Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik: Literaturgeschichtsschreibung [Reprint 2021 ed.] 9783112472323, 9783112472316


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German Pages 276 Year 1982

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Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik: Literaturgeschichtsschreibung [Reprint 2021 ed.]
 9783112472323, 9783112472316

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Rainer Rosenberg

Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik

Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Literaturgeschichte

Rainer Rosenberg

Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik Literaturgeschichtsschreibung

Akademie-Verlag • Berlin 1981

Erschienen im Akademie-Verlag, DDR-1086 Berlin, Leipziger Str. 3—4 Lektor: Elzbieta Mischke © Akademie-Verlag Berlin 1981 Lizenznummer: 202 • 100/183/81 Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 4450 Gräfenhainichen • 5770 Bestellnummer: 753 942 5 (2150/74) • LSV 8021 Printed in GDR D D R 10,- M

Inhalt

Einleitung

7

Literaturwissenschaft als „Oppositionswissenschaft"

. . . .

22

Der Übergang der Literaturgeschichtsschreibung in die Kompetenz der Nationalphilologie

41

Geschichte und Anthropologie

61

Die deutsche Literatur im Licht des poetischen Realismus . .

78

Das Modell der Naturwissenschaften

101

Konjunktur in deutscher Literaturgeschichte nach 1871 . . .

128

Wilhelm Diltheys „Verstehenslehre" und das Problem einer wissenschaftlichen Hermeneutik

139

Geistesgeschichtliche Synthese-Versuche (I)

182

Geistesgeschichtliche Synthese-Versuche (II)

202

Methodenpluralismus geschichte

unter

der

Dominanz

der

Geistes226

Anmerkungen

254

Personenregister

271

Einleitung

I Dieser Band enthält zehn Aufsätze über Methoden der bürgerlichen deutschen Literaturgeschichtsschreibung des Zeitraums zwischen 1830 und 1918. Es sind punktuelle Annäherungsversuche unter wechselndem Blickwinkel, die sich vielleicht in die notwendigen Vorarbeiten für die ausstehende Gesamtdarstellung einer Geschichte der deutschen Literaturhistorik einreihen lassen. Welcher Art ist dieser Gegenstand, und wieviel Interesse kann er beanspruchen? Das Studium der alten Literatur ist — als gesellschaftliche Tätigkeit betrachtet — wichtiger Bildungsfaktor nicht nur des literarischen, sondern des gesamten geistigen Lebens. Seitdem diese Tätigkeit von spezialisierten Ideologen in der Form der Literaturhistorik ausgeübt wird, befindet sich neben den literarischen Kunstprodukten, neben verschiedenartigen diskursiven Texten, die auf Neuerscheinungen reagieren oder der Verständigung über die Prinzipien des Umgangs mit künstlerischer Literatur dienen, ständig auch eine Sorte von Texten in Umlauf, in denen alte Literatur beschrieben und in einen historischen Zusammenhang gebracht wird. Solche Texte reichen von der Beschreibung einzelner literarischer Kunstprodukte bis zur Darstellung größerer literarischer Entwicklungszusammenhänge — der „Literaturgeschichte". Entstanden im Zuge der allgemeinen Entwicklung des historischen Denkens als ein spezifisches Instrument zur Durchsetzung der neuen Literatur, diente die Literaturgeschichtsschreibung dem progressiven Bürgertum vornehmlich zur historischen Begründung seiner politischen Ideen und gesellschaftlichen Ansprüche und zu Aufbau und Propaganda einer eigenen Traditionslinie. 7

In dieser Funktion wurde sie zum Bestandteil des ununterbrochen vor sich gehenden kollektiven Wertungsprozesses, in dem über Umfang und Zusammensetzung des jeweils in der literarischen Kommunikation befindlichen Bestands an alter Literatur entschieden wird. Indem die bürgerlichen Literaturhistoriker eine von ihren Wertvorstellungen bestimmte Auswahl anboten und geeignete Leseweisen für die ausgewählten Texte vorschlugen, versuchten sie, die Wirkungspotenzen der alten Literatur auf die Erzeugung entsprechenden Wertbewußtseins zu lenken. Auf diese Weise entwickelte sich die Literaturhistorik zu einer besonderen ideologischen Form, die den Entwurf von Geschichtsbildern, die Bildung von Geschichtsbewußtsein, mit der komplexen Vermittlung ästhetischer, ethischer, sozialer, politischer und religiöser Wertvorstellungen verband. Insbesondere als Historiographie der Nationalliteratur gewann die Literaturgeschichtsschreibung in Deutschland damit zu bestimmten Zeiten eine außerordentliche ideologiegeschichtliche Bedeutung. Als antifeudaler „Oppositionswissenschaft" im Vormärz wie auch als einer den Deutschunterricht in den Schulen bestimmenden und in staatliche Kulturpolitik übergehenden ideologischen Form des deutschen Imperialismus kommt der Historiographie der deutschen Literatur eine Schlüsselrolle im jeweiligen Stadium der bürgerlichen Ideologieentwicklung zu. Die Aufarbeitung ihrer Geschichte ist daher kein internes Problem der Literaturwissenschaft, das nur diese selbst zu interessieren brauchte. Sie ist eine notwendige Voraussetzung für die exakte und umfassende Rekonstruktion des gesellschaftlichen Überbaus in dem den historischen Gesellschaftswissenschaften abgeforderten Gesamtbild der deutschen Geschichte. Davon abgesehen benötigt die Literaturwissenschaft allerdings gerade für ihren eigenen Erkenntnisfortschritt eine genauere Kenntnis ihrer Geschichte. Nicht nur, weil die alle Bereiche der kunstliterarischen Kommunikation umgreifende Gegenstandsbestimmung, von der man heute allgemein ausgeht, mit dem gesamten Bereich der Literaturvermittlung auch die Literaturgeschichtsschreibung erfaßt, diese folglich immer auch ihre eigene Tätigkeit zum Gegenstand hat. Ihre Geschichte muß auch aufgearbeitet werden, weil die Literaturwissenschaft — wie jede andere Wissenschaft — die theoretischen und methodologischen Probleme, vor denen sie heute steht, nicht lösen kann, ohne die Geschichte dieser

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Probleme zu kennen. O f t wird der Lösungsweg bereits durch die Einsicht abgekürzt, welche in der Vergangenheit eingeschlagenen Wege nicht zum Ziel geführt haben. Aber die Literaturgeschichtsschreibüng hat — wie die anderen ideologischen F o r m e n — nicht nur falsches Bewußtsein produziert, sondern auch Antworten gegeben, die als Teillösungen bestimmter methodologischer Fragen verwertbar sind. Obwohl diesen Argumenten selten widersprochen wird und die Forschungen auf dem Gebiet der Wissenschaftsgeschichte in den letzten Jahren auch erheblich zugenommen haben, ist eine zusammenhängende Darstellung der Geschichte der deutschen Literaturhistoriographie noch nicht in Sicht. Angesichts der konzeptionellen Schwierigkeiten, die ein solches Unternehmen bereiten würde, wird man wahrscheinlich auch noch lange darauf warten müssen. Darzustellen wäre die Tätigkeit in einer ideologischen F o r m , deren heutige Ausübung vorzugsweise im Rahmen einer institutionalisierten Wissenschaft — der Germanistik — selbst schon ein Faktum ihrer Geschichte ist, die aber vordem und zum Teil auch noch später mit der Tätigkeit in unterschiedlichen anderen ideologischen Formen — mit der Literatur- und Kunstkritik, der G e schichtsphilosophie oder der politischen Historiographie — und mit der kunstliterarischen Praxis verbunden war, diesen Tätigkeiten ihre theoretischen Voraussetzungen verdankte oder deren gesellschaftlichen Funktionen sich unterordnete. Umgekehrt ist in der Form der Literaturgeschichtsschreibung zu bestimmten Zeiten der Literaturtheorie, der Ästhetik oder Philosophie vorgearbeitet worden, hat die Literaturhistorik zeitweise die eine oder andere von deren Funktionen übernommen. Ihre Geschichte ist also, auch nachdem sie sich bereits als besondere ideologische Form konstituiert hatte, von der anderer ideologischer Formen oft nicht zu trennen und kann nicht beschrieben werden, ohne daß man ihr Feld überschreitet. Andererseits dürfte keines dieser „Felder" voll ausgeschritten, könnten auch die literaturtheoretischen oder ästhetischen Schlußfolgerungen aus den verschiedenen Literaturgeschichtskonzeptionen jeweils nur bis zu einem bestimmten Punkt geführt werden, wenn die Darstellung nicht in eine allgemeine Geschichte der Literaturwissenschaft oder der (Literatur-)Ästhetik übergehen sollte, die noch größere konzeptionelle Schwierigkeiten bereiten würde. D e r Übergang der Literaturhistorik auf die Philologien, d. h. die

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Tatsache, daß die Kompetenz für die Geschichte der deutschen Literatur seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend v o n der Germanistik beansprucht (und ihr auch übertragen) wurde, bringt es jedoch mit sich, daß mit der Historiographie der deutschen Literatur zugleich ein wesentlicher Teil der Germanistik-Geschichte beschrieben werden kann. Eine andere konzeptionelle Frage betrifft das Verhältnis von theoretisch-methodologischer Innovation und geschichtlich-gesellschaftlicher Wirkung der Literaturhistorik. Eines der Probleme, das die Literaturgeschichtsschreibung von Anbeginn beschäftigt und das von ihrer Gegenstandsbestimmung über die Materialauswahl bis zu ihrer Axiologie reicht, erweist sich auch als ein Problem der Auffassung ihrer eigenen Geschichte. Sollte nicht eine — gedachte — Entwicklungslinie der Theorie der Literaturgeschichte beschrieben werden, sondern die wirkliche Geschichte dieser ideologischen Form, d. h. die Geschichte einer Form bürgerlicher ideologischer Praxis (und unser heutiges Geschichtsverständnis lenkt die Arbeit unweigerlich in diese Richtung), dann dürften nicht nur die aufeinanderfolgenden oder nebeneinander bestehenden Literaturgeschichtskonzeptionen vorgestellt werden; man stünde vielmehr vor der Aufgabe, zu untersuchen, welche — in welchen Büchern realisierte — Konzeptionen sich in welcher gesellschaftlichen Funktion im literaturgeschichtlichen Denken durchsetzten und die allgemeinen Vorstellungen von der Geschichte der deutschen Literatur bestimmten. D a s wiederum würde erfordern, sowohl die Historiographie der deutschen Literatur in größtmöglicher Breite vorzuführen als auch auf die Vermittlungsinstanzen — Universität, Schule, Presse — einzugehen und womöglich Belege für das durch sie erzeugte Literaturgeschichtsbild in der künstlerischen Literatur selbst aufzusuchen. Die hier angebotenen Aufsätze bewegen sich größtenteils noch im Vorfeld einer solchen komplexen Untersuchung ihres Gegenstandes. Sie grenzen sich thematisch bewußt auf die Methodengeschichte ein. Aber auch diese wird hier nicht in ihrem vollen Umfang erfaßt. Nicht nur weil selbst für den Zeitraum von 1830 bis 1918, auf den sich die Studien erstrecken, ganze Entwicklungsstränge ausgespart bleiben, wichtige Namen fehlen und die Annäherung an den Gegenstand von teilweise weit auseinander liegenden Punkten aus versucht wurde, die als Knoten- oder U m schlagpunkte zu erkennen waren. 10

