstrukturen. Zu diesem Zweck unterscheidet er fünf Stadien der Bewußtseinsentwicklung bzw. Bewußtseinsmutation: erstens das dem Ursprung nächstgelegene archaische, zweitens das magische, drittens das mythische, viertens das mentale und fünftens das integrale Stadium 24 mit je verschiedenen Zeitformen, wobei das erste, da es die All-Einheit von Mensch und Welt bedeutet, in dieser Hinsicht noch indifferent ist. Der magischen Phase entspricht die vitale Raum-Zeitlosigkeit 25 , der mythischen die Zeithaftigkeit in Form der zyklischen Zeit 26 , der mentalen die verräumlichte, quantifizierbare Zeit mit ihrer Raumbetontheit 27 und der integralen die diaphane Gegenwart, das durchsichtige Gegenwärtigsein 28 bzw. die Zeitfreiheit, das Achronon 29 , das Frei- und Befreitsein von jeder Zeitform, physikalisch die Vierdimensionalität 30 . Zur Abwehr von Fehldeutungen seiner geistes- bzw. bewußtseinsgeschichtlichen Interpretation grenzt sich Gebser sowohl von der historischen wie von der biologistischen Auslegung ab. Weder meint er mit der Aufeinanderfolge der Bewußtseinsstadien oder -strukturen den biologischen Prozeß der Mutation im Sinne der Entwicklungs- oder Evolutionstheorie, der mit zunehmender Spezifikation den Verlust ursprünglicher Möglichkeiten und Eigenschaften mit sich bringt, noch den kulturhistorischen Fortschritt im Sinne einer Höherentwicklung, und auch eine voluntaristische Deutung 23 24 25 26 27 28 29 30
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J. Gebser: Ursprung und Gegenwart, a. a. O., 1. Teil, S. 72. Vgl. a. a. O., S. 70 ff., bes. S. 71. Vgl. a. a. O., S. 234 ff. Vgl. a. a. O., S. 238 ff. Vgl. a. a. O., S. 250 ff. Vgl. a. a. O., S. 171. Vgl. a. a. O., 2. Teil, S. 379 ff., bes. S. 380. Vgl. a. a. O., S. 456 ff.
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wird von ihm ausgeschlossen, derzufolge der Wille des Menschen über die Mutationen bestimmt. 31 »Dieses Mutationsgeschehen, sein In-Erscheinung-Treten ist nicht etwa als bloße Aufeinanderfolge und als Fortschritt oder historisierend als Ablauf aufzufassen, sondern als über und durch die Zeiten und Kulturen ausgeteiltes Sichtbarwerden anlagemäßig vorgegebener Bewußtseinsmöglichkeiten, welche teils mindernd, teils bereichernd, die jeweilige Wirklichkeitserfassung des Menschen bestimmen.« 32
Wie innovativ und weitschauend manche der Ausführungen Gebsers auch sein mögen, seine Untersuchung läßt es an empirisch-wissenschaftlichen Studien und Belegen mangeln. Wegen der Empirieferne ergibt sich oft der Eindruck bloßer Spekulation, insbesondere, was die Abstützung durch die schwer oder nicht überprüfbaren Etymologien betrifft. Außerdem verwendet Gebser eine eigenwillige Terminologie und nicht weniger eigenwillige methodische Konstruktionen, die die Untersuchung nicht selten in die Nähe einer Ideologie rücken. Zwecks Absetzung unserer Untersuchung ist noch eine andere Arbeit zu erwähnen: das vielbeachtete und vieldiskutierte Buch von Hans Blumenberg Lebenszeit und Weltzeit 33 . Obwohl auch Blumenberg, bestens vertraut mit der Phänomenologie und in ständiger kritischer Auseinandersetzung mit Husserl – so z. B. mit dessen Lebensweltbegriff, den er gänzlich anders versteht als Husserl: nicht als Welt der Selbstverständlichkeiten, sondern umgekehrt als Vertreibung aus dem Paradies –, sich prinzipiell der phänomenologischen Methode verpflichtet weiß, unterscheidet sich seine Arbeit von unserer Studie dadurch, daß er historisch-genetisch vorgeht, nicht rekonstruktiv, die simultanen Möglichkeiten der Erkenntnisweisen im Zugang zur Zeit betrachtend. Blumenberg zeigt einen Geschichtsprozeß auf, der die zunehmende Öffnung der Zeitschere zwischen Welt- und Lebenszeit beschreibt, ausgehend von einem prähistorischen Zustand, dessen »Authentizität auf der Deckung von Erwartung und Erfahrung, Lebenszeit und Weltzeit, Generation und Individuation« 34 beruht, zu einem Zustand verknappter und eng gewordener Zeit in der Gegenwart, der dem Menschen die zeitliche Grenze seines Lebens angesichts der unendlichen Weltzeit mit aller Härte vor Au31 32 33 34
Vgl. a. a. O., 1. Teil, S. 70 ff., bes. S. 72 ff. A. a. O., S. 79. H. Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1986. A. a. O., S. 65. A
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gen führt. Leitfaden der Untersuchung ist die Frage, wie sich die historische Menschheit bezüglich der Disproportion von Welt- und Lebenszeit verhalten hat, so in der Antike, in der Aufklärung, in der Neuzeit, wobei aber niemals das Flußmodell der Zeit, das die gängige Zeitinterpretation ausmacht, in Zweifel gezogen und kritisch hinterfragt wird. Im letzten Abschnitt des zweiten Teils 35 wechselt Blumenberg seine Perspektive von der historisch-genetischen zur konstitutiv-genetischen Darstellung und erklärt im Sinne der genetischen Phänomenologie des späten Husserl den Hervorgang der intersubjektiven Weltzeit aus der subjektiven Zeit. Dies geschieht durch Fremdwahrnehmung, durch die Begegnung mit dem Anderen, die ihm unterstellte Gleichzeitigkeit mit einem selbst, woraus die Überzeugung erwächst, zur selben Welt und Zeit zu gehören. Im letzten Teil – »Urstiftung« genannt – scheint Blumenberg beide Methoden seiner Arbeit, die historisch-genetische und die genetisch-konstitutive, zu verbinden, indem er die Entwicklung der idealisierenden, objektivierenden Wissenschaft, die ein Charakterzug unserer abendländischen Geschichte ist, von der Antike bis zur Neuzeit verfolgt und zeigt, wie die starre platonische Wesenheit und Idealität zugunsten eines genetisch-prozessualen Konzepts aufgegeben wird. In der genetischen Entfaltung des wissenschaftlich-logischen Denkens sieht Blumenberg den Verlauf der europäischen Geistesgeschichte gespiegelt. Damit ist klar, daß Blumenbergs und unser Anliegen grundsätzlich divergieren, da in unserer Arbeit die historische Dimension außer Betracht bleibt und nur die Rekonstruktion oder, in Husserlscher Terminologie, die Konstitution der verschiedenen Zugangsweisen zur zeitlichen Wirklichkeit interessiert. Auch dort, wo Übereinstimmung vermutet werden könnte, in der Erklärung des Hervorgangs der höheren wissenschaftlichen Leistungen aus den niederen, besteht eine grundsätzliche Diskrepanz zwischen Blumenbergs Ansatz, der den Hervorgang mit nicht genuin wissenschaftlichen Mitteln aus der Begegnung mit dem Anderen, seiner Gleichzeitigkeit und Reziprozität erklärt, und unserem Versuch, hierfür genuine Wissenschaftskriterien, Topologisierung, Idealisierung und Generalisierung, verantwortlich zu machen.
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Vgl. a. a. O., S. 295–312.
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II. Zeiterleben – relative Dauer
1.
Objektive – subjektive Zeit
In der modernen westlichen Welt und überall dort, wo sich im Zuge der Globalisierung die westliche Kultur ausgebreitet hat, d. h. heute in fast allen Zivilisationen der Erde, wird die Zeit gemessen, und zwar mit Hilfe eines einfachen Instruments, der Uhr, die im Laufe der Jahrtausende und der in ihnen erfolgten Entwicklung unterschiedliche Gestalten angenommen hat. War es in der Antike die Sonnenuhr, deren wandernder Schatten, der durch das Auftreffen des Sonnenlichts auf einen Stab erzeugt wurde, den Sonnenstand und damit die jeweilige Stunde anzeigte, oder die Sand- und Wasseruhr, bei der ein bestimmtes Quantum des betreffenden Materials innerhalb einer gewissen Zeit durch ein Röhrchen abfloß bis zur Entleerung des Gefäßes, so wurden diese seit der Entwicklung der Räderund Pendeluhren im Mittelalter, besonders nach 1300, durch die letzteren ersetzt. Turmuhren, nicht selten hochkomplexe astronomische Uhren, die den Stundenstand mit astronomischen Konstellationen, Sternbildern und dem Tierkreis sowie einem Reigen aus König, Edelleuten und Handwerkern verbanden und damit mikrokosmisch den Makrokosmos widerspiegelten, zierten Kathedralen und Münster und zeigten, für jedermann sichtbar, die Uhrzeit an. Öffentliche Plätze und Gebäude wie Rathäuser wurden mit Uhren versehen. Heute ist jeder Bahnhof, Flughafen, jede Eingangshalle von Bürohäusern und Hotels mit einer Uhr ausgestattet oder mit einer Vielzahl solcher, die die Weltzeiten von New York bis Tokio anzeigen. Aus den Schlössern drang seit dem 16. Jahrhundert die Uhr in die Bürgerhäuser ein, meist in Form der Wanduhr. Heute trägt jeder von uns die Uhr als Armbanduhr am Handgelenk, manche der älteren Generation noch die erstmals um 1510 von Peter Henlein hergestellte Taschenuhr in der Jackett- oder Hosentasche. Waren es bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts die manuell aufziehbaren Räderuhren, die im gleichmäßigen Takt Sekunden, Minuten und Stunden anzeigten, so sind es heute die auf Batterie laufenden Uhren oder elektronischen A
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Zeiterleben – relative Dauer
Zeitanzeiger. An die Stelle der durch den Pendel gesteuerten gewöhnlichen Uhr ist die weit genauere, durch einen Schwingquarz überwachte Quarzuhr getreten, deren Genauigkeit mit einer Abweichung von nur 0,001 bis 0,002 Sekunden innerhalb vieler Monate sich der Frequenzkonstanz des Quarzes verdankt. Seit 1971 gilt die sogenannte Atomzeit, die die Sekunden nach den Schwingungen des Cäsium-Atoms bemißt, wobei einer Sekunde 9 192 631 770 Schwingungen entsprechen. Unsere Zeitmessung bedient sich des kulturhistorisch auf die Babylonier zurückgehenden Hexagesimalsystems, das den Tag in 24 Stunden (2 12), die Stunde in 60 Minuten, die Minute in 60 Sekunden einteilt und diese Einteilung auf dem Zifferblatt darstellt. Die Tage ihrerseits werden kalendarisch auf der Basis planetarischer Konstellationen, und zwar denen von Erde, Mond und Sonne, geordnet zu Monaten – dies entsprechend dem Mondumlauf –, die Monate zum Jahr – dies entsprechend dem Sonnenumlauf bzw. dem Erdumlauf um die Sonne. 1 Die interne Gliederung allerdings ist komplizierter, da sich die planetarischen Umläufe nicht decken, d. h. Mond- und Sonnenstand nach Ablauf eines Jahres nicht identisch sind. Nach dem seit 1582 geltenden Gregorianischen Kalender umfaßt das Jahr 52 Wochen, elf Monate von 30 und 31 Tagen und einen Monat (Februar) von 28 Tagen. Alle vier Jahre wird ein Schaltjahr mit zusätzlich einem Tag eingefügt, um die Differenz auszugleichen. Die astronomisch fundierte Uhr- bzw. Weltzeit mit ihren exakten und präzisen Einteilungen, ihrer Vertaktung der Zeit im Rhythmus einer Maschine dient uns zur Orientierung im Leben, zum geregelten Umgang mit unseren Mitmenschen und zur termingerechten Erfüllung von Aufgaben wie zur Abwicklung von Geschäften. Wenden wir unseren Blick von der äußeren Uhr ab und beobachten uns selbst, so entdecken wir in uns ganz andersartige Zeitordnungen als den gleichförmigen, monotonen Takt des Pendels oder der Schwingungen des Cäsium-Atoms. Wir entdecken in uns Erlebnisse der Zeitdehnung und Zeitkürzung, die bis zum Zeitstillstand, zur Aufhebung der Zeit, gehen können. Wir alle kennen die Situation, daß ein monotoner, grauer Alltag, Ersteres ist eine phänomenologische Wiedergabe, letzteres eine naturwissenschaftliche.
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Objektive – subjektive Zeit
der wenig Abwechslung bietet, keine interessanten, schon gar nicht markante Ereignisse aufweist und kaum vom Vortag unterschieden ist, sich dehnt, hinzieht, länger, weil langweiliger erscheint, als er tatsächlich gemäß der objektiven Uhrzeit ist. Dagegen vergeht ein erlebnisreicher, spannungsgeladener Tag wie im Fluge. Noch deutlicher läßt sich dies an einem langatmigen Vortrag konstatieren. Die Minuten dehnen sich zu Stunden, die Stunden zur Ewigkeit. Man verflucht innerlich den Redner, rückt auf seinem Stuhl hin und her, möchte am liebsten aufspringen, aufschreien und davonlaufen, oder man hat den Wunsch, die Zeit totzuschlagen, weil sie nicht vorwärtsgehen will, weil sie stagniert. Ein anregendes, unterhaltsames Gespräch hingegen, das einen fasziniert und mitreißt, läßt die Zeit schrumpfen, kurzweilig werden und wie im Fluge vergehen. Man staunt, daß die Zeit schon herum ist, man hätte gern noch länger diskutiert; man hat gar nicht bemerkt, daß schon eine Stunde und zwei verflogen sind. In Angstzuständen kann es vorkommen, daß man physisch wie psychisch erstarrt und mit einem der Zeitfluß. Die Zeit steht still, bewegt sich nicht, zeigt keinen Verlauf mehr; sie ist erstarrt. In Hochstimmung, d. h. bei Höhenflügen des Gefühls, in denen man die ganze Welt umarmen möchte, ist mit der Allpräsenz der Welt auch die Allpräsenz der Zeit gegeben. Auch hier liegt kein Verlauf mehr vor, sondern nur noch stehende Allgegenwart. Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Objektive und subjektive Zeit, gleichmäßiger, monotoner Takt der äußeren Uhr und Variabilität und Flexibilität des inneren Zeiterlebens differieren bis hin zur Zeitaufgabe. Die Differenz ist seit Jahrtausenden literarisch beschrieben und mythologisch gedeutet worden. Dostojewskij ist mehrfach in seinen Romanen Der Idiot (1868/69) und Die Dämonen (1871/72) 2 darauf eingegangen, und zwar im Kontext von Grenzsituationen wie denen des bevorstehenden Todes oder des Vorstadiums epileptischer Anfälle, der sogenannten Aura. Während eines solchen Anfalls des Fürsten Lew Nikolajewitsch Myschkin erwähnt er im erstgenannten Werk die Allah-Legende, nach der ein Engel den Propheten Mohammed aus seinem Zelt zu Allah entführt, ihm alle Himmel und Höllen F. M. Dostojewskij: Der Idiot, vollständige Ausgabe, aus dem Russischen übertragen von A. Luther, München 1976, 5. Aufl. 1981, S. 80 ff. (1. Teil, Kap. 5), vgl. auch S. 296 f. (2. Teil, Kap. 5); ders.: Die Dämonen, aus dem Russischen übertragen von M. Kegel, München 1977, 4. Aufl. 1981, S. 712 f. (3. Teil, Kap. 5, Nr. 5).
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Zeiterleben – relative Dauer
zeigt, ihn in 90000 lange Gespräche mit Allah verwickelt. Als der Engel ihn in das Zelt zurückbringt, ist das Wasser des beim Weggang umgestoßenen Kruges noch nicht ausgelaufen. Wegen der Plastizität der Schilderung der veränderten Zeiterfahrung während des epileptischen Anfalls sei die Stelle wörtlich wiedergegeben: »Er dachte daran, daß es in seinem epileptischen Zustand eine Pause unmittelbar vor dem Anfall gab (wenn der Anfall ihn im Wachen überraschte), wo plötzlich, mitten in allem Kummer, aller seelischen Finsternis und Niedergeschlagenheit, sein Hirn für Momente aufloderte und alle seine Lebenskräfte in ungestümem Drang mit einemmal angespannt wurden. Das Lebensgefühl, das Selbstbewußtsein wurde in diesen blitzartig auftretenden Momenten beinahe verzehnfacht. Geist und Herz wurden von einem ungewöhnlichen Licht erhellt, alle seine Erregungen, alle Zweifel, alle Unruhe wurden mit einemmal besänftigt, lösten sich in eine heitere, von klarer, harmonischer Freude und Hoffnung erfüllte Ruhe auf. Aber diese Momente, dieses Aufblitzen war nur eine Vorahnung jener endgültigen Sekunde (es war nie mehr als eine Sekunde), mit welcher der eigentliche Anfall begann. Diese Sekunde war allerdings unerträglich. Wenn er später, schon in normalem Zustande, über diesen Augenblick nachdachte, sagte er oft zu sich selbst: dieses Aufblitzen und Aufflammen eines höheren Selbstempfindens und Selbstbewußtseins, also auch eines ›höheren Seins‹ sei nichts anderes als Krankheit, Störung des normalen Zustandes; wenn dem aber so sei, dann sei es auch durchaus kein höheres Dasein, sondern müsse im Gegenteil zum niedersten gezählt werden. Und doch kam er zuletzt zu der höchst paradoxen Schlußfolgerung: Was tut es denn, daß es eine Krankheit ist? Was kümmert es mich, daß diese Spannung unnormal ist, wenn das Resultat selbst, wenn der Augenblick des Empfindens, schon in gesundem Zustande betrachtet, sich als höchste Harmonie und Schönheit erweist, wenn er eine bisher unerhörte und ungeahnte Empfindung von Fülle, Maß, Versöhnung und ekstatischer anbetender Verschmelzung mit der höchsten Synthese des Lebens bietet? Diese unklaren Ausdrücke schienen ihm selbst sehr verständlich, wenn auch noch viel zu schwach. Daran aber, daß es wirklich ›Schönheit und Gebet‹, wirklich die ›höchste Synthese des Lebens‹ war, konnte er nicht zweifeln, konnte er auch keinerlei Zweifel zulassen. Es erschienen ihm doch keine Visionen in diesem Augenblick, wie nach dem Genuß von Haschisch, Opium oder Wein, die den Verstand herabsetzen und die Seele verunstalten, die unnormal und unwirklich sind? Darüber konnte er nach dem Schwinden des krankhaften Zustandes ganz nüchtern urteilen. Diese Momente waren nur eine ungewöhnliche Anspannung des Selbstbewußtseins – wenn man diesen Zustand mit einem Wort hätte bezeichnen können –, eines im höchsten Grade unmittelbaren Selbstbewußtseins und gleichzeitig auch Selbstempfindens. Wenn er in jener Sekunde, das heißt im letzten bewußten Augenblick vor dem Anfall noch Zeit fand, sich selbst klar und bewußt zu sagen: ›Ja, für diesen Moment kann man sein ganzes Leben hingeben‹ – so war
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gewiß dieser Moment an sich auch ein ganzes Leben wert. Übrigens stand er für die dialektische Partie seiner Schlußfolgerung nicht ein; Stumpfsinn, seelische Verfinsterung, Idiotie standen als grelle Folgeerscheinung dieser ›höchsten Augenblicke‹ vor ihm. Ernsthaft würde er darüber auch selbstverständlich nicht gestritten haben. In der Schlußfolgerung, das heißt in seiner Bewertung dieses Augenblicks, steckte unzweifelhaft ein Fehler, aber die Realität der Empfindung brachte ihn doch einigermaßen in Verlegenheit. Was sollte man in der Tat mit der Wirklichkeit anfangen? Es war doch wirklich so, er hatte doch wirklich Zeit, sich in dieser nämlichen Sekunde zu sagen, daß diese Sekunde angesichts des grenzenlosen Glückes, das er mit seinem ganzen Wesen empfand, am Ende ein volles Leben wert sein könnte. ›In diesem Moment‹, hatte er einmal zu Rogoschin in Moskau bei einer ihrer Zusammenkünfte gesagt, ›in diesem Moment wird mir das ungewöhnliche Wort, es werde keine Zeit mehr geben, gewissermaßen verständlich. Wahrscheinlich‹, hatte er lächelnd hinzugefügt, ›ist das die nämliche Sekunde, innerhalb deren der umgestürzte Wasserkrug des Epileptikers Mohammed nicht auslief, während dieser doch in der einen Sekunde alle Wohnungen Allahs zu beschauen vermochte.‹« 3
Auch die Legende vom Perser-Khan gehört hierher, der in dem Moment, in dem er seinen Kopf in die Waschschüssel taucht, unendlich lange szenische Visionen erlebt 4 , ebenso die biblische Erzählung von Josua, auf dessen Befehl während der Schlacht bei Gibeon die Sonne stillstand: »Sonne, stehe still zu Gibeon, und Mond, im Tal Ajalon. Da stand die Sonne und der Mond still, bis daß sich das Volk an seinen Feinden rächte.« 5
Bei einem unerhörten Ereignis sagen wir auch heute noch, daß die Welt ihren Atem anhält, die Zeit stillsteht. Neben den beschriebenen Zeiterlebnissen der Dehnung und Raffung gibt es die Déjà-vu-Erlebnisse 6 , in denen vor dem inneren Auge ständig dieselben Vorgänge und Bilder aufsteigen, sich reduplizieren und beschleunigen, des weiteren gibt es die Lebensbilderschau, in der in einem Moment das gesamte Leben vor einem steht
F. M. Dostojewskij: Der Idiot, a. a. O., S. 296 f. Vgl. A. Hoche: Langeweile, in: Psychologische Forschung, Bd. 3 (1923), S. 258–271, bes. S. 261. 5 Josua 10, 12 f. 6 Neueste psychologische und medizinische Untersuchungen zu Déjà-vu-Erlebnissen gibt A. Brown von der Southern Methodist University in Dallas in dem amerikanischen Wissenschaftsmagazin New Scientist, Bd. 19 (2005). 3 4
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und Revue passiert, und vieles andere mehr. So verschiedenartig die subjektiven Zeiterlebnisse sind, aus ihnen müssen die verschiedenen Zeittypen hervorgehen, die sich in der Realität faktisch finden und in den verschiedenen Kulturen niederschlagen. In ihnen müssen letztlich alle fundiert sein und sich aus ihnen herleiten lassen, auch die gleichförmige objektive Zeit, da auch sie eine Erfahrungsweise des Menschen ist. Bei der Exposition der subjektiven Zeiterlebnisse sind eine Reihe von Faktoren zu beachten, von denen sie abhängen: 1. die persönliche Konstitution, 2. die momentane Disposition, 3. die kulturspezifische Situation, 4. die inhaltliche Bedeutung des Erlebten, 5. die situative Bedeutung für den Erlebenden. Mit der persönlichen Konstitution ist die jeweilige Veranlagung eines Menschen, seine grundsätzliche Einstellung und sein Verhalten zur Zeit gemeint. Es gibt Menschen, die ihren Arbeitstag, ja ihr gesamtes Leben exakt nach der Uhr einrichten, peinlich genau jede Verabredung einhalten, sich nicht die kleinste Verspätung zuschulden kommen lassen und sich irritiert und beunruhigt fühlen, wenn nicht alles exakt nach der Uhr abläuft. Und es gibt andere, phlegmatische, die sich um Verabredungen und die Dauer von Vorgängen nicht kümmern, denen es nicht darauf ankommt, ob sie zehn oder zwanzig Minuten später zu einem Termin erscheinen, die nicht nur notorisch unpünktlich sind, sondern auch in den Tag hinein leben. Während bei den ersteren die innere, subjektive Uhr auf die äußere, objektive abgestimmt zu sein scheint, sei es von Natur oder durch Erziehung und Übung oder durch Gewöhnung – so müssen Raumfahrer auf die Minute genau einschlafen und wieder aufwachen und auf Kommandos reagieren können –, besteht bei den anderen nicht nur eine Differenz zwischen innerer und äußerer Uhr, diese Differenz interessiert schlichtweg nicht. Mit der augenblicklichen Disposition ist die jeweilige momentane Gemütsverfassung, die Seelenlage des Menschen gemeint: Freude oder Trauer, Hochstimmung oder Niedergeschlagenheit, Angst oder Hoffnung, die allesamt von eminentem Einfluß auf das Zeiterleben sind. Hochstimmung wie auch Hoffnung beflügeln Vorgänge, so daß Gedanken und Handlungen beschleunigt werden, Arbeiten schneller von der Hand gehen; gedrückte Stimmung, Niedergeschlagenheit, Verzweiflung lassen alles langsamer und schwerfälliger verlaufen: 30
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Gedanken fließen zähflüssiger, Entscheidungen ziehen sich hin, Pläne, Entwürfe werden unterlassen, nichts scheint sich zu bewegen, alles zu stagnieren. Doch nicht nur momentane Gemütslagen und Befindlichkeiten spielen eine Rolle für das Zeitempfinden, sondern auch Jugend und Alter. Der weltoffenen, zukunftsorientierten, erlebnisfreudigen und schnellebigen Jugend, die den Hauptakzent auf die Zukunft und deren Planung setzt, die gleichwohl intensiv und nachhaltig die Gegenwart erlebt, scheint die Zeit wie im Fluge zu vergehen, obwohl ihr die gelebten Jahre wegen der Intensität lang vorkommen. Im Alter hingegen, wenn der Mensch weniger aufnahmefähig und weniger aufmerksam ist und weitgehend von der Erinnerung lebt, verflachen und dehnen sich Gegenwart und Vergangenheit aufgrund der geringeren Erlebnisfähigkeit, während die Jahre wegen der Monotonie nur so dahineilen und ununterscheidbar werden. Was die kulturellen Bedingungen betrifft, so unterscheiden sich Völker gravierend in ihrem Zeiterleben und -verhalten. Nordeuropäer und Nordamerikaner pflegen genauer zu sein und ihren Arbeitstag wie auch ihre Freizeit exakter zu planen als südliche Völker, z. B. als die Mittelmeervölker, die wie der gesamte ibero-amerikanische Raum recht leger mit der Zeit umgehen. Von den Spaniern ist das mañana bekannt, das ›morgen‹ oder ›übermorgen‹ oder vielleicht auch erst ›nächste Woche‹, ›nächsten Monat‹ oder ›überhaupt nicht‹ bedeutet. Zu einer Verabredung oder einem Besuch erscheint man in Südamerika zwanglos zwei bis drei Stunden später und verläßt die Gesellschaft auch zwischendurch für einen Kinobesuch, ohne daß irgend jemand Anstoß nähme. Ähnlich verhält es sich in Südafrika. ›Gleich kommen‹ heißt, in den nächsten 30 Minuten kommen oder in den nächsten drei Monaten. Auch im letzteren Fall bleibt man noch im Rahmen. Für die negroide Bevölkerung Afrikas ist der Unterschied von Arbeits- und Freizeit bedeutsam, in deren letzterer die Früchte der Arbeit oder der Lohn genossen werden, und zwar solange, bis sie aufgebraucht sind. Wer könnte einen Afrikaner dazu bringen, sein Leben lang nur zu arbeiten, ohne zu genießen wie die meisten arbeitswütigen und -süchtigen Europäer, denen die Arbeit oft zur Droge wird, was seinen Ausdruck in dem Neologismus workaholic findet. Pünktlichkeit und Genauigkeit sind teils Erziehungssache, wie das Beispiel Chinas zeigt, indem ein ganzes Volk im Umbruch vom kommunistisch-maoistischen System zur westlich orientierten Arbeits- und Konsumgesellschaft sich änderte und mit der neuen A
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Arbeitsform auch deren Pünktlichkeit, Hektik und Streß übernahm, teils widersprechen sie, wie im Falle Schwarzafrikas, derart dem Lebensgefühl und der Mentalität, der Auffassung von Arbeit, Glück und Lebenserfüllung, daß Unpünktlichkeit und Ungenauigkeit unausrottbar erscheinen. Differenzen in der Zeitauffassung und im Zeitverhalten lassen sich auch kulturhistorisch zwischen der vergangenen Epoche, der ›guten alten Zeit‹, in der alles gemächlich zuging, und der schnellebigen, sich überschlagenden Gegenwart feststellen. Hatten die Menschen früherer Epochen keine Uhren, dafür aber Zeit, so haben die modernen Menschen zwar Uhren, aber dafür keine Zeit. Zeitauffassungen sind ein kulturspezifisches Produkt. Entscheidend für das Zeitempfinden ist darüber hinaus der Inhalt des Erlebten, seine Relevanz oder Irrelevanz für das Subjekt, das Interesse oder Desinteresse, das das Subjekt ihm entgegenbringt. So kann ein Inhalt für das Subjekt wichtig, anziehend, faszinierend und insofern kurzweilig sein oder unwichtig, gleichgültig, abstoßend und insofern langweilig. Bei Mangel an interessanten Ereignissen resultiert oft Langeweile, bei Fülle, Reichhaltigkeit und Wichtigkeit Kurzweil. 7 Es ist letztlich das Subjekt, seine Interessens- und Wunschhaltung, die über die Zeitauffassung bestimmen. Und schließlich darf auch die Situation und ihre Beurteilung durch das Subjekt nicht vergessen werden. Handelt es sich um eine freudige, hoffnungsfrohe oder um eine bange Erwartung? Dem ungeduldigen Liebhaber, der sehnsüchtig seine Freundin erwartet, die sich etwas verspätet, dehnen sich die Minuten zu Stunden, ja zu einer Ewigkeit, während der Sprengmeister, der durch einen Unfall in eine Grube fiel und nun die Zündschnur abbrennen sieht, den Tod vor Augen habend, die Zeit davonrasen sieht. Variabilität, Flexibilität, Modifikation, ebenso das paradoxe Umkippen des subjektiven Zeiterlebens sind beträchtlich. Nicht selten kommt es vor, daß dieselbe Situation bzw. derselbe Inhalt von verschiedenen Personen, gelegentlich sogar von derselben Person bei unterschiedlicher Gewichtung und Akzentuierung unterschiedlich erlebt wird. So berichtet Friedrich Panse von Situationen während des Krieges, daß die Zeit zwischen Fliegeralarm und Bombeneinschlag bei einigen Betroffenen sich qualvoll dehnte, bei anderen
Allerdings ist auch der umgekehrte Fall möglich, wie die späteren Beispiele zeigen werden, oder die unterschiedliche Interpretation ein und derselben Situation.
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unverhältnismäßig verkürzte. 8 Ich selbst entsinne mich an einen vierzehntägigen Winterurlaub in den Bergen, dessen Tage trotz Tapetenwechsels und vielfältiger Unternehmungen ziemlich gleichförmig abliefen: gegen acht Uhr Aufstehen, langes Frühstücken, Schneewanderung oder Skilauf, gelegentlich Sonnenbad bis zur Dunkelheit, Kaffeestunde, Abendessen, Glühwein an der Bar oder Tanz. Nach vierzehn Tagen hatte ich das Gefühl: Es waren lange vierzehn Tage. Doch was heißt das genau? Eine Verlängerung um drei bis vier Tage hätte sicherlich wegen der Routine und Monotonie des Tagesablaufs den Eindruck der Langeweile erzeugt und das Bedürfnis nach gravierender Veränderung und Innovation, nach prägnanten Einschnitten geweckt. Mit dem bisherigen gleichförmigen Wechsel war es genug; jetzt mußte etwas völlig Neues kommen. Selbst ein ständig neues Jetzt kann sich abschleifen und langweilig werden. Retrospektiv in der Erinnerung jedoch waren die Tage voll, reichhaltig, gefüllt mit neuen Eindrücken und Abwechslung und erzeugten gerade wegen der Fülle und Intensität auch wieder den Eindruck von Kurzweiligkeit. Das Gefühl der Monotonie stellt sich beim modernen, schnellebigen, durch vielfältige Abwechslung geprägten Menschen viel schneller ein als beim behäbig lebenden Menschen der guten alten Zeit. Die Zeiterlebnisse, die jeder von uns aus dem Normalleben kennt, finden sich gesteigert in abnormen Situationen wie Grenzsituationen, Krankheit und Tod, wieder, vor allem in psychopathologischen Situationen wie Manie, Euphorie, Depression, Angst, Schizophrenie, ebenso in Rauschzuständen und bei Vergiftungen sowie in experimentellen Versuchen mit Meskalin, einem Kakteengift, dem Nachtschattenstoff Skopolamin, dem Pilzgift Psilocybin oder den Drogen Hasch, Opium, LSD usw. Nicht zufällig sind diese Gegenstand nicht nur der Sucht, sondern auch der wissenschaftlichen Forschung, da sie sich wegen ihrer Überzeichnung besonders qualifizieren, menschliche Dispositionen und Erfahrungen zu entdecken und herauszuarbeiten, die auch dem Gesunden im Normalzustand zukommen. Während die wissenschaftliche Forschung gemäß ihrem auf Exaktheit, Präzision und Quantifizierbarkeit zielenden Anliegen das Verhältnis der subjektiven Zeiterlebnisse zur objektiv meßbaren Zeit Vgl. F. Panse: Veränderungen des Zeiterlebens in der Angst, in: ders.: Angst und Schreck, Stuttgart 1952, S. 121–131, bes. S. 125 und 129.
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untersucht, widmet sich die phänomenologische Forschung der Deskription und Analyse der subjektiven Zeiterlebnisse, ohne den objektiven Zeitbezug zu berücksichtigen. Für die wissenschaftliche Forschung ist die Differenz zwischen subjektiver und objektiver Zeit von Relevanz, wobei die objektive den Maßstab bildet. So hat man Experimente mit Personen angestellt, die sich freiwillig in eine Höhle oder unterirdische Isolationseinrichtung begaben ohne jeden Kontakt zur Außenwelt und ohne jede Konstatierungsmöglichkeit des Tag- und Nachtwechsels. Ziel des Experiments war die Isolierung der inneren Uhr des Menschen. Dabei zeigte sich, daß die meisten Versuchspersonen bei objektiv-zeitlicher Abschaltung, in der nur die eigene innere Uhr den Wach- und Schlafrhythmus bestimmte, extrem lange Tage verlebten. Bei den meisten von ihnen dauerte ein Tag nicht 24, sondern 25 Stunden, bei manchen sogar bis zu 50, ohne daß die Versuchspersonen den mehr oder weniger großen Abstand zum 24-Stunden-Rhythmus bemerkten. Ein junger Mann, der in der selbstgewählten Isolation seines unterirdischen, fensterlosen und fernseherlosen Appartements seine Dissertation innerhalb von acht Wochen schreiben wollte und sich nur bemerkbar machen sollte, wenn die Einsamkeit unerträglich für ihn würde, stellte beim Anklopfen des Versuchsleiters staunend fest, daß nach seiner eigenen Zählung erst sechs der acht Wochen vergangen seien. Die innere, zirkadiane Uhr beträgt beim Menschen 24.5 bis 25 Stunden; bei Pflanzen und Tieren liegt sie unter 24 Stunden. Sie dürfte genetisch bedingt, zumindest mitbedingt sein und sich im Laufe von Jahrtausenden oder Jahrmillionen der Evolution und Anpassung an die Umwelt gebildet haben. Zudem wechselt sie von Individuum zu Individuum. Wir kennen Frühaufsteher, sogenannte Lerchen, wie auch Spätaufsteher, Morgenmuffel, die sich im Gegenzug als Nachteulen erweisen. Eilen erstere dem Tag voraus, so hinken letztere ihm hinterher. Wachen erstere werktags schon vor dem Weckerläuten auf und schlafen auch an Wochenenden nicht länger, werden allerdings abends früher müde, so können letztere, selbst wenn sie werktags um sechs Uhr aufstehen, an Wochenenden mehrere Stunden länger schlafen. Das Wissen um die verschiedenen Chronotypen könnte bei der Regelung der Arbeitszeit in Betrieben von Nutzen sein, etwa bei Nachtschichten, Wochenendarbeiten u. ä. Noch fehlen auf diesem Gebiet größere epidemiologische Studien, die ein genaueres Bild von der Verteilung der Chronotypen in der Bevölkerung erlauben; andernfalls könnte zu34
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mindest in Großbetrieben Schichtarbeit absolviert und auch während der Nachtstunden gearbeitet werden entsprechend dem jeweiligen Chronotyp, ohne daß die Arbeitnehmer ständig gegen ihre innere biologische Uhr verstoßen. Internationale Studien existieren nur für Schulkinder und dokumentieren, daß schon eine halbstündige Verschiebung des Schulbeginns bei vielen Kindern zu weniger Verspätungen, zur deutlichen Leistungssteigerung und zu einer geringeren Krankheitsanfälligkeit führt. Bezüglich des Menschen sind mehr als 150 Rhythmen bekannt, wie Pulsschlag, Atmung, Blutdruck, Körpertemperatur, Verdauung und Ausscheidung, Rhythmen von unterschiedlicher Dauer, von extremer Kürze im molekularen Bereich, die nur winzige Bruchteile von Sekunden in Anspruch nehmen, von größeren Zeiträumen, was Lebensabschnitte betrifft. Sie sind biologisch fundiert und stehen mit dem subjektiven Zeitempfinden in Wechselbeziehung. Ein schneller, rasender Pulsschlag, der Angst oder Hektik anzeigt, verkürzt die Zeitempfindung, ein langsamer, regelmäßiger dehnt sie, aber auch umgekehrt hat die subjektive Zeitdehnung wie in der mystischen Erfahrung Rückwirkungen auf den Menschen, auf Beruhigung und Verlangsamung des Pulsschlags. Alle diese unterschiedlichen Rhythmen bilden kein Chaos, sondern ein harmonisches Miteinander, dessen Regelung einem zentralen Schrittmacher, einem reiskorngroßen, paarigen Nukleus über der Sehnervenkreuzung zugeschrieben wird. Die Synchronisation der inneren Uhr mit den externen weltlichen Zeitgebern wie dem Wechsel von Hell und Dunkel, dem Wechsel der Temperatur, der Nährstoffe usw. muß täglich neu hergestellt werden, wobei eine gewisse Elastizität, eine Pufferzone, besteht. Sie ermöglicht dem Menschen Reisen über Zeitzonen hinweg, selbst wenn die Umstellung des körpereigenen Zeitprogramms eine längere Frist in Anspruch nimmt, ebenso ermöglicht sie ihm Schichtarbeit, gegebenenfalls ein Leben gegen die innere Uhr, auch wenn Langzeitfolgen nicht auszuschließen sind. Denn da die Konzentrationsfähigkeit nachts am geringsten ist, der Magen nicht auf Verdauung, die Niere nicht auf Ausscheidung, die Netzhaut nicht auf normale Lichtempfindlichkeit eingestellt ist, muß der Nachtschichtarbeiter beständig gegen seine innere Uhr ankämpfen. Auch helle oder grelle Arbeitsbeleuchtung reicht nicht an das Sonnenlicht heran und schädigt zudem die nachts besonders lichtempfindliche Netzhaut. Viele Unfälle unserer Nonstop-Gesellschaft ereignen sich während der Nachtzeit aus KonzentrationsA
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mangel. So hat der amerikanische Psychologe Martin Moore-Ede in seinem Buch Die Nonstop-Gesellschaft 9 nachgewiesen, daß die Mißachtung des Biorhythmus und der durch ihn mitbedingen subjektiven Zeiterfahrung sowohl in der Technologieentwicklung wie in der Arbeitswelt für etliche der spektakulären Großunfälle verantwortlich ist. Die Atomkatastrophe von Harrisburg und Tschernobyl, die Giftgaskatastrophe von Bhopal und die Kollision des Öltankers Exxon Valdez, alle diese Unfälle geschahen mitten in der Nacht und gehen auf das Konto von Übermüdungserscheinungen der Verantwortlichen. Im Gegensatz zur wissenschaftlichen Betrachtung, deren Gegenstand die objektive Zeit oder der Vergleich von subjektiver und objektiver Zeit ist, kümmert sich die phänomenologische Untersuchung zunächst gar nicht um die objektive Zeit, und zwar aus der Einsicht heraus, daß die objektive, mathematisch quantifizierbare Zeit, die nicht ohne mentale Operationen gedacht werden kann, letztlich ihr Fundament im subjektiven Zeiterleben haben muß. Ereignisse in der Welt wären nicht objektiv zeitlich zu ordnen, wenn sie nicht einen Bezug zur subjektiven menschlichen Zeiterfahrung hätten. Da es in dieser Studie um die phänomenologische Beschreibung und Analyse der Zeiterfahrung geht, ist mit der subjektiven Zeit zu beginnen. Die Zeiterlebnisse sind untereinander zu vergleichen und nach ihrer internen Organisation zu bestimmen.
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Der Blick nach innen, weg von der äußeren Uhr, hat gezeigt, daß wir in unserem Innenleben eine ganz andersartige Zeit registrieren, als es die angeblich natürliche, tatsächlich aber kulturell tief eingeschliffene gleichförmig verlaufende, quantifizierbare Zeit ist. Wir entdecken hier ein Zeiterleben, das weder hinsichtlich des Erlebten noch des Erlebnisses das geringste mit der unendlichen, homogenen, kontinuierlichen Uhrzeit zu tun hat. Die gelebte, erlebte, gestimmte, behaviorale Zeit, d. h. die Zeit, mit der wir lebensweltlich umgeM. Moore-Ede: Die Nonstop-Gesellschaft. Risikofaktoren und Grenzen der menschlichen Leistungsfähigkeit in der 24-Stunden-Welt, München 1993, S. 20. Vgl. F. Reheis: Die Kreativität der Langsamkeit. Neuer Wohlstand durch Entschleunigung, 2., überarbeitete und ergänzte Aufl. Darmstadt 1998, S. 90.
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hen, ist die Arbeitszeit oder die Ruhezeit (Ferien, Auszeit), die Zeit der Anspannung und der Entspannung, die Zeit des Vergnügens, des Feierns, der Feste, die Zeit der Einkehr, der Stille, der Andacht, der Trauer, des Todes, die Tages- und die Nachtzeit mit Morgen-, Mittag- und Abendstunde, die Jahreszeit mit Frühling, Sommer, Herbst und Winter, die Zeit des Pflanzens, Säens, Reifens, Erntens, die Zeit der Jagd … Für jeden Anlaß, für jede Begebenheit, für jedes Ereignis und für jede Dauer gibt es eine eigene, spezifische Zeit. Sie ist abhängig vom jeweiligen Inhalt; sie ist voll-konkret, eine qualitative, nicht eine quantitative Zeit; sie ist keine durchgängig einheitliche Zeit, sondern eine vielgestaltige. Wir haben es nicht mit der Einheit der Zeit, sondern mit einer Vielheit unterschiedlicher Zeiterfahrungen zu tun. Die internen Unterschiede von Zeiterlebnissen werden deutlich, wenn man sich eine Morgen- und eine Abendstunde im Gebirge vorstellt. Mögen sie objektiv auch gleich lang sein, subjektiv, qualitativ werden sie unterschiedlich erfahren. Der erwachende Morgen, wenn der Tau noch auf Blättern und Blüten liegt, die letzten Nebelschwaden vom Tal heraufsteigen, die ersten Sonnenstrahlen den Dunstschleier durchbrechen, die Vogelstimmen erwachen, wird anders erlebt als der sinkende Abend, wenn der Tag zur Neige geht, der laute Lärm sich legt, die Geräusche verstummen, Dämmerung sich über Tal und Berge breitet. Goethe hat diese Abendstimmung in den kurzen Versen prägnant zum Ausdruck gebracht: »Über allen Gipfeln Ist Ruh, In allen Wipfeln Spürest du Kaum einen Hauch; Die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur, balde Ruhest du auch.« 10
Nicht zufällig lautet die Überschrift des Gedichts Ein Gleichnis; denn zum Erlebnisgehalt tragen Räume, Plätze, Gegenden, Farben und Gestalten, Töne und Geräusche ebenso bei wie die zeitlichen Bestimmungen. Vorgänge wie Abschied und Trennung, Wiedersehen und Vereinigung sind symbolgeladen. Alle zusammen bilden eine atmoJ. W. Goethe: Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 1, Hamburg 1948, 5. Aufl. 1960, S. 142.
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sphärische Einheit, so daß Tageszeiten wie der erwachende Morgen und der sinkende Tag stellvertretend für erwachendes und verlöschendes Leben stehen können. Im vorangehenden Gedicht ist es der sinkende Abend, der zugleich den nahenden Tod ankündigt. In anderen Fällen deuten die Jahreszeiten Frühling, Sommer, Herbst und Winter auf erwachendes, blühendes, gereiftes Leben und den Tod, auf Kindheit, Jugend, Erwachsenen- und Greisenalter hin. Was hier als Zeit erfahren und empfunden wird, läßt sich nicht adäquat erfassen mit der gewöhnlichen Zeitvorstellung eines Worin, das wie Newtons zeitliche Weltschachtel alle Vorgänge, Ereignisse und Dauern aufnimmt, mithin ein receptaculum rerum darstellt. Was hier in unmittelbarer, leibhaftiger Präsenz begegnet, ist Atmosphärisches, ist gestimmtes, getöntes Fluidum, Um- und Mithaftes, das den Menschen angeht, anspricht, sich ihm mitteilt, nicht mechanisch über Druck und Stoß, sondern über ein affektives Betroffenund Ergriffensein. Der Mensch in seiner Ganzheit als physisch-psychisch-geistiges Wesen mit allen seinen Sinnen und Gefühlen, in seiner Gesamtbefindlichkeit ist betroffen von der Situation, die ihn anzieht, mitreißt oder abstößt und zurückweist, die heiter oder traurig, euphorisch oder depressiv, kurz- oder langweilig ist. Die Zeit, die in diesen Erlebnissen begegnet, ist begrifflich nur schwer zu fassen, da Erlebnisweisen, Gefühle, Stimmungen, Befindlichkeiten angesprochen sind, die sich im Unterschied zum verstandesmäßig Erfaßbaren nur widerstrebend der Begriffssprache fügen. Zur Beschreibung lassen sich nur zwei Wege denken: erstens die via negativa bzw. die methodos negativa, die im Ausgang von der objektiven, mentalen, mathematischen Uhr- oder Weltzeit, welche allein exakt und präzise begreifbar ist, durch Absprechen von deren Merkmalen, mithin durch Negativbeschreibungen, die subjektive Zeit zu fassen sucht, und zweitens die metaphorische oder analogische Beschreibung, die Vorstellungen, Begriffe und Bilder der uns vertrauten Welt auf einen gänzlich andersartigen Bereich appliziert. Bezüglich der letzteren Methode legt sich leicht der Vorwurf einer Poetisierung, ja einer Anthropomorphisierung nahe, indem Erfahrungen aus dem menschlichen Bereich zur Beschreibung der Physiognomie und Gestik der Zeit verwendet werden. Dem Einwurf ist jedoch dadurch zu begegnen, daß es weder einen unstatthaften Sprachgebrauch noch eine unsachgemäße Anthropomorphie bedeutet, wenn die Zeit nicht nur in ihren objektiven, mental erfaßbaren Formeigenschaften, sondern auch in ihrer subjektiven, eigentümli38
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chen Färbung und Tönung beschrieben wird, d. h. nach ihrem Sinnund Symbolgehalt. Die Übertragung menschlicher Eigenschaften ist nur deswegen möglich und statthaft, weil sie auf dem Boden einer ursprünglich einheitlichen, Mensch und Natur umfassenden Erfahrung erfolgt. Wir erkennen am Anderen, was Kraft, Mut, Stärke, Aggression, Sanftheit, Niedergeschlagenheit u. ä. bedeuten, nicht weil wir diese Eigenschaften aus dem menschlichen Leben extrapolieren und in das Andere hineinprojizieren, sondern weil es sich um Eigenheiten und Verhaltensweisen der Natur überhaupt handelt, die vom Menschen in unmittelbarer, leibhafter Präsenz erfahren und mitvollzogen werden. 11 Zunächst seien einige Abgrenzungen vorgenommen: 1. Zurückzuweisen ist die Meinung, Zeit und Zeitliches seien nur dort zu finden, wo ein formales, quantifizierbares Schema vorliegt, das, wie die Uhrzeit, zur Angabe aller Vorgänge, Ereignisse und Zustände taugt. Nichts dergleichen ist bei der gestimmten Zeit der Fall. So gewiß die lineare Verlaufsform und die Distanzen eine Bedingung der Linearzeit sind, so gewiß geht die Zeit nicht darin auf, bloß Medium der Zeitrechnung zu sein. Quantität und Zahl sind nicht die einzigen Bestimmungen der Zeit und schon gar nicht die originären. Die ursprünglichste Zeiterfahrung ist vielmehr die erlebte, konkrete, gefüllte, an den Inhalt gebundene Zeit, die Zeit, die Medium der Lebenswirklichkeit ist. Diese Zeit hat ein je eigenes Gepräge, eine je eigene Physiognomie und Gestik. Sie bekundet Nähe oder Ferne, Vertrautheit oder Fremdheit, Anziehung oder Abstoßung. Die gestimmte Zeit ist Träger von Ausdrucks- und Anmutungsqualitäten, die den Menschen in je spezifischer Weise ansprechen und sich ihm zu erkennen geben. Solcherart läßt sie sich umschreiben als Qualitatives, nicht als Quantitatives. 2. Zurückzuweisen ist auch die Meinung, Zeit liege nur dort vor, wo sie angeschaut, wahrgenommen und erkannt werden könne, wo sie (wie in Kants Transzendentalphilosophie) Anschauungsform und L. Klages: Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck, 9. Aufl. Bonn 1970, hat die Naturformen und -bewegungen als Spur eines allgemeinen Lebensprozesses gedeutet. Wie er als Graphologe in der Handschrift die Lebensspur eines Menschen zu lesen gewohnt war, so interpretiert er die gewachsenen Naturformen und -vollzüge als Ausdruck einer Lebensbewegung, an der wir alle teilhaben. Wir verstehen das Bedrückende, Niedergeschlagene, das freudig Erregte, Drängende, das Reifende und das Sterbende an der Natur und so entsprechend auch am Zeitlichen, weil wir am allgemeinen Lebensprozeß partizipieren und dessen Regungen und Bewegungen mitvollziehen.
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Anschauungsgegenstand oder (wie in Husserls Aktphänomenologie) intentionales Objekt einer intentionalen Einstellung sei. Im Gegenteil, primär wird sie nicht als Gegenüber und Gegenstand im Sinne des lateinischen obicere = ›sich gegenüber aufstellen‹, ›vor sich hinstellen‹ gehabt, sondern gelebt und vollzogen. In nicht-thetischer, präreflexiver Beschreibungsweise ist sie ein Erlebnis und damit eins mit dem Subjekt. Sie ist in ihm, mit ihm, um es, nicht ihm gegenüber als Bewußtseinsgegenstand. Erlebnis ist eine spezifische Kommunikationsweise, die noch vor jeder Differenzierung in Subjekt und Objekt liegt und sich daher auch nicht adäquat von einem späteren Standpunkt als Interdependenz oder Wechselimplikation von Subjekt und Objekt beschreiben läßt, derart, daß die Zeit das Subjekt anspräche und sein Erleben bestimmte und umgekehrt das Subjekt und sein Erleben die Zeit ermöglichte. 3. Zurückzuweisen ist noch eine dritte Annahme, nämlich die, als handle es sich bei der gestimmten Zeit um eine, die nur in besonders prägnanten, stimmungsvollen Augenblicken auftrete. Wenngleich solche Augenblicke von eminenter Eindringlichkeit sind, so taugen sie allenfalls als prominente Beispiele zur Verdeutlichung. Wir befinden uns immer in Situationen, gleichgültig, ob uns diese explizit als gestimmte bewußt werden oder nicht. Wenn wir von Arbeits- zu Ruhephasen wechseln, von der Stille der Andacht zur Hektik des Geschäftslebens, vom Tages- zum Nachtrhythmus und zurück zum Tag, ist der Übergang stets mit einem Wechsel des Atmosphärischen verbunden. Nicht nur die stimmungsvollen Augenblicke evozieren ein Auftauchen der gestimmten Zeit, vielmehr ist das situationsbedingte Ausdrucksverhalten eine Weise direkten und unausweichlichen Weltzugangs. Auch wird die jeweilige Situation nicht primär objektiv und stimmungslos erlebt und sekundär subjektiv mit Stimmungen besetzt, sondern die gelebte Zeit ist stets und als solche stimmungsgeladen. Eine positive Charakterisierung mag sich anschließen, sofern sie nicht schon in der negativen impliziert ist: 1. Bei den Ausdruckscharakteren handelt es sich um Ganzheitseigenschaften, nicht um einzelne, isolierte Merkmale wie ›kurz‹ oder ›lang‹. Sie stellen Bedeutungsganzheiten dar, was sie zu Symbolträgern qualifiziert, welche gleicherweise eine sinnliche wie sittliche wie ästhetische Wirkung erzeugen. Es war Goethe, der sich insbesondere mit den Gemütswirkungen von Formen, Farben und Klängen beschäftigte und ihre Symbolkraft und Wertigkeit, ihre äs40
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thetischen und ethischen Auswirkungen als Urverhältnisse beschrieb. Solche Eigenschaften entfalten eine umfassende Wirkung auf den Menschen. Sie erzeugen den Eindruck von Gewaltigkeit, Unermeßlichkeit, Unerträglichkeit oder auch von Kleinheit, Zierlichkeit, Geringheit. Von der Macht und Stimmungsgeladenheit solcher Qualitäten zeugt insbesondere die Kunstgattung der Musik. Man denke an Edvard Griegs lautmalende, stimmungserzeugende Melodien, die das Plätschern eines Baches im Frühling oder das Anschwellen des Wassers zum rauschenden Strom oder das Spiel der Libellen imitieren. 2. Phänomenologisch wäre es falsch zu behaupten, daß Ausdruckscharaktere nur subjektiv seien, daß der Mensch das ihn Anmutende, das Atmosphärische, nur am eigenen Leib spüre und dann das Gespürte nachträglich auf die ihm anderweitig zugängliche Welt – in diesem Fall die Zeit – übertrage, vielmehr verhält es sich genau umgekehrt, indem die gestimmte Zeit die Grundlage und Voraussetzung der Welterfahrung bildet. Ein Unterschied zwischen Inhalt und Art und Weise des Erlebens besteht nicht. Wenn wir von dem abrupten Abbruch eines Musikstücks, von seiner Unterbrechung bis zum nächsten Einsatz sagen, die Stille sei bedrückend oder unerträglich, so ist damit die reale Situation gemeint, in der die Bedrängung den Menschen hautnah angeht. Ebenso ist eine Zeit objektiv heiter, anregend, ermunternd oder wie immer, selbst wenn der Empfindende mißmutig in ihr weilt. So kann die Karnevalszeit objektiv ausgelassen sein, auch wenn der einzelne an ihr Teilhabende das Gefühl nicht teilt und niedergeschlagen ist. 3. Ausdrucksphänomene sind Ganzheitseigenschaften, die eine gewisse Spannweite – Breite und Dauer – haben. Zieht man beispielsweise ein Programm in Etappen durch, um sein Ziel zu erreichen, so nimmt man die erforderliche Anstrengung die ganze Zeit hindurch mit. Sie ist nicht in Stücke geteilt, sondern bleibt als Phänomen ein ganzheitliches Erlebnis, das den Arbeitenden trägt und bestimmt. Ebenso läßt sich die Ruhe während des Schlafes nicht zerteilen, nicht quantifizieren, sondern bleibt ein gesamtheitliches Phänomen, das sich durchhält. 4. Der Zugang zur gestimmten Zeit erfolgt über deren inhaltliche Füllung. Diese schließt Leere mit ein, da auch sie empfunden wird, wie Unterbrechungen, Pausen, Stille belegen, die den Menschen oft geradezu erdrücken. Zu einer Melodie gehören die Pausen als konstitutive Momente hinzu. Es erscheint nicht abwegig zu A
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sagen, daß Leere die Fülle in ihrer Eigenart überhaupt erst konstatierbar macht. 5. Aufgrund der Ganzheitsqualität ist die gestimmte Zeit nicht durch Metrik, d. h. durch quantifizierbare Abstände bestimmt. Ihr Zwischen macht keine Anordnungsfolge aus, sondern bestimmt sich allein durch Nähe und Ferne, wobei die erstere Vertrautheit ausdrückt, die letztere Fremdheit. Nähe bedeutet phänomenologisch unmittelbare Gegenwärtigkeit, Verweilen im Hier und Jetzt, das aufregend, fesselnd, kurzweilig, aber auch lähmend, langweilig sein kann. Ferne ist das, was noch nicht oder nicht mehr ist, das, womit das Subjekt nicht unmittelbar beschäftigt und erst recht nicht engagiert ist, oder das, was bereits überwunden ist und hinter ihm liegt, außerhalb seines Gesichtskreises und Interessenfeldes. Während die Abstände in der chronometrischen Zeit zusammengesetzt und getrennt werden können in beliebig kleinere zeitliche Abstände, ist dies bei Nähe und Ferne nicht der Fall. Ferne läßt sich nicht aus kleineren Fernen zusammenstücken, sowenig wie Nähe aus noch kleineren, sondern bleibt Ferne, die sich mit jedem Schritt der Annäherung weiter zurückzieht, um sich als neue Ferne aufzutun. Nähe und Ferne sind phänomenologisch absolute qualitative Differenzen im Gegensatz zum relativen quantitativen Zwischen der Abstände. 6. Sucht man eine gemeinsame Grundstruktur dieser ursprünglichen Zeiterfahrung, so sieht man sich auf das dynamische Phänomen der Weitung und Engung verwiesen. Alle erfahrenen, gestimmten Zeiten nehmen eine gewisse Dauer, Spanne, Ausdehnung in Anspruch, sei es als Fülle oder Leere, Nähe oder Ferne, Kurz- oder Langeweile, Hoffnung oder Angst, die relativ ist, die sich dehnen und weiten kann, wie dies die Befindlichkeit der Langeweile zeigt, die sich aber auch zusammenziehen und verkürzen kann wie bei der Kurzweil. In beiden Fällen kann sie bis zum Extrem des Stillstands, zur Zeitgerinnung, gehen.
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Bei der Darstellung und Beschreibung des Zeiterlebens war wiederholt ein Bezug zum Raumerleben sichtbar geworden. Sowenig die subjektiv erlebte, gestimmte Zeit mit der chronomatischen, quantifizierbaren Zeit zusammenfällt, sowenig ist der hier angesprochene subjektiv erlebte und gestimmte Raum mit der gewöhnlichen Raum42
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vorstellung eines mathematisch quantifizierbaren Raumvolumens identisch, das, wie Newtons Weltschachtel, als Behälter oder Gefäß gedacht wird, das alle Gegenstände aufnimmt und ihnen ihren genauen Ort und ihr genaues Verhältnis untereinander zuweist. Der Raum auf der Stufe des Erlebens ist wie die gestimmte Zeit, die hektisch oder geruhsam, stressig oder behäbig, heiter oder lastend sein kann, etwas Atmosphärisches, das uns beim Erleben z. B. der erwähnten morgendlichen oder abendlichen Gebirgslandschaft mit einer je besonderen Gestimmtheit und Eindringlichkeit umfängt, das Umhafte, das uns in spezifischer Weise angeht und anspricht. Die Dinge im gestimmten Raum haben eine Aura – bei Personen Charisma genannt –, sie sind umgeben von einem Kräftefeld, das auf den erlebenden Menschen ausstrahlt, ihn ergreift, wiederum nicht mechanisch über Druck und Stoß, sondern über ein affektives Betroffen- und Ergriffensein. Das Umfeld Raum teilt sich mit, mutet an, erscheint entweder als heitere, freundliche Landschaft, in der alles in ein Rosarot getaucht ist, oder als schwermütige, melancholische Landschaft, über der eine eigentümliche Dumpfheit und Schwere lastet. Die Gartenarchitektur des 18. Jahrhunderts hat bei der Gestaltung von Parks und Gärten sanfte, melancholische, ernste, gravitätische Szenerien unterschieden und genaue Anweisungen für die Gruppierung von Bäumen und Sträuchern, die Anlage von Teichen, den Wechsel von bewaldeten und freien Flächen gegeben. In seiner Theorie der Gartenkunst, einem fünfbändigen Werk, beschreibt Christian Cay Lorenz Hirschfeld exakt, welche Arrangements welche atmosphärischen Eindrücke und Stimmungen erzeugen: »Das Wasser ist in der Landschaft, was die Spiegel in einem Gebäude sind, was das Auge an dem menschlichen Körper ist. […] Die Klarheit des Wassers […] theilet allen Gegenständen umher Munterkeit und Freude mit. Der Widerschein der Wolken, der Bäume, der Gesträuche, der Hügel und der Gebäude macht eine der lieblichsten Stellen im Gemälde der Landschaft aus. Die Dunkelheit hingegen, die auf Teichen und andern stillstehenden Gewässern ruhet, verbreitet Melancholie und Traurigkeit. Ein tiefes schweigendes, von Schilf und überhangendem Gesträuch verdunkeltes Wasser, das selbst das Licht der Sonne nicht erhellt, schickt sich sehr wohl für Sitze, die diesen Empfindungen gewidmet sind, für Einsiedeleyen, für Urnen und Denkmäler, welche die Freundschaft abgeschiedenen Geistern heiligt.« 12 C. C. L. Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst, 5 Bde., Leipzig 1779–1785, Bd. 1, S. 200 f.
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»Ein Wald kann in der Landschaft ein sehr heroischer Gegenstand seyn, durch Breite und Länge und besonders die Höhe, die er einnimmt. Besteht er dabey aus bejahrten an die Wolken ragenden Bäumen, und aus einem dichten und sehr dunkeln Laubwerk, so wird sein Charakter Ernst und eine gewisse feyerliche Würde seyn, die eine Art von Ehrfurcht einflößt. Gefühle der Ruhe durchschauern die Seele, und lassen sie ohne eine vorsätzliche Entschließung in ein gelassenes Nachsinnen, in ein holdes Staunen dahinschweben […]. Lebhaftigkeit, Heiterkeit und Frölichkeit ist Eigenthum des kleinern und dünnern Waldes oder des Hains, der edle, schlanke, nicht hoh aber zierlich gewachsene Bäume, ein frisches helles Laubwerk, durchsichtige Zwischenräume, einen ebenen von Unterholz und Gesträuch freyen Boden hat. Die Wallungen des Laubes, das der leichter durchstreifende Wind in Bewegung setzt, das auf den Blättern und auf dem Boden herumhüpfende Spiel des Lichts und des Schattens, die durchbrechende Vergoldung der aufgehenden und niedersinkenden Sonne, der sanft durch die Gipfel herabschleichende Schimmer des Monds sind die schönsten Zufälligkeiten zur Verzierung eines Hains.« 13
Auch hier sind es nicht nur die besonders stimmungsvollen Situationen, die uns mit dem gestimmten Raum vertraut machen, sondern wir befinden uns ständig in gestimmten Räumen. Der Übergang von einem Raum in den anderen, z. B. von der belebten, lärmigen Straße in die stille Kirche, vom Arbeits- zum Eß- oder Schlafzimmer, ist stets mit einem Wechsel des Atmosphärischen verbunden, wenngleich dieser nicht immer explizit wird. Das Ausdrucksverstehen ist eine Weise der Weltbegegnung und kann daher nie ganz zum Verschwinden gebracht werden. Der Raum, der sich im erlebten, gestimmten Raum kundtut, ist aus denselben Gründen wie die erlebte Zeit nur schwer faßbar, da er auf Stimmungen, Gefühlen, Befindlichkeiten basiert, welche sich der Begriffssprache entziehen. Der Versuch einer Charakteristik führt zu denselben Eigenheiten wie bei der Zeit. 14 1. Der gestimmte Raum ist, wie die gestimmte Zeit, primär Träger von Ausdrucksqualitäten. Er hat ein je eigenes Gepräge, das anzieht oder abstößt, als Bergendes, Schützendes oder als Abweisendes, Fremdes, Unheilbringendes begegnet. Wie die Zeit ist er Medium von Lebenswirklichkeit. Dabei sind die Ausdrucksqualitäten Ganzheitseigenschaften, dies nicht nur im Sinne einer unzerstückten, hoA. a. O., S. 198 f. Zur phänomenologischen Beschreibung des Raumes vgl. E. Ströker: Philosophische Untersuchungen zum Raum, a. a. O., S. 22–54.
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listischen Raumauffassung, sondern fundamentaler noch im Sinne einer vorgängigen Einheit von Theoretischem, Praktischem und Ästhetischem. Gestalten, Farben, Töne im Raum sind nicht bloße Eigenschaften, sondern symbolträchtig, oft wertbeladen, ethisch befrachtet. Sie entfalten eine Wirkung, sind schroff, spitz, gewaltig, unerträglich, erhaben oder zierlich, grazil usw., was insbesondere von der Kunst des Expressionismus ausgenutzt wird. Man denke an die Bilder Edvard Munchs, die den Titel Der Schrei tragen, auf denen die ausgezogenen, langen, ellipsenförmigen Linien des Gesichts und des Hintergrunds den Schmerz und den Aufschrei dokumentieren. Ebenso vermitteln niederhängende Zweige und Blätter oder der gesenkte Kopf eines Menschen, seine gebeugte Haltung physiologisch den Eindruck von Niedergeschlagenheit und Trauer – wir sprechen auch von Trauerweide, Trauerbuche –, ein in den Himmel ragender Ast oder ein aufrecht stehender Mensch deuten eine Siegesgeste an, wie auf dem Gemälde von Caspar David Friedrich mit dem Titel Der einsame Baum, das eine vom Sturm zerzauste, aber aufrecht stehende Eiche zeigt, die Sinnbild eines standhaft ertragenen, allen Schicksalsschlägen trotzenden Lebens ist. 2. Beim Raumerlebnis gehören subjektive und objektive Seite untrennbar zusammen. Eine Landschaft ist objektiv freundlich, hell, munter, selbst wenn der Empfindende mißmutig in ihr weilt, wie Karl Mohr in Schillers Räubern, der, in einer Gegend an der Donau inmitten einer friedlichen Landschaft, einer glücklichen Welt lagernd, sich selbst wegen seiner tragischen Verbrechen als heulender Abbadona empfindet. In der zweiten Szene des dritten Aktes heißt es: »Die Erde so herrlich. […] Und ich so häßlich auf dieser schönen Welt – und ich ein Ungeheuer auf dieser herrlichen Erde.« 15 Er weiß um die Diskrepanz, weil er ein Bewußtsein der amönen Landschaft hat, an der er nicht teilhaben kann. Die Heiterkeit einer Landschaft oder auch die Schwere und Drückendheit derselben können im Widerstreit zum subjektiven Empfinden des Einzelnen stehen; sie erweisen sich damit als objektiv. Gleichwohl sind sie um ihn, mit ihm, auch wenn er selbst momentan anders empfindet. 3. Darüber hinaus sind Ausdrucksphänomene als Ganzheitseigenschaften stets mit räumlicher Ausdehnung verbunden, freilich F. Schiller: Die Räuber, in: Sämtliche Werke, aufgrund der Originaldrucke hrsg. von G. Fricke und H. G. Göpfert in Verbindung mit H. Stubenrauch, Bd. 1, München 1958, S. 561.
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einer, die sich nicht teilen und in Stücke zerlegen läßt. Durchwandert man z. B. einen Hochwald und genießt die frische, herbe Luft, die einen umgibt, so wird der atmosphärische Eindruck durch die durchwanderten Plätze nicht geteilt, sondern bleibt als Phänomen erhalten, das den Wanderer durchdringt und von ihm während des gesamten Weges mitgenommen wird. 4. Auch beim Raumerleben erfolgt der Zugang zum gestimmten Raum über die sich in ihm befindlichen Dinge, über Fülle und Leere. Die Leere, Unbestimmtheit und Dunkelheit der Nacht drängen sich einem genau wie die Stille der Nacht in markanter Weise auf, ja bedrängen einen oft geradezu unheimlich. 5. Für den gestimmten Raum sind ebenso wie für die gestimmte Zeit nicht Metrik und Quantifizierbarkeit der Abstände charakteristisch, vielmehr Nähe und Ferne, Enge und Weite, Beschränktheit und Offenheit. Nähe drückt Unmittelbarkeit und Gegenwärtigkeit, Verweilen im Hier und Jetzt aus, Ferne das weit vor oder weit hinter einem im Rücken Liegende, das sich dem Blick entzieht. Obwohl der erlebte Raum als stimmungsmäßig gefärbter stets in Verbindung mit Empfindungsqualitäten auftritt, nicht anders als die Zeit, ist seine Grundstruktur Weite bzw. Enge, und zwar relative, die sich als Öffnen, Dehnen, Längung oder als Engung und Kontraktion dokumentiert. Der erlebte Raum hat Feldcharakter, um einen Ausdruck aus der Quantentheorie zu gebrauchen, der die extensionale Ausdehnungsstruktur von der quantitativen Teilchenstruktur unterscheiden soll. Schmitz spricht in diesem Kontext von »chaotischer Mannigfaltigkeit« 16 , womit er andeuten will, daß der phänomenologische Weiteraum – Entsprechendes gilt von der phänomenologischen Weitezeit, der Dauer – noch nicht begrifflich-kategorial bestimmt, also noch undeterminiert und unindividuiert ist, allenfalls die Grundlage einer solchen Bestimmung bildet. Schmitz benutzt den Terminus ›chaotische Mannigfaltigkeit‹ für alle anschaulichen Kontinua wie Raum, Zeit, Skalen sinnlicher Qualität und Intensität, weil sie hinsichtlich einer exakten Bestimmung und Grenzziehung in der Schwebe bleiben und noch keine Entscheidung für die eine oder andere Möglichkeit gefunden haben. Für Schmitz sind solche Kontinua unerschöpflich und träge, ersteres, weil die Individuation in ihnen niemals vollständig wird und die Möglichkeit zur unendlichen
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Fortsetzung vorgezeichnet ist, letzteres, weil der zureichende Grund ihrer Individuation nicht in ihnen selbst liegt. 17 Wie durch den Vergleich sichtbar geworden ist, weisen Zeit und Raum auf dieser Ebene eine gemeinsame Struktur auf, die man am besten als Extension oder Expansion bezeichnen kann und die durch relative dynamische Weitung und Engung charakterisiert ist. Eine spezifische Differenz von Zeit und Raum, wie sie später ausgeprägt ist, besteht noch nicht. Die Zeit als Nacheinander von Teilen und der Raum als Nebeneinander von Teilen existieren noch nicht. Beide sind auf dieser Stufe von ihrer Grundstruktur her Weitungs- bzw. Engungsphänomene. Damit wird auf eine gewisse extensionale Gegenwärtigkeit, Dauer, Spanne abgehoben, die hier noch zeitlich wie räumlich ungeschieden ist. Obwohl auch auf anderen, später zu explizierenden Stufen die Verwandtschaft der Zeit mit dem Raum unverkennbar ist – wir projizieren die Zeit auf den Raum bzw. eine seiner Gestalten, die Linie, und beweisen dadurch ihre Quantifizierbarkeit und ihre mathematischen Eigenschaften; wir sprechen bezüglich der verräumlichten Zeit von ›Zeitraum‹, ›Zeitstück‹, ›Zeitabstand‹ ; wir messen die Zeit durch den Umlauf des Uhrzeigers auf dem Zifferblatt oder durch die Planetenbewegungen am Himmel –, wäre es falsch, die Zeit auf den Raum als das Primäre zu beziehen und in ihm zu fundieren, wozu allerdings in der gesamten europäischen Tradition eine Tendenz besteht; ebenso falsch wäre es aber auch umgekehrt, den Raum auf die Zeit als das Primäre zu reduzieren, wie es Heideggers Anliegen in seiner Kritik an der Tradition in Sein und Zeit ist. Beide – Zeit wie Raum – sind Dehnungsphänomene auf der Basis eines Fluidums, anders gesagt, auf der Basis von Bewegung. Metaphorisch könnte man hier das Bild eines Flusses heranziehen, allerdings nicht eines in eine bestimmte Richtung verlaufenden, sondern eines stehenden, wie es die Gesamtübersicht über seinen Verlauf bietet. Noch genauer sollte nicht von einem Fluß die Rede sein, sondern von einem stehenden Gewässer wie bei einer Überschwemmungslandschaft oder einem ausgedehnten Auensystem. Gebser spricht in diesem Kontext von einem »okeanischen Denken« 18 , wobei er einen Terminus verwendet, der zumeist im Rahmen des mythischen und religiösen Denkens gebraucht wird. Er bezeichnet eine »Empfindung der ›Ewigkeit‹«, ein »Gefühl wie von etwas 17 18
Vgl. a. a. O., S. 352. J. Gebser: Ursprung und Gegenwart, a. a. O., 1. Teil, S. 345 ff. A
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Unbegrenztem, Schrankenlosem, gleichsam ›Ozeanischem‹«, wie Romain Rolland in einem Brief an Sigmund Freud sich ausdrückt. 19 Der Vergleich mit dem Wasser bietet sich nicht zuletzt deswegen an, weil das Wasser etwas Ausgedehntes ist, das, wie der Volksmund sagt, keine Balken hat, d. h. nicht begrenzt, bestimmt, individuiert ist. Die physiologisch-psychologische Grundlage der Erlebniszeit und des Erlebnisraumes bilden die dynamischen Phänomene der Weitung und Engung. Weitung ist ein Vertrautsein mit den Dingen, ein Hingezogen- und Aufgegangensein in ihnen, Engung ein Zurückziehen von der Welt, eine Ab- und Einkapselung. Bezüglich beider sind zwei Extremzustände denkbar, zum einen die Ekstase, zum anderen die Angst, die bei Heidegger in seinem Buch Sein und Zeit eine dominante Rolle spielt. Beides sind Phänomene, in denen die Bewegung zur Ruhe kommt und stagniert. Der Begriff der Angst weist schon etymologisch auf Enge. In der Angst fühlt sich der Mensch physisch wie psychisch aufs Äußerste eingeschränkt, beengt, bewegungsunfähig. Auswege scheinen ihm versperrt – Schmitz kommentiert dieses Gefühl als die »Situation des gehinderten ›Weg‹ !« 20 –, man ist wie gelähmt, die Kehle ist zugeschnürt, der Atem stockt. Der Prototyp von Angst ist Klaustrophobie, das Gefühl des Eingeschlossenseins, der Freiheits- und Bewegungsberaubung, wie es in Fahrstühlen, dunklen Kellern, Bunkern auftritt. Übertragen auf die psychische Situation, bezeichnet Angst das innere, seelische Erstarrtsein. Angst bedeutet die völlige Mobilitätslähmung. Während Angst mit Einengung zusammenhängt, bekundet sich Weite in Weltoffenheit und Weltzugewandtheit. Ihr Extrem ist die Ekstase. Ekstase, abgeleitet von dem griechischen ˛kstasi@, bedeutet ›Aus-Stand‹, ›Aus-sich-Herausgehen‹ und ›-Stehen‹. Wer von uns hätte nicht schon einmal wie Werther in Goethes gleichnamigem Roman im Gras gelegen, den Blick in die unendliche Bläue des Himmels gerichtet und die Unermeßlichkeit des Himmelszeltes über sich verspürt und sich von dieser Weite und Unermeßlichkeit fortreißen lassen! Ein solches Weitegefühl stellt sich nicht nur in natürlichen SiS. Freud: Das Unbehagen in der Kultur, in: Gesammelte Werke, chronologisch geordnet, hrsg. von A. Freud, Bd. 14, London 1948, Frankfurt a. M. 1999, S. 419–506, bes. S. 421 f. 20 H. Schmitz: System der Philosophie, a. a. O., Bd. 3, 1. Teil, S. 139. 19
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tuationen ein; oft sind es religiöse Zustände, in denen mit einer bestimmten physiologischen Befindlichkeit eine metaphysische Weitung einhergeht, ein Einssein mit dem Absoluten, das sich als Alleinheitsgefühl beschreiben läßt. Auch krankhafte Zustände wie bei Hirnverletzten und Paranoiden können Ursache solcher euphorischen Zustände der Verzückung, des Außer-sich-Seins sein. Während mit dem Weitegefühl zumeist ein Glückszustand verbunden ist, der sich in Euphorie, Manie, Verzückung äußert, geht mit der Angst bzw. Enge das Gefühl der Niedergeschlagenheit, Depression, Verzweiflung einher. Die noch tieferen biologischen Grundlagen der Erlebniszeit bzw. des Erlebnisraumes und ihrer Dehnung und Kontraktion bilden die natürlichen Vorgänge des Ein- und Ausatmens, des Aufwachens und Einschlafens, des Tages- und Nachtrhythmus usw. Wiewohl sie äußerlich als gegensätzliche Vorgänge aufscheinen, gehören sie ein und derselben Relativbewegung, ein und derselben Rhythmik an. Sie konstituieren eine Einheit, allerdings nicht in Form einer Verbindung zweier selbständiger heterogener Instanzen unter einem verbindenden Dritten, sondern in Form einer Komplementarität, wie sie das Yin-Yang-Symbol ausdrückt, das einen einheitlichen Kreis darstellt, der sich intern in zwei kreisförmige, schweifartig auslaufende Gebilde gliedert, die sich ineinanderschlingen und das jeweilige Pendant als Punkt in sich tragen. Analog sind auch Zeit und Raum zu betrachten. Sie sind auf dieser präkognitiven, stimmungsmäßigen Stufe noch eins, auch wenn sie intern und anlagemäßig die Disposition für eine unterschiedliche Ausbildung haben.
