Positionen polnischer Literaturwissenschaft der Gegenwart: Methodenfragen der Literaturgeschichtsschreibung [Reprint 2021 ed.] 9783112472026, 9783112472019


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Positionen polnischer Literaturwissenschaft der Gegenwart: Methodenfragen der Literaturgeschichtsschreibung [Reprint 2021 ed.]
 9783112472026, 9783112472019

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Positionen polnischer Literaturwissenschaft der Gegenwart

Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Literaturgeschichte

Positionen polnischer Literaturwissenschaft der Gegenwart Methodenfragen der Literaturgeschichtsschreibung Herausgegeben von Eberhard Dieckmann und Maria Janion

Akademie -Verlag 1976

Berlin

Aus dem Polnischen übersetzt von Bruno Schymon Fachwissenschaftliche Redaktion: Eberhard Dieckmann Technische Redaktion: Ursula Zwerschke

Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1976 Lizenznummer: 202 • 100/241/76 Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen/DDR • 4765 Bestellnummer: 752 573 6 (2150/42) . LSV 8000 Printed in GDR DDR 9, 50 M

Inhalt

'Eberhard Dieckmann Zur Einführung Ka^imierz

7

Wyka

Über die Notwendigkeit der Literaturgeschichte

. . .

Maria Zmigrodyk.a Probleme des romantischen Umbruchs Henryk

39

Markiewic%

Die Dialektik des polnischen Positivismus Maria

98

Slawinski

Synchronie Prozeß

und Diachronie

Aleksandra

Okopien-Slawinska

im

literarhistorischen 133

Die Rolle der Konvention im literarhistorischen Prozeß Micbai

76

Janion

„Ehre und Dynamit" — Literatur und Revolution . . . Janus%

12

156

Giowinski

Literarische Gattung und Probleme der historischen Poetik 5

175

Edward Balcer^an Perspektiven einer „Rezeptionspoetik"

202

Stefan Zölkiewski Modelle der Gegenwartsliteratur in ihrem frühen Entwicklungsstadium 223 Anmerkungen

243

Biobibliographie zu den Autoren

283

Personenregister

289

6

Zur Einführung

Methodenfragen der Literaturgeschichtsschreibung bilden den gemeinsamen Nenner der in diesem Band vorgestellten Arbeiten polnischer Literaturwissenschaftler. Der Gegenstand Literaturgeschichte ist es auch, der das Dilemma verringert, das jede vergleichbare Auswahl mit sich bringt. Die Entwicklung der modernen polnischen Literaturwissenschaft ist auf ungewöhnlich enge Weise mit den nationalgeschichtlichen und nationalliterarischen Prozessen verbunden, so daß es nahelag, in der vorliegenden deutschsprachigen Auswahl solche Erfahrungen zu vermitteln, zumal auch in der Literaturwissenschaft der DDR auf diesem Gebiet die deutlichsten Fortschritte gemacht worden sind. In einem Land wie Polen, das im 18. Jahrhundert seine nationale Unabhängigkeit verlor, diese erst im 20. Jahrhundert wiedererlangte und das in geschichtlich kurzer Zeit nach der nationalen Befreiung seine soziale erlebte, gewann die Literatur eine zentrale Funktion im Bewußtsein der Nation. Die Geschichte dieser Literatur seit der Aufklärung, der Romantik und dem Positivismus bis in die Entscheidungsfragen unseres Jahrhunderts hat deshalb die Arbeit polnischer Literaturwissenschaftler überwiegend bestimmt. Noch in unserem Jahrhundert bedeutete das, literarischen und geschichtlichen Prozeß zueinander in Beziehung zu setzen: unter den Bedingungen nationaler Teilung, dann in zwei Jahrzehnten nationaler Unabhängigkeit, die durch Krieg und faschistische Okkupation erneut verlorenging, und schließlich im Zeichen endlich erlangter nationaler und sozialer Unabhängigkeit. Nicht wenige polnische Schriftsteller, deren Werk bis in unsere Tage reicht, repräsentierten diese geschichtlichen Abläufe in persona, und nicht wenige Nestoren der 7

Literaturwissenschaft waren ihre Weggefährten. In der Folge einer solchen spezifischen Situation wurden hohes Aktualitätsbewußtsein in der literaturgeschichtlichen Arbeit, die Bereitschaft zur Hypothese und zum theoretischen Denken aus der historischen Synthese ausgeprägte Merkmale polnischer Literaturwissenschaft der Gegenwart. In diesem allgemeinsten Sinne haben die Autoren dieses Bandes vergleichbare Ausgangspunkte, stehen sie in einer Reihe mit jenen bis fast in unsere Gegenwart wirkenden Gelehrten wie Juliusz Kleiner, Stefan Kotaczkowski, Stanislaw Pigori, Kazimierz Budzyk, Roman Ingarden oder dem noch energisch tätigen Julian Kzyzanowski, deren Schüler oder Kollegen sie waren, im Widerspruch zu denen oder auch in deren Fortführung sie ihre Positionen entwickelten. Von Kazimierz Wyka bis zu Stefan Zölkiewski haben sie zumeist Jahre mit- und nebeneinander gearbeitet, ihre Positionen in Beziehung gesetzt, auf unterschiedliche Weise durchaus gleichen Zielen zustrebend. Persönliche Handschrift, unterschiedliches Methodeninteresse und Methodenbewußtsein lassen das jedoch, gleich gar nicht am Beispiel einer einzigen Arbeit, nicht mehr ohne weiteres erkennen. Kazimierz Wykas Verteidigung der Literaturgeschichte signalisiert auf besondere Weise die Nöte der Literaturgeschichtsschreibung — auf die Gefahren ihrer Borniertheit aufmerksam machend, zugleich ihre Rechte fordernd mit dem Hinweis, daß Literatur über sich hinausweisend auf ein größeres Kulturverständnis bezogen wird. Eine den Prozeß, das Werk und den Autor gleichermaßen berücksichtigende Literaturgeschichtsschreibung, für die Wyka hier plädiert und die ihr Verhältnis zu den Nachbardisziplinen kennt, wird den Zweifeln an ihrem wissenschaftlichen Wert gewachsen sein, mit denen sich der Autor auseinandersetzt. Gerade auf Wyka bezogen, muß dieser knappe Ausweis einer einzigen Arbeit bedauert werden. Wykas frühzeitig abgeschlossenes Werk (er starb im Januar 1975) gehört zu den Ausnahmeerscheinungen auf literaturwissenschaftlichem Gebiet, sein Rang als Literarhistoriker, Essayist, Literaturkritiker und Verfasser kunstkritischer Arbeiten ist gleichermaßen hoch (wo sonst würde sich bei einer Umfrage nach den geschätztesten Schriftstellern 8

ein Kritiker vor vielen anderen Literaten auf Platz fünf finden, wie in seinem Falle?!). Einer konsequent historischen Orientierung verpflichtet, gelangen ihm in seiner Annäherung an marxistisches Geschichtsverständnis die bis heute bedeutendsten Aussagen über die geistige Situation Polens und der polnischen Literatur während der faschistischen Okkupation. Seine drei jüngeren Kollegen, Maria Zmigrodzka, Henryk Markiewicz und Maria Janion, die es nicht verübeln werden, daß auch von Schülerverhältnis ihm gegenüber gesprochen wird, vertreten die mittlere und aktivste Generation polnischer Literaturwissenschaftler, die der marxistisch-leninistischen Methode verpflichtet ist und ihr bei der Neubewertung literarischer Epochen sowie in der Theorie in ihrem Lande mit zum Durchbruch verholfen hat. Die Darstellung zweier zentraler Literaturepochen der polnischen Literaturentwicklung, der Romantik und des Positivismus, gibt Zmigrodzka und Markiewicz Gelegenheit, zwei der am häufigsten untersuchten Perioden erbetheoretisch neu zu bewerten, in einem Fall die nationale romantische Literaturentwicklung durch den Vergleich mit der europäischen Entwicklung über die nationale Bedeutung hinaus prüfend und auch hinaushebend bzw. im anderen Fall die Relation von literarischer Epoche und gesellschaftlicher Realität in neues Licht rückend. Die darin behandelten Fragen von Romantik und Realismus erlangen neue Dimensionen, der Literaturgeschichtsschreibung werden umfassendere, auf die internationale und differenziertere gesellschaftliche Auslotung zielende Aufgaben gestellt. Für Markiewicz ist das Verfahren, aus umfassender historisch-synthetischer Sicht Theorie abzuleiten, besonders charakteristisch, es liegt seinen zahlreichen Arbeiten zu Methodenfragen (vor allem seinem erfolgreichen Buch Grundprobleme der Literaturwissenschaft., einer kritischen Auseinandersetzung mit Methodenfragen aus historischer Sicht) generell zugrunde. Maria Janion hat vor allem in letzter Zeit, speziell am Beispiel der polnischen Romantikentwicklung, die Beziehung von Literatur und Revolution untersucht, wobei sie das Marxsche Menschenbild undLiteraturverständnis als Ausgangspunkt für ihre Auffassung wählt, daß Revolutionen besondereEntwicklungsräume für die Literatur erzeugen, in denen weite Vorgriffe geleistet werden. 9

Mit Janusz Slawinski, Aleksandra Okopien-Slawinska, Michal Gtowinski und Edward Balcerzan werden Vertreter der jüngeren Wissenschaftlergeneration vorgestellt, die bereits zahlreiche Arbeiten vorgelegt haben und deren Interesse vorrangig Fragen der historischen und deskriptiven Poetik, der Werkinterpretation, der Gattungsproblematik und der Literaturrezeption gilt. Alle diese Autoren, die sich vor allem mit der Literaturentwicklung unseres Jahrhunderts befassen und auch regelmäßig als Literaturkritiker auftreten, bringen Fragestellungen in die Literaturgeschichte ein, die eine breiter werdende Wirkung beabsichtigen. Bei ihnen ist das Interesse am theoretischen Problem und die Synchronebene vorrangig, sie lassen am deutlichsten erkennen, wo man auf Suche ist oder sogar die Hypothese bevorzugt. Über ihre Anliegen informiert vor allem die von Stawinski und Balcerzan mitredigierte Zweimonatsschrift Texte. Dagegen ist die theoretische Beweisführung Stefan Zölkiewskis wiederum deutlich dem pragmatischen Zweck untergeordnet, der literarischen Praxis System abzugewinnen. Seine Literaturmodelle, bezogen auf die Zeit zwischen erstem und zweitem Weltkrieg, werden aus den unterschiedlichen Mustern des Verhältnisses von Schriftstellern und Lesern hergestellt und in die sich verändernden gesellschaftlichen Kommunikationsbeziehungen eingebettet. Auch damit kann nur ein Ausschnitt aus umfangreichen literatursoziologischen Forschungen sichtbar gemacht werden, die Zölkiewski in letzter Zeit vorgelegt hat und mit denen der erfahrene Kulturpolitiker und Zeitschriftenredakteur Zölkiewski in Jahrzehnten der Praxis gewonnene Erkenntnisse nun literaturwissenschaftlich umsetzt. Die Arbeiten dieses Bandes entstanden etwa innerhalb eines Jahrzehntes. In Hinsicht auf Positionen und Autoren notwendig unvollständig, geben sie dennoch ein ungefähres Bild vom Interessenfeld polnischer, dabei speziell polonistischer Literaturwissenschaft. Knapp signalisieren sie auch Vorzüge und Schwierigkeiten in Methodenfragen, über die öffentlich heftig gestritten wird. Methodenbewußtsein kann in Methodenborniertheit umschlagen, theoretische Risikobereitschaft zur Preisgabe von Positionen verführen, vorrangiges Interesse für 10

Literaturspezifik ist der Vorliebe für Literaturimmanenz benachbart. Vor allem um solche Anzeichen wird die Diskussion geführt, da sie den Vorzügen gegenüber stehen, das literaturwissenschaftliche Arsenal zu erweitern; immer häufiger entstehen Arbeiten, die sich mit Literaturfunktion und literarischer Wirkung beschäftigen (besonders von literatursoziologischen Aspekten her). Ein genauer fixiertes Erbeverhältnis ist in jedem Fall positives Ergebnis erweiterten literaturwissenschaftlichen Instrumentariums. Zwei Forderungen werden in letzter Zeit stark angemeldet: nach intensiverer Beschäftigung mit der gesamten sozialistischen Literaturtradition, die sich von überholten innerliterarischen Werthierarchien befreit, und die Forderung nach Synthesen (im Sinne der ganzheitlichen Untersuchung bestimmter Werke, bestimmter Autoren oder bestimmter Literaturepochen). Damit sind der literarhistorischen und vor allem auch literaturvergleichenden Forschung (so H. Markiewicz in seinem Aufsatz Zehn Minuten über die methodologische Situation, in: Texte H. 6/1973) Aufgaben gestellt, die der Literaturwissenschaft in der DDR vergleichsweise entsprechen. In diesem Sinne werden die Arbeiten unserer polnischen Kollegen sicher nicht nur Auskunft über den Stand der Forschung bei unseren Nachbarn geben, sondern auch Anregung und Ausgangspunkt für weitere gemeinsame Überlegungen und Diskussionen. Berlin, im Mai 1975

Eberhard Dieckmann

Kazimierz Wyka

Über die Notwendigkeit der Literaturgeschichte1

Über die Notwendigkeit der Literaturgeschichte läßt sich auf verschiedene Weise reden: prinzipiell, objektivierend oder methodologisch. Allerdings läßt sich das auch vom subjektiven Standpunkt aus tun; man stützt sich dann auf eigene Überzeugungen, die gewöhnlich bei der Forschungstätigkeit nur zu selten zum Ausdruck gelangen. Der Umstand, unter dem ich mich damit befasse, bewegt mich zur Wahl der zweiten Betrachtungsweise. Aus vielen anderen, nicht immer festlichen Anlässen, also auch auf wissenschaftlichen Tagungen, beraten und diskutieren wir mit Ernst das Verhältnis von Genese und Struktur, Persönlichkeit und Prozeß, Sprachmodell und Stil usw. Wir überlegen dann, ob und inwieweit bestimmte Forschungsmethoden bereits überwunden werden konnten, welche wir an deren Stelle gesetzt haben oder wie wir die Suche nach neuen Methoden fortsetzen. Wir erwägen auch, in welchem Grade der sogenannte literarhistorische Prozeß in Polen die neu entwickelten Interpretationsinstrumente beifällig aufgenommen hat. Kurz, wir vertreten dann den Standpunkt, daß Schmetterlinge bestimmt existieren und daß jeder diese Tatsache mit eigenen Augen wahrnehmen kann. Wenn aber Schmetterlinge existieren, dann können sie als Folge des unersättlichen Wissensdranges des menschlichen Geistes zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung werden; sie können jedoch einer wissenschaftlichen Betrachtung zugleich entzogen und damit von der Wissenschaft in Frieden gelassen werden, wenn man — wie im folgenden — mit dem Dichter lediglich die nahe verwandtschaftliche Beziehung der Schmetterlinge zur Natur hervorheben möchte. 12

„Dort erheben sich schlank die weißen Stengel des Mohnes; Schmetterlinge glaubst du auf ihnen in Scharen zu sehen, Leise zitternd mit zarten Flügeln, auf denen es glitzert Regenbogenfarben in Vielfalt wie der Glanz von Brillanten. Mit lebendiger Farbenpracht täuscht der Mohn schier das A u g e . " 2 Wenn wir indessen die Schmetterlinge wissenschaftlich untersuchen und sie nicht ausschließlich den Dichtern überlassen wollen, wird zweifellos auch ein Wissenschaftszweig existenzberechtigt sein, der sich mit ihnen beschäftigt — die Entomologie oder, genauer ausgedrückt, ihr Teilgebiet Lepidopterologie. Vielleicht hat diese Gedankenkette mit dem Gegenstand der Literaturgeschichte einen nur losen Zusammenhang. Sie mutet uns deshalb zunächst etwas barock an. Jedoch wird sie uns in unserem Vortrag noch manchmal von Nutzen sein. Die Arbeit des Literaturwissenschaftlers, seine Enttäuschungen und Niederlagen, erinnern uns oft an einen Schmetterlingsjäger, der Schmetterlingen mit dem Fangnetz in der Hand nachstellt. Er ist schon damit zufrieden, daß er den buntschillernden Falter erhascht. Der Forscher dagegen möchte, daß das von ihm gebrauchte Netz der Begriffe und Abstraktionen möglichst jenem Netz bunter Flecken und linearer Gebilde ähnlich wäre, das er bei diesen schillernden Wesen beobachtet. Gereizt, vergessen, entdeckt, geschätzt, wenig beachtet oder anerkannt unterliegen alle derselben Macht der Wissenschaft, alle — die Schmetterlingsjäger wie die Wissenschaftler. Ja, mehr als das. Jeder von ihnen besitzt das Recht, seine häuslichen Regale mit Kästchen (sprich: seine eigene Bibliothek) zu füllen und sich zu sagen: Laßt uns noch einmal nachlesen, was dieser oder jener Schmetterlingsjäger über meine geliebten Exemplare zu berichten weiß. So jedenfalls sieht unsere Lepidopterologie aus. „Der Schatten folgt dem Schatten, der Schmetterling jagt den Schmetterling." Das zur Abwechslung von Lesmian. 3 * * Ziffern mit Stern weisen auf Sachanmerkungen hin.

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Kurz, wenn ich von der Notwendigkeit der Literaturgeschichte reden soll, möchte ich das ganze komplexe Problem, den Gegenstand, mit dem sich unser Wissensgebiet beschäftigt, die Rolle dieser Disziplin im Ensemble der Wissenschaften sowie ihre Bedeutung für die zeitgenössische Kultur möglichst kritisch betrachten. Ich möchte das mit einer gewissen Dosis Verwunderung, ja Skepsis tun; mit einer Verwunderung, wie sie dem Literaturhistoriker eigen ist, der beim Anblick flatternder Libellen und Schmetterlinge auf der Wiese überlegt, ob daraus Doktorate, Habilitationen oder Lehrstühle erwachsen können. Ein ähnliches, wenn auch andersgerichtetes Staunen wird den Entomologen erfassen, der sich nach dem Lesen eines Sonetts oder einer Ballade bewußt wird, daß auch daraus Doktorate, Institute und Lehrstühle an Universitäten entstehen können. Eben für diese Einführung benötigte der Sprecher die vom Arbeitsgegenstand des Literaturhistorikers scheinbar so fernliegende Gedankenkette. Wenn dieses gegenseitige Staunen und Wundern nur wohlwollend und redlich sein wollte. Der Widerspruch zwischen dem Entomologen und dem Literaturhistoriker ist zugleich eine Frage des Verhältnisses zwischen den humanistischen und den biologischen, physikalischen, technischen und mathematischen Wissenschaften. Die ungewöhnliche Entwicklung dieser Wissenschaftszweige und ihr kontinuierlicher, umgestaltender Einfluß auf die heutige, auch uns Humanisten betreffende Zivilisation versetzt uns in die Lage armer Verwandter, besonders aber den Literaturhistoriker. Sein Erbanteil ist unsicher und unbestimmt, kaum sichtbare Ackerwege und Hügel — so erscheint es wenigstens seinem Besitzer. Dieses Gefühl eines armen Verwandten gegenüber seinem Nachbarn, dem es glänzend geht, dieses Bewußtsein, am letzten Ende der großen Tafel sitzen zu müssen, scheint zwei Ursachen zu haben: eine objektive und eine subjektive. Zunächst die objektive Ursache. E s geht uns nicht darum, den alten Streit um die Höherwertigkeit oder das „Bessersein" einzelner Wissenschaftszweige oder ganzer Wissenschaftsgebiete erneut aufleben zu lassen. Das wäre ein Streit, den man 14

den Mönchen im Monacbomachia (Möncbenkrieg)4* von I. Krasicki überlassen sollte. Doch selbst, wenn wir dies nicht tun, würde ich mich durchaus nicht wundern, wenn Vertreter einzelner Wissenschaften, die mit exakt geprüften Experimenten und einem Feld isolierter Untersuchungsgegenstände arbeiten können, das tatsächlich wissenschaftliche Gesetze hervortreten läßt, ganze Bereiche der humanistischen Wissenschaften als unwissenschaftlich und nicht beweisbar betrachten. Lassen wir ihnen diese Überzeugung, die sicher auch ihre rationalen Gründe hat. Zu unserer eigenen Verteidigung können wir lediglich erklären, daß man nicht weiß, was schwieriger ist: die Skizze einer physikalischen Landkarte oder einer Ideenkarte der schriftlichen Überlieferungen, das Erkennen eines bestimmten Modells im Reagenzglas oder eines Modells, das einem Einakter zugrunde liegt. Ich bitte um Pardon, aber diese Frage ist wieder an die ehrwürdigen Patres des Möncbenkriegs gerichtet. Nun zur subjektiven Ursache. Leider gibt es heute diese Patres immer noch. In diesem Monat hatte ich die Ehre, an einer Beratung von Wissenschaftlern teilzunehmen, die den Aufbau und den Wert der Wielka Encyklopedia Vorvs^ecbna (Große Allgemeine 'Enzyklopädie) des Staatlichen Wissenschaftsverlages (PWN) erörterten. Die Nichthumanisten verübelten es dem Verlag, daß sogar 1963 diese Enzyklopädie eine offensichtliche Prädominanz an humanistischen Schlagwörtern aufweise, obwohl seitens des Verlags keine Bevorzugung einzelner Wissenschaftsdisziplinen vorgesehen war. Ein Diskussionsredner, der diesen Umstand der Redaktion vorwirft und gewißkein besseres Argument parat hatte, erklärte mit zunehmend heiterer Stimme ungefähr folgendes: „Die humanistischen Wissenschaften halten schließlich auf keine Weise mit uns Schritt. Was sage ich da — sie halten nicht Schritt. Sie liegen am Boden des Weggrabens unseres Pfades!" Und wieder stehen sich Humanisten und Nichthumanisten an der Front gegenüber. Sie kämpfen miteinander, doch leider fragt keiner, wie einst Mickiewicz, an dem ich damit eine kleine Travestie begehe: „Warum lachst du, holde Schäferin, warum? Was ist dabei so heiter?" Ich schlage Übereinkunft vor. Als Beweis für die unein15

geschränkte Wertschätzung der Entomologie, die ich als spezielle, gegenstandsgerichtete Forschungsdisziplin betrachte, möchte ich feststellen, daß sie dank der Schmetterlinge zu einem Gebiet der Poesie werden kann und damit auch über diese Vermittlung zu einem Forschungsgebiet der Literaturhistoriker. E s gibt ein poetisches Triptychon von M. Pawlikowska-Jasnorzewska 5 , deren Helden Libellen und Phyllia sind. Ich behalte mir das Recht vor, auf das Phyllium siccifolium Linn. (Wandelndes Herz) zurückzugreifen. Um dieses Insekt wird es der Dichterin gehen, wenn sie schildert, wie die Libelle uns lehrt, Sorgen und inhaltsleere Streitigkeiten zu mißachten. „Oft blickst du aus den Augen, Strahlende, und gleichst der blauen Flamme, die golden unter den Haaren hervorleuchtet. Oh, Psyche, du meine innere Libelle, deren geschlossene, ruhige Flügel ich in mir fühle und die mich zum Fluge drängen. Manchmal höre ich, du geschmeidiger Flieger, wie du mich eine faule Raupe schimpfst und in meiner Brust gegen die Wände schlägst, wenn du, verfrüht und böse, einen Ausgang suchst aus mir, die ich an das Blatt gefesselt bin, im Zentrum des Fraßes und der Krautsorgen [. . .]" Werfen wir nun den bereits angekündigten Seitenblick auf den Wissenschaftszweig, den wir im Institut für Literaturforschung betreiben. Jede Wissenschaftsdisziplin weist ihre Existenzberechtigung nach, wenn sie folgende drei Schritte gehen kann: Erstens, wenn sie imstande ist, ihren Forschungsgegenstand zu begründen; zweitens, wenn sie imstande ist, darzulegen, daß dieser Forschungsgegenstand zwar anderen Nachbardisziplinen oder Randgebieten der Wissenschaft ebenfalls zugehörig ist, doch bei Wahrung bestimmter Forschungsmomente zum spezifischen Gegenstand nur e i n e r bestimmten Wissenschaft wird und keiner anderen zugeordnet 16

werden kann. Drittens, wenn sie imstande ist, darzulegen, um welche Forschungsmomente es sich handelt, also das Ziel und die Methode der Forschung angibt, die einer bestimmten Wissenschaftsdisziplin die ausschließliche Herrschaft über den Untersuchungsgegenstand übertragen. Diese Aufzählung sagt noch nichts über die wirkliche Reihenfolge der notwendigen Schritte aus. Gewöhnlich liegen der zweite und dritte Schritt vor dem ersten; die Begründung des Gegenstandes ist erst das Ergebnis dieser Schritte und leitet sich aus ihnen ab. Aber die Veränderung der erwähnten Folge stört und beseitigt keinesfalls die wesentliche Ordnung: Das erste und wichtigste ist die Begründung des Forschungsgegenstandes. In einem Großkaufhaus stehen zunächst lange Menschenschlangen nach Einkaufskörben, um sich danach in Reihen zum Einkauf der Waren anzustellen. Diese Menschenschlangen können Forschungsgegenstand der Ökonomen, Soziologen und Planwirtschaftler des Binnenhandels sein. Die ersten kann interessieren, wieviel Prozent des Einkommens die Einwohner der Stadt Warschau für die Lebensmittelversorgung aufwenden ; die zweiten die Frage, warum diese Einwohner einen bestimmten Ladentypus bevorzugen und aus welchem Grunde sich eine bestimmte Verkaufsstättenart durchsetzte; die dritten hingegen interessiert die Frage, warum die Bürger nicht versuchen, in einer Wohngebietsverkaufsstelle ihre Einkaufsbedürfnisse zu befriedigen und welche Waren in diesen Verkaufsstellen anzubieten wären, damit die Kauflust befriedigt wird und zugleich nicht befürchtet zu werden braucht, daß die Superläden ihre angebliche Überlegenheit gegenüber den anderen Verkaufsstätten verlieren. Der Forschungsgegenstand kann also sowohl geteilt als auch ausschließlich sein. Wie verhält es sich mit diesen drei Schritten auf unserem Wissenschaftsgebiet? Welchen Forschungsgegenstand hat der Literaturhistoriker? Vor fünfzig Jahren publizierte J. Kleiner in seiner Arbeit Charakter i pr^edmiot badán literackicb (Charakter und Gegenstand der Literaturforschung) einen allgemeinen Gedanken, der vielleicht deshalb, weil er so allgemein ist, im folgenden wiederholt werden kann: „Ohne Rücksicht darauf, wie jemand das Ziel und den Umfang literarischer Forschung auffaßt, wird ihr eigentlicher Gegenstand stets ein objekti2

Dieckmann

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viertes Werk des menschlichen Geistes sein, dessen Material das Wort oder einfach der Text [. . .] ist. Gegenstand der literarischen Forschung o d e r G e g e n s t a n d der L i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t i s t der G e h a l t der T e x t e als b e s o n d e r e r B e r e i c h der m e n s c h l i c h e n R e a l i t ä t . " 6 Die angeführte Begriffbestimmung kommt dabei keineswegs von außen. Sie hat einer der bedeutendsten polnischen Literaturhistoriker entwickelt, ein Forscher, der das gesamte Forschungsinstrumentarium souverän beherrschte, angefangen von der Theorie der wissenschaftlichen Forschung bis zur wissenschaftlichen Editionstätigkeit. Ich habe sie zitiert, um von außen kommende Definitionen an ihr messen zu können. Bei Gelegenheit unternahm ich folgenden Versuch. Ich stellte einem namhaften Chemiker überraschend die Frage: „Könntest du mir auf der Stelle und ohne viel nachzudenken eine Definition des geisteswissenschaftlichen Forschers, eines Vertreters der Humanwissenschaften geben?" Unmittelbar auf meine Frage folgte tatsächlich die Antwort. „Das ist ein Mensch, der tausend Bücher studiert und über das Gelesene das tausendundeinte Buch geschrieben hat. Manchmal hat er sein Buch auch geschrieben, ohne soviel gelesen zu haben." „Machst du einen Witz, oder meinst du es ernst?" Nach kurzer Überlegung kam: „Es mutete mich selber wie ein Scherz an, aber es ist mir wirklich ernst damit." Der Chemiker sagte im wesentlichen dasselbe, was J . Kleiner festgestellt hatte, sicher nicht nur deswegen, weil auch er Mitglied der Polnischen Akademie der Wissenschaften war (und ist). Reduziert man das Problem auf Grundsätze, läßt sich sagen: Der Gegenstand der Forschung des Literaturhistorikers ist in den Augen außenstehender Chemiker und Entomologen mit Sicherheit ein Buch oder, allgemeiner ausgedrückt, ein im Buch objektiviertes literarisches Werk. Diesen außenstehenden Wissenschaftlern muß man das Recht einräumen, nichts über den außerhalb des Rahmens eines Buches liegenden Bereich von Folklore oder entsprechender Literatur zu wissen, obwohl sich auch darauf unsere Untersuchungen erstrecken können. 18

Und deshalb waren wir auch mit der in Anekdotenform dargebotenen methodologischen Aussage eines fachfremden Wissenschaftlers einverstanden. Nehmen wir an, daß wir diese Diskussion weiterführen und auf sokratische Weise unseren Gesprächspartner überzeugen wollten, daß das Buch zwar wichtig ist, jedoch nicht alles, vielleicht nur der Anfang. Für eine solche hypothetische Diskussion könnte die wertvolle Anthologie von H. Markiewicz unter dem Titel Teoria badan literackicb n> Po/sce (Theorie der 'Literaturforscbung in Voten) eine gute Grundlage bilden. Wir könnten im besonderen nach verschiedenen, scheinbar am Rande liegenden und zeitfremden Texten greifen und erfahren, daß diese keineswegs etwa veraltete oder museale Laboratoriumsinstrumente enthalten, sondern solche, mit denen wir die damals unternommenen Experimente nachvollziehen können. Sie zeigen zudem, daß die auf jenen Erfahrungen aufgebauten Gedankenreihen in ihnen ihren Ursprung haben. An dieser Stelle der hypothetischen Diskussion helfen uns die Darlegungen (seine Vorlesungen zur klassischen Philologie) des verehrungswürdigen A. Maiecki 7 *: „Die Literaturgeschichte hat bereits verschiedene Positionen vertreten sowie verschiedene Entwicklungswege beschritten, bevor sie den heutigen Entwicklungsstand erreichen konnte. Zuerst war sie Bibliographie. Die geistige Arbeit des Volkes, in Sprach- und Schriftzeichen verewigt, wird in Büchern erfaßt. Diese Bücher aufzuzählen, zu beschreiben und zu klassifizieren schien damals bereits zu genügen, um ein Bild von der Literatur selbst zu zeichnen. Indessen sind Bücher nicht Aufklärung, sondern einzig und allein Z e i c h e n , Spuren der Volksbildung [. . . ] Die Geschichte des Buches ist erst die Bereitstellung des Rohmaterials. Aus diesen vielen Titeln muß man erst ein Ganzes entstehen lassen; man muß diese Titel gleichsam zu einer einheitlichen Erzählung, zu einem literarhistorischen Bild verschmelzen." 8 In der Zeit, als Maiecki noch lebte, war es durchaus nicht einfach, aus dem Zustand der Bibliographie herauszukommen. K. Estreicher9* wollte Literaturhistoriker werden, zuvor aber beschloß er, alle in Polen erschienenen Bücher zu registrieren. Der Dämon der bibliographischen Systematik rächte sich an 2*

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dieser verdienstvollen Familie, denn auch die dritte Generation der Estreicher schreibt und schreibt Bücher auf, doch kein Familienmitglied wurde bis zum heutigen Tage Literaturhistoriker. Und der erwähnte Dämon suchte sich weitere Opfer und fand sie (glücklicherweise auch die erforderlichen Planstellen). Die neubearbeitete Bibliographie der polnischen Literatur, die vom Institut für Literaturforschung nach G . Korbut 10 herausgegeben wurde, soll rund 26 Bände umfassen. Diesen reichen Nachlaß Korbuts verdanken wir der Polnischen Akademie der Wissenschaften, wie wir das hier auch mit Dankbarkeit konstatieren. Unser vorgestellter Gesprächspartner ist inzwischen zu dem Schluß gelangt, daß der Forschungsgegenstand des Literaturhistorikers nicht nur literarische Werke umfaßt. Eifrig bemüht er sich hinzuzufügen: Dieser euer Gegenstand sind die Werke und ihre Urheber, die Werke und Schriftsteller. Und wieder greifen wir nach den Vorlesungen A. Maleckis und finden darin folgende Antwort: „Um die Sache stärker zu beleben, begann man später, das Hauptanliegen der Literaturgeschichte in detaillierten Lebensbeschreibungen der Autoren zu erblicken. Ohne Kenntnis des Geistes eines Schriftstellers und seiner äußeren Lebensbedingungen läßt sich sein Werk nur schwerlich beurteilen. Daher wandte man sich hauptsächlich der Erhellung biographischer Einzelfakten bei den Autoren zu. Aber auch das konnte nicht genügen. Bald stellte man fest, daß auch dieses Vorgehen erst zur S c h r i f t s t e l l e r b i o g r a p h i e führt, nicht aber zur Literaturgeschichte." 11 Wir wollen für einen Augenblick diese fiktive Diskussion unterbrechen. Die Zugeständnisse, die jener außenstehende Wissenschaftler zugunsten der Literaturgeschichte und ihrer wissenschaftlichen Erfordernisse machte, sind ihrem Wesen nach Zugeständnisse, die auch in der Meinung breiter Kreise, die sich professionell nicht mit Polonistik befassen, zum Ausdruck kommen. Es macht den Eindruck, als ob die öffentliche kulturelle Meinung die Notwendigkeit einer Literaturgeschichte an zwei Stellen empfindet und hierbei zu zwei Konzessionen bereit wäre. Das betrifft den Schriftsteller, vor allem den bedeutenden Schriftsteller, sowie das literarische Werk, vor allem das herausragende Werk. Literarhistorische Arbeiten,

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die diese beiden Bereiche betreffen, finden ein breites Publikum. Ihre Verbreitung unter der Leserschaft geht auch weit über die beiden Bereiche hinaus, die unserer wissenschaftlichen Werkstatt am nächsten stehen: über den Kreis der polonistisch interessierten Leser, unserer „Mitstreiter", wie man früher sagte, und über den Leserkreis, der unsere wissenschaftliche Produktion unter dem Aspekt der K u l t u r p r o p ä d e u t i k betrachtet, die dank der Literaturgeschichte verwirklicht werden kann. Auf diese verbale Annahme werden wir im folgenden noch einmal zurückgreifen. Läßt sich also das Bedürfnis und die Notwendigkeit von Literaturgeschichte, die in der zeitgenössischen Kulturmeinung vorhanden sind, lediglich auf Bücher (Abhandlungen) über Schriftsteller und Bücher (Abhandlungen) über literarische Werke beschränken? Ich will versuchen, den Nachweis zu erbringen, daß es sich anders verhält. Zunächst muß man jedoch auf einen tüchtigen Bundesgenossen all jener Leser aufmerksam machen, die damit zufrieden wären. Ich meine besonders die zeitgenössischen Schriftsteller. Diese Hunderte von lebenden Objekten unserer Forschung sind ein gewaltiger Hebel im Mechanismus jener öffentlichen Meinung, denn jeder einzelne dieser Schriftsteller hält die Feder in der Hand und vermag seine Urteile und Ansichten zu verbreiten. Zwischen der Wirksamkeit dieses Hebels und der Wirksamkeit unserer Wissenschaftsdisziplin gab es manchmal Dissonanzen; ganz besonders dann, wenn er organisatorisch in Gestalt des Instituts für Literaturforschung in Erscheinung trat. Es wäre jedoch wieder mit der Haltung jener Mönche im Möncbenkrieg vergleichbar, wollte man diese Dissonanzen als die Grundmelodie betrachten. Ich unterbreche daher diese Reminiszenzen, um eine einfache Frage aufzuwerfen: Was erwartet der aktive und schöpferische Schriftsteller vom Literaturhistoriker? Erklärung seines individuellen Schaffens und Analyse des konkreten Werkes. Sein Interesse erlahmt an der Schwelle, die die Aufschrift trägt: „Achtung! Ismen-Schreck!" Ein Kraköwer Prosaiker wandte sich schon oft an mich und sagte mit erhobenem Zeigefinger: „Die Wissenschaftler sehen uns Schriftsteller überhaupt nicht. Die Wissenschaftler handeln uns ab!" 21

Doch der gleiche Schriftsteller, der darüber unzufrieden ist, daß man ihn nur „abhandelt", erwartet zugleich etwas anderes: eine redliche, gründliche und rasche Information über sein literarisches Werk. Und er hat auch einen Anspruch darauf. Im Kreis der Literaturschaffenden gehört das vom Verlag des Instituts für Literaturforschung publizierte Slownik rvspötcyesnjcb pisar^y polskich (Lexikon der 'zeitgenössischen polnischen Schriftsteller)12 zu den am meisten und am gründlichsten gelesenen Werken. Dieses Lexikon hätte jedoch ohne die aktive Mitarbeit der Schriftsteller selbst und ohne ihre Information über biographische Sachverhalte gar nicht zustande kommen können. Die von der Arbeitsgruppe E. Korzeniowskas mit Hilfe der Fragebogenmethode gesammelten Materialien sind überaus wertvoll und wirklich einmalig. Die Schriftsteller berichtigen jedes Versehen, jede Ungenauigkeit. Mit einem Wort: An der von den Bibliographen besetzten Front stehen die Literaten als starke und zuverlässige Bundesgenossen. Aber kehren wir zu unserer Frage zurück: Sollte es für die Geschichte der polnischen Literatur und ihre wissenschaftlichen Ergebnisse wirklich keine anderen gesellschaftlichen Erfordernisse geben als die von uns soeben charakterisierten? Eine mit zunehmender Ungeduld erhobene Forderung ist das Postulat einer Literaturgeschichte, die wirklich Literaturgeschichte ist. Ganz einfach also folgendes: die kontinuierliche Darlegung der Gesamtheit der Literaturentwicklung oder zumindest die Charakteristik einzelner Epochen. „Die Literaturgeschichte, die eine Geschichte des Denkens und des ganzen geistigen Lebens ist, kann nicht eine Geschichte von Büchern sein. Sie muß vielmehr aus den Büchern eine a l l g e m e i n e r e Betrachtungsweise ablesen und sich diese erarbeiten", wiederholen unsere Autoren in Anlehnung an A. Malecki 13 , wenn auch in modernerem Polnisch. Bevor wir jedoch versuchen wollen, die Frage nach dem Sinn derartiger Postulate zu beantworten — die Kulturpropädeutik erwähnten wir bereits —, wollen wir die vorübergehend unterbrochene Diskussion über den Gegenstand literarhistorischer Forschung wieder aufnehmen. Diesmal ist die angreifende Seite der Literaturhistoriker. Er möchte von seinem Gesprächspartner das Einverständnis für 22

einen breiteren Gegenstand der Forschung als nur den Schriftsteller und das Werk gewinnen. „Wer die Menschen kennen lernen will, der studiere ihre Entschuldigungsgründe." 14 Diesen Aphorismus schrieb einmal Friedrich Hebbel. Er bezieht sich auch auf die Wissenschaft. Der Literaturhistoriker erklärt also, daß der primäre Gegenstand seiner Forschung der l i t e r a r h i s t o r i s c h e P r o z e ß sei, also der für die Literatur eines bestimmten Landes spezifische Prozeß, der in gewissen Grenzen andersartig ist als die adäquate Erscheinung in anderen Ländern. In der Rangfolge erscheinen an zweiter Stelle das Werk und an dritter Stelle der Schriftsteller. Sie bilden das exemplifizierte Material für das erwähnte Forschungsziel. Das Wort „Prozeß" betont der Literaturhistoriker besonders stark. Während meiner Assistentenzeit sagte mir einmal S. Kotaczkowski 15 , daß das Ideal der Literaturgeschichte ein Buch über die verschiedenen Strömungen und Tendenzen, die Ismen und ihren methodologischen Ursprung, ohne jegliche Namen, sein könnte. Ich fragte daraufhin: „Weshalb schreiben Sie dieses Buch nicht, Herr Professor?" — „Weil diese vermaledeiten Schriftsteller dabei stören", bekam ich zur Antwort. Man darf annehmen, daß der Terminus „literarhistorischer Prozeß" beim Naturwissenschaftler Staunen hervorrufen wird, wenn er das Wort „Prozeß" nur danach bewertet, was dieser Terminus dort bedeutet, wo er keine spezifisch methodologische Metapher ist. Also überall dort, wo bestimmte Prozesse tatsächlich ablaufen und feststellbar sind, bevor die Erklärung der Bedeutung und des Ursprungs der Prozesse überhaupt begonnen hat. Als klassisches Beispiel für die wissenschaftliche Schlußfolgerung, die zunächst von einem nicht zu widerlegenden Prozeß, von einer allgemein anerkannten Tätigkeit ausgeht, um danach alle für die Erklärung notwendigen Prämissen zu durchdenken, kann vielleicht der fünfte Abschnitt von R. Descartes' Abhandlungüber die Methode gelten. In diesem Buch knüpft der Autor an W. Harvey an und erklärt die Herz- und Pulstätigkeit (Descartes spricht von Bewegung) in folgender Weise: „Es ist dies die erste und allgemeinste Bewegung, die man bei den Tieren beobachtet, und man wird daher hieraus leicht entnehmen können, was von allen anderen zu halten ist." 16 23

Die in den humanistischen Wissenschaften gebräuchliche methodologische Metapher lautet: Prozeß plus entsprechendes Eigenschaftswort (historischer oder literarhistorischer Prozeß, sprachliche Prozesse). Diese Metapher fand in den letzten Jahren eine starke Verbreitung. Allerdings gibt es bestimmte Kunstdisziplinen, die diesen Begriff in der Sprache ihrer Fachvertreter kaum kennen, ' & i den Historikern ist das unterschiedlich. So finden wir beispielsweise im ersten Band der vom Institut für Geschichte veröffentlichten Historia Polski {Geschichte "Polens) ein anspruchsvoll klingendes Kapitel unter der Überschrift Charakteristik der historischen Prozesse. Diese relativ wenigen Seiten schrieben insgesamt drei Autoren. Sie sind einfach eine Zusammenfassung oder ein Konspekt der darauffolgenden Kapitel. Die übrigen Bände sind schon anders gestaltet. Sicher ist es lohnend, über die tieferen Ursachen einer solchen Ausbreitung dieser Metapher zu reflektieren. Das würde vielleicht das Wundern des naturwissenschaftlich orientierten Gesprächspartners verständlich machen. Er wird bestimmt diesen Terminus „Prozeß" so verstehen, wie das am Beginn der modernen Wissenschaftsentwicklung bereits F. Bacon in seinem Novum Organon entwickelte, als er der statischen Erforschung abstrakter Körpereigenschaften folgende Betrachtungsweise gegenüberstellte: „Die zweite Art der Grundsätze, die von der Entdeckung des verborgenen Prozesses abhängt, geht nicht mittels einfacher Eigenschaften voran, sondern mittels Körper, wie man sie im gewöhnlichen Ablauf der Natur antrifft. So kann es sich beispielsweise um Untersuchungen handeln, aus welchen Anfängen, in welcher Art und durch welchen Vorgang Gold oder ein beliebig anderes Metall oder ein Stein erzeugt werde von seinen ersten Ursprüngen oder rohen Anlagen bis zum vollständigen Mineral; oder — in gleicher Weise — durch welchen Vorgang die Pflanzen entstehen, und zwar von den ersten Bildungen der Säfte im Schöße der Erde oder vom Samen an bis zur ausgebildeten Pflanze mit jener ganzen Folge der Bewegung und des vielfältigen und stetigen Wirkens der Natur; oder es geht um die ordnungsgemäße Erforschung der Erzeugung der Tiere von der Empfängnis bis zur Geburt. Ähnlich ist es bei anderen Körpern." 17 24

Somit ist eine Kette von Erscheinungen durch zwei grundsätzliche Merkmale gekennzeichnet: Erstens durch ihre über jeden Zweifel erhabene festgestellte Abfolge, zweitens durch die den wissenschaftlichen Gesetzen entsprechende Abfolge, deren Wirken in diesen Erscheinungen als präsent festgestellt werden muß, damit die Abfolge dieser Erscheinungskette beschrieben und interpretiert werden kann. Lassen wir einmal die Gegenbenheit des Experimentes beiseite, das in den natürlichen Ablauf der so verstandenen Prozesse eingreift und das in ihnen Veränderungen hervorrufend eine zusätzliche Erklärung dafür liefert, worauf jener natürliche Ablauf beruht. „So bleibt die bloße Erfahrung übrig; begegnet man ihr so obenhin, so heißt sie Zufall, sucht man sie, so nennt man sie Experiment [. . .]" « Wenn diese Übereinstimmung des Gesetzes mit der Erfahrung gestört wurde, kann sie sogar die Aufmerksamkeit des Dichters auf sich lenken. Ich habe bereits darauf verwiesen, daß wir noch einmal auf das kleine entomologische Triptychon der Pawlikowska zurückkommen werden. Ihre Maskarada Phyllit (Maskerade des Ybjllium) entstand aus dem Verwundertsein, daß dieses Insekt die Naturgesetze zu stören versucht, daß es einen ihm fremden Platz einnehmen möchte. „Es gibt auf der Welt ein Insekt, ganz aus Blättern, in dem sich ein Irrtum verbarg, ein Wunder vollzog, und das Freude schenkte den Dichtern. Es lernte eine Handvoll Blätter selbst zu beherrschen. Es bewegt sich mit dem Blatt fort, schleppt das Blätterwerk, und unter dem Grünen verlacht es den Angreifer. Phyllium! Wessen Hände verpflanzten dich zu deinem Wohl in die Gestalt einer Pflanze — entgegen den Gesetzen, die der Weltenherrscher uns erkennen ließ." Überlassen wir unseren Gesprächspartner dem methodologischen Verwundertsein. Es rührt sicher von der Schwierigkeit her, die in der Antwort auf die erste, kurz zuvor gestellte 25

Frage begründet liegt. W o und in welcher Art treten in der Literatur Abfolgen von Erscheinungen auf, die sich mit voller Sicherheit feststellen lassen? W o gibt es Erscheinungen anderer und umfassenderer Art, als daß Schriftsteller existieren und Bücher gedruckt werden? Welche Ursachen bewirkten die rasche Entwicklung des Prozeßbegriffes in den Gesellschaftswissenschaften und damit auch in unserer Wissenschaftsdisziplin? Einige, gewiß nicht ausreichende Erklärungen für diesen Erfolg liegen wohl in der Tatsache begründet, daß es Humanwissenschaften gibt, die mit Gewißheit Prozesse zum Forschungsgegenstand haben, die sich feststellen lassen, bevor man sie überhaupt zu erklären versuchte. So ist es bestimmt in der Sprachwissenschaft. Die sprachlichen Prozesse oder, exakter ausgedrückt, die in der Sprache wirkenden Prozesse sind keine methodologische Metapher. Obwohl diese Prozesse im allgemeinen zeitlich sehr weit auseinander liegen, erfüllen sie dennoch die doppelte Bedingung jeder Erscheinungskette, die als Prozeß bezeichnet werden kann. Obwohl im Untersuchungsfeld der Soziologie ständig feststellbare Prozesse auftreten, bevorzugen die Soziologen die Bezeichnung „soziologische Erscheinung". Vielleicht geschieht das deshalb, weil sie es mit Fakten zweifacher Ordnung zu tun haben: einmal mit Fakten kontinuierlicher Art, zum anderen mit zeitweilig auftretenden Fakten. Die Migrationsprozesse der Landbevölkerung unter dem Einfluß der zunehmenden Industrialisierung sind ein anschauliches Beispiel für die Tatsache und die Terminologie der ersten Ordnung, während das Phänomen des Rowdytums ein Beispiel für Fakten zweiter Ordnung ist. Die primäre Ursache scheint somit darin zu liegen, daß es Gesellschaftswissenschaften gibt, die es zuverlässig mit Prozessen zu tun haben. Doch gibt es noch andere, tiefer liegende Ursachen. Sie resultieren aus dem methodologischen Zwang der experimentellen Wissenschaften, der Naturwissenschaften. Der moderne Humanwissenschaftler weiß sehr gut — und das trägt zu seinem Minderwertigkeitsgefühl bei —, daß es ihm niemals vergönnt sein wird, Gesetze zu definieren und zu verifizieren, die sich allgemein beweisen lassen und die von ihm 26

beobachteten Erscheinungen absolut bestimmen. Er weiß des •weiteren, daß Wissenschaft und Erkenntnis, die auf die Realität •einzuwirken und sie zu leiten vermögen, Feststellung von Prozessen und Bestimmung einzelner Gesetze sein müssen. Infolge des Unvermögens, diese zweite Verpflichtung zu erfüllen, bemüht er sich wenigstens, der ersten zu genügen, also die Prozesse insoweit zu beschreiben, als sie nicht angezweifelt werden können und in sein Untersuchungsfeld fallen. E r tut das in der Hoffnung, daß eine solche Aufgabe erfüllbar sei, weil seine Quelle nicht die spontane Erfahrung, sondern das ordnende, durch die Realität aufgegebene Streben des Geistes ist. In diesem Sinne wird er fähig, diese Realität gezielt zu beeinflussen. Aber er tut es auch mit Unruhe, weil der Fall, den er sucht, also das Experiment, für ihn nicht zugänglich ist. Es gibt heute Auffassungen, daß sich die früher markantere Grenze zwischen den Gesellschafts- und Naturwissenschaften im 20. Jahrhundert allmählich verschiebe. In Polen repräsentiert B. Suchodolski 19 diese Ansicht. Dabei geht es um folgende Argumentation, die sich auf den unterschiedlichen Charakter der Kunst im 19. und im 20. Jahrhundert sowie auf den diesem Unterschied entsprechenden Kontrast in den Wissenschaftsauffassungen bezieht. Im Gegensatz zur Wissenschaft in früheren Epochen schafft sich die Wissenschaft des 20. Jahrhunderts künstliche, in sich geschlossene und isolierte Systeme. Sie untersucht diese Systeme, kaum aber die Bedingungen, unter denen die Erscheinungen ohne Ingerenz der Wissenschaft hervortreten würden. In ähnlicher Weise reflektiert die Kunst des 20. Jahrhunderts die Umwelt des Künstlers nicht passiv. Sie schafft sich Typen, Systeme und fiktive Situationen, um durch deren Vermittlung zur Interpretation der Realität aufzufordern. Eine fraglos sehr verlockende Denkweise. Was geschieht aber, wenn wir in ein experimentell isoliertes System, bildlich gesprochen, ein Loch bis zu seinen Fundamenten ausheben würden? Dann kämen wir unweigerlich auf das Problem der wissenschaftlichen Gesetze zurück. In den Humanwissenschaften wie im Kunstschaffen kann sich sogar ein derart isoliertes System wie bei F. Kafka oder B. Schulz 20 * nur als Konzeption selbst genügen u n d ist nur als Konzeption erklär27

bar. Und obwohl diese Denkweise verlockende Gestalt erhält, sieht es so aus, als ob nur eine gewisse Annäherung des Arbeitsinstrumentariums erfolgt ist, nicht aber der ontologischen Formel der Phänomene, die wir studieren. Übrigens füllen Bücher über diese komplizierte Problematik ganze Regale in den Bibliotheken. Kehren wir zur Frage zurück, inwieweit wir es in der Literaturgeschichte mit einem Prozeß auch dann zu tun haben, •wenn wir dessen Zusammenhang mit den wissenschaftlichen Gesetzen ganz und gar bezweifeln. Wenn nämlich ein Merkmal jedes Prozesses die Tatsache ist, daß der Prozeß feststellbar ist, bevor wir mit seiner Erklärung begonnen haben, dann kann die Aussage „literarhistorischer Prozeß" — so wenigstens der verbohrte Skeptiker — ganz einfach bedeuten, daß sich die Literatur ständig entwickelt; die Resultate dieser Entwicklung haben wir in Form des zeitgenössischen Schrifttums vor uns. Meiner Meinung nach sollte man diesem Skeptiker nicht das letzte Wort überlassen. Was läßt sich also in der Literaturgeschichte feststellen, bevor wir überhaupt an die Erklärung herantreten? Die literarischen Werke und die Schriftsteller. Das hatte unser naturwissenschaftlicher Gesprächspartner bereits früher zugegeben. Sicher wird er nicht besonders erstaunt sein, wenn wir ihm erklären, daß in der Literatur außer Werken und Schriftstellern auch bestimmte, deutlich erkennbare und feststellbare P r o z e s s e auftreten. Natürlich nicht einfach ein literarhistorischer Prozeß, der verliefe wie ein geradliniger Strom; schon jeder Strom bewegt sich in einem in viele Richtungen strebenden Strombett. Vielmehr geht es um Prozesse, die zum Gegenstand unserer Forschung werden können, also Prozesse zum Beispiel wie die Wandlung der Gattungen, die Stilveränderungen, die Wandlung der künstlerischen Sprache und des Kunstgeschmacks, die Veränderung der Funktion der Literatur in einer bestimmten Epoche, die Wandlung der ideologischen Relevanz der Literatur für die gesellschaftliche Bewußtseinsentwicklung. Das alles sind Veränderungen, die noch vor ihrer Erklärung feststellbar sind, und das in einem höheren Grade als beispielsweise die Prozesse der Abwanderung vom Land in die Stadt oder die Wachstumsprozesse der Pflanze; sie sind mit den 28

konzeptionellen Tätigkeiten des menschlichen Geistes verbunden, mit seiner Tendenz zur Systematisierung der Erscheinungen und ihrer Einordnung in kohärente Reihen. Bei derartigen Veränderungen läßt sich wohl kaum von Kausalreihen sprechen. Wir möchten daher die s i c h in d e r L i t e r a t u r v o l l z i e h e n d e n P r o z e s s e als sukzessives Ziel und Gegenstand unserer Forschung, als multiples und synkritisches Forschungsobjekt betrachten. Dabei wollen wir immer versuchen, jedesmal genau zu formulieren, um welchen Prozeß es sich im konkreten Fall handelt. Wir wollen also nicht vom literarhistorischen Prozeß im allgemeinen reden. Das soll vor allem deshalb nicht geschehen, weil bei der richtigen Betrachtung der so konzipierten Prozesse die Trennwand zwischen dem Literaturhistoriker und dem Biochemiker bzw. Geologen, die methodologische Sperrmauer zwischen ihnen abgebaut wird. Es geht einfach darum: Wollten wir den Roman der Aufklärung, den Romantyp von L. Sterne oder G. Flaubert, den romantischen oder naturalistischen Roman nur aneinanderreihen, d. h. wollten wir eine Reihe von Veränderungen lediglich feststellen, um zu behaupten, daß jedes dieser Entwicklungsglieder „Ursache" des folgenden Gliedes sei, so wäre das purer Unsinn. Ohne Eingliederung eines willkürlich isolierten Prozesses in das Ganze anderer, manchmal der Literatur fernstehender Prozesse werden wir diesen nicht erklären können. In diesem Sinne ist die methodologische Trennwand zwischen dem Literaturhistoriker und dem Biochemiker wirklich nicht sehr hoch, auch wenn man den nicht zu beseitigenden Unterschied des Untersuchungsfeldes berücksichtigt. Die Literatur und die in ihr erkennbaren Prozesse zu einer sinnvollen und zweckgebundenen Einheit zu verbinden, ist für den Literaturhistoriker durchaus keine Kleinigkeit, wie sich erweist, da wir, speziell meine Wissenschaftlergeneration, dies noch immer so unvollkommen und viel zu selten tun. Vermutlich ist das in der Tat eine große Sache. Wenn wir die Zahl der Literaturhistoriker, die ein Lehrbuch, einen Abriß oder eine mehrbändige Literaturgeschichte zu schreiben versucht haben, mit der in diesem Wissenschaftszweig tätigen Wissenschaftlerzahl vergleichen, dann läßt sich, wie ich zu 29

behaupten wage, eine solche Disproportion als lange existent feststellen. Während der Vorbereitung auf diese Arbeit griff ich gelegentlich nach einem Buch, das uns die Grundsätze richtigen Denkens lehrte, nach den Grundlagen der Erkenntnistheorie, der formalen Logik und der Methodologie der Wissenschaften von T. Kotarbinski. 21 * Darin fand ich: Für den Wissenschaftshistoriker „genügt [. . .] die Überzeugung, daß man mit Sicherheit keine speziellen geisteswissenschaftlichen Naturgesetze entdecken könne, wenn sie bei der gewaltigen Entwicklung und langen Tradition der Humanwissenschaften bis heute noch nicht entdeckt wurden [. . .] Der humanwissenschaftliche Historiker erblickt darin keinen Grund zur Mutlosigkeit [. . .] Schon die bloße gedankliche Rekonstruktion des Inhalts und der Aufeinanderfolge vergangener Ereignisse, die uns interessieren, sowie die gleichzeitige Erhellung der Entstehung, der Ursachen, einschließlich der kausalen und genetischen Bedeutung dieser Ereignisse, sind in seinen Augen eine lohnende Arbeitsaufgabe." 22 Einfache und kluge Worte. Die Notwendigkeit einer solchen literarhistorischen Rekonstruktion wird heute immer offensichtlicher, und das besonders wegen des bislang noch ungeklärten Begriffs „Propädeutik der Kultur". Nun ist es an der Zeit, näher auf ihn einzugehen. Für wen ist eine Wissenschaft wie die Literaturgeschichte aus gesellschaftlichen Gründen besonders notwendig? Für denjenigen, der über die Literatur einen Zugang zur Kultur zu erhalten versucht. Selbstverständlich kann man diesen Zugang auch über andere Kunstarten finden, doch das ist nicht unser Anliegen. Die Frage des Zugangs zur Kultur über die Literatur ist in zwei Varianten von aktueller Bedeutung. Erstens als Prozeß der schulischen Bildung und zweitens als Prozeß der Kulturvermittlung an Erwachsene. Auf beiden Stufen handelt es sich um Erziehungsprozesse, obwohl sie qualitativ unterschiedlich sind. Diese Prozesse haben gemeinsam, daß nicht sosehr die Beherrschung eines konkreten Berufes als vielmehr die Propädeutik der Kultur, die Einführung in die Kultur und in das Kulturverstehen Hauptanliegen der erzieherischen Maßnahmen sind. 30

Sofern es die Schule und in ihrem Rahmen die Notwendigkeit des literaturhistorischen Unterrichts betrifft sei mir gestattet, bestimmte Beispiele und Verallgemeinerungen vorzutragen, die ich bereits in meinem Artikel Polonistyka w swietle s^kolj, uc%elni i nauki (Polonistik im Lichte der Schule, Hochschule und Wissenschaft)23 dargelegt habe. In dem berühmten Liceum Warszawskie (Warschauer Lyzeum) , das von B. Linde 24 geleitet wurde, lernten die Schüler Polnisch, Französisch, Deutsch, Latein, Griechisch und Literaturgeschichte. Außerdem noch Geographie und Mathematik. Wo gibt es heute noch solche Schulen? Der polnische Dichter A. Mickiewicz, der als Professor in Lausanne und Paris wirkte und an der Kraköwer Universität eine Professur zu erlangen versuchte, überbot jedoch noch das Niveau der Zöglinge dieses Linde-Lyzeums. Ihm können wir zudem die Kenntnis der englischen, russischen und italienischen Sprache bescheinigen. Heute stehen wir auf einem diametral entgegengesetzten Punkt. Aber gerade deshalb verpflichtet den Polnischlehrer das Erbe der Humanwissenschaften, das ihm während seiner Ausbildung übertragen wurde. Er übt heute eine wichtigere Funktion aus als der Lehrer vor 1939 oder vielleicht noch früher. In der Schule des 19. Jahrhunderts, die meistens ein humanistisch orientiertes Lehrprogramm hatte, waren der Sprachund Kulturunterricht sowie die Analyse literarischer Werke auf eine weit größere Fächergruppe aufgeteilt, als das gegenwärtig der Fall ist. An dieser generellen Aufgabe waren der Latein- und Griechischunterricht und die damit verbundenen Wissensstoffe der antiken Kultur sowie auch der Unterricht in einer modernen Fremdsprache, in Religion und in philosophischer Propädeutik beteiligt. Dieser Komplex von Unterrichtsfächern wurde schrittweise in der zwanzigjährigen Zwischenkriegsperiode und besonders stark in der Schule Volkspolens abgebaut. An seine Stelle traten zwangsläufig andere, mit der Vorbereitung auf den Beruf in der heutigen Gesellschaft verbundene Unterrichtsfächer. Lediglich der Polnischlehrer und der Geschichtslehrer behielten ihre traditionelle Position in der Schule. 31

Deshalb habe ich dargelegt, daß die Funktion der Polonistik an Bedeutung zugenommen hat. Es handelt sich in diesem Fall wirklich um die Polonistik, weil man in der Schule von heute kaum mehr von Literaturgeschichte reden kann, obwohl diese in Verbindung mit der Sprachwissenschaft Inhalte des Polnischunterrichts darbietet und gestaltet. Die Polonistik gehört heute an den Hochschulen und Universitäten zu den sogenannten pädagogischen Fachrichtungen, deren Absolventen unsere besten Bündnispartner sind. Sie empfinden die Notwendigkeit einer ideologisch und wissenschaftlich fundierten, neukonzipierten Literaturgeschichte am stärksten, weil sie in ihr ein großes Reservoir von Urteilen und Verallgemeinerungen erkennen, ohne das heute kein Lehrer mehr in seiner Bildungsund Erziehungsarbeit auskommen kann. Diese Situation in der kulturellen Bildung der Schule ist im allgemeinen bekannt. Ihre zweite Variante bezieht sich auf die Erwachsenen, deren Berufe nicht von vornherein die Möglichkeit einer selbständigen Orientierung auf die Kultur einschließen. Für die nähere Behandlung dieser Frage ist ein weiterer Exkurs notwendig, der hier nur knapp erfolgen soll. Das 19. Jahrhundert war — global betrachtet — ein Jahrhundert des Historismus. Diese Feststellung bezieht sich selbstverständlich auf das Bewußtsein jener Gesellschaftsklassen, die damals an der Rezeption und Kreation von Kultur beteiligt waren. In diesem Jahrhundert wurden auch entsprechende Instrumente der schöpferischen Phantasie geschaffen, die den Menschen befähigen, zurückliegende Epochen und kulturhistorische Probleme zu rekonstruieren. Eine solche schöpferische Phantasie zeichnete nicht nur die Fachleute aus, sondern auch die kulturelle Öffentlichkeit. St. Brzozowski 25 *, der in seiner Legenda Mtodej Polski (hegende des Jungen Polen) die kulturellen Mythen seiner Epoche auf breiter Front angriff, begann seine Attacke mit dem Sturm auf die Festung des Mythos der Geschichte und des Historismus, mit dem Angriff auf die Art und Weise, wie Geschichte von den kulturtragenden Schichten des 19. Jahrhunderts aufgenommen wurde. Das 20. Jahrhundert ist — wieder grob betrachtet — ein Jahrhundert, in welchem die auf den Historismus gerichtete 32

rekonstruktive Phantasie stark an Intensität verliert. Das hatte viele Ursachen. Der Zugang zur Kultur hörte auf, eine innere Angelegenheit derjenigen Gesellschaftsklassen zu sein, die alles getan haben, um die unterdrückten Klassen von der Rezeption jeglicher Kultur fernzuhalten. Die Massenkultur der Gegenwart ist notwendig eine präsentische Kultur, besonders seit völlig neue Mittel zur Kommunikation und Produktion von Kulturgütern entstanden sind. An die Stelle des S c h r i f t z e i c h e n s rückten nunmehr hauptsächlich B i l d z e i c h e n in Film und Fernsehen. Der Rundfunk operiert zwar nicht mit Bildzeichen, doch ist für ihn charakteristisch, daß der Empfänger beim Hören auf Schriftzeichen verzichten kann. Des weiteren ist die wissenschaftliche Kultur dieses Jahrhunderts, deren Grundlage vor allem die exakten und experimentellen Wissenschaften sind, ein Ensemble von Aktionen, die der eigenen Geschichte entbehren können. Trotz alledem wurden die ausgesprochen präsentischen Züge der zeitgenössischen Kultur wiederum nicht so mächtig, daß sie alle Verbindungen zur Vergangenheit unterbrachen, wie das die Propheten des Kulturkatastrophismus angekündigt hatten. Das Verständlichmachen der historischen Zusammenhänge erfordert heute jedoch von den Gesellschaftswissenschaftlern eine intensive propädeutische Arbeit, um die Ergebnisse ihrer Wissenschaft zu verbreiten, denn es gibt bereits viele Rezipienten, für die beispielsweise die polnische Romantik ein unbegreifliches Phänomen zu werden beginnt. Das erfordert vor allem Maßnahmen, die zu einem besseren Verstehen der Vergangenheit führen sollen. Kulturverständnis beruht schließlich nicht einfach auf der Aneignung von isolierten Fakten. Ein in den Ruinen aufgefundener Ziegel eines gotischen Backsteinhauses wird für den Unwissenden ein gewöhnlicher Ziegelstein sein, also ein isoliertes Faktum. Kulturverständnis aber beruht auf der Rezeption eines Faktums, das in Form eines bestimmten Zeichens zur Kultur gehört und in ein entsprechendes Zeichensystem einzuordnen ist. Der Ziegel wird in unserem Bewußtsein erst dann als gotisch erfaßt, wenn wir ihn in der erwähnten Art und Weise eingliedern können. Das einzelne literarische Werk, besonders der frühen Ver3

Dieckmann

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gangenheit, ist eben ein solcher Ziegel. Deshalb beziehen sich die Überlegungen, die wir früher angestellt haben, auch auf die Literaturgeschichte. Das soziale Bedürfnis nach Literaturgeschichte tritt hier besonders offensichtlich hervor. Zu Beginn erörterten wir drei Sachverhalte, die in jeder wissenschaftlichen Disziplin beachtet werden müssen, wenn diese ihre Existenz begründen will: den Forschungsgegenstand, die Ausschließlichkeit dieses Gegenstandes und das Ziel der Forschung. Vom Forschungsgegenstand eines Historikers der polnischen Literatur war bereits ausreichend die Rede. Die Ausschließlichkeit des Gegenstandes, also der Literatur, wird heute anscheinend von niemandem mehr angezweifelt. Keine unserer Nachbarwissenschaften bemüht sich darum, die schöngeistige Literatur zu ihrem Untersuchungsgegenstand zu machen. Es zeigt sich vielmehr eine andere, etwas paradoxe E r scheinung. Der Forschungsgegenstand des Literaturhistorikers ist, wenn man das so ausdrücken kann, ein vielflächiger Kristall. Seine Flächen berühren sich mit Geschichte, Philosophie, Kulturanthropologie, Linguistik und Psychologie. So zeigt sich die paradoxe Erscheinung, daß sich der Literaturhistoriker von Zeit zu Zeit an jene Wissenschaftsdisziplinen wendet, mit denen die eine oder andere Kristallfläche sich berührt. So bilden sich Übergangsbereiche, durch die unser Forschungsgegenstand allmählich zum Gegenstand der Forschung in reicheren oder methodologisch zuverlässigeren Nachbarwissenschaften wird. Solche Kondominien bezeichnet man heute als Integration. Und das Forschungsziel? Stellen wir die Frage noch einfacher: Was kann der Literaturhistoriker heute als gesellschaftliches und wissenschaftliches Ziel seines Wissenschaftszweiges angeben, wenn man ihn danach fragt? Mit Absicht frage ich nicht nach der Methode, weil verschiedene wissenschaftliche Verfahren zu ein und demselben Ziel führen können. Selbst die marxistische Methode ist keine Maschine, an der jeder beliebig eine Kurbel zu betätigen brauchte, damit „richtige Interpretationen" herausspringen. Was kann uns also der Historiker der polnischen Literatur versprechen? Einzig und allein, daß er G e s a m t z u a m m e n 34

h ä n g e bearbeiten wird, die einzelne Epochen dieser Literatur oder ihre ganze Entwicklung betreffen; Gesamtzusammenhänge, die in jeder dieser Epochen die für sie typischen und vorherrschenden literarischen Prozesse, den Ort dieser Prozesse und die Rolle der Schriftsteller in Kultur und Ideologie der einzelnen Perioden umfassen. Absichtlich äußere ich mich dazu nur formal, nicht fachbezogen. Diese Zusammenhänge werden nicht von feststellbaren Gesetzen beherrscht; in ihrem Rahmen treten keine Veränderungen auf, für die sich eine einmal formulierte Interpretationsformel automatisch von einer Epoche auf die andere übertragen ließe. Um derartige Gesamtzusammenhänge aufspüren zu können, bedarf es einer speziellen rekonstruktiven Phantasie, die nicht mit umfangreicher Bildung gleichgesetzt werden kann, obwohl ohne diese wiederum nicht auszukommen ist. Unser naturwissenschaftlicher Gesprächspartner, dem wir bis jetzt den Gegenstand und das Gebiet der Forschung in unserer Wissenschaftsdisziplin erläutert haben und der uns lange schweigend zugehört hatte, meldet sich jetzt zu Wort. Still hatte er währenddessen das Novum Organon und andere Bücher, die vor ihm lagen, durchgeblättert. Er verwahrt sich energisch dagegen, daß man die entomologische Metapher ausschließlich zum Privileg des Dichters erklärt habe. Als Begründung für seinen Einspruch liest er aus Bacons Werk folgende Stelle vor: „Die, welche die Wissenschaften betrieben haben, sind Empiriker oder Dogmatiker gewesen. Die Empiriker, gleich Ameisen, sammeln und verbrauchen nur, die aber, die die Vernunft überbetonen, gleich den Spinnen, schaffen die Netze aus sich selbst. Das Verfahren der Biene aber liegt in der Mitte; sie zieht den Saft aus den Blüten der Gärten und Felder, behandelt und verdaut ihn aber aus eigener Kraft. Dem nicht unähnlich ist nun das Werk der Philosophie [. . ,]"26 Er schlägt geräuschvoll das Buch zu und fragt: Ist der Literaturhistoriker eine Biene? Das ist eine hinterhältige Frage. Die Antwort fällt uns nicht leicht. Wir wollen sie lieber nicht auf uns nehmen und die ganze Sache scherzhaft betrachten, indem wir darauf verweisen, daß sogar die Linnesche Systematik zum dichterischen Stoff werden kann. Zum Beweis 3»

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2itieren wir ein Fragment der von J . Tuwim 27 * bearbeiteten Noc majotva %ahocbanego pr^jrodnika (Maiennacht eines verliebten Naturwissenschaftlers): „Die Nachtigall schlägt und trällert in den Zweigen, (Erithacus philomele oder auch Aedon luscinia genannt). Was für ein Maiengras schmiegt sich an dein Kleid? Das ist der ländliche Hahnenfuß (Portulaca oleracea)." Unser Gesprächspartner aber verlangt eine ernsthafte Diskussion. Er erklärt daher, daß er die Frage des Prozesses als Forschungsgegenstand begriffen habe. Zum Beweis führt er ein Fragment aus der Teoria badan literackich w Polsce (Theorie der Literaturforschung in Polen) von M. Wiszniewski an. Beim Zuhören wird uns allmählich klar, warum ihn gerade dieser Auszug aus dem Buch überzeugt hat und weshalb gerade er ihn als methodologisch treffend bewertet: „Wenn in die Geschichte der Völker und der Literatur bei der Darstellung der Inhalte eine solche Ordnung eingeführt werden könnte, wie sie die Naturwissenschaften aufweisen und dank derer diese sich bis heute so stark entwickelt haben, würde ich die Geschichte zunächst mit der heutigen Epoche beginnen, mit Büchern, die alle gelesen haben, mit Autoren, die fast allen Menschen bekannt sind oder die noch leben; dann würde ich, ausgehend von uns noch bekannten Zeiten und Personen, immer tiefer in die Vergangenheit eindringen und erst am Schluß zur Periode der Piastenkönige und Urslawen vorstoßen. Mit einem Wort, ich würde mit dem Leser den gleichen Weg gehen, den ich selbst gegangen bin. So haben sich in unserer Zeit die Naturwissenschaften entwickelt und sogar die Aufmerksamkeit ungeschulter und wissenschaftlich indifferenter Menschen auf sich gelenkt. Die Zoologen wandten sich, nachdem sie die lebenden Tiere gut studiert hatten, den fossilen, versteinerten Wesen zu. Und bald darauf begann Cuvier, einen Zahn oder ein Schienbein in der Hand haltend, seinen erstaunten Zuhörern den Körperbau, die Merkmale und Lebensweise eines Tieres zu erklären, das bis dahin noch niemand gesehen hatte und dessen Stamm in der Welt bereits ausgestorben war [. ..] Schon vor zwanzig Jahren 36

beobachtete ich in Edinburg Damen, die sich nach dem Lesen eines neuen Romans von Walter Scott mit Eifer in einem Streit zwischen Vulkanisten und Neptunisten engagierten. Daraus geht hervor, daß die gewaltige Entwicklung der Naturwissenschaften und die allgemeine Beschäftigung mit ihnen die Folge einer scheinbar nur winzigen Ursache ist, nämlich die Methode allein. Die Zoologen enden gewöhnlich dort, wo die Historiker seit Moses und Herodot beginnen; deshalb erreichen sie auch so viel." 28 Ein wirklich bezaubernder, etwas altväterischer, aber von einem guten Experimentator ausgearbeiteter wissenschaftlicher Apparat! Vor allem deshalb, weil sich in seinen ersten Bewegungen eine gute Dosis unzerstörbaren wissenschaftlichen Träumens findet: Man müßte einmal eine Literaturgeschichte schreiben, die von J . Putrament zu J . KadenBandrowski, von ihm zu Berent und so weiter führt und die sogar mit einer möglichen Abzweigung in Richtung des Van Tadeusz von Mickiewicz rechnet, weil dort ein Putrament mit Pikturna erscheint. Träumereien ähnlicher Art, wie sie S. Kolaczkowski pflegte: Abiogenese der Ismen. Es erweist sich, daß wir uns hinsichtlich des Wesens der von der Wissenschaft erörterten Prozesse nur zum Teil verständigen konnten, aber auch das ist schon ein Erfolg. Entsprechend der Leidenschaft, die den Naturwissenschaftler beherrscht, überzeugt ihn bereits ein präsentischer Vorschlag. Das ist seltsam, aber zugleich bekannt. In der Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens der polnischen Literaturhistoriker war M. Wiszniewski gewiß der erste, der seine integrativen Träume klar entwickelt und den Vorschlag unterbreitet hat, in diesem Sinne auch die Abfolge der literarhistorischen Darlegungen zu verändern. Er meinte, daß man damit auch die Literaturgeschichte zu einer wirklich wissenschaftlichen Disziplin machen könne. Deshalb erscheint der Vorschlag uns so gut bekannt. Es ist an der Zeit, zu einem Ende zu kommen. Vielleicht ist mir gestattet, noch einige Konfessionen, weniger Beweise vorzutragen. An zwei Arten von Erlösungswegen der Literaturgeschichte glaube ich in keinem Fall: Ich glaube nicht an die Erlösung 37

der Literaturgeschichte durch eine Verwissenschaftlichung, die soweit getrieben wird, bis diese Wissenschaft zu einer von niemand mehr besuchten Kapelle des methodologischen Byzantismus wird. So mancher junge Wissenschaftler des Instituts für Literaturforschung strebt nach Meisterschaft und Perfektion in der wissenschaftlichen Sprache und im wissenschaftlichen Ritus. Manchmal freue ich mich darüber; es ist eine Freude, wie man sie beim Lösen eines Silbenrätsels empfindet, ein Entzücken über diese szientifische Liturgie, zu deren Sinngehalt man endlich vorgedrungen ist. Ich bin fest überzeugt, daß das vorbeigeht. Ich hoffe allerdings, daß wir darauf nicht wieder fünfzehn Jahre zu warten brauchen. Ich kann zum anderen auch nicht an die Erlösung der Literaturgeschichte durch die Integrationsehe glauben. Wie viele Partner hat es in unserer Wissenschaftsdisziplin bis dahin schon gegeben? Jeder von ihnen hat, als er abtrat, etwas von seinen Reminiszenzen und Hoffnungen zurückgelassen. Aber die Literaturgeschichte ist wie eine einsame Frau, die auch weiterhin allein wirtschaften muß. Wie viele andere Wissenschaftszweige, die von der Kunst sprechen, gehört auch die Literaturgeschichte zu den in sich geschlossenen, vieldimensionalen und synkritischen Wissenschaftsdisziplinen. Daraus folgt schließlich, daß in der Literaturgeschichte, die viele Richtungen und viele Arbeitszweige hat, vor allem echte Literaturhistoriker (pleno titulo) vonnöten sind, Literaturhistoriker, die die Fähigkeit besitzen — um das noch einmal zu betonen — „die gedankliche Rekonstruktion der Inhalte und Aufeinanderfolge vergangener Ereignisse" zu vollziehen und in diesem Zusammenhang „die Erhellung der Genese, Ursachen und des genetischen und kausalen Wertes dieser Ereignisse vorzunehmen". In dieser Forderung vereinen sich sowohl das dringende innere als auch das analoge gesellschaftliche Erfordernis unserer Wissenschaft.