Literaturgeschichte ist, auch in Deutschland, schon im 17. Jahrhundert geschrieben worden, wenn man die Dichter- oder Werkchroniken darunter versteht, die von — zumeist auch selber dichtenden — humanistischen Gelehrten oder eben von gelehrten Dichtern verfaßt wurden. Literaturhistorik im modernen Sinn waren jedoch diese Chroniken und die als Utterärgescbicbten firmierenden Texte der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch nicht, soweit sie nur historische Belege für eine normative Regelpoetik beizubringen versuchten. 1 Ginge man genregeschichtlich vor, d. h. hielte man sich an die Linie der gelehrten Utterärgescbicbten, dann würde man in Deutschland wahrscheinlich erst bei Friedrich Schlegel auf den Punkt kommen, an dem die Historizität jedweden Kunstprodukts voll begriffen wurde. Ein solches Vorgehen unterschlüge jedoch die bekannte Tatsache, daß das historische Denken in Deutschland im 18. Jahrhundert sich vor allem in der literarischen Praxis entwickelt hat. Die literaturkritischen, philosophischen und ästhetisch-programmatischen Arbeiten der Schriftsteller bilden zweifellos die eigentliche Vorgeschichte der deutschen Literaturhistorik. Diese ist dann auch im genregeschichtlich beschränkten Sinn bis zu Heine und Prutz noch eng mit der kunstliterarischen Praxis verbunden, obwohl der Zugriff theoretisch-philosophisch, politisch-historisch oder philologisch spezialisierter Ideologen bereits im Gange ist. Die Geschichte — wie mitunter vorgeschlagen wurde — erst mit der endgültigen Aufspaltung der bürgerlichen Literaturpraxis, d. h. mit der Durchsetzung der Arbeitsteilung zwischen literarischer Kunstproduktion, Kritik der Gegenwartsliteratur und einer (von der Gegenwartsliteratur sich mehr und mehr abwendenden) Literaturgeschichtsschreibung und mit dem Übergang der letzteren auf die spezialisierten Ideologen zu beginnen (oder den Ansatz auf die Linie dieses Übergangs einzuschränken) würde daher bedeuten, sie von ihren Wurzeln abzuschneiden, anstatt diese in den literaturkritischen, geschichtsphilosophischen und ästhetischen Arbeiten Herders, Goethes, Schellings und Hegels freizulegen. Eine Darstellung des Gesamtprozesses hätte daher nicht nur — dem Vorgang dieser Studien entsprechend — sowohl Gervinus als auch Heine als Literaturhistoriker zu behandeln, sie dürfte auch die Vorgeschichte der deutschen Literaturhistoriographie, wie sie den unterschiedlichen Literaturgeschichtskonzeptionen von Herder bis Hegel abzulesen ist, nicht unterschlagen. 11

II Schon bürgerliche Literaturhistoriker wie Max Koch oder Rudolf Unger haben die allgemeine Entwicklung des historischen Denkens für die Vorgeschichte der Literaturgeschichtsschreibung wichtiger genommen als die unter der Genrebezeichnung „Literatur-" oder „Litterärgeschichte" gehandelten, annalistisch geordneten Dichter- und Gelehrtenlexika oder Werkverzeichnisse des 18. Jahrhunderts, deren Wertungen — im Vergleich mit den klassischen französischen Schriftstellern gewonnen —, sofern sie nicht einfach aus älteren Kompilationen dieser Art abgeschrieben waren, sich auf nichts anderes gründeten als auf das Geschmacksurteil des Kompilators. 2 Durch die Entwicklung des Geschichtsbewußtseins wurde das naive, die historische Distanz nicht reflektierende Verhältnis zur antiken Literatur aufgelöst, die als Norm für den adäquaten künstlerischen Ausdruck des bürgerlichen Humanitätsideals gesetzt war. Da die bürgerlichen Ideologen des 18. Jahrhunderts Literatur überhaupt als Organ der Humanität begriffen, galt das Maß ihrer Annäherung an die antiken Muster im Vergleich der europäischen Völker als Maß für deren humane „Gesittung". Gottscheds Orientierung der deutschen Schriftsteller auf den französischen Klassizismus lag dessen Wertung als vollkommenste Nachahmung der antiken Literatur zugrunde. Indem die Literatur der Antike, ohne ihre klassische Geltung einzubüßen, nun selbst zum Gegenstand des historischen Vergleichs gemacht wurde, verlor der französische Klassizismus seine Vorbildrolle; die ihm abgezwungenen Regeln für die Nachahmung der antiken Muster wurden beiseite geschoben. Dieser Prozeß war eingebettet in die epochale Emanzipationsbewegung des Bürgertums, der die Entwicklung des historischen Denkens sich zuordnet. Er war insofern unmittelbar ein Bestandteil dieser Bewegung, als die auf dem französischen Klassizismus fußende Regelpoetik auch ihren inhaltlichen Bezug auf das bürgerliche Humanitätsideal verlor und — Poetik einer höfischen Kunst — nun als eine künstlerische Norm des Feudalabsolutismus erschien. Die Entwicklung des historischen Denkens stärkte die Überzeugung des Bürgertums, daß die bestehende absolutistische Herrschaftsordnung nicht ewig und unverrückbar war. Die Schriftsteller, die — zuerst in Frankreich selbst — den Anspruch der neuen

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Literatur auf eigene Maßstäbe vertraten, indem sie das Vorbild der alten historisch relativierten, vertraten die Ansprüche des Bürgertums. Sie gewannen ihre Auffassung von der Geschichtlichkeit der Literatur aus dem Entwurf einer humanen Ordnung jenseits der Feudalherrschaft. Ideologische Voraussetzung dafür, daß Vorformen einer Literaturgeschichtsschreibung im modernen Sinn entstehen konnten, war somit eine P h i l o s o p h i e der G e s c h i c h t e , die die Chronik der Schriftsteller bzw. die Chronologie ihrer Produktion in einen Entwicklungszusammenhang brachte — genauer gesagt: die Einbeziehung der Literatur in eine auf dem Entwicklungsgedanken beruhende Geschichtsphilosophie. Das Verdienst, diese Voraussetzung in Deutschland geschaffen zu haben, kommt zweifellos Herder zu. Herder wandte sich bereits in seinen Fragmenten über die neuere deutsche Literatur von 1767 gegen das oberflächliche, weil unhistorische Analogisieren antiker und moderner Schriftsteller. 3 Er verstand die Literatur eines Volkes als den seiner geschichtlich gewordenen Eigenart entsprechenden Ausdruck seiner psychischen Verfassung, und er behandelte sie deshalb grundsätzlich im Zusammenhang mit den Faktoren, die er für die Ausbildung dieser Eigenart anzuführen wußte: im Zusammenhang mit dem Charakter seiner Sprache, seinen Wirtschafts- und Verkehrsformen, seiner politischen Entwicklung, die er — wie bis ins 19. Jahrhundert üblich — aus den in der Klima-Theorie gefaßten natürlichen Lebensbedingungen des Volkes ableitete. Dabei lenkte Herder die Aufmerksamkeit des Literaturstudiums insbesondere auf die Volkspoesie und stellte ihm mit seinen berühmten Volksliedersammlungen auch aufschlußreiches Material zur Verfügung. Das Volkslied als den ursprünglichen poetischen Ausdruck der Eigentümlichkeiten des Volkslebens begreifend, empfahl er diese Sammlungen gewissermaßen als Belege für den aufklärerischen Grundgedanken seiner Philosophie der Geschichte der Menschheit: „In so verschiedenen Formen das Menschengeschlecht auf der Erde erscheint, so ist's doch überall ein und dieselbe Menschengattung." Und: „Die Sinnlichkeit unsres Geschlechts verändert sich mit Bildungen und Klimaten; überall aber ist ein menschlicher Gebrauch der Sinne das, was zur Humanität führet." 4 Der Auftrag an die Literaturforschung, den dieser Gedanke enthielt, war vergleichende Literaturwissenschaft. Er bestand darin, die charakteristischen Besonderheiten der einzelnen Literaturen her13

auszuarbeiten, das Andersgeartete, Fremde nicht geringschätzig abzutun, sondern aus den spezifischen Bedingungen des Volkslebens zu erklären und die sich bildende Humanität in den verschiedenen Formen nachzuweisen. Ähnliche Auffassungen bildeten sich jedoch auch bei Goethe schon in seiner Straßburger Zeit, und das Bewußtsein der Geschichtlichkeit der Literatur, der Abhängigkeit ihrer Entwicklung von den natürlichen Lebensbedingungen und den Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen bestimmt dessen gesamtes literaturtheoretisches Denken. Daß Goethes Reflexionen über Kunst und Literatur dementsprechend auch eine Reihe wichtiger literaturgeschichtlicher Einsichten und Erkenntnisse vermitteln, ist bekannt. Aber Goethe interessiert in diesem Zusammenhang nicht nur wegen der Vorgaben, die z. B. seine Erörterungen über einfache Nachahmung, Manier, Stil, über die Voraussetzungen für das Erscheinen eines „classischen Nationalautors" (Literarischer Sansculottismus) oder seine Gespräche über „Weltliteratur" für die Literaturgeschichtsschreibung enthalten. Er hat mit seiner Darstellung der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts in Dichtung und Wahrheit auch selbst ein Beispiel dafür gegeben, wie diese in ihrer geschichtlichen Entwicklung zu erfassen war. 5 Klassische deutsche Literatur und Philosophie haben der Literaturgeschichtsschreibung also sowohl durch die Weiterentwicklung des historischen Denkens wie durch praktisches Beispiel vorgearbeitet. Sie haben darüber hinaus aber auch mit einer T h e o r i e der m o d e r nen L i t e r a t u r überhaupt erst die theoretische Grundlage geschaffen, auf der diese ideologische Form im 19. Jahrhundert als geschichtsphilosophische Literaturhistorik ins Leben trat. Diese Theorie der modernen Literatur hat in Schillers Arbeit über Naive und sentimentalische Dichtung, in Goethes Konzeption der „Weltliteratur" und in Hegels Ästhetik unterschiedliche Ausprägungen erfahren. Ausgangspunkt war in jedem Fall die Erkenntnis, daß die Veränderungen in den gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen auch den Charakter der Literatur grundlegend verändert haben. Von daher machen Schiller, Goethe, Hegel unterschiedliche Versuche, den Charakter und die Funktion der Literatur in der bürgerlichen Gesellschaft neu zu bestimmen. Insbesondere Hegels unter dem Begriff der „Auflösung der romantischen Kunstform" gegebene Charakteristik der modernen Kunst (mit der Auffassung des Romans als der „modernen b ü r g e r l i c h e n Epopöe", die eine „bereits zur P r o s a geordnete Wirklich14