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Wie im Vorangehenden erkennbar wurde, stellt sich das subjektive Zeitgefühl als ein Relativum dar, das gedehnt, gelängt wie kontrahiert, gekürzt werden kann bis zum Zeitstillstand. Die Aufhebung der Zeit und die Koinzidenz mit dem Raum können zweierlei bedeuten: zeitlich-räumliche Unendlichkeit im einen Fall, zeitlich-räumliche Punktualität im anderen. Während beim Zeitlupenphänomen mit der Dehnung der Zeit – genauer eines hypothetisch angenommenen Zeitquantums – bis zur Unendlichkeit Verlangsamung einhergeht mit schließlicher Zeiterstarrung, läßt sich beim Zeitrafferphänomen das Umgekehrte konstatieren, die Schrumpfung der Zeit A
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auf einen Punkt, wobei Beschleunigung und momentane Gegenwart zusammenfallen. Letzteres ist auch als nunc stans bekannt. Versucht man, vom subjektiven Erleben aus eine Zeittheorie aufzubauen, so ist der Ursprung und Ausgang der Explikation in das noch Unentwickeltsein der Zeit, das noch Ununterschiedensein von Raum zu legen. Die Ausgangssituation ist Zeitlosigkeit, Zeitenthobenheit, Noch-nicht-Zeit. Diese Zeit-Raum-Indifferenz tritt in drei Modifikationen auf: erstens als Nichterfahrung von Zeit (Zeitlosigkeit), zweitens als Erlebnis der Zeitgerinnung (Zeitlupenphänomen) und drittens als Erlebnis der stehenden Gegenwart (Zeitrafferphänomen). Diese Phänomene sind im folgenden genauer zu explizieren. 4.1. Zeitentrückung Im alltäglichen Leben, eingebunden in die tagtäglichen Verrichtungen und Geschäfte, Verpflichtungen und Aufgaben, sind wir gefangengenommen und vereinnahmt von der Welt, von den Dingen und Vorgängen in ihr, ohne uns selbst und unser Zeitempfinden zu bemerken. Existent und präsent ist nur die Welt, sind nur die Dinge, wohingegen unser Ich in die Welt eingetaucht und von ihr absorbiert ist. Und mit dem Ich ist auch das Zeiterleben aufgehoben. Das ursprüngliche und natürliche Verhalten des Menschen zur Welt ist also beherrscht vom Eindruck der Dinge, denen der Mensch in Selbstvergessenheit ausgeliefert ist und die er auf sich einwirken läßt. Er lebt in einer Welt von Vorgegebenheiten, die ihn durch ihre Eindrücke in ihren Bann ziehen. Dieses Reich der realen Welt gilt auf dieser Erfahrungsstufe in unreflektierter Selbstverständlichkeit als eine für sich bestehende Einheit und Ganzheit. Vorgänge, sukzessive Abläufe mögen zwar existieren, sofern und solange der Mensch aber von ihnen absorbiert ist, werden sie nicht bemerkt – wie bei einem Fluß, in dem und mit dem man gleichgeschwindig schwimmt und dessen Fließen man erst konstatiert, wenn man sich aus ihm herauskatapultiert und an das feste Ufer begeben hat. Diese Erlebnisweise ist reine Gegenwart, sofern es überhaupt erlaubt ist, hier von einer solchen zu sprechen, da diese Bestimmung bereits Zeitdifferenzen und Zeitmodi voraussetzt. Diese Situation ist philosophisch-phänomenologisch längst bemerkt worden, so von Husserl, Heidegger, Sartre und anderen Phä50
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nomenologen, die sie in angemessener Weise zu beschreiben versucht haben, etwa durch Begriffe wie ›vertieft sein in‹, ›aufgegangen sein in‹, ›versunken sein in‹, ›engagiert sein in‹ usw. Wenn wir in den Anblick eines schönen Kunstwerks versunken sind, im Lauschen einer Melodie aufgegangen, in die Lektüre eines spannenden Buches vertieft, in die Phantasiewelt eines Märchens oder spannenden Filmes eingetaucht sind oder uns intensiv mit der Lösung einer mathematischen Aufgabe beschäftigen, dann existiert keine Subjekt-Objekt-Spaltung und kein Zeitbewußtsein. Erst wenn uns jemand weckt und wachrüttelt und zur Rechenschaft über das selbstvergessen Vollzogene und Erlebte auffordert, tritt ein distanziertes Verhältnis zur Welt, eine Subjekt-Objekt-Spaltung ein, die auch Konsequenzen für das Zeitbewußtsein hat. Bekanntlich hat Bert Brecht diesen abrupten Übergang in seiner Theatertheorie als Verfremdungseffekt beschrieben und für seine Bühnenstücke genutzt. Wir können z. B. jahrelang durch dieselbe Straße gehen; alles ist bekannt, vertraut, selbstverständlich, unauffällig. Plötzlich wird ein Häuserportal auffällig. Aus irgendeinem Grunde, man weiß nicht weshalb, erscheint es fremdartig. Man klassifiziert es als Barockportal. Aufmerksam geworden, schweift der Blick von diesem Portal auf die umgebenden Teile, die Fenster, den Giebel, um die Einheitlichkeit oder Brüchigkeit des Stils festzustellen, von dort weiter auf das Nachbargebäude, von dort auf ein drittes, viertes usw. Alles rückt plötzlich und unversehens in ein fremdes Licht, alles wird ungewohnt und unvertraut, alles tritt in neue Strukturzusammenhänge ein. Der Gestaltpsychologe Aron Gurwitsch spricht hier von einer thematischen Modifikation. 21 Solange wir in das normale, alltägliche, geschäftige Leben eingebunden und von ihm absorbiert sind, leben wir bewußt- und reflexionslos in ihm, und das gilt auch und gerade für das Zeitempfinden, das hier noch gar nicht entwickelt ist. Die völlige Absorption der Aufmerksamkeit des Ich und des Zeitbewußtseins wird durch wissenschaftliche Studien bestätigt, die Friedrich Panse 22 angestellt hat. Nach einem Bombenangriff im Zweiten Weltkrieg wurden sowohl die im Bunker Eingeschlossenen A. Gurwitsch: Phänomenologie der Thematik und des reinen Ich. Studien über Beziehungen von Gestalttheorie und Phänomenologie, in: Psychologische Forschung, Bd. 12 (1929), S. 279–381, bes. S. 320 ff. 22 F. Panse: Veränderungen des Zeiterlebens in der Angst, in: ders.: Angst und Schreck, Stuttgart 1952, S. 121–131, bes. S. 127 f. 21
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und auf Rettung Wartenden als auch die Hilfsmannschaften befragt, die mit der Wegräumung der Trümmer, der Öffnung der verschütteten Bunker, der Befreiung der Eingeschlossenen und dem Transport der Verletzten beschäftigt waren. Die Personen gaben zu Protokoll: (16m) »Zeitgefühl für die ganze Zeit (gemeint ist besonders die Zeit nach dem Angriff) habe ich überhaupt nicht. Ich habe vielleicht das Gefühl gehabt, im ganzen 2 Stunden im Bunker gewesen zu sein. In Wirklichkeit war es aber bereits hell, als ich den Bunker verließ. Ich muß somit etwa 12 Stunden im Bunker gewesen sein.« (58m) »Zeitgefühl habe ich für diese Nacht (nach dem Angriff) überhaupt nicht. Morgens um 8 Uhr hat’s geheißen, wir könnten nach Hause gehen; man war ganz überrascht, daß es schon so spät sein sollte. Die Zeit war einem viel kürzer vorgekommen. Die 45 Minuten im Keller (während des Angriffs) sind mir bedeutend länger vorgekommen als die ganze Nacht. Die Erinnerung ist bei mir aber auch an die Nacht ganz genau.«
Andere bemerkten: (61m) (Nach dem Angriff, im Keller eingeschlossen; Wartezeit auf Befreiung, mit der zu rechnen war.) »Die Zeit verging wahnsinnig schnell. Nach 3 Stunden – es kam mir aber wesentlich kürzer vor, ich habe nicht daran gedacht, auf die Uhr zu schauen, wurde von draußen ein Stahlrohr durchgeschlagen.« (74m) »Ich hatte jetzt (nach dem Angriff) 12 Stunden ununterbrochen zu arbeiten. Diese 12 Stunden sind wie im Fluge vergangen ohne Essen, ohne Trinken, gar kein Bedürfnis dazu.« (83m) »Wir hatten jetzt ununterbrochen viele Stunden mit den Rettungs- und Bergungsarbeiten zu tun; das dauerte bis in die Nacht hinein. Diese Zeit verflog sehr schnell. Hunger und Durst hatte ich gar nicht, nur Appetit auf eine Zigarette.«
Ähnliche Beobachtungen werden bei Katastropheneinsätzen im Falle von Erdbeben, Bergwerks- und Häusereinstürzen, Havarien und Zugunglücken gemacht. Das Interesse am Zeitverlauf ist hier zum Erliegen gekommen, teilweise völlig, teilweise weitgehend. Umgekehrt ausgedrückt: Das Interesse am Zeitverlauf ist überhaupt noch nicht erwacht. Die im Bunker auf Rettung Wartenden sind, wenn sie nicht vor Angst oder Schreck erstarrt sind und aus diesem Grunde kein Zeitgefühl aufkommen lassen, vom Gedanken auf Rettung absorbiert, haben gar keine Zeit zum Nachdenken, und den Rettungskräften, die an allen Stellen gebraucht werden, bleibt keine Zeit und Muße für ein Zeitbewußtsein. Das Verfliegen der Zeit, das rasche Vergehen, von dem einige Personen im Rückblick berichten, dürfte aus dem ersten re52
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flektierenden Versuch einer Beurteilung und eines Vergleichs des subjektiven Erlebens mit der objektiv vergangenen Zeit resultieren, nicht aber die momentane Zeiteinstellung wiedergeben. Schlaf, Bewußtlosigkeit, Koma sind ebenfalls Zustände ohne Zeitbewußtsein. Aristoteles berichtet in seiner Zeitabhandlung in der Physik 23 von den sardischen Schläfern, die, da sie weder äußere noch innere Bewegung konstatieren, auch keine Zeit bemerken. Das Konstatieren von Bewegung wie auch das von Zeit setzt, wie das Beispiel des Flusses deutlich machte, Distanz und Differenz voraus. Man kann sich mit einer Sache bewegen, ohne dies zu bemerken. Der Zustand der Zeitlosigkeit, der Zeitaufhebung läßt nur zwei Möglichkeiten der Beschreibung zu: entweder den Verzicht auf alle uns bekannten positiven Darstellungsmittel und Begriffe oder die Übertragung von Vorstellungen und Bildern der uns bekannten Erlebnisdimension auf eine, der die Vorstellungen und Bilder von Hause aus nicht zukommen. Die letztere Methode versteht sich als Metaphorik, als bildhafte Ausdrucksweise eines an sich nicht zugänglichen Bereichs. Im ersten Fall brauchen wir Negationen wie ›nicht‹, ›un-‹ oder ›-losigkeit‹, ›-enthebung‹ : Nichtzeit, Zeitlosigkeit Zeitaufhebung, Zeitentrücktheit, kurzum, Nichterfahrung von Zeit, im zweiten Metaphern wie Raumzeit, die wir von seiten des Raumes als Simultaneität, als Gleichzeitigkeit, beschreiben, von seiten der Zeit als unendliche, grenzenlose Dauer. 4.2. Zeitdehnung (Zeitlupenphänomen): Zeitgerinnung Die nächsten Annäherungsweisen an dieses Extrem finden sich im Zeitlupen- und Zeitrafferphänomen, von denen das erstere ein Phänomen der Dehnung, Längung, Weitung ist, das letztere ein Phänomen der Kontraktion, die beide, wiewohl auf gegensätzliche Weise, in Zeitstillstand münden. Beide verwenden Bilder, und zwar räumliche wie Längung, Weitung, Raffung. Das Zeitlupenphänomen bedient sich dabei eines Instruments, das ein gewisses endliches Zeitquantum bis ins Unendliche dehnt und, da mit dem Zeitquantum Fließen verbunden ist, dieses durch Verteilung auf das Unendliche verlangsamt bis hin zur Zeitgerinnung. Eines der bekanntesten Beispiele für Zeitdehnung ist die Lange23
Aristoteles: Physik: 4. Buch, Kap. 11 (218b 21 ff.). A
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weile, die, wie bereits der Name ankündigt, ein langes Verweilen und Bleiben meint. Weile geht auf einen indogermanischen Verbalstamm *kui zurück, der in lateinisch quie¯s = ›Ruhe‹, quie¯tus = ›ruhig‹, quie¯scere = ›ruhen‹ vorkommt, ebenso, mit l erweitert, in gotisch heila = ›ruhen‹, in altnordisch hvı¯la = ›Bett‹, hvı¯ld = ›Ruhe‹, altindisch ka¯lah, = ›Zeitpunkt‹, ›Schicksal‹, ›Tod‹. Wir beobachten dieses Zeitdehnungsphänomen, wie schon angedeutet wurde, bei einem uninteressanten, schläfrigen Vortrag, sei es, daß uns dessen Inhalt dürftig, ja mager vorkommt, uns nicht fasziniert, unsere Aufmerksamkeit nicht auf sich zieht und gefangen hält, sei es, daß dessen Vortragsstil langatmig und stockend ist. Minuten dehnen sich dann zu Stunden, Stunden zu Tagen, diese zu einer Ewigkeit. Wir haben das Gefühl, daß die Zeit nicht voranschreiten und zum Abschluß kommen will, daß sie sich wie eine träge Masse vor uns ausbreitet, die wir weiterschieben möchten, aber nicht können. Oder wir empfinden sie als eine Gegenmacht, die wir vertreiben möchten, wozu wir jedoch nicht fähig sind. Im Zeitkäfig gefangen, sind wir erstarrt. Ging die frühere psychologische Forschung (z. B. Kant 24 ) davon aus, daß Zeitdehnung hauptsächlich einem Mangel an Erlebnissen und Einflüssen entspringe, einer Armut an Anregungen, kurzum inhaltlicher Leere, so hat die neuere Forschung (Hoche 25, Panse 26, Schmitz 27 ) anhand einer Vielzahl von Beobachtungen nachgewiesen, daß auch bei Reichhaltigkeit an Eindrücken Zeitdehnung auftreten kann. Bekannt sind die Prüfungs- und Vorstellungssituationen, in denen ein Examinant oder Bewerber versagt. Hier prasseln reichlich Eindrücke auf den Kandidaten ein, Gedanken verschiedenster Art gehen ihm durch den Kopf, Lösungsmöglichkeiten durchkreuzen sich, ohne sich zu konkretisieren, die hochnotpeinliche Situation will nicht enden, die bangen Minuten dehnen sich für den Probanden zur Unendlichkeit. Die Zeit scheint stillzustehen. Ähnliches gilt auch für eine Gastgeberin, deren Diner in jeder Weise mißlungen ist: die I. Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, § 61, in: Kants gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaft, Bd. 7, Berlin 1907/17, photomech. Wiedergabe Berlin 1968, S. 233 ff. Vgl. K. Gloy: Studien zur theoretischen Philosophie Kants, Würzburg 1990, S. 76–81. 25 A. Hoche: Langeweile, in: Psychologische Forschung, Bd. 3 (1923), S. 258–271, bes. S. 261, 264, 267 f. 26 F. Panse: Veränderungen des Zeiterlebens in der Angst, a. a. O., S. 173 ff. 27 H. Schmitz: System der Philosophie, a. a. O., Bd. 1, S. 354–360. 24
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Sauce versalzen, der Braten nicht gar, Rotweingläser umgestoßen, die Tischdecke befleckt usw. Ihr gehen tausend unangenehme Gedanken wegen des verpatzten Abends, des Renommee-Verlustes u. ä. durch den Kopf. Die Zeit bis zum Aufbruch der Gäste zieht sich hin, will nicht enden, scheint eine Ewigkeit zu dauern. Ebensowenig wie für das Phänomen der Zeitdehnung mit seiner extremsten Folge, dem Zeitstillstand, der Inhalt – Armut oder Reichtum an Erlebnissen – ausschlaggebend ist, ebensowenig ist auch die Stimmungslage, die wir Befindlichkeit nennen, entscheidend. Zwar geht mit der Langeweile häufig das Gefühl des Unmuts und der Verärgerung einher, ebenso wie sich auch in den Gefühlslagen des Verdrusses, der Ungeduld Zeitdehnung einstellt. 28 Es sind aber auch die umgekehrten Fälle bekannt, in denen ein angenehmes Gefühl, ein Gefühl des Wohlbehagens, mit Zeitdehnung verbunden ist, so beim Dahindämmern, Dösen und Einschlafen. Mit dem Zurücktreten der lauten, bunten Welt minimiert sich das Zeitempfinden bis hin zur gänzlichen Erlöschung. Die Zeit dehnt sich, man selbst mit ihr, man versinkt in einem indifferenten Abgrund. Dem herabgesetzten Bewußtseinszustand entspricht ein herabgesetztes, schließlich erlöschendes Zeitgefühl. Wer kennt nicht nach langer physischer und psychischer Anstrengung das Gefühl der Ermüdung und der wohligen Entspannung, wobei die Eindrücke, die einen bislang gefangenhielten, nachlassen und die Zeit gleichgültig wird? Entspannungsmethoden, Massagen, Bäder, verfeinert mit duftenden ätherischen Ölen, untermalt mit berieselnden Klängen, fernöstliche Methoden wie Ayurveda, Thalasso und autogenes Training sind gerade in der Moderne Mittel, den Alltag verblassen, die Eindrücke zurücktreten, das Gefühl für zeitliche Abläufe entrücken zu lassen. Hetze und Streß bleiben hinter einem, es breitet sich nur noch unendliche Dauer aus. Zeitdehnung und Zeitstillstand treten im Zusammenhang mit den verschiedensten, ja gegensätzlichen Befindlichkeiten auf. Beim
A. Hoche: Langeweile, a. a. O. S. 258, hat darauf hingewiesen, daß im Deutschen mit ›Langeweile‹ eine Zeitvorstellung verbunden ist, während andere Sprachen, sowohl alte wie das Lateinische und Griechische wie auch moderne wie das Französische, Russische, Skandinavische, Englische, keinen besonderen Ausdruck für ›Langeweile‹ haben. In ihnen übernehmen meist Ausdrücke wie ›Verdrießlichkeit‹, ›Ärgerlichkeit‹, ›Überdruß‹ die Funktion, die subjektive Empfindung der Langeweile zum Ausdruck zu bringen, so etwa im Englischen in poetischer Form ›time hangs heavily on my hands‹.
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Versuch einer Klassifikation verdienen folgende Phänomene Berücksichtigung: 29 Erwartung – sie ist eine Befindlichkeit, die auf ein zukünftiges positives oder negatives, angenehmes oder unangenehmes, erwünschtes oder unerwünschtes Ereignis gerichtet ist, dessen Eintritt die Zeit verzögern lassen kann. Wenn der erwartete Liebesbrief auf sich warten läßt, will das Warten kein Ende nehmen; die Zeit scheint stillzustehen, sich nicht vom Fleck zu bewegen. Hoffnung – sie bezieht sich auf ein fernes zukünftiges Ereignis, zwischen dessen Eintritt und der Gegenwart sich gegebenenfalls unendliche Zeit aufspannt. Je ferner das Ereignis liegt, je länger die Zeit bis zum erhofften Eintritt dauert, desto größer und intensiver ist meist die Hoffnung. Bei einem unendlich fernen Ziel bleibt nur ein Sehnen. Sehnsucht – sie ist dadurch definiert, daß der Gegenstand unerreichbar bleibt. Die Sehnsucht wird nie erfüllt, die Zeit zwischen der Gegenwart und dem zukünftigen Ereignis dehnt sich ins Unermeßliche. Spannung – sie ist ebenfalls ein Zustand der Erwartung eines Zukünftigen, dessen Eintritt oder Nichteintritt noch zweifelhaft ist. Zwar wird der Eintritt in lebhafter Vorstellung antizipiert, wobei sich zwischen Wunsch und Realisation jedoch eine unendliche Zeitkluft auftun kann. Ungeduld – sie ist eine Form interessierter Erwartung und besteht in dem Bemühen, entweder das Kommende, sofern es angenehm ist, so schnell wie möglich herbeizuführen, oder, sofern es unangenehm und unerwünscht ist, zu vermeiden. Verbunden ist mit der Ungeduld das Mißbehagen über den zögerlichen Ablauf der Zeit. Das Phänomen der Zeitverlangsamung mit dem Extrem des Zeitstillstands ist nicht nur aus dem Alltag und Normalleben bekannt, sondern auch aus krankhaften, vor allem depressiven Zuständen. Wenn Melancholie, Schwermut, namenlose Trauer den Menschen überkommen, wenn Ausweglosigkeit und Angst ihn befallen, versinkt alles in einem indifferenten Grau und Schwarz, einem Nichts; das Ich erstarrt und damit auch seine Fähigkeit zum Zeiterleben. Es gibt dann weder Vergangenheit noch Zukunft für den Kranken, nur noch leere, endlose Gegenwart. Die Zeit bewegt sich nicht mehr, steht still. Eine Ahnung von diesem trüben Zustand gibt Nietzsches Gedicht Der geheimnisvolle Nachen: 29
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Zur Auflistung vgl. A. Hoche: Langweile, a. a. O., S. 262.
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»Eine Stunde, leicht auch zwei, Oder war’s ein Jahr? – da sanken Plötzlich mir Sinn und Gedanken In ein ew’ges Einerlei, Und ein Abgrund ohne Schranken That sich auf: – da war’s vorbei!« 30
Auch der Zustand absoluter Gleichgültigkeit, absoluten Desinteresses gehört hierher, wie ihn Conrad Ferdinand Meyer in seinem Gedicht Eingelegte Ruder beschreibt: »Nichts, das mich verdroß! Nichts, das mich freute! Niederrinnt ein schmerzenloses Heute!« 31
Eigentlich dürfte nicht einmal mehr vom Verrinnen der Zeit die Rede sein, sondern nur noch von einem Versinken in Bewegungs-, Regungs- und Zeitlosigkeit, in Totenstarre.
4.3. Zeitkontraktion (Zeitrafferphänomen): stehende Gegenwart Das Gegenphänomen zum Zeitlupenphänomen ist das Zeitrafferphänomen. Während das erstere mittels der Zeitlupe die Dehnung und Verlangsamung der Zeit bis zum Stillstand zum Ausdruck brachte, wie wir dies aus der verzögerten und schließlich zum Erliegen kommenden kinematographischen Darstellung eines in Wirklichkeit abrupten Geschehens, z. B. des Aufbrechens einer Blütenknospe, kennen, so dient der zweite Vergleich mit einem Raffer der gerafften und beschleunigten Darstellung der Zeit, die bis zu dem Grade gesteigert werden kann, daß die Beschleunigung unserem äußeren und inneren Auge als Stillstand erscheint, wie wir dies ebenfalls aus der Kinematographie, und zwar der gerafften Darstellung eines in Wirklichkeit langsam verlaufenden Entwicklungsprozesses, z. B. einer Pflanze aus dem Samen, kennen. 32 Wird im ersten Fall die Zeit gelängt und verlangsamt bis zur unbewegten Dauer, so im zweiten gekürzt und beF. Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, in: Sämtliche Werke, kritische Studienausgabe in 15 Bden., hrsg. von G. Colli und M. Montinari, 2. durchgesehene Aufl. Berlin, New York 1988, Bd. 3, S. 644. 31 C. F. Meyer: Sämtliche Werke, 2 Bde., Luzern 1972, Bd. 2, S. 39. 32 24 Bilder pro Sekunde sind kinematographisch erforderlich, um den Eindruck des Fließens zu erzeugen, ein Vielfaches mehr, um den Eindruck der Bewegung zum Stehen zu bringen. 30
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schleunigt bis zum nunc stans. Während beim Zeitlupenphänomen ein Zeitquantum ins Unendliche gestreckt und dessen Inhalt über die Unendlichkeit verteilt gedacht wird, denkt man sich im Kontrastfall dasselbe auf einen unendlich kleinen Punkt kontrahiert, den Inhalt – im Extremfall das Insgesamt – auf einen Punkt zusammengeschnurrt, so daß man hier eine simultane Allgegenwart, eine Omnipräsenz, vor sich hat, mag man sie Ewigkeit oder Epiphanie der ewigen Gegenwart nennen. 33 Erlebnisse von Zeitkontraktion werden sowohl in ordinären, alltäglichen wie in extraordinären, abnormen Situationen, insbesondere in Grenzsituationen, beobachtet. Zu den bekanntesten Alltagsphänomenen zählt die Kurzweil, das Kontrastphänomen zur Langeweile. Es tritt auf, wenn man einen aufregenden, intensiven Arbeitstag verlebte, einen erlebnisreichen Urlaub verbrachte, bei einer Stadtbesichtigung eine Vielzahl neuer Eindrücke sammelte oder Altbekannte traf und sich mit ihnen über die Schul- und Studienzeit austauschte. Man sagt dann, daß die Zeit wie im Fluge vergangen sei, daß man gar nicht wisse, wo sie geblieben sei. Aber auch in weniger angenehmen Situationen verkürzt sich die Zeit, z. B. wenn noch ein langer Weg bis zum Bahnhof zurückzulegen ist, einem aber nur wenig Zeit bleibt, um den Zug zu erreichen. Hektisch schaut man während des Weges immer wieder auf die Uhr, sieht den Zeiger schneller vorrücken als gewöhnlich, sieht die Zeit geradezu schrumpfen, während sich der Weg in voller Länge vor einem ausbreitet. Dasselbe gilt für alle Arten von Hektik und Streß, die das Gefühl erzeugen, daß die Zeit nicht ausreicht, daß sie zu schnell vergeht, um die sich vor einem auftürmenden Geschäfte bewältigen zu können. Könnte man hier die Zeitschrumpfung noch aus der Disproportion und Inadäquatheit der verfügbaren Zeit zu der zu bewältigenden Arbeit erklären, so ist die Lebensbilderschau ein Beleg für eine Zeitraffung, die den Inhalt, und zwar den des gesamten Lebens, auf einen Moment zusammenzieht. Dieses Phänomen wurde zunächst in Bergsteigerkreisen bei Abstürzen und drohender Lebensgefahr beobachtet, wenn der Betroffene den Tod vor Augen hatte. Eine eindrucksvolle Schilderung verdanken wir dem Geologen und Bergsteiger Vgl. G. Picht: Die Epiphanie der Ewigen Gegenwart: Wahrheit, Sein und Erscheinung bei Parmenides, in: ders.: Wahrheit, Vernunft, Verantwortung. Philosophische Studien, Stuttgart 1969, S. 36–86.
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Albert Heim, der im Jahrbuch des Schweizer Alpenclub von 1891/92 von einer solchen Schau angesichts seines eigenen Absturzes am Säntis berichtet: »Während dem Fall stellte sich die erwähnte Gedankenfluth ein. Was ich in fünf bis zehn Secunden gedacht und gefühlt habe, läßt sich in zehnmal mehr Minuten nicht erzählen. Alle Gedanken und Vorstellungen waren zusammenhängend und sehr klar, keineswegs traumhaft verwischt. Zunächst übersah ich die Möglichkeiten meines Schicksals und sagte mir: Der Felskopf, über den ich nächstens hinausgeworfen werde, fällt unten offenbar als steile Wand ab, denn er verdeckte den unten folgenden Boden für meinen Blick; es kommt nun ganz darauf an, ob unter der Felswand noch Schnee liegt. Wenn dies der Fall ist, so wird der Schnee von der Wand abgeschmolzen sein und eine Kante bilden. Falle ich auf die Schneekante, so kann ich mit dem Leben davonkommen, ist aber unten kein Schnee mehr, so stürze ich ohne Zweifel in Felsschutt hinab, und dann ist bei dieser Sturzgeschwindigkeit der Tod ganz unvermeidlich. Bin ich unten nicht todt und nicht bewußtlos, so muß ich sofort nach dem kleinen Fläschchen Essigäther greifen, das ich beim Weggehen auf dem Säntis nicht mehr in die Tornisterapotheke geborgen, sondern nur in die Westentasche gesteckt habe, und davon einige Tropfen auf die Zunge nehmen. Den Stock will ich nicht gehen lassen, vielleicht kann er mir noch nützen. Ich behielt ihn dann auch fest in der Hand. Ich dachte daran, die Brille wegzunehmen und fortzuwerfen, damit mir nicht etwa ihre Splitter die Augen verletzen, allein ich wurde derart geworfen und geschleudert, daß ich der Bewegung meiner Hände hiefür nicht mächtig werden konnte. Eine andere Gedanken- und Vorstellungsgruppe betraf die Folgen meines Sturzes für die Hinterbleibenden. Ich sagte mir, daß ich, unten angekommen, gleichgültig, ob ich schwer verletzt sei oder nicht, jedenfalls, wenn immer möglich, sofort aus Leibeskräften rufen müsse: ›es hat mir gar nichts gethan!‹ damit meine Begleiter, darunter mein Bruder und drei Freunde, aus dem Schrecken sich so weit aufraffen könnten, um überhaupt den ziemlich schwierigen Abstieg zu mir herab zu Stande zu bringen. Ich dachte daran, daß ich nun meine auf fünf Tage später angekündigte Antrittsvorlesung als Privatdocent jedenfalls nicht halten könne. Ich übersah, wie die Nachricht meines Todes bei den Meinigen eintraf, und tröstete sie in Gedanken. Dann sah ich, wie auf einer Bühne aus einiger Entfernung, mein ganzes vergangenes Leben in zahlreichen Bildern sich abspielen. Ich sah mich selbst als die spielende Hauptperson. Alles war wie verklärt von einem himmlischen Lichte und Alles war schön und ohne Schmerz, ohne Angst, ohne Pein. Auch die Erinnerung an sehr traurige Erlebnisse war klar, aber dennoch nicht traurig. Kein Kampf und Streit, auch der Kampf war Liebe geworden. Erhabene und versöhnende Gedanken beherrschten und verbanden die Einzelbilder, und eine göttliche Ruhe zog wie herrliche Musik durch meine Seele. Mehr und mehr umgab mich ein herrlich blauer Himmel mit rosigen und besonders mit zart violetA
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ten Wölklein – ich schwebte peinlos und sanft in denselben hinaus, während ich sah, daß ich nun frei durch die Luft flog, und daß unter mir noch ein Schneefeld folgte. Objectives Beobachten, Denken und subjectives Fühlen gingen gleichzeitig nebeneinander vor sich. Dann hörte ich mein dumpfes Aufschlagen, und mein Sturz war zu Ende. In dem Momente war mir, es husche ein schwarzer Gegenstand vor meinen Augen vorüber, und ich rief aus Leibeskräften drei bis vier Mal nacheinander: ›Es hat mir gar nichts gethan!‹ Ich nahm von dem Essigäther, ich griff nach der Brille, die unversehrt neben mir im Schnee lag, ich betastete meinen Rücken und meine Glieder, um zu constatiren, daß ich keine Knochen gebrochen.« 34
Genaugenommen wird man gar nicht einmal von einem Revue-Passieren, einem sukzessiven Abspulen des gesamten Lebens in Sekunden oder Bruchteilen von Sekunden sprechen dürfen, sondern von dem gleichzeitigen Eindruck unzählig vieler Situationsbilder, von einem Momentanerlebnis im Sinne einer Gesamtlebensschau. Quasi simultan steht die Bilderfolge vor dem inneren Auge. Das Englische hat hierfür die stehende Wendung: Life flashes before my eyes. Ähnliche Fälle sind auch aus anderen Grenzsituationen bekannt, wie Flugzeugabstürzen, Einschlag von Fliegerbomben, Ertrinken u. ä. Zu den extraordinären Situationen zählen auch pathologische Zustände, schizophrene 35 , ebenso Vergiftungs- und Rauschzustände 36, die teils natürlich auftreten, teils experimentell über Drogen und Gifte evoziert werden. Aus solchen Situationen werden abnorme Zeitbeschleunigungen berichtet, sowohl was die Objekt- wie was die Subjektseite betrifft. Die wahrgenommenen Bewegungen der umgebenden Personen wirken rascher, hektischer, übertrieben schnell, nicht minder die Bewegungen des Subjekts. Alles entwickelt sich unheimlich rasant, der Zeitfluß scheint extrem beschleunigt zu sein. Im Meskalinrausch wird nicht nur eine ungeheure Intensivierung der Farben und Formen konstatiert, nicht nur ein Wechsel optischer und haptischer Halluzinationen, ein ständiges Entstehen und Vergehen von Ornamenten, Schleifen, Kreisen, Kugeln, Schlingpflanzen, ZickZack- und Spiral-bewegungen, kometenartigen, rotierenden LichtA. Heim: Notizen über den Tod durch Absturz, in: Jahrbuch des Schweizer Alpenclub, Jg. 27 (1891–1892), (Bern 1892), S. 327–337, bes. S. 334 f. 35 Vgl. F. Fischer: Zeitstruktur und Schizophrenie, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychologie, Bd. 121 (1929), S. 544–574; F. Panse: Veränderungen des Zeiterlebens in der Angst, a. a. O., S. 130. 36 Vgl. A. Šerko: Im Mescalinrausch, in: Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie, Bd. 34 (1913/14), S. 355–366. 34
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streifen, flächenhaften Malereien und stereoskopischen Gebilden, ein Farben- und Formenrausch, ein »Wirbeltanz von Licht und Farbe« 37 , sondern auch eine Störung des Zeitsinns in Form einer Zeitbeschleunigung und -verflüchtigung, indem die Zeit und man selbst in ihr schneller zu vergehen scheinen, als es die Bewältigung der vor einem liegenden Aufgaben erlaubt, mit denen man sich ohne Erfolg abmüht. Wie das Zeitlupenphänomen nicht von einem bestimmten Inhalt – Armut oder Reichhaltigkeit an Erlebnissen – abhängt, so ist auch das Zeitrafferphänomen nicht an einen bestimmten Inhalt gebunden. Steht bei der Lebensbilderschau oder bei Halluzinationen das gesamte Leben, die unendliche Fülle an Formen und Farben in einem Moment vor dem inneren Auge, so ist auch das Gegenteil möglich, nämlich die Reduktion auf einen einzelnen Gegenstand oder Sachverhalt wie bei jenem Sprengmeister, der unglücklicherweise beim Sprengvorgang in eine Grube fiel und nun die Zündschnur abbrennen sieht. Den Tod vor Augen starrt er auf die abbrennende Zündschnur wie der Hase auf die Schlange. In panischer Angst zieht sich für ihn die Zeit zusammen und erstarrt. Hier steht nicht die Gesamtheit des Lebens omnipräsent im Moment vor ihm, sondern ein extrem reduzierter, auf den Sachverhalt des Abbrennens eingeschränkter Inhalt, der als Zeitstillstand erfahren wird. Und ebenso wie das Zeitlupenphänomen nicht an eine bestimmte Erlebnisweise gebunden ist – es kann gleicherweise negativ wie positiv konnotiert sein –, ist auch das Zeitrafferphänomen nicht an irgendeine Erlebnisart gebunden. Zählt die Angst zu den negativen Erlebnisweisen, die mit Daseinsengung einhergeht, so gehören andere Erlebnisweisen, die mit Daseinserweiterung, Glück, innerer Zufriedenheit, Leichtigkeit und Schwerelosigkeit, Helligkeit und Licht verbunden sind, zu den positiven Zuständen, die immer wieder gesucht und auch gefunden werden. Gemeint sind die mystischen Zustände der Verzückung und Entrückung, der Erleuchtung, der visio beatifica, der Ewigkeitsschau. Solche Zustände sind nicht nur aus der christlichen Religion bekannt, sondern auch aus dem indischen YogaSystem, dem chinesisch-japanischen Zen-Buddhismus, aus taoistischen Meditationsübungen sowie aus dem Hesychasmus der Ostkirche und werden teilweise in Form von religiösen Praktiken, Yoga- und Meditationsübungen systematisch geübt. Zur Erlangung des gewünschten Zustands werden sowohl kör37
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perliche wie psychisch-spirituelle Techniken empfohlen, wie Sitzund Atemübungen, das Pressen des Kinns auf die Brust, das Zurückschlagen der Zunge in den Rachen u. ä., wie auch Konzentrationsübungen, die Fixation auf einen bestimmten Punkt, Mantra-Meditation durch das monotone Murmeln an sich bedeutungsloser Silben wie om, hum, hem, ham, hum, pad, so in dem berühmten lamaistischen om mani padme hum, verbunden mit einem Nachsummen derselben. Es sind durchweg Anspannungs- und Konzentrationsübungen, die nicht selten den Eindruck von Verrenkungen machen: die seltsame Yogaübung Khechari-Mudra, das Zurückschlagen einer künstlich verlängerten Zunge in den Rachen, oder die Konzentration auf das Ajña-Zentrum, den Kreuzungspunkt zwischen den Augenbrauen und der vertikalen Achse der Kopfdrehung, oder die Omphaloskopie, die Nabelschau, oder das Pressen des Kinns auf die Brust. Schmitz, der den religiösen Praktiken eingehende Untersuchungen gewidmet hat 38 , beschreibt den Mechanismus mystischer Techniken als ›Leibbemeisterung‹ und ›Leibbeherrschung‹. Über eine extreme leibliche Engung und Anspannung werde schließlich eine Abspaltung der Enge und damit eine privative Weitung erreicht. 39 Mit dieser Ablösung verbinde sich das Gefühl der Entgrenzung, Levitation, des Schwebens und Fliegens, der Helligkeit und des Lichts – daher auch der Ausdruck ›Erleuchtung‹. Was in dieser plötzlichen entgrenzenden Erfahrung erlebt wird, ist Omnipräsenz, stehende Allgegenwart. Beschrieben werden sowohl in östlichen wie in westlichen Meditationstechniken zwei Wege, ein sukzessiver über Meditationsstufen in Form eines Aufstiegs wie im indischen Yoga-System, das acht Stufen kennt 40 , und ein plötzlicher, abrupter Umschlag wie im Hesychasmus. Beide stimmen darin überein, daß sie eine Engung in Form von Konzentration und Anspannung suchen, einen Zustand, der Vgl. H. Schmitz: System der Philosophie, Bd. 2, 1. Teil, Bonn 1965, S. 178 ff., Bd. 3, 1. Teil, Bonn 1967, S. 166 ff. 39 Vgl. a. a. O., Bd. 2, 1. Teil, S. 126 ff., 178 u. ö. 40 Vgl. M. Eliade: Yoga. Unsterblichkeit und Freiheit (Titel der Originalausgabe: Le Yoga, Paris), aus dem Französischen übersetzt von I. Köck, Frankfurt a. M. 1985, bes. S. 55–109. Er nennt folgende Techniken und Stationen: 1. Bezähmungen (yama), 2. Disziplinen (niyama), 3. Körperhaltungen und -stellungen (âsana), 4. Rhythmisierung der Atmung (prânâyâma), 5. Emanzipation der Empfindungen von der Herrschaft ˙ äußerer Objekte (pratyâhâra), 6. Konzentration (dhâranâ), 7. yogische Meditation ˙ (dhyâna) und 8. Erleuchtung (samâdhi) (vgl. S. 56). 38
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Ähnlichkeit aufweist mit der Angst, die ja ebenfalls Engung bedeutet, jedoch im Unterschied zur Entgrenzung unfähig ist, den Umschlag zu Öffnung und Weitung zu vollziehen. Bleibt die Abspaltung der Leibesenge aus, so verharrt der Mensch in ängstlicher Erstarrung. Die mystischen Visionen, die in der visio beatifica erfahren werden, werden von Mystikern und Mystikerinnen wie Angelus Silesius, Bernhard von Clairvaux, Hildegard von Bingen, Adelheid von Rheinfelden, Sophie von Klingnau u. a. als Einbruch der Ewigkeit in den Augenblick beschrieben, was auf dasselbe hinausläuft wie die momentane Weitung zum Ganzen. Ein berühmtes literarisches Zeugnis stammt von Goethe aus dem Faust II. Am Ende seines Lebens, als Faust die Vision eines dem Meer abgerungenen Landes hat, das glückliche Menschen bebauen, also Lebensfülle und Daseinserweiterung empfindet, heißt es: »Im Vorgefühl von solchem hohen Glück Genieß’ ich jetzt den höchsten Augenblick.« 41
Auch an anderen Stellen seines Werkes, so im West-östlichen Divan in einem Spruch Suleikas, hat Goethe diese mystische Erfahrung zum Ausdruck gebracht: »Der Spiegel sagt mir, ich bin schön! Ihr sagt: zu altern sei auch mein Geschick. Vor Gott muß alles ewig stehn, In mir liebt Ihn, für diesen Augenblick.« 42
Für Angelus Silesius ist nicht nur das Zeiterlebnis in signifikanten Augenblicken eines der Ewigkeit, sondern auch das Wesen der Dinge, das in solchen Augenblicken erschaut wird. Es ist ein ewiges, allgegenwärtiges im Sinne des mittelalterlichen Exemplarismus, wonach die Idee der Dinge in der Art eines Musters seit Ewigkeit gegenwärtig ist. So heißt es bei ihm: »Die Rose, welche hier dein äußeres Auge sieht, Die hat von Ewigkeit in Gott also geblüht.« 43 Vers 11585 f., in: J. W. Goethe: Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 3, Hamburg 1949, 6. Aufl. 1962, S. 348. 42 J. W. Goethe: West-östlicher Divan, in: Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 2, Hamburg 1949, 6. Aufl. 1902, S. 41 (Buch der Betrachtungen). 43 Angelus Silesius (Johannes Scheffler): Cherubinischer Wandersmann oder geistreiche Sinn- und Schlussreime, hrsg. von L. Gnädinger nach dem Text von Glatz 1675, Zürich 1986, S. 58. 41
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Zeitempfinden in der Mystik: Ewigkeit
Das gegenüber der Normalität veränderte Zeiterleben in der Mystik, das dort in Zusammenhang gebracht wird mit der Erfahrung von Ewigkeit, bedarf einer genaueren Analyse. Mystik ist, wie schon angedeutet wurde, ein spiritueller Zustand, der physiologisch fundiert ist und zumeist im Kontext von Religionen auftritt. Er wird entweder einzeln oder in Gemeinschaft in Form eines Lehrer-Schüler-Verhältnisses praktiziert und weitet sich gelegentlich zu ganzen Strömungen aus. In der Mystik geht es, wie das Wort besagt, das von griechisch mue…n 44 abgeleitet ist und ›verschließen‹ bedeutet, insbesondere um das Verschließen von Augen, Ohren und Mund, um die Abwendung des Menschen von der bunten, schrillen Außenwelt, deren flüchtigen, wechselnden Erscheinungen, die den Menschen normalerweise in ihren Bann ziehen und gefangennehmen; es geht um seine innere Einkehr, die in einer Selbstzuwendung und Selbstfindung besteht. In dieser Seelenhaltung wird eine Begegnung und Berührung mit dem Absoluten oder Göttlichen – dem All – in Form einer unio mystica unterstellt, mit der eine Veränderung des Zeiterlebens verbunden ist. Der Zustand ist Ek-stasis, Aus-sich-Herausgehen und -Stehen, Übertritt in eine andere Dimension, in der die gegenständliche Welt und das an sie gebundene Zeiterleben einschließlich des erlebenden Ich überwunden werden zugunsten einer Entindividuation, eines Aufgehens in der Ewigkeit. Da die mystische Versenkung bzw. Ekstasis im Kontext von Religionen auftritt, ist es nur allzu verständlich, daß sie sich auch der Bilder- und Formelsprache der Religionen bedient, vorausgesetzt, daß sie die Erfahrung überhaupt zu artikulieren versucht und nicht im Schweigen verstummt. Daß die religiösen Vorstellungen oft in philosophischen Systemen fundiert oder mit solchen konfundiert sind und folglich deren Begrifflichkeit übernehmen, ist ebenfalls verständlich. Trotz aller Differenzen, was die Techniken, die Mittel und Wege zur Erreichung des Ziels betrifft, ob diese in ruhiger Sitzhaltung, im sogenannten Yogasitz, und Atemübungen wie im Buddhis44 Im Griechischen begegnet der Wortstamm auch in mÐsth@, der Myste, und mustffirion, das Mysterium, die beide auf wortlose Versenkung deuten, was sich bis in den mittelalterlichen Begriff der Mystik fortsetzt. Im Sanskrit begegnet das Wort mukas mit der Bedeutung ›stumm‹, und im Lateinischen findet sich die Form mutus, ebenfalls mit der Bedeutung ›stumm‹.
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Zeitempfinden in der Mystik: Ewigkeit
mus oder in rhythmischen Bewegungen wie bei den tanzenden Derwischen im Islam bestehen, in leiblichen oder geistigen Praktiken, ob der Vollkommenheitszustand als samadhi im Yogasystem, als Aufgehen in Brahma im Hinduismus und Buddhismus oder als unio mystica mit Gott im Christentum beschrieben wird, die Grunderfahrung ist in allen dieselbe. Das gilt auch für die Beschreibung des Verhältnisses von Zeit und Ewigkeit. Im folgenden soll am Beispiel eines christlichen Mystikers, Meister Eckharts (1260–1327), des Vaters der deutschen Mystik, diese Grunderfahrung detaillierter dargestellt werden. Ausgewählt wurde gerade er, weil seine Ausführungen den Gegensatz von Zeit und Ewigkeit in den Vordergrund rücken. Zudem verbinden sich in ihm mystische und scholastische Tradition. Beeinflußt einerseits von Thomas von Aquin, weiter zurückgehend von Augustin, Dionysios Areopagita, dem Neuplatonismus, ebenso von Johannes Scotus Eriugena, der Schule von Chartres, andererseits von den Viktorinern, von Rupert von Deutz, Bernhard von Clairvaux und den mystischen Strömungen, die im 12. und 13. Jahrhundert in deutschen Klöstern lebendig waren und für die Hildegard von Bingen, Gertrud die Große, Mechthild von Magdeburg, Mechthild von Hackeborn u. a. stehen, bedient sich Eckhart in seinem spekulativen, philosophischen Denken und seiner Begrifflichkeit des antiken Gedankenguts, so der von Platon im Parmenides entwickelten ¥xafflfnh@-Vorstellung und der von Aristoteles in der Physik weitergeführten n‰n-Vorstellung, während er seinen Glauben und sein mystisches Fühlen in seinen Predigten zumeist in deutscher Mundart zum Ausdruck bringt, wenn auch nicht immer. Eckharts Mystik soll unter vier Aspekten expliziert werden. Es sind dies erstens die weltliche Zeit, zweitens die Art und Weise der Konversion, drittens die Ewigkeitserfahrung und viertens die Beschreibung der Ewigkeit mit zeitlichen Mitteln. 5.1. Die weltliche Zeit Das religiöse Weltbild, von dem Eckharts Mystik lebt, ist geprägt durch den christlichen Dualismus von Diesseits und Jenseits, von geschaffenem, endlichem Seiendem (ens creatum) und schaffendem, unendlichem, göttlichem Sein (ens creans), von denen das erste durch Zeitlichkeit, das zweite durch Ewigkeit gekennzeichnet ist. Der Mensch als Krone der Schöpfung steht in der Mitte zwischen A
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beiden, indem er mit seinem Leib am geschöpflichen, zeitlichen Seienden teilhat, mit seiner Seele am unendlichen, ewigen Sein. Was die subtilere philosophisch-theologische Interpretation betrifft, so steht Eckhart in der auf die antike griechische Philosophie zurückgehenden und später mit dem Christentum vermittelten Tradition, so etwa hinsichtlich der Seelenkonzeption, mit der er an die platonische triadische Einteilung der Seele in ein logistikn, qumoeidff@ und ¥piqumhtikn anknüpft, von denen nur das erste unsterblich ist gegenüber den beiden anderen sterblichen. Diese Konzeption spielt insoweit in Eckharts Vorstellungswelt hinein, als auch er den höchsten Seelenteil mit dem Vermögen von Vernunft und Wille identifiziert, die ins Jenseitige hineinragen und der Zeitlichkeit entzogen sind oder zumindest entzogen werden können. Das gilt insbesondere für die vernünfticheit, deren Spitze das vünkelîn der Seele ist. Die diesseitige, weltliche Zeitlichkeit hat, wie alles Geschöpfliche, einen defizienten Modus. Sie ist mit dem Mangel der Vergänglichkeit behaftet; sie ist das Fließende, Wandelbare, Unstetige, Flüchtige, Dahinschwindende. Sie hat die Seinsschwäche der Vergänglichkeit. Dieser zutiefst menschlichen Zeiterfahrung wird alles Geschöpfliche unterworfen. Das eminenteste Merkmal an der Zeit, das Eckhart herausstellt, ist nicht der quantitative Charakter, der zur logisch-mathematischen Zeit mit den Merkmalen der Unendlichkeit, Homogenität und Kontinuität führt, auch nicht der modale Charakter mit der Einteilung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, obwohl diese ihm nicht unbekannt sind, sondern die Vergänglichkeitsstruktur. Die Flüchtigkeit zeigt sich besonders am zeitlichen nû. »Nû, daz ist daz allerminste von der zît; ez enist noch ein stücke der zît noch ein teil der zît: ez ist wol ein smak der zît und ein spitze der zît und ein ende der zît.« 45
Das nû wird hier nach verschiedenen Seiten betrachtet und abgetastet und unter verschiedene Interpretationsmöglichkeiten gestellt. Letztlich gehört es zur Zeit, wenn auch als kleinster Bestandteil (daz allerminste von der zît). Zwar ist es kein quantitativer Bestandteil der Zeit (ein stücke, ein teil), sondern ein momentaner, punktueller, Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke, hrsg. im Auftrage der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die deutschen Werke, hrsg. und übersetzt von J. Quint, unveränderter Nachdruck Stuttgart, Berlin, Köln 1958–1986, Bd. 3, S. 170, 2 ff.
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der hier mit der Spitze eines Berges oder der Berührung eines Geschmacks verglichen wird und als Ende der Zeit dem Anfang der Zeit analog ist. Dahinter wird die platonisch-aristotelische Unterscheidung von mffro@ = ›Teil der Zeit‹ im Sinne eines quantum continuum und edo@ im Sinne der Modalitäten der Zeit, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sichtbar, von denen die Gegenwart ein Jetzt ist, bei Platon das ¥xafflfnh@, bei Aristoteles das n‰n. Während für die beiden letzteren dieses Moment aus der Zeit herausfällt – für Platon ist das ¥xafflfnh@ ˝topon = ›stellen-, ort- und zeitlos‹, für Aristoteles ist es ein nicht-konstitutiver Teil der Zeit, ein intellektuelles Prinzip der Verbindung und Trennung der Teile –, gehört es bei Eckhart ausdrücklich zur Zeitlichkeit. Wie klein immer das nû sein mag, es gehört zur Erfahrung der weltlichen Zeit. An einer Stelle seiner deutschen Schriften, in der es um die Konfrontation von irdischer Zeit und göttlicher Sphäre geht, greift Eckhart auf die Begriffe ›Geschmack‹ (smak) und ›Geruch‹ (roch) zurück, um anzudeuten, daß auch der kleinste Hauch von Zeitlichkeit, die minimalste Berührung, wie sie im Geschmack und im Geruch stattfindet, nicht die göttliche Sphäre zu berühren vermag, sondern der Zeit zugehörig bleibt. 46 Die Aufgabe des Mystikers ist das Abstreifen jeglicher Zeitlichkeit, die Erlangung eines Zustands jenseits der Zeit, der der göttlichen Sphäre entspricht; denn nichts ist Gott so fremd und fern wie die Zeit (»… want gotte dem ist enkein ding so vaste wider als dv, zît« 47 ). 5.2. Art und Weise der Konversion Das Verlassen des irdischen Zeiterlebens und die Erhebung in den transzendenten, jenseitigen Zustand erfolgt nach Eckhart im nû. Beschrieben wird der Vorgang als ein instantanes, abruptes Geschehen in Termini wie durchbruch48 und ougenblik 49 , als ein plötzliches instantanes Innewerden und Erleben dessen, was in der höchsten SeeVgl. a. a. O., Bd. 2, S. 455 f., 3 ff. A. a. O., Bd. 2, S. 455, 3 f. 48 Vgl. Sh. Ueda: Die Gottesgeburt in der Seele und der Durchbruch zur Gottheit. Die mystische Anthropologie Meister Eckharts und ihre Konfrontation mit der Mystik des Zen-Buddhismus, Gütersloh 1965, S. 99, bes. S. 119 ff.; A. M. Haas: Meister Eckhart als normative Gestalt geistlichen Lebens, Einsiedeln 1979, 2. Aufl. 1995, S. 24 ff. 49 Meister Eckhart: Die deutschen Werke, a. a. O., Bd. 2, S. 319, 4 f.; S. 628 f., 10 f. 46 47
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lenkraft, dem sogenannten vünkelîn, in unendlicher Gegenwart präsent ist. Mit dieser Beschreibung des spirituellen, mystischen Weges als eines urplötzlichen Erlebens, gleichsam eines Ausbruchs aus der horizontal verlaufenden Zeit in eine vertikale Richtung, unterscheidet sich Eckhart von anderen im Mittelalter gängigen Spiritualitätsformen, insbesondere von denen der älteren Kontemplationsmystik. Diese operiert entweder mit Aufstiegsmodellen, die einen sukzessiven Aufstieg innerhalb des geistigen Lebens unterstellen, oder mit psychologistischen Interpretationen, die die Ekstase als affektive oder intellektive unio mystica beschreiben. Im letzteren Sinne spricht Bernhard von Clairvaux von einer flüchtigen Erfahrung der unio mystica in der Zeit: »rara hora, sed parva mora« 50 . In einem Augenblick der Weltzeit wird die Seelenvereinigung mit Gott vollzogen und erfahren. Anders bei Eckhart, für den die Ekstase kein innerhalb der Zeitlichkeit verbleibender psychischer Akt ist, sondern ein transzendierender. Angesichts des Durchbruchs in eine andere Dimension bekommt das nû einen positiven Aspekt. Es wird ambivalent beschrieben, je nach der Betrachtungsweise von seiten des Diesseits oder des Jenseits. Von seiten der diesseitigen, endlichen Zeit kann wegen der Flüchtigkeit und Vergänglichkeit des Augenblicks nur von einem Hineinscheinen des Göttlichen und einem Anhaften seitens des Menschen gesprochen werden. »Awer wi daz pild richlich, daz di sel enphangen hat von disem glichnuz, sich auftrag boben daz punct der zeit diser wandlung, glich dem obersten geisten in ewicheit; diez merchent, wan daz geschiht, so der mensch mer hat einen anhaftung, haftende inwonung mit freuden seins pildes, daz got ist, dan er hab ein beleiben an im selber, so leuhtet daz pild reichlich dem geist in sein ewig pild.« 51
Von seiten der Ewigkeit zeigt sich die momentane Vereinigung des Menschen mit Gott als Sein im Göttlichen. »Fiat ist daz vil edelst wort, daz ie gesprochen wart. Es sprichet alz vil alz: gesche ein einicheit. Ditz fiat wart gesprochen in der gotlichen ewicheit in der dreier person einung in gotlicher natur. Ez wart auch gesprochen in dem Vgl. St. Gilson: Die Mystik des Heiligen Berhard von Clairvaux, Wittlich 1936, S. 194. 51 F. Jostes: Meister Eckhart und seine Jünger. Ungedruckte Texte zur Geschichte der deutschen Mystik. Mit einem Wörterverzeichnis von P. Schmitt und einem Nachwort von K. Ruh, Freiburg (Schweiz) 1895, 2. Aufl. Berlin, New York 1972, S. 45, 33 ff. 50
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punct der zit der einung gotlicher und menschlicher natur in einer person. Es ward gesprochen in der ewicheit und in der zeit in der einung, daz di sel mit got ein wurd.« 52
Für die Unterscheidung der Aspekte des nû verwendet Eckhart auch die Termini gegenwertiges nû 53 und wesenlîches nû 54 , und in seiner Predigt In diebus suis placuit deo et inventus est iustus 55 vergleicht er den Tag der Seele mit dem Tag Gottes. Während in der Seele alle zeitliche Erstreckung bereits im gegenwärtigen nû zusammengezogen ist, deutet das göttliche, wesenhafte nû eine noch höhere Qualitätsstufe an: »Dâ ist gotes tac, dâ diu sêle stât in dem tage der êwicheit in einem wesenlîchen nû […]« 56
Zwischen beiden liegt ein Qualitätssprung. Flüchtigkeit und Ewigkeit, momentanes nunc und nunc stans, stehen sich gegenüber, sind Aspekte desselben nû. 5.3. Ewigkeitserfahrung Wie sieht nun das in mystischer Entrückung und Schau Erlebte aus? Sofern es überhaupt beschrieben wird und den Erlebenden nicht jeder Sprachlichkeit beraubt, kann es nicht anders als mit Hilfe der dem Menschen verfügbaren Ausdrucksmittel beschrieben werden und, da diese auf zeitlichen Erlebnisformen basieren, mit Hilfe temporaler Ausdrücke, zumindest mit Bezug auf sie. Dies gilt auch, wenn das ganz Andere, die göttliche Sphäre, durch den Ewigkeitsbegriff beschrieben wird. Zunächst zwar legt sich nahe, diese Sphäre durch die Negation der weltlichen Zeitlichkeit, ihrer Flüchtigkeit und Wandelbarkeit zu charakterisieren, nämlich als Zeitlosigkeit, und diese näher zu bestimmen durch Bewegungslosigkeit, Ruhe, Starre, Totenstarre, Nichtlebendigkeit. Doch wäre dies eine ebenso einseitige Beschreibung wie die des Diesseits, nur mit umgekehrtem Vorzeichen. Eckhart charakterisiert daher die Ewigkeit nicht durch das Abspre52 53 54 55 56
A. a. O., S. 42, 15 ff. Meister Eckhart: Die deutschen Werke, a. a. O., Bd. 1, S. 166, 5. A. a. O., Bd. 1, S. 166, 9. A. a. O., Bd. 1, S. 161 ff. A. a. O., Bd. 1, S. 166, 8 f. A
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chen jeder Zeitlichkeit, durch Zeitlosigkeit, sondern durch die ›Fülle der Zeit‹ (vüllede der zît 57 ), wobei auf Galater 4,4 plffirwma to‰ crnou zu verweisen ist. Diesen Inbegriff der Zeit charakterisiert er wie folgt: »der die kunst haete und die maht, daz er die zît und allez, daz in der zît in sehs tûsent jâren ie geschach und daz noch geschehen sol biz an daz ende, her wider geziehen künde in ein gegenwertic nû, daz waere ›vüllede der zît‹. Daz ist daz nû der êwicheit, dâ diu sêle in gote alliu dine niuwe und vrisch und gegenwertic bekennet und in der lust, als diu ich iezuo gegenwertic hân. Ich las niuwelîche in einem buoche – der ez gegründen künde! – daz got die werlt iezuo machet als an dem êrsten tage, dô er die werlt geschuof. Hie ist got rîche, und daz ist gotes rîche. Diu sêle, in der got sol geborn werden, der muoz diu zît entvallen, und si muoz der zît entvallen und sol sich ûftragen und sol stân in einem înkaffenne in disen rîchtuom gotes: dâ ist wîte âne wîte und breite âne breite; dâ bekennet diu sêle alliu dine und bekennet sie dâ volkomen.« 58
Damit spielt Eckhart auf das Phänomen der Zeitraffung, der Zusammennahme der gesamten Zeit im nû an, in dem der Zeitfluß zum Stillstand kommt. Für dieses nû, das wegen der Offenbarung der Ewigkeit auch ewiges nû oder wesentliches nû genannt wird, ist charakteristisch, daß die Zeitlichkeit im Anfang bereits vollendet und zum Zielpunkt geführt ist. 59 Obgleich mit Ewigkeit eine ganz andere Dimension als die menschliche Erlebensweise angesprochen ist, entbehrt sie nicht jeder Temporalität. Noch im Absprechen, noch in der Negation der Zeitlichkeit ist sie auf diese bezogen. Die Semantik von Ewigkeit ist nichts anderes als die Gesamtheit des Zeitlichen. Demnach hat die Ewigkeit einen durchaus dynamisch-temporalen Aspekt, der Lebendigkeit, innere Bewegtheit einschließt und nicht Totenstarre bedeutet. Dem entspricht, wenn Eckhart die mystische Erfahrung der Ewigkeit mit dem Theologoumenon der Gottesgeburt in der Seele in Verbindung bringt. Im wesenhaften nû vollzieht Gott nicht nur die ewige Schöpfung (creatio), die im Moment ihres Entstehens schon vollendet ist, sondern auch die ständige Wiedergeburt (incarnatio continua), indem er mittels der Sohnesgeburt je neu erschafA. a. O., Bd. 2, S. 231, 7. A. a. O., Bd. 2, S. 231 f., 7 ff. 59 Vgl. Meister Eckhart: Die lateinischen Werke, Bd. 1, hrsg. und übersetzt von K. Weiss, unveränderter Nachdruck Stuttgart, Berlin, Köln 1964–1988, S. 160, 4 ff.; 163 f., 7 ff., ebenso: Die deutschen Werke, a. a. O., Bd. 1, S. 74, 6 f.; S. 78, 3 ff.; S. 143, 8 ff., S. 171, 5 ff.; S. 177 f., 9 ff. 57 58
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fend, seinsspendend wirkt, sich dem Menschen immer neu zuwendet. Selbst wenn man vom theologischen Rahmen abstrahiert, bleibt als Kern der Aussage, daß die Erfahrung der ewigen Gegenwart mit innerer Lebendigkeit und Bewegtheit, quasi einer zusammengeschnürten, gebündelten, auf den Punkt gebrachten Schnelligkeit zusammenhängt, nicht aber mit Totenstarre und Erstarrung. 5.4. Beschreibung der Ewigkeit mit zeitlichen Mitteln Es ist immer wieder konstatiert worden, daß dem Mystiker zur Indikation seiner Erlebnisse nur drei Wege bleiben: erstens das Schweigen, das Versinken in Sprachlosigkeit, da das Numinose ineffabile, unaussprechlich ist und sich jeder begrifflichen Artikulation entzieht, zweitens die Verwendung von Bildern, Vergleichen, Parabeln, Metaphern, d. h. von Paraphrasen, die das Erfahrene durch Analogien auszudrücken versuchen, und drittens die Dialektik, die Paradoxie. Das gilt auch für Eckhart. Neben den griffigen Bildern und Vergleichen, die er in seinen Predigten verwendet und für die sich Belege in den angeführten Zitaten finden, z. B. der Vergleich zwischen dem ›Tag der Seele‹ und dem ›Tag Gottes‹, der Vergleich der Ereignishaftigkeit der mystischen Erfahrung mit einem Blitz 60 , bedient er sich dialektischer Formulierungen und paradoxaler Aussagen. Da die Beschreibung jener grenzübergreifenden Sphäre nur von seiten der diesseitigen, zeitlichen Erfahrung und mit Mitteln der Endlichkeit möglich ist, die Negation des Diesseits und der Zeitlichkeit aber nicht eo ipso die Position des kontradiktorischen Gegenteils, also die Setzung von Nicht-Zeit, bedeutet, zumal dies der Einseitigkeit verfiele, ist sie nur im Sinne einer coincidentia oppositorum faßbar, nicht als Zeitlosigkeit gegenüber der Zeit, sondern als Fülle, als Vollendetheit der gesamten Zeit. Und da sie stets nur in einem zeitlichen Moment erfahrbar ist, kann hier paradoxerweise nur von einem Zusammenbestehen von Momentaneität und Ewigkeit gesprochen werden, so daß die Situation doppelt paradox ist. Das Transzendieren von Zeitlichkeit in einem zeitlichen Moment, auf das die Transzendierung Vgl. J. Quint: M. Eckhart. Deutsche Predigten und Traktate, München 1963, S. 437, 9 ff.; F. Pfeiffer: Deutsche Mystiker des 14. Jahrhunderts, Bd. 2: Meister Eckhart, 2. Aufl. Aalen 1962, S. 28, 26 ff. Hier zeigt sich bereits eine Vorwegnahme der Kierkegaardschen Interpretation des Augenblicks.
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zurückgebunden bleibt, wie auch die Koinzidenz von Zeitlichkeit und Nichtzeitlichkeit im Ewigkeitscharakter bleiben für Eckhart unauflösbare Paradoxe, die widersprüchliche Beschreibungen geradezu evozieren, wenn sie begrifflich ausgedrückt werden sollen 61 , wie in der zît obe zît, vergangen zuokünftig, flos in fructu, fructus in flore. 62
Vgl. H. Burger: Die Zeit und Ewigkeit. Studien zum Wortschatz der geistlichen Texte des Alt- und Frühmittelhochdeutschen (Studia Linguistica Germanica, 6), Berlin 1972; J. Zapf: Die Funktion der Paradoxie im Denken und sprachlichen Ausdruck bei Meister Eckhart, Diss. Köln 1966, S. 157–167, mit reichhaltigen Belegen; A. M. Haas: Meister Eckharts Auffassung von Zeit und Ewigkeit, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie, Bd. 27 (1980), S. 325–355, bes. S. 334 Anm. 27. 62 Literatur zu Eckhart: H. Burger: Die Zeit und Ewigkeit, a. a. O.; K. Flasch: Augustin. Einführung in sein Denken, Stuttgart 1980, 2. durchgesehene und erw. Aufl. 1994; A. M. Haas: Meister Eckharts Auffassung von Zeit und Ewigkeit, a. a. O.; ders.: Meister Eckhart als normative Gestalt geistlichen Lebens, a. a. O.; ders.: Meister Eckhart und die Sprache. Sprachgeschichtliche und sprachtheologische Aspekte seines Werkes, in: W. Böhme (Hrsg.): Meister Eckhart heute (Herrenalber Texte, 20), Karlsruhe 1980, S. 20–41; ders.: Fülle der Zeit. Ein Durchblick durch die Mystik, in: Mystik – Überlieferung – Naturkunde. Gegenstände und Methoden mediävistischer Forschungspraxis, Tagung in Eichstätt am 16. und 17. April 1999, anläßlich der Begründung der »Forschungsstelle für Geistliche Literatur des Mittelalters« an der Katholischen Universität Eichstätt, hrsg. von R. Luff und R. K. Weigand (Germanistische Texte und Studien, hrsg. von R. Luff und R. K. Weigand, Band 70), Hildesheim, Zürich, New York 2002, S. 179–195; G. Hoppe-Schweers: Die Wort- und Begriffsgruppe ›wandel‹ in den deutschen Schriften Meister Eckharts mit Berücksichtigung der lateinischen Schriften, Diss. Münster/Westf. 1971; U. Kern: Eckharts ›Aufhebung‹ der Zeit in der ›Fülle der Zeit‹, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie, Bd. 44 (1997), S. 297–316; ders.: »Gottes Sein ist mein Leben«. Philosophische Brocken bei Meister Eckhart, Berlin, New York 2003; M. Müller: Zeit und Ewigkeit in der abendländischen Metaphysik, in: ders.: Erfahrung und Geschichte. Grundzüge einer Philosophie der Freiheit als transzendentale Erfahrung, Freiburg, München 1971, S. 201–222; F. Pfeiffer: Deutsche Mystiker des 14. Jahrhunderts, Bd. 2: Meister Eckhart, a. a. O.; Sh. Ueda: Die Gottesgeburt in der Seele und der Durchbruch zur Gottheit, a. a. O.; K. Weiß: Meister Eckhart der Mystiker. Bemerkungen zur Eigenart der Eckhartschen Mystik, in: U. Kern (Hrsg.): Freiheit und Gelassenheit. Meister Eckhart heute, München, Mainz 1980, S. 103–120; R. Wendorff: Zeit und Kultur, a. a. O.; J. Zapf: Die Funktion der Paradoxie im Denken und sprachlichen Ausdruck bei Meister Eckhart, a. a. O. 61
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III. Handlungszeit – Zeitgestalten
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Abgrenzung der Handlungszeit von der gestimmten und von der mentalen Zeit
Die Zeit geht nicht darin auf, bloß gelebte, gestimmte Zeit zu sein, Zeit von Ausdrucks- und Anmutungsqualitäten mit der Grundstruktur relativer Dauer, welche nicht weiter spezifiziert ist und als pure Elastizität, als Dehnung oder Kontraktion keine Richtung kennt. Sie ist immer auch Handlungszeit, die auf bewußten, geplanten Handlungen des Subjekts bzw. auf analogen unbewußten Vorgängen der Natur basiert. 1 Ob die Handlungen bewußt geplant sind oder, im Falle unbewußter Vorgänge, für den Menschen nur in der Weise beabsichtigter Handlungen verständlich gemacht werden können gemäß der Kantischen reflektierenden Urteilskraft, steht hier nicht zur Diskussion. Handlung ist eine Aktivität, die sich von einer unwillkürlichen Reaktion wie dem Zusammenzucken oder dem ArmHeben und -Senken dadurch unterscheidet, daß ihr ein Plan vom Ganzen zugrundeliegend gedacht wird, der die Handlung von Anfang bis Ende bestimmt. Gegründet ist dieser Plan im Subjekt. Die Handlung ist stets subjektzentriert, gebunden an einen Handelnden oder ein analog zum menschlichen Subjekt gedachtes Agens, das als Ursprung der Handlung fungiert und ihren Quellboden abgibt, solange sie dauert, und daher auf das Hier und Jetzt, die Gegenwart, bezogen ist. Zugleich ist die Handlung auf ein Ziel bzw. einen Zweck gerichtet, auf den hin prospektiv und von dem her retrospektiv sich der Weg zwischen Anfang und Ende erschließt. Die Handlung weist damit eine finalistische bzw. teleologische Struktur auf (lateinisch finis = ›Grenze‹, griechisch tfflo@ = ›Ziel‹). Eingeschlossen zwischen einen Anfang und ein Ende, bestimmt der zugrundeliegend gedachte Plan den Umfang des Ganzen, die Stellung und das Verhältnis der Teile zueinander. Das entspricht der von Kant in der Kritik der reinen In diesem Fall wird die Natur als Agens betrachtet in Analogie zum menschlichen Subjekt.
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Vernunft gegebenen Definition von Organisation bzw. von System, so daß die Handlung als organisierte bezeichnet werden kann. Bei Kant heißt es: »Ich verstehe aber unter einem System die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee. Diese ist der Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen, sofern durch denselben der Umfang des Mannigfaltigen sowohl, als die Stelle der Teile untereinander, a priori bestimmt wird. Der szientifische Vernunftbegriff enthält also den Zweck und die Form des Ganzen, das mit demselben kongruiert. Die Einheit des Zwecks, worauf sich alle Teile und in der Idee desselben auch untereinander beziehen, macht, daß ein jeder Teil bei der Kenntnis der übrigen vermißt werden kann, und keine zufällige Hinzusetzung, oder unbestimmte Größe der Vollkommenheit, die nicht ihre a priori bestimmten Grenzen habe, stattfindet. Das Ganze ist also gegliedert (articulatio) und nicht gehäuft (coacervatio); es kann zwar innerlich (per intus susceptionem), aber nicht äußerlich (per appositionem) wachsen […].« 2
Die durchgängige interne Organisation der Handlung ist nur möglich, wenn im Anfang bereits das Ende und der Weg, der zu ihm führt, antizipiert sind und im Ende noch der Anfang und der Weg wirksam sind, was so auch für den gesamten Verlauf zwischen Anfang und Ende gilt. Nicht nur besteht das Ganze aus Teilen, sondern in jedem Teil ist auch das Ganze präsent. Es waren die Phänomenologen Husserl, Sartre, Bergson, Merleau-Ponty, die diese Organisationsstruktur nachdrücklich an Zeitphänomenen wie der Melodie, dem Vers, dem Satzsinn, dem Bewußtseinsstrom aufwiesen, welche sich über Handlung formieren. 3 Das Präsentsein des Ganzen im gesamten Verlauf läßt sich dadurch beweisen, daß bei Abbruch einer Melodie wie ›Hänschen klein‹ jeder dieselbe ergänzen und zu Ende summen kann oder beim Stokken eines Satzes den Satzsinn vollenden kann, zumindest, wenn der Satz weit genug fortgeschritten ist. Daß der Komponist die Melodie oder der Redner den Satzsinn von Anfang an im Kopfe hat, der Hörer erst, sobald er die Melodie oder den Satzsinn erkennt, ist von sekundärer Bedeutung. Wiedererkenntnis ist nur möglich, wenn das Ganze in jedem Teil präsent ist und jeder Teil auf der Basis des Ganzen den anderen fordert. Die Grundlage hierfür bildet die erwähnte Organisationsstruktur, bei der jeder Teil um des anderen und um des I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 832 f. B 860 f. (Architektonikkapitel). E. Husserl: Logische Untersuchungen, Bd. 2, 1. Teil, sowie Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins; I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 352.
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Abgrenzung der Handlungszeit von der gestimmten und von der mentalen Zeit
Ganzen willen da ist und das Ganze um der Teile willen in einer Mittel-Zweck-Relation. Die Melodie, der Satz, der Vers, der Bewußtseinsstrom usw. sind keine bloßen Aggregationen von Teilen: Tönen, Silben, Wörtern oder Vorstellungen, sondern Mehr-als-und-Verbindungen bzw. Übersummationen, wie der terminus technicus aus der Gestalttheorie und -psychologie lautet, die von Anfang an unter dem Diktat des Ganzen stehen, von dem her sich die Teile bestimmen. Die an Handlung gebundene Zeit ergibt einen spezifischen Zeittyp: die Handlungszeit, die reicher strukturiert ist als die kaum oder gar nicht strukturierte, diffuse Dauer der erlebten, gestimmten Zeit. Bei ihr handelt es sich entsprechend der Handlungsstruktur um ein Gestaltphänomen, und zwar um ein gerichtetes. Cassirer spricht diesbezüglich von »Zeitgestalt« 4 . Im Vergleich nicht nur mit der erlebten Zeit, sondern auch mit der mentalen Vulgärzeit stechen an ihr eine Reihe von Merkmalen hervor, die es hervorzuheben gilt: erstens die Konkretheit im Unterschied zur Abstraktheit der mentalen Zeit, zweitens die Besonderheit im Unterschied zu deren Allgemeinheit, drittens die Qualität im Unterschied zu deren Quantität, viertens die Endlichkeit im Unterschied zu deren Unendlichkeit. 1. Die an eine spezifische Handlung bzw. an einen spezifischen Vorgang gebundene Zeit ist stets eine konkrete: Es ist die Zeit, die für die Feldbestellung erforderlich ist, für das Pflügen des Ackers und die Aussaat des Korns. Es ist die Zeit, die gebraucht wird für das Jagen und Zerlegen eines Tieres, für die Zubereitung von Speisen, es ist die Zeit, die in Anspruch genommen wird für die Planung und Abwicklung von Geschäften. Es ist die Zeit, die erforderlich ist für Beratung und Beschluß. Jedes Geschehen hat seine eigene Zeit, die ihm und nur ihm allein zugehörig und mit der Zeit keines anderen Geschehens kompatibel ist. Nicht liegt hier die Vorstellung einer allgemeinen, abstrakten, überall gleichartigen formalen Zeit zugrunde, die alle Vorgänge, mögen sie noch so heterogen sein, aufnimmt und hinsichtlich ihrer Sukzessivität und Simultaneität ordnet sowie hinsichtlich ihrer Dauer quantifiziert, sondern – gebunden an den je spezifischen Inhalt – bestimmt sich die konkrete Zeitgestalt ausschließlich von diesem Inhalt her. Oft wird dieser in Verbindung gebracht mit biologisch-organischen Vorgängen wie dem Lebensprozeß, dem Wachstums-, Reife- und Absterbensprozeß. Die Sprache hat in vielen ihrer Redewendungen diesen ursprünglichen Sinn be4
E. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, a. a. O., 2. Teil, S. 133. A
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wahrt, so, wenn es heißt: ›Die Zeit läßt die Dinge reifen (wie auch vergehen)‹, ›Gut Ding will Weile haben‹ oder ›Das braucht seine Zeit‹, womit gemeint ist, daß das Gelingen eines Vorgangs eine bestimmte Zeitspanne benötigt, die nicht unterschritten werden darf, allerdings auch nicht überschritten, und bei vorzeitigem Abbruch oder Überschritt den Prozeß mißlingen läßt. Im frühen Denken der Völker geschieht jedes Geschehen ›in seiner Zeit‹. Im Altägyptischen ist damit die Lebenszeit eines Menschen gemeint. So lautet ein Mahnspruch: »Folge deinem Herzen in der Zeit, die du bist.« 5 Wie sehr diese Lebenszeit mit der Zeit der Blüte des Lebens und der Lebenskraft zusammenfällt, zeigt der Ausspruch des kämpfenden Ramses II. in der Schlacht bei Kadesch: »Ich gleiche dem Baal in seiner Zeit«, und siegreich kehrt er aus der Schlacht zurück mit den Worten »wie mein Vater Month in seiner Zeit«. Toth zitiert im Horus-Mythos von Edfu Zaubersprüche für ein Schiff, »um das Meer zu beruhigen in seiner Zeit, wenn es rast«. In der Lehre des Ptahhotep werden Ratschläge für das Verhalten eines Redners oder Verhandlungspartners erteilt, eingeleitet mit den Worten: »Wenn du einen Redner in seiner Zeit findest«, d. h. zur Zeit, wenn er spricht, wenn er in Aktion ist; von einem Kind, das allzu früh starb und nun allein im Grabe liegt, heißt es, daß es noch nicht »in der Zeit des Alleinseins« war, d. h. daß die rechte Zeit für den Tod noch nicht gekommen war. 6 ›In seiner Zeit‹ meint hier die Lebensspanne eines Menschen oder die Dauer eines Vorgangs, die für diesen typisch ist. Zugleich ist diese genuine Zeit auch die für das Geschehen günstigste Zeit. Es ist die ›rechte Zeit‹, weil es die einem Vorgang eigentümliche Zeit ist. Das ›In-der-Zeit-Sein‹ leitet so über zu ›zu seiner Zeit sein oder geschehen‹, d. h. zur richtigen Zeit. Die Zeitspanne eines Geschehens und das An-der-Reihe-Sein eines Geschehens im Sinne der Vorherbestimmtheit sind deckungsgleich. Eine Fundgrube für diese Zeitauffassung stellen die Predigten Salomos im Alten Testament dar:
Papyrus Prisse: 7.9; ähnlich 10.10; 14.12, vgl. E. Otto: Altägyptische Zeitvorstellungen und Zeitbegriffe, in: Die Welt als Geschichte. Eine Zeitschrift für Universalgeschichte, Jg. 14 (1954), S. 135–148, bes. S. 137. 6 Zu den Zitaten vgl. S. Morenz: Ägyptische Religion, Stuttgart 1960, 2. Aufl. 1977, S. 80 f.; vgl. auch G. Dux: Die Zeit in der Geschichte, a. a. O., S. 215. 5
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Abgrenzung der Handlungszeit von der gestimmten und von der mentalen Zeit
»Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vornehmen unter dem Himmel hat seine Stunde. Geboren werden und sterben, pflanzen und ausrotten, was gepflanzt ist, würgen und heilen, brechen und bauen, weinen und lachen, klagen und tanzen, Steine zerstreuen und Steine sammeln, herzen und ferne sein von Herzen, suchen und verlieren, behalten und wegwerfen, zerreißen und zunähen, schweigen und reden, lieben und hassen, Streit und Friede hat seine Zeit. Man arbeite, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon« 7 ,
d. h. man kann so viel und so hart arbeiten, wie man will, wenn es nicht zur rechten Zeit geschieht, zu der Zeit, wo die Arbeit an der Reihe ist, wo sie angebracht ist und hingehört, hat man keinen Erfolg. In der Bedeutung von Zeitspanne (bestimmte Dauer mit Abschluß) und An-der-Reihe-Sein (Herangereift-Sein, Geeignet-Sein, Qualifiziert-Sein) markiert die handlungsorientierte Zeit insbesondere die Grenze, die Endpunkt und Vollendung eines Geschehens ist. Entsprechend heißt es in Redewendungen: ›Die Zeit ist reif‹ oder ›ist noch nicht reif‹, ›die Zeit ist erfüllt‹, d. h. das Ganze ist voll geworden, ›die Zeit bzw. der Tag ist gekommen‹, ›etwas ist an der Zeit‹ (im Unterschied zu: ›zu seiner Zeit‹). 8 In einem Gedicht von Bert Brecht mit dem Titel Lob des Lernens heißt es: »Für die, deren Zeit gekommen ist[,] ist es nie zu spät!« 9 Hier wird die Zeit mit einem Reifeprozeß verglichen, ja die Handlungszeit ist der Reifeprozeß selbst, der hier zu seinem Ende und zu seiner Vollendung gelangt ist. Der Höhepunkt der Handlung ist zugleich der Umschlagpunkt, an dem sich Untergang und Verfall ankündigen. In diesen Kontext gehört auch der für die Griechen so bedeutsame kair@ oder der von Goethe so bezeichnete ›prägnante, fruchtbare Augenblick‹, der den Höhe- und Kulminationspunkt eines Reifeprozesses anzeigt, dessen Ergreifung zum Gelingen und dessen Verfehlung oder Überschreitung zum Mißlingen führt. Wegen der Einmaligkeit des Prozesses kehrt der Kairos nie wieder. Hier deutet sich ein fundamentaler Unterschied Der Prediger Salomo, Kap. 3, 1 ff. Während das ›an der Zeit‹ auf den genuinen Endpunkt des Handlungsgeschehens deutet, weist das ›zu seiner Zeit‹ auf die Handlung im ganzen. 9 B. Brecht: Gedichte 2, Redaktion E. Hauptmann, in Zusammenarbeit mit R. Hill, in: Gesammelte Werke in 20 Bdn., Bd. 9, Frankfurt a. M. 1967, wiederholte Aufl. 1982, S. 462. 7 8
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gegenüber dem homogenen Augenblick oder Moment der gleichförmigen Linearzeit an, welche nicht nach der Struktur der Handlungslogik aufgebaut ist. Obwohl die Vorstellung von Spanne bzw. Dauer ebenso wie die von End- und Vollendungspunkt in den Kontext der konkreten Handlungszeit gehören, nicht in den der abstrakten, formalen Linearzeit, bilden sie die präformative Grundlage von zeitlicher Erstrekkung und Momentaneität, welche im Rahmen der letzteren auf die Frage ›wie lange?‹ und ›wann?‹ antworten. 2. Daß eine an den konkreten Inhalt gebundene und von diesem abhängige Zeit genauso singulär und signifikant ist wie dieser, versteht sich von selbst. Die konkrete Zeit hat nichts zu tun mit der von allem Inhalt abstrahierten, formalen, allgemeinen Zeit, in die alle speziellen Inhalte eingeordnet werden können und daselbst ihre Stelle und ihr Verhältnis zueinander erhalten. ›Konkrete‹ Zeit und ›besondere‹, ja ›einmalige‹ Zeit sind konvertierbare Begriffe wie ›abstrakte‹ und ›allgemeine‹ Zeit. Gibt es von der letzteren nur eine einzige, allbefassende Zeit – die unendliche, homogene, kontinuierliche –, so von der ersteren viele verschiedene, da sie von den individuellen, jeweils einzigartigen und unvergleichbaren Handlungsabläufen geprägt sind, und während die erstere verschiedenartige Handlungen und Vorgänge in sich zu vereinen vermag, existieren die letzteren isoliert und unabhängig voneinander. Man kann nicht einmal davon sprechen, daß sie neben- oder nacheinander existierten, da dieser Vergleich eine umfassende Zeit voraussetzte, die es auf dieser Ebene noch nicht gibt. Jede Handlungszeit ist eine einmalige, unverwechselbare und mit anderen unvergleichliche Zeitgestalt. 3. Von der quantifizierbaren, unendlichen, homogenen, kontinuierlichen Linearzeit, die sich in unendlich viele gleichartige Teile zerlegen und umgekehrt aus solchen zusammensetzen läßt, unterscheidet sich die Handlungszeit durch ihren nicht quantitativen, sondern qualitativen Charakter. Ist die erstere eine Reihung oder Aggregation homogener Teile in unendlicher Folge, so steht die zweite unter dem Gesetz der Ganzheit bzw. Gestaltqualität, die je nach Ausformung und Akzentuierung die Teile modifiziert. Die Gestalttheorie bzw. -psychologie 10 hat immer wieder darauf hingewiesen, daß Vgl. Ch. von Ehrenfels: Über Gestaltqualitäten, in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 3 (1890), S. 249–291. Auf Ehrenfels gehen mehrere gestaltpsychologische Schulen zurück: die Berliner Schule mit Wertheimer, Köhler und Koffka
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bezüglich des Verhältnisses von Teil und Ganzem die Gestalt nicht einfach eine Zusammensetzung konstanter, invarianter Teile ist, welche beliebig auseinandergenommen und neu zusammengesetzt, erweitert oder vermindert werden können, sondern daß ihr singulärer Charakter auch die Teile bestimmt und bei Modifikation auch diese modifiziert. Am Beispiel des Buchstabens @, der je nach Lesart als kleines griechisches y oder als großes lateinisches S interpretiert werden kann, läßt sich demonstrieren, daß die Teile eine je verschiedene Bedeutung und Funktion erhalten. Während im kleingeschriebenen griechischen y die obere Schleife den Akzent trägt, der untere Bogen nur Appendix oder arabeskenhafte Zutat ist, trägt im großgeschriebenen lateinischen S der untere Bogen den Akzent, während der obere nur Beiwerk ausmacht. Entsprechend verhält es sich mit Zeitgestalten wie der Melodie, dem Vers, dem Satz, die bei anderer Intonation, bei Sinnverschiebung u. ä. auch die Qualität und Nuancierung ihrer Teile ändern. Mit einer quantitativen Bestimmung ist bei der qualitativen Gestalt nichts zu erreichen. 4. Mit der Begrenzung der Handlung durch einen Anfang und ein Ende ist auch die Begrenztheit der zugehörigen Zeitgestalt gegeben. Die Zeitgestalt ist eine endliche, eingespannt zwischen Anfang und Ende wie die Lebenszeit, die sich zwischen Geburt und Tod erstreckt, oder die Reifezeit, die zwischen dem Aufkeimen des Korns und der Reife des Getreides liegt. Ihre Geschlossenheit unterscheidet sie von der Offenheit der Linearzeit, die keinen definitiven Anfangsund Endpunkt hat, sondern über jeden vorläufig gesetzten hinaussowie die Grazer, Leipziger und Kieler Schule. Vgl. M. Wertheimer: Experimentelle Studien über das Sehen von Bewegung, in: Zeitschrift für Psychologie, Bd. 61 (1912), S. 161–265 (abgedruckt auch in: ders.: Drei Abhandlungen zur Gestalttheorie, Darmstadt 1967, S. 1–105); ders.: Über Gestalttheorie, Vortrag vor der Kant-Gesellschaft, Berlin 1924, abgedruckt in: Philosophische Zeitschrift für Forschung und Aussprache, Bd. 1 (1925), S. 39–60 (wiederabgedruckt in: Gestalt Theory, Bd. 7 [1985], S. 99–120); W. Köhler: Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand, Braunschweig 1920; ders.: Gestaltprobleme und Anfänge einer Gestalttheorie, Jahresbericht über die gesamte Physiologie und experimentelle Pharmakologie, Bericht über das Jahr 1922, Bd. 3 (1925) (wiederabgedruckt in: Gestalt Theory, Bd. 5 [1983], S. 178–205); K. Koffka: Principles of Gestalt Psychology, 1935, 4. Aufl. London 1958; F. Sander und H. Volkelt: Ganzheitspsychologie. Grundlagen, Ergebnisse, Anwendungen, München 1962, 2., verb. Aufl. 1967; W. Metzger: Gestalt-Psychologie. Ausgewählte Werke aus den Jahren 1950–1982, hrsg. und eingeleitet von M. Stadler und H. Crabus, Frankfurt a. M. 1986; P. Tholey: Gestaltpsychologie, in: Handwörterbuch der Psychologie, hrsg. von R. Asanger und G. Wenninger, 4., völlig neubearbeitete und erweiterte Auflage, München, Weinheim 1988, S. 249–255. A
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zuschreiten vermag zu einem noch früheren Anfang oder einem noch späteren Ende und so in infinitum. Anders bei der Zeitgestalt. Wie immer sie strukturiert sein mag, ob als einsinniger, eschatologischer Prozeß mit einem End- und Vollendungspunkt oder als Vorund Rückschritt im Sinne einer Oszillation oder als Kreislauf, bei dem sich das Ende in den Anfang zurückschlingt und ebenso der Anfang in das Ende, sie weist eine geschlossene, endliche Form auf, die sich von der unendlich fortlaufenden unterscheidet. Nun treffen alle bisherigen Beschreibungen der Handlungszeit und der ihr korrespondierenden Zeitgestalten, sowohl was das Verhältnis von Ganzem zu Teil betrifft wie was Geschlossenheit, Endlichkeit, Qualität, Singularität und Konkretheit anlangt, exakt auch auf den Handlungsraum und die ihm entsprechenden Raumgestalten zu, so daß ein Unterschied zwischen beiden Handlungsarten und ihren Gestalten nicht erkennbar ist. Auch der Aktionsraum basiert auf einer Handlung, die von der Enge des Leibsubjekts ihren Ausgang nimmt und die Weite des Raumes eröffnet. Da unter Handlung eine zielgerichtete Tätigkeit verstanden wird, die auf einem Entwurf im Ausgang vom Subjekt und Ausgriff auf ein Ziel besteht, erweist sich der Aktionsraum als eine orientierte topologische Mannigfaltigkeit. Er ist die Verwirklichung zielgerichteter, im Subjekt zentrierter Entwürfe, mit deren Realisation Richtungen entstehen, die zugleich verschiedene Gegenden, Plätze und Stellen festlegen. Im Ausgang vom Koordinatensystem des Leibes bieten sich drei polare Richtungen an, von denen die eine aus dem aufrechten Gang des Menschen, also der Senkrechten, resultiert, die ein Oben und Unten festlegt, die andere aus der Waagerechten, die die Rechts- und Linksseitigkeit fixiert, und die dritte aus der Horizontalen, die den Richtungsgegensatz von vorn und hinten bestimmt, wobei der menschliche Körper so konstruiert ist, daß er mit seinen Bewegungs- und Greiforganen, den Händen, Füßen, Augen, dem konzentrierten Blick, vorzüglich nach vorn gerichtet ist und im vor ihm liegenden Raum sein Betätigungsfeld hat, während die hinter ihm liegende Sphäre unüberschaubar und damit zugleich unsicher, eventuell gefahrvoll und tückisch ist, allenfalls als Fluchtraum, als Raum des Zurückweichens, eine Rolle spielt. Zugleich mit der im Subjekt zentrierten Entwurfsstruktur und den aus dem Achsensystem des Körpers resultierenden Richtungen wird ein Nah- und Fernbereich festgelegt. Nähe bedeutet Aufhalten im Hier und Jetzt, Ferne bezeichnet das weit vom Subjekt entfernt Liegende, auf das seine Handlung gerichtet ist. Während Distanzen 80
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im geometrischen Raum aus beliebig kleineren Distanzen zusammengesetzt werden können, ist dies bei Nähe und Ferne nicht der Fall. Sowenig Ferne aus kleineren Fernen zusammengefügt werden kann, sowenig auch Nähe. Sie bleiben stets intendierte Ziele einer Handlung, absolute qualitative Unterschiede gegenüber den relativen quantitativen Unterschieden von Distanzen. Obwohl sich Zeit- und Raumgestalt beide von der Handlung her definieren unter Verwendung derselben Termini, Strukturen und Modelle, gilt es, eine Differenz zwischen beiden herauszuarbeiten. Um die Eigentümlichkeit der Zeit zu markieren, soll diese in dreierlei Hinsicht betrachtet werden: erstens nach der Art ihrer Intentionalität, ihrer Ziel- und Zweckgerichtetheit, zweitens nach der Art ihrer Sukzessivität und drittens nach der Art ihrer Simultaneität, der Verknüpfung gleichzeitiger Vorgänge. Nun könnte man vermuten, daß mit Intentionalität die Zukunftsgerichtetheit der Zeit, mit Sukzessivität die zeitliche Abfolge ins Unendliche und mit Simultaneität die Gleichzeitigkeit aller Ereignisse gemeint sei, also spezifische Strukturen, die der Linearzeit zukommen. Es wird sich jedoch herausstellen, daß diese Vermutung irrig ist und daß die genannten Strukturen noch weitgehend mit der Raumstruktur des Aktionsraumes zusammenfallen. Intentionalität meint die interne Gerichtetheit der Handlung innerhalb des Handlungsfeldes, Sukzessivität die stets erneute, einmalige Entwurfsstruktur, die in Ahistorizität mündet, und Simultaneität bedeutet nicht die Gleichzeitigkeit aller Vorgänge in einem formalen System, sondern die Verbindung zweier oder mehrerer Vorgänge unter der Dominanz eines von ihnen. Dies soll im folgenden näher erläutert werden.