Maria Zmigrodzka

Probleme des romantischen Umbruchs

Der romantische Umbruch ist sowohl für die historische Erfassung der Literaturentwicklung in den letzten zweihundert Jahren als auch für die theoretische Reflexion über den Charakter des modernen Literaturprozesses und den Mechanismus der Formierung literarischer Strömungen eine besonders wichtige Erscheinung. Die Romantik führte in das europäische Kulturbewußtsein eine neue Betrachtung der literarischen Wandlungen ein. Ihre Erfahrungen erlangten auf diesem Gebiet modellhafte Bedeutung, obwohl sich wiederum nicht alle potentiellen Varianten dieses Wandels darin erschöpfen, wie zum anderen die von der Romantik geschaffene Dialektik von Neuerertum und Tradition keine Analogie in den Erscheinungen jener avantgardistischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts fand, die aus ästhetischen oder politischen Beweggründen die Ablehnung des gesamten Literaturerbes forderten. Die Romantik ermöglicht es, die Situation eines literarischen Umbruchs in ihrer ganzen Reinheit, Mannigfaltigkeit und Ausdrucksstärke — auch in Hinsicht auf den relativ langandauernden Zyklus von Krise und Erneuerung — einer genauen Betrachtung zu unterziehen. In der späteren Literatur unterliegen diese Zyklen einer gewissen Beschleunigung und größerer temporärer Verdichtung. Der Beginn der Romantik in der europäischen Literatur war nicht nur von Symptomen einer besonderen, bis dahin in ihrem Umfang noch niemals dagewesenen Belebung des literarischen Lebens begleitet, sondern zugleich auch von Erscheinungen, die neu und andersartig waren als die bislang beobachteten Umwandlungssymptome eines Literatursystems. Dazu gehören Erscheinungen aus dem Bereich des literarischen 39

Bewußtseins, vor allem jedoch Manifeste und programmatische Erklärungen, die sich direkt auf den vieldeutigen und kontroversen, zu stets neuen Definitionsversuchen anregenden Romantikbegriff bezogen. Untersuchungen über die Verbreitung dieses Begriffs lassen vermuten, daß er relativ spät als nom de guerre der literarischen Neuerer verwendet wurde. Das geschah hauptsächlich in Ländern, in welchen der romantische Umbruch sekundären Charakter trug und von englischen und deutschen Erfahrungen genährt wurde. 1 Sogar zum Zeitpunkt, als die Gegensätze zwischen der klassischen und romantischen Literatur theoretisch bereits von A. W . Schlegel geklärt und allgemein anerkannt waren, übertrugen bestimmte Gruppen Literaturschaffender und Kritiker den Terminus „Romantik" nicht auf die neue Literatur (in England setzte er sich überhaupt kaum durch). Noch sehr lange behielt er seine ursprüngliche Bedeutung, die mit den Merkmalen des nichtklassizistischen Literaturerbes des christlichen Europas verbunden war. Sofern der Begriff aber für eine programmatische oder kritische Bestimmung der zeitgenössischen Poesie herangezogen wurde, akzeptierte man ihn mit gewissen Einschränkungen, die davon zeugen, daß er nach individuellem Gutdünken gebraucht wurde. Dabei empfand man seinen Inhalt als nicht eindeutig. Diese mangelnde Eindeutigkeit bezog sich sowohl auf die Unterschiede, die in den Programmen der Romantik in den einzelnen Ländern vorhanden waren, als auch auf die Besonderheiten der „neuen Schule" und der europäischen literarischen Tradition, die ihr historischer Hintergrund sein sollte. Der romantische Umbruch war nicht nur das erste bewußt und theoretisch umfassend begründete Phänomen einer radikalen Umwandlung der Literatur, er spielte zugleich in der Geschichte des europäischen literarischen Bewußtseins eine wesentliche Rolle, indem er grundsätzliche Veränderungen in das Konzept des Literaturprozesses und die für dessen Betrachtung wichtige Auffassung von literarischer Tradition einführte. Die Romantik negierte die Autorität eines verabsolutierten Systems überzeitlicher ästhetischer Normen, die jahrhundertelang das literarische Schaffen oder doch zumindest die von gelehrten Geistern entwickelten Literaturtheorien beein40

flußt hatten. Zerstört wurde das homogene Modell einer literarischen Tradition, das die Kultur als die Gesamtheit homogener Werte einer Vielfalt formloser Barbarei gegenüberstellte. Der romantische Umbruch bestätigte den Grundsatz der Mannigfaltigkeit und des Reichtums verschiedener Kulturtraditionen. Damit waren neue Kriterien begründet, die ihrer Unterscheidung und Auswahl zugrunde gelegt wurden, und es entstand die These von der Möglichkeit und Notwendigkeit einer neuen Synthese dieser Traditionen. Schließlich wurden damit bislang geltende Kriterien für die Bewertung des Schönen unterhöhlt, indem die Autorität der „Vorbilder" und der Grundsatz der Nachahmung dieser Muster verworfen wurden, um dafür das Neue und Originelle als grundlegende Wertkomponenten anzuerkennen. Der romantische Umbruch ist als Modell der literarischen Umwandlung und als Ausdruck des neuen Verhältnisses zur Tradition ein in der Geschichte der europäischen Literatur einmaliges Phänomen. Seine charakteristischen Merkmale zeigen sich zum Beispiel nicht in dem relativ schnell erfaßbaren Entwicklungsprozeß der europäischen barocken Literatur. Das unbestrittene Dogma der Vollkommenheit antiker Kunst erlaubte lediglich zeitweilige Polemiken gegen die Beschränktheit von „Pedanten", die die Reinheit des klassischen Erbes zu bewahren versuchten, verhinderte aber die Herausbildung eines ausgeformten zusammenhängenden Systems des literarischen Bewußtseins. Unabhängig von den in der Praxis vorhandenen wechselseitigen Entlehnungen und Wechselbeziehungen entwickelten sich die Strömungen des Barocks nicht als programmatisch verkündete Alternative zur klassizistischen Literatur, die aus der Perspektive des damaligen literarischen Lebens in ihrem ganzen Umfange wahrgenommen werden konnte. Die literarischen Formen, die man global zur Tradition des europäischen Klassizismus zählen könnte, verfügten gewiß über einen reichen Schatz kodifizierter Theorien und Normen der Ästhetik. Manchmal erlangten diese als Folge heftiger Angriffe gegen bestimmte Erscheinungen der Abwendung oder Verletzung der antiken Traditionen sogar eine dominierende Stellung und bewirkten dann eine bemerkenswerte Verände41

iung im literarischen Geschmack des Publikums. In diesem Zusammenhang sei an die Polemik erinnert, die die Humanisten gegen die mittelalterliche Literatur geführt haben, oder an den Kampf der Vertreter des Klassizismus der Aufklärung in Polen gegen den „verdorbenen Geschmack" des sarmatischen Barocks. Immer war indessen das Bedürfnis nach Wiederherstellung eines früheren Idealzustandes die wahre Begründung für den Umbruch. Das Bewußtsein des literarischen Neuerertums eliminierte oder beschränkte zumindest die Überzeugung, daß es nicht um ein Anknüpfen an die Tradition gehe, damit diese umgestaltet werde, sondern um deren volle Inthronisierung als Ganzheit homogener und ewiger Werte. In der literarischen Selbsterkenntnis der Romantiker finden sich sowohl die typischen Bewußtseinselemente moderner avantgardistischer Gruppen, die gegen eine Belastung durch die Vergangenheit auftreten, um ihrem künstlerischen Neuerertum einen Weg zu bahnen, als auch das lebhaft empfundene Bedürfnis nach Verwurzelung in der Tradition. Die Berufung auf die Vergangenheit, das Suchen traditioneller Sanktionen für eigene Aspirationen, die Anknüpfung an verkannte, vergessene oder vom Klassizismus entstellte Werte der Volkskultur oder auch der hellenistischen Antike waren Grundbestandteil der Programme für eine literarische Erneuerung. Das war jedoch eine anders konzipierte Tradition; sie stand zur klassizistischen Vision der Literaturentwicklung konträr. Das romantische Verhältnis zum Kulturerbe unterscheidet «ich vom klassizistischen nicht nur durch den Reichtum und die mangelnde Homogenität des Arsenals literarischer Werte, die in die Tradition der neuen Literatur eingehen sollten, sondern auch durch die Andersartigkeit des Auswahlprinzips dieser Werte. Die romantische Kulturtheorie zog weitreichende Schlüsse aus den die Krise der klassizistischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts begleitenden Auseinandersetzungen, die seit dem französischen „Streit zwischen den Alten und Modernen" den Wert der antiken literarischen Vorbilder kritisch prüften und diese zu den ästhetischen Interessen und Bedürfnissen der modernen Gesellschaft in Beziehung setzten. Das aktive Verhältnis zum traditionellen Erbe, das für die Romantik charakteristisch ist, setzte die Freiheit in der Wahl 42

der Werte, die der Kultursituation des modernen Menschen entspricht, voraus und sanktionierte stillschweigend nicht nur ihre bewußte Reaktivierung, sondern sogar ihre künstliche Neubildung. Die Attraktivität der Pasticcios und Stilisierung nach dem Muster von „Fragmenten eines alten Manuskripts" schuf eine Atmosphäre, die den romantischen „frommen Fälschern" der Tradition günstig war und die Karriere zahlreicher literarischer Mystifikationen oder Fälschungen bewirkte, deren erste die vielgerühmten Ossianiseben Gesänge waren. In der romantischen Betrachtung des Kulturerbes prallte der überhöhte Kult des Vergangenen und Traditionellen mit der Willkür bei Wahl und Gestaltung der Tradition, mit dem Neuererbewußtsein zusammen, weil die von den Romantikern formulierten Definitionen der romantischen Strömung einen sehr differenzierten Kreis und eine mannigfaltige Palette ästhetischer Erscheinungen betrafen; sie reichten von der maximalistischen Konzeption der „progressiven Universalpoesie" eines F. Schlegel bis zur behutsamen Aussage in den Pr^emony (Reden) des Dichters A. Mickiewicz, der sich auf eine minimalistische Betrachtung der „romantischen Gattung" als Poesie des Rittertums und des einfachen Volkes beruft. Ein spezifischer „Traditionalismus", verbunden mit der Forderung nach Neuheit oder schöpferischer Originalität bestimmten den antinomischen Charakter der romantischen Konzeption der Literaturentwicklung und der ästhetischen Selbsterkenntnis der Vertreter dieser Strömung. Diese beiden, in der romantischen Ästhetik durchaus nicht konträren Tendenzen verbanden sich mit der von der Romantik begründeten dualistischen Literaturkonzeption, nach der die Literatur als ein Gebilde des freien Spiels individueller schöpferischer Phantasie und als ein den überindividuellen Entwicklungsgesetzen der Geschichte unterworfenes Phänomen anzusehen war. In welchen Relationen diese Tendenzen in theoretischen Formulierungen der Romantiker ihren Ausdruck fanden, hing in hohem Maße von den differenzierten Funktionen der jeweiligen Aussagen ab. Allgemein läßt sich feststellen, daß die Akzentuierung novatorischer Ambitionen, das Hervorheben der Besonderheiten neuer ästhetischer Vorschläge, besonders in programmatischen Erklärungen und Polemiken 43

zutage trat, die die Freiheit die poetischen Invention und die individuelle Unabhängigkeit des Dichters vom Zwang der Regeln und Autoritäten proklamierten. Die neue Betrachtung des Literaturerbes, das Suchen nach Traditionen und vorbereitenden Bedingungen der Strömung, spiegelt sich in synthetischen Abrissen der Literaturentwicklung wider. Diese Arbeiten entstanden bereits aus der Perspektive eines gefestigten romantischen Systems. In ihnen spielte die geniale schöpferische Persönlichkeit die Rolle eines Mediums überindividueller Kräfte, das mit der Stimme des Volkes, des Jahrhunderts und des Kulturkreises wirksam wird. Eindeutiger Ausdruck dieser beiden Formen der romantischen Betrachtung des Verhältnisses zwischen Tradition und Neuerertum waren die im Athenäum erschienenen Fragmente, d. h. die programmatischen Impressionen F. Schlegels und sein späteres Werk Geschichte der alten und neuen Literatur oder auch die literarhistorischen Vorlesungen von A. W. Schlegel. Man kann auch darauf verweisen, daß — wie in Frankreich — die Festigung des Neuererbewußtseins durch die Härte des Kampfes gegen die Apologeten des klassizistischen Systems gefördert wurde, vor allem dann, wenn die weltanschauliche Plattform der Diskussion genügend breit angelegt war, und wenn die literarischen Auseinandersetzungen für das damalige Bewußtsein der Menschen eine ausgesprochen ideologischpolitische Funktion hatten. Von entscheidender Bedeutung war aber die konkrete Kultursituation des Landes, in welchem sich die romantische Umwandlung der Literatur vollzogen hatte. Sie bestimmte weitgehend das Bewußtsein und die Taktik der Romantiker. In Polen erlangte die für das romantische Denken typische Verflechtung des Evolutionismus und Revolutionismus bei der Betrachtung des historischen Prozesses schon in der Geburtsstunde dieser Strömung ihre besonders deutliche Ausprägung. Im Verlauf von wenigen Jahren, in denen die steigende Anzahl neuer poetischer Werke und die allmähliche Ausbildung eines theoretischen Denkens die Umbruchsituation kennzeichneten, traten parallel dazu verschiedene Konzeptionen über den Charakter literarischer Veränderungen auf, die am deutlichsten in den Aussagen von M. Mochnacki2* und 44

A. Mickiewicz hervortraten. Mochnacki transponiert das einschneidende Krisenerlebnis der Zivilisation und den dramatischen Geschichtsverlauf, die Streitigkeiten zwischen Determinismus und Voluntarismus, vor allem aber die Schlußfolgerungen aus den Erörterungen über die Kulturproblematik und deren Beziehung zur aktuellen Situation der ganzen Nation in das Bewußtsein der Außergewöhnlichkeit eines Augenblicks, in dem eine neue Literatur geboren wird und in dem sie eine außergewöhnliche und besondere Funktion im geistigen Leben der nationalen Gemeinschaft erlangt. Das Traditionsproblem ist somit für ihn keine Frage literarischer Vorbilder der Romantik. Unabhängig vom Wandel seiner Konzeption über „Geist und Ursprung der Poesie in Polen" ist diese Literatur immer Forschen nach den Fundamenten nationalen Empfindens, geistiger Werte und Kräfte, die die polnische Kultur bis dahin nicht in vollem Umfange zu nutzen vermochte und die sie erst jetzt auf den Trümmern eines ihre Entwicklung hemmenden ästhetischen und philosophischen Systems zu realisieren beginnt. Die Zurückhaltung bei der Manifestation des literarischen Neuerertums, die Mickiewicz in der Einleitung zu seinem ersten Gedichtband Voe^je (Gedichte) (1822) übte, könnte als Taktik eines Novizen betrachtet werden. D a der Dichter keinen geschlossenen Kreis literarischer Neuerer hinter sich hatte, steckte er den Bereich seines Anspruchs hinsichtlich der neuen Strömung nur bescheiden ab; in der Konfrontation mit den antiromantischen Auffassungen bewährter polnischer Literaten begründete er schließlich das Existenzrecht der Romantik auf der Autorität der Geschichte. Die romantische Poesie „ist kein vollkommen neuer Gedanke"; wollte man die Romantik aus der Literatur des modernen Europas herausnehmen, „dann müßte man zunächst den Charakter der Völker verändern, das aber steht nicht in der Macht der Theoretiker, oder man müßte den Beweis antreten, daß sich die Gegenstände aus der Vorstellungs- und Gefühlswelt der Romantik für eine dichterische Behandlung nicht eignen. Dagegen sprechen jedoch die Beispiele vieler vorbildlicher Künstler der Romantik" 3 . — Doch die in diesem gesamten Text dominierende Tendenz zur Behandlung der Romantik als eine der 45

vielen „Literaturgattungen", die als Ergebnis der historischen Entwicklung der europäischen sozialen Gemeinschaften entstanden sind, nicht als eine spezifische Ausnahmeerscheinung in der Literaturgeschichte, der Widerstand gegen die „absolute" Aufteilung des literarischen Erbes in klassizistische und romantische Ströme, die Überzeugung vom ständigen Entstehen neuer, historisch bedingter Poesieformen — das alles sind Bestandteile des theoretischen Denkens des jungen A. Mickiewicz. In den kritischen Schriften seiner russischen Periode, in dem Artikel Goethe und Byron, in der Abhandlung O krytjkach i recenyentach wars^aivskich (Über Warschauer Kritiker und Rezensenten) veränderte Mickiewicz zwar den individuellen Tonfall der literarischen Aussage, nicht aber die Art und Weise, wie er die neue Literatur historisch betrachtet. Für ihn ist sie vielgestaltig und schier unerschöpflich. Der Dichter unterstreicht ihre unerschöpflichen Möglichkeiten der Entwicklung (den Begriff Romantik benötigt er dabei nicht mehr) und betrachtet, wie er es übrigens schon früher getan hat, den Wandel des literarischen Geschmacks der Gegenwart als ein Glied in der langen Kette von Wandlungen und Veränderungen in der Literatur. Am Rande sei bemerkt, daß er sich damals weniger für die „Poesie der Vergangenheit" interessierte als für aktuelle Fragen. Wie aus seiner damaligen literarischen Praxis hervorgeht, griff er auch Gedanken und Leidenschaften des „im 19. Jahrhundert lebenden Menschen" auf, wie das im Konrad Wallenrod, einem Epos „aus der Zeit der Romantik" erkennbar wird. Mickiewicz ist zu dieser Zeit ein Vertreter der evolutionären Literaturauffassung; in seiner Ästhetik dominiert das unbegrenzte Vertrauen in die Geschichte, die über schier unerschöpfliche Reserven für die fortlaufende Erneuerung der allmählich versiegenden Poesiequellen verfügt. Deutlicher als im Kreis der literarischen Neuerer wurden die Kontinuität und der evolutionäre Charakter des Literaturprozesses, allerdings in einem anderen Sinne, in den Aussagen gemäßigter Vertreter dieser neuen Strömung zum Ausdruck gebracht. Ihr Anliegen war es, die Widersprüche und Gegensätze zwischen Klassizismus und Romantik zu mildern und eine gewisse Toleranz für das Neue im Rahmen des bestehen46

den Wertsystems zu erreichen. Sie versuchten deshalb darzulegen, daß die Romantik nicht im Widerspruch zu dem breitangelegten und elastisch konzipierten Komplex der ästhetischen Normen der Klassik stehe. Das extremste Beispiel für diese Tendenz war der im Jahre 1830 in Polen publizierte Artikel von W. Chl?dowski, der unter dem Titel Arjstoteles sqdvja romantjc^no sei (Aristoteles — Richter der Romantik) einerseits die neue Interpretation der „Poetik" im Sinne einer Anklage gegen den klassizistischen Doktrinarismus vornahm und andererseits das Wesen der Auseinandersetzungen zwischen Klassizismus und Romantik geringschätzte. „Ihrem Wesen nach gibt es nur eine Poesie." Die Nivellierung der historischen und ästhetischen Spezifik der Romantik machten sich die polnischen Klassiker als polemischen Kunstgriff bei ihren Angriffen gegen die Positionen der neuen Literatur zunutze. Sie kennzeichneten in diesem Zusammenhang die romantischen Tendenzen als modernen Ausdruck der alten Strömung der Kulturbarbarei. Die zitierten Schutzherren dieser Strömung, besonders Shakespeare, wurden zwar als begabte Dichter beurteilt, doch fehle es ihnen an jeglicher ästhetischen Bildung. Ihre Fehler, deren Ursprung in Ignoranz oder Nachlässigkeit liege, würden von den Nachfolgern zur Würde eines Prinzips erhoben. „Daß die Romantik eine besondere und zugleich neue Gattung der Poesie [. . .} sei, will mir einfach nicht in den Kopf" 4 , schrieb damals J. Sniadecki5*. Die Klassiker bewiesen, daß die Werke der polnischen Romantik ein Produkt der sarmatischen Unwissenheit der Sachsenzeit seien, das Ergebnis der Ignoranz, die in den zurückgebliebenen Provinzen weiterbestehe und sich auf den Aberglauben des einfachen Volkes stütze. Nach dem Aufstandsjahr 1830 war die konservative Kritik bestrebt, das Besondere und Neue der Romantik zu verwischen und ihre epochale Bedeutung herabzumindern; zugleich versuchte sie die Einheit der romantischen Strömung zu zerschlagen. Einen Teil der negativ beurteilten ideellen und künstlerischen Merkmale der Romantik integrierte man in den breiteren Kontext kultureller Wandlungen, die schließlich für die verderbliche Unterbrechung der organischen Entwicklung der europäischen Zivilisation verantwortlich gemacht wurden. 47

Die „übelgelaunte" Romantik sollte eines der letzten Glieder des in der Reformation begonnenen und in der Französischen Revolution gipfelnden Prozesses sein. Zugleich nahm man an, daß die verlorengegangene Kontinuität wenigstens partiell wiederhergestellt werden könne. Zu diesem Zweck suchte man nach Bundesgenossen unter jenen Literaturschaffenden, die romantische Organismusidee, Traditionalismus und Historismus vertraten. Eine solche Interpretation des modernen kulturellen Umbruchs zeichnete sich in Polen am deutlichsten in den von den französischen Revolutionskritikern inspirierten Angriffen gegen die sogenannte „extravagante Literatur" ab. Voltaire, V. Hugo und H. de Balzac wurden als Vertreter einer relativ undifferenzierten Gruppe von „Totengräbern" der Religion sowie der sozialen Ordnung und Kultur abgestempelt. F. R. de Chateaubriand und W. Scott hingegen waren die Hoffnung einer Renaissance.6 Die Formierung der Romantik in Polen bedeutete nicht nur eine Veränderung des literarischen Systems; sie war zugleich ein Fanal für tiefgreifende Veränderungen im Nationalbewußtsein und für die wachsende Bedeutung der Literatur in der Nationalkultur des Volkes. Diese Prozesse verbanden sich eng mit den wichtigsten historischen Ereignissen, mit einem ganzen Komplex von Einstellungen, Haltungen und Vorstellungen, von denen die polnische Mentalität des 19. Jahrhunderts geprägt wurde. Die These vom epochalen Charakter des romantischen Umbruchs hielt sich nicht nur nach der Novemberrevolution in den Äußerungen von Anhängern und Repräsentanten dieser Strömung, sondern auch in den ersten problematisierenden Abrissen der polnischen Literaturgeschichte, die unter dem Einfluß der romantischen Weltanschauung entstanden. Diese These lag aber vor allem auch späteren polnischen Arbeiten, die sich mit der historischen Periodisierung der Literaturentwicklung befaßten, zugrunde. Dabei spielten die ästhetischen Interessen und methodologischen Positionen der Autoren solcher Arbeiten schon kaum mehr eine Rolle. Der Begriff des romantischen Umbruchs, die Überzeugung vom revolutionären Charakter des literarischen Wandels, der sich in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts vollzogen hatte, gingen für immer in die Tradition der polnischen Literaturwissenschaft 48

ein. Das geschah trotz des starken Drucks, den jene Richtungen der europäischen Literaturgeschichtsschreibung ausübten, die entweder auf extreme Weise den evolutionären Charakter der Literaturentwicklung betonten, oder die die Bedeutung der Romantik herabminderten bzw. ihre historische Einmaligkeit in Frage stellten. Die polnische Literaturwissenschaft der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte sich unter dem Einfluß zweier Forschungstraditionen. Relativ kurze Zeit dauerte in Polen, wie in Europa überhaupt, der Einfluß der antipositivistisch orientierten „reinen" Geisteswissenschaften. Diese negierten zwar die Bedeutung des romantischen Umbruchs nicht prinzipiell, verhinderten jedoch die Erkenntnis der Spezifik dieses literarhistorischen Sachverhalts, indem sie den Klassizismus und die Romantik als zwei antinome Geistesstrukturen, als zwei sich ständig wiederholende, wenn auch manchmal modifizierte Modelle des Literaturschaffens betrachteten. Der Einfluß der Konzeption eines W. Dilthey, H. Wölfflin und F. Strich7, um hier nur exemplarisch die Einwirkung der namhaftesten und geachtetsten Denker zu erwähnen, war für die polnischen Humanwissenschaften des 20. Jahrhunderts sehr wesentlich, doch sogar Literarhistoriker wie I. Chrzanowski oder J. Kleiner, die in der Romantik eine „Geisteshaltung" erblickten, die verwandte, „antiklassizistische" Strömungen formt, haben weder die historische Besonderheit der polnischen Romantik noch deren umwälzende Bedeutung für die Geschichte der Nationalliteratur erkannt. 8 Allzu lebendig war das Bewußtsein des Zusammenhangs zwischen dem romantischen Umbruch und der Gesamtheit des polnischen Lebens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das Wesen des romantischen Umbruchs wurde in der polnischen Forschung, die literarische Wandlungen als Ergebnis langwährender Prozesse einer allmählichen Zunahme von Neuerungen in verschiedenen Bereichen des literarischen Schaffens und in einem weit gefaßten kulturellen Bedingungsgefüge untersuchte, aus diesen Gründen denn auch in keiner Weise verwischt. Die polnische Wissenschaft verfügte, fasziniert von der positivistischen Orientierung auf Entstehungsprobleme, im 4

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übrigen nur über ein begrenztes Faktenmaterial, das ihr ermöglicht hätte, „der polnischen Romantik vor Mickiewicz" eine größere Bedeutung zuzuerkennen. Ihre methodologischen Vorlieben fanden in komparatistischen Untersuchungen über Einflüsse und Wechselbeziehungen der Romantik ein Betätigungsfeld. Die Tradition positivistischer Neigungen zu genetischen Untersuchungen scheint sich bis zum heutigen Tage erhalten zu haben, denn viele Wissenschaftler ziehen sich mit ihren Untersuchungen des Vorfeldes und der Vorbedingungen für die Romantikentwicklung immer weiter in die Geschichte zurück. Sie konzentrieren ihre Aufmerksamkeit auf die vorromantische Periode, die immer weiter gefaßt wird und nicht nur die Literatur, sondern auch andere Bereiche der Kultur des 18. und sogar des 17. Jahrhunderts umfaßt. Die bis ins Detail gehende Aufzeichnung von „Entdeckungen", „Ansätzen" und kleineren Neuerungen führt in der Praxis bisweilen zur Geringschätzung des gelegentlich anderswo bemerkten Sachverhaltes, daß jene Erscheinungen keine ideologische und ästhetische Autonomie besitzen. Diese Erscheinungen waren nämlich in mehr oder minder folgerichtiger Weise in den Rahmen des klassizistischen Systems integriert oder bewegten sich an dessen Peripherie. In diesem Fall übten sie eine gewisse Toleranz gegenüber der „niederen" — für weniger gebildete oder weniger anspruchsvolle Menschen bestimmten — Literatur. Die Ableitung der Romantik von der Reformation oder der philosophischen Krise des Cartesianismus sind extreme Beispiele, die man noch heute in französischen Arbeiten 9 antreffen kann. Grundsätzlich andere methodologische Positionen nehmen einige marxistische Wissenschaftler in ihren Arbeiten über die Periodisierung des neuzeitlichen Literaturprozesses ein, die ein unfreundliches Verhältnis zur Romantik haben und diese Strömung als eine im allgemeinen reaktionäre Erscheinung ansehen. Sie sind wiederum bestrebt, das Besitztum der Romantik zu verkleinern und ihre Einflußsphäre zu beschränken. Hauptvertreter dieser Tendenzen war in seiner letzten Schaffensperiode G. Lukäcs. 10 In diesem Fall geht es selbstverständlich nicht mehr um eine evolutionäre Betrachtung des Literaturprozesses. Diese Forscher lokalisieren den grundsätz50

liehen Umbruch, der den Beginn einer neuen literarischen Formation ankündigt, an einem anderen Punkt. Da sie von den sozialökonomischen Veränderungen der Gesellschaftsstruktur, dem Charakter des ideologischen Kampfes und den philosophischen Ideen dieser Periode ausgehen, schreiben sie der Literatur des 18. Jahrhunderts eine weit größere historische Bedeutung zu. Auch sie neigen dazu, die Romantik bis ins Detail aufzusplittern; das geschieht allerdings nur insoweit, als sie Erscheinungen, die die Konservativen als schädliches oder als kontraindikatorisches Erbe der Aufklärung bezeichnet hatten, positiv bewerten oder einen anderen Standpunkt einnehmen. Die progressiven Ideen und literarisch wertvollen Entdeckungen der Romantik akzeptieren sie gewöhnlich als Resultat der Einwirkung aufklärerischer Traditionen oder als Beginn des Realismus. Der Begriff der romantischen Literatur wird auf der Grundlage eines wenig repräsentativen Ausschnittes von Werken und programmatischen Erklärungen konstruiert, der relativ leicht als einheitlich, jedoch als einheitlich reaktionär charakterisiert werden kann. Auch diese Tendenz fand in marxistischen literarischen Untersuchungen in Polen keinen größeren Widerhall. Ein geringes Echo auf diese Tendenz waren einzig und allein die Thesen von W. Kubacki, der in Fierwiosnki polskiego romantj^mu {Frühlingsblumen der polnischen Romantik:) bestimmte Ideen der Aufklärung, die im literarischen Schaffen des jungen Mickiewicz vorhanden sind, besonders stark exponierte. Auf der anderen Seite lenkte man mit Fug und Recht die Aufmerksamkeit auf bestimmte Elemente des Realismus in der Epik und Dramatik führender Vertreter der polnischen Romantik. 11 Die synthetische Erfassung der Problematik des romantischen Umbruchs wird nicht nur dadurch erschwert, daß es in der heutigen Literaturwissenschaft eine starke Vielfalt von methodologischen Richtungen und Erkenntnisinteressen gibt, von denen es schließlich abhängt, ob sich ein Forscher auf das Aufdecken eines Kontinuums zunehmender Neuerungen konzentriert oder seine Aufmerksamkeit auf Versuche richtet, jenes Moment zu erfassen und zu analysieren, in dem eine neue literarische Qualität entsteht, oder ob er sich dem Aufdecken des Mechanismus zuwendet, der die verstreut auftretenden 4*

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Symptome des Neuen zusammenfaßt und in ein neues, geschlossenes poetisches System integriert. Hierauf wirkten in starkem Maße auch die Besonderheiten der romantischen Literaturentwicklung in den einzelnen Ländern Europas ein. Der Grad des „revolutionären" oder „evolutionären" Charakters der Wandlung ist beispielsweise in den drei großen Literaturen, die einen entscheidenden Einfluß auf die Geschichte der Romantik in Europa ausübten, recht unterschiedlich. So lieferte die Geschichte der englischen Romantik im allgemeinen im einheitlichen Strom literarischer Wandlungen effektvolle Argumente. Die englischen Romantiker waren sich ihrer überaus starken Verwurzelung in der eigenen literarischen Vergangenheit voll bewußt, denn die Tradition, an die die europäische Romantik anknüpfte — also Balladendichtung oder Shakespeare-Drama — war lebendiger Bestandteil ihrer eigenen literarischen Kultur. Der Klassizismus hätte sie niemals völlig abwerten oder aus dem sozialen Bewußtsein verdrängen können. Daher hingen die für die gesamte europäische Romantik so wichtigen englischen Erfahrungen des 18. Jahrhunderts nicht im luftleeren Raum, gleichgültig ob es sich um die authentische Entdeckung der Balladensammlung von Th. Percy oder um die mystifizierte der Ossianischen Gesänge handelt; diese Ergebnisse wurden nicht neutralisiert oder direkt verfälscht durch Einwirkungen eines noch nicht gänzlich unterhöhlten Systems des Klassizismus. Außerhalb der Grenzen Englands regten diese Entdeckungen, entsprechend dem Reifegrad der lokalen Situation, entweder zu einer mühevollen „Ergänzung" des alten Systems an oder erfüllten eine revolutionäre Funktion, indem sie die Herausbildung des Bewußtseins der Krise alter Normen förderten. Ihren englischen Konsumenten aber drängten sie nicht die Überzeugung auf, daß sich in der Welt der ästhetischen Werte bei ihnen ein echter Umschwung vollzogen habe. Diese Situation wurde auch durch den Charakter des englischen Klassizismus bewirkt, der im allgemeinen kein so geschlossenes, kodifiziertes und stark institutionalisiertes System bildete wie in anderen europäischen Ländern.12 Unter den englischen Literaturhistorikern gibt es im übrigen keine volle 52

Übereinstimmung in der Betrachtung der zeitlichen Grenzen und des Einwirkungsbereichs dieser Strömung. Das ermöglicht manchen Wissenschaftlern, den Klassizismus und die Romantik in England als zwei parallel miteinander verlaufende literarische Strömungen des 18. Jahrhunderts zu betrachten, die oppositionelle Einstellungen zur Kunst des Rokoko13 zum Ausdruck bringen. Da es in England nicht notwendig war, einen harten Kampf gegen den Klassizismus zu führen, waren die englischen Dichter nicht veranlaßt, ihren Standpunkt zu den erwähnten Fragen zu präzisieren und programmatische Übereinkünfte zu treffen. Die englische Romantik wird des öfteren als eine Sammlung individueller Vorschläge der namhaftesten Dichter betrachtet. Die Bindungen zwischen den Dichtern waren entweder allgemein-ideologischer oder persönlicher Art. Sogar das von W. Wordsworth formulierte Vorwort zu den Lyrical Ballads, als romantisches Manifest der sogenannten „Seendichter" betrachtet, bildete kein ausgearbeitetes und einheitliches Programm; es entsprach nicht einmal völlig dem dichterischen Gehalt dieses Büchleins. Aus diesem Grunde erklärte S. T. Coleridge kurze Zeit darauf, daß er sich vom Text seines Freundes distanzieren müsse. Der Unterschied in den ästhetischen Auffassungen beider Dichter kam dann schließlich sehr eindeutig in seinem berühmten theoretischen Werk Biographia Uteraria\4 zum Ausdruck. Außerdem gewannen im Denken dieser Romantiker der ersten Generation die Ideen einer Organismustheorie die Oberhand. Solche Ideen waren in der Historiosophie der Strömung zwar immer lebendig, doch gewöhnlich gingen sie mit dem wachen Empfinden für die Bedeutung gewaltiger Umwälzungen und Kataklysmen in der Zivilisation einher. Die anglosächsische Literaturwissenschaft, besonders die der Nachkriegszeit, akzentuiert die Begeisterung für die Idee der großen Französischen Revolution, von der viele englische Dichter der neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts fasziniert waren. Diese Erscheinungen untersuchen vor allem jene Wissenschaftler, die dazu neigen, in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts Symptome einer sich klar abzeichnenden Wandlung des Literatursystems zu erblicken und den Ljrical Ballads von 53

W. Wordsworth und S. T. Coleridge Merkmale einer Publikation zuzuordnen, die den Beginn einer neuen Epoche in der englischen Poesie ankündigt. 15 Indessen wurde das in England relativ schwach entwickelte Krisenbewußtsein aller klassizistischen Werte der Ästhetik nur ungenügend mit dem Erlebnis der Zivilisationskrise verbunden. Die „glorreiche Revolution" des 17. Jahrhunderts wurde sogar von, E. Burke in den Strom „organischer" Nationalerfahrungen eingegliedert, während die Terrorperiode die reaktionäre Ideologie der „Seendichter" beeinflußte. Die jüngeren Romantiker dagegen, die erst in der späteren Zeit revolutionäre Tendenzen verfolgten, empfanden ihren Vorgängern gegenüber einen zu starken ideologischen Unterschied, als daß sie sich zu einer literarischen Gemeinschaft mit ihnen verpflichtet gefühlt hätten. Diese Romantiker verstanden sich als Neuerer, die auf eigene, höchst individuelle Art und Weise schöpferisch tätig wurden. Deshalb auch versehen die meisten englischen Literaturhistoriker den Begriff „romantic movement" mit Anführungszeichen, oder sie negieren einfach die Tendenz einer derartigen Erscheinung im Literaturleben der damaligen Zeit. Die fehlende Verwurzelung des literaturkritisch generalisierenden Begriffs Romantik in England (dessen Verwendung um die Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgte erst unter deutschem Einfluß 16 ) sowie die einseitige Dominanz des wissenschaftlichen Interesses für die Erforschung der Entstehungsbedingungen der erwähnten Strömung im breiten Kontext der europäischen Kultur bewirkten, daß in der angelsächsischen Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts Untersuchungen bevorzugt wurden, die dem Schaffen bekannter Dichter und ihrer persönlichen Verbindung mit den Ideen des 18. Jahrhunderts gewidmet waren. Diese Tendenz wurde vor allem durch das lebhafte Echo gefördert, das der bekannte Artikel von A. O. Lovejoy On tbe Discrimination of Komantidsm (1924) gefunden hatte. Lovejoy berücksichtigte die Vielgestaltigkeit der ästhetischen, philosophischen und ideologischen Tendenzen, die sich in anerkannten Werken der Romantik finden lassen, sowie das Spezifische des Prozeß Verlaufs der Literatur in der Nationalliteratur der verschiedenen Länder. Er verneinte die Möglichkeit, derartig unterschiedliche und manchmal sogar gegensätzliche Erschei54

nungen mit Hilfe eines einheitlichen Begriffes „Romantik" definitorisch zu fassen. Er betrachtete daher die Unterscheidung in gesonderte „Romantikarten" als dringende Notwendigkeit. Im Laufe der Zeit veränderte er seinen Standpunkt ein wenig und schloß nicht mehr unter allen Umständen die Möglichkeit aus, die umgestaltende Rolle einzelner Richtungen innerhalb der Romantik bei der historischen Betrachtung der neueren europäischen Literatur zu erfassen. Er schlug vor, die genannte Strömung unter dem Begriff „Diversitarianismus"17 zu verstehen. „Ich empfand", schrieb Lovejoys Gegner, R. Wellek, „daß der extreme Nominalismus Lovejoys breitere Probleme der Literaturgeschichte zu umgehen sucht, so unter anderem die Konzeption der Periode, der Strömung, der Entwicklung und auch die gesamte Frage der Einheit und Vielfalt der Kulturrevolution in Europa." 18 Das heutige Interesse für allgemeine Merkmale des romantischen literarischen Systems verbindet sich jedoch nicht nur mit der Reaktion auf Lovejoys Standpunkt, die durch die bekannte Abhandlung Welleks Der Begriff der Romantik in der Uteraturgeschichte (1949) ausgelöst wurde. Die Forschungsprinzipien des „New Criticism", dessen Vertreter sich zur weltanschaulichen Haltung der Romantiker sehr ablehnend verhielten und besonders die Dichtungen P. B. Shelleys19* einer heftigen Kritik unterzogen, bewirkten, daß die Aufmerksamkeit wieder stärker auf die poetischen Spezifika der ausgebildeten Romantik und weniger auf die vorromantischen Tendenzen des 18. Jahrhunderts gelenkt wurde. C. Brooks zum Beispiel legte durchaus zutreffend dar, daß die sogenannten „frühen Romantiker" keine wesentlichen Veränderungen in der poetischen Sprache, im Metapherntypus und im Charakter des englischen Verses vorgenommen haben. In ihren Werken zeigten sich anstelle der früheren Funktion des neoklassizistischen, schmückenden Beiwerks ein neues „poetisches Material", neue Requisiten und ein neuer Typ der Szenerie, die mit überraschender Schnelligkeit zu abgegriffenen Klischees wurden. 20 Als Verteidiger der dichterischen und kulturellen Werte der Romantik meldeten sich vor allem nach dem zweiten Weltkrieg Wissenschaftler zu Wort, die in ihren Arbeiten zuweilen 55

auf die Bedeutung des Entstehungsmomentes der neuen poetischen Methode hinwiesen und die auf die qualitativen Unterschiede zu den präromantischen Erscheinungen, mit denen sich die Strömung angekündigt hatte, aufmerksam machten. Die größte Bedeutung für das Problem des romantischen Umbruchs haben diejenigen Arbeiten, welche den Charakter dieser neuen Qualität eindeutig zu erfassen suchen. C. M. Bowra sieht den Unterschied der romantischen Dichter zur Tradition des 18. Jahrhunderts in der Konzeption und im Charakter der poetischen Phantasie.21 M. H. Abrams, der in seinem bekannten Buch The Mirror and the Lamp. Komantic Theory and the Critical "Tradition der theoretischen Vorbereitung der ästhetischen Doktrin der Romantik große Aufmerksamkeit geschenkt hat, erörtert in dem Artikel English Komanticism den Einfluß, den die historische Situation in der Periode der Französischen Revolution auf die Entstehung der romantischen Strömung in der englischen Literatur ausgeübt hat. 22 Schließlich vertrat P. W. K. Stone die Auffassung, die präromantischen Ideen wären in der Regel Abfallprodukte der traditionellen Doktrin; sie hätten sich erst durch die Formulierung der Romantiker zu neuen Ideen entwickelt, sobald sie in einem anderen Kontext, in einem anderen Bedingungsgefüge neuer ästhetischer Begriffe verwendet wurden. Aus diesem Grunde sieht Stone im Vorwort von W. Wordsworth eine wichtige Manifestation, die eine „literarische Revolution" einleite.23 Das hier ausführlich abgehandelte Beispiel eines außergewöhnlich kontinuierlichen und evolutionären Heranreifens einer neuen literarischen Situation in England veranlaßt zu einigen allgemeinen Schlußfolgerungen, die erkennbar machen, unter welchen Bedingungen sich der Wandel des früheren Literaturmodells im Bewußtsein der Autoren und Konsumenten als ästhetischer Umbruch darstellt. Das englische Beispiel beweist, welche große Bedeutung das starke Erlebnis der Krise des alten Systems für das Umbruchsverständnis hat. Diese Bedeutung verhält sich proportional zum Grad der Institutioalisierung wie auch der Exklusivität des dominierenden literarischen Modells. Eine solche Situation, wie sie zum Beispiel in Frankreich bestand, wo es dem offiziellen System gelang, breite Bereiche der Kulturtradition ent56

weder ganz oder doch partiell auszuklammern, sich vom „Fremden" abzugrenzen und ein rigoristisches und homogenes Wertmodell aufzuzwingen, birgt zweifellos brisanten Sprengstoff in sich, der gewaltsame und extreme Reaktionen bewirken kann. Weiterhin ist von großer Bedeutung die Beziehung des b e w u ß t e n Erlebens der Krise eines verbindlichen literarischen Modells zum Erleben der allgemeinen Zivilisationskrise, hierzu kommt dann die Überzeugung von der Notwendigkeit eines Wandels der sozialpolitischen Gesellschaftsstruktur und die bewußte Erkenntnis, daß sich ein solcher Wandel bereits vollzogen hat. Dabei ist es noch nicht einmal so wichtig, wie dieser Wandel beurteilt wird und ob die Anhänger des literarischen Umbruchs auf der Seite der gesellschaftlich progressiven Kräfte stehen oder nicht. Von Wichtigkeit ist dagegen die Uberzeugung, daß die Unterbrechung der evolutionären Kontinuität überhaupt möglich oder sogar unvermeidlich ist. Wichtig ist auch das Schockerlebnis, das dieses Phänomen für die Gesellschaft darstellt, sowie die Erkenntnis der Folgen, die sich aus dem Umbruch für alle Bereiche des Lebens und der Kultur ergeben. Dieser Erfahrungstyp bestimmt entscheidend die Herausbildung jener spezifischen romantischen Verflechtung von Organismusgläubigen, revolutionären und historiosophischen Tendenzen; er wirkt sich natürlich auch auf das Selbstbewußtsein der literarischen Neuerer aus. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung für das Selbsterkennen der Romantik und für die Betrachtung des literarischen Umbruchs sind auch der Grad und Charakter des Widerstandes, den das angegriffene System leistet: Starker Widerstand kann den Prozeß des Umschlagens einer Summe von Innovationen zu einem neuen literarischen System verzögern, er kann aber auch weit schärfere Krisen auslösen und schließlich zu einem solidarischen oder zumindest zu einem in entscheidenden Literaturfragen solidarisch handelnden Kreis von Neuerern führen. Dabei ist durchaus möglich, daß bei einseitigem Widerstand gegen das alte System die Möglichkeiten für die Bildung einer neuen Synthese so eingeschränkt werden können, wie das zum Beispiel in Polen der Fall war. Die für eine literarische Umbruchssituation als charakteri57

stisch genannten Bedingungen und Merkmale, die von avantgardistischen Gruppen bewußt hervorgehoben wurden, traten mit verschiedener Intensität und in sehr unterschiedlicher Struktur in Ländern wie Deutschland und Frankreich auf. Für die deutsche Literatur ist der Umstand bemerkenswert, daß der Wandel einen relativ lang andauernden Prozeß darstellte und sich in mehrere, relativ deutlich voneinander abgrenzbare, ja manchmal sogar dramatisch erscheinende Etappen aufgliedern läßt. Schon die führenden Köpfe der Sturm-und-Drang-Zeit hatten das Prestige des vom modernen Klassizismus geschaffenen Literaturmodells allmählich unterhöhlt. Dabei fehlte es ihnen keineswegs an überzeugenden und wirkungsvollen Argumenten, denn schon die Ideologen der deutschen Aufklärung hatten es als Ausdruck der Kulturtyrannei der französischen Zivilisation, als Karrikatur antiker Vorbilder und als eine für den Deutschen kulturfremde Erscheinung gebrandmarkt. Die Dichter und Ideologen des Sturm und Drang richteten ihre scharfe Kritik gegen die Gesellschaft; sie vertieften die Interpretation des Klassizismus und faßten ihn als höfische Literatur, die das angegriffene sozialpolitische System stützt. Dieses System ist aber ein wesentliches Hindernis für die Entwicklung der nationalen deutschen Traditionen und für das Bemühen, bis zu den natürlichen Quellen vorzudringen. Sie legten einen eigenen originellen Katalog konkreter schöpferischer Vorschläge und ein neues System von Literaturtraditionen vor. Die Rousseauschen Ideen, der neuinterpretierte Hellenismus und der Kult des Primitiven, die Konzeption der Poesie und „Entdeckungen" der englischen Präromantik wie der Shakespeare-Kult, der Ossianismus und die Balladen wurden hier zum ersten Male zu einer Ganzheit und Einheit verbunden. Diese Sachverhalte fanden auch in, den Schriften J. G. Herders eine theoretische Fundierung. Die Rolle der Sturm-und-Drang-Zeit in der Entwicklung des deutschen Literaturprozesses ist immer noch Gegenstand lebhafter Diskussionen. Nicht eindeutig wurde bis heute die Frage nach dem Verhältnis dieser Strömung zur Aufklärung, zum Sentimentalismus und zur reifen, voll entwickelten Romantik geklärt. In der herkömmlichen Germanistik wurden diese Probleme in gewisser Beziehung dadurch gelöst, daß die Literatur 58

der Sturm-und-Drang-Zeit als erste Phase eines einheitlichen, wenn auch in sich differenzierten Zeitabschnittes (1770—1830) betrachtet und als „deutsche Bewegung" oder — wie bei H. A. Korff — als „Goethezeit" bezeichnet wird, in welcher die Weimarer Klassik24 die Hauptrolle spiele. Gewöhnlich wird in diesem Zusammenhang betont: Trotz zahlreicher Verbindungen mit der Aufklärung lassen der Subjektivismus und Elemente des Irrationalismus vermuten, daß es notwendig sei, die „Literatur der Genies" gesondert abzuhandeln. Die deutsche marxistische Literaturwissenschaft tendiert — in Anlehnung an G. Lukacs — dazu, die Sturm-und-DrangZeit ausschließlich mit der Aufklärung in Verbindung zu bringen und negiert entschieden das Vorhandensein vorromantischer Züge in dieser Bewegung. 25 Die präromantischen Funktionen der Sturm-und-DrangZeit lassen sich besonders gut unter dem Aspekt des g e s a m t europäischen Literaturprozesses erfassen. Von diesem Standpunkt aus scheint die Rolle, die das Schaffen des jungen Goethe und Schiller bei der Herausbildung der europäischen Tendenzen der Vorromantik und in der Frühphase der romantischen Literatur vieler Länder gespielt hat, besonders aber von dem Zeitpunkt an, da Madame de Stael in ihrem bekannten Buch Über Deutschland theoretisch diese Rolle begründete, unvergleichlich weittragender zu sein als die zweifellos bestehenden Beziehungen beider Dichter zur Aufklärung. 26 Charakteristische Merkmale ihres dichterischen Schaffens wie die Verehrung der Natur und des Elementaren, das Gefallen an Naivität und Einfachheit, die Überzeugung von der Höherwertigkeit der Natur im Vergleich zur Kunst glaubt A. O. Lovejoy in den vorromantischen und frühromantischen Werken des 18. Jahrhunderts wiederfinden zu können, auch wenn er auf den bestehenden Unterschieden zwischen diesen Tendenzen und dem Charakter der Romantik des 19. Jahrhunderts seine These aufbaute, daß es unmöglich wäre, eine einheitliche Konzeption dieser Strömung zu entwickeln. 27 Die Beziehung der Vertreter des Sturm und Drang zur Aufklärung, die für die zeitgenössischen deutschen Literaturhistoriker so wesentlich und bedeutsam ist, bewirkte, daß diese Formation kein konkretes neuartiges Literatursystem ausbil59

dete und keine Chancen für eine längere Entwicklung hatte. Uns erscheint die Formulierung des englischen Germanisten H. B. Garland treffend, in der zum Ausdruck gebracht wird, daß die Periode des Strum und Drang in der deutschen Literatur „eine Art Frühgeburt romantischer Revolte" 28 darstellte. Von der damals entwickelten Konzeption der Literatur und Kultur war nämlich ein Rückzug möglich; das erweist sich in der weiteren Geschichte des dichterischen Schaffens von Goethe und Schiller. Diese Dichter waren es schließlich, die dem Ideal der antiken Kunst wieder die entscheidende Bedeutung zurückgaben — einem Ideal, das bis zu einem gewissen Grade von neuem im Geiste der Philologie des 18. Jahrhunderts interpretiert wurde. Zu dem Zeitpunkt, als die ideologischen Beweggründe des kulturellen und literarischen Aufruhrs bereits schwächer geworden waren, hatten sich die Bedingungen für den literarischen Umbruch noch nicht deutlich genug ausgebildet. Der reaktionäre Einfluß der französischen politischen Krise auf die deutsche Intelligenz beeinträchtigte zudem das weitere Heranreifen der literarischen Situation. Die deutsche Romantische Schule, die die Theorie und Praxis des „zweiten Umbruchs" ausbildete, betrachtet es bald nicht mehr als erforderlich, den frontalen Angriff gegen das klassizistische Literaturmodell zu führen, das im 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden war. Ihre polemischen Aufgaben waren sehr komplizierter Natur. Auf weltanschaulichem Gebiet wurde für sie das Verhältnis der Romantik zur Philosophie und Ideologie der Aufklärung zu einem entscheidenden Anliegen. Die postkantianische Entwicklung der deutschen idealistischen Philosophie spielte hierbei eine wichtige mobilisierende Rolle. Das Krisenbewußtsein der modernen Kultur, das durch die revolutionären Erschütterungen der Epoche noch verschärft wurde, fand in Schillers Konzeptionen ein neues Fundament. In der Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung aktualisierte Schiller die Rousseauschen Ideen. Er modernisierte sie und komplizierte sie zugleich, indem er den allgemeinen Gegensatz zwischen Natur und Zivilisation deutlich machte und die literarischen Konsequenzen erkennen ließ, die weit über die Grenzen des „Naturalismus" des 18. Jahrhunderts hinausgingen. Auf 60

literarischem Gebiet mußte sich die Romantische Schule dann auf die Weimarer Klassik einstellen, insbesondere auf Goethes Werk. Goethe war der eigentliche Begründer der Erneuerung der deutschen Literatur. In vielen Punkten wurde er zum Meister der „Jenaer Romantiker", auch wenn er in späteren Werken und theoretischen Arbeiten Ideen verbreitete, die von deren Perspektive aus die weitere Umgestaltung der Literatur nur zu hemmen schienen. Zu den Folgen dieser literarischen Situation gehört auch die Haltung der Romantischen Schule zur Klassik: Letztere erscheint ihr als eine wertvolle, aber historisch bereits vergangene literarische Formation und als ein Versuch, die antike Tradition zu beherrschen, sie in den Rahmen einer geplanten literarischen Synthese einzugliedern, die aus der Perspektive der Romantik, „der progressiven Universalpoesie" vorgenommen wird. Das aber war nur möglich, wenn die theoretische Perspektive weitgehend verändert wurde. Daraus resultiert der enge Kontakt der „Jenaer Gruppe" mit verschiedenen Vertretern der Philosophie und einer philosophisch orientierten Ästhetik. Daher kommt aber auch das Übergewicht der theoretischen Interessen, das Zusammenfallen der Versuche zur Bildung von Programmen und synthetischen Betrachtungen über die Entwicklung der gesamten bisherigen Literaturtradition. In einer anderen historischen und literarischen Situation, in einem anderen Tempo vollzog sich der romantische Umbruch in Frankreich. In der gesamteuropäischen Erfahrung der Romantik nahm Frankreich eine besondere Stelle ein. Es bildete das für ganz Europa vorbildhafte, maßgebliche und stark institutionalisierte Modell der klassischen Literatur heraus. Gleichzeitig brachte Frankreich einen Schriftsteller hervor, der diesem Modell, ohne es direkt anzugreifen und seine Strukturen ausdrücklich zu zerstören, dennoch empfindliche Schläge versetzte, die starke Nachwirkungen hatten: J . - J . Rousseau drängte dem damaligen Europa als erster die Überzeugung von der Krise der Zivilisation und vom Ideal des „Naturzustandes" und des „Naturmenschen" auf. Seine Theorien lenkten die Aufmerksamkeit der Menschen auf Erscheinungen, die sich im Rahmen des herrschenden Systems als Anomalien repräsentierten. Diese Theorien sanktionierten die Erkundung neuer

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Quellen und der Entstehung alter Traditionen europäischer Kultur. Sie inspirierten in starkem Maße Neuerungen, auch wenn diese noch keine Chance hatten, sich zu einem System auszubilden. Dennoch ist es bemerkenswert, daß diese Funktion der Rousseauschen Ideen weniger in Frankreich als in anderen europäischen Ländern populär wurde. J.-J. Rousseaus Gedankengut bildete den theoretischen Hintergrund für die erneute Zuwendung zum Volkstümlichen in der Sturm-undDrang-Literatur29 ; zugleich beeinflußte es die frühe englische Romantik30 sehr stark. In Frankreich selbst galt Rousseau als der „Meister der empfindsamen Herzen"31. Die Rousseauschen Ideen waren sozusagen ein Nebenprodukt, zugleich aber auch eine ernsthafte Komplikation für die antifeudale französische Kritik. Ihr Inhalt ließ sich sehr verschieden interpretieren. So bemächtigte sich zum Beispiel der radikale Flügel der großen Französischen Revolution dieser Ideen. Dennoch brachte die Revolution beim Aufbau der neuen Gesellschaft kein einheitliches und geschlossenes Kultursystem hervor. Sie erklärte und deutete die Tradition der republikanischen Klassik auf revolutionäre Art, schöpfte jedoch zugleich aus den Rousseauschen Inspirationen den Sentimentalismus, der in Frankreich ebenfalls bestimmte präromantische Funktionen ausübte. Die große Französische Revolution ist eine gewaltige historische Erfahrung, die den kulturellen Veränderungen des 19. Jahrhunderts zugrunde lag. In diesem Sinne war in der Tat auch die Romantik eine „Reaktion auf die Revolution", sofern man diese Marxsche Formulierung nicht als Etikett für eine reaktionäre Strömung verstehen will. Der komplizierte Charakter dieser Reaktion manifestierte sich am deutlichsten im romantischen Umbruch in Frankreich. Er hatte hier sicher schon deshalb eine besondere Ausprägung, weil seine reifsten literarischen (René von F. R. de Chateaubriand, 1805) und theoretischen (Über Deutschland von Madame de Staél, 1800 verfaßt und erst 1813 publiziert) Darlegungen viele Jahre vor der stürmischen Schlacht der Romantiker der zwanziger Jahre geschrieben wurden, in deren Verlauf das romantische System allmählich alle entscheidenden Literaturgattungen erfaßte und den Charakter des französischen literarischen Lebens vollends bestimmte. Der französische romantische 62

Umbruch verbindet das Merkmal der „Periodizität" (die einzelnen Phasen sind jedoch zeitlich nicht so ausgedehnt wie in Deutschland) mit dem des Radikalismus und der revolutionären Gewalt, die zu einem Höhepunkt führten, in dem sowohl die Tradition der Klassik als auch die Weltanschauung und Anthropologie der Aufklärung der allgemeinen Kritik unterworfen wurden. Außerdem trat nirgendwo in Europa die Polarität der politischen und ideologischen Standpunkte der Vertreter der neuen Strömung so kraß in Erscheinung wie in Frankreich. Zugleich wurde die Überzeugung sichtbar, daß der Zwang, die Erfahrungen des modernen Menschen zu manifestieren, die literarische Umwälzung bereits rechtfertigte. Schließlich ging es um einen Menschen, der die tragische Lektion einer gewaltigen sozialen Erschütterung erlebt hatte, die Geschichte daher auf neue Weise betrachtete und die Kulturtradition des eigenen Volkes und der ganzen Welt auch auf neue Art begreifen wollte. Das Interesse der französischen Romantik an der Psychologie erhielt durch die Lehren des Historismus viele Anregungen, während die Motivation des Konfliktes, den der einzelne Mensch erlebte, manchmal in konkreten sozialen Fakten der Zeit zu suchen ist. Es ist wohl kein Zufall, daß gerade die französische Romantik so häufig Gegenwartsprobleme kritisiert und für diese daher keine komplizierten Beschreibungen oder Metaphern zu suchen braucht. Die sogenannte soziale Romantik war gleichfalls eine spezifisch französische Erfindung. Der französische Roman nutzte die realistischen Potenzen, die in der Poetik der Romantik lagen, am meisten. So entwickelte sich in der Begegnung mit der Romantik auch die Meisterschaft von H. de Balzac und Stendhal. Der Umbruch, der dieser reichen Entwicklung der französischen Literatur vorausging, hatte jedoch in hohem Maße Anregungen von außen. Die englischen Beispiele suggerierten Vorbilder, die deutlich machten, wie man an die eigene Vergangenheit der vorklassischen Zeit anknüpfen könne. Das Buch der Madame de Staël Über Deutschland, das nicht nur zur Bibel des romantischen Umbruchs in Frankreich wurde, sondern auch in anderen Ländern einen starken Einfluß ausübte, 63

•enthielt den Grundriß eines neuen literarischen Systems, nämlich der „nordischen Literatur", deren Meister deutsche Dichter und Theoretiker waren. Die gewaltige Autorität der Klassik, die Frankreichs literarischen Ruhm begründete und das Unterpfand seiner kulturellen Vorherrschaft in Europa war, führte zur Lostrennung von der früheren Kulturtradition und brachte dieser die Bezeichnung der „Kulturbarbarei" ein. Insofern trugen die ersten literarischen Neuerungen den Charakter literarischen Imports, und ihre Effektivität wurde durch die Notwendigkeit einer möglichen Anpassung an die Regeln des herrschenden Systems beschränkt. Eben deshalb konnten die Apologeten der postrevolutionären Klassik den Anhängern des literarischen Umbruchs das wichtige Argument von der notwendigen Verteidigung der Nationalliteratur gegenüber fremden Einflüssen entgegenstellen. In der bisher hier vorgetragenen, recht allgemeinen und die komplizierte historische Situation stark vereinfachenden Übersicht von ausgewählten Beispielen für den romantischen Umbruch wurden Begriffe wie Literaturkrise, Neuerungen (Innovationen) und neuentstehendes literarisches System verwendet. Diese Kategorien trifft man gelegentlich in Abhandlungen von Literaturhistorikern in Verbindung mit der Erörterung literarischer Wandlungsprozesse. Im vorliegenden Text werden sie so verstanden, wie sie in dem anregenden Buch des amerikanischen Wissenschaftshistorikers T. S. Kuhn Struktur wissenschaftlicher Revolutionen32* interpretiert werden. Kuhn, der mit Recht die These von der evolutionären, kumulativen Wissenschaftsentwicklung widerlegt, richtete die Aufmerksamkeit auf die Gesamtsituation, in welcher theoretische Überzeugungen und Forschungsmethoden, die ein bestimmtes existentes Wissenschaftsmodell kennzeichnen und von ihm „Paradigma" genannt werden, aufhören, neue Beobachtungen oder Entdekkungen neuer Phänomene zu erklären. Unter dem Aspekt des offiziellen Paradigmas sind sie Anomalien, die nicht verallgemeinert werden können und die uns hindern, aus den untersuchten Neuerungen theoretische Schlüsse abzuleiten. Es entsteht auf diese Weise eine Krisensituation in der Wissenschaft, die erst dann überwunden werden kann, wenn die Neuerungen, 64

die an der Peripherie des alten Paradigmas ständig zunehmen, in einem neuen System integriert werden, das den Informationszuwachs zu einem geschlossenen, synthetischen Ganzen macht. Eine derartige Veränderung der Erkenntnispotenzen und der wissenschaftlichen Weltanschauung spielt in der Kulturgeschichte eine revolutionäre Rolle. Das von Kuhn entwickelte Denkschema kann für die theoretische Systematisierung der zerstreuten, stärker intuitiven und unsystematischen Beobachtungen der Literaturhistoriker zur Frage des romantischen Umbruchs von großem Vorteil sein. Bei aller Nutzung dieser Anregungen muß man jedoch bedenken, daß es Unterschiede zwischen dem Literaturprozeß und der Wissenschaftsentwicklung gibt. Für unsere Darlegungen ist die Tatsache von Wichtigkeit, daß man historische „Literatursysteme" nicht in vollem Umfange mit dem wissenschaftlichen Paradigma im Kuhnschen Sinne identifizieren kann. In der modernen europäischen Literatur war es vielleicht die Klassik, die sich durch einen relativ hohen Grad an theoretischer Geschlossenheit und rigoristischem Normativismus sowie durch eine homogene Betrachtungsweise der Kulturtradition und eine bemerkenswerte Institutionalisierung des offiziellen Modells auszeichnete. Andere bekannte moderne Literatursysteme, die auf der Grundlage einer bestimmten Weltanschauung und der Poetik einer gegebenen Strömung entstanden sind, haben niemals eine solche Geschlossenheit und strenge Einheitlichkeit des Programms erreicht, ja, sie hatten nicht einmal das Bestreben nach dieser Einheitlichkeit und Geschlossenheit. Die Romantik jedoch leistete sogar aktiven Widerstand gegen ein derart aufgefaßtes Literaturmodell, und zwar nicht nur im Sinne einer mechanischen Reaktion auf die Praxis der Klassik. Und dieser Rahmencharakter der romantischen Systeme, das Streben nach einem Maximum an Freiheit für jeden Literaturschaffenden, die Vielfalt und Mannigfaltigkeit der Programme wurden wiederum zur Ursache für die Zweifel an der Einheitlichkeit der romantischen Strömung. Das alles verstärkten noch die oft unternommenen und gewöhnlich recht unvollkommenen Definitionsversuche33 für die Romantik. Es muß hervorgehoben werden, daß die in der Periode des romantischen Umbruchs entstandenen Systeme keinen stabilen 5

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Charakter tragen. Sie unterliegen im Laufe der Geschichte dieser Strömung im Bereich einer Nationalliteratur Erweiterungen oder gar Veränderungen wichtiger Art. So waren beispielsweise die Unterschiede zwischen der frühen Romantik der Jenaer Schule und der späteren Heidelberger Romantik von solcher Bedeutung, daß Literaturhistoriker, die den Intellektualismus und Universalismus der Romantischen Schule ablehnten, ihr das Recht streitig machen wollten, die entwickelte, reife Phase dieser Strömung in Deutschland 34 zu vertreten. Die oftmals festgestellte Besonderheit der polnischen Romantik in der Periode vor und nach der Novemberrevolution in Polen, die vom Messianismus und Mystizismus stark beeinflußt wurde, lag der Konzeption des „introromantischen Umbruchs" an der Schwelle der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts zugrunde. 35 Unabhängig von der Intensität der Polemik, die zwischen den Anhängern der rivalisierenden Literaturrichtungen geführt wurde, existierte in der Praxis und seit der Romantik auch in der Theorie ein ästhetischer Pluralismus. Daraus ergibt sich auch die große Vielfalt der Strömungen in den einzelnen Literaturepochen sowie die Differenziertheit in den Veränderungsmechanismen. E s lassen sich jedoch auch andere Varianten feststellen als der r a d i k a l e literarische U m b r u c h : beispielsweise das allmähliche Anwachsen des Umfanges von Neuerungen und die a l l m ä h l i c h e H e r a u s b i l d u n g des neuen Systems, ohne ausdrücklichen Bruch mit der vorangegangenen Formation. Oder die Veränderung des Literatursystems geschieht durch ein stufen weises Durchsetzen bislang unterdrückter oder wenig angesehener literarischer Tendenzen oder Gattungen. Daraus folgt, daß man die Bezeichnung „Umbruch" literarischen Wandlungen vorbehalten sollte, die auf der radikalen und ungestümen Loslösung von einem bis dahin gültigen Literaturmodell und auf der Herausbildung eines grundsätzlich anderen literarischen Systems beruhen. Diesen Bedingungen entspricht vor allem der romantische Umbruch in Polen. Er ähnelt relativ stark dem romantischen Literaturwandel in Frankreich, jedoch war er wesentlich ausgeprägter und zeitlich gedrängter. In einer relativ kurzen Periode traten Fakten im literarischen Leben zutage, die deutlich vom

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Bewußtsein des sich vollziehenden Wandels (Kampf der Romantiker und Klassiker) Zeugnis ablegten. Es erschienen Werke, die ein neues poetisches System gestalteten. Zur Klarheit und Prägnanz der Umbruchssituation trugen viele Faktoren bei, so unter anderem die Zweitrangigkeit oder Schwäche der vorromantischen polnischen Tendenzen, die in der Regel das Interesse für Neuerungen aus anderen Ländern förderten. Sie untergruben aber weder die klassizistische Werthierarchie noch die Weltanschauung der Aufklärung ernsthaft. Es gab also bereits in der polnischen Aufklärung Symptome eines stärkeren Interesses für die Kulturwerte, die vom Klassizismus als Produkte der Barbarei betrachtet wurden. König Stanislaw August war ein Verehrer der Dramen Shakespeares. Von den bekannten Schriftstellern und Ideologen der Aufklärung waren es zum Beispiel I. Krasicki, der die Ossianiseben Gesänge ins Polnische übertrug, S. Trembecki, der sich in seinen Dichtungen auf Motive Krakauer Volkslieder bezog, T. Czacki, der sich für die Slawenkultur im Altertum und ihre Überbleibsel in der Volkskultur interessierte oder J. Potocki, der die orientalische Literatur erforschte. Vom Standpunkt des herrschenden Systems waren diese Werte „Anomalien", die jedoch den Wert hatten, daß sie dessen Apologeten zumindest veranlaßten, das System dynamischer zu gestalten und es zu modifizieren, damit diese Erscheinungen wenigstens peripher existieren konnten. Die Ausbildung des literarischen Krisenbewußtseins in Polen wurde selbstverständlich von der quantitativen Zunahme und wachsenden Bedeutung dieser „Anomalien" beeinflußt. Hinzu kam die Attraktivität der in die Literatur verschiedener europäischer Länder eingeführten Neuerungen. Sie wurden in der Literatur des geteilten Polens nachgeahmt. Das von den klassizistischen Epigonen der Aufklärungszeit gehütete System wurde immer weniger mit den eingeführten Neuerungen fertig. Die Warschauer Klassiker betrieben eine schwankende Politik: einerseits zunehmenden Rigorismus, andererseits ratlose Toleranz. Dennoch bewahrten sich die Erben der polnischen Aufklärung ihre Autorität sehr lange. Die nach der Teilung Polens auf die Erhaltung der Kontinuität der polnischen Nationalkultur gerichtete Politik sowie die 5»

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während der gesamten Napoleonischen Ära genährte Hoffnung auf Wiedererlangung der politischen Freiheit neutralisierten bis zu einem gewissen Grade die weltanschaulichen und geschichtsphilosophischen Folgen des tiefgreifenden nationalen Erlebnisses, das mit der Zerstörung des polnischen Staatsverbandes verbunden war. Für das polnische National- und Kulturbewußtsein hatte diese historische Tatsache eine ähnliche Wirkung wie für Westeuropa die Erschütterungen durch die große Französische Revolution, ja diese Wirkung wurde dadurch noch intensiviert und generalisiert. Alle diese Umstände zerstörten endgültig die Vorstellung von Ordnung und Harmonie der Welt, wie sie von der Aufklärung verbreitet worden war. Den Kulminationspunkt erreichte diese Situation in Polen, als die Illusionen, die mit der Bildung des Königreichs Polen verknüpft worden waren, durch die Heilige Allianz endgültig vernichtet wurden. Ein weiteres Krisenmoment in Polen war das Mißtrauen gegenüber den Ideen und Aktivitäten der Generation, die man für die Niederlage der Nation verantwortlich machte. Dieses Mißtrauen erstreckte sich in erster Linie auf die direkten Erben, die Mitglieder der versöhnlerischen Regierungselite Kongreßpolens. Sie waren ja auch die legitimen Gesetzgeber für das literarische Leben; aber sie hatten ihr Recht auf Gestaltung eines so bedeutenden Programms, wie es die Bildung einer Nationalliteratur in der Periode nach der dritten Teilung Polens war, aus der gesellschaftlichen Notwendigkeit abgeleitet, die Kontinuität des von der Aufklärung geschaffenen Erbes zu erhalten und dessen Werte zu bewahren. Die romantischen Empörer klagten in ihrer totalen Kritik die eigenen „Väter" an und warfen ihnen vor, sie hätten die Literatur überfremden lassen, die Nachahmung fremder Vorbilder gebilligt und sich als unfähig erwiesen, die Vergangenheit des Volkes zu begreifen und die in der nationalen Kultur aufbewahrten Werte in sich aufzunehmen. E s ist gewiß ein Paradoxon nicht nur der polnischen gesellschaftlichen Situation, daß fast die gleichen Vorwürfe schon früher von den Klassikern gegen die ersten Werke der Romantiker erhoben worden waren. Schließlich ging es stets um Begriffe wie Nation, Tradition, Eigenes und Fremdes. 68

Der romantische Umbruch in Polen war, eindeutiger sogar als in Frankreich, mit einer gesellschaftspolitischen Haltung verknüpft, gleichzeitig aber auch sehr nachhaltig von der konkreten historischen Situation der zwanziger Jahre geprägt. Dieser Umbruch vollzog sich zu einer Zeit, als sich der Charakter und die Folgen des Wandels in den führenden romantischen Literaturen der Länder Europas bereits herausgebildet hatten. Im übrigen trugen die Erfahrungen, die in Verbindung mit den Auseinandersetzungen der Romantiker in Frankreich gemacht wurden, wesentlich zur Klärung der Standpunkte bei. Trotz einer gewissen Gallophobie der Romantiker spielten diese Erfahrungen im polnischen Kulturleben eine wichtige Rolle. Als Zeitpunkt des romantischen Umbruchs wird in der polnischen Literaturwissenschaft seit jeher übereinstimmend das Jahr 1822 angegeben. In diesem Jahr erschien der erste Band der Poe^je (Poesie) von A. Mickiewicz. Stimmen, die den Zeitpunkt des romantischen Umbruchs weiter zurück verlegen möchten oder in noch früheren Werken des Dichters sogar eindeutigere Merkmale der Romantik zu erblicken glauben, gab es in der Polonistik des 20. Jahrhunderts36* nur noch vereinzelt. Hingegen gab es viele Diskussionen zu der Frage, ob in diesem Poesieband oder vielleicht in beiden Bändchen tatsächlich ein poetisches System geschaffen wurde, das der polnischen Frühromantik entspreche. So erblickten beispielsweise J. Ujejski und A. Brückner, ohne die historische Bedeutung der Ballady i romanse (Balladen und Romanzen) herabzusetzen, in dem Poem Maria von A. Malczewski eine Variante des romantischen Umbruchs, die „andersartig, doch nicht weniger hervorragend" 37 sei und die in ihrer Reife und Vielfalt an romantischen Elementen vielleicht die Frühwerke von Mickiewicz38 übertreffe. K. Wojciechowski erklärte sich gegen die Auffassung vom Umbruchscharakter der Balladen. Wie aus seinen Darlegungen hervorgeht, tendiert er dazu, ausschließlich klassische Werke von Format, wie zum Beispiel D^iady (Totenfeier ) (Dritter Teil) oder das Poem Pan Tadeus%, als „Grenzsteine der Poesie" zu bewerten. Die metaphorische Bezeichnung der Balladen als „Morgenröte der polnischen Poesie" scheint allerdings in der polnischen Literaturgeschichte die vorherrschende Meinung über die Rolle des ersten Poesiebandes von 69

Mickiewicz für die Entwicklung der Romantik39 in Polen zum Ausdruck zu bringen. S. Pigoñ betonte vor allem die Rolle des zweiten Poesiebändchens. In diesem Zusammenhang führt er aus: „Das Werk Totenfeier ist in seiner programmatischen Aussage für die Romantik einheitlicher (vor allem durch seine Volksverbundenheit, durch die Mystik der Gräber, die Antiquität der Sitten usw.) als der erste Poesieband von Mickiewicz, in jedem Fall einheitlicher als das an seinem Anfang stehende Vorwort." 40 In der Tat, wenn wir außer den zwei Poesiebändchen von Mickiewicz noch Konrad Wallenrod und die Sonety krymskie (Krim-Sonette), die Dichtungen von A. Malczewski und S. Goszczyñski, die Literaturkritik von M. Mochnacki, also das literarische Erbe von fünf bis sechs Jahren in Betracht ziehen, dann erhalten wir ein viel bunteres und vollkommeneres Bild. Die frühe Romantik ersetzte damals das klassizistische, homogene traditionelle Modell durch die kulturelle Synthese. Es zeigten sich die beiden eng miteinander verbundenen Tendenzen der polnischen Romantik — das Programm der Originalität der Nationalliteratur, die Anknüpfung an lokale Traditionen, der programmatische Regionalismus und das Streben nach Aneignung der mannigfaltigen und reichen Schätze, die von der ganzen Menschheit erarbeitet wurden —, also das Prinzip von Individualisierung und Universalisierung der Literatur. Die Poesie der Frühromantik interpretierte und synthetisierte Bereiche der „Andersartigkeit", die vom Klassizismus mit dem Bann belegt worden waren. Das schließt auch soziale „Andersartigkeit" ein; so wird etwa die Folklore als ursprünglichste, mit der Natur und nationalen Kultur verbundene Tradition aufgefaßt, die alles umgreift, was „natürlich", elementar und originell ist. Es bedeutet aber auch temporäre „Andersartigkeit": die Vergangenheit des Volkes, die von der Romantik anders konzipiert wird als bei den Klassikern, nämlich als uralte oder mittelalterliche Vergangenheit oder, wie bei Mickiewicz, als nicht unbedingt an das polnische Volkstum gebundene Vergangenheit; sie kann aber auch die von den Klassikern so gering bewertete sarmatische Vergangenheit des 17. Jahrhunderts erfassen. „Andersartigkeit" bedeutet schließlich auch ein territoriales und kulturelles Anderssein, zum Beispiel die Natur und 70

Kultur des Orients, wo die Romantiker ihnen teure Werte und verwandte Probleme entdeckten. Die neue dichterische Welt der frühen Romantik äußert sich in einer Sprache, die diesen ganzen neuen Reichtum erfassen soll. Daher stammen denn auch die „vulgären" Ausdrücke, Provinzialismen und Archaismen, der bildreiche orientalische Wortschatz und die entsprechende Metaphorik — Erscheinungen, die bei den um die Reinheit der Sprache besorgten Klassikern nur Entsetzen hervorrufen mußten. Diese Welt erhält durch die Perspektive des sich neu erlebenden Menschen, des empörten Einzelwesens, das völlig im neuen Universum der Romantik verwurzelt ist, ihre Einheit. Der Mensch knüpft mit Hilfe der transzendentalen Sphäre des Geistes Verbindung zur Natur, zum Sein vergangener und künftiger Generationen. Er lebt in der Geschichte seines Volkes — in Polen und in der ganzen Welt. Wie bereits angedeutet, war eine der Konsequenzen der scharfen Auseinandersetzung mit dem Klassizismus, daß in der neuen Synthese die Antike fehlte. Die jungen Romantiker betrachteten alles Lateinische als Zivilisationsplage, eine die alte heimatliche Kultur zerstörende Komponente. In der weiteren Entwicklung der polnischen Romantik wurde aber auch diese Tradition wieder aufgenommen. Das von der frühen polnischen Romantik gebildete System ist durchaus fähig, seine Wertskala zu erweitern. Es wurde zwar von den sektiererischen Kritikern der Periode nach dem Novemberaufstand bedroht, doch solange die Romantik, auch in ihrer messianistischen Phase, die universalistische Perspektive nicht aus den Augen verliert, bleibt sie ein schöpferisches System. Der Triumph einer eng begriffenen, konservativen „Bodenständigkeit" in bestimmten Strömungen, die nach der Novemberrevolution in der Literatur des Landes auftraten, wird dann zur Kapitulation der Romantik und führt zu ihrer evolutionären Umwandlung in eine polnische Variante des Biedermeier. Aus der Entwicklungsperspektive der frühen polnischen Romantik hat der erste Poesieband von Mickiewicz tatsächlich wesentliche Züge eines Werkes der Umbruchszeit, und zwar in des Wortes mehrfacher Bedeutung — auch als Ausdruck des literarischen Bewußtseins jener Zeit. 71

Betrachtet man Mickiewicz' Abhandlung 0 poezji romantycynej (Über die romantische Poesie), die er als Einleitung zu seinen Ballady i romanse (Balladen und Romanzen) konzipierte, als eine Art poetisches Programm, dann treten die mehrfach betonten taktischen Absichten des Autors deutlich hervor. Auffallend ist allerdings, daß direkte Anspielungen auf die polnische Literatur fehlen. Die scharfe Kritik an der französischen klassischen Literatur wird nicht direkt auf die polnische Situation übertragen; dennoch ist eindeutig dargelegt, welche Rolle diese „Poesiegattung" — übrigens die einzige, bei der Mickiewicz auf die so sehr verpönte „einseitige Aufdringlichkeit beim Aufzeigen der Fehler einer Kunstgattung" nicht verzichtet — beim Verfall jeder Nationalliteratur spielte, sobald sich diese dem Diktat jener Gattung unterordnete.41* Der Dichter engagierte sich nicht im programmatischen Streit über die Höherwertigkeit des Romantischen oder Klassischen, denn auch wenn er den Begriff „klassisch" der mit hoher Wertschätzung behandelten antiken Tradition vorbehielt, verglich er beide Arten des Dichtens in erster Linie aus ihrer jeweiligen historischen Perspektive miteinander. Er negierte weder die positive Bedeutung der klassischen Vorbilder, die der romantischen Welt „immer mehr Ordnung, Harmonie und Schönheit" geben wollten, noch den Wert einer Rückkehr zum „klassischen Stil" in der Art der Weimarer Klassik oder der „klassischen Bildung" in den poetischen Erzählungen von W. Scott. Dennoch verwarf Mickiewicz mit seiner Kritik am „französischen Geschmack" nicht nur die dem modernen Klassizismus eigene Konzeption der Nachahmung des Altertums („Übernahme der Oberflächlichkeit und des antiken Ausdrucks"), sondern auch die philosophischen Grundlagen dieser Ästhetik, also die Dominanz des „Esprit und der Vernunft" über „Gefühl und Imagination". So viel über das Verhältnis des Dichters zu dem poetischen System seiner Zeit. Wenn Mickiewicz erklärte, er gehöre der Romantischen Schule an, so stellte er damit nicht fest, daß diese Schule das ausschließliche Recht habe, die Poesie der Gegenwart oder gar der Zukunft zu vertreten. Die Begründung dieser Entscheidung wird in den historischen Darlegungen geboten, aus deren Inhalt gefolgert werden kann, welche Kulturwerte diese 72

dichterische Entscheidung beeinflußt haben könnten. Die Poesie „konnte ihre eigentliche Mission" nur als „nationale Poesie" erfüllen, die „den Charakter und die Kultur des ganzen Volkes beeinflußt", schrieb Mickiewicz. 42 Das Beispiel Griechenlands, Frankreichs und Englands offenbart, daß der Glanz und die Würde der Poesie davon abhängen, ob sie mit den Gefühlen und Vorstellungen des Volkes verbunden ist. „Die romantische Welt" des Mittelalters gestaltete den Charakter der modernen Völker, und ihre Volkslieder gehören zur Tradition des Volkes. Aus diesem Grund erachten Kritiker, die sich nicht auf ästhetische Urteile beschränken, sondern die Literatur „historisch, philosophisch und moralisch" betrachten, jene Werke als besonders wertvoll, „die nur den Menschen zum Ziel haben und seine Sitten, Gebräuche und Gefühle darstellen". Eben diese Merkmale zeichnen sowohl „die ganze romantische Art" als auch im besonderen die „Gattung seiner Volkspoesie" aus. 43 Trotz des so programmatisch verkündeten ästhetischen Pluralismus signalisiert die im Ausdruck sehr maßvoll gehaltene „Rechtfertigung" des romantischen Literaturschaffens im Geiste der Volkspoesie die Existenz einer Werthierarchie, die bestimmend war für die Wahl dieses Weges zur Ausbildung einer nationalen Poesie. Es läßt sich auch lediglich von Signalen und Anzeichen reden, nicht aber von fertigen Formeln, denn sogar eine umfassendere Information „über die nationale Volkspoesie" — es ist zu vermuten, daß damit eine Charakteristik der polnischen Volkspoesie und ihrer Rolle in der Nationalliteratur gemeint war — blieb lediglich Ankündigung. Das Aussparen dieser Problematik wurde gewiß nicht nur durch taktische Überlegungen bestimmt. Sowohl die Balladen als auch die Werke des zweiten Poesiebändchens wie Graxjna und besonders die Totenfeier (Zweiter Teil) lassen erkennen, daß Mickiewicz — für seine Bedürfnisse — eine folkloristische Tradition, willkürliche „nationale Fiktionen", legendäre Überlieferungen des nationalen Geschichtsbewußtseins und traditionelle Bräuche konstruierte, daß er in den Liedern des einfachen Volkes gerade den Reichtum „wiederfand", den er als Rohstoff für seine neue Poesie benötigte. Ihre Neuartigkeit, ihr romantischer Charakter ist im ersten 73

Poesieband ausgeformt, der es ermöglicht, den poetischen Umbruch in statu nascendi in fast jedem einzelnen Gedicht zu verfolgen. Die sentimentale Idylle der Romanzen oder das neckisch stilisierte Gespensterspiel in To lubie ( Was ich liebe)v'* leiten allmählich zur „romantischen Welt" von SwiteLilien oder Romantik über; jedoch treten auch präromantische Relikte, die Merkmal der Balladen des 18. Jahrhunderts waren, in Gedichten wie Rybka (Das Fischlein) oder Smte^ianka (Nixe)*5 auf. Der Wandel des Poesiestils, der in den Balladen und Romanzen festzustellen ist, veränderte das Gepräge der polnischen Poesie natürlich nicht von einem Tag zum anderen. Das befreite den Autor nicht von der Verpflichtung, die „romantische Form" auch für andere Gattungsstrukturen auszuarbeiten, so zum Beispiel für die Totenfeier, die poetischen Erzählungen oder die Sonette. In diesem Sinne hatte J. Opacki recht, wenn er von der „Poesie romantischer Umbrüche" 46 (also im Plural) sprach. Diese Umbrüche vollzogen sich im individuellen Schaffen •eines jeden Dichters, der in der Periode nach der Novemberrevolution wirkte. Nichtsdestoweniger erbrachte die Volkspoesie der kleinen Balladensammlung von Mickiewicz oder — genauer formuliert — einige darin enthaltene Werke bereits den Abriß eines romantischen Systems der Poesie. Sie erbaute eine Welt der Gefühle und Imaginationen „der Kinder der Natur" („Du bist der Sohn der Weisheit, wie die Kinder der Natur" — so lautet eine der Varianten des Gedichtes Romantik*'1, mit der sich der Dichter solidarisierte, indem er trotz der „Alten und Weisen" nach neuen Erkenntnissen und Wahrheiten sucht. Im Mikrokosmos •der Ballade offenbarte sich das „Wundersame" in seiner ursprünglichen Bedeutung; es war tatsächlich das „Wundersame" der Natur, der Geschichte, des menschlichen Herzens oder der moralischen Ordnung. Das konnten jedoch nur dichterische Imagination und der Glaube des einfachen Menschen erfassen. Im ersten Poesieband wurde auch 2*eglar% (Der Segler) veröffentlicht. In diesem Gedicht bricht die individualistische Verzweiflung durch, für die es weder in der Welt der Volkspoesie noch in der „romantischen Gattung", wie sie Mickiewicz in seinem Vorwort verstand, einen Platz gab. Auf dieses Werk 74

könnte man die Charakteristik der „neuen Poesiegattung" beziehen, die G. G.Byron gegeben hat und in welcher der „leidenschaftliche Geist in den Sinnesmerkmalen der Imagination zum Durchbruch gelangt" 48 . Und trotzdem zerstörte sie, wie das der zweite Poesieband und das weitere poetische Schaffen des Dichters beweisen, nicht das romantische System, das in der Umbruchsperiode klarere Formen erhielt. Dieses System sollte seine Entwicklungschance erweisen, seine innere Kompliziertheit wie seine zunehmenden Möglichkeiten für die Gestaltung von differenzierten Bedeutungsgehalten. Die Totenfeier vereinte in sich sowohl das Anliegen des Seglers als auch das Schicksal Polens und der ganzen Welt an der Schwelle einer neuen Periode in der Geschichte der polnischen Romantik.

Henryk Markiewicz

Die Dialektik des polnischen Positivismus

1 Die Anfänge der Aufnahme des Positivismus in Polen sind gut bekannt, 1 Wenn man die früheren, jedoch fast vergessenen Publikationen von A. Krzyzanowski (1842) und D. Szulc (1851) nicht in Betracht zieht, dann hatte wohl die Abhandlung F. Krupiñskis, die unter dem Titel S^kola po^jtjwna (Die positive Schule) in der Biblioteka Wars^awska des Jahres 1868 erschien, in dieser Hinsicht die größte Bedeutung. Der Umfang der Quellenkenntnis über den Positivismus war relativ gering. Über die entsprechenden Warschauer Kreise urteilte P. Chmielowski2* im Jahre 1873 wie folgt: „Es fanden sich einige wenige (oder sagen wir ruhig ein gutes Dutzend) Personen, die aus Gewissenhaftigkeit in Quellen hineinschauten, die zwar nicht A. Comte selbst, aber É. Littré studierten und so eine relativ genaue Vorstellung von der Methode und dem Gesamt der positiven Wissenschaft bekamen:" 3 Bis heute steht der Zeitpunkt nicht genau fest, wann man den „Positivismus" als Bezeichnung für die Bestrebungen der polnischen progressiven Gruppen akzeptiert hat. Jedenfalls protestierte der Vr^eglqd. Tygodniowy bereits 1869 gegen die Meinung von K. Kaszewski, daß seit Erscheinen der Abhandlung von F. Krupiñski tiefes Schweigen über den Positivismus herrsche: „Man sieht, daß Herr Kaszewski sogar die gesamte Tendenz der Zeitschrift, die seit vier Jahren im Geiste dieser Schule erscheint, gar nicht berücksichtigt." 4 Positivistische Programmbekundungen treten erst 1871 intensiver auf. Am Ende dieses Jahres schrieb A. Swi^tochowski5* in einem Leitartikel des Pr^eglqd Tygodniowy, unter dem Titel Na wylomie (Am Durchbruch)-. „Wir nehmen für uns keine außergewöhnliche Mission in Anspruch, wie das einst 76

bei Mickiewicz war und wie es manche von uns heute fordern. Wir leugnen aber nicht, daß unser gegenwärtiger Kampf eine gewisse Ähnlichkeit mit dem berühmten Kampf der Romantiker hat. Man braucht nicht gleich ein Genie zu sein, um dennoch das Vorurteil und die Rückständigkeit zu empfinden. Wir wiederholen noch einmal: Wir möchten uns nicht mit der hervorragenden Phalanx vergleichen, die der große Adam (Mickiewicz — d. Bearb.) anführte, aber wir haben mit dieser Armee das Fortschrittliche gemeinsam. Den Unterschied bilden der zeitliche Hintergrund und die Verhältnisse. Mickiewicz war ein Dichter, er hauchte dem Fortschritt im Bereich von Vorstellungen und Formen seinen großen dichterischen Geist ein. Er erneuerte die Literatur, die bald ihre Früchte erkennen ließ. Anstelle des Todes pulsierte das L e b e n . L e b e n wollen aber auch w i r angesichts unserer gänzlichen Erstarrung, aber der positive Geist der Zeit verlangt, daß wir Bewegung fordern: nicht so sehr im dichterischen Schaffen als vielmehr in der Entwicklung der gesellschaftlichen Vorstellungen, deren Führer das Zeitschriftenwesen sein muß." 6 Einige Wochen danach fügte die Redaktion des Pr^eglqd Tygodniowy im Zusammenhang mit einer Bemerkung über die unentgeltliche Mitarbeit junger Autoren (Zöglinge der Haupt schule, die Spitze der fortschrittlichen Intelligenz)1* folgende Worte hinzu: „Vielleicht wird euch dieses Detail etwas besser erklären, ob es für uns etwas Heiligeres gab und ob unser Positivismus nur eine vergilbte Rechnung oder Kraft des realen Lebens ist."8 i n den folgenden Jahren, von 1872 bis 1873, erscheinen der „Positivismus" und die mit ihm verwandten Strömungen immer häufiger in den Spalten der jungen Presse. Bald bedienen sich die Gegner der neuen Ideen, wie zum Beispiel J. Narzymski in Pov^ytywni (Die Positiven), 1872, oder T. Zulinski in Nasipo^jtjmsci (Unsere Positivisten), 1872, dieser Bezeichnung. Ursache vieler Auseinandersetzungen war von Anfang an die Mehrdeutigkeit des Terminus. Darüber waren sich die Anhänger der neuen Strömungen durchaus im klaren: „Die einen verstehen — wie Swi^tochowski bemerkt — unter dem Namen ,Positivisten' die getreuen Anhänger der Comteschen Schule, die anderen bezeichnen damit auch deren Schüler, und die dritten schließlich umschließen damit alle Philosophen, die 77

ihre Untersuchungsmethode auf die Naturwissenschaft gründen. Bei einem so unterschiedlichen Herangehen entstehen sehr oft Mißverständnisse." 9 Die polnischen Publizisten sprachen sich übereinstimmend für eine weitgefaßte Interpretation des Begriffes aus. Der bereits erwähnte áwi^tochowski hatte bereits früher schon einmal erklärt: „Da der Positivismus nicht die Erfindung oder Idee eines einzigen Menschen (A. Comte) ist, da seine Grundlagen Gemeingut mehrerer Jahrhunderte und einer Vielzahl von Gelehrten sind, da schließlich die neuen Denker, die Positivisten, alles das ablehnen, was A. Comte, den man den Begründer des Positivismus nennt, in origineller Weise verkündet hat, muß festgestellt werden, daß der richtig verstandene Positivismus keine Schule mit unveränderlichen Kodizes, mit unabänderlichen Glaubensartikeln und mit unfehlbarer Autorität ist, sondern eine wissenschaftliche M e t h o d e , die seit Jahrhunderten praktiziert und entwickelt wurde und auf Erfahrung und Naturwissenschaft aufbaut. So führt sie zu immer wieder neuen Ergebnissen." 10 Ausgehend von diesem Standpunkt, erklärte man zum Beispiel den Lesern in einer Polemik, die sich gegen die Komödie Po^jtjwm (Die Positiven) von J. Narzymski richtete, folgendes: „Die Vertreter dieser Richtung unter unseren Literaten sind teilweise junge Leute, die bestrebt sind, weil sie in wissenschaftlichen Fragen auf Seiten der A. Comte, É. Littré, H. Taine, J. S. Mili, H. Spencer und anderer Wissenschaftskoryphäen stehen, auch die Grundsätze dieser Wissenschaftler zu popularisieren und ihre Werke zu interpretieren, um der von ihnen selbst vertretenen Strömung zum Durchbruch zu verhelfen." 11 Der Positivismus kommt in den von polnischen Autoren verfaßten frühen Arbeiten vor allem als eine bestimmte methodologische Orientierung — in des Wortes weitester Bedeutung — zum Ausdruck. „Nichts feststellen ohne beweiskräftige Argumente, über zweifelhafte Dinge nicht entschieden urteilen, über völlig unzugängliche Fragen überhaupt nicht reden — das sind Grundsätze des Positivismus", erklärte 1872 J. Ochorowicz. Jedoch einige Seiten weiter fügte er hinzu: „Als p o s i tive P h i l o s o p h i e [. . .] bezeichnen wir ein System von Erscheinungsgesetzen, die die Welt beherrschen, und von Grundsatzgesetzen, die unsere Handlungen bestimmen sollen. Die 78

ersten bilden die positive t h e o r e t i s c h e Philosophie, diezweiten die p r a k t i s c h e . " 1 2 Allmählich zeigen sich in der „Jungen Presse" Stellungnahmen zum Positivismus, die Feststellungen ontologischer Art, Ansichten über Psychologie und Soziologie sowie gesellschaftspolitische und ethische Richtlinien enthalten und sich in erster Linie auf methodologische Probleme konzentrieren. „Es hatte den Anschein", erklärt H. Sienkiewicz, „daß sowohl Idealisten als auch Positivisten absichtlich diese am wenigsten trennenden Termini wählten, um die wesentlichen Unterschiede zu überdecken, die in den sozialen und religiösen Ansichten, in den Auffassungen über die besten Wege zu einem größtmöglichen Wohlstand für alle und schließlich auch in der Betrachtung der Verfahren bestanden, mit deren Hilfe die Allgemeinheit auftretende Schwierigkeit vermeiden, beseitigen oder überwinden könne." 13 „Damals gingen", wie P. Chmielowski erwähnt, „die Darwinsche Theorie, die soziale Ökonomie, die praktischen Bemühungen um Erhöhung des allgemeinen Wohlstandes des Landes, die Pflege der Natur- und technischen Wissenschaften als konstitutive Bestandteile in die Losungen ein und waren jene Gegenstände, mit denen sich die Jugend am liebsten beschäftigte und zugleich versuchte, den aufgeklärtesten Teil der Bevölkerung für sich zu gewinnen." 1 4 Anders verhält es sich, wenn es um die rein praktische Seite des Programms ging. Dann verwendete man gewöhnlich andere Begriffe, wie zum Beispiel „organische Arbeit" o.dcr „Arbeit an der Basis". Ihre Gruppierung nannten die Positivisten selbst am häufigsten „Die Jungen", „Junge Presse", „Fortschrittler", „Partei des Fortschritts" usw. Während der ganzen Zeit tobt in der „Jungen Presse" eine erbitterte Polemik gegen Mißverständnisse, Vorwürfe und Unterstellungen, die gegen die Positivisten (vulgärer Materialismus, moralischer Nihilismus, Kosmopolitismus von Seiten der Konservativen erhoben wurden. Gleichzeitig finden in Kreisen der Positivisten Diskussionen zwischen dem radikalen und dem versöhnlerischen Flügel der Bewegung über den Inhalt des „wahren, gesunden Positivismus" 16 statt. Sowohl die charakterisierten Kontroversen als auch der Wunsch nach Verständigung mit den Gegnern auf praktischer 79

Ebene bewirkten, daß die Führer der „Jungen" selbst relativ schnell die Losung des „Positivismus" von ihren Bannern entfernten. Bereits 1876 schreibt ein Publizist im Pr^eglqd Tygodniowy: „Komisch waren auch die Wahlsprüche des P o s i t i v i s m u s und des I d e a l i s m u s , die für die Bezeichnung der sich formierenden Gruppen oder Literatenkreise gebräuchlich wurden. Obwohl man die Wissenschaft nur schwerlich vom Leben trennen kann, obwohl sich in der Praxis einiger westlicher Gesellschaften tatsächlich Strömungen wissenschaftlicher oder dogmatischer Überzeugungen mit politischen Parteirichtungen verbanden [. . .] so können doch nirgendwo Richtungen oder philosophische Schulen, die der Ausdruck bestimmter S t r ö m u n g e n der T h e o r i e sind, zum sichtbaren Wahlspruch der Parteien werden, die ja doch eine sichtbare Form bestimmter A k t i v i t ä t s b e s t r e b u n g e n sind [. . .] Jene pseudophilosophischen Aushängeschilder, die von übereiltem Klassifikationseifer herrühren, haben heute gewiß schon ihre Bedeutung in den Augen derer verloren, die sie einst in gutem Glauben als Wahlspruch für literarische Parteien hielten". 17 Bereits zu Beginn des folgenden Jahrzehntes wird Swi^tochowski den „unglücklichen" Positivismus rätselhaft ein „rein legendäres Panier" 18 nennen, und Chmielowski entschuldigt sich im Namen der „Jungen" folgendermaßen: „Man muß wissen, daß die Anhänger unserer Romantik schon in den ersten Jahren ihrer Entwicklung zu Vertretern der Romantik diese Bezeichnung für ihre Dichtung als gänzlich fehl am Platze erachteten; auch die Anhänger des Positivismus sagten sich manchmal, daß der von ihnen gewählte Name die eigentlichen Merkmale ihrer Gedankenrichtung gar nicht richtig wiedergebe. Weshalb haben sie dann dieses Wort dennoch akzeptiert? Einfach deshalb, weil sie kein besseres, geeigneteres Wort gefunden hatten. Und da man in Frankreich und England sich von neuem mit dem Positivismus zu beschäftigen begann, meinten sie, den Namen Positivisten als ,nom de guerre' verwenden zu müssen."19 Für andere Zeitgenossen und Beteiligte dieses Umbruchs (E. Orzeszkowa, H. Sienkiewicz) galt der Positivismus im Laufe der Jahre in zunehmendem Grade ausschließlich als eine philosophische Haltung, die als „Fehler des jugendlichen Geistes, der dem allgemeinen Fehler der Zeit entspricht" 20 , bald 80

aufgegeben wurde. Es verwundert daher nicht, wenn der erste Geschichtsschreiber dieser Zeit, P. Chmielowski, diesen Namen sehr sparsam verwendete, denn er schrieb nicht über die geistige Bewegung im allgemeinen, sondern lediglich über das literarische Schaffen. In seiner Literaturgeschichte bezeichnete er den Zeitraum bis 1864 als „Zeit des philosophischen Positivismus und ästhetischen Realismus" und wiederholte noch einmal, daß man unter Positivismus keine „gegebene, exakt bestimmte philosophische Theorie (Auguste Comte) verstehe, sondern eher das Streben nach Errichtung eines Gedankengebäudes und Lebensplanes, das sich auf Kriterien stütze, die durch Erfahrung gewonnen und in jedem Moment auch durch diese bewiesen werden können." 21 Deshalb hat nicht sosehr P. Chmielowski als vielmehr T. Jeske-Choiriski, ein Opponent der „Progressiven", die Bezeichnung Positivismus durch seine Arbeiten Po^ytywi^m Tvars^awski i jego glön/ni pr^edstawiciele (Warschauer Positivismus 1885, und Typy i idealy po^ytywnej und seine Hauptvertreter), beletrystyki polskiej (Typen und Ideal der positiven polnischen 'Belletristik), 1888, für immer mit dem Literaturschaffen Polens nach dem Aufstand von 1863 verbunden. Diesen Terminus verfestigten später die Kompendien und Lehrbücher (u. a. A. Brückner, G. Korbut, K. Wojciechowski, M. Szyjkowski und M. Kridl). Als eine „intellektuelle Bewegung, die sich nach 1864 in nahezu einem Vierteljahrhundert entwickelte und ausgesprochen gesellschaftlich-nationale Tendenzen verfolgte", wurde der polnische Positivismus von A. Drogoszewski (1931)22 dargestellt. Aus diesem Grunde konnte er hier auch die Stanczyk-Anhänger 23 * als konservative Variante des Positivismus einbeziehen. Z. Szweykowski (1929) legte dagegen besonderen Nachdruck auf die (vielleicht wegen der „leichten Hand" Chmielowskis) gewöhnlich bagatellisierte philosophische Grundlage des Positivismus (was später ebenfalls K. Lilienfeld-Krzewski24 forderte) und verwies auf seine Evolution von materialistischer Tendenz zum Spiritualismus.25 In der Zwischenkriegsperiode des 20. Jahrhunderts begann man, den Positivismus als Periodenbezeichnung aus der Literaturgeschichte zu entfernen und ihn durch den Terminus „Realismus" (T. Grabowski, J. Kleiner, S. Cywinski) zu €

Dieckmann

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ersetzen, d. h. durch einen Terminus, der spezifische Merkmale der Literatur bezeichnet. Diese Versuche lassen sich durchaus mit den damaligen Bestrebungen erklären, die Literaturgeschichte als Geschichte der sich wandelnden Strömungen oder künstlerischen Stile26 zu betrachten. Das Verhältnis der marxistischen Literaturgeschichte zu dieser Problematik war bekanntlich wechselvoll. Die anfänglich weit gefaßte Konzeption des Positivismus als eine geschlossene Epoche der polnischen Kulturentwicklung und die Bejahung ihrer weltlichen, demokratischen und realistischen Traditionen, wie das in der Publizistik der Ku^nica und in der Durchführung kollektiver Forschungsarbeiten auf diesem Gebiet zutage trat, unterlag bald einer gründlichen Revision. Die Spuren dieser Revision lassen sich in der unvollendeten Anthologie Kultura epoki po^ytjjvi^mu (Kultur der Epoche des Positivismus), 1949—1950, sowie im Sammelband der Studien des IBL Pozjty&izm (Positivismus ), 1950—1951, unter der redaktionellen Leitung von J. Kott feststellen. In den folgenden Jahren wurde das ideologische System des sogenannten Positivismus nicht nur abgewertet, weil es maximalistische Beurteilungskriterien des Fortschritts verwendete (Materialismus, revolutionäre Bewegungen, Tendenzen der nationalen Befreiung), sondern zugleich auch stark reduziert: Der Positivismus wurde hauptsächlich als antirevolutionäre, im Verhältnis zu den Teilermächten kompromißlerische Ideologie des Bündnisses der Bourgeoisie und der Gutsbesitzer interpretiert. In den literarhistorischen Diskussionen zeigten sich immer deutlicher Tendenzen, nur jene Losungen der positivistischen Ideologie zuzuordnen, die ausschließlich den Klasseninteressen der Bourgeoisie gedient haben, also zum Beispiel die Befürwortung des „preußischen" Weges zum Kapitalismus oder den Grundsatz des sozialen Solidarismus. Die humanitären Ideale, das Lob der demokratischen Lebensformen oder die Elemente einer wissenschaftlichen Weltanschauung dagegen betrachtete man als fremde oder sogar gegen den Positivismus gerichtete Elemente und behandelte sie als spezielle „bürgerlich-demokratische Traditionen" oder als Ergebnis des Einflusses der revolutionärdemokratischen Ideologie. Gegen diese Wege und Irrwege methodologischer Art 82

polemisierte die Abhandlung Vo^ytywi^m a reali^m krjtjc^ny (Positivismus und kritischer Realismus), 1955, die allerdings nur zu dem sehr vorsichtig formulierten Schluß gelangte, daß „sich in der Literatur des kritischen Realismus eine grundsätzliche Wandlung der positivistischen Ideologie in ihren essentiellen Merkmalen vollzogen habe, ohne jedoch mit ihr offen zu brechen. Es verschwanden ihre programmatischen Forderungen und das apologetische Verhältnis zur kapitalistischen Tätigkeit, die sich in der Form des positiven Helden äußerte. Es blieben indessen die progressiven Elemente des Positivismus und der sich daraus ergebende soziale Kritizismus [. . .] der weit intensiver war, als er in der positivistischen Publizistik oder sogar in der späteren Periode in Erscheinung trat." 27 Neueren Untersuchungen, die hauptsächlich von Vertretern der Wissenschaftsgeschichte angestellt wurden, verdanken wir eine begründete Rehabilitierung vieler ideologischer Werte des Positivismus.28 Jedoch blieb die theoretische Konzeption weitgehend erhalten, die dem Positivismus zeitliche Grenzen setzte und ihm eine große ideologische Homogenität (Programm der organischen Arbeit, Kampf gegen die feudalistischen Überbleibsel des Brauchtums, Scientismus, Programm der Laizisierung der Kultur) zuordnete.