keit" voraussetze) 6 bot das Denkmuster, das von der geschichtsphilosophischen Literaturgeschichtsschreibung der dreißiger/vierziger Jahre — sowohl im Sinn des vorläufigen Endes der Kunst als auch unter dem umgekehrten Vorzeichen einer Apologie der Gegenwartsliteratur — aufgegriffen wurde. Spielt sich ein wesentlicher Teil der Vorgeschichte der Literaturgeschichtsschreibung somit bis in die zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts in Literatur und Literaturkritik, Philosophiegeschichte und philosophischer Ästhetik ab, so sind andererseits die Bemühungen um die Konstituierung des Literaturstudiums als einer historischen Wissenschaft nicht zu übersehen, die bereits am Jahrhundertanfang von Friedrich Schlegel in seinen Pariser Vorlesungen über die Geschichte der europäischen Literatur (1803/04) und von August Wilhelm Schlegel in seinen Berliner Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst (1801/ 1804) unternommen wurden. In ihren Grundthesen sich von Herders Ideen herleitend, stehen Friedrich Schlegels Vorlesungen am Scheitelpunkt jenes Prozesses der bürgerlichen Ideologie, in dem die Priorität der historischen vor den systematischen Bestimmungen des philosophischen Denkens zum allgemeinen Ausdruck des Bruchs mit dem Glauben an die Ewigkeit und Unverrückbarkeit der bestehenden Feudalordnung geworden war. Friedrich Schlegel, der schon wenig später die Literaturgeschichte im genau entgegengesetzten Sinne, als Instrument der Verteidigung der alten Ordnung handhabbar zu machen versuchte, hatte das Ergebnis dieses Prozesses der bürgerlichen Ideologie auf die Formel gebracht, daß die Geschichte eine werdende Philosophie und die Philosophie eine vollendete Geschichte sei.7 In diesem Sinne wollte er auch in der Literaturwissenschaft keine der Geschichte vorausgesetzte Theorie anerkennen, lehnte er in der programmatischen Einleitung zu seinen Pariser Vorlesungen jeden normativ-ästhetischen Literaturbegriff ab. „Ehe wir aber unsere historische Darstellung beginnen", heißt es dort, „ist es nötig, einen vorläufigen Begriff der Literatur vorauszuschicken, den Umfang und die Grenzen des Ganzen anzugeben. Dieser Begriff kann aber nur ein vorläufiger sein, indem der vollständige Begriff die Geschichte selbst ist." 8 Friedrich Schlegels Einleitung zu seinen Vorlesungen über die Geschichte der europäischen Literatur enthält das erste ausgearbeitete Programm einer historisch fundierten Literaturwissenschaft. Dessen Hauptpunkte sind: 15

Erstens: Die Notwendigkeit einer „umfassenden Ansicht" ergibt sich schon aus der Beschaffenheit der Literatur selbst. „Sich nur auf die Literatur einer gewissen Zeit oder einer Nation einschränken wollen, geht gar nicht an, weil eine immer auf die andere zurückführt und alle Literatur nicht allein vor- und nacheinander, sondern auch nebeneinander innig zusammenhängend ein großes Ganzes bildet. Wir kommen notwendig auf eine Geschichte der Literatur überhaupt. Denn die Literatur ist durchaus nur im ganzen verständlich." Das gilt insbesondere für die Literaturen Europas von der alten griechischen bis zur modernen französischen, englischen und deutschen — sie bilden Schlegels Auffassung nach „ein zusammenhängendes Ganzes, wo alle Zweige innigst verwebt sind, eine auf das andere sich gründet, durch dieses erklärt und ergänzt wird. Dies geht durch alle Zeiten und Nationen herab bis auf unsere Zeiten. Das Neueste ist ohne das Ahe nicht verständlich." Zweitens: Die historische Methode könne die philosophische in sich begreifen. Denn abgesehen davon, daß die historische Darstellung der Literatur vielseitiger, allgemeiner und verständlicher sei und sich daher als Organon des Studiums besser bewähre, erscheine in ihr die Literaturgeschichte zugleich als „ i n t e g r a n t e r T e i l d e r G e s c h i c h t e ü b e r h a u p t . Als kritische und charakteristische Geschichte der Urkunden des menschlichen Geistes ist sie der innerste Teil der Geschichte . . . Durch Bekanntschaft mit der Literatur eines Volkes lernen wir seinen Geist, seine Gesinnung, seine Denkungsart, die Stufe seiner Bildung, mit einem Wort sein eigentümliches Sein und Wesen kennen, wir erhalten eine Charakteristik, die wir anderswo vergebens suchen würden." Drittens: „So wie aber uns die eigentliche Geschichte oder die Darstellung der äußeren Tendenzen, Begebenheiten und Schicksale eines Volkes höchst unvollständig und unverständlich sein werden, wenn in den inneren Geist und Charakter und die Denkungsart nicht einzudringen wäre, so wäre auch die Geschichte der Literatur eines Volkes ohne Kenntnis seiner politischen Geschichte unvollkommen und mangelhaft. Beide hängen zumeist zusammen, erklären und begründen sich wechselseitig. Der geistige Teil kann nicht ohne den äußeren politischen verstanden werden, und so umgekehrt dieser nicht ohne jenen." Das gleiche gelte für das Verhältnis von Literatur und Philosophie, auch der Zusammenhang zwischen ihnen sei „nicht allein dem inneren Wesen nach, sondern auch h i s t o r i s c h gar zu innig. Der philosophische und poetische Geist eines Zeitalters stehen in genauem 16

Verhältnis . . . Auch ist der Einfluß der Philosophie auf die Theorie der Kunst und auf die Produktionen der Poesie überall sehr sichtbar und wohl in Erwägung zu ziehen. Überdem bedarf es zur Würdigung der verschiedenen Literaturwerke der Kritik, und diese ist ohne philosophische Kenntnisse und Unterscheidungen nicht möglich." 9 Friedrich Schlegels wissenschaftsgeschichtliche Rolle, insbesondere seine Rolle bei der Entwicklung einer vergleichenden Literaturgeschichte wurde schon von Max Koch, noch ohne Kenntnis seiner Pariser Vorlesungen, gebührend hervorgehoben.10 Koch hätte sich auf Heine berufen können, der selbst die — dem Fürsten Metternich gewidmeten — Wiener Vorlesungen, trotz schärfster Ablehnung der ihnen aufgesetzten katholisch-reaktionären Tendenz, noch mit den Worten kommentiert hatte, daß er „kein besseres Buch dieses Fachs" wisse. „Nur durch Zusammenstellung der Herderschen Arbeiten solcher Art könnte man sich eine bessere Übersicht der Literatur aller Völker verschaffen." 11 Dennoch wird der seit Rudolf Ungers Vortrag Philosophische Probleme in der neueren Literaturwissenschaft in der bürgerlichen deutschen Germanistik bestehenden Lehrmeinung, daß die Brüder Schlegel die „eigentliche [n] Begründer der Literaturgeschichte" 12 seien, von marxistischen Literaturhistorikern seit Werner Krauss 13 grundsätzlich widersprochen. Geht man nämlich von ihrer praktischen literaturhistorischen Arbeit, nicht von ihren Programmen aus, dann wird man Hans Mayers Urteil über A. W. Schlegels Berliner Vorlesungen zustimmen müssen, daß das „alles von höchster Bedeutung für den Prozeß einer literarischen Selbstverständigung in Deutschland sein" mochte: „aber eigentliche Literaturwissenschaft ist dies alles nicht" 14. Wenn Mayer allerdings die mangelnde Erfassung wirklicher historischer Zusammenhänge in A. W. Schlegels Arbeit auf dessen Engagement in den literarischen Auseinandersetzungen seiner Zeit zurückführt, also darin begründet sieht, daß A. W. Schlegels Interesse an der Literaturgeschichte eigentlich der Legitimierung der von ihm vertretenen Richtung der zeitgenössischen literarischen Praxis galt, dann ist das sicher nur eine halbe und in ihrer Halbheit falsche Erklärung. Hans Mayers Argument ist nun in jüngster Zeit von Karl-Heinz Götze15 wieder aufgegriffen worden, der die geistesgeschichtliche Projektion der Wissenschaftsentwicklung, wie sie sich in der Germanistik der BRD bis heute erhalten hat, gründlich zerstören möchte. Der Einwand, Literaturgeschichte sei für die Schlegel letzten Endes 2

Germanistik

17

nur Vehikel der Literaturkritik gewesen, ist dafür jedoch ungeeignet, auch wenn Götze sich mit seiner Behauptung auf die Autorität René Welleks l ü stützen kann. Nicht der Umstand, daß das Erkenntnisinteresse der Schlegel von ihrem Engagement in den ideologischen Auseinandersetzungen ihrer Zeit bestimmt wurde, kann erklären, warum sie trotz ihrer weitreichenden Erkenntnis der Geschichtlichkeit der Literatur in der tatsächlichen Erfassung historischer Zusammenhänge noch so weit von dem entfernt waren, was drei Jahrzehnte Später von Literaturhistorikern wie Gervinus oder Prutz geleistet wurde. Denn das Engagement war bei Gervinus oder Prutz mindestens ebenso leidenschaftlich, und es ist hier von marxistischen Literaturwissenschaftlern gerade als subjektiver Faktor ihrer Erkenntnisleistung aufgefaßt worden. Objektiver Faktor aber wäre dann doch wohl die wirkliche geschichtliche Bewegung* mit der dieses Engagement übereinstimmte. Die qualitativ neue Stufe des geschichtlichen Denkens, die der historisch-kritische Umgang mit Literatur im deutschen Vormärz erreichte, hätte demnach zwar die theoretische Reflexion eines bestimmten Standes bürgerlicher Gesellschaftsentwicklung zur Voraussetzung gehabt, keineswegs jedoch die zwischen Schlegel und Gervinus eingetretene Arbeitsteilung von Literaturgeschichtsschreibung und Literaturkritik. Im Gegenteil: Wer wie Werner Krauss die Geschichte der bürgerlichen Literaturwissenschaft in Deutschland mit dem deutschen Vormärz beginnt, wird ihm auch darin folgen müssen, daß die progressiven bürgerlichen Literaturhistoriker des Vormärz zugleich die letzten waren, die den zeitgenössischen Stand geschichtsphilosophischen Denkens noch annähernd erreichten. Bestimmt wurde dessen Stand aber bei Gervinus' Auftreten zweifellos durch die großen Essays Heinrich Heines, die nicht weniger auf die Legitimation der eigenen künstlerischen Position und die Kritik der ihr entgegenstehenden Literaturkonzeptionen ausgingen als die Arbeiten der Brüder Schlegel.