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Spezifische Eigenschaften der Handlungszeit
2.1. Intentionalität Obzwar Handlung ein genuin intentionaler Akt ist, der auf ein Intentum (Ziel, Zweck) gerichtet ist, womit auch die ihm zugehörige Zeit eine genuin intentionale Struktur erhält, bedeutet das keineswegs, daß die Zeit einsinnig auf die Zukunft, auf das vor ihr Liegende gerichtet sein müsse wie die Linearzeit. Die interne Gerichtetheit der Handlung besagt noch nichts über ihre externe Ausrichtung. Zum Verständnis dieser eigentümlichen Struktur sind zwei A
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Überlegungen erforderlich. Zum einen unterstehen Handlung und Handlungszeit noch nicht der Kausalkategorie von Ursache und Wirkung, d. h. der relationalen Bestimmung zwischen zwei Relata. Die Handlung tritt noch nicht als selbständige, isolierte Ursache gegenüber der Wirkung auf, und die Wirkung ist noch kein isoliertes, von der Ursache abgetrenntes Produkt. Vielmehr existiert die Wirkung nur solange, wie die Handlung währt. Das Ergebnis ist der Handlung immanent. Anders ausgedrückt: Das Ziel ist der Weg und der Weg das Ziel. Zum anderen könnte nur die Hintereinanderschaltung mehrerer gleichgerichteter Handlungsabläufe zur Herausbildung eines bestimmten Richtungssinns führen. Solange dies nicht der Fall ist, bleibt es bei einer Pluralität isolierter, heterogener Handlungen, die alle vom Zentrum, vom Subjekt, ihren Ausgang nehmen, die Richtung innerhalb des Handlungsfeldes aber unbestimmt lassen. Der Handlungsentwurf kann sowohl in die eine wie in die andere Richtung wie auch in alle dazwischenliegenden gehen. Solange nur eine Pluralität disparater, diskontinuierlicher Handlungsabläufe vorliegt, ergibt sich keine bestimmte Reihung und Ausrichtung, sondern immer nur eine Koinzidenz der heterogenen Zeitgestalten in einem gemeinsamen Ausgangspunkt, dem Handlungssubjekt und seiner Gegenwart. Die Intentionen eröffnen zwar einen bestimmten Ausgriff auf das Handlungsfeld, bleiben jedoch ohne Fixierung der Richtung. Dux spricht in seinem Buch Die Zeit in der Geschichte daher sehr richtig von einer »zentrierten Handlungslogik« 11 sowie von einer »zentrierten Zeit« 12 . Hiermit hängt auch zusammen, daß die Handlungszeit noch ganz und gar Präsenzzeit ist, also Gegenwärtigkeit, die nicht verwechselt werden darf mit punktueller Momentaneität. Vielmehr ist sie Extensionalität, wenngleich gerichtete, jedoch mit dem Zusatz, potentiell nach allen Seiten gerichtet zu sein. Dem entspricht die anfangs skizzierte Handlungsstruktur, derzufolge Handlung stets unter der Bedingung von Einheit und Ganzheit steht, die sich in jedem Teil erhält und erst auf diese Weise die extensionale Gestalt ergibt. Mit der internen Intentionalität wird noch keine Zukunft als Möglichkeitssphäre der Handlung eröffnet, deren umgekehrte Projektion die Vergangenheit wäre. Überhaupt sind die Modi Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die der Linearzeit angehören, der Hand11 12
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G. Dux: Die Zeit in der Geschichte, a. a. O., S. 84 ff. A. a. O., S. 128 f.
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lungszeit fremd, auch wenn sich diese gegenüber der gelebten, gestimmten Zeit durch Intentionalität zu strukturieren beginnt. Daß der gesamte Radius des Umfeldes in die Gegenwärtigkeit der Handlungszeit einbezogen ist, dokumentiert sich sprachlich darin, daß für viele Völker Möglichkeits- und Wirklichkeitssphäre koinzidieren und dieselben Ausdrücke für ›morgen‹ und für ›gestern‹ gebraucht werden. Im Ewe, einer Sudan-Sprache, hat etso die Bedeutung sowohl von ›morgen‹ wie von ›gestern‹, nyitso die Bedeutung sowohl von ›übermorgen‹ wie von ›vorgestern‹. Im Tlingit wird ein und dasselbe Präfix gu- oder ga- verwendet, um Zukunft wie Vergangenheit zu bezeichnen. In der Bakairi-Sprache dient das Wort kopaleka zur Bezeichnung von ›morgen‹ und von ›gestern‹, das Hindu benutzt kal für beide Bedeutungen. Auch in den europäischen Sprachen hat sich ein Rest dieser ambivalenten Bedeutung erhalten wie im Althochdeutschen, wo e¯gestern sowohl ›übermorgen‹ wie ›vorgestern‹ bedeutet, im Neuhochdeutschen, wo einst die Zukunft wie die Vergangenheit anzeigt oder irgendwann sowohl auf die Zukunft wie auf die Vergangenheit deutet. Im Lateinischen hat olim (zu lateinisch ollus = ›jener‹) beide Bedeutungen. 13 Hans Jensen weist außerdem auf die psychologische Tatsache hin, daß Kinder erst eine gewisse Zeit brauchen, bis sie ›morgen‹ und ›gestern‹ zu unterscheiden lernen. Für sie ist das Nicht-Heute schlicht das Nicht-Gegenwärtige, das Nicht-Faßbare, mag es fern in der Zukunft oder fern in der Vergangenheit liegen. 14 Die Nähe der handlungsorientierten Zeit zum handlungsorientierten Raum ist unverkennbar. In der noch unausgebildeten, mangelhaften zeitlichen Anisotropie schlägt die Isotropie des Raumes voll durch. Das belegen etliche Sprachen und sprachliche Wendungen. Nicht nur, daß im Handlungszentrum temporale und lokale Bestimmungen als Jetzt und Hier zusammenfallen, sie können auch ausgetauscht werden, wie die von Goethe gebrauchte Ausdrucksweise ›von hier bis Ostern‹ statt der erwarteten ›von jetzt‹ oder ›vom Zu den Beispielen vgl. E. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, 1. Teil: Die Sprache, 9., unveränderte Aufl., reprograph. Nachdruck der 2. Aufl. Darmstadt 1953, Darmstadt 1988, S. 176 und Anm. 3; H. Jensen: Der sprachliche Ausdruck für Zeitauffassungen, insbesondere am Verbum, in: Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. 201 (1938), S. 289–336, bes. S. 305. Vgl. auch Aristoteles’ Erörterung der Zeittermini in Physik, 4. Buch, Kap. 13 (222a 24 ff.). 14 Vgl. H. Jensen: Der sprachliche Ausdruck für Zeitauffassungen, insbesondere am Verbum, a. a. O., S. 305. 13
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heutigen Tag an bis Ostern‹ belegt, die das lokale ›hier‹ präferiert. 15 Zudem werden Nähe und Ferne zum Zentrum häufig mit Vokabeln ausgedrückt, die sowohl zeitliche wie räumliche Nähe und Ferne signalisieren. ›Zur Zeit des Königs X‹ kann im Altägyptischen durch einen ursprünglich räumlichen Ausdruck h8w = ›in der Nähe des Königs X‹ wiedergegeben werden, aber auch umgekehrt ist die Wiedergabe einer räumlichen Nähe durch einen ursprünglich zeitlichen Ausdruck möglich. Ein ausgeklügeltes System zur Explikation zeitlich-räumlicher Gegenwärtigkeit wie zeitlich-räumlicher Nähe und Ferne besitzt die Somali-Sprache mit den Suffixvokalen a, o, i. Der gegenwärtige, leibhaftig vor einem stehende, sichtbare Mann wird ausgedrückt durch nihk-a, der entferntere, sichtbare oder unsichtbare, aber noch als gegenwärtig vorgestellte Mann durch nihk-o, der entfernte, nicht gegenwärtige, nicht sichtbare Mann durch nihk-i. Ebenso heißt eine augenblicklich zur Verhandlung anstehende Sache arint-a, eine soeben behandelte oder sogleich zu behandelnde arint-o, eine ferne, nicht gegenwärtige, früher behandelte arint-i. A weist auf zeitliche wie räumliche Gegenwart, o auf geringere zeitliche wie räumliche Entfernung, welche in die zeitlich-räumliche Gegenwart noch einbezogen werden kann, und i auf zeitlich-räumliche Nichtgegenwart, d. h. auf Entferntes. 16 Im Samoanischen dient na, ursprünglich ein Adverb mit der Bedeutung ›da‹, ›dort‹, als Demonstrativpronomen ›jener‹. Zugleich wird es als Präteritaltempus beim Verb verwendet: na ia upu = ›dort er sprechen‹ = ›er sprach‹, während es im Fidji in der Funktion eines Demonstrativums und ebenfalls einer futurbildenden Partikel erscheint: au na solia = ›ich dort gehen‹ = ›ich werde gehen‹. 17 Daß zeitliche und räumliche Vorstellungen in großer Nähe zueinander stehen gerade in der Vorstellungswelt und Sprache von NaVgl. a. a. O., S. 302. Beispiele für den Zusammenfall lokaler und temporaler Bestimmungen gibt für die indianischen Sprachen Nordamerikas W. Müller: Raum und Zeit in Sprachen und Kalendern Nordamerikas und Alteuropas, in: Anthropos, Bd. 57 (1962), S. 568–590. So bedeutet im Dakota dehan ›an diesem Ort, hier‹ ebenso wie ›zu dieser Zeit, heute‹ (a. a. O., S. 569). Auf die umgekehrte Möglichkeit der Ersetzung räumlicher Vorstellungen durch zeitliche weist E. Otto hin: Altägyptische Zeitvorstellungen und Zeitbegriffe, a. a. O., bes. S. 146 f. Vgl. auch ders.: Zeitvorstellungen und Zeitrechnung im Alten Orient, in: Studium Generale, Jg. 19, Heft 12 (1966), S. 743–751, bes. S. 744. 16 Vgl. H. Jensen: Der sprachliche Ausdruck für Zeitauffassungen, insbesondere am Verbum, a. a. O., S. 303 f. 17 Vgl. a. a. O., S. 302 f. 15
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turethnien und archaischen Kulturen, in Relikten aber auch in moderneren Kultursprachen, ist unbestritten und Gemeingut der Sprachforschung. Strittig ist allenfalls das genaue Fundierungsverhältnis. Diesbezüglich haben sich zwei Thesen herausgebildet. Die eine, vor allem von Sprachwissenschaftlern vertretene, so von Jensen 18 , geht aufgrund der größeren Anschaulichkeit und Plastizität des Raumes von einer Priorität räumlicher Vorstellungen und einer Derivation zeitlicher Vorstellungen aus, zumindest von einer räumlichen Eingliederbarkeit der Elemente, die unserer Meinung nach in eine zeitliche Ordnung gehören. Er begründet diese These so, daß das räumliche Nebeneinander von ›hier‹ und ›dort‹ wahrnehmungsmäßig in einer Gesamtschau erfaßt werden könne, während das zeitliche Nacheinander Veränderung voraussetze, d. h. den Übergang von Noch-nicht-Sein zu Sein, von Sein zu Nicht-mehr-Sein, was das Festhalten des Gegenwärtigen und die Synthesis mit dem Erinnerten oder Vorausgeschauten und damit die paradoxe Gleichzeitigkeit von Nicht-Gleichzeitigem erfordere. Dies stelle eine wesentlich komplexere Struktur dar und verlange einen wesentlich komplizierteren kognitiven Akt. Für die Handlungszeit und entsprechend für den Handlungsraum trifft dieses Argument aber nicht zu, da die Handlungszeit Präsenzzeit ist und noch nicht die modalen Unterschiede von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kennt. Handlung ist noch ein einheitlich-ganzzeitliches Dehnungsphänomen, das sich zwischen einem Anfangs- und einem Endpunkt erstreckt; sie ist noch eine dynamische Synthesis aller Teile. Die zweite These ist die existentialistische, wie sie von Heidegger in Sein und Zeit 19 vertreten wird. Sie zielt auf einen gemeinsamen Ursprung von Raum und Zeit in der menschlichen Existenz, deren Grundverfassung das In-der-Welt-Sein ist. Dies ist freilich nicht im lokalen Sinne als Sein von etwas in etwas zu verstehen, so wie sich Wasser im Glas befindet, ein Kleid im Schrank hängt oder eine Bank im Hörsaal steht, also nicht im Sinne einer Ineinanderschachtelung von Dingen oder zumindest einer Ortsanzeige in der Welt, sondern im existentialistischen Sinne als Sorgestruktur. Und auch mit dieser ist nicht, wie man zunächst vermuten könnte, Müh-
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Vgl. a. a. O., S. 290. M. Heidegger: Sein und Zeit, 1927, 18. Aufl. Tübingen 2001, S. 52 ff. A
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sal, Plage, Trübsinn, also Lebenssorge gemeint 20 , sondern ›besorgen‹ im Sinne von: ›zu tun haben mit etwas‹, ›herstellen von etwas‹, ›bestellen und pflegen von etwas‹, ›verwenden von etwas‹, ›aufgeben und in Verlust geraten lassen von etwas‹, ›unternehmen‹, ›durchsetzen‹. 21 Alle Bedeutungen laufen auf die Grundkonnotation eines praktischen Umgangs mit den Dingen und eines Vertrautseins mit ihnen hinaus. Als Beleg führt Heidegger an, daß das scheinbar so räumliche ›in‹ ursprünglich gar keine räumliche Bedeutung gehabt habe, sondern abgeleitet sei von innan- = ›wohnen‹, ›sich aufhalten‹, was soviel bedeutet wie ›ich bin gewohnt‹, ›ich bin vertraut mit‹, ›ich pflege etwas‹, also die Bedeutung von colo im Sinne von habito und diligo hat. 22 Auch sind die auf dieser Ebene begegnenden Dinge noch keine Gegenstände im eigentlichen Sinne, nämlich im Sinne von objektiv Vorhandenem, sondern im Sinne von Zuhandenem. Gemeint ist damit dasjenige, was im praktischen Umgang ›zur Hand liegt, geht, steht‹, gegebenenfalls auch ›im Wege liegt‹ oder ›in die Quere kommt‹ und dann ›auffällig‹, ›aufdringlich‹, ›aufsässig‹ wird in jeweils gesteigertem Maße. Die spezifisch räumliche Bedeutung des ›in‹ findet sich erst auf der Ebene des Vorhandenen und setzt den Übergang – nach Heidegger die Degradierung – des Zuhandenen in ein nur noch Vorhandenes voraus, das man nur noch ›begafft‹, mit dem man aber nicht mehr hantiert. Während Heidegger und der französische Existentialismus sich ausschließlich auf eine existentialistische Deutung kaprizieren, gibt Ströker in ihrem Buch Philosophische Untersuchungen zum Raum 23 , den Heideggerschen Ansatz aufgreifend und erweiternd, eine phänomenologische Deskription und Analyse, die die verschiedenen Raumschichten unterscheidet: den gestimmten Raum, den Aktionsraum, den Anschauungsraum, den mathematischen Raum usw. mit je modifizierten Bedeutungen der spatialen Vorstellung. Zwar wird das In-Sein nicht unmittelbar thematisiert, wohl aber Nähe und, korrelativ dazu, Ferne, womit sie an Heideggers ursprünglichen Sinn der Nähe als des Begegnenden, des Zuhandenen, des ZurHand-Seienden, des Verfügbaren anknüpft. Nähe und Ferne sind im Aktionsraum sowenig wie im gestimmten Raum quantifizierbare 20 21 22 23
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Vgl. a. a. O., S. 57. Vgl. a. a. O., S. 56 f. Vgl. a. a. O., S. 54. E. Ströker: Philosophische Untersuchungen zum Raum, a. a. O.
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Abstandsbestimmungen, sondern Größenbestimmungen sui generis und stets in Beziehung zum handelnden Subjekt zu sehen. Wenngleich Nähe und Ferne im Aktionsraum weiter bestimmt sind als Nähe und Ferne im gelebten, gestimmten Raum 24 , bilden diese die Voraussetzung jener. Nähe und Ferne im gelebten, gestimmten Raum sind »raumzeitliche Phänomene« 25 . Nähe ist ein reines Gegenwartsphänomen, das ein unmittelbares Verweilen im Hier und Jetzt ausdrückt oder ein unmittelbares Betroffensein durch die Dinge anzeigt, die anregend oder beruhigend, freud- oder leidvoll oder wie immer sein können. Ferne entbehrt der Unmittelbarkeit; sie ist ein Dort, wo man sich nicht unmittelbar aufhält oder nicht unmittelbar engagiert ist. Im Aktionsraum kommt nach Ströker die Entwurfsstruktur der Handlung hinzu, die in einem Ent-fernen der Gegenstände und In-die-Nähe-Bringen besteht und zur Relativierung von Nähe und Ferne führt. Zudem tritt bei Unterbrechung der Handlung erstmals an den Dingen das Vorhandene hervor. Wie fortgeschritten die Präzisierung von Nähe und Ferne im Aktionsraum mittels des handelnden Subjekts auch sein mag, sie führt noch nicht zur Auflösung der einheitlichen raumzeitlichen Grundlage. Gänzlich falsch wäre es, im Zusammenfall lokaler und temporaler Bestimmungen einen solchen von quantifizierbaren mathematischen Relations- und Ordnungskategorien zu sehen, nach denen alles Seiende in bestimmten neutralen, vom Subjekt unabhängigen Abständen zueinander steht, also seine genau bestimmte Stelle und sein genau bestimmtes Verhältnis zu anderem innerhalb des Systems hat und nach lagezeitlichen Bestimmungen wie ›vor‹ und ›hinter‹, ›früher‹ und ›später‹ bestimmt ist. Quantitative Bestimmungen kommen erst im mathematischen Raum und in der mathematischen Zeit hinzu. Die Termini ›nah‹ und ›fern‹ und ›Entfernung‹ haben hier noch ihre ganz spezifischen Bedeutungen, die nicht mit denen von mathematischen Abständen verwechselt werden dürfen. 2.2. Ahistorizität Angesichts der Tatsache, daß es sich bei der Handlungszeit um eine nur intern, nicht extern durch Intentionalität strukturierte Präsenz24 25
Vgl. a. a. O., S. 86 ff. gegenüber S. 33 ff. A. a. O., S. 35. A
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zeit handelt, fehlt ihr jede Sukzessivität, die gerade die Linearzeit auszeichnet. Dieser ihr präsentischer Charakter war deutlich hervorgetreten bei der Darstellung sowohl des Verhältnisses von Ganzem und Teil wie der Raumbezogenheit. Cassirer 26 hat in diesem Zusammenhang sogar den Vergleich mit den Zenonischen Paradoxien nicht gescheut, insbesondere mit dem Pfeil-Argument, bei dem trotz des auf ein Ziel zufliegenden Pfeils dieser in jedem herausgehobenen Moment und also während des gesamten Fluges ruht, so daß intentionale Bewegung und Ruhe paradoxerweise zusammenfallen. Während die Linearzeit die unendliche Abfolge von Handlungen und Vorgängen ermöglicht, wobei sich ein Ereignis an das andere reiht in Form eines unendlichen Fortschritts, fehlt diese Möglichkeit bei der Handlungszeit. Es existiert nur eine Vielzahl disparater, heterogener, einzelner Handlungsabläufe, ohne daß diese sukzessiv aneinandergekoppelt wären und einen einzigen, einheitlichen Zeitverlauf ausmachten, den man ›historisch‹ oder ›chronologisch‹ nennen könnte. Vielmehr existieren sie unverbunden ›nebeneinander‹ in einem bunten Kaleidoskop, indem sie allenfalls beliebig aggregiert werden können. Dietrich Westermann 27 hat nach Auskunft von Cassirer 28 bei Untersuchungen der Ewe-Grammatik und der Sudan-Sprachen die interessante Beobachtung gemacht, daß Handlungen oder Vorgänge, die wir als einheitlich betrachten, in eine Mehrzahl isolierter Vorgänge aufgelöst werden, z. B. ›ertrinken‹ in die Momente ›Wasser trinken‹ und ›sterben‹, ›abschneiden‹ in die Momente ›schneiden‹ und ›fallen‹, ›bringen‹ in die Momente ›nehmen‹ und ›dorthin gehen‹. Bestätigt wird diese Beobachtung von Heymann Steinthal an Mande-Negersprachen. Er erklärt dieses Phänomen psychologisch aus der noch »mangelhaften Verdichtung der Vorstellungen« 29 , bei der die Vorstellungen noch nicht zu einem einheitlichen dynamischen Phänomen mit eindeutiger Zeitrichtung verschmolzen sind. Um dem Phänomen gerecht zu werden, hat man es jedoch nicht nur pejorativ zu beurteilen, sondern die Eigentümlichkeit seiner Zeitvorstellung auf der Stufe der Handlungszeit zu berücksichtigen. Auf dieser Stufe E. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, a. a. O., 1. Teil, S. 178. D. Westermann: Grammatik der Ewe-Sprache, Berlin 1907, S. 94 ff., bes. S. 96; ders.: Die Sudansprachen. Eine vergleichende Studie, Hamburg 1911, S. 51 ff., bes. S. 61 ff. 28 E. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, a. a. O., 1. Teil, S. 178. 29 H. Steinthal: Die Mande-Negersprachen, psychologisch und phonetisch betrachtet, Berlin 1867, S. 222. 26 27
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herrscht noch kein Sukzessivbewußtsein mit deutlicher Zeitrichtung, vielmehr fokussiert sich das Bewußtsein aufgrund seiner Fähigkeit, Unmittelbares vom Nicht-Unmittelbaren, Jetzt vom Nicht-Jetzt, Hier vom Nicht-Hier zu unterscheiden, jeweils auf einen kleinen, fragmentarischen Ausschnitt, jetzt auf diesen, dann auf jenen, den es gerade als präsentisch erfaßt. Dieses sogenannte aggregative Denken läßt sich am Raum deutlicher noch als an der Zeit demonstrieren. Es handelt es sich um einen anderen Typ des Zugangs zur Wirklichkeit und der Sichtweise auf die Dinge, als es der unsrige ist, um einen, den wir aus archaischen Kulturen kennen, insbesondere aus der altägyptischen, sumerisch-assyrisch-babylonischen, semitischen, minoischen, frühgriechischen Kultur, ja aus Kulturen des gesamten östlichen Mittelmeerraumes, ebenso von Naturethnien. Für sie alle ist in zeitlicher Hinsicht Ahistorizität, d. h. Nicht-Chronologizität, und in räumlicher Hinsicht Aperspektivität charakteristisch. Wie jedermann aus den altägyptischen Körperdarstellungen auf Wandmalereien der Gräber kennt, sind diese aus einzelnen, isolierten, heterogenen Teilen zusammengestückt in anatomisch unzulänglicher, ja falscher Weise, indem Gesichter im Profil dargestellt werden, Augen in Frontalansicht, Oberkörper wiederum in Frontalansicht, Hüften in Seitenansicht, ebenso Arme und Beine, wobei stets zwei rechte oder zwei linke Hände und Füße vorkommen. In älterer Zeit wurde die Innenansicht des Fußes mit der Wölbung im Spann präsentiert, in jüngerer die Außenansicht mit gestaffelten Zehen, ähnlich bei den Händen. Angesichts des hohen künstlerischen Niveaus läßt diese über Jahrtausende festgehaltene Präsentationsweise nicht auf ein Defizit, vielmehr auf einen bewußten künstlerischen Ausdruckswillen und darüber hinaus auf eine bestimmte Zugangsweise zur Wirklichkeit schließen. In der Sichtweise der Altägypter ging es nicht um eine einheitlich-ganzheitliche Erfassung und Darstellung des menschlichen Körpers aus einer bestimmten Perspektive mit entsprechenden proportionalen Verkürzungen gemäß perspektivischen Gesetzen, sondern es ging um Bedeutung, Prägnanz und Wichtigkeit der Einzelteile, um eine Darstellung in der Form, in der sich die Teile signifikanterweise dem Beobachter darbieten: Der Kopf zeigt sich am markantesten im Profil, der Thorax in Frontalansicht, so wie Menschen sich erblicken, wenn sie freundschaftlich oder feindlich aufeinander zugehen; Arme und Beine, Hände und Füße sind am deutlichsten erkennbar in Seitenstellung, nicht in Frontalansicht wie auf byzantinischen Heiligenbildern, auf denen die Personen auf ZehenA
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spitzen zu schweben scheinen, statt fest auf dem Boden zu stehen. Daß es den Altägyptern nicht um die ›korrekte‹ Wiedergabe von Personen und deren räumlichen Beziehungen, sowohl was die Teile untereinander wie deren Verhältnis zu den umgebenden Dingen betrifft, ging, sondern um Wichtigkeit und Bedeutung derselben im sozialen Gefüge, dokumentiert ihre unterschiedliche Größe, wie auf einer Vogeljagdszene in Sümpfen aus dem Grab des Nebamûn in Theben. 30 Die größte Person stellt den Jagdherrn dar, die ihn begleitende, etwas kleinere Person vermutlich seine Frau, und die kleinen Mädchen und Jungen dürften Diener und Dienerinnen sein. Perspektivische Teil- oder Gesamterfassung des Raumes mit entsprechender Verkürzung, Parallelenzusammenführung im Hintergrund, Verzerrung von Quadraten zu Rhomben gibt es nicht und interessiert auch nicht: Gruppen von Personen, Tieren und Geräten werden gestaffelt und gleich groß dargestellt, Räume, etwa Säulenhallen, zugleich im Grund- und Aufriß vorgeführt. Eine überblickshafte Gesamtschau in zentralperspektivischer Darbietung liegt außerhalb des Interesses und Gestaltungswillens. Die Sichtweise war einzig und allein auf Prägnanz, Objektivität und Dignität gerichtet, demgegenüber alles andere zurücktreten mußte. 31 Eine ähnliche Beobachtung läßt sich bezüglich der Zeit in geschichtlichen Kontexten archaischer und sogenannter primitiver Völker machen. Erzählt werden Geschichten, erzählt wird aber nicht Geschichte. Die Aneinanderreihung bleibt äußerlich, aggregativ und diskontinuierlich, ohne daß es zur Konstitution eines einheitlichen Geschichtsverlaufs käme. Für die alten Kulturen, und das gilt sowohl für die altägyptische, die frühgriechische, ja sogar die jüdische 32, ist festzustellen, daß es eine Geschichtsschreibung im modernen Sinne als chronologische Abfolge nicht gibt, sondern nur kleinbögige Aneinanderreihungen. Da mit jedem Regierungsantritt eines Herrschers eine neue Zeit beginnt, kommt es nicht, wie später bei Zählung der Olympiaden in der griechischen Zeitrechnung oder der Jahre nach Christi Geburt in der christlichen, zu einer fortlaufenden Vogeljagd in Sümpfen. Gemälde auf Verputz, Höhe der Figur: 55 cm, Mitte der 18. Dynastie, aus dem Grab des Nebamûn, British Museum, London, aus: Ägyptische Kunst, eingeleitet und erläutert von J. R. Harris, London 1966, deutsche Übertragung von J. Schlechta, Farbtafel 23. 31 Vgl. K. Gloy: Aperspektivität – Perspektivität – Multiperspektivität, in: dies. (Hrsg.): Kunst und Philosophie, Wien 2003, S. 91–143, bes. S. 100 ff. 32 Dazu später, Teil III, Kap. 4.1. 30
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Numerierung. Da sich die Taten eines Herrschers um dessen Person ranken, lassen sie sich als ein einziges, einheitliches Geschehen interpretieren. Dies gilt für jeden Herrscher, seine Lebens- und Regierungszeit, die daher als individuelle Einheit betrachtet wird. Ein Gespür für ein chronologisch geordnetes Zeitverständnis der Welt besteht noch nicht. Überall, wo daher Handlungszeit und Handlungslogik die Strukturierung der Welt vorgeben und die kognitive Verarbeitung der Daten leiten wie in der Frühzeit, faßbar vor allem in Mythen und Epen, herrscht ein Anachronismus vor. Der Erzähler richtet sein Augenmerk auf das ihm in der Vielzahl der Eindrücke gerade wichtig Erscheinende oder Herausragende und läßt die Hörer daran teilhaben. Von Interesse sind allein Einzelhandlungen und Einzelvorgänge, nicht deren Zusammenhang und kausale Verknüpfung. So sind Szenenwechsel an der Tagesordnung, freilich ohne, wie heute üblich, durch Zeitadverbien wie ›am selben Tag‹, ›zur selben Stunde‹, ›unterdessen‹, ›während‹, ›nachdem‹ miteinander verknüpft zu sein. Man hat diese Beobachtung seit langem an Homers Epen, der Ilias und der Odyssee, aber auch am altenglischen Beowulf-Epos gemacht und sie als »präsentische Erzählweise« 33 oder »statische Vorstellungsweise« 34 bezeichnet. Um dem Zeitverständnis der Homerischen Epen Ilias und Odyssee näherzukommen, ist man gut beraten, einen Vergleich mit neuzeitlicher Berichterstattung und Geschichtsschreibung anzustellen, selbst wenn bei den letzteren als rein historischen der episch-fiktionale Charakter entfällt. Bei den letzteren liegt ein einheitliches Zeitkonzept zugrunde, die Vorstellung der Linearzeit, in die sich alle Handlungen und Ereignisse sowie Zustände einordnen lassen und in der sie ihre exakte Zeitstelle (Datum), ihren Abstand zueinander (Dauer) sowie ihre Ordnung (Nacheinander oder Zugleichsein) erhalten. Da der Inhalt dieses Koordinatensystems auf die Zeitachse bezogen wird, ergibt sich ein einheitlicher, kontinuierlicher Zusammenhang, eine Geschichte, die je nach Ausmaß und Überblick bis zur Weltgeschichte reichen kann. Der Erzähler, der sich in diesem Zeitfluß an einem bestimmten Weltpunkt befindet, erzählt die an seinem Th. Finkenstaedt: Das Zeitgefühl im altenglischen Beowulf-Epos, in: Antaios, Bd. 3 (1962), S. 215–232, bes. S. 221. 34 E. Brunner-Traut: Frühformen des Erkennens. Aspektive im Alten Ägypten, 1990, 3. Aufl. Darmstadt 1996, S. 108. 33
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Ort nacheinander ablaufenden Vorgänge in chronologischer Reihenfolge. Vor- und Rückblenden sowie Ausgriffe auf gleichzeitig Geschehendes an entfernteren Orten sind ihm über den Gebrauch von Zeitadverbien gestattet. Für die Homerischen Epen steht kein solcher einheitlicher, kontinuierlicher Zeitstrom zur Verfügung. Hermann Fränkel 35 betont, daß crno@ bei Homer nie als Subjekt und selbständig auftritt, sondern stets etwas an den Ereignissen Vorkommendes bezeichnet. In unserer Ausdrucksweise: Zeit kommt nur im Verbund mit konkreter Handlung als Handlungszeit vor. Erzählt wird nicht Geschichte, sondern erzählt werden Geschichten. Daß dabei das Tempo der Erzählung beträchtlich von dem realen Tempo der Vorgänge abweichen kann, indem z. B. ›Nebensächliches‹, wie das Anlegen der Beinschienen vor dem Kampf oder das Schlachten und Zerlegen eines Tieres, die Zubereitung der Speise, das Waschen der Hände vor Tisch, die Überreichung eines besonderen Stückes an den Ehrengast, breiten Raum einnimmt gegenüber dem ›Hauptsächlichen‹, wie der Feldschlacht oder dem Essen selbst, gehört zur Freiheit des Erzählens und zur epischen Breite und mag sich aus dem Interesse des Erzählers oder des Auditoriums an gewissen Vorgängen erklären. Denn Geschichten richten sich an ein Publikum und dienen der Unterhaltung und können daher beliebig gelängt oder gekürzt werden. Diese Zeitlängungen und -kürzungen, besser Schilderungsverlängerungen und -verkürzungen, gehören zum fiktiven, epischen Charakter der Erzählungen, anders jedoch die Organisation der Geschichtsmassen und der fortlaufenden Erzählung, welche die Einzelvorgänge wie Perlen auf einer Schnur oder wie Staffetten aufreiht und äußerlich den Eindruck eines kontinuierlichen Nacheinanders erweckt. Hier handelt es sich um eine spezifische, uns Heutigen nur schwer nachvollziehbare Sichtweise und Zeiteinstellung. Vom Erzähler werden je nach Interessenslage und Wichtigkeit aus dem Insgesamt von Ereignissen spezielle herausgegriffen und relativ unverbunden aggregiert, so daß bei genauerer Betrachtung der Eindruck der Ahistorizität und des Anachronismus entsteht. Selbst scheinbar genaue Zeitangaben wie ›9 Tage‹, ›12 Tage‹, ›9 Jahre‹, bei denen es sich meist um mytho-
H. Fränkel: Die Zeitauffassung in der frühgriechischen Literatur, in: ders.: Wege und Formen frühgriechischen Denkens. Literarische und philosophiegeschichtliche Studien, hrsg. von F. Tietze: München 1955, S. 1–22, bes. S. 2.
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logische Zahlen handelt, sind nicht als Grundlage einer Chronologie zu nehmen, sondern bezeichnen lediglich eine längere Dauer. 36 Der Anachronismus, an dem wir von unserem heutigen Standpunkt Anstoß nehmen, der aber vom Standpunkt der handlungszentrierten Zeit normal ist, läßt sich vielfach belegen. Das erste Buch der Ilias setzt mitten im Trojanischen Krieg ein, das zweite Buch berichtet vom zehnten und letzten Kriegsjahr, das dritte erzählt von einer Kriegsschlacht, die zwar nicht expressis verbis als die erste bezeichnet wird, aber nur unter dieser Voraussetzung Sinn ergibt, da die agierenden Personen so handeln, als hätte bislang noch kein Krieg stattgefunden. Auch die Feinstruktur des Epos führt auf chronologische Ungereimtheiten. Die Ilias beginnt mit einem Streit zwischen Agamemnon und Achill über die vom Priester Chryses geforderte Rückgabe seiner Tochter. Daraus resultieren drei Handlungsstränge, angeführt von drei Königen: Agamemnon, Achill und Odysseus. Achill begibt sich nach der unseligen und für ihn schmachvoll endenden Zusammenkunft, bei der Agamemnon anstelle von Chryses’ Tochter, die zu seinem Beutegut zählt, Briseus’ Tochter von Achill fordert, die diesem nach dem Fall von Theben als Ehrengeschenk zugesprochen worden war, zu seinen Schiffen. Agamemnon beauftragt Odysseus, Chryses’ Tochter dem Vater zurückzubringen. Odysseus sticht in See. Zunächst findet der Bericht über Agamemnon eine Fortsetzung: Agamemnon läßt dem Apoll opfern, befiehlt dann zwei Herolden, Briseus’ Tochter von Achill zu holen, der sie freiwillig herausgibt, sich aber daraufhin weinend an den Meeresstrand setzt und seiner göttlichen Mutter Thetis sein Leid klagt. Sie verspricht, Zeus um Rache zu bitten, aber erst am zwölften Tag, wenn Zeus, der sich vom Olymp zu Okeanos herabbegeben hat, zurückgekehrt sein wird. Dann folgt ein Szenenwechsel, in dem Odysseus nach Chrysa gelangt, dort die Sühnehekatombe bringt und zurückkehrt. Abermals ein Szenenwechsel: Achill sitzt noch immer trauervoll am Strand und bleibt den Versammlungen und Kämpfen fern. Am zwölften Tag sucht Thetis Zeus auf und ersucht ihn um Rache an den Achaiern, woraufhin auf dem Olymp ein langer Streit entbrennt, der das Geschehen vor Troja bestimmt gemäß der Makro-MikrokosmosAnalogie, nach der alles Geschehen der Menschen auf Erden eine Folge der Beschlüsse der Götter auf dem Olymp ist. 36
Vgl. a. a. O. A
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Trotz äußerlich fortlaufender Erzählung bereitet der Versuch, eine genauere Chronologie in diese Abläufe zu bringen, Schwierigkeiten. Genannt werden zwar zwölf Tage, jedoch bleibt unklar, was während dieser Zeit passierte. Haben Kämpfe stattgefunden, wurde eine neue Versammlung der Heerführer anberaumt, wie paßt sich die wenig integrierte Odysseus-Handlung ein? Die Darstellung macht den Eindruck fragmentierter Handlungsabläufe. Noch unverständlicher für uns ist der Anfang der Odyssee, der mit einer Doppelhandlung beginnt, der Telemach- und der Odysseushandlung. Von einer Götterberatung nehmen beide Handlungsstränge ihren Ausgang, was auch hier in Übereinstimmung mit der Makro-Mikrokosmos-Analogie geschieht. Die Götter beschließen, Athene zu Telemach zu senden, um ihn auf die Reise zu schicken, und Hermes zu Kalypso, um Odysseus freizugeben und ihn ebenfalls die Heimreise antreten zu lassen. Nur das erstere geschieht, womit die Telemachhandlung einsetzt. Am Anfang des fünften Buches begeben sich die Götter bei aufsteigender Morgenröte zur Beratung: Nun wird auch Hermes auf die Reise geschickt, so daß nun auch die Odysseushandlung in Gang kommt. Handelt es sich um dieselbe Götterversammlung wie die erste oder um eine neue? Der Text gibt keinerlei Anhalt für die eine oder andere Lesart. Für das handlungsorientierte Zeitverständnis ist dies auch belanglos; denn die Einzelhandlungen fügen sich nicht historisch-chronologisch aneinander, derart, daß jede Handlung eine vorausgehende als Ursache hätte, auf die sie folgte und sich so ein kontinuierliches Kausalgeschehen aufbaute, sondern jede Einzelhandlung hat ihr Fundament und ihre Ursache in einer Götterhandlung, deren Auswirkung und Folge sie darstellt. Das Ursache-Wirkungsverhältnis ist hier aus der Horizontale in die Vertikale verlagert. 37 Dieselbe Achronizität begegnet im altenglischen BeowulfEpos 38, dessen Abfassung in die erste Hälfte des 8. Jahrhunderts oder sogar in die zweite Hälfte des 7. Jahrhunderts fällt. Wie Thomas Finkenstaedt in eingehenden Studien gezeigt hat, bleiben die Handlungen in ihrem Zeitverhältnis meist unbestimmt. »Blockartig-asynZur Zeitauffassung bei Homer vgl. H. Fränkel: Die Zeitauffassung in der frühgriechischen Literatur, a. a. O.; G. Dux: Die Zeit in der Geschichte, a. a. O., S. 262–269; M. P. Nilsson: Primitive Time-Reckoning, Lund 1920, S. 110 f. 38 Beowulf. Ein altenglisches Heldenepos, übersetzt und hrsg. von M. Lehnert, Stuttgart 2004. 37
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detisch werden die Teile gesetzt, statt eines vorher oder nachher ist die Handlung einfach da: es ist die echt epische, ›ideale‹ Zeit; die Geschehnisse sind dem Hörer stets gleich fern oder gleich nah […].« 39 Und als Beleg liefert er einige Beispiele aus den Zeilen 64– 126 mit dem Hinweis, daß man sich hüten müsse, bei der Übersetzung des altenglischen Adverbs Þa, das am Satzanfang steht und ein statisches ›da war‹ ausdrückt, ins Neuhochdeutsche differenzierende Temporalausdrücke wie ›dann‹, ›darauf‹, ›damals‹ zu verwenden, da man damit den Text verfälsche. »Da war dem Hrothgar Heer Glück gegeben … Da hörte ich, daß weithin das Werk befohlen wurde … Da duldete der Kraftgeist (Grendel) kummervolle Zeit … Da ging er sich nähern, als die Nacht kam, dem hohen Haus … Da war am Morgen die Kriegstat Grendels offenbar …« 40
Das Geschehen verläuft nicht dynamisch und erst recht nicht kausal, sondern steht statisch vor dem Rezitierenden und dem Auditorium und wird beliebig ausgewählt und aneinandergereiht, wobei Vorgänge, die besonders wichtig erscheinen, doppelt gesetzt, mithin wiederholt werden, oft indem sie ein Geschehen umschließen. Beim Drachenkampf Sigmunds heißt es: »Hinstarb der Drache.« Und nachdem Sigmund das Schiff mit den gewonnenen Schätzen beladen hat, wird wiederholt: »Der Wurm zerschmolz heiß.« 41 Finkenstaedt spricht diesbezüglich von einer »impressionistischen Sicht des Dichters«42 . Die eigentliche Ursache dürfte aber auch hier die handlungsorientierte Zeitauffassung sein, die kein zeitliches Nacheinander kennt, sondern nur ein räumlich-präsentisches Nebeneinander. 2.3. Synchronizität Sowenig im Rahmen der Handlungszeit eine universelle kontinuierliche Sukzessivität möglich ist, sowenig gibt es in diesem Rahmen auch eine universelle Simultaneität, bei der die an verschiedenen Orten des Weltalls stattfindenden Ereignisse auf eine bestimmte Zeitstelle der Zeitachse bezogen würden und mit dieser fortliefen. Viel39 40 41 42
Th. Finkenstaedt: Das Zeitgefühl im altenglischen Beowulf-Epos, a. a. O., S. 221. A. a. O. Vgl. a. a. O., S. 223. A. a. O. A
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mehr gibt es nur eine Pluralität disparater, isoliert auftretender Handlungen, ohne daß sie synchron verbunden und als gleichzeitig identifizierbar wären. Soll eine Verbindung in diesem Sinne hergestellt werden, dann gewinnt eines von zwei oder mehreren Ereignissen die Dominanz und avanciert zum Referenten der anderen. Wir kennen dies aus unserer Alltagssprache, etwa wenn wir sagen: ›als ich noch ein Kind war‹ oder ›zur Zeit, als X Kanzler war‹. Aber nicht nur aus dem Alltag sind solche Zuordnungen bekannt, sondern auch aus archaischen Kulturen und von Naturethnien. Die biblischen Texte sind voll davon, etwa das Lukas-Evangelium, was die Weihnachtsgeschichte betrifft: »zur Zeit des Kaisers Augustus«, »zu der Zeit, da Cyrenius Landpfleger in Syrien war« 43 oder »in dem fünfzehnten Jahr des Kaisertums Kaisers Tiberius, da Pontius Pilatus Landpfleger in Judäa war und Herodes ein Vierfürst in Galiläa und sein Bruder Philippus ein Vierfürst in Ituräa und in der Gegend Trachonitis und Lysanias ein Vierfürst zu Abilene, da Hannas und Kaiphas Hohepriester waren« 44 . Für das Alte Testament hat Gerhard von Rad 45 nachgewiesen, daß trotz der Existenz von Chroniken für die Bruderreiche Juda und Israel es für den Schreiber der Geschichtsbücher nicht möglich war, die Ereignisse beider Bereiche zu synchronisieren. Vielmehr rekurriert er jeweils auf das Königtum des einen Reiches und bezieht das andere korrelativ darauf. So erhält abwechselnd das eine wie das andere eine Vorrangstellung. Dieselbe Beobachtung läßt sich bezüglich der altägyptischen Zeitauffassung machen, in der die Synchronisation von Ereignissen jeweils auf die Regierungszeit eines Pharao erfolgt, etwa ›zur Zeit des Pharao X‹. Allerdings kennen wir auch noch in unserer heutigen universalisierten mathematischen Zeit bei der Simultaneität den Rekurs auf einen konkreten Vorgang oder ein entsprechendes Ereignis. So sind alle Zeitangaben auf den Umlauf des Uhrzeigers auf dem Zifferblatt bezogen, dieser auf den Umlauf der Planeten oder auf den Molekularausschlag der Quarzatome. Dabei macht es keinen großen Unterschied, ob man wie im mythischen Weltbild metaphorisch sagt: ›Wir treffen uns heute, wenn die Sonne im Zenit steht‹ oder, wie im mathematischen: ›Wir treffen uns heute um 12 Uhr Mittag‹. 46 LetzLukas 2, 1,2. Lukas 3, 1–2. 45 G. von Rad: Theologie des Alten Testaments, 2 Bde., München 1957–1960, 4. Aufl. 1962–1965, Bd. 2, S. 109. 46 Vgl. dazu K. Hübner: Rationalität im mythischen Denken, in: ders. und J. Vuillemin 43 44
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teres ist nur entsprechend der Präzisionstendenz des rationalen Denkens exakter, ersteres reicht für den alltäglichen praktischen Gebrauch aus.
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Realisierungen der Handlungszeit
Sucht man nach Anwendungen und Realisationen der Handlungszeit, so sieht man sich auf die mythischen Vorstellungen archaischer Völker verwiesen, insbesondere auf kosmogonische Mythen, die von der Erschaffung der Welt und der Zeit auf der Folie der Handlungslogik berichten. Was hier in bezug auf die Welt und Weltzeit quasi in Großformat dargestellt wird, hat Gültigkeit auch für das Leben und die Lebenszeit des Einzelnen in Kleinformat, und es ist gewiß kein Zufall, daß in einer Philosophie, die dem mythologischen Denken so nahesteht wie die Heideggerische, die primär praxis- und handlungsorientiert ist, das Dasein (Leben) nach der Entwurfsstruktur interpretiert wird als Vorlaufen in die Zukunft, auf den Tod, und als Zurückkommen von dieser auf die geschichtlich bedingte Gegenwart, wie das in Sein und Zeit geschieht. Das Dasein als geworfener Entwurf basiert auf einer einheitlich-ganzheitlichen Handlungsstruktur. Und nicht nur in bezug auf die Welt im ganzen und das Einzelleben, sondern auch in bezug auf das Leben und die Geschichte eines Volkes findet die Handlungszeit Anwendung, so in der Religion des israelitischen Volkes, das seine Geschichtsauffassung einem göttlichen, soteriologischen Handlungsplan verdankt. Mythos, Glaube, Philosophie, in allen sind Handlungslogik und Handlungszeit bekannt. Konzentrieren will ich mich hier auf die kosmogonischen Mythen und auf die Etymologie des griechischen Wortes a§ðn. 3.1. Schöpfungsmythen von Weltentstehung Nahezu alle kosmogonischen Mythen beginnen mit der Formel ›Am Anfang …‹, so der alttestamentliche Bericht Genesis 1,1: »Am An-
(Hrsg.): Wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Rationalität. Ein deutsch-französisches Kolloquium. Stuttgart-Bad Cannstatt 1983, S. 49–68, bes. S. 62. A
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fang schuf Gott Himmel und Erde«, so der babylonische Schöpfungsmythos Enuma elisch: »Als droben die Himmel nicht genannt waren, Als unten die Erde keinen Namen hatte […].« 47
Berichtet wird in diesen Mythen von einem Schöpfungsakt, einer Handlung, in der die Welt und mit ihr die Zeit gesetzt wird. Der Anfang der Handlung ist absolut. Ontologisch stellt er ein Ursprungsgeschehen dar, temporal den Beginn der Zeit. Das Produkt der Handlung ist die Welt in ihrer heutigen Gestalt und Ordnung mitsamt der Zeit. Da die Schöpfung auf der Folie der Handlungslogik ein teleologischer, von einem Anfang auf ein Ziel gerichteter Vorgang ist, bleiben Welt und Zeit an den Ursprung gebunden, ohne als Produkte eine abgelöste Existenz zu führen, was bedeutet, daß die Zeit teleologisch strukturiert ist, in einer Entwurfsstruktur von einem Anfang auf ein Ziel besteht, nicht aber geradlinig, homogen, unendlich usw. ist. Was die Art der Schöpfung betrifft, so wird sie von den verschiedenen Mythen unterschiedlich dargestellt. Zum einen kann es sich um einen natürlichen biologischen Zeugungs- und Geburtsakt handeln, so im altägyptischen Mythos vom ›Ei des großen Gackerers‹ 48 oder wie im Schöpfungsmythos der Arawa, eines Eingeborenenstammes auf Neuseeland, wo von einem ersten Elternpaar, Papa und Rangi, die Rede ist, die aus der Weite des Himmels und der Tiefe der Erde kamen und die übrigen Götter, Menschen und Dinge zeugten. 49 Zum anderen kann der Schöpfungsprozeß in einem handwerklich-technischen Vorgang in Analogie zu handwerklichen Tätigkeiten bestehen wie im Alten Testament, wo Gott Adam aus einem amorphen Erdenkloß 50 und Eva aus einer Rippe Adams 51 formt, oder im altDie Schöpfungsmythen. Ägypter, Sumerer, Hurriter, Hethiter, Kanaaniter und Israeliten (Titel der Originalausgabe: La naissance du monde, 1. Teil, Paris), übertragen aus dem Französischen von E. Klein unter Mitarbeit von W. Schenkel und O. Roessler, mit einem Vorwort von M. Eliade, Einsiedeln, Zürich, Köln 1964, S. 134; vgl. A. Heidel: The Babylonian Genesis. The Story of Creation, The University of Chicago Press, Chicago, London 1942, 6. Aufl. Chicago 1969, S. 18. 48 Vgl. S. Morenz: Ägyptische Religion, a. a. O., S. 187. 49 Vgl. R. Poigmant: Ozeanische Mythologie. Polynesien, Mikronesien, Melanesien, Australien (Titel der Originalausgabe: Oceanic Mythology, London), ins Deutsche übertragen von S. Schmidt, Wiesbaden o. J., S. 26 ff. 50 Genesis 2,7. 51 Genesis 2,21. 47
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ägyptischen Schöpfungsmythos, wo Chnum den Menschen auf einer Töpferscheibe gestaltet 52 , oder im babylonischen Schöpfungsmythos Enuma elisch, wo der Schöpfergott Marduk den Leib der Tiâmat zur Bildung des Weltalls benutzt, indem er sie wie einen getrockneten Fisch aufklappt und in Himmel und Erde zerlegt. 53 Der Leib der Tiâmat bildet das Rohmaterial, aus dem er auch die anderen Dinge formt. Ihre Tränen benutzt er zur Bildung von Euphrat und Tigris, aus ihrer Brust läßt er fruchtbare Hügel und Gebirge entstehen, aus ihrem Schwanz schafft er die Nabelschnur, die Himmel und Erde zusammenhält. Zu diesem Typ gehört auch Platons Kunstmythos im Timaios, dem zufolge der Demiurg, der explizit ein Handwerkergott genannt wird, die ungeformte Materie im Blick auf die Ideen und ihr Ordnungssystem formt. Zum dritten ist die Schöpfung durch das Wort möglich wie im Alten Testament, wo es unter Genesis 1,3 heißt: »Und Gott sprach: Es werde Licht! und es ward Licht.« Die Wirksamkeit des Wortes ist auch im babylonischen Schöpfungsmythos belegt, dort allerdings nicht in bezug auf die Welterschaffung, sondern in bezug auf Nebenschauplätze. 54 Was das Handlungssubjekt, das Agens, betrifft, so kann es sich um eine anonyme Macht handeln wie bei den Arunta 55 oder um personale Naturmächte wie Vater und Mutter wie bei den Arawa 56 oder um eine personifizierte Gottheit wie im jüdischen und babylonischen Schöpfungsmythos der Gott Elochim und Marduk. Nicht minder vielfältig ist die Art und Weise der Entstehung bzw. der Hervorbringung, die in einer Formung und Gestaltung einer amorphen Masse bestehen kann wie im Alten Testament, gegebenenfalls in einer creatio ex nihilo wie nach späterer Glaubensdogmatik des Christentums, oder in einem Teilungs- und Differenzierungsgeschehen wie im altägyptischen OsirisMythos, im altgriechischen Dionysos-Mythos, im iranischen Adonis-Kult, im germanischen Mythos von der Weltesche oder dem Riesen Imir, im altindischen Purusha-Mythos. In allen geht es um die Teilung eines zunächst Ungeteilten, um die Ausdifferenzierung
Vgl. S. Morenz: Ägyptische Religion, a. a. O., S. 169 f. Enuma elisch, Tafel 4, Vers 137 f., Tafel 5, Vers 55 ff., in: Die Schöpfungsmythen, a. a. O., S. 142, S. 144. 54 Vgl. Die Schöpfungsmythen, a. a. O., S. 242 Anm. 5; S. Morenz: Ägyptische Religion, a. a. O., S. 172 und S. 174. 55 Vgl. G. Dux: Die Zeit in der Geschichte, a. a. O., S. 168 ff. 56 Vgl. R. Poigmant: Ozeanische Mythologie, a. a. O., S. 26 f. 52 53
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und Spezifikation eines zunächst Undifferenzierten. So erklärt die nordische Mythologie die Weltentstehung aus dem Riesen Imir derart, daß aus seinem Fleisch die Erde erschaffen wurde, aus seinem Schädel das Himmelsdach, aus seinem Blut das Meer, aus seinen Knochen die Berge, aus seinen Haaren die Bäume usw. Nach dem vedischen Schöpfungsmythos wird der Mensch Purusha von den Göttern geopfert, um aus seinen Körperteilen die Vielheit der Welt hervorgehen zu lassen: die lebenden Wesen, die Tiere, die Sonne, den Mond und die Luft. Auch eine Wiedervereinigung der getrennten und differenzierten Teile zu einer neuen Einheit und ein erneuter Kreislauf sind möglich und denkbar wie im Osiris-, Adonis-, Dionysos-Mythos. Ein Differenzierungs- und Artikulationsgeschehen liegt auch der altgriechischen Vorstellung vom Hervorgang der Welt aus dem Chaos zugrunde, da Chaos ›gähnender, klaffender Schlund‹ bedeutet, aus dem, wie bei der Formung von Lauten und der Artikulation von Worten, die differenzierte, spezifische Welt hervorgeht. Die zu formende und zu gestaltende Materie ist stets ein Amorphes, Indifferentes, Ungeteiltes und das aus ihr resultierende Produkt der Ist-Zustand der Welt in seiner jetzigen Gestalt und Ordnung. Mit der Welt wird auch die Zeit erschaffen, die in vielen Mythen ausdrücklich als eine geschaffene bezeichnet wird. 57 Wie die Welterschaffung einen Anfang und ein Ende hat, so hat auch die mit ihr produzierte Zeit einen Anfang und ein Ende, zwischen denen sie sich ausspannt. Weltschöpfung und Zeiterschaffung sind identisch, zumindest aneinander gebunden. Die Welterschaffung erfolgt nicht in der Zeit, so daß man fragen könnte, was vor dem Anfang der Welt war, und die Welt existiert auch nicht nach ihrer Erschaffung als isoliertes Produkt weiter, so daß man fragen könnte, was nach dem Schöpfungsakt geschieht, sondern die handlungstheoretisch verstandene Welt- und Zeiterschaffung sind geschlossene, begrenzte Vorgänge, die nur so lange dauern, wie die Handlung währt. In ihren Grenzen ist die Handlung jedoch ein permanenter Vorgang, um dessen Aufrechterhaltung und ständige Wiederherstellung sich archaische Völker wie die Altägypter und Azteken bemühten, und zwar aus Sorge, die Dauer des Grundes, aus dem ihre Weltordnung lebte, kön-
Vgl. Platon: Timaios 37 a ff. Vgl. auch die Zoroastrische Zeitvorstellung, H. H. Schaeder: Der iranische Zeitgott und sein Mythos, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, Bd. 95 (Neue Folge Bd. 20) (1941), S. 268–299.
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ne gefährdet werden. Denn obwohl Welt und Zeit facta eines facere, Produkte einer Produktion, sind, sind sie nicht unabhängig von dieser, sondern existieren nur so lange, wie auch die Produktion anhält. Dies ist der Grund, durch Wiederholung die Produktion aufrechtzuerhalten. Wie alle Mythen Geschichten erzählen und mit ›es war einmal‹ beginnen, so auch die kosmogonischen. Ihre Aufgabe ist eine zweifache: zum einen sollen sie das Vorfindliche in seiner gegenwärtigen Gestaltung und Ordnung erklären, zum anderen in seinem faktischen Bestand als verbindlich rechtfertigen. Sie haben damit gleicherweise eine theoretische Erklärungs- wie eine praktisch normative Legitimationsfunktion. Indem sie das Vorhandene und Vorfindliche, die Welt und Zeit, in ihren Erzeugungs- und Entstehungsprozeß auflösen, entsprechen sie der ersteren Aufgabe. Denn das Verstehen von etwas ist an den Vorgang seiner Herstellung gebunden. Das, was ist, läßt sich nur erklären aus dem Zustand, in dem es noch nicht war, und aus dem Prozeß, in dem es geschaffen wurde. Das wird an Platons Mythenkonzeption im Timaios deutlich, an dieser gerade deswegen, weil es sich um einen Kunstmythos handelt. Wie der hier dargestellte Schöpfungsmythos erkennen läßt, geht es nicht eigentlich um einen realen Schöpfungsprozeß, sondern um die bildhafte, mythologische Einkleidung eines rationalen, erkenntnistheoretischen Vorgangs, derart, daß an einem technomorphen Modell die Aufbau- und Konstruktionsgesetze des Kosmos vergegenwärtigt werden. Indem Platon einen Demiurgen die amorphe Materie gemäß den Ideen formen läßt, ermöglicht er dem Menschen, in intellektueller Rekonstruktion die ursprüngliche Konstruktion sowie die Aufbaugesetze des Kosmos zu verstehen. In entmythologisiertem Sinne geht es also um einen Verstehensprozeß. Dahinter steht die Einsicht, daß der Mensch nur das wirklich versteht, was er selbst prinzipiell herzustellen und zu erzeugen vermag. Nicht zufällig hat die gesamte europäische Geistesgeschichte den Erkenntnisprozeß nicht so sehr als passiven, rezeptiven Vorgang aufgefaßt, vielmehr als aktiven, spontanen, der am Produktionsprozeß des Handwerkers orientiert ist. So wie nur der Urheber sein Werk versteht, so auch der Erkennende. Nur nebenbei sei erwähnt, daß mit dieser Theorie Platon epistemologisch zum Begründer einer langen und weitreichenden Tradition geworden ist. Bei Laktanz (ca. 300 n. Chr.) findet sich der Ausspruch: »Wer, wenn nicht der Künstler, kennt sein Werk?« (»Quis A
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scire nisi artifex potest cui soli opus suum notum est?« 58 ) Bei Cusanus vermag der Mensch nur deshalb exakt und präzis zu erkennen, weil sein endlicher Geist dem unendlichen göttlichen Geist aufgrund der Ebenbildlichkeit des Menschen mit Gott entspricht und folglich das zu »schauen« (videre) und »sich zu assimilieren« (assimilare) vermag, was jener »herstellt« (facere, creare). 59 In Kants Transzendentalphilosophie gelangt dieser Ansatz zu seinem Höhepunkt, wenn Kant die These vertritt, daß wir die Naturgesetze, von denen wir doch wähnen, sie aus der Empirie abstrahiert zu haben, ursprünglich selbst in diese hineingelegt haben: »Der Verstand ist selbst der Quell der Gesetze der Natur.« 60 Er ist »nicht bloß ein Vermögen, durch Vergleichung der Erscheinungen sich Regeln zu machen: er ist selbst die Gesetzgebung für die Natur« 61 . Im Opus postumum taucht stereotyp die Formel auf: »Wir [machen] die Erfahrung […] selbst, von der wir wähnen durch Observation und Experiment gelernet zu haben« 62 oder »Erfahrung wird nicht (empirisch) gegeben sondern gemacht« 63 . Ihre letzte und radikalste Ausgestaltung hat diese These im Operationalismus und Konstruktivismus der Erlanger Schule bei Paul Lorenzen 64 gefunden, aber auch schon früher bei Hugo Dingler 65 ; sie verlangen, daß die Welt und ihre Objekte bei einer Verständigung über sie, d. h. bei einer Definition, nicht nur ideell, sondern reell konstruiert werden. In den Mythen von der Genesis der Welt wird die Welt und ihre Ordnungsform, die Zeit, nicht nur theoretisch erklärt, sondern auch praktisch legitimiert, indem ihr ein paradigmatischer Status zugewiesen wird. Sie wird damit als verbindliches Normensystem etaF. Lactantius: De opificio dei, lib. 14,9, in: Opera omnia, recensuerunt S. Brandt et G. Laubmann, Pars II, Fasciculus I, Prag, Wien, Leipzig 1893, S. 50. 59 Vgl. Nicolaus von Kues: Idiota de mente, cap. 7, fol. 86, in: Philosophisch-theologische Schriften, hrsg. und eingeführt von L. Gabriel, übersetzt von D. und W. Dupré, Studien- und Jubiläumsausgabe, lateinisch – deutsch, 3 Bde., Wien 1964–1967, Bd. 3, S. 532 ff. / S. 533 ff., bes. S. 534 f. 60 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 127 (Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 1 ff., Berlin 1902 ff., Bd. 4, S. 93). 61 A. a. O., A 126 (Akademieausgabe, Bd. 4, S. 93). 62 Akademieausgabe, Bd. 22, S. 362, 2 ff. 63 A. a. O., Bd. 22, S. 392,19, ferner S. 322,28 ff.; S. 366,22; S. 391,9 f.; S. 394,28 f.; S. 395,12 f.; S. 404,25 f. usw. 64 P. Lorenzen: Das Begründungsproblem der Geometrie als Wissenschaft der räumlichen Ordnung, in: Philosophia Naturalis, Bd. 6 (1960), S. 415–431. 65 H. Dingler: Das Experiment. Sein Wesen und seine Geschichte, München 1928. 58
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bliert. Mythen erzählen von Göttern und Heroen in einer Oberwelt, die gemäß der Makro-Mikrokosmos-Analogie auch für den irdischen Bereich zuständig sind. Während unser rationales Denken seit der griechischen Aufklärung im 6./5. Jahrhundert v. Chr. im lgon didnai besteht, d. h. im Rechenschaftgeben und Begründen, derart, daß eine Sache auf ihre Gründe reduziert wird, diese auf noch höhere, allgemeinere Gründe und diese ihrerseits auf noch höhere und so fort mit dem Ziel, einen letzten, allumfassenden Grund zu finden, der Grund von allem, selbst aber nicht mehr in anderem gegründet ist und gleicherweise als ratio essendi wie als ratio cognoscendi (Seinswie Erklärungsgrund) fungiert, erklärt und legitimiert das mythische Denken durch Geschichtenerzählung mit verbindlichem Charakter. Im ersten Fall geht es um das Einfangen der Wirklichkeit in ein hierarchisches System aus Gründen oder Folgen, Ober- und Unterbegriffen in Gestalt der dichotomischen binären Logik, im zweiten um die ständige Wiedererzählung der Ursprungsmythen mit Begleitung der dazugehörigen Riten wie Gebet, Gesang, Aufführung, um die Weltund Zeitschöpfung ständig neu zu instantiieren und zu befestigen. Bei der erzählenden oder darstellenden Wiederholung handelt es sich nicht um eine bloße Imitation des ursprünglichen Vorgangs, um einen Abklatsch, eine Kopie niederen Ranges nach Art eines UrbildAbbild- oder Abschattungsverhältnisses, sondern um einen ursprünglichen Vollzug, eine Zurückversetzung in den Ursprung. Wiederholung ist im eigentlichen Sinne Wieder-Holung, Zurückholung des Anfangs. Der mythische Mensch vollzieht im Mythos und Ritus erneuernd die ursprüngliche Weltschöpfung und mit ihr die Herstellung der temporalen Form und Ordnung. Einen Beleg dafür bietet das griechische Drama, das aus Vegetations- und Fruchtbarkeitsriten hervorgegangen ist, in denen das ›Stirb und Werde‹, das Entstehen und Vergehen, kultisch vollzogen wurde. Das Wort ›Drama‹ leitet sich etymologisch von dem griechischen drðmenon ab, das ›Handlung‹, ›Vollzug‹ bedeutet. Noch lange Zeit verstand sich das griechische Drama nicht als bloße Repräsentation eines ursprünglichen Vollzugs, sondern als Präsentation selbst. Die Schauspieler imitierten nicht nur einen vergangenen Prozeß, sondern vollzogen ihn aktualiter. Ganz allgemein läßt sich sagen, daß im symbolischen Realismus des mythischen Weltbildes die Zeichenebene, bestehe sie in Wort, Bild, Vision, Traum oder Aufführung, nicht nur auf die Referenzebene verweist, sondern mit ihr zusammenfällt, indem Signifikans und A
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Signifikatum ein und dasselbe sind. Das Wort hat schöpferische, seinserschaffende Kraft, wie am biblischen Ausspruch »Gott sprach, und es ward« 66 sichtbar wird. Das Bild zieht im magischen Bildzauber die abgebildete Person oder Sache selbst herbei. Der angerufene Name eines Gottes oder einer sonstigen Person hat zwingenden Charakter – man spricht daher auch von »Zwangnamen« 67 –; der Traum fällt ununterscheidbar mit der Wirklichkeit zusammen; die Fußspur oder das Kleidungsstück eines Menschen läßt im magischen Verständnis den gesamten Menschen erfassen. Eine Begründung für den Sachverhalt, daß die einzelnen wiederkehrenden Vollzüge im ursprünglichen Vollzug fundiert sind, hat Dux mittels des substanzlogischen bzw. subjekt-prädikatlogischen Modells geliefert. 68 Dieses sieht die »substanzielle Identität von Subjekt und Prädikat« 69 für die Ursprungsdimension vor. Eine solche ist konstitutiv für das mythische Weltbild, so daß die Wiederholung nichts anderes als Manifestation und Explikation oder Artikulation des ursprünglichen Vollzugs ist. Wie die Urhandlung die Basis aller Einzelhandlungen abgibt, so bildet auch die Ur-Zeit und ihre Allgemeinheit die Basis für alle Einzelzeiten. Im ›ein für allemal‹ wird ausgesagt, daß das erste Mal für alle Male (jedes Mal) gilt. Sofern man hier überhaupt von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sprechen darf, wird das, was illo tempore geschah, zum Geschehen, das immer wieder geschieht. Die Vergangenheit ist keine wirklich vergangene, sondern eine stets gegenwärtige, die auch noch das Zukünftige bestimmt. Was geschehen wird, liegt im Ursprung beschlossen. Diese substanztheoretische Ausdeutung der Zeit, die dieselbe als allgegenwärtige nimmt, als anhaltende Dauer des Ursprungs, liefert auch die Erklärung für Magie, Prophetie und Orakelwissen, handelt es sich doch bei diesen um Strukturerkenntnisse, die alle Zeiten – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, wenn man wiederum so reden darf – durchziehen und in der dauGenesis 1,3. Th. Hopfner: Griechisch-ägyptischer Offenbarungszauber. Mit einer eingehenden Darstellung des griechisch-synkretistischen Daemonenglaubens und der Voraussetzungen und Mittel des Zaubers überhaupt und der magischen Divination im besonderen, Bd. 1, Leipzig 1921 (Studien zur Palaeographie und Papyruskunde, hrsg. von C. Wessely, Heft 21), S. 176 (§ 690), (veränderter Nachdruck Amsterdam 1974, S. 419 [§ 690]); vgl. E. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, a. a. O., 2. Teil, S. 265 Anm. 1. 68 Vgl. G. Dux: Die Zeit in der Geschichte, a. a. O., S. 182, 189 f., 193. 69 A. a. O., S. 182. 66 67
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ernden Gegenwart zusammengefaßt sind. Wegen des Zusammenfalls und der Identität vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Strukturen lassen sich aus vergangenen Ereignissen zukünftige erschließen und mittels ihrer auch gegenwärtige auslegen. Das Zeitwissen der Seher ist von der Art, wie es Homer in der Ilias dem Kalchas zuschreibt: »Der erkannte, was ist, was sein wird oder zuvor war.« 70 Die sukzessiv-lineare Einordnung von Handlungen und Handlungsstrukturen, wie sie von einem späteren Standpunkt geschieht, der Zeitmodi unterscheidet, ist für die mythische Zeitvorstellung inadäquat, da sie diese Unterschiede noch nicht kennt, und genau dies soll das Substanz-Akzidens-Modell bzw. das subjekt-prädikattheoretische Verhältnis zum Ausdruck bringen. 3.2. Der babylonische Schöpfungsmythos Enuma elisch Im folgenden soll an einem konkreten Beispiel, dem babylonischen Schöpfungsmythos Enuma elisch, der nach den ersten Worten des Epos »Als droben (die Himmel nicht genannt waren …)« benannt ist, die Handlungszeit detaillierter erläutert werden. Der Mythos ist insofern von besonderem Interesse unter den Schöpfungsgeschichten, als er sowohl unbewußt und unthematisch, genau wie die übrigen Schöpfungsmythen, allein durch sein Sein die handlungsbezogene Zeitauffassung zum Ausdruck bringt, als auch, im Unterschied zu ihnen, bewußt und thematisch auf die handlungsorientierte Zeitauffassung eingeht. Das Enuma elisch ist auf sieben Tafeln mit durchschnittlich 150 Versen überliefert, deren älteste aus dem 9. Jahrhundert v. Chr. und deren jüngste aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. stammen dürften. Die Fassung des Epos wird aufgrund verschiedener Merkmale wie des formalen Aufbaus und der Sprache älter geschätzt und in das 19. bis 17. Jahrhundert v. Chr. datiert. Der Text selbst ist eine Mischung aus dem älteren Sumerischen und dem jüngeren Assyrisch-Babylonischen, wobei insbesondere die sumerischen Namen übernommen wurden. Der Inhalt sei kurz zusammengefaßt. Das Werk beginnt mit den Versen Ilias, A 70: ˚@ –ˇdh t€ t’ ¥nta t€ t’ ¥ssmena pr t’ ¥nta. Vgl. Dux: Die Zeit in der Geschichte, a. a. O., S. 193 ff., bes. S. 194.
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»Als droben die Himmel nicht genannt waren. Als unten die Erde keinen Namen hatte, Als selbst Apsu, der uranfängliche, der Erzeuger der Götter, Mummu Tiâmat, die sie alle gebar, Ihre Wasser in eins vermischten, Als das abgestorbene Schilf sich noch nicht angehäuft hatte, Rohrdickicht nicht zu sehen war, Als noch kein Gott erschienen, Mit Namen nicht benannt, Geschick ihm nicht bestimmt war […].« 71
Der Beginn des Werkes ist typisch für die Beschreibung des Urzustands als absolute Indifferenz, eines Zustands, in dem die Dinge noch nicht mit Namen benannt sind und wegen der schöpferischen, seinserschaffenden Kraft des Wortes noch nicht ins Dasein getreten sind; denn, wie wir auch aus anderen mythologischen Darstellungen wie dem Alten Testament wissen, hat die Namengebung poietische, setzende Kraft. Auch in ägyptischen Mythen wird der Urzustand durch Negativa beschrieben: »(Dieser König wurde geboren), als der Himmel noch nicht entstanden war, als die Erde noch nicht entstanden war, als die Menschen noch nicht entstanden waren, als die Götter noch nicht geboren worden waren, als (selbst) der Tod noch nicht entstanden war.« 72
Im Enuma elisch folgt auf die Beschreibung des Urzustands eine Göttergenealogie. Das erste Elternpaar, die Urgewässer Apsu und Tiâmat, die das Süß- und das Salzwasser repräsentieren (babylonisch tâmtu, tiâmtu bedeutet ›Meer‹, ›Salzwasser‹), zeugen Lachmu und Lachamu (erste Generation), von denen es heißt, daß sie mit Namen benannt wurden, deren Bedeutung uns heute allerdings nicht mehr bekannt ist, diese wiederum zeugen Anschar und Kischar (zweite Generation), die ›Gesamtheit des Himmels‹ und ›die Gesamtheit der Erde‹, diese Anu als Erstgeborenen (dritte Generation) und wahrscheinlich noch andere. Anu zeugt Nudimmut (vierte Generation) usw. Einer der Erstgeborenen, der »sehr kluge, der weise, der mächtige, der allwissende Ea« 73 , zeugt mit seiner Gemahlin Damkina MarZitiert wird das Enuma elisch nach der Übersetzung von P. Garelli und M. Leibovici: Akkadische Schöpfungsmythen, in: Die Schöpfungsmythen, a. a. O., S, 134–146, bes. S. 134. Vgl. mit teils abweichender Übersetzung: A. Heidel: The Babylonian Genesis, a. a. O., S. 18–60; R. Labat: Le poème babylonien de la création, Paris 1935, S. 75–173. 72 Pyr., § 1, 466 b in: Die Schöpfungsmythen, a. a. O., S. 40. 73 Tafel I, Vers 59 f. (a. a. O., S. 136). 71
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duk, den Sonnengott, der alle anderen an Glanz und Herrlichkeit, an physischer und intellektueller Stärke übertrifft. Man darf nicht vergessen, daß das Epos nicht zuletzt in politischer Absicht verfaßt war, nämlich Marduk als Hauptgott zu inthronisieren und, da Marduk der Schutzgott Babylons war, auch die Stadt Babylon über die anderen Städte zu erhöhen und als Hauptstadt zu legitimieren. In dem Bericht folgt dann der erste Konflikt und Kampf, der mit einem Vatermord endet. Die jungen Götter sind ausgelassen, toben, tanzen und springen umher und stören den Vater Apsu in seiner Ruhe, so daß er auf die Vernichtung seiner Nachkommenschaft sinnt. Man kann in diesem Toben sowohl das Aufbrausen und Aufwallen von Naturkräften, also Naturkatastrophen, erblicken, wie auch politische Turbulenzen und kriegerische Auseinandersetzungen zwischen eindringenden und ansässigen Völkern, da Mythen immer auch Verarbeitungsweisen historischer Fakten sind. Die jungen Götter im Verbund mit der über die Absicht des Vaters erzürnten Mutter, allen voran Ea, versetzen den Vater in Tiefschlaf und töten ihn. Ea übernimmt dessen Herrschaftsinsignien, Kleider und Tiara, und baut seinen Sitz auf dem des Apsu, um auf diese Weise seine Herrschaft zu dokumentieren. Der zweite Konflikt, der im Mord, nun einem Muttermord, endet, wird anschließend ausführlich geschildert. Tiâmat hatte Kingu zum Gemahl genommen und zum Herrscher erhöht. Aufgewühlt und aufgestachelt von ihren Söhnen, die sich Tag und Nacht in dem inzwischen von Anu geschaffenen Sturmwind abmühen – möglicherweise ein Hinweis auf interne politische Konflikte –, sinnt sie auf Rache, gebiert elf Ungeheuer mit spitzen Zähnen, kräftigem Kiefer, giftigen Stacheln: die Viper, den roten Drachen, die Sphinx, den Löwen, den tollwütigen Hund, den Skorpionmenschen, wütende Dämonen, Fischmenschen und Kentauern. 74 Zum Kampf gegen sie wird Marduk, der personifizierte Sonnengott, von den übrigen Göttern bestimmt. Er besiegt Tiâmat und ihre Rotte und stellt zum Beweis seines Sieges seinen Fuß auf ihren Leichnam. Dann sinnt er darauf, wie er aus dem Körper dieses Naturungeheuers etwas Kunstvolles schaffen könne, den Himmel und die Erde, indem er den Körper wie einen Fisch aufklappt, die eine Hälfte zum Himmelsgewölbe, die andere zur Erde bildend. Nachdem Marduk den Himmel eingerichtet und geordnet und 74
Vgl. Tafel I, Vers 141 ff. (a. a. O., S. 138). A
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als Wohnstätte der babylonischen Hauptgötter Anu, Enlil und Ea bestimmt hat, wendet er sich der Erde zu, indem er aus Tiâmats Organen die Dinge schafft: Ihr Kopf wird zum Gebirge, aus ihren Tränen gehen Euphrat und Tigris hervor, auf ihrer Brust läßt er fruchtbare Hügel entstehen. Zur Erschaffung des Menschen schließlich bedient sich der Mythos eines alten mythischen Motivs, des vom Schuldopfer. Es wird ein Schuldiger gesucht, auf den die übrigen Götter die Schuld, die sie beim Kampf gegen Marduk auf sich geladen haben, abladen und sich so freikaufen können gemäß der Lehre vom Loskauf durch Übertragung der Schuld auf einen anderen. Hierzu bestimmen sie Kingu, den Mann der Tiâmat, den sie auf den Thron hob und der sie zum Kampf anstachelte. Der Mensch ist bei seiner Erschaffung kein reines, unschuldiges Wesen, schon gar nicht wie nach biblischer Auffassung die Krone der Schöpfung, sondern zum Dienst an den Göttern bestimmt, was wohl im altorientalischen Sinne zum Fron- oder Sklavendienst bestimmt meint. An anderer Stelle entschließen sich die Götter, die Lamgagötter – Handwerksgötter 75 – zu schlachten, um aus deren Blut den Menschen zu schaffen. Der Mythos verwendet eine Vielzahl von Motiven, die auch aus anderen mythologischen Darstellungen bekannt sind, z. B. die Urgewässer, die zunächst vermischt sind und ein androgynes Wesen bilden, wie dies ebenfalls aus der ägyptischen Mythologie, aus dem alttestamentlichen Bericht usw. bekannt ist, oder das Bild des aus aufgehäuftem, abgelagertem Schilf hervorgegangenen festen Landes, wie dies für alle Sumpfvölker typisch ist, das Motiv vom Vater- und Muttermord, das auch in der griechischen Mythologie begegnet, oder der Kampf des Sonnengottes Marduk gegen das Wasser Tiâmat, der an den Drachenkampf erinnert, sei es den Kampf des ägyptischen Sonnengottes Re mit dem Drachen Apophis, des kanaanäischen Baal mit dem Drachen Yam, des hethitischen Gottes der Atmosphäre mit dem Drachen Illuyankash, etwas variiert, des indischen Gottes Indra mit Vritra, der Trockenheit 76 , des christlichen Georg mit dem Drachen als Kampf des Guten mit dem Bösen usw., oder auch das Motiv des primordialen Aktes der Inbesitznahme und Herrschaft durch Fußaufstellen auf den Leichnam. Viele Anspielungen, wie die auf das Wasser, Salz- und Süßwasser, auf Schilfinseln, deuten auf die 75 76
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Vgl. Tafel I, Vers 25 (a. a. O., S. 149). Vgl. Die Schöpfungsmythen, a. a. O., S. 25.