2 Die einengende und erweiternde Modifikation traditioneller Begriffe ist das gute Recht des gesellschaftswissenschaftlichen Forschers, sofern der neue Begriffsvorschlag ausreichend präzisiert (also der Begriffsumfang klar abgegrenzt) wird, nicht allzusehr von der allgemein anerkannten Bedeutung abweicht (also wenigstens die meisten jener Erscheinungen umfaßt, für die bis dahin der gegebene Begriff verwendet wurde) und vor allem zweckentsprechend ist, also wenn er eine klarere und adäquatere Strukturierung des erforschten Realitätsbereichs fördert. Eine „enge" Konzeption des Positivismus wird sicher allen diesen Kriterien gerecht, im besonderen ermöglicht sie, die Differenzierung und den im Wesen antagonistischen Klassencharakter der polnischen Kultur des 19. Jahrhunderts dar6*

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zulegen. Das war die Hauptrichtung der Interpretation in der bisherigen marxistischen Forschung, eine sicher richtige und sogar unbedingt notwendige Richtung, die der Revision traditioneller Betrachtungsweisen diente. Diese Revision verwandelte sich jedoch in Einseitigkeit, und in der Folge verschwand aus unserem Blickfeld der Aspekt der Einheitlichkeit der damaligen Kultur, zugleich gingen auch die Prämissen der weiteren Veränderung in der imperialistischen Epoche verloren. Die vorliegende Arbeit ist ein skizzenhafter Versuch, die Wirklichkeitsbetrachtung und die Denkweise zu charakterisieren, die die polnische Kultur in der vormonopolistischen Periode des Kapitalismus prägten. Dieser Versuch wird aus der Sicht der Literatur als Ausdruck dieser Weltanschauung und ihrer innerliterarischen Folgen unternommen. Für den Terminus „Weltanschauung" entscheide ich mich, weil der Begriff der „Ideologie" meistens zur Kennzeichnung der Gesamtheit der Ideen einer bestimmten Klasse oder sozialen Gruppe sowie deren Interessen verwendet wird. Die Weltanschauung, die hier „Positivismus" (oder genauer: Positivismus sensu largo) genannt wird, entspricht annähernd dem, was E. Tatarkiewicz als „Scientismus" und D. G. Charlton als positivistischen „etat d'esprit" 29 bezeichnen. Zu den konstitutiven Elementen dieses Begriffes muß man vor allem den Scientismus im engeren Wortsinn zählen, also das Vertrauen in die Wissenschaft, die sich auf Erfahrung und Urteile stützt, die als alleinige Quelle wahren Wissens und als effektive Direktive des richtigen Verhaltens gelten. „Die Wissenschaft gibt den Menschen die Methoden zur Überwindung der Mächte der äußeren Natur", schreibt zum Beispiel die junge E. Orzeszkowa. „Die Wissenschaft erhellt die Begriffe, sie führt die Menschen zur Eintracht, zum Frieden, zum Reichtum und zu Tugenden. Die Wissenschaft zerstört Träumereien und leere, abergläubische Hoffnungen; sie heißt den Menschen auf das irdische Dasein zu schauen und fordert ihn auf, es für sich und die anderen zu vervollkommnen. Sie führt den Menschen schließlich zur Selbsterkenntnis, verleiht ihm das Gefühl der eigenen Macht und Ehre, auf deren Grundlage er Herr seiner selbst sein möchte, um selbst denken, selbst leben und selbst handeln zu können." 30 Den Scientismus be84

gleitet ein mehr oder weniger konsequenter biologischer Monismus, der die Geschichte als spezifische Variante des biologischen Prozesses, als Teil dieses Prozesses betrachtet. Als Folge dieser Konzeption analysiert er die historische Veränderlichkeit als gesetzmäßige Erscheinung, die einem Determinismus unterworfen ist. „Hier handelt es sich nicht um irgendein unerbittliches Fatum, oder um eine blinde Notwendigkeit, sondern um jene Geschichtsentwicklung, die unserer Meinung nach von genau bestimmten Ursachen abhängt. Denn wir müssen als Tatsache anerkennen, daß auch im geistigen Leben Ursache und Wirlung zusammen existieren, daß jeder folgende geistig-moralische Zustand ein notwendiges Ergebnis des vorhergehenden Zustandes ist." 3 1 Im besonderen schreibt der Positivismus den materiellen Faktoren des gesellschaftlichen Lebens eine große, wenn nicht sogar die entscheidende Bedeutung zu. „Niemals hat es das gegeben", riefen die Positivisten aus, „daß ein armes Volk, dürftig an materiellen Vorräten, ledig der Wohltaten einer breit entwickelten Industrie und eines gut gehenden Handels, eine hohe Bildung erreicht und aus einer Mitte namhafte Gelehrte, Künstler und Dichter hervorgebracht hätte." 3 2 „Arbeit gebärt Wohlstand, Wohlstand Volksbildung und Volksbildung Tugend", 3 3 sagt in lapidarer Form E . Orzeszkowa. Auf sozial-ethischem Gebiet ist ein charakteristisches Merkmal des Positivismus sein eudämonistischer Utilitarismus, also die Akzeptation des nützlichen Verhaltens zum Zwecke der Befriedigung der Bedürfnisse und des Glücks der Menschen, die Wertung der Einzelwesen und sozialen Gruppen nach ihrer im weiten Sinne verstandenen Produktivität, also die Schaffung neuer materieller und geistiger Werte, die Forderung nach Freiheit des Individuums und nach Gleichheit der menschlichen Rechte, Chancen und Pflichten in der Gesellschaft sowie schließlich der Praktizismus, also die Projektion erreichbarer Ziele und die Sorge um die Wahl der rechten Mittel zu deren Verwirklichung. Mit den Worten der damaligen Publizistik ausgedrückt, heißt das: „Das Hauptmerkmal der gegenwärtigen Tendenz unserer Gemeinschaften ist der Utilitarismus. Lassen wir alles beiseite, 85

was sich ungünstig auf die Entwicklung der Menschheit auswirkt, was nicht zumindest einen Stein zum Bau des großen Gebäudes beiträgt, das das Ziel unseres Daseins ist. Dieses Gebäude ist das Glück und die Entwicklung der Gemeinschaften. Kann also das persönliche Interesse des Menschen in fester und unverbrüchlicher Eintracht mit dem gesellschaftlichen Interesse stehen, ohne daß man es Opfern und kostenreichen Anstrengungen unterwerfen muß ? Die Antwort ist eindeutig. Einerseits hat die Erziehung alle Möglichkeiten und Mittel, um den engherzigen und flachen Egoismus in ein weites und tiefes Gefühl der Liebe zum Allgemeinwohl zu verwandeln, andererseits bildet das Leben selbst in jedem denkenden Geist allmählich die Überzeugung heraus, daß ehrliche Tätigkeit dem anderen Menschen keinen Nachteil bringt und daß persönliches Interesse nur in Übereinstimmung mit dem gesellschaftlichen Interesse rechtschaffene und höchstmögliche Erfolge erreichen läßt. Die Ideen der sozialen und juristischen Gleichheit der Menschen sind die wertvollsten Errungenschaften und das entscheidende Merkmal der neueren Zeit. Begriffe wie Kastengeist und Blutadel lösen heute nicht mehr Empörung aus, sondern humorvolles Lachen. Die Menschheit hat begriffen, vielleicht sehr spät, aber dafür sehr klar, daß der einzige Adel auf Erden die Arbeit ist, und allen, die Ehrerbietung im Namen anderer Rechte erheischen, antwortet sie mit gerechtem Hohn. [. . .] Das Streben nach Selbständigkeit und Selbstsein [. . .] befreite die Arbeit von der Abhängigkeit der Zünfte, hob die Unfreiheit und Knechtschaft auf, schuf die Autonomie der Gemeinden, beschränkte und bestimmte elterliche Macht und stürzte in der Wissenschaft große Autoritäten." 34 So zeichnet sich die positivistische Weltanschauung in ihren wesentlichen Bestandteilen ab, die sich relativ leicht aus der Situation des damaligen polnischen „dritten Standes" ableiten lassen, also der Klassen und sozialen Gruppen, die auf verschiedene Weise an ihrer eigenen Emanzipation und an der Entwicklung der industriellen Kultur interessiert waren. Dieses gemeinsame weltanschauliche Gut des Positivismus tritt mit gewissen Veränderungen auch in der damaligen sozialistischen Ideologie in Erscheinung: „Die Bestrebungen der 86

heutigen Arbeiterklasse", schreibt WalkaKlas, „basieren in konsequenter Übereinstimmung mit den ökonomischen Umwälzungen, die sie zu vollziehen haben, auf dem Fundament des Monismus in der Philosophie, also auf Atheismus, Determinismus und Utilitarismus in den Ansichten über die Moral und in der ethischen Praxis, auf dem Gedanken der Evolution im Bereich aller Institutionen, Einrichtungen und Verhältnisse (also auch der ehelichen, familiären, erzieherischen usw.), auf demokratisch republikanischer Grundlage im Bereich von Staat und Politik usw., also auf einem ganz und gar r e a l i s t i s c h e n Fundament, stets und ständig auf dem Grundsatz der Solidarität." 33 * Diese Erscheinung ist um so leichter zu verstehen, als in der historischen Entwicklung der Jahre von 1870 bis 1890 fast jedes einzelne Element dieser positivistischen Weltanschauung seine innere Zweipoligkeit, seine Antithetik äußert und gleichsam in zwei autonome, aber gegensätzliche Elemente zerfällt.36 So enthüllte der positivistische Scientismus sein Janusgesicht — den „verschämten Materialismus" und den „verschämten Idealismus". In der Ontologie führte er einmal zu materialistischen Schlußfolgerungen, ein andermal über den Agnostizismus zur Toleranz gegenüber der außerwissenschaftlichen idealistischen Metaphysik oder sogar zu deren emotionaler Anerkennung. Im folgenden drei Äußerungen von E. Orzeszkowa. 1867: „Ich lese über Chemie im Buch der Natur von F. Schödler. Alles, was ich darüber lesen kann, verstehe ich. Diese Arbeit verbinde ich mit der Lektüre des Werkes von J. Moleschott De la circulation de la vie. Unter dem Einfluß dieses deutschen Wissenschaftlers verstehe ich mich in zunehmendem Grade als Materialistin." 1884: „Gibt es darauf — ob jemand über den Sternen ist? — überhaupt eine angemessene und begründete Antwort? Dort gibt es niemand! H. Spencer und alle Positivisten zögerten und sagten: ,Wir wissen es nicht.' Und wenn doch etwas da ist [. . .] und wir die anderen überzeugen, daß es ihn nicht gibt? Werden nicht irgendwann einmal Milliarden verzweifelter Stimmen zu den Gräbern der Söhne unseres Jahrhunderts schreien: ,Gebt uns Gott wieder!' usw., usw." 1896: „Was unsere Erde angeht, so sind wir noch nicht klug 87

genug; für alles aber, was außerhalb dieser Erde ist, sind wir blind. Wir stehen im Dunkeln auch bei strahlendem Erdenlicht. Der Größte unter uns ist noch winzig klein. Doch unsere Dunkelheit und Winzigkeit, die Relativität und Vergänglichkeit alles dessen, was wir besitzen, beweist noch nicht dieNichtexistenz einer absoluten Klarheit, Beständigkeit und Vollkommenheit, die irgendwo außerhalb von uns sein könnte. Im Gegenteil. Ihre Anlagen, der Begriff derselben, die Sehnsucht nach ihnen, die wir in uns tragen, scheinen deren erste Quelle zu beweisen. Sie entströmen und treten in uns als kleine Strahlen eines mächtigen Feuers ein, sie existieren in uns für etwas, und wir existieren für etwas." 37 Biologischer Monismus, wenn auch in der Schutzfarbe des Deismus, befreite den Menschen von der Furcht vor übernatürlichen Mächten und wurde zur Quelle humanistischen Stolzes der jungen Positivisten. Der Gelehrte Vesalius prophezeite in den Fragmentj dramatycyne (Dramatischen Fragmenten) von M. Konopnicka (1881): „Nein! Es werden neue Jahrhunderte kommen, die befreit sind von der sklavischen Furcht vor der Gottheit. Und sie werden den lichten Vorhang in diesem geheimnisvollen Haus von den höchsten Werten wegziehen, wo Gott der Natur die Gesetze vorschreibt und unter ihr Zepter alles Sein stellt. Die heute verstummten Stimmen werden wach und neue Ströme werden an die menschliche Brust schlagen [. . .] Den neuen Horizont weiten die Himmel [. . .] Kämpfende Geister werden seine mit dem Rätsel des Lebens verbundene, uralte Macht zerstören und mit Wissen das ehren, was wir heute mit Glauben ehren." 38 Dadurch, daß der biologische Monismus den Menschen vom Wirken der Naturgesetze abhängig machte, ihm die Hoffnung auf Unsterblichkeit nahm, den biologischen Faktoren in der Charakterstruktur des Menschen eine bedeutende Rolle zuordnete und diese über die Vernunft und den Willen stellte, machte er jedoch den Menschen zum Sklaven der Natur, degradierte ihn und wurde so zur Quelle des Pessimismus: „Je 88

länger ich lebe und diese armselige Welt betrachte, die so kämpft und so schrecklich und vielfältig leidet", schreibt Orzeszkowa, „um so mehr drängt sich mir die Frage auf, ob nicht der Verlust der Illusionen und Freuden, die ihr bis dahin die religiösen Glaubensweisen brachten, zu einem neuen Unglück beitrage?" 3 9 Der biologische Monismus führte dazu, daß die zwischenmenschlichen Beziehungen unter dem Aspekt biologischer Kategorien analysiert wurden. Der sogenannte Organizismus, der das solidarische „Gesetz des Austausches von Diensten" an erste Stelle rückte, war eine Analogie zur Konzeption des Kampfes ums Dasein, die später zum Sozialdarwinismus oder zur Theorie des Nationalegoismus hinführte. Auch die frühsozialistische Betrachtungsweise der Klassenantagonismen ging zumindest in Polen — trotz aller betonten Unterschiede — unter Einfluß dieser Konzeption vonstatten. Damals schrieb man zum Beispiel, daß die soziologische Wissenschaft „die Formulierung, im K l a s s e n k a m p f realisiere sich die wichtigste soziale Form des ideologischen Kampfes ums Dasein", 40, Karl Marx verdanke. L. Krzywicki 41 * fragte in einer Polemik gegen B. Prus: „Wo sehen wir denn, daß es an einem Daseinskampf fehlt, wie er sich zwischen den einzelnen Zellen des tierischen Organismus vollzieht? Im Gegenteil, wir sehen vielmehr, wie sich die Konturen dieses Kampfes zwischen den europäischen Gesellschaften immer deutlicher abzeichnen. 42 " In Abhängigkeit von der organizistischen oder der antagonistischen Gesellschaftskonzeption wird die unaufhörliche Veränderung der Gesellschaft entweder als ein evolutionärer, allmählicher Vorgang verstanden, innerhalb dessen die Revolution lediglich eine schädliche Anomalie sein soll, oder als ein revolutionärer Prozeß, in welchem die Revolution der notwendige Hebel des historischen Fortschritts ist. „Die Natur springt nicht wie ein Hase, sie schleicht vielmehr dahin wie eine Schildkröte", 43 argumentierte Prus. „Wenn die Geschichte sich so wie bisher weiterentwickeln wird, ist die Revolution, also die gewaltsame Umwälzung, eine notwendige Ergänzung zur Evolution" 44 , stellt ein sozialistischer Publizist fest. Die den Konflikt voraussetzende Betrachtungsweise der 89

zwischenmenschlichen Verhältnisse wurde zum Gegenstand sowohl optimistischer als auch pessimistischer Interpretationen. „Der Kampf ums Dasein", schrieb im Jahre 1873 E. Orzeszkowa, „der als das gemeinsame Bemühen denkender Wesen um eine möglichst vollkommene Selbstentäußerung aufgefaßt wird, als Bemühen um eine möglichst starke Verbreitung gerechter Handlungen und wohltätiger Einflüsse, um die Eroberung einer größtmöglichen Summe dieser Macht, dieses Glücks und dieser Beständigkeit, die Ergebnis des Lichtes, des Wissens, der Denkanstrengungen, der Arbeitsamkeit der menschlichen Hand und der Unerschütterlichkeit des Willens sind; der Kampf ums Dasein ist insofern eine edle Erscheinung, als er notwendig ist. Er ist der edle Wettstreit, der der Menschheit nützliche, ja sogar erhabene Ergebnisse bringt." 45 Doch bereits im Jahre 1884 stellte A. Dygasinski seiner Novelle Nie^dara (Der Tölpel) das Motto voran: „Die Edlen gehen unter", und seine Erzählung Glöd i Milos& (Hunger und Liebe), 1885, beschließt er mit der sarkastischen Bemerkung: „Die Verwandlung menschlichen Leides in Glück steht oftmals in direktem Verhältnis zur Veränderung des tugendhaften Lebens in schändliches Tun. Doch diejenigen, welche in ihrer Seele große Schätze aufbewahren, vertauschen diese nicht gegen Geld. Solche Menschen gehen unter. Der gute Gott erträgt auch das, und deshalb preisen und loben ihn alle." 46 Der Determinismus, bezogen auf das menschliche Individuum, machte den Charakter und das Schicksal des Menschen abhängig von Milieu und Erbe. Der erstgenannte Faktor, das Milieu, äußerte sich — in Verbindung mit einer intellektualistischen Persönlichkeitskonzeption — in optimistischen Gedankengängen. Dazu gehört sowohl die positive Überzeugung von der führenden Rolle der Erziehung als auch der sozialistische Glaube an die umgestaltende Kraft der neuen Ordnung. Das Erbe dagegen wurde — in Verbindung mit der Anerkennung der Dominanz biologischer Faktoren — gewöhnlich zur Prämisse pessimistischer Urteile. Im folgenden wollen wir eine optimistische Argumentation von P. Chmielowski aus dem Jahre 1871 anführen: „Betrachten wir die menschlichen Handlungen als eine notwendige Folge innerer und äußerer Einwirkungen, dann können wir versichert 90

sein, daß wir, sofern wir dem Menschen eine moralische Erziehung angedeihen lassen, seine Gedanken auf die Wahrheit hinlenken und seine Gefühle an Beispielen des Edelmutes und der Güte erziehen werden, daß wir in ihm, je nach den angeborenen Neigungen, einen bestimmten Charakter herausbilden können, die viele Triebe zu beherrschen, schlechte Gedanken abzuweisen und dem ganzen Verhalten jenes besondere Gepräge zu verleihen vermag, das ihn von den anderen unterscheidet."« Als Gegensatz eine pessimistische Argumentation von A. Dygasinski: „Bedenken wir, daß jeder Mensch in seinem Innern außer dem eigenen Ich auch fremde Dämonen hat. Das Erbe der Tugend oder der Sünde ruht häufig in den Tiefen des Organismus, weil für deren Entwicklung keine entsprechenden Bedingungen vorhanden sind. Diese Dinge vermag niemand mit seinem Willen zu beherrschen, ebensowenig wie jemand in der Lage ist, die Gesetze des Lebens und des Todes zu beherrschen." 4 8 Eine ähnliche Alternative drängte auch die These vom deterministischen Charakter der sozialen Wirklichkeit auf. Man konnte darin lediglich eine Chance für die Freiheit erblicken, eine Möglichkeit zur Beherrschung der Natur und des eigenen Schicksals durch den Menschen, entsprechend dem von A. Comte formulierten Grundsatz: „Savoir pour prévoir" oder der Engelsschen Freiheitsdefinition der bewußt gewordenen Notwendigkeit. „Die Entdeckung, daß die unter uns wirkenden Gesetze nichts anderes sind als ein notwendiger, unveränderlicher und allgemeiner Zusammenhang bestimmter Folgen mit bestimmten Ursachen, veredelt moralisch diejenigen, welche das Wissen um diesen Sachverhalt haben", schreibt F. Bogacki. „Es gibt ihnen die Überzeugung von der Macht der eigenen Kraft. Wenn nämlich die Gesetze nichts weiter sind als der Zusammenhang von Ursache und Wirkung, dann kann sie der Mensch auch ändern — in dem Maße, wie er die Folgen kennt, wie er die Umstände, die die Ursachen der Folgen sind, verändert und seinen Zielen und Bedürfnissen anpaßt." 4 9 „Wir stehen nicht über der Geschichte. Wir sind ihren Gesetzen unterworfen", sagte L. Warynski im Jahre 1885 zur 91

Zeit des Prozesses gegen die Anhänger des „Proletariats". 50 * „Den Umsturz, dem wir zustreben, betrachten wir als das Ergebnis der historischen und gesellschaftlichen Entwicklungsbedingungen. Wir sehen ihn bereits heute vor uns und möchten ihm nicht unvorbereitet gegenüberstehen." 51 Eine ähnliche Polarisierung beobachten wir auf dem Gebiet sozialer und ethischer Losungen und Postulate. Das Kriterium der gesellschaftlichen Produktivität, das anfangs die Tätigkeit der Organisationen der kapitalistischen Produktion sanktionierte, wendet sich später gegen diese und wird zum Argument für die Ideologie der Sozialisten und bäuerlichen Demokraten. Der Utilitarismus verstand sich zuerst als Grundsatz des „rationalen Egoismus", der den Interessen der Allgemeinheit dient, indirekt aber doch am wirksamsten die Interessen des Individuums berücksichtigt. Nach und nach wird dieser Grundsatz jedoch durch die Forderung nach unbedingter Unterordnung des Individuums unter das Primat des (nationalen oder klassengebundenen) Gemeinwohls ersetzt, dessen erzieherische Losungen sich in den Worten wie Dienst, Opfer und Hingabe widerspiegeln und spontan oder willkürlich eine Einschränkung der Freiheit des Menschen sind. Gleichzeitig entwickelt sich eine entschieden egozentrische Einstellung; um einige literarische Beispiele anzuführen: Die Helden der E. Orzeszkowa prognostizieren bereits jene S. Zeromskis, in den Erklärungen A. Swi^tochowskis finden wir die Ankündigung des modernistischen Individualismus: „Sterben nur, um der Allgemeinheit einige gelungene Arbeiten zu überlassen, eine Auster sein, die diese Allgemeinheit verschlingt und vergißt, frei von Egoismus sein und zugleich verdauliches Futter für andere sein — eine solche Theorie kann man Ochsen verkünden, die an die Schlachtbank geführt werden, nicht aber Menschen, die ein Recht auf persönliches Glück haben." 52 Oder: „Von alledem, was mir die Menschen schulden", sagt Regina, die Heldin des Dramas Ojciec Makary (Vater Makarius), „behüte ich am sorgfältigsten meine Menschenrechte. Für mich bin ich Zentrum der Schöpfung. Für niemand opfere ich mich aus Zwang, die Tugend in der Askese will ich gar nicht kennenlernen, die Pflicht, an sich nicht zu denken, begreife ich nicht [. . .] So viele Menschen, so viele Welten. Eine dieser Welten 92

bin ich, und das weiß ich.Ich will mich nicht nur durch die Bewegung der Massen bewegen, sondern vor allem für mich und durch mich leben. Überall kann ich meine menschlichen Rechte wahrnehmen, wo sie fremde Rechte nicht verletzen." 53 Es ist offenkundig, daß der einleitend erwähnte Praktizismus sowohl der „organischen Arbeit" und dem Legalismus als auch der späteren kompromißlerischen „Realpolitik" zur Begründung dient. Davon zeugen viele und bekannte Dokumente des damaligen politischen Denkens. Es ist indessen sogar besonders erwähnenswert, daß die ersten polnischen Sozialisten, die auf die Bezeichnung „wissenschaftlicher Sozialismus" besonderen Wert legten, jene Wissenschaftlichkeit gerade darin sahen, daß der Sozialismus nicht nur „edle Anregung" und „Übung humanitärer Gefühle" ist, sondern in der „uns umgebenden Welt eine ausreichende Zahl von F a k t e n vorfindet, die seine Bestrebungen unterstützen, und daß er über die Beobachtung der p o s i t i v e n Sachverhalte zu positiven Schlußfolgerungen gelangt", daß er sich „davon leiten läßt, was W i r k l i c h k e i t ist".54

3 Die Dominante für den Bereich des literarischen Schaffens ist eindeutig der soziale Utilitarismus. Er konkretisiert sich dabei jedoch in zweifacher Weise: einmal als Postulat des Tendenzcharakters der Literatur, also ihrer didaktischen oder direkt agitatorischen Illustration eines vorbestimmten Programms, und zum anderen als Forderung nach Realismus in der Literatur, also ihres kognitiven Wertes. Dieser Dualität war sich B. Prus bewußt. Er vertrat die Gleichberechtigung beider Methoden des künstlerischen Vorgehens, wenn er schrieb: „Sobald ein Autor bei genauer Betrachtung der Gesellschaft in ihr neue menschliche Charaktere erkennt oder neue Ziele, denen diese Menschen zustreben, die Handlungen vermerkt, die sie ausführen, und die Ergebnisse, die sie errreichen, und wenn er alles das, was er gesehen hat, unparteiisch beschreibt, dann schafft er eine realistische Erzählung oder ein realistisches Drama. Dieses Werk wird um so interessanter sein, je 93

aktueller die in ihm dargestellten Charaktere sind sowie deren Ziele und Taten, je öfter sie im realen Leben wirklich anzutreffen sind. Jedoch kann man auch anders schreiben. Man kann eine allgemeine Sentenz nehmen [. . .] und diese mit Hilfe mehr oder weniger wahrhafter Charaktere und Ereignisse illustrieren. Ein solches Werk wird tendenziös oder deduktiv genannt werden und einen um so höheren Wert haben. J e wahrhafter seine Thematik oder jene allgemeine Sentenz sein wird, um so wahrhafter und häufiger vertreten werden auch die vom Autor eingeführten Charaktere und Ereignisse sein." 5 5 Die Hauptentwicklungsrichtung — immer unter der Losung des Utilitarismus — führt jedoch von der Betrachtung der Literatur als einem Instrument der Popularisierung zur Anerkennung ihrer spezifischen Möglichkeiten und Aufgaben, vom Tendenzcharakter zum Objektcharakter, vom Primat der postulativen Funktionen zum Primat der kognitiven Funktionen, und zwar zu spezifischen Funktionen des Erkennens, die man als Realismus bezeichnete. In ihm erblicken wir einerseits einen immanenten Widerspuch zwischen der Auffassung von Literatur als spezifischem allgemeinem Wissen und damit folgerichtig der Forderung nach einer breiteren Repräsentanz der dargestellten Welt („Ein Kunstwerk ist um so bedeutsamer und schöner, je mehr Gruppen von Erscheinungen der Welt oder der Menschheit durch die in ihm enthaltenen Typen dargestellt werden", schrieb Orzeszkowa dazu 56 ) und andererseits der Auffassung von Literatur als einem spezifischen konkreten Wissen, also der Forderung nach maximaler Individualisierung („Erfassung kleinster Besonderheiten", die — nach H. Sienkiewicz — den Gestalten „entsprechende Plastizität, Illusion und Lebenswahrscheinlichkeit" 57 geben). Bekanntlich versucht die realistische Typisierung, die sich als Verbindung des Allgemeinen mit dem Individuellen versteht, diesen Widerspruch zu überwinden. Eine analoge Dualität zeigt sich im Bereich der Komposition des Romans, der Hauptgattung innerhalb des damaligen Literatursystems. Einerseits existiert das „dramatische" Prinzip, nach dem jedes einzelne Motiv Funktion hat in Hinsicht auf Fabel und Charakter und in dessen Ergebnis ein geometrischer, durch94

schaubarer Aufbau des Ganzen zustande kommt, andererseits wirkt das „epische" Prinzip des eigenständigen Wertes einzelner Motive, so daß als Ergebnis eine verschiedenartige Vielfalt der dargestellten Welt erscheint und damit von einer Unmerklichkeit der sie erzeugenden konstruktiven Verfahren die Rede sein kann. Als Beispiele für die Dominanz des einen oder anderen Prinzips mögen Meir E%ofon>ic%. und Die Emanzipierten dienen, während Herbst am Njemen und Die Puppe Beispiele für eine relative Gleichgewichtigkeit: beider Grundsätze sind. Zugleich kündet sich in der Tendenz der damaligen Literatur zum Realismus folgende Alternative an: Orientierung auf die Wissenschaft oder Orientierung auf die Lebenserfahrung des Tages. Auf der Ebene der Romantechnik entsprechen dieser entweder ein alleswissender Erzähler, der außerhalb der geschilderten Wirklichkeit steht, oder ein subjektiver Erzähler, der selbst ein Teil dieser Wirklichkeit ist. Der erste Erzähler besitzt zwar ein maximales „Quasi"-Wissen und ist maximal „quasi"-objektiv („Quasi"-Wissen und „quasi"-objektiv, weil das die von ihm fingierte Wirklichkeit ist), wirkt aber selbst als außerhalb der Literatur gedacht unwahrscheinlich und zerstört so die Illusion des Romans. Der andere Erzähler hat eine enge und subjektive Perspektive, aber nur ein derartiger Erzähler ist außerliterarisch wahrscheinlich, und nur aus einer solchen konkreten, zwar eingeengten Perspektive ist eine Erzählung möglich, die die Illusion einer unmittelbaren, individuellen Erfahrung herstellt. Zwischen diesen beiden extremen Polen — zwischen der Erzählung des alleswissenden Autors und der impressionistischen Erzählung in der ersten Person — bewegt sich oft die Praxis der großen Realisten, die entweder die Position des allgegenwärtigen und überaus scharfsinnigen, aber nicht alleswissenden Autors einnehmen oder — durch Anwendung der erlebten Rede — die Beobachtungspositionen der verschiedenen Romanhelden.58 Diese Dualität beobachten wir ebenfalls bei der Tendenz der Stilgestaltung der Prosa, die sich zwischen den beiden Polen der poetischen Sprache und der Alltagssprache bewegt: ein nicht an die Gegenwart gebundener, „durchschaubarer" Stil, der sich an die Sprachregeln hält und auf eine möglichst genaue 95

und exakte Begriffsbestimmung abzielt, oder ein Stil, der historisch-milieuspezifische und individualisierende Merkmale trägt und vor allem auf die Expression des sprechenden Subjekts gerichtet ist. Gewöhnlich koexistieren beide Stile im Bereich ein und desselben literarischen Werkes. Die Domäne des einen Stils ist die Autorenerzählung, die des anderen der Dialog. Der Streit, den seinerzeit M. Konopnicka und A. Dygasinski über die „Volkssprache in den Werken der schöngeistigen Literatur" führten, zeugt von einer gewissen Widersprüchlichkeit dieser beiden Stilorientierungen. Man kann leicht erkennen, daß in dem hier skizzierten dynamischen Modell der Weltanschauung und des Stils der positivistischen Literatur eine Reihe von Merkmalen vorrangig auftreten, wie zum Beispiel die materialistische Orientierung, •die optimistische Interpretation des Determinismus, die Interessenübereinstimmung zwischen Individuum und Gemeinschaft und der Tendenzcharakter. Sie dominieren in der Frühphase dieser Periode. Andere Merkmale wie die idealistische Orientierung, die pessimistische Interpretation des Determinismus, die konflikttheoretische Gesellschaftskonzeption und der Realismus standen in der Endphase dieser Periode im Vordergrund. In der Mittelphase des Positivismus herrschte ein relatives Gleichgewicht der Merkmalreihen. Es läßt sich zudem erkennen, daß die weitere Intensivierung der zweiten Merkmalreihe zur Weltanschauung und Poetik des „Jungen Polen" und zu dessen doppelter, modernistisch-naturalistischer Gestalt hinführte. Diese Haltung läßt sich bereits in A. Swi^tochowskis Dumania pesjmistj (Träumereien eines "Pessimisten) finden, die für das Jahr 1876 eigentlich sehr untypisch waren. „Immer vom Fieber der Erkenntnis geschüttelt und deren Wahrheiten immer ungewiß, ohne Unterlaß über die Existenz nachdenken und niemals in sie eindringen können, niemals ihre reale Natur ergründen, mit der Wissenschaft nur die Wünsche vermehren und keinen derselben befriedigen — das ist eine Marterstätte, die dem Menschen mehr Glück raubte und ihm mehr Qualen bereitete als manches Kreuz, auf das er hingestreckt wurde [. . .] Es ist vielleicht unangenehm, daran zu denken, daß das Uni96

versum ein grenzenloser Ozean sei, dessen Wellen selten im Gischt einen Menschen an die Oberfläche spülen. Wie sollte man hier stolz auf seine Kraft und Größe sein?" 59 Zum Schluß sei folgendes festgestellt: Trotz des empirischen Mißtrauens, daß der Verfasser gegen die Schemata hegte, verdichtet sich das literarhistorische Material hier zu einem klassischen Schema der Dialektik, das zwar nicht universal ist, aber dennoch mit beispielhafter Deutlichkeit bestätigt, daß die Literaturgeschichte der erörterten Periode die Verkehrung einer bestimmten Struktur in ihr Gegenteil ist: durch die Kristallisation der immanenten Gegensätze und durch die Verwandlung der Dominanten in den einzelnen Entwicklungsabschnitten dieses Prozesses.60 Selbstverständlich hängt die hier dargestellte Konstruktion mit dem gewählten Standort zusammen: Die Gesamtheit der Tendenzen, die den frühen Positivismus gleichsam destrukturieren, führen zur Strukturierung der folgenden Kulturetappe, die übrigens nicht so einheitlich ist; das hängt sicher mit der erneuten Zunahme der gesellschaftlichen Widersprüche zusammen. Diese historische Doppelrolle erkennt man besonders deutlich am Beispiel des Naturalismus: Die fatalistische Version des Determinismus, die biologische Konzeption des Menschen, die Aufgabe des Tendenzcharakters, der Impressionismus und die Sorge um die künstlerische Gestalt der Prosa — das alles kann man als Endphase des positivistischen Realismus und als Anfangsphase der modernistischen Literatur 61 deuten.

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Dieckmann

Maria J a n i o n

„Ehre und Dynamit" Literatur und Revolution

Die polnische Literatur angesichts der Revolution — so lautet der Titel der berühmten Studie aus d e m Jahre 1907 v o n St. B r z o z o w s k i . 1 * D i e s e Studie b e g a n n mit folgender Sentenz: „ R e v o lutionen sind Momente, in welchen die Gesellschaft mit ihrer wirklichen Struktur Bekanntschaft macht." 2 D a s lehrte ihn die Revolution v o n 1905, und das lehrte ihn auch Marx. K a r l Marx, der auch einer der größten Schriftsteller d e s 19. Jahrhunderts und würdiger Zeitgenosse eines H . de Balzac, Stendhal und E . Z o l a genannt zu werden verdient, war v o n zwei literarischen Ideen gefesselt, die ihn ständig beschäftigten. Erstens erschien ihm jedes historische Ereignis als D r a m a , als Tragödie, K o m ö d i e , T r a g i k o m ö d i e oder Farce. In diesem Sinne schrieb er seine bedeutenden Abhandlungen über die G e schichte des 19. Jahrhunderts — über das J a h r 1848, den Staatsstreich N a p o l e o n s III. oder die Pariser K o m m u n e . „ A l l e diese F r a g e n ergründen, heißt das nicht, die wirkliche, profane G e schichte der Menschen eines jeden Jahrhunderts erforschen, diese Menschen darstellen, wie sie in einem Verfasser u n d Schausteller ihres eigenen D r a m a s w a r e n ? " 3 fragt er direkt. D a s ist das Marxsche Theater der G e s c h i c h t e ! 4 * I m Februar 1848 stellte sich das so dar: „Statt einiger weniger Fraktionen des B ü r g e r t u m s — sämtliche K l a s s e n der französischen Gesellschaft plötzlich in den K r e i s der politischen Macht hineingeschleudert, gezwungen, die L o g e n , d a s Parterre, die Galerie zu verlassen und in eigener Person auf der revolutionären Bühne m i t z u s p i e l e n ! " 5 Sie mußten in Erscheinung treten. Sie mußten die Position des Zuschauers verlassen u n d Mitspieler werden, als die Provisorische Regierung unter d e m D r u c k des Proletariats die R e 98

publik ausrief. Während das Proletariat das Feld seiner revolutionären Befreiung eroberte, holte es alle übrigen Klassen in die „Kampfarena" und erlaubte ihnen nicht, sich feige zu verkriechen. Es zwang sie, „persönlich" Hauptrollen in dem Drama zu spielen, das ihnen die von der Geschichte übertragenen Rollen und Plätze auf der Bühne enthüllte. Zweitens tendierte der historische Prozeß, den Marx beschrieb, nach seiner Auffassung stets zum Zusammenstoß der Klassen, zur drastischen Konfrontation von Lüge und Wahrheit, zum erleuchtenden Blitz des Bewußtseins, zum dramatischen Kulminationspunkt. Er bestand in der Zerstörung von Illusionen, im Herunterreißen der Masken und in der Enthüllung der Wahrheit. So verlief das geschichtliche Drama stets. Der marxistischen Geschichtsauffassung lag die Revolutionstheorie zugrunde. „Das Proletariat, die unterste Schicht der jetzigen Gesellschaft, kann sich nicht erheben, nicht aufrichten, ohne daß der ganze Überbau der Schichten, die die offizielle Gesellschaft bilden, in die Luft gesprengt wird." 6 Das Proletariat muß sich also erheben und die „ganze Welt" erobern. „Diese zu erobernde Welt" gilt etwa für die moderne Soziologie der Revolution 7 als das Wesen des „revolutionären Projekts". Der Untergang der Bourgeoisie und der Sieg des Proletariats waren für Marx unvermeidlich. Sehr eindringlich wurde auch darauf hingewiesen, wie verwandt die Marxsche Geschichtsbetrachtung mit der Literatur ist: „Wie sehr ähnelt der erste Teil des .Kommunistischen Manifests' der Sophokleischen Tragödie mit ihrem unvermeidlichen Schicksal, vor dessen Antlitz der Mensch lediglich ein Spielball der Geschichte ist und alle seine Anstrengungen, die er unternimmt, um der Vernichtung zu entgehen, seinen Untergang nur beschleunigen. Der Kapitalismus produziert seine eigenen Totengräber." 8 Die Bourgeoisie betrachtet immer — wie gebannt — ihren „unbesiegbaren Feind — unbesiegbar, weil seine Existenz die Bedingung ihres eigenen Lebens ist" 9 . Das ist der dramatische Knoten der Historie und die Dialektik des Zusammenhangs ihrer Helden wie in einer Tragödie, das ist die Notwendigkeit des Schicksals, das jetzt als Urteilsspruch der Geschichte erscheint. Ist der tödliche Klassengegensatz, der bis zum Lebens7*

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ende diese Klassen beide miteinander verbindet, der Gegensatz dieser Klassen, die in den Werken von Marx immer so „personifiziert" auf die Bühne treten und eine ausgeprägte „Individualität" besitzen, nicht auch die Leitidee des Shakespearischen und romantischen Dramas zugleich? Das Drama der Geschichte, das einzige, das für Marx in der Menschheitsgeschichte Gewicht hatte, ging aus dem Zusammenstoß der Widersprüche, dem Klassenkampf, aus der Niederlage der aufeinanderfolgenden Revolutionen hervor. In den Revolutionen nahm das Selbstbewußtsein der Menschen persönliche Gestalt an. „Mit Ausnahme einiger weniger Kapitel trägt jeder bedeutendere Abschnitt der Revolutionsannalen von 1848 bis 1849 die Überschrift: N i e d e r l a g e der R e v o l u t i o n ! Was in diesen Niederlagen erlag, war nicht die Revolution. Es waren die vorrevolutionären traditionellen Anhängsel, Resultate gesellschaftlicher Verhältnisse, die sich noch nicht zu scharfen Klassengegensätzen zugespitzt hatten — Personen, Illusionen, Vorstellungen, Projekte, wovon die revolutionäre Partei vor der Februarrevolution nicht frei war, wovon nicht der F e b r u a r s i e g , sondern nur eine Reihe von N i e d e r l a g e n sie befreien konnte." 10 Im Drama der für die Revolution noch unreifen Geschichte bedeutete die Niederlage mehr als der Sieg, denn nur die Niederlage befreit von Täuschungen und zerstört Illusionen. „Der augenblickliche Triumph der brutalen Gewalt ist erkauft mit der Vernichtung aller Täuschungen und Einbildungen der Februarrevolution, mit der Auflösung der ganzen alt-republikanischen Partei, mit der Zerklüftung der französischen Nation in zwei Nationen, die Nation der Besitzer und die Nation der Arbeiter." Ii Das erkannte Marx schon im Juni 1848 in der Neuen Rheinischen Zeitung. „Vernichtung" und „Zerklüftung" — das sind Termini, die Marx gern verwendete. In Verbindung mit der „ungeheuren Insurrektion" der Arbeiter im Juni 1848 schrieb er: „Der Schleier, der die Republik verhüllte, zerriß." 12 Wieder enthüllte sich das Verborgene und Geheime. Unbekanntes und Unbewußtes trat zutage. Aus der Niederlage entsprang neues Wissen. Marx reflektierte diesen Prozeß des 100

Erkennens und Handelns, indem er zwar die beliebte messianistisch-romantische Redewendung gebrauchte, aber ihr zugleich einen völlig anderen Sinn im Rahmen seiner historischen Tragödie gab: „Indem das Proletariat seine Leichenstätte zur Geburtsstätte der b ü r g e r l i c h e n R e p u b l i k machte, zwang es sie sogleich, in ihrer reinen Gestalt herauszutreten als der Staat, dessen eingestandener Zweck ist, die Herrschaft des Kapitals, die Sklaverei der Arbeit zu verewigen." 13 Zur Selbstbestimmung zwingen und sich der Illusionen entledigen, Täuschungen vernichten und Schleier zerreißen — das ist der Verlauf des Marxschen Dramas, des Dramas der Erkenntnis durch die Revolution und für die Revolution, deren Höhepunkt die Pariser Kommune wurde und die Marx im Bürgerkriegin Frankreich so fesselnd dargestellt hat. Die Grundlage dieses gigantischen Dramas ist der „Bürgerkrieg in seiner fürchterlichsten Gestalt, der Krieg der Arbeit und des Kapitals"1''. Im Achtzehnten Brumaire des Ijouis Bonaparte entwickelte Marx in packender Weise seine Gedanken über den Unterschied zwischen bürgerlichen und proletarischen Revolutionen. Letztere entlarven nicht nur schonungslos den Zustand der Gesellschaft, sondern schonen auch sich selbst dabei nicht. Eben darin liegt ihre Kraft, daß „sie sich ständig selbst kritisieren", daß sie bei der Enthüllung ihrer Schwächen keine Rücksicht kennen und „mit brutaler Gründlichkeit" die eigenen Fehler bloßlegen. Die Kritik ist das Wesen der Revolution. Die Kritik bringt das Marxsche historische Drama voran. Und die Revolution „vollbringt ihr Geschäft mit Methode [. . .] Sie vollendete erst die parlamentarische Gewalt, um sie stürzen zu können. Jetzt, wo sie dies erreicht, vollendet sie die Exek u t i v g e w a l t , reduziert sie auf ihren reinsten Ausdruck, isoliert sie, stellt sie sich als einzigen Vorwurf gegenüber, um alle ihre Kräfte der Zerstörung gegen sie zu konzentrieren. Und wenn sie diese zweite Hälfte ihrer Vorarbeit vollbracht hat, wird Europa von seinem Sitze aufspringen und jubeln: Brav gewühlt, alter Maulwurf!" 15 Marx paraphrasierte den Hamlet, wie er überhaupt an bestimmten Wendepunkten seiner Schriftstellertätigkeit Visionen und Metaphern des genialen Tragödiendichters Shakespeare 101

verwendete. Die Revolution erscheint als große Reduktion, sie wird zur „reinen Gestalt", dem „reinsten Ausdruck", zur Essenz, zur Struktur. Wozu? Um stärker, um sicherer zu zermalmen. In dieser Hinsicht ließ Marx keinerlei Zweifel aufkommen. Die unterirdische Arbeit der Revolution konnte nicht besser dargestellt werden. Unter der Erdoberfläche, von außen nicht wahrnehmbar, „gestaltet" dieser alte, mutige Maulwurf die andere Welt, eine vorläufig noch unsichtbare Welt. Und er legt schon Dynamit unter sie. Die Revolution ist der Maulwurf Europas. Sie ist das Gespenst, das in Europa umgeht. Diese Ausdrucksweise überrascht durch ihre schriftstellerische Konsequenz. So erscheint die Revolution der kapitalistischen Welt als „Maulwurf" und als „Gespenst", als etwas Geheimnisvolles, Schreckliches, aber zugleich auch als etwas, dessen Existenz noch doppeldeutig verhüllt (als Maulwurf) oder dessen Konsistenz unklar (als Gespenst) ist. So oder so, die Arbeit des Maulwurfs, das Umgehen des Gespenstes verheißen dem Kapital nichts Gutes. Marx enthüllt hier die bewußte oder unbewußte Angst des kapitalistischen Europas, um es damit noch mehr zu erschrekken. Zu erschrecken durch Publizität und zu lähmen durch Offenheit der Revolution. „Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären es offen, daß ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung. Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern." 16 Das Verborgene gelangt ans Licht, das Unklare wird klar. „Revolutionen sind Momente, in denen sich die Gesellschaft mit ihrer wahren Struktur bekannt macht." Es hebt sich der Sand, das Innere der Erde tritt hervor. Die Literatur ist berufen, die Bedeutung dieses Geschehens darzulegen, sie ist berufen zu erklären, was zu sehen ist und was daraus entsteht. Ihr Anliegen ist es, die Topographie des neuen Terrains zu skizzieren, den Sinn der tektonischen Verschiebungen zu enträtseln und das Bild der Welt v o r mit dem n a c h der Erschütterung zu vergleichen. Nicht umsonst haben nämlich die Romantiker des 19. Jahrhunderts die von G. Cuvier aufgestellte Theo102

rie geographischer Kataklismen und Katastrophen als Theorie sozialer Revolutionen betrachtet. Wie oft schon versuchte man dem Phänomen „Revolution" einen Namen zu geben, es zu charakterisieren und zu beschreiben. Der bekannte Revolutionsgegner F.-R. de Chateaubriand verwendete in seinem grundlegenden Werk die vergleichende Methode. Das tat er lediglich deshalb, um die Menschen an die große Französische Revolution zu gewöhnen. Er untersuchte die „republikanische Revolution" in Griechenland und ihren starken Einfluß auf Europa und gelangte zu dem Schluß, daß sich der Mensch unaufhörlich wiederhole und in einem Teufelskreis bewege, aus dem er vergeblich herauszukommen versucht. Das waren die Lehren, die der Dichter und Vicomte aus der Revolution zog. Er wollte sie auch anderen übermitteln, weil er überzeugt war, daß der aufgeklärte Mensch nichts Neues mehr in der Geschichte entdeckt und daher auch den Drang nach Neuem allmählich verliert. Der revolutionäre Enthusiasmus sei lediglich ein Resultat des Nichtwissens, schlußfolgerte er. Aber dennoch verriet ihn seine Unruhe. Obwohl sich Chateaubriand sehr eifrig bemühte, die Ursachen der staatlichen Erschütterungen aufzuspüren, gelangte er stets an etwas, was sich seiner Deutung entzog. „Un je ne sais quoi, caché je ne sais où", schrieb er in seiner Verzweiflung. Zugleich beurteilte er die Revolution mit Hilfe einer der Regeln der klassizistischen Poetik. Ein Gespenst? Chateaubriand hatte eine Antwort bereit: „Entwickelt sich dieser unbekannte Grundsatz nicht aus jener unbestimmten Unruhe unseres Herzen, die verursacht, daß Glück und Unglück ein gleiches Mißbehagen in uns hervorrufen, und durch die wir von Revolution zu Revolution getrieben werden bis ans Ende der Geschichte. Und woher kommt diese Unruhe? Das weiß ich nicht, aber vielleicht aus dem Bewußtsein, daß ein anderes Leben existiert oder aus einem geheimnisvollen Streben nach Göttlichkeit. Doch ist gleichgültig, wo ihr Ursprung ist; sie existiert bei allen Völkern. Man findet sie sowohl unter den Wilden als auch in unseren Gemeinschaften; sie vergrößert sich infolge schlechter Sitten und stürzt Königreiche." 1 7 Chateaubriand charakterisierte damit das im Menschen immer gegenwärtige und ihn begleitende „Projekt der Revolution". 103

Hätte er dieses Problem so erkennen können, wenn er lediglich das antike Griechenland studiert haben würde, ohne Kenntnis der Jakobiner? Völlig unmöglich. Für ihn war die große Französische Revolution, auch wenn er das nicht zugeben wollte, ein Zeitabschnitt, der im Grunde mit nichts zu vergleichen, nirgends zuzuordnen und zu nichts in Bezug zu setzen war. Aber warum wurde gerade diese Revolution erstmalig in der Geschichte der Menschheit so und nicht anders wahrgenommen — als Bruch mit der Geschichte, als totale Veränderung, als neues, absolut neues Ganzes? Wieso war sie etwas nie Dagewesenes, Unbekanntes, sogar Geheimnisvolles? Warum drang und dringt bis heute ihre universelle Mission zu allen Menschen mit einer solchen Offenkundigkeit vor? Obwohl man sich der früheren Empörungen, Auflehnungen, Aufstände und Revolten erinnerte, obwohl sich die Jakobiner selbst, gleichsam als Bestätigung der Gedanken Chateaubriands, von der aktuellen Geschichte lossagten und ihre Vorläufer in Sparta und Rom von neuem entdeckten, hatte diese Revolution keine Vorgänger im engeren Sinne. Sie erschütterte die Welt mit ihrer erschreckenden Neuheit. Also warum? Weil sie die Ära des neuen Menschen eröffnete, und indem sie die Menschenrechte verkündete, verbreitete sie die Lehre von der Selbsterlösung der Menschen. Man darf sich nicht dadurch irreleiten lassen, daß sie zugleich den für alle verbindlichen Kult des Höchsten Wesens verbreitete. J . de Maistre, neben Chateaubriand der scharfsinnigste Repräsentant konservativer Auffassungen der damaligen Zeit, beachtete diese Tatsache überhaupt nicht. Er konzentrierte sich auf die Verwandtschaft des Protestantismus mit dem Jakobinertum, wobei der Protestantismus für ihn keine Religion war. Was ist er also in seinen Augen? „Ausschließlich Negation", „Sansculottentum der Religion". „Der [Protestantismus] beruft sich auf das göttliche W o r t , das [Sansculottentum] auf die Rechte des M e n s c h e n , doch faktisch handelt es sich um ein und dieselbe Theorie, um ein und dieselbe Richtung und auch um ein und dasselbe Resultat. Beide Brüder haben die Macht zerschlagen, um sie dem Pöbel zu übergeben." 18 Deshalb sagt de Maistre der „individuellen Vernunft" und der von J . - J . Rousseau abgeleiteten revolutionären Anthropo104

logie den Kampf an. „Der Gesellschaftsvertrag ist ein Hirngespinst", argumentierter. „Der Mensch hat sich selber nichts gegeben, er hat alles erhalten." 19 Denken wir an diesen Satz ! Es läßt sich kaum ein besserer antirevolutionärer Aphorismus finden. Nehmen wir die Worte der Internationale als Wegweiser durch die revolutionäre Anthropologie. Dieses Lied der Arbeiterklasse enthält — natürlich in populärer Form — alle wichtigen Ideen und Vorstellungen einer neuzeitlichen Revolution. „Es rettet uns kein höh'res Wesen, Kein Gott, kein Kaiser noch Tribun. Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun!" 2 0 — so lautet ihr wichtigster Appell. In ihrer polnischen Fassung ist sogar direkt die Rede von „Eigenrecht", „eigenem Willen" und damit von Selbsterlösung. Bis dahin hatte man vermutet, der Mensch müsse von Gott erlöst werden, er selbst könne das nicht tun. Aus diesem Grunde sandte Gott angeblich seinen Sohn auf die Erde. Die Ankunft Christi in der Welt sei das einzige christliche Unterpfand der Erlösung des Menschen vom Untergang. A. Malraux führt in seinem Werk Die Eroberer folgenden Vers eines Chinesen aus dem Norden an, der die neue, heutige Konsistenz des menschlichen Schicksals wiedergibt. „Ich kämpf allein: verlierend oder siegend; Ich brauche keinen Gott, der mich erlöse ! Kein Jesus Christus möge sich vermessen, Daß er den Tod erleide auch für mich!" 2 1 Offenbart hat sich also der „König Mensch auf einer Erde ohne Götter" 2 2 , wie A.Camus über J . A . R i m b a u d spricht, den Promotor aller modernen Auflehnung und Empörung. In der polnischen Internationale ist die Rede vom „Recht des Zaren". Im französischen Originaltext lautet es: „II n'est pas de sauveurs supremes: Ni Dien, ni César, ni tribun: Producteurs, sauronsnous nous—mêmes ! 23 . Hier wandte man sich gegen die Erlöser von oben, gegen die Gottgesalbten, die als Menschen göttliche Rechte für sich in Anspruch nehmen. Sie alle wurden mit voller Entschiedenheit verworfen. Nicht um Gott, um die Menschen ging es, um seine Rechte. 105

Zum ersten Mal proklamierte die große Französische Revolution diesen Menschen zum Schöpfer seines eigenen Schicksals und verlieh ihm ein „Eigenrecht". Sie erklärte ihn zum titanenhaften, prometheischen Empörer, der dem Vorherbestimmten alles entreißt, was ihm gehört. Dieses Vorherbestimmte ist nichts weiter als die Geschichte der Menschheit. Wenn wir davon reden, daß sie „nichts weiter ist als die Geschichte der Menschheit", dann umschreiben wir damit Marx. Denn Marx war es, der die endgültigen Konsequenzen aus einer Anthropologie zog, die sich in der revolutionären Praxis herausgebildet hatte. Er zog diese Schlußfolgerungen auf philosophischem Gebiet und stellte sich dabei in radikaler Weise gegen die Philosophie Hegels. Hegel war für Marx jener Philosoph, der den Begriff der „reinen, ewigen, unpersönlichen Vernunft" gebrauchte, den Begriff der allgemeinen Vernunft, des absoluten Geistes, indem er von allem Subjektiven abstrahierte und alles verwarf, was Individualität ausmacht. Nach der Hegeischen Auffassung ließ sich der Mensch nur als Instrument der Vernunft oder einer Idee erkennen. Marx bezweifelte diese Auffassung und wies sie mit unerhörter Entschiedenheit zurück. In seinen Frühschriften sprach er mit überraschender Deutlichkeit vor allem von den Menschen, nicht sosehr von ihren Ideen, ihren Vorstellungen und Gedanken. Er sprach stets „von wirklich handelnden Menschen". Ausgangspunkt und Bezugspunkt im Marxschen Denken war der g a n z e M e n s c h , und zwar nur dieser. Bereits in einem seiner frühen Artikel (1844) erläuterte Marx seinen revolutionären Grundsatz des Ganzen. Die politische Vernunft — das ist die Vernunft der Französischen Revolution. Sie sucht die Quelle des sozialen Übels nicht dort, wo sie ist. Warum eigentlich? „Das Prinzip der Politik ist der W i l l e . Je einseitiger, das heißt also, je vollendeter der p o l i t i s c h e Verstand ist, um so mehr glaubt er an die A l l m a c h t des Willens, um so blinder ist er gegen die n a t ü r l i c h e n und geistigen S c h r a n k e n des Willens, um so unfähiger ist er also, die Quelle sozialer Gebrechen zu entdecken." 24 Der politische Verstand ist voluntaristisch, ihm ist also soziologisches Denken fremd. Wenn man jedoch den sozialen und nicht ausschließlich den politischen Gesichtspunkt akzep106

tiert, dann erst enthüllt sich das ganze Elend des Proletariats. „Das G e m e i n w e s e n aber, von welchem der Arbeiter i s o l i e r t ist, ist ein Gemeinwesen von ganz andrer Realität und ganz andrem Umfang als das p o l i t i s c h e Gemeinwesen. Dies Gemeinwesen, von welchem ihn s e i n e e i g e n e A r b e i t trennt, ist das L e b e n selbst das physische und geistige Leben, die menschliche Sittlichkeit, die menschliche Tätigkeit, der menschliche Genuß, das m e n s c h l i c h e Wesen. Das m e n s c h l i c h e "Wesen ist das w a h r e G e m e i n w e s e n der Menschen." 2 5 Dies schreibend, legt Marx die Grundlagen seiner Revolutionstheorie und sogar der Revolution selbst. Diese Revolution, die Marx verkündete, betrifft das universelle, unendliche, ganze menschliche Leben. „Der i n d u s t r i e l l e Aufstand mag daher noch so p a r t i e 11 sein, er verschließt in sich eine u n i v e r s e l l e Seele". 26 Das ist die einzige Situation, in der sich der Klassenstandpunkt mit der Position des Menschen als Ganzem identifiziert. Die soziale Revolution bringt dem Menschen den Menschen wieder. „Eine s o z i a l e Revolution befindet sich deswegen auf dem Standpunkt des G a n z e n , weil sie — fände sie auch nur in e i n e m Fabrikdistrikt statt — weil sie eine Protestation des Menschen gegen das entmenschte Leben ist, weil sie vom S t a n d p u n k t des e i n z e l n e n w i r k l i c h e n I n d i v i d u u m s ausgeht, weil das G e m e i n w e s e n , gegen dessen Trennung von sich das Individuum reagiert, das w a h r e Gemeinwesen des Menschen ist, das m e n s c h l i c h e Wesen." 2 7 Kann es also etwas Menschlicheres geben als die Revolution? Die neue Anthropologie wurde zum Geschöpf und zum Instrument der Revolution. Der gegen Gott aufbegehrende Prometheus war Marx' Lieblingsheld, er war für Marx das M o d e l l des M e n s c h e n . „Prometheus ist der vornehmste Heilige und Märtyrer im philosophischen Kalender", im Kalender der revolutionären Philosophie natürlich. Als wahres Kredo betrachtete Marx das Glaubensbekenntnis des Prometheus: „Mit einem Wort, ganz hass' ich all'und jeden Gott." 2 8 In seiner glühenden Verehrung des Prometheus folgte er dem Vorbild Goethes und der Romantiker, kurz all jener, die Leitbilder und die Erfüllung des Zielmodells vom rebellischen 107

Menschen suchen. Der Goethesche Prometheus wandte sich an Zeus und damit auch an „jegliche Vorsehung" in folgender Art: „Wer half mir wider der Titanen Übermut? wer rettete vom Tode mich, von Sklaverei? Hast du nicht alles selbst vollendet, heilig glühend Herz? und glühtest jung und gut, betrogen,, Rettungsdank dem Schlafenden da droben? [• • •] Hier sitz ich, forme Menschen nach meinem Bilde, ein Geschlecht, das mir gleich sei, zu leiden, zu weinen, zu genießen und zu freuen sich; und dein nicht zu achten, wie ich!"29 Der kühne, schöpferische und revolutionäre Gedanke des Prometheus war Goethe selbst völlig bewußt. Er schrieb deshalb noch in einem Brief aus dem Jahre 1819: „Der Prometheus nimmt sich wunderlich genug aus; ich getraute mir kaum, ihn drucken zu lassen, so modern-sansculottisch sind seine Gesinnungen [. . ,]"30* Goethe traf den Kern der Sache: Es war wirklich Sansculottentum. Ähnlich wie Prometheus über die Götter dachte, urteilt nach Marx auch die Philosophie über „alle himmlischen und irdischen Götter, die das menschliche Selbstbewußtsein nicht als die oberste Gottheit anerkennen. Es soll keiner neben ihm sein". 31 Selbstbewußtsein ist Selbsterlösung. Damit man sich in diesem Selbstbewußtsein, in dieser Selbsterlösung auskennt und bestätigt findet, führt die Revolution auch einen direkten Kampf gegen Gott und die Religion, um ihnen die Sanktionen zu entreißen. Unsere Literatur verfügt über vielseitige Zeugnisse dieses 108

Kampfes. Das wichtigste Anliegen der Nie-Boska Komedia (Ungöttlicbe Komödie) von Z. Krasinski läßt sich auf die Frage zurückführen, ob die Revolution das Recht habe, Gott, Religion und Geistlichkeit für ihre Zwecke zu gebrauchen, um auf diese Weise eine Begründung für ihre eigenen Taten zu finden, ob sie also für sich selbst Recht, Sanktion und Charisma schaffen dürfe. Krasinski beantwortete diese Frage ablehnend. Die heidnische Orgie — die Religion der neuen Menschen — wurde mit Nachdruck verurteilt. Das Blut, das sie vergießen, hat keine moralische Rechtfertigung. Sie wollen sich diese zwar mit Gewalt nehmen, doch umsonst. Das ist ein Falsifikat, das der Dichter demaskiert und parodiert (Leonhard). Er kann auch mit der Vernichtung der himmelstürmenden Riesen durch Gott drohen (Pankratius). Die menschliche Geschichte ist für Krasinski eine ungöttliche Geschichte, sie ist das Resultat des Mißbrauchs der Freiheit durch die Menschen. Ein vom Menschen geschaffenes „Paradies auf Erden" wird es niemals geben. Die Revolution übernahm zwar den Traum vom „Paradies", doch dieser wird sich nie erfüllen. Trotz dieser oft wiederholten Verneinung benutzte die revolutionäre Bewegung sehr häufig Travestien religiöser und literarischer Ideen, ergötzte sich sogar an der Umkehrung ihres Sinngehalts, profanierte oder veränderte diese Gedanken. Als Beispiel möchten wir eine Strophe des Gedichts von G. Ehrenberg anführen, das den Titel Bo^e Narod^enie (Weihnachten) hat. „Gott wird geboren, die Macht erschrickt. Die Völker erheben ihr wehmutsvolles Lied. Schon singt das Volk das Rachelied, das Lied der Rache und der Freiheit. Ach, Maria gebiert in Schmerzen. Gott ist geboren! Gott ist geboren!" 32 Ehrenberg nahm damit zwar Verse des bekannten Volksliedes von F. Karpinski33* in sein Werk auf, gab ihnen jedoch einen völlig anderen Sinn. Da wird ein neuer Gott der Revolution geboren, die Macht der Tyrannen gerät ins Wanken. Religiöse Sprache wird verwendet, um den „revolutionären 109

Findling" in deren Windeln zu hüllen. Maria und ihr erwartetes Kind, Gott, im Refrain aufdringlich herbeigerufen, betreten den „Pantheon der Revolution". Ihre Divinität schützt sie nicht davor, im Gegenteil. Erst die Revolution vermenschlicht sie in göttlicher Weise. Die Verse von Ehrenberg leiteten eine ganze Serie „revolutionärer Weihnachtslieder" ein. Schon in ihrer Bezeichnung verbirgt sich eine umstürzlerische Doppeldeutigkeit. „Bei der traditionellen Oblate wünschte man sich ein leichtes Sterben, bequeme Ketten, glückliche Reise nach dem Norden und schnelle Befreiung, so wie es jedem in Zukunft gehen sollte. Nach dem Heiligabend sang man revolutionäre Weihnachtslieder." 34 Das sind die Erinnerungen eines Gefangenen nach der Revolution von 1905. Die revolutionären Weihnachtslieder (Kollenden) bilden, wie man sieht, eine Einheit mit charakteristischen Erscheinungen aus dem Alltag der Revolutionäre, indem traditionelle Weihnachtswünsche mit beißender Ironie travestiert werden. Die eigentlichen „Arbeiterweihnachtslieder" weisen diesen ironischen Zug seltener auf, obwohl auch hier die Travestie zuweilen direkt blasphemische Wendungen benutzt: „Laut rufen wir alle mit Feuer und Schwert: Hej, Kollende, Kollende!" 3 5 Die Geburt Gottes behandelten diese Lieder gleichermaßen als Geburt eines der vielen „Armen, Elenden und Ausgebeuteten". Wenn es in der bisherigen Tradition Christus zweimal gegeben hat, dann war einer von diesen mit den Revolutionären verbunden. 36 * Allenfalls konnte er noch auf der Gegenseite stehen: Tertium non datur. Gott wurde „nur" und „sogar" ein Mensch. Die Kollenden lehrten Selbsterlösung und wiesen den Weg zum „Paradies auf Erden".

„Fort mit den Betrügern und Ausbeutern, die neue Ordnung machen wir selbst, wir arbeiten zusammen und teilen gemeinsam! Hej, Kollende, Kollende¡"37 Andere Lieder dagegen hatten unmittelbar polemischen Charakter. Sie stellten den „Himmel" der „Erde" gegenüber und verlangten die revolutionäre Tat. 110

„Christus gab den Erniedrigten ewige Himmelsfreuden. Ihr, Brüder, braucht auf dieser Erde irdisches Gut. Möge das Wort zur Tat werden und unter uns wohnen. Er kämpfte nicht, denn er warf ringsum die Saat der Liebe aus. Wir wollen mit Gewalt das Recht der Freiheit und des Glücks erobern. Möge das Wort zur Tat werden und unter uns Wohnung nehmen." 38 Dieses Weihnachtslied aus dem Jahre 1894 identifizierte das Opfer Christi auf Golgatha mit dem Opfer der Revolutionäre, die an der Zitadellenmauer starben — die Verfolger waren stets die gleichen. Es kam dabei aber nicht zu einer Vermischung von Christusglauben und Glauben der Revolutionäre („Einst starb Christus auf Golgatha. Er starb im Namen s e i n e s Glaubens."). Das waren jedoch zwei verschiedene Königreiche. Die Kollende grenzte diese Reiche bewußt voneinander ab und übertrug der Revolution die Aufgabe, „das Gottesreich auf Erden" selbst zu schaffen. Obwohl es sich um ein Weihnachtslied handelt, existieren Revolution und Christus doch getrennt voneinander. In dem berühmten Poem von B. Jasienski39* begegneten Jesus und Szela einander „auf dem Weg zum ölberg". Der Dichter schildert die große bäuerlich-revolutionäre Improvisation — das Duell zwischen Szela und Christus. Jesus hat „weiße Hände". Er ist aus einem sentimentalen Ölgemälde einer Kirche gleichsam herabgestiegen, ein lieblicher, milder Jesus. In A. Blocks Die Zwölf schreitet er „mit einem Kranz weißer Rosen auf dem Haupt" daher. Szela ironisiert diese sentimentale Weichheit, enthüllt seine Parteinahme und empfiehlt Jesus, sich vom Elend der Bauern fernzuhalten. Das ist eine Konfrontation des falschen, herrschaftlichen Himmels mit der wirklichen, menschlichen Erde. Dieser Himmel trägt noch die feuchten Spuren der vielen Tränen der Bauern.

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„Sein Paradies ist nicht das unsere, es wurde aus unseren Tränen gemacht! Geh und sammle sie lieber auf und hefte sie an die Sträflingsjacke."40 Echte Tränen verwandeln sich sonst in gefühlsseligen Schmuck. Noch einmal nennt Szela das Paradies ein „Paradies der Ungerechten". „Gleich werden sie wie Würmer sich winden und sich über meinen Stock beklagen. Geh nur, schmücke für sie die Pforte, und nimm sie auf in dein Paradies!"41 Bauern und Herren. Der Himmel gehört den Herren, die Erde den Bauern. Deshalb auch „Wandte sich Szela dem Dorf zu und Jesus dem Himmel."42 Jeder ging zu den Seinen. Szela ist der wahre Sieger dieses Duells. Jesus, sentimentaler Lüge und tränenfeuchter Heuchelei entlarvt, ist ein besiegter Jesus. Ähnlich den Göttern in S. M. Eisensteins Film Oktober. Deshalb stieg er in den Himmel auf. Der ist sein Land. B. Jasienski überließ ihm den Himmel. Er tat es, um ihn der Verachtung preiszugeben, um ihn in den Augen der Menschen herabzusetzen, um ihm endgültig das Recht auf die Erde zu nehmen. Eine andere Intonation hat das nach W. W. Majakowski verfaßte Gedicht Ziemia i niebo (Erde und Himmel) von S. R. Stande43*. Der bankrotte Direktor-Gott des „Opium"-Konzerns richtet schon den Revolver auf seine Stirn: „Als wir bewaffnet mit brennenden Augen die Geschütze der .Aurora' richteten auf das himmlische Winterpalais und auf der Leiter der Geschichte in den Thronsaal eindrangen: Hände hoch! 112

Im Namen der Erde — Genossen, laßt sie nicht über die Schwelle! — die wir in unsere rauhen Hände nahmen. Ihr seid verhaftet! Gott und seine Nächsten aus Paradies und Hölle werden vor dem Revolutionstribunal, vor dem Kriegsgericht stehen!" 44 Eine Wiederholung der Oktoberrevolution — im Himmel. Es genügen nicht die Lossagung und Lostrennung von Gott, die Verbannung Gottes in sein ewiges Reich. Er muß noch im Namen der Gerechtigkeit der Menschen verurteilt und bestraft werden. So entscheiden die Menschen auf Erden für die Erde. „Wir, die Stürmer des hohen Himmels Sucher der Vollkommenheit auf allen Pfaden, duftend nach frischgepflügter schwarzer Erde, wir haben Gott erschossen. Und seitdem gibt es für ihn keinen Platz — unser ist der Himmel I Unser ist die Erde!" 4 5 8

Dieckmann

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Also auch den Himmel in Besitz nehmen. Die Selbsterlösung erreicht ihren Höhepunkt. Da war es der Mensch allein, der Gott erschossen hat. Prometheus hat den Himmel erobert. A. Malraux hat die doppeldeutige Existenz des Himmels in seinen Romanen beschrieben. Was ist die Zeit des Menschen der Revolution? Das ist die Frage, die es zu lösen gilt. Die Revolution, die die historische Kontinuität zerreißt, vollzieht sich selber in der Zeit und initiiert zugleich eine neue Zeit. Die „Überzeitlichkeit" der Revolution und ihre Berufung auf die Ewigkeit sind von der Tatsache begleitet, daß die Revolution nur in „historischen" oder — wie C. Lévi-Strauss formuliert — in „heißen" Gesellschaften möglich ist.«* Die Paradoxie des Zeiterlebnisses in der Revolution liegt der spezifischen Phänomenologie der Revolution zugrunde, der Malraux literarische Form gab, dabei sich einer neuen Formel für die Psychologie der Romanhelden bedienend. Hier interessiert jetzt jedoch nicht sosehr das Revolutionsund Zeiterlebnis während der Revolution als vielmehr die Idee der Zeit, mit der die Revolution operiert. Diese Idee ist die „lineare Zeit" (in diesem Fall nicht zu identifizieren mit allmählicher Evolution), die der „zyklischen Zeit" konfrontiert wird. Symbol der ersten Zeitart ist der Pfeil, der zweiten dagegen der Kreis. 47 Schon die Bezeichnung „Revolution" mit der Vorsilbe „Re-" verweist auf die Grundtendenz der Restitution von etwas, was verlorengegangen ist. „Revolutio temporis" ist mit „restitutio omnium" verknüpft. Nach Marx sollen die Menschen sich selber wiedergewinnen. Das bedeutet weder Rückschritt noch mythische Rückkehr zu den Anfängen, also keine zyklische kreisförmige Bewegung in Richtung auf das, was bereits gewesen ist. Die Revolution ist mit dem Mythos der ewigen Rückkehr nicht identifizierbar. Gewiß — wie die Historiker feststellen—geht es in den europäischen Revolutionen der Bauern meistens um die Restitution der alten Welt, der Welt der glücklichen Vorfahren, und nicht um die Errichtung einer neuen und vollkommeneren Welt. Sicher gibt es im 19. Jahrhundert schon eine„konservative Revolution". A. Decouflé charakterisiert diese am deutschen Beispiel als eine Bewegung, die „in ihrem Revolutionsprogramm das Privileg der Rückkehr zu den Uranfängen bevorzugt", die den 114

„Geist des Volkes" und das „ewige Deutschland" preist. Das „Projekt der Revolution" — dieser Aufbruch des Geistes zum Besseren, wie das A. Mickiewicz ausdrücken würde — wird hier in besonders gefährlicher und schädlicher Art deformiert. „Später werden die Speichellecker des Nazismus, des direkten Erben dieser Tradition, diese Bewegung als die wahre Revolution des Industriezeitalters bezeichnen." 48 Doch die neuzeitliche Revolution zieht sich nicht auf die Anfänge zurück. Sie beginnt eine neue Zeitepoche, und das ist etwas ganz anderes. So sind zum Beispiel der Prozeß und die Hinrichtung Ludwig XVI. eine Tatsache, die das „unwiederholbare Moment der Revolution" kennzeichnet. Sie kann bereits nicht mehr d a v o r zurückgehen. Hier wird eine Grenze überschritten, von der es keine Umkehr mehr geben kann, d. h. nicht zyklische Rückkehr in Zeitlosigkeit, sondern Weg zur Erlösung, Weg in einer Zeit, Weg des Fortschritts und der Veränderung, Weg zum Sein, das zwar wie nach christlicher Vorstellung „grenzenlose Zeit" ist, nicht jedoch „Bemühen zum Erlangen von Zeitlosigkeit". 49 * Dieser revolutionäre Sozialismus, schrieb Marx, „ist die P e r m a n e n z e r k l ä r u n g der R e v o l u t i o n , d i e K l a s s e n d i k t a t u r des Proletariats als notwendiger Durchgangspunkt zur A b s c h a f f u n g der K l a s s e n u n t e r s c h i e d e ü b e r h a u p t , zur Abschaffung sämtlicher Produktionsverhältnisse, worauf sie beruhen, zur Abschaffung sämtlicher gesellschaftlichen Beziehungen, die diesen Produktionsverhältnissen entsprechen, zur Umwälzung sämtlicher Ideen, die aus diesen gesellschaftlichen Beziehungen hervorgehen". 5 0 „Permanenzerklärung der Revolution" ist also die Marxsche Begriffsbestimmung für progressive Bewegung in der Zeit, die auf die Restitution der Menschheit gerichtet ist. Sofern uns Kultur die Formulierung der beiden Grundfragen „Was weiter"? und „Was ist das, was ist?" 5 1 ermöglicht, ist die Revolution selbstverständlich mit dieser ersten Frage verknüpft. Die zyklische Zeit beantwortet die Frage „Was ist das, was ist?" wie folgt: „Das ist das, was war. Und das, was war, wird sein." Die Zeit antwortet in der Weise, weil sie sich auf die Identität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gründet, weil in ihr die ständige Wiederholung des gleichen 8*

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Musters zu erkennen ist, weil ihr Wesen die ewige Wiederkehr sein muß. Das ist Elias' Trost. Das ist auch eine Frage der Struktur, eine Frage des „neuen Eleatismus", wie das H. Lefebvre sagen würde, wenn er ihr den neuen „Heraklitismus" 52 gegenüberstellte. Die Frage „Was weiter?" ist die Frage der Geschichte, des Schöpfertums, des Geschehens, der Zukunft und der Veränderung. Die Revolution bringt andere „Tröstungen". Sie überschreitet Gewesenes, durchbricht Beständigkeit und Schicksal, läßt sich nicht zur Umkehr zwingen und eilt in die Zukunft. Deshalb nannte R. Rolland den großen Lenin „Pilot der Revolution". Wenn Revolutionäre über „Unsterblichkeit" der Revolution reden, geschieht das nicht, weil sie dieses als ewige Wiederkehr eines Gleichen betrachten. In dem dramatischen, erregenden Artikel, dem letzten vor ihrer feigen Ermordung (erschienen in der Roten Fahne Nr. 14 vom 14. Januar 1919, einen Tag vor ihrem Tod), griff Rosa Luxemburg mit Leidenschaft die Federfuchser der Regierung an, die einst im Jahre 1831 triumphierend ausgerufen hatten: „Es herrscht wieder Ordnung in Warschau" und jetzt nach Erdrosselung der deutschen Revolution verkündeten: „Es herrscht wieder Ordnung in Berlin". „.Ordnung herrscht in Berlin!' Ihr stumpfen Schergen! Eure .Ordnung' ist auf Sand gebaut. Die Revolution wird sich morgen schon .rasselnd wieder in die Höh' richten* und zu eurem Schrecken mit Posaunenklang verkünden: Ich w a r , ich b i n , ich w e r d e s e i n ! " 5 3 Die Revolution ist wie ein Ozean, den V. Hugo in einem Gedicht beschrieb. Das Volk und der Ozean sind einander ähnlich: „Oh, Volk! Doch es enttäuscht niemand, der an seinem Ufer stehenblieb, mit einem vor Staunen erstarrten Herzen und nachdenklich erwartete die Stunde der Flut." 54 In dem Gedicht Dunkelheit spricht die „ alte Welt" zur „Welle". Sie errichtet einen Damm, legt die Grenzen fest und befiehlt: „Es ist Zeit, daß du zurückgehst!" Doch die „Welle" antwortet nur mit einem nüchternen Aussagesatz: „Du denkst, ich sei die Flut, nein, ich bin die Sintflut." 55 116

Die romantische Stilistik, der Klang der „bronzenen Lyra" entspricht ganz und gar dem romantischen Gefühl des ständigen Vorhandenseins des „Projektes der Revolution" in der menschlichen Ordnung der Geschichte. Hugo war ein einfühlsamer romantischer Zeuge seiner Zeit. „Die Freiheit ist ein göttlicher Abgrund, der herabzieht. Auf dem Grund der Revolution liegt etwas Unwiderstehliches, dem sich niemand zu entziehen vermag. Der Fortschritt ist einfach eine Erscheinung der Schwerkraft. Wer könnte ihn aufhalten? Ein Anstoß — und es beginnt mit Unbändigkeit. Oh, ihr Despoten, ich rufe euch. Haltet den herabfallenden Fels auf, haltet den schnellen Sturzbach auf, haltet die Lawine auf, haltet Italien auf, haltet das Jahr 89 auf, haltet die von Gott ins Licht gestoßene Welt a u f ! (Frenetischer Beifall)."56

Wir zitierten aus Hugos Garibaldi-Rede aus dem Jahre 1860. Die Revolution stellt sich uns darin als Naturkraft und als geheimnisvolle Anziehungskraft dar, „der sich niemand zu entziehen vermag". Es gibt nur wenig so überzeugende Beweise für die gewaltige emotionale Faszination der Revolution. Sowohl für Hugo als auch für Rosa Luxemburg existierten zwei antagonistische Ordnungen. Die eine ist die Ordnung der Revolution, die Ordnung ihrer permanenten Existenz („Ich war, ich bin, ich werde sein!"). Die Revolution identifiziert sich mit dem Menschen und mit seinem Zukunftsdrang. Das kennzeichnet ihre „Individualität". Die Revolution ist unsterblich als eine Bewegung in die Zukunft. Das ist das Vermächtnis Rosa Luxemburgs, das sie an uns weitergab. Diese Lehre zog sie aus der Niederlage der Revolution. So wie Karl Marx nahm auch RosaLuxemburg des öfteren dieses Thema auf. Betrachten wir diesen Schauplatz der Niederlage unter dem Gesichtspunkt des revolutionären E t h o s . Das ständige Zurückkommen auf die Niederlage, die umfassende Interpretation dieser Niederlage in Schriften und Reden der Revolutionäre waren keineswegs in einer modernistischen Überschwenglichkeit für das Tragische der Niederlage begründet, hing nicht nur mit literarischem Interesse zusammen, wie man das Rosa Luxemburg vielleicht unterstellen könnte. Man sollte in diesem Falle vielmehr von der Notwendigkeit einer Erklärung des historiosophischen und moralischen Sinns der 117

Niederlage einer Revolution sprechen, schon wegen der Fortdauer der konterrevolutionären Unterdrückungsmaßnahmen und ihrer kolossalen Ausmaße. Die Revolution erklärte so, was Tod und Leiden sind, und ohne eine solche Erklärung hätte sich kein revolutionäres E t h o s herausbilden können. Nach Aufzählung der verschiedenen Vorteile, die aus der Niederlage des Juniaufstandes von 1848 resultierten, bemerkte Marx: „Erst durch die Juniniederlage also wurden alle Bedingungen geschaffen, innerhalb deren Frankreich die I n i t i a t i v e der europäischen Revolution ergreifen kann. Erst in das Blut der J u n i i n s u r g e n t e n getaucht, wurde die Trikolore zur Fahne der europäischen Revolution — zur r o t e n Fahne 1 Und wir rufen: D i e R e v o l u t i o n ist t o t ! — E s l e b e d i e Revolution !"57 Dieser Ausruf verwundert vielleicht, spiegelt jedoch folgenden Marxschen Gedanken wider. Die Revolution gebiert die Revolution, die französische Revolution gebiert die europäische Revolution, jedoch „erst in das Blut [. . .] getaucht". Die Niederlage ist die Hebamme der Revolution. Jetzt, nach der Niederlage der deutschen Revolution, als die preußische Reaktion blutig mit der vom Spartakusbund geführten Arbeiterklasse in Berlin abrechnete, schrieb Rosa Luxemburg: „Noch mitten im Kampf, mitten im Siegesgeheul der Gegenrevolution müssen sich die revolutionären Proletarier über das Geschehene Rechenschaft ablegen, die Vorgänge und ihre Ergebnisse am großen historischen Maßstab messen. Die Revolution hat keine Zeit zu verlieren, sie stürmt weiter — über noch offene Gräber, über ,Siege' und .Niederlagen' hinweg — ihren großen Zielen entgegen. Ihren Richtlinien, ihren Wegen mit Bewußtsein zu folgen, ist die erste Aufgabe der Kämpfer für den internationalen Sozialismus." 58 Das Zielbewußtsein muß von der Kenntnis der bisherigen Geschichte der Revolutionen begleitet werden. „Was zeigt uns die ganze Geschichte der modernen Revolutionen und des Sozialismus? Das erste Aufflammen des Klassenkampfes in Europa: Der Aufruhr der Lyoner Seidenweber 1831 endete mit einer schweren Niederlage. Die Chartistenbewegung in England — mit einer Niederlage. Die Erhebung des 118