III Vorliegende Aufsätze grenzen sich — wie schon gesagt — auf die Methodengeschichte ein. Sie konzentrieren sich auf die Analyse der literaturgeschichtlichen Forschungsprogramme und Literaturgeschichtskonzeptionen und analysieren auch diese jeweils nur unter 18

dem Aspekt, unter dem sie für die Geschichte der Methodologie relevant wurden. Daß zu den notwendigen Vorarbeiten für eine Gesamtdarstellung der germanistischen deutschen Literaturhistorik neben Untersuchungen über die tatsächlich geschriebenen .Literaturgeschichten' und das von ihnen vermittelte Literaturgeschichtsbild auch methodengeschichtliche Analysen gehören, ist kaum zu bezweifeln. Das methodengeschichtliche Interesse dieser Studien setzt hierfür jedoch keinerlei Präferenzen. Es geht aus der Praxis der Literaturgeschichtsschreibung und aus den theoretischen und methodologischen Diskussionen hervor, in die diese Praxis die Literaturwissenschaftler nach wie vor verwickelt. Obwohl dieses methodengeschichtliche Interesse die nationalen Grenzen natürlich überschreitet, ist die Einschränkung der Studien auf die Historiographie der deutschen Literatur nicht nur in mangelnden subjektiven Voraussetzungen des Autors begründet. Sie hat auch objektive Gründe : Die Historiographie der eigenen Literatur spielt in der Geschichte aller Völker, die — im Prozeß der Nationwerdung oder zur Nation formiert — eine Konzeption von Nationalliteratur ausbilden, eine besondere Rolle. Ihre gesellschaftliche Funktion unterscheidet sich von der der Historiographie anderer Literaturen. Die Einbindung des Literaturstudiums in die verschiedenen institutionalisierten Philologien, die ebenfalls ihre je eigene Geschichte haben, bedingte darüber hinaus auch erhebliche Unterschiede in der Entwicklung der germanistischen und z. B. der romanistischen deutschen Literaturhistorik. Andererseits war das Literaturstudium in seiner langen Vorgeschichte — wie schon gesagt — theoretisch und praktisch universell und komparativ angelegt, haben einzelne Autoren auch später noch über verschiedene Literaturen gearbeitet. Außerdem gibt es natürlich auch Kongruenzen der germanistischen und der romanistischen deutschen Literaturhistorik, in denen sich beide von der französischen oder angloamerikanischen Literaturwissenschaft unterscheiden ; und schließlich sind ideologische Strömungen wie Positivismus oder Lebensphilosophie, so unterschiedlich sie sich in der deutschen, der französischen und der angloamerikanischen oder russischen Literaturwissenschaft ausgeprägt haben mögen, selbstverständlich nicht in nationalen Grenzen zu fassen. Die Lösung des Problems konnte nur darin liegen, die „Nationalisierung" der Literaturgeschichtsschreibung, samt der bürgerlichen Konzeption der Nationalliteratur selbst, 2»

19

zu problematisieren, ihre gesellschaftlichen Ursachen zu bezeichnen und ihre Ergebnisse und Folgen einzuschätzen. Versuchen diese Aufsätze also, die Historiographie der deutschen Literatur als einen eigenen Gegenstand historischer Forschung zu erfassen, ohne sie von anderen Zweigen derselben ideologischen Form oder von anderen ideologischen Formen zu isolieren, so stoßen sie freilich noch auf eine andere Schwierigkeit: Die Quellen der Konzeptionsbildung liegen größtenteils nicht nur außerhalb der Historiographie der deutschen Literatur, sondern außerhalb der Literaturwissenschaft überhaupt. Auf sie zurückzugehen hätte bedeutet, ständig auf die Geschichte anderer Wissenschaften überzugehen und den Gegenstand schließlich in der Philosophiegeschichte wieder aufzulösen. Die Studien beschränken sich, soweit sie nicht das Problem der Heteronomie der Literaturgeschichtsschreibung selbst aufgreifen, deshalb auch darauf, auf die weltanschaulich-philosophischen Grundlagen der erörterten Literaturgeschichtskonzeptionen hinzuweisen. Diese Beschränkung wurde nur in einem Fall aufgegeben — bei Dilthey, der das Verständnis des literarischen Kunstwerks zum Paradigma seines Geschichtsverständnisses macht. Schließlich mag die Beschreibung der Literaturhistoriographie als einer ideologischen Form überhaupt den wissenschaftsgeschichtlich interessierten Leser irritieren. Mit der Entscheidung für diese Beschreibungsart wird jedoch die Erkenntnisfähigkeit der bürgerlichen Literaturhistorik nicht prinzipiell in Frage gestellt. Der IdeologieBegriff, der hier zugrunde liegt, ist nicht identisch mit „falschem Bewußtsein". Die Studien bemühen sich vielmehr ausdrücklich darum, die Erkenntnisse herauszuarbeiten, zu denen die bürgerliche deutsche Literaturwissenschaft auch noch in ihrem Spätstadium gelangte. Indem die Geschichte einer ideologischen Form, genauer gesagt: einer Form bürgerlicher Ideologie, nicht abstrakt „Wissenschaftsgeschichte", beschrieben wird, soll jedoch die Interessengebundenheit ihrer Erkenntnisse, und das heißt, auch der Wechsel der gesellschaftlichen Funktionen erfaßt werden, die die Literaturgeschichtsschreibung ausgeübt hat. Diese generell unter dem Aspekt des Erkenntnisfortschritts zu beschreiben, hieße, darüber hinaus ihre wirkliche Geschichte verfälschen. Denn: Abgesehen davon, daß sie in ihrer nationalhistorischen Ausbildung von vornherein den universellen Ansatz ihrer Vorgeschichte verfehlte und bald auch den „weltliterarischen" Horizont einbüßte, unter den Herder, Goethe, Friedrich Schlegel das Literaturstudium gestellt hatten — der Entwicklungssprung in der Auffassung 20

der Geschichte, der zwischen der klassischen deutschen Literatur und Philosophie und dem historischen und dialektischen Materialismus liegt, wird von ihr in allen ihren Strömungen und durch alle Wandlungen hindurch negiert. Sie ist — im ganzen gesehen — schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gekennzeichnet durch die fortschreitende Zurücknahme der Erkenntnisse, die das historische Denken seit der Aufklärung erbracht hat, und durch das Vordringen von Ideologien, die dem Erkenntnisinteresse, mit dem die Literaturgeschichtsschreibung ursprünglich angetreten war, entgegengerichtet waren. Sie ist — und das wollen diese Aufsätze ebenfalls veranschaulichen — in ihrem letzten Stadium eine Geschichte des Abbaus des historischen Denkens. Berlin, im August 1980

Rainer Rosenberg

Literaturwissenschaft als „Oppositionswissenschaft" Die gescbicbtspbilosopbiscbe hiteraturbistorik des deutseben Vormärz- Bürgerlich-progressive Politisierung der Konzeption der „Literaturnation". Georg Gottfried Gervinus. Heinrieb Heine. Robert Prut%

I Mit der Formierung der antifeudalen Bewegung zu Beginn der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts erlangte die Konzeption einer deutschen Nationalliteratur höchste politische Aktualität. Die Geschichte der deutschen Literatur, die bisher der politischen Geschichte der Engländer und Franzosen gegenübergestellt worden war, wurde nun — zusammen mit der Geschichte der deutschen Philosophie — als Vorgeschichte des politischen Kampfes um die nationalstaatliche Einigung gelesen. Die Tatsache, daß trotz der feudalen Zersplitterung eine in ihren Hauptströmungen einheitliche deutsche Literatur entstanden und in die erste Reihe der großen europäischen Literaturen aufgerückt war, erschien der jungen deutschen Intelligenz als eindrucksvollster Beweis dafür, daß der Geschichte selbst die Tendenz zur Schaffung eines bürgerlichen deutschen Nationalstaates innewohne. Die Geschichte der deutschen Literatur, im nachhinein zur Geschichte deutscher Nationalliteratur erklärt, funktionierte — und daraus erhellt die erstrangige Bedeutung, die ihrem Studium im deutschen Vormärz zugemessen wurde — als historische Legitimation der politischen Bestrebungen des deutschen Bürgertums. Gleichzeitig nahm das Bewußtsein, an der Schwelle einer neuen Zeit zu stehen, durch die französische Julirevolution zur Klarheit gebracht, die Gestalt von Zeitaltervorstellungen an, in denen die Hegelsche Zuordnung der Kunst zu einer vergangenen Stufe der Menschheitsentwicklung mit Goethes Tod nationalhistorisch aktualisiert wurde zu einem Ende der Kunstperiode bzw. des ästhetischen Zeitalters der deutschen Geschichte, die nun in das Zeitalter der Politik eingetreten sei. 22