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Herkunft des Mythos aus einem Sumpfland, dem Delta von Euphrat und Tigris am Persischen Golf oder, noch weiter zurückliegend, auf die Indusmündung. Bedeutsam für unseren Kontext der handlungsbezogenen Zeitauffassung sind drei Stellen: (1.) die Göttergenealogie, die zunächst vorbewußt und vorthematisch auf der Ebene reiner Naturgewalten den biologischen Zeugungs- und Geburtsakt schildert, an den sich später der bewußte und willentliche Schöpfungsakt durch den personifizierten Sonnengott Marduk anschließt, (2.) die Verse 11 und 13 der Tafel I: »Äonen wurden groß und erstreckten sich lang« und »Die Tage wurden lang, die Jahre mehrten sich«, in denen erstmals thematisch auf Zeit eingegangen wird, freilich noch nicht auf die abstrakte Zeit, sondern auf konkrete Zeiten, und (3.) der Anfang der Tafel V, die mit einem detaillierten astronomischen Bericht beginnt, der das gesamte astronomische Wissen der Zeit wiedergibt und die Zeiten an die Himmelsgeographie bindet und vom Gedanken der Gesetzgebung, Ordnung und Metrik bestimmt ist. Im Unterschied zu der uns bestbekannten alttestamentlichen Schöpfungsgeschichte, die mit der Welterschaffung durch Gott beginnt, mit der Erschaffung von Himmel und Erde, Licht und Finsternis, Festem und Flüssigem, Pflanzen, Tieren und Menschen, findet sich im Enuma elisch der Schöpfungsbericht der Welt durch den Gott Marduk erst nachgelagert. Ihm vorgelagert ist der Urzustand, ausgedrückt durch Namenlosigkeit, Indifferenz und Vermischtheit der Dinge und, darauf folgend, die Göttergenealogie, die einen präformativen Zustand der Naturkräfte darstellt. Man hat bezüglich des letzteren auch von einer Embryologie und einem fötischen Zustand gesprochen 77 , in dem die Dinge zwar schon Namen tragen, aber noch relativ ungestaltet und ungeordnet sind. Das Werk umfaßt somit drei Schichten: erstens den amorphen Urzustand, zweitens den präformativen, langsam sich gestaltenden Naturzustand und drittens den durch Marduk bewußt und willentlich geordneten Kosmos. Diese Stufen bilden den Hintergrund für die Zeitauslegung. Vgl. M. Eliade: Gefüge und Funktion der Schöpfungsmythen, in: Die Schöpfungsmythen, a. a. O., S. 9–34, bes. S. 23; P. Garelli und M. Leibovici: Akkadische Schöpfungsmythen, a. a. O., S. 119–151, bes. S. 123.
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(1.) Die Göttergenealogie Auf den ersten Blick erscheint die Göttergenealogie der Tafel I, die bis ins fünfte Glied reicht, als eine Götterchronologie, eine zeitlichgenealogische Abfolge in geradlinig absteigender Richtung, bei der das erste Elternpaar das zweite, dieses das dritte, dieses das vierte, fünfte usw. zeugt. Das adäquate mythische Verständnis verlangt jedoch eine andere Interpretation nicht im Sinne einer Chronologie und sukzessiven reihentheoretischen Abzählung und damit einer Abbildung des Urbildes bzw. einer Abbildung der Abbildung des Urbildes usw. im Sinne einer zunehmenden Abschattung, sondern im Sinne einer ewigen Wiederkehr des Gleichen, einer Zurückholung und Wiedereinsetzung des Anfangs, d. h. des archetypischen Paradigmas, das, wie kryptisch und rudimentär immer, ein Ordnungsgefüge ausmacht, das hier durch die Vereinigung des männlichen und weiblichen Prinzips ausgedrückt wird. Wiederholung deutet hier auf eine handlungsorientierte Zeitauffassung, die im Hintergrund steht, auch wenn kein explizites Zeitverständnis ausgebildet ist. Da Mythen stets historisch-kulturelle Bezüge oder Anlässe haben und primitive Verarbeitungsformen geschichtlicher Fakten sind, kann man in der Göttergenealogie die Substitution einer Ordnung durch eine andere erblicken, die zumeist mit dem Sieg eines Volkes und der Niederlage eines anderen einhergeht. An die Stelle der alten Götter und ihrer Ordnung werden neue gesetzt, die jetzt ihren Platz einnehmen. Die neuen, jüngeren Götter werden entweder den alten ebenbildlich gedacht 78 oder an Kraft, Schönheit, Intellekt, Weisheit überlegen 79 , was nicht selten durch Verdoppelung ihrer Augen und Ohren angezeigt wird. So heißt es von Marduk, dem stärksten, mächtigsten, weisesten Gott unter allen: »Vierfach war sein Blick, vierfach sein Gehör. […] Vierfach wuchs in ihm das Verständnis.« 80 Nachfolger werden nicht selten als »Herrscher über die Väter« 81 bezeichnet oder eignen sich deren Herrschaftssymbole an, indem sie sich deren Kleider, Tiara oder Schicksalstafel anlegen 82 oder ihren Wohnsitz an der Stelle der alten Götter aufschlagen 83 oder nach dem Sieg ihren Fuß auf den Besiegten stellen. Dies alles sind Sym78 79 80 81 82 83
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Vgl. Tafel I, Vers 15 (Die Schöpfungsmythen, a. a. O., S. 135). Vgl. Tafel I, Vers 18 f., 80, 94 usw. (a. a. O., S. 135 ff.). Tafel I, Vers 95 ff. (a. a. O., S. 137). Tafel I, Vers 17, Die Schöpfungsmythen (a. a. O., S. 135). Vgl. Tafel I, Vers 67 f. (a. a. O., S. 136). Vgl. Tafel I, Vers 76 f. (a. a. O., S. 136).
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bole, daß sie an die Stelle der Vorgänger treten und mit ihnen die neue ›alte Ordnung‹ befestigt wird. Mit der Substitution der alten Ordnung durch eine neue verbindet sich dann leicht eine Schwarz-Weiß-Zeichnung bzw. eine GutBöse-Wertung. Die neuen, jungen Götter repräsentieren die neue, gute, weil siegreiche Ordnung, während die alte, überholte absinkt, verfällt, negativ konnotiert wird, Dekadenz, Auflösung, Untergang, Chaos symbolisiert. Besonders deutlich wird dies im Kampf zwischen Marduk, dem hellen, lichten, weisen Sonnengott, und Tiâmat, dem Wasserungeheuer, das mit allen Zügen des Chaos beschrieben wird: amorph, Dämonen und Ungeheuer ausbrütend, selbst rohe, brutale Naturgewalt. Es ist der Sieg der Ordnung – der neuen Ordnung – und Gesetzgebung über die alte, zur Unordnung herabgesunkene, die auf die Ebene roher Naturgewalten herabgezogen wird. Was in der anfänglichen Göttergenealogie auf der Ebene von Naturgewalten als biologischer Zeugungsakt ausgedrückt wird, als Ins-Leben-Setzen einer neuen Generation, verlagert sich mit Marduk und seiner Schöpfung der Welt auf die Handlungsebene und wird zur bewußten Tat. Ein Setzungsakt liegt in beiden Fällen vor, die instauratio eines Paradigmas, das immer neu ausgeführt und bestätigt, immer neu ins Leben gerufen werden muß. Ein Relikt dieser Lebens- und Zeitauffassung haben wir noch bei der Inthronisation eines Königs oder der Vereidigung eines Präsidenten bei Amtsantritt. Das Enuma elisch gehörte zum Festritual der Babylonier, das an jedem Neujahrstag vom Priester zur Gänze rezitiert und teilweise durch szenische Darstellungen untermalt wurde. Es diente der Identitätsstiftung der Gesellschaft und der Legitimation der Ordnung und Gesetze, denen sie unterstand, genauso wie auch heute noch das Verlesen der Weihnachtsgeschichte am Weihnachtstag der Identitätsstiftung der christlichen Gemeinschaft und der Befestigung ihrer Werte und Ordnung dient. Diese Ordnung mußte ständig wiederholt werden, da das Böse, Zerstörerische nicht aus der Welt geschafft war, sondern von Anfang zu ihr gehörte, etwa in der bösen Absicht Apsus, seine eigenen Kinder zu töten, oder in der bösen Absicht Tiâmats, gegen einen Teil ihrer Kinder anzugehen, in der Herrschaftsusurpation Kingus und seiner Anstachelung zum Krieg usw., so daß jederzeit ein Rückfall ins Chaos drohte. Dem Einbruch finsterer Mächte sowohl auf naturaler wie auf politisch-sozialer Ebene mußte daher ständig entgegengewirkt werden durch Wiedereinsetzung der Ordnung. Der Anfang, das ›erste Mal‹, die Setzung des archetypischen A
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Paradigmas – im Märchen heißt dies ›es war einmal‹ –, muß daher ständig erneuert werden. Das erste Mal ist ein Alle-Mal und das Alle-Mal ein erstes Mal. Um die dem Schöpfungs- oder Ursprungsmythos zugrundeliegende Zeitauffassung noch genauer in den Griff zu bekommen, ist auf die ihr immanente Wiederholungsstruktur einzugehen. Deren mehrdeutige Auslegung ergibt die Möglichkeit unterschiedlicher Zeittheorien. Der Wiederanschluß an das Ende eines Handlungsgeschehens bedeutet rein formal den Wiederbeginn des Anfangs, so oft man das Geschehen auch durchlaufen mag, inhaltlich jedoch, da das erste Geschehen hinter einem liegt, einen zweiten, neuen Beginn, der eine fortlaufende Zählung ermöglicht, indem jeder neue Setzungsakt den vorangehenden impliziert und erweitert. Während die erste Interpretation eine Wiederholung des Gleichen ist, weist die zweite auf eine fortlaufende Zählung, die später in der Zahlenreihe ihren Ausdruck gefunden hat. Jede Folgezahl ist die Synthesis der vorhergehenden und einer neuen. Im Unterschied zu dieser fortlaufenden Zeitauffassung ist die mythische eine solche, die den Schöpfungsakt der Welt und ihrer Ordnung immer neu vollzieht, die ihn ständig wiederholt, aber ohne fortlaufende Zählung. (2.) Die Weite und Dauer der Zeit Die zweite Stelle, an der eine Zeitauffassung begegnet – die erste thematische –, findet sich in den Versen 11 und 13 der Tafel I: »Äonen wurden groß und erstreckten sich lang« und »Die Tage wurden lang, die Jahre mehrten sich«, die zwischen die zweite und dritte Göttergeneration eingeschoben ist. Offensichtlich soll damit auf lange, weite Abstände zwischen den Göttergenerationen und den von ihnen repräsentierten Ordnungen hingewiesen werden, Abstände, die kaum erinnerbar, erst recht nicht meßbar, chronologisierbar sind. Sie drücken wie alles auf dieser undifferenzierten, amorphen Ebene Naturhaftes, an sich Bestehendes aus: Unendlichkeit, Unermeßlichkeit, grenzenlose Weite, die zwar die Grundlage von Metrik bilden kann, selbst aber noch nicht weiter bestimmt ist und daher auch nicht als geradliniges Fließen, sondern nur als unendliche Dehnung beschrieben werden kann und insofern Anklänge an die Zeiterfahrung des Mystischen zeigt. (3.) Zeitordnung Die eigentliche, bewußte und gewollte, die geplante Weltschöpfung, die die Gestaltung von Himmel und Erde umfaßt, geschieht durch 112
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den Gott Marduk. Sie enthält einen großen astronomischen Bericht am Anfang der Tafel V, der dadurch ausgezeichnet ist, daß er eine Zeiteinteilung in Jahr, Monate und Tage vornimmt und diese konkreten Zeitteile der Himmelsgeographie, den Sternen und ihren Konstellationen, zuordnet und damit Zeiteinheiten auf Raumeinheiten bezieht. Die Tafel beginnt damit, daß Marduk den Standort für die großen Götter bestimmt, d. h. jedem der Götter einen Bezirk und eine Einflußsphäre zuweist. Dann ordnet er die Sterne zu Sternbildern, die sich über die Tierkreiszeichen bis in die heutige Astronomie und Astrologie fortgesetzt haben. Das Jahr, das sich aus dem Sonnenumlauf ergibt, in zwölf Abschnitte, die Monate, einteilend, die aus den Mondumläufen resultieren, ordnet er jedem dieser Abschnitte drei Sterne zu. Die sich daraus ergebende 36-fache Einteilung des Himmels soll nach René Labat 84 den zehn Graden des Tierkreises der Griechen entsprechen. Um eine Orientierung in die Himmelsbezirke und die ihnen entsprechenden Zeitabschnitte zu bringen, bestimmt Marduk die Position Nibirus – der Jupiter entspricht – im Zentrum des Himmels, ähnlich wie in der australischen Mythologie die Achilpa-Australier die unendliche Weite der Erde durch Einrammen eines Ritualpfahls zentrieren und ordnen 85 oder wie man um ein Zentrum einen Kreis schlägt oder im Ausgang vom Mittelpunkt eines Kreuzes die Geraden zu Horizontlinien projiziert. Mircea Eliade 86 setzt die Teilung des Raumes in die vier Himmelsrichtungen der »Gründung der Welt« gleich, da man mit ihr aus der Indifferenz und Homogenität, die dem Chaos in gewisser Weise ähneln, heraustritt. Zum Herrscher der Nacht bestimmt Marduk den Mond, der bei den Babyloniern, wie in vielen anderen Kulturen, als Zeitmesser dient, der die Nächte bzw. Tage anzeigt. Sein Gestaltwandel wird zur Zählung der Nächte bzw. Tage benutzt, sein Stand zur Sonne genau erklärt: In den ersten sechs Tagen des Monats, in denen sich die Mondsichel zeigt, glänzt er nach Vers 16 der Tafel V an den Hörnern, den Sichelenden, am siebten Tag zeigt sich die Hälfte seiner Krone – das Bild wird wahrscheinlich wegen der Zacken des Mondes benutzt –; die erste Hälfte des Monats ist bei Vollmond erreicht – der Mond steht dann in Opposition zur Sonne –, anschließend nimmt er ab, indem seine Krone kleiner wird und die Sonne sich ihm wieder 84 85 86
R. Labat: Le poème babylonien de la création, a. a. O., S. 137 Anm. 4. Vgl. M. Eliade: Gefüge und Funktion der Schöpfungsmythen, a. a. O., S. 15 ff. A. a. O., S. 15. A
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nähert und ihn schließlich einholt. Es handelt sich um eine relativ exakte phänomenologisch-astronomische Beschreibung, die die Kenntnis vom Stand der Gestirne voraussetzt, wobei auffälligerweise die Zeit: Jahr, Monat, Tag in Beziehung zur Himmelsgeographie, d. h. zum Umlauf der Gestirne gesetzt wird. Die hier stattfindende Metrisierung der Zeit erfolgt jedoch, was zu beachten ist, auf der Basis der zyklischen Zeitauffassung, nicht auf der einer geradlinig fortlaufenden, von der Vergangenheit in die Zukunft gerichteten Zeit. Zudem ist das gesamte Kapitel durchzogen von der Idee der Ordnung und Gesetzgebung, die auf einem Setzungsakt Marduks beruht. Es liegt hier also eine spezifisch handlungsbezogene Zeitauffassung vor, wenngleich eine metrisierte, deren Einteilung und Zahlgebung im Rahmen der Zyklik stattfindet. 3.3. Etymologie des Wortes a§ðn als Lebenskraft und Lebensganzheit Einen weiteren Beleg für die handlungsorientierte Zeitauffassung bietet das griechische Wort a§ðn, das nur auf dem Hintergrund der Handlungslogik und Handlungszeit verständlich wird. Dies mag zunächst überraschen, da wir geneigt sind, a§ðn gerade nicht mit Zeit, sondern mit Nicht-Zeitlichem, Ewigkeit in Zusammenhang zu bringen, also mit dem, was Olympiodorus philosophicus im 6. nachchristlichen Jahrhundert als aeternitas von sempernitas abgegrenzt hat. In Platons Timaios 37 c ff findet sich im Rahmen eines Schöpfungsmythos die Erzählung von der Erschaffung der Zeit. Nachdem der göttliche Demiurg die Welt in Orientierung am archetypischen Ideenkosmos geformt hatte, betrachtete er sein Werk mit Wohlgefallen und empfand es als ein »Schmuckstück für die ewigen Götter«. Aus Freude darüber gedachte er es dem Vorbild noch ähnlicher zu gestalten und verlieh ihm die Zeit (crno@). Die Zeit wird folglich definiert als das »(in Zahlen fortschreitende) ewige Abbild des im Einen verharrenden Ewigen« 87 . Die Konfrontation von abbildlicher Zeit und urbildlichem Aion könnte nun die Interpretation nahelegen, daß es sich beim Aion um die überzeitliche bzw. unzeitliche Ewigkeit handle, so daß sich Ewigkeit, Ruhe, Einheit auf der einen Seite und Zeit, Bewegung, Vielheit auf der anderen Seite gegenüberstünden. 87
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Platon: Timaios 37 d (Übersetzung der Verfasserin).
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Doch bei einer solchen Interpretation bliebe unverständlich, was die Homologie zwischen Ur- und Abbild begründete. Das Abbild kann nur dann Abbild eines Urbildes sein, wenn es auf dasselbe verweist und wenn dieses in gesteigertem Maße, also paradigmatisch, die Charaktere des ersteren aufweist. Im Begriff des Aion müssen daher Zeitlichkeit und Bewegtheit intensiviert, in geballterer Form, vorkommen. Tatsächlich wird im umgangssprachlichen Altgriechischen a§ðn mit Leben, Lebenskraft, Lebenszusammenhang, Lebensganzheit, Lebenszeit verbunden, vorzüglich im Kontext von Einzelwesen, übertragen und erweitert – schon in vorplatonischer Zeit – auf den Kosmos, der als Inbegriff des Lebendigen und selbst als Lebendiges angesehen wird. 88 Das Wort ist in besonderem Maße der Sphäre des Lebendigen zugehörig. Nicht zufällig haben a§ðn und ⁄effl (= ›immer‹) dieselbe Wurzel. Die Sprachforschung hat in der Entwicklung des Wortes zwei Stufen ausfindig gemacht, die im Verhältnis von Implikation und Explikation zueinander stehen. 89 (1.) Als historisch früheste und sachlich grundlegendste Bedeutung von a§ðn gilt die von Ursprung, Quelle, Born des Lebens, Lebenskraft. 90 In seiner Dissertation über Aion. Zeit und Ewigkeit in Sprache und Religion der Griechen hat Conrad Lackeit die Stammesverwandtschaft des Wortes, das auf aivo-, a¯ju- zurückgeht, mit dem vedischen a¯yas-, ayu- nachgewiesen, das Leben im Sinne von Lebenskraft bedeutet. Das Indische kennt überhaupt keine andere Konnotation. 91 Für Homer hat Émile Beneviste im Kontext seiner Homer-Auslegung diese Bedeutung für konstitutiv erwiesen. A§ðn meint dort nicht primär die Lebenszeit, sondern die »force de vie«, »source de vitalité« 92 . Dies wird besonders deutlich, wenn davon die Rede ist, daß man den a§ðn verliert, was in diesem Fall nicht mit Vgl. Platon: Timaios 30 b ff. Vgl. C. Lackeit: Aion. Zeit und Ewigkeit in Sprache und Religion der Griechen, Diss. Königsberg 1916; E. Benveniste: Expression indo-européenne de l›éternité‹, in: Bulletin de la Société de linguistique de Paris, Bd. 38 (1937), S. 103–112; A.-J. Festugière: Le sens philosophique du mot a§ðn, in: La Parola del Passato, Bd. 4 (1949), S. 172–189; E. Degani: AIWN da Omero ad Aristotele, Padova 1961; G. Böhme: Zeit und Zahl. Studien zur Zeittheorie bei Platon, Aristoteles, Leibniz und Kant, Frankfurt a. M. 1974, bes. S. 68–98. 90 Vgl. C. Lackeit: Aion, a. a. O., S. 6 ff.; vgl. G. Böhme: Zeit und Zahl, a. a. O., S. 93. 91 Vgl. C. Lackeit: Aion, a. a. O., S. 7. 92 E. Beneviste: Expression indo-européenne de l›éternité‹, a. a. O., S. 107. 88 89
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Lebenszeit, sondern mit Lebenskraft zu übersetzen ist. Oft wird a§ðn im Zusammenhang mit yucffi (Seele) gebraucht, die, wie überall in der Frühzeit, noch kein Abstraktum im Sinne von Geist, Gemüt, Wille u. ä. ist, sondern ein Konkretum, gebunden an den Atem, den Lebenshauch, und somit das Lebensprinzip ausdrückt. ›Die Seele aushauchen‹, ›den letzten Atemzug tun‹, bedeutet: ›sterben‹, ›das Leben verlieren‹. Seele und Aion werden in einer solchen Nähe zueinander gebraucht, daß man statt ›die Seele aushauchen‹ auch sagen kann ›den Aion aushauchen‹, wie dies bei Euripides in Fragment 801 belegt ist: ⁄pffpneusen a§na (»er hauchte sein Leben aus«) 93 . Benveniste hat des weiteren darauf aufmerksam gemacht, daß a§ðn aufgrund seiner etymologischen Verwandtschaft mit einer Reihe indogermanischer Wörter, die allesamt auf Jugend, Lebenskraft weisen (sanskrit: yùvan; lateinisch: iuvenis), jugendliche Lebenskraft, sogar Zeugungskraft bedeuten kann, da a§ðn niemals von Alten, Betagten ausgesagt wird, sondern immer nur von Jugendlichen. So heißt es in Homers Ilias beim Tod des jugendlichen Patroklos: »Die Lebenskraft wurde aus ihm herausgeschlagen« 94 , und beim Tod Hektors klagt seine Witwe Andromache: »Gatte, so jung verlorst du dein Leben und läßt mich als Witwe hier im Palaste zurück.« 95 Entsprechend der Konkretisierungs- und Materialisie-rungstendenz der Frühzeit wird die Lebens- bzw. Zeugungskraft anatomisch im menschlichen Körper lokalisiert, und zwar im Samen spendenden Rückenmark oder auch in dem über den ganzen Körper verbreiteten Mark. 96 (2.) In der weiteren Entwicklung gewinnt a§ðn die explizite Bedeutung von Lebensganzheit, Lebenszusammenhang, Leben, wie es sich zwischen Geburt und Tod erstreckt, so bei Hesiod in Fragment 276: Ze‰ p€ter, e—qe moi e—q3 `ssw m3 a§na bffloio felle@ do‰nai (»Vater Zeus, wenn du mir oder einem Geringeren ein nicht ewiges Leben geben willst …«) 97 , desgleichen bei den späteren Epikern und Dichtern. Empedokles spricht von a§ðn als dem menschlichen Leben: Euripides: Fragmente. Der Kyklop. Rhesos, Fragmente übersetzt von G. A. Seeck, Der Kyklop übersetzt von J. J. C. Donner, Rhesos übersetzt von W. Binder, hrsg. von G. A. Seeck (Euripides: Sämtliche Tragödien und Fragmente, griechisch – deutsch, Bd. 6), München 1981, S. 358/359. 94 T 27: ¥k d’ a§ n pfffatai (Übersetzung der Verfasserin). 95 › 725: ⁄p’ a§no@ nffo@ leo (Übersetzung E. Schwartz). 96 Vgl. E. Benveniste: Expression indo-européenne de l›éternité‹, a. a. O., S. 109. 97 In: Fragmenta Hesiodea, ed. R. Merkelbach et M. L. West, Oxford 1967, S. 136. 93
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ta‰t€ tff soi m€la p€nta di 3 a§no@ parffsontai (»so wird dir sowohl dieses alles auf Lebenszeit zu Gebote stehen«) 98 und pluralisch von zehn oder zwanzig Menschenleben, in denen der Mensch alle Dinge in der Welt erschaut. ¡ppte gÞr p€shisin ¤rffxaito prapffldessin, «e… 3 ˆ ge tn ˆntwn p€ntwn leÐssesken kaston kaffl te dffk3 ⁄nqrðpwn kaffl t3 e—kosin a§ðness½. (»Denn wann er mit allen seinen Geisteskräften sich reckte, schaute er leicht jedes einzelne von allem Seienden in seinen zehn und zwanzig Menschenleben.«) 99 Geburt und Tod sind hier nicht angestückt zu denken, sondern bilden die natürlichen Grenzen des Lebens, selbst wenn durch einen zufällig frühen oder gewaltsamen Tod das Leben beendet wird und nicht, wie vorgesehen, vollendet werden kann. Sie geben dem Leben eine teleologische Struktur, nach der es eine von seinem natürlichen Anfang bis zu seinem Ende reichende Ganzheit ausmacht. Der a§ðn ist jetzt jene Lebensganzheit, in die sich der a§ðn als Lebenskraft auslegt, entfaltet, wie die Quelle eines Flusses sich im gesamten Strom von seinem Ursprung bis zu seiner Mündung erstreckt. Seine einheitlich-ganzheitliche Gestalt erhält das Leben durch die Bindung an den Ursprung. Dieser ist das, was dem Leben den Zusammenhalt gibt, auch wenn es intern in Perioden der Kindheit, der Jugend, des Erwachsenen- und des Greisenalters zerfällt. Die Vorstellung einer Quantifikation in gleichförmig fortschreitende Lebensjahre ist diesem Modell jedoch fremd. Die Zeit ist hier noch kein abstraktes, offenes, quantifizierbares Schema oder Medium, in das hinein sich die Lebenskraft ergießt, sondern die einmalige, konkrete, an ihren Ursprung gebundene Lebenszeit. Das Verhältnis von Quelle und Fluß, Lebenskraft und Lebensganzheit, in sich gebündelter, geballter Einheit, in der alles zugleich und zumal ist, und entfalteter, ausgespannter, zwischen Anfang und Ende erstreckter Ganzheit macht deutlich, daß hier die Handlungslogik und die Handlungszeit den Verstehenshintergrund bilden. Die Lebenskraft ist der Ursprung und das ständige Movens der Aktivität, und die Lebensganzheit ist die Explikation und Verwirklichung derselben, und identisch mit ihr ist der Ursprung der Zeit, der sich in der Empedokles: Fragment B 110,3, in: Die Fragmente der Vorsokratiker, griechisch und deutsch von H. Diels, hrsg. von W. Kranz, Bd. 1, 18. Aufl. Zürich, Hildesheim 1989 (unveränderter Nachdruck der 6. Aufl. 1951), S. 352. 99 Empedokles: Fragment B 129, 4 ff., in: Die Fragmente der Vorsokratiker, a. a. O. Bd. 1, S. 364. 98
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Lebenszeit expliziert. Wir haben es hier nicht mit einer bloßen Analogie zwischen Lebens- und Zeitstruktur oder mit einem Modell von Inhalt und Form zu tun, sondern mit einer Identität von der Art, daß der Ursprung der Zeit ebenso schöpferisch und aktiv ist wie der Ursprung des Lebens, die Lebenskraft. Nicht zuletzt zeigt sich hier die Nähe zu den Schöpfungsmythen der Welt. Wie die Welt Produkt eines Schöpfungs- bzw. Produktionsaktes ist, aber nicht abgesetztes, isoliertes Produkt, gelöst vom Produktionsakt, sondern diesem verbunden, und nur so lange existiert, wie sich derselbe in der Produktion realisiert, so gilt Entsprechendes auch vom Einzelwesen, seinem Leben wie seiner Zeit. Auch diese sind nicht abgesetzte, isolierte Produkte, sei es der Lebenskraft, sei es jener Kraft, die im Ursprung der Zeit wirkt, sondern an diese gebunden und nur so lange existent, wie auch diese existieren. Sie sind als Ganzheiten umfassend und erschöpfen sich in dieser Ganzheit, so daß man nicht sinnvoll fragen kann, was vor der Erschaffung gewesen sei und was nach dem Ende kommen werde. Wenn Platon am Timaios an besagter Stelle 37 d speziell von der Zeit als dem »in Zahlen fortschreitenden ewigen Abbild des im Einen verharrenden Ewigen« spricht, so vermischt sich hier bereits eine neue Zeitauffassung, die der Linearität, des offenen, unendlichen Fortschritts, mit der gestalttheoretischen, geschlossenen, indem hier die geschlossenen Perioden, seien es die Umläufe der Planeten oder die Lebenszyklen, chronologisch gezählt werden. Die handlungsorientierte Interpretation von Aion gibt nun auch Aufschluß über die angebliche Konfrontation von Ruhe und Bewegung, Einheit und Vielheit. Der Aion als Lebenskraft und Ursprung der Zeit ist das gebündelte, in sich zusammengenommene, geballte Bewegungs- und Lebensganze und die Lebenszeit dessen totale Explikation, aber nicht in Form eines unendlichen Fließens, einer ins Unabsehbare gehenden sukzessiven Folge, sondern im Sinne einer den Kosmos und alle Lebewesen umfassenden Zeitganzheit. In-sichVerharren und Aus-sich-Herausgehen bis zum vorbestimmten Ziel, das sind die Korrelata, nicht aber Totenstarre und Bewegung.
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4.1. Eschatologische Zeit Eine handlungstheoretisch konzipierte Zeitauffassung und im weiteren eine ebensolche Geschichtsauffassung begegnen im religiösen Kontext des Alten Testaments, fortgesetzt im Neuen Testament, auf der Basis eines soteriologischen Versprechens Gottes gegenüber dem jüdischen Volk und seiner Umsetzung. Diese Zeit- und Geschichtsauffassung hat geradezu paradigmatischen Status im Alten und Neuen Testament gewonnen. Bei Darstellungen der Zeit- und Geschichtstheorien ist es zwar schon zum Gemeinplatz geworden, daß sich die jüdische Zeit- und Geschichtsauffassung von jener der gebietsangrenzenden und umliegenden Völkerschaften, insbesondere der Ägypter und Babylonier, unterscheide, die sonst von großem kulturellem Einfluß auf das Judentum waren. Während diese mit ihrer rhythmischen oder zyklischen Vorstellung der mythischen Denkweise verhaftet blieben, soll das jüdische Volk mit seiner Annahme einer Zukunftsgerichtetheit und Linearität der Zeit die Grundlage der modernen Zeit- und Geschichtsauffassung abgegeben haben. Diese Meinung herrscht gleicherweise bei Historikern wie Vorderorientalisten wie kritischen Bibelwissenschaftlern vor. So schreibt Emma Brunner-Traut in ihrem Buch Frühformen des Erkennens: »Aus der mythischen Darstellung mit weitgehend zyklischem Zeitbegriff und Muster-Vorstellung herausgesprungen zu sein in geschichtlich-reales Denken mit Zeit als Verlauf ist […] das Verdienst der Israeliten, wie es sich im Alten Testament niederschlägt. Die entscheidende Neuorientierung beruht auf einem ›Bund‹ geheißenen Vertrag mit Gott bzw. einem Vertrag Jahwes mit seinem Volk. Diese Vorstellung findet sich außer in Israel in keinem anderen Lande des gesamten Alten Orients. Jahwe ist der Herr der Geschichte, Geschichte das Wirken Gottes. Das Wirken Gottes ist zukunftsgerichtet und hält somit das Volk in Spannung. Nicht wie die altorientalischen Könige steht Jahwe mit dem Rücken zur Zukunft, sondern er wendet sein Antlitz nach vorn und damit auch seinem Volk den Kopf einem zukünftigen Ziele entgegen.« 100
Und bei Gerhard von Rad heißt es in seiner Antrittsvorlesung:
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»Die Geschichtsschreibung gehört für die modernen Völker des Abendlandes zu den selbstverständlichen Betätigungen ihres Daseinsverständnisses. Wir sind in dieser Hinsicht Erben und Schüler sowohl der griechischen wie der biblischen Geschichtsschreibung. Sehen wir von diesem großen kultur- und geistesgeschichtlichen Zusammenhang ab, so zeigt es sich, daß das, was man gemeinhin unter historischem Sinn versteht, unter den Völkern keineswegs verbreitet ist. Die meisten Völker des Altertums sind zu dieser Form eines intensiven Daseinsverständnisses nicht durchgedrungen: Ihre Existenz in der Geschichte ist ihnen nicht zur Frage geworden. Und deshalb haben sie auch keine Geschichtsschreibung hervorgebracht. Diese Kulturen haben die mannigfachsten geschichtlichen Dokumente verfaßt; Hofjournale und Annalen hat man geführt, Königslisten hat man geschrieben, Prunkinschriften hat man verfaßt. Aber das ist alles keine Geschichtsschreibung. Ein auffallendes Unvermögen, geschichtlich im strengeren Sinne zu denken, charakterisiert die alten Aegypter. Eminent konservativ, eminent schreibfreudig haben sie doch ihr Nachdenken über die Vergangenheit immer nur antiquarisch auf Einzelheiten gerichtet und es nicht vermocht, größere zeitliche Zusammenhänge zu erfassen. Aber auch die Kulturen des Zweistromlandes, so bewegt ihre Geschichte war, haben keine wirkliche Darstellung der Geschichte geschaffen, die über Einzeldokumente wesentlich hinausginge. […] So sind es nur zwei Völker im Altertum, die wirklich Geschichte geschrieben haben – die Griechen und lange Zeit vor ihnen die Isrealiten; und es ist wohl ein einzigartiges Phänomen, daß das alte Israel, das doch unter intensivster kultureller Bestrahlung seitens der Großreiche im Norden und Süden stand und das nach seiner Einwanderung ein in vieler Hinsicht bedenkliches kulturelles Erbe in Kanaan antrat – daß das alte Israel auch auf dem Gebiet der Geschichtsschreibung eine völlig eigenständige Literatur geschaffen hat.« 101
Der These vom Ursprung des modernen Zeit- und Geschichtsverständnisses aus dem alttestamentlichen muß entschieden widersprochen werden. Vergleicht man das moderne Verständnis als das einer ins Unendliche gerichteten geradlinigen Zeit und Geschichte, was durch einen Pfeil oder ein Laufband symbolisiert werden kann, oder auch als das eines auf dem Entwicklungsgedanken basierenden Fortschritts, bei dem Zeit und Geschichte nicht nur immer weitergehen, sondern immer besser werden – eine Umkehrung im Sinne von Rückschritt und Dekadenz ist grundsätzlich auch möglich –, so hat das alttestamentliche Verständnis damit nicht das geringste zu tun; denn es ist ein handlungsorientiertes Verständnis, das auf einer 101 G. von Rad: Theologische Geschichtsschreibung im Alten Testament (Nach einer Antrittsvorlesung), in: Theologische Zeitschrift, hrsg. von der Theologischen Fakultät der Universität Basel, Jg. 4, Heft 3 (1948), S. 161–174, bes. S. 161 f.
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Handlung basiert, und zwar, in theologischer Deutung, auf einer Handlung Gottes gegenüber dem israelitischen Volk, welche ein Heilsgeschehen ausmacht. Gestalttheoretisch hat sie einen Anfang und ein Ende, nämlich ein Ziel (˛scaton, tfflo@), auf das sie gerichtet ist und das ihr auch den Namen einer ›eschatologischen‹ oder ›teleologischen‹ Zeit- und Geschichtsauffassung verliehen hat. Als geschlossene, einsinnig gerichtete Gestalt, eingespannt zwischen Plan und Realisation des Plans, Absicht und Erfüllung, ist sie nicht prinzipiell von anderen gestalttheoretischen Zeitauffassungen verschieden, wie der oszillierenden, die nach zwei Seiten ausschlägt im Sinne eines Hin und Her, Auf und Ab, oder der zyklischen Auffassung, die eine Kreisform beschreibt. Dieser Umstand qualifiziert sie als zu demselben Denktyp, nämlich dem mythischen, gehörig. Auch die alttestamentliche Zeit- und Geschichtsauffassung kann nur im Rahmen der Handlungslogik verstanden werden. Dies schließt allerdings nicht aus, daß in späterer Zeit – ähnlich wie bei den Griechen seit Herodot – eine zunehmende Chronologisierung auftritt, deutlich faßbar im chronistischen Geschichtswerk des Alten Testaments. Die heilsgeschichtliche Deutung als ein inhaltlich einheitsstiftendes Moment avanciert im Verlaufe der Jahrhunderte zur entscheidenden Voraussetzung für die Entstehung der modernen Zeit- und Geschichtsauffassung, da sie in den verschiedenen gestalttheoretischen Geschichtskonzeptionen ein gemeinsames Merkmal erblickt, das Abzählung und Abfolge ermöglicht und so zum modernen linearen Zeit- und Geschichtsverständnis führt. Das Alte Testament kennt nur Geschichten im Plural, nicht Geschichte im Singular, ähnlich wie in Griechenland, wo noch Herodots Werk den Titel Geschichten (storfflai) trägt, obwohl gerade er als Vater der Geschichtsschreibung gilt. Eine gesamtheitliche Darstellung der historischen Epoche einschließlich der Entwicklung des Zeit- und Geschichtsverständnisses des Alten Testaments scheint ein fast auswegloses Unternehmen zu sein, zum einen wegen der Größe des darzustellenden Zeitraumes von mehr als tausend Jahren und der in dieser Zeit aufgetretenen Ereignisse und Wandlungen, zum anderen wegen der Überlieferungslage. Wie die historische Bibelkritik gezeigt hat, gehen die vorliegenden Texte auf ältere, weitgehend voneinander unabhängige Quellen zurück, die im Laufe der Zeit teils mit Berichten und Sagen angereichert, teils zusammengestrichen und kompiliert wurden. Mit diesen Änderungen, die auch eine Wandlung des Zeit- und Geschichtsverständnisses nicht ausschließen, hängt zusammen, daß A
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zum Teil getrennte, isolierte Ereignisse und Ereignisreihen parallelisiert oder in eine einzige sukzessive Abfolge gebracht wurden. Das gilt wahrscheinlich für den Einschub der Sinaiperikope in die Geschichte des Exodus und der Landnahme 102 , die von ganz anderer Herkunft ist. Oder es kam zu Anachronismen wie im Falle des Namens und Volkes Israel, die beide erst beim Auszug aus Ägypten entstanden, während die Texte schon während des Aufenthalts in Ägypten vom Volk Israel sprechen. Uns geht es hier nicht um eine Rekonstruktion der profanen Geschichte Israels, sondern um eine strukturlogische Untersuchung, eine Typologie des in den Berichten anzutreffenden Zeit- und Geschichtsverständnisses, und bei einer solchen geistesgeschichtlichen Interpretation muß es möglich sein, die Spezifika einer Auffassung im Unterschied zu anderen zu eruieren. Trotz aller zu erwartenden Schwierigkeiten ist der hermeneutischen Regel zu folgen, daß das Verstehen geistesgeschichtlicher Zugänge zu den Phänomenen einen entsprechenden Vorentwurf vom Ganzen verlangt, den es nachträglich empirisch zu verifizieren gilt. Den Nukleus der alttestamentarischen Zeit- und Geschichtsauffassung bildet die Verheißung Jahwes an Abraham, aus seinem Samen ein stattliches Volk hervorgehen zu lassen und es zwischen Nil und Euphrat anzusiedeln (Genesis 15,1 ff.), sowie die Erfüllung dieser Verheißung, die nach dem Exodus des Volkes Israel aus Ägypten mit der Landnahme Kanaans, jenes Landes, in dem Milch und Honig fließen, erfolgt. Dieses Zeit- und Geschichtsverständnis hat einen Anfangspunkt in der Zeit der Erzväter und einen Endpunkt im Einzug in das verheißene Land. Eingespannt zwischen diese Eckpunkte, bildet es eine geschlossene, zielgerichtete Gestalt. Es lebt aus der Spannung zwischen Versprechen und Einlösung des Versprechens und stützt sich damit auf einen göttlichen Heils- und Geschichtsplan, den Jahwe mit der Einlösung in einer Geschichtstat realisiert. Als eines der frühesten Zeugnisse dieses Heilsgeschehens hat von Rad 103 Deuteronomium 26,5–9 ausgemacht: »Ein umherirrender Aramäer war mein Vater; er zog hinab mit wenig Leuten nach Ägypten, blieb dort als Fremdling und wurde dort zu einem großen starken und zahlreichen Volk. Aber die Ägypter mißhandelten uns, sie be-
102 Vgl. G. von Rad: Theologie des Alten Testaments, Bd. 1: Die Theologie der geschichtlichen Überlieferung Israels, München 1960, 10. Aufl. 1992, S. 138. 103 A. a. O., S. 135 f.
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drückten uns und legten uns harte Arbeit auf. Da schrien wir zu Jahwe, dem Gott unserer Väter, und Jahwe erhörte uns und sah unser Elend, unsere Mühsal und Bedrückung. Und Jahwe führte uns heraus aus Ägypten mit starker Hand und ausgerecktem Arm, unter großen Schrecknissen, unter Zeichen und Wundern, und brachte uns an diesen Ort und gab uns dieses Land, ein Land, das von Milch und Honig fließt.«
Verwandt ist damit Josua 24,2 ff. trotz der Stilisierung der Aussage als Gottesrede. Der Bericht kehrt abgewandelt auch in anderen Texten wieder, so in den zeitlich jüngeren Psalmen. In Psalm 136 geht zwar die Schöpfungsgeschichte voraus, und in Psalm 78 reicht der Bericht über die Landnahme hinaus bis in die Königszeit. Als Kern kristallisiert sich aber auch hier der Bericht über die genannte Zeitspanne heraus, der zum Glaubensdogma avancierte. Zwar konzentriert sich der Bericht in Deuteronomium 26,5–9 ausschließlich auf objektive Geschichtsfakten ohne ausdrückliche Nennung von Verheißung und Erfüllung – die Darstellung beginnt mit der Nennung des Erzvaters und der Andeutung seiner Lebensgeschichte und endet mit dem historischen Ereignis der Inbesitznahme des gelobten Landes. Zu beachten ist jedoch, daß es sich nicht im eigentlichen Sinne um eine historische oder nationale Dokumentation handelt, sondern um ein Glaubensbekenntnis, ein Credo, das bei Kulthandlungen zusammen mit der Anrufung des Namens des Gottes Jahwe rezitiert wurde, z. B. »Jahwe, der Israel aus Ägyptenland herausgeführt hat«, »Jahwe, der die Väter berufen und ihnen das Land verheißen hat« usw. Wegen seiner kanonischen Festlegung wirkte es in gesellschaftlicher Hinsicht identitätsstiftend. Es handelt sich um eine theologische Zeit- und Geschichtsinterpretation, die der mythologischen konform ist. Die Nähe zur mythologischen Interpretation wird dadurch bestätigt, daß es sich bei dem Heilsgeschehen um ein Hineinwirken Gottes in die Menschenwelt handelt, ist doch für das mythologische Verständnis die Makro-Mikrokosmos-Analogie symptomatisch, der gemäß die Götter, ihre Eigenschaften und Verhaltensweisen, ihr Haß und Neid, ihre Liebe und Freundschaft, ihr Streiten und Versöhnen, ihre Präferenz bestimmter Personen und ihre Abneigung gegen andere sich in der profanen Welt spiegeln, wie dies auch aus der griechischen Mythologie bekannt ist, wo der Kampf um Troja und die Irrfahrten des Odysseus von den Olympiern beschlossen und dann ausgeführt werden. Die Sterblichen sind lediglich Vollzugsorgane der Unsterblichen. Der einzige Unterschied zwischen den Israeliten und den Griechen besteht darin, daß die ersteren einen Monotheismus, A
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die letzteren einen Polytheismus vertraten: Im Alten Testament ist es ein einziger Gott, dessen Plan von einem auserwählten Volk vollzogen wird, in der griechischen Mythologie bestimmt eine Vielzahl von Göttern höherer und niederer Art das irdische Geschehen. Das kanonische Schema des alttestamentlichen Zeugnisses und seine gemeinschaftsstiftende Rezitation beweist, daß es sich auch hier um eine Urhandlung und deren Wieder-Holung handelt wie beim Mythos. Im Alten Testament gibt es noch eine zweite Heilsgeschichte, besser, ein zweites Heilsgeschehen, das allerdings umfangreicher und weiter gespannt ist als das erste, geradezu universell. Es ist der neue Bund Gottes mit Israel gegenüber dem alten. Weder stellt er einfach eine Fortsetzung des alten Bundes dar noch eine Erweiterung und Vertiefung desselben noch eine restauratio, eine Wiedereinsetzung des alten Bundes. Vielmehr liegt zwischen beiden Verträgen ein absoluter Bruch zwischen Gott und dem Volk Israel und ein kulturund geistesgeschichtlicher Wandel, der auch zu anderen theologischen Voraussetzungen führt, unter denen der neue Bund steht. Historisch gesehen bedeuteten die Jahre 721 und 587 v. Chr. tiefe Einschnitte in der Geschichte Israels, das erste insofern, als es den Untergang eines der beiden Bruderreiche Juda und Israel bedeutete, und zwar des letzteren, und das zweite insofern, als es die Belagerung Jerusalems und die Tempelzerstörung sowie die babylonische Gefangenschaft mit sich brachte. In theologischer Hinsicht wurden die beiden Ereignisse als Gericht und Strafe Gottes und als Abbruch des Heilsgeschehens gedeutet wegen der Unbotmäßigkeit des Volkes Israel gegenüber Gott. Diese hatte ihren Grund im fortgesetzten Abfall von der Verehrung Jahwes und im Übertritt zum kanaanäischen Baalkult. War das Volk Israel im ersten Heilsgeschehen eher passives Vollzugsorgan des göttlichen Willens gewesen, so trat nun insofern eine Wandlung ein, als es aktiv beteiligt wurde am Bund. Es lag jetzt in der Entscheidungsfreiheit des Menschen bzw. des Volkes, am Bund mit Gott festzuhalten und das göttliche Wohlwollen zu genießen oder den Bund zu brechen und Unheil heraufzubeschwören. Die Schuldfrage war jetzt allein in die Verantwortung des Menschen bzw. des Volkes gestellt. Die Propheten Jeremia, Hesekiel, Sacharja, Deuterojesaja, die in den prophetischen Schriften die Gegenwart in düsteren Farben schildern, prophezeien gleichzeitig einen »neuen Bund« (Jeremia), einen »neuen Exodus« (Deuterojesaja), einen »neuen Gottesknecht« (Deuterojesaja), eine »neue Landnahme« 124
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und ein »neues Jerusalem« und endlich einen »neuen Himmel und eine neue Erde« (Tritojesaja) 104 , alles größer, schöner, herrlicher, universeller als alles Bisherige. Was den Erfüllungsgedanken betrifft, unterscheiden sich Judenund Christentum. Angesichts des Ausbleibens des als Nahereignis erwarteten Heils entwickelte die jüdische Zeit- und Geschichtsinterpretation einen Futurismus, den sogenannten jüdischen Futurismus, der das ausstehende Heil an das Ende der Zeit verlegt und als Aufhebung der Zeit interpretiert, während für die Christen das Christusgeschehen als Menschwerdung Gottes bereits die Erfüllung darstellt. Ein Blick auf die apokalyptische Literatur zeigt, daß die Gegenwartserfahrung, die durch den Abbruch aller Brücken zu Gott charakterisiert ist, und das in Zukunft erwartete Heil in kosmische Dimensionen gerückt und gesteigert werden, indem sich die beiden Äonen oder Weltzeiten als zwei Mächte gegenüberstehen, deren eine durch Tod und Verderben, deren andere durch Leben und Heil charakterisiert ist, also durch Hölle und Himmel. Das messianische Zeitverständnis des Neuen Testaments, das dem Christentum zur Grundlage dient, setzt zwar das apokalyptische und die Zwei-Äonen-Lehre voraus, interpretiert das Christusgeschehen, Tod und Auferstehung Jesu von den Toten, aber als entscheidende Äonenwende, die das Heil bereits in der Zeit realisiert. Die damit entstehende Schwierigkeit, daß die (weltliche) Geschichte weitergeht und insofern eine Diskrepanz zwischen dem perfectum praesens und dem Fortgang der Zeit und Geschichte resultiert, versucht Oskar Cullmann 105 und, ihm folgend, Karl Löwith 106 nach Analogie eines victory day im Krieg zu lösen. Wie im Krieg die Entscheidungsschlacht längst stattgefunden haben kann, selbst wenn sich das Ende des Krieges wegen des gegnerischen Widerstands noch in die Länge zieht, so ist auch mit dem Christusgeschehen das Heil bereits angebrochen, selbst wenn seine vollständige Realisation noch aussteht. Die Frage, was nach diesem eminenten Ereignis stattfindet, erübrigt sich, da das Heilsgeschehen die gesamte Zeit und Geschichte bestimmt, worüber hinaus es nichts gibt. 107 Von dem epochalen Erlösungsgeschehen her ergeben sich 104 Vgl. a. a. O., S. 141; J. Moltmann: Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre, München 1985, S. 131. 105 O. Cullmann: Christus und die Zeit, Zollikon-Zürich 1946, S. 72 f. 106 K. Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, 4. Aufl. Stuttgart 1953, S. 168–174. 107 Schon die Stellung einer solchen Frage würde die Brüchigkeit des handlungsorien-
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Sinn und Struktur des Geschichtsprozesses. Alles, was auf das markante Ereignis hinführt, ist Propädeutik, Zeichen, Vordeutung, Ahnung, und was nach ihm in der Zeit geschieht, ist endgültige Realisation, Vollendung des Gottesreichs. Was die beiden durch einen Hiat getrennten Heilsgeschichten des Alten Testaments betrifft, die vergangene, kanonisch festgelegte, im Kult ständig repetierte und die prophetische, welche die erhoffte und erwartete Erfüllung in die Zukunft verlegt, so verhalten sie sich zueinander wie ein klein- und ein großbogiges Geschehen. 108 Gemeinsam aber ist beiden die eschatologische, auf ein Ziel – ein Ende und eine Vollendung – gerichtete Struktur, selbst wenn das Ziel im letzteren Fall in ferner Zukunft liegt und das Interim gedehnt, ja zerdehnt und mit immer neuem Datenmaterial angefüllt wird. Auch das universalisierte Heilsgeschehen ist, strukturanalytisch betrachtet, ein Weltgeschehen auf der Folie von Handlung und hat nichts zu tun mit der modernen Zeit- und Geschichtsauffassung, die Geschichte als einen durch alle Zeiten hindurchgehenden Verlauf sieht. Weltgeschichte folgt hier noch immer einem Gottesplan und ist dessen Realisation. Zeit und Geschichte bleiben teleologisch orientiert. 109 Kehren wir zurück zum Alten Testament, und zwar zu einem Geschichtswerk, das auf den ersten Blick noch am ehesten an eine profane Geschichtsschreibung erinnert, nämlich zu den Königsbüchern, die in der Zeit des babylonischen Exils verfaßt wurden. Sie basieren auf einem umfangreichen Quellenmaterial, bestehend aus Tempelchroniken, Annalen, Erzählungen, Prophetengeschichten usw., das vom deuteronomistischen Redaktor redaktionell überarbeitet wurde. Das Werk führt die Regierungszeiten der israelitischen und jüdischen Könige nach einem bestimmten einheitlichen Rahmenschema an, das aus Prolog und Epilog besteht, in deren erstem der Name des jeweiligen Königs, sein Alter, die Dauer seiner Regierungszeit, der tierten, eschatologischen Zeit- und Geschichtsverständnisses und das Hinzutreten einer anderen, nämlich der chronologischen Zeit- und Geschichtsauffassung, dokumentieren. 108 Um einen Ausdruck von E. Brunner-Traut: Frühformen des Erkennens, a. a. O., S. 99 f., zu gebrauchen, den sie jedoch für die Unterscheidung der ägyptischen und sumerisch-assyrisch-babylonischen Zeitauffassung im Unterschied zur israelitischen verwendet, welche letztere ihrer Meinung nach aus der altorientalischen Darstellungsweise herausspringt und die Moderne vorbereitet. Dieser These muß jedoch, wie gezeigt, entschieden widersprochen werden, da selbst die universalistisch gedeutete jüdische Konzeption auf die Folie eines Handlungsgeschehens gespannt ist. 109 Das gilt auch für das stark griechisch beeinflußte Buch Daniel, entstanden 164 v. Chr., das ein universal- eschatologisches Bild vom gesamten Weltgeschehen entwirft.
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Name der Königinmutter, die Synchronizität mit dem Regenten des Bruderreichs genannt werden und in deren letzterem der Verweis auf Quellen (die Chronik Salomos und je eine Chronik der Könige Israels und Judas) erfolgt sowie auf den Tod und die Nachfolge des Sohnes. 110 Ein typisches Beispiel ist 1. Könige 15,1–8: »Im achtzehnten Jahr des Königs Jerobeam, des Sohnes Nebats, ward Abiam König in Juda, und regierte drei Jahre zu Jerusalem. Seine Mutter hieß Maacha, eine Tochter Abisaloms. […] Was aber mehr von Abiam zu sagen ist und alles, was er getan hat, siehe, das ist geschrieben in der Chronik der Könige Juda’s. Es war aber Krieg zwischen Abiam und Jerobeam. Und Abiam entschlief mit seinen Vätern, und sie begruben ihn in der Stadt Davids. Und Asa, sein Sohn, ward König an seiner Statt.«
Eine Aufzählung der politischen, militärischen und kultischen Großereignisse wie Kriege, Tempelbauten, Erlasse, kultische Feste u. ä. fehlt zumeist gänzlich. Diesbezüglich wird auf die Quellenwerke verwiesen. Der Verfasser dieser Schriften gibt damit zu erkennen, daß er sich nicht als Historiker versteht. Auffällig ist demgegenüber, daß er jedem König eine Zensur erteilt, sei es eine positive oder negative, meist letztere, die sich aus dem Verhalten des Königs gegenüber Gott ergibt. Wie die kritische Bibelwissenschaft herausgefunden hat, richtet sich die Beurteilung nach der Anerkennung oder Nichtanerkennung einer gemeinsamen Kultstätte für den Jahwe-Glauben, und zwar des Tempels in Jerusalem als der einzig legitimen Verehrungsund Kultstätte, wo Jahwe für Israel gegenwärtig war. 111 Nach diesem für den deuteronomistischen Redaktor zum articulus stantis et cadentis ecclesiae gewordenen Bekenntnis verfallen die israelitischen Könige allesamt dem Verdikt, da sie in der Sünde Jerobeams wandeln. 112 Von den judäischen Königen erhalten nur zwei, Hiskia und Josia, uneingeschränktes Lob, während sechs (Asa, Josaphat, Joas, Amazja, Asarja, Jotham) bedingtes Lob erhalten, während die übrigen verurteilt werden, da sie ›das Böse in den Augen Jahwes getan haben‹. 113 Alles andere interessiert den Schreiber nicht. Die Darstellung steht also unter theologischem Aspekt; sie ist keine profane Geschichtsschreibung und -deutung, sondern eine Geschichtstheologie 110 Vgl. G. von Rad: Theologie des Alten Testaments, a. a. O., Bd. 1, S. 347; ders.: Theologische Geschichtsschreibung im Alten Testament, a. a. O., bes. S. 163. 111 Vgl. G. von Rad: Theologie des Alten Testaments, a. a. O., Bd. 1, S. 349. 112 Vgl. 1. Könige 15, 26, 34; 16, 19, 26 u. ö. 113 Vgl. G. von Rad: Theologie des Alten Testaments, a. a. O., Bd. 1, S. 348.
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auf der Basis der handlungsorientierten, heilsgeschichtlichen Zeitund Geschichtskonzeption. Daß diese Geschichtsschreibung nicht als historisch-chronologische zu verstehen ist und sich damit auch nicht von den Geschichtsschreibungen der anderen altorientalischen Völker, der Sumerer und Ägypter, unterscheidet, geht nicht zuletzt daraus hervor, daß es die Aufgabe der judäischen und israelitischen Könige, genau wie die der Pharaonen, war, selbst wenn Berufskrieger an die Macht kamen, bei Regierungsantritt in mythisch-kultischen Handlungen die Reichsgründung zu wiederholen, hier in Form des Jahwe-Kultes und der Erneuerung des Bundes, so daß mit jedem König, genau wie mit jedem Pharao, eine neue Zeitzählung beginnt, da ein abstrakter Begriff von einer fortlaufenden Zeit fehlt. Jede Zeitspanne – Lebenszeit, Regierungszeit usw. – wird unter Berufung und im Vergleich mit Paralellereignissen gezählt, z. B.: »Im achtzehnten Jahr des Königs Jerobeam […] ward Abiam König in Juda« (1. Könige 15,1). Ein weiterer Beweis für diese nicht chronologisch zu verstehende Zeitauffassung ist die Tatsache, daß bei großen Streitigkeiten, Kämpfen, Doppelkönigtum, bei denen das Gefühl des Niedergangs und Zerfalls des Reiches aufkam, an den letzten bedeutenden König angeschlossen wurde. Der Umstand, daß in den biblischen Berichten über die Regierungszeiten der Könige, anders als in den ägyptischen Annalen, ein Heilsplan leitend ist, der von seiten der Könige erfüllt oder nicht erfüllt wird, aber stets den Maßstab für die Beurteilung ihrer Handlungen abgibt und ein durchgängiges inhaltliches Kriterium bildet, hat die Herausbildung einer Chronologie, d. h. einer fortlaufend sukzessiven Aneinanderreihung und Abzählung der Regierungszeiten erleichtert. Gleichwohl hindert diese spätere geschichtliche Entwicklung nicht, daß das frühe Zeit- und Geschichtsverständnis des Alten Testaments ein handlungsfundiertes, eschatologisches ist, was sich noch bis ins Neue Testament fortsetzt. 114
114 Auch G. von Rad: a. a. O., Bd. 1, S. 355 f., betont, daß diese Geschichtsschreibung weder eine Profan- noch eine Glaubens- oder Kulturgeschichte Israels ist, sondern allein das Wirken des Gotteswortes in der Geschichte verfolgt. Sie ist damit Geschichtstheologie und -teleologie.
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4.2. Oszillierende Zeit 115 Während die eschatologische (teleologische) Zeit die Gestalt eines einsinnig gerichteten Prozesses vom Jetzt und Hier zum Dort hat, also eine einsinnige Entwurfsstruktur, hat die oszillierende Zeit die Gestalt einer in sich gegenläufigen Bewegung und Richtung, wie wir sie am Hin und Her des Pendelschlags, am Auf und Ab, am Hin und Zurück einer Bewegung beobachten, unterdessen die zyklische Zeit eine Kreisgestalt aufweist, bei der sich die Handlung selbstbezüglich schließt, die Richtung jedoch gleichgültig ist. Alle stimmen darin überein, handlungsbezogene Zeitstrukturen zu sein. Bei der oszillierenden, rhythmischen Zeitgestalt, die auf der natürlichen Erfahrung des Ein- und Ausatmens, der Systole und Diastole, des Vor- und Zurückgehens, der Auf- und Ab- Bewegung der Arme, des Entstehens und Vergehens (Geburt und Tod) basiert, handelt es sich um eine der ursprünglichsten Zeitgestalten. Kulturhistorisch und geistesgeschichtlich begegnen wir ihr vor allem bei Naturethnien und in der Frühzeit der Menschheit, wo sie eine dominante Rolle spielt und die prägende Zeitvorstellung abgibt. Zeugnisse dieser Zeitvorstellung sind uns aus der frühgriechischen Antike von den Vorsokratikern überliefert. Auch wenn diese fragmentarisch sind und oft nur in Form späterer Berichterstattungen vorliegen, zudem die fragliche Zeitvorstellung schon nicht mehr in Reingestalt wiedergeben, sondern in einer Phase des Übergangs zur Linearzeit, erlauben sie Einblick in eine ganz andersartige Zeitkonzeption als die heutige. Angesichts der Überlieferungslage ist bei der Erschließung auf folgende Punkte zu achten: (1.) Handelt es sich bei den überkommenen Fragmenten, die sich allesamt nur aus Texten späterer Autoren herauskristallisieren lassen, um authentische Zeugnisse der Vorsokratiker oder um die Wiedergabe späterer Autoren und Kommentatoren, in deren Darstellung möglicherweise aufgrund eines schon veränderten Zeitbewußtseins deren Sichtweise mit eingeht? (2.) Selbst im Falle authentischer Wiedergabe bleibt zu erwägen, ob in den Fragmenten, die aus der Umbruchzeit des 6. und 5. vorchristlichen Jahrhunderts datieren, d. h. aus Epochen großer politischer, sozialer, religiöser und geistiger Umwälzungen, eine einheitli115 Zu diesem Kapitel vgl. K. Gloy: Zyklische Zeit – Linearzeit – disperse Zeit, in: Dialektik 2002, S. 81–100, bes. S. 83 ff.
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che Zeitvorstellung begegnet oder ob sich bereits ein Wandel von einer älteren, gestalttheoretischen, in diesem Fall oszillierenden Schicht, in eine jüngere, lineare ankündigt. (3.) Bei der Interpretation älterer Texte besteht stets die Gefahr, diese von einem späteren, entwickelteren Reflexionsstandpunkt aus zu betrachten und Differenzierungen in sie hineinzulegen, die auf diesem Niveau noch nicht bestanden und bestehen konnten. Ist das Entstehen und Vergehen der Welt und mit ihr der Zeit, von dem diese Texte sprechen, ein qualitativer Vorgang, also eine Veränderung, oder ein quantitativer, der eine Reduktion der Qualitäten auf Quantitäten voraussetzt, oder ein Implikations-Explikationsgeschehen oder eine Ausdifferenzierung und Wiederaufhebung der Differenzen? Solche subtileren Fragen finden wegen des Mangels an Material und an detaillierteren, spezifischen Aussagen meist keine definitive Beantwortung. Wenden wir uns drei frühgriechischen Philosophen: Anaximandros, Heraklit und Empedokles zu, die die damalige Zeitauffassung im Rahmen kosmologischer Fragestellungen skizzieren. Nach Fragment 12 B 1 116 erklärt Anaximandros die Entstehung der Dinge aus dem ˝peiron, das sowohl das quantitativ Unendliche wie das qualitativ Unbestimmte bedeuten kann. In dieses gehen sie auch wieder zurück: ⁄rc¼n … e—rhke tn ntwn t ˝peiron … ¥x n dþ gffnesffl@ ¥sti to…@ oªsi, ka½ t¼n fqorÞn e§@ ta‰ta gfflnesqai […]. (»Anfang und Ursprung der seienden Dinge ist das Apeiron (das grenzenlos-Unbestimmbare.) Woraus aber das Werden ist den seienden Dingen, in das hinein geschieht auch ihr Vergehen […].«
Den Hervorgang der Dinge dürfte sich Anaximandros als Ausdifferenzierung des ˝peiron in dessen immanente Gegensätze denken und den gegenteiligen Prozeß des Untergangs als Indifferenzierung, als Aufhebung der Gegensätze. Auch wenn an dieser Stelle nicht explizit von ksmo@ (Welt) die Rede ist, sondern vom Seienden, so gibt es doch andere Fragmente von Anaximandros, die von einem Hervorgang der Welt, sogar vieler Welten 117 , zeugen. Dies hat die kontrovers diskutierte Frage aufgeworfen, ob es sich hier um koexistierende oder sukzessi116 117
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Zitiert werden die Vorsokratiker nach: Die Fragmente der Vorsokratiker, a. a. O. Vgl. Fragment 12 A 9; 10; 14; 17.
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ve Welten handle. Während Eduard Zeller 118 die These sukzessiv aufeinanderfolgender Welten vertritt, nehmen John Burnet 119 und Wilhelm Nestle 120 simultan existierende Welten an. Die viel schwierigere Frage ist die, ob es sich wirklich schon bei Anaximandros um einen abzählbaren periodischen Prozeß des Hervorgangs und Rückgangs der ksmoi aus dem ˝peiron und in dasselbe handle oder ob dies eine Interpretation der Späteren ist, die durch Theophrast aufgekommen ist, auf den sich die späteren Doxographen stützen. 121 Interpretiert man den Hervorgang der Dinge aus dem ˝peiron und den Rückgang derselben in dieses nicht im Sinne eines Wandels, sondern im Sinne einer Ausdifferenzierung des ˝peiron in dessen immanente Gegensätze, und den gegenteiligen Prozeß als Indifferenzierung, als Aufhebung der Gegensätze, dann legt sich für die Entstehung der ksmoi und ihren Rückgang die Auffassung einer internen Pulsation, einer stehenden Bewegung mit verschiedenen Richtungen nahe. Nicht auf der Grundlage des ˝peiron, sondern auf der des Feuers, des sublimsten aller Elemente, das auch mit dem lgo@ identifiziert wird, erklärt Heraklit den immerwährenden Weltprozeß von Entstehen und Vergehen, indem das Feuer, das immer war, ist und sein wird, nach Maßen erglüht und nach Maßen verlöscht. In Fragment 22 B 30 heißt es: ksmon tnde, tn a'tn p€ntwn, ote ti@ qen ote ⁄nqrðpwn ¥pofflhsen, ⁄ll3 Æn ⁄e½ ka½ ˛stin ka½ ˛stai p‰r ⁄efflzwon, ptmenon mfftra ka½ ⁄posbennÐmenon mfftra. (»Diese Weltordnung, dieselbige für alle Wesen, schuf weder einer der Götter noch der Menschen, sondern sie war immerdar und ist und wird sein ewig lebendiges Feuer, erglimmend nach Maßen und erlöschend nach Maßen.«)
118 E. Zeller: Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung, 1. Teil, 1. Abt.: Allgemeine Einleitung. Vorsokratische Philosophie, 1. Hälfte, Darmstadt 1963 (fotomech. Nachdruck der von W. Nestle hrsg. 6. Aufl., Leipzig 1919), S. 306 ff. 119 J. Burnet: Die Anfänge der griechischen Philosophie (Titel der Originalausgabe: Early Greek Philosophy), aus dem Englischen übersetzt von E. Schenkl, 2. Aufl. Leipzig, Berlin 1913, S. 49 ff. 120 W. Nestle: Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates, Stuttgart, 1940, S. 84 f. 121 Zum möglichen Mißverständnis des Theophrast vgl. G. S. Kirk, J. E. Raven, M. Schofield: The Presocratic Philosophers. A critical history with a selection of texts, Cambridge 1957, 2. Aufl. Cambridge, London, New York, New Rochelle, Melbourne, Sydney 1983, S. 122–126.
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Auch bezüglich Heraklit stellt sich die Frage nach einem periodischen oder nicht-periodischen Prozeß. Ausgehend von der stoisch-christlich gefärbten Deutung und den Berichten Hippolyts von Rom und Clemens’ von Alexandrien, die Heraklit die Annahme eines Weltenbrandes (¥kpÐrwsi@) im Sinne eines Weltgerichts unterstellen, haben die Späteren Heraklit eine Auflösung der Welt durch Feuer zugeschrieben. Allerdings findet diese Interpretation bereits bei Aristoteles 122 eine gewisse Stütze, da dieser Heraklit die Lehre zuschreibt, daß zuweilen alles im Feuer vergehe. Theophrast 123 und, ihm folgend, Simplicius 124 übernehmen die Konzeption einer periodischen Weltentwicklung, mit der in gewisser Weise Fragment 22 B 31 übereinstimmt, wonach Feuer sich in Meer, also Wasser, Meer in Erde, Erde zurück in Glut (Feuer) wandelt. Allerdings widerspricht der Periodizität die Identität eines immerwährenden Feuers, das keine kosmogonische, sondern eine kosmologische und ontologische These nahelegt. Auch Fragment 22 B 31, das den Ausgang vom Feuer und den Rückgang in das Feuer thematisiert, wird nur verständlich, wenn das Feuer als ein zugrundeliegendes und verharrendes Prinzip interpretiert wird und der Vor- und Rückgang, der »Weg hinauf« und der »Weg hinab«, von dem in Fragment 22 B 60 die Rede ist, im Grunde derselbe Weg sind, nur in verschiedenen Richtungen. ¡d@ ˝nw k€tw mffla ka½ £utffi. (»Der Weg hinauf hinab ein und derselbe.«)
Es war Karl Reinhardt 125 , der erstmals die periodische Weltentwicklung bei Heraklit in Frage stellte und damit den Anstoß zu einer Interpretation gab, wonach die Umwandlung des Feuers in die Dinge und der Dinge in das Feuer dem Austausch von Gold gegen Waren und von Waren gegen Gold 126 gleicht, also einen immerwährenden Austauschprozeß, nicht eine Sukzession von Phasen darstellt. Nicht von einem periodischen Wechsel in zeitlicher Folge sei die Rede, sondern von der Identität eines Weges mit unterschiedlichen Richtun-
Aristoteles: Physik, 3. Buch, Kap. 5 (205a 3 f.). Fragment 22 A 5, in: Die Fragmente der Vorsokratiker, a. a. O., Bd. 1, S. 145. 124 A. a. O. 125 K. Reinhardt: Heraklits Lehre vom Feuer, in: Hermes, Bd. 77 (1942), S. 1–27; ders.: Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie, Frankfurt a. M. 1959, 4. Aufl. 1985, S. 163 ff. 126 Vgl. Fragment 22 B 90. 122 123
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gen. Auch die Formulierung mfftra – mfftra (»nach Maßen«), die in Fragment 22 B 30 gebraucht wird und hier ›Verhältnisse‹ bezeichnet, deutet darauf, daß das Aufflackern und Verlöschen des Feuers nicht im Sinne einer sukzessiven qualitativen Abfolge, sondern im Sinne eines internen quantitativen Austausches, vielleicht einer Verdichtung und Verdünnung, zu verstehen ist. Am ausführlichsten schildert Empedokles den kosmischen Prozeß von Weltentstehung und Weltvergehen. Dieser spielt sich zwischen den Extremen von Sphairos und Akosmia, totaler Vereinigung und Durchmischung aller Elemente und totaler Auflösung und Trennung ab. Verantwortlich für die Assoziation und Dissoziation der Elemente sind die Elementarkräfte Liebe (filth@) und Haß (ne…ko@). Zwischen den Extremen, die wohl als Urzustände zu denken sind, herrschen Zwischenstadien teilweiser Vereinigung und teilweiser Trennung, die unsere Welt kennzeichnen. Den Prozeß hat man sich auf folgende Weise zu denken: In einem ersten Stadium ist das Seiende von der Liebe beherrscht, während der Haß absolut verdrängt ist. Infolge des Fehlens einer trennenden Kraft gibt es keinen Unterschied der Dinge, sondern nur eine homogene Kugel, den Sphairos. In einer zweiten Phase tritt der Streit in die Welt und sprengt die ursprüngliche Harmonie. Er drängt die Liebe ins Zentrum zurück 127 , während sich heterogene Einzeldinge ausbreiten. In einer zu unterstellenden dritten Phase, die allerdings bei Empedokles nicht belegt ist, siegt der Haß, die totale Spaltung und Differenzierung der Dinge, dem in einer vierten Phase die Liebe wieder entgegenwirkt, indem sie mit dem Haß in einen Antagonismus tritt. Die siegreich vordrängende Liebe führt schließlich wieder zum Sphairos zurück. Obgleich diese durch Aristoteles 128 initiierte periodische Deutung mit vier zu unterscheidenden Phasen unabweisbar zu sein scheint, ist unter den Interpreten eine heftige Diskussion entbrannt, ob diese Rekonstruktion adäquat sei. Während Eduard Zeller 129, John
Vgl. Fragment 31 B 35, 3–5 Aristoteles: Physik, 1. Buch, Kap. 4 (187a 24). 129 E. Zeller: Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung, 1. Teil, 2. Abt.: Allgemeine Einleitung. Vorsokratische Philosophie, 2. Hälfte, 7. Aufl. Darmstadt 1963 (fotomech. Nachdruck der von W. Nestle hrsg. 6. Aufl., Leipzig 1920), S. 969 ff. 127 128
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Burnet 130 , Ettore Bignone 131 , William Keith Chambers Guthrie 132 , Denis O’Brien 133 eine Vierphasentheorie vertreten, sind Jean Bollack 134 , Friedrich Solmsen 135 und Uvo Hölscher 136 vehemente Kritiker eines periodischen Wechsels. Nach Hölscher geht es vielmehr um »die höchst emphatische Verkündigung der Beständigkeit im Stoffwechsel und der ewigen Gleichheit im Gestaltenwandel der Natur« 137 . Nicht eine sukzessive, seriell abzählbare Phasenfolge des Weltgeschehens sei gemeint, sondern im biologischen Sinne die Gleichursprünglichkeit von Entstehen und Vergehen, die Konstanz des wechselseitigen Austausches (Stoffwechsels) im Rahmen eines sich immer gleichbleibenden Kosmos. Überblickt man die schon in der Antike beginnenden, bis in die Gegenwart reichenden Deutungen der drei Vorsokratiker, dann springt der Unterschied zwischen kosmogonischer und kosmologisch-ontologischer Deutung in die Augen. Während im einen Fall ein sukzessiv zeitlicher, abzählbarer Prozeß unterstellt wird im Sinne einer periodischen Abfolge in der Linearzeit, liegt im anderen Fall eine Wiederkehr des Gleichen vor im Sinne einer Beständigkeit des Wechsels der Erscheinungen, eines permanenten wechselseitigen Umschlags, der auf eine Zeitauffassung von der Art der Pulsation mit einer allenfalls internen Gliederung des Gleichen deutet. Der herakliteische »Weg hinauf« ist eben derselbe wie der »Weg hinab«, wobei die Identität für die Austauschbarkeit der Richtungen steht. Es dürfte unzweifelhaft sein, daß es sich bei der letzteren Auffassung um die ursprünglichere handelt, die aus einer späteren Sicht, welche J. Burnet: Die Anfänge der griechischen Philosophie, a. a. O., S. 214 f. E. Bignone: Empedocle: Studio critico, traduzione e commento delle testimonianze e dei frammenti, Turin 1916, S. 545 ff. 132 W. K. C. Guthrie: A History of Greek Philosophy, 4 Bde., Cambridge 1962 ff., Bd. 2, S. 167 ff., bes. S. 180 f. 133 D. O’Brien: Empedocles’ Cosmic Cycle. A Reconstruction from the Fragments and Secondary Sources, Cambridge 1969, bes. S. 156 ff. 134 J. Bollack: Die Metaphysik des Empedokles als Entfaltung des Seins, in: Philologus, Bd. 101 (1957), S. 30–54, bes. S. 39 ff.; ders.: Empédocle, 4 Bde., Paris 1965–1969, Bd. 1, S. 97 ff. 135 F. Solmsen: Love and Strife in Empedocles’ Cosmology, in: Phronesis, Bd. 10 (1965), S. 109–148. 136 U. Hölscher: Weltzeiten und Lebenszyklus. Eine Nachprüfung der Empedokles-Doxographie, in: Hermes, Bd. 93 (1965), S. 7–33; jetzt auch: Anfängliches Fragen. Studien zur frühen griechischen Philosophie, Göttingen 1968, S. 173–212. 137 U. Hölscher: Anfängliches Fragen, a. a. O., S. 203. 130 131
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der unsrigen nahekommt oder ihr entspricht, uminterpretiert wurde. Was bedeutet dies für die Zeitstruktur? Die oszillierende Zeitgestalt, die in einem Wechsel zwischen Polaritäten besteht, ist noch keine periodisch wiederkehrende, ablaufende Zeit, bei der die rhythmische Zeitgestalt in eine lineare Abfolge gesetzt und abgezählt wird. Zwar beginnt bei den Mythographen, Logographen und Genealogen des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr. die Tendenz zur Chronologisierung und Genealogisierung, d. h. zur Umformung der rhythmischen, oszillierenden Zeitvorstellung in eine chronologische, jedoch ist die frühe vorsokratische Auffassung durch die Abfolge hindurch noch gut erkennbar. 138 Bei den im Wechsel von hier nach dort und von dort nach hier durchlaufenen Teilen handelt es sich nicht um vergangene und zukünftige, vielmehr existieren alle gleichzeitig in immerwährender Präsenz. Vergangenheit und Zukunft gibt es noch nicht. Sie koinzidieren in einer Allgegenwart. Aufgrund des Fehlens des Zeitflusses kann man hier von einer in sich stehenden Bewegung sprechen, die ausschließlich aus der Spannung zwischen den Polen lebt. Charakteristisch für diese Zeitauffassung ist die polare Wechselbeziehung, welche das Auf und Ab, Hin und Her, Vor und Zurück bedingt. Die oszillierende und die ihr verwandte zyklische Zeitgestalt, die ich hier als rhythmische Zeitgestalten zusammenfassen will, sind keine isolierten Phänomene, sondern haben Parallelen in anderen 138 Die oft gewaltsam, auf Biegen oder Brechen hergestellte lineare Abfolge demonstriert Herodot in einem aufschlußreichen Bericht bezüglich des Aufstellens von Stammbäumen: »Als vordem der Geschichtsschreiber Hekataios in Theben seinen Stammbaum vorrechnete und die Herkunft seines Geschlechts väterlicherseits auf einen Gott als sechzehnten Ahnherrn zurückführte, taten die Priester des Zeus mit ihm das gleiche, was sie auch mit mir getan haben, obwohl ich ihnen nichts von meinem Stammbaum gesagt habe: Sie führten in den gewaltigen Tempel und zeigten, sie herzählend, eine Reihe hölzerner Kolossalfiguren, so viele, wie ich oben angegeben habe. Denn jeder Oberpriester stellt dort bereits zu seinen Lebzeiten eine eigene Statue auf. Die Priester zählten und zeigten mir alle nacheinander zum Nachweis, daß immer der Sohn dem Vater folgte. So gingen sie von dem Bild des zuletzt Verstorbenen alle der Reihe nach bis zum Anfang durch. Dem Hekataios aber, der seinen Stammbaum mit der Behauptung angegeben hatte, im sechzehnten Glied stamme er von einem Gott ab, wiesen sie ihrerseits die Geschlechter auf Grund der Zählung nach und nahmen ihm die Abstammung eines Menschen von einem Gott nicht ab. Ihre Gegenrechnung lautet so: Sie sagten, jeder der Kolosse bedeute ein Piromis, der von einem anderen Piromis abstamme, wobei sie im ganzen 345 solche Standbilder nachwiesen. Trotzdem aber führten sie diese weder auf einen Gott noch auf einen Heros zurück.« (Herodot: Historien II, 43, griechisch – deutsch, hrsg. von J. Feix, Bd. 1, München 1963, 2. Aufl. 1977, S. 325 ff.)