Pariser Proletariats in den Junitagen 1848 endete mit einer niederschmetternden Niederlage. Die Pariser Kommune endete mit einer furchtbaren Niederlage. Der ganze Weg des Sozialismus ist — soweit revolutionäre Kämpfe in Betracht kommen — mit lauter Niederlagen besät." 59 Das ist die schwarze Liste der Niederlagen, die nur mit anderen Adjektiven versehen sind, wie zum Beispiel „schwere", „niederschmetternde" oder „furchtbare" Niederlage. Rosa Luxemburg sagte diese ganze — „schwere", „niederschmetternde", „furchtbare" — Wahrheit nicht, um Gefühle für das Märtyrertum der gekreuzigten Revolution zu erwecken. Nein, sie suchte — so paradox das auch klingen mag — in den Niederlagen eine Stütze. „Wir fußen heute, wo wir unmittelbar bis vor die Endschlacht des proletarischen Klassenkampfes herangetreten sind, geradezu auf jenen Niederlagen, deren k e i n e wir missen dürften, deren jede ein Teil unserer Kraft und Zielklarheit ist."60 Wie ersichtlich, geht es hier um keine emotionale Verbinsung mit den besiegten Kampfgenossen, um kein Solidaritätsgefühl mit der revolutionären Gemeinschaft, sondern vielmehr um die aus der Niederlage resultierende „Zielklarheit". „Die Revolutionen haben uns", wie Rosa Luxemburg schrieb, „bis jetzt lauter Niederlagen gebracht, aber diese unvermeidlichen Niederlagen häufen gerade Bürgschaft auf Bürgschaft des künftigen Endsieges." 61 Die Siege der Bourgeoisie werden sich in ihre Niederlage verkehren, während die Niederlagen der Revolution zu ihrem Endsieg führen. Für Marx, Rosa Luxemburg und nach 1905 auch für Lenin ist also die Niederlage ein Symbol des Sieges. Sollte das deshalb so sein, weil — wie nach mythisch-messianistischer Vorstellung — aus Tod Leben hervorgeht? Oder weil — wie nach dem Glauben mystischer Romantiker — das Blut reinigende Wirkung habe und der Erlösungsweg des Menschen durch Schmerz und Leid führen müsse? Keineswegs. Niederlage ist Selbstbewußtsein, klare Erkenntnis der gegebenen Situation, dramatische Enthüllung der Wahrheit. Eine konkrete Wahrheit, die in die sieghafte Zukunft führt. So läßt sich verstehen, warum „das Lernen durch Niederlagen" ein Teil des revolutionären E t h o s ist. 119

Selbstverständlich muß einer solchen Theorie und Praxis ein sehr ausgeprägtes Differenzierungsvermögen zur Beurteilung des Wahren und Falschen zugrunde liegen. Die Revolution schafft in dieser Hinsicht eine Ausnahmesituation: Die Wahrheit bestätigt sich in ihr durch das Leben. Eine solche ständig gegenwärtige Möglichkeit und Notwendigkeit grenzenloser Aufopferung bis zur Hingabe des Lebens gibt dem revolutionären Ethos sein spezifisches Gepräge, an dem es zu erkennen ist. Diese Aufopferung äußert sich von Anfang an in der jakobinischen Moral als Wille zur Hingabe des einzelnen für das Wohl der Allgemeinheit, denn, wie Saint-Just darlegt, „wird die Revolution nicht nur zur Hälfte gemacht" 6 2 . Man muß ihr daher alles geben, auch das Leben, auch die individuelle Freiheit, auch das persönliche Glück. Im Gegensatz zur Harmonie der Aufklärung, die auf der Übereinstimmung des Individuums mit der Gesellschaft beruhte, entstand die revolutionäre Exaltation für den Zusammenstoß zwischen diesen beiden Polen, für den Konflikt, aus dem die ganze Romantik entstanden ist. Das Wahrnehmen dieser Kollision nahm im Jakobinertum verschiedene Formen an. Uns interessieren hier nicht die Unterschiede bei der Interpretation des „Allgemeinwohls", es geht uns vielmehr um den Grundsatz selbst. E s geht darum, daß der Konflikt zwischen Individuum und Gemeinschaft von der Revolution stets zugunsten der Gemeinschaft entschieden wird. Die Revolution fordert vom Individuum, daß es — wenn nötig — sich jetzt und hier aufgebe. Sie stellt ihm ein Ziel, das in der Zukunft lokalisiert ist: Das Individuum muß sich selber entsagen, damit es einmal es selbst werde. Die Revolution fragt im allgemeinen nicht danach, ob eine solche Entsagung, in der manchmal das Selbstgefühl des einzelnen verlorengeht, die Persönlichkeit des Revolutionärs nicht unwiederbringlich verarme und eventuell seine Aktionsmöglichkeiten einenge. Der Kampf ist ein Teil der Revolution, er diktiert ihr seine Gesetze. „Feind", „Gegner" 6 3 , Notwendigkeit des direkten Kampfes mit ihm, Besiegte und Sieger — diese Domäne intellektueller und emotionaler Vorstellungen und Empfindungen bestimmt den Aktionsradius und die Moral des Handelns. Die gegen die alte Ordnung gerichtete Revolution bildet in einer drastischen Kollision mit der existierenden Ordnung 120

ihr Ethos heraus, das Ethos höchster Anstrengungen und Anforderungen. In der Deklaration von 1853, die von radikalen polnischen Emigranten in England unterzeichnet worden war, deren Anschauungen von den Chartisten beeinflußt waren und sich allmählich den Auffassungen der Ersten Internationale angeglichen hatten, lautet es: „Zum Wohl der Gemeinschaft entsagen wir unserem politischen Ich, und während wir im Feuer der politischen Einheit verschmelzen, entsagen wir auch dem persönlichen Glück sowie jedweder persönlichen Freiheit, die zum Schaden der Gemeinschaft wäre oder auch sein könnte." 6 4 Die Metamorphose des romantischen Helden Gustav in Konrad 6 5 * wurde hier in das universelle Revolutionsethos integriert. Das persönliche Ich verschmolz hier mit dem kollektiven Ich. Die enge Verwandtschaft der Revolution mit der Romantik, mit Glorifizierung der Gemeinschaft und dem Kult charismatischer Persönlichkeiten enthüllt die Umwege, auf denen sich die Revolution in gefährliche Nähe zum Autoritätskult von Cäsaren bewegen kann. Für diejenigen, welche auf ihre persönliche Freiheit verzichteten, wird in jedem Fall jemand darüber zu entscheiden haben, was Allgemeinwohl ist oder was dazu in Widerspruch steht. Gerade diese Frage erörterte eine wichtige und gründlich geführte Polemik E . Dembowskis 6 6 * gegen den Messianismus bei Mickiewicz. Dembowski betrachtete den Messianismus als „Glauben an Personen". Ihm stellte er seine revolutionäre „Liebe des Volkes" gegenüber. Bei der Erörterung des Verhältnisses von Individuum und Gemeinschaft vertrat Dembowski die Meinung, Mickiewicz, dieser „äußerst geniale Dichter", habe nicht das richtige Gleichgewicht zwischen den „gesellschaftlichen Kräften" und dem Individuum herzustellen vermocht und sei in gefährliche Nähe einer Billigung der „Willkür des Genies" gerückt. Zum wirklichen Fortschritt führen jedoch nicht „geniale Menschen", sondern immer die „Volksmassen". 67 Das waren zwei entgegengesetzte Gesellschaftskonzepte. Allerdings muß noch hinzugefügt werden, daß beide in der ethischen Welt der Revolution ihren Platz haben. Das revolutionäre Ethos konzentrierte sich immer auf das Zentralproblem der Gewalt. Wird man sich dessen bewußt, 121

•dann erinnert man sich nicht ohne Trauer der Worte des „Erzengels des Terrors", Saint-Just: „Zweifellos ist die Zeit noch nicht gekommen, um Gutes zu tun." 68 Die Zeit war nicht gekommen, weil die Revolution Gewalt gegen Gewalt setzen mußte. 69 * Gerade das, nämlich die A n t w o r t d e r R e v o l u t i o n auf d i e H e r a u s f o r d e r u n g d u r c h d i e G e w a l t , •wurde stets als das Wesen der revolutionären Macht anerkannt. Nicht Gewalt um der Gewalt willen, nicht Gewalt an sich, nicht autonome Gewalt als Antwort. Darüber schreibt ein Soziologe: „Die .blinde' Gewalt ist eine Erfindung der konterrevolutionären Chronisten, denn in der Revolution ist nichts stärker bedingt und vorherbestimmt als die Gewalt." 7 0 Marx betrachtete die Gewalt als historisches und temporäres Produkt der Klassengesellschaft: „Inzwischen ist der Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie ein Kampf von Klasse gegen Klasse, ein Kampf, der, auf seinen höchsten Ausdruck gebracht, eine totale Revolution bedeutet. Braucht man sich übrigens zu wundern, daß eine auf den Klassengegensatz begründete Gesellschaft auf den brutalen W i d e r s p r u c h hinausläuft, auf den Zusammenstoß Mann gegen Mann als letzte Lösung." Die Revolution wird hier als „ b r u t a l e r Widerspruch" betrachtet. Diese Brutalität kann in Zukunft völlig verschwinden. „Nur bei einer Ordnung der Dinge, wo es keine Klassen und keinen Klassengegensatz gibt, werden die g e s e l l s c h a f t l i c h e n E v o l u t i o n e n aufhören, p o l i t i s c h e R e v o l u t i o n e n zu sein. Bis dahin wird am Vorabend jeder allgemeinen Neugestaltung der Gesellschaft das letzte Wort der sozialen Wissenschaft stets lauten: „.Kampf oder T o d ; blutiger Krieg oder das Nichts. So ist die Frage unerbittlich gestellt.' George Sand" 71 Für die Marxsche Phantasie, die zuweilen mit der romantischen identifizierbar ist, ist kennzeichnend, daß sie schon George Sand als Zeuge der „sozialen Wissenschaft" anführt. Jedoch weder George Sand noch V. Hugo erfaßten die revolutionäre Gewalt in solchen historischen Kategorien, wie das Marx tat, obwohl es sich um Schriftsteller handelt, die äußerst 122

feinfühlig gegenüber revolutionärer Gewalt waren. Die Literatur behandelte das Problem der revolutionären Gewalt zumeist dann auf eine ihr gemäße Weise, wenn sie es als moralisches Problem betrachtete. Von diesem Standpunkt aus interessierte sie sich auch für die Chance einer Begründung oder Rechtfertigung der Gewalt. Wir wollen im folgenden zwei Beispiele näher betrachten: L. Goldmann nannte den fünften Akt des Zweiten Teils von •Goethes Faust eine der „zweifellos schönsten dichterischen Transpositionen der Französischen Revolution, die die Weltliteratur kennt". 7 2 In ihm sei eine spezifische Allegorie der Revolution enthalten: Das jakobinische Verbrechen des Faust, das Philemon und Baucis vernichtet, sich jedoch rechtfertigt durch die Absicht, eine „neue Welt" zu erbauen. Die Engel singen daher: „Wer immer strebend sich bemüht, den können -wir erlösen." 73 Das zweite Beispiel ist der Gedichtband von Victor Hugo Schreckliches Jahr oder die Antwort des Dichters auf die Niederlage von 1870 und die Niederlage der Pariser Kommune. Eines dieser Gedichte trägt den Titel Revolution vor Gericht. Die käuflichen Richter rufen die Revolution vor ihr Tribunal, „weil die ein Häscher war, der Eulen und Käuze vertrieb". Diese Metapher braucht der Dichter für den scharf pointierten Schluß: „Die Verbrechen, die ihr richtet, sind Verbrechen der Morgenröte." 74 Jakobiner und Kommunarden wurden also durch die Literatur gerettet. Literatur und Revolution sind mit einem engen Band verknüpft. Sie bilden ein G a n z e s , das uns bis heute noch ungenügend bekannt ist. Wir wissen lediglich, welche Methoden für die Erforschung der Zusammenhänge zwischen den literarischen Formen und den sozialen Praktiken zu verwenden sind. Darüber schrieb G. Lukäcs in seiner Theorie des Romans. Er sah im Roman nicht bloß „die einzig mögliche apriorische Bedingung einer wahrhaften, Totalität schaffenden Objektivität", sondern die repräsentative „Form des Zeitalters, in dem die Aufbaukategorien des Romans auf den Stand der Welt konstitutiv auftreffen". 75 Literatur und Revolution! Was sind sie für sich und durch sich? Jeder Versuch der Beantwortung dieser Frage muß von der allgemeinen Annahme ausgehen, die A. Decoufle sehr treffend formuliert hat: „Die Revo. 123

lution schafft sich i h r e i g e n e s g e i s t i g e s U n i v e r s u m , u n d nur die E r f o r s c h u n g dieses Universums kann erklären, w a r u m die Revolution v o n ihren Anhängern als lebendige Realität empfunden u n d erlebt, v o n ihren G e g n e r n (und allgemeiner n o c h : v o n allen Außenseitern) aber als etwas Wahnsinniges betrachtet wurde. E s besteht nämlich zwischen den einen und den anderen ein prinzipieller Gegensatz, den man nicht begreifen könnte, wollte man ihn lediglich auf einen einfachen .Interessengegensatz' reduzieren." 7 6 E i n eigenes geistiges U n i v e r s u m der Revolution! D i e Literatur hilft mit, es aufzubauen, zugleich ist sie tief darin verborgen. All das begann, wie alles w o v o n hier die R e d e ist, mit der großen Französischen Revolution. A . de Tocqueville gibt einem Kapitel seines unvergleichlichen Werkes Uancien Régime et la Révolution einen Titel, der etwa so lautet : Darüber, wie in der Mitte des 18. Jahrhunderts Literaten führenden Politikern ihres Landes wurden und was daraus entstanden ist. Selbstverständlich nichts Gutes. D e r Schriftsteller nahm in der französischen Gesellschaft einen aristokratischen Platz ein. Geistreich, beflügelt v o n kühnen Ideen, unbelastet v o n g r o ß e m Wissen über die F ü h r u n g der Regierungsgeschäfte oder die Praxis der politischen Freiheit konnten sie „fast unbegrenzt über den U r s p r u n g der Gesellschaft, über die wahre N a t u r der Regierungen und über die Naturrechte der menschlichen A r t " philosophieren. D i e übrigen Menschen entzündeten sich an dieser „literarischen Politik". D i e Literatur wurde in höchstem G r a d e zur politischen Literatur und, was weit ärger ist, zur literarischen Politik. W a s für eine Politik? A . de Tocqueville nimmt an, daß über der traditionellen und widersprüchlichen „realen Gesellschaft" sich die D o m ä n e der Literaturherrschaft einer „fiktiven Gesellschaft" ausbreitete, in welcher alles einfach und harmonisch, einheitlich, gerecht und vernünftig zu sein schien. „ D i e Phantasie der Massen verlagerte sich v o n dieser ersten Gesellschaft in die zweite, u m dort zu wohnen. Man interessierte sich nicht mehr dafür, was gewesen ist, und träumte d a v o n , was sein könnte. Schließlich begannen die Menschen in diesem Idealstaat mit den v o n den Schriftstellern geschaffenen Ideen zu leben." D a s war eine wirklich ungewöhnliche E r z i e h u n g . 124

„Die Schriftsteller lieferten dem Volk, das die Revolution machte, nicht nur Ideen, sondern übermittelten ihnen ebenfalls ihr Temperament und ihre Veranlagung. Unter ihrem langandauernden Einfluß nahm allmählich das ganze Volk, das ihre Werke las, weil keine anderen Führer da waren, und mangelndes Wissen über das praktische Leben herrschte, die Instinkte, Denkweisen, Neigungen und sogar die natürlichen Erbanlagen der Schriftsteller an. Das ging so weit, daß zu dem Zeitpunkt, als das Volk schließlich zu handeln begann, von ihm sogar das Brauchtum der Literatur in die Politik übernommen wurde." Tocqueville bedauert sehr, daß die Schriftsteller, die in einem „pays irréel" herrschten, die schlimmsten Folgen heraufbeschworen, ohne das überhaupt vorhersehen zu können. Sie ahnten nicht, daß es hier um eine der größten und gefährlichsten Revolutionen ginge, die die Welt jemals gesehen hätte. Sie wußten auch nicht, daß die gleichen Umstände, die oftmals 2ur Entstehung schöner Bücher geführt hätten, große Revolutionen auslösen könnten.77 Das ist ein Satz, mit dem wir eigentlich unsere Darlegungen über die Literatursoziologie des Erkennens hätten beginnen können.78* Fügen wir des weiteren einen Satz hinzu, der von einem dieser „vermaledeiten Schriftsteller", von J.-J. Rousseau, aufgeschrieben wurde, und das noch in der Neuen Heloise: Menschliches Handeln lasse sich nur dann erkennen, wenn man selbst handele. In der Schule der Welt wie in der Schule der Liebe müsse man beginnen, das zu vollführen, was man erlernen wolle.79 Eine gefährliche Direktive! Sie wurde zur Direktive der Revolution und der Literatur. Sie befahl zu handeln, um zu erkennen, zu handeln, um dies zu können. Rousseau stellt „Tat" und „Wort" in ein neues Beziehungsgefüge. Nur innerhalb desselben konnte sich eine Literatur herausbilden, die — eine Revolution entfachend oder gegen die Revolution wirkend — zum Wortführer der neuen Epoche wurde. Deshalb auch enthält die Romantik die ganze moderne Literatur — bis in unsere Zeit. V. Hugo hatte das gut begriffen, als er folgendes Glaubensbekenntnis ablegte: „Wir, die Menschen des 19. Jahrhunderts, rechnen es uns zur Ehre an, daß man uns beschimpft: ,Ihr seid der Jahrgang 93'. Doch das ist noch nicht alles. Wir 125

sind der Jahrgang 89 und nicht nur der Jahrgang 93. D i e Revolution, die ganze Revolution ist die Quelle der Literatur des 19. Jahrhunderts." „Diese Literatur", fuhr er fort, „ist die logische Deduktion des großen, chaotischen und genetischen Ereignisses, das unsere Väter beobachten konnten und das einen neuen Anfangspunkt für die Welt darbot." 8 0 Hier ist auch der Ursprung für Geist und Tat unserer zeitgenössischen Literatur. Das beweist die Entstehung der Poesie W. Broniewskis aus der revolutionären Romantik. Die Revolution wird — etwas vergröbert — in der Literatur in doppeltem Sinne interpretiert, entweder als Zerstörung oder als Ordnung. Für A. Breton ist die Revolution Zerstörung, Vernichtung, für J . Przybos hingegen Ordnung. Das hängt übrigens mit der Struktur der zeitgenössischen Lyrik zusammen, die in der Antinomie „Fest des Intellekts" oder „Zusammenbruch des Intellekts" erfaßt wurde. 81 * Der Revolution entspricht in der Literatur der „dunkle", tragische, „metaphysische" Ton, der Traum und Alpdruck, die Dissonanz und der Kontrast, die Idee des Elementaren, die Erbitterung und Erregung, der zerstörende Wahn und die Empörung des Unbewußten, das Chaos, die Furcht, die Nacht. Beispiele: die f r e n e t i s c h e Begeisterung der R o m a n t i k . Z. Krasinski praktizierte diese frenetische Begeisterung in seinem Frühschaffen, später jedoch verwarf er die sogenannte furiose französische Literatur. In einem Brief aus dem Jahre 1833 an F. Morawski enthüllt er die Genese und den Sinn der „Furchtbarkeit" der romantischen Literatur. „Das Publikum ist ganz wild nach solchen Bildern, denn seine Väter und es selbst sind übersättigt und trunken von allen Getränken, vor allem vom Blut. Solche Leute können nicht mehr S. Geßners Idyllen lesen, ihre Nerven sind überreizt, und es bedarf immer neuer Erregungen. Die Römer brauchten kurz vor dem Ende der antiken Zivilisation Spiele und Gelage. Das war ihr Sinnenrausch. Eine letzte Zuckung der Sinnenwelt. Jetzt ist das unser moralischer Wahnsinn, vielleicht auch das letzte Aufzukken unserer Welt." 8 2 Die Französische Revolution wird den Idyllen S. Geßners gegenübergestellt: „Überreiztheit", „Sinnenrausch" und „Auf126

zucken". Ähnliches hören wir später über den Expressionismus 83 und den Surrealismus. A. Lunatscharski erzählt, wie er im Jahre 1923 in Paris mit Surrealisten, die der Partei nahestanden, eine Begegnung hatte. Führer dieser Surrealisten waren A. Breton und L. Aragon. Im Lauf eines Gesprächs unterbreiteten sie Lunatscharski eine Deklaration, die er nach dem Gedächtnis wiedergibt: „Wir Surrealisten hassen vor allem die Bourgeoisie. Die Bourgeoisie stirbt, aber sie stirbt langsam und verpestet mit ihrem fäulniserregenden Atem die Luft rings um uns [. . .] Die Bourgeoisie glaubt an die Vernunft [. . .] Die Revolution brauchen wir, um die Herrschaft der Bourgeoisie und zugleich die Herrschaft der Vernünftigkeit über den Haufen zu werfen, um die große Herrschaft des elementaren Lebens zurückzuerlangen [. . .] Wir achten und ehren Asien als einen Landstrich, der bislang gerade aus diesen richtigen Quellen der Lebensenergie lebt und mit der europäischen Vernunft nicht vergiftet ist. So kommt denn, ihr Moskauer, bringt ungezählte Asiatenscharen mit, zerstampft die europäische Afterkultur. Selbst wenn wir unsererseits unter den Hufen von Steppenpferden zugrunde gehen müßten, sei's drum: wenn nur mit uns die Vernunft untergeht, das Kalkül, das todbringende, alles verengende Prinzip der Bürgerlichkeit!" 8 4 In der Zusammenfassung von Lunatscharski heben sich deutlich alle Gründe für eine surrealistische Betrachtung der Revolution ab. Die Revolution versteht sich hier als Element der Vernichtung, der Zerstörung der Vernunft und ihrer Einrichtungen, der Zerstörung des bürgerlichen gesellschaftlichen Apparates. 85 * Lunatscharskis Bericht zufolge verloren die Surrealisten ihre Selbstbeherrschung, als ihnen der sowjetische Volksbildungskommissar eine falsche Vorstellung von der Revolution vorwarf, weil gerade sie die Errungenschaften des Verstandes, der Vernunft entwickelt. Der Marxismus ist das Apogäum der Vernunft, und der Sozialismus verzichtet nicht auf die europäische Kultur, sondern schöpft aus ihr das Beste! Das ist ein echter Streit über die moderne Revolution und ihre beiden Interpretationen in der zeitgenössischen europäischen Kultur. Das Auseinanderklaffen von Surrealismus und 127

Marxismus analysiert auch A. Camus in seinen Darlegungen über den rebellischen Menschen. Er verweist darin auf die von A. Breton vorgenommene Unterordnung der Revolution unter •das surrealistische Abenteuer. Das Bewußtsein des Vorhandenseins von Widersprüchen und Meinungsverschiedenheiten hebt jedoch weder den Zusammenhang des von Breton proklamierten „absoluten Antikonformismus" mit der Revolution auf noch die Bedeutung der surrealistischen Traumgebilde einer „anderen Welt" und eines „anderenLebens" für die Revolution. In der Literatur wird die Revolution aber noch auf andere Weise betrachtet; angeschlagen wird ein „heller", rationaler T o n ; Logik und Ordnung in der Form, Strenge, eine scharf konturierte Welt, Geistesschärfe, Harmonie, Kontrolle und Grenze. Welche Beispiele es dafür gibt? Den revolutionären Klassizismus als Kunst der großen Französischen Revolution. Für die Geschichte der Revolutionen und Literatur ist wesentlich, daß sich hier gerade die Kunstidee als ein Instrument der revolutionären Propaganda erweist. Sie sollte eine gewaltige Schule des Heroismus, ein Lob auf den Verstand und die Revolution sein. 86 Des weiteren gehören hierher der Futurismus und die Avantgarde, die oft nur als Kampf gegen den Surrealismus angesehen werden. 87 J. Przybos, der Künder der „Idee der Strenge" und Repräsentant einer Poesie, die „subtiles Denkinstrument" ist, erbrachte den Beweis, daß „die sozialistische Kunst nicht epigonenhaft, sondern immer a v a n t g a r d i s t i s c h sein müsse." Dann führte er aus :„ [. . .] der Kulturpolitiker m u ß «ine solche Kunst unterstützen, die die Ideen des Sozialismus am wirkungsvollsten verbreitet. Sie muß eine künstlerischeRicht u n g oder Richtungen auswählen, die sich ganz und gar mit sozialistischen Ideen durchdringen lassen, so daß jedwede T r e n n u n g zwischen der S u b s t a n z d e s W e r k e s und der g e ä u ß e r t e n I d e e vermieden wird. Möge diese Idee aufhören, nur etwas Äußerliches, Deklariertes zu sein, möge sie vielmehr organisch im Werk erscheinen, gleichsam wie Vitamine im Fruchtfleisch." 8 8 Diese Formulierungen drücken die Idee des organischen Zusammenhanges zwischen Revolution und Avantgarde in der Kunst, zwischen Idee und Substanz des Werkes aus. J. Przybos sprach von der Revolution so wie von der Kunst und von der 128

Kunst so wie von der Revolution: „Die Revolution ist beständiges Schöpfertum. Sie erfordert also auch eine ständige schöpferische Arbeit, ständige Veränderung der Begriffe, ständige Entwicklung der einen und Überwindung der anderen [. . .] Unsere Revolution ist erst der Anfang dieser endgültigen Revolution der Geister, Herzen und Moralvorstellungen [. . .] Der Dichter hat nur eine Verpflichtung gegenüber der Revolution: die Verpflichtung zum äußersten Kritizismus und zur Wachsamkeit gegenüber jeder Erscheinung des mangelnden Entwicklungsfortschritts, gegenüber jedem Anzeichen der Reaktion. Er hat die Pflicht, gegen die Vergangenheit zu kämpfen. Die Revolution braucht keine Panegyriker, sondern Satiriker. Sie braucht keine leeren Lobreden und Kampfdemonstrationen, sondern eine erfinderische Sprache, die die Vorstellungen verändert, lyrische Dichtungen, die die antiquierten Herzen erregen. Die Revolution braucht eine Poesie, die die hartnäckigste Natur, die alte Natur des Menschen besiegt, denn die Materie der revolutionären Poesie ist die neue Seele." 89 In diesem Sinne erfaßte J. Przybos auch den Nutzen und die Eignung der Kunst für die Propaganda. Es ist offensichtlich, daß sich in der Kunst eine Revolution vollzogen haben mußte, damit er seine Überzeugungen, die so weit von der Idee der propagandistischen Kunst während der Französischen Revolution entfernt waren, überhaupt zum Ausdruck bringen konnte. Es mußte sich in der Kunst eine ästhetische Revolution vollzogen haben, die für Przybos Ergebnis oder einfach Vorgefühl der Revolution war. Einen in vielen Punkten ähnlichen Komplex von Überzeugungen finden wir bereits früher in der sowjetischen nachrevolutionären Kunst. Der Kampf gegen die Vergangenheit, die Entlarvung „alter" und abgegriffener Ausdrücke, die Entkleidung der konterrevolutionären „Grammatik", das Streben nach Eindeutigkeit und Ausdruckskraft, der Plakatcharakter des Zeichens, die Idee der Organisation proletarischer Phantasie, die Formstrenge, die Überzeugung vom integralen Zusammenhang von Revolution und Avantgarde90* — das alles reflektiert sich in den Filmen S. M. Eisensteins und in seiner „allgemeinen Theorie des Ausdrucks" 91*, in den Reden Lenins und in den Gedichten von W. W. Majakowski. B. Eichenbaum 9

Dieckmann

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richtet in seiner Studie die Aufmerksamkeit des Lesers auf den Umstand, daß die stilistische Grundtendenz bei Lenin der Kampf gegen „Phrasendrescherei", „große Worte", abgegriffene Redeweisen, „Pariaver", Predigten und schöngeistigen Stil war. Alles, was das Merkmal des „Poetischen" oder philosophischer Erhabenheit trug, erregte Lenins Zorn und seine Ironie. In dieser Hinsicht war er genauso asketisch und streng wie L. Tolstoi. 92 Außerdem führt Eichenbaum in den Kontext dieses revolutionären Prozesses — der Zerstörung des herkömmlichen „Poetischen" — Majakowski und die Futuristen ein. Die polnische Literatur ging diesen Weg zusammen mit der zeitgenössischen Revolution. Sie stellte mit W. Broniewski fest: „Mir obliegt die Wahl der Worte, der Taten und der Wege." 93 Und sie wählte die Revolution. Zuerst war es die Romantik. Die polnischen Romantiker machten die Revolution zum Zentrum ihrer Weltanschauung. Vier verschiedene Visionen der Revolution wirkten hier. S. Goszczynskis Zamek kartiowski (Geisterscbloß) und Z. Krasinskis Nie-Boska Komedia (Un-Göttliche Komödie) schildern ein Inferno der Revolution, außerhalb dessen sich kein Mensch mehr wiederzufinden vermag. Die zweite Vision repräsentiert A. Mickiewicz, der die Revolution als Aufschwung des Geistes und der Volksmassen versteht. Er begreift die polnische Revolution als integralen Bestandteil der europäischen Revolution, im anderen Falle würde Polen nicht weiterbestehen können, weil es im göttlichen Weltenplan und in der Menschheitsgeschichte „ohne jeden Nutzen wäre". Die dritte Vision der Revolution stellen die mystischen Schriften des Dichters J. Slowacki dar. Die Revolution ist darin ein fundamentales, unabdingbares Element seines Genesisglaubens. Die Revolution ist ewig wie der Geist, unendlich wie der Fortschritt, sie ist ohne Anfang und ohne Ende. Slowacki und Mickiewicz mußten entweder auf die genesisverbundene Mystik oder auf das Wort Gottes Bezug nehmen, um die Revolution begründen zu können. Die revolutionären Schriftsteller und Romantiker Polens wie G. Ehrenberg, R. Berwinski und E. Dembowski brauchten auf eine derartige Begründung, das heißt auf die Begründung durch Gott und nicht durch den Menschen, nicht mehr zurückzugreifen. Die vierte Vision der Revolution, einer mystikfreien 130

Revolution, verwendete eine nicht von Gott stammende, sondern von Menschen festgelegte Sanktion für die Revolution; es ist die Vision einer Überzeugung, daß sich das Volk selbst die Gesetze gibt. Durch Erhöhung und Veredelung der revolutionären Tat und der Revolutionäre selbst verlieh die Romantik der Revolution das Charisma der Poesie. Zum Recht des Volkes und zur Begründung der Revolution fügte die Romantik außerdem noch etwas Wichtiges bei — die Revolutionsdichtung.94 Die Pariser Kommune wurde in der polnischen Literatur, wie man das an den Werken Die Flammen von S. Brzozowski und in der Pariser Kommune von W. Broniewski erkennt, in Kategorien der Romantik gefaßt, jedoch wirkte auch das Jahr 1905 auf diese Betrachtungsweise ein. „Hammer und Sichel" (so benannte E. Orzeszkowa die Rolle des Jahres 1863 für ihr eigenes Schaffen) schufen 1905 eine neue polnische Literatur. Wie die große Französische Revolution und der Völkerfrühling die Romantik geschaffen haben, so schuf das Jahr 1905 die polnische Literatur des 20. Jahrhunderts. Die neuzeitliche Problematik gestaltete sich im Osten, weil er dem Westen darin überlegen war, daß sich in seinen Grenzen die proletarischen Revolutionen der Neuzeit — die Revolution von 1905 und von 1917 — vollzogen haben. Die polnische Literatur wurde mit diesen Revolutionen unmittelbar konfrontiert. Sie nahm die Herausforderung an, die ihr die Revolution des 20. Jahrhunderts anbot. S. Zeromski, W. Berent, B. Jasienski, J. Przybos und W. Broniewski — das sind Namen von Schriftstellern, die uns als Zeugen dienen können. Noch einmal mußte die Literatur im Jahre 1944 auf diese Herausforderung antworten, als sie sich am Scheideweg zwischen Katastrophe eines Krieges und revolutionärer Erneuerung des ganzen Lebens befand. Sie reagierte darauf mit J. Andrzejewskis Asche und Diamant, der publizistischen Tätigkeit der Zeitschrift Ku^nica (Die Schmiede) und später mit den Essays von M. Jastrun, dem Drama von L. Kruczkowski, den Gedichten von W. Broniewski und der Prosa von K. Brandys und T. Konwicki. Hat die polnische Literatur ihre Mission gegenüber der Revolution erfüllt? Die Antwort, die die Forschung bisher gibt, kann nur par9*

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tiell, bei weitem nicht erschöpfend sein. Es fehlen zum Beispiel Abhandlungen wie Revolutionäre Persönlichkeiten als Vorbild in der polnischen Literatur, Revolution und Unabhängigkeit in der polnischen Literatur, Das Revolutionslied und seine Entstehung, Tagebücher der Revolutionäre als literarisches Problem sowie Diskussionen und Polemiken in Polen zum Thema: Literatur und Revolution. Diese Aufzählung weist schon auf bestimmte Lücken in der Problemfülle hin. Die Antwort ist außerdem heterogen. Es wurden bisher verschiedene Methoden zur einführenden Begründung des Phänomens „Revolution" in der polnischen Literatur verwendet: von der Soziologie der Revolutionsliteratur bis zur Untersuchung des Topos der Revolution, von der Analyse der „Überzeugungstechniken", die in der sowjetischen strukturellen Poetik dominieren, bis zur Interpretation des Widerspruchs zwischen „Dingen" und „Werten" in der Avantgarde und im Futurismus, von der Literaturgeschichte einer Idee bis zur globalen Erfassung der Rolle der Revolution im literarhistorischen Prozeß.

Janusz Stawinski

Synchronie und Diachronie im literarhistorischen Prozeß

1 Gleichsam am Rande erwähnt H. Sedlmayr, daß ihn das Vorgehen des Kunsthistorikers, der von der Interpretation des individuellen Werkes zur historischen Analyse übergeht, lebhaft an das eleatische Paradoxon des Schusses erinnert: Ein und dasselbe Objekt erscheint, je nach dem eingenommenen Standpunkt, entweder als ein Zustand, eine ruhende und in sich abgeschlossene Welt, oder als Ereignis innerhalb eines historischen Prozesses. 1 Je exakter wir die inneren Gesetze des „Mikrokosmos" eines Werkes beschreiben möchten, um so mehr entfernen wir uns von der Möglichkeit, seinen Anteil am Geschichtsverlauf zu erfassen. Und umgekehrt: Je stärker wir unsere Aufmerksamkeit auf das Ereignishafte des Werkes, auf seinen Anteil am Evolutionsprozeß richten, um so mehr entschwindet es als stabilisierte, fertige Ordnung unserem Gesichtskreis; es verliert die Grenzen seiner Identität, unterliegt der Zergliederung und löst sich selbst in seine genetischen Bedingungsfaktoren auf. Selbstverständlich kann man sich verschiedene Varianten eines praktischen Kompromisses zwischen diesen beiden Betrachtungsweisen vorstellen; nichtsdestoweniger wird das immer ein Kompromiß zwischen zwei einander ausschließenden Tendenzen sein. Möglich ist der Übergang von einem zum anderen, unmöglich ist ihre Gleichzeitigkeit. Oder anders formuliert: Sie lassen sich nicht in einer einheitlichen Sprache der Forschung ausdrücken; das Erfassen beider Aspekte eines Werkes erfordert die „zweisprachige" Darlegung. Dieser Widerspruch tritt nicht offenkundig aus sich selbst hervor, sondern in drastischer Form erst dann, wenn man die Richtigkeit zumindest folgender Voraussetzungen annimmt: 133

1. Methodologisch ist eine Situation möglich, in der das individuelle Kunstobjekt als heterogene Ordnung im Verhältnis zur Ordnung des historischen Prozesses interpretiert wird. 2. Der Gegensatz zwischen dem individuellen Werk und dem historischen Prozeß läßt sich auf einen Gegensatz zwischen „harter" Synchronie des Werkes und rein diachronischem Charakter des geschichtlichen Prozesses reduzieren. 3. Die Lokalisierung des Werkes in diesem Prozeß läßt sich mit Begriffen ausschließlich genetischer Zusammenhänge ausdrücken. Diese drei Grundsätze, besonders den zweiten, möchten wir als negativen Ausgangspunkt für unsere weiterenBemerkungen betrachten, denen wir prinzipiell andere Grundsätze zugrunde legen werden.

2 Zweifellos läßt sich die Situation des Einzelwerkes bei literarhistorischer Prozeßbetrachtung theoretisch nur schwer erfassen. Dabei handelt es sich um jene Realität, die dem Anschein nach die unbestrittenste und elementarste Realität im Forschungsbereich des Literaturhistorikers ist. Die chronologische Aneinanderreihung einer beliebig großen Anzahl von Werken kann noch kein Fundament für die Konstruktion einer Formel vom Entwicklungsprozeß bilden ; wenn wir eine solche Reihe wörtlich nehmen, haben ihre einzelnen Elemente für uns nur undurchsichtige Konkreta, mehr nicht. Von der bloßen Feststellung einer bestimmten Faktenfolge — wie zum Beispiel, daß 1776 der Roman MikßlajaDoswiadc^ynskiegopr^ypadki (Die Lebensgescbicbte des Mikolaj Dojtviadc^ynski) von I. Krasicki, 1826 Pan Starosta (Herr Starost) von F. Skarbek, 1847 die Kollokacja (Kollaktion) von J. Korzeniowski, 1887 in einer Serie des Kurier Cod^ienny der Roman Lalka (Die Puppe) von B. Prus und 1932 zwei Bände des Romans Noce i dnie (Nächte und Tage) von M. Dqbrowska erschienen sind — bis dahin, daß diese Fakten eine Evolutionsfolge bilden, im gegebenen Fall die einheitliche Entwicklungsreihe des polnischen sozialen Sittenromans, führt keineswegs ein direkter Weg. Ein solcher Übergang wird erst dann möglich, wenn sich der Status der so 134

identifizierten Erscheinungen grundsätzlich verändert, wenn wir nämlich aufhören, diese Erscheinungen als feste Tatsachen zu betrachten und in ihnen Zeichen größerer, unmittelbar unzugänglicher Ganzheiten erkennen. Das individuelle Werk wird vielmehr als Repräsentant eines bestimmten Systems literarischer Möglichkeiten, im gegebenen Fall als Manifestation der Gattung des sozialen Sittenromas, behandelt. Die These von der Evolutionsfolge bezieht sich nicht auf die angeführten Werke, sondern auf jene übergeordnete Ganzheit, die jedes dieser Werke repräsentiert. So vollziehen sich erst in diesem Bereich bestimmte Verschiebungen und Veränderungen. Die einzelnen Werke, von denen man sagt, sie würden eine bestimmte Entwicklungsreihe darstellen, sind lediglich Informationskomplexe, die die aufeinanderfolgenden Zustände eines Systems, das außerhalb derselben existiert, übermitteln. Das Beispiel des Gattungssystems erscheint hier selbstverständlich rein zufällig. Es ließen sich viele parallele Beispiele anführen, in welchen in der Funktion jener Ganzheiten, die der evolutionären Entwicklung unterliegen, weltanschauliche, stilistische, thematische und versifikative Systeme, literarische Strömungen oder Perioden auftreten. Die Abstraktion solcher Ganzheiten ist bekanntlich Gegenstand laufender Kontroversen unter den Literaturhistorikern : Doch was wir von dem einen oder anderen Versuch immer halten, jeder einzelne drückt die Überzeugung aus, daß sich die Kategorie der literarhistorischen Evolution nicht von einfachen Erscheinungsfolgen herleiten läßt und daß die Bedingung ihrer Existenz eine entsprechend formulierte Kategorie des literarischen Systems sein muß. Der Begriff des Entwicklungsprozesses scheint, um es explizit zu sagen, unvermeidlich den korrelativen Begriff der Struktur vorauszusetzen, denn jede Veränderung läßt sich überhaupt nur dann identifizieren, wenn wir auf zwei verschiedene Konzentrationszustände e i n u n d d e s s e l b e n Systems verweisen können, das sich zwar ständig verändert, aber doch nicht aufhört, es selbst zu sein. Andererseits hängt der Strukturbegriff direkt vom Begriff des Evolutionsprozesses ab, weil der Strukturcharakter einer bestimmten Ordnung von uns nur insoweit festgestellt werden kann, insoweit er — innerhalb bestimmter Grenzen — die Stabilität grundlegender Elemente und Zusam135

menhänge bewahrt, die in Opposition zu anderen Elementen und zu sich verändernden Zusammenhängen stehen. 2 * Dieser wechselseitigen Abhängigkeit beider Kategorien waren sich die russischen Formalisten durchaus bewußt. Ihnen verdankt deshalb auch die Literaturgeschichte in dieser Frage bis heute wichtige methodologische Bestimmungen. 3 (Allerdings ist zu bemerken, daß — wenigstens bei uns — in den zeitgenössischen Vorstellungen über die russische Formale Schule dieses Moment nicht genügend gewertet wird.) Eine entwickeltere methodologische Reflexion, die die dialektische Verbindung der beiden Kategorien „Struktur" und „Evolutionsprozeß" anstrebt, wurde in der Literaturwissenschaft erst dank den aus der Linguistik kommenden Impulsen möglich, durch die allmählich der absolute Charakter der Saussureschen Gegensätze zwischen Synchronie und Diachronie als Gegensätze von „Statik" und „Dynamik" der Sprache überwunden werden konnte. In allen bedeutenderen programmatischen Arbeiten der Prager Linguistischen Schule, insbesondere in Abhandlungen, die das theoretische Fundament der historischen Phonologie begründeten, wurde die These von der unbedingten Notwendigkeit der Termini „Diachronie" bei der Darstellung des Sprachsystems und „Synchronie" bei der Darstellung der Evolution des Systems entwickelt.4 Immer, wenn man die Verdienste der Prager Linguistischen Schule für die Literaturwissenschaft hervorhebt, betont man zugleich die Bedeutung des von dieser Schule entwickelten sprachwissenschaftlichen Instrumentariums, durch das es möglich wird, die Besonderheiten der poetischen Sprache festzustellen und zu beschreiben. Seltener wird jedoch die Bedeutung erwähnt, die die Konzeption der dynamischen Synchronie für die Theorie des literarhistorischen Prozesses hatte, und durch die der Widerspruch zwischen der strukturellen und historischen Analyse des Sprachsystems aufgelöst wird. An dieser Stelle sollte man wohl die Möglichkeitsform gebrauchen und von der Bedeutung reden, die diese Konzeption für die Literaturwissenschaft haben k ö n n t e , obzwar nicht zu übersehen ist, daß bereits mehr oder weniger fragmentarisch bearbeitete Programme der Literaturgeschichte bestehen, die unter dem Einfluß dieser Konzeption entstanden sind. 5 136

Die Kategorie „Struktur" sollte die Kategorie des individuellen Werkes aus der Theorie des literarhistorischen Prozesses ausklammern. „Die strukturelle Literaturwissenschaft ist", wie F. Siedlecki im Jahre 1939 feststellte, „eine Wissenschaft, die nicht p a r o l e sondern 1 a n g u e der Literatur untersucht." 6 Die radikale Gegenüberstellung dieser beiden Konzentrationszustände der Literatur scheint das fragwürdigste theoretische Element zu sein, für das sich der Autor der bekannten Studie ^ metrjki polskiej (Studien %ur polnischen Metrik), Wilno 1937, entschieden und das er in seiner Praxis verwirklicht hat. Diese Meinung stützen wir auf den oben zitierten Satz. Wenn es nämlich wahr ist, daß sich die Situation der individuellen Kommunikation auf dem Grund der Theorie des Literaturprozesses nicht besonders gut abzeichnet — wobei die Theorie ja immer mit Ganzheiten höherer Ordnung als nur mit dem Werk arbeitet —, so scheint diese Wahrheit besonders klar dann hervorzutreten, wenn wir sie mit einer Methodologie vergleichen, in der die Sorge um die Bestimmung des Strukturcharakters jener Ganzheiten an die erste Stelle rückt. Der Strukturalismus, der den Begriff 1 a n g u e der Literatur einführte und die Sphäre der Systemverbindungen isolierte, innerhalb derer sich evolutionäre Veränderungen vollziehen und beobachtet werden können, unterschätzte zugleich die Rolle der individuellen literarischen Aussage (parole) als Einheit des literarhistorischen Prozesses. Das mußte natürlich zu einem sehr abstrakten Verständnis von jeglicher Veränderung führen, die dann ausschließlich als Verschiebung von Elementen innerhalb des Literatursystems (zum Beispiel im Versifikations- oder Gattungssystem) aufgefaßt wurde. Die Werke wären bei einer solchen Betrachtungsweise lediglich die Entäußerung längst erfolgter Verschiebungen und ihrer Exponenten, nicht aber beteiligt an diesen Prozessen. Es läßt sich nicht bestreiten, daß sich der Begriff einer Veränderung nicht auf einzelne Werke bezieht, sondern nur auf der Basis einer bestimmten Systemkonzeption sinnvoll verwendet werden kann.7 Aber sowohl ein System als auch eine Veränderung sind, wenn man das so formulieren kann, Realitäten „zweiten Grades", ein Strukturkorrelat der statistischen Realität. Das System existiert nur insoweit, als ihm eine bestimmte Vielheit individueller literarischer Infor137

mationen adäquat ist. Veränderung innerhalb eines Systems ist die Resultante einer Reihe einzelner Innovationen. 8 * Der literarhistorische Prozeß verläuft im Bereich der l a n g u e der Literatur, jedoch lediglich in dem Grade, wie er sich gleichzeitig auf dem Niveau individueller Worte, p a r o l e s , vollzieht. Das Werk beteiligt sich am Prozeß als partielle Realisierung eines Systems und zugleich als m i n i m a l e I n n o v a t i o n eines Systems, als geringste notwendige Bedingung von Systemveränderung. E s scheint, als ob die theoretische Untersuchung des literarhistorischen Prozesses unabdingbar die realen Verhältnisse, die zwischen der individuellen Initiative des Schriftstellers und dem literarischen System bestehen, berücksichtigen müßte, weil ohne Erfassen der wechselseitigen Abhängigkeiten auch die übrigen Beziehungen, zum Beispiel zwischen dem synchronen und dem diachronen Aspekt des Prozesses, nicht deutlich genug in Erscheinung treten könnten. Aus diesem Grunde wollen wir uns bei unseren weiteren Darlegungen hauptsächlich auf Probleme konzentrieren, die mit der Situation der individuellen Werkkommunikation im Rahmen größerer literarhistorischer Einheiten zusammenhängen. Konkret ausgedrückt heißt das, wir werden uns besonders interessieren für das Zusammenwirken von W e r k und l i t e r a r i s c h e r T r a d i t i o n , weil dies nach unserer Auffassung der fundamentale Aspekt für diesen Zusammenhang ist. Die Tradition ist der größte spezifisch literarische Kontext eines Werkes, und gerade der Umstand, daß die Tradition diese beiden Bedingungen erfüllt, macht sie zu einer Schlüsselkategorie der historischen Poetik. Es lassen sich Kontexte des Werkes aufzeigen, die breiter angelegt sind als die literarische Tradition (zum Beispiel die gesamte Kulturtradition), aber sie weisen keinen spezifischen Charakter auf, andere, spezifisch literarische Kontexte (zum Beispiel Direktiven einer bestimmten Poetik) haben wiederum keinen so breiten Aktionsradius wie die Tradition. Die einzelne literarische Aussage erscheint in vielen Bezugssystemen und verwirklicht zugleich eine Reihe von Programmen. Doch alle literarhistorischen Ganzheiten, die solche Bezugssysteme darstellen (ideologische Systeme, Grundsätze einzelner Gruppen oder literarischer Schulen, formulierte Poetiken, Tendenzen einer bestimmten Strömung 138

usw.), beeinflussen das schriftstellerische Unternehmen nur insofern, als sie im Schaffensprozeß in eine rudimentäre Sprache „übertragen" werden, die ihrerseits das praktische Vorgehen des Autors dann unmittelbar bestimmt. Die Sprache, die als Mittlerin zwischen Werk und a l l e n seinen Kontexten wirkt, ist die literarische Tradition.

3 Das Verhältnis zwischen Werk und Tradition ist in vieler Hinsicht ein Analogon der Relation zwischen Aussage und Sprachsystem. An dieser Stelle betonen wir lediglich die Analogie, weil wir aus unseren Überlegungen die faktischen Wechselbeziehungen, die beide Systeme miteinander verbinden, ausklammern möchten. Das literarische Werk ist vor allem eine sprachliche Information, und auf dieser fundamentalen Existenzstufe befindet es sich in gleicher Situationwie jede andere Aussage. Das heißt, es läßt sich mit ausgewählten und kombinierten Begriffen von langue-Einheiten beschreiben. Vom sprachhistorischen Standpunkt aus ist die literarische Kommunikation in erster Linie wesentlich als Manifestation eines historisch bestimmten Zustandes des Sprachsystems zu fassen. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit nun auf die Tradition lenken, also in den Bereich literarhistorischer Interessen übergehen, beginnen wir uns mit einem System zu befassen, das im Verhältnis zu jenem eine besondere Art von Subsystem darstellt und das der Aussage speziellere Begrenzungen auferlegt. Das Vorhandensein dieser höheren Stufe von Beschränkungen erlaubt uns überhaupt erst, zwischen der literarischen Kommunikation und anderen Arten verbaler Kommunikation zu differenzieren. Ein Hauptanliegen der historischen Poetik ist die Bestimmung dessen, wie sich unter verschiedenen Bedingungen die Wechselwirkung von Sprache und Tradition vollzieht, wie die Tradition zwischen Sprache und literarischer Aussage v e r m i t t e l t , indem sie bestimmte Operationsgrundsätze für die Nutzung von Möglichkeiten eines bestimmten Sprachsystems auf seinen verschiedenen Stufen einführt (auf der phonologi139

sehen, grammatikalischen, lexikalischen und syntaktischen Stufe) sowie auf die Möglichkeiten der verschiedenen (territorialen, milieubedingten und funktionalen) „Subcodes" der Sprache verweist. Bekanntlich können sich in bestimmten Situationen die imRahmen der Tradition entstandenen Differenzierungen mit den in der Sprache auftretenden Differenzierungen (zum Beispiel die Adäquatheit der poetischen Gattungen und Dialekte im Alten Griechenland) als identisch erweisen. Wenn man diese Wechselbeziehungen beständig im Auge behält, läßt sich die Aufmerksamkeit besser auf die Tradition, also das besondere Bezugssystem des Werkes konzentrieren, ohne daß dabei die Zusammenarbeit von Tradition und Sprachsystem eingehender betrachtet werden muß. Genau dann erhebt sich die Frage der bereits erwähnten Analogie. Die literarische Aussage ist „Gebrauch" der Tradition so ähnlich wie — auf niederer Stufe — sie „Gebrauch" der langue ist. Hier und dort haben wir es mit analogen Operationen der Auswahl und Kombination von Einheiten zu tun, die in ein Strukturganzes eingehen, das außerhalb der konkreten aussageformenden Akte existiert. Hier und dort hat die Relation zwischen dem überindividuellen System und dem individuellen „Gebrauch" den Charakter eines funktionalen Zusammenhangs. Weder Sprache noch Tradition sind kausale Aussagedeterminanten. Sie bedingen zwar deren Entwicklung, werden aber nur in solchen Entwicklungen Realität. Hier existieren zweiseitige Abhängigkeiten: Das System ermöglicht die Aussage, doch wird es erst durch die Aussagen aktualisiert und bestätigt. Die literarische Struktur stellt eine hochgradig komplexe Struktur dar. Selbstverständlich gelingt es hier nicht, in diese Komplexität tiefer einzudringen, das würde die detaillierte und vergleichende Betrachtung verschiedener historisch konkreter Traditionszustände erfordern. Wir wollen daher lediglich drei grundlegende Aspekte der Kompliziertheit dieser Struktur hervorheben: 1. Zunächst ist es notwendig, auf die prinzipiell zweifache Existenzweise von Tradition aufmerksam zu machen. In jedem historischen Moment repräsentiert sie sich uns erstens als eine Vielheit literarischer Akte (Werke), und zweitens als ein bestimmtes, mehrstufig systemorganisiertes Inventarverzeich140

nis literarischer Normen. Zu diesem Verzeichnis gehören nicht nur die in den Werken realisierten Normen, sondern auch die durch die Poetik kodifizierten und die in literaturkritischen Äußerungen formulierten Normen.9 Indem wir innerhalb der Tradition die Werke und ein Normeninventar unterscheiden, grenzen wir zugleich ihre beiden einander gegenseitig ergänzenden Aspekte voneinander ab — den statistischen und den strukturellen. Das Werk als Traditionselement hat vor allem negative Bedeutung. Es wirkt so, daß es das Erscheinen gleicher Realisierungsformen ausschließt. Die bestehenden Lösungen eliminieren konkrete Auswahlmöglichkeiten und verschließen bestimmte Wege für künftige schriftstellerische Entscheidungen. Das bereits vorgefundene Arsenal von Werken ist eine Vielheit „besetzter Plätze" im Traditionsbereich. In diesem Zusammenhang ließe sich eine auf den ersten Blick paradox anmutende These formulieren: Je breiter die Palette dieser „besetzten Plätze", um so größer auch die Dimension der offenen Möglichkeiten, die die Tradition den Literaturproduzenten anbietet. Diese These führt entgegen allem Anschein — zur Erkenntnis eines offensichtlichen Abhängigkeitsverhältnisses. Das Werk, das eine einmalige Entscheidung ist, informiert nicht nur über sein „einmaliges Dasein", sondern erinnert auch an ein umfangreiches Repertoire von Möglichkeiten, die in ihm partiell realisiert wurden. Dieses Repertoire (oder besser ausgedrückt —eine Reihe.verschiedener Repertoires) ist die Grundlage dieser einmaligen und unwiederholbaren Auswahl. Das Werk ist die Konfiguration bestimmter Eigenschaften, aber hinter jeder dieser Eigenschaften, die isoliert betrachtet werden können, verbirgt sich eine K l a s s e von E i g e n s c h a f t e n , die sich darstellt. Desgleichen läßt jede erfaßbare Relation zwischen den einzelnen Merkmalen eines Werkes eine potentielle K l a s s e von R e l a t i o n e n erkennen, aus der diese Relation ausgewählt worden ist. Die dreizehnsilbigen Verse im Pari Tadeus% sind Segmente eines in seiner Art einmaligen Erzählflusses; zugleich sind sie jedoch die Aktualisierung eines bestimmten Silbentypus der Versform (7+ 6), der in der polnischen präromantischen Poesie in verschiedenen Formen hervorgetreten ist. Die Fabel im Latarnik (Leucbtturmiväcbter) von H. Sienkiewicz ist eine in 141

ihrer Beziehung zum Schicksal des Titelhelden einmalige Ordnung. Durch die Entwicklung der Fabel jedoch wird ein gewisses Schema der einlinigen novellistischen Fabel mit einem deutlich akzentuierten Kulminationspunkt ins Bewußtsein gerufen. Die Gleichzeitigkeit zweier lyrischer Perspektiven, des Erzählers und der Gestalten, ihrer Interferenz und ihre dramatische Kooperation sind die individuellen Eigenarten des Erzählstils in den Werken von S. Zeromski, aber außer diesen Besonderheiten dringen allgemeinere Grundsätze durch, die in der naturalistischen Prosa das Verhältnis des Erzählers zur Welt der Helden und die Art und Weise bestimmen, wie die erlebte Rede als stilistische Komponente jenes Verhältnisses verwendet wird. Das individuelle Werk regt uns mit seinen Elementen und deren Kombinationen gleichsam zur Nutzung der breiten literarischen Möglichkeiten an. Es aktualisiert ganze Klassen von Verwendungsmöglichkeiten bestimmter Eigenschaften oder Relationen, setzt diese in Aktion und öffnet sie. Die Grenze aller dieser potentiellen Klassen ist die l i t e r a r i s c h e N o r m . Sie bildet das Kriterium, das den Grad der Vielheit der Realisierungsmöglichkeiten eines bestimmten Eigenschaftsmerkmals (oder des Verhältnisses der einzelnen Merkmale zueinander) beschränkt. Sie setzt den Rahmen für alle „zulässigen" Entscheidungen und ist der negative Maßstab für alle „unzulässigen" Entscheidungen. 10 * So erfordert also die Situationsanalyse eines Werkes, das Bestandteil einer gegebenen Tradition ist, die Unterscheidung von drei Ebenen: die Ebene der individuellen Konfiguration erkennbarer Eigenschaften eines Werkes, die Ebene der Klassen von Merkmalen (und Relationen) und schließlich die Ebene der Normen, die jene Klassen beschränken. Das Werk ist eine idiomatische, gesonderte Lösung, die für die Zukunft ganz bestimmte Unterfangen ausschließt. Doch diese Unwiederholbarkeit des Werkes löst zugleich eine Zone wiederholbarer Möglichkeiten aus und vergegenwärtigt die Existenz bestimmter Normen, die eine offene Chance für zukünftige Realisierungsmöglichkeiten bieten. Die literarische Norm ist die elementarste Einheit der Tradition. Wir sind wohl imstande, die einzelne Norm isoliert zu betrachten, könnten jedoch keinesfalls die Umstände kenn142

zeichnen, unter denen sie selbständig in Aktion zu treten vermöchte. Sie erscheint immer im Rahmen eines Ganzen, dessen Korrelat im Stoff des Werkes eine bestimmte Anordnung erkennbarer Merkmale und Abhängigkeiten ist. Solcherlei Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Normen, die mit Hilfe der Interpretation einzelner Werke manifest werden und. sich dann erfassen lassen, sind im allgemeinen nur insofern möglich, als eine bestimmte „Grammatik" jener Normen zur Verfügung steht, die es möglich macht, gerade in solchen und nicht anderen Zusammenhängen in Erscheinung zu treten. Die Normen müssen Systemelemente sein, damit sie in konkreten Gruppen effektiv werden können. Außerhalb dieser Gruppen müssen sie in irgendwelchen paradigmatischen Verbindungen verbleiben, irgendwelche Gegensätze hervorrufen, auf deren Grundlage sie zu funktionieren vermögen. Diese „Grammatik" der Normen bestimmt das strukturelle Gepräge der Tradition. In unseren Darlegungen hatten wir die besondere Bedeutung der These der zwei Traditionsaspekte hervorgehoben und nachdrücklich betont, daß beide Aspekte der Tradition einander wechselseitig bedingen, wobei der Übergang von einem Aspekt zum anderen möglich sei. Das Normensystem, das wir zu rekonstruieren vermögen, existiert nicht unabhängig von der gegebenen Vielheit der Werke, gleichsam als ideale Ordnung, sondern ist z w i s c h e n den Werken lokalisiert; es steckt den Bereich gemeinsamer Normen ab und legt das Feld fest, in dem sie vergleichbar werden. 2. Wenn wir feststellen, daß die Tradition vom strukturellen Aspekt her ein Normensystem ist, dann darf diese Formulierung nicht dazu führen, die Komplexität des Zusammenhanges zu verdecken. Im Wesen handelt es sich hier nicht um ein einheitliches System, sondern um die koordinierte Koexistenz von verschiedenartigen Teilsystemen. Die einzelnen Normen sind in den Kontexten solcher Teilsysteme abgelagert, und erst durch ihre Teilnahme an ihnen beteiligen sie sich an der ganzheitlichen Struktur der Tradition. Ihren Zustand in einem bestimmten historischen Moment darstellen, verlangt auch zu beschreiben, wie die verschiedenen Normeinheiten, die innerlich nach verschiedenen Grundsätzen geordnet und sowohl hierarchisch als auch korrelativ ver143

teilt sind, zusammen funktionieren. Die einzelnen Normeinheiten sind nicht wie die Würfel eines Mosaikspiels aneinandergereiht und füllen auch nicht genau die eingegrenzten Flächen im Traditionsraum, sondern durchdringen einander wechselseitig; sie schaffen gemeinsame Grenzgebiete und Bereiche verwischter „Kompetenzen". Die Grenzen der einen Zone verlaufen im Bereich der anderen Zone, die Übergänge zwischen ihnen sind im allgemeinen fließend, und die Gegensätze zwischen den einzelnen Feldern zeichnen sich erst bei einem Vergleich der einzelnen Zonen mit den Zentralgebieten ab, in welchen die konstitutiven Normen eines jeden einzelnen Systems konzentriert sind. Die Tradition ist eine Ordnung, die eine unterschiedliche Struktur„dichte" aufweist. Das gleiche läßt sich von jedem ihrer Sektoren sagen. Die Komprimierungen korrelierter Normen erscheinen innerhalb mehr oder minder freier Abhängigkeitsbeziehungen, die letztlich in andere Systembeziehungen eintreten können. Es scheint so, als ob diese „Austausch"felder innerhalb der einzelnen Systeme auf dem Feld von Traditionsstrukturen der Realität der konkreten literarischen Kommunikation am nächsten seien. Das einzelne Werk ist nämlich der Exponent eines Kompromisses zwischen verschiedenen Normkatalogen, die durch diesen Kompromiß bestimmte Verbindungen eingehen, ihre Ansprüche miteinander abstimmen, sich gegenseitig „deformieren" und schließlich ein bestimmtes Modell dynamischen Gleichgewichts herstellen. Keine Ebene poetischer Aussage läßt sich vollkommen erklären, wenn wir lediglich die ihr eigenen Normen in Betracht ziehen. Zum Beispiel bedeutet die Wahl des lexikalischen Materials nicht nur Realisierung von Normen, die in der gegebenen Tradition den Charakter des poetischen Wortschatzes bestimmen, sie kann auch von vielen anderen Erfordernissen abhängen: von den Normen des akzeptierten Versifikationssystems, nach dem die Worte bestimmte Silbenweiten oder — wie das im metrischen System des Verses mit fester Silbenzahl der Fall ist — zusätzliche Schemata der Akzentverteilung beachten müssen. Des weiteren hängen sie von den Regeln der poetischen Instrumentation ab, die den Sättigungsgrad der Konsonanzaussagen und die Organisation der Konsonanzen 144

(zum Beispiel Reime oder Alliterationen) kennzeichnen. Damit werden manchmal sehr stark spezialisierte Einschränkungen für den Wortschatz festgelegt, die abhängig sind von den syntaktischen Normen, vom Charakter der eingeführten thematischen Einheiten (Motive), von der Art des Musters des lyrischen „Ichs" (Redner, Subjekt persönlicher Konfessionen, Darsteller usw.). Die Liste dieser Abhängigkeiten ließe sich gewiß noch vervollständigen, ohne damit jedoch das theoretische Problem selbst weiter zu erhellen. Bereits die elementarste Wortkombination in einem poetischen Text aktualisiert ein ganzes Bündel gleichzeitiger Instruktionen, die aufeinander abgestimmt sein müssen. Im Ergebnis dieses Prozesses weichen diese unvermeidlich in mehr oder minderem Grade von den Forderungen der entsprechenden Systeme ab. Selbstverständlich sollten wir immer daran denken, daß solche Instruktionen in gewisser Weise aufeinander abgestimmt und entsprechend der gegebenen Tradition abgestuft sind, daß ihre Mitwirkung am konkreten Werk keinen demokratischen Charakter trägt, sondern die Vorherrschaft eines bestimmten Normentypus gegenüber anderen Normen voraussetzt. Das betrifft insbesondere solche Situationen, in welchen derartig komplexe Subsysteme dominieren, wie es die literarischen Gattungen sind, die mit ihren Regeln die verschiedenen Etagen eines Werkes „bedienen" und die die zwischen ihnen bestehenden Verhältnisse der Über- und Unterordnung herstellen. Die klar hierarchische Ordnung der Normenrepertoires, wie sie beispielsweise in der klassizistischen Tradition besteht, beschneidet gewiß die Freiheit ihrer Konkurrenz in der individuellen Aussage, vermag aber eine solche Konkurrenz auch nicht gänzlich auszuschließen. Ein bestimmtes System, zum Beispiel ein Gattungs- oder Stilsystem, ist Treffpunkt vieler Einzelwerke. Das trifft auch umgekehrt zu: Im einzelnen Werk begegnen einander verschiedene Systeme, kreuzen sich verschiedene Normenkataloge, demzufolge kann es als „Übergangsstadium" zwischen verschiedenen Sektoren von Tradition betrachtet werden. Der Mikrokosmos einer Kommunikation ist. die einmalige Strukturalisierung einer solchen „Übergangssituation" und steht im Gegensatz zu dem, was im Makrokosmos der Tradition 10

Dieckmann

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am meisten strukturalisiert ist. Die „Dichte", die die zentralen Gebiete eines einzelnen Normensystems kennzeichnet, findet ihre Opponenz in der strukturellen „Dichte" der individuellen Information, die sich zwar auf die ersten nicht reduzieren läßt, jedoch ohne sie nicht existieren kann. Dieser Gegensatz wird selbstverständlich allmählich abgebaut. Das geschieht in dem Maße, wie wir vom individuellen Werk zu immer größeren, in der Tradition fest verankerten Gruppen von Werken übergehen. J e repräsentativer die Gruppe solcher Werke, die wir zu berücksichtigen haben, sein wird, um so geringer werden die Abweichungen innerhalb der Gruppen sein, die zwischen ihren Normen und ihren systemhaften Konzentrationen innerhalb der Traditionsstruktur entstehen. 3. Wir gehen im folgenden zu dem dritten Querschnitt der Traditionskomplexität über. In jedem Entwicklungsmoment ist die Tradition G l e i c h z e i t i g k e i t aller ihrer verflossenen Zustände, aller ihrer vergangenen Evolutionsphasen; sie ist „Raum", in dem verschiedene Entwicklungsetappen und -perioden 1 1 * miteinander existieren und sich vermischen. Verhältnisse der Sukzessivität werden in ihr transponiert in Verhältnisse des Nebeneinander. Das geschieht sowohl auf der Ebene des vorhandenen Schatzes literarischer Aussagen als auch auf der Ebene der Normen. Ein beliebiger Traditionszustand läßt sich als „Projektion der Diachronie in der Synchronie" 1 2 * charakterisieren. Die nicht zu bezweifelnde Ähnlichkeit dieser Situation mit der Realität, die von der historischen Geologie untersucht wird, veranlaßt natürlicherweise zu einer Verwendung von Metaphern, die aus den Vorstellungen dieses Wissenschaftsgebietes stammen. Der Literaturhistoriker, der einen bestimmten Traditionszustand rekonstruiert, stößt — ähnlich wie der Geologe — auf die Koexistenz von „Schichten" oder „Flözen", deren gegenwärtige Struktur Ergebnis eines erstarrten Evolutionsprozesses ist. Es wäre allerdings falsch, würde er sich beliebig den Suggestionen geologischer Metaphern überlassen. Wollte man sie allzu wörtlich nehmen, würde — unserer Meinung nach — die richtige Vorstellung über die literarhistorische Synchronie verdunkelt werden. Während nämlich die Verteilung der geologischen Schichten tatsächlich das genaue Adäquat ihres Herauslö146

sungs- und Ablagerungsprozesses ist, bleibt die Struktur der in der Tradition entdeckten „Schichten" unabhängig von der realen Entstehungsfolge. In der heutigen Situation der Literatur (also 1971) kann der Kanon der romantischen Lyrik des 19. Jahrhunderts „älter" sein als die Poetik des Barocks und ein mittelalterliches Moralspiel „neuer" als das naturalistische Drama. Die Bezeichnungen „älter" und „neuer" sind keine chronologischen Qualitätsmerkmale, sondern heben lediglich die relative Bedeutung einer bestimmten Normen- und Erfahrungsschicht innerhalb einer bestimmten Synchronie hervor. Die Gestaltung der Tradition ist nicht einfach eine mechanische Schichtung literarhistorischer Abläufe, sondern ein ständiges Vermischen der Schichten, ein ständiges Umorganisieren ihrer Anordnung. Bei der Herauslösung eines gegebenen Traditionszustandes treffen wir benachbarte Schichten an, denen in der Diachronie weit auseinanderliegende Abschnitte entsprechen können und umgekehrt. Jede Traditionsgegenwart bewegt sich zwischen den Ablagerungen interpretierter Erfahrungen als Grundlage für archaisierende Lösungen und solchen Ablagerungen von Werken, die gewissermaßen noch Neologismen sind. Der Maßstab für Archaismus und Neologismus sind die historischen Schichtungen, die im Zentrum der gegebenen Synchronie verteilt sind. Für den polnischen Roman der Zwischerikriegsperiode (1918—1939) waren die zentralen Traditionsschichten immer noch die Normen der realistischen Prosa, die in diesem literarhistorischen Kontext am vollständigsten von M. D^browska in ihrem Roman Noce i Dnie (Näcbte und Tage) aktualisiert wurden. In der Situation des Archaismus würde sich beispielsweise eine Erzählgattung wie die „adligen Kamingeschichten" befunden haben und in der Situation des Neologismus die Erzähltechnik des „Bewußtseinsstromes". Wenn wir von zentralen Schichten der Tradition reden, möchten wir damit nicht feststellen, daß dies die allgemein akzeptierten Normenrepertoires für das Schaffen einer bestimmten Periode sind, sondern wir fassen darunter solche Repertoires, die ein notwendiges Verhältnis zu allen neuen Unternehmungen ausbilden, und zwar sowohl zu denen, 10*

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die sich in den Grenzen bestimmter Möglichkeiten bewegen, als auch zu denen, die jene Grenzen in dramatischer Weise durchbrechen werden. An anderer Stelle haben wir den Begriff der S c h l ü s s e l t r a d i t i o n 1 3 benutzt. Dieser Begriff hat die Aufgabe, aus der ganzheitlichen Traditionsstruktur einer bestimmten Periode jenen Normenbestand herauszulösen, der die Literaturproduzenten verpflichtet, einen bestimmten Standpunkt zu beziehen, sich also für oder gegen etwas zu entscheiden (zum Beispiel das Modell der romantischen Lyrik und die Lyrik der ersten Jahre der Zweiten Republik nach 1918 oder das avantgardistische Modell, insbesondere das von J. Przybos, und die Lyrik nach 1956). Es scheint, als habe die Schlüsseltradition die Funktion, zu einem bestimmten Zeitpunkt sehr unterschiedliche Beziehungsformen zur Tradition zu mobilisieren: von der unkritischen Übereinstimmung bis zum totalen Gegensatz. Je stärker diese Reaktionen differenziert sind, um so besser kommt der universelle Charakter der Tradition in einer bestimmten literarischen Kultur zum Vorschein. Positiv von den einen aufgenommen, polemisch in Frage gestellt von anderen oder vielleicht sogar bekämpft von dritten, wird die Schlüsseltradition zur Integrationsebene zerstreuter und vielgestaltiger literarischer Tendenzen — sowohl individueller wie kollektiver. Sie spielt eine Rolle als gemeinsames Bezugssystem für neu dazukommende Erfahrungen, die im Verhältnis zu ihr im allgemeinen identifizierbar und klassifizierbar 14 * sind. Zugleich aber hat sie Bedeutung als Bezugssystem für alle übrigen Traditionsschichten, die im Verhältnis zu ihr erkennbar und (positiv oder negativ) bewertbar sind. Sie liefert die Kriterien, die es erlauben, in einer bestimmten Zeit die räumliche Breite der Tradition zu systematisieren und sich in ihren Richtungen, unter anderem auch entlang der Achse Archaismus-Neologismus zu orientieren. In diesem Zusammenhang muß bemerkt werden, daß die Schlüsseltradition selbst im Verhältnis zu anderen Schichten den geringsten Grad historischer Eigenheit aufweist. Den ihr immanenten Normen schreibt man unter den jeweils gegebenen Bedingungen den Charakter überzeitlicher Evidenz zu, deren Zusammenhang mit einer konkreten Phase der litera148

rischen Vergangenheit so verhüllt werden kann. Die Relativität der Normen tritt erst dann hervor, wenn sich eine entsprechend große Anzahl von Initiativen feststellen läßt, mit denen diese Normen durchbrochen wurden; gerade dann erfolgt die generelle Umgruppierung der Kräfte und der Übergang zu einem neuen Traditionszustand. Die Gegensätze zwischen den verschiedenen Stufen temporärer Eigenheiten von einzelnen Traditionsschichten, besonders aber die Gegensätze zwischen den in dieser Hinsicht neutralsten Normen der Schlüsseltradition und den Normen, die sich in unmittelbarer Nähe der Pole Archaismus-Neologismus befinden, sind im Rahmen einer bestimmten Synchronie Exponent diachronischer Verhältnisse. Die Tradition existiert in der Gegenwart, aber das ist eine unhomogene Gegenwart, eine „Koexistenz der Asynchronismen", um hier den in einem anderen Problemzusammenhang eingeführten Terminus von W. Kula 1 5 zu verwenden. Ihre Dynamik wird von dem Zusammenwirken verschiedener Zeitabschnitte, vom Alternieren der Erfahrungen in verschiedenen Entwicklungsstadien der Literatur sowie von der Parallelität vermischter und neu interpretierter Abschnitte der Diachronie bestimmt. In jedem einzelnen Moment umfaßt die Tradition nicht nur Vergangenheit, sondern zugleich auch die Ankündigung zukünftiger Zustände sowie bestimmte Chancen, die es ermöglichen sollen, über den erreichten Gleichgewichtszustand 10 hinauszugelangen. Diese synchronische Koexistenz verschiedener literarhistorischer Etappen kennzeichnet die Tradition als Ganzes; ihre Erforschung und Interpretation erfolgt allerdings über ihre Teilsysteme. Wir können zwar die historische Schichtung beschreiben, wie sie beispielsweise im Repertoire der Versifikationsnormen, die in einem bestimmten Augenblick die poetische Praxis beeinflussen, in Erscheinung tritt oder wie sie sich innerhalb einer Gruppe verwandter (zum Beispiel epischer) Gattungen feststellen läßt, aber es wäre sehr kompliziert, eine einheitliche Schichtung nachzuweisen, die durch alle Traditionszonen hindurchgeht. In ihren einzelnen Teilsystemen sind die Normen hierarchisch gegliedert. Erforscht man den Zustand einer Literatur149

gattung, dann lassen sich neben primärdistinktiven Einheiten auch fakultative und akzidentelle 1 7 Einheiten feststellen. Im metrischen System können wir grundlegende Direktiven herausstellen, „feste" Größen und Regeln, die als mehr oder weniger freizügige „Tendenzen" wirksam werden. In jedem Normensystem bestimmen einander — sofern das innerhalb einer Tradition überhaupt erkennbar ist — die Faktoren eines höheren und niederen Strukturalisierungsgrades wechselseitig. Daraus folgert dann auch ein höherer oder niederer Grad von Imperativen (unter dem Aspekt der „Verbraucher" der Tradition, der Schriftsteller und des literarischen Publikums). Durch das Spiel der „gebundenen" und „freien", konstitutiven und modifizierenden, konventionell festgelegten und peripheren Elemente und dann auch durch strukturelle Beziehungen äußert sich die Aktion des historischen Prozesses. In diesem Spiel repräsentieren die ersten Elemente die am meisten herauskristallisierte Gegenwart der Tradition, während die Strukturen entweder Symbole vergangener Strukturzustände, die gegenwärtig weiter in den Hintergrund rücken, oder Ansätze sich gestaltender Situationen, Symbole irgendwelcher Frühphasen von Strukturalisierungsprozessen darstellen. Mit den bisherigen Darlegungen wurde versucht, die wichtigsten Aspekte eines synchronischen Querschnitts der literarischen Tradition zu skizzieren, wie er für die Erforschung eines bestimmten historischen Moments möglich ist.Wir wollten in diesem Zusammenhang sehr akzentuiert hervorheben, daß ein solches synchronisches Traditionsbild kein unbewegliches Bild ist. Es wird vielmehr durch mindestens drei Gegensätze charakterisiert, die ihre innere Dynamik und ihr schwankendes Gleichgewicht, das zugleich konzentrierte Erwartung einer Veränderung ist, determinieren. Es sind — noch einmal wiederholt — die Gegensätze: zwischen dem Bestand an Werken und dem Normenkatalog, zwischen den Teilsystemen der in der Tradition koexistierenden Normen und schließlich zwischen den verschiedenen Schichten der Vergangenheit, die in ihrem Raum zusammenwirken. Wenn man davon spricht, daß die Tradition in einem bestimmten historischen Moment gerade so und nicht anders 150

existiert, dann müssen wir erläutern, wie wir die Bezeichnung des „beliebigen Moments" inhaltlich fassen wollen. Unserer Meinung nach handelt es sich dabei um die Herauslösung einer beliebigen schriftstellerischen Initiative. Selbstverständlich vermag nicht jede Initiative von sich aus dem Literaturhistoriker bereits interessant erscheinen. Er befaßt sich nämlich mit Unternehmen, die er individuell als bedeutsam bewertet, oder auch mit einem Komplex von Unternehmen, die zusammen betrachtet ein bedeutsames Ganzes im literarhistorischen Prozeß bilden (zum Beispiel das Gesamtwerk eines Schriftstellers, einer Gruppe oder Generation, die Poetik, eine literarische Strömung). Es liegt kein Grund vor, weshalb das anders sein sollte. Das Problem aber, das uns interessiert, ist gewissermaßen unabhängig vom Rang der literarischen Initiative. Jede schriftstellerische Erfahrung aktualisiert die Tradition gleichsam auf ihre eigene Rechnung und definiert ihren Zustand gewissermaßen von neuem. Diese jeweils „einmalige" Nutzung der Tradition ist das kleinste Ereignis, das deren Existenz bestätigt, und erst wenn wir genau bestimmen können, worauf diese beruht, sind wir in der Lage, uns fundiert um eine Charakteristik komplizierterer Ereignisse im literarhistorischen Prozeß zu bemühen.

4 Die Tradition ist im Verhältnis zum individuellen Handeln ein vorhandenes und äußeres System, zugleich aber auch die „immanente Norm" eines solchen Handelns. 18 Sie erscheint als Kontext der individuellen Kommunikation und ist zugleich Bestandteil ihrer inneren Ordnung. Oder mit anderen Worten: Ein neu entstehendes Werk t r i t t gleichsam in die Tradition e i n , doch geschieht das in einem solchen Umfange, wie die Tradition in ihm v e r e i n n a h m t wurde. Im folgenden wollen wir diese Abhängigkeit eingehender betrachten. Als wir die Existenzweise der Tradition charakterisierten, richteten wir unsere Aufmerksamkeit auf ihre grundsätzliche Dualität. Die Tradition bietet sich den Literaturproduzenten 151

und dem literarischen Publikum einmal als ein Bestand an Werken der Vergangenheit und zum anderen als ein mehr oder weniger systematisierter Normenkatalog an. Es scheint so, als ob diese Dualität, die der Makrostruktur der Tradition eigen ist, in der Mikrostruktur der Einzelkommunikation seine Entsprechung fände. Da uns keine geeigneten literarhistorischen Kategorien, die wir bei der Beschreibung der uns interessierenden Erscheinung verwenden könnten, zur Verfügung stehen, benutzen wir an dieser Stelle Begriffe, die anderen Disziplinen entstammen, und führen diese in unsere Abhandlung ein. Es handelt sich um die Begriffe „Phänotyp" und „Genotyp". 19 * Als Phänotyp eines Werkes werden wir die explizierte Struktur aller seiner Merkmale verstehen, während wir als Genotyp die implizierte Struktur der in diesem Werk vereinnahmten literarischen Normen fassen wollen. Der Phänotyp ist real gegeben, der Genotyp dagegen potentiell. Der erste ist der Exponent der endgültigen Entscheidungen des Schriftstellers, die er bei der Wahl der Einheiten und auch der Regeln für die Verbindung dieser Einheiten trifft. Der andere dagegen verweist auf die Alternativbereiche, über die der Schriftsteller verfügen konnte. Die N o r m entspricht nicht, wie bereits dargelegt wurde, dem konkreten Merkmal eines Werkes, sondern bezeichnet eine engere oder weitere Möglichkeitsskala, auf der sie gewählt wurde. Nichtsdestoweniger ist die Wahl einer bestimmten Eigenschaft nicht identisch mit dem Vergessen der Norm. Ihre virtuelle Gegenwart ist notwendig, damit ein bestimmtes Merkmal überhaupt erkennbar wird. Das zeigt sich vor allem dann, wenn ein Merkmal des Werkes die vorgesehenen Grenzen einer bestimmten Möglichkeitsklasse überschreitet, wenn es also die entsprechende N o r m negativ evoziert. Der Phänotyp kennzeichnet die individuelle Unähnlichkeit und Ähnlichkeit eines Werkes in bezug auf andere konkrete Kommunikationen, während der Genotyp das Werk in den Normensystemen der Tradition verankert. Das sind zwei gleichzeitige Aspekte ein und derselben Struktur des Werkes. Der Genotyp ist ein überindividueller literarischer Kode, der in eine einzelne Information eingetragen wurde. Man könnte eventuell sagen, er repräsentiere den Nullzustand eines Werkes, 152

den Zustand seines potentiellen Daseins, in welchem sich das Projekt eben dieses Werkes unter vielen anderen potentiellen Werken befindet. Ein bestimmter Genotyp (zum Beispiel der Ode, des poetischen Romans, der Komposition der Handlung einer Tragödie oder der Einstellung des Erzählers im realistischen Roman) ist verschiedenen Werken gemeinsam, d. h. er gelangt in verschiedenen Phänotypen zum Ausdruck. Vermutlich läßt sich eine solche korrelative Gruppe von Phänotypen in Form einer Serie darstellen, in der die benachbarten Exemplare den Bedingungen einer höchstmöglichen Ähnlichkeit entsprechen, während die extremen Exemplare untereinander in einem Verhältnis kaum wahrnehmbarer Ähnlichkeit verbleiben. Durch Vermittlung des Genotyps dringt der Druck der Traditionssysteme in das Innere der literarischen Aussage ein. Dieser Druck verteilt sich selbstverständlich nicht gleichmäßig, denn der Genotyp besteht aus Normen mit unterschiedlichen Stufen von Suggestivität, also aus solchen, die ein größeres oder kleineres Ganzes potentieller Realisationen gewährleisten. 20 * Aber unabhängig vom Intensitätsgrad ist der Druck der Tradition eine immanente Strukturerscheinung des Werkes und bestimmt ihre historische Dynamik. Hier entsteht immer ein Spannungsverhältnis zwischen der Ordnung der Normen, die das Kommunikat in eine systemhafte Gemeinsamkeit mit anderen Werken eingliedern, und der Ordnung der Merkmale, die dieses Kommunikat von anderen vorhandenen Lösungsvarianten unterscheiden. Eine derartige Spannung charakterisiert jede literarische Aussage, unabhängig davon, ob eine Norm des ihr spezifischen Genotyps verletzt wurde. Schon die Bedingung allein, daß der Phänotyp des Werkes nicht mit anderen Werken identisch ist (im übrigen die minimalste Bedingung des literarischen Schaffens), führt unbedingt dazu, daß das bisherige Gleichgewicht zwischen den Normen und ihren literarischen Entäußerungen gestört wird. Diese Spannung wird um so stärker, je mehr differenzierbare Eigenschaften der Kommunikation in ihrem Verhältnis zu den Normen negativ bestimmt werden (zum Beispiel in der Parodie eines bestimmten Stils oder bei einer ungebundenen Verseinheit). Den extremsten Ausdruck erlangt 153

die Spannung aber, wenn die einen Phänotyp konstituierenden Merkmale des Werkes aufhören, sich durch den Bezug auf bekannte Normen völlig zu erklären (indem sie motiviert werden beispielsweise durch Regeln, die theoretisch im dichterischen Programm gefaßt sind), und wenn schließlich ihre Streuung in der Aussage unter dem Aspekt des Adressaten als unerwartete Willkür erscheint. Zwischen einem traditionalistischen Werk und dem Werk eines extremen Neuerers besteht einzig und allein ein gradueller Unterschied. Hier und dort beobachten wir einen inneren Dialog zwischen der Rückkehrmöglichkeit des Genotyps und der Einmaligkeit des Phänotyps. Jedes neuhinzukommende Werk führt in den aktuellen Traditionszustand alle „Ja" und „Nein" des sich in ihm vollziehenden Dialogs und damit ein sonst fehlendes inneres Gleichgewicht ein, das im Traditionssystem lediglich insoweit klassifizierbar ist, als dieses System einer kleineren oder größeren I n n o v a t i o n unterliegt. Darüber äußerte sich T. S. Eliot in folgender Weise: „Die bis dahin gültige Ordnung ist gleichsam abgeschlossen, bevor das neue Werk auftaucht. Damit sie auch nach dessen Erscheinen fortbestehe, muß die g a n z e bestehende Ordnung einen, sei es auch noch so unmerklichen, Wandel erfahren; und so werden die Beziehungen, Verhältnisse, Werte jedes einzelnen Kunstwerkes dem Ganzen gegenüber wieder in ihr rechtes Verhältnis gesetzt; so erst entsprechen das Alte und das Neue einander." 2 1 Für den Literaturhistoriker lohnt es sich nur im Ausnahmefall, die einzelnen Neuerungen genauer zu verfolgen. Ihn interessieren besonders die generellen V e r ä n d e r u n g e n innerhalb der Traditionsstruktur. Die Neuerungen sind chaotisch, und es läßt sich nur schwer eine einheitliche Richtung entdecken. Sie können sich vereinen, aber sich auch gegenseitig aufheben und einander ausschließen. Greift man eine Anregung von C. Lévi-Strauss auf, dann könnte man diese Innovationen mit den Bewegungen eines „Schachpferdchens" vergleichen, „das immer mehrere Züge bereit hat und dennoch sich niemals in ein und derselben Richtung fortbewegt". 22 Der Wandel in der Traditionsstruktur ist nicht zu begreifen, wenn man nicht zugleich das Niveau der einzelnen Neuerungen berücksichtigt. Ihre Richtung ist die Resultante einer relativ 154

großen Anzahl kleinerer und zerstreuter Schachzüge, die durch individuelle Entscheidungen des Schriftstellers bewirkt werden. Mit diesen Entscheidungen aber beginnt alles. 23 Alles heißt in diesem Fall: Die Bewegung der Tradition in der Zeit, der Prozeß des Werdens und Wachsens. Das einzelne literarische Unternehmen ist eine elementare Portion Diachronie, ist eine Manifestation mangelnder Kontinuität im Prozeß von Traditionsanreicherung. Wenn wir diesen Prozeß in Kategorien systemhafter Veränderungen, zum Beispiel auf der Grundlage der Stilkonvention oder der Gattung darzustellen versuchen, dann identifizieren wir jeweils alles das, was in ihm Kontinuität ist. Wir befassen uns in diesem Fall mit dem Verlauf, der zwar Phasen der kleineren oder größeren Beschleunigung aufweisen kann, sich aber durch Stabilität, Übergang von einem Zustand in den anderen und gegenseitige Durchdringung auszeichnet. Die Kontinuität der Systemveränderungen und die mangelnde Kontinuität, die durch individuelle Neuerungen verursacht wird, sind zwei dialektisch gegensätzliche, d. h. sich gegenseitig bedingende Aspekte ein und desselben historischen Prozesses. Die Tradition — und das müssen wir noch einmal hervorheben — funktioniert immer synchronisch. Hinzukommende Werke werden im Kontext der Tradition systematisiert und in eine Ordnung der Gleichzeitigkeit mit allen bisherigen Erfahrungen gebracht. Diese selber aber d i a c h r o n i s i e r e n diesen Kontext stets von neuem und verleihen ihm ständig immer wieder die Dimension der zeitlichen Aufeinanderfolge. Der literarhistorische Prozeß ist die Einheit von Synchronie und Diachronie in dem Maße, wie er die Einheit überindividueller Systeme und individueller Aussagen ist.