Die konsequenteste Durchführung erlangte diese Konzeption in Gervinus' Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutseben (1836— 1842) — jenem Werk, dem schon die Zeitgenossen eine neue Qualität der Literaturgeschichtsschreibung bescheinigten und das von Autoren wie Werner Krauss oder Hans Mayer überhaupt an den Anfang einer wissenschaftlichen Literaturgeschichtsschreibung in Deutschland gesetzt wird. 1 Gervinus bekannte sich vorbehaltlos zu der Rolle des politischen Ideologen; er sah seinen Beruf darin, durch die Vermittlung von Geschichtserfahrung ein Nationalbewußtsein zu erzeugen, das sich als bürgerliches politisches Bewußtsein konstituierte. Daß er dafür die Geschichte der deutschen Literatur statt der politischen Geschichte wählte, begründete er selbst damit, daß sie bereits zu einem Resultat geführt habe, das in der politischen Geschichte Deutschlands noch ausstand. „Der Nation ihren g e g e n w ä r t i g e n Werth begreiflich zu machen, ihr das verkümmerte Vertrauen auf sich selbst zu erfrischen, ihr neben dem Stolz auf ihre ältesten Zeiten Freudigkeit an dem jetzigen Augenblicke und den gewissesten Muth auf die Zukunft einzuflößen", konnte nach Gervinus' Überzeugung nur erreicht werden, „wenn man ihr ihre Geschichte bis auf die neuesten Zeiten vorführt, wenn sie aus ihr und der verglichenen Geschichte anderer Völker sich selber klar gemacht wird." Doch nicht jede „Seite der Geschichte" eignete sich hierzu ; so dürfte es wohl keinen Historiker geben, „der uns von einer Schilderung des gegenwärtigen politischen Zustandes von Deutschland getröstet zu entlassen verstände". Die Geschichte der deutschen Dichtung erschien ihm dagegen „ihrer inneren Beschaffenheit nach eben so wählbar, als ihrem Werthe und unserem Zeitbedürfniß nach wählenswerth". Sie sei, „wenn anders aus der Geschichte Wahrheiten zu lernen sind, zu einem Ziele gekommen, von wo aus man mit Erfolg ein Ganzes überblicken, einen beruhigenden, ja einen erhebenden Eindruck empfangen und die größten Belehrungen ziehen kann". 2 Gervinus bekennt: „Die Wahl eines Geschichtsstoffes mit den Forderungen und Bedürfnissen der Gegenwart in Einklang zu bringen, scheint mir aber eine so bedeutende Pflicht des Geschichtsschreibers, daß, hätte ich die politische, die religiöse, die gesamt-literarische oder irgend eine andere Sache der Geschichte unseres Volkes für passender und dringender zur Bearbeitung gehalten, ich diese andere ergriffen haben würde . . . " 3 Die Überzeugung, daß die Literaturgeschichtsschreibung, wenn sie die ihr zuerkannte gesellschaftliche Funktion erfüllen sollte, ihren 23

Gegenstand als eine „Seite der Geschichte" behandeln müsse und also konsequent historisch zu verfahren habe, führte Gervinus zu einer programmatischen Eliminierung der ästhetischen Kritik. Er kündigt dem Leser bereits in der Einleitung an, daß sein Buch „von allen literarischen Handbüchern und Geschichten" darin abweiche, „daß es nichts ist als Geschichte. Ich habe mit der ästhetischen Beurtheilung der Sachen nichts zu tun." 4 Er stellt die ästhetische und die historische Beurteilung der Literatur einander gegenüber und meint: „Der ästhetische Beurtheiler zeigt uns eines Gedichtes Entstehung aus sich selbst, sein inneres Wachsthum und Vollendung, seinen absoluten Werth, sein Verhältniß zu seiner Gattung und etwa zu der Natur und dem Charakter des Dichters. Der Aesthetiker thut am besten, das Gedicht so wenig als möglich mit anderen und fremden zu vergleichen, dem Geschichtsschreiber ist diese Vergleichung ein Hauptmittel zum Zweck. Er zeigt uns nicht Eines Gedichtes, sondern aller dichterischen Erzeugnisse Entstehung aus der Zeit, aus dem Kreise ihrer Ideen, Thaten und Schicksale; er weist darin nach was diesen entspricht oder widerspricht; er sucht den Ursachen ihres Werdens und ihren Wirkungen nach und beurtheilt ihren Werth hauptsächlich nach diesen; er vergleicht sie mit dem Größten der Kunstgattung gerade d i e s e r Zeit und d i e s e s Volkes, in dem sie entstanden, oder, je nachdem er seinen Gesichtskreis ausdehnt, mit den weiteren verwandten Erscheinungen in anderen Zeiten und Völkern." 5 Durch diese Ausgrenzung der ästhetischen Kritik löste Gervinus selbstverständlich nicht den Widerspruch, in den das Studium der Literatur mit der Entwicklung des geschichtlichen Denkens geraten war. Seine Lösung konnte nur auf dem Wege der Historisierung der Ästhetik selbst gefunden werden, wie sie schon Friedrich Schlegel vorgeschwebt haben mag, wenn er meinte: „Die beste Theorie der Kunst ist ihre Geschichte" 6 , und wie sie später Prutz in der Formel von einer Ästhetik als „angewandter Literaturgeschichte" 7 gefordert hat. Gervinus wollte demgegenüber den Ästhetiker mit seiner radikalen Praxis dadurch versöhnen, daß er in seinem theoretischen Konzept eine Arbeitsteilung vorsah, in der — wie er glaubte — „das Endurtheil des ästhetischen und das des historischen Beurtheilers, wenn beide in gleicher Strenge zu Werke gingen, immer übereinstimmen wird; es rechne nur jeder auf seine eigne Weise richtig, die Probe wird die gleiche Summe ausweisen". 8 Wich Gervinus damit auch dem eigentlichen Problem — der Historisierung der Ästhetik — aus, so trug 24

er doch der Tatsache Rechnung, daß — ungeachtet der fundamentalen Arbeit, die Hegel auf diesem Gebiet geleistet hatte — Literaturgeschichte als Wissenschaft nicht von der philosophischen Ästhetik, sondern nur von der Geschichte her konzipiert werden konnte. Denn die Ästhetik blieb, auch nachdem ihre Kategorien historisch bestimmt waren, auf die Sphäre der Literaturproduktion fixiert, sie entwickelte kein Organ für die Wertung der Wirkungen, in denen sich Literaturgeschichte als eine Seite des gesellschaftlichen Gesamtprozesses erst realisiert. In dem Bewußtsein, auf der Seite der gesellschaftlichen Kräfte zu stehen, deren politisches Handeln einer objektiven historischen Notwendigkeit entsprach, konnte Gervinus seine Parteinahme mit seinem Erkenntnisstreben zur Deckung bringen. Der Geschichtsschreiber solle — so bestimmt er in seinen Gründungen der Historik — „unbefangen und unparteilich" sein, „nie von der Wahrheit weichen . . . Mit geordnetem Geiste, mit Gleichmut und Besonnenheit, in die er a l l e s setzen muß, soll er die menschlichen Geschicke berichten und beurteilen, und doch muß er ein Parteimann des Schicksals, ein natürlicher Verfechter des Fortschritts sein und kann schwer der Verdächtigung entgehen, mit der Sache der Freiheit zu sympathisieren, weil ja Freiheit gleich ist mit Regung der Kräfte und weil darin das Element liegt, worin er atmet und lebt. Daher ist auch mit Despotie, die die Kräfte des einzelnen lähmt, die Geschichtsschreibung nicht verträglich, und neben einem Ludwig XIV. konnten vielleicht Poeten von einigem Wert bestehen, aber keine Geschichtsschreiber."9 Indem die Parteinahme für die politischen Ziele des Bürgertums Gervinus' Erkenntnisinteresse darauf lenkte, die objektiven Tendenzen der historischen Entwicklung nachzuweisen, entstand eben auf diesem Standpunkt mit der Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen die — nach Götzes Worten — „erste Gesamtdarstellung der deutschen Literatur, die ihren Anspruch, Geschichte zu sein, methodisch einzulösen versuchte" 10. Mit der Überzeugung, die Geschichte zum Verbündeten zu haben, konnte Gervinus deren subjektivistische Verzerrung ruhigen Gewissens auch denen ankreiden, die ähnliche politische Ziele verfolgten wie er. Er distanzierte sich von der „lüderlichen Genialität" der jungdeutschen Schriftsteller und haßte deren „literarischen Jakobinismus so sehr wie das Kastenwesen und die Schuldespotie". 11 Gervinus' eigene Darstellung war von solchen Verzerrungen selbstverständlich nicht frei, aber sie benötigte auch nicht den nationalistischen Eifer, 25

mit dem Menzel 12 ein knappes Jahrzehnt zuvor die Literaturgeschichte nach seinen Burschenschafter-Idealen interpretiert hatte. Daher war, während für die Arndt, Wachler, Menzel etwa die französische Literatur nur noch als Feindbild ins Blickfeld kam, die Konstituierung einer wissenschaftlichen Literaturgeschichtsschreibung als Geschichte der Nationalliteratur bei Gervinus keineswegs mit der Aufgabe des vergleichenden Aspekts verbunden. Im Gegenteil: Konzentrierte sich Gervinus' praktische Arbeit auch auf die deutsche Literatur, so gewann dieser Aspekt in seiner Konzeption theoretisch um so größere Bedeutung. Das Erbe der deutschen Literatur als nationale Leistung und als nationalen Besitz wertend, konnte die Literaturgeschichtsschreibung die ihr von Gervinus gesetzte Funktion, das Selbstbewußtsein des deutschen Bürgertums zu wecken, nur im Vergleich mit den anderen europäischen Literaturen voll erfüllen. Dementsprechend weist dann Hettners großangelegte Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts, die die französische, englische und deutsche Literatur in drei selbständigen Teilen darstellt, auf diese Weise die Deutschen als eine Franzosen und Engländern ebenbürtige große (Literatur-)Nation aus. 13 Gervinus' Konzeption der Literaturgeschichte war für die Entwicklung des komparatistischen Denkens in der bürgerlichen Literaturwissenschaft darüber hinaus jedoch auch von entscheidender methodologischer Bedeutung. Mit der Darstellung der Literaturgeschichte des eigenen Volkes als eines Bildungsfaktors der Nation (dem Stand, auf dem die Literaturgeschichtsschreibung in einer Reihe namentlich der fremdbeherrschten Länder Ost- und Südosteuropas überhaupt erst anfing) wurden nationale — Nationalgeschichte repräsentierende — literarische Traditionszusammenhänge als feste Größen gesetzt, mit denen die vergleichende Literaturgeschichte nunmehr zu operieren hatte. Diese Entwicklung entsprach einem wirklichen geschichtlichen Sachverhalt — der Fixierung relativ eigenständiger literarischer Traditionszusammenhänge auf der Grundlage der sich herausbildenden bürgerlichen Nationen, ohne allerdings auch den Auswirkungen der gleichzeitig fortschreitenden Internationalisierung der Literaturkommunikation Rechnung zu tragen. Vergleichende Literaturgeschichte wurde zur Geschichte der Wechselbeziehung der Nationalliteraturen nach dem Modell der ökonomischen und politischen Beziehungen zwischen den staatlich souveränen Nationen im Kapitalismus der freien Konkurrenz. 26