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Bereichen der Sprache, Literatur und Kunst. Sie sind typisch für eine bestimmte ›Denkform‹, die Hans Leisegang 139 das »kettenartige« Denken genannt hat und Jean Gebser 140 dem »mythischen« oder »okeanischen Denken« zuordnet. 141 Schon Leisegang hat auf ein Spezifikum von Heraklits Sprache aufmerksam gemacht, das sich, für unser Sprachempfinden völlig befremdlich, in Kettenstrukturen expliziert. Man kann es mit einem Weben, einem Hin- und Herlaufen des Fadens innerhalb eines vorgegebenen Rahmens vergleichen. In subtilen Untersuchungen hat er diese Struktur herausgearbeitet und ins Bewußtsein gehoben, so daß wir sie jetzt auch in anderen Texten zu erkennen und als Ausdruck einer bestimmten Denkhaltung zu würdigen vermögen. So heißt es beispielsweise bei Heraklit in Fragment 22 B 62: »Unsterbliche: Sterbliche, Sterbliche: Unsterbliche, denn das Leben dieser ist der Tod jener und das Leben jener der Tod dieser« (⁄q€natoi qnhtoffl, qneto½ ⁄q€natoi, znte@ tn ¥kefflnwn q€naton, tn dþ ¥kefflnwn bfflon teqnete@),
wobei ein ›Werden‹ (genffsqai) hinzuzufügen ist, das den Inhalt des Satzes dahingehend präzisiert: »Unsterbliche werden zu Sterblichen, Sterbliche werden zu Unsterblichen […]«,
oder in Fragment 22 B 10 heißt es: »Aus Allem Eins und aus Einem Alles« (¥k p€ntwn ˙n ka½ ¥x n@ p€nta),
oder in Fragment 22 B 36: »Für Seelen ist es Tod [,] Wasser zu werden, für Wasser aber Tod [,] Erde zu werden. Aus Erde aber wird Wasser und aus Wasser Seele« (yuc»isin q€nato@ ˜dwr genffsqai, ˜dati dþ q€nato@ g»n genffsqai, ¥k g»@ dþ ˜dwr gfflnetai, ¥x ˜dato@ dþ yucffi),
oder in Fragment 22 B 90, das auch Reinhardt zur Stützung seiner These vom wechselseitigen Austausch benutzt: »Wechselweiser Umsatz: des Alls gegen das Feuer und des Feuers gegen das All, so wie der Waren gegen Gold und des Goldes gegen Waren« (pur@ te
H. Leisegang: Denkformen, Berlin, Leipzig 1928, S. 60 ff., bes. S. 62. J. Gebser: Ursprung und Gegenwart, a. a. O., 1. Teil, S. 345 ff. 141 Vgl. K. Gloy: Vernunft und das Andere der Vernunft, Freiburg i. Br., München 2001, S. 115 ff. 139 140
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Zeitgestalten
⁄ntamoib¼ tÞ p€nta ka½ p‰r p€ntwn ˆkwsper cruso‰ crffimata ka½ crhm€twn crus@).
Die Grundform dieser Sätze besteht in der Verknüpfung eines Begriffs A mit einem anderen B, der, von neuem gesetzt, wieder mit A verknüpft wird und so durch den Anschluß an den Anfang eine geschlossene Gestalt ergibt. Die Grundform kann auch abgewandelt werden, z. B. erweitert durch die Einfügung von Gliedern wie in der Anordnung AB, BC, CD, DE […] NA. Diese verkettende, chiastische Satzstruktur begegnet auch in biblischen Texten. Bekannt ist die Stelle aus dem Johannes-Evangelium 1.1: »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort«,
oder aus dem Römerbrief 5, 12–13 von Paulus: »Wie durch einen Menschen die Sünde in die Welt hineingekommen ist und durch die Sünde der Tod, so ist auch zu allen Menschen der Tod hindurchgekommen, weil alle sündigten.«
Aufmerksam geworden auf diese Satzketten, begegnet man ihnen vor allem in mystischen Texten bei Meister Eckhart, Heinrich Seuse, Giordano Bruno, Jakob Böhme, aber auch in der Dichtung Goethes und in der Philosophie Schellings lassen sie sich nachweisen, nicht weniger im Buddhismus und bei Laotse, von dem der folgende Text stammt: »Kreislauf! Der Kreislauf ist das Unabänderlich-Stete: Das Stete ist des Werdens ewiges Gleichmaß: Des Werdens Gleichmaß ist des Lebens Wesen: Kenntnis vom Wesen des Lebens ist ruhige Klarsicht; Unkenntnis vom Wesen des Lebens wäre Trübsicht. Kenntnis vom Wesen des Lebens zeugt Einzel-Sein Einzel-Sein zeugt Höher-Sein: Höher-Sein zeugt Meister-Sein: Meister-Sein zeugt Erhaben-Sein: Erhaben-Sein lenkt in die Bahn: Die Bahn ist das Allüberall, Das Unsterblich-Stete.« 142 142 Zitiert bei H. Leisegang: Denkformen, a. a. O., S. 70 (entnommen G. Misch: Der Weg in die Philosophie, Leipzig 1926, S. 50 f.).
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Leisegang rechnet diese Denkform ebenso wie Gebser der Mystik zu 143 , während wir sie hier der Handlungslogik und der Handlungszeit sowie deren Dokumentation in der Mythologie zugeordnet haben. Die Ähnlichkeit der Strukturen ist unverkennbar; zu unterscheiden sind sie aber gleichwohl als noch ruhende coincidentia oppositorum und bereits aus sich herausgegangene, bewegte, handlungsmäßig explizierte Struktur. Einen weiteren Beleg finden wir in der griechischen Mythologie, und zwar im Kronos-Mythos. Kronos, der jüngste der Titanen, Sohn des Uranus und der Gaia, des Himmels und der Erde, zweier polarer Mächte, verschlingt seine eigenen Kinder, um sie aufgrund eines Tranks der Metis, der Mutter Athenes, wieder auszuspeien. Das Kronos-Mythologem symbolisiert das ewige ›Stirb und Werde‹, das Entstehen und Vergehen und Wiedererstehen. 144 Kronos – lautlich nur wenig verschieden von griechisch crno@ – personifiziert hier die Zeitgestalt der sich immer gleichbleibenden Wiederkehr. Ebenfalls nach dem Mythos wird Kronos, dieser wiederkehrende Rhythmus, durch Zeus, einen seiner Söhne, besiegt und in die Schattenwelt verbannt. Das Wort Zeus, das sich wie Zeit (englisch time, französisch temps, lateinisch tempus) von der indogermanischen Wurzel *da ableitet, die auch dem griechischen Verb dafflw mit der Bedeutung (ionisch) ›teilen‹, ›zerlegen‹, ›zerreißen‹, ›zerfleischen‹ zugrunde liegt, meint demnach den ›Teiler‹ oder ›Zerschneider‹ der gestalthaften Zeit. Der Mythos drückt so den Sieg und die Herrschaft der teilenden, metrischen Zeit über die geschlossene, ganzheitliche aus. 145 Auch auf anderen Gebieten, z. B. der darstellenden Kunst, trifft man auf Analoga. Hierzu gehört die Wellen- und Kurvensymbolik, die bereits in der Frühzeit der Menschheit, im Neolithikum, Chalkolithikum, in der Bronzezeit, gelegentlich auch in späteren Epochen wie in der frühgriechischen und minoischen Kultur begegnet. Als charakteristische Beispiele gelten Spiral-, Schleifen- und Bogenmuster, oft in gegensätzlicher Anordnung auf steinzeitlichen Gräbern, auf Kannen und Vasen, auf der Rückseite von Spiegeln, die häufig Vgl. H. Leisegang: Denkformen, a. a. O., S. 72, wo er sie »mystisch« nennt. Bildhafte Darstellungen dieses Zyklus begegnen auch in anderen Kulturen, etwa in indianischen, auf denen ein Tierwesen (Jaguar) dargestellt ist, das ein anderes verschlingt und wieder ausspeit. 145 Vgl. zum Kronos-Zeus-Mythos J. Gebser: Ursprung und Gegenwart, a. a. O., 1. Teil, S. 243 f. und 251 f. 143 144
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den Kurven von Differentialgleichungen ähneln 146 , sowie das Tintenfischornament auf einer Vase aus Knossos 147. Es handelt sich hier um ein Formenspiel der Rhythmik, das aus gleichförmigen Wiederholungen oder deren größerer oder kleinerer Modifikation besteht und sich gänzlich von den stereotypen geometrischen Mustern der Griechen, den abzählbaren Mengen einfacher Elemente, den Reihungen und Abfolgen von Punkten, Kerben, geraden Linien usw. unterscheidet. Willi Hartner 148 klassifiziert diesen Stil als »funktionalen« gegenüber dem »geometrischen«, welcher letztere einem anderen Denktyp, nämlich dem mathematischen, angehört. Carl Gustav Jung hält diese Formen für Archetypen, für universelle Strukturen im Unterbewußtsein der Menschheit. Zum Ausdruck kommt in allen diesen Beispielen aus Sprache und Literatur, Mythos und Dichtung, aus der Kunst überhaupt eine Seinseinstellung des Menschen, nach der dieser in seinen Handlungen und Vollzügen noch eins ist mit der Natur und ihren Rhythmen, indem er dieselben im lebendigen Umgang mitvollzieht. Es herrscht noch keine Subjekt-Objekt-Spaltung vor, noch keine Distanzierung des Menschen vom Sein, vielmehr ist der Mensch noch integriert in die Lebens- und Naturrhythmen, die er erlebend mitvollzieht. Sein Leben spielt sich in der unmittelbaren Präsenz der Gegenwart ab, allenfalls mit kurzen Rückblicken auf Vergangenes, aber noch nicht mit Vorblicken auf Zukünftiges und mit der Sorge und Planung um die Zukunft, wenn man den Vergleich mit der Modalzeit hier überhaupt heranziehen darf. 4.3. Zyklische Zeit Eine zyklische Zeitauffassung, der die Kreisfigur zugrunde liegt, begegnet in allen archaischen Kulturen und ist uns auch heute nicht ganz ungeläufig. Sie ist orientiert am Tages- und Nachtrhythmus, am Kreislauf der Jahreszeiten, an der ewigen Wiederkehr von Wachsen und Gedeihen sowie Vergehen und Absterben. Wenn die archai146 Vgl. dazu W. Hartner: Zahlen und Zahlensysteme bei Primitiv- und Hochkulturvölkern, in: Paideuma. Mitteilungen zur Kulturkunde, Bd. 2 (1941/43), S. 268–326, bes. S. 271. 147 A. a. O., Tafel XIV. Auch aus anderen Regionen der Welt, aus China ebenso wie aus Neuguinea und Afrika, sind ähnliche Muster bekannt. 148 W. Hartner: Zahlen und Zahlensysteme, a. a. O., S. 270 f.
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schen Mythen Bilder gebrauchen wie das vom Uroboros, der sich in den Schwanz beißenden Schlange, oder das vom Sonnenumlauf, dem Aufstieg der Sonne über die Erde und ihrem Untergang, dem Abstieg unter die Erde, so findet sich bei Platon in der griechischen Philosophie bereits eine begriffliche Deutung, die mit Mitteln, die schon einer anderen Denkweise angehören, nämlich der mentalen und ihrer Explikation in Temporalformen, die ewige Wiederkehr des Gleichen zu fassen sucht. Da diese Darstellung eine der großartigsten begrifflichen Leistungen der Philosophie ist, wenngleich eine der hermetischsten, soll sie hier expliziert werden. Die Grundlage bildet die in Analogie zum Kosmos vorgestellte Zeit. Da dieser nach antiker Auffassung eine wohlgerundete Kugel ist, muß die ihm entsprechende Zeit eine Kreisstruktur aufweisen. Hierin dokumentiert sich die alte Überzeugung, nach der die Zeit aufgrund ihrer unmittelbaren Bindung an den Kosmos dessen Vollzugs- und Handlungsweise ist. Wenn wir von Zyklik sprechen, so stellen wir uns gewöhnlich eine Rotation vor, die in einer bestimmten Richtung verläuft und deren wiederholte Umläufe abzählbar sind. Dies ist auch die Definition, die Platon im Timaios 37 d gibt, wenn er die zyklische Zeit als das »in Zahlen fortschreitende ewige Abbild des im Einen verharrenden Ewigen« bestimmt (mffnonto@ a§no@ ¥n n½ kat3 ⁄riqmn §o‰san a§ðnion e§kna). Die Zeit ist hiernach ein Zyklus, der, in die Linearzeit versetzt, hinsichtlich seiner Iterationen numerisch abzählbar ist. In Reingestalt jedoch, d. h. nicht in Konfundierung mit der Linearzeit, tritt die zyklische Auffassung bei Platon im Parmenides auf, und zwar in der zweiten Position. 149 Hier ist kein durch die Linearität vorgegebener Richtungssinn, keine spezifische Einsinnigkeit der Bewegung erkennbar, sondern nur eine Bewegung, die fakultativ sowohl nach der einen wie nach der anderen Seite vorgestellt werden kann, was zur Folge hat, daß sie als eine in sich stehende Bewegung auftritt. Die Beschreibung und Explikation dieser dem Kosmos entsprechenden Zeitgestalt erfolgt mittels der Begriffe des Älter- und Jüngerseins und Gleichaltseins mit sich, welche gleichbedeutend sind mit den Begriffen ›früher‹, ›später‹ und ›gleichzeitig mit‹, die einem Temporalsystem angehören, das bereits Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kennt und in dem die Relationen ›Älter-‹, ›Jünger-‹ und ›Gleichaltsein‹ gelten. Ein Älteres ist stets ein Äl149
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Platon: Parmenides 151e ff.
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teres in bezug auf ein Jüngeres, umgekehrt ist ein Jüngeres stets ein Jüngeres in bezug auf ein Älteres. Angewandt auf den Kosmos als Universum, als Totalität des Seienden in seiner Selbstbezüglichkeit, muß dasselbe, wenn es älter genannt wird als es selbst, auch jünger genannt werden als es selbst, und ebenso, wenn es jünger als es selbst genannt wird, auch älter als es selbst, mithin gleichalt mit sich. Die außerordentlich komprimierte und prima vista nicht ganz leicht zugängliche Darstellung läßt sich in folgende Gedankengänge auseinandernehmen 150 : Zum einen expliziert Platon die zyklische Zeitgestalt nicht nur am Älter-, Jünger- und Gleichaltsein, sondern auch am Älter-, Jünger- und Gleichaltwerden, ja im Grunde an allen Zeitmodi des Ist, War, Gewordenseins, Wird-seins und Werdens, d. h. auf allen Stufen des Temporalsystems, zum anderen untersucht er die Zyklik in Form einer dialektischen Methode, indem er die Argumentation sowohl auf den Kosmos in seiner Einheit und Ganzheit wie auf deren Gegensatz, Vielheit bzw. Allheit, richtet, und zum dritten verwendet er für die Untersuchung zwei heterogene Maßsysteme, einmal das rationale Zahlenmodell und dann das extensionale, relativistische Verhältnis von Teil und Ganzem, wie es aus den Zenonischen Paradoxien, insbesondere dem Argument von Achill und der Schildkröte und dem Stadionargument, bekannt ist. Die Beschreibung gliedert sich wie folgt: Eine erste Argumentationskette 151 bezieht sich auf das All-Eine selbst: Wenn das All-Eine in der Zeit ist und am Wesen der Zeit, an Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, teilhat, muß es immer älter werden. Da Älterwerden ein Relationsbegriff ist und das Ältere nur in bezug auf das Jüngere ausgesagt werden kann, muß das All-Eine, da hier die Beziehung auf es selbst im Blick steht, sowohl älter werden als es selbst wie auch jünger werden als es selbst. Desgleichen wird es nicht nur älter und jünger als es selbst, sondern ist auch von dieser Art, wenn es im Fortschreiten in der Zeit in das gegenwärtige Jetzt gelangt, das stets und durchgehend ein Jetzt ist. In jedem Augenblick im Jetzt seiend, ist das All-Eine immer auch ein Älter- wie Jünger-Seiendes als es selbst. Wie das All-Eine sowohl älter wie jünger als es selbst ist und wird, so hält es auch gleichen Schritt mit sich, indem es nicht mehr 150 151
Vgl. hierzu K. Gloy: Vernunft und das Andere der Vernunft, a. a. O., S. 128 ff. Platon: Parmenides 151e-152e. A
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Zeit als es selbst ist und wird. Es ist und wird damit auch nicht älter und jünger als es selbst, sondern ist gleichalt mit sich und wird es auch immer. In bezug auf das Andere, das Viele, lautet die Argumentation 152 : Da das Andere zahlenmäßig Vieles und insofern die Addition von Einsen ist, die Eins aber die Grundlage der Zählung und Addition bildet, gilt für das All, sofern es Eins ist, daß es früher, also älter ist als die Anderen, weil es deren Ausgangspunkt bildet, und für die Anderen, daß sie als Addition der Einsen und insofern als abhängig von Eins später, also jünger sind. Gleichzeitig gilt aber auch, daß das AllEine, sofern es Alles ist, als Zusammensetzung aller Einsen später, mithin jünger ist und die Anderen (das Viele) als die Teile früher, mithin älter. Zum dritten gilt, daß das Eine, da es mit der Zählung des Vielen gleichen Schritt hält, also in Eins einmal, in Zwei zweimal, in Drei dreimal enthalten ist usw., gleichalt mit allen Anderen (den Vielen) ist, also auch weder älter noch jünger, und ebenso die Anderen. Platon macht hier von der Zahlstruktur Gebrauch, derzufolge jede Zahl einschließlich der Eins die Einheit einer Vielheit ist, folglich drei Elemente enthält: erstens die Eins als Grundlage des Vielen, zweitens die Vielen, drittens die neue, aus dem All der Vielen hervorgegangene Einheit. Dasselbe läßt sich nicht nur arithmetisch am abstrakten Zahlbegriff durchspielen, sondern auch geometrisch am anschaulich extensionalen Verhältnis von Ganzem und Teilen, weist doch das Ganze denselben Charakter auf wie die Eins (das Eine), während die Teile alle Eigenschaften des Vielen besitzen. So ist das Ganze qua Eines früher, also älter als die vielen Teile, diesen zugrundeliegend; die von ihm abhängigen Teile sind später, also jünger; ebenso aber sind die Teile auch früher, somit älter als das Ganze, das aus ihnen aufgebaut und zusammengesetzt ist, und das Ganze später, also jünger als die Teile. Zudem hält das Ganze qua Eines gleichen Schritt mit den vielen Teilen und diese mit ihm, so daß sie gleichalt sind. Aber nicht nur älter und jünger und gleichalt ist das All-Eine mit den Anderen (den Vielen, den Teilen), sondern wird es auch. 153 Zum Beweis bedient sich Platon des Gedankens der Relativität, der, wie schon angedeutet, auch in den Zenonischen Paradoxien eine Rolle 152 153
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Platon: Parmenides 152e-155c. Vgl. Platon: Parmenides 154a ff.
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Aktionsarten
spielt bei der Erklärung der Gleichmächtigkeit verschiedener Mengen. Wenn hier gleiche Einheiten bzw. Teile zu einem Mehr oder Weniger an Zeit addiert oder subtrahiert werden, so hat dies zur Konsequenz, daß das Ältere, das längere Zeit existiert, in bezug auf das Jüngere, das kürzere Zeit existiert, immer jünger wird und das Jüngere in bezug auf das Ältere immer älter. Da Älter- und Jüngersein Relationsbegriffe sind und nur von zwei Relata ausgesagt werden können, von denen das eine älter ist als das andere, das andere jünger als das erste, muß, wenn zum Älter- und Mehrsein immer dasselbe Zeitmaß hinzugefügt wird wie zum Jünger- und Wenigersein, sich der Zeitabstand zwischen beiden vermindern bzw. im letzteren Fall vergrößern: Das Ältere muß proportional zum Jüngeren immer jünger werden, das Jüngere proportional zum Älteren immer älter. Ist das All-Eine qua Eines das Ältere, so wird es immer jünger, während die Anderen, die Vielen, die Teile, als das Jüngere immer älter werden. Sind sie aber das Ältere, so werden sie immer jünger und das All-Eine als das Jüngere immer älter. Wegen der Korrelation werden beide auch weder jünger noch älter gegeneinander, sondern bleiben in dieser Beziehung sich gleich. Was einmal dieselbe Unterschiedsspanne hat (der Zeit oder dem Abstand nach), bewahrt diese. Wegen der zeitlichen Zyklik präsentiert sich das Universum hier als ein allgegenwärtiges, dessen Bewegung nicht nur nach der einen Richtung, sondern auch nach der entgegengesetzten gehen, also voran- wie zurückschreiten kann. Nur nebenbei sei erwähnt, daß ein ähnliches Modell der Zeitauffassung mit dem Zusammenfall von Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart auch in der modernen Physik begegnet. Zeitlicher Fortschritt existiert hier nur aus menschlicher Sicht, während von einer Superposition aus, sei es einer göttlichen oder übermenschlichen, Vergangenes zukünftig, Zukünftiges vergangen sowie beides gegenwärtig ist und Gegenwärtiges zukünftig wie vergangen. Wir haben hier eine stehende, in sich rotierende Zeit und ein ebensolches All vor uns.
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5.1. Aktionsarten als handlungsbezogene Zeitauffassung Einen Beleg für die handlungsorientierte Zeitauffassung bietet die Sprache. Es sind vor allem die Sprachen der sogenannten ›PrimitiA
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ven‹, der Eingeborenenstämme Afrikas, Nord- und Südamerikas sowie Polynesiens, die als Beweis herangezogen werden können, da diese Völker einen gänzlich anderen Zugang zur Wirklichkeit haben und entsprechend völlig andere Artikulations- und Explikationsformen als die sogenannten ›entwickelten Kulturvölker‹. Während die letzteren eine konkrete, komplexe Handlung bzw. einen entsprechenden Vorgang, der phänomenologisch als spezifische Gestalt wahrgenommen wird, auflösen in eine Haupthandlung, ausgedrückt durch ein abstraktes Verb, und die kontingenten Begleitumstände, die adverbial oder in Nebensätzen angefügt werden, erfassen die ›Primitivvölker‹ die komplexe Handlung durch ein einfaches Verb, das die Handlung in Einheit mit den qualitativen Bestimmungen einschließlich der zeitlichen ausdrückt. Sie kennen oft gar nicht einmal abstrakte, aller Begleitumstände entkleidete Verben wie ›gehen‹, ›fliegen‹, ›steigen‹, die dann nachträglich wie in den Kultursprachen in ein Temporalsystem mit Zeitsphären und Zeitstufen, insbesondere denen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, eingebracht werden. Der Klamath-Indianer drückt aufgrund seiner ausgeprägten Anschaulichkeit einen Vorgang, den wir beschreiben als ›ich steige hinauf, indem ich die Hände dabei benutze, fern von anderen, ohne von ihnen gesehen zu werden‹ durch eine einfache, einheitliche Verbalform ge’hlapt-chapka aus. 154 Diese an der Handlung und ihrer Verlaufsform orientierte Sprache stellt eine ganz andere Zugangsweise zur Wirklichkeit dar als die unsrige, die sich des abstrakten, formalen Zeitsystems und der Einordnung abstrakter Verben in dieses bedient. Sie arbeitet mit Aktionsarten und Aspekten. Sprachwissenschaftlich ist der Gebrauch von »Aktionsart« und »Aspekt« nicht eindeutig. Teils werden beide Begriffe unterschieden, teils identifiziert. 155 Während Georg Curtius 156 einst von »Zeitarten« sprach, speziell für die griechische Grammatik, verwendeten Gustav
154 Vgl. H. Jensen: Der sprachliche Ausdruck für Zeitauffassungen, insbesondere am Verbum, a. a. O., S. 289–336, bes. S. 295. 155 Vgl. hierzu G. Böhme: Über die Zeitmodi. Eine Untersuchung über das Verstehen von Zeit als Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft mit besonderer Berücksichtigung der Beziehungen zum zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, Göttingen 1966, S. 18. 156 G. Curtius: Erläuterungen zu meiner griechischen Schulgrammatik, 3. Aufl. Prag 1875, S. 181 ff.
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Aktionsarten
Herbig 157 , aber auch Jacob Wackernagel 158 den Ausdruck »Aktionsart«. Sigurd Agrell 159 führte den Unterschied von Aktionsart und Aspekt ein, der sich in der wissenschaftlichen Literatur weitgehend durchgesetzt hat, dergestalt, daß Aktionsart die objektive und Aspekt die subjektive Seite einer Handlung bzw. eines Vorgangs bezeichnet. Entsprechend definiert auch Wolfgang Krause im Handbuch des Gotischen 160 : »Die Aktionsart spiegelt den objektiven Tatbestand eines Handlungsverlaufs wider, sie ist in der lexikalischen Bedeutung des betreffenden Verbs begründet. Man unterscheidet gewöhnlich durative und nichtdurative Aktionsarten. […] Von diesen objektiven Aktionsarten sind […] die subjektiven Aspekte zu trennen, die die subjektive Anschauung des Sprechenden von dem jeweiligen Handlungsverlauf wiedergeben, indem dieser Verlauf kursiv (imperfektiv) oder komplexiv (perfektiv) gesehen werden kann, ganz gleich, ob das betr. Verbum an sich der durativen oder der nichtdurativen Aktionsart zugehört.« 161 157 G. Herbig: Aktionsart und Zeitstufe. Beiträge zur Funktionslehre des idg. Verbums, in: Indogermanische Forschungen, Bd. 6 (1896), S. 157–269 (s. Titel). 158 J. Wackernagel: Vorlesungen über Syntax mit besonderer Berücksichtigung von Griechisch, Latein und Deutsch, 1. Reihe, Basel 1920, S. 154 ff. 159 S. Agrell: Aspektänderung und Aktionsartbildung beim polnischen Zeitwort: ein Beitrag zum Studium der indogermanischen Präverbia und ihrer Bedeutungsfunktionen, Phil. Dissertation Lund 1908 (s. Titel). 160 W. Krause: Handbuch des Gotischen, München 1953, S. 200 f. 161 Weitere Literatur zu Aktionsart und Aspekt: W. Streitberg: Perfective und imperfective Actionsart im Germanischen, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, Bd. 15 (1891), S. 70–177; E. Koschmieder: Studien zum slavischen Verbalaspekt, in: Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung auf dem Gebiete der indogermanischen Sprachen, Bd. 55 (1928), S. 280–304, Bd. 56 (1929), S. 78–105; ders.: Zeitbezug und Sprache. Ein Beitrag zur Aspekt- und Tempusfrage, Leipzig, Berlin 1929, 2. Aufl. Darmstadt 1971; E. Hermann: Aspekt und Aktionsart, in: Nachrichten von der Akademie der Wissenschaft zu Göttingen aus dem Jahre 1933, Philologisch-Historische Klasse, Berlin 1933, S. 470–480; ders.: Die altgriechischen Tempora, ein strukturanalytischer Versuch, in: Nachrichten von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse, Fachgruppe II, Nr. 15 (1943), S. 583–649; M. Deutschbein: Aspekte und Aktionsarten im Neuenglischen, in: Neuphilologische Monatsschrift, Bd. 10 (1939), S. 129–148 und S. 190–201; H. Renicke: Die Theorie der Aspekte und Aktionsarten, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, Bd. 72 (1950), S. 150–193; J. Raith: Untersuchungen zum englischen Aspekt, 1. Teil, München 1951; E. Hofmann: Zu Aspekt und Aktionsart, in: H. Krahe (Hrsg.): Corolla Linguistica, Festschrift für Ferdinand Sommer zum 80. Geburtstag am 4. Mai 1955, dargestellt von Freunden, Schülern und Kollegen, Wiesbaden 1955, S. 86–91; H. G. Klein: Tempus, Aspekt, Aktionsart (Romanische Arbeitshefte, 10), Tübingen 1974; G. de Boel: Aspekt, Aktionsart und Transitivität, in: Indogermanische Forschungen, Bd. 92 (1987), S. 33–57; H.-J. Sasse: Aspekt and Aktionsart: a Reconciliation, in: Belgian Journal of Linguistics,
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Eine weitere Differenz wird zwischen wortsemasiologischen und formsemasiologischen Untersuchungen gezogen. Während Adolf Noreen 162 und Hans W. Pollak 163 die These vertreten, daß alle Verben schon ihrem Sinne nach in eine bestimmte Aktionskategorie gehören, z. B. ›blühen‹ = durativ, ›knallen‹ = momentan, ›gründen‹ = resultativ, ›tropfen‹ = iterativ 164, sieht eine andere Richtung die Aktionsarten durch Formelemente ausgedrückt, z. B. ›grünen‹ = durativ, ›ergrünen‹ = nicht-durativ, ›steigen‹ = durativ, ›ersteigen‹ = nichtdurativ, genauer effektiv; ›fliegen‹ = durativ, ›wegfliegen‹ = nichtdurativ, genauer ingressiv. Die Sprachen von Naturethnien weisen zumeist ein reiches Aktions- und Aspektesystem auf. Während die Tempora – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – bei ihnen nicht oder nur schwach entwikkelt sind – im Chikito (S. -A.) z. B. bedeutet na-tomoe-ka = ›ich binde‹, ›ich band‹, ›ich werde binden‹, im Guaraní (S. -A.) a-yuka¯ = ›ich töte‹, ›ich tötete‹, ›ich habe getötet‹, ›ich hatte getötet‹ –, existiert eine Vielzahl von aktions- und aspekthaften Ausdrucksweisen. Stellvertretend sei die Pala-Sprache (Neu-Mecklenburgisch) gewählt, die bezüglich einer jeden Handlung den Beginn, die Dauer und das Ende auszudrücken vermag: iau (›ich‹) ua han (›gehen‹) = ›ich fange an zu gehen‹ (ingressiv); iau han = ›I am going‹ (durativ); iau han tar = ›ich ging hin‹ (terminativ); iau te mat = ›ich bin gestorben‹ = ›ich bin tot‹ (stativ); iau la kup kup = ›ich rufe wiederholt‹ (iterativ); iau iha lah = ›ich singe tüchtig‹ (intensiv). 165 Im Schambala, einer Bantu-Sprache, hat Karl Roehl 166 im Indikativ des Aktiv allein tausend Verbalformen ausfindig gemacht. Um ein Beispiel zu nennen: na-ka’ -kunda = ›ich ’
Bd. 6 (1991), S. 31–45; ders.: Aspekttheorie, in: ders. (Hrsg.): Aspektsysteme, Institut für Sprachwissenschaft zu Köln 1991, Arbeitspapier Nr. 14, S. 1–35; R. Harweg: Studien über Zeitstufen und ihre Aspektualität (Bochumer Beiträge zur Semiotik, 35), Bochum 1994. 162 A. Noreen: Va ˚ rt Spra˚k. Nysvensk Grammatik, Bd. 5, Lund 1904, S. 607 ff. 163 H. W. Pollak: Studien zum germanischen Verbum, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, Bd. 44 (1920), S. 353–425, bes. Kap. 1. 164 Vgl. H. Jensen: Der sprachliche Ausdruck für Zeitauffassungen, insbesondere am Verbum, a. a. O., S. 296 f. 165 Vgl. P. G. Peekel: Grammatik der Neu-Mecklenburgischen Sprache, in: Archiv für das Studium deutscher Kolonialsprachen, Bd. 9 (1909), S. 121 ff. Vgl. auch H. Jensen: Der sprachliche Ausdruck für Zeitauffassungen, insbesondere am Verbum, a. a. O., S. 297. 166 K. Roehl: Versuch einer systematischen Grammatik der Schambalasprache, Hamburg 1911, S. 111 ff. Zum folgenden Beispiel vgl. S. 127 (§ 151).
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will gelegentlich‹, na-ka’ -ha-kunda = ›ich will gelegentlich ohne Grund‹, na-ka’ -šinda-kunda = ›ich will gelegentlich den ganzen Tag‹, na-ka’ -ca-kunda = ›ich will gelegentlich in der Frühe‹, na-ka’ -kan´akunda = ›ich will gelegentlich plötzlich‹ usw. Und Karl Endemann 167 zählt im Sotho 38 affirmative Tempusformen, dazu 22 im Potential, vier Formen im Optativ bzw. Final, eine große Zahl partizipialer Bildungen, 40 konditionale Formen u. ä. Die Sprachtheoretiker sind sich darin einig, daß die geschilderte eidetische, gestalttheoretische Zugangsweise zur Wirklichkeit und ihre sprachliche Artikulation in den Aktionsarten und Aspekten nicht nur die Vorstellungs- und Sprachwelt der sogenannten Primitiven kennzeichnet, sondern die archaischen Sprachen überhaupt. Dies gilt auch für den Urzustand des Indogermanischen, jener Sprache, die das Temporalsystem später am weitesten entwickelt hat. In allen Frühschichten sind die Tempora, die auf der Unterscheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft basieren, entweder gar nicht oder nur spärlich ausgebildet, das System der Aktionsarten hingegen exzessiv. Cassirer 168 hat bezüglich der Entwicklung von Sprachen eine Drei-Stufen-Theorie aufgestellt, in der er als erste, basalste Stufe lediglich den Gegensatz von ›jetzt‹ und ›nicht jetzt‹ ansetzt, als zweite, schon entwickeltere die Aktionsarten, den Unterschied, ob eine Handlung etwa vollendet oder unvollendet, dauerhaft oder nur vorübergehend ist, und als dritte das abstrakte Beziehungs- und Ordnungsgefüge der Zeit mit den Tempora. Den Übergang von einer Zeitstufe zur anderen hat man sich nicht geradlinig zu denken, sondern brüchig, da mit jeder neuen Sprachstufe eine prinzipielle Änderung der Sichtweise auf die Dinge verbunden ist. Dies zeigt sich noch daran, daß im Gotischen und im Althochdeutschen nur Verben von durativer Aktionsart mit einem Präfix (gotisch ga-, althochdeutsch gi-, neuhochdeutsch ge-) versehen werden konnten, nicht aber nichtdurative Verben wie ›finden‹, ›bringen‹, ›nehmen‹, da diese zumeist gleichzeitig einen perfektiven Aspekt aufweisen. 169 So konnte nur ›fahren‹ mit dem Präfix ge gebildet werden: ›gefahren‹. 170 Die Möglichkeit, Verben von nicht-durativer Aktionsart zu perfektivieren ’
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Vgl. E. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, a. a. O., 1. Teil, S. 179. A. a. O., 1. Teil, S. 174. Vgl. W. Krause: Handbuch des Gotischen, a. a. O., S. 201. Das neuhochdeutsche ›gefunden‹ ist eine Analogiebildung mit erstarrter Form. A
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oder imperfektivieren, ist in Fortfall gekommen. Häufig erweisen sich nicht-durative Verben sogar als präsensunfähig. Der Übergang von den ursprünglichen Aktionsarten zu den späteren Tempora ist im Indogermanischen nicht überall gleich weit fortgeschritten. Während das Lateinische das System der Tempora auf Kosten der Aktionsarten und Aspekte stark vorangetrieben hat, haben die slawischen und baltischen Sprachen das alte Aktionsartenund Aspektesystem bewahrt und weiterentwickelt, indem sie insbesondere dem Gegensatz von imperfektivem und perfektivem Aspekt Beachtung schenkten, während das System der Tempora unterentwickelt blieb. 171 Auch das Semitische, eine nicht-indogermanische Sprache, kennt nur die Einteilung in perfektiven und imperfektiven Aspekt, nicht die Unterscheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das Perfekt als Tempus der vollendeten Handlung kann daher sowohl als Ausdruck der Vergangenheit wie als Ausdruck der Gegenwart genutzt werden, sofern im letzteren Fall eine Handlung gemeint ist, die in der Vergangenheit begonnen hat, aber unmittelbar in die Gegenwart hineinreicht. Andererseits kann das Imperfekt, das eine nicht-vollendete Handlung bezeichnet, für jede Zeitsphäre gebraucht werden, für die vergangene, gegenwärtige und künftige. 172 Das System der Aktionsarten und Aspekte läßt sich folgendermaßen einteilen: 173 (1.) in zeitliche, (2.) in räumlich-zeitliche, (3.) in räumlich-lokale, (4.) in relationale, (5.) in modale Aktionsarten und Aspekte. (1.) Zeitliche Aktionsarten und Aspekte Für die handlungsorientierte Zeitauffassung dürfte die Existenz von zeitlichen Aktionsarten und Aspekten die bedeutendste sein, da hier Handlung und Zeitbestimmung zusammen eine Einheit bilden und zu einer je spezifischen Zeitgestalt führen, die in den entsprechenden Vgl. W. Krause: Handbuch des Gotischen, a. a. O., S. 201. Vgl. E. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, a. a. O., 1. Teil, S. 181. 173 Obgleich die hier folgende Einteilung sich von der von H. Jensen in seinem Artikel: Der sprachliche Ausdruck für Zeitauffassungen, insbesondere am Verbum, a. a. O., S. 294, dargelegten unterscheidet, nimmt sie immer wieder Bezug auf diesen exzellenten Aufsatz und greift auf die darin angeführten Beispiele zurück. 171 172
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Verben und Verbformen ihren Ausdruck findet. Eine der ursprünglichsten Differenzen ist die von durativen und nicht-durativen Verben, die oft auch als die einzige sachlich fundierte angeführt wird. Die durativen Verben bezeichnen eine Handlung bzw. einen Vorgang im Vollzug als dauernden – man könnte geradezu von einer Zuständlichkeit der Handlung oder des Vorgangs sprechen. Von der Semantik gehören Verben wie ›weilen‹, ›bleiben‹, ›dauern‹ hierher, aber auch ›liegen‹, ›gehen‹, ›steigen‹. Nicht-durative Verben bezeichnen den Abschluß und die Vollendung einer Handlung, den effektiven Ausgang derselben, was für Verben wie ›finden‹, ›greifen‹, ›nehmen‹, ›geben‹, ›bringen‹, ›fangen‹, also Verben insbesondere haptischer Art charakteristisch ist. Formsemasiologisch erfolgt die Perfektivierung durativer Verben durch Hinzufügung eines ge- (fahren ! gefahren) oder durch Hinzufügung eines er-, wodurch aus einem ›blühen‹ ein ›erblühen‹, aus einem ›greifen‹ ein ›ergreifen‹, aus einem ›steigen‹ ein ›ersteigen‹ (den Gipfel ersteigen) wird. In den modernen europäischen Sprachen handelt es sich hier um erstarrte Bildungen, die auf ursprünglich produktive Formen zurückgehen. Gelegentlich wird die These vertreten 174 , daß das Kriterium für die Unterscheidung durativer und nicht-durativer Verben die Frage ›wie lange?‹ und ›wann?‹ sei, auf welche entweder mit der Dauer oder mit der Terminierung der Handlung geantwortet werden könne. Beides setzt allerdings Messung und Bestimmung der Zeit voraus, die nicht ursprünglich, sondern bereits abgeleitet sind und die Beziehung zu einem messenden Betrachter erfordern. Als gemessene aber dauert die Handlung oder der Vorgang nicht an, sondern ist bereits vollendet. Obwohl die späteren, auf die Frage ›wie lange?‹ und ›wann?‹ antwortenden Zeitbestimmungen hier ihren Ursprung haben mögen, ist mit der Charakteristik einer Handlung als andauernder oder abgeschlossener das gemeint, was die Sprachtheorie den imperfektiven oder perfektiven Aspekt nennt, der die Handlung selbst betrifft, wenngleich aus der Sicht des Subjekts. Außer den genannten Unterschieden läßt sich in temporaler Hinsicht zwischen ingressiver, terminativer, stativer, iterativer, inchoativer Aktionsart unterscheiden. Neben den Beispielen aus der Pala-Sprache (Neu-Mecklenburgisch) liefern vor allem die finno-ugrischen Sprachen Belege hierfür, z. B. finnisch ann-ella = ›häufig ge-
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Vgl. dazu G. Böhme: Über die Zeitmodi, a. a. O., S. 18 f. A
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ben‹ (iterativ), el-ähtää = ›plötzlich lebendig werden‹ (momentaninchoativ), magyarisch sáp-ad-ni = ›blaß werden‹ (inchoativ). 175 (2.) Räumlich-zeitliche Aktionsarten Viele Eingeborenensprachen, u. a. das Schambala, pflegen Handlungen bzw. Vorgänge anschaulich und vollkonkret mit Einschluß bestimmter zeitlicher Bestimmungen auszudrücken, die gleichzeitig auf räumliche Konstellationen verweisen, wie den Stand der Sonne, des Mondes oder der Planeten. So unterscheidet das Schambala na-ca¯-leta = ›ich bringe frühmorgens‹, na-šinda¯-leta = ›ich bringe den ganzen Tag über‹, na ce¯le¯za-leta = ›ich bringe die ganze Nacht‹. Da die Infixe auch selbständig verwendet werden können, z. B. ca¯ = ›aufgehen‹, von der Sonne ausgesagt, šinda¯ = ›den Tag verbringen‹, ce¯le¯za = ›die Nacht verbringen‹, liegt der Schluß nahe, daß hier die Zeitangaben mit Lokalangaben wie dem Sonnen- und Mondstand identisch sind, wie dies für viele Sprachen gilt, in denen der Ausdruck für Tag ›Sonne‹ ist. 176 Eine Möglichkeit, mittels des Verbs auszudrücken, ob eine Handlung bzw. ein Vorgang morgens, abends oder nachts stattfindet, besitzt auch die Ngeumbá-Sprache in Neusüdwales. Hier ist noch nicht an eine Einordnung in ein formales, abstraktes Zeitsystem mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gedacht, sondern an eine Verknüpfung der Handlung bzw. des Vorgangs mit zeitlich-räumlichen Bestimmungen, und zwar von der Art, daß die zeitlichen Bestimmungen an räumliche Festlegungen wie Sonnenaufgang und -untergang, Sternenstand u. ä. gebunden sind. ’
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(3.) Räumlich-lokale Aktionsarten Beispiele für räumliche und lokale Aktionsarten finden sich residual bis ins Neuhochdeutsche hinein bei Verbalkonstruktionen wie ›hinund hergehen‹, ›auf- und abbewegen‹, ›hoch- und heruntersteigen‹, ›auf- und niederreichen‹, d. h. überall dort, wo lokale Präfixe wie ›hinauf‹, ›hinab‹, ›herein‹, ›hinaus‹, ›hoch‹ und ›hinunter‹ verwendet werden und das Verb näher bestimmen. Während das französische jetter gegenüber dem deutschen ›werfen‹ unfähig zu Richtungssinnergänzungen ist, sind diese im Deutschen durchaus üblich, z. B. ›hinauf-‹, ›hinab-‹, ›hinein-‹, ›hinauswerfen‹. Was hier jedoch nur spora175 Vgl. H. Jensen: Der sprachliche Ausdruck für Zeitauffassung, insbesondere am Verbum, a. a. O., S. 297. 176 Vgl. a. a. O., S. 299.
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disch begegnet, ist in primitiven, anschaulichen Sprachen weit ausgeprägter anzutreffen. Das Polynesische zeigt gewöhnlich mit einem Verb wie ›sprechen‹ zugleich die Richtung an. Samuanisch heißt es: ua fai atu le i’a i le tahata = ›es sprach der Fisch hin zu dem Menschen‹, ua fai mai le i’a i a’u = ›es sprach der Fisch her zu mir‹. Des öfteren können solche Richtungsangaben sogar Personalpronomen überflüssig machen wie in der Tonga-Sprache: tala mai = ›her erzählen‹ bedeutet soviel wie ›mir, uns erzählen‹, tala atu = ›hin erzählen‹ hat die Bedeutung von ›dir, euch erzählen‹, tala ahi = ›weg erzählen‹ hat die Bedeutung von ›ihm, ihr, ihnen erzählen‹. 177 (4.) Relationale Aktionsarten Unter relationalen Aktionsarten sollen hier solche verstanden werden, die die Art der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt ausdrücken. In etlichen Sprachen, u. a. im Grönländischen, macht es einen Unterschied, ob jemand bei einer Handlung, von der er berichtet, direkt anwesend, also Augen- und Ohrenzeuge war oder ob er nur indirekt durch Hörensagen von ihr weiß. Dieser Modus ist als »Berichtmodus« oder »Inferentialis« 178 bekannt. Um einige Beispiele zu nennen: Grönländisch agger-put = ›sie sind unterwegs‹, aggerpatdlag-put = ›sie sollen unterwegs sein‹, Takelma (Nordamerikanisch) menà yap!a t!omok’wa’ = ›der Bär tötete den Mann‹, menà yap!a domk’wak’ = ›der Bär muß wohl den Mann getötet haben‹. Im südamerikanischen Guayaki bedeutet ein anghängtes nasales -ã ›man sagt‹, ›sagt er‹. 179 (5.) Modale Aktionsarten Mit modaler Aktionsart ist der Bezug des Sprechers zum existentiellen Zustand gemeint, ob es sich um ein Wach- oder Traumbewußtsein handelt. Auch hierfür gibt es Belege. Im nordamerikanischen Kwakiutl zeigt ein Suffix an, ob ein Vorgang wirklich oder nur geträumt ist. So bedeutet la-x’ı¯d = ›er ging in Wirklichkeit‹, la-Enga = ›er ging, wie mir träumte‹. 180 Es lassen sich noch unzählige Besonderheiten anführen, etwa ein Intensitätsmodus, der zum Ausdruck bringt, ob eine Handlung Vgl. a. a. O., S. 296. A. a. O., S. 298. 179 Vgl. a. a. O.; vgl. auch F. C. Mayntzhusen: Die Sprache der Guayaki, in: Zeitschrift für Eingeborenen-Sprachen, Bd. 10 (1919/20), S. 2–23, bes. S. 22. 180 Vgl. H. Jensen: Der sprachliche Ausdruck für Zeitauffassung, insbesondere am Verbum, a. a. O., S. 298 f. 177 178
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bzw. ein Vorgang stark oder schwach abläuft, schnell oder langsam, abrupt oder allmählich. Sicherlich gehört hierher die Vielfalt von Ausdrucksweisen des Verbs ›gehen‹, wie ›bewegen‹, ›wandern‹, ›schreiten‹, ›laufen‹, ›rennen‹, ›galoppieren‹, ›trippeln‹, ›tanzen‹, welche die Schnelligkeit oder Langsamkeit, die Art und Weise des Vorgangs anzeigen und in Dialekten besonders ausgeprägt sind. In einzelnen Regionen und Bergdörfern der Alpen hat sich eine Fülle solcher unterschiedlicher Angaben bewahrt. Als Beispiel nenne ich chniè(m)pè = ›mühsam, schwerfällig gehen‹, fuèssè = ›zu Fuß gehen‹, gaa = ›gehen‹, ›laufen‹, ggnappè = ›wippend gehen‹, ausgesagt von jemandem, der beim Gehen den Oberkörper mitschwingen läßt, laiffè = ›laufen‹, laiffèlè = ›mit kurzen, schnellen Schritten gehen‹, griggèlè = ›schwerfällig gehen‹, ›hinken‹, gruipè = ›gebückt gehen‹, heetschèlè = ›watscheln‹, ›mühsam wackelnd gehen‹, pfesèlè = ›wakkelnd gehen‹, ausgesagt von kleinen Kindern, redèrlè = ›mit kleinen, schnellen Schritten gehen‹, schlampè = ›müde gehen‹, ›sich hängen lassen‹, schlèrpèlè = ›trippeln‹ (alte Leute), ›mit kleinen Schritten gehen‹, schlurggè = ›schleppend gehen‹, straapè = ›kriechen‹, ›robben‹, ›langsam, mühsam gehen‹, tesèlè = ›langsam gehen‹, tiissèlè = ›schleichend, leise, unbemerkt gehen‹, trämpèlè = ›mit kleinen Schritten gehen‹, tratschè = ›schwerfällig gehen‹, tschaaggè = ›langsam, mühsam gehen‹, tschängglè = ›langsam gehen‹, ›bummeln‹, ›flanieren‹, tschaupè = ›mühsam marschieren‹, tschièngge = ›mühsam gehen‹, ›schlurfen‹, tschirggè = ›beim Gehen die Füße nachschleppen‹, tschumplé = ›mühsam marschieren‹, tschurggè = ›beim Gehen die Füße nachziehen‹, umètrampè = ›mit schweren, lauten Schritten gehen‹, zwiifach gaa = ›gebeugt gehen‹. 181 Wichtig war in diesem Kontext, die grundsätzlich andere Einstellungsart zur Wirklichkeit, die das Zeitverständnis betrifft, deutlich zu machen gegenüber einer Auffassung, die mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft operiert und die Einordnung von Handlungen und Vorgängen in ein formales Tempussystem vornimmt. 5.2 Zeitauffassung der Hopi-Indianer Seit Benjamin Lee Whorfs aufsehenerregenden ethno-linguistischen Studien über die Hopi, einen Stamm der Puebloindianer in Arizona, 181
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Nidwaldner Mundart Wörterbuch, Dallenwil 2000, 2. Aufl. 2001, S. 286.
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USA, die er in seinem Buch Sprache, Denken, Wirklichkeit 182 niederlegte, ist unter Ethnologen, Kulturanthropologen, Sprachwissenschaftlern, Entwicklungspsychologen und Philosophen die Diskussion über diese ganz andere Zeitauffassung, als es die Linearzeit und ihre Tempora in der indogermanischen Sprachfamilie sind, nicht wieder verstummt. Die Hopi unterscheiden sich in gravierenden Punkten von unserer Zeitkonzeption. Whorfs Grundüberzeugung besteht in der Annahme eines Sprachrelativismus, d. h. einer Abhängigkeit der Weltauslegung vom jeweiligen Sprachsystem. Danach ist die Welt in ihren Strukturen nicht einfach vorgegeben, sondern Produkt der Grammatik, Syntaktik und Semantik der jeweiligen Sprachfamilie, die in den einzelnen Dialekten dieser Sprachfamilie detaillierter ausgearbeitet werden kann je nach ethnologischen, klimatischen, geologischen oder anderen Besonderheiten und Herausforderungen. 183 Es sind die linguistischen Schemata einer Sprachfamilie, die den Leitfaden zur Interpretation der Welt abgeben. Whorf geht, wie viele andere Ethnologen, 184 davon aus, daß uns wahrnehmungsmäßig ein »kaleidoskopartiger Strom von Eindrücken« gegeben ist,
182 B. L. Whorf: Sprache, Denken, Wirklichkeit. Beiträge zur Metalinguistik und Sprachphilosophie (Titel der Originalausgabe: Language, Thought and Reality, ed. by J. B. Carroll, Massachusetts, USA, 1956), hrsg. und übersetzt von P. Krausser, Reinbek bei Hamburg, 1963, wiederholte Aufl. 1999. 183 Vgl. a. a. O., S. 15. So benutzen die Tuareg in Niger 50 Ausdrücke für das Kamel als Reit- und Transporttier, die Eskimos annähernd 20 Wörter zur Bezeichnung verschiedener Schneearten (vgl. W. Müller: Indianische Welterfahrung, Stuttgart 1976, S. 18), während die Azteken nur einen einzigen Wortstamm mit verschiedenen Endungen für ›Schnee‹, ›Eis‹, ›kalt‹ kennen: Die nominale Form bezeichnet ›Eis‹, die adjektivische ›kalt‹, und für Schnee steht ›Eis-Nebel‹. Um ein Beispiel für die Vielfalt von Schneearten zu geben: Die Samen in Lule Sami verwenden biera für sehr dünnen Schnee, gassak für 1 m dicken Schnee, siebla für nassen Schnee im Frühjahr, galmma muohta für kalten, trockenen und losen Schnee, welcher nicht an Schuhen und Pferdehufen klebt, sirnas für besten Schnee, welcher den Rentieren erlaubt, vorzügliches, ungefrorenes Futter darunter hervorzukratzen, tsievve für schweren, harten Schnee, durch den nicht durchzukommen ist, habllek für wirbelnden Puderschnee, welcher den Rentieren zusetzen kann, linát für Schnee, auf dem die Skier sanft und still gleiten, smoalát für Schnee zum leichten Skifahren, slabttse für Schneematsch (vgl. Y. Ryd: Snö: en renskötare berätter, Stockholm 2001). Ebenso benutzen die Menschen der modernen Zivilisation unzählige Wörter für Haus: Hochhaus, Wolkenkratzer, Ein-, Zwei, Mehrfamilienhaus, Betonklotz, Fachwerkhaus, Ziegelsteinhaus, Rethdachhaus, Fabrik, Appartement, Schloß, Burg, Hütte, Kate, Ferienhaus, Friesenhaus usw. 184 U. a. auch E. Brunner-Traut: Frühformen des Erkennens, a. a. O., S. 12 f., S. 68.
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»der durch unseren Geist organisiert werden muß – das aber heißt weitgehend: von dem linguistischen System in unserem Geist. Wie wir die Natur aufgliedern, sie in Begriffen organisieren und ihnen Bedeutungen zuschreiben, das ist weitgehend davon bestimmt, daß wir an einem Abkommen beteiligt sind, sie in dieser Weise zu organisieren – einem Abkommen, das für unsere ganze Sprachgemeinschaft gilt und in den Strukturen unserer Sprache kodifiziert ist«. 185
Die Sprache ist nicht einfach ein reproduktives Instrument zur Aufnahme und Wiedergabe vorgefundener Strukturen, sondern ein konstruktives Element, das an der Welt- und Sinnschöpfung beteiligt ist, das selbständig die Analyse von Eindrücken und die Synthese von Vorstellungen und Gedanken vornimmt. Seine Überzeugung faßt Whorf in dem Satz zusammen: »Wir gelangen daher zu einem neuen Relativitätsprinzip, das besagt, daß nicht alle Beobachter durch die gleichen physikalischen Sachverhalte zu einem gleichen Weltbild geführt werden, es sei denn, ihre linguistischen Hintergründe sind ähnlich oder können in irgendeiner Weise auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden.« 186
Als Beleg für seine These rekurriert er auf zwei Wortklassen: Substantive und Verben. 187 Während das Indogermanische beide Klassen kennt, aufgrund seines hohen Abstraktionsniveaus sogar Substantive präferiert 188 , kennt das Nootka, eine Indiosprache auf der Insel Vancouver, offensichtlich nur Verben. Was begründet die Differenz von Substantiven und Verben, sieht man einmal von der sprachlichen Besonderheit ab, daß Verben wie im Englischen run, hit sekundär substantiviert werden können zu a run, a hit und ebenso Substantive wie man sekundär verbalisiert werden können zu to man the boat = ›das Boot bemannen‹ ? Entsprechendes gilt für das Deutsche: ›Herz‹ kann zu ›herzen‹, ›Luft‹ zu ›lüften‹ werden. Ist die Differenz darauf zurückzuführen, daß lang andauernde, stabile Phänomene Dinge sind und durch Substantive ausgedrückt werden, kurze, flexible Phänomene hingegen Vorgänge, Ereignisse, Aktivitäten, die durch Verben wiedergegeben werden? Was haben dann die lang andauernden Phänomene ›behalten‹, ›anhängen‹, ›beharren‹, ›wohnen‹, ›fortfahB. L. Whorf: Sprache, Denken, Wirklichkeit, a. a. O., S. 12. A. a. O. 187 Vgl. a. a. O., S. 13 ff. 188 Vgl. besonders das Griechische, das durch Vorsetzung des Artikels im Neutrum Verben substantivieren kann: enai (sein) zu t enai (das Sein). 185 186
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ren‹ usw. unter Verben zu suchen? Und was haben kurz dauernde Phänomene wie ›Blitz‹, ›Funke‹, ›Wirbel‹, ›Flamme‹, ›Sturm‹ unter Substantiven verloren? Macht man anstelle stabiler Wahrnehmungen stabile Relationen für die Bildung von Verben verantwortlich, wie ›besitzen‹, ›anhangen‹, warum gehören dann ›Gleichgewicht‹, ›Druck‹, ›Friede‹, ›Gesellschaft‹, ›Bruder‹, ›Schwester‹ und andere Verwandtschaftsbeziehungen usw. unter Substantive? Diese Beobachtung legt den Schluß nahe, daß Objekte einerseits, Vorgänge, Ereignisse, Aktivitäten andererseits, die in unserer Sprache durch Substantive bzw. Verben ausgedrückt werden, in ihrer Bipolarität keineswegs in der Natur vorgegeben sind, sondern festgelegt werden durch die jeweiligen Denk- und Sprachstrukturen. Gegen diesen Sprachrelativismus, der auf einen Konstruktivismus hinausläuft und mit der These der Einmaligkeit und Einzigartigkeit jedes Sprachsystems und Weltbildes einhergeht, hat man eingewandt, daß unter einer solchen Bedingung die Erschließung jedes anderen Sprachsystems unmöglich werde 189 , da die Bindung an ein bestimmtes Sprachdenken und die Befangenheit in diesem eine Transzendierung verhindere. Vielmehr müßten anthropologische Konstanten, gewisse Universalien, eingeräumt werden. So unterstellt Dux als Soziologe einen generellen ontogenetischen und phylogenetischen Naturprozeß, an den sich eine geistige Entwicklung des Menschen mit verschiedenen Entwicklungsstadien anschließe. »Die geistige Organisation der Welt und der Lebensführung der Menschen in ihr« ist für ihn eine »Anschlußorganisation an die Naturgeschichte«. »Im Verlauf der Evolution des Lebens, so der Befund, hat sich eine anthropologische Verfassung ausgebildet, die auf die Entwicklung sozio-kultureller Welten und die dabei notwendig werdende Entfaltung einer geistigen Kompetenz der Lebensführung angewiesen ist.« 190 Es wird strikt zwischen allgemeiner anthropologischer Organisation und individuellem wie auch historischem Entwicklungsstand unterschieden. 191 Eine Vermittlung beider Extrempositionen ist möglich aufgrund des Arguments, daß im Hintergrund einer jeden expliziten Sprache ein unexpliziertes Wissen schlummere, welches jederzeit beim Vergleich von Sprachen und Grenzüberschreitungen aktiviert werden 189 190 191
So G. Dux: Die Zeit in der Geschichte, a. a. O. S. 21, S. 141. A. a. O., S. 23. Vgl. a. a. O., S. 103 f. A
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könne. Jedes Sprachsystem hat demnach einen Fundus – mag man diesen latentes Hintergrundwissen oder Sublinguistisches nennen, mag man ihn durch analogische Strukturen oder Ähnlichkeitsverweise assoziativer Gesetze fassen –, von dem nur ein Teil artikuliert ist. Da dieses Hintergrundwissen in allen explizierten Sprachen unausdrücklich mitschwingt, läßt es sich prinzipiell auch aktivieren und für einen Sprachenvergleich nutzen. Ist es also eine gänzlich andere Zeitauffassung, die bei den Hopi begegnet? Auf der Basis der Forschungsergebnisse von Whorf in dem oben genannten Buch 192 , ebenso der Einwände von Helmut Gipper in der Schrift Gibt es ein sprachliches Relativitätsprinzip? 193 und der im Anhang dazu erschienenen Zusammenfassung der Dissertation von Andrea Stahlschmidt über Die Zeit im Hopi-Verbum 194 sollen die wesentlichen Merkmale der Zeitvorstellung der Hopi-Indianer referiert werden. (1.) Eine von allen Forschern gleicherweise konstatierte Spezifität des Hopi ist die Präferenz von Verben. Durch Suffigierung, Anhängen bestimmter Formelemente, können Wörter, die anderen Wortgruppen angehören, wie Substantive, Pronomen, Adjektive und Adverbien, verbalisiert oder zu prädikativem Gebrauch qualifiziert werden. Die Vorliebe der Hopi zum Verbalisieren weist auf ein dynamisches Weltbild, das durch Kräfte und vitalistisch-animistische Vorstellungen geprägt ist, wie sie für das magisch-mythische Weltbild oder Residuen von ihm charakteristisch sind. Jedes Seiende stellt hiernach eine Manifestation von Kräften dar, die für sein Wachstum oder seinen Schwund, für seine Dauer und Stabilität oder für seinen Untergang verantwortlich sind. Nicht zuletzt bereiten sie die Auswirkungen auf die Zukunft vor. »Der Hopi-Mikrokosmos scheint die Wirklichkeit vornehmlich in Termini von Ereignissen (oder besser des ›Ereignens‹) zu analysieren«, sagt Whorf. 195 Diese können objektiv wie subjektiv aufgefaßt werden, ersteres, wenn es sich um wahrnehmbare Phänomene handelt, wie Umrisse, Farben, Bewegungen usw., letzteres, wenn auf unsichtbare Faktoren und Intensitäten B. L. Whorf: Sprache, Denken Wirklichkeit, a. a. O., S. 84 ff. H. Gipper: Gibt es ein sprachliches Relativitätsprinzip? Untersuchungen zur SapirWhorf-Hypothese, Stuttgart 1972, bes. S. 215 ff. 194 A. a. O., S. 297 ff. 195 B. L. Whorf: Sprache, Denken, Wirklichkeit, a. a. O., S. 88. 192 193
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zu schließen ist, welche Festigkeit wie Flüchtigkeit der Erscheinungen bedingen. (2.) Das Auffälligste an der Hopi-Sprache ist die Tatsache, daß sie nicht wie das Indogermanische eine Dreiteilung der Modi in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit den entsprechenden Tempora kennt, sondern lediglich eine Zweiteilung in Vergangenheit – Gegenwart einerseits und Zukunft andererseits und diese durch entsprechende Sprachformen zum Ausdruck bringt: pam wuwa heißt sowohl ›er denkt‹ wie ›er dachte‹, pam wuwani mit dem Suffix -ni ›er wird denken‹. Wie ist diese Eigentümlichkeit zu deuten? Fehlt hier ein Modus, warum fehlt die Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Gegenwart? Einen ersten Hinweis zur Erklärung gibt Whorf, wenn er konstatiert, daß die Hopi-Verben gar keine Tempora in unserem Sinne kennen, und wenn er statt dessen von »Gültigkeitsformen« 196 (= Formen der Behauptung), von Aspekten und Verbindungsformen von Gliedsätzen spricht. Diese zeigen an, daß der Sprecher, der ein anderer ist als das Subjekt des Satzes, von einem Vorgang oder einer Situation berichtet, was unserer Vergangenheit und Gegenwart entspricht, oder daß er einen Vorgang bzw. eine Situation erwartet, was unserer Zukunft entspricht. Die Situation erschließt sich noch genauer, wenn man sie in Zusammenhang mit der Handlung und der Handlungslogik sowie dem ihr zugeordneten Zeitentwurf, der Zeitgestalt, bringt. Die Handlung bzw. der Vorgang ist dann entweder eingetreten und dauert an oder steht erst bevor. Ersteres drückt eine Faktizität aus, die gleicherweise Vergangenheit wie Gegenwart umfaßt, letzteres eine Möglichkeit, die der Zukunft angehört. Hierin wird erkennbar, daß es sich überhaupt nicht um Tempora in unserem Verständnis, sondern um Aspekte bzw. Aktionsarten handelt – zumindest von ihrem Ursprung her. Während unsere Tempora nur auf dem Boden der linearen Zeitauffassung verständlich sind, die in der sukzessiven, seriellen Aneinanderreihung von Phasen oder Momenten besteht und die Möglichkeit bietet, in Anbetracht der für das westliche Denken typischen Betonung des Subjekts und seiner Gegenwart von dieser aus Vergangenheit und Zukunft zu erschließen, ist für eine Denkweise, die dem Subjekt keine signifikante Rolle konzediert, dasselbe vielmehr in den Naturvorgang integriert oder gar mit ihm identifiziert, entscheidend, ob die Handlung bzw. der Naturvorgang eingetreten ist und besteht 196
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oder noch bevorsteht. Wenn, wie im letzteren Fall, das Handeln zum konkreten Vorgang der Natur selbst wird mitsamt der für die Handlung typischen Zeitgestalt, dann ist allein die Handlungsmodalität ausschlaggebend. Für eine Vorstellungsweise, für die die Handlung bzw. der Vorgang konstitutiv ist und nicht die lineare Reihung, legt sich die Zweiteilung in Eingetretensein und Andauern einerseits und Bevorstehen andererseits nahe. (3.) Aus der ursprünglichen Fundierung der Hopi-Sprache in der Handlungszeit erklärt sich die Vielzahl von Aktionsarten, die von den Forschern auch als solche benannt werden: 1. die durative Aktionsart, die eine unspezifische Dauer anzeigt, z. B. pam wuwanta (›er denkt nach‹) gegenüber pam wuwa (›er denkt‹), 2. die progressionale, die eine Dauer mit einer bestimmten Richtung in die Zukunft anzeigt: pam hangwanma (›er fährt fort zu graben‹) gegenüber pam hangwa (›er gräbt‹), 3. die kontinuative, die eine nach subjektivem Empfinden übermäßig lange Dauer anzeigt, z. B. pam hinqawlawu (›er nörgelt und nörgelt und nörgelt‹) gegenüber pam hanqawu (›er kritisiert‹), 4. die ingressive, die für den Beginn einer Handlung steht, z. B. pam wunimantiwa (›er beginnt zu tanzen‹) gegenüber pam wunima (›er tanzt‹). 5. die iterative, die ein wiederholtes Geschehen meist von kurzer Frequenz ausdrückt, z. B. pam yokokota (›er nickt‹) gegenüber pam yokta (›er neigt den Kopf‹). 197 (4.) Das Hopi kennt ein ausgeklügeltes System von Relationen zwischen zwei oder mehreren Handlungen und ihnen entsprechenden relativen Zeiten. Zu beachten ist allerdings, daß auch hier die Handlungslogik verbindlich bleibt, die jeweils eine Handlung als vorrangig betrachtet und die andere daran knüpft 198 , was trotz aller Ausgeklügeltheit die Unterentwicklung einer abstrakten Zeit beweist, in der Folge, Gleichzeitigkeit und Dauer von Handlungen durch wechselseitigen Vergleich bestimmt werden können. Existiert nur ein Handlungsträger und zwei oder mehrere
197 Vgl. A. Stahlschmidt: Die Zeit im Hopi-Verbum, in: H. Gipper: Gibt es ein sprachliches Relativitätsprinzip?, a. a. O., S. 301. 198 Vgl. ›Zur Zeit, als Kaiser Augustus lebte, geschah das und das.‹
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Aktionsarten
Handlungen bzw. Vorgänge, so treten folgende zeitbezogene Suffixe bei allen Verben bis auf das jeweils letzte auf, das beliebig konstruiert werden kann: 1. ein t für eine nicht-logische oder nicht-kausale Aufeinanderfolge von Ereignissen, z. B. pu’jaw pasat Cha’ akmongwi chongoi takchokyat nalöys ang chochonat Mongwit aw tavi = ›Dann füllte der Crier-Chief seine Pfeife und zündete sie an, rauchte viermal und reichte sie dann dem Chief‹, 2. ein qe für eine logische oder kausal geregelte Aufeinanderfolge, z. B. pi itam sutokyaqe ung qa tataynaya = ›Weil wir es vergaßen, weckten wir dich nicht auf‹, 3. ein kyang für gleichzeitige – meist nicht mehr als zwei – Vorgänge z. B. yaw taqa tawkyang paslawu = ›Der Mann sang, während er das Feld bestellte‹. Existieren mehrere Handlungsträger und mehrere Handlungen bzw. Vorgänge, so erscheint in allen Fällen das Suffix q. 199 (5.) Sollte sich die These von Whorf als richtig erweisen 200 , die allerdings von Gipper bestritten wird 201 , daß wiederkehrende Phasen wie Tag und Nacht im Hopi nicht nach Kardinalzahlen (ein Tag, zwei Tage, drei Tage usw.), sondern nach Ordinalzahlen (1., 2., 3. Tag usw.) bestimmt werden, so spräche dies eindeutig für eine Handlungszeit, da auf der Stufe der Handlungslogik Wiederholung ursprünglich nicht fortlaufende Zählung von Reproduktionen, sondern Zurückholung des einmaligen Ursprungs, des archetypischen Musters, bedeutet. 202 Erst in der weiteren Entwicklung zum reihenden Denken werden die Phasen homogenisiert, aneinandergereiht und seriell abgezählt, was zur Linearzeit als Grundlage der Quantifikation nach beliebigem Maßstab führt.
199 Über Details und weitere Subtilitäten vgl. A. Stahlschmidt: Die Zeit im Hopi-Verbum, a. a. O., S. 303. 200 B. L. Whorf: Sprache, Denken, Wirklichkeit, a. a. O., S. 89. 201 H. Gipper: Gibt es ein sprachliches Relativitätsprinzip?, a. a. O., S. 216 ff. 202 B. L. Whorf: Sprache, Denken, Wirklichkeit, a. a. O., S. 89, sagt: »Man verwendet also nicht das Schema des Zählens einer Anzahl verschiedener Menschen oder Dinge; denn diese, selbst wenn sie nacheinander erscheinen, könnten doch zu einer Versammlung zusammentreten. Man verwendet das Schema des Zählens sukzessiver Erscheinungen desselben Menschen oder Dinges, die keine Versammlung bilden können. Man verhält sich also zum Zyklus der Tage nicht analog wie zu mehreren Menschen (›mehrere Tage‹), wie wir es tun, sondern man verhält sich zu ihnen wie zu den sukzessiven Besuchen des selben Menschen.«
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Handlungszeit – Zeitgestalten
(6.) Von besonderer Relevanz für die Hopi ist die Zukunft, die Erwartetes, Erhofftes, Gewünschtes, aber auch Befürchtetes, kurzum, Mögliches ausdrückt, das bevorsteht, allerdings von der Gegenwart, wie im magisch-mythischen Denken überhaupt, nicht gänzlich abgetrennt ist, sondern in sie hineinragt bzw. aus ihr herausragt und folglich auch von ihr aus beeinflußbar ist. Die dieses Weltbild bestimmenden Kräfte können konzentriert, kanalisiert, gerichtet und gepolt werden auf Zukünftiges hin. Einer solchen Beeinflussung dienen die für die Hopi charakteristischen Riten und Tänze (Regen-, Ernte-, Schlangentänze) und insbesondere deren Vorbereitung, über die Whorf detailliert Auskunft gibt. 203 Da ist zum einen die Ankündigung durch einen speziellen Amtsträger, den Ausrufer-Häuptling, da ist zum anderen die äußere Vorbereitung, die Aktivitäten umfaßt, die unserem Verständnis nach teils nützlich und zuträglich, teils unnütz erscheinen, wie Wiederholungen, Sich-fertig-Machen, Formalitäten des Vorstellens, Speisezubereitung u. ä. Die Intensität der Vorbereitung wird gesteigert durch Laufen, Rennen, Tanzen, womit man die Vorgänge in der gewünschten Richtung zu beeinflussen glaubt, so die Steigerung des Wachstums der Pflanzen; da ist zum dritten als Wichtigstes die innere Vorbereitung, die in Konzentrationsübungen besteht und dazu dient, Wünsche und Gedanken in eine bestimmte Richtung zu lenken. Aufgrund der Annahme, daß Gedanken das Universum durchwalten wie Lichtstrahlen, sollen diese auf der Basis einer Unität mit der Natur dieselbe beeinflussen und die Ereignisse in bestimmter Weise fördern. Neben den direkten Tätigkeiten gibt es indirekte, verdeckte, die in der Mitarbeit von Menschen bestehen, die nicht unmittelbar an den Ritualen (Jagdzeremonien, Rennen, Tanzen) beteiligt sind, wohl aber unterstützend im Hintergrund wirken, indem sie die Situation positiv zu beeinflussen und negative Einwirkungen abzuwehren suchen. Unterstützt werden alle diese Vorgänge durch die auffällige ständige, monotone Wiederholung, die der Kräfteakkumulation und dem Durchhalten dient. Die Vielzahl kleiner Impulse soll die Intensität steigern. Damit zusammen hängen auch die kurzen, kolbenartigen Schritte, die im Tanz tausendfach Stunde für Stunde wiederholt werden und zur Förderung des Regens und der Ernte beitragen sollen.
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A. a. O., S. 89 ff.
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Aktionsarten
Nach diesen Ausführungen dürfte klar sein, daß die Zeitvorstellung der Hopi prinzipiell an das Handlungsschema und die Handlungszeit, also an eine geschlossene Zeitgestalt, gebunden und in diesem Rahmen zu interpretieren ist.
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IV. Mentale Zeitauffassung – mathematische Linearzeit
1.
Charakteristik der Linearzeit
Der uns heute meistvertraute Zeittyp – das »vulgäre Zeitverständnis«, wie Heidegger 1 diesen Typ nennt – ist die Uhrzeit bzw. die Weltzeit. Wie die unbestimmte Dauer der vitalen Erlebnissphäre zuzuordnen war, die teleologische, oszillierende und zyklische Zeitgestalt der Handlungssphäre, so kommt die Uhr- oder Weltzeit der mentalen Sphäre zu, dem rationalen Vermögen, also dem Intellekt, und innerhalb desselben den messenden, zählenden und rechnenden Operationen, weswegen wir diese Zeit auch die ›mathematische‹ nennen. Obgleich wir die Maßeinheiten der Uhrzeit – Stunde, Minute, Sekunde – an den periodischen Umläufen der Planeten oder den Schwingungen der Quarzmoleküle orientieren, mithin an rhythmischen Zeitgestalten, und dies auch am Umlauf des Uhrzeigers sichtbar machen, geht es bei der Bestimmung der Uhrzeit doch nicht mehr um die Wiederholung des Gleichen, sondern um die fortlaufende Zählung, so daß die adäquate Darstellungsform dieser Zeit die Zeitreihe ist und, was deren Projektion auf den Raum betrifft, der Zeitpfeil. Ließen sich die redundanten Zeitgestalten für unser Verständnis nur in Absetzung von der uns vertrauten und selbstverständlichen Linearzeit verdeutlichen, so gilt auch umgekehrt für diese, daß sie sich am einfachsten in Abhebung von den Zeitgestalten charakterisieren läßt. Folgende Merkmale sind hervorzuheben: 1. Während bei den Zeitgestalten die Form an den konkreten Inhalt gebunden und von diesem abhängig war, trennen sich bei der Linearvorstellung Form und Inhalt. Die Zeit wird zum abstrakten, leeren Schema, in das beliebige konkrete Inhalte integrierbar sind. Dabei ist es sekundär, ob die Form als objektives, reales Substrat oder Medium wie bei Newton aufgefaßt wird oder als subjektive Anschauungsform wie bei Kant, unter der die Erscheinungen rezipiert und geordnet werden. Die konkrete, einzelne Zeitgestalt wird in jedem 1
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M. Heidegger: Sein und Zeit, a. a. O., S. 17 f.
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Charakteristik der Linearzeit
Fall zur inhaltsunabhängigen Zeitform. Mit der Abstraktion geht eine Generalisation einher, so daß wir jetzt von der Zeit, nämlich der allgemeinen, allen Daten zugrundeliegenden sprechen können anstelle von den Zeiten. 2. Mit der Entkoppelung von Form und Inhalt hängt zusammen, daß die Zeit ihre spezifische Gestalthaftigkeit, Geschlossenheit und Endlichkeit verliert und offen wird, und zwar offen nach beiden Seiten, sowohl nach der Vergangenheit wie nach der Zukunft. An die Stelle der geschlossenen, endlichen Zeitgestalt tritt die offene, unendliche, die durch eine unendliche Gerade dargestellt wird. 3. Mit der Aufhebung der spezifischen Organisation der Einzelteile in der Zeitgestalt nimmt die Zeit eine durchgängig homogene Struktur an. Jeder Teil ist jedem anderen gleich. Welchen Teil auch immer man herausgreift, er gleicht dem Ganzen und ist selbst als Teil ein Ganzes aus Teilen, für die wiederum dasselbe gilt und so in infinitum. Es besteht absolute Strukturidentität. 4. Bei Aufhebung der Endlichkeit und Beschränktheit der gegeneinander abgegrenzten, ja abgeschotteten Zeitgestalten resultiert eine durchgängige Kontinuität, bei der, einer Definition des Aristoteles 2 zufolge, die Grenzen der Teile in einer einzigen zusammenfallen, das Ende des einen Stücks zugleich der Anfang des anderen ist. Während bei Kontiguität, d. h. bei nachbarschaftlichem Beisammensein (Neben- oder Nacheinandersein), die Grenzen der Teile als zwei getrennte bestehen bleiben, fallen sie bei Kontinuität in einer einzigen zusammen, so daß die Linearzeit einen einzigen, durchgängigen Zusammenhang bildet. 5. Während die Zeitgestalt als qualitativ bestimmte begegnet und sich von jeder anderen aufgrund ihres Inhalts in spezifischer Weise unterscheidet, verliert die entrhythmisierte Zeit ihre qualitativen Differenzen und degradiert zu einer rein quantitativen. Als unendliche, homogene, kontinuierliche Zeitreihe bildet sie die Grundlage der Quantifizierung und Mathematisierung. Die entrhythmisierte, vertaktete Zeit ist daher die mathematisch meßbare Zeit. 6. Alle diese Eigenschaften: Unendlichkeit, Homogenität, Kontinuität, Mathematizität (Quantifizierbarkeit), Formalität sind nun ebenfalls Eigenschaften des Raumes, und zwar des entsprechenden unendlichen, homogenen, kontinuierlichen, quantifizierbaren, ma2
Aristoteles: Physik, 6. Buch, Kap. 4 (231a 22), vgl. auch 4. Buch, Kap. 10–14. A
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Mentale Zeitauffassung – mathematische Linearzeit
thematischen Raumes, der sich vom Feldcharakter des gestimmten, visuellen, taktilen, auditiven Raumes wie von den gerichteten Volumina des Aktionsraumes durch seine Metrizität unterscheidet. Die Linearzeit rückt damit in die Nähe des mathematischen Raumes, dies um so mehr, als sich aus der bisherigen Herleitung und Beschreibung noch nicht einmal die Auszeichnung der Pfeilrichtung von der Vergangenheit auf die Zukunft ergibt. Die Möglichkeit der Projektion der Zeit auf den Raum bzw. eine seiner Gestalten, die Linie, bildet den Grund für die Verräumlichung der Zeit. Wegen dieser Abbildbarkeit und Darstellbarkeit aller aufgezählten Eigenschaften der Zeit an denen des Raumes klassifiziert man diese Zeit auch als verräumlichte, als Raum-Zeit. Überhaupt orientiert man sich sprachlich bei der Beschreibung der Zeit vorrangig am Raum. So spricht man von einem Zeitraum, einer Zeitstrecke, einem Zeitabstand, stellt Zeiten durch den Weg des Uhrzeigers auf dem Zifferblatt dar oder mißt Zeiten an den Umlaufbahnen der Planeten. Noch konkreter wird die Sprache bei dem deutschen Wort für ›jetzt‹, dem ›Augenblick‹, der die Kürze eines Augenaufschlags meint, oder bei dem französischen maintenant, das ›In-der-Hand-halten‹, ›Festhalten‹ bedeutet 3 , und während man bei der Handlungszeit das Zwischen zweier Ereignisse nur durch die Vor- oder Nachschaltung eines derselben ausdrücken konnte, so im Altfranzösichen après la messe oder avant la messe 4 , spielt in der spatialisierten Zeit dieses Zwischen, die Distanz zweier Relata, die entscheidende Rolle, zumal der Raum nichts anderes als ein quantifizierbares Relationssystem ist. Diese »zwischenhinige« Fixierung der Zeit nennt Gebser 5 eine »Pervertierung der Zeit, weil sie dadurch Räumlichkeit erhält«. 7. Mit der Verräumlichung der Zeit erlangt die Zeit einen lagezeitlichen Charakter, wie er primär für den Raum typisch ist, dessen Teile zueinander in festen, konstanten Beziehungen, Lageverhältnissen, stehen. Die Konstanz dieser Verhältnisse überträgt sich mit der Spatialisierung auf die Zeit, die so als Lagezeit bezüglich des Früher und Später und der ›Gleichzeitigkeit mit‹ der Relata eine Invarianz erhält, die für ihre Gesamtheit gilt, mithin durch die gesamte Zeit hindurchgeht. Was früher ist als ein Späteres, bleibt dies, ob es in die Zukunft, in die Gegenwart oder in die Vergangenheit gesetzt 3 4 5
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Vgl. J. Gebser: Ursprung und Gegenwart, a. a. O., 1. Teil, S. 260. Vgl. G. Dux: Die Zeit in der Geschichte, a. a. O., S. 337. J. Gebser: Ursprung und Gegenwart, a. a. O., 1. Teil, S. 260.