Aleksandra Okopieñ-Slawiñska

Die Rolle der Konvention im literarhistorischen Prozeß

1 Mit der Bezeichnung poetische Konventionen charakterisieren wir in diesem Artikel überindividuelle Gewohnheiten oder Normen, die das Erscheinen und die Organisationsweisen aller unterscheidbaren Elemente eines Werkes bestimmen. In gewisser gedanklicher Verkürzung werden auch die Elemente des Werkes selbst, die diesen Gewohnheiten und Normen untergeordnet sind, Konventionen genannt. Die Existenz von Konventionen ist ein Faktum des gesellschaftlichen Bewußtseins, das bestimmten Kreisen von Adressaten und Literaturschaffenden eigen ist. Der gesellschaftliche Charakter der Konventionen äußert sich nicht nur in ihrer allgemeinen Verbreitung, sondern auch darin, daß es sich dabei um Normen handelt, die das Individuum vorfindet und deren Verletzung immer einen gewissen Widerstand verursacht, was wiederum ihren beschränkten Charakter bewirkt. DieBeständigkeit der Konventionen resultiert gerade aus ihrem überindividuellen Charakter und ihrer Fundierung in der Tradition. Die Beschränkung durch die Tradition ist — ähnlich wie die bereits erwähnten Merkmale—eine der Besonderheiten, die Erscheinungen des gesellschaftlichen Bewußtseins kennzeichnen. 1 * Bei der Untersuchung der so verstandenen Konventionen erfaßt man die literarische Erscheinung in überindividuellen Kategorien und konzentriert die Aufmerksamkeit auf jene Eigenschaften des Werkes, die es mit anderen Werken verbindet, die es einem gemeinsamen Stil, einer Gattung, einer literarischen Schule, einem Adressatenkreis usw. zuordnet. Erhellt werden dabei die sozialen Bedingungen und das Ziel jener Gemeinsamkeit, und gleichzeitig betreibt man Soziologie der literarischen Formen. 156

Das gegenwärtig starke Interesse für die Problematik der Konventionen hängt auf natürliche Weise mit der Entwicklung der Soziologie der Literatur zusammen und geht Hand in Hand mit dem zunehmenden Interesse für jene methodologischen Positionen in der Kunstgeschichte, die — antiindividualistisch orientiert — bei der Beschreibung des Geschichtsprozesses mit generalisierenden Kategorien wie Stil, Problem oder spezifisch verstandenes Kunstwollen 2 operieren und Fragen des individuellen Schaffens in den Hintergrund treten lassen. Es scheint typisch zu sein, wenn A. Hauser, der Verfasser der Arbeit So^ialgeschichte der Kunst und Literatur, in seinem Buch Philosophie der Kunstgeschichte neben der Studie Kunstgeschichte ohne Namen eine Studie über Bildung und Wandel der Konventionen unterbrachte.3 Der Begriff der Konvention kann in der Literaturwissenschaft sowohl die Rolle eines universalen Interpretationsbegriffes spielen als auch, bei anderer wissenschaftlicher Betrachtungsweise, die Rolle des diesem entgegengesetzten Begriffs der Originalität. Als Schlüssel für die Interpretation von Literatur dient sowohl das Kriterium der Gesellschaft als das der Individualität. Im literarischen Prozeß, dessen materielle Grundlage die im Laufe der Zeit Schicht auf Schicht anhäufenden literarischen Werke und die direkten kritischen Meinungsäußerungen (wie poetische Programme, literarische Publizistik, wissenschaftliche Abhandlungen usw.) sind, läßt sich besonders das beschreiben, was seine Geschlossenheit, Kontinuität und Einheitlichkeit bestimmt, gleichermaßen aber auch das, was Veränderlichkeit und Verschiedenheit der einzelnen Werke bewirkt, die an jenem historischen Geschehen teilhaben. Die Möglichkeit, beide Problemstellungen zu behandeln und beide als begründet anzusehen, beweist, daß sie nicht sosehr zwei einander ausschließende, sondern vielmehr einander ergänzende Sphären betrifft, die erst zusammen das bewirken was man Entwicklungsprozeß nennt.

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2 Unter den bekannten Aussagen über das Thema literarischer Konventionen 4 findet sich neben Formulierungen, die unsere Position mehr oder weniger unterstützen, auch eine andere Auffassung, auf die wir im folgenden näher eingehen möchten. H. Levin brachte sie besonders deutlich zum Ausdruck: „Die Konvention kann als notwendiger Unterschied zwischen Kunst und Leben aufgefaßt werden [. . . ] Die Kunst muß sich vom Leben aus technischen Gründen unterscheiden: wegen der Formbeschränkungen und der Ausdrucksschwierigkeiten. Der Künstler, der selber zu schwach ist, um diese Schwierigkeiten zu überwinden, muß in seinem Zuhörerkreis eine Stütze finden." 5 Levin zitiert zustimmend den von F. Sarcey geprägten Satz: „Die dramatische Kunst ist die Summe der Konventionen [ . . . ] , die dem Künstler helfen, dem Publikum während der Darstellung des menschlichen Lebens auf der Bühne die Illusion der Wahrheit zu vermitteln." 6 Ähnliche Auffassungen, wie sie in der amerikanischen Literatur bereits in der Arbeit von J. L. Lowes 7 vertreten wurden, gingen in die verbreiteten amerikanischen Wörterbücher für literarische Begriffe 8 ein. Sie finden sich auch, mit anderen Auffassungen vermischt und weniger kategorisch gefaßt, in der erwähnten Studie von A. Hauser. Der Ursprung der Konventionen wird abgeleitet von den natürlichen Widerständen, die der Kunst von ihrem Material entgegengebracht werden, von Widerständen, die ihr die freie Imitation unmöglich machen. Hauser legt dar, daß das Kunstwerk trotz der Beschränkungen durch das Material und der Besonderheiten einer bestimmten Kunstart eine Illusion hervorrufe, was hauptsächlich der Bereitschaft des Empfängers zu verdanken sei, sich den Konventionen der Darstellung unterzuordnen und sie als „Spielregeln" von unbestreitbarer Wichtigkeit zu beachten. 9 Es ist klar, daß sich die hier skizzierte Genese der Konventionen aufs engste mit der mimetischen Kunsttheorie verbindet. Nur die nachahmende Kunst zwingt zum „Vergleich" mit dem Leben und zum Erörtern der Ähnlichkeiten oder Unterschiede zwischen diesen beiden Sphären; nur innerhalb der 158

mimetischen Theorie und der von ihr abgeleiteten Ästhetik spielt die Problematik der Illusion eine entscheidende Rolle. Innerhalb der literarischen Gattungen ordnet sich das Drama am leichtesten dieser Problematik unter, insbesondere wegen der ihm eigenen Mittel der direkten Darstellung. Gestützt auf das Drama entwickelte H. Levin seine Formulierung. Übrigens läßt sich in A . Hausers Arbeit ein ähnlicher Standpunkt im Kapitel über das Drama feststellen. Indessen lassen sich bestimmte Konventionen aus den technischen Schwierigkeiten bei der imitativen Gestaltung des Materials lediglich in einem Umfange ableiten, der fast ganz auf die sehr frühen Entwicklungsstadien eines bestimmten Kunstbereichs begrenzt ist. Bei der allgemeinen Invariabilität der Stofftypen, die für bestimmte Kunstarten spezifisch sind, läßt sich die historische Veränderlichkeit der Konventionen nicht mit Niveau-Unterschieden bei der technischen Beherrschung des Stoffes erklären. E s ist eine allgemeine Wahrheit, daß die Geschichte einer beliebigen Kunstart nicht die G e schichte des Fortschritts und der Entwicklung künstlerischen „ K ö n n e n s " ist. Sogar hinsichtlich eines so speziell organisierten und den historischen Wandlungen unterliegenden Materials, wie es die Sprache ist, wird die relative Stabilität und Neutralität des Materials evident, wenn man es mit der Variabilität der poetischen Normen vergleicht, die sich darin äußert, daß sich die verschiedenen Systeme poetischer K o n ventionen oftmals auf der Grundlage eines bestimmten Z u stande« des Sprachsystems verändern können. Neue Konventionen bilden sich hauptsächlich in Opposition zu bestehenden Konventionen heraus, wobei im allgemeinen die Richtung der Veränderungen v o m ästhetischen Ideal einer bestimmten Epoche determiniert wird. Dieses Ideal kann ebensogut den Aspekt der Auslösung einer I l l u s i o n d e r W a h r h e i t wie auch die entgegengesetzte Forderung einer zielgerichteten A k z e n t u i e r u n g d e r S p e z i f i k d e s K u n s t m a t e r i a l s und der ihr gemäßen Sprache an die erste Stelle rücken. Obwohl alle für die Kunst spezifischen Kunstgriffe im Verhältnis zur Realität, unabhängig von diesen beiden Aspekten, artifizieller Natur sind (andernfalls wären sie keine Kunstmittel), ist doch die gesellschaftliche Übereinkunft der 159

Handhabung dieser artifiziellen Mittel als „natürliche" nur für bestimmte Richtungen wichtig, insofern diese Übereinkunft die Grundlage der illusionären Wirkung eines Werkes darstellt. Außerdem ist eine Theorie der Konvention, die aus einem Gegensatz von Kunst und Leben erwächst, kein brauchbares Forschungsinstrument für die Untersuchung der realistischen Strömungen, die im Levinschen Konzept antikonventionelle Strömungen sind. „Die gesamte moderne realistische Bewegung ist von ihrer technischen Seite her ein Bemühen um Befreiung der Literatur von der Vorherrschaft der Konventionen." 10

3 Jeder Bestandteil des poetischen Werkes kann der Konventionalisierung unterliegen, obwohl sich im konkreten Falle ein ausgewähltes Element dieser Einwirkung entziehen kann. Die allgemeine Darstellung aller Organisationsebenen des Werkes, in deren Bereich Konventionen wirksam werden, läßt sich also auf die Kennzeichnung der Morphologie des Werkes reduzieren, so wie das die sogenannte beschreibende Poetik tut. Das System der Bestandteile, die der Konventionalisierung unterliegen, wird erst bei der Beschreibung konkreter historischer Situationen bedeutsam. Die Stabilität des Systems und der ihm eigene Charakter der inneren Verschmelzung prägen die Einheitlichkeit des Stils. Systemveränderungen sind zugleich Erscheinungen der Stilwandlungen. Der Konventionalisierung können poetische Erscheinungen mit verschiedenem Komplexitätsgrad unterworfen sein, angefangen von den relativ einfachen Elementen bis zu hochorganisierten Strukturen. Die einen wie die anderen können dabei als allgemeine Direktiven oder auch als semantische Realisierungen dieser Direktiven in Erscheinung treten. Ausdruck der Konventionen kann somit sowohl die Bevorzugung b e s t i m m t e r w o r t b i l d e n d e r T y p e n s e i n , wie zum Beispiel Verkleinerungen oder auch das Auftreten b e s t i m m t e r W ö r t e r in Diminutivform. Das mittlere, in der Praxis aber 160

wesentliche Stadium ist die Erfassung einer ausgesonderten W o r t k l a s s e mit Diminutiven (die sich zum Beispiel auf die Natur oder die weibliche Schönheit beziehen). Die Kreuzung der beiden erwähnten Klassifikationsgrundsätze der Konventionen beleuchtet in gewisser Weise die populäre Differenzierung in stabile und variable Konventionen. Alle literarischen Erscheinungen widersetzen sich der Konventionalisierung um so hartnäckiger und unterliegen doch zugleich der historischen Variabilität um so intensiver, je stärker sie sich erstens mit einem bestimmten semantischen Inhalt verbinden und zweitens innerlich komplizierte oder systemhaft verschmolzene Strukturen bilden. Erscheinungen dagegen, die einer relativ stabilen Konventionalisierung unterliegen und zugleich keine ausgeprägt historischen Merkmale mehr erkennen lassen, sind vor allem: erstens inhaltlich semantisch nicht ausgefüllte Schemata; zweitens relativ einfache und isoliert betrachtete Elemente. Isoliert von konkreten Realisationsformen existieren diese im literarischen Bewußtsein als Elemente des nationalen Repertoires poetischer Formen und bleiben als solche in potentieller Bereitschaft zur Teilnahme an verschiedenen funktionalen Systemen und semantischen Kontexten. 1 1 * Das Attribut der Stabilität wird damit Erscheinungen der Konvention zuerkannt, die sich durch eine andere Existenzweise auszeichnen als jene, auf die sich das Attribut der historischen Variabilität bezieht. Die Konfrontation von Stabilität und Variabilität muß keine wertenden Konsequenzen haben. Es wäre unserer Meinung nach irreführend, wollte man jenen Formen der Konvention einen höheren literarischen Wert zuerkennen, von denen man behauptet, sie seien stabil. Jene stabilen Formen werden nämlich nicht anders als durch historische, also variable Realisationen mit literarischem Leben gefüllt. Diese Situation bietet dem Literaturschaffenden keine Alternative. Dies ist eine Polemik; sie richtet sich gegen die Meinung, wie sie in der Wörterbuchbearbeitung des Schlagwortes „Convention" von H. M. Chevalier vertreten wird. Dort heißt es: „Kunstwerke sind Werke, in denen die Konventionen einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Ortes am wenigsten aufdringlich und künstlich wirken. Werke, die 11

Dieckmann

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nicht länger als eine Generation, für die sie geschrieben wurden, überdauern, sind Werke, welche die K o n v e n t i o n e n d e s A u g e n b l i c k s auf K o s t e n g r u n d l e g e n d e r t r a d i t i o neller Konventionen sanktionierten."^ Im literarischen Schaffen treten Kunstgriffe nicht in neutraler Streuung auf. Im Rahmen eines Werkes erscheint jeder Kunstgriff als eine bestimmte semantische Realisation und ist mit anderen durch funktionale Kooperation eng verbunden. Die Konventionalisierung eines Systems von Kunstgriffen, das ganze Werkgruppen umfaßt, ist Grundlage für die Unterscheidung in allgemeinere Kategorien als die Poetik des Werkes, also zum Beispiel in solche Kategorien, wie die Poetik einer bestimmten Gattung — die im Schaffen eines Autors, innerhalb einer poetischen Schule oder einer Literaturepoche realisiert wird — in die allgemeine Poetik dieser Gattung oder die Poetik der Dichtungsart. Je allgemeiner die unterschiedene Kategorie von literarischen Erscheinungen ist, um so größer wird die Schematisierung des Systems poetischer Grundsätze sein, desto mehr verringert sich die Anzahl der konstitutiven Grundsätze und erhöht sich ihr abstrakter Charakter, der auf der Isolierung des konkreten semantischen Inhalts 13 * beruht. Dieser Prozeß ist von einer Schwächung des individualisierten poetischen Gepräges eines solchen Systems begleitet. Es läßt sich an die Ideale verschiedener Stile und Strömungen angleichen und stellt viele Realisationsmöglichkeiten zur Auswahl, um ihm einen ganz bestimmten poetischen Wert zuschreiben zu können. Der literarischen Wertung und der damit verbundenen Approbation oder Negation unterliegen literarische Strukturen mit ausgesprochen historischem Gepräge. Daher rührt auch die relative Neutralität einerseits der poetischen Prinzipien, die ohne Kontextverbindung (der Elemente des „Repertoires") aufgestellt werden, und andererseits der allgemeinen Regelsysteme, der Systeme, die eine bedeutende Toleranz in ihrem semantischen Inhalt aufweisen. Abstrakt und isoliert betrachtete Normen haben keinen poetischen Wert. Ihr Wert hängt vielmehr von der historischen Konkretisierung innerhalb der hierarchisch gegliederten funktionellen Systeme ab. Der poetische Wert ist also eine Funktion des 162

dichterischen Gebrauchs. Deshalb bekämpft die neue Epoche die alten Ausdrucksmittel „nicht als .Dinge an sich', sondern ihre Präsenz und Rolle innerhalb eines bestimmten f u n k tionalen Zusammenhanges"14. Der gleiche partielle Grundsatz der Organisation des poetischen Textes, zum Beispiel eine ganz bestimmte stilistische Trope, kann verschiedene poetische Stile hervorbringen, die jeweils einen anderen Wert aktualisieren. 15 * Aus diesem Grunde vertritt A. N. Weselowski die Ansicht, die Wandlungen der Epitheta könnten neue Perspektiven für die Geschichte der poetischen Stile eröffnen. 16 Die Existenz einer poetischen Form, die innerhalb eines Systemzusammenhanges konventionalisiert wurde, bedeutet durchaus nicht, daß sie willkürlich auf ein anderes System übertragen werden kann. An dieser Stelle muß auf die These verwiesen werden, die M. R. Mayenowa in einer ihrer Arbeiten aufgestellt hat. In der von der Autorin vertretenen Form bezieht sich diese These auf die Problematik der Sprachstile; in unserer Arbeit betrachten wir sie jedoch als repräsentativ für alle Erscheinungen des Bereichs der historischen Poetik. „Die Existenz einer bestimmten Form innerhalb des Sprachsystems bedeutet keineswegs, daß sie in jedem Moment willkürliche Verbindungen mit anderen eingehen kann [ . . . ] Angesichts des Bestehens struktureller Unterschiede zwischen den verschiedenen Stilen der Sprache, insbesondere zwischen den Poesie- und Prosastilen, übt die Ausbildung einer dieser Stilarten keineswegs einen direkten Einfluß auf die Akzentuierung der anderen aus." 17 Die Einführung der in einem Systemzusammenhang entstandenen Konvention in den Bereich eines neuen Kontextes ist mit der Entstehung einer neuen literarischen Qualität identisch. Im Mechanismus des Literaturprozesses spielen solche Verschiebungen eine bedeutende Rolle. Sogar ein ausgesprochenes Neuererwerk läßt sich in seinen Bestandteilen von Formen herleiten, die bereits früher auf einem anderen Gebiet und in anderen Konfigurationen existiert haben. J. Kleiner verweist beispielsweise auf die vielseitigen Beziehungen, die A. Mickiewicz mit dem traditionellen Erbe verbanden, und schreibt: „Sein Auftreten gegenüber den bisherigen Bestrebungen war synthetischer 11»

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Natur; er verwandelte okkasionelle, zufällige Dinge in Erscheinungen einer organischen Logik, führte sie einer Lösung zu." 1 8 * Diese Entstehungsweise neuer Erscheinungen gilt gleichermaßen für einzelne Werke wie für ganze Gattungen. Bereits F. Brunetiere verknüpfte die Entwicklung der Gattung mit dem Absorbieren und Verarbeiten andersartiger Gattungseigenschaften. 19 Bei dieser systemhaften Verschiebung hatte immer die literarische Nobilitierung der Formen, die im primitiven Schaffen, im Volkskunstschaffen, in volkstümlichen Gattungen usw. entstanden, eine besondere Bedeutung für die Poesieentwicklung. Der umgekehrte Prozeß hingegen, also die Popularisierung der poetischen Kunstgriffe, die für die ausgebildete Literatur spezifische sind, ist im allgemeinen nur eine epigonenhafte Schematisierung jener Konventionen (so fand zum Beispiel die Poetik der „Jungen Polen" in den Vorkriegsschlagern ihren Niederschlag). Faßt man das bisher Gesagte zusammen, dann läßt sich feststellen: Ein und dieselbe poetische Regel, die als anerkannte Konvention innerhalb eines bestimmten poetischen Systems funktioniert, büßt ihr konventionelles Gepräge ein, wenn sie auf den Bereich eines anderen Systems übertragen wird. Unter diesem Aspekt ist der literarhistorische Verlauf ein Prozeß der beständigen Konventionalisierung und Dekonventionalisierung poetischer Kunstgriffe.

4 Warum erhalten die verschiedenen Faktoren, die an der Gestaltung poetischer Aussagen beteiligt sind, den Charakter überindividueller Normen? Worin liegen die Gründe für die Akzeptation konventioneller Formen? Welche Motive verursachen den Widerstand gegen solche Formen? Warum koexistieren diese beiden Tendenzen im literarhistorischen Prozeß als dynamische Einheit? Im folgenden wollen wir die mit diesen Fragen verbundene Problematik erörtern. An dieser Stelle ist es nicht notwendig, ausführlicher zu begründen, daß in jedem Werk ein vielschichtiges Ganzes konventioneller Regeln vorhanden ist, die durch das System der National164

spräche bedingt werden. Ein poetisches Werk ist eine sprachliche Aussage und muß — wie jede andere Aussage — diese Normen respektieren. Jede Mißachtung sprachlicher Konventionen bewirkt Sanktionen, die in der Beschränkung der Kommunikationsfähigkeit eines Textes zum Ausdruck kommen. Die poetische Aussage zeichnet sich im Vergleich zu anderen Aussagen durch einen bedeutend höheren Grad der inneren Organisation aus. Sie verwendet kompliziertere Systemregeln als die, welche sich allgemein aus dem Sprachsystem ergeben, und verfügt damit über M ö g l i c h k e i t e n der Rek o m p e n s i e r u n g von Abweichungen des üblichen Sprachgebrauchs, vor allem weil sie gleichzeitig die kommunikative Spracheinstellung modifiziert, indem sie den Schwerpunkt von der Information über das, was außerhalb derselben daist, auf die Information über sich selbst und ihre immanente Struktur verlagert. Der für die Poesie spezifische Grad der sprachlichen Freiheit, der anderswo unweigerlich zu einem stammelnden Chaos führen müßte, wird zum Beispiel durch die Organisation des Gedichtes, die Lautkomposition, die Regelhaftigkeit bei der Anordnung und Auswahl der Motive, die diversen Erscheinungen des Parallelismus usw. ausgeglichen. Die poetischen Lizenzen haben selbstverständlich innerhalb der einzelnen, historisch entstandenen Arten der Poetik einen unterschiedlichen Wirkungsradius und werden von unterschiedlichen Rekompensationsformen begleitet. Der eigentliche Boden für Ausbildung und Konfrontation von Konventionen ist der Bereich der für die poetische Aussage typischen zusätzlichen Organisation. Hier konzentrieren sich alle Handlungen, von denen ihre spezifische literarische Position und Zugehörigkeit determiniert werden. Diese Handlungen lassen sich sowohl auf der Ebene des poetischen Stils als auch auf der Ebene der dargestellten Welt, des Subjekts und des literarischen Adressaten sowie des Ideengehaltes näher bestimmen. Die Konventionalisierung konstruktiver Grundsätze umfaßt alle diese Ebenen. Die Beachtung der sprachlichen Konventionen sichert lediglich das grundlegende, essentielle Verstehen der Textbedeutung. Die Konventionalisierung der spezifisch poetischen Grundsätze läßt sich also bis zu einem gewissen Grade durch das analoge Streben nach 165

Sicherung der Kommunikationsfähigkeit bei komplizierteren Texten, wie das gewöhnlich für poetische Texte im Vergleich zu anderen stärker zutrifft, erklären. Aber das ist nur einer der hier mitwirkenden Gründe. Damit eine Aussage als poetische Aussage akzeptiert wird, kann es nicht genügen, ihr eine zusätzliche Organisation zu geben, sie muß vielmehr von der Gesellschaft als p o e t i s c h e Organisation identifiziert werden können, d. h., sie muß eine Reihe von Merkmalen aufweisen, die zuvor bereits als poetisch bewertet wurden. Im gesellschaftlichen Bewußtsein existiert immer irgendein Muster des Poetischen 20 *, das bestimmte Grenzen festlegt; werden diese Grenzen überschritten, dann scheidet das Werk gewissermaßen automatisch aus dem Bereich der Literatur aus. Jeder Literat kommt in eine bereits fertige Situation hinein und wird mit den üblichen Kriterien des Poetischen auf den verschiedenen Niveaustufen des Werkes (Thematik, Arten der Komposition, Aussageformen, syntaktisches Gepräge, Versregeln usw.) konfrontiert. Diese konventionellen Normen wirken, wenn sie nicht die Funktion allgemeiner Determinanten des gesamten Poesiebereiche haben, sondern den Rahmen einzelner Gattungen und Stile des poetischen Schaffens festlegen, um so komplizierter und rigoroser. Eben diese Organisationsformen bilden den nächsten Kontext, auf dessen Grundlage jedes neuentstandene Werk interpretiert wird. Die gesellschaftliche Rolle des Dichters 21 kann man auf anderem Wege als über die Aufnahme eines bestimmten Modells der literarischen Tätigkeit, die mit dieser Rolle verknüpft ist, nicht verstehen. Jenes Modell existiert in der modernen vielschichtigen Gesellschaft in vielen Varianten, die für die differenzierten Kreise der Adressaten und Poesieschaffenden spezifisch sind. Die Berücksichtigung eines konkreten literarischen Publikums ist ein wichtiger Grund für die Annahme oder Ablehnung bestimmter poetischer Konventionen. Eine wesentliche Ursache für die Stabilität der Grundsätze, die das dichterische Vorgehen beeinflussen, sind also die Umstände der gesellschaftlichen Akzeptation und Billigung, die das individuelle Werk von Schriftstellern erfährt. Die poetischen Regeln erfordern die gesellschaftliche Sanktion nicht nur als Kriterien der literarischen Zugehörigkeit 166

eines Werkes; sie unterliegen der Kritik oder Approbation auch unter dem Aspekt anderer, außerliterarischer Standpunkte. Sie entsprechen nämlich einem bestimmten Erkenntnisstand, ideologischen Einstellungen und historischen Besonderheiten des gesellschaftlichen Systems; sie hängen ab vom Entwicklungsstand der Wissenschaft und Kultur einer Gemeinschaft und von den Lebenserfahrungen der Menschen. Ein Beispiel soll das verdeutlichen. Die Konventionalisierung des inneren Monologs als Darstellungsform des literarischen Helden, ohne die ordnende Ingerenz des Erzählers, wurde erst möglich, als sich die Menschen für Prozesse des menschlichen Denkens interessierten, als sie eine Vorstellung von der inneren Desintegration der Persönlic hkeit gewonnen hatten und sich der Spannungen innerhalb der einzelnen Stufen der psychischen Entwicklung des Menschen bewußt geworden waren. Poetische Konventionen, die den weltanschaulichen Grundsätzen und aktuellen historischen Erfahrungen innerhalb eines gesellschaftlichen Kontextes entsprechen, besitzen die Chance, länger zu bestehen als Konventionen ausgesprochen anachronistischen Charakters. Allerdings muß dabei beachtet werden, daß die zur Konvention gewordenen Elemente, wenn sie einmal literarische Bedeutsamkeit erlangt haben, nicht selten eine erstaunliche Resistenz gegenüber den „vom Leben" vorgenommenen Verifikationen beweisen. Klassisch und überzeugend ist das Beispiel von den Nachtigallen, die in der amerikanischen Poesie des 19. Jahrhunderts nur deshalb so laut schlagen, weil die europäische Tradition sie als wichtiges poetisches Requisit vermittelt hatte. Die von K. Wyka beschriebene Kariera bur^anu (Karriere des Steppengrases)22 ist auch die Geschichte der Dominanz poetischer Tradition über die Lebenserfahrung. Der Wert irgendeines im Literatursystem funktionierenden Elementes ist nämlich nicht unmittelbar abhängig von seinen außerliterarischen Beglaubigungen. Die Konventionalisierung der poetischen Kunstgriffe haben wir bis dahin mit den Bedingungen der gesellschaftlichen Rezeption der Literatur begründet. Doch auch in der Situation des Literaturschaffenden findet sie ihre Begründung. Der Dichter akzeptiert die poetischen Konventionen nicht nur, 167

weil er mit Hilfe bekannter Signale eine bessere Verständigung mit dem Publikum erreichen und dessen Erwartungen, das in diesem lebendige Formgefühl 23 * bestätigt wissen möchte, sondern auch deshalb, um die notwendigen Bedingungen für seine Produktion selbst herzustellen. In den Augen des Autors sind die poetischen Konventionen ein Ensemble traditionsgebundener Instrumente, die der Formulierung literarischer Aussagen und den literarischen Darstellungsformen der Welt dienen. Solche Formen bilden sich bereits auf der Stufe des Sprachsystems heraus. Die Systeme der p o e t i s c h e n Konventionen spielen diese Rolle viel eindeutiger, indem sie zwischen dem Literaturschaffenden und den Adressaten sowie zwischen Autor, Werk und Welt vermitteln. Der Autor wird nicht unmittelbar mit der Welt konfrontiert, sondern mit verschiedenen literarischen Modellen der Welt. 24 In diesem Zusammenhang erinnern wir an eine Feststellung K. Irzykowskis: „ [ . . . ] es s c h e i n t n u r s o , a l s ob m a n d i e W i r k l i c h k e i t e i n f a c h s k l a v i s c h k o p i e r e n k ö n n e [ . . .] Wenn wir uns über einen Autor erregen, daß er die Wirklichkeit lediglich kopiert, müßten wir eigentlich treffender sagen, er k o p i e r e l e d i g l i c h b e s t i m m t e eingefahrene M u s t e r für die Betrachtungsweise der Realität". 25 Der Literaturschaffende muß, um seine literarische Tätigkeit vom historischen Standpunkt aus fortzuführen, über die gegebene Situation hinausgehen, unabhängig davon, in welchem Grade er sie akzeptiert oder negiert. „Ein imaginäres Genie, das aller Bedingungen und gemeinsamen Züge beraubt wäre, stünde außerhalb der Kunstgeschichte" 26 , schrieb A. Hauser. Wir möchten in diesem Zusammenhang ergänzen: In einem solchen Falle bestünde kein Grund für die Feststellung, daß jenes Genie sich überhaupt jemals mit Kunst befaßt habe. Die Umstände, die die Notwendigkeit der Konventionalisierung motivieren, treten sowohl bei den Empfängern als auch bei den Produzenten von Dichtung in Erscheinung. Beide Seiten sind zugleich aber auch gegensätzlichen Tendenzen konfrontiert. Bei einer so allgemeinen Beobachtung geraten wir mit der recht verbreiteten Meinung in Konflikt, wonach der Faktor der gesellschaftlichen Rezeption konservative, die 168

poetischen Konventionen stabilisierende Wirkung ausübe, während die revolutionäre Einstellung eigentlich die ausschließliche Domäne des individuellen Schaffens sei. Der romantische Zwiespalt zwischen Künstler und Publikum wird dann in den Rang einer gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeit erhoben. Gewiß kann sich ein Dichter, der sich den gegebenen Konventionen nur widersetzt, als schöpferische Einzelpersönlichkeit hervortun. Seinen individuellen Ambitionen und persönlichen Initiativen kommt aber ohnehin das Postulat des Adressaten nach Originalität entgegen, das zwar verschiedene Ausdrucksformen annimmt, doch in fast allen historischen Perioden 27 aktuell ist. Diese Forderung ist ein ständiges Korrelat des gesellschaftlichen Modells vom Poetischen, das jeweils für eine Zeitepoche spezifisch ist. So wie jenes Modell die Erwartungen der Empfänger in bezug auf neuentstehende Werke p o s i t i v bestimmt und Kriterien für deren Wertung und literarische Identifikation liefert, bedeutet die Forderung der Originalität zugleich Bereitschaft zur approbierten Akzeptation der V e r ä n d e r u n g . Das ist eine Einstellung voll innerer Widersprüche, denn zur Beurteilung neuer literarischer Erscheinungen stehen Kriterien zur allgemeinen Verfügung, die von dem Neuen bereits angegriffen wurden, also Muster, gegen die das Neue ankämpft, Normen, die es untergräbt. Deshalb kann das Neue, auch wenn es vorauszusehen war, nicht ohne Mißverständnisse und Widerstände akzeptiert werden. Würde jedoch dieser innere Konflikt, der die Lage des Empfängers charakterisiert, nicht bestehen, dann würden neue Vorschläge niemals über den Zustand individueller Abweichungen hinausgelangen; sie würden keine Resonanz hervorrufen und keinerlei Veränderungen i m literarischen Bewußtsein bewirken. Mit anderen Worten: sie würden niemals zur Konvention werden, die ja schließlich eine Folge der gesellschaftlichen Approbation ist. Indessen gleicht der literarhistorische Verlauf einer Schaubühne, auf der immer wieder neue Prozesse der Kanonisierung offensichtlich werden. Die Originalität existiert als einmaliger und instabiler Zustand. Ohne Anerkennung bleibt sie am Rande der Literatur und wird als wunderlich abgewertet. Erst mit der Anerkennung wird sie zur Quelle neuer Konventionen. 169

So befriedigt sich eigentlich die gesellschaftliche Erwartung auf Originalität niemals ständig. Die bestimmenden Faktoren individueller und sozialer Art für die Situation des e i n z e l n e n W e r k e s bewirken, daß das "Werk als Zustand eines angespannten Kompromisses zwischen Konvention und Originalität betrachtet werden muß. Die Originalität ist eine Kategorie, die sich vor allem auf die ganzheitliche Struktur des Werkes bezieht, nicht auf ihre einzelnen Komponenten. Für die Kunst, die sich in einem entfalteten Stadium der Entwicklung befindet (und nur diese Situation interessiert uns hier), ist die Entdeckung neuer Elemente weniger wichtig als die besondere Auswahl und neue Anordnung bereits bekannter Elemente. So spielen zum Beispiel im Bereich der Stilistik die poetischen Neologismen eine bedeutend geringere Rolle als die Wortkombinationen, die schier unbegrenzte Möglichkeiten für neue Bedeutungsnuancen und unkonventionelle Redeweisen zeigen. Jede Initiative, mag sie noch so polemisch sein, muß stets mit einem System vorhandener Konventionen rechnen und in diesem die Voraussetzungen aufspüren, die das effektive Funktionieren des neuen Systems ermöglichen. Jede Innovation wird also in bestimmten Grade von früheren Entwicklungsetappen vorbereitet. Diese Gesetzmäßigkeit reflektiert beispielsweise sehr eindeutig die Aufeinanderfolge der neuen Versifikationssysteme in der polnischen Poesie. Der silbische Vers schuf die Voraussetzungen für die syllabotonische Rhythmisierung, das silbische- und das syllabotonische System gemeinsam die Voraussetzungen für das tonische System, und jedes der drei regulären Systeme war wiederum Bedingung für die entsprechenden Formen des unregelmäßigen Verses. Der freie, ungebundene Vers wird in seiner Organisationsform nur als Endergebnis einer langen Evolution erkennbar, deren Etappe die hier erwähnten Systeme waren. Ein und dieselbe Versform, formlos noch in einer bestimmten historischen Etappe, kann in der Folge — unbemerkt von den Zeitgenossen — als Ordnungsgefüge erscheinen, und das nur deswegen, weil sie sich auf später herausgebildete Versbildungsverfahren beziehen läßt. In der Ballade von Walter Scott Der Abend des Heiligen Johann, die A. E. Odyniec 28 * übersetzt hatte, sah 170

K. W. Zawodzinski „die präkursorische Verwendung des betonten Verses", die zielvolle Verflechtung der Verse mit einer bestimmten Anzahl von Klangeinheiten 29 , während Mickiewicz über das gleiche Werk an Odyniec schrieb : „ [ . . .] fatal, ob ge'reimt oder syllabiert, wer soll das erraten [. . . ] hab Erbarmen, arbeite es um in Maße oder berechne die Silben mit Fingern." 30 Jeder Akt der Innovation ist ein individueller Vollzug, der im konkreten Werk zum Ausdruck gelangt. Entstehung und Prozeß der Konventionsbildung verlaufen jedoch nicht unbedingt von der Einzelinitiative über die Akzeptation und Imitation bis zur gesellschaftlichen Billigung. Es ist Tatsache, daß die Chancen für Änderungen auf Grund einer gegebenen Situation bestimmbar sind, und die vielseitige soziale Determination individueller Akte bewirkt, daß individuelle Entdeckungen zuweilen auch gleichzeitig in der gleichen Richtung verlaufen und gemeinsame Züge aufweisen. In diesem Sinne entsteht eine Konvention früher als das Bewußtsein ihrer Existenz. Das Signal für das Vorhandensein eines Konventionsgefühls im gesellschaftlichen Bewußtsein brauchen nicht immer bereits formulierte Normen zu sein; es genügt schon die Tatsache des Widerstandes (Desapprobation), die die Nichtbeachtung bestimmter Konstruktionsverfahren bei der poetischen Aussage begleitet, oder auch schon die Ablehnung, von der die Beachtung jener Konstruktionsformen begleitet wird. Mit der Herausbildung von Konventionen wird ihre literarische Rolle sofort ambivalent. Dank des Gerinnens einer Konvention sind einerseits sowohl gesellschaftliche Rezeption der Poesie als auch individuelles Schaffen möglich, andererseits wird den literarischen Aussagen nur durch den ständigen Widerstand gegen die Konvention ästhetische Aktivität, also eine Wirksamkeit, die für Kunstwerke charakteristisch ist, gesichert. Eine ständige Approbation der Konventionen würde nicht einmal — wie es uns scheint — zu einer Erstarrung der Literatur auf einer bestimmten Entwicklungsstufe führen, sondern vielmehr eine zunehmende Neutralisierung der ästhetischen Wirkung der Werke verursachen. Diese Problematik behandelten die Forscher der russischen 171

Formalen Schule mit besonderem Nachdruck. Wenn das Gefühl für die Spezifik der Erscheinungen der poetischen Kunst im Ergebnis einer besonders „organisierten Übermacht der poetischen Formen gegenüber der Sprache" entsteht, dann vermögen diese Feinfühligkeit nur solche nichtautomatisierten Formen zu sichern, die sich der indifferenten „Naturgegebenheit" des Materials widersetzen und aus ihm nicht in allen seinen Elementen deduziert werden können. 31 * Jede Konvention erscheint uns, indem sie zur Gewohnheit wird, in wachsendem Grade „natürlicher", ebenso wie für uns Konventionen des Sprachsystems durchaus natürlich sind. „Ein wirklich neues poetisches Werk zeichnet sich dadurch aus, daß es dem Leser nicht gestattet, sein zur Gewohnheit gewordenes Verfahren wie bei traditionellen Werken der Poesie anzuwenden: also die mechanische Übersetzung sprachlicher Qualitäten von Figuren in einen über das Wort hinausreichenden Sinn und die möglichst rasche Eliminierung dieser Qualitäten aus dem Bewußtseinsbereich. Die mangelnde Akzentuierung dieser Qualitäten entvulgarisiert die Sprache des Werkes, also das Werk selbst, es verstärkt sich seine Wahrnehmbarkeit, denn es erfolgt eine E n t a u t o m a t i s i e r u n g spezifischer sprachlicher Gestalt, und damit ist auch die Möglichkeit für deren Nichterkennen beseitigt." 32 „Das [ . . .] gilt für die Automatisierung, für das .Verblassen' eines jeden literarischen Elements: Es verschwindet nicht, nur seine Funktion ändert sich, wird eine dienende." 33 Die Notwendigkeit, alltäglich gewordene Formen durch neue zu ersetzen, ist eine wesentliche oder, noch betonter, die wesentlichste Komponente literarischer Wandlungen. Sehr extrem formuliert W . Schklowski, wenn er darlegt: „Eine neue Form entsteht nicht, um einen neuen Inhalt auszudrücken, sondern um eine alte Form abzulösen, die ihren Charakter als künstlerische Form bereits verloren hat." 34 In den Theorien der Formalisten wird also die Notwendigkeit der Originalität vom spezifischen Funktionsmechanismus der Literatur abgeleitet, der angesichts der sich ständig automatisierenden Konventionen Widerstand erfordert.

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5 Feld des Zusammenpralls zwischen Konvention und Antikonvention ist immer das konkrete Werk, während allgemeinere Erscheinungen wie Stil, Gattung und historische Poetik nur noch Systeme von Konventionen sind, die das Feld der möglichen individuellen Lösungen abstecken. Zugleich enthält jedoch das Einzelwerk, wenn man es isoliert betrachtet, in seiner Struktur keine Signale, die es erlauben würden, konventionelle Elemente von unkonventionellen Elementen zu unterscheiden. Konventionen sind nur erkennbar, wenn man das Werk auf übergeordnete Kontexte, also auf allgemeine Konventionssysteme bezieht. Das Ganze der in einer Epoche funktionierenden interpretativen Kontexte ist in der literarischen Tradition aufgehoben, die im Sinne von T. S. Eliot als die in der Gegenwart bestehende Vergangenheit 35 gefaßt werden kann. Die Tradition bildet immer die Bezugsebene, die zwischen Literaturschaffendem und Leser bei der Rezeption des Werkes und natürlich auch zwischen Dichter und Werk während des Entstehungsprozesses seines Werkes vermittelt. Die Rolle der Tradition wird durch die gleichen widerstrebenden, sich aber wechselseitig ergänzenden Haltungen, die für die Situation der Konventionen charakteristisch sind, bestimmt. Welche Möglichkeiten bietet die Tradition für die Identifikation von Konventionen? Sie ermöglicht vor allem die Feststellung der Wiederholbarkeit eines Elementes oder eines poetischen Systems. Diese Wiederholbarkeit kann statistisch untersucht werden. Dabei sind zu beachten: erstens Erscheinungen, die in einer ähnlichen Systemverflechtung auftreten; zweitens Erscheinungen, die aus einem gemeinsamen Literaturbereich stammen (zufällige Übereinstimmungen auszuschließen). Die Häufigkeit der Verwendung bestimmter Konventionen ist das einfachste Signal für die erfolgte Konventionalisierung; das aber reicht nicht aus, um eine b e w u ß t e Haltung des Autors zur Konvention festzustellen. Evidente Ergänzungsindikatoren sind dafür direkte Formulierungen; aber auch die poetische Praxis läßt Spuren erkennen, weil in der Art und Weise, wie die konventionellen Systeme in die 173

Struktur des Werkes eingeführt werden, Aufschlüsse über die Haltung des Autors zur Konvention erlangt werden können. Unter allen möglichen Verfahren, die sich gegen eine Konventionalisierung richten, haben wohl den größten Informationsgehalt Erscheinungen einer weitgefaßten approbierenden oder auch ablehnenden, parodistischen Stilgestaltung. Die Situation der Stilgestaltung wird durch zwei Momente charakterisiert : erstens die Bezugnahme auf einen Komplex konventionalisierter Elemente; zweitens die Andeutung der Distanz zu den genutzten Konventionen mit deren Einführung in den strukturellen Kontext, der einen spezifischen Kommentar des Autors darstellt. 36 * Die erörterten Formen des Aufgreifens und Umgestaltens von Konventionen lassen sich mit den Kategorien des in die Struktur des Werkes eingeschriebenen inneren Dialogs 3 7 erklären. So dekonventionalisiert sich die konventionelle und gewöhnlich allgemeine Formel des „Dialogs mit der Tradition" im Bereich von Erscheinungen der Stilgestaltung und läßt dann einen neuen Sinn erkennen, der in der Ebene der Poetik des einzelnen Werkes exakt bestimmbar wird.

Michat Glowiñski

Literarische Gattung und Probleme der historischen Poetik

1 Die Karriere der literarischen Gattung als Interessenobjekt und Darstellungsinstrument ist in der zeitgenössischen Literaturwissenschaft eine unbestreitbare Tatsache. Die liquidatorische Theorie von B. Croce gehört allem Anschein nach der Vergangenheit an und wird nicht einmal mehr von denjenigen fortgeführt, die diese expressionistisch orientierte Ästhetik in dem einen oder anderen Punkte akzeptierten. Für die heutigen Forscher e x i s t i e r e n d i e G a t t u n g e n ebenso wie sie einst für die Theoretiker und Praktiker des Klassizismus 1 * existierten, obwohl offensichtlich manche Richtungen ohne sie auskommen, wie zum Beispiel die französische thematische Kritik der Schule von Gaston Bachelard. Aber lassen wir die Frage, wie sie existieren, zunächst beiseite, denn darüber werden wir im folgenden noch ausführlicher zu reden haben. Wichtig erscheint uns zunächst eine andere Frage. Sie lautet: Wodurch ist die Karriere der literarischen Gattung bestimmt? Vermutlich gibt es mehrere Ursachen dafür. Erstens ist es das wachsende Interesse für die Literatur als einen Komplex von Aussagen über spezifische Merkmale, als einen Komplex, der sich auf nichts anderes reduzieren läßt und der mit Eigenschaften ausgestattet ist, die sich in ihm äußern und die — wie man in Lehrbüchern für Logik schreibt — n u r in ihm in Erscheinung treten. Die Gattung ist hier also ein Zeichen des Literarischen, ein Signal, daß das Objekt, von dem die Rede ist, dem Bereich der literarischen Erscheinungen angehört. Es ist ein Signal von starker Ausdrucksfähigkeit, wenn man die Existenz der Gattungen keinen anderen Aussagetypen zuschreibt (und wenn man das tut, geschieht 175

•das nur in unverbindlicher Ferne oder in Analogie zur Literatur). Eine andere Ursache für den schnellen Aufschwung der Gattung liegt in der systematischen Befreiung der Literaturwissenschaften von idiographischen Konzeptionen. Für den Literaturhistoriker, der seine Aufgabe in der Beschreibung der einzelnen Werke oder einzigartiger, unwiederholbarer Situationen erblickt, ist die Gattung ein prinzipiell überflüssiges Instrument. Ihn wird nämlich nur das interessieren, was den gegebenen Gegenstand von anderen unterscheidet, was seine Unwiederholbarkeit bestimmt. Die Gattung ist aber eine allgemeine Kategorie. Sogar dann, wenn man ein isoliertes Werk als gattungsrepräsentativ beschreibt, gliedert man es in eine bestimmte Gruppe ein, die sich nicht als Komplex einzelner Fakten fassen läßt und in dem das Moment der Wiederholbarkeit vielleicht des wesentlichste ist. Mit anderen Worten: Die literarische Gattung wird dann brauchbar, wenn sich die Literaturwissenschaft nicht als Beschreibung isolierter Fakten versteht, sondern als Darstellung von Prozessen (die noch dazu historisch ablaufen), und wenn Erscheinungen zu beschreiben sind, die innerhalb eines bestimmten Aussagekomplexes auftreten. Wir erkennen also, daß die Karriere der Gattung mit den wesentlichsten Wandlungen verbunden ist, die sich in der Literaturwissenschaft vollziehen, und daß sie eine der Grundbedingungen ihrer Modernisierung sind. Die Gattung ist nicht von ungefähr ins Blickfeld der Aufmerksamkeit gerückt. Aber sie ist eine Kategorie, die nicht erst im Laufe letzter Wandlungen entstanden ist; sie ist bekanntlich eine jahrhundertealte, traditionsgebundene Kategorie. Dieser auf Jahrhunderte zurückgehende und traditionelle Charakter der Gattung ist kein indifferentes Faktum, er beeinflußt vielmehr entscheidend die heutige Funktion der Gattung in der Literaturwissenschaft und wirkt auch dann auf sie ein, wenn sich der Poetiker auf die Namen eines Aristoteles und bestimmter Autoren der Renaissance und des Klassizismus beruft. Das Faktum wirkt dadurch, daß es aus der Gattung etwas Evidentes macht, eine in unserem kulturellen Bewußtsein so tief verwurzelte Realität, daß es einfach schon 176

genügt, die Gattung zu akzeptieren, also a priori anzuerkennen, daß sie e x i s t i e r t . Es trat eine paradoxe Situation ein: Als Konsequenz der Wandlungen in der Literaturwissenschaft wurde eine der ältesten Kategorien des literarischen Denkens reaktiviert, die sich im europäischen Kulturraum entwickelte, eine Kategorie, die im Grunde nie völlig aufgehört hat zu bestehen und die gegenwärtig mit aller Macht neu hervortritt. Es muß noch einmal betont werden, daß die Gattung etwas im literarischen Bewußtsein des Menschen tief Verankertes ist, daß ihre Existenz ohne jeden Widerspruch, gleichsam als ob sie ein Naturgeschenk wäre, akzeptiert wird. Zwar formuliert heute niemand mehr so, wie das A. Chenier in seinen in einschlägigen Arbeiten 2 * oftmals zitierten Verszeilen getan hat, als er ausführte, die Gattungen habe „die Natur diktiert"; doch ist man heute von dieser Auffassung gar nicht so weit entfernt. Aus diesem Sachverhalt erklärt sich auch, daß die literarische Gattung weder ein theoretisch sehr fundiertes noch ein sehr elastisches Instrument ist, wie das eigentlich zu erwarten wäre. Die noch vorhandene Überzeugung von der „Natürlichkeit" und apriorischen Gegebenheit der Gattung, die in vielen Äußerungen zur Gattungsfrage kundgetan wird, zeigt sich darin, daß im allgemeinen der Existenzweise der Gattung wenig Raum und Aufmerksamkeit geschenkt wird, und daß man sich daran gewöhnt hat, die Klassifikation in Lyrik, Epik und Drama als evidente Tatsache hinzunehmen, die sogar dann nicht zu bezweifeln ist, wenn dafür andere als traditionelle Gründe vorgebracht werden, oder auch dann, wenn sie mehr oder weniger bedeutsamen Wandlungen unterworfen war. Auch diese Klassifikation e x i s t i e r t einfach. Sie existiert sogar dann, wenn sie nicht mit dem Normdenken von Vertretern des Klassizismus verknüpft ist. E. Caramaschi stellte richtig fest, daß F. Brunetiere mit Hilfe der H. Taineschen Theorie J . Chapelain mit Ch. R. Darwin verbunden habe. 3 * Eine Verbindung Chapelains (eines äußerst orthodoxen Vertreters des 17. Jahrhunderts, der die Theorie der Reinheit und Besonderheit der Gattungen proklamiert hatte) mit den später lebenden Koryphäen der humanistischen Wissenschaf12

Dieckmann

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ten läßt sich auch bei anderen Theoretikern, die sich stärker mit Problemen der Gattungen befaßten, feststellen, nur daß heute andere (also nicht Taine und nicht Darwin) Partner dieses Bündnisses sind. Diese enge Verbindung hat in gewisser Weise Symbolbedeutung. Brunetiere nahm nämlich nicht nur an, daß die Gattungen ihr Wesen und ihre Grenzen, ihre Gesetze und ihre Privilegien hätten, er vermutete auch, daß sie ihre Geschichte hätten. In dieser Hinsicht war er zweifellos ein Vorläufer der zeitgenössischen Reflexionen über die Gattungen. Er war ein Vorläufer, der unter Wirkung jener Widersprüche stand, die bis heute nicht aufgehört haben zu existieren. Die These vom historischen Charakter der Gattung, die gegenwärtig fast überall anerkannt wird (es wäre erstaunlich, wenn das nicht so wäre, denn weshalb sollten in einer das historische Denken so kultivierenden Epoche gerade die Gattungen eine Enklave der Zeitlosigkeit sein), führt keineswegs zur Erschütterung einer so gefestigten Überzeugung, wie sie in der Auffassung zum Ausdruck kommt, daß die Gattung etwas Gegebenes sei. Die Geschichte bewegt sich hier im Bereich des Gegebenen und Gestalteten, des Fertigen. Deshalb verändert die These vom Historischen die Theorie selbst prinzipiell nicht, sondern modifiziert sie lediglich. Die Theorie wird auch nicht durch die von I. Opacki vertretene These von der Kreuzung der Gattungen 4 verändert, weil ihr die Überzeugung des Klassizismus von der Einheitlichkeit und Reinheit jener Gattungen zugrunde liegt, welche in gewissen Situationen miteinander Kontakte eingehen und im Verlauf des historischen Prozesses „verunreinigt" wurden. Es scheint so, als ob allgemein die Ansicht bestünde, es gäbe kein exakt bestimmtes Repertoir von Gattungen; es existierten vielmehr nur bestimmte Rahmen für Gattungsstrukturen, in die man eine jede nur existierende Aussageart einordnen könne, sofern sie sich durch irgendwelche, allein für sie typische Eigenschaften auszeichnet. 5 * Die so evident richtige These vom historischen Charakter der Gattungen war nicht einmal imstande, die noch vorhandene Meinung über deren „Naturgegebenheit" sui generis zu überwinden. Deshalb scheint es richtig zu sein, sich auf Argumente zu stützen, die mancherlei Beschränkungen er178

kennen lassen, denen die Gattungen (und ihre Theorien) unterworfen sind, obwohl heute niemand ausdrücklich von einer „Naturgegebenheit" der Gattungen spricht. Niemand wird heute — wie es einst Goethe tat — Epik, Lyrik und Drama „natürliche Formen der Poesie" 6 nennen. Heute sind das stärker unbewußt als bewußt vertretene Feststellungen, die davon zeugen, wie sehr das literaturtheoretische Denken von den Traditionen des Klassizismus geprägt wird. Aber die Theorie der Gattungen ist vielseitig determiniert, also nicht etwa nur von einer, um es so allgemein zu sagen, europäischen Literaturpraxis. Sie wird auch von der Sprache her bestimmt, in der sie formuliert wurde. Die gegebene Sprache bietet besondere Möglichkeiten für theoretische Überlegungen zur Problematik der Gattungen. C. Stutterheim stellte (am Beispiel E. Staigers) dar, daß bestimmte Gattungstheorien nur in deutscher Sprache formuliert werden konnten, weil das Französische oder Englische dafür weniger geeignet wären. 7 Hier spielt nicht nur, wie in dem von Stutterheim analysierten Fall, eine Rolle, daß die deutsche Sprache für die Kreation abstrakter Wörter besonders geeignet ist — stärker als andere Sprachen. Es handelt sich hierbei auch um verfestigte Sprachgewohnheiten, die es ermöglichen, in der Theorie das schärfer herauszuarbeiten, was in anderen Sprachen nicht so formulierbar wäre, weil es in deren Einflußbereich einfach nicht üblich ist. In der polnischen Genologie zum Beispiel bürgerte sich die exakte Unterscheidung in Art und Gattung (manchmal auch Gattungsvariante) ein. Dadurch ist es möglich, eine hierarchische Konstruktion vom Typ Epik — Erzählung (powiesc) — phantastische Erzählung aufzubauen. Eine solche Konstruktion ist für uns etwas Offensichtliches, Selbstverständliches. Das trifft aber nicht für denjenigen zu, der eine Sprache spricht, in welcher zwar Art und Gattung voneinander unterschieden werden, die Unterscheidung aber nicht so stark im Sprachbewußtsein verankert ist (wie zum Beispiel im Französischen, wo prinzipiell alles mit dem Terminus „genre" beschrieben werden kann, obwohl außerdem noch der Begriff „espèce" existiert). Die Möglichkeiten einer bestimmten Sprache werden damit zur Komponente der Theorie. 8 * Diese sprachlichen Begrenztheiten 12«

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sind vielleicht in einigen Fällen Bestandteil kultureller Eigenarten. Sie zeigten sich in der Regel immer dann, wenn das Schrifttum (oder das mündliche Kulturerbe) anderer Kulturkreise zum Vergleich herangezogen wird. Nicht umsonst richten die Anthropologen gerade auf diese Tatsache ihre Aufmerksamkeit. F. Boas vertrat zum Beispiel die Auffassung, daß die Gattungen nicht als notwendige Stufe der Entwicklung literarischer Formen zu betrachten seien, daß sie sich vielmehr unter bestimmten Umständen herausbildeten und im Rahmen der Traditionen, deren Element sie sind, zu begreifen und zu beurteilen seien. Deshalb ließen sie sich auch nicht nach Grundsätzen einteilen, die in anderen Kulturen gültig sind. 9 Diese Feststellungen scheinen von großer Wichtigkeit, und zwar auch dann, wenn es unmöglich ist, von Gattungen zu reden, die im Kunstschaffen der indianischen Stämme auftreten. Wir haben nämlich so die Möglichkeit, die bei uns vorhandenen Theorien aus der richtigen Perspektive zu betrachten. Gattungen lassen sich so nicht nur als Produkt einer bestimmten Kultur verstehen, sondern auch als Dokument eines bestimmten sozialen Bewußtseins. Man vergißt nämlich allzu leicht, daß die Gattung in der Poetik nicht als „objektives", „neutrales" Instrument der Darstellung entstanden ist, welches wissenschaftliche Ziele anstrebt, sondern Ausdruck eines jeweils bestehenden Literaturverständnisses ist, eines Verständnisses über die Frage, was überhaupt Literatur ist, was nicht zu ihr gezählt werden kann, was in einem bestimmten Aussagetypus erlaubt und in einem anderen nicht erlaubt ist usw. Diese Tatsache ist keineswegs bedeutungslos, denn die Gattung wird auch durch ihre Funktion, die sie ausübt, relevant. Die Literaturwissenschaft entlehnt also Gattungsbegriffe einer bestimmten historischen Literaturpraxis. Eine ihrer Aufgaben ist es daher, die Rekonstruktion historischer Begriffsinhalte vorzunehmen, deren wir uns heute als gleichsam neutrale Darstellungsinstrumente bedienen. Der Gattungsbegriff selbst muß nämlich Gegenstand der Forschung, Gegenstand der Rekonstruktion werden. 10 * Er erhält seine Bedeutung vom Historischen her. Das ist um so wichtiger, weil die terminologische Bedeu180

tung der Gattung sehr stark historischen Wandlungen unterliegt. E s verändern'sich damit auch die Klassifikationsgrundsätze, die hierarchische Anordnung der einzelnen Gattungen, manchmal haben die Gattungskategorien keine Beziehungen zu den Kategorien der Art usw. 11 * Die Reflexion über Probleme der Gattung hat viele Irrpfade durchlaufen, ehe sie die Form gewinnen konnte, die wir heute kennen und praktisch anwenden. 12 * Das ist ein Faktum, das nicht gering bewertet werden darf: Handelt es sich hierbei doch um eine spezifische Lektion über historische Relativität, die uns zu der Erkenntnis führt, daß auch unsere Gattungskategorien, die wir als „naturgegeben" betrachten, lediglich e i n e der vielen historisch möglichen Varianten der Theorie der Gattung sind und daß in jeder neuen historischen Mutation die Gattung einen jeweils anderen Sinn erhält. Die mangelnde Motivierung des modernen Gattungsapriorismus resultiert jedoch nicht allein aus der historischen Wandelbarkeit der Theorie. Dieser Apriorismus ist heute insofern paradox, als er nicht einmal die Erfahrungen der modernen Literatur verallgemeinert. Im Gegenteil — in der gegebenen literarischen Praxis ist die Gattung in bestimmten Bereichen eine nahezu nicht existente Erscheinung (frühere „weltanschauliche Betrachtungsweisen der Gattung" bezogen sich stets auf aktuelle schöpferische literarische Tätigkeit, verallgemeinerten deren Erfahrungen und bildeten Normenkomplexe heraus). Allmählich entwickelt sich die Gattungsproblematik also zu einem speziellen Gebiet der Literaturwissenschaft. Aber auch in diesem Bereich treten paradoxe Erscheinungen auf. Allgemein wird angenommen, daß „die Gattungen (in dem bereits erwähnten Sinne) existieren"; zugleich aber entstehen die vielfältigsten Definitionen und verschiedensten^ Einteilungsprinzipien für die Gattungen. Was also sind sie? Die Skala der Varianten ist riesig: Sie reicht von der Institution 1 3 bis zur ästhetischen Kategorie 1 4 *. Eine ähnliche Vielfalt findet sich im Bereich der Klassifizierungsprinzipien. Neben traditionellen Kriterien, wie die Konstruktion des Sprechenden, treten andere auf, wie zum Beispiel die Rolle der Zeit 1 5 , die grammatischen Formen 1 6 , die Gesamtheit der „Lebensbedingungen", die in einem gegebenen Aussage181

typus wirksam werden 17 , die Art der Vermittlung der Werke an den Empfänger 18 , die Art der im Werk enthaltenen „Aktionen" 19 usw. Die Mannigfaltigkeit ist also groß. Diese Bemerkungen sollen nicht einfach feststellen, daß in der Theorie der Gattung einerseits Erstarrung, andererseits Chaos herrschen. Sie bezwecken auch keine Eliminierung von Gattungskategorien. Das wäre nicht nur unklug, sondern geradezu selbstmörderisch — der Literaturhistoriker würde sich seine Zunge amputieren. Wesentlich ist aber folgendes: die ständige Betonung, daß die Gattung „nicht einfach existiert", daß sie sich eigentlich immer noch im Dunkeln befindet; und weiterhin, daß sie kein indifferentes Instrument der Darstellung, Beschreibung ist (solche Auffassungen traten in vielen einschlägigen Arbeiten hervor), daß die Erfassung der Literatur in Gattungskategorien schon in einer gewissen Weise den Gegenstand bestimmt und ihn aufbaut, daß dieser Gegenstand zugleich in bestimmte Traditionen des literarischen Denkens, in keineswegs gleichgültige Traditionen eingeht. Die Sprache der Gattung ist somit, wie sich sagen läßt, eine engagierte Sprache. Und wenn die Objektivität eines Kritikers, wie R. Barthes 20 sich ausdrückt, in der vollen Bewußtheit der Sprache, die er spricht, liegt, so ist es auch notwendig, näher zu erforschen, welche Besonderheiten und Konsequenzen an die Sprache der Gattung gebunden sind.

2 Unserer Meinung nach ist es zunächst wichtig, näher zu bestimmen, welchen Zielen Gattungskategorien dienen müssen, in welchen Beziehungen sie zum Ziel stehen, welche kognitiven Aufgaben sie zu erfüllen haben. Oder mit anderen Worten: Sollen die Gattungen lediglich der Analyse eines gegebenen Ensembles literarischer Werke dienen, oder sollen sie als Darstellungsinstrument bestimmter Prozesse der literarischen Entwicklung verwendet werden? Oder sind die Gattungen sogar ein Instrument der beschreibenden oder historischen Poetik? Ihrem Wesen nach scheinen die Gattungen 182

jeweils etwas anderes zu sein, je nach dem Standpunkt, von dem aus man sie betrachtet. Die Unterschiede sind essentieller Natur. Sie traten schon dort auf, wo sie noch als Stufe der Apriorität bezeichnet werden könnten. In der beschreibenden Poetik wird die Gattungskategorie zur Analyse der Struktur einer gegebenen Gruppe von literarischen Werken gebraucht. Und zwar einzig und allein dazu. Für den Kritiker ist nur wichtig, ob die einzelnen Werke so viele wesentliche gemeinsame Merkmale aufweisen, daß es möglich wäre, sie einer spezifisch organisierten Ganzheit zuzuordnen. Es muß ihn nicht mehr die Frage interessieren, ob jemand diese Werke bereits zu einer solchen Gruppe zusammengefaßt hat oder nicht. Er besitzt eine relativ große Freiheit bei der Einordnung in solche Gruppen, unabhängig davon, ob ihre Elemente jemals in der Geschichte zusammengewirkt haben. Aus diesem Grunde vermag er bestimmte Gruppen von Gattungen ausschließlich unter dem Aspekt des strukturellen Aufbaus der Werke, unabhängig von allem anderen, für analytische Zwecke zu bilden. Dagegen muß er sich bei solchen Operationen an wesentlichen Sachverhalten folgender Art orientieren: an der bewußten Beachtung der Einteilungsprinzipien, der Sorge um die logische Richtigkeit dieser Prinzipien u. a. Es läßt sich somit feststellen, daß sich in der beschreibenden Poetik die Gattungen (Arten und GattungsVarianten — hier empfehlen sich entsprechende Hierarchien) als nützliche Ordnungsfaktoren erweisen. Gänzlich anders ist die Situation in der historischen Poetik. 21 Hier ist die Ordnung nicht mehr die wichtigste Angelegenheit. Hier handelt es sich nicht allein um die Beschreibung bestimmter Gestaltungsweisen des literarischen Werkes, wie sie sich in einem historisch konkreten Zeitabschnitt entwickelt haben. Bei einer solchen Betrachtungsweise würde die historische Poetik nur eine ärmliche Verwandte der beschreibenden Poetik sein. Es geht vielmehr um die Rekonstruktion der Sachverhalte, wie bestimmte Verfahren der Organisation des literarischen Werkes in einer bestimmten literarhistorischen Situation funktioniert haben. Der Kritiker kann diese jetzt nicht mehr — wie das in der beschreibenden Poetik noch mög183

lieh war — von anderen Problemkreisen abtrennen, insbesondere kann er sie nicht von den in einer bestimmten Epoche funktionierenden Theorien der Gattung oder vom l i t e r a r i s c h e n B e w u ß t s e i n der Zeit isolieren. E s ist wahr, daß schon die Werke das Bewußtsein ihrer Autoren erkennen lassen und daß ein bestimmter Typ der Aussage in einer ganz bestimmten Weise gestaltet wird. 22 * Das muß jedoch kein Gattungsbewußtsein sein, also eine verfestigte Kompositionsart, denn die Gattungsproblematik interessierte in vielen Epochen die Autoren der Werke überhaupt nicht. Für die historische Poetik ist das G a t t u n g s b e w u ß t s e i n somit ein ebenso wichtiger Gegenstand der Forschung wie die gattungsgemäße Konstruktion der Werke. In der Geschichte erhält die Gattung gerade vor dem Hintergrund dieses Bewußtseins ihre Bedeutung, weil es ihr historische Meßbarkeit und Sinn verleiht. Etwas anderes ist nämlich die Gattung vor dem Hintergrund verschiedener Typen von Gattungsbewußtsein oder — noch mehr — dann, wenn sich das literarische Bewußtsein der Epoche gar nicht im Aufgreifen der Gattungsproblematik manifestiert. Die historische Poetik interessiert sich somit für die Gattung einmal unmittelbar vor dem Hintergrund des literarischen Epochebewußtseins und zum anderen mittelbar vor dem Hintergrund ihrer gesamten literarhistorischen Situation. Das befreit sie von den für die beschreibende Poetik wesentlichen Verpflichtungen, zum Beispiel von der Beachtung einer begründeten Einteilung usw., die für die beschreibende Poetik sogar dann, wenn sie von der Epoche nicht direkt gegeben wird, ebenfalls Forschungsgegenstand ist. Soll das alles aber heißen, daß die historische Poetik das Recht habe, die Kategorie der Gattung nur in bezug auf jene Epochen anzuwenden, in denen das Gattungsbewußtsein funktionierte und in der literarischen Praxis fundamentale Bedeutung hatte? Das scheint das methodologische Grundproblem der historischen Poetik zu sein. Zweifellos ist es das wichtigste und komplizierteste Problem, denn jede extreme Lösung würde fatale Folgen haben. Eine völlig positive Antwort würde die historische Poetik ihrer Sprache berauben und ihr die allgemeinen Kategorien nehmen. Eine negative Antwort könnte einen spezifischen Apriorismus 184

implizieren, also eine absolute Verwendung der Gattungskategorien, unabhängig von der Epoche, die behandelt wird (so wie das auch in den meisten Arbeiten dieser Art geschieht); in letzter Konsequenz würde das die historische Poetik auf die beschreibende Poetik reduzieren und ihre historischen Grundvoraussetzungen negieren. Aber es gibt andere Möglichkeiten zur Lösung dieser Frage. Diese Möglichkeiten zeichnen sich ab, wenn die Gattung als ein Ensemble von Hinweisen, Grundsätzen, Gewohnheiten aufgefaßt wird, die in einer bestimmten Epoche zwischen den Subjekten bestehen, einen bestimmten Aussagenbereich regulieren und darüber entscheiden, wie man zu schreiben hat. Gattungen wären in diesem Fall also eine spezifische Grammatik der Literatur. Diese Metapher ist sicher keine Willkürlichkeit, denn die Wirkungsweise dieser beiden Erscheinungen ist vom Wesen her sehr ähnlich. 23 * Ähnlich ist auch ihre Existenzweise. Die Ähnlichkeit kommt vor allem darin zum Ausdruck, daß nicht jeder, der grammatisch richtig spricht, auch die grammatischen Regeln der Sprache, deren er sich bedient, zu kennen braucht (wobei unter „kennen" die Fähigkeit der theoretischen Formulierung zu verstehen ist). In gleicher Weise braucht nicht jeder, dem es bekannt ist, daß man im Rahmen eines bestimmten Aussagetypus „so und nicht anders schreibt", zugleich auch die Fähigkeit zu besitzen, sein Wissen theoretisch zu formulieren. In der Literatur ist aber die Formulierung oder Nichtformulierung dieses Wissens keine gleichgültige Angelegenheit, weil sich ja gerade darin, ob etwas mit Worten formuliert wird oder nicht, das Verhältnis der Epoche zur Gattung äußert, es manifestieren sich so die Positionen zu den Ansichten der Epoche. Die Gattung funktioniert anders, wenn ihre Regeln nicht niedergeschrieben sind, und anders, wenn sie mit einem bewußtgewordenen System von Grundsätzen verbunden ist. Die historische Poetik erblickt darin einen grundlegenden Unterschied, denn sie erörtert verschiedene Gattungssituationen, und eben diese S i t u a t i o n d e r G a t t u n g ist hier Gegenstand der Betrachtung. Nehmen wir folgendes Beispiel: Gewiß hat die Ode in der klassizistischen Poetik des 17. und 18. Jahrhunderts, als die Merkmale, die 185

sie aufweisen muß, in strenge Regeln gefaßt wurden, einen anderen Charakter als in der Poesie des 20. Jahrhunderts, in dem Gedichte nach den Traditionen dieses Poesietyps geschrieben wurden und nicht selten auch (zum Beispiel bei P. Claudel, J. Iwaszkiewicz und T. Peiper) als Oden bezeichnet wurden, obwohl sie mit einer derartigen Theorie nicht verbunden waren. Auch der Roman im Sinne der realistischen Poetik des 19. Jahrhunderts, für den klar formuliert wurde, welche Bedingungen er erfüllen müsse (das geschah sowohl in den Aussagen der Autoren als auch in den Rezensionen der Kritiker), war etwas anderes als heute, wo es keine solchen festen Vorschriften für die nähere Kennzeichnung Roman •mehr gibt. Diese — wie wir meinen — grundlegenden Unterschiede lassen sich nicht darauf zurückführen, daß einmal die Hinweise •direkt, ein andermal indirekt formuliert werden (obwohl man heute über den Roman mehr theoretisiert als im vergangenen Jahrhundert). Sie lassen sich auch nicht darauf reduzieren, daß in dem einen Falle die erwähnten Hinweise normativen Charakter tragen, in dem anderen aber nicht. Gattungen sind i m m e r normativer Art, sie sind stets ein einheitliches Ganzes v o n Direktiven. 24 * Die Unterschiede treten im Typus und im Grad der Normativität 25 * hervor. Im erstgenannten Beispiel ist die Gattung einfach ein B e f e h l , ein Befehl, der in letzter Instanz die Redeweise bestimmt, im zweiten Fall ist sie lediglich eine gesellschaftlich verfestigte literarische Verhaltensweise. Ist die Gattung ein Befehl, dann dominiert sie im literarischen Bewußtsein der Epoche, dann ist sie eine oberste Kategorie. Ist sie aber •eine zwischen Subjekten verfestigte Verhaltensweise, dann läßt sie sich mit einer Gewohnheit vergleichen, dann ist sie gleichsam ein ungeschriebener Literaturkodex (so wie es in jeder Gesellschaft gleichsam ungeschriebene Kodizes der guten Erziehung gibt). Spricht man von der Situation der Gattung in einer gegebenen historischen Epoche, tritt noch ein anderer sehr wichtiger Problemkreis hervor. Es entsteht die Frage, welche Werttypen werden der Gattung zugeordnet, d. h.: wird ihr nur der Wert in dieser Form zugeordnet, wie er heute in Er186

scheinung tritt, oder wird sie als eine bestimmte akzeptierte Tradition betrachtet, die in verschiedenen Zeiten auch verschiedene Formen annimmt. Für das Gattungsbewußtsein hat dies enorme Bedeutung und beeinflußt auch den Charakter des Normativismus der Gattungen. Man muß hier allerdings bemerken, daß die Differenzierung zwischen der im engeren Sinne zeitgenössischen und der „historischen" Betrachtungsweise der Gattung im literarischen Bewußtsein einer bestimmten Epoche keinen absoluten Charakter hat. Hier haben wir es mit graduellen Unterschieden zu tun. Es geschah nämlich niemals, daß die Tradition völlig ausgeschaltet wurde, ebenso wie niemals a l l e Traditionen einer bestimmten Gattung akzeptiert wurden. Für den Vertreter des Klassizismus im 17. Jahrhundert war die Gattung nur in der Form wertvoll, in welcher sie in ihrer Epoche praktiziert wurde, doch hatte sie zugleich auch Wert durch ihren fiktiven oder realen Zusammenhang mit der antiken Literatur (was für uns im Augenblick unwichtig ist). Ein noch einprägsameres Beispiel (und das ist bis zu einem gewissen Grade paradox) sind die Auffassungen über den Roman, die sich in der literarischen Kultur des Realismus im 19. Jahrhundert verfestigt haben. Das damals herausgebildete Modell des Romans (geschlossene Komposition, alles wissender Erzähler, Vorhandensein einer Fabel als die wohl wichtigsten Determinanten) wurde als Roman „tout court" anerkannt. Bei dieser Betrachtungsweise mußte der Roman des 18. Jahrhunderts mit seiner offenen Komposition und seinem episodischen Aufbau als schlecht, falsch konzipiert und ungeschickt gestaltet erscheinen. Die zeitgenössische Betrachtung des Romans ist — so ließe sich feststellen — eher pluralistisch. Das historische Bewußtsein der Gattung ist also nicht nur Fähigkeit zur Herauslösung bestimmter Aussagenkomplexe; es verbindet sich zugleich auch mit einer relativ starken Verabsolutierung einer bestimmten Gattungsform. Das berechtigt uns zu Feststellungen darüber, was in einer historisch konkreten Epoche unter einem festen Gattungsbegriff verstanden wurde, welche Eigenschaften der Gattung in dieser Zeit zugeordnet wurden, und worin deren Wesen zu erkennen ist. Das ermöglicht schließlich die Rekonstruktion der konkreten 187

historischen Bedeutung der Gattungsbegriffe in den verschiedenen Epochen (von der Notwendigkeit einer solchen Rekonstruktion war bereits früher die Rede); es handelt sich hierbei um eine Rekonstruktion, die durch die Konfrontation mit einer weit verstandenen literarischen Praxis vollzogen wird. Wenn wir über die Situation der literarischen Gattung nachdenken, ist ein Element sehr wichtig, das wir als Spiel des Notwendigen und Möglichen bezeichnen können. Es handelt sich darum, herauszufinden, was sich in einer bestimmten Epoche notwendig mit der Gattung verbindet, was die unausbleibliche Folge ihrer Akzeptation ist; im 19. Jahrhundert war die notwendige Konsequenz einer Wahl des Romans das Fabuläre, im 18. Jahrhundert die notwendige Konsequenz einer Wahl der Ode die rhetorische Stilistik. Das Wirken einer Gattung läßt sich nicht einfach darauf zurückführen, daß damit unbedingt zu beachtende Normen oder Gesetze26* vorgegeben sind. Diese wirken nur als unbedingt Notwendiges für einen relativ kleinen Zeitabschnitt. Das, was in einer bestimmten zeitlichen Periode Notwendigkeit ist (wie die Fabelkomposition im Realismus), kann in einer anderen Periode im Bereich des Möglichen liegen. Die Gattung erreicht prinzipiell jedoch keinen Grad des Normativen, der sie zwingt, einzig und allein im Bereich notwendiger Gegebenheit zu wirken. In diesem Fall wäre sie lediglich ein geschlossenes Muster, womit durchaus nicht ausgeschlossen wird, daß bestimmte Richtungen gerade zu einer solchen Auffassung von der Gattung tendieren (wie zum Beispiel die orthodoxesten Bestrebungen des Klassizismus). Die Notwendigkeit eröffnet Möglichkeiten, die in ihr selbst enthalten sind. Das Mögliche wirkt ja in enger Beziehung zu dem, was in einer gegebenen Zeit die notwendige Folge einer Gattung zu sein scheint. Jede Gattung bietet somit auch nur einen ganz bestimmten Komplex von Möglichkeiten, der sich nicht nur in einzelnen Werken manifestiert (weil ein Werk etwas Außergewöhnliches, Unwiederholbares, Einzigartiges sein kann, das sich nicht in den Rahmen verbindlicher Regeln für die Gattung einer Epoche pressen läßt, wie das zum Beispiel bei K. Irzykowskis Paluba (Schreckgespenst) 27* an der Wende vom 19. zum 20. Jahr188

hundert der Fall ist), sondern — und das ist an dieser Stelle besonders bemerkenswert — auch in der Grammatik der Gattung selbst. Möglichkeiten sind also keine Zufälle, sie sind kein Durchbrechen der Regel. Im Gegenteil. Erst vor ihrem Hintergrund zeigt sich die Notwendigkeit der Gattung in einer gegebenen Epoche. Für die historische Poetik ist sehr wichtig, ob die Gattung in einer bestimmten Entwicklungsetappe vor allem als Indikator des Notwendigen wirkt, oder ob das Element der Notwendigkeit auf ein Minimum reduziert wird, d. h. die Gattung lediglich den Bereich des Möglichen angibt. Vermutlich ist es so, daß der erste Fall dann realisiert wird, wenn die Gattung einen ausgeprägten Kristallisationsgrad erreicht hat und ihre aktuellen Regeln als allein wertvoll anerkannt sind. Der zweite Fall zeigt sich dann, wenn die Gattung nicht absolut auf eine Frage festgelegt wird, sondern viele differenzierte Realisationen zuläßt. Ein Beispiel der ersten Situation ist der Roman von H. de Balzac bis L. Tolstoi, ein Beispiel der zweiten der Roman der zwanziger und dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts. Bei der Betrachtung der Gattung als Element des literarischen Bewußtseins der Epoche berücksichtigten wir im wesentlichen nur das Bewußtsein der Literaturschaffenden oder vielmehr das Bewußtsein der „literarischen Umwelt", d. h. derjenigen Menschen, die die literarische Kultur ihrer Zeit unmittelbar gestalten. Eine solche Betrachtungsweise ist jedoch unvollkommen. Für die Situation der Gattung ist auch wesentlich, wie diese auf ihre Adressaten einwirkt. Das Gattungsbewußtsein ist sowohl dem Absender als auch dem Empfänger eigen; das soll jedoch nicht heißen, daß es sich auf dieselbe Weise herausbildet. Die Gestalt, in der das Gattungsbewußtsein sich beim literarisch interessierten Publikum manifestiert, bildet für die historische Poetik ein sehr wichtiges Problem. Das ist nicht sosehr eine Frage der Verbreitung der Gattung, die sich bei der Rezeption des Lesers zeigt, sondern eine Frage ihrer E r k e n n b a r k e i t , also der gegebenen oder nicht gegebenen Fähigkeit des Publikums, die Zugehörigkeit einer bestimmten Aussage zu einer bestimmten Gattung genau zu bezeichnen. Wie bereits dargelegt, kann sich diese Erkennbarkeit der Gattung auf Wissen stützen, das vom Empfänger 189

theoretisch dargelegt werden kann oder einfach so funktioniert wie bei einem Sprechenden, der niemals etwas über grammatische Regeln erfahren hat, sie aber dennoch mehr oder weniger richtig anzuwenden vermag. Eine Gattung, die in der letztgenannten Weise im breiten Publikum wirkt, ist der Roman. Der Durchschnittsleser einer Volksbücherei kann ihn in der Praxis von der Novelle oder vom Poem (um im Bereich der erzählenden Aussageform zu bleiben) unterscheiden, aber er kann sicher nicht die wesentlichen Unterschiede zwischen diesen Gattungen hervorheben. Die Erkennbarkeit der Gattung ist ein Signal für deren Situation in einer bestimmten Kulturwirklichkeit, eine Situation, die keineswegs nur, wie es scheinen könnte, vom Literaturschaffenden abhängig ist, sondern zugleich auch von den spezifischen Forderungen und Erwartungen der Empfänger (wenn sie im allgemeinen auch nicht „expressis verbis" formuliert werden). Die Gattung ist ja ein Element der spezifischen Verständigung zwischen Schriftsteller und Leser. Sie verständigt den Leser gleichsam unmittelbar darüber, was er von einer bestimmten Aussage erwarten kann; sie legt gleichsam das Verhalten des Lesers als Adressaten der Literatur im voraus fest. Im gesellschaftlichen Literaturverkehr kann der Gattungsname manchmal eine ähnliche Rolle spielen wie das Warenzeichen im Handel. Die Gattung (und insofern wieder wäre solcher Vergleich nicht am Platze) ist jedoch nicht immer nötig. E s scheint, als ob zum Beispiel heute (außer bei Stilisierungen, in denen die Gattungsprägnanz der Verankerung in der Tradition dient) die Gattungskategorien besonders in jenen Bereichen der Literatur verwendet werden, die einen sehr weit gefaßten sozialen Adressatenkreis haben, die — mit anderen Worten — zu einem Bestandteil der Massenkultur werden. In diesem Fall haben sie die Funktion, dem Empfänger anzukündigen, was er von einer bestimmten Aussage zu erwarten hat. E s handelt sich hierbei um eine Signalgebung, die nicht unbedingt in anderen Literaturarten aufzutreten braucht. Der elitärste Literaturbereich, der zur Zeit existiert, ist die Poesie, die sich fast vollständig von allen genologischen Spezifika befreit hat. Die Gattung als Bestandteil der Massenkultur ist mit deren 190

Verbreitungsformen verbunden (wie etwa die „satirische Ecke" einer populären Zeitschrift), schon damit deutet sich ihr spezifischer Charakter an. Auf dieser Ebene ist letzten Endes wesentlich, daß zum Beispiel die Komödie „etwas zum Lachen" ist, das Melodrama „etwas zum Weinen" usw. Die Probleme der Erkennbarkeit der Gattung und ihrer Funktion in Hinsicht auf den Empfänger sind ihrem Wesen nach Grundprobleme der Soziologie der literarischen Gattungen. Faßt man die bisherigen Ausführungen zusammen, so läßt sich feststellen: Die literarische Gattung, wie sie sich in einer Kultur verfestigt hat, ist eine bestimmte s e m a n t i s c h e E i n heit. Sie suggeriert dem Leser die Frage, welche Bedeutungsinhalte er in einem gattungsmäßig bestimmten Werk erwarten kann, wenn er mit ihm Kontakt aufnimmt. Diese Bedeutungsinhalte erfaßt die Gattung in starker Abstraktion. Sie signalisiert dem Empfänger nicht konkret logische Inhalte einer Aussage, sondern — so könnte man sagen — den Typ der Inhalte, sie veranlaßt ihn also dazu, seine Aufmerksamkeit auf die allgemeine Gerichtetheit dieser Aussagen zu lenken (wovon in letzter Instanz die Haltung des Lesers zum Werk abhängig ist).