II Obwohl Gervinus die „philosophische Konstruktion der Geschichte" als verfrüht ablehnte und in diesem Zusammenhang geringschätzig auf Kant und Herder zurückblickte,14 bewegte sich sein Geschichtsdenken doch in einer solchen Konstruktion. Seine Vorstellung, daß die deutsche Geschichte, nachdem sie eine in der Gestalt Luthers vollendete religiöse Epoche und eine Epoche der Kunst durchlaufen habe, deren Höhepunkt und Abschluß Goethe und Schiller bilden, nun in ihre politische Epoche eingetreten sei, basiert — wie Erler gezeigt hat — „fast ausschließlich auf spekulativen Elementen" 15. Die Abhängigkeit dieser Vorstellung von dem Hegeischen Schema der Entwicklung des objektiven Geistes steht für Erler ebenfalls fest, obwohl dieses Schema in Gervinus' Modifikation auf die althergebrachte anthropologische Lebensalter-Metapher zurückfiel. Bei der Konstituierung der Literaturgeschichtsschreibung auf dem Standpunkt der gesellschaftlichen Praxis fungierte dieses Schema jedoch nur als Hilfskonstruktion zur geschichtsphilosophischen Fundierung der Wirklichkeitserfahrung des liberalen Bürgers. Seiner Erfahrung der gesellschaftlichen Verhältnisse im deutschen Vormärz entsprechend, entwarf Gervinus das Programm einer Literaturgeschichtsschreibung „noch jenseits der Chronik", aber „noch diesseits des Pragmatismus" 16 oder — wie Weimann formuliert — der „Einheit von vergangenheitsgeschichtlicher Rekonstruktion und gegenwärtig-geschichtlicher Funktion" 17. Gervinus kündigte seine Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen als ein Werk an, „das in seiner ganzen Manier eine Grundregel der historischen Schreibart, nach welcher der Geschichtsschreiber vor seinem Gegenstande wegfallen und dieser in voller Objektivität hervortreten soll, vollkommen verleugnet. Der Verfasser erscheint hier auf jeder Seite mit seinem Urteil, mit seinen Ansichten . . ." 18 Er hatte dieses Verfahren schon in seiner Einleitung in die Deutschen Jahrbücher damit gerechtfertigt, daß dem Interesse am politischen Leben, je ungeduldiger dieses werde, jedes andere weichen müsse: „je mehr die Menschen gestaltend und verbessernd ihre äußeren Zustände zu ändern streben, desto mehr werden sich die aktiven Kräfte vor den passiven geltend machen; je mehr das materielle Bedürfnis sich zudrängt, desto weniger wird man unfruchtbare Theorien und sterile Stoffsammlung in den Wissenschaften ertragen; je mehr die Gegenwart und das Vaterland die Menschen beschäftigt,

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um so weniger werden sie das Altertum und die Fremde um dieser selbst willen behandelt sehen wollen, s o n d e r n ü b e r a l l w i r d man den B e z u g auf das s u c h e n , w a s u n s n a h e l i e g t und angeht".^ Gervinus bekämpfte mit dieser Ansicht eine „Objektivität", die vom „Wirken in der Gegenwart zum Forschen aus der Vergangenheit für die Zukunft" geführt habe und ein „so schreckhaftes Losungswort" geworden sei, „daß sich am Ende jeder scheuen mußte, seine Meinung zu haben und auszusprechen", und er war guter Hoffnung, „daß in der Geschichte vielleicht der Anfang gemacht werden dürfte, den ausschließlichen Weg der objektiven Forschung zu verlassen und, indem man darstellende Werke gibt, die von Ideen ausgehen, welche die Zeit und ihr Bedürfnis bedingen, die Wissenschaft für die gegenwärtige Umgebung fruchtbar zu machen".20 Diese „Objektivität" wurde damals von den Ideologen der Restauration zum Losungswort gegen die liberalen und demokratischen Kräfte des Bürgertums erhoben, mit dem Ziel, die philosophischen Konstruktionen des Zusammenhangs von Geschichte und Gegenwart zu zerstören, auf denen die Fortschrittskonzeptionen dieser Kräfte basierten. Gervinus' Kontrahenten, gegen die sich seine Polemik richtet, waren in erster Linie die Herausgeber der Berliner Historisch-politischen Zeitschrift, der Jurist Savigny und der Historiker Ranke, die dieses Blatt mit dem ausdrücklichen Ziel gegründet hatten, den politischen Liberalismus zu bekämpfen. Ranke hatte gegen die liberale Historiographie, die die Geschichte in bezug auf die Gegenwart darstellte, sein Konzept einer Geschichtsforschung gesetzt, die kein anderes Ziel verfolgen sollte als herauszufinden, „wie es eigentlich gewesen". 21 Dieses Konzept hatte mit der Grundauffassung des progressiven Bürgertums gebrochen, daß die Geschichte im Ganzen als ein in sich zusammenhängender Prozeß des Fortschritts der Menschheit zu denken sei. Es war bereits in Rankes 1824 erschienener Schrift Z»r Kritik neuerer Geschichtsschreibung voll ausgebildet, obwohl die berühmten, zu seiner Charakteristik immer wieder herangezogenen Sätze erst dreißig Jahre später formuliert wurden. Sie lauten: „Ich aber behaupte, jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem Eigenen selbst. Dadurch bekommt die Betrachtung der Historie, und zwar des individuellen Lebens in der Historie, einen ganz eigentümlichen Reiz, indem nun jede Epoche als etwas für sich Gülti28

ges angesehen werden muß und der Betrachtung höchst würdig erscheint." Ranke hat seine Ansicht, „wie der Begriff .Fortschritt' in der Geschichte aufzufassen sei" 23, an dieser Stelle insofern präzisiert, als er einen Fortschritt der Menschheit in der Beherrschung der Natur und in der Produktion des materiellen Reichtums anerkannte. Aber er bestand darauf, daß der Begriff des Fortschritts nicht anwendbar sei „auf die Produktionen des Genius in Kunst, Poesie, Wissenschaft und Staat, denn diese haben alle einen unmittelbaren Bezug zum Göttlichen. Sie beruhen zwar auf der Zeit, aber das eigentlich Produktive ist unabhängig von dem Vorhergängigen und Nachfolgenden." 24 Rankes Auffassung jeder geschichtlichen Epoche als „unmittelbar zu Gott" ist natürlich auch zu den problematischen Tendenzen der liberalen Historiographie des Vormärz ins Verhältnis zu setzen: Zu der Tendenz der Aktualisierung, die sich gar nicht mehr bei dem Versuch, die Vergangenheit zu rekonstruieren, aufhielt, und die, von einer undialektischen Fortschrittskonzeption ausgehend, gar keinen echten Epochenbegriff gewann; und zu der Tendenz, daß die Gestalten der Vergangenheit, bedingt durch die Teleologie, auf die das bürgerliche Fortschrittsdenken — auch noch in Hegels dialektischer Geschichtsauffassung — hinauslief, in der historischen Darstellung nur noch als „Schatten oder Schemen" erschienen, „welche sich mit der Idee erfüllten" 25 . Und mit seiner Orientierung auf die Quellenkritik konterte Ranke schließlich die auch in der liberalen Historiographie noch bestehende Tradition, die Kenntnisse über die Vergangenheit hauptsächlich aus vorhergehenden Geschichtsdarstellungen zu bezichen. Mit dieser Tradition hatte Gervinus allerdings zuerst gebrochen. Schon seine genaue Beschreibung der mittelalterlichen deutschen Literatur, die zum Zeitpunkt des Erscheinens seiner Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen zum großen Teil noch nicht ediert war, belegt das eingehende Quellenstudium, auf dem diese Arbeit beruht. Wenn Sengle Gervinus' Arbeit als „publizistisch" 26 bezeichnet, so trifft das den durch seinen Praxisbezug bestimmten Stil, führt aber in die Irre, sofern er Zweifel an der Forschungsleistung wecken möchte, die damit erbracht wurde. Zwar konnten Chronisten wie Koberstein oder Bouterwek in der Aufarbeitung des immensen Faktenmaterials mit Gervinus konkurrieren. Was ihn über seine Vorgänger erhebt, ist der von seiner praktischen Aufgabenstellung inspirierte Versuch, Literaturgeschichte als eine „Seite der Geschichte" darzu29

stellen. Obwohl seiner Geschichtsauffassung durchaus eine idealistische, undialektische Fortschrittskonzeption zugrunde liegt, hat Gervinus mit diesem Unternehmen doch die Richtung angegeben, in der eine Literaturgeschichtsschreibung, die diesen Namen verdiente, zu entwickeln war. Die Orientierung auf den Zusammenhang der Literatur mit dem „gesellschaftlichen und staatlichen Leben" 27 war es natürlich vor allem, die marxistische Theoretiker 28 seit Mehring an Gervinus' Arbeit hervorgehoben haben. Mehring würdigte sie in der Lessing-Legende als „den einzigen großen Versuch, den die bürgerliche Wissenschaft gemacht hat, um den ideellen Gehalt der klassischen Literatur in die politischen Kämpfe ihrer Klasse aufzunehmen". 29 Und obwohl schon er sehen mußte, daß Gervinus noch weit davon entfernt war, die wirklichen Vermittlungen zwischen Literatur und Leben zu erfassen, stand dieser für ihn unter den bürgerlichen deutschen Literaturhistorikern „wie ein Riese" 30 da. Aber auch wenn man einwendet, daß Gervinus' Konstituierung der Literaturgeschichte als G e s c h i c h t e noch kein Konzept für eine Literaturgeschichte im Sinne einer Kunstgeschichte der Literatur bot, und auch marxistische Literaturhistoriker von daher heute geneigt sind, Mehrings Emphase abzuschwächen, bleibt doch die Tatsache bestehen, daß die Geschichtlichkeit der Literatur erst voll begriffen werden mußte, ehe die relative Selbständigkeit der Literaturentwicklung zu begreifen und eine adäquate Vorstellung von einer spezifischen Geschichte kunstliterarischer Praxis zu gewinnen war. Diese Vorstellung wurde allerdings auch nicht in der Weiterentwicklung von Gervinus' Konzeption gewonnen. Die Position, auf der er die Literaturgeschichtsschreibung konstituierte, war von den bürgerlichen Literaturhistorikern nicht zu halten. Der Rankesche Historismus, gegen den er seine Konzeption verteidigt hatte, trug nach 1848/49 den Sieg davon. Ranke leistete Vorarbeit sowohl für den Positivismus wie für die Geistesgeschichte. Seine Argumente gegen die Ideologie des vorrevolutionären deutschen Bürgertums, der Gervinus' Konzeption der Literaturgeschichte angehört, kamen den Literaturhistorikern der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zugute, um die Aktualität geschichtlicher Erfahrungen zu leugnen, die nicht mehr ihrem Erkenntnisinteresse entsprachen, und um den Fluß der Geschichte in ihren Arbeiten schließlich überhaupt zum Stillstand zu bringen, indem sie jede geschichtliche 30

Gestalt, unter Berufung auf die bleibende Gegenwärtigkeit des Kunstwerks, „unmittelbar zu Gott" setzten.