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Charakteristik der Linearzeit
wird, und ebenso bleibt das, was später ist als ein Früheres, in genau dieser Relation durch alle Zeit hindurch erhalten. Gleiches gilt für die ›Gleichzeitigkeit mit‹. Früher-, Später- und Gleichzeitigsein sind mithin lagezeitliche Bestimmungen, die ihre Relationalität gegeneinander durch den gesamten zeitlichen Ablauf bewahren. John Ellis McTaggart 6 bezeichnet sie als »B-Reihe«. Die lagezeitliche Fassung dürfte auch der Grund sein, weswegen Kant von der »beharrlichen Form der inneren Anschauung« 7 oder vom »beständige[n] Korrelatum alles Daseins der Erscheinungen, alles Wechsels und aller Begleitung« 8 spricht oder auch davon, daß zwar alles in der Zeit fließt, sie selbst aber nicht, da andernfalls, wenn sie selbst sich veränderte, d. h. in ihr Gegenteil – Veränderung, Bewegung – überginge, der Absurdität Tür und Tor offenstünden. »Der Wechsel trifft die Zeit selbst nicht, sondern nur die Erscheinungen in der Zeit« 9 , »Die Zeit verläuft sich nicht, sondern in ihr verläuft sich das Dasein des Wandelbaren. Die Zeit also […] [ist] selbst unwandelbar und bleibend« 10 . Bezieht sich das Fließen auf den Inhalt, so die Konstanz auf die Form. 8. So sehr nun aber auch die Zeit dem Raum angenähert werden mag, in einem Punkt differiert sie gravierend von ihm. Während der Raum isotrop ist, ist die Zeit anisotrop. Bezüglich der Zeit wird ein Richtungssinn angenommen, aufgrund dessen sie sich einsinnig und unumkehrbar, d. h. irreversibel von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft erstreckt 11 , während im Raum die Richtungen austauschbar, also umkehrbar sind: Ob man bei ihm rechts beginnt und nach links übergeht oder umgekehrt, ist beliebig, genauso wie es nichts an der Raumstruktur ändert, ob man die eine Seite als oben, die andere als unten, die eine als vorn, die andere als hinten betrachtet oder umgekehrt. Die der Zeit unterstellte Einsinnigkeit und Irreversibilität gegenüber der Reversibilität des Raumes nicht J. E. McTaggart: The Nature of Existence, a. a. O., Bd. 2, S. 10 (§ 306). I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 224. 8 A. a. O., A 183 B 226. 9 A. a. O. 10 A. a. O., A 143 B 183. 11 Die Redeweise von der Erstreckung der Zeit von der Vergangenheit über die Gegenwart auf die Zukunft legt sich nahe, wenn man die Zeit als erobernde Form auffaßt, als solche, die sich den zukünftigen möglichen Inhalt einverleibt, die umgekehrte Redeweise ist angezeigt, wenn man die Zeit als absinkenlassende Form nimmt, die den in sie eingetretenen Inhalt vergehen läßt. 6 7
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Mentale Zeitauffassung – mathematische Linearzeit
nur zu behaupten, sondern zu begründen, dürfte eine der schwierigsten Aufgaben der Philosophie sein, deren Behandlung ein gesondertes Kapitel verlangt. 12 9. In die verräumlichte Lagezeit spielt noch ein anderes, fremdes Element hinein, das aus der Handlungszeit resultiert und den Bezug auf das Subjekt als Ursprungszentrum der Handlung ausdrückt. Indem dieses Zentrum auf der Zeitachse als Gegenwart fixiert wird, bekommt alles Zurückliegende die Bedeutung des Vergangenen und alles Vorausliegende die Bedeutung des Zukünftigen. Wegen des Wanderns der Gegenwart auf der Zeitachse, wegen der Aktualisierung jedes Augenblicks und der dadurch bedingten Mitnahme von Vergangenheit und Zukunft überziehen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft die gesamte Zeit. Im Unterschied zur Lagezeit oder B-Reihe heißt diese modalzeitliche Struktur bei McTaggart 13 »A-Reihe«. Während die lagezeitlichen Bestimmungen ›früher‹, ›später‹, ›gleichzeitig mit‹ relativ aufeinander definiert sind, setzen die modalzeitlichen Bestimmungen ›gegenwärtig‹, ›vergangen‹, ›zukünftig‹ den Bezug auf das Subjekt voraus. Sie sind Modalitäten des Subjekts. 10. Als Konsequenz aus der Formalisierung der Zeit, die analog dem Raum erfolgt, ergibt sich ein universelles Koordinatensystem aus Raum- und Zeitachse, das qualifiziert ist, das gesamte Seiende aufzunehmen und jedem seine Stelle und sein Verhältnis zu anderem Seiendem anzuweisen. Wie dies im einzelnen geschieht, ob in Form eines absoluten Systems à la Newton oder in Form eines perspektivisch-relativistischen à la Einstein, bleibt zu sehen.
2.
Entstehung der Linearzeit
Der Übergang von der gestalthaften Zeit zur mathematischen Linearzeit, die Entstehung der generellen mentalen Zeitform aus der individuellen, konkreten Handlungszeit basiert auf drei Voraussetzungen: erstens der Homogenisierung, zweitens der Synthesis des homogenisierten Mannigfaltigen und drittens einer bestimmten Strukturierung im Sinne der Gerichtetheit. Der erste Schritt auf dem Weg zu einer unendlichen, homoge12 13
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Vgl. Teil IV, Kap. 3. J. E. McTaggart: The Nature of Existence, a. a. O., Bd. 2, S. 10 (§ 306).
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Entstehung der Linearzeit
nen, kontinuierlichen Linearzeit besteht in der Egalisierung der verschiedenen Zeitgestalten und ihrer gleichförmigen Aneinanderreihung, wobei das Maß für die Homogenisierung beliebig ist. Durch diese monotone Vertaktung gehen die diversen rhythmischen Zeitgestalten in eine gleichförmige Zeitreihe über. Freilich genügt dies allein noch nicht zur Entstehung eines homogenen Zeitkontinuums; denn bei bloßer Aneinanderreihung gleichförmiger Zeitgestalten bzw. Zeitstücke bleiben die Grenzen der Aneinandergereihten für sich bestehen, d. h. als verschiedene, während sie beim Kontinuum ineinanderfallen und eine einzige bilden, welche letztere sich nur noch in abstracto, nicht mehr in concreto als Grenze von Teilen markieren läßt. Ein Kontinuum ist ein unendlich Teilbares, nicht ein unendlich Geteiltes. 14 Da bloße Kontiguität als nachbarschaftliches Nebeneinander nicht genügt zur Entstehung eines Kontinuums, ist als zweite Bedingung die Synthesis der gleichartigen metrisierten Teile vonnöten, die zu deren Verschmelzung und Ineinanderübergehen führt. Die dritte Bedingung ist die Ausrichtung der Zeitgestalt zur Zeitgerade. Dies läßt sich so vorstellen, daß die gestalthafte Zeiteinheit, die intern zwar einen Richtungssinn von einem Handlungsursprung auf ein Handlungsziel hat, jedoch bezüglich des gesamten Handlungsfeldes nach allen Seiten offen ist, eine Beschränkung der Pluralität der Richtungsmöglichkeiten auf eine einzige Dimension erfährt sowie eine Kanalisation in eine Richtung, indem der Handlungsursprung als variabler Anfang der Zeitachse und das Ziel als deren variables Ende gesetzt wird. Die einsinnig lineare Zeit erweist sich so als Entfaltung und Auslegung der internen Richtungsstruktur der Zeitgestalt. Eine Privilegierung einer bestimmten Zeitrichtung, nämlich auf die Zukunft hin, ist damit allerdings noch nicht erklärt, da der Zeitpfeil auch umkehrbar wäre. Der Übergang von der gestalthaften Zeitauffassung zur mathematischen Linearzeit weist Parallelen auf zum Übergang von der gestalttheoretischen Zahlauffassung zur reihentheoretischen, seriellen, allerdings mit dem Unterschied, daß der erste Vorgang zur kontinuierlichen Linearzeit, der zweite zur diskreten Zahlenreihe führt. Die Zuordnung beider zueinander ist aber unbestritten, da sich die Zeit messen läßt und den Maßeinheiten Zahlen zuordnen lassen, wobei es letztlich gleichgütig ist, ob diese den ausgegrenzten kontinuierlichen Vgl. Aristoteles’ berühmte Definition in Physik, 6. Buch, Kap. 1 (231b 16): sunecþ@ diairetn e§@ ⁄e½ diairet€, vgl. 185b 10: e§@ ˝peiron gÞr diairetn t sunecff@.
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Teilstücken oder den sie begrenzenden Augenblicken zugeordnet werden. 15 Auf jeden Fall entspricht der Linearzeit als quantum continuum die Zahlenreihe als quantum discretum. Die Bildungsprozesse von Zeit und Zahl, ihre Herkunft aus einer gestalttheoretischen Konzeption gehören derselben Mentalitäts- und Kulturepoche an und sind nicht unabhängig voneinander zu denken. Zahlen haben im ursprünglichen Verständnis nichts, aber auch gar nichts mit der Auffassung zu tun, die wir ihnen heute zuschreiben. Ursprünglich handelte es sich nicht um gleichartige Einheiten, die zusammengefaßt werden zu einer neuen, nunmehr gefüllten Einheit – jede Zahl ist eine synthetische Einheit aus Einheiten – und aus denen durch Hinzufügung einer weiteren Einheit die nächste Zahl hervorgeht. Vielmehr waren Zahlen ursprünglich Gestalten. 16 Was die Eins betrifft, so stellt sie nach Aristoteles’ Definition in der Physik 17 sowie nach allgemein griechischer Auffassung überhaupt keine Zahl dar, sondern das Prinzip, den Ursprung, Grund, die Quelle aller Zahlen, aus der diese hervorgehen. Als Anfang und Grund von allem ist sie das Allumfassende, All-Eine, das nichts außer sich hat, zu dem noch eine Beziehung hergestellt werden könnte, das vielmehr alles impliziert und damit dem Absoluten, Göttlichen gleicht. Der Versuch einer rationalen Erfassung dieses Singularetantum, der eine Subjekt-Objekt-Differenz und -Relation voraussetzte, würde das Allumfassende verobjektivieren und zum Relat einer Bewußtseinsrelation degradieren und es damit negieren. Die indischen Upanishaden haben daher dasselbe durch ne¯ti ne¯ti (›nicht nicht‹) bestimmt und die negative Theologie des Christentums durch das Ab-
Zu dieser Diskussion vgl. Aristoteles: Physik, 4. Buch, Kap. 11. Dazu W. Wieland: Die aristotelische Physik. Untersuchungen über die Grundlegung der Naturwissenschaft und die sprachlichen Bedingungen der Prinzipienforschung bei Aristoteles, Göttingen 1962, S. 316 ff., bes. 327; G. Böhme: Zeit und Zahl, a. a. O., S. 164 f. 16 Zum folgenden vgl. K. Gloy: Artikel Zahl / Zahlenspekulation / Zahlensymbolik, in: Theologische Realenzyklopädie (TRE), Bd. 36 (2004), S. 447–458, bes. S. 448 f.; ebenso F. C. Endres: Die Zahl in Mystik und Glauben der Kulturvölker, Zürich, Leipzig 1935; ders. und A. Schimmel: Das Mysterium der Zahl. Zahlensymbolik im Kulturvergleich, München 1984, 6. Aufl. 1992; L. Levy-Bruhl: Das Denken der Naturvölker (Titel der Originalausgabe: Les fonctions mentales dans les sociétés inférieures, Paris 1910), in deutscher Übersetzung hrsg. und eingeleitet von W. Jerusalem, Wien, Leipzig 1921, S. 179 ff. 17 Vgl. Aristoteles: Physik, 4. Buch, Kap. 12 (220a 27). 15
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sprechen aller endlichen Prädikate, so etwa Dionysius Areopagita in der Schrift De mystica theologia. 18 ›Zwei‹ bedeutet nach gestalttheoretischer Auffassung ebenfalls nicht zwei gleichartige numerische Einheiten, sondern Paarigkeit, Symmetrie, Spiegelbildlichkeit, Polarität, Ambivalenz, Gegensätzlichkeit, Antithetik usw., wie sie objektiv vorliegt in festen Zweiergruppen wie den Augen, Händen, Armen, Flügeln und von dort auch auf die Gemeinschaft anderer Objekte übertragen wurde, so auf ein Paar Schuhe, ein Duett, Zwillinge, ein Joch Ochsen usw. Wir begegnen solchen Doppelphänomenen sowohl im biologischen wie im kosmologischen Bereich, z. B. in ›männlich – weiblich‹, ›Systole – Diastole‹, ›Tag – Nacht‹, ›Aktivität – Passivität‹. Sprachlich haben viele Sprachfamilien, so das Altgriechische, das Slawische, das Arabische, eine eigene Ausdrucksform hierfür gebildet, den Dual, wie er in griechisch ˝mfw = ›beide‹, lateinisch alter alter = ›der eine – der andere‹ vorliegt und auch in deutschen Mundarten wie dem Bayerischen erhalten ist: ›habt’s a Geld‹, wo ein mittelhochdeutscher Dual ez (althochdeutsch: iz) = ›ihr beide‹ nachklingt. Gemeint ist mit dem Dual hier eine Ich-Du-Beziehung: ›wir beide‹, ›ihr beide‹. 19 Auch bei der Drei handelt es sich ursprünglich nicht um drei gleiche Einheiten, sondern um eine Trias, wie sie phänomenologisch aus der Familienstruktur ›Vater, Mutter und Kind‹ bekannt ist oder aus dem religiösen Bereich, etwa der christlichen Trinität ›Gottvater, Sohn und Heiliger Geist‹, und wie sie auch in der kulturhistorisch weitverbreiteten geistigen triadischen Struktur von ›Thesis, Antithesis und Synthesis‹ vorliegt. Sie hat die Funktion, sei es biologisch, psychologisch, geistig oder religiös, den Ausgleich polarer Gegensätze, ihre Aufhebung in einer neuen Einheit herzustellen. Sprachlich findet sie gelegentlich im Trial eine eigenständige Form, wie er für die australische Ursprache und die polynesischen Sprachfamilien kennzeichnend ist. Die Vier dokumentiert ihre Gestalthaftigkeit am prägnantesten Dionysius Areopagita: De mystica theologia ad timotheum interprete Balthasare Corderio, Societatis Jesu doctore theologo, in: S. Dionysii Areopagitae opera omnia quae exstant, et commentarii quibus illustrantur, studio et opera Balthasaris Corderii. Accurante et denuo recognoscente J.-P. Migne, Patrologiae graecae, tomus 3, Turnholti (Belgium) (o. J.), Nachdruck 1968, S. 997–1063, bes. S. 1046 f. (cap. V). 19 Vgl. K. Menninger: Zahlwort und Ziffer. Eine Kulturgeschichte der Zahl, Bd. 1: Zählreihe und Zahlsprache, 2. neubearbeitete und erw. Aufl. Göttingen 1957, S. 22 ff. 18
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Mentale Zeitauffassung – mathematische Linearzeit
in der graphischen Darstellung des Quadrats, das nicht, wie man zunächst meinen möchte, eine Zusammensetzung aus vier Seiten ist, diese eine Zusammensetzung aus je zwei Parallelen und diese wiederum aus unendlich vielen Punkten, sondern eine einzige geschlossene Gestalt, die den Eindruck des Quadrathaften vermittelt. Sie hat ihre biologische Grundlage in der axialen Ausrichtung des Menschen – in dem durch den Menschen gelegten Achsenkreuz –, dem kosmologisch die vier Himmelrichtungen entsprechen und mit dem die Vermessung des Raumes im Quadrat zusammenhängt. Nicht zufällig ist das Quadrat in der buddhistischen Religion und Kultur Symbol der Erde, und noch Heidegger kennzeichnet das umgrenzte, befriedete Feld als Geviert. Beim Übergang von der ganzheitlichen, gestalthaften Auffassung zur reihenden, seriellen spielen, wie bei der Zeit, Homogenisierung, Synthetisierung und Strukturierung eine Rolle. Die Homogenisierung der verschiedenartigen Gestalten: Gegenstände, Zeichen, Symbole verlangt die Reduktion auf eine homogene Menge, bei der von allen differenzierenden und spezifizierenden Eigenschaften abstrahiert und die Aufmerksamkeit nur auf ein bestimmtes, hervorstechendes Merkmal, das quantitative, konzentriert wird. Manche Völker wie die Vedda-Pygmäen Ceylons vermögen diese Abstraktion nur dadurch zu leisten, daß sie relativ gleichartige Stäbchen oder Striche den abzuzählenden heterogenen Gegenständen zuordnen: ›so viele Stäbchen, so viele Gegenstände‹. Bei Wiederholung und Leerbleiben von Stäbchen läßt sich dann das Fehlen von Gegenständen feststellen oder umgekehrt auch deren Vermehrung. Der zweite Akt ist die Bündelung der gleichartigen diskreten Einheiten, wobei diese miteinander zu einer neuen Zahl verbunden werden. Jede Zahl stellt die Synthesis einer Mehrheit von Einheiten dar, die jedoch im Unterschied zum quantum continuum der Zeit ihren diskreten Charakter beibehalten. Was die Strukturierung der Zahlen betrifft, so erfolgt ihr Aufbau in der natürlichen Zahlenreihe nach einem festen Schema, dem von n und n+1, wobei jede folgende Zahl aus der vorhergehenden plus einer weiteren Einheit entsteht. Da sich über jede Zahl hinausgehen läßt, resultiert auf diese Weise eine unendliche Reihe von Zahlen. Aufgrund der logischen Folgebeziehung ist jede Zahl nur über die vorhergehende bzw. die vorhergehenden definierbar in einem eindimensionalen, linearen Prozeß. 170
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Begrndungsversuche der Zeitrichtung
So sehr die Übergänge von der gestalttheoretischen zur linearbzw. reihentheoretischen Auffassung von Zeit und Zahl einander ähneln mögen, so bleibt bezüglich der Zeit ein nicht zu übersehendes Problem bestehen, nämlich die Auszeichnung der Zeitrichtung von der Vergangenheit auf die Zukunft, mithin die Zukunftsorientierung. Wie läßt sich die spezifische Temporalität, unter der wir das Fließen und Vergehen verstehen – genauer sollte vom Entstehen und Vergehen gesprochen werden –, erklären? Was sind die Gründe, die potentielle Vielfalt und Offenheit der Richtungen auf eine einzige zu beschränken?
3.
Begrndungsversuche der Zeitrichtung
Das Problem des Nachweises eines einsinnigen Zeitverlaufs ist eines der änigmatischsten und bislang ungelösten der Physik. Im Alltag ist die Vorstellung eines Gestern und Vorgestern sowie eines Morgen und Übermorgen wie auch die Vorstellung von der Vergänglichkeit alles Irdischen und der Unwiederbringlichkeit von Situationen und Ereignissen das Selbstverständlichste von der Welt. Möglicherweise aber ist es gar nicht einmal die alltägliche Erfahrung und der praktische Umgang mit den Dingen, die uns die Vorstellung einer Irreversibilität der Zeit nahelegen, wie die vorangehenden Kapitel über Zeiterlebnisse und Handlungszeit gezeigt haben, die von der Zeittrias Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft keinerlei Gebrauch machten, sondern unsere geschichtliche, kulturelle und wissenschaftliche Prägung, die uns einen Zeit- und Geschichtsfluß suggeriert. In der Physik, zumal in der Mechanik einschließlich der Quantenmechanik, gilt die Reversibilität, d. h. die Umkehrbarkeit der Gesetze. Der Wind, der eine Figur in den Sand zeichnet, kann sie auch wieder auslöschen, und wenn er sie auslöschen kann, so konnte er sie auch in den glatten Sand zeichnen. Es bedarf nur der exakten Umkehr aller atomaren Bewegungen. Wie aber läßt sich unter solchen Bedingungen die Irreversibilität, die Unumkehrbarkeit der Zeit, die durch den Zeitpfeil ausgedrückt wird, legitimieren? Es war der Wiener Physiker Ludwig Boltzmann, der Entdecker des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik, der Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts erstmals auf das Problem aufmerksam wurde und ihm gebührende Beachtung schenkte. Er hatte empirischstatistisch herausgefunden, daß in der Thermodynamik ein geschlosA
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senes System, z. B. ein Gasgemisch aus zwei verschieden temperierten Gasen in einem Behälter, mit übergroßer Wahrscheinlichkeit die Tendenz hat, aus einem Zustand minimaler Entropie in einen Zustand maximaler Entropie überzugehen, wobei unter Entropie die durchgängige Vermischtheit aller Teile, ihr Gleichgewicht, verstanden wird. Statistisch (wahrscheinlichkeitstheoretisch) gesehen, darf man annehmen, daß ein geschlossenes System aus einem relativ unwahrscheinlichen Zustand, dem der Ordnung, in einen wahrscheinlicheren, den der Unordnung, übergeht, wodurch eine zeitliche Ausrichtung stattfindet. Je älter ein System wird, je mehr es in der Zeit voranschreitet, desto mehr tendiert es zur Auflösung und Vermischung aller Teile, desto mehr nähert es sich dem Gleichgewichtszustand an. Boltzmann verallgemeinerte diese Beobachtung zu einem Gesetz, das sich auf alle Phänomene wie Wärmeleitung, Wärmekraftmaschinen mit einer Temperaturdifferenz, chemische Reaktionen mit einer Abweichung vom Gleichgewicht, Fusionen mit einer räumlichen Trennung der Substanzen u. ä. anwenden läßt. Allerdings erweist sich das Gesetz in dieser Allgemeinheit als nicht haltbar; denn, wie Ernst Zermelo aufgrund von Vorarbeiten von Herni Poincaré zeigte, kehrt jedes geschlossene System nach einer gewissen endlichen Zeit in die Nähe seines Ausgangszustands zurück. Befand sich dasselbe am Anfang in einem geordneten Zustand, so wird es in die unmittelbare Nähe dieses Zustands zurückkehren, da die Präferenz einer bestimmten Zeitrichtung nicht gegeben ist. Dieser Einwand ist unter dem Namen »Umkehreinwand« bzw. »Wiederkehreinwand« 20 bekannt, je nachdem, ob man den Verlauf mit umgekehrtem Vorzeichen versieht oder ob man einen periodischen Verlauf unterstellt. Genötigt durch den Umstand, die Möglichkeit zweier gleichberechtigter, entgegengesetzter objektiver Zeitrichtungen anerkennen zu müssen, ging Boltzmann zu einer rein subjektivistischen Zeitpfeilinterpretation über, indem er die Präferenz einer Zeitrichtung, und zwar die des Entropiezuwachses, für eine reine Illusion erklärte. Wie es im Raum keinen Unterschied von oben und unten gibt, die Menschen auf der Erdoberfläche sich aber entschlossen haben, die Richtung zum Erdmittelpunkt als ›unC. F. von Weizsäcker: Aufbau der Physik, München, Wien 1985, S. 155; vgl. K. R. Popper: Ludwig Boltzmann und die Richtung des Zeitablaufs: Der Pfeil der Zeit, in: W. Ch. Zimmerli und M. Sandbothe (Hrsg.): Klassiker der modernen Zeitphilosophie, Darmstadt 1993, S. 172–181, bes. S. 174 Anm. 5.
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ten‹ zu bezeichnen, so gibt es auch keine Auszeichnung der Zeitrichtung, sondern nur eine Symmetrie. Gleichwohl haben sich die Menschen subjektiv und definitorisch für die Annahme der Richtung mit Entropiezuwachs entschieden. Boltzmanns sogenanntes H-Theorem ist, objektiv gesehen, symmetrisch, nur subjektiv besteht eine Auszeichnung einer Richtung, so daß es für eine hinlängliche Begründung des Zeitpfeils nicht in Anspruch genommen werden kann. In § 4 einer Replik auf Zermelos Abhandlung Ueber die mechanische Erklärung irreversibler Vorgänge, die er am Ende seiner Vorlesungen über Gastheorie, § 90, wiederholt, kennzeichnet Boltzmann unsere Welt als reale Schwankungserscheinung in einem räumlich wie zeitlich ausgedehnten, riesigen Universum: »Man hat dann die Wahl zwischen zweierlei Vorstellungen. Man kann annehmen, dass sich das gesammte Universum gegenwärtig in einem sehr unwahrscheinlichen Zustande befindet. Man kann sich aber auch die Aeonen, innerhalb deren wieder unwahrscheinliche Zustände eintreten, winzig gegen die Dauer, die Siriusfernen winzig gegen die Dimensionen des Universums denken. Es müssen dann im Universum, das sonst überall im Wärmegleichgewichte, also todt ist, hier und da solche verhältnissmässig kleine Bezirke von der Ausdehnung unseres Sternenraums, (nennen wir sie Einzelwelten) vorkommen, die während der verhältnissmässig kurzen Zeit von Aeonen erheblich vom Wärmegleichgewichte abweichen, und zwar ebenso häufig solche, in denen die Zustandswahrscheinlichkeit gerade zu- als abnimmt. Für das Universum sind also beide Richtungen der Zeit ununterscheidbar, wie es im Raum kein Oben oder Unten giebt. Aber wie wir an einer bestimmten Stelle der Erdoberfläche die Richtung gegen den Erdmittelpunkt als nach unten bezeichnen, so wird ein Lebewesen, das sich in einer bestimmten Zeitphase einer solchen Einzelwelt befindet, die Zeitrichtung gegen die unwahrscheinlicheren Zustände anders als die entgegengesetzte (erstere als die Vergangenheit, den Anfang, letztere als die Zukunft, das Ende) bezeichnen und vermöge dieser Benennung werden sich für dasselbe kleine Gebiete, die es aus dem Universum isolirt, ›anfangs‹ immer in einem unwahrscheinlichen Zustande befinden. Die Methode scheint mir die einzige, wonach man den 2. Hauptsatz, den Wärmetod jeder Einzelwelt ohne eine einseitige Aenderung des ganzen Universums von einem bestimmten Anfangs- gegen einen schliesslichen Endzustand denken kann.« 21
L. Boltzmann: Zu Herrn Zermelo’s Abhandlung ›Ueber die mechanische Erklärung irreversibler Vorgänge‹, in: W. Ch. Zimmerli und M. Sandbothe (Hrsg): Klassiker der modernen Zeitphilosophie, a. a. O., S. 129–133, bes. S. 132.
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Karl R. Popper hat in einem Kommentar zu Ludwig Boltzmann und die Richtung des Zeitablaufs: Der Pfeil der Zeit 22 diese beiden Möglichkeiten durch die folgende Skizze demonstriert.
Die obere Linie, die räumliche Gerade, repräsentiert die symmetrische Zeitkoordinate, während die untere die Fluktuation der Entropie andeutet. Die beiden Zeitpfeile über der Zeitkoordinate zeigen die Welten an, in denen außerhalb des Entropiemaximums, des Wärmetods, Leben möglich ist und damit auch Zeitbewußtsein, und zwar in den beiden entgegengesetzten Richtungen, die die Pfeile angeben. Tiere und Menschen, vielleicht auch Pflanzen erleben Zeit mit zunehmender Apprehension offensichtlich subjektiv in Richtung einer Entropiezunahme. Seit Boltzmanns Überlegungen beunruhigt und beschäftigt das Problem die Köpfe der Physiker, ohne daß sich bisher eine befriedigende Lösung hätte finden lassen. Die Flut an Literatur zu diesem Problem wächst beständig sowohl auf seiten der Vertreter des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik wie auf seiten der Gegner, wobei die These von der Illusionshaftigkeit der Irreversibilität der Zeit unter Physikern weit verbreitet ist. Einen illustrativen, oft zitierten Beleg gibt Josiah Willard Gibbs: 23 Man denke sich einen Tropfen schwarzer Tinte in Wasser verrührt, bis sich dieses grau färbt. Dieser Vorgang scheint einem irreversiblen Prozeß zu entsprechen. Isolierte
In: W. Ch. Zimmerli und M. Sandbothe (Hrsg.): Klassiker der modernen Zeitphilosophie, a. a. O., S. 172–181, bes. S. 176. 23 J. W. Gibbs: On the Equilibrium of Heterogeneous Substances, in: Transactions of the Connecticut Academy of Arts and Sciences, Teil 3 (1876), S. 108–248, Teil 3 (1878), S. 343–524, angeführt auch bei: I. Prigogine: Zeit, Entropie und der Evolutionsbegriff in der Physik, in: W. Ch. Zimmerli und M. Sandbothe (Hrsg.): Klassiker der modernen Zeitphilosophie, a. a. O., S. 182–211, bes. S. 196. 22
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man jedoch jedes einzelne Molekül und folgte seinem Weg, dann würde man feststellen, daß das System auf mikroskopischer Ebene heterogen geblieben ist, während es auf makroskopischer Ebene als vermischt und ausgeglichen, homogen erscheint. Die Irreversibilität des Prozesses wäre hiernach auf die Unzulänglichkeit unserer Sinne zurückzuführen und erwiese sich damit als reine Illusion. Gleichwohl werden für die Annahme einer objektiven Entropiezunahme und damit einer bestimmten Zeitrichtung immer wieder Argumente ins Feld geführt, zum einen eines, das den Anfangszustand der Welt in Rechnung stellt, zum anderen eines, das sich auf die Evolution bezieht. Hinzu kommen weitere Argumente, teils aus der Neurophysiologie und Psychologie, teils aus der Existenzphilosophie und Logik, die stärker oder schwächer sein können. 1. Als Grund für einen wahrscheinlichkeitstheoretischen Entropieanstieg und folglich eine Vorzugsrichtung der Zeit pflegt man das kosmologische Moment des Anfangszustands der Welt anzuführen. Man interpretiert diesen Anfangszustand in Analogie zum Anfangszustand eines Experiments. 24 Wie der Anfangszustand eines Experiments, genauer des Objekts im Experiment, ein speziell gewählter ist, der, weil er speziell ist, eine kleinere Entropie aufweist als das Gleichgewicht, so daß alle späteren Zustände voraussichtlich höhere Entropiewerte zeigen, so wird im kosmologischen Modell, das die Welt als einen einmaligen Ablauf unterstellt, ein Anfangszustand in der Zeit angenommen, der gewisse Merkmale aufweist, wie eine bestimmte Verteilung von reinem Wasserstoff u. ä., und damit einen vom Gleichgewichtszustand abweichenden Entropiewert mit sich bringt. Daraus folgt, daß alle späteren Zustände vermutlich höhere Entropiewerte aufweisen werden, womit eine zeitliche Ausrichtung gegeben wäre. Das Argument hat jedoch nur eine schwache Plausibilität, da man sich den Anfangszustand der Welt eingebaut denken kann in ein pulsierendes Weltmodell oder in eine Spiegelsymmetrie, so daß man ebenso rückwärts auf eine Entropiezunahme schließen könnte wie vorwärts. Außerdem sind Bestimmungen des Anfangszustands eine reine Spekulation, da sich unser Wissen vom Universum ständig vergrößert und verändert. Im August 2003 fand im australischen Sydney eine Konferenz der Internationalen Astronomischen Union statt, auf der Astronomen von der Australian National University 24
Vgl. hierzu C. F. von Weizsäcker: Aufbau der Physik, a. a. O., S. 150 ff. A
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berichteten, daß sie unter der Leitung des Astrophysikers Simon Driver die Leuchtkraft von Galaxien, welche noch mit Teleskopen zugänglich sind, in einem bestimmten Himmelsausschnitt gemessen und daraus die Sternenzahl berechnet hätten, die sich auf 70.000.000.000.000.000.000.000 (70 Trilliarden) belaufe. Angesichts solcher Dimensionen von Raum und Zeit, der Materie und der Lichtübertragung können Bestimmungen eines angeblichen Anfangszustands der Welt nur spekulativ sein. Von einem Anfang der Welt sprechen und eine Entwicklung in Richtung auf einen Entropiezuwachs annehmen zu wollen, ist eine petitio principii, bei der man die Zeitrichtung schon voraussetzt, statt sie zu erklären. 2. Aus der Biologie wird der Gedanke der Evolution zur Stützung der These von der Irreversibilität der Zeit herangezogen. Evolution, die Zunahme von Gestaltung, Organisation und Ordnung, die sich im Laufe der Erdgeschichte bei der Entstehung von Gattungen und Arten herausgebildet hat, scheint zunächst dem Gedanken der Entropie, d. h. der Zunahme von Unordnung und Desorganisation, zu widersprechen. Es läßt sich aber auch eine Interpretation von Evolution und Entropie denken, die auf eine Annäherung oder gar Identität tendiert, derart, daß der Entropiezuwachs einen Zuwachs an Strukturen und Information bedeutet. Diese These hat zumindest Carl Friedrich von Weizsäcker in seinem Buch Aufbau der Physik im Kapitel »Evolution als Wachstum potentieller Information« 25 vertreten und detailliert erörtert. Am Beispiel des Kristallwachstums, das sich thermodynamisch durchrechnen läßt, demonstriert er, daß nach den Gesetzen der Thermodynamik des Schmelzprozesses Kristalle bei hinreichend niedriger Temperatur sich im thermodynamischen Gleichgewicht befinden. Da man nicht bestreiten wird, daß Kristalle eine höhere Struktur und einen höheren Ordnungsgrad aufweisen als Flüssigkeiten, ist damit der Erweis erbracht, daß der Entropiezuwachs nicht nur mit einem Strukturabbau, sondern auch mit einem Strukturaufbau und mit potentieller Information verbunden sein kann. Den Eindruck eines Konflikts zwischen Gestaltentwicklung und zweitem Hauptsatz der Thermodynamik erklärt Weizsäkker aus der Generalisierung einiger Beispiele, in denen Entropie mit gestaltenarmer Gleichförmigkeit gleichzusetzen ist. Dies sei jedoch nicht überall der Fall. »Der Wärmetod wäre, hinreichend niedrige 25
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Temperatur vorausgesetzt, nicht ein Brei, sondern eine Versammlung von komplizierten Skeletten.« 26 Wenngleich die Zunahme von Gestalten den Gedanken der Irreversibilität nahelegt, was besonders deutlich wird, wenn man in Form eines Gedankenexperiments die Erdgeschichte und Evolution wie einen umgekehrten Film abspulen läßt, so könnte doch diese Evolution, genau wie die Entropie, eingebettet sein in einen Schwankungsoder Umkehrprozeß mit symmetrischer Entgegensetzung. 3. Der naheliegendste Hinweis auf irreversible Prozesse dürfte allerdings aus der alltäglichen, biologisch fundierten Lebenserfahrung des Alterungs- und Verfallsprozesses alles Organischen und der anschließenden Verwesung des Leichnams stammen. Eingespannt zwischen Geburt und Tod, sind wir der Endlichkeit und Vergänglichkeit preisgegeben. Jedes Lebewesen entsteht und vergeht. Der Mensch vollzieht nicht nur unbewußt diesen Prozeß, sondern reflektiert ihn auch und bringt ihn zum Bewußtsein. Eine Philosophie, die dies zu ihrem ausdrücklichen Thema gemacht hat, ist der Existentialismus. Heidegger hat in Sein und Zeit seine Daseinsanalyse auf dieses Bewußtsein der Endlichkeit und Vergänglichkeit gegründet, obwohl er sie nicht biologisch, sondern existenzial verstanden wissen will. Dasein ist ihm das Vorlaufen zum Tod und das Zurückkommen von diesem auf die geschichtlich bedingte Gegenwart. Dasein ist die selbstbezügliche, gestalthafte Ganzheit aus den zeitlichen Ekstasen der Zukunft, Gegenwart und Gewesenheit, nicht in dem Sinne, daß dem Dasein Geburt und Tod als Noch-nicht- und Nicht-mehr-Sein angehängt würden, vielmehr in dem, daß Dasein wesenhaft Sein-zum-Tod ist, Möglichkeit, auf den Tod hin zu leben. Dies darf ebenfalls nicht dahingehend mißverstanden werden, als ginge es nach Art des memento mori darum, stets an sein Ende und das Jüngste Gericht zu denken. Mit der Zeitlichkeit des Daseins ist auch nicht gemeint, Dasein in eine übergeordnete Zeit einzuordnen und in dieser ablaufen zu lassen wie ein Vorhandenes, d. h. einen objektivierbaren und wissenschaftlich thematisierbaren Gegenstand. Und auch an ein lückenloses Nacheinander kommender und vergehender Erlebnisse, an eine Abfolge in der objektiven Zeit ist nicht gedacht, vielmehr heißt zeitliches Dasein, sich auf die Zukunft hin zu entwerfen und von ihr auf die Gegenwart zurückzukommen. Zukunft und Gewesenheit sind nicht außerhalb des Da26
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seins, sondern konstitutive Momente desselben, Ekstasen eines Entwurfsgeschehens, in das hinein sich das Dasein erstreckt. Wie sehr hier auch der Zukunftscharakter betont sein mag, so zeigt doch die endliche Gestaltkonzeption des Daseins, daß sie den Schlacken einer gestalttheoretischen Auffassung verhaftet bleibt, die zwar die Grundlage der linearen Zeitauffassung bildet, aber nicht diese selbst ist und daher auch nicht die Auszeichnung einer bestimmten Zeitrichtung zu erklären vermag. Hinzu kommt, daß es auch andere philosophische wie religiöse Interpretationen des Daseins gibt, die, wie der Buddhismus und Pythagoreismus, die Vorstellung vom Rad der Wiedergeburten, vom Kreislauf des Lebens und Todes – des Hervorgangs des Todes aus dem Leben und des Lebens aus dem Tod – sowie der Palingenesis annehmen, also Gedanken auf der Basis der Gegenläufigkeit und Zyklik entwickeln. 4. Eine Unterstützung findet die These von der Irreversibilität durch ein neurophysiologisches Argument, nämlich den Hinweis, daß die Menschen im Gehirn Engramme besitzen, die eine Erinnerung zwar an Vergangenes, nicht aber an Zukünftiges gestatten und insofern eindeutiges Indiz für eine einseitige Ausrichtung sind. Aber auch hiergegen läßt sich ins Feld führen, daß die Zeit ebenso weiser macht, d. h. einen Informationszuwachs mit sich bringt, wie sie auch vergessen läßt, d. h. mit einer Informationsabnahme verbunden ist, worauf schon die alten Spruchweisheiten deuten. 27 5. Ein weiteres Argument ist dem psychologischen Bereich zu entnehmen. Es ist der Hinweis auf das Phänomen des Strebens und Sehnens, das in der Triebhaftigkeit wurzelt. Plotin hat bei seiner Erklärung der Entstehung der Zeit aus der Zeitlosigkeit (Ewigkeit) auf dasselbe rekurriert. In Enneade III, 7, 11 erzählt er einen Mythos, in dessen Mittelpunkt die Seele steht, die, ihres ursprünglichen, vollkommenen, ewigen Zustands überdrüssig, aus diesem heraustritt und das, was sie einmal ganzheitlich war und schaute, nun im Anderen, Fremden sucht. Es ist der Überdruß und Übermut, nicht der Mangel, der zur Unzufriedenheit führt und die Seele nicht bei sich selbst verweilen läßt, sondern sie über sich hinaustreibt zum Anderen, Neuen. Indem die Seele mehr sucht, als bei ihr war, strebt sie nach diesem Anderen, um über dasselbe sukzessiv das bislang holistisch Geschaute wiederherzustellen. Es wird gesagt, daß sich in der 27
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Vgl. Aristoteles: Physik, 4. Buch, Kap. 12 (212a 30 ff.).
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Seele eine Kraft (dÐnami@) bzw. Natur (fÐsi@) befinde, die »vielgeschäftig über sich selbst herrschen und sich selbst gehören wollte und entschlossen war, mehr zu suchen, als da war«. »Unruhig wollte sie das dort [im Ewigen] Geschaute immerfort auf anderes übertragen und wollte das ihr unverletzt Ganze nicht gegenwärtig haben.« 28 Die rationale Aufklärung des Mythos führt auf das Phänomen des Strebens, das einerseits im Aus-sich-Herausgehen, Sich-Entäußern besteht, womit Weite, Distanz von sich geschaffen wird, und andererseits im Über-sich-Hinausgreifen und Ergreifen des Anderen, was auf dessen Einverleibung zielt. Hier werden zeitliche Erstrekkung und Richtung aus der Internverfassung der Seele erklärt. Punkt für Punkt lassen sich die Momente der ersteren aus der Seelenstruktur ableiten. Erstens: Das Streben ist ein intentionaler, einsinnig gerichteter Prozeß, was auch für die Zeit gilt. Zweitens: Als Prozeß der Entgrenzung und Begrenzung und erneuten Entgrenzung schafft das Streben Distanz und stellt damit einen Raum und Zeit schaffenden und erweiternden Vorgang dar. Drittens: Das Streben erhält sich dadurch am Sein, daß es ständig auf Neues aus ist, während es gleichzeitig Altes hinter sich läßt. Hierin dokumentieren sich Macht wie Ohnmacht, ersteres insofern, als das Streben stets auf Neues zielt, letzteres insofern, als es ständig seinen Besitz verliert. Streben ist Prozessualität, Entstehen und Vergehen, und nichts anderes gilt auch für die Zeit. So plausibel und suggestiv diese Erklärung sein mag, so führt sie über die interne Gerichtetheit einer gestalthaften selbstbezüglichen Zeit und eines ihr zugrundeliegenden selbstreferentiellen Strebens nicht hinaus. Die sich wiederholenden Abläufe von Entgrenzung und Begrenzung erklären allenfalls Linearität und Einsinnigkeit, nicht aber Zukunftsgerichtetheit, genaugenommen entwickeln sie nicht einmal Linearität; denn während bei der gestalthaften Zeitauffassung die Richtung prinzipiell offen bleibt, wird erst mit der Folgeordnung der Prozeß in einer bestimmten Richtung kanalisiert und ein für allemal fixiert, wobei aber die Art der Richtung, ob Zukunft oder Vergangenheit, offen bleibt. 6. Die Einsicht in das bisherige Scheitern weist auf ein anderes Plotin: Enneade, III 7, 11, 15–17 und 20–23 (Übersetzung von der Verfasserin); vgl. K. Gloy: Die Struktur der Zeit in Plotins Zeittheorie, in: Archiv für Geschichte der Philosophie, Bd. 71 (1989), S. 303–326, bes. S. 313–318; vgl. auch W. Beierwaltes: Plotin. Über Ewigkeit und Zeit (Enneade III 7), übersetzt, kommentiert und eingeleitet von W. Beierwaltes, 3., erg. Aufl. Frankfurt a. M. 1981, S. 127 und S. 62 ff.
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Erklärungsmodell: nicht auf ein ontologisches, sondern auf ein logisches. Es ist die Möglichkeit der Zuordnung der diskreten Zahlenreihe zur kontinuierlichen Linearzeit, derzufolge jedem beliebig herausgegriffenen quantum continuum wie auch dessen Grenzen eine diskrete Einheit (Zahl) korreliert werden kann. Wie jede Zahl nur über ihre Vorgängerin zugänglich ist in einer bestimmten Ordnung, die sich aus dem Gesetz des Aufbaus der natürlichen Zahlenreihe n und n+1 ergibt, so ist auch jedes nachfolgende Zeitquantum bzw. dessen Grenze nur unter Voraussetzung des vorhergehenden zu gewinnen. Zahlenreihe wie Linearzeit stehen in einer logischen Folgeordnung, die durch das Gesetz des Immer-mehr bestimmt wird. Dieses Gesetz legt fest nicht nur, daß von einer Instanz zur anderen überzugehen sei, sondern auch, wie, nämlich durch Hinzufügung einer weiteren Einheit zur Vorgängerin, so daß im Grunde schon nach wenigen Schritten der Konstruktionsprozeß abgebrochen werden kann, da prinzipiell Neues nicht zu erwarten steht. Das an dieser Stelle eintretende ›und so weiter‹ ist Ausdruck des Sachverhalts, daß sich mittels einer endlichen Formel das Unendliche erschließen läßt. Anders bei der ungeregelten, freien Wahlfolge, bei der der Überschritt offen ist. Diese bestimmt nur, daß von einer Instanz zur anderen überzugehen sei, nicht aber, wie. Die Folge der Schritte muß hier bis ins Unendliche hinein jeweils neu festgelegt werden. Läßt sich mit der letzteren die Raumstruktur gewinnen, so mit der ersteren die zeitliche Folge. Der Versuch, die zeitliche Gerichtetheit auf die Zukunft logisch zu regeln und auf die logische Nachfolgeordnung festzulegen, geht auf Leibniz zurück. Sollte dieser Versuch standhalten und nicht am Redundanzargument scheitern, welches besagt, daß das Verständnis logischer Folge bereits zeitliche Folge voraussetzt oder impliziert, dann würde diese Reduktion der Zeit auf Logik für die Konstruktivität und Subjektivität der Zeit sprechen und der Meinung der Physiker recht geben, die die zeitliche Auffassung des Universums für eine spezifisch menschliche, nämlich logisch-konstruktive Angelegenheit halten.
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Die absolute Zeit (das absolute Zeit-Raum-Kontinuum)
War die gestalthafte Handlungszeit an den konkreten empirischen Inhalt gebunden und von ihm abhängig, so ist die mathematische, 180
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Die absolute Zeit (das absolute Zeit-Raum-Kontinuum)
mentale Zeit unabhängig von ihm. Als rein formale Struktur hat sie die Aufgabe, das Seiende in bestimmter Weise zu ordnen, ihrer Struktur gemäß zu interpretieren, d. h. hier zu quantifizieren. Damit erweist sie sich als Macht- und Herrschaftsinstrument, mittels dessen die konkrete Realität manipuliert und dirigiert werden kann. Indem sie sich einem Gradnetz gleich über das Seiende ausbreitet, fängt sie nur das ein, was den Maschen dieses Netzes entspricht, und legt so den Charakter des Seienden in signifikanter Weise fest. Allerdings gibt es Stufen und Grade, die damit zusammenhängen, ob das entwerfende Subjekt als das absolute Subjekt vom Status Gottes angenommen wird, wie in Newtons absoluter Zeit- und Raumtheorie, oder als das relative, menschliche, das Individuum mit seinem je individuellen Bezugssystem, wie in Einsteins spezieller Relativitätstheorie. 4.1. Newtons absolute Zeit Newtons Physik, die Mechanik, basiert auf der Annahme nicht nur eines absoluten Raumes, in dem alle Körper wie in einer Weltschachtel Platz haben und in dem ihre genauen Örter und Beziehungen zueinander und zum Ganzen bestimmt sind, sondern auch einer absoluten Zeit, in die sämtliche Ereignisse und Abläufe integrierbar sind und in der sie ihre genaue Zeitstelle und Dauer sowie ihre genauen Zeitverhältnisse untereinander und zum Ganzen erhalten. Die Annahme zweier Absoluta, des absoluten Raumes und der absoluten Zeit, ist notwendig zum Verständnis von Newtons Bewegungstheorie. Denn um eine absolut gradlinige, gleichförmige, noch durch keine äußeren Kräfte aus ihrer Bahn gelenkte Bewegung plausibel zu machen und außerdem zu erklären, wie derart heterogene Bewegungen wie der Fall eines Apfels auf die Erde und die Erdrotation denselben Kräfteeinwirkungen und mechanischen Gesetzen unterstehen, müssen zwei Absoluta als Koordinatensystem vorausgesetzt werden. Da sich eine absolute, unabgelenkte Bewegung nirgends in der Realität findet, stellen auch ihre Prämissen, der absolute Raum und die absolute Zeit, lediglich Hypothesen dar, die empirisch nicht verifizierbar sind. Ihre Supposition ist nur im Rahmen einer göttlichen Weltordnung denkbar; sie setzt ein übermenschliches, absolutes Subjekt voraus. Newton scheute sich denn auch nicht, den absoluten Raum und die absolute Zeit als sensoria Gottes zu bezeichnen. A
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Obgleich sich eine eigentliche Definition der absoluten Zeit und des Raumes nicht findet, sind dem ersten Scholium der Philosophiae naturalis principia mathematica hinreichende Bestimmungen zur Unterscheidung von absoluter und relativer Zeit sowie von absolutem und relativem Raum zu entnehmen. (1.) Absolute, wahre, mathematische Zeit (tempus absolutum, verum et mathematicum) und absoluter Raum (spatum absolutum) sind für Newton etwas Existentes, Reales, Substrathaftes, von dem Merkmale prädizierbar sind. Wie es vom absoluten Raum heißt, daß er vermöge seiner Natur (natura sua) immer gleich und unbeweglich verharrt (semper manet similare et immobile) 29 , so heißt es von der absoluten Zeit, daß sie in sich und vermöge ihrer Natur (in se et natura sua) gleichförmig fließt (aequabiliter fluit) 30 . Obwohl vom Fließen der Zeit die Rede ist, ist hier der Zeitfluß als solcher und als ganzer gemeint, was einen extramundanen Standpunkt wie den göttlichen voraussetzt, von dem her die Zeit als ganze in den Blick genommen werden kann. So wie man, wenn man sich in einem Strom befindet und gleichgeschwindig mit ihm schwimmt, das Fließen nicht bemerkt, sondern erst, wenn man sich aus ihm heraus ans feste Ufer begeben hat und nun von dort das Strömen beobachtet und jeden Punkt des fließenden Flusses mit dem konstanten Bezugssystem des Ufers vergleicht, so bemerkt man, in der Zeit stehend, diese nicht, sondern hat sie erst von einem Standpunkt außerhalb ihrer im Griff. Damit aber wird das Fließen verobjektiviert, stillgestellt, ertötet. Der Zeitstrom als ganzer wird zu einem erstarrten Gebilde. (2.) Als Behältnisse zur Datierung und Lokalisierung alles Seienden gedacht, sind Zeit und Raum leer. Wie der absolute Raum alle relativen, d. h. materiell gefüllten Räume, nämlich Körper, enthält, so enthält die Zeit alle relativen, empirisch gefüllten Zeiten, Minuten, Stunden, Jahre usw., und gibt ihnen ihre genaue zeitliche Verortung. Eine solche Zeitbestimmung verlangt einen absoluten Anfang und ein absolutes Ende des Weltganzen, ebenso wie die Raumbestimmung absolute Grenzen des Umfangs verlangt. Während es für das an empirische Daten gebundene, relative Zeit-Raum-System Leibnizens gleichgültig ist, ob die Welt eine Stunde früher oder später begonnen hat, einen Meter weiter rechts oder links liegt, kann dies für I. Newton: Philosophiae naturalis principia mathematica, 2. Aufl. Cambridge 1713, S. 6 (Scholium, Nr. 2). 30 A. a. O., S. 5 (Scholium, Nr. 1). 29
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das absolute System Newtons nicht gleichgültig sein. Auch dies weist darauf, daß wir es nur mit einer hypothetischen Annahme zu tun haben, die allenfalls einem absoluten Wesen erkennbar wäre. (3.) Es braucht nicht eigens erwähnt zu werden, daß mit der Absolutheit sowohl Unendlichkeit wie Singularität einhergehen; denn wenn Zeit und Raum als schlechthin umfassende Systeme gedacht werden, müssen sie unendlich sein und dürfen keine Zeiten und Räume außer sich dulden. Da sie nichts außer sich haben, zu dem noch eine Beziehung hergestellt werden könnte, da sie vielmehr alles integrieren, sind sie je für sich eines und einzig, ein Singularetantum. (4.) Darüber hinaus kommt ihnen Homogenität und Kontinuität zu, denen zufolge das, was für einen Teil gilt, auch für jeden anderen zutrifft, und dies durchgängig. Da in der Zeit verschiedengeschwindige Bewegungen denkbar sind, muß die Zeit selbst das Maß abgeben und als solches homogen und kontinuierlich sein. (5.) Mögen Zeit und Raum auch in den bekannten Eigenschaften der Unendlichkeit, Singularität, Homogenität und Kontinuität übereinstimmen, so differieren sie doch darin, daß im absoluten Raum die relativen Räume, d. h. die Körper, frei beweglich sind, während dies für die relativen Zeiten bzw. Bewegungsdauern in der absoluten Zeit nicht gilt. Nicht nur sind diese hinsichtlich ihres Früher und Später relativ aufeinander fixiert, sondern auch relativ zur absoluten Zeitachse, auf der sie ihre genau fixierte Zeitstelle und zeitliche Erstrekkung haben. Dies gilt auch für die gleichzeitigen Ereignisse jeder Zeitstelle der Zeitachse im Weltsystem, ob sie nah oder fern sind. Für alle Ereignisse ist definitiv festgelegt, wann, zu welchem Zeitpunkt sie an der Reihe sind. In Newtons System herrscht ubiquitäre Gleichzeitigkeit. Bringt man die Modalkategorien Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit ins Spiel, was Newton allerdings nicht tut, so ist zu berücksichtigen, daß diese nur in bezug auf ein Subjekt Sinn machen, für das etwas zukünftig, gegenwärtig oder vergangen ist. Bei absoluten modalen Zeitbestimmungen kann dies nur ein omnipotentes, göttliches Subjekt sein, das das Weltganze zeitlich wie räumlich überschaut und die Zeit- und Raumstellen absolut festlegt. Das Newtonsche absolute Zeit- und Raumsystem erweist sich im Grunde als ein Instrumentarium Gottes, nicht des Menschen.
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4.2. Kants transzendentale Zeit Kant übernimmt zwar im wesentlichen Newtons Zeit- und Raumsystem, modifiziert es aber insofern, als er es seines Absolutheitscharakters beraubt und auf ein menschliches Maß zurückschraubt. Zeit und Raum sind für ihn Anschauungsformen des endlichen, menschlichen Subjekts, wenngleich nicht des empirisch individuellen, sondern des allgemeinen, transzendentalen, d. h. des Erkenntniswesens Mensch. So haben Zeit und Raum keinen privatsubjektiven Charakter, sondern sind generelle Bedingungen der Möglichkeit anschaulicher Erfahrung. Kants Kritik an Newton betrifft zum einen den Realitätsstatus von Newtons ›Weltschachteln‹. Kant sieht einen Widerspruch darin, Zeit und Raum einerseits als etwas Existentes anzusetzen, andererseits als etwas Leeres, rein Formales. Sollten Zeit und Raum substantielle Gefäße für alles Seiende sein, wie bei Newton, dann müßten sie, wenn alles Seiende eliminiert würde, selbst mit eliminiert werden. 31 Das Postulat, Zeit und Raum als Bedingungen aller Existenz zu unterstellen, und das Postulat, sie als Bedingungen für real zu halten, sind inkompatibel. Die Inkompatibilität läßt sich nur zugunsten einer der beiden Alternativen aufheben, und diesbezüglich entscheidet sich Kant für den Bedingungscharakter. Dieser aber, bezüglich dessen alles Seiende den Status eines Bedingten hat, läßt sich nur retten, wenn er als Form oder Struktur interpretiert wird. Der zweite Kritikpunkt betrifft die Absolutheit der Newtonschen Systeme; er macht eine Reduktion auf relative Systeme erforderlich. Zwar bleibt die Ubiquität aller Ereignisse zu jedem beliebig herausgegriffenen Zeitpunkt der Zeitachse erhalten, aber die Zeitpunkte selbst sind auf der Zeitachse nicht länger fixiert, sondern nur relativ aufeinander festgelegt. Auf die modalzeitlichen Bestimmungen Zukunft, Gegenwart, Vergangenheit und ihren Bezug zum Subjekt kann Kant nicht verzichten. Die Theorie des menschlichen Subjekts spielt an drei Stellen bei ihm eine Rolle: erstens in der Ich-Theorie, in der sich ein individuelles, empirisches, an die Zeit gebundenes Ich von einem allgemeinen, transzendentalen, zeitinvarianten Ich, das Bedingung der Zeit ist, unterscheiden läßt, zweitens in der Theorie der Wahrnehmung, Vgl. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 70 f.; vgl. K. Gloy: Studien zur theoretischen Philosophie Kants, Würzburg 1990, bes. S. 37 ff.
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Die absolute Zeit (das absolute Zeit-Raum-Kontinuum)
in der die vom empirischen Ich konstatierten zeit- und situationsgebundenen Wahrnehmungen thematisiert werden, die dann zum Zwecke der Erfahrungserkenntnis unter die allgemeinen Gesetze des transzendentalen Ich gebracht werden müssen, und drittens in der Theorie der Erfahrungskonstitution, in der die Wahrnehmungen über die subjektiven Vermögen der Apprehension, Reproduktion und Rekognition den allgemeinen Gesetzen subsumiert werden. 32 Diese Theorien sind kurz zu erläutern: (1.) Was das Verhältnis des empirischen, an die Zeit gebundenen Subjekts zum allgemeinen, transzendentalen, die Zeit ermöglichenden und vorstellenden Subjekt betrifft, so ist zu bedenken, daß das erstere in die Zeit gehört und sukzessiv mit der Zeit fließt, was allerdings nur festgestellt werden kann, wenn es sich selbst objektiviert und als in der Zeit Seiendes betrachtet. Dabei stellt sich ein Problem, das Kant selbst im »Paralogismus«-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft 33 im Kontext der Objektivation der Kategorien behandelt hat. Wie das Subjekt der Kategorien beim Versuch der objektiven Erfassung und Bestimmung derselben die Kategorien immer schon voraussetzen muß und daher einem Zirkel verfällt, so vermag auch das Subjekt der Zeit, in welchem diese ursprünglich ihren Grund hat, diese nicht anders zu erfassen als in redundanter Weise durch zeitliche Bestimmungen. Der Grund der Zeit ist für das Subjekt niemals anders erkennbar als mittels zeitlicher Bestimmungen, es müßte denn seine eigenen Erkenntnisbedingungen transzendieren. Den Einwand, den Kritiker schon zu Kants Lebzeiten erhoben und den Kant als Einwurf »einsehender Männer« 34 behandelt, nämlich daß das in der Zeit existierende und mit der Zeit sich wandelnde Subjekt etwas Reales sei und folglich auch die Zeitlichkeit eine reale Eigenschaft sein müsse, weist Kant mit dem Argument zurück, daß die innere Veränderung des Subjekts, der Wechsel der Vorstellungen, von diesem nur vorgestellt werden könne gemäß den Bedingungen der sinnlichen Anschauung: im Nacheinander. 35 In der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft fügt er als weiteres Argument hinzu, daß Relationen (Verhältnisse), die, wie die lagezeitlichen BeZum folgenden vgl. K. Gloy: Studien zur theoretischen Philosophie Kants, a. a. O., S. 67 ff., bes. S. 70 ff. 33 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 422. 34 A. a. O., A 36 B 53. 35 Vgl. a. a. O., A 36 ff. B 53 ff. 32
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stimmungen des Nacheinander, bereits den Raum voraussetzen, nicht der Ding-an-sich-Welt angehören und die Sache selbst bezeichnen können, sondern nur dem vorstellenden Subjekt. 36 Eine Selbstvergewisserung des momentanen Subjekts in unmittelbarer Weise, wie Husserl, Heidegger und Sartre sie annehmen, schließt Kants Transzendentalismus aus. (2.) Ein weiteres Mal begegnet der Bezug zur Modalzeit im Kontext der Wahrnehmungsurteile und ihres Verhältnisses zu Erfahrungsurteilen. Das Wahrnehmungsurteil wird jetzt und hier, zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort, in einer bestimmten Situation und unter bestimmten Umständen artikuliert. Es ist ein einmaliges, individuelles, gegenwartsbezogenes, orts- und situationsabhängiges Urteil, das dies auch in seiner sprachlichen Verfassung zum Ausdruck bringt: ›Jetzt und hier nehme ich diesen Körper wahr und fühle seine Schwere‹ oder ›Jetzt und hier empfinde ich diesen Sonnenschein und diese Steinerwärmung‹. Selbst das verallgemeinerte Wahrnehmungsurteil schließt die individuellen Beobachtungen, die jeweils zu bestimmten Zeitpunkten vom Subjekt gemacht werden, ein: ›Jedesmal (oder immer), wenn ich einen Körper trage, empfinde ich einen Druck oder Schwere‹, ›Immer, wenn ich den Sonnenschein wahrnehme, nehme ich auch die Steinerwärmung wahr‹. Auch das generalisierte Wahrnehmungsurteil bleibt gegenwartsbezogen, bezogen auf alle einzelnen Gegenwartserlebnisse des Subjekts einschließlich des jetzigen. Mit der Transformation des Wahrnehmungsurteils in ein Erfahrungsurteil und allgemeines Gesetz von der Art ›Die Körper sind schwer‹, ›Die Sonne erwärmt den Stein‹ geht der modalzeitliche Gegenstandsbezug verloren. Erhalten bleiben nur die lagezeitlichen Bestimmungen, die das Gesetz zu einem modalzeitlich independenten machen, das gegenüber einer Zeitverschiebung von +t zu –t durch den Null- und Gegenwartspunkt invariant ist. Aufgrund seines universellen, jederzeitigen Geltungsanspruchs schließt es modalzeitliche Bestimmungen aus. Sie sind nicht länger in ihm enthalten. Der Unterschied von Vergangenheit und Gegenwart entfällt. 37 Vgl. a. a. O., B 67. Wo immer Selbstzuwendung stattfindet, geschieht sie gemäß den Formen unserer Erkenntnis als mehr oder weniger ausgeführte Selbstobjektivation. 37 Vgl. M. Steinhoff: Zeitbewußtsein und Selbsterfahrung. Studien zum Verhältnis von Subjektivität und Zeitlichkeit im vorkantischen Empirismus und in den Transzendentalphilosophien Kants und Husserls, 2 Bde., Würzburg 1983, Bd. 1, S. 215. 36
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(3.) Im Unterschied zu den Sätzen der reinen Mathematik sind die Grundsätze der Naturwissenschaft, auch die apriorischen, nach der Kritik der reinen Vernunft nicht nur mit formalen, lagezeitlichen Bestimmungen beschäftigt, sondern auch mit dem Dasein der Erscheinungen. Das setzt den Bezug auf die Gegenwart des erfahrenden Subjekts voraus, das die Daten sukzessiv apprehendiert. Dies geschieht so, daß jeweils nur die gegenwärtige Vorstellung apprehendiert wird, und zwar mit jedem neuen Augenblick eine neue, während die vorhergehende, indem die neue an ihre Stelle tritt, irreversibel verdrängt wird. Gegenwärtig ist jeweils nur eine Vorstellung, während die vergangene als verdrängte nicht mehr präsent ist und die zukünftige als andrängende noch aussteht. Da die bloße Momentaneität jedoch noch keine Vorstellungsfolge ergibt, ist zur Vergegenwärtigung des Nacheinander, des Früher und Später, eine Wiederherstellung der vergangenen Vorstellung mittels der reproduktiven Einbildungskraft und eine Synthese mit der gegenwärtigen Vorstellung notwendig. Kant sagt: »Ich kann mir keine Linie, so klein sie auch sei, vorstellen, ohne sie in Gedanken zu ziehen, d. i. von einem Punkte alle Teile nach und nach zu erzeugen, und dadurch allererst diese Anschauung zu verzeichnen. Ebenso ist es auch mit jeder auch der kleinsten Zeit bewandt. Ich denke mir darin nur den sukzessiven Fortgang von einem Augenblick zum anderen, wo durch alle Zeitteile und deren Hinzutun endlich eine bestimmte Zeitgröße erzeugt wird.« 38 »Würde ich aber die vorhergehenden (die ersten Teile der Linie, die vorhergehenden Teile der Zeit, oder die nacheinander vorgestellten Einheiten) immer aus den Gedanken verlieren, und sie nicht reproduzieren, indem ich zu den folgenden fortgehe, so würde niemals eine ganze Vorstellung, und keiner aller vorgenannten Gedanken, ja nicht einmal die reinsten und ersten Grundvorstellungen von Raum und Zeit entspringen können.« 39
In bezug auf die Zukunft bestehen analoge Verhältnisse, nur daß hier nicht die reproduktive, sondern die produktive Einbildungskraft den Entwurf der künftigen Vorstellungen und ihrer Synthese mit der gegenwärtigen leistet. Für die Vergegenwärtigung der formalen Zeit und der auf ihr basierenden Erfahrungsgesetze sind also die subjektiven Akte der Apprehension und der Einbildungskraft und schließlich auch der Rekognition erforderlich, die Kant in der ersten Auflage
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I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 162 f. B 203. A. a. O., A 102. A
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der Kritik der reinen Vernunft im subjektiven Teil der transzendentalen Deduktion behandelt.
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Noch radikaler ist Einsteins spezielle Relativitätstheorie, die sich nicht nur auf das menschliche Subjekt überhaupt beschränkt, sondern dessen jeweilige individuelle Situation, den Standpunkt des Beobachters und mit ihm sein Bezugssystem berücksichtigt. Sie läßt sich am besten verständlich machen vor dem Hintergrund der Entwicklung des Bewußtseins von Perspektivität. Als im Jahre 1336 Francesco Petrarca den Mont Ventoux bestieg und auf dem Gipfel das Erlebnis der Weite und Tiefe, des Sich-Öffnens des Raumes hatte und dies in einem Brief an Francesco Dionigi von Borgo San Sepolcro zum Ausdruck brachte 40, dürfte er jene Erfahrung der Tiefendimension des Raumes gehabt haben, die nicht zufällig gerade in jenem Jahrhundert durch die Erfindung der Zentralperspektive in der Malerei zum Durchbruch gelangte und in den späten Werken von Giotto, in den Reliefs von Andrea Pisano und dann besonders in den Werken Masaccios realisiert wurde und im folgenden Jahrhundert bei Filippo Brunelleschi, Piero della Francesca, Pietro Vannucci, Perugino und Leonardo da Vinci wahre Triumphe feierte und sich zum Raumrausch steigerte. Ansätze zur perspektivischen Darstellung des Raumes gab es zwar schon bei den Griechen und Römern, aber erst im 14., 15. Jahrhundert zur Zeit der Renaissance gelang der Durchbruch der zentralperspektivischen Darstellung des dreidimensionalen Raumes, indem die Illusion von Raumtiefe auf eine zweidimensionale Fläche gebannt wurde. Handwerkliche Vorarbeiten in der flämischen Malerei wie geometrische Berechnungen in der italienischen waren vorausgegangen, so bei Leon Battista Alberti, dessen 1436 veröffentlichtes dreibändiges Werk Della pittura ein Kapitel »Della prospettiva« enthielt, einen ersten systematischen Darstellungsversuch der perspektivischen KonstrukVgl. F. Petrarca: Le familiari, Edizione critica per cura di V. Rossi, Vol. 1: Introduzione e libri 1–4 (Edizione Nazionale delle opere di Francesco Petrarca, Vol. 10), Firenze 1933, S. 153–161; vgl. J. Gebser: Ursprung und Gegenwart, a. a. O., Bd. 1, S. 40 ff., Bd. 2, S. 461 ff.
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tion. Man konnte von jedem Standpunkt (point du vue) und unter jedem Sichtwinkel einen Blick auf den Raum und seine Gegenstände werfen und diese dann relativ zum Betrachter und untereinander in entsprechenden Proportionen darstellen: die Gegenstände im Vordergrund größer, die im Hintergrund kleiner, Parallelen im Unendlichen zusammenlaufend und sich schneidend, Quadrate als Trapeze, wie sie von den Fliesenmustern holländischer Malerei bekannt sind, Tore, Gewölbe und Bögen, die sich ineinanderschachteln und im Unendlichen verlieren, wie sie mit Vorliebe in der italienischen Malerei dargestellt werden. Man überzog das Bildwerk mit einem imaginären Maschennetz und ließ es dann mit dem Standpunkt des Betrachters wandern, so daß die Punkte, Linien, Gegenstände entsprechend gelängt oder gekürzt, kurzum, verzerrt wurden. Der Raum, den man auf diese Weise einfing, war der perspektivische, der Raum, wie er sich dem Betrachter von seinem jeweiligen Standpunkt zeigt, nicht aber der Raum an sich. An diesen vermag nicht einmal die Summe aller perspektivisch dargestellten Räume heranzureichen. Der Raum an sich ist nichts als eine Illusion oder Hypothese, so wie Newtons absoluter Raum ein rein intellektuelles, mathematisches Konstrukt ist. Dasselbe gilt für Newtons Konzeption der absoluten Zeit. Während die Entdeckung der perspektivisch-relativistischen Raumauffassung in die beginnende Neuzeit fällt, setzte sich die Entdeckung der perspektivisch-relativistischen Zeitauffassung erst Jahrhunderte später, Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts, mit Einsteins spezieller Relativitätstheorie durch. Es läßt sich eine Periode der Relativitätstheorie vor Einstein sowie eine mit und nach ihm unterscheiden. Die erstere reicht bis in die Antike zurück, bis auf Zenons Paradoxien. In späterer Zeit hat Leibniz in Opposition zu Newton und dessen Sprachrohr Clarke in dem berühmten Briefwechsel zwischen ihm und Clarke eine relativistische Theorie vertreten, ebenso Kant im ersten Kapitel der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft mit der Überschrift »Mechanik«. Die zweite Periode wird durch Einsteins spezielle Relativitätstheorie und die nicht ganz ausgereifte allgemeine Relativitätstheorie repräsentiert. Letztere Theorien haben sich bis heute erhalten. Relativistische Betrachtungen von Zeit, Raum und Bewegung sind uns nicht nur aus der Wissenschaft, der relativistischen Mechanik, geläufig, sondern auch aus dem Alltag. Ein häufig angeführtes Beispiel ist die Beobachtung von Zugbewegungen auf dem Bahnhof. Sitzen wir in einem stehenden Zug und setzt sich der auf dem gegenA
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überliegenden Gleis befindliche Zug in Bewegung, so vermögen wir ohne zusätzlichen Vergleich mit dem feststehenden Bahnhofsgebäude oder einem anderen ruhenden Bezugssystem nicht zu entscheiden, ob wir selbst uns bewegen und der andere Zug steht oder dieser fährt und wir stehen. Ebenso erscheinen uns zwei gleichgeschwindig nebeneinander fahrende Züge als ruhend, sofern wir keine weiteren Vergleichsmöglichkeiten haben. Da in einer relativistischen Theorie im Gegensatz zur absoluten kein ein- für allemal feststehender Rahmen gegeben ist, weder die absolute Zeit noch der absolute Raum noch die absolute Bewegung, reduziert sich alles auf relativistische Annahmen. Ihre exakte mathematische Berechnung bereitet keinerlei Schwierigkeiten. Greifen wir hierzu auf ein schon in der Antike diskutiertes Beispiel, die Zenonische Paradoxie vom Stadion, zurück. In einem Stadion befinden sich drei Läuferstaffeln, bestehend aus je vier Gliedern (Läufern), von denen die eine Staffel, A, ruht, die beiden anderen, B und C, sich von deren Mitte aus gleichgeschwindig gegeneinander bewegen. Wenn die Reihe B zwei Glieder der ruhenden Reihe A passiert hat, hat sie vier Glieder der ihr entgegenkommenden Reihe C passiert, so daß sich ein Verhältnis von 2:4 bzw. 1:2 einstellt. Daraus ist zu schließen, daß sie in der Hälfte der Zeit pausiert haben muß, da sie in bezug auf die ruhende Reihe nur zwei Glieder passierte, während sie in bezug auf die ihr gleichgeschwindig entgegenkommende vier passierte. Das Paradox lautet also, daß die halbe Zeit gleich der ganzen sei. Bei relativistischer Auffassung jedoch läßt es sich leicht auflösen, indem das jeweilige Bezugssystem berücksichtigt wird. Aus diesem Beispiel lassen sich folgende Konsequenzen ziehen: 1. Die Zeit kann nicht mehr als einheitliches Maß betrachtet werden. Gleiches gilt für den Raum, da man auch argumentieren kann, daß zwei Raumeinheiten vier Raumeinheiten entsprechen. 2. Die Zeit stellt insbesondere keine einheitliche Form bzw. kein absolutes Medium mehr dar. Die Einheit der Zeit ist ebenso zu suspendieren wie die Einheit des Raumes. 3. Die Voraussetzung jedes Urteils bildet der Bezug auf das jeweilige System, sei es das ruhende oder das gleichförmig bewegte. In der relativistischen Mechanik vor Einstein, etwa bei Kant in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft, findet man die Verhältnisse zwischen einem ruhenden Gegenstand und einem ihm entgegenkommenden bewegten oder zwischen zwei ge190
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geneinander mit gleicher oder unterschiedlicher Geschwindigkeit bewegten Gegenständen diskutiert. Allgemein nennt man den Vergleich und die Überführung verschiedener, relativ zueinander sich verhaltender, jedoch gleichförmig bewegter Bezugssysteme GalileiTransformation. In der Einsteinschen speziellen Relativitätstheorie kommen Lorentz-Transformationen hinzu, die die Lichtausbreitungen berücksichtigen. In der speziellen Relativitätstheorie Einsteins spielen vor allem die nicht ohne eine bestimmte Raumvorstellung zu denkenden Zeitbestimmungen der ubiquitären Gleichzeitigkeit von Ereignissen, der Sukzession voneinander unabhängiger Ereignisse an einem Ort und der Dauer von Vorgängen eine Rolle. Nimmt Newton in seiner Theorie des absoluten Raumes und der absoluten Zeit, welche mit einem absoluten Koordinatensystem operiert, die Gleichzeitigkeit zweier oder mehrerer Ereignisse auch an weit entfernten Punkten des Weltalls an, die sich auf die Zeitachse zum Zeitpunkt t1, t2, t3 usw. beziehen lassen, und ebenso die Abfolge unabhängiger Ereignisse am selben Ort, die durch feste Zeitdistanzen zwischen t1 und t2, t2 und t3 usw. markiert werden können, so gelten diese Festlegungen in der Relativitätstheorie nicht mehr, ebensowenig wie die stets gleiche Meßbarkeit von Dauer; denn während im vorletzten Fall der Zeitabstand zwischen zwei Ereignissen von einem ruhenden System aus konstant bleibt, verkürzt er sich bei einem System, das sich gegen das zweite Ereignis bewegt, und verlängert sich bei Entfernung von demselben. Je nach Geschwindigkeit des Bezugssystems variiert die Zeit und stellt damit kein einheitliches Maß mehr dar. Ebenso ließe sich die unterstellte Ubiquität aller Ereignisse im Weltraum nur dann ausmachen, wenn sich ein System mit unendlicher Geschwindigkeit durch alle Punkte hindurch vom nächsten bis zum entferntesten bewegte, nicht aber bei einem System mit endlicher Geschwindigkeit, wie es die Lichtbewegung ist. In diesem Fall passiert es die angeblich gleichzeitigen Ereignisse im Nacheinander entsprechend den räumlichen Entfernungen und entsprechend der Geschwindigkeit des Bezugssystems. Gleichzeitigkeit, Indiz einer Raumhaftigkeit, eines Nebeneinanders der Entitäten, löst sich auf in Sukzession. Und ebenso ist die Dauer eines Vorgangs abhängig von der Ruhe oder Bewegung des Systems, derart, daß bei einer längeren Strecke bzw. einem größeren Zeitintervall, aber bei gleicher Lichtgeschwindigkeit, die bewegte messende Uhr langsamer geht als die ihr synchrone ruhende
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Uhr (Zeitdilatation). 41 Zur Illustration der vorliegenden Fälle seien folgende Beispiele herangezogen: 1. Was die Infragestellung der Gleichzeitigkeit von Ereignissen betrifft, so stelle man sich einen Zugwaggon vor, der sich geradlinig mit konstanter Geschwindigkeit in eine bestimmte Richtung bewegt. Er werde von zwei Beobachtern, einem in der Mitte des Waggons und einem am Bahndamm, beobachtet (I). Sobald sich beide Beobachter auf gleicher Höhe befinden, werde von der Mitte des Wagens ein Lichtblitz ausgesandt. Für den Beobachter im Zug trifft dieser gleichzeitig an der vorderen wie an der rückwärtigen Wand des Wagens ein, da sie gleichweit entfernt sind. Die Ereignisse E1 und E2, d. h. das Eintreffen des Lichtblitzes an der Vorder- und das an der Rückwand sind relativ zum Beobachter gleichzeitig (II). Für den Beobachter am Bahndamm hingegen, für den die Vorderwand des Zugwaggons dem Lichtstrahl vorauseilt, die Rückwand ihm entgegenkommt und daher vom Lichtstrahl früher getroffen wird als die Vorderwand, sind die Ereignisse nicht gleichzeitig, sondern differieren (III). 2. Bezüglich der Sukzession von Ereignissen am selben Ort, die nicht kausal miteinander verbunden sind, läßt sich ähnliches beobachten. Für einen ruhenden Beobachter haben die beiden Ereignisse E1 und E2 einen konstanten Zeitabstand, für einen bewegten Beobachter hingegen, der sich in Richtung auf E1 und weg von E2 bewegt, verkürzt sich das Zeitintervall. 3. Daß auch die Dauer eines Vorgangs vom Bezugssystem abhängt, läßt sich wiederum einsehen an einem Zugwaggon, in dessen Mitte ein Lichtblitz ausgesandt wird, der sich zur Decke des Waggons bewegt, dort reflektiert wird und zur Glühbirne zurückkehrt. Für einen Beobachter im Zug, also im Ruhesystem, bewegt sich der Lichtstrahl geradlinig von unten nach oben und zurück und durchläuft die Strecke: Glühbirne – Decke – Glühbirne im doppelten ZeitDie relativistische Zeittheorie hat zu den vielfältigsten und kühnsten Spekulationen Anlaß gegeben, u. a. zu dem Paradox, das als Zeitreise diskutiert wird. Von einem Zwillingspaar bleibt der eine auf der Erde, während der andere mit einer schnellen Rakete mit Lichtgeschwindigkeit ins All geschossen wird und nach einiger Zeit zurückkehrt. Obwohl beide synchrone Uhren bei sich tragen, ist der Zurückkehrende weniger gealtert als sein Zwillingsbruder auf der Erde. Die Zeit hat sich bei ihm verlangsamt. Vgl. Ch. Ray: Time, Space and Philosophy, London, New York 1991, S. 151–175, Kap. 8 »Time Travel«; P. Horwich: Asymmetries in Time. Problems in the Philosophy of Science, Cambridge (Mass.), London 1987, 2. Aufl. 1988, S. 111–128 (»Time Travel«); W. H. Newton-Smith: The Structure of Time, London, Boston, Henley 1980, S. 187–195 (»The Twins Paradox«).
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Lichtblitz
abstand zwischen den Ereignissen E1 (Absendung des Blitzes) und E2 (Ankunft des Blitzes an der Decke). Für einen außenstehenden Beobachter, nämlich jenen am Bahndamm, läuft der Lichtstrahl wegen der Bewegung des Zuges schräg zur Bewegungsrichtung von unten nach oben und nach der Reflexion wiederum schräg zurück zur Glühbirne. Im Unterschied zum vorangehenden Fall finden die Ereignisse E1 und E2 nicht an derselben, sondern an verschiedenen räumlichen Stellen statt. Das Licht legt zudem eine längere Strecke zurück, braucht also mehr Zeit, d. h. eine Uhr im System S1 mißt ein größeres Zeitintervall zwischen den Ereignissen E1 und E2 als eine synchrone Uhr im System S2, da die Lichtgeschwindigkeit gleichbleibt. Das aber bedeutet, daß bei einem Vergleich der Uhren die in bezug auf S1 bewegte Uhr langsamer geht als die in S2 ruhende (Zeitdilatation). 42 Ähnliche Überlegungen, wie sie hier für den Zeitbegriff ange42
Beispiel 1 und 3 wurden der Darstellung von H. Lichtenegger: Raumzeit, in: W. R. A
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stellt wurden, lassen sich auch für den Raum, die Messung von Orten und Abständen (Längen) mittels Lichtsignalen durchführen. Die Längen bestimmen sich ebenfalls nach der Geschwindigkeit des Bezugssystems. Aus diesen Betrachtungen ergeben sich folgende Gesetzmäßigkeiten: 1. Das Bestehen von Gleichzeitigkeit zwischen raumartigen Ereignissen ist abhängig vom verwendeten Bezugssystem. 2. Die zeitliche Reihenfolge raumartiger Ereignisse, d. h. solcher, die nicht durch Kausalität in Verbindung stehen, ist abhängig vom verwendeten Bezugssystem. 3. Die Einheit der Zeit, die objektive Anordnung aller Ereignisse in einem einheitlichen System, geht wegen der Abhängigkeit der Simultaneität und der Sukzession raumartiger Ereignisse vom subjektiven Bewußtsein verloren. 43 Was ist das Innovative an Einsteins Analysen? Während die klassische Physik, sowohl die nicht-relativistische wie die relativistische, den Meßinstrumenten keinerlei Beachtung schenkte und glaubte, diese ignorieren zu können, finden bei Einstein neben dem Betrachter die verwendeten Meßinstrumente Beachtung. Ihnen gilt sein besonderes Augenmerk. Mit der Erkenntnis, daß die Meßinstrumente Einfluß auf die Meßresultate haben und folglich in die Formulierung der Theorie und deren Gesetze mit eingehen, hat Einstein den Grund für die moderne Physik gelegt. Bei ihm war es insbesondere die Berücksichtigung der Endlichkeit des Lichts mit dessen konstanter Geschwindigkeit von 300.000 km pro Sekunde, die in seine Theorie Eingang fand und zur Relativierung der Zeitbestimmungen, der Gleichzeitigkeit, Sukzessivität und Dauer, führte. Daß er eine bestimmte Topologie und Metrik zugrunde legte, nicht mehr den euklidischen Raum, sondern die Riemannsche Geometrie und die Minkowskischen Weltlinien, ist zwar nicht ohne Relevanz, aber in diesem Kontext zweitrangig. Während die spezielle Relativitätstheorie die Relativität gleichförmiger Bewegung thematisiert, geht die allgemeine Relativitätstheorie darüber hinaus, indem sie den Versuch unternimmt, das Problem der Relativität beschleunigter Bewegung zu klären, bei der Baier und F. M. Wuketits (Hrsg.): Zeit-Zauber. Reflexionen über die Zeit zur Jahrtausendwende, Graz 2001, S. 120–134, bes. 124–126, entnommen. 43 Vgl. P. Mittelstaedt: Philosophische Probleme der modernen Physik, a. a. O., S. 42; vgl. auch dessen Ausführungen zur speziellen Relativitätstheorie, a. a. O., S. 16–44.