3 Die historische Poetik rekonstruiert die Situation der literarischen Gattung in einer historisch konkreten literarischen oder, breiter gefaßt, kulturellen Wirklichkeit. Um diese Aufgabe zu erfüllen, kann man sich, das muß betont werden, nicht auf das Ensemble von Begriffen beschränken, das eine bestimmte Epoche tradiert hat, und zwar schon deshalb nicht, weil — wie bereits dargelegt — auch jene Begriffe Material der Rekonstruktion sind und „übersetzt" werden müssen. Aber das ist nicht der ausschließliche Grund. Das Gattungsbewußtsein einer Epoche kann sich, wenn man es aus der zeitlichen Perspektive betrachtet, als falsches Bewußtsein erweisen, selbstverständlich nicht in dem Sinne, daß es „falsche Normen" (solche Urteile spielen dabei überhaupt keine Rolle) lanciert, sondern vielmehr in dem Sinne, daß es die Gattungen so auffaßt, wie sie dem tatsächlichen Zustand der Dinge nicht zu 191

entsprechen scheinen, daß es einer Täuschung unterliegt, ihren eigentlichen Sinngehalt nicht zutage fördert. 28 * Die historische Poetik kann sich auf die Gattungsvorstellungen einer gegebenen Epoche besonders deshalb nicht verlassen, weil diese beschränkt und ihrer Natur nach unvollständig sind (diese Begrenztheit und Unvollständigkeit ist übrigens auch bis zu einem gewissen Grade Gegenstand der Gattungsforschung). Die Vorstellungen sind beschränkt und unvollständig sowohl in dem Sinne, daß in einer gegebenen Epoche die eigentliche Wirkungsweise der Gattung niemals ganz bewußt wird (d. h. in welchem Grade ihre Operationen durch die gegenwärtig verbindliche Grammatik der Gattung determiniert werden) als auch in dem Sinne, daß auf die verschiedenen historischen Realisationen einer Gattung nicht geachtet wird. Mit kurzen Worten: Die historische Poetik ist beschränkt und unvollständig in der Erfassung der Systemhaftigkeit und des historischen Charakters der Gattung. Beide genannte Kategorien haben für die historische Poetik prinzipielle Bedeutung. Die Gattung, die als ein zwischen Subjekten verfestigter Komplex von Anweisungen, als „Einheit von Direktiven" funktioniert, ist in ihrem Wesen ein S y s t e m , also eine Einheit von Faktoren und Mitteln, die eine bestimmte Art und Weise des literarischen Sprechens ermöglichen, genauso wie ein Sprachsystem die Formulierung von Aussagen möglich macht. Daher ist die Realität der Gattung nicht die Realität des konkreten Werkes, ebensowenig wie die Realität der Sprache nicht gleich der konkreten Aussage ist. Im allgemeinen betrachtet, ist das Verhältnis des konkreten Werkes zur Gattung das gleiche wie das Verhältnis der Aussage zum System der Sprache, wie das Verhältnis von „parole" zu „langue" in der klassischen Terminologie F. de Saussures. Deshalb kann man das konkrete Werk nicht als Gattung selber betrachten. 29 * Das konkrete Werk ist lediglich die Realisation bestimmter Elemente, die die Gattung erlaubt. Die Analogie zwischen dem Gattungssystem und dem Sprachsystem darf allerdings nicht allzuweit getrieben werden. Und zwar nicht nur wegen der wechselseitigen Abhängigkeit, die zwischen diesen beiden Systemen dann besteht, wenn sie im Bereich einer bestimmten Sprache näher untersucht werden 192

(die Wirkung des Gattungssystems ist von den Möglichkeiten abhängig, die das Sprachsystem bietet, das Gattungssystem steckt gewissermaßen im Sprachsystem, wobei seine Abhängigkeit immerhin nicht so stark ist wie die des Stil- oder Verssystems). Ein Grund besteht vielmehr darin, daß das Sprachsystem universalen Charakter trägt, d. h., es bezeichnet alle in einer bestimmten Sprache formulierten Aussagen, während das Gattungssystem partieller Natur ist. Es ist partieller Natur in doppeltem Sinne. Erstens, weil es kein System sein muß, das alle in einer historischen Epoche als literarisch betrachteten Aussagen charakterisiert. Im konkreten Fall kann ein anderer Systemtypus zu einem bedeutenderen Faktor werden (wie das in der modernen Poesie geschieht, in der die eigentlichen Systeme ganz bestimmte poetische Sprachen, Schulen usw. sind). Zweitens in dem Sinne, daß es — obwohl die Gattung ein System ist, das alle in einer bestimmten Zeit wirkenden Gattungen einschließt — eigentlich aus einem Ensemble von Subsystemen besteht, also aus vereinzelten Gattungssystemen, wie zum Beispiel dem System der Ode, der Tragödie, der Komödie usw. Das Verhältnis dieser Subsysteme zum Gesamtsystem der Gattung einer bestimmten Epoche ist übrigens jedesmal ein spezielles und wichtiges Problem, denn im Laufe des literarhistorischen Prozesses wirken die einzelnen Subsysteme beständig aufeinander ein. 30 * Sie lassen sich übrigens auf die allgemeinen Vorstellungen, die innerhalb einer Gattung verbindlich sind, zurückführen. Um das Gattungssystem einer gegebenen Epoche rekonstruieren zu können, muß man Bescheid wissen, wie es sich allmählich in früheren und späteren Zeiten sowie in der Gegenwart herausgebildet hat. Das richtige Erfassen des historischen Charakters der literarischen Gattung ist nur dann möglich, wenn man sich ihres Systemcharakters bewußt wird. Das Historische und der Systemcharakter sind zwei miteinander unlösbar verbundene Partner. 31 * Die Werke sind lediglich einzelne Ereignisse, und eine historische Position kann sich nicht nur mit der Beschreibung von „Vorfällen" begnügen, sie kann sich auch nicht mit ihrer Ordnung zu einer Chronik zufriedengeben. In der Literaturwissenschaft wird die historische Position erst dann evident, wenn man konkrete Systeme in Be13 Dieckmann

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tracht zieht, die eine solche oder andere Aussagegestaltung zulassen, wenn man von ihrer Kontinuität und Variabilität im Zeitraum einer „langen Dauer" 32 * spricht. Die Gattung scheint in der Literaturwissenschaft einer der spezifischen und am stärksten privilegierten Bereiche der historischen Problematik zu sein. Das Gattungssystem ist, so wie es sich in einem bestimmten historischen Zeitraum herausbildet, die Resultante konstanter und variabler Elemente; sie ist das Ergebnis ihrer immerwährenden dialektischen Spannungen. Diese Dialektik äußert sich auf verschiedenen Ebenen. Es handelt sich dabei vor allem um die Dialektik zwischen Identifikation und Differenzierung. 33 Identifikation ist Wiederholbarkeit der im Systembereich über einen längeren Zeitraum hinweg wirkenden Elemente, die die Kontinuität einer Gattung determinieren und ihr im Bereich der sich überlappenden Veränderungen die Existenz ermöglichen. Das ist also die Angelegenheit der G a t t u n g s i n v a r i a n t e n . Diese Invarianten sind eine der grundlegenden Prämissen des historischen Charakters der Gattung. Sie bedingen deren Kontinuität und setzen zugleich auch die Präsenz von Veränderungen, Umgestaltungen und Variationen voraus. Wir übergehen an dieser Stelle die Frage, was man im Gattungssystem konkret unter dem Terminus „Invariante" zu verstehen hat. Wesentlich ist die Verschiedenheit der Invarianten. Diese Verschiedenheit erklärt sich aus der Tatsache, daß die bestehende soziale Tradition letztlich darüber entscheidet, was das differenzierende unveränderliche Element ist. Diese Tradition ordnet diese Eigenschaften sehr unterschiedlichen Elementen zu und kümmert sich wenig um ihre Anordnung. Mit einer gewissen Übertreibung läßt sich feststellen, daß alles als Gattungsinvariante gelten kann, was sich in einem längeren Zeitraum als Grundfaktor der Identifikation einer bestimmten Gattung allmählich verfestigt hat. Es könnte also beispielsweise diese oder jene versifikative Erscheinung sein.34* In der Gattung ist die Invariante mit variablen, sich evolutionär verändernden Faktoren verflochten, mit Faktoren, die auf sie einwirken. Die Rolle der einzelnen Faktoren in der Gattung hängt nicht nur von den in ihrer inneren Entwicklung 194

wirkenden Fakten ab; die Invariante koexistiert vielmehr mit Fakten, die zu einer Reihe anderer Sachverhalte gehören. Je nachdem wie sich diese andere Faktenreihe gestaltet, können auch jene Faktoren ihre Funktionen verändern und bei günstigen Bedingungen zur Invariante werden. Das Gattungssystem, seine Invarianten und Varianten, bilden sich im literarhistorischen Prozeß heraus und unterliegen dem gesamten Einfluß dieses Geschehens. Man kann sehr wohl beobachten, daß dieser Prozeß sehr oft die aktuelle Form des Gattungssystems in einem bestimmten Moment des historischen Geschehens in Frage zu stellen vermag. Das Gattungssystem ist eine S t r u k t u r , die unter beständiger Einwirkung eines Bedingungsgefüges, einer bestimmten K o n j u n k t u r steht. Die Differenzierung in Struktur und Konjunktur haben wir von den französischen Soziologen G. Gurvitch und H. Lefebvre übernommen. In der Betrachtungsweise von Gurvitch ist die aus mehr oder weniger konstanten Elementen bestehende Struktur ein unvollständiger, schwankender Gleichgewichtszustand, ein permanenter Prozeß, der in der Bewegung der Strukturalisierung und Destrukturalisierung enthalten ist. Die Struktur befindet sich unter ständiger Einwirkung der Konjunktur oder eines Ensembles verschiedenartiger Tendenzen, die im Strukturbereich wirken, diese aber nicht prinzipiell verändern. 35 Im folgenden möchten wir Gurvitch anführen: „Man muß die globale Struktur und Konjunktur unterscheiden, ohne jedoch beide gänzlich voneinander zu trennen, denn jede Konjunktur ist nur im Rahmen der Struktur möglich und trägt ihr Symbol, aber bestimmte Konjunkturen beschleunigen den Prozeß der Strukturalisierung und Destrukturalisierung der globalen Gesellschaft und nehmen daran auch aktiv teil. Konjunkturen können also zur Modifikation und Umgestaltung der Struktur beitragen; aus diesem Grunde darf man niemals die Dialektik zwischen diesen beiden Termini übersehen, um so mehr, da die Konjunkturen direkte und sehr enge Beziehungen zu unterschwelligen Erscheinungen sozialer Art haben." 36 * Wir wollen die zitierten Gedanken auf den uns unmittelbar interessierenden Gegenstand übertragen. Sofern man die literarische Gattung als Struktur betrachtet (und nichts ver13*

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anlaßt uns, das nicht zu tun), werden für sie die jeweils entstehenden literarischen Tendenzen — als Ausdruck einer bestimmten literarhistorischen Situation —, Tendenzen mannigfaltiger Art, wie Zuordnung bestimmter Funktionen für die Literatur, Prägung des literarischen Geschmacks, Festlegung einer Wertordnung und alle Bestrebungen, die mit der sogenannten „literarischen Form" in Verbindung stehen, eben jene Konjunktur sein. Wenn diese Tendenzen entsprechend miteinander verbunden sind und eine relativ geschlossene Einheit bilden, läßt sich feststellen, daß die literarische Strömung hinsichtlich der Gattung die Funktion der Konjunktur ausübt. 37 * Diese oder jene Strömung der Literatur bildet an sich noch kein System der Gattung, unabhängig davon, ob dieses System unter dem Einfluß anderer Konjunkturen bereits früher entstanden war. Das System ist, gleichgültig ob es im Augenblick dynamischen oder stabilen Charakter besitzt, bereits g e g e b e n ; es bildet einen Regelkomplex, es bildet die T r a d i t i o n . Die literarische Strömung wird immer vom Gattungssystem bestimmt und wirkt in dem von jenem System vorgezeichneten Bereich. So wie jede Konjunktur, kann auch sie die einzelnen Elemente einer derartigen Struktur, wie es das Gattungssystem ist, verändern, aber nicht ganz umgestalten. Die Konjunktur ist sozusagen ein Zwangsinstrument, das auf die Struktur gerichtet ist; sie ist nicht der alleinige Veränderungsfaktor im Strukturgefüge. Die Struktur selbst ist, wenn man sie im Sinne von Gurvitch versteht, in ständiger Bewegung und setzt stets die „sich erneuernde Intervention der Akte" 3 8 voraus. Die Variabilität ist Element ihrer Existenz, weil die Struktur einen unaufhörlichen Prozeß der Strukturalisierung und Destrukturalisierung bedingt. „Als Elemente der sozialen Realität", führt Gurvitch aus, „sind die sozialen Strukturen ihrem Wesen nach dialektischer Natur, weil sie der ständigen Bewegung der Strukturalisierung und Destrukturalisierung unterliegen." 39 Die Konjunktur nutzt gleichsam die natürlichen Eigentümlichkeiten der Gattungsstruktur. Die Strukturalisierung und Destrukturalisierung äußern sich in der Gattung in dem, was man die ständige Bewegung der Elemente als Determinanten 196

bezeichnen könnte. Die Strukturalisierung des Gattungsbereiches ist die Konstituierung der Grundelemente zur Identifikation und Erkenntnis der Gattung im sozialen Prozeß, ist die Konstituierung all dessen, was früher in Form loser Tendenzen oder in Form kaum erkennbarer Potenzen in Erscheinung treten konnte. Die Destrukturalisierung dagegen ist ein Auseinanderfallen der Faktoren, die bis dahin im Gattungsbereich wichtige organisatorische Funktionen erfüllt hatten. Strukturalisierung und Destrukturalisierung waren im Verlauf der Gattungsentwicklung stets eng miteinander verknüpft. Für den Historiker, der sich mit dem Problem der Gattung befaßt, wird es in diesem Falle äußerst wichtig, genaue Beobachtungen anzustellen, wie und in welchem Grade die Strukturalisierung eines Elementes zur Destrukturalisierung des anderen führt (von gleicher Wichtigkeit ist auch der umgekehrte Vorgang). In der Strukturalisierung und Destrukturalisierung, die ein kontinuierlicher Prozeß sind, äußert sich jener Kreis von Erscheinungen, die die Wissenschaftler im Sinne der Tradition eines F. Brunetiere als „Leben der Gattung" oder nach M. Bachtin als „Gattungsgedächtnis" bezeichnen, das sich unaufhörlich verändert und lediglich die Erinnerung an die Vergangenheit bewahrt. 40 * Hier handelt es sich jedoch nicht allein um eine veränderte Terminologie. Als Brunetiere die Entwicklung der Gattung mit dem biologischen Leben verglich, schrieb er: „Die Gattung entsteht, wächst, erlangt Vollkommenheit, verfällt allmählich und stirbt schließlich ab." 4 1 Er betrachtete die Entwicklung als einen in einer bestimmten Richtung verlaufenden und grundsätzlich niemals gestörten Prozeß. Faßt man die Gattung als Faktum, das unter dem Druck der Konjunktur steht und sich in einem ständigen Prozeß der Strukturalisierung und Destrukturalisierung befindet, dann ist eine solche Sicht der Entwicklung schon nicht mehr möglich. In jedem Augenblick seines Bestehens ist sie nämlich verschiedenen Spannungen ausgesetzt, in jedem Moment entsteht etwas Neues und verfällt Altes, etwas vervollkommnet sich und stirbt zugleich ab. Die Prozesse der Strukturalisierung und Destrukturalisierung verlaufen nicht nur innerhalb einer einzelnen Gattung. Sie umfassen auch Erscheinungen, die man als Beziehungen 197

der Gattungen untereinander bezeichnen könnte; sie umfassen Tendenzen, die sich im Bereich eines ganzen Gattungssystems der Epoche realisieren. In diesem Bereich entsteht das Problem, in welchem Grade die Strukturalisierung einer Gattung mit der Destrukturalisierung einer anderen zusammenhängt. Ein klassisches Beispiel: die allmähliche Stabilisierung des Romans und der allmähliche Verfall der poetischen Epik in der Literaturentwicklung des 18. Jahrhunderts. Auch hier sind beide Prozesse aufs engste miteinander verbunden, wobei sich diese Verbindung nicht nur dann zeigt, wenn man sie innerhalb der Konstruktionsgrundsätze betrachtet. Mit gleicher Deutlichkeit läßt sich diese Verbindung erkennen, wenn man sie unter dem Gesichtspunkt der Funktion beleuchtet, die eine Gattung in einer bestimmten Periode erfüllt. Neue soziale Funktionen, die der Roman beispielsweise am Beginn des 18. Jahrhunderts zu erfüllen hatte, schädigten oder zerstörten gar völlig solche Funktionen, die bisher vom Epos wahrgenommen wurden. Aus dieser Sicht reduzieren sich Strukturalisierung und Destrukturalisierung auf den Kampf der verschiedenen, durch die Gattung motivierten Gestaltungsweisen der Aussage, auf den Kampf zwischen den verschiedenen Verfahren der Gattungswirksamkeit. Es handelt sich hierbei um zwei Seiten ein und desselben Prozesses, doch determinieren sie den dynamischen Charakter des Gattungssystems und ihre spezifische Dialektik. Das Gattungssystem ist nämlich niemals ein aus homogenen, harmonisch aufeinander abgestimmten Prinzipien bestehendes Ganzes. Von besonderer Wichtigkeit sind die innerhalb des Systems auftretenden konfliktreichen Spannungen, und seien es nur Spannungen zwischen Elementen der Tradition und solchen, die in dieser Tradition nicht enthalten sind oder sich ihr direkt entgegenstellen. Aus den bisherigen Darlegungen ergibt sich, daß sich die Strukturalisierung und Destrukturalisierung je nachdem, ob wir sie in der Kategorie der Diachronie oder Synchronie fassen, anders gestalten. Für die historische Poetik ist das eine fundamentale Tatsache. Es muß zugleich aber angedeutet werden, daß sowohl die Synchronie als auch die Diachronie historische Betrachtungsweisen sind, daß die historische Kate198

gorie im Verhältnis dazu übergeordnet ist: Die Historizität der synchronischen Betrachtung äußert sich in etwa darin, daß das Zeitfragment, das beobachtet wird, sowie die in ihm auftretenden Erscheinungen zwar als synchrone Erscheinungen behandelt werden, jedoch unter dem Aspekt des historischen Prozesses; das Prinzip des Einschnitts ist ein historisches. In ähnlicher Weise haben sowohl die synchrone als auch die diachrone Betrachtung dynamischen Charakter, sei es schon etwa wegen des Anteils an der Strukturalisierung und Destrukturalisierung. 42 * In der synchronen Betrachtung wird das dynamische Zusammenwirken der verschiedenen Gattungssubsysteme innerhalb eines während einer bestimmten Zeit entstandenen Gattungssystems zum zentralen Problem. E s geht dabei um die Einflußnahme der einen Gattungsmuster auf andere (zum Beispiel im Positivismus die Einwirkung der realistischen Erzählung auf das sogenannte poetische Bild in der Lyrik), um die Herausbildung einer Hierarchie der Gattungen in einer bestimmten Epoche — einer Hierarchie, die der zeitgenössischen Wertung und etwa der Überzeugung entspricht, daß die einen Gattungen besser seien als die anderen, womit Umfang und Intensität des Einflusses festgelegt werden; es geht um die Aufteilung der Kompetenzen zwischen den einzelnen Gattungen. Allgemein geht es um die für einen bestimmten, synchron betrachteten Zeitabschnitt typische B e w e g u n g der Gattungen. 43 * In der diachronen Betrachtungsweise erlangen Evolutionen und Umgestaltungen einer Gattung, die sich in einem solchen Zeitraum vollziehen, der synchron nicht zu erfassen ist, den Wert einer fundamentalen Frage. Mit anderen Worten: Diesen Wert erlangt das Verhalten der Gattung unter dem Einfluß der sich verändernden Konjunkturen. Das, was in synchroner Sicht Hauptgegenstand der Beobachtung ist, wird hier mehr oder minder zu einer wesentlichen Episode. In der diachronen Betrachtung kann das zum Beobachtungsobjekt werden, was Literaturwissenschaftler verflossener Jahrhunderte (vor allem F. Brunetiere) faszinierte, nämlich das wissenschaftliche Erforschen der Gattung bis zu ihrer besten, vollkommensten und reichsten Form. Der Unterschied besteht darin, daß die Wissenschaftler vom Typ eines 199

Brunetiere jene vollkommenste Form als etwas Absolutes und nicht als Relatives faßten (und gerade darin enthüllt sich ihr Normativismus), womit sie die Form nicht als tatsächlich größte historische Errungenschaft einer Gattung, gleichsam als deren Apogäum der Gattung betrachteten, sondern als eine modellhafte Realisation. Das sogenannte Apogäum wäre danach als eine bestimmte typologische Konstruktion zu betrachten, eine der möglichen Formen bei der Gestaltung eines bestimmten Gattungssystems wäre der Idealtyp, mit dem man alle anderen Formen vergleichen könnte, auf diese Weise Unterschiede und Ähnlichkeiten sichtbar machend. 44 *

4 Die literarische Gattung, eine zugleich systemhafte und historische Erscheinung, ein Faktum des literarischen Bewußtsein und ein Ensemble von Regeln, ein Element der literarhistorischen Realität und ein Instrument der Darstellung, ist eine der grundlegenden Fragen der historischen Poetik. Eine, allerdings nicht die einzige, nicht einmal dann, wenn, man der Gattung eine Vorrangstellung einräumen wollte, also annähme, daß in der Gattung alle jene Erscheinungen zusammenfließen, die für die historische Poetik von Interesse sein könnten. Das Gattungssystem ist niemals ein isoliertes System; es verbindet sich stets mit anderen Systemen und steht zu ihnen in einem dialektischen Wechselverhältnis. Diese Systeme beeinflussen es in gleicher Weise, wie es selbst auf andere einwirkt. Gemeint sind das Stilsystem, das Versifikationssystem und auch — obwohl diese Erscheinung nicht so stabil und präzise ist — das Ensemble thematischer Tendenzen. E s ist nicht gesagt, daß das Gattungssystem eine dominierende Stellung einnehmen müßte, obwohl sich das in der modernen Poesie, in der das System der poetischen Sprache eine prinzipielle Rolle spielt, anders verhält. Die Gattung ist somit ein System unter anderen. Aufgabe der historischen Poetik wird es also sein müssen, diese Systeme und ihre Wirkungsweisen zu erörtern, wie es überhaupt nach R. Barthes' vortrefflicher Formulierung, Anliegen der Literaturwissenschaft sein müsse,

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„ [ . . . ] nicht die Sinngehalte des untersuchten Werkes zu dechiffrieren, sondern die Regeln und Zwänge für das Erarbeiten dieses Sinngehaltes zu rekonstruieren" 45 . Gerade für die Rekonstruktion der Regeln und Zwänge (sowie Möglichkeiten) scheint die Kategorie der Gattung von besonderer Wichtigkeit zu sein. So betrachtet, befreit sie sich von klassizistischer Belastung und Herkunft und erlaubt es, zu den wesentlichsten Problemen des literarhistorischen Prozesses vorzustoßen. Sie erlaubt das, wenn man sich dessen bewußt bleibt, daß die Gattung (so wie die stilistischen, versifikativen und thematischen Systeme) ein Element der umfassenderen Erscheinung ist — der l i t e r a r i s c h e n K o n v e n t i o n e n , die ein erstrangiger Forschungsgegenstand der historischen Poetik sind.

Edward Balcerzan

Perspektiven einer „Rezeptionspoetik"

„Mein Lieber! Nimm diese Widmung an. Auch wenn ich sie nur auf gut Glück an jemand richte, so verbergen sich dahinter doch keine Nebenabsichten. Ich biete sie vielmehr aufrichtig an. Wer du bist, weiß ich nicht. W o du bist, weiß ich nicht. Wie du heißt, weiß ich auch nicht. Trotzdem bist du mein Stolz, meine Hoffnung, meine Freude. Und obgleich mir unbekannt, bist du meine Ehre. Ich freue mich darüber, daß für dich bessere Zeiten angebrochen sind. Eben das wollte ich mit meiner Arbeit erreichen. Wenn das Lesen meiner Schriften oder das Verhalten in der Art, als ob man sie gelesen habe, Mode und Brauch in der großen Welt wären (sofern das überhaupt möglich ist), weil man glaubte, dadurch etwas gewinnen zu können, so würde für dich gewiß nicht die beste Zeit anbrechen, und ich selbst •würde mich betrügen, wollte ich das nicht verhindern." Der zitierteText entstammt zwar demWerk eines Philosophen, enthält jedoch alle essentiellen Eigenschaften eines einfachen Modells der literarischen Kommunikationssituation (und ist eine der vielen literarischen „Inseln" in den philosophischen Schriften S. Kierkegaards). Das Modell der Kommunikationssituation, das in dieser Aussage angelegt ist, beruht darauf, daß sich der Autor in einen allgemeinen und bekannten Brauch einschreibt, um zu einer zwischenmenschlichen Verständigung zu gelangen. Er bricht jedoch von vornherein die Regeln dieses Brauches, um — im Spannungsfeld des Kommunikationssystems und seiner Negation — ein völlig neues System aufzubauen, das sich nicht auf seine eigenen Bestandteile zurückführen läßt. 1. Die ganze Aussage S. Kierkegaards hat den Charakter 202

einer Privatkorrespondenz. Das erste Signal der allgemeinen Briefkonvention ist die Redewendung „Mein Lieber!" Diese für private Briefe so wichtige Intimität äußert sich hier in vielfältiger Weise — in der Zusicherung der Redlichkeit der Absichten des Briefschreibers, in jener höchst pathetischen Formulierung der Lobpreisung („Du meine Freude [. . .] Du meine Ehre") und in der moralischen Verpflichtung, die der Briefschreiber für seinen Adressaten übernimmt. Wir haben den Eindruck, als ob diese Menschen (Absender und Empfänger) schon seit geraumer Zeit miteinander im Briefverkehr stünden. Die Worte „Ich freue mich darüber, daß für dich bessere Zeiten angebrochen sind. Eben das wollte ich mit meiner Arbeit erreichen" sind gleichsam die Antwort auf einen früheren Brief, den der Absender vom Empfänger erhalten hat, und könnten in folgender Weise gelesen werden: „(Du schreibst), daß für dich bessere Zeiten angebrochen sind. Ich freue mich darüber, denn eben das wollte ich mit meiner Arbeit erreichen." 2. Und doch ist der analysierte Textausschnitt kein Brief. Er hat keine Adresse und wurde „auf gut Glück" versandt. Hinzu kommt noch ein anderer Umstand: Er hat keinen faktischen, individuellen, „bekannten" Empfänger. „Wer du bist, weiß ich nicht. Wo du bist, weiß ich nicht. Wie du heißt, weiß ich auch nicht." Die Grundregeln sonst üblicher Korrespondenz werden durchbrochen. 3. Daraus folgt: Die analysierte Aussage ist sowohl ein Brief als auch kein Brief. Sie unterliegt einerseits den Normen des Briefverkehrs, andererseits beachtet sie diese nicht. Bestimmte Besonderheiten des üblichen Briefverkehrs bleiben in ihr erhalten, verändern jedoch entschieden ihren Sinn. Empfänger eines gewöhnlichen „Nicht-Briefes", eines tatsächlich „auf gut Glück", etwa aus Scherz verschickten Briefes könnte jeder von uns sein, gleichgültig wer es ist, wenn es nur überhaupt jemand ist. Obwohl „unbekannt", ist der Briefempfänger in der Kierkegaardschen Aussage dem Autor jedoch in spezifischer Weise b e k a n n t . Wir wissen, daß der eigentliche Empfänger des Briefes-Nichtbriefes nicht irgend jemand sein kann, sondern nur jemand, der aus der „großen Welt" herausgelöst wird. Es ist schwer zu sagen, ob dieser Jemand ein Indivi203

duum oder eine Gemeinschaft ist. Das weiß selbst der Autor nicht. Sicher repräsentiert er aber nur einen Teil (bei Kierkegaard — eine Minderheit) der Gesellschaft. Seine Haltung ist bestimmt vor allem durch die T ä t i g k e i t des L e s e n s . Des Lesens und nicht des Verhaltens „in der Art, als ob man [. . .] gelesen hätte", wie der Autor feststellt. Der authentische Empfänger des literarischen Textes ist also nur derjenige Mensch, welcher bereit wäre, unter den vielen sozialen Rollen, die er in seinem Leben spielt, nach Begegnung mit dem erwähnten Text die Rolle des Lesers zu bevorzugen. Das bedeutet, daß das Lesen für den Empfänger genauso wie das Schreiben für den Autor eine bestimmte Form der Existenz ist, die keiner weiteren Rechtfertigung bedarf, etwa durch irgendwelche Werte, die außerhalb der Lese- und Schreibtätigkeit liegen und scheinbar wichtiger sind. Hier bilden Lesen und Schreiben den grundlegenden, den primären Wert. Der authentische Adressat dieser Aussage wird mit dem ihm gleichenden hypothetischen Adressaten konfrontiert, er wird auch den f a l s c h e n Konsumenten des Autors gegenübergestellt, die seine Idee verflachen oder zur Mode machen, „weil man glaubt, dadurch etwas gewinnen zu können". Für den echten Leser des Kierkegaardschen Textes ist die Lektüre in diesem Fall nicht ein Komplex von E r s a t z v e r h a l t e n s w e i s e n , die nur etwas bedeuten, wenn sie außerhalb der Lektüre „etwas zu gewinnen" versprachen. Im Gegenteil: Der primäre N u t z e n des Empfängers muß die Lektüre selbst sein, also ein aufmerksames, kluges, die Intentionen des Autors verstehendes, selbstloses Lesen. E s muß ein intimes Lesen sein, als o b der Gegenstand des Lesens in der Tat ein vertraulicher Brief wäre. Kierkegaard wählt eines der einfachsten Systeme des gewöhnlichen Sprachverkehrs — den Brief. In den verschiedenen Epochen haben sich die einzelnen Kunstwerke der Literatur in sehr verschiedene Systeme zwischenmenschlicher Kommunikation eingegliedert. Manchmal ist das Material des literarischen Werkes, sofern man das so ausdrücken kann, im Werk selbst „erkennbar": neben dem Brief das Tagebuch, das Reisetagebuch, die wissenschaftliche Abhandlung, die Predigt usw. Ein andermal läßt es sich nur ungefähr als eine nicht näher identifizierbare Gattung der menschlichen Sprache

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beschreiben, als fertige Gattung, die bereits außerhalb der Literatur (zum Beispiel die Konvention des Familiengesprächs) bekannt ist oder erst in einem bestimmten literarischen Text von dem Schriftsteller entdeckt wurde. Eine interessante Komplikation entsteht für die Theorie des Kunstwerkes durch die sogenannte autothematische oder methodologische Schreibweise. 2 * Der Autothematismus integriert sich nämlich nicht unmittelbar in dieses oder jenes konventionelle System sprachlicher Kommunikation, sondern nutzt die Rechte des literarischen Kommunikationssystems gleichsam direkt. Und er „behandelt" die Literatur ebenso wie die nichtautothematische Literatur die Umgangssprache — er durchbricht ihre Regeln. Wenn sowjetische Wissenschaftler die Kunst des Wortes als sekundäres oder zweites Modellsystem bezeichnen und dabei an das beständige Aufbauen des Literaturschaffens auf der Umgangssprache denken, dann müßte man die autothematische Schreibweise als drittes Modellsystem interpretieren, das sich über diesen Aufbau erhebt. Wie gesagt, der Autothematismus kompliziert zwar die Rekonstruktion des universalen Modells der literarischen Kommunikationssituation, macht sie aber keineswegs unmöglich. Es läßt sich nämlich leicht die folgende Gesetzmäßigkeit erkennen: Sooft in einem bestimmten literarhistorischen Moment autothematisches Literaturschaffen auftritt, immer entsteht es aus der Überzeugung, daß die bisherigen kodifizierten Systeme der literarischen Korrespondenz im sozialen Verkehr gewissermaßen „verflacht" sind. Sie sind bereits in die Umgangsphraseologie, in die Welt der kommunikativen Stereotypen eingegangen. Der Autothematismus nutzt die Literatur aus und kompromittiert sie. Er greift in ihr vor allem das an, was „literarisch" unvollkommen, was gleichsam schon alltäglich, üblich ist. Die Regeln der menschlichen Sprache, die Normen der alltäglichen, gebräuchlichen Sprachkommunikation bilden immer den Rohstoff der Kunst des Wortes und werden in jeder Variante auf dieselbe Weise in Frage gestellt: durch die Veränderung der Art der Existenz des Absenders und Adressaten der Aussage. Der Absender (Autor) existiert hier nicht nur außerhalb des Textes, wie in der Umgangssprache, sondern 205

wird zugleich zur inneren (semantischen) Konstruktion des Werkes. Dazu äußert sich C. G. Jung in folgender Weise: „Jeder schöpferische Mensch ist eine Dualität oder eine Synthese paradoxer Eigenschaften. Einerseits ist er menschlichpersönlich, andererseits aber unpersönlicher menschlicher Prozeß." 3 In ähnlicher Weise verhält es sich mit dem Leser. Bevor der wirkliche Leser in Erscheinung tritt, existiert bereits im Werk selbst sein Projekt, eine Hypothese über den Leser — wie eben auch bei Jung festgestellt: „Einerseits ist er menschlich-persönlich, andererseits aber unpersönlicher menschlicher Prozeß". Gerade das verdeutlicht hier der rein experimentell zitierte Kierkegaardsche Text. Die Kategorie des w e r k i m m a n e n t e n „Lesers" ist eine der späten Entdeckungen der Literaturwissenschaft. Die uns heute angehende semantische Konstruktion trägt viele Bezeichnungen, viele Namen. Man sagt: „Leser" — „idealer" „Adressat" — „hypothetischer", „angenommener" „Empfänger" — „potentieller", „immanenter", „virtueller", „implizierter" usw. und läßt alle möglichen Verbindungen des bestimmenden und bestimmten Gliedes zu. Das Feld der terminologischen Synonyme ist also recht ausgedehnt, wie das gewöhnlich im Bereich einer neuen, noch nicht voll erfaßten Problematik üblich ist. Die einzelnen Bezeichnungen verändern sich etwas und modifizieren den Sinngehalt des Begriffes. So läßt sich „idealer" als „bester", „die Idee und den Willen des Autors richtig verstehender" Leser (hier setzt man in jedem einzelnen Werk ein bestimmtes „Leserideal" voraus, das gleichsam das vollkommenste aller möglichen „Bilder eines Lesers" ist) oder auch als „der im Bereich der Idee seiende Mensch" auffassen. Die Bezeichnungen „hypothetischer" und „angenommener" betonen hauptsächlich den Anteil des Bewußtseins des Autors bei der Gestaltung des Projektes dieses Empfängerbildes. Man könnte ebenfalls sagen, „angenommener" beziehe sich auf den „beabsichtigten", „gewollten" Leser. (Kierkegaard erwähnt: „ D u bist meine Hoffnung.") Die folgenden Bezeichnungen wie „potentieller", „immanenter", „virtueller" Leser bestätigen die Tatsache der objektiven Gegenwart des Leserprojektes 206

in jedem einzelnen Werk, wobei diese Gegenwart gleichsam unabhängig von den bewußtgewordenen Intentionen des jeweiligen Autors existiert. Sie kann ein unbeabsichtigtes Produkt 4 sein. Schließlich bedeutet das Wort „immanenter" soviel wie „vom Kritiker oder vom Forscher rekonstruierter" Leser. Schon aus diesen einleitenden Bemerkungen scheint hervorzugehen, daß sich die Kategorie des in der Struktur eines Literaturwerkes potentiell existierenden „Lesers" mit einer einfachen, in einem Satz ausgedrückten Definition nicht bestimmen läßt. Sie erfordert nämlich eine bestimmte Ordnung des Begreifens, die wir (als Arbeitsbegriff) „Rezeptionspoetik" nennen wollen. Es ist bekannt, daß sich die verschiedenen Bedeutungsinhalte, die wir heute dem Begriff Poetik zuordnen, letzten Endes für den Forscher als recht kompliziert erweisen, vor allem weil die Klassifikationsgrundsätze für das Problemfeld dieser Disziplin seit langem Klarheit und typologische Präzision verloren haben. Andere, objektive Kriterien spielen hier eine Rolle, wenn wir in der Poetik des literarischen Werkes die Poetik der Folklore 5 oder die Poetik der Übersetzung 6 unterscheiden, und wiederum andere, wenn wir die theoretische Poetik der normativen 7 Poetik gegenüberstellen (in diesem Fall berücksichtigen wir die Präsenz oder Absenz des Wertungsmomentes) und noch andere, wenn wir am Schnittpunkt dieser Systeme einen Platz für die historische Poetik 8 * suchen. Die Typologie der Poetik wird bei semiologischen Untersuchungen über das literarische Schaffen noch weit komplizierter. Hier wird in der weiteren Folge die Sprache zum Problem, in welcher das System einer Poetik überhaupt erst existieren kann, also die Sprache der künstlerischen Programme (die formulierte Poetik) und die Sprache des literarischen Werkes (die immanente Poetik). 9 Und nach den einzelnen Verwendungsarten der Sprache des Werkes weiter klassifizierend, folgt die Poetik, die ich als „programmierte" und „realisierte" Poetik 10 bezeichnen möchte. Muß also auch der „Leser" eine neue Variante des Systems der Poetik bilden? Zweifellos. Man wird die These Gtowinskis zu akzeptieren haben, in der er nachweist, daß „das 207

Problem des virtuellen Empfängers als lyrisches Subjekt ein Problem der Poetik ist" 1 1 . Mehr noch: Die Kategorie des virtuellen Lesers geht nicht nur in die theoretische Poetik ein, sie verändert auch deren Charakter. Sie organisiert in diesem Begriffssystem ein relativ isoliertes Untersystem — eine Poetik unter dem Aspekt des Empfängers, eine Theorie des Kunstwerkes, die auf seine Rezeption orientiert ist. Das Anliegen dieses Artikels ist der Versuch einer skizzenhaften Darstellung der Perspektiven einer so konzipierten „Rezeptionspoetik". Was versteht man heute bereits unter „Rezeptionspoetik", und was sollte sie in Zukunft sein? Geht es dabei in erster Linie um eine neue Ordnung innerhalb bekannter und anerkannter Begriffe oder um eine Sammlung von neuen Begriffen, die auf einer den gebräuchlichen Varianten der „Poetik" noch unbekannten Grundlage gebildet wurden? An dieser Stelle bedarf es einer Erläuterung, die die Grundbedeutung der beiden Begriffe „Poetik" und „System" betrifft. Es ist zu fragen: Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit ein bestimmtes S y s t e m literarischer Begriffe als P o e t i k in Funktion treten kann? Unter welchen Bedingungen hören die Elemente der Poetik auf, lediglich eine Sammlung von Instrumenten zu sein, und werden ein S y s t e m par excellence ? In sehr weit gefaßtem Sinne kann folgendes festgestellt werden: Das Systemzentrum jeder Poetik, der theoretischen und normativen, der formulierten und immanenten ist nicht nur die Ontologie des literarischen Werkes, wie das allgemein angenommen wird, sondern — nach unserer Auffassung — die s e m i o l o g i s c h orientierte Ontologie. Das bedeutet, daß die Poetik mit der Beantwortung der Frage „Wie existiert ein literarisches Werk?" zugleich auch bestimmt, wie das literarische Werk im P r o z e ß der z w i s c h e n m e n s c h l i c h e n K o m m u n i k a t i o n existiert. Das setzt eine ganz bestimmte Konzeption von der Verständigung zwischen Mensch und Mensch voraus — nämlich durch Vermittlung eines Zeichens der künstlerischen Literatur. Sie ist in ihren Einzellösungen gleichsam die Exponente der Idee einer „Metalinguistik" im Sinne von M. Bachtin. 12 Wir möchten darauf hinweisen, daß in der beschreibenden Poetik die Definition sogar der kleinsten Werkelemente (in der normativen Poetik

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die Interpretation der programmatischen Schlagwörter dieser oder jener Strömung) direkt oder indirekt die Relationen des poetischen Zeichens zu solchen Elementen der zwischenmenschlichen Kommunikation wie außertextliche Realität und Sprache der Tradition, Absicht des Absenders und angenommene Reaktion des Lesers, Aufnahmeumfang und Typ des Kode sowie Art des Informationskanals registrieren. Mit anderen Worten: Die Poetik ist ein System semiologischer Thesen, das von der linguistischen Ebene in die Ebene der poetischen Sprache transponiert wird. Unser Modell, das wir am Beginn unseres Artikels mit der Analyse des Kierkegaardschen Textes darstellten, enthält eine spezifisch literarische Projektion der kommunikativen Situation. Es ist ein direkter Exponent des semiologischen Denkens. Es bildet ein Muster der literarischen Kommunikation und ist zugleich ein Darstellungsmodell dieser Kommunikation, Zentrum der Poetik. Der Begriff „System", der in den verschiedenen gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen übrigens unterschiedlich interpretiert wird, scheint in diesem Kontext dem S y s t e m der M ö g l i c h k e i t e n 1 3 * am nächsten zu stehen. Die Elemente der Poetik bilden dann ein System, wenn zwischen ihnen ein Netz invarianter Relationen — in binären Reihen oder im Strukturfeld 14 * — gegeben ist, wobei die Beschränkungen, die sich aus diesen Relationen ergeben, nicht absoluter Art sind. Es besteht durchaus die Möglichkeit des Überschreitens der Systemnorm, der Umstrukturierung der inneren Wechselbeziehungen zwischen den Elementen der Poetik und der Strukturveränderung des einen oder anderen Elementes, übrigens eine Möglichkeit für den Forscher und die Literatur. Die Entwicklung der Kunst des Wortes reguliert den Zustrom neuer und erneuerter Begriffe in das System der theoretischen Poetik. Daraus erwachsen die Unterschiede in den Wörterbüchern der literarischen Terminologie innerhalb der einzelnen Nationalkulturen. 15 * Und umgekehrt: Die Entwicklung theoretischer Untersuchungen verweist auf Entwicklungsmöglichkeiten der Wortkunst, die in der „Grammatik" der Literatur liegen. Viele der einfachsten Begriffsinterpretationen der theoretischen Poetik haben sogar den 14

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Charakter von Hypothesen, die die Chance neuer, praktischer Lösungen, die bis dahin in der Geschichte des Verses, des Stils und der Gattung nicht registriert worden waren, aufzeigen. In der linguistischen Terminologie würde das heißen, daß die Poetik ein solches System wäre, in dem „potentielle Konstruktionen" 1 6 eine besondere Aktivität an den Tag legen. Sie streben an die Oberfläche zur Beherrschung des Netzes der systemimmanenten Relationen. Die potentielle Konstruktion, die in der theoretischen Poetik „an die Oberfläche gelangte", ist der virtuelle Leser. Wir möchten an dieser Stelle noch einmal die Frage wiederholen: Welche Veränderungen führt diese Kategorie in das bisherige Begriffssystem der theoretischen Poetik ein? Der immanente Leser ist das Produkt der Wirksamkeit von drei Kausalkräften. Er ist das Gebilde des Schriftstellers; er ist zweitens das Produkt des direkten und (oder) indirekten, institutionalisierten und (oder) nichtinstitutionalisierten Einwirkens des zeitgenössischen Publikums 17 auf das Literaturschaffen des Autors, und er ist schließlich eine „fertige" Konstruktion im Rahmen der Konvention jener Gattung, die die dringenden Leserbedürfnisse mit den Ambitionen des Schriftstellers in Übereinstimmung bringt. 18 * Für den virtuellen Adressaten gibt es also keinen anderen Platz in der Struktur des literarischen Werkes. Dieses Urteil muß natürlich sofort vervollständigt werden: In der Struktur des Werkes gibt es keine besonders h e r v o r g e h o b e n e n , speziell für den virtuellen Leser vorgesehenen „Plätze", ebensowenig wie es in ihr neutrale Plätze gibt, in denen der virtuelle Adressat überhaupt nicht in Erscheinung tritt. Die gesamte literarische Transmission ist auf Empfang eingestellt. Alles, was a u ß e r h a 1 b des E m p f a n g sb e r e i c h e s liegen würde, wäre automatisch auch a u ß e r h a l b d e s W e r k e s . Somit ist der „virtuelle Empfänger" eine ganzheitliche Kategorie, die sich auf das gesamte Werk bezieht. Sie existiert im linearen Textverlauf und in den Werkschichten. Indem der implizierte Leser das gesamte Werk beherrscht und einen bestimmten Aspekt der ganzheitlichen Organisation des Werkes sichtbar macht, wird er zugleich zum fermentierenden Element der neuen Ordnung der g e s a m t e n theoretischen Poetik. 210

Was sich außerhalb des Empfangsbereiches befände, läge auch außerhalb des Werkes. Also auch: Was sich außerhalb des Werkes befände, läge automatisch außerhalb der Theorie des Werkes, außerhalb der Poetik. Jedes Element des Werkes kann man als eine spezifische Aufgabe an den Leser betrachten. Jedes Element kann als Aufforderung zum Vollzug der in ihm angenommenen semiotischen Operation beschrieben werden. Zum Beispiel ist die Ellipse eine Aufgabe, die nachfolgend lautet: „Ergänze in der gegebenen Aussage den fehlenden Bestandteil!" (Oder in einer komplizierteren, unvollständigen Satzkonstruktion: „Fülle die Lücke mit einem Synonymfeld aus!") Die Umkehrung lautet: „Stelle die in der Literatursprache verbindliche Wortordnung wieder her!" (Oder in einer komplizierten inversen Aussage: „Erfasse die Spannung zwischen einer vermuteten Norm sprachlicher Korrektheit und der Abweichung von dieser Norm im angegebenen Satz!") Die erlebte Rede: „Löse in einem bestimmten Text die Stimme des Erzählenden und die Stimme der poetischen Gestalt heraus! Dringe zu der Grenze vor, an der beide Stimmen bereits unlösbar miteinander verbunden sind!" Die Metapher: „Erkenne den Grundsatz der Bedeutungsähnlichkeit, der in einer gegebenen Konstruktion vorhanden ist. Überdecke das Moment der Ähnlichkeit mit dem Moment der Unähnlichkeit! Rekonstruiere die neue Bedeutung, die sich im Spiel der Ähnlichkeit und Unähnlichkeit ergibt!" usw. Die beschriebene Prozedur ergibt noch keine Neuordnung der Begriffe und Termini der theoretischen Poetik. Sie trägt den Charakter einer Übersetzung zwischen den Systemen, einer Reinterpretation der Bedeutungsinhalte der einzelnen Werkelemente : Sie ist die Orientierung ihrer Funktionen auf Empfang. Bei der Kierkegaardschen Textanalyse bemerkten wir, daß die erste Tätigkeit, die das „Verhalten" des hypothetischen Adressaten kennzeichnet und determiniert, die Tätigkeit des L e s e n s ist. Wie es scheint, kann das „Lesen" nicht mit dem von R. Ingarden geprägten Begriff der „Konkretisation" 19 gleichgesetzt werden. In der Rezeptionspoetik unterliegt nämlich die schichtweise (graduale oder niveaustufige) Vision der Struktur des literarischen Werkes Wandlungen. Die Konkretisation setzt nach der Theorie von Ingarden einen Prozeß des Übergangs 14*

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von niederen zu höheren Schichten voraus, also vom Laut zur Bedeutung, von der Bedeutung zum dargestellten Gegenstand usw. Die auf die Rezeption gerichtete Theorie des Werkes nimmt an, daß sich bestimmte Typen der O r g a n i s a t i o n von Textelementen höherer Schichten früher erkennen lassen als manche Konstruktionen niederer Schichten. Als ein vereinfachtes (und daher bequemes) Modell dieser Gesetzmäßigkeit könnte der typische Verlauf des primitiven Lesens (unter anderem auch des Schülerlesens) verwendet werden. Das Gedächtnis des einfachen Lesers behält gewöhnlich nur das, was sich in höheren Strukturstufen befindet. Der primitive Leser dringt gleichsam „sofort" ins Zentrum der dargestellten Welt ein. Er fühlt sich als Zeuge der Ereignisse und verfolgt das Spiel des Erzählers und die auftretenden Gestalten. Es ließe sich hier von der Rezeption der inneren Semantik der vorgestellten Welt reden. Der Empfänger nimmt die Bedeutung der Worte und Gesten, mit deren Hilfe sich die Helden des Werkes verständigen, zur Kenntnis. An jeder Textstelle, in jedem Augenblick des Lesens befindet er sich am Schnittpunkt einiger Informationsströme, die von Gestalt zu Gestalt verlaufen. Er neigt dazu, aus dem Rezeptionsprozeß die Organisationsformen der niederen Niveaustufen auszuschalten, also die Lautsysteme und mikrostilistischen Operationen. In der sozialen Didaktik wenden wir uns mit Fug und Recht gegen eine solche Lektüre, die wir als mangelhaft betrachten und die die Kunst des Wortes um ihre wesentlichen Werte zu bringen vermag. Allerdings sollten wir die Tatsache der Existenz von „Empfängern" dieser Art nicht unterschätzen. Wir sollten sie insbesondere als M o d e l l der Rezeptionspoetik wertschätzen. Sowie bei allen Störungen in der zwischenmenschlichen Kommunikation, zum Beispiel bei Aphasie oder — in ästhetischen Typologien ausgedrückt — bei Kitsch, Trivialliteratur, entstellten und degenerierten Formen, interessiert uns auch in unserer Disziplin die Analyse der primitiven Lektüre. Sie vermag der Forschung eine Reihe wertvoller und belebender Impulse zu geben. Wie es scheint, würde das angeführte Modell eine Reihenfolge von Abschnitten der Rezeptionspoetik voraussetzen, in der zunächst die Identifikation der Schlüsselinhalte der literarischen Transmission zustande kommt (ein 212

Abschnitt, der der „Thematik" im Konzept der Formalisten ähnelt), wo also die üblichen, irgendwoher bekannten, im Leserbewußtsein gegenwärtigen und im „globalen Weltbild" 20 des Empfängers verankerten Sinngehalte auftreten, dann anschließend werden die Organisationsformen der intergradualen Zusammenhänge, die das gesamte Werk komplexer und intensiver umfassen, in die Betrachtung einbezogen. AlsBeispiel mag das Gedicht Barwy narodowe (Die nationalen Farben) von Pawlikowska-Jasnorzewska dienen. Zweifellos kann hier der Titel des Werkes entsprechend R. Ingardens Konkretisationsidee erst dann als Zeichen verstanden und identifiziert werden, wenn im Perzeptionsprozeß zuerst seine Lautsubstanz existiert und sich dann aussondert. Erst danach erscheinen die Sinngehalte der Wörter „Farben" und „nationale". In der dritten Konkretisationsphase erscheint ein gewisses Vorstellungsschema, das über der semantischen Schicht aufgebaut wurde. In diesem Werk verbirgt jedoch das Zeichen „Die nationalen Farben" in sich das Potential der Lautorganisation, die darauf beruht, daß die „Lautmasse" der Titelwörter später instrumentiert, wiederholt und zum Klingen gebracht wird, und der Empfänger sie als eine spezifische Organisation zu identifizieren vermag — auch später bei folgenden Worten und Sätzen: „Weiß - blutig, blutig — weiß bist du, linnener Verband, der du Fahne heißt. Oh, wie wurdest du nur mit dem gewaltigen Blutstrom fertig!" 21 Die Organisation hier ist überaus kunstvoll! Die Lautbilder der Titelwörter wiederholen sich in der Versfolge und gehen (im Original) Reimverbindungen ein. Das Wort „Farbe" reimt sich mit den Worten „weißblutig" usw. Bevor jedoch die Instrumentationsordnung beim Empfang zum Klingen gebracht wurde, werden für den Leser schon der Sinn, die Idee des Schlagwortes „Die nationalen Farben", die spezifische „Thematik" oder „Problematik" des Titels zum „Zeichen erster Ordnung". Man kann also feststellen, daß der Rezeptionsprozeß gleichsam Wiederholung desSchaffensprozesses 2 2 * ist. In beiden 213

Fällen wiederholt sich der Weg, der von alltäglichen Sinngehalten zu Bedeutungsinhalten führt, die das Ergebnis streng regulierter poetischer Operationen sind, also vom Bewußtseinsstereotyp zur spezifisch literarischen Struktur, vom C h a o s zum Ü b e r m a ß an K o m m u n i k a t i o n s s t r u k t u r e n geht. Die Rezeptionspoetik kann also keine eigene Problematik innerhalb der traditionell herausgelösten Gebiete der theoretischen Poetik entwickeln. Sie kann vor allem ihre Abfolge (von der Mikrostruktur zu den höchsten semantischen Konstruktionen) nicht berücksichtigen. Die Kategorie des potentiellen Lesers, „der an die Oberfläche dringt", stellt die bisherige Ordnung der Begriffe und Termini einfach auf den Kopf. Sie legt eine solche Folge von Forschungsinstrumenten fest, die im Verhältnis zum Prozeß des Lesens und Schreibens eines Werkes ein homologisches System bildet. C. G. Jung beweist, daß der Autor „als Künstler [. . .] aus seiner nur schöpferischen Tat zu verstehen ist". 23 Offensichtlich ist es nur möglich, den Leser über die Gesetzmäßigkeiten des Reproduktionsaktes zu beschreiben. Die einzelnen Teilgebiete der Rezeptionspoetik sollten also die Phasen der „Entstehung" eines Werkes kennzeichnen, seinen Übergang von der Alltagssprache zur Literatursprache, seine Komplizierung und Verdichtung, seine Wiederholungen und Antizipationen in der Textfolge, seine vielfachen Umwertungen im Strukturfeld, sein ständiges Spiel mit Wissen und Nichtwissen 24 *, mit Chaos und Ordnung. Ist es tatsächlich möglich, das Modell des Lektüreverlaufs und das Modell des Schaffensprozesses eines Werkes in dieser Weise zu beschreiben? Gibt es überhaupt die Möglichkeit der Rekonstruktion eines Modells, das so viele widerspruchsvolle Schriftstellererfahrungen und so viele verschiedene Lesegewohnheiten, so viele Varianten der Gattung, der Art und des Stils eines Werkes unter einen Hut bringen könnte? Dieser betonte Zweifel ist schon sehr alt, fast uralt 25 *, und doch verlangt er eine Lösung. E s ist höchste Zeit, diesen Zweifel zu zerstreuen. Kehren wir zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen zurück. Wit hatten angenommen, daß die Poetik ein System semiologischer Thesen sei, das von der Ebene der Linguistik 214

in die E b e n e der K u n s t des Wortes transponiert wird. D i e Rezeptionspoetik muß daher auch auf d e m B o d e n einer g a n z bestimmten Theorie des Zeichens und der B e d e u t u n g existieren und ihr Modell aus d e m Modell des sprachlichen Schaffens herleiten. D a s Schaffensmoment ist eine Art „innerer F o r m " jeden zwischenmenschlichen Kommunikationsaktes. Wir wollen nicht versuchen, die einzelnen Glieder dieses Modells zu rekonstruieren. D a s würde viele Untersuchungen und sehr viel Forschungsarbeit notwendig machen. Wir möchten lediglich auf die Perspektive verweisen. Diese Studie behandelt ja Perspektiven der Rezeptionspoetik. I m folgenden einige weitere Bemerkungen in skizzenhafter, perspektivischer Vorausschau. Wenn man annehmen muß, daß in der Rezeptionspoetik die Schlagwörter des L e x i k o n s der theoretischen Poetik Bezeichnungen f ü r A u f g a b e n sind, die an den Adressaten gestellt werden, dann ist es nötig, nicht nur eine generelle T y p o l o g i e , sondern auch eine besondere Klassifikation dieser A u f g a b e n zu schaffen. Mit Sicherheit fordert jedes Werkelement v o m idealen E m p f ä n g e r Erkennen. J e d e s Element des Werkes würden wir also als d e n Befehl: „ E r k e n n e ! " übersetzen. D o c h nicht jedes Element enthält einzig und allein diesen wesentlichen A u f t r a g . D a s E r k e n n e n kann nämlich fehlerhaft sein, d. h., in der Verm u t u n g des E m p f ä n g e r s muß es zunächst fehlerhaft sein, und erst später in den folgenden Textpartien wird jener Fehler korrigiert (Regel der fabulären Konstruktion des Rätsels). E s kann sich beim Erkennen jedoch auch u m eine Tätigkeit handeln, die eine Reihe zunehmend komplizierterer Interpretationsoperationen auf Seiten des Lesers voraussetzt. D a s vollzieht sich bis zur E n t l e d i g u n g der Last des „ S c h r e i b e n s " oder der K o m p o s i t i o n des Werkes, wie das z u m Beispiel in der E r zählung v o n A . Robbe-Grillet Die blaue Villa in Hongkong geschieht. Bei der O r d n u n g der Begriffe aus dem Arbeitsbereich der Poetik, die als A u f g a b e n an den E m p f ä n g e r zu verstehen sind, müßte man dann das allmähliche Eindringen des Lesers in den Kompetenzbereich des A u t o r s berücksichtigen. In seinem Gedicht Ciemnosc (Dunkelheit) schrieb C. N o r w i d :

215

„Er Hat Der (die

beklagt sich über das Dunkle meiner Rede. er nur einmal selber eine Kerze angezündet? Hausdiener brachte sie ihm vielen Ursachen, die uns so verhüllt sind.") 2 6

N o r w i d schrieb von einem unverständigen, passiven Leser, der v o m „Ideal" weit entfernt ist. Die Rezeptionspoetik muß eine solche Organisation der Begriffe der theoretischen Poetik aufweisen, innerhalb derer jeder folgende Begriff — in einem höheren Grade als der vorherige — die „Dunkelheit" der poetischen Rede erhellt. D a s würde grundsätzlich mit unserem Modell v o m Verlauf des aktiven Lesens in Übereinstimmung stehen: v o m Chaos zur Ordnung. V o n dem, was in der Alltagsbetrachtung der Welt evident ist, zu dem, was in literarischer Sicht problemgeladen erscheint. Einleitend stellten wir fest, daß der „virtuelle L e s e r " in der Poetik des Werkes eine ganzheitliche Kategorie ist. In der Realisation der Schriftsteller und Dichter hat der „virtuelle E m p f ä n g e r " eine duale Natur. E r ist immer Rolle 2 7 * für den jeweils faktischen Leser. E r ist manchmal auch Z e i c h e n , semantische Figur. D a s geschieht so in allen Stilisierungen und in Werken mit einer ausdrücklich betonten Leseradresse, die schon nicht mehr aktuell, die veraltet ist. Beim Lesen eines stilisierten Werkes oder Textausschnittes mit der Anmerkung „für . . ." (zum Beispiel: „Erzählung für das V o l k " , „ . . . f ü r erwachsene D a m e n " usw.) werden wir uns bewußt, daß hier eine Identifikation mit dem hypothetischen Empfänger nicht möglich ist. Die Rolle, die uns übertragen wird, ist eine uns fremde Rolle. Die Gesten, die wir „auf Befehl" des Absenders ausführen, sind für uns fremde Gesten. Diese Sache ist nicht direkt für uns geschrieben. Sie ist für jemand anderen bestimmt. Und dieser „andere" wird gleichsam zu einer weiteren Gestalt des gelesenen Werkes, zu einer weiteren semantischen Figur. Wir können das so ausdrücken: Der erwachsene Leser eines Gedichtes für Kinder kann auf die Hinweise der Poetik der Kinderliteratur durchaus treffend reagieren. Seine eigenen Reaktionen wird er gleichsam in das Innere des Werkes transponieren, in die Welt des Gedichtes, auf den anderen, den „echten" Empfänger — auf das Kind. In der Welt der Poesie 216

erscheint die Gestalt des Kindes als Leser mit seinem hellen Lachen, mit seinen Ängsten und seinen Gedanken. Statt der Gestalt des Kindes kann es ebenso Tiere, Puppen oder Uhren betreffen. Immer entsteht eine neue Gestalt, ein neues Zeichen, das vom Adressaten hineingetragen wird. Diese Rezeptionsart tritt gewöhnlich bei Werken in Erscheinung, die mit der Gelegenheitsproblematik ihrer Zeit und Umwelt eng verbunden sind. Sie kann jedoch auch bewußte Annahme des Absenders, Hauptdirektive der K o n v e n t i o n sein. Wenn man mit M. Bachtin die Auffassung vertritt, daß Stilisierung durch Hinlenkung des einen Textes auf einen anderen Text 28 charakterisiert wird, müßte man darin übereinstimmen, daß sich in der Stilisierung zugleich die Hinlenkung auf einen fremden Empfänger vollzieht. Es ist vor allem die Periode, die mit gleicher Intensität die (fremde, in Frage gestellte oder ironisch gefaßte) Schreibweise irgendeines Autors und die (verlachte, angezweifelte oder fremde) Lektüreweise der Literatur anprangert. Das geschieht zum Beispiel in der Prosa von S. I. Witkiewicz. Hier wird der „fremde Adressat" zum Zeichen, zur semantischen Figur mit den Rechten einer Gestalt, eines Erzählers oder eines lyrischen „Ich". Die vorstehenden Bemerkungen, die These von der dualen Natur des virtuellen Lesers, zeigen noch einen anderen Grundzug der neuen Ordnung, die die Rezeptionspoetik unter den Begriffen der theoretischen Poetik herstellen müßte. In der neuen Struktur des Systems unterliegen die Namen der Bestandteile des Werkes einer Aufgliederung: Die A u f g a b e wird zum Z e i c h e n , und das Z e i c h e n erhält den Charakter einer A u f g a b e . Der vorgestellte Leser führt nicht nur eine Reihe von Tätigkeiten aus, sondern er enträtselt auch deren Sinn. Die Gesten des Lesers dringen in die Struktur des Werkes als semantische Elemente ein. Einige Schlußfolgerungen: Die Rezeptionspoetik interpretiert die Begriffe der theoretischen Poetik auf neue Weise. Die Schlagwörter des Lexikons der b e s c h r e i b e n d e n Theorie des literarischen Werkes werden in ihr zu Namensbezeichnungen, die die Aufgaben des Adressaten charakterisieren. Diese Aufgaben nehmen die Form neuer Zeichen an. Die Rezeptionspoetik kehrt die Aufeinanderfolge der herkömmlichen Teilge217

biete der theoretischen Poetik um. Sie schafft einen Gegensatz zum Modell der Konkretisation, das den allmählichen Übergang von niederen zu höheren Schichten voraussetzt. Die Klassifikation der Begriffe des neuen Systems stützt sich auf die P r o z e ß p h a s e n der aktiven Lektüre, die in ihren Grundzügen den Phasen der sprachschöpferischen Tätigkeit des Menschen und den Etappen des Literaturschaffens entsprechen. Sie registriert das allmähliche Eindringen des Empfängers in den Kompetenzbereich des Autors. Nach der Beantwortung der Frage: Sollte die Rezeptionspoctik eine neue Ordnung unter den bekannten Begriffen sein, möchten wir uns der nächsten Frage zuwenden. Sie lautet: Geht es um die Sammlung neuer Begriffe oder um auf literaturtheoretischer Basis generell erneuerte Begriffe? J . Przybos stellte einmal an die Literaturwissenschaft die Forderung, ein poetisches Wörterbuch zu schaffen. Er schrieb: „Ein poetisches Wörterbuch zu erarbeiten, hieße ein wirkliches Lehrbuch für Psychologie zu entwickeln, in welchem als Beispiele für ausgezeichnete Formeln der Gefühle Metaphern, Figuren und poetische Tropen zitiert wären sowie ganze Gedichte als Definitionen bislang noch unbekannter Gefühle." 29 Ein wirkliches Lehrbuch für Psychologie! Es ist gewiß überflüssig, noch einmal alle Argumente zu wiederholen, die gegen den Psychologismus in der Literaturwissenschaft vorgebracht wurden. Doch gehen wir von empirischen Sachverhalten aus, verzichten wir dabei auf Vorbehalte. Wie die Untersuchungserfahrungen bestätigen, lassen sich bei der Rekonstruktion des textimmanenten Adressaten bestimmte Begriffe aus dem Bereich der allgemeinen Psychologie keineswegs vermeiden. Diesen Begriffen wichen wir in unseren einleitenden Bemerkungen nicht aus. Wir erörterten u. a. den Anteil des Wissens und Nichtwissens des immanenten Lesers am in Sequenzen erfolgenden Ablauf der Zeichen des literarischen Werkes. Dieses Problem des „Wissens" und „Nichtwissens" könnte man jedoch auch als Spiel des „Bewußten" und „Unbewußten" des Empfängers, als ständigen Prozeß der Übersetzung „verborgener" Bewußtseinsinhalte in „offene Inhalte" 30 interpretieren. Wir verzichten übrigens auf diese psychologische oder psychoanalytische Terminologie, wie sie in literarischen Dar218

legungen in Form essayistischer Metaphern vorzufinden ist. Lassen wir es bei Begriffen bewenden, die in der Poetik des Werkes faktische Gegebenheiten beschreiben und die dem Autor beim Schöpfungsakt und dem Forscher beim Interpretationsakt dennoch sichtbaren Widerstand entgegensetzten, da sich um sie herum ein Komplex von stilistischen und kompositioneilen Kunstbegriffen gruppiert. Über die Struktur des Werkes ist zu reden, ohne auf Probleme der psychologischen Charakteristik der Gestalt einzugehen. Ein weiterer Bezug betrifft die Rolle der psychologischen Kategorien bei der Rekonstruktion des hypothetischen Empfängers. Der „ideale Empfänger ist immer ein historischer Empfänger. Er trägt in sich immer etwas von dem Geschmack, den Interessen und den Erfahrungen, etwas von der Sprache und Kultur des „faktischen Publikums", gleichgültig, ob er „eine Ohrfeige für den allgemeinen Geschmack" oder ein Kompromiß gegenüber dem Publikumsgeschmack sein möchte, gleichgültig, ob er als neue Rolle ein einem Neuererwerk erscheint oder lediglich als Versuch zu werten ist, ob sich die alte Rolle, die bereits in der Konvention verankert ist, tatsächlich bewährt. In beiden Fällen muß der Schriftsteller damit rechnen, daß das „faktische Publikum" eine derartige Rolle nicht zu spielen gedenkt, weil es entweder von der erlöschenden, bis an die Grenzen des Möglichen abgenutzten Konvention ermüdet ist oder experimentellen Neuerungen überhaupt eine geringe Aufgeschlossenheit entgegenbringt. Also ist das Grundproblem der sozialen Existenz eines Werkes in jedem Fall ein Problem des Willens und der Rezeptionsbereitschaft des faktischen Adressaten. Mit anderen Worten: Es ist niemals bekannt, ob der Empfänger — um mit C. Norwid zu sprechen — die „Kerze" wird anzünden wollen, um das Dunkle der poetischen Sprache zu erhellen, ob er sie vielleicht nur deshalb nicht entzündet, weil die poetische Sprache für ihn zu grell ist, so durchschaubar, daß sie nicht mehr zu erschauen ist. Somit ist in der Rezeptionspoetik die Kategorie des W i l l e n s , der W i l l e n s a k t e eine nur dem Anschein nach psychologische Kategorie. Um den Rezeptionswillen, der immer problematisch und buntschillernd war und ist, konzentriert sich 219

ein ganzer Komplex spezialisierter Kunstgriffe. Die an dieser Stelle erneut zu erwähnende „Dunkelheit" von Norwid ist in ihrer Ganzheit „Einstellung auf den Willen" des Empfängers. Dieses Gedicht ist Anregung, Vorwurf und Hoffnung. Norwid schreibt: „Schon, schon denkst du, sie verlösche — weil unten die heiße Flüssigkeit alles verschlingt. Glauben braucht man, nicht genug sind Funken und Asche; Du hast den Glauben gegeben [. . .] schau, wie das brennt! So sind auch meine Lieder — oh, Mensch, der du ihnen den armseligen Augenblick nicht gönnest — bevor sie die eisige Kälte des Jahrhunderts erwärmt haben. Die opferreiche Flamme leuchtet hell!" Während das Norwidsche Gedicht in seiner Ganzheit die semantische Organisation auf den Willen des virtuellen Empfängers konzentriert und zugleich ein direkter Appel zur Rezeption ist, der sich an das „faktische Publikum" richtet, werden andere Werke „jene Einstellung auf den Rezeptionswillen" in den Hintergrund treten lassen, Verbindungen mit anderen „Einstellungen" eingehen, aber sie niemals gänzlich aus der Struktur des Werkes entfernen. S. Eisenstein erwähnt, daß ihn in seiner Jugend das Problem der „Einheiten der Attraktion" 3 1 fasziniert habe. Er nannte sie einfach Attraktionen. Er hatte die Absicht, Grundsätze der Poetik für die „Montage der Attraktionen" im Schauspiel und im Film zu entwickeln. Bald aber gab er dieses Vorhaben auf. Es scheint, daß man im Rahmen der Rezeptionspoetik auf diese Idee des jungen Regisseurs wieder zurückgreifen müßte. Das Problem der Attraktivität des Werkes, das übrigens des öfteren von Wissenschaftlern (wie beispielsweise von A. Weselowski in seiner Konzeption von den „suggestiven Formen" der Kunst des Wortes 32 ) untersucht wurde, wäre der Schlüssel zum Wesen solcher Erscheinungen, wie den Funktionen der 220

Elemente des Kitsches, der Schmiere, der Trivialität, die von den ambitiösen Vorschlägen der Prosa des 19. und 20. Jahrhunderts (von F. M. Dostojewski bis zum „neuen Roman") aufgegriffen wurden. Es würde auch den Zugang schaffen zum Phänomen der Infiltration neuartiger Techniken in die Tagesliteratur. Das Moment der „Modernität" könnte auch die Funktion der Eisensteinschen „Attraktion" bei der Lektüre unterhaltsamer Dinge erfüllen, selbstverständlich in entsprechend dosierter Weise. Mit einem Wort: Der Rezeptionswille ist ein in der Struktur des Werkes stets aktuelles Element der Projektion des virtuellen Lesers. Auf das Schlagwort „Wille" kann im Wörterbuch der Rezeptionspädagogik ebensowenig verzichtet werden wie auf andere Termini der Psychologie, zum Beispiel die Begriffe A u f m e r k s a m k e i t oder G e d ä c h t n i s , die es uns ermöglichen würden, die einzelnen Elementensysteme im Werk als „Komposition unter dem Aspekt der Aufmerksamkeit" oder als „Komposition unter dem Aspekt des Gedächtnisses" des vorgestellten, fiktiven Lesers 33 * zu beschreiben. Die Rezeptionspoetik hätte sich in der weiteren Perspektive als „Psychosemantik" des literarischen Werkes zu gestalten, als eine Disziplin, die direkte Verbindungen zu der ebenfalls erst im Entstehen begriffenen Psycholinguistik 34 unterhält, als Produkt der Übertragung der Theorie des Menschen auf das System theoretischer Begriffe der Literaturwissenschaft. Das brauchte keineswegs ein schmählicher Verrat an unserer Idee, an der Idee des S p e z i f i s c h e n der Kunst des Wortes zu sein. Die „Psychosemantik" ist im weiteren Sinne des Wortes aber auch „Soziosemantik" der Literatur. Kehren wir zum letzten Mal zu dem anfangs analysierten Kierkegaardschen Text zurück. Wir hatten in diesen Zusammenhang des öfteren betont, daß die erste Tätigkeit des Adressaten, die ihn bestimmt und determiniert, die Tätigkeit des Lesers ist. Aber Kierkegaard interpretiert die Rolle des hypothetischen Lesers extrem und einseitig. E r bemüht sich nämlich darum, das „Verhalten" seines Empfängers auf das Lesen zu reduzieren. Er ist bestrebt, die primäre Rolle des Lesens von allen anderen sozialen Rollen des Empfängers, die außerhalb der Lektüre liegen, abzutrennen. Die Rezeptionspoetik kann aber eine so extreme Lostrennung nicht 221

gutheißen, weil es in der Realität literarischer Erscheinungen eine so scharfe Isolierung nicht gibt. Das Gegenteil ist der Fall. Die uns am stärksten interessierende Frage scheint das in der Partitur der Leser„rolle" programmierte Ganze zu sein, das alle vom Autor geplanten, in der Konvention der Gattung verankerten und von der Meinung des literarischen Publikums dem Autor oktroyierten Relationen zwischen dem „Lesen" und der Tätigkeit des Adressaten in seinen vielen anderen, mit der Lektüre nicht verbundenen Rollen umfaßt. Einerseits hätten wir die von Kierkegaard erhobene Forderung nach Isolation, den Befehl des Lesens um des Lesens willen. Der Adressat ist hier von dem Gedanken erfüllt, er könne außerhalb der Welt der Lektüre nichts mehr gewinnen. Andererseits hätten wir ein literarisches Schaffen mit ausgesprochen didaktischen, erzieherischen und moralischen Grundsätzen. Hier würde das Lesen, auch wenn es weiterhin eine primäre Tätigkeit ist, im Hierarchiegefüge der projizierten Operationen des Adressaten zurücktreten. Das Werk lenkt seine Aufmerksamkeit über die Grenzen des Textes hinaus, auf das „Leben". Und schließlich die dritte Variante. Sie betrifft die meisten Werke, in denen die Partitur des Empfängers das Verhältnis der Leserrolle zu anderen Rollen nicht rigoros festlegt, sondern ein weites, historisch veränderliches Feld von Möglichkeiten für das Zusammenwirken dieser Rollen bietet.

Stefan Zölkiewski

Modelle der Gegenwartsliteratur in ihrem frühen Entwicklungs stadium

1 Wir werden nicht imstande sein, richtige Interpretationen und historische Typologien herzustellen, wenn wir die Kultur einer Epoche lediglich durch das Prisma ihrer eigenen Selbstbekenntnisse begreifen. Das war die Meinung von Karl Marx, der auf dem Gebiet der Entlarvung verschiedener Erscheinungen falschen Bewußtseins große Erfahrungen hatte. Wir akzeptieren diesen methodologischen Hinweis und suchen nach Methoden zur objektiven Bestimmung der Bedeutung des verbalen und nichtverbalen Kulturverhaltens. Daraus folgt die Notwendigkeit, sich auf Ergebnisse der semiotischen Forschung zu beziehen. Die Bedeutung konkreter Kulturverhaltensweisen erklären wir, indem wir diese zur Struktur dieser Kultur in Beziehung setzen. Klassische Beispiele für die Strukturanalyse von Modellen, die die Gesamtheit einer bestimmten Kultur betreffen, enthält das Buch von R. Benedict Urformen der Kultur. Die darin erörterten Modelle beziehen sich allerdings auf sogenannte stabile, präliterarische Kulturen. In Anlehnung an W. W. Iwanow und W. N. Toporow 1 kann festgestellt werden, daß die Formel der Struktur — des inneren Zusammenhanges des Kulturganzen — die Beschreibung des für sie spezifischen Weltmodells ist. Wie die genannten Autoren darlegen, ist das Weltmodell ein Bild der wechselseitigen Einwirkung der Umwelt und einer bestimmten Ordnung, ein Bild, das in einem dieser spezifischen Ordnung entsprechenden Kommunikationssystem funktioniert. Das Modell der Welt ist dabei ein Verhaltensprogramm für Individuum und Kollektiv, denn es bestimmt die Auswahl der Operationen, die auf die Welt, auf ihre Regeln und Motivationen Einfluß ausüben sollen. Das Weltmodell kann 223

sich in verschiedenen menschlichen Verhaltensformen und deren Produkten (zum Beispiel in sprachlichen Texten, gesellschaftlichen Einrichtungen, Denkmälern der materiellen Kultur usw.) 2 realisieren. La Pensée sauvage von C. Lévi-Strauss ist der Charakteristik einer dieser Formen menschlicher Modellgestaltung des Weltganzen gewidmet. Wie ich meine, ist beim gegenwärtigen Stand der Einzelforschung eine umfassende Beschreibung des kulturspezifischen Modells der Welt des 20. Jahrhunderts nicht möglich. Ich spreche hier von einer Kultur des 20. Jahrhunderts, ohne sie zunächst näher bestimmt zu haben, gemeint ist jedoch speziell die Kultur der entwickelten europäischen Länder nach dem ersten Weltkrieg. Im weiteren wird mich nur die Entwicklung dieser Kulturformation bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges interessieren. Dabei werde ich meine Aufmerksamkeit stärker auf Erscheinungen der e r s t e n Jahre der Zwischenkriegszeit richten. In der bisherigen einschlägigen Literatur gibt es verschiedene Versuche von Strukturanalysen für kulturspezifische Verhaltensbereiche im 20. Jahrhundert. Die Erfassung dieser Kultur in ihrer Gesamtheit ist entweder der demokratischen, speziell •der marxistischen Kulturkritik oder der aristokratischen Kulturkritik zuzurechnen, wobei die letztere sich durch eine lange Tradition der Bekämpfung aller Demokratisierungsprozesse in •der Kultur 3 des vergangenen Jahrhunderts hervortat und sich heute stärker auf die Problematik der sogenannten Massenkultur konzentriert. Der zuletzt erwähnte Typ der Kulturkritik steht unter der schweren Last der Selbsturteile der Epoche, vor denen wir, angeregt durch Marx, gewarnt hatten. Diese Urteile führen, wenn man sie als Äußerung einer überzeitlichen Kulturbetrachtung sieht, unweigerlich zu Interpretationsfehlern. Behandelt man sie indessen als M a t e r i a l der kulturwissenschaftlichen Analyse, sind sie eine wichtige Wissensquelle. Eine Sache ist nämlich die Strukturalisierung einer bestimmten Kultur, die der Forscher aus der historischen Perspektive vornimmt, um die Frage zu beantworten, welche Bedeutung Verhaltensweisen, Modelle, Einrichtungen und Monumente einer Epoche in ihrem wechselseitigen Zusammenhang haben. Etwas anderes 224

ist die Strukturalisierung einer bestimmten Kultur, die das Werk der Gemeinschaft ihrer Teilnehmer ist, für die deren Kultur irgendeine Struktur haben muß, da deren konkrete Bestandteile Bedeutung tragen. Der Teilnehmer einer bestimmten Kultur versteht zum Beispiel die konkreten kulturellen Verhaltensweisen, denn er interpretiert sie als ein Element eines vorhandenen Weltmodells. Die Formel einer solchen Strukturalisierung der Kultur, an der man selbst teilnimmt, wird gewöhnlich nicht verbalisiert, es sei denn partiell in verschiedenen ideologischen Systemen einer gegebenen Zeit, einer bestimmten Gesellschaft oder meistens eines bestimmten Klassenbewußtseins, zumindest e i n e r Klasse. Ich möchte meine Darlegungen jedoch enger fassen. Ich meine, daß es unter dem Aspekt der Ökonomie der Darlegung rationell wäre, das hier vorgeschlagene methodologische Vorgehen lediglich auf die l i t e r a r i s c h e Kultur zu beschränken. So betrachtet, nehmen wir die ganzheitliche Sicht auf die Kultur des 20. J ahrhunderts nur als ein Hilfsverfahren, sofern dieses für die Darlegungen unbedingt notwendig scheint. Bei der literarischen Kultur denke ich vor allem an den Bereich der Verhaltensweisen der Schriftsteller und der Leser, an den Entscheidungsbereich des Schriftstellers und der Wahl, die der Leser trifft. Ich werde in dem Maße von Werken reden, in welchen ich mich auf einen im Werk eingeschriebenen Typus des Literaturschaffenden und einen im Werk eingeschriebenen Typus des virtuellen Lesers beziehen kann. Die Struktur einer bestimmten Kultur interessiert mich insoweit, als innerhalb dieser Struktur die Literatur placiert ist. In der Gesamtstruktur der religiösen Kultur des Mittelalters nahm zum Beispiel die Literatur einen anderen Platz ein als in der Kulturstruktur der Aufklärung. In meinen Darlegungen werde ich die lebendige Literatursprache als Kode verstehen. Ich nehme als Ausgangshypothese an, daß die Veränderung der Stellung der Literatur in der Struktur des Kulturganzen mit einer Veränderung des Kodes verbunden ist. Der traditionelle Topos des „Erlösers" zum Beispiel wird in der mittelalterlichen Legende vom Heiligen Graal anders interpretiert als im Poem Die Zwölf von Block. Im folgenden möchte ich den Beweis dafür antreten, daß dieser Topos in den angeführten 15

Dieckmann

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Fällen verschiedenartig interpretiert wird, entsprechend zweier unterschiedlicher Kodes. Die jeweilige Besonderheit dieser Kodes determiniert in erster Linie einerseits die spezifische Position der Literatur in der religiösen Kultur des Mittelalters und andererseits in der ausgeprägt politisierten Kultur des 20. Jahrhunderts. Ich verwende an dieser Stelle den Kodebegriff, wie ihn R. Jakobson verwendet: als ein System von Regeln der Kombination und Regeln der Selektion (Substitution). 4 Unter dem uns interessierenden Aspekt der literarischen Kultur, d. h. der Schriftstellerentscheidungen und der Auswahl des Lesers, entsprechen den verschiedenen Kodes auch verschiedene Literaturmodelle. Wir schlagen vor, die Literaturmodelle auf der Basis der Spezifik folgender drei Faktoren zu differenzieren: nach der Spezifik der gesellschaftlichen Rolle des Schriftstellers, nach der Spezifik des sozialen Typus des virtuellen Empfängers und schließlich nach der Spezifik des Prinzips für die Entwicklung des „Sujets" eines Werkes. Den Begriff „Sujet" unterscheiden wir in Anlehnung an die Arbeiten sowjetischer Wissenschaftler von der Fabel. „Wir bezeichnen, entsprechend der literarischen Tradition, als Fabel das grundlegende Material eines Werkes. Das Verhältnis von Inhalt und Form in der Erzählung ist das Verhältnis von Fabel zu ,Sujet'. Wenn wir wissen wollen, in welcher Richtung sich die schöpferische Aktivität des Künstlers, die in der gestalteten Erzählung zum Ausdruck kommt, entfaltet hat, müssen wir untersuchen, mit Hilfe welcher Kunstgriffe und bei welcher Aufgabenstellung eine in der Erzählung gegebene Fabel vom Künstler bearbeitet und in einem bestimmten, poetischen ,Sujet' gestaltet wurde [. . .] Die Fabel ist für die Erzählung soviel wie die Wörter für das Gedicht, die Tonleiter für die Musik, die Farben für den Maler, die Linie für den Grafiker usw. Das ,Sujet' ist für die Erzählung das, was der Vers für die Poesie, die Melodie für die Musik, das Bild für die Malerei, die Zeichnung für die Grafik ist. Mit anderen Worten: Wir haben es stets mit einem besonderen Verhältnis der Inhaltselemente zueinander zu tun und können sagen, daß sich das ,Sujet' zur Fabel einer Erzählung verhält wie der Vers zu den Wörtern, aus denen er besteht, wie die Melodie zu den sich bildenden Klängen, wie die Form zum Inhalt." 5 226

Noch eingehender erläutert J. Tynjanow diesen Sujetbegriff: „Es ist so, daß Fabel und Sujet etwas gänzlich anderes sind. Die F a b e l ist eine statische Kette von Relationen, Zusammenhängen und Dingen, die von der Dynamik des Wortes eines Werkes abstrahiert werden. Das S u j e t bilden dieselben Verbindungen und Beziehungen, die in der Dynamik des Wortes gegeben sind. Bei der Herauslösung (zum Zwecke der Illustration) nur eines Details, lösen wir zugleich auch ein Detail der Fabel heraus. Jedoch können wir bei der Illustration in keinem Fall die Rolle, das Gewicht dieses Details im Sujet hervorheben. Wir wollen das im folgenden etwas näher erläutern. Nehmen wir zum Beispiel das Detail ,Jagd nach dem Helden'. Seine fabuläre Bedeutung ist klar. Sie ist in der Kette der Relationen zwischen den Gestalten ,so und so.' Doch seine Bedeutung im Sujet ist keineswegs so einfach. Das Detail kann bei der .Entwicklung des Sujets' (ein Terminus nach W. Schklowski) diesen oder jenen Platz einnehmen, je nach der l i t e r a r i s c h e n Zeit, die man ihm zuordnet, und je nach dem Grad seiner Stilbesonderheit. Die Illustration liefert das Detail der F a b e l , niemals jedoch das Detail des Sujets. Sie schält es aus der Dynamik des Sujets heraus. Das Sujet schält die Fabel heraus." 6

2 Die verschiedenartigsten Untersuchungen über die Entwicklung der zweiten industriellen Revolution und die Entwicklung der wissenschaftlich-technischen Revolution unserer Tage sprechen dafür, daß wir es im 20. Jahrhundert mit einer b e s o n d e r e n Kulturformation zu tun haben. Der Prozeß der Herausbildung dieser Formation ist lang. Seine Wurzeln reichen bis ins Ende des vorigen Jahrhunderts. Die Historiker der Kunst, Kultur, Wissenschaft und der sozialen Bewegungen datieren die Gegenwart seit dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Uns geht es indessen nicht um Erscheinungen historischen Vorlaufs oder um individuelle Prognosen Zweckvoll ist eine Unterscheidung zwischen Kulturtyp und Kulturstil, also die Unterscheidung zwischen der institutionel15*

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len Ausstattung der Kultur, ihren spezifischen Entdeckungen und ihren spezifischen Kommunikationstechniken einerseits und den diese Kulturstruktur charakterisierenden Werthierarchien und Konfigurationen der Verhaltensmuster andererseits. Im Ergebnis der Herausbildung einer technischen Kultur, der Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozesse, der Entwicklung spezifischer Einrichtungen für die großen Industriekonglomerate und für die Freizeit ihrer Einwohner, der Verbreitung der modernen Transport- und Massenkommunikationsmittel können wir feststellen, daß der neue Kulturtyp im 20. Jahrhundert allmählich ein Gebiet zu beherrschen beginnt, das erst nach 1918 stärker im Gespräch ist. Das Jahr 1917 ist das Jahr des Umbruchs in der Gestaltung neuer sozialer Verhältnisse. Von da ab verändert sich der Rahmen der bestehenden Wertordnung der Kultur, der Rahmen der Zeit und des Raumes; es erscheint die Dimension der Masse. In den gesellschaftlichen Erfahrungen versinkt der zeitliche Rhythmus, der bislang in Übereinstimmung stand mit dem Rhythmus der Naturveränderungen, mit dem Wechsel von Tag und Nacht, mit der Zeit des Säens, Reifens und Erntens der Naturfrüchte, er gehört der Vergangenheit an. Das betrifft auch den Rhythmus der Arbeit des Handwerkers. 7 Der Rhythmus des temporären Vergehens und Wandels in der menschlichen Erfahrung beschleunigt sich erheblich und ähnelt in gewisserWeise dem Arbeitsrhythmus künstlicher Mechanismen. In dieser Erfahrung „schrumpft" der Raum zusammen. E r nimmt Merkmale an, die der Erfahrung des mit der mechanisierten Zivilisation vertrauten Menschen zugänglich sind. Im Prozeß der Naturbeherrschung, also der produktiven Tätigkeit, zeigt sich die Erscheinung der „Teilarbeit". E s gibt vielfältige und wichtige soziale Konsequenzen der Automation 8 , die für die wesentlichen Veränderungen der Kulturmodelle entscheidend sind. Der Fortschritt vollzieht sich in diesen Bereichen sehr schnell. Im Verlauf einer Generation der Menschheit treten mehrere Sprünge auf, die die Muster der Verhaltensordnung in Zeit und Raum grundlegend verändern. Im Verlauf eines Lebens muß man sich mehrmals neu adaptieren. Auch wenn es den Anschein haben kann, daß die Veränderungstendenz des Kulturtypus des 20. Jahrhunderts einheitlich ist, 228

wäre es vermutlich falsch, wollte man den Wandlungen des Kulturstils eine einheitliche Richtung zuschreiben. Mit Sicherheit ist vielmehr historisch beweisbar, daß dieser Kampf um den Stil am Beginn der Zwischenkriegszeit zumindest drei verschiedene Haupttendenzen der kulturellen Strukturalisierung aufweist. In dieser Kultur lassen sich nämlich drei Typen von Texten, von verbalen Texten und Texten der Verhaltensweisen unterscheiden. Kriterium dieser Typologie ist die Andersartigkeit des Modells der Welt, das in jeder dieser Textgruppen realisiert wurde. Läßt man sich von der historischen Forschung über die Geschichte der sozialen Bewegungen im 20. Jahrhundert und der geistigen, künstlerischen und moralischen Kultur dieser Zeit leiten, dann kann man meiner Ansicht nach folgende soziale Tendenzen der Strukturalisierung der gesamten Kultur des 20. Jahrhunderts unterscheiden: eine p o l i t i s c h ausgeprägte Kultur, eine a u t o t e l i s c h e Kultur und eine M a s s e n k u l t u r . Die gesellschaftliche Kraft der ersten Tendenz waren die Massenbewegungen der Emanzipation und Revolution. Zum ersten Mal in der Geschichte gab es in einem solchen Ausmaße und in derart organisierten Formen die Tendenz, a l l e Bereiche des menschlichen Verhaltens den politischen Zielen unterzuordnen, große politische Zukunftsprogramme zu realisieren und eine neue Gesellschaftsordnung aufzurichten. Das innerhalb dieser Tendenz dominierende Verhaltenssystem, das vor allem durch die Aktivität der Teilnehmer an organisierten Massenbewegungen sozialer Art verwirklicht wurde, läßt sich unter dem Aspekt seiner Bedeutung als P r ä f i g u r a t i o n d e r Z u k u n f t interpretieren Einen solchen Sinn hatten beispielsweise die organisierten Verhaltensformen der Streikbewegung, die nicht nur direkte Ziele anstrebten, sondern zugleich auch neue Kulturmodelle schufen, wie zum Beispiel das solidarische Zusammenwirken für die Zukunft, für eine künftige, in den Streikkomitees präfigurierte Macht. Die gesellschaftliche Kraft der zweiten Tendenz waren die erstmals in unserem Jahrhundert so stark verbreiteten Einrichtungen zur Transmission der Kulturtradition, insbesondere das allgemeine und berufsbildende Schulwesen der Gesellschaft. Die Richtung, in der diese Einrichtungen in der Kultur des 229

20. Jahrhunderts wirkten, wurde durch die zunehmende Spezialisierung in den Berufen noch verstärkt. Damit entstand eine Kultur, die auf die wichtigste technologische Frage eine Antwort geben wollte: „Wie ist das zu machen?" Das alles förderte die Herausbildung von Kanons, die Festlegung gesellschaftlich tradierter Regeln für die richtige Erfüllung eines jeden spezialisierten Kanons. In der geistigen Kultur der Zwischenkriegsperiode spielte die hochentwickelte metakulturelle Betrachtung eine Rolle. Die Ideologie der dargestellten Kulturtendenz proklamierte eine extreme Autonomie der verschiedenen Bereiche kultureller Aktivität. Man sprach von der reinen Wissenschaft, von der reinen Kunst, von rein technologischen Überlegungen. Es bildete sich die Ideologie der Technokratie. Die im Rahmen dieser Tendenz vorherrschenden Verhaltensweisen, die wir vielleicht etwas unbeholfen als autotelische Tendenz bezeichneten, waren Verhaltenssysteme, die jedem autonomen Kulturbereich adäquat waren und über e i g e n e Kanons und Regeln verfügten. Es dominierte damit ein Verhaltenstypus, der m u s t e r g ü l t i g den Kanon e r f ü l l t e . Die gesellschaftliche Kraft der dritten Tendenz, die die Kultur des 20. Jahrhunderts als Massenkultur strukturierte, waren die Sitten und Gebräuche der Einwohner großer Industriezentren, die zum ersten Mal in einer industriellen Kultur Freizeit genießen können, deren Umfang sich zwar allmählich, doch ständig erweitert. Wissenschaftler, die sich insbesondere nach dem zweiten Weltkrieg mit diesen Erscheinungen intensiver beschäftigten, formulierten die Hypothese, daß wir heute in eine Zivilisation der Erholung (loisir) 9 eintreten. Diese Hypothese ist gewiß etwas zu kühn formuliert. Nichtsdestoweniger beobachten wir ein ständiges quantitatives und qualitatives Wachstum der Einrichtungen, Formen und Gebräuche, die zur Gestaltung der Freizeit des Menschen beitragen sollen. Ihre Funktionen in der Kultur des 20. Jahrhunderts sind bedeutend größer und umfassender, als sie es früher waren. Sie sind universeller als die Funktionen der Unterhaltung, der Volksfeste oder des Karnevals in vergangenen Kulturen, in denen die Unterhaltung keine Dominanz hatte, sondern lediglich einen ihr zugewiesenen Platz im gesellschaftlichen Leben einnahm, wie 230

zum Beispiel der Karneval während einer bestimmten Jahreszeit und auf einem herkömmlich festgelegten Ort — dem Marktplatz. Der Universalismus der Massenkultur strebt danach, die Zeit des Menschen aufzugliedern in eine Sphäre der Arbeit und eine Sphäre der Freizeit, in den Bereich der Autorepression und den Bereich der Autoexpression.10 Wir haben es heute mit der von den Wissenschaftlern eindeutig festgestellten Vorherrschaft der Muster, Normen und Verhaltensformen dieses zweiten Bereichs zu tun. Hier dominieren Verhaltenssysteme, deren Bedeutung gerade in der A u s f ü l l u n g der F r e i z e i t liegt, in der Unterwerfung unter die Kriterien der Unterhaltung, in einer mehr oder weniger intensiven Autoexpression. Jede dieser gesellschaftlich relevanten Tendenzen gestaltet die Kultur des 20. Jahrhunderts in bestimmter Weise. In jeder dieser Tendenzen nimmt deshalb auch die Literatur innerhalb der Gesamtstruktur der Kultur einen jeweils anderen Platz ein.