III Gervinus hatte Hegels Satz vom Ende der Kunst als höchster Form der Erkenntnis in der Weise aktualisiert, daß er die Geschichte der deutschen Literatur mit Goethes Tod vorerst für abgeschlossen erklärte. Die Deutschen mußten nun von der Idee zur Tat fortschreiten und ihre politischen Verhältnisse in Ordnung bringen, ehe sie auf ein zweites „goldenes Zeitalter" deutscher Dichtung hoffen durften. So hoch er daher auch die Rolle der Literaturgeschichte bei der Erfüllung dieser Aufgabe veranschlagte, die Literatur der Gegenwart hatte in dieser Konzeption keinen Platz. Folgerichtig vermochte er auch in der Literaturentwicklung seit der Romantik nichts anderes zu entdecken als einen „ grelle [n] Absturz unserer Dichtung zur Entartung und Nichtigkeit" 31 . Spricht man Gervinus das Verdienst zu, Literaturgeschichte als historische Wissenschaft in Deutschland etabliert zu haben, so muß man also zugleich anerkennen, daß er — wenngleich unter progressivem politischem Aspekt — auch schon die für die bürgerliche Literaturwissenschaft ebenso charakteristische wie verhängnisvolle Isolierung ihres Gegenstandes von der zeitgenössischen Literaturproduktion begründete. Im Unterschied zu Gervinus reagierte die Mehrzahl der bürgerlichen Ideologen auf die durch die französische Julirevolution gewonnene Perspektive jedoch nicht mit der Liquidierung der Literatur, sondern mit dem Versuch einer Neubestimmung ihrer gesellschaftlichen Funktion: Befand sich doch die deutsche Literatur zu dem Zeitpunkt, als Gervinus auftrat, bereits mitten im Prozeß einer tiefgreifenden Funktionsveränderung. Die Julirevolution hatte in Deutschland die Politisierung des gesellschaftlichen Bewußtseins mächtig vorangetrieben. Die Literatur erschien unter dem Postulat der Verbindung mit dem „Leben", unter der Devise der Einheit von Literatur und Politik, traditionell zunächst vielen überhaupt als das Feld, auf dem die politischen Kämpfe auszutragen waren. Mit dem Erstarken der wirklichen politischen Bewegung Anfang der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts kehrte sich dieses Verhältnis um, beherrschten die Fra31

gen einer politischen Instrumentalisierung und Operationalisierung der Literaturproduktion das kunstthcoretische Denken der mit der antifeudalen Bewegung am engsten verbundenen deutschen Schriftsteller. Nicht Gervinus' liquidatorische Schlußfolgerungen, sondern Heines These vom Ende der Kunstperiode, die den Gedanken einer politischen Fundierung der neuen Kunst enthielt, war für diese Autoren brauchbar. Heine verwarf die systematische Unterordnung der Kunst unter Religion und Philosophie, knüpfte aber an die Geschichtserkenntnis an, die der von Hegel konstruierten Hierarchie der Erkenntnisformen zugrunde lag: daß der Status der Kunst auf den verschiedenen Stufen der Menschheitsentwicklung jeweils ein anderer gewesen ist. Diese Erkenntnis leitete Heine bei dem Versuch, den Status der Kunst neu zu bestimmen, nachdem die ökonomischgesellschaftliche, politische und wissenschaftlich-technische Entwicklung begonnen hatte, die auf das vorindustrielle Zeitalter fixierten Funktionsmodelle der klassischen Ästhetik außer Kurs zu' setzen. In seiner These vom Ende der Kunstperiode wandelte Heine Hegels Satz vom Ende der Kunst dahingehend ab, daß die Zeit abgelaufen sei, in der das geistige Leben sich vornehmlich in den Formen der Kunst und Literatur manifestierte und in der Kunst und Literatur im Mittelpunkt des geistigen Interesses der Gesellschaft standen. Heine glaubte, daß nunmehr — und als Epocheneinschnitt sah er wie die meisten seiner Zeitgenossen die französische Julirevolution an — dieser Platz der Politik zukomme. Im Gegensatz zu Gervinus, für den sich Poesie und Politik unverändert als Alternativen darstellten, zog Heine die Schlußfolgerung, daß damit auch die Literatur auf den Boden der Politik gestellt sei und eine politische Funktion zu erfüllen habe. Die zeitgenössische Literatur, die dieser objektiven Funktionsveränderung Rechnung trug, erschien in Heines eigener Darstellung der deutschen Literatur in der Romantischen Schule dementsprechend auch nicht unter dem Bild des Absturzes aus den Höhen eines goldenen Zeitalters klassischer Vollendung, sondern als hoffnungsvoller Beginn einer neuen Periode nicht nur der politischen, sondern auch der Literaturgeschichte. 32 Heines Konzeption enthielt ein theoretisches Angebot für eine mit der Gegenwartsliteratur verbundene und die Literaturproduktion anregende Literaturgeschichtsschreibung, das zeitgenössische Schriftsteller wie Herwegh in durchaus respektvoller Kri32

tik an Gervinus bei diesem vermißten. Der Forderung Herweghs: „Eine gute Literaturgeschichte muß die beste Apologie der neuen Literatur sein" 33 entsprachen daher am ehesten diejenigen Literaturgeschichtsschreiber, die Heines Konzeption folgten. Hier ist vor allem Robert Prutz zu nennen, obwohl er sich nicht auf Heine berief, sondern dessen politische Haltung wie künstlerisches Werk scharf kritisierte. In seiner geschichtsphilosophischen Begründung der politischen Funktion der neuen Literatur verfährt Prutz jedoch genau nach dem Beispiel Heines, und auch dessen Verfahren, die neue, politisch engagierte Literatur des Vormärz als Erbin der protestantisch-aufklärerischen Tradition der deutschen Literaturgeschichte darzustellen, wird von ihm übernommen. Prutz ging es eben um eine „Apologie" der neuen Literatur, als er es unternahm, eine Geschichte der politischen deutschen Dichtung zu schreiben. Nicht erst dieser Gegenstand, dem er sich zuwandte, nachdem er selbst mit Gedichten aufgetreten war, sondern schon die politische Funktionsbestimmung der eigenen poetischen Produktion lenkte seine theoretische Reflexion notwendigerweise auf den Aspekt der Wirkung der Literatur, der bei Gervinus noch eine untergeordnete Rolle gespielt hatte. Durch die breite Einbeziehung des Wirkungsaspektes eröffnete Prutz mit seiner Politischen Poesie der Deutschen34 der Literaturgeschichtsschreibung jedoch eine neue Dimension. Sie ist von der deutschen Forschung bis in die zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts allerdings kaum ausgeschritten worden, stellt aber diejenige Dimension dar, in der sich die für das literaturtheoretische Denken produktivsten Methoden der Forschung in unserem Jahrhundert vor allem entwickelt haben. Zwar hatte schon Gervinus erkannt, daß die ästhetische Kritik einzelner hervorragender Schriftsteller nie zu einem Begriff der wirklichen Geschichte der Literatur führen konnte: „Wir reißen einzelne Dichter und Literaten auseinander und schreiben statt einer Geschichte eine Reihe von Biographien; wir geben ästhetische Kritiken und lassen den geschichtlichen Zusammenhang liegen; wir meinen alles getan zu haben, wenn wir einen großen Poeten notdürftig aus sich charakterisiert haben, wir vergessen aber, daß in der Geschichte alles aneinander hängt und niemand etwas ist außer durch das Ganze und in dem Ganzen, dem er angehört. Die Literaturgeschichte hat es so gut wie die politische mit Mas3

Germanistik

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sen zu tun . . . Nur daß es unmöglich ist, alles zu lesen, was geschrieben wird, macht, daß man freilich bei dem vorragendsten verweilen muß. Doch haben die Geschichtsschreiber unserer Literatur alle nach der Reihe unendlich viel zuwenig gelesen, als daß sie eigentlich befugt seien, mitzusprechen; sie haben jene niederen Regionen ganz versäumt und in der Luft gepflügt. . Z'35 Frühzeitig hatte Gervinus auch schon auf die Bedeutung der „äußerefn] Beförderungsmittel der poetischen Kultur" für die Literaturgeschichte hingewiesen und beklagt, daß „über gelehrte Anstalten, Gesellschaften, fürstliche Gönner und Beschützer, über Buchhandel und Aufnahme des Gelehrtenstandes" keinerlei „belehrende Zusammenstellung" vorhanden sei. Er äußerte den Gedanken an eine „systematisch geordnete literarische Statistik", „die uns über das Verhältnis und die stufenmäßige Steigerung des Interesses an belletristischen Werken vor dem wissenschaftlichen und nachher über das Umgekehrte belehrte". 36 In seiner eigenen Praxis blieb Gervinus jedoch nicht von ungefähr hinter diesen Forderungen zurück: Die Funktionsbestimmung, die er der Geschichte der poetischen Nationalliteratur gab, implizierte die Hervorhebung der großen Dichter im Sinne ihrer Profilierung als nationale Vorbildgestalten. Prutz anerkennt Gervinus' bahnbrechende Rolle in der Literaturgeschichtsschreibung. Er bemerkt, daß die wissenschaftliche Behandlung unserer Literaturgeschichte genau denselben Gang genommen habe wie die Geschichtsschreibung überhaupt. „Indem man die Geschichte eines Volkes zu schreiben unternahm, schrieb man nicht sowohl die Geschichte des Volkes selbst, als vielmehr die Geschichte seiner Könige, seiner Feldherren, seiner Großen und Vornehmen . . . Die eigentlichen Zustände des Volkes dagegen, das, was eigentlich seine Geschichte bildete, die Entwicklung also seiner inneren Verhältnisse, die Ausbildung seiner Nationalität, seines Rechts, seiner Sitten und Gesetze, blieben entweder völlig unberührt; oder mit ekler Geringschätzung überließ man sie den Antiquitätensammlern, welche wiederum ihrerseits jeder höheren Einheit, jedes geistigen Zusammenhalts zu sehr entbehrten, als daß ihnen aus tausend Bruchstücken, tausend Einzelheiten jemals ein Ganzes gelungen wäre. Es w a r , um es k u r z zu b e z e i c h n e n , e i n e a r i s t o k r a t i s c h e , e i n e o l i g a r c h i s c h e G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g ; ja so weit wurde die Ausschließlichkeit getrieben, daß an der ganzen unermeßlichen 34