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Kräfte und bestimmte Materiekonstellationen im Weltall eine Rolle spielen. Versuchen wir eine Charakteristik des relativistischen Zeit- und Raumkontinuums gegenüber der absoluten Zeit und dem absoluten Raum der klassischen Physik: 1. Die eine wie die andere Konzeption ist zunächst eine formal mögliche, rein abstrakte, auch wenn Einstein auf der Realisierung und dem Zusammenfall von Chronometrie und Geometrie mit der Physik insistierte und keine unrealisierbaren Definitionen zulassen wollte. Das bedeutet, daß Zeit und Raum auch aus relativistischer Sicht zunächst als formale mathematische Konstrukte mit interner Stringenz zu behandeln und zu diskutieren sind, bevor ihre Applikabilität auf die Empirie nachgewiesen werden kann. 44 2. Von den Eigenschaften der Linearzeit, Homogenität, Kontinuität und Unendlichkeit, wird man die Eigenschaft der Homogenität bei einer relativistischen Zeitkonzeption aufgeben müssen, da sich die Zeit in dieser verkürzt oder verlängt entsprechend dem Bezugssystem. Von einem relativistischen Zeit- und Raumkontinuum hingegen wird man weiterhin sprechen dürfen, sofern die Verzerrungen, Verkürzungen und Längungen graduell vor sich gehen, also kontinuierlich und nicht sporadisch oder in diskreten Sprüngen. Die Frage der Unendlichkeit oder Endlichkeit läßt sich nur entscheiden in bezug auf die Materiekonstellation, also bei Berücksichtigung der empirischen Bedingungen. 3. Aufzugeben sind gewisse Zeitbestimmungen wie die Idee der ubiquitären Gleichzeitigkeit von Ereignissen, die Vorstellung einer konstanten Sukzession voneinander unabhängiger Ereignisse sowie die gleichartige Meßbarkeit der Dauer. 4. Obwohl des öfteren behauptet wird, so etwa von Hermann Minkowski 45 , zumindest in leicht mißverständlichen Äußerungen, Daß im formal-mathematischen Sinne die eigenwilligsten und phantastischsten Zeittheorien entworfen werden, belegt das Konzept von Kurt Gödel, der zeitartige Weltlinien annimmt, auf denen z. B. ein Astronaut sich von der Erde wegbewegt und dann auf einem kontinuierlichen Flug zum räumlichen und zeitlichen Ausgangspunkt zurückkehrt und so dieselbe Weltlinie unendlich oft durchläuft. Vgl. C. F. von Weizsäcker: Aufbau der Physik, a. a. O., S. 160 f. 45 H. Minkowski: Raum und Zeit (1908), in: H. A. Lorentz, A. Einstein, H. Minkowski: Das Relativitätsprinzip. Eine Sammlung von Abhandlungen, 6. Aufl. Darmstadt 1958, S. 54–66, S. 54, 57, spricht davon, daß der Raum für sich und die Zeit für sich zu Schatten herabsinken und nur noch ihre Union Selbständigkeit bewahrt. Damit ist das vierdimensionale Raum-Zeitkontinuum gemeint. 44
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daß in der speziellen Relativitätstheorie die Differenz von Zeit und Raum entfalle, bleibt der Unterschied zwischen ihnen bestehen. Die Differenz in der Zeitfolge könnte nur bei unendlicher Lichtgeschwindigkeit, c = 8, in räumliche Simultaneität übergehen. Das bedeutet, daß die Einteilung der Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft prinzipiell erhalten bleibt und nur die Verhältnisse entsprechend dem jeweiligen Bezugssystem modifiziert werden. 5. Die Relativitätstheorie führt zu einer Unterscheidung, welche die nicht-relativistische Mechanik so nicht kannte. Sie unterscheidet in der Aufeinanderfolge von Ereignissen solche von raumartigem und solche von zeitartigem Charakter. Der Unterschied besteht darin, daß die Aufeinanderfolge raumartiger Ereignisse vom Bezugssystem abhängt, die Aufeinanderfolge zeitartiger nicht, sondern in allen Systemen gleichbleibt. Da die letztere durch Kausalität erklärt werden kann, besteht hier die Reihenfolge unabhängig vom Bezugssystem. Die spezielle Relativitätstheorie benutzt zur schematischen Darstellung dieser Verhältnisse ein Raum-Zeit-Diagramm, das einen Lichtkegel verwendet, der die Lichtausbreitung wiedergibt:
In dieser Zeichnung wird – vorausgesetzt eine geeignete Wahl der Einheiten, und zwar eine Sekunde für die Zeit, 300.000 km für die 196
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Länge – die Lichtausbreitung durch Geraden repräsentiert, die um 45o gegen die ct-Achse geneigt sind und einen Kegelmantel bilden. Langsamer als das Licht bewegte Gegenstände liegen innerhalb des Lichtkegels, schnellere, falls es solche gibt, außerhalb. Ruhende Gegenstände werden durch zur ct-Achse parallele Geraden dargestellt. Zeitartige, durch einen Kausalnexus verbundene Ereignisse sind solche innerhalb des Lichtkegels, raumartige, nicht kausal verbundene solche außerhalb desselben; denn offensichtlich kann ein Ereignis in x1, t1 seinen Einfluß nur auf Ereignisse im oberen Teil des Lichtkegels, im sogenannten Vorwärtskegel, geltend machen, ebenso nur durch Ereignisse im Rückwärtskegel, dem unteren Teil des Lichtkegels, beeinflußt sein, da für die Beeinflussung außerhalb dieses Bereichs Überlichtgeschwindigkeit notwendig wäre. Zugleich belehrt dieses Schema darüber, wie die aus der klassischen Physik bekannte Einteilung der Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sinngemäß auf die neuen Verhältnisse übertragen werden kann. Während in der klassischen Physik zur Gegenwart nur die auf der x-Achse liegenden Punkte zählen, nimmt die Gegenwart im jetzigen Diagramm das gesamte vom Lichtkegel ausgegrenzte Gebiet ein, das raumartig jeden Gegenwartspunkt wiedergibt. Es enthält alle raumartig zueinander gelegenen Gegenwartspunkte. Was die zeitartigen, also kausal verbundenen Ereignisse betrifft, so besteht für ein gegenwärtiges Ereignis im Weltpunkt x1, t1 die Zukunft aus allen Ereignissen, die kausal von ihm beeinflußt werden können und im Diagramm im oberen Kegelteil liegen, während die Vergangenheit aus allen Ereignissen besteht, die das Ereignis E kausal beeinflußt haben (unterer Lichtkegel), und die Gegenwart aus allen Ereignissen, die auf E keinen Einfluß haben, noch E auf sie. Für diese Ereignisse gilt die Aufspaltung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft für alle Beobachtersysteme weiterhin eindeutig und gleich, nicht jedoch für die raumartigen. 46
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Wie der Übergang von der wenig strukturierten Erlebniszeit und ihrer relativen Dauer zur strukturierteren, zielgerichteten HandVgl. P. Mittelstaedt: Philosophische Probleme der modernen Physik, a. a. O., S. 28 ff.; H. Lichtenegger: Raum und Zeit, a. a. O., bes. S. 127–129.
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lungszeit mit einer Weiterbestimmung verbunden war, so ist auch der Übergang von der handlungsorientierten, gestalthaften Zeit zur logisch-mathematischen mit einer Weiterbestimmung verbunden. Wir konstatieren damit einen Stufenbau, bestehend aus einer ursprünglichen Schicht, der nicht meßbaren, nicht quantifizierbaren Dauer als Grundlage aller anderen Zeitformationen, auf der die Handlungszeit aufbaut, in deren Zentrum das Handlungssubjekt und seine Gegenwart mit der internen zielgerichteten Handlung steht, woran sich die durch Homogenisierung und unendlichfache Iteration derselben hervorgehende logisch-mathematische Linearzeit mit ihrem Früher und Später und ihrer Gleichzeitigkeit anschließt. Modifiziert gelten das Früher und Später sowie die Gleichzeitigkeit auch für die relativistische Theorie. Diese vielfachen Stufungen und Verhältnisse werden sprachlich auf die verschiedenste Weise expliziert. Der Kompliziertheit des zeitlichen Aufbaus entspricht ein nicht minder kompliziertes Ausdruckssystem. Im Indogermanischen übernimmt diese Aufgabe vorzüglich das Verb, das sogenannte Tätigkeitswort, manchmal auch »Vorgangsausdruck« 47 genannt, sowohl mit seinen genuinen Formen, wie sie vorliegen in lateinisch ambulo = ›ich gehe‹, ambulabam = ›ich ging‹, ambulabo = ›ich werde gehen‹, wie mit seinen periphrastischen Formen: deutsch ›ich werde gehen‹, ›der Baum ist, war, wird grün sein‹. Es herrscht die Meinung vor, daß sich das Tätigkeits- bzw. Vorgangswort naturgemäß besonders zur Wiedergabe zeitlicher Verhältnisse eigne, indem es entweder einen zeitlich erstreckten Vorgang oder einen eingetretenen Zustand bezeichnet oder auch einen Wechsel, einen Übergang von einem Zustand zu einem anderen, also das Ergreifen eines neuen Zustands und das Verlassen des alten, zum Ausdruck bringt. Allerdings fungieren in anderen Idiomen, besonders in den Indiosprachen, nicht nur Verben zur Zeitbestimmung, sondern auch Nomina (Substantive, Pronomen, Adverbien), die dann dieselben Tempusaffixe erhalten wie die Verben. Im Athapaskischen 48 heißt auwti-neen = ›ich pflegte es zu tun‹, mit dem gleichen Präteritumaffix -neen kann man aber auch sagen: xo¯ût-neen = ›ein gewesenes H. Jensen: Der sprachliche Ausdruck für Zeitauffassungen, insbesondere am Verbum, a. a. O., S. 291. 48 Vgl. F. Boas: Handbook of American Indian Languages, Washington 1911, reprint London 1997, Bd. 1, S. 110, S. 122. 47
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Weib‹ ; im Odzibwe 49 heißt k-os-ina¯n = ›unser Vater‹, k-osina¯-ban = ›unser vergangener (gestorbener) Vater‹ ; im südamerikanischen Guayaki 50 bedeutet cho pacho-ve = ›ich schlug‹, tapive = ›die gewesene (zerstörte) Hütte‹, cho pacho-ra = ›ich werde schlagen‹, tapí-ra = ›die später seiende (noch unfertige) Hütte‹. Ein solcher Gebrauch begegnet vor allem in Sprachen, die den strikten Unterschied von Nominal- und Verbalstamm, den die europäischen Sprachen ausgebildet haben, nicht kennen. In den europäischen Sprachen dient das Substantiv zur Artikulation eines bleibenden Substrats, das Handlungen vollzieht oder an dem die aus solchen hervorgehenden wechselnden Zustände auftreten, welche von den Verben artikuliert werden. Diese Fixierung fehlt weitgehend in anderen Idiomen. Allerdings begegnen auch bei uns vereinzelt erstarrte Formen, in denen das zeitliche Moment in Form eines Adjektivs ausgedrückt wird, z. B. ›der zukünftige Institutsleiter‹, ›der gewesene Präsident‹ usw. Zu beachten ist ferner ein historischer Wandel in der Zeitauffassung und ihren Explikationsformen, der im wesentlichen dem obigen morphologischen Stufenbau entspricht. Ohne Berücksichtigung dieses Wandels wären viele der heutigen Formen in der indogermanischen Sprachfamilie nicht verständlich. Seitdem der berühmte indogermanische Sprachforscher Wilhelm Streitberg in seinem Aufsatz Perfective und imperfective Actionsart im Germanischen (1891) 51 die These vertrat, daß das Indogermanische ursprünglich keine Tempora gekannt habe, diese vielmehr einer späteren Entwicklungsphase angehörten, ist diese These zum Allgemeingut der indogermanischen Sprachforscher geworden. Dafür spricht, daß das Präsens noch heute – nach Ausbildung der Tempora – zwei Bedeutungen aufweist: zum einen die einer präsentischen Allgegenwart oder Zeitlosigkeit, zum anderen die einer momentanen, augenblicklichen GeVgl. C. C. Uhlenbeck: Grammatische onderscheidingen in het Algonkisch, voornamelijk gedemonstreerd aan het Otchipwe-Dialect, in: Verslagen en mededeelingen der Koninklijke Akademie, 4. Reihe, 10. Teil, Amsterdam 1911, S. 20–39, bes. S. 25; J. P. B. de Josselin de Jong: Original Odz.ibwe Texts, in: Baessler Archiv, Beiheft 5, Leipzig, Berlin 1913, S. 51. 50 Vgl. F. C. Mayntzhusen: Die Sprache der Guayaki, in: Zeitschrift für EingeborenenSprachen, a. a. O., bes. S. 12 ff.; vgl. H. Jensen: Der sprachliche Ausdruck für Zeitauffassungen, insbesondere am Verbum, a. a. O. S. 291 f. 51 W. Streitberg: Perfective und imperfective Actionsart im Germanischen, a. a. O., bes. S. 117. 49
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genwart. Verdeutlichen läßt sich dies an dem Beispiel: ›Der Vogel fliegt‹, ›Der Fisch schwimmt‹. Zum einen ist damit eine allgemeine Wesensbestimmung gemeint, die für sämtliche Individuen der betreffenden Art gilt: Alle Vögel fliegen, d. h. der Vogel ist ein Flugtier; alle Fische schwimmen, d. h. der Fisch ist ein Schwimmtier. Zum anderen ist eine präsentische Aussage von der Art ›Der Vogel da fliegt (und sitzt nicht auf dem Zweig)‹, ›Der Fisch dort schwimmt (und liegt nicht regungslos am Boden des Gewässers)‹ gemeint. Das Englische pflegt die Differenz durch die Konstruktion ›The bird is flying‹ – ›The bird flies‹ zum Ausdruck zu bringen. Die Bedeutung der präsentischen Allgegenwart liegt besonders in Aussagen über Wesensbestimmungen, ewige Wahrheiten und göttliche Attribute vor, selbst wenn das Verb oder Hilfsverb fehlt, z. B. ›Gott ist groß‹, ›Gott ist allmächtig‹, ›Allah akbar‹, ›Omnia praeclara rara‹. Auch das Präsens registrativum oder »registrierende Präsens« 52 , das in historischen Kontexten zur Datierung und Registratur historischer Sachverhalte dient, die jedoch, des eigentlich Historischen entkleidet, einen zeitüberdauernden Charakter haben, geht in die Richtung einer Wesensbestimmung, z. B. ›Cäsar wird 44 v. Chr. ermordet‹, ›70: Jerusalem wird zerstört‹, ›Das Mittelalter setzt die Tradition der Antike fort‹. Es handelt sich hier um Konstatierungen, die für alle Zeit gelten und damit gewissermaßen etwas Zeitloses ausdrücken, wofür ihre oft tabellarische Darstellung spricht. Die ursprüngliche Tempuslosigkeit gilt nicht nur für die Präsensklassen, sondern auch für die später zu Aoristen und Perfekta entwickelten Klassen, die mit einer Fülle von Aktionsarten und Aspekten charakterisiert werden, zu denen auch zeitliche und modale gehören. Aus ihnen haben sich sprachgeschichtlich, sicherlich nicht geradlinig, sondern über gravierende Änderungen der Denkhaltung, die späteren Tempora entwickelt. Diese Zeitsphären- und Zeitstufenbeschreibungen 53 treten immer mehr in den Vordergrund, während die älteren Aktionsarten in gleichem Maße absinken. Nicht alle Filiationen des Indogermanischen haben diese Entwicklung gleich stark mitgemacht, z. B. nicht das Slawische, das nur spärlich Tempora ausH. Jensen: Der sprachliche Ausdruck für Zeitauffassungen, insbesondere am Verbum, a. a. O., S. 335. 53 Gemeint sind mit diesen die absoluten (modalen) Zeitformen: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft und innerhalb ihrer die lagezeitlichen Verhältnisse der Vorgängigkeit, Nachfolgendheit und Gleichzeitigkeit. 52
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gebildet und im wesentlichen an Aktionsarten und Aspekten festgehalten hat, oder das Altarmenische, in dem Zeitstufen völlig fehlen. 54 Die Temporaentwicklung vorangetrieben und ausgebaut zu haben, ist das Verdienst der griechischen und lateinischen Grammatik. Nachweisen läßt sich der Hervorgang der Tempora aus Aktionsarten daran, daß die Trennung nicht überall scharf vollzogen wurde. Im Perfekt, einem Tempus der Vergangenheit, schwingt noch heute ein aktionsartiger Zug der Vollendetheit mit (›ich habe getrunken‹), während das Imperfekt, eine andere Vergangenheitsform, auf einen unvollendeten Vollzug deutet (›ich trank‹). Solche aktionsartigen Vorstellungen begleiten auch das sogenannte Präteritopräsens, das aus einem vollendeten Vorgang der Vergangenheit als Ergebnis hervorgegangen ist, sprachlich ausgedrückt, aus einem Perfekt, und nun eine in der Gegenwart andauernde Zuständlichkeit beschreibt. Hierher gehört z. B. das griechische Verb oda = ›ich habe gesehen und nun weiß ich‹. Dasselbe gilt für ›ich habe erworben und nun besitze ich‹, ›ich habe Furcht bekommen und nun fürchte ich‹, nik = ›ich habe gesiegt und bin nun Sieger‹. Jensen stuft diese Form nicht als reines Tempus ein, weil der in der Vergangenheit geschehene Vorgang in der Gegenwart andauert und damit etwas Aktionsartiges ins Spiel bringt. 55 Modale Aktionsunterschiede leben weiter in Temporakonstruktionen von der Art ›Gestern waren viele Menschen am Strand (ich war auch da)‹ – ›Gestern sind viele Menschen am Strand gewesen (ich war nicht dabei)‹. Obwohl hier ein Inferentialis, ein Modus der Berichterstattung, fehlt, wie er in etlichen Sprachen vorkommt, wird hier ein Vorgang von einem Sprecher berichtet. Während die erste Konstruktion impliziert, daß der Sprecher selbst anwesend war, drückt die zweite aus, daß er selbst nicht dabei war. 56 Alle diese Belege dokumentieren, daß wir es auch im entwikkelten Stadium der Zeitformen meist nicht mit ganz reinen Tempora zu tun haben, sondern mit solchen, die Relikte ihres aktionsartigen Ursprungs bewahren. Der morphologische Aufbau des Zeitsystems aus den drei Zeittypen, der Erlebniszeit, der Handlungszeit und der mentalen Zeit Vgl. H. Jensen: Der sprachliche Ausdruck für Zeitauffassungen, insbesondere am Verbum, a. a. O., S. 323. 55 Vgl. a. a. O., S. 318. 56 Vgl. a. a. O., S. 321 f. 54
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sowie den ihnen entsprechenden sprachlichen Formen läßt sich auf folgende Weise vergegenwärtigen, wobei ich mich bei der Darstellung der beiden letzteren Zeitarten an die Vorarbeiten von Otto Jespersen 57 und Hans Jensen 58 anschließe. Zur Erläuterung: Die vertikale Reihe zeigt die Zeittypen an: Erlebniszeit, Handlungszeit, mentale Zeit, die horizontalen Reihen geben die verschiedenen Zeitformen wieder. Dabei sind grundsätzlich die absoluten Zeitsphären und die relativen Zeitstufen zu unterscheiden. Handelt es sich bei den ersteren um Zeitverhältnisse in bezug auf den Sprecher (Subjekt), um das, was von diesem aus als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erscheint, so bei den letzteren um Zeitverhältnisse in bezug auf einen anderen Vorgang, um Vorgängigkeit, Gleichzeitigkeit und Nachfolgendheit. Dabei gehen die relativen Zeitverhältnisse durch die absoluten hindurch. Die mit einem Sternchen* versehenen Zeitstufenfunktionen werden nur der systematischen Vollständigkeit halber aufgeführt, da es sich bei ihnen um eine Beziehung auf einen der Gegenwart des Sprechers angehörenden Vorgang handelt; Zeitstufe und Zeitsphäre fallen hier also zusammen. Der Name ›Tempora‹ ist für die sprachlichen Formen reserviert. Da, wie schon erwähnt, die griechische und lateinische Grammatik mit ihren Temporalformen dieses System am weitesten ausgearbeitet haben, wird auf sie als Grundlage der Erörterung immer wieder zurückzukommen sein. 1. Die innerhalb der Zeitsphären auftretende Gegenwart kann grundsätzlich in zweierlei Sinne interpretiert werden, zum einen im abstrakt mathematischen Sinne, zum anderen im konkret realistischen. Dem ersten zufolge stellt sie den Übergang von der Vergangenheit zur Zukunft dar. Während Vergangenheit und Zukunft sich ins Unendliche erstrecken, bildet die Gegenwart als Übergang von der einen zur anderen die Grenze und reduziert sich damit auf den nulldimensionalen, nichtigen Augenblick. Punktualistisch oder mengentheoretisch interpretiert, würde eine aus lauter Momenten (Jetzten) bestehende Zeit – denn jede indizierbare Gegenwart ist ein Jetzt – aus lauter Nichts bestehen. Von Aristoteles 59 bis zu den prominenO. Jespersen: The Philosophy of Grammar, London 1924, repr. 1968 (wiederholte Aufl.), S. 254 ff. 58 H. Jensen: Der sprachliche Ausdruck für Zeitauffassung, insbesondere am Verbum, a. a. O., S. 310 ff. 59 Aristoteles: Physik, 4. Buch, Kap. 10. 57
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Dauer
Dauer
Vorzeitigkeit zur Vergangenheit
Antepräteritum
relative Zeitformen = Zeitstufen
Tempora
mentale Zeitabsolute Zeitformen = Zeitsphären
Präteritum Perfekt Plusquamperfekt Postpräteritum
Präsens
Antefuturum
Futur
* 2. Nachzeitigkeit zur Gegenwart
* 2. Vorzeitigkeit zur Gegenwart
Zukunft
1. Gleichzeitigkeit zur Zukunft
Gegenwart
Dauer
1. GleichzeiNachzeitigkeit * Gleichzeitig- Vorzeitigkeit tigkeit zur zur Vergankeit zur Gezur Zukunft Vergangenheit genheit genwart
Vergangenheit
Handlungszeit Aktionsarten: durativ, ingressiv, progressiv, iterativ, inchoativ usw.
Erlebniszeit
Zeitformen
Postfuturum
Nachzeitigkeit zur Zukunft
Tempora
Zeit
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ten Kritikern Bergson, Merleau-Ponty, Heidegger u. a. spukt dieses Punktekontinuum in den Köpfen der Philosophen. Die realistischere Deutung ist die von William Stern 60 und in dessen Nachfolge von Husserl 61 gegebene Interpretation der Gegenwart als Präsenzzeit, die nach experimentellen Untersuchungen ½ bis 4 Sekunden dauern kann, je nach individueller Aufmerksamkeit 62 , und aus Urimpression, Retention, Retention der Retention usw. sowie Protention, Protention der Protention usw., kurzum, aus Urimpression und einem Schweif von Retentionen und Protentionen erklärt wird. Unserem Alltagsbewußtsein dürfte diese Interpretation einer Präsenzzeit entgegenkommen, da hier die Gegenwart der Vergangenheit und der Zukunft ebenbürtig ist, wenn nicht gar vorgeordnet, was sich daraus erklärt, daß Vergangenheit und Zukunft nur in bezug auf die Gegenwart der jeweils urteilenden Person bestimmt werden können. Diese Auszeichnung der Präsenz des Subjekts dürfte nicht nur damit zusammenhängen, daß in der europäischen Tradition ein Primat der Subjektivität vor der Objektivität besteht und alle Erkenntnis auf das wahrnehmende und urteilende Subjekt bezogen werden muß, sondern, historisch tiefergehend, damit, daß der archaische Mensch rein präsentisch lebte. Brunner-Traut 63 bemerkt, daß der Betrachter der Frühzeit »jeweils im Binnenraum seiner Gegenwart und nicht über den Ereignissen« steht. Erst im Laufe der Zivilisations- und Kulturgeschichte wurden Vergangenheit und Zukunft erobert, und zwar zunächst die erstere und hier wieder die nähere, dann die fernere, was damit zusammenhängt, daß Herrscher bei Staatenbildungen und Gesellschaftsformationen ihre Autorität und ihren Machtanspruch durch Berufung auf die Vorfahren zu legitimieren versuchten. Auf diese Weise wurde das kleinbogige Denken immer mehr ausgeweitet zum großbogigen. 64 Die Zukunft ist die jüngste aller Zeitsphären, was sich daran W. Stern: Psychische Präsenzzeit, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 13 (1897), S. 325–349. 61 E. Husserl: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1893–1917), (Husserliana, Bd. 10), Haag 1966, S. 20 f. 62 Vgl. A. Gunn: The Problem of Time. An Historical & Critical Study, London 1929, S. 390; vgl. auch H. Jensen: Der sprachliche Ausdruck für Zeitauffassung, insbesondere am Verbum, a. a. O., S. 313 Anm. 1. 63 E. Brunner-Traut: Frühformen des Erkennens. Aspektive im Alten Ägypten, 1990, 3. Aufl. Darmstadt 1996, S. 104. 64 Vgl. a. a. O., S. 99 ff. 60
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zeigt, daß sie aus Wünschen, Hoffnungen, Erwartungen, Befürchtungen hervorgegangen ist und in vielen indoeuropäischen Idiomen nicht durch eigene Formenbildung (wie lateinisch scribam), sondern durch periphrastische Bildungen (deutsch ›ich werde schreiben‹) oder durch den Modus des Optativs (›ich will, wünsche, soll …‹) ausgedrückt oder sogar durch das Präsens ersetzt wird, was ein weiteres Indiz für das Durchschimmern der ursprünglich allgegenwärtigen Gegenwart ist (deutsch ›ich schreibe den Brief‹ statt ›ich werde den Brief schreiben‹). 65 Dieser präsentische Gebrauch ist vielfach in den ältesten indogermanischen Sprachen, im Griechischen und Altindischen, belegt; im Sanskrit soll nach Konjunktionen wie yavat, pura geradezu das Präsens im Sinne des Futurs gebraucht werden. Zum Ausdruck der Vergangenheit (des Präteritums) werden zwei Sprachformen gebraucht, das Perfekt und das Imperfekt, wobei das erstere einen von der Gegenwart aus beurteilten abgeschlossenen Vorgang, etwas Geschehenes, wiedergibt (deutsch ›ich habe gegessen‹) (dieselbe Funktion hat auch der griechische Aorist) und das zweite den Modus der Berichterstattung, der Erzählung anzeigt, der verglichen werden kann oder sogar identisch ist mit dem Modus Inferentialis mancher Sprachen 66 (deutsch ›Zunächst ging er in den Garten, dann trat er in das Haus …‹). Auch hier liegt eine direkte oder indirekte Bezugnahme auf die Gegenwart vor. 2. Die relativen Zeitstufen, die innerhalb einer Komplexion von Vorgängen, mögen sie der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft angehören, deren wechselseitige Verhältnisse der Vorgängigkeit, Gleichzeitigkeit oder Nachfolge ausdrücken, dürften ebenfalls jüngeren Datums sein, da sie der perspektivischen Sicht- und Denkweise angehören. In den Sprachen der Naturvölker fehlen sie fast gänzlich. Am ausgereiftesten begegnen sie in der lateinischen Sprache, und zwar in der der Klassik. Die Reihenfolge der Vorgänge in der Vergangenheit wird durch das Plusquamperfekt geregelt, z. B. ›Er hatte bereits gespeist, als er sich auf den Weg machte‹, ›Er war im Garten gewesen, bevor er in das Haus trat‹. Das Plusquamperfekt drückt die relative Vorgängigkeit zu einem Vorgang in der Vergangenheit aus. Ebenso gibt es ein Tempus, sowohl ein einfaches wie ein umschriebenes, das die relative Vgl. H. Jensen: Der sprachliche Ausdruck für Zeitauffassungen, insbesondere am Verbum, a. a. O., S. 320. 66 Vgl. a. a. O., S. 298, S. 321. 65
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Nachzeitigkeit eines Vorgangs in der Vergangenheit wiedergibt und im Lateinischen durch ein Participium futurum auf -urus gebildet wird, z. B. legati Darii petierunt a Carthaginiensibus auxilia adversus Graeciam cui illaturus bellum Darius erat. Im Französischen steht hierfür das sogenannte Conditional zur Verfügung, dessen Bildungsweise der des Futurs analog ist, z. B. les symptômes précurseurs de la tempête qui renverserait les institutions, se succédaient avec une incroyable rapidité, wo renverserai die Nachzeitigkeit zum Präteritum se succédaient ausdrückt, was im Deutschen meist mit ›sollen‹ wiedergegeben wird, z. B. ›der einmal vernichten sollte‹. 67 Auch für die Verhältnisse der Vorgänge in der Zukunft stehen einfache wie kompliziertere periphrastische Formen zur Verfügung, auch wenn diese im Deutschen oft schwerfällig wirken wie die Aussage: ›Wenn er gegessen haben wird, wird er aufbrechen‹ oder die Prophezeiung ›Ein Kind wird geboren werden, das einmal Thronfolger werden wird‹. Bei Jacques Derrida etwa findet sich die Formel »was ich gewesen sein werde«, die innerhalb des Futurs in die Rubrik der Vorzeitigkeit zur Zukunft fallen würde. 3. Es fällt auf, daß die Ausbildung von Tempora in Gestalt eigener Formen oder von Umschreibungen um so schwerer fällt, je komplizierter die relativen Zeitstufenverhältnisse sind. Ob der Grund dafür in einer Vorliebe vieler Völker zum unmittelbaren Sich-Hineinversetzen in frühere Vorgänge und zum affektiven präsentischen Miterleben und der dadurch bedingten späten oder mangelhaften Ausbildung der Tempora zu sehen ist oder ob umgekehrt der Mangel an verfügbaren Tempora verantwortlich gemacht werden muß für den Zwang, sich unmittelbar in vergangene Prozesse zu versenken, sei dahingestellt. Faktum ist, daß viele Völker Zeitsphärenverschiebungen vornehmen, indem sie bei der Darstellung des Vergangenen in die Präsensform verfallen. Die Zeitsphäre des Hauptvorgangs wird dann als Gegenwart des Sprechers betrachtet, und das, was dem Vorgang zeitlich vorausgeht bzw. folgt, wird absolut, nicht relativ der Vergangenheit oder Zukunft zugeordnet. Jensen beschreibt dies so: »Das Präs.[ens] wird […] als ein (relatives) Tempus der Gleichzeitigkeit, das Praeter.[itum] als ein solches der Vorzeitigkeit, das Fut.[urum] als ein solches der Nachzeitigkeit verwendet.« 68 Als Beispiel führt er einen Satz aus Ludwig Anzen67 68
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Vgl. a. a. O., S. 324 f. A. a. O., S. 324.
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grubers Der Sternsteinhof an: »Die Dirne ging mit bloßem Kopfe, sie wird also den Holzschnitzer nur eine Strecke und nicht allzuweit begleiten.« 69 Aus dem Lettischen stammt das folgende Beispiel: mês ko¯pa staigájám, tad es winu prassíschu, wái jau edis, un winsch man sazzís, ka wél náu; un tad igáján krõga = ›wir gingen miteinander, da werde ich ihn fragen (= fragte ich ihn), ob er schon gegessen habe, und er wird mir sagen (= sagte mir), daß er noch nicht (gegessen habe); und dann gingen wir ins Wirtshaus‹. Trotz des Versuchs, die Sprache den Auslegungsmöglichkeiten von Zeit anzupassen bzw. umgekehrt die Denkmöglichkeiten sprachlich zu artikulieren, ist dies nicht immer und überall gelungen.
L. Anzengruber: Der Sternsteinhof, in: Gesammelte Werke in 10 Bdn., 3. durchgesehene Aufl. Stuttgart 1897, S. 50; vgl. H. Jensen: Der sprachliche Ausdruck für Zeitauffassungen, insbesondere am Verbum., a. a. O., S. 326.
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V. Die suprarationale Zeit – Zeitexplosion und Zeitkontraktion
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Die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert brachte tiefgreifende Revolutionen im Denken mit sich, nicht nur in den Strukturwissenschaften wie der Mathematik und Logik, sondern auch in den angewandten Disziplinen wie der Physik. Dabei dürfte die Einsteinsche spezielle Relativitätstheorie mit der Annahme eines perspektivischrelativistischen Zeitkontinuums noch gar nicht einmal die spektakulärste sein, da sie lediglich für die Zeiterkenntnis aktualisiert, was für den Raum bereits 500 Jahre zuvor durch die Entdeckung der perspektivischen Malerei eingeführt worden war: die Abhängigkeit der Lagen und Distanzen der Gegenstände im Raum vom Standpunkt und Blickwinkel des Betrachters. Diese Entdeckung wurde von Einstein ergänzt um die Abhängigkeit der Zeitbestimmungen, der meßbaren Dauer, der ubiquitären Gleichzeitigkeit und der Sukzession selbständiger, kausal nicht verbundener Ereignisse vom Beobachter und seinem Bezugssystem. Viel gravierender dürfte die Entdeckung der Quantentheorie sein. Da es in dieser Abhandlung nicht darum geht, komplizierte mathematische Formeln aufzustellen und Berechnungen vorzunehmen, also die Quantentheorie in mathematischer Gestalt zu präsentieren, zumal in einer philosophischen Abhandlung jede noch so komplizierte Theorie rückübersetzt werden muß in die allgemeinverständliche Alltagssprache, und es auch nicht darum geht, spezifische, eventuell kontroverse Ausdeutungen und Detailkenntnisse, sei es aus der Geschichte der Quantentheorie, sei es aus der gegenwärtigen Diskussion über ihre Verfassung, vorzutragen, da es vielmehr darum geht, die Grundkonstellation und die daraus zu ziehenden Konsequenzen speziell für die Zeit zu entwickeln, soll dies in größtmöglicher Simplizität auf der Basis der Kopenhagener Deutung der Quantentheorie geschehen. Die Quantentheorie beruht auf der Annahme einer Doppelnatur des Lichts bzw. aller Elementarteilchen wie der Atome, Elektronen 208
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usw., und zwar auf einer Teilchen- bzw. Quanten- und Wellen- bzw. Feldnatur. Materie und deren Wellen sowie die auf Korpuskeln beruhende Strahlung sind für sie das einzig Reale. Beide Naturen lassen sich experimentell nachweisen, die Wellennatur durch Interferenzerscheinungen, die Teilchennatur durch den Lokalisationseffekt in der Nebelkammer. 1 Die Teilchen- oder Quantennatur reduziert das fragliche Objekt auf engsten Raum, d. h. auf den Ort. Zugleich besagt sie, daß sich das Objekt nicht gleichzeitig auch an einem anderen, davon entfernten Ort befinden kann. Die Wellen- oder Feldnatur behauptet das Gegenteil, nämlich daß sich das Objekt aufgrund seines expansiven Charakters durch den Raum hindurch ausbreitet. Beide Bestimmungen sind absolut heterogen und inkompatibel, so daß sich die Frage aufdrängt, wie beide trotz dieser Widersprüchlichkeit und Unvereinbarkeit Bestimmungen desselben Objekts (des Lichts) sein können; denn genau dies wird in der Komplementaritätsannahme unterstellt. Während in der klassischen Physik das physikalische Objekt als ein nach außen gegen seine Umwelt und gegen andere Objekte scharf abgegrenzter und nach innen hinsichtlich seiner Bestimmungen wohldefinierter, d. h. durchgängig und vollständig bestimmter Gegenstand auftritt, ohne daß alle Eigenschaften wahrgenommen und bekannt sein müßten, um zeitliche Veränderungen an ihm berechnen zu können, ist dies in der Quantentheorie nicht mehr der Fall. Die Quantentheorie kann sich derartige Hypostasierungen und Idealisierungen nicht mehr leisten, sondern geht strikt von der Kenntnisnahme, d. h. der Messung der Observablen aus. Der Grund dafür ist darin zu sehen, daß im atomaren Bereich mit seiner gegenüber dem Normalbereich verfeinerten Struktur der empirische Meßprozeß nicht länger mehr vernachlässigt werden kann, wie dies in der klassischen Physik der Fall war. Der Beobachter und das Meßinstrument in ihrer Wechselwirkung mit dem Objekt müssen berücksichtigt werden, was auch schon für Einsteins spezielle Relativitätstheorie galt. Die Quantentheorie ist nur unter Einbeziehung des Meßvorgangs und der darin stattfindenden Wechselbeziehung des Meßapparats mit dem zu messenden Objekt adäquat beschreibbar. Bei diesem Vorgang können früher gewonnene Informationen über das Objekt verlorengehen, da Vgl. C. F. von Weizsäcker: Das Verhältnis der Quantenmechanik zur Philosophie Kants, in: ders.: Zum Weltbild der Physik, Stuttgart 1958, 10. Aufl. 1963, S. 80–117, bes. S. 83.
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jede Messung einen Eingriff in das Objekt, eine Störung seines Zustands bedeutet. Im mikroskopischen Bereich läßt sich nicht mehr ohne weiteres davon ausgehen, daß die früheren Informationen über den Objektzustand sich in Zukunft fortschreiben werden. Dies betrifft vor allem die Eigenschaften von Ort und Impuls. Ist der Ort eines Elektrons bekannt, so besagt dies nach der Teilcheninterpretation, daß sich das Elektron an diesem bestimmten, exakt angebbaren Ort befindet, nach der Welleninterpretation, daß es ein auf engstem Raum zusammengedrängtes Wellenpaket ist. Folgt man dem Impuls (Bewegungsgröße und Bewegungsrichtung), dann muß sich das Elektron nach dem Teilchenbild in einer bestimmten Richtung fortbewegen, nach dem Wellenbild hingegen in allen Richtungen. Der sich hier auftuende Widerspruch wird dadurch vermieden, daß man bei der Ortsbestimmung auf die Angabe des Impulses verzichtet und bei der Impulsbestimmung auf die Angabe des Ortes, da jede neue Messung eine Wechselwirkung mit dem Meßinstrument und damit eine Störung des Objektzustands mit sich bringt. Bei erneuter Ortsbestimmung kann man daher nur prophezeien – physikalisch ausgedrückt: mit statistischer Wahrscheinlichkeit annehmen –, daß sich das Elektron irgendwo in der Nähe befindet, nicht aber genau fixieren, wo. Sein Ort ist um so viel unbestimmt, wie das Wellenbild ausgedehnt ist. Ort und Impuls sind für die Quantentheorie statistisch verteilte Variablen. Dies läßt sich folgendermaßen verdeutlichen: Ist für die Zeit t1 der Ort x1 eines Elektrons bekannt, so besteht über den entsprechenden Impuls p1 Unkenntnis, da dieser keine observable Größe darstellt. Findet man nun ein Teilchen am Ort x2 vor, so wird man nicht mehr mit Gewißheit sagen können, ob das so bestimmte Teilchen mit dem früher gemessenen identisch ist; denn da während des Meßprozesses eine Wechselwirkung mit dem Meßinstrument stattgefunden hat und folglich eine Störung des Systems, ist eine Aussage über den Aufenthalt genau dieses Teilchens zu einem späteren Zeitpunkt t2 nicht mehr zulässig. Aus dieser Sachlage heraus hat Werner Heisenberg seine Unschärferelation formuliert. Sie besagt, daß sich Ort und Impuls nicht gleichzeitig exakt messen lassen. Je genauer die Ortsmessung aufgrund der Wahl einer möglichst kleinen Wellenlänge ausfällt, um so ungenauer wird die Impulsmessung. Und umgekehrt: Je genauer die Impulsmessung aufgrund der Wahl einer möglichst großen Wellenlänge ist, desto ungenauer und unschärfer ist die Ortsmessung. 210
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Die Quantentheorie und ihr Zeitverstndnis
Diese Einsicht führt in einer Reihe von Punkten zu einer Revision der Vorstellungen der klassischen Physik: 1. Zu verzichten ist auf eine vollständige und durchgängige Bestimmung des Objekts, wie sie die klassische Physik kannte. Akzeptiert werden von der Quantentheorie nur Observable, d. h. zu einem Zeitpunkt wirklich beobachtbare und konstatierbare Eigenschaften. Die Quantentheorie reduziert die Natur auf beobachtbare Phänomene, d. h. auf Erscheinungen. Was diese betrifft, so sind Ort und Impuls niemals gleichzeitig exakt angebbar. 2. Verzichtet werden muß ebenfalls auf eine durchgängige Identität des Objekts, deren Grundlage die Annahme eines beharrlichen Substrats mit wechselnden Akzidenzien ist. Dieses auf Aristoteles zurückgehende Substanz-Akzidens-Modell, das für die klassische Physik bestimmend war, taugt für die Quantentheorie nicht mehr. 3. Verzichtet werden muß ferner auf die Anwendung der Kausalkategorie, die einen bestimmten funktionalen Zusammenhang zwischen zwei aufeinanderfolgenden Zuständen eines Objekts in der Zeit artikuliert. Obwohl die Quantentheorie eine Wechselwirkung im Meßprozeß zwischen Meßinstrument und zu messendem Elektron unterstellt und hierauf auch nicht verzichten kann, da sie im Falle einer Anwendung der Unschärferelation auf den Meßprozeß selbst sich ad absurdum führte, kann sie, was das Verhältnis von Ort und Impuls anbelangt, an der Kausalvorstellung nicht länger festhalten. Der Kausalbegriff mit seiner Sukzession wird hinfällig und damit auch die Linearität der Zeit, wie sie durch die einsinnige Abfolge von Ursache und Wirkung geprägt ist. Um diesen Schwierigkeiten zu entgehen, hat man verschiedentlich in der Physik verborgene Parameter angenommen. So entwickelt David Bohm 2 eine Theorie verborgener Parameter, die zusätzlich zu den observablen Bestimmungsstücken verborgene Stücke einführt, die den kausalen Übergang von einem Zustand des Systems zum anderen erklären sollen. Die Theorie bedient sich der Terminologie der klassischen Physik und bleibt damit deren Denk- und Sprechweise verhaftet.
D. Bohm: Hidden Variables in Quantum Theory, in: D. R. Bates: Quantum Theory III: Radiation and High Energy Physics, Academic Press, New York, London 1962, S. 345– 387; vgl. hierzu P. Mittelstaedt: Philosophische Probleme der modernen Physik, a. a. O., bes. S. 157–161.
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Gegen die Annahme verborgener Parameter läßt sich folgendes Argument ins Feld führen. 3 Betrachten wir zwei inkommensurable Größen L und M mit den dazugehörigen Eigenwerten l1, l2… und m1, m2…, des weiteren eine Gesamtheit von Systemen S1, S2, S3… Sn, die sich alle im gleichen Zustand | l > befinden, der zum Eigenwert l der Größe L gehört. Da sich über die M-Messung an diesen Systemen im Einzelfall nichts aussagen läßt, spricht man hier von einer Streuung der Größe M. Sollte diese darauf zurückzuführen sein, daß der Zustand | l > die Gesamtheit der Systeme gar nicht vollständig beschreibt, so ließe dies auf die Existenz eines verborgenen Parameters schließen, der für die einzelnen Systeme differieren könnte, jedoch den Meßwert von M im Einzelfall festlegte. Gelänge es nun, die Gesamtheit der Systeme in Unterklassen zu zerlegen, und zwar solche, die zum Wertebereich des verborgenen Parameters gehören, der den M-Wert eindeutig bestimmt, so schwände die Streuung von M. Eine einfache Methode einer solchen Analyse wäre die, die Gesamtheit der Systeme nach den Werten zu zerlegen, die eine M-Messung tatsächlich ergibt. Da bei dieser Messung aber Wechselprozesse mit dem Meßinstrument stattfinden, gehen die ursprünglich bekannten l-Werte verloren. Keine der neu gewonnenen Unterklassen ist mehr durch einen festen l-Wert charakterisiert, vielmehr streut nun die Größe L. Eine Aufteilung nach den Werten dieser Größe L aber hätte aufgrund der gleichen Überlegung zur Folge, daß dann wiederum M in jeder Unterklasse streute. Wegen der Unschärferelation ist es unmöglich, eine Gesamtheit von Systemen im gleichen Zustand so zu analysieren, daß in den Unterklassen keine der Observablen mehr streut. Streuungsfreie Unterklassen existieren nicht und folglich auch keine verborgenen Parameter. Da der Versuch zur Rettung der klassischen Bearbeitung mittels verborgener Parameter scheitert, sehen wir uns mit folgenden Problemen konfrontiert: 1. der Inkompatibilität von Teilchen- und Wellennatur und ihrer gleichwohl behaupteten Komplementarität, 2. der Irreversibilität des Meßprozesses und dem damit verbundenen Verlust von Informationen über das Objekt beim Übergang von einem Meßresultat zum anderen. Daß trotz der Widersprüchlichkeit der Grundannahme von TeilchenVgl. hierzu P. Mittelstaedt: Philosophische Probleme der modernen Physik, a. a. O., S. 158 f.
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Jorge Luis Borges’ Novelle Der Garten der Pfade, die sich verzweigen
und Wellennatur die Quantentheorie nach einigem Zögern – was für den Akzeptanzprozeß jeder Theorie gilt – allgemein akzeptiert wurde und heute von den Physikern wie selbstverständlich vertreten wird, dürfte damit zusammenhängen, daß nicht nur im Elementarbereich, sondern in der Welt überhaupt seit Beginn der Philosophie zwei Strukturen miteinander konfligieren, die beide unaufhebbar sind, Unbestimmtheit und Bestimmtheit, anaximandrisch ˝peiron und pffra@ (Unendliches und Grenze), platonisch n und ⁄orist@ dÐa@ (Einheit und unbestimmte Zweiheit), gestalttheoretisch Figur und Grund. Da weder die Annahme einer durchgängig identischen Substanz mit vollständiger Zustandsbestimmung noch die Annahme einer Kausalität die Kontinuität der Übergänge zu erklären vermag, ist zu fragen, welche Zeitstruktur zur Erklärung der beschriebenen Phänomene überhaupt in Betracht kommt; denn daß es nicht mehr die homogene, kontinuierliche Linearzeit sein kann, die vergangene Zustände mit zukünftigen vermittelt, dürfte klar sein. Um der Eigenart der Phänomene gerecht zu werden, muß man sich notfalls entschließen, von der Normalzeit Abstand zu nehmen, auch wenn dies den Abschied von einer liebgewonnenen traditionellen Vorstellung bedeutet.
2.
Jorge Luis Borges’ Novelle Der Garten der Pfade, die sich verzweigen
Um die Einführung eines für die quantentheoretische Grundannahme adäquaten Zeittyps zu erleichtern, sei von einer metaphorischen Darstellung ausgegangen, wie sie sich in der Novelle des argentinischen Romanciers Jorge Luis Borges mit dem Titel Der Garten der Pfade, die sich verzweigen 4 findet, die nicht ohne Kenntnis der Quantentheorie geschrieben sein dürfte. In dieser fiktiven, phantastischen Erzählung wird das abgründige Zeitproblem und insbesondere der neue Zeittyp durch das Symbol des Labyrinths der sich verzweigenden Pfade beschrieben, das sich im Gegensatz sowohl zur Linearität der gleichförmigen absoluten Zeit Newtons und Schopenhauers5 versteht wie auch zur zyklischen Zeit, ebenso wie zur redIn: J. L. Borges: Gesammelte Werke, hrsg. von G. Haefs und F. Arnold, Erzählung Erster Teil, München, Wien 1991, wiederholte Auflage 2000, S. 161–173. 5 Vgl. a. a. O., S. 172. 4
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undanten, wie sie in Tausend und eine Nacht auftritt, wo Scheherazade infolge einer magischen Zerstreutheit des Abschreibers die berichtete Geschichte von Tausend und eine Nacht nochmals zu erzählen beginnt, so daß sie Gefahr läuft, wieder bei der Nacht, in der sie erzählt, anzukommen und so immer fort, wobei direkte Erzählung und indirekte Rede ineinanderlaufen. Die Novelle berichtet von einem jungen chinesischen Spion während des Ersten Weltkrieges, der im Auftrag Deutschlands in England arbeitet und einen bestimmten Namen – Albert – an seine Nachrichtenzentrale in Berlin durchgeben soll. Der Name bezeichnet den Ort, an dem die feindlichen britischen Bataillone Stellung bezogen haben. Da der Spionagering aufgeflogen ist und der junge Chinese kurz vor seiner Verhaftung oder Erschießung steht, muß er den in Erfahrung gebrachten Namen so schnell wie möglich kaschiert übermitteln und sieht hierzu keinen anderen Weg als den, im Telefonbuch eine Person namens Albert ausfindig zu machen, diese Person aufzusuchen und zu ermorden, damit am nächsten Tag in der Zeitung von diesem Fall berichtet werde und so der Name von der deutschen Zentrale dechiffriert werden könne. Bei der Person namens Dr. Stephen Albert handelt es sich jedoch um einen gelehrten Sinologen, der einst als Missionar in China tätig war und einen Roman des Urgroßvaters des jungen Chinesen mit dem Titel Der Garten der Pfade, die sich verzweigen bearbeitete und edierte. Jener Urgroßvater Ts’ui Pên, Gouverneur seiner Heimatprovinz, politisch erfahren, künstlerisch hochbegabt, hatte sich von allen Geschäften zurückgezogen, um 13 Jahre lang ein unendliches Labyrinth anzulegen und einen Roman zu schreiben, wobei sich herausstellte, daß beide identisch sind. Der Garten der sich verzweigenden Pfade ist nicht ein räumliches, sondern ein zeitliches Symbol, ein Bild einer sich verästelnden Zeit, wobei jeder Pfad Ausgang weiterer Verzweigungen und Verästelungen ist. Manchmal streben die Pfade des Labyrinths auseinander, manchmal zusammen, manchmal laufen sie parallel. In der Mehrzahl dieser Zeiten existieren bestimmte Menschen wie der junge Chinese und der Sinologe, in anderen nicht, in einigen sind sie sich freund, in anderen feind, was auch auf diese beiden zutrifft. Es ist ein unendliches »schwindelerregendes Netz auseinander- und zueinanderstrebender und paralleler Zeiten«, ein »Webmuster aus Zeiten, die sich einander nähern, sich verzweigen, sich scheiden oder einander jahrhundertelang ignorieren«, ein Web214
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muster, das »alle Möglichkeiten« umfaßt. 6 Während in der gewöhnlichen Zeit ein Mensch angesichts verschiedener Möglichkeiten sich für eine bestimmte entscheiden muß und damit die anderen übergeht, entscheidet er sich in der Labyrinthzeit gleichzeitig für alle, obwohl er auch hier immer nur im Bewußtsein einer Welt lebt; »er erschafft so verschiedene Zukünfte, verschiedene Zeiten, die ebenfalls auswuchern und sich verzweigen« 7 . Der junge Chinese erschießt den Sinologen, obwohl er ihn in der Stunde der Unterredung wie kaum jemanden anders schätzen lernt und ihn mit dem hochverehrten Goethe vergleicht. In der realen Welt und in der realen Zeit wählt er eine Möglichkeit, in der Labyrinthwelt sind jedoch viele Wege und Lösungen möglich: So könnte der Hausherr den Eindringling töten, der Eindringling könnte den Hausherrn töten, beide könnten davonkommen, beide könnten sterben usw. Hier werden sämtliche Lösungen durchgespielt und auch vollzogen. Der Widerspruch zwischen fiktiver Labyrinthzeit und realer Normalzeit – oder handelt es sich bei der Fiktion um die Realität mit umgekehrtem Vorzeichen? 8 – löst sich dadurch, daß der Mensch in beiden Welten lebt, unbewußt in der Labyrinthwelt, bewußtseinsmäßig in der eindimensionalen Welt, in der er auch die Konsequenzen seiner Entscheidung zu tragen hat.
3.
Hugh Everetts Mehr-Welten-Theorie
Daß viele Physiker die wissenschaftliche Nichtmehranwendbarkeit der vulgären Linearzeit verspüren, ohne jedoch geeignete Wege für eine Neukonzeption der Zeit zu sehen, und daher am traditionellen Modell festhalten, geht aus Einsteins Bekenntnis in einem Brief an die Hinterbliebenen seines verstorbenen Jugendfreundes Michele Besso hervor: »Für uns gläubige Physiker hat die Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeutung einer wenn auch hartnäckigen Illusion […].« 9 Die Linearzeit wird allenfalls als subjektive Interpretation einer ontologisch ganz anders A. a. O. A. a. O., S. 170. 8 Vgl. a. a. O. 9 B. Hoffmann: Albert Einstein. Schöpfer und Rebell, unter Mitarbeit von H. Dukas, aus dem Englischen übertragen von J. Zehnder, New York 1972, S. 304. 6 7
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gearteten Situation empfunden. Da Ablehnung nur die eine Seite der Medaille ist, gilt es, die andere, die positive Seite zu eruieren. Wie läßt sich die Zeitstruktur der ontologischen Grundlage der quantentheoretischen Einsicht denken? Einen erwägenswerten Schritt in Richtung einer Klärung hat Hugh Everett 10 mit seiner Mehr-Welten-Theorie unternommen, in der er Wellen- und Teilchennatur zu vermitteln sucht. Zugleich hat er damit einen Beitrag zur Präzisierung des bislang uninterpretierten Komplementaritätsbegriffs geleistet. Everett interpretiert die Welt durch eine unreduzierte Wellenfunktion. Diese gilt ihm als objektive Beschreibung der realen Welt. Wo immer nach der üblichen Interpretation der Quantentheorie eine Messung stattfindet und diese im Resultat zu einer Reduktion des Wellenpakets führt, nimmt Everett alle möglichen Meßresultate gleichzeitig an. Sie sind jedoch nur einem hypothetisch unterstellten Supertheoretiker vom Status eines allwissenden Gottes bekannt, während der gewöhnliche Beobachter wegen der Irreversibilität des Meßprozesses und des damit zusammenhängenden Verlustes der Kenntnis der vorhergehenden Phase die Gesamtheit der Resultate niemals kennt. Für den gewöhnlichen Beobachter verengt sich die Welt auf das jeweils gefundene Meßergebnis und auf das, was daraus folgt. Von den anderen Meßergebnissen in den anderen Zweigen der Gesamtwellenfunktion weiß er nichts und kann er auch nichts wissen. Für ihn existiert nur der ihm zugängliche Zweig der Welt, während sich für den Supertheoretiker die Welt in unendlich viele Zweige spaltet, in so viele koexistente, aber nicht miteinander kommunizierende Welten, wie es mögliche Meßresultate gibt. 11 Daraus leitet sich der Ausdruck »Mehr-Welten-Theorie« her (many-worlds), der heute auch durch die Ausdrücke Alternative-Geschichten-Theorie (alternative histories) 12 und Dekohärenztheorie 13 ersetzt wird. 14 H. Everett: The theory of the universal wave function, in: B. de Witt and N. Graham: The Many Worlds interpretation of quantum mechanics, Princeton, The University Press 1973, S. 1–140. 11 Zum vorigen vgl. C. F. von Weizsäcker: Aufbau der Physik, a. a. O., S. 563 ff. 12 Vgl. B. de Witt: Decoherence Without Complexity and Without an Arrow of Time, in: J. J. Halliwell, J. Pérez-Mercader and W. H. Zorek (Ed.): Physical Origins of Time Asymmetry, Cambridge 1994, S. 221–233, bes. S. 221. 13 Vgl. A. a. O. S. 221. 14 Zu Auseinandersetzungen mit Everetts Theorie vgl. a. a. O.; L. S. Schulman: Time’s arrows and quantum measurement, Cambridge 1997, u. a. S. 64, S. 220, S. 283 ff.; 10
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Hugh Everetts Mehr-Welten-Theorie
Die von Everett vorgeschlagene Lösung rekurriert zum einen auf den Unterschied von Natur an sich – unreduzierter Wellenfunktion – und Erscheinung der Natur – Natur für den menschlichen Beobachter bei der Messung –, zum anderen auf den Unterschied von Supertheoretiker, dem sämtliche Meßresultate rechnerisch zur Verfügung stehen, und gewöhnlichem Beobachter, der nur ein einzelnes konkretes Meßergebnis kennt. Der letztere Unterschied läuft auf die Differenz von unendlichem und endlichem Wissen hinaus. Während die ontologische Ebene, die eigentliche Realität, durch die Gleichzeitigkeit aller Meßresultate definiert ist, durch deren Allpräsenz und stehende Gegenwart, ist der normale Beobachter nach wie vor der normalen Linearzeit unterworfen, ebenso der Irreversibilität des Meßprozesses und dem Verlust früherer Informationen. Vereint man beide Aspekte, so ergibt sich vom Standpunkt des gewöhnlichen Beobachters, der stets der menschliche ist, eine pulsierende Zeit, die mit jedem Meßvorgang, mit jedem Übergang von der Teilchen- zur Welleninterpretation, von der Wellen- zur Teilcheninterpretation sich ausdehnt und wieder zusammenzieht, genauer explodiert und wieder kollabiert. Sie läßt sich unter dem Bild eines Zeitfächers beschreiben oder mit einem Feuerwerk vergleichen, dessen unzählige Leuchtkugeln am Himmel explodieren und in linearen Leuchtstreifen zur Erde fallen, erneut explodieren und wieder verlöschen. Wissenschaftlich wird man hier am besten von einer Zeitpulsation (Expansion und Kontraktion) sprechen. Während die Zeitdehnung und Zeitraffung auf der Ebene des Zeiterlebens eine Pulsation auf der Basis einer indifferenten RaumZeit waren, setzt die jetzige Pulsation die Linearzeit voraus, und zwar unendlich viele Linearzeiten, so viele, wie sich den verschiedenen Beobachtern bei der Messung ergeben, deren jeder seine eigene Welt und Linearzeit hat, die von der jedes anderen unabhängig ist und die gemeinsam nur von einem Supertheoretiker überschaut werden könnten. Das Bewußtsein, das für diese integrale Zeiterfahrung in Betracht käme, könnte nur ein überdeterminiertes, nicht ein unterdeterminiertes sein wie beim Zeiterleben, eine Bewußtseinssteigerung und -intensivierung. Ob die Mystik, die wir zunächst in Anspruch nahmen für die Versenkung in die indifferente Dauer (Raum-Zeit),
Y. Aharonov and D. Rohrlich: Quantum Paradoxes. Quantum Theory for the Perplexed, Weinheim 2005, S. 124 ff. A
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letztlich und paradoxerweise mit dieser supramentalen Struktur zusammenfällt, bleibt dahingestellt. Eine Parallele zur Mehr-Welten-Theorie und Überlappung der einzelnen Wellenfunktionen und ihrer Linearzeiten zeigt sich bezüglich des Raumes in der modernen Malerei. Seit Mitte der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts tritt dort die Multiperspektivität auf, dessen eminenteste Vertreter Paul Cézanne, Vincent van Gogh, Georges Braque, Pablo Picasso, Gino Severini sind. In seinen Landschaftsgemälden von Saint-Victoire in der Provence führt Cézanne die Mehrperspektivität ein, indem er das solide Gebirgsmassiv, die Bäume und Häuser in Farb- und Gestaltflecken auflöst und unter ständig wechselnden Perspektiven wieder zusammensetzt, überlagert, übereinanderschichtet, um so die Morphologie der Landschaft, die sich in den Gesteinsschichten manifestiert, transparent werden zu lassen. Thomas Herzog beschreibt in seiner Einführung in die moderne Kunst diese Darstellungsweise wie folgt: »Der Kubismus […] sucht die Unendlichkeit des Raumes, aus dem alle Formen gleichsam herausgeschnitten und mit dem sie gefüllt sind, selbst darzustellen. Er sucht also die Dinge nicht nur von oben und vom Profil zu sehen, sondern sie auch zu durchdringen. Darum wechselt er seinen Standpunkt ungemein schnell. Er erfaßt bei diesem Wechsel immer wieder ein neues Bruchstück und erlebt durch diese dauernde Bewegtheit des Sehens die Beziehungen der Form zum Raum als einen dynamischen, dauernd sich verändernden Vorgang: als vierte Dimension. Um diese vierte Dimension geht sein zugleich intuitives und ganz verstandesmäßiges Bildschaffen. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn einer der Väter des Kubismus, Georges Braque, sagt: ›Die Dinge zerstören die Form, der Geist allein gestaltet.‹« 15
Bei Picasso findet sich ein ähnlicher Malstil auf unzähligen seiner Gemälde und Zeichnungen, die als Profil-en-face-Simultanbilder bekannt sind und das Portrait einer Frau, eines Mannes, eines Tieres gleichzeitig in Frontal- wie Seitenansicht zeigen. Die Verzerrungen, die Dislozierung der Augen, der Nase, des Mundes, der Arme haben ihren Grund in der simultanen Präsentation von Frontal- und Seitenansicht. Was sonst nur im sukzessiven Herumschreiten ansichtig wird und in der synthetischen Vorstellung erfaßt werden kann, welche die jeweils zurückgelassenen Teile reproduziert und mit den gegenwärtigen verbindet, findet sich hier synoptisch dargestellt, aber 15
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Th. Herzog: Einführung in die moderne Kunst, Zürich 1948, S. 148 f.
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Carl Friedrich von Weizsckers Theorie Jenseits der Quantentheorie
so, daß nicht eine einzige Perspektive dominiert, sondern alle gleichursprünglich und gleichgewichtig sind. Zur Höchstform gesteigert findet sich diese Darstellungsweise in Bildern von Severini mit dem Titel Ballerina ossessiva von 1911, die eine Tänzerin in allen Posen des Tanzes, vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen, zu erfassen suchen und in der Zusammennahme der Fragmente den Gesamteindruck des Herumwirbelns erzeugen, wodurch der Raum durchsichtig wird. Ähnlich auch in Marcel Duchamps Bild Nu descendant un escalier von 1912, in dem der Treppenabgang einer Person in eine Vielzahl von Phasen aufgelöst und so eine Dynamik der Raumerfassung erzeugt wird. 16
4.
Carl Friedrich von Weizsckers Theorie Jenseits der Quantentheorie
Die Diskussion um die ontologisch zu supponierende reale Welt und den ihr entsprechenden integralen Wissenszustand findet bei Carl Friedrich von Weizsäcker in seinem Buch Aufbau der Physik anhand einer Erörterung des fiktiven Zusammenfalls von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eine Fortsetzung. 17 Er überschreibt das fragliche Kapitel »Jenseits der Quantentheorie«, da er selbst für die Interpretation der Quantentheorie am traditionellen Zeitbegriff der Linearität mit der Unterscheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft festhalten möchte, wenngleich in der etwas modifizierten Form von Faktizität und Möglichkeit bzw. Determiniertheit und Indeterminiertheit anstelle von Vergangenheit und Zukunft. Unter den drei Titeln der variierten Zeitmodi »Faktizität der Zukunft«, »Möglichkeit der Vergangenheit« und »Umfassende Gegenwart« erörtert er die Wirklichkeit jenseits der heutigen Physik, der Quantentheorie, wobei schnell klar wird, daß er den dritten Modus, die Allgegenwart, als Grundlage (oder auch als Konsequenz) der beiden anderen Modi auffaßt; denn wenn sowohl die Zukunft wie auch die Vergangenheit mit dem jeweiligen Korrelat zusammenfällt und die Gegenwart auf der Zeitachse nicht nur der abstrakte mathematische Punkt zwischen Vergangenheit und Zukunft ist, sondern die ausVgl. dazu K. Gloy: Aperspektivität – Perspektivität – Multiperspektivität, a. a. O., bes. S. 127 ff. 17 Vgl. C. F. von Weizsäcker: Aufbau der Physik, a. a. O., S. 588–620. 16
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gedehnte Präsenzzeit, die sich aus Vergangenem und Zukünftigem konstituiert, gilt dasselbe, was für Vergangenheit und Zukunft einzeln zutrifft, auch für deren Zusammenfassung in der allpräsenten Gegenwart. Unter dem Terminus ›Faktizität der Zukunft‹ wird eine Zukunft vorgestellt, die weder ausschließlich im deterministischen Sinne vorherbestimmt ist aus den Ereignissen der Vergangenheit, noch ausschließlich im indeterministisch-quantentheoretischen Sinne offen ist, charakterisiert allein durch Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit, sondern die durch die Faktizität von Ereignissen bestimmt ist, wie sie sonst nur der Vergangenheit und Gegenwart zukommen, der letzteren insofern, als gegenwärtige Ereignisse eingetreten, also faktisch sind. Wie es von allem Faktischen Dokumente, Überlieferungen, Indizien gibt, so muß es auch von der faktischen Zukunft Dokumente geben. Als solche könnte man sich die Phänomene der Prophetie vorstellen, von denen manche Menschen zeugen, die zur Voraussage von Ereignissen fähig sind, welche für Normalsterbliche erst später eintreten, oder die ein visionäres Detailwissen von vergangenen Ereignissen haben, an denen sie selbst gar nicht partizipierten und von denen sie daher auch nicht wissen konnten. Zwar treten diese Phänomene mehr als »Fetzen« 18 auf denn als kohärente Zusammenhänge, wie dies Wissensdokumente von Vergangenem gewöhnlich tun, die sich zu einer »erzählbaren Geschichte« 19 fügen, aber sie stellen nach Weizsäcker eine »zeitüberbrückende Wahrnehmung« 20 dar. Der Entschluß, sie unserem Wissen einzugliedern, würde unseren gängigen Wissensbegriff erweitern. Die Absicht vorausgesetzt, an Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit festzuhalten, würde dieser Entschluß die Erstellung eines neuen Wissensmodells erforderlich machen, ohne die Wissenschaftssprache aufgeben zu müssen. Das aus der Selbstkritik der Quantentheorie und dem Überstieg über sie hervorgehende Modell bestünde in einer Horizonterweiterung unseres Wissens. Schwerer fällt die Plausibilisierung dessen, was Weizsäcker die ›Möglichkeit der Vergangenheit‹ nennt. Wie kann Vergangenheit, die normalerweise durch die Faktizität der Ereignisse bestimmt ist, gleichwohl möglich genannt werden? Die Lösung rekurriert auf den 18 19 20
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A. a. O., S. 601. A. a. O. A. a. O., S. 603, vgl. S. 602.
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Unterschied von realer und Wissensebene. Weizsäcker sammelt in diesem Zusammenhang eine Reihe von Beispielen aus der Psychologie und Physik, indem er etwa auf das Bewußtsein als einen sich selbst unbewußten Akt verweist. Zwar ist das Bewußtsein als intentional strukturiertes stets Wissen von etwas, als Faktum aber ist es unbewußt und muß als möglicher Gegenstand selbst erst erschlossen werden. Ebenso decouvriert sich jede Antwort auf die Frage ›Was denkst du gerade?‹ als Lüge, da die Thematisierung des Inhalts ein nachgewahrender Akt ist, während der Denkakt selbst während des Vollzugs zwar faktisch, aber unbewußt ist und erst retrospektiv als ein möglicher thematisiert werden kann. Auf physikalischer Ebene ist festzustellen, daß es keine absolut isolierten, strikten Alternativen gibt. Ein absolut isoliertes Objekt wäre kein Bestandteil der Welt und folglich ereignislos. Was wir hingegen als isoliertes Objekt idealisieren, ist immer schon operational »definiert durch eine vergangene Wechselwirkung und durch die Möglichkeit künftiger Messungen an ihm« 21 . Ein Ereignis nun, das in Wechselwirkung mit einer kleinen Anzahl von Objekten steht, kann wieder verschwinden, so daß wir zwar theoretisch von ihm sprechen können, aber keine Chance haben, es kennenzulernen. Auch hier verbinden sich Faktizität und Möglichkeit, in diesem Fall sogar Unmöglichkeit. Ein weiteres von Weizsäcker angegebenes Beispiel entstammt der Quantenphysik. Quantentheoretisch ist davon auszugehen, daß Phasenbeziehungen, selbst wenn sie uns unbekannt sind, sich durch irreversible Vorgänge hindurch erhalten, wenigstens soweit das Gesamtphänomen betroffen ist. Die Wellenfunktionen stehen in einer Linearkombination, so daß die neue Wellenfunktion wahrscheinlichkeitstheoretisch die alte mit den in ihr implizierten Phasenbeziehungen zwischen den Teilen des Gesamtobjekts fortsetzt. Die Messung am Objekt B2 entscheidet, welche Messung an B1 ein vorhersagbares Resultat liefern wird. 22 Die nicht allumfassende Verfassung unseres Wissens erklärt, daß nicht nur die Zukunft, sondern auch die Vergangenheit nur wahrscheinlichkeitstheoretisch erschlossen werden kann, d. h. als eine nur mögliche. Die statistischen Aussagen der Quantentheorie machen den Schluß vom Gegenwärtigen auf das Vergangene genauso unbestimmt wie den vom Gegenwärtigen auf das Zukünftige. Auch über geschehene Ereignisse läßt sich nicht mit 21 22
A. a. O., S. 608. Vgl. a. a. O., S. 611 f. A
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absoluter Gewißheit, sondern nur mit gebührender Wahrscheinlichkeit sprechen 23 . Ist von einer Koinzidenz von Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart in einer omnipräsenten Welt auszugehen, so fragt sich, welcher Wissenstyp hierfür zuständig sei. Handelt es sich um einen endlichen oder unendlichen, um einen rein begrifflichen oder einen intuitiven oder um beides zugleich? Die Annahme liegt nahe, daß ein adäquates korrelatives Wissen zur Omnipräsenz unseren endlichen, beschränkten Wissenstyp übersteigt. Man hat ein solches Wissen stets mit einem hypothetisch supponierten unendlichen, göttlichen Wissen gleichgesetzt, das quantitativ alles Wißbare umfaßt, mithin als Allwissen auftritt. Dem entspricht Everetts mit der unreduzierten Wellenfunktion verbundene Superposition des Supertheoretikers – ähnlich liegen die Verhältnisse bei de Broglie –, und auch Weizsäcker unterstellt ein übermenschliches Wissen, das unsere Begriffserkenntnis übersteigt und durch den Einbau nicht-begrifflicher Elemente eine wesentlich nichtbegriffliche Gestalt erhält, also Wahrnehmung oder Intuition des Ganzen ist und in zeitlicher Hinsicht auf Ewigkeit geht. 24 Kritisch zu Weizsäcker Stellung nehmend, könnte man sich fragen, ob wir nicht vielmehr unser bisheriges Wissenschaftsmodell ausbauen und erweitern sollten, um einer solchen Realität wie der beschriebenen begegnen zu können. Die Erkenntnisse der Quantentheorie verlangen nicht nur eine Komplettierung der Logik, die über die reine Binarität mit ihren Alternativen und Exklusionen hinaus Mehrwertigkeit zuläßt, sie verlangen auch eine Ergänzung der Zeittheorie, die über die vulgäre Linearzeit hinausgeht, welche nur dem Teilchenbild genügt. Sie verlangen eine Theorie, die das Wellenbild mitberücksichtigt und damit eine Überlagerung oder Überlappung aller Linearzeiten denkt, einer Multitemporalität, die nicht einfach durch den undefinierten Begriff der Ewigkeit ersetzt werden kann. 25 Für das diesbezügliche Bewußtsein wäre der von Gebser gebrauchte Begriff der »integralen Bewußtseinsstruktur« 26 am Platze, obgleich er von Gebser selbst anders definiert und verstanden wird als hier. Vgl. a. a. O., S. 611. Vgl. A. a. O., S. 618 f. 25 Bezüglich des Raumes begegnet man demselben Phänomen in der Multiperspektivität der modernen Kunst seit Ende des 19. Jahrhunderts. Vgl. dazu K. Gloy: Aperspektivität – Perspektivität – Multiperspektivität, a. a. O., bes. S. 127–139. 26 J. Gebser: Ursprung und Gegenwart, a. a. O., 2. Teil, S. 389 u. ö. 23 24
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Carl Friedrich von Weizsckers Theorie Jenseits der Quantentheorie
Während er für Gebser zwar auch ein überwaches Bewußtsein bezeichnet, aber eher ein intuitives, das mit Aperspektivität verbunden ist 27 , erscheint nach den bisherigen Ausführungen ein übersteigertes begriffliches Bewußtsein angebrachter, das zur Multiperspektivität führt. Ein solches wäre der Multitemporalität adäquater. Da die Zeitvorstellung keine anthropologische Konstante ist, vielmehr ein Kulturprodukt und -konstrukt, hat sie sich den jeweiligen Erkenntnissen und dem Forschungsstand der Wissenschaftsgeschichte anzupassen. Mit der Entbindung der formalen Zeit vom Inhalt auf der Stufe der Linearzeit tritt bereits die Möglichkeit einer Pluralität von Zeitkonzepten auf den Plan, die sich als freie mathematische Konstruktionen anbieten – Ilya Prigogine spricht nur noch von »Zeit-Operator« 28 , d. h. von der Zeit als einem Operationsmittel im Gegensatz zur Zeit als Zahl wie in der konventionellen Zeitauffassung. Zu solchen rein formalen Zeitkonzepten, die zwar alle irgendeinen Grund in der Realität haben mögen, deren Anwendung aber erst noch zu überprüfen wäre, gehört nicht nur seine »zweite Zeit« 29 – die Zeit als Operator –, sondern auch Gödels und Minkowskis Konzept zeitartiger Weltlinien, ebenso das in dieser Arbeit vorgeschlagene der Zeitexplosion. Und da der Ausgang, was das letztere betrifft, der quantentheoretische ist, muß der Überstieg über die klassische Zeittheorie deren theoretisch-begriffliche Basis mitverarbeiten, also transferieren in Richtung auf eine integrale Begriffsstruktur, nicht unterschreiten in Richtung auf eine Intuition.
Vgl. a. a. O. I. Prigogine: Zeit, Entropie und der Evolutionsbegriff in der Physik, in: W. Ch. Zimmerli und M. Sandbothe (Hrsg.): Klassiker der modernen Zeitphilosophie, a. a. O., S. 182–211, bes. S. 209, vgl. S. 205. 29 A. a. O., S. 205. 27 28
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VI. Systematik der Zeittypen
1.
Die methodischen Gliederungsprinzipien
Im vorangehenden wurden verschiedene Zeittypen eruiert und den entsprechenden menschlichen Zugangsweisen zur Wirklichkeit zugeordnet. Die Zeitdehnung und -raffung, als deren Extreme sich die Zeitgerinnung und die Omnipräsenz erwiesen, entsprachen den elementaren, vitalen Vorgängen, einerseits der Langeweile, dem Dahindämmern und Einschlafen, dem Versunkensein und anderen halb- und unterbewußten Zuständen, andererseits höchster Aufmerksamkeit, Überwachheit und Konzentration, also dem Überbewußtsein; die verschiedenen Zeitgestalten, angefangen von der eschatologischen über die oszillierende bis hin zur zyklischen, waren der gerichteten Handlung immanent, die Linearzeit, sowohl die aperspektivisch-absolute wie die perspektivisch-relativistische, korrespondierte als metrisierbare dem Verstandesvermögen, und die pulsierende Zeit entsprach einem suprarationalen Vermögen, dem integrativen Allbewußtsein. Angesichts dieser Pluralität von Zeittypen stellt sich retrospektiv noch einmal die Frage ihrer Systematik und deren Legitimation. Eine Systematik setzt vorab die Auflistung und Erörterung der prinzipiell in Betracht kommenden methodischen Prinzipien voraus. Die Grundfrage ist die, ob sich ein in der Natur der Sache selbst liegendes objektives Systematisierungssprinzip finden lasse oder ob wir uns mit einer bloßen Rhapsodie, einer narrativen Aufzählung, begnügen müssen, die auf frei gewählten subjektiven Kriterien basiert. Es versteht sich, daß die erste Variante höhere Ambitionen hat, indem sie auf objektiver Basis eine Deduktion der diversen Zeittypen, etwa im Sinne einer Entwicklung, intendiert, während die letzte sich mit einer begrifflich-intellektuellen Rekonstruktion begnügt, die vom Standpunkt des jeweiligen Betrachters, mag dieser sein, welcher er wolle, sich die Formen lediglich verständlich zu machen sucht, wobei durchaus der Gedanke einer Stufung von einfachen zu immer komplexeren und komplizierteren Formen als Leit224
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Die methodischen Gliederungsprinzipien
faden fungieren kann – wie in dieser Arbeit. Während die erste Erklärung mit einer Wertung einhergeht, und zwar vom höchstentwikkelten Standpunkt aus, welcher nach unserem Selbstverständnis die westliche Kultur und Zivilisation, die heutige postindustrielle Informationsgesellschaft, ist, ist die letzte Betrachtungsweise grundsätzlich wertungsfrei. Daß für eine Einteilung die begriffstheoretische Dihairesis nach dem Schema von genus proximum et differentia specifica ausscheidet, versteht sich schon daraus, daß keiner der Zeittypen als genus und die anderen als species klassifiziert werden können, ganz abgesehen von der Frage, ob es sich bei der Zeit überhaupt um einen Begriff (Kategorie) handelt und nicht vielmehr um eine Anschauungsform oder ein sonstiges Medium. Als konkrete, sachfundierte Prinzipien kommen entweder der biologische Entwicklungs-gedanke in Betracht, der sich einerseits in Ontogenese und Phylogenese, d. h. in die individualgeschichtliche Entwicklung des Menschen und die stammesgeschichtliche Entwicklung der Menschheit gliedert, oder der kulturhistorische Entwicklungsgedanke von Gesellschaften. Nach dem biologischen Entwicklungs- und Evolutionsmodell wären die diversen Zeittypen sukzessive Phasen einer Genese, die als verschiedene Bewußtseinsstadien und -mutationen in der menschlichen Individualentwicklung bzw. der Stammesgeschichte der Menschheit aufträten. Gemäß dem historischen Entwicklungsgedanken bezeichneten die verschiedenen Zeitverständnisse verschiedene kulturelle Entwicklungsstufen von Gesellschaften. Der bescheidenere subjektivistische Ansatz einer Rekonstruktion lehnt sich an die von der älteren Naturlehre vertretene Theorie einer scala naturae wie auch an die idealistischen Konstruktionen von Schelling und Hegel an, die das gesamte Gebiet der Natur und des Geistes über Stufen im Sinne einer Höherstrukturierung zu erfassen suchen, angefangen vom Mechanismus über den Organismus bis hin zum Bewußtsein und zu den diversen Organisationsformen des Bewußtseins, wobei im Falle von Schelling und Hegel ein dialektisches Prinzip leitend ist, das aber grundsätzlich auch durch ein anderes ersetzt werden könnte. Die Höherstrukturierung darf jedoch nicht, wie dies häufig geschieht 1 , im Sinne einer genetischen Höherentwicklung, einer Autopoiesis, mißverstanden werden, vielmehr 1
So von M.-L. Heuser-Keßler: Die Produktivität der Natur. Schellings NaturphilosoA
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Systematik der Zeittypen
stellt sie eine begriffstheoretische Rekonstruktion dar. 2 Diese Rekonstruktion zielt grundsätzlich auf ein Stufen- oder Schichtenmodell, wie es in der vorliegenden Arbeit expliziert wurde, das sich, wie bei den Gesteinsschichten, jedoch unter Absehung von jeder zeitlichen Entstehung, allein auf die Formen und Strukturen und ihre zunehmende Komplexion konzentriert – daher der Ausdruck ›Morphologie‹. Hier ist eine Schicht in der anderen fundiert, ohne sich gänzlich vom jeweiligen Boden zu lösen. Die genannten Ordnungsschemata sind auf ihre Vor- und Nachteile zu überprüfen.
2.
Das biologische Entwicklungsprinzip: die Ontogenese
Das biologische Erklärungs- und Begründungsprinzip, die Ontogenese, beansprucht, die verschiedenen Zeitstrukturen als Entwicklungsstadien der individuellen menschlichen Genese aufzeigen zu können. Seit Jean Piaget in ingeniösen und epochalen Studien, vor allem seiner Arbeit Die Bildung des Zeitbegriffs beim Kinde 3 , auf die Entwicklung des kindlichen Zeitbewußtseins einging, sind Untersuchungen dieser Art zum präferierten Forschungsobjekt geworden. Nachfolgeuntersuchungen wie die von Iris Levin: The Nature and Development of Time Concepts in Children. The Effect of Interfering Cues 4, Friedrich Wilkening: Children’s Knowledge about Time, Diphie und das neue Paradigma der Selbstorganisation in den Naturwissenschaften, Berlin 1986. 2 Vgl. C. Warnke: »Der stete und feste Gang der Natur zur Organisation«. Schellings Begriff der organischen Entwicklung, in: K. Gloy und P. Burger (Hrsg.): Die Naturphilosophie im Deutschen Idealismus, Stuttgart-Bad Cannstatt 1993, S. 116–148, bes. S. 117. 3 J. Piaget: Die Bildung des Zeitbegriffs beim Kinde (Titel der Originalausgabe: La Génèse du Temps chez l’Enfant, Paris 1946), Übertragung von G. Meili-Dworetzki, Zürich 1955, Stuttgart 1980; ders.: Le développement de la notion de temps chez l’enfant, Paris 1973. 4 In: W. J. Friedman (Hrsg.): The Developmental Psychology of Time, New York, London etc. 1982, S. 47–85. Vgl. dies.: The Development of Time Concepts in Young Children: Reasoning about Duration, in: Child Development, Bd. 48 (1977), S. 435–444; dies.: Interference of Time-related and Unrelated Cues with Duration Comparisons of Young Children: Analysis of Piaget’s Formulation of The relation of Time and Speed, in: Child Development, Bd. 50 (1979), S. 469–477.