3 Den drei gesellschaftlichen Tendenzen der Strukturalisierung des Kulturganzen entsprechen — wie viele Feststellungen vermuten lassen — auch drei Hauptmodelle der Literatur im untersuchten periodischen Zeitraum. Im folgenden möchten wir sie bezeichnen als: Modell der e n g a g i e r t e n L i t e r a t u r , als Modell der k a n o n i s c h e n L i t e r a t u r und als Modell der U n t e r h a l t u n g s l i t e r a t u r (Ludus-Literatur). Diese Modelle sind keine rein gedanklichen Konstruktionen des Wissenschaftlers. Im literarischen Bewußtsein der Epoche sind sie lange existent. Die Diskussion über die engagierte Literatur ist eine bedeutende Erscheinung des Geisteslebens im 20. Jahrhundert. Es genügt, sich auf den berühmten Leninschen Artikel von 1905 über Parteiorganisation und Varteiliteratur zu beziehen oder auf die Aussagen von G. Sorel und A. Gramsci oder auf die Literatur der „Clarté"-Bewegung von H. Barbusse, auf die Geschichte der sowjetischen Literaturprogramme oder schließlich auf J.-P. Sartres Was ist Literatur?, das nach dem zweiten Weltkrieg entstand. 231

Das Modell der kanonischen Literatur, in seiner extremen Form gleich der autotelischen Erfüllung des Kanons der reinen Poesie, tritt (wie in der gesamten Diskussion über die sogenannte Avantgarde) in vielen Ländern in ähnlichen Formen auf. Trotz scheinbarer Unterschiede, die im ideologischen Kampf um das Modell der kanonischen Literatur vorhanden sind, enthält diese Strömung immer das Programm der vom gesellschaftlichen und politischen Leben losgelösten Poesie, und dieses Programm dient der Verteidigung unberührter, reiner Kanons verschiedenartiger kultureller Aktivitäten; der Kanon soll vor Veränderungen durch die Instrumentalisierung und Anpassung an ausgewählte, übergeordnete Erfordernisse der gesellschaftlichen Praxis bewahren. Schließlich ist es fast müßig, alle Kämpfe um das Modell der unterhaltenden Literatur in Erinnerung zu rufen, d. h., danach zu fragen, was ist vorbereitet und was muß von der vorhandenen Literatur im Entwicklungsprozeß der sogenannten Massenkultur verbreitet werden? Das Modell der engagierten Literatur scheint seine Funktionstüchtigkeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts allmählich einzubüßen. Es funktioniert das Modell der kanonischen Literatur, das in jüngster Zeit vom Autothematismus der französischen „neuen Welle" bestätigt wurde, obzwar nur in der gleichsam am Beginn des 20. Jahrhunderts erloschenen Form, wie das A. Gehlen 11 richtig vermutet. Die meisten schöpferischen Veränderungen scheint in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts das Modell der Unterhaltungsliteratur zu erfahren. Die eben skizzierten drei Diskussionsrichtungen waren Bestandteil der drei oben erwähnten und einander gegenseitig bekämpfenden gesellschaftlichen Tendenzen zur Strukturierung der Gesamtkultur des 20. Jahrhunderts. In den verschiedenen Verhaltensweisen und Institutionen, die für diese drei Kulturtendenzen spezifisch sind, lassen sich die gleichen Zeichensysteme feststellen wie in den entsprechenden Literaturmodellen — Zeichen, die in einem anderen semiotischen Material realisiert wurden. Das Muster für eine umfassende Darstellung des Zeichensystems eines bestimmten Literaturmodells, der sogenannten Karnevalsliteratur, lieferte der sowjetische Wissenschaftler B. Bachtin am Beispiel des 232

literarischen Schaffens von F. Rabelais. Er stellte fest, daß in: vollem Umfange die Übereinstimmung (Homologie) zwischen literarischen Zeichensystemen und den Zeichensystemen der Karnevalseinrichtungen, der Unterhaltungsformen der Massen auf einer mittelalterlichen Burg 12 zu konstatieren ist. Er verwies auf die Homologien eines bestimmten Zeichensystems, das an verschiedenen semiotischen Materialien verwirklicht wurde. Wir folgen diesem methodologischen Vorgehen. Allerdings können wir in einer so kurzgefaßten Studie nicht den Anspruch erheben, diese Frage umfassend klären zu wollen. Wir schlagen vor, sich auf drei Komponenten des Modells zu stützen: Erstens auf den konkreten, historischen Grundsatz der Entwicklung eines bestimmten Sujettypus, der für das gegebene Modell spezifisch ist. Zweitens auf die Merkmale der sozialen Rolle des Schriftstellers, die in das gegebene Modell „eingeschrieben" wurden. Drittens auf die sozialen Merkmale des Empfängers, der als virtueller Adressat in das gegebene Modell „eingeschrieben" wurde. Engagierte Literatur — das sind zum Beispiel Gesellschaftsromane, Antikriegsromane, Utopien, Antiutopien, pessimistische Kulturkritiken usw. Das Prinzip der Sujetentwicklung, das den Typus des Sujets kennzeichnet und für das Modell der engagierten Literatur spezifisch ist, würde ich als P r i n z i p der P r ä f i g u r a t i o n der Z u k u n f t bezeichnen. Wir beziehen uns dabei auf das banale Beispiel des Buches La Condition bumaine (So lebt der Mensch) von A. Malraux. Man muß jeweils die Merkmale der konkreten literarischen Aussage und die Merkmale des Modells, die Merkmale der lebendigen Literatursprache von den Besonderheiten des literarischen Kodes unterscheiden. Die Aussage von Malraux basiert auf dem Gegensatz zwischen der unüberwindlichen Einsamkeit des Menschen und der authentischen menschlichen Gesellschaft. Die literarischen Symbole dieses Romans sind relativ einfach. Das sind in sprachlichem Material reproduzierte, sogenannte realistische Bilder bedeutsamer sozialer Verhaltensweisen des Menschen. Diese mit Worten reproduzierten Verhaltensweisen dechiffrieren zum Beispiel das Treffen der Streikenden, den Kampf gegen die Polizei, die Übergabe des Giftes durch die Hand eines Gefolterten an den Leidensgenossen oder 233

— umgekehrt — die selbständige Aktion eines Terroristen. Sie bezeichnen in der Funktion des Symbols die ersten drei, also die Verwirklichung der gewünschten, authentischen Gemeinsamkeit, und die letzten Verhaltensweisen, also die Versunkenheit in Einsamkeit und Verlassenheit. Sie können als Symbole funktionieren, weil sie Merkmale besitzen, die es gestatten, sie zum System der Verhaltensweisen zu zählen, deren Bedeutung -wir durch die Bezugsetzung zu einer bestimmten politischen, in diesem Fall zur marxistischen Prognose begreifen. Die von dieser Prognose strukturell determinierten Verhaltensweisen präfigurieren die Zukunft in ihrem Sinne. Bis hierher erörterten wir die Eigenschaften der individuellen literarischen Aussage Malraux'. Allerdings ist ebensoleicht eine literarische Aussage mit einer anderen konkrethistorischen Ideologieorientierung vorstellbar. Das gemeinsame modellbestimmende Merkmal beider Aussagen wäre dennoch die Notwendigkeit der Deko•dierung des Zeichensystems, das für jede dieser beiden Aussagen unter dem Aspekt einer bestimmten Prognose spezifisch ist. Eine derartige Auswahl von Verhaltensmerkmalen, die in Worten reproduziert und als Symbole verwendet werden, könnten die Zukunft im Geiste einer bestimmten Prognose präfigurieren, also auch im Sinne verschiedener Prognosen, die in der politischen Realität der Kultur des 20. Jahrhunderts wirken. Es mangelt auch nicht an anderen Varianten, die der Verwirklichung desselben literarischen Modells dienen. Nehmen wir den Prozeß von F. Kafka. In diesem Fall könnte man eher von der Präfiguration der Anti-Zukunft reden. Kafka ist weit davon entfernt, als Schriftsteller die sogenannte realistische Methode anzuwenden. Die in Wörtern reproduzierten signifikanten Situationen symbolisieren in dieser Erzählung alle konkreten Formen der Entfremdung des Menschen, der Unterwerfung des Menschen unter die von ihm geschaffenen institutionellen Gebilde. Aber die Entwicklung des Sujets der Erzählung nimmt auch jene Anti-Zukunft vorweg — das Erreichen einer vollkommenen Entfremdung. Ich behaupte, daß es möglich wäre, dieses Schema der Sujetentwicklung in anderen Varianten der Realisierung des Modells der engagierten Literatur zu entdecken. Zu entdecken wäre auch die Homologie zwischen der Bedeutung der Systeme, die das Verhalten in der 234

-von Politik geprägten Kultur im 20. Jahrhundert beherrschen, und der Bedeutung des Systems literarischer Symbole, die vom Modell der engagieren Literatur verwendet werden. In M. Bachtins Untersuchung haben wir es bei den Symbolen der Karnevalsliteratur und bei den Verhaltensweisen des Menschen im Karneval mit ein und derselben „verkehrten Welt" zu tun, •die sich als die heitere, volkstümliche Empörung gegen die Autorität der offiziellen Macht deuten läßt. In den Symbolen •der engagierten Literatur und im Verhalten der politisch geprägten Kultur begegnet uns ein verwirklichtes, homologes Modell der Welt — „die Welt aus der Perspektive der prognostizierten Zukunft gesehen". Dieses Modell enthält die ganze Palette der möglichen Beziehungen zur Zukunft, ist aber immer auf die Zukunft orientiert. Die kanonische Literatur in ihrer klassischen Variante ist autothematische Literatur. Dazu gehören alle avantgardistischen „Versuche der reinen Literatur" oder, nach anderen Varianten, zum Beispiel der psychologische Roman, die Suche •der Neuerer nach menschlicher Authentizität, die Entlarvung •der Kultur durch die Erzählung, aber auch alle anderen herkömmlichen Formen, Tradition und Antitradition, Kanontreue bzw. Kanonmißachtung sind hier gleichgewichtig. Für uns verständlich werden sie nur durch die Bezugnahme auf jene Kanons. Ein gutes Beispiel für die Realisierung des kanonischen Modells ist der breite Komplex verwandter literarischer Erscheinungen im 20. Jahrhundert, die wir als avantgardistische Bewegung bezeichnen. Wir Stimmern im Prinzip der ideologischen Charakteristik dieser Erscheinung zu, die R. Poggioli 13 mit der bekannten „Theorie der Avantgarde" vertritt. Im Unterschied zu diesem Autor sind wir jedoch in Anlehnung an die Arbeiten polnischer Wissenschaftler 14 der Meinung, daß für den Avantgardismus des Streben nach einem Modell der „reinen Poesie" wesentlich ist und dieses Modell identisch ist mit einer größtmöglichen Dominanz der Funktion der poetischen Sprache in der literarischen Aussage und damit dem von R. Jakobson entwickelten Schema folgt (d. h. wir haben es im Kommunikationsprozeß mit der Einstellung auf Information 15 zu tun). „In seiner zentrierten — programmierten — Anordnung ist 235

die dichterische Aussage ein System sprachlicher Operationen, die sich gegenseitig erklären, nicht jedoch durch ihre Relation zu den außerhalb der Aussage befindlichen Erscheinungen." 16 Die Unterscheidung zwischen konstruktivistischen und surrealistischen sowie futuristischen Varianten ist die Frage einer detaillierteren Darstellung. Eine Tendenz, die der Praxis der „reinen Poesie" eigen ist, kommt zweifellos auch in allen autothematischen Literaturprodukten zum Ausdruck. Prinzip der Sujetentwicklung ist hier die Erfüllung eines deduzierten Kanons der „reinen Poesie". In einer anderen Variante können wir es mit einer parodistischen Enthüllung der Verlogenheit des offiziellen Kanons zu tun haben. Als Beispiel mögen alle Metaerzählungen, also Literatur über Literatur, nicht über die Welt dienen. Solche Erzählungen treten im 20. Jahrhundert sehr häufig auf. Eine andere Variante des kanonischen Modells ist die für das 20. Jahrhundert so typische „Psychologie in der Literatur". Sie betrifft jenes geschätzte „Kennertum der menschlichen Seele", wenn wir es mit der Verbalisierung eines bestimmten Kanons bedeutsamen Kulturverhaltens zu tun haben, von dem zum Beispiel das Liebesverhalten bestimmt werden soll. Nur die Umkehrung dieses der Tradition verhafteten Schemas wird zum Schema werden können, das die konventionellen Masken eines bestimmten Kulturverhaltens herunterreißt, zum Schema, das die Authentizität des Menschen zu finden verheißt. So stellt der Autor zum Beispiel dem offiziellen Kanon des Liebesverhaltens den Anti-Kanon der Besessenheit, Komplexe oder Depravationen gegenüber. Allgemein betrachtet, wird in diesem Modell das Prinzip der B e a c h t u n g d e s K a n o n s o d e r A n t i - K a n o n s zum Prinzip der Sujetentwicklung. Wir beziehen das Modell der kanonischen Literatur auf Erscheinungen, die mit der sozialen Tendenz zur Strukturierung der gesamten Kultur des 20. Jahrhunderts als autotelische Kultur zusammengefaßt werden. Wie wir bereits feststellten, ist dies die Sphäre des technologischen Denkens. Das ist eine kulturelle Tendenz, in der Verhaltensmuster dominieren, die entsprechend den Kriterien der inneren Logik der Entwicklung motiviert und aus den Bereichen der kulturellen Aktivität herausgelöst und autotelisch erfaßt sind. Diese Verhaltensweisen haben insofern Bedeutung, 236

als sie bestimmte Kanons oder Anti-Kanons sogenannter reiner Kulturbereiche realisieren. Die literarischen Symbole, die im Modell der kanonischen Literatur verwendet werden, sind die Verbalisierung jener Kanons oder kanonischen Verhaltensweisen. Im extremsten Fall (also der erwähnten Avantgarde) ist die dichterische Rede selbst ein Verhalten, das den Kanon der „reinen" Poesie realisiert und das sich nach Verfestigung im Werk selbst symbolisiert. Die Unterhaltungsliteratur war in den ersten Jahren der Zwischenkriegszeit noch relativ dürftig entwickelt und stark an die Tradition gebunden. Sie umfaßte die herkömmlichen Gattungen der unterhaltenden Literatur, wie den Abenteuerroman, den Kriminalroman oder den klassischen sentimentalen Roman. In diesem Modell sind die verbalisierten signifikanten Situationen, die als literarische Symbole verwendet werden, bis zum äußersten stereotypisiert. Es handelt sich einfach darum, sie möglichst eindeutig erscheinen zu lassen. In einem solchen Roman muß der Topos der Entführung der Romanheldin in einem entsprechenden Schema mit stereotyper Motivierung und Konfliktlösung untergebracht werden. Die Bedeutung der einzelnen Symbole muß sich aus ihrer Stellung in der Struktur des Werkes ergeben. Jede Romanstruktur hat ihre spezifische Dynamik. Im Modell der unterhaltenden Literatur wird die Bedeutung der Systemelemente der literarischen Symbole vor allem durch die Funktion jedes einzelnen dieser Elemente in der Romanstruktur bestimmt, also durch solche Funktionen wie Auslösung von Spannung, Unterbrechung des Interesses, retardierende Funktion usw. Hier also entscheidet die Einstellung auf den Empfänger, auf seine wiederholbaren psychischenLesereaktionen während der Enträtselung der durch den Roman verursachten Fiktionen. Die Erleichterung der Identifikation mit dem Romanhelden, die Erregung und Erhaltung des Interesses, die glückliche Lösung der Handlung (happy end) — das sind Hauptregeln der Sujetentwicklung im Modell der Unterhaltungsliteratur. Das Prinzip, das diese Sujetentwicklung bestimmt, möchten wir als P r i n z i p d e r „ F r e i z e i t a u s f ü l l u n g " bezeichnen. Dieses Prinzip verhält sich homolog zu den Ordnungsprinzipien aller Zeichensysteme von Verhalten, die der Ausfüllung der Freizeit dienen. Diese 237

werden realisiert, zum Beispiel in verschiedenen Spielen, in organisierten Unterhaltungsveranstaltungen, in Sportwettkämpfen oder durch das zeremonielle Rollenspiel des Zaungastes am Sportplatz. Diese Homologien bringen zum Ausdruck, daß die Verhaltensweisen der Schriftsteller und der Leser, die für das Modell der Unterhaltungsliteratur spezifisch sind, zur Massenkultur gehören. In ähnlichen Zusammenhängen, die wir in den drei Literaturmodellen mit den drei sozialen Tendenzen zur Strukturierung der gesamten Literatur des 20. Jahrhunderts unterschieden haben, stehen auch die beiden übrigen Indikatoren der Spezifik des Literaturmodells. Im Modell der engagierten Literatur ist ein Autor „eingeschrieben", der die rudimentären Besonderheiten der traditionellen sozialen Rolle des Schriftstellers mit eindeutigen, zusätzlichen Merkmalen des gesellschaftlich aktiv Handelnden verbindet — eines Menschen also, der seine schriftstellerischen Entschlüsse den Zwängen einer effektiven Stimulierung der außerhalb der Lektüre realisierten Verhaltensweisen des Empfängers unterordnet. Klassische Beispiele für solche Entsche idungstypen enthalten Analysen des Werkes wie der literarischen Biographie W. W. Majakowskis oder B. Brechts. 17 So schrieb Majakowski tatsächlich davon, dem „eigenen Lied auf die Gurgel zu steigen". Aus solchen Entscheidungstypen entstehen Theorie und Praxis der literarischen Agitation. Im Modell der kanonischen Literatur ist der Literaturschaffende ein E x p e r t e . Seine schriftstellerischen Entschlüsse werden vom Bewußtsein der Kulturtradition, von der Wahl zwischen Fortsetzung oder Ablehnung, Billigung oder Entlarvung usw. bestimmt. Die Rolle des Kulturexperten ähnelt am ehesten der herkömmlichen, dem vorigen Jahrhundert verpflichteten Rolle des Schriftstellers. Dieser Schriftsteller meinte, er würde die menschliche Natur entdecken und beurteilen, doch der Experte entdeckte oder enthüllt lediglich die Kanons der Kultur, von denen er genau weiß, daß sie vergänglich sind, wie das P. Valéry am Beginn unseres Jahrhunderts beschrieben hat. Im übrigen trug zur Verbreitung der traditionellen Haltung auch die weitere, im Vergleich zu früher viel intensivere Professionalisierung des Literatentums bei, 238

d. h. die Entstehung und Funktion spezieller Institutionen des literarischen Berufes. Schließlich ist der im Modell der Unterhaltungsliteratur eingeschriebene Autor ein l i t e r a r i s c h e r T e c h n i k e r , der konventionelle Leserbestellungen erledigt. Und zwar ein Techniker, der im Laufe von Jahren gelernt hat, im Kollektiv zu arbeiten, indem er die komplexen Erfordernisse der Massenkommunikationsmittel für seine Zwecke nutzt. In diesem Modell verschwindet allmählich das Streben des Schriftstellersnach Originalität als Wert 18 . An dessen Stelle rücken andere Motive, andere Gefühle der Befriedigung und andere Ambitionen als in den beiden erwähnten Fällen. Wenn wir vom Empfänger als von einem in der Vorstellung existierenden Adressaten reden, der in das gegebene Modell eingeschrieben ist, denken wir vor allem an den Typ gesellschaftlicher Erfahrungen, auf die sich der Absender beruft. Der Adressat des Modells der engagierten Literatur ist ein feinfühliger Empfänger, der sehr feinsinnig auf den Stil der Kultur, auf die Einheitlichkeit der ihr spezifischen Werthierarchie und auf die gesellschaftlich wirksamen Merkmale der Literatur reagiert. Der Adressat der kanonischen Literatur ist ein Empfänger, der sehr empfindsam auf das zeitgenössische Kulturbewußtsein reagiert, das von den Einrichtungen der Vermittlung kultureller Traditionen geformt wird. Dieses Bewußtsein wird durch „Schule" im gleichen Grade geprägt, wie der Leser der engagierten Literatur vom „Leben" geformt wird. Schließlich wird der Empfänger des Modells der unterhaltenden Literatur von den Mustern der Freizeitkultur geformt, so wie diese sich allmählich auf der Grundlage der Bedürfnisse der Bewohner großer Industriezentren, die nach ihrer Arbeit über eine gewisse Freizeit verfügen, herausbilden. Es handelt sich hier um Menschen, die mehr Anspruch auf Erholung im biologischen Sinne als auf eine kulturell gestaltete Freizeit erheben. Diese Menschen sind an schnelles Tempo gewöhnt, träumen begeistert von ihrem „Urlaub", vom Mythos der ewigen Jugend, von Brutalität und Sex und nehmen gegenüber diesen Dingen eine reine Konsumtionshaltung ein. 1 9 Unter sozialistischen Bedingungen vollzieht sich gewissermaßen ein Kreuzungsprozeß des Modells der engagierten Lite239

ratur mit dem der Unterhaltungsliteratur. Dieser Prozeß ist noch nicht abgeschlossen. Daher gibt es in dem Modell der Unterhaltungsliteratur im Sozialismus oft noch eine übergroße Dosis an Tradition oder Folklore bzw. einfach auch an Populärem, Altvaterischem oder Bürgerlichem. Das reine Modell der Unterhaltungsliteratur gestaltet sich auf dem Wege einer deutlich wahrnehmbaren Adaption an die Veränderungen in der Kultur des 20. Jahrhunderts. Es stellt sich in den Dienst der technischen und organisatorischen Belange und paßt sich ihnen an, also den Zielen, die in den verschiedenen Gesellschaftsordnungen von den Massenmedien verbreitet werden. In der Massenkultur wandelt sich die Stellung der Literatur im Rahmen des Strukturganzen der Kultur prinzipiell nicht; dies geschieht nur in dem Maße, wie sich der Unterhaltungsbereich im Gesamtgefüge der kulturellen Muster und Verhaltensweisen auszuweiten beginnt. Dafür verändert sich in der politisch geformten Literatur der Stellenwert der Literatur im Gesamtgefüge der Kultur erheblich stärker, verglichen mit den Traditionen des 19. Jahrhunderts, und zwar im Gefolge eines bewußt geführten ideologischen Kampfes und die Veränderung des Kulturstils, um die Veränderung der kulturellen Werthierarchie. Das Modell der engagierten Literatur manifestiert deren eigene stark fortgeschrittene Instrumentalisierung, die sich aus der neuen Struktur der Gesamtkultur ergibt. Dafür paßt sich das Modell der kanonischen Literatur der traditionellen, noch auf die romantische Periode zurückgehenden Stellung der Literatur im Kulturganzen an. Unsere Darstellung betrifft dynamische, sich rasch verändernde Erscheinungen. In unserer Modellkonstruktion wurde versucht, wie mehrfach hervorgehoben, die Jahre der Zwischenkriegsperiode, ja bisweilen sogar einen früheren Zeitabschnitt zu erfassen. Der Prozeß der Entstehung einer spezifischen Kultur unter veränderten gesellschaftlichen, sozialistischen Bedingungen fand zu dieser Zeit nur in einem Lande, in der UdSSR statt. Die Darstellung der Wandlungen, denen die verschiedenen Literaturmodelle in der Periode unmittelbar vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges, während des Krieges und vor allem nach dem Kriege unterworfen waren, erfordern eine besondere Behandlung der sich sowohl in der sozialistischen wir in der 240

kapitalistischen Gesellschaft vollziehenden Prozesse. Wir haben hier gewissermaßen nur die Ausgangssituation der heutigen Kulturentwicklung auf dem Gebiet der Literatur skizziert, deren weitere Veränderungen und Dynamik primär von den Unterschieden der beiden Gesellschaftsordnungen bestimmt werden. Literaturmodelle sind gedankliche Konstruktionen. Echte Kunstwerke realisieren sich gewöhnlich nicht als Modell, sondern verbinden die Merkmale eines dominierenden Modells mit den Merkmalen eines oder mehrerer anderer Modelle. Es ist deshalb notwendig, die Funktionen der Kunstwerke von den Funktionen der Modelle zu unterscheiden. Kunstwerke erfüllen vor allem expressive Funktionen in Hinsicht auf die unwiederholbare Persönlichkeit des Literaturproduzenten. Modelle können diese Funktion nicht übernehmen. Die Auswahl eines Modells wird vielmehr vom Umfang der instrumentalen Möglichkeiten der Literatur bestimmt. Aktiviert die Literatur, belehrt sie oder unterhält sie den Leser? In jedem Fall dient sie unter den Verhältnissen einer anderen Struktur der Gesamtkultur auch anderen kulturellen Zwecken. Anders ist damit also ihre Position im Hierarchiegefüge dieser Struktur, anders ihre gesellschaftliche Funktion, anders die soziale Rolle des Schriftstellers, anders sind die Verhaltensmuster und Erwartungen des Lesers, anders die Kommunikationsmuster und anders schließlich auch die in der Gesellschaft funktionierenden Literaturmodelle. Die Beweisführung für die dargelegten Hypothesen erfolgte in dieser Arbeit kaum skizzenhaft und nur mit grobem Strich, so daß ein stark vereinfachtes Bild entstand. Dennoch mag selbst eine derartig umrißhafte Abhandlung der Problematik genügen für die Erkenntnis, daß Literatur, als Zeichensystem unter anderen Zeichensystemen einer bestimmten Kultur interpretiert, uns weitere, bis heute noch ungenügend erkannte und noch wenig erforschte Probleme mit aller ihnen innewohnenden Dynamik zu enthüllen vermag.

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Dieckmann

Anmerkungen

Abkürzungen Gtöwne problemy

MEW

Mickiewicz Polska poezja

Tynjanov/Jakobson

Vodicka

H. Markiewicz: Gtöwne problemy wiedzy o literaturze (Grundprobleme der Literaturwissenschaft). Krakow 1965. Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Bd. 1—39 (u. Ergänzungsband Teil 1). Hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin 1956-1971. A. Mickiewicz: Dzieia (Werke). Bd. 1—16. Warszawa 1955. Polska poezja rewolucyjna (Polnische revolutionäre Poesie) 1878-1945. Hg. S. Klonowski. Warszawa 1966. J . Tynjanov/R. Jakobson: Problemy isuschenija literatury i jazyka. In: Nowa Lef 1928. (Dt. in: J . Tynjanow/R. Jakobson: Probleme der Literatur- und Sprachforschung. In: Texte der russischen Formalisten. Bd. 2. München 1972. F. Vodicka: Literarni historie. Jeji problemy a likoly (Literaturgeschichte. Ihre Probleme und Aufgaben). In: Cteni o jazyce a poesii (Vorlesungen über Sprache und Poesie). Hg. B. Havränekund J. Mukarovsky. Praha 1942.

Ka^imierz Wyka Über die Notwendigkeit der

Literaturgeschichte

Der Text wurde entnommen aus Kazimierz Wyka: O potr^ebie bistorii literatury. Ss>ktce polonistyc^ne. Z lat 1944—1967 (Über die Notwendigkeit der Literaturgeschichte. Polonistiscbe Skizzen. Aus den Jahren 1944—1967). Warszawa 1969, S. 321-343. 16*

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1 Dieser Beitrag ist die erweiterte Fassung eines Vortrages im Plenum des Wissenschaftlichen Rates des Instituts für Literaturforschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften (IBL) aus Anlaß des fünfzehnjährigenBestehens des Instituts am27. November 1963. Daserklärt seinen populärwissenschaftlichen Charakter. Er wendet sich an einen großen Adressatenkreis und wurde als Essay verfaßt. 2 Im Sinne einer entomologischen Anmerkung sei hervorgehoben, daß dieser „Schmetterlingstext" aus dem Zweiten Buch des Pan Tadeus£ von A. Mickiewicz (dt. zitiert nach der Übersetzung von H. Buddensieg, München 1963, S. 59) in der polnischen Poesie kein Einzelbeispiel ist. Weitere Belege finden sich u. a. noch bei A. Mickiewicz, bei L. Staff (1878-1957), B. Lesmian (1878-1937), M. Pawlikowska-Jasnorzewska (1894—1945), von anderen Künsten, etwa der Malerei, gar nicht erst zu reden. 3 BoleslawLesmian(1878—1937), polnischer Lyriker des 20. Jahrhunderts, dessen formvollendetes Werk nachhaltige Wirkungen ausübte (A. d. Bearb.). 4 Anspielung auf ein Hauptwerk der polnischen Aufklärers Ignacy Krasicki (1735—1801), in dem der Fürstbischof von Warmia (Ermland) und zeitweilige Gast Friedrichs II. den Müßiggang und die geistige Beschränktheit des Klosterdaseins satirisch aufs Korn nimmt (A. d. Bearb.). 5 Maria Pawlikowska-Jasnorzewska (1894—1945), polnische Dichterin, die in den zwanziger und dreißiger Jahren durch ihre formalen Neuerungen in Natur- und Liebeslyrik einen besonderen Platz in der Literaturentwicklung einnahm (A. d. Bearb.). 6 J. Kleiner: Charakter i przedmiot badan literackich. Studia z zakresu literatury i filozofii (Charakter und Gegenstand literarischer Forschung. Studien aus dem Bereich der Literatur und Philosophie). Warszawa 1925; zit. nach: Teoria badan literackich w Polsce. Wypisy (Theorie der Literaturforschung in Polen. Lesetexte). Bearb. v. H. Markiewicz, Bd. 1. Krakow 1960, S. 203-205. 7 Antoni Malecki (1821—1913), polnischer Literaturwissenschaftler, Linguist, ursprünglich klassischer Philologe, der sich auch schriftstellerisch betätigte; vor allem durch seine 1866/67 erschienene Monographie über J. Slowacki berühmt geworden (A. d. Bearb.). 8 A. Malecki: Prelekcje o filologii klasycznej i jej encyklopedii, miane w pökroczu letnim r. 1850 (Vorlesungen zur klassischen Philologie und ihre Enzyklopädie, gehalten im Sommersemester 1850). Krakow 1851; zit. nach: Teoria badan literackich w Polsce. Wypisy (Theorie der Literaturforschung in Polen. Lesetexte). Bd. 1. Krakow 1960, S. 44. 9 Karol Estreicher (1827—1908), Begründer des heute nach ihm benannten Standardwerkes einer polnischen Nationalbibliographie (23 Bände 244

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erfassen das einschlägige Schrifttum von 1455—1900); sein Enkel Karol (geb. 1906), Univetsitätsprofessor der Krakówer Jagiellonenuniversität, setzte das Werk teilweise fort (A. d. Bearb.). Gabriel Korbut (1862—1934), polnischer Literarhistoriker und Bibliograph, der eine vierbändige Bibliographie der polnischen Literatur bis zum 1. Weltkrieg verfaßte (erw. 2. Aufl. 1929-1931), die unter seinem Namen (Neuer Korbut) fortgesetzt wird (A. d. Bearb.). Vgl. Anni. 8. In erster Auflage erschienen von 1963—1966 vier Bände ( A bis Z. einschließlich Index), die das Schaffen der polnischen Schriftsteller bis 1956 erfassen (A. d. Bearb.). Vgl. Anm. 8. Friedrich Hebbel: Tagebücher. Bd. 1 (1835-1839). Berlin o. J., S. 176. Stefan Kolaczkowski (1887—1940), einer der bedeutendsten polnischen Literaturwissenschaftler und Literaturkritiker zwischen den beiden Weltkriegen, redigierte 1934—1938 die Zeitschrift Marebolt; seine besonderen Interessen galten dem Werk S. Wyspiariskis, J. Kasprowiczs, A. Fredros und C. Norwids. Kolaczkowski gehörte als Professor der Krakówer Jagiellonenuniversität zu jenem Kreis von Professoren, der 1939 in das KZ Sachsenhausen verschleppt wurde, woher er todkrank zurückkehrte (A. d. Bearb.). René Descartes: Abhandlungen über die Methode. Leipzig 1962, S. 54 (Reclams Universal-Bibliothek Nr. 3767) (A. d. Bearb.). Francis Bacon: Das neue Organon (Novum Organon). Hg. Manfred Buhr. Berlin 1962, S. 144. Ebenda, S. 89. Bogdan Suchodolski (geb. 1903), polnischer Pädagoge, Kulturhistoiiker und Soziologe, Ordentliches Mitglied der Polnischen Akademie der Wissenschaften; beschäftigte sich vor allem mit Fragen der Kulturentwicklung in der sozialistischen Gesellschaft Volkspolens (A. d. Bearb.). Bruno Schulz (1892—1942), polnischer Schriftsteller, der in seinen beiden Prosazyklen Zimtläden und Sanatorium Kkpsjdra mit der Darstellung jüdischen Kleinbürgerschicksals in Galizien Kafka verwandte Themen fand und dessen tragische Visionen ihm auch den Beinamen eines polnischen Kafka einbrachten; Schulz wurde 1942 von einem deutschen SS-Mann ermordet (A. d. Bearb.). Tadeusz Kotarbinski (geb. 1886), einer der bedeutendsten lebenden polnischen Philosophen, dessen Hauptleistungen in der Erkenntnistheorie und Logik liegen, speziell in der Praxeologie; bis zu seiner Emeritierung Lehrstuhlinhaber der Universität Warszawa und zeitweilig Präsident der Polnischen Akademie der Wissenschaften (A. d. Bearb.).

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22 T. Kotarbinski: Elementy teorii poznania, logiki formalnej i metodologii nauk (Grundlagen der Erkenntnistheorie, formalen Logik und Methodologie der Wissenschaften). Wroclaw 1961, S. 438. 23 Vgl. K. W y k a : Polonistyka w swietle szkoty, uczelni i nauki (Polonistik im Lichte der Schule, Hochschule und Wissenschaft). In: O potrzebie historii literatury (Über die Notwendigkeit der Literaturgeschichte). Warszawa 1969, S. 262-279. 24 Samuel Bogumil Linde (1771—1847), einer der Begründer der modernen polnischen Philologie, Mitbegründer der Warschauer Universität, politisch dem jakobinischen Flügel des polnischen Bürgertums nahestehend; sein Lebenswerk ist das Slownik jp^yka polskiego (Wörterbuch der polnischen Sprache), 6 Bände, 1807-1814 (A. d. Bearb.). 25 Stanistaw Brzozowski (1878—1911), einer der bedeutendsten polnischen Literaturkritiker und Philosophen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, näherte sich zeitweise dem Marxismus an; seine materialistischen kunst- und kulturphilosophischen Traktate, vor allem über die polnische Literatur, waren auf seine Zeitgenossen von nachhaltiger Wirkung (A. d. Bearb.). 26 Francis Bacon: Das neue Organon (Novum Organon). Hg. Manfred Buhr. Berlin 1962, S. 106. 27 Julian Tuwim (1894—1953), einer der sprachgewaltigsten polnischen Lyriker des 20. Jahrhunderts, dem auch hervorragende Nachdichtungen ausländischer Dichter zu verdanken sind; eines seiner Hauptwerke ist das Poem Kmaty polskie (Polnische Blumen), 1949 (A. d. Bearb.). 28 M. Wiszniewski : Historia literatury polskiej. Wst?p do t. II (Geschichte der polnischen Literatur. Einleitung zum 2. Band). Krakow 1840. Zit. nach : Teoria badari literackich w Polsce (Theorie der Literaturforschung in Polen). Bd. 1. Krakow 1960, S. 17-18.

Maria Zmigrod^ka Probleme des romantischen Umbruchs Originalbeitrag für diesen Band. 1 Vgl. René Wellek : Der Begriff der Romantik in der Literaturgeschichte. In: Grundbegriffe der Literaturkritik. Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1965, S. 95-117. 2 Maurycy Mochnacki (1804—1834), bedeutendster Literaturkritiker und Publizist der polnischen Romantik, dessen wichtigste Arbeiten zwischen 1825 und 1834 erschienen; in seinen ästhetischen Ansichten u. a. an F. Schiller und A. W. Schlegel orientiert; eines seiner Hauptwerke

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O Uteratur^e polskiej v> tvieku XIX (Über die polnische Literatur im 19. Jahrhundert), 1830 (A. d. Bearb.). 3 Mickiewicz, Bd. 5, S. 201. 4 J. Sniadecki: O pismach klasycznych i romantycznych (Übet klassisches und romantisches Schrifttum). In: Dziennik wilenski 1918, 1. 5 Jan Sniadecki (1756—1830), hervorragender polnischer Naturwissenschaftler und Philosoph der Aufklärung; zur Studienzeit A. Mickiewiczs in Wilno Rektor der Universität (A. d. Bearb.). 6 Vgl. M. Grabowski: O nowej literaturze francuskiej nazwanej literatura szalona (la littérature extravagante) (Über die neue französische sog. extravagante Literatur). Aus: Literatura i Krytyka (Literatur und Kritik). In: Pisma (Werke). Bd. 3. Wilno 1838. 7 Vgl. Wilhelm Dilthey: Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metyphysischen Systemen, o. O. 1911 ; Heinrich Wölfflin : Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst. München 1915; Fritz Strich: Deutsche Klassik und Romantik oder Vollendung und Unendlichkeit. Ein Vergleich. München 1922. 8 Vgl. I. Chrzanowski: Charakterystyka romantyzmu (Charakteristik der Romantik). Zwei öffentliche Vorlesungen, 1916 inLwów gehalten. In: Z epoki romantyzmu (Die romantische Epoche). Krakow 1918; J. Kleiner : Romantyzm (Romantik). In : Studia z zakresu literatury i filozofii (Studien aus Literatur und Philosophie). Warszawa 1925. 9 Vgl. Paul Hazard: La crise de la conscience européenne (1680—1715). Paris 1946 ; Jean Fabre : Lumières et Romantisme. Énergie et nostalgie. De Rousseau à Mickiewicz. Paris 1963, S. 7. 10 Vgl. Georg Lukâcs: Fortschritt und Reaktion in der deutschen Literatur. Berlin 1947. 11 Vgl. S. Zotkiewski: Spór o Mickiewicza (Streit um Mickiewicz). Wroclaw 1952; K. Wyka: Pan Tadeusz. Warszawa 1963. 12 Vgl. H. Bronson: Facets of the Enlightenment. Studies in English Literature and its Contexts. Berkeley 1968, S. 24—25. 13 Vgl. Frederik B. Artz: From the Renaissance to Romanticism. Trends in Style in Art, Literature and Music. 1300—1830. Chicago 1962, S. 219. 14 Vgl. Meyer H. Abrams: The Mirror and the Lamp. Romantic Theory and the Critical Tradition. London 1960, S. 116. 15 Vgl. Meyer H. Abrams: English Romanticism. In: Romanticism Reconsidered. New York 1968. 16 Vgl. Eudo C. Mason: Deutsche und englische Romantik. Göttingen 1959, S. 7. 17 Vgl. Arthur O. Lovejoy: The Meaning of Romanticism for the Historian of Ideas. In: Journal of the History of Ideas 1941, 2, S. 237— 278.

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18 René Wellek: Romanticism Re-Examined. In: Romanticism Reconsidered. New York 1968, S. 107. 19 Die antiromantischen Auftritte T. S. Eliots und der Vertreter des New Criticism erörtert R. H. Fogle : Romantic Bards and Metaphysic Reviewers (1945). In: Romanticism. Points of View. Englewood Cliffs 1962, S. 151-167. 20 Cleanth Brooks : Notes for a Revised History of English Poetry. Ebenda, S. 137. 21 Vgl. Cecil Maurice Bowra: Romantic Imagination. London 1961, S. 1. 22 Vgl. Meyer H. Abrams: English Romanticism. In: Romanticism Reconsidered. New York 1968. 23 Vgl. P. W. K . Stone: The Art of Poetry. 1750-1820. Theories of Composition and Style in the Late Neo-Classic and Early Romantic Periods. London 1967, S. 3. 24 Vgl. Hermann August Korff: Geist der Goethezeit.Versuch einer idealen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte. Bd. 1 - 4 . Leipzig 1957. 25 Vgl. Edith Braemer: Goethes Prometheus und die Grundpositionen des Sturm und Drang. Weimar 1959, S. 40—69. 26 Vgl. Klaus Doderer: Das englische und französische Bild von der deutschen Romantik. In: Germanisch-romanische Monatsschrift 1955, 5, S. 128—147. — Auf die Verbindungen zwischen der französischen Romantik und der deutschen Sturm- und Drang-Literatur verweist besonders L . R. Fürst: Romanticism in Perspective. London 1969, S. 4 1 - 4 4 u. 282-283. 27 Arthur O. Lovejoy: On the Discrimination of Romanticism. In: Romanticism. Points of View. Englewood Cliffs 1962, S. 45—57. 28 Vgl. Henry Bernard Garland: Storm and Stress. The Abortive Revolt in German Literature. London 1952. 29 Vgl. Ferdinand J. Schneider: Die deutsche Dichtung der Geniezeit. Stuttgart 1952, S. 9 - 1 3 . 30 Vgl. Jacques Voisine: J.-J. Rousseau en Engleterre à l'époque romantique. Les écrits autobiographique et la légende. Paris 1956. 31 Vgl. André Monglond:Le Préromantisme français.Bd. 2. Le Mâitre des âmes sensibles. Paris 1966. 32 Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt/M. 1967. — Auf die Analogien zwischen der „wissenschaftlichen Revolution" in der Kuhnschen Konzeption und dem literarischen Umbruch richtete in einer Diskussion des IBL der Polnischen Akademie der Wissenschaften J. Siawinski die Aufmerksamkeit. 33 Henry H. H. Remak: Ein Schlüssel zur westeuropäischen Romantik? In: Begriffsbestimmung der Romantik. Darmstadt 1968, S. 378—441.

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34 Vgl. Richard Benz: Die deutsche Romantik. Leipzig 1937; Erich Ruprecht: Der Aufbruch der romantischen Bewegung. München 1948. 35 I. Opacki: „Ewangelija" i „nieszczsscie" („Evangelium" und „Unglück"). In: Poezja romantycznych przelomö w (Poesie der romantischen Umbrüche). Wroclaw 1972, S. 159. 36 J. Kleiner verwies auf das Jahr 1795 als das Umbruchsjahr, indem er in diesem Zusammenhang auf die Tätigkeit des Theaters von Wojciech Boguslawski in Lwöw (diese Stadt war die Wiege der polnischen Romantik) aufmerksam machte. Vgl. J. Kleiner: W kr?gu Mickiewicza i Goethego (Im Wirkungskreis von Mickiewicz und Goethe). Warszawa 1938, S. 197—200. — S. Skwarczynska bestätigte in ihrer Polemik gegen die These vom Aufklärungscharakter der Oda do mhdosci (Ode an die Jugend), daß dieses Werk ein Produkt der „ revolutionären Frühromantik" sei. S. Skwarczynska: Mickiewiczowska Hebe jako wierszrewolucyjny (Die Mickiewiczsche Hebe als revolutionärer Vers). In: Mickiewiczowskie powinowactwa z wyboru (Die Mickiewiczschen Wahlverwandtschaften). Warszawa 1957, S. 189-190. 37 j . Ujejski: Wstsp do: A. Malczewski, Maria (Einführung zu: A. Malczewskis „Maria"). Krakow 1922; vgl. M. Maciejewski: Narodziny powiesci poetyckiej w Polsce (Die Geburtsstunde des poetischen Romans in Polen). Wrocfaw 1970. 38 Vgl. A. Brückner: Wst^p do: (Einleitung zu:) A. Malczewski: Maria. Lwöw 1925, S. 35. 39 Vgl. K. Wojciechowski: Ballady i romanse Adama Mickiewicza (Balladen und Romanzen von A. M.). In: Przewröt w umystowosci i literaturze polskiej po roku 1863 (Umbruch im geistigen Leben und in der polnischen Literatur nach 1863). Lwöw-Warszawa 1928, S. 203—270. 40 S. Pigori: Do zrödel „Dziadöw" kowierisko-wileriskich (Zum Ursprung der Kowno-Wilnaer „Totenfeier"). Wilno 1930. S. 6. 41 Über den verderblichen Einfluß der Gallomanie auf die polnische Literatur der Aufklärung und der „ Gegenwart" schrieb Mickiewicz im gleichen Jahr in Oijainienia do poematu opisowego „ Zojijowka" (Erläuterungen dem beschreibenden Poem „Zofia"), vgl. Mickiewicz, Bd. 5, S. S. 206. 42 Ebenda, S. 190. 43 Ebenda, S. 202. 44 Mickiewicz' Verhältnis zur scherzhaften Ballade ist in der Abhandlung O poe^ji romantycynej (Über romantische Dichtung) ambivalent. Bei der Charakteristik der mittelalterlichen Poetik der „romantischen Welt" erwähnt er, daß sich bei ihm die Gefühle für das schöne Geschlecht auch in „heiteren Scherzen" äußerten, doch die englischen literarischen Balladen des 18. Jahrhunderts, „die keineswegs anders als die des einfachen Volkes, heiter und geistreich waren", schien man als Entstellung der Tradition zu betrachten und jene Dichter zu loben, die „die

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frühere Gattung der ernsten schottischen Balladen wieder berühmt gemacht haben". Mickiewicz, Bd. 5, S. 203—204. Vgl. J. Kleiner: Mickiewicz. Bd. 1. Lublin 1948; C. Zgorzelski: O pierwszych balladach Mickiewicza (Über die ersten Balladen von M.). In Pamietnik Literacki 39 (1948) 6, S. 72-149. Mickiewicz, Bd. 1, S. 192. Ebenda, S. 105. Ebenda, Bd. 5, S. 198.

Henryk Markiewic^ Die Dialektik des polnischen Positivismus Der Text wurde entnommen aus Proces bistorycyny a literatur^e i solltet. Material} honfereneji nauhowej-maj 1965 (Der historische Prozeß in Literatur und Kunst. Materialien einer wissenschaftlichen Konferenz vom Mai 1965). Pod redakcjq Marii Janion i Anieli Piorunowej. Instytut Badari Literackich Polskiej Akademii Nauk. Panstwowy Instytut Wadawniczy. Warszawa 1967, S. 143-164. 1 Vgl. B. Skarga: Narodziny pozytywizmu polskiego (Die Entstehung des polnischen Positivismus) 1831—1864. Warszawa 1964. 2 Piotr Chmielowski (1848—1904), einer der bedeutendsten polnischen Literarhistoriker und Kritiker, gehörte zu den Führern und Theoretikern der positivistischen Richtung, von 1881—1897 gab er die Monatsschrift Atbeneum heraus, er war Verfasser einer sechsbändigen Geschichte der polnischen Literatur (1899/1900) und schrieb sowohl Abhandlungen zur Literatur seiner Zeit — S. Wyspiariski, J. Kasprowicz, H. Sienkiewicz — als auch material- und quellenreiche Monographien zu A. Mickiewicz, J. I. Kraszewski u. a. (A. d. Bearb.). 3 P. Chmielowski: Pozytywizm i pozytywisci (Positivismus und Positivisten). In: Niwa 1873, 29, S. 98. 4 Przeglgd prasy periodycznej (Übersicht der periodischen Presse). In: PrzegUd Tygodniowy 1869, 28. 5 Aleksander §wi?tochowski (1849—1938), einer der bedeutendsten Schriftsteller des polnischen Positivismus, der seit 1881 die Wochenzeitung Prawda redigierte und in den Dienst dieses Programms stellte; sein literarisches Werk war von einer nationalkonservativen Haltung bestimmt und hatte um die Jahrhundertwende starke Wirkung; in seinen letzten Lebensjahren heftiger Gegner des Pilsudskischen Sanacja-Regimes (A. d. Bearb.). 6 A. Swi?tochowski: Na wylomie(Am Durchbruch). In: Przegl^d Tygodniowy 1871, 50, S. 411-412.

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7 Hauptschule: Unter diesem Namen bestand während der Jahre 1862 bis 1869 die Warschauer Universität (an heutiger Stelle), deren Absolventen fast alle polnische Positivisten waren (A. d. Bearb.). 8 Zakoriczenie (Schluß). I n : Przegl%d Tygodniowy 1871, 53, S. 433. 9 A . Swietochowski: Przegl^d pismiennictwa polskiego „Pozytywizm i jego wyznawcy w dzisiejszej Francji" (Übersicht des polnischen Schrifttums „Der Positivismus und seine Anhänger im heutigen Frankreich"). Verfaßt von Dr. Ziemba. I n : Przegl^d Tygodniowy 1873, 23, S. 179. 10 A . Swi?tochowski: Auguste Comte i Herbert Spencer (Auguste Comte und Herbert Spencer). I n : PrzegUd Tygodniowy 1872, 31, S. 247. 11 Teatr. „Pozytywni" (Theater. „Die Positiven"). Komödie in vier Akten von Narzymski. I n : Niwa 1874, 58, S. 230. 12 J . Ochorowicz: Wst^p i poglqd ogölny na filozofi? pozytywni (Einführung und allgemeine Anschauung über die positive Philosophie). Warszawa 1872, S. 9 1 - 9 2 , 94. 13 H. Sienkiewicz: Bez tytulu (Ohne Titel). 1873. I n : Dziela (Werke). Bd. 47. Warszawa 1950, S. 53. 14 P. Chmielowski: Zarys literatury polskiej z ostatnich

lat szesnastu

(Abriß derpolnischenLiteraturderletzten sechzehn Jahre). Wilno 1881, S. 6 6 - 6 7 . 15 Vgl. E . Lubowski: D o redakcji czasopisma „Kiosy" (An die Redaktion der Zeitschrift „Kiosy"). I n : Klosy 1872, 343, S. 67—68; Przeglad prasy periodycznej (Übersicht der periodischen Presse). I n : Ktosy 1872, 344, S. 91 u. 347, S. 143. 16 Vgl. J . Ochorowicz: Pozytywizm i negatywizm (Positivismus und Negativismus). I n : Niwa 1875, Bd. 7, S. 85. 17 Stronnictwa i koterie(Parteien und Cliquen). I n : Przeglad Tygodniowy 1876, 9, S. 99. 18 A . Swi^tocho wski: Zamkni?cie roku (Jahresschluß). I n : Prawda 1882, 52, S. 613. 19 P. Chmielowski: Zarys literatury polskiej z ostatnich lat szesnastu (Abriß der polnischen Literatur der letzten sechzehn Jahre). Wilno 1881, S. 65. 20 E . Orzeszkowa: Listy zebrane (Gesammelte Briefe). Bd. 5. Wroclaw 1961, S. 179 (An T . Bochwic vom 9. (22.) 4. 1909). 21 P. Chmielowski: Historia literatury polskiej (Geschichte der polnischen Literatur. Bd. 6. Warszawa 1900, S. 191 u. S. 1 9 4 - 1 9 5 . 22 A . Drogoszewski:

Pozytywizm

polski

(Polnischer

Positivismus).

2. A u f l . L w ö w 1934, S . 3 . 2 3 Als Stanczyk-Anhänger (die Bezeichnung rührt von einem bekannten Pamphlet her) wurden die politisch-konservativen Kräfte aus Großgrundbesitz und hoher Beamtenschaft bezeichnet, die sich im damals

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österreichischen Teil Polens mit der Teilermacht fest arrangierten und auf die Wiedergewinnung der nationalen Unabhängigkeit praktisch verzichteten (A. d. Bearb.). K. Krzewski: „Zarys literatury" P. Chmielowskiego o walce mtodych ze starymi („Abriß der Literatur" P. Chmielowski über den Kampf der Jungen gegen die Alten). In: Prace historycznoliterackie (Literarhistorische Arbeiten). [Sammelband zu Ehren von Ignacy Chrzanowski], Krakow 1938, S. 456-478. Z. Szweykowski: Pozytywizm polski. Pröba oceny (Polnischer Positivismus. Versuch einer Wertung). In: Przegl%d Wspölczesny 1929, 28, S. 406-419. Vgl. S. Cywinski: Sprawa podziatu dziejöw literatury polskiej na okresy. Przeglqd prob dotychczasowych i pomysty (Frage der Periodisierung der polnischen Literaturgeschichte — Übersicht der bisherigen Versuche und Reflexionen). In: Prace historycznoliterackie (Literarhistorische Arbeiten). [Sammelband zu Ehren von Ignacy Chrzano wski]. Krakow 1936, S. 39-63. H. Markiewicz: Pozytywizm a realizm krytyczny (Positivismus und kritischer Realismus). In: Tradycje i rewizje (Traditionen und Revisionen). Krakow 1957, S. 189. Vgl. J. Rudzki: Z laickich tradycji warszawskiego pozytywizmu (Zu den weltlichen Traditionen des Warschauer Positivismus). In: Mysl filozoficzna 1957, 2; ders.: Z zagadnien pozytywistycznej teorii post?pu (Zu Problemen der positivistischen Fortschrittstheorie). In: Studia Socjologiczno-Polityczne 1959, 2; J. Krajewski: Julian Ochorowicz jako autor filozoficznego programu pozytywizmu warszawskiego. ( J . O. als Autor des philosophischen Programms des Warschauer Positivismus). In: Charisteria. Rozprawy filozoficzne zlozone w darze Wtadyslawowi Tatarkiewiczowi (Charisteria. Philosophische Abhandlungen zu Ehren von Wladyslaw Tatarkiewicz). Warszawa 1960: J. Holzer: „My i wy" po stuleciu („Wir und Ihr" nach einem Jahrhundert). In: Kultura 1963, Nr. 20.

29 W. Tatarkiewicz: Historia filozofii (Geschichte der Philosophie). Bd. 3. Warszawa 1950, S. 101; Donald Geoffrey Charlton: Positivist Trought during the Second Empire. Oxford 1959. 30 E. OrzeszkowaLi . . . ka: O „Historii cywilizacji angielskiej" (Über die „Geschichte der englischen Zivilisation") von Henry Thomas Buckle. In: Gazeta Polska 1966, S. 158. 31 P. Chmielowski: Statystyka i moralnosc (Statistik und Moral). In: Przegl^d Tygodniowy 1971, 50, S. 414. 32 P. Chmielowski: Pozytywizm i pozytywisci (Positivismus und Positivisten). In: Niwa 1873, 29, S. 101. 33 E. Orzeszkowa: O jednej z najpilniejszych potrzeb spoleczeristwa

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naszego (Zu einem der dringendsten Erfordernisse unserer Gesellschaft). In: Niwa 1873, 25. S. 5. A. Pilecki: Stanowisko poezji wobec pozytywnego kierunku naszej umyslowosci (Standpunkt der Poesie zur positiven Richtung unseres Geisteslebens). In: Przegl^d Tygodniowy 1873, 34, S. 266; Interes osobisty a spoieczny (Persönliches und gesellschaftliches Interesse). In: Niwa 1873, 48, S. 274; A. S wi?tochowski: Zabawnie i smutno (Heiter und traurig). In: Przeglqd Tygodniowy 1871, 48, S. 399; Ze stotu redakcyjnego (Vom Redaktionstisch). In: Niwa 1873, 29, S. 115. Chybiony zamach (Vereitelter Anschlag). In: Walka Klas 1885, 10-12. Sehr richtig bemerkt A. Milska: „Wenn wir die philosophische Richtung angeben müßten, die mutatis mutandis eine ähnliche historische .Mission' gegenüber der Entwicklung des marxistischen Denkens in Polen spielte wie der Hegelianismus gegenüber Marx, dann würden wir ohne Zögern auf den weitgefaßten philosophischen Positivismus hindeuten. Mit der Bemerkung, daß im polnischen Fall von einer .Überwindung des Positivismus' nicht die Rede sein kann, eher von seiner A d a p t i o n , die — und das möchten wir hinzufügen — sich ohne schwierige Maßnahmen in der Art das ,Vom Kopf-auf-die-Füße-Stellens' vollzogen hat". A. Milska: Nauka a socjalizm w uj?ciu pierwszych marksistöw polskich (Wissenschaft und Sozialismus in der Betrachtung der ersten polnischen Marxisten). In: Studia Filozoficzne 1964, 4, S. 67. Eine ähnliche Konzeption des Positivismus unterbreitete in ihren Arbeiten M. Zmigrodzka: Orzeszkowa. Mlodosc pozytywizmu (Orzeszkowa. Die Jugend des Positivismus). Warszawa 1965; und Orzesz-kowa a pozytywizm (Orzeskowa und der Positivismus) [Vortrag, 1964 im Institut für Literaturforschung gehalten]. E. Orzeszkowa: Listy zebrane (Gesammelte Briefe). Wroclaw 1961, Bd. 1, S. 19 (An J. Sikorski vom 27. 8. 1867) und Bd. 3, S. 67 (An J. Kariowicz vom 18.(30.) 8.1884); Panu Janowi Kariowiczowi (Herrn Jan Kariowicz). In: Melancholicy (Die Melancholiker). Bd. 1, Warszawa 1949, S. 13. M. Konopnicka: Z przeszlosci. Fragmenty dramatyczne (Aus der Vergangenheit. Dramatische Fragmente). In: Pisma wybrane (Ausgewählte Schriften). Bd. 6, Warszawa 1951, S. 234-235. E. Orzeszkowa: Listy zebrane (Gesammelte Briefe). Wroclaw 1961, Bd. 3, S. 66 (An J. Kariowicz vom 18. (30.) 8. 1884). Chybiony zamach (Vereitelter Anschlag). In: Walka Klas 1885, 10-12. Ludwik Krzywicki (1859—1941), einer der bedeutendsten polnischen Soziologen und Ökonomen seiner Zeit, mit den Anfängen der polnischen Arbeiterbewegung verbunden, Übersetzer des Kapitals, als Hochschullehrer für große Teile der polnischen Intelligenz einer der ersten Vermittler des Marxismus in Polen (A. d. Bearb.).

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42 L . Krzywicki: Jeszcze o program (Noch zum Programm). I n : Przegl^d Tygodniowy 1883, 15, S. 178, vgl. H. Dominas: Stosunek publicystöw czasopism socjalistycznych [„Röwnosi", „Przedswitu", „Walki Klas", „Swiatla"] do socjaldarwinizmu i darwinizmu (Das Verhältnis der Publizisten sozialistischer Zeitschriften zum Sozialdarwinismus und Darwinismus). I n : Materialy do dziejöw mysli ewolucyjnej w Polsce (Materialien zur Geschichte des evolutionären Denkens in Polen). H. 1. Warszawa 1963. 43 B. Prus: Post?powcy i zachowawcy (Progressive und Konservative). I n : Kurier Warszawski 1873, 286. 44 (A. S^siedzki:] Iks Bogomnos: Sprawy zywotne (Lebensfragen). I n : Pierwsze pokolenie marksistöw polskich (Die erste Generation der polnischen Marxisten). Bd. 1, Warszawa 1962, S. 468. 45 E . Orzeszkowa: O jednej z najpilniejszych potrzeb spoleczenstwa naszego (Zu einem der dringendsten Erfordernisse unserer Gesellschaft). I n : Niwa 1873, 25, S. 4. 46 A. Dygasiriski: Glöd i milosc (Hunger und Liebe). I n : Pisma wybrane (Ausgewählte Schriften). Bd. 9. Warszawa 1950, S. 152. 47 P. Chmielowski: Statystyka i moralnosc (Statistik und Moral). I n : Przegl^d Tygodniowy 1871, 50. 48 A. Dygasinski: Giod i miiosc (Hunger und Liebe). I n : Pisma wybrane (Ausgewählte Schriften). Bd. 9, Warszawa 1950, S. 95. 49 F. Bogacki: TJo po wiesci wobec tla zycia (Romanhintergrund und Hintergrund des Lebens). I n : Przegl^d Tygodniowy 1871, 53. 50 1885 wurde von der zaristischen Teilermacht in Warschau den Anhängern der ersten proletarischen polnischen Partei „Proletariat" (einer ihrer Begründer und wichtigsten Führer war L. Waryhski) der Prozeß gemacht, er endete mit Todesurteilen und Verbannungen und bedeutete die völlige Zerschlagung dieser Partei, der L. Krzywicki auch persönlich nahegestanden hatte (A. d. Bearb.). 51 Przemöwienie Waryriskiego na s^dzie warszawskim (Warynskis Rede vor dem Warschauer Gericht). I n : Pierwsze pokolonie marksistöw polskich (Die erste Generation der polnischen Marxisten). Bd. 2, Warszawa 1962, S. 611. 52 A. Swi?tochowski: Wywöz naszej inteligencji (Verschleppung unserer Intelligenz). I n : Przegl^d Tygodniowy 1874, 32, S. 262. 53 A. Swietochowski: Ojciec Makary (Pater Makarius). I n : Dusze niesmiertelne (Unsterbliche Seelen). Wroclaw 1957, S. 97. 54 S. Diksztajn: Dqzenia socjalistyczne na emigracji polskiej 1831 (Sozialistische Tendenzen in der polnischen Emigration von 1831). I n : Röwnosc 1880, 8—9; Z powodu odezwy Stowarzyszenia Socialistycznego „Lud Polski" (Aus Anlaß des Aufrufs der sozialistischen Gesellschaft „Lud Polski"). I n : Przedswit 1881, 6—7; Dlaszego nie jestesmy anar-

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chistami (Warum sind wir keine Anarchisten?). In: Przedswit 1886, 6—8 [zit. nach A. Milska : Nauka a socjalizm (Wissenschaft und Sozialismus). In: Studia Filozoficzne 1964, 4, S. 54—55]. B. Prus : Kronika tygodniowa (Wochenchronik). In : Kurier Codzienny 1889, Nr. 185. E. Orzeszkowa: O powiesciach Teodora Tomasza Jeza z rzutem oka na powìesc w ogóle (Uber die Romane des Theodor Thomas Jez mit einem Blick auf den Roman im allgemeinen). In : Pisma krytycznoliterackie (Literaturkristische Schriften). Wroclaw 1959, S. 144. H. Sienkiewicz : Pan Grabe. Powiesc p. Elizy Orzeszkowej (Herr Grabe* Ein Roman der Frau Eliza Orzeszkowa). In: Dziela(Werke). Bd. 45. Warszawa 1951, S. 186. Vgl. Lob der „objektiven Darstellung" und Einwände gegen den „Autoepismus" in den kritischen Aussagen von P. Chmielowski : Pisma krytycznoliterackie (Literarkritische Schriften). Bd. 1. Warszawa 1961, S. 34, 35 u. 440 u. 540. A. Swi?tochowski : Dumania pesymisty (Träumereien eines Pessimisten). In: Przeglqd Tybodniowy 1876, 24, S. 280 u. 27, S. 320. Vgl. W. I.Lenin: Zur Frage der Dialektik. In: Werke. Bd. 38. Berlin 1968, S. 338-344. Die Bedeutung des wissenschaftlichen Erbes des Positivismus in der modernistischen Weltanschauung erörterte K. Wyka in: Modernizm polski (Polnischer Modernismus). Krakow 1959.

Maria

Janion

„Ehre und Dynamit" — Literatur

und Revolution

Der Text wurde entnommen aus Literatura polska mobec rewolucji (Polnische Literatur und Revolution). Praca zbiorowa pod redakcj% Marii Janion. Instytut Badan Literackich Polskiej Akademii Nauk. Panstwowy Instytut Wydawniczy. Warszawa 1971, S. 5—40. 1 Siehe K. Wyka : Über die Notwendigkeit der Literaturgeschichte. Anm. 25. 2 S. Brzozowski: Literatura polska wobec rewolucji (Die polnische Literatur und die Revolution). In: Dziela wszystkie (Gesammelte Werke). Bd. 6. Warszawa 1936, S. 222. 3 MEW, Bd. 4, S. 135. 4 Zur Theatralisierung der Geschichte bei Hegel vgl. Jean-Marie Domenach: Le retour du tragique. Paris 1967, S. 72. 5 MEW, Bd. 7, S. 18. 6 Ebenda, Bd. 4, S. 472. 7 Vgl. André Decouflé: Sociologie des révolutions. Paris 1970, S. 22.

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8 S. Ossowski: O osobliwosciach nauk spolecznych (Über die Besonderheiten der Gesellschaftswissenschaften). Warszawa 1962, S. 270. 9 MEW, Bd. 7, S. 33. 10 Ebenda, S. 11. 11 Ebenda, Bd. 5, S. 133. 12 Ebenda, Bd. 7, S. 31. 13 Ebenda, S. 33. 14 Ebenda, Bd. 5, S. 134. 15 Ebenda, Bd. 8, S. 196. 16 Ebenda, Bd. 4, S. 493. 17 François-René de Chateaubriand : Essai historique, politique et moral sur les révolutions anciennes et modernes considérées dans leurs rapports avec la Révolution Française. In: Essai historique sur les révolutions et mélanges historique. Paris 1860, S. 224. 18 J. Trybusiewicz: De Maistre. Warszawa 1968, S. 193. 19 Ebenda, S. 148-149. 20 Eugène Pottier: Internationale. Nachdichtung: Emil Luckhardt. 21 André Malraux: Die Eroberer. Der Königsweg. Übers, von F. Hardekopf. Frankfurt/M.-Wien-Zürich 1965, S. 134. 22 Albert Camus: Mensch in der Revolte. Reinbek b. Hamburg 1970, S. 100. 23 Polska poezja, S. 744. 24 MEW, Bd. 1, S. 402. 25 Ebenda, S. 408. 26 Ebenda. 27 Ebenda. 28 Ebenda, Ergänzungsband Teil 1, S. 262. 29 Goethes Poetische Werke(Berliner Ausgabe).Bd. 1, Berlin 1965, S. 328. 30 Goethe an Seebeck [30. 12.19]. In : Briefe (Weimarer Ausgabe). Bd. 32. Weimar 1906, S. 134. Vgl. Helmut Holtzhauer: Goethes „Prometheus". Übers, v. H. Migala. In: Przeglqd Humanistyczny 3 (1959) 5, S. 24. Holtzhauer führt an, daß Goethes Ode zum ersten Mal von F. H. Jacobi im Jahre 1785 in seiner Abhandlung publiziert wurde. Auf dem Buchumschlag stand folgende Bemerkung : „Das Gedicht Prometheus wurde absichtlich zwischen die Seiten 48 und 49 eingefügt, damit jeder, der es nicht in dem Exemplar seines Buches haben möchte, leicht von dort entfernen kann. Ich habe das noch aus einem weiteren Grunde getan. Es ist nicht ausgeschlossen, daß hier oder dort mein Buch wegen des Prometheus konfisziert werden könnte. Ich hoffe, daß die Zensur sich in bestimmten Fällen damit begnügen werde, nur die Einlage herauszunehmen. Wird dieses Gedicht entfernt, dann braucht man nur aus dem Druckbogen das Blatt mit den Seiten 11 und 12 herauszuschneiden und es an die erwähnte Stelle zu setzen."

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31 MEW, Ergänzungsband Teil 1, S. 262. 32 G. Ehrenberg: Wiersze (Gedichte). Ges. u. bearb. von A. Zejman. Krakow 1969, S. 31. 33 Franciszek Karpinski (1741—1825), polnischer Lyriker, Vorläufer der Romantik, dessen Gedichte sehr volkstümlich waren und oft vertont wurden (A. d. Bearb.). 34 G. Danilowski : Wspomnienia wiçzienne z Pawiaka (Erinnerungen aus dem Pawiak-Gefängnis). Lwów 1908, S. 84. 35 Polska poezja, S. 128. 36 Über die zwei Gestalten Christi in der Tradition des russischen Denkens und der Literatur informiert R. Przybylski: Muzyka rewolucji. „Dwunastu" Btoka (Musik der Revolution. „Die Zwölf" von Block). In: Poezja 1967, 10. 37 Polska poezja, S. 123. 38 J. Koztowski: Kolçdy robotnicze (Arbeiterweihnachtslieder, Kollenden). In: Przeglad Humanistyczny 11 (1967) 5, S. 136. 39 Bruno Jasienski(1901—1939), revolutionärer polnischer Schriftsteller, der vor allem durch sein Poem Storno o Jakubie S^tli (Das Wort von Jakub Szela), 1926, und den Roman Pa/f Paryz (M verbrenne Paris), 1929, bekannt wurde, schrieb zuletzt, in sowjetischer Emigration, seine Werke russisch. In dem Poem über Szela bediente er sich der Gestalt des revolutionären Bauernführers Jakub Szela (gest. 1866), der 1846 die antifeudalen Bauernerhebungen in Galizien führte (A. d. Bearb.). 40 B. Jasienski: Slowo o Jakubie Szeli (Das Wort von Jakub Szela). In: Utwory poetyckie (Poetische Werke). Warszawa 1960, S. 85. 41 Ebenda. 42 Ebenda, S. 86. 43 Stanislaw Ryszard Stande (1897—1939), revolutionärer polnischer Lyriker, einer der Mitbegründer der proletarischen polnischen Poesie, aktiver Kulturpolitiker der KPP (A. d. Bearb.). 44 S. R. Stande: Ziemia i niebo (Erde und Himmel). Warszawa 1958, S. 110. 45 Ebenda, S. 111. 46 Vgl. André Decouflé: Sociologie des révolutions. Paris 1970, S. 49— 51. — C. Lévi-Strauss äußerte in einem Gespräch mit G. Charbonnier: „Die historischen Gemeinschaften sind so wie unsere dadurch gekennzeichnet, daß sie gleichsam eine zu hohe Temperatur haben oder genauer gesagt — größere Spannweiten zwischen den inneren Temperaturen des Systems bestehen, die durch die soziale Differenzierung verursacht werden. Man darf daher die Gemeinschaften keineswegs in .historische' und .unhistorische' Gesellschaften einteilen. In Wirklichkeit hat jede menschliche Gesellschaft ihre Geschichte, eine für alle gleichlange Geschichte, weil sie bis zum Ursprung der Gattung Mensch 17

Dieckmann

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reicht. Aber während die Urgesellschaften in einer Geschichte versunken sind, in der sie unergründlich bleiben wollen, nehmen unsere Gesellschaften, wenn man das so ausdrücken kann, ihre Geschichte nach innen wahr, um diese zum Motor ihrer Entwicklung zu machen." Zit. nach : Georges Charbonnier : Rozmowy z Claude Lévi-Straussem (Gespräche mit Claude Lévi-Strauss). Übers, u. m. Anm. versehen v . Trznadel. Warszawa 1968, S. 32—33. Decouflé glaubt, die „kalten" Gesellschaften seien gekennzeichnet durch „non-révolutionnabilité", durch fehlende Eignung für die Auslösung von Revolutionen und fehlendes „Projekt der Revolution", durch den „Mythos der Zeit", und nicht durch die „Zeit der Geschichte" André Decouflé: Sociologie des révolutions. Paris 1970, S. 50—51. 47 Vgl. Robert T. Francoeur: Horyzonty ewolucji (Horizonte der Evolution). Übers, v. H. Bednarek. Warszawa 1969, S. 10-26. „Die intellektuellen Meditationen der Griechen und Juden lassen sich aus anderen Zeitbegriffen ableiten und sind zwei verschiedene Welten." „Für den griechischen Philosophen, den Urmenschen und alle anderen, mit Ausnahme der Bekenner des Judaismus, ist das Zeitsymbol ein K r e i s . Allerdings existiert noch eine frühere Kultur, in welcher die zyklische Betrachtung der Zeit nicht allgemein wurde. F ü r d e n b i b l i s c h e n J u d a i s m u s i s t d a s Z e i t s y m b o l d e r P f e i l . " In seiner klassischen Analyse des homerischen und alttestamentarischen Stils verwies E. Auerbach vor allem auf die Unterschiede, die hinsichtlich der Zeitbetrachtung in der homerischen und alttestamentarischen Anthropologie bestehen. Erich Auerbach: Mimesis. Bern-München 1964, S. 5—27. 48 André Decouflé: Sociologie des révolutions. Paris 1970, S. 57. 49 Vgl. Robert T. Francoeur: Horyzonty ewolucji (Horizonte der Evolution). Warszawa 1969, S. 27. „Juden und Christen betrachten das Wachstum und die Entwicklung der Welt als Teil des Bewegungsprozesses zur Göttlichkeit, und nicht — wie die Griechen — als Bemühen zum Erlangen von Zeitlosigkeit [. . .] Nach biblischer Auffassung ist der Himmel u n e n d l i c h e Z e i t , eine Welt ohne Ende." 50 MEW, Bd. 7, S. 89-90. 51 Paraphrase der Darstellungen vonDedal aus: Wsród czasopism(Unter Zeitschriften). In: Twórczosc, 1969, 6. 52 Vgl. Henri Lefèbvre : Claude Lévi-Strauss et le nouvel éléatisme. In : L'homme et la société 1966, 1. 53 Rosa Luxemburg: Ich war, ich bin, ich werde sein! Berlin 1958, S. 143. 54 Zit. nach der poln. Ausg. : Victor Hugo : Poezje polityczne (Politische Poesie). Übersru. bearb. v. Z. Bienkowski. Warszawa 1954, S. 63. 55 Ebenda, S. 141. 56 Zit. nach der poln. Ausg: Victor Hugo: Literatura i polityka(Literatur und Politik). Übers, v. H. Szumanska-Grossowa. Warszawa 1953, S . 6 8 .

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MEW. Bd. 7, S. 34. Rosa Luxemburg: Ich war, ich bin, ich werde sein! Berlin 1958, S. 136. Ebenda, S. 140. Ebenda, S. 141. Ebenda. Zit. nach: Saint-Just: Wybór pism (Ausgewählte Schriften). Hg. v. Bibrowska. Warszawa 1954, S. 49. 63 Dieser Problematik des „Feindes" ist folgende Publikation gewidmet : A. Nitschke : Der Feind. Erlebnis, Theorie und Begegnung. Formen politischen Handelns im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1964. Sie enthält jedoch keine Ausführungen über die Problematik, wie die Revolution ihre Feinde behandelt.

64 Zit. nach : I. Koberdowa : Pierwsza Miçdzynarodôwka i lewica Wielkiej Emigracij (Die Erste Internationale und die Linke der Großen Emigration). Warszawa 1964, S. 64—65. 65 Anspielung auf den Wandel des romantisch träumenden Helden Gustaw (aus Mickiewicz' Drama Die Totenfeier) zu dem sich aktiv verschwörenden Rächer Konrad (aus Mickiewicz' Konrad Wallenrod) ( A. d. Bearb.). 66 Edward Dembowski (1822—1846), radikal-demokratischer polnischer Publizist und Philosoph, der den Hegeischen Ideen und dem utopischen Sozialismus nahestand und durch seine revolutionären Aktivitäten um 1846 berühmt wurde; war ein heftiger Gegner der sog. MessianismusIdeologie, durch die sich die exilierten polnischen Romantiker lange den Blick auf die Wirklichkeit verstellten (A. d. Bearb.). 67 Vgl. E . Dembowski: Mysli o przyszlosci filozofii(Gedanken über die Zukunft der Philosophie). In: Pisma(Werke).Bd.4,1844-1846. Warszawa 1955, S. 372-374. 68 Zit. nach: Saint-Just: Wybór pism (Ausgewählte Schriften). Hg. v. Bibrowska. Warszawa 1954, S. 240. 69 G. Lichtheim erörtert im Rahmen der Rezension des Buches von H. Arendt : On Revolution die Unterschiede zwischen der französischen und der amerikanischen Revolution. In diesem Zusammenhang betont er, daß „der Absolutismus in fast ganz Europa eine Situation geschaffen hat, die direkt nach .totalitären Gewalten' verlangte". „Die französische Revolution war deswegen .totaler' als ihr angloamerikanischer Partner, weil das .ancien régime' konsequenter und despotischer vorging." Georges Lichtheim: Varianten der Revolution. In: Tematy. New York 1964, S. 177-178. 70 André Decouflé: Sociologie des révolutions. Paris 1970. S. 92. 71 MEW, Bd. 4, S. 182. 72 Lucien Goldmann: Goethe et la révolution française. Recherches dialectiques. Paris 1959, S. 221. 73 Goethe: Poetische Werke (Berliner Ausgabe). Bd. 8, Berlin 1965, S. 540. 17'

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74 Zit. nach der poln. Ausg.: Victor Hugo: Poezje polityczne (Politische Poesie). Übers, u. bearb. v. Z. Bienkowski. Warszawa 1954, S. 138— 139. 75 Georg Lukdcs : Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Neuwied-Berlin 1965, S. 93. 76 André Decouflé: Sociologie des révolutions. Paris 1970, S. 63. 77 Alexis de Tocqueville : L'ancien Régime et la Revolution. Paris 1866. 78 Tocqueville erwarb sich um die Soziologie des Wissens große Verdienste. Darüber äußert sich J. Szacki in der Einleitung zur polnischen Übersetzung dieses Werkes; vgl. Alexis de Tocqueville: Dawny ustrój i rewolucja (Frühere Ordnung und Revolution). Übers, von A. Walska, Einleitung von J. Szacki, Warszawa 1970. S. 22. 79 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Die Neue Heloise. Potsdam 1920. 80 Zit. nach der poln. Ausg.: Victor Hugo: Literatura i polityka (Literatur und Politik). Übers, v. H. Szumanska-Grossowa. Warszawa 1953, S. 81-82. 81 Vgl. Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik. Hamburg 1956. „Die eine Formel stammt von Valéry: ,Ein Gedicht soll ein Fest des Intellekts sein' [. . .] Die andere Formel kommt aus dem Protest; ihr Verfasser ist der Surrealist A. Breton. Sie lautet: ,Ein Gedicht soll der Zusammenbruch des Intellekts sein', und dicht danach steht: -Vollkommenheit ist Faulheit'." (S. 109). 82 Z. Krasinski : Listy do ojca (Briefe an den Vater). Bearb. u. eingel. v. S. Pigori. Warszawa 1963, S. 305-306. 83 Über die Frage des Zusammenhanges zwischen Expressionismus und Revolution vgl. T. Burek: Lekcja rewolucji. O znaczeniu rewolucji 1905 roku w procesie historycznoliterackim (Die Lektion der Revolution. Die Bedeutung des Jahres 1905 im literarhistorischen Prozeß). In : Literatura polska wobec rewoljucji (Polnische Literatur und Revolution). Warszawa 1971, S. 146-191. 84 A. Lunatscharski : Block und die Revolution. In : Die Revolution und die Kunst. Dresden 1962, S. 204-224 (Fundus-Bücher. 6). 85 In seinem zweiten Manifest des Surrealismus schrieb A. Breton: „Alles ist zu machen. Alle Mittel müssen gut genug sein, um sie zur Zerstörung der Idee der Familie, des Vaterlandes und der Religion zu benutzen." André Breton: Manifestes du surréalisme. Paris 1963, S. 82. Zur Problematik Verhältnis von Surrealismus und Gesellschaft vgl. Einleitung von Alfred Sauvy Sociologie du surréalisme sowie die Diskussion Entretiens sur le surréalisme, sous la direction de F. Alquiê, Paris-La Haye 1968, S. 486-516. 86 Vgl. James A. Leith : The Idea of Art as Propaganda in France — 1750—1799. A Study in the History of Ideas. Toronto 1965, sowie Rezension des Buches von A. Morawinska in : Biuletyn Historii Sztuki

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1969, 2, S. 229-231. „Im Jahre 1971 veröffentlichte Quatremere de Quincy einige Essays zur Idee der Kunst als Propagandamittel. Er äußerte darin die Auffassung, daß die Kunst früher den Tyrannen gedient hätte. Nach ihrer Läuterung durch die freien Regierungen wird sie zur Sachwalterin der Tugend- und Freiheitsliebe. Er machte den Vorschlag, die Nationalversammlung solle eine Liste der Helden aufstellen, die als Repräsentanten der Tugend gelten, damit die Künstler aus ihr die geeignetsten Themen schöpfen können." In diesem Sinne faßt Morawinska die Thesen von Leith zusammen. Doch die Künstler beeilten sich damit nicht sehr. „Infolge des Mangels einer stabileren Regierung und ständiger Veränderungen in den politischen Konzepten wußte man nicht mehr, welcher der Revolutionshelden tatsächlich als echter Held zu betrachten wäre und auch nicht, wie lange er als Held gelten könne." 87 Sehr nachdrücklich lehnte J. Przybos die „surrealistische Revolution" ab und berief sich dabei auf Peiper. „Ich zum Beispiel ertrage den Surrealismus nicht. Ich habe diese Bewegung immer als Bluff und dekadente Entstellung der logischen und konstruktiven Entwicklungslinie der Kunst betrachtet, und ich werde das auch in Zukunft tun." J. Przybos: Wnioski i propozycje (Schlußfolgerungen und Vorschläge). In: Linia i gwar (Linie und Rede). Bd. 1. Krakow 1959, S. 162. In seinen letzten Zapiski iez äaty (Notizen ohne Datum) bekräftigte Przybos seine Meinung, indem er feststellte, daß „der Surrealismus in der Literatur eine unfruchtbare Richtung" wäre, eine „halb mystisch-burleske, halb düster mystisch-romantische Literaturrichtung-Nichtrichtung". Miesi?cznik Literacki 1970, 11, S. 47. 88 J. Przybos: Wnioski i propozycje (Schlußfolgerungen und Vorschläge). In: Linia i gwar (Linie und Rede). Bd. 1. Krakow 1959, S. 159-160. 89 J. Przybos: Poezja i rewolucja (Poesie und Revolution). In: Linia i gwar (Linie und Rede). Bd. 1. Krakow 1959, S. 333-334. 90 Die Auffassung der „Komfuten" (Kommunisten-Futuristen) zu dieser Problematik vgl. auch J. Tasarski: Komfuty. Ideologiczne kompleksy awangardy w okresie wojennego komunizmu (Die Konfuten. Ideologische Komplexe der Avantgarde in der Periode des Kriegskommunismus). In: Przegl^d Humanistyczny 12 (1968) 4. 91 A. K. Scholkowski und J. K. Stscheglow widmen in ihrer Studie über die Genealogie der sowjetischen strukturellen Poetik S. M. Eisenstein einen gesonderten Abschnitt. „Seine Auffassungen über die Kunst als Mittel des gedanklichen Ausdrucks und der .Verstärkung der Emotionen' verbindet sich in außergewöhnlicher Weise mit dem konsequenten Forschen nach dem Geheimnis, wie eine Sache aufgebaut ist." Den Kunstgriff betrachtete Eisenstein als Ausdrucksmittel der Idee. Er wollte, daß man „im analysierten Text die Verwirklichung eines Ge261

dankens oder eines wesentlichen Motiv erblicke, so daß die Funktionen aller Einzelmotive und Textdetails wie Beschreibungen, Dialoge, Beiwörter, Abschweifungen, begreifbar würden". Ihn interessierte die Ausdruckspsychologie, „das ganze System der Kunstgriffe, die den klaren Ausdruck fördern, die in Kunstwerken verschiedener Inhalte und Art anzutreffen sind. Kunstgriffe, deren Funktion in der wirksamen Organisation der Perzeption des Objekts besteht." A. K. Sholkowski/ J. K. Stscheglow: U zrödei radzieckiej poetyki (Am Ursprung der sowjetischen strukturellen Poetik) In: Pamiçtnik Literacki 60 (1969) 1, S. 253-255. 92 Vgl. B. Eichenbaum : Stilistische Grundtendenzen in Lenins Sprache. In : V. Schklowski u . a . : Sprache und Stil Lenins. Berlin 1970, S. 33—54. 93 W. Broniewski : Krzyk ostateczny (Der letzte Schrei). In : Wiersze i poematy (Gedichte und Poeme). Warszawa 1962, S. 128. 94 Mit den Wechselbeziehungen zwischen Romantik und Revolution beschäftigt sich mein Buch: Romanty^m, rewolucja, markshjn (Romantik, Revolution, Marxismus). Gdansk 1972.

Jaausz Siawinski Synchronie und Diachronie im literarhistorischen

Prozeß

Der Text wurde entnommen aus Janusz Siawinski: D^ielo cja (Werk — Sprache — Tradition), Warszawa 1974, S. 11—38.

— Trady-

1 Hans Sedlmayr: Kunst und Wahrheit. Hamburg 1958, S. 118. 2 „Das Hauptanliegen der Gegenwart (in der Linguistik und, weiter gefaßt, auch in den Humanwissenschaften — J. S.) ist das Problem der Integration der Strukturen in die Prozesse", schreibt Eugenio Coseriu in der Arbeit Sincronia, diacronia, e bistoria, übers, a. d. Russ. unter dem Titel Sincbronija, diacbronija i istorija. In : Novoe v lingvistike, 3. Aufl. Hg. v. V. A. Zvegincev. Moskva 1963, S. 341. — Die vorliegende Abhandlung verdankt dieser anregenden Darstellung, die sich mit den grundlegenden Kategorien der Linguistik von F. de Saussure auseinandersetzt, zahlreiche Anregungen. 3 Vgl. insbes. die Arbeit von J. Tynjanov aus dem Jahre 1927, erschienen unter dem Titel Vopros o literaturnoj evoljucii. (Dt. in : J. Tynjanow, und die literarische Evolution. In: Texte der russischen Formalisten. Bd. 1. München 1969, S. 432—461). Vgl. auch die aus dieser Zeit stammenden methodologischen Thesen Tynjanov/Jakobson, S. 387—391. 4 Vgl. die Arbeiten von Roman Jakobson: Remarques sur l'évolution phonologique du russe à celle des autres langues slaves. In: Travaux du

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Cercle Linguistique de Prague 1929, 2, S. 118. sowie: Prinzipien der historischen Phonologie. Ebenda, 1931, 4, S. 247—267. Wir denken vor allem an die hervorragende methodologische Arbeit von Vodicka. F. Siedlecki: O nowych badaniach nad budow^ wiersza (Über neue Untersuchungen zum Versbau). In: J?zyk Polski 25 (1945) 3, S. 75. Vgl. Wilbert E. Moore: Strukturwandel der Gesellschaft. München 1967, S. 19-20. „Jedes [. . .] Gebiet der menschlichen Aktivität kann in zwei Problembereiche [. . .] eingeteilt werden, die durch eine wechselseitige Abhängigkeit miteinander verbunden sind: der erste sind die menschlichen Handlungen, Entscheidungen und Auswahlakte, aus denen sie hervorgehen, der zweite dagegen ist die gesellschaftliche Komponente dieser Handlungen." W. Kula: Problemy i metody historii gospodarczy (Probleme und Methoden der Wirtschaftsgeschichte). Warszawa 1963, S. 221. Die methodologische Grundforderung von Kula betrifft die Notwendigkeit der ganzheitlichen Erfassung dieser beiden Aspekte der humanistischen Realität. Vgl. Vodicka, S. 375. Da wir den dialektischen Charakter der Beziehungen zwischen dem individuellen Merkmal (oder der Relation) des Werkes und der Norm sehr nachdrücklich betonen möchten, können wir feststellen, daß jedes Merkmal (oder jede Relation) eine aktualisierte Norm ist, jede Norm aber ist ein potentielles Merkmal (oder eine potentielle Relation). M. Handelsmann: Historyka. Zasady metodologii i teorii poznania historycznego (Geschichtsschreibung. Grundsätze der Methodologie und Erkenntnistheorie der Geschichte). 2. verb. u. erw. Aufl. Warszawa 1928. „[. . .] jeder folgende Entwicklungsquerschnitt ist nicht nur ein genetisches Ergebnis der vorherigen Etappen, sondern beinhaltet zugleich (positives und negatives) Wirken derjenigen Elemente, die zu seiner Entstehung beigetragen haben. Wenn es viele solcher Elemente gab, existieren sie alle in dem bestimmten Querschnitt; sie sind (positiv oder negativ) in den konstitutiven Elementen seiner spezifischen Merkmale enthalten." (S. 213). Wir entlehnen diesen Begriff der Linguistik. Er wurde auf der Grundlage der historischen Phonologie von Roman Jakobson in seiner Arbeit Remarques sur l'évolution phonologique du russe comparée ä Celle des autres langues slaves eingeführt. Vgl. J. Slawiñski: Koncepcja jfzyka poetyckiego awangardy krakowskiej (Konzeption der poetischen Sprache der Krakower Avantgarde). Wroclaw 1965, S. 188-189. So wurden z. B. Tendenzen, die von der polnischen Literaturkritik der Zwischenkriegsperiode als „Naturalismus" und „Expressionismus"

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charakterisiert wurden und die sogar als Haupttendenzen der Romanprosa galten, nach der Bewertungsskala des realistischen Erzählmusters und Fabelromans als zwei Tendenzen der „Abweichung" von diesem Modell definiert. Vgl. W . Kula: Les débuts du capitalisme en Pologne dans la perspective de l'histoire comparée. Rom 1960; vgl. ders.: Problemy i metody historii gospodarczej (Probleme und Methoden der Wirtschaftsgeschichte). Warszawa 1963, S. 189. Vgl. Tynjanov/Jakobson, S. 102; vgl. auch René Wellek: Der Begriff der Evolution in der Literaturgeschichte. In: Grundbegriffe der Literaturkritik. Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz 1965, S. 35—45. Dazu äußert sich H. Markiewicz in instruktiver Weise vom Standpunkt der historischen Poetik in: Glówne problemy, S. 142—173. Vgl. Bemerkungen zur Studie von Mikel Dufrenne: Notes sur la Tradition. In: Cahiers Internationaux de Sociologie 3 (1945) 2, S. 163. Diese Begriffe wurden hier und da in einzelnen Bereichen der Humanwissenschaften verwendet, vgl. Erich,Rothacker : Geschichtsphilosophie. München-Wien 1971. (Kap. Handlung Lage, Haltung. S. 43-55). Kürzlich verwendete S. K. Zaumjan die Kategorien „Phänotyp" und „Genotyp" in seinem Artikel: Preobrazovanie informacii v processe poznanija i dwuchstupencataja teorija strukturnoj lingvistiki (Die Umwandlung der Information im Erkenntnisprozeß und die Zweistufentheorie der strukturellen Linguistik). In: Problemy strukturnoj lingvistiki (Probleme strukturellen Linguistik). Moskva 1962, S. 5—12. Den Begriff „Systemdruck" verwenden wir in den Sinne, in dem er von den Sprachwissenschaftlern verwendet wird. Vgl. z. B. die Arbeit von E. A. Makaev: Ponjatie davlenija sistemy i ierarchii edinic (Der Begriff des Systemdrucks und der Eineditenhierarchie). In: Voprosy Jazykoznanija 1962, 5, S. 4 7 - 5 2 . Thomas Stearns Eliot: Tradition und individuelle Begabung. In: Essays I. Frankfurt/M. 1967, S. 347. Claude Lévi-Strauss : Race and History. Paris 1952. Zur Thematik der individuellen Innovation im kulturellen System vgl. Bemerkungen von Homer Garner Barnett : Innovation. The Basis of Cultural Change. New York 1953, S. 39.