Geschichte, von dem ganzen großen Völker leben im Grunde nur vier Nationen, die sogenannten vier Weltmonarchien, überhaupt in Betracht gezogen wurden — gleichsam die Creme der Weltgeschichte . . ." 3 7 Ebenso sei in der Literaturgeschichtsschreibung verfahren worden. A u c h hier habe man anfangs nur „wenige einzelne K ö n i g e des Geistes" proklamiert; „man hatte Abtheilungen und Rangordnungen erfunden, nach denen man die Schriftsteller schematisierte. N u r den Sternen erster Größe (und die w a r e n die größten, die man eben für die größten h i e l t ) wurde die Ehre einer ausführlichen und detaillierten Besprechung zu T h e i l . . . Die übrigen dagegen, die etwa, unbeschadet ihrer historischen Bedeutsamkeit, nur eine geringere ästhetische Ausbeute auslieferten, wurden . . . mit Stillschweigen übergangen . . . Mit Einem W o r t : m a n v e r f u h r e b e n s o e x c l u s i v in d e r L i t e r a t u r g e s c h i c h t e , w i e e h e m a l s in d e r p o l i t i s c h e n : man verwechselte das ästhetische mit dem historischen Interesse und schrieb Literaturgeschichte nicht vom Standpunkt des Geistes, sondern des Schöngeistes." 3 8 Allein auch in der Literaturgeschichtsschreibung sei — und dieses Verdienst schreibt er u. a. Gervinus zu — diese anfängliche „aristokratisch-ästhetische Phase" überwunden worden. Man wisse jetzt, „ d a ß a u c h d i e L i t e r a t u r g e s c h i c h t e vor Allem u n d e r s t l i c h G e s c h i c h t e i s t " , daß auch hier der Weg der Erkenntnis „nicht bloß, in raschen Sprüngen, von Gipfel zu Gipfel geht: sondern auch die unscheinbaren Thäler, die ermüdenden Einöden müssen durchwandert und überwunden werden, indem auch sie dem großen Gebiet des Geistes und der Geschichte angehören, u n d w i r d a s Z i e l d e r h i s t o r i s c h e n E i n s i c h t , d e s geistigen V e r s t ä n d n i s s e s nicht anders erreichen können, als d u r c h sie".39 Die Umwälzung, die die Anerkennung dieser Prinzipien für die Behandlung der Literaturgeschichte mit sich bringe, charakterisiert Prutz folgendermaßen: Die frühere Geschichtsschreibung habe „die einzelnen Productionen als fertige Thatsachen" fixiert. „Sie zerlegte die ästhetische Beschaffenheit der Bücher . . . sie suchte eine gewisse Masse klassischer Schriftsteller gleichsam auszuhülsen und zu allgemeiner Bewunderung, auf der Zinne der Vergangenheit, im Tempel des Nationalruhms aufzustellen." Die moderne Literaturgeschichte dagegen habe die Kontinuität der 35

Entwicklung zur Voraussetzung: Sie beurteile das Buch nicht „als Einzelnes", sondern begreife es als „Moment der Bildung seines Autors"; dieser wiederum solle als „Moment in der Bildung seiner Zeit", im „Zusammenhang mit der Gesamtheit unserer Entwicklung" begriffen werden. Das alles sei jedoch immer noch nur die eine Hälfte der Sache. Ebenso wichtig sei die Geschichte der allmählichen Wirkung der Bücher, „der Stimmung, mit welcher man sie aufgenommen, der geistigen Umstände, die sie gefördert, der Mißverständnisse, die ihre Wirkung aufgehalten und gehindert haben. Und ohne Zweifel ist dies bei allen Dingen die andere Hälfte ihrer selbst und gleichsam das zweite Dasein, das sie führen." 40 Damit verlasse die Literaturgeschichtsschreibung endgültig den Standpunkt, wo sie gleichsam nur eine „angewandte Ästhetik" gewesen sei ( „ w ä h r e n d doch u m g e k e h r t u n s e r e Ä s t h e t i k , wenn sie endlich einmal aus dem abstracten Schematismus einer—, wie aus dem inhaltlosen Nebeln und Schwebein andrerseits herauskommen will, vielmehr eine a n g e w a n d t e L i t e r a t u r g e s c h i c h t e zu w e r d e n hat . . ." 4 1 ). „Ziel- und Augenpunkt" einer „Literaturgeschichte, als G e s c h i c h t e " sei dementsprechend natürlich auch nicht die Vergangenheit und deren ästhetische Verherrlichung: „sondern auf die Gegenwart zielt sie, die sie über sich selbst aufklären, zu neuen Schöpfungen, ja zu neuen Thaten anregen und damit die höchste Aufgabe lösen will, welche aller Wissenschaft gestellt ist: diese nämlich, lebendig zu werden durch die That.—"42 Prutz kommt zu dem Ergebnis, daß infolge der geschilderten Veränderungen in der Auffassung der Literaturgeschichte auch „der Werth der Quellen und Hilfsmittel, deren der Literaturhistoriker sich bedient" 43 , gleichfalls sich verändere. Was damit praktisch gemeint war, hat Prutz durch die Wahl der Gegenstände seiner eigenen literaturhistorischen Arbeiten gezeigt: Die hier verfolgten Gedankengänge entstammen der Einleitung zu einer Geschichte des deutschen Journalismus, die im selben Jahr erschien wie Die politische Poesie der Deutschen (1845). In der Folgezeit stehen — neben der Beschäftigung mit der Gegenwartsliteratur überhaupt (Vorlesungen über die deutsche Literatur der Gegenwart, 1847) — die modernen Formen der „Raiseliteratur" (Über Reisen und Reiseliteratur der Deutschen), die Unterhaltungsliteratur (Über die JJnterbaltungsliteratur, insbesondere der Deutschen, 1850) und die Überset36

Zungen aus der französischen und englischen Literatur (Die deutsche Literatur der Gegenwart. 1848—1858, erschienen 1859) im Mittelpunkt seines Interesses. In seiner Arbeit über Die deutsche Literatur der Gegenwart befaßt sich Prutz eingehend mit der Wirkung der modernen französischen und englischen Romanliteratur in Deutschland. In der Arbeit über die Unterhaltungsliteratur versucht er — aus dem Vergleich mit der Situation Englands und Frankreichs — die Ursachen für die tiefe Kluft zu erschließen, die zwischen der „Literatur der Gebildeten" und der Literaturproduktion, in der die Massen ihre Unterhaltung suchen, in Deutschland entstanden war.44 Prutz betrachtet die Unterhaltungsliteratur als ein „ n o t w e n d i g e s Product" der modernen Zeit. 4 5 Er führt ihr Entstehen letztlich auf die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft zurück. In ihr könne es eine Literatur, die in ihrer Gemeinverständlichkeit, allgemeinen Verbreitung und naiven Universalität der „volle künstlerische Abdruck eines ganzen Volkes" ist, nicht mehr geben. Überall habe bei den modernen Völkern die „Kunstliteratur" — d. h. die „Literatur der Gebildeten", die „Literatur der Reflexion" — die „Volksliteratur" überwältigt. Nun besteht aber einerseits das Bildungsprivileg der herrschenden Klassen: „Die eigentliche Bildung ist, ähnlich wie der eigentliche Besitz, das eigentliche Vermögen, auf unendlich Wenige beschränkt; in einer Welt, wo Alles privilegirt ist, ist auch der Geschmack und das Schönheitsgefühl ein Privilegium geworden." 46 Andererseits jedoch haben breite Volksschichten die minimale Bildung erworben, um an der literarischen Kommunikation teilnehmen zu können. Prutz definiert die Unterhaltungsliteratur folgerichtig als „die Literatur derjenigen, welche gebildet genug sind, um überhaupt an künstlerischer Production Antheil zu nehmen: und wieder nicht gebildet genug, um zu dem eigentlichen Kern der Kunst, dem innerlichen Verständniß des Schönen vorzudringen . . ."47 In Deutschland ist die „Ablösung der Bildung von dem allgemeinen und ursprünglichen Bewußtsein des Volkes" schroffer, gewaltsamer als in anderen Ländern. Prutz führt diese Tatsache darauf zurück, daß sich die moderne deutsche Literatur „dadurch verschlimmert, daß es dem deutschen Leben an einem praktischen Vereinigungspunkte" fehle, auf welchem „Gelehrte und Laien, Gebildete und Ungebildete in gemeinsamem Interesse zusammenkommen". Als einen solchen „Vereinigungspunkt" betrachtete 37

Prutz bei den Engländern und Franzosen ihr politisches Dasein, die „Oeffentlichkeit ihres Staatslebens". In Deutschland fehle ein Mittelpunkt praktischer Tätigkeit, sei die Politik keine öffentliche Angelegenheit. Die deutschen Dichter haben folglich nirgends eine Gelegenheit, „ihr Volk, als solches, in großen Massen" kennenzulernen. „Wir haben keine Oeffentlichkeit, es sei denn eine literarische; es begegnen uns keine große Geschicke, es sei denn ein Dichter, der ausgepfiffen, ein Kritiker, der von einem andern überkritisirt wird; wir haben keine Parteien, es seien denn journalistische, keine Neuigkeiten, es seien denn die Raritäten des Meßkatalogs. Woher sollen da dem Dichter die großen Stoffe kommen? . . . Was bleibt ihm übrig, als ewig wieder die Literatur von der Literatur zu nähren und dadurch den Bruch, der zwischen ihm und dem Volke ist, nur immer zu vergrößern? —',