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stance, and Velocity Interrelations 5 und Günter Dux: Die Zeit in der Geschichte 6 haben diese Studien teils komplettiert, teils korrigiert, aber nicht gravierend modifiziert. Piaget unterscheidet in der Entwicklung des kindlichen Bewußtseins eine sensomotorische Phase im Alter von 0 bis ca. 2 Jahren, die sich aus einer Wahrnehmunsintelligenz (frühestes Alter) und einer sensomotorischen oder praktischen Intelligenz (zwischen 3/4 und 12/ 18 Monaten) konstituiert, und eine erst später einsetzende Denkfähigkeit, beginnend in der präoperationalen Phase (ca. 2 bis 6/7 Jahre), wenn das Kind mit der Sprache die Fähigkeit zur symbolischen Verarbeitung und Konstruktion der Welt gewinnt, und endend in der konkret-operationalen Phase im Alter von 8 bis 9 Jahren. Die Phasen sind charakterisiert durch zunehmende Differenzierung und Spezifikation. Während das Kind in der ersten Phase noch ganz mit der Welt eins ist, Subjekt und Objekt noch nicht voneinander getrennt sind und Eigen- und Fremdbewegung unterschiedslos ineinander übergehen, löst es sich in der weiteren Entwicklung mehr und mehr von der Welt ab, tritt in Distanz zu ihr, um zunehmend Handlungskompetenz auszubilden und Souveränität über die Welt zu gewinnen. Dem entspricht die Entwicklung des Zeitbegriffs von einer Wahrnehmungszeit über eine praktische Zeit, welche noch immer anschaulich gebunden ist, bis hin zu einer formal-operativen Zeit, dem Zeitbegriff, der den formalen Hintergrund für Vergleiche mehrerer Bewegungsabläufe abgibt. 7 Experimente lassen erkennen, wie zunehmend – anfangs mit großer Fehlerquote, später mit immer geringerer – Handlungskompetenz und Urteilsvermögen ausgebildet werden und mit ihnen zeitliche Bestimmungen wie Folge, Gleichzeitigkeit, Dauer – letztere nicht nur als Andauern, sondern als Maß –, Geschwindigkeit usw. Piaget hat dies anhand einer Reihe von Versuchsanordnungen belegt, die von Dux 8 aufgegriffen und ergänzt wurden und von denen hier zwei interessante herausgegriffen seien. 1. In einer dieser Versuchsanordnungen geht es um die Beurteilung zweier Bewegungsabläufe, die zeitgleich beginnen und zeitgleich enden, jedoch unterschiedliche Reichweite haben, mit anderen In: W. J. Friedman (Hrsg.): The Developmental Psychology of Time, a. a. O., S. 87– 112. 6 G. Dux: Die Zeit in der Geschichte, a. a. O., S. 80–100, vgl. auch S. 103–120. 7 Vgl. J. Piaget: Die Bildung des Zeitbegriffs beim Kinde, a. a. O., S. 172 ff. 8 G. Dux: Die Zeit in der Geschichte, a. a. O., S. 82 ff. 5
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Worten, es geht um den Vergleich zweier unterschiedlicher Geschwindigkeiten. 1 2
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In der präoperationalen Phase (ca. 2 bis 6/7 Jahre) wird ein Kind die Gleichzeitigkeit des Anfangs und Endes der Bewegungen in Abrede stellen und in der Regel antworten, daß die erste mehr Zeit benötige, weil sie einen längeren Weg habe. Manche Kinder urteilen allerdings auch, daß die zweite Bewegung mehr Zeit brauche, weil sie bei gleichem Endpunkt wie die erste offensichtlich zeitweise geruht habe. 9 Die Erklärung, die Piaget für dieses Untersuchungsergebnis gibt, rekurriert auf die Gebundenheit der kindlichen Wahrnehmung an räumlich Anschauliches in diesem Alter, während Dux 10 von einer noch unterentwickelten Handlungskompetenz spricht, die in diesem Stadium nur einen einzelnen konkreten Bewegungsablauf zu beurteilen vermag, während der zweite an den ersten gebunden bleibt, wobei der Austausch eines Parameters (Anfang, Ende, Geschwindigkeit) möglich ist. Dient z. B. die Bewegung 1 als urteilsbildend, d. h. konzentriert sich die Aufmerksamkeit des Kindes auf die Länge des Weges, so benötigt der kindlichen Erfahrung nach der längere Weg mehr Zeit als der kürzere. Konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf Bewegung 2 mit der kürzeren Strecke, aber den gleichen Bewegungsenden, so braucht Bewegung 2 mehr Zeit, damit sie gleichzeitig mit Bewegung 1 endet. Welche der Erklärungen man auch präferiert, die Logik des Kindes ist auf dieser Stufe noch weitgehend phänomenologisch ausgerichtet auf das, was es sieht, ohne hinreichende kognitive Verarbeitung. 2. Interessant ist auch der Versuch, bei dem sich zwei Instanzen – Gegenstände, Personen, Tiere oder Figuren – in konzentrischen Halbkreisen mit gleichem Anfang und Ende bewegen. Man denke an ein Ochsengespann, das ein Schöpfrad oder eine Ölmühle bedient und dem ein gemeinsames Joch auferlegt ist. Es ist nicht uninteressant zu bemerken, daß dieselbe Erklärung von Zenon in seinen Paradoxien, insbesondere im Stadionargument, gegeben wird. Zenon erklärt den dortigen Sachverhalt so, daß die eine der sich bewegenden Staffeln in der halben Zeit geruht haben müsse, während die andere sich bewegte (vgl. IV. Teil, Kap. 5 dieser Arbeit). 10 G. Dux: Die Zeit in der Geschichte, a. a. O., S. 84 ff. 9
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Die Frage lautet: Ist 1, die äußere Instanz, oder 2, die innere, schneller? Hierauf finden sich zwei Antworten, einmal die, daß die innere schneller sei, weil sie den kürzeren Weg habe, zum anderen die, daß beide Instanzen gleich schnell seien, weil sie unter dem gemeinsamen festen Joch liefen. Nach Auskunft von Dux 11 antworteten in der letzteren Weise noch indische Probanden, Soziologen mit abgeschlossenem Studium, nachdem sie tagelang über das Experiment nachgedacht und diskutiert hatten. Sie ließen sich durch die anschauliche Bindung an das feste Joch irritieren. Parallelisiert man die Bewegungsabläufe mit einem Vorsprung von 2 gegenüber 1, wie in der nachfolgenden Zeichnung, 1 ——————" 2 ————" so lautet in der Übergangsphase vom Stadium der noch anschauungsbezogenen Wahrnehmungszeit zu dem der formal-operativen Zeit, also in der Phase der kindlichen Entwicklung von 6 bis 9 Jahren, eine mögliche Antwort – die einer Achtjährigen – nach Auskunft von Bernhard Kiesel 12 : 2 brauche mehr Zeit, weil 2 andernfalls eher angekommen wäre als 1 – hier ist die Aufmerksamkeit bei gemeinsamer Zielvorstellung auf die unterschiedliche Geschwindigkeit gerichtet. Andere diesbezügliche Antworten lauten: 2 sei früher losgegangen, weil beide Instanzen zur gleichen Zeit angekommen seien, oder 1 sei früher losgelaufen, weil es weiter hinten gestanden habe, aber das Ziel zur selben Zeit erreicht habe. Auch hier gibt immer eine Bewegung die phänomenologische Beurteilungsgrundlage für die andere ab, die daran gebunden ist. In diesem Stadium scheinen alle AntworA. a. O., S. 92. B. Kiesel: Die Entwicklung der Operationalität der Zeit. Eine Nachuntersuchung, in: G. Dux: Die Zeit in der Geschichte, a. a. O., S. 438, vgl. S. 96.
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ten möglich zu sein außer der einen, die die unterschiedlichen Geschwindigkeiten auf eine gemeinsame formale, abstrakte Zeit bezieht, welche den Vergleich beider Bewegungen ermöglicht. Denn dies bedeutete die Ablösung von der Handlungszeit, die jeweils an einen Vorgang gebunden ist und den anderen davon abhängig macht. Was ist von diesen Experimenten zu halten, die eine Entwicklung des kindlichen Zeitbewußtseins über verschiedene noch unzureichend entwickelte, defiziente Stadien suggerieren? Zweifelsohne weisen sie auf eine Entwicklung, und zwar auf eine Entwicklung zum Zeitbegriff, zur abstrakten, formalen Linearzeit mit den Charakteren der meßbaren Dauer, der Sukzessivität und Simultaneität sowie der Möglichkeit eines Geschwindigkeitsvergleichs. Aber sie dokumentieren in keiner Weise eine Entwicklung von der ZeitRaum-Indifferenz über eine erste Strukturierung des Feldes zur gerichteten, sei es zur einsinnig oder polar-symmetrisch gerichteten oder zyklischen Zeitgestalt bis hin zur Linearzeit, geschweige denn zur pulsierenden, explodierenden und kontrahierenden Zeit. Von soziologischer Seite wird gegen diese und ähnliche Experimente häufig der Einwand erhoben, daß sie sub specie des linearen Zeitbegriffs stünden, welcher der dominante Zeittyp der westlichen Kultur und Zivilisation sei. Die Experimente setzten sich damit dem Vorwurf des Ethnozentrismus und insbesondere des Eurozentrismus aus, indem sie das, was sie hineinsteckten, auch wieder herausholten. Wie aber würden Experimente aussehen, deren Interpretation einem anderen Zeitverständnis folgte, einem, das statt der Dreiteilung der Tempora nur die Zweiteilung kennen würde, oder einem, das von der Handlungszeit und ihren Zeitgestalten und Aktionsarten ausginge oder gar von dem Zusammenfall der Zeit mit dem Raum in der unbegrenzten und unbestimmten Dauer? Vertreter der Entwicklungstheorie würden ihre These dadurch zu retten versuchen, daß sie die anschauliche, konkret gebundene Handlungszeit mit den Zeitgestalten chronologisch-genetisch früher ansetzten als die rein formale, abstrakte Linearzeit mit ihrer freien Operationalität und das indifferente Zeit-Raum-Feld noch früher als die Handlungszeit und ihre möglichen Intentionalitätsstrukturen, wie sie beispielsweise bei der Konzentration eines Säuglings auf einen ruhenden, später auch bewegten Punkt, bei der haptischen Erfassung von Gegenständen, beim Bemerken von Dauer usw. sichtbar werden, die an sensomotorische Bewegungen gebunden sind. Durch diese Abfolge und zunehmende Strukturierung würde die 230
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Entwicklung der Linearität aus embryonalen Formen verständlich werden. Die entwicklungstheoretische These läßt sich nicht total in Abrede stellen, zumal sich alle Erkenntnisstrukturen in der kleinkindlichen Phase entwickelt haben. Nur in ihrem Absolutheitsanspruch erweist sie sich als inadäquat und muß zurückgewiesen werden angesichts der unverzichtbaren Distinktion von empirisch-genetischer Argumentation und transzendentaler bzw. transzendentalphilosophischer, worauf schon Kant aufmerksam gemacht hat. Allerdings sollen im Unterschied zu Kant die transzendentalen Strukturen als Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis nicht im apriorischen, d. h. im absoluten Sinne als allgemein menschliche Naturveranlagung aufgefaßt werden, auf die sich eine schlechthin universelle, objektive und notwendige Erkenntnis gründete, sondern im relativen Sinne, demzufolge sie unterschiedliche Weltbilder ermöglichen. Mit unterschiedlichen Weltbildern ist hier gemeint, daß dieselben Sachverhalte von verschiedenen Beobachtern je nach ihrer Denk- und Sprachgewohnheit, je nach Akzentuierung der Erkenntnisstrukturen unterschiedlich artikuliert werden können. So war z. B. die aristotelische Physik eine rein phänomenologische Deskription der Welt, die den Fall eines Steines so erklärte, daß ein schwerer Gegenstand an seinen natürlichen Ort auf der Erde zurückstrebt, wenn er wider seine Natur aufgehoben wird, während die newtonsche Physik als eine quasi widernatürliche Beschreibungsweise denselben Sachverhalt durch die allgemeine Gravitationskraft erklärte, welche auch für die Drehung der Erde um die Sonne verantwortlich ist. Ließe sich nun nachweisen, daß die unterschiedlichen Zeittypen zusammen mit noch anderen Elementen wie den unterschiedlichen Raumtypen, Qualitäten, logischen Abhängigkeiten usw. weltbildkonstitutiv sind, also zu unterschiedlichen Weltbildkonzeptionen gehören, so wäre dies ein schlagendes Argument gegen die entwicklungstheoretische These. Denn schwerlich wird man behaupten wollen, daß Weltbilder, auch wenn sie noch so heterogen sind, unterschiedliche Entwicklungsstufen repräsentieren, von denen die einen naiver, kindlicher, unterentwickelter, defizienter seien als die anderen, da sie allesamt gleicherweise eine identitätsstiftende, gesellschaftskonstituierende Funktion haben. Während die Linearzeit mit ihren Eigenschaften der nicht beobachtbaren Unendlichkeit, Homogenität und Kontinuität in absoluter oder relativer Form für unser naturwissenschaftliches Weltbild konstitutiv ist, das seinerseits mit Zeitgestalten physikaA
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lisch nichts anzufangen weiß, sind diese hinwiederum konstitutiv für das magisch-mythische Weltbild, das auf der Handlungsstruktur basiert und ein ubiquitäres Zentrum unterstellt, aus dem sich alle Formen und Gegenstände herleiten, so daß aufgrund dieser Alleinheit jedes für jedes andere und für das Ganze transparent und diaphan ist nach dem Prinzip pars pro toto. Nicht nur, daß im letzteren Fall eine geschlossene Zeitgestalt der ganzen Konstruktion zugrunde liegt, sondern diese ist auch verantwortlich für die Vollzüge innerhalb dieses Weltbildes, welche Wiederholungen des Ursprungs, des Archetyps, sind, freilich nicht im Sinne einer iterativen, numerisch abzählbaren Reproduktion, sondern im Sinne einer Zurückholung des Anfangs. Während die unendliche Linearstruktur, symbolisiert durch den Zeitpfeil, die hypotaktisch ausgerichtete binäre Logik und die Mathematik unseres naturwissenschaftlichen Weltbildes bestimmt, ist die geschlossene Zeitgestalt konstitutiv für das analogische Weltbild mit der ihm zugehörigen Parataktik und der Transformation einer Gestalt in die andere. Beide Weltbilder erfüllen ihre Aufgabe für Mensch und Sozietät gleichermaßen, ohne daß eine Wertung berechtigt wäre.
3.
Die Phylogenese
Die physiologische Grundlage der Ontogenese – der individuellen Menschenentwicklung – bildet die Phylogenese – die Stammesentwicklung des Menschengeschlechts. Sie ist daher analog zu betrachten. Unterstellt man einmal die Richtigkeit des Darwinismus mit der Annahme von Mutationen und der Selektion der bestangepaßten Mutanten, dann treten im Laufe der Stammesgeschichte evolutive Sprünge auf, die neue, höherstufige Entwicklungsstadien mit neuen Bewußtseinsstrukturen einschließlich Zeitstrukturen einleiten. Schon vorab ist zu sehen, daß ein Erklärungsmodell, das sich zwecks Systematisierung der Zeittypen verschiedener evolutiver Phasen bedient, mit Komplikationen zu rechnen hat; denn die Stammesgeschichte des homo sapiens beläuft sich auf einen Zeitraum von ca. 40.000 Jahren, die des homo auf einen Zeitraum von ein bis zwei Millionen Jahren und verliert sich dann im Dunkel der Geschichte. Zudem ist mit einer Streuungsphase, in der Mutationen auftreten und sich durchsetzen, von Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden zu rechnen. 232
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Die Phylogenese
Am ehesten noch wird die Zuordnung der mentalen Phase zum Typ der Linearzeit gelingen, da sie das Verstandesvermögen des Menschen, die Fähigkeit zu abstraktem logischen und mathematischen Denken akzentuiert, worauf die mathematischen Naturwissenschaften basieren. Man pflegt ihren Beginn in Europa in das 6./5. vorchristliche Jahrhundert in Griechenland zu datieren, das als ›Achsenzeit‹ 13 gilt. Wie sich anhand der Literatur, Philosophie und Denkhaltung studieren läßt, erfolgte zu jener Zeit ein Umbruch der Konzeption des Weltbildes von einem magisch-mythischen zu einem mentalen, logischen, in dessen Kontext auch ein Übergang von einer zyklischen Zeitauffassung zu einer linearen stattfand. Wilhelm Nestle 14 hat diesen Umbruch unter dem Titel Vom Mythos zum Logos in seinem gleichnamigen Buch festgehalten. Als physiologische Ursache gibt Brunner-Traut 15 eine zu jener Zeit einsetzende Ausbildung der linken Hemisphäre des Gehirns gegenüber der rechten an, in welcher das analytische Vermögen, das Sprach- und Denkvermögen, lokalisiert ist, das verantwortlich ist für die abstrakten mathematischen Operationen, während Anschauung, Intuition und Phantasie, die musischen, intuitiven Fähigkeiten an die rechte Hälfte gebunden sind. Bemerkenswert ist, daß in diese Zeit auch die Transversion der Schrift von einer ursprünglich Rechtslinks-Ausrichtung bzw. einer Furchenwendung (Bustrophedon) in die von links nach rechts erfolgte. Während Gesetzestexte im archaischen Kreta noch die ursprüngliche Linksausrichtung bzw. die ständige Kehrtwendung erkennen lassen, ändert sich dies im Laufe des 6. vorchristlichen Jahrhunderts. Auch wenn bei allen Menschen bei der Geburt eine Hemisphärensymmetrie besteht, nutzen bis heute einige vorderasiatische Völker wie Juden und Araber die rechte Seite stärker als die linke, was sich an der Schriftrichtung ›dem Herzen zu‹ zeigt. Schwieriger, wenn nicht gar unmöglich ist die Datierung des Beginns der mythischen Phase, der die Zeitgestalten zuzuordnen sind, und damit der Übergang von der magischen Phase mit ihrem durch das dynamische Fließen der Kräfte bestimmten Weltbild, dem das vage, ungestaltete Zeitkontinuum (Zeitfeld, Dauer) zu entspreVgl. K. Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Zürich 1949, S. 18 ff., bes. S. 19. 14 W. Nestle: Von Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates, Stuttgart 1940. 15 E. Brunner-Traut: Frühformen des Erkennens, a. a. O., S. 158 ff., vgl. auch S. 144. 13
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chen hätte, zur strukturierteren mythischen Phase. Manche Forscher setzen den Beginn in die Nach-Eiszeit, andere in die Eiszeit, wieder andere in Millionen Jahre davor. Ob sich überhaupt an einem scharfen Übergang festhalten läßt, ist zu Recht von soziologischer Seite 16 bezweifelt worden, da jeder Mensch und jede Gruppe von Menschen zum Zwecke des Lebens und Überlebens ein gewisses Maß an Handlungskompetenz erworben haben muß, die stets mit einem strukturierten Zeitentwurf innerhalb des Handlungsfeldes verbunden ist. Auch das magische Zeitalter ist handlungsorientiert, z. B. auf die Jagd ausgerichtet, wie nicht zuletzt die prähistorischen Höhlen- und Felsmalereien in Südfrankreich und Spanien (Altamira, Niaux) dokumentieren, auf denen Büffel zu sehen sind, die Speere ins Herz treffen. Solche Zeichnungen nehmen in der magischen Vorstellungsweise Einfluß auf die reale Jagd, indem sie die Kräfte der Natur in bestimmter Richtung bannen. Leo Frobenius hat in seinem Buch Das unbekannte Afrika 17 ein auf einer Expedition 1903 erlebtes Jagdritual eines Pygmäenstammes im Kongo-Urwald beschrieben, an dem drei Männer und eine Frau teilnahmen. Sie zeichneten im Morgengrauen eine Antilope auf einen kahl gerupften Platz, die bei Sonnenaufgang von den ersten Sonnenstrahlen in den Hals getroffen wurde. Im selben Augenblick schoß einer der Männer, der sich neben die Zeichnung gestellt hatte, seinen Pfeil ab, die Frau hob die Hände und rief einige unverständliche Worte, die Männer sprangen auf und verschwanden im Busch, um am Nachmittag mit erlegter Beute zurückzukehren. Das in den Sand gezeichnete Bild, das von den ersten Sonnenstrahlen getroffen wurde, ist hier gleichbedeutend mit dem Schicksal des Tieres, über das die Jagdgesellschaft Macht gewinnt, sobald die Zeichnung angefertigt ist. Zeichnung und Tier, Sonnenstrahl und tödlicher Pfeil sind völlig eins. Mensch und Natur bilden eine noch ungeschiedene Einheit, so daß es letztlich die Natur ist, die handelt und mit dem Sonnenstrahl das Tier durchbohrt. Gleichwohl lebt auch dieses magische Jagdritual von der Handlung und damit von strukturierter Zeit. Ich selbst kann von einem Erlebnis berichten, das ich im Januar 2004 mit einem Schamanen im Amazonasgebiet am Parafluß östlich Vgl. G. Dux: Die Zeit in der Geschichte, a. a. O., S. 103. L. Frobenius: Das unbekannte Afrika. Aufhellung der Schicksale eines Erdteils, München 1923, S. 34 f., 144. Den Hinweis verdanke ich J. Gebser: Ursprung und Gegenwart, a. a. O., 1. Teil, S. 89.
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von Iquitos hatte. Um eine verlorengegangene Person im undurchdringlichen Regenwald wiederzufinden, versetzte sich der Schamane in Trance und lokalisierte die Person. Die übrige Dorfgemeinschaft brach daraufhin auf und fand tatsächlich die Person. Auch hier spielen trotz der in der Trance stattfindenden Vereinigung von Mensch und Natur Handlungsentwurf und Handlungszeit eine Rolle. Selbst wenn Forscher wie William Edward Hanley Stanner 18 bezüglich des magischen Zeitalters von einem dreaming, einer Traumzeit, sprechen, die eine vage, unbestimmte Dauer suggerieren könnte, entpuppt sich diese bei genauerer Analyse als Urzeit, von der die Mythen berichten, in der die Schöpfung der Welt, der Menschen und Tiere sowie der sozialen Institutionen geschah, die bis in die Gegenwart andauern. So berichtet Stanner von einem primitiven Sammlerund Jägervolk, den Arunta in Australien, die in einer solchen Traumzeit leben, einer unvordenklich fernen Zeit, die jedoch nicht einmal war, sondern immer noch ist und immer sein wird und in der sich alle Dinge ereignet haben, die bis in die Gegenwart hinein Gültigkeit besitzen. Stanner unterscheidet drei Arten von Mythen: erstens die kosmogonischen, in denen von der Welterschaffung, der Erschaffung von Sonne und Mond, Bergen, Flüssen und Wasserlöchern berichtet wird, zweitens die intramundanen, die von der Entstehung von Mensch und Tier, von Geburt und Tod erzählen, sowie drittens die sozialen, deren Thema soziale Einrichtungen und Verhaltensweisen sind: Stämme, Clans, Sprachgruppen, Initiationen, Heiratsregeln usw. Obgleich dieses dreaming eine prä-logische, visionäre, vielleicht auch phantastisch zu nennende Urzeit ist, die bis in die Gegenwart hineinreicht, ist sie von Schöpfungsmythen bestimmt, und diese sind, wie alle Mythen, Handlungsberichte. Ob wir an die expliziten Schöpfungsmythen denken, in denen Dinge und Verhältnisse erzeugt bzw. eingerichtet werden, oder an die Meerfahrt-Mythen, die von einem Suchen und Finden berichten, an die Narziß-Mythen, die eine Selbstfindung thematisieren, oder an die Nekyia-Mythen, die von Nachtmeerfahrten, Hadesfahrten, Höllenfahrten erzählen und die Aufgabe haben, den Menschen mit seiner Nachtseite bekannt zu machen und ihm Prüfungen aufzuerlegen 19 , immer sind die Mythen W. E. H. Stanner: The Dreaming, in: W. A. Lessa and E. Z. Vogt (Hrsg.): Reader in Comparative Religion. An Anthropological Approach, 1958, 2. Aufl. New York, Evanston, London 1965, S. 158–167, bes. S. 159. 19 Vgl. J. Gebser: Ursprung und Gegenwart, a. a. O., 1. Teil, S. 117–125. 18
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handlungs- und ereignisbestimmt, berichten von Handlungen und Übergängen und weisen damit einen bestimmten Zeittyp auf, den der strukturierten, geschlossenen Zeitgestalt. Nach diesen Ausführungen dürfte klar sein, daß magische und mythische Epoche weitgehend zusammenfallen, allenfalls unterschieden sind durch den wortlosen Vollzug, Ritus und Kult im magischen Weltbild einerseits und die verbale Artikulation, den ›Bericht‹, die ›Kunde‹ im Mythos andererseits; denn das griechische Wort m‰qo@ geht auf das Verb muqffomai zurück, das ›reden‹, ›sprechen‹, ›sagen‹ bedeutet, dem die Wurzel mu = ›laut werden‹, ›tönen‹ zugrunde liegt. Da etymologisch offensichtlich ein Zusammenhang mit einem anderen, ähnlich lautenden Verb, mue~n, besteht, das ›sich verschließen‹, ›schließen‹ – nämlich Augen, Ohren, Mund schließen –, ›stumm werden‹ bedeutet und zur Mystik führt 20 , ist im Mythos die andere Seite des Schweigens angesprochen. Man kann sagen, daß das magische Weltbild und Weltverhalten mit seiner ursprünglich vagen, undifferenzierten Zeit dem mythischen zugrunde liegt und durch dieses weiter strukturiert wird, so daß beide ineinandergreifen. Abgesehen von der Ungenauigkeit der Datierung der verschiedenen evolutionären Stadien, des magischen, mythischen, mentalen und supramentalen, läßt sich gegen die phylogenetische These und die vermeintliche Zuordnung der Zeittypen zu ihr ein Argument vortragen, das gegen eine evolutionäre Erkenntnistheorie überhaupt spricht und schon des öfteren gegen Gerhard Vollmers21 evolutionäre Erkenntnistheorie vorgetragen wurde. Es lautet dahingehend, daß die sukzessiv fortschreitende Evolution unter einem Zeitbegriff interpretiert wird, dem der Linearzeit, der erst Resultat dieses Prozesses ist. Die Argumentation erweist sich daher als redundant, indem sie von einer Vorstellung Gebrauch macht, die erst zu entwickeln wäre. Sie begeht eine petitio principii, bei der das zu Erklärende, nämlich die Linearvorstellung der Zeit, bereits in die Erklärung eingeht. Wie die früheren Stadien, die vor der Entstehung und Ausbildung der Linearzeit liegen, für diese unerreichbar sind, so müssen auch die späteren Stadien, die auf die Linearzeit bei fortgesetzter Vgl. a. a. O., 1. Teil, S. 112. G. Vollmer: Evolutionäre Erkenntnistheorie. Angeborene Erkenntnisstrukturen im Kontext von Biologie, Psychologie, Linguistik, Philosophie und Wissenschaftstheorie, 4., durchgesehene Auflage Stuttgart 1987.
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Evolution folgen – möglicherweise gehört hierzu bereits die explodierende und kontrahierende Zeit –, von dieser aus unzugänglich und uneinholbar sein. Was jenseits des Lineartyps liegt, entzieht sich der Interpretation, da die Linearität, auf der die Evolution basiert, zur Beschreibung dieser anderen Arten inadäquat ist. Über diese ganz anders gearteten Zeiten und ihre Entstehung läßt sich nur noch spekulieren und metaphorisch sprechen. Das Projekt einer phylogenetischen Erklärung und Ordnung der Zeittypen erweist sich damit als gescheitert.
4.
Das historische Prinzip: die soziale Entwicklung
Nach der Ausbildung eines gewissen naturgeschichtlichen, phylogenetischen Stadiums der Menschheit, des homo sapiens, setzt eine kulturgeschichtliche Entwicklung ein, die keine biologischen Ursachen mehr hat, sondern soziokulturelle und auf geographischen, klimatischen, ethnographischen oder sonstigen Herausforderungen beruht, denen die verschiedenen menschlichen Gesellschaften auf unterschiedliche Weise durch Anpassung und Ausbildung verschiedener Entwicklungsstufen entsprechen. Der Soziologe Dux spricht hier von einem spezifisch anthropologischen Anschlußprogramm an die biologische Entwicklung. 22 Obwohl eine bestimmte biologische Organisation die Voraussetzung bildet, entwickelt der Mensch seine Motorik, seine Handlungskompetenz und seine geistigen Fähigkeiten in bezug auf die Welt in einer Weise, daß sie seiner Bedürfnisbefriedigung dienen, angefangen von der Befriedigung basaler Bedürfnisse wie Hunger und Durst, Schutz gegen Wetter und Unbill bis hinauf zur Befriedigung der höchsten geistigen Bedürfnisse, die zur Entstehung von Religion, Literatur und Philosophie führen. Auch diese historischen Entwicklungsstufen lassen sich für eine Einteilung und Gliederung nutzen. Ethnologen, Soziologen, vergleichende Kulturwissenschaftler und Historiker pflegen die verschiedenen Entwicklungsstadien von Gesellschaften nach einer Skala einzuteilen, die von der einfachsten, primitivsten Stufe, dem Sammler- und Jägertum, das an das Nomadenleben gebunden ist, über die schon höher entwickelte Stufe der
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Vgl. G. Dux: Die Zeit in der Geschichte, a. a. O., S. 43 ff., S. 106 u. ö. A
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Systematik der Zeittypen
Agrikultur, welche Feldwirtschaft und Viehzucht kennt und Seßhaftigkeit voraussetzt, bis zur höchstentwickelten Stufe, der merkantilen, industriellen oder heute post-industriellen, informatorischen Gesellschaft, reicht. Das dabei leitende Prinzip ist die zunehmende Komplexität und Komplexitätsbewältigung, die in primitiven Gesellschaftsordnungen noch relativ gering und einfach ist und in Industrie- bzw. Informationsgesellschaften ein Höchstmaß erreicht. Mit den unterschiedlich ausgeprägten Kulturstufen soll nach dieser Theorie die unterschiedliche Ausprägung von Zeitformationen einhergehen, da jede Stufe der Komplexitätsbewältigung ihr eigenes Zeitschema, ihre eigene Zeitvorstellung verlangt. Das beschriebene Prinzip dient nicht nur zur Beurteilung interner Entwicklungen von Gesellschaften, sondern im Kulturenvergleich auch zur Beurteilung verschiedener Entwicklungsstände verschiedener Gesellschaften. So gibt es noch heute naturhaft, zumindest naturnah lebende Ethnien – wir sprechen hier von Naturvölkern –, wie die Aborigines in Australien, die Papua auf Neuguinea, diverse Negerstämme in Afrika, gewisse Indiostämme wie die Yanomami- und Yagua-Indianer im Amazonasgebiet, die auf der Stufe von Sammlern und Jägern stehengeblieben sind im Vergleich zu den hochentwickelten Zivilisationsgesellschaften Europas und Nordamerikas. Der Entwicklungsgedanke scheint uns das Allerselbstverständlichste von der Welt zu sein. Er ist in unsere Köpfe derart eingebrannt, daß eine Kritik oder Infragestellung sich selber ad absurdum führte. Dennoch ist der Gedanke einer historischen Entwicklung, der stets mit dem Gedanken einer Höherentwicklung, eines Fortschritts verbunden wird, einseitig und tendenziell. Der Ursprung dieses Gedankens reicht weit in die Geschichte zurück; er läßt sich zumindest bis auf Joachim von Fiore zurückverfolgen, der um 1200 die Lehre von den drei Reichen vertrat: Auf das Reich des Vaters folgt in der Weltgeschichte das Reich des Sohnes, nämlich das tausendjährige Reich der Chiliasten, und auf dieses das ›dritte Reich‹, das des Heiligen Geistes, die ›Kirche des Johannes‹. Freilich erst in der europäischen Aufklärung gelangte dieser Gedanke zum Durchbruch. Seitdem Vico 23,
G. Vico: Principij di scienza nuova d’intorno alla comune natura delle nazioni, 3. Aufl. Neapel 1744 (Original 1725) (deutsch: Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker, nach der Ausgabe von 1744 übers. und eingel. von E. Auerbach, 2. Aufl. Berlin 2000).
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Das historische Prinzip: die soziale Entwicklung
Montesquieu 24 , Voltaire 25, Bossuet 26 , Condorcet27 in Frankreich, Spencer 28 und Darwin 29 in England, Lessing 30 , Herder 31 und Schiller 32, ebenso Schelling 33 und Hegel 34 in Deutschland diese Theorie vertraten, hat sich dieser Gedanke, verbunden mit einem Fortschrittsoptimismus, in unseren Köpfen festgesetzt. Es ist nicht zufällig der Standpunkt und Blickwinkel der westlichen Welt, die sich in ihrem Selbstverständnis als die fortgeschrittenste und höchstentwickelte Gesellschaft versteht. Auf der anderen Seite hat es immer auch einen Kulturpessimismus gegeben, der bis in biblische Zeiten zurückreicht. Der Bericht vom Sündenfall und von der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies und seinem Abfall von der ursprünglichen Einheit mit Gott und Natur kann als eines der frühesten Dokumente hierfür gewertet werden. Die antiken griechischen und römischen Schriftsteller wie Herodot, Ovid, Seneca, Plinius der Ältere haben diese Theorie fortCh. L. de Secondat de Montesquieu: Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence, Amsterdam 1734 (deutsch: Größe und Niedergang Roms. Mit den Randbemerkungen Friedrichs des Großen, übers. und hrsg. von L. Schuckert, Frankfurt a. M. 1980). 25 A. F. M. Voltaire: Essai sur les moeurs et l’esprit des nations et sur les principaux faits de l’histoire depuis Charlemagne jusqu’à Louis XIII, Nouvelle édition, 10 Vols., Genf 1771 (deutsch: Versuch einer Schilderung der Sitten und des Geistes der Nationen wobei die Hauptthatsachen in der Geschichte von Karl dem Großen an bis zu Ludwig XIII. aufgestellt werden, in: Voltair’s sämmtliche Schriften, Bde. 4–9, Berlin 1786–1787). 26 J.-B. Bossuet: Discours sur l’histoire universelle, Paris 1681. 27 M.-J.-A.-N. de Caritat Condorcet: Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain, Paris 1794. 28 H. Spencer: Principles of Sociology, 3 Bde., London 1876–1896. 29 Ch. R. Darwin: The Descent of Man and Selection in Relation to Sex, 2 Bde., London 1871. 30 G. E. Lessing: Die Erziehung des Menschengeschlechts, Berlin 1780, neue Aufl. Stuttgart 1986. 31 J. G. von Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 4 Bde., Riga 1785–1802, neue Aufl. München 2002. 32 F. Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: Schiller-Nationalausgabe, Bd. 20: Philosophische Schriften, hrsg. von B. von Wiese unter Mitwirkung von H. Koopmann, 1. Teil, Weimar 1962, S. 309–412 (Original in: Die Horen 1795, 1., 2. und 6. Stück, neue Aufl. Stuttgart 2002. 33 F. W. G. Schelling: Die Weltalter, in: Werke, nach der Originalausgabe in neuer Anordnung hrsg. von M. Schröter, Bd. 4, München 1965, S. 571 ff., und Nachlaßbd., München 1966. 34 G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, in: Werke in 20 Bdn., auf der Grundlage der Werke von 1832–45 neu edierte Ausgabe, Redaktion E. Moldenhauer und K. M. Michel, Bd. 12, Frankfurt a. M. 1970. 24
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gesetzt in der Lehre von den absteigenden Reichen, dem goldenen, silbernen, ehernen Zeitalter. Ovid besingt sie in den Metamorphosen folgendermaßen: »Und es entstand die erste, die goldene Zeit: ohne Rächer, Ohne Gesetz, von selber bewahrte man Treue und Anstand. Strafe und Angst waren fern; kein Text von drohenden Worten Stand an den Wänden auf Tafeln von Erz; es fürchtete keine Flehende Schar ihren Richter: man war ohne Rächer gesichert. Fichten fällte man nicht, um die Stämme hernieder von ihren Höhn in die Meere zu rollen, nach fremden Ländern zu fahren; Außer den ihrigen kannten die Sterblichen keine Gestade. Keinerlei steil abschüssige Gräben umzogen die Städte; Keine geraden Posaunen, nicht eherne Hörner, gekrümmte, Gab es, nicht Helme noch Schwert, des Soldaten bedurften die Völker Nicht: sie lebten dahin sorglos in behaglicher Ruhe. Selbst die Erde, vom Dienste befreit, nicht berührt von der Hacke, Unverwundet vom Pflug, so gewährte sie jegliche Gabe, Und die Menschen, zufrieden mit zwanglos gewachsenen Speisen, Sammelten Früchte des Erdbeerbaums, Erdbeeren der Berge, Kornelkirschen, in stachligen Brombeersträuchern die Früchte Und die Eicheln, die Jupiters Baum, der breite, gespendet. Ewiger Frühling herrschte, mit lauem und freundlichem Wehen Fächelten Zephyrlüfte die Blumen, die niemand gesäet. Ja, bald brachte die Erde, von niemand bepflügt, das Getreide: Ungewendet erglänzte das Feld von gewichtigen Ähren. Hier gab’s Ströme von Milch, dort ergossen sich Ströme von Nektar, Und es troff von der grünenden Eiche der gelbliche Honig. Aber nachdem man Saturn in des Tartarus Dunkel geworfen, Und die Welt unter Jupiter stand, erschien ein Geschlecht von Silber, geringer als jenes von Gold, wertvoller als Bronze. Jupiter kürzte den einstigen Frühling: durch Winter und heiße Sommer, durch wetterwendische Herbste und einen gar kurzen Frühling ließ er das Jahr in vier Perioden verlaufen. Damals erglühte die Luft in trockener Hitze zum ersten Mal, und es hingen Zapfen von Eis, von den Winden gefroren; Jetzt erst suchte man Obdach: die Häuser bestanden aus Höhlen, Auch aus dichtem Gesträuch und aus Ruten, von Rinde umkleidet; Jetzt erst warf man die Samen der Ceres in längliche Furchen, Und es stöhnten die Stiere, die jungen, vom Joche geknechtet. Drittens folgte auf dieses sodann ein ehern Geschlecht nach, Grimmiger schon im Gemüt, zu den schaurigen Waffen bereiter, Aber noch ohne Verbrechen. Das letzte Geschlecht ist von hartem Eisen. Da brachen sogleich in die Zeit des geringern Metalles
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Jegliche Frevel; es flohen die Scham, die Wahrheit, die Treue. Dafür erwuchsen die Laster: Betrug und allerlei Ränke, Hinterlist und Gewalt und die frevle Begier nach Besitztum. Segel bot man den Winden – noch kannte der Schiffer sie wenig –, Und die Kiele, die lang in den hohen Gebirgen gestanden, Munter tanzten sie jetzt auf unbekannten Gewässern; Und der Boden, der früher Gemeingut war wie die Lüfte Und wie das Licht, jetzt ward er genau mit Grenzen bezeichnet. Nicht nur Saaten verlangte der Mensch von dem üppigen Boden, Nahrung, die zu gewähren er schuldete, nein, in der Erde Tiefen drang man, die Schätze zu graben, Lockmittel des Bösen, Die sie im Innern verwahrte, zunächst bei den stygischen Schatten. Schon ist das schädliche Eisen erschienen und, schlimmer als Eisen, Gold; nun erscheint auch der Krieg: er kämpft ja mit beiden Metallen, Und er schüttelt mit blutiger Hand die klirrenden Waffen. Also lebt man vom Raub: nicht trauen sich Wirte und Gäste, Nicht der Schwäher dem Eidam, auch Bruderliebe ist selten. Gatte und Gattin, sie trachten nach wechselseitigem Morde; Für Stiefkinder mischen die Mütter entsetzliche Gifte; Frühe erforscht der Sohn die Todesstunde des Vaters; Ehrfurcht und Rechtlichkeit liegen zertreten; Astraea, die Jungfrau, Hat, die letzte der Götter, die blutige Erde verlassen.« 35
Am radikalsten und durchschlagendsten wohl war Rousseaus Zivilisations- und Kulturkritik auf die von der Akademie der Wissenschaften in Lyon gestellte Preisfrage, welches der wirkliche Fortschritt der Menschheit in Wissenschaft und Kunst sei, die Rousseau mit dem Hinweis auf die zunehmende Denaturalisierung und Selbstentfremdung des Menschen, die Dekadenz in Erziehung und Sozialisation, die Verformung durch Institutionen wie Schule, Kirche, Staat usw. beantwortete. Die Kritik ist heute wieder aufgeflammt angesichts der desaströsen Folgeschäden der modernen Technik und Technologie, die nicht nur im Raubbau an der Natur und in der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen bestehen, sondern auch in einer Entfremdung, einem Identitätsverlust der Person u. ä. Die Modernisierungsschäden unseres technisch-technologischen Zeitalters hat Heidegger für so fatal gehalten, daß er in seinem postum veröffentlichten Spiegel-Interview vom 23. September 1966 den
P. Ovidii Nasonis Metamorphoseon libri XV/ Publius Ovidius Naso: Metamorphosen, Epos in 15 Büchern, hrsg. und übersetzt von H. Breitenbach, Zürich 1958, S. 9 ff., Liber 1, Vers 89–150.
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Ausspruch fällte, daß nur ein Gott uns noch retten könne. 36 Die Denaturalisierung, die Entfernung vom ursprünglich natürlichen Zustand, die Veroberflächlichung und Verflachung hat eine nochmalige Steigerung erfahren in unserer heutigen Fun-Gesellschaft, die sich durch die Stichworte ›Mickey Mouse‹, ›Donald Duck‹ und andere infantile, popartig aufgeblasene Gestalten, Comic Strips, Filme wie Der Herr der Ringe und nicht zuletzt durch den extremen Materialismus, das rein pekuniäre Denken, charakterisieren läßt. Abgesehen davon, daß jede Beurteilung eines historischen Entwicklungsstands einer Gesellschaft mitsamt dem Zeitverständnis subjektiv ausfällt, abhängig von der persönlichen Ansicht des Urteilenden, muß sich eine Klassifikation, welche die westliche Gesellschaft mit ihrem Zeitverständnis, das gegenwärtig die Linearzeit ist, für die höchstentwickelte hält, den Vorwurf des Ethnozentrismus gefallen lassen. Könnte es nicht sein, daß unsere Gesellschaft auf ihrem Entwicklungsgang Qualitäten und Fähigkeiten, die auf eine Sublimierung des Menschen schließen lassen und höher einzustufen wären, aufgrund ihrer Verflachungstendenz eingebüßt oder bewußt beiseite gelassen hat, Fähigkeiten und Vermögen, die andere Gesellschaften wie die indische und die ostasiatischen präferiert und ausgebildet haben, wie die über Yoga und Meditation zu erreichende Bewußtseinserweiterung, die nicht nur mit Erleuchtung und Levitation, sondern auch mit einem umfassenden suprarationalen Zeitverständnis verbunden ist? Wer wollte diese Kulturen wirklich disqualifizieren? Ordnet man hypothetisch einmal die verschiedenen Zeittypen den verschiedenen Entwicklungsständen von Gesellschaften zu: die Indifferenz von Zeit und Raum dem magischen Entwicklungsstand, die Zeitgestalten dem mythischen, die Linearzeit dem mentalen, die Zeitexplosion mit dem Zeitkollaps dem suprarationalen, so hätte man die archaischen Hochkulturen der Sumerer, Assyrer, Babylonier, Ägypter, Hethiter usw. aufgrund ihres gestalthaften Zeitverständnisses, dem magisch-mythischen Entwicklungsstand zuzurechnen. Hinzu kommt, daß sich diese Kulturen durch eine Analogie- bzw. Ähnlichkeitslogik, ein parataktisch-assoziatives Denken vom hypotaktisch-linearen Denken der griechischen, westlichen Kultur mit ihrer binären Logik und ihrer hierarchischen Subordina-
Vgl. M. Heidegger: Nur noch ein Gott kann uns retten. Spiegel-Gespräch mit Martin Heidegger am 23. Sept. 1966, in: Der Spiegel, Nr. 23 (1976), S. 193–219, bes. S. 209.
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tionsvorstellung unterscheiden. 37 Wer wollte wirklich diese Hochkulturen nur aufgrund ihres andersartigen Denkens und Vorstellens disqualifizieren? Und bedenkt man angesichts der katastrophalen Folgen der Technik- und Technologieentwicklung der westlichen Welt, die inzwischen global sichtbar werden, welche Alternative das Ökologiebewußtsein und -verhalten von Naturvölkern wie der Indios anbietet, das nicht nur mit einem umfassenderen, sondern auch mit einem tieferen Naturgefühl und Zeitverständnis verbunden ist, wer wollte da wirklich deren ›Entwicklungsstand‹, der heute von vielen als Ausweg angesehen wird, degradieren und disqualifizieren?
5.
Das psychisch-epistemische Prinzip: die Morphologie
Nach der Diskussion der bisherigen Einteilungs- und Gliederungsprinzipien der Zeittypen: des biologisch-ontogenetischen und des biologisch-phylogenetischen sowie des historisch-kulturellen mitsamt ihren Schwierigkeiten bleibt jetzt noch die Einteilung nach dem psychisch-epistemischen Prinzip zu erörtern: nach den Vermögen des Menschen wie dem vital-emotionalen, dem operationalen, dem mentalen und dem suprarationalen. Wir haben es hier mit verschiedenen Organisationsstufen der subjektiven Vermögen des Menschen zu tun, deren Rangordnung wir zumeist nach der Komplexität der Organisation bestimmen, anfangend mit der vagen, relativ undifferenzierten vital-emotionalen Stufe, der Befindlichkeit, darauf basierend der operationalen, die das Vermögen der Wahrnehmung als Grundlage der Handlung einschließt, und, wiederum darauf basierend, der mental-reflexiven Stufe, der der Verstand zuzuordnen ist, und der noch höherstufigen, noch umfassenderen, der die integrale Vernunft entspricht. Diesen verschiedenen Organisationsstufen sind die verschiedenen Zeittypen zugeordnet, der Stufe der Befindlichkeit und Gestimmtheit plausiblerweise die Zeit-Raum-Indifferenz bzw. die unbestimmte Dauer, der operationalen die Handlungszeit mit den Zeitgestalten, der mentalen die Linearform mit ihren Varianten und der suprarationalen die multidimensionale pulsierende Zeit, so daß sich auch bezüglich der Zeittypen eine Stufung oder Schichtung ergibt. 37
Vgl. K. Gloy: Vernunft und das Andere der Vernunft, a. a. O. A
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Wenngleich auf den ersten Blick das Stufenmodell der menschlichen Vermögen und der ihnen entsprechenden Zeittypen den Gedanken einer biologischen Höherentwicklung oder eines historischen Fortschritts nahelegen mag, ist dies hier nicht gemeint. Gemeint ist ausschließlich eine Schichtung von Formen bzw. Strukturen im Sinne einer intellektuellen Rekonstruktion, einer verstandesmäßigen Erfassung und Durchdringung der menschlichen Zeiterfahrungen. Auch wenn Gesteinsschichten dem Geologen oder Baumringe dem Biologen Hinweise auf deren Alter und somit auf die Chronologie geben, soll die hier vorgelegte Stratifizierung von Zeittypen gerade nicht einen bestimmten Zeittyp, den der fortschreitenden, chronologischen Zeit, präferieren und als Fundament der Bewertung in Anspruch nehmen. Damit entfällt auch jede Wertung im Sinne eines Fortschritts, einer Steigerung oder Höherentwicklung. Es ist nicht einzusehen, daß eine Geistesverfassung wie die Mystik oder Yogaund Meditationsübungen und die mit ihnen verbundenen Zeiterfahrungen tiefer einzustufen wären als der Verstand und die von ihm reflektierte Zeitform. Der Gedanke einer Schichtung bzw. Stufung der Wirklichkeit und des einzelnen in ihr ist nicht neu; er ist der tragende Grund von Goethes Weltsicht, ebenso von Rudolf Steiners Anthroposophie und Nicolai Hartmanns Organisationsformen der Welt. Das Thema der Einbettung der Erkenntnisvermögen – gerade auch der höheren – in die Gesamtleiblichkeit und -befindlichkeit, des Kognitiven in das Prä- und Subkognitive, des Theoretischen in das Praktische, beschäftigt darüber hinaus die Phänomenologen von Husserl bis Heidegger. Für den späten Husserl ist die Rückbezogenheit aller Erkenntnisse, insbesondere der wissenschaftlichen, auf entsprechende Vorgegebenheiten des lebensweltlichen Subjekts zum Untersuchungsgegenstand geworden. In diesem Sinne haben auch Becker 38 und Ströker 39 bezüglich des Raumes Konstitutionstheorien entworfen, Becker dergestalt, daß er von einem taktilen und visuellen Feld über eine Topologisierung und Metrisierung zum geometrischen Raum gelangt, und Ströker so, daß sie den Hervorgang mathematischer Räume aus dem gestimmten Raum über den Aktionsraum und den Anschauungsraum zeigt. O. Becker: Beiträge zur phänomenologischen Begründung der Geometrie und ihrer physikalischen Anwendungen, a. a. O., bes. S. 446 ff., 2. Aufl. S. 62 ff. 39 Vgl. E. Ströker: Philosophische Untersuchungen zum Raum, a. a. O. 38
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Wenn von einer Rangordnung, und sei es nur im subjektiven Sinne, die Rede ist, so ist nach den Kriterien derselben zu fragen. Ein Kriterium könnte beispielsweise in der zunehmenden Vereinheitlichung, Abstraktion und Metrisierung bestehen und an der Formalisierung und Mathematisierung der Welt interessiert sein. Es ginge von einer indifferenten, für den Intelllekt unstrukturierten Zeitschicht, dem Zusammenfall von Zeit und Raum im Feld, aus, das die Grundlage jedweder Strukturierung bildete. Man nähme darin die Strukturierung von Zeitgestalten durch Handlungsoperationen vor, deren einzelne, individuelle Formationen egalisiert, sukzessiv aneinandergereiht und schließlich synthetisiert würden zur unendlich homogenen, kontinuierlichen Linearzeit, welche ihrerseits die Grundlage mathematischer Konstruktionen bildete. Bei einem solchen Aufbau wäre das Prinzip der Generalisierung, Homogenisierung und Metrisierung leitend. Man könnte sich aber auch die umgekehrte Vorgehensweise denken, die an der Fundierung der wissenschaftlichen Zeitauffassung in der lebensweltlichen interessiert wäre, wie dies bei den Phänomenologen und Existenzphilosophen der Fall ist, bei denen, wie z. B. bei Heidegger, die theoretische Konzeption die Folge eines gestörten, brüchig gewordenen praktischen Umgangs mit den Dingen ist und durch Auffällig-, Aufdringlich-, Aufsässigwerden der praktischen, ›zuhandenen‹ Dinge und ihrer zeitlichen Kontexte geschieht. Hier wäre das Fundierungsanliegen in immer tieferen Schichten der Leitgedanke. Mit Nachdruck sei betont, daß es sich bei dem morphologisch-stratifizierenden Einteilungsprinzip um ein subjektives, methodologisches handelt, das ausschließlich der Plausibilisierung und Organisation der Welt von unserem erkenntnistheoretischen Standpunkt aus dient und der Maxime des Konstruktivismus folgt. Dieser Umstand qualifiziert unsere Untersuchung retrospektiv als ein Verstehensmodell, als eine intellektuelle Rekonstruktion. Ziel war es, die verschiedenen Zeittypen zu eruieren und zu charakterisieren, Zeittypen, die nicht nur in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen: der Psychologie, Medizin, Soziologie, Mathematik usw. unterschiedliche Präferenz erfahren, sondern auch in den verschiedenen Kulturen unterschiedlich ausgeprägt sind und zu den verschiedensten Weltbildern geführt haben. Wie die Analysen haben deutlich werden lassen, ist die Zeitauffassung nicht definitiv festgelegt; weder ist sie eine anthropologische Konstante noch eine apriorische Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis, vielmehr A
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handelt es sich um eine bewußtseinsgeschichtlich wie kulturell bedingte Sicht- und Interpretationsweise, nicht anders wie bei der Raumerfahrung und -konzeption auch.
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Personenverzeichnis
Abiam 127, 128 Abisalom 127 Abraham 122 Achill 93, 141 Adam 98 Adelheid von Rheinfelden 63 Adonis 100 Agamemnon 93 Agrell, Sigurd 145 Albert, Stephen 214 Alberti, Leon Battista 188 Allah 27–29, 200 Amazja 127 Anaximandros 130,131 Andromache 116 Angelus Silesius 63 Anschar 106 Anu 106, 108 Anzengruber, Ludwig 206 Apophis 108 Apsu 106, 107, 111 Aristoteles 7, 9, 14, 53, 65, 67, 83, 115, 132, 133, 163, 167, 168, 178, 202, 211 Asa 127 Asarja 127 Athene 94, 138 Augustin 7, 65, 72 Augustus 96, 158 Baal 76, 108, 124 Becker, Oskar 17, 18, 244 Beneviste, Émile 116 Bergson, Henri 8, 17, 74, 204 Bernhard von Clairvaux 63, 65, 68 Besso, Michele 215 Bignone, Ettore 134 Blumenberg, Hans 23, 24 Bohm, David 211 Böhme, Jakob 137
Bollack, Jean 134 Boltzmann, Ludwig 171–174 Borges, Jorge Luis 213 Bossuet, Jacques-Bénigne 239 Braque, Georges 218 Brecht, Bertolt 51, 77 Briseus 93 Broglie, Louis-Victor de 222 Brunelleschi, Filippo 188 Brunner-Traut, Emma 91, 119, 126, 153, 204, 233 Bruno, Giordano 137 Burnet, John 131, 134 Cassirer, Ernst 14, 17, 75, 83, 88, 104, 147, 148 Cézanne, Paul 218 Chnum 99 Chryses 93 Clarke, Samuel 189 Clemens von Alexandrien 132 Condorcet, Marie-Antoine-Nicolas de Caritat 239 Cullmann, Oskar 125 Curtius, Georg 144 Cusanus, Nicolaus 102 Cyrenius 96 Damkina 106 Darwin, Charles R. 232, 239 David 127 Derrida, Jacques 206 Deuterojesaja 124 Diels, Hermann 117 Dingler, Hugo 102 Dionigi, Francesco von Borgo San Sepolcro 188 Dionysios Areopagita 65 Dionysos 99–100 Dostojewskij, Fjodor M. 27, 29 A
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Personenverzeichnis Driver, Simon 176 Duchamps, Marcel 219 Dux, Günter 19–21, 76, 82, 94, 99, 104, 155, 164, 228, 229, 234, 237 Ea 106, 107, 108 Eckhart, Meister 65–72, 137 Einstein, Albert 166, 189, 190, 194, 195, 208, 215 Eliade, Mircea 62, 98, 109, 113 Elochim 99 Empedokles 116, 117, 130, 133, 134 Endemann, Karl 147 Enlil 108 Euripides 116, Eva 98 Everett, Hugh 216, 217 Finkenstaedt, Thomas 91, 94, 95 Francesca, Piero della 188 Fränkel, Hermann 92, 94 Freud, Sigmund 48 Friedrich, Caspar David 45 Frobenius, Leo 234 Gaia 138 Galilei, Galileo 191 Gebser, Jean 10, 22, 23, 47, 136, 138, 164, 188, 222, 223, 234, 235 Georg 108 Gertrud die Große 65 Gibbs, Josiah Willard 174 Giotto 188 Gipper, Helmut 156, 158, 159 Gödel, Kurt 195 Goethe, Johann Wolfgang von 37, 40, 48, 63, 77, 83, 137, 215, 244, 245 Gogh, Vincent van 218 Grieg, Edvard 41 Gurwitsch, Aron 51 Guthrie, William Keith Chambers 134 Hannas 96 Hartmann, Nicolai 244 Hartner, Willy 139 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 225, 239 Heidegger, Martin 8, 17, 48, 50, 85, 86,
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98, 162, 170, 177, 186, 204, 241, 242, 244, 245 Heim, Albert 59, 60 Heisenberg, Werner 210 Hektor 116 Henlein, Peter 25 Heraklit 130–132, 136 Herbig, Gustav 145 Herder, Johann Gottfried von 239 Hermes 94 Herodes 96 Herodot 121, 135, 239 Herzog, Thomas 218 Hesekiel 124 Hesiod 116 Hildegard von Bingen 63, 65 Hippolyt von Rom 132 Hirschfeld, Christian Cay Lorenz 43 Hiskia 127 Hoche, Alfred 29, 54, 55, 56 Hölscher, Uvo 134 Homer 91, 92, 94, 105, 115, 116, 131, 233, Horus 76 Husserl, Edmund 8, 15, 17, 23, 24, 40, 50, 74, 186, 204, 244 Illuyankash 108 Imir 99 Indra 108 Jahwe 119, 122–124, 127–129 Jensen, Hans 84, 85, 144, 146, 148, 150, 151, 198–202, 204–207 Jeremia 124 Jerobeam 127, 128 Joachim von Fiore 238 Joas 127 Johannes Scotus Eriugena 65 Josaphat 127 Josia 127 Josua 29, 123 Jotham 127 Jung, Carl Gustav 139 Jupiter 113, 240 Kaiphas 96 Kant, Immanuel 8, 14, 39, 54, 59, 73,
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Personenverzeichnis 74, 79, 102, 115, 162, 165, 184, 185, 186, 187, 189, 190, 209, 231 Kiesel, Bernhard 20, 229 Kingu 107, 108, 111 Kischar 106 Klingnau, Sophie von 63 Krause, Wolfgang 145, 147, 148 Kronos 138 Labat, René 106, 113 Lachamu 106 Lachmu 106 Lackeit, Conrad 115 Laktanz (Lactantius) 101 Laotse 137 Leibniz, Gottfried Wilhelm 115, 180, 189 Leisegang, Hans 136–138 Lessing, Gotthold Ephraim 239 Lévi-Bruhl, Lucien 168 Levin, Iris 226 Lorentz, Hendrik Antoon 191, 195 Lorenzen, Paul 102 Löwith, Karl 125 Lysanias 96 Maacha 127 Marduk 99, 107–111, 113 Masaccio 188 McTaggart, John Ellis 9, 165, 166 Mechthild von Hackeborn 65 Mechthild von Magdeburg 65 Merleau-Ponty, Maurice 8, 17, 204 Metis 138 Meyer, Conrad Ferdinand 57 Minkowski, Hermann 195, 223 Mohammed 27, 29 Mohr, Karl 45 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat de 239 Month 76 Moore-Ede, Martin 36 Morenz, Siegfried 76, 98, 99 Müller, Werner 84, 153 Munch, Edvard 45 Myschkin, Lew Nikolajewitsch 27
Nestle, Wilhelm 131, 133, 233 Newton, Isaac 10, 38, 43, 162, 166, 181–184, 189, 191, 213 Nietzsche, Friedrich 57 Nudimmut 106 O’Brien, Denis 134 Odysseus 93, 94, 123 Olympiodorus philosophicus 114 Osiris 99, 100 Ovid 239–241 Panse, Friedrich 32, 33, 51, 54, 60 Parmenides 9, 58, 132 Perugino, Pietro di Cristoforo 188 Piaget, Jean 226–228 Picasso, Pablo 219 Ptahhotep 76 Platon 9, 14, 65, 67, 99–101, 114, 115, 118, 140–142 Petrarca, Francesco 188 Palágyi, Melchior 11 Patroklos 116 Poincaré, Herni 172 Plotin 178, 179 Pisano, Andrea 188 Plinius der Ältere 239 Philippus 96 Pontius Pilatus 96 Popper, Karl R. 172, 174 Pên Ts’ui 214 Purusha 99, 100 Rad, Gerhard von 96, 119, 120, 122, 127, 128 Ramses II. 76 Reinhardt, Karl 132, 136 Riemann, Bernhard 18, 194 Roehl, Karl 146 Rogoschin 29 Rolland, Romain 48 Rousseau, Jean-Jacques 241 Rupert von Deutz 65 Sacharja 124 Salomon 77 Sartre, Jean Paul 50, 74, 186 Scheherazade 214
A
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Personenverzeichnis Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 137, 225, 226, 239 Schiller, Friedrich 45, 46, 239 Schmitz, Hermann 8, 17, 46, 48, 54, 62 Schopenhauer, Arthur 213 Seneca 239 Seuse, Heinrich 137 Severini, Gino 218, 219 Sigmund 95 Simplicius 132 Solmsen, Friedrich 134 Sophie von Klingnau 63 Spencer, Herbert 239 Stahlschmidt, Andrea 156, 158, 159 Stanner, William Edward Hanley 235 Steiner, Rudolf 244 Steinthal, Heymann 88 Stern, William 204 Streitberg, Wilhelm 145, 199 Ströker, Elisabeth 17, 18, 44, 86, 87, 244 Suleika 63
Tiberius 96 Tiâmat 99, 106–108, 111 Uranus 138 Vannucci, Pietro 188 Vico, Giambattista 238 Vinci, Leonardo da 188 Vollmer, Gerhard 236 Voltaire, Arouet, François-Marie 239 Vritra 108 Wackernagel, Jacob 145 Weizsäcker, Carl Friedrich von 172, 175, 195, 209, 216, 219–222 Wendorff, Rudolf 13, 72 Werther 48 Westermann, Dietrich 88 Whorf, Benjamin Lee 152–154, 156, 157, 159, 160 Wilkening, Friedrich 226 Wittgenstein, Ludwig 11, 12 Yam 108
Theophrast 131, 132 Thomas von Aquin 65 Telemach 94 Thiercy, G. 10 Toth 76
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Zeller, Eduard 131, 133 Zenon 88, 141, 189, 190, 228 Zermelo, Ernst 172, 173 Zeus 93, 116, 135, 138
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Sachverzeichnis
Achsenzeit 233 Ägypter 98, 119, 122, 128, 244 Ahistorizität 81, 87, 89, 92 Aion (Äon) a§ðn 115–118, 172 Akosmia 133 Aktionsart 144, 145 –, durative 145, 147, 149, 158 –, inchoative 149 –, ingressive 149, 158 –, iterative 149, 158 –, modale 148, 151, 200 f. –, nicht-durative 147–149 –, perfektive 9, 147–149 –, räumlich-lokale 148, 150 –, räumlich-zeitliche 148, 150 –, relationale 148, 151 –, stative 149 –, terminative 145 –, zeitliche 148 Allah-Legende 27 All-Eines 141–143, 168 Allgegenwart 27, 58, 62, 135, 200 f., 219 Allheit 141 Ältersein 140–143 Amazonas 234, 238 Amorphes 100 Anachronismus 91–93 Anfang –, der Welt 100, 176 –, einer Handlung 73, 98, 167 Angst 27, 30, 33, 35, 42, 48 f., 51 f., 54, 56, 59–61, 63 Anmutungsqualität 39, 73 Anschauungsform 8, 39, 162, 184, 225 Antagonismus 133 Anthropologie 54, 67 Anthroposophie 244 ˝peiron 130 f. Aperspektivität 89 f., 219, 222 f.
Arawa 98 f. Archetyp 110 f., 114, 139, 159, 232 A-Reihe 9, 166 Arunta 99, 235 Aspekt 9, 65, 68–70, 144–149, 157, 200 f. –, Imperfektiv 148 f. Assoziation 133 Aufklärung 24, 103, 179, 138 Augenblick 8, 13, 28–30, 40, 63, 68, 71, 77 f., 84, 141, 164, 166, 168, 187, 199 f., 202, 234 Ausdifferenzierung 99, 130 f. Ausdrucksphänomen 41, 45 Ausdrucksqualität 44 Austausch 58,132–134, 136, 165, 228, Autopoiesis 225 Babylonier 26, 111, 113, 119, 242 Befindlichkeit 14 f., 31, 38, 42, 44, 49, 55 f., 243 f. Beschränktheit 46, 163 Beständigkeit 134 Bestimmtheit 213 Bewegung 7 f., 10, 18, 39, 44, 46–48, 53, 57, 59 f., 65, 69, 79 f., 88, 114, 118, 125, 131, 135, 140, 143, 156, 165, 171, 181, 183, 189–191, 193 f., 210, 227–230 Bewußtsein 45, 89, 136, 177, 194, 215, 217, 221–223, 225 Bewußtseinsstrom 74 f. Bewußtseinsstruktur 22, 222, 232 Bibel 119, 121, 127 B-Reihe 9, 165 f. Bustrophedon 233 Chaos 35, 100, 111, 113 Christentum 65 f., 99, 125, 168 Chronologie 93 f., 110, 128, 244 A
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Sachverzeichnis Chronotyp 34 f. Daseinsanalyse 177 Dauer 8, 16 f., 19, 25 f., 28, 30, 34–38, 40–42, 44, 46–66, 68, 70, 72 f., 75– 78, 91, 93, 100, 104, 112, 126, 146, 149, 156, 158, 162, 173, 181, 191 f., 194, 195, 197 f., 203 f., 208, 217, 227, 230, 233, 235, 243 –, relative 19, 25 f., 28, 30, 32, 34, 36, 38, 40, 42, 44, 46, 48, 50, 52, 54, 56, 58, 60, 62, 64, 66, 68, 70, 72 Dehnung 10, 29, 49, 53, 57, 73, 112 Déjà-vu-Erlebnis 10, 29 Denken –, frühes 76 –, griechisches 129–143 –, philosophisches 65 Denkform 136, 138 Differenz 26 f., 30, 34, 42, 53, 81, 146, 154, 168, 196, 200, 217 Differenzierung 16, 40, 99 f., 130 f., 133, 227 Disposition 30, 33, 49 Dissoziation 133 Dreaming 235 Droge 10, 31, 33, 60 Dual 65, 169 Einzigartigkeit 155 Ekstase 8, 48, 68, 177 f. –, der Gegenwart 8, 177 –, der Gewesenheit 8, 177 –, der Zukunft 8, 177 Elektron 208, 210 f. Endlichkeit 71, 75, 80, 163, 177, 194 f. Engung 42, 46–48, 62 f. Entropie 172–177, 223 -anstieg 175 -zunahme 174 f. -zuwachs 172 f., 176 Entwicklung 9, 16, 19–22, 25, 36, 57, 115 f., 121, 128, 131–133, 147, 155, 158 f., 176, 188, 199–201, 204, 225– 227, 229–232, 237–239, 241–244 Entwicklungsgedanke 120, 225, 238 Enuma elisch 98 f., 105 f., 111 Epos 19, 91, 93–95, 105, 107, 241
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Erfahrung 23, 35, 39, 62–64, 67 f., 70– 72, 102, 129, 171, 184, 188, 214 Erfahrungsurteil 186 Erkenntnis 8, 14 f., 186, 194, 204, 231, 245 -theorie 236 -vermögen 14, 244 Erleuchtung 61 f., 242 Eschatologie 19 Ethnozentrismus 230, 242 Eurozentrismus 12, 230 Evolution 20–22, 34, 155, 175–177, 225, 236 f. Evolutionstheorie 12 Ewigkeit 27, 32, 47, 54 f., 57 f., 63, 65– 72, 114 f., 178 f., 222 Existentialismus 86, 177 Ferne 39, 42, 46, 77, 80 f., 84, 86 f. Feuer 131 f., 136 Fließen 9, 31, 50, 53, 112, 122, 165, 171, 182, 233 Fortschritt 22 f., 88, 118, 120, 143, 238 f., 241, 244 Fremdheit 39, 42 Futur 84, 203, 205 f. Ganzes 163 Ganzheit 38, 50, 78, 82, 117 f., 141, 177 Gattung 20, 176 Gedicht 37 f., 56 f., 77 Gegenwart 8–10, 12 f., 19, 22 f., 31 f., 47, 50, 56–58, 66–68, 71, 73, 82, 84 f., 97 104 f., 124, 134, 136, 138 f., 140 f., 143 f., 146–148, 150, 152, 157, 160, 164–166, 171, 177, 183 f., 186– 188, 196–198, 200–206, 214 f., 217, 219 f., 222, 234 f. Gegenwärtigkeit 42, 46 f., 82–84 Geistesgeschichte 20, 24, 101 Genealogie 106, 109–111 Gesamtleiblichkeit 244 Geschichte12–14, 19 f., 24, 68, 72, 76, 82, 90–92, 94, 97, 99, 102, 104 f., 119–122, 124–126, 128, 132, 145 f., 155, 164, 179, 208, 214, 220, 227– 229, 232–234, 237–239
ALBER PHILOSOPHIE
Karen Gloy https://doi.org/10.5771/9783495997116 .
Sachverzeichnis Geschichtsschreibung 90 f., 120 f., 126– 128 Geschwindigkeit 191–194, 196 f., 227– 230 Gesellschaft 10, 13 f., 16, 20 f., 31, 35 f., 79, 100, 110 f., 123, 155, 204, 225, 231, 234, 237–239 Gleichaltsein 140 f. Gleichursprünglichkeit 134 Gleichzeitigkeit 24, 53, 81, 85, 158, 164 f., 183, 191 f., 194 f., 198, 200, 202 f., 205 f., 298, 217, 227 f. Griechen 9, 77, 113, 115, 120, 123, 131, 133, 139, 188, 233 Handlung 15, 73–75, 77, 79–82, 85, 87, 92, 94 f., 98, 100, 121, 126, 129, 145, 144, 146–151, 157 f., 166, 198, 224, 234, 243 Handlungsfeld 82, 167, 234 -kompetenz 20–22, 227 f., 234, 237 -logik 10, 21, 78, 82, 91, 97 f., 114, 117, 121, 138, 157–159 -struktur 75, 82, 97, 105, 232 -ursprung 167 -zeit 17, 19–21, 73–118, 120, 122, 158, 159–161, 164, 166, 171, 180, 198, 201–203, 230, 235, 243 Harmonie 28, 133 Haß 123, 133 Heil 125 Heilsgeschehen 124–126 Heilsgeschichte 124, 126 Hesychasmus 61 f. Hier und Jetzt 42, 46, 73, 80, 83, 87, 129 Homogenität 66, 113, 163, 183, 195, 231 Hopi 152 f., 156–161 Identität 104 f., 111, 118, 123, 132, 134, 138, 176, 211, 231, 241 Ilias 91, 93, 105, 116 Imperfekt 148, 201, 205 Impuls 160, 210 f. Indikation 71 Interaktion 21
Invarianz 164 Irreversibilität 165, 170, 174–178, 212, 216 f. Israeliten 98, 119, 123 Jüngersein 140, 143 Kompetenz 20, 22, 155, 227 f., 234, 237 Komplementarität 49, 209, 212 Komplementaritätsbegriff 216 Konstanz 26, 134, 164 f. Konstitution 17, 19, 21, 24, 30, 90, 185, 244 Konstruktivismus 102, 155, 245 Kontiguität 163, 167 Kontinuität 14, 66, 163, 183, 195, 213, 231 Kontinuum 19, 167, 180, 188, 195, 204, 208, 233 Kontraktion 46, 49, 53, 57 f., 73, 208, 217 Koordinatensystem 80, 91, 166, 181, 191 Kosmos (ksmo@) 10, 25, 93 f., 101, 102, 109, 114 f., 118, 123, 134, 140 f., 156 Kreis 49, 113 -figur 139 -lauf 80, 100, 137, 139, 178 Kulturgeschichte 12, 128, 169, 204 -vergleich 13, 19 f., 168 Labyrinth 213–215 Lagezeit 8, 13, 87, 164–166, 185–187, 200 Langeweile 17, 29, 32 f., 42, 54 f., 58, 224 Lebensbilderschau 10, 29, 58, 61 -kraft 76, 114–118 -welt 15 f., 23, 36, 244 f. -zeit 23 f., 76, 79, 115–118, 128 Leibbeherrschung 62 -bemeisterung 62 Liebe 59, 77, 123, 133 Linearität 118 f., 140, 179, 211, 213, 219, 231, 237 Linearzeit 18 f., 39, 78 f., 81 f., 88, 91,
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Zeit https://doi.org/10.5771/9783495997116 .
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Sachverzeichnis 129, 134, 140, 153, 159, 162–164, 166–168, 180, 195, 198, 213, 215, 217 f., 222–224, 230 f., 233, 236, 242, 245 Literatur 19, 72, 92, 94, 120, 125, 136, 139, 145 f., 174, 233, 237 Logograph 135 Magie 104 Makro-Mikrokosmos-Analogie 94, 103, 123 Mathematizität 163 Mechanismus 62, 225 Mehr-als-und-Verbindung 75 Mehr-Welten-Theorie 215 f., 218 Mehrwertigkeit 222 Melodie 41, 51, 74 f., 79 Metrik 42, 46, 109, 112, 194 Mittel-Zweck-Relation 75 Modalzeit 8, 13, 139, 166, 186 Morphologie 218, 226, 243 Multitemporalität 222 f. Mystik 10, 13, 17, 63–72, 138, 168, 217, 236, 244 Mythograph 135 Mythologie 98–100, 108, 113, 123 f., 138 Mythos –, Meerfahrt-Mythos 235 –, Narziß-Mythos 235 –, Nekyia-Mythos 235 –, Schöpfungs-Mythos 97–101, 105– 110, 114, 118 f., 123, 235 Nacheinander 47, 91 f., 95, 163, 177, 185, 187, 191 Nähe 39, 42, 46, 80 f., 83 f., 86 f., 114, 118, 123 Naturethnien 10, 89, 96, 129, 146 Neuzeit 8, 24, 91, 189 Normalzeit 213, 215 nunc stans 13, 50, 58, 69 Odyssee 91, 94 Ontogenese 20 f., 225–232 Operationalität 21, 229 f. Organisationsstruktur 21, 74 Organismus 20 f., 225
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Palingenesis 178 Paradigma 18, 102, 110–112, 115, 119, 226 Paradoxie 71 f., 88, 141 f., 189 f., 228 Perfekt 148, 201, 203, 205 Pfeilrichtung 164 Phänomenologie 15, 17, 23 f., 40, 51, 74, 204 Phylogenese 225, 232 Plusquamperfekt 203, 205 Polarität 135, 169 Präsens 148, 199–206 Prinzip –, biologisches 226–232 –, historisches 237–243 –, morphologisches 243–246 –, ontogenetisches 226–232 –, phylogenetisches 232–237 Profil-en-face-Simultanbild 218 Prophetie 104 Pulsation 131, 134, 217 Quantenmechanik 171, 209 -natur 209 -theorie 46, 208–213, 216, 220–223 Raum 8, 11, 17 f., 20, 22, 31, 42–47, 49 f., 80 f., 83–87, 89, 92, 162, 164– 166, 172 f., 176, 179–197, 208–210, 217–219, 230, 242–245 Raumauffassung 45, 189 Relativitätsprinzip 154, 156, 158 f., 195, Relativitätstheorie 188–197 –, allgemeine 189, 194 –, spezielle 181, 188 f., 191, 194, 196, 208 f., Religion 10 f., 13 f., 61, 64, 76, 97–99, 115, 170, 235, 237 Renaissance 188 Reversibilität 10, 165, 171 Rhythmik 14, 19, 49, 139 Rhythmus 26, 34, 36, 40, 49, 138 f. Richtung 15, 20, 47, 68, 73, 82, 110, 129, 140, 143, 146, 151, 158, 160, 167, 172 f., 174, 176, 179, 192, 200, 210, 216, 223, 234 Richtungssinn 82, 140, 150, 165, 167
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Karen Gloy https://doi.org/10.5771/9783495997116 .
Sachverzeichnis Ritus 103, 236 Ruhe 28, 41, 44, 48, 54, 59, 69, 79, 88, 107, 114, 118, 191, 240 Samadhi 65 Satzkette 137 scala naturae 225 Schichtung 17, 243 f. Schöpfungsakt 98, 100, 109, 112, -mythos 98–101, 105, 114 Semantik 70, 149, 153 Simultaneität 53, 75, 81, 95 f., 194, 196, 230 Sphairos 133 Sprachfamilie 153, 169, 199 -relativismus 153, 155 -system 11, 153, 155 f. -theoretiker 147 Stimmung 30, 37–41, 44, 46, 49, 55 Stoffwechsel 134 Streben 178 f., 214 Struktur 7, 17, 47, 73, 78, 81, 85, 117, 126, 136, 138, 163, 166, 169, 176, 179, 181, 184, 209, 218 -identität 163 Stufung 16, 198, 224, 243 Subjektivität 180, 186, 204 Subjekt-Objekt-Spaltung 51, 139 Substantiv 11, 154–156, 198 Substanz 104 f., 172, 211, 213 -logik 104 Sukzession 132, 191 f., 194 f., 208, 211 Sumerer 98, 128, 242 Superposition 143, 222 Supertheoretiker 216 f., 222 Symmetrie 169, 175, 233 Synchronizität 95, 127 Teilchen 46, 208–210, 212, 216 f., 222 Teleologie 19, 128 Temporalform 9 f., 140, 202 -system 140 f., 144, 148 Temporalität 70, 171, 222 f. Tempus 138, 145, 148, 182, 201, 205 f. Thermodynamik 144, 171, 174, 176 Traumzeit 235
Trial 169 Triebhaftigkeit 178 Übersummation 75 Ubiquität 184, 11 Uhr 25 f., 30, 32–35, 47, 52, 58, 96, 191–193 –, äußere 26 f., 30, 36 –, biologische 35 –, innere 35 –, zirkadiane 34 Uhrzeit 25 f., 36, 39, 162 Unbestimmtheit 46, 213 Unendlichkeit 49, 54, 58, 66, 75, 112, 163, 183, 195, 218, 231 Universum 141, 143, 160, 173, 175, 180 Upanishaden 168 Uroboros 140 Ursprung 10, 22, 47, 50, 73, 85, 98, 103 f., 115, 117 f., 121, 130, 136, 138, 149, 157, 159, 164, 166, 188, 222, 232–234, 237 f. Ursprungsmythos 103, 112 -zentrum 166 Verb 9, 54, 79, 83 f., 138, 144, 150 f., 155, 157 f., 198, 200 f., 236 Vergangenheit 7–10, 31, 56, 66 f., 82 f., 85, 104, 114, 120, 135, 140 f., 143 f., 146–148, 150, 152, 157, 163–166, 171, 173, 179, 183 f., 186, 196 f., 200– 205, 215, 219–222 Vergehen 9, 27, 1, 52, 60 f., 76, 103, 130 f., 134, 138 f., 165, 171, 179 Versenkung 64, 217 Vielheit 37, 100, 114, 118, 141 f. Vorhandenes 86, 177 Verräumlichung der Zeit 8, 164 Wahrnehmung 184, 222, 228, 243 Wechsel 33, 35, 40, 43 f., 60, 165, 198, 218 Weg 15, 48, 58, 73 f., 82, 132, 134, 162, 166, 175, 205, 214, 228 f. Weitung 47–49, 53, 62 f. Welle 138, 209 f., 212 f., 216–218, 221 f. Welt 9, 11, 18 f., 22–24, 27, 29, 36, 38,
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Sachverzeichnis 45, 48, 50 f., 55, 64, 76, 85, 91, 97 f., 100 f., 111 f., 114, 117 f., 123, 130, 132 f., 139, 153, 171, 173, 175 f., 182, 186, 213, 215–217, 219, 227, 237, 239 f., 243–245 Weltbild 21, 65, 154, 160, 231–233, 236, 246 –, dynamisches 156 –, magisch-mythisches 96, 104, 156, 232 f., 236 Weltprozeß 131 -zeit 23–26, 38, 68, 97, 125, 134, 162 Wiederholung 101, 103 f., 110–112, 139, 159 f., 162, 170, 232 Wiederkehr 10, 104, 110, 134 f., 138– 140, 159 Zahlen -modell 141 -reihe 112, 167 f., 170, 180 Zeit –, absolute 180 f., 183, 190, 203 –, abstrakte 109, 230 –, anschauliche 46, 150, 227 –, biologische 35 –, chronologische 88, 91–93, 126, 128, 135, 244 –, erlebte 15 f., 18, 44 –, eschatologische 119, 121, 126, 128 f., 224 –, geschichtliche 90 –, gestimmte 39, 41–44, 73 –, konkrete 75, 78, 109 –, lineare 10, 167 –, mathematische 15 f., 182 –, mythische 105 –, objektive 30, 36 –, originäre 39 –, oszillierende 129, 135 –, physikalische 11, 13 –, qualitative 37, 39, 78, 163 –, quantitative 13, 37, 39, 66, 163 –, relativistische 19, 188–192 –, rhythmische 65, 129, 135, 162, 167 –, subjektive 25, 27, 35, 38 –, weltliche 65 f. –, zyklische 129, 135, 139 f., 162
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Zeit-raum-Kontinuum 180 f., 188 Zeitabschnitt 113 -abstand 47, 143, 164, 191 f. -achse 8, 91, 95, 166 f., 183 f., 191, 219 -adverb 91 f. -anschauung 18 -auffassung 11, 16 f., 19, 32, 76, 83 f., 92, 94–96, 105, 109–112, 114, 118 f., 121, 126, 128, 130, 134 f., 143 f., 146, 148, 150 f., 153, 156 f., 162, 167 f., 178 f., 188 f., 198 f., 200–202, 204 f., 207, 223, 233, 245 -begriff 12 f., 76, 84, 119, 193, 219, 226 f., 230, 236 -bewußtsein 13 f., 51–53, 74, 129, 174, 186, 204, 226, 230 -dehnung 19, 26, 35, 53–55, 217, 224 -einheit 113, 167 -empfinden 31 f., 35, 50 f., 55, 64 -erfahrung 28, 36 f., 39, 42, 66, 112, 117, 244 -erleben 15, 19, 25–27, 30–33, 36, 42, 50 f., 54, 56, 60, 64, 67, 217 -form 22, 163, 166, 244 -gefühl 49, 52, 55, 91, 95, -gestalt 15, 17, 75, 78–80, 119, 135, 138, 140 f., 148, 157 f., 161–163, 167, 230, 232, 236 -konzeption 129, 153, 195 -lupenphänomen 49 f., 53, 57 f., 61, -moment 71 f., 78, 202 -pfeil 162, 167, 171–174, 232 -problem 11, 19, 213 -quantum 8, 53, 58, 180 -rafferphänomen 49 f., 53, 57, 61 -raffung 10, 19, 58, 70, 217 -raum 47, 164, 232 -rechnung 39, 84, 90 -richtung 88 f., 167, 171–173, 175, 176, 178 -spanne 76 f., 123, 128 -sphäre 148, 202, 206 -strecke 164 -struktur 21, 60, 118, 135, 213, 216 -verständnis 21, 91, 94, 110, 125, 152, 162, 232, 242 f.
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Karen Gloy https://doi.org/10.5771/9783495997116 .
Sachverzeichnis -vorstellung 9, 13, 38, 55, 88, 100, 105, 129 f., 135, 156, 161, 223, 238 Zeitlichkeit 65–72, 115, 177, 185 f. Zeitlosigkeit 22, 50, 53, 57, 69–72, 178, 199 Zentralperspektive 188 Zukunft 7–10, 12, 31, 56, 66 f., 81–83, 85, 97, 104, 114, 119, 125 f., 135,
139–141, 143 f., 146–148, 150, 152, 156–158, 160, 163–167, 171, 173, 177, 179 f., 183 f., 187, 196 f., 200, 202 f., 206, 210, 215, 219 f., 222 Zukunftsorientierung 171 Zustandsbestimmung 213 Zweiheit 213 Zyklik 19, 114, 140 f., 143, 178
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