Aleksandra

Okopién-Sfaivinska

Die Rolle der Konvention im literarischen

Prozeß

Der Text wurde entnommen aus Procès historyc^py w literatur^e i s^tuce. Materialy kanferencji naukßwej maj 1965 (Der historische Pro-reß in Literatur und Kunst. Materialien einer wissenschaftlichen Konferenz vom Mai 1965. Pod

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redakcj^ Marii Janion i Anieli Pierunowej, Instytut Badan Literackich Polskiej Akademii Nauk. Paristwowy Instytut Wadawniczy. Warszawa 1967, S. 6 1 - 8 0 . 1 Für E. Dürkheim ist das kollektive Bewußtsein „nahezu ein Produkt der Vergangenheit [ . . . ] Die Autorität des kollektiven Bewußtseins besteht in hohem Maße in der Autorität der Tradition." Emile Dürkheim: De la division du travail social. VII. Aufl. Paris 1960, S. 276-277 (Zit. nach: J. Czacki: Durkheim.Warszawa 1964, S. 65). Der soziale Charakter der Sprache und seine zeitliche Dauer sind nach F. de Saussure die Hauptumstände, deren Zusammenwirken es unmöglich machen, die Sprache umzugestalten. Dieses Zusammenwirken bedingt die Einheit und Kontinuität der Sprache im Prozeß aller Wandlungen. Vgl. Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin 1967, S. 87. Den Einfluß der soziologischen Konzeptionen Dürkheims auf Saussure behandelt W. Doroszewski: Socjologia i filozofia Durkheima (Soziologie und Philosophie Dürkheims). In: Przeglqd Filozoficzny 1930, 3, S. 194-195. 2 Der Begriff des Kunstwollens bei A. Riegl wurde in einer älteren, aber auch weiterhin sehr instruktiven Arbeit gebraucht; vgl. W . Tatarkiewicz: Rozwöj w sztuce (Entwicklung in der Kunst). In: Swiat i czlowiek (Welt und Mensch). Bd. 4, 1913; vgl. bes. S. 2 4 - 3 8 . 3 Arnold Hauser: Philosophie der Kunstgeschichte. München 1958, Kap. IV Geschichtsphilosophie der Kunst: „Kunstgeschichte ohne Namen"; Kap. VI Zur Dialektik der Kunstgeschichte: „Bildung und Wandel der Konventionen". 4 Die Ergebnisse der amerikanischen Forschung auf diesem Gebiet unterbreitet das Buch von Robert M. Browne: Theories of Convention in Contemporary American Criticism. Washington 1956. 5 Harry Levin: Literature as an Institution. In: Accent 6, 1946; ders.: Notes on Convention. In: Perspectives of Criticism. Cambridge Mass. 1950. 6 Harry Levin: Literature as an Institution. In: Accent 6, 1946, S. 159— 168. 7 John Livingston Lowes: Convention and Revolt in Poetry. Boston 1919. Über die Analogien in den Ansichten von Lowes und Levin schrieb Robert W. Browne: Theories of Convention in Contemporary American Criticism. Washington 1956, S. 34. 8 Vgl. Sylvon Barnet/Morton Berman/William Burto: A Dictionary of Literary Terms. Boston — Toronto 1960; Meyer H. Abrams: A Glossary of Literary Terms. New York 1961. 9 Arnold Hauser: Philosophie der Kunstgeschichte. München 1958, S. 407.

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10 Harry Levin: Literature as an Instituion. In: Accent 6, 1946, S. 159— 168; ders.: Notes on Convention. In: Perspectsives of Criticism. Cambridge Mass. 1950. 11 Auf die historische „Beständigkeit der wesentlichen Grundsätze der Konstruktion und des Materials" verwies J. Tynjanov. Er verknüpfte die Erneuerung eines Konstruktionsgrundsatzes mit der Einführung dieses Grundsatzes in andere als bislang übliche Zusammenhänge. Vgl. J. Tynjanow: Dynamizm formy literackiej (Dynamik der literarischen Form). Übers, v. F. Siedlecki. In: Kuznica 1946, 38, S. 9; ders.: Problema stichotvornogo jazyka. Voprosy poetiki. 5. Aufl. Leningrad 1924. 12 Dictionary of World Literary Terms. Criticism, Forms, Technique. Hg. von Joseph T. Shipley. London 1955, S. 77. 13 Wenn wir an dieser Stelle die Herausbildung der Gattungskategorien erwähnen, dann abstrahieren wir davon, daß sie ein historisches Produkt des Bewußtseins verschiedener Epochen sind, und als solches entstanden sie nicht nach den gleichen Differenzierungsgrundsätzen. Es geschieht also, daß irgendeine recht detaillierte poetische Realisierung als bedeutsame Komponente der Gattungsform zurückbleibt, z. B. irgend eine stereotype Invokation im Epos, die Namen der Helden in einer Idylle, die polysynthetische Verknüpfungsweise zwischen den einzelnen Sätzen in der Ballade usw. Bei Gelegenheit möchten wir darauf aufmerksam machen, daß man bei der Erklärung der Beständigkeit und Kontinuität der Gattung im Literaturbewußtsein unbedingt auf die Problematik zurückgreifen muß, die von A. Häuser bei der Erörterung analoger, den Stilbegriff charakterisierender Besonderheiten erwähnt wurde: „Das Phänomen einer gleichbleibenden Struktur bei der Veränderung aller konkreten Merkmale ist bekanntermaßen zuerst von der Gestaltpsychologie beobachtet und beschrieben worden. Die so gewonnenen Ergebnisse verweisen sich auch bei der Analyse des Stilbegriffs, der offenbar ein .Gestaltbegriff' ist, im großen und ganzen als maßgebend." (Arnold Hauser: Philosophie der Kunstgeschichte. München 1958, S. 233). 14 S. Skwarczyriska: Wst?p do nauki o literaturze (Einführung in die Literaturwissenschaft). Bd. 2. Warszawa 1954, S. 16. 15 Vgl. C. Zgorzelski: Naruszewicz — poeta (N. — ein Dichter). In: Roczniki Humanistyczne 4(1955) 1, S. 132—133; dort wird die Unterscheidung in rhetorische und emotionale Anaphora vorgenommen. 16 A. N. Veselovskij: Iz istorii epiteta (Zur Geschichte des Epithetons). In: Istoriceskaja poetika (Historische Poetik). Bearb. v. V . Zirmunskij. Leningrad 1940. 17 M. R. Mayenowa: O wspölzaleznosci rozwoju jazyka literackiego i form literackich (Über die wechselseitige Abhängigkeit der Entwick"

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lung der Literatursprache und der literarischen Formen). In: Nauka Polska 8 (1959) 2, S. 47. 18 J.Kleiner: Mickiewicz. Bd. 1. Lublin 1948, S. 283. Eine ähnliche Interpretation der Rolle, die Mickiewicz in den verschiedenen Bereichen seines Schaffens gespielt hat, nahmen auch andere Forscher vor, so z. B. M. Dtuska: O wersyfikacji Mickiewicza (Zum Versbau bei Mickiewicz). Warszawa 1955, S. 17; S. Skwarczynska : Mickiewiczowskie powinowactwa z wyboru (Die Wahlverwandtschaften des Mickiewicz). Warszawa 1957, S. 605; K. Wyka: Pan Tadeusz. Studia o poemacie (Studien zum Poem). Warszawa 1963, S. 19. 19 Ferdinand Brunetière: L'évolution des genres dans l'histoire de la littérature. Paris 1892. Vgl. S. 13 u. 24ff. 20 Die Bedeutung der Kategorie des Literarischen tritt manchmal in Arbeiten auf, die sich mit der Problematik der Literatursoziologie befassen. Vgl. z.B. Hugh Dalziel Duncan: Language and Literature in Society. Chicago 1953 ; Roland Barthes : Histoire et Littérature : à propos de Racine. In: Annales 1960, 3; Lucien Goldmann: Pour une sociologie du roman. Paris 1964. 21 Vgl. F. Znaniecki: Rola spoleczna artysty (Die soziale Rolle des Künstlers). In: Wiedza i Zycie 1937, 8 - 9 , S. 504. 22 K. Wyka: Kariera burzanu. Z dziejöw slownictwa poetyckiego (Die Karriere des Steppengrases. Aus der Geschichte des poetischen Wortschatzes). In: Ksiçga pamiqtkowa ku czci Stanislawa Pigonia (Festschrift zu Ehren von Stanislaw Pigon). Krakow 1961, S. 273—294. 23 Diese Gründe wurden in der amerikanischen Kritik stark beachtet. Vgl. dazu die Darlegungen von Robert M. Browne über die Theorien von C. K. Munro, John Livingston Lowes, Elmer Edgar Stoll u. bes. von Kenneth Burke (vgl. den Band Theories of Convention, S. 26ff.). 24 Vgl. Arnold Hauser: Philosophie der Kunstgeschichte. München 1958, Kap. VI. 25 K. Irzykowski: Uroki naturalizmu (Zauber des Naturalismus). In: Ciçzszy i lzejszy kaliber. Krytyki i eseje (Schwereres und leichteres Kaliber. Kritiken und Essays). Hg. A. Stawar. Warszawa 1957, S. 414. 26 Arnold Hauser: Philosophie der Kunstgeschichte. München 1958. Kap. IV. 27 Vgl. entsprechende Abhandlungen in der Studie von W. Borowy: O wplywach i zaleznosciach w literaturze (Einflüsse und Abhängigkeit in der Literatur). Krakow 1921, S. 23. 28 A. E. Odyniec (1804—1885), einer der ersten Anhänger von Mickiewiczs Literaturerneuerung, übersetzte zahlreiche Werke der deutschen und englischen Romantik ins Polnische ; besuchte gemeinsam mit Mickiewicz Goethe in Weimar, lebte von 1831—1837 in Dresden (A. d. Bearb.).

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29 K. W. Zawodzinski: Kilka spornych kwestii z dziejöw wersyfikacji polskiej (Einige umstrittene Probleme der Geschichte der polnischen Verslehre). In: Studia z wersyfikacji polskiej (Studien zur polnischen Verslehre). Warszawa 1954, S. 441. 30 Brief an E. Odyniec vom 24. April (6. Mai) 1829. Mickiewicz, Bd. 14, S. 483. 31 Vgl. R. Jakobson: O ceskom Stiche preimuscestvenno w sopostavlenii s russkim (Über den tschechischen Vers speziell im Vergleich mit dem russischen). Berlin 1923, S. 16; Vgl. auch J . Tynjanow: „Ohne das Gefühl für Unterordnung, für Deformation aller Faktoren durch den Faktor, der die Konstruktionsfunktion ausübt, gibt es keine künstlerischen Fakten ( d i e A b s t i m m u n g d e r Fakto ren ist eine spezifisch negative Charakteristik des Konstruktionsgrundsatzes — Schklowski). Wenn jedoch dieses Gefühl für die wechselseitige Wirksamkeit der Faktoren (die ihrer Natur nach die Existenz der beiden Momente des Unterordnenden und des Untergeordneten implizieren) verschwindet, dann wird auch das künstlerische Faktum allmählich verbraucht — die Kunst automatisiert sich." J. Tynjanow: (Dynamizm formy literackiej). (Dynamik der literarischen Formen). Übers, v. F. Siedlecki. In: Kuznica 1946, 38, S. 9; ders.: Problema stichotvornogo jazyka. Voprosy poetiki. 5. Aufl. Leningrad 1924. 32 D. Hopensztand: Filozofia literatury formalistöw wobec poetyki futuryzmu (Die Literaturphilosophie der Formalisten und die Poetik der Futuristen). In: Zycie Literackie, 1938, 5, S. 188. 33 J. Tynjanov: O literaturnoj evoljucii (Über die literarische Evolution). In: Texte der russischen Formalisten, Bd. 1, Hg. von J. Striedter. München 1969, S. 441. 34 V. Sklovskij: Svjaz' priemov sjuzetoslozenija s obscimi priemami stilja (Der Zusammenhang zwischen dem Verfahren der Sujetfügung und dem allgemeinen Stilverfahren). Ebenda, S. 51. [gesamte Textstelle im Original gesperrt]. 35 Vgl. Thomas Stearns Eliot: Tradition und individuelle Begabung. In: Essays I. Frankfurt a. M. 1967, S. 345-347. 36 Bei der Bestimmung der Bedingungen der Stilgestaltung nähert sich meine Auffassung der von Z. Lissa vertretenen Position zu analogen Erscheinungen auf dem Gebiet der Musik, wie sie in der Arbeit O cytacie w mu^yce (Zum Zitat in der Musik) zum Ausdruck kommt, in: S^kice z estetyki mu^yc^riej (Ski^en %ur Musikästhetik). Krakow 1965. 37 Der Begriff des „Dialogischen" hat im Zusammenhang mit der Erscheinung der Stilgestaltung grundlegende Bedeutung in der Betrachtungsweise von M. Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskis. München 1971, S. 234.

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Michat Giowinski Literarische Eine für diesen Band bearbeitete Neufassung des Aufsatzes Gatunek literacki i problemy poetyh historyc^pej. In: Procès historyc^ny m literatnr% i s^tuce. Materialy konferencji naukowej-maj 1965 (Der historische Prozeß in Literatur und Kunst. Materialien einer wissenschaftlichen Konferenz vom Mai 1965). Pod redakcj^ Marii Janion i Anieli Piorunowej. Instytut Badati Literackich Polskiej Akademii Nauk. Paristwowy Instytut Wydawniczy. Warszawa 1967, S. 31-60 1 Vgl. die bekannte Formel: „Im 17. und 18. Jahrhundert bezeichnet man in Frankreich denjenigen Menschen als einen Kritiker, für den Gattungen existierten." Albert Thibaudet: Physiologie de la critique. Paris 1962, S. 186. 2 Paul van Tieghem : La Question des genres littéraires. In : Helicon 1 (1938) 1-2, S. 98; vgl. auch René Wellek/Austin Warren: Theorie der Literatur. Frankfurt/M.-Berlin 1963 S. 274; vgl. auch Glówne problemy, S. 157. — Dieses Zitat wurde selbstverständlich nicht als Programm angeführt, sondern als extreme Äußerung einer der historischen Problembetrachtungen. 3 Vgl. Enzo Caramaschi: Brunetière critique. In: Revue d'Esthétique 2 (1958) 3/4, S. 45; vgl. S. Skwarczyriska: Genologia literacka w swietle nauki o literaturze (Literarische Genologie aus der Sicht der Literaturwissenschaft). In: Prace Polonistyczne 1952, Serie X, S. 367. Die Verfn. stellt fest, daß sich in der Theorie von Brunetière" [. . .] zum ersten Mal unter dem Deckmantel des naturwissenschaftlichen Denkens in der Genologie eine gewisse historische Denk- und Betrachtungsweise offenbart, die bis dahin trotz programmatischer Erklärungen des Positivismus (z. B. bei Scherer) rein theoretisch geblieben ist". 4 Vgl. Opacki: Krzyzowanie siç postaci gatunkowych jako wyznacznik ewolucji poezji (Kreuzung der Gattungsformen als Komponente der Evolution der Poesie). In: Pamiçtnik Literacki 54 (1963) 4, S. 349—389. 5 So nähert sich diese Meinung den Ansichten der liberaleren Theoretiker des Klassizismus des 17. Jahrhunderts; die orthodoxen Vertreter stellten indes fest, daß ein festgelegtes Repertoire von Gattungen ein für allemal existiert. Vgl. René Bray : La formation de la doctrine classique en France. Paris 1951, insbes. Teil 4: Les règles des genres. Vgl. auch die maliziöse Bemerkung von N. Frye an jene gerichtet, die — den Alten folgend — im Drama lediglich die Tragödie und die Komödie unterscheiden möchten. Seiner Ansicht nach erinnern diese Wissenschaftler an „Ärzte der Renaissance, die es ablehnten, sich mit Syphilis zu be-

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fassen, weil Galen nichts darüber geschrieben hat" (Northrop Fryer Anatomy of Criticism. Princeton 1957, S. 13). Wer möchte heute schon ein solcher Dogmatiker sein! Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Naturformen der Dichtung. A u s : Noten und Abhandlungen zum Divan. In: Werke. Weimarer Ausg. Abt. I, Bd. 7, S. 118. Vgl. Cornelius F. P. Stutterheim: Prologomena to a Theory of the Literary Genres. In: Zagadnienia Rodzajöw Literackich 6 (1963) 11, S. 5 - 2 4 . Das betrifft auch die einzelnen Gattungen. Die Theorie der Prosa, in Englisch dargelegt, wo die Begriffe „fiction" und „novel" verwendet werden, verfügt über andere Möglichkeiten als eine in Polnisch vorgetragene Theorie, wo es keine verbale Entsprechung für „fiction" gibt. Vgl. Northrop Frye: Anatomy of Criticism. Princeton 1957. Verf. teilt „fiction" in vier grundlegende Formen ein: in die Etzählung, den Roman, die Anatomie und das Bekenntnis (S. 312). Ich zweifle daran, ob ein polnischer Wissenschaftler eine solche Einteilung vornehmen würde, da „romans" eine archaische Form für „Roman" ist. Vgl. Irvin Ehrenpreis: The „Types Approach" to Literature. New York 1945, Kap. Anthropological Answers, S. 49—53. Diese Frage ist Bestandteil eines umfassenderen Problems: der Analyse der Terminologie, die uns eine bestimmte Epoche übermittelt hat, der Erforschung ihres Bewußtseins, der Frage, wie sie sich selbst gesehen und in welchen Kategorien sie sich selbst erfaßt hat. Vgl. W . Kula: Problemy i metody historii gospodarczej (Probleme und Methoden der Wirtschaftsgeschichte). Warszawa 1963, S. 480. „Die Übersetzung [. . .] der historischen Kategorien (d. h. die in der Sprache der Quellen auftreten) in unsere Kategorien und analytischen Kriterien ist eine grundlegende Aufgabe der Erforschung der Gesellschaftsstruktur." Für die Theorie der Gattungen ist das ein Grundproblem. Kann man denn nur diejenigen Werke zu einer bestimmten Gattung zählen, die von ihren Autoren mit einer bestimmten Gattungsformel charakterisiert wurden? Vgl. zu dieser Thematik Emil Ermattinger: Das Gesetz in der Literaturwissenschaft. In: Philosophie der Literaturwissenschaft. Berlin 1930, S. 3 3 3 - 3 3 5 , mit Karl Vietor: Geschichte der deutschen Ode. München 1923. Ermattinger stellt die These Vietors in Frage, der eine Gattungsgeschichte mit Hilfe der einfachen Induktion konstruiert, d. h. er erachtet nur solche Werke als Ode, die von ihren Autoren auch so gekennzeichnet wurden. Das ist — nach Ermattingers Ansicht — nicht vertretbar, denn nicht alle Oden wurden von ihren Autoren als solche gekennzeichnet und mit einem Gattungsnamen versehen. Außerdem sind nicht alle Werke, die sich Oden nennen, auch tatsächlichen Oden im eigentlichen Sinne (sie können z. B. auch Hymnen sein). In

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der Sprache von Kula bedeutet das, Viétor „übersetzt" die historische Bezeichnung Ode nicht in die Sprache der heutigen analytischen Kategorien. Vgl. auch die Äußerung von J. Hrabäk: „Was man in einer bestimmten Periode als Literaturgattung bezeichnet hat, können wir am besten in der Weise bestimmen, daß wir alle Werke, die die zeigenössischen Autoren, Theoretiker und Leser mit der gemeinsamen Bezeichnung versehen haben, untersuchen und dann prüfen, was sie Gemeinsames aufweisen, d. h. wir analysieren ihre Morphologie und Thematik." J. Hrabäk: Kilka uwag o wspólczesnej prozie czeskiej o tematyce budownictwa socjalistycznego. Przyczynek do zagadnienia krystalizacji gatunku literackiego (Einige Bemerkungen zur heutigen tschechischen Prosa über die Thematik des sozialistischen Aufbaus — Beitrag zum Problem der Herausbildung der Literaturgattung). In: Zagadnienia Rodzajów Literachkich 6 (1963) 10, S. 12. Für diese Problematik hätten Arbeiten zur Geschichte der Bedeutungsvarinanten einzelner Gattungsnamen in bestimmten Sprachen große Bedeutung. Ein Beispiel dieser Art ist der Artikel von Gunnar von Proschwitz: Drame. Esquisse de l'histoire du mot. In: Studia Neophilologica 1964, Bd. 36, S. 9 - 5 0 . 11 Deshalb würde ich der Unterscheidung von Gattungen und Arten, die übrigens in der gegenwärtigen Literaturpraxis wenig vertreten wird, keine allzu große Bedeutung zuschreiben. In der Epoche, inder Gattungsdifferenzierungen wichtig waren, also im französischen Klassizismus, kannte man die Kategorie der Art an sich nicht; vgl. René Bray: La formation de la doctrine classique en France. Paris 1927. 12 Vgl. die hervorragende Analyse der Entwicklung von Gattungsbegriffen im Buch von Irene Behrens : Die Lehre von der Enteilung der Dichtkunst vornehmlich vom 16. bis 19. Jahrhundert. Studien zur Geschichte der poetischen Gattungen. Halle/Saale 1940; vgl. Irvin Ehrenpreis: The „Types Approach" to Literature. New York 1945, sowie Glöwne problemy. Eine Übersicht über ausgewählte Arbeiten zu diesem Gebiet (insbes. neue) bietet N. Kransovä: K teorii literärnych druhov (Zur Theorie der Sekundärliteratur). In: Literaria 1960, 3, S. 311-335. 13 Vgl. Harry Levin: Literature as an Institution. In : Criticism, the Foundations of Modern Literary Judgement. New York 1948, S. 546—553. 14 José Ortega y Gasset: Traktat über literarische Gattungen. In: Merkur 13 (1959) 7, S. 602. „Unter literarischen Gattungen verstehe ich [. . .] wirkliche ästhetische Kategorien". Der Autor analysiert u. a. das Epos als „ästhetische Kategorie". 15 Vgl. z. B. J. Kleiner: Rola czasu w rodzajach literackich (Die Rolle der Zeit in den Literaturarten). In: Studia z zakresu teorii literatury (Studien zur Literaturtheorie). 2. Aufl. Lublin 1961, S. 39—46.

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16 Vgl. Roman Jakobson: Randbemerkungen zur Prosa des Dichters Pasternak. In: Slawische Rundschau 7, 1935, S. 360. 17 Vgl. S. Skwarczynka: Systematyka zjawisk rodzajowych twórczego sfowa (Systematik der Artphänomene des schöpferischen Wortes). In: Sprawozdania z Czynnosci i Posiedzen Polskiej Akademii Umiejetnosci 47 (1946) 5, S. 159-163. 18 Northrop Frye: Anatomy of Criticism. Princeton 1957, S. 245—248. 19 Eider Olsen: An Outline of Poetic Theory. In: Critics and Criticism Ancient an Modern. Hg. v. R. S. Crane. Chicago 1952, S. 560. Vgl. Gtówne problemy, 6. Kap.: Arten und Gattungen der Literatur, S. 142-173. 20 Roland Barthes : Histoire et littérature : à propos de Racine. In : Annales 15 (1960) 3, S. 536-537. 21 Beispiel einer Auffassung von der Gattung als Problem der historischen Poetik ist D. S. Lichacevs: Otnosenija literaturnych zanrov mezdu soboj (Die Beziehungen der literarischen Gattungen untereinander). In : Poétika drevnerusskoj literatury (Poetik der altrussischen Literatur). Leningrad 1967, S. 4 0 - 6 6 . 22 Vgl. André Malraux: Les voix du silence. Paris 1951, S. 304. „Von der Tatsache, daß sich die Meister von Chartres, zumindest Cézanne und van Gogh, immer bewußt waren, was sie machten, zeugen weniger ihre Aussagen als ihre Werke." Das gilt natürlich auch für den Bereich der Literatur. Für den Historiker, der sich mit der Gattung befaßt, bleibt es immer ein Problem, ob man einen bestimmten Komplex von Werken als Realisation ein und derselben Gattungsprinzipien betrachten kann, wenn die Epoche keinerlei theoretische Aussagen hinterlassen hat. Vgl. Jean Rychner : Les Fabliaux : genre, styles, publics. In : La littérature narrative d'imagination. Colloque de Strassbourg 23—25 avril 1959. Paris 1961, S. 4 1 - 5 2 . 23 Die Analogie zwischen den Gattungen und der Grammatik untersuchte Julius Petersen : Die Wissenschaft von der Dichtung. In : Bd. 1 : Werke und Dichter. Berlin 1939, S. 121. — Die Frage der Normen ist überhaupt eine Grundfrage der Literaturwissenschaft. Vgl. die beiden grundlegenden Werke von Z. Lempicki: Forma i norma (Form und Norm). In: Prace ofiarowane Kazimierzowi Wóycickiemu (Festschrift für K. W.). Wilno 1937, S. 1 7 - 3 2 ; J. Mukarovsky: Estetickä funkce, norma hodnota jako sociali fakty (Ästhetische Funktion, Norm und Wert der sozialen Fakten). Praha 1936. 24 „Einheitliches Ganzes von Direktiven" ist eine Formulierung von J. Trzynadlowski, die er übrigens in einem anderen Sinne gebrauchte. Vgl. J. Trzynadlowski: Information Theory and Literatury Genres. In: Zagadnienia Rodzajów Literackich 4 (1961) 6, S. 31—48. 25 Um Mißverständnissen vorzubeugen, möchte ich hervorheben, daß hier

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vom Normativismus der Gattung als einem Element der literarhistorischen Realität, nicht aber als Kategorie der Darstellung die Rede ist. 26 In der Kategorie der Gesetze erfaßt Ermattinger die literarische Gattung, vgl. Emil Ermattinger : Das Gesetz in der Literaturwissenschaft. In: Philosophie der Literaturwissenschaft. Berlin 1930; von Kategorien des Möglichen spricht in diesem Zusammenhang Günter Müller: Bemerkungen zur Gattungspoetik. In: Philosophischer Anzeiger 3 (1928-1929) 2, S. 129-147. „So sei nur als Hypothese zum Schluß die Annahme gewagt, daß die Gattungen einen Umkreis formaler Möglichkeiten bezeichnen" (S. 147). Ähnliche Probleme erörtert R. S. Crane, indem er feststellt, daß sich die Poetik nicht nur mit dem Notwendigen, sondern auch mit dem Möglichen befassen müsse, das die einzelnen Formen impliziert (in der Sprache dieses Hauptvertreters der neuaristotelischen Schule bedeutet die Form „Form der Nachahmung"). Vgl. Roland S. Crane: The languages of Criticism and the Structure of Poetry. Toronto 1953. „Jede dieser Formen", schreibt Crane, „ [ . . . ] hat für den Dichter eine Reihe von Notwendigkeiten und Unmöglichkeiten wie auch Möglichkeiten zur Folge."(S. 47). 27 Der 1903 erschienene Roman Paiuba (Schreckgespenst) K. Irzykowskis (1873—1944), eines der bedeutendsten polnischen Literaturkritikers des 20. Jahrhundert, gilt in der polnischen Literaturgeschichtsschreibung als präkursorisches Zeugnis moderner Romanentwicklung in formaler Hinsicht — offene Komposition, vorrangige Reflexionen gegenüber Aktion, diskursive Darstellungsweise mit Verzicht auf Fabel. (A. d. Bearb.) 28 Es war z.B. eine Illusion der Klassizisten, daß sie die in der antiken Literatur gebildeten Gattungen direkt fortführen. Es war eine Illusion der Surrealisten, daß sie die Poetik der Balzacschen Erzählungen direkt fortsetzen. In diesem Zusammenhang vgl. Lucien Goldmann : Le Dieu caché. Paris 1955, S. 353. (Darlegungen zur Thematik des Verhältnisses der theoretischen Aussagen von Jean Racine über seine Tragödie und der Probleme, die sich dem Historiker stellen). 29 Manchmal geschieht das in bezug auf Werke, die in keiner der stabilisierten, traditionellen Gattungen unterzubringen sind. Das scheint falsch zu sein, denn die Konsequenz ist die Einführung der Systemkategorie in den Bereich der konkreten Aussage. Dieses Vorgehen wäre nur dann motiviert, wenn die in jenem Werk realisierten Grundsätze den Beginn einer neuen Konstruktionsweise der Werke einleiten würden, wenn sie zu einem sozialen intersubjektiven Wert erhoben würden, also aus dem Bereich der „parole" in den der „langue" übergingen. Eine solche Situation kommt in der Literaturgeschichte nicht selten vor. Ich versuchte am konkreten Beispiel dieses Problem in der folgenden Arbeit darzulegen ; Narracja jako monolog wypo wiedziany. Z proble18

Dieckmann

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möw dynamiki odmian gatunkowych (Das Erzählen als gesprochener Monolog. Zu Problemen der Dynamik von Gattungsvarianten). In: Z teorii i historii literatury (Aus Geschichte und Theorie der Literatur). Red. Ltg. v. K. Budzyk. Wroclaw 1963, S. 277-257. 30 Sicher bildet die Beobachtung dieses Sachverhaltes die Grundlage der Gattungskreuzung; vgl. auch Anm. 4. Der Mangel dieser Theorie besteht darin, daß jene Kreuzung nicht auf der Ebene des Systems, sondern auf der Stufe der konkreten Aussagen betrachtet wird. Ein weiterer Mangel besteht darin, daß ihr die These von der Existenz reiner, idealer Gattungsformen zugrunde liegt, obwohl gerade sie diese Auffassung in Frage stellen sollte. Das alles führte zur Analyse von Werken, die in jeder Schicht („Schicht" im Sinne von Ingarden) zu einer anderen literarischen Gattung hätten gehören können. Es scheint uns, daß solche Analysen auch wenig aussagen über die Werke selbst, die Gegenstand dieser Analyse waren, sowie über die realen Prozesse, die sich innerhalb der Gattung vollziehen. 31 Diese Frage ruft oft Mißverständnisse hervor. Als Beispiel mag der bis zu einem gewissen Grade wertvolle Artikel von A. G. Cejtlin: Zanry (Genres). In: Literaturnaja Ënciklopedija(Literaturenzyklopädie). Bd. 4. Moskva 1930, S. 109—154 dienen. Der Autor stellt darin fest, daß der Grundsatz der Einteilung in Arten ein außerhistorischer, in Gattungen hingegen ein historischer Grundsatz sei(das kann man akzeptieren, wenn man sich in den Grenzen der Hierarchie „Art — Gattung" bewegt). Das Historische der Gattung wird jedoch nicht vom historischen Charakter der Morphologie bestimmt, sondern von den veränderlichen sozialen Bedingungen der einzelnen Aussagen. Deshalb kann man, nach Cejtlin, nicht von der Ode der Zeit des Absolutismus und der Ode der sog. proletarischen Poesie reden. Die formalen Ähnlichkeiten beider Formen sind unwesentlich. In der Betrachtungsweise von Cejtlin ist das Historische mit mangelnder Kontinuität identisch. 32 Wir beziehen uns an dieser Stelle auf die für die Methodologie der Geschichte bedeutungsvolle Arbeit von Fernand Braudel: Histoire et Science sociale. La longue durée. In: Annales 13 (1958) 4, S. 725—753. Eine der Grundthesen des Autors ist die Differenzierung zwischen „histoire de longue durée" und „histoire événementielle". Die eigentliche historische Problematik liegt nur im Bereich der ersten. Die „histoire événementielle" ist, nach Braudel, die Domäne der Chronisten oder Presseleute. Ähnliche Feststellungen, die sich auf die Literaturgeschichte beziehen, traf R. Barthes in der bereits erwähnten Arbeit Histoire et littérature. In Anlehnung an den Vorschlag von H. Lefèbvre sei die Literaturgeschichte nur möglich, wenn sie zur soziologischen Geschichte wird, wenn sie sich nicht mit den Autoren literarischer Werke, sondern mit deren Funktionen in der Gesellschaft befassen wird.

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33 Vgl. Darlegungen über die Identifikation und Differenzierung in der Arbeit von Roman Jakobson : Le language commun des linguistes et des anthropologues. In: Essais de linguistique générale. Übers, a . d . E n g l , u. eingel. v. Nuwet. Paris 1963, S. 39—40. 34 Deshalb erscheint uns z. B. die Polemik zwischen M. Grzçdzielska und J. Trzynadlowski zur Frage, ob das versifikative Faktum zum Merkmal der Differenzierung der Gattung werden könne oder nicht, sachlich begründet; vgl. M. Grzçdzielska: Uklad wersyfikacyjny a gatunek literacki (Versifikationssystem und literarische Gattung). In: Zagadnienia Rodzajöw Literackich 4 (1960) Bd. 3, H. 1, S. 101-107; J. Trzynadlowski : Problèmes à discuter : La composition versificatoire donnet-elle lieu ou non à un genre littéraire et dans quelles conditions? In: Zagadnienia Rodzajöw Literackich 5 (1960) Bd. 3, H. 2, S. 129-133. Die Tatsache, daß das Versifikationssystem in gewissen Fällen (wie M. Grçzdzielska annahm) Differenzierungsgrundlage der Gattung ist, verlangt meiner Ansicht nach keinen besonderen Beweis, da man auf eben dieser Grundlage seit nahezu sieben Jahrhunderten eine Gattung wie das Sonett von anderen Gedichtformen unterscheidet. 35 Darlegungen zu dieser Problematik befinden sich in vielen Arbeiten dieses Autors. Vgl. z. B. Georges Gurvitch: Les structures sociales. In: Traité de Sociologie. Bd. 1. Paris 1958, insbes. S. 206-210. 36 Georges Gurvitch: Déterminismes sociaux et liberté humaine. 2. Überarb. u. erw. Aufl. Paris 1963, S. 218. Vgl. ebenso die klare Formulierung: „ K o n j u n k t u r u n d S t r u k t u r sind zwei Aspekte eines ganzheitlichen ökonomischen, soziologischen, .ideologischen' und kulturellen Prozesses. Keiner besitzt das Recht zur dogmatischen Betrachtungsweise, indem er von der Struktur ausgeht und diese unbeweglich macht, ebensowenig darf man die Bedeutung der Struktur negieren, indem man von der Konjunktur ausgeht." Henri Lefèbvre: Introduction à la modernité. Préludes. Paris, 1962, S. 90. 37 Das soll allerdings nicht heißen, daß bei einer anderen Betrachtung der Sachverhalte die Strömung als Struktur nicht zu erfassen wäre. Dieses Problem wird aber in unseren Darlegungen nicht berührt. Wichtig ist nur folgendes: Wenn eine Erscheinung als Konjunktur erfaßt wird, dann ist das nicht eine Konjunktur schlechthin, sondern Konjunktur in Hinsicht auf etwas. Zum Gattungsproblem unter dem Aspekt der Strömung vgl. Gtöwne problemy. 38 Georges Gurvitch: Déterminismes sociaux et liberté humaine. Paris 1963, S. 111. 39 Georges Gurvitch: Dialectique et sociologie. Paris 1962, S. 201. 40 „Es entspricht dem Wesen der literarischen Gattung, die beständigsten, die ,ewigen' Tendenzen in der Entwicklung der Literatur widerzuspiegeln, Stets bewahrt sie die überdauernden Elemente des A r c h a i s c h e n . 18*

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Dieses Archaische erhält sich in ihr allerdings nur dank einer ständigen E r n e u e r u n g , einer Anpassung an die Gegenwart sozusagen. Die Gattung bleibt stets dieselbe und doch nicht dieselbe, sie ist immer alt und neu zugleich. In jeder neuen Etappe der literarischen Entwicklung, mit jedem individuellen Werk lebt sie wieder auf und erneuert sich. Darin besteht das Leben der Gattung. Deshalb ist das Archaische, das sich in ihr bewahrt, nicht tot, sondern stets lebendig, d. h. zu ständiger Erneuerung fähig. Die Gattung lebt in der Gegenwart, ist jedoch immer ihrer Vergangenheit, ihres Ursprungs e i n g e d e n k . Sie repräsentiert das schöpferische Gedächtnis im Prozeß der literarischen Entwicklung und ist daher in der Lage, die E i n h e i t u n d d i e K o n t i n u i t ä t dieser Entwicklung zu gewährleisten." M. Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs. München 1971, S. 118. 41 Ferdinand Brunetiére: L'évolution des genres dans l'histoire de al littérature. 8. Aufl., Paris o. J., S. 13. 42 Vgl. die gelungene Formel: „Die Dynamik, das Spiel der verschiedenen Subkodes im Inneren des Gesamtsystems einer bestimmten Sprache, ist sicher ein grundlegendes Problem der synchronischen Linguistik." Roman Jakobson: Les études typologiques et leur contribution á la linguistique historique comparée. In: Essais de linguistique genérale Paris 1963, S. 77. 43 Als Beispiel für eine Arbeit, die sich das Ziel setzte, eben solche Erscheinungen zu beschreiben, kann der Artikel erwähnt werden von Fritz Martini: Drama und Roman im 19. Jahrhundert. In: Gestaltprobleme der Dichtung. Bonn 1957, S. 207-237. 44 Die Frage der Typen, bezogen auf die Gattungen, ist ein wesentliches Problem. Es scheint, daß vor allem die beschreibende Poetik diese Kategorie als besonders nützliches Arbeitsinstrument verwenden kann. In der historischen Poetik haben die Gattungstypen Hilfscharakter in der Hinsicht, daß ihr Ziel — wie bereits ausgeführt — darin besteht, auch das konkrete Gattungsbewußtsein zu rekonstruieren, und das ist eine Aufgabe, die mit den Instrumenten der Typologie nicht gelöst werden kann. „Man muß sehr aufpassen", schreibt Gurvitch, „daß man die bewußt künstlich geschaffene Konstruktion des Typus, die von der Soziologie bearbeitet ist und einen nur operativen Wert hat, nicht mit der S t r u k t u r verwechselt, die einen Ausschnitt, einen Teil der sozialen Realität charakterisiert. Der Typus bleibt immer ein künstliches Gebilde, während die Struktur immer Realität ist." Georges Gurvitch: Les structures sociales. In: Traité de Sociologie, Paris 1958, S. 210. Wenn in Abhandlungen über Gattungen der Begriff Typus in der einen oder anderen Weise angewendet wird, muß beachtet werden, daß es sich dabei jeweils um einen Idealtypus handelt. Es besteht jedoch kein konkretesWerk, das ein vollkommenes Muster einer

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bestimmten Gattung wäre. Über den empirischen Typus läßt sich nur dann reden, wenn die Gattung im Bereich eines kleinen, synchron betrachteten Zeitfragmentes erörtert wird [dann kann man davon sprechen, daß z. B. die Oda na c^esc Kopernika (Ode z« Ehren Kopernikus) von L. Osihski den empirischen Typ einer pseudoklassizistischen Ode darstellt], Zur Typenproblematik vgl. M. Ossowska: Poj^cia wzorcowe jako narzedzie badania (Modellbegriffe als Instrument der Forschung). In: Moralnosc mieszczariska (Bürgerliche Moral). Lodz 1956, S. 305 bis 310, sowie I. Lazari-Pawlowska: O poj?ciu typologicznym w humanistyce (Über den typologischen Begriff in den humanistischen Wissenschaften). In: Studia Filozoficzne 7 (1958) 4, S. 30-53. 45 Roland Barthes: Qu'est-ce que la critique? In: Essais critique. Paris 1964, S. 256.

Edward Balcer^an Perspektiven einer „Ke^eptionspoetik" Der Text wurde entnommen aus Problemy socjotogii literatury (Probleme der Literatur und Soziologie). Pod Redakcj^ Janusza Slawinskiego. Instytut Badari Literackich Polskiej Akademii Nauk. Wroclaw-Warszawa-KraköwGdarisk 1971, S. 79-95. 1 Zit. nach der poln. Ausg.: Sören Kierkegaard: Jednostka i ttum (Individuum und Masse). In: Filozofia egzystencjalna (Existentialistische Philosophie). Warszawa 1965, S. 51—52. Es ist eine Tatsache, daß sich der Philosoph im zitierten Fragment so „verhält" wie ein Schriftsteller, wie der Autor eines literarischen Werkes. Das entspricht dem Stil des Philosophierens der Existentialisten. Im gleichen Sinne äußert sich M. de Unamuno, wenn er feststellt, daß sich der Philosoph intensiver mit der Poesie verbinde als mit der Wissenschaft. Über die Schwierigkeiten, die bei der Übersetzung der Schriften von Kierkegaard auftreten, weil diese der Poesie so verwandt sind, vgl. I. Iwaszkiewicz: Od tlumacza (Vom Übersetzer). In: S. Kierkegaard. Bojazri i drzenie. Choroba na smierc (Angst und Zittern. Krankheit, die zum Tode führt). Warszawa 1969, S. 9-13. 2 Den Begriff „Autothematismus" verwendet A. Sandauer in seinen Studien. Vgl. A.Sandauer: Liryka i logika (Lyrik und Logik). Warszawa 1969. Den Begriff „methodologische Erzählung" führte ein: M. Glowiriski: Porz^dek, chaos, znaczenie (Ordnung, Chaos und Bedeutung). Warszawa 1968, S. 90ff. 3 Carl Gustav Jung: Psychologie und Dichtung. Aus: Gestaltungen des Unbewußten. In: Welt der Psyche. Zürich 1954. S. 55.

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4 Vgl. J. Mukarvsky: Zamernost a nezämernost v umeni (Absichtlichkeit und Unabsichtlichkeit in der Kunst). In: Studie z estetiky (Studien zur Ästhetik). Praha 1966. 5 Mit ausgewählten Problemen der Folklorepoetik beschäftigte sich die II. Internationale theoretische Konferenz für Literatur in Warszawa im Jahre 1962. Vgl. Einleitung der Redaktion zu Poetics, Poetyka, Poetika. Warszawa 1966; vgl. auch W. J. Propp: Morfologia bajki (Morphologie des Märchens). Übers, u. bearb. v. S. Baibus. In: Pami^tnik Literacki 59 (1968) 4. 6 Über die Grundlagen der Übersetzungspoetik vgl. E. Balcerzan: Opröcz gtosu (Außer der Stimme). In: Szkice krytycznoliterackie (Literaturkritische Skizzen). Warszawa 1971, S. 233—248. 7 Roman Ingarden: Studia z estetyki (Studien zur Ästhetik). Bd. 1. Warszawa 1957, S. 300-305. 8 Die größte Aktivität bei der sachlichen Bearbeitung der Grundlagen und des Kompetenzbereiches der historischen Poetik als einer speziellen Forschungsdisziplin zeigen in Polen die Autoren des bekannten Zarys teorii literatury (Abriß der Literaturtheorie). Vgl. auch M. Glowinski und A. Okopien-Siawinska in diesem Band und J. Siawinski: Krytyka literacka jako j?zyk (Literaturkritik als Sprache). In: Nurt 1968, 11. 9 Vgl. J. Siawinski: Koncepcja jqzyka poetyckiego awangardy krakowskiej (Konzeption der poetischen Sprache der Krakower Avantgarde). Wrociaw 1965, S. 26. 10 E. Balcerzan: Styl i poetyka twörczosci dwujszycznej Brunona Jasieriskiego (Stil und Poetik des zweisprachigen Schaffens von Bruno Jasieriski). Wrociaw 1968, S. 121. 11 M. Glowinski: Wirtualny odbiorca w strukturze utworu poetyckiego (Virtueller Empfänger in der Struktur der Dichtung). In: Studia z teorii historii poezji (Studien zur Theorie und Geschichte der Poesie). Wrociaw 1967, S. 23. 12 Vgl. M. M.Bachtin: Probleme der PoetikDostoevskijs. München 1971. 13 „Das Sprachsystem ist das System seiner Möglichkeiten. Die Sprachstruktur ist das System von real existierenden Erscheinungen, die in einer gegebenen Sprache in einer gegebenen Zeit real existieren." (V. A. Ickovic: Jazykovaja norma (Die Sprachnorm). Moskva 1968, S. 14. 14 Die Vermaschung von binären Reihen des Widerstandes, die die Systemgrundlage der Phonologie auch in einem so „reinen" Werkstoff (tworzywo) bildet, bietet einen ganzen „Baum von logischen Möglichkeiten" (Begriffsbestimmung von I. I. Revzin). In der Poetik organisiert man das F e l d , vgl. 1.1. Revzin: Metod modelizovanija i tipologija slavjanskich jazykov (Methode der Modellierung und die Typologie der slavischen Sprachen). Moskva 1967, S. 44—45.

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15 „Die Möglichkeiten einer bestimmten Sprache werden [. . .] zur Komponente der Theorie", stellt Glowiriski bei Gelegenheit fest. Wir meinen, daß die F a k t e n der Sprache der nationalen literarischen Tradition in noch weit größerem Umfange zur Komponente der Theorie eines Literaturwerkes werden. Z. B. im russischen Wörterbuch literarischer Begriffe : agitka, bylina, dolnik, zäum', castuska. Dort werden als spezifisch polnische Begriffe aufgeführt: fraszka, zarty und „wirszi". In: A. Kvjatkovskij: Poeticeskij slovar' (Poetisches Wörterbuch). Moskva 1966. 16 L. Zawadowski: Lingwistyczna teoria j?zyka (Linguistische Sprachtheorie). Warszawa 1966, S. 44. 17 Jean-Paul Sartre spricht vom „realen Publikum". Vgl. Jean-Paul Sartre: Was ist Literatur? Reinbek b. Hamburg 1965. 18 Bleiben wir bei extremen und eindeutigen Beispielen: Eine grundsätzlich andere Rolle ordnet das Märchen dem Leser zu, eine andere der psychologische Roman und eine andere schließlich die religiöse Lyrik. 19 Vgl. Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk. Tübingen 1960. 20 Vgl. D. M. Segat: Zametki ob odnom tipe semioticeskich modelirujuscich sistem (Bemerkungen zu einem Typ semiotischer Modellsysteme). In: Trudy po znakovym sistemam (Arbeiten zu Zeichensystemen). Bd. 2. Tartu 1965, S. 6 0 - 6 3 u. S. 52-57. 21 M. Pawlikowska-Jasnorzewska: Poezje (Gedichte). Bd. 1. Warszawa 1958, S. 460. 22 „[. . .] wenn ich an die Lesekunst denke, dann meine ich nicht das literarische Schaffen im engeren Sinne des Wortes, sondern eine gewisse Leistungsfähigkeit oder praktisches Können. Meine Absicht war es, die Vermutung zu bekräftigen, daß in unserem Jahrhundert diese Fähigkeit und dieses Können immer stärker der Kreativität ähnlich werden, daß sie an der Grenze zwischen Schöpfertum und Verbrauchertum stehen. Dazu könnte man feststellen, daß das Werden oder — wenn man so will — das Sicheinstellen ein Prozeß erregenden Abenteuers ist." W . Wirpsza: Sztuka czytania w XX stuleciu (Kunst des Lesens im 20. Jahrhundert). In: Nurt 1967, 11, S. 33. 23 Carl Gustav J u n g : Psychologie und Dichtung. Aus: Gestaltungen des Unbewußten. In: Welt der Psyche. Zürich 1954. S. 55. 24 Dieses Begriffspaar „Wissen und Nichtwissen" erscheint am häufigsten in Arbeiten über den Erzähler und die Erzählung. Vgl. als Beispiel die Aussage: „Die Erzählung in der ersten Person ist also jene spezifische Erzählform, in welcher nicht nur das Wissen, sondern auch das Nichtwissen des Erzählers eine große Rolle spielt." M. Glowiriski: O po wiesci w pierwszej osobie (Über die Erzählung in der ersten Person). In: Nurt 1969, 1, S. 41. Das Problem des Wissens und Nichtwissens des Lesers ist offenkundig ein universelles Problem der Rezeption von Werken, die im Normsystem einer jeweiligen Gattung geschaffen wurden, also auch

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stark konventionalisierter Gattungen. Dieses Moment scheint auch Glowiriski bei seiner Analyse der passiven Lektüre zu unterschätzen. Vgl. M. Glowiriski: Wirtualny odbiorca w strukturze utworu poetyckiego (Virtueller Empfänger in der Struktur der Dichtung). In: Studia z teorii historii poezji (Studien zur Theorie und Geschichte der Poesie). Wroclaw 1967, S. 2 1 - 2 2 . 25 Über die philosophischen Beweggründe der Idee von der Nichterkennbarkeit des schöpferischen Prozesses vgl. A. G. Cejtlin: Trud pisatelja. Voprosy psichologii tvorcestva, kul'tury i techniki pisatel'skogo truda (Die Arbeit des Schriftstellers. Fragen der Psychologie des Schaffens, der Kultur und Technik der schriftstellerischen Arbeit). Moskva 1962, S. 9—20. Cejtlin führt einen charakteristischen Gedanken von I. Kant an, nach dem ein Genie selbst nicht wisse, wie es sein Produkt zustande bringe und es selbst nicht beschreiben könne, also auch nicht wisse, wie sich in ihm die Ideen dazu berbeifänden (vgl. J. Kant: Kritik der Urteilskraft, Leipzig 1968, Reclams Universal-Bibliothek Nr. 355, S. 199f.) Wie Cejtlin bemerkt, war bereits Hegel mit dieser Kantschen Feststellung nicht einverstanden (S. 13—14). 26 C. Norwid: Wiersze (Gedichte). In: Pisma wybrane (Ausgewählte Schriften). Bd. 1, Warszawa 1968, S. 228. 27 Wiederholen wir: „Das Werk projiziert das Verhalten seiner Leser. Es richtet an sie einen Appell. Diese Projektion [. . .] setzt die Existenz eines bestimmten literarischen und allgemeingesellschaftlichen Kontextes voraus. Der Schriftsteller, der d e m L e s e r d i e s e o d e r j e n e R o l l e zuteilt, nimmt zu diesem Kontext eine bestimmte Stellung ein [. . .]" M. Glowiriski: Konstrukcja a recepcja. Wokol „Dziejöw grzechu" Zeromskiego. (Konstruktion und Rezeption — zu Zeromskis Werk „Geschichte der Sünde"). In: Prace z poetyki poswi?cone VI Mi?dzynarodowemu Kongresowi Slawistöw (Arbeiten über Poetik, gewidmet dem VI. Internationalen Slawisten-Kongreß). Hg. M. R. Mayenowa und J. Slawiriski. Wroclaw-Warszawa-Kraköw 1968, S. 178. 28 M. M. Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs. München 1971; vgl. auch S. Baibus: Problem stylizacji w poetyce i niektöre zagadnienia stylu poetyckiego (Problem der Stilisierung in der Poesie und einige Probleme des dichterischen Stils). In: Poetyka i historia (Poetik und Geschichte). Theoretische Konferenz für Literatur in Polczyn. Wroclaw-Warszawa-Kraköw 1968, S. 134ff. 29 J. Przybos: Linia i gwar. Szkice (Linie und Idiom. Skizzen). Bd. 2. Krakow 1959, S. 198. 30 In der von der Tiefenpsychologie beeinflußten Methodologie der Literaturwissenschaft wird jenes Spiel der Spannungen zwischen dem „offenen Inhalt" und dem „verborgenen Inhalt" als verschlüsseltes Dokument des Bewußten und Unbewußten des Autors gedeutet; vgl.

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J. Pawlowski: Problemy metodologiczne estetycznej teorii Freud» (Methodologische Probleme der ästhetischen Theorie von Freud). In: Studia Estetyczne (Studien zur Ästhetik). Bd. 1, Warszawa 1964, S. 119—122. — In unserer Konzeption werden das Bewußte und Unbewußte des Adressaten in der Konstruktion angelegt. Das bedeutet jedoch nicht, daß die Lektüre des Ganzen dieses Spiel beenden würde. Immer bleibt ein gewisser Anteil ungelöster und verhüllter Probleme — eine Strecke von Fragen und Zweifeln — „ein Schattenstreifen" zurück. Vgl. S. Eisenstein: Ausgewählte Aufsätze. Berlin 1960. Vgl. Teorija literatury. Obraz. Metod. Charakter (Literaturtheorie, Bild, Methode, Charakter). Moskva 1962, S. 187ff. Experimentelle Untersuchungen über das Merken eines literarischen Textes lassen sich ohne grundlegende Kategorien der beschreibenden Poetik nicht anstellen. Vgl. W. Szewczuk: Psychologia zapami?tywania. Badania eksperymentalne (Psychologie des Merkens. Experimentelle Untersuchungen). Warszawa 1965, S. 81—127. Der Psychologe modifiziert allerdings die Darstellung der Struktur des Werkes entsprechend seiner Zielstellung. So differenziert z. B. Szewczuk die Struktur der Novelle in sechs semantische Reihen: 1. Inhaltssystem, 2. Inhaltskomplex, 3. Inhaltsgruppe, 4. Inhaltsportion, 5. Informationseinheit, 6. Informationselement (S. 87). Auch in der Rezeptionspoetik lassen sich psychologische Begriffe nicht vermeiden, obgleich sie einer speziellen Modifizierung unterliegen müssen. Über die Perspektiven der Psycholinguistik vgl. A. A. Leont'ev: Psicholingvistika (Psycholinguistik). Leningrad 1967.

Stefan 2ölkieivski Modelle der Gegenwartsliteratur in ihrem frühen Entwicklungsstadium Der Text wurde entnommen aus Problemy socjologii literatury (Probleme der Literatur und Soziologie). Pod Redakcj^ Janusza Stawinskiego. Instytut Badari Literackich Polskiej Akademii Nauk. Wroclaw-Warszawa-Krakow - Gdarisk 1971, S. 297-310. 1 Vgl. V. V. Ivanov/V. Toporov: Slavjanskie jazykovye modelirujuscie semioticeskie sistemy (Semiotische Modellsysteme in slawischen Sprachen). Moskva 1965. 2 Ebenda, S. 7. 3 Vgl. Raymond Williams: Culture and Society (1780-1950). London 1958. 281

4 Vgl. Roman Jakobson/Morris Halle: Podstawy jçzyka (Grundlagen der Sprache). Wroclaw 1964, S. 112. 5 L. S. Vygotskij: Psichologija iskusstva (Psychologie der Kunst). Moskva 1965, S. 192-193. Red. Überarb. v. V. V. Ivanov (der Text des Buches stammt aus den dreißiger Jahren). •6 J . Tynjanov: Archaisty i novatory (Archaisten und Novatoren). Leningrad 1925, S. 510-511. 7 Georges Friedmann : 7 études sur l'homme et la technique. Paris 1966 ; vgl. auch Pierre Francastel: Sztuka i technika (Kunst und Technik). Warszawa 1966, S. 203, 272. 8 Georges Friedmann: Maszyna i czlowiek (Maschine und Mensch). Warszawa 1960 ; ders. : Praca w okruchach (Teilarbeit). Warszawa 1967; Pierre Naville: Spoleczne skutki automatyzacji (Soziale Folgen der Automatisierung). Warszawa 1968. 9 Vgl. mehrere Arbeiten von J. Dumazedier. 10 Vgl. Ernst van den Haag: Of Happiness and of Despair we have no Measure. In: Mass Culture. Glencoe 1958, S. 504—536. 11 Arnold Gehlen: L'Avenir de la culture. In: Bulletin S. É . S. É. I. S. Futuribles 10. 3. 1963. Nr. 847. 12 M. M. Bachtin: Tvorcestvo Fransua Rable i narodnaja kul'tura srednevekov'ja i renessansa (Das Werk von François Rabelais und die Volkskultur des Mittelalters und der Renaissance). Moskva 1965. 13 Renato Poggioli: The Theory of the Avant-Garde. Cambridge 1968. 14 J. Slawinski: Koncepcja jçzyka poetyckiego awangardy krakowskiej (Konzeption der poetischen Sprache der Krakower Avantgarde). Wroclaw 1965. 15 Roman Jakobson: Essai de linguistique générale. Paris 1963, S. 209— 250; vgl. ders.: Poetyka w swietle jçzykoznawztwa (Poetik im Lichte der Sprachwissenschaft). In: Pamiçtnik Literacki 51 (1960) 2. 16 J. Slawinski: Koncepcja jçzyka poetyckiego awangardy krakowskiej (Konzeption der poetischen Sprache der Krakower Avantgarde). Wroclaw 1965, S. 103. 17 Lawrence L. Stehlverger: The Symbolic System of Majakowski. The Hague 1964, S. 64—78; W. Woroszylski: Zycie Majakowskiego (Das Leben von Majakowski). Warszawa 1965 ; V. B. Sklovskij : Erinnerungen 1965; Werner Mittenzwei: Bertolt Brecht. Von der „Maßnahme" zu „Leben des Galilei". Berlin 1962; Martin Esslin: Bertolt Brecht. Paris 1961. 18 Walter Benjamin: Oeuvres Choisies. Paris 1959, S. 193-236. 19 Mass Culture. Glencoe 1958; Edgar Mron: L'Ssprit du temps. Paris 1962; A. Kloskowska: Kultura masowa (Massenkutur). Warszawa 1964 ; Mass Culture and Mass Media. In : Daedalus 1960 ; Arnold Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter. Hamburg 1957.

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Biobibliographie zu den Autoren

Balcerzan, Edward (geb. 13. Oktober 1937). 1961 Abschluß des Polonistikstudiums an der Adam-Mickiewicz-Universität Poznan, seit 1962 Lehrtätigkeit am dortigen Lehrstuhl für Polnische Literatur im Bereich der Abteilung Literaturtheorie. Promotion 1969, Habilitation 1973. Von 1964 bis 1965 Leiter der Literaturredaktion des Verlages Wydawnictwo Poznanskie, von 1968 bis 1972 in der Monatszeitschrift Nurt Redakteur für polnischeLiteratur, seit 1972 Redaktionsmitglied der Zweimonatsschrift Teksty. Hauptarbeitsgebiete sind Theorie und Methodenfragen der Literatur am Beispiel der neueren polnischen Literaturentwicklung. B. ist aktiv als Literaturkritiker tätig und veröffentlichte einige Gedichtbände sowie zwei kleine Romane. Gedichte: Morze, pergamin i ty (Meer, Pergament und du), Poznan 1960; Podwöjne interlinie (Doppelt interlinear). Warszawa 1964; Granica na moment (Grenze für den Augenblick), Poznan 1969; Romane: Pobyt (Der Aufenthalt), Poznan 1964 und Kto by nas takich pi?knych . . . (Wer wollte uns, so S c h ö n e . . . ) , Poznan 1972. Literaturkritische Skizzen: Öpröcz gtosu (Außer der Stimme), Warszawa 1971. Literaturwissenschaftliche Arbeiten: Styl i poetyka twöczosci dwujezycznej Brunona Jasienskiego. Z zagadnien teorii przekladu (Stil und Poetik des zweisprachigen Schaffens Bruno Jasienskis. Zu Fragen der Übersetzungstheorie). Wroclaw 1968; Przez znaki. Granice autonomii sztuki poetyckiej. Na materiale polskiej poezji wspölczesnej (Durch Zeichen. Grenzen der Autonomie poetischer Kunst. Am Material polnischer Gegenwartsdichtung), Poznan 1972. Glowinski, Micha! (geb. 4. November 1934), 1955 Abschluß des Polonistikstudiums an der Universität Warschau. 1955—1958 Aspirant am Lehrstuhl für Literaturtheorie, seit 1958 Mitarbeiter des Instytut Badan Literackich der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Regelmäßige literaturkritische Tätigkeit seit 1963 in der Zeitschrift Tu'orc^okc. Promotion 1960, Habilitation 1967. Hauptarbeitsgebiete sind die polnische Literatur des 20. Jahrhunderts und Literaturtheorie. 283

Außer zahlreichen Zeitschriften- und Sammelbandveröffentlichunger» folgende Buchpublikationen: Poetyka Tuwima a polska tradycja literacka (Die Poetik Tuwims und die polnische Literaturtradition), Warszawa 1962; Porz^dek, chaos, znaczenie. Szkice o powiesci wspólczesniej (Ordnung, Chaos, Bedeutung. Skizzen zum modernen Roman), Warszawa 1968; Powiesc mlodopolska. Studium z poetyki historycznej (Der Roman des Jungen Polen. Studien zur historischen Poetik), Wroc'aw 1969; Wiersze Bolesiawa Lesmiana — interpretacje (Gedichte Boleslaw Lesmians — Interpretationen), Warszawa 1972; Gry powiesciowe. Szkice z teorii i historit form narracyjnych (Romanspiele. Skizzen zu Theorie und Geschichte der Erzählformen), Warszawa 1973; Mitautor des Zarys teorii literatury (Abriß der Literaturtheorie), Warszawa 1962 J , 1972 3 ; besorgte u. a. eine dreibändige Werkausgabe von J. Tuwim (in der Reihe Biblioteka Narodowa). JailiOn, Maria (geb. 24. Dezember 1926), während der faschistischen Okkupation Besuch des illegalen Gymnasiums; ab 1945 Studium der Polonistik in Lodz, 1950 in Warschau abgeschlossen. Seit 1949 Mitarbeiterin des Instytut Badañ Literackich der Polnischen Akademie der Wissenschaften. 1956 Promotionen, seit 1963 außerordentliche Professur, seit 1973 ordentliche Professur. Lehrtätigkeit an der Pädagogischen Hochschule Gdansk (jetzt Universität Gdansk) seit 1956. Hauptarbeitsgebiete sind Literatur der polnischen Romantik, Ideengeschichte des 19. Jahrhunderts und Methodenfragen der Literaturwissenschaft. Unter ihren zahlreichen Veröffentlichungen sind hervorzuheben: Lucjan Siemieñski — poeta romantyczny (Lucjan Siemieñski — Dichter der Romantik), Warszawa 1955; zwischen 1960 und 1973 umfangreiche Aufsätze zu Methodenfragen der Literaturgeschichte, zur polnischen und europäischen Romantikentwicklung und zu Fragen der Stilgeschichte; Romantyzm, Rewolucja, Marksizm. Colloquia gdaiiskie (Romantik, Revolution, Marxismus. Gdañsker Kolloquien), Gdansk 1972; Humanistyka: poznanie i terapia (Humanistik— Erkenntnis und Therapie), Warszawa 1974; Herausgeberin der Sammelbände Proces historyczny w literaturze i sztuce (Der historische Prozeß in Literatur und Kunst), Warszawa 1967, und Literatura polska wobec rewolucji (Polnische Literatur und Revolution), Warszawa 1971. Im Druck befinden sich die Bücher Gorgczka romantyczna (Fieber der Romantik) und Wojna i forma (Krieg und Form).

Markiewicz, Henryk (geb. 16. November 1922), Polonistikstudium an der Jagiellonenuniversität Krakow, seit 1951 Universitätslehrer und von 1956 an Professor für Geschichte der polnischen Literatur an dieser Hochschule. Von 1949 bis 1968 zugleich Mitarbeiter des Instytut BadañLiterackicb der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Seit 1970 Lehrstuhlleiter für Literaturtheorie am Institut für Polnische Philologie der Universität Krakow. 1946 bis 1952 als Literaturkritiker besonders aktiv und erster 284

Chefredakteur der Wochenzeitschrift "Lycie literackie. Korrespondierendes Mitglied der Polnischen Akademie der Wissenschaften und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Rates für Literaturwissenschaft der Polnischen Akademie. Stellvertretender Chefredakteur der Zeitschrift Pamitfnik Uteracki und der Reihe Obra^y literatury polskiej XIX i XX wieku (Porträts der polnischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts.), Warszawa 1965ff. Hauptarbeitsgebiete sind die Geschichte der nachromantischen polnischen Literatur, Literaturtheorie und — methodologie sowie die Geschichte der Literaturwissenschaft. Unter seinen zahlreichen Veröffentlichungen sind hervorzuheben: Prus i Zeromski, Warszawa 19541,19642, O marksistowskiej teorii literatury (Über marxistische Literaturtheorie). Wroclaw 1951; Tradycje i rewizje (Traditionen und Revisionen), Krakow 1957; Glöwne problemy wiedzy o literaturze (Grundprobleme der Literaturwissenschaft), Krakow 1965; Przekroje i zblizenia (Schnitte und Annäherungen), Warszawa 1967; Nowe przekroje i zblizenia (Neue Schnitte und Annäherungen), Warszawa 1973; Herausgeber der Anthologien: Teoria badari literackich w Polsce (Theorie der Literaturwissenschaft in Polen), Bd. 1—2 Krakow 1960; Wspölczesna teoria badan literackich za granicy (Moderne ausländische Literaturtheorie), Bd. 1 - 3 , Krakow 1972-74.

Okopien - Slawinska, Aleksandra (geb. 22. Oktober 1932), 1955 Abschluß des Polonistikstudiums an der UniversitätWarschau, danach Lehrtätigkeit am Lehrstuhl für Literaturtheorie bis 1971. Seit 1971 Mitarbeiterin des Instytut Badan Literackich der Polnischen Akademie der Wissenschaften. 1964 Promotion mit dem Buch Wiersz nieregularny i wolny Mickiewic^a, Siowackiego i Norivida (Der unregelmäßige und freie Vers bei Mickiewic Slowatki und Norwid), Wrociaw 1964. Hauptarbeitsgebiet ist die Literaturtheorie, dabei speziell poetische Verssprache und poetische Semantik. Neben Zeitschriften- und Sammelbandveröffentlichungen Mitautorin einer Reihe von Handbüchern und Nachschlagewerken, u. a. Zarys teorii literatury (Abriß der Literaturtheorie), Warszawa 19621, 19723; Czytamy utwory wspöiczesne (Wir lesen Gegenwartsliteratur), Warszawa 1967; Slownik terminöw literackich (Wörterbuch literarischer Termini), im Druck. S l a w i n s k i , J a n u s z (geb. 15. März 1934), 1955 Abschluß des Polonistikstudiums an der Universität Warschau, während der Studienzeit literaturkritische Betätigung, Lehrtätigkeit am Lehrstuhl für Literaturtheorie des Warschauer Univer/iät von 1956—1962, ab 1962 Mitarbeiter des Instytut Badan Literackich der Polnischen Akademie der Wissenschaften, seit 1972 Leiter der Abteilung für Systematik literarischer Formen. Herausgeber der Reihe Z D^iejöw Vorm Artystyc^nycb n> Literatur^e Polskiej (Aus der Geschichte der künstlerischen Formen in der polnischen Literatur) und Redaktions-

285

mitglied der Zweimonatsschrift Teksty. Promotion 1965 mit dem Buch Koncepcja j^jka poetckiego aivangardy krahowskiej (Die Konzeption der poetischen Sprache der Krakauer Avantgarde), Wroclaw 1965, habilitierte sich mit Dzieto-J(zyk-Tradyc/a (Werk-Sprache-Tradition), Warszawa 1973. Hauptarbeitsgebiete sind die polnische Literatur des 20. Jahrhunderts, die Theorie der poetischen Sprache, Stilistik, historische Poetik und Literatursoziologie sowie Theorie und Praxis der Werkinterpretation. Neben zahlreichen Zeitschriften- und Sammelband Veröffentlichungen Mitautor einer Reihe von Handbüchern, u. a. Wiadomosci z teorii literatury (Nachrichten von der Literaturtheorie), Warszawa 1957; Cwiczenia z poetyki opisowej (Übungen zur deskriptiven Poetik), Warszawa 1961; Zarys teorii literatury (Abriß der Literaturtheorie), Warszawa 19621, 19723; Czytamy utwory wspölczesne (Wir lesen Gegenwartsliteratur), Warszawa 1967; Slownik terminow literackich (Wörterbuch literarischer Termini), im Druck.

W y k a , K a z i r n i e r z (geb. 19. März 1910, gest. 19. Januar 1975), seit 1949 Lehrstuhlinhaber für Geschichte der polnischen Literatur an der Jagiellonenuniversität Krakow, seit 1951 Ordentliches Mitglied der Polnischen Akademie der Wissenschaften, von 1953 bis 1970 Direktor des Instytut Badari Literackich der Polnischen Akademie der Wissenschaften, bis zu seinem Tode Vorsitzender des Wissenschaftlichen Rates dieses Instituts, von 1953 bis 1954 Leiter des Forschungsbereichs Gesellschaftswissenschaften (Wydzial I) der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Hauptarbeitsgebiet war die Geschichte der neueren polnischen Literatur seit der Romantik. Er war Literaturkritiker und einer der besten Kenner polnischer Malerei, 1972 Auszeichnung mit dem Staatspreis I. Klasse auf dem Gebiet der Literatur. Unter seinen zahlreichen Veröffentlichungen sind folgende Bücher hervorzuheben: Auf dem Gebiet der Literaturgeschichte: Cyprian Norwid. Poeta i sztukmistrz (Cyprian Norwid. Dichter und Stückeschreiber), Krakow 1948; Pan Tadeusz, Bd. I Studia o poemacie, Bd. II. Studia o tekscie (Bd. I Studien über das Poem, Bd. II Studien zum Text), Warszawa 1963; Modernizm polski (Der polnische Modernismus), Krakow 1959, 1968; O potrzebie historii literatury (Über die Notwendigkeit der Literaturgeschichte), Warszawa 1969. Auf dem Gebiet der Literaturkritik: Pogranicze powiesci (An der Grenze des Romans), Krakow 1948; Rzecz wyobrazni (Vorstellungskraft), Warszawa 1959; Lowy na kryteria (Auf der Jagd nach Kriterien), Warszawa 1965. Auf dem Gebiet der Kunstgeschichte: Matejko i Stowacki, Warszawa 1953; Makowski, Krakow 1963; Thanatos i Polska czyli o Jacku Malczewskim (Thanatos und Polen oder über Jacek Malczewski), Krakow 1970. — Auf dem Gebiet des Essays und der Publizistik: Zycie na niby. Szkice z lat 1939—1945 (Ein Quasi-Leben.

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Skizzen aus den Jahren 1939-1945), 19571, 19603; Wc;drujac po tematach (Durch Themen wandernd), Bd. 1—3, Krakow 1971. Zmigrodzka, Maria (geb. 4. November 1922), Polonistikstudium in Warschau, während der faschistischen Okkupation an illegalen Universitäten fortgesetzt und 1948 in Lodz abgeschlossen, Promotion 1955 mit Estetyka Edwarda Dembowskiego (Die Ästhetik Edward Dembomkis). Seit 1948 am Instytut Badari Literackich der Polnischen Akademie der Wissenschaften, seit 1955 Leiterin des Bereiches für Literatur der Romantik, seit 1963 außerordentliche Professur. Daneben Tätigkeit in Zeitschriftenredaktionen, Vorlesungen an der Parteihochschule der PVAP und von 1959—1969 Vorlesungstätigkeit an der Marie Curie-Sktodowska-Universität Lublin. Hauptarbeitsgebiete sind die polnische Romantik und die Geschichte des polnischen Romans im 19. Jahrhundert. Veröffentlichte u. a. Edward Dembowski i polska krytyka romantyczna (Edward Dembowski und die polnische romantische Kritik), Warszawa 1957; seit Ende der fünfziger Jahre entstand eine große Anzahl umfangreicher Aufsätze zur polnischen Romantikentwicklung und zu Fragen der realistischen polnischen Prosa im 19. Jahrhundert, die vor allem synthetischen Charakters sind; weiterhin Studien über Prosaschriftsteller der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie über E. Orzeszkowa, u. a. Orzeszkowa. Miodosc pozytywizmu (Orzeszkowa. Die Jugend des Positivismus); Mitverfasserin des Hochschullehrbuchs über die polnische Romantik (im Druck) und Herausgeberin der Reihe Problemy polskiego romantyzmu (Probleme der polnischen Romantik).

Zolkiewski, Stefan, (geb. 8. Dezember 1911), bis 1935 Polonistikstudium in Warschau. In diesem Jahr erste Veröffentlichungen. Während der faschistischen Okkupation in der Widerstandsbewegung aktiv als Mitglied der Polnischen Arbeiterpartei und Soldat der Volksarmee (AL), Redakteur illegal erscheinender politisch-literarischer Zeitschriften, in denen er Artikel zu historischen und philosophischen Fragen veröffentlichte. Nach dem zweiten Weltkrieg Chefredakteur mehrerer kulturpolitischer Zeitschriften und Wochenzeitungen, u. a. Ku^nica (1946—1948), Polityka (1957-1958), Kultura i Spoiec^enstwo (1952-1958). Seit 1950 Professor an der Warschauer Universität (bis 1968). Mitbegründer des Instytut Badan Literackich an der Polnischen Akademie der Wissenschaften und dessen Direktor von 1948 bis 1953, seit 1952 Ordentliches Mitglied der Polnischen Akademie der Wissenschaften, 1956—1959 Minister für Hochschulwesen, gegenwärtig Leiter des Bereiches für polnische Gegenwartsliteratur im Instytut Badan Literackich und Leiter der Arbeitsgruppe zur Erforschung der literarischen Kultur. Hauptarbeitsgebiete sind Geschichte und Theorie der Literatur und Kultur, Methodologie der Literaturwissenschaft, Semiotik und Literaturkritik.

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Wichtigste Buchveröffentlichungen: Stare i nowe literatutoznawstwo (Alte und neue Literaturwissenschaft), Warszawa 1950 ; Spör o Mickiewicza (Streit um Mickiewicz), Warszawa 1952; Rozwöj badari literatury polskiej w latach 1944—1954 (Die Entwicklung der Forschungen zur polnischen Literatur in den Jahren 1944—1954), Warszawa 1955; Polityka i Kultura, Warszawa 1958 ; Perspektywy literatury XX. wieku (Perspektiven der Literatur des 20. Jahrhunderts, Warszawa 1960; Przepowiednie i wspomnienia (Voraussagen und Erinnerungen), Warszawa 1963; O kulturze Polski Ludowej (Über die Kultur Volkspolens), Warszawa 1964; Culture et littérature polonaises contemporaines (Zeitgenössische polnische Kultur und Literatur), Warszawa 1965; Zagadnienie stylu (Stilprobleme), Warszawa 1965; Semiotyka a kultura, Warszawa 1969; Kultura literacka 1918-1932 (Literarische Kultur 1918-1932), Warszawa 1973.

Personenregister

Abrams, Meyer H. 56 Andrzejewski, Jerzy 131 Aragon, Louis 127 Aristoteles 47 176 Auerbach, Erich 258 Bachelard, Gaston Bachtin, Michail 217 232 235 Bacon, Francis 24 Balcerzan, Edward Balzac, Honoré de 273

175 M. 197

208

35 10 48 63 98 189

Barbusse, Henri 231 Barthes, Roland 182 200 274 Benedict, Ruth 223 Berent, Waclaw 37 131 Berwinski, Ryszard 130 Block, Alexander 111 225 Boas, Franz 180 Bogacki, Feliks 91 Boguslawski, Wojciech 249 Bowra, C. M. 56 Brandys, Kazimierz 131 Braudel, Fernand 274 Brecht, Bertolt 238 Breton, André 126 127-128 260 Brooks, Cleanth 55 Broniewski, Wiadyslaw 126 130— 131 Browne, Robert N . 267 Brückner, Aleksander 69 81 19

Dieckmann

Brunetière, Ferdinand 164 177— 178 197 199-220 269 Brzozowski, Stanislaw 32 98 131 246 Budzyk, Kazimierz 8 Burke, Edmund 54 Burke, Kenneth 267 Byron, George Gordon, Lord 46 75 Camus, Albert 105 128 Caramaschi, Enzo 177 Cejtlin, Alexander G. 274 280 Cézanne, Paul 272 Chapelain, Jean 177 Charbonnier, Georges 257 Charlton, D. G. 84 Chateaubriand, François-René de 48 62 103-104 Chénier, André Marie de 177 Chevalier, H. M. 161 Chlçdowski, Walenty 47 Chmielowski, Piotr 76 7 9 - 8 1 90 250 Chrzanowski, Ignacy 49 Claudel, Paul 186 Coleridge, Samuel Taylor 53—54 Comte, Auguste 76-78 81 91 Coseriu, Eugenio 262 Crâne, Roland 273 Croce, Benedetto 175 Cuvier, Georges 36 102

289

Cywinski, Stanislaw Czacki, Tadeusz

81

Harvey, William 23 Hauser, Arnold 157 1 5 8 - 1 5 9 168 266

67

D^browska, Maria 134 147 Darwin, Charles R. 79 177-178 Decouflé, Andre 141 123 258 Dembowski, Edward 119 130 Descartes, René 23 Dilthey, Wilhelm 49 Dostojewski, Fjodor M. 220 Drogoszowski, Aurely 81 Durkheim, Émile 265 Dygasiriski, Adolf 9 0 - 9 1 96 Ehrenberg Gustaw 109-110 130 Eichenbaum, Boris M. 1 2 9 - 1 3 0

Hebbel, Friedrich 23 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 106 255 258 280 Herder, Johann Gottfried

58

Herodot 37 Holtzhauer, Helmut 256 Hugo Victor 48 116-117 123 125

122

Ingarden, Roman 8 211 213 274 Irzykowski, Karol 168 188 273 Iwanow, Wjatscheslaw W. 223 Iwaszkiewicz, Jaroslaw 186

Eisenstein, Sergej M. 112 129 2 2 0 - 2 2 1 261 Eliot, Thomas S. 154 173 248 Engels, Friedrich 91 Ermattinger, Emil 270 273 Estreicher, Karol 1 9 - 2 0 244

Jacobi, Friedrich Heinrich 256 Jakobson, Roman 226 235 263 Janion, Maria 9 Jasieriski, Bruno 1 1 1 - 1 1 2 131 257 283 Jastrun, Mieczyslaw 131 Jeske-Choiriski, Teodor 81 Jung, Carl Gustav 206 214

Flaubert, Gustave 29 Fredo, Aleksander 245 Friedrich II. 244 Frye, Northrop 269 Galen, Galenus 270 Garland, Henry Bernard 60 Gehlen, Arnold 232 Geßner, Salomom 126 Glowiriski, Micha! 10 207 2 7 8 279 280

Kaden-Bandrowski, Juliusz 37 Kafka, Franz 27 234 245 Kant, Immanuel 280 Karpiriski, Franciszek 109 257 Kasprowicz, Jan 245 250 Kaszewski, Kazimierz 76 Kierkegaard, Sören 2 0 2 - 2 0 6 209

Goethe, Johann Wolfgang 46 60 61 1 0 7 - 1 0 8 123 179 249 256 267 Gogh, Vincent van 272 Goldmann, Lucien 123 Goszczynski, Seweryn 70 130 Grabowski, Tadeusz 81 Gramsci, Antonio 231 Grz^dzielska, Maria 275 Gurvitch, Georges 1 9 5 - 1 9 6 276

290

211 2 2 1 - 2 2 2 277 Kleiner, Juliusz 8 17 18 49 81 163 249 Kolaczkowski, Stefan 8 23 245 Konopnicka, Maria 88 96 Konwicki, Tadeusz 131 Korbut, Gabriel 20 81 245 Korff, Hermann August 59 Korzeniowska, Ewa 22

37

Markiewicz, Henryk 9 11 19 264 Marx, Karl 9 62 89 9 8 - 1 0 2 106-108 114 115 117-119 122 223 224 253 Mayenowa, Maria Renata 163 Mickiewicz, Adam 15 31 37 43-46 50 51 6 9 - 7 4 77 115 121 130 163 171 244 247 249 250 267 Mill, John Stuart 78 Milska, Anna 253 Mochnacki, Maurycy 44—45 70 246

Korzeniowski, Józef 134 Kotarbiriski, Tadeusz 30 245 Kott, Jan 82 Krasicki, Ignacy 15 67 134 244 Krasiriski, Zygmunt 109 126 130 Kraszewski, Józef Ignacy 250 Kridl, Manfred 81 Kruczkowski, Leon 131 Krupinski, Franciszek 76 Krzywicki, Ludwik 89 253 254 Krzyzanowski, Adrian 76 Kubacki, Wacfaw 51 Kuhn, Thomas S. 6 4 - 6 5 248 Kula, Witold 149 263 271 Kzyzanowski, Julian 8 Lefèbvre, Henri 116 274 Lenin, Wladimir I. 116 119 129 - 1 3 0 231 Lesmian, Boleslaw 13 244 Levin, Harry 158-160 265 Lévi-Strauss, Claude 114 154 224 257 Lichtheim, Georges 259 Lilienfeld-Krzewski, Karol 81 Linde, Samuel BogumiJ 31 246 Linné, Karl von 35 Lissa, Zofia 268 Littré, Émile 76 78 Lovejoy, Arthur O. 54—55 59 Lowes, John Livingstone 158 265 267 Ludwig XVI. 115 Lukâcs, Georg 50 59 123 Lunatscharski, Anatoli W. 127 Luxemburg, Rosa 116—119 Maistre, Joseph de 104 Majakowski, Wladimir W. 112 129-130 238 Malczewski, Antoni 69—70 Malecki, Antoni 19-20 22 244 Malraux, André 105 114 233-234 19*

Moleschott, Jakob 87 Morawski, F. 126 Munro, C. K. 267 Napoleon III. 98 Narzymski, Jözef 77 78 Norwid, Cyprian Kamil 215—216 219-220 245 Ochorowicz, Julian 78 Odyniec, Antoni Edward 170— 171 267 Okopieri-Slawiriska, Aleksandra 10 278 Opacki, Ireneusz 74 178 Orzeszkowa, Eliza 80 84-87 89 90 91 94 131 Osiriski, L. 277 Pawlikowska-Jasnorzewska, Marie 16 25 213 244 Peiper, Tadeusz 186 261 Percy, Thomas 52 Pigori, Stanislaw 8 70 Poggioli, Renato 235 Potocki, Jan 67 Prus, Bolestaw 89 93 134 Przybos, Julian 126 128-129 131 148 218 261 Putrament, Jerzy

291

37

Rabelais, François 233 Racine, Jean 273 Riegl, Alois 265 Rimbaud, Arthur 105 Robbe-Grillet, Alain 215 Rolland, Romain 116 Rosseau, Jean-Jacques 58 60 61 - 6 2 104 125 Saint-Just, Antoine Louis de 120 122 Sand, George 122 Sarcey, Francisque 158 Sartre, Jean-Paul 231 279 Saussure, Ferdinand de 192 262 265 Sauvy, Alfred 260 Scherer Jacques 269 Schiller, Friedrich 60 246 Schklowski, Wiktor B. 172 227 268 Schlegel, August Wilhelm 40 44 246 Schlegel, Friedrich 43 44 Schödler 87 Scholkowski, A. K. 261 Schulz, Bruno 27 245 Scott, Walter 37 48 72 170 Sedlmayr, Hans 133 Shakespeare, William 47 52 58

Staff, Leopold 244 Staiger, Emil 179 Stande, Stanislaw Ryszard 112 257 Stariczyk 81 251 Stanislaw August (König) 67 Stendhal 63 98 Sterne, Lawrence 29 Stoll, Elmer Edgar 267 Stone, P. W. K. 56 Strich, Fritz 49 Stscheglow, Juri K. 261 Stutterheim, Cornelius 179 Suchodolski, Bogdan 27 245 Swistochowski, Aleksander 76—78 80 92 96 250 Szela, Jakub 257 Szewczuk, W. 281 Szulc, Dominik 76 Szweykowski, Zygmunt 81 Szyjkowski, Marian 81

67 100-101 Shelley, Percy Bysshe 55 Siedlecki, Franciszek 137 Sienkiewicz, Henryk 79 80 94 141 250 Skarbek, Fryderyk 134 Skwarczynska, Stefania 249 Slawinski, Janusz 10 248 Slowacki, Juliusz 130 244 Sniadecki, Jan 47 247 Sorel, Georges 231 Spencer, Herbert 78 87 Staël, Germaine de 59 62—63

292

Taine, Hippolyte 78 177-178 Tatarkiewicz, Wladystaw 84 Tocqueville, Alexis de 124—125 260 Tolstoi, Lew 130 189 Toporow, Wladimir N. 223 Trembecki, Stanislaw 67 Trzynadlowski, J. 275 Tuwim, Julian 36 246 284 Tynjanow, Juri N. 227 266 Ujejski, Józef 69 Unamuno, Miguel de

277

Valéry, Paul 238 260 Viétor, Karl 270 271 Vodicka, Felix 263 Voltaire 48 Warynski, Ludwik Wellek, René 55

91 254

Wcselowski, Alexander N .

163

Wyspiariski, Stanistaw

245 250

220 Wiszniewski, Michat

36 37

Zawodziriski, Karol W i k t o r

Witkiewicz, Stanislaw Ignacy Wojciechowski, Kazimierz W ö l f f l i n , Heinrich

69 81

49

W o r d s w o r t h , William Wyka, Kazimierz

217

Zeromski, Stefan Z m i g r o d z k a , Maria Zola, Emile

5 3 - 5 4 56

8 167

9

98

Zotkiewski, Stefan Zuliriski, Tadeusz

171

92 131 142

8 10 77

In der gleichen Schriftenreibe sind unter anderem erschienen: Hermann Kahler D e r kalte K r i e g der K r i t i k e r Zur antikommunistischen Kritik der DDR-Literatur 1974 • 140 Seiten • 4,50 M Kaspar Maase Volkspartei und Klassenkultur Grundlagen, Konzeptionen und Perspektiven der SPD-Kulturpolitik seit Mitte der fünfziger Jahre 1974 • 270 Seiten • 9 , - M Rainer Rosenberg Literaturverhältnisse im deutschen V o r m ä r z 2. Aufl. 1976 • 298 Seiten • 9,50 M M. B. Chraptscbenko Schriftsteller — W e l t a n s c h a u u n g — Kunstfortschritt 1975 • 366 Seiten • 11,50 M Gudrun Klatt Arbeiterklasse und Theater Agitproptradition — Theater im Exil — Sozialistisches Theater 1975 • 213 Seiten • 7 M L. TimofejemjG. Lomidse L i t e r a t u r einer sozialistischen G e m e i n s c h a f t Zur Herausbildung und Entwicklung der multinationalen Sowjetliteratur (1917-1941) 1975 • 209 Seiten • 7 , - M Gudrun Däwel F r i e d r i c h W o l f und W s e w o l o d W i s c h n e w s k i Eine Untersuchung zur Internationalität sozialistisch-realistischer Dramatik 1975 • 253 Seiten • 8 , - M D. F. Markßv Z u r G e n e s i s des s o z i a l i s t i s c h e n R e a l i s m u s Erfahrungen und Leistungen süd- und westslawischer Literaturen in den zwanziger und dreißiger Jahren 1975 • 299 Seiten • 7,50 M Christoph Trilse Antike und Theater heute Betrachtungen über Mythologie und Realismus, Tradition und Gegenwart, Funktion und Methode, Stücke und Inszenierungen 1975 • 364 Seiten • 11,50 M

Frank Wagner

der Kurs auf die Realität" Das epische Werk von Anna Seghers (1935-1943) 1975 • 318 Seiten • 1 0 , - M Heinz

Hamm

Der Theoretiker Goethe Grundpositionen seiner Weltanschauung, Philosophie und Kunsttheorie 1975 • 276 Seiten • 8,50 M Anton Hierscbe

Sowjetliteratur und wissenschaftlich-technische Revolution 1975 • 244 Seiten • 8,50 M

Funktion der Literatur Aspekte — Probleme — Aufgaben 1975 • 429 Seiten • 13,50 M Eva und Hans Kaufmann

Erwartung und Angebot Studien zum gegenwärtigen Verhältnis von Literatur und Gesellschaft in der D D R 1976 • 238 Seiten • 7,50 M Ilse Seebase

Von der Verantwortung der Kunst Dokumente zur tschechischen marxistischen Literaturprogrammatik 1918—1938 1976 • 370 Seiten • 24 - M Silvia Scbhnstedt

Wegscheiden Deutsche Lyrik im Entscheidungsfeld der Revolutionen von 1917 und 1918 1976 • 337 Seiten • 1 1 , - M Manfred Nössig

Die Schauspieltheater der DDR und das Erbe (1970-1974) Positionen — Debatten — Kritiken 1976 • 262 Seiten • 8,50 M

Dostojewskis Erbe in unserer Zeit Neueste Forschungen sowjetischer Literaturwissenschaftler zum künstlerischen Erbe Dostojewskis 1976 • 221 Seiten • 1 - M

Werner Lenk

„Ketzer"lehren und Kampfprogramme Ideologieentwicklung im Zeichen der frühbürgerlichen Revolution 1976 • 224 Seiten • 7 , - M

Christel

Hoffmann

Theater für junge Zuschauer Sowjetische Erfahrungen — sozialistische schichte in der D D R 1976 • 252 Seiten . 8 - M

deutsche

Traditionen — Ge-

Simone Barck Johannes R. Bechers Publizistik in der Sowjetunion 1935—1945 1976 • 259 Seiten . 8,50 M

Gerda Heinrieb Geschichtsphilosophische Positionen der deutschen Frühromantik 1976 • 261 Seiten • 8,50 M